Gertraud Schubert
Trag den blauen Stein Erzählung
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Gertraud Schubert
Trag den blauen Stein Erzählung
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© Gertraud Schubert 998/2005 © eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe
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littera scripta manet
Auf dem Heimweg von der Schule habe ich einen Umweg gemacht, um mir wieder das Haus anzuschauen. Ich blieb ziemlich lange auf der gegenüberliegenden Seite und beobachtete die Fenster. Aber ich konnte keine Bewegung hinter den Gardinen erkennen. Bestimmt ist das Haus unbewohnt! Oder sind die Bewohner nur sehr lange verreist? Dieses Haus würde mir gefallen! Es ist aus rotem Backstein gebaut, hat eine breite Treppe zu dem wuchtigen Eingangsportal hinauf und schmale hohe Fenster. Links und rechts schließt sich eine hohe Backsteinmauer an, die einen Garten umgrenzt. Die Äste von großen Bäumen überragen sogar die Mauer. Oben auf der Mauerkrone sind Glasscherben einbetoniert und Stacheldraht gespannt, damit niemand drüberklettern kann. Sonst wäre ich bestimmt schon hineingestiegen. Ich möchte nur zu gerne wissen, wie es in dem Garten und in dem Haus ausschaut. Meine Mutter sagt immer, ich solle nicht so neugierig sein. Warum eigentlich?
Schließlich begann es zu regnen und so ging ich heim, heim in unsere zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im vierten Stock. Mein Zimmer ist das halbe Zimmer. Es ist winzig klein: Bett, Tisch und Regal haben gerade Platz. Hosen und Pullis sind in einer Kiste, auf der man auch sitzen kann. Wenn ich aus dem Fenster schaue, fällt mein Blick auf die gegenüberliegenden Fenster. Tief unter mir liegt der Garagenhof mit den Müllcontainern und der Ölpumpe, wo die Hausmeisterin am Abend Heizöl verkauft. Die Hausmeisterin kann ich nicht ausstehen, und sie mich auch nicht. Seit wir hier wohnen, meckert sie jedes Mal, wenn sie mich sieht. Aber meine Eltern sind froh über die billige Wohnung. Dieter, mein Vater, ist arbeitslos. Eigentlich ist er Lehrer für Deutsch und Sozialkunde. Er kann bloß froh sein, dass er nicht in die Schule muss: Die Schüler würden ihn ununterbrochen ärgern. Er ist so ein Typ, den man gerne ärgert. Elke, meine Mutter, ist Kindergärtnerin. Das sagt alles. Sie hat immer noch nicht bemerkt, dass ich nicht mehr fünf sondern fünfzehn bin. Wenn ich groß bin, werde ich Ingenieurin. Da verdiene ich genug, um mir ein Haus mit Garten vor der Stadt zu kaufen.
Manchmal stelle ich mir vor, die ganzen Häuser ringsum wären die Gemäuer einer großen Burg. Die Dächer sind Wehrgänge, auf denen Wachen ihre Runden drehen. Und ich, ich bin eine Prinzessin und hier oben im Turm eingesperrt. Manchmal glaube ich richtig, das Wiehern und Stampfen der Pferde und das Klirren der Waffen zu hören, wenn wieder ein Spähtrupp aufbricht. Die Zugbrücke rasselt herunter. Die Hufe klacken auf den Steinen. Die Tore schlagen dumpf hinter ihnen zu. Die Winde, mit der die Zugbrücke hochgezogen wird, ächzt. Die Torwache stößt noch einen Fluch aus, dann schlurft sie in die Wachstube. Ich liebe diesen Traum. Das Haus hat so viele Geräusche – Wasserspülung, Stühlerücken, Fußballplatzgegröhle aus dem Fernseher, Flötenübungen, Staubsauger, Schlagbohrer –, die mich abends nicht einschlafen lassen. Dann webe ich diese Geräusche zu einem Traum zusammen.
Mitten in der Nacht werde ich von einem Hornsignal geweckt. Der Hof ist von Fackelschein erhellt. Die Stallburschen kommen schlaftrunken mit Pferdedecken angewankt. Die Söldner führen ihre müden Pferde am Zügel. Ihr rauhes Geschrei klingt triumphierend. Die langarmigen Scheusale rutschen von ihren Reittieren, zerren an ihren Leinen und humpeln kreischend in ihre Ställe. Sicher haben sie wieder Gefangene mitgebracht.
Bald darauf höre ich die Treppe unter schweren Schritten knarzen. Eine Tür quietscht in den Angeln, krachend fällt sie zu, wird verriegelt. Der Gefangene ist zu mir in den Turm heraufgebracht worden! Die schweren Stiefel poltern die Treppe hinunter. Alles ist still. Ich stehe auf und hole mir ein Glas Wasser aus der Küche. Im Wohnzimmer brennt noch Licht. Ich höre das Summen von Dieters Schreibmaschine. Wie oft habe ich ihm schon gesagt, er solle doch mal etwas Fantastisches, etwas Märchenhaftes schreiben. Nein, Problemgeschichten schreibt er, von Kindern, die im Supermarkt klauen, von Jugendlichen, die sich einrauchen oder Banden bilden und Passanten überfallen. Aber die kauft natürlich kein Verlag. Von meinen Freunden mag das auch niemand lesen. Wir lesen nur Fantasy- und Horrorgeschichten, wo es einen so richtig gruselt.
Wenn es schön ist, treffen wir uns abends um sieben am Kinderspielplatz. Selbst um diese Zeit sitzt manchmal noch ein Baby im Sand und schaufelt emsig seinen Eimer voll. Der Vater sitzt daneben und qualmt. Die Kippen steckt er einfach in den Sand. Aber uns will er schimpfen, dass wir die Sandkiste verunreinigen! Manchmal kommt auch ein dicker Alter vorbei, der schon von weitem nach Bier stinkt. Auch er stänkert uns an, wir hätten am Kinderspielplatz nichts zu suchen. Dann versteckt er sich im Gebüsch und beobachtet uns. Wir hocken auf der Bank und quatschen über die Schule und die Eltern. Sabine darf nicht mehr kommen, seit jemand (der Dicke vielleicht gar?) ihrem Vater erzählt hat, dass auch eine Türke in der Clique ist. Das muss ich Dieter erzählen. Da kann er dann wieder die Nacht durch schreiben. Dann spielen wir unser Spiel: Monster-Alphabet. Einer sagt in Gedanken das ABC auf, bis er gestoppt wird. Zu
diesem Buchstaben muss man dann Ungeheuer finden oder erfinden. Diesmal war ›g‹ dran. Arno kannte ›Greif‹, Harun ›Ghul‹. Den kannten wir anderen zwar nicht. Aber er versicherte: »Kommt in arabischen Märchen vor. Wohnt am Friedhof und frisst Leichen.« Mir fiel nichts ein, drum erfand ich schnell etwas: Greufer. »Was ist das?« »Ein langarmiges Monster. Die Finger sind so lange wie die Arme und ringeln sich wie Schlangen. Schwingt sich von Ast zu Ast, lässt sich auf seine Opfer fallen und umschlingt sie so fest, dass es sich nicht mehr bewegen kann.« »Noch nie gehört«, sagte Harun. »Mandy, du nervst. Das hast du schon wieder erfunden.« Arno hat den vollen Durchblick. »Doch, doch, das gibt es schon. Zumindest habe ich heute Nacht von so einem geträumt. Kann auch sein, dass es Greufler heißt oder Gnaufler, ein altes Wort für Grabscher.« »Du täuscht dich. Es heißt Gräußler, weil es so gräußlich ist.« »Das ist ein ganz gefährliches Ungeheuer«, unterstützte mich jetzt Harun, »der wickelt dir seine Finger um den Leib und quetscht dich zusammen, bis der Brei herausläuft.« »Sag bloß, du hast auch schon davon geträumt.«
»Und Saugnäpfe hat er an den Fingern, damit kann er sogar glatte Wände empor kriechen, wenn er ein Opfer wittert. Und seine Nase nimmt auch den kleinsten Geruch war.« »Ja, er hat ganz viele Haare auf der Nase, Riechborsten. Und Teleborsten auf der Stirn zur Gedankenübertragung. Wenn wir mal in Fahrt sind, erfinden wir die tollsten Monster. »Und wenn er Beute gewittert hat, lässt er nicht mehr von ihr ab, bis er sie mit seinen langen Fingern umwickelt hat.« »Manche Herrscher halten sie statt Jagdhunden, um damit ihre Feinde zu fangen.« »Wieso stürzt sich so ein Gneufler eigentlich auf Tiere und Menschen und erwürgt sie? Er frisst doch hauptsächlich Früchte und Nüsse.« »Das ist der pure Hass auf die Menschen. Warum, das weiß niemand. Aber es gibt genügend böse Kreaturen, die diesen Hass für ihre Zwecke ausnützen. Dadurch wird der Hass in den Gneuflern nur noch stärker.« »Komische Viecher!« Dann mussten wir lachen.
Als ich heimkam, lauerte mir die Haushexe auf. In blauer Kittelschürze mit rosa Blümchenmuster. »Du sollst nicht immer mit dem Fahrrad hier rein fahren.« »Warum denn? Die Autos fahren doch auch rein.« »Du kannst dein Fahrrad ruhig schieben!« »Die schieben ihr Auto ja auch nicht.« »Sei nicht so frech! Aber hier unten laufen manchmal kleine Kinder herum. Was ist, wenn du eins überfährst?« Die Ringellöckchen ihrer Frisur hüpften auf und ab wie kleine Drahtfedern. »Um die Zeit schlafen die schon alle.« »Aber heute Mittag bist du auch hier um die Ecke gebraust.« »In diesem scheußlichen Hof spielt doch kein Kind.« »Aber natürlich spielt hier ein Kind!« Da fiel mir ein, dass ja das Kind ihrer Tochter (Wahnsinn! Nur ein Jahr älter als ich war sie, als sie schon ein Kind
bekam!) im Hof Dreirad fährt. Das musste ich ihr doch noch hinreiben: »Ich hab hier nie Dreirad fahren dürfen, wie ich klein war.« »Du frecher ungezogener Fratz! Wirst du wohl dein unverschämtes Mundwerk halten.« »Sagen Sie’s doch ihren Eltern. Soll’n die doch ihrem Töchterl Manieren beibringen. Aber wahrscheinlich werden sie mit ihr nicht mehr fertig«, erhielt sie Unterstützung aus dem Schatten hinter der Kellertür. »Ohmei, die Eltern, die Eltern! Der Vater! Kein Wunder, dass das Kind meint, es kann sich alles erlauben. Von dem Vater hab ich Ihnen doch schon erzählt, gell?« »Und um 9 erst heimkommen! In diesem Alter! Das hätt es zu meiner Zeit nicht gegeben! Die Jugend von heute! Was die sich alles herausnimmt! Wo soll das noch hinführen, Frau Großbichler?« Da war irgend eine Neue eingezogen, und nun fielen sie zu zweit über mich her! Und auch noch meinen Vater herabsetzen – das konnten sie. Der Mann von der Hausmeisterin kommt mindestens einmal pro Woche betrunken heim. Im zweiten Stock wohnt einer, der prügelt im Suff die Frau und die Tochter. Das sind in ihren Augen die ›richtigen‹ Männer. Und auf meinem gutmütigen Vater hacken sie herum. In mir kochte es ganz schön. Ich stürmte die Wohnung, um ihnen alles zu erzählen – aber Dieter und Elke waren nicht da. Ach ja, heute waren sie ja in ihrer Selbsterfahrungsgruppe. Nie sind sie da, wenn ich sie brauche.
Ich wollte ihnen auch von dem Haus erzählen und dass wir versuchen sollten, den Besitzer zu finden, um es zu mieten. Bestimmt ist die Miete nicht so hoch, wenn ich verspreche, den Rasen zu mähen und den Gehweg jede Woche zu kehren. Unsere Haushexe wird ja auch dafür bezahlt. Jedenfalls, hier möchte ich keine Woche länger als nötig wohnen. Aber ich weiß schon, was Dieter mir antworten würde, wenn er da wäre: »Wenn ich erst einmal der erfolgreiche Autor bin, und die Millionen nur so purzeln, dann kaufen wir uns gleich eine Villa an der Cote d’Azur. Es lohnt sich gar nicht, vorher nochmal umzuziehen.« Und Elke würde mir zureden, dass ich Dieter in Ruhe lassen soll damit, sonst kriegt er wieder Depressionen, weil er mit seiner Schreiberei kein Geld verdient. Wenn Dieter nur einsehen würde, dass Problemjugendliche keine Bücher über ihre Probleme lesen, und normale Jugendliche sich auch für diese Probleme nicht interessieren. Nur Lehrer lesen diesen Quatsch als Lektüre mit ihren Klassen. Aber was anderes kann Dieter ja nicht schreiben. Ich öffnete leise das Fenster, um zu horchen, was die beiden Giftnudeln noch alles losließen. Aber der Hof lag still und verlassen tief unter mir. Ein paar dunkle Gestalten hasteten an der Einfahrt vorbei. Eine Fackel qualmte am Durchgang. Eine Fledermaus zog ihre Schleifen. Mich fröstelte, und ich zog den Umhang fester um mich. Hatte ich nicht eben ein Schnaufen und Rotzen gehört? Ich
beugte mich weiter hinaus. Ein dunkler Schatten bewegte sich ein Stück unter mir an der Wand. Ein Greufler? War eines dieser haarigen Scheusale entkommen und jetzt auf dem Weg herauf zu mir? Schnell schlug ich den hölzernen Fensterladen zu. Wo war nur das Klötzchen, um den Riegel festzustecken? Ich tastete verzweifelt herum. Nun hörte ich das Ungeheuer schon gegen den Fensterladen tappen. Ich lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen. Diese scheußlichen Greufler mit ihren borstigen Haaren und langen Armen, mit ihren Fingern, die so lang waren wie der ganze Arm, und die sich wie Schlangen um mich wickelten und mich fesselten – damals, als sie mich durch den Wald gejagt hatten, mein Pferd vor Erschöpfung nur noch stolperte, da hatte sich so ein Greufler aus einem Baum hinter mich auf die Kuppe fallen lassen und mich umschlungen, bis die Söldner da waren. Nur widerstrebend, erst als sie ihm mit einer Peitsche drohten, einer Peitsche aus messerscharfen Stahlbändern, hatte er von mir abgelassen. Ich schauderte bei der Erinnerung daran. Und nun hockte so ein Greufler vor meinem Fenster, bereit mich zu erwürgen. Ich hörte sein Fiepen. Es klang wie von einem jungen Hund. Irgendwie machte sich ein Gefühl von Kälte und Angst in mir breit, ein Gefühl, das ich zwar spürte, das aber doch nicht zu mir zu gehören schien. Es war irritierend. Eigentlich hätte ich hasserfülltes Knurren statt diesem fast verzweifeltem Fiepen erwar-
tet, Zähnefletschen, Blutgier. Aber nein, von dem Greufler schien eine Wolke voller Angst auszugehen. Oder war das nur meine eigene Angst? Und die Pein der nächtlichen Kälte? Woher kam sie? Ich hatte einen warmen Umhang mit Wieselfellen und war darunter schweißgebadet. Es war tatsächlich die Angst des Greuflers, der draußen vor dem Fensterloch hockte, die ich spürte. War er ausgerissen und suchte Zuflucht? Lass mich ein, lieb, warm, still, Höhle – zuckte es durch mein Gehirn. Der Greufler hatte telepathisch Zugang zu mir gefunden. Aber immer noch war ich misstrauisch. War es nur Täuschung, um hereinzugelangen und dann über mich herzufallen? Und wenn schon! Sollte er mich doch erwürgen! Dann war alles vorbei! Ich öffnete den Laden. Der Greufler schwang sich herein und krümmte sich vor meinen Füßen zu einer Kugel zusammen. Sein kleiner Körper bebte und zitterte. Die Arme und Finger, diese ekligen Gliederfinger, schienen ganz starr zu sein. Ich deutete zu meinem Bett hinüber. Er kroch langsam hin und wühlte sich ins Stroh. Ich legte zum Schluss noch eine Decke darüber. Zudecken konnte ich mich ja auch mit meinem Umhang.
Als ich erwachte, schien die Sonne durchs Fenster. Unten im Hof surrte der Mann der Haushexe auf seiner Kehrmaschine auf und ab. Es war Samstag. Dieter und Elke lagen noch im Bett. Ich ging ins Wohnzimmer. Stapel von Papier lagen auf Tisch und Stühlen. Zeitungsausschnitte segelten durch die Luft, als ich alles zusammenschob. ›S - Bahn-Surfer gerät an Oberleitung‹ las ich als Überschrift. Aha, da hatte Dieter wieder ein neues Thema! Ich nahm ein paar leere Zettel und faltete Papierflieger. Zu allem Überfluss schrieb ich noch »Wer das liest, ist ein Hosenkacker« drauf. Dann ließ ich sie vom Balkon segeln. Es war windstill, sie waren nicht besonders gut gefaltet, eher so wie von einem kleinen Kind, und sie landeten im Nu im Hof. Der Alte machte sofort mit seiner Kehrmaschine Jagd auf das Papier. Aber durch den Luftzug seiner Maschine flatterten sie ihm immer davon, wenn er meinte, jetzt hät-
te er sie. Schließlich blieb er stehen, wälzte sich ächzend vom Sitz und begann die Flieger einzusammeln, für einen Mann mit einem Trommelbauch gar nicht so einfach. Zwischendurch schielte er immer wieder zu den Balkons hinauf, um den Missetäter zu ertappen, hauptsächlich zu unserem, denn einmal hatte er mich schon ertappt. Das Spiel treibe ich ja schon länger. Aber mittlerweile bin ich so schlau und werfe alle Flieger kurz hintereinander. Wenn er sich erst mal umschaut, darf man nichts mehr werfen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Kehrmaschine. Ich versuchte, mittels Telekinese den Gashebel zu betätigen, um die Maschine losfahren zu lassen. Aber ich schaffte es wieder nicht. Meine telekinetischen Fähigkeiten sind sehr schwach – leider! Oder ich kann sie nur noch nicht richtig einsetzen. Aber ich hatte unheimlich Lust, den Hausmeister zu ärgern. Nur fiel mir nichts Besseres ein.
Der Greufler hatte den Rücken voller blutiger und eiternder Schnitte von der Stahlpeitsche. Ich wusch ihm die Wunden mit warmem Wasser und Wein. Der Wache befahl ich, mir Früchte und Nüsse und Milch zu bringen. Ich tunkte Brot in die Milch und fütterte ihn damit. Er bedankte sich mit einem Grunzen. Ich hatte keine Angst mehr vor ihm, und er nicht vor mir. Irgendwie war ich sogar froh, ihn bei mir zu haben. Bei Gefahr würde er mir beistehen. Dann kleidete ich mich an und schmückte mich für das Abendessen in der großen Halle. Die zwölf Prinzessinnen speisen oben auf der Balustrade, bestaunt und vergöttert von den Dienstmannen und Söldnern ob ihrer Schönheit und ihrer Pracht. Und der Burggraf lässt sich von uns bedienen und verwöhnen, sonnt sich in dem Glanz, den wir seiner Halle verleihen. Nach dem Mahl sang eines der Mädchen zur Harfe wehmütige Lieder in einer fremden Sprache. Ihr Gesicht ist
mir noch nie aufgefallen. Ist sie die neue Gefangene, die vor ein paar Tagen gebracht worden ist? Ich schaue mich um: nach wie vor sind wir zwölf. Aber das Mädchen mit den schwarzen Locken und den großen Augen, die Orientalin, die ab und zu getanzt hat, fehlt. Der Burggraf ist bester Laune. Sein sonst so aschfahles Gesicht ist rosig, er lacht dröhnend und lässt großzügiger als sonst Wein ausschenken. »Er hat seine Medizin bekommen«, flüstert mir ein Mädchen zu, als ich ihr die Schale mit den Früchten reiche. »Hast du gemerkt, dass eine fehlt?«, fragt Maja. »Aber wir sind schon wieder zwölf. Drum ist er so guter Laune.« »Was ist mit ihr – passiert?« Das Sprechen fällt mir schwer. Ich ahne das fruchtbare Geheimnis.
Alles Scheiße! Man soll sich keine Geschichten überlegen. Die Geschichten bekommen Gewalt über dich, sie führen ein eigenes Leben. Du kannst sie nicht mehr abstellen, auch wenn du möchtest. Ich setzte mich vor den Fernseher und suchte mir einen blöden Comic-Film. Nachdem ich fast alle Sender durchhatte, stieß ich endlich auf die Schlümpfe. Das war gerade das Richtige, um diesen unheimlichen Schlossherrn zu vertreiben, der sein
Leiden mit dem Blut junger Mädchen – also, woher hatte ich nur solche Einfälle? Ich konzentrierte mich auf die Schlümpfe. Da tauchte Elke auf: »Also, Mandy! So etwas schaust du dir an? Ist dir das nicht zu blöd? Über das Alter bist du doch schon raus!« Sollte ich ihr etwa von der Geschichte erzählen, die ich mir ausgedacht hatte, und die mir dann selber unheimlich wurde? Was hätte sie wohl dazu gesagt? Dafür bist du noch zu jung, vermutlich.
