Kai-Uwe Schmitt · Peter F. Niederer · Markus H. Muser · Felix Walz
Trauma-Biomechanik Verletzungen in Straßenverkehr und Sport
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PD Dr. Kai-Uwe Schmitt ETH Zürich Inst. Biomedizinische Technik Gloriastr. 35 8092 Zürich Switzerland
[email protected] Dr. Markus H. Muser AGU Zürich Winkelriedstr. 27 8006 Zürich Switzerland
Prof. Dr. Peter F. Niederer ETH Zürich Inst. Biomedizinische Technik Gloriastr. 35 8092 Zürich Switzerland Prof. Dr. med. Felix Walz AGU Zürich Winkelriedstr. 27 8006 Zürich Switzerland
ISBN 978-3-642-11595-0 e-ISBN 978-3-642-11596-7 DOI 10.1007/978-3-642-11596-7 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier
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Vorwort
Auf dem Gebiet der Verkehrssicherheit wurden in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt. Dazu haben zahlreiche Maßnahmen beigetragen. Verbesserte Straßen sind ebenso zu nennen, wie die Gurtanlegepflicht und ein gesellschaftlicher Lernprozess bezüglich des individuellen Umgangs mit Risiken bei der Verkehrsteilnahme. Fahrwerksregelsysteme wie ABS und ESP gehören mittlerweile zur Serienausstattung und helfen viele Unfälle zu vermeiden und anderen eine mildere Verlaufform zu geben. Wenn es dennoch zum Aufprall kommt, sorgen zunehmend verbesserte Karosseriestrukturen in den meisten Fällen für einen Überlebensraum ohne bedrohliche Intrusionen und bauen die kinetische Energie ab. Die Insassen werden durch vielfältige, aufeinander abgestimmte Rückhaltesysteme kontrolliert verzögert, so dass die biomechanischen Grenzen ihrer Belastbarkeit möglichst nicht erreicht werden. Schließlich können Unfallopfer auf eine rasche Alarmierung von Helfern, eine effiziente Rettungskette und eine hoch entwickelte Notfallmedizin rechnen. Tatsächlich ist die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten in Deutschland, Österreich und der Schweiz und auch in der EU insgesamt trotz steigenden Verkehrsaufkommens seit Jahren rückläufig. Dennoch müssen noch mehr Fortschritte erreicht werden, wenn das Leitbild eines nahezu opferfreien Straßenverkehrs realisiert werden soll. Es gibt zahlreiche weitere Ansätze zur Verbesserung der Passiven Fahrzeugsicherheit. Bei gegebener, sehr guter Karosserie müssen die Rückhaltesysteme so ausgelegt werden, dass sie der Vielfalt der tatsächlich auftretenden Unfallsituationen und den interindividuellen Unterschieden der Fahrzeuginsassen gerecht werden können. Eine Voraussetzung dafür ist es, dass die biomechanischen Bedingungen für das Auftreten von Verletzungen bekannt sind. Der Nachweis der Schutzwirkung bei einem Unfall erfolgt für ein Kfz heute an Hand von Versuchen mit Anthropomorphic Test Devices, also
VI
Vorwort
Dummys. Dazu wurden biomechanisch begründete Schutzkriterien definiert, die den Zusammenhang zwischen den Messwerten am Dummy und der Wirkung auf den Menschen erfassen. Ergänzend werden inzwischen im Entwicklungsprozess in großem Umfang rechnerische Methoden mit numerischen Modellen von Fahrzeug, Rückhaltesystemen, Dummys und gegnerischen Objekten eingesetzt. In Zukunft werden nicht nur die standarisierten Tests mit durchschnittlichen Personen zu bewerten sein, auch wenn diese für den Nachweis eines Mindestniveaus an Passiver Sicherheit für die Fahrzeugtypprüfung entscheidend bleiben. Zusätzlich ist eine Vielzahl von Unfallsituationen mit unterschiedlich großen, schweren, alten und gesunden Fahrzeuginsassen zu optimieren und zu überprüfen. Auf experimentellem Weg ist das unmöglich. Die Rolle der numerischen Simulation wird daher weiter zunehmen. Dazu sind aussagefähige, numerische Modelle der Biomechanik unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der Menschen erforderlich. Untersuchungen zur Verletzungsentstehung können helfen, sie durch konstruktive Verbesserungen zu vermeiden oder in ihrer Schwere zu verringern. Von der Unfallbiomechanik sind also weiterhin wichtige Beiträge zur Verbesserung der Fahrzeugsicherheit zu erbringen.
Prof. Dr. Volker Schindler Fachgebiet Kraftfahrzeuge Technische Universität Berlin
Geleitwort
Der Erfolg der bisherigen englischsprachigen Ausgaben dieses Buches hat uns ermutigt, nun auch eine deutsche Übersetzung vorzulegen. Obschon sich das Buch in erster Linie an Einsteiger in die Trauma- bzw. Verletzungsbiomechanik richtet, finden sich zu jedem Kapitel auch umfangreiche Referenzen, die eine entsprechende Vertiefung ermöglichen. Somit dient das Buch auch als Startpunkt für ein intensiveres Studium spezifischer Aspekte der Trauma-Biomechanik. Wir hoffen, dass das Buch dem Leser nicht nur einen strukturierten Einstieg in die Materie ermöglicht, sondern auch zu weiterführender Beschäftigung anregt. Die sozio-ökonomische Bedeutung von Verletzungen rechtfertigt jedenfalls eine ausgiebige Beschäftigung mit den verschiedenen Aspekten; sei es mit Verletzungsmechanismen oder auch mit Möglichkeiten zur Verletzungsprävention. Die globale Dimension der Thematik ergibt sich einerseits aus dem steigenden Verkehrsaufkommen insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern, andererseits aus der Vielzahl von Verletzungen, welche im Sport, bei der Arbeit und im Haushalt auftreten. Daraus und aus den vielen, damit zusammenhängenden menschlichen Tragödien ergibt sich die Motivation, zur Reduktion des Verletzungsrisikos beizutragen.
Kai-Uwe Schmitt, Peter Niederer, Markus Muser, Felix Walz
Inhalt
1 Einleitung .................................................................................................1 1.1 Zum vorliegenden Buch ....................................................................3 1.2 Geschichte ........................................................................................10 1.3 Referenzen........................................................................................17 2 Methoden der Trauma-Biomechanik ......................................................19 2.1 Statistik, Feldstudien, Datenbanken ................................................19 2.2 Grundlagen der Biomechanik ..........................................................24 2.3 Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko ....29 2.4 Unfallrekonstruktion .......................................................................34 2.5 Experimentelle Untersuchungen .....................................................39 2.6 Standardisierte Testverfahren ..........................................................45 2.6.1 Crashtest-Dummys ....................................................................53 2.7 Numerische Simulationen ................................................................62 2.8 Zusammenfassung ............................................................................67 2.9 Referenzen .......................................................................................68 3 Kopfverletzungen ...................................................................................71 3.1 Anatomie des Kopfes ......................................................................71 3.2 Verletzungen und Verletzungsmechanismen ..................................74 3.3 Mechanisches Verhalten des Kopfes ...............................................79 3.4 Verletzungskriterien für Kopfverletzungen ....................................84 3.4.1 Head Injury Criterion (HIC) ......................................................85 3.4.2 Head Protection Criterion (HPC) ..............................................87 3.4.3 3 ms Kriterium (a3ms) ...............................................................87 3.4.4 Generalized Acceleration Model for Brain Injury Threshold ...87 3.5 Kopfverletzungen im Sport ..............................................................89 3.6 Prävention von Kopfverletzungen....................................................95 3.6.1 Prävention von Kopfverletzungen bei Fussgängern ..................96 3.7 Zusammenfassung ...........................................................................99 3.8 Referenzen........................................................................................99
X
Inhalt
4 Verletzungen der Wirbelsäule ..............................................................105 4.1 Anatomie der Wirbelsäule .............................................................106 4.2 Verletzungsmechanismen ..............................................................110 4.3 Biomechanisches Verhalten und Toleranzen .................................119 4.4 Verletzungskriterien ......................................................................124 4.4.1 NIC ..........................................................................................126 4.4.2 Nij ............................................................................................127 4.4.3 Nkm ..........................................................................................128 4.4.4 LNL .........................................................................................132 4.4.5 Verletzungskriterien in ECE und FMVSS ..............................133 4.4.6 Weitere Verletzungskriterien ...................................................134 4.4.7 Korrelation zwischen Verletzungskriterien und -risiko ..........135 4.5 Wirbelsäulenverletzungen im Sport ...............................................138 4.6 Prävention von HWS-Verletzungen...............................................141 4.6.1 Kopfstützen-Geometrie und -Material .....................................142 4.6.2 Systeme zur Optimierung der Kopfstützen-Position ...............144 4.6.3 Systeme mit kontrollierter Bewegung des Sitzes.....................146 4.7 Zusammenfassung .........................................................................149 4.8 Referenzen......................................................................................149 5 Thoraxverletzungen...............................................................................157 5.1 Anatomie des Thorax .....................................................................157 5.2 Verletzungsmechanismen...............................................................160 5.2.1 Rippenfrakturen........................................................................162 5.2.2 Lungenverletzungen .................................................................163 5.2.3 Verletzungen anderer Organe des Thorax................................164 5.3 Biomechanisches Verhalten ...........................................................166 5.3.1 Frontale Belastungen................................................................167 5.3.2 Laterale Belastungen ................................................................173 5.4 Verletzungstoleranzen und - kriterien ............................................175 5.4.1 Beschleunigung und Kraft........................................................175 5.4.2 Thoracic Trauma Index (TTI) .................................................175 5.4.3 Compression Criterion (C) ......................................................176 5.4.4 Viscous Criterion (VC) ...........................................................177 5.4.5 Combined Thoracic Index (CTI) .............................................177 5.4.6 Weitere Kriterien......................................................................178 5.5 Thorax-Verletzungen im Sport.......................................................179 5.6 Zusammenfassung ..........................................................................179 5.7 Referenzen .....................................................................................180
Inhalt
XI
6 Verletzungen des Abdomens.................................................................183 6.1 Anatomie des Abdomens ...............................................................183 6.2 Verletzungsmechanismen...............................................................185 6.3 Bestimmung des biomechanischen Verhaltens ..............................188 6.4 Verletzungstoleranzen ....................................................................190 6.4.1 Verletzungskriterien .................................................................191 6.5 Einfluss des Sicherheitsgurtes ........................................................192 6.6 Verletzungen des Abdomens im Sport...........................................193 6.7 Zusammenfassung ..........................................................................194 6.8 Referenzen .....................................................................................194 7 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten.....................197 7.1 Anatomie der unteren Extremitäten ...............................................197 7.2 Verletzungsmechanismen...............................................................200 7.2.1 Verletzungen des Beckens und des proximalem Femurs.........204 7.2.2 Bein-, Knie- und Fussverletzungen..........................................206 7.3 Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten ...........209 7.4 Verletzungskriterien .......................................................................214 7.4.1 Kompressionskraft ...................................................................214 7.4.2 Femur-Kraft-Kriterium (Femur Force Criterion, FFC) ...........214 7.4.3 Tibia Index (TI) .......................................................................214 7.4.4 Weitere Kriterien......................................................................215 7.5 Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport......216 7.6 Prävention.......................................................................................220 7.6.1 Massnahmen zum Fussgängerschutz ........ ..............................221 7.7 Zusammenfassung .........................................................................223 7.8 Referenzen......................................................................................223 8 Verletzungen der oberen Extremitäten..................................................227 8.1 Anatomie ........................................................................................227 8.2 Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen ................................229 8.3 Verletzungstoleranzen ....................................................................232 8.4 Verl.-kriterien und Bewertung des Verl.-risikos durch Airbags .. 234 8.5 Verletzungen der oberen Extremiäten im Sport .............................236 8.6 Zusammenfassung ..........................................................................241 8.7 Referenzen .....................................................................................242 9 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung .............247 9.1 Arbeitsmedizin ...............................................................................251 9.2 Sport ...............................................................................................254 9.2.1 Allgemeine Betrachtungen.......................................................254
XII
Inhalt
9.2.2 Kontakt-Sportarten ...................................................................256 9.3 Hausarbeit.......................................................................................256 9.4 Zusammenfassung ..........................................................................257 9.5 Referenzen ......................................................................................257 10 Index ....................................................................................................261
Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir darauf, männliche und weibliche Formulierungen zu verwenden. Wir bitten die Leserschaft um Verständnis.
