Teubner Studienbücher Chemie Günter Fred Fuhrmann
Toxikologie für Naturwissenschaftler
Teubner Studienbücher Chemie
Herausgegeben von Prof. Dr. rer. nat Christoph Elschenbroich, Marburg Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c. Friedrich Hensel, Marburg Prof. Dr. phil. Henning Hopf, Braunschweig
Die Studienbücher der Reihe Chemie sollen in Form einzelner Bausteine grundlegende und weiterführende Themen aus allen Gebieten der Chemie umfassen. Sie streben nicht die Breite eines Lehrbuchs oder einer umfangreichen Monographie an, sondern sollen den Studenten der Chemie – aber auch den bereits im Berufsleben stehenden Chemiker – kompetent in aktuelle und sich in rascher Entwicklung befindende Gebiete der Chemie einführen. Die Bücher sind zum Gebrauch neben der Vorlesung, aber auch anstelle von Vorlesungen geeignet. Es wird angestrebt, im Laufe der Zeit alle Bereiche der Chemie in derartigen Lehrbüchern vorzustellen. Die Reihe richtet sich auch an Studenten anderer Naturwissenschaften, die an einer exemplarischen Darstellung der Chemie interessiert sind.
Günter Fred Fuhrmann
Toxikologie für Naturwissenschaftler Einführung in die Theoretische und Spezielle Toxikologie Unter Mitarbeit von Achim Aigner, Thomas Büch, Wolfgang Legrum, Christian Steffen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
abrufbar. Prof. Dr. med. Günter Fred Fuhrmann Geboren 1932 in Schackensleben. 1960 Promotion an der Ludwig-Maximilian-Universität München, 1972 Venia Docendi für Pharmakologie Universität Bern. Von 1977 bis 1998 Professor für Molekulare Pharmakologie an der Philipps-Universität Marburg. 1998 Ruhestand. PD Dr. ing. Achim Aigner Geboren 1965 in Offenbach am Main. 1995 Promotion (Chemie / Biochemie) an der Technischen Universität Darmstadt. 2003 Habilitation für Pharmakologie und Toxikologie. Hochschuldozent am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Philipps-Universität Marburg. Dr. med. Thomas Büch Geboren 1974 in Saarbrücken. 2001 Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Philipps-Universität Marburg. Prof. Dr. rer. physiol. Wolfgang Legrum Geboren 1951 in Ludwigshafen/Rhein. 1976 Staatsexamen der Pharmazie in Kiel, Studium der Humanbiologie und Promotion in Marburg 1979, Habilitation 1988, apl. Professor seit 1994 am Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Gastprofessor am Fachbereich Chemie der Philipps-Universität Marburg. Prof. Dr. med. Christian Steffen Geboren 1945 in Marburg. Nach Studium in Marburg und Paris Staatsexamen in Medizin 1970, Promotion 1973, wiss. Mitarbeiter am Institut für Pharmakologie der Universität Marburg. Seit 1985 am Institut für Arzneimittel des BGA in Berlin, jetzt Bonn (heute Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – BfArM), als Direktor und Professor.
1. Auflage März 2006 Alle Rechte vorbehalten © B. G. Teubner Verlag / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Ulrich Sandten / Kerstin Hoffmann Der B. G. Teubner Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.teubner.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Ulrike Weigel, www.CorporateDesignGroup.de Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
ISBN 3-8351-0024-6
Vorwort Dieses Buch ist hervorgegangen aus einer Vorlesung u ¨ber Toxikologie, die am Fachbereich Chemie der Philipps-Universit¨at in Marburg seit 1980 gehalten wird. Auf Anregung von Herrn Professor Christoph Elschenbroich wurde 1993 eine Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie (Allgemeine Toxikologie f¨ ur Chemiker) von G¨ unter Fred Fuhrmann verfasst. Eine zweite Auflage erschien im Jahre 1999 und zus¨atzlich ein weiterer Band u ¨ber spezielle Toxikologie mit einer Auswahl toxischer Substanzen (Spezielle Toxikologie f¨ ur Chemiker). Autoren des zweiten Bandes waren die Dozenten in der Chemie-Vorlesung Rainer Braun, G¨ unter Fred Fuhrmann, Wolfgang Legrum und Christian Steffen. In dem jetzt vorliegenden Buch Toxikologie f¨ ur Naturwissenschaftler“ wer” den die beiden vorhergehenden B¨ ucher zu einem Band vereinigt, das Bew¨ahrte wurde u ¨berarbeitet, auf den neuesten Stand gebracht und es wurden Erweiterungen angef¨ ugt. Damit ist ein Buch entstanden, dass vor allem den Wirkungsmechanismus von toxischen Substanzen auf molekularer Ebene darstellt. Es hat einen u ¨berschaubaren Umfang und ist gut geeignet f¨ ur den Naturwissenschaftler, um sich umfassend in die Materie einzulesen. Es wird Wert darauf gelegt, dem Nichtmediziner die wichtigsten Prinzipien der Toxikologie auch ohne eingehende anatomische und physiologische Grundkenntnisse nahezubringen. Aus all diesen Gr¨ unden f¨ ullt es eine bestehende L¨ ucke in der Literatur. Herr Professor Braun konnte leider aus Zeitgr¨ unden das Kapitel u ¨ber Kanzerogenese nicht wieder u ¨bernehmen und hat sein bew¨ahrtes Konzept Herrn Priv. Dozent Dr. Aigner u ¨berlassen, der jetzt hauptamtlich die ToxikologieVorlesung f¨ ur Naturwissenschaftler gestaltet. Herr Dr. B¨ uch hat dabei die Vorlesung u ¨ber Behandlungsprinzipien bei akuten Vergiftungen gehalten. Die Darstellung der Materie ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Abschnitt befasst sich mit der Theoretischen oder Allgemeinen Toxikologie. Nach einer Einf¨ uhrung werden dem Leser Vorstellungen zu den Wechselwirkungen zwischen toxischen Substanzen und dem menschlichen K¨orper vermittelt (Kapitel 2, Toxikokinetik und Kapitel 3, Toxikodynamik). Der zweite Abschnitt ist der Speziellen Toxikologie gewidmet. Allein vom Umfang der Substanzen her ist es nicht m¨oglich, die ganze Breite der Speziellen Toxikologie darzustellen, so dass hier bewusst eine Auswahl von Substanzen getroffen wurde. Im Kapitel 4 wird die Toxikologie der Schwermetalle behandelt. Eine Einteilung nach toxikologischen Gesichtspunkten in nicht reaktive, stimulatorisch wirksame, essentielle und toxische Metalle setzt die Schwerpunkte. Außerdem werden die toxischen Effekte f¨ ur Blei, Cadmium, Chrom,
VI
Nickel, Quecksilber, Thallium und Vanadium sowie f¨ ur das Metalloid Arsen gesondert besprochen. Weiter folgen in Kapitel 5 die organischen L¨osungsmittel und in Kapitel 6 die Biozide, darunter Insektizide, Herbizide, Fungizide und Rodentizide. Kapitel 7 gibt Aufschluss u ¨ber den Verbleib von Bioziden, Arznei-, Duft- und hormonaktiven Stoffen in der Umwelt. Nach den Atemgiften (Kapitel 8) werden im Kapitel 9 die karzinogenen Wirkungen von organischen und anorganischen Verbindungen dargestellt. Dies beinhaltet eine Einf¨ uhrung in die Entstehung von Tumoren und es werden die wichtigsten genotoxischen Mechanismen anhand von Substanzgruppen erkl¨art. Der letzte Teil geht auf Testmethoden ein, die in der Praxis zur Pr¨ ufung von Substanzen auf mutagene Eigenschaften angewandt werden. Der dritte Abschnitt umfasst Behandlungsprinzipien bei akuten Vergiftungen und informiert u ¨ber Informationszentren f¨ ur Vergiftungsf¨alle. Der Dank der Autoren gilt dem Teubner-Verlag, speziell Frau Lektorin Ulrike Klein und Herrn Ulrich Sandten f¨ ur die Realisierung. Die Autoren danken Herrn Professor Dr. Karl Joachim Netter f¨ ur vielf¨altige Anregungen, Hinweise und das Korrekturlesen.
Marburg, im Januar 2006
Die Autoren
Inhaltsverzeichnis I Theoretische Toxikologie
1
1 Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie G¨ unter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 3
1.1
Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie . . . . . . .
3
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3
Definitionen von Toxikologie und Wirkungscharakteristika . . . . . Aufgabengebiete der Toxikologie Methoden der Toxizit¨atspr¨ ufung
Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 6 7 10
2 Toxikokinetik G¨ unter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
Aufnahme von toxischen Substanzen Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . Schleimh¨aute . . . . . . . . . . . . . Verdauungstrakt . . . . . . . . . . . Respirationstrakt . . . . . . . . . .
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18 20 22 23 26
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
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32 35 38 40
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
Organisation des menschlichen K¨orpers . . . . . . . . . Verteilungsr¨aume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zirkulatorische System . . . . . . . . . . . . . . . . Der kolloidosmotische“ Druck der Plasmaproteine . . . ” Der Aufbau von Zellmembranen . . . . . . . . . . . . . Amphiphile Biomolek¨ ule . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Erythrozyten zum Membranmodell . . . . . . . . . Kompartimentierung innerhalb von Zellen . . . . . . . . Permeabilit¨at von Membranen f¨ ur toxische Substanzen . Eintritt in die Zelle durch Pinozytose und Phagozytose .
. . . . . .
41 42 43 47 48 56
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
Bindung und Speicherung . . . . . . . . . . . . . Plasmaproteine, H¨amoglobin und Muskelproteine Fettgewebe, Membranen . . . . . . . . . . . . . . Leber, Niere, Lunge und andere Organe . . . . .
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57 58 60 61
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VIII
2.4.4 2.5 2.5.1 2.5.1.1 2.5.1.2 2.5.1.3 2.5.1.4 2.5.1.5 2.5.1.6 2.5.1.7 2.5.1.8 2.5.1.9 2.5.2 2.5.2.1
Inhaltsverzeichnis
Knochengewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phase-I-Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das mikrosomale Monooxygenase-System . . . . . . . . . Systematik und Nomenklatur von Cytochrom P-450 . . . Enzymatische Eigenschaften von Cytochrom P-450, Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundtypen der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen Flavin-abh¨angige Monooxygenasen . . . . . . . . . . . . . Monoaminoxydase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cyclooxygenasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dehydrogenasen, Reduktasen . . . . . . . . . . . . . . . . Hydrolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phase-II-Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss des Alters auf die Biotransformation . . . . . . . . . . . .
. . . . .
87 87 91 93 94
2.7 2.7.1 2.7.2
Toxikokinetische Modellvorstellungen . . . . . . . . . . . Das Ein-Kompartiment-Modell . . . . . . . . . . . . . . . Das Zwei-Kompartiment-Modell . . . . . . . . . . . . . .
94 95 100
3 Toxikodynamik G¨ unter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103 103
3.1
Der Begriff des Rezeptors . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Bindungskr¨afte am Rezeptor . . . . . . . . . . . . . . Ionenbindung und Wasserstoffbr¨ uckenbindung . . . . . Van-der-Waals-Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . Komplexit¨at der Rezeptor-Substrat-Wechselwirkungen Kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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108 108 110 110 110
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3
Charakterisierung von Rezeptoren . . . . . . . . Indirekte Rezeptor-Charakterisierung (SAR) . . Direkte Rezeptor-Isolierung . . . . . . . . . . . Molekularbiologische Rezeptor-Charakterisierung
. . . .
. . . .
111 111 114 116
3.4 3.4.1
Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . LDR-Kurven-Diskussion, allgemeine Begriffe . . . . . . .
117 123
. . . .
. . . . .
69 70 73 74 74 76 79 80 86
Elimination durch Exkretion . . . . . . . . . . . Ausscheidung durch die Nieren . . . . . . . . . . Ausscheidung u ¨ber die Galle . . . . . . . . . . . Ausscheidung durch Sekrete, Schweiß und Milch Ausscheidung u ¨ber die Lungen . . . . . . . . . .
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. . . . .
62 66 66 68
2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4
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61
Inhaltsverzeichnis
3.4.2 3.4.3 3.4.3.1 3.4.3.2 3.4.3.3 3.4.3.4 3.4.3.5 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.3.1 3.5.3.2 3.5.3.3 3.5.3.4 3.5.3.5 3.5.4 3.5.4.1 3.5.4.2 3.5.4.3 3.5.4.4
Agonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetitive Antagonisten . . . . . . . . . . . Nichtkompetitive Antagonisten . . . . . . . . Allosterische Effekte . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle und physiologische Antagonisten Chemische Antagonisten . . . . . . . . . . .
IX
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Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen . . . . Unspezifische toxische Wirkungen, Zerst¨orungen von Zellen und Geweben . . . . . . . . . . . . . . . . . . Toxische Einfl¨ usse auf die Blutgerinnung . . . . . . Erythrozyten als Modell f¨ ur toxische Mechanismen . Osmotische Resistenz der Erythrozyten . . . . . . . Die Na+ -K+ -ATPase . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anionentransporter . . . . . . . . . . . . . . . . Das H¨amoglobin als Sauerstofftransporter . . . . . . Der Erythrozytenstoffwechsel . . . . . . . . . . . . . Toxische Einfl¨ usse auf das Nervensystem . . . . . . Effekte auf die Nervenfasern . . . . . . . . . . . . . Effekte am synaptischen Spalt . . . . . . . . . . . . Effekte auf die Acetylcholin-Esterase . . . . . . . . . Organische Phosphors¨aureester (Alkylphosphate) . .
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124 125 125 126 128 129 129
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129
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130 132 136 137 139 141 145 148 150 151 154 159 161
. . . . . . . . . . . . .
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II Spezielle Toxikologie
167
4
169
Toxikologie der Metalle und Metalloide
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle . . . . . . . . . G¨ unter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Einf¨ uhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Kreislauf der Metalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Ausnutzung der toxischen Wirkung von Schwermetallen und Metalloiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Einteilung der Metalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Transport von Eisen im menschlichen Organismus . . . . 4.1.7 Molekulare und ionische Mimikry toxischer Metalle . . . . 4.1.8 Metalle im menschlichen Organismus . . . . . . . . . . . . 4.1.9 Maßsystem f¨ ur die akute Toxizit¨at der Metalle . . . . . . 4.1.10 Entgiftungsmechanismen f¨ ur toxische Metalle im Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.11 Chelatbildner, Therapie der Schwermetallvergiftung . . .
169 169 169 170 175 181 182 188 192 197 199 200 202
X
Inhaltsverzeichnis
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle . Wolfgang Legrum . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Blei . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Cadmium . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Chrom . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Nickel . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Quecksilber . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Thallium . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7 Vanadium (Vanadin) . . . . . . . . 4.2.8 Metalloid Arsen . . . . . . . . . . 4.2.9 Eintrag der Metalle in die Umwelt
. . . . . . . . . . .
206 206 206 212 217 223 228 239 242 246 256
5 L¨osungsmittel G¨ unter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259 259
5.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3
Toxische Wirkung der L¨osungsmittel . Lokale toxische Wirkung auf die Haut Reizung der Schleimh¨aute . . . . . . . Narkotische Wirkung . . . . . . . . .
. . . .
260 260 261 261
5.3
Toxikologische Bewertung von L¨osungsmitteln . . . . . . .
264
5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7
L¨osungsmittel nach chemischen Klassen . . . Einwertige Alkohole . . . . . . . . . . . . . . Mehrwertige Alkohole . . . . . . . . . . . . . Ester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ketone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halogenierte aliphatische Kohlenwasserstoffe Aromatische Kohlenwasserstoffe . . . . . . .
. . . . . . . .
268 268 272 276 276 277 279 288
6 Toxikologie der Biozide Wolfgang Legrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293 293
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4
Insektizide . . . . . . . . . . . . . . . . Organophosphate . . . . . . . . . . . . Carbamins¨aureester (Carbamate) . . . . Pyrethrine und Pyrethroide . . . . . . . Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe .
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295 296 298 299 302
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
Herbizide . . . . . Dinitrophenole . . Harnstoffderivate . Bipyridylium-Salze
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306 306 308 308
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Inhaltsverzeichnis
6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7
XI
Natriumchlorat . . . . . . . . . . . . . . . . Phenoxycarbons¨auren . . . . . . . . . . . . Chlorcarbons¨auren und aliphatische S¨auren Triazine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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309 310 313 315
6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5
Fungizide . . . . . . . . . . . . . . . Organische Quecksilberverbindungen Organische Zinnverbindungen . . . . Dithiocarbamate, Thiurame . . . . . Thiadiazine . . . . . . . . . . . . . . Diphenyle, Benzimidazole . . . . . .
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316 317 317 318 319 320
6.4
Rodentizide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
7 R¨ uckst¨ande, technische Produkte und Gefahrstoffe Wolfgang Legrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323 323
7.1
R¨ uckst¨ande von Bioziden . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323
7.2
R¨ uckst¨ande von Arzneistoffen . . . . . . . . . . . . . . . .
329
7.3
R¨ uckst¨ande von Duftstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . .
330
7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5 7.4.6
R¨ uckst¨ande von hormonaktiven Stoffen . ¨ Xeno-Ostrogene aus Bioziden . . . . . . . ¨ Xeno-Ostrogene aus Industriechemikalien Xeno-Androgene . . . . . . . . . . . . . Xeno-Thyroxine . . . . . . . . . . . . . . ¨ Phyto-Ostrogene . . . . . . . . . . . . . . ¨ Myko-Ostrogene . . . . . . . . . . . . . .
331 333 334 337 337 338 339
7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.5.5
Biologische Nachweise von Substanzen Rezeptorbindung (in vitro) . . . . . . E-Screen-Assay . . . . . . . . . . . . . ¨ Reportergensysteme f¨ ur Ostrogene . . Vitellogenin-Test (ex vivo) . . . . . . Nagetiere (in vivo) . . . . . . . . . . .
7.6
Toxizit¨at technischer Produkte . . . . . . . . . . . . . . .
345
7.7
Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen
. . . . .
346
8 Atemgifte Christian Steffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349 349
8.1 8.1.1
Toxische Effekte auf die ¨außere Atmung . . . . . . . . . . Toxizit¨at des Sauerstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349 351
8.2
Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut . . . . . .
353
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¨ostrogener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . .
Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
340 340 341 342 343 344
XII
8.2.1 8.2.2 8.2.2.1 8.2.2.2
Inhaltsverzeichnis
. . . .
353 354 355 357
Toxische Effekte auf die innere Atmung . . . . . . . . . . Vergiftung durch Cyanwasserstoff (Blaus¨aure) . . . . . . . Vergiftung durch Schwefelwasserstoff . . . . . . . . . . . .
359 359 362
9 Karzinogenese Achim Aigner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365 365
9.1
Krebserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
9.2
Tumorentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
368
9.3
Karzinogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
9.4
Genotoxizit¨at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
372
9.5
Molekulare Mechanismen der Genotoxizit¨at . . . . . . . .
372
9.6 9.6.1 9.6.2
Genotoxische Stoffe und Stoffklassen . . . . . . . . . . . . Direkt genotoxisch wirkende Stoffe . . . . . . . . . . . . . Indirekt genotoxisch wirkende Stoffe . . . . . . . . . . . .
379 379 394
9.7 9.7.1 9.7.2 9.7.3 9.7.4
Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung . . Tests auf DNA-Adduktbildung . . . . . . . Tests an Mikroorganismen . . . . . . . . . Test an Warmbl¨ uterzellen (S¨augetierzellen) Tests am Tier . . . . . . . . . . . . . . . .
407 408 409 412 418
8.3 8.3.1 8.3.2
Kohlenmonoxid . . . . . . . . . Meth¨amoglobinbildner . . . . . . Direkte Meth¨amoglobinbildner . Indirekte Meth¨amoglobinbildner
. . . .
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. . . . .
III Behandlungsprinzipien
421
10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung Thomas R. H. B¨ uch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
423 423
10.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
423
10.2 10.2.1 10.2.2
Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen . . . . . . . . . Erste Maßnahmen durch den Laien . . . . . . . . . . . . . Asservierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429 430 432
10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.3.1
Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption . . Dekontamination der Haut . . . . . . . . . . . . . . Augenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orale Vergiftung: Entsch¨arfen“ vor der Resorption . ” Gabe von Entsch¨aumern . . . . . . . . . . . . . . .
433 433 433 437 437
. . . . .
. . . . .
. . . . .
Inhaltsverzeichnis
XIII
10.3.3.2 Aktivkohle-Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3.3 Induziertes Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3.4 Magensp¨ ulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
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. . . . .
. . . . .
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438 439 439
10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.2.1 10.4.2.2
Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption . . Behandlung mit Antidoten (Gegengiften) . . Sekund¨are Giftentfernung . . . . . . . . . . . Forcierte Diurese . . . . . . . . . . . . . . . . Extrakorporale Methoden der Giftelimination
. . . . .
440 441 442 442 443
10.5
Informationszentren f¨ ur Vergiftungsf¨alle . . . . . . . . . .
444
10.6
Frei zug¨angliche Informationen im Internet . . . . . . . .
446
Glossar
449
Literaturverweise
461
Index
465
Teil I Theoretische Toxikologie
1
Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie G¨ unter Fred Fuhrmann
1.1
Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie
Toxikologie ist die Lehre von den Giften. Der Begriff Toxikon, toxiκon, stammt aus dem Griechischen und bedeutet das Pfeilgift. Der Pfeil besteht als Wurfgeschoss aus einem h¨olzernen, ganz gerade gestellten Pfeilschaft und einer am vorderen Ende angebrachten, dreieckigen oder l¨angsovalen Pfeilspitze aus hartem Holz, Horn- oder Knochenst¨ ucken, Steinsplittern oder Metall. H¨aufig wurden die Pfeilspitzen mit einer Reihe pflanzlicher oder tierischer Gifte versehen, welche gew¨ohnlich schnell und sicher den Tod herbeif¨ uhrten. Gegen¨ uber den pflanzlichen Pfeilgiften treten die tierischen an Bedeutung und Zahl zur¨ uck. Von letzteren benutzten im Altertum die Skythen verfaultes Menschenblut oder einen Auszug aus halbverwesten Schlangen. Die Pfeilgifte aus Pflanzen k¨onnen nach ihren verschiedenartigen Wirkungen folgendermaßen eingeteilt werden: • Erstens in Pfeilgifte, die ¨ ortliche Entz¨ undungen hervorrufen, z. B. Ranunculus Thora, dessen Wurzelstock schon die Gallier als Pfeilgifte gebrauchten, außerdem wurde dazu der a¨tzende Saft von tropischen Wolfsmilchgew¨achsen und die in Guyana beheimatete Pflanze Arum venenatum benutzt. • Zweitens in Pfeilgifte, die die Atmung l¨ahmen, z. B. der Saft einiger AconitumArten, wie Aconitum ferox, ein h¨ochst wirksames indisches Pfeilgift. • Drittens in Pfeilgifte mit hemmender Wirkung auf das Herz. Hierf¨ ur gelten z. B. Antiaris toxicaria, Upasbaum auf Java und Borneo, mit dem Glycosid Antiarin, die in Afrika heimische Acocanthera mit dem sehr giftigen Glycosid Ouabain sowie Strophanthus komb´e und Erythrophleum guinense der Guineak¨ uste mit dem Alkaloid Erythrophlein.
4
Kapitel 1 Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie
• Weiterhin Pfeilgifte, die als ausgesprochene Krampfgifte gelten. Dazu geh¨oren gewisse Strychnos-Arten und der von den Hottentotten benutzte Haemanthus toxicarius. • Letztlich ist das Pfeilgift Curare zu nennen, welches die Muskelkontraktion blockiert. Dieses ist wohl das bekannteste unter den Pfeilgiften, es wurde von den Indianern S¨ udamerikas benutzt. Die Molekularbiologie hat den Rezeptor f¨ ur das Curare am Muskel aufgekl¨art. Der Rezeptor bildet in der Muskelzellmembran einen Kanal f¨ ur Kaliumund Natrium-Ionen, der erst bei der Besetzung mit dem k¨orpereigenen Signalstoff Acetylcholin ge¨offnet wird und den Ionenfluß mit nachfolgender Muskelkontraktion ausl¨ost. Das Curare ist eine Substanz, die mit hoher Affinit¨at anstelle des Acetylcholins den Rezeptor besetzt und verhindert, dass eine Muskelkontraktion ausgel¨ost wird. Die Folge ist, dass das vom Curare-Pfeil getroffene Lebewesen zuerst bewegungsunf¨ahig wird. Nachdem eine vermehrte Speichelsekretion, Kopfschmerzen, Harndrang und Mattigkeit vorangegangen sind, wird zuletzt die Atemmuskulatur vom Curare gehemmt. Das Lebewesen erstickt bei vollem Bewusstsein. Die Substanz, die hier einen grausamen Tod bewirkt, wird in der heutigen Medizin als Medikament eingesetzt. Die modernen Indianer, die Narkose¨arzte, stehen im Operationsraum und verabreichen mit einer Spritze dem mechanisch beatmeten Patienten Curare (Medikamente aus der Gruppe der Muskelrelaxantien), um hiermit eine perfekte Muskelerschlaffung f¨ ur den Operateur zu erzeugen. Daneben werden noch andere Medikamente verabreicht, die eine Bewusst- und Schmerzlosigkeit bewirken. Dem f¨ ur Jagd und f¨ ur kriegerische Auseinandersetzungen benutzten Pfeilgift, Toxikon, steht die Verwendung solcher und anderer Gifte zum Mord gegen¨ uber. Mord wurde und wird auch heute noch vielf¨altig durch Gifte praktiziert. In der Zeit um Christi Geburt wurde Mord durch Vergiften nicht als ein kriminelles Delikt angesehen. Gegen die Giftdarreichung bestanden oft wenig Bedenken, weil der Tod dadurch mehr einem nat¨ urlichen a¨hnelte. Einen tiefsitzenden Eindruck hat die Vergiftung des Sokrates durch das Gift des Schierlings im Jahre 399 vor Christus auf uns gemacht. Der Giftbereiter unterrichtete Sokrates, dass er nach dem Trunk aus dem Schierlingsbecher nichts weiter zu tun habe als herumzugehen, bis die Beine schwer werden, um sich dann hinzulegen. Die heute bekannte toxische Wirkung des Schierlings verursacht – durch seinen Gehalt an den Alkaloiden Coniin und Conydrin unter anderen Giften – eine L¨ahmung der peripheren Nerven, des R¨ uckenmarks und des Gehirns. Das Stadium der Muskell¨ahmungen gipfelt in dem Angstgef¨ uhl
1.1 Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie
5
der Erstickung, verbunden mit einem K¨altegef¨ uhl in der Hautdecke. Im Gehirn versagt zus¨atzlich das Atemzentrum, so dass der Vergiftete erstickt, w¨ahrend das Bewusstsein wie bei Curare bis zuletzt erhalten bleibt. Besonders gef¨ahrdet, vergiftet zu werden, waren die m¨achtigen Regenten und Eheleute mit reicher Mitgift. Um sich vor einer m¨oglichen Vergiftung mit Nahrungsmitteln zu sch¨ utzen, wurde ein Vorkoster eingesetzt. Eine andere Vorsorge, sich gegen Gifte immun zu machen, wird von dem K¨onig von Pontos, Mithridates Eupator, berichtet. Seine Erfindung bestand in der t¨aglichen Einnahme von 54 verschiedenen Giften in kleinen Mengen, um seinen K¨orper allgemein unempfindlich gegen Gifte zu machen. Nach seiner Erfindung wird ein universelles Antidot (Gegengift) auch als ein Mithridatium bezeichnet. Der Sage nach konnte der in Gefangenschaft geratene K¨onig durch Gifte keinen Selbstmord begehen, so dass ihm ein Leibw¨achter mit dem Schwert das Leben nehmen musste. Im Mittelalter erweitert besonders der Schweizer Arzt aus Einsiedeln, Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493 – 1541), unsere Vorstellungen u ¨ber die Giftwirkung. Er verordnete chemisch definierte Substanzen so erfolgreich als Arzneien, dass er aus Missgunst der Giftmischerei bezichtigt wurde. Seine eigene Verteidigung gegen diese Anklage bestand aus dem heute noch g¨ ultigen Satz: Wenn ihr jedes Gift richtig erkl¨ aren wollet, was ist dann kein Gift? ” Alle Dinge sind ein Gift und nichts ist ohne Gift, nur die Dosis bewirkt, dass ein Ding kein Gift ist.“ F¨ ur den menschlichen und tierischen Organismus bedeutet dies, dass die bloße Anwesenheit einer potentiell giftigen Substanz nicht notwendigerweise auch zu einer Vergiftung f¨ uhren muss. Auf die Medizin angewandt gilt, dass jedes ¨ Medikament, welches im Uberschuss eingenommen wird, auch ein Gift ist. Ein anderer wichtiger Beitrag war sein Buch mit dem Titel Bergsucht “ (1533 – ” 1534), das eine ausf¨ uhrliche medizinische Beschreibung von gewerbsm¨aßigen Vergiftungen bei Bergleuten beinhaltet. Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert entsteht die Toxikologie als eine wissenschaftliche Disziplin in den H¨anden von Mattieu Joseph Bonaventura Orfila (1787 – 1853), einem spanischen Arzt, der einen Lehrstuhl an der Universit¨at von Paris innehatte. Seine chemischen und biologischen Erkenntnisse u ¨ber toxische Wirkungen verdankt er vielen Versuchen an Hunden. Orfila definierte die Toxikologie als die Lehre von den Giften und erkl¨arte sie zu einer separaten Disziplin. Außerdem schrieb er ein erstes Lehrbuch der Toxikologie und handelte darin die Gifte nach systematischen Gesichtspunkten ab.
6
1.2
Kapitel 1 Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie
Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie
Die Toxikologie wird definiert als die Lehre von den sch¨adlichen Wirkungen chemischer Substanzen auf lebende Organismen. Der Begriff Pharmakon, farmaκon, bedeutet von der griechischen etymologischen Wurzel her soviel wie Spruch des Heils- oder aber auch des Schadenszaubers. Eine heidnische Zauberformel zum Heilen eines verrenkten Pferdefußes ist uns in den Merseburger Zauberspr¨ uchen aus dem 10. Jahrhundert u ¨berliefert worden: ben zi bena – bluot zi bluoda – lid zi geliden sosegelimida sin“. ” Im Gegensatz zum Toxikon beinhaltet das Pharmakon beides, den Begriff des Heilmittel und des Giftes. Wir gebrauchen jedoch heute vorzugsweise den Ausdruck Pharmakon gleichbedeutend mit Heilmittel oder Medikament. Pharmakologie ist also die Lehre von den Wirkungen der Heilmittel oder Medikamente auf gesunde und kranke Organismen, oder allgemeiner abgefasst: Pharmakologie ist die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen chemischen Substanzen und lebenden Organismen. Nach der letzten Definition ist auch die Toxikologie nur ein Teilgebiet der Pharmakologie. Als Wirkstoffe bezeichnet man chemische Substanzen, welche in einem lebenden Organismus biologische Wirkungen hervorrufen, die sich als quantitative und qualitative Ver¨anderungen in diesem Organismus zu erkennen geben. Neben den Begriffen Gift und Medikament kennen wir noch den wertfreien Ausdruck Fremdstoff oder Xenobiotikum (Xenos, griechisch, der Fremde). Zum Nachweis und zur Analyse von biologischen Wirkungen werden physikalische und chemische Methoden verwendet, die vorwiegend aus den der Pharmakologie und Toxikologie benachbarten Disziplinen wie Biochemie, Physiologie, Mikrobiologie, Morphologie und Pathologie entnommen worden sind. In der Wirkungsanalyse nimmt das Experiment an lebenden Organismen eine Schl¨ usselstellung ein.
1.2.1
Wirkungscharakteristika
Pharmakologische, xenobiotische und toxische Wirkungen sind durch chemische Substanzen ausgel¨oste Ver¨anderungen an Organismen. Sie k¨onnen sich direkt am Ort, der Applikationsstelle, auswirken, dann handelt es sich um eine lokale Wirkung, oder erst nach einer Aufnahme in den Organismus und Verteilung in demselben manifest werden, dann spricht man von einer sys-
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie
7
temischen Wirkung. Eine lokale Wirkung zeigt sich meist sofort an der Stelle des Organismus, die mit dem Wirkstoff in Ber¨ uhrung gekommen ist, das geschieht beispielsweise beim Hautkontakt mit S¨auren oder Basen. Die meisten Substanzen wirken jedoch systemisch. Da aber die systemische Wirkung erst die Aufnahme oder Resorption eines Wirkstoffes in den Organismus zur Voraussetzung hat, wird anstelle von systemischer Wirkung auch der Begriff resorptive Wirkung verwendet. Die Einwirkungen auf den Organismus k¨onnen reversibel oder auch irreversibel sein. Wirken sie sofort, so sind es akute Effekte (acute; engl. pl¨otzlich auftretend, schnell, heftig verlaufend). Treten sie erst nach l¨angerer Zeit durch Aufaddieren kleinerer Mengen von Substanzen im Organismus auf, so werden sie als chronische Effekte (chronic; engl. langsam sich entwickelnde, langsam verlaufende) bezeichnet. Die Wirkungsgr¨ oße einer toxischen Substanz kann durch drei Parameter charakterisiert werden: • die Wirkungsqualit¨ at (Art der Wirkung), • die Wirkungsst¨ arke (Intensit¨at der Wirkung), • die Wirkungszeit (Dauer der Wirkung). Es besteht dabei ein direkter Zusammenhang von Wirkungsst¨arke und Wirkungszeit mit der Konzentration der toxischen Substanz im Organismus. Die Konzentration der toxischen Substanz kann verh¨altnism¨aßig einfach im Blut gemessen werden. Der Zusammenhang wird in dem folgenden Schema der Abbildung 1.1 wiedergegeben.
1.2.2
Aufgabengebiete der Toxikologie
Das Aufgabengebiet der Toxikologie ist sehr umfangreich, so dass man zweckm¨aßigerweise Unterteilungen vornimmt, zum Beispiel nach der Art der Substanzen oder den Umst¨anden, unter denen toxische Wirkungen eintreten k¨onnen. Die gew¨ahlte Aufz¨ahlung ist nicht vollst¨andig und kann beliebig erweitert werden. • Umwelttoxikologie Die Verschmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens ist haupts¨achlich durch die Aktivit¨aten der Menschen hervorgerufen. Die R¨ uckwirkung auf den Menschen zwingt uns zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Problem. Ein positives Beispiel stellen die von den USA ausgegangenen Anstrengungen dar, das Bleitetraethyl aus dem Fahrzeugkraftstoff zu entfernen. Dies hat zu einem deutlichen R¨ uckgang der Umweltbelastung durch Blei gef¨ uhrt.
8
Kapitel 1 Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie
Invasion Evasion 3
maximale Wirkung 2
Wirkungsstärke
1
Wirkung
Konzentration im Blut
4
minimale Wirkung
Wirkungszeit 0
0
tmax
25
50 50
Zeit
Abbildung 1.1 Zeitlicher Verlauf der Konzentration einer toxischen Substanz im Blut. Bis zum Zeitpunkt maximaler Wirkung (tmax ) erfolgt die Invasion der Substanz in den Organismus, danach die Evasion (Ausscheidung). Die Wirkung tritt auf, wenn die minimale Wirkkonzentration u ¨berschritten ist (Latenz), und endet beim Unterschreiten dieser Konzentration. Der Zeitraum dazwischen ist die Wirkungszeit (Dauer der Wirkung).
Im Gr¨onlandeis konnte in den letzten Jahren eine Abnahme des Bleigehaltes auf 1/4 gemessen werden. Ein negatives Beispiel ist unser ungebremstes Konsumverhalten, in dessen Folge die Bodensch¨atze aufgebraucht und gleichzeitig riesige Mengen von Abf¨allen produziert werden. Diese m¨ ussen dann m¨oglichst unsch¨adlich und kosteng¨ unstig entsorgt bzw. abgelagert werden. • Nahrungsmitteltoxikologie Die Nahrungsmitteltoxikologie untersucht Schadwirkungen nat¨ urlicher und synthetischer Nahrungsmittel. Eine besondere Rolle spielen auch Zus¨atze wie Farbstoffe, Konservierungsmittel, F¨ ullstoffe, Emulgatoren und Antibiotika. Außerdem wird das Trinkwasser auf sch¨adliche Zusatzstoffe getestet. • Arzneimitteltoxikologie In der Arzneimitteltoxikologie wird vor der Einf¨ uhrung eines potentiellen Arzneimittels in der experimentell-pharmakologischen Phase (vorklinische Phase) eine gr¨ undliche tierexperimentelle Pr¨ ufung durchgef¨ uhrt (Arzneimittelgesetz).
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie
9
Diese Pr¨ ufung dient der Feststellung, welche m¨oglichen unerw¨ unschten toxische Wirkungen Nebenwirkungen) das neue Arzneimittel außer der gew¨ unschten Wirkung besitzt. Auf diese Weise werden erste Hinweise auf die Sicherheit des potentiellen Arzneimittels gewonnen. Die sogenannte therapeutische Brei” te“ gibt dabei eine erste Auskunft u ¨ber den Konzentrationsabstand zwischen gew¨ unschten und toxischen Wirkungen. Die Haupt- und Nebenwirkungen, die bei der Anwendung aufgetreten sind, m¨ ussen durch exakte experimentelle Untersuchungen m¨oglichst bis hin zur Ebene der Molekularbiologie aufgekl¨art werden. Beim Absch¨atzen des toxischen Risikos von Arzneimitteln nehmen neben den Tierversuchen auch Untersuchungen am Menschen eine besondere Stellung ein. So werden bereits im fr¨ uhen Stadium der Entwicklung erste Vertr¨aglichkeitspr¨ ufungen an Gesunden durchgef¨ uhrt. Neben der Reinheit des Stoffes (Arzneimittels) sind schließlich die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit die wichtigen S¨aulen der Zulassung zum Arzneimittel. • Klinische Toxikologie Dieser Zweig der Toxikologie besch¨aftigt sich mit der Diagnose und Therapie akuter Vergiftungen. Eigens eingerichtete Informationszentren f¨ ur Vergiftungsf¨alle k¨onnen Ausk¨ unfte und Vorschl¨age zur Behandlung bei Notf¨allen geben. Im Kapitel 10.5 sind die bestehenden Informationszentren f¨ ur Vergiftungsf¨alle in der Bundesrepublik Deutschland mit 24-Stunden-Dienst aufgelistet. Der Klinischen Toxikologie kommt die Aufgabe zu, neue oder bereits im Handel befindliche Medikamente am Menschen auf Toxizit¨at zu testen. • Gewerbetoxikologie Dieses Teilgebiet umfasst alle Arten der gewerblichen Vergiftungen. Es befasst sich mit akuten und chronischen Vergiftungen durch Arbeitsstoffe, dem Risiko am Arbeitsplatz und dem Berufskrebs. Besondere Anstrengungen gehen von der modernen chemischen Industrie aus, solche Vergiftungen durch Vorsorge- und Verh¨ utungsmaßnahmen sowie Toleranzgrenzen f¨ ur Giftstoffe zu vermeiden. In industriellen Großbetrieben ist fast immer eine betriebs¨arztliche ¨ Abteilung vorhanden, die f¨ ur die medizinische Uberwachung der Betriebsangeh¨origen verantwortlich ist. • Wehrtoxikologie Diese Disziplin besch¨aftigt sich mit atomaren, biologischen und chemischen Kriegswaffen, den sogenannten ABC-Waffen. • Toxikologie der Biozide Der große Bedarf an Nahrungsmitteln kann nur durch Einsatz von Sch¨ adlingsbek¨ampfungsmaßnahmen erbracht werden. Hierf¨ ur werden die sogenannten
10
Kapitel 1 Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie
Biozide eingesetzt, zu denen Insektizide, Herbizide, Fungizide, Bakterizide, Rodentizide, Vermizide etc. gerechnet werden. Der Einsatz solcher Substanzen birgt nicht unerhebliche Gefahren f¨ ur den Menschen und die Tiere in sich.
1.2.3
Methoden der Toxizit¨ atspr¨ ufung
Anhand des Eintritts der toxischen Manifestation unterscheidet man an Substanzen eine: • akute Toxizit¨ at, • subakute Toxizit¨ at, • chronische Toxizit¨ at. Bei der akuten Toxizit¨ at tritt die Wirkung nach einmaligem Kontakt mit Giftstoffen innerhalb kurzer Zeit auf (maximal 24 Stunden). Intoxikationen, die akut beginnen, aber weniger heftig und rasch verlaufen, werden vielfach als subakute Vergiftungen bezeichnet. Eine chronische Toxizit¨ at hingegen a¨ußert sich oft erst nach wochen- oder monatelanger Schadstoffeinwirkung. F¨ ur eine chronische Vergiftung ist charakteristisch, dass sie sich unter der Einwirkung von wiederholten kleinen Giftdosen ausbildet, die jede f¨ ur sich allein nur eine schwache oder gar nicht bemerkbare Giftwirkung hervorruft. Im Verlauf von chronischer Gifteinwirkung kann das Gift im K¨orper kumulieren. Eine toxische Wirkung kann man chemisch oder physikalisch messen. Bei einer akuten Vergiftung mit z. B. Kohlenmonoxid ver¨andert sich das Absorptionsspektrum des Blutfarbstoffes H¨amoglobin, und seine Sauerstoffbindungskapazit¨at nimmt durch die CO-Verdr¨angung ab. Erst bei einem Gehalt von 30 bis 40 % CO-H¨amoglobin treten hierbei klinische Vergiftungssymptome auf. Es kommt zu Kopfschmerzen, Ohrensausen, Schwindel, Benommenheit, Bewusstlosigkeit und Pupillenerweiterung. Bei 60 bis 65 % ist eine tiefe Bewusstlosigkeit erreicht, Kr¨ampfe treten auf, und die Ateml¨ahmung f¨ uhrt schließlich zum Tod. Wegen der hellroten Farbe des CO-H¨amoglobins zeigt der Vergiftete eine frische, rosige Hautfarbe, die noch nach dem Tode erhalten bleibt. Quantitativ bestimmen wir bei akuten toxischen Wirkungen die Konzentrationen, die messbare biologische oder toxische Effekte hervorrufen. Diese k¨onnen ¨ wie beim H¨amoglobin durch eine Anderung der Lichtabsorption gemessen werden. H¨aufiger wird jedoch die Wirkung durch den Prozentsatz der reagierenden Individuen ausgedr¨ uckt, bei denen sich nach Verabreichung einer toxischen Substanz ein eindeutiges biologisches Ereignis, wie z. B. Bewusstlosigkeit oder sogar Tod, zeigt. Die toxische Konzentration wird analog zu mol pro Liter in mol pro kg K¨orpergewicht angegeben.
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie
11
Wenn man die Konzentration einer toxischen Substanz logarithmisch in mol/kg gegen den Prozentsatz der reagierenden Individuen auftr¨agt, so erh¨alt man meist eine S-f¨ormige Kurve. In der Abbildung 1.2 sind auf diese Weise zwei toxische Ereignisse dargestellt. Die erste Kurve gibt z. B. das Eintreten von Bewusstlosigkeit als toxische Wirkung und die zweite den Tod als letale Wirkung wieder. Aufgrund des Kurvenverlaufes kann aus der graphischen Darstellung die Konzentration am Wendepunkt genau bestimmt werden. Diese gibt die Halbs¨ attigungskonzentration als TD50 (toxische Dosis = TD) und als LD50 (letale Dosis = LD) bei einer toxischen und einer t¨odlichen Wirkung ur toxische Substanzen, die wieder. TD50 und LD50 sind somit Maßzahlen f¨ eine Absch¨atzung des Risikos erm¨oglichen. Die Dosis bezieht sich immer auf ein Volumen, hier auf ein kg K¨orpergewicht, sie ist daher vom Prinzip her eine Konzentration und nicht, wie der Name Dosis (gr. Gabe) vermuten l¨asst, nur eine Mengenangabe.
% reagierender Individuen
100
toxische Wirkung
50
letale Wirkung
TD50
0 -5
-4
-3
LD50 -2
-1
0
1
2
log mol/kg Abbildung 1.2 Dosis-Wirkungskurve
TD50 - und LD50 -Werte von toxischen Substanzen sind beim Menschen nur f¨ ur relativ wenige Substanzen genau bekannt (siehe Kapitel 5.4.2). Es existieren meist nur Einzelbeobachtungen infolge von Vergiftungsf¨allen oder aufgrund von Suizidversuchen.
12
Kapitel 1 Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie
Genauere Kenntnisse u ¨ber letale Konzentrationen besitzen wir dagegen aus Tierversuchen. Die am meisten verwendeten Tierarten sind weiße M¨ause und Ratten, aber auch Meerschweinchen, Kaninchen oder andere Tiere. Das Versuchsergebnis ist besser gesichert, wenn man mehrere Tierarten einsetzt, da die toxische Wirkung von Tierart zu Tierart quantitativ variieren kann. Die ¨ Ubertragung der Ergebnisse von Tierversuchen auf den Menschen ist prinzipiell m¨oglich, aber schwierig. H¨ohere S¨augetiere besitzen hinsichtlich der Anatomie, ¨ ¨ Biochemie und Physiologie große Ubereinstimmungen und Ahnlichkeiten mit dem Menschen. Daher stimmt auch grunds¨atzlich der Verlauf von Vergiftun¨ gen bei Mensch und Tier u ¨berein. Ein Problem bei der Ubertragung vom Versuchstier auf den Menschen, wie auch schon zwischen verschiedenen Tierarten beschrieben, liegt jedoch in der oft vorhandenen quantitativ unterschiedlichen Empfindlichkeit. Diese Unterschiede betreffen meist die Geschwindigkeit der Aufnahme, des metabolischen Abbaus und der Ausscheidung der toxischen Substanz. F¨ ur den Vergleich der Toxizit¨at zweier verschiedener toxischer Substanzen anhand von z. B. LD50 -Werten m¨ ussen weiter die chemische Form der Substanz, die Tierart, das Geschlecht sowie Alter des Tieres und die Art der Aufnahme in Betracht gezogen werden. Die zu pr¨ ufende Substanz kann den Tieren auf verschiedene Weise verabreicht werden. Eine Aufnahme mit der Nahrung oder durch die Schnauze nennt man oral (or : durch den Mund, per os, po), eine Applikation mit einer Spritze in die Bauchh¨ohle injiziert heißt intraperitoneal (ip), eine Verabreichung auf die Haut dermal, unter die Haut gespritzt subcutan (sc) und eine Injektion in die Vene intraven¨os (iv ). Es liegt auf der Hand, dass eine direkt in die Vene und damit in die Blutbahn injizierte Substanz toxischer wirkt als eine oral applizierte Substanz, die erst vom Darm aufgenommen und mit dem Blut verteilt wird. Neben der Angabe LD50 f¨ ur eine Substanz ist also der Verabreichungsweg sowie die Tierart wichtig. Folgende Beispiele seien aufgef¨ uhrt: • LD50 (ip, Maus) = die Dosis (mol/kg), die 50 % der M¨ause nach intraperitonealer Verabreichung t¨otet. • LD50 (or, Ratte) = die Dosis (mol/kg), die 50 % der Ratten nach oraler Verabreichung t¨otet. ¨ber mehrere Zehnerpotenzen variieren k¨onnen, wurde der Da die LD50 -Werte u Begriff der potentiellen Toxizit¨ at (pT50 ) eingef¨ uhrt (T. D. Luckey und B. Venugopal, 1977). Dabei ist (T) die molare Konzentration einer Substanz in mol/kg K¨orpergewicht. Analog dem pH-Konzept gilt: • pT = - log (T) und LD50 = T50 , somit ergibt sich • pT50 = - log (LD50 ).
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie
13
Eine toxische Substanz mit einer LD50 von 0,001 mol/kg besitzt dann eine T50 von 10−3 oder eine pT50 von 3. Durch diese Definition lassen sich toxische Substanzen u ¨bersichtlich in Klassen einteilen. Tabelle 1.1 gibt eine toxikologische Interpretation dieser pT50 Klassen wieder. Tabelle 1.1 Toxikologische Interpretation der pT50 Klassen Klassen super-toxisch extrem-toxisch hoch-toxisch m¨aßig-toxisch gering-toxisch praktisch nicht toxisch relativ harmlos harmlos
pT50
mol/kg K¨ orpergewicht LD50 oral
6 5 4 3 2 1 0 -1
0,000 001 0,000 01 0,000 1 0,001 0,01 0,1 1 10
F¨ ur die Beurteilung der akuten Toxizit¨at spielen weiterhin die Pr¨ ufungen der Substanz auf reizende und ¨atzende Eigenschaften und auf Allergisierung (Sensibilisierung) der Haut eine wichtige Rolle. Unter diesen Pr¨ ufungen sind Tests auf Haut- und Augenreizung sowie auf eine Sensibilisierung beim Einatmen oder bei Hautkontakt zu verstehen. Die Allergisierung der Haut besitzt einen hohen Stellenwert bei der Beurteilung der Toxizit¨at, da eine einmal erfolgte Sensibilisierung gegen¨ uber einer bestimmten Substanz in der Regel zu einer langdauernden oder sogar irreversiblen Allergisierung bei erneutem Kontakt f¨ uhrt. ¨ Tabelle 1.2 zeigt eine Ubersicht von unterschiedlichen toxischen Substanzen, die M¨ausen intraperitoneal injiziert wurden (aus Luckey und Venugopal, 1977). An der Spitze steht das h¨ochsttoxische Botulinus-Toxin und am Ende die praktisch nicht-toxische Substanz Natriumchlorid Das Deutsche Chemikaliengesetz sowie internationale Pr¨ ufungsempfehlungen schreiben vor, dass nach Feststellung der akuten Toxizit¨at mit Bestimmung der LD50 auch die Wirkung der Substanz in Langzeitversuchen festgestellt werden muss. Die Pr¨ ufung auf subakute Toxizit¨at hat grunds¨atzlich an einer Nagetierart u ¨ber eine Dauer von mindestens 28 Tagen zu erfolgen. Diese Versuche dienen auch zur Festlegung des Konzentrationsbereiches f¨ ur l¨angerfristige Versuche. Im einzelnen sollen folgende Ziele erreicht werden: • Erkennung des toxikologischen Wirkprofiles, • Bestimmung des Zielorganes der toxischen Substanz, • Kl¨arung der Reversibilit¨at der aufgetretenen Effekte.
14
Kapitel 1 Einf¨ uhrung in die Theoretische Toxikologie
¨ Tabelle 1.2 Ubersicht unterschiedlicher toxischer Substanzen, die M¨ ausen intraperitoneal injiziert wurden (aus Lucky und Venugopal, 1977). An der Spitze steht das h¨ ochsttoxische Botulinus-Toxin und am Ende die praktisch nicht toxische Substanz Natrium-Chlorid. Substanzen Botulinustoxin D Tetanustoxin Saxitoxin Strychnin Hg (II)-Chlorid Natrium-Arsenat Thalliumchlorid Cyanwasserstoff Morphin Coffein Natriumfluorid Natriumchlorid
mg/kg
mol/kg
pT50
3, 20 · 10−7 1, 67 · 10−6 3, 40 · 10−3 0,98 5 9 24 3 285 250 125 2, 60 · 103
3, 2 · 10−16 2, 53 · 10−14 9, 14 · 10−9 2, 93 · 10−6 1, 84 · 10−5 5, 49 · 10−5 1, 00 · 10−4 1, 11 · 10−4 9, 99 · 10−4 1, 29 · 10−3 2, 98 · 10−3 4, 45 · 10−2
15,49 13,60 8,04 5,53 4,74 4,26 4,00 3,95 3,00 2,95 2,53 1,35
Die chronische Toxizit¨at wird meist an zwei Tierarten mit a¨hnlichen biologischen Eigenschaften wie der Mensch, in drei verschiedenen Konzentrationen in einem Zeitraum von drei Monaten bis zu sieben Jahren, je nach Problemstellung, getestet. Die Ermittlung von Wirkungsschwellen bez¨ uglich der chronischen Toxizit¨at in Tierversuchen ist a¨ußerst schwierig, da neben den noch gerade wirksamen Konzentrationen (lowest observed effect level, LOEL) auch die Konzentrationen bestimmt werden m¨ ussen, bei denen alle Effekte ausbleiben (no observed effect level, NOEL). Das Ausbleiben toxischer Effekte kann nur durch Wahrscheinlichkeiten ausgedr¨ uckt werden und erfordert eine sehr große Anzahl von Versuchstieren. Außerdem l¨asst sich wegen der unterschiedlichen Ansprechbarkeit verschiedener Spezies eine absolute Sicherheit f¨ ur eine Substanz nicht ableiten. Der Gesetzgeber ist bestrebt, toxische Risiken durch Gesetze und Verordnungen so gering wie m¨oglich zu halten (acceptable daily intake, ADI-Werte). Biozide sind in der Regel leichter als Ursache von Vergiftungen zu ermitteln als der Zusatz toxischer Substanzen zu Nahrungsmitteln. Die Festlegung von maximalen Arbeitsplatz-Konzentrationen, MAK-Werte, bei deren Einhaltung in 8-Stunden-Schichten die Gesundheit auch bei langfristiger Besch¨aftigung nicht beeintr¨achtigt werden soll, sind ebenso ein wichtiger Beitrag zum GEsundheitaschutz wie die Festlegung von maximalen ImmissionsKonzentrationen, MIK-Werte, sowie von Biologischen Arbeitsstoff-Toleranzwerten, BAT-Werte bestimmter Stoffe. Bei den letzten Werten handelt es sich um Konzentrationen von Substanzen im Organismus selbst. F¨ ur Quecksilber im Urin wurde z. B. die obere Grenze von 30 mg/Liter festgelegt.
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie
15
Ein Problem bereiten Substanzen, die f¨ ur den Menschen karzinogen (krebserregend) wirken. Hier k¨onnen u ¨berhaupt keine Unbedenklichkeitsgrenzen festgelegt werden, da nach unseren derzeitigen Erkenntnissen keine Schwellenkonzentrationen f¨ ur karzinogene Substanzen existieren, unterhalb derer eine Exposition ungef¨ahrlich ist. Unter Ber¨ ucksichtigung der technologischen M¨oglichkeiten sowie sozio¨okonomischen Gegebenheiten wurden f¨ ur solche Stoffe Technische Richtkonzentrationen, TRK-Werte, eingef¨ uhrt. Karzinogene sind im engeren Sinne solche Substanzen, die eine Umwandlung von normalen Zellen in Tumorzellen bewirken (siehe Kapitel 9). Die karzinogene Wirkung beruht auf einer chemischen Ver¨anderung des genetischen Materials. Aufgrund des genotoxischen Effektes kann man eine karzinogene Wirkung auch als mutagen bezeichnen. Erfahrungsgem¨aß besteht zwischen der ersten Exposition mit einer Chemikalie und der Manifestation der karzinogenen Wirkung beim Menschen eine lange Latenzzeit von etwa 8 bis 20 Jahren. Ein typischer Fall hierf¨ ur war das bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschriebene Karzinom der Harnblase bei Anilin-Arbeitern. Eine im Anilin vorhandene Verunreinigung, das b-Naphthylamin, reagierte dabei mit Zellen der Harnblase und f¨ uhrte nach etwa 8 bis 17 Jahren zu b¨osartigen (malignen) Tumoren. Um das Risiko einer karzinogenen Wirkung beim Menschen zu senken, ist besonders eine fr¨ uhe Erkennung des Gef¨ahrdungspotentials chemischer Substanzen erstrebenswert. Im Tierversuch ist die Erfassung einer karzinogenen Wirkung prinzipiell m¨oglich, aber mit einem außerordentlich hohen Aufwand an Zeit, Arbeit, Anzahl von Tieren und Kosten verbunden. Es hat daher nicht an Anstrengungen gefehlt, zus¨atzlich neue Testmethoden zu entwickeln, um Aussagen u ¨ber eine m¨ogliche mutagene und karzinogene Potenz einer Substanz zu machen. Dies ist auch tats¨achlich durch eine Reihe sogenannter Short-Term ” Tests“, wie z. B. dem Mutagenit¨atstest nach Ames an Bakterien, gelungen (siehe Kapitel 9.7). Keiner dieser Tests kann jedoch eine sichere Aussage u ¨ ber eine potentielle gentoxische Wirkung beim Menschen machen, aber durch eine Kombination mehrerer geeigneter Tests kann die Richtigkeit einer Fr¨ uherkennung erheblich gesteigert werden. Es werden sowohl Genmutationen als auch Chromosomenaberrationen bei diesen Short-Term-Tests“ erfasst. ” Zur Pr¨ ufung einer m¨oglichen Sch¨adigung der Reproduktionsf¨ahigkeit oder der Fertilit¨at durch chemische Substanzen werden Studien u ¨ ber mehrere Generationen durchgef¨ uhrt und es wird die Anzahl der jeweiligen Nachkommenschaft bestimmt. Die heranwachsenden Jungtiere werden ebenfalls u ¨berpr¨ uft, um ei¨ ne m¨ogliche Ubertragung der toxischen Wirkung u ¨ber den Mutterleib zu erkennen. Diese Versuchsanordnung erlaubt Aussagen u ¨ber toxische Wirkungen w¨ahrend der f¨otalen Organentstehung und damit u ¨ber teratogene Wirkungen (fruchtsch¨adigende, von griechisch teras, Schreckbild, Ungeheuer).
2
Toxikokinetik G¨ unter Fred Fuhrmann
Die Wirkung einer toxischen Substanz ist meist die Folge zahlreicher physikalisch-chemischer Prozesse, die sich in einem lebenden Organismus abspielen. In der Regel l¨asst sich dabei eine Reaktionskette beschreiben, in der sich drei Anteile erkennen lassen: • die Expositionsphase, • die toxikokinetische Phase, • die toxikodynamische Phase. ¨ Uber die Umwelt sind Organismen st¨andig dem direkten Kontakt mit potentiell toxischen Xenobiotika ausgesetzt. Zus¨atzlich k¨onnen toxische Stoffe mit der Nahrung, dem Trinkwasser und der eingeatmeten Luft aufgenommen werden. Ob es zu Vergiftungen oder Sch¨adigungen kommt, h¨angt davon ab, wie leicht die Schadstoffe aufgrund ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften von der Haut, den Lungen oder dem Magen-Darm-Trakt in den Organismus aufgenommen werden. Die Expositionsphase bildet die Grundlage f¨ ur die zweite Phase, die toxikokinetische Phase, und aller invasiver Teilprozesse in Richtung auf den Wirkort. Hier am Wirkort l¨auft die dritte, die toxikodynamische Phase ab. Es erfolgt am Wirkort meist eine reversible Reaktion mit einem rezeptiven, funktionellen Teil (Rezeptor) des Organismus. Neben der Invasion stellt die Evasion einen zweiten Teilprozess der toxikokinetischen Phase dar. Bereits durch Bindung und Speicherung der toxischen Substanz erfolgt ein Abtransport vom Wirkort. Haupts¨ achlich wird durch den Stoffwechselumsatz (Biotransformation) und die Exkretion eine wirksame Konzentrationsminderung der toxischen Substanz am Wirkort erreicht. Ein lebender Organismus l¨asst sich auf die einfachste Weise als ein black” box-System“ darstellen. Es handelt sich um ein offenes dynamisches System mit einem Zufluss und einem Abfluss (Abbildung 2.1).
18
Kapitel 2 Toxikokinetik
Organismus Bindung Stoffwechsel Zufluss Aufnahme
Verteilung
WIRKORT Exkretion
Abfluss Ausscheidung
Speicher INVASION
EVASION
Abbildung 2.1 Schematische Darstellung von Bewegungsvorg¨ angen in einem Organismus.
Die Toxikokinetik, die in diesem Abschnitt behandelt wird, beschreibt also Bewegungen toxischer Substanzen in Bezug auf ihren Wirkort. Diese einfache Reaktionskette ist in der Realit¨at erheblich komplizierter durch das Vorhandensein mehrerer Wirkorte von unterschiedlicher Qualit¨at und Quantit¨at. Um das Verst¨andnis der toxikokinetischen Mechanismen zu erleichtern, soll hier nur eine vereinfachte Reaktionskette in Richtung auf den Wirkort und vom Wirkort weg beschrieben werden. Zum Abschluss dieses Kapitels werden mathematische Modelle behandelt, welche das Zusammenspiel von Invasion und Evasion in einzelnen K¨orperabschnitten und sogar im gesamten Organismus wiedergeben k¨ onnen.
2.1
Aufnahme von toxischen Substanzen
Die Expositionsphase wird umrissen mit der Hinbewegung einer toxischen Substanz zu den Resorptionsfl¨achen eines lebenden Organismus. Neben den physikalischen Gr¨oßen wie Zeit und Temperatur ist die biologische Beschaffenheit der Resorptionsoberfl¨achen von großer Bedeutung f¨ ur die Aufnahme der Substanzen in den Organismus. Die Gr¨oßenverh¨altnisse der Aufnahmefl¨achen des Menschen gibt Abbildung 2.2 maßstabgerecht wieder.
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen
19
Abbildung 2.2 Aufnahmefl¨ achen des Menschen. In der Mitte ein erwachsener Mensch und im gleichen Maßstab dazu die Oberfl¨ achen von Lungen, Haut und Magen-Darm-Trakt.
Die im Verh¨altnis zur K¨orpergr¨oße des Menschen großen inneren Oberfl¨achen sind notwendig, um den Stoffaustausch zu gew¨ahrleisten. Die Austauschfl¨ache der Lungen ist wichtig f¨ ur die Sauerstoffaufnahme und die Kohlendioxidabgabe. Es werden hierbei dieselben Wege f¨ ur beide Vorg¨ange benutzt. Der MagenDarm-Trakt fungiert als Einwegkanal f¨ ur die Aufnahme von fester und fl¨ ussiger Nahrung sowie f¨ ur die Ausscheidung von Stoffwechselschlacken und Exkrementen. Im Gegensatz zu Lungen und Magen-Darm-Trakt hat die Haut nur eine auffallend geringe Oberfl¨ache. Sie steht in unmittelbarem Kontakt mit der Umwelt und hat daher einen mehr protektiven Charakter. Sie ist außerdem verantwortlich f¨ ur den W¨armehaushalt und kann auch durch Schweißbildung Wasser und Salze ausscheiden. Ganz allgemein gilt, dass eine toxische Wirkung erst dann eintreten kann, wenn eine Aufnahme stattgefunden hat, die zu einer toxischen Konzentration der Substanz am Wirkort gef¨ uhrt hat. Dies gilt jedoch nicht f¨ ur einen radioaktiven Emittenten mit einer ausreichenden Eindringtiefe, der bereits von außen Gewebesch¨adigungen bewirken kann. Wegen ihrer großen Bedeutung f¨ ur die Aufnahme wird die Beschaffenheit der wichtigsten Resorptionsfl¨achen des Menschen im Zusammenhang mit den physikalisch-chemischen Eigenschaften einiger toxischer Substanzen dargestellt.
20
2.1.1
Kapitel 2 Toxikokinetik
Haut
Die Haut, welche den K¨orper eines Erwachsenen bedeckt, hat eine Oberfl¨ache von rund 1,8 m2 . Sie trennt durch ihren Aufbau den Menschen von seiner Umgebung, da sie nur eine geringe Durchl¨assigkeit (Permeabilit¨at) besitzt. Auf die ¨außere Epidermis folgt das Korium oder die Lederhaut, und darunter liegt die aus lockerem Bindegewebe und mehr oder minder reichlichem Fettgewebe aufgebaute Verschiebeschicht gegen die Unterlage, die Subcutis oder Unterhaut.
Abbildung 2.3 Aufbauschema der Haut mit Horn- und Keimschicht (Epidermis), Lederhaut (Korium) und Unterhautgewebe (Subcutis). Haarfollikel und Schweißdr¨ usen durchbrechen die Keim- und Hornschicht. In der Lederhaut und im Unterhautgewebe befinden sich die Blutgef¨ aße (Arterien, Venen) und Nerven mit Nervenendigungen Nervenpapille, Nervenendkolben etc.). Nach Brockhaus.
Das Haupthindernis f¨ ur den Eintritt von Substanzen ist die dicke Hornschicht (Stratum corneum) mit ihrem relativ geringen Wassergehalt von 5 bis 10 % als oberste Schicht der Epidemis. Die unterste Schicht der Epidermis ist die Keimschicht, sie zeigt die h¨ochste metabolische Aktivit¨at aller Hautschichten. Sie kann sowohl k¨orpereigene Substanzen als auch Fremdstoffe metabolisieren. Im Korium und in der Subcutis befinden sich kapillare Blutgef¨aße, die f¨ ur den
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen
21
Abtransport von toxischen Substanzen in das Kreislaufsystem verantwortlich sind. Die Hornschicht wird von Haarfollikeln und den Ausf¨ uhrungsg¨angen der Schweißdr¨ usen durchbrochen. Grunds¨atzlich kann die Aufnahme einer toxischen Substanz durch die Follikelsch¨achte, durch die Schweißdr¨ useng¨ange und durch die Hornschicht erfolgen. Der Anteil der ersten beiden Eintrittspforten wird jedoch nur auf 0,1 bis 1 % der Hautoberfl¨ache gesch¨atzt. Diese kleinen Eintrittspforten k¨onnen von Bedeutung sein f¨ ur den schnellen Eintritt kleiner Mengen hydrophiler, hochtoxischer Gifte. Die Hornschicht besitzt den Charakter einer mehrschichtigen Lipidmembran. W¨ahrend f¨ ur die Passage durch die unteren Schichten und f¨ ur den Eintritt in die Blutgef¨aße eine Hydrophilie ben¨otigt wird, erfordert die Hornschicht eine lipophile L¨oslichkeit der Substanzen. Die allermeisten Chemikalien m¨ ussen die Hornschicht passieren, die zu erreichende Aufnahme-Konzentration wird also durch die fl¨achenm¨aßige Ausdehnung dieser Schicht bestimmt. Dabei penetrieren kleine Molek¨ ule schneller als gr¨oßere, w¨ahrend hydrophile, hochmolekulare Substanzen wenig oder nicht aufgenommen werden. Die Permeabilit¨at durch die Hornschicht, die Hauptbarriere in der Haut, l¨asst sich in guter N¨aherung durch das Fick´sche Diffusionsgesetz beschreiben: dm/dt = Kd · Vk · (Hautoberfl¨ache/Dicke der Hornschicht) ·∆c Wobei dm/dt die Aufnahmegeschwindigkeit der Menge der penetrierenden Substanz (m) in der Zeit (t) ist. Kd ist die Diffusionskonstante der Substanz, Vk deren Verteilungskoeffizient (Verh¨altnis der Konzentration in der Lipidphase zur Konzentration in der Wasserphase) und ∆c die Konzentrationsdifferenz der Substanz zwischen der Oberfl¨ache und der Innenfl¨ache der Hornschicht. Das Diffusionsgesetz veranschaulicht sehr deutlich, dass die Aufnahmegeschwindigkeit einer lipophilen Substanz direkt proportional der Hautoberfl¨ ache und umgekehrt proportional der Dicke der Hornschicht ist. Das heißt mit anderen Worten, die Gefahr einer Vergiftung ist umso gr¨oßer, je gr¨oßer das kontaminierte Hautareal und je d¨ unner die Hornschicht ist. Die Hornschicht ist verschieden dick, am dicksten dort, wo sie am st¨arksten beansprucht wird. An den Fußsohlen, Handtellern und den Innenseiten der Finger kann sie eine Dicke von 400 bis 600 mm gegen¨ uber von nur 8 bis 15 mm an Armen, Beinen und am K¨orper besitzen. Beim Mann hat die Haut des Skrotums und bei der Frau die der kleinen Labien die d¨ unnste Hornschicht und ist damit am besten permeabel.
22
Kapitel 2 Toxikokinetik
Bei Kindern kommt das im Vergleich zum Erwachsenen gr¨oßere Verh¨altnis von Oberfl¨ache zu K¨orpergewicht zur Geltung. So resultieren beim Neugeborenen, unter a¨hnlichen Aufnahmebedingungen wie beim Erwachsenen, etwa dreifach h¨ohere Konzentrationen im Organismus. Eine Reihe von lipophilen Chemikalien k¨onnen die Haut in ausreichender Menge penetrieren und eine systemische toxische Wirkung verursachen. Hierzu geh¨oren neben vielen anderen Verbindungen z. B. organische Phosphate als Nervengase, verschiedene nicotinische Insektizide, Phenole, Tetrachlorkohlenstoff, metallorganische Verbindungen wie Bleitetraethyl und Karzinogene. Die Epidermis mit ihrer Hornschicht hat nicht nur eine Barrierefunktion f¨ ur viele Substanzen, sie u ¨bt auch wegen des niedrigen pH-Wertes, der zwischen 4,2 und 6,5 liegen kann, eine Schutzfunktion gegen Bakterien aus. Wird die Hornschicht zerst¨ort oder mechanisch abgetragen, k¨onnen hydrophile und lipophile Substanzen die Haut gleichermaßen penetrieren. Dies kann z. B. durch scheuernde Reinigungsmittel bewirkt werden oder durch organische L¨osungsmittel wie Benzin oder Terpentin, die die sch¨ utzende Fettschicht entfernen (siehe Kapitel 5). Auf der Haut f¨ uhren Phenole zu einer Unempfindlichkeit, was die Gefahr der Vergiftung durch Resorption beg¨ unstigt. Selbst schwere Schorfbildungen l¨osen dabei keine Schmerzen aus. Dringen die Phenole in tiefere Schichten ein, so kommt es durch Gef¨aßsch¨adigung zum Auftreten einer typischen Phenolgangr¨an (Gangr¨an, gr. fressendes Geschw¨ ur). Mit Salicyls¨aure kann die Hornschicht infolge ihrer keratolytischen Wirkung (Kerat, gr. Horn) aufgel¨ost werden. Dies wird z. B. bei der H¨ uhneraugenentfernung mit Salicyls¨aure kosmetisch ausgenutzt. Die besch¨adigte Haut ist schließlich auch die Eintrittspforte f¨ ur Substanzen, die als Allergene wirken und damit das Risiko einer Allergie erh¨ohen.
2.1.2
Schleimh¨aute
Im Vergleich zur Aufnahme von toxischen Substanzen durch die Haut ist die Aufnahme durch die Schleimh¨aute wesentlich intensiver, da eine Barriere ¨ahnlich der Hornschicht nicht vorhanden ist. Wie bei der Haut werden aber Chemikalien mit lipophilen Eigenschaften bevorzugt. Im allgemeinen haben Schleimh¨aute den Charakter einer Lipidmembran mit Poren, so dass sie auch f¨ ur hydrophile Substanzen beschr¨ankt durchl¨assig sind. Verschiedene toxische Substanzen k¨onnen u ¨ber die Schleimh¨aute der Nase, des Mund-Rachen-Raumes, der Bindehaut der Augen, der Harnleiter, der Blase oder der Scheide in den Blutkreislauf gelangen und systemische toxische Wirkungen verursachen. So wurden z. B. bei Blasensp¨ ulungen mit Bors¨aurel¨osung
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen
23
t¨odliche Vergiftungen beobachtet. Arsenik wurde fr¨ uher zu Mordzwecken in die Scheide eingebracht, Kokains¨ uchtige benutzen oft die Nasenschleimhaut als Resorptionsfl¨ache.
2.1.3
Verdauungstrakt
Eine Reihe von Umweltgiften gelangen mit der Nahrung in den Verdauungstrakt und k¨onnen von dort her in den Organismus aufgenommen werden. Schematisch kann der Verdauungstrakt als ein den Organismus durchziehender Kanal angesehen werden. Die Aufgaben des Kanals bestehen in der Aufnahme, der Zerkleinerung, der Fortbewegung und der Verdauung der Nahrung. Die Verdauung erfolgt mit Hilfe der Magens¨aure, der Verdauungsenzyme und der bakteriellen Darmflora. Die dabei entstehenden Produkte werden entweder von der Darmschleimhaut aufgenommen oder aber als Exkrete mit den Faeces, den aus der Verdauung u ¨brigbleibenden Massen, eliminiert. Toxische Substanzen k¨onnen ebenfalls in ver¨anderter Form wie die Nahrungsprodukte oder aber auch unver¨andert vom Verdauungstrakt aufgenommen oder ausgeschieden werden. Von der Gr¨oße der resorbierenden Fl¨ache imponiert am meisten der D¨ unndarm. Mit 100 bis 200 m2 erreicht die Fl¨ache die Gr¨oße eines Tennisplatzes. Danach folgen ebenfalls aus Sch¨atzwerten der Dickdarm mit 0,5 bis 1 m2 , der Magen mit 0,1 bis 0,2 m2 , w¨ahrend der Mastdarm nur 0,04 bis 0,07 m2 und die Mundh¨ohle etwa 0,02 m2 misst. Wie die Gr¨oßenverh¨altnisse bereits andeuten, ist die D¨ unndarmschleimhaut von gr¨oßter Bedeutung f¨ ur die Aufnahme (Abbildung 2.4). Die große Oberfl¨ache wird durch zwei Bauprinzipien erreicht. Erstens bilden die Schleimhaut (Mucosa) und die darunter liegende Schicht der Submucosa ringf¨ormige Querfalten (nicht gezeigt), die Plicae circulares, die an Zahl und Gr¨oße analw¨arts abnehmen, und zweitens erheben sich auf diesen und in ihren Zwischenr¨aumen etwa 1 mm hohe Zotten (Villi intestinales), die ebenfalls analw¨arts weniger werden. Die Gesamtzahl der Zotten wird auf etwa 4 bis 5 Millionen gesch¨atzt. Die resorbierende Zellschicht der D¨ unndarmschleimhaut ist haupts¨achlich das einschichtige Zottenepithel, ein metabolisch a¨ußerst aktives Zellgewebe. Wird diese Zellschicht durch toxische Substanzen gesch¨adigt, so werden die Zellen in den Darm abgestoßen, und das Zellepithel kann sich innerhalb von 2 bis 3 Tagen regenerieren. Auf diese Weise k¨onnen z. B. in das Zottenepithel aufgenommene und dort gespeicherte toxische Metalle mit den Faeces ausgeschieden werden. Ein anderer physiologischer Schutzeffekt, der durch eine Reizung der Darmschleimhaut hervorgerufen wird, f¨ uhrt zu schneller Darmpassage und zum Abf¨ uhren der toxischen Substanz (Diarrh¨oe).
24
Kapitel 2 Toxikokinetik
Abbildung 2.4 Schnitt durch die menschliche D¨ unndarmwand mit Schleimhaut (Zotten) und Muskelschichten. Die Zotten zeigen von links nach rechts jeweils das Nervengeflecht, die Lymphgef¨ aße, die arteriellen und ven¨ osen Blutgef¨ aße. Die Muskelschichten enthalten die zu- und ableitenden Blut- und Lymphgef¨ aße sowie die Nervenversorgung (submuc¨ oser Nervenplexus, Plexus myentericus) und werden nach unten von der Bauchfellschicht (Serosa mit Peritonaeum) begrenzt. Nach Bell et al. 1965, Textbook of Physiology and Biochemistry.
Im Zottenepithel eingelagert sind schleimbildende Zellen. Zwischen den Zottenwurzeln befinden sich kleine Darmdr¨ usen, die mit ihrem Sekret ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Bildung des Darmsaftes liefern. Der D¨ unndarmsaft enth¨alt neben Elektrolyten zahlreiche Enzyme, die besonders den Abbau der polymeren Kohlenhydrate und Proteine vollenden. T¨aglich werden vom Verdauungstrakt etwa 1,5 Liter Speichel, 1 bis 1,5 Liter Magensaft, 1,2 Liter Pankreassaft, 0,5 bis 1 Liter Gallenfl¨ ussigkeit und eine nicht genau bekannte Menge D¨ unndarmsaft gebildet. Insgesamt sch¨atzt man, dass die Verdauungss¨afte 8 Liter pro Tag u ¨bersteigen k¨onnen. Aus dieser Fl¨ ussigkeit werden im D¨ unndarm gel¨oste niedermolekulare Substanzen mit dem Wasser und im Dickdarm bevorzugt nur das Wasser resorbiert. Die Resorption toxischer Substanzen vom Verdauungstrakt wird von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt. Von seiten der Substanz ist deren Lipophilie, Molek¨ ulgr¨oße und ihr Dissoziationsgrad entscheidend. Auf der Seite
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen
25
des Magen-Darm-Traktes spielen neben den Oberfl¨achen die Durchblutung, die Passagezeit, die Nahrungsaufnahme und die unterschiedlichen pH-Werte in den verschiedenen Abschnitten eine Rolle. Den wesentlichsten Einfluss auf die Aufnahme einer toxischen Substanz hat ihre Lipophilie. Verallgemeinernd kann man die Auskleidung des Verdauungstraktes mit einer Lipidmembran vergleichen, die lipophile Substanzen leicht passieren l¨asst. Der Mageninhalt ist stark sauer (pH-Wert zwischen 1,5 bis 3), so dass sehr schwache Basen und schwache S¨auren wegen ihrer Lipophilie bereits hier aufgenommen werden k¨onnen. Wegen der relativ kleinen Oberfl¨ache des Magens ist jedoch diese Aufnahme im Vergleich zum D¨ unndarm von untergeordneter Bedeutung. Der pH-Wert im D¨ unndarm reicht vom Zw¨olffingerdarm ausgehend bis in die tieferen D¨ unndarmabschnitte von schwach sauer bis schwach alkalisch. Daher k¨onnen sowohl schwache S¨auren als auch schwache Basen eine ausreichende Konzentration in der nichtionisierten und damit in der resorbierbaren, lipophilen Form erreichen. Die Diffusion von kleinen hydrophilen Molek¨ ulen durch die Darmwand erkl¨art man durch Kan¨ale oder Poren, die von den Membranproteinen der Epithelzellen gebildet werden. Die Geschwindigkeit der Permeation h¨angt vom Konzentrationsgradienten ab und nimmt mit abnehmender Molek¨ ulgr¨oße zu. Außerdem k¨onnen Molek¨ ule mit einem gr¨oßeren Durchmesser als dem der Poren auch noch u ¨ber zwischenzellul¨are Verbindungen permeieren, u ¨ber die sogenannten tight junctions“. F¨ ur die Epithelzellen des D¨ unndarmes hat man mit Hilfe ” von Testmolek¨ ulen einen mittleren Porenradius von 0,3 bis 0,4 nm ermittelt. Es gibt ein gutes Beispiel f¨ ur die Wirksamkeit der Membran des D¨ unndarmes als eine effektive Barriere gegen bestimmte hydrophile toxische Substanzen: Das hydrophile Pfeilgift Curare kann wegen seiner Molek¨ ulgr¨oße und seiner Ladung nicht durch den Darm aufgenommen und somit das damit kontaminierte Tierfleisch risikolos verzehrt werden. Die Resorptionsverh¨altnisse im Dickdarm entsprechen qualitativ denen des D¨ unndarmes, jedoch ist die Resorptionsfl¨ache wegen des Wegfalls der Zotten kleiner und daher auch die Resorptionsleistung deutlich geringer. Nach der Aufnahme gelangen die toxischen Substanzen in das zirkulatorische System des Blutkreislaufes. Ein direkter Weg f¨ uhrt u ¨ber die Pfortader zur Leber. Dort k¨onnen die Substanzen bei entsprechenden Eigenschaften metabolisiert werden.
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2.1.4
Kapitel 2 Toxikokinetik
Respirationstrakt
F¨ ur die Resorption durch die Lungen sind besonders gasf¨ormige Substanzen geeignet. Es k¨onnen jedoch auch fl¨ ussige und feste Substanzen aufgenommen werden, wenn sie in feinverteilter Form als Aerosol vorliegen. Viele toxische Substanzen gelangen als Aerosole in den Organismus. Von seinen Funktionen her kann der Respirationstrakt in drei Abschnitte eingeteilt werden (Abbildung 2.5): 1. der Nasen-Rachen-Raum, 2. das Verteilungssystem der Bronchien, 3. die Lungenbl¨ aschen oder Alveolen. Der Nasen-Rachen-Raum temperiert die eingeatmete Luft und feuchtet sie an. Die Haare in den Nasenh¨ohlen filtern grobe Staubpartikel ab, die einen Durchmesser von mehr als 10 mm haben. Die meisten gefilterten Staubpartikel setzen sich an den Schleimh¨auten in der Nase und im Rachen ab.
Abbildung 2.5 Schema der drei Abschnitte des Respirationstraktes: Nasen-Rachenraum, Luftr¨ ohre-Bronchialsystem und Lungenbl¨ aschen (nach Luckey und Venugopal, 1977).
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen
27
Der zweite Abschnitt stellt die Verbindung f¨ ur den Luftstrom zu den Lungenbl¨aschen her. Er beginnt mit dem Kehlkopf und der sich anschließenden Luftr¨ohre. Die Luftr¨ohre teilt sich in den rechten und linken Bronchus, von denen die Seitenbronchi abzweigen. Die feinere Verzweigung der Seitenbronchi erfolgt unter Zweiteilung, und aus den Bronchi gehen die Bronchioli hervor. Sie ver¨asteln sich noch weiter und bilden feinste Bronchioli respiratorii, die am Ende in zwei bis drei kleinste R¨ohrchen zu den Lungenbl¨aschen auslaufen. Die Notwendigkeit der Konstruktion eines stabilen R¨ohrensystems l¨asst es nicht zu, die R¨ohren selbst f¨ ur den Gasaustausch zu benutzen. Da hier kein Gasaustausch stattfindet, bezeichnet man diesen R¨ohrenraum auch als Tot” raum“. Trotzdem kommt auch diesem Raum eine bedeutende Funktion f¨ ur die Atmung zu. Wurde n¨amlich die Atemluft nicht schon im Nasen-Rachen-Raum ausreichend temperiert und angefeuchtet, so erfolgt dies hier. Außerdem ist das R¨ohrensystem vom vorderen Drittel der Nase bis zu Beginn der Bronchioli respiratorii mit einem h¨ochst aktiven Flimmerepithel ausgekleidet. Der Flimmerschlag arbeitet koordiniert und bewegt eine daraufliegende Schleimschicht mit einer ansehnlichen Geschwindigkeit von etwa 1 bis 2 cm pro Minute vorw¨arts. Der Flimmerschlag ist stets nach außen gerichtet und bewegt nicht nur den Schleim, der von den schleimproduzierenden Zellen des Bronchialsystems gebildet wird, sondern er nimmt auch eingeatmete Staubpartikel auf dieser Schleimstraße“ mit in die Mundh¨ohle, wo sie entweder verschluckt ” oder ausgehustet werden k¨onnen. Ein wichtiger Reinigungsmechanismus der Bronchialr¨ohren ist der Hustenreflex, der durch Reizung von Rezeptoren in der Schleimhaut ausgel¨ost wird. Dabei verschließt sich zuerst der Kehlkopf, und die Brust- und Bauchmusku¨ ¨ latur erzeugt dann im Brustraum einen Uberdruck. Durch pl¨otzliches Offnen des Kehlkopfes entsteht ein starker Luftausstoß. Mit einer Luftbewegung von bis zu 280 m pro Sekunde (etwa 1000 km pro Stunde) werden feste Partikel und Schleim aus dem Respirationstrakt herausgeschleudert. Das R¨ohrensystem erlaubt die Passage von gasf¨ormigen Substanzen und von Aerosolen, die dann in die Lungenbl¨aschen gelangen und resorbiert werden k¨onnen. Abbildung 2.6 gibt einen Eindruck u ¨ber die Gr¨oße der Partikel, die Lungenbl¨aschen erreichen k¨onnen. Aus Abbildung 2.6 ist ersichtlich, dass besonders die feinsten Partikel mit einem Durchmesser < 2 mm die Lungenbl¨aschen erreichen, w¨ahrend Partikel mit einem Durchmesser von 20 mm in den oberen Luftwegen h¨angen bleiben. Die gr¨oßeren Partikel werden auf der Schleimstraße“ des Flimmerepithels nach ” oben transportiert und meist reflexm¨aßig verschluckt. Dies f¨ uhrt zun¨achst zu einer Reinigung der Lungen von Partikeln, die dann aber beim Verschlucken in den Magen-Darm-Kanal gelangen und von dort aufgenommen werden k¨ onnen.
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Kapitel 2 Toxikokinetik
Abbildung 2.6 Prozentsatz retinierter Partikel in den verschiedenen Regionen des Respirationstraktes. Der Durchmesser der Partikel variiert von 0,2 bis 20 µm, und die Einatmungs¨ tiefe betrug 1,5 Liter (experimentelle Daten von Hatch und Gross, 1964). Der Ubersicht halber wurde der Prozentsatz der Partikel in Mund- und Rachenraum, in den großen Bronchi (Bronchus 1+2), in den kleineren Bronchi (Bronchus 3+4) und in den terminalen und respiratorischen Bronchioli (term. + Br. resp.) zusammengezogen.
Eine weitere Schutzwirkung des Bronchialr¨ohrensystems kann durch eine Kontraktion der glatten Bronchialmuskulatur verursacht werden, dabei verschließen sich die kleinen Luftwege. Dies ist ein wichtiger Schutzreflex, der z. B. durch Reizgase ausgel¨ost werden kann. Bei Asthmatikern ist dieser Reflex u ¨bersteigert. Um mit dem R¨ohrensystem abzuschließen, sollen auch noch die Schutzfunktionen durch die von den Schleimzellen abgesonderten Immunglobuline sowie die im Schleim enthaltenen Proteinase-Hemmstoffe und die Polizeifunktion“ ein” gewanderter weißer Blutzellen vermerkt werden. Durch die weißen Blutzellen werden z. B. eingedrungene Bakterien unsch¨adlich gemacht. Die Lungenbl¨aschen selbst bilden schließlich den dritten Abschnitt des Respirationstraktes. Sie sind die Membranen, u ¨ber die der Gasaustausch zwischen der Einatmungsluft und dem Blut stattfindet. In der Hauptsache diffundiert Sauerstoff dem Konzentrationsgef¨alle folgend in das Blut und CO2 ebenfalls dem Konzentrationsgradienten entsprechend vom Blut in die Lungenbl¨aschen. Durch die Atemz¨ uge werden die Lungenbl¨aschen ventiliert. In der Ruhe atmet der Mensch 12 bis 15-mal pro Minute und bewegt pro Atemzug 500 ml ein und aus (6 bis 8 Liter pro Minute). Die atmosph¨ arische Luft enth¨alt 21 % Sauerstoff und nur 0,03 % CO2 neben 79 % Stickstoff und den Edelgasen. Die ausgeatmete Luft zeigt eine Abnahme des Sauerstoffgehaltes auf etwa 17 % und eine Zunahme des CO2 -Gehaltes auf 3 bis 4 %. Allerdings ist dabei zu
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen
29
ber¨ ucksichtigen, dass der Sauerstoff- und CO2 -Gehalt in der Luft der Lungenbl¨aschen selbst noch gr¨oßere Unterschiede zu dem der Luft aufweist. Das liegt an dem im R¨ohrensystem befindlichen toten Raum“. Die Mundh¨ohle, ” Luftr¨ohre und Verzweigungen umfassen 140 ml, w¨ahrend im ganzen bei ruhiger Atmung insgesamt 500 ml ausgeatmet werden. Von den insgesamt 500 ml Atemzugsvolumen werden also 140 ml Totraum“ nicht ventiliert: ” Atemzugvolumen ·PCO2 Ausatmungsluft = (Atemzugvolumen – Totraum“) · ” PCO2 Lungenbl¨aschen. Bei der Analyse der Luft in den Lungenbl¨aschen findet man darum etwa 15,5 % Sauerstoff und 5 bis 6 % CO2 . Ist der CO2 -Gradient umgekehrt, das kann im Weing¨arkeller oder in bestimmten nat¨ urlichen H¨ohlen der Fall sein, in denen sich das spezifisch schwerere Gas anreichert, so kann ein schneller Tod eintreten. Zugang u ¨ber die Lungenbl¨aschen finden auch verschiedene toxische Gase, wie Kohlenmonoxid, Cyanwasserstoff, Stickoxide, Schwefeldioxid, Schwefelwasserstoff, Ozon, Phosgen und zahlreiche andere anorganische und organische Reizgase. Praktisch alle fl¨ uchtigen Substanzen wie z. B. auch volatiles Quecksilber (siehe Kapitel 4.2.5) k¨onnen u ¨ber diesen Weg in den Organismus eintreten. Auch der umgekehrte Weg ist m¨oglich, so k¨onnen Spuren von Methan aus dem Magen-Darm-Kanal u ¨ber den Blutweg in der Ausatmungsluft erscheinen. Auch fl¨ uchtige Substan¨ zen wie NH3 , niedermolekulare Ketone und Ather sowie Selenoxid k¨onnen vom Blut in die Luft der Lungenbl¨aschen u ¨bertreten. Die Gesamtoberfl¨ache der Lungenbl¨aschen ist von der Atemmechanik abh¨angig, sie betr¨agt beim Ausatmen etwa 40 m2 und beim tiefen Einatmen bis zu 100 m2 (Abbildung 2.2). Die Anzahl der Lungenbl¨aschen eines Menschen wird auf 300 bis 400 Millionen gesch¨atzt. Die große Lungenbl¨aschenoberfl¨ache steht zu 90 bis zu 95 % in einem engen Kontakt mit den darunter befindlichen kapillaren Blutgef¨aßen. F¨ ur die Diffusion der Gase gilt das Fick´sche Diffusionsgesetz. Neben dem Diffusionskoeffizienten und dem Konzentrationsgradienten ist die Gesamtmembranoberfl¨ache und die Dicke der Diffusionsstrecke von entscheidender Wichtigkeit. Die Diffusionsstrecke wird auch als die Luft/Blut-Schranke bezeichnet, sie betr¨agt nur 0,4 bis 2,5 mm. Die Diffusionsgeschwindigkeiten von Gasen f¨ ur solch kleine Abst¨ande liegen unter einer Millisekunde. Einzelne Reizgase wie Phosgen, Ozon oder nitrose Gase k¨onnen die Epithelzellen der Lungenbl¨aschen sch¨adigen. Die Zellen schwellen dabei durch Fl¨ ussigkeitseintritt an, und es entsteht ein Lungen¨odem. Physikalisch gesehen wird die Diffusionsstrecke f¨ ur Sauerstoff und CO2 stark verl¨angert, und die Austauschgeschwindigkeit nimmt betr¨achtlich ab. Wegen der schlechten Wasserl¨oslichkeit des Sauerstoffes tritt zuerst eine Sauerstoffunters¨attigung des Organismus auf. Haut und Schleimh¨aute verf¨arben sich dabei blau (cyanotisch).
30
Kapitel 2 Toxikokinetik
Bei normaler Atmung werden pro Minute etwa 6 bis 8 Liter Luft ventiliert und dabei 250 ml Sauerstoff aufgenommen und 200 ml CO2 abgegeben. In der gleichen Zeit passieren etwa 5 bis 6 Liter Blut die Lungenkapillaren. Der Gasaustausch ist gesteigert, wenn sowohl die Ventilation als auch die Durchblutung der Lungenkapillaren zunehmen. Eine wichtige Gr¨oße ist hierbei die L¨oslichkeit des Gases im Blut, die durch den Blut/Gas-L¨oslichkeitskoeffizienten beschrieben ist (ml Gas/ml Blut). Betrachtet man die Zeit, bis sich ein Gleichgewicht zwischen Einatmungsluft und Blut eingestellt hat, so gilt f¨ ur ein Gas mit einem geringen Blut/GasL¨oslichkeitskoeffizienten, dass die Zeit sehr kurz ist im Vergleich zu einem Gas mit einem großen L¨oslichkeitskoeffizienten. Das Gas Ethylen mit einem kleinen L¨oslichkeitskoeffizienten von 0,14 braucht etwa 20 Minuten bis zur Gleichgewichtseinstellung im Blut des Menschen, w¨ahrend Chloroform mit einem L¨oslichkeitskoeffizienten von 9,4 mehr als 20 Stunden daf¨ ur ben¨otigt. Man kann diese physikalische Verteilung auch anders interpretieren: Um das gesamte Blut mit Ethylen zu s¨attigen, bedarf es wegen seiner geringen L¨oslichkeit nur einer geringen Menge (bzw. eines geringen Volumens). Diese l¨asst sich in einer k¨ urzeren Zeit bereitstellen als bei Chloroform, von dem etwa 60-mal mehr bis zur Erreichung der Gleichgewichtseinstellung ben¨otigt wird. F¨ ur die Verteilung eines Gases im Blut, das z. B. mit der Konzentration im Gehirn im Gleichgewicht steht, sind drei Faktoren wichtig: • der Partialdruck des Gases in der Einatmungsluft, • die Gr¨oße und Geschwindigkeit der Lungenventilation, • der Blut/Gas-L¨oslichkeitskoeffizient. Ein Gas mit einer geringen L¨oslichkeit im Blut wie z. B. Ethylen wird nur zu einem geringen Prozentsatz aus den Lungenbl¨aschen in das Blut diffundieren, aber wegen des meist großen Gradienten des Partialdruckes wird dies sehr schnell erfolgen. Eine erh¨ohte Atemfrequenz ist also nur ganz am Anfang wirksam, sp¨ater nicht mehr. F¨ ur ein Gas mit einer großen Blutl¨oslichkeit wie z. B. Chloroform gilt, dass bei jedem Atemzug ein großer Anteil des Gases aus den Lungenbl¨aschen in das Blut verschwindet. Wegen des meist geringen Gradienten ist die Geschwindigkeit der Aufnahme jedoch nur gering. Hierbei f¨ uhrt eine Zunahme der Atemfrequenz zu einer deutlich gesteigerten Aufnahme in das Blut, und die Ventilation ist somit von großer Bedeutung. Die Lungenbl¨aschen sind verantwortlich f¨ ur die Aufnahme von Aerosolen, deren Partikelgr¨oße die Passage des R¨ohrensystems erlaubt (Abbildung 2.6). Aerosole schließen nat¨ urliche und synthetische organische und anorganische Verbindungen ein. Stadtluft enth¨alt potentiell toxische Salze verschiedener Metalle wie Cadmium, Blei, Antimon, Selen, Thallium, Vanadium, Nickel und
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen
31
Zink. Viele toxische Schadstoffe der Luftverschmutzung kommen vom Autoverkehr, aus der M¨ ull- und Heizstoffverbrennung, aus der metallverarbeitenden ¨ Industrie, den Olraffinerien, aber auch von kosmetischen Aerosolen, Bioziden, Farben und Lacken und Treibstoffen. Die weitaus gef¨ahrlichere gesundheitssch¨adigende chemische Wirkung hat jedoch das Zigarettenrauchen. Neben dem Hauptwirkstoff Nicotin werden toxische Gase wie Kohlenmonoxid, die Stickstoffoxide NO und NO2 und eine Reihe anderer Reizgase aufgenommen. Eine große Anzahl sicherer oder zumindest als sehr wahrscheinlich erachteter krebserzeugender Stoffe wird mit dem Zigarettenrauch als Gase oder Partikel inhaliert: Dazu geh¨ oren verschiedene Nitrosamine, Benz[a]pyren und Benz[a]anthrazene, Hydrazin, Anilin, Vinylchlorid und Formaldehyd, weiterhin Metalle wie Cadmium, Nickel, Chrom und Blei. Beim Cadmium spielt noch zus¨atzlich die Verweildauer eine Rolle (siehe Kapitel 4.2.2). Die biologische Halbwertszeit von Cadmium im menschlichen Organismus wird auf die besonders lange Zeit von 19 Jahren gesch¨atzt. Es kommt also durch eine kontinuierliche Aufnahme geringster Mengen Cadmiums aus dem Zigarettenrauch und der Nahrung zu einer Kumulation, besonders in der Nierenrinde. Hier wird die obere Grenze der Vertr¨aglichkeit auf 200 mg pro g Nierengewebe angesetzt, da gr¨oßere Konzentrationen mit St¨orungen der Nierenfunktion verbunden sind. Wie Analysen zeigen, haben Raucher doppelt soviel Cadmium in der Niere wie Nichtraucher. Außerdem sch¨adigen sich Raucher besonders dadurch, dass sie mit dem Tabakinhaltsstoff Nicotin das Flimmerepithel der Lunge hemmen. So findet die Selbstreinigung der Lunge durch den Flimmerstrom nicht mehr statt, und die Schadstoffe k¨onnen eine st¨andige chronische Reizung der Bronchien verursachen. Nicotin selbst wird f¨ ur das doppelt so hohe Vorkommen von Herzerkrankungen bei Rauchern verantwortlich gemacht. Entsprechend der funktionellen Einteilung des Respirationstraktes in drei Abschnitte gibt es eine Einteilung von Schadstoffen gem¨aß ihrer Wasserl¨oslichkeit, welche die Eindringtiefe in das Respirationssystem bestimmt. Oberer Respirationstrakt Schadstoffe mit sehr hoher Wasserl¨oslichkeit reagieren besonders mit den feuchten Schleimh¨auten im Rachen und in der Luftr¨ohre. So gelangen Acrolein, Ammoniak, Chlorwasserstoff, Dischwefeldichlorid, Fluor und Formaldehyd wegen ihrer hohen Wasserl¨oslichkeit nicht weit u ¨ber den ersten Abschnitt hinaus und u ¨ben dort ihre sch¨adigenden Wirkungen wie Ver¨atzungen, Entz¨ undungen und Narbenbildung aus.
32
Kapitel 2 Toxikokinetik
Mittlerer Respirationstrakt Schadstoffe mit mittlerer Wasserl¨oslichkeit reagieren besonders mit den Bronchien und deren Abzweigungen. So bewirken im zweiten Respirationsbereich z. B. Brom, Chlor und Schwefeldioxid eine vermehrte Schleimabsonderung, Hustenreiz und Bronchokonstriktion mit schwerster Atemnot. Kleinste Verzweigungen und Lungenbl¨ aschen im Respirationstrakt Erreicht ein Gas oder auch ein Aerosol wegen geringer Wasserl¨oslichkeit und lipophiler Eigenschaften die kleinsten R¨ohrenbereiche und die Lungenbl¨aschen, so werden besonders die empfindlichen Epithelzellen der Lungenbl¨aschen gesch¨adigt. Dies gilt f¨ ur Stoffe wie Cadmiumoxid, Ozon, Phosgen und Stickstoffdioxid, die ein toxisches Lungen¨odem im dritten Respirationsabschnitt ausl¨osen k¨onnen. In den Alveolen gibt es kein Flimmerepithel. Aerosole und Partikel, die bis in die Lungenbl¨aschen vorgedrungen sind, k¨onnen dort von den Makrophagen, einer bestimmten Art von Phagozyten (Phagozyten sind Fresszellen, die Partikel, Gewebsreste und Bakterien in sich aufnehmen), aufgenommen werden. Durch ihre am¨oboide Beweglichkeit k¨onnen die Makrophagen die aufgenommenen Stoffe aus den Lungenbl¨aschen heraus zu den Lymphknoten bringen. Im Gegensatz zu Quarz- und Staubpartikeln werden Asbestfasern von den Makrophagen nicht aus den Lungenbl¨aschen heraustransportiert, sondern bleiben dort als Asbestk¨orperchen liegen. Es kann dadurch zu einer Asbestose kommen, die sich durch Reizhusten, Atemnot und Auswurf a¨ußert. Die Asbestose f¨ uhrt h¨aufig zu Lungenkrebs, seltener infolge Wanderung der Asbestfasern zu anderen Krebsformen.
2.2
Organisation des menschlichen K¨ orpers
Zu Beginn dieses Kapitels wurde der Organismus als eine black-box“ mit ei” nem Zu- und Abfluss dargestellt (Abbildung 2.1). Eine im Inneren bestehende Organisation bestimmt das weitere Schicksal einer toxischen Substanz nach deren Resorption. Jedoch reicht dieses Modell nicht aus, um toxische Vorg¨ange, die sich im menschlichen Organismus abspielen k¨onnen, zu verstehen. Wie bereits f¨ ur die Oberfl¨achen geschehen (Kapitel 2.1), bedarf es einer eingehenderen Beschreibung der funktionellen Organisation. Der erwachsene durchschnittliche Europ¨aer hat ein K¨orpergewicht von 70 kg. Die Gesamtzellzahl wird auf 1014 Zellen gesch¨atzt. Sie lassen sich etwa 200
2.2 Organisation des menschlichen K¨ orpers
33
verschiedenen Zelltypen zuordnen, die sich zu Verb¨anden aus gleichartig differenzierten Zellen organisieren. Die Zellverb¨ande bilden vier Hauptformen von Geweben: Epithelgewebe Das Epithel- oder Deckgewebe kleidet a¨ußere oder innere Oberfl¨achen des K¨orpers aus. Beispiele sind das Epithel der Lungenbl¨aschen, der Blutgef¨aße, der Darmzotten, das Flimmerepithel des Respirationstraktes oder die Hornschicht der Haut. Binde- und St¨ utzgewebe Die Binde- und St¨ utzgewebe bestehen aus Zellen und der von ihnen gebildeten zwischenzelligen Grundsubstanz. Ihre Bedeutung liegt, wie der Name verr¨at, weniger in ihrer Eigenleistung als in Hilfsleistungen f¨ ur andere Zellen. Muskelgewebe Das Muskelgewebe ist als einziges Gewebe zur Kontraktion bef¨ahigt und dient zur K¨orperbewegung, zum Verschluss von Organen oder zu Transportleistungen. Man unterscheidet die quergestreifte Skelettmuskulatur, die Herzmuskulatur und die glatte Muskulatur der inneren Organe wie z. B. Bronchien, Darm, Blase und Blutgef¨aße. Nervengewebe Das Nervengewebe besteht aus den erregbaren Nerven- oder Ganglienzellen mit ihren Ausl¨aufern, den Nervenfasern, und aus dem Gliagewebe (glia, griechisch Leim), welches im Nervensystem etwa dem Bindegewebe entspricht. Die Ganglienzelle mit ihren Forts¨atzen wird Neuron genannt. Das Neuron ist das Grundbauelement des Nervensystems. Das menschliche Nervensystem enth¨alt etwa 30 Milliarden Neuronen. Man unterscheidet bei den Neuronen die langen Forts¨atze, die Neuriten (bis zu 90 cm lang), strukturell von den kurzen Forts¨atzen, den Dendriten. Im allgemeinen kommen im menschlichen K¨orper Gewebeverb¨ande einer Art selten ganz allein f¨ ur sich vor, sie vereinigen sich in der Regel mit anderen Geweben zu Funktionsgemeinschaften, den Organsystemen. Die wichtigsten Organsysteme sind:
34
Kapitel 2 Toxikokinetik
Tabelle 2.1 Mittlerer Nichtmetallgehalt eines Menschen von 70 kg K¨ orpergewicht an. Die zweite Spalte zeigt die absolute Menge, die dritte die Konzentration in mmol/kg (Sauerstoff als O2 , Wasserstoff als H2 und Stickstoff als N2 ). Spalte 4 gibt die absolute Anzahl der im K¨ orper vorkommenden Atome an, w¨ ahrend die letzte Spalte, bei angenommener Gleichverteilung, die in einer Zelle (1014 Zellen im K¨ orper) vorkommenden Atome tabelliert (Zahlen aus Merian 1987).
Sauerstoff Kohlenstoff Wasserstoff Stickstoff Phosphor Schwefel Chlor Fluor Iod
• • • • • • • • • •
Gehalt in g
Konzentration in mmol/kg
45,5 · 103 12,6 · 103 7,0 · 103 2,1 · 103 700,0 175,0 105,0 0,80 0,03
20,3 · 103 15,0 · 103 50,0 · 103 10,7 · 103 322,0 78,1 42,3 0,6 3,4 · 10−6
Anzahl Atome im K¨ orper 1,70 · 1027 0,64 · 1027 4,20 · 1027 91,00 · 1024 14,00 · 1024 3,30 · 1024 1,80 · 1024 26,00 · 1021 0,15 · 1021
Anzahl Atome pro Zelle 17 · 1012 6,4 · 1012 42,0 · 1012 0.91 · 1012 0,14 · 1012 33,0 · 109 18,0 · 109 0,26 · 109 1,5 · 106
das Knochensystem einschließlich der Gelenke, das Muskelsystem f¨ ur die Bewegung, das Herz-Kreislaufsystem, der Atmungsapparat, der Verdauungsapparat, der Harnapparat, das innersekretorische System (hormonale Steuerung), die Fortpflanzungsorgane, das zentrale (Gehirn und R¨ uckenmark) und das periphere Nervensystem, das Sinnessystem (Auge, Geh¨or und Gleichgewichtsorgan, Geschmacks- und Geruchssinn, Tastsinn).
Einzelorgane wie Herz, Leber, Nieren oder Milz sind f¨ ur die Toxikologie von besonderer Bedeutung, da eine toxische Wirkung sich oft nur an einem Organ manifestiert. Die Toxikologen nennen dieses Organ dann das kritische Organ. Dieser Begriff bedeutet soviel wie das empfindlichste Organ, d. h. es reagiert bereits bei der niedrigsten toxischen Konzentration. Dabei wird keine Aussage u ¨ber den Schweregrad der toxischen Wirkung am Organ gemacht. Bei einer toxischen Substanz spricht man von ihrer Organotropie (griechisch, auf die Organe gerichtet) und meint damit, dass z. B. Cadmium bevorzugt die Nieren sch¨adigt. Nach dieser allgemeinen Einf¨ uhrung in die zellul¨are Organisation eines Menschen soll nun versucht werden, den Menschen nach seinen Bestandteilen zu analysieren.
2.2 Organisation des menschlichen K¨ orpers
35
Tabelle 2.2 Mittlerer Metallgehalt eines Meschen von 70 kg K¨ orpergewicht. Spaltendefinition wie Tabelle 2.1.
Calcium Kalium Natrium Magnesium Eisen Zink Kupfer Molybd¨ an Cobalt
Gehalt in g
Konzentration in mmol/kg
Anzahl Atome im K¨ orper
Anzahl Atome pro Zelle
1050 140 105 35 4,20 2,33 0,11 5,0 · 10−3 3,0 · 10−3
374 51,2 65,2 20,6 1,07 509 · 10−3 25 · 10−3 0,74 · 10−6 0,73 · 10−6
0,16 · 1024 2,20 · 1024 2,80 · 1024 0,87 · 1024 45,0 · 1021 22,0 · 1021 26,0 · 1021 32,00 · 1018 30,0 · 1018
0,16 · 1012 22,0 · 109 28,0 · 109 8,70 · 109 0,45 · 109 0,22 · 109 10,0 · 106 0,32 · 106 0,3 · 106
Dr¨ uckt man die elementare Zusammensetzung des Menschen prozentual aus, so entfallen auf die 9 Nichtmetalle 98 % des K¨orpergewichts, f¨ ur die Metalle Natrium, Kalium, Calcium und Magnesium errechnen sich 1,89 %, und f¨ ur die essentiellen Schwermetalle, die man wegen ihres geringen Vorkommens auch als Spurenelemente bezeichnet, bleiben nur 0,012 % des K¨orpergewichts u ¨brig. Obwohl der Mensch aus u ¨ber 100 000 verschiedenen Arten von Molek¨ ulen besteht, gibt es nur wenige unterschiedliche Typen von Makromolek¨ ulen, wie z. B. die Proteine, Nukleins¨auren, Kohlenhydrate und Lipide. Beim durchschnittlichen jungen Mann sind 18 % des K¨orpergewichts Proteine, Nukleins¨auren und Kohlenhydrate, 15 % Lipide und 7 % Mineralstoffe. Die restlichen 60 % sind Wasser. Die Strukturen der Molek¨ ule, auf denen das Leben aufgebaut ist, wie Proteine, Nukleins¨auren, Lipide und Kohlenhydrate, werden von den Wechselwirkungen mit ihrer w¨assrigen Umgebung bestimmt. Biologische Vorg¨ange lassen sich nur unter Einbeziehung der physikalischen und chemischen Eigenschaften des Wassers verstehen. Der Wasserraum des Menschen ist nicht homogen, sondern wird funktionell in verschiedene R¨aume unterteilt. Diese Tatsache ist wichtig f¨ ur das Verst¨andnis der Toxikokinetik und f¨ uhrt uns zum n¨achsten Abschnitt, den Verteilungsr¨aumen des Menschen.
2.2.1
Verteilungsr¨ aume
Neben 40 % fester Bestandteile entfallen 60 % des K¨orpergewichtes eines jungen Mannes auf Wasser. Grunds¨atzlich ist die Relation fester K¨orperbestandteile zum Gesamtk¨orperwasser von Alter und Geschlecht abh¨angig. Tabelle 2.3 ¨ gibt eine Ubersicht u ¨ber das Gesamt-K¨orperwasser in Abh¨angigkeit von Alter und Geschlecht.
36
Kapitel 2 Toxikokinetik
Tabelle 2.3 Der Gesamt-K¨ orperwassergehalt ist beim Neugeborenen mit etwa 80 % am gr¨ oßten und bei der a ¨lteren Frau mit ungef¨ ahr 46 % am kleinsten (nach Edelmann und Liebmann, Amer. J. Med. 27, 256, 1959). Neugeborenes 10–18 Jahre m¨annlich weiblich
80 % 80 %
59 % 57 %
18–40 Jahre 61 % 51 %
40–60 Jahre 55 % 47 %
> 60 Jahre 52 % 46 %
Toxische Substanzen k¨onnen sich im Gesamt-Wasserraum verteilen, wenn sie hydrophile Eigenschaften besitzen, sie k¨onnen sich im Fettgewebe und in den Membranen anreichern, wenn sie lipophil sind, oder in Knochen und Z¨ahne eingelagert werden, wenn sie eine hohe Affinit¨at zu Mineralien haben, wie z. B. Blei und Strontium. Wegen ihrer unterschiedlichen funktionellen Beschaffenheit kann man als Wasserr¨aume drei verschiedene R¨ aume oder Kompartimente voneinander abgrenzen. Sie sind von prinzipieller Bedeutung f¨ ur die Verteilung toxischer Substanzen, da jedes Kompartiment eine vergleichbare chemische Zusammensetzung hat und durch Barrieren abgegrenzt wird, die a¨hnliche physikalischchemische Eigenschaften besitzen: 1. Der intravasale Raum umfasst das Gesamt-Blut-Volumen. Er setzt sich aus dem Blutfl¨ ussigkeits- oder Plasmavolumen und dem Zellraum zusammen, wobei der prozentuelle Anteil der roten Blutzellen oder Erythrozyten am gesamten Blutvolumen etwa 45 % betr¨agt (H¨amatokritwert). Der Blutfl¨ ussigkeitsraum betr¨agt nur 4–5 % des K¨orpergewichts. Wenn man noch das Volumen der roten Blutzellen hinzurechnet, ergeben sich insgesamt etwa 8 % des K¨orpergewichts f¨ ur den gesamten intravasalen Raum. Die Abgrenzung zum n¨achstfolgenden Raum geschieht durch die W¨ande der Blutgef¨aße. 2. Der Zwischenzell- oder interstitielle Raum umschließt den Raum, der einerseits von den Blutgef¨aßw¨anden begrenzt wird, andererseits an die Membranen der K¨orperzellen anschließt. Die Gr¨oße dieses Wasserraumes wird mit 15 % angegeben. 3. Der intrazellul¨ are Raum. Damit ist der Wasserraum aller einzelnen K¨orperzellen gemeint, er stellt den gr¨oßten Wasserraum mit ungef¨ahr 41 % des K¨orpers dar. Bei der schwangeren Frau kann zus¨atzlich das ungeborene Kind als ein weiteres Kompartiment aufgefasst werden, das durch den Mutterkuchen (Plazenta) vom m¨ utterlichen Organismus abgetrennt wird.
2.2 Organisation des menschlichen K¨ orpers
Aufnahme BLUTRAUM
X
X + P
37
Verteilung ZWISCHENZELLRAUM
X
Ausscheidung
INTRAZELLULÄRER RAUM
RX
R + X
BINDUNG SPEICHER METABOLISMUS
PX 4%
15%
41%
Abbildung 2.7 Schicksal einer toxischen Substanz im menschlichen K¨ orper. Die gestrichelten Linien repr¨ asentieren die Gef¨ aßw¨ ande bzw. die Zellmembranen. Die Zahlen geben den Prozentsatz der drei Wasserr¨ aume am K¨ orpergewicht eines erwachsenen Mannes wieder. X ist die freie Konzentration einer toxischen Substanz, PX der Plasma-Protein-Komplex mit der toxischen Substanz und RX der entsprechende Rezeptor-Komplex.
Die Summe aus Blutfl¨ ussigkeits- oder Plasmaraum, Zwischenzellfl¨ ussigkeit und Zellwasser betr¨agt bei dem obigen Beispiel 60 % des K¨orpergewichts oder etwa 42 Liter Wasser bei einem durchschnittlichen K¨orpergewicht von 70 kg. Auf den Plasmaraum entfallen dann ca. 3 Liter, auf den Zellzwischenraum etwas mehr als 10 Liter und auf das Zellwasser fast 29 Liter. Aus funktionellen Gr¨ unden kann man den Blut- und den Zwischenzellfl¨ ussigkeitsraum als den extrazellul¨aren Raum dem intrazellul¨aren Raum gegen¨ uberstellen. Aus dem extrazellul¨aren Raum entnehmen die Zellen Sauerstoff und Nahrungsstoffe und scheiden Stoffwechselendprodukte aus. Die Zusammensetzung der Elektrolyte im Blut- und Zwischenzellraum ist praktisch identisch. Ein wichtiger Unterschied betrifft die Plasmaproteine, die sich nur im Blutraum (darum der Name Blutplasma) befinden. Nach einer alten Theorie entspricht die Elektrolytzusammensetzung der extrazellul¨aren Fl¨ ussigkeit der des erdgeschichtlichen Urmeeres.
38
Kapitel 2 Toxikokinetik
Wie in Abbildung 2.7 gezeigt, ist eine wichtige Funktion der Plasmaproteine, toxische Substanzen zu binden. In der Regel gilt f¨ ur eine toxische Substanz, dass ihre freie, nichtgebundene Konzentration f¨ ur die toxische Wirkung verantwortlich ist und nicht die gebundene Fraktion. Dies gilt besonders f¨ ur toxische Schwermetalle, die so durch Bindung oder Speicherung entgiftet werden k¨onnen. Theoretisch ist die Gr¨oße jedes einzelnen K¨orperfl¨ ussigkeitsvolumens bestimmbar, indem man Substanzen, die sich nur in einem Kompartiment verteilen, direkt einbringt und deren Verteilungsvolumen berechnet. Auf diesem Wege ließ sich das Plasmavolumen mit dem Farbstoff Evansblau, der fest an die Plasmaproteine gebunden wird, bestimmen. Wenn X die Menge des in das Blut eingebrachten Farbstoffes ist und nach kurzer Zeit seine Konzentration c im Blut bestimmt wird, dann ist das Verteilungsvolumen Vd definiert als Vd = X/c, und es gilt: c = X/Vd . Bei einer Injektion von 300 mg Evansblau in die Blutbahn ergab sich z. B. nach der gleichm¨aßigen Verteilung des Farbstoffes im Blutraum eine Konzentration von 100 mg/Liter. Daraus errechnete sich f¨ ur das Verteilungsvolumen 3 Liter. Das gesamte K¨orperwasser kann entweder mit D2 O oder mit tritiummarkiertem Wasser nach der obigen Methode bestimmt werden. Gr¨oßere Schwierigkeiten bereitet dagegen die Bestimmung des Zwischenzell- und des Zellraumes.
2.2.2
Das zirkulatorische System
Das Blut ist das wichtigste System der zirkulierenden Fl¨ ussigkeiten. Nachdem eine toxische Substanz von der Haut, aus dem Magen-Darm-Trakt oder durch den Respirationstrakt aufgenommen worden ist, kann sie in die Blutbahn gelangen. Neben einem schnellen Abtransport erfolgt eine kr¨aftige Durchmischung. Das Herz pumpt bereits im Ruhezustand das gesamte Blut eines Erwachsenen, bestehend aus etwa 3 Litern Blutplasma und 2,6 Litern roten Blutzellen, in einer Minute durch das Gef¨aßsystem. Die Konzentration einer toxischen Substanz l¨asst sich schnell und genau nach Entnahme einer Blutprobe chemisch bestimmen. F¨ ur den Arzt ist der Blutraum das Kompartiment, zu dem er durch eine in die Vene eingef¨ uhrte Kan¨ ule
2.2 Organisation des menschlichen K¨ orpers
39
direkten Zugang gewinnen kann. Wegen der funktionellen Bedeutung nennt man diesen Raum auch das zentrale Kompartiment. In der ¨arztlichen Umgangssprache wird die Konzentration der aus dem Blut bestimmten Substanz als Blutspiegel bezeichnet. Der Arzt gewinnt aus dem zeitlichen Verlauf des Blutspiegels einer toxischen Substanz wichtige Informationen u ¨ber die Prognose einer toxischen Wirkung und entscheidet u ¨ber a¨rztliche Notmaßnahmen. Die Blutgef¨aße grenzen den Blutraum vom Zwischenzellraum ab, ihre Durchl¨assigkeit bestimmt die Diffusion einer toxischen Substanz in den Zwischenzellraum. Die Gef¨aßw¨ande sind z. B. un¨ uberwindliche Barrieren f¨ ur die roten Blutzellen. Auch die Plasmaproteine k¨onnen nicht in den Zwischenzellraum penetrieren. Dagegen k¨onnen kleinere Molek¨ ule durchaus diese Barriere u ¨berwinden. Die Gef¨aßw¨ande k¨onnen vereinfacht als eine Lipidmembran mit wassergef¨ ullten Poren angesehen werden. Bei den Blutgef¨aßen muss man verschiedene Gr¨oßen unterscheiden. F¨ ur den Austausch von Sauerstoff, Kohlendioxid, Wasser, Salzen, N¨ahrstoffen, etc. haben nur die kleinsten Haargef¨aße oder Kapillaren eine Bedeutung. Ihr Durchmesser betr¨agt ca. 5–25 mm und ihre L¨ange etwa 2 mm. Ihre Gef¨aßw¨ande bestehen aus zwei Schichten, die innere Schicht bilden Epithelzellen oder Endothelien und die ¨außere Schicht die sogenannte Basalmembran. Es lassen sich vier verschiedene Kapillartypen mit unterschiedlichen Permeationseigenschaften f¨ ur hydrophile und lipophile Substanzen unterscheiden:
Abbildung 2.8 Querschnitt durch die vier verschiedenen Kapillartypen.
Beim diskontinuierlichen Typ“ sind das innere Endothel und die ¨außere ” Basalmembran l¨ uckenhaft und damit sehr durchl¨assig f¨ ur hydrophile Molek¨ ule. Diese Kapillargef¨aße findet man in der Leber, der Milz und im Knochenmark. ¨ Beim fenestrierten Typ“ sieht man, dass das Endothel fenster¨ahnliche Off” nungen aufweist. Es resultiert eine gute Durchl¨assigkeit f¨ ur wasserl¨osliche Mo-
40
Kapitel 2 Toxikokinetik
lek¨ ule. Diesen Typ findet man im Magen-Darm-Kanal, in den Nieren und in Dr¨ usen. Der kontinuierliche Typ“ zeigt ein geschlossenes Endothel und eine ge” schlossene Basalmembran und ist wenig permeabel f¨ ur hydrophile Molek¨ ule. Wir finden diese Gef¨aße in glatten Muskeln sowie in Herz- und Skelettmuskeln. Der letzte Typ ist eine Sonderform des kontinuierlichen“ Typs. Eine fast ” vollst¨andige Undurchl¨assigkeit f¨ ur hydrophile Fremdstoff-Molek¨ ule wird durch eine von außen dicht anliegende Schicht von Gliazellen erreicht. Diese Barriere finden wir im Gehirn und im R¨ uckenmark, sie wird Blut-Hirn-Schranke“ ” genannt. Tabelle 2.4 Gr¨ oßenordnungsm¨ aßige Durchblutung einiger Organe und Gewebe in ml Blut pro 100 g Gewebe und Minute. In die gleiche Gruppe wie Gehirn, Herz und Leber fallen auch Organe wie Magen, Darm und Milz. Organe Niere Gehirn, Herz, Leber Haut, Muskulatur Fett- und Bindegewebe
ml/Minute pro 100 g Gewebe 500,0 50,0 5,0 0,5
Zus¨atzlich zu den Unterschieden in der Ausstattung mit verschiedenen Kapillartypen bestehen auch Unterschiede in der Durchblutung der Organe und Gewebe. Eine toxische Substanz wird zun¨achst mit dem Blutstrom bevorzugt in diejenigen Organe und Gewebe gelangen, die am besten durchblutet sind. F¨ ur die Blutversorgung eines Organs ist die Durchblutung pro 100 Gramm Organgewicht aussagekr¨aftiger als die reine Blutflussangabe in ml/Minute. Da die Zahlenangaben in der Literatur betr¨achtlich schwanken, soll hier nur eine grobe Klassifizierung vorgenommen werden.
2.2.3
Der kolloidosmotische“ Druck der Plasmaproteine ”
Unter den im Plasma gel¨osten Substanzen dominieren mengenm¨aßig die Plasmaproteine mit etwa 72 g pro Liter beim Erwachsenen. Wegen ihres hohen Molekulargewichtes von 66 kDa bis zu 1000 kDa (Da = Dalton, ein Dalton ist definiert als 1/12 der Masse eines 12 C-Atoms und entspricht somit dem Molekulargewicht, welches in analoger Weise als das Verh¨altnis der Partikelmasse zur atomaren Masseneinheit angegeben wird) tragen sie jedoch nur relativ wenig zum gesamten osmotischen Druck der Blutfl¨ ussigkeit bei, der bei etwa 300 milliosmol pro Liter liegt bzw. einem Druck von 6,72 Atmosph¨ aren entspricht. (Der osmotische Druck von 1 osmol Teilchen in einem Liter Wasser
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
41
gel¨ost betr¨agt 22,4 Atmosph¨aren und wird durch 6, 02 · 1023 osmotisch wirksame Teilchen hervorgerufen). Aus der Kolloidchemie wurde der Begriff Kolloid“ auch auf die Proteine ” u ¨bertragen und hat dabei fr¨ uher zur Verwirrung u ¨ber die Natur der Proteine gef¨ uhrt. Mit kleinen Einschr¨ankungen (n¨amlich einer m¨oglichen Aggregation der Proteine) liegen die Proteine in w¨assriger L¨osung als einzelne Molek¨ ule vor, die entsprechend ihrer Teilchenzahl zum osmotischen Druck beitragen. Der entsprechende osmotische Druck betr¨agt 1,5 mosmol pro Liter bzw. 25 mmHg (1 mmHg = 1 Torr, Torr wurde nach Torricelli, dem Erfinder des Quecksilberbarometers benannt). Die Gef¨aßw¨ande der Kapillaren verhindern eine wesentliche Penetration der großen Plasmaproteine in die Zwischenzellfl¨ ussigkeit und verursachen dadurch eine Druckerh¨ohung in den Gef¨aßen, den sogenannten kolloidosmotischen Druck“ (kolloidosmotischer Druck = osmotischer ” Druck hervorgerufen durch Proteine). Die Filtration von Fl¨ ussigkeit aus der Kapillare h¨angt vom Filtrationsdruck (hydrostatischer Druck in der Kapillare minus dem der Zwischenzellfl¨ ussigkeit) und dem kolloidosmotischen“ Druck ab. Am Anfang der Kapillare ist ” der Filtrationsdruck gr¨oßer als der kolloidosmotische Druck, und es resultiert ein entsprechender Fl¨ ussigkeitsstrom aus dem Gef¨aß heraus in Richtung Zwischenzellfl¨ ussigkeit. Am Ende der Kapillare ist der Filtrationsdruck geringer als der kolloidosmotische Druck, und es erfolgt eine Fl¨ ussigkeitsbewegung in die entgegengesetzte Richtung, zur¨ uck in die Kapillare (Abbildung 2.9). Die L¨ange aller Kapillaren eines Menschen wird auf 95 000 km gesch¨atzt und deren Gesamtoberfl¨ache auf ca. 6000 bis 8000 m2 . Dieser physiologische Fl¨ ussigkeitskreislauf der Kapillar-Zirkulation dient der Versorgung der Zellen mit N¨ahrstoffen und dem Abtransport der Stoffwechselschlacken. Das bewegte Fl¨ ussigkeitsvolumen ist betr¨achtlich, es betr¨agt ungef¨ahr 3 Liter pro Minute. Damit entspricht es also der Menge des gesamten Blutplasmas in dieser kurzen Zeitspanne. Selbstverst¨andlich wird auch durch die Kapillar-Zirkulation eine toxische Substanz wirksam verteilt.
2.3
Der Aufbau von Zellmembranen
Verfolgt man den Weg einer toxischen Substanz weiter, so diffundiert sie aus dem Blut in den Zwischenzellraum und gelangt von dort zu der n¨achsten Barriere, der Zellmembran. Eine gemeinsame biologische Funktion aller Membranen besteht darin, Abl¨aufe in der Zelle kontrollierbar zu gestalten. Dies geschieht erstens durch die r¨aum-
42
Kapitel 2 Toxikokinetik
50
Druck in mm Hg
40
ZwischenzellRaum
30 20 10
Flüssigkeitsbewegung entsprechend -10 dem effektiven -20 Druck -30 Kapillare 0.00 0.25 0.50 0.75 1.00 1.25 1.50 1.75 2.00 Länge der Kapillare in mm 0
hydrostatischer Druck
effektiver Druck
kolloidosmotischer Druck
Abbildung 2.9 Optischer Eindruck des Druckverlaufs in einer Kapillare (gesch¨ atzte Gesamtl¨ ange aller Kapillaren: 95 000 km). Die Oberfl¨ ache s¨ amtlicher Kapillare betr¨ agt ca. 6000–8000 m2 .
liche Abgrenzung der Zelle, der Kompartimentierung, und zweitens u ¨ber eine Regulation des Zu- und Abflusses. Die Zusammensetzung des intrazellul¨aren Milieus wird durch einen geregelten Membrantransport von Nahrungsstoffen, Ionen und Abfallprodukten dynamisch und energetisch optimiert.
2.3.1
Amphiphile Biomolek¨ ule
Vorstellungen u ¨ber die Entstehung des Lebens gehen davon aus, dass das Leben im Wasser, dem Urmeer, entstanden ist. Die meisten Biomolek¨ ule sind amphiphil (griechisch: amphi = beides, philos = liebend), sie sind damit hydrophil und hydrophob zugleich. Amphiphile Molek¨ ule bilden in Wasser bevorzugt geordnete Aggregate aus, die sich zu kugelf¨ormigen Gebilden, den Micellen, zusammenlagern k¨onnen. Die hydrophilen Gruppen der Amphiphile befinden sich dabei auf der Außenfl¨ache einer Kugel und gehen mit dem Wasser Wechselwirkungen ein, w¨ahrend die hydrophoben Gruppen das Kugelinnere ausf¨ ullen. Eine weitere M¨oglichkeit der Anordnung der Amphiphilen besteht darin, dass sie sich in Form von Doppelschichten anordnen. Die hydrophoben Anteile zeigen dabei in die Doppelschicht hinein und bilden f¨ ur Wassermolek¨ ule eine
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
43
wirksame Barriere (Lipidmembran). Die Doppelschichten weisen mit ihren hydrophilen Gruppen nach außen. Sie k¨onnen bei Vesikelbildung innen einen Wasserraum (Kompartiment) umschließen. Die Vesikelbildung gilt als ein Modell f¨ ur die Zellentstehung. Erst durch die Kompartimentierung konnte ein biologisches System seinen Selektionsvorteil ausnutzen. Dabei hat das Grenzgebiet der Membran selbst eine katalytische Funktion, indem es bestimmte Ionen und biologische Molek¨ ule anreichert und damit g¨ unstigere Voraussetzungen f¨ ur chemische Reaktionen schafft.
2.3.2
Vom Erythrozyten zum Membranmodell
Mit der doppelschichtigen Vesikelstruktur, die einen Wasserraum umschließt, ist schon ein Teilaspekt der Membran erkl¨art, n¨amlich die Barrierefunktion. Der geschichtliche Weg der Entwicklung von Vorstellungen u ¨ber die Membran nahm ihren Ausgang von einfachen Zellen, die man leicht in großer Anzahl gewinnen konnte. Dies sind die roten Blutzellen, die Erythrozyten. Durch Venenpunktion k¨onnen sie in ausreichender Menge gewonnen werden. Das Blut eines Erwachsenen enth¨alt 45 % Erythrozyten oder 5 · 106 Erythrozyten pro Mikroliter. Die Anzahl der weißen Blutzellen (Leukozyten) im gleichen Volumen ist dagegen gering mit nur 0,005 bis 0, 01 · 106 Zellen. Durch Waschen des Blutes auf einer Zentrifuge gewinnt man ein fast reines Erythrozytenkonzentrat. Die menschlichen Erythrozyten sind insofern Ausnahmezellen, als sie sich mit ihrem hohen H¨amoglobingehalt auf den Sauerstofftransport im Blut spezialisiert haben. Diese Zellen sind zu u ¨ber 90 % mit kugeligen H¨amoglobinmo6 ule pro Erythrozyt, und besitzen weder lek¨ ulen angef¨ ullt, etwa 300 · 10 Molek¨ einen Zellkern noch andere membran¨ose Organellen. In dieser Hinsicht sind sie ideal zur chemisch-physikalischen Membrananalyse geeignet, wenn man vorher das H¨amoglobin und den Inhalt des Erythrozyten entfernt. Im Jahre 1925 wurden auf diese Weise von zwei Niederl¨andern, E. Gorter und F. Grendel (Literaturzitat in der Legende der Abbildung 2.10), Erythrozytenmembranen pr¨apariert, nachdem sie vorher die Zellen unter dem Mikroskop ausgez¨ahlt und die Zelloberfl¨ache einer Einzelzelle berechnet hatten. Aus der Anzahl der Erythrozyten multipliziert mit der Zelloberfl¨ache einer Einzelzelle ergab sich die Gesamtoberfl¨ache der Membranprobe. Aus der Membranprobe wurden nun mit Aceton die Membranlipide, haupts¨achlich amphiphile Phospholipid-Molek¨ ule, extrahiert und durch Verdampfen des Acetons eingeengt. Nach der chemischen Extraktion bedienten sich die Forscher einer physikalischen Methode, um die Fl¨ache der Phospholipide zu bestimmen. Dazu wurden die amphiphilen Phospholipid-Molek¨ ule in einem so-
44
Kapitel 2 Toxikokinetik
genannten Langmuir´schen Trog“ an der Wasseroberfl¨ ache, der Grenzschicht ” Luft-Wasser, ausgespreitet und die Fl¨ache der Phospholipidschicht vermessen, nachdem vorher mit Hilfe einer empfindlichen Waage die PhospholipidMolek¨ ule zu einem monomolekularen Film zusammengeschoben worden waren. Der Versuch f¨ uhrte zu dem Ergebnis, dass man die Oberfl¨ache des Erythrozyten genau mit der doppelten Phospholipidschicht bedecken kann. Als einfachstes Modell einer Zellmembran bot sich somit die Lipid-Doppelschicht“ an ” (Abbildung 2.10). ¨ In einer nachtr¨aglichen Uberpr¨ ufung des Experiments wurden zwei Fehler entdeckt. Nur ein gl¨ ucklicher Zufall, die Kompensation der beiden Fehler, hat den beiden Forschern zu dem Modell verholfen. Auf der einen Seite war die bikonkave Form des Erythrozyten, die eine große Oberfl¨ache f¨ ur den Sauerstoffaustausch schafft, als zu klein berechnet worden, auf der anderen Seite war die chemische Phospholipidextraktion mit Aceton unvollst¨andig ausgefallen. Trotz dieser beiden experimentellen Fehler wurde uns ein essentielles Membranmodell beschert, das auch heute noch seine G¨ ultigkeit besitzt. Eine Modellvorstellung hat den großen Vorteil, dass sie gezielte Folgeexperimente erm¨oglicht, welche die Richtigkeit des Modells beweisen oder verneinen k¨onnen. Im Jahre 1934 wiesen E. N. Harvey und H. Shapiro (E. N. Harvey and H. Shapiro, J.Cell. and Comp. Physiol. 5, 255, 1934) darauf hin, dass die Oberfl¨achenspannung eines Lipidtropfens etwa 60-mal gr¨oßer als die einer Eizelle ist (Eizelle 0,1 bis 0,2 Dyn/cm und Lipidtropfen 9,0 Dyn/cm). Somit konnte das einfache Membranmodell der Lipiddoppelschicht nicht richtig sein. Durch Vorstellung eines aufgelagerten Proteinfilms wurden zun¨achst die Widerspr¨ uche des Spannungsunterschiedes zwischen Zelle und Lipidtropfen beseitigt. Dies f¨ uhrte 1935 zur gemischten Protein-Lipidfilm-Theorie“ der Membran ” von Danielli und Davson (Literaturzitat in der Legende der Abbildung 2.10). Auch das Modell der gemischten Protein-Lipiddoppelschicht“ wurde durch ” gezielte Experimente zu Fall gebracht, da eine durchgehende Lipiddoppelschicht f¨ ur Molek¨ ule wie Glucose oder das Hydrogencarbonat-Anion zu wenig durchl¨assig ist. Dies steht ganz im Gegensatz zur Erythrozytenmembran und zu anderen tierischen Zellmembranen, die z. B. f¨ ur das wasserl¨osliche Glucose6 Molek¨ ul 10 -mal besser permeabel sind als reine Lipidmembranen. Um die lange Entdeckungsgeschichte abzuk¨ urzen, sei hier als Resultat festgehalten, dass f¨ ur den Transport von Substraten verschiedene Transportproteine verantwortlich sind, die in die Lipiddoppelschicht eingelagert sind. Schließlich wurde im Jahre 1972 von S. J. Singer und G. L. Nicolson das Fl¨ us” sig-Mosaik-Modell“ der Membran entwickelt (Abbildung 2.10). Das molekulare Membranmodell geht davon aus, dass die Membranproteine, die Transportproteine, Rezeptoren, Enzyme oder Strukturproteine sein k¨onnen, in die
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
45 Protein-Auflage
Lipid-Doppelschicht (A)
gemischter Protein-Lipidfilm (B)
O
1 O R O
2
(CH2)14
CH3
CH O C
(CH2)14
CH3
O CH2
P O
CH2 O C O
-
3 Symbol Flüssig-Mosaik-Modell (C)
Abbildung 2.10 Membranmodelle. Lipid-Doppelschicht ((A) E. Gorter and F. Grendel, J. Exper. Med. 41, 439, 1925), gemischter Protein-Lipidfilm ((B) J. F. Danielli and H. Davson, J. Cell. and Comp. Physiol. 5, 495, 1935) und Fl¨ ussig-Mosaik-Modell ((C) S. J. Singer and G. L. Nicolson, Science 175, 720, 1972). 1, 2 und 3 sind verschiedene Membranproteintypen im Fl¨ ussig-Mosaik-Modell. Das verwendete Symbol steht f¨ ur ein Phospholipidmolek¨ ul, welches aus vier Komponenten zusammengesetzt ist. Erstens Fetts¨ auren, zweitens Glycerin oder Sphingosin, drittens eine Phosphatgruppe und viertens einem Alkohol (R). Den hydrophoben Anteil (Schw¨ anze) bilden die beiden Fetts¨ auren (hier Palmitins¨ aure), die mit Glycerin an C1 und C2 verestert sind. Die letzte Hydroxylgruppe des Glycerins, C3 , f¨ uhrt zum hydrophilen Anteil (runder Kopf ) und ist mit Phosphors¨ aure verestert, die andererseits mit Cholin, Ethanolamin, Serin oder Inositol einen Diester bildet.
Lipiddoppelschicht eingetaucht sind. Die hydrophoben Bereiche sind in das Innere der Membran eingebettet, die hydrophilen Teile sind den w¨assrigen Innenund Außenl¨osungen zugewandt. Die Bestandteile der Membran, Lipide und Proteine, werden ausschließlich durch nicht-kovalente Bindungen zusammengehalten und k¨onnen innerhalb der Membran lateral (seitlich) diffundieren.
46
Kapitel 2 Toxikokinetik
Der Austausch der Lipide von einer Seite der Membran zur anderen (sog. flip” flop“ oder transverse diffusion“) ist im Gegensatz zur lateralen Diffusion ein ” sehr langsamer Prozess. Ein flip-flop“ der Proteine wird dagegen nicht beob” achtet. Folgende Merkmale einer Membran k¨onnen herausgestellt werden: 1. Membranen sind hauchd¨ unne Filme, die kleine Kompartimente mit unterschiedlichem Zellinhalt allseitig umschließen und begrenzen. Sie bestehen aus wenigen Molek¨ ulschichten, ihre Dicke liegt meist zwischen 6 und 10 nm. 2. Membranen sind haupts¨achlich aus Lipiden und Proteinen aufgebaut. Der Proteinanteil liegt meistens zwischen 40 und 60 %. Außerdem enthalten sie wechselnde Anteile von Kohlenhydraten, die an Lipide und Proteine gebunden sind. 3. Die Membranlipide sind relativ kleine Molek¨ ule mit amphiphilen Eigenschaften. Die Hauptgruppe bilden die Phospholipide, danach kommen die eine Kohlenhydratgruppe enthaltenden Glycolipide und schließlich neutrale Lipide wie das Cholesterin. 4. Die Membranproteine haben spezifische Funktionen. Sie wirken als Transporter f¨ ur verschiedene N¨ahrstoffe und Ionen, als Ionen-Kan¨ale, als Rezeptoren mit Signalfunktion, als Energie¨ ubermittler und als Enzyme. Außerdem dienen sie als Strukturelemente, welche z. B. das Zytoskelett der Zelle bilden. 5. Die Membranbestandteile werden ausschließlich durch viele nicht-kovalente Bindungskr¨afte kooperativ zusammengehalten. Die Anordnung in der Membranmatrix hat eine Maximierung der hydrophoben Wechselwirkungen zwischen den Molek¨ ulen zur Folge und ist daher energiearm und thermodynamisch stabil. F¨ ur hydrophile Substanzen wird hiermit eine effektive Barriere gebildet. 6. Proteine und Lipide sind asymmetrisch verteilt. Kohlenhydrate finden sich ausschließlich auf der a¨ußeren Oberfl¨ache der Membran. 7. Membranen haben Fließ-Eigenschaften. Die Lipide besitzen eine schnelle laterale Diffusion. Dies gilt auch f¨ ur die Proteine, die wie Eisberge in einem zweidimensionalen Lipid-Meer herumschwimmen, wenn sie nicht mit oder durch die Strukturproteine verankert sind. Eine langsame transverse Diffusion wie bei den Lipiden wurde f¨ ur Proteine nicht beobachtet.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
2.3.3
47
Kompartimentierung innerhalb von Zellen
Nachdem eine toxische Substanz die Barriere der Zellmembran u ¨ berwunden hat, tritt sie in das Zytoplasma ein. Im Zytoplasma befinden sich unter anderem viele gel¨oste Enzyme, wie z. B. die Enzyme f¨ ur den glycolytischen Abbau der Glucose. Beim Erythrozyten als einer Ausnahmezelle besteht das Zellinnere aus einem einzigen Kompartiment, das zum gr¨oßten Teil mit H¨amoglobin angef¨ ullt ist. Alle anderen Zellen (auch die unreifen Vorstufen der Erythrozyten) besitzen im Zellinneren weitere Kompartimente, die ebenfalls durch Membranen begrenzt werden. Die intrazellul¨aren Kompartimente enthalten
Abbildung 2.11 Idealisiertes Bild einer Zelle. Der Zellkern steht u ¨ber Poren mit dem Zytoplasma in Verbindung. Der zytoplasmatische Raum ist zum gr¨ oßten Teil ausgef¨ ullt mit weiteren Organellen, dem glatten und rauhen endoplasmatischen Retikulum, Mitochondrien, dem Golgi-Apparat und den Lysosomen. Der Zellkern wird von einer Doppelmembranh¨ ulle umschlossen, welche die Desoxyribonukleins¨ aure (DNA) einschließt. Die genetische Information ist in den Basensequenzen der DNA-Molek¨ ule codiert, die eine bestimmte, f¨ ur alle Lebewesen charakteristische Anzahl von Chromosomen bilden (Schema nach Wohlfahrt-Bottermann und Loewy).
48
Kapitel 2 Toxikokinetik
unterschiedliche enzymatische Ausstattungen und erleichtern damit die Regu¨ lation einer Vielzahl von Stoffwechselwegen. Abbildung 2.11 gibt eine Ubersicht u ¨ber die intrazellul¨aren Kompartimente (Organellen). Das umfangreichste intrazellul¨are Membransystem ist das endoplasmatische Retikulum, welches ein schlauchartiges R¨ohrensystem darstellt. Es ist sowohl mit der Zellkernmembran als auch mit der Zellmembran verbunden. Ein großer Teil dieser Organelle, das sogenannte rauhe endoplasmatische Retikulum, ist mit Ribosomen besetzt. In diesen l¨auft die Synthese von Proteinen ab, die entweder zu den Membranen gebracht werden oder f¨ ur die Ausschleusung aus der Zelle bestimmt sind. Im glatten endoplasmatischen Retikulum, das keine Ribosomen besitzt, werden die Lipide synthetisiert. Außerdem enth¨alt das glatte endoplasmatische Retikulum die wichtigen Enzymsysteme, die im wesentlichen f¨ ur den Abbau von Fremdstoffen, f¨ ur die Biotransformation, verantwortlich sind, wie z. B. die Cytochrom P-450-Monooxygenasen und UDP-Glucuronyl-Transferasen. Viele Substanzen, die im endoplasmatischen Retikulum entstehen, werden weiter in den Golgikomplex transportiert und dort weiter verarbeitet. In den Mitochondrien, die mit einer Doppelmembran umgeben sind, erfolgt die eigentliche Zellatmung. Mit Hilfe des Sauerstoffs werden die N¨ahrstoffe zu den Stoffwechselendprodukten CO2 und Wasser abgebaut. Dabei entsteht die energiereiche Verbindung Adenosintriphophat (ATP), die u ¨berall in der Zelle als universaler Brennstoff“ und als Energielieferant eingesetzt werden ” kann. Die Lysosomen sind von einer Einzelmembran umh¨ ullte Organellen, die in Gr¨oße und Aussehen variieren k¨onnen. Sie enthalten eine Vielzahl von hydrolytischen Enzymen f¨ ur die Verdauung zellfremder Substanzen sowie f¨ ur das Recycling zelleigener Bestandteile. Zytologische Untersuchungen haben ergeben, dass die Lysosomen durch Abschn¨ urung aus dem Golgi-Apparat entstehen.
2.3.4
Permeabilit¨at von Membranen f¨ ur toxische Substanzen
Bei der Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung m¨ ussen toxische Substanzen erst verschiedene Membranbarrieren passieren, bevor sie zum eigentlichen Wirkort gelangen. Der Membrantransport von Substanzen erfolgt grunds¨ atzlich auf drei verschiedenen Wegen: einfache Diffusion, carriervermittelter Transport und vesikul¨arer Transport.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
49
Transport durch Diffusion Der Aufbau der Plasmamembran wurde im Kapitel 2.3.2 als eine kontinuierliche Lipiddoppelschicht beschrieben, in die hydrophobe Proteine eingebettet sind. Ein Diffusionstransport von Substanzen kann sowohl durch die Lipiddoppelschicht als auch u ¨ber die hydrophoben Proteine erfolgen. Dies soll exemplarisch am Transport von Wasser am Membranmodell des Erythrozyten gezeigt werden. • Permeation von Wasser durch die Lipidphase der Membran Wasser kann am einfachsten durch die Lipidphase der Erythrozytenmembran diffundieren. Dieser Diffusionsweg wird durch keine pharmakologischen Substanzen gehemmt. Charakteristisch f¨ ur die Diffusion von H2 O durch die Lipiddoppelschicht ist seine deutliche Temperaturabh¨angigkeit mit einer relativ hohen Aktivierungsenergie von u ¨ber > 10 kcal/mol. Eine Erkl¨arung hierf¨ ur bietet die dichtere Packung der Lipidmolek¨ ule bei niedriger Temperatur im Vergleich zur Packung bei h¨oherer Temperatur (Abbildung 2.12). • Permeation von Wasser durch Membrankan¨ale Ein zweiter Diffusionsweg von H2 O durch die Erythrozytenmembran wurde erst 1991 von G. M. Preston and P. Agre beschrieben. Sie fanden, dass ein kleines Kanalprotein von 28 kDa in der Plasmamembran haupts¨ achlich f¨ ur den Wassertransport verantwortlich ist (Abbildung 2.12). Dieser Wasserkanal wurde zun¨achst als CHIP28 bezeichnet (channel-forming integral membrane protein) und in der Membran von Erythrozyten gefunden. Pro Erythrozyt gibt es etwa 150 000 solcher Kan¨ ale. In der GenomNomenklatur wurden dieser und a¨hnliche Wasserkan¨ale, die sich auch in anderen Zellen und ganz besonders in der Niere fanden (siehe Kapitel 4.2.5), allgemein als Aquaporine bezeichnet. Im Gegensatz zur Wasserdiffusion durch die Lipiddoppelschicht ist der Transport von H2 O durch den Aquaporinkanal mit Quecksilber-Ionen hemmbar. Der Wirkort des Quecksilbers ist die Aminos¨aure Cystein, C189, in der Aminos¨aurensequenz des Aquaporins. Es besteht aus 6 hydrophoben transmembran¨osen Dom¨anen. Zwei Außenloops formen zus¨atzlich einen hydrophoben Ring, der aus 6 Aminos¨auren gebildet wird und wahrscheinlich die eigentliche Wasserpore darstellt. Aufgrund der permanenten Durchg¨angigkeit des Wasserkanals ist seine Temperaturabh¨angigkeit f¨ ur die Passage von H2 O nur sehr gering. Es resultiert eine Aktivierungsenergie von weniger als 4 kcal/mol, die statistisch nicht verschieden von einer Diffusion von Wasser in Wasser ist. Der Kanalule und keine H3 O+ -Ionen oder querschnitt ist so klein, dass nur H2 O-Molek¨ andere kleine Molek¨ ule wie Glycin, Harnstoff, Ethanol penetrieren k¨onnen.
50
Kapitel 2 Toxikokinetik
H
H
O
O
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H
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H
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H
O H
O
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H H
H H O
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H O
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O H
N A
P P
A N
C
H
H
H O O
H H
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O O
H
H
H
H H
O H
H H
H
O
O
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H
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Membran
H
O
O H
H
H
Abbildung 2.12 Transportwege von H2 O durch die Plasmamembran. Aquaporin ist ein durchg¨ angiger Wasserkanal. Die engste Stelle des 28 kDa Proteins wird vermutlich durch einen Ring von 6 Aminos¨ auren gebildet mit je zwei Asparagin (N), Prolin (P) und Alanin (A) Aminos¨ auren. Quecksilber-Ionen k¨ onnen den Wasserdurchtritt durch Aquaporin hemmen. Der Reaktionsort ist die Aminos¨ aure Cystein (C189), die sich in der unmittelbaren N¨ ahe der Wasserpore befindet. Der Transport von Wasser durch die Lipiddoppelschicht der Membran besitzt eine viel h¨ ohere Aktivierungsenergie, da wegen der dichten Packung der Lipide bei niedriger Temperatur seine Diffusion erschwert ist (nach Peter Agre et al. 1995).
Die Lipiddoppelschicht und Aquaporin sind jedoch nicht die einzigen Kanalstrukturen, die eine Wasserpermeabilit¨at durch die Membran erm¨oglichen. Untersuchungen am Glucosetransporter Glut1 in der Erythrozytenmembran haben 1989 gezeigt, dass u ¨ber diesen carriervermittelten Glucosetransport auch ule die Membran permeieren k¨onnen. Außerdem wurden noch andeH2 O-Molek¨ re carriervermittelte Transporter, wie der Anionentransporter, f¨ ur wasserpermeable Strukturen gehalten. Diese Beispiele sollen zeigen, dass die Diffusionswege von kleinen Molek¨ ulen wie Wasser durch die Membran u ¨beraus vielf¨altig sein k¨onnen.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
51
F¨ ur kleine Molek¨ ule wie Glycin und Harnstoff werden außerdem spezielle Membrantransporter in der Erythrozytenmembran diskutiert. Das Auffinden von Transportproteinen f¨ ur Acetat und Ethanol in der Hefeplasmamembran hat zur Revision des fr¨ uheren Standpunktes gef¨ uhrt, dass kleine Molek¨ ule allein durch Diffusion die Membran passieren k¨onnen. Dagegen gilt dies immer noch f¨ ur die meisten toxischen Substanzen und gasf¨ormigen Stoffe wie O2 , CO2 , CO, NH3 und HCN. • Permeation toxischer Substanzen In einer homogenen L¨osung bewegen sich die Molek¨ ule mit gleicher Wahrscheinlichkeit in alle Raumrichtungen, d. h. in einem abgeschlossenen Kompartiment bleibt die Gesamtkonzentration unabh¨angig von der Zeit konstant. Bestehen aber Konzentrationsunterschiede zwischen zwei benachbarten Raumteilen eines L¨osungsraums, so werden Molek¨ ule von dem Raumteil h¨oherer Molek¨ ulkonzentration zu demjenigen niedrigerer Konzentration transportiert, bis ein Konzentrationsausgleich stattgefunden hat. Dieser Stofftransport findet grunds¨atzlich auch statt, wenn zwei L¨osungen von unterschiedlicher Molek¨ ulkonzentration durch eine permeable Membran getrennt werden. Eine Membran ist insofern eine Transportbarriere f¨ ur alle Substanzen, deren L¨oslichkeit und Beweglichkeit in der Membran viel geringer als in der angrenzenden K¨orperfl¨ ussigkeit ist. Nach ihren physikalisch-chemischen Eigenschaften, die f¨ ur die Diffusion durch biologische Membranen bestimmend sind, lassen sich Substanzen in vier Gruppen einteilen: a. Elektrolyte Im Vergleich zu ungeladenen Molek¨ ulen ist die Beschreibung von passiven Diffusionsvorg¨angen von Ionen durch Membranen sehr kompliziert. H¨aufig besteht an der Membran eine elektrische Potentialdifferenz zwischen den angrenzenden K¨orperfl¨ ussigkeiten. Dadurch bewegen sich die Ionen sowohl unter dem Einfluss eines chemischen Konzentrationsgradienten als auch unter dem eines elektrischen Potentialgradienten. Weiterhin sind im Vergleich zu ungeladenen Nichtelektrolyten die Wechselwirkungskr¨afte zwischen Ionen und Wasser sehr viel st¨arker. Man muss daher annehmen, dass Elektrolyte nicht in ausreichender Konzentration in die Lipiddoppelschicht der Membran eindringen k¨onnen und keine messbaren Ionenfl¨ usse hervorrufen. Lipiddoppelschichten besitzen in der Tat einen sehr hohen elektrischen Widerstand, d. h. sie sind a¨ußerst schlecht diffusibel f¨ ur Ionen. Der um Gr¨oßenordnungen niedrigere elektrische Widerstand von Zellmembranen wird mit den spezifischen Transportstellen f¨ ur bestimmte Ionen in Verbindung gebracht. Aus diesen Gr¨ unden wird ein nennenswerter einfacher Diffusionsbeitrag von Elektrolyten durch biologische Membranen stark angezweifelt.