Am Nachmittag gingen wir in den Biergarten. Elke und Dieter waren mit Leuten aus ihrer Gruppe verabredet. Ich war heilfroh, aus dem Haus zu kommen. Die Geschichte lauerte in meinem Zimmer auf mich. Wenn ich zu Hause geblieben wäre, hätte ich sie bestimmt weiter gesponnen und wer weiß, wie! Von meinen Freunden müssen am Wochenende alle wegfahren, zum Surfen, zum Reiten, zum Golfen oder zu sonst was. Da muss ich mit der Gesellschaft meiner Eltern und ihrer paar Bekannten vorlieb nehmen. Das heißt, einer von meinen Freunden fährt am Wochenende auch nicht weg, nämlich Harun. Seine Familie geht auch nicht in den Biergarten, sondern macht ein Picknick auf der Liegewiese mit Brüdern, Schwestern, Tanten und Onkeln. Da hatte Harun dabeizusitzen. Einmal hatten sie mich auch eingeladen. Sie waren auch sehr nett zu mir. Aber der Harun in seiner Familie ist ein ganz anderer Harun als der in der Schule.
An sich ist Biergarten recht langweilig. Der schöne Alexander war mit seiner Mami mitgekommen. Er mampfte brav seinen Bio-Kartoffel-Salat mit Tofuwürstchen und die Vollkorn-Brezn, während er neidisch auf meine Pommes mit Ketchup schielte. Seine Mutter hat einen Bio-Tick. Jeden Samstag früh fährt sie – mit dem Auto natürlich – zu einem Dorf hinaus und kauft dort Bio-Gemüse. Vielleicht wäre ich auch so schön wie Alexander, wenn sich meine Eltern die teure Bio-Kost leisten könnten. »Von Pommes und Ketchup kriegt man Pickel«, erklärte mir die Biomutter. Damit traf sie einen wunden Punkt. Verdammt, so gerne esse ich das Matschzeug auch nicht. Aber was soll ich denn sonst essen? Schweinsbratwürstl mit Kraut wie Dieter? Igitttigitt! Die sehen ja schon so eklig aus. Und Kornspitz mit Käse wie Elke, ist mir zu trocken. Denn Cola soll man ja auch nicht trinken, höchstens Bio-Apfelsaft. Daran, mir eine ihrer kostbaren Bio-Tomaten zu schenken, dachten weder Alexander noch seine Mutter. Der schöne Alexander ist in mich verliebt – haben mir meine Eltern erzählt. Und nachdem er so schön ist, müsste es doch ein leichtes sein, mich meinerseits wiederum in ihn zu verlieben, meinen sie. Aber bei aller Schönheit, es gelingt mir einfach nicht, denn der schöne Alexander ist furchtbar langweilig. Trotzdem ging ich wieder mit ihm an den Teich zum Entenfüttern. Mit wem hätte ich auch sonst gehen sollen? Alexander legte, kaum dass wir dem
Tisch den Rücken gekehrt hatten, mir den Arm um die Schultern. »Lass das«, zischte ich ihn an, »wir sind doch kein Pärchen!« »Gleich«, flüsterte er mir ins Ohr, »wenn wir außer Sichtweite sind.« »Sofort!« Dabei schaute ich ihn so wild an wie ich nur konnte. »Und ein Pärchen werden wir auch nie, dass du’s weißt!« Alexander nahm den Arm von meiner Schulter. »Das ist auch gar nicht meine Absicht, werte Dame. Es ist nur wegen meiner Mutter. Sie meint, du bist verliebt in mich, und ich sollte etwas netter zu dir sein. Na, den guten Willen hat sie ja gesehen.« »Was? Ich verliebt ihn dich? Das brauchst du dir nicht einzubilden.« »Meine Mutter erzählt mir das schon seit der ersten Klasse.« So höhnisch wie irgend möglich sagte ich: »Übrigens, wenn es dich interessiert, mir erzählen sie, dass du in mich verliebt bist, seit du mich das erste Mal im Kinderwagen gesehen hast.« Alexander schnalzte mit der Zunge. »Schau die Alten an! Versuchen sich als Heiratsvermittler! Du musst dich um die Almandine kümmern. Die ist immer so allein. Kein Junge schaut sie an.« »Stimmt überhaupt nicht!«, unterbrach ich ihn. Doch, er fuhr unbeirrt fort: »Das ganze Wochenende hängt sie
allein bei ihren Eltern rum und wartet darauf, dass die Britta mit ihrem Sohn erscheint.« »Stimmt doch überhaupt nicht!«, schrie ich ihn an. »Das brauchst du dir nicht einbilden. Natürlich langweile ich mich am Wochenende, aber weil meine ganzen Freunde wegfahren. Und wir, wir fahren ja nie weg, weil wir auf Britta warten müssen, deren Sohn sich vor Sehnsucht nach mir verzehrt.« Na, hatte ich es dem schönen Alexander aber gegeben. Er schaute mich ganz verdutzt an. Dann platzten wir beide los und lachten. Mir kamen fast die Tränen davon. Als wir uns einigermaßen beruhigt hatten, versicherten wir uns gegenseitig, dass wir uns nicht liebten. »Bin ich aber froh«, meinte er, »so kann ich wenigstens normal mit dir reden.« Auch mir war er nun geradezu sympathisch. Wir gingen zum Spielplatz. Nur ein paar schwarzlockige Kinder mit großen dunklen Augen, in rosa Spitzenkleidchen die Mädchen und im schwarzen Anzug die Buben, rannten herum. Wir klettern auf den Turm aus Stahlrohr, ganz hoch hinauf kletterten wir. Dort setzten wir uns auf zwei Stangen gegenüber und unterhielten uns, über Schule, unsere Freunde und so.
Am Abend war ich wieder am Träumen, von den Festmählern auf Burg Dunkelstein, wie ich sie genannt hatte. Eine Gruppe von Musikern ist eingetroffen: ein großer kahlköpfiger Trommler und ein kleiner Flötenspieler, der aussieht wie der schöne Alexander. Ich führe zu ihren Klängen einen Schleiertanz vor. Der Rhythmus der Trommel packt mich, ich tanze wie eine Rasende, bis ich vor Erschöpfung zusammenbreche. Den aufbrandenden Beifall nehme ich kaum mehr war. Der Burgherr bietet mir den Platz an seiner Seite an und reicht mir seinen Weinbecher. Vielleicht werde ich von dem Schicksal, das uns droht, verschont? Meine Hoffnung ist, dass sie auf meinen Tanz nie mehr verzichten wollen. Aber als ich die Augen des Burgherrn auf mir ruhen fühle und aufschaue, blicke ich in einen unergründlichen Abgrund. Dieser Mann hat ein entsetzliches Geheimnis. Erschaudernd wende ich mich ab. Da lacht er höhnisch, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken fließt.
Nein, es gibt keine Rettung. Das nächste Opfer bin ich! Die Männer unter der Balustrade sinken müde auf ihren Bänken zusammen oder rollen sich in eine Ecke. Einer schnarcht, ein anderer hustet und spuckt den Auswurf auf den Boden. Ich sitze immer noch neben dem Burgherrn, der in seinen Weinbecher stiert. Schon wollte ich mich still davonschleichen, da packt er mich am Arm: »Du bleibst hier!« Angstvoll blicke ich in die Runde. Die anderen Mädchen starren mich mit schreckensbleichen Gesichtern an. Dann drängen sie sich so schnell wie möglich durch die kleine Tür zu ihren Gemächern. Ihr Feiglinge, hätte ich ihnen am liebsten nachgerufen, aber ich wage es nicht. »Tanze!«, befiehlt der Burgherr. »Die Musikanten sind schon gegangen«, wende ich zögerlich ein. Er rüttelt den schlafenden Pagen an seiner Seite: »Hol die Musiker!« Schnell sind sie wieder da. Und dann tanze ich, tanze, wie ich noch nie getanzt habe, tanze um mein Leben. Und die Musikanten, die vor Erschöpfung fast umfallen, spielen weiter, getrieben von meinem Willen. Die ganze Zeit lässt der Burgherr nicht die Augen von mir, selbst wenn er den Weinbecher zum Munde führt.
Am Morgen hatte ich einen Kater: Ich war sauer, dass ich mir wieder einen Traum ausgedacht hatte. Ich war sauer auf mein langweiliges Leben, dass mir nur im Traum Farbe und Abwechslung bot. Ich war sauer auf meine Eltern, die mir kein aufregenderes Leben bieten konnten als das Leben in einer Mietskaserne unterbrochen von der öden Schule. Ich war sauer auf meine Mitmenschen, die die geheimnisvollen Wälder umgeschnitten hatten, die Burgen geschleift, die Höhlen zugeschüttet, um überall ihre Wohnblocks und Reihenhäuser und Autobahnen zu bauen. Und wenn du in den nahen oder fernen Osten reist – Abenteuer gibt es nirgendwo mehr. Das Flugzeug bringt dich sicher hin, in den Hotels lebst du behütet und verwöhnt, um dich dieselben Leute wie zu Hause, und nach zwei Wochen fliegst du wieder heim und hast das Gefühl, nie fort gewesen zu sein. Nur noch in meinen Träumen gibt es unbekannte Städte, geheimnisumwitterte Mitreisende, Abenteuer und
Gefahren, braucht man Mut und Kraft. Aber ich wollte nicht mehr nur träumen! Wo ist endlich ein richtiges Abenteuer, ein Geheimnis, das seiner Lösung harrt? An diesem Tag war ich ein sehr unangenehmer Zeitgenosse. Einmal sah ich, wie meine Eltern sich anschauten und mit den Schultern zuckten. Sie versuchten mehrmals, mich in mein Zimmer zu schicken. Schlaf würde mir gut tun, meinten sie. Aber in mein Zimmer gehen, mich ins Bett legen, das war genau das, was ich keinesfalls wollte. Denn dann war sofort wieder der Traum da, und dem wollte ich entgehen. Erst nach einem Spaziergang, der bei der Eisdiele endete, war mir besser. Der Traum der Nacht kam mir so unendlich fern vor, und ich schüttelte über mich selber innerlich den Kopf. Aber am Abend konnte ich wieder nicht einschlafen. Und da tanzte ich wieder für den Burgherrn, bis mir endlich doch die Augen zufielen.
Ich strich um ›mein‹ Haus auf der Suche nach einem Mauseloch, um in den Garten zu spähen. Aber dort, wo die scherbengespickte Backsteinmauer aufhörte, schloss sich eine lange Reihe Garagen an. Ein Mann stand bei der ersten Garage und murmelte vor sich hin, die Hände in den Hosentaschen. Er war so dick, dass sein Bauch weit vorragte. Seine Hose war fleckig. Er musterte stirnrunzelnd das Treiben im Garagenhof: etliche junge Türken, die an ihren Mopeds herumbastelten. »Siehst du, Mäderl«, sagte er zu mir, »so weit ist es schon gekommen. Diese Kümmeltürken aus Anatolien, haben nichts, sind nichts, kommen einfach daher und nehmen anderen die Arbeit weg. Jetzt treiben sie sich schon hier bei den Garagen herum. Vor der Haustür hab ich sie ja weggejagt. Jetzt sind sie also hier. Bald kann man nirgends mehr hingehen. Und die Polizei schaut tatenlos zu!«
Er rülpste und eine eklige Wolke von Bierdunst stieg mir in die Nase. Ich wollte mich an ihm vorbeidrücken. Aber er hielt mich am Ärmel fest. »Da gehst jetzt nicht ’nein! Hörst du! Das tust nicht. Was findest denn an den Burschen, ha?« »Zumindest trinken sie kein Bier.« »Aber mit Rauschgift handeln sie. Du kommst jetzt mit mir mit, in den Keller. Da dürfen die nämlich nicht ’nein. Da zeig ich dir was Schönes.« Er packte meinen Arm und versuchte mich mitzuzerren. So fest hielt er mich umklammert, dass ich mich nicht losreißen konnte. »Harun!«, schrie ich. »Achmed, Meschid, Ali, helft mir doch!« Ein paar Burschen schauten auf. Sofort legten sie ihre Sachen hin und kamen langsam näher. Der Dicke ließ mich immer noch nicht los. Ich trat ihm gegen das Schienbein. »Verhaut ihn, den alten Bock!«, schrie ich. Sein Griff lockerte sich etwas. »Hure!«, zischte er. »Hure! Geh doch zu deinen geilen Kerlen«, und spuckte mir ins Gesicht. Dann ließ er von mir ab und verschwand ums Eck. »Hüte dich vor dem da«, meinte einer der Burschen. Er reichte mir einen Lappen, damit ich mich abwischen konnte. Oh, war das eklig! Aber ich ließ mir nichts anmerken. »Ein angenehmer Zeitgenosse ist er ja nicht«, gab ich zu.
»Du musst vorsichtig sein. Nie allein gehen. Für Mädchen gefährlich.« »Das gibt es doch nicht.« »Doch, das ist wahr!« »Dann müsst ihr zur Polizei gehen und den Kerl anzeigen!« »Die Polizei macht nichts.« »Aber damit der Kerl eingelocht wird!« »Wir haben keine Beweise – und ohne die geht nichts. Schon gar nicht, wenn du Türke bist. Da locht dich die Polizei gleich selber ein.« Dann wandten sie sich wieder ihren Motorrädern zu. Ich ging bis ans Ende des Garagenplatzes. Die Garagen stießen an die Mauer eines großen Wohnhauses. Von dem bewussten Garten – im Geiste nannte ich ihn schon den verwunschenen Garten – war nichts zu sehen. Ich umrundete das Haus. Da stand ich auf der vielbefahrenen Arnoldstraße. Also war ich zu weit gegangen. Ich kehrte um und ging den Weg zurück. Als eine der Haustüren offen stand, ging ich hinein. Es gab tatsächlich einen Innenhof. Aber nach der Seite des Gartens hin war er mit einer hohen Mauer abgeschlossen – ja, die Häuser waren sogar so ums Eck gebaut, dass die Balkone und Fenster nur nach innen gingen. »Warte nur, dich krieg ich schon noch!«, keuchte jemand hinter mir. Es war der Alte mit dem dicken Bauch. Er kam gerade die Kellertreppe heraufgeschnauft.
Wie der Blitz war ich draußen und rannte vor zur Straße. Ich glaubte schon den Biergeruch zu spüren. Als ich einen Blick zurück wagte, stellte ich aber erleichtert fest, dass mir niemand folgte. Klar, so schnell wie ich kann der mit seinem Bierbauch nicht mehr rennen. Erleichtert hüpfte ich weiter, um mein Traumhaus nochmal in Augenschein zu nehmen. Hatte sich da nicht die Gardine bewegt? Winkte mir nicht ganz kurz eine Hand? Ich rieb mir die Augen. Bestimmt war ich etwas durcheinander und träumte nur.
Meine Eltern wollten beide am Wochenende wegfahren zum Meditieren. Ich soll die Tage und Nächte bei Britta und ihrem schönen Sohn verbringen. »Niemals!«, schrie ich. »Das könnt ihr mir nicht antun. Da sterbe ich vor Langeweile. Lieber bleib ich allein. Ich verspreche auch, dass ich keinen Schritt aus der Wohnung gehe.« »Und dann vergisst du dein Versprechen und den Schlüssel und treibst dich bis spät nachts in der Gegend herum. Nein, nein, kommt nicht in Frage.« »Und wenn schon! Hier ist noch nie etwas passiert. Ich komm schon wieder heim.« »Weißt du das so genau, dass hier noch nie etwas passiert ist? Jedenfalls lassen wir dich nicht zwei Nächte allein. Und Alexander freut sich bestimmt, wenn du kommst. Und Britta nimmt dich auch zum Biobauern mit. Das ist bestimmt interessant.«
»Ihr habt keine Ahnung, wie blöd der schöne Alexander ist. Der starrt mich nur die ganze Zeit an und sagt kein Wort.« »Er wird dir seinen Computer zeigen. Da redet er mehr als dir lieb ist.« Eigentlich hatte ich ja gar nichts mehr gegen Alexander. Aber Dieter und Elke sollten ruhig glauben, dass es ein Opfer für mich sei, wenn ich dort bliebe. Echt schlimm aber war, dass ich zu unserem Freitagabendtreffen am Spielplatz nicht mehr da war, da ich schon Freitag Mittag zu Alexander musste. Allerdings hatte das Wochenende für mich noch eine Überraschung bereit. Alexander besaß eine Strickleiter! Und er wollte sie mir nicht nur leihen, sondern mich auf meinen Ausflug in den verwunschenen Garten sogar begleiten. Ganz begeistert war er davon. Er meinte, wenn das Haus groß genug wäre, könnten er und Britta ja mit einziehen. Britta würde begeistert Radieschen und Salat anbauen, die wir dann verkaufen könnten. Oder wir könnten Pfefferminze ziehen und trocknen. Wir schmiedeten das ganze Wochenende über Pläne. Aber wenn Britta ins Zimmer kam, starrten wir beide auf den Bildschirm des Computers und taten, als ob wir eifrigst programmierten.
Am Sonntag Abend brachte mich Britta mit dem Auto nach Hause. Vor der Haustür ließ sie mich aussteigen. Als ich im Flur stand, hörte ich Stimmen von der Kellertür her: Meine liebe Freundin, die Haushexe unterhielt sich mit jemandem. »Bis jetzt hat sie sich nicht darum geschert, dass ich ihr verboten habe, mit dem Fahrrad in den Hof zu fahren.« Redete sie gar von mir? Ich schlich mich bis zur Treppe und spitzte die Ohren. »Warum das ausgerechnet jetzt anders sein soll …« fuhr sie fort. »Ich habe das ganze Wochenende auf sie gewartet. Ich muss es wissen, ob sie es ist.« »Sie wird’s schon sein. So frech ist keine zweite. Aber eins sag ich Ihnen, bei den Eltern erreichen sie nichts. Gar nichts!« »Die Eltern brauch ich nicht. Ich werd schon selber mit ihr fertig.«
Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Zwischen den Sätzen tat der jemand etliche schwere Schnaufer. Ein komischer säuerlicher Geruch mischte sich unter den Putzmittel- und Bohnerwachsdampf des Flures. »Suchen Sie etwa mich?«, rief ich ganz kess. Ein gleißender Lichtstrahl schoss mir in die Augen. Instinktiv fuhr ich zurück. Das Lichtbündel einer starken Taschenlampe kreiste durchs Treppenhaus. Im Widerschein erkannte ich die Hausmeisterin und – den Dicken vom Garagenhof. Schon schnaufte er die Kellertreppe herauf. Die Oberbichlerin drängte sich an ihm vorbei. Aber ich war oben an der Wohnung und schlug die Tür zu, bevor sie im ersten Stock waren. Elke und Dieter hatten noch Besuch. Stolz zeigte ihm Dieter seine Manuskripte. »Mal sehen, was sich machen lässt«, hörte ich den Besuch sagen. »Von der Art bekommen wir jede Woche fünfzig zugeschickt.« »Er ist Lektor bei einem Verlag«, flüsterte mir Elke aufgeregt zu. »Den haben wir am Wochenende kennen gelernt. Vielleicht kann Dieter über ihn …« Ich horchte nach draußen und überlegte, was ich sagen würde, wenn der Dicke vor der Tür stand. Aber nichts regte sich. Keine Schritte, kein Schnaufen. Wahrscheinlich war ihm der vierte Stock zu hoch oben.
Vergangene Nacht habe ich geträumt. Richtig geträumt! Nicht nur so selbst erfundene Geschichten gesponnen, nein, richtig geträumt. Ganz happy war ich drüber. Und das habe ich geträumt: Ich gehe mit Alexander und noch einem aus unserer Klasse zu einem See. Es ist kalt und neblig. Wir haben nasse Füße, und die Nebelfeuchte zieht bis unter die Haut. Wir waten durch sumpfige Wiesen. Quer über den See ist eine Absperrung gespannt. Dahinter scheint die Sonne. Nun versuchen wir, auf eine Anhöhe zu steigen und in großem Bogen auf die andere Seite des Sees zu gelangen. Wir kommen in ein Dorf, ein menschenleeres, halb verfallenes Dorf. Die Sonne scheint auf braune Holzhäuser. Mannshohes Gestrüpp wuchert überall. Es gibt auch noch einen gepflasterten Weg. Aber er führt vom See weg. Irgendwie gelingt es uns nicht, den Durchgang zum See zu finden. Alexander entdeckt auf der Wand eines alten Holzschuppens eine Skizze. »Das ist der Plan, wie wir zum See kommen«, ruft er.