1 Einleitung
Der menschliche Körper wird täglich mechanischen Belastungen ausgesetzt. Einerseits wirken Kräfte, die allgegenwärtig sein können wie die Schwerkraft oder die über grosse Distanzen übertragen werden können wie elektromagnetische Feldkräfte. Andererseits wirkt eine Vielzahl von Kräften, die durch direkte Berührung mit unserer Umwelt entstehen. Auch durch physiologische Prozesse im Körper selbst werden Kräfte auf Organe und das Gewebe ausgeübt. Im Laufe der Evolution war die Entwicklung immer von solchen mechanischen Wechselwirkungen geprägt, teilweise sind solche Kräfte sogar notwendig, damit der Körper einzelne Funktionen — wie beispielweise den Knochenumbau — überhaupt erst ausüben kann. Die Biomechanik beschäftigt sich in erster Linie mit der Analyse, der Messung und der Modellierung von Auswirkungen verschiedener mechanischer Belastungen auf den menschlichen Körper, untersucht aber auch die Auswirkungen bei Tieren und Pflanzen. Ein quantitativer Ansatz steht dabei im Vordergrund. Die zu untersuchenden mechanischen Belastungen umfassen innere wie äussere Kräfte. Beispiele sind innere Kräfte im molekularen Bereich, durch kontraktile Fasern auf zellulärem Niveau ausgeübte Kräfte wie auch makroskopisch betrachtete Muskelkräfte oder Drücke und Schubspannungen, die durch Körperflüssigkeiten oder andere aktive biologische Transportprozesse einschliesslich der Osmose entstehen. Äussere Kräfte beinhalten Kräfte, die in unserem Alltag auf uns wirken. Dementsprechend umfassen die in der Biomechanik untersuchten Kräfte Grössenordnungen von pN bis MN (kleinere bzw. grössere Kräfte werden quasi nicht betrachtet, da diese entweder kaum einen Effekt auf den Körper haben oder zu dessen vollständiger Zerstörung führen), die während Zeitdauern von Picosekunden bis Jahren auf den Körper einwirken. Eine mögliche Folge von inneren wie äusseren auf den Körper wirkenden Kräfte ist das Entstehen von Verletzungen. Solche werden üblicherweise mit dem Auftreten von übermässigen äusseren Kräften und/ oder dem Auftreten von Kräften in ungünstigen Konstellationen, K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
2
Einleitung Tabelle 1.1 Die 5 häufigsten Todesursachen der Altersgruppe der 15-24jährigen in den USA im Jahr 1998 (National Vital Statistics Report, Vol. 50, No. 15, 2002). Ursache
%
Anzahl
Unfälle
51.8
12’752
Tötungsdelikte
21.2
5’233
Selbstmorde
16.3
4’003
Krebserkrankungen
6.8
1’670
Herzerkrankungen
3.9
961
insbesondere im Rahmen von Unfällen, in Verbindung gebracht. Tatsächlich stellen Unfälle die häufigste Todesursache von jüngeren Menschen dar (Tab. 1.1). Bei inneren Kräfte hingegen geht man meist davon aus, dass diese durch anatomische oder physiologische Gegebenheiten derart begrenzt werden, dass sie nicht zu Verletzungen führen. Dies muss jedoch nicht immer der Fall sein: Rippenbrüche als Folge intensiver Hustenanfälle, Muskelfaserrisse durch Krämpfe oder endokardiale Blutungen im Falle eines hypovolämischen Schocks sind Beispiele für Verletzungen, die durch den Körper selbst verursacht wurden. Der Teilbereich der Biomechanik, der sich mit dem Entstehen von Verletzungen durch mechanische Einwirkungen beschäftigt, wird als Verletzungsbiomechanik oder Trauma-Biomechanik bezeichnet. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf diesen Aspekt der Biomechanik. Dabei gilt es viele verschiedene Arten von Verletzungen, unterschiedliche Verletzungsmechanismen und eine Vielzahl von verletzungsinduzierenden Belastungen zu betrachten. Um dieses Spektrum mit der nötigen Tiefe behandeln zu können, ist die Trauma-Biomechanik ein stark interdisziplinär ausgerichtetes Fach. Es umspannt makroskopische Bewegungsanalysen im Sport genauso wie sub-mikroskopische Modellierungen von molekularen Transportvorgängen in Zellmembranen. Da hier lebendes Gewebe mit den ihm eigenen aktiven Prozessen wie Muskelkontraktionen oder elektrochemischen Prozessen im Mittelpunkt steht sind biologische Aspekte involviert. Das über Jahrzehnte gesammelte vielfältige Wissen aus der Mechanik und der Biologie trägt somit erheblich zum Verständnis der Trauma-Biomechanik, dem Verständnis von
Zum vorliegenden Buch
3
Verletzungen auf makroskopischem wie subzellulärem Niveau, bei. Daher ist ein Grundwissen aus Mechanik, Anatomie und Physiologie notwendig, um ein Grundverständnis der Trauma-Biomechanik entwickeln zu können.
1.1
Zum vorliegenden Buch
Im Folgenden werden einige Vorbemerkungen zum Inhalt, zur Intention sowie zum Aufbau des Buches aufgeführt: 1. Es ist zu unterscheiden zwischen Verletzungen, die durch unvorhergesehene, plötzliche und einmalige Ereignisse - also durch Unfälle im engeren Sinne - entstehen und Verletzungen infolge chronischer Überbelastung, d.h. durch Belastungen über einen längeren Zeitraum. Der Kopfanprall, den ein Fussgänger im Rahmen einer Kollision durch Anprall an der Fahrzeugfront erfährt und die graduelle Zerstörung von Haarzellen im Innenohr durch chronische Beschallung mit Lärm sind beides Beispiele für Verletzungen, wobei sich jedoch die Art der Verletzung, der Verletzungsmechanismus, die Belastungsgrenzen und Verletzungskriterien, die Methoden zur Rekonstruktion und Analyse der Ereignisse wie auch die Schutzmassnahmen grundsätzlich unterscheiden. Auch im Hinblick auf Versicherungs- und Haftungsfragen sind beide Fälle sehr unterschiedlich zu bewerten. 2. Der Zeitraum, der typischerweise im Rahmen eines Strassenverkehrsunfalls für das Entstehen von Verletzungen relevant ist, beträgt zwischen 100 ms und 200 ms, wobei die frühe Phase oftmals entscheidend ist. Häufig ist sich die involvierte Person der Unfallsituation nicht bewusst, so dass sie nicht im Vorfeld auf die drohende Gefahr reagiert (bzw. reagieren kann). Demnach können Muskelreaktionen, die mit einer Zeitverzögerung von 60 ms bis 80 ms auftreten, oftmals als zweitrangig betrachtet und vernachlässigt werden. Dieser Aspekt ist bei chronischen Belastungen grundsätzlich verschieden, da hier physiologische wie auch psychische Reaktionen immer im Vordergrund stehen. 3. Das Alter stellt einen weiteren wichtigen Aspekt dar. Die mechanischen Eigenschaften menschlichen Gewebes, insbesondere die Verletzungstoleranzen, verändern sich durch das Altern deutlich hin zu geringeren Toleranzen. Dies wird unter anderem durch einen reduzierten Wasseranteil im Körper mit stärkerer (weniger elastischer)
4
Einleitung
Verknüpfung von Kollagenfasern sowie einer Demineralisierung von Knochen begünstigt. Deutlich häufigere Verletzungen im Alter, vor allem Knochenbrüche, sind die Folge. In diesem Zusammenhang sind auch spontane Brüche bekannt, bei denen der Knochen bereits unter normalen physiologischen Belastungen bricht. In Anbetracht der in den Industrienationen alternden Gesellschaft, verdienen solche Aspekte besondere Aufmerksamkeit. 4. Auch am anderen Ende der Altersspanne, den Heranwachsenden, sind bezüglich Trauma-Biomechanik erhebliche Veränderungen der mechanischen und biologischen Eigenschaften zu beachten. Hinsichtlich der Beschreibung dieser Eigenschaften bestehen jedoch noch grosse Wissenslücken, da Experimente mit Kindern oder gar Leichenversuche kaum denkbar sind. Das Skalieren entsprechender an Erwachsenen bestimmten Eigenschaften auf Kinder ist schwierig (“Kinder sind keine kleinen Erwachsenen”). Die Entwicklung von Kinder-Crashtest-Dummys (siehe Kap. 2.6.1) ist daher nicht einfach. Wegen des Mangels an experimentellen Daten basieren die meisten Arbeiten zu Verletzungen bei Kindern auf statistischen Analysen. Ein signifikanter Beitrag zu diesem Themengebiet wurde beispielsweise durch “The Center for Injury Research and Prevention at The Children's Hospital of Philadelphia” geleistet (http://stokes.chop.edu/ programs/injury/). 5. Pathologische Veränderungen können die mechanischen Eigenschaften der Körpers erheblich verändern. Aus der Urologie sind beispielsweise Nierenverletzungen als Folge von Spannungskonzentrationen im Bereich einer Zyste bekannt. Auch die Verstärkung von vorbestehenden Nackenbeschwerden durch ein zusätzliches “Schleudertrauma” (siehe auch Kap. 4) wurde mehrfach beschrieben.
Abb. 1.1 Mikrokallus Bildung. Das Bild zeigt eine 3D Aufnahme (Mikro-Computertomographie, μCT) einer Biopsie aus dem menschlichen Beckenkamm. Mikrofrakturen haben die Neubildung von Knochen initiiert [Prof. R. Müller, ETH Zürich].
Zum vorliegenden Buch
5
Abb. 1.2 28jährige Frau (links) und μ-CT Aufnahme deren Radius (Elle) nahe dem Handgelenk (rechts). Die extreme Demineralisierung des Knochen ist auf exzessives Training als Marathonläuferin zurückzuführen [Prof. Dr. med. M. Dambacher, Universitätsklinik Balgrist, Zürich].
6. Unter ganz bestimmten Bedingungen könnten Mikro-Verletzungen auf zellulärem Niveau bis zu einem gewissen Grade auch vorteilhaft sein. Abbildung 1.1 zeigt die Mikro-Kallusbildung als Folge von MikroVerletzungen in spongiösem Knochen, die als Beispiel für eine Verletzungen, die Knochenbildung simuliert, betrachtet werden kann. Nach langen, anstrengenden Bergwanderungen sind solche MikroVerletzungen auch im gesunden Fuss nicht aussergewöhnlich. Chronische Überbelastung hingegen kann zu einer gegenteiligen Entwicklung führen. Abbildung 1.2 zeigt eine Marathonläuferin, deren Skelett durch exzessives Training stark demineralisiert wurde. 7. Verletzungen werden meistens im Zusammenhang mit Bewegung (Sport, Haushalt usw.) oder Mobilität (Verkehr) erlitten. Während in der Biologie Tierexperimente (unter entsprechenden Auflagen) üblich sind, finden diese in der Trauma-Biomechanik, mit Ausnahme weniger allgemeingültiger physiologischer Aspekte, quasi keine Anwendung mehr. Wegen der den interessierenden Bewegungen und Verletzungsmechanismen zugrunde liegenden Nicht-Linearität kann nicht von Tierexperimenten (z.B. Versuchen mit Ratten) auf den Menschen geschlossen werden. 8. Betrachtet man das gesamte Spektrum rund um “Verletzungen” einschliesslich deren Ursachen, Häufigkeit, Prävention, Heilung, Rehabilitation, Langzeitfolgen und den sozioökonomischen Folgen, so sind auch klinische Aspekte der Behandlung von Verletzungen zu berücksichtigen. Häufig wird vergessen, dass die Reduktion der
6
Einleitung
spezifischen Mortalität (d.h. des Sterberisikos pro Fall) auch durch Entwicklungen der Notfall- und Intensivmedizin sowie der Rettungsdienste positiv beeinflußt wird. Als ungünstig fällt hingegen auf, wenn Verletzungsmechanismen oder Unfälle durch Ärzte untersucht und beurteilt werden, die hierfür nicht ausgebildet sind und/ oder denen die entsprechende Kompetenz fehlt. Die objektive Beurteilung von Unfällen - insbesondere im Zusammenhang mit Unfallschwere und Kausalität von Verletzungen - erfordert einen multidisziplinären Ansatz. Zusätzlich zu medizinischen Informationen, die durch klinischen Ärzte erhoben werden, sind die technischen und biomechanischen Umstände bei der Untersuchung und Rekonstruktion von Unfällen zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere im Bereich der Gerichtsgutachten relevant. Eine spezialisierte Ausbildung sowie ausreichende Erfahrung sind Voraussetzungen für eine entsprechende Gutachtertätigkeit. 9. Dieses Buch beschränkt sich auf die Mechanik von unbeabsichtigt entstandenen Verletzungen. Grundsätzlich können Verletzungen jedoch auch bewußt verursacht bzw. in Kauf genommen werden — beispielsweise durch Verbrechen, terroristische Akte oder im Krieg. Wundballistik, Schutzausrüstung für Soldaten oder spezielle wenig verletzungsinduzierende Waffen für die Polizei wären in diesem Zusammenhang zu nennen. An solchen Themenkomplexen interessierte Leser werden auf entsprechende Veröffentlichungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (http://www.icrc.org) verwiesen. Die allgemeine Signifikanz von beabsichtigt zugeführten Verletzungen sollte jedoch nicht unterschätzt werden. In den USA wurden 2001 beispielsweise rund 12’000 Personen durch Schusswaffen getötet (ohne Unfälle mit Schusswaffen). Zum Vergleich: im Strassenverkehr starben im gleichen Jahr rund 11’000 Fahrzeugpassagiere (ohne Fahrer). Selbstmord ist eine weitere häufige Todesursache (Tab. 1.1). In diesem Zusammenhang sind insbesondere nicht-technische (u.a. soziale, politische, psychologische, allgemeine gesellschaftsbezogene) Aspekte in Betracht zu ziehen. Studien zum Einfluss physischer Gewalt in der Kindheit beinhalten beispielsweise die intensive Analyse sozio-psychologischer Faktoren [z.B. Paradis et al. 2009]. 10. Am Besten ist es, wenn Verletzungen erst gar nicht auftreten. Dementsprechend genießt die Verletzungsprävention hohe Priorität. Im Strassenverkehr sind Maßnahmen zur Vermeidung von Unfällen bereits seit langem implementiert und als staatliche Aufgabe anerkannt. Im Gegensatz dazu wird die Prävention im Sportbereich primär als
Zum vorliegenden Buch
7
Aufgabe nationaler und internationaler Sportverbände bzw. als Teil der Sportmedizin betrachtet. Restriktive Regelwerke, Verbote besonders gefährlicher Formen des Sports, die Entwicklung von Schutzausrüstung wie auch Training und Ausbildung sind Elemente der Prävention. Versicherungsgesellschaften unterstützen Verletzungsprävention als Teil ihrer Philosophie, wobei hier oftmals die Bereiche Arbeit und Haushalt im Mittelpunkt stehen. Während die Prävention auf mögliche zu Verletzungen führende Situationen abzielt, steht nach erlittener und behandelter Verletzung die Rehabilitation im Vordergrund. Auch diesbezüglich werden von staatlichen Stellen, Sportverbänden, Arbeitnehmervereingungen, der klinischen Medizin wie auch von Versicherungsunternehmen erhebliche Anstrengungen unternommen. Da sich dieses Buch auf die Trauma-Biomechanik beschränkt, werden Aspekte der Prävention und Rehabilitation nur am Rande bzw. nur im Zusammenhang mit ausgewählten Verletzungen behandelt. In der Trauma-Biomechanik wurden bisher vor allem Strassenverkehrsunfälle systematisch und quantitativ erforscht, obschon auch im Sport, am Arbeitsplatz oder im Haushalt viele Verletzungen auftreten. Hierfür können insbesondere zwei Aspekte verantwortlich gemacht werden: Erstens geschehen im Strassenverkehr mehr schwere und tödliche Unfälle als in den anderen Bereichen (Tab. 1.2), so dass die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten höher sind. Die Automobilindustrie steht daher auch unter dem Druck politischer Interventionen, Gesetzgebungsinitiativen und Haftungsfragen und wird dadurch zu Forschungs- und Entwicklungsarbeiten angespornt. Zweitens können Verkehrsunfälle, wenngleich sie natürlich wie andere Unfälle auch in einer Vielzahl von Variationen vorkommen, in einige typische bzw. repräsentative Arten eingeteilt werden (z.B. Frontalkollisionen gegen ein Hindernis, 90° Seitenanprall), so dass es möglich wird, für diese Typen standardisierte Testverfahren und Prüfprotokolle zu entwickeln. Im Gegensatz dazu ist es in den Bereichen Sport, Arbeitsplatz oder Haushalt ungleich schwerer, typische Situationen zu definieren, die häufig zu Verletzungen führen. Tabelle 1.3 zeigt, dass (tödliche) Unfälle am Arbeitsplatz in vielen unterschiedlichen Situationen entstehen können.