52
Kapitel 2 Toxikokinetik
Dagegen sind Lipiddoppelschichten f¨ ur organische Ionen, die p-Elektronen enthalten, wie z. B. Rhodanid oder Tetraphenylborat, gut diffusibel. Weiterhin findet eine einfache Diffusion von Ionen an Epithelmembranen in der Niere, dem D¨ unndarm oder der Gallenblase statt. Hier sind es jedoch die zwischenzellul¨aren Verbindungen, die keine geschlossene Lipidbarriere darstellen, sondern vielmehr durch ihr Proteinmaschenwerk mit einer Ionenaustauschermembran verglichen werden k¨onnen. b. Kleine hydrophile Molek¨ ule Kleine hydrophile Molek¨ ule benutzen als Diffusionswege wassergef¨ ullte Poren oder Kan¨ale, die haupts¨achlich im Inneren der Membranproteine zu finden sind. F¨ ur Erythrozyten und viele andere Zellen wird ein hypothetischer Porendurchmesser von etwa 0,4 nm angenommen. Kleine wasserl¨osliche Molek¨ ule wie Harnstoff und Glycerin k¨onnen leicht diffundieren, die Permeationsgeschwindigkeit nimmt mit zunehmender Molek¨ ulgr¨oße ab. Das gleiche Prinzip gilt f¨ ur den D¨ unndarm, bei dem man einen mittleren hypothetischen Porendurchmesser von etwa 0,6 bis 1,6 nm errechnet hat. Molek¨ ule unter einem mittleren Molekulargewicht von 400 k¨ onnen durch solche Poren penetrieren. Schwemmt man z. B. Erythrozyten in einer konzentrierten Harnstoffl¨osung auf, so erfolgt ein schneller Wasseraustritt durch die Aquaporine, verbunden mit einem Schrumpfen der Zellen. Erst sp¨ater schwellen die Zellen durch die langsamere Harnstoffdiffusion. Als einen Spezialfall der Diffusion kann man auch die Osmose auffassen. Osmose ist definiert als ein L¨osungsmitteltransport durch eine semipermeable Membran, die zwei L¨osungen mit unterschiedlichen Molek¨ ulkonzentrationen trennt. Dabei dringen z. B. Wassermolek¨ ule durch die f¨ ur die gel¨osten Molek¨ ule undurchl¨assige Membran auf die Seite mit h¨oherer Molek¨ ulkonzentration, bis ein Konzentrationsausgleich erreicht ist. An biologischen Membranen liegt im allgemeinen ein kombinierter Membrantransport von Wasser und gel¨osten Molek¨ ulen vor. Die Analyse solcher sich u ¨berlagernder Transporte ist außerordentlich schwierig. Schließlich sollte an dieser Stelle noch die Filtration erw¨ahnt werden. Filtration erfolgt, wie in der Abbildung 2.9 gezeigt, unter der treibenden Kraft einer hydrostatischen Druckdifferenz zwischen angrenzenden Fl¨ ussigkeiten zu beiden Seiten der Membran (Gef¨aßw¨ande). Sind in einer Membran der Porenradius, die L¨ange der Poren und deren Anzahl bekannt, so kann man zur Beschreibung des Fl¨ ussigkeitsstromes durch die Filtermembran das Gesetz von Hagen-Poiseuille anwenden: V = [(r4 · π · n)/(8L · η)] · ∆p
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
53
Wobei V der Filtrationsgeschwindigkeit (Volumen/Zeit), r dem Porenradius, ∆p der hydrostatischen Druckdifferenz, n der Anzahl der Poren, η der Viskosit¨at und L der L¨ange der Poren entspricht. Bei der Filtration wandert das L¨osungsmittel zusammen mit den gel¨osten Teilchen durch die Membran. Die Filtration ist z. B. wichtig in den Blutkapillaren (Abbildung 2.9) und bei der Filtration des Plasmas in der Niere (Abbildung 2.21), einem wesentlichen Ausscheidungsmechanismus von toxischen Substanzen. c. Kleine nichtpolare Molek¨ ule, Gase F¨ ur kleine wasserl¨osliche Gase wie Sauerstoff, Kohlendioxid, Stickstoff, Kohlenmonoxid, Cyanwasserstoff und Ammoniak sind biologische Membranen sehr gut permeabel. Die Diffusion wird durch die Membranen nicht wesentlich behindert und zeigt kaum eine Selektivit¨at. d. Lipophile Molek¨ ule Die Diffusion von lipophilen Molek¨ ulen durch die Lipiddoppelschicht ist ein Mechanismus, der sehr h¨aufig von toxischen Substanzen genutzt wird. Umfangreiche Untersuchungen u ¨ber die Permeabilit¨at von Nichtelektrolyten haben ergeben, dass die Permeabilit¨at und der VerteilungskoeffizientVk deutlich korreliert sind. Der Verteilungskoeffizient ergibt sich aus dem Verh¨altnis der Konzentration in der Lipidphase zur Konzentration in der Wasserphase. ur die hydrophoben Eigenschaften von Molek¨ ulen. Dieser KoVk ist ein Maß f¨ effizient m¨ usste eigentlich aus der Verteilung zwischen den Membranlipiden und dem angrenzenden Gewebewasser bestimmt werden. Da dies praktisch nicht durchf¨ uhrbar ist, misst man Vk an Modellsystemen. Fr¨ uher wurde nach Einstellung des Gleichgewichtes die Konzentration der Substanz in Oliven¨ol und in einer darunter befindlichen Wasserphase gemessen. Der resultierende Quotient wurde als eine ausreichende Ann¨aherung an die tats¨achliche Verteilung zwischen den Membranlipiden und der w¨assrigen Phase angenommen. Heute benutzt man als Lipidphase chemisch reine Substanzen wie unpolare Kohlenwasserstoffe, z. B. Heptan, oder h¨ohere Alkohole wie Oktanol. Die gute Korrelation von Permeabilit¨at und Verteilungskoeffizient an verschiedenen Membrantypen und die vergleichsweise geringe Abh¨angigkeit vom Molekulargewicht best¨atigt die Vorstellungen, dass sich die Zellmembran wie eine Lipidbarriere verh¨alt und dass die Permeabilit¨at im wesentlichen durch die Kr¨afte beeinflusst wird, die auch die Verteilung zwischen Lipid und Wasser bestimmen. Die Befunde lassen sich mit guter Ann¨aherung durch das Fick’sche Diffusionsgesetz, wie bereits bei der Permeabilit¨at durch die Haut verwendet (Kapitel 2.1.1), beschreiben. F¨ ur die Membranpermeabilit¨at nimmt man an, ¨ dass der Ubergang von der Außenl¨osung in die hydrophobe Membranphase nicht geschwindigkeitsbestimmend ist. Der Phasen¨ ubergang soll so schnell er-
54
Kapitel 2 Toxikokinetik
folgen, dass sich die Oberfl¨achen in der Membranphase mit den angrenzenden Fl¨ ussigkeiten stets im Verteilungsgleichgewicht befinden und die Diffusion in der Lipiddoppelschicht ¨ahnlich wie in freier L¨osung abl¨auft. Die Fick´sche Gleichung: dm/dt = Kd · Vk · (Oberfl¨ache/Schichtdicke) ·∆c l¨asst sich folgendermaßen umformen, wenn die Oberfl¨ache der Membran in cm2 mit A und die Dicke der Membran mit λ in cm angegeben wird: (dm/dt)/A = (Kd · Vk /λ) · ∆c Die linke Seite der Gleichung gibt die Zahl der Molek¨ ule m an, die pro Zeiteinheit (sec) und Oberfl¨acheneinheit (cm2 ) die Membran passieren. Sie ist hiermit identisch mit der Definition f¨ ur den Membranfluss J: J = (dm/dt)/A Auf der rechten Seite der Fick´schen Gleichung wird anstelle des Diffusionskoeffizienten Kd der Permeabilit¨ atskoeffizient P eingef¨ uhrt, welcher als Kd /λ definiert ist. Da die Dimension f¨ ur Kd [cm2 sec−1 ] ist, hat P die Dimension [cm sec−1 ] und damit ist der Membranfluss J auch: J = P · Vk · ∆c Der Permeabilit¨atskoeffizient P ist insofern zweckm¨aßig, als f¨ ur die meisten Membranen die genaue Dicke nicht bestimmt werden kann. Wenn der Konzentrationsunterschied an beiden Seiten der Membran ein Mol betr¨agt, so gibt P die Zahl der Molek¨ ule an, die in einer Sekunde pro cm2 Oberfl¨ache die Membran passieren. P h¨angt, wie der Diffusionskoeffizient Kd , von der Molek¨ ulgr¨oße und der Temperatur ab. Die Permeabilit¨at einer toxischen Substanz durch die Lipidbarriere einer Membran h¨angt außerdem stark von ihrer Ionisation ab. Eine Reihe von toxischen Substanzen sind schwache S¨auren oder Basen und liegen in w¨assrigen L¨osungen sowohl in der ionisierten als auch in der nicht-ionisierten Form vor. Wie vorangehend ausgef¨ uhrt, ist im allgemeinen die Membranpassage einer ionisierten Substanz nur von geringer Bedeutung. Dagegen k¨onnen auch gr¨oßere Molek¨ ule im nicht-ionisierten Zustand aufgrund ihrer Lipophilie relativ leicht durch die Membran diffundieren.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen
55
Die Verteilung von schwachen S¨auren oder Basen wird im wesentlichen durch deren pK-Werte und den pH-Gradienten u ¨ber die Membran bestimmt. Die Abbildung 2.13 soll den Einfluss des pH-Wertes auf die Verteilung einer schwachen S¨aure mit einem pKa -Wert von 4,4 zwischen dem Blutplasma mit einem pHWert von 7,4 und dem Mageninhalt mit einem pH von 1,4 veranschaulichen. Bei der Verteilung wird angenommen, dass die Barriere zwischen Mageninhalt und Blut sich wie eine einfache Lipidschicht verh¨alt. Mit Hilfe der HendersonHasselbalch´schen Gleichung l¨asst sich f¨ ur S¨auren und Basen das Verh¨altnis der Konzentrationen des nicht-ionisierten zum ionisierten Anteil bei jedem pH-Wert berechnen: pKa - pH = log [nicht-ionisiert/ionisiert], f¨ ur S¨auren, ur Basen. pKb - pH = log [ionisiert/nicht-ionisiert], f¨ Bei dem Beispiel in Abbildung 2.13 ergibt sich f¨ ur den Blutplasmaraum ein Verh¨altnis von nicht-ionisiert zu ionisiert von 1 : 1000 und f¨ ur den Magenin-
PLASMARAUM pH 7.4 nichtionisiert [1]
MAGENSAFT pH 1.4 nichtionisiert [1]
ionisiert [1000]
ionisiert [0.001]
insgesamt [1001]
insgesamt [1.001]
Abbildung 2.13 Einfluss des pH-Wertes auf die Verteilung einer schwachen S¨ aure mit dem pKa -Wert von 4,4 zwischen Blutplasma und Mageninhalt nach Einstellung des VerteilungsGleichgewichtes. Nur die nicht-ionisierte Form der schwachen S¨ aure passiert die Membrandoppelschicht der Magenwand. Die Zahlen in den eckigen Klammern bedeuten die Gleichgewichtskonzentrationen.
56
Kapitel 2 Toxikokinetik
halt 1 : 0,001. Nach Einstellung des Gleichgewichtszustands w¨ urde die Konzentration der schwachen S¨aure insgesamt (ionisierte und nicht-ionisierte Form) im Blutplasma 1001 und im Mageninhalt nur 1,001 betragen. Die ungleiche Verteilung ist ein rein physikalisch-chemischer Prozess, der keine aktive Transportleistung erfordert, abgesehen vom Aufbau des pH-Gradienten durch die Protonenpumpe des Magens. F¨ ur eine schwache Base mit einem pKb -Wert von 4,4 w¨ urde das sich einstellende Verh¨altnis der Gesamtkonzentrationen zwischen Blutplasma und Mageninhalt gerade umgekehrt sein, n¨amlich 1,001 zu 1001. Der Mageninhalt wirkt hier wie eine Ionenfalle“ (Morphin). ” Allgemein l¨asst sich formulieren, dass sich ein Gleichgewichtszustand nur f¨ ur den zur Membranpermeabilit¨at f¨ahigen nicht-ionisierten Anteil ausbilden kann. Daher ist die Gesamtkonzentration an ionisierter und nicht-ionisierter Form auf der Seite der st¨arkeren Ionisation gr¨oßer als auf der Seite der schw¨acheren Ionisation. Basische Substanzen h¨aufen sich in dem Kompartiment mit der h¨oheren Protonen-Konzentration und saure Substanzen in dem mit der niedrigen Protonen-Konzentration an.
2.3.5
Eintritt in die Zelle durch Pinozytose und Phagozytose
Es gibt auch Mechanismen, die es erm¨oglichen, dass eine toxische Substanz in eine Zelle aufgenommen wird, ohne dass sie selbst die Membranbarriere zu passieren braucht. Man darf sich die Zellmembran nicht als ein statisches H¨autchen vorstellen, sondern sie ist ein a¨ußerst dynamisches Gebilde. Bei der Pinozytose und der Phagozytose bildet die Zellmembran zun¨achst Einbuchtungen, welche extrazellul¨are Fl¨ ussigkeit (Pinozytose) oder feste Partikel (Phagozytose) aufnehmen. Durch weitere Einst¨ ulpung und Abschn¨ urung eines kleinen Membranabschnittes entstehen Membranvesikel, die in das Zellinnere gelangen und dort ihren Inhalt freisetzen. Diese Vorg¨ange bezeichnet man auch als Endozytose im Gegensatz zur Exozytose, der Ausschleusung von Membranvesikeln aus der Zelle. Durch Endozytose k¨onnen sogar gr¨oßere Molek¨ ule (wie z. B. das Botulinus-Toxin) und selbst fremde Zellen (z. B. Bakterien und Hefezellen) und Partikel in die Zelle gelangen oder nur durch sie hindurch transportiert werden (Transzytose). Bei der Endo- und Exozytose handelt es sich um energieverbrauchende Prozesse, an denen kontraktile Proteine beteiligt zu sein scheinen. Eine weitere besondere Form der Endozytose ist die Rezeptor-vermittelte Endozytose. Ein Beispiel hierf¨ ur ist der Eisentransport in die Zelle (siehe Kapitel 4.1.6). Eisen ist trotz seiner absoluten Notwendigkeit f¨ ur den Organismus ein hochtoxisches Metall und wird darum von einem speziellen Transportprotein,
2.4 Bindung und Speicherung
57
dem Transferrin, sicher gebunden und transportiert. Das mit zwei Fe3+ -Ionen beladene Ferrotransferrin dockt an der Membran an einem speziellen Rezeptor an. Wenn an einer Stelle eine gen¨ ugende Anzahl besetzter Rezeptoren vorhanden ist, st¨ ulpt sich die Membran ein und schn¨ urt sich mit dem Inhalt ab. Das Eisen gelangt zu dem Eisenspeicher Ferritin im Zytoplasma, und der Rezeptor kehrt an die Zelloberfl¨ache zur¨ uck, wo er das eisenlose Apotransferrin freisetzt. Dieser Zyklus dauert etwa 16 Minuten, und eine Leberzelle tranportiert auf diese Weise ungef¨ahr 20 000 Eisen-Atome pro Minute.
2.4
Bindung und Speicherung
Toxische Molek¨ ule werden sehr oft an spezifischen Stellen im Organismus eingelagert. Einige Molek¨ ule reichern sich besonders dort an, wo auch ihre toxische Wirkung erfolgt. Das gilt z. B. f¨ ur das Cadmium in den Nieren, f¨ ur Kohlenmonoxid am H¨amoglobin, f¨ ur Cyanwasserstoff an den elektronentransportierenden Cytochromen oder f¨ ur das Herbizid Paraquat in den Lungenepithelien. Andere toxische Substanzen werden gebunden oder gespeichert und sind in dieser Form unsch¨adlich f¨ ur den Organismus. Dies wurde vorangehend f¨ ur Eisen gezeigt, das an die Proteine Transferrin und Ferritin in einer f¨ ur den Organismus ungiftigen Form gebunden ist und gilt auch f¨ ur Blei, das im Knochengewebe gespeichert werden kann. Ein anderes Beispiel ist das Insektizid DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan), das im Fettgewebe in wirkungsloser Form gelagert wird. Als allgemeine Regel f¨ ur gebundene oder gespeicherte Substanzen gilt: 1. Die immobilisierten Substanzen verursachen keine toxischen Wirkungen – die toxisch wirksamen Konzentrationen sind im allgemeinen die freien Konzentrationen. 2. Die immobilisierten Formen k¨onnen nicht von Enzymen umgesetzt werden und sind somit dem Stoffwechsel entzogen. 3. Die Bindung und Speicherung verursacht bei fortgesetzter Exposition eine Kumulation im Organismus und verhindert damit eine wirksame Ausscheidung aus dem K¨orper u ¨ber die Nieren oder mit den Exkrementen. Das Ausmaß der Bindung und Speicherung h¨angt von der Kapazit¨at der Bindungsorte oder Speicher ab. Es wird bestimmt von der Konzentration der Reaktionspartner und der Affinit¨at der toxischen Substanz zu den Immobilisationsstellen.
58
Kapitel 2 Toxikokinetik
¨ Viele toxische Substanzen werden an Proteine gebunden. Uber einen weiten Konzentrationsbereich besteht ein festes Verh¨altnis von gebundener Substanz zu freier Konzentration, jedenfalls solange die Bindungsstellen nicht vollst¨andig besetzt sind. Die Proteine wirken auf diese Weise als Puffersubstanzen. Substanzen, die eine hohe Affinit¨at zu den Bindungsstellen haben, k¨onnen andere daraus verdr¨angen. Lipophile Substanzen k¨onnen entsprechend ihres Verteilungskoeffizienten im Fettgewebe hohe Konzentrationen erreichen. Dies kann innerhalb der biologischen Nahrungskette zu einer Anreicherung um mehrere Zehnerpotenzen f¨ uhren. Infolge seines lipophilen Charakters wird z. B. DDT von im Wasser lebenden Mikroorganismen absorbiert. Diese Mikroorganismen werden wiederum durch das Plankton aufgenommen, welches in großen Mengen vorkommt und haupts¨achlich aus einzelligen Tieren und mikroskopisch kleinen Krebsen (Crustaceen) besteht. Es resultiert dabei eine Anreicherung um den Faktor 10. Garnelen, Muscheln und kleine Fischarten ern¨ahren sich vom Plankton, und es erfolgt eine erneute Anreicherung um den Faktor 10. Diese Tiere sind nun die Beute f¨ ur gr¨oßere Fische, die ebenso etwa die l0fache Menge an Beute zum Aufbau ihrer Gewebe ben¨otigen. Daher ist die DDT-Konzentration in gr¨oßeren Fischen nochmals 10fach h¨oher. Verschiedene Vogelarten leben von Fischen, was wiederum eine Anreicherung um den Faktor 10 bedeutet. So wird veranschaulicht, dass die Kumulation einer lipophilen Substanz in der Nahrungskette unter Umst¨anden f¨ ur eine am Ende der Kette stehende Spezies, wie den Menschen, toxische Folgen haben kann.
2.4.1
Plasmaproteine, H¨amoglobin und Muskelproteine
Mengenm¨aßig betragen die Plasmaproteine im Blut des Erwachsenen etwa 0,3 kg, das H¨amoglobin in den Erythrozyten 0,9 kg und alle Muskelproteine zusammen 9 kg. Entsprechend der chemischen Struktur der Proteine k¨onnen toxische Substanzen u ¨ber Ionen-, Wasserstoffbr¨ ucken- und Dipol-Dipol-Bindungen sowie durch hydrophobe Wechselwirkungen gebunden werden. Die hydrophobe Bindung ist vielseitiger und die quantitativ wichtigere Bindungsart. Die verschiedenen Bindungsm¨oglichkeiten erkl¨aren auch, warum die unterschiedlichsten Substanzen an Proteine gebunden werden k¨onnen. Oft erfolgt eine reversible Bindung an Orte mit hoher Affinit¨at, deren Zahl verh¨altnism¨aßig klein sein kann. Die Unterteilung der Plasmaproteine erfolgt vorwiegend entsprechend ihrer elektrophoretischen Beweglichkeit in die Gruppen Albumin, a1 -, a2 -, b1 -, b2 und g-Globuline. Zus¨atzlich k¨onnen noch mit Hilfe einer Immunelektrophorese
2.4 Bindung und Speicherung
59
Tabelle 2.5 Eine Auswahl der wichtigsten Proteine des menschlichen Plasmas. Albumin nimmt den gr¨ ossten Anteil von etwa 60 % ein, die α1 -Globuline folgen mit 4 %, die α2 Globuline mit 8 %, die β-Globuline mit 12 % und die γ-Globuline mit 16 %. Neben dem Molekulargewicht in kD ist der Normalbereich im Serum (Plasma ohne Fibrin = Serum) eines Erwachsenen in g/Liter angegeben, sowie die wichtigsten Funktionen der Proteine. Proteine
kD
g/Liter
Albumin α1 -Globulin α1 -Globulin α1 -Globulin α1 -Globulin α1 -Globulin α2 -Globulin α2 -Globulin α2 -Globulin α2 -Globulin β-Globulin β1 -Globulin β1 -Globulin β1 -Globulin β1 -Globulin γ-Globulin γ-Globulin γ-Globulin γ-Globulin γ-Globulin γ-Globulin
69 44 54 200 60 68 160 65 100 143 3200 185 80 90 340 150 160 900 170 190 15
35 – 55 0,6 – 1,4 2–4 2,9 – 7,7 0,05 – 0,1 0,3 – 0,6 0,2 – 0,6 0,2 – 0,3 0,8 – 3,0 0,06 – 0,3 2,5 – 8,0 0,8 – 1,4 0,5 – 1,15 2–4 2,0 – 4,5 8,0 – 18 0,9 – 4,5 0,6 – 2,5 < 0, 15 < 6 · 10−4 5 − 15 · 10−3
Funktion Bindung, Transport, kolloidosmot. Druck saures α1 -Glycoprotein, Akute Phase Protein α1 -Antitrypsin, Proteaseinhibitor α1 -Lipoprotein, Transport Prothrombin, Gerinnung α1 -Antichymotrypsin, Chymotrypsininhibitor α2 -Caeruloplasmin, Ferrooxidase, Cu-Transport α2 -Antithrombin III, Gerinnung α2 -Haptoglobin, H¨ amoglobinbindung Plasminogen, Fibrinolyse β-Lipoprotein, Transport von Lipiden β1 C-Globulin, Komplementfaktor H¨ amopexin, H¨ aminbindung Transferrin, Transport von Eisen Fibrinogen, Gerinnungsfaktor 1 IgG, Antik¨ orper IgA, Antik¨ orper IgM, Antik¨ orper IgD, Antik¨ orper IgE, Antik¨ orper Lysozym, Bakterienaufl¨ osung
bis zu 40 Pr¨azipitationsproteine nachgewiesen werden. Dabei werden die bei der einfachen Elektrophorese homogen erscheinenden Proteinfraktionen durch eine Antigen-Antik¨orperreaktion, z. B. mit einem Antiserum vom Kaninchen, in diverse Einzelbestandteile zerlegt. Die Tabelle 2.5 soll ein Bild der Vielf¨altigkeit von menschlichen Plasmaproteinen vermitteln und zeigt besonders die Mannigfaltigkeit der Funktionen dieser Proteine auf. Das Albumin bildet mit etwa 60 % den gr¨oßten Anteil der Plasmaproteine. Es ist deshalb haupts¨achlich f¨ ur den kolloidosmotischen Druck verantwortlich und stellt gleichzeitig eine wichtige Proteinreserve des Organismus dar. Außerdem hat das Albumin die F¨ahigkeit, viele k¨orpereigene und k¨orperfremde Substanzen (z. B. zweiwertige Kationen und eine Reihe lipophiler Substanzen wie Fremdstoffe, Vitamine, Hormone, Medikamente etc.) reversibel zu binden und u ¨bernimmt damit eine wichtige unspezifische Transport- und Vehikelfunktion im Blut.
60
Kapitel 2 Toxikokinetik
Im Gegensatz dazu besitzen die Globuline speziellere Aufgaben. Dies dokumentiert sich in spezifischer Bindung und in spezifischen Funktionen. Sie stellen eine ¨außerst heterogene Gruppe von Proteinen dar, die sich außerdem unterscheiden durch ihre schlechtere Wasserl¨oslichkeit und ihr h¨oheres Molekulargewicht. Das saure a1 -Glycoprotein ist das kohlenhydradreichste Plasmaprotein (38 %), es nimmt als Akute-Phase-Protein“ an der Immunmodulation bei akuten und ” chronischen Infekten wie bei Karzinomen und in der Schwangerschaft teil. Transferrin bindet zwei Fe3+ -Ionen und ist wegen seiner hohen Affinit¨at zum Eisen f¨ ur dessen sicheren Transport zust¨andig. Caeruloplasmin ist eine Eisenoxidase und bindet Cu2+ -Ionen. Unter den Globulinen gibt es spezifische Transportformen f¨ ur Vitamine, Steroidhormone und Fette. Die a1 -Globuline enthalten Inhibitoren f¨ ur Proteasen. Das f¨ ur die Blutgerinnung wichtige Fibrinogen geh¨ort den b-Globulinen an. Die g-Globulin-Gruppe besteht aus den Immunoglobulinen, die als Antik¨orper gegen fremde Proteine eine wichtige Abwehrfunktion besitzen. Weitere Beispiele sind in der Tabelle 2.5 aufgezeichnet. Die Bindung von toxischen Substanzen an intrazellul¨ are Proteine, wie besonders an H¨amoglobin und an die Muskelproteine, ist im Verh¨altnis zu der an Plasmaproteine geringer einzusch¨atzen. Wegen deren gr¨oßerer Masse fallen sie jedoch quantitativ st¨arker ins Gewicht. Außer von den stofflichen Eigenschaften der toxischen Substanzen ist die Proteinbindung auch vom Lebensalter abh¨angig. Beim Neugeborenen ist die Proteinbindung geringer als beim Erwachsenen, was seine erh¨ohte Empfindlichkeit erkl¨art.
2.4.2
Fettgewebe, Membranen
Lipophile toxische Substanzen verteilen sich haupts¨achlich entsprechend ihres Verteilungskoeffizienten in den Membranen und im Fettgewebe. Da das Fettgewebe als fester Zellbestandteil fast wasserfrei ist, schwankt die Relation des K¨orperwassers zu den festen Bestandteilen entsprechend dem Fettgehalt des Organismus. Darum ist auch im Vergleich zu einem jungen Mann das K¨orperwasser bei einer jungen Frau, wegen des h¨oheren Fettgehaltes, im Durchschnitt um 10 % geringer. Bei einem dicken Menschen betr¨agt der Fettgehalt etwa 50 % des K¨orpergewichts, w¨ahrend bei einem Athleten nur 20 % vorhanden sein m¨ogen. Daher kann sicherlich der Mensch mit mehr Fettgewebe auch eine gr¨oßere Menge lipophiler Substanzen speichern. Werden die lipophilen toxischen Substanzen im Organismus nicht chemisch umgesetzt und wasserl¨oslich gemacht und in dieser Form ausgeschieden, so besteht die Gefahr, dass sie unter bestimmten Bedingungen aus ihren Bindungsorten mobilisiert werden. Ein Abbau von Fettgewebe kann infolge von Ab-
2.4 Bindung und Speicherung
61
magerungskuren oder Hunger erfolgen. Dann k¨ onnen die zun¨achst unsch¨adlichen, im Fettgewebe gespeicherten Substanzen u ¨ber die lipophilen Membranen praktisch in alle Gewebe des Organismus eindringen und toxische Wirkungen verursachen. Um bei dem sehr langsam metabolisierten DDT zu bleiben, sei als Beispiel angef¨ uhrt, dass das Zusammentreffen der Kumulation von DDT u ¨ber die Nahrungskette und ein Abbau des Fettgewebes infolge Hungerns bei V¨ogeln zu t¨odlichen Vergiftungen f¨ uhren kann. Eine toxische Wirkung tritt jedoch bei einigen vom Aussterben bedrohten Vogelarten wahrscheinlich schon im Embryonalstadium ein, da sich im Eidotter relativ hohe Konzentrationen lipophiler Schadstoffe befinden. Diese gelangen w¨ahrend der Differenzierung und Entwicklung in das lipidreiche Nervensystem, ¨ was fatale Folgen hat. Ahnliche Vergiftungsvorg¨ange wurden auch bei anderen Tierarten, wie z. B. bei Robben, festgestellt, die vor¨ ubergehend große Fettdepots anlegen. Die toxischen Auswirkungen des DDT haben 1972 zum Verbot sowohl seiner Herstellung als auch seines Inverkehrbringens in Deutschland gef¨ uhrt.
2.4.3
Leber, Niere, Lunge und andere Organe
Die ersten drei Organe besitzen im allgemeinen eine h¨ohere Kapazit¨at, toxische Substanzen zu binden, als andere Organe. Leber, Nieren und Lungen gelten als die am meisten mit Schwermetallen, wie Quecksilber und Cadmium, belasteten Organe, da sie diese mit hoher Affinit¨at binden. Die Leber u ¨bernimmt die Funktionen eines Kraftwerks, eines Energiespeichers, einer chemische Fabrik und einer Entsorgungsanlage in einem und ist dementsprechend auch als Bindungsort toxischer Substanzen pr¨adestiniert. Außerdem k¨onnen durch die Biotransformation toxische Metaboliten entstehen, die wie beim Tetrachlorkohlenstoff am Ort des Entstehens das Organ direkt sch¨adigen.
2.4.4
Knochengewebe
Das relativ inerte Knochengewebe ist als guter Speicher f¨ ur Fluorid, Blei und Strontium sowie f¨ ur diverse Salze bekannt. Blei und Strontium k¨onnen Calcium in der großen Oberfl¨ache der Hydroxylapatitstruktur ersetzen. Das abgelagerte Blei ist nicht toxisch, kann aber bei allen Prozessen mobilisert werden, die zum Knochenabbau f¨ uhren (z. B. bei Infektionskrankheiten oder in der Schwangerschaft).
62
2.5
Kapitel 2 Toxikokinetik
Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
Viele toxische Substanzen werden durch Biotransformation im menschlichen Organismus chemisch ver¨andert. Die leicht in den Organismus gelangenden Substanzen sind lipophil und k¨onnen in dieser Form nicht effektiv ausgeschieden werden, da sie sich bevorzugt in Fettzellen und in Membranen anreichern. Die Zeitdauer, die toxische Substanzen im Organismus verbleiben, ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Erstens f¨ uhrt eine lange Verweildauer mit wiederholten effektiven Expositionen zur Kumulation mit einem erh¨ohten toxischen Risiko, und zweitens k¨onnen solche Substanzen unter bestimmten Bedingungen aus den Speichern mobilisiert werden. Dies wurde bereits ausf¨ uhrlich am Beispiel des Insektizids DDT bei der Bindung und Speicherung im Fettgewebe dargestellt. Unten aufgef¨ uhrt ist die Strukturformel f¨ ur das DDT (4,4´Dichlordiphenyltrichlorethan).
Cl Cl
Cl C C
Cl Cl
H Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) Diese Verbindung zeichnet sich durch ihre sehr langsame metabolische Abbaubarkeit im menschlichen Organismus aus. Seit dem Verbot auf internationaler Ebene konnte jedoch eine positive Entwicklung bez¨ uglich der Kumulation in der Umwelt sowie bei Mensch und Tier festgestellt werden. Die gemessenen Konzentrationen von DDT und seiner Metabolite nahmen kontinuierlich ab. Dagegen kam es in Entwicklungsl¨andern wie Indien und Sri Lanka nach dem Verbot von DDT zu einem dramatischen Anstieg der Zahl von Malariaerkrankungen und dadurch bedingter Todesf¨alle. Durch die starke Reduzierung des DDT-Einsatzes und dem Fehlen preiswerter Alternativinsektizide wurde Ende der 1990er Jahre in Indien ein Anstieg auf u ¨ber 3 Millionen Malariaerkrankungen registriert. Aufgrund des Mangels an preisg¨ unstigen Alternativen wurde darum DDT zur Malariabek¨ampfung in Geb¨auden wieder zugelassen, da der Wirkstoff noch immer eine relativ hohe Wirksamkeit gegen¨ uber der AnophelesM¨ ucke besitzt.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
63
Es hat in der Forschung viele Anstrengungen gegeben, die negativen Auswirkungen, die sich aus der Anwendung von Insektiziden des DDT-Types ergeben, zu vermeiden. Ein solcher Weg f¨ uhrt zu 4,4´-Dimethoxydiphenyltrichlorethan (Methoxychlor):
Cl Cl H3CO
C Cl C
OCH3
H Dimethoxydiphenyltrichlorethan (Methoxychlor) Diese Substanz besitzt eine 500 mal h¨ohere Wasserl¨oslichkeit als DDT, und die biologische Abbaubarkeit ist um den Faktor 60 gesteigert bei einer etwa 20fach geringeren akuten Toxizit¨at. Der Vorteil wird leider durch den Nachteil einer schw¨acheren Insektiziden Wirkung aufgehoben. Die Verbindung wurde an dieser Stelle aus didaktischen Gr¨ unden ausgew¨ahlt und soll uns zum Mechanismus der Biotransformation im menschlichen Organismus f¨ uhren. Der Ersatz der beiden Chlor-Atome durch zwei MethoxyGruppen f¨ uhrt dazu, dass Methoxychlor verh¨altnism¨aßig gut im Organismus metabolisiert werden kann, und zwar: 1. Durch eine enzymatische oxidative Desalkylierung k¨onnen zwei phenolische Hydroxyl-Gruppen entstehen, welche die Wasserl¨oslichkeit der Verbindung weiter verbessern. 2. Durch die beiden reaktiven funktionellen Hydroxyl-Gruppen wird die M¨oglichkeit zur enzymatischen Kopplung mit Glucurons¨aure geschaffen, welche die Wasserl¨oslichkeit des neuen Molek¨ uls noch entscheidender beeinflusst. 3. Durch die Wasserl¨oslichkeit wird erst eine effektive Ausscheidung aus dem Organismus erm¨oglicht. Die erste und die zweite Reaktion sind wesentliche Bestandteile eines Stoffwechselsystems, das seinen Hauptsitz in der Leber hat. Die Leber, als Hauptorgan f¨ ur die Biotransformation, erh¨alt u ¨ber die Pfortader etwa 1,1 Liter Blut pro Minute und weitere 0,35 Liter pro Minute u ¨ber die Leberarterien, das ist etwa ein Viertel des gesamten Blutes. In den Gef¨aßen der Leber selbst befindet sich etwa ein halber Liter Blut.
64
Kapitel 2 Toxikokinetik
Lebervene Leberkapillare
Leberzellen Leberarterie Pfortader
Galle (zur Gallenblase)
Abbildung 2.14 Schematische Zeichnung des Blutstromes vom Darm herkommend u ¨ber die Pfortader zu den Leberzellen, sowie der Weg der Gallenfl¨ ussigkeit von den Leberzellen in die ¨ Gallekan¨ alchen und zur Gallenblase. Die weiten Offnungen in der Leberkapillare sind durch eine gestrichelte Linie angedeutet (Zeichnung nach W. Legrum).
Die weiten Pfortadergef¨aße verursachen eine Verlangsamung des Blutflusses. Wie aus Abbildung 2.14 hervorgeht, ist das Gef¨aßendothel der Leberkapillaren sehr durchg¨angig f¨ ur alle m¨oglichen Substanzen, sogar f¨ ur Proteine. Das dis” kontinuierliche“ Gef¨aßendothel und die l¨ uckenhafte Basalmembran erlauben einen sehr guten Stoffaustausch zwischen Blut und den Leberparenchymzellen (Parenchymzellen sind die spezifischen Zellen eines Organs, im Gegensatz zu den Bindegewebszellen). Die Leber ist von ihrer Konstruktion her die gr¨oßte Dr¨ use des menschlichen K¨orpers. Die sekretorische Aktivit¨at der Leberzellen f¨ uhrt zu einem gerichteten Fl¨ ussigkeitsstrom in die angrenzenden Gallekan¨alchen, in die st¨andig Gallenfl¨ ussigkeit ausgeschieden wird. Aufgrund der reichlichen und vielseitigen Enzymausstattung der Leberzellen wird die Leber als das Zentralorgan des Stoffwechsels angesehen. Die Leberzellen tragen nicht nur zur Energieversorgung bei, sie sind wie bereits erw¨ahnt der Hauptsitz der Biotransformation von k¨ orperfremden Substanzen. Die Biotransformation ist im glatten endoplasmatischen Retikulum lokalisiert (Abbildung 2.11, idealisiertes Bild einer Zelle), und erfolgt trotz ihrer Vielseitigkeit nur durch wenige chemische Reaktionstypen wie Oxidation, Reduktion, Hydrolyse und Konjugation.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
65
Die Enzyme zur Metabolisierung der k¨orperfremden Substanzen sind nicht in der Lage zu unterscheiden, ob die entstehenden Abbauprodukte f¨ ur den Organismus sch¨adlich oder unsch¨adlich sind. Ganz allgemein k¨onnen die Reaktionen zwar Gifte unwirksam machen, aber auch unwirksame Substanzen erst in toxische Metabolite verwandeln. Eine metabolische Aktivierung wird deshalb auch als Giftung bezeichnet. Die Hauptaufgabe der Biotransformation besteht jedoch darin, lipophile Fremdstoffe wasserl¨oslich zu machen, damit sie dann u ¨ber die Nieren oder mit der Gallenfl¨ ussigkeit ausgeschieden werden k¨onnen. Von der Funktion her lassen sich zwei Arten von Reaktionen unterscheiden, die Phase-I- und Phase-II-Reaktionen genannt werden. Das Schema in Abbildung 2.15 gibt die Reaktionskette wieder.
Phase-I-Reaktion
Phase-II-Reaktion Phase-IMetabolit
Fremdstoff Oxidation Reduktion Hydrolyse
Phase-IIMetabolit
Konjugation mit Glucuronsäure mit Schwefelsäure etc.
Abbildung 2.15 Vorg¨ ange bei der Biotransformation von Fremdstoffen. Die Metabolisierung lipophiler Fremdstoffe verl¨ auft in sequentiellen Schritten. In der Phase I werden die Fremdstoffe durch Einf¨ uhrung oder Freisetzung nukleophiler oder elektrophiler funktioneller Gruppen f¨ ur die Konjugation vorbereitet. Schließlich erlaubt die Einf¨ uhrung von funktionellen Gruppen erst die Konjugation mit gut wasserl¨ oslichen endogenen Substraten wie aktivierter Glucurons¨ aure etc. in der Phase II.
Einblicke in diesen Fremdstoffwechsel k¨onnen praktisch nur durch Tierexperimente gewonnen werden. Beim mechanischen Homogenisieren der Leberzellen werden die Membranen des endoplasmatischen Retikulums auseinandergerissen, und die Bruchst¨ ucke schließen sich dann wieder zu kleinen Vesikeln. Diese Vesikel werden anschließend durch hochtouriges Zentrifugieren als Mikrosomen sedimentiert. An diesen Mikrosomenfraktionen untersucht man dann die einzelnen Schritte der Biotransformation. Der Metabolismus der Fremdstoffe ist, zumindest qualitativ, bei Menschen und bei Tieren sehr ¨ahnlich. Diese ¨ Tatsache dient als Voraussetzung f¨ ur eine Ubertragbarkeit der Tierexperimente auf den Menschen. Von Tierart zu Tierart k¨onnen sich jedoch die Konzentrationen der gebildeten Metaboliten unterscheiden, die Ergebnisse sollten darum m¨oglichst durch Untersuchungen an mehreren Tierarten abgesichert werden.
66
Kapitel 2 Toxikokinetik
2.5.1
Phase-I-Reaktion
2.5.1.1
Das mikrosomale Monooxygenase-System
Die weitaus gr¨oßte Bedeutung f¨ ur die oxidative Biotransformation besitzt das mikrosomale Monooxygenase-System. Es besteht zu einem Teil aus einem membrangebundenen Komplex verschiedener Monooxygenasen, die gemeinsam als Cytochrom P-450 bezeichnet werden. Die Zahl 450 im Namen geht auf ein Absorptionsmaximum bei 450 nm zur¨ uck, das beim Begasen der Mikrosomen mit Kohlenmonoxid entsteht und den Nachweis spektroskopisch erm¨oglicht. Die Monooxygenasen enthalten eine H¨am-Gruppe, ¨ahnlich dem H¨amoglobin, das in der reduzierten Form (Fe2+ ) molekularen Sauerstoff bindet (Abbildung 2.16).
Produkt
XOH
6
XOH
CH3
R3
C
C
HC C
Fe3+
CH3
C C
R4
C C
N
N
HC C
H2 O
5 2 H+
Fe2+
1 Fe3+
C C CH3 C C R2
e-
C CH
C
C
R1
CH3
XH
XH
O2 -•
O2 -•
2
2-
3a
O2
NADPHCyt.-P450- e Reduktase
Fe2+
XH
3
4
NADPHCyt.-P450Reduktase
Fe3+
Fe3+
XH
XH
C CH
Fe3+ N
N
Substrat
XH
Fe3+
O2 Fe2+
O2 XH Abbildung 2.16 Schematischer Ablauf der Oxidation eines Fremdstoffes XH durch Cytochrom P-450 (im Kreis oben: H¨ am als prosthetische Gruppe, Porphyrinring mit F e3+ -Ion im aktiven Zentrum).
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
67
Neben dem Cytochrom P-450 ist eine NADPH-Cytochrom P-450-Reduktase, ein Flavoprotein (lat. flavus, gelb), beteiligt, die zwei Molek¨ ule NADPH (reduziertes Nicotinamid-adenin-dinucleotid-phosphat) oxidiert und zwei Elektronen auf das Cytochrom u ¨bertr¨agt. Die Oxidation des Fremdstoffes erfolgt in einem zyklischen Prozess, aus dem Cytochrom P-450 in der oxidierten Form (Fe3+ ) wieder hervorgeht. In deren ersten Teilschritt (1) wird ein Fremdstoff (XH) an ein oxidiertes Cytochrom P-450 (Fe3+ ) gebunden. Im zweiten Schritt (2) nimmt das Eisen ein Elektron aus der Elektronentransferkette auf, wodurch das Cytochrom zweiwertig wird und sich molekularer Sauerstoff anlagern kann (3). Im n¨ achsten Schritt (4) u ¨bernimmt der Komplex u ¨ber eine zweite Transferkette ein weiteres Elektron. Nach dieser Aktivierung wird ein Oxenbiradikal • O• in den Fremdstoff inseriert, w¨ahrend O2− mit Protonen Wasser bildet (5). Schließlich zerf¨allt der Komplex aus Cytochrom P-450 und dem hydroxylierten Fremdstoff (XOH) unter Freigabe von oxidiertem Cytochrom P-450 (6). Die Summenreaktion des obigen Schema kann wie folgt formuliert werden: XH + O2 + NADPH + H+ → XOH + H2 O + NADP+ W¨ahrend der Katalyse wird ein Sauerstoff-Atom auf das Fremdstoffmolek¨ ul u ¨bertragen und das andere zu Wasser reduziert. Aufgrund dieser zwei verschiedenen Reaktionen am Sauerstoff wurde auch die Bezeichnung mischfunktionelle Oxygenase gepr¨agt. Ein Nebenreaktionsweg besteht darin, dass nach der Anlagerung von molekularem Sauerstoff durch Autoxidation das zweiwertige Eisen eines seiner Elektronen an den angelagerten Sauerstoff abgibt und dadurch ein Komplex aus dreiwertigem Eisen mit einem Superoxid-Anion entsteht (Fe3+ − O•− 2 ) (3a). •− Aus diesem Komplex kann anschließend das Superoxid-Anion O2 abgespalten werden. F¨ ur die Toxikologie ist von Bedeutung, dass das Cytochrom P-450-System in den Membranen des endoplasmatischen Retikulums auch mit der Kernmembran verbunden ist. Bei den Oxidationen wird, wie oben gezeigt, Sauerstoff aktiviert und f¨allt in aktivierter Form als Nebenprodukt an. Das Schema auf der folgenden Seite zeigt die vier reaktionsf¨ahigsten Formen des Sauerstoffes, die bei der Oxidation mit Cytochrom P-450 entstehen k¨onnen. Die entstehenden Radikale k¨onnen wegen ihrer Reaktivit¨at die Membranen sch¨adigen und im Zellkern am genetischen Material (DNA) Mutationen hervorrufen.
68
Kapitel 2 Toxikokinetik
Singulett-Sauerstoff
O2 hQ
O2
-e +e
+e –• + 2H+
O2
+e
H2 O2
2 OH
• + H+
H2O
Als Schutz vor solchen Radikalen wirkt die Superoxid-Dismutase, die das Suin Sauerstoff und Wasserstoffperoxid zerlegt (dismutiert). peroxidanion O•− 2 Das ebenfalls toxische Wasserstoffperoxid wird durch zwei weitere Enzyme, die Katalase und die Glutathion-Peroxidase gespalten. Bei der letzteren Reaktion wird Glutathion (g-Glutamyl-cysteinyl-glycin) oxidiert, das in hoher Konzentration zur Protektion in der Leber vorhanden ist. 2.5.1.2
Systematik und Nomenklatur von Cytochrom P-450
Im Laufe der Evolution hat sich das Cytochrom P-450-System vielf¨ altig entwickelt. Beim Menschen sind bisher 56 CYP-Gene (Cytochrom P-450-Gene) bekannt geworden, die ein funktionsf¨ahiges Isoenzym einer Cytochrom P-450abh¨angigen Monooxygenase kodieren und etwa 26 Pseudogene aus denen kein funktionsf¨ahiges Genprodukt hervorgehen kann. Die Zahl der CYP-Gene beim Menschen wird bei weitem u ¨bertroffen durch das ebenfalls vollst¨andig analysierte Genom der Acker-Schmalwand Pflanze Arabidopsis thaliana mit der großen Zahl von 273 Cytochrom P-450 Genen (die Abk¨ urzung CYP“ wird ” ¨ nach Ubereinkunft nur beim Menschen verwendet, dagegen benutzt man Cyp“ ” f¨ ur alle anderen Spezies). Die Cytochrome P-450 bilden Superfamilien und unterscheiden sich nach Vorkommen und Substratspezifit¨at. Die Kenntnis u ¨ber die Superfamilie verdanken wir verschiedenen Genomprojekten. In Abh¨angigkeit ihrer Sequenzverwandschaft werden die CYP in Familien und Unterfamilien eingeteilt. Zwei CYPIsoenzyme werden z. B. der gleichen Familie zugeordnet, wenn ihre Aminos¨aurensequenz u ¨ber 40 % identisch ist. Liegt dagegen die Identit¨at u ¨ber 55 %, so werden beide der gleichen Unterfamilie zugerechnet. Die Bezeichnung f¨ ur die ganze Superfamilie ist CYP und die einzelnen Familien werden durch arabische Zahlen von 1 bis 724 (Nummerierung diskontinuierlich) kenntlich gemacht. Dagegen werden die Unterfamilien mit Großbuchstaben von A bis Z bezeichnet, gefolgt von einer weiteren arabischen Zahl f¨ ur das jeweilige Isoenzym in der Unterfamilie. So identifiziert z. B. CYP2E1 das menschliche Isoenzym aus der Leber und dem Magen-Darm-Trakt, dass bevorzugt kleine Molek¨ ule wie Ethanol, Benzol, Styrol, Dimethylnitrosamin etc. metabolisiert.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
69
Tabelle 2.6 Die wichtigsten menschlichen Cytochrome P-450 sowie die chemischen Substrate, die f¨ ur die entsprechenden Isoenzyme typisch sind. Cytochrome P-450 CYP1A1 CYP1A2 CYP1B1 CYP2A6 CYP2B6 CYP2C8 CYP2C9 CYP2C19 CYP2D6 CYP2E1 CYP3A4
Auswahl wichtiger Substrate polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) aromatische und heterocyclische Amine, PAK, Coffein, Nicotin, Aflatoxin B1 PAK, Fjordregion-Diole Cumarin, 6-Aminochrysen, Aflatoxin B1 , Nitrosamine Cyclophosphamid, Nicotin Retinoide, Taxol Arzneimittel wie Celecoxib, Lorsatan, Tolbutamid, Warfarin Arzneimittel wie Omeprazol, Diazepam, Proguanil Arzneimittel wie Spartein, Propranolol, Dextromethorphan Ethanol, Benzol, Styrol, Dimethylnitrosamin, Tetrachlorkohlenstoff, Halogenkohlenwasserstoffe, Chlorzoxazon, Vinylchlorid, Acetaminophen, Nifedepin, Steroidhormone, Aflatoxin B1
¨ Tabelle 2.6 gibt eine Ubersicht u ¨ber die wichtigsten menschlichen Cytochrome P-450 und einige ihrer Substrate. Die Leber ist das Organ mit dem h¨ochsten Cytochrom P-450 Gehalt. Sie enth¨allt 90 bis 95 % der Enzyme. Dabei entfallen 60 bis 65 % des Cytochrom P450 Gehalts auf die Enzyme, die den Arzneimittelstoffwechsel katalysieren. Mit durchschnittlich 30 % Cytochrom P-450 Gehaltes ist die CYP3A-Subfamilie die f¨ ur die Klinik wichtigste Familie, die bereits 50 bis 60 % aller therapeutisch eingesetzten Arzneimittel metabolisiert. Die Isoform CYP1A2 macht etwa 10 %, die CYP2C-Familie 30 %, CYP2A6-, CYP2B6- und CYP2C-Familie 10 bis 15 % und CYP2E1 ungef¨ahr 5 % des Cytochrom P-450 Gehaltes aus. 2.5.1.3
Enzymatische Eigenschaften von Cytochrom P-450, Induktion
Im Allgemeinen wird Sauerstoff nur w¨ahrend der Katalyse an ein CYP gebunden, auf das bereits ein Fremdstoffmolek¨ ul u ¨bertragen worden ist. Eine Ausnahme hierbei bildet CYP2E1, das scheinbar ohne Substratbindung Sauerstoff binden und aktivieren kann. Verschiedene Cytochrome P-450-Isoenzyme werden erst nach Gen-Induktion durch bestimmte Induktoren exprimiert (Umsetzung der Geninformation in Proteine). Zu den Induktoren geh¨oren sowohl k¨orpereigene Substanzen (Hormone und Metabolite) als auch Fremdstoffe. Das Insektizid DDT bewirkt eine starke Induktion, obwohl es selbst von diesem System nur a¨ußerst langsam umgesetzt werden kann.
70
Kapitel 2 Toxikokinetik
Insgesamt existiert ein an die Umweltbedingungen a¨ußerst anpassungsf¨ahiges Enzymsystem mit unterschiedlich spezifischer und u ¨berlappender Substratspezifit¨at (demnach also relativ unspezifisch). Als Folge der Enzyminduktion kann die Abbaukapazit¨at und damit die Geschwindigkeit der Biotransformation um ein Vielfaches erh¨oht werden. Dies betrifft unter Umst¨anden nicht nur Fremdstoffe, sondern hat auch Auswirkungen auf k¨orpereigene Wirkstoffe wie Steroidhormone und essentielle Vitamine. Wird der Induktor abgesetzt, so f¨allt die gesteigerte Abbaukapazit¨at in einigen Tagen bis Wochen wieder auf das urspr¨ ungliche Niveau zur¨ uck. Als eine weitere Beeinflussungsm¨oglichkeit muss auch eine Hemmung der Biotransformation durch toxische Substanzen in Betracht gezogen werden. Gelangen z. B. Vanadat-Ionen, VO− orper, so k¨onnen sie bei ihrer Redukti3 , in den K¨ on zu Vanadyl, VO2+ , den Elektronenfluß zum Cytochrom P-450 unterbrechen und f¨ ur kurze Zeit die Biotransformation blockieren. Kohlenmonoxid bewirkt eine Hemmung an der O2 -Bindungsstelle des Cytochroms P-450. Eine andere M¨oglichkeit der Hemmung besteht darin, dass die Substratbindungsstellen am Cytochrom P-450 durch Fremdstoffe besetzt werden k¨onnen. 2.5.1.4
Grundtypen der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen
Die Hauptfunktion der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen ist es, reaktive OH-, NH2 - und SH-Gruppen zu schaffen, die in der Phase-II-Reaktion der Biotransformation mit einer hydrophilen Verbindung konjugiert werden k¨onnen. Einer speziellen Erw¨ahnung bedarf die Epoxidierung, da diese Form der Biotransformation zu besonders reaktiven Metaboliten f¨ uhrt. Als ein Beispiel hierf¨ ur soll das Benzol dienen. Benzol wird durch das Cytochrom P-450-System hydroxyliert und bildet ein Epoxid (L¨osungsmittel, Karzinogene). Das Epoxid kann auf dreierlei Art umgesetzt werden. Erstens kann es sich spontan zu Phenol umlagern, zweitens kann eine enzymatische Aufspaltung durch Epoxidhydrolasen zum Dihydrobrenzkatechin und drittens eine enzymatische Aufspaltung unter Anlagerung von Glutathion erfolgen. Die beiden letzten Reaktionen werden als Entgiftungsreaktionen gewertet. Die Ringspaltung des Dreierringes ist f¨ ur die große Reaktionsfreudigkeit verantwortlich. Aufgrund dieser Reaktivit¨at der Epoxide ist ihre Toxizit¨at besonders groß. So k¨onnen irritierende und allergieerzeugende Wirkungen hervorgerufen werden. Eine besondere Gefahr geht jedoch von den Epoxiden insofern aus, als sie eine Alkylierung des genetischen Materials, der DNA, bewirken k¨onnen und somit stark mutagen und krebserzeugend sind. Dies ist z. B. f¨ ur Benzol, Vinylchlorid, eine Reihe aromatischer Kohlenwasserstoffe wie
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
71
Benzo[a]pyren und f¨ ur aromatische Amine wie Benzidin nachgewiesen worden. Die Auflistung ist hier keineswegs vollst¨andig (siehe Kapitel 9). Beispiele f¨ ur oxidative Biotransformationswege zeigt Abbildung 2.17. Im Vergleich mit den Oxidationen spielen die Reduktionen bei der Biotransformation nur eine untergeordnete Rolle. Zahlreiche Fremdstoffe, wie Nitro-, Azo-Verbindungen und chlorierte Kohlenwasserstoffe k¨onnen durch Cytochrom P-450 auch reduziert werden. Dabei u ¨bertr¨agt das reduzierte Cytochrom ein Elektron direkt auf das Substrat wie bei dem folgenden Beispiel des Tetrachlorkohlenstoffes (siehe Kapitel 5): Cytochrom P-450 [Fe2+ ] + CCl4 → Cytochrom P-450 [Fe3+ ] +• CCl3 + Cl− Sauerstoff konkurriert dabei mit der Elektronen¨ ubertragung auf den Tetrachlorkohlenstoff, und die Reaktion l¨auft somit unter sauerstoffarmen Bedingungen bevorzugt ab. Aus dem CCl4 wird durch Chloridabspaltung ein sehr instabiles freies Radikal gebildet. Dieses freie Radikal entzieht mehrfach unges¨attigten Fetts¨auren aus Membran-Phospholipiden ein H-Atom und f¨ uhrt dort zu Folgeradikalen, die schließlich zum Zerfall der Fetts¨auren f¨ uhren. Neben der Membransch¨adigung entsteht in der Leberzelle schließlich das stark lebertoxische Chloroform. Zu der Gruppe des Prototyps Tetrachlorkohlenstoff geh¨oren weiter die starken Lebergifte 1,1,2,2-Tetrachlorethan, 1,1,2-Trichlorethan und 1,2-Dichlorethan (siehe Kapitel 5).
Aliphatische Hydroxylierung CH2 CH2 CH2 CH2 CH3 n-Hexan (O) CH2
CH3 1-Hexanol
CH2
Abbildung 2.17, 1. Teil
CH2
CH2
Epoxidierung CH3 H C OH H
H
H C
C
H
H Ethen
(O)
O
H C H
H C
H Ethenoxid
72
Kapitel 2 Toxikokinetik N-Oxidation
Aromatische Hydroxylierung OH
(O)
O
Benzol
NHOH
NH2 (O)
Benzolepoxid
Anilin
Phenol
Phenylhydroxylamin
S-Oxidation R
R
(O)
S
O
O
(O)
S R'
R'
R S
O
R'
z.b. Phenothiazine N-Desalkylierung CH3 CH3
N C
C
C
N
O
N
H
CH3
CH3
CH3
N C O
C
C N
(O)
Aminopyrin
H2N C
C
C
N
O
CH3
CH3 CH3 + 2 HCHO
Monomethyl-4-aminoantipyrin
4-Aminoantipyrin
Desaminierung
O
O CH3
NH C
CH2CHNH2 Amphetamin
CH3
(O)
(O)
CH3
+ CH3CHO CH2C O OC2H5 Acetophenidin
N
(O)
O-Desalkylierung NH C
N
CH3
Phenylaceton
CH3
OH
+ NH3
p-Hydroxyacetanilid
Entschwefelung S O 2N
O Parathion
P
OC2H5 OC2H5
(O)
O O 2N
O Paraoxon
Abbildung 2.17 Ausgew¨ ahlte Beispiele der oxidativen Biotransformation
P
OC2H5 OC2H5
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
2.5.1.5
73
Flavin-abh¨ angige Monooxygenasen
Zu den membranst¨andigen Monooxygenasen z¨ahlt wie die Cytochrom P-450auch die Flavin-abh¨angige Monooxygenase (FMO), die haupts¨achlich Amine am Stickstoff oxidiert wie z. B. Nicotin zum N-Oxid (terti¨ares Amin). Sie besitzt ebenfalls eine ¨außerst breite Substratspezifit¨at. Zahlreiche Fremdstoffe und Arzneimittel werden von der FMO katalysiert. Eine Auswahl von Substraten sind organische Stickstoffverbindungen wie sekund¨are und terti¨are azyklische und zyklische Amine, N-Alkyl- und N,NR
H
CH3
N
N
CH3
N
R CH3
N
CH3
N
N
O N
H
O
5
1 NADPH + H+
O2
N
CH3
N
N N
O
CH3
N
H
CH3
N
H2 O
CH3
N N
N
O N
O
H HO
H
O
+
R CH3
O
R
O
4
H
2
R CH3
N
H
NADP+
O
R2N-OH N
OH H O
O N
R2N-H H
3
Abbildung 2.18 Schema der Biotransformation durch die FMO. Im Gegensatz zu vielen CYP-Isoenzymen erfolgt bereits vor der Bindung eines Fremstoffes R2 N-H (z. B. sekund¨ ares Amin) eine Aktivierung des Sauerstoffs durch die FMO. (1) NADPH + H + bindet an das Enzym und reduziert dessen prothetische Gruppe zum FADH2 . (2) Molekularer Sauerstoff reagiert besonders leicht mit dem reduzierten Flavin (dieses reagiert auch schon ohne Enzym sehr rasch mit Sauerstoff ) und es resultiert ein Hydroperoxid (FADH-4α-OOH). (3) In ¨ diesem wichtigen Schritt wird die Ubertragung des Sauerstoff-Atoms vom FADH-4α-OOH zum Fremdstoff R2 N -H durch das Enzym katalysiert und aus der prosthetischen Gruppe wird H2 O abgespalten (4). Schließlich dissoziert N ADP + von der Monooxgenase ab und der Zyklus ist vollendet (5).
74
Kapitel 2 Toxikokinetik
Dialkylarylamine, Hydrazine, organische Schwefelverbindungen wie Sulfide, Disulfide, Thioamide und Thiocarbamide. Außerdem organische Substrate wie Phosphine, Selenide und Selenocarbamide und anorganische Substrate wie Schwefel, Sulfide Thiocyanate und Iodsalze. Die FMO ist ein mikrosomales, polymerisiertes Enzym, das Flavin-AdeninDinucleotid (FAD) als prosthetische Gruppe (Coenzym) enth¨alt. Flavin-Nucleotide sind gelbe, wasserl¨osliche Bestandteile vieler biologischer Redoxsysteme, deren Chromophor sich vom Isoalloxazin ableitet. Der h¨ochste Gehalt von FMO befindet sich in der Leber. Bisher sind beim Menschen 5 unterschiedliche Gene beschrieben worden. FMO1 befindet sich in der Leber, der Niere und im Darm, FMO2 haupts¨achlich in der Niere und FMO3 dominierend in der Leber. FMO4 und FMO5 werden in niedriger Konzentration in einigen Geweben gefunden. Das Fehlen des Gens FMO3 verursacht beim Menschen das sogenannte Fish” odor-Syndrom“ (lat. odor: Geruch). Bei diesem seltenen und unangenehmen Syndrom kann das nach Fisch riechende Trimethylamin nicht in das geruchlose N-Oxid umgewandelt werden. ¨ Trotz der funktionellen Ahnlichkeit zur Cytochrom P-450 Monooxygenase unterscheidet sich die FMO grunds¨atzlich bez¨ uglich ihres enzymatischen Mechanismus, wie aus Abbildung 2.18 hervorgeht. 2.5.1.6
Monoaminoxydase
Monoaminooxydasen (MAO) kommen als Flavoproteine in der a¨ußeren mitochondrialen Membran vor. Sie sind in nahezu allen Geweben anzutreffen und es gibt zwei Isoenzyme, MAO-A und MAO-B, die in ihrer Aminos¨aurensequenz ¨ etwa 70 % Ubereinstimmung aufweisen. Die MAO besitzt ebenfalls eine geringe Substratspezifit¨at. Es werden bevorzugt prim¨are Alkyl- und Arylamine, aber auch sekund¨are und terti¨are Amine metabolisiert. Die physiologische Aufgabe der MAO im Metabolismus besteht in der Oxidation und damit dem Abbau von verschiedenen Neurotransmittern wie Adrenalin und Noradrenlin. 2.5.1.7
Cyclooxygenasen
Cyclooxygenasen sind membranst¨andige Enzyme des endoplasmatischen Retikulums, welche die Umwandlung von Arachidons¨aure in ein Cycloendoperoxyd bewirken. Durch Phospolipase A2 werden zun¨achst aus Membranphospholipiden unges¨attigte Fetts¨auren freigesetzt, darunter auch Arachidons¨aure, das Substrat der Cyclooxygenase.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
75
NH
NH2
O H2O
FAD
H2O 2 +
FAD
+ NH3
FADH2
FADH-4D-OOH
O2
FADH2
Abbildung 2.19 Biotransformation durch die Monoaminooxidase (MAO). Ein Amin wird durch MAO (FAD) zum Imin oxidiert und zerf¨ allt durch Hydrolyse. Um das enzymgebundene FADH2 wieder als oxidierte Form zur¨ uckzugewinnen, wird Sauerstoff ben¨ otigt. Bei der Reaktion mit Sauerstoff tritt dasselbe wie bei der FMO beschriebene und im Schema der Abbildung 2.18 dargestellte Hydroperoxyd, FADH-4α-OOH, als Zwischenprodukt auf, aus dem FAD und H2 O2 hervorgehen. Das Wasserstoffperoxid kann dabei durchaus toxikologisch relevante Konzentrationen erreichen.
Arachidons¨aure ist die zentrale Vorstufe der Eicosanoidhormone, der Prostaglandine (es gibt verschiedene Prostaglandine wie Prostaglandin A2 , Prostacyclin oder Thromboxan). Der Name Eicosanoide bezieht sich auf die Zahl zwanzig (griechisch: eikosi = zwanzig), da ein Prostaglandin aus einer Fetts¨ aure mit insgesamt 20 Kohlenstoffatomen besteht einschließlich eines f¨ unfer C-Rings. Prostaglandine besitzen Signalfunktion und wirken als lokale (kurzlebige) Hormone, sie stimulieren z. B. Entz¨ undungsreaktionen, regulieren den Blutfluss zu bestimmten Organen, kontrollieren den Ionentransport durch Membranen oder l¨osen Schmerz und Schlaf aus. Der Name Prostaglandine geht auf ihre Entdeckung in der menschlichen Samenfl¨ ussigkeit zur¨ uck, da sie zun¨achst f¨ ur ein Sekret der Prostata gehalten wurden. Die Synthese der Prostaglandine erfolgt in zwei enzymatischen Schritten, die zusammen Prostaglandin-H-Synthase genannt werden, sie bestehen aus einer Cyclooxygenase und Peroxidase Reaktion. Abbildung 2.20 veranschaulicht die Freisetzung von Arachidons¨aure aus der Phospholipidmembran durch Phospolipase A2 sowie die zwei enzymatischen Funktionen, die aus Arachidons¨aure das Prostaglandin H2 entstehen lassen. Eine Voraussetzung f¨ ur die Sauerstoff¨ ubertragung auf Fremstoffmolek¨ ule der Prostaglandin-H-Synthetase (Cyclooxigenase- und Peroxidasereaktion) ist hierbei, dass die zu oxidierende Substanz lipophil ist und ein niedriges Redoxpotential besitzt. Dies wird sowohl von aromatischen Aminen als auch von phenolischen Verbindungen erf¨ ullt. Heterocyclische Amine, Dihydrodiole, polycyclischer aromatischer Kohlenwasserstoffe sowie das bei der Herstellung von Polyurethan verwendete 4,4´-Methylen-bis(2-chloranilin) werden dabei zu DNAreaktiven, kanzerogenen Verbindungen metabolisiert. Oft geht bei der enzyma-
76
Kapitel 2 Toxikokinetik
O C O CH2 C O CH O
Phospholipidmembran
O
CH2 O P
Phospholipase A2
OR
O
COOH
Cyclooxygenase + 2 O2
Arachidonsäure (5,8,11,14-Eicosa-tetraen-säure)
COOH
O
Peroxidase
O O OH Prostaglandin G2
O
COOH
O
2 H+ + 2 e- H2O OH (Fremdstoff) (OxidationsProstaglandin H2 produkt)
Abbildung 2.20 Schematische Darstellung der Freisetzung von Arachidons¨ aure aus der Phospholipidmembran durch Phospholipase A2 . Aus der unges¨ attigten Fetts¨ aure entsteht durch die Cyclooxygenase und 2 O2 ein Hydroperoxid, das Prostaglandin G2 . Dieses wird durch Peroxidaseaktivit¨ at zu Prostaglandin H2 , der Vorstufe verschiedener Prostaglandine, reduziert. F¨ ur die Toxikologie ist es wichtig, dass sowohl bei der ersten als auch bei der letzten Reaktion zahlreiche Fremdstoffe als Sauerstoffakzeptoren fungieren k¨ onnen.
tischen Prostaglandin-H-Synthetase-Reaktion ein organisches Radikal hervor, das durch Erzeugung eines Sauerstoffradikals eine toxische Kettenreaktion wie die Lipidperoxidation in Membranen ausl¨osen kann (siehe Kapitel 5). Fremdstoffe wie das Benzo[a]pyren-7,8-dihydriol k¨onnen bereits w¨ahrend des ersten Schrittes der Prostaglandin-H-Synthetase, der Cyclooxygenasereaktion, zum reaktiven Epoxid mit karzinogener Potenz umgewandelt werden (siehe Kapitel 9). 2.5.1.8
Dehydrogenasen, Reduktasen
An den Oxidationen von Fremdstoffen beteiligen sich auch Oxidasen, die dem Molek¨ ul Wasserstoff entziehen. Zu den hierbei wichtigen Enzymen geh¨oren z. B. die Alkohol-, die Aldehyd- und die Steroiddehydrogenasen. Grunds¨atzlich
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
77
k¨onnen diese Dehydrogenasen aber auch in umgekehrter Richtung Fremdstoffe reduzieren und als Reduktasen wirksam sein. Von der Steroiddehydrogenase ist bekannt, dass sie f¨ ur eine Reihe von Fremdstoffen, die keine Steroide sind, wie 4-Nitroactophenon, Nitrobenzaldehyd oder Nitrosamine als Carbonylreduktase wirksam sein kann. Neben dieser gibt es auch noch eine Reihe anderer Reduktasen wie Aldo-keto-Reduktasen (AKR1, AKR2, AKR4), weitere Carbonylreduktasen sowie eine Chinon-Oxidoreduktase, die eine wichtige Rolle in Phase-I-Reaktionen spielen. Die Alkoholdehydrogenasen (ADH) geh¨oren zur Familie der mittelkettigen Dehydrogenasen. Im Menschen wird die Genfamilie der ADH in die Subfamilien I-VI eingeteilt. Sie dehydrieren prim¨are und sekund¨are Alkohole mit dem Cofaktor Nicotinamidadenindinucleotid (NAD+ ) zu Aldehyden und Ketonen:
R
CH2
OH + NAD +
Alkoholdehydrogenase
R
CHO + H +
Bei der Dehydrogenierung wird ein Wasserstoffatom des Substrates direkt auf NAD+ u ¨bertragen, w¨ahrend das andere als Proton in der L¨osung erscheint. Als cytosolische Enzyme mit Zink im aktiven Zentrum sind sie vor allem in der Leber, den Nieren und in der Lunge lokalisiert. Sie besitzen eine geringe Substratspezifit¨at und dehydrogenieren z. B. Alkohole von Methanol bis Hexanol, allerdings wird Methanol sehr viel langsamer dabei oxidiert. Die h¨ohere Affinit¨at zum Enzym und die geringere Giftigkeit des Ethanol wird bei der Therapie von Vergiftungen mit Methanol oder Ethylenglycol ausgenutzt, um die Bildung toxischer Produkte wie Ameisens¨aure oder Oxals¨aure zu unterdr¨ ucken (siehe Kapitel 5). Die sekund¨aren Alkohole sind bis zu einem gewissen Grade gegen¨ uber der Oxidation best¨andig, w¨ahrend terti¨are Alkohole praktisch nicht oxidierbar sind. Die Reaktionen von Alkohol- und Aldehyddehydrogenasen sind wie bereits erw¨ahnt reversibel, es k¨onnen z. B. auch Aldehyde und Ketone zu Alkoholen reduziert werden. Aldehyddehydrogenasen (ALDH) besitzen gleichfalls eine breite Substratspezifit¨at und oxidieren aliphatische und aromatische Aldehyde in der Regel zu den Carbons¨auren. Die enzymatische Funktion ist meist von dem Cofaktor NAD+ , seltener NADP+ (P f¨ ur Phosphat) abh¨angig. Beim Menschen sind 9 Familien mit sechzehn ALDH-Isoenzymen beschrieben, die in der Zelle in mikrosomaler, cytosolischer und mitochondrialer Form vorkommen. Die Leber ist besonders reich an Isoenzym ALDH 2. In der asiatischen Bev¨olkerung gibt es eine verbreitete analoge Form dieses Isoenzyms (> 50 %), die aufgrund eines Aminoaustausches (Glutamin487 gegen Lysin) enzymatisch inaktiv ist. Dadurch wird nach Alkoholgenuß eine Alkoholunvertr¨ aglichkeit erzeugt. Es
78
Kapitel 2 Toxikokinetik
¨ treten Symptome wie Herzrasen, Hautr¨otung, Schweißausbruch, Ubelkeit und Erbrechen auf. Die 11b-Hydroxysteroid Dehydrogenase (11b-HSD) ist ein mikrosomales Enzym, dass physiologischerweise das aktive Glucocorticoid Cortisol (Nebennierenrindenhormon) in inaktives Cortison (11-Ketocorticosteroid) verwandelt oder umgekehrt Cortison zu Cortisol reduziert. Von diesem Enzym gibt es zwei Formen, wobei die 11b-HSD-1 die metabolisch aktivere von beiden ist. Dieses Enzym wirkt außerdem auch auf bestimmte Fremdstoffe als Carbonylreduktase. Von besonderer toxikologischer Bedeutung ist die Tatsache, dass das st¨arkste Karzinogen aus dem Tabak, das 4-(Methylnitrosamino)-1-(3-pyridyl)1-butanon (= nicotinic-derived nitrosamine ketone“, NNK), von der 11b-HSD ”
Zigarettenrauchen Tabak-spezifische N-Nitrosamine
O
N O N CH3
N
Aldo-keto-Reduktasen Carbonylreduktasen 11ß-HSD-1
OH
CH3 N
NNK CYPs
Glycyrrhetinsäure
reaktive Zwischenverbindung DNA-Alkylierung
N O N
NNAL UDPGT NNAL-Glucuronid
Ausscheidung
Abbildung 2.21 Vereinfachtes Schema des Metabolismus von im Tabakrauch enthaltenem nicotine-derived nitrosamine ketone“(NNK). Auf der einen Seite kann das Keton durch ” Cytochrome P-450 (CYPs) zu unbest¨ andigen, reaktiven Zwischenverbindungen umgewandelt werden, die ein starkes kanzerogenes Potential aufgrund ihrer DNA (Desoxyribonukleins¨ aure) alkylierenden Eigenschaften besitzen (siehe Kapitel 9). Auf der anderen Seite wirkt die 11β-HSD-1, sowie verschiedene Aldo-Keto-Reduktasen und Carbonylreduktasen entgiftend auf NNK, indem es durch Reduktion ein nicotinic-derived nitrosamine alcohol“ ” (NNAL) erzeugt. Dieser Alkohol kann jetzt in einer Phase-II-Reaktion (siehe u ¨bern¨ achstes Kapitel) durch Uridindiphosphatglucuronyl-Transferase (UDPGT) in ein wasserl¨ osliches NNAL-Glucuronid verwandelt und mit dem Urin ausgeschieden werden (E. Maser, Trends in Pharmacological Sciences, 25, 235-237, 2004).
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
79
zum Alkohol reduziert wird (Phase-I-Reaktion), um dann durch Glucuronidierung (Phase II) in wasserl¨oslicher, nicht karzinogener Form im Urin ausgeschieden zu werden. Insgesamt sind f¨ unf verschiedene Enzyme beim Menschen bekannt, die eine Carbonylreduktion des NNK und damit eine Entgiftung einleiten. Dazu geh¨oren die mikrosomale 11b-HSD 1, die cytosolische Carbonylreduktase und drei weitere Aldo-keto-Reduktasen. Von besonderer Bedeutung f¨ ur den Raucher ist ferner, dass endogene und exogene Substanzen die CarbonylreduktaseAktivit¨at hemmen k¨onnen. Dadurch kommt es zu einer vermehrten Umsetzung von NNK durch die Cytochrom P-450 Monooxygenasen und die karzinogene Wirkung nimmt entsprechenderweise zu. In der Abbildung 2.21 ist als Hemmstoff Glycyrrhetins¨aure angef¨ uhrt. Dies ist z. B. ein Inhaltsstoff aus Lakritze, der bereits in niedriger Konzentration (nMol bis mMol) die Carbonylredukasen hemmt und die Entgiftung von NNK verhindert. Neben den nat¨ urlichen Substraten der Enzyme gelten auch Flavonoide wie Naringinin und Medikamente wie Furosemid (Diuretikum) als Hemmsubstanzen, außerdem hat auch Ethanol eine hemmende Wirkung. M¨oglicherweise erkl¨art ein chronischer Alkoholgenuß zusammen mit Tabakrauchen die erh¨ohte Inzidenz von Karzinomen. 2.5.1.9
Hydrolyse
Bei der hydrolytischen Spaltung werden lipophile Carbons¨aureester durch relativ unspezifische Esterasen unter Wasseraufnahme in Alkohol und S¨aure zerlegt: O
O R
CH2
C
O
R´ + H2O
R
CH2
C
O
H + HO
R´
Diese Reaktionen werden durch die Pseudocholinesterase oder Butyrylcholinesterase (spaltet Butyrylcholin schneller als Acetylcholin) im Blut und durch intrazellul¨are Esterasen, die besonders in den Leberzellen vorkommen, katalysiert. Die Hydrolysegeschwindigkeit kann durch eine Substitution am a-CAtom zur Estergruppe verringert werden. Die Einf¨ uhrung einer Methylgruppe an diesem C-Atom f¨ uhrte z. B. bei Acetylcholinderivaten zu einer Hemmung der Spaltung. Beim Erhaltenbleiben der Affinit¨at zu den Esterasen k¨onnen auf diese Weise auch wirksame Hemmstoffe der Esterasen entstehen. Unter den Plastikweichmachem gibt es fettl¨osliche, stabilisierte Phthals¨aureester (z. B. Diethylhexylphthalat), die gegen Hydrolyse stabil sind. Werden solche Stoffe f¨ ur Lebensmittelverpackungen benutzt, k¨onnen sie sich aus dem Verpackungsmaterial herausl¨osen und im Fettgewebe anreichern. Um eine Kumulation im Fettgewebe zu vermeiden, sollten heute nur noch biotransfor” mierbare“, d. h. durch Esterasen spaltbare Verbindungen eingesetzt werden.
80
Kapitel 2 Toxikokinetik
Eine weitere Gruppe zur hydrolytischen Spaltung bef¨ahigter Enzyme sind die Amidasen, die ebenfalls besonders in der Leber vorkommen: O
O R
CH2
C
NH
R´ + H2O
R
CH2
C
O
H + H2N R´
Bei dieser Reaktion, die im Allgemeinen langsamer als die Esterspaltung abl¨auft, wird neben der S¨aure ein Amin gebildet. Weitere wichtige Hydrolysen werden auch durch die bereits erw¨ahnten Epoxidhydrolasen sowie von Phosphatasen und Glycosidasen ausgef¨ uhrt.
2.5.2
Phase-II-Reaktionen
Die Hauptfunktion der Phase-II-Reaktionen ist es, Substanzen mit kopplungsf¨ahigen funktionellen Gruppen wie OH-, NH2 - und SH-Gruppen, die wie beschrieben in der Phase-I geschaffen wurden, durch enzymatische Prozesse mit k¨orpereigenen Substanzen zu verbinden. Diese stammen aus dem Zwischenstoffwechsel und sind besonders gut wasserl¨oslich. Sie werden meist durch spezifische Transferasen an die zur Ausscheidung bestimmten Molek¨ ule angedockt, um diese dann durch die Nieren oder mit der Gallenfl¨ ussigkeit zu eliminieren. Die Kopplungs- oder Konjugationsreaktionen haben in der Regel den Charakter von Entgiftungs- oder Inaktivierungsprozessen, da die konjugierten Verbindungen fast immer biologisch inaktiv sind. Bei der Ausscheidung mit der Galle in den Darm kommt es h¨aufiger als in der Niere vor, dass das Konjugat wieder gespalten wird. Besonders im Dickdarm spalten Bakterien mit Hilfe ihrer b-Glucuronidase den an Glucurons¨aure gekoppelten Wirkstoff wieder ab. Der Wirkstoff kann damit erneut resorbiert werden. Es resultiert ein sogenannter enterohepatischer Kreislauf, der unter Umst¨anden eine effektive Ausscheidung wirksam verhindern kann. Die wichtigsten Konjugationsreaktionen erfolgen mit: • • • • • • •
aktivierter Glucurons¨aure (Glucurons¨aure entsteht aus Glucose), aktiviertem Sulfat, Aminos¨auren, insbesondere Glycin (H2 N − CH2 − COOH), Glutathion (g-Glutamyl-cysteinyl-glycin), aktivierter Essigs¨aure, S-Adenosylmethionin, Bildung von Mercapturs¨aure-Verbindungen.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
81
UDP-Glucuronyltransferasen Von den Konjugationsreaktionen ist die wichtigste die Kopplung eines Fremdstoffes oder seines Metaboliten an die Glucurons¨ aure. Die Glucurons¨aure muss dabei in einer vom Stoffwechsel aktivierten Form vorliegen und zwar in einer energiereichen Bindung an Uridindiphosphat (UDP). O
-
C O
HO HO
O O
UDP-GlucuronylTransferase + HR
-
C O
HO
O O
HO
R
HO
HO O UDP
"Uridindiphosphat-glucuronicacid" UDPGA
+ UDP
Abbildung 2.22 Uridindiphosphat-Glucuronosyltransferasen sind Enzyme, welche aktivierte Glucurons¨ aure (UDPGA) auf Hydroxy- Carboxy, Amino- oder SH-Gruppen von Substraten (HR) u ¨bertragen.
Die in den Mikrosomen lokalisierten UDP-Glucuronosyltransferasen (UGT) u ¨bertragen von diesem aktivierten Komplex die Glucurons¨aure auf das Akzeptormolek¨ ul. Grunds¨atzlich kann Glucurons¨aure mit Hydroxy-(Ether-Typ), Amino-(N-Glucuronide), Carboxyl-(Ester-Typ) und SH-Gruppen (S-Glucuronide) gekoppelt werden. Die UGT sind eine Superfamilie von Enzymen. Der Mensch besitzt 17 UGT, die in zwei Familien UGT1 und UGT2 eingeteilt werden. Die Enzyme werden in einer Vielzahl von Organen exprimiert, wobei die Leber den h¨ochsten Gehalt aufweist. Neben der Erh¨ohung der Wasserl¨oslichkeit toxischer und auch pharmakologischer aktiver Substanzen bewirkt die Glucuronidierung fast immer eine Terminierung ihrer biologischen Wirkungen. Sulfotransferasen Im Zytoplasma gel¨oste Sulfotransferasen (SULT) verbinden aktiviertes Sulfat mit Alkoholen, Phenolen, Hydroxylaminen oder Aminen. Sulfat steht jedoch nicht in beliebiger Menge im Organismus zur Verf¨ ugung, da es erst aus schwefelhaltigen Aminos¨auren gebildet werden muss. Bisher sind beim Menschen 3 SULT-Familien mit geringer Substratspezifit¨at von insgesamt 5 nachgewiesen worden. Die Isoenzyme befinden sich nicht nur in der Leber sondern auch im Darm, in den Lungen, Nieren und Blutpl¨attchen. Im allgemeinen stellt die Sulfonylie-
82
Kapitel 2 Toxikokinetik
OH
OSO 3
-
Sulfotransferase + 3'-Phosphoadenosin5'-phosphosulfat
3'-Phosphoadenosin5'-phosphat
Abbildung 2.23 Sulfonylierung von 1-Naphthol durch Sulfotransferase und den Cofaktor 3´Phospoadenosin-5´-phosphosulfat (PAPS).
rung eine Entgiftung toxischer Substrate dar, sie kann aber auch bei einigen Substraten zu einer Giftung f¨ uhren. So werden z. B. aromatische und heterozyklische Amine, sowie Arylkarbinole durch Sulfonylierung zu genotoxischen Verbindungen. Ihre geringe Best¨andigkeit in w¨assrigen L¨osungen f¨ uhrt nach Abspaltung der Sulfatgruppe zu elektrophilen Substanzen (Nitrenium- oder Carboniumion), die kovalent mit Proteinen oder DNA reagieren k¨ onnen. Acyl-CoA-N-Acyltransferase ¨ Andere Transferasen, wie die Acyl-CoA-N-Acyltransferase, sind an der Ubertragung der Aminos¨auren Glycin oder Glutamin auf Carbons¨auren beteiligt. Die Konjugation erfolgt in zwei Stufen wie in Abbildung 2.24 am Beispiel der Benzoes¨aure mit Glycin gezeigt wird. Die Konjugation von Benzoes¨aure mit Glycin zur Hippurs¨aure gilt als erste entdeckte Umsetzung im Fremdstoffwechsel (1842). Sie wurde von Wilhelm Keller, einem Sch¨ uler von Friedrich W¨ohler, in einem Selbstversuch nachgewiesen. Die Hippurs¨aure wurde bereits 1829 von Justus Liebig aus dem Pferdeharn isoliert (hippos, griechisch Pferd). Glutathion-S-Tranferasen Glutathion-S-Tranferasen (GST) konjugieren viele reaktive elektrophile Verbindungen mit Glutathion. Da solche elektrophilen Verbindungen mit nukleophilen Zentren der DNA reagieren und genotoxisch wirken k¨onnen, sind die GST ein sehr wichtiges Abwehrsystem gegen chemische Kanzerogene. Die GST bilden Familien, die haupts¨achlich im Cytosol als dimere Enzyme vorliegen, aber auch als membranst¨andige, mikrosomale Enzyme vorkommen. ¨ Nach Ubereinkunft besitzen innerhalb einer GST-Familie die Isoenzyme mindestens eine 40 %ige Aminos¨aureidentit¨at. Beim Menschen sind 6 Familien mit u ¨berlappender Substratspezifit¨at nachgewiesen worden (bei der Nomenklatur der GST-Isoenzyme werden zur Bezeichnung der Familien griechische
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
ATP Coenzym-A O
C
OH
+ PPi + AMP O
C
S
CoA
Acyl-CoA-AminosäureN-Acyltransferase O
C
S
CoA
83
+ Coenzym-A
Glycin
O
C
CH2 NH COOH Hippursäure
Abbildung 2.24 Benzoes¨ aure wird in der ersten Stufe mit Adenosintriphosphat (ATP) und Coenzym-A (CoA u ¨bertr¨ agt Acylgruppen) aktiviert, um dann in der zweiten Stufe mit Glycin und der Acetyl-CoA-Aminos¨ aure-N-Acetyltransferase zu Hippurs¨ aure konjugiert zu werden.
Buchstaben verwendet: a, m, κ, p, d und z, dabei ist p die h¨aufigste). Bei der Konjugation spielt Glutathion eine wichtige Rolle. Es ist in allen Zelle enthalten und liegt in Konzentrationen von etwa 5 mM vor. Die nachfolgende Abbildung zeigt das endogene Tripeptid, das aus Glutamin, Cystein und Glycin zusammengesetzt ist.
CO NH CH2 HS
COOH
CH2 CH NH CO CH2
CH2
CH COOH NH2
J-Glutamyl-cysteinyl-glycin (Glutathion, reduzierte Form) Glutathion weist eine freie SH-Gruppe an der Aminos¨aure Cystein auf, an der die Konjugation erfolgt. Im Stoffwechsel wechselt es zwischen einer reduzierten Thiolform (GSH) und einer oxidierten Form (GSSG), in der zwei Tripeptide u ¨ber eine Disulfidbindung verkn¨ upft sind. Außer an der Konjugation ist Glutathion an der Inaktivierung von reaktivem Sauerstoff beteiligt, es nimmt an Transport- und Stoffwechselprozessen Teil und beeinflusst das Redoxgleichgewicht in der Zelle.
84
Kapitel 2 Toxikokinetik
Auch ohne GST kann Glutathion mit seiner freien SH-Gruppe bereits spontan mit zahlreichen Elektrophilen reagieren. Die Reaktionsgeschwindigkeit wird jedoch in Anwesenheit von GST um einige Gr¨oßenordnungen gesteigert. Durch die Kopplung an Glutathion wird die L¨oslichkeit der Verbindung im Wasserraum wesentlich gesteigert. Die Ausschleusung der wasserl¨oslichen Konjugate aus der Zelle erfolgt u ¨ber aktive Transporter in der Zellmembran. Vor der Ausscheidung aus dem Organismus werden noch die Aminos¨auren Gluta-
GG C X
CO NH CH2 +
HS
CH2 CH NH CO CH2
CH COOH
HX CO NH CH2
S
CH2
NH2
GSH-S-Transferase
C
COOH
COOH
CH2 CH NH CO CH2
CH2
CH COOH NH2
J-Glutamyltranspeptidase
Glutaminsäure CO NH CH2
C
S
COOH
CH2 CH NH2
Cysteinglycinase COOH C
S
CH2 CH NH2
Glycin
Mercaptursäure COOH
AcCoA C N-AcetylTransferase
S
CH2 CH NH C
CH3
O
Abbildung 2.25 Das nucleophile Tripeptid Glutathion reagiert mit Verbindungen mit Elektronendefizit, als Katalysator fungiert die Glutathion-S-Transferase (GSH-S-Transferase). Nach dem Transport aus der Zelle wird das Glutathionkonjugat durch γ-Glutamyltranspeptidase und Cysteinglycinase zu einem Cysteinkonjugat, das durch Acetylierung mit AcetylCoenzym-A (AcCoA) in eine sogenannte Mercapturs¨ aure u ¨berf¨ uhrt wird.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel
85
mins¨aure und Glycin abgespalten und die Aminogruppe des Cysteinrestes acetyliert, wodurch Mercapturs¨aure entsteht (siehe auch Kapitel 9). Im allgemeinen f¨ uhren die in der Abbildung 2.25 gezeigten Reaktionen ein¨ schließlich der Uberf¨ uhrung in die Mercapturs¨aure zu wasserl¨oslichen Verbindungen, die in der Niere ausgeschieden werden und damit zu einer Entgiftung des Organismus beitragen. Weitere Beispiele befinden sich in den Kapiteln 5 und 9. In der Leber, Niere und in den Darmbakterien kommen Cystein-b-Lyasen vor, welche enzymatisch die Bindung zwischen dem b-C-Atom des Cysteins und dem Schwefel der Cysteinkonjugate spalten. Dabei entstehen neben Pyruvat und Ammoniak instabile, reaktive Thiolverbindungen, welche nierentoxisch sein k¨onnen. So werden z. B. in der Leber gebildete Mercapturs¨auren von polyhalogenierten Alkenen (Hexachlorbutadien, Tri- und Tetrachlorethen), nach ihrer N-Deacetylierung in der Niere, durch die Cystein-b-Lyase zu elektrophilen Vinylthiolen umgesetzt, die mit DNA reagieren (siehe Kapitel 5). Dieser Mechanismus erkl¨art m¨oglicherweise auch das h¨aufige Auftreten von Nierenkarzinomen bei Arbeitern, die mit Trichlorethen in Ber¨ uhrung gekommen sind. Acetyltransferasen Fremdstoffe mit Amino- und Hydroxylamingruppen sind h¨aufig Substrate von Acetyltransferasen. Beispiele hierf¨ ur sind aromatische Amine, aliphatische prim¨are Amine, Hydroxlamine, Hydrazine, Hydrazide und Sulfonamide. Als Cosubstrat fungiert hierbei Acetyl-Coenzym-A (AcCoA). Beim Menschen sind zwei Enzyme, die N-Acetyltransferase 1 und 2 (NAT1 und NAT2) f¨ ur den Fremdstoffwechsel von Bedeutung, welche sich signifikant in ihrer Substratspezifit¨at unterscheiden. F¨ ur die NAT1 sind z. B. 4-Aminobenzoes¨aure und 4-Aminosalizyls¨aure und f¨ ur NAT2 Hydralazin, Isoniazid, Sulfamethazin und Procainamid typische Substrate. Bei der Acetylierung steht die Beendigung der biologischen Wirkung im Vordergrund, w¨ahrend die Wasserl¨oslichkeit der Substrate in den meisten F¨allen abnimmt. Der Wirkungsverlust und die Abnahme der L¨oslichkeit k¨onnen Probleme f¨ ur die medizinischen Behandlung bringen. So sind die Sulfonamide auch heute noch ein wichtiger Bestandteil in der Therapie bei der Bek¨ampfung von Bakterien. Die N-Acetylierung der Sulfonamide bedeutet einen vollst¨andigen Wirkungsverlust und das Auskristallisieren kann zu einem Funktionsverlust der Nieren f¨ uhren. Seit 1950 kennt man beim Menschen das Ph¨anomen der schnellen und langsamen Acetylierer. Dies beruht auf einem Polymorphismus einer N-Acelyltrans-
86
Kapitel 2 Toxikokinetik
ferase (NAT2). Etwa die H¨alfte der europ¨aischen Bev¨olkerung und 90 % der Japaner, Chinesen und Eskimos acetylieren schnell, w¨ahrend der andere Teil langsam acetyliert. Dies hat Bedeutung sowohl f¨ ur die L¨ange der Wirkung von Medikamenten als auch bei der Kanzerogenese. Bei der Belastung des Organismus mit aromatischen Aminen wird beim schnellen Acetylierer die Organselektivit¨at beeinflusst. So wird hierbei seltener ein Blasenkarzinom daf¨ ur aber h¨aufiger ein Darmkarzinom im Vergleich zu langsamen Acetylieren beobachtet. Dies wird damit erkl¨art, dass schnelle Acetylierer das Krebsrisiko im Darm f¨ordern, dies gilt auch f¨ ur heterocyclischer Amine aus der Nahrung, die bei der thermischen Behandlung von Fleischprodukten entstehen k¨onnen.
Methyltransferasen Schließlich heißen die Enzyme, die Methylierungen katalysieren, Methyltransferasen. Als Coenzym wirkt hier das S-Adenosylmethionin, dessen aktivierte Methyl-Gruppe von der Aminos¨aure Methionin herstammt. Die Strukturformel f¨ ur Methionin lautet H3 C-S-CH2 -CH2 -HCNH2 -COOH. Die Methylierung phenolischer OH-Gruppen bei den k¨orpereigenen Catecholaminen wie Adrenalin ist eher eine Ausnahmereaktion als die Regel und kommt im Rahmen der Biotransformation selten vor.
2.5.2.1
Einfluss des Alters auf die Biotransformation
Das Alter kann bei der Biotransformation eine ganz entscheidende Rolle spielen. So sind die Enzyme der Biotransformation beim Neugeborenen noch unzureichend ausgebildet. Die Glucuronyltransferasen werden erst zum Zeitpunkt der Geburt gebildet. Ganz im Gegensatz dazu ist bei Kindern im Alter von l bis 8 Jahren die Geschwindigkeit der Biotransformation im Vergleich zu Erwachsenen erh¨oht, woran das gr¨oßere Verh¨altnis von Lebergewicht zu K¨orpergewicht beteiligt sein kann. Im h¨oheren Alter l¨auft der Cytochrom P-450-abh¨angige Stoffwechsel langsamer ab, w¨ahrend Phase-II-Reaktionen meist unver¨andert bleiben. Neben dem Alter k¨onnen auch das Geschlecht, der Ern¨ahrungszustand sowie Krankheiten und k¨orperlicher Stress von Bedeutung f¨ ur die Biotransformation sein. Bewirken ein oder mehrere Substanzen eine Enzyminduktion in der Leber, so k¨onnen andere Fremdstoffe vermehrt umgesetzt werden und ihre Metaboliten unter Umst¨anden wegen der erh¨ohten Konzentration toxisch wirken. Anstatt der Giftung kann auch das Gegenteil der Fall sein, n¨amlich eine Bioinaktivierung.
2.6 Elimination durch Exkretion
2.6
87
Elimination von toxischen Substanzen durch Exkretion
F¨ ur die Exkretion von toxischen Substanzen stehen grunds¨atzlich folgende Wege zur Verf¨ ugung: • • • •
Nieren und ableitende Harnwege, Leber, Gallenwege und Darm, Haut und Anhangsorgane sowie Sekretion, Lungen.
Dabei steht die Ausscheidung von Fremdsubstanzen mit dem Harn u ¨ber die Nieren im Vordergrund. Dagegen sind die Ausscheidung u ¨ber die Augenfl¨ ussigkeit (Tr¨anen) und u ¨ber die Anhangsgebilde wie N¨agel und Haare von untergeordneter Bedeutung. Die Anhangsgebilde sind jedoch mitunter wichtig f¨ ur den Nachweis einer erfolgten Exposition, z. B. gegen¨ uber Schwermetallen. N¨agel und Haare besitzen eine hohe Konzentration an schwefelhaltigen Aminos¨auren und reichern die Schwermetalle, die sich chemisch relativ gut nachweisen lassen, normalerweise um etwa zwei Gr¨oßenordnungen st¨arker an als die K¨orperfl¨ ussigkeiten. Aufgrund der Kenntnis der Wachstumsgeschwindigkeit der Haare von etwa 1 mm pro Tag und der der N¨agel mit ungef¨ahr 1 mm pro Woche l¨asst sich der Zeitpunkt einer Exposition mit einer Genauigkeit von Tagen ermitteln.
2.6.1
Ausscheidung durch die Nieren
Die Nieren haben folgende physiologischen Aufgaben: 1. Sie regulieren den Wasser- und Elektrolythaushalt sowie das S¨aure-BaseGleichgewicht. Die Ionenkonzentrationen im Blutplasma werden u ¨ber die Nieren kontrolliert, auf konstanter Gr¨oße gehalten und somit eine Isoionie gew¨ahrleistet. Aber nicht nur die Konzentration der einzelnen Ionen selbst, sondern auch der durch alle beteiligten Teilchen erzeugte osmotische Druck wird auf einen konstanten Betrag, den isotonischen Druck von etwa 300 mosmol pro Liter, gleichbleibend eingestellt. Die Niere ist in diesem Falle f¨ ur die Isotonie verantwortlich. Dar¨ uber hinaus wird auch das Volumen des Plasmas konstant gehalten, diese Leistung hat eine Isovol¨ amie zur Folge. Kurzfristige pH-Verschiebungen im Plasma k¨onnen durch Ver¨anderungen der CO2 Abgabe u ¨ber die Lungen korrigiert werden, dagegen werden die langfristigen pH-Einstellungen im wesentlichen von der Niere geregelt. Die Niere ist also auch f¨ ur die Einhaltung der Isohydrie zust¨andig.
88
Kapitel 2 Toxikokinetik
2. Seitens des Stoffwechsels erf¨ ullt die Niere eine wichtige Funktion bei der Ausscheidung der Endprodukte des Eiweißstoffwechsels. Diese Endprodukte sind Harnstoff, Kreatinin, Harns¨aure, Ammoniak, Aminos¨auren, Hippurs¨aure und Proteine. 3. Die Niere ist das wichtigste Ausscheidungsorgan f¨ ur viele Fremdstoffe und nimmt außerdem an der Biotransformation teil. Die funktionelle Einheit der Niere ist das Nephron (Abbildung 2.26). Jede menschliche Niere enth¨alt etwa eine Million dieser Nephronen. Im Glomerulus wird fortlaufend ein Teil des Blutes abfiltriert. Die Permeabilit¨at der Kapillaren im Glomerulus ist etwa 50-mal so groß wie diejenige der Muskel-Kapillaren. Das Ausschlussvolumen im Glomerulus liegt bei einem Molekulargewicht um 60 000. Wichtiger als das Molekulargewicht ist jedoch der Molek¨ uldurchmesser. Molek¨ ule unter 4 nm passieren die Glomerulusmembran verh¨altnism¨aßig leicht, dagegen werden solche mit einem Durchmesser u ¨ber 10 nm fast vollst¨andig im Blutplasma zur¨ uckbehalten. Plasma-Albumin mit einem Molekulargewicht von 69 000 ist im Filtrat mit nur etwa 0,2 % der Konzentration im Plasma enthalten. Man kann davon ausgehen, dass die Zusammensetzung des Filtrates der des Plasmas ohne Proteine sehr a¨hnlich ist. Bei einem Gewicht von nur 0,3 % des K¨orpergewichtes erhalten die beiden Nieren in der Ruhe 1,2 bis 1,3 Liter Blut pro Minute, das sind 20 bis 25 % des gesamten Blutvolumens. Die Glomerul¨are-Filtrationsrate (GFR) eines durchschnittlichen Erwachsenen liegt bei 125 ml Fl¨ ussigkeit pro Minute oder 7,5 Litern pro Stunde bzw. 180 Litern pro Tag. Die Ausscheidung dieses sogenannten Prim¨arharns korreliert mit der K¨orperoberfl¨ache. Sie liegt bei der Frau um durchschnittlich 10 % niedriger als beim Mann. Obwohl pro Tag durchschnittlich 180 Liter Prim¨ arharn produziert werden, wird nur etwa 1 Liter Endharn ausgeschieden. Daraus folgt, dass u ¨ber 99 % des Prim¨arfiltrates von den Nieren r¨ uckresorbiert werden m¨ ussen. Bei 180 Litern Prim¨arharn pro Tag filtrieren die Nieren etwa das Vierfache des gesamten K¨orperwassers oder 60-mal das gesamte Plasmavolumen von 3 Litern. Allein diese Tatsache macht klar, dass die Ausscheidung von Fremdstoffen haupts¨achlich durch die Nieren erfolgt. W¨ahrend der vom Glomerulus abfiltrierte Prim¨arharn etwa den gleichen osmotischen Druck wie das Blut besitzt, hat der Endharn einen 3- bis 4fach h¨oheren osmotischen Druck. Die Niere leistet eine Konzentrierungsarbeit. Diese geschieht im proximalen Tubulus, in der Henle´schen Schleife, im distalen Tubulus und im Sammelrohr des Nephrons (Abbildung 2.26). Dabei steigt der osmotische Druck von 300 bis auf 1400 mosmol pro Liter an, und das Harnvolumen nimmt, wie bereits erw¨ahnt, bis auf 1 % des Ausgangswertes ab.
2.6 Elimination durch Exkretion
89
Abbildung 2.26 Schematische Darstellung eines Nephrons.
Im proximalen Tubulus wird das Filtrat bis auf 40 % eingeengt, und die im Prim¨arharn sich befindenden N¨ahrstoffe wie Glucose, Aminos¨auren und Hydrogencarbonat werden fast vollst¨andig in das Blut zur¨ ucktransportiert. Dagegen reichern sich Ausscheidungsprodukte wie S¨aure¨aquivalente und Harnstoff im tubul¨aren Harn an. Auf dem restlichen Weg werden k¨orperwichtige Elektrolyte zur Aufrechterhaltung der Isoionie, Isotonie, Isovol¨amie und Isohydrie zur¨ uckgewonnen. Die meisten Fremdstoffe und toxischen Substanzen sind kleine Molek¨ ule, die effektiv durch die glomerul¨are Filtration ausgeschieden werden k¨onnen. Die glomerul¨are Filtrationsrate (GFR -125 ml/min) bestimmt somit ganz wesentlich die Ausscheidungsgeschwindigkeit. Da der gr¨oßte Teil der Filtrationsfl¨ ussigkeit (99 %) wieder resorbiert wird, bedeutet das gleichzeitig, dass 125 ml Plasma pro Minute von der toxischen Substanz befreit werden. Deshalb wird dieser Wert auch als Nieren-Clearance bezeichnet. Weiterhin spielt die Gr¨oße des Volumens, in der die toxische Substanz sich verteilt hat, eine Rolle. Es gilt, je gr¨oßer das Verteilungsvolumen ist, desto l¨anger ist auch die Ausscheidungszeit. Liegt außerdem noch eine Bindung der Substanz an Gewebsproteine und/oder an die Plasmaproteine vor, so verl¨angert sich die Ausscheidungszeit noch weiter, da jeweils nur der freie, ungebundene Anteil filtriert werden kann.
90
Kapitel 2 Toxikokinetik
Neben der Filtration kann weiterhin eine passive R¨ uckdiffusion in den ableitenden Nierenkan¨alchen die Ausscheidungsgeschwindigkeit einer toxischen Substanz beeinflussen. So gelangen lipophile Substanzen durch eine R¨ uckdiffusion u ¨ber die Tubuluszellen der Nierenkan¨alchen wieder in das Blut zur¨ uck. Diese R¨ uckdiffusion kann unter Umst¨anden so groß sein, dass die Konzentration der toxischen Substanz im Harn und im Blutplasma etwa gleich hoch gehalten wird. Besteht dar¨ uber hinaus noch eine starke Bindung der lipophilen Substanz an die Plasmaproteine, so wird die Ausscheidung durch die Niere noch weiter verlangsamt. Erst wenn die toxische Substanz durch die Biotransformation wasserl¨oslich gemacht worden ist, erfolgt auch eine wirksame Elimination. Basische und saure toxische Substanzen werden im allgemeinen gut ausgeschieden, solange sie in der ionischen Form vorliegen. Damit gewinnen der pH-Wert des Harns und die Dissoziationskonstante der Substanzen einen Einfluss auf die Ausscheidung. Im allgemeinen ist der pH-Wert im Harn niedriger als der des Blutes von 7,4. Dies h¨angt mit der nierenbedingten Isohydrie, der Erhaltung des S¨aure-Base-Gleichgewichtes, zusammen, die meist durch Protonenabgabe an den Harn erfolgt. Der physiologische Bereich des Harns schwankt deswegen zwischen den pH-Werten 5 und 7. Der Arzt kann durch bestimmte Substanzen den pH-Wert des Harns willk¨ urlich verstellen. Nach oraler Gabe von Hydrogencarbonat erreicht der Harn pHWerte von u ¨ber 8, und durch die Zuf¨ uhrung von Protonen u ¨ber die Verbindung Ammoniumchlorid oder durch Ascorbins¨auregabe l¨asst sich der Harn auf den unteren physiologischen pH-Bereich einstellen. Mit Hilfe dieser therapeutischen Maßnahmen kann die Ausscheidung von toxischen Substanzen ganz wesentlich beeinflusst werden. Schwache Basen werden so durch Absenken des pH-Wertes und schwache S¨auren durch Alkalisieren des Harns in die ionischen Formen u ¨berf¨ uhrt und in diesem wasserl¨oslichen Ionenanteil ausgeschieden. Als Beispiele hierf¨ ur erfolgen eine erh¨ohte Eliminierung von Nicotin durch Acidifizierung und bei einer Intoxikation mit Salicyls¨aure eine vermehrte Ausscheidung durch Alkalisierung des Harnes. Neben den physikalischen Prozessen wie Filtration und Diffusion kann auch ein aktiver Transportmechanismus f¨ ur die Ausscheidung von toxischen Substanzen verantwortlich sein. Es handelt sich hierbei um die tubul¨ are Sekretion. Durch ein Transportsystem, das in den proximalen Nierentubuli lokalisiert ist, werden viele organische S¨auren, wie z. B. Penicillin, Sulfonamide, Phenolrot, Glucuronide, Sulfate und Harns¨aure entgegen ihrem Konzentrationsgradienten aktiv in den Harn sezerniert (lat. secernere, absondern). Einzelne Substanzen konkurrieren beim Transport und verm¨ogen sich hierdurch gegenseitig an der Ausscheidung zu hindern.
2.6 Elimination durch Exkretion
91
Außer S¨auren k¨onnen auch organische Basen von den Tubuluszellen aktiv sezerniert werden. Der Transport von Basen erfolgt unabh¨angig von dem der S¨auren. Als Beispiele hierf¨ ur gelten Substanzen wie Dopamin (Transmitter) und Tetraethylammoniumchlorid. Nach der Geburt sind verschiedene Funktionen der Niere noch nicht vollst¨andig entwickelt. Substanzen, die haupts¨achlich durch eine aktive Sekretion ausgeschieden werden, sind beim Neugeborenen oft toxischer, da die Transportsysteme noch nicht vollst¨andig vorhanden sind und somit eine Elimination nur langsam verl¨auft. Ein Maß f¨ ur die u ¨ber die Niere ausgeschiedene Substanzmenge ist die renale Clearance Clren . Sie wird als Produkt aus dem Volumen Vu des ausgeschiedenen Urins und der Konzentration der Substanz im Harn Cu geteilt durch seine Konzentration im Plasma Cp , berechnet: Clren = (Vu · Cu )/Cp (ml/min)
2.6.2
Ausscheidung u ¨ber die Galle
Mit der Gallenfl¨ ussigkeit werden vor allem solche toxischen Substanzen ausgeschieden, die ein Molekulargewicht von u ¨ber 500 besitzen oder durch Umsetzung u ¨ber die Biotransformation, haupts¨achlich durch die Phase-II-Reaktionen, dieses hohe Molekulargewicht erlangt haben. Dagegen werden Substanzen mit einem Molekulargewicht unter 300 bevorzugt durch die Nieren ausgeschieden. F¨ ur die bili¨are (lat. bilis, Galle) Ausscheidung von Substanzen werden zwei Transportmechanismen verantwortlich gemacht. Dies sind eine passive Diffusion der Substanzen beim Durchgang von den Leberzellen in die Gallenkapillaren und ein aktiver Transport. Letzterer ist f¨ ur verschiedene saure Farbstoffe wie z. B. Phenolrot und Bromsulphthalein nachgewiesen worden. Daneben gibt es wahrscheinlich noch ein Transportsystem f¨ ur organische Basen und ein weiteres f¨ ur Neutralstoffe mit polaren Gruppen. F¨ ur glucuronidierte Fremdstoffe ist die bili¨are Ausscheidung besonders bedeutsam. Die Gallenfl¨ ussigkeit selbst ist kein Filtrationsprodukt, welches mit dem Harnfiltrat verglichen werden k¨onnte. Sie wird vielmehr aktiv in die Gallenkan¨alchen sezerniert. Die Gallenfl¨ ussigkeit wird auf dem Wege durch die Gallenkan¨alchen durch Stoffaustausch mit dem Blutplasma modifiziert. Die Tagesproduktion der Galle wird auf 0,5 bis 1 Liter Gallenfl¨ ussigkeit gesch¨atzt.
92
Kapitel 2 Toxikokinetik
X + Protein
Phase-I-Metabolit
X-Protein
Ausscheidung Niere
Metabolismus Oxidation Phase- I- Reduktion Reaktion Hydrolyse
Bindung
Phase-IIReaktion Transferasen
Molekulargewicht < 300
(wasserlöslich,
Kopplungsproduktinaktiv, ungiftig)
Glucuronsäure, Sulfat, Aminosäuren, Kopplung an: Glutathion, Essigsäure, S-Adenosylmethionin.
Molekulargewicht > 500 Ausscheidung Galle
¨ Abbildung 2.27 Ubersichtsschema Biotransformation und Ausscheidung. X ist ein Fremdstoff, eine k¨ orpereigene Verbindung oder ein Medikament.
Einige Gallenbestandteile und mit der Galle sezernierte Fremdstoffe k¨onnen, nachdem sie in den Darm ausgeschieden worden sind, von dort wieder in das Blut zur¨ uckgelangen. Dieser Aufnahmeweg wurde bereits an anderer Stelle als enterohepatischer Kreislauf beschrieben. Galleng¨angige Substanzen m¨ ussen eine polare Gruppe enthalten. F¨ ur toxische Substanzen werden h¨aufig erst die Voraussetzungen f¨ ur die bili¨are Ausscheidung durch die Konjugation in der Phase-II-Reaktion geschaffen. Dabei wird das Molekulargewicht durch Kopplung mit z. B. Glucurons¨aure um 177 erh¨oht und dann eine anionische Gruppe in das Molek¨ ul eingef¨ uhrt. Neben Glucurons¨aure spielen die Konjugationen mit Glutathion, Schwefels¨aure und Glycin eine Rolle. Quartern¨are Ammoniumverbindungen werden als Kationen transportiert. Da die toxischen Substanzen haupts¨achlich konjugiert als hydrophile Stoffe in die Galle ausgeschieden werden, spielt eine R¨ uckdiffusion aus den Gallenkan¨alchen praktisch keine Rolle. Wegen der aktiven Ausscheidung in die Gallenfl¨ ussigkeit k¨onnen aber sehr hohe Konzentrationen toxischer Substanzen erreicht werden, die m¨oglicherweise f¨ ur die Entstehung bestimmter Lebertumoren verantwortlich sind.
2.6 Elimination durch Exkretion
93
Tabelle 2.7 Zusammensetzung der menschlichen Gallen߬ ussigkeit Substanzen
in der menschlichen Galle
Wasser Gallens¨ auresalze Gallenfarbstoffe Cholesterin Anorganische Salze Fetts¨auren Lecithin Enzyme
97 % 0,70 % 0,20 % 0,06 % 0,70 % 0,15 % 0,10 % Alkalische Phosphatase, γ-Glutamyltranspeptidase
Als Faktoren, welche die bili¨are Ausscheidung beeinflussen und herabsetzen k¨onnen, kommen besonders eine verminderte Glucuronidierungsleistung oder eine Hemmung der mikrosomalen Enzyme in Frage. Dagegen bewirkt eine mikrosomale Enzyminduktion durch Fremdstoffe eine deutliche Steigerung der bili¨aren Ausscheidung. Dieses Prinzip kann therapeutisch ausgenutzt werden, um bestimmte toxische Substanzen schneller zu entgiften und u ¨ber die Galle auszuscheiden. Bez¨ uglich der Abh¨angigkeit der bili¨aren Ausscheidung von der Molek¨ ulgr¨oße gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Tierarten. Bei der Ratte schwanken die Molekulargewichte um 325 ± 50, beim Meerschweinchen um 400 ± 50 und beim Kaninchen um 475 ± 50. Demnach steht das Kaninchen bez¨ uglich der Gr¨oßenabh¨angigkeit dem Menschen am n¨achsten. Beim Neugeborenen ist das Sekretionssystem der Galle noch nicht ausgereift. Eine Ausreifung kann jedoch beschleunigt werden durch Induktion der mikrosomalen Enzymsysteme mit z. B. Phenobarbital.
2.6.3
Ausscheidung durch Sekrete, Schweiß und Milch
Quantitativ ist die Ausscheidung von toxischen Substanzen mit dem Sekret von Speichel, den Verdauungss¨aften des Darmes und der Tr¨anenfl¨ ussigkeit von untergeordneter Bedeutung. Auch die Ausscheidungen durch den Schweiß und durch die Muttermilch spielen mengenm¨aßig nur eine geringe Rolle. Die Herkunft von Substanzen, die im Kot erscheinen, kann sehr unterschiedlich sein. Die Substanzen k¨onnen z. B. von der Nahrung herstammen, durch die Tr¨anenfl¨ ussigkeit auf dem Wege u ¨ber den Tr¨anenkanal in den Darm gelangt sein, mit dem Speichel sezerniert worden sein, auf dem Wege u ¨ber das Flimmerepithel der Bronchien aus den Lungen kommen. Weiterhin k¨onnen die Substanzen aus der Gallenfl¨ ussigkeit, dem Magensaft, Pankreassekret und Darmsaft in den Kot gelangt sein.
94
Kapitel 2 Toxikokinetik
Die direkte Ausscheidung von toxischen Substanzen in den Darm ist f¨ ur verschiedene Schwermetalle, f¨ ur quart¨are Ammoniumverbindungen, schwache S¨auren sowie f¨ ur Herzglycoside nachgewiesen worden. Weiterhin kann die pHDifferenz zwischen dem sauren Mageninhalt und dem Blut zu einer Anreicherung von basischen Substanzen im Magen f¨ uhren (Abbildung 2.13). Um toxische Substanzen aus dem Verdauungstrakt zu entfernen, k¨onnen außer dem Sp¨ ulen der Brechreiz ausgel¨ost und Abf¨ uhrmittel zum Verhindern der Resorption eingesetzt werden. Die Ausscheidung von toxischen Substanzen mit der Milch ist von besonderer ¨ Wichtigkeit f¨ ur das Brustkind und f¨ ur die Ubertragung von der Kuh auf den Menschen durch das Nahrungsmittel Kuhmilch. Da der pH-Wert der Milch bei pH 6 liegt, reichern sich in der Milch besonders basische Verbindungen an, a¨hnlich wie beim Magen beschrieben (Ionenfalle). Außerdem ist der Lipidgehalt der Milch, der zwischen 3 und 5 % liegt, f¨ ur die Verteilung von lipophilen Sub¨ stanzen wichtig. Uber diese Nahrungskette k¨onnen sich lipophile Substanzen wie DDT anreichern. ¨ Bei stillenden Frauen muss grunds¨atzlich die M¨oglichkeit der Ubertragung von Medikamenten durch die Milch in Betracht gezogen werden. Auch Alkohol und Nicotin werden mit der Milch auf den S¨augling u ¨bertragen.
2.6.4
Ausscheidung u ¨ber die Lungen
Die pulmonale (lat. pulmo, Lunge) Ausscheidung von Gasen und fl¨ uchtigen Substanzen ist proportional dem Konzentrations- bzw. dem Druckgradienten zwischen Blut und eingeatmeter Luft. Grunds¨atzlich gelten f¨ ur die Ausscheidung die gleichen Gesetzm¨aßigkeiten wie f¨ ur die Aufnahme. Die Dauer der pulmonalen Ausscheidung ist besonders von den physikalischchemischen Eigenschaften der Gase oder fl¨ uchtigen Substanzen abh¨angig.
2.7
Toxikokinetische Modellvorstellungen
Ein toxikokinetisches Modell soll in Abh¨angigkeit von der Zeit mit mathematischen Funktionen den Weg einer toxischen Substanz im menschlichen Organismus ann¨ahernd genau wiedergeben k¨onnen. Der Toxikologe wird durch ein gutes mathematisches Modell in die Lage versetzt, nach einer Exposition die wirksame Konzentration im Organismus zu ermitteln. Hierdurch kann unter Umst¨anden die Einwirkungsdauer und damit das toxische Risiko aus der Expositionskonzentration und der Expositionszeit abgesch¨atzt werden.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen
95
Zur Erstellung eines solchen Modells ist der im Experiment gemessene zeitliche Verlauf der Konzentration der toxischen Substanz im Blutplasma von großer Wichtigkeit. Jeder einzelne Messwert kann als eine Resultante aller ablaufenden Einzelvorg¨ange wie Aufnahme in das Blut, Verteilung im gesamten Organismus, Biotransformation und Ausscheidung aufgefasst werden. Verbindet man die einzelnen Messwerte miteinander, so erh¨alt man eine sogenannte Blutspiegel-Zeitkurve. Ihr Kurvenverlauf erfasst die oben genannten Einzelvorg¨ange. Das einfachste Modell ist ein offenes System mit einem Zu- und einem Abfluss. Ist die Bilanz von Zu- und Abfluss ausgeglichen, so spricht ¨ man von einem Fließgleichgewicht oder steady state“. Uberwiegt aber ” der Zufluss, so kommt es im Organismus zu einer Akkumulation. Wichtige Parameter in einem solchen Modell sind die Anzahl und Gr¨oße der Verteilungsr¨aume Kompartimente), sowie die einzelnen Geschwindigkeitskonstanten f¨ ur den Zufluss, den Transfer und den Abfluss.
2.7.1
Das Ein-Kompartiment-Modell
Der einfachste denkbare Fall ergibt sich aus folgenden Bedingungen: Eine toxische Substanz, die im Organismus keiner metabolischen Ver¨anderung unterliegt, wird mit einer Spritze in die Blutbahn injiziert und verteilt sich nach kurzer Zeit im Blutplasma. Die Durchmischungszeit im Kreislauf betr¨agt etwa 3 Minuten, und nach dieser Zeit ist die Substanz gleichm¨aßig im Plasmavolumen von etwa 3 Litern verteilt. Die Substanz kann dieses eine Kompartiment, das Plasmavolumen, nur u ¨ber den Ausscheidungsweg der Niere verlassen. Die Elimination der Substanz durch die Niere bewirkt einen Abfall der Blutspiegelkurve. In den allermeisten F¨allen handelt es sich dabei um eine Kinetik erster Ordnung“, die sich durch folgende Differentialgleichung beschreiben ” l¨asst: -dC/dt = ke · C
(1)
Dabei ist C die Konzentration der Substanz im Blutplasma (Plasma), t die Zeit und ke die Eliminationskonstante. Nach Integration von (1) erh¨ alt man die Konzentration der Substanz C zum Zeitpunkt t mit: Ct = C0 · e−ke t ,
(2)
wobei C0 die Konzentration der Substanz zum Zeitpunkt 0 ist. Durch Logarithmieren erh¨alt man:
96
Kapitel 2 Toxikokinetik
ln Ct = ln C0 − ke t
(3)
log Ct = log C0 − (ke /2, 303) · t.
(4)
bzw.
Die Gleichungen 3 und 4 sind einfache lineare Gleichungen mit dem y-AchsenSchnittpunkt ln C0 bzw. log C0 und einer Neigung, welche die Eliminationskonstante ke (h−1 oder min−1 ) wiedergibt. Tr¨agt man in einer graphischen Darstellung die gemessenen Konzentrationen im Plasma logarithmisch gegen die Zeit im linearen Maßstab auf, so m¨ ussen die Messpunkte entsprechend den Gleichungen (3) und (4) auf einer geraden Linie liegen. Der graphisch ermittelte Schnittpunkt mit der y-Achse ergibt die Anfangskonzentration C0 und aus der Neigung des Konzentrationsverlaufes geht die Eliminationskonstante ke hervor. Die Abbildung 2.28 demonstriert an einem Beispiel (C0 = 10 mM, ke = 0,2 h−1 ) den zeitlichen Verlauf einer Blutspiegel-Zeitkurve in der linearen und in der halblogarithmischen Darstellung. Die halblogarithmische Darstellung hat den Vorteil, dass den exakten Schnittpunkt mit der y-Achse erh¨alt, der aus der linearen Darstellung nur abgesch¨atzt werden kann. Mit ihrem Schnittpunkt ist die Anfangskonzentration C0 bestimmt. Mit C0 l¨asst sich das Volumen des Kompartiments errechnen, da die in die Blutbahn eingebrachte Menge (m) der Substanz bekannt ist. Betr¨agt die eingebrachte Menge (m) in unserem Beispiel 30 mmol, so errechnet sich das Plasmavolumen, V = m/C0 (30 mmol/10 mM), zu 3 Liter. Multipliziert man das Plasmavolumen V (3 Liter) mit der Eliminationskonstante ke (0, 2 h−1 ) , so ergibt sich die Nieren-Clearance, n¨amlich das Volumen, das pro Minute von der Substanz befreit wird. In diesem Beispiel sind es 10 ml/min. Abbildung 2.28, die den exponentiellen Abfall der Konzentration der Substanz im Blutplasma wiedergibt, enth¨alt eine tabellarische Darstellung f¨ ur die Zeitspanne von 5 Halbwertzeiten. In dem Beispiel ist die Ausgangskonzentration von 10 mM auf die H¨alfte abgefallen, wenn 3,5 Stunden vergangen sind. Nach dem Ablauf von f¨ unf Halbwertzeiten ist die Substanz nur noch mit 1/32 (0,31 mM, ≈ 3.1 %) der Ausgangskonzentration im Plasma vorhanden. Im Allgemeinen signalisiert die niedrige Konzentration nach 5 Halbwertzeiten das Abklingen einer akuten toxischen Wirkung. Bei der klinischen Beurteilung von Medikamentenwirkungen gelten nach 5 Halbwertzeiten die meisten Medikamente als ausgeschieden. Somit ist die Halbwertzeit eine praktische Bezugsgr¨oße f¨ ur die Beurteilung einer Exposition.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen
Konzentration (C)
10
5
97
C
mM
Stunden
1/1 1/2 1/4 1/8 1/16 1/32
10 5 2.5 1.25 0.62 0.31
0 3.5 7.0 10.5 14.0 17.5
0 0
5
10
15
20
Stunden Co
log Konzentration (C)
1.0
Neigung = -Ke / 2.303
0.5
0.0
-0.5
-1.0 0
5
10
15
20
Stunden
Abbildung 2.28 Konzentration im Plasma (lineare Auftragung) nach iv-Injektion einer Substanz bei Vorliegen eines Ein-Kompartiment-Modells, unten halblogarithmische Auftragung.
98
Kapitel 2 Toxikokinetik
Mit der Eliminationskonstanten ke l¨asst sich eine direkte Beziehung zu der Halbwertzeit, die man oft als biologische Halbwertzeit bezeichnet, herstellen. Setzt man in die Gleichung (2) f¨ ur Ct = C0 /2 und f¨ ur t = t1/2 ein, so ergibt sich: C0 /2 = C0 · e−ke t1/2 .
(5)
Dividieren durch C0 und Logarithmieren ergibt: ln 1/2 = −ke t1/2 , oder t1/2 = 0, 693/ke .
(6)
Wie aus Gleichung (6) ersichtlich, ist die Halbwertzeit f¨ ur eine Substanz mit einer Kinetik erster Ordnung“ unabh¨angig von der Konzentration der Sub” stanz, sie ist umso kleiner, je gr¨oßer ke ist. F¨ ur die Abh¨angigkeit der Halbwertzeit t1/2 von Verteilungsvolumen V und Clearance (CL) gilt die Beziehung: t1/2 = 0, 693 · (V/CL), da CL = V · ke .
(7)
Die Halbwertzeit einer Substanz ist also umso l¨anger, je gr¨oßer das Verteilungsvolumen ist, und umso k¨ urzer, je gr¨oßer die Clearance ist. Die Situation in einem offenen Ein-Kompartiment-Modell wird etwas komplizierter, wenn wir anstelle der schnellen i.v. (intraven¨osen) Injektion durch eine Spritze eine langsame Aufnahme durch den Magen-Darm-Trakt annehmen. Die Zeichnung veranschaulicht hierbei die kinetischen Bewegungen der Substanz:
MAGENDARM-TRAKT
ki
BLUTRAUM
ke
Gelangt eine Substanz aus dem Magen-Darm-Trakt in den Blutraum, so steigt die Konzentration im Blutplasma von Null ausgehend an. Die Zeit f¨ ur die Durchmischung und gleichm¨aßige Verteilung im Plasmavolumen ist im Vergleich zur Aufnahme sehr schnell und kann aus diesem Grund vernachl¨assigt werden. W¨ahrend die Aufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt fortschreitet, wird bereits ein Teil der sich im Blutplasma befindlichen Substanz durch die Nieren wieder ausgeschieden.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen
99
W¨ahlt man wie in Abbildung 2.28 unten eine halblogarithmische Auftragung der experimentell bestimmten Substratkonzentrationen, so zeigt sich zuerst ein aufsteigender Kurventeil in konvexer Form, der nach Durchlaufen eines Maximums in eine gerade Kurve u ¨bergeht (Abbildung 2.29).
Co
log Konzentration (C)
1
-ke = 0.2 h-1 0
-ki = 0.5 h-1
-1 0
5
10
15
20
Stunden Abbildung 2.29 Konzentrationsverauf (log) im Plasma nach oraler Verabreichung einer Substanz bei Vorliegen eines Ein-Kompartiment-Modells (Vierecke).
Am Scheitelpunkt der Kurve sind Aufnahme und Ausscheidung gleich. Nach dem Scheitelpunkt findet noch so lange eine Aufnahme statt, bis die Kurve in die Gerade der Elimination einm¨ undet. Obwohl bereits w¨ahrend der Aufnahme eine Elimination stattfindet, wird nur dieser letzte Abschnitt als Eliminationsphase bezeichnet, da hieraus die Eliminationskinetik berechnet werden kann. Wird die Gerade zum y-Schnittpunkt extrapoliert, so erh¨alt man den Schnittpunkt C0 und aus der Neigung die Eliminationskonstante ke . Mit Hilfe der Residualmethode kann auch die Invasionskonstante ki , bestimmt werden. Durch Differenzbildung von fiktiven Konzentrationen auf der extrapolierten Eliminationsgeraden“ (z. B. eingekreiste Werte) und den zeit” lich zugeordneten, experimentell bestimmten Plasmakonzentrationen (Viereck und Kreis), erh¨alt man die Residualpunkte (gef¨ ullte Kreise). Verbindet man diese sogenannten Residualpunkte“ miteinander, so resultiert eine zweite Ge” rade (gestrichelt). Aus der Neigung der Residual-Geraden errechnet sich die Invasionskonstante ki .
100
Kapitel 2 Toxikokinetik
Die Invasion in das Blutplasma kann ebenfalls mit einer Kinetik erster Ord” nung“ beschrieben werden, wie bereits aus dem linearen Verlauf bei der halblogarithmischen Darstellung gefolgert werden kann. F¨ ur die Geschwindigkeit der Konzentrationszunahme im Blutplasma gilt unter der Annahme, dass keine Elimination stattfindet: dC/dt = ki · (C∞ − C).
(8)
Hierbei ist C wie in Gleichung (1) die Konzentration der Substanz im Blutplasma zum Zeitpunkt t und C∞ die Konzentration, welche unter der Annahme, dass keine Elimination stattfindet, zur Zeit t = ∞ erreicht wird. Integriert man die Gleichung (8), so folgt: Ct = C∞ [1 − e−ki t ].
(9)
ur die Invasion Bei gleicher Konzentration von C∞ und C0 in den Gleichungen f¨ (9) und Evasion (2) kann das Zusammenspiel der beiden Funktionen durch die sogenannte Bateman-Funktion“ ausgedr¨ uckt werden: ” Ct = C0 ·
ki [e−ke t − e−ki t ]. ki − ke
(10)
Die Bateman-Funktion demonstriert den einfachsten Verlauf des Blutspiegels einer Substanz nach Aufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt, wie er in der Abbildung 2.29 dargestellt ist. Es sind bez¨ uglich des Blutspiegels zwei entgegengesetzte Exponentialfunktionen vorhanden. Die Bateman-Funktion gilt nicht nur f¨ ur die Resorption aus dem Darm, sondern kann auch angewendet werden, wenn eine Applikation in die Haut oder in den Muskel vorliegt.
2.7.2
Das Zwei-Kompartiment-Modell
Das offene Zwei-Kompartiment-Modell soll nun in einem Blockdiagramm dargestellt werden, um die kinetische Komplexizit¨at darzustellen. Nachdem die Substanz vom Magen-Darm-Trakt in das zentrale Kompartiment, den Blutraum, transportiert worden ist, erfolgt nicht nur eine Ausscheidung u ¨ber die Niere (ke ), sondern gleichzeitig eine Verteilung in ein peripheres Kompartiment mit den Transfer-Geschwindigkeitskonstanten k12 und k21 . Das Modell beschreibt z. B. die Verh¨altnisse f¨ ur eine Substanz, die aus dem zentralen Blutraum in ein zweites Kompartiment, den Zwischenzellraum gelangt, der sozusa¨ gen im Nebenschluss liegt. Im allgemeinen erfolgt der Ubertritt einer Substanz
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen
MAGENDARM-TRAKT
ki
101
BLUTRAUM
k12
ke
k21
PERIPHERES KOMPARTIMENT
in den Zwischenzellraum und zur¨ uck sehr schnell. Die Halbwertzeit des Blutspiegelabfalls ist hier bereits eine sehr komplexe Gr¨oße. Da viele Substanzen sich nicht nur im Plasmaraum und im Extrazellul¨arraum verteilen, sondern in den Intrazellul¨arraum eindringen bzw. in Fettzellen und Membranen gebunden werden, kann deren Kinetik nur mit einem MultiKompartiment-Modell angen¨ahert werden. Hierzu sind leistungsf¨ahige Computer notwendig, und oft reichen die experimentellen Analysendaten aus dem Blut allein nicht aus. Bez¨ uglich der Verteilungsr¨aume erh¨alt man besonders bei lipophilen Substanzen Werte, die viel gr¨oßer als die entsprechenden Wasserr¨aume sind. Das h¨angt damit zusammen, dass diese Substanzen durch Bindung und Speicherung an neutraler Stelle aus dem Spiel der kinetischen Kr¨afte herausfallen und damit ihre Konzentration in den Verteilungsr¨aumen viel geringer wird. Aus diesem Grunde ist das Verteilungsvolumen nur eine fiktive Gr¨oße, und man spricht in diesem Fall besser von einem scheinbaren Verteilungsvolumen“. ” Der Realit¨at entsprechend, sollte man die R¨aume des K¨orpers als vorgegebene Gr¨oßen ansehen, denn diese sind definiert und k¨onnen unabh¨angig bestimmt und vermessen werden. Dagegen sind die Konzentrationen der Substanzen in den verschiedenen R¨aumen ver¨anderliche Parameter, besonders in den Bindungs- und Speicherregionen.
3
Toxikodynamik G¨ unter Fred Fuhrmann
Im vorangegangenen Kapitel wurden die Einfl¨ usse des menschlichen K¨orpers auf Fremdstoffe, besonders auf toxische Substanzen, unter dem Oberbegriff der Toxikokinetik behandelt. Dabei wurden die wichtigsten Bewegungen und Umsetzungen der Stoffe von der Aufnahme bis hin zu ihrer Ausscheidung im Organismus verfolgt. Im Kapitel Toxikodynamik wird die umgekehrte Richtung der Wechselwirkung, n¨amlich die Wirkung des Xenobiotikums auf den Organismus selbst, untersucht. Die Toxikodynamik befasst sich mit den Reaktionen des Organismus, die von den Auswirkungen einer unspezifischen Bindung bis hin zu den Angriffen an h¨ochst spezifische Rezeptoren resultieren. Neben der Ansprechbarkeit der rezeptiven Strukturen ist die Konzentration des Fremdstoffes, die vor Ort erreicht wird, f¨ ur das Ausmaß der Wirkung verantwortlich. Somit bestimmen Toxikokinetik und Toxikodynamik gemeinsam die toxische Wirkung. Auf der Suche nach funktionellen Erkl¨arungen f¨ ur die Vorg¨ange im menschlichen Organismus hat man sich schon fr¨ uh toxischer Verbindungen als Hilfsmittel bedient. Dies f¨ uhrte u. a. zu der noch heute g¨ ultigen Grundeinteilung der acetylcholinergen Rezeptoren mit Hilfe von Muskarin und Nicotin. In der Natur gibt es Giftpilze, die eine reine Muskarinvergiftung verursachen. Diese Pilze sind nicht zu verwechseln mit den Giftpilzen, die neben Muskarin noch eine atropinartige Substanz enthalten, wie z. B. der Fliegenpilz (Amanita muscaria). In hoher Konzentration kommt Muskarin in r¨ ubenstichigen und kegelig geschweiften Risspilzen vor. In Mitteleuropa erfolgt eine Muskarinvergiftung am h¨aufigsten durch den ziegelroten Risspilz (Inocybe Patouillardi). Die Vergiftungserscheinungen sind typisch und k¨onnen in wenigen Stunden zum Tode f¨ uhren. Die toxischen Symptome betreffen vor allem das nicht durch unseren Willen gesteuerte autonome oder vegetative Nervensystem. Das schlagende Froschherz kann ein einziger Tropfen eines muskarinhaltigen Pilzextrakts zum Stillstand bringen, und nur ein Tropfen einer Atropinl¨osung bewirkt, dass es wieder schl¨agt. Beim Menschen ¨außert sich die Muskarinvergiftung in starkem Hitzegef¨ uhl, Schweißausbr¨ uchen, Speichelfluss, Tr¨anensekretion, Pupillenverengung mit Seh-
104
Kapitel 3 Toxikodynamik
st¨orungen, Herzschlagverlangsamung, Atemnot, Blutdruckabfall, Benommenheit und bald eintretender Bewusstlosigkeit. Der Arzt benutzt zur Therapie der Muskarinvergiftung ein anderes Gift als Antidot, und zwar das beim Froschherz bereits erw¨ahnte Atropin. Ein bis zwei Milligramm davon verm¨ogen die Vergiftungssymptome schlagartig aufzuheben. Der Begriff muskarinartig“ klassifiziert heute eine Gruppe von Acetylcholin” rezeptoren, die sogenannten (muskarinischen) M-Typen. Das Muskarin wurde schon 1914 von Sir Henry Dale zu diesem Zweck verwendet. Sir Henry Dale ¨ und Otto Loewi wurden 1936 f¨ ur ihre Entdeckungen bei der chemischen Ubertragung der Nervenimpulse gemeinsam mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
3.1
Der Begriff des Rezeptors
Das Konzept des Rezeptors ist zu Beginn unseres Jahrhunderts entstanden, wobei sein Ursprung aus ganz unterschiedlichen Forschungsgebieten und Experimenten hervorging. Im wesentlichen sind es zwei Forscherpers¨onlichkeiten, Paul Ehrlich und John Newport Langley, die unabh¨angig voneinander zu dem Begriff des Rezeptors vorgestoßen sind. Obgleich sie einen Rezeptor weder biochemisch noch analytisch oder histologisch nachweisen konnten, hielten sie auf Grund der Spezifit¨at der chemisch-physikalischen Reaktionen die Rezeptoren f¨ ur makromolekulare Strukturen, am wahrscheinlichsten f¨ ur Proteine. Paul Ehrlich (1854–1915) Als Grundgedanken seiner Arbeit standen die Beziehungen zwischen Konstitution, Verteilung und Wirkung der Stoffe im Organismus im Vordergrund. Ganz besonders beeindruckte Paul Ehrlich die hohe Spezifit¨at der AntigenAntik¨orper-Reaktion, die in ihm Vorstellungen von Schl¨ ussel und Schloss erweckten. Darauf aufbauend postulierte er Seitenketten mit spezifischen chemischen und sterischen Eigenschaften, die nur mit einer bestimmten Art von Antik¨orpern chemisch reagieren k¨onnten. Ein ¨ahnliches Ph¨anomen der Spezifit¨at entdeckte er als Begr¨ under der Chemotherapie zwischen bestimmten organischen Molek¨ ulen und Parasiten. Kleine Ver¨anderungen am Molek¨ ul f¨ uhrten bereits zu Wirkungseinbußen gegen die Parasiten oder a¨nderten die Toxizit¨at gegen¨ uber dem mit dem Parasiten befallenen Organismus. Zur Erkl¨arung verwendete Ehrlich hier spezifische Seitenketten an den Zellen. Funktionelle chemische Gruppen wie SH- oder NH2 -Gruppen an Makromolek¨ ulen waren nach seiner Ansicht f¨ ur die spezifischen Reaktionen verantwortlich, die ihn schließlich zum Begriff des Rezeptors f¨ uhrten. Sein daraufhin postuliertes Dogma
3.1 Der Begriff des Rezeptors
105
corpora non agunt nisi fixata“ (Stoffe reagieren nicht, wenn sie nicht ge” bunden sind) wurde in der damaligen Zeit sehr kontrovers diskutiert und gilt doch heute als selbstverst¨andlich. John Newport Langley (1852–1926) John Newport Langley kam aus der klassischen Schule von Claude Bernard, der meinte, die Wirkung des Pfeilgiftes Curare an den feinen Nervenendigungen zum Muskel lokalisiert zu haben, welches dort die Muskelkontraktion hemmen sollte. Langley konnte jedoch zeigen, dass die Muskelzellen auch ohne die geringste Beteiligung von Nerven zur Kontraktion f¨ ahig waren, wenn er n¨amlich Nicotin applizierte. Curare blockierte nun diese Wirkung des Nicotins am nervenlosen Muskelpr¨aparat. Da an der Muskelzelle trotz einer Curareblockade noch eine Muskelkontraktion elektrisch ausgel¨ost werden konnte, bedeutete dies f¨ ur Langley, dass weder Nicotin noch Curare mit dem Nerv oder mit dem Muskelkontraktionsmechanismus direkt reagieren konnten. Nach seiner Vorstellung musste deshalb noch eine rezeptive Substanz“ vorhanden sein ” zum Ausl¨osen der Muskelkontraktion durch Nicotin und zum Blockieren mit Curare. Die rezeptive Substanz von Langley ist der heute am besten in seiner molekularen Struktur bekannte nicotinische Acetylcholinrezeptor. Der klassische Begriff des Rezeptors geht davon aus, dass Rezeptoren Makromolek¨ ule sind und biologische Effekte durch Wirkstoff-Rezeptor-Interaktionen ausgel¨ost werden. Bis zu den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts war die Suche nach Rezeptoren erfolglos verlaufen, das Konzept des Rezeptors hatte bis dahin nur durch kinetische Studien eine St¨ utze erhalten. Endlich konnten in den letzten dreizig Jahren zahlreiche hochspezifische Strukturen identifiziert, charakterisiert und dargestellt werden. Somit wurde das Konzept des Rezeptors, das von Ehrlich und Langley zur Erkl¨arung spezifischer Wirkungen vorgeschlagen worden ist, vollkommen best¨atigt. Die Zahl von Rezeptoren ist heute nicht mehr u ¨berschaubar und es werden immer mehr neue Rezeptoren isoliert. Eine grobe Einteilung kann in intrazellul¨are und membran¨ose Rezeptoren erfolgen. Tabelle 3.1 gibt einen kleinen ¨ Uberblick u ¨ber eine Auswahl von Membranrezeptoren. Diese k¨onnen wiederum in vier große Gruppen eingeteilt werden, die eigentlichen Rezeptoren, Ionen-Kan¨ ale, Transporter und Enzyme. Neben den in der Tabelle 3.1 gezeigten spezifisch wirksamen Substanzen gibt es eine große Gruppe von Chemikalien und toxischen Substanzen, die nur unspezifisch wirksam sind. Charakteristisch ist hierbei, dass sie nicht mit bestimmten Rezeptoren reagieren. Es werden oft vergleichsweise hohe Konzentrationen f¨ ur eine Wirkung ben¨otigt, und die chemische Struktur hat wenig Einfluss auf die
106
Kapitel 3 Toxikodynamik
Wirkungen. In vielen F¨allen ist die Wirkung mit den lipophilen Eigenschaften der Substanzen verbunden. Eine sehr empfindliche Struktur ist die Membranbarriere, die durch lipophile Substanzen zerst¨ort werden kann. ¨ Tabelle 3.1 Uberblick u ¨ber eine Auswahl von membranst¨ andigen Rezeptoren. Die hier aufgef¨ uhrten Rezeptoren (R) durchspannen* die Membran mit 7 Transmembran-Helices. Sie a ¨ndern nach der Bindung eines Liganden (Agonisten) ihre Konformation und aktivieren G-Proteine (binden Guanylnucleotide). Die Information in dem Komplex aus Rezeptor und Ligand wird durch sekund¨ are Boten¨ stoffe weitergetragen. Dabei kommt es zu einer Signalverst¨ arkung und zur Ubermitt˙ Insulin-Rezeptor) lung von Informationen. Bei den Rezeptor-Tyrosinkinasen (z.B. f¨ uhrt die Bindung des Liganden zu einer ver¨ anderten Quart¨ arstruktur, d. h. die Rezeptoren bilden Dimere. Die in das Zellinnere ragende Teilen werden so in Kontakt gebracht, so dass sie sich gegenseitig phosphorylieren k¨ onnen.
Rezeptoren
Agonist, Substrat
Antagonist
Adenosin-R. (4 Typen)* α1 ,β2 -Adreno-R.* β1 ,β2 ,β3 -Adreno-R.* Dopamin-R. (5 Typen)* Histamin-R. (3 Typen)* Muskarin-R. (5 Typen)* Opioid-R. (3 Typen)* Insulin-Rezeptor
Adenosin Noradrenalin, Adrenalin Noradrenalin, Adrenalin Dopamin Histamin Muskarin Morphin Insulin
Methylxanthine Phentolamin Propranolol Haloperidol Antihistaminika Atropin Naloxon
Die ausgew¨ ahlten Kan¨ ale f¨ ur Natrium, Kalium oder Calcium werden entweder ¨ durch Ligandenbindung* oder durch elektrische Spannung zur Offnung gebracht. Im Gegensatz zu den eher langsamen biochemischen Rezeptor-Signalen sprechen Kan¨ ale im Millisekundenbereich an.
Ionen-Kan¨ ale
Agonist, Substrat
Antagonist
Nicotin-R. (Muskeltyp)* ATP-Kalium-Kanal* Glycin-Chlorid-Kanal* GABAA -Chlorid-Kanal* L-Typ-Calcium-Kanal T-Typ-Calcium-Kanal Kalium-Kanal Natrium-Kanal
Acetylcholin, Nicotin Diazoxid, Minoxidil Glycin, Taurin γ-Aminobutters¨ aure ++ Ca Ca++ K+ Na+
Curare Sulfonylharnstoff Strychnin Muscimol Nifedipin Antikonvulsiva Chinidin Tetrodotoxin
3.1 Der Begriff des Rezeptors
107
Beispiele f¨ ur typische Transporter, welche die Ionenzusammensetzung der Zelle durch aktive Pumpleistung (ATPasen) oder durch Austauscher (Exchanger, Symporter) a ¨ndern. Wichtige hydrophile Substrate wie Glucose oder neutrale, saure und basische Aminos¨ auren (As.) werden durch spezielle Transporter schnell bis zum Konzentrationsgleichgewicht (facilitated diffusion) in die Zelle transportiert. Transporter +
+
Na , K -ATPase Ca++ -ATPase Glucose-Transporter Aminos¨ auren-Transporter − HCO− , 3 Cl -Anionentransp. + + Na , K , 2Cl− -Symporter Na+ , Cl− -Symporter
Agonist, Substrat +
+
3 Na ↔ 2K Ca++ , Sr++ verschiedene Zucker neutrale, basische, saure As. 2− 2− Cl− , HCO− 3 , SO4 , CrO4 Na+ , K+ , Cl− Na+ , Cl−
Antagonist Digitalisglycoside Lanthan Phloretin Threonin Stilbenderivate Furosemid Hydrochlorothiazid
Hier sind schließlich einige Membranenzyme gelistet (Monoaminooxidase = MAO). Enzyme
Agonist, Substrat
Antagonist
Acetycholinesterase MAO-A, MAO-B Cyclooxygenase Phospholipase A2 Cytochrom-P-450 Glucuronyltansferasen Cytochromoxydase
Acetylcholin Noradrenalin, Serotonin Arachidons¨ aure Phospholipide siehe Tabelle 2.6 siehe Kapitel 2.5.2 Elektronen
Neostigmin, Sarin Moclobemid Acetylsalicyls¨aure Glucocorticoide Kohlenmonoxid HCN
Zellmembranen sind h¨aufig die bevorzugten Reaktionsorte f¨ ur toxische Substanzen. Folgende Interaktionen sind m¨oglich: • Eine erste Reaktion toxischer Substanzen erfolgt h¨aufig mit Enzymen, Rezeptoren und Transportern an der Zelloberfl¨ache, die dabei inaktiviert werden, • Zerst¨orung der Membranbarriere mit Austreten des Zellinhaltes in den Zwischenzellraum, • Blockieren oder Funktionsbeeintr¨achtigung von Transportmechanismen in der Zellmembran, • Hemmung der Sekretion oder der Vesikelbildung aus Membranbestandteilen, • Reaktionen von toxischen Substanzen mit Enzymen, Rezeptoren und Transportern an der inneren Membranoberfl¨ache. Wie auch immer eine toxische Wirkung zustande kommen mag, sie ist stets eine Konsequenz von physikochemischen Wechselwirkungen zwischen der Substanz und funktionell wichtigen Molek¨ ulen des Organismus.
108
3.2
Kapitel 3 Toxikodynamik
Bindungskr¨afte am Rezeptor
Von Paul Ehrlich wurde die Vorstellung entwickelt, eine Substanz m¨ usse sich zuerst mit dem Rezeptor“ verbinden, um eine Wirkung zu verursachen. ” Es soll hier von der Vorstellung ausgegangen werden, dass es sich bei dem Rezeptor um eine dreidimensionale Struktur eines Proteins handelt, und dass das Protein w¨assrigen L¨osungen ausgesetzt ist. An seiner Oberfl¨ache befindet sich eine Substratbindungsstelle, die wir uns als eine Einkerbung oder Spalte vorstellen, deren Form geometrisch komplement¨ar zum Substratmolek¨ ul ist. Als Bindungsstellen am Rezeptor kommen unter anderem Seitenketten von Aminos¨auren mit funktionellen Gruppen in Frage (-NH2 , -COOH, -SH). Ihre Verteilung an der Oberfl¨ache stellt man sich so angeordnet vor, dass sie mit dem Substratmolek¨ ul eine spezifische elektronische Komplementarit¨at bilden k¨onnen. Damit bilden die geometrische und elektronische Komplementarit¨at eine wesentliche Voraussetzung f¨ ur die Bindung des Substratmolek¨ uls. Molek¨ ule, die sich in Form und Ladungsverteilung von diesen Substratmolek¨ ulen unterscheiden, k¨onnen nicht mit vergleichsweise guter Affinit¨at am Rezeptor gebunden werden. Als ein Beispiel hierf¨ ur sollen als Rezeptormolek¨ ul das H¨amoglobin und als Substratmolek¨ ul das 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG), ein Polyanion, dienen (Abbildung 3.1). H¨amoglobin besteht aus zwei a- und zwei b-Untereinheiten. Die Abst¨ande zwischen den anionischen Gruppen des BPG und den kationischen Aminos¨auren Lysin, Histidin sowie der N-terminalen Aminogruppe des Valins liegen im Bereich von Ionen- und Wasserstoffbr¨ uckenbindungen. Durch die BPG-Bindung wird die Sauerstoffaffinit¨at des H¨amoglobins herabgesetzt und Sauerstoff an die Zellen abgegeben. Bei der Sauerstoffbeladung in der Lunge wird das BPG wieder freigesetzt, die Raumstruktur des H¨amoglobins ver¨andert sich, so dass die Bindung von BPG nicht l¨anger m¨oglich ist.
3.2.1
Ionenbindung und Wasserstoffbr¨ uckenbindung
F¨ ur die Ionenbindung gelten die Gesetze der klassischen Elektrostatik. Die Coulomb´sche Gleichung beschreibt die Anziehungskraft zwischen zwei entgegengesetzt geladenen Molek¨ ulen. Die Bindungskraft in Proteinen zwischen der g-Carboxylgruppe von Glutamin und der e-Aminogruppe von Lysin betr¨agt bei einem Abstand von 0,4 nm etwa -86 kJ/mol. Die Anziehungskraft nimmt mit dem Quadrat des Abstandes zwischen den Molek¨ ulen ab. Proteine und Nukleins¨auren besitzen viele potentielle anionische und kationische Ladungsgruppen, die jedoch wegen des physiologischen pH-Wertes nur teilweise
3.2 Bindungskr¨ afte am Rezeptor
109
E-Lysin (82) E1-Histidin (143) CH2 HN
E1-Hämoglobin + NH HN CH2 E2-Histidin (2)
H3N
+ NH -
O
-
E1-Valin (1) + NH3
+
O C
O
CH O O CH 2
O P O + NH3
E2-Valin (1)
-
O
P O O
+ HN
N
E1-Histidin (2) CH2
+ HN
E-Hämoglobin NH
+ H3N
CH2 E2-Histidin (143) E-Lysin (82)
Abbildung 3.1 Bindung von 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG, fett gedruckt) in der zentralen Tasche des desoxygenierten H¨ amoglobins zwischen den beiden β-Untereinheiten β1 und β2 . Die Zahlen an den Aminos¨ auren in Klammern geben die fortlaufende Numerierung der Aminos¨ auresequenz der β-Untereinheiten des H¨ amoglobins wieder.
ionisiert sind. Daher ist der Stabilit¨atsbeitrag von Ionenpaaren zur nativen Struktur eines Proteins im allgemeinen gering. F¨ ur die Rezeptorbindung ist es jedoch wichtig, dass diese Kr¨afte im Vergleich zu anderen Bindungskr¨aften u ¨ber relativ große Entfernungen wirken. Die Wasserstoffbr¨ uckenbindung ist eine Spezialform der Ionenbindung. Es handelt sich hierbei vorwiegend um elektrostatische Wechselwirkungen zwischen einer schwach sauren Donorgruppe und einem Akzeptoratom mit einem einsamen Elektronenpaar. Die Bindungskraft betr¨agt nur etwa -12 bis -30 kJ/mol, die Entfernung ist 0,27 bis 0,31 nm. Eine große Anzahl dieser Wasserstoffbr¨ uckenbindungen sind in den Proteinen r¨aumlich so angeordnet, dass sie auf Grund der Anordnung und Zahl einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Quart¨arstruktur des Molek¨ uls besitzen. Sie liefern somit die strukturelle Voraussetzung f¨ ur sein natives Faltungsmuster. Ein anderes Beispiel f¨ ur die Bedeutung von Wasserstoffbr¨ uckenbindungen ist die DNA-Doppelhelix, bei der sie zwischen den spezifischen Basenpaaren auftreten. Am Rezeptor tragen sie ebenfalls zur Stabilit¨at des Rezeptor-Substrat-Komplexes bei, wie am Beispiel des BPG-H¨amoglobin-Komplexes gezeigt (Abbildung 3.1).
110
3.2.2
Kapitel 3 Toxikodynamik
Van-der-Waals-Bindungen
Die nichtkovalenten Anziehungskr¨afte zwischen elektrisch neutralen Molek¨ ulen, zusammengefasst als Van-der-Waals-Kr¨ afte, entstehen aus elektrostatischen Wechselwirkungen zwischen permanenten und induzierten Dipolen. Die Bindungskraft von Carbonylgruppen in Proteinen betr¨ agt z.B. -9.3 kJ/mol. Als Einzelkraft liegt sie nur etwa im Bereich der thermischen Energie eines Molek¨ uls bei Raumtemperatur. F¨ ur Proteine sind jedoch die Wechselwirkungen zwischen permanenten Dipolen wichtige Strukturdeterminanten, welche die Proteinfaltung im Inneren signifikant beeinflussen. Viel schw¨acher als die Dipol-Dipol-Wechselwirkungen sind die sogenannten London-Dispersionskr¨ afte (Assoziationsenergie proportional zu r−6 ). Diese spielen nur bei kontaktierenden Gruppen eine Rolle. Aufgrund der großen Anzahl an interatomaren Kontakten sind sie trotzdem bedeutend bei der Festlegung der Proteinkonformation. Die London-Kr¨afte stellen auch einen großen Teil der Bindungskr¨afte bei sterisch komplement¨aren Wechselwirkungen, z. B. zwischen Rezeptoren und den spezifisch gebundenen Molek¨ ulen.
3.2.3
Komplexit¨at der Rezeptor-Substrat-Wechselwirkungen
F¨ ur die Bindung von reaktiven Molek¨ ulen am Rezeptor kommen alle Bindungstypen, wie Ionenbindungen, Wasserstoffbr¨ uckenbindungen und Van-derWaals-Kr¨afte in Betracht. Jede einzelne dieser Bindungskr¨afte ist in w¨assrigen L¨osungen nicht ausreichend, um allein einen stabilen Substrat-RezeptorKomplex zu bilden. Deshalb m¨ ussen mehrere Bindungstypen gleichzeitig den Komplex stabilisieren. Die gr¨oßte Reichweite hat die Ionenbindung, sie ist f¨ ur die prim¨are Attraktion des Substrat-Molek¨ uls entscheidend. F¨ ur die sich daran anschließende gegenseitige Anpassung von Substrat und Rezeptor sind vor allem Dipol-Dipol-Wechselwirkungen, Wasserstoffbr¨ uckenbindungen und Vander-Waals-Kr¨afte verantwortlich. Die oben besprochenen Wechselwirkungen sind reversible, molekulare Vorg¨ange, die sich alle zusammen sowohl an Rezeptoren, Kan¨alen, Enzymen und Transportern st¨andig abspielen. Sie geh¨oren damit zu den zentralen Prozessen, die das Leben erst m¨oglich machen.
3.2.4
Kovalente Bindung
Außer den reversiblen Reaktionen k¨onnen sich aber auch kovalente und damit irreversible Prozesse am Rezeptor abspielen, wenn nicht ein katalytischer
3.3 Charakterisierung von Rezeptoren
111
(enzymatischer) Vorgang die Bindung wieder l¨ost. Daher bewirkt eine kovalente Bindung am Rezeptor im Gegensatz zu den meisten Rezeptor-SubstratWechselwirkungen eine stabile Langzeitbindung. Intra- und intermolekulare kovalente Verkn¨ upfungen der DNA-Str¨ange werden bei der Tumortherapie mit alkylierenden Agenzien erzeugt (Karzinogenese, Alkylantien). Eine Substanz, der alkylierende Stickstofflost, wurde fr¨ uher als hochtoxisches Kampfgas eingesetzt. Ein Beispiel aus einem anderen Gebiet sind die Organophosphate wie Diisopropylfluorophosphat (DFP), die mit der Hydroxylgruppe der Aminos¨ aure Serin eine kovalente Bindung eingehen und dabei eine ganze Reihe serinhaltiger Enzyme, darunter auch die Acetylcholin-Esterasen, blockieren.
3.3
Charakterisierung von Rezeptoren
Die sehr geringe Konzentration von Rezeptoren in Zellen und Geweben machte lange Zeit die Gewinnung reiner Rezeptormolek¨ ule unm¨oglich. Erst mit der Entwicklung von aufw¨andigen Isolierungsmethoden sowie insbesondere in der letzten Zeit durch Einsatz molekularbiologischer Verfahren konnten zahlreiche Rezeptoren isoliert und ihre Aminos¨auresequenzen aufgekl¨art werden (Tabelle 3.1). Lassen sich die Proteine kristallisieren, so gelingt es, mit Hilfe von R¨ontgenbeugungsspektren sogar einen Einblick in die dreidimensionale Struktur der Proteine zu erhalten. Oft liefern die bei der Kristallisation mit eingeschlossenen Substratmolek¨ ule, wie im Falle des desoxygenierten H¨amoglobin und BPG (Abbildung 3.1), strukturelle Vorstellungen u ¨ber die Rezeptor-Bindungsstellen mit dem entsprechenden Substrat. Die Kristallisation ist jedoch bei lipophilen Membranproteinen immer noch sehr schwierig, erst bei etwa 20 dieser Proteine konnte man mit gen¨ ugend hoher Aufl¨osung Details u ¨ber ihre dreidimensionale Struktur bekommen.