Für mich sieht es so aus, als hätte jemand mit Holzkohle auf den Brettern herumgekritzelt. »Doch! Schau«, erklärt er, »hier ist eine Brücke. Und hier stößt noch eine andere Brücke darauf, vom Kloster auf der Insel her.« Zweifelnd schüttele ich den Kopf. Und dann sind wir auf der Brücke. Die Holzbretter sind nass vom Nebel und rutschig. Ich habe Angst, auszurutschen und in den See zu fallen. Grünlich gurgelt das Wasser unter uns. Mir wird schwindlig. Ich schaue wieder nach vorne. Die Brücke steigt steil an, immer steiler. Wahrscheinlich ist es eine Hängebrücke, die zu weit durchhängt? »Da kommt Mandy niemals hinauf«, sagt Eric. »Das schafft sie nicht«, bestätigt Alexander, »sie ist zu langsam, weil sie vor lauter Angst, ins Wasser zu fallen, nicht genug Anlauf genommen hat.« »So sind Mädchen eben.« Ich beiße die Zähne zusammen. Ich werde es schaffen! Die Brücke schwankt, sie wird immer steiler, das Holz ist glitschig. Ich rutsche schließlich doch ab. Aber im letzten Moment kralle ich meine Finger in die Ritzen zwischen den Bretter, und schon greifen hilfreiche Arme von oben und ziehen mich hoch.
Am Freitag Abend trafen wir uns wieder am Spielplatz und spielten Monsteralphabet. Diesmal war ›M‹ dran. Aber außer Magier und Manticora fiel uns nichts ein, wobei niemand so genau wusste, was eine Manticora sei. Ein Mischwesen aus Löwe und Ziege, aber ob Herz eines Löwen und Kopf einer Ziege oder umgekehrt, das war die Frage. Natalie meinte ganz zynisch, ›Mann‹ wäre das schlimmste Ungeheuer von allen. Niemand hatte Lust, noch einen Buchstaben zu versuchen. So erzählte ich von dem Haus, und dass ich gerne herausfinden möchte, ob es bewohnt ist oder nicht. »Ist doch ganz einfach«, sagte Harun, »gehst einfach hin und klingelst.« »Und wenn dann jemand aufmacht? He, was mach ich dann?« »Dann sagst du einfach, du sammelst für das BehindertenHilfswerk«, grinste Harun.
»Die schlagen mir doch gleich wieder die Tür vor der Nase zu, so viele Sammler wie in letzter Zeit hier rumfallen.« »Macht doch nichts! Du willst doch nur wissen, ob jemand in dem Haus wohnt. Dann weißt du es«, meinte Marc. »Wenn aber niemand aufmacht, kann ich dann sicher sein, dass niemand in dem Haus wohnt? Vielleicht ist der Mann in der Arbeit, oder die Frau beim Einkaufen«, widersprach ich. »Du mit deinen stereotypen Rollenbildern«, unterbrach mich Natalie, »Mann verdient Geld, Frau gibt es aus. Warum nicht die Frau in der Arbeit und der Mann beim Einkaufen?« »Mandy hat eben Sehnsucht nach konventionellen Familienbildern«, meinte Mischa. »Aber allen Ernstes, du musst eben am Abend hingehen und klingeln und nicht tagsüber.« »Am Abend braucht sie nicht gehen. Da sieht man ja, ob Licht brennt.« »Außer es ist ein Schichtarbeiter, zum Beispiel Trambahnfahrer mit Nachtdienst«, gab ich zu bedenken. »Mein Gott, Mandy, willst du es nun wissen oder nicht? So feig kenn ich dich gar nicht. Am besten gehen wir gleich alle zusammen hin.« Typisch Marc! Während andere noch überlegen, macht er es schon.
Obwohl es schon dämmerte, schien kein Licht aus den Fenstern. Marc stieg die Treppen hinauf und klingelte. Nichts rührte sich. Marc klingelte noch mal, wartete, klingelte noch mal. Der Rest stand mit mir ein Stück abseits. Ich schaute zu den Fenstern hinauf, und da sah ich hinter einem der Fenster ein blasses schmales Gesicht, das zu uns herunter schaute. Ganz kurz nur sah ich es, dann war es wieder verschwunden. Schulterzuckend kam Marc die Treppen herunter. »Da wohnt niemand«, meinte er, »oder die Bewohner sind in der Arbeit.« Ich sagte kein Wort von dem Gesicht hinter dem Fenster. Ich holte mein Fahrrad vom Spielplatz und fuhr nach Hause. Als ich in den Hof einbog, umfing mich schwärzeste Finsternis. Wie ein dicker schwarzer Nebel wabberte sie im Hof. Das Licht meiner Fahrradlampe konnte ihn nicht durchdringen. Ich sprang vom Rad. Nun war auch dieses letzte schwache Licht erloschen. Wie matte Vierecke zeichneten sich die sonst hellerleuchteten Fenster ab. Ich stand im Hof, und die Dunkelheit griff wie eine kalte Hand nach mir. Dort hinten, in der Ecke beim Kellereingang lauerte etwas auf mich. Ich spürte es genau, obwohl ich nichts sah. Aber meine Sinne waren unheimlich scharf. Und nun spürte ich, wie das Ungeheuer auf mich zukroch, langsam, schwerfällig, weil es dick und fett war, aber sehr hungrig. Ich spürte seinen Hunger, wie es meinen Duft einsog und ihm das Wasser im Munde zusammenlief,
dass es nur so aus den Mundwinkeln troff. Und die lange klebrige Zunge schoss gierig vor, um mich zu umschlingen und in den sabbernden Schlund zu ziehen. Nun war es nur noch wenige Schritte entfernt. Da endlich fiel die Lähmung von mir ab. Mit einem Aufschrei ließ ich das Fahrrad fallen und rannte davon. Ich blieb nicht eher stehen, als bis ich vor Marcs Haus stand, atemlos. Ich klingelte Sturm. Marcs Vater wollte mich erst nicht einlassen. Aber als ich ihm dreimal erklärt hatte, dass ich Mandy sei und verfolgt würde, surrte der Türöffner. Marcs Vater war schon im Schlafanzug und empfing mich mürrisch. »Ich trau mich nicht allein nach Hause!«, sagte ich. »Ich kann dich nicht nach Hause bringen. Ich habe meine Medikamente genommen. Da sehe ich in der Dunkelheit nichts. Aber du kannst hier schlafen. Ruf aber noch deine Eltern an.« Meine Eltern waren noch nicht zu Hause. Marc blieb noch etwas bei mir im Wohnzimmer. Ich erzählte ihm flüsternd von meinem Erlebnis. Marc streichelte mich, bis ich mich beruhigt hatte und einschlief. Als ich am nächsten Morgen heimkam, herrschte große Aufregung im Haus. Die Hausmeisterin hatte mein Fahrrad in der Einfahrt liegend gefunden und daraufhin wütend meine Eltern aus dem Bett geklingelt, sie sollten ihrer unordentlichen Tochter mal beibringen, wie man ein Fahrrad aufräumt. Meine Eltern stolperten schlaftrunken in mein Zimmer – aber da war ich nicht. Daraufhin rief
mein Vater sofort die Polizei an, die auch versprach, im Laufe des Tages zu kommen. Inzwischen stand das ganze Haus um die Hausmeisterin und das Fahrrad herum. An das Fahrrad dachte ich gar nicht mehr und ging gleich hinauf in die Wohnung. Da saß meine Mutter heulend im Wohnzimmer, während mein Vater durch die Gegend lief, um die Leiche seiner Tochter zu suchen. Warum war ich ihm eigentlich nicht begegnet? Nun hätte mir meine Mutter die Geschichte von dem Ungeheuer, das in der Dunkelheit auf mich lauerte, bestimmt nicht geglaubt. Also erfand ich schnell einen Mann, einen dicken Mann, der nach Bier stank, und mein Fahrrad festhielt. Nur dadurch, dass ich so schnell lief, konnte ich ihm zwischen den Häusern entkommen. Dieselbe Geschichte erzählte ich auch den Polizisten. Sie nickten nur, und meinten, ich sollte nie alleine nach Hause gehen. Es wäre schon öfters was vorgekommen, aber ohne Beweise könnten sie nichts unternehmen.
Bestimmt sieben Mal bin ich an dem Haus vorbeigegangen. Aber ich habe mich nicht getraut zu klingeln. Dann traf ich Natalie, und vor ihr konnte ich mich nicht blamieren. Also stieg ich die Treppen hinauf. Natalie wartete unten. Nun stand ich also vor der Tür und streckte die Hand nach der Klingel aus. Irgendetwas ließ mich zögern, ich legte das Ohr an die Tür. Da hörte ich leise und schnell leichte Schritte trippeln und viele helle Stimmen wispern. In dem Moment als ich auf die Klingel drückte und ihr Schnarren ertönte, war alles still. So sehr ich auch die Ohren spitzte, ich konnte nicht das geringste Geräusch mehr vernehmen. Ich drückte wieder auf die Klingel, und noch einmal, ließ den Finger lange drauf, klingelte stakkato – im Haus rührte und regte ich nichts. Und doch hatte ich genau gespürt, dass jemand drinnen war. »Ich probier es gegen 5 nochmal«, sagte ich zu Natalie. »Die schlafen noch alle.«
Um 5 Uhr stand ich wieder an der Tür und lauschte. Ich hatte gar nicht die Absicht zu klingeln. Sobald ich die Klingel drückte, würden doch alle Geräusche ersterben oder aber, schlimmer noch, die Tür aufgehen, denn ich war allein. Und dann würde ich in das Haus hineingehen, und … Wenn ich wieder herauskomme, sind 00 Jahre vergangen, und die Stadt liegt längst in Trümmern, zwischen denen hungrige Ratten herumstreifen. Ich drückte mich also an den Türstock, um von der Straße aus nicht gesehen zu werden, und presste das Ohr an die Ritze zwischen Tür und Rahmen. Erst hörte ich gar nichts. Nur der Straßenlärm dröhnte in meinen Ohren. Dann auf einmal hörte ich kurz ein Lachen. Eine Tür knarzte, etwas fiel klirrend zu Boden. Das Geräusch kannte ich doch. Aber im Moment fiel mir nicht ein, was es war. Eine Stimme wisperte – und dann näherten sich Schritte der Tür. Kurz darauf stand ich atemlos zwei Straßen weiter. Mir war eingefallen, was das Scheppern war: ein Schlüsselbund, der auf den Boden fiel.
»Das Haus ist bewohnt«, erklärte ich am Freitag Abend meinen Freunden. Meine Eltern hatten mir zwar verboten, zum Treffen zu gehen, aber sie waren ja nicht zu Hause, und so war ich einfach hingegangen. Diesmal würde mich die Dunkelheit nicht erschrecken. Ich war von meinem Mut überzeugt, seit ich an dem Haus geklingelt hatte. »Ich habe geklingelt«, erzählte ich, »dann hörte ich innen eine Tür gehen und jemand nahm einen Schlüsselbund vom Haken. Dabei fiel er ihm auf den Boden. Bevor er den Schlüssel in der Tür umdrehen konnte, war ich aber schon abgehauen.« Ich hatte einfach die beiden Erlebnisse zu einem zusammengezogen. Es war einfacher so. »Vielleicht war es nur die Putzfrau oder ein Verwalter«, meinte Marc. »Also ich hätte schon geschaut, wer da aufmacht.«
»Meinst du, der hätte gesagt, ach hallo, da sind Sie ja. Sie wollen doch gewiss das Haus mieten? Bestimmt nicht!« »Das ist überhaupt der falsche Weg. Du musst einen Makler beauftragen, dass er für dich den Besitzer des Hauses ausfindig macht und einen Mietvertrag aushandelt.« Das war Babsi. »Vergiß es«, sagte ich. »Wir bleiben in unserer Wohnung, basta. Es war nur so eine Idee.« »Dann spielen wir wieder Monsteralphabet. Wer ist heute dran?« Der Buchstabe ›S‹ war äußerst ergiebig: Sphinx, Skelett, Sirene, Schwarzmagier, Söldner, Satan, Seeungeheuer, Samurai. Als ich in den Hof einbiege, ist er hell erleuchtet. Aber ich weiß, dass es eine Falle ist. Auf einmal würde das Licht ausgehen, und in der Finsternis etwas nach mir greifen und mich in ein Loch zerren. Vorerst drücke ich mich in den Schatten des Durchganges und warte. Lange Zeit geschieht nichts. Aber ich spüre immer mehr, dass hinter der Ölpumpe etwas auf der Lauer liegt, träge und unendlich geduldig. Ein Licht nach dem anderen erlischt in den Fenstern. Jetzt muss ich aber rein! Sonst sind meine Eltern vor mir zu Hause und geraten in Panik. Wie komme ich nur an dem Ungeheuer vorbei? Eigentlich müsste es schon möglich sein. So schnell wie ich laufen kann, wird es mich nicht vor der Haustür erwischen. Ich könnte ja vielleicht noch ein Stück unbemerkt an der Grenzmauer entlang schleichen und dann in ein paar
Sprüngen bei der Tür sein. Gerade will ich mich auf den Weg machen, da segelt eine riesige Fledermaus über den Hof. Sofort erlischt das Licht. Aber von der Fledermaus geht ein grünes Moderleuchten aus, so dass ich erkennen kann, wie sie bei der Pumpe landet und sich in einen Mann in einem langen Mantel verwandelt. »Ist sie noch nicht gekommen? Oder hast du sie wieder verpasst, du schwerfälliges vollgefressenes Krötenaas?« Ein dumpfes Blubbern und Gurgeln antwortet ihm. »Ach was!« Die Stimme des Fledermausmannes ist eiskalt und schneidend. »Sie hat keinen Schutz-Talisman. Du hast geschlafen, und da ist sie an dir vorbei. Einen handgeschmiedeten Nagel? Wo bekommt man denn heute so etwas noch! Red dich nicht auf irgendetwas hinaus. Sie mag ihre Fähigkeiten haben, darum muss ich ihrer ja habhaft werden. Du hast wieder gesoffen, du alter Penner, du! Deswegen ist sie uns entwischt. Jetzt Marsch ins Loch! Die Zeit ist um. Aber wehe, wenn du sie nächste Woche nicht herbeischaffst! Dann bekommst du die ganze Woche nichts zu trinken!« Dann erhebt sich der Fledermausmann wieder in die Luft und segelt über das Dach davon. Das fette Ungetüm hinter der Pumpe verkriecht sich in ein Loch. In diesem Moment ging in meinem Zimmer das Licht an. Verdammt! So früh kommen die doch sonst nicht von ihren Gruppenabenden zurück! Ich rannte über den Hof und die Treppen hoch.
An der Tür erwartete mich bereits Dieter, die Arme über der Brust verschränkt. Es roch nach Donnerwetter. Es kam noch viel schlimmer: Am nächsten Freitag musste ich wieder zu Alexander. Sie wollten mich nicht mehr allein zu Hause lassen.
Alexander und ich mussten zum Biobauern mitfahren. Wir wollten nicht. Wir wollten am Computer spielen. Alexander hatte von einem Freund ein neues Spiel »Das Schloss des Vampirs«. Am Freitag Abend hatten wir endlich einen Zugang zum Schloss gefunden, einen alten Stollen, der vom Dorf zum Schloss führte. Wir befanden uns bereits in den halbverfallenen Kellergewölben und brannten darauf, das Schloss zu erkunden. Aber genau das war es, was Britta störte. »Ihr sitzt sonst den ganzen Tag am Computer. Die frische Luft wird euch gut tun.« »Phh! Frische Luft«, maulte Alexander, »frische Luft am Bauernhof! Das ich nicht lache! Da stinkt es nach Kuh und Schwein.« »Oh, ich habe keine Gummistiefel«, gab ich zu bedenken. »Wenn meine neuen weißen Turnschuhe versaut sind, krieg ich Ärger mit Elke.«
»Almandine«, – wieso nennt mich Britta immer Almandine und nicht Mandy wie alle anderen? – »mach einen Punkt. Auch auf einem Bauernhof watet man nicht im Dreck. Der Hof ist geteert und die Kühe musst du ja nicht selber melken.« Wir sträubten uns weiter, schon weil wir uns gegenseitig überbieten mussten. Es ist einfach viel schöner, wenn man zu zweit gegen die Erwachsenen kämpft. Doch Britta war rigoros: »Aber die Maus fährt mit!« und zog tatsächlich den Mausstecker heraus und steckte die Maus in ihre Handtasche. Alexander blieb der Mund offen. Nun gaben wir uns geschlagen. Während Britta das Auto aus der Tiefgarage holte, flüsterte mir Alexander zu: »So streng ist sie sonst nie. Ich glaube, sie will nur vor dir und deinen Eltern Eindruck schinden. Weil, weißt du, sie sagt doch immer, in der Erziehung muss man konsequent sein. Sie will sich jetzt nicht nachsagen lassen, dass sie es nicht ist.« Am Bauernhof war es gar nicht so übel. Erst wollten wir gar nicht aussteigen, sondern nur das Fenster herunterkurbeln. Für frische Luft genügt das ja. Aber dann sah ich die Pferde, und da war ich nicht mehr zu halten. Alexander trabte brummend hinterher, aber mit zehn Meter Abstand. Drei Pferde sind auf dem Hof. Das eine Pferd gehört der Tochter. Mann, hab ich die beneidet! Ein eigenes Pferd! Von so etwas wage ich gar nicht zu träumen, d. h. in meinen ganz wilden Träumen, da reite ich auch auf einem
Pferd, sogar im Galopp durch den Wald. Aber hier am Bauernhof erschienen mir meine Träume ganz weit weg. Die Bauerstochter hatte ziemlich schmutzige Stiefel und Hosen. Aber die Pferde waren blitzblank gestriegelt. Und wie lässig sie ihnen die Sättel auflegte und festband. Mich würdigte sie kaum eines Blickes. Die anderen zwei Pferde sind Pensionspferde. Die Besitzer kamen schwungvoll im Jeep in den Hof gefahren, bremsten vor der Scheune mitten in der Pfütze, dass es nur so spritzte. Dann sprangen sie aus dem Wagen, rannten zu ihren Pferden und begrüßten sie überschwänglich. Die Frau sah unheimlich chic aus in ihrem hellbraunen Reitdress. Der Mann holte richtige Cowboy-Hüte und braune Ledermäntel aus dem Wagen. Die Bauerstochter hatte schon die beiden Pferde fertig gesattelt. Die beiden brauchten sich nur noch in den Sattel zu schwingen, dann stoben sie davon. »Hallo«, sagte das Mädchen zu mir, »ich bin die Rosi. Ich musste nur noch schnell die Pferde fertig machen, damit die zwei gleich losreiten können. Sie haben erst vor einer Stunde angerufen, dass sie kommen.« Ich starrte immer noch sehnsüchtig den Reitern nach. »Hosen, Mäntel, Stiefel, Zaumzeug, Sättel – alles vom Feinsten«, grinste Rosi, »aber kein Gefühl für Tiere.« Rosi stieg in den Jeep und rangierte ihn neben die Scheune. Das war zu viel für mich. Die war doch auch erst 5! Wieso fuhr die Auto? Rosi schien meine Gedanken
zu lesen. »Am Hof darf ich das, nur nicht auf der Straße«, erklärte sie. »Und du kannst das?« »Klar! Ich bin, sozusagen, auf dem Traktor zur Welt gekommen.« Alexander trug Brittas Gemüsekorb zum Kofferraum und stieg gleich ein. Ich ging mit Rosi zur Pferdekoppel. Wir setzten uns auf den Zaun. Ich kam mir ganz dumm vor und wusste nicht, was ich mit ihr reden sollte. Aber Rosi schien das nicht zu stören. Sie saß einfach da und schaute in den Himmel. Auf einmal sprang sie herunter und hob etwas aus dem Gras auf. Dann reichte sie mir ein kleines Eisenstück. »Da, ein Hufnagel! Sogar ein handgeschmiedeter. Für diese Pferde ist das beste nur gut genug. Ein Hufeisen wäre natürlich noch besser. Aber ein Nagel bringt auch Glück. Behalt ihn nur!«, fügte sie hinzu, als ich ihn ihr zurückgeben wollte.