3'482
3'395
3'377
776
Ertrinken
andere Verkehrsunfälle (Transport)
Verbrennen
Feuerwaffen (unbeabsichtigt)
6
0.8
1
3.4 37
3.5
3.6 75
12'757 13.0 14
Vergiftungen
18
290
40
493
32
36
67
266
150
375
45
37
202
192
468
646
1'160
237
131
241
516
419
2'380
303
895
13'322 13.6 8
648
153
402
734
480
4'663
608
1'446
78
439
604
354
3'061
871
1'510
50
369
377
217
688
949
1'349
3'506
Stürze
267
5'361
17'437 17.8 572 266
6'927
> 85
41
401
277
179
278
1'660
1'824
3'038
24
472
169
156
245
3'841
3'678
3'173
11
263
47
64
184
4'772
4'966
1'288
7'698 11'758 11'595
55-64 65-74 75-84
Nicht-Verkehrsunfälle (unspezif.)
4 -54
43'354 44.3 168 651 1'772 10'560 6'884
5-14 15-24 25-34 35-44
Verkehrsunfälle (motorisierte Fzg.)
% < 1 1-4
97'900 100 881 1'826 2'979 14'113 11'769 15'413 12'278 7'505
alle
Todesfälle durch Unfälle (total)
Todesursache vs. Alter (Jahre)
-
5
7
24
7
-
16
26
85
unbekannt
Tabelle 1.2 Ursachen für tödliche Unfälle in verschiedenen Altersgruppen in den USA im Jahr 2000. Die absolute Anzahl an Todesfälle aufgeteilt auf 113 Kategorien betrug 2'40'351, darunter 29'350 Suizide und 16'765 Morde (National Vital Statistics Report, Vol. 50, No. 15, 2002).
8 Einleitung
Zum vorliegenden Buch
9
Tabelle 1.3 Tödliche Arbeitsunfälle 1994 (US Bureau of Labor Statistics). Ursache
%
Unfälle Verkehr/Transport
42
Gewalt
20
Arbeitsmaschinen, herabstürzende Objekte
15
Umweltkontamination
10
Stürze
10
Feuer/Explosion
3
Verglichen mit Publikationen zu Strassenverkehrsunfällen ist die Literatur zu Verletzungen im Sport usw. — obschon reichlich vorhanden — aus biomechanischer Sicht weniger stringent. Sie beschränkt sich häufig auf allgemeine Statistiken, qualitative Beschreibungen von Verletzungsmechanismen, medizinische Therapieansätze oder praktische Empfehlungen für Trainer oder zur Arbeitsplatzsicherheit. Quantitative Untersuchungen sind hingegen nur relativ wenige vorhanden. Stattdessen werden quantitative Aussagen zu Verletzungsgrenzen oder Verletzungskriterien auch in diesen Bereichen meistens aus Untersuchungen zu Strassenverkehrsunfällen abgeleitet bzw. übernommen. Zudem fällt auf, dass Untersuchungen zu Sportunfällen vor allem in denjenigen Disziplinen durchgeführt wurden, in denen grosse Geldsummen umgesetzt werden wie beispielsweise Fussball, Americal Football oder Skifahren. Weniger prominente Sportarten wurden auch in der Forschung weniger oft behandelt. Verglichen mit Unfällen sind bei Verletzungen durch chronische mechanische (Über-) Belastung die individuellen anatomischen und physiologischen Gegebenheiten von grösserer Bedeutung. Die Unterscheidung zwischen einer Schädigung durch chronische Belastung und einer Invalidität durch eine Erkrankung, die nicht mit der entsprechenden Belastung in Verbindung steht, ist oftmals schwierig oder unmöglich. Psychische Einflüsse sind in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Quantitative Informationen sind dünn gesät. Bestimmungen zu Belasungen durch Schwingungen von Baumaschinen oder hinsichtlich des Lärmpegels in Fabriken basieren primär auf Langzeitstatistiken und nicht
10
Einleitung
auf physiologischen Experimenten. Aus den oben dargelegten Gründen beschäftigt sich dieses Buch hauptsächlich mit Trauma-Biomechanik im Bereich der Strassenverkehrsunfälle. Nach einem allgemeinen Kapitel zu Grundlagen widmen sich die nachfolgenden Kapitel je einer Körperregion. Diese Kapitel sind systematisch aufgebaut und beginnen mit einer kurzen Zusammenfassung der im Zusammenhang mit Verletzungsmechanismen relevanten anatomischen Strukturen. Zudem werden je Körperregion mögliche Verletzungen, die zugrunde liegenden Verletzungsmechanismen sowie das biomechanische Verhalten unter Belastung beschrieben. Grenzwerte für verletzungsinduzierende Belastungen und davon abgeleitete Verletzungskriterien, mit denen das Verletzungsrisiko beurteilt werden kann, werden vorgestellt. Zu Sportverletzungen finden sich jeweils eigene Abschnitte, in denen die relevanten Verletzungen, Verletzungsmechanismen und Verletzungstoleranzen für diesen Bereich dargestellt werden. Zu ausgewählten Teilbereichen werden zudem Möglichkeiten der Verletzungsprävention diskutiert. Des Weiteren findet sich ein kurzes Kapitel zu chronischen, mechanischen Belastungen, wobei in diesem Zusammenhang auch viele Aspekte von Ergonomie, allgemeine Arbeitsplatzsicherheit oder Arbeitsmedizin wichtig sind, die hier nicht behandelt werden. Zusätzliche Informationen finden sich beispielsweise auf der Internetseite der US Occupational Safety and Health Administration (http://www.osha.gov). Für vertiefendes bzw. weiterführendes Lesen schliesst jedes Kapitel mit einer Literaturliste ab.
1.2
Geschichte
Biomechanik als Wissenschaft ist genauso alt wie die Mechanik selbst. Während sich beispielsweise Giovanni Alfonso Borelli (1608 - 1679) mit dem Vogelflug und dem Schwimmen der Fische beschäftigte, schrieb Leonhard Euler (1707 - 1783), der die Grundlagen der Kontinuumsmechanik legte, eine ausführliche Abhandlung über den Blutfluss in Arterien ("Principia pro motu sanguinis per arterias determinando", op. posth.). Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Mechanik von Verletzungen bzw. die Trauma-Biomechanik jedoch nicht systematisch erforscht. Dies könnte daran gelegen haben, dass Gefahren allgegenwärtig waren und Verletzungen einfach als zum Leben gehörend betrachtet wurden. Man sollte nicht vergessen, dass es in Europa vor 1945 für 2000 Jahre quasi keine Periode von mehr als 15 Jahren ohne Krieg
Geschichte
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gegeben hatte. Verletzungsprävention wurde direkt und pragmatisch umgesetzt, z.B. in Form von Ritterrüstungen. Der erste bekannte systematische und wissenschaftliche Ansatz in Richtung Trauma-Biomechanik stammt vom deutschen Anatomen Otto Messerer aus München, der im Jahr 1889 die Ergebnisse seiner Forschung unter dem Titel "Über Elastizität und Festigkeit der menschlichen Knochen" veröffentlichte. In der Forensik ist der sogenannte “MessererKeil” (die Beschreibung eines speziellen Frakturbildes) heute noch bekannt. Wie bereits erwähnt, konzentriert sich die Trauma-Biomechanik heute hauptsächlich auf Verkehrsunfälle. Historisch liegen die Wurzeln jedoch in der Aviatik. Anlässlich der “1st National Conference on Street and Highway Safety” (USA 1924) standen vor allem einfache und praktische Aspekte der Verkehrssicherheit, wie beispielsweise die Farbe von Lichtsignalanlagen (Ampeln) oder die Fahrerausbildung im Vordergrund, während die Trauma-Biomechanik keine besondere Rolle spielte. Im Gegensatz dazu war die Trauma-Biomechanik zu dieser Zeit bereits im Bereich der militärischen Fliegerei, in der der menschliche Körper extremen mechanischen Belastungen ausgesetzt ist, ein wichtiges Thema. Insbesondere Hugh DeHaven, von manchen als der “Vater der TraumaBiomechanik” bezeichnet, begann mit der Analyse von Flugzeugabstürzen und den involvierten Verletzungsmechanismen. 1942 publizierte er seine Arbeit "Mechanical Analysis of Survival in Falls from Heights of 50 - 100 Feet" (“Mechanische Untersuchung zum Überleben von Stürzen aus Höhen von 15,2 - 30,5m”). Auch in den darauffolgenden Jahren blieb die Militäraviatik im Zentrum der Trauma-Biomechanik-Forschung. Die Belastungen bei Überschallflügen oder der Ausstieg mittels Schleudersitz waren wichtige Forschungsthemen. Zudem wurden grundlegende Methoden im Bereich der Trauma-Biomechanik eingeführt, z.B. die Durchführung von Freiwilligenversuchen zur Untersuchung des biomechanischen Verhaltens des Körpers unter subkritischen Belastungen oder die Entwicklung von anthropometrischen Testpuppen (CrashtestDummys). Der wahrscheinlich berühmteste Pionier der Trauma-Biomechanik in der Aviatik war Colonel John Paul Stapp. Er wurde insbesondere für seine experimentellen Arbeiten berühmt. Zu diesen gehören auch verschiedene Selbstversuche, in denen er sich unterschiedlichen Belastungen aussetze. In einer seiner spektakulären Testreihen Anfang der 1950er Jahre setzte sich Stapp auf einen von einer Rakete angetriebenen Schlitten und liess sich ausgehend von einer Geschwindigkeit von ca. 1000 km/h in 1.4s bis zum Stillstand abbremsen. Er erfuhr dadurch eine Beschleunigung
12
Einleitung
(Abbremsung) von etwa dem 40fachen der Erdbeschleunigung (Abb. 1.3). Schwere Verletzungen zog er sich bei diesem Experiment nicht zu. Stapp, von der Zeitschrift Time zu "the fastest man on earth and No. 1 hero of the Air Force" gekürt (Time, September 12/1955), gründete zudem die jährlich stattfindenden Stapp Car Crash Conference, einer Konferenz zu TraumaBiomechanik-Themen. John P. Stapp starb 1999 im Alter von 89 Jahren. Auch Entwicklungen aus dem Bereich der Astronautik — obschon dort Untersuchungen zum Einfluss der Schwerelosigkeit im Mittelpunkt standen — haben die Trauma-Biomechanik beeinflusst. Das erste Computermodell zur dreidimensionalen Simulation von Bewegungen des Menschen (R.D. Young, Texas A&M, 1970) wurde im Zusammenhang mit der Analyse von Bewegungsmustern unter Schwerelosigkeit (d.h. beim Wegfall äusserer Kräfte) entwickelt. McHenry (Calspan Corp., Buffalo) erstellte das erste Computermodell zur Bewegungsanalyse im Falle einer Frontalkollision im Strassenverkehr. Da in diesem Fall der Einfluss äusserer Kräfte wichtig ist, beschäftigte sich ein grosser Teil der Modellbildung mit der Wechselwirkung bzw. dem Kontakt zwischen dem menschlichen Körper und den ihn umgebenden (Fahrzeug-) Strukturen. Dadurch wurden die
Abb. 1.3 Colonel Stapp auf dem Raketen getriebenen Schlitten “Sonic Wind No. 1” sitzend, mit dem er sich einer Beschleunigung von 40g aussetzte [http:// www.stapp.org].
Geschichte
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Modelle für damalige Verhältnisse derart komplex, dass anfangs nur zweidimensionale Berechnungen möglich waren. In den Anfängen des Strassenverkehrs wurde Sicherheit primär mit dem Fahrer bzw. dem Fahrstil in Verbindung gebracht. Die Sicherheit des Fahrers und seiner Passagiere wie auch die der anderen Verkehrsteilnehmer war quasi ausschliesslich eine Frage des Fahrstils des Fahrers. Rückhaltesysteme wurden angedacht (Abb. 1.4) waren aber vor dem 2. Weltkrieg nicht sehr verbreitet. Nichtsdestotrotz verbesserte sich die Konstruktion der Fahrzeuge zwischen den 1920er und 1930er Jahren auch zum Vorteil der Sicherheit. Beispielsweise wurden zuverlässige Bremssysteme und laminierte Frontscheiben eingeführt. Weitere Entwicklungen betrafen die Beleuchtung sowie die Räder (z.B. schlauchlose Reifen). Fahrzeugstrukturen aus Stahl ersetzen Holzbauteile und erhöhten somit die Steifigkeit der Fahrzeuge. Nach dem 2. Weltkrieg nahm die Mobilität schnell zu, womit auch eine dramatische Zunahme der im Strassenverkehr erlittenen Verletzungen einherging, so dass diese Gegenstand detaillierter Untersuchungen wurden. Das “Automotive Crash Injury Research programme” (ACIR, Cornell University, 1951) war ein früher systematischer Ansatz zur Untersuchung von Verletzungen im Strassenverkehr. Ein entscheidender Fortschritt war die Umsetzung der Kombination aus steifer Fahrgastzelle und vorgelagerter
Abb. 1.4 Patent über Sicherheitsgurte von Gustave D. Lebau (1903). Statt zur Sicherheit im Falle einer Kollision dienten die Gurte in erster Linie dazu, die Passagiere während der Fahrt (über unebene Strassen und ohne Stossdämpfer) in den Sitzen zu halten.