3.3.1
Indirekte Rezeptor-Charakterisierung (SAR)
Die ¨alteste Methode der Rezeptorcharakterisierung benutzte den negativen Abdruck von Rezeptormolek¨ ulen, um eine Vorstellung u ¨ber den Rezeptor selbst zu bekommen. Anhand von Struktur-Aktivit¨ ats-Wechselwirkungen fand man die optimale Molek¨ ulform heraus, deren Komplement¨arstruktur dem Rezeptor entsprechen sollte. Dieses indirekte Verfahren wird im englischen als structure activity relationship“ bezeichnet (SAR). Bevor es gelang, rei” ne Rezeptoren zu isolieren, war dies eine pharmakologische Standardmethode.
112
Kapitel 3 Toxikodynamik
Ein sch¨ones Beispiel hierf¨ ur sind Untersuchungen am intakten Muschelherzen. Dieses Herz schl¨agt spontan, wenn es in einem Bad mit Seewasser gehalten wird. Die Gr¨oße der Kontraktionsamplitude sowie die Frequenz des Herzschlages k¨onnen leicht registriert werden. Gibt man in das Bad steigende Konzentrationen von Acetylcholin, so kann eine Wirkung anhand der Zunahme der Kontraktionsamplitude gemessen werden. Durch Auswaschen des Herzens mit Seewasser l¨asst sich Acetylcholin wieder entfernen. Die typische Wirkung einer Reihe mit Acetylcholin verwandter Trimethylammonium-Verbindungen war eine Reduktion der Kontraktionsamplitude des Muschelherzens. Die Testsubstanzen wurden anhand der Dosis-Wirkungskurve (Abbildung 1.2) durch ihre Halbs¨attigungs-Konzentration (TD50 ) standardisiert. Die Resultate u ¨ber die Wechselwirkungen des Rezeptors am Muschelherzen mit verwandten Molek¨ ulen f¨ uhrten zu Vorstellungen, die mit einem perfekten negativen Abdruck des dreidimensionalen Acetylcholin-Molek¨ uls auf der Rezeptorseite u ¨bereinstimmten (Abbildung 3.3). Die absolute Notwendigkeit der positiv geladenen Stickstoffgruppe (Verbin-
CH3 1.
0.5 nm
+
CH3 N CH2 CH3
Wirkung
O
CH2 O C
CH3
Acetylcholin O
CH3 2.
100%
+
CH3 N CH2
CH2
CH2
O C
CH3
8.3%
CH3 CH3 3.
+
CH3 N CH2
CH2 O CH2 CH3
1.5%
CH3 CH3 4.
O
CH3 C CH2 CH3
CH2 O C
CH3
Dimethylbutylacetat
Abbildung 3.2 Struktur-Wirkungsbeziehung am Acetylcholinrezeptor.
0.0%
3.3 Charakterisierung von Rezeptoren
113
dung 4, Abbildung 3.2) des Substratmolek¨ uls ließ auf eine negativ geladene Gruppe am Rezeptor schließen. Die Trimethylammoniumgruppe sollte gegen¨ uber dem Kohlenstoffatom der Kohlenstoffkette frei drehbar sein. Aus den von J. H. Welsh und R. Taub in den Jahren 1950–1951 durchgef¨ uhrten Untersuchungen ging weiter hervor, dass von den drei Methylgruppen am StickstoffAtom zwei nicht durch Ethylgruppen ersetzt werden k¨onnen. Die beiden Methylgruppen werden demnach durch Van-der-Waals-Kr¨afte in zwei Cavity“ ” am Rezeptor fixiert (Abbildung 3.3). Es ist weiter sehr wahrscheinlich, dass die beiden Kohlenstoffatome der Kette ebenfalls durch solche Kr¨afte stabilisiert werden. F¨ ur die Carbonyl-Gruppe kommt eine Wasserstoffbr¨ uckenbindung mit dem Rezeptor in Frage. Der Ether-Sauerstoff tr¨agt wie die Carbonylgruppe eine induzierte negative Teilladung (d− ) und ist (Verbindung 2, Abbildung 3.2) ebenfalls f¨ ur die Anheftung wichtig, denn eine Verl¨angerung des Molek¨ uls um eine CH2 -Gruppe (Verbindung 3, Abbildung 3.3) f¨ uhrt zu einem starken Wirkungsverlust.
Abbildung 3.3 Postulierter Acetylcholinrezeptor aus SAR-Studien (nach A. Goldstein et al., Principles of Drug Action).
Die Wirkung des Acetylcholins beruht in dem obigen Beispiel auf seiner starken Affinit¨at zum muskarinischen Acetylcholinrezeptor des Muschelherzens. Das gleiche Molek¨ ul kann jedoch auch mit dem etwas anders strukturierten nicotinischen Acetylcholinrezeptor an den Muskelzellen und an den Ganglienzellen reagieren. Die freie Drehbarkeit um seine Kohlenstoffbindungen erlaubt anscheinend dem Acetylcholinmolek¨ ul mehrere Konfigurationen einzunehmen, im Gegensatz zu den durch Ringstruktur stabilisierten Muskarin- oder Nicotin-Molek¨ ulen.
114
3.3.2
Kapitel 3 Toxikodynamik
Direkte Rezeptor-Isolierung
Die reichhaltigsten Quellen f¨ ur nicotinische Acetylcholinrezeptoren sind die elektrischen Organe des im S¨ ußwasser lebenden Zitteraals (Electrophorus electricus) und der im Meer vorkommenden Rochen (Gattung Torpedo). Diese Fische k¨onnen mit den elektrischen Organen ihre Beute l¨ahmen oder sogar t¨oten. Das Organ besteht aus bis zu 5000 Einzelzellen, den sogenannten Elektroplaques. Die Natur hat diese Zellen aus Muskelzellen entwickelt, deren kontraktiler Apparat jedoch bei der Entwicklung zum elektrischen Organ verloren geht. Bei der Erregung entsteht in jeder Zelle eine Potentialdifferenz von ca. 0,13 V und bei 5000 Elektroplaques ergibt das 5000 · 0,13 V = 650 V. F¨ ur den Biochemiker ist dieses rezeptorreiche Organ auf das Beste zur Isolierung des nicotinischen Acetylcholinrezeptors geeignet. Man fand bei der biochemischen Analyse des Acetycholinrezeptors ein glycosyliertes Membranprotein mit einem Molekulargewicht von ca. 280 kD. Das Protein besteht aus 5 Untereinheiten, die in zwei a-Einheiten und je eine b-, g- und d-Einheit eingeteilt werden k¨onnen. Eine r¨aumliche Vorstellung u ¨ber die Struktur des nicotinischen Acetylcholinrezeptors wurde durch das Elektronenmikroskop erm¨oglicht. Sieht man von oben auf die Zelle, so erscheint der Rezeptor als eine Rosette mit einem Durchmesser von 7 bis 8 nm und einer zentralen Einbuchtung von etwa 2,5 nm. Die f¨ unf Untereinheiten ordnen sich pseudosymmetrisch um eine Achse an, welche die Mitte einer Pore oder eines Kanals f¨ ur den Durchfluss von Kationen durch die Zellmembran bildet. Abbildung 3.4 zeigt eine schematische Darstellung des nicotinischen Acetylcholinrezeptors als Ionenkanal. Aus kinetischen Untersuchungen geht hervor, dass erst bei der Interaktion des Rezeptors mit zwei Acetylcholinmolek¨ ulen der Kanal (Abbildung 3.4) spezi¨ fisch f¨ ur Kationen ge¨offnet wird. Diese Offnung erfolgt jedoch nur f¨ ur einen sehr kurzen Zeitraum, nach ca. einer Millisekunde schließt sich der Kanal wieder, und das Acetylcholin dissoziiert spontan vom Rezeptor ab. ¨ Mit dem Offnen des Kanals kommt es zu einem entsprechenden Stromfluss, der sich durch eine sehr empfindliche Technik, die patch-clamp-Methode“, ” messen l¨asst. 1976 wurde diese Methode durch Erwin Neher und Bert Sakmann eingef¨ uhrt, die 1991 daf¨ ur mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Mit patch“ wird ein kleines Membranareal der Zelle und mit clamp“ eine ” ” Spannungsklemme bezeichnet. Hierzu wird mit einer sehr feinen Glaskapillare, die gleichzeitig als Elektrode dient, eine Zelle durch Unterdruck in der Kapillare angesaugt. Die Zellmembran und die Glaskapillare schließen dabei so eng aneinander an, dass fast kein Leckstrom mehr fließen kann. Im excised patch ”
3.3 Charakterisierung von Rezeptoren
115
Abbildung 3.4 Schema des nicotinischen Acetylcholinrezeptors in der Muskelmembran in Aufsicht A und in Seitenansicht B (nach H. R. Arias, 1998). In der Aufsicht A (oben) sieht man einen Querschnitt etwa 4,6 nm u ¨ber der Lipiddoppelschicht im synaptischen Spalt. Durch den hydrophilen Anteil der 5 Untereinheiten wird in der Mitte ein Ionenkanal gebildet. Die Bindungsstelle f¨ ur 2 Acetylcholinmolek¨ ule befindet sich zwischen den a- und d- sowie den g- und den a-Untereinheiten. Im unteren Querschnitt (H¨ ohe der Lipiddoppelschicht) sind f¨ ur jede Untereinheit (5 große Kreise) die transmembranen Dom¨ anen M1, M2, M3 und M4 (4 kleine gestrichelte Kreise) angedeutet. Die Aminos¨ aurekette jeder der f¨ unf Untereinheiten durchkreuzt viermal die Lipiddoppelschicht. Der Ionenkanal ist hier so eng, dass im ge¨ offneten Zustand nur die kleinen Natrium-Ionen passieren k¨ onnen. Die Untereinheiten werden außen von jeder Lipidschicht mit einem Anulus aus 23 Phospholipiden umgeben (die a ¨ußeren Kreise symbolisieren die K¨ opfe der Phospholipide). Außerdem sind Cholesterinmolek¨ ule am Anulus (schwarze Kreise) beteiligt. In der Seitenansicht B ist zun erkennen, dass der ˚ (6 nm) in den synaptischen Spalt und ca. 15 A ˚ (1,5 nm) weit in das Rezeptor etwa 60 A Zytoplasma der Zelle reicht.
mode“ bricht hierbei ein kleines Membranareal aus der gesamten Zellmembran heraus. Die Abdichtung zwischen der Glaskapillarelektrode und der Membran muss so perfekt sein, dass der elektrische Widerstand gr¨oßenordnungsm¨aßig im Gigaohmbereich liegt. Jetzt kann durch eine zweite Außenelektrode eine Spannung angelegt und gleichzeitig der Stromfluss durch das kleine Membranareal gemessen werden. Prinzipiell ist es hiermit m¨oglich, den Stromfluss und die Zeitdauer durch nur einen einzigen Kanal zu messen. So fließen bei einer Klemmspannung von -100 mV durch einen Acetylcholinrezeptorkanal 3, 5 · 1012 Ampere. Daraus l¨asst sich errechnen, dass 2, 2 · 107 Kationen pro Sekunde oder 22 000 Kationen pro Millisekunde den Kanal passieren (bei einem Ampere pro Sekunde resultiert ein Stromfluss von 6, 24 · 1018 elektrischen Ladungen).
116
Kapitel 3 Toxikodynamik
Dieser Stromfluss erzeugt an der Muskelzellmembran eine Depolarisation, da der Acetylcholinrezeptor eine etwas h¨ohere Selektivit¨at f¨ ur Natrium-Ionen als f¨ ur Kalium-Ionen aufweist. Die Depolarisation der Membran ist nun der Ausl¨oser f¨ ur die nachfolgende Muskelkontraktion. Beim elektrischen Fisch ist die Summation vieler Acetylcholinrezeptoren der Ausl¨oser des elektrischen Schlages. Damit waren die physikalisch-chemischen Grundvorg¨ange bei der Wirkstoff-Rezeptor-Interaktion aufgekl¨art. Der nicotinische Acetylcholinrezeptor ist ein durch einen Transmitter, dem Acetylcholin, gesteuerter Kationenkanal. Unter Transmitter versteht man Molek¨ ule, die in den Nervenendigungen selbst gebildet werden. Ausnahmen sind nur die Neuropeptide. Sie werden durch einen komplizierten Mechanismus in den synaptischen Spalt freigesetzt und beeinflussen dort u ¨ber Rezeptoren die nachgeschaltete Zelle. Die Synapsen sind als Orte der Informations¨ ubertragung besonders wichtige Schaltstellen und haben dementsprechend eine besonders große Bedeutung in der Pharmakologie und Toxikologie. Die Synapsen sind ca. ¨ 20 nm schmale Spalte an der Ubergangsstelle zwischen Nerv und Muskel (Erfolgsorgan) oder zwei Nerven. Sie besitzen durch Faltung der Membranen eine grosse Oberfl¨ache. Curare blockiert z. B. als ein Antagonist des Acetylcholins den Kationenkanal im synaptischen Spalt.
3.3.3
Molekularbiologische Rezeptor-Charakterisierung
Eine Reihe von integralen Membranproteinen wirken als Rezeptoren, indem sie als Kanalproteine oder Transporter funktionieren. Ihre hydrophoben Aminos¨auren sind f¨ ur die Verankerung und Wechselwirkung mit den Membranlipiden wichtig. Dies verhindert jedoch, wegen einer fehlenden Separationstechnik, die chemische Analyse der Aminos¨auren. Grunds¨atzlich kann die Aminos¨auresequenz eines Proteins auch aus dem dazugeh¨orenden Gen entnommen werden, da der genetische Code f¨ ur die Aminos¨auren bekannt ist. Kennt man also die Sequenz der Basen in der DNA, so l¨asst sich daraus die Aminos¨auresequenz ableiten. Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts war die Entwicklung der Nukleins¨auresequenzierung noch weit der Aminos¨auresequenzierung unterlegen, dies hat sich jedoch durch effektivere Techniken grundlegend ge¨andert. Heute ist die Geschwindigkeit der Nukleins¨auresequenzierung der direkten Bestimmung der Minos¨auresequenz eines Proteins u ¨berlegen und wesentlich weniger aufw¨andig. Durch die ¨ Nukleins¨auresequenzierung von Genen und Ubersetzung der Basensequenz in die Aminos¨auresequenz ist die Proteinstruktur einer ganzen Reihe von Membranproteinen, wie z.B. den Anionen-, Glucose- und Aminos¨aure-Transportern sowie einer ganzen Anzahl von Transport-ATPasen f¨ ur Natrium, Kalium, Cal-
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen
117
cium und Protonen, bekannt geworden (siehe auch Tabelle 3.1). Die genaue dreidimensionale Struktur der Proteine in der Membran, die zum funktionellen Mechanismus f¨ uhrt, ist aber bisher nur bei wenigen Proteinen bekannt.
3.4
Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen – Massenwirkungsgesetz
Biologische Wirkungen eines reaktiven Molek¨ uls (Pharmakon oder Toxikon) verlaufen im allgemeinen graduell. Sie k¨onnen anhand einer fortlaufenden Skala gemessen werden. Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Gr¨oße oder der Intensit¨at der biologischen Reaktion und der verwendeten Wirkstoffkonzentration. Der Zusammenhang zwischen biologischer Wirkung und Wirkstoffkonzentration wurde von Alfred Joseph Clark (1885–1951) im Jahre 1920 durch das Massenwirkungsgesetz beschrieben. Clark deutete die biologische Wirkung als eine reversible chemische Reaktion zwischen einem Rezeptor und einem aktiven Wirkstoff. Die konsequente Anwendung des ¨ Massenwirkungsgesetzes zeigte große Ahnlichkeiten mit der Enzymkinetik und f¨ uhrte zu der sogenannten Besetzungstheorie des Rezeptors ( occupancy ” assumption“). Nach Clark´s Vorstellung reagiert ein Wirkstoff X (Pharmakon oder Toxikon) mit einem hypothetischen Rezeptor R und bildet dabei reversibel einen Wirkstoff-Rezeptor-Komplex RX:
X +
R
k1 k2
RX
k1 und k2 sind dabei die Geschwindigkeitskonstanten der Hin- und R¨ uckreaktion. Die biologische Wirkung ∆ soll dabei der Konzentration des WirkstoffRezeptor-Komplexes [RX] direkt proportional sein: Biologische Wirkung ∆ = k3 · [RX].
(1)
Entsprechend dem Massenwirkungsgesetz kann f¨ ur das Gleichgewicht formuliert werden: [X][R] k2 = = Kx . [XR] k1
(2)
118
Kapitel 3 Toxikodynamik
Kx ist die Dissoziationskonstante des Komplexes. Wenn nun [RT ] die Gesamtkonzentration der Rezeptoren ist, dann ergibt die sogenannte Konservierungsgleichung, in der die Gesamtkonzentration [RT ] gleich der Konzentration an freiem Rezeptor [R] plus der Konzentration an gebundenem Rezeptor [RX] ist: [RT ] = [R] + [RX], bzw. [R] = [RT ] - [RX]
(3)
Durch Einsetzen der Gleichung (3) in (2) erh¨alt man: [X]([RT ] − [RX]) = Kx , [RX] und durch Umformen: [X] [RX] = . [RT ] Kx + [X]
(4)
Entsprechend der Gleichung (1) f¨ ur die biologische Wirkung ∆ = k3 · [RX] betr¨agt die maximale biologische Wirkung ∆max = k3 · [RT ]. Damit ist: [RX] ∆ = ∆max [RT ] und mit Gleichung (4) gilt auch: ∆=
∆max [X] . Kx + [X]
(5)
Gleichung (5) ist eine hyperbolische Gleichung, in der ∆ = 0 ist, wenn [X] ebenfalls 0 betr¨agt. Wenn [X] einen sehr hohen Wert annimmt, wird ∆ gegen ∆max gehen. Ist die Konzentration [X] gleich Kx , dann erreicht ∆ den halbmaximalen Wert. Gleichung (5) ist identisch mit der klassischen MichaelisMenten-Gleichung, in der die Geschwindigkeit v einer Enzymreaktion eine Funktion der Substratkonzentration [S], der Michaelis-Menten-Konstanten KM und der Geschwindigkeitskonstanten Vmax ist: v=
Vmax [S] . KM + [S]
(6)
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen
119
W¨ahrend jedoch bei dem enzymatischen Modell nach Michaelis-Menten mit v = k3 · [ES] der Zerfall des Enzym-Substrat-Komplexes zum Produkt gemeint ist, impliziert die analoge Gleichung von Clark, ∆ = k3 · [RX], keinen speziellen Mechanismus. Die Besetzungstheorie von Clark l¨asst sich in drei Punkte zusammenfassen: 1. Der biologische Effekt ∆ ist proportional zur Rezeptorbesetzung [RX], oc” cupancy assumption“. 2. Ein Wirkstoffmolek¨ ul reagiert mit einem Rezeptormolek¨ ul. 3. Eine vernachl¨assigbar kleine Konzentration des Wirkstoffs [X] ist am Rezeptor R gebunden, so dass die freie, ungebundene Wirkstoffkonzentration [X] praktisch gleich der Gesamtwirkstoffkonzentration [XT ] ist. Die hyperbolische Gleichung (5) ist charakterisiert durch zwei Parameter: erstens durch die maximale Wirkungsst¨ arke ∆max und zweitens durch Kx , die Konzentration, bei der die halbmaximale Wirkung erreicht wird (Abbildung 3.5). Die halblogarithmische Auftragung (Abbildung 3.6) hat, wie schon bei der Darstellung der Dosis-Wirkungs-Beziehung (Abbildung 1.2) gezeigt, verschiedene praktische Vorteile. Zum einen resultiert im Bereich der Halbs¨attigungskonzentration ein quasi-linearer Bereich, zweitens k¨onnen auf diese Weise Wirkstoffe mit unterschiedlichen Konzentrations-Wirkungs-Profilen u ¨ber einen weiten Bereich verglichen werden. Diese Form der Darstellung wird auch als logarithmische Dosis-WirkungsKurve bezeichnet, im Englischen entsprechend als log dose response curve“ ” (LDR-Kurve). Der quasi-lineare Bereich um Kx ist in der Abbildung 3.6 durch die Regressionsgrade deutlich gemacht, und der Konzentrationsbereich reicht hier von 0,1 bis 1000 mM. Die Konstante Kx , bei der die halbmaximale biologische Wirkung erreicht ist, ist uns in der Abbildung 1.2 als TD50 (Konzentration, bei der sich an 50 % der Lebewesen eine toxische Wirkung zeigt) und als LD50 (Konzentration, bei der 50 % der Lebewesen sterben) begegnet. Man kann noch der Vollst¨andigkeit halber aus der Pharmakologie den Begriff ED50 (effektive Dosis am Kollektiv von Patienten) hinzuf¨ ugen, das ist die Konzentration, durch die bei 50 % der Patienten eine medikament¨ose Wirkung eintritt. Im folgenden soll die Analogie der LDR-Kurve mit der Henderson-Hasselbalch´schen Gleichung gezeigt werden, welche die Beziehung zwischen pH und der Dissoziation einer Substanz beschreibt. Dazu bedienen wir uns der Gleichung (4):
120
Kapitel 3 Toxikodynamik
' = biologische Wirkung
%
'max
100
50
Kx 0 0
10
20
30
Wirkstoff in mM Abbildung 3.5 Abh¨ angigkeit der biologischen Wirkung ∆ von der Wirkstoffkonzentration [X] in mM.
[RX] [X] ∆ [RX] = und . = [RT ] Kx + [X] ∆max [RT ] Beide Gleichungen geben auf jeder Seite die Fraktion f wieder, die eine biologische Wirkung verursacht. Ist z. B. die biologische Wirkung ∆ gleich der maximalen Wirkung ∆max , so ist f = 1, der Wert von f kann also nur zwischen 0 und 1 liegen. Somit ist: f=
[X] [RX] ∆ und f = . = ∆max [RT ] Kx + [X]
(7)
Von der reziproken Form der letzten Gleichung ausgehend, erh¨alt man: [X] = Kx
f , 1−f
und durch beiderseitiges Logarithmieren folgt:
(8)
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen
' = biologische Wirkung
%
121
'max
100
50
Kx
0 -1
0
1
2
3
Wirkstoff log mM Abbildung 3.6 Halblogarithmische Auftragung der Konzentrations-Wirkungs-Beziehung. Wie in Abbildung 3.5 sind dieselben Konzentrationen durch Kreise markiert.
log [X] = log Kx + log
f . 1−f
(9)
Mit der letzten Gleichung (9) ist die umgeformte LDR-Kurve in vollst¨andiger Analogie zur Henderson-Hasselbalch´schen Gleichung mit a gleich der nichtionisierte Anteil einer S¨aure (10): log [H+ ] = log Ka + log
α . 1−α
(10)
Durch Differenzieren der Gleichung (9) kann die Neigung der sigmoiden Kurve an ihrem Wendepunkt f = 0,5 verh¨altnism¨aßig leicht bestimmt werden mit: d ln [X] = d ln
f df = 1−f f (1 − f )
(11)
und df = 2, 303 · f (1 − f ) d log [X]
(12)
122
Kapitel 3 Toxikodynamik
ionisierter Anteil (1- D )
f = Fraktion der Wirkung
1.0
0.5
TD50 pKa Kx
TD50 pKa Kx
0.0 0
2
4
6
8
10
12
14
log (X) oder pH Abbildung 3.7 Zwei LDR-Kurven (log dose response) f¨ ur Wirkstoffe mit verschiedenen Kx Werten oder die Dissoziation von zwei schwachen S¨ auren mit unterschiedlichen pKa -Werten (Konzentration X = pM).
und f¨ ur f = 0,5 am Wendepunkt: df = 0, 576. d log [X]
(13)
In der Besetzungstheorie von Clark wurde angenommen, dass stets ein Wirkstoffmolek¨ ul mit einem Rezeptor reagiert. Eine sehr große Anzahl von LDRKurven best¨atigen diese Theorie mit einer Neigung von 0,576 am Mittelpunkt. In der Chemotherapie der Tumore werden manchmal alkylierende Substanzen verwendet, die bifunktionell intra- und intermolekulare Verkn¨ upfungen von DNA-Str¨angen bewirken k¨onnen (siehe Kapitel 9). Ein solches Agens ist z. B. Busulfan [H3 C-SO2 -O-(CH2 )4 -O-SO2 -CH3 ], das man sich aus zwei Ethylmethansulfonaten zusammengesetzt vorstellt. Hier reagiert also ein Wirkstoff X mit zwei Rezeptoren R: X + 2R = XR2 .
(14)
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen
123
¨ Theoretische Uberlegungen f¨ uhren bei dieser Reaktion zu einer Neigung von 0,288 am Wendepunkt und bei einer Reaktion von 2 Molek¨ ulen mit einem Rezeptor (2X + R = X2 R) zu einer Neigung von 1,15. Somit sind experimentell bestimmte Neigungen zwischen 0,228 und 1,15 am Wendepunkt der LDRKurve durchaus mit dem Massenwirkungsgesetz und damit auch mit der Rezeptor-Besetzungstheorie vereinbar.
3.4.1
LDR-Kurven-Diskussion, allgemeine Begriffe
Die Abh¨angigkeit einer biologischen Wirkung von der Konzentration [X] einer Substanz ist im allgemeinen f¨ ur jede Substanz eine charakteristische Funktion. Aus einer LDR-Kurve, welche die Wirkintensit¨at auf ein biologisches System beschreibt, k¨onnen stets drei charakteristische Gr¨oßen entnommen werden: 1. Die Affinit¨ at der Substanz X zum Rezeptor, die durch den reziproken Wert von Kx , also 1/Kx , wiedergegeben wird. Ist der Kx -Wert klein, so ergibt sich eine hohe Affinit¨at, bei einem großen Kx -Wert ist die Affinit¨at zum Rezeptor niedrig. 2. Die Gr¨oße des Maximaleffektes (∆max ). Ein anderer hierf¨ ur verwendeter Ausdruck ist die intrinsische Aktivit¨ at (Wirkaktivit¨at). 3. Die Steilheit der LDR-Kurve. Wie vorhergehend gezeigt, ist die Steilheit der LDR-Kurve eine Funktion der St¨ochiometrie zwischen Substanz X und Rezeptor R. Die Beurteilung einer LDR-Kurve wird jedoch durch einige grunds¨atzliche quantitative Aspekte erschwert. Geht man von dem gesamten Organismus aus, so ist die tats¨achlich vorhandene Konzentration der Substanz [X] am Rezeptor nicht genau bestimmbar. In Untersuchungen am intakten Lebewesen ist meist nur der Blutraum f¨ ur eine Konzentrationsbestimmung zug¨anglich, und man nimmt stillschweigend an, dass dieselbe Konzentration auch am Rezeptor vorliegt. In der Besetzungstheorie von Clark wurde unter 3.) eine Voraussetzung f¨ ur die Anwendbarkeit gemacht, die eigentlich nur f¨ ur einen Spezialfall gilt, und zwar: Nur eine vernachl¨assigbar kleine Konzentration des Wirkstoffes [X] ist an den ” Rezeptor R gebunden, so dass die freie Wirkstoffkonzentration [X] praktisch gleich der Gesamtwirkstoffkonzentration [XT ] ist.“ Die erste Komplikation ergibt sich aus der Situation, dass die Konzentration der Rezeptoren mitunter betr¨achtlich sein kann, so dass [XT ] nicht mit der freien, ungebundenen Konzentration [X] gleichzusetzen ist. Die zweite Komplikation beruht auf der Tatsache, dass in einem Organismus ein ganz wesentlicher Anteil der Substanz [X] an Bindungsstellen gebunden ist und die
124
Kapitel 3 Toxikodynamik
freie Wirkstoffkonzentration oft nur einen Bruchteil der Gesamtkonzentration ausmacht. Die Komplikation einer Bindung von X kann mit in die allgemeine Gleichung aufgenommen werden und ver¨andert ganz wesentlich die sigmoide Form der LDR-Kurve. Benutzt man die Gleichung (8) [X] = Kx
f 1−f
(8)
als Ausgangsgleichung, substituiert f¨ ur [X] = [XT ] − [RX] (XT ist die Gesamtkonzentration an X) und setzt f¨ ur [RX] = f · [RT ], so erh¨alt man: [XT ]= Kx
f + f · [RT ], 1−f
(15)
gesamtes X = freies X + gebundenes X. Gleichung (15) ist eine allgemeine Gleichung der Besetzungstheorie f¨ ur Anteile an freier und gebundener Konzentration [X]: Wenn die Gr¨oße f · [RT ], die den gebundenen Anteil darstellt, sehr viel kleiner als die freie Konzentration [X] ist, so gilt Gleichung (8). Ist f · [RT ] sehr groß, so kann in der Gleichung (15) eventuell das freie X vernachl¨assigt werden (Kx · (f /(1 − f ))). Nach der Besetzung des Rezeptors gibt es in der Regel weitere Folgereaktionen, die das einfache Modell komplexer gestalten. Bei dem beschriebenen Beispiel des Acetylcholinrezeptors erfolgt zun¨achst nach Besetzung des Rezeptors eine im Millisekundenbereich erfolgende Permeabilit¨ats¨anderung f¨ ur Kationen, insbesondere f¨ ur Natrium-Ionen, an die sich eine Membrandepolarisation anschließt. Diese f¨ uhrt wiederum zu einer Zunahme der Calciumkonzentration im Zytoplasma der Muskelzelle und l¨ost nach Aktivierung des kontraktilen Muskelproteinapparates eine Verk¨ urzung des Muskels aus. Aus alldem ergibt sich, dass die Wirkungskurve eine Resultante aller dieser Einzelprozesse ist und dass sie keine quantitativen R¨ uckschl¨ usse auf die Ebene der molekularen Substrat-Rezeptor-Wechselwirkungen zul¨asst. Sie ist damit vielmehr eine Form der Darstellung des Gesamtvorganges.
3.4.2
Agonisten
Als Agonist wird eine Substanz bezeichnet, die sowohl eine Affinit¨at (1/Kx ) als auch eine intrinsische Aktivit¨at (∆max ) besitzt.
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen
125
Unter den Agonisten unterscheidet man noch zwischen vollen und partiellen Agonisten. Partielle Agonisten wirken dualistisch, sie besitzen sowohl agonistischen als auch antagonistischen Charakter. Ein partieller Agonist schw¨acht die Wirkung eines vollen Agonisten auf Grund seiner ebenfalls vorhandenen partiellen antagonistischen Eigenschaft ab. Dagegen wirkt ein partieller Agonist bei Abwesenheit eines vollen Agonisten nur agonistisch.
3.4.3
Antagonisten
Antagonisten sind Substanzen, die eine agonistische Wirkung aufheben oder zumindest verringern k¨onnen. Folgende Haupt-Typen k¨onnen dabei unterschieden werden: 3.4.3.1
Kompetitive Antagonisten
Diese Substanzen besitzen wie die Agonisten eine oft hohe Affinit¨at zum Rezeptor, ohne jedoch eine Wirkung auszul¨osen. Das untenstehende Modell gibt das Reaktionsschema wieder:
X + R
k1 k2
RX
k3
Wirkung
+ I
keine Wirkung
RI + X
Hierbei wird angenommen, dass der kompetitive Antagonist oder Inhibitor I an den Rezeptor bindet, wobei das folgende, sich schnell einstellende Gleichgewicht vorliegt: Ki =
[R][I] . [RI]
Der Rezeptor-Inhibitor-Komplex [RI] bewirkt keine Folgereaktion. Die Gleichung, die diese Reaktion mit einbezieht, ist ¨ahnlich der Gleichung (5) mit der Erweiterung des Parameters Kx um den Faktor (1 + [I]/Ki ): ∆=
∆max [X] . Kx · (1 + [I]/Ki ) + [X]
(16)
126
Kapitel 3 Toxikodynamik
Dabei ist [I] die Inhibitorkonzentration und Ki die Dissoziationskonstante des Inhibitor-Komplexes. Das nachfolgende Beispiel gibt eine graphische Darstellung solcher LDR-Kurven. Dabei wurden f¨ ur Kx und Ki der gleiche Wert von 5 mM gew¨ahlt, die Inhibitorkonzentration betrug 0, 5 und 15 mM und ∆max = 100 Reaktionseinheiten pro Minute. Ein Beispiel f¨ ur einen kompetitiven Antagonisten ist das Pfeilgift Curare, das den nicotinischen Acetylcholinrezeptor am Muskel besetzt, Acetylcholin durch seine hohe Affinit¨at verdr¨angt und auf diese Weise die Folgereaktionen bis hin zur Muskelkontraktion unterbindet.
(1 + 0/Ki) = 1 (kein Inhibitor) 100
' = Wirkung
(1 + 5/Ki) = 2 (1 + 15/Ki = 4 50
1 2
0 -1
0
1
4 2
3
log (X) Abbildung 3.8 Kompetitive Hemmung. Ein kompetitiver Antagonist verschiebt die LDRKurve parallel nach rechts. Der Grad der Parallelverschiebung der agonistischen LDR-Kurve ist ein Maß f¨ ur die Affinit¨ at des Antagonisten zum Rezeptor. Substanzen mit einer hohen Affinit¨ at verursachen eine starke Parallelverschiebung, solche mit einer geringen Affinit¨ at sind deutlich schw¨ acher wirksam.
3.4.3.2
Nichtkompetitive Antagonisten
Im Gegensatz zum kompetitiven Antagonismus werden unter dem Begriff des nichtkompetitiven Antagonisten recht unterschiedliche antagonistische Wirkungsmechanismen zusammengefasst.
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen
127
1
' = Wirkung
100
2
50
4
0 -1
0
1
2
3
log (X) Abbildung 3.9 Nichtkompetitive Hemmung in der LDR-Darstellung. Die Zahlen 1, 2 und 4 in der Abbildung (Werte wie in Abbildung 3.8) geben den Zahlenwert des Faktors (1+[I]/Ki ) der Gleichung (17) wieder. Dabei bedeutet der Faktor 1 keine Hemmung. Bei Anwesenheit des nichtkompetitiven Antagonisten wird die LDR-Kurve abgeflacht, d. h. die Neigung der Kurve nimmt in Abh¨ angigkeit von der Konzentration des Antagonisten ab, und die Maximalwirkung verringert sich.
Eine einfache Gleichung kann im Nenner sowohl f¨ ur Kx als auch f¨ ur die Konzentration [X] eine Erweiterung um den Faktor (1 + [I]/Ki ) tragen: ∆=
∆max [X] . Kx · (1 + [I]/Ki ) + [X] · (1 + [I]/Ki )
(17)
Eine M¨oglichkeit der Hemmwirkung beim nichtkompetitiven Typ ist die Bindung am Rezeptor selbst, jedoch nicht an der Agonisten-Bindungsstelle. Durch diese Bindung verhindert der Antagonist z. B. eine Konformations¨anderung des Rezeptormolek¨ uls, die f¨ ur die Bindung oder f¨ ur Folgereaktionen notwendig ist. Neben den nichtkompetitiven Antagonisten kennt man auch solche, die sowohl kompetitiv als auch nichtkompetitiv wirken k¨ onnen. In niedriger Konzentration k¨onnen sie z. B. als kompetitiver Antagonist wirksam sein, w¨ahrend sie in hoher Konzentration eine nichtkompetitive unspezifische Hemmung aus¨ uben.
128
Kapitel 3 Toxikodynamik
Auf die LDR-Kurve projiziert sich ihre Wirkung bei niedriger Konzentration in einer parallelen Rechtsverschiebung, bei hoher Konzentration wird mit einer Verminderung der Kurvenneigung der Maximaleffekt vermindert. ¨ Tabelle 3.2 gibt einen Uberblick u ¨ber m¨ogliche Effekte von Inhibitoren auf die Parameter der Michaelis-Menten-Gleichung. Diese Effekte von Inhibitoren auf Enzymreaktionen k¨onnen ohne weiteres auf Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen u ¨bertragen werden, wenn E = R und S = X gesetzt werden. Tabelle 3.2 Charakterisierung von Hemmtypen enzymatischer Reaktionen. Die aus Experimenten gewonnene Vmax - und KM -Werte werden als apparente (scheinbare) Parameter bezeichnet. [E] ist die Enzymkonzentration, [I] die Inhibitorkonzentration, [EI] der Enzym-Inhibitor-Komplex und [ESI] der Enzym-Substrat-Inhibitor-Komplex. Es gilt: α = (1 + [I]/Ki ) mit Ki = [E][I]/[EI] und α = (1 + [I]/Ki ) mit Ki = [ES][I]/[ESI]. Typ der Hemmung
Faktor f¨ ur apparente Vmax
Faktor f¨ ur apparente KM
1 1 1/α 1/α
1 α α/α 1/α
keine kompetitiv nicht-kompetitiv unkompetiv
3.4.3.3
Allosterische Effekte
Verbindungen, die mit dem Substrat nicht strukturverwandt sind, k¨ onnen an einer anderen Effektorbindungsstelle (allosterisch, griechisch andere Stelle) angreifen und eine Konformations¨anderung ausl¨osen und somit die Affinit¨at ver¨andern. Fast immer bestehen die Rezeptoren, die der allosterischen Aktivierung und Hemmung unterliegen, aus mehreren Untereinheiten. Die Effektoren reagieren also hierbei nicht mit dem eigentlichen Zentrum des Rezeptors, sondern sie werden oft an einer anderen Untereinheit angelagert und beeinflussen die Rezeptor-Affinit¨at durch eine Ver¨anderung der Raumstruktur. Viele Membranrezeptoren werden allosterisch beeinflußt. Allosterische Effektoren k¨onnen sowohl Aktivatoren als auch Inhibitoren sein. Ein allosterischer Aktivator verschiebt die gesamte Dosiswirkungskurve zu niedrigeren Substratkonzentrationen, ein allosterischer Hemmstoff hat den entgegengesetzten Effekt. Dabei wird die hyperbolische Form der Kurve in eine sigmoidale verwandelt. Ein Beispiel f¨ ur eine komplizierte allosterische Regulation bietet das H¨amoglobinmolek¨ ul. Obwohl es keine chemische Reaktion katalysiert, bindet es Liganden wie Enzyme. Die Bindung von O2 erfolgt positiv kooperativ an zweiwertige Eisenatome homotrop (homo-, griechisch gleich). Im Gegensatz dazu bindet 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) an andere Stellen (Abbildung 3.1). Die
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
129
Bindung von BPG bewirkt negativ heterotrop (hetero-, griechisch andersgestaltet) eine Verminderung der O2 -Affinit¨at. 3.4.3.4
Funktionelle und physiologische Antagonisten
Ein funktioneller Antagonist ist eigentlich ein Agonist, der eine Wirkung in der entgegengesetzten Richtung am gleichen Organsystem ausl¨ost. Ein Beispiel ist die Regulation der Weitstellung der Bronchien in der Lunge durch glatte Muskelzellen. Sie wird durch zwei verschiedene Rezeptorsysteme beeinflusst. Acetylcholin bewirkt an den Muskarin-Rezeptoren (parasympathomimetischen Rezeptoren) der glatten Muskeln eine Verengung der Bronchien, und Adrenalin verursacht als physiologischer Antagonist u ¨ber b2 -Rezeptoren des sympathischen Nervensystems das Gegenteil, es stellt die Bronchien weiter. 3.4.3.5
Chemische Antagonisten
Diese Substanzen reagieren mit potentiellen Wirkstoffen und verhindern auf diese Art und Weise, dass eine Rezeptorwirkung ausgel¨ost werden kann. Es handelt sich hierbei um eine indirekte Hemmwirkung. Dieser Gruppe geh¨oren z. B. die Chelatbildner an, die z. B. toxisch wirksame Schwermetalle mit hoher Affinit¨at zu binden verm¨ogen. Chelatbildner werden effektiv bei Vergiftungen mit Blei oder Quecksilber eingesetzt (siehe Kapitel 4). Sie haben eine hohe Bindungskonstante f¨ ur toxische Schwermetalle. Dadurch werden die im Blut zirkulierenden Schwermetalle abgefangen und inaktiviert. Außerdem l¨osen die Chelatbildner Schwermetalle aus ihren Speicherpl¨atzen und bewirken ihre schnelle, effektive Ausscheidung mit Harn, Galle und Kot.
3.5
Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
Im Jahre 1937 schrieb A. J. Clark im Handbuch der Experimentellen Pharmakologie in seiner Einleitung zur Allgemeinen Pharmakologie: Die Entwicklung der Organischen Chemie hat insofern wichtige Konsequen” zen, als bis heute die Anzahl der chemischen Verbindungen mit m¨oglichen pharmakologischen Wirkungen praktisch unbegrenzt geworden ist. Diese Entwicklung hat auf der einen Seite neue Aspekte f¨ ur die Therapie von Erkrankungen er¨offnet, aber auch auf der anderen Seite unbekannte, unangenehme toxische Wirkungen mit sich gebracht, da alle diese neuen Verbindungen in die Industrie und die Haushalte eingef¨ uhrt worden sind. Daher sind genaue
130
Kapitel 3 Toxikodynamik
Kenntnisse u ¨ber die M¨oglichkeiten kumulativer Vergiftungen und abartiger medikament¨oser Wirkungen von zunehmender Bedeutung“. Diese von Clark vorausgesehene Zwiesp¨altigkeit dokumentiert ein viel zitiertes Beispiel besonders gut. Die Entdeckung von Paul Hermann M¨ uller, dass DDT eine insektizide Wirksamkeit besitzt, wurde 1948 zu Recht mit dem Nobelpreis belohnt. Dies belegt auch eine Mitteilung der WHO (World Health Organization) vom August 1969. Danach sind in den Malaria-Gebieten der Welt, in denen insgesamt 550 Millionen Menschen leben, ungef¨ahr 5 Millionen vor dem Tode bewahrt und allein innerhalb der ersten 8 Jahre nach der DDTAnwendung 100 Millionen Erkrankungen verh¨ utet worden. Die andere Seite ist die kumulative Vergiftung mit DDT. Sie wurde bereits in Kapitel 2.5 u ¨ber Biotransformation erl¨autert. Clark schreibt weiter: Die Einsicht in die Wirkungsweise von Substanzen auf ” die Zellen h¨angt allein von unserem Wissen u ¨ber die physikalische Chemie der Zelle ab“. Ein wesentlicher Begr¨ under dieser Disziplin war Rudolf H¨ober. Eine erste Auflage seines Buches u ¨ ber die Physikalische Chemie der Zellen und Gewebe erschien bereits 1902. Die komplexe Einsicht in die Zellfunktionen, die wir heute besitzen, verdanken wir so genialen Vordenkern wie Ehrlich, Langley, H¨ober, Michaelis, Clark und vielen anderen. ¨ In diesem Kapitel soll nicht versucht werden, einen Uberblick u ¨ber eine Vielzahl von toxischen Substanzen zu vermitteln, es sollen vielmehr einige Beispiele toxischer Mechanismen aufgezeigt werden.
3.5.1
Unspezifische toxische Wirkungen, Zerst¨ orungen von Zellen und Geweben
Gewebs- und Zellsch¨adigungen durch Einwirkungen von chemischen Noxen (lat. noxa, Schaden) sind sehr h¨aufig. Bei den S¨auren stehen Vergiftungen mit Eisessig, Salzs¨aure, Schwefels¨aure und Salpeters¨aure im Vordergrund. Auf der Haut bewirken konzentrierte S¨auren eine Zell- und Gewebszerst¨orung (Nekrosen), Narben und Keloidbildung (keloid, griech. klauen¨ahnlich“, bindegewebige Narbengeschwulst). Wegen der pro” ¨ teinkoagulierenden Wirkung der S¨auren bildet sich meist ein Schorf (Atzschorf) an der Oberfl¨ache, der das Eindringen in tiefere, darunterliegende Gewebe erschwert. Im Gegensatz zu den oben genannten S¨auren diffundiert Fluorwasserstoff in seiner undissoziierten Form sehr schnell in tiefer gelegene Hautschichten und bewirkt sehr schwere, ¨außerst schmerzhafte Entz¨ undungen. Die Ver¨atzungen sind oft tagelang auf der Haut unsichtbar und rufen trotzdem sehr starke
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
131
Schmerzen hervor. Der Verletzte muss sofort zum Arzt und diesem genau die verletzte Hautstelle zeigen, damit eine spezifische Therapie eingeleitet werden kann. Laugenvergiftungen sind viel gef¨ahrlicher als S¨aurevergiftungen, da das Gewebe verfl¨ ussigt wird und keine feste koagulierte Proteinschicht entsteht. Die Laugen dringen immer tiefer in das Gewebe ein, da sie von der Gewebsfl¨ ussigkeit kaum neutralisiert werden. Neben der sehr gef¨ahrlichen Natronlauge und Kalilauge kann auch Ammoniumhydroxid schwere Sch¨aden verursachen. Hautsch¨adigungen k¨onnen durch sofortiges Absp¨ ulen mit reichlich Wasser gew¨ohnlich vermieden werden. Die Wirkung von S¨auren und Laugen ist von komplexer Natur. Bei den S¨auren wurde die protektive proteinkoagulierende Eigenschaft in den Vordergrund gestellt. Der Name Protein“ wurde von dem Chemiker J¨ons Jacob Berzelius ” gepr¨agt und ist abgeleitet vom griechischen proteuo: ich nehme den ersten Platz ein.“ ” Der Inhalt einer Zelle kann als eine konzentrierte L¨osung von Proteinen (etwa 30 %), die meisten sind Enzyme, angesehen werden. Diese Proteine k¨onnen sowohl nach ihrer Funktion als auch nach ihrem Aufbau eingeteilt werden. Bez¨ uglich des strukturellen Aufbaus lassen sich die Proteine in einfache und zusammengesetzte bzw. fibrill¨are und globul¨are Proteine einordnen. Eine moderne Einteilung nimmt die Faltungstopologie zu Hilfe und ordnet die Proteine danach in große Familien ein. Jedes Protein besitzt eine spezifische Aminos¨aurenzusammensetzung, typisch ist die Prim¨ arstruktur der Aminos¨auresequenz. Dabei ist das durch die Peptidbindung gebildete R¨ uckgrat von Proteinen bei allen Proteinen identisch, die Vielfalt der Eigenschaften ergeben sich erst aus den Aminos¨aureseitenketten. Die Seitenketten tragen dissoziable Gruppen wie die basischen Gruppen von Lysin und Arginin, die Carboxylgruppen von Aspartat und Glutamat, die Imidazolgruppe des Histidins, die Hydroxylgruppen von Serin, Threonin und Tyrosin sowie die Sulfhydrylgruppe des Cysteins. Die Sekund¨ arstruktur umfasst alle Strukturen, die sich durch Wasserstoffbr¨ uckenbindung der CO- und NH-Gruppen des R¨ uckgrats der Peptidkette bilden lassen. Dies sind die b-Faltblatt-, die a-Helix-, die Kollagen-Helix-Struktur, sowie Schleifen, die sich mit den oben genannten Strukturen verbinden lassen. Die Terti¨ arstruktur beschreibt die dreidimensionale Struktur der Proteine, einschließlich der durch die Aminos¨aurenseitenketten bedingten Konformation. Stabilisiert wird die Terti¨arstruktur durch Ionen- und Wasserstoffbr¨ uckenbindung, Van-der-Waals-Kr¨afte, London-Dispersionskr¨afte und Disulfidbr¨ ucken.
132
Kapitel 3 Toxikodynamik
Schließlich gibt die Quart¨ arstruktur von Proteinen die Assoziation mehrerer Untereinheiten von Proteinen wieder. So erf¨ ullt z. B. H¨amoglobin erst seine Sauerstofftransportfunktion als Tetramer, das aus 2 a- und 2 b-Untereinheiten besteht. Die Tetramerstruktur erlaubt die Ausbildung kooperativer Wechselwirkungen. F¨ ur jedes Protein gibt es einen charakteristischen pH-Wert, bei dem sich die positiven und die negativen Ladungen des Molek¨ uls ausgleichen. Diesen pHWert bezeichnet man als den isoelektrischen Punkt pI. Die meisten Proteine besitzen einen pI-Wert im sauren pH-Bereich und neigen an ihrem isoelektischen Punkt zum Ausfallen und zur Koagulation. Die Schutzschicht, die sich bei der S¨aureeinwirkung auf die Haut ausbildet und ein Eindringen in tiefere Hautschichten verhindert, ist zu einem großen Teil auf diesen physikalischchemischen Vorgang zur¨ uckzuf¨ uhren.
3.5.2
Toxische Ein߬ usse auf die Blutgerinnung
Anstelle einer unspezifischen Koagulation von Proteinen benutzt der Organismus einen hochspezifischen Apparat, um den Blutkreislauf bei einer Verletzung der Gef¨aße sicher zu verschließen. Der eigentliche Tr¨ager der Blutgerinnung ist ein spezialisiertes Protein, das fadenf¨ormige Fibrinmolek¨ ul mit einer imponierenden L¨ange von 45 nm. Der Hauptvorgang der Gerinnung beruht darauf, dass die Vorstufe des Fibrins, das l¨osliche Fibrinogen mit einem Molekulargewicht von 340 kD, in das unl¨osliche Fibrin u ¨berf¨ uhrt wird. Das Fibrinogen macht 2 bis 3 % der Plasmaproteine aus und besteht aus drei Paaren nicht genau gleicher, aber homologer Peptidketten. Das erste Paar wird als (Aa)2 bezeichnet, das zweite als (Bb)2 und das dritte als (g)2 . Die Buchstaben A und B bezeichnen die kleinen Fibrinopeptide mit nur 14 und 16 Aminos¨auren, die bei der Aktivierung zum Fibrin-Monomer durch das peptidspaltende Enzym Thrombin abgespalten werden, nach der Reaktion:
(AD)2(BE)2(J)2
Arginin-GlycinSpaltung
D2 E2 J2 + 2A + 2B
Durch die Abspaltung der Fibrinopeptide A und B a¨ndern sich die physikalischchemischen Eigenschaften der Fibrin-Monomere, die sich jetzt spontan u ¨berlappend zu langen F¨aden aneinanderlegen und aus der L¨osung ausfallen. Die Antwort auf die Frage, warum das Fibrinogen im Plasma gel¨ost bleibt und warum die Fibrin-Monomere aggregieren, die immerhin 96 % des Fibrinogens
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
133
ausmachen, liegt in dem Ladungsmuster der Proteine begr¨ undet. Die abgespaltenen Fibrinopeptide A und B besitzen durch ihre negativ geladenen Aminos¨auren Asparagins¨aure, Glutamins¨aure und durch eine ungew¨ohnlich stark negativ geladene Aminos¨aure, Tyrosin-O-Sulfat, eine hohe negative Ladung. Sie sind so stark negativ geladen, dass die Ladung des mittleren Bereichs des Fibrinogens, dort wo die Fibrinopeptide liegen, −8 betr¨agt. Nach ihrer Abspaltung resultiert an dieser Stelle im Fibrin die Ladung +5. Die Endabschnitte des Fibrinogens und des Fibrins behalten dagegen mit −4 ihre negative Ladung bei. W¨ahrend dies beim Fibrinogen zur Abstoßung zwischen gleichgeladenen Abschnitten und zur L¨oslichkeit beitr¨agt, f¨ordert diese Ladung beim Fibrin dagegen die Anziehung zwischen den mittleren positiven und endst¨andigen negativen Abschnitten und tr¨agt somit zur Aggregation bei. Das frisch gebildete Fibrin ist instabil, da die einzelnen Faktoren noch nicht kovalent miteinander verbunden sind. Erst durch den Blutgerinnungsfaktor XIII, eine Transamidase, wird das Fibrin kovalent l¨angs- und quervernetzt. Schließlich ziehen sich in der letzten Phase die stabilisierten Fibrinf¨aden mit Hilfe einer ATPase, die aus den Blutpl¨attchen stammt, zusammen und verschließen durch die Retraktion des Fibringer¨ ustes die Wundr¨ander. Fibrin ist der Klebstoff“ f¨ ur verletzte Gef¨ aße. ” Der Mechanismus der Gerinnung l¨auft u ¨ber vielstufige Reaktionskaskaden ab, die eine enorme Verst¨arkung der ausl¨osenden Signale zulassen. Fibrin als Faktor I ist darin das letzte Glied einer Kette, wobei ein Zuviel an Gerinnsel am falschen Ort der wichtigste Ausl¨oser von Schlaganfall und Herzinfarkt ist und ein Zuwenig zu unstillbaren Blutungen f¨ uhrt. Es ist darum nicht weiter verwunderlich, dass diese Feinregulation Angriffspunkt f¨ ur eine Reihe von toxischen Substanzen ist. Im Jahre 1922 wurde von einem Kuhsterben in Nordamerika berichtet, das durch eine innere Verblutung der Tiere verursacht worden war. Schließlich konnte man die Ursache hierf¨ ur finden. Aus faulendem S¨ ußklee ließ sich n¨amlich Dicumarol, ein Abbauprodukt von Cumarin, isolieren. Stoffe des CumarinTyps, so fand man weiter heraus, verdr¨angen aufgrund ihrer Struktur-¨ahnlichkeit das Vitamin K (siehe Kapitel 6.4), das f¨ ur die vollst¨andige Synthese der in der Leber gebildeten Blutgerinnungsfaktoren II, VII, IX und X verantwortlich ist. Vitamin K ist an der Synthese einer speziellen Aminos¨aure, die f¨ ur das Anbinden der oben genannten Gerinnungsfaktoren an Phospholipid-Membranen und f¨ ur die dort erfolgende Aktivierung notwendig ist, beteiligt. Die Vitamin Kabh¨angige enzymatische Carboxylierungsreaktion verwandelt Glutamins¨ aure in g-Carboxyglutamins¨ aure, einen Calcium-Chelator, der u ¨ber Calcium das Andocken an negativ geladene Phospholipide erm¨oglicht (Abbildung 3.10).
134
Kapitel 3 Toxikodynamik
NH3 -
OOC
+
-
COO CH CH2 CH COO
J-Carboxyglutaminsäure Die funktionelle Bedeutung des Phospholipid-Protein-Calcium-Komplexes liegt darin, dass die einzelnen Reaktionspartner, z. B. aktiver Faktor X und das Substrat Prothrombin, in unmittelbarer N¨ahe miteinander reagieren k¨onnen, wobei sie von einem Cofaktor V in optimaler Position gehalten werden. Bei einem zuf¨alligen Treffen der 3 Gerinnungsfaktoren im Plasma w¨ urden sie nur selten in der erforderlichen Stellung zusammenkommen. Der Treffpunkt“ auf der Phospholipidmembran, der durch Calcium-Anbin” dung erzwungen wird, f¨ uhrt zu einer Beschleunigung der proteolytischen Spaltung von Prothrombin zu Thrombin etwa um den Faktor 10 000. Das entstehende Thrombin selbst besitzt keine g-Carboxyglutamins¨auren mehr zum Festhalten an der Phospholipidmembran, es wird abgel¨ost und kann nun das Fibrinogen im Plasma aktivieren, indem es die Peptide A und B abspaltet. Die Phospholipid-Membranen stammen haupts¨achlich von den Blutpl¨attchen, die sich im Falle einer Gef¨aßverletzung zusammenlagern und einen ersten Ver-
R1 C O
-
-
2+
-
Ca
OOC
-
Phospholipidmembran
CH CH2 CH
OOC
Phosphatidylserin
NH C O NH
R2 Blutgerinnungsfaktor
Abbildung 3.10 Schema der Anbindung eines Gerinnungsfaktors u ¨ber γ-Carboxyglutamins¨ aure und Calcium an negativ geladene Phospholipide (Phosphatidylserin) einer Membran.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
135
schluss bewirken. Gleichzeitig f¨ uhren sie dabei einen Gestaltwechsel durch und setzen Membrananteile und Gerinnungsfaktoren frei. Der toxische Effekt des Dicumarols aus S¨ ußklee f¨ uhrt dazu, dass keine funktionst¨ uchtigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X von der Leber mehr gebildet werden. Erst nach Aufbrauchen der vorhandenen Faktoren trat dann die Verblutung der Tiere ein (siehe Kapitel 6.4). Dieses inhibitorische Prinzip der Cumarine wird heute in der Medizin als Medikament bei verst¨arkter Blutgerinnungsneigung und bei der Ratten- und M¨ausebek¨ampfung als Gift eingesetzt. In der Medizin wird die Blutgerinnungsneigung bei Patienten mit drohendem Herzinfarkt z. B. durch das Cumarin-Pr¨aparat Phenprocoumon herabgesetzt. Bei Blutungsrisiken wirkt Vitamin K zwar als spezifisches Antidot, aber es dauert in der Regel 36 bis 48 Stunden bis gen¨ ugend funktionst¨ uchtige Gerinnungsfaktoren synthetisiert worden sind und die Gerinnungsf¨ahigkeit des Blutes wieder voll hergestellt ist. Bei der Bek¨ampfung von Ratten- und M¨auseplagen wurden fr¨ uher toxische Pr¨aparate mit Thalliumsulfat, Natriumfluorid und Zinkphosphid eingesetzt (siehe Kapitel 4.2.6). Anfang der f¨ unfziger Jahre kam es zu einer be¨angstigenden Zunahme von Thalliumvergiftungen. Die t¨odliche Dosis beim Menschen schwankt außerordentlich, sie d¨ urfte f¨ ur das Thalliumsulfat im Mittel etwa 1 g betragen. Heute werden als Ratten- und M¨ausebek¨ampfungsmittel fast ausschließlich Cumarin-Derivate eingesetzt. Der Vorteil liegt darin, dass die ausgebrachten Dosen f¨ ur Erwachsene, Kinder und Haustiere in der Regel unbedenklich sind. Eine akute Toxizit¨at ist wegen der langsam einsetzenden Wirkung nicht vorhanden. Sollte es trotzdem bei chronischer Aufnahme zu Vergiftungen kommen, so ist die Therapie mit Vitamin K-abh¨angigen Gerinnungsfaktoren sehr effektiv im Gegensatz zu der Therapie bei Thalliumvergiftungen mit kolloidalem Eisen(III)-hexacyanoferrat(II) (Berliner Blau). In Abbildung 3.10 wurde gezeigt, dass Calciumionen ganz wesentlich am Reaktionsablauf der Gerinnung beteiligt sind. Entzieht man dem Organismus Calcium, so macht sich dies in einer Herabsetzung der Gerinnungsf¨ahigkeit des ¨ Blutes sowie in einer muskul¨aren Ubererregbarkeit (Tetanie) bemerkbar. ¨ Die Wirkung der Oxals¨ aure ist wie bei jeder S¨aure zuerst eine direkte Atzwirkung auf die Schleimh¨aute. Nach Einnahme treten sofort heftige Magenschmerzen, Brechreiz und Erbrechen von schw¨arzlichen Massen auf. Nach der Resorption kommt es jedoch infolge der starken Calciumbindung der Oxals¨ aure zu Blutungsneigung und schweren Kr¨ampfen. In der Niere f¨allt das Calciumoxalat in Form von Kristallen aus, die zu einer Verstopfung der Nierenkan¨alchen mit fehlender Harnabsonderung (Anurie) f¨ uhren.
136
Kapitel 3 Toxikodynamik
Eine weitere M¨oglichkeit, sich mit Oxals¨aure zu vergiften, besteht bei der Intoxikation mit Ethylenglycol (siehe Kapitel 5.4). Der Stoffwechselweg f¨ uhrt zu dem Endprodukt Oxals¨aure. Dabei ist hier nicht die Beeinflussung der Gerinnung, sondern die sogenannte Oxalatniere mit vollst¨andiger Harnsperre die vorrangige toxische Komponente. Schon 100 bis 200 ml Ethylenglycol sind mitunter t¨odlich. Die rechtzeitige Therapie beruht unter anderem auf einer metabolischen Hemmung der Ethylenglycoloxidation durch Ethanol, das die Umsetzung u ¨ber die Dehydrogenasen blockiert. Nicht nur Chelatbildner wie Oxalat k¨onnen durch ihre Calciumbindung die Blutgerinnung beeintr¨achtigen, sondern auch Metalle aus der Lanthanreihe wie Lanthan, Cer, Praseodym und Neodym (siehe Kapitel 4.1.7). Der Mechanismus ist hier in der Blockade der Calciumstelle bei der Anbindung der Gerinnungsfaktoren an die Phospholipidmembranen zu suchen. Praseodym wurde fr¨ uher als Medikament benutzt, um die Blutgerinnung herabzusetzen.
3.5.3
Erythrozyten als Modell f¨ ur toxische Mechanismen
Erythrozyten wurden bereits im Kapitel 2.3.2 beim Aufbau von Membranen als Spezialzellen vorgestellt, die im Gegensatz zu anderen Zellen keine intrazellul¨aren Organellen wie einen Zellkern, Mitochondrien, Golgiapparat oder endoplasmatisches Retikulum besitzen. Ihre spezielle Aufgabe liegt haupts¨achlich im Sauerstofftransport. Um dieser Funktion optimal zu gen¨ ugen, sind sie zu u ¨ber 90 % mit kugelf¨ormigen H¨amoglobinmolek¨ ulen mit einem Durchmesser von 5,5 nm gef¨ ullt, deren Anzahl pro Erythrozyt etwa 300 Millionen ausmacht. Außerdem besitzen die Erythrozyten mit ihrer bikonkaven Form eine sehr große Oberfl¨ache, die dem effizienten Gasaustausch n¨ utzlich ist. Wegen ihrer leichten Gewinnbarkeit und wegen ihres u ¨bersichtlichen Stoffwechsels im Vergleich zu anderen Zellen, wurden die Erythrozyten von Toxikologen besonders h¨aufig als Modellzellen f¨ ur toxische Mechanismen benutzt. Nach dem Entnehmen der Erythrozyten durch Einstechen in eine Vene muss zuerst die Gerinnung des Blutes verhindert werden. Dies geschieht am einfachsten durch einen Calcium-Entzug mit Hilfe einer Citrat-, EDTA- oder Oxalat-L¨osung. Hierbei d¨ urfen die Blutzellen nur in einer isotonischen L¨osung mit einem physiologischen pH-Wert von 7,4 aufgefangen werden, weil sonst die Membran zerplatzt und der Inhalt mit dem H¨amoglobin aus der Zelle austritt. Dieser Vorgang wird H¨ amolyse genannt. Eine isotonische L¨ osung ist eine L¨osung, die den gleichen osmotischen Druck wie die Erythrozyten besitzt. Diese ist zweckm¨aßig eine gepufferte 150 mM NaCl-L¨osung mit einem osmotischen Druck von etwa 300 mosmol pro Liter (d. h. bei einer vollst¨ andigen Dissoziation des NaCl in Na+ und Cl− w¨ urde der durch die gel¨osten Teilchen erzeugte
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
137
Druck 300 mosmol/Liter ergeben). Die gel¨ oste Substanz, hier das NaCl, penetriert nur sehr langsam in die Zelle, so dass u ¨ber lange Zeit nur eine geringe Wasserverschiebung in die Zelle hinein erfolgt. Ersetzt man aber die isotonische NaCl-L¨osung durch eine isotonische Harnstoffl¨osung, so h¨amolysieren die Erythrozyten sofort, da das kleine Harnstoffmolek¨ ul sehr schnell in die Zelle penetriert und das Volumen der Zelle aufgrund des gleichzeitig erfolgenden Wassereintritts zunimmt. Erythrozyten k¨onnen nur bis zu dem 1,5-fachen ihres Volumens anschwellen; sie ver¨andern dabei ihre bikonkave Scheibchenform zur Kugelform. Eine weitere Volumenzunahme f¨ uhrt zum Zerreißen der Zellmembran. 3.5.3.1
Osmotische Resistenz der Erythrozyten
In isotonischer NaCl-L¨osung aufgeschwemmte Erythrozyten verhalten sich als nahezu perfekte Osmometer. Ein gutes Modell f¨ ur das Osmometerverhalten von Zellmembranen schien im Jahre 1867 die von Moritz Traube gefundene Niederschlagsmembran zu sein, welche bei der Ber¨ uhrung von Kupfersulfat und Kaliumhexacyanoferrat entsteht. Ihr analoges Verhalten zu Zellmembranen wie Erythrozyten bestand darin, dass sie f¨ ur Wasser durchg¨angig, aber f¨ ur beinahe alle im Wasser gel¨oste Substanzen undurchg¨angig war. Dieses Verhalten der Membranen bezeichnete man als semipermeabel. In der physikalischen Chemie haben solche semipermeable Membranen eine große Rolle gespielt. Besonders in den H¨anden von J. H. Van´t Hoff wurde die k¨ unstlich erzeugte Niederschlagsmembran von Traube zu einem wichtigen Instrument. Anhand der Messergebnisse wurden die Gesetze des osmotischen Druckes erkannt und Van´t Hoff formulierte 1887 als Grundsatz f¨ ur die Theorie der L¨osungen: Der osmotische Druck einer L¨osung entspricht dem Druck, welchen die gel¨oste ” Substanz bei gleicher Molekularbeschaffenheit als Gas oder Dampf im gleichen Volumen und bei derselben Temperatur aus¨ uben w¨ urde.“ Der kolloidosmotische Druck ist von der Anzahl der gel¨osten Teilchen n abh¨angig und steht in gleicher Weise in Beziehung zur absoluten Temperatur T, zur Gaskonstante R und zum Volumen V wie der Druck eines Gases P: P=
nRT . V
(Van´t-Hoffsche Gleichung)
Diese Gleichung stellt als ideale Zustandsgleichung der Gase ein Grenzgesetz dar und sie l¨asst sich daher im strengsten Sinne auch nur f¨ ur verd¨ unnte L¨osungen anwenden. In der physikalischen Chemie wurden neben der semipermeablen Niederschlagsmembran auch Pflanzenzellen und Erythrozyten als Modell-
138
Kapitel 3 Toxikodynamik
systeme benutzt, um die physikalischen Gesetze beim osmotischen Druck zu untersuchen. Das Osmometerverhalten der Erythrozyten erlaubt dar¨ uber hinaus eine Reihe von Tests auf toxische Wirkungen von Substanzen. Normale Erythrozyten beginnen von einer 83 mM NaCl-L¨osung (ungef¨ahr 166 mosmol/Liter) an zu h¨amolysieren, da hier durch Wassereinstrom ihr maximales Volumen erreicht wird. Dabei platzen die Erythrozytenmembranen und setzen H¨amoglobin mit dem gesamten osmotischen Inhalt frei. Optisch l¨asst sich dieser Prozess besonders leicht durch Messung des roten Farbstoffes H¨amoglobin im zellfreien ¨ Uberstand quantifizieren. Die H¨amolyse ist vollst¨andig in einer L¨osung mit 57 mM NaCl. Durch Bestimmung des H¨amolysegrades bei verschiedenen NaClKonzentrationen zwischen 57 und 83 mM erh¨alt man die sogenannte osmotische Resistenzkurve der Erythrozyten. Durch Zusatz einer Substanz kann diese normale osmotische Resistenzkurve in Richtung auf h¨ohere NaCl-Konzentrationen verschoben werden und damit die normale osmotische Resistenz herabgesetzt werden. Dieser Effekt wird als ein toxisches Merkmal gewertet. Außerdem reagieren Erythrozyten sehr empfindlich mit H¨amolyse auf pH-Ver¨anderungen zum Sauren hin, sie tolerieren nur pH-Werte bis zu etwa pH 6. Der toxische Mechanismus beruht dabei auf einer Sch¨adigung der Membran und zwar entweder der Lipidbarriere (Membrananteil 43 % Lipide) oder der Proteine (Membrananteil 49 % Proteine). Grunds¨atzlich kann zwischen einer unspezifischen Zerst¨orung der Membran¨ doppelschicht und einer mehr selektiven Anderung der Membranpermeabili¨at, die durch die Funktion der Membranproteine bedingt ist, unterschieden werden. Betrachtet man auf einer Langzeitskala das Verhalten der Erythrozyten in einer isotonischen NaCl-L¨osung, so registriert man eine langsame Volumenzunahme, die schließlich auch zur H¨amolyse f¨ uhrt. Diese Art der H¨amolyse hat Wilbrandt nach ihrem Mechanismus als kolloidosmotische H¨ amolyse“ bezeichnet. In ” Kapitel 2.2.3 wurde der kolloidosmotische Druck der Plasmaproteine und die daraus resultierenden Fl¨ ussigkeitsbewegungen in den Kapillaren besprochen. Aus dem hohen H¨amoglobingehalt der Erythrozyten, der etwa einer Konzentration von 5 mM entspricht, ergibt sich ein kolloidosmotischer Druck von etwa 85 mm Hg. Das ist das 3,4-fache des osmotischen Drucks der Plasmaproteine. Diese Berechnung zeigt, dass es eine entsprechende Fl¨ ussigkeitsbewegung in die Erythrozyten geben muss, die eigentlich zum Schwellen der Zellen und schließlich zur H¨amolyse f¨ uhrt. Da dies im lebenden Organismus nicht eintritt, kann man davon ausgehen, dass es einen Mechanismus gibt, der diesen kolloidosmotischen Druck kompensiert.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
3.5.3.2
139
Die Na+ -K+ -ATPase
Der Mechanismus des osmotischen Druckausgleichs ist mit dem aktiven Transport von Kalium- und Natriumionen verbunden. Im Jahre 1957 entdeckte Jens Skou in Membranpr¨aparationen von Krebsnerven ein Enzym, das ATP (Adenosintriphosphat) in ADP (Adenosindiphosphat) und Pi (anorganisches Phosphat) spaltet, wenn gleichzeitig Natrium-, Kalium- und Magnesium-Ionen anwesend sind. Seither wird dieses in fast allen Zellmembranen und auch im menschlichen Erythrozyten vorkommende Enzym Na+ -K+ -ATPase genannt:
ATP + H2O
ATPase Na+, K+, Mg++
ADP + Pi + H+
Dieses Transmembran-Protein besteht aus drei Untereinheiten, einer a-Untereinheit von 110 kD, auf der sich die katalytische Aktivit¨at und die Bindungsstellen f¨ ur die genannten Kationen befinden, einer glycosylierten b-Untereinheit mit 55 kD und einer g-Untereinheit mit nur 10 kD. Die wahrscheinliche Zusammensetzung des Komplexes ist a2 b2 g. Das Enzym ist f¨ ur den hohen Kaliumgehalt von etwa 140 bis 150 mM in den meisten Zellen gegen¨ uber nur 4 bis 5 mM in der Außenl¨osung verantwortlich. Gleichzeitig liefert es eine geringe Natriumkonzentration von 10 bis 15 mM in den Zellen, w¨ ahrend außen etwa 150 mM Natrium anstehen. Die Transporteigenschaften des Enzyms und der Reaktionsablauf wurden haupts¨achlich an Erythrozyten bestimmt. Dabei ergab sich folgende Gesamtst¨ochiometrie der Na+ -K+ -ATPase-Reaktion: + 3Na+ Zelle + 2KPlasma + ATP
+ 3Na+ Plasma + 2KZelle + ADP + Pi
Es werden 3 Natrium-Ionen vom Zellinneren nach außen transportiert, dagegen nur 2 Kalium-Ionen vom Außenmedium in das Zellinnere u ¨berf¨ uhrt. F¨ ur diesen Transportzyklus wird ein ATP-Molek¨ ul verbraucht. Es handelt sich also bei dieser Membranpumpe um einen elektrogenen Transporter, bei dem drei positive Ladungen die Zelle verlassen, w¨ahrend zwei eintreten. Neben dem elektrochemischen Potentialgradienten bildet sich ein osmotisch wirksamer Konzentrationsunterschied an Kationen aus. Der asymmetrische Transport der Na+ -K+ -ATPase kompensiert den durch das H¨amoglobin bedingten kolloidosmotischen Wassereinstrom und erlaubt somit eine osmotische Regulation des Wassergehaltes in den Erythrozyten und ebenso in anderen Zellen. Der elektrochemische Potentialgradient, der durch die Na+ -K+ -ATPase erzeugt wird, ist z. B. f¨ ur die elektrische Erregung von Nervenzellen verant-
140
Kapitel 3 Toxikodynamik
wortlich und dient als Triebkraft f¨ ur sekund¨are Transportprozesse, die an einen + Na -Gradienten gekoppelt sind, wie z. B. der Aminos¨aurentransport und der Glucosetransport im Darm. F¨ ur alle diese Zellen gilt, dass sie einen großen Anteil des von ihnen produzierten ATP zur Aufrechterhaltung der Kaliumund Natriumgradienten ben¨otigen. Die große Verbreitung bei fast allen Zellen und die funktionelle Bedeutung der Na+ -K+ -ATPase machen deutlich, dass eine toxische Sch¨adigung des Enzyms weitreichende Folgen haben muss. Bei den Pfeilgiften wurden die sehr giftigen Glycoside Ouabain und Strophanthus kombe erw¨ahnt, die zu den Herzgiften geh¨oren. In Ostafrika wurde der eingedickte Extrakt dieser Gifte auf Pfeil- und Speerspitzen aufgetragen und bewirkte, dass sogar bei gr¨oßeren verwundeten Tieren wie Flusspferden oder Elefanten die Herzt¨atigkeit schnell abnahm und der Herzmuskel in kontrahiertem Zustand (Kontraktur) stehen blieb. Der Wirkungsmechanismus der Herzglycoside auf die Na+ -K+ -ATPase wurde 1957 von H. J. Schatzmann am Erythrozyten aufgekl¨ art. Die Herzglycoside binden an der Außenseite der Erythrozytenmembran an die a-Untereinheit der Na+ -K+ -ATPase und hemmen die Dephosphorylierung des Enzyms. Die Bindung der Herzglycoside an der Membran kann durch Kalium verdr¨angt werden. Die eigentliche Wirkung der sogenannten Herzglycoside ist jedoch durch zwei Mechanismen zu erkl¨aren. Der erste beruht auf der oben erw¨ahnten Hemmung der Na+ -K+ -ATPase der Herzmuskelzellen. Durch diese Hemmung sinkt in der Zelle die Kaliumkonzentration ab. Gleichzeitig steigt die Natriumkonzentration an. Der zweite Mechanismus bringt auf Grund des erh¨ohten Natriumgehalts in der Zelle u ¨ber einen Na+ -Ca2+ -Austauscher vermehrt Calcium in das Zellinnere. Infolge des ersten Mechanismus sinkt das auf der reduzierten Kaliumkonzentration beruhende Membranpotential ab und ein unregelm¨aßiger Herzrhythmus ist die Folge (Herzarrhythmie). Der zweite Mechanismus f¨ uhrt durch die erh¨ohte Calciumkonzentration zum Tod, das Herz bleibt in Kontraktur stehen. Die Herzglycoside werden in der Medizin als Medikamente eingesetzt, um die Herzkraft bei Herzkranken zu steigern. Der Mechanismus ist der bei der Vergiftung beschriebene, nur wird die Dosis hier niedriger gew¨ahlt (Prinzip des Paracelsus). Entscheidend ist beim Herzkranken die indirekte Steigerung der Calciumkonzentration, welche die Herzkraft zunehmen l¨asst. Eine andere M¨oglichkeit, die Na+ -K+ -ATPase zu hemmen, beruht auf der blockierenden Wirkung von Schwermetallen wie Quecksilber- und BleiIonen. Beim Quecksilber wie auch beim Blei steht die große Affinit¨at der Schwermetalle zu funktionellen SH-Gruppen im Vordergrund. In der Niere ist die treibende Kraft f¨ ur die aktive Natriumr¨ uckresorption im Nephron die Na+ -K+ -ATPase. Die Kenntnis der harntreibenden Wirkung von Quecksilber
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
141
geht bereits auf Paracelsus zur¨ uck und wird unter anderen Wirkungen des Quecksilbers mit einer Hemmung der Na+ -K+ -ATPase in der Niere in Verbindung gebracht. 1924 wurden als harntreibende Medikamente organische Quecksilberverbindungen eingesetzt, die heute wegen ihrer toxischen Wirkung nicht mehr angewandt werden. In neuerer Zeit stehen jedoch bei der Quecksilberdiurese die Aquaporine im Vordergrund. Die Wasserkan¨ale im proximalen Anteil der Niere werden effektiv durch Quecksilber blockiert (siehe Kapitel 4.2.5). Ein weiteres Schwermetall-Ion, das den aktiven Natrium- und Kaliumtransport mit hoher Affinit¨at blockieren kann, ist das Vanadat-Ion. Die Chemie dieses Ions in w¨assrigen L¨osungen ist a¨ußerst vielf¨altig durch Polymerisation und Komplexbildung mit Hydroxyl-Ionen und anderen Verbindungen. Das Vanadat-Ion ist ein Oxometallat des f¨ unfwertigen Vanadiums. Es liegt im physiologischen pH-Bereich unter 100 mM als VO− 3 -Anion (Metavanadat) vor, im alkalischen Bereich vorwiegend als VO3− -Anion (Orthovanadat). In der Bio4 chemie wird Vanadat als Hilfsmittel eingesetzt, um ATPasen zu klassifizieren. Alle ATPasen, die phosphorylierte Zwischenverbindungen bilden, werden meist schon durch Vanadat im mikromolaren Bereich gehemmt, z. B. Metallionenpumpen wie die Na+ -K+ -ATPase der Erythrozytenmembran. ¨ Der Grund f¨ ur diese Hemmung wird in der Ahnlichkeit der Anionen gese3− ¨ mit dem hen. Danach hat das Phosphatanion, PO4 , chemische Ahnlichkeit 3− Vanadat-Anion, VO4 . Mit diesem Modell wird die effektive Hemmwirkung an der ATP-Phosphorylierungsstelle des Enzyms erkl¨art (Kapitel 4.1.7, Mimikry). Im Gegensatz zu den Herzglycosiden, die an der Außenseite an der a-Untereinheit des Enzyms anbinden, erfolgt die Reaktion mit Vanadat an derselben Untereinheit, jedoch an der Innenseite der Membran. Um beim intakten Erythrozyten eine Wirkung auf die Transport-ATPasen zu erzielen, muss das hydrophile Vanadat-Anion die Membran erst passieren k¨onnen. Der Transport des Vanadats in das Zellinnere f¨ uhrt uns zu einem anderen wichtigen Membranprotein, dem Anionentransporter, der auch das Vanadat transportiert. 3.5.3.3
Der Anionentransporter
Das Stoffwechselendprodukt der meisten Substrate im Organismus ist CO2 . Es f¨allt beim oxidativen Zitronens¨aure-Stoffwechselweg in den Mitochondrien in besonders großen Mengen an. Pro Minute werden vom Menschen etwa 200 ml CO2 gebildet und ausgeatmet. In der Stunde werden 12 Liter und am Tag 288 Liter CO2 ausgeschieden. Umgerechnet sind dies rund 13 mol CO2 pro Tag. Bei k¨orperlicher Arbeit kann die CO2 -Produktion bis auf 8000 ml pro Minute ansteigen.
142
Kapitel 3 Toxikodynamik
Diese großen Mengen an CO2 k¨onnen wegen ihrer viel zu geringen L¨oslichkeit im Blut nicht als CO2 zu den Lungen transportiert werden. Im Blut gel¨ost gelangen etwa 8 % als CO2 , der gr¨oßte Anteil von etwa 81 % als Hydrogencarbonat, HCO− amoglobin gebunden als Carbaminoverbindung 3 , und der Rest an H¨ zur Lunge. Das im Zellstoffwechsel gebildete CO2 diffundiert zun¨achst als physikalisch gel¨ostes CO2 aus der Zelle und muss in gleicher Form den Zwischenzellraum und die Gef¨aßw¨ande passieren, um schließlich den Erythrozyten zu erreichen. Die gekoppelten Transportvorg¨ange von CO2 und O2 sind in der Abbildung 3.11 schematisch wiedergegeben. Erst in den Erythrozyten wird aus CO2 und H2 O das H2 CO3 gebildet, das sofort entsprechend dem Dissoziationsgleichgewicht in das Anion HCO− 3 und ein Proton dissoziiert. Die Reaktion wird im Erythrozyten durch die in großer Menge vorhandene Carboanhydrase, ein sehr wirksames zinkhaltiges Enzym, katalysiert (siehe Kapitel 4). Das Proton, das bei dieser Reaktion entsteht, wird haupts¨achlich von H¨amoglobin unter O2 -Abgabe gepuffert. An dieser Stelle ist, wie auch beim umgekehrten Effekt in der Lunge, der O2 -Transport mit dem CO2 -Transport gekoppelt.
Abbildung 3.11 Schema des CO2 - und des O2 -Transports durch die Erythrozyten. Die Erythrozyten sind entsprechend ihrer Form als bikonkave Scheibchen wiedergegeben, mit A ist der Anionentransporter, mit CA die Carboanhydrase und mit Hb das H¨ amoglobin bezeichnet.
Das Hydrogencarbonat-Anion im Erythrozyten wird durch den Anionentransporter in der Membran gegen ein Chlorid-Anion ausgetauscht, bis auf beiden Seiten der Membran nahezu gleiche Konzentrationen vorhanden sind. Der umgekehrte Vorgang erfolgt in der Lunge. Durch das Abatmen des CO2 , entsprechend dem CO2 -Gradienten in der Lunge, liefert die Carboanhydrase
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
143
aus Hydrogencarbonat-Anion und einem Proton, vom H¨ amoglobin, das CO2 st¨andig nach. Die verminderte Hydrogencarbonatkonzentration innen wird durch den Anionentransporter sehr schnell ausgeglichen, indem jetzt ein Hydrogencarbonat-Anion im Austausch gegen ein Chlorid-Anion in die Zelle eintritt. Durch die Protonenabgabe des H¨amoglobins in der Lunge wird gleichzeitig die Affinit¨at des H¨amoglobins f¨ ur O2 erh¨oht. Der Vorgang des Hydrogencarbonat-Chlorid-Austausches muss mit großer Geschwindigkeit vonstatten gehen, da die Durchflusszeit der Erythrozyten durch die Lunge in Ruhe nur 0,7 Sekunden betr¨agt und bei Arbeit sogar auf 0,3 Sekunden verk¨ urzt ist. Dieser sehr effiziente Transportprozess wurde bereits im Jahre 1874 von dem Marburger Physiologen Hermann Nasse entdeckt und wird darum heute als Nasse-shift“ bezeichnet. ” Von Hermann Nasses Entdeckung bis zur Auffindung des Transportproteins durch die Forschergruppe um Aser Rothstein in Toronto mussten fast 100 Jahre vergehen, bis der Anionentransporter als ein 96 kD Protein in der Erythrozytenmembran identifiziert werden konnte. Auf Grund seiner großen physiologischen Bedeutung macht dieses Protein einen sehr großen Anteil der gesamten Membranproteine mit 20 bis 30 % aus. In der Membran eines einzelnen Erythrozyten befinden sich etwa 1, 2 · 106 Anionentransporter. F¨ ur die Toxikologie ist dieses Protein deshalb wichtig, weil es nicht nur die physiologischen Anionen wie Hydrogencarbonat, Chlorid, Sulfat und Phosphat in die Zelle transportiert, sondern dar¨ uber hinaus f¨ ur die Permeabilit¨at einer Reihe toxisch wirksamer Anionen wie Vanadat-, Chromat-, Arsenat- und Superoxid-Anionen verantwortlich ist. Das Vanadat-Anion kann auf diesem Wege die Innenseite der a-Untereinheit der Na+ -K+ -ATPase erreichen und hier seinen hemmenden Einfluss aus¨ uben. In der Zwischenzeit hat man dieses Transportprotein auch in den Epithelzellen der Niere, der Lunge und des Darmes sowie in Zellen von Leber, Gehirn, Herz und in weißen Blutzellen gefunden. Es ist also nicht nur auf die Erythrozyten beschr¨ankt. In Kapitel 2.5, Biotransformation wurde beschrieben, dass Vanadat-Ionen bei ihrer Reduktion zu Vanadyl den Elektronenfluss zum Cytochrom P-450 unterbrechen und so den Biotransformationsmechanismus unterbinden k¨onnen. Der Eintritt in die Leberzellen erfolgt sicher auch hier u ¨ber den Anionentransporter. Ein weiteres Beispiel f¨ ur den Transport von toxischen Anionen bietet das VIwertige Chromat-Anion, CrO2− ¨ber den 4 . Sein Eintritt in die Erythrozyten u Anionentransporter kann wie beim Vanadat-Anion durch spezifische Inhibitoren dieses Transportes nachgewiesen werden. Chrom(VI)-Verbindungen sind
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Kapitel 3 Toxikodynamik
im allgemeinen 100 bis 1000 mal toxischer als die h¨aufigeren Chrom(III)Verbindungen. Dies kann seine Ursache darin haben, dass Chrom(III)-Verbindungen von intakten Zellen kaum aufgenommen werden k¨onnen. Sind jedoch die Chrom(VI)-Verbindungen in die Erythrozyten gelangt, so werden sie durch den Stoffwechsel rasch zu Chrom(III)-Verbindungen reduziert und bleiben als Kationen in der Zelle gefangen (siehe Kapitel 4.1.7, Mimikry). Ein gleicher Mechanismus ist auch f¨ ur Leberzellen beschrieben worden, hier scheint der Cytochrom P-450-Stoffwechsel an der Umwandlung in das dreiwertige Chrom beteiligt zu sein. Die Diskussion u ¨ber die m¨ogliche toxische und besonders krebserregende Form ist noch nicht abgeschlossen, es erh¨artet sich jedoch der Verdacht, dass in die Zelle eingedrungenes Chrom(VI) bei seiner Reduktion zu Chrom(III) reaktive Metabolite bildet, die DNA-Addukte erzeugen. Eine besondere Vorsicht ist im Umgang mit Chromtrioxid, Bleichromat, Calciumchromat, Strontiumchromat, Chrom(III)-chromat und Alkalichromaten wegen ihrer krebsausl¨osenden Wirkung geboten. Als ein letztes Beispiel f¨ ur die Bedeutung des Anionentransporters beim Transport von toxischen Substanzen soll das Arsenat-Anion, AsO3− 4 , dienen. Dieses ¨ Ion besitzt wie das Vanadat eine Ahnlichkeit mit dem Phosphat-Anion, PO3− 4 . Das Arsenat-Anion benutzt ebenfalls den Anionentransporter als Weg, um in das Innere der Zelle zu gelangen. Biochemiker haben dieses Molek¨ ul eingesetzt, um den ATP-Gehalt der Zelle schrittweise abzusenken. Ein wichtiger Angriffspunkt in der Zelle ist das Enzym Glycerinaldehyd-3-phosphat-Dehydrogenase (GAPDH). Dieses Enzym nimmt beim Abbau von Kohlenhydraten (Glycolyse) eine Schl¨ usselstellung ein, indem es Glycerinaldehyd-3-phosphat zu 1,3Bisphosphoglycerat oxidiert und dabei ein anorganisches Phosphatmolek¨ ul Pi in eine energiereiche Bindung u ¨berf¨ uhrt, das dann zur ATP-Gewinnung genutzt wird:
H
O
O C
GAPDH
O C
P +
P
H H C OH + NADH H C O P
H Glycerinaldehyd-3-phosphat
H 1,3-Bisphosphoglycerat
+
H C OH + NAD + Pi H C O
In dieser Reaktion kann das Phosphat-Anion Pi nun durch Arsenat ersetzt werden. Die entstehende Verbindung ist ein sehr labiles Acylarsenat, das schnell zerf¨allt und somit die Substratkettenphosporylierung unterbricht.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
145
O O
O As O C
-
H C O
P
O H C OH
-
H 1-Arseno-3-phosphoglycerat Die Strukturformel f¨ ur 1-Arseno-3-phosphoglycerat veranschaulicht, dass durch die Reaktion mit Arsenat kein 1,3-Bisphosphoglycerat zur ATP-Gewinnung zur Verf¨ ugung steht. Aus der Phosphatgruppe im 3-Phosphoglycerat l¨asst sich lediglich die zuvor aus ATP stammende Energie wieder zur¨ uckgewinnen.
3.5.3.4
Das H¨amoglobin als Sauerstofftransporter
In dem Teubner-Studienbuch Bioanorganische Chemie“ von W. Kaim und B. ” Schwederski wird z. B. die Chemie des Sauerstofftransports mittels H¨amoglobin ausf¨ uhrlich behandelt, so dass an dieser Stelle nur das f¨ ur das unmittelbare Verst¨andnis notwendige Wissen von der Struktur und Funktion des H¨amoglobins vermittelt werden soll. Der Sauerstoff wird durch Diffusion in die Erythrozyten aufgenommen und dort an den Fe2+ -Porphyrin-Komplex des H¨amoglobins gebunden. Die Wertigkeit des Eisens ¨andert sich bei diesem Vorgang nicht. Das H¨amoglobinmolek¨ ul hat ein Molekulargewicht von 67 kD und besteht beim erwachsenen Menschen aus 2 a- und 2 b-Ketten, die je einen Fe2+ -Porphyrin- oder H¨am-Komplex tragen. H¨amoglobin ist ein allosterisches Protein (siehe Kapitel 3.4.3.3), die Bindung von Sauerstoff an H¨amoglobin erfolgt kooperativ, d. h. ein gebundenes O2 erh¨oht die Affinit¨at f¨ ur das zweite O2 , zwei gebundene O2 steigern die Affinit¨at f¨ ur das dritte O2 usw., bis alle 4 H¨am-Gruppen an den Untereinheiten abges¨attigt sind. Die Bindung von O2 an H¨amoglobin wird durch H+ , CO2 und 2,3-Bisphosphoglycerat reguliert. Diese Regulatoren beeinflussen die Sauerstoffbindungseigenschaften des H¨amoglobins r¨aumlich weit entfernt von der Sauerstoffbindungsstelle am H¨am.
146
Kapitel 3 Toxikodynamik
Die Bindungsstellen von 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) zwischen den b-Ketten des H¨amoglobins sind in Abbildung 3.1 wiedergegeben (Bindungskr¨afte am Rezeptor). Im Zusammenhang mit dem Hydrogencarbonat-Chlorid-Austausch wurde schematisch die Bindung von H+ und CO2 an H¨amoglobin dargestellt (Abbildung 3.11). Bereits im Jahre 1904 wurde diese wichtige physiologische Regulation von Christian Bohr, dem Vater des Atomphysikers Niels Bohr, entdeckt und wird nach ihm als Bohr-Effekt“ bezeichnet. CO2 kann die ” O2 -Bindung direkt unter reversibler Carbamatbildung mit den N-terminalen Aminogruppen des H¨amoglobins beeinflussen. Eine hohe CO2 -Konzentration in den Blutkapillaren stimuliert dabei die Desoxygenierung des H¨amoglobins. Außerdem setzen die bei der Carbamatbildung gebildeten Protonen vermehrt O2 aus der H¨amoglobinbindung frei. Abbildung 3.12 zeigt graphisch die regulativen Einfl¨ usse des Bohr-Effektes und der BPG-Bindung auf die sigmoide Sauerstoffdissoziationskurve von H¨amoglobin in Abh¨angigkeit vom Sauerstoffpartialdruck im Organismus. 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) ist ein Zwischenprodukt der Glycolyse. Bei einer Inaktivierung des Glycolysestoffwechsels durch Abk¨ uhlen des Blutes oder durch Glukosemangel sinkt die Konzentration des BPG st¨andig ab. Dies geschieht zum Beispiel auch bei sehr langer Lagerzeit des Blutes. Ist schließlich kein BPG mehr vorhanden, so verschiebt sich die Sauerstoffdissoziationskurur ve nach links bis zu einem P50 -Wert von etwa 10 mm Hg. Dies bedeutet f¨ einen Patienten, der auf eine Bluttransfusion angewiesen ist, dass dieses Blut nicht mehr als Sauerstofftransporter arbeiten kann und kaum noch Sauerstoff freigibt. Eine Reihe toxischer Substanzen kann den Sauerstofftransport am H¨amoglobin beeinflussen. Das Atemgift Kohlenmonoxid, CO, zeigt bez¨ uglich Farbe, Geruch und Geschmack keinerlei Warnwirkung. Seine Affinit¨at zum H¨amo- globin ist etwa 200 bis 300fach gr¨oßer als die des Sauerstoffs. Die Bindung am H¨amoglobin ist vollst¨andig reversibel, so dass eine CO-freie Luft oder besser reiner Sauerstoff die Vergiftungssymptome schnell zum Verschwinden bringt. Der Erythrozyt ist oft starken oxidierenden Einfl¨ ussen des Sauerstoffs ausgesetzt. Die Oxidation von H¨amoglobin (Fe2+ ) zu Meth¨amoglobin (Fe3+ ) oder H¨amiglobin f¨ uhrt zu einem vollst¨andigen Verlust der Sauerstofftransportkapazit¨at. Dieser Prozess l¨auft in geringem Umfang st¨andig in den Erythrozyten ab, man findet jedoch immer nur Spuren (unter 1 %) von Meth¨amoglobin. Der Grund hierf¨ ur ist ein effektives enzymatisches Reduktionssystem, n¨amlich die Meth¨amoglobin-Reduktase. Diese Reduktase ben¨otigt ein weiteres System zur Bereitstellung von Reduktionsequivalenten, besonders in Form von NADPH, die es aus dem Pentosephosphatstoffwechsel u ¨ber die Glukose-6-phosphat-dehydrogenase bezieht. Men-
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
147
% Sauerstoffbindung
100 ohne BPG
Lunge
mit BPG Bohr-Effekt
50
P50 = 27 mm Hg 0 0
25 Kapillaren
50
75
100
pO2 in mm Hg
Abbildung 3.12 Sauerstoffdissoziationskurven von H¨ amoglobin in Abh¨ angigkeit vom Sauerstoffpartialdruck (pO2 ). In der Lunge liegt der Sauerstoffpartialdruck bei 100 mm Hg und in Kapillargef¨ aßen von aktiven Muskelzellen bei etwa 20 mm Hg. Das bedeutet, dass hier etwa 70 % des gebundenen Sauerstoffs freigesetzt werden. Als P50 -Wert wird der pO2 -Wert bezeichnet, bei dem die Sauerstoffs¨ attigung des H¨ amoglobins 50 % betr¨ agt. Normalerweise liegt dieser Wert bei 27 mm Hg (Kurve mit Kreisen). Der Bohr-Effekt bewirkt, dass die Sauerstoffdissoziationskurve nach rechts verschoben wird (Kurve mit Quadraten). F¨ ur den arbeitenden Muskel, der viel CO2 und H + -Ionen produziert, bedeutet dies eine bessere Sauerstoffversorgung. Eine besondere Rolle spielt das BPG bei der Sauerstoffbindung, es ist unter normalen Bedingungen mit etwa 5 mM in der gleichen Konzentration wie H¨ amoglobin vorhanden. Ohne BPG erfolgt eine starke Linksverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve (Kurve mit Dreiecken).
schen, die einen genetisch bedingten Mangel dieses Enzyms aufweisen, sind sehr empfindlich gegen¨ uber meth¨amoglobinbildenden Giften. Zu den sogenannten Meth¨amoglobinbildnern geh¨oren verschiedene Substanzen, die man nach dem Mechanismus der Meth¨amoglobinbildung in vier Gruppen, n¨amlich in Oxidationsmittel, Substanzen mit gekoppelter Oxidation, autokatalytischer Oxidation und Wirkung durch Redoxfarbstoffe unterteilen kann (siehe Kapitel 8.2.2, Meth¨amoglobinbildner). Als ein Beispiel f¨ ur eine gekoppelte Oxidation sollen die Nitrite dienen. W¨ahrend dieser Oxidation wird unter Bildung von Nitrat Sauerstoff auf Nitrit
148
Kapitel 3 Toxikodynamik
Tabelle 3.3 Verschiedene Meth¨ amoglobinbildner. Oxidationsmittel
Substanzen mit gekoppelter Oxidation
Substanzen mit autokatalytischer Oxidation
Redoxfarbstoffe
Chlorate Perchlorate K3 [Fe(CN)6 ]
Natrium-Kaliumnitrit Nitrate, NO2 , NO Amylnitrit Nitroglycerin
Anilin Nitrobenzol Phenylhydrazin Nitrotoluole Sulfonamide
Methylenblau Thionin Chinone
u ¨bertragen und gleichzeitig H¨amoglobin in Meth¨amoglobin verwandelt (KieseZyklus). Die beiden letzten Prozesse benutzt das NADPH-NADP+ -ReduktaseSystem, um indirekt verst¨arkt Meth¨amoglobin zu bilden. 3.5.3.5
Der Erythrozytenstoffwechsel
Der Stoffwechsel des Erythrozyten zeigt insofern eine Besonderheit, als ATP ausschließlich durch Glycolyse gebildet werden kann. Durch den Abbau von Glukose zu Lactat und Pyruvat gewinnt der Erythrozyt nicht nur Energie in Form von ATP, sondern auch Reduktions¨aquivalente in Form von NADH und NADPH. Ein großer Teil des ATP wird f¨ ur die Na+ -K+ -ATPase-Reaktion zur Kompensation des kolloidosmotischen Drucks verwendet. Die Spezialisierung auf den Sauerstoff- und CO2 -Transport hat es mit sich gebracht, dass der Erythrozyt auch besonders anf¨allig f¨ ur toxische Prozesse ist. Dabei birgt schon die Kombination einer hohen Sauerstoffkonzentration mit Eisen als Reaktionspartner ein hohes toxisches Potential. Deshalb gibt es im Erythrozyten vier verschiedene Oxidationsschutzmechanismen: • Die Glutathion-Peroxidase Eine Selen-haltige Peroxidase, die mit Glutathion (GSH) als Cosubstrat arbeitet, entgiftet H2 O2 (Wasserstoffperoxid) im Erythrozyten (Abbildung 3.13). Bei dieser Peroxidase-Reaktion reagiert H2 O2 mit GSH und wird in 2H2 O und Glutathiondisulfid (GSSG) u ¨berf¨ uhrt. In den Erythrozyten existiert ein Glutathion-Reductase-Enzym, das unter Verbrauch von NADPH das GSSG in 2 GSH zur¨ uckverwandelt. In den Erythrozyten hat das Tripeptid GSH eine Halbwertszeit von 3 bis 4 Tagen. Es wird dort nicht abgebaut, sondern an das Plasma abgegeben. Im Erythrozyten erfolgt seine Synthese durch zwei jeweils ATP-abh¨angige Reaktionen aus den Aminos¨auren Glutamat, Cystein und Glycin. Der Glutathiongehalt des Erythrozyten ist, wie in der Leber, sehr hoch und liegt bei einer Konzentration von 5 bis 7 mM.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
149
Glucose Hexokinase Glucose-6--P
NADP
+
2 GSH
H2O 2
2 H2O GSSG NADPH + +H GSHGSSGGlucose-6Peroxidase Reductase PhosphatDehydrogenase
6--P--Gluconat
Abbildung 3.13 Entgiftung von Wasserstoffperoxid durch die Glutathionperoxidasereaktion.
• Die Meth¨ amoglobin-Reduktase Im Erythrozyten entsteht Meth¨amoglobin st¨andig durch die Anlagerung von Sauerstoff an H¨amoglobin. Dieser Vorgang wird als Autoxidation bezeich¨ net und f¨ uhrt durch die Ubernahme eines Elektrons von Eisen zur Bildung von Meth¨amoglobin und Superoxid-Anion. Die NADH-abh¨angige Meth¨amoglobinreductase bewirkt die Umwandlung von Meth¨amoglobin in H¨amoglobin, w¨ahrend die folgende Superoxid-Dismutase das Superoxid-Anion entgiftet. • Die Superoxid-Dismutase (Kupfer und Zink enthaltendes Enzym) Dieses Enzym dient zur Entfernung von Superoxid-Anionen entsprechend der + folgenden Summenreaktion: 2O•− 2 + 2H → O2 + H2 O2 . Das toxisch wirkende Wasserstoffperoxid wird durch Peroxidase oder Katalase abgebaut. • Die Katalase Die Katalase des Erythrozyten spaltet 2 H2 O2 in 2H2 O und O2 . Außer dieser Entgiftungsreaktion oxidiert die Katalase auch metallisches Quecksilber (Hg◦ ) und giftet es hierdurch zu zweiwertigem Quecksilber (Hg2+ ). Neben dem ausgepr¨agten Oxidationsschutz stellt die direkte Beeinflussung des Sauerstofftransportes durch das 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) eine weitere Besonderheit des Erythrozytenstoffwechsels dar. Erythrozyten f¨ uhren die Synthese des BPG und seinen Abbau auf einem Nebenweg des Glycolysestoffwech-
150
Kapitel 3 Toxikodynamik
¨ sels durch. Dabei katalysiert die Bisphosphoglycerat-Mutase die Ubertragung einer Phosphorylgruppe vom C(1)- auf das C(2)-Atom des 1,3-Bisphosphoglycerats. Das so entstandene 2,3-Bisphosphoglycerat wird durch 2,3-Bisphosphoglycerat-Phosphatase zu 3-Phosphoglycerat hydrolysiert. Vanadat vermindert das BPG (siehe Kapitel 4). Viele toxische Prozesse sind in der Lage, den Erythrozytenstoffwechsel zu beeinflussen. Besonders toxisch f¨ ur den Erythrozyten ist das Blei (siehe Kapitel 4.2.1). Im Blut sind ca. 95 % des zirkulierenden Bleis an Erythrozyten gebunden. Es kann in Form eines lipophilen Hydroxyl-Bicarbonat-Komplexes verh¨altnism¨aßig schnell die Erythrozytenmembran so wie andere Membranen passieren. Seine akut toxische Wirkung l¨asst sich durch den Abfall des ATP in den Zellen nachweisen. Besser als die akuten Intoxikationen durch Blei kennt man seine chronischen Wirkungen auf die H¨amoglobinsynthese. An verschiedenen Stellen wird die H¨amsynthese gehemmt, und die Vorstufen, z. B. die d-Aminol¨avulins¨aure (d-ALA), werden vermehrt im Harn ausgeschieden. Es tritt sekund¨ar eine Verminderung der Erythrozytenzahl und des H¨amoglobins in den Erythrozyten auf (An¨amie, Blutarmut). Außerdem weisen die Zellen k¨ornige Einschl¨ usse sowie Verformungen auf, und ihre Lebenszeit ist stark verk¨ urzt.
3.5.4
Toxische Ein߬ usse auf das Nervensystem
Das Nervensystem sorgt f¨ ur eine koordinative Steuerung der verschiedenen Organsysteme und ist als Steuerzentrale in besonderem Maße f¨ ur die bewussten und unbewussten Abl¨aufe im Organismus verantwortlich. Wegen dieser zentralen Funktion sind toxische Einfl¨ usse auf dieses empfindliche System von besonderer Bedeutung. Presst man einem Menschen ein mit Chloroform (Trichlormethan) getr¨anktes Tuch auf Mund und Nase, so verliert er das Bewusstsein (siehe Kapitel 5). Der so narkotisierte Mensch ist im Gegensatz zum Schlafenden nicht aufweckbar. Das Ausmaß der Narkosetiefe wird durch die Chloroform-Konzentration bestimmt. Am empfindlichsten reagiert die Hirnrinde. Die Folgen sind Schmerzlosigkeit, Bewusstseinseinschr¨ankung bis hin zur Bewusstlosigkeit. Die Steuerung der bewussten Abl¨aufe im Organismus ist aufgehoben. Bei weiterer Narkosetiefe werden die protektiven Reflexe wie Flucht-, Stell- und Haltereflexe, Hustenreflex, Fremdk¨orperreiz am Auge etc. abgeschw¨acht oder sie erl¨oschen, und die Muskelspannung erschlafft. Bis zu diesem Punkt sind alle Prozesse reversibel, d. h. l¨asst die Chloroform-Konzentration im Organismus nach, so erwacht der Bet¨aubte aus der Narkose und kann sich an nichts mehr erinnern (retrograde Amnesie, zur¨ uckliegender Erinnerungsverlust).
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
151
Ein Zuviel an Chloroform bewirkt, dass die lebenswichtigen Zentren im verl¨angerten Mark (Medulla oblongata oder Nachhirn) gehemmt werden. Der Kreislauf bricht zusammen, die Atmung h¨ort auf, und der Vergiftete stirbt. Chloroform wurde 1831 von Justus von Liebig hergestellt, gleichzeitig auch in Frankreich und den USA. Der Arzt James Y. Simpson in Edinburgh benutzte Chloroform 1847 in der Geburtshilfe, um z. B. K¨onigin Victoria bei der Geburt ihres achten Kindes die Schmerzen zu nehmen. Chloroform darf heute nicht mehr als Narkosemittel eingesetzt werden, weil es unkontrollierbare toxische Eigenschaften besitzt. W¨ahrend der Narkose kann es zu einem pl¨otzlichen Herzstillstand kommen und nach der Narkose schwere Lebersch¨adigungen erzeugen. Auch als L¨osungsmittel verwendet kann Chloroform narkotische Erscheinungen hervorrufen und zu schweren Vergiftungen von Leber- und Nierenparenchym f¨ uhren. Der allgemeine Mechanismus der Narkose konnte trotz vieler Versuche bisher nicht restlos aufgekl¨art werden. Der Angriffspunkt der Narkotika ist jedoch eindeutig die Zellmembran. Die Wirkung beruht darauf, dass die elektrische Erregbarkeit der Nervenzellen abnimmt und schließlich vollkommen sistiert. So ¨andern sich die an der Gehirnoberfl¨ache registrierten elektrischen Potentiale, die als Elektroencephalogramm (EEG) bezeichnet werden, bei einer Narkose in typischer Weise: 1. Wachzustand: Vorherrschend desynchronisierte, schnellfrequente Wellen (10 bis 20 Hz) mit kleinen Amplituden (10 bis 20 mV). 2. Narkose: Synchronisierte, zunehmend langsame Wellen (ungef¨ahr 3 Hz) mit hoher Amplitude (bis 150 mA), a¨hnlich einem Schlaf-EEG. 3. Toxische Wirkung: burst-artige“ Wellenentstehung begleitet von st¨andiger ” Abnahme der Amplitude bis zum vollst¨andigen Ausbleiben der Potentiale. Auf Grund der typischen EEG-Muster bei der Narkose wurden die an der Gehirnoberfl¨ache registrierten Potentiale zur Kontrolle der Narkosetiefe eingesetzt. 3.5.4.1
Effekte auf die Nervenfasern
Die Beobachtung, dass die Erregbarkeit von Nerven auf elektrischen Vorg¨angen beruht, geht auf Luigi Galvanis ber¨ uhmt gewordene Kontraktionsexperimente an Froschmuskel-Nerven-Pr¨aparaten durch Elektrizit¨at im Jahr 1789 zur¨ uck. Inzwischen kann man Nervenzellen und andere Zellen mit Mikroelektroden anstechen und Potentialdifferenzen zwischen Innen- und Außenraum messen. Nervenzellen besitzen unter Ruhebedingungen eine Potentialdifferenz u ¨ber die
152
Kapitel 3 Toxikodynamik
Zellmembran hinweg, wobei sich das Zellinnere negativ gegen¨ uber der Zellau¨ ßenseite verh¨alt. Ubereinkunftsgem¨aß wird das sogenannte Ruhe-MembranPotential mit negativem Vorzeichen geschrieben. Die gemessene Potentialdifferenz entspricht in erster N¨aherung dem Diffusionspotential, welches durch den vorliegenden Kaliumkonzentrationsgradienten an der Membran hervorgerufen wird (Nernst´sches Diffusionspotential): EmV =
RT C2 ln zF C1
EKalium = 61 · log
4mMKalium außen = − 94mV 140mMKalium innen
Dabei ist R die allgemeine Gaskonstante, T die absolute Temperatur, F die Faradaykonstante und z die Wertigkeit des Ions. F¨ ur den Warmbl¨ uter wird stets eine Temperatur von 37 °C angenommen und anstelle des nat¨ urlichen Logarithmus erfolgt eine Umrechnung in den dekadischen Logarithmus. Das Ruhepotential wird durch spannungsgesteuerte Kalium-Kanalproteine (Tabelle 3.1) bedingt, die am nicht erregten Nerv die Kalium-Ionen durch die Membran entsprechend ihrem Konzentrationsgef¨alle diffundieren lassen. W¨ahrend der Erregung a¨ndert sich die Kationenpermeabilit¨at ganz erheblich, und die Folge dieser Permeabilit¨ats¨anderung ist das eintretende Aktionspotential. Dabei spielen spannungsgesteuerte Natriumkan¨ale (Tabelle 3.1) in der Nervenmembran die wesentlichste Rolle. Durch einen depolarisierenden Reiz, der von einer anderen Nervenzelle, z. B. vom ZNS, ausgeht oder von einer Rezeptorzelle von der Peripherie her kommt (z. B. Schmerzrezeptor), werden bei Erreichen eines Schwellenpotentials von etwa -65 mV die Natriumkan¨ale in der Membran f¨ ur kurze Zeit (0,5 bis 1 ms) aktiviert und ge¨offnet. Bei einer gleichzeitigen Abnahme der Kaliumpermeabilit¨at f¨ uhrt der pl¨otzliche Einstrom von Natrium-Ionen entsprechend dem Natriumkonzentrationsgradienten, der dem Kaliumkonzentrationsgradienten etwa in umgekehrter Richtung entspricht, zu einer Membran-Depolarisation. Das Natriumgleichgewichtspotential, das entsprechend der Nernst´schen Gleichung EKalium = 61 · log
145mMNatrium außen = + 66mV 12mMNatrium innen
betr¨agt, wird jedoch nicht erreicht, da potentialabh¨angig die Natriumkan¨ale inaktiviert werden und die Kaliumpermeabilit¨at bereits zunimmt, bis schließlich das normale Ruhepotential wieder erreicht wird. Dieser Vorgang wird als Repolarisation bezeichnet.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
153
Der einmal ausgel¨oste Reiz l¨auft entlang des Nerven mit konstanter Geschwindigkeit bis zu dessen Ende ab. Nerven sind keine elektrischen Kabel, die wie ein Kupferdraht die Elektrizit¨at mit 300 · 106 m pro Sekunde leiten. Der Vergleich ¨ mit einer Z¨ undschnur ist eher zutreffend. Tabelle 3.4 gibt eine Ubersicht u ¨ber die verschiedenen Nervenfasertypen, ihre Durchmesser, Leitungsgeschwindigkeiten, Spitzenpotentialdauer und die absoluten Refrakt¨arperioden (Nichterregbarkeitszeiten). Tabelle 3.4 Eigenschaften von Nervenfasertypen. Fasertyp Aα Aβ Aγ Aδ B C
Faserdurchmesser (µm)
Leitungsgeschwindigkeit (m/sec)
12 – 20 5 – 12 3–6 2–5 <3 0,4 – 1,2
70 – 120 30 – 70 15 – 30 12 – 30 3 – 50 0,5 – 2,0
Spitzenpotentialdauer (ms)
Absolute Refrakt¨ arperiode (ms)
0,4 – 0,5
0,4 – 1,0
1,2 2
1,2 2
Der Fasertyp Aa besitzt die gr¨oßte Leitungsgeschwindigkeit mit maximal 120 Metern pro Sekunde oder 432 Kilometern pro Stunde. Diese ist offensichtlich eine Funktion des Nervenfaserdurchmessers und der Isolierung der Nervenzelle mit einer Mark- oder Myelinscheide. Der Typ A bezeichnet Nervenfasern, die mit einer Myelinscheide umgeben sind (a, b, g und d sind Untergruppen), Typ B haben eine d¨ unne Myelinh¨ ulle und Typ C besitzen kein Myelin. Die Myelinscheide, welche die Nervenfaser elektrisch isoliert, ist eine spiralf¨ormige, sich 10 bis 150-mal um die Plasmamembran legende Lipiddoppelschicht. Sie ist in Abst¨anden von etwa 1 mm von engen, nichtmyelinisierten L¨ ucken unterbrochen, die man als Ranvier´sche Schn¨ urringe bezeichnet. An diesen Schn¨ urringen h¨aufen sich die Kationenkan¨ale, und die Erregungsleitung springt von Ring zu Ring. Diesen Vorgang nennt man saltatorische (lat. saltare, springen) Erregungsleitung. Das Ergebnis ist eine etwa 20-mal schnellere Erregungsleitung gegen¨ uber einer myelinlosen Nervenfaser von sonst gleicher Dimension. Die Refrakt¨arzeit einer Nervenfaser ist insofern wichtig, als das neue Aktionspotential nur in einem noch nicht erregten Gebiet weitergeleitet werden kann. Damit ist die Richtung der Erregungsausbreitung eindeutig festgelegt. Der spannungsgesteuerte Natriumkanal ist der Angriffspunkt vieler Nervengifte. Zu diesen geh¨ort das Gift des Kugelfisches, das Tetrodotoxin (Rezeptoren). Der Kugelfisch, auch Fugu-Fisch genannt, ist eine japanische Delikatesse, und die Entfernung des Gifts macht eine besondere Zubereitung erforderlich. Bereits 10 ng von diesem Gift sind f¨ ur eine Maus t¨odlich. Ein anderer spezifi-
154
Kapitel 3 Toxikodynamik
scher Blocker ist das Saxitoxin von marinen Dinoflagellaten (Flagellaten, Geißeltierchen). Dieses Gift wird von filtrierenden Muscheln so stark angereichert, dass der Gehalt einer einzelnen Muschel an Saxitoxin etwa 50 Menschen t¨oten kann. Die spezifische Wechselwirkung dieser Substanzen mit den Proteinen des Natriumkanals wurde zur Reinigung der Natriumkanalproteine benutzt. Lange Zeit bevor diese spezifischen Gifte bekannt geworden sind, hat man in der Medizin und in der Zahnmedizin die Blockade der Erregungsleitung benutzt, um dem Patienten bei einem operativen Eingriff, wie z. B. beim Vern¨ahen einer Wunde oder beim Bohren in einem Zahn, Schmerzen zu ersparen. Dazu werden die Lokalan¨asthetika verwendet. Sie bewirken einen lokalen, reversiblen toxischen Effekt an dem mit einer feinen Kan¨ ule umspritzten Nerven, n¨amlich am spannungsabh¨angigen Natriumkanal. Die Erfindung der Lokalan¨asthesie geht auf das Jahr 1884 zur¨ uck, als man das Cocain, ein Alkaloid aus Erythroxylon coca, zum erstenmal bei einer Augenoperation zu diesem Zweck verwendete. Im Jahre 1905 gelang es in vorbildlicher Weise, das wichtige Wirkungsprinzip der Lokalan¨asthesie von den unerw¨ unschten suchtmachenden Effekten des Cocains zu trennen und auf eine synthetische Verbindung zu u ¨bertragen. Die erste Verbindung war das auch heute noch f¨ ur die Lokalan¨asthesie benutzte Procain. Gegen¨ uber der blockierenden Wirkung der Lokalan¨asthetika sind die verschiedenen Nervenfasern unterschiedlich empfindlich. D¨ unne Nervenfasern werden eher gehemmt als dicke. So wird verst¨andlich, dass die d¨ unnen, schmerzleitenden (sensiblen) C-Fasern mit einem Durchmesser von 0,4 bis 1,2 mm (Tabelle 3.4) vor den zu einem Erfolgsorgan, z. B. einem Muskel, ziehenden (motorischen) Aa-Fasern mit einem Durchmesser von 12 bis 20 mm ausfallen. In Bezug auf das Gehirn kann man die Nervenbahnen in efferente (herausfahrende) und afferente (zufahrende) Bahnen einteilen. Man spricht von motorischen und sensorischen Nerven, je nachdem, ob diese Bahnen Bewegung oder Empfindung vermitteln. Die zu den Dr¨ usen ziehenden efferenten Bahnen werden als sekretorisch bezeichnet. Eine weitere Gliederung ist die Unterteilung in das autonome oder vegetative, der Willk¨ ur nicht unterworfene, und das somatische (willk¨ urliche) Nervensystem. 3.5.4.2
Effekte am synaptischen Spalt
Die Erregungs¨ ubertragung durch die Nerven erfolgt nicht kontinuierlich, da das Grundbauelement, das Neuron, mit seinen langen Forts¨atzen, den Neuri¨ ten, nur etwa 90 cm weit reicht. Die Ubertragungsstelle von einer Nervenzelle auf eine fortleitende andere Nervenzelle, sowie vom Nerven auf eine Muskel-
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
155
oder eine Dr¨ usenzelle wird als Synapse (griechisch Verbindung) bezeichnet. W¨ahrend die Erregungs¨ ubertragung im Nerven durch das wellenf¨ormige Fortschreiten des Aktionspotentials erfolgt, geschieht die Signal¨ ubertragung in der Synapse durch chemisch definierte Botenstoffe oder Transmitter. Diese Substanzen haben eine Ventilfunktion, da sie die Erregung immer nur in einer Richtung vom Nervenende ausgehend auf das Folgeorgan u ¨bertragen. Die Entdeckung der Signal¨ ubertragung durch einen chemischen Botenstoff gelang Otto Loewi im Jahre 1921. Dabei wurde ein isoliertes Froschherz benutzt, das in einer geeigneten N¨ahrl¨osung einige Stunden weiterschlagen kann. Das isolierte Froschherz besaß außerdem noch den freipr¨aparierten Nervenstrang des Vagus. Vagusnerven sind, neben den sympathischen Nerven, ein Teil des autonomen Nervensystems, das die unwillk¨ urliche Steuerung des Herzens bewirkt. Reizt man den Vagusnerv mittels einer Elektrode, so verlangsamt sich der Herzschlag, und die Herzkraft nimmt ab, w¨ahrend eine Reizung des Sympathikus eine Steigerung des Herzschlags und der Herzkraft verursachen w¨ urde. Loewi entnahm dem Herzen alle 15 Minuten mit einer Pipette eine Probel¨osung, nachdem er vorher den Vagusnerv elektrisch gereizt hatte. Die gesammelten Probel¨osungen wurden nun sp¨ater dem wieder normal schlagenden Froschherzen zugef¨ uhrt. Die Wirkung der Probel¨osungen war die gleiche wie die einer direkten elektrischen Reizung des Vagus, n¨amlich eine deutliche Abnahme der Herzfrequenz und der Herzkraft. Loewi folgerte aus seinem Versuch, dass die Nervenreizung einen Vagusstoff“ freisetzt, der die Herzaktion verlangsamt ” und die Herzkraft senkt. Dieser Vagusstoff“ konnte schon 1926 als Acetylcholin identifiziert wer” den, und der zur gleichen Zeit bereits vermutete Acceleranz-Stoff des FroschSympathikus erwies sich sp¨ater als Adrenalin. Bei den S¨augetieren entdeckte Ulf S. von Euler 1946 das Noradrenalin als den entsprechenden Transmitter. In der Folgezeit wurden erst langsam, dann immer schneller weitere Transmitter aufgefunden. In Tabelle 3.1 sind einige dieser Transmitter als Rezeptoren aufgelistet. Die Vesikel in den Nervenendigungen haben einen Durchmesser von ungef¨ahr 40 nm und enthalten etwa 10 000 Acetylcholin-Molek¨ ule. Wenn an der pr¨asynaptischen Membran (Membran der Nervenendigung) ein Aktionspotential an¨ kommt, l¨ost es dort die Offnung von spannungsgesteuerten Calciumkan¨alen (Rezeptoren, Tabelle 3.1) aus. Dies bewirkt wiederum eine Exocytose der Vesikel, die gleichzeitig ihren Inhalt in den synaptischen Spalt freigeben. Der Spalt ist etwa 50 nm breit, so dass die Acetylcholin-Molek¨ ule in weniger als 100 ms zur postsynaptischen Membran (Membran der Erfolgszelle) diffundieren k¨onnen.
156
Kapitel 3 Toxikodynamik
Abbildung 3.14 Schema eines synaptischen Spalts. Acetylcholin (ACh) wird aus Cholin und Acetyl-Coenzym A (AcCoA) synthetisiert und in Vesikeln gespeichert. Bei einem Nervenreiz erfolgt eine Freisetzung in den synaptischen Spalt, wo Acetylcholin mit dem Rezeptor (R) reagiert und durch die Acetylcholinesterase (AChE) in Acetat (Ac) und Cholin gespalten wird.
Zur Ausl¨osung eines wirksamen Signals am Rezeptor der postsynaptischen Membran m¨ ussen mindestens 100 solcher Vesikel ihren Inhalt gleichzeitig freigesetzt haben (etwa 106 Molek¨ ule). Die Wirkung am Rezeptor wird durch das sich in der Nachbarschaft befindende Enzym Acetylcholin-Esterase terminiert. Die Spaltprodukte Acetat und Cholin haben keine Affinit¨at mehr zum Rezeptor, und das Cholin wird durch einen eigenen Transportmechanismus in die Nervenendstrukturen wieder aufgenommen. Dort erfolgt mit AcetylCoenzym A aus dem Mitochondrienstoffwechsel und dem Enzym Cholinacetyltransferase eine Neusynthese von Acetylcholin, das schließlich in die Vesikel aufgenommen wird. Die Mechanismen der Acetylcholinfreisetzung, der Aufnahme von Cholin in die Nervenendigungen sowie die Synthese des Acetylcholins und seine Speicherung in den Vesikeln sind in den verschiedenen Acetylcholintransmissionssystemen sehr a¨hnlich. So ist es auch verst¨andlich, dass toxische Effekte auf diese Mechanismen die verschiedenen Systeme gleichzeitig betreffen.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
157
Das Botulinustoxin, ein Gemisch von acht Proteinen von 135 bis 170 kD, gilt als das st¨arkste bekannte Gift (vgl. Tabelle 1.2). Es wird von dem anaeroben Clostridium botulinum (anaerobes Bakterium) gebildet. Seine Wirkung beruht darauf, dass es den Freisetzungsmechanismus des Acetylcholins aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt blockiert. Die Folge sind Acetylcholinmangelsymptome, die denen einer Atropinvergiftung sehr a¨hnlich sind: starke Pupillenerweiterung, Doppelsehen, Sprach- und Schluckst¨orungen, Muskelschw¨ache, Atemnot und Kr¨ampfe. Im Gegensatz zum Botulinustoxin bewirkt das Gift der Schwarzen Witwe, einer Giftspinne, eine vermehrte Acetylcholinaussch¨ uttung in den synaptischen Spalt auf Grund einer Calciummobilisation in die Nervenendigungen, die eine vermehrte Vesikelentleerung zur Folge hat. Die Synapsen, die Acetylcholin als Transmitter benutzen, unterscheiden sich bez¨ uglich der jeweilig unterschiedlichen Rezeptoren (Abbildung 3.15).
H3C
HO
O
H3C
+
+
CH3
N CH2 CH CH3 2 O Acetylcholin C
MuscarinRezeptor H3C
O
H3C
MuskelRezeptor
GanglienRezeptor
H3C
CH3
N CH3 CH2 H3C
Muscarin
N
+
H
N N
+
H
Nicotin
N Nicotin Abbildung 3.15 Acetylcholinrezeptoren mit ihren Wirksubstraten, nach denen die Benennung in muskarinisch und nicotinisch erfolgt. Die muskarinischen Rezeptoren werden in Untertypen von M1 bis M5 eingeteilt.
158
Kapitel 3 Toxikodynamik
Die erste Gruppe der Acetylcholinrezeptoren in der Abbildung 3.15 sind die muskarinischen, die wegen ihrer Erregbarkeit durch Muskarin m-Acetylcholinrezeptoren genannt werden. Es gibt verschiedene Untertypen dieser Rezeptoren, welche die Bezeichnung M1 bis M5 , tragen. Das Herz besitzt vorwiegend M2 -Rezeptoren, u ¨ber welche die Herzverlangsamung und die Abnahme der Herzkraft gesteuert wird. Die nicotinischen Rezeptoren umfassen zwei Gruppen von n-Acetylcholinrezeptoren. Die erste Ganglien-Gruppe hat Transmitterfunktion innerhalb der Nervenverbindung, und die zweite ist f¨ ur die Transmission vom Nerv auf die Skelettmuskeln verantwortlich. Eine Unterteilung der Acetylcholinrezeptoren ist auch, wie in Abbildung 3.16 gezeigt, durch relativ selektive Inhibitoren m¨oglich. Dabei hat Atropin, ein Alkaloid der Tollkirsche (Atropa belladonna), in niedriger Konzentration bevorzugt kompetitive Hemmwirkung auf die m-Acetylcholinrezeptoren. Bereits Loewi benutzte es in seinem ber¨ uhmt gewordenen Herzversuch, um die Wirkung seines Vagusstoffes“ zu antagonisieren. Der ” Name Atropin stammt von dem botanischen Systematiker Carl von Linn´e, der Atropa belladonna nach der dritten griechischen Schicksalsg¨ottin, Atropos, benannte. Die erste Parze (G¨ottin) ist Klotho, die Spinnerin des Lebensfadens, die zweite Lachesis, die den Lebensfaden zuteilt und die dritte Atropos, die Todes-G¨ottin, die den Lebensfaden abschneidet. 15 bis 20 Beeren der Tollkirsche k¨onnen f¨ ur einen Erwachsenen t¨odlich sein, f¨ ur Kinder schon wenige Beeren. Die beiden nicotinischen n-Acetylcholinrezeptoren k¨onnen durch ihre Inhibitoren unterschieden werden. Dabei ist Hexamethonium (CH3 )3 N+ -(CH2 )6 -N+ (CH3 )3 ein starker Inhibitor f¨ ur den nicotinischen Rezeptor in den Ganglien. Die sogenannte Polymethylen-Bismethonium-Verbindungsreihe, zu der auch das Hexamethonium geh¨ort, wurde bei SAR-(structure activity relationship)-Studien zur Charakterisierung von nicotinischen Rezeptoren erfolgreich verwendet: (CH3 )3 N+ -(CH2 )n -N+ (CH3 )3 . Die Anzahl der CH2 -Gruppen zwischen den beiden kationischen Stickstoffatomen bestimmt die spezifische Wirkung am Rezeptor. Eine Verl¨angerung der Zwischenglieder auf n = 10 (Dekamethonium) bewirkt, dass die Ganglienblockade verschwindet, daf¨ ur aber die Blockade der Muskelkontraktion einen maximalen Wert erreicht. Mit zehn CH2 -Zwischengliedern wird der gleiche molekulare Abstand zwischen den beiden kationischen Zentren erreicht, der auch im Curare-Molek¨ ul zwi-
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
159
Acetylcholin
N
MuskelRezeptor
GanglienRezeptor
MuscarinRezeptor
CH3
H3C H3C H
N
+
CH3
O N
HO
+
CH3 CH3
O
CH3
CH2
O O C HOCH2
C
H3C H3C
OH +
CH2
N
H
CH3
H3C
N
O
+
O Atropin (Inhibitor)
Hexamethonium (Inhibitor)
CH3
Curare (Inhibitor)
Abbildung 3.16 Muskarinische und nicotinische Acetylcholinrezeptoren mit den typischen Inhibitoren Atropin (Muskarinrezeptor), Hexamethonium (Ganglien-Rezeptor, nicotinisch) und Curare (Muskelrezeptor, nicotinisch).
schen den beiden Stickstoffatomen vorhanden ist. Dieser Abstand ist also f¨ ur das Anbinden am Rezeptor von großer Bedeutung. Curare hemmt mit hoher Affinit¨at die Wirkung des Acetylcholins an dem nicotinischen Rezeptor, der im synaptischen Spalt an der postsynaptischen Membran des Muskels lokalisiert ist. Soll die Wirkung von Curare aufgehoben werden, so muss f¨ ur einen ¨ Uberschuss an Acetylcholin im synaptischen Spalt gesorgt werden. 3.5.4.3
Effekte auf die Acetylcholin-Esterase
Die Acetylcholin-Esterase hat nicht nur eine große toxikologische Bedeutung, sie steht auch bei einigen medizinischen Behandlungen im Mittelpunkt. Wenn
160
Kapitel 3 Toxikodynamik
Acetylcholin den Rezeptor erregt hat, so muss es innerhalb kurzer Zeit abgebaut werden, damit der Rezeptor wieder frei f¨ ur die n¨achste Erregung wird (Abbildung 3.14). Die Acetylcholin-Esterase, welche die Spaltung von Acetylcholin in Acetat und Cholin bewirkt, wurde 1938 von David Nachmansohn entdeckt. Im synaptischen Spalt ist das Enzym von einem Netzwerk aus Kollagen und Glycosaminoglycan an die postsynaptische Membran gebunden und kann verh¨altnism¨aßig leicht vom benachbarten Acetylcholinrezeptor abgetrennt werden. Eine hervorstechende Eigenschaft des Enzyms ist seine hohe Wechselzahl ul in 40 Mikrosekunvon 25 000 s−1 , die bedeutet, dass ein Acetylcholinmolek¨ den gespalten wird. Diese enorm hohe Wechselzahl ist notwendig, damit der Acetylcholinrezeptor wieder erregt werden kann. Synapsen k¨onnen bis etwa 1 000 Impulse pro Sekunde u ¨bermitteln, dies ist jedoch nur m¨oglich, wenn die Regenerationszeit einen Bruchteil einer Millisekunde betr¨agt. Zur Aufrechterhaltung des normalen Tonus (Spannung) der glatten Muskulatur und der Skelettmuskulatur wird an den synaptischen Spalten der Muskeln, vorwiegend durch zentral ausgel¨oste Erregungen, st¨andig Acetylcholin freigesetzt und sofort von der Acetylcholin-Esterase gespalten. Der katalytische Mechanismus der Acetylcholinesterase ist sehr ¨ahnlich dem der Peptidspaltung durch Chymotrypsin. Das Acetylcholin reagiert spezifisch mit einem Serin-Rest am aktiven Zentrum des Enzyms (Abbildung 3.17). Bei der Reaktion ensteht eine Acyl-Zwischenverbindung, die sehr schnell zu S¨aure und Alkohol hydrolysiert wird. Das anionische Zentrum, welches das positiv geladene Stickstoffatom des Acetylcholins bindet, ist die negativ geladene Carboxyl-Gruppe der Aminos¨aure Asparagin oder Glutamin. Hemmt man dieses Enzym und damit die Veresterung des Acetylcholins, so steigt der Tonus der glatten Muskulatur und der Skelettmuskulatur an. Eine solche Hemmung bewirkt z. B. das Physostigmin, ein Alkaloid aus dem Samen der Kalabarbohne. Diese Fr¨ uchte wurden auch als Gottesurteil-Bohnen bezeichnet, weil sie von den Eingeborenen in Westafrika Schuldverd¨achtigen verabreicht wurden. Ein t¨odlicher Ausgang nach der Einnahme bewies dann die Schuld. Die gr¨oßte Gefahr ist die Hemmung der Herzfunktion, wobei die Abnahme der Frequenz und der Herzkraft im Vordergrund stehen. Es kommt weiter zu Pupillenverengung, Ansteigen des Pulses und des Blutdrucks, Schweißausbruch, Speichelsekretion, Tr¨anensekretion, Muskelflattern, Erbrechen, Auftreten von Koliken und Durchf¨allen sowie zu einer Kontraktion der Bronchien mit Atemnot.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
CH3 Bindung
O
+
H3C N CH2 CH2 O
CH3 O C
Asp anionisches Zentrum
Acetylcholinesterase
161
O C H O N
HN
CH3 Ser esteratisches Zentrum
His
CH3
CH3
OH H3C N CH2 CH2
O C
+
Umesterung CH3
OH + H3C N CH2 CH2 CH3 O O C Asp anionisches Zentrum
Acetylcholinesterase
CH3 O C O
N HN
Ser esteratisches Zentrum
His
OH
CH3 Ablösung
Hydrolyse
O
O
H O
-
C Asp anionisches Zentrum
N HN
Ser esteratisches Zentrum
His
Acetylcholinesterase
Abbildung 3.17 Vereinfachtes Schema der Esterspaltung des Acetylcholins durch die serinhaltige Acetylcholin-Esterase. Das esteratisches Zentrum ist mit Serin (Ser) und Histidin (His) als funktionelle Aminos¨ auren und dem anionischen Zentrum mit Asparagin (Asp) dargestellt. Der Vorgang der Esterspaltung besteht in: Bindung des quart¨ aren Stickstoff an das anionische Zentrum, Umesterung der Acetyl-Gruppe vom Cholin auf die OH-Gruppe eines Serin-Restes im esteratischen Zentrum und Abl¨ osung des Cholins sowie Hydrolse des Serin-Essigs¨ aurerestes.
Das Physostigmin ist ein Carbamins¨aureester, es hemmt die AcetylcholinEsterase durch Carbamylierung des Serins im aktiven Zentrum. Das carbamylierte Enzym wird im Gegensatz zum sonst acetylierten Enzym nur sehr langsam hydrolysiert. 3.5.4.4
Organische Phosphors¨aureester (Alkylphosphate)
Die systematische Bearbeitung und gezielte Synthese organischer Phosphorverbindungen erfolgte 1934 durch G. Schrader (Firma Bayer, Elberfeld). Das Ziel von Schrader war es, Insektizide zu finden, die f¨ ur den menschlichen Organismus weitgehend unsch¨adlich sein sollten. Zu den synthetisierten Sub-
162
Kapitel 3 Toxikodynamik
stanzen z¨ahlte unter anderen das Parathion (E 605: Diethyl-p-nitrophenylthiophosphat). F¨ ur die Chemie der damaligen Zeit stellten organische Phosphorverbindungen keine Neuheit mehr dar, da man das TEPP (Tetraethylpyrophosphat) schon seit 1854 kannte. Die Untersuchungen lieferten jedoch auch Organophosphate, die f¨ ur den menschlichen Organismus hochtoxisch waren. 1936 wurde die Substanz Tabun und 1939 Sarin synthetisiert:
H5C2
O
CH3
O P
H3C N
C N
H3C
CH O
O P
CH3
H3C
Tabun
Sarin
F
Ihre Bedeutung als Nervenkampfstoffe (Toxizit¨ats-Reihenfolge: Tabun < Sarin < Soman < Substanz VX) ist bis in unsere Tage erhalten geblieben. Sie hemmen die menschliche Acetylcholin-Esterase so wirksam, dass es durch Blockade der acetylcholinergen Nervenimpulse zu L¨ahmungen und zum Tod durch Ersticken kommt. Die Organophosphate haben wegen ihrer vielseitigen Anwendungsm¨oglichkeiten als Insektizide großes toxikologisches Interesse gefunden. Sie werden als Kontaktinsektizide und Systeminsektizide im Pflanzenschutz in der Agrarund Forstwirtschaft (Nahrungsmittel und Faserkonservierung), zur Seuchenbek¨ampfung (Malaria), als Fungizide (Pilzgifte) und gegen Ekto- und Endoparasiten in der Veterin¨armedizin eingesetzt (siehe Kapitel 6.1). Gegen¨ uber den chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen (DDT und anderen Verbindungen) sind sie in zweierlei Hinsicht von Vorteil. Sie sind erstens biologisch abbaubar und werden zweitens weder innerhalb noch außerhalb von Lebewesen gespeichert. Es besteht jedoch der Nachteil, dass die große Toxizit¨at dieser Insektizide im Wesentlichen auch f¨ ur den Menschen gilt, so dass beim Umgang mit diesen Stoffen eine besondere Vorsicht geboten ist. Es hat zwar Fortschritte bei der Synthese selektiver toxischer Substanzen gegeben, z. B. durch die Einf¨ uhrung selektiver Gruppen, die Ausnutzung verschiedener Aufnahmemechanismen oder die Kenntnis u ¨ber die unterschiedliche Ausstattung mit inaktivierenden Enzymen. Trotz dieser Erfolge konnte man jedoch sch¨adliche Wirkungen auf den Menschen nicht umgehen. Die Insektizid wirkenden Organophosphate zeichnen sich dadurch aus, dass ein Phosphorsubstituent bei physiologischen pH-Werten besonders leicht hy-
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
163
drolysiert. Allen organischen Phosphors¨aure- und Phosphons¨aureverbindungen, summarisch auch Organophosphate genannt, ist eine Grundstruktur gemeinsam, die von G. Schrader schon 1937 erkannt worden war:
R
O
R = Alkyl-, Alkoxy- oder Dialkylamidgruppe
X
X = Säure-/Acylrest
P R
Alkanoylgruppen sind als leicht abspaltbare Acylgruppen von Organophosphaten wichtig f¨ ur die Reaktion mit allen serinhaltigen Enzymen. Toxikologisch betrachtet ist die Reaktion mit der Acetylcholin-Esterase die bedeutsamste. Nach Einlagerung in das aktive Zentrum der Acetylcholin-Esterase (siehe Abbildung 3.17) wird die Acylgruppe abgespalten, und in bimolekularer Reaktion geht der Phosphatrest eine Esterbindung mit dem Serin-OH des Enzyms ein. Damit ist das Enzym nahezu irreversibel gehemmt. Das eigentliche Substrat des Enzyms, das Acetylcholin, kann dann nicht mehr hydrolisiert werden und reichert sich an den Rezeptoren an. Die Vergiftungssymptome erkl¨aren sich aus der Anh¨aufung von freigesetztem Acetylcholin im synaptischen Spalt und der Wirkung des Acetylcholins auf die verschiedenen Acetylcholinrezeptoren. W¨ahrend die Halbwertzeit der Zwischenverbindung der Acetylcholin-Esterase mit Acetylcholin im Millisekundenbereich liegt, ist sie bei der Reaktion mit Alkylphosphaten in der Gr¨oßenordnung von Tagen anzusetzen. Das bedeutet, daß die Acetylcholin-Esterase praktisch irreversibel inaktiviert wird und durch Neusynthese ersetzt werden muß. Die toxische Wirkung h¨angt von der Lipophilie der Organophosphate, von ihrer Affinit¨at zur Acetylcholin-Esterase und von der Hydrolysierbarkeit der aciden Esterkomponente ab. Dabei steigt im allgemeinen die Aufnahme durch die Haut oder durch die Schleimh¨aute des Magen-Darmtrakts mit zunehmender Lipophilie an. Außerdem verbessert sie das Eindringen in die Synapsen an den Nervenendigungen bis in das Gehirn hinein. Die Affinit¨at der Organophosphate zur Acetylcholin-Esterase steigt durch strukturelle und polare Eigenschaften, z. B. das Anbinden an die anionische Stelle im aktiven Zentrum des Enzyms. Die Abspaltung der aciden Esterkomponente ist entscheidend f¨ ur die toxische Wirkung. Eine zu fr¨ uhe spontane Abspaltung vermindert die toxische Konzentration. Phosphatester, die außer der aciden Esterkomponente noch eine zweite leicht hydrolysierbare Gruppe besitzen, sind extrem toxisch und lassen sich nicht vom Enzym abspalten. Beispiele hierf¨ ur sind chemische Kampfstoffe wie Tabun, Sarin und Soman.
164
C2H5O
Kapitel 3 Toxikodynamik
LD50 (Ratte, mg/kg, oral)
O P
C2H5O
O
3
NO 2
Diethyl-4-nitrophenylphosphat (Paraxon) CH3O
Cl
S P
CH3O
O
4
Br
Cl Dimethyl-2,5,-dichlor-4-bromphenylthiophosphat (Bromophos) C2H5O
S P
C2H5O
O
NO 2
10
Diethyl-4-nitrophenylthionophosphat (Parathion, E 605) CH3O
O P
CH3O
70
O CH CCl2
Dimethyl-2,2-dichlorvinylphosphat (Dichlorvos, DDVP) H3CO H3CO
S P S
O CH2 C N
H
300
CH3
Dimethyl-S-methyl-carbamoylmethyldithiophosphat (Dimethoat)
Abbildung 3.18 Beispiele f¨ ur organische Phosphors¨ aureester mit LD50 -Werten.
Abbildung 3.18 zeigt einige der u ¨ber 50 verschiedenen Organophosphate.
3.5 Ausgew¨ahlte Beispiele toxischer Mechanismen
165
O N
+
C N + HO
P
OR1
OR2
CH3 O N
+
CH N O
H C
CH3 O O C Asp anionisches Zentrum
P
OR1
OR2
CH3
Pralidoxim
N
+
OR 1
N O
-
O P OR 2
N HN
O
Ser esteratisches Zentrum
His
Acetylcholinesterase
O
O
O
-
C Asp anionisches Zentrum
N HN
-
Ser esteratisches Zentrum
His
Acetylcholinesterase
Abbildung 3.19 Mechanismus der Dephosphorylierung des aktiven Zentrums der Acetylcholinesterase durch nukleophilen Angriff von Pralidoxim. Das Phosphoryloxim zerf¨ allt zum Nitril und zur ungiftigen Dialkylphosphors¨ aure.
Eine Organophosphatvergiftung mit Parathion l¨ asst sich durch fr¨ uhzeitige Gabe von Pralidoxim (Oximtherapie) behandeln (Abbildung 3.19).
Teil II Spezielle Toxikologie
4
Toxikologie der Metalle und Metalloide
4.1
Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle G¨ unter Fred Fuhrmann
4.1.1
Einf¨ uhrung
Eine erste Information u ¨ber die Toxikologie der Schwermetalle und Metalloide soll das Periodische System der Elemente in Abbildung 4.1 vermitteln.
Abbildung 4.1 Periodisches System der Elemente mit etwa 80 Metallen. Die Schwermetalle mit ausgesprochen toxischen Wirkungen auf den Organismus, wie Cadmium, Quecksilber, Thallium und Blei, sowie das Metalloid Arsen sind durch ein Kreuz gekennzeichnet. Die Metalloide sind hellgrau markiert und der Bereich der Nichtmetalle ist dunkelgrau gef¨ arbt. Alle radioaktiven Metalle sind kursiv geschrieben.
170
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Unter den u ¨ber 80 Metallen sind mit einem schwarzen Kreuz die Schwermetalle markiert, die im Organismus besonders toxisch wirksam sind. Unter den Metalloiden interessiert in dieser Hinsicht besonders das Gift Arsen. Die biologischen und toxischen Eigenschaften der Schwermetalle einschließlich Arsen werden ausf¨ uhrlich behandelt.
4.1.2
Geschichte
Durch das nat¨ urliche Vorkommen von Schwermetallen in der Erdkruste und im Wasser sind Lebewesen diesen Metallen immer ausgesetzt gewesen. So f¨ uhrten wahrscheinlich hohe lokale Konzentrationen in bestimmten geographischen Arealen mit der Wasser- und Nahrungsaufnahme zu den ersten Vergiftungsf¨allen. Die Freisetzung von Schwermetallen aus K¨ uchengebrauchsgegenst¨anden und Zivilisationseinrichtungen wie Bleirohren f¨ ur die Wasserleitung erh¨ohten dabei das nat¨ urliche Risiko einer Vergiftung. Historisch gesehen ist Blei eines der am weitesten verbreiteten und am meisten persistierenden Metalle, das vom Menschen entdeckt und nutzbar gemacht ¨ wurde. Wahrscheinlich dienten primitive Ofen dazu, das Metall aus seinen Erzen zu schmelzen. Abbildung 4.2 zeigt einen historischen Ablauf der Bleiproduktion von 3000 v. Chr. an bis zur heutigen Zeit. Die große Zeitachse l¨ asst nur angedeutet erkennen, dass die Bleiproduktion in den letzten Jahren nicht mehr zugenommen hat. Dies ist besonders dem Umstand zu verdanken, dass Tetraethylblei nicht mehr als Antiklopfmittel dem Kraftfahrzeugbenzin zugesetzt wird. Außerdem wird Blei rezyklisiert. Damit ist der letzte steile Anstieg der Bleiproduktion zum Stillstand gekommen. Die leichte Gewinnung und Verarbeitung sowie seine Korrosionsbest¨andigkeit hat Blei zu einem unentbehrlichen Gebrauchsmetall werden lassen. Nachweis¨ bar benutzten die Agypter bereits 7000 bis 5000 v. Chr. Bleiglasuren f¨ ur ihre T¨opferwaren und die erste Bleifigur aus der ober¨agyptischen Stadt Abydos ¨ wird auf das Jahr 3800 v. Chr. datiert. Die Agypter verwendeten Blei als Hauer, Anker und Wassertiefenlot. Mit dem Kuppelationsverfahren lief die Bleiund Silbergewinnung parallel. Bei der Kupellation (Treibarbeit) wird erhitztes Rohmetall mit Luft behandelt, um das unedlere Blei vom Silber zu trennen. Der erste steile Anstieg der Bleiproduktion war mit der Entwicklung der Griechischen Staaten und des R¨omischen Reiches verbunden. Zur Bl¨ utezeit des R¨omischen Reiches wurden Bleirohre als Hauswasserleitungen benutzt. Aber nicht nur das Trinkwasser, sondern auch Kochgeschirre waren bleihaltig. Eine alte griechische Vorschrift sah das Eindicken von Weintrauben in blei¨ uberzogenen T¨opfen oder Bronzekesseln mit Bleiauskleidung vor. Der so u ¨ber Feuer eingedickte Weintraubensirup hatte den Namen Sapa und war u ¨ber einen lan-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
171
7
Weltbleiproduktion in kg
10 10 4 10
9
10
8
5
6
3
10 7
2 1
10 6 10 5 -3000
-2000
-1000
0
1000
2000
Jahre vor und nach Chr. Abbildung 4.2 Weltbleiproduktion. 1: Beginn der Kupellation (Treibearbeit zur Trennung von Blei und Silber). 2: Erste Periode der Bronzezeit. 3: Das M¨ unzwesen wird eingef¨ uhrt, mit der Bleiproduktion kommt es zur Koproduktion von Schmuck- und M¨ unzmetallen (Silber und Gold). 4: Bl¨ ute des R¨ omischen Reiches. 5: Niedergang des R¨ omischen Reiches. 6: Silberbergbau in Europa, spanische Ausbeutung von Blei-Silber-Minen in der Neuen Welt. 7: Einf¨ uhrung des Tetraethylbleis in den USA, (nach Patterson et al. 1975).
gen Zeitraum haltbar. Die Konservierung des Sapa war dem hohen Gehalt an herausgel¨ostem Bleiacetat (Bleizucker) zu verdanken, welches einen Befall mit Bakterien und Pilzen wirksam verhinderte. Errechnete Konzentrationen an Bleiacetat im Sapa sind a¨ußerst hoch, sie wurden mit 0,2 bis 1 g/Liter angegeben. Da Sapa besonders von den Aristokraten zum S¨ ußen des Weines und der Speisen verwendet wurde, sch¨atzt man bei ihnen eine hohe nahrungsbedingte Zufuhr von etwa 250 mg Pb/Tag. Wesentlich ges¨ under lebten dagegen die Sklaven und Plebejer, die nur 15 bzw. 35 mg Pb/Tag zu sich nahmen, was in etwa der heutigen t¨aglichen Bleizufuhr mit Nahrungsmitteln entspricht (USA 1980: 30 – 50 mg/Tag, Deutschland heute zwischen 0,5 – 30 mg/Tag). Der Untergang des R¨omischen Reiches ist von einigen Autoren mit der hohen t¨aglichen Bleizufuhr in Verbindung gebracht worden. Ein Teel¨offel Sapa t¨aglich w¨ urde unweigerlich zu einer chronischen Bleivergiftung f¨ uhren. Sapa wurde nicht nur zum S¨ ußen von Speisen, wie es aus dem Kochbuch des Apicius (Mar-
172
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
cus Gavius Apicius, ein sprichw¨ortlicher Schlemmer, der zur Zeit des Augustus und Tiberius lebte) hervorgeht, sondern auch als Zusatz zur Verbesserung des Geschmack des Weines eingesetzt. Der gesch¨atzte Genuss von etwa 1 bis 5 Liter Wein pro Tag bei den r¨omischen Aristokraten hat haupts¨achlich zur Vergiftung beigetragen. Als deren Folge traten subjektive Symptome der Bleivergiftung wie Schw¨achegef¨ uhl, Ap¨ petitlosigkeit, Magendruck, Kopf- und Gliederschmerzen, Ubelkeit und M¨ udigkeit auf. Objektive Symptome sind Abmagerung, Darmkoliken, schmerzhafte Verstopfung, Schw¨ache der Streckermuskulatur am Arm, Tremor (Zittern), Blutarmut (An¨amie), Impotenz beim Mann und Ausbleiben der monatlichen Regelblutung bei der Frau sowie Fehlgeburten. Dazu kommt es zu einer Encephalopathia saturnina (Encephalopathia = Sch¨adigung des Gehirns; saturnus, alchimistische Bezeichnung f¨ ur Blei) mit Leistungs-, Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Ged¨achtnisst¨orungen, Intelligenzminderung, sowie depressiver und feindlicher Verhaltensweise. Vielleicht erkl¨aren solche mentalen Sch¨adigungen die Unmenschlichkeiten des als wahnsinnig bezeichneten Nero und des grausamen Caligula. Nicht nur Fehlverhalten mit Fehlentscheidungen bei den Aristokraten, sondern auch die bleibedingten Fertilit¨atsst¨orungen haben wahrscheinlich ganz wesentlich zum Untergang des R¨omischen Reiches beigetragen. Zwischen 1550 bis 1750 wurden von den spanischen Eroberern die Blei-SilberMinen in Mexiko und Peru ausgebeutet, so dass die Bleiproduktion fast den H¨ochststand zur Zeit des R¨omischen Reichs erreichte. Mit der industriellen Revolution erfolgte dann ein weiterer steiler Anstieg. Ein trauriges Ende nahm eine der bestausger¨ usteten Schiffsforschungsreisen, die durch eine neue Erfindung t¨odlich getroffen wurde. Im Mai 1845 startete von Greenwich unter der erfahrenen F¨ uhrung von Sir John Franklin eine Polarexpedition mit zwei Schiffen und 129 Mann Besatzung, um die sogenannte Nordwestpassage zu erkunden. Bereits im ersten Winter starben drei Expeditionsmitglieder im jugendlichen Alter von 20, 32 und 25 Jahren. Im Fr¨ uhjahr 1848 mussten die beiden eisenbewehrten Schiffe im Eis der Antarktis aufgegeben werden und die Besatzung, eine ausgesuchte Elite der Royal Navy, kam letztlich auf dem Weg zur rettenden Zivilisation ums Leben. Es stellte sich zun¨achst so dar, dass durch die Erfindung der Blechdose die mit Nahrungskonserven reichlich ausgestattete Polarexpedition problemlos f¨ ur einen langen Zeitraum versorgt worden war. Die Dosen wurden aus verzinntem Eisenblech hergestellt, das um eine zylindrische Form gebogen wurde. Beiderseits u ¨ber die gesamte H¨ohe des Zylinders bekam die Dose eine dicke L¨otschicht. Beim Zusammensetzen der Dose wurde zuerst der Dosendeckel mit dem Einf¨ ullloch angebracht und von innen verl¨otet, dann wurde der Boden
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
173
angesetzt und durch das Einf¨ ullloch ebenfalls von innen verl¨otet. Schließlich erhielten Deckel und Boden auch noch außen eine L¨otnaht. Nach dem Bef¨ ullen der Dose mit Nahrungsmitteln wurde diese in kochendes Wasser eingetaucht. Die Einf¨ ull¨offnung wurde nach dem Kochvorgang mit einem Deckel verschlossen und verl¨otet. Das verwendete L¨ otmaterial bestand dabei zu mehr als 90 % aus Blei und der Rest war Zinn. Eine Beschreibung sp¨ater aufgefundener Dosen ergab: Das Blei war ” an den L¨otstellen dick und schlampig aufgebracht und war – wie geschmolzenes Kerzenwachs – an der Innenseite der Dosen herabgelaufen“. Der Kontakt des Bleis mit der eingeschlossenen Nahrung in den Dosen verursachte bei der Besatzung eine Bleivergiftung. Beweise daf¨ ur waren die Haare der drei jugendlichen Expeditionsmitglieder, die nach mehr als 140 Jahren aus ihren Gr¨abern im Permafrost der Antarktis exhumiert worden waren. Die Tatsache, dass Blei in hoher Konzentration, um mehr als das Zwanzigfache u ¨ber dem Normalwert, in Scheitel- und Nackenhaaren gefunden worden war, bedeutete, dass die Vergiftung erst auf der Reise eingetreten war und nicht schon zu Hause erfolgt sein konnte. Man hat errechnet, dass jeder Expeditionsteilnehmer jeden zweiten Tag ein Pfund an konservierter Nahrung erhielt, was zu einer st¨andigen erheblichen Aufnahme von Blei f¨ uhrte. Die Bleivergiftung f¨ uhrte nicht nur zum Schwinden der K¨orperkr¨afte, sondern dr¨ uckte sich auch in der zunehmenden Verzweiflung der Mannschaft aus. St¨orungen des peripheren und zentralen Nervensystems, Appetitlosigkeit, M¨ udigkeit, Schw¨ache und Koliken sind wie bereits erw¨ahnt einige Symptome der Bleivergiftung. M¨oglicherweise wirkte sich die Beeintr¨achtigung der Gehirnt¨atigkeit am verheerendsten aus. Erst 1890 wurde in England das Verl¨ oten von Konservendosen auf der Innenseite durch Gesetz verboten. Eine weitere Erfindung in den USA verursachte sogar weltweite gesundheitliche Folgen. Im Jahre 1921 erfand man in den Kettering Research Laboratories von General Motors das Tetraethylblei als Antiklopfmittel bei Verbrennungsmotoren. Bereits 1923 wurde in Ohio das erste tetraethylbleihaltige Benzin verkauft. Schon damals war bekannt, dass sowohl Tri- als auch Tetraethylbleiverbindungen außerordentlich toxisch sind. In den n¨achsten 17 Monaten erfolgten
174
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
bei der Produktion und beim Umgang mit diesem tetraethylbleihaltigen Benzin 139 schwere Vergiftungen und 13 Todesf¨alle. Trotz der Giftigkeit nahm die Produktion von 37 000 Tonnen im Jahre 1935 auf 279 000 Tonnen Tetraethylblei im Jahre 1970 in den USA st¨andig zu. Der Gipfel in der gesamten westlichen Welt von 377 000 Tonnen wurde im Jahre 1971 erreicht, das entspricht etwa 10 % der Weltbleiproduktion pro Jahr (siehe auch Seite 208). Das Tetraethylblei im Benzin zersetzt sich zwischen 100 und 200 °C. Durch einen weiteren Zusatz von 1,2-Dibromethan und 1,2-Dichlorethan im Benzin wird das freigesetzte Blei in Bleihalide (PbBrCl) umgesetzt, um die Motoren vom Blei zu reinigen. Aus dem Auspuff kommen dann kleinste Bleipartikel heraus, die zu 60 % mit einem Durchmesser von weniger als 2 mm bis in die kleinsten Lungenbl¨aschen eindringen k¨onnen. 1973 wurde in den USA festgestellt: 90 % des Bleis in der Luft stammt aus den Autoabgasen. Tabelle 4.1 Anzeichen einer toxischen Bleibelastung anhand eines Blutbleispiegels von mehr als 40 µg Blei/100 ml Blut bei Kindern (0 bis 5 Jahre), Frauen und M¨ annern in verschiedenen Gebieten der USA. Angaben in %, – = keine Angabe. Daten aus: Position on Health Effects of Airborne Lead by the Environmental Protection Service USA 1972. Orte in den USA
Kinder [%]
Frauen [%]
M¨ anner [%]
Baltimore Camden, New Jersey Chicago Illinois, 12 St¨ adte New Haven Newark New York Norfolk, Virgina Oakland Philadelphia Washington D. C. Cincinnati Los Angeles Straßenanwohner
25,3 – 2,0 11,4 23,7 38,9 20,2 22,7 – 34,0 22,0 – – –
– 1,8 – – – – – – 1,9 0,7 – – 3,3 – 4,4 1,8
– – – – – – – – 5,5 2,3 – 4,5 – 2,9 – 6,7 0,6 – 5,2 –
Durchschnittswert
24,6
2,2
2,8
– 31,5
– 31,3 – 29,8 – 45,5
– 39,2
Tabelle 4.1 zeigt die dramatische Situation der Bleibelastung in den USA von 1972. Dies galt auch f¨ ur andere Großst¨adte in der westlichen Welt. Bereits bei 20 mg Blei/100 ml Blut ist die d-Aminolaevulins¨aure-Dehydrase, ein Enzym der H¨amoglobinsynthese, zu etwa 50 % gehemmt. Die Bleibelastung gef¨ahrdet Kinder in st¨arkerem Ausmaß als Erwachsene. Bei Kindern erfolgt neben der Aufnahme von Blei durch die Lungen eine besonders hohe Aufnahme durch den Darm. So nehmen Kinder zwischen 2 Monaten und 6 Jahren sogar bis 50 %
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
175
des Bleis aus dem Darm auf. Im Vergleich nimmt der Erwachsene nur 5 bis 10 % auf. Am st¨arksten betroffen vom Blei waren die Straßenkinder, die direkt den Autoabgasen ausgesetzt waren. Die schwerwiegensten Folgen waren dabei mentale Sch¨aden, die zu Ged¨achtnis-, Konzentrations- und Leistungsschw¨ache f¨ uhrten bis hin zur Enzephalopathie, welche bei Kindern eher auftritt als bei Erwachsenen. Den ersten Berichten nach hatten bereits Blutbleikonzentrationen zwischen 20 und 30 mg/100 ml einen negativen Einfluss auf den IQ, die Lernf¨ahigkeit und das Verhaltensmuster von Kindern. Unter dem Druck amerikanischer Familien, ihre Kinder vor dem Blei zu sch¨ utzen, wurde per Gesetz stufenweise das Tetraethylblei im Benzin von anfangs 2,65 g/Gallone (0,7 g/Liter) auf 0,58 g/Gallone (0,15 g/Liter) reduziert. Außerdem kam 1974 das erste Auto mit einem Platinkatalysator auf den Markt, das kein Blei im Benzin mehr zuließ. 1976 mussten alle Neuwagen in den USA mit einem Katalysator ausger¨ ustet werden. Diese Maßnahmen waren so effektiv, dass mit der Absenkung des Bleis im Benzin eine signifikante Abnahme des Durchschnittsbleigehaltes im Blut registriert wurde. Abbildung 4.3 zeigt den parallelen Verlauf von Bleireduktion im Benzin und dem durchschnittlichen Blutbleispiegel. Dies ist das bedeutende Ergebnis des Second National Health and Nutrition Examination Survey“ (NHANES II). ” NHANES II ist representativ f¨ ur die gesamte amerikanische Bev¨olkerung im Alter zwischen 6 Monaten und 74 Jahren. In dem kurzen Zeitraum zwischen 1976 und 1980 wurde eine Absenkung des Blutbleispiegels von 15,8 auf 10 mg Blei/100 ml Blut festgestellt. Diese Untersuchungen lieferten den eindeutigen Beweis daf¨ ur, dass Tetraethylblei im Benzin der Verbrennungsmotoren der wichtigste Verursacher der Bleivergiftung sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern ist. In der Bundesrepublik Deutschland wurde erst 1988 der Zusatz von Tetraethylblei zum Benzin vollst¨andig verboten. Von Mitte der siebziger Jahre bis zum Jahre 2002 ist der durchschnittliche Blutbleispiegel von u ¨ber 14 mg/100 ml auf unter 5 mg/100 ml gesunken. Bei Kindern, die nach dem Bleiverbot geboren worden sind, liegt der Bleispiegel bei unter 3 mg/100 ml, so dass von dieser Seite keine Defizite in der Intelligenzentwicklung im Kleinkindalter zu erwarten sind.