Mit dem Computerspiel kamen wir an diesem Wochenende nicht recht weiter. In den Kellergewölben ließ sich nur eine der Türen öffnen. Dahinter aber waren zwei Golems, die uns massakrierten. Wir schafften es nicht, sie auch nur zu verletzen. Die anderen Türen waren alle verschlossen. Also zurück ins Dorf und Schlüssel suchen. Wir fanden auch einen im Vorratskeller des Gasthauses. Daraufhin wieder zurück durch den Stollen in die Gewölbe. Bei irgendeiner Tür wird er schon passen. Tatsächlich! Aber hinter der Tür war nur ein Raum, durch ein Gitter in zwei Teile getrennt und dahinter drei Gerippe. Alexander kam auf die Idee, die Gerippe anzusprechen. Und siehe da, es gab einen Reim von sich: »Krächzt der Rabe, nimm die Gabe. Rennt die Ratte, schau unter die Platte. Trag den blauen Stein, dann lässt man dich ein.« Es war sehr rätselhaft. »Das ist ein Hinweis!«, sagte Alexander. »Bestimmt gibt dir der Rabe einen blauen Stein.«
»Bis jetzt habe ich noch keinen Raben gesehen.« »Wir müssen halt noch mehr herumgehen.« Da wir keine Lust mehr hatten zu spielen, gingen wir spazieren. An der Bushaltestelle waren Automaten aufgestellt mit Kaugummis und neonfarbenen Schuhbändern und kleinen Monstern. »So ein Monster muss ich haben«, knurrte Alexander. »Unbedingt! Aber dann schimpft Britta bloß wieder, dass ich mein Geld für unnützes Zeug ausgebe.« »Bist du auch immer knapp bei Kasse?« »Eigentlich nicht. Ich hab diesen Monat von meinem Vater wieder einen Hunderter gekriegt.« Ich war im Moment sprachlos, nicht weil Alexander auch einen Vater hatte – das wusste ich schon, dass Britta geschieden war –, sondern weil er im Monat 00 Mark bekam. Alexander hatte schon Geld in den Schlitz gefummelt und drehte am Zapfen. Es raschelte und eine kleine Dose fiel heraus. »Scheiß Automat!« Alexander zeigte mir einen Fingerring mit einem blauen Stein. »Was soll ich denn damit?« »Alexander«, rief ich begeistert, »das ist der blaue Stein, von dem das Gerippe gesprochen hat: Nimm den blauen Stein, dann lässt man dich ein.« »Du kannst ihn haben. Aber erzähl ja niemandem, dass ich ihn dir geschenkt habe.« Mit einem einfachen Versprechen war Alexander nicht zufrieden. Schwören musste ich, es niemandem zu sagen.
Dieter ist überglücklich: Er hat einen Vertrag! Unter einem Pseudonym soll er drei Bände für eine Reihe von DetektivRomanen schreiben. Er glaubt, dass er nur ein paar seiner alten Bücher umändern muss, und schon hat er es. Viel Zeit hat er nämlich nicht. Außerdem muss er sich einen Computer kaufen. Denn der Verlag will das Buch auf Diskette haben und nicht auf Schreibmaschinenpapier. Da hat er vielleicht Augen gemacht, mein Papa! So holt uns nun doch noch der Fortschritt ein. Alexander wird mir bestimmt das Computerspiel kopieren. Dann kann ich auch zu Hause weiter nach dem Ausgang suchen. Am Mittwoch nach den Sport ging ich in den Supermarkt, um mir eine Cola zu kaufen. Die Hand hatte ich in der Hosentasche, wo ich mit Rosis Hufnagel spielte. Er fühlte sich ganz heiß an. Was hatte das zu bedeuten? Da sah ich meinen besonderen Freund zwischen den Regalen stehen, den dicken Alten. Er steckte sich gerade
zwei Schnapsflaschen unter den Mantel. Schnell verzog ich mich. Ich überlegte allen ernstes, ob ich es dem Geschäftsführer sagen sollte. Aber wie ich noch überlegte, wie ich das formulieren sollte und wie man so etwas überhaupt sagt, kam doch der Geschäftsführer daher und ließ mich meinen Sportsack öffnen. Er hätte gesehen, wie ich Bonbons und Schokolade hineinsteckte. Natürlich war nichts im Sack. Da hätte er sich schon entschuldigen können dafür, dass er mich zu Unrecht verdächtigt hat. Aber denkste! So hielt ich meinen Mund. Der Alte schob seinen Wagen zur Kasse. Eine Tüte Semmeln und eine Fischdose hatte er drin! 2.98 bezahlte er! Und hat für 29.80 Schnaps unter dem Mantel! Na, wenn man so dick ist, fällt das nicht auf. Ich wartete, bis er außer Sicht war. Da hörte ich die eine Kassierin sagen: »Hams gesehen, was er sich gekauft hat? Semmeln und eine Dose Fisch. Wahrscheinlich hat ihm der Graf schon wieder keinen Lohn bezahlt.« »Dabei kümmert er sich so gut um das Haus!«, unterbrach sie die andere. »Ohne ihn wär das ja schon zusammengefallen.« »Um alles kümmert er sich, der Herr Erwin. Aber niemand kümmert sich um ihn.« »Er trinkt halt auch gern.« »Aber gehns, a bisserl a Freud muss sich der Mensch doch gönnen! Hat doch eh nichts vom Leben außer
Arbeit. Und der Graf, wissens schon, der kann froh sein, dass er den Herrn Erwin hat.« Die beiden hatten mich ganz übersehen. Aber schon begann hinter mir jemand zu keifen, so dass die beiden ihre für mich so aufschlussreiche Unterhaltung abbrachen.
Alexander musste am Freitag zu uns kommen, um Dieters Computer anzuschließen und Dieter in die Geheimnisse einzuweihen, wie Dieter sich ausdrückte. Ich meinte, dann könnte ich ja mit Alexander zu unserem Treffen gehen. Aber sie erlaubten es nicht. Macht auch nichts. Alexander und ich haben schon Pläne für Samstag früh. Dieter und Elke schlafen ja lange. Sie haben uns erlaubt, am Morgen am Computer zu spielen. Da, denken sie, wären wir gut aufgehoben. Aber wir haben etwas ganz anderes vor. Um vier Uhr morgens klingelte der Wecker. Ich war sofort hellwach. Alexander schlief im Wohnzimmer auf der Couch, tief und fest. Ich musste ihn ganz schön schütteln, bis er aufwachte. Er kramte die Strickleiter aus dem Schlafsack, wo er sie versteckt hatte. Dann schlichen wir aus der Wohnung. Es war noch dunkel. Kein Mensch war unterwegs. In dem Eck zwischen Garagenhof und Gartenmauer versuchten wir, die Strickleiter so hochzuwerfen, dass sie oben an
den Scherben hängen blieb. Aber sie kam immer wieder herunter. Wir mussten es irgendwie schaffen! Ich schaute mich im Garagenhof um und fand schließlich eine lange Holzlatte. Mit der bugsierten wir das obere Ende auf die Scherbenkante. Alexander stieg zuerst hinauf, dann ich. Oben zogen wir die Leiter hoch und ließen sie auf der anderen Seite hinunter. Der Himmel wurde schon grau, als wir in das Gestrüpp aus Brombeeren und Brennnesseln hinunterplumpsten. Alexander fluchte laut. »Mensch, sei bloß still!«, fauchte ich ihn an. »Das brennt so! Und einen Dorn habe ich auch in der Hand. Autsch! Ich glaub, ich blute«, jammerte er weiter. Ich hatte voll mit der Hand in eine Brombeerranke gegriffen, und eine Brennnessel war mir mitten durchs Gesicht geschlagen, aber deswegen so zu jaulen, fiel mir nicht ein. Schließlich hatten wir uns freigekämpft. »Schau nur«, winselte Alexander, »einen Riss über den ganzen Handrücken!« »Mein Gott, stell dich nicht so an!«, knurrte ich. »Du bist hier nicht auf Sonntagnachmittags-Spaziergang mit deiner Mami.« »Aber wenn unser Abenteuer schon so anfängt, wie wird es dann erst enden«, maulte er. Unter den hohen Bäumen war es stockdunkel. Wir hielten uns an der Hand und tasteten uns vorwärts. Ein schriller Schrei ließ uns erstarren. Flügel rauschten über unseren Köpfen im Geäst. »Das war eine Fledermaus«, wisperte Alexander.
»Quatsch, Fledermäuse rauschen nicht mit den Flügeln, weil sie keine Federn haben. Ein Vogel war es.« Ich zog Alexander weiter. Wenn ich geahnt hätte, dass er so ein Angsthase ist, wäre ich doch lieber allein hier eingestiegen. Das Dunkel lichtete sich und wir traten aus den Bäumen auf eine Wiese. Vor uns lag graubraun in der Morgendämmerung das Haus. Auf dieser Seite hatte es eine große verglaste Veranda. Breite Stufen führten von dort zu einem Kiesplatz herunter mit einem kleinen Brunnenbecken. Das Ende des Treppengeländers zierten große Marmorkugeln. Wieder ertönte der Schrei, gefolgt von Flügelrauschen. Unwillkürlich taten wir drei Schritte zurück in den Schatten der Bäume. Ein großer schwarzer Vogel segelte über den Kiesplatz und landete auf einer der Kugeln. »Korah, korah!«, krächzte der Vogel. Knarzte da ein Fenster? Sprach eine leise Stimme? Der Rabe flog aufs Verandadach und war verschwunden. Wir krochen tiefer ins Gebüsch und beobachteten von dort aus das Haus. Nichts rührte sich. Mein Rücken fühlte sich nass an. Ich begann zu frieren. Alexander brummte: »Mir tropft es in den Hals. Und der Fuß ist mir eingeschlafen. Ich halt es nicht mehr aus. Ich muss aufstehen und gehen. Es ist sowieso egal.« Ich spürte den Hufnagel in meiner Tasche: er war ganz kalt. Also erhoben wir uns vorsichtig und pirschten uns an der Gartenmauer entlang. In der Ecke zwischen Haus und Mauer, unter einem Welleternit-Dach, war Gerümpel
gestapelt: Bretter, zerbrochene Dachziegel, ein alter Ofen. Es gab auch eine Treppe hinunter in den Keller, aber die Tür war verschlossen. Der Wind hatte Laub hinuntergeblasen, das nun dort in der Feuchtigkeit vor sich hin muffelte. Unter dem abgebrochenen Regenrohr lagen zwei tote nackte Jungvögel. Die Glasfenster der Veranda waren undurchsichtig vor Schmutz. Mehr der Vollständigkeit halber drückte ich auf die Klinke der Verandatür und rüttelte etwas. Ich erschrak, als sie mir fast entgegenfiel: Die Türangel war gebrochen. Wir schoben die Tür etwas auf und schlichen hinein. Zwei alte Bänke mit gusseisernem Gestell und hellblauen Brettern gammelten vor sich hin. Auf einem Tisch standen zwei schimmelüberzogene Bierflaschen und eine leere Sardinendose. Aber die Tür ins Haus hinein war mit Brettern vernagelt. Ich spähte durch die Ritzen. Aber ich konnte vor Dunkelheit nichts erkennen. »Komm«, Alexander zupfte mich am Pulli, »es ist gleich 7 Uhr. Wir wollten doch wieder zu Hause sein, bevor deine Eltern aufstehen.« Wir kämpften uns wieder zur Mauer durch. Der Garten war echt total verwildert. Überall sprossten Kletterranken, wanden sich in die Bäume hinauf. Wir traten die Brennnesseln nieder, um leichter die Strickleiter zu erreichen. Vorsichtig bog ich die Brombeerranken zur Seite. Trotzdem verfingen sie sich in meinen Haaren, spießten sich in meinen Ärmel, bohrten sich durch den Pulli bis auf die Haut. Ich versuchte, mich zu befreien. Aber als ich
die eine Ranke gelöst hatte, hakte sich die nächste in meinen Rücken. Ich zog und zerrte. Meine Finger bluteten. Es war, als ob mich der Garten festhalten und nie mehr weggehen lassen wollte. Alexander hockte schon oben auf der Mauer und schaute ungeduldig meinem Befreiungskampf zu. Schließlich zog ich mich an der Leiter hoch. Da riss die Ranke ab. Auf der anderen Seite zupfte sie Alexander mit spitzen Fingern und etlichen Autsch und Scheiße von meinem Pulli.
Wir spielten Alexanders Computerspiel weiter. Aber Dieter ließ uns nicht viel Zeit dafür. Am Nachmittag gingen wir mit Elke in eine kleine private Galerie, damit Dieter ungestört arbeiten konnte. Eine Freundin von Elke stellte selbstbemalte Seidentücher aus. Es waren auch ein paar von Elke darunter. Aber noch kein einziges war verkauft. Überhaupt kam an diesem trüben Nachmittag kein Mensch in die Galerie. Elke quatschte endlos mit ihrer Freundin. Alexander trommelte auf die Tischplatte. Ich holte den Hufnagel aus der Tasche und betrachtete ihn: Die Spitze war umgebogen. An manchen Stellen war er schwarz. Unter dem viereckigen Kopf war noch etwas Erde. Ich kratzte sie mit dem Fingernagel heraus. Dann polierte ich ihn an meiner Jeans, damit er noch schöner glänzte. Nun fühlte er sich warm an.
Ich schaute auf, und sah, dass Elkes Freundin zu mir herüber blickte. Sie hatte zwei außergewöhnlich spitze und lange Eckzähne. Ich stieß Alexander in die Rippen: »Komm, gehen wir schon mal raus!« »Es regnet doch.« »Ich muss dir aber was wichtiges sagen!« Elke nahm kaum Notiz von uns, aber die Freundin folgte uns mit durchdringendem Blick, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken rieselte. Ihre Zunge fuhr genießerisch über die dunkelroten Lippen. »Ist dir nichts aufgefallen?«, fragte ich draußen vor der Tür. »Nein. Was sollte mir denn aufgefallen sein?« »Hast du gesehen, was die für blutrote Lippen hat?« »Darauf habe ich nicht geachtet.« »Und bleich ist sie. Und eine getönte Brille trägt sie, um ihre Augen zu schützen.« »Du meinst, sie ist …« Alexander schaute mich erschrocken an. »Ja, genau das mein ich!« »Und die Seidentücher?« »Sollen nur Leute anlocken. Sie verkauft gar keine.« Wir traten von einem Bein aufs andere. Es war kalt und nieselte. »Mensch«, rief Alexander, »und deine Mutter? Die ist jetzt ganz allein mit ihr! Wir müssen sofort rein und Elke helfen.«
Aber keiner traute sich, weder er noch ich. Doch da kam Elke schon aus der Tür. »Warum habt ihr es denn bloß so eilig? Der Nachmittag ist noch lang«, meinte sie. Elke schlang sich das Halstuch um. Aber ich konnte ihren Hals nicht deutlich genug sehen, um Bissspuren zu erkennen. Ich fühlte nach dem Hufnagel: Er war wieder kühl. »Keine Gefahr!«, flüsterte ich Alexander zu. »Bist du dir auch sicher?«, gab er zurück. »Gute Freunde beißt man nicht«, erklärte ich ihm. »Dich würde ich auch nicht beißen. Ehrenwort!« »Gut! Für dich würde ich mich sogar in den Arm schneiden und dich daran lecken lassen. Das ist dann ungefährlich.« Ich deutete auf den Kratzer auf seiner Hand von der Brombeerranke: »Darf ich schon mal eine Kostprobe haben?« Dann lachten wir beide. Elke seufzte laut und murmelte, so jung möchte sie auch noch mal sein. Sie denkt wahrscheinlich schon wieder, wir sind verliebt.
Dieter stöhnt über seine neue Arbeit. Die Begeisterung ist schon wieder verflogen. Denn der Verlag hat eine ganz strenge Auflage an ihn erlassen: Die Hauptpersonen müssen sein: ein supersportliches Mädchen, Judomeisterin, Springreiterin und Tennisass, ein dicker kurzsichtiger Superschüler, der mehr weiß als im Lexikon steht, aber nicht in der Lage ist, sich die Schuhe selbst zu binden, und ein fröhlicher unbekümmerter Sunnyboy, der laufend ins Fettnäpfchen tritt. Außerdem spielt noch ein Hund mit. Dieses Trio oder vielmehr Quartett ist ausersehen, in der Freizeit die spannendsten Kriminalfälle zu lösen. Wann sie trainieren und lesen ist unwichtig. Und für die Schule müssen sie ohnehin nie lernen, keine Vokabeln, keine unregelmäßigen Verben, keine Geschichte oder Erdkunde. Davon darf ausdrücklich nie die Rede sein! Heile Schulwelt! Am Vormittag gehst du hin, und damit ist alles erledigt. Nachmittags und abends sind sie unterwegs. Aber der Charakter muss stimmen, denn die drei
Bände müssen sich in eine Serie von 45 Bänden einreihen lassen. Da hat er sich auf was eingelassen! Aber so werden heute Jugendbücher gemacht! Immerhin winkt ein Honorar von 0.50 DM pro verkauftem Buch.
Sonntag Abend. Britta hat Alexander abgeholt. Dieter tippt noch immer. Elke ist ins Bett gegangen. Ich schaue aus dem Fenster. Langsam nimmt der Burghof Gestalt an: Fackeln qualmen, Türen schlagen, die rauen Stimmen der Söldner … Oh nein, nicht die Burggeschichte! Ich will etwas anderes träumen. Ich will träumen, dass ich auf einem weißen Pferd über eine sonnendurchglühte Ebene trabe. Der Wind zaust mir die Haare. Vor mir schimmert blau das Gebirge. Und am Abend sitze ich mit meinen Freunden Alexander, Eric und Marc am Lagerfeuer. Auch Natalie ist dabei, eine kühne Amazone mit Lederwams und Stiefeln, deren Bogen stets trifft. In der Ferne heulen die Schakale. Funken sprühen aus der Glut. Natalie lacht, dass ihre Zähne blitzen. »Zu den Amazonen wollt ihr? Wisst ihr, was ihr euch da vorgenommen habt? Und du auch, Almandine? Du willst wirklich zu den Amazonen?«
»Ja, ich will, auch wenn du es nicht glaubst.« »Doch, ich glaube es schon. Ich bin nur überrascht. Außerdem – so einfach ist es nicht! Der Übergang über das Gebirge ist schwer zu finden. Oft ist er durch Schneestürme überhaupt nicht gangbar.« »Aber ich muss! Ich muss!«, beharre ich. »Und was willst du überhaupt dort?«, fragt Natalie. »Das kann ich nur der Königin sagen, nicht dir.« »Wenn du bis zur Königin vordringst! Das ist nicht so einfach. Vielleicht trifft dich an der Grenze schon ein Pfeil der Wächterinnen.« »Ich werde es trotzdem versuchen.« Natalie sah mir tief in die Augen. Ich hielt ihrem Blick stand. »Ich führe dich«, sagte sie nach einer Weile, »aber wir nehmen den geheimen Pfad. Das ist schneller.« Wir haben die Pferde am Fuß des Passes bei einer Alten untergestellt. Zu Fuß kann man das Gebirge leichter überqueren. Natalie hat mir die Augen verbunden, um mich den geheimen Weg zu führen. Zweige schlagen mir ins Gesicht, Dornen und Kletten verhaken sich in meinen Haaren. Wir kriechen irgendwo durchs Gebüsch. Ich höre einen Bach rauschen. Es wird kühl. Ich stolpere über Steine, platsche auch ins Wasser. Nach einer Weile nimmt sie mir die Binde wieder ab. Wir steigen eine enge Schlucht aufwärts. Das Wasser tost und brodelt in tiefen Kolken. Die Felsen sind mit grünem Moos überzogen. Auf Händen und Füßen klettern wir
aufwärts. Ein Wasserfall sendet uns seine Gischtfahnen entgegen, umhüllt uns mit glitzernden Tropfen. Hinter dem prasselndem Vorhang beginnt ein Tunnel. Treppen sind ausgehauen. In der Finsternis tappen wir aufwärts. Dann fällt plötzlich blendendes Sonnenlicht ein: Die Höhle öffnet sich und wir stehen auf einem schmalen Vorsprung. Der Fels fällt senkrecht unter uns ab: Am Grunde schimmert Wasser zwischen dem grünen Laub. Wir tasten uns auf einem schmalen Felsband die Wand entlang. Ich hefte meine Augen auf den Fels, damit mich der Schwindel nicht übermannt. Plötzlich ist das Felsband zu Ende, wie abgeschnitten. »Spring!«, sagt Natalie. Ich hebe die Augen: Tatsächlich, der Weg geht weiter. Es fehlt nur ein Stück. Und noch etwas sehe ich, zwei Kriegerinnen in schimmernder Brünne, mit kleinen Helmen auf dem Kopf, an ihre Langbogen gelehnt. »Hier sind zwei Wächterinnen«, stammle ich. »Werden sie mich hinüberlassen?« »Wenn du nicht willkommen wärst, hätten sie schon auf dich angelegt, als du noch in der Wand warst.« Schaudernd denke ich an den kleinen Bach dort unten. Wie viele unerwünschte Besucher hat er schon aufgenommen?
Marc, Natalie und ich haben den gleichen Schulweg. In der Früh begegnen wir uns fast nie. Aber nach Hause gehen wir meist zusammen. Marc hat auch einen Computer. Aber wir können nicht viel darüber reden, weil Natalie sich dann ausgeschlossen fühlt und dauernd ätzende Bemerkungen macht. Natalie und Marc wohnen im selben Haus. So muss ich das letzte Stück immer allein gehen. Meist mache ich jetzt den Umweg an dem Haus vorbei. Es sieht immer gleich aus. Ich gehe an der Gartenmauer entlang bis zu der Stelle, wo ein großer Ast weit herüber ragt. Da bleibe ich dann stehen und lausche und versuche, mich in den Baum hineinzuversetzen, um so in den Garten zu sehen. Auf einmal höre ich ein sonderbares Geräusch: ratsch, ratsch, ratsch. So ein Geräusch habe ich noch nie gehört. Auf einmal bricht es ab. Ein Schaben ertönt für kurze Zeit. Gleich darauf setzt das Ratsch-ratsch wieder ein.