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Einleitung
Knautschzone. Auch das Lenkrad wurde als mögliche Quelle für Verletzungen identifiziert und stand daher im Mittelpunkt verschiedener Forschungs- und Entwicklungsprojekte, die beispielsweise zur Einführung von energieabsorbierenden Lenksystemen führten. Weitere Verbesserungen betrafen das Crash-Verhalten des Armaturenbretts, die Entwicklung von Rückhaltesystemen wie dem 3-Punkt-Gurt und dem Airbag. Die Begriffe “passive” und “aktive” Sicherheit wurden eingeführt und Fahrzeughersteller begannen mit der Durchführung von systematischen Crashtests und entsprechenden Computersimulationen. Eine umfangreiche Zusammenfassung der Forschung zur Fahrzeugsicherheit bis 1970 findet sich im International Automobile Safety Conference Compendium (1970, SAE, New York). Im Rahmen der passiven Fahrzeugsicherheit können Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen ergriffen werden. Erstens können Verletzungen konstruktiv durch verbesserte Crash-Eigenschaften des Fahrzeugs reduziert werden. Dies beinhaltet insbesondere die Entwicklung von Energie absorbierenden Strukturen. Zweitens kann die Insassenbewegung im Falle einer Kollision kontrolliert werden. Rückhaltesysteme wie der Sicherheitsgurt zielen darauf ab, die Insassen in der vorgesehenen Position zu halten und koppeln die Bewegung der Insassen an das Fahrzeug. Drittens kann der eigentliche Anprall, d.h. der Kontakt zwischen dem menschlichen Körper und den ihn umgebenden Strukturen beeinflußt werden. Hierbei spielen Energieabsorption und die Verteilung der Aufprallkräfte auf der Kontaktfläche eine grosse Rolle. Aktive Sicherheit wiederum beschreibt hier Systeme, die den Fahrer unterstützen, um einen Anprall zu verhindern bzw. Systeme, die vor dem Anprall aktiv werden. Beispiele sind ABS-Bremssysteme, Abstandsradar und diverse Fahrassistenzsysteme. In Ergänzung zu (fahrzeug-) technischen Möglichkeiten bemühen sich auch staatliche Stellen um eine Verbesserung der Sicherheit auf den Strassen. Nach dem 2. Weltkrieg richteten sich erste Programme die Ausbildung von Fahrern, Verkehrsregeln oder die Entwicklung der Verkehrswege um die Sicherheit zu erhöhen. Die Gestaltung sowie der Bau von Strassen oder die Überwachung von Verkehrsvorschriften und Geschwindigkeitsbegrenzungen sind wichtige Beiträge des Staates zur Verbesserung der Verkehrssicherheit. Die Reduktion der im Strassenverkehr verletzten und getöteten Personen, die die amtlichen Statistiken der letzten Jahre in vielen Staaten ausweisen (Abb. 1.5), kann teilweise mit den Anstrengungen im Bereich der TraumaBiomechanik erklärt werden, die sich auf die lebensbedrohlichen Verletzungen konzentrierten. Wie bereits erwähnt, ist der Strassenverkehr
Geschichte
15
jedoch nur ein Teilgebiet, in dem Verletzungen auftreten. Verletzungen, die bei Arbeitsunfällen, im Sport oder sonst im Alltag erlitten werden, sind ebenfalls bedeutend. In Industriestaaten (z.B. USA, 2002) wird mitunter die Anzahl der im Strassenverkehr Getöteten durch die Anzahl der in anderen Unfallereignissen Getöteten übertroffen (Tab. 1.2).
Abb. 1.5 Entwicklung der Anzahl von im Strassenverkehr verletzten und getöteten Personen in der Schweiz. Die Anzahl der leicht Verletzten stagniert auf hohem Niveau [bfu 2009].
Der Vergleich der Sportunfälle in der Schweiz und den USA (Tab. 1.4) veranschaulicht einerseits die Unterschiede, die durch die verschiedene Grösse der Länder auftreten, zeigt aber zugleich den Einfluss lokaler Eigenheiten, die zu erheblichen Unterschieden der Statistik führen können. Die riesige Zahl der Sportunfälle verdeutlicht zudem, dass diese in der Regel nicht lebensbedrohlich sind. Globale Statistiken zeigen tatsächlich, dass vor allem Verkehrsunfälle tödlich verlaufen: während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Anzahl der im Strassenverkehr Getöteten im Jahr 2002 weltweit auf 1.2 Mio. Personen schätzt, ging die International Labour Organisation (ILO) im Jahr 1998 von “nur” 335.000 tödlichen Arbeitsunfällen aus. Die Expositionszeit, d.h. die Zeitdauer, in der man die verschiedenen Aktivitäten ausübt, kann ein entsprechender Indikator für das mit der jeweiligen Tätigkeit verbundene Risiko sein. Tabelle 1.5 zeigt, dass die Teilnahme am Strassenverkehr — dank den unternommenen Anstrengungen zur Sicherheit — nicht per se übermässig risikoreich ist, wenn man sie anderen Aktivitäten gegenüberstellt. Die hohe Expositionszeit im Strassenverkehr macht diesen Effekt jedoch zunichte.
16
Einleitung
Tabelle 1.4 Anzahl Sportunfälle in den USA (aus: Charles W. Nuttall, 5th Int. High Energy Physics Laboratories Technical Safety Forum, SLAC, 2005) und in der Schweiz (gemäss: Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu), 2005). In beiden Ländern werden verschiedene Sportarten bevorzugt: während American Football und Baseball in der Schweiz kaum gespielt werden, sind Fussball und Skifahren sehr populär. Sport
USA, 1997
Schweiz, 2003
Basketball
644’921
5880
American Football
344’420
na
Baseball, Softball
326’569
na
Fussball
148’912
55’040
Trampolin
82’722
na
Skateboard
48’186
10’330
Golf
47’777
na
Skifahren
na
49’660
Snowboarden
na
28’890
Schlitten, Bob
na
10’800
Tabelle 1.5 Geschätztes Risiko eines tödlichen Unfalls (Fatal Accident Rate, FAR) je nach Expositionszeit und individuellem Risiko pro Person und Jahr (gemäss: Practical Industrial Safety, Risk Assessment and Shutdown Systems, Dave McDonald, Elsevier 2004). FAR pro 108 h Exposition
individuelles Sterberisiko pro Person und Jahr (x104)
Flugzeug
na
0.02
Zug
3-5
0.03
Tätigkeit Reisen im:
Referenzen
17
Tabelle 1.5 Fortsetzung FAR pro 108 h Exposition
individuelles Sterberisiko pro Person und Jahr (x104)
Bus
4
2
Auto
50-60
2
chemischen Industrie
4
0.5
Produktion
8
na
Schifffahrt
8
9
(Kohle-) Bergbau
10
2
Landwirtschaft
10
na
Boxen
20’000
na
Klettern
4’000
1.4
Tätigkeit
Tätigkeit/Arbeit in der:
1.3
Referenzen
bfu - Schweiz. Beratungsstelle für Unfallverhütung (2009): www.bfu.ch Euler L: Principia pro motu sanguinis per arterias determinando; op. posth. Messerer O (1880): Über Elastizität und Festigkeit der menschlichen Knochen, Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart Paradis AD, Reinherz HZ, Giaconia RM, Beardslee WR, Ward K, Fitzmaurice GM (2009): Long-term impact of family arguments and physical violence on adult functioning at age 30 years: Findings from the Simmons longitudinal study., J Am Acad Child and Adolescent Psychiatry, Vol. 48, pp. 290-298 SAE (1970): International Automobile Safety Conference Compendium, SAE, New York, www.sae.org
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Die Arbeit in der Trauma-Biomechanik wird durch einige Randbedingungen eingeschränkt, die in dieser Form in anderen Bereichen der Ingenieurwissenschaften und der Life Sciences nicht oder nur zu einem geringen Teil vorhanden sind. Experimente an Menschen, bei denen verletzungsinduzierende Belastungen auftreten können, sind ausgeschlossen. Tierversuche sind nur sehr eingeschränkt anwendbar, da es schwierig bis unmöglich ist, Verletzungssituationen vom Tier auf den Menschen zu übertragen. Auch ist es fraglich, in welchem Grade Tiermodelle die Biomechanik des Menschen repräsentieren. Kosten und insbesondere ethische Überlegungen tragen weiter dazu bei, dass solche Experimente heute nur noch selten und nur unter speziellen Bedingungen durchgeführt werden. Dementsprechend sind die in der Trauma-Biomechanik zur Anwendung kommenden Methoden grösstenteils indirekt. Sie basieren hauptsächlich auf folgenden Komponenten: • Statistik, Feldstudien, Datenbanken (2.1) • mechanische Grundlagen der Biomechanik (2.2) • Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko (2.3) • Unfallrekonstruktion (2.4) • Experimentelle Untersuchungen (2.5) • Standardisierte Testverfahren (2.6) • Numerische Simulationen (2.7)
2.1
Statistik, Feldstudien, Datenbanken
Die Epidemiologie ist in der Trauma-Biomechanik von grundlegender Bedeutung und stellt zudem den ältesten methodischen Ansatz dar. Die Ermittlung von Verletzungsrisiken und dazugehörigen Einflussfaktoren stützt sich grösstenteils auf epidemiologische Erkenntnisse ab. Viele
K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
20
Methoden der Trauma-Biomechanik
Präventionsstrategien wie auch technische und gesetzgeberische Ansätze zur Reduktion von Verletzungen leiten sich aus Resultaten epidemiologischer Studien ab. In welchem Ausmass solche Anstrengungen tatsächlich erfolgreich sind, kann nur auf Grundlage statistischer Beobachtungen, die sich oftmals über längere Zeiträume erstrecken müssen, beurteilt werden. Daher sind die detaillierte Erfassung und Auswertung von Unfällen bzw. Unfalldaten, vor allem im Hinblick auf Fragestellungen zur Minderung von Verletzungsfolgen und Prävention, unerlässliche Voraussetzungen für die Forschung. Die Erfassung, Klassifizierung und Interpretation von Unfalldaten wird in vielen Fällen durch die Stichprobengrösse eingeschränkt. Man sollte sich daher bewusst sein, dass die grössten Einschränkungen hinsichtlich Anwendbarkeit der Ergebnisse aus statistischen Untersuchungen bereits durch Entscheidungen beim Aufbau und Sammeln einer Datenbank gelegt werden. Im Unterschied zu einem kontrollierten Experiment im Labor, sind bei realen Unfallsituationen viele Parameter mit Unsicherheiten behaftet, die nicht kontrolliert werden können bzw. die grosse Abweichungen aufweisen. Zudem sind Aussagen von Betroffenen oder Zeugen oftmals unpräzise oder werden durch (versicherungs-) rechtliche Überlegungen beeinflusst. Des Weiteren können bei der statistischen Analyse von Auswirkungen bzw. der Effektivität neuer Sicherheitsmassnahmen auch Faktoren wie beispielsweise die Zusammensetzung der Fahrzeugflotte, Treibstoffpreise, Gesetzesänderungen, Regeländerungen im Sport oder Änderungen bei der Versicherung von Arbeitsunfällen eine erhebliche Rolle spielen. Zudem kann eine fundierte statistische Evaluation auch einfach daran scheitern, dass die Stichprobe zu klein ist, um repräsentative Aussagen machen zu können. Methodisch können zwei verschiedene Ansätze von Unfall- bzw. Verletzungsdatenbanken unterschieden werden: breit aufgestellte Datensammlungen, die sich durch eine grosse Anzahl von Fällen — teilweise durch Einschluss aller Unfälle — auszeichnen, und detailreiche, aber auf eine kleinere Stichprobe begrenzte Datenbanken. Allgemeine, breite Erhebungen werden beispielsweise durch die Polizei, andere staatliche Stellen oder Versicherungen durchgeführt. Diese enthalten in der Regel viele Fälle, zu denen jedoch jeweils nur eine begrenzte Anzahl an Parametern erfasst wird. Im Unterschied dazu werden z.B. durch spezialisierte Unfallforschungsteams für eine begrenzte Anzahl von Fällen eine grosse Anzahl von Parametern erfasst. Zu diesem Parametern können genaue Informationen vom Unfallort (sei es auf der Strasse, am Arbeitsplatz oder im Haushalt) ebenso gehören wie Angaben zu Fahrzeugen, Sportgeräten, Polizeiberichten, Zeugenaussagen,
Statistik, Feldstudien, Datenbanken
21
medizinischen Unterlagen, Wetterinformationen, etwaigen Videoaufnahmen oder Unfallrekonstruktionen. Ergänzend können numerische Simulationen durchgeführt werden, um mehr Aufschluss über die Belastungen zu erhalten und um diese mit etwaigen Verletzungen zu korrelieren. Eine solche detaillierte Erfassung von Daten ist natürlich entsprechend kostspielig, so dass schon dadurch die Anzahl der zu untersuchenden Fälle begrenzt wird. Daher ist die Repräsentativität der Stichprobe vor allem in solchen Datenbank-Ansätzen entscheidend. Versicherungsgesellschaften verfügen oftmals über grössere Datenbanken als staatliche Stellen, da Unfallschäden eher der Versicherung als der Polizei gemeldet werden. Dies gilt insbesondere für Selbstunfälle ohne Beteiligung Dritter anderer. Für Aussenstehende sind Versicherungsdatenbanken allerdings meist nicht zugänglich und zudem weisen sie je nach Versicherten einen entsprechenden Bias auf oder sind nicht detailliert genug. Beispielsweise quantifizieren Versicherungen Fahrzeugschäden oftmals im Sinne von Reparaturkosten und nicht im Sinne biomechanisch relevanter Kriterien wie der Verformungsenergie. Des Weiteren werden Daten für breite Datenbanken oftmals nicht von entsprechend spezialisiertem Personal erfasst, so dass hierdurch gravierende Fehler bzw. Fehlinterpretationen in die Datenbank eingehen können. Abweichungen können alleine schon dadurch entstehen, dass eine Vielzahl von Personen die Daten nicht einheitlich erfasst. Als Konsequenz der verschiedenen Arten von Datenbanken ergeben sich Schwierigkeiten, die Ergebnisse verschiedenen Auswertungen miteinander zu vergleichen. Selbst innerhalb eines bestimmten Typus von Datenbank (z.B. den Unfallstatistiken der Polizei), können grundlegende Definitionen, die Stichprobengrössen oder verschiedene Datenschutz-Bedingungen zu Problemen der Vergleichbarkeit verschiedener Datenbanken führen. Ob beispielsweise ein älterer Patient, der zwei Wochen nach einem schweren Unfall im Krankenhaus an einer Lungenentzündung stirbt, als Unfallopfer betrachtet wird oder nicht, kann mitunter einfach von der in diesem Krankenhaus üblichen Praxis der Datenerfassungen abhängen. In den meisten Industriestaaten gehören Unfälle aus Strassenverkehr, Arbeitplatz, Haushalt oder Sport in den Kompetenzbereich unterschiedlicher staatlicher Stellen, Stiftungen, privater Institutionen, Sportverbände, Versicherungen usw., die gegenseitig wenige Berührungspunkte haben. Die Praxis von Unfallmeldungen bzw. Untersuchungen von Unfällen sind entsprechend verschieden, wie sich auch die jeweiligen Ansätze zur Prävention unterscheiden. Dies ist auch bei Vergleichen zwischen verletzungsinduzierenden Situationen aus den unterschiedlichen Bereichen zu berücksichtigen. Einheitliche Statistiken,
22
Methoden der Trauma-Biomechanik
die auf einheitlichen Kriterien beruhen, sind daher nur in kleinen Staaten wie z.B. der Schweiz vorhanden, da hier beispielsweise die Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) für Unfalldaten aus verschiedenen Bereichen verantwortlich ist. Die grössten systematischen Datensammlungen und Statistiken zu Strassenverkehrsunfällen werden durch die US National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) zur Verfügung gestellt. Sie beinhalten allgemeine Informationen zu Fahrzeugen, Crashverhalten, Trends (National Automotive Sampling System, NASS) wie auch Daten zu Verkehrstoten (Fatal Accident Reporting System, FARS). Eine Übersicht dieser Datenbanken wird beispielsweise von Compton (2002) gegeben. Ähnliche, wenngleich mitunter weniger systematisch aufbereitete Daten werden von fast allen Staaten bereitgestellt. Daten zur Sicherheit am Arbeitsplatz finden sich in den Statistiken der US Occupational Safety & Health Administration (OSHA). In den meisten Industriestaaten werden Arbeitsunfälle durch öffentlich-rechtliche (Versicherungs-) Organisationen bearbeitet, die entsprechende Statistiken herausgeben. Hinsichtlich Unfällen und Verletzungen im Sport stellt sich die Situation etwas anders (unübersichtlicher) dar. Sport wird — mit Ausnahme z.B. vom Schulsport — üblicherweise auf freiwilliger Basis in der Freizeit betrieben. Daher kommen hier im Falle von Verletzungen meist verschiedene (Unfall-/Haftpflicht-/Kranken-) Versicherungen zum Tragen und auch die Aspekte der Produkthaftung (z.B. für Trampoline, Sprungbretter im Schwimmbad, Helme, Skibindungen) sind unterschiedlich geregelt. Allgemeine wie auch spezielle Statistiken, die das Unfallgeschehen über mehrere Jahren verfolgen und z.B. auf Trends hinweisen können fehlen grösstenteils. Teilweise liegt dies wohl daran, dass Sportverletzungen im Allgemeinen Bewusstsein erst in den letzten Jahren einen grösseren Stellenwert eingenommen haben. Das olympische Komitee verfügt seit 1990 über entsprechende Einrichtungen, die sich intensiver mit solchen Themen beschäftigen. Die Fédération Internationale de Football Association (FIFA) hingegen gibt keine systematischen Informationen zum Unfall-/Verletzungsgeschehen im Fussball heraus (es erscheinen jedoch immer wieder wissenschaftliche Publikationen, die einige Daten zu Teilgebieten erhalten), die Fédération Internationale de Ski (FIS) und das Oslo Sports Trauma Research Centre NSS gaben 2006 bekannt, dass sie für FIS-Disziplinen wie Alpinskifahren, Skilanglauf, Skisprung, nordische Kombination, Freestyle-Skifahren und Snowboard ein System zur Erfassung von Verletzungen (Injury Surveillance System) entwickeln wollen.