4.1.3
Kreislauf der Metalle zwischen Land, Wasser, Luft und Biosph¨are
Bei der Verbreitung von Bleipartikeln in der Umwelt spielen die lokalen Windverh¨altnisse neben der Verkehrsdichte eine große Rolle, wie eine Schwermetall-
176
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Abbildung 4.3 Auswirkungen der Bleireduzierung im Benzin und der Einf¨ uhrung bleifreien Benzins auf den durchschnittlichen Bleigehalt des Blutes in mg Blei/100 ml. Durch diese Maßnahmen wurde in der kurzen Zeitspanne von Februar 1976 bis Februar 1980 bei der amerikanischen Bev¨ olkerung der Bleispiegel im Blut um 37 % gesenkt (NHANES II).
untersuchung im industriearmen Stadtgebiet Marburg von 1979 zeigte (K. H. M¨ uller). Hier wurden Bleianreicherungen bis zu 1000 ppm im Oberboden, dem zwanzigfachen des nat¨ urlichen Wertes im Ausgangsgestein, festgestellt. Die Stadt liegt in einem in Nord-S¨ ud-Richtung verlaufenden engen Taleinschnitt der Lahn, in dem Nordwest- und S¨ udwestwinde vorherrschen. Die Tallage f¨ordert Temperaturinversionen und das stark gebremste Windfeld verursachte eine große Belastung mit Bleipartikeln aus Benzinmotoren. Durch die geographisch bedingten Luftstr¨omungen wurden in Marburg besonders an seiner Hanglage große Mengen Blei abgelagert. Der Transport von Blei erfolgte jedoch nicht nur u ¨ber kurze Distanzen, sondern auch bis weit zu den Polkappen. Untersuchungen des Bleigehaltes in Schichtenfolgen von Bohrkernen, die in das Gr¨onlandeis getrieben wurden, gaben Auskunft u ¨ber den Anstieg der Bleibelastung. 1969 stellten Murozomi et al. fest, dass 800 v. Chr. die Bleikonzentration noch unter 0,0001 mg/kg Eis lag.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
177
Abbildung 4.4 Profilausschnitt aus dem Stadtbereich Marburg. Die schwarzen S¨ aulen geben die gemessenen Bleispiegel in ppm (0,1 – 0,2 m Bodentiefe) und die offenen S¨ aulen die Anzahl der Kraftfahrzeuge/24 Stunden wieder. Die Bleispiegel korrelieren nicht mit der Verkehrsdichte, sondern das lokale Windfeld ist entscheidend f¨ ur die Bleianreicherung in straßennahen B¨ oden. Aus: K. H. M¨ uller, Der Bleigehalt innerst¨ adtischer B¨ oden als Maß f¨ ur die Entsorgung von Kraftfahrzeug-Abgasen, Naturwissenschaften 66, 108–109, 1979.
Ein langsamer Anstieg auf 0,011 mg/kg konnte bis 1753 zu Beginn der industriellen Revolution registriert werden, er verdreifachte sich jedoch bis 1815 und verdoppelte sich weiter bis zum Jahr 1933. Von 1933 bis 1965 stieg er dann steil auf u ¨ber 0,20 mg/kg an. Jahreszeitliche Schwankungen zeigten im Winter etwa die doppelte Konzentration an Blei im Schnee als im Sommer. Die Einf¨ uhrung des Tetraethylbleis wie auch seine Verbannung aus dem Benzin spiegelte sich ebenfalls anhand der Bleiablagerung im Eis der Polkappen wider. Dies zeigt, dass die Bleibelastung der Umwelt nicht nur im Blut der Menschen, sondern sogar an weit entfernten Orten bedingt durch den atmosph¨ arischen Transport nachzuweisen ist. Metalle werden als atmophil bezeichnet, wenn ihr Massentransport zum Meer in der Atmosph¨ are gr¨oßer ist als in den Fl¨ ussen. Zu solchen geh¨oren die B-Metalle (weiche S¨auren, Klassifikation nach dem Konzept der harten und weichen S¨auren, Peason 1963) und Zwischenstufen zwischen weich und hart wie
178
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Abbildung 4.5 Anstieg der Bleibelastung im Gr¨ onlandschnee (aus M. Murozomi, T. J. Chow and C. C. Patterson, Geochim. Cosmochim. Acta 33, 1247-1294, 1969).
Arsen, Antimon, Blei, Cadmium, Kupfer, Molybd¨an, Quecksilber und Silber. Einige atmophile Metalle sind fl¨ uchtig wie Quecksilber oder ihre Metalloxide haben tiefe Siedepunkte. Dar¨ uber hinaus k¨onnen Arsen, Blei, Quecksilber und Zinn nach ihrer Methylierung gasf¨ormig in die Atmosph¨are abgegeben werden. In gasf¨ormiger Form vorliegende Metalle werden im Regen gel¨ost und kehren auf diesem Wege wieder zur Erde zur¨ uck. Dagegen werden Blei, Vanadium und Zink nach Kondensation und Adsorption an Aerosolen mit den Niederschl¨agen aus der Atmosph¨are ausgewaschen. Wenn der Massentransport von Metallen hingegen in den Fl¨ ussen gr¨oßer ist als in der Atmosph¨are, so bezeichnet man sie als lithophile Metalle. Dazu geh¨oren z. B. Zwischenstufen und A-Metalle wie Aluminium, Chrom, Cobalt, Mangan, Nickel, Titan und Vanadium. Von der festen Erdoberfl¨ache ausgehend werden u ¨ber die Atmosph¨are und Hydrosph¨are betr¨achtliche Mengen an Metallen transportiert. Erdoberfl¨ache, Luft und Wasser sind durch Emissionen und Immissionen verflochten. Die Bewegungen der Metalle zwischen Land, Luft und Wasser werden daher als globale Kreisl¨ aufe bezeichnet. F¨ ur Quecksilber gilt wie f¨ ur Blei, dass f¨ ur die Zunahme in der Umwelt die menschliche Aktivit¨at verantwortlich ist. Ein exemplarisches Beispiel hierf¨ ur ist die Untersuchung eines Bohrkernes im Lake Windermere in England durch Aston et al. (Nature 241, 450–451, 1973). Die ungest¨ orten Schichtenfolgen des Bohrkernes aus einer industriefreien Gegend umfassen dabei den Zeitraum vom
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
179
Jahr 520 bis 1950. Die gemessenen Quecksilberkonzentrationen stiegen jeweils in den Jahren 1400, 1870 und 1915 sprunghaft an. Der letzte Sprung auf u¨ber 1 ppm spiegelt dabei die massive Umweltverschmutzung des 20. Jahrhunderts wider. Im Quecksilberkreislauf zwischen Erdoberfl¨ache und Atmosph¨are werden ca. 60 000 Tonnen Quecksilber pro Jahr bewegt. Ein weiterer Transportweg der Metalle erfolgt in den Lebewesen selbst, in der sogenannten Biosph¨ are. Wie kompliziert dieser Weg sein kann, soll ein vereinfachtes Schema des Kreislaufes des Quecksilbers in der Umwelt zeigen (Abbildung 4.6).
Luft
CH4, C2H6 Licht Strahlung Hg 0 (CH3)2Hg
Nahrungskette zum Menschen Insekten, Vögel Säugetiere Fische, Schalentiere
Wasser
Plankton etc.
Plankton etc. +
CH3Hg (CH3)2Hg
Sediment
Hg 0
+
bakterielle Aktivität
CH3Hg
CH3S
HgCH3
CH3S
HgCH3
Hg++
Abbildung 4.6 Quecksilberkreislauf. Das Hg ++ im Sediment stammt aus der Natur und ist auf anthropogenen Eintrag zur¨ uckzuf¨ uhren. Durch bakterielle und abiotische Aktivit¨ aten im Sediment wird Hg ++ in organische Quecksilberverbindungen (Methyl- und Dimethylquecksilber sowie Dimethylquecksilbersulfid) umgewandelt. Diese Verbindungen zeichnen sich durch eine hohe Lipophilie, Fl¨ uchtigkeit und große Toxizit¨ at aus. Die Lipophilie ist f¨ ur den Transport in der Nahrungskette verantwortlich und die hohe Fl¨ uchtigkeit f¨ ur den Eintritt in die Atmosph¨ are.
Besonders verh¨angnisvoll wirkt sich jedoch die im aquatischen Milieu erfolgende Akkumulation des Quecksilbers in der Nahrungskette aus. Dabei ist die Methylierung des Hg++ die entscheidende chemische Reaktion zu seiner Mobilisierung. Sie verleiht dem Molek¨ ul lipophile Eigenschaften, die zur Permeation in die Zellen, zur Akkumulation in den Membranen und zur Bin-
180
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
dung an Sulfhydrylgruppen von Proteinen f¨ uhrt. Die Methylierung kann sowohl durch Bakterien als auch abiotisch ablaufen. So haben z. B. MethylzinnVerbindungen und Huminstoffe das Potenzial zur abiotischen Methylierung von Quecksilber. In Gew¨assern erfolgt die Aufnahme von Methylquecksilber durch das Phytoplankton und h¨ohere Wasserpflanzen. Von diesen gelangt es zum Zooplankton, Muscheln, Schnecken, Insektenlarven etc. Sodann gelangt Methylquecksilber in die sekund¨aren und terti¨aren Konsumenten, wie kleinere und gr¨oßere Fische und kleine Fische fressende V¨ogel. Die obersten Glieder dieser Nahrungskette sind die gr¨oßeren Raubtiere, die großen Raubfische, große Fische fressende V¨ogel, S¨augetiere und der Mensch. Hier erreicht die aquatische Nahrungskette terrestrische Glieder. Die Anreicherung von methyliertem Quecksilber ist spezies- und altersabh¨angig. Als Anreicherungsfaktoren im aquatischen Milieu sind Werte zwischen 100 und 1000 festgestellt worden, w¨ahrend innerhalb der terrestrischen Nahrungskette Faktoren von 2 bis 5 vorkommen. Unter den Raubfischen ist beim Hecht ein Anreichungsfaktor von 3000 ermittelt worden. Die nahrungsbedingte Quecksilberbelastung des Menschen stammt vorwiegend aus dem Verzehr von Fischen oder anderen Wassertieren. Eine traurige Ber¨ uhmtheit erlangte die Verbindungsklasse methylierter Quecksilberverbindungen 1952 bei der Katastrophe von Minamata in Japan, bei der 52 Menschen ums Leben kamen. Gestorben sind sie an einer Fischvergiftung, uckgef¨ uhrt die auf eine hohe Konzentration an CH3 HgSCH3 in den Fischen zur¨ werden konnte. Verursacht hatte die Vergiftung eine nahegelegene chemische Fabrik, die Hg(II)-Salze ungekl¨art in das Wasser abgelassen hatte. Die Giftigkeit der Methylquecksilberverbindungen ist sehr groß, ganz außerordentlich aber bei der Dimethylquecksilber-Verbindung. Um seine enorme Giftigkeit zu demonstrieren, soll der fatale Unfall einer Chemikerin bei der Herstellung eines Dimethylquecksilber-Standards f¨ ur die kernmagnetische Resonanzspektroskopie beschrieben werden (Mercury poisoning fatal to chemist, Chem. Eng. News 75, 11–12, 1997). Beim Abf¨ ullen unter dem Abzug wurden zun¨achst unbemerkt ein oder mehrere Tropfen Dimethylquecksilber auf die Latexhandschuhe getropft. Sie penetrierten sofort durch die Handschuhe und gelangten in den Blutstrom. Nach 3 Monaten traten die ersten Symptome der Vergiftung mit Schwindelanf¨ allen und Erbrechen auf, nach 5 Monaten konnte die Balance nicht mehr gehalten werden, die Vergiftete hatte Sprachst¨orungen, verlor die Sehkraft und das Geh¨or. Wenig sp¨ater fiel sie ins Koma und starb an den Folgen der Vergiftung. Es gibt leider keine rettende Therapie mehr, wenn bereits die Symptome eingesetzt haben (siehe auch Seite 236).
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
4.1.4
181
Ausnutzung der toxischen Wirkung von Schwermetallen und Metalloiden
Die t¨odliche Wirkung von bestimmten Schwermetallen und Metalloiden wurde in der Vergangenheit vielf¨altig von Giftmischern ausgenutzt. Aus einer aristotelischen Bemerkung um das Jahr 340 v. Chr. geht hervor, dass man in dieser Zeit den toxischen Charakter des Arsens verh¨altnism¨aßig gut kannte. Aber erst als aus dem nat¨ urlich vorkommenden Auripigment das weiße Arsenik durch Sublimation gewonnen werden konnte, steigerte man damit ganz wesentlich seine Giftigkeit. So wurde um das Jahr 900 die Giftwirkung des Arseniks der des t¨odlichen Quecksilbers“ gleichgestellt und man bemerkte dazu ” nur ist der Arsenik sehr t¨odlich und von seinen nachteiligen Wirkungen kann ” man nicht gerettet werden“. Trotz der ausgesprochenen Giftigkeit wurde Arsenik dennoch a¨rztlich verordnet. Man benutzte Arsenik in medizinischen L¨osungen zur Enthaarung, zum Reinigen von Wunden, wie auch gegen L¨ausebefall und Kr¨atze. So leicht wie es f¨ ur die Vernichtung von Ratten und M¨ausen zur Verf¨ ugung stand, so bequem konnte es auch zum Giftmord verwendet werden. Erst der chemische Nachweis des Arsens, im Jahre 1836 durch James Marsh eingef¨ uhrt, hemmte seinen Missbrauch. Die Geschichte der Chemotherapie ist eng mit Metallverbindungen verbunden. Bereits vor mehr als 500 Jahren benutzte Paracelsus sehr erfolgreich Quecksilber bei der Syphilis-Therapie. Bei dieser Erkrankung wurde oft Schweinefett mit 30 % metallischem Quecksilber als graue Salbe (Unguentum cinereum) oder sogenannte Quecksilberkuren angewandt, solange, bis schwere Vergiftungssymptome wie Speichelfluss oder Durchf¨alle beim Patienten auftraten. Die Wirkung war sowohl gegen die Erreger als auch gegen den Patienten gerichtet. Dagegen erfand Paul Ehrlich im Jahre 1910 mit einer organischen Metallverbindung, dem Arsphenamin (Salvarsan, Dioxydiamidoarsenobenzol), das Prinzip der selektiven Toxizit¨ at. Er wollte, wie er es selbst ausdr¨ uckte, chemisch auf die Bakterien zielen, ohne den Menschen zu treffen. Dieses Ziel wird heute ohne Schwermetalle mit selektiver wirkenden modernen Antibiotika erreicht. Trotz ihrer Giftigkeit sind bis heute immer noch Quecksilber-haltige Desinfektionsmittel im Gebrauch wie z. B. Mercurochrom (siehe auch Abbildung 4.21). Als Schwermetalle bezeichnet der Chemiker solche Metalle, die eine gr¨oßere Dichte als 5 g/cm3 besitzen. Dieser physikalische Parameter sagt jedoch nichts u ¨ber die chemischen Eigenschaften dieser etwa 40 verschiedenen Elemente aus. Sie reagieren eher selten in ihrer metallischen Form mit einem Organismus. Dagegen ist ihre toxische Wirkung haupts¨achlich auf ihre l¨oslichen Salze zur¨ uck-
182
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
zuf¨ uhren. Als Rezeptoren im Organismus kommen dabei grunds¨atzlich gr¨oßere organische Molek¨ ule, bevorzugt Proteine in Frage. Besonders reaktiv sind folgende funktionelle, biologisch-wichtige Gruppen: -OH, -COO-, -OPO3 H-, =C=O, -SH, -S-S-, -NH2 und =NH. Im allgemeinen besitzen Schwermetalle eine gr¨oßere Affinit¨at zu den Bindungsstellen als die sogenannten Leichtmetalle. Mehrwertige Schwermetalle besitzen meist die F¨ahigkeit, koordinative Bindungen einzugehen, d. h. sie neigen zur Bildung von Komplexen. Die moderne Biochemie benutzt Schwermetallsalze als Hilfsmittel, um Enzyme, Transportproteine und biologische Stoffwechselwege n¨aher zu charakterisieren. Zum Beispiel hemmt die Oxoverbindung des Vanadiums, das Vanadat-Anion, in mikromolaren Konzentration die ATPasen vom P-Typ, so genannt, da sie ein phosporyliertes Zwischenprodukt bilden. Zu diesem Typ geh¨oren die Ionenpumpen wie die Na+ -K+ -ATPase und die Ca++ -ATPase. Die Hemmwirkung von Vanadat erfolgt durch Konkurrenz mit Phosphat (Mimikry) an der ATP-Phosphorylierungsstelle, einem konservierten Aspartatrest der ATPase. Trotz der Kenntnisse, die bei bestimmten biochemischen Reaktionen bis auf die molekulare Ebene reicht, wissen wir u ¨ber den genauen Ablauf einer Schwermetallvergiftung im Menschen nur wenig. Es gibt keine allgemeinen Prinzipien, um den Mechanismus der toxischen Wirkung zu beschreiben. Dies liegt an der komplizierten Chemie der Metalle, die mannigfaltige Reaktionen in einem Organismus hervorrufen k¨onnen. Die am besten untersuchten Schwermetalle zeigen eine verwirrende Vielzahl biologischer Effekte. Ihre toxische Wirkung betrifft viele Zielorgane und Systeme. Es ist in keinem Fall gelungen, nur eine toxische Wirkung an einem Enzym oder an einer bestimmten biochemischen Reaktion nachzuweisen. Die Vielf¨altigkeit der toxischen Effekte hat vielleicht dazu beigetragen, dass im Gegensatz zu anderen Gruppen von Giften die Konzepte kritisches Organ“ ” und kritische Konzentration“ besonders h¨aufig benutzt werden. Der Be” griff kritisches Organ bedeutet hier soviel wie das empfindlichste Organ, das bereits bei niedrigsten Konzentrationen reagiert. Dabei ist keine Aussage u ¨ber den Schweregrad der toxischen Wirkung am Organ gemacht. Es kann durchaus sein, dass bei h¨oheren Konzentrationen ein anderes Organ weit mehr in Mitleidenschaft gezogen wird.
4.1.5
Einteilung der Metalle
Bez¨ uglich ihrer biologischen und toxikologischen Relevanz k¨onnen die Schwermetalle in sechs Gruppen eingeteilt werden.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
183
1. Nicht reaktive, gering toxische Schwermetalle Die Beschreibung nicht reaktiv, gering toxisch“ ist ein relativer Begriff, denn ” jedes Element kann f¨ ur einen Organismus ein Gift sein. Es kommt dabei auf die l¨osliche chemische Form, auf den Aufnahmemechanismus, auf die Aufnahmemenge und schließlich auf die Empfindlichkeit des Organismus selbst an. Gering toxisch bedeutet, dass das Schwermetall bei oraler Aufnahme unwirksam ist. 2. Stimulatorisch wirksame Schwermetalle Eine stimulierende, hormon¨ahnliche Wirkung besitzen fast alle Schwermetalle, wenn sie in niedrigster Konzentration (10−16 bis 10−6 M) an biologischen ¨ Systemen oder Enzymen getestet werden. Die Ubersicht des Periodensystems (Abbildung 4.8) gibt Hinweise auf die so klassifizierten Schwermetalle. 3. Essentielle Schwermetalle Eine stimulatorische Wirkung allein ist nicht ausreichend, um Leben zu erm¨oglichen. Hierzu muss eine bestimmte Anzahl von essentiellen Schwermetallen wie Eisen, Kupfer, Zink, Mangan, Cobalt, Chrom und Molybd¨ an vorhanden sein, um eine normale Entwicklung und das Wachstum von S¨augetieren zu gew¨ahrleisten. Aus diesem Grund sind die biologischen Kenntnisse u ¨ber die Wirkung in der Nahrung vorkommender essentieller Schwermetalle von großer Bedeutung. Ob Schwermetalle lebensnotwendig oder essentiell sind, h¨angt von den biochemischen Reaktionen ab, an denen sie im K¨orper beteiligt sind. Erst wenn eine bestimmte Konzentration an essentiellen Schwermetallen im Organismus vorhanden ist, erfolgt eine normale Entwicklung (Abbildung 4.7). Wird diese durch Hom¨oostase geregelte Konzentration u ¨berschritten, so wirken auch die essentiellen Schwermetalle toxisch. Ein Zuviel bewirkt schließlich sogar den Tod. Nach biochemischen Gesichtspunkten kann folgende Einteilung der essentiellen Schwermetalle vorgenommen werden: • Metalloporphyrine (H¨ am-Eisen-Verbindungen): H¨amoglobin, Myoglobin, Cytochrome, Katalase, Peroxidase. • Nicht-H¨ am-Eisen-Proteine: Transferrin (77 kDa, 2 Fe3+ ), Ferritin (440 kDa, ca. 4500 Fe3+ ), H¨amosiderin, Ferredoxin, Rubredoxin. • Cobalt und Nickel enthaltende Molek¨ ule (Corrin-Ring): Vitamin B12 , Methylcobalamine, Coenzym F 430 (Nickel). Die beiden letzten ¨ Enzyme sind f¨ ur die Ubertragung von Methylgruppen auf eine Reihe von Metallen wie Hg(II), Te(III), Pt(II) und Au(I) verantwortlich.
Reakion des Organismus
184
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Norm Mangel
Toxizität Homöostase
Überleben
Tod
Konzentration essentieller Schwermetalle Abbildung 4.7 Schematische Darstellung der Auswirkung der Konzentration essentieller Schwermetalle wie Chrom, Molybd¨ an, Mangan, Eisen, Cobalt, Nickel, Kupfer und Zink auf die Reaktion des Organismus eines Lebewesens. Hom¨ oostase (Aufrechterhaltung) der Konzentration dieser Schwermetalle im sogenannten inneren Milieu des K¨ orpers mit Regelsystemen.
• Metalloenzyme: Zink enthaltende Proteine (mehr als 300 verschiedene Enzyme): Alkoholdehydrogenase, Kohlens¨aureanhydratase, Carboxypeptidase. Kupferhaltige Proteine: Ascorbins¨aureoxidase, Phenoloxidase, Coeruloplasmin (Transportform f¨ ur Kupfer im Blut), Cytochrom-c-Oxidase, Cu-Zn-SuperoxidDismutase, H¨amocyanine. Molybdoenzyme: Xanthin-Oxidase, Aldehyd-Oxidase, Sulfit-Oxidase, NitratReduktase. • Metallaktivierte Enzyme: Alle biochemischen Phosphat-Transfer-Reaktionen, Phosphorylierungen und Dephosphorylierungen erfordern divalente positiv geladene Metallionen zur Katalyse. Neben Mg2+ k¨onnen auch Mn2+ und andere zweiwertige Kationen mehr oder minder katalytisch wirksam sein. Viele der essentiellen Schwermetalle kommen im menschlichen und tierischen Organismus nur in sehr geringer Konzentration vor. Daraus leitete sich auch die Bezeichnung Spurenelemente“ ab. Auch heute ist der endg¨ ultige Beweis ” ihrer Essentialit¨at oft nicht ganz einfach, da eine schwermetallfreie Ern¨ahrung zum Nachweis fast nicht herzustellen ist. Beim Molybd¨an hat man z. B. das
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
185
n¨achste Gruppenelement Wolfram in der Nahrung angereichert, um die Aufnahme von Molybd¨an im Darm zu blockieren und so zun¨achst indirekt die Essentialit¨at nachzuweisen. Beim Chrom ist der chemische Nachweis im Organismus u ¨beraus schwierig und der Beweis entsprechender Mangelsymptome kann bisher nur aus der parenteralen Ern¨ahrung (intraven¨ose Zufuhr) gezogen werden. Ein Mangel von Mangan kann dagegen u ¨berhaupt nicht nachgewiesen werden, da die biochemische Funktion des Mangans vom reichlich vorhandenen Magnesium voll ersetzt wird. F¨ ur Vanadium wiederum ist eine Essentialit¨at bei H¨ uhnern und Ratten nachgewiesen worden, beim Menschen nicht. 4. Toxische Schwermetalle Wie aus dem Vorhergehenden folgt, sind auch die f¨ ur einen Organismus essentiellen Schwermetalle in hoher Konzentration toxisch. Als eine Regel f¨ ur die Toxizit¨at von Schwermetallen ergibt sich, dass nur die ionische, gel¨oste Form der Schwermetalle die giftige Form ist. Ganz allgemein gilt: Diffusible Schwermetalle sind toxischer als nichtdiffusible. So wird in der Medizin zur R¨ontgenkontrastdarstellung des Verdauungsapparates (Schlund, Speiser¨ohre, Magen-Darm-Bereich) das grobk¨ornige, nur schwer l¨osliche Bariumsulfat verwendet, ohne dass eine signifikante Aufnahme des Bariums resultiert. Enth¨alt das Material aufgrund eines Herstellungsfehlers zuviel l¨osliches Bariumchlorid, dann bewirken die Barium-Ionen eine schlaffe L¨ahmung der Skelett- und Herzmuskulatur, die schließlich zum Herztod f¨ uhren kann. Von allen Schwermetallen sind die der 6. Periode des Periodensystems potentiell die toxischsten Elemente (Abbildung 4.8). Streng genommen gilt dies nur f¨ ur die relativ gut wasserl¨oslichen Salze von Blei, Quecksilber und Thallium. Eine hohe Toxizit¨at der u ¨brigen Schwermetalle der 6. Periode wird oft durch die schlechte Wasserl¨oslichkeit der entsprechenden Salze kaschiert. Neben der L¨oslichkeit ist der elektrochemische Charakter f¨ ur die Toxizit¨at eines Metalles oder seiner Verbindung von besonderer Bedeutung. Grunds¨atzlich nimmt die akute Giftigkeit mit der Elektroposivit¨at in den Untergruppen IB (Cu < Ag < Au), IIB (Zn < Cd < Hg) und IIIA (Al < Ga < In < Tl) zu. Diese Zunahme der Toxizit¨at kann durch steigende Affinit¨at zu Amino-, Imino- und Sulfhydryl-Gruppen erkl¨art werden, die im aktiven Zentrum einer Reihe von Enzymen sind. Diese Verallgemeinerung gilt nicht mehr u ¨ber die Gruppe IV hinaus, da die Elektropositivit¨at hier graduell abnimmt und mit einem Anstieg der Elektronegativit¨at einhergeht. Ab Gruppe IV gehen die Metalle meist starke kovalente Bindungen ein und bilden koordinative Komplexe oder Chelat-Komplexe mit biologischen Liganden. Einige neigen zur Bildung von Sauerstoffs¨ auren, in denen das Metall ein Teil des Anions ist. Die Stabilit¨at dieses Typs kovalenter
186
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Abbildung 4.8 Periodensystem der Elemente gekennzeichnet nach biologisch-toxikologischen Gesichtspunkten. Alle stimulatorisch wirksamen Metalle sind links oben mit einem + bezeichnet. Die essentiellen Schwermetalle einschließlich des Vanadiums, welches nur bei H¨ uhnern und Ratten essentiell ist, sind hellgrau markiert. Eine schlechte L¨ oslichkeit bzw. ¨ Unl¨ oslichkeit der Salze von Schwermetallen ist durch drei Wellenlinien angedeutet. Die Ubergangsmetalle sind hellgrau, daneben die Nichtmetalle dunkelgrau gekennzeichnet. Karzinogen wirksame Metalle und Metalloide sind mit Sternchen markiert. Alle radioaktiven Metalle sind kursiv geschrieben. Ein Kreuz steht f¨ ur ausgesprochen toxisch wie in Abbildung 4.1.
Verbindungen sowie deren Toxizit¨at nehmen in folgender Reihe zu: IB < IIB < IIIB < IIIA < IV < V < VIII. Neben der Oxidationsstufe kann auch die molekulare Form entscheidend f¨ ur die Toxizit¨at der Metalle sein. Dies ist beim Vanadium der Fall, das als Vanadat(V)Anion toxischer ist als das Vanadyl(IV)-Kation, da es u ¨ber Anionentransporter in die Zelle gelangt. Oxoanionen wie das Vanadat-Anion unterscheiden sich nicht in ihrer molekularen Form vom biochemisch wichtigen Phosphat-Anion. Sie benutzen dieselben Eintrittspforten und nehmen sogar am Stoffwechsel teil. F¨ ur diese speziellen molekularen Formen toxischer Metalle, die physiologische Substrate nachahmen, wurde von Karen Wetterhahn-Jennette 1981 der tref-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
187
fende Begriff ionic mimicry“ gepr¨agt. (The role of metals in carcinogenesis: ” Biochemistry and metabolism. Environ. Health Perspect. 40, 233–252). Es tritt nicht nur bei Oxoanionen auf, sondern auch bei Kationen und sogar als Komplexverbindung toxischer Metalle. 5. Radioaktive Schwermetalle Radioaktiv-isotope Metalle wie z. B. 60 Co und 226 Ra wirken zus¨atzlich toxisch durch ihre Strahlenemission. Eine solche Wirkung kann erfolgen durch a-, b- und g-Strahlen, ohne dass Schwermetalle in den Organismus aufgenommen werden. Dabei ist das genetische Material der Zellen besonders empfindlich gegen¨ uber der Strahlenemission. Neben den Erbgutver¨anderungen k¨onnen b¨osartige Tumoren entstehen. Aufgrund seiner langen Halbwertszeit von 24 100 Jahren besitzt der a-Strahler 239 Pu ein besonderes Gefahrenpotential; er ist u ¨beraus stark karzinogen. Eine akute und chronische Toxizit¨at, wie sie f¨ ur andere Schwermetalle gilt, ist f¨ ur Plutoniumisotope im allgemeinen wenig relevant, da die chronischen strahlenbiologischen Effekte im Vordergrund stehen. Die kontinuierliche punktuelle Bestrahlung zellul¨arer DNA durch a-Partikel bewirkt chromosomale Aberrationen, Schwester-Chromatid-Austausch und/oder karzinogene Transformationen (siehe Kapitel 9). 6. Karzinogen wirkende Schwermetalle Aus epidemiologischen Untersuchungen ist seit l¨angerer Zeit eine karzinogene Wirkung nach Exposition gegen¨ uber Arsen, Beryllium, Cadmium, Chromate und Nickel bekannt. Als genotoxisch oder mutagen bezeichnet man eine auf das Erbgut zielende Wirkung, die eine Krebsentstehung einleiten kann (ausf¨ uhrliche Darstellung in Kapitel 9). Eine Einteilung in Kategorien kanzerogener und mutagener Schwermetalle erfolgt nach dem 1998 eingef¨ uhrten Einstufungsschema der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dabei bedeutet (Kurzform): 1 2 3A 3B 4 5
beim Mensch krebserzeugend (kein MAK-Wert) Im Tierversuch krebserzeugend (kein MAK-Wert) Erwiesene oder m¨ogliche krebserzeugende Wirkung (kein MAKWert) In-vitro- oder aus Tierversuchen liegen Anhaltspunkte f¨ ur eine krebserregende Wirkung vor Stoffe mit krebserzeugender Wirkung, bei denen genotoxische Effekte keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen Stoffe mit krebserzeugender und genotoxischer Wirkung, deren Wirkungsst¨arke jedoch als so gering erachtet wird, dass unter Einhaltung des MAK- und BAT-Wertes kein nennenswerter Beitrag zum Krebsrisiko f¨ ur den Menschen zu erwarten ist
188
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Die folgenden Metalle und Metalloide sowie ihre Verbindungen sind bei Mensch und Tier als karzinogen anzusehen. Eine Einteilung in krebserzeugende Kategorien ist in Klammern angegeben (DFG: MAK- und BAT-Werte-Liste 2005): Aluminium: Arsen: Beryllium: Blei: Cadmium: Chrom: Cobalt: Nickel: Quecksilber: Titan: Zinkchromat:
Aluminiumoxid, Faserstaub (2) metallisches Arsen, As2 O3 , As2 O5 , H3 AsO3 , NaAsO2 , Pb3 (AsO4 )2 , Ca(AsO4 )2 , Ca3 (AsO4 )2 (1) Beryllium und seine anorganischen Verbindungen (1) Blei und seine anorganischen Verbindungen (3B) Cadmium und seine anorganischen Verbindungen (1) Chrom(VI)-Verbindungen (2) Cobalt und Cobaltverbindungen (2) Nickel und seine Verbindungen (1) Quecksilber und seine anorganischen Verbindungen (3B) K2 TiO3 , K2 TiO5 , K2 TiO9 , K2 TiO13 , K2 TiO17 , Faserstaub (2) ZnCrO4 (1)
Nicht aufgef¨ uhrt sind die essentiellen Metalle wie Eisen, Mangan und Zink, die in sehr hohen Dosen ebenfalls karzinogen sein k¨onnen. Außerdem gibt es experimentelle Hinweise, dass z. B. Eisen, Kupfer, Cobalt, Chrom, Nickel und Vanadium reaktive Sauerstoffspezies (verschiedene freie Radikale) erzeugen und die DNA sch¨adigen k¨onnen (siehe Karzinogenese, Metalle). Der molekularbiologisch zugrunde liegende Mechanismus, der auf der DNA-Ebene liegen d¨ urfte, ist bisher nur teilweise verstanden. Hinzu kommt, dass einzelne Metalle in verschiedenen Zustandsformen (elementares Metall oder Ionenform) auch unterschiedliche Mechanismen aufweisen k¨onnen. Nicht aufgef¨ uhrt sind radioaktive Metalle wie Plutonium, Polonium, Radium und Uran, die prim¨ar durch ihre energiereiche Strahlung genotoxisch und damit karzinogen wirken (Abbildung 4.8, kursiv gekennzeichnete Metalle).
4.1.6
Transport von Eisen im menschlichen Organismus
Die resorbierende Zellschicht der D¨ unndarmschleimhaut (Mucosa) ist haupts¨achlich das einschichtige Zottenepithel, das im oberen D¨ unndarm auch verantwortlich f¨ ur den divalenten Kationentransport ist. In den Mucosazellen existiert ein Protonen-gekoppelter Dimetalltransporter (DMT1), der in der nach Affinit¨at absteigenden Reihenfolge Fe++ , Zn++ , Mn++ , Co++ , Cd++ , Cu++ , Ni++ und Pb++ transportiert. Die divalenten Kationen konkurrieren um den Transport und hemmen entsprechend ihrer Affinit¨at die Aufnahme. Die Aufnahme des mit der Nahrung angebotenen Eisens verl¨auft in drei Phasen. Erstens erfolgt die Aufnahme von zweiwertigem Eisen u ¨ ber den Dime-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
Mucosazelle
Darmlumen Ferritin
+++
Fe
++
Fe
++
Ferrireductase ++
Fe
189
Fe ++ Fe
Fe ++
DMT1
M ++
++
Fe
Fe
Blutplasma
M M
M
Hephaestin +++ Fe Fe Ferroportin ++
Fe
+++
Fe
+++
M Transferrin
Abbildung 4.9 Transport von Eisen vom Darmlumen in die Mucosazellen und in das Blutplasma. Mit der Nahrung zugef¨ uhrtes Eisen liegt großteils dreiwertig als unl¨ osliches Eisenhydroxid oder Porphyrineisen vor. Im sauren Milieu des Magens werden die Verbindungen gespalten und durch reduzierende Aminos¨ auren oder Ascorbins¨ aure sowie durch eine Membran-assoziierte Ferrireduktase in l¨ osliches F e++ verwandelt. Der Dimetalltransporter (DMT1) transportiert F e++ in die Mucosazelle. Dort wird F e++ an ein Shuttle-Protein, Mobilferrin (M), gebunden, zum Eisenspeicher Ferritin oder zum Ferroportin-Transporter auf die gegen¨ uberliegende Seite transloziert. Das Ferroportin im Komplex mit Hephaestin, einem Caeruloplasmin-¨ ahnlichem Protein, oxidiert F e++ zu F e+++ und transportiert F e+++ zum Blutplasma, wo es an Transferrin gebunden wird.
talltransporter in die Mucosazellen, zweitens transloziert Mobiloferrin als Shuttle“ das Eisen zum Eisenspeicher Ferritin oder zur gegen¨ uberliegenden ” Seite, der basolateralen Membran, und drittens wird das zweiwertige Eisen durch Hephaestin zu dreiwertigem Eisen oxidiert und vom Ferroportin zum Eisentransportsystem im Blutplasma an das Transferrin abgegeben. Transferrin ist ein Nicht-H¨am-Eisen-Protein mit einem Molekulargewicht von 77 kDa; seine Gesamtmenge im Blut eines Erwachsenen betr¨agt 7 bis 15 g. Unter gleichzeitiger Aufnahme eines Bicarbonat-Anions bindet es zwei Atome Fe+++ . Seine sehr hohe Affinit¨at zum Eisen mit einem Kd-Wert von 10−24 bei neutralem pH-Wert des Blutes bedingt, dass praktisch kein freies Eisen im Blutplasma vorhanden ist und auch keine Ausscheidung u ¨ber die Nieren erfolgen kann. Die Aufnahme von Transferrin in die Zellen erfolgt u ¨ber den Transferrinrezeptor. Etwa 70 bis 90 % des an Transferrin gebundenen Eisens wird f¨ ur die H¨amoglobinsynthese im Knochenmark verbraucht, der Rest dient zur Biosynthese von Enzymen und Coenzymen oder gelangt in die Eisenspeicher.
190
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
3+
3+
3+ 3+ Fe Fe
Fe Fe
Tranferrin
Apotransferrin
3+
3+ Fe Fe
3+ 3+ Fe Fe
3+ 3+ 3+ 3+ Fe Fe Fe Fe
Membran
3+ 3+ 3+ 3+ Fe Fe Fe Fe
Protonenpumpe Fe
Ferrireduktase
++
Fe
++
++ + H Fe ++
Fe
DMT1 ++ Fe
c-ACONITASE Ferritin ++
Fe ++ Fe
Abbildung 4.10 Vereinfachtes Schema der Endozytose eines Transferrinrezeptors. Der Rezeptor ist durch zwei aneinander haftende Kreise mit Bindungsstellen f¨ ur Transferrin dargestellt. Durch Einbuchten und Abschn¨ uren von Membranarealen zu Membranvesikeln gelangen die eisenbeladenen Transferrinrezeptoren in das Zellinnere. Eine Protonenpumpe s¨ auert das Innere der Vesikel an, so dass Eisen seine Affinit¨ at zum Transferrin verliert und abdissoziiert. Eine Ferrireduktase verwandelt das dreiwertige Eisen in zweiwertiges, das jetzt u ¨ber den Dimetalltransporter (DMT1) in das Zellinnere gelangt. Der eisenleere Rezeptor mit dem Apotransferrin rezyklisiert zur Membranoberfl¨ ache.
Der Transferrinrezeptor besteht aus zwei identischen Untereinheiten von etwa 90 kDa, die durch Disulfidbr¨ ucken kovalent verbunden sind. Jede Untereinheit kann ein mit zwei Eisen beladenes Transferrin binden. Durch Endozytose gelangt der Transferrinrezeptor in das Zellinnere. Darunter versteht man das Einst¨ ulpen, Abschn¨ uren von Membranarealen und die nachfolgende Vesikelbildung. Eine Protonenpumpe s¨auert danach das Vesikelinnere an. Dadurch wird die Affinit¨at des Transferrin zum Eisen soweit herabgesetzt, dass das Eisen abdissoziiert. Eine Ferrireduktase in den Vesikeln wandelt das dreiwertige Eisen in zweiwertiges um, das durch den Dimetalltransporter (DMT1) in das Zellinnere transportiert und f¨ ur die Biosynthese verwendet oder gespeichert werden kann.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
191
Das nicht f¨ ur die Biosynthese verwendete Eisen kommt in den Ferritinspeicher, der bis zu 4500 Eisenatome aufnehmen kann. Wenn dieser gef¨ ullt ist, gelangen sie in den H¨amosiderinspeicher, der eine noch gr¨oßere Kapazit¨at besitzt. Das besondere an den Eisenstoffwechselwegen ist, dass es keine speziellen Exkretionswege f¨ ur Eisen gibt. Der menschliche Organismus ist unf¨ahig, gr¨oßere Eisenmengen auszuscheiden. Es wird etwa pro Tag 1 bis 2 mg Eisen vom oberen D¨ unndarm aufgenommen und die gleiche Menge geht mit der Abschilferung von Darmepithelzellen aus den Zottenspitzen verloren. Die Hom¨oostase des Eisens kann also nur u ¨ber die Aufnahme reguliert werden. Hierf¨ ur gibt es drei wichtige Regulationsmechanismen: 1. Die c-Aconitase als ein eisensensorisches Bindungsprotein (ES-BP): In der Abbildung 4.10 ist im Zellinneren der Weg des Eisens zur c-Aconitase dargestellt, dieses Enzym dient zus¨atzlich als ein eisensensorisches Bindungsprotein. Die c-Aconitase enth¨alt im aktiven Zentrum einen relativ instabilen 4Fe-4S-Cluster. Dieser Cluster dissoziert bei niedriger Eisenkonzentration ¨ und l¨ost eine Anderung der Proteinkonformation aus, so dass an Stelle des Eisens geeignete mRNA-Molek¨ ule binden k¨onnen. Hier erfolgt eine Regulation auf der Translations-Ebene der Proteinbiosynthese. Geeignete mRNA-Molek¨ ule (messenger ribonucleic acid) sind die Transferrinrezeptor-mRNA und die Ferritinsynthase- und d-Aminolaevulins¨aure-Dehydrase-mRNA. Im ersten Fall stabilisiert ES-BP die mRNA, so dass aufgrund der l¨angeren Halbwertzeit der mRNA mehr Transferrinrezeptoren in der Membran gebildet werden. Im zweiten Fall hemmt das ES-BP die Ferritin-Synthase- und die d-Aminolaevulins¨aure-Dehydrase-mRNA (H¨am-Synthese), so dass sich die Eisenkonzentration in der Zelle erh¨oht. Bei zuviel Eisen wird die Transferrinrezeptor-mRNA schneller abgebaut und die Ferritin- und H¨am-Synthese f¨ uhren zu einer Eisenabnahme in der Zelle. 2. Regulation der Eisenaufnahme im Darm: Neben der obigen Regulation wird die Aufnahme von Eisen sehr effektiv im Darm reguliert. Nach einer experimentellen Beobachtung blockiert eine mehrt¨agige Eisenzufuhr die weitere Eisenaufnahme. Dies wurde fr¨ uher als Mucosablocktheorie bezeichnet. Die Mucosazellen im Darm entstehen aus Vorl¨auferzellen in den sogenannten Brunner´schen Krypten. Diese Vorl¨aufer registrieren offenbar den Eisenbestand im Zellinneren u ¨ber ein HFE-Protein, das mit dem Transferrinrezeptor verbunden ist. Bei der H¨amochromatose wird der Organismus mit Eisen auf etwa das zehnfache u ¨berschwemmt. 1996 wurde das H¨ amatochromatoseGen HFE und die f¨ ur die Krankheit urs¨achliche Punktmutation identifiziert. Der erste Hinweis auf die direkte Verkn¨ upfung des HFE-Gens mit dem Eisen-
192
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
stoffwechsel ergab sich durch die Beobachtung, dass das HFE-Protein mit dem Transferrinrezeptor einen Komplex bildet und offenbar die Affinit¨at des Rezeptors zu Transferrin herabsetzt. Das mutierte HFE-Protein zeigt diese Bindung und Wirkung nicht und verursacht eine exzessive Eisenaufnahme. 3. Das dritte Regulationsprinzip ist mit der Bildung der Erythrozyten im Knochenmark verbunden. Es handelt sich dabei um ein l¨osliches Signalmolek¨ ul, das vom Knochenmark u ¨ber das Blutplasma zum Darm gelangt und dort die Eisenresorption nach den Erfordernissen der Blutbildung im Knochenmark moduliert.
4.1.7
Molekulare und ionische Mimikry toxischer Metalle
Unter Mimikry versteht man, dass Schwermetalle die perfekten Formen von physiologischen Anionen, Kationen und Aminos¨auren annehmen und die entsprechenden Transporter nutzen k¨onnen, um in das Zellinnere zu gelangen. ¨ Aufgrund ihrer molekularen Ahnlichkeit mit biologisch wichtigen Molek¨ ulen k¨onnen sie außerdem noch als Substrate von Enzymen dienen und in den Stoffwechsel eingeschleust werden. Mimikry toxischer Anionen In Abbildung 4.11 sind chemische Strukturen toxisch wirkender Metallanionen denen der entsprechenden physiologischen Anionen Phosphat und Sulfat gegen¨ uber gestellt. Transporter und Enzyme akzeptieren diese falschen Molek¨ ule wie ihre eigenen Substrate. Alle diese Anionen haben die Geometrie eines Tetraeders, sie werden von verschiedenen Anionen transportierenden Membranproteinen wie dem Anionentransporter des Erythrozyten in das Innere der Zellen transportiert. Die obere Reihe zeigt Anionen, die bei physiologischem pH-Wert teilweise ionisiert in der monovalenten Form vorliegen. Vanadat wird nicht nur transportiert, sondern es ersetzt auch in biochemischen Stoffwechselreaktionen das anorganische Phosphat und hemmt auf diese Weise z. B. die Na+ -K+ -ATPase in den Erythrozyten. ¨ Ahnliches gilt f¨ ur das Arsenat. Sein Eintritt in die Zelle und die nachfolgende biochemische Reaktion mit der Glycerinaldehyd-3-phosphat-Dehydrogenase anstelle von Phosphat f¨ uhren zu einer Abnahme des ATP-Gehaltes in der Zelle. In der unteren Reihe der Abbildung 4.11 befinden sich die zweiwertigen sulfatanalogen Verbindungen. Auch das Chromat-Anion kann aufgrund seiner ¨ strukturchemischen Ahnlichkeit zum Sulfat-Anion u ¨ber den Anionentranspor-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
193
physiologisches Anion
toxisches Anion
-
O
O
O
O
O P
OH
-
O V OH
-
O As
O(H)
O(H)
O(H)
O
O
O
O
S O
-
-
O Cr O
-
O
-
O
O Mo O
OH
-
O
-
O Se O
O
-
-
Abbildung 4.11 Struktureller Vergleich der physiologischen Oxoanionen Phosphat und Sulfat mit Oxoanionen toxischer Metalle. Diese Anionen sind Substrate von Membrantransporter und gelangen aufgrund ihrer Mimikry in das Zellinnere. Als Sulfatanalog wird auch Selenat in die Zelle transportiert.
ter im Erythrozyten die Membranschranke passieren. Im Zellinneren wird es durch die Reduktionssysteme, besonders Glutathion, zum dreiwertigen Cr(III)Kation reduziert (vgl. Kapitel 4.2.3). Hierbei kann seine oxidierende Wirkung zu Meth¨amoglobinbildung f¨ uhren und das dreiwertige Chrom bindet an das reichlich vorhandene H¨amoglobin. Anhand von Erythrozyten, die mit Na51 2 CrO4 inkubiert, gewaschen und wieder infundiert wurden, konnte man 1961 das Volumen der zirkulierenden Erythrozyten und ihre Lebensdauer mit 120 Tagen bestimmen. Als Test f¨ ur eine Chrombelastung dient die Chrombestimmung im Blut. Ein Mensch mit einem Chromblutspiegel von weniger als 200 mg Chrom/Liter gilt dabei noch als unbelastet. Anders als bei den kernlosen Erythrozyten ist die Toxizit¨at bei kernhaltigen Zellen zu beurteilen. Das Chromat-Anion permeiert nicht nur die Zellmembran, sondern dringt u ¨ber die Kernmembran bis zum genetischen Material vor. Auf dem Wege dahin erfolgt wie im Erythrozyten eine Reduktion u ¨ber Zwischenstufen bis zum dreiwertigen Chrom, wobei reaktive Intermedi¨arprodukte gebildet werden k¨onnen, die mit DNA Addukte bilden. Daraus k¨onnen Strangbr¨ uche, Basenmodifikationen oder Konformations¨anderungen der DNA resultieren (siehe Kapitel 9.4). Chrom (III) ist ferner in der Lage, sich irreversibel an phosphathaltige DNA oder freie Nukleotide zu binden und so die Replikation und Transkription zu beeinflussen. Neben einer direkten Sch¨adigung wird heute auch auf indirekte Sch¨aden an DNA durch reaktive Sauerstoffspezies hingewiesen, die bei der Reduktion von Chromat entstehen.
194
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Dies alles erkl¨art m¨oglicherweise die gr¨oßere Toxizit¨at von Chromat im Vergleich zu Cr(III)-Kationen, die dazu noch schlecht l¨oslich sind und nicht die Membran durchdringen k¨onnen. Aus Tierversuchen wurde abgeleitet, dass das dreiwertige Chrom (CrIII) nicht kanzerogen ist. Der Chromat- wie auch der Molybdat-Transport wird im Darm durch Sulfat gehemmt, jedoch nicht durch Phosphat. Beide Schwermetallanionen k¨onnen als sulfatanaloge Verbindungen den Schwefelstoffwechsel in der Zelle blockieren. Ein Beispiel ist die ATP-Sulfurylase, welche die Bildung von Adenosin-5phosphosulfat aus ATP und Sulfat katalysiert. Im Zellinneren reagiert Molyb¨ dat mit dem Glucocorticoid- und dem Ostrogenrezeptor. Mimikry toxischer monovalenter Kationen Wie die Anionen, so k¨onnen auch Schwermetallkationen den Weg u ¨ber Transporter in das Zellinnere finden (Tabelle 4.2). Lithium-Ionen, die bereits bei einer Blutspiegelkonzentration von 1,4 mM toxisch wirken, treten u ¨ber Na+ Kanalproteine in das Zellinnere ein und werden mit etwa einem Zehntel der Geschwindigkeit des Natriums durch die Na+ -K+ -ATPase aus der Zelle ausgeschleust. Durch diese Interferenz mit der Ionenpumpe wird gleichzeitig weniger Kalium in die Zelle hineintransportiert und als Folge sinkt die intrazellul¨are Kaliumkonzentration ab. Als kaliumanaloges Metall gelangt das toxische einwertige Thallium-Ion, das in Gr¨oße und Ladung sich nicht vom Kalium-Ion unterscheidet, u ¨ber die Na+ -K+ -ATPase in das Zellinnere. Eine Anreicherung findet besonders in den Erythrozyten statt. Thallium ist jedoch haupts¨achlich ein Epithel- und Nervengift. Neben der Na+ -K+ -ATPase sind andere Kaliumtransporter wie das Na+ -K+ -Cl− -Cotransportsystem in der Niere an dessen Aufnahme beteiligt. Thallium wird nicht nur in der Niere r¨ uckgewonnen, es existiert außerdem ein intensiver enterohepatischer Kreislauf, der f¨ ur die verh¨altnism¨aßig lange Halbwertszeit von etwa 30 Tagen verantwortlich ist. Eine Anreicherung von Thallium findet vermutlich u ¨ber Porin in den Mitochon+ 3+ drien statt. Hier ist eine Oxidation von Tl zu Tl m¨oglich. Die letztere Form ist ein starkes Oxidationsmittel, das f¨ ur die Zerst¨orung der Mitochondrien verantwortlich sein k¨onnte. Mimikry toxischer divalenter und trivalenter Kationen Weit mehr Mimikry-Mechanismen als f¨ ur monovalente existieren f¨ ur divalente Kationen (Tabelle 4.2). Calcium ist ein a¨ußerst wichtiges Kation f¨ ur die ¨ biologische Regulation. Es wirkt als sekund¨arer Transmitter bei der Ubertragung von Signalen, die von Transmittern und Hormonen ausgehen k¨ onnen. Zu den vielen durch Calcium stimulierten Reaktionen in der Zelle geh¨oren auch die elektromechanische (Muskelkontraktion) und die elektrosekretorische Kopplung (Sekretion aus exkretorischen und inkretorischen Dr¨ usen). Calciumpumpen, Na+ -Ca2+ -Austauscher und Calcium-Kan¨ale bestimmen die effektive
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
195
Tabelle 4.2 Beispiele f¨ ur Mimikry toxischer monovalenter und divalenter Kationen (100 pm ˚ = 1A). Physiologisches Kation
Radius (pm)
Toxisches Kation
Radius (pm)
Na+ K+ Ca++ Ca++ Ca++ Ca++ Mg++ Mg++ Zn++ Zn++
95 133 97 97 97 97 65 65 74 74
Li+ Tl+ Sr++ Ba++ Pb++ Lanthanide Be++ VO++ Cd++ Hg++
60 144 113 135 132 103 – 85 31 65 97 110
Calciumkonzentration in der Zelle. Dort k¨onnen Calcium-stimulierte Kaliumkan¨ale ge¨offnet, vesikul¨are Exocytose ausgel¨ost oder sogar Proteolysemechanismen in Gang gesetzt werden. Extrazellul¨ar ist Calcium z. B. f¨ ur die Blutgerinnung notwendig. Als dem Calcium sehr a¨hnlich gilt das Strontium, das in vielen Reaktionen Calcium auch in seiner Funktion ersetzen kann. Dagegen sind die Lanthanide wie u. a. Lanthan, Cer, Praseodym, Neodym, Samarium, Holmium, Ytterbium klassische Calciumantagonisten. So bewirkt die chemi¨ sche Ahnlichkeit mit Calcium un¨ uberschaubare Interferenzen im Stoffwechsel der physiologischen Calciumwirkungen. Hierzu geh¨ort auch eine seit langem bekannte antikoagulierende Wirkung auf die Blutgerinnung. Ein ganz besonders vielseitiges toxisches Metall ist das zweiwertige Blei-Ion, das sich in einigen physiolgischen Funktionen a¨hnlich dem Calcium verh¨alt. Die ¨ Ahnlichkeit kommt besonders am Ca2+ -aktivierten K+ -Kanal in Erythrozyten zum Ausdruck. Steigt die Calciumkonzentration im Zellinneren auf einige mM an, so k¨onnen in wenigen Minuten alle Kalium-Ionen durch die aktivierten K+ -Kan¨ale auslaufen. Durch Verminderung des Calciumgehaltes der Inkuba¨ tionsl¨osung der Erythrozyten unter die kritische Offnungskonzentration konnte gezeigt werden, dass Blei-Ionen anstelle von Calcium in der Lage sind, diesen K+ -Kanal zu o¨ffnen. Im Gegensatz zum Calcium permeiert jedoch Blei als lipophiler Anionen-Komplex innerhalb etwa einer Minute durch die Zellmembran. Ein Durchtritt des Blei-Anionen-Komplexes durch den Anionentransporter des Erythrozyten konnte durch Blockade des Anionentransporters mit DIDS (4,4´Diisothiocyanostilben-2,2´-disulfons¨aure) ausgeschlossen werden. An spannungsabh¨angigen Ca2+ -Kan¨alen hat Blei jedoch meist einen hemmenden Effekt. Dies zeigt sich besonders bei der Ca2+ -abh¨angigen Neurotransmit-
196
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
ter-Freisetzung. Es gibt jedoch beim Blei auch eine Reihe von Calcium-unabh¨angigen Effekten. So wird die empfindliche Proteinkinase C schon bei 10−10 M gehemmt und diejenigen SH-Enzyme, die bei der H¨amoglobinsynthese eine wichtige Rolle spielen, werden blockiert. Das zweiwertige Beryllium kann als leichteres Homologes des Magnesiums bis in den Zellkern gelangen und dort eine mutagene Wirkung entfalten. ¨ Die strukturelle Ahnlichkeit mit Zink f¨ uhrt dazu, daß bestimmte Zink-Enzyme auch eine Substitution mit Cadmium oder Quecksilber im aktiven Zentrum zulassen. Bei der Carboxypeptidase A a¨ndert sich mit der Metallsubstitution durch Cadmium oder Quecksilber im aktiven Zentrum der funktionelle Abstand zum Histidin (His-196) und die enzymatische Aktivit¨at nimmt ab. Molekulare Mimikry Schwermetalle bilden eine Reihe stabiler Komplexe mit einer Anzahl von Liganden, die auch in lebenden Zellen vorkommen. Unter molekularer Mimikry versteht man einen Komplex zwischen einem Schwermetall und einem endogenen Substrat, der in idealer Weise einem bekannten Metabolit zum Verwechseln ¨ahnlich ist. +
CH3Hg
+ HS
CH2
CH COO NH3
-
CH3
Hg
S
CH2
+
CH COO NH3
-
+
Methylquecksilber-Cystein
Substrate des Aminosäurentransporters
CH3
S
CH2 CH2 Methionin
CH COO NH3
-
+
Abbildung 4.12 Struktureller Vergleich von Methylquecksilber-Cystein mit Methionin. Nach Ashner und Clarkson ist Methylquecksilber ein Substrat des Aminos¨ auretransporters f¨ ur Methionin (M. Ashner and T.W. Clakson, Brain Res. 462, 31-39, 1988).
Solch ein Komplex ist z. B. Methylquecksilber-Cystein, das der Aminos¨aure Methionin strukturell verwandt ist. Ashner und Clarkson fanden 1988, dass der Transporter f¨ ur Methionin auch Methylquecksilber-Cystein als Substrat akzeptiert und es transloziert. Die hohe Affinit¨at zu Thiol-Gruppen im Inneren ¨ und Außern der Zelle kann nun dazu f¨ uhren, dass der Methylquecksilberkomplex mit anderen Thiolgruppen reagiert und das Methylquecksilber u ¨bertr¨agt. Dieser Transport und Austausch erfolgt in der Niere und ist auch f¨ ur die Pas-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
197
sage des Molek¨ uls durch die Bluthirnschranke verantwortlich. Hier tr¨agt er zur schnellen Zunahme von Methylquecksilber im Gehirn bei. Ein weiteres Substrat sowohl f¨ ur monovalentes Methylquecksilber als auch f¨ ur zweiwertiges Quecksilber ist Glutathion. Methyl- und anorganische QuecksilberKomplexe ¨ahneln den Verbindungen von konjugiertem und oxidiertem Glutathion. Entsprechende Transporter schleppen dann die Quecksilber-Komplexe durch die Membran. Auch Dipeptidtransporter der Niere, die Valeryl-Glycin transportieren, akzeptieren das strukturell a¨hnliche Methylquecksilber-Cysteinyl-Glycin als Transportsubstrat. Weiter sind Glutathion-Komplexe mit anderen Metallen wie Arsen, Kupfer und Zink m¨oglich. Eine letzte M¨oglichkeit der molekularen Mimikry soll am Beispiel von UranylKomplexen gezeigt werden. Uranyl-Ionen sind seit langer Zeit daf¨ ur bekannt, dass sie an Hefen den Glucosetransport inhibieren. Der Mechanismus kann ebenso durch eine Mimikry erkl¨art werden, das mit der transportierten Glucose in der b-D-Glucopyranose-Form zusammenh¨angt. Uranyl-Ionen liegen in w¨assrigen L¨osungen haupts¨achlich als Dimere vor. In diesem Komplex sind zwei Uranylatome durch zwei Hydroxo-Br¨ ucken verkn¨ upft. Vergleicht man die Gr¨oße und die Sauerstoffabst¨ande mit b-D-Glucopyranose, so findet man ei¨ ne große strukturelle Ubereinstimmung beider Molek¨ ule. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die dimere Form des Uranyls m¨oglicherweise mit den Bindungsstellen der Glucose am Transporter reagiert und hierdurch deren Transport hemmt.
4.1.8
Metalle im menschlichen Organismus
Die Zellen des Menschen werden auf die sehr hohe Zahl von 1014 gesch¨atzt. F¨ ur den erwachsenen Europ¨aer nimmt man ein Gewicht von 70 kg an. Der Gewichtsanteil der neun nichtmetallischen Elemente betr¨agt dabei bereits 98 %. Es sind: Sauerstoff (45,5 kg) > Kohlenstoff (12,6 kg) > Wasserstoff (7,0 kg) > Stickstoff (2,1 kg) > Phosphor (0,7 kg) > Schwefel (0,175 kg) > Chlor, Fluor und Iod (0,106 kg). F¨ ur alle Metalle verbleiben nur 2 % Gewichtsanteil. Auf die Metalle Na+ , K+ , Mg2+ und Ca2+ entf¨allt der gr¨oßte Teil mit 1,89 %. Die sogenannten Spurenmetalle machen lediglich 0,012 % aus (siehe Kapitel 2.2, Tabelle 2.2). Die Tabelle 4.3 zeigt den verbleibenden Rest an Metallen, der einen Anhaltspunkt f¨ ur die Belastung des menschlichen K¨orpers mit z. T. nichtreaktiven und toxischen Metallen und Metalloiden im menschlichen Organismus wiedergibt. Die Zahlenangaben in der Tabelle sollen nur einen Eindruck u ¨ber die Belastung des Menschen mit Metallen und Metalloiden vermitteln. Wenn man eine
198
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Tabelle 4.3 Metallbelastung des menschlichen K¨ orpers. In Spalte 2 ist die durchschnittliche Belastung eines 70 kg schweren Menschen in mg angegeben, in Spalte 3 die resultierende Konzentration in µmol/kg K¨ orpergewicht. F¨ ur die Berechnungen in Spalte 4 wird davon ausgegangen, dass der Mensch aus etwa 1014 Zellen besteht und eine homogene Verteilung der Atome im K¨ orper vorliegt. Diese Annahme ist idealisierend, vermittelt aber dem Betrachter einen Eindruck u ¨ber die m¨ ogliche Gr¨ oßenordnung der Belastung. In der letzten Spalte wird angegeben, wieviel mg etwa t¨ aglich mit der Nahrung zugef¨ uhrt werden. (Zahlen aus Merian 1987 und Schroeder 1965*). Element
mg/70 kg K¨ orpergewicht
µmol/kg K¨ orpergewicht
Atome ·106 / Zelle
aus der Nahrung mg/Tag
Aluminium Antimon Arsen Barium Blei Cadmium Gold * Niob Quecksilber Tellur * Titan Uran * Vanadium Zinn Zirkonium
100 70 14 16 80 30 <1 100 4 600 10 0,02 20 30 300
53 8 2,7 1,7 5,4 3,9 0,07 15,7 0,3 67,2 3
22 3.5 1,1 0,73 2,3 1,6 0,03 7 0.12 28 1.3
36,4
0,6 0,005 – 0,02 0,6 0,3
5,6 3,6 47,1
2.4 1.5 20
2,5 17 3,5
0,14 16 0,2 – 0,3 0,018 – 0,2
idealisierte homogene Verteilung dieser Elemente im K¨orper annimmt, so resultiert gr¨oßenordnungsm¨aßig eine Zahl von etwa 1 Million Atomen pro Zelle. Diese Anzahl an Atomen pro Zelle wird auch von den essentiellen Metallen erreicht (Tabelle 2.2) und zeigt, dass eine so geringe Anzahl an Atomen pro Zelle durchaus in der Lage ist, wichtige physiologische Funktionen im Organismus zu u ¨bernehmen. Dies impliziert auch eine m¨ogliche Toxizit¨at der belastenden Metalle und Metalloide im Organismus (Tabelle 4.3). Als ein Beispiel kann Cadmium dienen, es wird nur sehr wenig ausgeschieden und kumuliert mit dem Lebensalter in der Niere, wo es fest an Metallothionein gebunden ist (siehe Kapitel 4.2.2). Erst wenn eine kritische Konzentration erreicht wird, kommt die Toxizit¨at ¨ zum Tragen. Ahnlich verh¨alt es sich mit dem Blei, das in dem Knochen immobilisiert wird. Auch die anderen Metalle und Metalloide werden ebenfalls gebunden oder ausgeschieden und f¨ uhren so normalerweise zu keinen toxischen Wirkungen.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
4.1.9
199
Maßsystem f¨ ur die akute Toxizit¨at der Metalle
Die akute Toxizit¨at einer Substanz kann durch den LD50 -Wert oder analog dazu durch den T50 -Wert charakterisiert werden, das ist diejenige Dosis in mg oder mol pro kg K¨orpergewicht, welche die H¨alfte einer Tierpopulation t¨otet (siehe Kapitel 1.2.3). F¨ ur den Vergleich von LD50 - bzw. T50 -Werten verschiedener Schwermetalle muß unter anderem die chemische Form, in der das Schwermetall vorliegt, die Art der Aufnahme, die Tierart, das Geschlecht sowie das Alter des Tieres, das Gewicht und das Zeitintervall der Beobachtung in Betracht gezogen werden. ¨ber mehrere Zehnerpotenzen varieren k¨onnen, wurde der Da die LD50 -Werte u uhrt, der entsprechend dem pHBegriff der potentiellen Toxizit¨at, pT50 eingef¨ Konzept f¨ ur pT50 = -log T50 setzt. Dadurch lassen sich u ¨bersichtliche Klassen f¨ ur die toxikologische Interpretation bilden (Tabelle 1.1). Als hoch toxisch wird z B. eine Substanz mit einem pT50 -Wert von 4 festgesetzt. Das entspricht einer Konzentration von 0,0001 mol/kg K¨ orpergewicht. Tabelle 4.4 zeigt eine Zusammenstellung von verschiedenen Metallen mit den zugeh¨origen LD50 -Werten in mg/kg, den T50 -Werten in mmol/kg K¨orpergewicht und den pT50 -Werten nach oraler Verabreichung an Ratte und Maus. Die Schwermetalle umfassen also bei der oralen Applikation den Bereich von hoch-toxisch, Klasse 4 (pT50 -Wert 4,3 f¨ ur Thalliumsulfat) bis gering-toxisch, Klasse 2 (pT50 -Wert 2,0 f¨ ur Eisensulfat). Dagegen erreicht das u ¨ber alle Maße toxische Botulinustoxin D einen pT50 -Wert von fast 16 (Tabelle 1.2). Dies gilt Tabelle 4.4 Orale akute Toxizit¨ at verschiedener Metallsalze. Wie die Beispiele dieser Metalle zeigen, liegt die Klassifizierung in der Gr¨ oßenordnung von praktisch nicht-toxisch f¨ ur NaCl bis hoch-toxisch f¨ ur das Thalliumsulfat (siehe Tabelle 1.1). Die Daten entstammen dem Merck Index“. ” Substanz
Spezies
LD50 mg/kg
T50 mmol/kg
pT50
Klasse
TlSO4 HgCl2 CdCl2 CoCl2 Pb − Acetat FeCl3 FeSO4 CaCl2 NaCl
Ratte Ratte Ratte Ratte Maus Ratte Maus Ratte Ratte
25 37 8 0 00 900 1520 4000 3750
0,05 0,14 0,48 0,62 0,62 6 10 36 64
4,30 3,87 3,32 3,21 3,21 2,26 2,00 1,44 1,19
hoch-toxisch m¨aßig-toxisch m¨aßig-toxisch m¨aßig-toxisch m¨aßig-toxisch gering-toxisch gering-toxisch praktisch nicht-toxisch praktisch nicht-toxisch
200
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
jedoch beim Botulinustoxin D f¨ ur die effektivere peritoneale Injektion. Trotz dieser enormen Toxizit¨at des Botulinustoxins wird es als Medikament vom Arzt genutzt, w¨ahrend die Giftigkeit des Thalliums bei der Bek¨ampfung der Rattenplage nicht mehr zul¨assig ist, da durch die allgemeine Zugriffsm¨oglichkeit Suizide vorgekommen sind.
4.1.10 Entgiftungsmechanismen f¨ ur toxische Metalle im Organismus Es gibt eine ganze Reihe von Mechanismen im menschlichen Organismus, die zu einer Adaptation an toxische Metalle und Metalloide f¨ uhren. Ganz allgemein gilt die Tatsache, dass diffusible Substanzen toxischer sind als nichtdiffusible. Eine Entgiftung kann somit eintreten, wenn toxische Metalle oder Metalloide an Plasmaproteine sowie an nicht-essentielle Metaboliten binden oder in Knochen, Z¨ahnen, N¨ageln bzw. Haaren immobilisiert werden. Auf zellul¨arer Ebene kann folgende Unterteilung vorgenommen werden: Intranukleare Einlagerung oder Bindung Das Chromatin des Kernes besteht aus Desoxyribonukleins¨auren (DNA), basischen Histonproteinen sowie aus z. T. sauren Nichthistonproteinen. Neben einer Reaktion von Schwermetallen mit DNA und Histonproteinen binden besonders die sauren Nichthistonproteine Metalle wie Quecksilber und Kupfer. Außerdem k¨onnen morphologisch erkennbare Einschlussk¨orperchen mit z. B. Blei, Wismut, Quecksilber und Kupfer vorliegen. Akkumulation von Schwermetallen in Organellen Schwermetalle k¨onnen von multilammelaren Lipidk¨orperchen eingeschlossen und auf diese Weise unwirksam gemacht werden. Außerdem kommen f¨ ur die Speicherung lysosomale Kompartimente in Frage, deren Inneres besonders sauer ist. Goldbeladene Lysosomen bezeichnet man als Aurosomen. Schließlich findet man Schwermetalle in Mitochondrien angereichert. Bindung von Schwermetallen und Metalloiden im Zytoplasma F¨ ur die Bindung von Schwermetallen im Zytoplasma steht eine ganze Reihe von physiologischen Molek¨ ulen mit entsprechenden funktionellen Gruppen bereit, wie z. B. Glutathion, ATP etc. Eine wichtige Funktion haben induzierbare Proteine, deren Bildung durch bestimmte essentielle wie auch verschiedene toxische Metalle im K¨orper angeregt wird. Hierzu geh¨ort vor allem das Metallothionein, das durch Bindung die toxischen Schwermetalle Cadmium und Quecksilber immobilisiert und entgiftet.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
201
Induzierbares Metallothionein Im Jahre 1957 isolierten Margoshes und Valles ein niedermolekulares Protein mit dem Molekulargewicht von etwa 6500 Dalton aus der Pferde-Niere, welches einen hohen Gehalt an Zink (2,2 %) und Cadmium (5,9 %) enthielt. Da außerdem in diesem Protein ein großer Gehalt an SH-Gruppen vorlag (8,5 %), gaben sie ihm den Namen Metallothionein (Abbildung 4.13). Cys
Cys
Cys
Cys
Cys
Cys
Cys Cys Cys
Cys
Cys Cys
Cys
Cys
Cys
Cys
Cys
Cys Cys
Cys
Metallothionein Abbildung 4.13 Modell eines S¨ augetier-Metallothioneins (nach K¨ agi und Nordberg, 1979).
Das Vorkommen von Metallothionein ist ubiquit¨ ar, es wurde auch in niederen Organismen wie Bakterien, Algen und Fischen gefunden. Die Metallothioneine sind nicht-enzymatische Proteine mit einem Molekulargewicht zwischen 6000 und 7000 Dalton. Sie bestehen in der Regel aus 60 Aminos¨ auren, wobei 19 bis 21 Aminos¨auren Cystein sind. Außer Cadmium und Zink verm¨ogen sie auch besonders Quecksilber, Kupfer, Silber und Antimon zu binden. Das CadmiumMetallothionein ist offensichtlich die Hauptspeicherform f¨ ur Cadmium in der Niere und der Leber. Auf diese Weise wirkt es bei der Cadmiumvergiftung als Schutz, da es das Schwermetall immobilisiert. Von großer Bedeutung ist ferner die Tatsache, dass durch Cadmiumgaben die Synthese von Metallothionein induziert werden kann. Diese Induktion f¨ uhrt dazu, dass Lebewesen mehr Cadmiumbelastung vertragen k¨onnen, d. h. die Toleranz f¨ ur Cadmium ist gesteigert. Außer Cadmium kann auch Zink, Quecksilber, Silber und Kupfer die Metallothionein-Synthese anregen. Gibt man Tieren kleine Dosen von z. B. Zink oder auch Cadmium als Vorbehandlung, so kann durch die Metallothioneinsynthesesteigerung eine normalerweise t¨odliche Dosis von Cadmium noch verkraftet werden.
202
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
4.1.11 Chelatbildner, Therapie der Schwermetallvergiftung Die wichtigsten Antidote bei der Schwermetallvergiftung sind die Chelatbildner. Chelate sind Komplexverbindungen von mehrwertigen Schwermetallen, wobei mehrere Bindungsstellen eines Molek¨ uls mit einem Metallatom eine Bindung eingehen. So entsteht eine besondere Art von Komplex, ein Chelat (gr. Chele, Krebsschere). Die Chelatbildner besitzen keine absolute Spezifit¨at f¨ ur ein bestimmtes Schwermetall, wohl aber eine relative, die bei der Therapie ausgenutzt werden kann. Außerdem laufen in einem Organismus eine Reihe von Nebenreaktionen ab, welche die Chelatbildung am Schwermetall selbst oder beim Chelatbildner beeinflussen k¨onnen. Das Schwermetall kann durch folgende Nebenreaktionen an der Komplexierung mit dem Chelatbildner gehindert werden: • Reaktionen mit Hydroxid, Hydrogencarbonat oder Phosphat, • Komplexbildung mit einer Reihe k¨orpereigener Substanzen wie Dicarbons¨auren, Glutathion, SH-haltige Aminos¨auren, Proteine und Membranen, ¨ • Anderung der Affinit¨at eines Schwermetalls durch Oxidation und Reduktion, • Metabolisierung des Liganden, • k¨orpereigene essentielle Metalle wie Kupfer, Zink, Magnesium, Mangan oder Calcium konkurrieren mit dem giftigen Schwermetall um die Liganden, • weiterhin konkurrieren auch Protonen mit den Metallen um Liganden. Somit ist die Stabilit¨at eines Schwermetall-Chelat-Komplexes vom pH-Wert der biologischen Fl¨ ussigkeit abh¨angig. Von praktischer Bedeutung ist die Instabilit¨at solcher Komplexe in saurem Harn. So k¨onnen in der Niere freigesetzte Metalle zu sekund¨aren Schwermetallsch¨adigungen f¨ uhren. Aus den oben genannten Gr¨ unden ist im Organismus die Stabilit¨ats- oder Komplexbildungskonstante K (K = [ML]/[M] · [L], L ist der Ligand und M ein Metall) gegen¨ uber der in w¨assriger L¨osungen bestimmbaren meist um einige Zehnerpotenzen niedriger. F¨ ur den EDTA-Blei-Komplex wird z. B. anstelle eines log K von 18,2 in w¨assrigen L¨osungen nur ein log K von ungef¨ahr 6,3 im Organismus zu erwarten sein. Bei der Entgiftung von Schwermetallen gelten folgende therapeutischen Ziele: • Losl¨osung der Schwermetalle aus funktionell wichtigen Bindungsorten durch h¨ohere Affinit¨at zum Chelatbildner, • Abfangen und Inaktivierung zirkulierender Schwermetalle, • Mobilisierung von Metallen aus ihren Depots, in denen sie in nicht aktiver Form vorliegen, • rasche Ausscheidung der gebildeten Schwermetall-Chelate in Harn, Galle und Kot.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
203
Die Affinit¨at von Metallen zu aktiven Liganden (Bindungsstellen) kann nicht aufgrund der Stellung im Perioden-System abgeleitet werden. Es lassen sich jedoch Vorhersagen machen, wenn man Metalle entsprechend der empirischen Regel von Pearson in harte und weiche S¨auren einteilt (Abbildung 4.14).
Klassifikation nach dem Konzept der harten und weichen Säuren (Pearson, 1963)
weich ++
+
++
+
mittel ++
Hg , Au , Pt
hart
++
++
++
++
++
++
++
++
+++
Cu , Zn , Ni , Co , Cr
Pd , Ag ,
Pb , Sn , Cd , Cu
Platingruppe
As
+++
+++
+++
+
+++
Fe
++
++
+
+++
Y
und andere Zwischenmetalle
In
, Bi
+++
, Ga
++
, Be
++
VO , UO 2 , Sr
, Tl , In
, Sb
+++
, Al
++++
, Th
+++
++
++++
, Ce
+++
, La
++++
, Ra , Pu
Abbildung 4.14 Metallkationen vom Typus A, die sogenannten harten S¨ auren“, befinden ” sich auf der rechten Seite und Metallkationen vom Typus B, die den weichen S¨ auren“ ” angeh¨ oren, sind auf der linken Seite angeordnet. Dazwischen befinden sich die Metalle mit der Bezeichnung mittel“. ”
Metallkationen vom Typ der harten S¨auren“ bilden in w¨assrigen L¨osungen ” vorzugsweise Komplexe mit harten Basen“, insbesondere mit Fluorid-Ionen ” oder mit Liganden, die Sauerstoff-Atome enthalten. Sie zeigen geringe Tendenz, mit Schwefel und Stickstoff eine Bindung einzugehen. Dagegen zeigen die weichen S¨aure“ eine besondere Pr¨aferenz f¨ ur Schwefel” +++ und ein typisch weiches Hg++ . Liganden. Ein typisch hartes Metall ist Fe Dazwischen befinden sich die Metalle von mittlerem Charakter wie Pb++ , Cu++ und Zn++ . Eine f¨ ur die Therapie wichtige Akzeptor-Pr¨aferenz der Chelatform l¨asst sich aus Tabelle 4.5 entnehmen. Die Bezeichnung BAL bedeutet British Anti Lewisit und kommt aus der Kampfstoff-Chemie. Bei Versuchen zur Entgiftung eines arsenhaltigen Kampfstoffes Cl·CH = CH-AsCl2 , dem Lewisit, entwickelten englische Biochemiker um 1940 ein hoch wirksames Antidot, das 2,3-Dimercaptopropanol (Dimercaprol). Ein Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen war die Erkenntnis, dass SH-Verbindungen Arsenvergiftungen g¨ unstig beeinflussen.
204
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Tabelle 4.5 Toxische Schwermetalle und bevorzugte Chelatoren. Chelator
Metall
2,3-Dimercaptopropanol (BAL) 2,3-Dimercaptopropan-1-sulfonat-Na 2,3-Dimercaptobernsteins¨aure
Typ weich“: ” Hg++ , As+++ , Sb+++ , Bi+++
D-Penicillamin N-Acetyl-D,L-Penicillamin N-Acetyl-L-Cystein
Typ weich und mittel“: ” Hg++ , Cu++ , Ni++ , Zn++ , Au+
Ethylendiamintetraacetat (EDTA) Diethylentriaminpentaacetat (DTPA) und analoge Verbindungen
Typ hart und mittel“: ” Al+++ , Ca++ , Pb++ , Cu++ , ++ Zn , Pu++++
Deferoxamin (Desferal)
Typ hart“: Fe+++ , Al+++ , Ga+++ ”
BAL ist eine u ¨belriechende, leicht zersetzliche Substanz, die vor der Injektion ¨ in Ol gel¨ost werden muss. Es bildet zwar stabile, relativ untoxische Komplexe mit Metallen wie Arsen und Quecksilber, ist aber nur wenig wasserl¨oslich. Wird BAL bei Vergiftungen mit Quecksilber eingesetzt, nimmt die Quecksilberkonzentration im Hirn zu. W¨ahrend Quecksilber-Ionen die sogenannte Blut-Hirn-Schranke nur sehr schwer permeieren, u ¨berwindet der relativ lipophile Dimercaptopropanol-Quecksilber-Komplex diese Barriere gut. Trotz der dadurch erzeugten hohen Quecksilberkonzentration im Hirn kommt es nicht zu toxischen Erscheinungen, da die Stabilit¨at der Bindung von Quecksilber an ¨ BAL gew¨ahrleistet ist, solange BAL im Uberschuss vorliegt. Wegen der schnel¨ len Ausscheidung von BAL zielt die Therapie darauf ab, stets einen Uberschuss im Organismus aufrechtzuerhalten (siehe Kapitel 4.2.5). Vom Chelatbildner wird dabei folgendes verlangt: • • • •
Eine hohe Bindungskonstante f¨ ur das toxische Schwermetall, eine gute L¨oslichkeit und leichtes Vordringen bis zu den Bindungsorten, eine gute Harn- und Galleng¨angigkeit, sowie Stabilit¨at bis pH 4 (Urin), eine geringe Toxizit¨at f¨ ur den Organismus.
Schließlich k¨onnen als allgemeine Richtlinien bei der Therapie gelten: • Die Dosierung des Chelators soll sich an der aufgenommenen Menge an Schwermetall ausrichten, da sich Metall und Chelatbildner gegenseitig entgiften.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle
205
• Auf m¨ogliche Verluste an essentiellen, k¨orpereigenen Schwermetallen wie Kupfer, Zink, Magnesium und Calcium sowie auf Nebenwirkungen soll geachtet werden. Die Metallausscheidung muss durch st¨andige Analyse der Ausscheidung in Harn und Kot kontrolliert werden. Die Chelatbildner nehmen in der Therapie der Schwermetallvergiftung einen bedeutenden Platz als Antidot ein. Das Prinzip der gleichzeitigen Entgiftung und Ausscheidung l¨asst sich durch kein anderes Verfahren ersetzen.
206
4.2
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle Wolfgang Legrum
4.2.1
Blei
Die Bezeichnung tr¨agt der bl¨aulichen Farbe des Metalls Rechnung. Sein nat¨ urliches Vorkommen ist ausschließlich auf Verbindungen mit der Oxidationsstufe +2 beschr¨ankt. Am h¨aufigsten und wichtigsten ist Bleiglanz (PbS), aus dem Blei dargestellt wird. Er enth¨alt etwa 1 % an Silber. Daneben gibt es einige farbige, schwerl¨osliche Salze, die fr¨ uher als Pigmente Verwendung fanden. Aufgrund der lateinischen Bezeichnung plumbum wurde durch den Schweden Berzelius das Elementsymbol Pb eingef¨ uhrt. Der englische Name lead ist mit dem deutschen Lot und L¨oten verwandt, was auf die niedrige Schmelztemperatur des Metalls hinweist. Globales Vorkommen und anthropogene Einfl¨ usse Die Jahresproduktion an Blei liegt bei etwa 5,5 Millionen Tonnen. In der Umgebung von Minen und Schmelzen und selbstverst¨andlich auch von aufgelassenen H¨ uttenbetrieben finden sich erh¨ohte Bleikonzentrationen (> 200 bis 4000 mg/kg) im Erdboden. Da Blei im Boden schnell immobilisiert wird und auf Dauer gebunden bleibt, k¨onnen es Pflanzenwurzeln nur in sehr geringem Maße aufnehmen. Bleikontaminationen von Pflanzen sind haupts¨achlich durch Immissionen verursacht. Bedingt durch die atmosph¨arische Verteilung stieg nach Einsetzen der industriellen Revolution 1750 die Bleikonzentration im Gr¨onlandeis deutlich an. Anwendungen Von historischem und toxikologischem Interesse sind folgende Anwendungen von Blei und dessen Verbindungen: Die Verwendung von Bleigeschirr war bei den R¨omern modern und galt als besonderer Luxus, a¨hnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts Geschirr aus Aluminium. Das Herausl¨osen von Blei durch Kontakt mit sauren Speisen f¨ uhrte zu chronischer Zufuhr von Bleiionen mit Vergiftungen. Bleirohre als Bestandteile der Trinkwasserleitungen stellen noch heute in Europa eine langfristige Sanierungsaufgabe an a¨lteren H¨ausern dar. So sind bis 1970 in Hamburg noch alle Hauseinf¨ uhrungen in Blei gefertigt worden, was heute noch etwa 120 000 Haushaltungen (16 %) betrifft. Aus den Leitungsrohren kann weiches nitrat-,
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
207
carbonat- und humins¨aurehaltiges Wasser toxisch relevante Mengen an Blei herausl¨osen und zu chronischen Vergiftungen f¨ uhren. Blei, das sich wegen der Duktilit¨at leicht walzen l¨asst, dient in der Dachdeckerei als Bleiblech zum Abdichten von Anschl¨ ussen. Bleiauskleidungen (Bleikammern) werden wegen ihrer chemischen Best¨andigkeit gegen¨ uber Schwefels¨aure genutzt. Geschosskerne und Schrot bestehen aus Blei oder enthalten es in Legierung. Verbleibt das Material im Gewebe (Stecksch¨ usse), kann es sich aufl¨osen und zu Vergiftungen f¨ uhren. Bleilegierungen finden Verwendung als Letternmetall mit Antimon und Zinn (Hartblei) und als Lagermetall f¨ ur Achslager (Bahnmetall). Bleim¨antel dienen als Vulkanisierform zur Herstellung von Hydraulik-Hochdruckschl¨auchen. Beim halbmaschinellen Absch¨alen dieser Formen besteht die Gefahr der Exposition. Daneben sind auch bleiummantelte Kabel im Einsatz. Zur Herstellung von Bleiakkumulatoren dient etwa die H¨alfte der Produktion. F¨ ur diese Verwendung bestehen auch effiziente Verfahren der Wiederverwertung, die, bereits vor u ¨ber hundert Jahren begonnen, zu den ¨altesten Techniken des Recyclings geh¨oren. Eine Anwendung als Pigment fanden Mennige als Rostschutzanstrich und in den Malerfarben Bleiweiß (Carbonat), Chromgelb (Postgelb, Chromat) und Neapelgelb (Antimonat). Gefahren der Freisetzung aus diesen Materialien ergeben sich bei der Prozessierung gestrichener Objekte (Schrott, Fensterrahmen, Anstriche). W¨ahrend aus bleisilicathaltigen Glasuren im Kontakt mit sauren Speisen Bleiionen in L¨osung gehen, besteht eine solche Gefahr bei Bleikristallglas und Flintglas, die große Anteile an PbO enthalten, nicht. Bleiarsenat wird im Ausland teilweise zur Sch¨adlingsbek¨ampfung im Weinbau eingesetzt, seine Anwendung ist in Deutschland verboten. Verst¨andlich sind daher die h¨oheren Blei- und Arsengehalte in manchen importierten Weinen. Als l¨osliche Bleiverbindung hat Bleiacetat in den letzten zwei Jahrhunderten medizinische Anwendung erfahren. Es diente innerlich als Adstringens. Wegen seines s¨ ußlichen Geschmacks auch Bleizucker genannt, wurde es zum direkten S¨ ußen von Wein genutzt, a¨hnlich wie Bleigl¨atte (PbO) zum Ents¨auern des Weines. Diese Verfahren l¨osten im 17. Jahrhundert in Frankreich verschiedentlich Massenvergiftungen aus, die mit Bleikoliken begannen. Der Einsatz von Bleiessig, Bleiwasser, Bleipflaster und Bleipuder besonders in der Wundbehandlung und von Pigmenten in der Kosmetik f¨ uhrte h¨aufig zu chronischen Vergiftungen. Ionisches Blei kann in Nahrungsmitteln auftreten, sofern bei der Herstellung und Verpackung bleihaltige Legierungen verwendet werden. Zu erw¨ahnen sind dabei in erster Linie solches Weißblech, dessen Zinn¨ uberzug fr¨ uher h¨aufiger einen zu hohen Bleianteil aufwies, Dosenn¨ahte, die mit bleihaltigem Zinn ausgef¨ uhrt waren, und Tuben.
208
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Anfang der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entdeckte man die Eigenschaft der Alkylderivate des Plumbans (Tetraethyl-und Tetramethyl-Blei, TEL bzw. TML, die Klopffestigkeit von Treibstoffen f¨ ur Ottomotoren zu steigern (vgl. Seite 174). Konzentrationen von urspr¨ unglich 640, sp¨ater 150 mg Pb/L Benzin waren zur Erh¨ohung der Oktanzahl zugelassen. In Europa gingen 6 % der Bleif¨orderung (in den USA 17 %) in die Produktion dieser Zusatzstoffe. Um die Ablagerung des w¨ahrend der Verbrennung freiwerdenden Bleis als hochschmelzendes PbO im Motor zu umgehen, sorgte der Zusatz von 1,2-Dichlorethan (Ethylendichlorid) und 1,2-Dibromethan in gef¨arbten Blei-Fluiden f¨ ur die Bildung von fl¨ uchtigen Bleihalogeniden (PbCl2 , Smp. 373 °C und PbBr2 , Smp. 501 °C). Als Aerosol werden die Verbindungen aus dem Brennraum ausgetragen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass seit 1940 die Konzentrationen im Gr¨onlandeis verst¨arkt zunahmen und die in W¨assern von Kl¨aranlagen gefundene Bleifracht zu ca. 80 % aus Straßenund Dachabw¨assern stammte. Gegenw¨artig vertriebene unverbleite Kraftstoffe f¨ ur Ottomotoren d¨ urfen maximal 13 mg Pb/L enthalten. In Schmier¨olen finden Bleiseifen als Stabilisatoren und Sikkative Verwendung. Toxikokinetik Blei und seine anorganischen Verbindungen werden von der intakten Haut kaum resorbiert. Akute Vergiftungsf¨alle mit anorganischen Bleiverbindungen sind selten, da auch nach oraler Aufnahme große Mengen ohne Vergiftungszeichen toleriert werden. Die geringe intestinale Resorptionsquote liegt zwischen 5 und 10 % und bietet dem Erwachsenen ausreichenden Schutz, nicht dagegen dem Kind, das bis zu 50 % aufnimmt. Wird allerdings das Darmepithel gesch¨adigt (bis 50 g Bleiionen), treten nach massiver Resorption t¨ odliche Vergiftungen auf. Die chronische Bleivergiftung (Saturnismus, bereits seit 200 v. Chr. bekannt) tritt als Folge einer beruflichen Exposition nach regelm¨aßiger Zufuhr von anorganischen Bleiverbindungen in Milligramm-Mengen pro Tag auf (Berufskrankheiten-Verordnung, BKV 1997, Nr. 1101). Hierbei spielt in der Regel neben der oralen die pulmonale Aufnahme die wichtigere Rolle. Da je nach Atemvolumen, L¨oslichkeit und Partikelgr¨oße zwischen 30 und 50 % des in der Atemluft enthaltenen Bleis in der Lunge aufgenommen werden, reichen zur Ausbildung einer chronischen Vergiftung noch geringere Mengen aus als bei ausschließlich oraler Exposition. Die Aufnahme l¨asst sich als Funktion der pulmonalen Retention und Resorption darstellen. Nach der Resorption sind mindestens 90 % des im Blut befindlichen Bleis an die Erythrozyten gebunden. Das freie Blei gelangt von hier aus in die weichen
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
209
Gewebe und in die Knochen, wobei es sich wie Calcium verh¨alt. Die Plazentarschranke und die Blut-Hirn-Schranke werden in Form von lipophilen Komplexen ohne wesentliche Behinderung u ¨berwunden. Die weichen Gewebe stellen flache Kompartimente dar, aus denen Blei mit einer Halbwertzeit von 20 Tagen renal und bili¨ar ausgeschieden wird. Zur mineralischen Knochenmatrix hat Blei eine hohe Affinit¨at, so dass ein großer Anteil im Knochen gespeichert wird. Als schwer l¨osliches Bleiphosphat enth¨alt dieses Kompartiment etwa 95 % des gesamten Bleis im Organismus (body burden) und deponiert im Laufe des Lebens ohne berufliche Exposition etwa 200 mg Blei. Eine Mobilisation des Bleis kann sich durch Fieber, Schwangerschaft, Stress, Azidose oder Frakturen ausl¨osen lassen, Vorg¨ange, welche auch physiologisch Calcium mobilisieren. Die normale Halbwertzeit der Elimination aus dem Knochen betr¨agt 20 Jahre. Die Ausscheidung von Blei aus dem Organismus erfolgt zu 75 % renal, der Rest bili¨ar und in Spuren u ¨ber Haare, N¨agel, Schweiß und Milch. Tetraalkyl-Blei (TML, TEL) wird im Gegensatz zu allen anderen Bleispezies besonders leicht durch die intakte Haut und durch die Lunge resorbiert. Es folgt eine rasche Aufnahme in das Gehirn, was im akuten Vergiftungsbild zentrale Wirkungen in den Vordergrund treten l¨asst. Seine Eliminationshalbwertzeit f¨ ur das Gehirn betr¨agt etwa 500 Tage. Tetraethyl-Blei unterliegt einem Metabolismus u ¨ber Triethyl- und Diethyl-Bleiionen zu anorganischem Blei. Zu einer Ausscheidung von organischem Blei aus dem Organismus kommt es kaum. Toxikodynamik Typisch f¨ ur eine akute Bleivergiftung ist das Vorherrschen gastro-intestinaler Symptome wie Erbrechen, Leibschmerzen, Darmkr¨ampfe, Obstipation und Proteinurie. Sie werden durch Spasmen der glatten Muskulatur des Darmes verursacht (Bleikolik), weil Blei das physiologische Calcium verdr¨angt (Mimikry). Spasmen der Gef¨aßmuskulatur und der Kapillaren sind Ursache f¨ ur eine blassgraue F¨arbung der Haut (Bleikolorit). Bei Kindern sind zentralnerv¨ ose Symptome ausgepr¨agt, w¨ahrend sie bei Erwachsenen zum Bild der chronischen Vergiftung geh¨oren. Ihnen liegen Interferenzen mit der calciumabh¨angigen Freisetzung von Neurotransmittern zugrunde. Die chronische Vergiftung beginnt mit unspezifischen Symptomen wie M¨ udigkeit, Schw¨ache, Bl¨asse, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Leberschwellung, Koliken und Obstipation. Sie wird deshalb oft nicht erkannt. Typisch, jedoch nicht regelm¨aßig, ist das Auftreten eines Bleisaumes (PbS) am Zahnfleisch. Eindeutige Anzeichen f¨ ur eine chronische Vergiftung sind, neben zentralnerv¨osen, periphermotorischen und glattmuskul¨aren Funktionsst¨orungen, vor allem die St¨orungen der Biosynthese des H¨amoglobins und der Erythropoese. Hierbei handelt es sich um einen typischen Schwermetalleffekt, der ohne eine Interaktion mit Calcium zustande kommt.
210
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide Succinat
1
Glycin
5-Aminolaevulinat
(Mitochondrium) (Cytosol)
2
Pb
(Anstieg im Urin)
Porphobilinogen (Cytosol)
3 4 Uroporphyrin III
Uroporphyrinogen III
5 Koproporphyrinogen III
Pb
Koproporphyrin III
(Anstieg im Urin)
Protoporphyrin IX
(Anstieg im Ery.)
6
Protoporphyrinogen III
7
Pb (Mitochondrium)
8 Haem
Abbildung 4.15 Vereinfachtes Schema der H¨ ambiosynthese und der drei Angriffspunkte von Blei. Sie startet mit Succinyl-CoA im Mitochondrium, wechselt zum Cytosol, um wieder in das Mitochondrium zur¨ uckzukehren. 5-Aminolaevulins¨ aure = δ-Aminolaevulins¨ aure (δ-ALA). Acht Enzyme sind f¨ ur die Synthese erforderlich: 1: δ-Aminolaevulinat-Synthase (Schl¨ usselenzym); 2: Porphobilinogen-Synthase = δ-Aminolaevulins¨ aure-Dehydratase; 3: Hydroxymethylbilan-Synthase; 4: Uroporphyrinogen III-Synthase; 5: Uroporphyrinogen IIIDecarboxylase; 6: Koproporphyrinogen III-Decarboxylase; 7: Protoporphyrinogen IXDehydrogenase. Analoge Dehydrogenasen gibt es f¨ ur die Substrate Uro- und Koproporphyrinogen; 8: Ferrochelatase. Letztere ist in der Lage, auch andere Schwermetalle wie Cobalt oder Zinn in das Protoporphyrin einzubauen. Die Anh¨ aufung von Zwischenstufen, die im Urin bzw. im Erythrozyten gefunden werden, ist beweisend f¨ ur eine Exposition mit Blei.
Blei blockiert die Biosynthese des H¨amoglobins durch Hemmung von drei Enzymen, der d-Aminolaevulins¨aure-Dehydrase (Porphobilinogen-Synthase), der Koproporphyrinogen III-Decarboxylase und der Ferrochelatase (Abbildung 4.15). Die Folge ist der Anstieg von zwei in Blut und Urin ausgeschiedenen Synthesezwischenstufen. So ist der Nachweis von d-Aminolaevulins¨aure und Koproporphyrin III diagnostisch von Bedeutung. Protoporphyrin IX ist in den Mitochondrien und in den Erythrozyten erh¨oht. Die Hemmung einer Pyrimidin-5’-Nukleotidase l¨asst im Erythrozyten ein Ribonukleotid persistieren, das f¨ ur die basophile T¨ upfelung verantwortlich scheint, die klinisch zur Fr¨ uherkennung einer Intoxikation dienen kann. Aber nicht nur u ¨ber Enzymhemmungen wirkt Blei auf Erythrozyten. Seine h¨amolytische Wirkung verk¨ urzt ihre Lebensdauer. Das unmittelbar nach der
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
211
Resorption von den Erythrozyten gebundene Blei ist in der Lage, als lipophiler, membrang¨angiger Komplex (mit Bicarbonat) in die Erythrozyten einzudringen. Hier aktivieren Bleiionen wie physiologischerweise Calcium die Kaliumkan¨ale und f¨ uhren damit zu einem vollst¨andigen Kaliumverlust. Der zellul¨are Gehalt an ATP f¨allt gleichzeitig ab. Zentrale degenerative Vorg¨ange im Gehirn sind Ausl¨oser f¨ ur Schwindel, Sehund H¨orst¨orungen, Ged¨achtnisschw¨ache, Schlaflosigkeit, Depressionen und Erregungszust¨ande (Encephalopathia saturnina). Ursache hierf¨ ur k¨onnten Kontraktionen von Arteriolen und Kapillaren sein. Eine zentral ablaufende degenerative Sch¨adigung des motorischen Systems a¨ußert sich peripher in Nervenl¨ahmungen mit motorischen Ausf¨allen an Armen und Beinen. Besonders die Arbeitshand ist davon betroffen, da die Streckermuskulatur infolge der L¨ahmung des Nervus radialis nachl¨asst (sog. Fallhand). Die spastische Wirkung auf Gef¨aßw¨ande kann auch zu Nierensch¨adigung, Gangr¨an und Angina-pectoris-Anf¨allen f¨ uhren. Eine akute Vergiftung mit Tetraethyl-Blei, die bereits durch Schn¨ uffeln von verbleitem Benzin ausgel¨ost werden kann, a¨ußert sich als toxische Psychose. Best¨andige Erregung, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, zentral ausgel¨oste Kr¨ampfe, Halluzinationen, Temperatur- und Blutdruckabfall lassen sich beobachten. Ersch¨opfung kann zum Tod f¨ uhren. Eine chronische Zufuhr von organisch gebundenem Blei f¨ uhrt zu dem Bild einer chronischen Vergiftung durch anorganisches Blei. Therapie Zur schnellen Giftentfernung ist bei der akuten Vergiftung Erbrechen auszul¨osen, danach wird l¨osliches Blei zweckm¨aßig in schwerl¨osliches Sulfat u ¨berf¨ uhrt. Von den Chelatoren eignet sich zur Therapie chronischer Intoxikationen am besten EDTA (Abbildung 4.25), das zur Schonung der Calciumbest¨ande als CaNa2 -EDTA einzusetzen ist. Penicillamin ist auch per os anwendbar, wirkt aber schw¨acher. Zur Erkennung von Bleidepots kann ein sogenannter Mobilisationstest durchgef¨ uhrt werden. Hierzu misst man die nach kombinierter Anwendung der beiden Chelatoren im 24-Stunden-Sammelurin ausgeschiedene Menge an Blei und vergleicht sie mit der zuvor unter Kontrollbedingungen eliminierten Menge. Anstiege auf das u ¨ber 10fache sprechen f¨ ur vorhandene Bleidepots. Dimercaprol (BAL) ist in der Regel ungeeignet, da sein Bleikomplex leicht dissoziiert und deswegen Sch¨aden an den Nierentubuli setzt. Es hat jedoch den Vorzug, in das Gehirn eindringen zu k¨onnen.
212
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Keine der genannten Maßnahmen ist zur Therapie einer akuten Vergiftung mit Tetraethylblei geeignet. Dessen zentral ausgel¨oste Erregung kann mit Diazepam ged¨ampft werden.
4.2.2
Cadmium
Cadmium, als Element 1817 dargestellt, ist ein typischer Begleiter der Schwermetalle Zink, Kupfer, Blei. Es f¨allt bei deren Herstellung automatisch als Nebenprodukt an und wird deshalb niemals eigens abgebaut. Sein antropogener Eintrag in die Umwelt ist unabh¨angig von seiner Nutzung im wesentlichen von der (Bunt-)Metallgewinnung abh¨angig. Die Vergesellschaftung mit anderen Metallen dr¨ uckt sich auch in der Namensgebung aus, da κadmeia (galmei) im Laufe der Geschichte die vier Elemente Kupfer, Zink, Cobalt und Cadmium bzw. deren Erze bezeichnete. Anwendung Die erst in diesem Jahrhundert einsetzende industrielle Nutzung des Cadmiums besteht in seiner Verwendung als galvanischer Rostschutz f¨ ur Eisen, als Legierungsbestandteil, als Farbpigment (Cadmiumgelb, CdS), als Stabilisator f¨ ur Kunststoffe (max. 1 mg/L nach EN71, Europ¨aische Norm, Safety of toys), zur Herstellung von Trockenbatterien, Ni-Cd-Akkumulatoren und als Neutronenabsorber in Regelst¨aben von Kernreaktoren. Spezialanwendungen f¨ ur Cadmium sind niedrig schmelzende Legierungen (Woodsches Metall und Lipowitz-Legierung) und Lote. F¨ ur die Ausbreitung von Cadmium in der Umwelt ist seine Fl¨ uchtigkeit verantwortlich. Cadmium verdampft bei der Metallgewinnung und bei technischen Anwendungen (z. B. Schweißen) als einatomiges Gas und reagiert mit Sauerstoff leicht zu Cadmiumoxid (CdO), das sich als Aerosol auch durch Verbrennung aus cadmiumhaltigen Materialien wie Kohle, Erd¨ol, M¨ ull und Kl¨arschlamm bildet. Deshalb steht f¨ ur beruflich Exponierte die inhalative Aufnahme im Vordergrund. Die Durchschnittsbev¨olkerung nimmt Cadmium dagegen haupts¨achlich mit der Nahrung auf. Der Gehalt der Luft liefert hier nur einen kleineren Beitrag zur Gesamtbelastung, wobei Raucher wegen des Cadmium-Gehaltes des Tabaks eine h¨oher belastete Sondergruppe bilden. Der Eintrag von Cadmium auf die landwirtschaftlichen Nutzfl¨achen erfolgt als Aerosol u ¨ber die Luft oder direkt durch Ausbringen von Phosphatd¨ unger (Superphosphat) und Kl¨arschlamm, dessen maximale Konzentration 10 mg/kg Trockenmasse nicht u ¨berschreiten darf. F¨ unf Tonnen Kl¨arschlamm pro Hektar sichern die Phosphat-Versorgung f¨ ur drei Jahre und repr¨asentieren 5000 Tonnen gereinigtes Abwasser. Cadmium reichert sich auf Grund seiner Wechselwir-
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
213
kung mit Humins¨auren in der organischen Bodensubstanz an und gelangt von hier in Pflanzen, z. B. Nicotiana tabacum, die es leicht aufnehmen. Pilze binden es an einem Glutathionanalogon, dem Phytochelatin ((-Glu-Cys)n=1−8 -Gly). Toxikokinetik Die geringe Partikelgr¨oße und Wasserl¨oslichkeit des Cadmiumoxids (CdO) im Aerosol bedingt sein Vordringen bis in die Alveolen der Lunge, wo es zur¨ uckgehalten und zu 25 bis 50 % resorbiert wird. Die Resorptionsquote ist von beiden Parametern abh¨angig. Durch den Konsum von zwanzig Zigaretten mit je 1–2 mg Cd kann dem K¨orper inhalativ etwa ebensoviel Cadmium zugef¨ uhrt werden wie mit der t¨aglichen Nahrung, die zwischen 15 und 60 mg Cd beisteuert. Insgesamt werden mit dem gerauchten Tabak etwa 10 Tonnen Cadmium freigesetzt, genausoviel wie in der Stahlindustrie. Die Lebensmittel enthalten ¨ zwischen 4 (Apfel), 60 (Kartoffeln), 120 (Weizenmehl), 20 (Rindfleisch) und 1300 (Rinderniere oder Austern) mg Cd/kg Frischgewicht, weitgehend in Bindung an Proteine. Die Resorption von Cadmium im Gastrointestinaltrakt liegt bei ca. 2–8 %. Sie ist nicht konstant, sondern von der F¨ ullung der Eisendepots und dem Angebot an Calcium abh¨angig. Da zur Kompensation von Mangelzust¨anden an Eisen und Calcium die Transportproteine f¨ ur Eisen und endogene Liganden f¨ ur Calcium verst¨arkt gebildet werden, steigt die Resorption von Cadmium, das diese Wege partiell als Eintrittspforten nutzt, ebenfalls an. Das durch Lunge und Darm resorbierte Cadmium ist im Blut zun¨achst an Albumin gebunden und erreicht so leichter die Leber, wo es auf Metallothionein (MT, 6,6 kDa, 61 AS) u ¨bertragen wird. Dieses gelangt in beladener Form in den Kreislauf (Abbildung 4.16). Metallothionein, welches im Molek¨ ul etwa 20 Cysteinreste tr¨agt, ist ein effektiver Ligand f¨ ur Schwermetalle und physiologischerweise ein beweglicher Speicher f¨ ur Zink. Es l¨asst sich durch Schwermetallzufuhr induzieren (Cd > Cu > Hg > Zn), was f¨ ur den K¨orper durch Bindung eine partielle Entgiftung des Metalls bedeutet (vgl. Kapitel 4.1.10). Mit Cadmium beladenes Metallothionein wird in der Niere aufgrund seiner Gr¨oße zun¨achst glomerul¨ar filtriert, dann aber im proximalen Tubulus reabsorbiert. Intrazellul¨ar l¨ost hier abdissoziiertes ionisches Cadmium eine renale Neubildung einer zweiten Isoform des Metallothioneins aus, was im Endeffekt durch Bereitstellung von Bindungsstellen zu einer Deponierung von Cadmium in der Nierenrinde f¨ uhrt. Hier lagern zwischen 30 und 50 % des Gesamtk¨orperbestandes, w¨ahrend auf Leber und Muskel je etwa 20 % entfallen. Auch in der Plazenta induziert Cadmium die Bildung von Metallothionein. Aufgrund der starken Bindung an dieses Protein ist Cadmium kaum plazentarg¨angig, und das Neugeborene bleibt praktisch frei davon (Abbildung 4.17). Die Aufnahme des Metalls f¨ uhrt im Laufe des Lebens zu einem stetigen Anstieg
214
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide Cluster B
Cluster A
MDPNCSCATDGSCSCAGSCKCKQCKCTSCKKSCCSCCPVGCAKCSQGCJCKEASDKCSCCA 5
7
13 15
19 21
24 26
29
33/4 36/7
41
44
48 50
57 59 60
S S
S44
S S
S S7
S S24
S
S34
S S15
S
S
S60 S37
S S50
S
Abbildung 4.16 Aufbau von Metallothionein. u ¨ber der Sequenz der 61 Aminos¨ auren des Metallothioneins von S¨ augetieren (hier Ratte) ist durch die H¨ ohe der S¨ aulen die Aminos¨ aurevariabilit¨ at bei 30 Spezies dargestellt. Die 20 Cystein-Reste (gef¨ ullte S¨ aulen) unterliegen keiner Variation. Die Aminos¨ auren 1–30 bilden das Cluster B, das mit 9 Cystein-Resten drei divalente Kationen (gef¨ ullte Kreise) in jeweils tetraedrischer Anordnung komplexiert (Cd3 Cys9 ). Cluster A, dem die Aminos¨ auren 31–61 zugrunde liegen, bindet vier Kationen unter Beteiligung von 11 Thiol-Gruppen (Cd4 Cys11 ). Die idealisierten Chelate in den beiden Clustern sind im unteren Teil abgebildet. Die Indizes an den Thiol-Schwefeln geben die Position des entsprechenden Cystein-Restes an. Zwischen Metall und Schwefel ergibt sich im voll beladenen Metallothionein ein molares Verh¨ altnis von beinahe 1:3.
seiner Konzentration im gesamten Organismus vor allem in der Niere, wobei dort nach ca. 50 Jahren ein Maximum durchlaufen wird. Es liegt f¨ ur Nichtraucher bei durchschnittlich 24 mg Cd/kg Frischgewicht (Raucher 73 mg Cd/kg) in der Nierenrinde. Nierensch¨aden sind erst zu erwarten ab einer Konzentration von > 200 mg Cd/kg. Dann scheint eine Grenze in der Speicherkapazit¨at erreicht zu sein und freigesetztes Cadmium kann irreversibel die Nierentubuli sch¨adigen, wodurch seine renale Ausscheidung zunimmt. Solche Konzentrationen sind h¨ochstens durch eine langj¨ahrige berufsbedingte Exposition erreichbar. Aufgrund des Anstiegs der Cadmium-Konzentration in der Nierenrinde steigt auch die renale Ausscheidung bis auf ca. 2 mg/L an, obwohl eine renale Reabsoption des Metallothioneins erfolgt. Die biologische Halbwertzeit f¨ ur die Elimination von Cadmium liegt zwischen 10 und 30 Jahren. Verschiebungen aus
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
215
ug Cd/g Nierenrinde
75 Japan 50 USA 25 Schweden Deutschland
0 0
20
40
60 Lebensjahre
80
100
Abbildung 4.17 Konzentration von Cadmium in der Nierenrinde des Menschen in Abh¨ angigkeit vom Lebensalter. Die Daten repr¨ asentieren den Zustand in Bev¨ olkerungsgruppen verschieden großer, nicht repr¨ asentativer Stichproben unter Einschluss von Rauchern. Die Konzentrationen beziehen sich auf das Frischgewicht des Organs. Nach Friberg et al., 1974.
nicht speichernden Organen, d. h. solchen ohne nennenswerte Syntheseleistung f¨ ur Metallothionein (Apothionein), in speichernde Organe hinein (Cd-shift) erfolgen mit einer Halbwertzeit von nur f¨ unf Tagen. Toxikodynamik Das gemeinsame Prinzip der bekannt gewordenen akuten Sch¨adigungen durch Cadmium beruht auf der Eigenschaft seiner Ionen, Proteine in Membrangrenzfl¨achen zu denaturieren. Hierbei l¨ost es u ¨ber eine Radikalbildung Lipidperoxidation aus. Die Inhalation von Cadmium als Dampf, Rauch oder Aerosol f¨ uhrt zu trockenen Schleimh¨auten, Husten und Fieber. Noch 24 Stunden nach der Exposition kann sich ein Lungen¨odem ausbilden, das je nach Schweregrad der Sch¨adigung t¨odlich sein kann. Die enterale Aufnahme von gr¨oßeren Mengen an Cadmium-Ionen l¨ost in der Regel innerhalb weniger Minuten Erbrechen und Diarrhoe aus, die von kolikartigen Schmerzen begleitet ist. Das Erbrechen und eine geringe Resorptionsquote lassen schwere Intoxikationen meist nicht entstehen. Unter l¨angerer beruflicher pulmonaler Exposition gegen¨ uber Cadmium in Konzentrationen gr¨oßer 70 mg/m3 bilden sich entz¨ undliche Ver¨anderungen der Schleimh¨aute des Respirationstraktes aus, h¨aufiger begleitet vom CadmiumSchnupfen, einer Degeneration des Riechepithels mit Ausbildung einer Anos-
216
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
mie. Weiterhin entwickeln sich eine obstruktive Atemwegserkrankung und ein Lungenemphysem. Unabh¨angig von der Expositionsroute bleibt die Niere Zielorgan der Sch¨adigung. Als Fr¨ uhsymptom einer nicht reversiblen Sch¨adigung der Nierentubuli l¨asst sich eine Proteinurie erkennen. Vorrangig findet man b2 -Mikroglobuline, die in Anwesenheit von freiem Cadmium nicht mehr reabsorbiert werden k¨onnen und als diagnostische Marker dienen. Die l¨angerfristige orale Aufnahme von stark mit Cadmium belasteten Lebensmitteln l¨ost eine Reihe von Symptomen aus, die sich in einer St¨orung des Mineralhaushaltes (Ca, Phosphat und Fe) und des Vitamin D-Stoffwechsels a¨ußern. Dies f¨ uhrt sowohl zu Eisenmangelan¨amien als auch zu schwerer schmerzhafter Erweichung des Knochens und zu seinem Abbau (Osteomalazie bzw. Osteoporose). In Japan, wo diese Intoxikation 1956 auftrat, nachdem Reis mit einem Cadmium-Gehalt von 2 mg/kg zum Verzehr kam, wurde die Bezeichnung Itai-itaiKrankheit gepr¨agt (itai = aua). Die Cadmium-Belastung kam durch die Bew¨asserung der Reisfelder mit Wasser zustande, das durch Cadmium aus Abraumhalden eines Bergwerks verunreinigt war. Im einzelnen sind folgende Zusammenh¨ange bekannt. Cadmium verdr¨angt bereits im D¨ unndarm Calcium von dessen Bindungsprotein und mindert seine Resorption. Die Calcium-Konzentration im Plasma reguliert die Aussch¨ uttung der Hormone Calcitonin (Aufbau von Knochen bei hoher Calcium-Konzentration) und Parathormon (Abbau von Knochen und damit verbundener Verlust an Phosphat und Calcium). Cadmium inhibiert die in der Nierentubuluszelle lokalisierte Cholecalciferol-Hydroxylase und verhindert so die Entstehung der biologischen Wirkform des Vitamin D3 , n¨amlich des 1,25-Cholecalciferols (Calcitriol), das die Synthese des Calcium-Bindungsproteins und die Knochenmineralisation veranlasst. Eine Sch¨adigung des Hodens, der m¨annlichen Keimzellen und die Ausl¨osung von Bluthochdruck sowie von Lungen- und Prostatakarzinomen durch Cadmium werden diskutiert.
Therapie Die Gabe von Dimercaprol (BAL) als Chelatbildner ist nach akuter inhalativer Vergiftung sinnvoll. In der Therapie chronischer Vergiftung ist sie umstritten, da mit der Mobilisierung des Metalls die Gefahr einer Nierensch¨adigung entsteht.
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
4.2.3
217
Chrom
Chrom, das h¨arteste aller Gebrauchsmetalle, kommt in der Natur vorwiegend als Chromeisenstein (Chromit, Cr2 O3 ·FeO = FeCr2 O4 ) vor. Die gr¨oßten Lagerst¨atten liegen in S¨ udafrika. Vierzig Jahre zog sich die Entdeckungsgeschichte des Elementes hin, bis es 1798 von Louis Vauquelin unrein hergestellt und wegen seiner vielfarbenen Verbindungen als Chrom (qrwma) bezeichnet wurde. Seine Darstellung ist schwierig, da sich das Metall nicht durch Reduktion des Erzes mit Kohlenstoff gewinnen l¨asst. Zum Metall gelangt man nach einem oxidativen Aufschluss des Erzes u ¨ber Chrom(VI) (Dichromat). Eine erste Reduktion mit Kohlenstoff liefert Chrom(III) (Cr2 O3 ), welches im Thermitverfahren mit Aluminium zum Element reduziert wird. Das Metall wird weder an der Luft noch unter Wasser oxidiert, da es eine d¨ unne, sehr dichte Schutzschicht von Chrom(III)-oxid (Cr2 O3 ) ausbildet. Durch Behandlung mit Salpeters¨aure oder Chroms¨aure l¨asst sich diese Passivierung verbessern. Unter chemischer oder kathodischer Reduktion kann dieser Schutz jedoch zerst¨ort werden. F¨ ur galvanische Anwendungen oder die Gewinnung reineren Chroms durch Elektrolyse er¨ ubrigt sich die Herstellung des Metalls, da der Prozess von Chrom(III)-L¨osungen ausgeht. Auch zur Legierung von Stahl dient nicht das Metall sondern Ferrochrom (Fe2 Cr) als Zuschlag, das sich aus Chromit durch Verschmelzung mit Koks im elektrischen Ofen erhalten l¨asst. Chrom kommt haupts¨achlich in Oxidationsstufen +2, +3 und +6 vor, jedoch existieren alle Stufen von -2 bis +6. Verbindungen des Chrom(II) sind starke Reduktionsmittel, die des Chrom(VI) starke Oxidationsmittel. Bevorzugt ist die Oxidationsstufe +3. Farbintensive Chromate dienen als unl¨ osliche Farbpigmente. So wurde Bleichromat fr¨ uher zum Streichen der Postw¨agen verwendet ¨ (Postgelb) und basisches Bleichromat dient als rotes Pigment in der Olmalerei. Glas l¨asst sich mit Chrom(III) smaragdgr¨ un, mit Chrom(VI) gelb f¨arben. Anwendung Elementares Chrom Als Metall dient Chrom einerseits zur Hartverchromung, bei der es in einer 500 mm dicken Schicht galvanisch auf die metallischen Werkst¨ ucke aufgebracht wird, andererseits zur Dekorverchromung, welche die Materialien darunter auch Kunststoffteile mit einer h¨ochstens 1 mm starken Schicht u ¨berzieht. Große Mengen an Chrom werden zur Herstellung von Edelstahl ben¨otigt. Darunter versteht man St¨ahle mit einem Chromgehalt von u ¨ber 12 %. Die korrosionssch¨ utzende Wirkung geht auch hier von einer Schicht des Chrom(III)oxids aus. Verbreitet sind verschiedene Sorten von Chrom-Nickel-St¨ahlen (siehe Kapitel 4.2.4). Das Legieren mit weiteren Metallen erh¨oht die Zugfestigkeit
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
(Chrom, Nickel, Mangan), Schmiedef¨ahigkeit (Molybd¨an), Kerbschlagz¨ahigkeit (Mangan), Bruchdehnung (Silizium) und senkt die Wasserstoffverspr¨ odung (Chrom) und die Spr¨odigkeit beim Anlassen (Vanadium). Sechswertiges Chrom Chromate und Dichromate dienen als starke Oxidationsmittel. Die Oxidationskraft ist im Sauren besonders hoch, so dass Kaliumdichromat in konzentrierter Schwefels¨aure als Chromschwefels¨aure fr¨ uher zur Reinigung und Entfettung von Ger¨aten aus Laborglas h¨aufig Verwendung fand. Durch die Reaktion entsteht aus dem orangeroten Dichromat gr¨ unes Chrom(III). Dieser Farb¨anderung bediente man sich fr¨ uher in den Dr¨agerr¨ohrchen zum Nachweis von Ethanol ¨ in der exhalierten Atemluft. Die medizinische Nutzung der Atzwirkung von Haut durch Chrom(VI)-oxid (CrO3 , Chromtrioxid) ist heute obsolet. Zur dauerhaften Markierung von Erythrozyten kann deren Beladung mit radioaktivem Natriumchromat dienen (vgl. Seite 193). Durch Einsatz von derart vorbehandelten Erythrozyten gelang der experimentelle Nachweis der Ausl¨osung von okkulten Blutungen nach Gabe von Salizylaten (Acetylsalizyls¨aure) und Nichtsteroidalen Antiphlogistika, denn durch einen Austritt von Erythrozyten in das Darmlumen erscheint deren radioaktiver Inhalt in den Faeces. Zum Holzschutz wird Chromat zusammen mit Kupfer und Fluor (CKF) als Impr¨agniersalz im Kesselvakuumdruckverfahren angewendet. Beginnend mit einer Behandlung im Unterdruck durchl¨auft das Holz einen zweist¨ undigen Zyklus, der die luftgef¨ ullten R¨aume mit Holzschutzmitteln f¨ ullt. Chromat fixiert die Wirkstoffe Kupfer, Arsen, Zink und Fluor. Es wird selbst teilweise zu Chrom(III) reduziert. Sofern nicht ausgewaschen, werden die Salze sp¨atestens beim Verbrennen des Holzes freigesetzt. Das Chromat gelangt mit Verz¨ogerung vollst¨andig in Freiheit. Zum Holzschutz mit Bioziden siehe Kapitel 6.3. Chromat ist auch in Zement und dessen Zubereitungen enthalten. Deren Anwendung durch unwissende Heimwerker l¨ost in Deutschland pro Jahr etwa 400 F¨alle von Maurerkr¨atze aus, einer Chromatallergie, die ein allergisches Hautekzem darstellt. Es sind u ¨berwiegend M¨anner betroffen. Zum Schutz der Bev¨olkerung darf Zement als Sackware nur noch 2 ppm freies Chromat enthalten. Ein Zusatz von Eisensulfat dient zur chemischen Minderung dieser Konzentration. Auf Verfalldaten ist zu achten. Vierwertiges Chrom Chromdioxid (CrO2 ) ist ein kristallines, ferromagnetisches, schwarzes Pigment, das zur Produktion von Ton- und Streamer-B¨andern genutzt wird. Datentr¨ager in modernen Festplatten bestehen aus zwei d¨ unnen Schichten einer magnetisierbaren Cobalt-Platin-Chrom-Bor-Legierung, die durch eine Zwischenschicht aus drei Atomlagen Ruthenium getrennt sind (AFC = antiferromagneticallycoupled media).
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
219
Dreiwertiges Chrom In den Anf¨angen der Ledergerbung mit Chrom vor u ¨ber 100 Jahren verwendete man meist Chromat. Heute kommt jedoch hierf¨ ur ausschließlich basisches Chromsulfat zum Einsatz. Die vom Chrom verursachte Denaturierung von Eiweiß bildet die Grundlage der Gerbung. Pro Jahr werden nach diesem Verfahren weltweit etwa 2000 km2 Leder hergestellt. Fertiges Rindsleder enth¨alt etwa 16 g Chrom(III) pro m2 . Meist finden sich Verunreinigungen mit Chromat, so dass die Gefahr einer Exposition gegen¨ uber Chromat bei allen Lederwaren besteht (Arbeitsschutzhandschuhe, Handschuhe, Schuhe, Kleidung). Das zur Gerbung eingesetzte Chrom wird durch Abwasser, feste Arbeitsabf¨alle, darunter St¨aube, sowie nach einer Latenzperiode durch die Lederprodukte selbst beinahe vollst¨andig in die Umwelt zur¨ uckgegeben. Pflanzen nehmen das im Boden fast ausnahmslos als Chrom(III) vorliegende Elemet nur schlecht auf. Das l¨asst sich am Schwermetalltransfer (cPflanze /cBoden ) erkennen, der zwischen 0,01 und 0,1 liegt. Auch bei hohen Kontaminationen der B¨oden tritt Chrom nicht in die Nahrungskette ein. Die meisten Nahrungsmittel enthalten zwischen 0,2 und 0,8 mg Cr/kg Trockenmasse. Getreide, Fr¨ uchte und andere Samen enthalten besonders wenig Chrom. In Hefe und Fleisch werden jedoch hohe Gehalte an komplex gebundenem Chrom gefunden. Aus der Nahrung ist diese Form des Chrom(III) leicht resorbierbar. Die Komplexe enthalten in der Regel Nicotins¨aure (Niacin) und Aminos¨auren oder Glutathion (GSH). Hierzu geh¨ort auch der Glucose-Toleranzfaktor (GTF), dem ein Einfluss auf die Insulinwirkung zugeschrieben wird. Seine Zusammensetzung und Wirkungsweise ist noch nicht zweifelsfrei gekl¨art. Chrom ist f¨ ur Mensch und Tier ein essentielles Spurenelement, dessen Bedarf sich durch etwa 40 mg organisch gebundenes oder 200 mg anorganisches Chrom am Tag decken l¨asst. Toxikokinetik Chromat aus inhaliertem Material mit Partikeln unter 5 mm wird in der Lunge leicht resorbiert. Chrom wird pulmonal deponiert, denn Chromatarbeiter zeigen hohe Konzentrationen an Chrom in der Lunge, auch wenn die berufliche Exposition schon l¨angere Zeit zur¨ ucklag. Chrom wird dann meist auch in Milz, Leber, Nieren und Herzmuskel gefunden. Im Gewebe selbst liegt vorwiegend Chrom(III) vor, obwohl Chrom(VI) aufgenommen wurde. Im Detail betrachtet, ergibt sich folgendes Bild vom molekularen Geschehen. Chromat wird u ¨ber den Anionentransporter der Membran in die Zelle aufgenommen, was mit der leichten Permeabilit¨at des anionischen Chromat in Einklang steht (vgl. Kapitel 3.5.3.3 und 4.1.7). Innerhalb der Zelle herrscht
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Absorption 432 nm
0,5
0,4
0,2
0,3
0,1 0,0 0
1
2
3
4
min
5
Abbildung 4.18 Links: Reduktion von Chromat durch Glutathion (GSH) bei physiologischem pH-Wert (pH 7,4). F¨ ur 1 Chromat werden zur Reduktion 3 Thiole ben¨ otigt wie die Summengleichung (1) zeigt. Dieser Reduktion ist die schnelle Bildung eines Thioesters vorgelagert (2). Das Intermediat entsteht durch eine Liganden-Substitution am Chromat, das seine Oxidationsstufe hierbei nicht a ¨ndert. Die Bildung des Chrom(VI)-Thioesters (ChromatThioester) und seine Weiterreaktion l¨ asst sich anhand seiner Absorption bei 432 nm spektral verfolgen (rechtes Bild). Unter Verbrauch von zwei Molek¨ ulen Glutathion (GSH) wird das Chrom(VI) des Chromat-Thioesters dann zun¨ achst zum Chrom(IV) reduziert (3), wonach ein drittes Glutathion die Reduktion zum Chrom(III) beendet (4). Die Oxidation des Glutathions f¨ uhrt in allen F¨ allen zum Disulfid GSSG.
ein reduktives Milieu, da hohe Konzentrationen von Gluthathion (bis 10 mM) vorliegen. Bei physiologischem pH ist die Oxidationskraft des Chromat jedoch gemindert, so dass neben Ascorbat nur Glutathion als Elektronendonatoren fungieren kann. Chromat wird in der Zelle durch Glutathion (GSH) nicht-enzymatisch zu Chrom(III) reduziert. Initial bildet sich aus Chromat und Glutathion ein Thioester, der mit weiterem Glutathion reduziert wird. Die Reduktion l¨auft relativ langsam ab, weswegen der Thioester sogar als Intermediat spektral nachweisbar (Abbildung 4.18). Auf Grund seiner langen Lebensdauer k¨onnte das Intermediat eine Transportform darstellen, welche dem Chromat(VI) den Zugang zu kritischen Zielen erm¨oglicht. Obwohl verschiedene reduktive Enzymsysteme in der Zelle arbeiten, z. B. die hepatische NAD(P)H-abh¨angige Cytochrom P450-Reduktase, spielen diese bei der Reduktion von Chromat wahrscheinlich nur eine untergeordnete Rolle. Die Zelle kann aufgrund der beinahe unersch¨opflichen Reduktionskapazit¨at große Mengen an Chromat aufnehmen, da durch dessen Reduktion ein st¨andiges Konzentrationsgef¨alle nach innen aufrechterhalten wird. Das entstandene Chrom(III) ist als Kation in der Zelle gefangen. Dies kann besonders an Erythrozyten und Leukozyten beobachtet werden und es ist einsichtig, warum Erythrozyten mit intraven¨os appliziertem 51 Cr Natriumchromat f¨ ur deren gesamte Lebensdauer beladen werden k¨onnen. Nur ein geringerer Teil des Chromats erf¨ahrt schon im Plasma eine Reduktion und wird als Chrom(III) renal ausgeschieden. Die hohen Konzentrationen
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
221
der Cr3+ -Ionen im Innern einer Zelle und deren Affinit¨at zu Proteinen und Nukleins¨auren f¨ uhren zur einer ausgepr¨agten Komplexbildung. Etwa 50 % des in der Zelle gefundenen Chroms befindet sich in der Kernfraktion. Aus Zellen ausgetretenes Chrom(III) wird im Blut teilweise an Transferrin gebunden transportiert und renal ausgeschieden. Eine cutane Resorption ist f¨ ur Chromat belegt. In Konzentrationen bis 0,1 % bleibt es auf dem Weg durch die Haut gebunden liegen, was die topische Sensibilisierung durch Chromat erkl¨art. In h¨oherer Konzentration dringt es weiter in den Organismus vor und wirkt systemisch. Nach oraler Aufnahme von Chromat werden etwa 2 % der Dosis resorbiert. Dies ist nur unwesentlich mehr als nach einer Aufnahme von Chrom(III) (0,5 %), denn bereits im Magen erfolgt eine Reduktion zu Chrom(III), das schlecht resorbiert wird. Oxalate k¨onnen die Chrom(III)-Resorption durch Chelatbildung steigern, Phytin (meso-Inosithexaphosphat) aus Getreide sie hemmen. Die Ausscheidung nicht resorbierten Materials erfolgt mit den Faeces. In der Form des Glucose-Toleranzfaktors liegt die intestinale Resorptionsquote dagegen zwischen 10 und 25 %. Vergleicht man die Toxizit¨aten wasserl¨oslicher Chromate in den verschiedenen Applikationsrouten, wirken sie nach einer parenteralen Applikation hochtoxisch, w¨ahrend sie nach cutaner Applikation eine mittlere Toxizit¨at ausl¨osen und nach oraler Gabe wenig giftig sind. Im Vergleich dazu sind Verbindungen aller anderen Wertigkeitsstufen des Chroms harmlos, sie haben beim Menschen bisher nicht zu Sch¨aden gef¨ uhrt.
Toxikodynamik Die akute Vergiftung durch Einnahme von etwa 10 g Kaliumdichromat, Kaliumchromat oder 2 g Chroms¨aure f¨ uhrt rasch zu blutigem Erbrechen, h¨amorrhagischen Durchf¨allen und Kreislaufkollaps. Wird dieses Stadium u ¨berlebt, entwickelt sich eine H¨amolyse mit Hyperkali¨amie und die Symptome einer Leber- und Nierensch¨adigung. Nach einigen Tagen f¨ uhrt meist eine Ur¨amie zum Tod. Auch u ¨ber Ver¨atzungen der Haut mit heißer Dichromatl¨osung kann es zu resorptiven Vergiftungen mit denselben Folgen kommen. Mehrfach sind Verwechslungen des gelben Kaliumchromats und -dichromats mit anderen gelben Stoffen Anlass von Vergiftungen gewesen. So kamen 1919 durch eine Verwechslung mit Schwefel in einer Salbe zw¨olf Personen zu Tode und eine Verwechslung mit Trypaflavin f¨ uhrte zu einer intraven¨osen Injektion mit folgender Meth¨amoglobinbildung, Proteindenaturierung und Kapillarembolie und einer dadurch ausgel¨osten Anurie mit tubul¨aren Nekrosen.
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Eine chronische Toxizit¨at l¨asst sich ausschließlich bei beruflich exponierten Personen beobachten. An der Haut k¨onnen durch anhaftende Chromatsalze nichtallergische Ulzera entstehen. Um dies zu vermeiden, ist auf die Verbesserung der hygienischen Verh¨altnisse und Sauberkeit bei der Arbeit Wert zu legen. Sehr kleine Chromatkonzentrationen u ¨ber mindestens ein halbes Jahr hinweg l¨osen eine allergische Kontaktdermatitis mit einem chronischen Ekzem aus. Nach Inhalation von St¨auben oder Nebeln von Chromaten, Dichromaten oder undunchromathaltigen Erzen in Konzentrationen um 0,1 mg Cr/m3 treten Entz¨ gen der Nasenschleimhaut und oft eine Perforation des Nasenseptums auf. Daneben beobachtet man Konjunktivitis, Pharyngitis, Laryngitis, Bronchitis, pr¨akanzer¨ose Papillome in der Mundh¨ohle und im Rachen, Polypen des Kehlkopfes und in den Nasennebenh¨ohlen. Auch der Verlust des Geruchsund Geschmacksinns und Parodontose werden angetroffen. Sind die inhalierten Konzentrationen bis 3 mg Cr/m3 bildet sich eine chemische Pneumonitis aus, ein Vorstadium der Pneumokoniose, der Chrom-Staublunge. Das Verschlucken chromathaltigen Staubes f¨ uhrt auch zu einer Sch¨adigung des Magendarmtraktes. In chromatherstellenden und verarbeitenden Betrieben traten nach l¨angerer Exposition mit einer Konzentration von mehr als 0,1 mg Cr/m3 Bronchialkarzinome auf. Die mittlere Zeit bis zur Entwicklung der Tumore betrug etwa 25 Jahre. Ausschließlich das sechswertige Chrom ist hierzu in der Lage. Da in der Zelle jedoch diese Wertigkeitsstufe nicht vorkommt, sondern nur das dreiwertige Chrom, k¨onnen entweder nur dieses oder w¨ahrend der Reduktion von Chromat auftretende Zwischenstufen, die eigentlichen Karzinogene darstellen. Dem Chromat f¨allt lediglich die Rolle der Transportform zu. Die Reduktion in der Zelle stellt f¨ ur Chromat einen Giftungsprozess dar. Chrom(III) bindet an DNA und RNA und hemmt die DNA-Synthese. Durch die Bindung an Nukleobasen wird insbesondere die Paarung von Guanin-Cytosin gest¨ort. Daneben bilden sich auch Sandwich-Komplexe zwischen benachbarten Purin- und Pyrimidin-Basen (vgl. Kapitel 9.6.1). Therapie Die sofortige Giftentfernung steht bei einer akuten Vergiftung im Vordergrund um tiefe Ver¨atzungen zu vermeiden. Nach oraler Aufnahme erreicht man dies durch Ausl¨osen von Erbrechen, eine Magensp¨ ulung und Gabe von Aktivkohle. Wegen der drohenden Hyperkali¨amie ist eine Elektrolyt¨ uberwachung wichtig. Sofern eine H¨amolyse auftritt, muss eine Blutaustauschtransfusion vorgenommen werden. Eine Dialyse sollte bei drohendem Nierenversagen (Anurie)
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
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einsetzen. Eine Behandlung mit CaNa2 -EDTA ist ohne Effekt, denn es erreicht die Chromlager nicht. Die Anwendung von BAL birgt die Gefahr einer zus¨atzlichen Nierensch¨adigung und ist deshalb umstritten. Im Falle einer lokalen Ver¨atzung hilft die sofortige Entfernung des Chroms durch Wasser (Entfernen der Kleidung, Augendusche, K¨orperdusche, Sprungbadewanne). Umschl¨age mit 10 %igem CaNa2 -EDTA sind hier n¨ utzlich. Eine chronische Vergiftung kann h¨ochstens durch die Aufgabe der Arbeit gestoppt werden. Die Behandlung erfolgt symptomatisch. Der Einsatz von Chelatbildnern ist wirkungslos.
4.2.4
Nickel
Das Schwermetall Nickel, das ersmals 1751 von Axel F. Cronstedt dargestellt wurde, wird heute meist aus kanadischem Magnetkies gewonnen, welcher aus Kupferkies (Chalkopyrit) CuFeS2 , Pentlandit (FeNi)9 S8 besteht. Untergeordnete Bedeutung haben Nickelverbindungen mit Arsen, Antimon und Schwefel (NiS, NiAs, NiSb, NiSbS). Aus vielen Erzen konnten in fr¨ uherer Zeit mit den einfachen R¨ostverfahren keine Metalle gewonnen werden. Die Bergleute sahen sich von den b¨osen Erdgeistern Kobold und Nickel in die Irre gef¨ uhrt. Sp¨ater dienten diese Namen zur Bezeichnung der Metalle. Nickel kommt mit Eisen in Meteoren gediegen vor, ebenso in ozeanischen Manganknollen. Die Nickelgewinnung verl¨auft u ¨ber ein mehrstufiges Verfahren, in dem Magnetkies vorger¨ostet und das Eisen durch Verschlackung als Eisensilikat entfernt wird. Das entstehende Mischsulfid CuNiS2 l¨asst sich zum Oxid r¨osten und zu Monelmetall reduzieren, das noch 30 % Kupfer enth¨alt. Trennt man zuvor aus dem Mischsulfid das Kupfersulfid ab, f¨ uhrt die Reduktion des Oxids zu reinem Nickel, aus dem sich galvanisch noch einige Edelmetalle gewinnen lassen. Eine elegante Reinigung von Nickel gelingt in der Gasphase nach dem MondVerfahren von 1890. Nickeloxid wird hierzu mit Wassergas (CO, H2 ) zum Element reduziert. In einem zweiten Schritt entsteht mit Kohlenmonoxid das bei 42 °C leicht verdampfende Nickeltetracarbonyl Ni(CO)4 . Das staubfreie reine Gas l¨asst sich bei ca. 180 °C an Nickelk¨ ugelchen zersetzen und liefert ein Granulat h¨ochster Reinheit von 99,99 %. Nickeltetracarbonyl ist an der Luft sehr instabil. Es zerf¨allt innerhalb von Minuten. In einer Kohlenmonoxidatmosph¨ are ist die Stabilit¨at allerdings gr¨oßer. Anwendung ¨ Uber die H¨alfte der Gesamtproduktion an Nickel wird heute zur Legierung von Stahl eingesetzt. Im Jahre 1912 begann mit der Versuchsschmelze 2 Austenit
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
(V2A) die Entwicklung korrosions- und s¨aurebest¨andiger St¨ahle bei der Friedrich Krupp AG in Essen. Die Legierung wird heute als X5CrNi 18-8 bezeichnet. Sie enth¨alt 18 % Chrom, 8 % Nickel neben 0,05 % Kohlenstoff, ist also eine Eisenbasislegierung. Das f¨ uhrende X kennzeichnet hochlegierte St¨ahle. Erst die Verf¨ ugbarkeit solcher St¨ahle hat den großtechnischen Betrieb der Haber-BoschSynthese erm¨oglicht. Im Alltag begegnet uns heute meist die Legierung X5CrNi 18-10 mit der Werkstoff-Nr. 1.4301. Dies ist ein relativ weicher nickelhaltiger, nicht magnetischer Austenit-Stahl, der gegen Wasser, Wasserdampf, Luftfeuchtigkeit, Speises¨auren, sowie schwache organische und anorganische S¨auren best¨andig ist. Seine Einsatzgebiete umfassen Nahrungsmittelindustrie, Getr¨ankeproduktion, Pharma- und Kosmetikindustrie, chemischen Apparatebau, Fahrzeugbau, Haushaltsger¨ate, chirurgische Instrumente, Schank- und K¨ uchenbau, Sanit¨aranlagen, Architektur, Schmuck und Kunstgegenst¨ande. St¨ahle mit einem Chromanteil von mehr als 13 % sind aufgrund einer Passivierung rostfrei. Der Nickelanteil steigert die Zugfestigkeit. Weitere nicht-rostende St¨ahle sind unter den Namen Nirosta (Krupp), Remanit (Thyssen) oder Cromargan (WMF) bekannt. Es gibt derzeit u ¨ber 800 verschiedene St¨ahle. Nickelbasislegierungen, welche hochtemperaturbest¨andig und zunderfest sind, finden als Sonderlegierungen Anwendung im Motoren-, Triebwerks- und Turbinenbau. Bekannte Handelsnamen sind Hastelloy, Incoloy, Inconel, Monel. Weitere Nickellegierungen haben wegen spezieller physikalischer Eigenschaften im Hinblick auf elektrischen Widerstand, kontrollierte thermische Ausdehnung und besondere magnetische Eigenschaften große technische Bedeutung. Viele M¨ unzmetalle enthalten Nickel. So bestehen die aktuellen M¨ unzen zu 5, 10, 25 und 50 Cent aus Kanada, dem Hauptlieferanten von Nickel, aus Reinnickel. Zu den Automatenm¨ unzen mit magnetischem Reinnickelkern z¨ahlten seit 1971 das 2 DM-St¨ uck und seit 1975 das 5 DM-St¨ uck. Die beiden verschiedenfarbigen Legierungen der Eurom¨ unzen bestehen aus Kupfer (75 %)Zinn (20 %)-Nickel (5 %) (gelb) und aus Kupfer (75 %)-Nickel (25 %) (weiß). Eventuell stellt diese Kombination ein galvanisches Element dar, was die hohe Nickelabgabe dieser M¨ unzen erkl¨arte. Aus der weißen Kupfer-Nickel-Legierung ist auch die US-M¨ unze nickel“ gepr¨agt. ” Eine Legierung aus 60 % Kupfer und 40 % Nickel zeichnet sich durch einen von der Temperatur beinahe unabh¨angigen Verlauf des elektrischen Widerstandes aus. Diese Legierung ist in der Elektrotechnik als Konstantan bekannt. Nickel-Chrom (18%)- und Nickel-Chrom (15%)-Eisen (25%)-Legierungen die¨ nen als Heizleiter in elektrischen Ofen, in denen sie bis 1200 °C erhitzt werden k¨onnen.
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
225
Große Bedeutung hat der 1899 von W. Jungner in Schweden entwickelte NickelCadmium-Akkumulator gewonnen, den es als offene und gasdichte Zelle gibt. Vorteilhaft sind ihre geringen Innenwiderst¨ande, weswegen sie hohe Str¨ome liefern k¨onnen. Wegen ihres Cadmiumgehaltes werden sie seit 1995 zunehmend durch Nickel–Metallhydrid–Akkus (NiMH) ersetzt. In der EU erwartet man ein partielles Anwendungsverbot. Ein wichtiger Einsatz von Nickel als chemischem Werkzeug bei der Hydrierung von Olefinen ist zu erw¨ahnen. Hierzu wird feinverteiltes Nickel (z. B. RaneyNickel) als Katalysator verwendet, welcher Wasserstoff aktiviert. Auf dieser Basis arbeitet die von Wilhelm Normann 1902 entwickelte Hydrierung von ¨ Olen und halbfesten Fetten (Fetth¨artung), der weltweit j¨ahrlich u ¨ber vier Millionen Tonnen unges¨attigte Acyllipide unterworfen werden. Eine vollst¨andige Hydrierung strebt man f¨ ur Koch-, Back- und Bratfette an, w¨ahrend partielle ¨ Hydrierungen die Stabilit¨at von ansonsten leicht autooxidablen Olen verbes¨ sern. Partiell geh¨artete pflanzliche Fette und Ole bilden auch die Ausgangsstoffe f¨ ur die Margarine. Zum Zwecke der Fetth¨artung wird Nickel fein verteilt meist auf einen Tr¨ager (Kieselgur, Bimsstein oder Aluminiumoxid) gef¨allt. Da die Tr¨agerkatalysatoren (Kontakte) pyripher sind, werden sie in o¨liger Zubereitung angewendet. Zwischen 200 bis 800 g Nickel sind pro Tonne Fett erforderlich. Die Hydrierung erfolgt bei etwa 180 °C und einem Wasserstoff-Druck von bis zu 30 bar. Die Tr¨agerkatalysatoren lassen sich nach der Reaktion durch Filtration abtrennen. Sehr g¨ unstig ist, dass Nickelkontakte im Gegensatz zu anderen bis zu 50-mal wiederverwendbar sind. Zwischenzeitlich favorisierte man Ni3 S2 (Nickelsubsulfid), welches gegen Katalysatorgifte unempfindlicher ist. Toxikokinetik Trinkwasser enth¨alt Nickel in einer Konzentration von etwa 20 bis maximal 200 mg/L, Kuhmilch zwischen 20 und 50 mg/L, Obst und Gem¨ use etwa 2 mg/kg Feuchtgewicht. Die t¨aglich aus der Nahrung resorbierte Menge wird auf etwa 400 mg gesch¨atzt. Eine Gef¨ahrdung geht von dieser Menge nicht aus. F¨ ur Tiere scheint Nickel als essentielles Spurenelement zu fungieren, beim Menschen wohl nicht. Die leichte Aufnahme von Nickel durch Pflanzen aus dem Erdboden wird durch einen hohen pH-Wert desselben vermindert. Deshalb ist das Ausbringen von Calziumhydroxid auf nickelreiche B¨oden sinnvoll. Hierdurch steigen die Ernteertr¨age. F¨ ur Pflanzen toxische Konzentrationen beginnen ab 50 mg Nickel/kg lufttrockenem Boden. Im o¨stlichen Mittelmeerraum sind hyperakkumulatorische Pflanzen bekannt, die auf mindestens 10 g Nickel/kg Trockengewicht
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
anreichern. Sie zeichnen sich durch einen hohen Citronens¨auregehalt aus. In Pflanzen kommt als nickelhaltiges Enzym (Metalloenzym) eine Urease vor. ¨ die bis zu 20 mg Nickel/kg enthalten, Aus fossilen Brennstoffen Kohle und Ol, erkl¨aren sich die h¨oheren Konzentrationen in der Luft von Industriegebieten bis zu 150 ng/m3 (New York). Etwa ein Drittel der inhalierten Nickelverbindungen aus der Luft werden resorbiert, wobei unl¨osliche Salze phagozytiert und vergleichsweise große Mengen in die Zelle aufgenommen und transportiert werden. Ein solcher Weg steht l¨oslichen Nickelverbindungen nicht offen. Die Phagozytose bewirkt eine Vervielfachung (103 ) der intrazellul¨aren Konzentration an freien Nickelionen, die entscheidend f¨ ur die beobachtete Genotoxizit¨at vor allem schwerl¨oslicher Nickel–verbindungen ist. Nach Staubinhalation von Nickeloxid, Nickelsulfid, metallischem Nickel sowie anderer schwerl¨oslicher Verbindungen bleiben diese monatelang in der Lunge deponiert. Das karzinogene Potential steigt mit abnehmender L¨ oslichkeit. Dieser Gef¨ahrdung sind nur Arbeiter von nickelverarbeitenden Betrieben ausgesetzt. Aufgrund der Karzinogenit¨at ist kein MAK–Wert festgelegt. Metallisches Nickel wird im Magen-Darm-Trakt nicht, Nickelionen aus l¨oslichen Salzen zu weniger als 10 % resorbiert. Nickel ist an Albumin und an Nickeloplasmin (ein a2 -Makroglobulin) gebunden. Dagegen gibt es keine Hinweise f¨ ur eine Bindung von Nickel an Metallothionein. Die Serumkonzentration liegt beim nicht exponierten Erwachsenen um 2 mg/L. F¨ ur resorbiertes Material bilden Niere, Leber und Lunge Speicher. Insgesamt enth¨alt der K¨orper 10 mg Nickel, davon 18 % in der Haut. Seine Ausscheidung erfogt vorwiegend mit dem Urin, daneben auch u ¨ber den Schweiß. Nickelionen haben geringe Affinit¨aten zu Schwefelliganden, reagieren aber mit Aminos¨auren (Triglycin) und komplexen Peptiden an Carboxyl- und Imidazolgruppen. Sie binden außerdem an Pyrimidinbasen und an Pyrophosphat. Toxikodynamik Durch das Tragen von Uhren, Brillen, Modeschmuck und Kleidungsst¨ ucken mit Kn¨opfen oder Verschl¨ ussen aus nickelhaltigem oder vernickeltem Material kommt es zu einer lokalen Freisetzung von Nickel auf der Haut, die f¨ ur Nickel relativ leicht penetrierbar ist. Als Folge kann u ¨ber eine Typ IV-Immunreaktion ein allergisches Kontaktekzem entstehen. Man sch¨atzt, dass etwa 15 % der Bev¨olkerung gegen Nickel, das verglichen mit anderen Substanzen eine hohe sensibilisierende Potenz aufweist, sensibilisiert sind. In der Regel erfolgt die Sensibilisierung bereits im Kindesalter durch nickelhaltigen Schmuck, bei M¨adchen wesentlich h¨aufiger als bei Jungen. Dieser Unterschied bleibt auch im Alter bestehen, was sich in den H¨aufigkeiten bei Frauen (9–18 %) und
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
227
M¨annern (2–8 %) zeigt. Laut EU-Richtlinie (94/27/EG, Bedarfsgegenst¨andeVerordnung) d¨ urfen neuerdings von Gegenst¨anden, die unmittelbar und f¨ ur l¨angere Zeit mit der Haut in Ber¨ uhrung kommen, nur noch 0,5 mg Nickel pro Quadratzentimeter innerhalb einer Woche abgegeben werden. Dies soll eine Sensibilisierung vermeiden helfen. Bei Industriearbeitern f¨ uhrt der h¨aufige Kontakt mit metallischem Nickel an den H¨anden oft zu einer Dermatitis, die als Nickelkr¨atze bekannt ist. Nickeld¨ampfe und Aerosole l¨osen an den Atemwegen chronisch-entz¨ undliche Ver¨anderungen aus. Dazu geh¨oren Schleimhautatrophie, Anosmie und eine Perforation der Nasenscheidewand. Inhalierbare St¨aube von Nickelverbindungen haben bei beruflich exponierten karzinogene Eigenschaften, wie sie in epidemiologischen Untersuchungen ab Konzentrationen u ¨ber 1 mg/m3 Luft deutlich zutage traten. Die TRK sind f¨ ur schlecht l¨osliche Nickelsalze auf 0,5 und f¨ ur leicht l¨osliche auf 0,05 mg/m3 Luft festgesetzt. Es k¨onnen Lungen-, Nasen- und Nasennebenh¨ohlenkrebs entstehen. Die wichtigsten Karzinogene f¨ ur den Menschen sind metallisches Nickel, Nickeloxid (NiO), Nickelsulfid (bNiS, Nickelmonosulfid) und Nickelsubsulfid (aNi3 S2 ). F¨ ur Nickeltetracarbonyl ist eine Karzinogenit¨at im Tierversuch erwiesen. Nicht genau bekannt ist der Wirkungsmechanismus der Karzinogenese. Man vermutet, dass durch die bei diesen Substanzen initial auftretende Phagozytose das Material u ¨ber Lysosomen bis in den Zellkern gebracht wird, wo sehr hohe Konzentrationen an Nickelionen zustandekommen. Diese erzeugen Sch¨aden am Chromatin. Wirkungsverst¨arkend d¨ urfte die St¨orung verschiedener zellul¨arer Reparaturmechanismen sein. Nickeltetracarbonyl (Nickelcarbonyl) ist ein lipophiles Molek¨ ul, das u ¨ber die Haut und die Lunge schnell resorbiert wird. Membranbarrieren und die BlutHirn-Schranke werden leicht u ¨berwunden. Nach der Resorption wird die Sub2+ stanz zu CO und Ni metabolisiert. Nur ein kleiner Teil wird in der Anfangsphase unver¨andert abgeatmet. Nickel wird großenteils im Urin ausgeschieden. Im Organismus zerf¨allt das Molek¨ ul, so dass nach der akzidentellen Aufnahme mit den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung und denen der Nickeltoxizit¨at zu rechnen ist. In der ersten Phase der Vergiftung treten milde Krankheitssymptome auf, von Kopfschmerzen, Schwindel, Atemnot und Brustschmerzen wird berichtet. Nach einem symptomfreien Intervall von 12 Stunden bis 5 Tagen beginnt die zweite Phase mit Husten, Tachykardie und Cyanose. Eine Sch¨adigung der Kapillaren f¨ uhrt zu einem Lungen¨odem und einer chemischen Pneumonie. Schwere Vergiftungen treten beim Menschen bereits nach wenigen Minuten in Luftkonzentrationen von 4 ppm auf. Werden sie u ¨berlebt, bildet sich oft eine Lungenfibrose aus. Auch eine Exposition gegen¨ uber 0,001 ppm u ¨ber 8 Stunden f¨ uhrt zu einer schweren Pneumonie, 30 ppm dagegen unmittel-
228
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
bar zum Tod. Etwa 5 % aller Vergiftungen enden bedingt durch ein Lungenversagen t¨odlich. Therapie
Abbildung 4.19 Chelatoren und deren Komplexe mit Nickelionen. Triethylentetramin = TETA; Natrium-Diethyldithiocarbamat = Dithiocarb; Dimercaprol = Sulfactin, BAL. Der leuchtend rot gef¨ arbte Komplex mit Dimethylglyoxim dient nur dem analytischen Nachweis des Nickels. Zur Struktur von EDTA siehe Abbildung 4.25.