Ich taste nach dem Hufnagel: kalt. Also bleibe ich stehen und spitze die Ohren: ratsch, ratsch, dann ein Knacksen, ein Stampfen, Brummen. Vor meinen Augen taucht das Bild eines großen klobigen Ungeheuers auf, das durch den Garten stapft, das Gebüsch niederwalzt, sich zur Mauer durcharbeitet, weil es mich gerochen hat. Aber warum ist der Nagel kalt? Wird er erst heiß, wenn das Monster schon oben auf der Mauer hockt, bereit sich auf mich zu stürzen. Oder kommt es die Mauer nicht hoch, weil es zu schwerfällig ist? Es sucht ein Loch, durch das es kriechen kann, findet aber keines. Deswegen ist der Nagel kalt.
Britta ist ganz glücklich, weil ich mit ihr wieder zum Biobauern fahren will. Im Auto redet sie ununterbrochen: »Du brauchst das auch, nicht wahr, Almandine? Raus aus der Stadt, aus dem Mief, aus dem Gestank der Abgase. Frische Luft tanken, tief durchatmen, den Sauerstoff in den Adern prickeln spüren. Das Grau der Häuser und des Betons hinter sich lassen. Weite, Freiheit erleben. Zurück zur Natur, zu den Ursprüngen. Wo die Menschen noch unmittelbar für ihre elementaren Bedürfnisse arbeiten, für Nahrung und Wärme. Alexander macht mir Sorgen. Er vergräbt sich total. Sitz nur noch vor dem Computer und spielt seine Abenteuerspiele. Oder liest. Und weißt du, was er liest? Irres Zeug, fantastische Geschichten, wo man nach Zaubersteinen und verwunschenen Schlössern suchen muss. Hat überhaupt keinen Bezug zur Realität. Wenn er doch auch mitfahren würde! Ich glaube, hier draußen würde er bald wieder mit den Füßen auf dem Boden stehen. Er schwebt ja total in seiner Fantasiewelt,
sieht überall Drachen und Gnome. Du musst ihm erzählen, wie schön es hier draußen ist. Vielleicht kommt er dann nächstes Mal mit. Auf dich hört er doch. Du bist so vernünftig.« Wenn ich ehrlich bin, es gefällt mir gar nicht ›hier draußen‹. Es ist neblig. Man sieht vom Stall aus kaum das Wohngebäude. Nass und kalt legt sich der Nebel auf Haare und Haut. Die Pferde sind nicht auf der Koppel, sondern stehen in einem Unterstand. Ich traue mich nicht, zu ihnen hinzugehen. Das Gras ist nass und würde meine Stoffschuhe durchweichen. Es riecht nach Holzfeuer. »Die Rosi ist in der Küche«, sagt die Bäurin. Sie hat eine blaue Hose und Jacke an, ein Kopftuch straff über die Haare gebunden. An ihren Gummistiefeln kleben dicke Brocken und Stroh. Zwei Katzen schleichen mit mir ins Haus und drängen sich an der Küchentür. Das erste, was ich sehe, ist ein großer Berg von ungewaschenem Geschirr, der sich neben und im Spülbecken türmt. Rosi sitzt am Tisch und blättert in einer Zeitschrift. Im Herd knistert das Feuer. »Komm, setz dich her«, sagt sie. Der Tisch ist mit einer klebrigen Plastikfolie bedeckt. Das, was Rosi so interessiert liest, ist keine Zeitschrift sondern ein Versandhaus-Katalog. Sie will mir einen chicen Pulli zeigen, den sie gerne haben möchte. Ich erstarre, als sie mir das Bild vor die Nase hält: ein mit Perlen und Glitzersteinchen besetztes Tigergesicht grinst mich an.
»So was gefällt mir«, strahlt Rosi. »Wenn ich mit der Schule fertig bin, gehe ich in die Stadt. Dann werde ich Fernsehansagerin oder Schauspielerin, und kaufe mir lauter so tolle Sachen. Schau hier, der Rock, aus Goldbrokat. Und hier die Hose mit Lurex-Stickerei. Was ist Lurex?« »Irgendwas, was glitzert.« »Wohnt ihr in einem Pent-House mit Split-Level?« Ich muss lachen: »Nein, wir wohnen in einer grauen Mietskaserne. Es würde dir bestimmt nicht gefallen.« »Aber du kannst jeden Tag in die Geschäfte gehen und dir was kaufen.« »Ich gehe nur ganz selten in die Geschäfte.« »Warum?«, bohrt Rosi nach. »Weil ich kein Geld habe, und weil – weil ich es nicht aushalte, dauernd Sachen zu sehen, die mir gefallen und die ich doch nicht kaufen kann.« »Aber ich werde mir das alles mal kaufen.« »Das werden wir ja sehen.« »Ja, das werden wir sehen. Man muss nur fest an etwas glauben, dann wird es auch, sagt meine Mutter immer.« Auf der Heimfahrt fing Britta wieder von vorne an: »Wie schön es doch auf dem Land ist! Wenn Dieter jetzt dann mit seiner Schreiberei viel Geld verdient, dann müsst ihr euch ein altes Bauernhaus mieten, wenigstens fürs Wochenende. Die Bäurin hat gerade erzählt, dass ihre Nachbarn die Landwirtschaft aufgeben und das Haus verkaufen wollen. Das wäre doch was für euch, meinst du nicht?«
»Dieter und Elke wollen nach Südfrankreich ziehen.« »Die Provence! Herrlich! Wunderschön!« Britta verdreht die Augen. »Aber da zieht kein Mensch mehr hin. Ihr müsst in die Toscana ziehen. Ein Bekannter von mir hat dort ein Haus. Wundervoll, sag ich dir, wundervoll! Total einsam gelegen. Nur Olivenbäume ringsum.« »Dort war ich schon mal.« Ja, dort war ich wirklich schon mal, letztes Jahr in den Ferien mit meinen Eltern. Sie haben in diesem Haus eine Fastenkur mit Meditation und Rebirthing gemacht. Das Haus ist wirklich total einsam, nur ein paar Olivenbäume, aber nicht ringsum, sondern nur auf einer Seite. Auf der anderen Seite ist ein steiniger Hang, mit Dornenbüschen und Disteln bewachsen. Ich habe mich noch nie in den Ferien so gelangweilt wie dort. Die Erwachsenen waren völlig mit sich selbst beschäftigt. Mich schickten sie spazieren gehen. Allein. Unter den Olivenbäumen. Das Dorf war drei Kilometer weit weg. Aber dort hausten nur ein paar alte Frauen in schwarzen Kleidern und magere Katzen und Hunde, vor denen ich Angst hatte, weil sie bellend hinter mir herrannten. Alexander saß noch immer vor dem Computer. »Hast du was Neues herausgefunden?«, fragte ich gleich. »Ich habe das Nest des Raben entdeckt. Da lässt er einen Ring mit einem blauen Stein fallen und verschwindet.«
»Alex, das ist er!«, jubelte ich. »Krächzt der Rabe, nimm die Gabe. Trägst du den blauen Stein, so lässt man dich ein.« »Wie kommst du da drauf?« Alexander schaute mich skeptisch an. »Das sagt doch das Gerippe im Keller«, sagte ich. »Hast du das vergessen? »Ach ja, stimmt!« »Jedes Wort ist wichtig!« »Aber wer lässt uns ein?« Alexander fragte, als ob ich alles wüsste. »Was weiß ich? Die Golems? Das Gerippe?« Wir probierten es als erstes bei den Golems. Sie schlugen uns wieder tot. Dann probierten wir es bei den Knochenmännchen. Aber die wussten nach wie vor nur ihr Sprüchlein. Bis wir draufkamen, es beim Haupteingang zu versuchen: der blaue Stein öffnete das Tor zum Vampirschloss! Doch das Tor ist hinter uns zugeschlagen und lässt sich von innen leider nicht mehr öffnen. Schade, es war schon so spät, dass ich mich auf den Heimweg machen musste. Die ganze Zeit in der Straßenbahn dachte ich daran, dass wir ewig in den Gewölben nach dem Eingang gesucht hatten, während wir doch nur zum Haupteingang zu gehen brauchten. Und als ich dann ausstieg, und das alte Haus dunkel vor mir aufragte, ging ich einfach die Treppe hinauf und drückte die Haustür auf.
Vorsichtshalber ließ ich sie nicht hinter mir ins Schloss schnappen, sondern lehnte sie nur an. Der Hufnagel in meiner Tasche war kalt und glatt. Die Zimmer nach vorne, zur Straße hinaus, waren leer. Staub tanzte in den Strahlen der Abendsonne, die golden durch die Fenster fielen. Aber in dem großen Zimmer zum Garten hinaus war es dunkel. Schwere Brokatvorhänge waren vor die Fenster gezogen. Ich hob sie hoch. Gleich stieg mir Staub in die Nase, dass ich niesen musste. Es war so laut, dass ich selbst erschrak. Die mit Brettern vernagelte Verandatür fand ich hinter einem der Vorhänge. In der Mitte des Zimmers stand ein großer niedriger Tisch, mit einem schwarzen Tuch bedeckt, ein paar Leuchter mit Kerzenstummeln darin waren über und über mit Wachs bedeckt. Es roch nach Räucherstäbchen. Dann stieg ich die knarzende Treppe nach oben. Ein Badezimmer, in der Wanne noch Wasser und ein Rand aus grauen Flocken rundum. Die vorderen Zimmer leer, aber deutlich erkennbare Fußspuren auf dem staubigen Boden. Irgend jemand kam ab und zu ins Haus. Und dieser jemand hatte heute vergessen, die Tür abzusperren. Wenn ihm das jetzt einfiel und er zurückkam, war ich gefangen. Allmählich bekam ich Angst. Ich tastete nach dem Hufnagel in meiner Hosentasche: Er war kalt. Im nächsten Zimmer entdeckte ich Matratzen und Decken auf dem Boden, daneben ein paar leere Schnapsund Colaflaschen und am Boden ein unordentlicher
Haufen von Jacken und Hosen. An der Wand, ordentlich auf Nägel gehängt, Schirmmützen mit Wappen, Stahlhelme. In einer Ecke standen zwei blaue Müllsäcke, vollgestopft mit Kleidungsstücken. Ich schaute aus dem Fenster, hielt mich am Griff fest und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Direkt unter mir lag das Dach der Veranda und dahinter im Zwielicht die Bäume des Gartens, wogten die Äste im Wind. Eine Weile schaute ich so hinaus. Fast hätte ich zu träumen angefangen, dass ich dort unten über den Rasen spazierte. Da nahm ich erst wahr, dass das Gras gemäht war! Ja, es war ganz kurz geschnitten, und mittendrin lag ein Heuhaufen. Mit langsamem Flügelschlag kam eine Krähe an und landete auf dem Verandadach. Sie wandte den Kopf zu mir, und krächzte. Ich nahm die Hände vom Fenstergriff und steckte sie in die Tasche, fühlte nach meinem Hufnagel: Er war ganz heiß! Leise schlich ich die Treppe hinunter. Trotzdem knarzte eine Stufe. Erschrocken blieb ich stehen und horchte. Ein Windstoß fuhr durch den Flur und wirbelte Staub auf. Die Haustür stand weit offen! Mit wenigen Sprüngen war ich draußen und zog die Tür zu. Krachend fiel sie ins Schloss. Ich zwang mich langsam zu gehen. Der dicke Alte kam daher geschlurft. Schnell wechselte ich die Straßenseite und spannte meinen Regenschirm auf, hielt ihn so, dass er mich nicht sehen konnte.
Dieter hat sich aus Versehen eine ganze Datei gelöscht. Er rauft sich die Haare, denn in zwei Tagen muss er seine Texte abgeben. Auch Alexander am Telefon konnte nicht helfen. Er murmelte nur etwas von Sicherheitskopien und Dateien in Stücke aufteilen. Da fiel mir zum Glück Marc ein. Drei Minuten später klingelte er an unserer Wohnungstür. »Die Datei ist nur im Verzeichnis gelöscht«, erklärte er Dieter. »Auf der Diskette befindet sie sich noch. Ich hol mal schnell ein Programm – wenn ich es finde – von meinem Vater.« Damit verschwand sie wieder für eine Weile. Dieter tat mir echt leid, wie er, ein Häufchen Elend, am Küchentisch saß. Nicht einmal eine Tasse Kaffee konnte ihn aufheitern. Er starrte nur in den Becher anstatt zu trinken. Marc hatte das Programm nicht gefunden. Aber wir sollten warten. In zwei Stunden würde sein Vater heimkom-
men, und der könnte bestimmt helfen. Sicherheitshalber nahm ich die Diskette heraus, bevor mein schusseliger Vater noch mehr anstellte. Es wurden zwei lange Stunden. Inzwischen war Elke heimgekommen. Sie war ziemlich gereizt, weil sie Ärger im Kindergarten hat. Irgendeine Mutter beschwert sich dauernd, dass ihr einmalig begabter Sprössling im Kindergarten nicht genug gefördert wird. Normalerweise hat Elke in solchen Fällen in Dieter einen geduldigen Zuhörer, bei dem sie Dampf ablassen kann. Heute nun war Dieter überhaupt nicht ansprechbar, weil er selber Probleme hatte. Da flippte Elke aus, fing zu heulen an und verschwand im Schlafzimmer. Da wird sie sich aber noch umschauen, wenn Dieter fest als Serienschreiberling eingespannt ist und ihr nicht für ihre vielen Kümmernisse jedes Mal das Ohr leihen kann. Niemand kümmerte sich ums Abendessen. Ich wartete mit Dieter auf Marcs Vater. Nach fast drei Stunden kam er endlich. Kurz darauf war Dieters Datei wieder aufgetaucht. »Jetzt muss ich die ganzen Korrekturen noch mal machen!«, stöhnte Dieter. »Wieso«, brummte der Mann, »das macht doch das Programm.« So machte Dieter auch noch mit einer Einrichtung Bekanntschaft, die Deutschlehrer fast überflüssig macht: der automatischen Fehlerkorrektur. Der Computer kann besser Rechtschreiben als ein Deutschlehrer.
Dieter war so happy, dass er mit Marcs Vater gleich eine Flasche Wein leeren wollte. Doch der hatte keine Lust, weil er hundemüde war von seiner Arbeit.
Natalie nahm mich auf dem Schulhof beiseite. »Willst du immer noch in das alte Haus hinein?«, fragte sie mich. »Ich will nicht in das Haus hinein, ich will es mieten und darin richtig wohnen, mit meinen Eltern und einer befreundeten Familie«, erklärte ich nach einigem Zögern. »Das Haus ist nicht zu vermieten. Es wird verkauft und abgerissen.« Ich starrte Natalie an: »Woher weißt du das?« »Ich weiß es eben. Also, hast du Interesse, das Haus mal von innen zu sehen?« »Kannst du, ich meine, hast du einen Schlüssel?« »Nein, ich habe keine Schlüssel. Aber man kann zu bestimmten Zeiten hinein. Ich würde dich mitnehmen.« Ich war sprachlos und verwirrt. »Du musst natürlich absolut dicht halten«, fuhr Natalie fort, »und niemandem etwas erzählen, auch nicht Harun,
nicht Mark, deinen Eltern nicht, überhaupt niemandem. Willst du?« »Ja, ich will.« Meine Stimme war ganz heiser. Was war das für ein Geheimnis? Wie kam Natalie dazu? »Wir treffen uns Freitag Abend um halb neun bei mir.« »Freitag Abend um halb neun!« Ich war empört. »Du bist verrückt! Da lassen mich meine Eltern nicht mehr weg, es sei denn, sie bringen mich hin, schauen sich den Laden an, und holen mich wieder ab.« »Das geht aber nicht! Auf keinen Fall dürfen deine Eltern ahnen, wo du hingehst.« »Und deine Mutter? Die erlaubt das?«, fragte ich. »Die ist Freitag Abend doch unterwegs, bei ihrer Frauengruppe. Ich denke, du bist Freitag Abend auch allein?« »Nicht mehr, seit ich einmal überfallen worden bin.« Natalie starrte auf ihre Fußspitzen und nagte an ihrer Unterlippe. Dann warf sie den Kopf zurück, schleuderte die Haare aus der Stirn und fauchte: »Bitte, wenn du dich so unterdrücken lässt – ich gehe jedenfalls hin. Und erzählen werde ich dir nichts davon, dass du es weißt.« »Ich weiß eh, was da los ist.« Natalies Geheimnistuerei ärgerte mich so, dass ich ihr doch eine Nuss zu knacken geben musste. Ich musste einfach. »Ein großes dunkles Zimmer, nur von einigen Kerzen erhellt, schwarzen Kerzen natürlich, in der Mitte ein Tisch mit einem schwarzen Tuch bedeckt, das bis auf den Boden reicht …« Natalie, die sich schon zum Gehen gewendet hatte, drehte sich abrupt um und starrte mich mit offenem Mund
an. Die Hand hielt wie erstarrt die Haarsträhne fest, die sie sich eben nach hinten hatte streichen wollen. »Dunkle Gestalten mit schwarzen Kapuzen«, fuhr ich fort, »murmeln Flüche und Verwünschungen. Und dann erscheint er – einem riesigen schwarzen Schatten gleich. Die Kerzen flackern und verlöschen. Schwefelgeruch erfüllt den Raum. Spitze angsterfüllte Schreie erzittern und sterben ab …« Natalie packte mich an den Schultern. Ihre Fingernägel spürte ich durch den Pulli. Ihr Gesicht war ganz nahe vor mir, ihre schreckgeweiteten Augen verschwammen mir fast. »Woher weißt du das?«, zischte sie. »Eine Vision! Du weißt doch, dass ich manchmal …« Sie ließ mich nicht ausreden: »Warst du schon dort? Oder hat dir das jemand erzählt? Wer war es?« Ich löste mich aus ihrer Umklammerung und schob sie weg. »Geh nur hin«, flüsterte ich, »das weiß doch jeder hier im Viertel, zumindest jeder, der ein bisschen Gespür für solche Dinge hat, dass es in diesem Haus nicht geheuer ist, dass dort der Schwarze sein Unwesen treibt. Aber nicht mehr lang, Natalie, ich sag es dir, nicht mehr lang!« Dann ging ich schnell weg, denn ich merkte, dass ich gleich lachen musste. Einmal drehte ich mich noch um. Natalie stand wie eine Salzsäule noch immer auf demselben Fleck. Ob sie wohl eine Gänsehaut hatte? Ich ging zu Harun und Mark hinüber, und da konnte ich das Lachen nicht mehr zurückhalten. Mark klopfte mich
auf den Rücken, bis ich mich beruhigt hatte. Natürlich wollten sie wissen, warum ich so lachte. »Ach, ich habe gerade erfahren, dass in dem alten Haus schwarze Messen abgehalten werden«, sagte ich. »Habt ihr Lust hinzugehen?« »Das ist aber gar nicht zum Lachen«, unterbrach mich Marc. »Wann? Da muss ich hin«, Harun war sofort begeistert. »Du als Ausländer«, fuhr Marc fort, »ausgerechnet! Da kommst du nicht mehr lebend heraus.« »Sind da Skinheads dabei?« »Zum Großteil! Die flippen dabei regelrecht aus. Ne, da lasst mal die Finger davon. Außerdem kennst du doch unsere Mandy – alles nur ihrer üppig wuchernden Phantasie entsprungen!« Nun war ich sauer. Meine besten Freunde nahmen mich nicht ernst. Sollten sie doch selber schauen, wie sie weiter kamen. Vielleicht gehe ich doch hin, wer weiß? Wenn die dumme Gans von Natalie sich das traut, warum nicht ich?
Alexander verbrachte das Wochenende bei seinem Vater. Dieter hatte zwei neue Themen bei seiner Serie zu bearbeiten. Elke fuhr mit mir in die Stadt auf der Suche nach billigen Turnschuhen. Sie war überzeugt, wir müssten welche finden, die weniger als hundert kosteten. Fanden wir schon, aber die waren nicht das, was ich wollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu jammern, dass die billigen an den Knöcheln drücken oder an den Fersen reiben. Elke soll sich nicht so anstellen. Bald verdient Dieter mehr Geld als sie. Da kann sie mir doch auch mal so etwas kaufen, was die anderen haben. Dann gingen wir noch Kleider anprobieren. Elke träumt von einem Abendkleid mit Volants und großem Dekolleté. Wann will sie das eigentlich anziehen? Wenn im Fernsehen ein Theaterstück gegeben wird? Sitzt Sie dann großer Robe davor? Mir suchte sie auch eins aus.