Statistik, Feldstudien, Datenbanken
23
Detaillierte Datenerhebungen (“in-depth studies”) werden von spezialisierten Teams durchführt und verfolgen in der Regel ein konkretes Ziel und/oder sind auf ein konkretes Gebiet, in dem Unfalldaten erhoben werden, beschränkt. Um eine gute Grundlage für (vergleichende) statistische Auswertungen darzustellen, sollten solche Erhebungen über einen längeren Zeitraum und nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Die meisten in der Literatur beschriebenen Projekte dieser Art werden im Zusammenhang mit Strassenverkehrsunfällen durchgeführt. Ein Team der Medizinischen Hochschule Hannover erhebt beispielsweise schon seit Jahren im Rahmen des Projektes GIDAS (German In-Depth Accident Studies, www.gidas.org) sehr detailliert Daten zu allen Unfällen, die in der Region Hannover geschehen. Seit 1999 erfolgt zusätzliche eine Erhebung nach gleichem Muster im Gebiet Dresden. Da hier Daten systematisch, nach gleichem Protokoll und über eine lange Zeit erfasst werden, ist es beispielsweise möglich mit Hilfe dieser Datenbank den Einfluss von Änderungen im Fahrzeugdesign zu untersuchen. Ein anderes Beispiel ist die Datenbank zu Halswirbelsäulen-Beschwerden nach Verkehrsunfällen (“Schleudertrauma”) der AGU Zürich (www.agu.ch). In dieser Datenbank werden schweizweit Fälle mit Beschwerden und nachfolgender Arbeitsunfähigkeit erfasst. Dank der Grösse der Stichprobe können mit Hilfe der Datenbank spezifische technische, medizinische und biomechanische Fragestellungen untersucht werden. Weitere umfangreiche Datenerhebungen werden von Fahrzeugherstellern durchgeführt, wobei sich die jeweiligen Teams üblicherweise auf Fahrzeuge der eigenen Produktion beschränken, um den Nutzen der Sicherheitssysteme zu überprüfen und um Verbesserungen bzw. neue Entwicklungen zu initiieren. Einiger dieser Datenbanken enthalten daher auch Fälle, in denen zwar Fahrzeugschäden, aber keine Verletzungen aufgetreten sind. Umfangreichen Datenbanken wie die oben genannten Beispiele sind wichtige Werkzeuge der Trauma-Biomechanik. Im Rahmen von statistischen Auswertungen gestatten sie es, verschiedene (Kontroll-) Gruppen zu bilden, was in anderen Datensammlungen nicht unbedingt möglich ist. Die erhebliche Relevanz der Unfall- und Verletzungsdatenbanken in Bezug auf die Auswahl, Umsetzung und Evaluation geeigneter Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit, lässt sich auch an verschiedenen Projekten zur internationalen Harmonisierung der Datenerhebung ablesen. Das europäische Projekt STAIRS (Standardisation of Accident and Injury Registration Systems, 1997-1999) zielte beispielsweise darauf ab, die Erfassung von Unfalldaten zu vereinheitlichen, so dass (länderübergreifende) vergleichende Studien ermöglicht werden. Auch im
24
Methoden der Trauma-Biomechanik
EU-Projekt SafetyNet wurde die Verknüpfung verschiedener europäischer Datenbanken im Zusammenhang mit Sicherheit im Strassenverkehr anvisiert (www.erso.eu). Im Gegensatz dazu werden in den Bereichen Arbeit, Haushalt und Sport wenig vergleichbare Anstrengungen unternommen.
2.2
Grundlagen der Biomechanik
Im Folgenden werden einige grundlegende Konzepte der Mechanik, die auch in der Trauma-Biomechanik wichtig sind, zusammengefasst. Grundsätzlich unterscheidet die Mechanik zwischen Starrkörper- und Kontinuumsmechanik. Beide Formulierungen sind bei Anwendungen, insbesondere auch in der Trauma-Biomechanik, mit entsprechenden Annahmen und Approximationen verbunden, deren Anwendbarkeit, Validität und Limitierungen jeweils berücksichtigt werden müssen. Das Ziel der mechanischen Formulierungen ist eine quantitative Beschreibung der Auswirkungen von Kräften auf die Bewegung und Verformung von Körpern. In der Trauma-Biomechanik bezieht sich dies in erster Linie auf lebende Organismen. Masse [kg], Zeit [s] und Länge [m] sind die unabhängigen fundamentalen Grundgrössen als deren Funktion alle anderen mechanischen Grössen dargestellt werden. Starrkörpermechanik: Grundgrössen sind die Masse m, die Zeit t, der Weg zusätzliche Grössen sind das Trägheitsmoment I und r( t) , Rotationsgeschwindigkeit ω ( t ) . Der Längenvektor r ( t ) beschreibt die Position des Massemittelpunktes eines Starrkörpers als Funktion der Zeit. Weitere Grössen, die daraus abgeleitet werden, sind die Geschwindigkeit 2 des Schwerpunktes v ( t ) = d r ( t ) und die Beschleunigung a ( t ) = d2 r ( t ) . dt
dt
Die Translationsbewegung eines Starrkörpers wird durch das zweite Newtonsche Axiom beschrieben:
m ⋅ a(t)=
∑ Fi ( t )
(2.1)
i
wobei F i ( t ) die Summe aller auf den Körper wirkenden Kräfte darstellt. Die räumliche Orientierung des Körpers ergibt sich aus dem Gleichgewicht der Momente,
I⋅
d ω(t) = dt
∑ Mi( t ) i
(2.2)
Grundlagen der Biomechanik
25
mit der Winkelbeschleunigung d ω ( t ) und der Summe aller auf den Körper dt
wirkenden Momente Mi ( t ) . Wegen des Erstarrungsprinzips (“Stevin’s principle of solidification”) können diese Gleichungen auch auf verformbare Körper angewendet werden, wobei in einem solchen Fall der Massemittelpunkt jedoch nicht konstant ist, sondern sich bei Formänderung des Körpers verschiebt. Variationsprinzipien, die aus der Newtonschen Mechanik hergeleitet werden können, führen zu Lagrange- oder Hamiltonschen Formulierungen, die je nach Problemstellung angewendet werden können. Kontinuumsmechanik: Grundgrössen sind Dichte ρ ( r, t ) , Zeit t, Geschwindigkeitfeld v ( r, t ) . Die Dichte ρ ( r, t ) wie auch das Geschwindigkeitsfeld v ( r, t ) beziehen sich auf einen definierten Punkt im Raum r (dieser Ansatz wird oftmals als Eulersche Beschreibung des Kontiuums bezeichnet). Die Bewegungsgleichung lautet
∂ ( ρv ) + v, ∇ ⋅ ( ρv ) = k + ∇, σˆ ∂t
(2.3)
wobei k ( r, t ) das Kraftfeld beschreibt (z.B. die Schwerkraft), σˆ ( r, t ) steht für den Spannungstensor der inneren Kräfte des Kontinuums (d.h. die Kräfte pro Fläche wie Normal- und Scherspannungen) und beinhaltet auch äussere Kontaktkräfte. ∇ ist der Nabla-Operator, in Klammer gesetzte vektorielle Grössen, die durch ein Komma getrennt sind, beschreiben ein Skalarprodukt. Das Momentengleichgewicht (Drehmoment) bedingt, dass der Spannungstensor σˆ symmetrisch ist. Unter Berücksichtigung des Massegleichgewichts ergibt sich folgende Kontinuitätsgleichung
∂ ρ + ∇, ( ρv ) = 0 ∂t
(2.4)
Gleichung (2.3) ist nicht-linear. Das Geschwindigkeitsfeld ergibt sich aus der Lösung des Gleichungssystems, wobei die mechanischen Eigenschaften des Kontinuums als Randbedingungen berücksichtigt werden müssen (siehe auch Bathe 2007). Für Festkörper ergibt sich das Geschwindigkeitsfeld aus den zeitabhängigen Verschiebungen der einzelnen Teile des Kontinuums. In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Ansätzen wie diese Verschiebungen (bzw. die daraus resultierende Verformung des Kontinuums) mit den Spannungen verknüpft werden können. Für Flüssigkeiten kann der
26
Methoden der Trauma-Biomechanik
Spannungstensor aus dem Geschwindigkeitsfeld und dessen Gradienten bestimmt werden. Während Starrkörpermodelle durch eine endliche Anzahl von Freiheitsgraden und den entsprechenden Differentialgleichungen beschrieben werden, überwiegen in der Kontinuumsmechanik partielle Differentialgleichungen und unendlich viele Freiheitsgrade. Zur numerischen Lösung dieser partiellen Differentialgleichungen sind spezielle Formulierungen und Randbedingungen notwendig — beispielsweise eine räumliche Diskretisierung des Kontinuums in endlich viele Elemente wie bei der Finiten Elemente Methode (FE-Methode, FEM). Insbesondere die FEM wird in der Trauma-Biomechanik häufig angewendet (s. Kap. 2.7). Grundlegende Eigenschaften biologischen Gewebes: Die SpannungsDehnungs-Eigenschaften fester Gewebe sind üblicherweise nicht-linear, anisotrop und visko-elastisch. Die Nicht-Linearität ist hauptsächlich durch die in der Biomechanik beobachteten grossen Verformungen des Gewebes begründet, die Anisotropie ist durch den Faseranteil des Gewebes bedingt und die Visko-Elastizität kann durch die innere Reibung des Aufbaus von Fasern und extrazellulärer Matrix erklärt werden. Des Weiteren beeinflussen aktive Bestandteile (Muskelfasern) die mechanischen Eigenschaften. Vor allem in ex vivo Experimenten ist die Muskelaktivität zu bedenken (Muskelfasern können z.B. durch Barium-Verbindungen chemisch stimuliert werden). Genauso ist bei Experimenten mit einbalsamierten Leichen zu beachten, dass sich durch die Konservierung die mechanischen Eigenschaften verändern. Bei biologischen Flüssigkeiten kann die Berücksichtigung eines nicht-Newtonschen Verhaltens wichtig sein (eine ausführliche Beschreibung der Eigenschaften biologischen Gewebes findet sich u.a. in Holzapfel und Ogden 2006). In der Biomechanik wird häufig zwischen “hartem” und “weichem” Gewebe unterschieden. Um diese Unterteilung etwas zu quantifizieren, müssen die Nicht-Linearität, Anisotropie und teilweise auch die aktiven (Muskel-) Eigenschaften mittels linearer Approximation vereinfacht werden. Unter einachsiger Belastung eines langen und dünnen Probekörpers kann ein stückweise linearer Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung in Form des Hookeschen Gesetzes angenommen werden, so dass ein lokaler Elastizitätsmodul E definiert werden kann. Für “weiche” Gewebe variiert E typischerweise zwischen einigen 10 und 105 kPa, wohingegen die Werte für “harte” Gewebe in der Grössenordnunen einiger GPa liegen. Während es unterschiedliche Arten von “weichem” Gewebe
Grundlagen der Biomechanik
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(Weichteilen) gibt, kommen “harte” Gewebe hauptsächlich in Form kalzifizierten Gewebes, vor allem Knochen, vor. Hydoxidapatit-Kristalle [Ca5 (PO4)3 OH], die in eine Kollagenmatrix einbettet sind, enthalten das Kalzium. Abgesehen von der Wichtigkeit für den Knochenaufbau und die mechanischen Eigenschaften von Knochen, ist ein physiologischer Kalzium-Haushalt für die Homöostase des menschlichen Körpers von erheblicher Bedeutung. In vielen physiologischen Prozessen wie der Muskelaktivität, der Übertragung von Signalen im Nervensystem oder bei der Koagulation des Blutes spielt Kalzium eine entscheidende Rolle. Kalzium ist mit Abstand das am häufigsten vorkommende Mineral im Knochen (“Kalzium-Reservoir”), andere wie beispielsweise Phosphor kommen in viel kleineren Konzentrationen vor. Daher werden die Begriffe “Kalzifizierung” und “Mineralisierung” oftmals als Synonyme verwendet. Dementsprechend konnte gezeigt werden, dass die Knochendichte (bone mineral density, BMD) im Zusammenhang mit Knochenfrakturen relevant ist [Beason et al., 2003]. Ein geringer Kalziumgehalt im Knochen, wie im Falle von Osteoporose, erhöht das Frakturrisiko und reduziert somit die Verletzungstoleranz. Aus biomechanischer Perspektive gehören vor allem Elastin, Kollagen und glatte Muskelfasern zu den essentiellen Bestandteilen von weichem Gewebe. Der Elastizitätsmodul (wiederum unter der vereinfachenden Annahme eines stückweise linearen Modulus unter uniaxialer Belastung) von Elastin (einem globular, stark dehnbaren Polypeptid) liegt im Bereich von 102 - 103 kPa. Kollagen (eine steife dreifache Helix-Struktur) weist einen E-Modul von bis zu 105 kPa auf. Für glatte Muskelfasern wird, je nach Aktivierung, ein weiter Bereich von Festigkeitseigenschaften angegeben, der zwischen denjenigen von Elastin und Kollagen liegt. Die Anatomie derjenigen Organe, die aus “weichem” Gewebe bestehen, wird hauptsächlich durch deren physiologische Funktion bestimmt. Wegen der Vielzahl dieser physiologischen Aufgaben, variieren die Zusammensetzung wie auch das mechanische Verhalten unter Belastung der Weichteile erheblich. Die Eigenschaften von Knochen variieren hingegen weniger stark, obwohl es verschiedene Formen von Knochen gibt. Kortikaler Knochen findet sich im Schaft (Metaphyse) von langen Knochen und in der äusseren Schicht anderer Knochen. Trabekulärer Knochen tritt vor allem im Markkanal langer Knochen, insbesondere im Bereich nahe von Gelenken (Epiphyse), sowie in der Wirbelsäule und in Knochen, die nicht primär Belastungen übertragen (z.B. Schädel, Beckenkamm) auf. Da Verletzungen im Grunde genommen immer mit einer Verformung über die Belastungsgrenze hinaus verbunden sind, sind lineare Approximationen des mechanischen Verhaltens grundsätzlich fragwürdig
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Methoden der Trauma-Biomechanik
und sollten nur mit entsprechender Vorsicht verwendet werden. Tatsächlich kann nämlich vor einer irreversiblen, verletzungsinduzierenden Gewebeschädigung, ein in den meisten Fällen zerstörungsfreies, nichtlineares, visko-elastisches Verformungsverhalten beobachtet werden, welchem eine Phase der plastischen Verformung folgt. Diese Plastizität kommt in Weichteilen durch eine im Allgemeinen reversible An- bzw. Umordnung der Gewebefasern zustande. Im Fall von “hartem” Gewebe ist (noch) nicht ganz klar, durch welche Prozesse eine plastische Verformung zustande kommt; sie kann jedoch experimentell beobachtet werden (Abb. 2.1). Zudem wird vermutet, dass sich Spannungsspitzen im Knochen durch