Zur Beschleunigung der Nickelausscheidung k¨onnen lipophile Chelatoren eingesetzt werden. Mittel der Wahl ist Natrium-Diethyldithiocarbamat (Dithiocarb, vgl. Ziram), das in Deutschland als Arzneimittel nicht zugelassen ist (Abbildung 4.19). Geeignet ist auch Triethylentetramin (TETA), weniger wirksam ist Dimercaprol (Sulfactin, BAL). Hydrophile Chelatoren wie EDTA sind unwirksam, da sie intrazellul¨ares Nickel nicht erreichen, oder sogar sch¨adlich.
4.2.5
Quecksilber
Die Namensgebung (quick) zeigt, dass das Metall bereits fr¨ uh bekannt, genutzt und vor allem als fl¨ ussiges Element eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchte. Die Griechen nannten es ÍdrĹrguroc, w¨assriges Silber. Den Alchimisten verdanken wir die Bezeichnung Mercurius, die an die innere Verwandschaft mit dem umlaufschnellsten Planeten und dem flinken G¨otterboten anbindet. Hieraus entstand die englische Bezeichnung mercury. Quecksilber kommt teilweise gediegen in der Natur vor, jedoch sind auch etwa 20 quecksilberhaltige Mineralien beschrieben, von denen das rote Sulfid Zinnober (HgS,
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
229
Cinnabaris) das wichtigste ist. Aufgrund seiner extrem schlechten L¨oslichkeit ist es, im Gegensatz zu schwarzem, praktisch nicht toxisch. Globales Vorkommen und anthropogene Einfl¨ usse Die Luft enth¨alt Quecksilber in einer durchschnittlichen Konzentration von 20 ng/m3 . Pro Jahr werden 150 000 Tonnen durch Entgasung des Erdmantels in die Atmosph¨are abgegeben, wobei Vulkane einen großen Beitrag leisten. Seit mindestens 2000 Jahren bestehen stabile Verh¨altnisse, wie die konstante Konzentration von 60 ng/kg im Polareis erkennen l¨ asst. Nicht kontaminiertes Oberfl¨achenwasser kann infolge von Erosion 200 ng Quecksilber /L enthalten, Trinkwasser dagegen weniger als 30 ng/L. Das Wasser der Ozeane weist Konzentrationen zwischen 30 und 300 ng/L auf. Die Weltjahresproduktion an Quecksilber betr¨agt rund 10 000 Tonnen, wovon 40 % aus Europa stammen. Menschliche Aktivit¨aten f¨ uhren also dem nat¨ urlich zirkulierenden Quecksilber einen nur geringen Teil zu. Trotzdem werden aufgrund der lokalen Massierung des Eintrags durchaus hohe Konzentrationen erreicht, die in Fl¨ ussen bis 1800 ng/L betragen k¨onnen. Anthropogen gelangen weltweit 4000 Tonnen Quecksilber pro Jahr in die Ozeane. Eine chemische und biochemische Methylierung von Quecksilber in den oberen Schichten organischer Fluss- und Meeressedimente l¨asst etwa 5 % des Quecksilbers u ¨ber Plankton, Schalentiere und Fische in die Nahrungskette des Menschen eintreten (siehe auch Seite 178 und Abbildung 4.6). Nach Sch¨atzungen werden pro Jahr weltweit 10 Tonnen Methylquecksilber im S¨ ußwasser und 480 Tonnen in den Ozeanen gebildet, welche in die Atmosph¨are entweichen. Teilweise werden Quecksilberionen bakteriell zu elementarem Quecksilber reduziert und gelangen ebenfalls in die Atmosph¨are, im Jahr bis 40 000 Tonnen (Abbildung 4.20). Generell ist davon auszugehen, dass das gesamte gef¨orderte Quecksilber nach seiner Nutzung in die Umwelt zur¨ uckkehrt. Anwendungen Mehr als die H¨alfte der Weltproduktion an Quecksilber wird von der elektrotechnischen Industrie (Tageslichtlampen, Batterien) und zur Chlorkali-Elektrolyse verwendet. Die Farbenindustrie verbraucht etwa 15 %, f¨ ur Mess- und Kontrollinstrumente werden 10 % veranschlagt. Seine landwirtschaftliche Verwendung (Saatbeizen) ist stark r¨ uckl¨aufig und betr¨agt weniger als 5 %. In der Papierindustrie und f¨ ur katalytische Zwecke liegt der Anteil bei 3 %, f¨ ur Arzneistoffe bei 1 %. Die Zahnheilkunde verbraucht zwischen 3 und 5 %. Der Rest von rund 10 % dient etwa 3000 verschiedenen Anwendungen.
230
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide C2 H 4
CH 4
Luft
(CH3)2Hg
Vulkane
Hg0 Hg0
Wasser
Fisch CH3Hg+
Hg2+
Produktion
Plankton Hg(CH3)2 Hg22 +
CH3Hg+ pH <7
Hg0 Bakterien Sediment
pH >7
Hg(CH3)2 CH3Hg-S-CH3 HgS
Hg2+
Abbildung 4.20 Darstellung des globalen Quecksilberkreislaufs in Atmosph¨ are und Hydrosph¨ are. Metallisches Quecksilber tritt vorwiegend durch vulkanische Aktivit¨ at in den Kreislauf ein. Anthropogene Einfl¨ usse steuern anorganisches Quecksilber aller Oxidationsstufen bei, wie auch organisch gebundenes, vorwiegend als Methylquecksilber, das in technischen Produktionsverfahren anf¨ allt, oder als Phenylquecksilber aus Saatbeizen. Im Sediment von Fl¨ ussen, ¨ Seen und Schelfen methylieren methanogene Bakterien Hg2+ durch Ubertragung eines Carbanions. Es entsteht je nach Bedingungen Methyl-, Dimethyl- oder MethanthiolatomethylQuecksilber. Methylierungen werden auch durch Bakterien im Gastrointestinaltrakt angenommen. Anaerob wachsende Bakterien f¨ allen mit Schwefelwasserstoff kaum mobilisierbares HgS aus. Auch bakterielle Reduktionen und Demethylierungen finden tatt. Dimethylquecksilber wird unter atmosph¨ arischen Bedingungen espalten. Methylquecksilber bindet als weiche Lewis-S¨ aure gerne (Pseudo-) Halogenanionen, wodurch lipophile Komplexe entstehen. Methanthiolatomethyl-Quecksilber wird vor allem f¨ ur die distale Sch¨ adigung peripherer Nerven im Zuge der Minamata-Disease verantwortlich gemacht.
Eine Reihe von Anwendungen von Quecksilber und seinen Verbindungen sind gleichermaßen von historischem und toxikologischem Interesse. Metallisches Quecksilber diente aufgrund seiner hohen Dichte als Sperrfl¨ ussigkeit in wissenschaftlichen Ger¨aten (Scholander, van Slyke). Auch elektrotechnische Ger¨ate enthielten beachtliche Mengen (Gleichrichter, Schalter). Wurde es versch¨ uttet, sammelte es sich h¨aufig unter den Holzb¨oden der Laborr¨aume und verdampfte von dort. Hierbei kann ein Kubikmeter Luft von 20 °C ca. 15 mg Hgo aufnehmen. Dasselbe Problem ergab sich fr¨ uher in den Spiegelbel¨agen im
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
231
Raum N¨ urnberg und F¨ urth, in denen bis Ende des 19. Jahrhunderts Kristallglastafeln mit amalgamierter (verquickter) Zinnfolie belegt wurden. Das Amalgam h¨artete unter Abpressen des u ¨bersch¨ ussigen Quecksilbers. Zum Teil sind die fr¨ uheren Produktionsst¨atten, die heute als Wohnh¨auser genutzt werden, beachtlich kontaminiert. Noch gravierender sind die Freisetzungen von gasf¨ormigem Quecksilber, wenn bei der Goldgewinnung oder beim Vergolden große Mengen an Quecksilber durch Hitze verdampft werden. Quacksalber, Vergolder und Goldw¨ascher setzten sich hohen Konzentrationen an Quecksilber aus. Eine heute obsolete Verreibung von Fett mit 30 % metallischem Quecksilber diente als Graue Salbe“ zur Behandlung der Syphilis. Kupferamalgam, ” das gr¨oßere Mengen an Quecksilber abgibt als heute verwendete Silberamalgame, wurde u. a. wegen seiner desinfizierenden Wirkung zur Versorgung kari¨oser Z¨ahne verwendet. Unter den anorganischen mono- und divalenten Quecksilberverbindungen finden sich einige, die zu medizinischen und industriellen Zwecken fr¨ uher h¨aufig angewandt wurden. Von Interesse waren vor allem die desinfizierenden Eigenschaften, die bei der Behandlung dermatologischer und ophthalmologischer Infektionen und Erkrankungen und bei Befall mit Ektoparasiten in Salben genutzt wurden. Die starke Komplexbildung mit biologischem Material mit daraus resultierender Proteindenaturierung erm¨oglicht diese Anwendungen. Unter den erw¨ahnenswerten Verbindungen finden sich Kalomel (Hg2 Cl2 ; LD100 ca. 2–3 g), weißes Pr¨azipitat (HgNH2 Cl), gelbes Oxid (HgO) und rotes Iodid (HgI2 ). Kalomel diente auch als Abf¨ uhrmittel. Dies war wegen seiner ¨au¨aßerst geringen L¨oslichkeit und schlechten Resorption m¨oglich. Zur Ger¨atedesinfektion und zur Holzbehandlung wurde das stark a¨tzende Sublimat (HgCl2 ; LD100 ca. 200–400 mg) verwendet. Die beizende Wirkung auf Tierhaare machte man sich in der Herstellung von Filz zu Nutze (HgNO3 ), so dass Filzh¨ ute oft große Konzentrationen an Quecksilber enthielten. Organische Quecksilberverbindungen (Abbildung 4.21) sind seit 1913 in gr¨ oßerem Maße als Fungizide zur Saatgutbeizung verwendet worden. Besonders geeignet hierf¨ ur schienen wegen der hohen Fl¨ uchtigkeit kurzkettige Alkylverbindungen des Quecksilbers wie Methyl- oder Ethylquecksilber-Chlorid. Jedoch besteht auch die Gefahr einer Sch¨adigung des Saatgutes und der Anwender, weswegen Verbindungen dieses Typs in Deutschland schnell verboten wurden. Alkoxy- und Aryl-Quecksilberverbindungen wie MethoxyethylquecksilberChlorid oder Phenylquecksilber-Acetat traten an deren Stelle. Die Saatgutbehandlung mit Quecksilberverbindungen war lange Zeit u ¨blich, bis in Schweden erstmals 1966 ein Verbot ausgesprochen wurde, da V¨ ogel verendeten, welche ¨ gebeiztes Getreide von den Ackern gefressen hatten. In Deutschland ist ihre Anwendung seit 1982 untersagt. In manchen L¨andern werden sie jedoch noch angewendet. Zur Blattspritzung (Obst, Reis) sind sie nicht zugelassen.
232
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
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Abbildung 4.21 Organische Quecksilberverbindungen.
Phenylquecksilber-Borat (Merfen® ) oder -Nitrat dienen zur Konservierung bestimmter nicht sterilisierbarer Arzneizubereitungen. Gleiches leistet Thiomersal DAC, das in Tuberkulintests enthalten ist und der Ausl¨osung von Kontaktallergien verd¨achtigt wird. Mercurochrom dient als Desinfektionsmittel. Einen wichtigen wissenschaftshistorischen Aspekt stellt die Entwicklung der quecksilberhaltigen Diuretika dar. Ausgangspunkt war das Novasurol (Merbaphen® ), eine zur Syphilisbehandlung entwickelte Verbindung, an der 1919 eine diuretische Wirkung auffiel. Der Einbau von Quecksilber in organische Molek¨ ule reduzierte die toxischen Eigenschaften der Hg2+ -Ionen, verlieh ihnen aber deren diuretischen Effekt. So konnte im Jahre 1924 als erstes therapeutisch anwendbares quecksilberhaltiges stark wirkendes Diuretikum Mersalyl (Salyrgan® ) in den Handel gebracht werden. Obwohl alle Quecksilberdiuretika heute obsolet sind, f¨orderten sie das grundlegende Verst¨andnis f¨ ur die Vorg¨ange der Harnbereitung in der Niere und beeinflussten wesentlich die Entwicklung aller sp¨ateren quecksilberfreien Diuretika. In j¨ ungster Zeit konnte die durch Quecksilber ausgel¨oste diuretische Wirkung (Polyurie) kausal aufgekl¨art werden. Zur Erkl¨arung seien zun¨achst die grund-
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
A
233
aussen
H2 O
C N P A A P N H2 N HOOC innen
B 4
10 um/sec
3
10
2
10
durch Aquaporine
durch ADH
10 permeabel
impermeabel
permeabel
Filtration prox. Tubulus
Henlesche-Schleife
dist. Tubulus
Glomerulum absteigend
aufsteigend
Sammelrohr absteigend
Abbildung 4.22 A: Modell eines Aquaporins (AQP). Das Motiv NPA, das zwischen der 2. und 3. sowie der 5. und 6. transmembran¨ aren Dom¨ ane auftritt, bildet die eigentliche Pore f¨ ur H2 O. Hg2+ blockiert den Wasserdurchtritt durch Bindung an ein Cystein im Kanalbereich. B: ¨ Darstellung der Permeabilit¨ at f¨ ur Wasser entlang eines Nephrons, das der Ubersichtlichkeit wegen gestreckt gezeichnet ist. W¨ ahrend Aquaporine im absteigenden Teil des Tubulus f¨ ur die H2 O-Permeabilit¨ at verantwortlich sind, ist diejenige des Sammelrohres haupts¨ achlich durch das Antidiuretische Hormon ADH reguliert (nach Agre et al., 1995).
legenden Prozesse der Harnbereitung in der Niere kurz erl¨autert, wie sie im unteren Teil der Abbildung 4.22 schematisch dargestellt sind. Nach einer Ultrafiltration des Blutes im Glomerulum str¨omt das blutisotone Filtrat durch den proximalen Nierentubulus und gelangt in den absteigenden Teil der Henleschen Schleife. Auf dieser Strecke herrscht eine zunehmend h¨ohere Osmolarit¨at des
234
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Harns, die durch einen aktiven Co-Transport von Na- und Cl-Ionen im benachbarten aufsteigenden Teil der Henleschen Schleife erzeugt wird (HaarnadelGegenstromprinzip). Gleichzeitig ist dieser aufsteigende Bereich des Systems f¨ ur Wasser nicht permeabel. Das absteigende Tubulussystem weist dagegen eine hohe Permeabilit¨at f¨ ur Wasser auf, was die Konzentrierung des Ultrafiltrats erst erm¨oglicht. Die hohe Durchl¨assigkeit dieser Zellw¨ande f¨ ur Wasser wird durch eine reichliche Ausstattung mit porenbildenden Proteinen, sog. Aquaporinen erreicht, die sich mit immunologischen Methoden nur in diesem Bereich des Tubulussystems nachweisen lassen. Die Aquaporine, die aus sechs transmembran¨aren Dom¨anen gebildet werden, besitzen in einem Cystein-Rest eine Bindungsstelle f¨ ur Quecksilber-Ionen. Ist Quecksilber anwesend, wird die Pore f¨ ur einen Wasseraustausch außer Funktion gesetzt. Dies verhindert den passiven Austritt von Wasser aus dem Filtrat und damit dessen Zunahme, was eine diuretische Wirkung ausmacht. Toxikokinetik Die toxikologische Betrachtung des Quecksilbers muss sich mit drei verschiedenen Verbindungstypen besch¨aftigen, mit elementarem, anorganischem und organisch gebundenem Quecksilber. Elementares Quecksilber Elementares Quecksilber in metallischer Form hat nur ein geringes toxisches Potential. Eine orale Aufnahme selbst gr¨oßerer Mengen ist nicht gef¨ahrlich. Eine dermale Resorption tritt im Normalfall nicht auf, sie ist aber vom Grad der Dispersion abh¨angig. Intraven¨os injiziertes Quecksilber kann Embolien, also einen Fremdk¨orperverschluss kleinster Gef¨aße, ausl¨osen. Es ist nicht akut toxisch, f¨ uhrt jedoch sicher zu einer chronischen Intoxikation. Wesentlich gef¨ahrlicher ist die Exposition gegen¨ uber gasf¨ormigem Quecksilber. Wo immer metallisches Quecksilber vorkommt, befindet sich aufgrund seines hohen Dampfdruckes Quecksilber in der Luft. Nach Inhalation gelangt gasf¨ormiges Hgo wegen seiner hohen Lipophilie (L¨oslichkeit in Pentan 2,7 mg/L, in Wasser nur 20 mg/L) und Beweglichkeit, a¨hnlich wie Narkosegase, u ¨ber die kurze alveolare Diffusionsstrecke ins Blut. Die Resorptionsquote liegt bei etwa 80 %, der Verteilungsgrad zwischen Luft und K¨orpergewebe wird auf 1:20 gesch¨atzt. Bedingt durch seine hohe Beweglichkeit kann das Hgo -Atom in Zellen verschiedener Organe diffundieren (Transportform). Es unterliegt gleichzeitig einer raschen metabolischen Umwandlung, die bereits in roten Blutzellen beginnt, aber auch in anderen metabolisch aktiven Zellen abl¨auft. In den Erythrozyten liefert ein zweimaliger Elektronenentzug unter katalytischer Beteiligung der Katala-
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
235
Gehirn
Lunge
BB
mg/m3
o Hg
max 15 MAK 100 ug/m3 normal 20 ng/m3
2-
H2O2
H2O + O
B
S
o Cat. Hg
80%
2+
Hg
Hg S
t1/2 > 1a o Cat. 2+ Hg Hg
MeHgX
2: 1
MeHgX
MeHgX 20 : 1 Ery
90% MeHgX 2+
Hg
2+
5-10%
o Hg
Hg
Urin
Faeces
MeHgX 2+ HgS + Hg
Darm
MT-Hg
0,01%
o Hg
t1/2 ~ 70 d t1/2 ~ 40-70 d
MeHgX 2+
Hg
Niere
Abbildung 4.23 Toxikokinetik der Quecksilberspezies Hgo , Hg2+ und MeHgX im Organismus nach pulmonaler (li. oben) und enteraler (li. unten) Exposition. Verteilung und Reaktionen im Erythrozyten (zentral), Gehirn (re. oben) und Niere (re. unten). BBB: BlutHirn-Schranke, Cat.: Katalase, t1/2 : Halbwertzeit, MT: Metallothionein, Resorptionsquoten in Prozent.
se Hg2+ -Ionen. Dieser Schritt f¨ uhrt zu einer weitgehenden Immobilisierung. Wird durch ein erh¨ohtes Angebot von gasf¨ormigem Hgo die Umgiftungskapazit¨at u ¨berschritten, gelangt ein gr¨oßerer Anteil des leicht beweglichen lipophilen Hgo u ¨ber die Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem. Auch hier folgt eine Umwandlung in ionisches Quecksilber und eventuell die Bildung eines biologisch unwirksamen Selenid-Komplexes, so dass aus diesem Kompartiment Quecksilber nur mit einer biologischen Halbwertzeit von mehreren Jahren eliminiert wird. Bei gleichbleibender Zufuhr ist hier mit einer Kumulation zu rechnen. Es wird verst¨andlich, warum vor allem hohe Spitzenkonzentrationen ¨ zu vermeiden sind (MAK 100 mg Hg/m3 ; Spitzenbegrenzung). Ahnlich wie die
236
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Blut-Hirn-Schranke verh¨alt sich Quecksilber auch an der Plazentarschranke. Gasf¨ormiges Hgo erreicht also leicht fetales Gewebe. Ionisches Quecksilber Die Resorption von Quecksilberionen unterscheidet sich wesentlich von der des Elementes. Monovalente Kationen werden sehr schlecht resorbiert, w¨ahrend zweiwertige (Hg2+ ) aus dem Gastrointestinaltrakt zu 2 bis 15 % aufgenommen werden. Der Transport erfolgt im Blut, an Plasmaeiweiße und an Erythrozyten gebunden. Es erreicht auf diesem Weg zwar alle Organe, kann aber schlecht Membranen passieren, so dass es sich vor allem in der Niere, weniger in Leber und Darmschleimhaut anreichert. Interaktionen mit Proteinen erfolgen u ¨ber Thiol-Gruppen und f¨ uhren zur Denaturierung und Enzyminhibition. In diesem Sinne lassen sich PCMB und Mercury Orange anwenden (Abbildung 4.21). An Metallothionein der Nierentubuluszellen gebunden findet man h¨ochste Konzentrationen in der Nierenrinde. Die Halbwertzeit der Elimination liegt bei ca. 60 Tagen. Werden im Organismus Quecksilberionen aus Hgo oder organischen Molek¨ ulen freigesetzt, unterliegen sie dem besprochenen Verteilungsmuster. Umgekehrt kann nach Reduktion von ionischem zu elementarem Quecksilber letzteres in das Gehirn gelangen oder u ¨ber die Lunge abgeatmet werden, weil ihm diese zus¨atzlichen Verteilungswege offen stehen. Organisch gebundenes Quecksilber Die Bindung von Quecksilber in organischen Molek¨ ulen verleiht dem Element v¨ollig andere biologische und o¨kologische Eigenschaften. Deutlich zeigt sich dies an den fr¨ uher als Fungiziden eingesetzten kurzkettigen Alkylquecksilberderivaten wie Methylquecksilberchlorid (CH3 HgCl) und Dimethylquecksilber (CH3 HgCH3 ). Methylquecksilberchlorid ist leicht fl¨ uchtig und wird u ¨ber die Lunge fast vollst¨andig (90 %) aufgenommen. Gleiches gilt f¨ ur die Resorption aus dem Darm und u ¨ber die Haut. Auch Dimethylquecksilber wird cutan extrem rasch resorbiert. Latexhandschuhe stellen absolut keinen Schutz dar. Wenige Tropfen gen¨ ugen, um eine t¨odliche Vergiftung auszul¨osen. Ein trauriger Unfall ereignete sich 1997 in einem US-amerikanischen Labor (vgl. Seite 180). Aufgrund ihrer Lipophilie breiten sich die Substanzen im Organismus leicht aus und dringen in Kompartimente ein, deren sonst sch¨ utzenden Gewebeschranken f¨ ur diese Verbindungen keine Barriere darstellen. Ebensowenig wie Handschuhe aus Latex, stellen solche aus Neoprene und Butylgummi einen geeigneten Schutz beim Arbeiten mit Dimethylquecksilber dar. Nur das Material Norfoil® , ein d¨ unnes f¨ unfschichtiges Lamiat aus Polyethylen (PE) und dem Ethylenvinylalkohol-Copolymer (EVOH), bietet einen sicheren Schutz. Es zeichnet sich durch hervorragende Sperreigenschaften gegen¨ uber organischen L¨osungsmitteln und Gasen aus. Allerdings wird es nicht empfohlen bei Arbeiten mit Chloroform.
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
237
Eine Einlagerung erfolgt auch in die Haare. Durch Demethylierung von Dimethylquecksilber entsteht Hg2+ , welches weniger mobil ist. Ihm er¨offnet sich allerdings durch die Reaktion mit Glutathion und a¨hnlichen Verbindungen, die weiche Lewis-Basen darstellen, ein Zugang zu deren Ausscheidungswegen u ¨ ber Faeces und Urin. Die mittlere Halbwertzeit betr¨agt 70 Tage. Das Methylquecksilberkation CH3 Hg+ hat die M¨oglichkeit mit weichen LewisBasen, zu denen Halogenanionen, Cyanid, Rhodanid und Alkylthiolate z¨ ahlen, kovalente Bindungen des Typs MeHg-X einzugehen. Diese sind alle lipophil. Mit harten Lewis-Basen wie Nitrat oder Sulfat bilden sich dagegen ionische Bindungen, wodurch das CH3 Hg+ ein wasserl¨osliches hydratisiertes Kation des Typs CH3 Hg(H2 O)+ bleibt. Die Umwandlung in die lipophile Spezies kann jederzeit erfolgen, sofern die geeigneten Anionen anwesend sind. Die Magens¨aure oder das Meerwasser k¨onnen f¨ ur eine erste Stufe gen¨ ugend Chlorid bereitstellen. Die Bildungskonstanten f¨ ur die lipophilen Spezies nehmen in der Reihenfolge MeHgF MeHgCl < MeHgBr < MeHgI MeHgSMe zu. Hieraus kann man ableiten, dass im Organismus eine Umwandlung bis zu den stabileren Komplexen mit Schwefel ablaufen wird. Methylquecksilber-Kationen sind auch in der Lage, in den Purinbasen Adenin und Guanin aciden Wasserstoff zu ersetzen und sich an Aza-Zentren des Molek¨ uls anzulagern. Dieses Verhalten k¨onnte eine Erkl¨arung sein f¨ ur die unter Methylquecksilber beobachteten Chromosomensch¨aden. Toxikodynamik Werden große Mengen an gasf¨ormigem Quecksilber eingeatmet, tritt das Bild einer akuten Vergiftung auf. Es kann sich a¨ußern in Metallgeschmack, Erbrechen, blutigen Durchf¨allen und einer Nierensch¨adigung mit Polyurie und Proteinurie. Seltener steht eine Reaktion mit Lungenentz¨ undung, Fieber, Husten und Atemnot im Vordergrund. Die Intoxikation f¨ uhrt erst nach l¨angerer Krankheit zum Tod. Die orale Aufnahme von l¨oslichen anorganischen Quecksilberverbindungen kann eine lokale Ver¨atzung zur Folge haben, was jedoch keine quecksilberspezifische Reaktion ausmacht. Typisch ist dagegen der Metallgeschmack, Erbrechen und Durchf¨alle, die durch Sulfide schwarz gef¨arbt sein k¨onnen. Die Niere reagiert anf¨anglich mit einer Polyurie, die durch eine reversible Blockade der Aquaporine im proximalen Tubulus und im absteigenden Teil der Henleschen Schleife zustandekommt. Erst eine weitere Sch¨adigung mit h¨oheren Konzentrationen f¨ uhren zu einer Proteinurie, der dann eine Anurie folgen kann, welche nach v¨olliger Zerst¨orung der Nierenfunktion in eine Ur¨amie m¨ undet und den Tod innerhalb einer Woche zur Folge hat. Weniger hohe Dosierungen ergeben sub-
238
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
akute Verlaufsformen. In diesem Stadium tritt Quecksilber in den Speichel u ¨ber und l¨ost eine Entz¨ undung des Mund- und Rachenraumes bei gleichzeitiger Lockerung der Z¨ahne aus (Stomatitis mercurialis). Bei subakut mit anorganischem Quecksilber vergifteten Kindern konnte fr¨ uher die Feersche Erkrankung (auch: Akrodynie, pink disease) beobachtet werden. Je l¨anger die Exposition mit anorganischem oder elementarem Quecksilber anh¨alt (chronische Intoxikation, Merkurialismus), desto st¨ arker tritt die Wirkung auf das zentrale Nervensystem in den Vordergrund. Besonders gilt dies f¨ ur die chronische Inhalation von D¨ampfen (Hgo ). Neben Zahnlockerung, Zahnausfall und Ablagerungen von HgS am Zahnfleisch (Quecksilbersaum) und Nierenreizung, treten bei einem Merkurialismus folgende typische Vergiftungserscheinungen auf: Stirnkopfschmerzen, Schwindelanf¨alle, Metallgeschmack, Stockschnupfen mit Vereiterungen (Quecksilberschnupfen) und Blutarmut. Ferner sind charakteristisch eine nerv¨ose Reizbarkeit (Erethismus mercurialis), ein feinschl¨agiger Tremor, der durch die Intention einer Bewegung verst¨arkt wird, vor allem beim Schreiben (Tremor mercurialis, Zitterschrift) und ein erschwertes, verwaschenes Sprechen (Psellismus mercurialis). Allgemein imponiert eine stark abnehmende geistige Leistungsf¨ahigkeit (psychische Schw¨ache, Konzentration, Ged¨achtnis). F¨ ur die Vergiftung von Menschen mit Dimethylquecksilber und Methylquecksilber-Komplexen (MeHgX) gibt es bemerkenswerte Fallberichte: Zwischen 1953 und 1960 kamen in Fischerfamilien an der Bucht von Minamata (Kyushu, Japan) Sensibilit¨atsst¨orungen und zentralnerv¨ose Sch¨adigungen vor. Bis als Ursache der Minamata-Disease genannten Erkrankung eine Intoxikation mit Methylquecksilber erkannt wurde, starben etwa 50 Personen (siehe Seite 180 und Abbildung 4.20). Das Methylquecksilber war in Muscheln und Fischen enthalten, die es u ¨ber die Nahrungskette aufgenommen hatten. Die Quecksilberverbindungen entstanden teilweise bei der Produktion von Vinylchlorid und gelangten mit dem Abwasser in die marine K¨ ustenregion, teilweise bildeten sie sich hier durch Biomethylierung von ionischem Quecksilber. Ein in Schweden beobachtetes Massensterben von Tieren (V¨ogel, Raubv¨ogel, Wildtiere), die direkt und indirekt gebeiztes Saatgut gefressen hatten, f¨ uhrte wegen der ¨okologischen Sch¨aden 1965 zu einem Anwendungsverbot dieser Beizung. Etwa zehn Jahre sp¨ater wurde mit verschiedenen Quecksilberverbindungen darunter Ethylquecksilber-p-Toluolsulfonanilid gebeiztes Saatgetreide aus Unwissenheit zur Herstellung von Brot verwendet, was im Irak 450 Menschenleben forderte. Im Vordergrund stehen, nach einer Latenzperiode von Monaten, Symptome einer Sch¨adigung des zentralen Nervensystems. Zun¨achst sind Missempfindungen zu beobachten, gefolgt von einer Gesichtsfeldeinengung sowie Sprachund Koordinationsst¨orungen. Kinder und S¨auglinge reagieren mit Entwick-
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
239
lungssch¨aden am zentralen Nervensystem. Da die methylierten Quecksilberderivate die Plazentarschranke leicht u ¨berwinden, k¨onnen sie bereits im Fetalstadium die pathologischen Ver¨anderungen einleiten. Therapie Zur Beschleunigung der renalen Ausscheidung ionischen Quecksilbers jeglicher Provenienz eignen sich die Chelatoren BAL (Dimercaprol), DMPS (Dimercaptopropansulfons¨aure) und DMSA (Dimercaptosuccinic acid, Dimercaptobernsteins¨aure), D-Penicillamin (2-Amino-3-methyl-3-thiobutters¨aure), sofern die Nierenfunktion noch intakt ist. Chelatoren nach Vergiftungen mit organischen Quecksilberverbindungen einzusetzen, verbietet sich wegen einer beschleunigten Einschleusung von Quecksilber in das zentrale Nervensystem.
4.2.6
Thallium
Thallium wurde 1861 von W. Crookes aufgrund seiner smaragdgr¨ unen Flammenf¨arbung in selenhaltigen Mineralien entdeckt und ein Jahr sp¨ater von Lamy rein dargestellt. Die gr¨ une Spektrallinie (535 nm) f¨ uhrte zur Wahl des Namens jallìc, der gr¨ uner Zweig bedeutet. Thallium ist mit Pyrit und Zinkblenden vergesellschaftet und gelangt u ¨ber den R¨ostprozess bei der Schwefels¨aureherstellung in den Bleikammerschlamm, aus dem es gewonnen werden kann. Anwendungen Elementares Thallium dient gel¨ost in Quecksilber (Amalgam) als leitende Fl¨ ussigkeit in Schaltern und als F¨ ullung von Thermometern f¨ ur tiefe Temperaturen. Mit Hilfe seines Oxids werden Gl¨aser hoher Brechkraft hergestellt und in Verbindungen mit Schwefel, Selen, Tellur und Arsen ist seine Halbleitereigenschaft in photoelektrischen Zellen und Szintillationsz¨ahlern n¨ utzlich. Seine Alkalihalogenide lassen sich f¨ ur Leuchtstoffe in Leuchtschirmen verwenden und die Pyrotechnik nutzt seine Flammenf¨arbung f¨ ur Feuerwerksk¨orper. Aufgrund seiner Toxizit¨at f¨ ur S¨augetiere, der geschmacklichen Indifferenz und des verz¨ogerten Wirkungseintritts kann Thallium(II)-sulfat als Rodentizid verwendet werden. Es kommt hierzu in einer rot eingef¨arbten 2–3 %igen Zubereitung als Korn oder Paste zum Einsatz (Zelio® ). Die Einf¨ uhrung als Rodentizid und Insektizid er¨offnete seine missbr¨auchliche Verwendung f¨ ur Morde und Selbstmorde. Wichtig ist die fr¨ uhere medizinische Anwendung von Thallium-Acetat als Antihidrotikum und Depilierungsmittel, die in den 20er Jahren des vorigen
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Jahrhunderts h¨aufiger zu Vergiftungsf¨allen f¨ uhrte. Das Radionuklid 201 Tl wird zur Myokardszintigraphie eingesetzt. Durch Verwendung von thalliumhaltigem Eisenoxid bei der Herstellung von Zement kam es Ende der 70er Jahre im Umkreis von Zementwerken zu Immissionen, welche zu chronischen Vergiftungen f¨ uhrten. Da Pflanzen und Pilze teilweise Thallium akkumulieren, ist der Eintrag durch Staubniederschlag auf 0,01 mg Thallium/m2 · d im Jahresmittel begrenzt. Thallium kommt in den Oxidationsstufen +1 und +3 vor, wovon letztere weni¨ ger best¨andig ist. Ahnlichkeiten des einwertigen Thalliums bestehen einerseits zum Silber (schwerl¨osliches Oxid, Sulfid, Halogenid), andererseits zum Kalium (l¨osliches Hydroxid, Carbonat, Sulfat). Die Ionenradien der genannten Elemente sind ziemlich ¨ahnlich Tl+ (1,44 ˚ A), K+ (1,33 ˚ A), Ag+ (1,26 ˚ A). Vor allem spielt die Verwandtschaft zu Kalium, das es teilweise funktionell ersetzen kann, eine wichtige biologische Rolle. Jedoch ist Thallium kein normaler Bestandteil des K¨orpers. Toxikokinetik L¨osliche Thalliumverbindungen werden aus dem Gastrointestinaltrakt schnell resorbiert. Die Aufnahme erfolgt wie f¨ ur Cobalt und Mangan auch u ¨ber das Eisentransportprotein. Weil die Na+ -K+ -ATPase nicht zwischen Kalium und dem kaum gr¨oßeren Thalliumion diskriminieren kann, ergibt sich eine dem Kalium entsprechende Verteilung im Organismus mit hohen intrazellul¨aren Konzentrationen. Die Plazenta stellt f¨ ur das Element kein Hindernis dar, so dass es auch fetotoxisch ist. In der Niere findet man die h¨ochsten Thalliumkonzentrationen, gefolgt von der Haut, wo es unter anderem in den Haarfollikeln angereichert (Widy-Ph¨anomen) und in die Haare deponiert wird. Hier kann es zur Diagnose mit Hilfe der Atomabsorption oder der Neutronenaktivierung nachgewiesen werden. Die Ausscheidung erfolgt langsam mit einer initialen Halbwertzeit von etwa 14 Tagen u ¨berwiegend mit dem Urin. Wie Natrium, Kalium, Glucose, C¨asium und Cobalt erf¨ahrt Thallium bei der bili¨aren Elimination keine Konzentrierung. Das Galle/Plasma-Verh¨altnis f¨ ur Thallium ist etwa eins (Substanzen der Klasse A). Wie Versuche am Darm der Ratte gezeigt haben, werden Thallium-Ionen aus dem Blut in das Darmlumen sekretiert. Es kommt zur Ausbildung eines enterohepatischen Kreislaufs, der die Elimination verz¨ogert. Thalliumverbindungen, besonders l¨osliche, werden gut u ¨ ber die Lunge und auch u ¨ber die Haut resorbiert, weswegen sie zu berufsbedingten Erkrankungen f¨ uhren k¨onnen. Als Grenzwert f¨ ur die berufliche Exposition ist in vielen L¨andern eine Konzentration von 0,1 mg/m3 festgesetzt.
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
241
Toxikodynamik Die orale Aufnahme von etwa 1 g Thallium(I)-sulfat (ca. 15 mg/kg) f¨ uhrt nach einer Latenzzeit von bis zu 3 Tagen zu einer akuten Vergiftung mit St¨orungen des Gastrointestinaltraktes, des Nervensystems und der Haut nebst Anhangsgebilden (Haare und N¨agel). ¨ Nach Ubelkeit und Erbrechen, gelegentlich begleitet von Durchf¨allen, folgt eine typische Verstopfung mit kolikartigen Leibschmerzen. Die Wirkung am Ner¨ vensystem ¨außert sich in Empfindungsst¨orungen an Fingern und Zehen, Uberempfindlichkeit gegen¨ uber Ber¨ uhrungen der Haut. Sp¨ater kommen aufsteigende motorische L¨ahmungen hinzu. Psychische St¨orungen, Depression, Psychose, Schlaflosigkeit und Kr¨ampfe sind Ausdruck eines zentralen Angriffs. Degenerative Sch¨adigungen von Nerven oder Nekrosen von Neuronen sind beschrieben worden. Das sympathische Nervensystem befindet sich in einem Zustand erh¨ohter Reizbarkeit mit einem Anstieg von Katecholaminen, was eine Blutdrucksteigerung und Tachykardie zur Folge hat. Haupt- und K¨orperhaare fallen nach 2–3 Wochen teilweise oder v¨ollig aus. Diese St¨orung ist reversibel. Sinneshaare sind vom Ausfallen, vielleicht wegen fehlender sympathischer Innervierung, nicht betroffen. An den N¨ageln sind in der Sp¨atphase weiße Quersteifen (Mees-Streifen) zu beobachten, die durch Wachstumsst¨orungen hervorgerufen sind. Ohne Therapie f¨ uhrt die genannte Dosis zum Tod. Die lange Latenzphase von etwa zwei Tagen bis zum Auftreten toxischer Wirkungen verhindert meist so¨ fortige Gegenmaßnahmen, so dass nach Uberleben mit teilweise monatelangen Erholungsphasen zu rechnen ist. Thallium ist ein Beispiel f¨ ur ein typisches Kumulationsgift, da seine Ausscheidung im Vergleich zu einer chronischen Exposition in den meisten F¨allen gering ist. Die verz¨ogert und abgeschw¨acht auftretenden Symptome werden oft nicht einer Vergiftung mit Thallium zugeordnet. Als Zeichen einer chronischen Vergiftung wird bei Industriearbeitern h¨aufig eine entz¨ undliche und degenerative Nervenkrankheit beobachtet. Teilweise treten degenerative Sch¨adigungen des Sehnerven auf, die bis zur Erblindung f¨ uhren. Eine starke Akkumulation von Thallium durch Sehnerv und Linse kann hierf¨ ur eine Ursache sein. Ultrastrukturell zeigt sich, dass Mitochondrien in Niere, Leber und anderen Organen degenerativ ver¨andert sind. Hierbei kommt es zu gesteigerter Bildung der Cristae und zu einer Vakuolisierung. Eine Anreicherung von Thallium in diesen Organellen ist beschrieben. Die Niere reagiert unter Entz¨ undung mit einer tubul¨aren Degeneration. F¨ ur das Herz zeigt das Thallium eine relative Organspezifit¨at, weswegen es sich zur Szintigraphie dieses Organs eignet.
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Entgiftung Die Beschleunigung der Ausscheidung von Thallium aus dem Organismus l¨asst sich vor allem mit einer Eind¨ammung des enterohepatischen Kreislaufs erreichen. Hierzu dient Kalium-Eisen(III)-hexacyanoferrat(II), das l¨osliche oder kolloidale Berliner Blau. Die Verbindung nimmt das Thallium anstelle von Kalium in den Komplex auf. Das Strukturger¨ ust des Berliner Blaus ist aufgrund ¨ahnlicher Ionenradien in der Lage, neben Thallium auch Rubidium (1,48 ˚ A) und C¨asium (1,69 ˚ A) zu inkorporieren. Daneben eignet sich zur Unterbrechung ¨ der Reabsorption die Uberf¨ uhrung in schwerl¨osliches Thalliumiodid oder Sulfid. Die Anwendung von Dimercaprol oder Dithiocarb ist nicht sinnvoll, da sie komplexiertes Thallium vermehrt in das Gehirn diffundieren l¨asst und so dessen Toxizit¨at erh¨oht. Generell ist die Behebung der Obstipation durch Gabe von Laxantien angebracht. Sofern noch keine Nierensch¨adigung eingetreten ist, besteht die M¨oglichkeit der forcierten Diurese. Eine Dialyse ist zur beschleunigten Ausscheidung und zum gleichzeitigen Schutz der Niere sinnvoll.
4.2.7
Vanadium (Vanadin)
1830 wurde das Element von N. G. Sefstr¨om in einem Eisenerz aus S¨ udschweden entdeckt und nach dem Beinamen Vanadis der G¨ottin Freya benannt. In der Erdkruste kommt es mit einer H¨aufigkeit von 9,0 · 10−3 Gew. % vor, meist in der Oxidationsstufe +5 in Form von Salzen der Orthovanadins¨ aure (H3 VO)4 ) oder als deren Anhydrid (V2 O5 ). H¨ohere Konzentrationen von Vanadium in fossilen Brennstoffen, vor allem in bestimmten Erd¨olen, bei deren Raffination es als Nebenprodukt anf¨allt, und sein Vorkommen in Eisenerzen, Tonen, Basalten und B¨oden bedingen seine hohe Konzentration in Ruß, Asche und Schlacken, bzw. seinen Eintrag in die Luft. Die industrielle Herstellung geht vom Vanadiumpentoxid V2 O5 aus, das teilweise aus Thomasschlacke gewonnen wird, in der es zu etwa 1 bis 2 % enthalten ist. Anwendungen Genutzt wird Vanadium in Form seines dunkelblauen Oxids (V2 O4 ) als Sauerstoff u ¨bertragender Katalysator beim Kontaktverfahren zur Herstellung von Schwefels¨aure. Eine gleichzeitige Reduktion von V2 O5 und Eisenoxid durch Kohlenstoff liefert Ferrovanadin mit einem Gehalt von 50 % Vanadin. Es dient zur Herstellung von Vanadium-St¨ahlen mit geringeren Vanadiumanteilen. Wegen der Farbenfreudigkeit der verschiedenen Vanadiumoxide (orangerot V2 O5 ,
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
243
blau V2 O4 , schwarz V2 O3 ) verwendet man sie als Pigmente zur Farbenherstellung. Im Organismus ist Vanadium eines der seltensten Spurenelemente. Der Vanadiumbestand des Menschen betr¨agt etwa 20 mg, die t¨agliche Zufuhr u ¨ber die Nahrung liegt bei 60 mg. Nahrungsmittel enthalten Vanadium in folgenden Konzentrationen (mg/g): Salat 0,05, Getreide 0,09, Kakao-Pulver 0,6, Wild¨ pilze getrocknet bis 2, Tabak bis 8 mg/g. Uberdurchschnittlich viel Vanadium findet man in Seetieren bis 2 mg/g. S¨augetiere zeigen mit Ausnahme von Leber, Niere und Knochen geringe Konzentrationen. An H¨ uhnern und Ratten wurde eine Wachstumsf¨orderung durch Vanadium beobachtet. Der essentielle Spurenelementcharakter f¨ ur den Menschen ist jedoch nicht erwiesen. Die Resorption aus dem Gastrointestinaltrakt ist gering. Die Konzentration im Blut beruflich unbelasteter Kontrollpersonen liegt unter 2,5 mg/L. Toxikokinetik Besonders das Einatmen von Vanadiumpentoxid-haltigen St¨auben verursacht starke Reizungen der Augen und Atemwege, Blutungsneigung der Lunge und Entwicklung einer chronischen Bronchitis und Rhinitis. Vanadiumpentoxid wird pulmonal nahezu vollst¨andig resorbiert. Eine gr¨ un-schwarze Verf¨arbung der Zunge scheint eine charakteristische Begleiterscheinung einer chronischen Exposition zu sein. Die beschriebenen Krankheitsbilder werden beim Arbeiten mit Thomasschlacke beobachtet und unterliegen der Verordnung f¨ ur Berufskrankheiten. F¨ ur Vanadiumpentoxid, das beim Menschen als karzinogen anzusehen ist, gilt heute ein BAT von 70 mg/g Kreatinin. Der fr¨ uher festgelegte Grenzwert f¨ ur die berufliche Exposition mit Vanadiumpentoxid (vorl¨ aufiger MAK-Wert von 1985) hatte das Ziel, die lokale Reizwirkung auf den Respirationstrakt zu vermeiden. Hierdurch ergab sich in Abh¨angigkeit von der Teilchengr¨oße eine Konzentrationsgrenze f¨ ur Staub von 0,5 mg/m3 , f¨ ur Rauch 3 von 0,1 mg/m und f¨ ur Feinst¨aube von 0,05 mg/m3 (Durchmesser < 5 mm bei 98% aller Partikel). Resorptiv aufgenommenes Vanadium wird innerhalb von wenigen Tagen bis zu 60 % u ¨ber die Nieren ausgeschieden. Ein kleiner Teil von 10 % folgt u ¨ber die Faeces. Eine Anreicherung l¨asst sich im Knochen beobachten; Leber, Lunge und Niere speichern weniger. Toxikodynamik Vanadium kann in w¨assriger L¨osung in den Oxidationsstufen +2 bis +5 auftreten. In Organismen kommt Vanadium(II) aufgrund seiner starken Reduktionswirkung nicht vor. Vanadium(III) wurde bisher nur in Vanadocyten bei Mantel-
244
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide Vanadium (IV)
Vanadium (V) H O
O H2O
2+
V
OH 2 OH 2
H2O
VO HO
OH
H2O
Abbildung 4.24 R¨ aumliche Struktur der Komplexe des Vanadiums in der Oxidationszahl +4 (Oxovanadium(IV), Vanadyl, VO2+ ) und +5 (Orthovanadins¨ aure). In Konzentrationen unter 10 µM liegen fast nur monomere Formen vor. Die Komplexe beider Oxidationsstufen bilden abh¨ angig vom pH-Wert Ionen unterschiedlicher Ladung. Von sauer bis alkalisch ergeben sich die beiden folgenden Reihen: Vanadium(IV): VO2+ 5aq, VO(OH)+ 4aq, VO(OH)2 , 2− 3− VO(OH)3− 2aq. Vanadium(V): VO2+ , H2 VO− 4 , HVO4 , VO4 . Bei physiologischem pHWert von 7,4 stehen sich demnach Vanadium(IV) als Kation und Vanadium(V) als Anion gegen¨ uber. Im stark Sauren liefert die Metavanadins¨ aure nach Protonierung und Wasserabspaltung ein Dioxovanadium(V)-Kation (HVO3 + H+ – H2 O −→ VO+ 2 ), das nicht mit dem Vanadyl-Kation (VO2+ ) zu verwechslen ist. Das Vanadyl-Hydroxid VO(OH)2 weist eine ziemlich geringe L¨ oslichkeit auf.
tieren gefunden. Unter physiologischen Bedingungen sind die Oxidationsstufen +4 und +5 gleichermaßen anzutreffen, die sich in der geometrischen Anordnung ihrer Komplexe unterscheiden (Abbildung 4.24). Vanadium(IV) tritt als Aquo-Komplex des Vanadyl-Kations (VO2+ ) in der Koordinationszahl 5 oder 6 auf. In biologischen Systemen bildet es starke Komplexe mit verschiedenen Liganden und Proteinen, an denen es gegebenenfalls physiologische Kationen ersetzen kann. Vanadyl und Magnesium haben a¨hnliche Ionenradien (0,60 bzw 0,65 ˚ A). Somit k¨onnen beide eine Reihe gleicher Wirkorte aufweisen. Generell ist das Vanadyl-Kation in biologischen Systemen ziemlich unbeweglich. So bindet es auch fest an Humins¨auren. Anders verh¨alt sich das Vanadat, das als Phosphatanalogon leicht beweglich ist. In der Form des Orthovanadats (H3 VO4 = HVO3 + H2 O) stellt es einen vierz¨ahnig koordinierten Komplex dar, welcher bei Konzentrationen unter 10 mM in der Regel monomer vorliegt. Erst ab dieser Grenze kann man die Bildung eines Dimeren (Pyrovanadat, H4 V2 O7 = 2 HVO3 + H2 O) und eines ringf¨ormigen Trimeren (H3 V3 O9 ) beobachten. Der leichte Wechsel vom 5- zum 4-wertigen Vanadium ist gleichzeitig von ei¨ nem Ubergang zwischen Anion und Kation begleitet. Hieraus ergibt sich, dass Vanadat als Anion u ¨ber den Anionentransporter in die Zelle aufgenommen werden kann. Innerhalb der Zelle unterliegt Vanadat einer schnellen Reduktion zu Vanadyl, dem es unm¨oglich ist, die Zelle u ¨ber denselben Weg zu verlassen. Es bleibt gefangen, so dass intrazellul¨ar Vanadyl und extrazellul¨ar Va-
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
245
¨ nadat anzutreffen ist. Ahnlich verhalten sich die Paare Chromat/Cr3+ und Quecksilber/Hg2+ . Eine Reihe von Wirkungen des Vanadats kommen durch dessen Redox-Reaktionen mit zellul¨aren Bestandteilen zustande. Mit freien Thiolen der Zelle, wie sie in Cystein und Glutathion vorliegen, Ascorbins¨aure, NADH und Katecholaminen tritt eine rasche Reduktion zum Vanadyl-Kation (+4) (VO2+ ) ein. Bei der Reduktion durch Thiole ist ein kurzlebiger Thioester als Intermediat beteiligt (siehe Kapitel 4.2.3). Die Analogie zu Phosphat ist Ursache f¨ ur eine andere Wirkungsqualit¨at von Vanadat. Die Hemmung der Na+ -K+ -ATPase wurde durch Zufall entdeckt, da das in den Versuchen eingesetzte ATP tierischen Ursprungs in Chargen unterschiedlicher Vanadiumgehalte vorlag. Vanadat bindet an eine hoch- und eine wenig-affine Bindungsstelle an der a-Untereinheit des Enzyms und verdr¨angt hier ATP, das an diesen Stellen inverse Bindungsaffinit¨aten aufweist. Hierdurch verz¨ogert es die zum Ionentransport notwendige Konformations¨anderung (E2 - E1 ). Auch Na+ -Ionen interferieren mit der Bindung des Vanadats. ¨ Ahnliche Wirkungen werden f¨ ur eine Reihe anderer ATPasen beschrieben. F¨ ur die Adenylatcyclase ist dagegen eine Stimulation durch Vanadat gefunden worden. Es ist bekannt, dass die positiv inotrope Wirkung der Herzglycoside durch die Hemmung der Na+ -K+ -ATPase des Herzmuskels zustande kommt. Allerdings f¨ uhrt die Inhibition des Enzyms nur unter bestimmten Umst¨anden
Abbildung 4.25 Die Chelatoren Ethylendiamintetraessigs¨ aure EDTA (Titriplex® ) und Diethylentriaminpentaessigs¨ aure DTPA. Um die Calziumspeicher des K¨ orpers zu schonen, werden beide Chelatoren therapeutisch immer als Ca,Na-Salze eingesetzt, CaNa2 -EDTA und CaNa3 -DTPA. Hierbei ist Ca2+ komplexiert, wie in der mittleren Struktur gezeigt. Es l¨ asst sich bei EDTA durch st¨ arker bindende zweiwertige Kationen wie Zn2+ , Cu2+ und Pb2+ verdr¨ angen. DTPA komplexiert auch Eisen Fe3+ und Plutonium.
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
(isolierter Herzmuskel) zu einer solchen Wirkung, da Vanadat eine Reihe verschiedenster Interaktionen am Herzen ausl¨ost, die zu gegenteiligen Wirkungen f¨ uhren. Therapie Zur Behandlung von Vergiftungen wird CaNa2 -EDTA eingesetzt, ein Komplexbildner, der Vanadium als Vanadyl-Kation cheliert (Abbildung 4.25). Vorteilhaft erwiesen sich zus¨atzlich auch hohe Dosen von Ascorbins¨aure, welche die Reduktion von Vanadat zu Vanadyl beg¨ unstigt. Da die k¨orpereigene Synthese von Ascorbins¨aure gest¨ort ist, kann deren erh¨ohter Verbrauch nicht mehr gedeckt werden.
4.2.8
Metalloid Arsen
Arsen ist ein typisches Halbmetall, das in einer metallischen grauen und in drei nichtmetallischen Modifikationen auftreten kann, die gelb, schwarz oder kristallin sind. Aufgrund dieses Charakters sind sowohl seine metallischen Eigenschaften wie die Leitf¨ahigkeit und Legierbarkeit, als auch seine F¨ahigkeit zum Eingehen organischer Verbindungen ausgepr¨agt und von Interesse. Seine hohe Toxizit¨at war bereits im Mittelalter bekannt, weswegen sich der Namen Ćrseniκìc, m¨annlich, stark, einb¨ urgerte, der in anderen Sprachen verk¨ urzt wurde: arsenic (fr.); arsen (dt.). In der Natur kommt Arsen oft als Metallarsenid vor. Am h¨ aufigsten findet man Eisen-Arsen-Sulfid, den Arsenkies (Arsenopyrit). Er enth¨alt Eisenarsenid und Eisensulfid in gemischter Form als FeAs2 ·FeS2 oder Fe[AsS]. Die schwefelfreien Metallarsenide haben die Zusammensetzung Fe[As2 ]. In allen Verbindungen kann das Eisen durch Kobalt oder Nickel ersetzt sein. Daneben gibt es metallfreie Arsensulfide wie das rote Realgar (As4 S4 ) und das gelbe Auripigment (As2 S3 ). Diese beiden Pigmente sind kaum toxisch, sofern sie keine verwitterungsbedingten Beimischungen von Arsenik (As2 O3 ) enthalten. Das Abr¨osten von Schwefelerzen zur Gewinnung von Schwefeldioxid und Metalloxiden in Kupfer- und Bleih¨ utten l¨asst gr¨oßere Mengen an Arsenik anfallen und auch im H¨ uttenrauch als Flugstaub auftreten. Die Verbrennung von Erd¨olen kann ebenfalls Arsenik in die Atmosph¨are freisetzen. Vielfach enthalten Bohrschl¨amme Arsen und Nickel aus dem Gestein. Auch durch Verwitterung und chemische Aufl¨osung gelangt Arsen geogenen Ursprungs in das Oberfl¨achenwasser. In manchen Gebirgsregionen treten hierdurch hohe Arsenkonzentrationen auf. Dies trifft besonders f¨ ur einige Alpent¨aler in S¨ udtirol, Graub¨ unden und im Tessin zu. Deshalb wird empfohlen, Was-
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
247
ser aus privaten Brunnen gef¨ahrdeter Gegenden immer auf Arsen pr¨ ufen zu lassen. Auch in Schlesien, Argentinien, Chile, Mexiko, Californien liegen Regionen mit zum Teil hohen geogen bedingten Arsenkonzentrationen. Außerdem kennt man Grundwasserstr¨omungen, welche in tiefen Ablagerungen des Terti¨ar fließen und hohe Konzentrationen von Arsen enthalten. Sie verfrachten große Mengen des Elements u ¨ber weite Entfernungen hinweg und lassen sie andernorts an der Oberfl¨ache zutage treten (Freisinger Moos). Auch manche Thermalbrunnen im Oberrheingraben enthalten so viel Arsen (Maxquelle in Bad D¨ urkheim 14 mg/L), dass das Trinken dieser W¨asser verboten wurde, sofern keine vorherige Abreicherung stattgefunden hat. In j¨ ungster Zeit sind vornehmlich in West-Bengalen, Bangladesch und Vietnam hohe Konzentrationen an Arsen im Trinkwasser festgestellt worden. In diesen Regionen wurden in den letzten 25 Jahren mit internationaler Hilfe Trinkwasserbrunnen gebohrt, mit dem Ziel, die Bev¨olkerung vor bakteriell bedingten Krankheiten zu sch¨ utzen, die aufgrund der Nutzung verseuchten Oberfl¨achenwassers nicht zu vermeiden waren. Erfreulicherweise gingen hierdurch die Erkrankungen von Thyphus, Cholera, Dysenterie stark zur¨ uck. Die Menschen litten aber nach einiger Zeit an Hauterkrankungen, die eindeutig mit Arsen in Zusammenhang stehen. Nachtr¨agliche Messungen von Arsen in den Brunnenw¨assern, die leider zu Beginn vers¨aumt worden waren, brachten die traurige Gewissheit. Etwa ein Drittel aller zehn Millionen Brunnen f¨ uhrt Wasser mit Arsenkonzentrationen von u ¨ber 50 mg pro Liter und mindestens 30 Millionen Menschen sind allein in Bangladesch sind auf dieses Wasser angewiesen. Zur hohen Aufnahme von Arsen u ¨ber das Brunnenwasser tritt noch die Aufnahme aus dem Reis hinzu, denn in der trockenen Jahreszeit werden die Felder mit Wasser aus den Brunnen bew¨assert, und die Pflanze nimmt Arsenit leicht u ¨ber die Wurzel auf und reichert es an. Hierbei spielen die Aquaporine eine wesentliche Rolle. Als Quelle dieses Arsens gelten Arsenmineralien, meist Fe[AsS], die in den Gesteinen des Himalaya vorkommen. Die großen Str¨ ome Ganges, Brahmaputra und Meghna transportieren das verwitterte, arsenhaltige Gestein talw¨arts und lagern das Material als schlammiges, toniges Sediment in einem Delta in den Golf von Bengalen ab. Durch Zutritt von Sauerstoff kommt es zu einer Oxidation des Materials. Hierbei bildet sich viel Arsenat neben wenig Arsenit (Verh¨altnis 15:1) und Eisen(III)hydroxid (FeOOH). Arsenat hat die Eigenschaft stark an Eisenverbindungen zu adsorbieren, wodurch seine freie Beweglichkeit und die toxische Gefahr deutlich gemindert ist. Sofern die herrschenden oxidativen Bedingungen bestehen bleiben, ¨andert sich dieser Zustand nicht.
248
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Wenn aber anaerobische und reduktive Bedingungen in den Aquaferen, den grundwasserf¨ uhrenden Schichten, auftreten, wozu mikrobielle Aktivit¨aten durch Geobacter einen entscheidenden Beitrag leisten, wird Arsenat zu Arsenit reduziert. Das Verh¨altnis liegt nun bei 1:12. Das jetzt u ¨berwiegende Arsenit ist frei gel¨ost und geht in das gef¨orderte Wasser u ¨ber. Mischt man arsenhaltiges Trinkwasser mit Eisensalzen und exponiert es dann in Polycarbonatflaschen dem grellen Sonnenlicht, f¨allt das meiste Arsen nach seiner Oxidation aus und kann abgetrennt werden. Anwendungen Zur Legierung mit Kupfer und Blei werden nur 3 % der Arsenproduktion verwendet. Bleischrot enth¨alt 1 % Arsen. Arsenik nutzt man bei der Glasherstellung als Kl¨arungs- und Entf¨arbungsmittel. Einer Reihe von Metall-Arsenaten, wie dem Blei-, Calcium und Kupferarsenit (Schweinfurter Gr¨ un, 3 Cu(AsO2 )2 · Cu(CH3 COO)2 ) kam fr¨ uher bei der Sch¨adlingsbek¨ampfung im Weinbau und in der Forst- und Landwirtschaft gr¨oßere Bedeutung zu. Seit 1942 ist der Einsatz verboten, da Vergiftungen und Krebserkrankungen sowohl durch das Ausbringen als auch durch R¨ uckst¨ande auf Fr¨ uchten ausgel¨ost worden waren. In Baumwollplantagen benutzte man fr¨ uher arsenige S¨aure H3 AsO3 (HAsO2 ) vor der Ernte zur k¨ unstlichen synchronen Entlaubung der Pflanzen, die durch eine Austrocknung der Pflanzen hervorgerufen wird. Heute wendet man hierf¨ ur und f¨ ur die Pflege von Golfpl¨atzen das Herbizid Dimethylarsins¨aure (DMA, Kakodyls¨aure bzw. deren Na-Salze) in großem Maßstab an. Bereits im Vietnamkrieg wurde dieses arsenhaltige Herbizid, enthalten im agent blue, vom US-Milit¨ar innerhalb einer Dekade in einer Menge von mindestens acht Millionen Liter u ¨ber Felder und D¨orfer verspr¨ uht. Diese rice-killing operations hatten die Vernichtung der Reiskulturen und der Ernte des Landes zum Ziel. Arsenoxide wurden fr¨ uher als Rodentizide eingesetzt, weil sie v¨ollig geruchsund geschmacklos sind. Diese Eigenschaften verf¨ uhrten die Menschen seit der Renaissance dazu, Arsenoxide als Mordgifte zu verwenden. Erst der 1836 von James Marsh entwickelte forensische Nachweis schreckte allm¨ahlich vor dem Missbrauch als Giftmehl ab (vgl. Abbildung 4.26). Kleine Mengen Arsenik waren in der Fowlerschen L¨osung, dem Liquor Kalii arsenicosi enthalten, die als Roborans medizinische Verwendung fand. In verschiedenen Alpengegenden war Arsenikessen verbreitet. Als erste organische Arsenverbindungen wurden bereits 1760 das Tetramethyldiarsin und dessen Oxid dargestellt, widerlich riechende Stoffe, die durch Bunsen 1842 die Namen Kakodyl und Kakodyloxid erhielten. Von ihnen leitet sich auch die Kakodyls¨aure Dimethylarsin ab.
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
249
Abbildung 4.26 Marsh’scher Apparat einfacher Construction. Aus Die Pr¨ ufung chemi” scher Gifte“, A. Duflos, Verlags- und K¨ onigliche Universit¨ ats-Buchhandlung, Ferdinand Hirt, Breslau 1867.
Fr¨ uher wurden in der Behandlung von Hautkrankheiten und von Syphilis h¨aufig Arsenverbindungen eingesetzt. Deren selektive Toxizit¨at gegen¨ uber verschiedenen Krankheitserregern f¨orderte die Entwicklung von arsenhaltigen organischen Verbindungen, welche als Vorl¨aufer der ersten Chemotherapeutika zu gelten haben. Die chemische Zwitterstellung des Arsens erm¨oglichte es Arsanils¨aure herzustellen, in der die Toxizit¨at der Arsens¨aure abgeschw¨acht ist. In organischen Verbindungen enthaltenes Arsen wird unterschiedlich stark mineralisiert. In dieser Hinsicht ist Arsanils¨aure ein sehr best¨andiges Molek¨ ul. Die Verbindung ist gegen die Erreger der Schlafkrankheit wirksam, weshalb das sp¨atere Atoxyl bereits von Robert Koch auf seiner Afrikaexpedition 1906–1908 verwendet wurde (Abbildung 4.27). Paul Ehrlich stellte Hunderte von organischen Arsenverbindungen her, an denen er eine trypanozoide und spirillizide Wirkung nur in vivo beobachten konnte. Hervorragend wirksam war das von Ehrlich und Hata entwickelte, unter dem Namen Salvarsan in die Syphilistherapie eingef¨ uhrte Arsphenamin (Ehrlich 606), das in vivo zu Oxphenarsin aktiviert wird. Alle Salvarsan-Derivate bilden kettenf¨ormige oder zyklische Assoziate (vgl. die Darstellung auf der fr¨ uheren 200-DM–Banknote). Heute weitgehend durch Antibiotika ersetzt haben jedoch einige Arsenpr¨aparate wie z. B. Melarsoprol bei Trypanosomeninfektionen (Chagas), Phenarsinsulfoxylat bei Amoebiasis und Phenylarsenoxid als Coccidiostatikum weiterhin therapeutische Bedeutung f¨ ur Mensch und Tier (Abbildung 4.27).
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Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
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Abbildung 4.27 Auswahl organischer Arsenverbindungen von zum Teil historischer Bedeutung. Arsen liegt in der Verbindungen in den Oxidationsstufen +3 oder +5 vor. Arsphenamin bildet ein Trimeres zyklisches Assoziat mit sechs Ringgliedern.
Die Wirkung auf Trypanosomen beruht auf der Blockade einer essentiellen Reduktion des in den Erregern enthaltenen Trypanothions, welche durch eine Adduktbildung mit Arsenit unterbunden wird. Seit etwa 1970 werden in der US-amerikanischen Gefl¨ ugelzucht und Schweinemast Phenylarsons¨auren eingesetzt. Die Verbindungen verbessern in einer Konzentration von 40 mg/kg Futter die Futterausnutzung und die Gewichtszunahme der Tiere und verhindern das intestinale Wachstum von Coccidien. Im einzelnen handelt es sich um Arsanils¨aure, 4-Hydroxy-3-nitrophenylarsons¨aure (Roxarsone) und 4-Nitrophenylarsons¨ aure (Nitarson). Im Fleisch der Tiere findet man 0,4 ppm Arsen, wovon zwei Drittel als Arsenocholin vorliegen. Der Dung der Tiere wird h¨aufig auf Maisfelder ausgebracht. Der Abbau von Roxarsone verl¨auft im Boden relativ rasch und entl¨asst Arsen als wenig mobiles Arsenat. Als Zwischenstufe entsteht auch die reduzierte 3-Amino-4-hydroxyphenylarsons¨aure.
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
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Organische Arsenverbindungen wurden f¨ ur eine chemische Kriegf¨ uhrung im 1. Weltkrieg synthetisiert. Die Chlorarsenkampfstoffe Diphenylchlorarsin, Diphenylcyanarsin (Clark I und Clark II) und Methyldichlorarsin, die bereits in kleinsten Konzentrationen die oberen Atemwege extrem reizen, kamen zur Anwendung. Man ordnete sie den Blaukreuzkampfstoffen zu. Lewisit (ChlorvinylDichlorarsin, ClCH=CHAsCl2 , Tau des Todes), eine nach Geranien riechende Fl¨ ussigkeit mit hohem Dampfdruck, Dick (Ethyl-Dichlorarsin) und Adamsit (Diphenylamin-Chlorarsin) sind toxische Atemgifte, welche auch cutan leicht resorbiert werden und auf der Haut starke, nur langsam abheilende Blasen bilden. Arsenwasserstoff (AsH3 , Arsan, engl. arsine) ist ein unangenehm nach Knoblauch riechendes Gas (Abbildung 4.26). Vor allem verunreinigter Wasserstoff, sofern bei dessen Entstehung deutlich arsenhaltige S¨auren oder Metalle Verwendung finden. Dies ist bei vielen technischen Verfahren der Fall, z. B. bei der Bildung von Akkumulatorengasen. Unreines Acetylen kann AsH3 enthalten, aus technischem Ferrosilicium kann es entstehen. Die Halbleiterherstellung nutzt neben AsH3 zur Dotierung von Gallium und Indium auch Arsenorganyle als Komponenten des MOCVD-Verfahrens (metal-organic chemical vapor deposition).
Toxikokinetik Arsenverbindungen gelangen nach der Resorption aus dem Blut rasch in alle Gewebe. Eine Umverteilung f¨ uhrt zu vor¨ ubergehender Anreicherung in Leber und Niere. Verbindungen des dreiwertigen Arsen interagieren im Organismus generell mit Proteinen, die Sulfhydrylgruppen tragen. Besonders mit benachbarten Thiolgruppen ist die Bindung effektiv, wie man an der Hemmung des Citratzyklus durch die Blockade liponamidhaltiger Transacylasen in den Dehydrogenase-Komplexen f¨ ur Pyruvat und 2-Oxoglutarat erkennen kann. Es bildet sich mit Arsenit ein inaktives zyklisches Arsen-Derivat der Dihydrolipons¨aure. Andererseits erm¨oglicht die Bildung von Thiolkomplexen unter Beteiligung von Glutathion eine besonders starke Einlagerung von Arsen in sogenannte Depotkompartimente, wie Haut, N¨agel und Haare, in denen nach Exposition an Keratin gebunden beachtliche Konzentrationen bis 100 mg As/kg gefunden werden. Diese Immobilisierung stellt gleichzeitig eine Detoxifizierung dar. Dreiwertiges Arsen besitzt in allen biologischen Systemen eine h¨ohere Toxizit¨at. Unabh¨angig davon, welche Wertigkeitsstufe zur Aufnahme kam, findet man im Organismus sowohl dreiwertiges (Arsenit) als auch f¨ unfwertiges Arsen. Die Oxidation zum Arsenat stellt eine relative Entgiftung dar.
252
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Beim Arsenat steht die chemische uns strukturelle Analogie zum PhosphatAnion im Vordergrund. So kommt es durch die Verwendung von Arsenat, unter der Katalyse der Glycerinaldehydphosphat-Dehydrogenase zur Synthese des labilen Acylarsenats 1-Arseno-3-phosphoglycerat, das die Substratkettenphosphorylierung der Glycolyse unterbricht (vgl. Seite 144). Das aufgenommene anorganische Arsen unterliegt in allen S¨ augetierspezies einem beinahe ¨ahnlichen Metabolismus, der in einer stufenweisen Methylierung besteht (Abbildung 4.28). Von einer applizierten Testmenge lassen sich im Urin zun¨achst die anorganischen Spezies finden. 17 % der Dosis werden als Arsenat und 8 % als Arsenit ausgeschieden. Daneben treten ein- oder zweifach methylierte Arsenverbindungen auf. Vom gesamten ausgeschiedenen Arsen entfallen 10–20 % auf MMA(V) (CH3 As=O(OH)2 , Monomethylarsons¨aure) und 60–80 % auf Dimethylarsins¨aure (DMA(V), (CH3 )2 As=OOH). Insgesamt u ¨berwiegt der Anteil des f¨ unfwertigen und des organischen Arsen. Bei chronisch exponierten Personen in Indien und Bangladesch konnte man auch einen kleinen Anteil von 2–5 % an MMA(III) und von 4–21 % an DMA(III) nachweisen. Anorganisches Arsen unterliegt im Organismus einer mehrfachen Methylierung. Diese findet in Anwesenheit hoher Konzentrationen von Glutathion statt, das initial ein Arsenit-Triglutathion (ATG) bildet. Jeder oxidativen Methylierung muss eine Reduktion vorausgehen. S-Adenosylmethionin dient der Methyltransferase (Cyt19) als Methylgruppendonator. Beginnend beim Arsenit(III) entstehen mono-, di- und trimethylierte f¨ unfwertige und entsprechende dreiwertige Arsenverbindungen. Der Mechanismus der Reduktion und nachfolgenden oxidativen Methylierung ist in Abbildung 4.28 erl¨autert. In niederen Organismen unterliegen Arsenverbindungen durch Oxidation, Reduktion und Methylierung ebenfalls einem regen Stoffwechsel. Bakterien und Pilze methylieren zu Dimethyl- neben Trimethylarsin. Wachsen Schimmelpilze auf arsenhaltigen Materialien (Tapeten), so bildet sich fl¨ uchtiges Tetraethyldiarsinoxid (Ethylkakodyloxid) neben Trimethylarsin (Gosio-Gas), eine Reaktion, die sich als biologischer Arsennachweis nutzen l¨asst. Das Trimethylarsin unterliegt an der Luft einer Oxidation zu Trimethylarsinoxid. Im Meer lebende Mikroorganismen, Plankton, Muscheln, Garnelen, Fische und Algen enthalten von allen Lebensmitteln mit Abstand die h¨ochsten Konzentrationen an Arsen. In Garnelen sind 175 ppm gemessen worden, Algen k¨onnen bis zu 4 g Arsen im kg Trockenmasse enthalten. Das Arsen liegt u ¨berwiegend in organischer Form vor, darunter Arsenocholin und Arsenobetain, in denen der quart¨are Stickstoff durch Arsen ersetzt ist. Arsenobetain (Fischarsen) und Arsenocholin steuern den gr¨oßten Teil des u ¨ber die Fischnahrung und Meeresfr¨ uchte aufgenommenen Arsen bei (Abbildung 4.29). Die methylierten
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
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Abbildung 4.28 Die Methylierung von Arsenat. Sie beginnt mit der Reduktion des f¨ unfwertigen Arsen durch Zufuhr von zwei aus dem Glutathion (2 GSH −→ GSSG + H2 ) stammenden Reduktions¨ aquivalenten. Wasser verl¨ asst nach der Reaktion das reduzierte Molek¨ ul und Arsen(III) tr¨ agt ein freies Elektronenpaar, in Analogie zu NH3 . R1 und R2 stehen f¨ ur Hydroxyloder Methylgruppen, je nach Fortschritt der Methylierung. Es folgt nach rechts die oxidative Methylierung des Arsen(III). Als Methylgruppendonator fungiert S-Adenosylmethionin (SAM), das abgek¨ urzt dargestellt ist. Eine selenhemmbare Methyltransferase u ¨bertr¨ agt eine CH+ -Gruppe auf das freie Elektronenpaar des Arsen(III). Ein Proton verl¨ a sst das Molek¨ ul; 3 damit ist das Arsen oxidiert. Anmerkung: Die Elektronegativit¨ aten (EN) der beteiligten Elemente sind f¨ ur Arsen 2,18, Wasserstoff 2,2, Kohlenstoff 2,5 und f¨ ur Sauerstoff 3,5. Die Ausbildung einer As-C-Bindung stellt f¨ ur Arsen eine Oxidation dar. Im unteren Teil sind vom Arsenat ausgehend die Namen aller m¨ oglichen methylierten Arsenverbindungen in den beiden Oxidationszust¨ anden tabelliert. H¨ aufig wird die Angabe der Oxidationszahl (V) in den Akronymen weggelassen. Will man mit dem Akronym die freie S¨ aure bezeichnen, wird ein weiteres A (f¨ ur acid) angef¨ ugt: DMA(V) = Dimethylarsinat, DMAA(V) = Dimethylarsinic acid = Kakodyls¨ aure = Dimethylarsins¨ aure. TMA = Gosio-Gas.
Abk¨ommlinge des Arsenats DMA, TMA-Oxid und TMA, die in geringeren Konzentrationen in den Meerestieren vorkommen, dienen als Ausgangsverbindungen f¨ ur die Biosynthese. Arsenocholin kann auch f¨ ur den Aufbau von Arsenolipiden genutzt werden, Stoffe, die man gegenw¨artig in der lokalen Behandlung maligner Hautver¨anderungen erprobt. Algen bilden eine Reihe von verschieden substituierten Arsenozuckern, welche als gemeinsames Grundmolek¨ ul eine arsensubstituierte 5-Desoxyribofuranose aufweisen. Toxikodynamik Arsenwasserstoff wird u ¨ber die Lungen gut resorbiert. Er ist etwa 20-mal giftiger als Kohlenmonoxid. T¨odlich ist eine halbst¨ undige Respiration von
254
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
CH3
Arsenozucker
H3C As CH2 COOH
Substitutionsrest
CH3 Arsenocholin
O
O CH3
CH2 O O
Arsenobetain
R OH
O O S
CH3
CH3
.
328
OH
H3C As
H3C As CH2 CH2 OH
Mr
HO
OH
S
408
OH
O 392
OH
O O O
P OH
OH
O
482
OH
Abbildung 4.29 Organische Arsenverbindungen aus Meerestieren. Arsenobetain und Arsenocholin sind die Arsenanalogen von Betain und Cholin. Die u ¨ber zehn bekannten Arsenozucker leiten sich von der 5-Desoxyribofuranose ab. Die Trivialnamen benutzen zur Unterscheidung lediglich die relative Molekularmasse (Mr ) der Verbindungen. Arsenozucker 328 = 3-[5’-deoxy-5’(dimethylarsinosyl)-β-ribofuranosyloxy]-2-hydroxypropylenglycol.
250 mg AsH3 /m3 Luft. Eine akute Exposition f¨ uhrt nach einer Latenzzeit von einigen Stunden zu ersten Symptomem. In dieser Phase wird der Arsenwasserstoff wahrscheinlich zu Diarsin aktiviert (HAs=AsH). Als auff¨alligstes Zeichen der Vergiftung stellt sich eine Ausscheidung von zun¨achst rotem, sp¨ater braunem Urin ein. Ursache hierf¨ ur ist die intravasale H¨amolyse, welche H¨amoglobin freisetzt, das sp¨ater in H¨amatin und H¨amosiderin u ¨bergeht. Der in die Erythrozyten eindringende Arsenwasserstoff wird durch oxygeniertes H¨amoglobin oxidiert und bewirkt eine irreversible Ausf¨allung von H¨amoglobin (Denaturierung), begleitet von einer Zerst¨orung der Erythrozytenmembran. Als Folge der Belastung der Niere mit Protein kommt es zu Nierenversagen mit Anurie. Elementares Arsen ist ungiftig. Jedoch l¨asst es sich durch Sauerstoff leicht zu seiner dreiwertigen Form oxidieren, wobei es in Arsenik bzw. in arsenige S¨aure nebst Arseniten u ¨bergeht. Da sich metallisches Arsen immer oberfl¨achlich mit diesen Oxiden u ¨berzieht, ist Vorsicht geboten. Gleiches gilt f¨ ur Galliumarsenid und Indiumarsenid. Verbindungen dieser Oxidationsstufe sind toxischer als jene des f¨ unfwertigen Arsens (Arsens¨aure H3 AsO4 nebst Arsenate). Letztere werden allerdings im Organismus partiell zu dreiwertigen reduziert. Eine kovalente Bindung von Arsen an organische Molek¨ ule mindert in der Regel dessen Toxizit¨at. Sofern Arsenik (As2 O3 ) gel¨ost verabreicht wird, erfolgt seine Resorption aus dem Magen-Darm-Trakt so rasch und vollst¨andig (zu ca. 80 %), dass in schock-
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
255
artigem Verlauf nach schwerem Kreislaufkollaps der Tod innerhalb von wenigen Stunden eintritt. Werden dagegen ungel¨oste Arsenverbindungen aufgenommen, beobachtet man die sog. gastrointestinale Vergiftungsform. Sie ist gepr¨agt durch das Auftreten von cholera¨ ahnlichen Brechdurchf¨allen mit Exsiccose und Tod durch Herzl¨ahmung. Ohne Analyse der Exkremente ist diese Vergiftungsform leicht mit einer infekti¨osen Darmerkrankung zu verwechseln. Die Wirkung von Arsenik als Kapillargift zeigt sich in der Erweiterung der Gef¨aße infolge einer L¨ahmung ihrer Muskulatur. Sie ist begleitet von einer Permeabilit¨atserh¨ohung, welche zu einem Plasmaaustritt f¨ uhrt. Hierdurch ist das Fr¨ uhsymptom eines Lid- und Kn¨ochel¨odems bedingt. In betr¨ ugerischer Weise ¨ diente Arsenik als Roborans fr¨ uher im Pferdehandel, da die Odembildung der Haut das Fell straffte und einen gesunden Eindruck entstehen ließ. Unter einer subakuten Vergiftung mit Arsenik treten Entz¨ undungen der Schleimh¨aute an Augen, Nasen und Rachen auf, welche die Nahrungsaufnahme erschweren. Einer chronischen Vergiftung (Arsenismus) geht meist eine Toleranzentwicklung voraus, wobei das Mehrfache der t¨odlichen Dosis vertragen wird. In diesem Zustand lassen sich Erkrankungen der Haut und der Nerven erkennen. An der Haut zeigen sich eine Arsenmelanose und eine Hyperkeratose symmetrisch an H¨anden und F¨ ußen und anderen Stellen, die zu Hautkrebs f¨ uhren k¨onnen. Zusammen mit der Sch¨adigung der Gef¨aße entsteht ein Krankheitsbild, das black-foot-disease genannt wird. H¨aufig lassen sich St¨orungen im Nagelwachstum beobachten (Mees-Streifen), zuweilen auch Haarausfall. Die Nerven reagieren mit einer Polyneuritis, die sich von distal nach zentral fortschreitend in Empfindungsst¨orungen, Schmerzen, symmetrischen L¨ahmungen und Muskelatrophien ausdr¨ uckt. Als Sp¨atsch¨aden sind Arsenkrebs an der Leber und Lunge sowie Leberzirrhose beschrieben. Die Ursache der karzinogenen Eigenschaft von Arsen ist bisher nicht genau bekannt. Fr¨ uher war man der Ansicht, nur dem Arsenit w¨are diese Potenz eigen und seine schrittweise Methylierung sei eine Art Entgiftungsreaktion, da die Metaboliten gegen¨ uber zellul¨aren Makromolek¨ ulen weniger reaktiv sind und einer schnelleren Elimination unterliegen. F¨ ur Arsenit ist gesichert, dass ¨ es DNA-Strangbr¨ uche, oxidative Anderungen von DNA-Basen und DNAProtein-crosslinks herbeif¨ uhrt. Es l¨asst sich ein Anstieg reaktiver Sauerstoffspezies beobachten. Mittlerweile mehren sich jedoch experimentelle Indizien, wonach die methylierten dreiwertigen Arsenspezies MMA(III) und DMA(III) eine h¨ohere Zytotoxizit¨at und Genotoxizit¨at aufweisen und starke Enzyminhibitoren sind. An DMA(V) wurde gezeigt, dass es durch Bildung von Dimethylarsenperoxyl-Radikalen (CH3 )2 AsO-O• DNA-Strangbr¨ uche ausl¨osen kann. Arsenik kann die Differenzierung leuk¨amischer Zellen einer nach Chemotherapie rezidivierenden Leuk¨amie verhindern.
256
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Therapie
Abbildung 4.30 Zur Komplexierung von Arsen geeignete Chelatoren, die sich vom BAL (Dimercaprol, 2,3-Dimercaptopropanol) ableiten. Vicinale Dithiole bilden besonders stabile Komplexe mit Arsen. Die S¨ aureanionen von DMSA = meso-2,3-Dimercaptosuccinat und DMPS = 2,3-Dimercapto-1-propansulfonat verleihen den Komplexen eine gute Wasserl¨ oslichkeit.
Gegen die arsenhaltigen Kampfstoffe wurde das 2,3-Dimercaptopropanol (Dimercaprol, Sulfactin) als Antidot entwickelt. Das ursp¨ ungliche Konzept, die Substanz zur Inaktivierung von Lewisit einzusetzen, hielt sich in dem Akronym BAL (British-Anti-Lewisit, siehe Seite 203). Die Verbindung stellt neben 2,3-Dimercaptopropansulfons¨aure (DMPS, Dimaval) (Abbildung 4.30) einen effektiven Chelator f¨ ur Arsen dar und ist wichtigster Bestandteil einer Entgiftungsbehandlung. Eine sinnvolle Therapie der Vergiftung mit Arsenwasserstoff besteht in der sofortigen Applikation von BAL, eventuell mit begleitender Dialyse, damit durch eine m¨oglichst rasche Elimination von Arsen die Progression der H¨amolyse vermieden wird. Nach deren Eintritt ist eine Austauschtransfusion angebracht, um freies H¨amoglobin und gesch¨adigte Erythrozyten zu entfernen. Alkalischer Harn vermeidet das Ausfallen von H¨amoglobin in der Niere und damit deren Sch¨adigung.
4.2.9
Eintrag der Metalle in die Umwelt
Nat¨ urlicherweise kommen Schwermetalle in Wasser, Luft oder B¨oden kaum in gr¨oßeren Konzentrationen vor. Jedoch k¨ onnen lokale Ausnahmen auftreten. Zum Beispiel sind einige Tiefengew¨asser (Mineral- und Thermalbrunnen) bekannt, die sehr hohe Arsengehalte aufweisen und deshalb f¨ ur die menschliche Nutzung nicht geeignet sind. Die Luft kann in der N¨ahe von Lagerst¨atten von elementarem Quecksilber (Almad´en, Spanien) aufgrund der Verdampfung des Metalls hohe Konzentrationen desselben aufweisen. Gleiches gilt auch f¨ ur die Umgebung von Vulkanen (200 ng/m3 ), aus denen insgesamt 150 000 Tonnen
4.2 Toxikologie ausgew¨ahlter Metalle
257
gasf¨ormigen Quecksilbers im Jahr freigesetzt werden. Es sind Landstriche bekannt, deren B¨oden durch nat¨ urliches Vorkommen von Metallen (oberfl¨achennahe Lagerst¨atten) f¨ ur eine landwirtschaftliche Nutzung nicht in Betracht kommen, da die Vegetation die Metalle aufnimmt und sie in die Nahrungskette einspeist. Hingegen kennt man auch das Gegenteil: Eine zu geringe Konzentration des Schwermetalls Cobalt in manchen B¨oden verursacht Blutgerinnungsst¨orungen beim Weidevieh, was erfolgreich durch einen k¨ unstlichen Eintrag (Meliorationsd¨ ungung) behoben werden kann. Terrestrische Spurenelementm¨angel sind je nach Ausgangsgestein der B¨oden f¨ ur Bor, Mangan, Kupfer und Molybd¨an beschrieben. Die Aufbringung zu großer Mengen an Kl¨arschlamm oder M¨ ullkompost mit zum Teil hohen Gehalten an Schwermetallen kann den tolerierbaren Gesamtgehalt der landwirtschaftlich genutzten B¨oden, gemessen in einer Schicht von 20 cm St¨arke, u ¨berschreiten lassen. Sieben Metalle d¨ urfen nach der Kl¨arschlammverordnung (AbfKl¨arV 1992) folgende Konzentrationen in der Trockenmasse des Kl¨arschlamms nicht u ¨berschreiten: Zn 2500; Pb, Cr jeweils 900; Cu 800; Ni 200; Cd 10 und Hg 8 mg/kg. Die erlaubten Konzentrationen sind außerdem vom Bodentyp und den bereits vorhandenen Metallkonzentrationen abh¨ angig. Die landbauliche Verwertung von Kl¨arschlamm und Kompost ist deshalb begrenzt. Unabh¨angig vom Gesamtgehalt an Schwermetallen ist deren Verf¨ ugbarkeit f¨ ur die Pflanzen. Blei ist aufgrund einer Immobilisierung kaum u ¨ber die Wurzeln aufnehmbar, ganz im Gegensatz zu Cadmium und Zink. Kupfer und Nickel werden m¨aßig aufgenommen. In gewissen Grenzen l¨asst sich u ¨ber eine Anhebung des pH-Wertes durch Aufkalkung die Verf¨ ugbarkeit der Schwermetalle drosseln. H¨ohere Tongehalte im Boden bedingen eine Immobilisierung durch Kationenaustausch. Huminstoffe sind in der Lage, schwerl¨osliche Komplexe mit Schwermetallen zu bilden. Das setzt deren Mobilit¨at bis auf die Beweglichkeit der Tr¨agermolek¨ ule herab, die durch Polymerisation von Fulvos¨auren u ¨ber Humins¨auren zu Huminen zun¨achst geringer wird, durch einen stetigen biologischen Abbau aber nach geraumer Zeit wieder zunimmt. K¨onnen Schwermetalle durch Eingehen von Redoxreaktionen Anionen bilden, wie Arsen, Chrom, Selen, Uran und Vanadium, weisen sie im Alkalischen hohe Beweglichkeiten auf. Die Gesamtmenge an Schwermetallen, die durch nat¨ urliche Vorg¨ange in Luft, Wasser und Erde gelangen, ist beachtlich, auch wenn hierdurch nur geringe Konzentrationen erreicht werden. In den meisten F¨allen sind die nat¨ urlichen Kreisl¨aufe m¨achtiger als die anthropogenen, jedoch von anderer Qualit¨ at, da nur letztere lokal zu hohen (inhomogenen), eventuell toxischen Konzentrationen f¨ uhren k¨onnen. In Lagerst¨atten findet man Schwermetalle in der Regel in chemisch stabilen Verbindungen mit Chalkogenen, so dass eine unmittelbare Verbreitung kaum
258
Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
m¨oglich ist. Erst menschliche Aktivit¨aten bringen eine Mobilisation in physikalischer und chemischer Hinsicht (Tabelle 4.6). Durch die Verh¨ uttung entstehen in offenen Prozessen Verbindungen mit h¨oherer chemischer Reaktivit¨at und die sich anschließende Nutzung durch den Menschen f¨ uhrt zu einer weitgehend inhomogenen Verteilung. Ein Großteil aller genutzten Metalle ist trotz Wiederverwendung nach entsprechender Zeit verloren und m¨ undet dann in nat¨ urliche Kreisl¨aufe. Mikroorganismen methylieren unter anaeroben Bedingungen eine Reihe von Schwermetallen (Arsen, Antimon, Zinn, Blei, Selen, Quecksilber u. a.) in Deponien oder k¨ ustennahen Gew¨assern und setzen sie als permethylierte Verbindungen zum Teil in die Atmosph¨are frei. Die Biomethylierung erfolgt unter Beteiligung von Methylcobalamin, das die Methylgruppe als Carbanion CH− 3 u ¨bertragen kann. Daneben gibt es noch einen zweiten Typ einer Methylierung, bei der die Methylgruppe als Radikal auf das bereits reduzierte Metallkation u ¨bergeht (vgl. Abbildung 4.20 und 4.6). Es gilt die Beobachtung, dass alkylierte Metallkationen toxischer sind als die anorganischen Kationen. Eine maximale Toxizit¨at weisen hierbei s¨amtliche permethylierten Monokationen auf, darunter Me-Hg+ , Me2 -As+ oder Me3 -Sn+ . Tabelle 4.6 Gegen¨ uberstellung der H¨ aufigkeit ausgew¨ ahlter Metalle in der Erdkruste, ihrer Weltjahresproduktion und der in den Weltmeeren enthaltenen Mengen. Insgesamt sind im Wasser 50 Elemente nachgewiesen, darunter 1011 Tonnen an Schwermetallen. Metall Symbol Fe Cu Zn Pb Cr Ni As V Cd Ag Hg Au
Erdkruste Gew. % 3,38 3,0 · 5,8 · 1,4 · 6,4 · 4,2 · 2,6 · 1,0 · 1,0 · 5,7 · 1,0 · 3,0 ·
10−4 10−3 10−3 10−3 10−3 10−4 10−2 10−5 10−6 10−5 10−7
Produktion 106 t/a
Weltmeere 106 t
716,0 9,4 6,1 5,5 2,8 0,75 0,027 0,020 0,018 0,011 0,0066 0,0013
? 600 1200 4 24 240 000 1800 312 7 30 4 240
5
L¨osungsmittel G¨ unter Fred Fuhrmann
5.1
Einleitung
Organische L¨osungsmittel sind von der Chemie her eine sehr heterogene Gruppe von Substanzen. Meist steht ihre technische Anwendung im Vordergrund. Ihre Verwendung ist an ihr hohes Fettl¨ osungsverm¨ ogen und an das schnelle Abdampfen gebunden. So werden sie u. a. zum Reinigen von Metallen, Textilien und Oberfl¨achen eingesetzt. Parallel zum exzessiven Umgang mit den L¨osungsmitteln treten entsprechende Vergiftungen in den Vordergrund. In der Farb- und Druckindustrie spielen L¨osungsmittel und L¨osungsmittelgemische eine besondere Rolle. Bei der Lackherstellung allein werden etwa vierzig verschiedene L¨osungsmittel verwendet. Die L¨osungsmittel werden weiter dazu benutzt, um Fette, Wachse, Harze, Gummi und Klebstoffe zu l¨osen und zu extrahieren. Zum Aufl¨osen von Acetylcellulose finden sie Anwendung in der Kunstseide-, Film-, Schuh- und Hutindustrie. Weiterhin werden L¨osungsmittel in der Erd¨olraffinerie, der Polymerchemie, bei der Holzverarbeitung und in der Pharmaindustrie intensiv eingesetzt. Diese Aufz¨ahlungen sind keineswegs vollst¨andig, sie sollen nur dem Leser die umfangreiche industrielle Nutzung zeigen. Schließlich kann in der chemischen Synthese ein L¨osungsmittel auch die Rolle eines aktiven Reaktionspartners besitzen. Diese Eigenschaft eines aktiven Reaktionspartners spielen L¨osungsmittel nach ihrer Aufnahme in lebende Organismen. Durch Biotransformation k¨onnen sie in Metabolite verwandelt und so erst zum Gift werden, welches das toxisches Potential f¨ ur den Organismus bestimmt. Dies gilt besonders f¨ ur die Gruppe der halogenierten Kohlenwasserstoffe, die chemisch als stabil gelten aber trotzdem durch den Stoffwechsel in toxische oder sogar krebserzeugende Verbindungen umgewandelt werden k¨onnen. Obwohl auf dem Gebiet des gewerblichen Arbeitsschutzes viele Fortschritte gemacht worden sind, gibt es noch immer das aktuelle Problem der Vergiftungen
260
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
beim Umgang mit L¨osungsmitteln. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gibt alle Jahre eine u ¨berarbeitete MAK- und BAT-Werte-Liste heraus, die aktuell u ¨ber maximale Arbeitsplatzkonzentrationen und Biologische Arbeitsstofftoleranzwerte informiert und damit den Rahmen f¨ ur den Sicherheitsstandard am Arbeitsplatz liefert.
5.2
Toxische Wirkung der L¨ osungsmittel
Trotz der Heterogenit¨at der Substanzen lassen sich bestimmte toxikologische Wirkungen verallgemeinern. Dieses sind im wesentlichen: Erstens das Entfetten der Haut, zweitens die Reizung der Schleimh¨ aute und drittens die narkotische Wirkung. Dar¨ uber hinausgehende toxische Wirkungen einzelner organischer L¨osungsmittel werden bei den jeweiligen Substanzen selbst besprochen.
5.2.1
Lokale toxische Wirkung auf die Haut
Die Hornschicht (Stratum corneum) der Haut hat als Grenzschicht zur Umwelt eine ganz besondere Bedeutung (siehe Kapitel 2.1.1, Abbildung 2.3). Ihre physikalische Barrierefunktion wird haupts¨achlich durch die vielschichtigen, proteinreichen, wasserarmen Hornzellen und die lipophile Zwischenzellularsubstanz gebildet. Außerdem gew¨ahren die Melanozyten durch das Melanin einen Schutz vor Sonne und Sauerstoffwirkung. Auf chemischer Ebene sind die verschiedenen polaren und unpolaren Lipide sowie Fetts¨auren zu nennen, die von Talgdr¨ usen und Enzymen zum Schutz der Haut produziert werden. Weiterhin gibt es eine biologische, symbiotische Hautflora, die haupts¨achlich von Staphylococcus epidermidis und Propionobacterium acne besiedelt wird. Diese nur gering pathogenen Bakterien bilden mit s¨aurebildenden Enzymen einen Schutzmantel, der andere pathogene Erreger abwehrt. Schließlich kann der Hautkontakt mit allergenen Substanzen eine immunologische Reaktion ausl¨osen. Das hohe Fettl¨osungsverm¨ogen der L¨osungsmittel bewirkt eine Entfettung der Haut. F¨ ur die Interaktion zwischen L¨osungsmittel und Haut gibt es dabei verschiedene Angriffsebenen. Zum einen werden die sch¨ utzenden polaren und unpolaren Lipide entfernt, die haupts¨achlich von den Talgdr¨ usen, aber auch in geringerem Ausmaß von den Keratinozyten der Hornschicht selbst gebildet werden. Zum anderen werden der Haut durch die L¨osungsmittel wichtige Fetts¨auren entzogen. Diese Fetts¨auren sind Bestandteil eines Wasser-Fett-
5.2 Toxische Wirkung der L¨ osungsmittel
261
Films mit einem sauren pH-Wert zwischen 4,2 bis 6,5, der die Haut vor Bakterienbefall sch¨ utzt und dar¨ uber hinaus eine bakterizide Wirkung besitzt. Sind diese Schutzschichten entfernt, so dringen die L¨osungsmittel entsprechend ihrer Lipidl¨oslichkeit durch die lipophile Hornschicht der Haut hindurch und gelangen schließlich zu den Blutgef¨aßen.
5.2.2
Reizung der Schleimh¨ aute
Die Schleimh¨aute geh¨oren zu den inneren Oberfl¨achenschichten, die z. B. beim Verdauungstrakt mit den Lippen beginnen, im Rachen zu den Lungen f¨ uhren, von der Speiser¨ohre zum Verdauungskanal sich ausdehnen und am After enden. Ferner gibt es Schleimh¨aute am Auge, in der Nase und am Harnleiter. Sie bilden die Grenze gegen die Lichtung bzw. den Inhalt von r¨ohren¨ahnlichen Gebilden. Wegen ihrer feuchten, schleimigen Beschaffenheit kommt die Bezeichnung Schleimhaut, Tunica mucosa, zustande. Sie besteht histologisch aus dem Epithel und einer Bindegewebsschicht, der Lamina propria mucosa. Das Epithel ist in Mund, Schlund und Speiser¨ohre mehrschichtig und wird z. B. im Darm einschichtig. Im Darm befindet sich unter der Lamina propria mucosa noch eine weitere Schicht, die Muskelschicht oder Lamina muscularis mucosa. Von toxikologischer Seite entscheidend ist f¨ ur viele lipophile L¨osungsmittel ihre durchblutungsf¨ ordernde Wirkung, oft mit einer entz¨ undlichen Komponente verbunden, die schließlich eine betr¨achtliche Aufnahme der Substanz in das Blut erm¨oglicht.
5.2.3
Narkotische Wirkung
Die Resorption von L¨osungsmitteln u ¨ber die Haut und besonders u ¨ber die Schleimh¨aute des Gastrointestinaltraktes und der Lunge f¨ uhren zu erh¨ohten Blutkonzentrationen, die im Gehirn eine Narkose ausl¨osen k¨onnen. Im Jahre 1899 ver¨offentlichte Hans Horst Meyer gleichzeitig mit Ernest Overton eine klassische Arbeit u ¨ber die Theorie der Narkose, die unter dem Namen Li” poidtheorie der Narkose“ in die Lehrb¨ ucher eingegangen ist. Abbildung 5.1 mit Daten von H. H. Meyers Mitarbeiter F. Baum zeigt das Prinzip. Die narkotische Wirkung wurde anhand von Kaulquappen in einem Aquarium ermittelt. Ab einer bestimmten Konzentration des Narkosemittels, der minimal narkotischen Konzentration, liegen die Tiere bewegungslos am Boden des Aquariums. Die Wirkung tritt bei umso geringeren Konzentrationen auf, je gr¨oßer der Oliven¨ol-Wasser-Verteilungskoeffizient der Substanz ist (zum Verteilungskoeffizient, siehe Kapitel 2.3.4). Das heißt, die Lipidl¨oslichkeit bestimmt entscheidend die narkotische Wirkung.
262
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
Zur Theorie der Alkoholnarkose
log S minimale narkotische Konzentration (S) für Kaulquappen
0
-1
-2
Monacetin Äthylurethan Chloralhydrat Diacetin Triacetin
Sulfonal Trional
Bromal- Butylhydrat chloralhydrat
-3
Tetronal
-4 -1
0
1
log Cf /Cw Konzentration Fett(f)/Wasser(w) Abbildung 5.1 Doppelt logarithmische Darstellung der minimal narkotischen Wirkung (S) von Substanzen auf Kaulquappen in Abh¨ angigkeit von ihrem Oliven¨ ol/WasserVerteilungskoeffizienten Cf /Cw (nach F. Baum, Naunyn-Schmiedebergs Arch. Exp. Pharmakol. 42, 119-137, 1899). Trional = Sulfon- ethylmethan, Tetronal = Sulfondiethylmethan, Sulfonal = Sulfonmethan.
Es hat seit Meyer und Overton nicht an experimentellen Versuchen gefehlt, den molekularen Mechanismus der Narkose zu entschl¨ usseln. Anscheinend ist der Mechanismus in den physikalischen Gesetzm¨aßigkeiten der Zellmembran zu suchen. Durch das Einlagern des Narkotikums in die Membranen wird die geordnete Lipiddoppelschicht vom Gel- zum Sol-Zustand ver¨andert, der entsprechend mehr Raum beansprucht, d. h. die Membran expandiert. Hierbei werden die f¨ ur die Erregungsvorg¨ange notwendigen Ionen-Kan¨ ale entweder direkt oder auch indirekt gehemmt. Neuerdings werden die hydrophoben Teile der Ionen-Kanal-Proteine, die in die Phospholipide der Nervenzellmembranen eingebettet sind, in den Vordergrund gestellt. Eine Einlagerung der Molek¨ ule des Narkotikums in diese Regionen, wo Phospholipide und Proteine zusammentreffen, k¨onnte die notwendige Konformations¨anderung von Kanalproteinen bei der synaptischen Signal¨ ubertragung verhindern.
5.2 Toxische Wirkung der L¨ osungsmittel
263
Am Menschen beschreibt Meyer die Erscheinungen der Narkose mit einem rauschartigen Zustand, in dem das Bewusstsein getr¨ ubt und von ungeordneten Vorstellungen erf¨ ullt wird. Dies ist das erste Stadium der Narkose mit Bewusst- und Schmerzlosigkeit. Daraufhin stellen sich lebhafte Muskelbewegungen ein und f¨ uhren zum zweiten Stadium, der Erregung oder Exzitation, das oft von lautem sinnlosen Reden oder Lachen begleitet ist. Das Gesicht ist dabei lebhaft ger¨otet und die Pupillen sind weitgestellt. Im n¨achstfolgenden Stadium, dem der Toleranz, wird die Sensibilit¨at (F¨ahigkeit zur Wahrnehmung verschiedener Reize, die durch Rezeptoren, u ¨ber afferente Nerven und R¨ uckenmarkbahnen zur sensiblen Hirnrinde vermittelt werden) aufgehoben noch ehe die Reflexe erl¨oschen. Die Aug¨apfel nehmen dabei die Schlafstellung ein, d. h. sie sind wie im normalen Schlaf nach innen und oben gerollt und die Pupillen sind etwas verengt. Es kommt in diesem Stadium schließlich zur v¨olligen Aufhebung der Großhirnfunktion und die L¨ahmung ergreift auch die reflexvermittelnden Zentren. Zugleich mit den R¨ uckenmarksreflexen erlischt der Muskeltonus, so dass der Narkotisierte v¨ollig schlaff, empfindungs- und erregungslos daliegt. Eine allm¨ahliche Erweiterung der Pupillen weist bereits auf eine ungen¨ ugende Atmung hin, wobei eine pl¨otzliche Pupillenerweiterung das Zeichen von Lebensgefahr bedeutet. W¨ahrend alle vorhergehenden Stadien der Narkose vollst¨andig reversibel sind, ist das letzte Stadium, der Atemstillstand (Asphyxie), irreversibel und f¨ uhrt zum Tode. Die Narkosestadien zusammengefasst: • Analgesie (Bewusst- und Schmerzlosigkeit) Am empfindlichsten reagiert die Hirnrinde. Sie wird zuerst gel¨ahmt, es folgen Schmerzlosigkeit, Bewusstseinseinschr¨ankung, Bewusstlosigkeit. • Exzitation (motorische Muskelerregung) Durch eine Hemmung der h¨oher im Hirn gelegenen motorischen Zentren werden die niederen motorischen Reflexe gesteigert. • Toleranz Neben dem Großhirn sind Mittelhirn und R¨ uckenmark ausgeschaltet. Der Patient ist tolerant gegen¨ uber dem chirurgischen Eingriff. • Asphyxie (Ateml¨ahmung) Zus¨atzlich werden auch die vegetativen Zentren im verl¨angerten R¨ uckenmark gel¨ahmt. Dabei bricht der Kreislauf zusammen und die Atmung h¨ort auf. Ohne k¨ unstliche Beatmung und geeignete Notmaßnahmen tritt innerhalb weniger Minuten der Tod ein.
264
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
In der Klinik wird das Stadium der Toleranz bei operativen Eingriffen in den ¨ Organismus genutzt. Diese große Errungenschaft, die auf amerikanische Arzte zur¨ uckgeht, breitete sich in der Zeit von 1844 bis 1846 vom Norden der USA u ¨ber die ganze Welt aus. Es war zuerst die Nutzung der Inhalationsstof¨ fe Lachgas (Distickstoffoxid) und Ather (Diethylether), die eine schmerzlose Zahnextraktion und eine chirurgische Operation unter Bewusst- und Schmerzlosigkeit erm¨oglichte. Bez¨ uglich ihrer narkotischen Wirkung besitzen die L¨osungsmittel eine gewisse Systematik. So nimmt in folgender Reihe ihre Wirkst¨arke zu: Alkan < Alkanol < Alkylether < halogenierte Alkane.
5.3
Toxikologische Bewertung von L¨ osungsmitteln
Erkenntnisse u ¨ber toxische Eigenschaften von L¨osungsmitteln gehen weitge¨ hend auf Beobachtungen aus der Arbeitsmedizin zur¨ uck. Eine erste Ubersicht kann anhand von maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK-Werte) f¨ ur eine Auswahl bestimmter L¨osungsmittel gegeben werden (Tabelle 5.1). Als exakte Definition des MAK-Wertes gilt: Der MAK-Wert ist die h¨ochst” zul¨assige Konzentration eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf oder Schwebestoff in der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem gegenw¨artigen Stand der Erkenntnis auch bei wiederholter und langfristiger, in der Regel t¨aglich achtst¨ undiger Exposition, jedoch bei Einhaltung einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 40 Stunden im Allgemeinen die Gesundheit der Besch¨aftigten nicht beeintr¨achtigt und diese nicht unangemessen bel¨astigt (z. B. durch ekelerregenden Geruch)“. ¨ Uber den MAK-Wert hinaus werden Kanzerogenit¨at, sensibilisierende Wirkung, Beitrag zur systemischen Toxizit¨at nach Hautresorption, Gef¨ahrdung der Schwangerschaft und Keimzellmutagenit¨at eines Stoffes bewertet. In der Tabelle 5.1 ist der MAK-Wert der ausgew¨ahlten L¨osungsmittel und die Kategorie der Kanzerogenit¨at gelistet. Liegen neue Erkenntnisse vor, so erfolgt ¨ jeweils eine Reevaluierung und eine entsprechende Anderung. Der MAK-Wert dient dem Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz. Seine Ableitung orientiert sich an dem no observed adverse effect level“ ” (NOAEL), der h¨ochsten Dosis eines Stoffes, bei der gerade noch kein sch¨adlicher Effekt feststellbar ist. Dabei wird grunds¨atzlich den Erfahrungen beim Menschen der h¨ochste Stellenwert beigemessen. Wurde der NOAEL hieraus abgeleitet, so ist der MAK-Wert in der Regel auch auf die H¨ohe dieses Wertes festgelegt.
5.3 Toxikologische Bewertung von L¨ osungsmitteln
265
Eine große industrielle Bedeutung haben die halogenierten Kohlenwasserstoffe. Diese Substanzen werden noch immer wegen ihres ausgezeichneten Fettl¨osungsverm¨ogens und ihrer Nichtbrennbarkeit von der chemischen Industrie in großen Mengen als L¨osungsmittel verwendet. Es handelt sich dabei um typisch anthropogene Verbindungen. Trotz der biochemischen Rarit¨at von Chlorid-Kohlenstoffbindungen k¨onnen halogenierte Kohlenwasserstoffe nach Exposition vom menschlichen Organismus umgesetzt und in wasserl¨osliche Verbindungen umgewandelt werden. Tabelle 5.1 Beispiele maximaler Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK in mg/m3 ) einiger L¨ osungsmittel in absteigender Reihe. Die MAK-Werte sind der MAK- und BAT-Werte-Liste 2005, Mitteilung 41 der Deutschen Forschungsgemeinschaft entnommen. Diese Werte werden st¨ andig u ¨berpr¨ uft und k¨ onnen sich entsprechend ¨ andern. Die festgesetzten MAK-Werte verteilen sich u ¨ber drei Zehnerpotenzen. Organotropie gibt das Zielorgan der toxischen Wirkung an. Unter Karzinogenit¨ at werden entsprechend dem Einstufungsschema von 1998 die Kategorien von 1 bis 5 angegeben (Kurzform des Einstufungsschemas siehe Kapitel 4.1.5.). L¨ osungsmittel n-Heptan Ethylacetat Aceton 1,1,1-Trichlorethan Ethanol Hexan (Isomere) Cyclohexan Xylole 1,1-Dichlorethan Methanol Toluol n-Hexan Chlormethan Acetaldehyd Styrol 1,1,2-Trichlorethan Diethylenglycol Ethylenglycol 1,1-Dichlorethen 2-Chlorethanol Tetrachlormethan Trichlormethan Tetrachlorethen Benzol
MAK (mg/m3 ) 2100 1500 1200 1100 960 720 700 440 410 270 190 180 100 91 86 55 44 26 8 3,3 3,2 2,5 – –
Organotropie periphere Nerven Gehirn Schleimh¨ aute Leber Leber – – Leber, Niere Leber, Niere Sehnerv Schleimh¨ aute, Gehirn periphere Nerven Niere Leber Schleimh¨ aute Schleimh¨ aute, Gehirn Niere Niere Niere Leber, Niere Leber Leber, Niere Leber, Niere Knochenmark
Kategorie der Kanzerogenit¨ at – – – – 5 – – – – – – – 3B 3B 5 3B – – 3B – 4 4 3B 1
266
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
H¨aufig ist dabei das oxidativ angreifende, induzierbare Cytochrom P-450 System, besonders das Isoenzym CYP2E1, beteiligt. Dabei k¨onnen reaktive Metaboliten entstehen, die außerordentlich toxisch und sogar karzinogen sind. Diese Erkenntnis hat dazu gef¨ uhrt, dass die Verwendung von halogenierten Kohlenwasserstoffen als L¨osungsmittel zunehmend durch regulatorische Schutzmaßnahmen eingeschr¨ankt wird. Dies a¨ußert sich auch in niedrige MAK-Werte, die eine toxische Wirkung, insbesondere eine karzinogene Wirkung beim Menschen ausschließen sollen. Weitere unterschiedliche toxikologische Aspekte ergeben sich, wenn man die L¨osungsmittel nach chemischen Klassen ordnet. Eine u ¨bliche Einteilung ist in Tabelle 5.2 wiedergegeben. Da die Fl¨ uchtigkeit der L¨osungsmittel f¨ ur die Gesundheitsgef¨ahrdung eine bedeutsame Rolle spielt, ist in der Tabelle auch der Dampfdruck mit aufgenommen. Die Kenntnis des Dampfdruckes und die Beurteilung der am Ort freigesetzten L¨osungsmittelmengen gibt Informationen u ¨ber das m¨ogliche Risiko gesundheitssch¨adlicher Dampfkonzentrationen. Tabelle 5.2 Chemische Klassen organischer L¨ osungsmittel mit ausgew¨ ahlten Beispielen, maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK in mg/m3 ), Kategorie der Kanzerogenit¨ at und Dampfdr¨ ucken in hPa bei 20°C. 1. Einwertige Alkohole Methanol Ethanol 2-Propanol 1-Butanol Iso-Butanol Tert-Butanol
2. Mehrwertige Alkohole Ethylenglycol Diethylenglycol 1,2-Propylenglycol
3. Ester Ethylacetat 1-Butylacetat Methylformiat Di-(2-ethylhexyl)phthalat
MAK (mg/m3 )
Kategorie der Kanzerogenit¨ at
Dampfdruck (hPa bei 20 °C)
270 960 500 310 310 62
– 5 – – – –
128 59 44 6,3 11,7 40,8
MAK (mg/m3 )
Kategorie der Kanzerogenit¨ at
Dampfdruck (hPa bei 20 °C)
26 44 –
– – –
– 0,03 –
MAK (mg/m3 )
Kategorie der Kanzerogenit¨ at
Dampfdruck (hPa bei 20 °C)
1500 480 120 10
– – – 4
97 13,3 640 –
5.3 Toxikologische Bewertung von L¨ osungsmitteln
267
MAK (mg/m3 )
Kategorie der Kanzerogenit¨at
Dampfdruck (hPa bei 20 °C)
1200 600 83 21
– – – –
240 105 21 –
5. Alkane
MAK (mg/m3 )
Kategorie der Kanzerogenit¨at
Dampfdruck (hPa bei 20 °C)
n-Butan n-Hexan n-Heptan n-Octan
2400 180 2100 2400
– – – –
– 160 48 15
6. Halogenierte Kohlenwasserstoffe
MAK (mg/m3 )
Kategorie der Kanzerogenit¨at
Dampfdruck (hPa bei 20 °C)
Chlormethan Dichlormethan Trichlormethan Tetrachlormethan Trichlorethen Tetrachlorethen 1,1,1-Trichlorethan 1,1,2-Trichlorethan Vinylchlorid
100 – 2,5 3,2 – – 1100 55 –
3B 3A 4 4 1 3B – 3B 1
– 475 210 120 77 19 133 25
7. Aromatisierte Kohlenwasserstoffe
MAK (mg/m3 )
Kategorie der Kanzerogenit¨at
Dampfdruck (hPa bei 20 °C)
190 440 86
1 – – 5
101 29 7–9 6
4. Ketone Aceton 2-Butanon 4-Methylpentan-2-on 2-Hexanon
Benzol Toluol Xylole Ethenylbenzol (Styrol)
F¨ ur L¨osungsmittelgemische gibt es keine MAK-Werte. Die gleichzeitige oder nacheinander erfolgende Exposition gegen verschiedene L¨osungsmittel kann die gesundheitssch¨adliche Wirkung erheblich verst¨arken, ggf. in Einzelf¨allen auch vermindern. MAK-Werte f¨ ur Gemische mehrere Arbeitsstoffe lassen sich daher bisher nicht ableiten.
268
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
5.4
Ausgew¨ahlte L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
5.4.1
Einwertige Alkohole
Die einwertigen Alkohole besitzen eine narkotische Wirkung, die mit der Kohlenstoffzahl und der damit verbundener Lipidl¨oslichkeit zunimmt. Die akute toxische Wirkung dieser homologen Reihe unterscheidet sich jedoch grundlegend. W¨ahrend beim Methanol und 2-Propanol die im Organismus gebildeten Metaboliten wie Ameisens¨aure und Aceton das toxische Potential bestimmen, wirkt Ethanol selbst mitunter t¨odlich. Methanol F¨ ur die berufliche Exposition spielt die Inhalation von Methanol eine relevante Rolle. Der Geruch kann bereits ab 5,3 mg/m3 wahrgenommen werden und hat mit der Reizwirkung an Haut und Auge eine deutliche Warnwirkung vor gef¨ahrlichen Konzentrationen. Da Methanol schwerer als Luft ist, besteht in schlecht gel¨ ufteten oder geschlossenen R¨aumen Erstickungsgefahr. Die Inhalation von Methanol (ca. 60 %) bei einer Exposition u ¨ber 1000 ppm sowie der andauernde oder ausgedehnte Hautkontakt k¨ onnen zu einer signifikanten systemischen Resorption f¨ uhren. Bei Einhaltung des MAK-Wertes von 270 mg/m3 bzw. 200 ppm und eines BAT-Wertes von 30 mg/Liter Blut sind jedoch keine chronischen Sch¨aden zu erwarten. Die orale Aufnahme von 0,1 g Methanol/kg K¨ orpergewicht oder mehr sollte als schwere, von mehr als 1 g Methanol/kg K¨orpergewicht als lebensbedrohliche Intoxikation betrachtet werden. 10 bis 15 ml Methanol k¨ onnen schwere systemische toxische Wirkungen verursachen, wie irreversible Erblindung und Hemmung des zentralen Nervensystems sowie metabolische Acidose. Die Mortalit¨at der Vergiftung ist hoch, 30 bis 100 ml k¨ onnen bereits t¨odlich sein. Todesursache ist meist die allgemeine Stoffwechselst¨orung durch Acidose. Die Vergiftungserscheinungen lassen sich in drei Phasen gliedern: 1. Narkotische Phase: Bis zu 8 Stunden nach der Vergiftung k¨onnen Symptome von Trunkenheit wie bei einer Ethanolintoxikation auftreten, sie sind aber meist geringer ausgepr¨agt. 2. Latenzperiode: Von ca. 6 bis 36 Stunden nach Exposition sind die Vergifteten oft symptomlos, auch bei sehr schweren Vergiftungen.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
269
3. Acidose/Neurotoxizit¨at: Die Schwere der Symptome einer Methanolvergiftung ist oft proportional zu der metabolischen Acidose, die durch akkumulierende Ameisens¨aure entsteht. Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, periodisches Atmen und Bewusstlosigkeit mit Versagen der Atmung k¨onnen zum Tode f¨ uhren. Sehst¨orungen werden im allgemeinen bereits mit dem Auftreten der Acidose registriert. Ein Netzhaut¨odem mit Blutstauung in den Gef¨aßen f¨ uhrt zu verschwommenen Sehen und kann zu Erblindung f¨ uhren. Außerdem kann eine Pankreassch¨adigung schwere abdominelle Schmerzen hervorrufen. Im Vergleich zum Ethanol besitzt Methanol eine bessere Wasserl¨oslichkeit, es verteilt sich u ¨berwiegend im gesamten K¨orperwasser und wird deutlich langsamer als Ethanol vom Darm resorbiert. Seine Halbwertszeit im Plasma ist dosisabh¨angig. Methanol wird haupts¨achlich durch die Alkoholdehydrogenase der Leber in Formaldehyd umgewandelt (Abbildung 5.2).
H H
C OH H
ADH
O
H C
ALDH
H
O
H C
+ H+ O-
FH4
CO2
Abatmung über Lunge (30 - 60%) Abbildung 5.2 Metabolismus von Methanol zu Formaldehyd, Ameisens¨ aure und CO2 im menschlichen Organismus. Methanol kann bereits durch die Lungen zu 30 bis 60 % abgeatmet werden. Alkoholdehydrogenase ADH, Aldehyddehydrogenase ALDH und Tetrahydrofolatabh¨ angiger C1 -Stoffwechsel FH4 .
Im Vergleich zum Ethanol erfolgt diese Umsetzung jedoch relativ langsam. Die anschließende Oxidation des Formaldehyds zu Ameisens¨aure verl¨auft dagegen schnell, so dass es zu keiner Anreicherung von Formaldehyd im Organismus kommt. Der Abbau der Ameisens¨aure im Organismus zu CO2 ist wiederum ein sehr langsamer Prozess, er wird im wesentlichen durch einen Tetrahydrofols¨aure-abh¨angigen Mechanismus vollzogen (Abbildung 5.2). Als Folge der langsamen Umsetzungen wird erstens Methylalkohol bereits zu etwa 30–60 % u ¨ber die Lungen abgeatmet und zweitens akkumuliert Ameisens¨ aure im Blut. Die Akkumulation von Ameisens¨aure f¨ uhrt zur Acidose. Es kommt zu einer sogenannten Anionenl¨ ucke (Verminderung der physiologischen Anionenkonzentration Bicarbonat-Chlorid im Blut) und der pH-Wert kann bis unter 7 absinken.
270
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
M¨ogliche Folgen der Vergiftung treten in Abh¨angigkeit von der resorbierten Methanolmenge sowie der individuellen Empfindlichkeit und dem Zeitpunkt der Behandlung auf. Die Sehst¨orungen k¨onnen reversibel oder irreversibel sein. Der zweite Prozess ist die Folge von irreversiblen Degenerationserscheinungen des Sehnerven und f¨ uhrt zur Erblindung. Weiterhin kann eine periphere Nervenentz¨ undung (Polyneuropathie) im Extremit¨atenbereich und eine zentrale Sch¨ uttell¨ahmung (Parkinsonsyndrom) entstehen. Therapie: Wenn der Vergiftete (Erwachsener) bei Bewusstsein ist, sollte er unverz¨ uglich Ethanol in Form alkoholischer Getr¨ anke zu sich nehmen, z. B. 150 ml Whisky oder Weinbrand. Kein Erbrechen herbeif¨ uhren. Nur wenn das Bewusstsein des Vergifteten beeintr¨achtigt ist oder große Mengen vor nicht mehr als 30 Minuten verschluckt wurden, kann der Arzt eine Magensp¨ ulung mit einer Sonde in Betracht ziehen. Als Mittel erster Wahl wird vielfach der synthetische Inhibitor der Alkoholdehydrogenase 4-Methylpyrazol betrachtet: Unverz¨ ugliche intraven¨ose Infusion durch den Arzt. Wenn 4-Methylpyrazol nicht vorhanden ist, stellt die intraven¨ose Infusion von 0,6 g Ethanol/kg K¨ orpergewicht eine alternative Therapiem¨oglichkeit dar. Wenn bereits Ethanol verabreicht worden war, muss der Blutspiegel so modifiziert werden, dass er nicht 100 bis 130 mg/dl u ¨berschreitet. Außerdem erfolgt vom Arzt eine Korrektur der Acidose durch NaHCO3 oder Trispufferl¨osungen. In schweren F¨allen kann H¨amodialyse zur Elimination von Methanol und Ameisens¨aure eingesetzt werden. Zur schnelleren Entgiftung der Ameisens¨aure, d. h. ihrem Stoffwechsel zu CO2 , werden Fols¨aurepr¨aparate vom Arzt verordnet. Alle F¨alle einer Methanolintoxikation m¨ ussen von einem Augenarzt untersucht werden. Ethanol Die gr¨oßte Anzahl akuter und chronischer Ethanolintoxikationen geht auf den Genuss alkoholischer Getr¨anke zur¨ uck. Nach Sch¨atzwerten sind 2 bis 5 % der europ¨aischen Bev¨olkerung als alkoholkrank anzusehen, in Deutschland etwa 2,5 Millionen. Bei ungef¨ahr 10 % der Arbeits- und mehr als 25 % der Verkehrsunf¨alle ist Missbrauch von Alkohol beteiligt. ¨ Ethanol hat einen Ol/Wasser-Verteilungskoeffizienten von 0,04. Das bedeutet eine haupts¨achliche Verteilung im Wasserraum, der f¨ ur M¨anner etwa bei 68 % und f¨ ur Frauen je nach Fettdepots bei 55 % liegt. Die Verteilung von Ethanol im Wasserraum erfolgt sehr rasch, je nach aufgenommener Menge ist in 1 bis 2 ¨ Stunden das Maximum der Konzentration im Blut erreicht. Uberschlagsm¨ aßig kann die Blutalkoholkonzentration in Promille ‰ nach der Widmarkschen Formel errechnet werden:
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
‰=
271
ml Ethanolaufnahme · 0, 8 (spez. Gewicht) kg K¨orpergewicht · Wasserraum (0, 68 bzw. 0, 55)
Eine akute Alkoholeinwirkung kann am Blutalkoholspiegel objektiviert werden. In der Regel lassen sich dabei folgende Auswirkungen feststellen: Blutalkohol 0,3 ‰ 0,4 ‰ 0,5 ‰ 0,6 ‰ 0,8 ‰ 1,0 ‰ 1,4 ‰ 2,0 ‰ 4,0 – 5,0 ‰
Allgemeine Auswirkungen erste Gehst¨orungen, Redseligkeit Einschr¨ankung des Gesichtsfeldes Blindzielbewegung gest¨ort leichte Sprachst¨orungen, Reaktionszeit verl¨angert Grenze der Fahr- und Verkehrst¨ uchtigkeit m¨aßiger Rauschzustand Bewusstsein stark gest¨ort, Zurechnungsf¨ahigkeitsgrenze Bewusstseinseintr¨ ubung, fehlendes Erinnerungsverm¨ogen t¨odliche Grenzkonzentration
Die Alkoholwirkung hat bereits Shakespeare im zweiten Akt, dritte Szene des Macbeth treffend beschrieben: Macduff: What three things does drink espe” cially provoke? Porter: Marry, sir, nose-painting, sleep and urine. Lechery, sir, it provokes, and unprovokes; it provokes the desire, but it takes away the performance.“( Macduff: Was sind das f¨ ur drei Dinge, die der Trunk vorz¨ uglich ” bef¨ordert? Pf¨ortner: Ei, Herr, rote Nase, Schlaf und Urin. Buhlerei bef¨ordert und d¨ampft er zugleich; er bef¨ordert das Verlangen und d¨ampft das Tun“). Ethanol wird von der Alkoholdehydrogenase bis u ¨ber 90 % zu Acetaldehyd und weiter durch die Acetaldehyddehydrogenase zu Essigs¨aure metabolisiert. Neben diesem Hauptweg werden 3–8 % u ¨ber das mikrosomale MonooxygenaseSystem (Cytochrom P-450-Isoenzym2E1) zu Essigs¨aure oxidiert und nur etwa 0,5 % direkt in einer Phase-II-Reaktion an Glucurons¨aure gekoppelt. Die anfallende Essigs¨aure wird haupts¨achlich in den Mitochondrien zu CO2 und H2 O aufgespalten. 1 g Ethanol liefert somit 7,1 kcal (30 kJ). Die Alkoholdehydrogenase ist also das f¨ ur den Abbau entscheidende Enzym, das bei normalem Metabolismus den Blutalkoholspiegel unter 0,1 ‰ absenkt. Durch die Aufnahme alkoholischer Getr¨anke arbeitet dieses Enzym praktisch im S¨attigungsbereich. Das bedeutet, dass der Blutalkoholspiegel sich mit einer Kinetik nullter Ordnung verringert (sogenannte Pseudokinetik). Beim Erwachsenen erfolgt deswegen pro Stunde eine konstante Erniedrigung des Alkoholspiegels um etwa 0,15 ‰. Durch diese besondere Eliminationskinetik kann zum einen relativ leicht berechnet werden, nach welcher Zeit wieder Nor-
272
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
malwerte erreicht werden, andererseits kann aber auch der urspr¨ ungliche Alkoholspiegel nach Alkoholzufuhr zur¨ uck berechnet werden. F¨ ur die Gesundheit folgenschwer ist die chronische Alkoholaufnahme. Da Alkohol als Lebensmittel gehandelt wird, sind die Diskussionen u ¨ber den sicheren Umgang damit nicht abgerissen. Ob die fr¨ uhere Regel bei Erwachsenen noch gilt, dass die t¨agliche Zufuhr von Ethanol bei Frauen nicht mehr als 20 ml und bei M¨annern nicht mehr als 60 ml sein darf, um eine chronische Alkoholvergiftung zu vermeiden, ist heute in Frage gestellt, da dies bei empfindlichen Personen bereits ein Zuviel sein kann. Zielorgane der chronischen Alkoholvergiftung sind in erster Linie die Leber, das Nervensystem sowie das Herzkreislauf-System. Chronischer Missbrauch f¨ uhrt z. B. zu einer toxischen Leberwirkung mit Fettleber und Leberzirrhose. Unter einer Zirrhose (gr. harte Schwellung) versteht man eine Umwandlung von Gewebe mit Verh¨artung und Aufhebung der normalen Struktur der Organe, die zur narbigen Schrumpfung und zum Kleinerwerden eines Organs f¨ uhrt. F¨ ur den Menschen ist Ethanol außerdem ein bedingt karzinogener Faktor. Eine amerikanische Studie an 276 000 M¨annern, bekannt unter dem Namen cohort follow up“, zeigte, dass ein t¨aglicher Konsum von vier und mehr Ge” tr¨anken (ein Getr¨ank gleich 20 ml Ethanol) mit einem erh¨ ohten relativen Risiko an Krebs zu erkranken verbunden ist (Abbildung 5.3). Krebs in der Mund- und Rachenh¨ohle ist am deutlichsten mit dem Alkoholmissbrauch verbunden. Kehlkopfkrebs wird auf den o¨rtlich begrenzten Effekt w¨ahrend des Trinkens zur¨ uckgef¨ uhrt. Speiser¨ohrenkrebs, Krebserkrankung der Leber, der Brust sowie des Dick- und Enddarmes werden ebenfalls mit dem chronischen Alkoholkonsum in Zusammenhang gebracht. Bei der Biotransformation von Ethanol entsteht der im Tierversuch krebserzeugende Acetaldehyd. Es ist davon auszugehen, dass der Metabolit Acetaldehyd wenigstens zum Teil das alkoholbedingte erh¨ohte Krebsrisiko erkl¨art. ¨ Therapie der Alkoholvergiftung: Arztliches Eingreifen ist nur bei schweren Vergiftungen, insbesondere bei Mischintoxikationen in suizidaler Absicht, erforderlich. In Abh¨angigkeit vom Zustand des Alkolholvergifteten, wenn z. B. Lebensgefahr besteht, kann Ethanol durch H¨amodialyse entfernt werden.
5.4.2
Mehrwertige Alkohole
Ethylenglycol (Glycol) Ethylenglycol wird haupts¨achlich als L¨osungs- und Frostschutzmittel sowie in der Kosmetikindustrie verwendet. Wegen seines s¨ ußen Geschmacks kommen Vergiftungen infolge von Verwechslungen mit Getr¨anken mit a¨hnlichen Wir-
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
273
Abbildung 5.3 Relatives Risiko der Krebssterblichkeit in Abh¨ angigkeit von der Zahl der alkoholischen Getr¨ anke pro Tag. Die Risikoabsch¨ atzung ist auf Nicht-Trinker bezogen und bereinigt vom Einfluss des Zigarettenrauchens. Ein Getr¨ ank ist mit 20 ml Ethanol gleichgesetzt. Der positiv zu bewertende Effekt von 1 bis 2 Getr¨ anken pro Tag ist bemerkenswert, kann aber bisher nicht erkl¨ art werden. (cohort follow up, USA, Bofetta P. and Garfinkel L. Epidemiology 1, 45-55, 1990).
kungen wie nach Ethanol vor. Im Organismus wird die weitgehend ungiftige Substanz durch den Metabolismus gegiftet (Abbildung 5.4). Wie Ethanol so wird auch Ethylenglycol oxidiert und schließlich u ¨ber mehrere Stufen zu Oxals¨aure umgewandelt. Diese bindet Calcium mit hoher Affinit¨at, das schwerl¨osliche Salz f¨allt in der Niere aus und bewirkt eine Verstopfung der Nierenkan¨ale mit vollst¨andiger Harnsperre (Oxalatniere). Der eigentliche toxische Metabolit scheint jedoch Glyoxylat zu sein, dem eine direkte toxische Wirkung auf die Nierentubuli zugeschrieben wird. Die Folge ist eine Ur¨amie (Harnvergiftung), viele der t¨odlichen Vergiftungen enden im ur¨amischen Koma. Weitere toxische Metabolite sind Formiat und Malat. Die t¨odliche Dosis wird beim Menschen auf 100 bis 200 ml gesch¨atzt. Im Fr¨ uhstadium der Vergiftung erfolgt eine charakteristische hypnotische und narkotische Wirkung, die jedoch schw¨acher als bei Ethanol ausgepr¨agt ist. Außerdem treten Reizerscheinungen im Magen-Darmtrakt auf. Bei sehr schweren Vergiftungen kann eine zentrale Ateml¨ahmung zum Tode f¨ uhren. Der Hauptmetabolit Glycolat f¨ uhrt zu einer Acidose. F¨ ur die zytotoxischen Wirkungen von Ethylenglycol werden die Aldehydmetaboliten verantwortlich gemacht.
274
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
Urinausscheidung
HO CH2 CH2 OH Alkoholdehydrogenase O C H
Aldehyddehydrogenase
O -
CH2 OH Glykolaldehyd
C O
-
H Glyoxylat
C
C
H
O Glyoxal
Glykolatoxidase C
O
C
CH2 OH Glykolat
O
H
O
Lactatdehydrogenase O
O
-
Formiat, Malat, etc.
O
O C
C O
Oxalat
-
Calciumoxalat (Ausfallen in der Niere)
Abbildung 5.4 Toxikologisch wichtigster Weg der Biotransformation von Ethylenglycol zum Calciumoxalat. Weitere Wege sind durch gestrichelte Pfeile angedeutet.
Nach 12 bis 24 Stunden werden Sch¨aden an Herz und Lunge beobachtet und erst nach einem Tag bis mehreren Tagen treten die nierentoxischen Wirkungen ein. Auch im Gehirn und in der Leber kann es zum Ausfall von Calciumoxalat kommen. Nach 6 bis 14 Tagen stellen sich schließlich Degenerationserscheinungen des zentralen Nervensystems ein. Therapie: Wie beim Methanol muss beim Ethylenglycol sofort sein Umsatz u ¨ber die Alkoholdehydrogenase blockiert werden. Dies kann meist sehr schnell durch Ethanolgaben erfolgen oder durch den synthetischen Inhibitor der Alkoholdehydrogenase 4-Methylpyrazol bewirkt werden. Diese Maßnahmen f¨ uhren zur Ausscheidung von Diethylenglycol durch die Nieren. Auch bei dieser Vergiftung muss eine Korrektur der Acidose durch NaHCO3 - oder Trispufferl¨osungen herbei gef¨ uhrt werden. In schweren F¨allen kann eine H¨amodialyse zur Elimination der toxischen Metaboliten zum Einsatz kommen.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
275
Diethylenglycol Im Jahre 1937 brachte die amerikanische Firma S. E. Massengill ein Arzneimittel Sulfanilamide“ auf den Markt. Dabei war das L¨ osungsmittel Diethy” lenglycol auf dem Etikett nicht deklariert. 105 von 355 Personen, die dieses Arzneimittel eingenommen hatten, starben an Nierenversagen. Die t¨ odliche Dosis wurde bereits bei der t¨aglichen Einnahme des Arzneimittels erreicht, denn es enthielt 10 % Sulfonamid gel¨ost in 72 %igem Diethylenglycol. Diese t¨odlichen Vergiftungen am Menschen sind einige der wenigen, bei denen sich die letale Konzentration beim Menschen direkt errechnen ließ. Das Resultat war, dass bereits bei 1 bis 2 g Diethylenglycol pro kg K¨ orpergewicht eine f¨ ur den Menschen t¨odliche Dosierung erreicht worden war. Das tragische Ereignis erkl¨art sich aus falschen R¨ uckschl¨ ussen, welche die Firma aus Tierversuchen gezogen hatte. Im Unterschied zum Menschen liegt n¨amlich die orale LD50 bei Maus, Ratte, Kaninchen und Hund wesentlich h¨oher und zwar zwischen 15 und 30 g/kg. Nicht nur als L¨osungsmittel bei Arzneimitteln, sondern auch als unerlaubter Weinzusatz hat Diethylenglycol in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts f¨ ur Schlagzeilen gesorgt. Der Zusatz erfolgte vors¨atzlich, um einen h¨oheren Extraktgehalt des Weines vorzut¨auschen und um so die begehrte Einstufung Qualit¨ ats” wein mit Pr¨ adikat“ zu erhalten. Als h¨ochster Wert wurde 48 g Diethylenglycol im Liter Wein nachgewiesen. Dabei ist zu bemerken, dass der Gehalt des Weines an Ethanol den Umsatz von Diethylenglycol durch die Alkoholdehydrogenase ganz wesentlich herabsetzt und so eine toxische Wirkung vermindert oder sogar verhindert. Die Therapie ist wie bei der Methanol- und Ethylenglycolvergiftung eine Ethanolgabe, außerdem ist hier auch der Inhibitor der Alkoholdehydrogenase, 4-Methylpyrazol, angebracht. Der prophylaktische Effekt des Ethanols im Wein ist jedoch kein mildernder Umstand f¨ ur die Straftat des Weinpanschens.
276
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
1,2-Propylenglycol 1,2-Propylenglycol besitzt im Gegensatz zu 1,3-Propylenglycol nur eine sehr geringe Giftigkeit. Diese Substanz wird in der Lebensmittelindustrie, f¨ ur kosmetische Mittel und f¨ ur Arzneimittel als L¨osungsmittel f¨ ur schwer wasserl¨osliche Stoffe eingesetzt. Ursache f¨ ur die geringe Toxizit¨at ist die Biotransformation zu den physiologischen Metaboliten Lactat und Pyruvat.
5.4.3
Ester
Im Gegensatz zu den organischen Phosphors¨aureestern, die im Kapitel Insektizide (Kapitel 6.1) abgehandelt werden, sind die Carbons¨aureester im Allgemeinen von geringer Toxizit¨at. Die niedermolekularen Ester sind leicht fl¨ uchtig und lipophiler als die nach der Esterspaltung entstehenden S¨auren und Alkohole. Ihre Resorption u ¨ber die Lunge oder Haut f¨ uhrt zu Vergiftungen des zentralen Nervensystems. Innerhalb der Alkylester ist Methylformiat (MAK-Wert 120 mg/m3 ) eine der toxischsten Verbindungen. Es wird im Organismus hydrolytisch in Ameisens¨aure und Methanol gespalten. Leider l¨ost die Substanz wegen ihres angenehmen Geruchs keine entsprechende Warnwirkung aus. Di-(2-ethylhexyl)-phthalat (MAK-Wert 10 mg/m3 , krebserzeugende Kategorie 4) und Dibutylphthalat werden als Weichmacher f¨ ur Kunststoffe vor allem f¨ ur PVC eingesetzt. Die ausgepr¨agte Lipophilie der Verbindungen ¨ ¨ und L¨osungsmitbeg¨ unstigt den Ubergang aus Kunststoffen in Fette, Ole tel. Phthalate konnten in Lebensmitteln und in medizinischen Beh¨altnissen wie Bluttransfusionsbeuteln nachgewiesen werden. Sie sind akut nach Inhalation und Ingestion wenig giftig. Bei Einhalten des MAK-Wertes f¨ ur Di-(2ethylhexyl)-phthalat besteht beim Menschen kein Risiko.
5.4.4
Ketone
Aceton Obwohl Aceton in der Industrie oft als L¨osungsmittel eingesetzt wird, kommt es nur sehr selten zu akuten Vergiftungen. Es reizt die Schleimh¨aute und f¨ uhrt zu brennendem Gef¨ uhl in Mund und Rachen. Chronische Expositionen a¨ußern sich in Entz¨ undungen der Atemwege, des Magens und D¨ unndarmes, sowie in M¨ udigkeit und Schw¨achegef¨ uhl.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
277
2-Hexanon (Methyl-n-butylketon) 2-Hexanon wirkt wie Aceton erst in hohen Konzentrationen narkotisch. Dagegen wirkt 4-Methylpentan-2-on (MAK-Wert 83 mg/m3 ) st¨arker reizend auf die Schleimh¨aute, besonders die der Augen und des Mund-Nasen-RachenBereiches. Bei 2-Hexanon (MAK-Wert 21 mg/m3 ) tritt wie bei dem folgenden n-Hexan eine neurotoxische Wirkung in den Vordergrund.
5.4.5
Alkane
Die ges¨attigten aliphatischen Kohlenwasserstoffe besitzen vielf¨altige industrielle Aspekte, sie fallen besonders bei der technischen Verarbeitung des Erd¨ols an. Entsprechend ihrem Schmelzpunkt k¨onnen vier Hauptfraktionen abgetrennt werden: Rohbenzin, Leuchtpetroleum, Treib- und Heiz¨ole sowie schwere Schmier¨ole. Den R¨ uckstand bilden pech- und asphaltartige Stoffe. Durch erneute Fraktionierung lassen sich verschiedenkettige Alkane in Bereichen von 5 bis 20 C-Atomen abtrennen. Nebenprodukte sind mit 19 bis 39 C-Atomen die sogenannten Paraffine. Von toxikologischer Seite k¨onnen zun¨achst die ges¨attigten aliphatischen Kohlenwasserstoffe als wenig giftig eingestuft werden. Akute Vergiftungen beruhen meist auf versehentlichem Trinken von benzinartigen Reinigungsmitteln oder durch Einatmen von D¨ampfen bei der gewerblichen Anwendung. Im Vordergrund stehen dabei die narkotischen Erscheinungen, wie Rausch und Excitation bis hin zu tonisch-klonischen Kr¨ampfen. Besonders gef¨ahrlich ist nach Benzintrinken der Brechreiz, der mit dem ausgel¨osten Erbrechen Benzintr¨opfchen in die Lungen bringt. Diese verursachen dann eine sogenannte Ben” zinlungenentz¨ undung“, die schweren Gef¨aßsch¨adigungen und Lungen¨odemen einhergeht. Die Therapie beschr¨ankt sich hierbei auf symptomatische Maßnahmen. Die t¨odliche Dosis f¨ ur Leichtbenzin liegt bei 5 bis 10 ml/kg K¨orpergewicht. Zu chronischen Vergiftungen f¨ uhrt die Inhalation, auch in der Sonderform des Schn¨ uffelns“ von Benzin als Rauschmittel. Nicht nur Benzin, sondern auch ” verschiedene Gemische von L¨osungsmitteln f¨ ur Klebestoffe, Lacke und Gummi werden beim sogenannten glue sniffing“ missbraucht, um einen euphorischen ” Rausch zu erreichen. Neben Sch¨adigungen der Lunge kommt es dabei oft zu wenig charakteristischen psychischen Zust¨anden wie zum Beispiel Ged¨achtnisschwund, nerv¨ose Ersch¨opfung, Delirien, Depressionen und den Verfall der Pers¨onlichkeit.
278
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
n-Hexan Bei l¨angerer Exposition mit n-Hexan steht die Neurotoxizit¨at im Vordergrund, die sich besonders in einer degenerativen Erkrankung der Nerven der Extremit¨aten a¨ußert. Der Mechanismus beruht auf einer Aktivierung durch Biotransformation, die toxische Metaboliten erzeugt. Der niedrige MAK-Wert von 180 mg/m3 in der Reihe der Alkane (Tabelle 5.2) weist bereits auf diese Besonderheit hin.
n-Hexan
CytochromP450
OH
OH Alkohol (sek.)
Alkohol (prim.)
2-Hexanon (Methyl-nbutylketon)
CHO
5-Hydroxy-2hexanon
COOH
O
O
OH O
2,5-Hexandion
E-Oxidation
O Abbildung 5.5 Stoffwechselweg von n-Hexan. 2,5-Hexandion kann im Urin nachgewiesen werden.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
279
Das n-Hexan ist sehr leicht fl¨ uchtig und man bemerkt mit dem Geruchssinn leider nicht die Konzentrationen in der Gr¨oßenordnung des MAK-Werts. Aus diesem Grund sollte die Industrie diese Verbindung nach M¨oglichkeit nicht in der Produktion verwenden, sondern durch weniger toxisches n-Heptan (MAK-Wert 2100 mg/m3 ) oder Cyclohexan (MAK-Wert 700 mg/m3 ) ersetzen. Im menschlichen Organismus hydroxyliert Cytochrom P-450 die Alkane zu sekund¨aren oder prim¨aren Alkoholen (Abbildung 5.5). Der prim¨are Alkohol 1-Hexanol wird nach Umwandlung in Hexans¨aure durch b-Oxidation (Fetts¨aureabbau) verstoffwechselt. Das f¨ ur die Neurotoxizit¨at verantwortliche Stoffwechselprodukt ist 2,5-Hexandion. Diese Verbindung entsteht aus dem sekund¨aren Alkohol, 2-Hexanol, u ¨ber 2-Hexanon (Methyl-nbutylketon) und 5-Hydroxy-2-hexanon. Unter den Ketonen (Kapitel 5.4.4) wurde bereits 2-Hexanon (Methyl-n-butylketon) aufgef¨ uhrt, das ebenfalls zum 2,5-Hexandion biotransformiert wird und somit auch die gleiche toxische Wirkung besitzt. 2,5-Hexandion reagiert mit freien NH2 -Gruppen von Lysinresten in Neurofilamenten und leitet so eine Degeneration der peripheren Nerven ein. Eine uhrt nach zwei Monaten Exposition gegen¨ uber etwa 8000 mg/m3 n-Hexan f¨ zu Neuropathien mit Kribbeln und Schw¨ache in den Beinen. Vorausgehend k¨onnen Kopfschmerzen und Schw¨achegef¨ uhl auftreten. An den sensorischen und motorischen Nerven l¨asst sich eine verminderte Reizleitungsgeschwindigkeit messen, basierend auf pathologischen Ver¨anderungen. Diese Vergiftungszeichen wurden nicht nur bei Arbeitern, sondern auch bei der Benzinsucht (Schn¨ uffeln) festgestellt.
5.4.6
Halogenierte aliphatische Kohlenwasserstoffe
Sowohl die halogenierten aliphatischen als auch aromatischen Kohlenwasserstoffe besitzen in der Arbeitstoxikologie eine besondere Bedeutung. Erkrankungen durch diese Stoffe sind nach der Berufskrankheiten-Verordnung meldepflichtig. Die Einf¨ uhrung von Halogenatomen in ges¨attigte und unges¨attigte Kohlenwasserstoffe erh¨ohen im allgemeinen deren chemische Stabilit¨at, weswegen sie mitunter nur schwer biologisch abbaubar sind. Außerdem sind sie ausgesprochen lipophil, und viele ihrer Verbindungen sehr fl¨ uchtig. Das alles erh¨oht im allgemeinen ihre Toxizit¨at. Wie bereits erw¨ahnt, ist beim Abbau der halogenierten aliphatischen Kohlenwasserstoffe das oxidativ angreifende, induzierbare Cytochrom P-450 System, besonders das Isoenzym CYP2E1, beteiligt. Dabei entstehen erst reaktive Metabolite, die außerordentlich toxisch und sogar karzinogen sind.
280
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
Es gibt aber auch Verbindungen wie die fluorierten Kohlenwasserstoffe (FCKW), die wegen ihrer Reaktionstr¨agheit f¨ ur den menschlichen Organismus kaum toxisch sind. Sie wurden darum im medizinischen Bereich als inerte Treibgase f¨ ur inhalativ applizierbare Medikamente angewendet. Diese Substanzen fanden zus¨atzlich breite industrielle Anwendung als K¨ uhl- und L¨osungsmittel. Ihre Fl¨ uchtigkeit und exzessive Freisetzung f¨ uhrte zu einer Anreicherung in der Stratosph¨are. Das Sonnenlicht spaltet hier durch seine intensive UVStrahlung Chlor wie auch andere Halogene aus den Verbindungen ab, das dann mit Ozon reagiert, was zu einer starken Verminderung des vor UV-Strahlung sch¨ utzenden Ozong¨ urtels der Erdatmosph¨are f¨ uhrt. Das toxische Spektrum der Verbindungen reicht also wie im Falle der FCKW von wenig reaktiv bis hin zu biologisch reaktiven Spezies. Eine chemische Reaktion bedarf besonderer Erw¨ahnung, es ist die alkylierende Wirkung der halogenierten Kohlenwasserstoffe (siehe Kapitel 9). Alkylierende Reagenzien wirken oft akut toxisch, sie besitzen allergisierende Eigenschaften und k¨onnen teratogen und karzinogen sein. Eine Auswahl arbeitstoxikologisch wichtiger Verbindungen soll deren spezielle toxische Wirkungen zeigen. Hierzu z¨ahlen die als L¨osungsmittel fr¨ uher besonders h¨aufig eingesetzten Stoffe Chloroform und Tetrachlorkohlenstoff, daneben die großtechnisch verwendeten vier L¨osungsmittel Dichlormethan, Trichlorethen, Tetrachlorethen und 1,1,1-Trichlorethan. Bedingt durch regulatorische Maßnahmen ist ihre Verwendung seit den 1980erJahren zur¨ uckgegangen. Chlormethan (krebserzeugende Kategorie 3B) Das Gas Chlormethan wird nicht als L¨osungsmittel, sondern in der chemischen Großindustrie als Zwischenprodukt und zu Methylierungen verwendet. In der Medizin wurde um 1911 Chlormethan zusammen mit Chlorethyl als Spray bei der K¨altean¨asthesierung der Haut verwendet. Das nicht reizende, s¨ ußlich schmeckende Gas verursacht bei akuter Vergiftung eine narkotische Wirkung bis zur Bewusstlosigkeit, ferner gastrointestinale Symptome wie Erbrechen, Durchfall und abdomiale Schmerzen. Exponierte Arbeiter zeigten St¨orungen des Zentralnervensystems sowie Sch¨adigungen an Leber, Lungen und Nieren. Die entstehende Ameisens¨aure kann besonders f¨ ur die hirnorganischen Sch¨adigungen verantwortlich gemacht werden, daneben werden toxische Effekte durch Formaldehyd diskutiert. Wie Chlormethan so ist Brommethan (krebserzeugende Kategorie 3B) ein Gas, das akut toxisch ebenfalls das Nervensystem sch¨adigt. Die neurotoxische Wirkung beider Substanzen wird auch auf eine Glutathion-abh¨angige Metabolisierung zu Methylmercaptan zur¨ uckgef¨ uhrt. Therapeutisch wird bei der Vergiftung mit beiden Gasen die Gabe von Alkohol und eine Korrektur der durch Ameisens¨aure erzeugten Acidose empfohlen.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
Cytochrom P-450 C H Cl
H
H
H
H Cl
C H
281
H
ALDH
C O
-HCl
H C O HO
H
Formaldehyd
Ameisensäure
Abbildung 5.6 Oxidativer Metabolismus von Chlormethan zu Formaldehyd und Ameisens¨ aure. Aldehyddehydrogenase ALDH.
Dichlormethan (krebserzeugende Kategorie 3A) Diese Substanz hat einen niedrigen Siedepunkt von 40 °C. Sie wurde fr¨ uher sogar medizinisch zur Kurznarkose verwendet. Die vorl¨aufige Einordnung von Dichlormethan in die krebserzeugende Kategorie 3A erlaubt nicht mehr die Ableitung eines MAK- oder BAT-Wertes. Fr¨ uher wurde bei der industriellen Exposition ein BAT-Wert (biologischer Abeitstoleranzwert) von 5 % COH¨amoglobin festgelegt, der aus der im Stoffwechsel entstehenden Kohlenmonoxidkonzentration resultierte. CO entsteht auf dem oxidativen Abbauweg von Dichlormethan u ¨ber den Cytochrom P-450 Stoffwechsel. Der zweite Abbauweg ist Glutathion-abh¨angig u ¨ber die Glutathion-S-Transferase und f¨ uhrt zu genotoxischen Verbindungen (Abbildung 5.7).
1. Oxidation CH2Cl2
Cytochrom P-450
2. Kon- Glutathion (GSH) jugation - HCl GS
CH2Cl
GSH
GS
CH2OH
CH2O
H
H
Cl C OH Cl
-HCl
C
O
Cl -HCl CO
CO-Hämoglobin
Abbildung 5.7 Metabolimus von Dichlormethan. 1. Oxidativer Abbauweg zum toxischen Kohlenmonoxid (CO) und 2. Glutathion-abh¨ angiger Abbauweg u ¨ber die Glutathion-S-Transferase zu Formaldehyd.