»Mandy, so ein Kleid muss man einfach im Schrank haben, falls man einmal ausgehen will.« Ich fand mich doof damit und schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse. »Passt ihr doch genau. Und steht ihr wunderbar!«, bemerkte die Verkäuferin. Sie wuselte dauernd um uns rum. Witterte sie das große Geschäft oder passte sie nur auf, dass wir nichts klauten? »Wie ein Püppchen sieht sie aus darin.« »Ach, Almandine«, quietschte Elke, »du bist wirklich süüüß damit. Ich glaube, ich kaufe dir das Kleid.« Ich stürzte in die Umkleide und riss mir den Fetzen vom Leib. Da stellt sie sich so an, weil ich ordentliche Turnschuhe will, und jetzt wirft sie das Geld für so ein unmögliches Kleid raus, in dem ich süüüß aussehe und das ich nie anziehen kann. »Eine echte Levis-Jeans wär mir da schon lieber«, sagte ich, als ich der Verkäuferin das Kleid überreichte. »So ist meine Tochter! Will nur Jeans tragen!«, klagte Elke. Die Verkäuferin hängte das Traumkleid mürrisch auf den Haken. »Die sind alle so verwöhnt, dass sie es gar nicht mehr schätzen, wenn man ihnen was schönes schenkt«, murrte sie. Elke nickte zustimmend.
Dieter schrieb und korrigierte, las zwischendurch im Handbuch, fertigte drei Sicherheitskopien an – dabei wollte ich doch am Spiel weiter machen. Alexander hatte bestimmt schon alle Räume des Vampirschlosses durchforscht, ohne mich. Und ich wollte doch auch mal etwas entdecken, nicht immer nur hören, was Alexander wieder gefunden hatte. Ich ging in mein Zimmer, schob den Bücher- und Pulloverstapel zur Seite und kniete mich auf die Truhe, um aus dem Fenster zu schauen. Es nieselte. Nach und nach gingen die Straßenlaternen an. Im Burghof blakte eine einzige Fackel vor sich hin. Der bucklige Wächter schlurfte vor mir her die Steintreppe hinauf und öffnete das schwere Holztor. Ein dumpfer Geruch schlug mir entgegen, Stimmengewirr und flackernder Lichtschein. Ich ging den Gang entlang, bog um die Ecke und stand im großen Saal.
Nichts hatte sich verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war: Die blutroten Teppiche an den Wänden, die Schilde mit den Eberköpfen, die Schwerter, die Spieße. Das ganze Gesindel, das dem Burgherrn diente, saß auf den Bänken und zechte. Mich ekelte vor ihnen, vor ihren abgefaulten Armstumpfen, ihren eiternden Beulen, ihren Geschwüren und Ausschlägen, die die Gesichter zerfraßen, ihren trüben Augen, wie sie stumpf in ihre Humpen starrten. Sie beachteten mich gar nicht, als ich mich zwischen ihren Reihen durchzwängte. Auf einmal zupfte mich einer am Ärmel. Ich blickte in ein sabberndes zahnloses Maul, sah eine zerfressene Nase, leere Augenhöhlen. »Du, du, du Schöne«, stammelte er, »nimm ihm die Kette ab.« Dann kippte er vornüber und schlug mit dem Kopf auf die Tischplatte auf. Aber seine dürren Finger waren immer noch in meinen Ärmel gekrallt, ließen nicht los: nur Knochen unter ledriger brauner Haut, wie eine Mumie. Ich musste mit meiner freien Hand die Finger einzeln lösen. Auf der Balustrade thronte er, in seinem pelzverbrämten golddurchwirktem Mantel, die Beine weit von sich gestreckt. Sündteure Schnabelschuhe trug er, aber mit Löchern in den Sohlen. Gerade ließ er sich von einer Maid den Becher mit Wein füllen und leerte ihn in einem Zug. Nur drei Jungfrauen umringten ihn, mit blas-
sen Gesichtern. Natalia legte die Laute weg und kam mir zögernd entgegen. »Almandina«, hauchte sie, »du bist zurückgekommen!« Er erhob sich. Er war nicht mehr so fett wie ich ihn in Erinnerung hatte. Der Brokatmantel schlotterte geradezu um ihn. Mit fahrigen Bewegungen hob er mir den Becher entgegen. Um seinen Hals baumelte eine Kette und daran hing ein länglicher Stein. Er sah fast wie ein Glassplitter aus oder wie ein gläserner Hufnagel. »Nimm ihm die Kette ab!«, dröhnte es in meinem Kopf und immer wieder: »Nimm ihm die Kette ab!« »Hochedle Amazonenkriegerin, seid vielmals willkommen auf Burg Dunkelfels.« Er reichte mir seine blasse weiche Hand und ließ mich an seiner Seite Platz nehmen. Dann stand er nochmals auf, trat zur Balustrade und rief hinunter: »Leute, ein Hoch auf die Amazonenkönigin! Ihre Botin ist eingetroffen. Fasst Mut, der Sieg ist unser!« »Mandy, Telefon!«, riss mich Elkes Stimme aus dem Traum. Es war Alexander. »Mandy, ich komm nicht weiter!«, stöhnte er. »Ich bin im Schloss des Vampirs. Aber da ist niemand! Verstehst du, nichts und niemand, ich irre durch leere Gänge und Hallen, endlos, ein Saal, eine Kammer an der anderen, aber alles leer, keine Waffen, keine Zaubergegenstände, kein …« »… nur Staub und Spinnweben«, unterbrach ich ihn: »Klar, Alex, die Vampire schlafen am Tag und werden erst mit der Dämmerung wach. Pass bloß auf, dass du
ihnen nicht begegnest, wenn sie aufwachen, denn da sind sie meistens ziemlich durstig.« »Mandy, ich rede von dem Computerspiel und nicht von deinem Haus! Ich soll doch den Schatz des Vampirfürsten klauen. Wo könnte der versteckt sein?« »Da musst du den Obervampir selber fragen.« »Und wo ist der?« Mein Gott, wusste der Kerl denn gar nichts? »Der schläft in seinem Sarg«, erklärte ich ihm. »Aber, bitteschön, wo steht der? Sag schon!« Ich fantasierte drauf los: »Irgendwo im Burghof läuft ein Buckliger herum, den musst du ansprechen.« »Den hab ich niedergeschlagen.« »Es ist doch immer dasselbe mit dir, Alexander! Du sollst die Leute nicht einfach niederschlagen, sondern mit ihnen reden. Bist du nicht schon allmählich aus dem Balleralter heraus?« »Mandy, es war Notwehr«, verteidigte sich Alexander. »Er hat mich nach dem Losungswort gefragt. Ich wusste es nicht, da ging er auf mich los.« »Sag ihm, dass du ein Bote der Amazonenkönigin bist. Dann lässt er dich rein.« »Wie kommst du denn da drauf?« Erst fragt er mich etwas und wenn ich es ihm sage, glaubt er es doch nicht. »Wenn es nicht klappt, ruf mich wieder an.« Ich hatte keine Lust mehr. Er rief nicht wieder an. Mein Traum ließ sich nicht mehr anstellen. Und am Computer saß Dieter.
In der Pause fragte ich Natalie, ob sie bei der schwarzen Messe gewesen sei. »Nein«, antwortete sie, »denn ich wollte dich nicht treffen.« »Du hättest mich gar nicht erkannt, weil alle schwarze Umhänge mit Kapuzen tragen.« »Davon haben sie mir nichts gesagt.« »Wenn du das erste Mal hingehst, brauchst du auch noch keinen. Da wollen sie dich erst mal sehen, so wie du wirklich bist. Wie du wirklich bist, verstehst du, Natalie? Ganz! Alles!« Ich sah direkt, wie Natalies Gehirn arbeitete. Fast hörte ich die Rädchen knirschen. In dem Moment näherte sich ein Typ in Lederjacke und drückte ihr einen Zettel in die Hand. Ohne ein Wort zu sagen, machte er auf dem Absatz kehrt und ging wieder weg. Als Natalie den Zettel las, begannen ihre Hände zu zittern. Ich nahm ihn ihr einfach aus der Hand.
»Du bist nicht gekommen. So geht das nicht. Wenn du nächsten Freitag nicht erscheinst, kriegst du Ärger«, stand darauf. Unterschrift war keine darunter, statt dessen war ein Dolch darauf gemalt, von dessen Spitze Blut tropfte und ein großes Auge. »So sind sie«, sagte ich. »Wenn du dich einmal mit ihnen eingelassen hast, kommst du nie mehr weg.« Natalie kniff die Lippen zusammen und warf ihre Haarsträhne zurück. Sie musterte mich prüfend von oben bis unten und zischte zwischen den Zähnen hervor: »Red doch nicht so superklug daher!« Ich zuckte verächtlich mit den Schultern: »Bitte, wenn du es besser weißt!« Da stürzte sich Natalie auf mich, zog mich an den Haaren, kratzte mir mit den Fingernägeln über die Wange. Ich wand mich, aber sie ließ die Haare nicht los, und das tat schrecklich weh. Schließlich bekam ich ihren Pulli zu fassen und krallte meine Nägel in ihren Unterarm und drehte. Nun war es an ihr, zu schreien. Aber noch immer ließ sie meine Haare nicht los. »Gib ihr Saures!«, hörte ich jemanden rufen. Ein anderer lachte. »Schaut die Tussis an! Um wen prügeln die sich?« Endlich hatte ich Natalies Handgelenk erreicht und drückte auf die Knöchel. Da ließ sie endlich los und trat einen Schritt zurück. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Um uns hatte sich ein richtiger Ring gebildet.
»Zugabe! Zugabe!«, brüllte jemand. »Nicht aufhören! Wir wollen noch mehr!« Ohne Natalie eines Blickes zu würdigen, wandte ich mich ab und drängte mich durch die Zuschauer. Meine Augen füllten sich schon wieder mit Tränen. »Iiih! Wie siehst du aus!«, kreischte Anna. »Du blutest ja.« Ich starrte auf meinen Handrücken: Er war ganz mit Blut verschmiert. Auf der Toilette betrachtete mich im Spiegel: Der Kratzer auf der Wange hatte schon zu bluten aufgehört. Es war gar nicht so schlimm. Ich hatte nur alles verschmiert, als ich mir die Tränen aus den Augen wischte. Dann wusch ich mir das Gesicht. Die Tür öffnete sich, Natalie stürmte herein. Als sie mich sah, zischte sie »Schlampe! Schwein!« und stürmte wieder hinaus. Ich lächelte meinem Spiegelbild triumphierend zu und putzte mir die Nase. Eine ganze Weile blieb ich noch auf der Toilette. Die Kopfhaut tat noch verdammt weh. Ich entdeckte auch eine ganze Menge loser Haare. Ich sammelte sie und häufte sie am Waschbecken auf. Leider erschien mir der Haufen doch etwas mickrig, so dass ich ihn zurückließ, als ich dann doch in die Klasse ging. Am Flur kratzte ich schnell noch ein bischen an meiner Wange, dass sie wieder zu bluten begann. Ich ging zu meinem Platz als ob nichts gewesen wäre. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Die Englisch-Olli
hielt mitten im Satz inne und watschelte auf mich zu. Sie streckte mir ein Papiertaschentuch entgegen. »Mandy, Mädchen«, hauchte sie, »willst du nach Hause gehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich sag es ja«, empörte sich die Olli, nun lauter, »an dieser Schule sind etliche Typen, die nicht hierher gehören. Aber das wird sich ändern. Die Burschen bilden sich ein, sich alles erlauben zu können. Aber Schlägertypen wollen wir hier nicht haben. Das werden sie schon noch einsehen müssen.« Und so weiter und so fort. Ich schaute kurz zu Natalie hinüber. Sie saß mit rotem Kopf da und schaute angestrengt geradeaus. Und die Olli schwadronierte weiter und schaute mit gerunzelten Augenbrauen jeden einzelnen der Jungen an. Doch die waren alle unschuldig und schauten auch so drein. Auf die Idee, mich zu fragen, wer mich denn so zugerichtet hätte, kam sie wohlweislich nicht. Lieber schimpfte sie auf alle gleichmäßig.
Am Samstag fuhr ich wieder mit Britta zum Bauern. In der Stube saß das chice Pärchen, die Pferdebesitzer, und trank Kaffee. Britta ging mit der Bäurin in den Garten, und ich blieb sitzen. »Wo wohnst du denn?«, wollte der Mann wissen. Ich sagte es ihm. »Ach, dort in der Nähe ist das alte Haus meines Onkels«, sagte er. »Kennst du es? Ein altmodischer Backsteinbau und um den Garten herum eine hohe Mauer.« Ich war so überrascht, dass ich nur nickte. Fieberhaft suchte ich nach Worten, doch die Frau kam mir zuvor: »Da könnten wir ja drin wohnen, während unser Penthouse renoviert wird.« »Schatz, in dem Haus kannst du nicht wohnen. Da gibt es keine Heizung und kein warmes Wasser. Der Kamin ist versottet.« »Dann stellen wir halt Elektroöfen auf.«
»Die elektrische Installation ist so alt, dass sie sofort in die Knie geht, wenn du mehr als drei Lampen anschaltest.« »Vielleicht gibt es einen offenen Kamin? Das wäre doch romantisch. Es ist ja nur für kurze Zeit. Und zur Beleuchtung nehmen wir Kerzen.« »Nein, mich kriegst du in das alte Gemäuer nicht.« Der Mann schüttelte den Kopf, dass sein Haarzopf flog. »Als Kind habe ich mal vier Wochen oder so dort gewohnt, als meine Eltern verreist waren. Ich hatte jede Nacht Alpträume. Auch von den Dienstboten hat es keiner lange dort ausgehalten. Sie sagten, in dem Haus würde ein Gespenst umgehen.« Die Frau lachte und warf ihren Kopf zurück. »Du bist ja lustig! Dein Onkel war ein fürchterlicher Mensch. Er hat ihnen zu wenig bezahlt und sie ständig schikaniert und beschimpft. Deswegen sind sie abgehauen. Es geistert in dem Haus! Wer geht denn drin um? Deine Ururgroßmutter? Ach, die würde ich gerne kennen lernen. Der würde ich aber was über ihren Enkel erzählen, dass ihr die Haare zu Berge stehen! Komm, lass uns dort einziehen. Wenigstens für ein paar Wochen.« Sie legte den Arm um ihn und rieb ihre Wange an seiner Schulter. »Wohnt da nicht jemand?«, warf ich ein. »Ich habe doch schon jemand aus dem Fenster schauen sehen.« »Die weiße Frau! Das war sie bestimmt!«, kicherte sie. »Nein, es war ein Mann.«
»Was, der Onkel findet auch im Grabe keine Ruhe? Der hütet sicher sein Geld, das er im Haus versteckt hat.« »Quatsch«, brummte der Mann, »das war wahrscheinlich nur der Herr Erwin. Der schaut dort nach dem rechten. War es ein ganz dicker, schwammiger Alter?«, wandte er sich an mich. Ich schüttelte den Kopf. »Den Herrn Erwin, den kenn ich. Den kennt jeder, weil er immer die Kinder vom Spielplatz jagt. Aber der war es nicht. Es war ein junger, so ein Typ mit Lederjacke.« »So«, der Mann runzelte die Stirn, »hast du dich auch nicht getäuscht?« Bevor ich antworten konnte, lachte die Frau wieder: »Dein Erwin hat an Studenten vermietet! Die Untermieter können ja für uns Gespenster spielen, wenn die echten mal keine Lust haben.« In dem Moment fuhr draußen ein Auto vor. Sie sprangen auf, packten ihre Jacken, riefen »Da ist ja endlich der Tierarzt« und stürmten hinaus zu den Pferden. Langsam und gemächlich schlenderte ich hinterher. Aber da kam schon Britta mit einem Korb voller Gemüse. »Almandine, mach den Kofferraum auf! Mir fallen fast die Arme ab«, rief sie schon von weitem. »Der Tierarzt ist gekommen«, sagte ich. »Ja, eines der Pferde ist krank. Rosi hat die ganze Nacht bei ihm im Stall gewacht.« Sie schlug die Klappe zu. »Steig ein. Ich habe keine Tomaten gekriegt. Da muss ich noch im Bioladen vorbeischauen, bevor sie zumachen. Wenn
ich die Bäurin wär, würde ich mir ein Glashaus anschaffen. Das ist doch zu dumm, dass sie immer noch keine Tomaten hat, nur weil es letzte Woche so kalt war.« »Was fehlt denn dem Pferd?« »Ich glaube, es hat Husten. Es lohnt sich fast nicht mehr, dass ich heraus fahre. Kopfsalat hat sie auch keinen, Lollo rosso sowieso nicht. Die müssten auch ihr Angebot mal mehr nach der Nachfrage ausrichten. Keine Ahnung von den Gesetzen der Marktwirtschaft, aber jammern.« »Und deswegen muss der Tierarzt kommen? Das muss ja ein schlimmer Husten sein. Naja, man kann ja ein Pferd nicht in die Sprechstunde bringen. Kauft man Pferdehustensaft auch in der normalen Apotheke?« »Mach dir darüber keine Gedanken, Almandine. Der Tierarzt wird schon wissen, was er zu tun hat. Hoffentlich haben sie im Bioladen noch ein Brot. Sonst kann ich nächste Woche nochmal hinfahren.« Der Bioladen war ganz anders als ich erwartet hatte. Ich war schon einmal in einem gewesen, einem kleinen Lädchen, vollgestopft mit Kisten und Säcken. Da roch es nach Räucherstäbchen. Die Verkäuferin trug ein lila Gewand und hatte ein Medaillon mit dem Bild ihres Guru um den Hals. Ich entdeckte eine Reihe interessanter Bücher dort. Als Elke sah, in was für Büchern ich schmökerte, hatte sie es plötzlich sehr eilig. Aber dieser Laden hier war ganz anders, groß geräumig, hell, Holzregale mit Plastiktüten voller Körnern und Nüssen, Körbe mit Gemüse und Obst, eine Kühltheke mit Käse
und Tofu. Sogar Gesundheitssandalen, Strickjacken und Seidenschals gab es, aber keine Räucherstäbchen, und keine Bücher außer Kochbüchern. Nein, so hatte ich mir den Bioladen nicht vorgestellt: Keine Esoterikbücher, kein Joga, kein Tarot! So ein langweiliger Laden. Ich steckte die Hände in die Tasche meiner Jeans und tastete nach dem Hufnagel. Er fühlte sich ganz heiß an. Gefahr! Von wem? Der Verkäufer sah ganz normal aus, weder besonders blass, noch rote Lippen. Britta? Hatte ich eigentlich schon einmal in Brittas Gegenwart nach dem Nagel gefühlt? Britta drückte mir ein paar Zettel in die Hand: »Bring das Elke mit. Sie soll zu dem Vortrag gehen. Ich verstehe nicht, dass sie sich so gar nicht mit gesunder Ernährung beschäftigt.«
Alexander schlug wild um sich. Als Schwert und Schlachtbeil zerbrochen waren, hielt er sich mit dem Kriegshammer die Zombies vom Leib. Aber die Übermacht war zu groß. Wir fingen wieder von vorne an. Wieder führte uns der Bucklige in den Hinterhalt. »Das ist das falsche Stichwort, glaub es mir«, beharrte ich. »Du hast doch selber gesagt, ich soll »Bote« sagen.« »Bote der Amazonenkönigin, hab ich gesagt.« »Das kommt auf das selbe hinaus.« »Wo hast du denn den Ring mit dem blauen Stein?«, fragte ich. »Im Rucksack.« »Steck ihn wieder an. Und lege alle Waffen ab.« Alexander sträubte sich: »Du bist gut, Mandy! Wie soll ich mich denn dann wehren?«
»Du schaffst es ohnehin nicht, die alle abzuschlachten. Also fang gar nicht erst damit an.« Doch Alexander schaute mich nur zweifelnd an. »Mann«, stöhnte ich, »du hast eine Auffassung! Immer nur niedermetzeln und kleinhacken! Dass dir das Spaß macht? Probier es doch mal mit Grips und Schlauheit.« »Mandy, die Spiele sind aber alle so! Du kennst sie nur nicht. Alles, was sich bewegt, niederschlagen, alles, was rumliegt, mitnehmen.« Alexander schaute mich mit einem Blick an, in dem abgrundtiefe Verachtung ob meines Unwissens lag. »Wenn du dir das angewöhnst, landest du aber ziemlich schnell im Gefängnis. Ich würde sagen, man redet höflich mit den Leuten, fragt sie nach dem Weg, statt ihnen mit dem Dolch vor der Nase herumzufuchteln.« »Solche faden Spiele kauft doch kein Mensch. Aber bitte, probier es doch mal, ob du weiter kommst.« Er stand auf und ließ mich vor dem Bildschirm Platz nehmen. Mittlerweile kann ich es schon ganz gut. Ratzfatz hatte ich die Waffen vor dem Tor abgelegt, den Ring aus dem Rucksack geholt und angesteckt. Alexander tigerte durchs Zimmer. So ganz allein wollte er mich doch nicht lassen. Es klappte tatsächlich! Der Bucklige öffnete diesmal eine ganz andere Tür. Kurz darauf stand ich vor dem alten Vampir.