Abb. 2.1 Bildgestütze Untersuchung zum Knochenversagen an Proben aus der menschlichen Wirbelsäule (μ-CT Aufnahmen, Kantenlänge eines Querschnitts: 4 mm) Die obere Reihe zeigt eine Probe unter Druck, Kompression (strain) in Stufen von 4%. Die mittlere und untere Reihe zeigt typische Ausformungen trabekulären Knochens. Die Platten bzw. Balken können sich vor dem Versagen deutlich plastisch verformen. Da der kortikale Knochen grundsätzlich aus der gleichen Basis besteht (Hydroxyapatit-Kristalle in kollagener Matrix), ist auch dort bei Belastung von lokaler plastischer Verformung auszugehen [aus: R. Müller et al., Functional Microimaging at the Interface of Bone Mechanics and Biology, in: Holzapfel and Ogden, op. cit.].
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die Plastizität reduzieren lassen [Stitzel et al., 2003]. Die Altersabhängigkeit der Gewebeeigenschaften ist erheblich. “Weiches” Gewebe von Kindern ist sehr dehnbar, es wird erst mit zunehmendem Alter steifer. Dieser Effekt ist vor allem durch einen reduzierten Wasseranteil und eine zunehmende Anzahl von Verknüpfungen der Kollagenfasern zu erklären. Während der Wasseranteil am Körpergewicht bei Jugendlichen bis zu 70 % ausmacht, kann er sich im Alter auf ca. 50 % reduzieren. Je jünger ein Kind, desto biegsamer sind auch seine Knochen, da die Mineralisierung mit der Entwicklung fortschreitet. Daher ist auch die Erscheinungsform von Knochenbrüchen unterschiedlich, bei Erwachsenen findet man oftmals Frakturen, die mehr einem Bruch von sprödem Material ähneln. Allgemein werden in der Mechanik häufig zwei Versagenskriterien angewendet, wobei angenommen wird, dass Versagen auftritt, sobald ein Grenzwert einer beiden folgenden Parameter überschritten ist: • absorbierte Energie (von Mises-Kriterium, wird in der TraumaBiomechanik verwendet, z.B. in Bezug auf Thorax-Verletzungen) • Schubspannung (Kriterium nach Tresca, in der Regel ohne Anwendung in der Trauma-Biomechanik). Zusätzlich kommen in der Trauma-Biomechanik folgende Grössen im Rahmen der Definition von Verletzungskriterien zur Anwendung: • Beschleunigung (Anwendung z.B. bei Kopfverletzungen). • Verformung (Anwendung z.B. bei Frakturen).
2.3 Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko Verletzungskriterien sind ein wichtiges Mass, um die Schwere von Belastungen bzw. dem daraus resultierenden Verletzungsrisiko zu beurteilen. Definitionsgemäss verknüpft ein Verletzungskriterium messbare, physikalische Parameter (z.B. Beschleunigung, Kraft) mit dem erwarteten Risiko, dass eine bestimmte Körperregion eine bestimmte Verletzung erleidet (z.B. Fraktur, Kontusion). Verletzungskriterien werden im Allgemeinen aus experimentellen Studien in Kombination mit empirischen Untersuchungen hergeleitet. Da am lebenden Menschen keine Experimente mit verletzungsinduzierenden Belastungen durchgeführt werden können, ist eine Extrapolation der vorhandenen Daten notwendig, um ein Kriterium formulieren und validieren zu können. In Ergänzung zum Ausdruck “Verletzungskriterium” sind auch die
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Methoden der Trauma-Biomechanik
Ausdrücke “Schadenskriterium” und “Schutzkriterium” zu erwähnen. Während ein Verletzungskriterium darauf abzielt, eine Grösse in Bezug zur Verletzungstoleranz von lebenden Organismen zu setzen, beschreiben Schutzkriterien normalerweise den Zusammenhang bezogen auf totes Gewebe (auch “post mortem test object” PMTO genannt, z.B. eine Leiche) als Ersatz für lebendes. In beiden Fällen wird ein Grenzwert für eine Belastung (bestimmt aus physikalischen Parametern) definiert. Übersteigt die Belastung diesen Grenzwert, so kann für das untersuchte Gewebe mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Verletzung erwartet werden. Beim Schutzkriterium wird der Grenzwert aufgrund von Messungen mit anthropomorphischen Prüfkörpern (z.B. Crashtest-Dummys, s. Kap. 2.6.1), die den Menschen darstellen sollen, definiert. In diesem Fall wird der Zusammenhang zu Verletzungstoleranzen des Menschen meist über empirische Studien hergestellt. Dabei wird angenommen, dass ein gesunder Erwachsener mittleren Alters im Mittel keine der Verletzungen, auf die sich das Schutzkriterium bezieht, erleiden wird, sofern die Person einer Belastungssituation ausgesetzt ist, die derjenigen zur Definition des Schutzkriteriums vergleichbar ist. Das eigentliche Verletzungsrisiko kann dann mit Hilfe einer Risikofunktion ermittelt werden, die die Wahrscheinlichkeit, eine Verletzung zu erleiden, mit diesem Kriterium (d.h. den jeweiligen gemessenen mechanischen Grössen) verknüpft. Es ist jedoch anzumerken, dass die Unterscheidung zwischen Verletzungs-, Schaden- und Schutzkriterium nicht immer konsequent eingehalten wird. Hauptsächlich wird der Begriff Verletzungskriterium verwendet, mit dem dann verallgemeinernd ein Index bezeichnet wird, der eine Belastungsschwere quantitativ beschreibt. Schutzkriterien werden vor allem in internationalen standardisierten Testverfahren, meist in der Automobilindustrie (Crashtests), verwendet. Kapitel 2.6 beschäftigt sich ausführlich mit diesen Testverfahren. Verletzungskriterien für einzelne Körperregionen werden in den jeweiligen Abschnitten in Kapiteln 3 bis 8 diskutiert. Verletzungsindizes (bzw. Verletzungsskalen), wie sie beispielsweise für Verletzungen im Strassenverkehr entwickelt wurden, klassifizieren verschiedene Verletzungstypen basierend auf medizinschen Diagnosen. Der am häufigsten verwendete Index ist die “Abbreviated Injury Scale (AIS)”, die 1971 von der Association for the Advancement of Automotive Medicine (AAAM) als System zur Klassifizierung der Verletzungsschwere entwickelt wurde. Die AIS (Tab. 2.1) bezieht sich auf Verletzungen aus Verkehrsunfällen. Dabei steht die Lebensbedrohlichkeit bzw. die Überlebenswahrscheinlichkeit im Mittelpunkt, d.h. jede Verletzung wird
Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko
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Tabelle 2.1 Die AIS Klassifikation. AIS Code
Verletzung
0
unverletzt
1
gering
2
mässig
3
ernst
4
schwer
5
kritisch
6
maximal/ nicht behandelbar
nach ihrer Lebensbedrohlichkeit klassifiziert. Die AIS ist anatomisch aufgebaut und ordnet pro Körperregion jeder möglichen Verletzung einen Code zwischen AIS0 und AIS6 zu. Je höher der Code desto lebensbedrohlicher die Verletzung; AIS0 steht für “unverletzt” und AIS6 für “maximal verletzt, derzeit nicht behandelbar”. Der AIS-Code stellt also einen einzelnen, zeitunabhängigen Code für jede Verletzung jeder Körperregion dar. Die Schwere der Verletzung wird dabei immer in Bezug auf den ganzen Körper bewertet, d.h. man geht davon aus, dass ein sonst gesunder Erwachsener nur diese Verletzung aufweist. Es wird hierbei jedoch nur die Lebensbedrohlichkeit der jeweiligen Verletzung bewertet, die Folgen, die diese Verletzung haben kann (z.B. schwierige Behandlung, Arbeitsunfähigkeit, lange Rehabilitation, hohe Gesundheitskosten) werden nicht berücksichtigt. Schwere bleibende Einschränkungen wie der Verlust des Augenlichtes oder mögliche lebensbedrohliche Komplikationen wie Infektionen werden im Code nicht berücksichtigt, wenn die zugrundeliegende Verletzung nicht lebensbedrohlich ist. Des Weiteren ist der AIS-Code nicht linear, d.h. der Unterschied zwischen AIS1 und AIS2 ist nicht vergleichbar mit demjenigen zwischen AIS5 und AIS6. Die Berechnung von durchschnittlichen AIS-Werten ist daher nicht sinnvoll (AIS 3.7 wäre z.B. vollkommen sinnlos). Um die Verletzungsschwere einer Person mit mehreren Verletzungen zu beschreiben, wird der MAIS (maximaler AISCode) benutzt. Der MAIS gibt den höchsten AIS-Code, den eine Person aufweist, an. Dies gilt auch, wenn die Person an verschiedenen
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Methoden der Trauma-Biomechanik
Körperregionen Verletzungen des gleichen AIS Codes erlitten hat. Weist beispielsweise ein Fahrzeuginsasse nach einer Kollision AIS2 Verletzungen am Kopf wie auch an den Beinen auf, so bleibt der MAIS nichtsdestotrotz MAIS2. Zur besseren Berücksichtigung multipler Verletzungen wurde der Injury Severity Score (ISS) eingeführt, der — wie auch die AIS-Definitionen — regelmässig aktualisiert wird [aktuelle Version siehe AAAM, 2005]. Der ISS-Code unterscheidet 6 Körperregionen: Kopf/Hals, Gesicht, Brust, Abdomen, Extremitäten einschliesslich Becken, Haut (d.h. Verbrennungn, Schnitte, Schürfungen, Prellungen auf der Körperoberfläche). Für jede dieser Regionen wird der höchste AIS-Code bestimmt, Der ISS-Code berechnet sich dann aus der Summe der Quadrate der AIS-Codes der drei am schwersten verletzten Körperregionen. Der kleinste ISS-Code beträgt 0 und der grösstmögliche 75 (zusammengesetzt aus drei AIS5 Verletzungen). Wird eine AIS6 Verletzung festgestellt, wird der ISS-Code automatisch auf 75 gesetzt. ISS-Werte grösser als 15 werden als schweres Trauma betrachtet. In der Literatur wird eine gute Korrelation des ISS-Codes mit Parametern wie der Sterblichkeit [z.B. Baker and O'Neill 1976] oder Langzeit-Einschränkungen [z.B. Campbell et al. 1994] beschrieben. Des Weiteren kommen Indizes zur Anwendung, die sich auf spezifische Verletzungen einzelner Körperregionen beschränken. Die Quebec Task Force [Spitzer et al. 1995] hat beispielsweise ein Schema zur Klassifizierung von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäulen entwickelt (s. Kap. 4). Ein Schema zur Klassifizierung von Kopfverletzungen, das insbesondere in der Notfallmedizin verwendet wird, ist die Glasgow Coma Scale (GCS) [Teasdale und Jennett, 1974]. GCS kategorisiert den Bewusstseinsstatus eines Patienten einschliesslich einiger neurologischer Aspekte (z.B. Reflexe) und kann somit zum Einschluss/Ausschluss möglicher Verletzungsmechanismen beitragen. Die Einteilung reicht von GCS 3 (tiefes Koma) bis GCS15 (bei vollem Bewusstsein). Andere Klassifizierungen adressieren bleibende Beeinträchtigungen, Behinderungen und/oder soziale Folgen durch eine Bewertung der Langzeitfolgen einer Verletzung mittels Zuordnung eines ökonomischen Wertes. Ein Beispiel ist die Injury Cost Scale (ICS) [Zeidler et al. 1989]. Diese berücksichtigt die durchschnittlichen Kosten einer Verletzung einschliesslich der Kosten der medizinischen Behandlung und der Rehabilitation, einer etwaigen Behinderung sowie des Arbeitsausfalls. Weitere Klassifizierungen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind das Injury Priority Rating (IPR) [Carsten und Day 1988] und das HARM Konzept [Malliaris et al. 1985], das von der US Regierung verwendet wird. Eine der grössten Herausforderungen der Trauma-Biomechanik ist das
Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko
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Herstellen einer Verbindung zwischen der Verletzungsschwere und den mechanischen Belastungen, die zu dieser Verletzung geführt haben. Es gilt also eine Beziehung zu finden, die es ermöglicht einer bestimmten mechanischen Belastung (z.B. charakterisiert durch ein Verletzungskriterium) eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, mit der die Belastung zu einer Verletzung führt. Solche Zusammenhänge sind elementar, da sonst Ergebnisse von Tests, wie Crashtests, nicht sinnvoll interpretiert werden können. Daher ist es notwendig, das biomechanische Verhalten durch gut instrumentierte Laborversuche mit verschiedenen, den Menschen approximierenden Modellen zu untersuchen und so Verletzungstoleranzen zu bestimmen, mit denen schliesslich entsprechende Risikofunktionen aufgestellt werden können. Risikofunktionen werden unter Verwendung grundlegender statistischer Methoden, wie der “maximum likelihood method”, Analysen der kumulativen Häufigkeitsverteilungen oder Weibull Verteilungen erstellt. In Kapitel 3 findet sich ein Beispiel einer Risikofunktion bezogen auf Kopfverletzungen. Auf ausführliche Erläuterungen der statistischen Methoden zur oftmals schwierigen Analyse von Unfall- bzw. Verletzungsdaten wird hier jedoch verzichtet, interessierte Leser seien auf spezialisierte Statistik-Fachbücher verwiesen. Es sei jedoch angemerkt, dass solche Ansätze, mittels statistischer Methoden aus experimentellen Daten allgemeingültige, die Wirklichkeit beschreibende Risikofunktionen herzuleiten, einigen Einschränkungen unterliegen können. Folgende Punkte sind zu beachten: • oftmals ist nur eine kleine Anzahl an Experimenten durchgeführt worden, • das biomechanische Verhalten zwischen den in Experimenten verwendeten Modellen (z.B. Leichen) und dem lebenden Menschen unterscheidet sich, • zwischen Testpersonen und der realen Population können anthropomorphische Unterschiede auftreten (z.B. wenn Versuche nur an jungen, sportlichen Testpersonen durchgeführt werden), • Daten können sehr grosse Streuungen aufweisen (z.B. wenn (leicht) unterschiedliche Versuchsbedingungen geherrscht haben oder die Experimente von verschiedenen Forschungsgruppen/Laboren durchgeführt wurden), • es gibt in manchen Bereichen eine grosse Anzahl möglicher Verletzungsmechanismen, so dass die Zuordnung zu einzelnen davon sehr schwierig ist. Werden Unfallstatistiken statt experimenteller Daten verwendet, um Risikofunktionen zu erstellen, gelten grundsätzlich die gleichen
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Methoden der Trauma-Biomechanik
Einschränkungen. Nichtsdestotrotz konnten in einigen Jahrzehnten Trauma-Biomechanik-Forschung einige gut fundierte Korrelationen zwischen mechanischer Belastung und Verletzungswahrscheinlichkeit erarbeitet werden - zumindest für bestimmte Verletzungen bzw. Verletzungsmechanismen. Die Arbeit in diesem Bereich ist jedoch bei weitem noch nicht abgeschlossen und auch Anpassungen bereits verwendeter Kriterien sind bei Bekanntwerden neuer Erkenntnisse nicht unüblich.