282
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
Beim Ames-Test sind Chlormethylglutathion und Formaldehyd die wahrscheinlich mutagenen Produkte, die bei der Umsetzung u ¨ber diesen zweiten Stoffwechselweg entstehen. Trichlormethan (krebserzeugende Kategorie 4) Im Jahre 1831 wurde Trichlormethan (Chloroform) unabh¨ angig in den USA, Frankreich und Deutschland (hier durch Liebig) synthetisiert. Bereits 1847 verwendete der schottische Frauenarzt J. Y. Simpson Chloroform zur Narkose. Nachteilig f¨ ur eine Narkose waren seine geringe therapeutische Breite, seine negative Auswirkung auf das Herz und die Atmung, sowie seine Nierenund Lebertoxizit¨at. An der Leber bewirkt Chloroform eine Zellsch¨adigung mit fettiger Degeneration bis hin zum Zelluntergang. Wie auch bei anderen ¨ahnlich wirksamen halogenierten Kohlenwasserstoffen l¨auft die Zellsch¨adigung parallel mit der H¨aufigkeit der Verteilung von Cytochrom P-450 Enzymen (CYP2E1) in den Leberzellen. Chloroform wird n¨amlich erst durch diese Enzyme zu einem starken Zellgift, dem Carbonylchlorid (Phosgen) umgewandelt (Abbildung 5.8). Neben der lebersch¨adigenden Wirkung traten in Tierversuchen insbesondere bei m¨annlichen M¨ausen toxische Effekte auf die Niere ein. Außerdem war Chloroform bei Ratten und M¨ausen eindeutig teratogen und an M¨ausen konnten Lebertumoren sowie an m¨annlichen Ratten Nierentumoren festgestellt werden. Chloroform ist daher auch f¨ ur den Menschen in die Gruppe der karzinogenverd¨achtigen Substanzen einzureihen. Tetrachlormethan (krebserzeugende Kategorie 4) Wie beim Chloroform so f¨ uhrt die Inhalation von Tetrachlormethan ebenfalls zu Leber- und Nierensch¨aden. Es ist ein klassisches Substrat von Cytochrom P-450 (CYP2E1). Das aus Tetrachlormethan durch Cytochrom P-450 (CYP2E1) erzeugte Radikal entreißt der unges¨attigten Fetts¨aurekette ein H-Atom, dadurch bildet sich in dieser ein freies Radikal. In der Fetts¨aurekette entsteht weiter durch Resonanz eine Dienkonjugation, die sich fortpflanzt. Das radikalische Kohlenstoffatom reagiert mit Sauerstoff zu einem Hydroperoxyd, welches den Zerfall der Fetts¨aure zu Malondialdehyd und anderen Produkten einleitet (Abbildung 5.8). Insbesondere sind vom Zerfall die unges¨attigten Fetts¨auren in den Membranen des endoplasmatischen Retikulums betroffen und es kommt zur Zerst¨orung der Membranbarriere.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
283
Cl Tetrachlormethan Cl
C Cl Cl
R1
R1
R1
CYP2E1 HO O
Cl Cl
O2
C
H C H
Cl
RH
Cl Cl
C Cl
H
R2 ungesättigte Fettsäurekette
CYP2E1 Cl -HCl
R2
R2
Zerfall zu weiteren Radikalen, Lipidperoxidation
Chloroform
[C(OH)Cl3]
R
C O Cl Phosgen
O
O
Malondialdehyd
Abbildung 5.8 Schema der Bildung freier Radikale durch Cytochrom P-450 (CYP2E1) in den Leberzellen aus Tetrachlormethan sowie weiterer Stoffwechsel zu Chloroform, Phosgen und Malondialdehyd.
Der Weg des aus Tetrachlormethan gebildeten Radikals f¨ uhrt zum Chloroform, das durch eine weitere Cytochrom P-450 Reaktion in das toxische Phosgen zerf¨allt. Sch¨adigungen der parenchymat¨osen Organe wie Leber und Niere kommen nicht nur bei akuten Vergiftungen vor, sondern auch als Folge von langfristigen Expositionen gegen¨ uber geringen Konzentrationen halogenierter Kohlenwasserstoffe. So steigt die Lebertoxizit¨at in der Reihe von Dichlormethan u ¨ber 1,1,1-Trichlorethan < Trichlorethen < Tetrachlorethen < Trichlormethan < ¨ Dichlorethan < 1,1,2-Trichlorethan zu Tetrachlormethan an. Ahnlich wie Tetrachlormethan, jedoch st¨arker wirksam, ist Bromtrichlormethan, da die Abspaltung des Broms leichter erfolgt als die des Chlors.
284
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
Die besondere Gef¨ahrdung durch Tetrachlormethan ist in seiner hohen Affinit¨at zum Cytochrom P-450 zu suchen (Abbildung 5.8). Seine Metabolisierung zum Trichlormethylradikal f¨ uhrt, zus¨atzlich zu der oben beschriebenen Lipidperoxidation mit der Produktion von mutagenem Malondialdehyd, zu einer direkten irreversiblen Hemmung des Enzyms Cytochrom P-450. Daraus wird verst¨andlich, dass die Giftung auf Grund der initialen irreversiblen Hemmung des Enzyms drastisch abnimmt, wenn man Tetrachlormethan in Portionen verabreicht. Langzeituntersuchungen mit Tetrachlormethan f¨ uhrten an M¨ausen zu Lebertumoren. Trichlorethen (krebserzeugende Kategorie 1) Beim Trichlorethen steht die Aufnahme u ¨ber die Lunge im Vordergrund. Wie andere fl¨ uchtige chlorierte Kohlenwasserstoffe l¨ost es eine narkotische Wirkung aus und sensibilisiert das Herz gegen¨ uber Adrenalin und Noradrenalin, so dass es zu Herzrhythmusst¨orungen kommt. N-(Hydroxyacetyl)aminoethanol
Oxalsäure Dichloressigsäure LipidGlyoxylsäure bindung
Cl3C CH2OH Trichlorethanol
O CytochromP-450 1. Cl2C CHCl GSH
Cl2C
CHCl
Cl3C
CHO Cl3C COOH Trichloressigsäure
2. HClC
C(Cl)SG
HClC
ß-Lyase H C(Cl)Scys C Cl Mercaptursäure
Cl C SH
Mutagenität Nephrotoxizität
Abbildung 5.9 Metabolismus von Trichlorethen. Der Hauptweg der Metabolisierung f¨ uhrt u ¨ber Cytochrom P-450 (1. oxidativer Stoffwechselweg) zu einem sehr reaktiven Epoxid, das u ¨ber Trichloracetaldehyd in Trichlorethanol und in Trichloressigs¨ aure umgesetzt werden kann. Außerdem k¨ onnen aus dem Epoxid verschiedene toxische Metaboliten wie Dichloressigs¨ aure, Oxals¨ aure, Glyoxyls¨ aure und N-(Hydroxyacetyl)-aminoethanol hervorgehen. Ein zweiter Transferaseweg mit Glutathion (2. GSH-abh¨ angiger Nebenweg) f¨ uhrt zur b-Lyase der Niere. Hier k¨ onnen toxische Metaboliten entstehen, die im langzeitigen Tierexperiment Nierentumoren erzeugen. Die Abk¨ urzung cys bedeutet Cystein.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
285
Der gr¨oßte Anteil von Trichlorethen wird durch das Cytochrom P-450 Sys¨ tem in verschiedene toxische Substanzen metabolisiert (Abbildung 5.9). Uber Trichloracetaldehyd (Chloral) entsteht Trichlorethanol, das eine ausgepr¨agte depressorische Wirkung auf das Zentralnervensystem besitzt. Ein Teil des Trichlorethanols wird an Glucurons¨aure gekoppelt und im Urin ausgeschieden, ein anderer Teil wird u ¨ber die Alkoholdehydrogenase in den Aldehyd r¨ uckverwandelt und tr¨agt zur Entstehung von Trichloressigs¨aure bei, deren Konzentration mit der Lebertoxizit¨at des Trichlorethens korreliert. Wegen ihrer hohen Acidit¨at bindet Trichloressigs¨aure besonders gut an Proteine, so dass sie nur verz¨ogert im Urin ausgeschieden wird. Aus dem intermedi¨aren Epoxid des oxidativen Stoffwechselweges entstehen weitere toxische Metaboliten wie Dichloressigs¨aure, Oxals¨aure, Glyoxyls¨aure und N-(Hydroxyacetyl)-aminoethanol. Ein zweiter Abbauweg des Trichlorethens erfolgt u ¨ber einen Glutathion-abh¨angigen Stoffwechselweg, der u ¨ber die b-Lyase der Niere zu toxischen Metaboliten im Nierenparenchym f¨ uhren kann. In hohen Konzentrationen erzeugt Trichlorethen bei m¨annlichen Ratten Nierenzelltumoren. Ihre Entstehung wurde durch hochreaktive Metaboliten wie Thioketene erkl¨art, die u ¨ber die b-Lyase gebildet werden. Beim Menschen wurde die Kanzerogenit¨at von Trichlorethen durch das Auftreten von Nierentumoren bei hoch belasteten Personen nach beruflicher Exposition best¨atigt, daher erfolgte seine Einordnung in die krebserzeugende Kategorie 1. In Gegenwart von Alkalien entsteht aus Trichlorethen unter Abspaltung von HCl das hochreaktive Gas Dichloracetylen (Abbildung 5.10).
Cl
Cl Alkalien C
Cl
C H
- HCl
Cl C C Cl Dichloracetylen
neurotoxisch kanzerogen
Abbildung 5.10 Trichlorethen wird unter alkalischen Bedingungen zu dem hochreaktiven Dichloracetylen zersetzt.
Dieses Gas ist im Tierversuch eindeutig karzinogen. Außerdem hat es eine ausgepr¨agte neurotoxische Wirkung und verursacht beim Menschen irreversible Sch¨adigungen im Hirnnervenbereich, bevorzugt am Trigeminusnerv. Weiterhin l¨osen bereits geringe Konzentrationen von Dichloracetylen starke Schleimhautreizungen aus.
286
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
Tetrachlorethen (krebserzeugende Kategorie 3B) Der Stoffwechselweg des Tetrachlorethens (Perchlorethylen) ist dem des Trichlorethens sehr ¨ahnlich. Der Hauptweg ist der oxidative Abbau u ¨ber das Cytochrom P-450 System zum Epoxid und zur Trichloressigs¨aure. Der zweite Weg f¨ uhrt u ¨ber die Glutathion-S-Transferase und b-Lyase in der Niere zu toxischen Metaboliten (Abbildung 5.11). O CytochromP-450
Cl2C
CCl2
Cl3C
COCl
Trichloressigsäure 1.
Cl2C CCl2 GSH
Cl3C COOH
Mercaptursäure
2. Cl2C
C(Cl)SG
Cl2C C(Cl)Scys ß-Lyase
Cl2C C(Cl)SH toxische Metaboliten
Abbildung 5.11 Metabolismus von Tetrachlorethen (Perchlorethylen). Beim Tetrachlorethen f¨ uhrt der Hauptweg des Metabolismus u ¨ber den oxidativen Abbauweg (1. Cytochrom P450) zur Trichloressigs¨ aure. Der zweite Glutathion-abh¨ angige Nebenweg (2. GluthathionS-Transferase) erzeugt in der Niere u ¨ber die β-Lyase toxische Metaboliten. Tetrachlorethen wird jedoch zum gr¨ oßten Teil aus der Lunge abgeatmet.
Die narkotische Wirkung des Tetrachlorethens ist st¨arker als beim Chloroform und es sensibilisiert das Herz gegen¨ uber Adrenalin und Noradrenalin. Bei beruflicher Exposition mit hohen Konzentrationen sind Lebersch¨adigungen beschrieben. Außerdem f¨ uhrt es zu Schleimhautreizungen des respiratorischen Systems. Auf die Haut gebracht ruft fl¨ ussiges Tetrachlorethen Brennen und ¨ R¨otung hervor. Bei akuten Vergiftungen treten Ubelkeit, Trunkenheit bis hin zur Bewusstlosigkeit auf. Danach treten h¨aufig Sch¨adigungen der Leber und zuweilen der Niere auf. Nach langdauernder und hochgradiger Exposition mit Tetrachlorethen kann es zu hirnorganischen Leistungsverminderungen und zu Pers¨onlichkeitsver¨anderungen kommen. In Versuchen an M¨ausen sind Karzinome und Adenome in der Leber aufgetreten. An weiblichen Ratten bildeten sich tubul¨are Nierentumore. M¨oglicherweise erkl¨art hierbei der zweite Abbauweg u ¨ber die Glutathion-STransferase und b-Lyase in der Niere die karzinogene Wirkung.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
287
1,1,1-Trichlorethan und 1,1,2-Trichlorethan (krebserzeugende Kategorie 3B) 1,1,1-Trichlorethan und 1,1,2-Trichlorethan unterscheiden sich ganz wesentlich im Stoffwechsel. Im Vergleich zu dem ersteren zeigt 1,1,2-Trichlorethan eine Leber- und Nierentoxizit¨at, die in etwa der von Chloroform entspricht. CytochromP-450 C H Cl3C
Cl H Cl
C
CH2OH
Cl3C
CHO
Cl H
Cl3C COOH Trichloressigsäure
1,1,1-Trichlorethan
Cl
H H CytochromP-450 C C H H2ClC
C(OH)Cl2
-HCl
H2ClC COOH Chloressigsäure H2ClC
COCl2
Cl Cl 1,1,2-Trichlorethan Abbildung 5.12 Stoffwechsel von 1,1,1-Trichlorethan (Methylchloroform) und 1,1,2Trichlorethan.
1,1,1-Trichlorethan wird nur zu etwa 2 % u ¨ber Cytochrom P-450 zu Trichloressigs¨aure metabolisiert und zu 98 % aus der Lunge abgeatmet. Dagegen wird 1,1,2-Trichlorethan zu einem erheblich h¨oheren Ausmaß von Cytochrom P-450 umgesetzt. So fanden sich im Urin von M¨ausen zwischen 73 und 87 % Stoffwechselprodukte, an erster Stelle Chloressigs¨aure (Abbildung 5.12) und deren Folgemetaboliten S-Carboxymethylcystein und Thiodiessigs¨aure. Aus diesen Befunden wurde geschlossen, dass Chloressigs¨aure ein wichtiges Zwischenprodukt beim Stoffwechsel von 1,1,2-Trichlorethan ist, das durch Konjugation an Glutathion weiter metabolisiert wird. Entsprechend seiner geringen Giftigkeit hat 1,1,1-Trichlorethan einen MAKWert von 1100 mg/m3 (200 ppm), w¨ahrend der von 1,1,2-Trichlormethan auf 55 (10 ppm) festgelegt wurde. Der erste MAK-Wert orientiert sich an der Wirkung von 1,1,1-Trichlorethan auf das zentrale Nervensystem. Als Grenzkonzentration f¨ ur das erste Auftreten einer sedativen Wirkung gelten beim Menschen 500 ppm, w¨ahrend f¨ ur eine tiefe Narkose 5000 ppm erforderlich sind. Auch in chronischen Inhalationsversuchen bei Ratte, Meerschweinchen, Hund und Affe wurden keine gravierenden toxischen Effekte gefunden. Erst bei hohen narkotischen Konzentrationen wurde eine geringgradige Fettleber festgestellt. Dagegen hat 1,1,1-Trichlorethan hat auf die Ozonschicht eine sch¨adigende Wirkung und f¨allt in Deutschland unter die FCKW-Halon-Verbotsverordnung.
288
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
Beim 1,1,2-Trichlorethan werden die Leber- und die Nierentoxizit¨at auf das im Stoffwechsel entstehende reaktive S¨aurechlorid der Chloressigs¨aure zur¨ uckgef¨ uhrt. Bez¨ uglich des Stoffwechsels besteht eine deutliche Parallelit¨at zu 1,1,2,2-Tetrachlorethan, das unter den halogenierten Ethanen die gr¨ oßte Toxi3 zit¨at besitzt (MAK-Wert 7 mg/m , 1 ppm, krebserzeugende Kategorie 3B).
Vinylchlorid (krebserzeugende Kategorie 1) Vinylchlorid und seine h¨oher halogenierten Analoga sind ausf¨ uhrlich in Kapitel 9.6 dargestellt worden, so dass auf ein Schema der metabolischen Aktivierung durch CYP2E1 an dieser Stelle verzichtet werden kann. Vinylchlorid erzeugt systemische Krankheitsbilder wie zum Beispiel gastrointestinale Symptome, zentralnerv¨ose St¨orungen, das Raynaud-Syndrom (Gef¨aßkr¨ampfe mit Durchblutungsst¨orungen des zweiten bis f¨ unften Fingers), Hautver¨anderungen des Bindegewebes sowie Vergr¨oßerungen von Leber und Milz.
5.4.7
Aromatische Kohlenwasserstoffe
Die aromatischen Kohlenwasserstoffe Benzol und dessen Derivate Toluol und Xylol fallen besonders in großtechnischem Maßstab bei der Erd¨olraffination an. Sie sind einerseits wichtige technische L¨osungsmittel, andererseits wie etwa im Falle des Benzols sehr gef¨ahrliche Gifte. Daher ist seit 1972 entspre¨ chend einer Ubereinkunft der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eine Verwendung von Benzol untersagt, wenn geeignete Ersatzstoffe zur Verf¨ ugung stehen. Letzteres gilt jedoch nicht f¨ ur den Kraftstoff von Ottomotoren, der 2 bis 5 % Benzol enth¨alt. So gehen 80 bis 90 % der Benzolemissionen auf den Kraftfahrzeugverkehr zur¨ uck. Die Atemluft in verkehrsreichen Gebieten kann 3 bis zu 30 mg Benzol/m betragen, im Vergleich dazu betr¨agt sie etwa 1 mg/m3 in Reinluftbezirken. Nach Sch¨atzungen nimmt der Mensch pro Tag etwa 250 mg Benzol u ¨ber Atemluft, Lebensmittel und Trinkwasser auf. Raucher sind zus¨atzlich belastet, es wird n¨amlich aus einer Zigarette bis zu 500 mg Benzol freigesetzt. Außer im Erd¨ol ist Benzol auch nat¨ urlicher Bestandteil im Erdgas und im Steinkohlenteer. L¨osungsmittelgemische mit einem Anteil von mehr als 0,2 % Benzol m¨ ussen als solche gekennzeichnet sein und die Verwendung von mehr als 1 % Benzol in Gemischen ist verboten. Als L¨osungsmittel kann Benzol meist ohne Nachteile durch Toluol und Xylol ersetzt werden.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
289
Benzol (krebserzeugende Kategorie 1) Benzol hat eine starke narkotische Wirkung und ist dabei mit Chloroform vergleichbar. Es wird sowohl u ¨ber die Lungen als auch aus dem Darm und u ¨ber die Haut gut resorbiert. Akute Vergiftungen verursachen rauschartige Erscheinungen mit euphorisierender Komponente, Kopfschmerzen, Schwindel ¨ und sp¨ater Ubelkeit mit Erbrechen. H¨ohere Konzentrationen erzeugen Kr¨ampfe, Bewusstlosigkeit und Herzrhythmusst¨orungen. Der Tod tritt schließlich durch Ateml¨ahmung oder Kreislaufversagen ein. Die letale Dosis liegt bei etwa
OH O H H Gly
C C C S Glu
H
Säurebehandlung
Phenylmercaptursäure
H O
N H H
Oxepin
Glutathion-S-Transferase Cytochrom P-450 (2E1)
H
Epoxidhydrase
OH
O
OH H
Epoxid
Benzol
O
O
trans-trans-Muconaldehyd
OH
OH
Phenol
O O
p-Benzochinon
Catechol
OH HO
OH
OH HO
OH
Hydrochinon
Abbildung 5.13 Metabolische Stoffwechselwege des Benzols nach mikrosomaler Oxidation durch das Cytochrom P-450 System zum Epoxid. Vom Epoxid ausgehend wird eine enzymatische Umsetzungen durch die Glutathion-S Transferase zu Phenylmercapturs¨ aure und durch die Epoxidhydrase zu Benzolglycol diskutiert. Außerdem wird eine nichtenzymatische Umsetzungen des Epoxids zu Phenol und Oxepin vorgeschlagen. F¨ ur die Blutzellen werden als toxische Metabolite besonders das Epoxid selbst sowie Katechol, Hydrochinon und der trans-trans-Muconaldehyd bzw. dessen weitere Oxidationsprodukte verantwortlich gemacht.
290
Kapitel 5 L¨ osungsmittel
10 bis 30 g Benzol. Nach subletaler Vergiftung bleiben meist keine Folgesch¨ aden zur¨ uck. Eine chronische Sch¨adigung tritt nach wiederholter, langdauernder Einwirkung auf. Benzol ist ein ausgesprochenes Blutgift. Es hemmt die Bildung von roten und weißen Blutzellen sowie die der Blutpl¨attchen. Oft geht der ¨ Hemmung eine vor¨ ubergehende Uberproduktion der verschiedenen zellul¨aren Blutbestandteile voraus. Trotz Unterbrechung der Benzolexposition k¨onnen die Blutbildst¨orungen jahrelang anhalten oder sich erst Jahre nach der Benzolexposition a¨ußern. Eine therapeutische Beeinflussbarkeit ist bisher nicht bekannt. Neben diesen Blutbildst¨orungen k¨onnen karzinogene Entartungen der weißen Blutzellen (Benzol-Leuk¨amie) entstehen. Bisher wurde u ¨ber etwa 500 solcher F¨alle berichtet. Dabei ist ungekl¨art, ob nur eine einzelne Exposition gen¨ ugt oder mehrmalige bzw. l¨angerfristige Expositionen zur Ausl¨osung erforderlich sind. Es ist keine unbedenkliche Grenzkonzentration bekannt. In Anbetracht dessen wurde eine Technische Richtkonzentration (TRK) von 1 ml/m3 vorgegeben. Bei mit Benzol exponierten Menschen lassen sich an den Blutbildungszellen Chromosomenaberrationen nachweisen, die urs¨achlich mit der BenzolLeuk¨amie in Zusammenhang gebracht werden. Verantwortlich daf¨ ur sind nach bisherigen Vorstellungen reaktive Metabolite aus dem oxidativen Benzolstoffwechsel (Abbildung 5.13). In der Leber und zu einem kleineren Teil auch in den Blutbildungsst¨atten, dem roten Knochenmark, werden die hydroxylierten Metaboliten durch die Phase-II-Reaktion in Glucuronide und Sulfatkonjugate umgewandelt. Der Me¨ tabolit Phenylmercapturs¨aure wird zur Uberwachung einer Exposition am Arbeitsplatz genutzt (BAT). Seit 1977 ist Benzol aufgrund seiner bewiesenen Karzinogenit¨at in die Kategorie 1 eingeordnet (vgl. Tabellen 5.1 und 5.2).
Toluol Trotz der chemischen Verwandtschaft mit Benzol weisen Toluol wie auch die Xylole eine erheblich geringere Toxizit¨at auf, und eine karzinogene Wirkung beim Menschen wurde nicht festgestellt. Der Metabolismus erfolgt haupts¨achlich in der Leber durch das Cytochrom P-450 System mit nachfolgender Konjugation an Glycin sowie Schwefel- und Glucurons¨aure. Grunds¨atzlich werden die Verbindungen anders metabolisiert: etwa 80 % des aufgenommenen Toluols werden nach Oxidation der Methylgruppe mit Glycin konjugiert, 1 % am Ring zu Kresol hydroxyliert und 19 % in unver¨anderter Form u ¨ber die Lungen abgeatmet. Wichtig ist, dass Toluol mit der Biotransformation anderer Fremdstoffe in der Leber interferiert. So blockiert es z. B. die metabolische Umwandlung von Benzol, Styrol, Xylol und Trichlorethan.
5.4 L¨ osungsmittel nach chemischen Klassen
291
Die akute Toxizit¨at a¨ußert sich in Reizung der Schleimh¨aute sowie in narkotischen und neurotoxischen Wirkungen. Nach chronischer Exposition werden unspezifische und depressorische St¨orungen des Zentralnervensystems wie Schwindel, Kopfschmerzen und eine verl¨angerte Reaktionszeit beschrieben. Xylole Ortho-, meta- und para-Xylol finden Anwendung als L¨osungsmittel in der Farbenindustrie und in Druckereibetrieben. Die haupts¨achliche Aufnahme erfolgt u ¨ber die Lunge. Der wichtigste Stoffwechselweg ist auch hier die Oxidation der Methylgruppe und die anschließende Konjugation mit Glycin zu Methylhippurs¨aure. Nach mehrst¨ undiger Exposition kommt es zu Schl¨afrigkeit, Benommenheit und Kopfschmerzen. Weder im Ames-Test noch an Zellkulturen ergaben sich Hinweise auf eine Genotoxizit¨at. Ethenylbenzol (krebserzeugende Kategorie 5) In der Kunststoffherstellung wird die hohe Reaktivit¨at der Seitenkette von Ethenylbenzol (Styrol) bei der Polymerisation genutzt. Es wird u ¨ber die Lungen gut aufgenommen und reichert sich im Fettgewebe an. Der metabolische Abbau und die Ausscheidung verlaufen entsprechend langsam. Von zentraler Bedeutung ist seine Oxidation zum Epoxid (Styroloxid) durch das Cytochrom P-450. Dabei werden L(+)-7,8-Styroloxid und D(-)-7,8-Styroloxid gebildet. Aus beiden entstehen in Gegenwart der Epoxidhydrase, Glycoldehydrogenase und Aldehyddehydrogenase die weiteren Metaboliten einschließlich der Mandels¨aure als L- und D-Enantiomere. 90 % des Styrols wird beim Menschen in Form der Metaboliten Mandels¨aure und Phenylglyoxyls¨aure im Urin ausgeschieden. Weiter Metaboliten im Urin sind 1- und 2-Phenylethanol. In S¨augetierzellsystemen wurden durch Styrol-7,8-oxid ausgel¨oste genotoxische Effekte beobachtet. Dagegen konnten bei Arbeitern in der styrolverarbeitenden Industrie keine Anzeichen f¨ ur eine Karzinogenit¨at festgestellt werden. Es liegen aber Hinweise bei der Ratte vor, wonach inhalative und orale Ethylenbenzolzufuhr eine Zunahme bei Mammatumoren bewirkte. Eine Einordnung von Ethenylbenzol erfolgte in die krebserzeugende Kategorie 5. Seine krebserzeugende und genotoxische Wirkung wird jedoch als so gering erachtet, dass unter Einhaltung des MAK- und BAT-Wertes von 86 mg/m3 und 600 mg/g Kreatinin im Urin kein nennenswerter Beitrag zum Krebsrisiko f¨ ur den Menschen zu erwarten ist.
6
Toxikologie der Biozide Wolfgang Legrum
Biozid ist eine Sammelbezeichnung f¨ ur chemische Substanzen, die zur Bek¨ampfung sch¨adlicher Pflanzen und Tiere eingesetzt werden. Fr¨ uher war der Begriff Pestizid gebr¨auchlich. Eine Einteilung erfolgt nach den Zielorganismen und zus¨atzlich nach Art ihrer Aufnahme in Atem-, Fraß- oder Kontaktgifte. Die Aufz¨ahlung dr¨ uckt in der Reihenfolge die Bedeutung der Einsatzgebiete aus. H¨aufig dient dasselbe Biozid zur Bek¨ampfung von Sch¨adlingen verschiedener Arten (siehe Tabelle 6.1). • Insektizide gegen Insekten • Herbizide gegen Pflanzen (Wildkr¨auter, Unkr¨auter) • Fungizide gegen Pilze • Rodentizide gegen Nagetiere • Akarizide gegen Milben (Spinnenmilben) • Nematizide gegen W¨ urmer (Fadenw¨ urmer) • Molluskizide gegen Weichtiere (Schnecken) Eine umfassende und st¨andig aktualisierte Zusammenstellung von derzeit u ¨ber 1400 Bioziden (pesticides) gibt das Compendium of Pesticide Commun Names. Unter der Adresse http://www.hclrss.demon.co.uk/index.html findet man die Trivialnamen, die systematische IUPAC Nomenklatur, die Strukturformeln, die CAS Registry Numbers, die CAS Systematic Names und Informationen u ¨ber die Klassifizierung. Daneben werden zur Insektenbek¨ampfung auch antibiotisch wirksame Substanzen aus der Reihe der Makrozyklischen Lactone (Spinosyn A/D) eingesetzt. Ein Eingriff in die Entwicklung der Insekten gelingt mit Wachstumsregulatoren wie Chitinsynthese-Inhibitoren, dem Juvenilhormon und dessen Imitaten (Mimetika) sowie mit Hilfe des H¨autungshormons Ecdyson und dessen Agonisten und Inhibitoren. Weitere Biozidklassen und Informationen zu deren Anwendungsgebieten enth¨alt Tabelle 6.1.
294
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Tabelle 6.1 Bevorzugte Anwendungsgebiete der nach chemischen Klassen geordneten Biozide. Angegeben ist die Anzahl der als Insektizide I, Akarizide A, Nematizide N, Herbizide H, Fungizide F und Rodentizide R genutzten Vertreter. Die Aufstellung enth¨ alt Mehrfachnennungen und ist nicht ersch¨ opfend. KW = Kohlenwasserstoffe, TCA = Trichloressigs¨ aure, ANTU = a-Naphthylthioharnstoff. Klassen Antibiotika Arsenverbindungen Carbamate Chlorierte cycl. KW Dinitrophenole HCN Harnstoffderivate Nikotinoide Organophosphate Pyrethrum, Pyrethroide Wachstumshormone/inhibitoren Chinoxaline Thiocarbamate Thioharnstoffe (ANTU) Zinnverbindungen Anilinderivate Bipyridylium-Derivate Chlorat Dicarboximide Dithiocarbamate Halog. Aliphaten (TCA) Phenoxycarbons¨ auren Phenyl-/Sulfonylharnstoffe Triazine, Amitrol Benzimidazole Conazole, Imidazole Kupferverbindungen Quecksilberverbindungen Schwefel, Polysulfide Thiadiazine, Me-N=C=S Cumarinderivate Indan-1,3-dione Scillirosid, Strychnin Thallium
I
A
N
H
F
13 6 45 27 4 2 2 11 153 54 35
11
1
19
13 6 11
8
1 9 7 8
10
10
3
1
12
10
1
165, 296 299 293
1
353 317
69 13
R
Seite
3
250 298 302 306 359 308
6 3
20
2 1 2 3
18 1
3 2 3
13 6 1 6 2 10 47 60 42
2
308 309 9 21
318 313 310 315 320
9 44 17 24 5 3 9 3 2 1
316 229, 317 316 319 321 321 239, 321
Das Ziel bei der Entwicklung von Bioziden bestand darin, Wirkstoffe mit m¨oglichst hoher Selektivit¨at zu synthetisieren. Dabei wurden die Unterschie-
6.1 Insektizide
295
de im Stoffwechsel der Sch¨adlinge ausgenutzt. Eine selektive Toxizit¨at l¨asst sich um so leichter verwirklichen, je markanter der Unterschied in Physiologie und Biochemie zwischen den Zielorganismen und den u ¨ brigen Lebewesen ist. Hierdurch konnte besonders bei der Herstellung von Insektiziden, Herbiziden und Fungiziden das Risiko einer ungewollten Vergiftung von Menschen und Haustieren vermindert werden. In gezielter Synthese wurde eine große Anzahl organischer Biozide hergestellt, die aber trotz aller Fortschritte immer noch f¨ ur den Menschen nicht vollkommen unbedenklich sind. Eine Ursache liegt in den vorhandenen biologischen Gemeinsamkeiten, insbesondere bei Nagetieren und Menschen. Hinzu kommt das große Ausmaß ihrer weltweiten Anwendung, das zu einer globalen Umweltkontamination gef¨ uhrt hat. Die Anwendung, der zum Teil immer noch sehr best¨andigen und lipophilen Biozide, f¨ uhrt dazu, dass sie auch weiterhin noch in die Nahrungskette f¨ ur Mensch und Tier einfließen. Außerdem gibt es bei den Sch¨adlingen selbst eine zunehmende Resistenz gegen die Biozide, die besonders durch ihren wiederholten Einsatz verursacht wird, so dass im Extrem diese Substanzen vollkommen unwirksam werden.
6.1
Insektizide
Insektizide sind die wichtigste Gruppe der Biozide. Sie sind gegen Haus- und K¨ uchensch¨adlinge, wie Wanzen, Fl¨ohe, L¨ause, K¨ uchenschaben, Mehlw¨ urmer und Motten, aber auch gegen Pflanzensch¨adlinge, wie Kartoffelk¨afer, Obstmaden und Blattl¨ause, sowie gegen Forstsch¨adlinge wie den Borkenk¨afer gerichtet. Weiterhin gelten sie im weitesten Sinne des Wortes als Desinfektionsmittel, da sie gleichzeitig mit der Insektenvernichtung die von Insekten u ¨bertragenen Infektionskrankheiten verhindern. So stehen z. B. noch immer die Erkrankungen und Todesf¨alle der durch die Anophelesm¨ ucke u ¨bertragenen Malaria an der Spitze aller Krankheitsursachen. Außerdem gilt es die Ern¨ahrung einer st¨andig wachsenden Weltbev¨olkerung zu sichern. Aus all diesen Gr¨ unden wird der Einsatz von Insektiziden als unentbehrlich angesehen. Da die Insektizide in der Landwirtschaft in riesigen Mengen eingesetzt werden und sie f¨ ur den Menschen mehr oder weniger stark giftig sind, kommt ihnen in der Toxikologie eine große Bedeutung zu. Zum Einsatz als Insektizide gelangen insbesondere vier Gruppen: • • • •
Organophosphate (Phosphors¨aureester) Carbamate (Carbamins¨aureester) Pyrethrine und Pyrethroide Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe
296
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Ein besonderes technisches und toxikologisches Problem ergab sich bei der letzten Gruppe. Aufgrund der zun¨achst fehlenden Reinheit der Produkte war das toxische Potential durch Nebenprodukte wesentlich erh¨oht. Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe wie DDT, Hexachlorcyclohexan, Aldrin u. a. sind wegen der Akkumulation im Fett- und Nervengewebe weitgehend verboten (dirty dozen). Viele der heute handels¨ ublichen Insektizide sind Hemmstoffe der Cholinesterase (Organophosphate), die immer noch zu akuten Vergiftungen f¨ uhren und deshalb durch die weniger toxischen Pyrethroide ersetzt werden.
6.1.1
Organophosphate
Organophosphate sind Ester, Amide oder Thiolderivate der Phosphor-, Phosphon-, Thiophosphor- oder Thiophosphons¨aure. Sie unterscheiden sich in zwei Punkten ganz wesentlich von der Gruppe der cyclischen chlorierten Kohlenwasserstoffe, da sie biologisch abbaubar sind und weder außerhalb noch innerhalb des Organismus gespeichert werden. Diesem Vorteil steht jedoch eine hohe akute Toxizit¨at gegen¨ uber. N¨aheres zu Geschichte, Strukurvoraussetzungen und Wirkungsmechanismus findet sich in Kapitel 3.5.4.4. Kurz zusammengefasst reagieren Organophosphate mit der serinhaltigen Acetylcholinesterase wie ein normales Acetylcholinmolek¨ ul und es entsteht ein Organosphosphat-Acetylcholinesterase-Komplex. Dabei wird das Serin im aktiven Zentrum des Enzyms phosphoryliert (Abbildung 3.19). Der Komplex ist zun¨achst instabil und reaktiviert sich spontan oder ist medikament¨os durch Verabreichung von Oximen reaktivierbar. Kommt es vor Reaktivierung allerdings zur Abspaltung eines weiteren Substituenten (leaving group) vom Organophosphat, entsteht ein a¨ußerst stabiler Komplex mit der Acetylcholinesterase. Das Enzym ist dann biologisch irreversibel gehemmt und kann weder spontan noch durch Oxime reaktiviert werden. Diesen Vorgang nennt man Alterung des Enzymkomplexes. In Abh¨angigkeit vom Organophosphat kann die Alterung des Komplexes u ¨ber Stunden bis Tage fortschreiten. Die Hemmung der Acetycholinesterase bewirkt eine Anh¨aufung von Acetylcholin im ZNS, in den cholinergen Synapsen des autonomen Nervensystems und in den motorischen Synapsen an den Muskelzellen. Die akute Toxizit¨at resultiert aus Wirkungen an muskarinischen Rezeptoren des Parasympathikus, an nikotinischen Rezeptoren in den sympathischen und parasympathischen Ganglien und nikotinischen Rezeptoren an den Muskelzellen.
6.1 Insektizide
297
Muskarinische Wirkungen: Zuerst u ¨berwiegen die muskarinischen Wirkungen, ¨ sie sind selten lebensbedrohend. Vom Magen-Darmtrakt verbreitet sich Ubelkeit, es treten Durchf¨alle auf, die mit Darmkr¨ampfen verbunden sind. Nach st¨akerer Exposition kann unkontrollierter Abgang von Stuhl und Urin erfolgen. Bei blasser Haut erfolgt Schweißausbruch, das Auge tr¨ant und die enge Pupille sieht nur ein verschwommenes Bild. Herzfrequenz und Blutdruck nehmen ab, das Verteilersystem der Lungen, das Bronchialsystem, ist enggestellt, und zeigt eine erh¨ohte Sekretion mit Neigung zum Bronchospasmus. Nikotinische Wirkungen: Mit dem weiteren Verlauf treten die nikotinischen Wirkungen an den sympathischen und parasympathischen Ganglien sowie an den Synapsen der Muskelzellen (Muskelendplatte) in den Vordergrund. Es werden Zuckungen der Augen- und Zungenmuskulatur und Sprachst¨orungen beobachtet. Schließlich erfolgen generalisierte Muskelzuckungen mit Muskelschw¨ache und L¨ahmung der peripheren Atemmuskulatur. ZNS-Wirkungen: Erste ZNS-Wirkungen sind Unwohlsein, Ruhelosigkeit, Angst und Schwindel. Danach folgen schwere Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Bei sehr starker Exposition treten Konzentrationsst¨ orungen, Zittern (Tremor), generalisierte Kr¨ampfe und Verwirrtheit auf. Zuletzt kommt es zu Reflex- und Bewusstlosigkeit. Am Erwachsenen kann eine Menge von 100–200 mg Parathion zum Tode f¨ uhren (Abbildung 6.1), f¨ ur Kinder liegt die t¨odliche Dosis deutlich niedriger. Die Todesursache ist meist die L¨ahmung der peripheren Atemmuskulatur oder die Behinderung des Gasaustausches durch Sekretstau in der Lunge. Die Therapie besteht in resorptionsverhindernden Maßnahmen und einer symptomatischen Behandlung der zentral ausgel¨osten Kr¨ampfe und des drohenden Lungen¨odems. Atropin wird bis zur Normalisierung der muskarinischen und nikotinischen Wirkungen injiziert. Ferner k¨onnen AcetylcholinesteraseReaktivatoren wie Obidoxim oder Pralidoxim (Abbildung 3.19) unter Atropinschutz appliziert werden. Die Reaktivierung h¨angt nicht nur vom jeweiligen Organophosphat ab, sondern auch von der Zeit, die bis zur Gabe des Reaktivators vergangen ist. Die Chance ist umso geringer, je l¨ anger die Latenz zwischen Vergiftung und Behandlung ist. Nach wiederholter Exposition mit kleineren Mengen werden bei der chronischen Toxizit¨at sowohl additive Effekte als auch eine gewisse Gew¨ohnung beobachtet. Bei einigen Organophosphaten, wie Dichlorvos oder Trikresylphosphat, kann sich nach einer Latenzzeit von etwa ein bis vier Wochen eine verz¨ogerte Neurotoxizit¨at ausbilden, wobei die charakteristischen akuten Anzeichen der Organophosphat-Toxizit¨at oft nur schwach ausgepr¨agt oder gar nicht vorhanden sind. Der Angriffsort ist hierbei die sogenannte Neurotoxische-Esterase (neuropathy target esterase), eine Carboxyesterase im Nervengewebe. Dieses
298
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Abbildung 6.1 Parathion wird im Organismus zu dem st¨ arker toxischen Paraoxon metabolisiert. Die dargestellten Metaboliten werden mit dem Harn ausgeschieden.
Enzym wird anscheinend ¨ahnlich wie die Acetylcholinesterase durch Phosphorylierung gehemmt. Außerdem kann der entstehende Organophosphat-Carboxyesterase-Komplex ebenfalls in Abh¨angigkeit vom Organophosphat einer Alterung unterliegen. Die Symptome beginnen mit Gef¨ uhllosigkeit und Kribbeln in den Extremit¨aten, es treten dann aufsteigende schlaffe und sp¨ater spastische L¨ahmungen der Gliedmaßen auf. Gegen die verz¨ogerte Neuropathie gibt es bisher keine wirksame Therapie. Spektakul¨are Vergiftungen traten durch den Genuss eines mit Trikresylphosphat versetzten Ingwerschnapses in den USA w¨ahrend der Prohibition in den Jahren von 1929 bis 1930 auf. Etwa 20 000 Menschen zeigten die beschriebenen Vergiftungssymptome einer verz¨ogerten Neurotoxizit¨at (ginger paralysis).
6.1.2
Carbamins¨aureester (Carbamate)
Neben den Organophosphaten hemmen Ester der Carbamins¨aure ebenfalls die Acetylcholinesterase. Im Gegensatz zur Hemmung durch Organophosphate ist diejenige durch die sogennanten Carbamate vollst¨andig reversibel. Die funktionelle Hydroxylgruppe des Serins im Zentrum des Enzyms wird vor¨ ubergehend carbamoyliert und der Serinester wird innerhalb von Minuten hydrolysiert. Damit ist das Enzym nach kurzer Zeit wieder vollst¨andig funktionsf¨ahig. Eine Ausnahme von dieser Wirkung machen die Benzimidazolderivate der Carbamate, die als Fungizide dienen (siehe Kapitel 6.3).
6.1 Insektizide
299 !
!
Abbildung 6.2 Strukturen von Carbamaten. Ihre Wirkungsrichtung wird durch die Substitution bestimmt. R1 Methylgruppe: Insektizid; R1 aromatischer Substituent: Herbizid; R1 Benzimidazolderivat: Fungizid. R2 aliphatischer oder aromatischer Substituent. F¨ ur Carbaryl besteht ein Anwendungsverbot.
Carbamate werden als Insektizide, Fungizide, Herbizide und Nematizide verwendet (Abbildung 6.2). Die Vergiftungssymptome beim Menschen sind praktisch identisch mit denjenigen der Organophosphate, klingen aber viel schneller ab. Starke Vergiftungserscheinungen des ZNS und Todesf¨alle durch Carbamate sind selten. Zur Therapie wird Atropin in hohen Dosen gegeben und eine symptomatische Behandlung wie bei der Organophosphatvergiftung durchgef¨ uhrt. Die Gabe von Oximen ist wegen der schnellen Reversibilt¨at der Vergiftung nicht erforderlich. Sie ist sogar kontraindiziert, da Oxime die Carbamatwirkung verst¨ arken und infolge ihrer Eigentoxizit¨at Sch¨adigungen verursachen. Hierzu z¨ahlen die Hemmung von Esterasen im Blut, Ausl¨osung von Kammerflimmern am Herzen und Laryngospasmus. Oximtherapien von Carbamatvergiftungen haben zu Todesf¨allen gef¨ uhrt.
6.1.3
Pyrethrine und Pyrethroide
Nach der Entdeckung der insektiziden Wirkung verschiedener Chrysanthemum-Arten (C. cinerariifolium und C. coccineum), die im ¨ostlichen Mittel-
300
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
meer und Vorderasien heimisch sind, wurden die pulverisierten Bl¨ uten um 1820 in Europa als Dalmatinisches Insektenpulver bekannt. In Kenia kultiviert man die Pflanzen seit 1930 in Großplantagen und gewinnt durch Extraktion ein Konzentrat, welches das photolabile, leicht hydrolysierbare und sauerstoffempfindliche Pyrethrum enth¨alt. Pyrethrum ist ein Gemisch von mindestens sechs Estern zwischen den Monoterpenen (+)-trans-Chrysanthemums¨aure bzw. (+)-trans-Pyrethrins¨aure und den drei zyklischen Ketoalkoholen (+)-Pyrethrolon, (+)-Cinerolon oder (+)-Jasmolon. Unter diesen Estern stellt das Pyrethrin I die wirksamste Komponente dar (Abbildung 6.3). F¨ ur die Wirkung entscheidend ist die sterische Anordnung an den R/S und cis/trans Zentren, obwohl die Substanzen nicht rezeptorvermittelt wirken. Pyrethrum enth¨alt zus¨atzlich das stark allergisierende Sesquiterpenlacton Pyrethrosin. Ab 1945 gibt es erste synthetische Verbindungen, sog. Pyrethroide, die sich seit 1970 durch eine hohe Stabilit¨at auszeichnen, welche f¨ ur eine landwirtschaftliche Nutzung wesentlich ist. Unter Beibehaltung der nat¨ urlichen S¨aurekomponente erhielt man Allethrin (1949) und Tetramethrin (1964). Das Phenothrin (1968) mit Phenoxybenzylalkohol als Baustein ist der Ausgangspunkt f¨ ur Permethrin (1972), alle Typ I, und f¨ ur die a-Cyano-substituierten Vertreter Cypermethrin (1972) und Cyfluthrin (1976), die dem Typ II angeh¨ oren (Abbildung 6.3). Generell wirken Pyrethrine und ihre Abk¨ommlinge durch eine Verl¨angerung des Natriumeinstromes durch den Natriumkanal des erregten Nerven. Die auf eine Erregung des Nerven physiologisch folgende Inaktivierung wird verz¨ogert. Hierdurch entsteht eine Blockade. Am Insekt f¨ uhrt dies zu unkoordinierten Bewegungen und Kr¨ampfen, die in einer L¨ahmung und Ersch¨opfung gipfeln (knock-down-Wirkung). Die neurotoxische Wirkung steigt mit fallender Umgebungstemperatur. Am Warmbl¨ uter beobachtet man nach intraven¨oser Applikation bei allen Pyrethroiden, die keine a-Cyano-Substitution aufweisen (Typ I), das T-Syndrom, welches bei der Ratte durch Aggressivit¨at, Erregbarkeit, Temperaturanstieg und Tremor charakterisiert ist. Die Verbindungen vom Typ II u ¨bererregen die Nervenbahnen ¨ und setzen zus¨atzlich andere Transmitter frei. Sie l¨osen Kr¨ampfe, Anderungen im Bewegungsverhalten und einen deutlichen Speichelfluss aus. Die letzten beiden Erscheinungen, unter Choreoathetose und Salivation bekannt, sind so charakteristisch, dass sie zur Bezeichnung des Vergiftungsbildes als CS-Syndrom dienen. Der Toxizit¨at am Insekt steht eine Toxizit¨at am Warmbl¨ uter gegen¨ uber. Entscheidend f¨ ur die Sicherheit bei der Anwendung ist das Vorliegen einer m¨oglichst selektiven Toxizit¨at gegen¨ uber dem Insekt. Zur Quantifizierung kann der Quotient zwischen der LD50 an der Ratte nach oraler Gabe und der LD50 an der
6.1 Insektizide
301
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!"
!!
!
!
Abbildung 6.3 Struktur der im Pyrethrin I vorliegenden Einzelkomponenten (oben), die als Ester vorliegen. Links die Strukturen von vier Pyrethroiden (Typ I und Typ II), rechts diejenigen von drei als Synergisten verwendbaren Verbindungen.
K¨ uchenschabe (Kakerlake, cockroach) nach topischer Exposition herangezogen werden. Im Mittel liegt er bei etwa 3000, w¨ahrend er f¨ ur Organophosphate nur etwa 30 betr¨agt. Durch die Verwendung von Isomeren der Pyrethroide mit der nat¨ urlichen Konfiguration, z. B. Bioresmethrin, Bioallethrin, l¨asst sich ein noch g¨ unstigeres Verh¨altnis erreichen. Die Minderung der Wirkung durch Gemische von Substanzen mit bis zu vier sterischen Zentren ist ein Beispiel f¨ ur zus¨atzliche Schwierigkeiten im Einsatz technischer Produkte. Ursache f¨ ur die selektive Toxizit¨at ist vor allem in der h¨oheren Empfindlichkeit der Natriumkan¨ale der Nerven von Insekten und Fischen zu sehen. Die Biotransformation der Pyrethroide bei Insekten und Warmbl¨ utern erfolgt vorwiegend durch enzymatische Hydrolyse in zwei unwirksame Bruchst¨ ucke. Daneben metabolisieren Insekten die Pyrethroide durch mikrosomale Monooxygenasen. Eine Blockade dieser Enzyme f¨ uhrt zu einer beachtlichen Verst¨arkung
302
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Tabelle 6.2 Auswirkungen von Pyrethrum, dem Synergisten Piperonylbutoxid (PBO) und von unterschiedlichen Kombinationen derselben auf die knock-down-Wirkung und die Sterblichkeit (Letalit¨ at) gemessen an der Stubenfliege (nach Perkow, 1971). Pyrethrum (mg)
PBO (mg)
knock-down (%)
100 40 40 30 20 0
0 0 400 400 100 300
95 84 97 99 93 8
Sterblichkeit (%) 46 34 90 92 62 0
der knock-down-Wirkung und der Sterblichkeit der Insekten (Tabelle 6.2). Ein Mittel der Wahl ist das Piperonylbutoxid, eine allein verabreicht harmlose Substanz, die man wie Sesamex und Safroxane als Synergisten bezeichnet (Abbildung 6.3). Zus¨atzlich f¨ordern diese Hilfsstoffe auch die Penetration der Pyrethroide. Sie werden bis zu einem Verh¨altnis von 10:1 mit dem Pyrethroid gemischt. Die Kombination mit Organophosphaten ist m¨ oglich, aber weniger effektiv. Kommt es bei der Anwendung der Pyrethroide zu einem Hautkontakt, zeigen sich lokale Wirkungen wie kaltes Hautbrennen, Jucken und Blasenbildung. Am gef¨ahrlichsten ist die Inhalation, welche eine Sekretion und schmerzhafte Schleimhautreizungen ausl¨ost. Deshalb ist mit Verbindungen hohen Dampfdrucks (Vaporthrin) vorsichtig umzugehen. Die enterale Aufnahme gr¨oßerer Mengen an Pyrethroiden bei Unf¨allen oder Suicidversuchen ruft An¨asthesien im oralen Bereich nebst Erbrechen und Durchfall hervor. Die Resorption ist gering. Nur nach sehr hohen Dosen k¨onnen auch Kr¨ampfe auftreten. F¨ ur Pyrethrum liegt die t¨odliche orale Dosierung zwischen 1 und 2 g/kg. Ein Auftreten der im Einsatz befindlichen persistierenden Pyrethroide in lipophilen Geweben wurde unter experimentellen Bedingungen an Tieren nachgewiesen. Ob hieraus Zusammenh¨ange zu chronischen Nervensch¨adigungen ableitbar sind, wird kontrovers diskutiert.
6.1.4
Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe
Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe waren wegen der hohen Stabilit¨at und des niedrigen Preises bis in die Mitte der sechziger Jahre die bevorzugten Insektizide, die sowohl zur Anwendung am Menschen nach Befall mit L¨ausen und Kr¨atze sowie zur Sch¨adlingsbek¨ampfung in der Land- und Forstwirtschaft eingesetzt wurden. Die geringe Metabolisierbarkeit und hohe Lipophilie bilden jedoch die Ursache f¨ ur ihre Persistenz und ihre Anreicherung in der Nahrungs-
6.1 Insektizide
303
kette. Die Bedrohung der Umwelt durch den Gebrauch dieser Biozide wurde durch das Buch Silent Spring“ von R. Carson 1962 allgemein bekannt. ” Drei Untergruppen k¨onnen bei den chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen unterschieden werden: Erstens die Dichlordiphenylmethane Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) und Methoxychlor, zweitens die Cyclodiene wie Aldrin und Dieldrin und drittens die chlorierten Benzole bzw. Cyclohexane wie Hexachlorcyclohexan (HCH) und sein g-Isomer, das Lindan. Dichlordiphenylmethane Von 1942 bis 1972 gelangten etwa zwei Millionen Tonnen DDT in die Umwelt, vor allem wurde es in der Landwirtschaft und zur Malariabek¨ampfung eingesetzt. Seine gesch¨atzte Halbwertszeit f¨ ur den globalen Abbau liegt wahrscheinlich h¨oher als zehn Jahre. Aufgrund seines hohen Dampfdrucks und seiner außerordentlichen Persistenz kam es durch Wind und Regen zu einer Verteilung u ¨ber die Welt. Seine globale Destillation f¨ uhrt zur Anreicherung in den Polkappen der Arktis und Antarktis. Trotz des weitgehenden Verbotes seiner Anwendung, in Deutschland seit 1972, k¨onnen immer noch signifikante Konzentrationen von DDT oder dessen Metabolite (Abbildung 6.4) in Lebewesen und Umwelt festgestellt werden. Unter der Bezeichnung DDT fasst man ein Gemisch von verschiedenen Substanzen zusammen, das bei der großtechnischen Herstellung durch Kondensation von Chloralhydrat mit zwei Molek¨ ulen Chlorbenzol anf¨allt. Zu etwa 65 % besteht es aus 4,4’-Dichlorphenyltrichlorethan (4,4’-DDT), 8–21 % aus 2,4’-Dichlorphenyltrichlorethan (2,4’-DDT) und 0,3–4 % aus 4,4’-Dichlorphenyldichlorethan (4,4’-DDD) sowie geringere Anteile von weiteren Nebenprodukten und Verunreinigungen. 4,4’-DDT und analoge Verbindungen werden, besonders in Anwesenheit von Fett, vom Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Die Tendenz im Fettgewebe zu akkumulieren sinkt in der folgenden Reihenfolge 4,4’-DDE, 4,4’-DDT, 2,4’DDT und 4,4’-DDD. Dieses unterschiedliche Verhalten hat u ¨ber Jahre zu einer auff¨alligen Musterverschiebung der Verbindungen im Organismus gef¨ uhrt. W¨ahrend die 4,4’-DDT Konzentration im Fettgewebe durchschnittlich von 10 bis 15 mg/kg auf 0,5 bis 1 mg/kg von 1955 bis 1990 st¨ andig abgenommen hat, stieg der prozentuale Anteil des 4,4’-DDE in der gleichen Zeit von 60 auf 80 % an. 4,4’-DDT besitzt f¨ ur Insekten eine sehr hohe, f¨ ur Warmbl¨ uter eine sehr niedrige akute Toxizit¨at. Die orale Letaldosis wird beim Menschen auf 10 bis 30 g gesch¨atzt. Aufgrund dieser sehr geringen Toxizit¨at sind berufliche Vergiftungen praktisch ausgeschlossen. Seine Halbwertszeit ist mit etwa einem Jahr sehr lang, sie kann durch Gabe von Paraffin¨ol wesentlich verk¨ urzt werden. Hohe orale Dosen f¨ uhren nach etwa einer Stunde zu Zungentaubheit. Es folgen Sensi-
304
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
!
Abbildung 6.4 Schematische Darstellung der wichtigsten metabolischen Abbauwege von 4,4’Dichlorphenyl-trichlorethan (4,4’-DDT). Nach Resorption im Fettgewebe wird es nur langsam mobilisiert. Links: Durch enzymatische Chloridabspaltung entsteht ein 4,4’-Dichlorphenyl-dichlorethylen (4,4’-DDE), das durch weitere Chloridabspaltung in ein Monochlorethylen verwandelt und vom Cytochrom P450-System in ein reaktives Epoxid umgesetzt wird. Dieses k¨ onnte im Prinzip mit NA eine Bindung eingehen, zum entsprechenden Ethanol (DDOH), bzw. wie dargestellt, zum Acetaldehyd-Derivat weiterreagieren oder zur 4,4’-Dichlorphenylessigs¨ aure (4,4’-DDA) umgesetzt werden. Rechts: Reduktiver Weg zum 4,4’-Dichlorphenyl-dichlorethan (4,4’- DDD) und zur 4,4’-DDA. Einige wenige Mikroorganismen k¨ onnen DDT v¨ ollig abbauen.
bilit¨atsst¨orungen wie Kribbeln und Taubheit an Rumpf und Extremit¨aten, Unruhe, Reizbarkeit und Schwindel. Sp¨ater k¨onnen Kr¨ampfe und L¨ahmungen auftreten. Der Wirkort von 4,4’-DDT ist die Nervenmembran. In geringen Konzentratio¨ nen bewirkt es eine Ubererregbarkeit, in h¨oheren eine L¨ahmung. Nach heutigen Vorstellungen interferriert 4,4’-DDT mit den Na+ -Kan¨alen, es verhindert ihr Schließen in der Nervenmembran. DDT technischer Qualit¨at enth¨alt einen gr¨oßeren Anteil des Isomers 2,4’-DDT. Dieser Komponente ist eine ¨ostrogene Wirkung eigen, welche am ¨ 4,4’-DDT nur sehr gering ausgepr¨agt ist. 2,4’-DDT konkurriert mit Ostra¨ diol um den Ostrogenrezeptor in der Geb¨armutter und an den Brustdr¨ usen. An Ratten, M¨ausen, Kaninchen, Hunden und V¨ogeln konnte eine Abnahme
6.1 Insektizide
305
der Reproduktivit¨at beobachtet werden. Weiterhin war an Ratten auch die Spermiogenese und Fertilit¨at beeintr¨achtigt. Beim Menschen gibt es jedoch keine Anzeichen f¨ ur eine St¨orung der Fertilit¨at oder der Reproduktion infolge einer DDT-Exposition. V¨ogel reagieren jedoch wegen einer Hemmung der Ca2+ ATPase in den Schalendr¨ usen mit der Bildung zerbrechlicher Eier, was manche Seev¨ogelpopulationen stark dezimiert hatte. Cyclodiene Zu den Cyclodienen geh¨oren unter anderen Aldrin, Dieldrin, Chlordan, Heptachlor, Chlordecon und Mirex (Abbildung 6.5). Ihr Haupteinsatzgebiet liegt in der Bek¨ampfung von Heuschrecken-, Ameisen- und Termitenplagen. Wie DDT wirken diese Substanzen als Neurotoxine, sie besitzen jedoch in der Regel eine h¨ohere Toxizit¨at. Cyclodiene werden im Gegensatz zu DDT gut durch die Haut resorbiert und k¨onnen zu Kr¨ampfen f¨ uhren. Danach treten weniger ¨ ernste Vergiftungszeichen wie Kopfschmerzen oder Ubelkeit auf.
Abbildung 6.5 Chlorierte Cyclodiene. Diese Substanzen induzieren besonders das Cytochrom P450 System in der Leber, welches Aldrin und Heptachlor in Epoxide verwandelt. Wie die Cyclodiene werden auch ihre Epoxide sehr stark im Fettgewebe gespeichert. Als neurotoxischer Wirkungsmechanismus wird f¨ ur den Cyclodientyp eine Hemmung des g-Aminobutters¨ aure-stimulierten Chloridkanals (Cl− ↓) und der Ca2+ -Mg2+ -ATPase (Ca2+ ↑) im ZNS diskutiert. Die Substanzen z¨ ahlen zu dem dirty dozen“. ”
An Ratten wurden nach Aldrin Karzinome und Sarkome beobachtet. Dieldrin ist bei M¨ausen karzinogen und Chlordan und Heptachlor zeigten im Langzeitversuch an M¨ausen Lebertumoren und bei Ratten Schilddr¨ usenkarzinome. Auch Chlordecon und Mirex besitzen im Tierversuch karzinogene Wirkungen. Mirex wird wahrscheinlich zu Chlordecon oxidiert. F¨ ur die letztere Substanz
306
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
ist eine ¨ostrogene Wirkung nachgewiesen, die beim Mann eine Hodenatrophie und verringerte Spermiogenese verursacht. Hexochlorcyclohexan (HCH) Von Hexachlorcyclohexan (HCH) gibt es acht isomere, monocyclische, chlorierte Kohlenwasserstoffe. Die Synthese von HCH erfolgt durch Chlorierung von Benzol unter UV-Licht und liefert ein Gemisch verschiedener Stellungsisomere. Die Zusammensetzung des Rohprodukts ist etwa folgende: 65–70 % a-Hexachlorcyclohexan, 10 % b-Hexachlorcyclohexan, 15 % g-Hexachlorcyclohexan, 7 % d-Hexachlorcyclohexan und weitere Isomere in geringeren Konzentrationen. Von diesen Isomeren besitzt nur das Lindan® (g-Hexachlorcyclohexan) eine insektizide Wirkung. Es wird f¨ ur medizinische Zwecke auf u ¨ ber 99 % gereinigt. Die F¨ahigkeit zur Anreicherung in der Umwelt resultiert aus der unterschiedlichen Lipophilie der Hexachlorcyclohexan-Isomeren. Sie nimmt in folgender Reihenfolge ab: b- > a- > g- > d-Isomer. Die Exposition des Menschen erfolgt vorwiegend mit Lebensmitteln. Die Konzentrationen an HCH haben von 50 ng/kg im Jahre 1970 auf derzeit unter 1 ng/kg abgenommen. Wie DDT wirkt g-Hexachlorcyclohexan neurotoxisch. Es besitz eine geringe ¨ akute Toxizit¨at f¨ ur den Menschen mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Ubelkeit, Erbrechen, Schwindel, Tremor und gesteigerter Atemt¨atigkeit. Darauf folgen Krampfanf¨alle und L¨ahmung. Beim Menschen wird die krampfausl¨osende Wirkung von Lindan auf 10 bis 20 mg/kg gesch¨ atzt. g-Hexachlorcyclohexan wird noch heute als Medikament bei Kopf- und Filzl¨ausen sowie bei Kr¨atzemilben verwendet. g-Hexachlorcyclohexan hat keine teratogene und mutagene Wirkung. Dagegen bewirken sehr hohe Dosen von a-Hexachlorcyclohexan bei Ratten und M¨ausen Lebertumoren, wobei die DNA-Synthese und Mitoserate erh¨oht sind.
6.2
Herbizide
6.2.1
Dinitrophenole
Als erstes synthetisches Herbizid gilt das 1892 von der Firma Bayer entwickelte Dinitrokresol, 2-Methyl-4,6-dinitrophenol. Es wurde zun¨achst als Insektizid unter dem Namen Antinonnin gegen die Nonnenraupe (Fichtenspinner) in den Handel gebracht. Sp¨ater wurde die Substanz als Herbizid und Fungizid benutzt. F¨ ur den Menschen ist Dinitrokresol besonders giftig, weil es wegen seiner großen Lipophilie bei Kontakt leicht durch die Haut penetriert.
6.2 Herbizide
307
Abbildung 6.6 Dinitrokresole binden in der anionischen Form ein Proton und diffundieren als ungeladene Molek¨ ule durch Lipidmembranen. Trennt die Membran Bezirke unterschiedlicher Protonenkonzentrationen voneinander, f¨ uhrt ihre Anwesenheit zu einem Konzentrationsausgleich. An Mitochondrien reduzieren sie den Protonengradienten und wirken dadurch entkoppelnd. Dinitrokresol = 3,5-Dinitro-o-kresol = DNOC = 2-Methyl-4,6-dinitrophenol. Unterer Teil: Dinobuton: Isopropyl-[2-(i-butyl)-4,6-dinitrophenyl]-carbonat; Dinoseb: 2-(iButyl)-4,6-dinitrophenol; Dinoterb: 2-(tert.-Butyl)-4,6-dinitrophenol.
Im Organismus entkoppelt Dinitrokresol wie Dinitrophenol als Protonen-Ionophore die oxidative Phosphorylierung in der inneren Mitochondrienmembran (Abbildung 6.6). Sie vermindern als Protonen-Ionophoren nicht nur den Wirkungsgrad der Energiegewinnung in den Mitochondrien (ATP-Synthese), sondern sie erh¨ohen damit auch die Substrat-Oxidation und den Elektronentransport, die mit einer vermehrten W¨armebildung (Thermogenese) einhergehen. Wegen des hiermit verbundenen erh¨ohten Energieumsatzes wurde 2,4-Dinitrophenol von 1935 bis 1937 sogar als Schlankheitsmittel vertrieben. Die vermehrte Protonenbildung f¨ uhrt zus¨atzlich zu einer metabolischen Azidose. Außerdem treten Sch¨aden an Leber, Niere und Herz auf und es kann eine Tr¨ ubung der Augenlinse erfolgen (Katarakt). Bei chronischen Vergiftungen mit Dinitrophenol und Dinitrokresolen wird ebenfalls eine Thermogenese ausgel¨ost. Es treten degenerative Ver¨anderungen an Leber, Niere und Herz sowie Entz¨ undungen an den Nerven (Neuritiden) auf. Außerdem wird eine Gelbf¨arbung von Haut und Haaren beobachtet. Gelegentlich verursacht Dinitrophenol vergleichbar mit Anilinderivaten eine Meth¨amoglobin¨amie mit Blauf¨arbung der Lippen.
308
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Die orale LD50 von Dinitrokresol bei der Ratte betr¨agt 20–30 mg/kg. Die Toxizit¨aten verschiedener anderer Dinitrophenolderivate wie Dinobuton, Dinoseb und Dinoterb (Abbildung 6.6) sind bei Warmbl¨ utern sehr ¨ahnlich.
6.2.2
Harnstoffderivate
Herbizide Harnstoffderivate wie Diuron (3-(3,4-Dichlorphenyl)-1,1-dimethylharnstoff, Abbildung 7.3) unterbinden in der Photosynthese die Produktion von Sauerstoff in der Pflanze, indem sie den Elektronentransport vom Photosystem II zum Cytochrom f blockieren. Stoffwechseluntersuchungen an Ratten und Hunden, die zwischen 9 Monaten und bis zu 2 Jahren 25 bis 2500 ppm Diuron im Futter erhielten, ergaben keine Speicherung im Gewebe. Als Hauptmetabolit wird N-(3,4-Dichlorphenyl)-harnstoff im Urin ausgeschieden. Die allgemeine Toxizit¨at f¨ ur Warmbl¨ uter ist sehr gering. F¨ ur Diuron wurde bei der Ratte eine orale LD50 von 3,4 g/kg gemessen.
6.2.3
Bipyridylium-Salze
Unter den auch Dipyridinium-Salze genannten Verbindungen sind Paraquat und Diquat die Hauptvertreter (Abbildung 6.7). Sie sind sehr wirksame Kontaktherbizide. Paraquat, 1,1’-Dimethyl-4,4’-bipyridylium-dichlorid, ist eine starke organische Base, das Dimethylanaloge der von Leonor Michaelis als Redoxindikatoren eingef¨ uhrten Viologene. Reduziertes Paraquat ist dunkelblau gef¨arbt. Es wird in Gegenwart von Sauerstoff rasch zum ungef¨arbten Dikation oxidiert. Die Blauf¨arbung von K¨orperfl¨ ussigkeiten durch Zusatz von Dithionit erm¨oglicht seinen schnellen Nachweis nach Vergiftung. Durch Paraquat haben sich zahlreiche, oft t¨odliche Vergiftungen bei der landwirtschaftlichen Anwendung und nach Suizidversuchen ereignet. In vivo erfolgt eine Reduktion von Paraquat durch NADPH-abh¨angige Enzymsysteme, wodurch einerseits das Redoxgleichgewicht in der Zelle verschoben wird und
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Abbildung 6.7 Die Herbizide Paraquat (Dimethylviologen) und Diquat. Der Begriff Violo” gen“ wurde von L. Michaelis gepr¨ agt (Biochem. Z. 250: 564, 1932).
6.2 Herbizide
309
andererseits durch schnelle Reaktion des Paraquatradikals mit Sauerstoff zum Superoxid-Anion eine Radikalkettenreaktion gestartet wird, die zur Zellsch¨ adigung f¨ uhrt. Besonders empfindlich ist die Lunge, da es zu einer Anreicherung von Paraquat in ihren Epithelzellen kommt. Die Beeinflussung der Lungenfunktion kann sich erst Tage nach der Vergiftung bemerkbar machen und ihr Fortschreiten ist dann nicht mehr aufzuhalten. In der Anfangsphase findet sich ¨ ein eiweißreiches Odem in den Lungenbl¨aschen. Diese werden dann durch Einsprossen von Fibroblasten langsam mit Bindegewebe gef¨ ullt, bis durch eine bindegewebige Schrumpfung der Lunge der Gasaustausch nicht mehr m¨oglich ist. Der Tod tritt oft erst nach mehreren Wochen ein. Die orale LD50 von Paraquat betr¨agt an der Ratte ca. 100 mg/kg, beim Menschen liegt sie deutlich niedriger (wahrscheinlich unter 10 mg/kg). Eine vorherige Gew¨ohnung an eine hohe Sauerstoffkonzentration von 85 % konnte im Tierexperiment die Lungensch¨adigung auf die H¨alfte verringern. Dies spricht f¨ ur die Bedeutung antioxidativer Schutzfaktoren, die bei der Adaptation an hohe Sauerstoffpartialdrucke vermehrt gebildet werden. Bisher waren alle Versuche erfolglos, den Krankheitverlauf medikament¨os durch Antioxidantien, zu beeinflussen. Die Resorption von Paraquat, die nur langsam und unvollst¨andig erfolgt, muss deshalb durch Gabe von Adsorbentien wie medizinischer Kohle, Bentonit oder Kaolin sowie durch Abf¨ uhrmittel und eine Darmentleerung auf jeden Fall verhindert werden. Paraquat wird im Erdboden sofort gebunden und nur sehr langsam abgebaut. Es ist in Deutschland nicht mehr im Handel, wird aber in England noch benutzt.
6.2.4
Natriumchlorat
Natriumchlorat z. B. in Unkraut-Ex® ist ein Totalherbizid, das sowohl zu Unf¨allen durch Entz¨ undung von kontaminierten Kleidungsst¨ ucken nach Eintrocknen der L¨osung als auch zu oralen Vergiftungen beim Menschen f¨ uhren kann. Schon wenige Gramm Chlorat haben beim Erwachsenen zum Tode gef¨ uhrt, w¨ahrend auf der anderen Seite aber auch sehr hohe Dosen u ¨berlebt wurden. Es gibt also scheinbar eine individuelle Empfindlichkeit gegen¨ uber Chlorat. Diese beruht vermutlich auf jeweils unterschiedlichen Meth¨amoglobinspiegeln im Blut, die normalerweise unter 1 % liegen. Chlorat wird gut resorbiert und zum großen Teil unver¨andert im Urin ausgeschieden. Bei Kontakt mit dreiwertigem H¨amoglobineisen (Meth¨amoglobin) dismutiert Chlorat. Das entstehende Hypochlorit gibt neben einer autokatalytischen Meth¨amoglobinbildung auch Anlass zur Sch¨adigung des Globins, dem Proteinanteil des H¨amoglobins. Zus¨atzlich werden Proteine der Erythrozytenmembran in Mit-
310
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
leidenschaft gezogen. So ist die funktionelle Beeintr¨achtigung der Glucose-6Phosphat-Dehydrogenase (vgl. Abbildung 8.3) in der Erythrozytenmembran verantwortlich daf¨ ur, dass Methylenblau bei der Chlorat-Vergiftung nicht eingesetzt werden kann. Weiterhin nimmt die physiologische Verformbarkeit der Erythozyten ab. Dies f¨ uhrt zu deren H¨amolyse mit Freisetzung von oxidiertem und denaturiertem H¨amoglobin. Freies (Met-)H¨amoglobin wird durch die Nierenglomeruli in den Prim¨arharn filtriert. Es f¨allt dabei in den Nierenkan¨alchen aus und bewirkt ein Nierenversagen. Schließlich werden Blutgerinnungsfaktoren im Blut aktiviert, wodurch eine disseminierte intravasale Gerinnung (disseminierte intravasale Coagulopathie, DIC) ausgel¨ost wird.
6.2.5
Phenoxycarbons¨auren
Chlorierte Phenoxycarbons¨auren besitzen bei der Unkrautbek¨ampfung eine große Bedeutung. Sie wirken selektiv auf Pflanzen, da sie die Struktur des Wachstumshormons Auxin (Indolyl-3-essigs¨aure) der Pflanzen imitieren (Abbildung 6.8). Bekannteste Vertreter dieser Gruppe sind die 2,4-Dichlorphenoxyessigs¨aure und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigs¨aure. Letztere ist in Deutschland nicht als Pflanzenschutzmittel zugelassen (siehe Abbildung 6.9) auch nicht in Form ihrer Salze und Ester. Unter den Pflanzen sind die zweikeimbl¨attrigen besonders empfindlich gegen¨ uber den chlorierten Phenoxycarbons¨auren. Mit einer oralen LD50 von 500–1000 mg/kg an der Ratte ist ihre Toxizit¨ at f¨ ur Tiere relativ gering. Suizidale Einnahmen von Dosen im Grammbereich f¨ uhrten zu peripherer Neuritis und
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Abbildung 6.8 Strukturformeln von 2,4-Dichlorphenoxyessigs¨ aure (2,4-D) und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigs¨ aure (2,4,5-T) im Vergleich zu Auxin. MCPA = 4-Chlor-2-methylphenoxyessigs¨ aure.
6.2 Herbizide
311
zu einer Starre von Stamm- und Extremit¨atenmuskulatur. Als Mechanismus hierf¨ ur wird wie bei der Monoiod- und Monochloressigs¨aure eine Hemmung der Glycolyse diskutiert. Eine spezifische Therapie ist nicht bekannt. Bei der Produktion von 2,4,5-Trichlorphenoxyessigs¨ aure und anderer Derivate von Chlorphenolen erkrankten Arbeiter oft an einer besonderen Kontaktdermatitis, welche als Chlorakne bekannt ist. Unter diesem Begriff versteht man eine akneartige Hauterkrankung mit follikul¨aren Hyperkeratosen, Komedonen, Knoten, Abszessen und Zysten, besonders im Gesicht, an den Ohren und an den exponierten Hautstellen. Eine genaue Analyse des produzierten Herbizids ergab den Nachweis einer Verunreinigung von bis zu 30 ppm an 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD). Es stellte sich heraus, dass Synthesen, in denen Trichlorphenole als Zwischenoder Endprodukte auftreten, besonders bei Temperaturen zwischen 150 und 200 °C im schwach Alkalischen, regelm¨aßig TCDD oder andere Kongenere entstehen lassen. Toxikologische Untersuchungen ergaben, dass die Chlorakne beim Menschen und die teratogenen Wirkungen bei Nagern allein auf die TCDD-Verunreinigungen zur¨ uckzuf¨ uhren sind. Dioxine, wie die zusammenfassende Kurzbezeichnung f¨ ur die polychlorierten Dibenzodioxine (PCDD) lautet, sind keine kommerziellen Produkte. Sie entstehen, wie auch die entsprechenden polychlorierten Dibenzofurane (PCDF), in chemischen Nebenreaktionen als unerw¨ unschte Produkte (by-products) (Abbildung 6.9). Insgesamt gibt es 75 m¨ogliche Substitutionsvarianten (Kongenere) am PCDD und 135 am PCDF, die sich zum Teil erheblich in ihrer Toxizit¨at unterscheiden. Kritisch ist die Herstellung von polychlorierten Phenolen, insbesondere 2,4,5-Trichlorphenol und 2,4,6-Trichlorphenol, die in weiteren Schritten der Produktion von Herbiziden und Desinfektionsmitteln dienen. Einige Reaktionen sind in Abbildung 6.9 zusammengefasst. Zu erw¨ahnen ist in diesem Zusammenhang auch das Herbizid agent orange, welches aus einem 1:1-Gemisch von Butylestern der 2,4-Di- und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigs¨aure bestand und bis zu 50 ppm an TCDD als Begleitsubstanz enthielt. Das Gemisch wurde zur Entlaubung großer Waldbest¨ande im Vietnamkrieg eingesetzt. Eine weitere Quelle f¨ ur TCDD bilden vor allem unvollst¨andige Verbrennungen bei zu niedrigen Temperaturen zwischen 200 und 400 °C. Hierzu z¨ahlen M¨ ullverbrennung, Verbrennungsmotoren, Holzfeuerung, Waldbr¨ande, Vulkane, Kompostierung und nicht zuletzt das Rauchen. Da eine Zersetzung der Dioxine erst bei Temperaturen u ¨ber 500 °C eintritt, sollten bei Verbrennungen mindestens 800 °C erreicht werden. Die Metallindustrie stellt bei Schmelzvorg¨angen und beim Schrottrecycling ebenfalls einen Beitrag zur Dioxinbildung.
312
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
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Abbildung 6.9 Nebenreaktionen zu polychlorierten Dibenzodioxinen und Dibenzofuranen.
Neben den anthropogenen Quellen liefert auch der nat¨ urliche Ligninabbau durch Pilze einen bedeutenden Eintrag an Dioxinen. Viele Saprophyten nutzen neben der Oxidation auch die Chlorierung, um das Ligninger¨ ust des Holzes zu brechen. Hierbei bilden sich Humins¨auren, die in Gegenwart von Chlorperoxidase und Kochsalz chloriert werden. Der weitere Abbau f¨ uhrt u ¨ber Chlorphenole zu Chloressigs¨aure und Chloroform. Mit Wasserstoffperoxid bakteriellen Ursprungs dimerisieren die Chlorphenole leicht zu Dioxinen. Dies ist der Grund, weswegen im Waldboden die h¨ochsten Konzentrationen an Dioxin gemessen werden (Waldboden 26, Industriegebiete 17, Straßenr¨ ander 8 und ¨ ¨ Acker 4 ng TCDD-Aquivalente/kg Trockenmasse.) TCDD geh¨ort zu den am st¨arksten toxisch wirksamen organischen Substanzen. Die akute Toxizit¨at ist stark speziesabh¨angig und wird mit sehr niedrigen LD50 -Werten zwischen 0,6–2 mg/kg beim Meerschweinchen und 1–5 mg/kg beim Hamster angegeben. Bekannt wurde TCDD weltweit im Jahre 1976 als Seveso-Dioxin durch den Produktionsunfall der Firma ICMESA in Oberitalien. In der Bev¨olkerung von Seveso konnten trotz intensiver Untersuchungen keine eindeutigen Anzeichen zur allgemeinen Toxizit¨at von TCDD gefunden
6.2 Herbizide
313
werden, obwohl K¨orperbelastungen bis zu 1000 ppt im Fettgewebe vorkamen. Ausgenommen ist die schwere Chlorakne, die aber nicht zwangsl¨aufig nach jeder Exposition auftritt. Da TCDD am Menschen noch nicht zu Todesf¨allen gef¨ uhrt hat, kann der Mensch zu den wenig empfindlichen Spezies gez¨ahlt werden. Weitere Symptome der Exposition mit TCDD sind unspezifisch. Es wurden Polyneuropathien (Nervenentz¨ undungen), St¨orungen des Fettstoffwechsels, der H¨amsynthese, der Leberfunktion und des Immunsystems beschrieben. In Experimenten an Nagetieren erh¨oht TCDD die Tumorinzidenz in der Leber bei hoher Dosierung von 100 ng/kg pro Tag eindeutig. Derartige Tumoren treten aber auch bei anderen Substanzen auf, die zu einer ausgepr¨agten Induktion des Cytochrom P450 Systems und einer deutlichen Lebervergr¨oßerung f¨ uhren. Als Bindungsort von TCDD wurde ein Ah-Rezeptor (aryl hydrocarbon) in der Leber der Ratte charakterisiert, der in aktivierter Form sehr stark induzierend auf das mikrosomale Cytochrom P450-System wirkt. Andere polychlorierte Dioxine oder Dibenzofurane haben im Vergleich zu TCDD nur eine geringere Toxizit¨at, so dass f¨ ur die Risikobewertung ein internationales Toxizit¨ats¨aquivalent (I-TEQ) benutzt wird. Es wird berechnet, indem man die Konzentration jedes einzelnen Kongeners mit seinem relativ zum TCDD festgelegten internationalen Toxizit¨ats¨aquivalentfaktor (I-TEF) multipliziert und die so gewichteten Konzentrationen addiert. Das 2,3,7,8-TCDD, welches die Substanz mit der h¨ochsten toxischen Potenz ist, hat einen I-TEF von 1. Die durch Verordnungen festgelegten maximalen Tagesaufnahmemengen (TDI) liegen f¨ ur dioxin¨ahnliche Verbindungen bei 1–4 pg TEQ/kg·d (WHO 1998) und bei 7 pg TEQ/kg·Woche (European Commission Scientific Committee on Food (ECSC) 2000).
6.2.6
Chlorcarbons¨auren und aliphatische S¨ auren
Zu den Chlorcarbons¨auren z¨ahlen die Verbindungen Dalapon (2,2-Dichlorpropions¨aure) und Trichloressigs¨aure (TCA). Beide l¨osen wahrscheinlich durch ¨ eine Anderung der Proteinstruktur eine Hemmung des Sprosswachstums aus. Zu den aliphatischen S¨auren rechnet man Glyphosat und Glufosinat (Abbildung 6.10). Beide Substanzen werden u ¨ber das Blatt aufgenommen. Glufosinat ist f¨ ur nahezu alle Pflanzen toxisch. Seine Wirkung beruht auf der Hemmung der Glutaminsynthetase, eines f¨ ur das Stoffwechselgeschehen notwendigen Enzyms. Als Folge h¨auft sich das Zellgift Ammoniak an, was die Pflanze nach wenigen Tagen absterben l¨asst.
314
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Abbildung 6.10 Strukturformeln von Glyphosat (N-(Phosphonomethyl)glycin) und dessen Abbauprodukt AMPA (aminomethylphosphonic acid), daneben die von Glufosinat = Phosphinotricin (4[Hydroxy(methyl)phosphinoyl]-D,L-homoalanin).
Glyphosat hemmt die 5-Enol-pyruvyl-shikimat-3-phosphat-synthase (EPSPSynthase), auf welche die Pflanze zur Herstellung von Tryptophan und Phenylalanin angewiesen ist. K¨onnen diese beiden aromatischen Aminos¨auren nicht mehr gebildet werden, stellt die Pflanze das Wachstum ein und stirbt innerhalb einer Woche ab. Glyphosat gilt als umweltfreundlich, da es biologisch abbaubar und f¨ ur Menschen nicht toxisch ist. Es ist erstmals 1971 beschrieben und wird seit 25 Jahren als Total- oder Breitbandherbizid eingesetzt bei steigender Anwendungsh¨aufigkeit. Allein am Streckennetz der Schweizerischen Bundesbahn werden im Jahr vier Tonnen ausgebracht. Glyphosat wird mit einer Halbwertzeit von 45 bis 60 Tagen abgebaut. Sein Hauptmetabolit ist die Aminomethylphosphons¨ aure (AMPA). Eine hohe sorptive Bindung an B¨oden verursacht eine lange Verweildauer, so dass Glyphosat kaum im Grundwasser gefunden wird, wohl aber sein Metabolit AMPA. Seitdem verschiedene Nutzpflanzen verf¨ ugbar sind (Baumwolle, Soja, Raps, Mais), die eine gentechnisch vermittelte Toleranz gegen¨ uber Glyphosat besitzen, besteht auch die M¨oglichkeit des Einsatzes von Glyphosat im Ackerbau. Ein aus dem Bodenbakterium Agrobacterium tumefaciens isoliertes Gen, das eine bakterielle Variante der EPSP-Synthetase exprimiert, die gegen¨ uber Glyphosat wesentlich unempfindlicher ist, verleiht den Pflanzen die Toleranz. In Verbindung mit den gentechnisch ver¨anderten Pflanzen ist Glyphosat ein Komplement¨arherbizid. Die orale Bioverf¨ ugbarkeit von Glyphosat am S¨augetier liegt zwischen 15 und ¨ 35 %. Uber die Haut wird der Wirkstoff kaum resorbiert. Das Verteilungsvolumen ist relativ gering und betr¨agt beim Hund 0,28 L/kg. Es wird rasch mit dem Urin ausgeschieden, teils als Metabolit und teils im unmetaboliserten Zustand. Glyphosat zeichnet sich durch eine sehr geringe Toxizit¨at beim S¨augetier aus. Die orale Aufnahme großer Mengen f¨ uhrt zu Erbrechen und Durchfall, Blutdruckabfall, metabolischer Azidose, Atemschwierigkeiten, Niereninsuffizienz
6.2 Herbizide
315
und Schock. Ein Teil dieser Symptome wird durch den L¨osungsvermittler Polyoxyethylenamin verursacht, welcher zu 15 % im Fertigprodukt enthalten ist und eine etwa dreimal h¨ohere orale Toxizit¨at aufweist als Glyphosat selbst. (LD50 von Polyoxyethylenamin an der Ratte 1–2 g/kg).
6.2.7
Triazine
Seit 1957 ist das Atrazin bekannt (siehe Abbildung 7.4), das als Vorlage f¨ ur alle weiteren symmetrischen Triazine diente. Daneben gibt es asymmetrische Triazine und das Aminotriazol (3-Amino-1,2,4-triazol, AT, Amitrol) mit einem 5-gliedrigen Ring. Die Substanzen greifen entweder in die Chloroplastensynthese ein (Aminotriazol) oder sie hemmen die Photosynthese. Zus¨atzliche Wirkungsmechanismen werden diskutiert. Einige Triazine weisen ein sehr langsames Abbauverhalten auf. Die Halbwertzeit f¨ ur den Abbau von Atrazin im Boden wird zwischen 60 und 135 Tagen angegeben. Die Triazine persistieren lange im Boden, wo sie aufgrund starker Sorption unerkannt akkumulieren, da sie sich einer analytischen Extraktion entziehen. Durch Auswaschung gelangen sie mit ihren Metaboliten in das Oberfl¨achen- und Grundwasser. Atrazin stellt in der Analytik ein Leitherbizid dar. Die Verbindungen sind f¨ ur Wasserorganismen giftig. Seit M¨arz 1991 ist die Anwendung von Atrazin und sechs weiteren Analogen zum Schutz des Grundwassers verboten. In 80 L¨andern wird es weiterhin angewendet. In der Regel werden die Triazine im S¨augerorganismus nach oraler Gabe rasch absorbiert. Der Abbau erfolgt u ¨ber Hydrolyse, Desalkylierung, Desaminierung, ¨ die Abspaltung von Chlor und letztlich durch Offnung des Triazinrings. Triazine verursachen eine Irritation der Haut und Schleimh¨aute; die Vergiftung ¨außert sich durch Anorexie, Pansenatonie bei Wiederk¨auern, Kolik, Erbrechen und Durchfall. Innerhalb von 24 Stunden werden 50–90 % der aufgenommenen Triazine zum Teil in unver¨anderter Form vorwiegend renal ausgeschieden. Weniger als 5 % der Menge erscheinen in der Milch. F¨ ur Pflanzenfressser spielt das vermehrte Vorkommen von Giftpflanzen in Futter und Silage eine wichtige Rolle, da einige dieser Giftpflanzen gegen Triazine resistent sind. Aminotriazol hemmt die Katalaseaktivit¨at im S¨augetier. In hoher Dosierung st¨ort es die H¨amsynthese, indem es die Kondensation zweier Molek¨ ule 5-Aminol¨avulins¨aure zu Porphobilinogen und den Einbau von Eisen als Zentralatom in das Protoporphyrin unterbindet. Die toxische Wirkung des Aminotriazol gleicht im Hinblick auf die Zerst¨orung der mikrosomalen Monooxygenasen, bei gleichzeitiger Induktion bestimmter Isoenzyme des Cytochrom P450, derjenigen verschiedener Schwermetalle.
316
6.3
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Fungizide
Unter Fungiziden versteht man Verbindungen, die geeignet sind, Pilze und deren Sporen abzut¨oten. Die Pilze k¨onnen sich dabei in oder auf organischen Materialien wie Holz, Papier oder Textilien, B¨oden und Lebewesen wie Pflanzen, Pflanzenteilen (Saatgut, Pflanzgut) oder Nutztieren befinden und dort Krankheiten ausl¨osen. Eine kurative und protektive Anwendung kann unterschieden werden. Fungizide sollen nach M¨oglichkeit weder gef¨ahrlich f¨ ur Bienen noch toxisch f¨ ur Warmbl¨ uter sein. Die in der Behandlung von Pilzerkrankungen am Menschen (Mykosen) verwendeten Substanzen nennt man Antimykotika. Ende des 19. Jahrhunderts setzte man basische Kupferverbindungen vor allem gegen den falschen Mehltau der Reben ein. Das Kupfer penetriert in die Pilzspore und blockiert enzymatische Vorg¨ange durch Verdr¨angung physiologischer Ionen. Seine Wirkung ist nur protektiv. Kupfer-HDO ist ein Fungizid, das zusammen mit dem Insektenwachstumsregulator Fenoxycarb in der Holzimpr¨agnierung Anwendung findet (Abbildung 6.11). Es stellt zugleich ein Beispiel eines lipophilen Kupferkomplexes dar und dient heute als Ersatz chromhaltiger Holzschutzmittel. Die fungizide Wirkung des Schwefels wurde seit langer Zeit im Wein- und Obstbau (Apfelmehltau) genutzt. Wahrscheinlich beruht seine Wirkung darauf, als elementarer Schwefel in die Spore einzudringen und dort anstelle des Sauerstoffs die Rolle des Wasserstoffakzeptors zu spielen. Der entstehende Schwefelwasserstoff wirkt als zus¨atzliches Zellgift. Da Sch¨aden auch an den Wirtspflanzen auftreten, ist die Selektivit¨at beider Fungizide nicht ausgepr¨agt (geringer chemotherapeutischer Index).
Kupfer-HDO Abbildung 6.11 Durch die Komplexierung zu Kupfer-HDO (Bis-(N-Cyclohexyldiazeniumdioxyl)-Kupfer) wird dem wasserl¨ oslichen Cu2+ eine Lipophilie verliehen, die seine Penetration verbessert und die Toxizit¨ at f¨ ur Pilze erh¨ oht. Neben Cu-HDO sind auch K-HDO und Al-HDO bei der Holzimpr¨ agnierung im Gebrauch (Xyligen).
6.3 Fungizide
6.3.1
317
Organische Quecksilberverbindungen
Als erste organische Fungizide wurden ab 1913 Verbindungen des Quecksilbers (Hg II) zur Saatgutbeizung (Getreide, Reis, R¨ uben, Kartoffel) eingesetzt. Aufgrund der hohen Toxizit¨at f¨ ur Menschen und Tiere wurde die Verwendung auf diesem Gebiet, trotz vieler Vorteile, nahezu eingestellt (vgl. Kapitel 4.2.5).
6.3.2
Organische Zinnverbindungen
Auch organische Zinnverbindungen werden als vielseitige Biozide seit 1940 in Industrie und Landwirtschaft benutzt. Verglichen mit der Verwendung in technischen Bereichen haben sie im Pflanzenschutz ihrer Toxizit¨at und R¨ uckst¨ande wegen eine geringere Bedeutung. Im allgemeinen handelt es sich um ein- bis vierfach mit Alkyl- oder Arylgruppen substituiertes Zinn. Allen Verbindungen gleich welcher Substitution ist gemein, dass sie das lymphatische Gewebe und das Immunsystem beeinflussen und zu einer Reduktion des Thymusgewichts f¨ uhren (Thymusatrophie). Die Betrachtung von Dialkylzinndichloriden macht deutlich, dass deren toxische Eigenschaften von der L¨ange der Alkylketten (Lipophilie) abh¨angig sind. So nehmen mit steigender Kettenl¨ange die kutane und enterale Resorption und die akute Toxizit¨at ab. Sch¨aden der Galleng¨ange, der Leber und der Bauchspeicheldr¨ use werden vor allem durch Verbindungen mit Ketten zwischen 2 und 6 Kohlenstoffen ausgel¨ost, da diese am besten durch die Galle ausgeschieden werden und einem enterohepatischen Kreislauf unterliegen. Die Biotransformation der Dialkylzinnverbindungen erfolgt vornehmlich durch hepatisches ¨ Cytochrom P450. Uber instabiles a- und b-Hydroxyalkylzinn entstehen die entsprechenden monoalkylierten Verbindungen, die meist renal eliminiert werden. Das Ausmaß der Biotransformation nimmt mit steigender Kettenl¨ange ab. Organozinnverbindungen stellen Inhibitoren des Cytochrom P450-Systems und Induktoren der H¨amoxygenase dar. Tetraethylzinn wird im Organismus durch hepatisches Cytochrom P450 rasch und einfach desalkyliert. Die weitere Desalkylierung zu Diethylzinn l¨auft wegen der Bildung von Radikalen dagegen sehr langsam ab. Entstandenes Triwie Diethylzinn ist toxischer als die Ausgangsverbindung (Verh¨altnis der Toxizit¨aten 20:2:1). Sie reichern sich in den Mitochondrien des ZNS an und behindern die oxidative Phosphorylierung, die Glucoseoxidation und die Phospho¨ lipidsynthese. Dies f¨ uhrt zu neurotoxischen Sch¨aden und Odemen in ZNS und R¨ uckenmark. An solchen Sch¨aden starben 1954 in Frankreich u ¨ber 100 Menschen wegen der Verwendung des diethylzinnhaltigen Arzneimittels Stalinon® , welches zu 10 % mit Triethylzinn verunreinigt war. Die Desalkylierung zu Monoethylzinn, das vorwiegend renal eliminiert wird, erfolgt wieder rasch.
318
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Von den stark bioziden Verbindungen wird Triphenylzinn (Fentinacetat) in der Landwirtschaft und Tributylzinnoxid (TBTO) (n-C4 H9 )3 Sn-O-Sn(n-C4 H9 )3 ) zum Schutz von Werkstoffen genutzt (Holz, Papierfabrikation, Textilien, Anstriche). Besonders sind sie in Schiffsanstrichen enthalten, da sie den Bewuchs von Schiffsr¨ umpfen mit Muscheln und Schnecken verhindern (Molluskizid, antifouling; vgl. Seite 337). Fentin, das von Cytochrom P450 nicht metabolisiert werden kann, ist hepatotoxisch. Dimethyl-, Dibutyl- und Dioctylzinnhalogenide dienen zur Hitze- und Lichtstabilisierung des Polyvinylchlorids und als Katalysatoren bei der Polyurethanherstellung. Die j¨ahrliche Produktion an organischen Zinnverbindungen betr¨agt weltweit etwa 60 000 Tonnen.
6.3.3
Dithiocarbamate, Thiurame
Die Derivate der Dithiocarbamids¨aure (Dithiocarbamate, Thiurame) stellen eine sehr wichtige Gruppe innerhalb der Fungizide dar. Ihre Wirkung ist dem substituierten Dithiocarbamat-Anion zuzuschreiben. Die dialkylsubstituierten Anionen (Abbildung 6.12) k¨ onnen durch Komplexbildung metallhaltige Enzyme blockieren (Phenoloxidase, Ascorbins¨aureoxidase). Diese Wirkung tritt bereits ein, wenn sich ein 1:1-Kupfer-DithiocarbamatKomplex bildet. Ein bei h¨oherer Konzentration entstehender 2:1-Komplex ist nicht fungizid. In h¨oheren Konzentrationen wird das Anion selbst oder ein Komplex mit anderen Schwermetallen toxisch. Eine zus¨atzliche Wirkung basiert auf einer direkten Blockade von SH-Gruppen (Glucose-6-PhosphatDehydrogenase, Cystein, Glutathion). Den monoalkylierten Derivaten, zu denen die Ethylenbisdithiocarbamate und deren Polymere z¨ahlen, steht aufgrund des am Stickstoff vorhandenen Wasserstoffs nach Umlagerung der Zerfall zu Schwefelwasserstoff und Isothiocyanaten (Alkylsenf¨ole) offen. Letztere reagieren leicht mit Alkoholen, Aminen und Thiolen und werden f¨ ur die fungizide Eigenschaft verantwortlich gemacht. Ist nur eine geringe Phytotoxizit¨at vorhanden, lassen sich die Verbindungen zur Behandlung von Pflanzen, Saatgut oder nur zur Bodenentseuchung einsetzen. Die Stabilit¨at der meisten Derivate liegt in Wasser und Boden im Bereich von Stunden bis wenigen Tagen, so dass sich kaum Probleme mit R¨ uckst¨anden ergeben. Die Dithiocarbamate werden meist als Salze von verschiedenen Schwermetallen, darunter Zn, Fe und Mn, angewendet (Abbildung 6.12). Hierdurch erreicht man eine Modifikation und – gegen¨ uber dem Natriumsalz – eine Steigerung der fungiziden Wirkung. Vor allem n¨ utzt man die entstehenden lipophilen Chelate aus, um die toxischen Schwermetalle durch Zellw¨ande und Membranen zu schleusen.
6.3 Fungizide
319
Abbildung 6.12 Derivate abgeleitet von der Dithiocarbamids¨ aure. Ziram und Thiram (Pomarsol) auf der linken Seite sind dialkyliert. Dem Ziram analog ist der Vulkanisationsbeschleuniger ZDEC (Zinkdiethyldithiocarbamat). Dem Thiram (Tetramethylthiuramdisulfid, TMTD) analog ist das Disulfiram (Antabus, Tetraethylthiuramdisulfid). Fungizid wirksam sind die Dialkyldithiocarbamat-Anionen. Die Biotransformation liefert Dialkylamine und CS2 . Zineb und Maneb geh¨ oren zu den polymeren bzw. zyklischen Ethylenbisdithiocarbamaten. Wirksam sind entstehende Alkyl-Isothiocyanate (R-N=C=S). Die Biotransformation l¨ asst neben Oxals¨ aure, Glycin und Harnstoff auch Ethylenthioharnstoff, Ethylendiamin, CS2 und H2 S entstehen.
Die f¨ ur den Menschen relativ wenig toxischen Derivate der Dithiocarbamids¨aure dienen in der Gummiherstellung als Vulkanisationsbeschleuniger. Neben der Ausl¨osung von Kontaktallergien und lokalen Irritationen an Haut und Schleimh¨auten, l¨asst sich nach Aufnahme dialkylierter Derivate eine Alkoholunvertr¨aglichkeit beobachten. Die Alkoholintoleranz wird unter anderem bedingt durch die bereits erw¨ahnte Enzymhemmung, hier derjenigen der Alkohol- und Aldehyd-Dehydrogenase. Wegen der alkoholabhorrierenden Wirkung diente fr¨ uher Disulfiram (Antabus® ) zur Unterst¨ utzung des Alkoholentzuges.
6.3.4
Thiadiazine
¨ Uberg¨ ange zwischen fungizider, nematizider, insektizider und herbizider Wirkungen findet man bei Dazomet. Es hydrolysiert im feuchten Boden zu den aktiven Bestandteilen Formaldehyd, CS2 und Methylisothiocyanat (Methylsenf¨ol). Das analoge Sulbentin (Fungiplex® ) dient als Antimykotikum bei Pilzerkrankungen der Haut (Abbildung 6.13). Ein Pr¨aparat mit Senf- und Meerrettich-Inhaltsstoffen (Tillecur) dient zur Saatgutbehandlung gegen Steinbrand.
320
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Abbildung 6.13 Thiadiazine, Benzimidazole und Diphenyle als Fungizide und Fungistatika. Thiadiazine zerfallen in wirksame Alkyl-Isothiocyanate. Als einziges Benzimidazol tr¨ agt Benomyl an N-1 eine Substitution. Es muss metabolisch aktiviert werden. Eine Substitution an C-5 blockiert die Hydroxylierung und hat eine Wirkungsverl¨ angerung zur Folge. Diphenyl besitzt einen hohen Dampfdruck. Es wirkt in der Gasphase. Im Warmbl¨ uter wird es durch Cytochrom P450 haupts¨ achlich zu 4-Hydroxy-, 3,4-Dihydroxybiphenyl, weniger zu ortho- oder meta-Phenylphenol hydroxyliert.
6.3.5
Diphenyle, Benzimidazole
Citrusfr¨ uchte sind anf¨allig gegen¨ uber dem Grauschimmel (Botrytis cinerea). Zu ihrem Schutz dient eine Tauchbehandlung der Fr¨ uchte mit ortho-Phenylphenol (OPP, Dowicide 1). Mit Diphenyl (Biphenyl) wird dagegen das Verpackungsmaterial impr¨agniert, aus dem es langsam verdampft. Gegen Schimmelpilze (Penicillium) werden Citrusfr¨ uchte und Bananen mit Thiabendazol gesch¨ utzt, welches zur Gruppe der Benzimidazole z¨ahlt. Hierzu geh¨ort auch das seit 1967 als systemisches Fungizid bekannte Benomyl, das in die Pflanze aufgenommen, in das aktive Methylbenzimidazolcarbamat (MBC) umgewandelt wird und dann in die Pyrimidinsynthese eingreift. Das analoge Fuberidazol dient der Saatbeizung und hat die organischen Quecksilberverbindungen weitgehend u ¨berfl¨ ussig gemacht. Andere Benzimidazole eignen sich zur Behandlung von Wurmerkrankungen bei Mensch und Tier (Mebendazol, Parbendazol, Cambendazol) (Abbildung 6.13).
6.4 Rodentizide
6.4
321
Rodentizide
Rodentizide werden zur Bek¨ampfung von Nagetieren wie Ratten und M¨ause eingesetzt. Die Verwendung von Substanzen wie Thalliumsulfat und anderer Schwermetalle, die außerordentlich toxisch f¨ ur den Menschen sind, ist weitgehend zugunsten der Vitamin K-Antagonisten aus der Gruppe der 4-Hydroxycumarinderivate und derjenigen der Indan-1,3-dione verlassen worden. Vitamin K-Antagonisten verhindern die von Vitamin K-abh¨angige Synthese der g-Carboxyglutamins¨aure in der Leber. Diese spezielle Aminos¨aure ist f¨ ur die Funktion der Blutgerinnungsfaktoren II, VII, IX und X sowie Protein C und Protein S unbedingt erforderlich (siehe Kapitel 3.5.2). In der Medizin werden Vitamin K-Antagonisten, die Cumarinderivate, als indirekt gerinnungshemmende Substanzen (Antikoagulantien) eingesetzt. Entsprechend der unterschiedlichen biologischen Halbwertzeit der betroffenen Gerinnungsfaktoren tritt der therapeutische Effekt der Cumarinderivate in der Regel erst nach 24 bis 36 Stunden auf. Therapeutischer und toxischer Effekt unterscheiden sich nur quantititativ hinsichtlich des Grades der Verminderung der Blutgerinnung. Die therapeutische Dosis des Cumarinderivates Warfarin betr¨agt 5–10 mg t¨aglich, die einmalige Einnahme von 1 g f¨ uhrte aufgrund von Blutungen in allen inneren Organen und in der Haut nach 14 Tagen zum Tode. Ratten und M¨ause sind gegen¨ uber Cumarinen empfindlicher als der Mensch. Wegen der langsam einsetzenden Wirkung und der guten Therapiem¨oglichkeit beim Menschen besitzen Cumarine als Rodentizide einen hohen Sicherheitsstandard. Nach unbeabsichtigter oder beabsichtigter Vergiftung k¨ onnen schnell und wirksam therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Das einmalige Verschlucken von ausgelegten Tierk¨odern mit Vitamin K-Antagonisten bleibt beim Menschen oft symptomlos. Die Therapie besteht in der Resorptionsverhinderung durch Verabreichung von medizinischer Kohle und von Vitamin K1 (Abbildung 6.14). Bei oraler Gabe ist ein Abstand von zwei bis vier Stunden zur Aktivkohle einzuhalten, da sonst auch die Resorption des Vitamins verhindert wird. Lebensbedrohende Blutungen, m¨ ussen mit der Substitution der fehlenden Gerinnungfaktoren behandelt werden, da sich erst 1 bis 3 Tage nach Vitamin KGaben die Gerinnungsf¨ahigkeit des Blutes normalisiert.
322
Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
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Abbildung 6.14 Schema des Vitamin K Zyklus. Vitamin K (Koagulation) zieht in einer O2 -verbrauchenden Reaktion der Glutamins¨ aure ein g-Proton ab, es entsteht ein g-Carbanion und Vitamin K-2,3-Epoxid. Das Glutamin-Carbanion reagiert mit CO2 zur g-Carboxyglutamins¨ aure. Die das Vitamin K regenerierenden Reaktionen werden durch Cumarinderivate (hier Warfarin) kompetitiv gehemmt. Unterer Teil: Seitenketten von Menadion, Menachinon und Phyllochinon = Phytomenadion.
7
R¨ uckst¨ande, technische Produkte und Gefahrstoffe Wolfgang Legrum
Hatte der Mensch in seiner chemisch sch¨opferischen Aktivit¨at von 1778 an, dem Jahr des Erscheinen des ersten chemischen Fachjournals, bis 1954 erst 600 000 chemische Verbindungen erschaffen, so war genau diese Anzahl im Jahr 1992 bereits neu synthetisiert. Heute kommen pro Jahr etwa eine halbe Million neuer Verbindungen hinzu. Mitterweile ist die Grenze von 20 Millionen u ¨berschritten. Nur ein kleiner Teil dieser neuen Verbindungen gelangt zu einer Produktreife, sei es als Arzneimittel, Biozid, Waschmittel oder sonstiges Hilfsmittel. Hergestellt und angewendet gelangen die Stoffe unweigerlich in die Materialkreisl¨aufe der Welt. W¨ahrend die Synthesen wohl durchdacht sein m¨ ussen, verl¨asst man sich nach gezogenen Nutzen bei der Entsorgung meist auf die Kapazit¨at und die Toleranz der Natur. Generell ist davon auszugehen, dass jegliche Produktion des Menschen zu M¨ ull und danach desintegriert wird. Beispiele von verschiedenen Substanzgruppen sollen hierzu Einblicke geben. In chemischen Synthesen von Wirkstoffen k¨onnen sich durch Nebenreaktionen wirkungslose oder auch toxische Produkte bilden. Hierzu sind einige bekannte F¨alle zusammengestellt. Zum Abschluss des Kapitels soll der Blick auf den Umgang mit Gefahrstoffen gelenkt werden. Da ihr Einsatz und ihre Entstehung nach M¨oglichkeit zu umgehen ist, werden die wichtigsten Richtlinien zur Vermeidung kurz vorgestellt.
7.1
R¨ uckst¨ande von Bioziden
Derzeit sind in Deutschland etwa 317 Wirkstoffe zum Pflanzenschutz zugelassen, die in u ¨ber 1200 Pr¨aparaten Anwendung finden (siehe Tabelle 6.1). F¨ ur eine Zulassung ist das Bundesamt f¨ ur Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zust¨andig. Zuvor muss jedoch das Umweltbundesamt (UBA) die Umweltvertr¨aglichkeit anhand von Sachverst¨andigengutachten der Biologischen Bundesanstalt f¨ ur Land- und Forstwirtschaft (BBA) und des Bundesinstituts f¨ ur Risikobewertung (BfR) gepr¨ uft haben. In diesen Gutachten sind die
324
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
Wirksamkeit, die Anwendungsbedingungen, die toxikologischen Eigenschaften und auftretende Risiken einer Substanz bewertet. Trotz sachgerechter Anwendung finden sich Biozide an oder in Lebensmitteln, im Wasser oder im Boden. Im Boden Zwischen der Ausbringung eines Herbizids auf eine landwirtschaftlich genutzte Fl¨ache und einer Applikation einer Wirksubstanz am S¨augetier besteht v¨ollige Parallelit¨at. Gleiches gilt f¨ ur die sich daran anschließenden Vorg¨ange der Verteilung und Elimination. Das Ausbringen des Herbizids entspricht einer intraven¨osen Injektion am Organismus. Die verwendeten Einheiten ¨andern sich. Aus der Dosierung, angegeben in mg/kg K¨orpergewicht, wird die Aufwandmenge in kg/ha Ackerfl¨ache. Die Konzentration im Blut in mg/ml wird zu mg/kg = ppm im Bodenmaterial unter Ber¨ ucksichtigung einer bestimmten Eindringtiefe. (Als Beispiel liefert 1 kg Wirkstoff/ha auf Lehmboden der Dichte 1,3 kg/L, sofern eine homogene Verteilung in einer Schicht von 1 cm St¨arke vorliegt, eine Bodenkonzentration von ca. 8 ppm.) Der Proteinbindung entspricht die Sorption an verschiedene Bodenbestandteile. So wie im einfachsten pharmakokinetischen Modell Metabolismus und Elimination als Wege zu einer Minderung der Konzentration im Blut zusammengefasst sind, werden im vorliegenden Bodenmodell der Abbau auf chemischem, photochemischem oder biologischem Weg und der Abtransport von Wirksubstanz durch Verfl¨ uchtigung (Luft) und Einwaschung (Wasser) zusammengefasst. Die Pflanze entspricht letztlich dem Wirkort im Organismus. ¨ Die pharmakokinetischen Uberlegungen und deren mathematische Darstellung lassen sich direkt u ¨bernehmen. Ein in der praktischen Anwendung h¨aufig vorkommender Fall ist die wiederholte Ausbringung eines Herbizids auf dieselbe Fl¨ache. Frage ist, ob bei bekanntem und nicht ver¨andertem Abbauverhalten (konstante Halbwertzeit) eine Voraussage getroffen werden kann, wie hoch die Bodenkonzentration des Herbizids durch Kumulation ansteigt. Zu Beginn der ¨ Uberlegung wird die Zeit t auf die gegebene Halbwertzeit t1/2 normiert. Die Zeit wird also als Vielfaches der Halbwertzeit aufgefasst: ε=
t t1/2
.
Die Kumulation ist vom Dosierungsinterval τ abh¨angig, denn je h¨aufiger ein Herbizid angewendet wird, desto h¨oher ist dessen Eintrag. Auch diese Zeit wird auf die gegebene Halbwertzeit normiert. Man erh¨alt das relative Dosierungsintervall ετ :
7.1 R¨ uckst¨ ande von Bioziden
325
150 130 = Dmax = D R D = 100
100
50 30 = Dmin = D (R-1)
0
1
2
3
4
5
a
Abbildung 7.1 Verlauf der pr¨ asenten Menge einer wiederholt auf einen Acker im Jahresrhythmus ausgebrachten Substanz. Dosierungsinterval t = 1 a, j¨ ahrlich ausgebrachte Menge (= Aufwandmenge · Fl¨ ache) der Substanz = 100, Halbwertzeit der Substanz t1/2 = 0,5 a. Die direkt nach dem Ausbringen maximal vorhandene Menge (Dmax ) konvergiert gegen D · R, wobei R der dimensionslose Kumulationsfaktor ist. Die aus dem betrachteten Bereich eliminierte Menge an Wirkstoff muss nicht zwangsl¨ aufig biologisch unwirksam geworden sein. Die Ordinate tr¨ agt willk¨ urliche Masseneinheiten.
ετ =
τ . t1/2
Von der zum Zeitpunkt t0 ausgebrachten Menge ist nach einem Jahr, also nach einem Vielfachen der Halbwertzeit, noch ein bestimmer Anteil vorhanden. Nach der nochmaligen Ausbringung nimmt der Rest plus die zus¨atzliche Menge in der gleichen Zeit wieder auf den gleichen Anteil ab. Durch die wiederholte Multiplikation ergibt sich eine geometrische Reihe mit dem Faktor q = 2−ετ , mit der sich die im Boden verbleibende Menge an Wirkstoff (unmittelbar vor oder nach der Ausbringung) berechnen l¨asst: Dmax = D
1 1 =D = D · R. 1−q 1 − 2−τ
Diese maximale R¨ uckstandsmenge kumuliert bis zu einem Grenzwert, der vom relativen Dosierungsintervall und von der Dosis abh¨ angig ist. Es wird ein Gleichgewichtszustand erreicht, genau dann, wenn in der Zeit bis zum Aufbringen der neuen Dosis dieselbe Menge eliminiert wird. Die vorhandene Menge pegelt also zwischen Dmax und Dmax − D. Der Faktor R stellt den Kumulationsfaktor dar (Abbildung 7.1).
326
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
Im Oberfl¨achenwasser Biozide k¨onnen produktions- oder anwendungsbedingt (in der Landwirtschaft, auf Industrie- und Verkehrsfl¨achen, im privaten Haus- und Gartenbereich), durch Altlasten und durch unsachgem¨aße Anwendung oder Entsorgung in die Gew¨asser gelangen. Gegenw¨artig werden 38 Biozide an Meßstellen, welche die L¨ander-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) betreut, in Oberfl¨achengew¨assern u ¨berpr¨ uft. F¨ ur Diuron und Isoproturon werden die Zielvorgaben an mehr als 25 % der Meßstellen u ¨berschritten. Andere 13 Biozide halten die Vorgaben an allen Stellen ein. Trotz des Anwendungsverbots treten bei Atrazin ¨ (vgl. Abbildung 7.4) sogar Uberschreitungen auf, deren H¨aufigkeit allerdings zur¨ uckgeht. Die h¨ochsten Konzentrationen an Atrazin findet man im Einzugsgebiet der Mosel und Rur. Im Grundwasser Eine Voraussetzung f¨ ur die Zulassung von Wirkstoffen zur Anwendung als Biozid ist der Nachweis, dass bei sachgerechter Anwendung im Grundwasser keine Konzentration gr¨oßer 0,1 mg/L auftritt. Lysimeteruntersuchungen geben u ¨ber das zu erwartende Verhalten der Verbindungen im Boden Auskunft. Wird die Zulassungsgrenze von der Substanz oder einem seiner Metaboliten u ¨berschritten, k¨onnen Einschr¨ankungen oder Verbote der Anwendung ausgesprochen werden. Derzeit bestehen in der Bundesrepublik f¨ ur die Substanzen Atrazin, Bromacil und 1,3-Dichlorpropen solche Regelungen. Werden Substanzen unter¨ halb der Zulassungsgrenze nachgewiesen, wird deren Uberwachung intensiviert. In der Bundesrepublik gibt es etwa 13 000 Meßstellen, in deren Proben im Jahr 2004 folgende Substanzen mit der angegebenen relativen H¨aufigkeit in Konzentrationen gr¨oßer 0,1 mg/L nachgewiesen wurden: Desethylatrazin (4,7 %), Ethidimuron (3,9 %), Atrazin (2,2 %), Bromacil (2,2 %), 2,6-Dichlorbenzamid (2,1 %), Bentazon (0,8 %), Hexazinon (0,7 %), Diuron (0,7 %), Simazin (0,6 %), Desisopropylatrazin (0,5 %), Mecoprop (0,5 %), Propazin (0,3 %), Isoproturon (0,2 %), Dichlorprop (0,15 %) und Chlortoluron (0,1 %) (siehe Abbildung 7.2 und Abbildung 7.3). Die Rangfolge der Substanzen ist u ¨ber die Jahre relativ stabil. Im Trinkwasser Nach der Trinkwasserverordnung (TrinkWV 2001) d¨ urfen die im Trinkwasser eventuell vorkommenden organischen Biozide und Wachstumsregulatoren nebst deren Metaboliten und Reaktionsprodukten die Konzentration von 0,1 mg/L einzeln nicht u ¨berschreiten. F¨ ur Aldrin, Dieldrin, Heptachlor und Heptachlorepoxid gilt ein Grenzwert von 0,03 mg/L (siehe Abbildung 6.5). Die
7.1 R¨ uckst¨ ande von Bioziden
327
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Abbildung 7.2 Im Grundwasser gefundene Pflanzenschutzmittel. F¨ ur Diuron und dessen Metabolite siehe Abbildung 7.3, f¨ ur Atrazin und dessen Metabolite Abbildung 7.4. Diclobenil selbst wird im Grundwasser nicht gefunden, dagegen sein Metabolit 2,6-Dichlorbenzamid.
Summe aller einzelnen Biozide zusammengenommen darf dabei auch die Konzentration von 0,5 mg/L nicht u ¨bersteigen. In Lebensmitteln Pflanzen, die der Erzeugung von Lebensmitteln dienen, wie Obst, Gem¨ use und Getreide, werden zur Erzielung h¨oherer Ertr¨age und besserer Qualit¨at in großem Maße mit Bioziden behandelt, so dass sie und daraus zubereitete Erzeugnisse diese Stoffe enthalten k¨onnen. Wie aus einem Bericht der EUKommission f¨ ur das Jahr 2002 hervorgeht, waren von 46 000 Proben, die im
328
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
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Abbildung 7.3 Abbauprodukte von Diuron und Linuron. DCPMH: Dichlorphenylmethylharnstoff. Desisopropyl-Atrazin, DIA
H H N
N N
N
N, H oder H, N
Cl N
isopropyl H N N N Cl N H N Atrazin ethyl
N
H N ethyl H
isopropyl H N N N OH N H N ethyl
isopropyl H N N N Cl N H N H Desethyl-Atrazin, DEA
H2N N, N
N OH
N N
Hydroxy-Atrazin
H2N
N, H oder H, N
Abbildung 7.4 Abbauprodukte von Atrazin (2-Ethylamino-4-(1-methylethyl)amino-6-chlor1,3,5-triazin). H = Hydrolyse, N = N-Desalkylierung. Desethyl-Atrazin (DEA) ist ein persistenter Metabolit. Alle Wege f¨ uhren zum 2-Hydroxy-4,6-diamino-s-triazin, dessen Ringstruktur durch Oxidation an C2 unter Freisetzung von CO2 ge¨ offnet wird.
7.2 R¨ uckst¨ ande von Arzneistoffen
329
Durchschnitt auf 170 Pestizide untersucht wurden, 58 % pestizidfrei, 37 % enthielten sie in Konzentrationen unterhalb des erlaubten Maßes und 5 % u ¨berschritten diese Grenze. Im allgemeinen stellt man u ¨ber die Jahre hinweg einen Trend zu h¨oheren Konzentrationen fest. Parallel nimmt auch der Anteil von Mehrfachr¨ uckst¨anden zu, er stieg innerhalb von f¨ unf Jahren von 2 auf 5 %. Die Fr¨ uchte Orangen/Mandarinen, Birnen, Bananen und Pfirsische/Nektarinen geh¨oren meist in die Gruppe mit erlaubtem Gehalt. In der Gruppe mit Konzentrationen oberhalb des erlaubten waren Spinat, Bohnen und Orangen/Mandarinen die Spitzenreiter. Die am h¨aufigsten nachgewiesenen Pestizide waren Imazalil, Thiabendazol, Chlorpyriphos, Methidathion, sowie Vertreter aus der Maneb- und Benomyl-Gruppe (siehe Abbildung 6.13). Imazalil und Thiabendazol werden h¨aufig in der Kombination mit Orangen, Mandarinen, Bananen und Pfirsichen/Nektarinen gefunden, wobei sie in Konzentrationen unter oder u ¨ber dem minimal risk level (MRL) auftreten.
7.2
R¨ uckst¨ande von Arzneistoffen
Der Arzneischatz besteht gegenw¨artig aus etwa 3000 zugelassenen Wirkstoffen, die unver¨andert oder als Metabolite in das Abwasser gelangen. Eine empfindliche Analytik kann sie hier leicht auffinden. Schon bald nach der Einf¨ uhrung der ¨ hormonalen Kontrazeptiva stieß man im Grundwasser auf synthetische Ostrogene. Eher zuf¨allig wurde 1992 im Grundwasser Berlins auch Clofibrins¨aure, der Metabolit weit verbreiteter Medikamente zur Senkung der Plasmalipide, gefunden. Systematische Messungen konnten es ebenfalls in Oberfl¨achengew¨assern und Trinkwasser nachweisen. Heute ist die Liste der Wirkstoffe aus Medikamenten, die im Abwasser, gekl¨arten Wasser, Grundwasser und gar im Trinkwasser auftauchen, stark gewachsen. Dies ergibt sich durch die Ausweitung der Suche und die empfindlichere Analytik, wodurch sich vor allem persistente und von einem großen Bev¨olkerungsanteil therapeutisch genutzte Wirkstoffe und deren Metabolite auffinden lassen. Die meisten in Fließgew¨assern nachgewiesenen Substanzen stammen aus folgenden Indikationsklassen: Betablocker (Metoprolol, Sotalol, Propranolol, Carazolol), Bronchospasmolytika (Salbutamol), Zytostatika (Cyclophosphamid), Lipidsenker (Bezafibrat, Gemfibrozil, Clofibrins¨aure), Rheumamittel (Diclofenac, Ibuprofen), Psychopharmaka (Carbamazepin), jodierte R¨ ontgenkontrastmittel und Analgetika. Von den wenigen analytisch erfassten Antibiotika werden Roxithromycin, Sulfathoxazol, Trimethoprim, Clarthiromycin und Abbauprodukte des Erythromycins gefunden. Die gemessenen Konzentrationen liegen unter Ber¨ ucksichtigung aller Klassen zwischen 0,05 und 1 mg/L.
330
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
Aus der Gruppe der Steroidhormone wird in Fließgew¨assern vor allem synthetisches 17a-Ethinyl¨ostradiol (EE2) gefunden, das als orales Kontrazeptivum Be¨ deutung hat. Die ebenfalls vorkommenden Verbindungen 17b-Ostradiol (E2), ¨ ¨ Ostron (E1) und Ostriol (E3) stellen physiologische Ausscheidungen dar, die nur teilweise aus der Hormonersatztherapie stammen. Das in einer empfohlenen Tagesdosis von 6 g zur Resorptionshemmung des Cholesterols aus der Nahrung als Lipidsenker angewendete b-Sitosterol wird im Wasser in h¨oheren Konzentrationen gemessen. Zus¨atzlich ist das Steroid als ¨ Nahrungsbestandteil in allen pflanzlichen Olen enthalten, besonders in Maisund Sonnenblumen¨ol, wo es in Mengen von 1 bis 9 g/kg vorkommt. Eine weitere Quelle f¨ ur das b-Sitosterol bilden die Abw¨asser der Papier- und Zellstoffindustrie, welche auch das Lignan Enterolacton und das Iso-Flavon Genistein als ¨ostrogen wirksame Phytohormone abgeben (siehe S. 338). Die Darmbakterien des Menschen metabolisieren aus den in Pflanzen und Getreide vorkommenden Lignanen, speziell deren Glycosiden Secoisolariciresinol und Matairesinol im proximalen Colon ebenfalls die humanen Lignane Enterodiol und Enterolacton, die sowohl im Urin wie mit den Faeces ausgeschieden werden.
7.3
R¨ uckst¨ande von Duftstoffen
Vornehmlich Wasch- und Reinigungsmittel sind der h¨oheren Akzeptanz der personal-care-Produkte wegen schon lange parf¨ umiert. Besondere Verbreitung finden synthetische Moschusduftstoffe, von denen die Nitro-Moschusverbindungen Moschus-Xylol (in Wasch- und Reinigungsmitteln) und Moschus-Keton (in Kosmetika), auf Grund ihrer großen Lipophilie und Persistenz, in Wasserproben, Muttermilch und Fettgewebe nachweisbar sind (Abbildung 7.5). Die Konzentrationen der synthetischen polyzyklischen Duftstoffe Galaxolid (HHCB) und Tonalid (AHTN) liegen in Wasserproben bei 100 ng/L, die von Moschus-Xylol und Moschus-Keton zwischen 1 und 30 ng/L. Ein Maß f¨ ur die Persistenz der Verbindungen gibt der m¨aßige Abbau der Stoffe in Kl¨aranlagen, die Moschus-Xylol nur zu 73 %, HHCB und AHTN je zu 63 % und Moschus-Keton zu 50 % eliminieren. W¨ahrend bei AHTN die Abnahme auf einer Zerst¨orung des Molek¨ uls beruht, resultiert sie bei HHCB u ¨berwiegend aus einer Sorption an Kl¨arschlamm. Moschus-Xylol und Moschus-Keton zeigen so gut wie keinen biologischen Abbau. Sie unterliegen wahrscheinlich einer Reduktion zum Amin und verlassen das Kl¨arwerk im Wasser. Die Duftstoffe akkumulieren im Fettgewebe und weisen einen hohen Octanol/Wasser Verteilungkoeffizienten auf (log Kow = 6). Ihr relatives Verteilungsvolumen ist extrem hoch; f¨ ur Moschus-Keton liegt es bei etwa 1300 L/kg. Auf
7.4 R¨ uckst¨ ande von hormonaktiven Stoffen
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Abbildung 7.5 Nitro-Moschusverbindungen und polyzyklische Imitate des Muscons basierend auf substituiertem Tetralin oder Indan. Galaxolid und Tonalid decken 95 % des Marktes der Polyzyklen. Galaxolid (HHCB = 1,3,4,6,7,8-hexahydro-4,6,6,7,8,8-hexamethylcyclopenta(g)-2-benzopyran), Tonalid (Fixolid; AHTN = 6-Acetyl-1,1,2,4,4,7-hexamethyltetrahydronaphthalin), Cashmeran, (DPMI = 6,7-Dihydro-1,1,2,3,3-pentamethyl-4(5H)indanon). In drei Ringsystemen ist die Position 1 markiert.
Grund des hohen Dampfdrucks verteilen sich die Verbindungen nicht nur u ¨ber die aquatische Phase, sondern auch aerob. Das nat¨ urliche Muscon aus Moschus moschiferus, dem in Mittel- und Ostasien heimischen Moschushirsch, ist eines von mehreren makrozyklischen Ketonen und Lactonen mit ungef¨ahr 15 Ringgliedern. Moschus dient in der Parf¨ umerie als Fixativ.
7.4
R¨ uckst¨ande von hormonaktiven Stoffen
Ein drastischer R¨ uckgang der Alligatorpopulation im Lake Apopka sorgte 1980 f¨ ur Aufsehen in Florida. Die Geburtenrate der Alligatoren sank lokal begrenzt in diesem See um 90 %. Die eingeleiteten Untersuchungen des spektakul¨aren Falles zeigten, dass m¨annliche Tiere so tiefe Testosteronspiegel hatten wie weib¨ liche Kontroll-Alligatoren und weibliche Tiere doppelt so hohe Ostrogenspiegel wie die Kontrollen. Die gesamte Population war feminisiert. Die Hoden der m¨annlichen Tiere waren atrophiert und in weiblichen Tieren waren in den Fol-
332
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
¨ Abbildung 7.6 Die Strukturen der Xeno-Ostrogene Methoxychlor, Dicofol und als Vertreter der polyhalogenierten Biphenyle (PCB und PBB) ein Isomer des Arochlor 1242. Die 12 im Code steht f¨ ur die Struktur Biphenyl, die 42 gibt den mittleren Chlorgehalt der Verbindung in Gewichtsprozent an, was hier etwa 3 Chloratomen entspricht. Beispiel f¨ ur ein PBB ist das 2,2’,4,4’,5,5’-Hexabromobiphenyl = Firemaster BP-6.
likeln u ¨berz¨ahlige Eier. Eine Fortpflanzung war nicht m¨oglich. Die ausl¨osende Ursache in diesem speziellen Fall war die Kontamination des Sees mit DDT (Abbildung 6.4) und Dicofol (Abbildung 7.6) aus dem u ¨bergelaufenen Abfallteich einer nahegelegenen chemischen Fabrik. Der in Florida generell beobachtete R¨ uckgang der Populationen des Alligators und des Florida-Panthers wird mit a¨hnlichen hormonaktiven Ausl¨osern in Zusammenhang gebracht. In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe weiterer Substanzen identifiziert, welche hormonelle Aktivit¨at zeigen. Diese kann sich entweder in der Aktivie¨ rung von Rezeptoren f¨ ur Ostrogene oder Androgene a¨ußern oder durch eine Hemmung der Bindung der nat¨ urlichen Hormone an diesen Stellen. Ebenfalls m¨oglich sind Interaktionen mit Hormonen bei deren Stoffwechsel, Transport oder Ausscheidung. Allgemein bezeichnet man Xenobiotika, welche in einer dieser drei Arten wirken, als environmental endocrine disruptors. Da sie die normale Hormonwirkung im wesentlichen w¨ahrend der Entwicklung st¨oren, wird dieses Gebiet der Toxikologie auch als Entwicklungs-Toxikologie (developmental toxicology) bezeichnet. ¨ Die hormonartig wirkenden Substanzen k¨onnen mit Ostrogenen, Androgenen oder Schilddr¨ usenhormonen interferieren. Sowohl diese Information als auch die Herkunft der Verbindungen wird in ihrer n¨aheren Bezeichnung ausgedr¨ uckt. ¨ So unterscheidet man zwischen Xeno-Ostrogenen, sofern es sich um Pestizide ¨ oder Industriechemikalien handelt, Phyto-Ostrogenen, sofern sie pflanzlichen ¨ Ursprungs sind, und Myko-Ostrogenen, wenn sie von Pilzen gebildet werden. Allgemein kann auch von Xeno-, Phyto- oder Myko-Hormonen die Rede sein. Fremdstoffe dieser Art k¨onnen permanente St¨orungen von Entwicklungsprozessen in solchen peripheren Organen verursachen, deren Entwicklung von Geschlechtshormonen abh¨angig ist. Hierzu z¨ahlen u. a. Ovarien, Hoden, Genitaltrakt und Brustdr¨ use, aber auch das Gehirn kann betroffen sein.
7.4 R¨ uckst¨ ande von hormonaktiven Stoffen
7.4.1
333
¨ Xeno-Ostrogene aus Bioziden
¨ Als eines der ersten Xeno-Ostrogene wurde das zu etwa 20 % im DDT enthaltene 2,4’-DDT erkannt, w¨ahrend der Hauptbestandteil 4,4’-DDT in dieser Hinsicht kaum wirksam ist. Dagegen hat der Metabolit 4,4’-DDE eine anti-androgene Wirkung (siehe Abbildung 6.4). Die o¨strogene Gesamtwirkung beinhaltet also eine mimetische und eine anti-androgene Komponente. Als relativ fl¨ uchtige Substanz hat sich DDT u ¨ber die gesamte Welt verteilt und ist auch in zivilisationsfernen arktischen Gebieten anzutreffen. Die Sub¨ stanz unterliegt einer Verfrachtung von den warmen Aquatorialzonen ausgehend in die k¨alteren Regionen hinein, wo sie f¨ormlich auskondensiert. Man spricht deshalb auch von einer globalen Destillation. Die zwischen 10 und 20 Jahren liegende Halbwertzeit wird die Pr¨asenz der Verbindung auch wegen eines teilweise gelockerten Anwendungsverbots noch lange aufrechterhalten. Methoxychlor ist ein Analoges des DDT (Methoxy-DDT, Abbildung 7.6), dessen Anwendung als Insektizid weder erlaubt noch verboten ist. F¨ ur Methoxychlor wurde nachgewiesen, dass es die durch Progesteron induzierte Oozytenreifung in Fr¨oschen (Xenopus) hemmt und damit deren Fruchtbarkeit reduziert. Die polychlorierten Biphenyle (PCB, Abbildung 7.6), die seit dem Nachweis ihrer Karzinogenit¨at bei Nagetieren um 1970 gebannt wurden, bilden eine wei¨ tere Gruppe von Xeno-Ostrogenen. Sie sind in der Lage an verschiedene Steroidrezeptoren zu binden. Ihre lange Persistenz macht man verantwortlich f¨ ur die Abnahme der Populationen von verschiedenen Tierspezies, die am Ende der Nahrungskette stehen und deren Vermehrungsraten gesunken sind, wie Fischotter, Robben, Nerze und Fische. PCB k¨onnen Hodenhochstand und Unfruchtbarkeit von m¨annlichen Tieren ausl¨osen. Polychlorierte Dibenzodioxine (PCDD, Dioxin) sind Nebenprodukte verschiedener chemischer Synthesen und Begleitstoffe bei der Verbrennung chlorhaltiger organischer Verbindungen (Abbildung 6.9). Dioxin ist ein Ausl¨ oser von Anomalien in der Entwicklung m¨annlicher Ratten. Waren die Muttertiere w¨ahrend der Tr¨achtigkeit mit Dioxin in Kontakt, so haben die m¨annlichen Tiere kleinere Hoden, geringere Spermienzahl und ein weniger m¨annliches Sexualverhalten. Toxaphen wird durch Chlorierung von Camphen (C10 H16 ) 90 %iger Reinheit gewonnen. Man erzielt einen Chlorgehalt von etwa 68 % (w/w) und erreicht dabei eine generelle Umstrukturierung des Champhen zu ein Gemisch von u ¨ber 200 verschiedenen leicht fl¨ uchtigen, mehrfach chlorierten, isomeren Bornanen, Bornenen und Camphenen der mittleren Summenformel C10 H10 Cl8 (Abbildung 7.7). Die Verbindungen unterliegen der globalen Destillation und ha-
334
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
Cl CH2 CH3 CH3 Camphen
Cl Cl
Cl
Cl
CHCl2 CH2Cl Toxaphen (Octachlorcamphan-Isomer)
Cl
Cl
CH2Cl
Cl
Cl
O Cl O
S O
Endosulfan
Abbildung 7.7 Camphen und ein durch Chlorierung entstandenes Isomer aus Toxaphen. Endosulfan = Thiodan: abgebildet ist das a-Isomer mit einen Schmelzpunkt von 109 °C, im Gegensatz zum b-Isomer mit 209 °C.
ben sich vor allem in den aquatischen Organismen der Nordhalbkugel angereichert. Die Anwendung von Toxaphen ist seit 1982 verboten. Es gibt unter den Isomeren solche, die leicht mikrobiell und photolytisch abbaubar sind, andere dagegen schwer. Der Abbau beginnt mit reduktiven Dechlorierungen und Dehydrochlorierungen, denen oxidative Reaktionen folgen k¨ onnen. Toxaphen ist o¨strogen wirksam, im Ames-Test mutagen und vor allem f¨ ur Fische sehr ¨ giftig. Uber die unterschiedlichen Wirkungsqualit¨aten der einzelnen isomeren Verbindungen ist sehr wenig bekannt. Endosulfan ist ein schon seit 1956 benutztes Insektizid und Akarizid. Es wird als Kontakt- und Fraßgift im Obst-, Gem¨ use-, Zierpflanzenanbau und Forst zum Pflanzenschutz gegen beißende und saugende Insekten eingesetzt. Gegen Bienen zeigt es eine geringe Toxizit¨at. Das Mittel wird bis zu zwei Wochen vor der Ernte angewendet bei Beeren, Baumf¨ uchten, N¨ ussen, Gem¨ use, Getreide, Feldfr¨ uchten, Reis, Baumwolle, Tabak und Tee. Da die S¨attigungskonzentration in Luft bei 130 mg/m3 liegt, ist eine Anwendung im Innenbereich nicht ratsam. Endosulfan ist ein Nervenstimulans, das Kr¨ampfe ausl¨osen kann. Es ¨ hat damit Ahnlichkeit zu anderen chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen. Seine ¨ostrogene Wirkungskomponente ist dagegen relativ schwach ausgepr¨ agt. Wirkungssteigerungen durch Kombination mit anderen o¨strogen wirksamen Substanzen ließen sich nicht best¨atigen.
7.4.2
¨ Xeno-Ostrogene aus Industriechemikalien
Industriechemikalien sind Substanzen, die als Ausgangsstoffe zur Herstellung und Synthese anderer Produkte oder als Hilfsbestandteile (Additive) in denselben dienen. In alleiniger Form kommen sie nicht zur Anwendung. Auch inner-
7.4 R¨ uckst¨ ande von hormonaktiven Stoffen
OCH2CH2 OH n
H19C9
335
H9C4 H9C4 H9C4
C4H9 C4H9 Sn Sn O C4H9
4-Nonylphenolethoxylat Bis-(tris-n-butylzinn)-oxid O C O C4H9
CH3 HO
C CH3 Bisphenol A
OH C O C4H9 O Dibutylphthalat, n-Butylphthalat
H9C4
C4H9 Sn
H9C4
Cl
Tributylzinnchlorid (TBT) C2H5 C4H9 C H H C O CH2 C4H9 O C2H5 O
O CH2
Di(2-ethylhexyl)phthalat, DEHP
Abbildung 7.8 Vertreter von Industriechemikalien, die selbst oder als Abbauprodukte eine hormonartige Wirkung aufweisen. Das nicht-ionische Detergenz 4-Nonylphenolethoxylat zeigt erst nach partiellem Abbau diese Wirkung (siehe Text). Sind neun Ethoxyreste ankondensiert (n = 9), handelt es sich um Nonoxynol-9. Andere bekannte Vertreter dieser Klasse sind Triton X-100, Emulgen 911 und Renex 692.
halb dieser heterogenen Gruppe der Industriechemikalien wurden hormonartig wirkende Substanzen gefunden (Abbildung 7.8). Die ¨ostrogene Wirkung von Kunststoffstabilisatoren war eine Zufallsentdeckung eines Labors, das o¨strogen-abh¨angige Tumorzellen untersuchte. Als Kontrollen ¨ in den Versuchsreihen dienten Zellen, die in Abwesenheit von Ostrogen nicht wuchsen. Bis 1987 liefen diese Versuche reproduzierbar. Obwohl scheinbar der Versuchsablauf nicht ge¨andert wurde, zeigten die Kontrollen pl¨otzlich Wachstumsraten, die denen o¨strogenstimulierter Zellen glichen. Ursache f¨ ur dieses Verhalten war eine neue Charge von Kunststoffgef¨aßen aus Polystyrol, das – wie sich nach mehrmonatiger Suche ergab – mit 4-Nonylphenol stabilisiert war. ¨ Eine besonders hohe Ostrogenaktivit¨ at besitzt das 4-tert.-Pentylphenol, das beim m¨annlichen Karpfen (Cyprinus carpis) eine Feminisierung ausl¨ost, in deren Verlauf Eileiter, Eierstockgewebe und Oozyten gebildet werden. Para-substituierte Alkylphenole dienen vorzugsweise als Ausgangsprodukte f¨ ur die Synthese von Alkylphenol(poly)ethoxylaten (APEO), die nicht-ionische Detergenzien darstellen, sofern die Anzahl der ankondensierten Ethylenoxide h¨oher als 6 ist. Man verwendet sie nur in speziellen industriellen Produktionsverfahren f¨ ur Reinigungszwecke. In Waschmitteln und Haushaltsreinigern sind sie seit 1986 aufgrund einer Selbstverpflichtung der Waschmittelindustrie nicht mehr enthalten. Das bekannteste aus 4-Nonylphenol synthetisierte 4-Nonylphenolethoxylat ist das Nonoxynol-9, das im Mittel eine hydrophile Kette aus neun ankondensierten Ethylenoxid-Einheiten tr¨agt. Die Alkylphenolethoxyla-
336
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
te werden als Additive in Kunststoffen, als Emulgatoren in Schmier¨olen, Phenolharzklebern, Lacken, Farben und als Netzmittel in Pflanzenschutzmitteln eingesetzt. Die Produktion betr¨agt weltweit etwa 80 000 Jahrestonnen, wovon der gr¨oßte Teil in die Produktion von Nonylphenolethoxylat l¨ auft. Durch einen schnellen prim¨aren biologischen Abbau wird die Ethoxylat-Seitenkette auf ein bis zwei Ethoxylatgruppen verk¨ urzt (AP2EO, AP1EO). Die entstandenen Di- und Monoethoxylate oder ebenfalls gebildeten Carboxylate (APEC) haben keine oberfl¨achenaktive Wirkung mehr. Der folgende Abbau bis zum alkylierten Phenol dauert wesentlich l¨anger. Die o¨strogene Wirkung ist den lipidl¨oslicheren Alkylphenoldiethoxylaten und Alkylphenolmonoethoxylaten und den Alkylphenolen selbst eigen. Toxikologisch wichtig sind die Derivate des 4-tert.-Octylphenol (OP) und 4-Nonylphenol (NP). Als technisches Produkt ist 4-Nonylphenol im Verh¨altnis 9:1 vom 2-Nonylphenol begleitet (isoNP). 4-Nonylphenol gibt es außerdem in verzweigter oder unverzweigter Form (n-NP). Die Bisphenole dienen als Ausgangsstoffe zur Herstellung von Epoxidharzen und Polycarbonaten. Etwa 70 % des Bisphenol A (BPA, Abbildung 7.8) geht durch eine Reaktion mit Phosgen in die Produktion von Polycarbonat, der Rest durch Reaktion mit Epichlorhydrin in die von Epoxidharz. Ein oligomeres Zwischenprodukt hierbei ist der Bisphenol A-Diglycidylether (BADGE). Zahntechnische F¨ ullmassen (Komposite) auf der Basis von Bis-GMA (Bisphenol A-Glycidylmethacrylat) setzen o¨strogenwirksames BPA und BPADimethacrylat frei. In gen¨ ugend ausgeh¨arteten Epoxidharzen, die z. B. zur Innenlackierung von Konservendosen verwendet werden, ist in der Regel kein BPA enthalten. Hitze, wie sie bei der Sterilisation auftritt (121 °C) oder Bedingungen einer Hydrolyse k¨onnen aber hormonaktive Mono- oder Oligomere entstehen lassen, die in fetthaltige Speisen wie Fisch eher eindringen als in Fl¨ ussigkeiten. Meist wird den verwendeten PVC-Organosol-Lacken noch Bisphenol A-Diglycidylether (BADGE) als Stabilisator (HCl-scavenger) zugesetzt, der sich ebenfalls als o¨strogenwirksam erwiesen hat. In technischen Sonderbereichen wird auch nichtpolymerisiertes BPA eingesetzt, darunter in Thermopapier, wo es als Co-Reaktant in der Farbentwicklungsschicht in einem Anteil von 10 kg BPA/t Papier enthalten ist. Deshalb ist Fax-Papier beim Recycling und Entf¨arben (De-inking) eine gr¨oßere Quelle f¨ ur freies BPA, das ins Abwasser und den Kl¨arschlamm gelangt. In der Vulkanisation von Reifen dienen orthosubstituierte Bisphenole als Radikalf¨anger, in Isolierungen f¨ ur Hochtemperaturkabel und in Reifengummi kommt das Monomer als Antioxidans und Stabilisator vor. Die o¨strogene Wirkung von BPA liegt in der ¨ Bindung an den Ostrogen-Rezeptor begr¨ undet. An den menschlichen Brustkrebszellen der Linie MCF-7 l¨ost es die Bildung von Progesteron-Rezeptoren und eine Zellproliferation aus.
7.4 R¨ uckst¨ ande von hormonaktiven Stoffen
337
Eine große Gruppe von etwa 60 verschiedenen Derivaten bilden die Phthalatester. Etwa zwei Drittel der Produktion finden als a¨ußere Weichmacher in PVC-Materialien Verwendung. Hierbei gehen sie mit den Kunststoffen keine Verbindung ein, sondern bleiben lediglich physikalisch darin gel¨ost. Entsprechend schnell k¨onnen sie meist durch Ausgasung (DBP) oder Auswaschung die Matrix verlassen, was in der Regel zur Alterung der Kunststoffe f¨ uhrt. Eine ¨ostrogene Wirkung ist f¨ ur Dibuthylphthalat (DBP) und Benzylbutylphthalat (BBP) beschrieben, nicht dagegen f¨ ur den mengenm¨aßig bedeutendsten Ester das Diethylhexylphthalat (DEHP). BBP wird haupts¨achlich als Weichmacher in PVC-Fußbodenbel¨agen und in Polysulfid-Dichtmassen (Isolierglasscheiben) eingesetzt
7.4.3
Xeno-Androgene
Bisher ist Tributylzinn (TBT, Abbildung 7.8) die einzige Substanz nichtsteroidalen Aufbaus, an der eine androgene Wirkungsqualit¨ at beobachtet wurde. Organozinnverbindungen werden seit 1950 industriell hergestellt. Sie enthalten Zinn in der Oxidationsstufe +4 substituiert mit Butyl-, Heptyl- oder Phenylresten und Halogenen. Das problembehaftete Haupteinsatzgebiet liegt auf dem Sektor der AntifoulingAnstriche von Schiffsr¨ umpfen. Hier verhindert es den Bewuchs mit Seepocken, Muscheln und Algen. Ein Anwendungsverbot besteht allerdings bei Schiffen unter 25 m L¨ange. Unbehandelt w¨ urde ein Luxusliner in sechs Monaten von etwa 1500 t Seepocken besiedelt. Das Auslaugen der Anstriche f¨ uhrt zur Freisetzung des urspr¨ unglich enthaltenen Bis(tri-n-butylzinn)oxids (TBTO), das sich in Meerwasser zu Tributylzinnchlorid (TBT) umwandelt. Bei Meeresschnecken f¨ uhrt die Substanz zu einer Verm¨annlichung der weiblichen Tiere mit der Ausbildung von m¨annlichen Geschlechtsorganen (sog. Imposex) und Unfruchtbarkeit. Die Ursache hierf¨ ur ist in einer Hemmung der Aromatase zu ¨ sehen, die bei der enzymatischen Umwandlung von Testosteron zu Ostrogen essentiell ist. Daneben werden eine Reihe toxischer Wirkungen beobachtet, die nicht auf eine hormonartige Wirkung zur¨ uckgehen. Die Alkylzinnverbindungen werden photolytisch und biotisch schrittweise bis zum anorganischen Stadium desubstituiert.
7.4.4
Xeno-Thyroxine
Verschiedene Xenobiotika weisen eine schilddr¨ usenhormonartige Wirkung auf. Eine solche Wirkungsqualit¨at hat man bei einigen PCB gefunden, die nach Hydroxylierung im Organismus hohe Affinit¨aten zum Transthyretrin, dem Se-
338
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
rumtransportprotein des Thyroxins, haben und letzteres aus seiner Bindung verdr¨angen. Das f¨ uhrt zu einer erh¨ohten Ausscheidung des Hormons. Schilddr¨ usenhormone sind kritisch f¨ ur das Wachstum der Cochlea im Innenohr. An Ratten sind Mangelbildungen der Cochlea und Geh¨orsch¨aden beschrieben, die als Folge der Behandlung tr¨achtiger Muttertiere mit PCB auftraten.
7.4.5
¨ Phyto-Ostrogene
¨ Wichtige Vertreter der Phyto-Ostrogene sind in der Verbindungsklasse der Isoflavone zu finden. Die Substanzen sind vor allem in Pflanzen der Familie der Fabaceen (fr¨ uher Papilionaceen) weit verbreitet. Hier hat sich eine F¨ ulle von strukturell a¨hnlichen Verbindungen entwickelt, von denen in den Bl¨attern des F¨arberginsters (Genista tinctoria) das Genistein als erstes entdeckt wurde. Weitere Vertreter dieser Familie, darunter viele Futterpflanzen und Pflanzen zur Gr¨ und¨ ungung, sind Kleearten (Trifolium), Luzerne (Medicago sativa), Lupinen, Saubohne (Vicia faba), Kichererbse (Cicer ) und die ostasiatische Sojabohne (Glycine soja). Isoflavonreiche Kleesorten (Trifolium subterraneum) f¨ uhrten bei Schafen zu Sch¨aden an den Eierst¨ocken und Fortpflanzungsst¨orungen. Ein wichtiger Vertreter der Isoflavone mit o¨strogener Wirkung ist das Genistein (Abbildung 7.9). Es ist zusammen mit Daidzein in einer Konzentration von je etwa 0,5 g/kg in Sojabohnen enthalten. Daidzein hat eine geringere o¨strogene Wirkung als Genistein, beide Substanzen sind Radikalf¨anger und antioxidativ wirksam. Die Anwendung der Isoflavone kann hilfreich sein Beschwerden w¨ahrend der Postmenopause zu mindern. Nach oraler Gabe und Resorption unterliegen beide Substanzen einer Elimination mit einer Halbwertzeit von ca. 8 Stunden. Neben konjugierten Metaboliten wird nur bei 60 % der Bev¨olkerung auch eine Ausscheidung von Equol, einem hydrierten Metaboliten des Daidzein, gefunden (Abbildung 7.9). Ein weiteres ¨ Phyto-Ostrogen ist das Biochanin-A, ein 4’-Methylether des Genistein. Daidzein kommt in der Wurzel der Pflanze Pueraria labata (Kudzu) als 7 b-Glucosid Daidzin vor. Es wird seit 600 v. Chr. in der chinesischen Medizin zur Behandlung des Alkoholismus angewendet. Die Wirkung beruht auf einer Hemmung der Alkohol-Dehydrogenase. ¨ Neben den Isoflavonen kommt in der Luzerne noch ein weiteres Phyto-Ostrogen vor, das Coumestrol. Seine Grundstruktur enth¨ alt die des C(o)umarins und wird Coumestan genannt. Luzerne ist in Erg¨anzung zu Mais eine n¨ahrstoffreiche Futterpflanze. Sie wird im Englischen nach einem Namen arabischen Ursprungs Alfalfa (al fasfasa, Futter) genannt. Coumestrol kommt in Sprossen von Rotem Klee (red clover), Sojabohnen und in Bl¨attern von Kudzu vor. Es
7.4 R¨ uckst¨ ande von hormonaktiven Stoffen
339
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¨ ¨ Abbildung 7.9 Ostrogen wirksame Substanzen. Phyto-Ostrogene: Das Lignan Matairesinol stellt die Vorstufe f¨ ur das Enterolacton dar, das bakteriell im Colon gebildet wird. Das Enterolacton entsteht analog aus Secoisolariciresinol. Genistein, Daidzein und dessen Metabolit ¨ Equol geh¨ oren zu den Isoflavonen. b-Sitosterol ist in pflanzlichen Olen enthalten, Coume¨ strol wird in Luzerne gebildet. Zearalenon ist ein Myko-Ostrogen aus Fusarium graminearum. Zum Vergleich ist 17b-Estradiol (E2) als genuines Hormon gezeigt. Der Abstand der beiden Hydroxylgruppen betr¨ agt etwa 12 ˚ A.
zeigt o¨strogene Wirkungen auf periphere o¨strogensensitive Gewebe. Die normale Nahrung des Menschen enth¨alt nur geringe Mengen davon. Zur F¨ utterung von Tieren baut man Luzernevariet¨aten mit geringen Coumestrolgehalten an. Ob Phyto¨ostrogene einen Schutz vor der Krebserkrankungen bieten oder selbst eine solche Erkrankung f¨ordern oder gar ausl¨osen k¨onnen, wird kontrovers diskutiert.
7.4.6
¨ Myko-Ostrogene
Zearalenon (F2-Toxin) ist ein vom Schimmelpilz Fusarium graminearum gebildetes Toxin mit einer deutlich ¨ostrogenen Wirkungskomponente. Es han-
340
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
delt sich um einen Vertreter der Resorcyls¨aurelactone (RAL), ein aus neun Acetat-Resten gebildetes Polyketid (Abbildung 7.9). Insgesamt sind 13 verschiedene Vertreter isoliert. Vom Pilz befallen sind haupts¨achlich Gr¨aser und damit k¨onnen alle Getreidefr¨ uchte und daraus erstelltes Tierfutter das Toxin enthalten. In Weizen, Gerste, und Mais findet man Konzentrationen zwischen 900 und 9000 mg/kg. Dies ist verglichen mit der akuten Toxizit¨at (LD50 Ratte, i. p. 5 g/kg KG) unbedenklich, obwohl die Verbindungen hitzestabil sind und den Backprozess u ¨berstehen. Gravierender in den Folgen ist die o¨strogene Wirkung des Zearalenons. Die Verf¨ utterung u ¨berm¨aßig kontaminierten Futters kann bei weiblichen Tieren zu einer Vergr¨oßerung der Genitalien und der Zitzen, einer Uterushypertrophie und einer Verminderung der Fertilit¨at durch eine Ovarienatrophie f¨ uhren. M¨annliche Tiere feminisieren. F¨ ur das sehr schwer wasserl¨osliche Zearalenon besteht ein carry-over-Effekt bei K¨ uhen, die es mit dem aktiven Metaboliten a-Zearalenol, der eine zehnfach st¨arkere o¨strogene Wirkung hat, in die Milch ausscheiden. Bei M¨adchen f¨ uhrt der Verzehr solcher Milch zu einer fr¨ uhzeitigen Geschlechtsreife, bei Frauen zu St¨orungen des Zyklus und bei M¨annern zu einer ¨ Abnahme der Fertilit¨at. Von Zearalenon, das an den intrazellul¨ aren Ostrogenrezeptor bindet, sind mutagene, karzinogene und bei Ratten und Schweinen teratogene Effekte beschrieben. Derivate des Zearaleons werden wegen ihrer anabolen Wirkung in der Veterin¨armedizin eingesetzt.
7.5
Biologische Nachweise von Substanzen o¨strogener Wirkung
7.5.1
Rezeptorbindung (in vitro)
Im einfachsten Testsystem wird die Bindung der zu untersuchenden Substanz ¨ an den Ostrogenrezeptor bestimmt. Hierzu wird in der Regel das den Re¨ zeptor enthaltende Protein bei 4 °C u ¨ber 16 Stunden mit [3 H]-Ostradiol in Anwesenheit oder Abwesenheit verschiedener Konzentrationen der Testsubstanzen inkubiert. Nach der Einstellung eines Gleichgewichts der gegenseitigen Verdr¨angung und der Entfernung des nichtgebundenen Materials wird ¨ gemessen. Je geringer diese Menge das spezifisch gebundene [3 H]-Ostradiol ausf¨allt, desto mehr hat die Testsubstanz am Rezeptor gebunden. Dies kann eine Rezeptorblockade darstellen und eine anti-Hormonwirkung bedeuten. Mit dieser Methode lassen sich nur rezeptorvermittelte Wirkungen finden.
7.5 Biologische Nachweise von Substanzen ¨ostrogener Wirkung
7.5.2
341
E-Screen-Assay
¨ Ostrogen-sensitive Zellen reagieren auf die Anwesenheit o¨strogenwirkender Stoffe mit einsetzender Zellvermehrung. Diese l¨asst sich leicht quantifizieren. In dem als E-Screen bezeichneten Verfahren werden klonierte humane Brustkrebszellen der Linie MCF-7 verwendet. Nach einer bestimmten Wachstumszeit in Anwesenheit der potentiell ¨ostrogenen Testsubstanz, in Anwesenheit der ¨ positven Kontrollsubstanz (meist Ostradiol, E2) und in Abwesenheit jeglicher Zus¨atze wird die Zellzahl gemessen.