Alexander motzte nur: »So ein blödes Spiel! Wie soll denn einer da drauf kommen! Und wie geht es jetzt weiter? Was sagst du denn zu ihm?« Tja, das war das Problem! Denn direkt nach seinem Schatz kann man ihn kaum fragen, oder? Alexander versuchte es auf seine bewährte Methode: Er zog das Schwert und hieb auf den Alten ein. »Du triffst, aber deine Waffe kann ihn nicht verletzen«, meldete das Programm. Ich lachte schadenfroh. »Ein Vampir ist doch bereits tot! Wie willst du ihn denn dann umbringen?« Alexander antwortete mir nicht, sondern starrte nur auf den Bildschirm. »Du musst ihm einen Holzpflock ins Herz treiben und Weihwasser darüber gießen, habe ich mal gelesen«, fuhr ich fort.
Als ich am Abend nach Hause fuhr, sah ich in einer der Seitenstraßen den Jeep der beiden Pferdebesitzer stehen. Die Frau winkte mir zu, und ich stieg zu ihr ins Auto. »Elmar sucht den alten Hausmeister«, erklärte sie, »damit er ihm das Haus aufsperrt. Aber der ist nirgends zu finden.« »Vielleicht sitzt er in der Wirtschaft dort vorne?« »Wie findest du das Haus? Es sieht schon recht duster aus. Vielleicht sollten wir doch in unser Haus auf Gran Canaria, wenn das Penthouse renoviert wird. Aber ich finde es dort so öde.« »Ich tät schon ganz gern in so einem Haus wohnen. Vor allem der Garten drum herum gefällt mir.« Das war die Gelegenheit! Ich beschloss sie auszunützen. Vielleicht brachte ich sie doch dazu, mir oder vielmehr meinen Eltern das Haus zu vermieten? »Ein richtiger Park mit alten Bäumen und einem Teich – und Käfern und Spinnen, die ins Haus krabbeln. Hast du
davor keine Angst? – Ach, da kommt Elmar! Hast du ihn nicht gefunden?« Er lehnte sich ins offene Fenster und steckte den Kopf herein. »Er macht die Tür nicht auf. Die Nachbarin meint, er schläft seinen Rausch aus. Ach, unsere kleine Freundin ist auch da! Wie geht’s?« »Danke, wie geht es dem Pferd?« Ich musste – musste! – guten Eindruck machen. Freundlich lächelnd stieg ich aus, damit Elmar einsteigen konnte. »Ist schon wieder okay. Rosi kümmert sich drum. Was machen wir jetzt?« »Essen gehen. Also tschüß, bis zum nächsten Mal!« Der Jeep startete durch und ich stand in einer Wolke aus Abgasen und hustete. Pech! Ich hatte mein Anliegen überhaupt nicht anschneiden können. Hätte ich doch direkt darauf los gesteuert statt die höfliche zu spielen!
Ein paar Tage später sah ich im Supermarkt den Herrn Erwin. Sein Gesicht war ganz rot, und er schnaufte fürchterlich, als der Einkaufswagen hakte und sich nicht rausziehen lassen wollte. Ich stand bei der Brottheke – die ist ganz am Eingang, außerhalb des Kassenbereiches – und beobachtete ihn im Spiegel. Er brummelte etwas vor sich hin, während er wütend an dem Wagen zerrte und zog. Schließlich hatte er ihn los, legte seine Tasche hinein. In diesem Augenblick begegneten sich unsere Blicke im Spiegel. Erkannte er mich? Ich weiß es nicht. Ich überlegte, ob ich ihm nachgehen sollte. Meine Hand umfasste fest den Hufnagel in der Tasche – er war heiß! Da sah ich den Typen mit der Lederweste kommen, der Natalie den Zettel zugesteckt hatte. Er sah sich prüfend um und verschwand ohne Wagen im Laden. Wen sollte ich nun beschatten? Besser den Typen, entschied ich. Den Herrn Erwin fand ich todsicher im Gang mit
den Schnapsflaschen. Aber was der Typ, der da so lässig durcheilte, suchte, das wollte ich doch wissen. Der Herr Erwin stand am Kühlregal mit der abgepackten Wurst und studierte den Aufdruck. Der Typ stand im Gang mit Ketchup und Saucen und wartete einfach nur. Ich kruschte in der Kiste mit Würzmischungen, die am Ende stand und linste immer wieder um die Ecke. Da bog der Herr Erwin in den Gang ein und hielt direkt auf den Typen zu. »Ich brauch den Schlüssel wieder!«, schnauzte er den Typen an. »Wozu, Alter?«, bellte der zurück. »Der Graf will ins Haus. Eure Sachen müsst ihr auch rausräumen.« »Schlüssel oder ausräumen? Was willst du?« Wie lässig er seine Hände in die Taschen der Lederjacke steckte. Die Faust in der Tasche geballt. »Beides. Und zwar bis Freitag.« »Wenn ich dir den Schlüssel gebe, kann ich nicht ausräumen. Geht das noch in dein versoffenes Hirn?« »Also dann räum erst aus. Aber am Freitag habe ich den Schlüssel.« So ein kleines Ungeheuer in einer lila Jacke stolperte in den Gang und krähte: »Curryketchup! Thomas will Curryketchup«, so dass ich den Rest nicht mehr verstand. Ich hätte dem kleinen Ungeheuer am liebsten den Hals umgedreht. Das hätte aber das große Ungeheuer, das hin-
terher hüpfte, wahrscheinlich ziemlich gegen mich aufgebracht. Ich suchte noch im Schnapsgang und bei den Fischkonserven, fand aber weder den Herrn Erwin noch den Typen. Sie standen nämlich bereits an der Kasse.
Dieses Wochenende war Alexander wieder bei uns. Mit dem Spiel kamen wir einfach nicht weiter. Wie redet man einen Vampirfürsten an, ohne dass er einen sofort in seine Speisekammer sperrt? Was wir auch sagten, wir endeten immer in einem kleinen Gelass mit versperrter Tür, aus dem es kein Entkommen gab. »Lass doch den Alten«, sagte ich zu Alexander, »such lieber erst nach seiner Schatzkammer.« Aber die fanden wir auch nicht. In dem ganzen verdammten Schloss gab es zwar etliche verschlossene Türen, aber keinen einzigen Schlüssel. »Verflixt und zugenäht! Wie stellen die sich das vor? Irgendwo muss es doch wenigstens einen Hinweis geben. So kommen wir doch nicht weiter!« Alexander war stocksauer. »Komm«, versuchte ich ihn zu beruhigen, »denk doch dran, erst sind wir schon nicht ins Schloss reingekommen. Nur wenn du den Ring mit dem blauen Stein am
Finger hast, geht das Tor auf. Dann der Bucklige – hast du eine Waffe in der Hand, lässt er die Zombies auf dich los. Hast du aber keine, lässt er dich zu seinem Chef durch. Vielleicht muss man wieder einen Gegenstand in der Hand haben, und schon ist der Monsterboss zu Verhandlungen bereit.« »Das kann schon sein. Aber ein Scheiß-Spiel ist es auf jeden Fall! So eines kauf ich mir nie wieder.« Der schöne Alexander hatte seine Brauen so gerunzelt, dass sich Falten auf seiner makellosen Stirn bildeten. »Willst du echt lieber rumballern und Leute abstechen statt deine kleine grauen Hirnzellen etwas zu strapazieren? Mir ist grad eine Lösung eingefallen. Wir schauen uns die Textdateien an!« Ja, ich mausere mich zu ComputerExpertin! »Du hast ja auch nur Stroh im Kopf. Das hab ich schon längst versucht. Als ob das so einfach wäre! Oder kannst du etwa die Textdateien lesen?« Nein, ich konnte sie nicht lesen, denn sie waren verschlüsselt. Aber als ich sie so anschaute, fiel mir auf, dass alle Dateien mit den Kartenzeichen begannen. Anschließend folgten die Zeichen, die auf der Tastatur über den Zahlen stehen. »Du, Alexander, ich glaube das ist eine ganz einfache Verschlüsselung! Der verwendet die Zeichen, die der Computer kann und hat alles einfach ein Stück verschoben. Nimm mal an, das Herz soll die Eins bedeuten, und
das Karo die zwei und so weiter. Wo haben wir denn eine Liste der ganzen Zeichen?« Wir übersetzten probeweise gemäß meiner Vermutung und die erste Zeile ergab den Anfangstext! Aber es war unheimlich mühselig! »Da bräuchten wir ein Programm, das die Texte entschlüsselt. Du warst doch in Informatik in der Schule.« Ich war nicht gegangen. Jetzt tat es mir leid. »Ja, aber das war so fad! Da haben wir Umrechnung von Dezimalzahlen in Brüche programmiert. Das interessiert doch kein Schwein. Wozu hat man denn Taschenrechner! Und einen Rechentrainer. Lauter so beschissenes Zeug, das kein Mensch braucht. Da bin ich nicht mehr hingegangen.« »Jetzt stehen wir dumm da, weil keiner eine Ahnung hat, wie man so etwas programmiert. muss doch ganz einfach sein! Einfach 20 Schritte in der Tabelle zurückgehen.« Da kam Elke ins Zimmer geschwebt. »Ihr wart jetzt lange genug vor dem Bildschirm. Eure Augen sind ja schon ganz viereckig. Marsch, an die frische Luft! Außerdem muss Dieter weiter arbeiten.« »Was ist denn das für ein Job, wo man sogar am Wochenende arbeiten muss? Hat da die Gewerkschaft nichts dagegen?«, meckerte ich. »Red keinen Quatsch, Mandy. Dieter will dran bleiben. Er hat gerade eine kreative Phase.«
»Eine krea–was?« Ich war einfach nur leicht angesäuert wegen nichts und allem. »Na, ihm ist was eingefallen, und das muss er gleich aufschreiben.« »Kann er sich das nicht mal bis morgen merken?« »Mandy! Du weißt genau, wie das ist. Wenn die Gedanken in die Feder fließen, muss man das ausnützen.« »Dann soll er nur mit der Feder schreiben und uns an den Computer lassen.« Aber dann sind wir ganz schnell aus der Wohnung gerannt. Wir gingen draußen herum. Es nieselte, und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Alexander erzählte von einem anderen Computerspiel mit Bomben, die losgehen, und Feuerlöschern, die man einsammeln muss, wie er die Leitern hinaufsteigt, die dann zusammenkrachen und dass er nur drei Leben verbraucht hat. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Denn ich dachte daran, dass Marc vielleicht programmieren könnte. Also steuerte ich das Wohnhaus von Marc an. Im Flur kam uns Natalies Mutter entgegen, die im selben Haus wohnt. Sie war schon an uns vorbei, da drehte sie sich um: »Ist Natalie nicht bei dir?« »Nein.« »Warum denn nicht? Habt ihr euch gezankt.« »Ein bischen.« »Das ist aber schade. Morgen versöhnt ihr euch wieder.« Dann klapperte sie weiter die Treppe hinunter. Marc war zu Hause und saß vor dem Computer. Aber es war
ein ganz anderes Modell. Programmieren könnte er so etwas schon, sowohl in Basic als auch in Zäh. Ob wir einen Compiler oder einen Interpreter hätten? Zäh würde auf allen gehen, Basic müssten wir erst adaptieren. »Schreib mir das Programm in Basic. Ich krieg das dann schon hin«, meinte Alexander ganz lässig. Marc schob ein paar Disketten rein und raus, klimperte auf der Tastatur. Der Drucker ratterte los und Mark drückte mir einen Zettel in die Hand. Ich schaute verdutzt darauf: »Das soll ein Programm sein? Roter Ford Ascona mit Schiebedach …« Gleich riss mir Marc das Blatt wieder aus der Hand. »Das ist für meinen Vater. War noch im Spooler.« »Macht dein Vater Verkehrskontrollen?«, fragte ich. Marcs Vater ist bei der Polizei, aber was er genau macht, damit rückt Marc nicht so recht raus. Marc klimperte noch ein bischen auf seiner Tastatur. Dann führte er uns vor, wie sein Programm Texte verschlüsselt und wieder entschlüsselt. Es klappte ganz gut. Hoffentlich kriegt Alexander das auch so hin. An diesem Wochenende aber wohl nicht mehr. Dann kam Natalies Mutter und wollte mich sprechen. Wann Natalie und ich uns denn verkracht hätten, und wo sie wohl hingegangen sei. »Wir haben uns schon am Dienstag verkracht.« Natalies Mutter sah mich erstaunt an: »Aber Natalie ist doch gestern Abend zu dir, um bei dir zu schlafen.« »Nein, ist sie nicht.« Wir starrten uns an.
»Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte.« Ich dachte nach. War Natalie zu ihrer schwarzen Messe gegangen? Das konnte ich ihrer Mutter nun doch nicht erzählen. Marcs Vater stand neben ihr und schaute mich so durchdringend an, dass ich zu schwitzen begann. Ich fingerte nach dem Hufnagel: ganz heiß! »Sie wird bei Katrin sein«, sagte ich schließlich, weil mir nichts besseres einfiel. »Warum sagt sie dann, sie geht zu dir, wenn sie zu Katrin geht?« »Vielleicht hat sie sich versprochen? Oder Sie haben Mandy statt Katrin verstanden. Klingt ja ganz ähnlich.« Natalies Mutter seufzte. »Was ist bloß los mit Natalie?«, stöhnte sie. »Früher hat sie mir alles erzählt. Sie war noch nicht ganz in der Wohnung, da ist es schon aus ihr herausgesprudelt. Aber jetzt, jetzt erfahre ich nur dann etwas, wenn ich dreimal nachfrage. Und selbst da erteilt sie nur widerwillig Auskunft. Immer weicht sie mir aus. Bist du auch so, Mandy?« »Manchmal schon«, gab ich zu. »Na, dann wird es wohl so sein, in diesem Alter.« Sie zuckte die Schultern und blickte sich hilfesuchend um. Marcs Vater schüttelte den Kopf. »Sie sollten schon Bescheid wissen, was ihre Tochter treibt«, meinte er. »Schließlich ist es in der Großstadt nicht ungefährlich.« »Weiß deine Mutter denn, dass du hier bist?«, wandte sie sich wieder an mich.
»Nein«, gestand ich lachend, »sie denkt, wir gehen um den Block frische Luft tanken.« Natalies Mutter lachte erleichtert auf. »Dann aber auch hinaus mit Euch! Das habt ihr ja wirklich nötig.« Ich zerrte Alexander von Marcs Seite weg. Ich wollte tatsächlich so schnell wie möglich aus der Wohnung. Irgendwie fühlte ich mich unter dem Stirnrunzeln von Marcs Vater gar nicht wohl. Er schien tief in mich hineinzublicken. Womöglich entdeckte er noch, dass ich mehr über Natalie wusste, als ich zugab. Auf der Straße trafen wir Elmar, der gerade in seinen Jeep steigen wollte. »Hallo, Senorita Almandina«, rief er mir zu und winkte lässig mit der freien Hand. »Sind Sie heute gar nicht bei den Pferden?«, fragte ich. »Nein, waren wir heute nicht. Ich wollte nach dem Haus schauen. Jetzt bin ich schon das dritte Mal da, aber den alten Erwin treff ich einfach nicht an.« »Ich hab ihn doch am Montag noch gesehen.« »Tja, Kleines, am Montag, ja, da kannst du ihn gesehen haben. Aber seit Dienstag nicht mehr, oder?« »Wieso?« »Weil er am Dienstag nämlich von ein paar Rockern zusammengeschlagen worden ist, und seither bewusstlos im Krankenhaus liegt.« Als ich nichts antwortete, setzte er hinzu: »Hat mir gerade die Nachbarin erzählt. Und der Schlüssel ist natürlich nicht zu finden in dem Chaos in seiner Wohnung.
Ehrlich gesagt, ich hatte keine Lust, die Taschen seiner dreckigen Hosen durchzuwühlen.« »Haben Sie denn keinen eigenen Schlüssel?«, fragte ich. »Doch, aber ich weiß nicht, wo.« Dann startete er den Motor und brauste davon. Wieder war ich nicht dazu gekommen, ihn zu fragen, ob wir das Haus mieten könnten. Wieder eine Gelegenheit verpasst. Alexander erzählte weiter von seinem neuen Computerspiel. Aber ich hörte ihm gar nicht zu. Ich dachte an Natalie und Herrn Erwin und den verschwundenen Schlüssel und den Typen im Supermarkt. Aber was sollte ich tun?
Wir saßen beim Abendessen, als Natalies Mutter und Marcs Vater kamen. Natalies Mutter hatte rotgeweinte Augen und knüllte ein nasses Taschentuch in der Hand. »Natalie ist bei keinem aus eurer Klasse«, sagte sie, »du musst doch wissen, wo sie stecken könnte. Ihr seid doch gute Freundinnen.« »Wir waren gute Freundinnen. Aber wir haben uns am Dienstag gestritten und seither kein Wort mehr miteinander geredet.« »Und warum habt ihr euch gestritten?«
»Ach, irgendeine Kleinigkeit.« Elke runzelte die Stirn, sagte aber kein Wort. Dieter war ganz geistesabwesend. Wahrscheinlich dachte er über seine Geschichten nach. »Nein, das war keine Kleinigkeit, wenn ihr so lange böse aufeinander seid!«, beharrte sie. »Und vielleicht hat sie auch schon vor dem Streit davon geredet, was sie am Wochenende machen will.« Ich tat so, als ob ich angestrengt nachdächte, mir aber nichts einfiele. Da setzte sich Marcs Vater dicht vor mich. »Mandy, schau mir in die Augen«, sagte er. »Natalie ist in Gefahr. Auch wenn ihr Euch gestritten habt, auch wenn du sie nicht mehr ausstehen kannst – es kann sein, dass sie ganz dringend Hilfe braucht. Willst du schuld sein, wenn ihr was zustößt?« Ich wand mich noch eine Weile. Schließlich waren wir jetzt verfeindet, oder? Da macht es doch nichts, wenn man Geheimnisse verrät. Oder doch. »Komm schon, Mandy, du weißt doch etwas«, hakte Marcs Vater nach. Polizisten lernen das, wie sie anderen Leute alles aus der Nase ziehen. Sie kriegen alles raus. Da hilft kein Sträuben. Und so berichtete ich schließlich doch: »Natalie wollte zu einer schwarzen Messe gehen. Ich sollte auch mit, aber dann haben wir uns verkracht, und so bin ich nicht mit.« Ich hörte Elke stöhnen. Natalies Mutter schluchzte lauter. »Und wo?«
»In dem alten unbewohnten Haus an der Arnoldstraße, hat sie mir erzählt, obs stimmt weiß ich nicht.« »Danke, Mandy, das bringt uns sehr viel weiter.« Er stand auf und ging zum Telefon. »Den Schlüssel …« wollte ich hinzusetzen, aber er fuhr fort: »hat der alte Erwin, ich weiß.« »Nein, der hat ihn eben nicht. Außerdem liegt er im Krankenhaus.« Aber niemand hörte mir zu. Alle lauschten nur, wie er Anweisungen für die Polizei gab. Ich begann zu schluchzen. Aber niemand kümmerte sich um mich. Dieter stürzte gleich an den PC, wahrscheinlich um alles aufzuschreiben, was er gerade gehört hatte.
In der Schule kursierten die tollsten Gerüchte: Natalie und ihre Freunde wären mit Crack und Heroin vollgepuscht gewesen und gerade noch vom Notarzt am Tor zum Hades abgefangen worden. Eine andere Version war, dass Natalie dem Satan geopfert werden sollte, und die Polizei dem Hohepriester im letzten Moment das Messer aus der Hand schlug, das er ihr schon an die Kehle gesetzt hatte. Als Natalie dann kam, sah sie eigentlich ganz normal aus: nicht blässer als sonst, kein verstörter Blick, kein irres Flackern in den Augen. Nur ihr Lachen schien ein bischen gezwungen – oder kam es uns nur so vor? Und niemand wagte es, sie zu fragen! Nur hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt, diese falschen Schlangen! Aber Natalie kam auch nicht zu mir, um mir mit einem Händedruck für die Errettung zu danken. Sie schaute mich zwar nicht mehr so böse an wie in der letzten Woche, aber nach wie vor war ich Luft für sie.