2.4
Unfallrekonstruktion
Die Rekonstruktion von Unfällen ist für die Trauma-Biomechanik unverzichtbar, da sich die Zusammenhänge zwischen mechanischer Belastung und Verletzung unter physiologischen Bedingungen nur im wirklichen Unfallgeschehen manifestieren. Ebenso werden Unfallrekonstruktionen häufig für forensische Zwecke, wie auch im Rahmen von Strafverfahren oder zivilrechtlichen Auseinandersetzungen durchgeführt. Die Rekonstruktion eines Unfall besteht aus einer mathematischen Analyse des betroffenen Ereignisses auf Grundlage der in Kapitel 2.2 beschriebenen klassischen Grundsätze der Mechanik. Im Gegensatz zu Labor-Versuchen geschehen Unfälle üblicherweise unter nichtkontrollierten, nicht-überwachten Bedingungen. In Abhängigkeit von Umfang, Qualität und Genauigkeit der vorhandenen Unterlagen hat der Unfallrekonstrukteur verschiedene Annahmen und Approximationen zu treffen. Ein Ski-Unfall während eines Skirennens wird möglicherweise durch Video-/Fernsehaufzeichnungen festgehalten, Unfallspuren eines Verkehrsunfalls werden durch die Polizei aufgenommen, doch ein Sturz von einer Leiter im Haushalt wird kaum dokumentiert sein. Zur Rekonstruktion sind alle verfügbaren Informationen wichtig. Wie in einem Puzzle müssen verschiedene Informationen kombiniert werden, um zu einer zuverlässigen und schlüssigen Abhandlung des Ereignisses zu gelangen; je nach Fall können hierzu ganz unterschiedliche Angaben notwendig sein, sei es die Sequenz einer Ampelschaltung in einer Fahrzeug-Fussgänger-Kollision oder die Materialeigenschaften eines Balls bei einem Sportunfall. Die Augenscheinnahme der Unfallstelle ist in diesem Zusammenhang unerlässlich. Erfahrungen aus zuvor durchgeführten Versuchen unter Laborbedingungen oder Ergebnisse gut
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dokumentierter “vergleichbarer” Unfälle können zudem sehr hilfreich sein. Von höchster Wichtigkeit ist in der Regel die Zusammenarbeit mit dem medizinisch-forensischen Experten (z.B. einem Rechtsmediziner), da auch Verletzungsmuster oder andere medizinische Befunde Hinweise für die Unfallrekonstruktion geben können. Fehlende Dokumentation oder fehlende sichtbare Spuren können zu Problemen bei der Unfallrekonstruktion führen. Im Falle von Fahrzeugkollisionen können Unsicherheiten z.B. durch Anti-BlockierSysteme auftreten, durch die keine Reifenabriebspuren auf der Strasse entstehen. Zudem wird die Rekonstruktion erschwert, wenn keine oder nur marginale Fahrzeugdeformationen entstanden sind. Um die Reparaturkosten zu reduzieren, sind viele neuere Fahrzeuge derart konstruiert, dass bei Kollisionen geringer Intensität praktisch keine Beschädigungen entstehen (oder zumindest von aussen nicht sichtbar sind und daher von Laien nicht erkannt werden). Ein fehlender Fahrzeugschaden ist kein eindeutiges Indiz dafür, dass gar keine Kollision stattgefunden hat bzw. dass die Energie, die übertragen wurde, grundsätzlich zu klein war, um irgendwelche Verletzungen zu verursachen. Der Fall ist dann genauer abzuklären. Im Zusammenhang mit der Approximation der Auswirkung einer Belastung durch Starrkörper (Gleichungen 2.1, 2.2), konnten empirische Untersuchungen und Laborexperimente zeigen, dass die Beschleunigung, die unter Belastung im Schwerpunkt eines Körperteils wirkt, ein wichtiger Parameter zur Beurteilung der Schwere dieser Belastung ist. In der Praxis wird das Beschleunigungsfeld a ( t ) oft im Vergleich zur Beschleunigung durch die Gravität g (1g = 9.81 m/s2) betrachtet. Da man im Alltag immer der Gravität ausgesetzt ist, lässt sich aus dieser Alltagserfahrung leichter ein Bezug zur Beschleunigung herstellen. Die Beschleunigung jedoch, die ein Körper während eines Unfalls erfährt, ist zeitabhängig, so dass Grössen wie “maximale Beschleunigung” und “mittlere Beschleunigung” zusammen mit der jeweiligen Einwirkdauer (Zeitintervall, in dem die Beschleunigung auf den Körper wirkt) klar von einander getrennt werden sollten, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen. Techniken der Rekonstruktion wurden vor allem für Strassenverkehrsunfälle entwickelt. Einige fahrzeugspezifische Parameter haben sich hinsichtlich der Beurteilung der Belastungssituation der Fahrzeuginsassen als nützlich erwiesen. • Die Kollisionsgeschwindigkeit eines Fahrzeugs ist wahrscheinlich der am häufigsten in der Öffentlichkeit genannte Parameter. Bei der Unfallrekonstruktion ist die (Einlauf-) Geschwindigkeit kurz bevor beispielsweise ein Bremsvorgang begonnen wurde gelegentlich von
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•
•
•
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Bedeutung. Dies gilt in erster Linie für Vermeidbarkeitsbetrachtungen, bei denen untersucht wird, unter welchen Voraussetzungen (z.B. Geschwindigkeiten) das Ereignis hätte verhindert werden können oder wenn untersucht wird, ob eine Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten wurde. Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v) des betrachteten Fahrzeugs ist in den meisten Fällen, in denen die Auswirkungen auf die Insassen im Vordergrund stehen, geeignet, um die Kollisionsschwere zu beschreiben. Der delta-v Wert entspricht — bei Kollisionen mit einem Anprall und ohne signifikante Rotation — ungefähr dem Integral der translatorischen Fahrzeugbeschleunigung über die Kollisionsdauer. Bei komplexen Kollisionen (Überschlag, Abkommen von der Strasse usw.) kann die Charakterisierung mittels des delta-v Werts ungenau bzw. ungenügend sein. Der Parameter “energy equivalent speed (EES)” ist ein Mass für die Energie, die notwendig ist um ein Fahrzeug zu deformieren. Der EESWert ist im Wesentlichen eine theoretische Vergleichsgrösse. Er entspricht der Anprallgeschwindigkeit an eine starre Barriere, die nötig gewesen wäre, um die gleiche bleibende Verformung wie im realen Unfall zu erzeugen. Der EES-Wert wird in [km/h] angegeben und kann für viele Fahrzeugtypen sogenannten EES-Katalogen entnommen werden. Diese Kataloge werden auf Basis von Crashtests (gemäss einer definierten Testvorschrift) erstellt. Für einen konkreten Unfall schätzt man den EES-Wert dann durch Vergleich mit den Katalog-Daten ab. Ein weiterer Parameter zur Beschreibung der Anprallkonfiguration ist die Überdeckung. Sie gibt den Anteil an, um den sich das Fahrzeug und der Kollisionspartner (z.B. ein anderes Fahrzeug oder eine Barriere in einem Crashtest) überdecken. Die Überdeckung wird üblicherweise in Prozent der gesamten Fahrzeugbreite des interessierenden Fahrzeugs angegeben. Bei einer Frontalkollision mit 50 % Überdeckung linksseitig berührt somit die linke Hälfte der Fahrzeugfront den Kollisionspartner. Das aus der Mechanik bekannte Prinzip von elastischer und plastischer Verformung sowie die diese Anteile beschreibende Stosszahl k werden verwendet, um die elastische und plastische (d.h. permanente) Deformation von Fahrzeugstrukturen zu charakterisieren. Abbildung 2.2 zeigt ein Beispiel für die Abhängigkeit der Stosszahl von der Anprallgeschwindigkeit. Die Stosszahl hängt stark von der Konstruktion der Fahrzeugfront ab. Insbesondere das Design der Stossfänger und der darunter liegenden Pralldämpfer haben einen Einfluss. Die Vorgabe, dass bei Kollisionen im Bereich niedriger
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Geschwindigkeiten kein oder nur sehr geringer Fahrzeugschaden entstehen darf, hat dazu geführt, dass die Stossfängerstrukturen steifer und elastischer wurden. Für neue Fahrzeuge müssen in diesem Niedriggeschwindigkeitsbereich höhere Stosszahlen angenommen werden. Es gibt zudem auch Konstruktionen, die ein Energie absorbierendes Design bzw. Material einsetzen, das sich nach Verformung langsam wieder erholt. Da diese Restitution nicht während der eigentlichen Kollision erfolgt, verformt sich das Fahrzeug eigentlich voll-plastisch, obwohl nach der Kollision möglicherweise keine Verformungen festzustellen sind. Heute werden die meisten Unfallrekonstruktion unter Verwendung spezialisierter Computerprogramme, die für diese Anwendungen validiert wurden, durchgeführt. Beispiele solcher Software, die hauptsächlich auf Implementation der Starrkörpermechanik (Gleichungen 2.1, 2.2) beruhen, sind Carat [IBB 2002], PC-Crash [DSD 2000] oder EDCRASH [EDC 2006]. Grundsätzlich können bei solchen Computerprogrammen zwei Methoden unterschieden werden: “Vorwärts-” und “Rückwärtsrechnungen”. Im ersten Fall wird die Kinematik vor der Kollision angenommen, d.h. die initialen Bewegungsrichtungen, Geschwindigkeiten usw. werden den Kollisionspartnern zugeordnet.
Abb. 2.2 Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Stosszahl und relativer Geschwindigkeit bei einem frontalen Anprall eines Pkw an eine starre Barriere [nach Appel et al. 2002]. Neuere Fahrzeuge zeigen im Bereich niedriger Geschwindigkeiten im Allgemeinen eine höhere Stosszahl als hier dargestellt.