75
75
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100
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0 0,1
1 pM
10
100
1 nM
10
100
1 uM
10
100
1 mM
Wirkungsstaerke (efficacy) %
Nach der Aussaat der Zellen wachsen diese innerhalb von 24 Stunden an. Durch einen Mediumwechsel folgt danach die Inkubation mit den Testsubstanzen u ¨ber einen Zeitraum von sechs Tagen hinweg. Die o¨strogen wirkenden Verbindungen ¨ werden in Konzentrationen von 1 nM to 10 mM, das Ostradiol (E2) von 0,1 pM bis 1 nM in Zehnerpotenzschritten eingesetzt. Die Zellen wachsen in dieser Zeit in die sp¨ate logarithmische Phase hinein. Nach ihrer herbeigef¨ uhrten Lyse bestimmt man die Anzahl der Zellkerne in einem Coulter-Counter (Partikelz¨ahlger¨at) und erh¨alt eine Ann¨aherung f¨ ur die Verdopplungszeit (td, t2 ) der Zellpopulationen. Deren genaue Bestimmung w¨are aufw¨andiger, da dann mehrere Messungen der Zellzahl zu verschiedenen Zeitpunkten erforderlich sind.
Wirksamkeit (potency) Abbildung 7.10 Konzentrations-Wirkungskurven eines E-Screen-Assay in halblogarithmi¨ scher Darstellung. DES = Diethylstilb¨ ostrol, E2 = Ostradiol (schwarze Kurve), EE2 = ¨ Ethinylestradiol, Zea = Zearalenon (Myko-Ostrogen), 2’,4’,6’,4-BPh = 2’,4’,6’-Trichlor-4¨ hydroxybiphenyl, Cou = Coumestrol (Phyto-Ostrogen), 4-NPh = 4-Nonylphenol. Zwischen den Kurven von o,p’-DDT = 2,4’-Dichlorphenyltrichlorethan und Txp = Toxaphen liegen auch diejenigen der Substanzen Chlordecon, Endosulfan, Methoxychlor und Dieldrin. F¨ ur die Strukturen siehe Abbildung 7.7, 7.8, 7.9 u. a.
342
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
Die Auswertung unterscheidet zwischen der Wirkungsst¨arke (efficiency, efficacy) und der Wirksamkeit (potency) einer o¨strogenen Aktivit¨at (Wirkungsqualit¨at). Die Wirkungsst¨arke wird an Hand der Proliferation gemessen und gibt an, wie groß der eingetretene Effekt im Vergleich zur positiven Kontrolle war. Diese Angabe wird in Prozent zur Kontrolle ausgedr¨ uckt. Die Wirksamkeit dagegen gibt an, bei welcher Konzentration die Reaktion erfolgt, ob also h¨ohere oder geringere Konzentrationen im Vergleich zur positiven Kontrolle ben¨otigt werden. Den Abstand zwischen den Konzentrationen gibt man als ¨ deren Verh¨altnis an. Uberspannen die verwendeten Konzentrationen viele Zehnerpotenzen bietet sich eine logarithmische Darstellung an. Quotienten werden dann zu Differenzen. Die Auswertung bietet ein klassisches Beispiel f¨ ur eine logarithmische Konzentrations-Wirkungskurve in der toxikologischen Analyse ¨ (Abbildung 7.10, vgl. Abbildung 3.7). Manche Xeno- oder Phyto-Ostrogene erreichen in ihrer Wirkungsst¨arke nicht das 100 % Niveau. Hier liegt entweder ein partieller Antagonismus oder der Einfluss einer zweiten Wirkung vor, n¨amlich der der Toxizit¨at. An MCF-7 Zellen l¨asst sich eine Stimulation durch o¨strogen wirkende Substanzen auch anhand der Expression von o¨strogenresponsiven Genen wie der des schnell ansprechenden pS2 Gens (trefoil factor 1, TFF1; Accession No. X52003) nachweisen. Daneben gibt es eine F¨ ulle von M¨oglichkeiten, mit Hilfe der RT-PCR und cDNA microarrays die Expression anderer o¨strogenresponsiver Gengruppen in verschiedenen Zellinien zu u ¨berpr¨ ufen. Diese Systeme werden in der Diagnose von o¨strogen-sensitiven Tumorerkrankungen verwendet.
7.5.3
¨ Reportergensysteme f¨ ur Ostrogene
Die Expression eines Reportergens ist ein elegantes Verfahren den Induktionsstatus einer Zelle nach Anwendung von o¨strogen wirksamen Substanzen zu verfolgen. Hierzu kann man sich einer o¨strogen sensitiven Brustkrebszelle MCF-7 bedienen. Sie ist von Natur aus mit dem human Estrogen Receptor (hER) ausgestattet. Die Zelle ist nun zus¨atzlich mit einem transienten Reportergen infiziert, das in Anwesenheit von o¨strogen wirksamen Substanzen exprimiert wird und zur Bildung eines Proteins mit enzymatischer Aktivit¨at f¨ uhrt. Meist handelt es sich bei dem Reportergen um das lacZ -Gen, welches die b-Galactosidase kodiert. Das Enzym spaltet die chromogenen Substrate Chlorphenolrot- oder 2-Nitrophenyl-b-Galactopyranosid. Dieses Testprinzip kann auch mit Hilfe transfizierter Hefezellen (Saccharomyces cerevisiae) im Recombinant Yeast Estrogen Assay verfolgt werden (Abbildung 7.11). Die Hefezellen m¨ ussen allerdings, durch ein Plasmid (YEprtER)
7.5 Biologische Nachweise von Substanzen ¨ostrogener Wirkung rtER cDNA
TS E
YEprtER (8,4 kb)
rtER mRNA
TL
343 rtER
E
E E beta-Galactosidase
CYC1-P Plasmid
Genom
E
E
TATA CYC1 lacZ
ERE
Abbildung 7.11 Schema des Recombinant Yeast Estrogen Assay. Die rekombinante Hefe Sac¨ charomyces cerevisiae exprimiert aus YEprtER den Ostrogen-Rezeptor der Forelle (rtER = ¨ rainbow trout Estrogen Receptor). In Anwesenheit eines Ostrogens E kommt es zur Expression der b-Galactosidase, die vom lacZ-Gen codiert wird. TS: Transkription, TL: Translation, ERE: Estrogen responsive elements.
¨ mit einem Ostrogenrezeptor-Gen von Mensch oder Regenbogenforelle (hER oder rtER) ausgestattet, die Rezeptoren stabil exprimieren k¨onnen. Das HefeSystem beinhaltet ein im Genom nach dem CYC 1-Promoter integriertes Reportergen mit zwei o¨strogenresponsiven Elementen und dem lacZ -Gen (2ERECYC 1-lacZ ). ¨ Die Induktion des lacZ -Gens ist streng an die Anwesenheit des Ostrogenre¨ zeptors (ER) und eines Ostrogens oder Mimetikums gekoppelt. Eine von der exprimierten b-Galactosidase katalysierte Farbreaktion dient der Quantifizierung.
7.5.4
Vitellogenin-Test (ex vivo)
In allen eierlegenden Wirbeltierspezies bietet sich an, eine ¨ostrogene Wirkung von Substanzen u ¨ber die Bildung von Vitellogenin (vitellum lat. Dotter) nachzuweisen. Vitellogenin ist der Vorl¨aufer eines Dotterproteins, das nur von adul¨ ten weiblichen Tieren unter Kontrolle von Ostrogen w¨ahrend des Oozytenwachstums in der Leber gebildet wird. Ein Teil des Proteins ist phosphoryliert, ein anderer mit Kohlenhydraten und Lipiden assoziiert. Es wird als Homodimer aus zwei etwa 175 kD schweren Untereinheiten in das Blut abgegeben, von den Eizellen aufgenommen und dort in zwei Lipovitelline und Phosvitin ¨ gespalten. Xeno-Ostrogene induzieren in juvenilen und m¨annlichen Fischen das Vitellogenin, welches als ein Indikator f¨ ur eine Exposition gegen¨ uber einer ¨ostrogen wirksamen Substanz herangezogen werden kann. Die Gewinnung der Plasmaproben ist kritisch, da Vitellogenin durch Abbau leicht zerf¨allt. Die Spezifit¨at der Erkennung des Vitellogenin beruht auf der
344
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe S
S
Substrat TMB Streptavidin-Peroxidase Enzymkonjugat Vitellogenin (biotinyliert oder nativ) spezifische Vitellogenin Antikoerper Beschichtungsantikoerper
Abbildung 7.12 Kompetitiver ELISA auf Vitellogenin. Beschichtungsantik¨ orper halten die gegen das Vitellogenin (VTG) spezifischen Antik¨ orper auf der Unterlage. Die enzymkatalysierte Farbreaktion liefert um so h¨ ohere Farbkonzentrationen (S), je geringer die Konzentration von nativem VTG in der Probe war. Die VTG-Plasmakonzentration l¨ asst sich auch in einem direkten Sandwich ELISA bestimmen.
Verwendung von Antik¨orpern, die gegen das Lipovitellin aus Eiern der Forelle erzeugt wurden. Ausreichende Kreuzreaktionen erlauben die Quantifizierung von Vitellogeninen auch anderer Fischarten. Der sog. Vitellogenin-Test ist ein kompetitiver ELISA (enzyme linked immunosorbent assay). Das Vitellogenin aus der Probe konkurriert mit einem vorgelegten, mit Biotin markierten Vitellogenin um eine begrenzte Anzahl von Bindungsstellen an spezifischen Vitellogenin-Antik¨orpern, die ihrerseits auf einer Oberfl¨ache haften. Nach Einstellung des Gleichgewichts (2 Stunden) wird das ungebundene Material weggewaschen. Das zugegebene Streptavidin-Peroxidase-Konjugat bindet ausschließlich an das biotinylierte Vitellogenin und kann nach Entfernung des ¨ Uberschusses und Zugabe von Tetramethylbenzidin (TMB) u ¨ber eine Farbreaktion quantifiziert werden (Abbildung 7.12). Der Bestimmung von Vitellogenin kann auch als immunhistochemischer Nachweis gef¨ uhrt werden. Die Sichtbarmachung erfolgt dann u ¨ber einen sekund¨aren, an Fluoresceinisothiocyanat (FITC) gekoppelten Antik¨orper nach Anregung mit Licht im Fluoreszenzmikrosop. Versuche mit prim¨aren Leberhepatozyten von Fischen k¨onnen ebefalls genutzt werden, um eine Induktion von Vitellogenin durch o¨strogen wirkende Substanzen auf zellul¨arer Ebene nachzuweisen.
7.5.5
Nagetiere (in vivo)
Sind o¨strogen wirkende Substanzen am S¨augetier zu pr¨ ufen, k¨onnen Nagetiere verwendet werden. Hierf¨ ur werden unreife weibliche Tiere mit der Testsubstanz behandelt und das Uterusgewicht gemessen. An m¨annlichen Tieren kann die Hodengr¨oße und die Spermienzahl als Messparameter dienen. Es ist jedoch darauf zu achten, dass die verschiedenen Inzuchtst¨amme unterschiedlich empfindlich auf Hormonwirkungen reagieren. Zum Beispiel sind M¨ause des Stam¨ mes B6 empfindlicher gegen¨ uber Ostrogenmimetika als solche des Stammes
7.6 Toxizit¨ at technischer Produkte
345
CD-1. Die Auswahl des Stammes hat demnach große Auswirkungen auf die Festlegung von Sicherheitsgrenzwerten.
7.6
Toxizit¨at technischer Produkte
Selten laufen organisch-chemische Reaktionen vollst¨andig ab, noch liefern sie das gew¨ unschte Endprodukt in reiner Form. Da die Abtrennung von Nebenprodukten aufwendig und kostenintensiv ist, unterbleibt sie h¨aufig, und man versucht technische Produkte direkt einzusetzen. Weisen die Nebenprodukte dagegen eine biologische oder toxische Wirkkomponente auf, k¨onnen sogar von kleinen Anteilen sch¨adliche Wirkungen ausgehen. In diesem Zusammenhang war bereits auf die o¨strogene Wirkung des 2,4’-DDT hingewiesen worden, das im 4,4’-DDT als Nebenprodukt (bis 20 %) enthalten ist, und auf die Isomere des HCH. In viel geringerer Konzentration treten TCDD und verwandte Verbindungen bei der Synthese von Derivaten chlor¨ substituierter Phenole auf. Uberschreitungen der optimalen Reaktionstemperaturen beg¨ unstigt die Bildung von Dioxinen oder Furanen. Bei der Herstellung von Hexachlorophen, einem Hautdesinfizienz, war dies fr¨ uhzeitig erkannt worden. In der Reinheitsqualit¨at von > 98 % enthielt es zwischen 15 und 100 mg TCDD/kg. Von TCDD freie Substanz l¨asst sich jedoch durch die Anwendung eines anderen Syntheseweges gewinnen. Zur Behandlung des kreisrunden Haarausfalls (Alopecia areata) wird eine lokale Behandlung der Kopfhaut mit Diphenylcyclopropenon (DCP) erfolgreich angewendet (Abbildung 7.13). Die Therapie basiert auf einer Kontaktsensibilisierung, die durch Auftragen logarithmisch steigender Konzentrationen bis zu einer individuellen Schwelle erreicht wird. Zur Synthese des DCP gibt es drei Verfahren, von denen eines eine im Ames-Test mutagene Zwischenverbindung entstehen l¨asst. Aus Gr¨ unden der Sicherheit sollte das am Menschen angewandte DCP nicht nach diesem Verfahren hergestellt werden. Die fl¨ ussigen perfluorierten Kohlenwasserstoffe Perfluoroctan und Perfluordekalin hoher Dichte dienen bei der operativen Behandlung einer Netzhautabl¨osung am Auge als mechanisches Hilfsmittel, um die Netzhaut faltenfrei an den Augapfel anzudr¨ ucken, damit sie dort fixiert werden kann. Die absolut reinen Perfluorcarbone sind biologisch v¨ollig inert. Dagegen enthalten technische Produkte, wie sie aus der Elektrofluorierung hervorgehen, eine Menge von teilfluorierten und unges¨attigten Verbindungen, die sich durch eine hohe Gewebetoxizit¨at auszeichnen. Die Rohprodukte sind daher vor einer medizinischen Anwendung zur Entfernung toxischer Beiprodukte einem mehrstufigen Reinigungsverfahren zu unterziehen.
346
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
Seit langem ist bekannt, dass der Umgang mit Anilin neben der akuten Erzeugung einer Meth¨amoglobin¨amie langfristig Blasenkrebs, den sog. Anilinkrebs, hervorruft. Diese karzinogene Wirkung scheint, wie sich durch Untersuchung des Materials ergeben hat, nicht vom Anilin selbst, sondern von verschiedenen karzinogenen Verunreinigungen wie b-Naphthylamin oder Benzidin ausgel¨ost worden zu sein (vgl. Seite 359). Auch in der Gewinnung von Naturstoffen ergeben sich a¨hnliche Probleme, da Konzentrate manchmal biologisch hochaktive toxische Bestandteile in geringer Menge enthalten, die vor einer Verwendung erst entfernt werden m¨ ussen. Als Beispiele hierf¨ ur sollen das sensibilisierende Pyrethrosin, die phototoxischen Furanocumarine und das toxische Glycoprotein Ricin im nativen Rizinus¨ol erw¨ahnt werden. Die Synthese von Verbindungen mit chiralen Zentren erweitert das Spektrum der m¨oglichen Begleitprodukte in die andere Richtung. W¨ahrend es sich bisher um geringe Mengen toxischer Verbindungen handelte, besteht mit jedem chiralen Zentrum die M¨oglichkeit der Verd¨ unnung der biologisch aktiven Substanz durch eine wirkungs¨armere oder gar wirkungslose. Als Beispiel hierf¨ ur sei an die Gruppe der Pyrethroide erinnert, die teilweise bis zu drei Chiralit¨atszentren aufweisen. Wirkungsminderung macht in der Regel eine Erh¨ohung der Dosierung erforderlich. Folge ist, dass unn¨otige Mengen wenig wirksamer enantiomerer Biozide oder Arzneimittel durch Biotransformation abzubauen sind.
7.7
Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen
Unter dem Begriff Gefahrstoffe sind nach §19(2) ChemG zusammengefasst: Gef¨ahrliche Stoffe und Zubereitungen (§3a ChemG), explosionsf¨ahige Stoffe, ungef¨ahrliche Stoffe, aus denen gef¨ahrliche Stoffe entstehen k¨onnen, und Materialien, die Krankheitserreger u ¨bertragen k¨onnen. Die gef¨ahrlichen Stoffe weisen eine oder mehrere der folgenden 15 Eigenschaften auf: explosionsgef¨ahr
Abbildung 7.13 Verbindungen, die mit toxikologisch bedenklichen Begleitstoffen verunreinigt sein k¨ onnen. Diphenylcyclopropenon (DCP), Perfluordekalin oder andere Perfluorcarbone wie Perfluoroctan (ohne Abbildung), Hexachlorophen (HCP).
7.7 Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen
347
lich E, brandf¨ordernd O, hochentz¨ undlich F+ , leichtentz¨ undlich F, entz¨ undlich, + sehr giftig T , giftig T, gesundheitssch¨adlich Xn (noxious), a¨tzend C (caustic), reizend Xi (irritant), sensibilisierend, krebserzeugend, fortpflanzungsgef¨ahrdend, erbgutver¨andernd, umweltgef¨ahrlich N. X steht f¨ ur das Symbol des Andreaskreuzes (Pestkreuz). Auf eine Verringerung des Einsatzes und der eventuellen Entstehung von Gefahrstoffen in Arbeitsabl¨aufen wird in §16 GefStoffV nachdr¨ ucklich hingewiesen. Es besteht eine Pflicht zu ermitteln, ob Materialien mit einem geringeren Tabelle 7.1 Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen. Gefahrstoff vermeidbare Gefahr
Substitut bleibende Gefahr
Acrylamid karzinogener Staub, Cat. 2, T Benzol karzinogen, Cat. 1, F T 3-Chlorperbenzoes¨aure explosiv, E Diethylether peroxidbildend, F+ Dimethylsulfat; Methyliodid karzinogen, Cat. 2, T; Cat. 3, T+ Fluor korrosives Gas, T+ C Hexamethylphosphors¨ auretriamid karzinogen, Cat. 2, T n-Hexan toxischer Metabolit, F Xn Methanol toxisch, F T Perchlors¨ aure explosiv, brandf¨ ordernd, O C Phosgen, Carbonylchlorid
Acrylamid 40%ig in Wasser karzinogener Stoff Toluol sch¨ adlich Mg-Monoperoxyphthalat tert.-Butylether Dimethylcarbonat sch¨ adlich Xenondifluorid Feststoff Dimethylethylenharnstoff Cyclohexan, Heptan Ethanol Trifluormethansulfons¨ aure Bis(trichlormethyl)-carbonat (Triphosgen) giftiger Feststoff Schwefel-Paraffin ungiftiger Feststoff Tetrabutylammoniumhexafluorphosphat nicht explosiv Neo-Clear® sch¨ adlich
sehr toxisches Gas, T+ Schwefelwasserstoff sehr toxisches Gas, F+ T+ Tetrabutylammoniumperchlorat explosiv, E Xylole hautresorptiv, Xn
348
Kapitel 7 R¨ uckst¨ ande, technische Produkte und Gefahrstoffe
gesundheitlichen Risiko verf¨ ugbar sind, mit denen das angestrebte Ziel ebenfalls zu erreichen ist. Ein allgemeines Konzept zur Reduktion des Risikos besteht darin, Gase, fl¨ uchtige oder leicht staubende Materialien m¨oglichst durch Feststoffe oder L¨osungen zu ersetzen. Die Nutzung einiger Gefahrstoffe kann durch geschickte Wahl von Verbindungen mit entweder geringerem toxischen Potential oder geringerer physikalischer Gef¨ahrlichkeit vermieden werden, wie Tabelle 7.1 zeigt. Die gesundheitsgef¨ahrdenden Eigenschaften verschiedener L¨osungsmittel wurden ausf¨ uhrlich in Kapitel 5 besprochen. In den meisten F¨allen lassen sich solche Stoffe ohne Nachteile durch ein weniger gef¨ahrliches Substitut ersetzen.
8
Atemgifte Christian Steffen
Die Atmung umfasst folgende drei Abschnitte: Die a¨ußere Atmung, den Gastransport im Blut und die innere Atmung. Zur a¨ußeren Atmung geh¨ort die Aufnahme von O2 und Abgabe von CO2 durch die Lungen und damit eingeschlossen die Gasdiffusion zwischen Lungenbl¨aschen und Blut. F¨ ur den Gastransport im Blut selbst ist besonders das H¨amoglobin in den roten Blutzellen verantwortlich. Unter innerer Atmung versteht man den Gasaustausch zwischen den peripheren Zellen und deren Fl¨ ussigkeit. Atemgifte k¨onnen sowohl den Mechanismus der a¨ußeren Atmung blockieren, mit dem Gastransport im Blut interferieren als auch die innere Atmung hemmen.
8.1
Toxische Effekte auf die a¨ußere Atmung
Eine Einteilung von gasf¨ormigen Schadstoffen erfolgt nach ihrer Wasserl¨oslichkeit, welche die Eindringtiefe in die funktionellen Abschnitte der Lunge bestimmt. Die drei Abschnitte sind der obere, der mittlere und der untere Respirationstrakt (siehe Kapitel 2.1.4). Schadstoffe mit großer Wasserl¨oslichkeit reagieren mit den feuchten Schleimh¨auten im Rachen sowie mit denen in der oberen Luftr¨ohre und kommen deswegen oft nicht weit u ¨ber den oberen Respirationstrakt hinaus. Dazu geh¨oren Acrolein, Ammoniak, Chlorwasserstoff, Dischwefelchlorid, Fluorwasserstoff und Formaldehyd (Tabelle 8.1). Dabei reagieren die Schleimh¨aute des Auges, des Nasen-Rachenraumes und des Kehlkopfes ¨außerst empfindlich, w¨ahrend in den tieferen Abschnitten der Reiz und damit Warnwirkungen fehlen. Die Substanzen k¨onnen im oberen Respirationstrakt Entz¨ undungen, Ver¨atzungen und Narbenbildung hervorrufen. Ammoniak bildet bei seiner L¨osung in Wasser kleine Mengen von Ammoniumhydroxid, das eine deutliche alkalische Wirkung entfaltet, worauf haupts¨achlich sein toxischer Effekt zur¨ uckzuf¨ uhren ist. Typisch sind f¨ ur Ammoniak ein Stimmritzenkrampf und ein Kehlkopf¨odem.
350
Kapitel 8 Atemgifte
Im mittleren Respirationstrakt rufen Schadstoffe mit mittlerer Wasserl¨oslichkeit wie Brom, Chlor und Schwefeldioxid eine vermehrte Schleimabsonderung mit Hustenreiz und Bronchokonstriktion hervor. Dies kann zu st¨ arkster Atemnot und reflektorischem Atemstillstand f¨ uhren. Als Sp¨atfolgen treten Entz¨ undungen der Bronchien und des Lungengewebes auf. Ein Reizgas mit nur geringer Wasserl¨oslichkeit und lipophilen Eigenschaften dringt bis tief in den unteren Respirationstrakt ein. Morphologisch ist das der Abschnitt mit den kleinsten Bronchien, den Bronchioli respiratorii, und den Lungenbl¨aschen (Abbildung 2.5). Dieser untere Abschnitt ist auch der empfindlichste Bereich der Lunge, der mit allen Zeichen einer florierenden Entz¨ undung reagieren kann. Dabei erzeugt der chemische Reizstoff eine Erh¨ohung der Permeabilit¨at der Epithelzellen des Lungenendabschnittes und der angrenzenden Kapillargef¨aße. Als Folge tritt Fl¨ ussigkeit in den Zwischenzellraum ein und die Epithelzellen schwellen an ¨ (Odem). Dies bewirkt in den Lungenbl¨aschen eine Verl¨angerung der effektiven Diffusionsstrecke f¨ ur O2 und CO2 zum Blut und dadurch bedingt einen verminderten Gastransport. Wegen der schlechteren Wasserl¨oslichkeit des O2 wirkt sich dies besonders auf die Sauerstoffs¨attigung des H¨amoglobins aus. Der Vergiftete zeigt auf Grund der Sauerstoffunters¨attigung des H¨amoglobins eine grau-blaue Hautfarbe (graue Zyanose). Mit zunehmender Kapillar- und Gef¨aßerweiterung wird auch die Abdiffusion von CO2 erschwert und ein vermehrter Fl¨ ussigkeitseinstrom in die Lungenbl¨aschen f¨ ullt diese vollst¨andig mit ¨ Odemfl¨ ussigkeit aus. Damit ist der lebensbedrohende Zustand des toxischen Lungen¨ odems erreicht. Als Beispiele f¨ ur Substanzen gelten Cadmiumoxid, Chlor, Ozon, Isocyanate, Phosgen und Stickstoffdioxid. Wird das toxische Lungen¨odem u ¨berstanden, so kommt es zur Bildung bindegewebiger Narben in der Lunge. Die Funktionsf¨ahigkeit der Atemoberfl¨ache wird dadurch irreversibel verkleinert. Im Fr¨ uhstadien ist das Ausmaß der Lungensch¨adigung nur schwer zu beurteilen, es sollte darum bei den Vergifteten jede k¨orperliche Anstrengung vermieden werden. Ein toxisches Lungen¨odem kann mit einer Latenz bis zu 24 Stunden nach der Vergiftung auftreten. F¨ ur eine Vergiftung mit Phosgen ist eine Latenzperiode von mehreren Stunden typisch. Unter qu¨alendem Husten mit br¨aunlich-schaumigem Auswurf und zunehmender Atemnot entwickelt sich danach rasch eine schwere Zyanose (blaurote F¨arbung von Haut und Schleimh¨auten infolge Sauerstoffunters¨attigung des H¨amoglobins). In vielen F¨allen tritt in diesem Stadium des toxischen Lungen¨odems der Tod durch Ersticken ein. Mengen u ¨ber 50 ppm Phosgen k¨onnen schon innerhalb weniger Minuten zum Tode f¨ uhren.
8.1 Toxische Effekte auf die a¨ußere Atmung
351
¨ Tabelle 8.1 Ubersicht u ¨ber Lungenreizstoffe, ihren Wirkort im Lungenabschnitt und Auftreten einer Latenz* bis zum Ausbruch der Erkrankung. Respirationstrakt
Beispiele von Substanzen
Oberer
Acrolein, Ammoniak, Chlorwasserstoff, Dischwefelchlorid, Fluorwasserstoff, Formaldehyd Brom, Chlor und Schwefeldioxid Cadmiumoxid, Chlor, Ozon*, Isocyanate, Phosgen*, Stickstoffdioxid
Mittlerer Unterer
Der genaue molekulare Wirkungsmechanismus des Phosgens ist unbekannt. Es wird eine Reaktion mit Proteinen vermutet, die zum Absterben der Zellen f¨ uhrt. Eine spezifische Therapie des toxischen Lungen¨odems existiert nicht. Sie beschr¨ankt sich lediglich auf symptomatische Maßnahmen, wie entz¨ undungshemmende Glucocorticoid-Trockenaerosole, Sauerstoffzufuhr, Herz- und Kreislaufunterst¨ utzung und gegebenenfalls eine Verhinderung der Schaumbildung in der Lunge.
8.1.1
Toxizit¨at des Sauerstoffs
Sauerstoff ist zu 21 % als lebenswichtiges Element in der Luft enthalten, er kann in h¨oheren Konzentrationen auf die Lungen toxisch wirken. In der Lunge sind eine Reihe von biologischen Systemen vorhanden, welche die F¨ahigkeit besitzen aus Sauerstoff zytotoxische Sauerstoffradikale zu produzieren, insbesondere das Superoxid-Anion. Es entsteht als Nebenprodukt bei der mitochondrialen Atmung und seine Bildung ist direkt proportional der Sauerstoffspannung. Zu den Systemen geh¨oren weiter die mikrosomalen Cytochrom P-450 Monooxygenasen, die Xanthinoxidase und die Prostaglandin-Synthase (siehe Kapitel 2.5.1, Phase-I-Reaktion). W¨ahrend der Phagozytose durch Granulozyten, Monozyten und Makrophagen (Fresszellen) produziert die membrangebunde¨ ne NADPH-Oxidase im Uberschuss Superoxid-Anion-Radikale als toxisches Instrument gegen Bakterien und Partikel. Sie entstehen auch bei einfachen Autooxidationsvorg¨angen in der Zelle, z. B. unter Mitwirkung von Flavinen oder Hydrochinonen. Diese Beispiele sind nicht vollst¨andig, sie sollen nur auf die vielseitigen M¨oglichkeiten zur Bildung dieser und anderer Sauerstoffradikale in der Lunge hinweisen. Das Superoxid-Anion kann entweder direkt toxisch auf Bestandteile der Zelle wirken oder u ¨ber spezielle Entgiftungsreaktionen des Stoffwechsels in weniger reaktive Sauerstoffspezies umgewandelt werden. Die wichtigsten Enzymsyste-
352
Kapitel 8 Atemgifte
½ O 2 + H 2O Katalase
.
2 O2 + 2 H +
SOD
O2 + H 2O2
2 GSH GSH-POD
2 H 2O
Protein-SH GSH
NADP+
GlutathionReduktase
GSH
GSSG
GSSG
Protein-SSG
Thioltransferase
GSH
NADPH + H +
Abbildung 8.1 Schema der enzymatischen Entgiftung von Superoxidanion (O·− 2 ) mit Folgeprodukten. Superoxiddismutase (SOD), Glutathion-Peroxidase (GSH-POD), Glutathion (GSH), Glutathiondisulfid (GSSG) und Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid-Phosphat (NADP+ ).
me hierf¨ ur sind die Superoxid-Dismutasen, die Katalase und die GlutathionPeroxidase (Abbildung 8.1). Die Superoxid-Dismutasen sind Metalloproteine, die das Superoxid-Anion in sehr schneller Reaktion zu O2 und H2 O2 dismutieren. Das weniger toxische H2 O2 kann durch die Katalase zu Sauerstoff und Wasser gespalten werden. Die freien Radikale wie das Superoxid-Anion und das noch reaktivere HydroxylRadikal sch¨adigen Zellmembranen und besonders Enzyme mit funktionellen Sulfhydrylgruppen. Der Mechanismus einer Radikalsch¨adigung der Zellmembran wurde ausf¨ uhrlich bei den organischen L¨osungsmitteln am Beispiel des Tetrachlormethans dargestellt (Abbildung 5.8). Zum biologischen Monitoring dieser Reaktionen dienen die Produkte der Lipidperoxidation: konjugierte Diene, Malondialdehyd und in der Atemluft Ethan und Pentan. Außer den Enzymen Superoxiddismutase, Glutathion-Peroxidase und Katalase bieten auch Radikalf¨anger wie Vitamin E (a-Tocopherol) einen Schutz.
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut
353
Unter den Bedingungen der normalen Sauerstoffkonzentration in der Atemluft wird das H¨amoglobin im Blut w¨ahrend seiner Lungenpassage nahezu vollst¨andig mit Sauerstoff ges¨attigt. Die Einatmung von reinem Sauerstoff f¨ uhrt bei Tier und Mensch innerhalb von wenigen Tagen zu einer Lungensch¨adigung. Zuerst werden die Endothelzellen der Kapillaren gesch¨adigt, dann die Lungenzellen, welche die Alveolen auskleiden, schließlich tritt ein Lungen¨odem ein. Versuchstiere, die einige Tage bei einem Sauerstoffgehalt von 85 % gehalten werden, entwickeln eine Toleranz gegen¨ uber Sauerstoff. Dies geht mit einer Erh¨ohung der antioxidativen Enzyme im Lungengewebe einher. ¨ Ahnliches ist auch nach Gabe von a-Naphthylthioharnstoff (ANTU) zu beobachten (MAK-Wert 0,3 mg/m3 gemessen als einatembare Fraktion). Das Rodentizid verursacht an Ratten ein Lungen¨odem. Eine Vorbehandlung der Tiere mit sehr kleinen noch nicht toxischen Dosen bewirkt innerhalb von 24 Stunden eine Toleranzentwicklung. Dann vertragen diese Tiere bis zum Hundertfachen der u ¨blichen t¨odlichen Dosis. Andererseits f¨ uhren zus¨atzliche oxidative Belastungen, wie die vermehrte Bildung von Sauerstoffradikalen nach Paraquat, bereits durch normale Sauerstoffkonzentrationen zu einer Lungensch¨adigung.
8.2
Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut
Die physikalische L¨oslichkeit von Sauerstoff in Blutplasma ist mit 3,2 ml O2 pro Liter Plasma gering, dagegen kann das in den roten Blutzellen enthaltene H¨amoglobin maximal 220 ml O2 pro Liter Erythrozyt binden. Aus diesem Grund ist f¨ ur eine effektive Sauerstoffversorgung der Peripherie der Transport u ¨ber die Bindung an H¨amoglobin unerl¨asslich. Die O2 -Bindung erfolgt reversibel an das zweiwertige H¨amoglobin-Eisen (Hb Fe2+ · O2 oder k¨ urzer Hb · O2 ). Eine Beeintr¨achtigung des Transports f¨ uhrt zur Unterversorgung des Organismus mit Sauerstoff.
8.2.1
Kohlenmonoxid
Eine der h¨aufigsten Vergiftungen vor der Einf¨ uhrung des Erdgases (Methan) war die Vergiftung durch Kohlenmonoxid (MAK-Wert 35 mg/m3 , 30 ppm) dessen Anteil im Leuchtgas bei 15 % lag. Als ubiquit¨ar vorkommendes Molek¨ ul l¨ost es auch heute nicht selten Vergiftungen aus. Ursache hierf¨ ur k¨onnen offene Heizungen bei schlechter Luftzufuhr oder Autoabgase sein.
354
Kapitel 8 Atemgifte
Da die Affinit¨at des Kohlenmonoxids zum H¨amoglobin etwa 300-mal gr¨ oßer ist als die des Sauerstoffs, reichen niedrige Kohlenmonoxidkonzentrationen aus, um einen großen Teil des H¨amoglobins in Carboxyh¨amoglobin (Hb · CO) umzuwandeln. 100 pp CO in der Luft f¨ uhren zu 15 % Hb · CO, 1000 ppm zu mehr als 60 % Hb · CO. Ist das Gesamth¨amoglobin bereits durch eine Blutarmut (An¨amie) vermindert, treten toxische Effekte schon bei niedrigeren COKonzentrationen auf. Entscheidend f¨ ur das Auftreten der Vergiftung ist das noch verf¨ ugbare Oxyh¨amoglobin (Hb · O2 ). Zeichen des Sauerstoffmangels im Gewebe sind Kopfschmerzen, Schwindel, ¨ Schw¨ache, Sehst¨orungen und Ubelkeit. Es kommt weiter zu einer Steigerung der Atmung, die schließlich in eine Ateml¨ahmung u ¨bergeht. Außerdem treten Bewusstseinstr¨ ubungen und Kr¨ampfe durch den Sauerstoffmangel im Gehirn ein und der Kreislauf versagt. Als a¨ußeres Zeichen ist die kirschrote Farbe der Haut kennzeichnend f¨ ur eine Vergiftung mit Kohlenmonoxid. Betragen die Konzentrationen an Kohlenmonoxid in der Atemluft 1 % und mehr, tritt Tod durch fehlenden Sauerstoff (Anoxie) in wenigen Minuten auf. Die Geschwindigkeit der Vergiftung ist dabei nicht nur von der Konzentration in der Atemluft abh¨angig, sondern auch von der k¨orperlichen Belastung, da ein h¨oheres Atemminutenvolumen auch zu einer schnelleren S¨attigung des Blutes mit Kohlenmonoxid f¨ uhrt. Die Therapie der Kohlenmonoxid-Vergiftung besteht in der Zufuhr von Frisch¨ luft bzw. von reinem Sauerstoff, ggf. unter Uberdruck (Gef¨ahrdung des Helfers und eine m¨ogliche Explosionsgefahr). G¨ unstig ist auch die Steigerung der Spontanatmung durch Anwendung von Sauerstoff, dem 5 % Kohlendioxid beigemischt sind (Carbogen® ). Durch eine intensive Beatmung mit normobarem Sauerstoff kann Kohlenmonoxid mit einer Halbwertszeit von ca. 60 bis 80 Mi¨ nuten ausgeschieden werden, so dass sich eine Uberdruckbeatmung allein aus zeitlichen Gr¨ unden in den meisten Vergiftungsf¨allen er¨ ubrigt. Eine bei der Vergiftung entstehende Acidose darf dabei nicht u ¨bersehen werden und muss fr¨ uhzeitig behandelt werden.
8.2.2
Meth¨amoglobinbildner
Wird das zweiwertige Eisen des H¨amoglobins (Hb) oxidiert, so entsteht Meth¨amoglobin (Met-Hb, fr¨ uher H¨amiglobin). Letzteres bindet keinen Sauerstoff, da das Eisen mit Wasser als sechstem Liganden koordinativ besetzt ist (Hb Fe3+ · H2 O). In den roten Blutzellen reduzieren verschiedene Enzyme, vor allem die Meth¨amoglobin-Reduktase, das anfallende Meth¨amoglobin zu funktionst¨ uchtigem H¨amoglobin, so dass im Blut der Anteil an Meth¨amoglobin normalerweise nicht u ¨ber 1 % ansteigt. Die Energie f¨ ur die Reduktion wird
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut
355
durch aktive Stoffwechselleistungen der Glycolyse und des Pentoseabbauweges in den Erythrozyten bereitgestellt. Beim Glucoseabbau entstehen ATP und Reduktions¨aquivalente in Form von NADPH und NADH. ATP wird f¨ ur die Kationenpumpen (Na+ -K+ -ATPase, Ca2+ -ATPase) und zur Aufrechterhaltung der Membranstruktur ben¨otigt, NADPH ist unter anderem notwendig, um mit Hilfe der Glutathion-Reduktase Glutathion zu regenerieren (Abbildung 8.1). Glutathion ist das wichtigste Antioxidans der roten Blutzellen, das als Coenzym bei der Reduktion von Meth¨amoglobin wirkt. Weiterhin dient NADH zur Reduktion von Meth¨amoglobin durch die Meth¨amoglobinReduktase in folgendem Reaktionsablauf: 4 Hb[Fe3+ ] + 2 NADH → 4 Hb[Fe2+ ] + 2 NAD+ + 2 H+ Diese wenigen Aufz¨ahlungen aus dem Stoffwechsel der roten Blutzellen sollen darauf hinweisen, wie komplex die zentrale Funktion des Sauerstofftransports geregelt ist. Im Prinzip ist jeder hemmende Eingriff in den Stoffwechsel und jede St¨orung der Barrierefunktion der Membran mit einer vermehrten Bildung von Meth¨amoglobin verbunden. Unter diesem Aspekt ist die Zuordnung der Substanzen zu den direkten und indirekten Meth¨ amoglobin-Bildnern außerordentlich schwierig. Letztere sind erst nach einer Biotransformation hierzu in der Lage. Eine Meth¨amoglobin¨amie ¨außert sich in einer blaugrauen F¨arbung der Haut. Ein Anteil von 10 % Meth¨amoglobin ist bereits deutlich sichtbar, ab 30 bis 40 % treten Kopfschmerzen und Atemnot auf und mehr als 70 % sind t¨odlich. Die physiologische Meth¨amoglobin-Reduktase hat eine begrenzte Kapazit¨at und kann eine toxische Meth¨amoglobin¨amie nur sehr langsam korrigieren. 8.2.2.1
Direkte Meth¨amoglobinbildner
Chlorate oxidieren das Eisen des H¨amoglobins. Dabei beschleunigt das entstehende Meth¨amoglobin die Reaktion autokatalytisch. Parallel zur Bildung des Meth¨amoglobins erfolgt auch ein Absinken der Glutathion-Konzentration, eine Vernetzung der Membranproteine, eine Abnahme der Verformbarkeit der Zellen, die f¨ ur einen Durchtritt durch die engen Kapillaren notwendig ist, und eine Zunahme der Kationenpermeabilit¨at der Membranen. Diese wenigen Effekte zeigen schon, wie schwierig es ist, die eigentliche Ursache f¨ ur die Bildung von Meth¨amoglobin an roten Blutzellen herauszufinden. In die gleiche Gruppe werden auch Perchlorate, Nitrit, H2 O2 , Kaliumhexacyanoferrat(III), Chromat, Kupfer(II)-Salze, Hydroxylamin, NO, NO2 , Stickstofftrifluorid, Tetranitromethan, Chinone und chinoide Substanzen eingeordnet.
356
Kapitel 8 Atemgifte
¨ Therapeutische Uberdosierungen mit Vitamin K3 (Menadion) produzieren neben einer Meth¨amoglobin¨amie eine H¨amolyse. W¨ahlt man das H2 O2 aus der obigen Gruppe aus und betrachtet seine vielf¨altigen toxischen Effekte auf die roten Blutzellen, so findet man neben Meth¨amoglobin auch andere H¨amoglobinoxidationsprodukte wie Verdoglobin (Aufspaltung des Tetrapyrollringes des H¨amoglobins f¨ uhrt zum Verdoglobin). Mit zweiwertigem Eisen bildet sich das hochtoxische Hydroxyl-Radikal (OH• ), und es treten Membrandefekte bis zur H¨amolyse auf. Daraus gewinnt man den Eindruck, dass bei der toxischen Wirkung von H2 O2 die direkte Meth¨amoglobinbildung sicherlich nicht im Vordergrund steht. Die Bildung von Meth¨amoglobin mit Nitrit verl¨auft in Abwesenheit und in Anwesenheit von Sauerstoff nach unterschiedlichen Mechanismen. Unter experimentellen anaeroben Bedingungen erzeugt ein Mol Nitrit jeweils ein Mol Meth¨amoglobin und Nitroso-H¨amoglobin (Hb · NO). Unter aeroben, physiologischen Verh¨altnissen wird parallel zur Oxidation von Nitrit zu Nitrat auch oxygeniertes H¨amoglobin (Hb · O2 ) in Meth¨amoglobin umgewandelt. Diese Reaktion, deren genauer Mechanismus noch nicht bekannt ist, wird als gekoppelte Oxidation bezeichnet. Die Summenreaktion l¨asst sich folgendermaßen darstellen: 2+ NO− · O2 + H2 O → 2 + Hb Fe
Hb Fe2+ + H2 O2
→
2+ NO− + H2 O2 3 + Hb Fe
Hb Fe3+ · OH− + OH•
Nitrate k¨onnen durch Mikroorganismen, die im menschlichen Darm reichlich vorkommen, in Nitrit umgewandelt werden. Aus diesem Grunde z¨ahlt man auch Nitrate zu den Meth¨amoglobinbildnern. Besonders gef¨ahrdet sind S¨auglinge, die eine hohe Darmbakterienaktivit¨at aufweisen. Durch nitratreiche Brunnenwasser oder nitratged¨ ungte Gem¨ use besteht die Gefahr, dass sie an einer Meth¨amoglobin¨amie erkranken. Vor u ¨ber 1000 Jahren wurde zur Konservierung des Fleisches das Prinzip des P¨ okelns“ erfunden. Dabei wird Fleisch mit einem Gemisch aus NaCl, NaNO2 ” und NaNO3 behandelt. Seine Hauptwirkung besteht im Abt¨ oten von Bakterien, welche Fleischvergiftungen verursachen. Als Wirkungsmechanismus wurde die Freisetzung von NO aus NaNO2 erkannt. NO bindet an funktionelle Proteine der Bakterien und t¨otet sie ab. Als Nebenwirkung resultiert die Bindung von NO an H¨amoproteine, die das gep¨okelte Fleisch rot und damit frisch aussehen lassen.
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut
8.2.2.2
357
Indirekte Meth¨ amoglobinbildner
Nicht nur aus Nitrit entsteht NO, sondern auch aus den sog. organischen Nitraten wie Glycerintrinitrat (Nitroglycerin), Isorbit-2,5-dinitrat, Isosorbitendo-5mononitrat, Pentaerythritoltetranitrat und aus Amylnitrit, einem organischen Nitrit. Durch metabolische Reaktionen kommt es zu einer Freisetzung von NO. In der Medizin werden Nitrate“ wegen der schnellen gef¨aßerweiternden Wirkung des ” entstehenden NO, besonders bei Verengung der Herzkranzgef¨aße therapeutisch genutzt. Mit H¨amoglobin erzeugt NO ein instabiles Nitroso-H¨amoglobin, welches schnell in Meth¨amoglobin u ¨bergeht. Nach therapeutischer Anwendung werden jedoch keine toxikologisch relevanten Mengen an Meth¨amoglobin gebildet. Dagegen wurde bei exzessivem Inhalieren (Schn¨ uffeln) von Amylnitrit,
NO 2 +++
HbFe
-
OH + OH
Reduktion
6-Phosphogluconat G6PDH Glucose6-phosphat
NADPH + H+
++
NO
HbFe
NHOH
HbFe
+ H2O 2
Diaphorase
NADP
+
++
O2
Oxidation NH2
Abbildung 8.2 Schema der gekoppelten Oxidation (Co-Oxidation) von H¨ amoglobin (HbFe++ · O2 ) zu Meth¨ amoglobin (HbFe+++ · OH− ) durch Phenylhydroxylamin im KieseZyklus. Das entstehende Nitrosobenzol wird durch eine NADPH-abh¨ angige Diaphorase wieder zu Phenylhydroxylamin reduziert. Dieser Kreisprozess kann mehrere Mole H¨ amoglobin oxidieren. Die Regeneration des NADPH erfolgt u ¨ber die Glucose-6-Phospat-Dehydrogenase (G6PDH) im Pentosephospat-Weg.
358
Kapitel 8 Atemgifte
Isoamylnitrit und Butylnitrit eine Meth¨amoglobin¨amie beschrieben. Auch Arbeiter der Sprengstoffindustrie leiden an dieser Erkrankung. Als typisch indirekte Meth¨amoglobinbildner gelten die aromatischen Nitro- und Aminoverbindungen. Sie werden im Organismus durch Oxidation oder Reduktion in die gemeinsame Wirkform, ein Hydroxylamin, umgewandelt (Abbildung 8.2). Die Oxidation von H¨amoglobin zu Meth¨amoglobin vollzieht sich in einem Kreisprozess, der nach seinem Entdecker Manfred Kiese Kiese-Zyklus“ benannt ist. ” Hier wird das Phenylhydroxylamin zu Nitrosobenzol oxidiert, einem der st¨arksten indirekten Meth¨amoglobinbildner. Da die metabolische Aktivierung der aromatischen Amino- und Nitroverbindungen Zeit ben¨otigt und der Kreisprozess lange anh¨alt, unterscheidet sich die Kinetik grunds¨atzlich von der Kinetik der sog. direkten Meth¨amoglobinbildner. Bei Nitraten wird die Anfangsgeschwindigkeit von der schnellen Resorption, und das Abklingen von der Kapazit¨at der Meth¨amoglobin-Reduktase bestimmt. Zu den Verbindungen, die nach metabolischer Aktivierung Meth¨amoH
Methylenblau N (H3C)2N
S
N N(CH3) 2
-
Cl
(H3C)2N
oxygeniertes ++ Hämoglobin HbFe O 2 NADP
S
+++
HbFe
N(CH3) 2
-
OH Methämoglobin
NADPH + H+
+
H N
N (H3C)2N
S Leukomethylenblau
N(CH3) 2
(H3C)2N
S
-
Cl
N(CH3) 2
Abbildung 8.3 Schema der zweifachen Wirkung von Methylenblau auf H¨ amoglobin. Erstens wird die Bildung von Meth¨ amoglobin durch die Reduktion von Methylenblau zu Leukomethylenblau bewirkt. Zweitens: F¨ orderung der R¨ uckbildung von Meth¨ amoglobin u ¨ber eine Kopplung an das NADPH-System.
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung
359
globin bilden, geh¨oren gewerbliche Gifte und Medikamente. Im einzelnen sind dies Anilin, Chloranilin, Nitroanilin, Toluidin, Xylidin, Benzidin, Naphthylamin, Azofarbstoffe, Nitrobenzolderivate und Trinitrotoluol. Als Medikamente sind zu nennen Sulfonamide, Primaquin, Phenazopyridin, Nitrofurantoin, Metoclopramid, Procain, Benzocain, Acetanilid und Phenacetin. Zur Therapie der Meth¨amoglobin¨amie werden Redoxfarbstoffe eingesetzt. Eine erhebliche Steigerung der Reduktionsgeschwindigkeit des Meth¨amoglobins kann durch intraven¨ose Gaben von Methylenblau (Abbildung 8.3), Toluidinblau oder Thionin erzielt werden. Diese Redoxfarbstoffe u ¨bertragen Reduktions¨aquivalente von NADPH auf Meth¨amoglobin bis zu einem Redoxgleichgewicht, das bei etwa 10 % Meth¨amoglobin erreicht ist. Methylenblau hat deshalb zwei verschiedene Wirkungen: Beim Gesunden ist es ein schwacher Meth¨amoglobinbildner und beim Vergifteten senkt es schnell zu hohe Konzentrationen an Meth¨amoglobin auf nicht mehr bedrohliche ab. Voraussetzung f¨ ur die Wirkung dieser Redoxfarbstoffe ist eine funktionsf¨ahige Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase. Wird eine Meth¨amoglobin¨amie durch Chlorat hervorgerufen, f¨ uhrt eine schnelle Inaktivierung der Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase in den roten Blutzellen zur Unwirksamkeit einer Therapie mit Methylenblau.
8.3
Toxische Effekte auf die innere Atmung
8.3.1
Vergiftung durch Cyanwasserstoff (Blaus¨ aure)
Am Endpunkt der Atmungskette in den Mitochondrien steht die Reduktion von Sauerstoff durch die Cytochrom-c-Oxidase (Cytochrom a3 ). Dieses Protein enth¨alt im Enzymkomplex 2 H¨ameisen und zwei Kupferatome an die sich Cyanid jeweils binden kann. Entscheidend ist jedoch f¨ ur den komplizierten Mechanismus, dass sich das Cyanid-Anion mit hoher Affinit¨at an dreiwertiges Eisen bindet und somit die Funktion der inneren Zellatmung blockiert. Der einsetzende Energiemangel im Gehirn f¨ uhrt zu Bewusstseinsverlust und Kr¨ampfen, bei h¨oheren Cyanid-Dosen kommt es zum Funktionsausfall anderer Organe und zum Herzstillstand. Auch Enzyme wie die Carboanhydrase, die zur schnellen Bildung von Hydrogencarbonat erforderlich ist, werden durch Cyanid gehemmt. Bei der Cyanidvergiftung wird die Atmung zun¨achst forciert und das Blut zeigt eine hellrote Farbe infolge des fehlenden Sauerstoffverbrauchs an.
360
Kapitel 8 Atemgifte
Carl Wilhelm Scheele isolierte erstmals die leicht fl¨ uchtige Blaus¨aure aus Berliner Blau (Preußischblau, Fe4 [Fe(CN)6 ]3 ). Er starb an einer inhalativen Blaus¨aurevergiftung, als er eine Phiole mit HCN zerbrach. Zahlreiche Pflanzen enthalten Inhaltsstoffe, aus denen Blaus¨aure metabolisch freigesetzt werden kann. Es sind meist cyanogene Glycoside, wie sie in Bittermandeln, Aprikosen und im Kirschlorbeer vorkommen. Im medizinischen Bereich sind Natriumprussid und Amygdalin als Ursachen von Cyanidvergiftung beschrieben worden. Todesf¨alle werden meist durch Inhalation von Blaus¨aure in der chemischen Industrie, bei der Sch¨adlingsbek¨ampfung oder durch Verschlucken von Cyaniden verursacht (MAK-Wert 2,1 mg/m3 , 1,9 ppm). Durch die Magens¨aure (pH≈1) wird aus den Cyaniden sehr schnell die frei diffusible Blaus¨aure gebildet. Rauchgase k¨onnen ebenfalls bei Verbrennung von Polyacrylnitril und Polyurethanschaum erhebliche Mengen von Blaus¨aure enthalten. Die t¨odliche Dosis betr¨agt 1–2 mg/kg K¨ orpergewicht, durch die Inhalation von Konzentrationen von 300 bis 500 ppm tritt der Tod in wenigen Minuten ein. Auch eine Vergiftung durch Aufnahme u ¨ber die Haut ist m¨oglich. Der K¨orper entgiftet Cyanid langsam durch Bildung von Thiocyanat (Rhodanid), das im Urin ausgeschieden wird. Seine Bildung durch das mitochondriale Enzym Rhodanese in Leber und Niere betr¨agt beim Erwachsenen etwa 2 mmol/min. Begrenzt wird die Reaktion durch die Verf¨ ugbarkeit von Schwefel, so dass die Entgiftung von Cyanid durch die Zufuhr von Natriumthiosulfat, dem bisher wirksamsten Schwefeldonator, erheblich gef¨ordert werden kann. Die Komplexierung von Cyanid an dreiwertiges Eisen wird durch Oxidation des Eisens im H¨amoglobin und Myoglobin therapeutisch ausgenutzt. Letztere l¨ asst sich durch Inhalation von Amylnitrit oder als Gabe von Natriumnitrit bzw. 4-Dimethylaminophenol ausl¨osen. Eine Abdissoziation des Cyanids von der Cytochrom-c-Oxidase erfolgt, wenn das dreiwertige Eisen im Meth¨amoglobin ¨ im Uberschuss vorliegt. Das im Gleichgewicht entstehende Cyan-Meth¨amoglobin l¨asst jedoch Cyanid langsam wieder frei, welches enzymatisch u ¨ber Tage hinweg zu Rhodanid (Thiocyanat) umgewandelt und u ¨ber die Niere ausgeschieden wird. Seine Toxizit¨at betr¨agt nur etwa ein Zehntel der des Cyanids. Wird eine Vergiftung u ¨berlebt, bleiben im Gegensatz zu der mit Kohlenmonoxid in der Regel keine Sch¨aden zur¨ uck. Andere therapeutische M¨oglichkeiten der Komplexbildung von Cyanid haben sich nicht bew¨ahrt wegen zu großer Nebenwirkungen oder Interferenzen mit der therapeutischen Zufuhr von Natriumthiosulfat. Dazu geh¨ort die Gabe von DiKobalt-EDTA und Hydroxocobalamin (Vitamin B12a ). Das erste verursacht eine drastische Senkung des Blutdruckes und der Hirndurchblutung und er-
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung
Cytochrom-c-Oxidase +++ Cytochrom a3 Fe CN-
361
Rhodanese SO3-CN + Thiosulfat + SCN -
Zelle Blutplasma
Erythrozyt
Plasmaproteine binden ca. 60% CN-
4-DMAP ++
+++
HbFe
HbFe CN +++
HbFe
CN
-
CN
-
-
Urin CN
-
SCN
-
Abbildung 8.4 Reaktion mit der Ferriform des Cytochrom a3 und Blockade der Cytochromc-Oxidase durch Cyanid. Die Blockade kann durch therapeutische Maßnahmen aufgehoben werden. Im quantitativ wichtigsten Schritt wird aus Cyanid und verabreichtem Thiosulfat durch Rhodanese Thiocyanat gebildet und im Urin ausgeschieden. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Umwandlung von H¨ amoglobin durch z. B. 4-Dimethylaminophenol (4DMAP) in Meth¨ amoglobin, HbFe+++ (ca. 30 %). Das dreiwertige Eisen im Meth¨ amoglobin bindet zwar Cyanid mit geringerer Bindungskonstante als die Cytochrom-c-Oxidase aber ¨ das Meth¨ amoglobin ist in so hohem Uberschuss vorhanden, dass dadurch eine entscheidende Entlastung herbeigef¨ uhrt wird. Die Bindung von Cyanid an Meth¨ amoglobin oder an die Cytochrom-c-Oxidase ist reversibel.
zeugt außerdem wie die Cyanidvergiftung eine Lactazidose. Das zweite Therapiekonzept ist wegen des hohen Molekulargewichtes des Hydroxocobalamins nur schlecht realisierbar, da mehrere Gramm davon in einem großen Infusionsvolumen schnell verabreicht werden m¨ ussten. Außerdem d¨ urfen Hydroxocobalamin und Natriumthiosulfat nicht zusammen appliziert werden, da sich ein Hydroxocobalamin-Thiosulfat-Komplex bildet, der Cyanid nicht bindet. Cyanidvergiftungen k¨onnen innerhalb von Minuten t¨odlich sein. Wenn von der Gegenwart cyanidhaltigen Materials auszugehen ist und Zeichen einer schwe-
362
Kapitel 8 Atemgifte
ren Atemnot vorliegen, sollte man, auch wenn keine Zyanose vorliegt, eine Cyanidvergiftung annehmen. Bei Verdacht ist die unverz¨ ugliche Gabe reinen Sauerstoffs entscheidend. Tierversuche haben ergeben, dass eine Sauerstoffbeatmung die Toxizit¨at von Cyanid vermindert. Außerdem wird die Wirksamkeit der nachfolgenden Therapie mit Natriumthiosulfat verbessert. Bei Vergiftungszeichen sollte der Arzt sofort mit Antidota wie folgt behandeln: 4-Dimethylaminophenol (4-DMAP) intraven¨os injizieren. Wenn 4-DMAP nicht zur Verf¨ ugung steht, sollte sofort Natriumnitrit intraven¨ os infundiert werden. Eine Blutdruck¨ uberwachung ist dabei unbedingt notwendig. Das gelegentlich empfohlene Amylnitrit ist wegen seiner hohen Fl¨ uchtigkeit schwer zu dosieren, es bildet nur unsicher Meth¨amoglobin und senkt ebenfalls den Blutdruck. Anschließend sollte – egal, ob 4-DMAP oder Natriumnitrit gegeben wurde – eine Natriumthiosulfat-L¨ osung infundiert werden. Die durch Cyanidvergiftung ausgel¨oste Lactacidose (pH-Wert unter 7,2) erfordert eine m¨oglichst fr¨ uhzeitige Acidose-Korrektur mit Natriumhydrogencarbonat-Infusion. Bei einer Mischintoxikation mit Cyanid und Kohlenmonoxid ist die therapeutische Meth¨amoglobinbildung nicht geeignet, weil die Sauerstofftransportkapazit¨at des Blutes nur weiter vermindert w¨ urde. Hierbei k¨onnte Hydroxocobalamin das Mittel der Wahl sein, da im allgemeinen auch die eingeatmeten Cyanidmengen klein sind.
8.3.2
Vergiftung durch Schwefelwasserstoff
Schwefelwasserstoff ist ein intensiv riechendes Gas, dessen Geruchsschwelle sehr niedrig liegt und deshalb bereits ab 0,025 ml/m3 wahrgenommen wird. Der stark faulige Geruch, der schon weit unterhalb der toxischen Konzentration gerochen wird, hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass dieses hochwirksame Gift relativ selten zu Vergiftungen f¨ uhrt. Das farblose, brennbare Gas hat eine hohe Dichte von 1,19 und reichert sich dementsprechend bei geringer Luftbewegung am Boden an. Es entsteht bei der Einwirkung starker S¨auren auf Schwermetallsulfide und bei der Zersetzung von schwefelhaltigen Aminos¨auren durch F¨aulnisbakterien. Aus diesem Grunde findet man hohe Konzentrationen davon in Jauchegruben, Abwasserleitungen und bei der Verarbeitung von Proteinen in Fabrikabw¨ assern. Weiterhin entuttung von schwefelhaltigen Erzen, bei der Herstellung steht H2 S bei der Verh¨ von Viskose und Zellstoff und in der Erd¨olraffinerie. Das Gas wird in Koh-
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung
363
lengruben und Schwefelminen freigesetzt und ist in bestimmten Erdgasquellen Kanadas und S¨ udwestfrankreichs mit mehr als 15 % enthalten. Eine besondere Gefahr liegt darin, dass H2 S bei sehr hohen Konzentrationen u ¨ber 200 ml/m3 nicht mehr wahrgenommen wird. Vermutlich ist bei solchen Konzentrationen das Geruchssystem gel¨ahmt. Aus diesem Grunde gelten H2 SVergiftungen als heimt¨ uckisch. Sie ereignen sich bei der Reinigung oder Inspektion von Kl¨argruben und haben schon h¨aufig zu t¨odlichen Unf¨allen gef¨ uhrt. Bei der Bergung der Vergifteten m¨ ussen die Retter zum Selbstschutz Atemmasken oder noch besser Atemger¨ate tragen. Außerdem sollte der Retter angeseilt sein. Akute Vergiftungen erfolgen bei H2 S-Konzentrationen von 10 bis 50 ml/m3 . Auf eine Reizung der Augenbindehaut und der Atemwege folgt eine Vertiefung der Atembewegung. Bei h¨oheren Konzentrationen tritt eine Ateml¨ahmung und ein Bewusstseinsverlust auf. Extrem hohe Konzentrationen u ¨ber 1000 ml/m3 f¨ uhren nach wenigen Atemz¨ ugen zu Krampfanf¨allen und zum schnellen Tod. Als Sp¨atfolgen gelten Atemnot, Lungenentz¨ undung und eventuell ein Lungen¨odem sowie Herzmuskelsch¨adigungen. Bei der Kunstfaserherstellung wurden chronische Sch¨adigungen der Hornhaut der Augen beobachtet. Wie bei der Kohlenmonoxid- und der Cyanid-Vergiftung kann nach einer H2 S-Exposition ein Sauerstoffmangel im Gehirn und am Herz eintreten mit entsprechenden Sp¨atfolgesch¨aden f¨ ur diese Organe. Der Wirkungsmechanismus des H2 S ist nicht eindeutig gekl¨art. Als wichtigster Beitrag zu seiner toxischen Wirkung wird wie bei Cyanid die Blockade der Cytochrom-c-Oxidase durch das Hydrogensulfid (HS− ) gesehen. Außerdem werden aufgrund der Lipophilie und der Reaktivit¨at des Schwefels mit Disulfidbr¨ ucken oder Schwermetallen weitere enzymatische Reaktionen gehemmt, so dass toxische Effekte auf vielen Ebenen in Erscheinung treten. Schwefelwasserstoff wird im Organismus u ¨ber Schwefel, Thiosulfat und Sulfit zu Sulfat oxidiert und dann u ¨ber die Nieren ausgeschieden. Bei seiner Oxidation spielen H¨amoproteine, darunter das Oxy-H¨amoglobin der roten Blutzellen, eine Sulfid-Oxidase, Glutathion und eine Sulfit-Oxidase eine wichtige Rolle. ¨ Ahnlich wie Cyanid, jedoch mit einer geringeren Affinit¨at, bindet Hydrogensulfid an das dreiwertige Eisen des Meth¨amoglobins und bildet Sulfmeth¨amoglobin. Der im Vergleich zum Cyanid geringere Affinit¨at des Hydrogensulfids steht ein h¨oherer Dissoziationsgrad des H2 S gegen¨ uber, das bei physiologischem pH-Wert von 7,4 zu zwei Dritteln als Hydrogensulfid vorliegt, w¨ ahrend nur rund 2 % HCN zu CN− dissoziiert sind. Therapie: Da die Vergiftung mit H2 S weitgehend reversibel ist, sollte der Vergiftete so schnell als m¨oglich aus der H2 S-Atmosph¨are gebracht werden. Dabei ist es wichtig, dass der Retter sich mit Atemmaske oder Sauerstoff-
364
Kapitel 8 Atemgifte
ger¨at sch¨ utzt. Bei spontaner Atmung des Vergifteten wird H2 S rasch aus dem K¨orper eliminiert und es kommt zur schnellen Erholung. Die Beatmung mit 100 % Sauerstoff beschleunigt ganz wesentlich diesen Prozess. Ein Arzt sollte gegebenenfalls eine Azidosebehandlung sowie eine Lungen¨odemprophylaxe durch Inhalation eines Glucocorticoids als Aerosol einleiten. Der Einsatz von Meth¨amoglobinbildnern zeigt keinen sichtbaren Erfolg bei dieser Vergiftung (siehe Kapitel 8.3.1).
9
Karzinogenese Achim Aigner
9.1
Krebserkrankungen
Krebs z¨ahlt subjektiv zu den am meisten gef¨ urchteten Krankheiten und objektiv zu den gr¨oßten Problemen in der modernen Medizin. Dies beruht zum einen darauf, dass nur ein Teil der Erkrankungen geheilt werden kann, und zum anderen auf dem hohen Leidensdruck, verbunden mit dem Gef¨ uhl, einem unwiderruflichen Schicksal ausgeliefert zu sein. Durch Fortschritte in der Medizin, ¨ sowohl bez¨ uglich Fr¨ uherkennung als auch Therapie, sind die Uberlebenschancen bei vielen Krebsarten gestiegen, und die Diagnose Krebs bedeutet nicht mehr grunds¨atzlich den sicheren Tod. Dennoch ist Krebs in den westlichen Industriel¨andern nach den kardiovaskul¨aren Erkrankungen die zweith¨aufigste Todesursache; in Deutschland stirbt etwa jeder vierte daran (Tabelle 9.1). Tabelle 9.1 Todesursachen in Deutschland 2002 (Statistisches Bundesamt Deutschland 2004). Todesursache Krankheiten des Kreislauf-Systems Krebs Krankheiten des Atmungssystems Krankheiten des Verdauungssystems Verletzungen, Vergiftungen, andere a¨ußere Ursachen Sonstige
Anzahl
H¨ aufigkeit %
393 778 215 441 53 646 41 849 34 296 102 676
47 26 6 5 4 12
Die Krebsh¨aufigkeit sowie die Krebssterblichkeit steigen in Abh¨angigkeit vom Alter stark an (Tabelle 9.2). Diese Tatsache und die h¨ohere Lebenserwartung in den Industriestaaten (heute in Deutschland zwischen 75 und 80 Jahren, im Vergleich zu den 45 bis 50 Jahren vor etwa einhundert Jahren) erkl¨aren, dass fr¨ uher weit weniger Menschen an Krebs erkrankten. Die altersbereinigte Sterblichkeit an Krebs ist
366
Kapitel 9 Karzinogenese
Tabelle 9.2 Krebs als Todesursache in Abh¨ angigkeit vom Lebensalter (Westdeutschland, 1995). Alter Jahre
M¨ anner F¨ alle in 100 000
Frauen F¨ alle in 100 000
45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
145 188 313 438 625 813 1375 1980 2565 3375
146 167 229 354 440 604 815 1125 1495 2000
hingegen schon seit einigen Jahren r¨ uckl¨aufig. Dennoch muss nach Extrapolation der Entwicklungen der letzten Jahre damit gerechnet werden, dass Krebs in 15 – 20 Jahren die h¨aufigste Todesursache werden k¨onnte. Obwohl nahezu alle Organe von Krebs befallen werden k¨onnen, konzentrieren sich fast 75 % aller t¨odlich verlaufenden Erkrankungen auf nur wenige Organe. Dabei sind, u ¨ber die Tumorerkrankungen der Geschlechtsorgane hinausgehend, unterschiedliche H¨aufigkeiten bestimmter Organtumore bei M¨annern und Frauen zu beobachten (Abbildung 9.1). So ist bei M¨annern die h¨aufigste zum Tod f¨ uhrende Krebskrankheit der Lungenkrebs, bei Frauen der Brustkrebs. Die zweith¨aufigste Krebstodesursache ist bei beiden Geschlechtern Darmkrebs. Da heute kein Zweifel mehr daran besteht, dass das Rauchen den bedeutendsten Einzelrisikofaktor f¨ ur Krebs darstellt, kann die h¨ohere H¨aufigkeit von Lungenkrebs bei M¨annern auf den gr¨oßeren Anteil an Rauchern zur¨ uckgef¨ uhrt werden. Vermutungen u ¨ber m¨ogliche Beziehungen zwischen Krebserkrankungen und dem Kontakt bzw. der Aufnahme bestimmter Stoffe oder auch gewissen Lebensoder Ern¨ahrungsgewohnheiten sowie Arbeitsbedingungen gehen bis in die Antike zur¨ uck. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Beobachtungen systematisch erfasst (Tabelle 9.3). Das Wissen u ¨ber die Ursachen von Krebserkrankungen hat sich seither ebenso wie die Kenntnisse bzgl. bestimmter Risikofaktoren weiterentwickelt. Das Rauchen stellt den bedeutendsten Einzelrisikofaktor f¨ ur Krebs dar. Hierbei sind nicht nur die Lunge, sondern auch Mund- und Speiser¨ohre, Kehlkopf, Bauchspeicheldr¨ use, Harnblase und Geb¨armutterhals betroffen. Aus Ergebnissen der Krebsepidemiologie wird ferner klar, dass Ern¨ahrungsgewohnheiten
9.1 Krebserkrankungen
367
2,&$ (") 2,#,## /+
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Abbildung 9.1 Altersstandardisierte Mortalit¨ atsrate pro 100 000 bei Tumorerkrankungen, aufgeschl¨ usselt nach Organen und Geschlecht. Tabelle 9.3 Krebsursachen nach dem Jahr der Entdeckung.
Autor
Jahr
Noxe
Organ
Hill Pott Billharz von Volkmann Rehn van Trieben Teutschl¨ander Martland Gloyne Pfeil Kinosita Herbst
1761 1775 1852 1875 1885 1902 1928 1929 1931 1935 1936 1970
Schnupftabak Ruß Nematoden Teer arom. Aminfarbstoffe R¨ontgenstrahlen Pechblende Radium Asbest Chromate Buttergelb Diethylstilboestrol
Nase Skrotum Blase, Harnwege Haut Blase, Harnwege Haut Haut Knochen Lunge Atemwege Leber weibl. Genitaltrakt
368
Kapitel 9 Karzinogenese
Tabelle 9.4 Ursachen f¨ ur Todesf¨ alle durch Krebs, nach Faktoren sortiert (nach: DKFZHeidelberg). Faktor Ern¨ ahrungsgewohnheiten Tabak (Rauchen) Alkohol Berufliche Exposition Genetische Faktoren Schadstoffbelastung aus der Umwelt Ionisierende Strahlung Arzneimittel Infekti¨ ose Erreger
Ursache in % 20 – 42 25 – 30 3 4–8 5 – 10 2 1 1 5 – 15
zu einem sehr erheblichen Anteil an der Krebsentstehung beteiligt sind. F¨ ur beide wie auch f¨ ur die meisten anderen Risikofaktoren sind die Inzidenzraten l¨anderspezifisch etwas unterschiedlich und k¨onnen daher nur ungef¨ahr angegeben werden. Es muss ferner davon ausgegangen werden, dass Einfl¨ usse aus nahezu allen Bereichen des t¨aglichen Lebens zur Ausl¨osung von Krebserkrankungen des Menschen beitragen k¨onnen (Tabelle 9.4).
9.2
Tumorentwicklung
Der Tumorentstehung liegt ein Mehrstufenprozess zugrunde, in dem eine normale Zelle mit kontrollierten Wachstums-, Differenzierungs-, Abgrenzungsund Zellteilungsmechanismen schrittweise in eine Tumorzelle mit unkontrollierten Mechanismen der Zellvermehrung u ¨bergeht. Basis f¨ ur diese Kontrolle ist der Zellzyklus (Abbildung 9.2). Die vorhandenen Kontrollmechanismen entscheiden dar¨ uber, ob die Zelle nach einer Zellteilung (Mitose, M) entweder in einen neuen Zellteilungszyklus eintritt oder den Zellzyklus zumindest vor¨ ubergehend verl¨asst und in der sog. G0 -Phase verharrt, von wo aus sie in den Zelldifferenzierungs- oder Alterungsprozess u ¨bergeht. Zu diesen Kontrollmechanismen geh¨oren neben Wachstumsaktivatoren auch Wachstumsinhibitoren. In einer gesunden Zelle liegen sie in einem ausgewogenen Gleichgewicht vor. Wird es gest¨ort, und verliert die Zelle die F¨ahigkeit zur Vermehrungskontrolle, kommt es zur Tumorbildung. Die Wachstumskontrolle kann verloren gehen, weil sich entweder Wachstumsaktivatoren nicht mehr inaktivieren oder andererseits Wachstumsinhibitoren nicht mehr aktivieren lassen. In einer Tumorzelle trifft in der Regel beides zu.
9.2 Tumorentwicklung
369
Mitosephase Zellteilung (Mitose)
G0 Ruhephase
M
Wachstumsphase Vorbereitung der Mitose
G2
Enddifferenzierte Zellen bzw. Zellen in Ruhephase
G1
S Synthesephase DNA Replikation (Verdopplung des Genoms)
Wachstumsphase Zellwachstum und Vorbereitung der Chromosomen für die Replikation
Abbildung 9.2 Darstellung der Phasen des Zellzyklus.
Wachstumsaktivatoren werden von sogenannten Proto-Onkogenen kodiert, welche normales Wachstum und Differenzierung steuern. Durch bestimmte Mutationen (siehe Kapitel 9.5) k¨onnen die Proto-Onkogene in Onkogene u ¨berf¨ uhrt werden. Sie stellen dann permanent aktive Wachstumsaktivatoren dar, die sich nicht mehr inhibieren lassen. Als Mutationsmechanismen, die zur Umwandlung von Proto-Onkogenen in Onkogene f¨ uhren, kommen nur solche in Frage, bei denen die wachstumsaktivierende Kompenente des Onkoproteins erhalten bleibt. Vier solcher Mechanismen sind bisher bekannt: • Punktmutation im Gen (siehe Kapitel 9.5) • Translokation: Neukombination von zwei Genen, die sich vorher nicht in r¨aumlicher N¨ahe befunden haben • Amplifikation: lokale Vervielf¨altigung eines Proto-Onkogens • Aktivierung: Mutation im Kontrollbereich (z. B. Promotor) des Proto-Onkogens Wachstumsinhibitoren dagegen sind wachstumshemmende Proteine, welche die Replikation der DNA verhindern. Sie werden von sogenannten TumorSuppressorgenen kodiert. Ein Beispiel ist das Gen p53, das bei zahlreichen Tumorerkrankungen eine Rolle spielt, indem es den Eintritt in die Phase der DNA-Synthese im Zellzyklus kontrolliert. F¨ ur Tumor-Suppressorgene sind alle Mutationen von Bedeutung, die zu inaktiven Wachstumsinhibitoren f¨ uhren.
370
Kapitel 9 Karzinogenese
Eine Mutation ist zwar ein wichtiger Schritt bei der Entstehung von Krebs, zur malignen Transformation einer Normalzelle in eine Tumorzelle reicht eine Mutation allein jedoch nicht aus. Daher liegt zwischen der Ausl¨osung einer Mutation und der Ausbildung eines manifesten malignen Tumors in der Regel ein Zeitraum von mehreren Jahren bis Jahrzehnten. In dieser Zeit sind verschiedene Phasen der Tumorentwicklung zu unterscheiden: Initiation In der Initiationsphase kommt es zur Ausbildung eines irreversiblen Genschadens, der auch nach einer Zellteilung erhalten bleibt (Mutation). Dies erfolgt beispielsweise durch Reaktion eines Karzinogens (Initiator) mit der DNA (siehe Kapitel 9.5). Promotion W¨ahrend der Promotionsphase, die im Gegensatz zur Initiationsphase ein l¨angerfristiger Prozess ist, entsteht aus initiierten Zellen durch eine erh¨ohte Mitoserate bei gleichzeitiger Unterdr¨ uckung der Apoptose (aktive physiologische Form des Zelltodes) eine Zellpopulation mit identischen Mutationen, die als Krebsvorstufe angesehen werden kann. Die Zellen eines solchen Klons zeigen bereits die morphologischen oder biochemischen Folgen der Mutation, wodurch sie mikroskopisch oder histochemisch in Form von Zellinseln (Foci) von normalen Zellen zu unterscheiden sind. Als Promotoren sind eine F¨ ulle von chemischen Stoffen mit sehr unterschiedlichen chemischen Strukturen bekannt geworden. Typische tierexperimentelle Promotoren sind das von einem Naturstoff abgeleitete 12-O-Tetradecanoylphorbol-13-acetat (TPA, Haut), Phenobarbital (Leber), Tetrachlordibenzoparadioxin (TCDD, Leber), Ethinyloestradiol (Leber und Niere) und Saccharin (Blase). Tumorpromotoren verf¨ ugen in der Regel nicht u ¨ber eigene genotoxische Eigenschaften. Sie bewirken meist eine Stimulierung des Zellwachstums durch Eingriffe in die Signaltransduktionsketten. Ihre Wirkungen sind daher reversibel. Dabei h¨angt ihre promovierende Wirkung von der zeitlichen Abfolge ihrer Applikation im Vergleich zum Initiator sowie von der in der Zeiteinheit gegebenen Dosis ab (Tabelle 9.5). Im Gegensatz zur wiederholten Applikation (A) eines Karzinogens f¨ uhrt weder eine einmalige Dosis (B) noch die alleinige Gabe eines Promotors (C) zur Ausl¨osung von Tumoren. Diese entwickeln sich jedoch auch nach einmaliger Gabe des Karzinogens, wenn anschließend (D) – nicht aber vorher (E) – ein Promotor mehrfach in kurzen Abst¨anden appliziert wird. Dabei darf ein zeitlicher H¨ochstabstand zwischen der Gabe des Initiators und Promotors (F) bzw. zwischen dessen einzelnen Gaben nicht u ¨ berschritten werden (G).
9.3 Karzinogene
371
Tabelle 9.5 Die Wirkung und Wechselwirkung von Karzinogenen und Promotoren bei der Entstehung von Tumoren (K= Karzinogen, P = Promotor).
A B C D E F G C D E F G
K K K P P K P P P K K P P K P P P K K
K
K
K
P P P P
P P P
P P P P P P P P P P
P P P P Zeit
P P P
P K P
P P P P P
P K P
P P P P P
Tumor + + + + +
−→
Progression In der Progressionsphase kommt es zu einer Zunahme der Wachstumsautonomie der Zellen und zur Entwicklung eines Mikrotumors, der meist im Zeitraum von Jahren zum Tumor heranw¨achst. In dieser Phase ereignen sich weitere genotoxische Reaktionen mit neuen Mutationen, die zur Aktivierung von weiteren Proto-Onkogenen f¨ uhren. Durch die verst¨arkte Proliferation in der Promotionsphase k¨onnen weitere Mutationen erfolgen, zus¨atzlich zu den aus der Initiationsphase bereits vorhandenen genetischen Sch¨aden. Entsprechend ist w¨ahrend der Progressionsphase vermehrt das Auftreten von Chromosomensch¨ aden und eine Ver¨anderung des Genoms (Entdifferenzierung) zu beobachten. F¨ ur diese Sch¨aden sind Mutagene verantwortlich, die zu Br¨ uchen in den DNA-Str¨angen (siehe Kapitel 9.5) f¨ uhren, sogenannte Klastogene.
9.3
Karzinogene
Entsprechend ihrem Wirkungsmechanismus k¨onnen zwei Gruppen von genotoxischen Stoffen unterschieden werden: • direkt genotoxisch wirkende Stoffe, die aufgrund ihrer chemischen Reaktivit¨at in der Lage sind, direkt mit der DNA zu reagieren, und
372
Kapitel 9 Karzinogenese
• indirekt genotoxisch wirkende Stoffe. Sie wirken nur mittelbar genotoxisch, da sie einer metabolischen Aktivierung bed¨ urfen und erst ihre Metabolite als Karzinogene wirken. Weiterhin ist noch die chemisch sehr heterogene Gruppe epigenetisch wirksamer, nicht-genotoxischer Karzinogene zu nennen, die ohne direkten Angriff am genetischen Material, also ohne chemische Reaktion mit der DNA, eine Tumorbildung veranlassen. Ihre Kanzerogenit¨at basiert auf anderen biologischen Wirkungen wie Induktion chronischer Entz¨ undungsreaktionen, immunologische Wirkungen, Zytotoxizit¨at mit daraus resultierender gesteigerter Zellproliferation zur Regeneration, hormonale Einfl¨ usse oder die oben diskutierte Tumorpromotion. Hier soll allerdings die Betrachtung auf die Tumorausl¨osung durch genotoxische chemische Stoffe beschr¨ankt bleiben.
9.4
Genotoxizit¨at
Wie oben dargestellt, spielen Reaktionen von Fremdstoffen mit dem genetischen Material (Erbgut) einer Zelle, in dem die Informationen u ¨ber deren Aufbau und Funktion sowie f¨ ur die Zellteilung und Zelldifferenzierung gespeichert sind, f¨ ur die Krebsentstehung eine wesentliche Rolle. Ein genotoxischer Stoff ist in der Lage, das Ergbut einer Zelle bleibend zu ver¨andern, d. h. Mutationen auszul¨osen. Diese Eigenschaft genotoxischer Stoffe ist von besonderer Bedeutung, weil • bei K¨orperzellen aufgrund somatischer Mutationen mit der Entstehung von Tumoren zu rechnen ist, • bei Keimzellen aufgrund von Keimbahnmutationen die Gefahr von Sch¨aden f¨ ur die Nachkommen besteht, • bei vielen Stoffen bereits nach kleinsten Dosen die Ausl¨osung einer Mutation zu erwarten ist und sich die Wirkungen wiederholter Stoffexpositionen addieren, • sich eine Tumorausl¨osung beim Menschen meist erst nach mehreren Jahren oder Jahrzehnten zu erkennen gibt.
9.5
Molekulare Mechanismen der Genotoxizit¨ at
Die meisten der heute bekannten chemischen Mutagene interagieren mit der Desoxyribonukleins¨aure (DNA), indem sie als Elektrophile besonders mit den nukleophilen Zentren der DNA Addukte bilden.
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizit¨ at
373
Auf die umfangreiche Biochemie des genetischen Apparates einer Zelle sowie dessen Funktion soll hier nicht eingegangen werden. Es wird auf die einschl¨agige Lehrbuchliteratur verwiesen. Die folgenden Erl¨auterungen beschr¨anken sich auf die wesentlichen Mechanismen, die zum Verst¨andnis der Wirkungen genotoxischer Stoffe erforderlich sind. Die DNA ist aus Pyrimidin- und Purinbasen aufgebaut, welche jeweils mit dem ringf¨ormigen Zucker Desoxyribose verkn¨ upft sind und so die sog. Nukleotide ¨ bilden. Uber die Desoxyribose, verbr¨ uckt u ¨ber die Phosphors¨aureester, sind diese Nukleotide zu langen Ketten polymerisiert (Abbildung 9.3). Die Abfolge der Pyrimidinbasen Thymin (T) und Cytosin (C) sowie der Purinbasen Adenin (A) und Guanin (G) wird als sog. DNA-Sequenz bezeichnet und mit den vier Buchstaben A, C, G, T abgek¨ urzt. Jeweils zwei DNA-Ketten liegen sich anti-parallel gegen¨ uber und bilden einen Doppelstrang, der durch Wasserstoffbr¨ uckenbindungen zwischen den Basen zusammengehalten wird. Aufgrund der unterschiedlichen Zahl von Wasserstoffbr¨ uckenbindungen k¨onnen sich dabei nur die komplement¨aren Basenpaare Adenin und Thymin (A/T bzw. T/A mit zwei H-Br¨ ucken) oder Guanin und Cytosin (G/C bzw. C/G mit drei HBr¨ ucken) gegen¨ uberstehen. Dadurch wird durch die Sequenz eines Stranges auch die Sequenz des entsprechenden komplement¨aren, sog. Gegenstranges, festgelegt (Abbildung 9.3). Der Doppelstrang ist schließlich noch in sich gewunden, so dass die bekannte Form der DNA-Doppelhelix entsteht. Bei der Synthese eines Proteins wird die kodierte Information zun¨achst durch ¨ den Vorgang der Transkription auf ein Ubertr¨ agermolek¨ ul kopiert, die sog. messenger-RNA (mRNA). Dies gelingt, indem ein Strang des entsprechenden DNA-Abschnitts als Vorlage (Matrize) verwendet und gem¨aß der BasenSequenz die komplement¨are RNA hergestellt wird. Im DNA- wie auch im RNA-Molek¨ ul stellt eine Einheit von jeweils drei Basen (Triplett) die kodierte Information f¨ ur eine ganz bestimmte Aminos¨aure dar. Bei der Proteinbiosynthese am Ribosom (Translation) werden entsprechend der Abfolge der Tripletts Aminos¨auren aneinandergeh¨angt. Hierbei werden die Tripletts von Aminos¨aure-tragenden sog. tRNA-Molek¨ ulen erkannt, wobei jede tRNA nur an ein Triplett binden kann und immer eine ganz bestimmte Aminos¨aure tr¨agt. Damit wird durch die Abfolge der Tripletts, also letztendlich durch die DNA bzw. RNA-Sequenz, die Aminos¨auresequenz determiniert. In S¨augerzellen kommen 20 Aminos¨auren vor, die als Bausteine aneinandergeh¨angt werden k¨onnen und damit eine Aminos¨aurekette, die sog. Prim¨arstruktur des jeweiligen Proteins ergeben. Durch intramolekulare Wechselwirkungen bzw. Bindungen zwischen verschiedenen Aminos¨auren in der Kette kommt es dann zur Ausbildung einer definierten dreidimensionalen Struktur und erst damit des fertigen Proteins. Es wird so deutlich, dass Abweichungen in der
374
Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.3 Aufbau eines DNA-Molek¨ uls. Gezeigt ist ein aus vier Nukleotiden aufgebauter Einzelstrang (grau unterlegt) mit dem Code GCTA und dem DesoxyribosePhosphors¨ aureester-R¨ uckgrat sowie f¨ ur die beiden mittleren Basen C und T die jeweiligen komplement¨ aren Basen, die u ¨ber Wasserstoffbr¨ ucken binden und den Gegenstrang bilden. Auf die nukleophilen Zentren des grau unterlegten Einzelstrangs zeigen Pfeile.
Aminos¨auresequenz wesentlichen Einfluss auf die Raumstruktur und damit die Funktion des entsprechenden Proteins haben k¨onnen. Zur Vervielf¨altigung der DNA vor einer Zellteilung (DNA-Replikation) muss sich die Doppelhelix trennen, und jeder Einzelstrang dient als Matrize f¨ ur die Synthese eines komplement¨aren Gegenstranges. Diese Synthese wird durch ein
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizit¨ at
375
Enzym, die DNA-Polymerase, katalysiert. Auf diesem Wege erh¨alt bei der Zellteilung jede Tochterzelle die identischen Information von der Mutterzelle. Die Konstanz des DNA-Strangaufbaues ist dabei außerordentlich hoch. Die Fehlerraten liegen zwischen 1 : 109 bis 1 : 1010 , da eine Reihe von Enzymsystemen den Vorgang an folgenden Punkten kontrolliert: • Wahl des richtigen Nukleotids durch die DNA-Polymerase, • Erkennen falscher Basenpaare am 3’-Ende des entstehenden Stranges durch eine 3’-5’-Exonuklease und Elimination dieser Basenpaare, • Erkennen falscher Basenpaare in der fertigen, neu synthetisierten DNA sowie deren Elimination (Postreplikations-Reparatur). Diese Prozesse k¨onnen auf vielf¨altige Weise durch genotoxische Substanzen beeinflusst werden, so z. B. durch chemische Ver¨anderungen der Basen, St¨orungen der Polymeraseaktivit¨aten, chemischen Angriff an den Phosphatgruppen und/oder Beintr¨achtigung der Reparaturmechanismen. Eine modifizierte Base kann die Ausbildung von Wasserstoffbr¨ ucken ¨andern. Dies f¨ uhrt m¨oglicherweise in der Replikationsphase zu einer anderen Basenpaarung. Damit ist auch das kodierende Triplett modifiziert und es kann schließlich ein Protein mit einer falschen Aminos¨aure entstehen. Eine Methylierung des Guanins an O6 f¨ uhrt dazu, dass sich zum Cytosin keine Wasserstoffbr¨ ucken ausbilden. Stattdessen gelingt eine zweifache H-Br¨ ucke zum Thymin (Abbildung 9.4). O6 -Methylguanin verh¨alt sich also wie Adenin komplement¨ar zu Thymin.
" "! Abbildung 9.4 Verringerung der Zahl der Wasserstoffbr¨ ucken durch Methylierung von Guanin.
376
Kapitel 9 Karzinogenese
Eine solche DNA-Alkylierung selbst stellt noch keine Mutation dar, sie kann aber bei fehlender oder nicht korrekter Reparatur zu einer Mutation f¨ uhren (Abbildung 9.5). Im vorliegenden Beispiel ist nach zwei Replikationszyklen das urspr¨ ungliche Basenpaar G/C durch das Basenpaar A/T ersetzt worden. Diese Mutation hat zur Folge, dass im Protein, dessen Gen vom Basenaustausch betroffen ist, an einer bestimmten Position die Aminos¨aure Serin durch Phenylalanin ausgewechselt ist.
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Abbildung 9.5 Einf¨ uhrung einer Punktmutation durch Methylierung eines Nukleotidbausteins. Dargestellt ist die DNA-Replikation nach Alkylierung von Guanin in Position O6 .
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizit¨ at
377
Da die Basen zahlreiche nukleophile Zentren besitzen (Abbildung 9.3), k¨onnen Alkylierungen zu vielf¨altigen Basenpaar-Umwandlungen f¨ uhren. Es entspricht den Erfahrungen, dass kleine Elektrophile wie methylierende Agenzien an verschiedenen, vorher nicht vorausbestimmbaren nukleophilen Zentren alkylieren k¨onnen. Neben der Basenpaar-Umwandlung sind noch weitere Folgereaktionen nach nukleophilen Angriffen bekannt, wie die Depurinisierung nach Alkylierung von Purinbasen im Imidazolring (Abbildung 9.6). Einer Depurinisierung wie einer Alkylierung der Hydroxyl-Gruppe in der Phosphors¨aureestergruppe folgt nicht selten ein DNA-Strangbruch. Ein solcher f¨ uhrt zu schweren St¨orungen bei der Replikation und kann Ursache f¨ ur Chromosomen-Mutationen (Aberrationen) sein.
Abbildung 9.6 Depurinisierung von DNA durch Purinalkylierung.
Außer der Mutation durch Basenpaarsubstitution ist ein weiterer durch Karzinogene ausgel¨oster Mutationstyp bekannt. Eine Rasterschub- oder Frame¨ shift-Mutation entsteht durch Einf¨ ugen (Insertion) oder Uberspringen (Deletion) einer Base bei der Transkription (Tabelle 9.6) Ein solcher Effekt wird ausgel¨ost, wenn durch externe Einfl¨ usse die Abst¨ande zwischen den Basen vergr¨oßert werden. Dies gelingt z. B. durch Alkylierung einer Base mit einem volumin¨osen Rest oder Einlagerung eines planaren, meist mehrkernigen Fremdstoffes in die DNA-Helix. Tabelle 9.6 Beispiel f¨ ur eine Rasterschub- (Frameshift-) Mutation. Ausgehend vom Normalzustand ist links eine Deletion, rechts eine Insertion dargestellt. Bei der Translation werden die Basen immer in Tripletts abgelesen und sind daher in Dreiergruppen dargestellt.
Normal Deletion
ABC A—CA
ABC BCA
ABC BCA
ABC BCA
Normal Insertion
ABC AXB
ABC CAB
ABC CAB
ABC CAB
378
Kapitel 9 Karzinogenese
Im Vergleich zur Basenpaarsubstitution ergibt sich aus einer Rasterschubmuta¨ tion eine erheblich gr¨oßere Anderung des Gens mit Konsequenzen f¨ ur das kodierte Protein, da alle folgenden Aminos¨auren ver¨andert werden. Der gr¨oßte Teil der durch genotoxische Stoffe hervorgerufenen DNA-Ver¨anderungen wird in der Regel durch Reparaturmechanismen korrigiert, die im wesentlichen nach folgendem Schema arbeiten: • Aufschneiden des DNA-Stranges in der N¨ahe des Schadens durch Endonukleasen und Elimination der fehlerhaften Base zusammen mit Basen der Umgebung durch Exonukleasen, • Neusynthese des eliminierten Teilst¨ ucks durch eine DNA-Polymerase vom 3’-Ende aus, • Verkn¨ upfung des neuen Teilst¨ ucks mit der alten DNA am 5’-Ende durch eine DNA-Ligase. Aufgrund dieser Mechanismen ist verst¨andlich, dass mutagene Reaktionen, die eine Schw¨achung des sogenannten Repairsystems zur Folge haben, oder Substanzen, die direkt das Repairsystem in seiner Wirkung hemmen, ohne selbst direkt mutagene Eigenschaften zu besitzen (Co-Mutagene), die mutagene Potenz einer Substanz erheblich zu steigern verm¨ogen. Je nach Art und Ausmaß der Ver¨anderung des Erbmaterials resultieren: • Gen-Mutationen (Punktmutationen) Basenpaarsubstitutionen Rasterschubmutationen • Chromosomen-Mutationen (Aberrationen) Defizienz - Verlust eines Chromosomenabschnitts Deletion - Verlust eines terminalen Chromosomenabschnitts Insertion - Aufnahme eines fremden Chromosomenabschnitts Interchange - Austausch von Chromosomenabschnitten zwischen zwei verschiedenen Chromosomen Inversion - Umkehr eines Chromosomenabschnitts um 180 Grad • Genom-Mutationen Verlust oder Zugewinn eines oder mehrerer Chromosomen. W¨ahrend Gen-Mutationen im submikroskopischen Bereich liegen, lassen sich Chromosomen- und Genom-Mutationen mikroskopisch nachweisen. Dies ist f¨ ur die Erkennung genotoxischer Eigenschaften in der experimentellen Toxikolo¨ gie und f¨ ur die Uberwachung von Personen, die mit mutagenen/karzinogenen Stoffen umgehen, von Bedeutung.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
9.6
379
Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
Dem chemisch ausgerichteten Leser wird nachfolgend anhand von Stoffgruppen ¨ eine Ubersicht u ¨ber potentiell genotoxische chemische Grundstrukturen gegeben. Dies kann auch hilfreich daf¨ ur sein, ein Gesp¨ ur daf¨ ur zu entwickeln, bei der Suche nach neuen Stoffen und beim Umgang mit ihnen Gefahren fr¨ uhzeitig zu erkennen. Die Auswahl der genotoxischen Stoffe erfolgt aufgrund einer in entsprechenden Testsystemen nachgewiesenen DNA-Aktivit¨at oder Mutagenit¨at bzw. einer im Tierexperiment nachgewiesenen Karzinogenit¨at. Viele karzinogene Stoffe weisen neben der Genotoxizit¨at noch weitere toxische Eigenschaften auf. Deren Besprechung bleibt hier aber ausgeklammert.
9.6.1
Direkt genotoxisch wirkende Stoffe
Im Hinblick auf ihren Reaktionsmechanismus mit DNA sind hier im wesentlichen vier Gruppen zu unterscheiden: • Alkylierende Stoffe (Alkylanzien), • Stoffe, die insbesondere mit reaktiven Doppelbindungen Additionsreaktionen eingehen k¨onnen, • Stoffe, die reaktive Sauerstoffspezies erzeugen, • DNA-interkalierende Stoffe. In chemischen Synthesen finden sehr viele Alkylanzien Anwendung, wobei in der Regel Alkylierungsreaktionen nicht unter physiologischen Bedingungen ablaufen. Dar¨ uber hinaus werden Alkylanzien in der Chemotherapie von Tumoren sowie als Insektizide und Desinfektionsmittel eingesetzt. Sie sind aufgrund ihrer Elektrophilie chemisch reaktiv und bilden in der Zelle mit Makromolek¨ ulen wie DNA entsprechende Addukte. Eine unter physiologischbiologischen Bedingungen (w¨aßriges Medium, pH-Wert ∼ 7,4, 37 °C) ausreichend alkylierende Wirkung ist hierbei allerdings Voraussetzung f¨ ur die Ausl¨osung genotoxischer Reaktionen.
Alkylhalogenide Halogenkohlenwasserstoffe, wie Methyl-, Ethyl- und Benzylhalogenide, m¨ ussen grunds¨atzlich sowohl als genotoxisch als auch karzinogen angesehen werden.
380
Kapitel 9 Karzinogenese
Die Reaktivit¨at und Genotoxizit¨at h¨angt vom Halogen ab und nimmt von Chlormethan u ¨ber Brommethan zu Iodmethan zu (siehe Abbildung 9.7). Fluormethan gilt als nicht genotoxisch. Die Reaktivit¨ at nimmt mit steigender CKettenl¨ange ab. Bl
R–CH2 –X −→ R–CH2 –B + X X = I > Br > Cl; R = Benzyl- > H- > CH3 - > C2 H5 Abbildung 9.7 Genotoxische Struktur-Wirkungsbeziehungen bei Alkylhalogeniden. BI = Nukleobase oder Phosphatgruppe.
Haloether, Haloalkohole Alkylhalogenide erfahren durch Sauerstoff-Funktionen, die in Nachbarschaft zu einem Halogenatom stehen, eine erhebliche Reaktivit¨atssteigerung wie an den Haloalkoholen und Haloethern zu beobachten. Wie bei den Alkylhalogeniden nimmt hier die Reaktivit¨at von den Chloriden u ¨ber die Bromide zu den Iodiden zu. Abbildung 9.8 zeigt einige Vertreter dieser Stoffklasse, die in Synthesen h¨aufig als reaktive Ausgangsstoffe Verwendung finden.
Abbildung 9.8 Genotoxische Haloether und Haloalkohole.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
381
Entgiftung von Alkylhalogeniden F¨ ur Alkylhalogenide sowie Haloether und -alkohole gibt es im Organismus eine wichtige Entgiftungsreaktion in Form einer enzymkatalysierten Kopplung an das Tripeptid g-Glutamat-Cystein-Glycin (g-Glu-Cys-Gly, Glutathion, ¨ GSH) mit Hilfe von Glutathion-S-Transferasen (GST) (Abbildung 9.9). Uber Zwischenstufen werden diese Glutathion-Addukte weiter verstoffwechselt, indem zun¨achst zwei der drei Aminos¨auren des Tripeptids (Glutamat, Glycin) wieder abgespalten werden. Nach einer abschliessenden Acetylierung durch eine N-Acetyl-S-Transferase werden als Endprodukte in der Regel Mercapturs¨ auren im Urin ausgeschieden. $##!"!"
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382
Kapitel 9 Karzinogenese
Bei allen Zwischenstufen kann es jedoch, abh¨angig von der chemischen Struktur der angeh¨angten Verbindung X, evtl. auch wieder zu Toxizit¨ats-erh¨ohenden Nebenreaktionen kommen. Hier ist die Cyclisierung zu Thiiranium-Ionen (s. u.) sowie aus dem Cystein-Addukt die Bildung S-oxidierter Folgeprodukte oder Thiole zu nennen (Abbildung 9.9).
Mehrfach halogenierte Kohlenwasserstoffe Bei mehrfach halogenierten Kohlenwasserstoffen mit Position der Halogene in vicinaler Stellung f¨ uhrt die Konjugation mit Glutathion nicht zur Entgiftung, sondern zu hochreaktiven mutagenen und karzinogenen Episulfonium-Ionen (Thiiranium-Ionen), wie Abbildung 9.10 am Beispiel des 1,2-Dichlorethans zeigt.
Cl-CH2CH2-Cl
GSH -HCl
Cl-CH2CH2-SG
H2C SG Cl H2C
DNA DNA-CH2CH2-SG -HCl -GSH
Abbildung 9.10 Giftung von 1,2-Dichlorethan durch Glutathion (GSH).
Vom analogen 1,2-Dibromethan wurden nach Exposition und Hydrolyse der DNA eine große Zahl von ethylierten Basen nachgewiesen (Abbildung 9.12). Beide Ethandihalogenide wurden bis 1988 dem Benzin als Scavenger zugesetzt, dann aber aufgrund ihrer Genotoxizit¨ at verboten.
Abbildung 9.11 Genotoxische vicinal halogenierte Kohlenwasserstoffe. * nicht genotoxisch.
In Abbildung 9.11 sind weitere mehrfach halogenierte Kohlenwasserstoffe aufgef¨ uhrt, f¨ ur die es zumindest einen begr¨ undeten Verdacht auf Karzinogenit¨at gibt. Von den beiden Trichlorethanen ist nur die 1,1,2-Trichlorvariante genotoxisch, da nur hier die Ausbildung einer Episulfoniumstruktur nach Konjugation mit Glutathion m¨oglich ist.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen GS
NH GS
N
N N
383 O
NH N
N
N
N
H
N
H2N
SG N
N
N
N
SG Br
O
Br H GS Br
H2N
GS
N
N N
N SG
O H H
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O N
N N
SG
N
N H2N
N
O
N
H
N
H2N
N
N
O
H NH
N
SG
Abbildung 9.12 Durch 1,2-Dibromethan in vivo ethylierte DNA-Basen.
Stickstoff- und Schwefel-Loste Auf der Bildung einer intermedi¨aren, hochreaktiven Episulfonium-Struktur beruht auch die Karzinogenit¨at von Dichlordiethylsulfid, auch als S-Lost bezeichnet, das als Kampfgas milit¨arischen Zwecken gedient hat (Abbildung 9.13).
Abbildung 9.13 Alkylierung von Nukleophilen durch S-Lost. BI = Nukleobase oder Phosphatgruppe.
Nach einem analogem Reaktionsmechanismus verlaufen die Alkylierungsreaktionen auch bei Stickstofflostderivaten (N-Lost) unter Bildung einer intermedi¨aren Aziridinium (Ethylenimmonium)-Struktur (Abbildung 9.14). Aufgrund der bifunktionellen Reaktionsm¨oglichkeit der Lostderivate k¨onnen Vernetzungsreaktionen zwischen den DNA-Str¨angen auftreten (Abbildung 9.15) (crosslinking reaction). Die weniger toxischen Lostderivate wie Cyclophosphamid werden als Zytostatika zur Behandlung leuk¨amischer Erkrankungen eingesetzt.
384
Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.14 Alkylierung von Nukleophilen durch N-Loste. Das Alkyldichlordiethylamin kann als Methyl- oder Ethylverbindung vorliegen. Im Falle eines dritten Chlorethyl-Restes handelt es sich um Trichlorethylamin.
Abbildung 9.15 Vernetzung von zwei in DNA-Str¨ angen integrierten Guanin-Basen durch ein Lost-Derivat.
Ethylenimine Die Ethylenimine verf¨ ugen u ¨ber einen dem Stickstofflost analogen Reaktionsmechanismus, der insbesondere in einem schwach sauren pH-Bereich durch Protonierung aktiviert wird (Abbildung 9.16).
Abbildung 9.16 Alkylierung von Nukleophilen durch Ethylenimine. BI = Nukleobase oder Phosphatgruppe.
Dieser Aktivierungsmechanismus hatte zu der Annahme gef¨ uhrt, dass Stoffe mit mehreren Ethylenimingruppen im Molek¨ ul als Cytostatika verwendbar sein k¨onnten. Im Vergleich zu Normalzellen sollte wegen des niedrigeren pH-Wertes in Tumorzellen eine spezifischere Giftung m¨oglich sein. Jedoch wurde infolge der hohen Allgemeintoxizit¨at der entwickelten Arzneimittel die Forschung in diesem Bereich wieder eingestellt. Epoxide Epoxide (Oxirane) bilden eine Stoffgruppe, die in der technischen Chemie vielf¨altige Verwendung findet (Abbildung 9.17). Epoxide verf¨ ugen u ¨ber einen den Ethyleniminen analogen Aktivierungsmechanismus (Abbildung 9.18).
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
385
Abbildung 9.17 Wichtige Epoxide aus der technischen Chemie.
Abbildung 9.18 Alkylierung von Nukleophilen durch Epoxide. BI = Nukleobase oder Phosphatgruppe.
Die Reaktivit¨at der Epoxide h¨angt ab von ihrer Struktursymmetrie sowie der Elektronendichte in dem gespannten Dreiring. So nimmt die Reaktivit¨at mit zunehmend asymmetrischer Struktur zu, ebenso mit abnehmender Elektronendichte, z. B. durch Substituenten mit negativ induktivem oder mesomeren (-I oder -M) Effekt (Abbildung 9.20).
β) ↑↑ γ) ↑ δ) −
Abbildung 9.19 Alkylierung von Nukleophilen durch Lactone. BI = Nukleobase oder Phosphatgruppe.
Auch die b- und g-Lactone besitzen gespannte Ringstrukturen, die wie die Ethylenimine und Epoxide in der Lage sind, mit nukleophilen Zentren zu reagieren (Abbildung 9.19). Dabei nimmt die Reaktivit¨ at mit zunehmender Ringgr¨oße rasch ab. Lactone finden vielfach in der chemischen Synthese als Ausgangs- oder Zwischenprodukte Verwendung.
386
Kapitel 9 Karzinogenese
↑↑
↑
↑↑
↓ ↑
Abbildung 9.20 Beziehung zwischen chemischer Struktur und genotoxischer Wirkung (Aktivit¨ at).
Sultone Ebenso wie die Lactone zeigen auch Sultone, zyklische Ester von Sulfons¨auren, eine hohe Reaktivit¨at und Genotoxizit¨at, die jedoch ebenfalls mit zunehmender Ringgr¨oße, d. h. abnehmender Ringspannung, abnimmt (Abbildung 9.21). Sultone finden vielfach in der Modifizierung von Polymeren Verwendung.
β) ↑↑↑ γ) ↑↑ δ) ↑
Abbildung 9.21 Alkylierung von Nukleophilen durch Sultone. BI = Nukleobase oder Phosphatgruppe.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
387
Alkylsulfons¨ aureester, Alkylsulfate Sulfons¨aure- und Schwefels¨aureester sind in der Lage, als alkylierende Agentien zu fungieren (Abbildung 9.22). Ihre genotoxische Wirkung ist beachtlich und sie sind im Tierversuch krebserzeugend.
Abbildung 9.22 Alkylierung von Nukleophilen durch Alkylsulfons¨ aureester und Alkylsulfate. R = CH3 , R’ = CH3 : Methylmethansulfonat (MMS), R = CH3 und R’ = C2 H5 : Ethylmethansulfonat (EMS).
Nitroso-Harnstoffe, Nitroso-Amide, Nitroso-Carbamins¨aureester Diese stark genotoxischen Substanzklassen wirken zwar nicht als direkte Alkylanzien, bed¨ urfen jedoch keiner enzymatischen Aktivierung. Dem Aktivierungsmechanismus liegt vielmehr eine Hydrolyse zu hochreaktiven Produkten zugrunde (Abbildung 9.23). Dabei kommt es bei einem pH-Wert < 8 zur Bildung von Carbonium-Ionen. Bei h¨oheren pH-Werten u ¨berwiegt die Diazomethanbildung.
Abbildung 9.23 Bildung von alkylierenden Carbenium-Ionen aus Nitrosoharnstoff, -amid und -carbamins¨ aureester. Rechts: Reaktion des Hydrolyseproduktes mit Nukleophil BI.
388
Kapitel 9 Karzinogenese
Diese Nitrosoderivate k¨onnen sich aus Nitrit-Ionen und den jeweiligen Alkylharnstoffen, Amiden oder Carbamins¨aureestern bei einem pH-Wert von 1–3 bilden, wie er im Magen vorliegt. Nitrit-Ionen k¨onnen mit der Nahrung zugef¨ uhrt oder durch Reduktion von Nitrat aus der Nahrung gebildet werden. Bei entsprechender Konstellation kann es daher zu Nitrosierungen im Magen kommen. Fremdstoffe mit potentiell nitrosierbaren Strukturen, die zur oralen Aufnahme im menschlichen Organismus bestimmt sind, sollten daher aus Sicherheitsgr¨ unden auf ihre Nitrosierbarkeit im Sauren gepr¨ uft werden. Alkylhydrazine Alkylhydrazine sind oxidationsempfindliche Stoffe, die je nach Substitutionsart bereits durch Sauerstoff direkt oder enzymatisch oxidiert werden unter Bildung von hochreaktiven Metaboliten, die in der Lage sind, mit Nukleophilen zu reagieren (Abbildungen 9.24, 9.25).
Abbildung 9.24 Oxidation von 1,1-Dimethylhydrazin. BH = Nukleophil.
Abbildung 9.25 Biotransformation von 1,2-Dimethylhydrazin. BH = Nukleophil.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
389
Alkylhydrazine finden als Antioxidanzien in der Technik sowie als Raketentreibstoffe vielf¨altige Verwendung. Aus der Cycanuss stammt der Naturstoff Cycasin, ein Methylazoxymethanol-b-D-Glukosid. Beim Verzehr dieser Nuss wird durch b-Glukosidasen des Darms die toxische Substanz Methylazoxymethanol freigesetzt, die Darmtumoren verursachen kann (Abbildung 9.26). Weiterhin entsteht bei der Hydrazinoxidation Wasserstoffperoxid, aus dem in Gegenwart von Eisen Hydroxyl-Radikale entstehen k¨onnen (Fenton-Reaktion), die ebenfalls u ¨ber genotoxische Eigenschaften verf¨ ugen.
β
Abbildung 9.26 Cycasinspaltung durch die b-Glucosidase. Glc = Glucose.
Reaktive Sauerstoffspezies Bei vielen enzymatischen Oxidations- und Reduktionsreaktionen im Stoffwechsel entstehen Radikale und reaktive Sauerstoffspezies, die genotoxische Reaktionen ausl¨osen k¨onnen (Abbildung 9.27).
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Abbildung 9.27 Bildung reaktiver Sauerstoff-Spezies. Zur Erl¨ auterung der M¨ oglichkeiten einer enzymatischen Bildung von Radikalen und reaktiven Sauerstoffspezies sei auf Lehrb¨ ucher der physiologischen Chemie verwiesen.
Hierbei ist das Hydroxyl-Radikal von besonderer Bedeutung. Es ist z. B. in der Lage, die Purinbasen in der Position 8 anzugreifen und Punktmutationen in der DNA auszul¨osen (Abbildung 9.28) Auch ein Angriff an der Desoxyribose kann zu einem Bruch der DNA-Kette f¨ uhren (Abbildung 9.29).
390
Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.28 Reaktion von Hydroxyl-Radikalen mit Adenin. Analog verlaufen die Reaktionen mit Guanin.
O H
N
O
H +OH
H
-H2O
O P
N +OH
H
+ 5´- PO4
Kettenbruch
H
O P OH COOH
H
Basenelimination O
H
O
O
O P
N OH
O
P OH COOH
O
P
Abbildung 9.29 Reaktion von Hydroxyl-Radikalen mit Desoxyribose.
Reaktive Allylstrukturen Stoffe mit hochreaktiven Doppelbindungen, wie zahlreiche Allylverbindungen, sind in der Lage, mit Aminen, Alkoholen oder Thiolgruppen in Form einer konjugierten Additionsreaktion oder einer Alkylierung mit Nukleophilen zu reagieren (Abbildungen 9.30 und 9.31). In Konkurrenz zu der direkten Reaktion der Allylverbindungen steht vermutlich auch eine oxidative enzymatische Epoxidierung der Doppelbindung mit anschließender Alkylierungsreaktion der Epoxide. Parallel zu den toxischen
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
391
Abbildung 9.30 Reaktionen von Allylverbindungen. BI = Nukleophil, X = Abgangsgruppe.
Abbildung 9.31 Beispiele f¨ ur reaktive Allylverbindungen.
Reaktionen von Allylverbindungen laufen Entgiftungsreaktionen mit Hilfe von Glutathion (GSH) ab, entweder durch direkte Additionsreaktionen oder katalysiert durch die Glutathion-S-Transferase (GST). Interkalierende Stoffe Interkalierende Stoffe k¨onnen durch verschiedene Mechanismen eine genotoxische Wirkung entfalten, ohne eine kovalente Bindung an DNA-Strukturen einzugehen. Aufgrund ihrer mehrkernigen planaren Struktur (Abbildung 9.32) k¨onnen sie sich in die DNA einlagern, indem sie mit den Nukleobasen p-Komplexe bilden. Bei der Transkription kann dies zu Basenverschiebungen (Rasterschub-, Frameshift-Mutation) f¨ uhren.
Abbildung 9.32 Interkalierende Stoffe vom Acridin-Typ.
392
Kapitel 9 Karzinogenese
Andererseits k¨onnen durch die Interkalation Repair-Mechanismen behindert werden. Dies f¨ uhrt bei der gleichzeitigen Einwirkung von anderen mutagenen Stoffen zu einer Verst¨arkung der mutagenen Ereignisse im Sinne einer promutagenen Wirkung. Metalle Metalle und Metallverbindungen werden physiologischerweise in Zell-Strukturen und Zell-Organellen wie dem Zellkern, Zellmembranen, Mitochondrien, dem endoplasmatischen Retikulum und Lysosomen gefunden. Sie sind an zellul¨aren Funktionen wie der sog. Elektronentransportkette zur Energiegewinnung ebenso beteiligt wie an Entgiftungsmechanismen oder als Kofaktoren von Enzymen an verschiedenen enzymkatalysierten Reaktionen. Metalle oder Metallionen k¨onnen u ¨ber ionische oder koordinative Bindungen u. a. direkt an zellul¨are Komponenten wie Strangbr¨ uche, Basenmodifikationen oder Konformations¨anderungen resultieren, was einen Mechanismus der kanzerogenen Wirkung von Metallen darstellt (s. u.). Durch die Bildung reaktiver und transienter Metallverbindungen greifen Metalle auch in Reaktionen der intrazellul¨aren Weiterleitung von Signalen, sog. Signaltransduktionswege, ein. So k¨onnen verschiedene Metalle etwa bei umwelt- oder berufsbedingter Exposition also nicht nur toxische Wirkungen entfalten (siehe Kapitel 4.1.5), sondern auch zu Karzinogenese f¨ uhren. Zu diesen Metallen geh¨oren Arsen, Beryllium, Blei, Cadmium, Cobalt, Chrom, Kupfer, Nickel und Vanadium sowie verschiedene Metallverbindungen. Nicht aufgef¨ uhrt sind radioaktive Metalle wie Plutonium, Polonium, Radium und Uran, die prim¨ar durch ihre energiereiche Strahlung genotoxisch und damit karzinogen wirken. W¨ahrend umfassende epidemiologische Untersuchungen das karzinogene Potential verschiedener Metalle zeigen, sind die zugrundeliegenden Mechanismen dieser Metall-induzierten Karzinogenese nur teilweise verstanden. Wahrscheinlich gibt es nicht nur einen einzigen gemeinsamen, sondern vielmehr f¨ ur jedes Metall mehrere jeweils spezifische Mechanismen. Neben der Art des Metalls k¨onnen hierbei auch die Dosis, die Art und Dauer der Exposition sowie andere Umwelteinfl¨ usse entscheidend daf¨ ur sein, welche zellul¨aren Antworten ausgel¨ost werden und evtl. zu Karzinogenese f¨ uhren. Neue molekulare und molekularbiologische Techniken erlauben immer tiefere Einblicke in diese Mechanismen der Metall-induzierten Karzinogenese. So kommt es neben der direkten Bindung von Metallen an DNA-Molek¨ ule vor allem zur Bildung sog. reaktiver Sauerstoff-Spezies (reactive oxygen species, ROS), die vermutlich eine herausragende Rolle durch direkte oxidative Sch¨adigung von Lipiden, Proteinen und DNA und damit als Vermittler karzinogener
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
393
Wirkungen spielen. Zu den ROS geh¨oren Hypochlorid (HOCl), Wasserstoffperoxid (H2 O2 ), Stickstoffmonoxid (NO) sowie Superoxid- (O•− 2 ), Hydroxyl(• OH), Peroxid- (ROO• ), Alkoxid- (RO• ) und Thiyl-Radikale (RS• ). ROS sind ferner in der Lage, redoxsensitive Transkriptionsfaktoren (= Faktoren, die die Transkription und damit Expression von Proteinen steuern) wie NF-κB, AP1 oder p53 zu aktivieren. Der oxidative Stress, der in einem Ungleichgewicht zwischen der Bildung freier Radikale einerseits und antioxidativen Schutzmechanismen andererseits begr¨ undet ist, spielt somit in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle in der Metall-induzierten Karzinogenese (Abbildung 9.33).
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%"$ " !!
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Abbildung 9.33 Rolle von freien Radikalen und oxidativem Stress bei der Metall-induzierten Karzinogenese (nach: Shi et al., Free Rad. Biol. & Med. (2004)).
394
Kapitel 9 Karzinogenese
Unter den karzinogenen Metallen sind u. a. Chrom und Arsen besonders intensiv untersucht (siehe Kapitel 4.2.3 und 4.2.8). Epidemiologische Studien und Tierversuche haben beispielsweise gezeigt, dass vor allem Cr(VI)-Verbindungen toxisch und karzinogen sind. So k¨onnen sie bei Inhalation Tumoren der Atemwege induzieren, in Tierversuchen wurde bei Injektion bzw. Implantation eine Tumorinduktion an der Injektions- bzw. Implantationsstelle nachgewiesen, und sie induzieren Mutationen in Bakterien und Transformationen in S¨augerzellen. Es wird vermutet, dass Cr(VI) intrazellul¨ar zu niedrigeren Oxidationsstufen wie Cr(V) und Cr(IV) reduziert wird, die als reaktive Intermediate direkt DNA-Sch¨aden verursachen k¨onnen und dar¨ uber hinaus • OH-Radikale aus H2 O2 bilden. Das H2 O2 entsteht wiederum w¨ahrend des Reduktionsprozesses von Cr(VI), wobei O2 verbraucht und gleichzeitig auch noch O•− 2 -Radikale gebildet werden. In der Zelle kann somit aus Cr(VI) ein ganzes Spektrum von ROS gebildet werden. Arsen kann u. a. in Leber, Lunge, Haut, Harnblase und Niere eine kanzerogene Wirkung entfalten. Auch hier wurde in verschiedenen zellul¨aren Systemen die Bildung von O•− 2 -Radikalen und H2 O2 nachgewiesen, wobei die genauen Mechanismen der Bildung von ROS noch weitgehend unklar sind. Es werden die Elektronentransportkette an den Mitochondrien, intermedi¨are Arsin-Spezies, methylierte Arsen-Zwischenprodukte oder die Oxidation von Arsenit zu Arsenat als m¨ogliche Quellen der ROS diskutiert. Neben direkten genotoxischen Sch¨adigungen und der Bildung von ROS greifen verschiedene Metalle auch direkt in Signaltransduktionswege ein, die zur Transformation einer Zelle f¨ uhren k¨onnen bzw. mit Tumorpromotion und/oder Tumorprogression assoziiert sind. Schliesslich k¨onnen Metalle auch noch normale DNA-Reparaturmechanismen der Zelle inhibieren und somit die Weitergabe einmal aufgetretener DNA-Mutationen beg¨ unstigen.
9.6.2
Indirekt genotoxisch wirkende Stoffe
Indirekt genotoxisch wirkende Substanzen werden erst durch metabolische Umwandlung aktiviert. Als Grundreaktionen der Biotransformation k¨ onnen Oxidationen am Kohlenstoff- oder Stickstoff-Atom auftreten. Dabei ist die metabolische Kapazit¨at je nach Tierart und Organ h¨aufig sehr unterschiedlich. Somit ist die karzinogene Potenz dieser Stoffe spezies- und organabh¨angig. Die wichtigsten metabolischen Aktivierungsreaktionen werden exemplarisch besprochen.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
395
Epoxidierung von Kohlenstoff-Doppelbindungen Die Epoxidierung von Kohlenstoff-Doppelbindungen durch das Cytochrom P-450 System, einer Isoenzym-Familie von Monoxygenasen in der Leber, geh¨ort zu den wichtigsten Mechanismen bei der Bildung von genotoxischen Metaboliten. Die Epoxidierung von Alkenen ist am Beispiel des Ethens dargestellt (Abbildung 9.34). H Ethen
H C
Cytochrom P-450
C
H
H
O
H C
H Ethenoxid
C
H
H
Abbildung 9.34 Metabolische Epoxidierung von Ethen (Ethylen).
Neben der mutagen wirkenden Alkylierung wird Ethenoxid durch Konjugation an Glutathion (GSH) und Hydratisierung unter Beteiligung einer Epoxidhydrolase entgiftet (Abbildung 9.35). Die Endprodukte beider Reaktionen werden u ¨ber die Niere mit dem Urin ausgeschieden.
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Abbildung 9.35 Alkylierungs- und Entgiftungsreaktionen von Ethenoxid. EH = Epoxidhydrolase, GST = Glutathion-S-Transferase.
Das Krebsrisiko nach Exposition mit Ethen muss im Vergleich zu seinem Metaboliten Ethenoxid (Ethylenoxid), das ebenfalls vielfach technische Verwendung findet, als sehr gering eingesch¨atzt werden. Dies steht im Gegensatz zu anderen Ethenderivaten, die in der Polymerchemie Bedeutung erlangt haben (Abbildung 9.36).
Abbildung 9.36 Aufgrund metabolischer Epoxidierung genotoxische Alkenstrukturen.
396
Kapitel 9 Karzinogenese
Von besonderer toxikologischer Bedeutung sind Vinylchlorid und seine h¨oher halogenierten Analoga (Abbildung 9.37). Nach Umlagerung der Halogenethylen-Epoxide entstehen Produkte, die teilweise als alkylierende, genotoxische Stoffe angesehen werden m¨ ussen. Zur Reaktivit¨at der Expoxide sei auf die Struktur-Wirkungs-Beziehungen an Epoxiden (Abbildung 9.20) verwiesen.
Abbildung 9.37 Metabolismus von Vinylchloriden zu Epoxiden und Umlagerungsprodukten.
Von Chlorethylenoxid sind eine ganze Reihe Additionsprodukte mit DNABasen bekannt (Abbildung 9.38).
Abbildung 9.38 Addukte von Chlorethylenoxid mit Nukleobasen.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
397
Wie sich aus den isolierbaren Trichloressigs¨aurederivaten ableiten l¨asst, findet bei Tri- und Tetrachlorethylen ebenfalls eine Epoxidierung statt. Dies spielt aber f¨ ur die genotoxische Wirkung keine Rolle. Eine Aktivierung erfolgt u ¨ber eine Konjugation mit Glutathion (GSH) (Abbildung 9.39), wobei Mono- und Dichlorthioketen als ultimate Karzinogene angenommen werden m¨ ussen.
Abbildung 9.39 Genotoxizit¨ at von Tri- und Tetrachlorethylen durch Konjugation mit GSH.
Epoxidierung von Furanen Auch cyclisch eingebundene Kohlenstoff-Doppelbindungen k¨onnen durch das Cytochrom P-450-System epoxidiert werden. Dabei weisen insbesondere Nitrofuran-Derivate, die als zyklische Vinylether angesehen werden k¨onnen, eine teilweise hohe Genotoxizit¨at auf (Abbildung 9.40). Epoxide von Furanen ohne Nitrogruppe zeigen in h¨oherer Dosierung zwar eine Zelltoxizit¨at aufgrund kovalenter Bindung an Zellproteinen, eine Genotoxizit¨at gilt aber nicht als sicher. Strukturen des Nitrofurans finden sich in bakterizid wirkenden Arzneimitteln und Lebensmittelkonservierungsstoffen. Aufgrund ihrer Genotoxizit¨ at sind diese Produkte heute verboten bzw. finden keine Anwendung mehr. Von epidemiologisch großer Bedeutung ist das Stoffwechselprodukt des Schimmelpilzes Aspergillus flavus, das Aflatoxin B1 (Abbildung 9.41). Das karzinogene Mykotoxin wird vermutlich am Furanring in Position 8,9 zu einem hochreaktiven Epoxid metabolisiert. Dieses Epoxid konnte bisher in vivo noch nicht nachgewiesen werden, auf seine intermedi¨are Bildung l¨asst sich jedoch aus isolierten DNA-Addukten, wie einem entsprechenden Guanin-Addukt, schließen (Abbildung 9.41). Aflatoxine gelten als starke Leberkarzinogene. Man findet sie geh¨auft in Lebensmitteln aus L¨andern mit mangelnder Lebensmittelhygiene. In diesen Regionen sind auch vermehrt prim¨are Lebertumoren beim Menschen zu beobachten. Nach deutschem Lebensmittelrecht (Aflatoxinverordnung) darf die Sum-
398
Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.40 Mutagenit¨ at verschiedener Nitrofuranderivate. Als Maß f¨ ur die Mutagenit¨ at dient die Zahl der Revertanten/µM“ im Ames-Test. ”
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Abbildung 9.41 Aflatoxin B1 und sein 8,9-Epoxid, von dem die Genotoxizit¨ at ausgeht.
me der in Lebensmitteln enthaltenen Aflatoxine (B1 , B2 , G1 , G2 ) nicht mehr als 4 mg/kg betragen und gleichzeitig nicht mehr als 2 mg/kg des Aflatoxins B1 enthalten sein. Epoxidierung von Monoaromaten F¨ ur die Toxizit¨at aromatischer Verbindungen ist die metabolische Bildung von hochreaktiven, epoxidischen Zwischenstufen (Arenoxide) verantwortlich. Durch Synthese von Benzoloxid konnte die Existenz solcher Epoxide bewiesen werden.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
399
Arenoxide unterliegen einer nicht-enzymatischen spontanen Umwandlung in das entsprechende Phenol. Diese erfolgt u ¨ber eine Carbonyl-Zwischenstufe durch den NIH-shift (Abbildung 9.42).
Abbildung 9.42 Epoxidierung von Benzolderivaten. NIH = National Institute of Health.
Zus¨atzlich erfahren Arenoxide auch eine enzymatische Desaktivierung, die der Kopplung an biologische Makromolek¨ ule parallel l¨auft (Abbildung 9.43). ! #!
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Abbildung 9.43 Metabolismus von Benzol ausgehend vom Arenoxid. GST = Glutathion-STransferase, EH = Epoxidhydrolase, Iso = Isomerisierung. Als Sekund¨ arreaktionen k¨ onnen Hydrolysen auftreten.
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Abbildung 9.44 Metabolismus von Naphthalin. Ox. = Oxidation.
400
Kapitel 9 Karzinogenese
Die Reaktivit¨at der Arenoxide nimmt durch Einf¨ uhrung von Halogenatomen in den Kern wie bei Chlor- oder Brombenzol deutlich zu. Außerdem ist auch die Bildung von Chinonen zu beobachten, die Redox-Systeme als reaktive, genotoxische Sauerstoffspezies erzeugen (Abbildung 9.44). L¨angere Exposition mit Benzol, unter schlechten Arbeitsschutzbedingungen in Kokereien, haben beim Menschen Leuk¨amien induziert. Hierbei ist allerdings nicht sicher, ob das Epoxid selbst oder andere Metaboliten wie reaktive Sauerstoffspezies verantwortlich sind. Epoxidierung von polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen Die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAKs) stellen eine fast ubiquit¨ar vorkommende Stoffgruppe dar, die zu den wichtigsten Umweltkanzerogenen u ¨berhaupt z¨ahlen. Sie liegen praktisch immer als Gemische vor (im Zigarettenrauch z. B. weit u ¨ber 200 verschiedene Verbindungen), wobei einige Einzelsubstanzen nicht karzinogen oder nur tumorpromovierend sind, andere aber als besonders starke Karzinogene eingestuft werden. PAKs entstehen haupts¨achlich bei Verbrennungs- und Schwelprozessen, sind aber auch schon Bestandteil fossiler Brennstoffe und treten deshalb bei der Energiegewinnung als Kontaminante auf. W¨ahrend sie in Lebensmitteln zun¨achst im allgemeinen nur in geringen Mengen vorkommen, k¨onnen sie w¨ahrend der LebensmittelVerarbeitung bzw. Speisen-Zubereitung (Braten, Backen, R¨auchern, Grillen, Frittieren, R¨osten) neu entstehen. Eine weitere erhebliche Emissionsquelle ist Tabakrauch. Das Benzo[a]pyren gilt als Leitsubstanz“. Es wurde unter anderen hinsicht” lich seines Metabolismus intensiv untersucht (Abbildung 9.45). Die metabolische Aktivierung beginnt mit einer h¨aufig unter Katalyse von Enzymen des Cytochrom P-450 ablaufenden Epoxidierung. Die so entstandenen Epoxide k¨onnen dann durch Epoxidhydrolasen zu den entsprechenden trans-Diolen hydrolysiert werden. Durch eine erneute Epoxidierung kommt es schließlich zur Bildung der besonders (DNA-)reaktiven Diol-Epoxide. Von besonderer Bedeutung f¨ ur die Genotoxizit¨at ist die Bildung von 7,8-Dihydroxy-9,10-epoxy-7,8,9,10-tetrahydrobenzo[a]pyren (BPDEP), dessen verschiedene Stereoisomere allerdings u ¨ber unterschiedliche biologische Aktivit¨aten verf¨ ugen (Abbildung 9.46). ¨ Uber die Ursachen der unterschiedlichen biologischen Aktivit¨at wurden zahlreiche Modellvorstellungen entwickelt. Grundlage bildeten Beobachtungen von Zusammenh¨angen zwischen der chemischen Reaktivit¨at, der p-Elektronendichte und der karzinogenen Wirkung. Diese f¨ uhrten zun¨achst zur Hypothese sog. K-Regionen (K = Krebs) und reaktionstr¨ager L-Regionen.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
401
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Abbildung 9.45 Metabolismus von Benzo[a]pyren.
Durch sp¨atere Untersuchungen gelangte man zur Bay-Region-Theorie, welche besagt, dass dasjenige Epoxid die h¨ochste mutagene und karzinogene Potenz besitzt, welches an einem ges¨attigten, angular anellierten Ring gebildet wird (Abbildung 9.47) ( Bay-region“). In Erweiterung dieser Theorie wurde ” die sog. Fjord-Region“ definiert: aufgrund der sterischen Hinderung k¨onnen ” Diolepoxide in dieser Region nicht durch Epoxidhydrolasen entgiftet werden und stellen daher besonders starke Karzinogene dar. Eine Bay-region findet sich auch im Benzo[a]pyren. Dabei erwies sich sein 7,8Dihydroxy-9,10-epoxid als erheblich genotoxischer als das entsprechende KRegion-Epoxid. Auch hier ist die unterschiedliche biologische Reaktivit¨at der 7,8-Dihydroxy-9,10-epoxide teils sterisch bedingt. Aufgrund der cis-Konfiguration zwischen der Hydroxylgruppe an C-7 und der Epoxidgruppe (siehe Abbil-
402
Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.46 Bildung von isomeren Benzo[a]pyren-Diolepoxiden.
Abbildung 9.47 Reaktionszentren an Polyaromaten.
dung 9.46) ist eine anchimere Beschleunigung nukleophiler Ring¨offnungsreaktionen geschaffen (intramolekulare Protonenkatalyse), wodurch die Reaktivit¨ at im chemischen Test tats¨achlich h¨oher ist. Dennoch erwiesen sich die transIsomere in vivo als karzinogener. Als Erkl¨arung werden Abfangreaktionen des cis-Isomeren an der Applikationsstelle herangezogen. Nitrosamine Im Gegensatz zu den Nitrosoamiden, Nitrosocarbaminaten (Urethane) und Nitrosoharnstoffen (Abbildung 9.23), die durch Hydrolyse reaktive, genotoxische Abbauprodukte bilden k¨onnen, bed¨ urfen die N-Nitrosoamine (Abbildung 9.48) einer metabolischen Aktivierung. Diese Aktivierung erfolgt durch a-Hydroxylierung mittels Cytochrom P-450, Abspaltung des Alkylrestes als Aldehyd unter Bildung eines N-Nitrosomonoamins und Tautomerie unter Bildung eines Diazohydroxids, das u ¨ber eine Diazonium-Zwischenstufe unter Abspaltung von Stickstoff zu einem reakti-
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
403
Abbildung 9.48 Metabolismus von Dialkylnitrosaminen.
ven Carbenium-Ion zerf¨allt. Dieser Mechanismus ist plausibel, da Nitrosamine wie das Diphenylnitrosamin, welche in a-Position nicht hydroxyliert werden k¨onnen, auch nicht karzinogen sind. Nitrosamine kommen in Spuren ubiquit¨ar vor. Sie finden sich in Lebensmitteln, Kosmetika, Bioziden, Tabakrauch (Nebenstrom) und in vielen technischen Chemikalien. Nahezu alle untersuchten Nitrosamine, die in a-Position hydroxyliert werden k¨onnen, haben sich tierexperimentell oder am Menschen als karzinogen erwiesen. Dabei ist in Abh¨angigkeit von der Struktur der Alkylreste hinsichtlich der Tumorbildung eine ausgesprochene Organ- und Tierspezifit¨at festzustellen. Neben unterschiedlicher Verteilungskinetik im Organismus und verschiedener Aktivit¨at der Repairmechanismen wird vor allem eine unterschiedlich ausgepr¨agte Ausstattung mit konjugatspaltenden Enzymen f¨ ur die Erkl¨arung der Befunde herangezogen. Wird das metabolische Prim¨arprodukt, das a-HydroxyNitrosamin als Konjugat (Glukuronid) gebunden, so kann letzteres vom Ort der Bildung abtransportiert, im Organismus verteilt und andernorts nach Spaltung wieder freigesetzt werden. Die chemische Bildung von Nitrosaminen aus sekund¨aren Aminen und Nitrit hat ihre Bedeutung darin, dass f¨ ur viele Amine die maximale Geschwindigkeit der Nitrosierung bei sauren pH-Werten liegt, wie sie im Magen herrschen. Vertreter der weniger basischen Amine werden leichter nitrosiert als stark basische Amine (Abbildung 9.49). Diese Reaktion, bei der N2 O3 als Nitrosierungsagenz wirksam ist, l¨auft auch in vivo ab. Dies haben F¨ utterungsversuche mit N-Methylbenzylamin oder Morpholin und Nitrit an der Ratte gezeigt. Es konnten sowohl die entsprechenden Nitrosamine isoliert als auch die gleichen Tumoren nachgewiesen werden wie nach direkter Applikation der entsprechenden Nitrosamine.
404
Kapitel 9 Karzinogenese
2 NaNO2 + 2 HCl
H2 O + 2 NaCl + N2 O 3
relat. Nitrosierungsrate
4
R R
N H + N2 O 3
R R
N NO
+ HNO 2
3 2 1 pKA [HNO2] = 3,4
0 1
2
3
4
5
6
pH
7
Abbildung 9.49 Relative Nitrosierung von sekund¨ aren Aminen in Abh¨ angigkeit vom pHWert.
Dar¨ uber hinaus sind weitere M¨oglichkeiten der Nitrosaminbildung bekannt geworden, die h¨aufig als Nebenreaktionen von Syntheseprozessen ablaufen. Hierbei kommen als Nitrosierungsmittel neben dem Nitrit-Ion auch Nitroxylverbindungen aus der Luft in Frage. Es handelt sich um Verbindungen des Typs NOX, in dem X f¨ ur ein Halogenatom oder f¨ ur eines der Stickstoffoxide NO2 bzw. NO3 steht. Letztere liefern Distickstofftrioxid N2 O3 (NO·NO2 ) oder Distickstofftetroxid N2 O4 (NO·NO3 ). Nitroxylverbindungen dieser Art finden sich vor allem in Abgasen von Autos oder Kraftwerken und im Zigarettenrauch oder entstehen bei der Verbrennung organischer, stickstoffhaltiger Substanzen oberhalb von 800 °C. Als Beispiel einer verdeckten“ Nitrosierung muss der desalkylierenden Nitro” sierung gr¨oßere Bedeutung zugemessen werden (Abbildung 9.50). Dabei wer-
Abbildung 9.50 Desalkylierende Nitrosierung von terti¨ aren Aminen.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen
405
den terti¨are Amine durch Einwirken von Distickstofftrioxid in ein Nitrosamin u ¨berf¨ uhrt, wobei ein Alkylrest als Aldehyd abgespalten wird. Da diese Reaktion an terti¨ aren Aminen eintritt, die zu Handelsprodukten verarbeitet werden, welche zur Anwendung am Menschen dienen, wurden H¨ochstgrenzen f¨ ur Verunreinigungen mit Nitrosaminen erlassen. So unterliegt Triethanolamin, das vielfach bei der Herstellung von Cremes und Gelen Verwendung findet, dieser Verordnung. Durch desalkylierende Nitrosierung wird es leicht in Diethanolnitrosamin u ¨berf¨ uhrt (Abbildung 9.51), das u ¨ber die Haut in den K¨orper aufgenommen werden kann.
Abbildung 9.51 Desalkylierende Nitrosierung von Triethanolamin.
Aromatische Amine Aromatische Amine finden vielf¨altig Anwendung bei der Synthese von Farbstoffen, Bioziden oder Arzneimitteln. Im Gegensatz zur enzymatischen Oxidation aliphatischer Amine entstehen bei der Metabolisierung von aromatischen Aminen zur Alkylierung bef¨ ahigte elektrophile Zwischenstufen wie das Nitrenium-Ion, das mit dem entsprechenden Carbenium-Ion in mesomerer Wechselbeziehung steht (Abbildung 9.52). Aufgrund dieser mesomeren Struktur besitzen die Elektrophile eine ausreichende Stabilit¨at. Zur Alkylierung ist das elektrophile Zentrum am Stickstoff und am Ringkohlenstoff bef¨ahigt. Neben den in der Abbildung dargestellten Reaktionen kann die Aminogruppe in einem ersten Schritt auch durch Cytochrom P-450 zum Hydroxylamin oxidiert werden, das im weiteren einer Acetylierung oder Sulfatierung unterliegt. Die Mutagenit¨at der Arylamine nimmt im Ames-Test proportional mit der Zahl der Aminogruppen zu, wobei die Hammett-Regel bzgl. der Basizit¨at offensichtlich von Bedeutung ist (Abbildung 9.53). Die Befunde an Nitroanilinen scheinen dieser Regel zu widersprechen. Aromatische Nitrogruppen k¨onnen aber durch Testbakterien, nach oraler Gabe auch durch Darmbakterien, zu Aminogruppen reduziert werden. Die am Beispiel der Anilinderivate gezeigten metabolischen Reaktionswege und StrukturWirkungs-Beziehungen k¨onnen weitgehend auf mehrkernige Arylamine und heterozyklische Arylamine u ¨bertragen werden, die sich zu einem hohen Prozentsatz als karzinogen erwiesen haben.
406
Kapitel 9 Karzinogenese
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Abbildung 9.52 Metabolismus von Arylaminen zu genotoxischen Elektrophilen.
Abbildung 9.53 Beziehungen zwischen Struktur und mutagener Wirkung von Derivaten des Anilins, Chloranilins und Nitroanilins. Als Maß f¨ ur die Mutagenit¨ at ist rechts neben der Struktur der Parameter Revertanten/µM“ angegeben (siehe Ames-Test, Abschnitt 9.7.2). ”
9.7 Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
9.7
407
Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
W¨ahrend die akute toxische Wirkung chemischer Stoffe meist gut bekannt ist, weiß man u ¨ber deren mutagene oder karzinogene Eigenschaften oft nur wenig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass genotoxische Effekte als manifeste Sch¨aden h¨aufig erst nach vielen Jahren oder sogar Generationen nach Erwerb einer Mutation zu beobachten sind. Diese lange Zeit erschwert es außerordentlich, einen Zusammenhang zwischen Noxe und Wirkung zu erkennen. Um das Risiko f¨ ur den Menschen zu senken, ist die Erkennung eines Gef¨ahrdungspotentials von großer Wichtigkeit. Zur Beurteilung der potentiellen kanzerogenen Eigenschaften sowie m¨oglicher genetischer Risiken einer Substanz werden Genotoxizit¨atstests durchgef¨ uhrt. Dabei werden abh¨angig vom jeweiligen Verfahren unterschiedliche genotoxische Mechanismen erfasst. Verschieden sind demnach auch die Risikoabsch¨atzungen. Trotz der Effektivit¨at mancher Testsysteme ist es nicht m¨oglich, durch Anwendung eines einzigen Tests alleine eine sichere Aussage u ¨ber eine karzinogene Wirkung einer Substanz am Menschen zu machen. Erst durch Kombination verschiedener Testverfahren l¨asst sich die Sicherheit der Aussage steigern, entsprechend sollte eine Bandbreite verschiedener Testmethoden eingesetzt wer¨ den, die im Ubrigen auch einer st¨andigen Weiterentwicklung unterliegen. Heute werden bei der Pr¨ ufung auf Genotoxizit¨at Testbatterien“ eingesetzt, ” welche eine Substanz stufenweise durchl¨auft, beginnend mit der Untersuchung von Punktmutationen und Chromosomenaberrationen zuerst an Bakterien, sp¨ater an S¨augerzellen und schließlich in vivo. Die experimentelle Erfassung einer potentiell karzinogenen Wirkung einer Substanz ist zwar im Versuch am Tier prinzipiell m¨oglich, aber mit einem sehr hohen Aufwand an Zeit, Arbeit und Kosten verbunden. Daher wurden die sogenannten short-term-tests“ ” entwickelt. Diese gestatten mit geringerem Aufwand eine Aussage u ¨ber eine mutagene und karzinogene Wirkung. Im Falle positiver Befunde sollten in der Regel Dosis-Wirkungs-Beziehungen nachgewiesen werden. Die Interpretation der Tests wird dann schwierig, wenn (i) Effekte nur bei sehr hohen, bereits toxischen/cytotoxischen Dosen bzw. Konzentrationen auftreten, (ii) verschiedene Tests divergierende Ergebnisse erbringen oder (iii) negative Genotoxizit¨atsbefunde erhalten werden, obwohl aus den Stoffeigenschaften hinreichende Verdachtsmomente auf Genotoxizit¨at vorliegen. Es muss dann die jeweilige Relevanz verschiedener Testsysteme abgewogen werden. Die zur Zeit bekannten Testmethoden lassen sich wie folgt gruppieren:
408
Kapitel 9 Karzinogenese
• Tests auf Adduktbildung Bildung von Nukleotid-Kanzerogen-Addukten im Reagenzglas Nachweis von Nukleotid-Kanzerogen-Addukten u ¨ber die Postlabeling” Methode“ • Tests an Mikroorganismen Prokaryonten (Bakterien) Eukaryonten (Hefen) • Tests an Warmbl¨ uterzellen DNA-Repair- und DNA-Replikationshemmeffekte Genmutationen Zytogenetische Effekte Transformationstests • Tests am Tier Insekten Nager Nachfolgend werden die wichtigsten Testmethoden hinsichtlich ihrer biologischen Mechanismen erkl¨art sowie ihre Aussagekraft erl¨autert.
9.7.1
Tests auf DNA-Adduktbildung (Bildung von Nukleotid-Kanzerogen-Addukten)
4-Nitrobenzylpyridin (NBP)-Test Zur Absch¨atzung der alkylierenden F¨ahigkeit einer Verbindung unter ann¨ahernd biologischen Bedingungen k¨onnen nukleophile Farbstoffe wie 4-Nitrobenzylpyridin (NBP) dienen (Abbildung 9.54). Bei der Inkubation von NBP mit einem Alkylanz bildet sich zun¨achst durch Alkylierung am Pyridinstickstoff ein farbloses quartern¨ares Salz, das durch Zugabe einer Base in einen violetten Farbstoff u ¨berf¨ uhrt werden kann. Diese Reaktion l¨auft u ¨ber einen relativ weiten Konzentrationsbereich linear ab, und die H¨ohe der Extinktion ist bei konstanter Inkubationszeit und a¨quimolarer Konzentration der Testsubstanzen ein gutes Maß f¨ ur deren alkylierende Wirkung. Gegebenenfalls m¨ ussen hierbei noch notwendige aktivierende Enzymsysteme zugegeben werden. Bewertung: Aus den Ergebnissen kann nicht generell auf eine genotoxische Wirkung geschlossen werden, da weitere Einfl¨ usse wie Stoffaufnahme, Resorption, Organverteilung, Metabolismus und Ausscheidung noch ber¨ ucksichtigt werden m¨ ussen. Daher kann der NBP-Test auch nur einen Hinweis auf eine m¨ogliche Genotoxizit¨at geben.
9.7 Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
409
Abbildung 9.54 Reaktion von 4-Nitrobenzylpyridin (NBP) mit Alkylanzien. Maximale Absorption bei λ = 560 nm.
Postlabeling-Methode Das Postlabeling stellt eine allgemein einsetzbare und empfindliche Methode zur Messung von Substanzen nach deren kovalenter Bindung an DNA dar. Hierzu erfolgt zun¨achst die Exposition eines Testorganismus mit der auf Genotoxizit¨at zu pr¨ ufenden Substanz. Aus Gewebeproben wird dann die DNA isoliert, wobei auf dieser Stufe noch nicht zwischen nicht-modifizierter und evtl. modifizierter DNA unterschieden wird, und enzymatisch (MicrococcusNuklease, Milz-Phosphodiesterase) zu 3’-Mononukleotiden verdaut. Diese werden nun zu ihrem leichteren Nachweis in Anwesenheit von Adenosintriphosphat, das eine endst¨andige radioaktive Phosphatgruppe tr¨ agt ([g32 P]-ATP), unter Katalyse von T4-Polynukleotidkinase zu 3’,5’-Diphosphaten phosphoryliert und damit radioaktiv markiert. Es folgt die d¨ unnschichtchromatographische Trennung der Nukleotide, wobei die evtl. entstandenen NukleotidKanzerogen-Addukte ein anderes Laufverhalten zeigen und damit von nichtmodifizierten Nukleotiden abgetrennt werden, und die Detektion der Nukleotide u ¨ber Autoradiographie.
9.7.2
Tests an Mikroorganismen
Test an Prokaryonten Als Prokaryonten werden Einzeller bezeichnet, bei denen charakteristische Zellbestandteile (Organellen) h¨oherer Zellen wie z. B. das endoplasmatische Retikulum fehlen und das Erbmaterial nicht in Chromosomen untergliedert ist. Die wichtigste Gruppe stellen die Bakterien dar. Im Rahmen der Pr¨ ufung auf Genotoxizit¨at k¨onnen mit ihrer Hilfe Punktmutationen (Basenpaarsubstitution und Rasterschubmutationen) erfasst werden. Der Test nach Ames (Abbildung 9.55) an Bakterien vom Stamm Salmonella typhimurium hat eine große Bedeutung erlangt.
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Abbildung 9.55 Der Ames-Test. S9-Mix: Lebermikrosomen mit einem NADPHregenerierenden System; Erkl¨ arung siehe Text.
Die Testbakterien haben einen genetischen Defekt (Mutation) und sind nicht mehr in der Lage, die Aminos¨aure Histidin (His) zu synthetisieren. Man bezeichnet sie darum als Histidin-Mangelmutanten; sie sind his− -auxotroph im Gegensatz zum Wildtyp, der his+ -prototroph ist. In einer Minimalkultur auf der Agarplatte, die nur Salze und Glucose enth¨alt, k¨onnen diese Testbakterien nicht wachsen. In Gegenwart von mutagenen Substanzen kann es an den Testbakterien zu DNA-Ver¨anderungen kommen. Prinzipiell k¨onnen alle Bereiche der DNA betroffen sein, unter anderem auch das Gen, in dem der his− -Defekt lokalisiert ist. Repairmechanismen f¨ uhren h¨aufig u. a. zu R¨ uckmutationen. Die Auxotrophie geht damit wieder in eine Prototrophie u ¨ber und ein Wachstum der Bakterien auf dem Minimalagar ohne Histidin wird wieder m¨oglich. Durch Inkubation der Testbakterien mit der zu pr¨ ufenden Substanz u ¨ber einen Zeitraum von 20 bis 30 Minuten und anschließender Kultivierung der Bakte-
9.7 Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
411
rien u ¨ber zwei Tage bei 37 °C l¨asst sich, sofern eine R¨ uckmutation ausgel¨ost wurde, ein Koloniewachstum beobachten. Jede Kolonie entsteht aus jeweils einem mutierten Bakterium. Auf diese Weise k¨onnen allerdings nur direkt wirkende Mutagene erfasst werden. Bakterien verf¨ ugen u ¨ber kein mischfunktionelles Cytochrom P-450-System, mit dem sie indirekte Mutagene in deren reaktive Metabolite u ¨berf¨ uhren k¨onnen. Dieser Nachteil kann dadurch ausgeglichen werden, dass man dem Inkubationsansatz mit der zu testenden Substanz ein Cytochrom P-450-System in Form von Lebermikrosomen mit einem NADPH-regenerierenden System zusetzt. Dieser Zusatz wird als S9-Mix“ bezeichnet. ” Durch Z¨ uchtung stehen f¨ ur den Ames-Test verschiedene Salmonella-Bakterien zur Verf¨ ugung. Sie zeichnen sich entweder durch gute Zellwanddurchl¨assigkeit aus oder durch eine verminderte Kapazit¨at der Repairmechanismen. Beide Eigenschaften sind f¨ ur die Empfindlichkeit des Tests wichtig. Durch Auswahl eines geeigneten Stammes gelingt es, zwischen Basenpaarsubstitution oder Rasterschubmutation zu unterscheiden. Auf die ausf¨ uhrlichen Testbedingungen, die f¨ ur ein validiertes, standardisiertes Versuchsprotokoll erforderlich sind, wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Unter optimalen Bedingungen kann eine gute Konzentrations-Wirkungs-Beziehung erhalten werden. Als Maß f¨ ur die Mutagenit¨at kann die Anzahl der Revertanten auf die Konzentration der Teststubstanz bezogen werden (Rev./mM; siehe Abbildungen 9.40 und 9.53). Neben Salmonella-Bakterien haben auch andere Bakterien, darunter Escherichia coli, mit anderen Aminos¨aureauxotrophien Eingang in die Mutagenit¨ atsforschung gefunden. Generelle Vorteile lassen sich aber nicht erkennen. Bewertung: Erfasst werden in diesem Test Punktmutationen. Die Korrelation zwischen gefundener Mutagenit¨at und experimenteller Tumorbildung im Tierversuch hat sich mit u ¨ber 80 % bei direkten Alkylantien, Arylaminen und polycyclischen Kohlenwasserstoffen als sehr gut erwiesen. Der Zusatz eines S9-Mix kann die volle Funktion einer Leber nicht ersetzen, da neben den Giftungsreaktionen vor allem die Entgiftungsreaktionen nicht gem¨aß ihrer physiologischen Bedeutung vertreten sind. Außerdem fehlen alle kinetischen Einfl¨ usse eines intakten S¨augetierorganismus auf die Testsubstanz und auf deren Metaboliten. Der Ames-Test gilt als kosteng¨ unstiges, zeitsparendes und empfindliches Pre” screening“, dem bei positivem Ergebnis weitere Tests folgen m¨ ussen.
412
Kapitel 9 Karzinogenese
Test an Eukaryonten Eukaryonten besitzen im Gegensatz zu Prokaryonten Chromosomen, die in einem Zellkern lokalisiert sind. Eukaryotische Mikroorganismen sind somit hinsichtlich ihrer Genetik eher mit S¨augetierzellen vergleichbar, lassen sich aber – im Gegensatz zu S¨augetierzellen – unter a¨hnlich einfachen Bedingungen wie Bakterien kultivieren. Als Testorganismen dienen die Hefen Saccharomyces cerevisiae und Neurospora crassa sowie Pilze wie Aspergillus nidulans. Saccharomyces cerevisiae wird mit Abstand am h¨aufigsten als Testorganismus eingesetzt. Die Testbedingungen sind ¨ahnlich wie im Ames-Test, jedoch betr¨agt die Inkubation mit der Testsubstanz wegen der l¨angeren Generationszeit der Hefe 12 bis 24 Stunden. Dem Testansatz muss zur Erfassung indirekt wirkender Agenzien ebenfalls ein exogenes Cytochrom P-450-System zugegeben werden. Bewertung: Es k¨onnen reziproke und nichtreziproke Rekombinationen sowie Chromosomenver¨anderungen wie Aberrationen erkannt werden. Wie beim Ames-Test simuliert das exogene, aktivierende Enzymsystem nicht die volle Funktion einer Leber. Außerdem fehlen alle kinetischen Einfl¨ usse eines intakten S¨augetierorganismus auf die Testsubstanz und auf deren Metaboliten. Der Hefetest ist ein kosteng¨ unstiges, zeitsparendes und empfindliches Pre” screening“, mit dessen Hilfe neben Mutationen – wie im Ames-Test – auch Chromosomensch¨aden erfasst werden k¨onnen.