Elke erzählte mir am Nachmittag, es wäre alles ganz harmlos gewesen. Von wegen schwarze Messe! Sie treffen sich in dem Haus, um Musik zu hören und ein AbenteuerRollenspiel zu spielen. Das dauerte fast die ganze Nacht. So legten sich dann einfach im Haus schlafen. Trüb wie der Tag war, verpennten sie ihn bis zum Nachmittag und wurden erst wach, als die Polizei an die Tür hämmerte. »Dann kann ich ja das nächste Mal doch mitgehen«, meinte ich, »wenn es so eine brave Fete ist, wo sie harmlose Spielchen machen. Da seht ihr wieder, dass es gar nicht nötig ist, mich daheim einzusperren.« »Es gibt kein nächstes Mal. Man kann schließlich nicht einfach in fremde Häuser eindringen, um dort ein Fest zu feiern, auch wenn es leer steht. Der Anwalt der Rüttelmannschen Vermögensverwaltung wird ein Verfahren wegen Hausfriedensbruch anstrengen.« »Wem gehört denn nun das Haus?« »Dem Grafen Elmar von Rüttelmann.« »Der hat so viel Geld, so viele Häuser – warum kann er uns das Haus nicht zur Verfügung stellen?« Vielleicht bestand doch noch Hoffnung. Sollte ich Elke erzählen, dass ich den Grafen Elmar von Rüttelmann persönlich kannte? Aber bevor ich dazu kam, fuhr Elke fort: »Wie kommst du da drauf? So viel wird es schon nicht sein, sonst hätte er genug, um das Haus herzurichten.« »Der hat ein Penthaus in der Stadt, und eine Villa in der Karibik und zwei Reitpferde und einen Jeep, und seine Freundin trägt die teuersten Klamotten.«
»Das hast du doch bloß erfunden. Das kannst du doch gar nicht wissen.« »Doch, das weiß ich. Zufällig habe ich das nicht erfunden, weil ich den Grafen sogar kenne, von Brittas Biobauern her. Wahrscheinlich gehört ihm der Bauernhof auch.« Nun hatte ich mein Wissen doch noch angebracht. »Dann, Mandy, hast du noch eine Aufgabe vor dir. Du musst ihn überreden, dass er die Anklage wegen Hausfriedensbruch zurückzieht.«
Ich versuchte es, und eigentlich wollte ich noch mehr erreichen, nämlich, dass wir tatsächlich am Wochenende in dem alten Haus feiern dürften. Aber obwohl ich mit Engelszungen redete, bildlich unsere trostlose Situation schilderte, wie wir uns bei Kälte und Regen auf die Umfassung eines Sandkastens hocken müssten, und sogar dort verjagt würden – Graf Elmar konnte mir nicht mehr versprechen, als mit dem Anwalt seiner Familie zu reden und ein Wort für uns einzulegen. Ich war echt niedergeschlagen. Als ich mit Britta zurückfuhr, ging es mir immer schlechter. Gewohnheitsmäßig suchte ich in meiner Hosentasche nach dem Hufnagel: Er war nicht da! Er war in der anderen Jeans! Ich hatte ver-
gessen, ihn herauszunehmen, als ich eine frische anzog. Deshalb also der Misserfolg! Alexander war es natürlich nicht gelungen, das Entschlüsselungsprogramm fertig zustellen. So saßen wir auch bei dem Spiel auf dem Trockenen. »Eine magische Waffe«, murmelte er vor sich hin, »ich brauche eine magische Waffe. Mit der kann ich ihn besiegen. Normale Waffen treffen ihn nicht.« »Quatsch«, sagte ich, »wenn du ihn umlegst, verrät er dir nicht wo der Schatz ist.« »Doch! Wenn er die magische Waffe sieht, versucht er, sich freizukaufen und öffnet die Tür.« »Wie kommst du da drauf?« »Ein Freund hat es mir gesagt. Der hat das Spiel gelöst. Aber umbringen musst du ihn auf jeden Fall, sonst lässt er seine Zombies auf dich los.« »Und hat er dir nicht gesagt, wo die magische Waffe ist?« »Die such ich ja gerade.« Ich hatte keine Lust mehr mitzuspielen. Ich war sauer und unglücklich. Britta sah mich von der Seite an und meinte, ich sei krank. Schon zückte sie das Fieberthermometer. Wenn ich etwas hasse, dann Fieber messen! Natürlich ging es mir schlecht. Wem würde es in meiner Lage nicht schlecht gehen? Aber da braucht man kein Fieberthermometer, sondern eine Tafel Schokolade oder zwei oder drei und hinterher ein Eis.
Doch Britta steckte mich in meinen Schlafsack und wuselte in die Küche, um Tee zu kochen. Ich rieb das Thermometer am Schlafsack und brachte es fast auf vierzig. Mehr schien mir dann doch unglaubhaft. Den scheußlichen Tee goss ich in den Blumentopf.
Völlig außer Atem stürzte ich voran, als ich das Tageslicht schimmern sah. Der unterirdische Gang endete im Gestrüpp auf dem Osthang des Burgberges. Die Morgenröte verblasste und golden stieg der Sonnenball empor. Keuchend sank ich zu Boden. Nun würden sie mir nicht mehr folgen, diese ekligen Geschöpfe aus mit schimmligen Lumpen behängten Stöcken, die mich durch die Höhlen gejagt hatten. Ich war waffenlos: Mein magischer Dolch, das Geschenk der Amazonenkönigin, steckte im Rücken des Burgfürsten. Kein Tropen Blut war aus der Wunde geflossen. Aber die Magie hatte ihn so lange gelähmt, dass ich ihm den Talisman, den er an einer Kette um den Hals trug, abnehmen konnte. Seine Hände hatten schon zu zucken begonnen, krallten sich in meinen Arm, als es mir mit äußerster Kraft gelang, die Kette über den Kopf zu ziehen. Im selben Moment öffnete sich sein Mund zu einem markerschütterndem Schrei und das Blut sprudel-
te aus der Wunde … Ich stopfte den Talisman in meine Tasche. In der Schatzkammer ergriff ich wahllos ein paar Beutel. Dann knallte ich die Tür zu. Aber der schemenhafte Wächter sickerte unter der Tür durch und heftete sich an meine Fersen. Noch immer hallte der Schrei durch die Gewölbe. Ich rutschte die Treppen zum Verließ hinunter, nicht in der Lage, die Stufen zu zählen, erkannte aber im letzten Moment den Durchgang, bremste meinen Sturz ab, kroch zurück und zwängte mich durch den Durchgang. Meinen dunklen Verfolger konnte ich nicht abschütteln. Und als ich den Gang entlang rannte, erwachten die Golems, klapperten mit ihren Stöcken, schüttelten ihre Lumpen und Fetzen. Einem, der sich mir in den Weg stellte, schleuderte ich einen Beutel ins Gestänge, dass er zu Boden polterte, und sprang über ihn hinweg. Nun war die Sonne aufgegangen, und am Höhlenrand waren sie zusammengesunken. Aber in der Nacht würden sie meine Fährte wieder aufnehmen. Und Natalia? Jessica? Mira? Ich hatte sie zurückgelassen. Bleich lehnten sie an der Wand, vor Schreck erstarrt, unfähig, ein Glied zu rühren. Ich stand auf und ging ins Dorf. Der Bauer, bei dem ich mein Pferd eingestellt hatte, führte mich schweigend in den Stall. Stern begrüßte mich mit mattem Wiehern. Er sah mager und struppig aus.
»Hat das Pferd nicht genug zu fressen bekommen?« , fuhr ich den Bauern an. »Wofür habe ich dir das Geld gegeben?« »Er wollte nicht fressen«, murmelte der Bauer. Er holte Heu und warf es in die Krippe. Ich striegelte Stern und schaute die Hufe nach. Der Bauer drückte sich im hintersten Winkel der Scheune herum und schielte immer wieder ängstlich zu mir herüber. Als ich das Pferd sattelte, wagte er sich zögernd näher. »Wisst Ihr«, stotterte er, »Ihr seht so anders aus als die Leute von der Burg, und dass Ihr wieder zurückgekommen seid …« Sollte ich ihm sagen, was ich getan hatte? Sollte ich ihm Hoffnung machen? Vielleicht hatte mein Dolch das Herz des Burgherrn gar nicht durchbohrt? Womöglich hatte er es knapp verfehlt. Und die Mädchen hatten den Dolch wieder herausgezogen und würden den alten Blutsauger nun gesund pflegen. Aber ich hatte ja seinen Talisman. Wenn ihn mir die Stock- und Lumpen-Wesen wieder abjagten? Oder das Schattenwesen aus der Schatzkammer? Ich musste weiter. Keine Erklärungen für den Bauern. Nur ein Schulterzucken. Leider war Stern nicht gerade in bester Verfassung. Er hustete. Ich führte ihn aus dem düsteren Stall. Der Bauer folgte mir und hielt die Hand auf. Ich kramte in einem der Beutel. Es waren lauter Armbänder und Halsketten, viel zu wertvoll für einen Bauern. Ich zog einen goldenen Ring heraus und gab ihn ihm. Er buckelte vor Ergebenheit.
»Wenn die drei Prinzessinnen aus der Burg herunter kommen, werdet ihr sie aufnehmen und in ihr Land geleiten?«, fragte ich ihn. »Sicher, sicher, werde ich das, Hoheit.« »Du wirst ihnen Proviant geben und was sie sonst noch brauchen.« »Sicher, das werde ich, Hoheit.« Er verbeugte sich wieder. Das war alles, was ich für Jessica, Natalia und Mira noch tun konnte. Ich schwang mich in den Sattel und sprengte aus dem Dorf. Gegen Mittag, als ich rastete und das Pferd saufen ließ, entdeckte ich Reiter, die auf dem Hügelkamm hinter mir anhielt. Wurde ich verfolgt? Schon jetzt? Und von wem? Ich musste vor ihnen über den Gebirgspass. Aber Stern war schlapp, so schlapp wie noch nie. Der Husten setzte ihm zu. In dem feuchten Stall war Stern krank geworden. Er zuckelte nur seines Weges wie ein Kutschengaul. Oder hatte ihm der Bauer ihm etwas ins Fressen gegeben? Und ich selber war auch müde nach meiner nächtlichen Flucht aus Dunkelfels. Nein, wir würden nicht durchhalten, den ganzen Tag und die Nacht weiterzureiten – das war sinnlos. Der Weg folgte mehr oder weniger dem Lauf des Baches. An einer günstigen Stelle lenkte ich schließlich Stern doch ins Wasser und nach einer kurzen Strecke auf der anderen Seite wieder heraus und in fast rechtem Winkel vom Weg weg. Unter den letzten Bäumen, am Fuß der blan-
ken Felsen, ließ ich Stern grasen. Am liebsten hätte ich ja auch geschlafen, aber ich beobachtete den Pass. Bald darauf sah ich, bereits ein Stück über mir, die Reiter. Es waren fünf. Als der Weg steiler wurde, saßen sie ab. Dabei blitzten Waffen im Sonnenlicht. Ich kroch tiefer ins Gebüsch. Nun saß ich in der Falle: Vor mir die Reiter und hinter mir das Phantom aus der Schatzkammer. »Man hat’s nicht leicht als Amazone!«, kicherte neben mir eine Stimme. Erschrocken wandte ich mich zur Seite: Auf einem Baumstumpf hockte ein altes Wurzelweibchen, braun und runzelig wie die Rinde der Bäume. Ich atmete auf. Von ihr drohte mir wenig Gefahr. »Ein schönes Pferd«, fuhr sie fort, »ein Säcklein mit Goldstücken und dann noch eine junge stämmige Amazone – wenn das die Abenteurer nicht anzieht wie ein Magnet einen Nagel!« »Wenn es nur das wäre! Aber so ein Wesen, das du nicht siehst, in dessen Nähe dir aber eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken fährt, ist auch noch hinter mir her.« Das Wurzelweiblein kicherte in sich hinein: »Wenn du in der eingeschlagenen Richtung weiter gehst, kannst du noch eine weitere nette Bekanntschaft machen. Zwei Trolle hausen dort in einer Höhle.« »Sehr schön!«, sagte ich. »Und welche der drei Todesarten würdest du mir empfehlen?« »Wenn du mich fragst«, das Wurzelweiblein kratzte sich am Kopf, als ob es nachdenken müsste, »die Trolle dre-
hen dir den Hals um. Das geht eindeutig am schnellsten. Alle anderen massakrieren dich langsam und genussvoll. Genussvoll für sie, nicht für dich.« Ich ging zu meinem Pferd und griff in die Satteltasche. Die Beutel wog ich in der Hand: »Und was mach ich mit den Klunkern hier? Willst du sie haben?« »Damit ich den Schatten auf dem Hals habe?«, erwiderte sie. »Verstreu sie doch einfach zwischen den Büschen! Oder nein, lieber nicht! Dann hockt der Schatten hier herum, um sie zu bewachen und verdirbt den ganzen Wald. Schmeiß sie dort in die Schlucht. Da hausen ein paar Zwerge. Die werden mit dem Schatten schon fertig werden. Aber vorher zeig mir noch, was du da drin hast.« Ich leerte die Beutel aus, und wir zwei hockten davor und wühlten in dem Geschmeide. Das Weiblein hob den einen und anderen Ring empor und hielt ihn gegen die Sonne, dass der Stein funkelte, kramte und schob die Ketten herum. Sie schien irgend etwas zu suchen. »Es ist ein Jammer«, seufzte sie schließlich, »ich war so sicher, dass er dabei wäre. Und nun hast du ihn doch nicht mitgenommen.« »Wen?« »Ach, wahrscheinlich war er dir zu unscheinbar. Er sieht aus, wie gewöhnliches Glas. Wie hellblaues Glas. Schade, schade!«
Ich holte den Talisman aus meiner Hosentasche und streckte ihn dem Wurzelweiblein auf der Hand entgegen: »Meinst du den?« »Oh, du hast ihn doch!«, jubelte sie. »Du hast ihn! Du hast ihn mitgebracht! Nun wird alles gut! Du brauchst keine Angst mehr zu haben!«
Alexander stand neben der Couch. Ich öffnete langsam und wie mit großer Anstrengung die Augen und blickte ihn gequält an. »Geht es dir noch nicht besser?«, fragte er. »Nein.« »Schade. Ich habe mich doch so auf das Wochenende mit dir gefreut. Und jetzt bist du krank.« »So, du hast dich auf das Wochenende gefreut! Dass du jemanden hast, der dir beim Computern zuschaut?« »Scheiß Computer!« »Du hockst ja doch immer davor und spielst, und ich darf zuschauen. Meinst du, dass mir das auf die Dauer nicht zu langweilig wird?« »Langweilig? Ist dir bloß langweilig?« Alexander schaute ganz erstaunt. »Ja, ich bin nur aus Langeweile krank. Was soll ich denn sonst machen? Zieh mit mir auf Abenteuer, und ich bin sofort wieder gesund.«
»Abenteuer? Bitte, wo denn? Ich bin sofort dabei.« Er lachte. »Von wegen! Du kommst ja nicht mal mit auf den Bauernhof. Lieber bleibst du bei deinem Computer.« »Wo bitte gibt es denn am Bauernhof Abenteuer?« »Wir könnten uns einfach auf die Pferde schwingen und davon reiten«, schlug ich vor. »Kannst du denn reiten? Ich nicht?« Typisch Alexander! Hundert Bedenken. »Dann gehen wir eben zu Fuß. Laufen einfach fort, in den Wald und bleiben dort, bauen uns eine Hütte aus Zweigen und jagen wilde Tiere.« »Kannst du schießen? Fallen stellen? Feuer machen mit Stein und Zunder?« »Ach, das lernen wir schon.« »Das lernen wir nie! Denn bevor wir den ersten Funken geschlagen haben, haben uns die Polizeihunde schon aufgestöbert. Mandy – ganz Mitteleuropa kannst du vergessen. Hier gibt es keine Abenteuer mehr. Und wären wir auch noch in der Lage, sie zu bestehen? Wir sind doch schon total degeneriert! Wir würden wahrscheinlich spätestens nach zwei Tagen nach unserer Mami rufen. Ohne einen Supermarkt in der Nähe würden wir glatt verhungern.« »Die Abenteuer finden nur noch im Kopf statt«, murmelte ich. »Und am Computer«, fügte Alexander hinzu. »Mit schwachen Gelenken und unförmigen Bäuchen, roten
Augen, die uns aus den Höhlen quellen, hocken wir in unseren finsteren Gelassen vor dem Bildschirm, unfähig, uns aus eigener Kraft überhaupt noch fortzubewegen. Leben aus zweiter Hand. Abenteuer am Bildschirm.« »Alexander«, ich setzte mich auf, »das darf nicht sein! So dürfen wir nicht werden!« »Mach etwas dagegen, wenn du kannst.« »Wir packen uns den Rucksack voll mit Brot und Wurst und Käse, schnallen den Schlafsack drauf und hauen ab.« Nun war ich richtig wach. »Und eine Isomatte gegen die Kälte von unten. Aber Obst brauchen wir auch wegen der Vitamine. Und Pflaster, falls wir uns schneiden, Nasenspray für Schnupfen …« »Und Krücken nicht vergessen, wenn wir uns den Fuß brechen. Geh doch wieder an den Computer. Da passiert dir nichts. Das sind ungefährliche Abenteuer!« Ich ließ mich wieder auf die Couch fallen und kroch in den Schlafsack. »Und du, du wickle dich in deine Decke und spiel krank. Ist das vielleicht besser?« »Jeder hat das Recht, auf seine Art verrückt zu werden«, sagte ich. Ob er es gehört hat oder schon zur Tür hinaus war – egal. Am Abend schauten wir uns einen Film von Terra X an: Auf der Suche nach den Amazonen. Das Fernsehteam preschte mit dem Jeep durch Furten, dass das Wasser nur so spritzte, kurvte durch die Steppe und tuckerte die
Berge hoch. Ein Hubschrauber brachte ihnen eine neue Kamera nach, weil bei der alten eine Schraube locker war. Britta saß mit leuchtenden Augen im Sessel. »Von so etwas habe ich immer geträumt«, seufzte sie ein um das andere Mal, »Expeditionen in ferne Länder, Abenteuer, Freiheit, Geheimnisse erkunden, unbekannte Stämme aufspüren.« Ich glaube, alle träumen von Abenteuern. Aber andererseits haben sie wie Alexander Angst davor, nicht mit heiler Haut davonzukommen. Also nehmen sie gleich einen Doktor mit und sonst noch was. Abenteuer ja, aber sicher müssen sie sein.
Als ich nach Hause kam, war die Jeans bereits im Wäschetrockner. Ich musste abwarten. Aber der Nagel war nicht mehr in der Tasche. Ich fragte Elke. Sie hatte nichts gesehen. Ich suchte in der Trommel der Waschmaschine – nichts. Wahrscheinlich hatte ich ihn schon vorher verloren. Aber den Ring fand ich, den Ring, den mir Alexander geschenkt hatte, zwischen den Falten der Türdichtung. Der Stein war weiß geworden, die blaue Farbe abgewaschen. Wir treffen uns wieder am Freitag Abend am Spielplatz, um Monster-ABC zu spielen. Nur Marc kommt nicht mehr, weil er um diese Zeit Training hat, Karate, was sonst. Es ist bis halb zehn hell. Im Garten des alten Hauses blühen die Linden und der Wind treibt Schwaden von Blütenduft durch die öden Straßen. Der Buchstabe ›f‹ ist dran. Fenris-Wolf. Den kennt Harun nicht. Aber recht viel mehr, als dass er ein Geschöpf der nordischen Mythologie ist, weiß ich auch
nicht. Fledermaus, Feuersalamander, Flugsaurier – eigentlich keine Ungeheuer sondern ausgestorbene Tiere oder solche, die es bald sind. Gibt es keine oder fällt uns nichts ein? Versagt unsere Fantasie bereits? Bald sind Ferien. Natalie fährt mit ihrer Mutter auf die Malediven zum Tauchen. Harun muss die Türkei fahren zu seiner Großmutter aufs Dorf. »Kein Fernsehen!«, stöhnt er. »Was soll ich bloß die ganze Zeit machen? In den Höhlen alte Knochen ausgraben?« »Höhlen? Knochen? Harun, wir kommen dich besuchen. Dann erforschen wir gemeinsam die Höhlen.« »Vergiss es«, Harun winkte ab, »alter Krempel. Nichts los.« »Kauf dir halt einen Gameboy.« Melanie fährt nach Jugoslawien. »Drei Wochen mit den Eltern im Wohnwagen! Das halt ich nicht aus! Wenn wir wenigstens woanders hinfahren würden, aber wir sind wieder am selben Campingplatz wie seit 5 Jahren.« Oliver verbringt die Ferien in Kärnten bei seiner Tante auf dem Bauernhof. Er ist der einzige, der zufrieden zu sein scheint. Aber er erzählt nicht, was er dort machen wird. Britta wollte Alexander und mich zu einem Kurs in Bogenschießen und Meditation anmelden. Sie meinte, das wäre genau das Richtige für uns. Leider war der Kurs schon ausgebucht. Oder vielleicht auch zum Glück? Denn Dieter meinte, es wäre ein dicker Brocken Geld, genau so viel, wie er mit seiner Schreiberei eben erst verdient hat.
Er sagt, in seiner Jugend wäre er einfach mit Fahrrad und Zelt losgezogen. Das täte mir auch gefallen. Aber Britta hält das für zu gefährlich. Also fahren wir in ein Zeltlager vom Kreisjugendring mit Betreuern wie kleine Kinder. »Hauptsache, wir sind fort von zu Hause«, sagt Alexander. Er hat recht.
Vor dem alten Haus steht eine große Tafel: »Hier entstehen Arztpraxen und luxuriöse Eigentumswohnungen, Baubeginn im September.« Wenn wir aus den Ferien zurückkommen, ist das alte Haus schon abgerissen, der verwunschene Garten eine Baugrube. Aber vorher klettere ich noch einmal über den Zaun und spreche mit der Krähe. Vielleicht weiß sie, wo mein Hufnagel ist.