9.7.3
Test an Warmbl¨ uterzellen (S¨augetierzellen)
Genmutationstests Die Genmutationstests an S¨augetierzellen sind auf genetischer Ebene dem Ames-Test vergleichbar. Allerdings werden nicht R¨ uckmutationen (Mutante −→ Wildtyp) sondern Vorw¨artsmutationen (Normalzelle −→ Mutante) erfasst. Da die Kulturbedingungen so gew¨ahlt sind, dass nur die erzeugten Mutanten aufgrund mutationsbedingt erworbener Eigenschaften u ¨berleben k¨onnen, ist das Testsystem dem Ames-Test sehr ¨ahnlich. In diesen Genmutationstests werden nach Inkubation mit der Testsubstanz den Zellen in der Wachstums- und Vermehrungsphase bestimmte Antimetabolite zugesetzt, die bei normalen Zellen zu deren Absterben f¨ uhren. Ist durch die Testsubstanz eine Mutation ausgel¨ost worden, die zu einer Resistenz gegen¨ uber den Antimetaboliten f¨ uhrt, so k¨onnen sich diese (Vorw¨arts)-Mutanten in Gegenwart des Antimetaboliten vermehren. Wegen der Mutation wird der
9.7 Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
413
Antimetabolit so schnell metabolisiert, dass er f¨ ur die Zelle keine letale Wirkung mehr besitzt. Folgende Antimetaboliten finden h¨aufig Verwendung: Trifluorthymidin hemmt die Thymidinkinase, das 6-Thioguanin hemmt die Hypoxanthin-Phosphoribosyl-Transferase und greift in die DNA-Synthese ein, Ouabain (g-Strophanthin) blockiert die Na+ /K+ -ATPase in der Zellmembran. Als Testzellen dienen etablierte Zellinien (Permanentkulturen) verschiedener Tierspezies, z. B. Maus-Lymphoma-Zellen (L 51784), chinesische Hamster Lungenzellen (CHV79) und chinesische Hamster Ovarialzellen (CHO). Der HG-PRT-Test (Hypoxanthin-Guanin-PhosphoribosyltransferasegenTest) basiert auf S¨augetierzellen, die durch eine genetische Ver¨anderung gegen Thioguanin (TG) resistent sind. Zur Verf¨ ugung stehen z. B. TG-resistente V79-Hamsterfibroblasten. Werden solche Mutanten mit normalen V79-Fibroblasten (Wildtyp) in einer Mischkultur und in Gegenwart von TG gehalten, kommt es zwischen beiden Zelltypen zur metabolischen Zell-Zell-Kommunikation. Ein von den Wildtyp-Zellen gebildeter Metabolit des Thioguanin gelangt zu den TG-resistenten Zellen und verursacht deren Absterben. Unter Testbedingungen wird eine Testsubstanz zugesetzt; wenn diese (wie z. B. verschiedene Tumorpromotoren) die Zell-Zell-Kommunikation unterdr¨ uckt, wird ein Wachstum der u ¨berlebenden resistenten Zellen beobachtet (Abbildung 9.56). Alle f¨ ur diesen Test zur Verf¨ ugung stehenden Zellinien besitzen kein metabolisierendes Enzymsystem. Zur Erfassung indirekt wirkender Mutagene muss dieses daher dem Inkubationsansatz zugef¨ ugt werden. Bewertung: Genmutationstests an Warmbl¨ uter- (S¨augetier-) Zellen z¨ahlen ebenfalls zu den kosteng¨ unstigeren Testsystemen. Allerdings ist im Vergleich zum Ames-Test hier aufgrund der erheblich h¨oheren Populationsverdopplungszeit von 10–20 Stunden, der bis zu drei Tage dauernden Inkubation mit der Testsubstanz sowie einer Kultivierungsdauer von 7–14 Tagen ist eine deutlich l¨angere Testzeit erforderlich. Wie beim Ames-Test werden metabolische und kinetische Einfl¨ usse eines S¨augetierorganismus auf die Testsubstanz oder deren Metabolite nicht erfasst. Genmutationstests, f¨ ur die heute gut validierte Versuchsprotokolle vorliegen, eignen sich als Bestandteile sogenannter Testbatterien. Die Korrelation zwischen Mutagenit¨at und Karzinogenit¨at wird auf 80 bis 95 % gesch¨atzt. Tests auf zytogenetische Effekte Bei diesen Testverfahren werden strukturelle Ver¨anderungen von Chromosomen erfasst, die durch genotoxische Substanzen hervorgerufen werden. Dabei
414
Kapitel 9 Karzinogenese
V79-Hamsterzellen (HG-PRT+)
V79-Hamsterzellen (HG-PRT-)
Mischkultur
+ Thioguanin
+ Thioguanin + Testsubstanz
Bestimmung der Zahl überlebender Zellen
Kein Wachstum wegen intakter Zell-ZellKommunikation (TG-Metabolit wird auf Mutanten übertragen)
Wachstum wegen Testsubstanzbedingter Inhibition der Zell-Zell-Kommunikation
Abbildung 9.56 Der HG-PRT- (Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase-Gen-)Test. HG-PRT + : wt-Zellen; HG-PRT − : Mutanten mit TG-Resistenz.
ist ein direkter Angriff der Testsubstanz an der DNA nicht immer erforderlich, da auch andere St¨orungen zu DNA-Doppelstrangbr¨ uchen f¨ uhren k¨onnen, die Voraussetzung f¨ ur die Chromosomenver¨anderung sind. Test auf Chromosomenaberrationen Hierbei werden die zu untersuchenden Zellen, z. B. menschliche Lymphozyten, mehrere Stunden lang mit der Testsubstanz inkubiert. Danach werden die Zellen durch Zugabe von Colchicin, einem Spindelgift, in einer bestimmten Phase der Zellteilung, der Metaphase, fixiert. Eine besondere F¨arbetechnik
9.7 Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
415
macht die Chromosomen f¨ ur eine lichtmikroskopische Beurteilung sichtbar. Auf diese Weise werden Strukturanomalien an Chromosomen wie Gaps, Br¨ uche, Interchanges, Translokationen oder Deletionen erfasst. Tests auf Chromosomenaberrationen lassen sich auch in vivo durchf¨ uhren, indem die Testsubstanz einem Hamster als Versuchstier appliziert wird. Nach einer gewissen Zeit isoliert man K¨orperzellen, wie Knochenmarkzellen, f¨ ur eine mikroskopische Untersuchung. Bewertung: Das Auftreten von Chromosomenaberrationen in der ersten Zellphase beweist keine Mutation, da die ausgel¨osten DNA-Sch¨aden noch nicht im Rahmen einer Zellteilung auf die Tochtergeneration u ¨bertragen worden sind.
Test auf Schwesterchromatidaustausch Auch dem Schwesterchromatidaustausch (sister chromatid exchange, SCE) liegen DNA-Strangbr¨ uche zugrunde. Sie treten in beiden Chromatiden, also der funktionellen Untereinheit (L¨angsh¨alfte) eines Chromosoms, an gleicher Stelle (homolog) auf, so dass es zu einem reziproken Austausch der beiden DNA-Molek¨ ule an den Bruchstellen mit anschließender Verkn¨ upfung kommt. Solche Austauschreaktionen an Schwesterchromatiden weist man nach, indem man teilungsaktive Testzellen im Inkubationsansatz mit 5-Bromdesoxyuridin (BrdU) inkubiert. Dieses verh¨alt sich dem Nukleotidbaustein Thymidin analog und wird w¨ahrend der Replikation bei der Synthese von DNA in den jeweiligen neuen DNA-Strang eingebaut. Nach zwei Zellzyklen enth¨alt die chromosomale DNA des einen Chromatids somit nur Thymidin, die des anderen BrdU. Durch eine spezielle Fluoreszenzf¨arbung l¨asst sich in der Metaphase mikroskopisch zwischen BrdU- und Thymidin-haltigen Chromatiden unterscheiden. Hat ein reziproker Austausch stattgefunden (induziert etwa durch ein Klastogen), so enthalten beide Chromatiden BrdU und wegen der Reihung heller und dunkler Abschnitte sind in jedem Chromatid Farbspr¨ unge“ zu erkennen (Abbildung ” 9.57). Bewertung: Der exakte Austausch von zwei identischen Chromatidenabschnitten, welche die gleiche Erbinformation enthalten, bedeutet noch keine Mutation. Bei vielen genotoxischen Substanzen hat sich jedoch eine hohe Korrelation zwischen der Ausl¨osung von SCEs und positiven Ergebnissen in Tests auf Mutagenit¨at oder Karzinogenit¨at ergeben. SCE-Tests werden daher sehr h¨aufig wegen ihres geringen Aufwands in Testbatterien aufgenommen. Der Zusatz von S9-Mix zum Testmedium ist m¨oglich.
416
Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.57 Der Test auf Schwesterchromatidenaustausch (hellgrau: BrdU-markierte DNA-Str¨ ange).
Test auf DNA-Reparatur Wie erw¨ahnt, werden durch genotoxische Substanzen ausgel¨oste DNA-Sch¨aden zum u ¨berwiegenden Teil durch Reparatursysteme der Zelle korrigiert. Nicht reparierte, auf die Tochterzellen weitervererbte DNA-Sch¨aden sind seltene Ereignisse. Durch genotoxische Substanzen wird das Reparatursystem st¨ arker in Anspruch genommen. Daher regen solche Verbindungen die behandelten Zellen zu einer h¨oheren DNA-Reparatur an. Diese kann analytisch erfasst werden, indem einem Inkubationsansatz [3 H]-Thymidin zugesetzt und die DNA-Reparatur durch Einbau von [3 H]-Thymidin radioaktiv verfolgt wird. Der Umfang des [3 H]-Thymidineinbaus gilt als Maß f¨ ur die DNA-Reparatur. Allerdings muss f¨ ur die Messung der DNA-Reparatur eine exakte Unterscheidung von der DNA-Synthese in der Replikationsphase erfolgen. Dies l¨asst sich durch Auftragen der inkubierten Zellen auf einen photographischen Film erreichen, dessen Emulsion f¨ ur die b-Strahlung des Tritiums empfindlich ist (Autoradiographie). Im Autoradiogramm kann anhand unterschiedlicher Schw¨ arzungsgrade zwischen Reparatur- bzw. Synthese-DNA differenziert werden.
9.7 Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
417
Bewertung: Durch Erfassung der DNA-Reparatur-Synthese wird lediglich eine DNA-Aktivit¨at der Testsubstanz nachgewiesen, nicht jedoch eine Mutation. Nach Zellteilung manifest gewordene DNA-Ver¨anderungen werden dabei nicht nachgewiesen.
Tests auf DNA-Fragmentierung Durch DNA-Strangbr¨ uche entstehen k¨ urzere DNA-St¨ ucke, die in alkalischem Milieu eine bessere L¨oslichkeit aufweisen als diejenigen von intakten DNAKetten. Es ist deshalb m¨oglich, durch Aufbringen von inkubierten Zellen auf Porenfilter und Elution mit Kalilauge die DNA-Bruchst¨ ucke herauszul¨osen, wobei die k¨ urzesten DNA-Bruchst¨ ucke als erste im Eluat erscheinen. Der Nachweis erfolgt photooptisch oder durch Szintillationsmessung nach Markierung durch [3 H]-Thymidin. Als Elutionstechnik kann auch eine alkalische Einzelzellelektrophorese durchgef¨ uhrt werden. Hierbei verlassen die kurzen DNA-Bruchst¨ ucke wegen ihrer h¨oheren elektrophoretischen Beweglichkeit die Zelle und werden durch F¨arbetechniken nachgewiesen. Bewertung: Auch bei der DNA-Fragmentierung werden nur DNA-Sch¨aden, aber keine Mutationen erfasst.
Tests auf Zelltransformation In diesen Tests wird die Transformation von normalen Zellen zu solchen mit malignen Wachstumseigenschaften erfasst. H¨aufig dienen zu Testzwecken die Zellen aus Embryonen des syrischen Hamsters (SHE). Nach deren Inkubation mit der Testsubstanz f¨ ur 2–4 Wochen k¨onnen im Falle einer malignen Transformation Wachstumsanomalien beobachtet werden. Dieses tumorigene Potential ¨außert sich durch Erwerb der F¨ahigkeit, in sog. Weichagarkulturen zu wachsen. Dies kann dann auch zur Isolierung entsprechend transformierter Zellkolonien ausgen¨ utzt werden. Weiterhin sind transformierte Zellen im Gegensatz zu Normalzellen in der Lage, nach Injektion in M¨ausen Tumore zu bilden. Bewertung: Weisen die Tests auf eine Zelltransformation hin, besteht eine hohe Korrelation zur Karzinogenit¨at in vivo. Zwar sind die Verfahren weniger aufw¨andig als eine Pr¨ ufung auf Karzinogenit¨at am Tier, sie ben¨otigen aber dennoch einen Zeitaufwand von 1 bis 2 Monaten. Deshalb findet diese Methodik in der Routinepr¨ ufung auf Genotoxizit¨at keine Anwendung.
418
9.7.4
Kapitel 9 Karzinogenese
Tests am Tier
In vivo-Tests haben den großen Vorteil, das metabolische und kinetische Verhalten der Testsubstanz sowie die Wirkung der entstehenden Metaboliten zu erfassen. Zwischen Effekten am Versuchstier und Wirkungen, die beim Menschen erwartet werden, bestehen engere Korrelationen als zu Ergebnissen aus in vitro-Untersuchungen. Die Testmethoden lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: in Keimbahn-Tests (germ line tests) und in Tests an Soma-Zellen (somatic tissue tests). Die Keimbahn-Tests erfassen Mutationen in den Keimzellen. Sie sind so angelegt, dass Mutationen in den Keimzellen zu ph¨anotypischen Ver¨anderungen bei der Tochtergeneration (F1-Generation) f¨ uhren. Dies ist von Vorteil, da bei rezessivem Erbgang ansonsten evtl. erst in einer sp¨ateren Generation Ver¨anderungen auftreten. In Somazell-Tests werden die Testsubstanzen in der Regel beim Muttertier w¨ahrend der Tragezeit appliziert. Durch Mutationen an den K¨orperzellen der Embryonen kann es dann ebenfalls zu Auff¨alligkeiten am adulten Nachwuchs kommen.
Keimbahntests an Fruchtfliegen Beim Test an der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster ) wird die Testsubstanz dem Futter m¨annlicher Fliegen zugemischt, die anschließend mit unbehandelten weiblichen Tieren verpaart werden. Weibchen der F1-Generation erhalten ein X-Chromosom des Vaters und geben es bei erneuter Verpaarung auf ihre F2-Nachkommen weiter. Alle F2-M¨annchen erhalten ihr X-Chromosom von der Mutter, d. h. zur H¨alfte das des Großvaters. Rezessive Ver¨anderungen auf diesem X-Chromosom k¨onnen sich in den M¨annchen der zweiten Generation auswirken, da das Y-Chromosom nicht die dominanten Wildtyp-Allele tr¨agt, die diese Mutation sonst unterdr¨ ucken w¨ urden. Tr¨agt ein Weibchen auf dem X-Chromosom, das sie vom Vater erhalten hat, eine induzierte rezessive Letalmutation, so wird die H¨alfte ihrer m¨annlichen Nachkommen sterben. Bewertung: Dieser Test ben¨otigt einen Zeitaufwand von etwa vier Wochen. Da die Fruchtfliege u ¨ber ein mischfunktionelles Cytochrom P-450-System verf¨ ugt, das dem der Nagetierleber a¨hnlich ist, lassen sich auch Prokarzinogene erfassen. Aufgrund des hohen Zeitaufwandes ist der Test jedoch nicht f¨ ur Routinepr¨ ufungen geeignet.
9.7 Testsysteme zur Genotoxizit¨atspr¨ ufung
419
Specific-Locus-Test Wie beim Drosophila-Test werden auch beim Specific-Locus-Test“ m¨annliche ” Tiere, in der Regel M¨ause, mit der Pr¨ ufsubstanz vorbehandelt und danach mit unbehandelten Weibchen gepaart. Ist dabei in den Keimzellen der m¨annlichen Tiere ein Gen mutiert worden, das in den weiblichen Tieren rezessiv ist, so k¨onnen in der Tochtergeneration (F1-Generation) ph¨anotypische Ver¨anderungen an Fell-, Augenfarbe, Enzymaktivit¨aten u. a. beobachtet werden. Bewertung: Hinsichtlich der Aussage u ¨ber das genetische Risiko von induzierten Punktmutationen stellt dieser Test ein relevantes System dar. Seine Anwendung ist durch die große Zahl der ben¨otigten Versuchstiere stark eingeschr¨ankt. So werden f¨ ur eine sichere Aussage pro Dosisgruppe etwa 50 000 (!) F1-Tiere zur Beurteilung ben¨otigt, was etwa 10 000 tr¨ achtigen Weibchen entspricht. Dazu kommen lange Versuchszeiten und sehr hohe Kosten, die fast denen von Karzinogenit¨atsstudien entsprechen. Auch aus ethischen Gr¨ unden ist die Durchf¨ uhrung eines solchen Versuches nur dann vertretbar, wenn positive Daten aus anderen Punktmutationssystemen vorliegen, eine Exposition des Menschen nicht zu vermeiden und die Substanz von großer Bedeutung ist. Dominant-Letal-Test Der Dominant-Letal-Test“ z¨ahlt zu den klassischen Methoden der Mutage” nit¨atspr¨ ufung. Wie beim Specific-Locus-Test werden mit der Pr¨ ufsubstanz behandelte m¨annliche M¨ause mit unbehandelten Weibchen verpaart. Stellt man an den aus diesen Verpaarungen hervorgehenden Embryonen einen gegen¨ uber der Spontanrate erh¨ohten Anteil toter Keimlinge im Uterus fest, so kann auf induzierte, dominante Letalmutationen in den m¨annlichen Keimzellen geschlossen werden. Bewertung: Der gr¨oßte Nachteil dieses Tests besteht in der relativ hohen Zahl der erforderlichen Versuchstiere. Jede Dosis der Testsubstanz muss an etwa 50 m¨annlichen Tiere gepr¨ uft werden. Heute hat der Test deshalb eine untergeordnete Bedeutung. Somazell-Tests In Somazell-Tests“ werden Mutationen in somatischen Zellen von Embryo” nen erfasst, wobei den Muttertieren w¨ahrend der Tragzeit die Pr¨ ufsubstanz appliziert wird. Als Ergebnis der Mutation (Genmutation, Rekombination) entwickeln sich aus den mutierten Embryonalzellen bei der Reifung des Tieres ph¨anotypische Ver¨anderungen.
420
Kapitel 9 Karzinogenese
Als Versuchstiere werden h¨aufig Drosophila melanogaster oder M¨ause eingesetzt. An der Fruchtfliege kann eine punktuelle Ver¨anderung der Augenfarbe (Facettenpigmentierung) oder des Fl¨ ugel-Mosaik-Systems beobachtet werden. Bei der Maus sind im Falle einer Mutation punktuelle Farbver¨anderungen des Fells (Spot-Test) feststellbar. Bewertung: Die Somazell-Tests haben eine hohe Korrelation zwischen Erfassung der Mutagenit¨at und der im Tierversuch gefundenen Karzinogenit¨at gezeigt. Ein positives Testergebnis ist daher von hoher Relevanz f¨ ur die Absch¨atzung des Risikos f¨ ur den Menschen. Mikrokerntest Beim Mikrokerntest“ wird die Tatsache genutzt, dass bei der Reifung der Ery” throblasten zu roten Blutzellen (Erythrozyten) der Zellkern bei seiner letzten mitotischen Teilung aus der Zelle ausgestoßen wird. Hat w¨ahrend der Reifung der Erythroblasten eine genotoxische Substanz mit klastogenen Eigenschaften (Aberrationen) oder mit Beeinflussung des Spindelapparates eingewirkt, so k¨onnen entstehende Chromosomenbruchst¨ ucke oder auch einzelne Chromosomen bei der Zellteilung statt im regul¨aren Zellkern in einem sogenannten Mikrokern separiert werden. Letzterer wird bei der Erythrozytenbildung nicht wie der Normalkern ausgestoßen, sondern bleibt in der Zelle, wo er durch eine besondere F¨arbetechnik mikroskopisch sichtbar gemacht werden kann. Das vermehrte Auftreten von Mikrokernen in Erythrozyten ist daher als Nachweis der Einwirkung einer klastogenen Substanz zu werten. Durch Applikation der Substanz bei der Maus und Entnahmen von Knochenmark nach 1, 2 oder 3 Tagen lassen sich Mikrokerne nachweisen. Bewertung: Der Mikrokerntest z¨ahlt heute wegen seiner leichten Durchf¨ uhrbarkeit sowie der M¨oglichkeit einer automatisierten Auswertung zu den Standardverfahren zur Erfassung von Genotoxizit¨at.
Teil III Behandlungsprinzipien
10
Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung Thomas R. H. B¨ uch
10.1
Einleitung
Akute Vergiftungen sind h¨aufig. In den entwickelten L¨andern machen sie etwa 5 bis 10 % aller Einweisungen in einer medizinischen Notfallabteilung aus. Schwere Gesundheitssch¨aden treten jedoch nur in etwa 2 bis 5 % aller akuten Vergiftungen auf, und die Sterblichkeit nach Krankenhauseinweisung liegt bei unter 1 %. So gesehen ist die Prognose von Vergiftungen also in den meisten F¨allen recht gut. Hierbei ist jedoch zu ber¨ ucksichtigen, dass der niedrige Prozentanteil schwerer Verl¨aufe mit bedingt ist durch die sehr engmaschige Erfassung auch leichtester F¨alle von Intoxikationen. In der Todesursachen-Statistik nehmen Vergiftungen dennoch einen wichtigen Platz ein. Immerhin ergab sich in einer retrospektiven Analyse von 13 819 Autopsien, die von 1950 bis 2000 am Gerichtsmedizinischen Institut der Universit¨at Greifswald durchgef¨ uhrt wurden, f¨ ur Vergiftungen ein Anteil von u ¨ber 10 % aller Todesursachen. Bei einer Auswertung der Ursachen von vollendeten Selbstt¨otungen in Deutschland im Jahre 2002 standen Vergiftungen an zweiter Stelle, und in einer Auflistung von Todesursachen durch a¨ußere Einwirkung (Unf¨alle oder Verbrechen) in den Vereinigten Staaten fanden sich Vergiftungen an dritter Stelle. Besonders groß ist der Anteil von Vergiftungen unter den Todesursachen in der Gruppe der j¨ ungeren Erwachsenen. So sind in Großbritannien 20 % aller Todesf¨alle bei Personen zwischen 20 und 29 Jahren durch Vergiftungen bedingt. Betrachtet man alle Vergiftungen (leichte und schwere F¨alle), so ist der Anteil von Kindern etwas h¨oher als der von Erwachsenen (Abbildung 10.1). Gerade in der Entwicklungsphase, in der Kinder ihre Umwelt mit dem Mund erkunden“ ” sind sie besonders anf¨allig f¨ ur die Aufnahme von Giftstoffen, so dass sich knapp 10 % aller Vergiftungsf¨alle in der Altersgruppe unter 1 Jahr finden.
424
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Säuglinge (0 – 1 J.)
9%
Kinder > 1 J. – 14 J.)
50 %
41 %
Heranwachsende und Erwachsene (> 14 J.)
Abbildung 10.1 Altersverteilung akuter Vergiftungen in Deutschland. Zusammengefasste Daten der Jahresberichte 2003 der Vergiftungszentralen Bonn, Freiburg und Mainz sowie des Giftnotrufs Berlin.
Das Maximum kindlicher Vergiftungen liegt jedoch zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr, wenn die neu gewonnene Mobilit¨at eine raumgreifendere Erforschung der Umwelt erlaubt, die noch nicht durch die einsichtsvolle Unterscheidung von Lebensmitteln und Fremdstoffen gebremst wird. Best¨atigt wurde dies in einer ¨ Ubersicht der American Association of Poison Control Centers (AAPC) f¨ ur 2003, bei der 2 395 582 Vergiftungen aller Altersklassen erfasst wurden, wobei auf Kinder im 2. und 3. Lebensjahr 56,6 % aller kindlichen Vergiftungen (< 12 Jahre) entfielen. Hinsichtlich der Ursachen sind weit u ¨ber 90 % aller kindlichen Vergiftungen akzidenteller Natur, erfolgen also unbeabsichtigt. Demgegen¨ uber stehen bei Erwachsenen an erster Stelle Vergiftungen in suizidaler Absicht, gefolgt von Unf¨allen (Abbildung 10.2). Weitere wichtige Ursachen bei Erwachsenen sind die Einnahme legaler oder illegaler Rauschmittel, Vergiftungen durch Stoffe am Arbeitsplatz und iatrogene – d. h. aus a¨rztlicher Fehlbehandlung resultierende – Vergiftungen. Trotz des hohen Anteils von Kindern bei Vergiftungen ist der Ausgang in dieser Altersgruppe ganz u ¨berwiegend gutartig. Dies liegt zum einen daran, dass kindliche Vergiftungen eben meist akzidentell, also ohne b¨osen Willen“ erfol” gen, zum anderen reagieren gerade Kinder auf die Einnahme eines Giftstoffes sehr h¨aufig mit raschem Erbrechen, was meist die Aufnahme einer gr¨oßeren Menge verhindert.
10.1 Einleitung
425
0 – 14 J.
40000
> 14 J.
40000
Anzahl der Fälle
An za 30000 hl der Fäl le
30000
20000
20000
10000
10000
0
0 Akzidentell
Suizidal
Sonstiges
Akzidentell
Suizidal
Sonstiges
Abbildung 10.2 Altersabh¨ angige Ursachen von Vergiftungen. Kombinierte Daten aus den Jahresberichten 2003 der Giftinformationszentrale Bonn sowie des Giftnotrufs Berlin.
16000
1200
300000
12000
900
200000
100000
Anzahl der Fälle
400000
Anzahl der Fälle
Anzahl der Fälle
Der im Allgemeinen recht g¨ unstige Verlauf bei Kindern wurde k¨ urzlich in der bereits angesprochenen Untersuchung der AAPC belegt (Abbildung 10.3): F¨ ur das Jahr 2003 waren 496 003 kindliche Vergiftungsf¨ alle (0 – 12 Jahre) hinsichtlich ihres Schweregrades auswertbar; der Anteil schwerer oder t¨odlicher Intoxikationen bei allen kindlichen Vergiftungen lag hierbei unter 0,2 %, und der Anteil von Kindern unter 12 Jahren bei t¨odlichen Vergiftungen aller Altersgruppen lag bei 3,7 %. Ung¨ unstiger war dementsprechend das Bild bei Erwachsenen
8000
4000
0
0 Kein Effekt
0 - 12 Jahre
300
0 Schwere Intoxikation
Schwacher / mäßiger Effekt
600
Tod
> 12 Jahre
Abbildung 10.3 Altersabh¨ angiger Schweregrad von Vergiftungen. Zu beachten ist die unterschiedliche Skalierung der Ordinaten. Daten aus dem Jahresbericht 2003 der AAPC zu Vergiftungen in den USA.
426
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Oral
77 %
Parenteral 0,5 % Inhalativ 5,8 % Okulär 5,2 %
Sonstige 0,7 %
Bisse u. Stiche 3,5 % Dermal 7,5 %
Abbildung 10.4 Aufnahmewege bei akuten Vergiftungen. Daten aus dem Jahresbericht 2003 der AAPC zu Vergiftungen in den USA.
und Jugendlichen: zwar erwiesen sich auch hier u ¨ber 95 % aller Vergiftungen als leicht, doch war das Verh¨altnis von Betroffenen u ¨ber 12 Jahren zu solchen unter 12 Jahren bei schweren Vergiftungen 14:1 und bei t¨odlichen Vergiftungen 25:1. Der Kontakt mit Giftstoffen erfolgt in den weitaus meisten F¨allen durch Verschlucken, d. h. orale Aufnahme (Abbildung 10.4). An zweiter Stelle steht mit einigem Abstand die Einwirkung des Agens auf die Haut (dermal). An dritter Stelle folgt die Vergiftung durch inhalative Noxen, an vierter Stelle steht die Einwirkung von Giften auf die Augen (okul¨ar). Eine Rarit¨at ist die Injektion toxischer Substanzen (parenterale Aufnahme). Die meisten dieser F¨alle treten in Zusammenhang mit dem Abusus von Opioiden (z. B. Heroin) als Rauschmittel auf. Bei den Substanzen, die in der Allgemeinbev¨olkerung zu Vergiftungen f¨ uhren, stehen Medikamente an erster Stelle, wobei bei Erwachsenen meist eine Einnahme in suizidaler Absicht erfolgt, w¨ahrend bei kindlichen Medikamentenvergiftungen in der Regel eine akzidentelle Intoxikation vorliegt. Ingesamt kann man sagen, dass das Spektrum m¨oglicher Substanzgruppen bei Kindern breiter gef¨achert ist als bei Erwachsenen. In einer Auflistung des Giftnotrufs M¨ unchen aus dem Jahr 2000 waren Medikamente f¨ ur u ¨ber 50 % aller Vergiftungen bei
10.1 Einleitung
427
7000 6000 5000
0 bis 18 Jahre > 18 Jahre
4000 3000 2000 1000
G Ti as er e isc he G ift e
Dü ng er Dr og en
nz en Le be ns Re m in itt ig el un gs m itt So el K ns os t. m Pu et ika bl Fa iku rb m en sm ,L itt ös Pf el un la nz gs en m itt sc el hu tz m itt el
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¨ Abbildung 10.5 Ubersicht u ¨ber Substanzgruppen bei akuten Vergiftungen. Vergleich von Kindern und Jugendlichen (< 18 Jahre) mit Erwachsenen (> 18 Jahre). Daten aus dem Jahresbericht 2000 des Giftnotrufs M¨ unchen.
Erwachsenen verantwortlich aber nur f¨ ur 28 % aller kindlichen Vergiftungen (Abbildung 10.5). Pflanzen waren mit 22 % die zweitwichtigste Ursache von Vergiftungen bei Kindern, w¨ahrend sie bei Erwachsenen mit 5 % keine vergleichbar große Rolle spielen. In der Gruppe u ¨ber 18 Jahren waren Reinigungsmittel, Farben und L¨osungsmittel sowie Lebensmittel mit jeweils 6 bis 7 % die wichtigsten Substanzgruppen nach den Medikamenten. Eine andere Verteilung ergibt sich f¨ ur die Ursachen von Vergiftungen am Arbeitsplatz. In einer Zusammenstellung der Zentralen Erfassungsstelle f¨ ur Ver” giftungen, gef¨ahrliche Stoffe und Zubereitungen – Umweltmedizin“ im Bundesinstitut f¨ ur Risikobewertung f¨ ur das Jahr 2003 (Tabelle 10.1) fanden sich unter den Berufsgenossenschaftlichen Meldungen von Vergiftungsf¨allen am h¨aufig-
428
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
sten chemische Grundsubstanzen wie S¨auren, Laugen sowie Grund- und Zwischenprodukte bei der industriellen Produktion von Chemikalien. An zweiter Stelle der H¨aufigkeit standen Reinigungsmittel, gefolgt von Desinfektionsmitteln. Auch im beruflichen Umfeld verlaufen Vergiftungen meist leicht. Bei den oben angesprochenen Analysen des Bundesinstituts f¨ ur Risikobewertung waren in kapp 90 % der F¨alle nur leichte Vergiftungserscheinungen aufgetreten. Eine Ausnahme stellten Baustoffe (wie zum Beispiel Kalk, Zement oder M¨ortel) dar, bei denen es in immerhin 18 % der F¨alle zu m¨aßigen oder schweren Sch¨adigungen kam. Hierbei spielen vor allem Augenver¨atzungen eine Rolle (siehe Kapitel 10.3.2).
Tabelle 10.1 Ursachen gewerblicher Vergiftungen. Berufsgenossenschaftliche Meldungen, zusammengestellt anhand des Jahresberichtes 2003 der Zentralen Erfassungsstelle f¨ ur Vergiftungen, gef¨ ahrliche Stoffe und Zubereitungen des Bundesinstituts f¨ ur Risikobewertung. Produktgruppe
Grundsubstanzen Reinigungsmittel Desinfektionsmittel Abgase Anstrichstoffe Baustoffe Akkumulatoren Klebstoffe Sonstiges
Anzahl der F¨ alle
Prozentsatz der F¨ alle
Prozentsatz mit m¨aßigem oder schwerem Verlauf
2335 1014 337 322 235 206 128 107 1225
40 17 6 5 4 3 2 2 21
12 11 3 5 4 18 8 6 keine Angabe
Bei der Lekt¨ ure des Buches von Louis Lewin Die Gifte in der Weltgeschichte“ ” bekommt man einen Eindruck u ¨ber die Verbreitung der Giftkenntnisse vom Altertum bis in unsere Zeit. In seinem Schlusswort auf Seite 579 stellt Levin heraus: Die Zeit wird kommen, wo der Satz ganz erwiesen sein wird: Vergif” tung ist eine o¨rtliche oder allgemeine Krankheit, und eine nat¨ urliche Krankheit ist eine ¨ortliche oder allgemeine Vergiftung“. Folgt man dieser Argumentation, so ist das Gift ein unausrottbarer Feind des Menschen. In der Vergangenheit galt der Vergiftung aus kriminellen Motiven ein besonderes Augenmerk seitens der Heilkundigen und M¨achtigen. Dagegen tritt dieses Motiv in der heutigen Zeit gegen¨ uber akzidenziellen und suizidalen Vergiftungen deutlich in den Hintergrund.
10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen
10.2
429
Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen
Bei der Behandlung einer akuten Vergiftung ist der Zeitfaktor ein entscheidendes Kriterium. Rasches und zielbewusstes Handeln ist hier ausschlaggebend f¨ ur die Rettung des Vergifteten. Dennoch ist Ruhe bewahren!“– wie bei allen ” Notfallsituationen – oberstes Prinzip. Die allgemeine Rufnummer der Leitstellen von Rettungsdienst, Feuerwehr und Katastrophenschutz ist die 112. Diese Nummer ist auch f¨ ur Mobiltelefone generell freigeschaltet, also unabh¨angig von dem eigenen Netzbetreiber w¨ahlbar. Wenn die Nummer nach Einschalten des Handys aber vor der Eingabe des PIN-Codes gew¨ahlt wird, so wird f¨ ur den Notruf automatisch das st¨arkste verf¨ ugbare Netz gew¨ahlt. In einigen Bundesl¨andern existiert neben der allgemeinen Leitstellennummer 112 auch die 19 222 als direkte Verbindung zur Rettungsleitstelle. Wenn man im Zweifel u ¨ber die korrekte Nummer ist, sollte man jedoch die 112 w¨ahlen, um Zeit mit Fehlversuchen zu sparen. Mittlerweile ist die 112 auch als Euro-Notrufnummer in allen EU-Staaten und der Schweiz und Liechtenstein eingef¨ uhrt und dort ebenfalls per Handy (vor Eingabe des PIN-Codes) frei w¨ahlbar.
112
Universelle Notrufnummer der Leitstelle von Rettungsdienst, Feuerwehr und Katastrophenschutz.
19 222
Direkte Rufnummer der Rettungsleitstelle in Baden-W¨ urttemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und dem Saarland.
Die wichtigsten Fragen der Leitstelle bei einem Notruf wegen einer Vergiftung werden auf der n¨achsten Seite aufgef¨ uhrt. Oft k¨onnen schon per Telefon Anweisungen gegeben werden, wodurch es gelingt, kostbare Zeit zur Sicherung der Vitalfunktionen und zur Einschr¨ ankung der Giftresorption (prim¨are Entgiftungsmaßnahmen) zu gewinnen. W¨ahrend bei einem noch ansprechbaren Patienten die prim¨aren Entgiftungsmaßnahmen im Vordergrund stehen (siehe Kapitel 10.3), muss beim Bewusstlosen auf die Sicherung der Vitalfunktionen geachtet werden, auch wenn der Arzt noch nicht zur Stelle ist. Der oder die Laienhelfer leiten die entscheidenden Sofortmaßnahmen ein.
430
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Wo hat sich die Vergiftung ereignet? (Standort) Wer ist betroffen? (Anzahl und Alter der Patienten) Was wurde eingenommen? Wieviel der entsprechenden Substanz wurde eingenommen? Wann wurde die Substanz eingenommen? Welche Vergiftungserscheinungen traten auf? Ein siebter, essentieller Punkt ist: Immer auf R¨ uckfragen der Rettungsstelle warten!
10.2.1 Erste Maßnahmen durch den Laien Bei Auffinden eines bewusstlosen Vergiftungsopfers muss alles getan werden, um schnellstm¨oglich die Rettungsleitstelle zu benachrichtigen und die vitalen Funktionen des Vergifteten zu erhalten und ihn richtig zu lagern. Um die Bewusstseinslage zu u ¨berpr¨ ufen, wird der Betroffene laut und deutlich angesprochen und leicht an den Schultern gesch¨ uttelt. Erfolgt keinerlei Reaktion, muss von einer vitalen Bedrohung ausgegangen werden. Im Hinblick auf die Basismaßnahmen unterscheidet der Gesetzgeber nicht zwischen Laienhelfer und Arzt: Die unterlassene Hilfeleistung ist strafbar (§ 323c StGB). Mnemotechnisch werden die Basismaßnahmen zur Sicherung der Vitalfunktionen in der ABC-Regel ausgedr¨ uckt:
A = Atemwege freimachen
B = Beatmung
C = Circulation
10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen
431
A Die Atemwege sind freizuhalten bzw. freizumachen. Dem Bewusstlosen sind Zahnprothesen und Fremdk¨orper aus dem Mund zu nehmen. Bewusstlosen, die erbrochen haben, wird der Mund mit dem Finger (mit einem Taschentuch umwickelt) vom Erbrochenen freigemacht. Bewusstlose, die noch selbst¨andig atmen, werden in die stabile Seitenlage gebracht, wobei der Kopf tiefer als der Oberk¨orper liegt, damit nicht der Zungengrund die Atemwege verlegen kann. Bei Br¨anden und giftigen Gasen ist der Eigenschutz f¨ ur den Laienhelfer vordringlich. Insbesondere bei der versuchten Bergung von Vergifteten aus G¨arkellern, Silos oder Brunnensch¨achten kommt es immer wieder zu tragischen Unf¨allen, denen auch die Ersthelfer zum Opfer fallen. In derartigen Situationen ist die Erste Hilfe nur m¨oglich, wenn sichergestellt ist, das der Ersthelfer bei pl¨otzlichem Bewusstseinsverlust durch ein Rettungsseil geborgen werden kann. In R¨aumen, in denen es zum Austritt explosibler Gase gekommen ist, darf wegen der Explosionsgefahr kein Licht eingeschaltet werden. B Nach dem Freimachen der Atemwege konzentriert sich der Ersthelfer auf die Beatmung. Wenn keine ausreichende Spontanatmung besteht, muss die Mundzu-Nase- oder Mund-zu-Mund-Beatmung erfolgen. Bei Ersterer ist es f¨ ur den Helfer in der Regel einfacher, den Mund dicht aufzusetzen, so dass diese Variante im Allgemeinen bevorzugt wird. Hierbei legt der Helfer seine H¨ande flach auf die Stirn und unter das Kinn des Patienten, wobei dessen Hals u ¨berstreckt und der Unterkiefer vorgeschoben wird. Wichtig ist es, den Mund des Patienten mit der Hand unter dem Kinn zu verschließen. Der Helfer bl¨ast dann seine Ausatemluft durch die Nasen¨offnungen des Patienten ein. Zur Abdichtung sollen die Lippen des Helfers hierbei an der Nase des Patienten anliegen. Bei der Mund-zu-Mund-Beatmung muss die Nase des Patienten mit Daumen und Zeigefinger der auf der Stirn liegenden Hand verschlossen werden. Der Helfer beatmet den Patienten und muss wiederum auf eine dichtes Anliegen des Mundes achten. Die Atemspende erfolgt bei beiden Methoden langsam u ¨ber zwei Sekunden. Wenn keine Hebung des Brustkorbs des Patienten erkennbar ist, muss von einer unzureichenden Beatmung ausgegangen werden. In der Ausatemphase des Patienten wendet der Helfer den Kopf zur Seite. Eine Senkung des Brustkorbs des Patienten und ein h¨orbares Ausstr¨omen der Atemluft zeigen in dieser Phase eine ausreichende Beatmung an. C Um mit dem Alphabet fortzufahren, bedeutet Circulation, den Kreislauf des Blutes aufrechtzuerhalten. Dies erfolgt durch die a¨ußere Herzdruckmassage
432
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
(HDM). Die Indikation f¨ ur die HDM ist der bewusstlose Patient ohne erkennbare Spontanatmung, bei dem nach zwei initialen Atemspenden keine Zeichen einer Wiederbelebung sichtbar sind (Bewegungen, Schlucken, Husten). Eine Pulskontrolle (durch Tasten peripher oder an der Halsschlagader) wird vom Laienhelfer nicht mehr vorgenommen, da die diagnostische Unsicherheit zu groß ist. Wichtig f¨ ur eine erfolgreiche Wiederbelebung ist, dass der Patient auf einer harten Unterlage liegt. Außerdem muss grunds¨atzlich der Brustkorb des Patienten von Kleidern freigemacht werden. Man legt dann beide eigenen Handteller u ¨bereinander auf das untere Drittel des Brustbeins des Bewusstlosen und dr¨ uckt bei durchgestreckten Ellenbogen 5 cm in Richtung auf die Wirbels¨aule, indem das Gewicht des Oberk¨orpers auf die gestreckten Arme verlagert wird. Der Brustkorb muss dann vollst¨andig entlastet werden, ohne die H¨ande vom Druckpunkt abzuheben. Es ist wichtig, dass der Oberk¨orper des Helfers stets senkrecht u ¨ber dem Druckpunkt verbleibt. Die HDM erfolgt in einer Frequenz von 100 pro Minute. Unabh¨angig davon ob ein oder zwei Helfer die Reanimation durchf¨ uhren, erfolgen nach 15 Kompressionen zwei Atemspenden. Schockbehandlung Typische Zeichen eines Schocks sind aschgraue Haut, kalte Arme und Beine, ein kaum tastbarer, sehr schneller Puls mit u ¨ber 100 Schl¨agen pro Minute und eine sehr oberfl¨achliche, schnelle Atmung. Der Vergiftete kann im Schock versterben, daher sollte man diesem Zustand stets entgegenwirken. Maßnahmen sind Ruhe und W¨arme (Unterlage, Zudecke) und eine flachen Lagerung mit dem Kopf tief und den Beinen hoch, so dass Blut aus den Beinen zu Herz und Gehirn fließt (k¨orpereigene Bluttransfusion). Kr¨ ampfe Kr¨ampfe sind vor allem bei Kindern ein h¨aufiges Symptom von Vergiftungen. Wichtig ist es hierbei, den Betroffenen vor Verletzungen zu bewahren, indem gef¨ahrliche Gegenst¨ande, gegen die er stoßen k¨onnte, aus der Umgebung entfernt werden. Auf keinen Fall d¨ urfen Glieder des Krampfenden festgehalten oder verkrampfte H¨ande gewaltsam ge¨offnete werden. Auch der Kiefer darf nicht gewaltsam ge¨offnet werden, auch nicht, wenn ein Zungenbiss erfolgt ist, und der Speichel des Krampfenden blutig verf¨arbt sein sollte. Auch darf nicht versucht werden, den Anfall durch Sch¨ utteln, Anschreien oder Wiederbelebungsversuche zu unterbrechen.
10.2.2 Asservierung Die Therapie in der Klinik h¨angt von der m¨oglichst genauen Diagnose der Vergiftung ab. Die entsprechenden spezifischen Maßnahmen werden von den
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption
433
besonderen Eigenschaften der Gifte bestimmt. Am Vergiftungsort darf daher nicht vergessen werden, alles Material, das m¨oglicherweise Gift enth¨alt, f¨ ur einen eventuellen Giftnachweis oder f¨ ur m¨ogliche forensische (gerichtliche) Untersuchungen aufzubewahren (Asservierung). Die Asservierung schließt alle Giftreste am Vergiftungsort einschließlich des Verpackungsmaterials ein. Zus¨atzlich werden eventuell Erbrochenes, Stuhl und Urin als Asservate sichergestellt. Die Proben werden beschriftet und nach M¨oglichkeit schon beim Transport des Vergifteten in die Klinik mitgegeben. Routinem¨aßig werden in der Klinik zus¨atzlich Blut-, Urin- und eventuell Magensaft-Proben genommen.
10.3
Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption
10.3.1 Dekontamination der Haut Bei Verdacht auf Hautkontakt mit einem Gift m¨ ussen sofort die kontaminierten Kleidungsst¨ ucke entfernt werden und eine m¨oglichst ausgiebige Hautreinigung erfolgen. Kontaktfl¨achen m¨ ussen mit großen Mengen fließendem Wasser mindestens 10 Minuten lang gesp¨ ult werden. Bei Kontakt mit fettl¨oslichen Stoffen sollte ein Dekontaminationsmittel auf Ethylenglycol-Bais verwendet werden (z. B. Roticlean® ). Benzin oder andere L¨osungsmittel sind zur Reinigung ungeeignet und k¨onnen die Resorption des Giftstoffes durch die Haut sogar stei¨ gern. Atzende Stoffe m¨ ussen m¨oglichst schnell mit Wasser (Dusche) abgesp¨ ult werden. Bei Verbrennungen darf keine Zeit durch das Entfernen der Kleidung verloren werden. Die betroffenen Regionen sind mindestens 15 Minuten mit fließendem Wasser zu k¨ uhlen. Danach d¨ urfen durch den Laien keine Hautcremes, -puder oder -salben aufgetragen werden.
10.3.2 Augenverletzungen Augenver¨atzungen machen etwa 10 % aller Augenunf¨alle aus. Betroffen sind meist j¨ ungere Patienten. Gl¨ ucklicherweise sind die meisten dieser Unf¨alle nur leicht, so dass keine bleibenden Sch¨aden zur¨ uckbleiben. Bei schweren Ver¨atzungen ist die Prognose leider nach wie vor ung¨ unstig. Nach schweren Laugenver¨atzungen kommt es etwa in der H¨alfte der F¨alle zur Erblindung des betroffenen Auges. Erschreckend ist hierbei, dass von Ver¨atzungen in etwa einem Drittel der F¨alle beide Augen betroffen sind. Mit Abstand die meisten Ver¨atzungen
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Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
geschehen durch Laugen, S¨aurever¨atzungen folgen an zweiter Stelle, w¨ahrend Detergenzien und L¨osungsmittel seltener f¨ ur Unf¨alle verantwortlich sind. Laugenver¨atzungen werden am h¨aufigsten durch Ammoniak, Natronlauge, Kalilauge oder Kalk (CaO, Ca(OH)2 ) verursacht. Bei S¨aurever¨atzungen stehen solche durch Salzs¨aure (HCl), Flusss¨aure (HF), Schwefels¨aure (H2 SO4 ) und Schweflige S¨aure (H2 SO3 ) im Vordergrund. Laugenver¨atzungen sind im Allgemeinen als gef¨ahrlicher anzusehen als S¨aurever¨atzungen. Durch S¨aureeinwirkung auf ein Gewebe kommt es zur Denaturierung von Proteinen, die dann pr¨azipitieren und einen Schutzschild“ gegen ” ein weiteres Eindringen der S¨aure in tiefere Gewebeschichten bilden. Der Pathologe spricht bei dieser meist oberfl¨achlicheren Gewebezerst¨orung von einer Koagulationsnekrose (Nekrose = Zelluntergang, Gewebstod). Eine Ausnahme hiervon bildet die Flusss¨aure, welche ebenfalls in tiefe Gewebeschichten penetriert und bis zu einem gewissen Grad die Schwefels¨aure, bei der es durch die oxidierende Wirkung zu einer zus¨atzlichen Sch¨adigung kommen kann. Die Einwirkung von Laugen f¨ uhrt demgegen¨ uber zu einer Verseifung von Lipiden der Zellmembranen mit anschließender Gewebsverfl¨ ussigung. Da hierbei tiefere Schichten nicht durch einen sich bildenden Wundschorf abgeschirmt werden, ist die Ver¨atzung in geringerem Maße selbstlimitierend. Aus pathologischer Sicht spricht man in diesem Zusammenhang von einer Kolliquationsnekrose (Verfl¨ ussigungsnekrose). Gesch¨adigt wird bei einer Ver¨atzung des Auges zun¨achst die Hornhaut und die Bindehaut (siehe Abbildung 10.6). Die durchsichtige Hornhaut, die uhrglasartig der Iris und der Linse aufsitzt, ist ein wichtiger Teil des optischen Systems des Auges. Jede Unregelm¨aßigkeit der Hornhautoberfl¨ache st¨ort das Sehverm¨ogen erheblich. Die Integrit¨at der Hornhaut wird durch eine Deckzellschicht auf der Außenseite, das Hornhautepithel, und durch eine innere Zellschicht auf der der vorderen Augenkammer zugewandten Seite, das Hornhautendothel, aufrechterhalten. Das Hornhautepithel kann nach einer Zerst¨orung durch Ver¨atzung von der Randregion, dem Limbus, wieder regeneriert werden, wenn der Limbus Corneae ebenfalls zerst¨ort wurde, f¨ uhrt dies zur Degeneration der Hornhaut und dem Vorwachsen der Bindehaut zum Augenzentrum hin. Das betroffene Auge ist dann blind. Das Hornhautendothel kann sich nicht oder nur in geringem Maße regenerieren. Die Hornhaut enth¨alt keine Blutgef¨aße (welche die Durchsichtigkeit st¨oren w¨ urden), ist aber reichlich sensibel innerviert. Oberfl¨achliche Hornhautsch¨adigungen sind daher u ¨beraus schmerzhaft. Neben der Sch¨adigung der Hornhaut kann auch eine Sch¨adigung der Bindehaut die Sehfunktion stark beeintr¨achtigen. Die Bindehaut ist eine gut verschiebliche Schleimhautschicht, die den Augapfel bis zum Hornhautrand (Lim-
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption
Hornhaut (Cornea) Vordere Augenkammer Linse Lederhaut (Sklera)
435
Limbus Corneae Iris u. Ziliarkörper Bindehaut (Konjunktiva) Glaskörper
Aderhaut (Choroidea) Netzhaut (Retina)
Sehnerv
Abbildung 10.6 Schematischer horizontaler Schnitt durch das Auge mit Bezeichnung der wichtigsten Strukturen.
bus) umkleidet und sich in einer Umschlagsfalte auf die Innenseite der Lider fortsetzt. Durch ihre Gleitf¨ahigkeit erm¨oglicht sie es dem Augapfel Blickwendungen reibungsarm durchzuf¨ uhren. Sch¨adigungen der Bindehaut k¨onnen zu Verwachsungen f¨ uhren und so die Beweglichkeit des Auges oder der Lider einschr¨anken. Bei schwersten Ver¨atzungen kommt es zur Zerst¨orung noch tieferer Anteile des Auges mit Sch¨adigung von Iris, Linse und den Gef¨aßen der Lederhaut. Aufgrund ihres Aspektes spricht der Augenarzt bei diesen Verletzungen vom gekochten Fischauge“. Die Sehf¨ahigkeit ist in diesen F¨allen nat¨ urlich irrepa” rabel zerst¨ort. In jedem Fall ist die Erste Hilfe mit rascher Sp¨ ulung des betroffenen Auges entscheidend. Dabei ist zu beachten, dass die schmerzhafte Hornhautreizung oft zu einem krampfhaften Lidschluss f¨ uhrt, den der Betroffene nicht aus eigener Kraft u ¨berwinden kann. Daher sind Personen mit st¨arkeren Augenver¨atzungen immer auf Helfer angewiesen, welche die Lider passiv offen halten und die Sp¨ ulung durchf¨ uhren. Nach den Richtlinien des American National Standards Institute (ANSI) sollen starke Augenver¨atzungen mindestens 15 Minuten mit 500 bis 1000 ml Sp¨ ulfl¨ ussigkeit gesp¨ ult werden. Da die Laienhelfer in der Regel nicht in der Lage sind, durch sogenanntes Ektropionieren die Lider umzuklappen“ und so noch festsitzende Fremdk¨orper ”
436
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
unter den Lidern zu entfernen (v. a. bei Kalkver¨atzungen!) und da sie weder u ¨ber spezielle, gepufferte Sp¨ ulfl¨ ussigkeiten noch u ¨ber ein Lokalan¨asthetikum und Schmerzmittel verf¨ ugen, die dem Lidkrampf entgegenwirken, darf u ¨ber der Erstversorgung des Auges keine Zeit verloren werden, einen Notruf abzusetzen, der eine professionelle Behandlung sicherstellt.
Krankenhausauftenhalt (Monate)
Anzahl der Operationen
10 8 6 4 2 0
1
2
% Patienten mit Rest-Sehschärfe > 1/50
Trotzdem muss nochmals die absolute Wichtigkeit betont werden, schnellstm¨oglich mit einer Sp¨ ulung durch den Laienhelfer zu beginnen, wof¨ ur sich am besten Wasser, notfalls aber auch vorhandene Getr¨anke (Mineralwasser, Bier) eignen. Milch darf nicht verwendet werden, da sie lipophil ist und u. U. als ¨ Tr¨agermedium ein tieferes Eindringen des Atzstoffes erm¨oglicht. Die Bedeutung der Erstversorgung und raschen Sp¨ ulung nach Ver¨atzung wird durch eine Untersuchung an der Universit¨ats-Augenklinik der RWTH Aachen unterstrichen, bei welcher der Heilungsverlauf nach Ver¨atzungen bei Patienten mit und ohne sofort durchgef¨ uhrte Augensp¨ ulung vergleichend untersucht wurde. Hierbei war nach rasch durchgef¨ uhrter Augensp¨ ulung sowohl die Anzahl notwendiger Folgeoperationen als auch die Dauer des Krankenhausaufenthaltes deutlich niedriger als nach verz¨ogerter Behandlung; und letztlich war auch der Anteil von Patienten mit einer Restsehsch¨arfe > 1/50 (der formalen Grenze zwischen hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit) nach einer sofortigen Sp¨ ulung um die H¨alfte h¨oher als nach sp¨ater einsetzender Therapie (Abbildung 10.7).
6 5 4 3 2 1 0
1
sofortige Augenspülung
2
60 50 40 30 20 10 0
1
2
verzögerte/keine Augenspülung
Abbildung 10.7 Einfluss einer sofort durchgef¨ uhrten Augensp¨ ulung im Rahmen der Ersten ¨ Hilfe auf den Verlauf von Augenver¨ atzungen (Daten aus: Schrage et al. Dtsch. Arztebl. 97: A-104 (2000).
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption
437
10.3.3 Orale Vergiftung: Entsch¨arfen“ vor der Resorption ” Ziel der im Folgenden beschriebenen entsch¨arfenden“ Maßnahmen ist es, ver” schluckte Giftstoffe unsch¨adlich zu machen, bevor es zu einer lokalen Schleimhautsch¨adigung oder einer Resorption des Giftstoffes kommt. Allgemein gilt, dass es fast immer leichter ist, die Resorption bei einer Vergiftung zu verhindern, als sp¨ater die Elimination der Noxe aus dem Blut zu beschleunigen. Viele Giftstoffe f¨ uhren zu einer verz¨ogerten Magenentleerung, indem sie die propulsive Magenl¨angsmuskulatur erschlaffen lassen oder zu einer Kontraktion der ringf¨ormigen Muskulatur am Magenausgang (Pylorospasmus) f¨ uhren. Da der Magen ein relativ ineffektiver Resorptionsort ist, bietet sich so in vielen F¨allen die Chance, toxische Substanzen zu entgiften, bevor es zur Aufnahme in das Blut und damit zu einer systemischen Vergiftung kommt. Dabei sind die folgenden Maßnahmen unspezifisch bei zahlreichen Substanzen anwendbar im Gegensatz zu den weiter unten aufgef¨ uhrten spezifisch wirkenden Antidoten, deren Anwendung die genaue Kenntnis des Eingenommenen Giftstoffes voraussetzt. 10.3.3.1 Gabe von Entsch¨ aumern Entsch¨aumer finden Verwendung bei der Aufnahme von Seifen- oder Tensidhaltigen Reinigungs- und K¨orperpflegemitteln, z. B. Shampoo oder Sp¨ ulmittel. ¨ Ublicherweise sind Kleinkinder von derartigen Vergiftungen betroffen. Eine Resorption von Tensiden findet selbst bei Aufnahme großer Mengen praktisch nicht statt. Auch der schleimhautsch¨adigende Effekt in Mund und MagenDarm-Trakt ist vernachl¨assigbar. Eine Gefahr bei derartigen Vergiftungen geht allenfalls davon aus, dass es bei starker Schaumbildung zu Erbrechen und anschließender Aspiration in die Atemwege kommen kann. Aus diesem Grunde ist das Ausl¨osen von Erbrechen bei Vergiftung mit schaumbildenden Mitteln kontraindiziert (siehe Kapitel 10.3.3.3). Auch sollte nach der Aufnahme nicht zuviel Fl¨ ussigkeit nachgetrunken werden, da dies das Risiko von Erbrechen ebenfalls erh¨oht. Bei sachgem¨aßer Behandlung (keine u ¨bertriebenen Maßnahmen!) und Gabe eines Entsch¨aumers, z. B. Dimeticon ist in der u ¨berwiegenden Mehrzahl der F¨alle keine Krankenhauseinweisung notwendig. Einen Sonderfall bilden Vergiftungen mit a¨lteren Sp¨ ulmaschinenreinigern mit Metasilikat-Zus¨atzen. Diese Mittel sind in Deutschland vom Markt genommen worden, im Ausland aber noch teilweise erh¨altlich. Nach Verschlucken kommt es bei diesen Reinigern in etwa 50 % der F¨alle zu Ver¨atzungen der Schleimhaut. Als Erste-Hilfe-Maßnahme sollte der Mund gut ausgesp¨ ult werden und Wasser ¨ oder Tee nachgetrunken werden, was durch Verd¨ unnung die Atzwirkung reduziert. Kontraindiziert ist auch hier das Ausl¨osen von Erbrechen, zum einen
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Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
wiederum wegen der Aspirationsgefahr bei Schaumbildung, zum anderen aber ¨ auch, weil beim Erbrechen eine erneute Atzwirkung der Metasilikate auf die Speiser¨ohre einsetzt, die schlechter als der Magen gegen aggressive Substanzen gesch¨ utzt ist. Kontraindiziert ist in solchen F¨allen auch die Gabe von Aktivkohle, da diese die Schleimhaut des Magen-Darm-Traktes mit einem schwarzen Film u ¨berzieht, was eine Beurteilung der Schleimhautsch¨adigung mittels Magenspiegelung unm¨oglich macht. Eine Krankenhauseinweisung ist nach einer Vergiftung mit metasilikathaltigen Maschinenreinigern zur Verlaufsbeobachtung notwendig. Neuere Maschinenreiniger beinhalten allerdings nur noch Disilikate und Car¨ bonate zur Verbesserung der Reinigungseffizienz. Deren Atzwirkung ist a¨ußerst gering, so dass kaum noch eine gr¨oßere Gefahr einer nachhaltigen Ver¨atzung besteht. Wenn daher sicher ermittelt werden kann, dass die Vergiftung durch einen metasilikatfreien Maschinenreiniger erfolgte, und keine Beschwerden (z. B. vermehrte Speichelbildung) bestehen, die auf eine Schleimhautsch¨adigung hindeuten, so ist eine Krankenhauseinweisung nicht zwingend erforderlich. Tabelle 10.2 fasst das unterschiedliche Vorgehen je nach schaumbildender Substanz zusammen. Tabelle 10.2 Vorgehen bei Vergiftungen mit Handsp¨ ulmitteln auf Tensid-Basis, metasilikathaltigen Maschinenreinigern und neueren Maschinenreinigern mit Disilikat/CarbonatZusatz.
Schaumbildung Ver¨atzungen Trinken lassen Gabe eines Entsch¨aumers Aktivkohle-Gabe Erbrechen lassen Krankenhauseinweisung
Tensid
Metasilikat
Disilikat
ja nein nein ja nutzlos kontraindiziert selten n¨otig
ja in 50 % der F¨ alle ja ja kontraindiziert kontraindiziert notwendig
ja sehr selten ja ja kontraindiziert kontraindiziert selten n¨ otig
10.3.3.2 Aktivkohle-Gabe Aktivkohle ist das meist gebrauchte und das wirksamste Adsorbens. Aufschl¨ammungen bis zu 50 g in 0,5 bis 1 l Wasser werden gut vertragen. Bei Kindern gibt man etwa 10 g Aktivkohle in 1 bis 2 Tassen Wasser. Aktivkohle kann praktisch nicht u ¨berdosiert werden. Aktivkohle bindet durch Physisorption unspezifisch eine große Anzahl von Substanzen und ist damit ein Univer” salantidot“. Nach ca. 24 Stunden Verweildauer im Magen-Darm-Trakt wird jedoch die Wirkung von Aktivkohle durch die Verdauungss¨afte aufgehoben;
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption
439
daher wird die Gabe von Aktivkohle meist mit der eines Abf¨ uhrmittels kombiniert. Verwendet werden kann als Abf¨ uhrmittel in Kombination mit Aktivkohle z. B. Magnesiumoxid, welches die adsorbierenden Eigenschaften von Aktivkohle praktisch nicht beeinflusst. Eine h¨aufig verwendete M¨oglichkeit besteht auch in der Gabe von Natriumsulfat (Glaubersalz), welches die Peristaltik (die wurmf¨ormige fortschreitende Bewegung des Darmes) im gesamten Gastrointestinaltrakt f¨ordert. Hierbei gibt man ca. 10 g Natriumsulfat in 100 ml lauwarmem Wasser gel¨ost. Bei Kindern 1 g Natriumsulfat pro Lebensjahr. Die abf¨ uhrende Wirkung tritt in etwa 3 bis 5 Stunden ein. Kontraindiziert ist Aktivkohle – wie bereits oben ausgef¨ uhrt – bei Vergiftungen mit a¨tzenden Substanzen, da hierbei die Diagnostik erschwert wird. Nutzlos, aber auch nicht sch¨adlich, ist die Gabe von Aktivkohle bei Vergiftungen mit Ethanol und Methanol, Schwermetallen, organischen L¨osungsmitteln und Schaumbildnern. Die genannten Stoffe zeigen eine unzureichende Adsorption bzw. zu rasche Desorption, so dass durch Aktivkohle-Gabe keine nutzbare Inaktivierung der Substanzen erfolgt. 10.3.3.3 Induziertes Erbrechen Induziertes Erbrechen war fr¨ uher eine Standardmaßnahme zur prim¨aren Giftentfernung. Zum Ausl¨osen von Erbrechen wurden verwendet: mechanische Reizung der Rachenhinterwand, Trinken von Kochsalzl¨osung, Gabe von Apomorphin und die Gabe von Sirup Ipecacuanha. Von diesen Maßnahmen ist nur noch die letzte u ¨berhaupt zul¨assig. Ausl¨osen von Erbrechen ist generell keine Maßnahme der Laienversorgung von Vergiftungen. Eine Untersuchung der AAPC zeigt, dass auch die Gabe von Sirup Ipecacuanha heute keine Routine-Maßnahme mehr darstellt (Abbildung 10.8). Kontraindiziert ist induziertes Erbrechen bei Vergiftungen mit Schaumbildnern (s. o.), bei Aufnahme von a¨tzenden Substanzen (erneute Sch¨adigung der Speiser¨ohre) oder L¨osungsmitteln (Aspirationsgefahr!), sowie bei Personen mit ¨ Bewusstseinstr¨ ubung und bei S¨auglingen unter 6 Monaten. Außerst zur¨ uckhaltend und wohl¨ uberlegt sollte der Einsatz bei S¨auglingen > 6 Monaten, alten Menschen und Schwangeren erfolgen. 10.3.3.4 Magensp¨ ulung Die Magensp¨ ulung wird nur noch bei Vergiftungen mit hochtoxischen Verbindungen durchgef¨ uhrt (z. B. Knollenbl¨atterpilz-Vergiftung). Die Effektivit¨at der
440
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung 16
Angewendete Maßnahmen zur primären Giftentfernung
Anwendung in % aller Fälle
14 12 10 8 6 4
Sirup ipecacuanhae
2
Aktivkohle
20 03
20 01
19 99
19 97
19 95
19 93
19 91
19 89
19 87
19 85
19 83
0
Abbildung 10.8 Verwendung von Sirup Ipecacuanha und/oder Aktivkohle-Gabe zur prim¨ aren Behandlung oraler Vergiftungen. Daten aus dem Jahresbericht 2003 der AAPC.
Methode ist im Allgemeinen nicht sehr hoch. So fanden sich in einer Untersuchung bei Patienten mit Tabletten-Vergiftung in Kontroll-Spiegelungen nach einer Magensp¨ ulung in beinahe 90 % der F¨alle noch Tablettenreste im Magen. Dar¨ uberhinaus wird diskutiert, dass durch eine Magensp¨ ulung die Entleerung des Magens sogar beschleunigt werden kann, so dass Giftstoffe u. U. sogar schneller resorbiert werden. ¨ Diese Uberlegungen f¨ uhrten dazu, dass die Magensp¨ ulung in Vergiftungskliniken von einem Routineverfahren zu einer sehr selten angewandten Maßnahme wurde.
10.4
Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption
Ist das Gift resorbiert, muss versucht werden, die Wirkung zu unterbinden (Antidot-Gabe) oder das Gift zu Eliminieren (sekund¨are Giftelimiation).
10.4 Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption
441
10.4.1 Behandlung mit Antidoten (Gegengiften) Als Antidote im engeren Sinn werden solche Substanzen bezeichnet, die mehr oder weniger spezifisch die Toxizit¨at resorbierter Gifte aufheben oder zumindest vermindern k¨onnen. Die Grenzen zwischen Maßnahmen zur Aufnahmehemmung (siehe Kapitel 10.3.3) und zur Entgiftung sind hierbei fließend. ¨ Tabelle 10.3 Ubersicht u ¨ber einige Antidote und die Vergiftungen, bei denen sie Anwendung finden. Art der Vergiftung ¨ Außerliche Kontamination mit Flusss¨aure (HF) Reizgase (inhalative Intoxikation) Organophospate (z. B. Parathion) Atropin, tricyclische Antidepressiva, Tollkirsche (Schwer)metall-Vergifung Blei, Zink, Kupfer Gold, Quecksilber Quecksilber (Anorganische Hg-Salze, organische Verbindungen und eingeatmete Hg-D¨ampfe) Eisen, Aluminium Cyanide
Intoxikation mit Meth¨ amoglobinbildnern (Nitriten, Anilin) Methanol, Ethylenglycol Paracetamol Benzodiazepine
Opiate (z. B. Morphin, Heroin)
Knollenbl¨ atterpilz Lebensmittelvergifung mit BotulinusToxin = Botulismus (auch bei dringendem Verdacht)
Klinisch angewendete Antidode Calciumgluconat Dexamethason-Dosieraerosol Atropin (auch bei Vergiftung mit Carbamaten) Obidoxim Physostigmin
D-Penicillamin Dimercaptopropansulfonat
Deferoxamin Mittel der Wahl: 4-Dimethylaminophenol (4-DMAP) zus¨atzlich zu 4-DMAP: Natriumthiosulfat wenn kein 4-DMAP vorhanden: Hydroxycobalamin Toluidinblau Ethanol N-Acetylcystein Flumazenil (Vorsicht: akute BenzodiazepinEntzugssymptome nach Flumazenil-Gabe m¨oglich) Naloxon (Vorsicht: k¨ urzere Wirkung als das Opiat → Wiederauftreten von Vergiftungserscheinungen m¨oglich; evtl. akute OpiatEntzugssymptome nach Naloxon-Gabe) Penicillin G Silibinin Botulismus-Antitoxin
442
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Antidote k¨onnen ein Gift neutralisieren oder binden (Dekorporierungsantidote, z. B. Chelatbildner) oder als funktionelles Antidot seine Wirkung antagonisieren (Rezeptorantagonismus, z. B. Naloxon bei Opiatvergiftung) bzw. die toxischen Folgen r¨ uckg¨angig machen (Oxime als Reaktivatoren bei Organophosphatvergiftung). Spezifische Antidote stehen nur f¨ ur relativ wenige Vergiftungen zur Verf¨ ugung. Außerdem k¨onnen die Antidote selbst toxisch wirken und d¨ urfen daher nur gezielt eingesetzt werden. Schließlich unterscheiden sich Antidote und Gifte u. U. in ihrer Ausscheidungskinetik. So k¨onnen Vergiftungssymptome erneut auftreten, wenn das Antidot eine k¨ urzere Halbwertszeit als das Gift aufweist und nicht rechtzeitig eine weitere Gabe verabreicht wird. ¨ Tabelle 10.3 gibt eine Ubersicht u ¨ber die wichtigsten Antidote.
10.4.2 Sekund¨ are Giftentfernung Die nachfolgenden Verfahren folgen immer den prim¨aren Entgiftungsmaßnahmen (siehe Kapitel 10.3). Zur sekund¨aren Giftentfernung werden die forcierte Diurese und Extrakorporale Verfahren angewendet. Ziel ist es, den bereits resorbierten Giftstoff beschleunigt aus dem Blut zu entfernen. Alle im folgenden angesprochenen Verfahren sind nur erfolgsversprechend, wenn ein hinreichend großer Anteil des Giftes im Blut zirkuliert (Giftstoff mit kleinem Verteilungsvolumen). Bei Giften, die stark gewebeg¨angig sind und aufgrund ihrer geringen Wasserl¨oslichkeit und/oder geringen Bindung an Plasmaproteine im Gleichgewichtszustand nur zu einem kleinen Teil im Blut zirkulieren, sind die folgenden Verfahren ineffektiv. 10.4.2.1 Forcierte Diurese Der Wirkungsmechanismus ist eine Hemmung der R¨ uckdiffusion des Giftes in der Niere und eine verst¨arkte Diurese durch eine erh¨ohte Fl¨ ussigkeitszufuhr und die Verbreichung eines Medikamentes, das den Harnfluss steigert (starkes Diuretikum, z. B. Furosemid). Um die R¨ uckdiffusion zu verhindern, wird der pH-Wert des Urins ver¨andert. Die Anwendbarkeit dieser Methode beschr¨ankt sich auf Gifte mit kleinem Verteilungsvolumen (s. o.), die gut wasserl¨oslich sind aber nur wenig an Plasmaproteine gebunden werden. Die gleichen Voraussetzungen werden auch bei der H¨amodialyse gefordert. Die prim¨are Filtration durch die Niere hat hier also bereits einen hohen Anteil bei der Ausscheidung. Ver¨andert man zus¨atzlich den pH-Wert des Urins, um den Ionisierungsgrad der zu eliminierenden Substanz und damit ihre Ausscheidung zu erh¨ohen, so spricht man von forcierter alkalischer bzw. forcierter saurer Diurese. Eine Alkalisierung des Harns kann
10.4 Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption
443
mit Natriumhydrogencarbonat und eine Ans¨auerung mit Ascorbins¨aure erreicht werden. Es wird eine Urinausscheidung von insgesamt 12 Litern pro Tag angestrebt. Bei einer Vergiftung mit dem Pychopharmakon Meprobamat f¨ uhrt man eine neutrale forcierte Diurese durch, bei Vergiftungen mit Phenobarbital, Salicylaten und Herbiziden vom Typ der Phenoxyessigs¨aure-Derivate komt eine forcierte alkalische Diurese zur Anwendung. Voraussetzung sind eine ausreichende Nierenfunktion, stabile Herz- und Kreislaufverh¨altnisse, Ausschluss eines Hirn¨odems und akuter Krampfanf¨alle. Bei unzureichender Nierenfunktion w¨ urde die erh¨ohte Fl¨ ussigkeitszufuhr die Ge¨ fahr der Uberw¨ asserung bergen und die u. U. die Entwicklung eines Lungenoder Hirn¨odems nach sich ziehen.
10.4.2.2 Extrakorporale Methoden der Giftelimination Extrakoporale Verfahren kommen in Betracht, wenn der Vergiftete in Lebensgefahr ist und eine kritische Konzentration des Giftstoffes im Blut vorliegt. Eine andere Indikation f¨ ur die H¨amodialyse bei Vergiftungen (unabh¨angig von der Effektivit¨at als Maßnahme zur Giftelimination) ist ein Ausfall der Nierenfunktion (akutes Nierenversagen). H¨ amodialyse Bei der H¨amodialyse l¨asst man ungerinnbar gemachtes Blut aus einer Arterie in ein extrakorporales Dialyseger¨ at (k¨ unstliche Niere) fließen, wo das Gift u ¨ber eine semipermealbe Membran dialysiert wird. Anschließend wird das Blut wieder in eine Vene zur¨ uckgeleitet. Indikation f¨ ur eine H¨amodialyse sind z. B. lebensbedrohliche Vergiftungen mit kurzkettigen Alkoholen (Methanol, Ethanol, Ethylenglycol, Isopropanol) oder mit Lithium. H¨ amoperfusion Die H¨amoperfusion ist auch bei gr¨oßeren Molek¨ ulen oder solchen mit h¨oherer Eiweisbindung wirksam, die eine Dialysemembran nur schlecht passieren. Hierbei wird ebenfalls extrakorporal ungerinnbar gemachtes Blut u ¨ber speziell pr¨aparierte Adsorbentien geleitet, welche die Gifte binden. Die Perfusionsdauer betr¨agt 4 bis 6 Stunden. Diese Methode ist z. B. bei Vergiftungen mit Psychopharmaka, Digitalispr¨aparaten sowie bestimmten Pflanzenschutzmitteln und Insektiziden anwendbar. Nachteilig ist, dass neben den Giftstoffen auch k¨orpereigene Blutbestandteile z. B. Blutpl¨attchen (Thrombozyten) zum Teil adsorbiert werden.
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10.5
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Informationszentren f¨ ur Vergiftungsf¨ alle
Die unten aufgef¨ uhrten Informationszentren dienen der Aufkl¨arung der Bev¨olkerung u ¨ber Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit Vergiftungen und der Beratung im akuten Vergiftungsfall. Ausk¨ unfte f¨ ur die Bev¨olkerung werden im Allgemeinen kostenlos erteilt. Die Vergiftungszentralen nehmen 24 Stunden am Tag und an allen Tagen im Jahr Anrufe entgegen. In jedem akuten Notfall soll aber immer zuerst die Notrufnummer 112 gew¨ahlt werden. ¨ Ubersicht u ¨ber die Informationszentren f¨ ur Vergiftungsf¨ alle im deutschsprachigen Raum. Stadt/Land Berlin I
Telefon 030–30 686–711
Berlin II
030–450–553 555
Bonn
0228–19 240
Erfurt
0361–730 730
Freiburg
0761–19 240
Adresse Berliner Betrieb f¨ ur Zentrale Gesundheitliche Aufgaben Oranienburgerstraße 285 13437 Berlin [email protected] Charit´e, Campus Virchow Klinikum Augustenburger Platz 1 13353 Berlin [email protected] Zentrum f¨ ur Kinderheilkunde der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universit¨at Bonn Adenauerallee 119 53113 Bonn [email protected] Helios Klinikum Erfurt f¨ ur Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Th¨ uringen Nordh¨auser Straße 74 99089 Erfurt [email protected] Universit¨atsklinikum Freiburg Zentrum f¨ ur Kinderheilkunde und Jugendmedizin Mathildenstraße 1 79106 Freiburg [email protected]
10.5 Informationszentren f¨ ur Vergiftungsf¨ alle
Stadt/Land G¨ottingen
Homburg Saar
Telefon 0551–19 240 (f¨ ur Bev¨olkerung) 0551–383180 (f¨ ur Fachpersonal) 06841–19 240
Mainz
06131–19 240
M¨ unchen
089–19 240
N¨ urnberg
0911–398–2451
¨ Osterreich
+43–1–404–002222 Allg. Beratung: +43–1–406–4343
Schweiz
+41–1251–5151 Allg. Beratung: +41–1251–6666
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Adresse Giftinformationszentrum-Nord Robert-Koch-Straße 40 37075 G¨ottingen [email protected] Klinik f¨ ur Kinder- und Jugendmedizin 66421 Homburg/Saar [email protected] II. Medizinische Klinik und Poliklinik der Universit¨at Langenbeckstraße 1 55131 Mainz [email protected] Klinikum rechts der Isar Ismaninger Str. 22 81675 M¨ unchen [email protected] Klinikum N¨ urnberg Nord Professor-Ernst-Nathan-Straße 1 90419 N¨ urnberg [email protected] Vergiftungs-Informations-Zentrale Allgemeines Krankenhaus Wien W¨ahringer G¨ urtel 18–20 A-1090 Wien Schweizerisches Toxikologisches Informationszentrum Freiestraße 16 CH-8028 Z¨ urich
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10.6
Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Frei zug¨angliche Informationen im Internet
Institutionen des Bundes: Bundesministerium f¨ ur Gesundheit http://www.bmgesundheit.de Bundesinstitut f¨ ur Arzneimittel und Medizinprodukte http://www.bfarm.de Robert-Koch-Institut http://www.rki.de Bundesanstalt f¨ ur Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin http://www.baua.de Bundesinstitut f¨ ur Risikobewertung http://www.bfr.bund.de Bundesamt f¨ ur Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit http://www.bvl.bund.de/index.htm Bundesamt f¨ ur Bev¨olkerungsschutz und Katastrophenhilfe http://www.bbk.bund.de Bundesumweltamt http://www.umweltbundesamt.de Biologische Bundesanstalt f¨ ur Land- und Forstwirtschaft http://www.bba.de Homepages der deutschsprachigen Giftinformationszentralen: Berliner Betrieb f¨ ur Zentrale Gesundheitliche Aufgaben – Giftnotruf Berlin http://www.giftnotruf.de
10.6 Frei zug¨ angliche Informationen im Internet
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Zentrum f¨ ur Kinderheilkunde der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universit¨at Bonn http://www.meb.uni-bonn.de/giftzentrale Gemeinsames Giftinformationszentrum der L¨ander Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Th¨ uringen http://www.ggiz-erfurt.de Vergiftungs-Informationszentrale Zentrum f¨ ur Kinderheilkunde und Jugendmedizin des Universit¨atsklinikums Freiburg http://www.giftberatung.de Giftinformationszentrum-Nord der L¨ander Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein http://www.giz-nord.de Klinik f¨ ur Kinder- und Jugendmedizin, Universit¨at des Saarlandes http://www.uniklinik-saarland.de/med− fak/kinderklinik/ Vergiftungszentrale/vergiftungszentrale.html Beratungsstelle bei Vergiftungen - II. Medizinische Klinik und Poliklinik der Universit¨at Mainz http://www.giftinfo.uni-mainz.de Giftnotruf M¨ unchen II. Medizinischen Klinik der Technischen Universit¨at M¨ unchen http://www.toxinfo.org Giftinformationszentrale der Medizinischen Klinik 2 des Klinikums N¨ urnberg Nord http://www.giftinformation.de Schweizerisches Toxikologisches Informationszentrum http://www.toxi.ch ¨ Osterreichische Vergiftungs-Informations-Zentrale http://www.akh-wien.ac.at/viz
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Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Spezielle deutschsprachige Informationsportale: Informationen u ¨ber Gift-Pflanzen http://www.meb.uni-bonn.de/giftzentrale/pflanidx.html Informationen u ¨ber Gift-Pilze http://www.meb.uni-bonn.de/giftzentrale/pilzidx.html Informationen u ¨ber Gift-Tiere http://www.toxinfo.org/tier Antidotarium http://www.giftinfo.uni-mainz.de/Deutsch/antidotarium/Antidotdepot-Mz.html Englischsprachige Internetseiten: Umfassende toxikologische Datenbank-Sammlung der National Library of Medicine http://toxnet.nlm.nih.gov Federation of European Toxicologist & European Societies of Toxicology http://www.eurotox.com Toxikologische Datenbank der University of California Davis, Oregon State University, Michigan State University, Cornell University und der University of Idaho http://extoxnet.orst.edu Suchmaschine f¨ ur Chemikalien http://ull.chemistry.uakron.edu/erd
Glossar Adenom (griech. Dr¨ usengeschwulst) Prim¨ar gutartige Neubildung des Epithels endokriner und exokriner Dr¨ usen ADI Acceptable daily intake, oder auf Deutsch ATD: annehmbare t¨agliche Dosis. Angabe der gesetzlich festgelegten H¨ochstmenge eines Fremdstoffes, der t¨aglich als Summe u ¨ber die verschiedenen Aufnahmewege in den menschlichen Organismus gelangen darf, ohne Schaden zu verursachen Alterung Abspaltung eines Alkylsubstituenten vom Phosphatrest der mit einem Organophosphat vergifteten Acetylcholinesterase Ames-Test Bakterielles Testsystem mit mutierten Salmonellen zur Pr¨ ufung gentoxischer Wirkungen (benannt nach dem Entdecker Bruce Ames) An¨ asthesie (griech. Unempfindlichkeit) Unempfindlichkeit gegen¨ uber Schmerz-, Druck-, Temperatur- und Ber¨ uhrungsreizen Angina pectoris Akute Herzkranzgef¨aßdurchblutungsst¨orung mit pl¨otzlich einsetzenden Schmerzen im Brustkorb, die in die Schultern und in den linken Arm ausstrahlen. G¨ urtelf¨ormiges Engegef¨ uhl der Brust (angina pectoris) mit Atemnot und Todesangst Anoxie Absoluter Sauerstoffmangel im gesamten Organismus oder in bestimmten Organen (Hypoxie) anthropogen (griech. durch den Menschen verursacht) Durch menschliche T¨atigkeiten ausgel¨ost Antihidrotikum (griech. gegen Schweiß) ¨ Uberm¨ aßige Schweißbildung unterdr¨ uckendes Mittel Antikoagulanzien Substanzen mit Hemmwirkung auf die Blutgerinnung (z. B. Heparin, Cumarinderivate)
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Glossar
antikoagulierende Wirkung Blutgerinnungshemmung durch Heparine oder Cumarinderivate (in vivo) bzw. durch Chelatoren (in vitro) Antioxidanzien Leicht oxidierbare Stoffe, die durch ihr niedriges Redoxpotential andere Stoffe vor unerw¨ unschten Oxidationen sch¨ utzen Apoptose (griech. wegfallen) Programmierter, physiologischer Zelltod Arteriolen Letzter Gef¨aßabschnitt der Arterien, welchem die Kapillaren folgen autonomes oder vegetatives Nervensystem Das autonome (unwillk¨ urliche) oder vegetative Nervensystem steuert als Teil des zentralen und peripheren Nervensystems die vegetativen Funktionen des Organismus, die nicht der Willk¨ ur unterstellt sind auxotroph (griech. wachsen, ern¨ ahren) Bezeichnung f¨ ur Mikroorganismen, bei denen durch Genmutationen bestimmte f¨ ur die Synthese von K¨orperbausteinen notwendige Enzyme nicht mehr gebildet werden k¨onnen, so dass diese Bausteine von außen zugef¨ uhrt werden m¨ ussen bakterizide Wirkung F¨ahigkeit einer Substanz Bakterien abzut¨oten basophile T¨ upfelung Punktf¨ormig angeordnete mit basischen Farbstoffen anf¨arbbare Substanz der roten Blutzellen, wahrscheinlich aus Ribosomen bestehend. Vermehrtes Vorkommen u. a. bei toxisch bedingten An¨amien und Bleivergiftung BAT-Wert Biologischer Arbeitsstoff-Toleranz-Wert, die beim Menschen h¨ochstzul¨assige Quantit¨at eines Arbeitsstoffes bzw. Arbeitsstoffmetaboliten oder die dadurch ausgel¨oste Abweichung eines biologischen Indikators von seiner Norm, die nach dem gegenw¨artigen Stand der wissenschaftlichen Kenntnis im Allgemeinen die Gesundheit der Besch¨aftigten auch dann nicht beeintr¨achtigt, wenn sie durch Einfl¨ usse des Arbeitsplatzes regelm¨aßig erzielt wird Bay-Region Bay region, eingebuchtete Region an einem gewinkelten polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoff, in deren Nachbarschaft durch drei sequentielle enzymatische Reaktionen (Cyt. P-450, Epoxidhydrolase, Cyt. P-450) ein vicinales Dihydrodiol-Epoxid gebildet und stabilisiert werden kann. Letzteres ist in der Lage, mit nukleophilen Zentren der DNA zu reagieren
Glossar
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bili¨ ar (lat. bilis Gallenfl¨ ussigkeit) Gallig, die Galle betreffend Bioverf¨ ugbarkeit Anteil einer Substanz, der an den Wirkort oder in den Blutkreislauf gelangt Blut-Hirn-Schranke Selektiv durchl¨assige Schranke zwischen Blut und Hirnsubstanz (Kapillartyp 4), durch die der Stoffaustausch mit dem zentralen Nervensystem einer Kontrolle unterliegt body burden Gesamtmenge eines sich im K¨orper befindenden Fremdstoffes Chlorakne Eine durch halogenierte Kohlenwasserstoffe hervorgerufene Akne (Sammelbezeichnung f¨ ur Sekretionsst¨orungen der Talgdr¨ usen und Erkrankungen der Haarwurzelscheiden, die mit Entz¨ undung und Vernarbung einhergehen) Chromatid Eine der beiden identischen H¨alften, in welche sich ein Chromosom vor der Reduktionsteilung der L¨ange nach spaltet Chromatin (griech. Farbe) Mit spezifischen Farbstoffen anf¨arbbare Substanz im Zellkern, die aus DNA, RNA und Kernproteinen (Histone und Nichthistone) besteht Coccidiostatikum Mittel zur Therapie einer durch Sporozoen hervorgerufenen Infektion des D¨ unndarms (Coccidiose) Cytostatika Heterogene chemische Gruppe zytotoxischer Verbindungen, welche die Zellteilung durch unterschiedliche Beeinflussung des Stoffwechsels verhindern oder verz¨ogern Dalton John Dalton, engl. Physiker (1766–1844), ein Dalton (Da) ist eine atomare Masseneinheit Delirium, Delir (lat. delirare verr¨ uckt sein) Form der akuten organischen Psychose mit Bewusstseins- und Orientierungsst¨orungen, Halluzinationen, vegetativen St¨orungen, Tremor und motorischer Unruhe Depilierung (lat. depilare enthaaren) Enthaarungsmittel Depression (lat. deprimere niederdr¨ ucken, herabziehen) In der Psychiatrie eine unspezifische Bezeichnung f¨ ur eine St¨orung der Affektivit¨at, bei der ein depressives Syndrom im Vordergrund steht
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Glossar
ED50 Effektive Dosis. Diejenige Konzentration, bei der 50 % der Individuen eines Kollektives eine pharmakologische Wirkung zeigen Embolie (griech. hineinwerfen) Verstopfung eines Gef¨aßes durch ein in die Blutbahn verschlepptes Gebilde (Thrombus, Bakterien, Gas, Fett, Parasiten u. a.) enteral (griech. Darm, Eingeweide) Zum Darm geh¨orig, Aufnahme u ¨ber den Darm im Gegensatz zu parenteral, unter Umgehung des Darmes epigenetisch wirksame Karzinogene Karzinogene Wirkung ohne Wechselwirkungen mit der DNA Epithel (griech. darauf wachsen) Geschlossener, ein- oder mehrschichtiger Zellverband der inneren oder a¨ußeren K¨orperoberfl¨ache Epitheliom Gutartiger oder b¨osartiger Tumor aus Epithelzellen (Papillom, Adenom, Karzinom) Erythroblasten Vorstufen der Erythrozyten im Knochenmark Erythropoese Bildung der roten Blutk¨orperchen im Knochenmark. Beim Menschen werden 2,5 Millionen Erythrozyten pro Sekunde gebildet Erythrozyten (griech. rote Zelle) Rote Blutk¨orperchen, rote Blutzellen Exsiccose (lat. exsiccare austrocknen) Abnahme des Gesamtk¨orperwassers Fertilit¨ at Fruchtbarkeit, geschlechtliche Vermehrungsf¨ahigkeit Fibroblasten Vorstufen der Fibrozyten (spindelf¨ormige Zellen des Bindegewebes) Ganglien Nervenknoten, Schaltstellen zwischen zwei Neuronen des sympathischen und parasympathischen Nervensystems Gangr¨ an (griech. fressendes Geschw¨ ur) Nekrose mit Autolyse des Gewebes und dessen Verf¨arbung Gastrointestinaltrakt (griech. Magen, Eingeweide) Magen-Darm-Trakt Genotoxizit¨ at oder Gentoxizit¨ at Sammelbegriff f¨ ur Erbgutsch¨adigung (z. B. DNA-Sch¨aden und Sch¨aden des Mitoseapparates)
Glossar
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Glomerulum (lat. glomus Kn¨ auel) Kapillarkn¨auel jedes einzelnen Nephrons, in dem die Ultrafiltration des Harnes erfolgt glue sniffing Klebstoffschn¨ uffeln, inhalativer Missbrauch euphorisierend wirkender L¨osungsmittel Golgi-Apparat Subzellul¨are Organellen, die dem Sekrettransport und der Regeneration von Zellmembranen dienen H¨ amolyse Austritt von H¨amoglobin und anderen Bestandteilen aus Erythrozyten aufgrund des Platzens der Zellmembran Hodenatrophie R¨ uckbildung des Hodens mit St¨orung der Spermiogenese Hom¨ oostase Auch Homoiostase. Regelvorg¨ange zur Aufrechterhaltung des inneren Milieus des Organismus (Ionenkonzentration, osmotischer Druck, pH-Wert, Temperatur etc.) ILO International Labor Organization, internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen intraven¨ os (i.v.) Applikationsweg in eine Vene Kapillaren Feinste Blutgef¨aße oder Haargef¨aße, Ø5–25 mm karzinogen (griech. Krebs entstehen) Auch kanzerogen, krebserzeugend Karzinogenese Entstehung maligner Tumoren unter Beteiligung verschiedener Faktoren Karzinom Ein vom Epithel ausgehender maligner Tumor Katecholamine Oberbegriff f¨ ur die biogenen Amine mit der Struktur des Brenzkatechins (Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin) Keimbahn Enth¨alt das Ideoplasma, Erbplasma, Erbsubstanz oder sogenannte Keimplasma, welches kontinuierlich von einer Generation auf die n¨achste u ¨bertragen wird Keratinozyt Keratin (schwefelreiches Skleroprotein) bildende Epidermiszellen
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Glossar
Klastogen (griech. brechen) Substanz, die Chromosomenbr¨ uche ausl¨ost Klon (griech. Zweig, Sch¨ ossling) Kopie, Gruppe von identischen Zellen oder DNA-Abschnitten knock-down-Wirkung Neurotoxische Wirkung der Pyrethrine und Pyrethroide auf Insekten Koagulation Gerinnung Kolik Krampfartige Schmerzen durch Zusammenziehen eines Hohlorgans (Darm, Harnblase, Gallengang, Gallenblase, Magen) Komedonen Sogenannte Mitesser. Erweiterte, mit Keratin und Talg gef¨ ullte Haarfollikel, die zur Hautoberfl¨ache hin offen oder geschlossen sind Kontaktallergie (lat. contactus Ber¨ uhrung) ¨ Uberschießende Immunantwort auf ein Kontaktallergen (Substanz, die als Antigen eine Allergie ausl¨ost) kritische Konzentration Konzentration eines Toxikons, die das kritische Organ nicht mehr toleriert kritisches Organ Organ, das bei einer Vergiftung zuerst gesch¨adigt wird und funktionelle Ausfallserscheinungen zeigt LD50 Letale Dosis, Konzentration eines Stoffes, die zum Tode von 50 % der exponierten Versuchstiere f¨ uhrt Leuk¨ amie B¨osartige Erkrankung der weißen Blutk¨orperchen durch klonale Vermehrung unreifer blutbildender Stammzellen LOEL Lowest observed effect level. Niedrigste Konzentration, die eine beobachtbare Wirkung ausl¨ost Lungen¨ odem Ansammlung ser¨oser Fl¨ ussigkeit im Zwischenzellraum (Interstitium) des Lungengewebes oder in den Lungenbl¨aschen (Alveolen) Lymphozyten Von pluri- bzw. unipotenten Stammzellen im Knochenmark abstammende, in Knochenmark, Lymphknoten, Thymus und Milz gebildete und haupts¨achlich u ¨ber die Lymphbahnen ins Blut gelangende, kleine weiße Blutk¨orperchen Lysosomen Im Golgi-Apparat gebildete Zellorganellen, die Hydrolasen enthalten (kleine Vesikel, die durch Zellmembranen begrenzt werden)
Glossar
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MAK-Wert Maximale Arbeitsplatz-Konzentration, die h¨ochstzul¨assige Konzentration eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf, oder Schwebestoff in der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem gegenw¨artigen Stand der Kenntnis auch bei wiederholter und langfristiger, in der Regel t¨aglich achtst¨ undiger Exposition, jedoch bei Einhaltung einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden im Allgemeinen die Gesundheit der Besch¨aftigten nicht beeintr¨achtigt und diese nicht unangemessen bel¨astigt MIK-Wert Maximale Immissions-Konzentration. Immissionen sind auf Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosph¨are sowie Kultur- und Sachg¨ uter einwirkende Luftverunreinigungen, Ger¨ausche, W¨arme, Strahlen und a¨hnliche Umwelteinwirkungen. Die MIK-Werte sind Richtwerte und basieren auf einem mehr oder weniger großen Wissens- und Erfahrungsstand, z. B. f¨ ur Schadstoffe in Nahrungsmitteln oder f¨ ur den Gehalt an Schwermetallen im Boden. Bei der Einhaltung dieser Werte ist der Schutz des Menschen und seiner Umwelt nach derzeitigem Wissensstand gew¨ahrleistet Metaphase ¨ Phase der Mitose, in der sich die Chromosomen in der Aquatorialebene anordnen Mimikry (griech. Nachahmung) Hier Nachahmen der perfekten molekularen Form physiologischer Substrate Mitose (griech. Faden) Zellteilung, identische Reduplikation des genetischen Materials und Verteilung je eines vollst¨andigen Chromosomensatzes auf die Tochterzellen motorische Endplatte (Muskelendplatte) Endplattenregion an der Muskelzellmembran mit Acetylcholinrezeptoren und Acetylcholinesterase muskarinisch Kennzeichnet aufgrund der spezifischen Muskarinwirkung den Acetylcholinrezeptor des Parasympathikus am Erfolgsorgan (z. B. Herz, Auge, Darm etc.) mutagen (lat. mutare ver¨ andern) Ver¨anderung des genetischen Materials Neurofilament, Neurofibrillen Feinste F¨aserchen im Zytoplasma der Nervenzellen und ihrer Forts¨atze
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Glossar
Neurotoxizit¨ at Toxische Beeintr¨achtigung zentralnerv¨oser und peripherer Nervenfunktionen nicotinisch Kennzeichnet durch die spezifische Wirkung des Nicotins die Acetylcholinrezeptoren in den Ganglien des Sympathikus und des Parasympathikus NOEL No observed effect level. Konzentration, unterhalb derer keine Wirkung messbar ist. Die NOEL-Konzentration darf allerdings nicht gleich dem NEL (No effect level) gesetzt werden, da m¨oglicherweise Schadstoffwirkungen aufgrund zu unempfindlicher Messmethoden nicht entdeckt werden. Als NOAEL (No observed adverse effect level) gilt die Konzentration, die gerade noch keine feststellbaren nachteiligen Wirkungen verursachen Nukleotid Phosphors¨aureester der Nukleoside (Nukleinbase, Pentose, Phosphat) Nukleosid Baustein aus Nukleinbase (Purin- oder Pyrimidin-Base) und einer Pentose meist D-Ribose oder D-Desoxyribose Obstipation (lat. obstipare verstopfen) verz¨ogerte Kotentleerung Onkogene (griech. Geschwulst erzeugen) ¨ Durch Mutation, Deletion oder Uberexpression gewinnen die ProtoOnkogene die Eigenschaft von Onkogenen, sie k¨onnen Tumoren ausl¨osen, wenn gleichzeitig die Kontrolle durch Tumor-Suppressorgene gest¨ort ist Organotropie auf ein bestimmtes Organ gerichtete Wirkung Parasympathikus Teil des vegetativen Nervensystems. Die von ihm gef¨orderten Vorg¨ange dienen der Regeneration des Organismus Persistenz (lat. persistere hartn¨ ackig, verharren) Best¨andigkeit eines Stoffes gegen¨ uber dem Abbau in der Umwelt oder im Organismus Ph¨ anotypus Merkmalbild, Erscheinung. Summe aller an einem Einzelwesen vorhandenen Merkmale, sein ¨außeres Bild, seine a¨ußere Erscheinungsform und seine funktionellen Eigenschaften, die durch den Genotypus im Zusammenwirken mit Umwelteinfl¨ ussen verschiedener Art gepr¨agt werden
Glossar
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Plazentaschranke Biologische Barriere zwischen m¨ utterlichem und fetalem Blutkreislauf Polyneuritis Enz¨ undung des peripheren Nervensystems Polyneuropathie Erkrankung der peripheren Nerven aus nichttraumatischer Ursache Polyurie Erh¨ohung der Harnausscheidung Proteinurie Ausscheidung von Eiweiß im Urin (20 bis 150 mg Eiweiß in 24 h sind physiologisch) Proto-Onkogene Als zellul¨are Onkogene sind sie Homologe der viralen Onkogene. Ihre Genprodukte sind an der Kontrolle normaler Wachstums- und Differenzierungsprozesse beteiligt, insbesondere steuern sie die Zellproliferation prototroph Mikroorganismen, bei denen alle Enzyme, die f¨ ur die Synthese von K¨orperbausteinen notwendig sind, in den Zellen vorhanden sind. Psychose (griech. Seele) Allgemeine Bezeichnung f¨ ur psychische St¨orung mit strukturellem Wandel des Erlebens pT50 Potentielle Toxizit¨at, negativer Logarithmus der toxischen Konzentration in mol/kg K¨orpergewicht ausgedr¨ uckt, bei der 50 % des behandelten Tierkollektivs stirbt renal (lat. ren) Die Niere betreffend Resistenz Widerstandsf¨ahigkeit von Mikroorganismen gegen Chemotherapeutika und Biozide Retikulum (lat. reticulum kleines Netz) Endoplasmatisches Retikulum (ER), elektronenmikroskopisch sichtbares, im Grundplasma der Zelle gelegenes dreidimensionales Hohlraumsystem aus Bl¨aschen, Kan¨alchen und Zisternen, deren Membranen kontinuierlich mit der a¨ußeren Kernmembran und zum Teil auch mit der Plasmamembran zusammenh¨angen. Man unterscheidet ein mit Ribosomen besetztes sog. rauhes oder granul¨ ares ER (rER) und ein Ribosomenfreies glattes ER (sER)
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Glossar
Risiko Risk-Assessment. Die Risiko-Absch¨atzung eines Stoffes l¨asst sich in vier Abschnitte einteilen. Zuerst erfolgen eine Identifizierung und Charakterisierung der toxischen Wirkung. Zweitens gibt die DosisWirkungsbeziehung Auskunft u ¨ber Exposition und Ausmaß der Wirkung. Dies dient auch zur Festlegung der Messgr¨oße NOEL (no observed effect level). Drittens erfolgt eine Expositionsmessung und Absch¨atzung der Stoffaufnahme am Menschen, und viertens geschieht schließlich die Charakterisierung und Quantifizierung des Risikos. Dabei wertet der letzte Abschnitt die Informationen und die Analysen der ersten drei Abschnitte aus Roborans (lat. roborare st¨ arken) St¨arkendes Mittel Sarkom Ein aus mesenchymalem Gewebe hervorgehender Tumor Scavenger (engl. Aasfresser) Abf¨anger toxischer Produkte, Radikalf¨anger Short-Term-Test Darunter versteht man Kurzzeittestmethoden zur Pr¨ ufung von Substanzen auf mutagene und krebserregende Eigenschaften. Diese Short-Term-Tests k¨onnen an Prokaryonten, Eukaryonten, kultivierten Warmbl¨ uterzellen und in vivo an Nagern und Insekten durchgef¨ uhrt werden. Dabei werden durch die Substanz erzeugte Genmutationen und Chromosomenaberrationen erfasst. Die gr¨ oßte Bedeutung haben Tests an mutierten Bakterienkulturen erlangt. In Gegenwart von mutagenen Substanzen kann es zu R¨ uckmutationen kommen (Ames Test) Soma-Zellen (griech. K¨ orper) K¨orperzellen Spasmus, spastisch Unwillk¨ urliche Muskelkontraktion, Krampf Spermiogenese, Spermatogenese Reifung und Ausdifferenzierung der Samenzellen (Spermien) im Keimepithel des Hodens Stickstoff-Lost Nach den Herstellern Lommel und Steinkopf auch als Gelbkreuz und Senfgas bezeichnetes Kampfgas, b,b’-Dichlordiethylsulfid Sympathikus Teil des vegetativen Nervensystems und Antagonist des Parasympathikus; vereinfacht dargestellt f¨ uhrt seine Erregung zur Angriffsbereitschaft des Organismus, aber auch zu Fluchtreaktionen
Glossar
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Synapse Umschaltstelle f¨ ur die diskontinuierliche Erregungs¨ ubertragung von einem Neuron auf ein anderes oder auf das Erfolgsorgan TD50 -Wert Toxische Dosis. Die Konzentration, bei der 50 % der reagierenden Individuen eine toxische Wirkung zeigen TD50 -Wert Tumor Dosis, die Konzentration angegeben, die zum Auftreten von Tumoren bei 50 % der behandelten Tiere f¨ uhrt. Die identische Bezeichnung f¨ ur toxische und Tumor-Dosis kann zu Verwechslungen beitragen teratogen (griech. Ungeheuer) Eigenschaft eines chemischen, physikalischen oder biologischen Agens, vor der Geburt (pr¨anatal) Fehlbildungen auszul¨osen Tremor (lat. tremor Zittern) Unwillk¨ urlich auftretende, meist rhythmische Kontraktionen antagonistischer Muskeln TRK-Wert Technische Richtkonzentration. Da f¨ ur krebserzeugende Arbeitsstoffe keine MAK-Werte ermittelt werden k¨onnen, werden f¨ ur diese und f¨ ur krebsverd¨achtige Stoffe sogenannte TRK-Werte aufgestellt. Der TRK-Wert ist diejenige Konzentration eines gef¨ahrlichen Stoffes in der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem Stand der Technik erreicht werden kann. Auch dieser Luftgrenzwert kann sich auf den Stoff als Gas, Dampf oder Schwebestoff in der Atemluft beziehen. Das Ziel ist auch bei diesen Grenzwerten, einen Anhalt f¨ ur zu treffende Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz zu geben, um das Risiko einer Beeintr¨achtigung der Gesundheit des Arbeitsnehmers zu vermindern; dabei l¨asst sich aber ein Restrisiko nicht ausschließen Tubulus (Niere) Nierenkan¨alchen, proximales (im Verlauf fr¨ uher liegendes) und distales (im Verlauf sp¨ater folgendes) Zirrhose (griech. harte Schwellung) Aufhebung der normalen Struktur eines Organs unter Umwandlung des Gewebes mit Verh¨artungen ZNS Zentralnervensystem, Gehirn- und R¨ uckenmarksnervensystem im Gegensatz zu den peripheren Nerven
Literaturverweise Clark, A. J.: Handbuch der Experimentellen Pharmakologie, Vierter Band, General Pharmakology. Springer-Verlag, Berlin, 1937 Dekant, W., Vamvakas, S.: Toxikologie f¨ ur Chemiker, Biologen und Pharmazeuten. 2. Aufl., Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2005 Deutsche Forschungsgemeinschaft: MAK- und BAT-Werte-Liste 2005, Mitteilung 41 ¨ Fent, Karl.: Okotoxikologie. 2. Aufl., Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2003 Forth, W., Henschler, D., Rummel, W., F¨orstermann, U., Starke, K.,: Allgemeine und Spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 8. Aufl., Verlag Urban & Fischer, M¨ unchen, Jena, 2001 Ganong, W. F.: Lehrbuch der Medizinischen Physiologie. 4. Aufl. SpringerVerlag, Berlin, Heidelberg, New York, 1979 Goldstein, A., Aronow, L., Kalman, S. M.: Principles of Drug Action. 2nd Edition, J. Wily & Sons, New York, London, Sidney, Toronto, 1974 H¨ober, R.: Physikalische Chemie der Zellen und der Gewebe. 6. Aufl., Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig, 1926 Kaim, W., Schwederski, B.: Bioanorganische Chemie. 4. Aufl., Teubner-Verlag, Wiesbaden, 2005
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Literaturverweise
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Index ¨ Fette Seitenzahlen verweisen auf Uberschriften, kursive auf Abbildungen a-Naphthylthioharnstoff, 353 a-Naphthylthiourea (ANTU), 294 b-D-Glucopyranose-Form, 197 b-Glucuronidase, 80 b-Lyase, 285, 286 b-Naphthylamin, 346 b-Oxidation, 279 b-Sitosterol, 330 g-Carboxyglutamins¨aure, 133, 134, 321 d-Aminolaevulinat-Synthase, 210 d-Aminolaevulins¨aure, 210, 315 -Dehydrase, 210 1,1,1-Trichlorethan, 280, 283, 287, 287 1,1,2,2-Tetrachlorethan, 288 1,1,2-Trichlorethan, 283, 287 1,1-Dimethylhydrazin, 388 1,2-Dibromethan, 174, 208, 383 1,2-Dichlorethan, 174, 208, 382 1,2-Propylenglycol, 276 1,25-Cholecalciferol, 216 11b-Hydroxysteroid Dehydrogenase, 78 17a-Ethinyl¨ostradiol, 330 ¨ 17b-Ostradiol, 330 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG), 108, 128, 146, 149 2,3-Dimercaptobernsteins¨aure, 204 2,3-Dimercaptopropan-1-sulfonatNa, 204
2,4’-DDT, 303, 333, 345 2,4,5-T, 312 2,4,5-Trichlorphenol, 312 2,4,5-Trichlorphenoxyessigs¨aure, 310 2,4-Dichlorphenoxyessigs¨aure, 310 2,5-Hexandion, 279 2-Hexanon, 277 3-Chlorperbenzoes¨aure, 347 4,4’-DDD, 303 4,4’-DDT, 303 4-Dimethylaminophenol, 360, 362 4-Hydroxymercuribenzoat, 232 4-Methylpyrazol, 270, 274, 275 4-Nitrobenzylpyridin, 408, 409 4-Nonylphenol, 335 -ethoxylat, 335 4-tert.-Pentylphenol, 335 4-tert.-Octylphenol, 336 A Aberrationen, 378 Abf¨ uhrmittel, 439 Abwasser, 329 Acetaldehyd, 272 Aceton, 43, 276 Acetylarsanils¨aure, 250 Acetylcholin, 112, 113, 155, 157, 159, 163, 296 Acetylcholin-Esterase, 111, 156, 159, 160–163, 296 Acetylcholinrezeptor, 112, 116, 124
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nicotinischer, 114, 115, 126 Acetylierer, 85 Acetyltransferasen, 85 Acidose, 269, 273, 280, 362 metabolische, 268 Acridin, 391 Acridin-Orange, 391 Acrolein, 31, 349 Acrylamid, 347 Acyl-CoA-N-Acyltransferase, 82 Adamsit, 251 Additive, 334 Adenosintriphophat, 48 Adenylatcyclase, 245 ADI-Werte, 14 Adrenalin, 74, 129, 155 Adsorbens, 438 Adsorbentien, 309 Aerosole, 26, 27, 30 AFC, 218 Affinit¨at, 123 Aflatoxin B1 , 397, 398 agent orange, 311 agent blue, 248 Ah-Rezeptor, 313 Akarizide, 293 Akkumulation, 95, 269 Akrodynie, 238 Aktionspotential, 152 Aktivierung, 369 Aktivkohle, Gabe von, 438 Albumin, 58, 59 Aldehyddehydrogenase, 77 Aldo-keto-Reduktase, 77, 79 Aldrin, 296, 305 Aliphaten, halogenierte, 294 Alkohol, 280 Alkoholdehydrogenase, 77, 271, 275 Alkoholunvertr¨aglichkeit, 77 Alkoxid-Radikal, 393 Alkylanzien, 379 Alkylhalogenide, 379
Index
Entgiftung, 381 Alkylhydrazine, 388 Alkylisothiocyanate, 320 Alkylphenole, 335 Alkylsenf¨ol, 318 Alkylsulfate, 387, 387 Alkylsulfons¨aureester, 387, 387 Allethrin, 300 Allosterische Effekte, 128 Allylstrukturen, reaktive, 390, 391 Alterung, 296 Aluminium, 188 Alveolen, 26 Amalgam, 231, 239 Ameisens¨aure, 269, 280 Ames-Test, 282, 291, 334, 345, 409, 410 Amidasen, 80 Amine aromatische, 405 terti¨are, 404 Aminoacridin, 391 Aminotriazol, 315 Amitrol, 294, 315 Ammoniak, 31, 349 AMPA, 314, 314 amphiline Biomolek¨ ule, 42 Amplifikation, 369 Anilin, 31, 346, 359, 406 Anilinderivate, 294 Anionentransporter, 141, 142, 143, 192, 195, 219, 244 Anosmie, 215 Antabus, 319 Antagonisten, 125 chemische, 129 funktionelle, 129 kompetitive, 125 nichtkompetitive, 126 Antibiotika, 294 Antidiuretisches Hormon (ADH), 233
Index
Antidot, 5, 205, 441, 441 antifouling, 318, 337 Antihidrotikum, 239 Antikoagulantien, 321 Antimon, 30, 201, 258 Antimykotikum, 316, 319 ANTU, 294 Anurie, 222, 237, 254 AP1EO, AP2EO, 336 Apomorphin, 439 Apothionein, 215 Applikation, 324 Aquafer, 248 Aquaporin, 50, 52, 141, 233, 234, 247 Aquaporinkanal, 49 Arachidons¨aure, 74, 75 Arenoxide, 398 Arochlor 1242, 332 Arsacetin, 250 Arsan, engl. arsine, 251 Arsanils¨aure, 249, 250 Arsen, 170, 181, 188, 197, 204, 218, 246, 256, 392, 394 -krebs, 255 -melanose, 255 Trinkwasser, 247 -verbindungen, 294 -verbindungen, methylierte, 253 -wasserstoff, 251, 253 Arsenat, 144, 145, 192, 247, 251 Anion, 143 Arsenik, 23, 181, 246, 254 Arsenikessen, 248 Arsenismus, 255 Arsenit, 247, 251 Arsenit-Triglutathion, 252 Arsenobetain, 252, 254 cholin, 250, 252, 254 lipide, 253
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phosphoglycerat, 252 zucker, 253, 254 Arsphenamin, 249, 250 Arylamine, 406 Arzneimitteltoxikologie, 8 Asbestfasern, 32 Ascorbins¨aure, 246 Asservierung, 432 Atemgifte, 349 Atemspende, 431 Atemwege freimachen, 430 ¨ Ather, 264 Atoxyl, 249, 250 ATP, 145, 148, 150, 200, 355 ATPasen P-Typ, 182 Atrazin, 315, 326, 328 Atropa belladonna, 158 Atropin, 158, 297 Auge Aderhaut, 435 Bindehaut, 434, 435 Choroidea, 435 Cornea, 435 Glask¨orper, 435 Hornhaut, 434, 435 Hornhautendothel, 434 Hornhautepithel, 434 Iris, 435, 435 Konjunktiva, 435 Lederhaut, 435, 435 Limbus, 434 Limbus Corneae, 435 Linse, 435, 435 Netzhaut, 435 Retina, 435 Sehnerv, 435 Sklera, 435 Zillark¨orper, 435 Augensp¨ ulung, 435, 436 Augenver¨atzungen, 433 Augenverletzungen, 433
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Aurosom, 200 Ausscheidung, 408 Auxin, 310 Azidose, 364 Aziridinium, 383 B Bakterien, 252 Geobacter, 248 methanogene, 230 BAL (Dimercaprol), 203, 204, 211, 216, 228, 239, 242, 256 Bariumsulfat, 185 Barrierefunktion, 22, 43 Basalmembran, 39, 40 Basenmodifikation, 193 Basenpaarsubstitutionen, 378 Basismaßnahmen, 430 BAT-Wert, 14, 187, 260 Bateman-Funktion, 100 Bay-Region-Theorie, 401 Beatmung, 431 Mund-zu-Mund, 431 Mund-zu-Nase, 431 Benomyl, 320, 320, 329 Bentonit, 309 Benz[a]anthrazen, 31 Benz[a]pyren, 31 Benzidin, 346 Benzimidazole, 294, 320 Benzinlungenentz¨ undung, 277 Benzo[a]pyren, 71, 400, 401 Diolepoxide, 402 Benzol, 70, 72, 288, 289, 290, 347 Benzol-Leuk¨amie, 290 Benzylbutylphthalat, 337 Berliner Blau, 242 Beryllium, 188, 392 Besetzungstheorie, 117, 119, 122, 123 Binde- und St¨ utzgewebe, 33 Bindungsprotein
Index
eisensensorisches, 191 Bioallethrin, 301 Biochanin A, 338 Biomethylierung, 258 Bioresmethrin, 301 Biosph¨are, 179 Biotransformation, 48, 62–65, 70, 71, 86, 88, 90, 91, 95, 130, 143, 259, 278, 355 Biozide, 31, 293, 323 Biphenyle, polychlorierte, 333 Bipyridylium, 294, 308 Bis(tri-n-butylzinn)oxid, TBTO, 337 Bis(trichlormethyl)carbonat, 347 Bisphenol A, 336 black-foot-disease, 255 Blaus¨aure, 360 Blechdose, 172 Blei, 30, 31, 36, 57, 61, 129, 150, 170, 173, 176, 185, 188, 206, 245, 258, 392 -acetat, 171, 207 -arsenat, 207 -belastung, 174 -fluid, 208 -gl¨atte, 207 -Ion, 140, 195 -kolik, 207, 209 -kolorit, 209 Komplexe, lipophile, 209 -saum, 209 -seife, 208 -spiegel, 177 -weiß, 207 -zucker, 207 Blut-Hirn-Schranke, 40, 235 Blutbleispiegel, 175 Blutgerinnung, 195 Blutgerinnungsfaktoren, 321 Blutplasma, 41, 56, 90, 98 Blutspiegel, 39
Index
Blutspiegel-Zeitkurve, 95, 96 Bohr-Effekt, 146 Bor, 257 Botulinustoxin, 157, 199 BPG, 108, 128, 146, 149 Brom, 350 Bromazil, 326 Brommethan, 280 Bronchien, 26 Busulfan, 122 C c-Aconitase, 190, 191 Cadmium, 30, 31, 57, 61, 188, 196, 198, 201, 212, 392 Nahrung, 213 Nierenrinde, 215 -oxid, 32, 212, 350 Schnupfen, 215 -shift, 215 Tabak, 212 Caeruloplasmin, 60 Calcitonin, 216 Calcitriol, 216 Calcium, 194, 202, 205 -Antagonist, 195 Ca++ , 182, 195, 204 -Chelator, 133 -Kanal, 194 spannungsgesteuerter, 155 Camphen, 333 CaNa2 -EDTA, 211, 223, 245, 246 CaNa3 -DTPA, 245 Carbamate, 294, 298, 299 Carbamins¨aure -ester, 298 Carbanion, 258 Carbaryl, 299 Carbendazin, 299 Carboanhydrase, 142 Carbonylchlorid, 347 Carbonylreduktase, 79
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Carboxyh¨amoglobin, 354 Carboxypeptidase A, 196 carry-over-effect, 340 Cashmeran, 331 CFK, 218 Chelatbildner, 129, 202, 202, 204 Chelate, 202, 204, 211, 214, 221, 239, 245 lipophile, 228, 316, 318 chemische Klassen, 266 Chemotherapie, 181 Chinone, 355 Chinoxaline, 294 CHIP28, 49 Chiralit¨at, 346 Chitinsynthese-Inhibitor, 293 Chlor, 350 Chlorakne, 311 Chloral, 285 Chloralhydrat, 303 Chloranilin, 406 Chlorat, 294, 309, 355, 359 Chlorbenzol, 303 Chlorcarbons¨aure, 294, 313 Chlordan, 305 Chlordecon, 305 Chloressigs¨aure, 287, 288 Chlorethyl, 280 Chlorethylenoxid, 396 Chloridkanal, 305 Chlormethan, 280, 280 Chloroform, 30, 71, 150, 280, 282, 283 Chlorvinyl-Dichlorarsin, 251 Chlorwasserstoff, 31, 349 Cholecalciferol-Hydroxylase, 216 Chrom, 31, 183, 185, 188, 193, 217, 257, 392, 394 -Nickel-Stahl, 217 Oxidationsstufen, 217 -s¨aure, 221 -schwefels¨aure, 218
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Staublunge, 222 -sulfat, Gerbung, 219 -trioxid, 218 Chromat, 218, 355 -allergie, 218 Anion, 143, 192 -arbeiter, 219 Reduktion, 220 -Thioester, 220, 220 Chromat/Cr3+ , 245 Chromdioxid, 218 Chromit, 217 Chromosomen Aberrationen, 187, 290 Aberrationen, Test auf, 414 Mutationen, 378 -sch¨aden, 237 Chrysanthemum, 299 -s¨aure, 300, 301 Cinerolon, 300 Citrus, 320 Clark I/II, 250, 251 Clark, Alfred Joseph, 117 Clearance, 98 Nieren-, 89, 96 renale, 91 Clofibrins¨aure, 329 CO, 51 CO-H¨amoglobin, 281 Cobalt, 35, 183, 188, 210, 257, 392 Cocain, 154 Coenzym F 430, 183 Conazole, 294 Coniin, 4 Conydrin, 4 Coumestan, 338 Coumestrol, 338 Cromargan, 224 CS-Syndrom, 300 Cumarin, 133, 135 Cumarinderivate, 294, 321 Curare, 4, 25, 105, 116, 126, 159
Index
Cyanid, 359–362 Cyanwasserstoff, 29, 53, 57, 359 Cycasin, 389, 389 Cyclodiene, 305, 305 Cyclohexan, 279, 347 Cyclooxygenase, 74, 75 Cyclophosphamid, 383 Cyfluthrin, 300 CYP-Gene, 68 CYP2E1, 266, 279, 288 Cypermethrin, 300, 301 Cystein, 213, 233 Cystein-b-Lyasen, 85 Cytochrom P-450, 66, 67, 68, 69, 69, 70, 86, 143, 281, 282, 285, 287, 290, 291, 351, 395, 400, 402 -Isoenzym2E1, 271 Monooxygenase, 74 System, 279, 286 Cytochrom-c-Oxidase, 359, 363 D D-Penicillamin, 204, 239 Daidzein, 338 Dalapon, 313 Dalton, 40 Dampfdruck, 266 Darmflora, 23 Dazomet, 319, 320 DDT, 57, 58, 61, 62, 69, 130, 162, 303, 332 technisches, 304 Deferoxamin, 204 Dehydrogenase, 76 Dekamethonium, 158 Dekontamination, 433 Dekontaminationsmittel, 433 Dekorporierungsantidot, 442 Depurinisierung, 377 dermale Aufnahme, 426 Desethylatrazin, 326
Index
Desinfektionsmittel, 379 Desisopropylatrazin, 326 Destillation, globale, 303, 333 developmental toxicology, 332 Di-(2-ethylhexyl)-phthalat, 276 Dialkylzinn, 317 Metabolismus, 317 Diarsin, 254 Dibenzodioxine, polychlorierte, 312, 333 Dibenzofurane, 312 Dibutylphthalat, 276, 337 DIC, 310 Dicarboximide, 294 Dichloracetylen, 285 Dichlordiphenylmethane, 303 Dichlorethan, 283 Dichlormethan, 280, 281, 283 Dichromat, 218 Dick, 251 Dickdarm, 23 Diclobenil, 327 Dicofol, 332 Dicumarol, 135 Dieldrin, 305 Diethyldithiocarbamat, 228 Diethylenglycol, 275, 275 Diethylether, 347 Diethylhexylphthalat, 337 Diethylzinn, 317 Diffusion, 49, 51, 52 einfache, 48 Dihydrolipons¨aure, 251 Diisopropylfluorophosphat, 111 Dimaval, 256 Dimercaprol (BAL), 203, 204, 211, 216, 228, 239, 242, 256 Dimercaptobernsteins¨aure (DMSA), 239 Dimercaptopropansulfons¨aure (DMPS), 239, 256 Dimetalltransporter, 188, 190
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Dimethylarsenperoxyl-Radikal, 255 Dimethylarsin, 248 Dimethylarsins¨aure, 248, 250, 252 Dimethylcarbonat, 347 Dimethylethylenharnstoff, 347 Dimethylglyoxim, 228 Dimethylquecksilber, 179, 180, 230, 236 Dimethylsulfat, 347 Dinitrokresol(e), 306, 307 Dinitrophenol(e), 294, 306 Dinobuton, 307 Dinoseb, 307 Dinoterb, 307 Dioxine, 311, 333 Zersetzung, 311 Dipeptidtransporter, 197 Diphenyl(e), 320 Diphenylamin-Chlorarsin, 251 Diphenylchlorarsin, 251 Diphenylcyanarsin, 251 Diphenylcyclopropenon, 345 Dipyridinium, 308 Diquat, 308 dirty dozen, 296 Dischwefelchlorid, 349 Dischwefeldichlorid, 31 Disilikate, 438 Distickstoff-Trioxid, 403 Disulfiram, 319 Dithiocarb, 228, 242 Dithiocarbamate, 294, 318 Diurese, forcierte, 442 Diuron, 308, 328 DNA, 373 Alkylierung, 376 Doppelhelix, 373, 374 Fragmentierung, Test auf, 417 Interkalatoren, 379 Polymerase, 375 Reparatur, Test auf, 416 Strangbruch, 193, 255, 377, 417
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DNA-Addukte, 193 DNOC, 307 Dominant-Letal-Test, 419 Dosierungsinterval, 324 Dosis-Wirkungs-Beziehung, 119 Drosophila melanogaster, 418 DTPA, 204, 245 Duftstoffe, 330 D¨ unndarm, 23 -saft, 24 -schleimhaut, 23 E Ecdyson, 293 ED50 , 119 EDTA, 202, 204, 211, 245 Effekte akute, 7 chronische, 7 efficacy, 342 efficiency, 342 Ehrlich, Paul, 104, 249 Eisen, 35, 183, 191, 245, 318 Eisen(III)-hexacyanoferrat(II), 135 Eisentransportprotein, 240 Ektropionieren, 435 Elimination, 324 Eliminationskonstante, 96 Eliminationsphase, 99 ELISA, kompetitiv, 344 Encephalopathia saturnina, 172, 211 Endharn, 88 endocrine disruptors, 332 Endosulfan, 334 Endothel, 39 Endozytose, 56 Enterodiol, 330 Enterolacton, 330 Entsch¨aumer, 437 Entwicklungs-Toxikologie, 332 Enzyme, 105
Index
mikrosomale, 93 Enzyminduktion, 93 Epidermis, 20 Episulfonium, 383 Epithelgewebe, 33 Epoxid, 70, 76, 285, 286, 289, 291, 384, 385, 396 technische, 385 Epoxidierung, 395, 400 Furane, 397 Monoaromate, 398 EPSP-Synthase, 314 Erbrechen, induziertes, 439 Erdgeister, 223 Erethismus mercurialis, 238 Erythrozyt, 43, 47, 218 Chromat, 220 Essentialit¨at, 184 Essigs¨aure aktivierte, 80 Esterase, 79 -neurotoxische, 297 Ethanol, 136, 270, 270, 274, 275, 347 Unvertr¨aglichkeit, 319 Ethen, 395 Ethenoxid, 395 Ethenylbenzol, 291 Ethyl-Dichlorarsin, 251 Ethylen, 30 Ethylenglycol, 136, 272, 273 Ethylenimine, 384, 384 Ethylquecksilber-p-Toluolsulfonanilid, 238 Evasion, 8, 17, 18, 100 EVOH, 236 Exocytose, 195 Expositionsphase, 17, 18 Exsiccose, 255 extrazellul¨arer Raum, 37
Index
F F2-Toxin, 339 Fabaceen, 338 Fallhand, 211 Faxpapier, 336 FCKW, 280, 287 Feersche Erkrankung, 238 Fentin, 318 Ferritin, 183, 191 Ferrochelatase, 210, 210 Ferrochrom, 217 Ferrovanadin, 242 Festplatten, 218 Fettgewebe, 60 Fetth¨artung, 225 Fibrin, 133 -Molek¨ ul, 132 Fick´sches Diffusionsgesetz, 21, 29, 54 Filtration, 52 Filtrationsdruck, 41 Filtrationsrate glomerul¨are, 89 Firemaster, 332 Fish-odor-Syndrom, 74 Fjord-Region, 401 Flavin-abh¨angige Monooxygenasen, 73 Fließgleichgewicht, 95 Flimmerepithel, 27, 31 Fluor, 31, 347 Fluorid, 61 Fluorwasserstoff, 130, 349 Fl¨ ussig-Mosaik-Modell, 44 Forelle, 343 Formaldehyd, 31, 269, 282, 349 Formiat, 273 freie Radikale, 188 Fremdstoffe, 59 Fruchtfliegen, 418 Fungiplex, 319 Fungizide, 231, 294, 316
473
Furane, 397 Furanocumarin, 346 G Galaxolid, 330 Galle, 91 Gallenwege, 87 Galmei, 212 Ganglion, 297 Gasaustausch, 28 Gefahrstoff, 346 Gelzustand, 262 Genistein, 330, 338 Genmutationstests, 412 Genotoxizit¨at, 255 direkte, 379 indirekte, 394 Genotoxizit¨atspr¨ ufung, 407 Gerbung, 219 Gesamtzellzahl, 32 Gesetz von Hagen-Poiseuille, 52 Gewerbetoxikologie, 9 Giftentfernung extrakorporale Methoden, 443 sekund¨are, 442 Giftung, 65, 86 ginger paralysis, 298 Glaubersalz, 439 Globulin, 59 Glomerul¨are-Filtrationsrate, 88 Glomerulum, 233, 310 Glucose, Toleranzfaktor, 219, 221 Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase, 310 Glucurons¨aure, 63, 80, 92 Glucuronyltransferasen, 86 Glufosinat, 314 Glutamin, 82 Glutaminsynthase, 313 Glutathion, 68, 80, 82, 83, 92, 148, 193, 197, 200, 220, 251, 252, 355, 363, 381, 382, 395, 397
474
Glutathion-Peroxidase, 68, 148, 352 Glutathion-Reduktase, 355 Glutathion-S-Transferase, 82, 286, 381 Glycerinaldehyd-3-phosphatDehydrogenase, 144, 192 Glycerintrinitrat, 357 Glycin, 80, 82, 92 Glycol, 272 Glycyrrhetins¨aure, 79 Glyoxylat, 273 Glyoxyls¨aure, 285 Glyphosat, 314 Gosio-Gas (TMA), 252, 253 Grauschimmel, 320 H H2 O2 , 355 H2 S, 363 Halbwertzeit, 324 biologische, 98 Haloalkohole, 380, 380 Haloether, 380, 380 H¨am-Eisen-Verbindungen, 183 H¨am-Synthese, 191, 210 H¨amodialyse, 443 H¨amoglobin, 57, 58, 108, 111, 136, 142, 145, 146, 193, 349, 353, 357 -synthese, 196 H¨amolyse, 136, 138, 254 kolloidosmotische, 138 H¨amoperfusion, 443 Handsp¨ ulmittel, 438 Harnstoffderivate, 294, 308 Harnwege, 87 Haut, 19, 20, 87, 130, 132, 260 Hornschicht, 20, 21, 260, 261 Schutzmantel, 260 Hautflora, 260 HCN, 51, 294
Index
Henderson-Hasselbach´sche Gleichung, 55, 119 Henlesche Schleife, 234 Hephaestin, 189 Heptachlor, 305 Heptan, 347 Herbizide, 248, 294, 306 Herzdruckmassage, 431 Herzglycosid, 94, 140 Hexachlorcyclohexan (HCH), 296 Isomere, 306 Hexachlorophen, 345 Hexamethonium, 158 Hexamethylphosphors¨auretriamid, 347 Hexanol, 77 HFE-Protein, 191 HG-PRT-Test, 413, 414 Hippurs¨aure, 82 Histonprotein, 200 Holzschutz, 218, 316 Hom¨oostase, 183, 191 Humins¨auren, 257 Hustenreflex, 27 Hydrazin, 31 Hydroperoxyd, 282 Hydroxocobalamin, 360, 361 Hydroxyl-Radikal, 356, 389, 393 Hydroxylamin, 355 Hyperkeratose, 255 Hypochlorit, 309, 393 I Imidazole, 294 Immunoglobulinen, 60 in vivo-Test, 418 Indan-1,3-dione, 294, 321 Indolyl-3-essigs¨aure, 310 Induktion, 69 Induktoren, 69 Industriechemikalien, 334 inhalative Noxen, 426
Index
Initiation, 370 Insektenpulver, Dalmatinisches, 300 Insektizide, 294, 295, 379 Interkalatoren, 391 interstitieller Raum, 36 intravasaler Raum, 36 intrazellul¨arer Raum, 36, 37 intrinsische Aktivit¨at, 123, 124 Invasion, 8, 17, 18, 100 Ionen-Kan¨ale, 46, 105 Ionenbindung, 108 Ionenfalle, 56, 94 Ionenradien, 240, 242 ionic mimicry, 187 Isocyanate, 350 isoelektrischer Punkt, 132 Isoflavon, 330, 338 Isothiocyanate, 318 Itai-itai-Krankheit, 216 J Jasmolon, 300 Juvenilhormon, 293 K K+ -Kanal Ca2+ -aktiviert, 195 K-Region, 400 Kakodyloxid, 248, 250 Kakodyls¨aure, 248 Kalium-Eisen(III)-hexacyanoferrat(II), 242 Kalium-Kanalproteine spannungsgesteuerte, 152 Kaliumchromat, 221 Kaliumhexacyanoferrat(III), 355 Kalomel, 231 Kanzerogenese, 86 Kanzerogenit¨at, 264 Kaolin, 309 Kapillare, 39, 41
475
Kapillargift, 255 Karzinogene, 371 karzinogener Faktor, 272 Karzinogenese metallinduzierte, 392 Katalase, 68, 149, 234, 315, 352 Keimbahntest, 418, 418 keratolytischen Wirkung, 22 Kiese-Zyklus, 148, 358 Kinetik Eliminationskinetik, 271 Kinetik erster Ordnung, 95, 98, 100 Kinetik nullter Ordnung, 271 Klastogene, 371 Klinische Toxikologie, 9 knock down, 300 Koagulationsnekrose, 434 Koch, Robert, 249 Kohle, medizinische, 222, 309 Kohlenmonoxid, 10, 29, 31, 53, 57, 70, 146, 353, 354 Vergiftung, 227 Kohlenwasserstoffe aromatische, 75, 288 chlorierte, cyclische, 294, 302 halogenierte, 265 perfluorierte, 345 polyzyklisch, aromatisch, 400 Kolliquationsnekrose, 434 Kolloid, 41 kolloidosmotischer Druck, 41 Kompartiment, 36, 38, 43, 48, 95 Volumen, 96 zentrales, 39, 100 Komplement¨arherbizid, 314 Komposit, 336 Konformations¨anderung, 193 Konjugationsreaktion, 80 Kontaktdermatitis, 222 Kontaktinsektizide, 162 Konzentrations-Wirkungskurve, logarithmisch, 342
476
Kopplungsreaktion, 80 Koproporphyrin III, 210 Koproporphyrinogen III-Decarboxylase, 210 Korium, 20 Kovalente Bindung, 110 Kr¨ampfe, 432 Krebs, 365 -sterblichkeit, 273, 365 -ursachen, 367 Kreislauf enterohepatischer, 80, 92, 194, 242 globaler, 178 kritisches Organ, 34, 182 Kumulation, 31, 58, 62, 324 Kumulationsfaktor, 325 Kumulationsgift, 241 kumulieren, 10 Kupfer, 35, 183, 184, 197, 200–202, 205, 218, 245, 294, 316, 318, 392 -arsenit, 248 -HDO, 316, 316 -kies, 223 Kupfer(II)-Salze, 355 L L-Region, 400 Lachgas, 264 Lactone, 385, 385 lacZ-Gen, 342 Langley, John Newport, 105 Lanthan, 136, 195 Lanthanid, 195 LD50 , 11, 12, 119, 199 LDR, 123 LDR-Kurve, 119, 128 leaving group, 296 Leber, 63, 64, 69, 77, 81, 85 Leberzirrhose, 272 Leder, 219
Index
Lederhaut, 20 Lewis-Basen, 237 Lewis-S¨auren, 230 Lewisit, 203, 251 Lidkrampf, 436 Lignan, 330 Ligninabbau, 312 Lindan, 306 Linuron, 328 Lipid-Doppelschicht, 44, 45 Lipide, 46 Lipidk¨orperchen, 200 Lipidmembran, 43 Lipidperoxidation, 215, 284 Lipovitellin, 344 Lithium, 194 LOEL, 14 London-Dispersionskraft, 110 L¨oslichkeitskoeffizient, 30 L¨osungsmittel, 259 L¨osungsmittelgemische, 267 Luftr¨ohre, 27 Lunge, 19, 87, 94 Lungenbl¨aschen, 27, 29, 30, 32 Lungen¨odem, 29, 215, 227, 309 toxisches, 350 Luzerne, 338, 339 Lysinrest, 279 Lysosom, 48, 200 M Magen, 23 Magen-Darm-Kanal, 27 Magen-Darm-Trakt, 19, 98 Magenentleerung, 437 Magensp¨ ulung, 439 Magnesium, 202, 205 MAK-Wert, 14, 187, 260, 264, 265 Makrophagen, 32 Malaria, 295 Malat, 273 Malondialdehyd, 282, 352
Index
Maneb, 319, 329 Mangan, 183, 185, 202, 257, 318 Marsh, James, 181, 249 Massengill, 275 Massenwirkungsgesetz, 117, 117, 123 Matairesinol, 330 MCF-7, 336, 341 MCPA, 310 Medikamentenvergiftung, 426 Mees-Streifen, 241, 255 Melanozyten, 260 Melarsoprol, 249, 250 Membran, 45, 54, 60 Membranlipide, 43 Membranrezeptoren, 105 Merbaphen, 232, 232 Merbromin, 232 Mercapturs¨aure, 80, 84, 85, 381 Mercapturs¨aureweg, Entgiftung, 381 Mercurochrom, 181, 232, 232 Mercury Orange, 232, 236 Merfen, 232 Merkurialismus, 238 Mersalyl, 232, 232 Metabolismus, 324, 408 Metalle atomophile, 178 karzinogene, 392 lithophile, 178 Metalloporphyrine, 183 Metallothionein (MT), 198, 201, 213, 214, 235 Metasilikat, 437 Meth¨amoglobin, 148, 221, 309, 355– 357, 359 -¨amie, 307 -bildner, 147, 354, 356, 358 Reduktase, 146, 149, 354 Methanol, 77, 268, 347
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Methanthiolatomethyl-Quecksilber, 230, 237 Methionin, 196 Methoxychlor, 63, 333 Methoxyethylquecksilberchlorid, 231, 232 Methyl-n-butylketon, 277, 279 Methylazoxymethanol, 389 Methylcobalamin, 183 Methyldichlorarsin, 251 Methylenblau, 359 Methylformiat, 276 Methylguanin, 375 Methylierung, 258 As, 252, 253, 255 Hg, 229, 230 Methyliodid, 347 Methylisocyanat, 319 Methylisothiocyanat, 294 Methylquecksilber, 180, 197, 230, 258 -chlorid, 231, 236 -Cystein, 196 -halogenid, 235, 237 Methyltransferase, 86, 252 Mg-Monoperoxyphthalat, 347 Micellen, 42 Michaelis-Menten-Gleichung, 118, 128 MIK-Werte, 14 Mikrokerntest, 420 Mikrosome, 65, 81 Mimikry, 141, 144, 192, 194, 196, 197, 209, 219 Minamata-Disease, 180, 238 Mirex, 305 Mithridatium, 5 Mitochondrien, 48 Mobiloferrin, 189 MOCVD-Verfahren, 251 Modell Ein-Kompartiment-, 95, 98
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Multi-Kompartiment-, 101 toxikokinetisches, 94 Zwei-Kompartiment-, 100 Molluskizide, 293, 318 Molybd¨an, 35, 183, 184, 257 Molybdat, 194 Molybdoenzyme, 184 Mond-Verfahren, 223 Monellmetall, 223 Monoaminoxydase, 74 Monokation, 258 Monomethylarsons¨aure, 252 Monooxygenase-System, 66 Monooxygenasen, 66 Mortalit¨atsrate, Tumorerkrankungen, 367 Moschus, 331 -Duftstoffe, 330 -Keton, 330 -Xylol, 330 Mucosablocktheorie, 191 M¨ unzmetall, 224 Muscon, 331 Muskarin, 103, 104, 113, 158 Rezeptor, 129 Vergiftung, 103 Muskelgewebe, 33 Muskelprotein, 58 mutagen, 15 Mutagene, 371 chemische , 372 Mutation, 372 Frameshift, 377 Genom-, 378 Rasterschub, 377, 378 Myelinh¨ ulle, 153 N N-Acetyl-D,L-Penicillamin, 204 N-Acetyl-L-Cystein, 204 n-Acetylcholinrezeptoren, 158 n-Heptan, 279
Index
n-Hexan, 72, 278, 279, 347 N-Lost, 383, 384 Na+ -Ca2+ -Austauscher, 140, 194 Na+ -K+ -ATPase, 139, 240, 245 NADPH, 67, 355 NADPH-Cytochrom P-450Reduktase, 67 Nahrungsmitteltoxikologie, 8 Naphthalin, 399 Naringinin, 79 Narkose, 261, 263 Analgesie, 263 Asphyxie, 263 Exzitationsstadium, 263 Lipoidtheorie, 261 Toleranzstadium, 263 Nasen-Rachen-Raum, 26 Nasse-shift, 143 Natriumkan¨ale spannungsgesteuerte, 152 Natriumnitrit, 360 Natriumsulfat, 439 Natriumthiosulfat, 360, 361 L¨osung, 362 NBP-Test, 408 Nematizide, 293 Neo-Clear, 347 Nephron, 88 Nernst´schen Gleichung, 152 Nernst´sches Diffusionspotential, 152 Nervengewebe, 33 Nervensystem autonomes, 103, 155 vegetatives, 103 Neuron, 33, 154 Neuropathien, 279 Neurotoxizit¨at, 269, 279 verz¨ogerte, 297 Neurotransmitter, 74 Nicht-H¨am-Eisen-Proteine, 183 Nichthistonprotein, 200
Index
Nickel, 30, 31, 188, 223, 246, 392 -basislegierung, 224 -Cadmium-Zelle, 225 Hydrierung, 225 Kontaktekzem, 226 -kr¨atze, 227 -Metallhydrid-Akku, 225 -(mono)sulfid, 227 Pflanzen, hyperakkumulatorische, 225 Phagozytose, 226 -subsulfid, 225, 227 -tetracarbonyl, 227 Nickeloplasmin, 226 Nickeltetracarbonyl, 223 Nicotin, 90, 103, 105, 113 Niere, 87, 88, 91, 95 Nierenrinde, 213, 236 NIH-shift, 399, 399 Nikotinoide, 294 Nitarson, 250, 250 Nitrat, 357, 358 Nitrit, 355, 357 Nitroanilin, 406 Nitrofuran, 397 Derivate, 398 Nitrosamin, 31, 77, 402 Nitrosierung, desalkylierende, 404 Nitroso -Harnstoffe, 387 NitrosoAmide, 387, 387 Carbamins¨aureester, 387, 387 Harnstoffe, 387 Nitrosobenzol, 358 Nitroxylverbindungen, 404 NO, 355, 357 NO2 , 355 NOAEL, 264 NOEL, 14 Nonoxynol-9, 335 Noradrenlin, 74
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Nordwestpassage, 172 Norfoil, 236 Notruf, 429 Notrufnummern, 429 Novasurol, 232, 232 Nukleotid-Kanzerogen-Addukte, 409 O Obidoxim, 297 okul¨are Aufnahme, 426 Olefine, Hydrierung, 225 Onkogene, 369 orale Aufnahme, 426 Orfila, 5 Organophosphate, 111, 162–164, 294, 296 Organosol, 336 Organotropie, 34 Organverteilung, 408 ortho-Phenylphenol, 320, 320 Orthovanadins¨aure, 242, 244 Osmometer, 137 Osmose, 52 Osteomalazie, 216 Osteoporose, 216 ¨ Ostradiol (E2), 341 ¨ Ostrogene Myko-, 332 Phyto-, 332 Xeno-, 333 ¨ Ostrogenrezeptor, 194, 340 human, hER, 342 Ouabain, 140 Oxalat, 136 Oxalatniere, 273 Oxals¨aure, 135, 285 Oxidation gekoppelte, 356 Oxidationsschutzmechanismen, 148 oxidativer Stress, 393 Oxime, 296, 299
480
Oximtherapie, 165 Oxirane, 384 Oxophenarsin, 250 Oxygenase mischfunktionelle, 67 Ozon, 29, 32, 350 P Paracelsus, 5, 140 Paraoxon, 298 Paraquat, 57, 308, 353 Parathion, 72, 165, 298 Parathormon, 216 parenterale Aufnahme, 426 Passivierung, 217 patch-clamp-Methode, 114 PBO, 301 PCB, 333 PCDD, 311, 333 PCDF, 311 PCMB, 232, 236 Perchlorat, 355 Perchlorethylen, 286 Perchlors¨aure, 347 Perfluor dekalin, 345 octan, 345 Periodensystem, 169 Permeabilit¨at, Wasser, 234 Permeabilit¨atskoeffizient, 54 Permethrin, 300, 301 Permethylierung, 258 Peroxid-Radikal, 393 Peroxidase, 75 Pestizid, 293 Phagozyten, 32 Phagozytose, 56 Pharmakologie, 6 Pharmakon, 6 Phase-I-Reaktion, 65, 66, 77, 351 Phase-II-Reaktion, 65, 80, 86, 91, 92, 271, 290
Index
Phenarsonsulfoxylat, 250 Phenole, 22 Phenothrin, 300 Phenoxycarbons¨aure, 294, 310 Phenylarsenoxid, 250 Phenylarsons¨auren, 250 Phenylharnstoffe, 294 Phenylhydroxylamin, 358 Phenylmercapturs¨aure, 290 Phenylquecksilber Acetat, 231, 232 Borat, 232 Phosgen, 29, 32, 282, 283, 347, 350 Phosphat, 192 Phosphinotricin, 314 Phospholipid, 46, 262 Phospholipidmembran, 134 Phosphors¨aureester organische, 161 Phospolipase A2 , 74, 75 Phthals¨aureester, 79 Physisorption, 438 Physostigmin, 160 Phytin, 221 ¨ Phyto-Ostrogene, 338 Phytochelatin, 213 pink disease, 238 Pinozytose, 56 Piperonylbutoxid (PBO), 301 Plasma, 96 Plasmaproteine, 37, 38, 58, 138 Plasmavolumen, 88 Platinkatalysator, 175 Plazenta, 213 Plazentarschranke, 236, 239 Plutonium, 188, 245 Pneumokoniose, 222 Pneumonitis, 222 P¨okeln, 356 Polizeifunktion, 28 Polonium, 188 Polyneuritis, 255
Index
Polyoxyethylenamin, 315 Polysulfide, 294 Polyurie, 232, 237 Poren, 25, 53 Porphobilinogen-Synthase, 210, 210 Postlabeling-Methode, 409 Postreplikations-Reparatur, 375 potency, 342 Potentialdifferenz elektrische, 51 Pralidoxim, 165, 297 Praseodym, 195 Pr¨azipitat, weißes, 231 Prim¨arharn, 88 Prim¨arstruktur, 131 Procain, 154 Proflavin, 391 Progression, 371 Progressionsphase, 371 Promotion, 370 Promotoren, 370, 371 Propoxur, 299 Prostacyclin, 75 Protein, 131 Protein-Lipidfilm-Theorie gemischte, 44 Proteinbindung, 324 Proteinkinase C, 196 Proteinurie, 237 Proto-Onkogen, 369 Protoporphyrin IX, 210 Psellismus mercurialis, 238 pT50 , 12 Punktmutation, 369, 376, 378 Pylorospasmus, 437 Pyrethrin I, 300 Pyrethrine, 299 Pyrethrins¨aure, 300 Pyrethroide, 294, 299 Konfiguration, 301 Pyrethrolon, 300, 301
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Pyrethrosin, 300, 346 Pyrethrum, 294, 300 Q Quart¨arstruktur, 132 Quecksilber, 29, 49, 61, 129, 178, 180, 181, 185, 188, 196, 200, 201, 204, 228, 245, 256 Diuretika, 232 elementares, 234 gasf¨ormiges, 231, 237 Halbwertzeiten biologisch, 235 -Ion, 140 organische Verbindungen, 232, 236, 294, 317 -saum, 238 -schnupfen, 238 Selenid, 235 Quecksilberkeislauf, 179 Querfalten, 23 R Radikalf¨anger, 352 Radium, 188 Raney-Nickel, 225 Reaktionskette, 17 Reduktase, 76, 146 Regel von Pearson, 203 Reparaturmechanismen, 378 Replikation, 374 Repolarisation, 152 Residualmethode, 99 Resistenzkurve osmotische der Erythrozyten, 138 Resorcyls¨aurelacton, RAL, 340 Resorption, 408 Respirationstrakt, 26 mittlerer, 32, 350 oberer, 31, 349 unterer, 350 Restsehsch¨arfe, 436
482
Retikulum endoplasmatisches, 48, 64, 65, 67, 74 glattes endoplasmatisches, 48 Rettungsleitstellen, 429 rezeptive Substanz, 105 Rezeptor, 46, 57, 103, 104, 105, 108, 111 Rezeptor-Charakterisierung indirekte, 111 Rezeptor-Substrat-Wechselwirkung, 110 Rhodanese, 360 Ricin, 346 Risiko, 348 Roborans, 248, 255 Rodentizide, 239, 248, 294, 321 ROS, 392 Roxarsone, 250, 250 Rubidium, 242 R¨ uckdiffusion passive, 90 R¨ uckstand(s), 323 -menge, 325 hormonaktiv, 331 S S-Adenosylmethionin, 80, 252 S-Lost, 383, 383 S9-Mix, 411, 415 Saatbeizung, 229, 231, 238, 317, 320 Saccharomyces cerevisiae, 342 Safroxane, 301 Salvarsan, 181, 249, 250 Salyrgan, 232 Sammelrohr, 233 Sapa, 170 SAR, 158 Sarin, 162, 163 Saturnismus, 208 Sauerstoff, Toxizit¨at, 351
Index
Sauerstoffspezies, reaktive, 255, 389, 392 Saxitoxin, 154 Schleimhaut, 22, 261 Schn¨ uffeln, 211, 277, 279, 357 Schockbehandlung, 432 Schwefel, 294, 316 -dioxid, 29, 350 -Paraffin, 347 -s¨aure, 92 -wasserstoff, 29, 318, 347, 362, 363 Schweinfurter Gr¨ un, 248 Schwermetall-Chelat-Komplex, 202 Schwermetalle, 87, 94, 129, 258 Anionen, 257 Schwester-Chromatid-Austausch, 187 Scillirosid, 294 Secoisolariciresinol, 330 Sekrete, 93 Sekretion tubul¨are, 90 Sekund¨arstruktur, 131 Selen, 30, 257 semipermeabel, 137 Sensibilisierung, 221, 226 Serin, 296 Sesamex, 301 Seveso-Dioxin, 312 Short-Term Test, 15, 407 Silber, 201 Sirup Ipecacuanha, 439 Sojabohne, 338 Sokrates, 4 Solzustand, 262 Somazell-Test, 418, 419 Sorption, 315, 324 Specific-Locus-Test, 419 Spiegelbelag, 230 Spinosyn A/D, 293 Sp¨ ulmaschinenreiniger, 437, 438
Index
Spurenelemente, 35, 184 Spurenmetalle, 197 Stahl, 223, 242 steady state, 95 Steroidhormone, 330 Stickoxid, 29 Stickstoffdioxid, 32, 350 Stickstoffmonoxid, 393 Stickstoffoxid, 31 Stickstofftrifluorid, 355 Stoffaufnahme, 408 Stomatitis mercurialis, 238 Strontium, 36, 195 Struktur-Aktivit¨ats-Wechselwirkung, 111 Styrol, 290, 291 Styrol-7,8-oxid, 291 Sublimat, 231 Succimer, 256 Sulbentin, 319, 320 Sulfat, 80, 192 Sulfid-Oxidase, 363 Sulfit-Oxidase, 363 Sulfonamide, 85 Sulfonylharnstoffe, 294 Sulfotransferasen, 81 Sultone, 386, 386 Superoxid Anion, 67, 143, 309, 351, 352 Dismutasen, 68, 149, 352 Radikal, 393 Synapse, 116, 155, 297 synaptischer Spalt, 154 Synergisten, 302 Syphilis, 231, 249 Systeminsektizide, 162 T T50 , 199 T-Syndrom, 300 Tabak, 78 Tabun, 162, 163
483
TBT, 337 TBTO, 337 TCDD, 311, 345 TD50 , 11, 112, 119 teratogene Wirkungen, 15 tert.-Butylether, 347 Terti¨arstruktur, 131 Tetrabutylammoniumhexafluorphosphat, 347 Tetrabutylammoniumperchlorat, 347 Tetrachlorethen, 85, 280, 283, 286, 286 Tetrachlorkohlenstoff, 61, 71, 280 Tetrachlormethan, 282, 282, 352 Tetraethylblei, 170, 173, 175, 177, 208 Tetraethylzinn, 317 Tetramethrin, 300, 301 Tetramethylarsonium, 253 Tetranitromethan, 355 Tetrodotoxin, 153 Thallium, 30, 185, 194, 199, 239, 294, 321 Thalliumsulfat, 135 Thiabendazol, 320, 329 Thiadiazine, 294, 319 Thiocarbamate, 294 Thiocyanat, 360 Thioester, 245 Thioharnstoffe, 294 Thioketene, 285 Thiolgruppen, 251 Thiomersal DAC, 232, 232 Thionin, 359 Thiram, 319 Thiurame, 318 Thiyl-Radikal, 393 Thomasschlacke, 242, 243 Thrombin, 132, 134 Thymusatrophie, 317 Titan, 188
484
Todesursachen, 423 Toluidinblau, 359 Toluol, 288, 290, 347 Tonalid, 330 Totraum, 27, 29 Toxaphen, 333 Toxikodynamik, 103 toxikodynamische Phase, 17 toxikokinetische Phase, 17 Toxikologie, 5, 6 Toxikologie der Biozide, 9 Toxikon, 3 Toxizit¨at akute, 10 chronische, 10 potentielle, 12, 199 subakute, 10 Toxizit¨ats¨aquivalent, 313 Transferrin, 57, 60, 183, 189 Transferrinrezeptor, 189–191 Transformation, maligne, 370 Transkription, 373 Translation, 373 Translokation, 369 Transport Aminos¨auren-, 140 atmosph¨arischer, 177 carriervermittelter, 48 Eisen, 56, 188 Glucose-, 140, 197 Sauerstoff-, 43, 136 vesikul¨arer, 48 Transporter, 105 elektrogener, 139 Transportform, 222, 234 Tremor mercurialis, 238 Triazine, 294, 315 Tributylzinn (TBT), 337 Tributylzinnoxid (TBTO), 318 Trichloressigs¨aure, 285–287, 294, 313 Trichlorethan, 290, 382
Index
Trichlorethanol, 285 Trichlorethen, 85, 280, 283–285 Trichlormethan, 282, 283 Triethanolamin, 405 Triethylentetramin (TETA), 228 Trifluormethansulfons¨aure, 347 Trikresylphosphat, 298 Trimethylarsin, 252 Trinitrotoluol, 359 Triphenylzinn, 318 Triphosgen, 347 TRK-Werte, 15 Trypaflavin, 391 Tubulus, proximaler, distaler, 233 Tumor-Suppressorgen, 369 Tumorpromotoren, 370 U UDP-Glucuronyltransferasen, 81 Umgiftung, 235 Umwelttoxikologie, 7 Unithiol, 256 Uran, 188, 257 Uranyl-Ion, 197 Uranyl-Komplex, 197 V V2A, 224 Van-der-Waals-Kraft, 110, 113 Van´t-Hoffsche Gleichung, 137 Vanadat, 150, 182, 192, 244 Anion, 143 Ion, 70, 141 Vanadium, 30, 185, 186, 242, 257, 392 Vanadiumpentoxid, 242 Vanadyl, 70, 244, 244 Vaporthrin, 302 Vehikelfunktion, 59 Ver¨atzungen Laugen-, 434 S¨aure-, 434
Index
485
Verbrennung, 311, 433 Verdauungstrakt, 23 Verdoglobin, 356 Vergiftung akute, 423 am Arbeitsplatz, 427 Aufnahmewege, 426 Informationszentren, 444 Prognose, 423 Schweregrad, 425 Sterblichkeit, 423 Substanzgruppen, 427 Verteilung(s), 324 -koeffizient, 53, 261, 270, 330 -r¨aume, 35 -volumen, relatives, 330 -volumen, scheinbares, 101 Vesikel, 65 Vesikelbildung, 43 Vinylchlorid, 31, 70, 288, 396, 396 Viologen, 308 Vitamin K, 133, 321 -2,3-Epoxid, 322 Antagonisten, 321 Hydrochinon, 322 Menachinon, 322 Menadion, 322 Phyllochinon, 322 Vitamin D3 , 216 Vitellogenin, 343 Test, 344 Vulkane, 229 Vulkanisation, 319 W Wachstumshormone, 294 Warfarin, 321, 322 Wasserkanal, 49 Wasserstoffbr¨ uckenbindung, 108, 109, 113, 131 Wasserstoffperoxid, 148, 393 Wehrtoxikologie, 9
Weichmacher, 337 Widmarksche Formel, 270 Widy-Ph¨anomen, 240 Wiederbelebung, 432 Wirksamkeit, 342 Wirkstoff-Rezeptor-Interaktion, 105 Wirkstoffe, 6 Wirkung alkylierende, 280 halbmaximale, 119 muskarinische, 297 nakotische, 261 nikotinische, 297 ¨ostrogene, 304 Wirkungs -charakteristika, 6 -gr¨oße, 7 -qualit¨at, 7, 342 -schwellen, 14 -st¨arke, 7, 342 -st¨arke, maximale, 119 -zeit, 7 X XenoAndrogene, 337 ¨ Ostrogene, 333, 334 Thyroxine, 337 Xenobiotikum, 6 Xenonfluorid, 347 Xyligen, 316 Xylole, 288, 290, 291, 347 Y Yeast Estrogen Assay, 342
108,
Z Zahnheilkunde, 229 ZDEC, 319 Zearalenon, 339 Zelio, 239 Zellmembran, 41
486
Zelltransformation, Test auf, 417 Zellzyklus, 368, 369 Zement, 218, 240 Zigarettenrauchen, 31, 78 Zineb, 319 Zink, 31, 35, 77, 183, 184, 196, 197, 201, 202, 205, 245, 318 Zinkchromat, 188 Zinn, 210, 258 organische Verbindungen, 294,
Index
317 Ziram, 319 Zitteraal, 114 Zitterschrift, 238 ZNS, 152 Zotten, 23 Zottenepithel, 23 Zytogenetische Effekte, Test auf, 413