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Methoden der Trauma-Biomechanik
Anschliessend werden die Kollision und die Endlagen der Kollisionspartner mittels Integration der Starrkörpergleichungen unter Berücksichtigung von Reifen- und Kollisionskräften berechnet. Abschliessend werden die tatsächlichen, am Unfallort vermessenen Fahrzeugpositionen und Spuren mit den Ergebnissen der Berechnung verglichen. In einem iterativen Prozess werden nun die Eingabeparameter so lange variiert bis in zufriedenstellendem Mass eine Übereinstimmung der Rechenergebnisse mit den Unfalldaten entsteht. Beim “Rückwärtsrechnen” startet man mit der Untersuchung der Endlagen der Kollisionspartner. Dann werden die (Auslauf-) Bewegungen nach der Kollision mit den vorhandenen Spuren (z.B. Abriebspuren der Reifen) abgeglichen, so dass man die Konstellation zum Zeitpunkt der Kollision bestimmen kann. Auch hierzu wird wieder eine Approximation durch Starrkörpergleichungen verwendet. Schliesslich werden die Eingangsparameter, die zur Konstellation der Kollision geführt haben, erhalten. Die Rekonstruktion des Unfalls kann anschliessend durch entsprechende Grafiken visualisiert werden. Wegen der grossen Massedifferenz zwischen Insasse und Fahrzeug, kann der Einfluss des Insassen sowie anderer nicht fest mit dem Fahrzeug verbundener Gegenstände durch Abschätzung berücksichtigt werden. Dies gilt nicht für Unfälle mit Motorrädern oder Fahrrädern. In solchen Fällen können die oben erwähnten Programme nur eingeschränkt verwendet werden und die Ergebnisse sind mit entsprechender Vorsicht zu interpretieren. Die Phasen einer Kollision sind — nicht nur bei Strassenverkehrsunfällen — in der Regel mit einem Verformungsprozess verbunden, für den Approximationen auf Grundlage der Kontinuumsmechanik (Gleichungen 2.3, 2.4 sowie entsprechende Zusatzbedingungen) notwendig sind. Aus verschiedenen Gründen, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Produkthaftung stehen, sind Automobilhersteller mit der Veröffentlichung bzw. Offenlegung der von ihnen zur Untersuchung des Crash-Verhaltens ihrer Fahrzeuge verwendeten (Finite Elemente-) Modelle sehr zurückhaltend. Daher werden in den allgemeinen Rekonstruktionsprogrammen einige Vereinfachungen angenommen. Verbreitet ist Annahme einer segmentierten Steifigkeitsverteilung an der Fahrzeugfront und der Integration der Bewegungsgleichungen der involvierten Fahrzeuge über die Kollisionsdauer. Eine andere Möglichkeit, die häufig bei europäischen Rekonstruktionsprogrammen anzutreffen ist, ist die Annahme, dass die Kollisionsdauer unendlich kurz sei (verglichen mit den Bewegungen der Fahrzeuge vor und nach dem Crash), so dass nur die Übertragung der (translatorischen und rotatorischen) Impulse von einem zum anderen
Experimentelle Untersuchungen
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Fahrzeug berechnet wird. Die bereits beschriebenen EES-Werte können in beiden Ansätzen als Kontrollwerte verwendet werden, um nicht nur das Momentengleichgewicht, sondern auch die Energieerhaltung zu berücksichtigen. Wurde die Fahrzeugbewegung rekonstruiert, kann die während der Kollision erfolgte Bewegung der Insassen oder etwaiger externer Kollisionspartner (Fussgänger, Zweiradfahrer) wiederum durch Starrkörpermodelle eingegrenzt werden. Zudem können Anhaltspunkte zur Belastung der Insassen bestimmt werden. Weitere Extrapolationen, insbesondere betreffend Verletzungen, erfordern jedoch einen Sachverstand, der über die klassische (mechanische) Unfallrekonstruktion hinaus geht. Dasselbe gilt für Arbeits-, Haushalts- oder Sportunfälle. Unter bestimmten Umständen und mit entsprechender Anpassung an den zu untersuchenden Sachverhalt können Modelle und Programme aus der Rekonstruktion von Verkehrsunfällen auch für andere Unfälle verwendet werden. Zum Zweck der Verletzungsanalyse kann die anschliessende Anwendung eines Finite Elemente Modells des Menschen hilfreich sein. Auch werden Unfälle manchmal durch ein genaues Nachstellen am tatsächlichen Unfallort oder im Labor und unter Verwendung gleicher Fahrzeuge, gleicher Sportausrüstung usw. rekonstruiert (bei Strassenverkehrsunfällen auch Nachfahrversuche genannt). Ein solches Vorgehen ist vor allem bei Nicht-Verkehrsunfällen wichtig und wird zudem im Rahmen von juristischen Auseinandersetzungen, in denen grosse Schadenersatzforderungen die nicht unerheblichen Kosten solcher Tests rechtfertigen, durchgeführt.
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Experimentelle Untersuchungen
Jede mechanische Eigenschaft, die sich auf das zeitabhängige Verhalten des menschlichen Körpers, eines Körperteils, eines Organs oder Gewebes unter dynamischer mechanischer Belastung bezieht, wird unter dem Begriff biomechanische Systemantwort bzw. biomechanisches Verhalten zusammengefasst. Die Kinematik des Kopf-Hals-Bereiches bei einem Kopfanprall im Fussball oder die Kraft-Verformungs-Charakteristik der Brust bei einer Frontalkollision im Strassenverkehr sind Beispiele für das biomechanische Verhalten des menschlichen Körpers. Abgesehen von mechanischen Veränderungen kann das biomechanische Verhalten ebenso zu physiologischen Veränderungen wie Nackenschmerzen, Lungenödemen oder Abweichungen im EKG führen.
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Methoden der Trauma-Biomechanik
Die fundierte Kenntnis des biomechanischen Verhaltens ist für die Entwicklung von Massnahmen zur Verletzungsprävention bzw. zur Verletzungsminimierung unerlässlich. Da Unfallsituationen per se hochdynamische Vorgänge sind, sind Experimente zur Untersuchung des biomechanischen Verhaltens im Allgemeinen ebenfalls unter vergleichbaren Belastungsbedingungen durchzuführen. Nichtsdestotrotz werden auch quasi-statische Versuche durchgeführt, da diese von der Durchführung und Instrumentierung her einfacher zu gestalten sind. Eine Extrapolation der Ergebnisse hin zu dynamischen Bedingungen muss jedoch möglich sein, um die Ergebnisse sinnvoll interpretieren zu können. Untersuchungen des biomechanischen Verhaltens des menschlichen Körpers sind nicht nur für ein Verständnis von Verletzungsmechanismen entscheidend, sondern werden auch für die Definition und Verifikation von Verletzungsgrenzwerten benötigt. Dabei spielt die biologische Variabilität eine wichtige Rolle. Insbesondere altersabhängige Veränderungen sind markant. Für eine zuverlässige Bestimmung einer Funktion des Verletzungsrisikos ist eine grosse Menge experimenteller Daten notwendig. Da biologisches Material für die Durchführung von Experimenten nur eingeschränkt zur Verfügung steht, sind insbesondere statistische Auswertungen wichtig. Zudem kann es auch sein, dass die Durchführung von Versuchen durch praktische Einschränkungen z.B. hinsichtlich der Möglichkeiten der Instrumentierung beschränkt wird. Insbesondere die Pionierarbeiten der Trauma-Biomechanik, die bis auf die 1940er Jahre zurückgehen, weisen — aus heutiger Sicht — einige Mängel hinsichtlich der Instrumentierung auf, die teilweise auf mangelndes Wissen und/oder eingeschränkte technische Möglichkeiten zurückzuführen sind. In den entsprechenden Kapiteln zum biomechanischen Verhalten der einzelnen Körperregionen werden die spezifischen Probleme näher erläutert. Zudem widmet sich Kapitel 2.6.1 der Verwendung von mechanischen Menschmodellen (Dummys) im Rahmen von Crashtests, bei denen die mit den Dummys gewonnenen Messdaten im Hinblick auf biologische Plausibilität interpretiert werden müssen. Im Folgenden werden experimentelle Modelle zur Bestimmung des biomechanischen Verhaltens zusammengefasst. Dabei können fünf verschiedene Typen unterschieden werden: Freiwilligenversuche, Leichenversuche, Tierversuche, mechanische Menschmodelle, mathematische Modelle. Freiwilligenversuche sind verständlicherweise auf leichte Belastungen beschränkt, d.h. auf Bereiche, in denen man gewährleisten kann, dass keine Verletzungen auftreten. Die Schmerzgrenze wird oftmals als obere Grenze verwendet, bis zu der die Freiwilligen Belastungen ausgesetzt werden. Der
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entscheidende Vorteil von Freiwilligenversuchen ist das Vorhandensein “realer” anatomischer und physiologischer Verhältnisse. Zudem kann der Einfluss des Muskeltonus untersucht werden, so dass beispielsweise ein Anspannen der Muskulatur vor einer Kollision berücksichtigt werden kann. Allerdings stellen die Freiwilligen in der Regel keine repräsentative Kohorte da, d.h. die Auswahl der Freiwilligen entspricht nicht der Population, die dem entsprechenden Verletzungsrisiko ausgesetzt ist. Insbesondere Frauen, Kinder und Ältere sind in den vorhandenen Daten aus Freiwilligenversuchen unterrepräsentiert. Schwierigkeiten bestehen zudem hinsichtlich der Instrumentierung, da Sensoren oftmals nicht an der interessierenden Stelle angebracht werden können (z.B. im Kopfschwerpunkt oder am ersten Brustwirbel). Selbst eine starre externe Positionierung der Sensoren am Körper ist wegen der Haut schwierig. Fortschritte in der Videotechnologie (z.B. High-speed Video) und entsprechende Software zur Auswertung haben jedoch erheblich zu einer Verbesserung der Ergebnisse von Freiwilligenversuchen beitragen. Auch konnte durch den Einsatz von Cineradiographie (Röntgen-Bildgebung) die Bewegung des Skeletts während einer Belastung dargestellt werden (z.B. zur Untersuchung der Bewegung der Halswirbelsäule, Ono und Kaneoka (1997)). Da die Anzahl der mit dieser Methode durchgeführten Versuche jedoch sehr klein ist, ist eine Übertragung der Ergebnisse auf andere als die getestete Personengruppe und auf höhere Belastungsschwere besonders schwierig. Leichen (oftmals auch als “post mortem human subjects” (PMHS) oder “post mortem test objects” (PMTO) bezeichnet) sind die zweite Art von Modellen, die verwendet werden, um das biomechanische Verhalten des Menschen unter Belastung zu untersuchen. Obwohl grosse anatomische Übereinstimmungen mit dem lebenden Menschen bestehen, sind einige Faktoren, die entsprechende Messergebnisse beeinflussen, zu beachten. Erstens ist das Alter der PMHS oftmals hoch. Altersentsprechende degenerative Veränderungen wohnen den für Versuche verfügbaren Leichen inne. Liegt beispielsweise Osteoporose vor, so werden Frakturen häufiger beobachtet. Zweitens wird das biomechanische Verhalten durch fehlenden Druck in Lunge und Blutgefässen, dem Fehlen eines Muskeltonus sowie Veränderungen durch die Präperationstechnik (d.h. Unterschiede zwischen konservierten oder frischen Leichen) erheblich beeinflusst. Frische Leichen haben sich als gute Modelle für das Entstehen von Frakturen, Gefässrupturen und Lazerationen erwiesen. Physiologisches Verhalten (z.B. Nackenschmerz oder EKG-Abweichungen) können hingegen nicht untersucht werden. Zur Untersuchung des Verhaltens einzelner Körperteile, z.B. des Beins (s. Kap. 7), werden entsprechend
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Methoden der Trauma-Biomechanik
einzelne Teile einer Leiche verwendet, wobei dann jedoch durch den Versuchsaufbau die Anbindung an den restlichen Körper in geeigneter Weise nachgebildet werden muss. Tiermodelle sind für die Trauma-Biomechanik des Menschen nur beschränkt anwendbar. Trotzdem stellen Versuche an anästhesierten Tieren die einzige Möglichkeit dar, physiologische Reaktionen auf schwere mechanische Belastungen zu untersuchen. Im Tierversuch können zudem die unterschiedlichen Reaktionen von lebendem und totem Gewebe verglichen werden und somit wichtige Erkenntnisse für die Interpretation von Leichenversuchen gewonnen werden. Wegen der Unterschiede in Anatomie und Physiologie sind die Möglichkeiten, die Resultate auf den lebenden Menschen und insbesondere auf Grenzwerte für Verletzungen zu übertragen, limitiert. Weitere in der Trauma-Biomechanik verwendete Modelle sind mechanische Menschmodelle, d.h. Crashtest-Dummys (auch “anthropomorphic test devices” (ATDs) genannt) sowie mathematische (Computer-) Modelle. Aufgrund ihrer Rolle in standardisierten (gesetzlichen) Prüfvorschriften zur Fahrzeugsicherheit kommt den Dummys eine besondere Bedeutung zu; die Dummys werden daher gesonderten in Kapitel 2.6.1 besprochen. Die Ziele von Crashtests bestehen in der realistischen Simulation des Unfalls sowie in der Bestimmung der mechanischen Belastungen die ein Mensch möglicherweise in einem solchen Unfall erleiden kann. Viele Crashtest-Anlagen konzentrieren sich auf die Durchführung der Vielzahl gesetzlich vorgeschriebener Tests. In der Automobilindustrie werden zudem Versuche zur Bewertung und Auslegung von Rückhaltesystemen sowie zur Entwicklung neuer Massnahmen zur Reduktion der Anzahl und Schwere von Verletzungen durchgeführt. Kontrollierte Laborversuche werden ebenfalls zur Zertifizierung von Sporthelmen oder der Entwicklung von Skibindungen durchgeführt. Reale Unfallereignisse sind vielfältig. Daher werden nur ausgewählte Szenarien in Crashtests nachgestellt. Berücksichtigt man, dass die Ergebnisse solcher Crashtests wiederholbar und vergleichbar sein sollen, gleichzeitig aber die Kosten und der Zeitaufwand solcher Tests erheblich sind, wird verständlich, dass man sich meist auf einige standardisierte Tests mit exakt definierten Testprotokollen, vorgegebenen Auswerteprozeduren und Schutzkriterien beschränkt. In Kapitel 2.6 werden solche standardisierten Testverfahren ausführlich beschrieben. Im Automobil-Bereich werden drei verschiedene Kategorien von Crashtests unterschieden: Crashtests mit kompletten Fahrzeugen (Full-scale Tests genannt), Schlittenversuche und Komponententests (Abb. 2.3). Die
Experimentelle Untersuchungen
43
Abb. 2.3 Verschiedene Methoden von Crashtests. Von oben nach unten: Tests mit ganzen Fahrzeugen (auch Full-scale Tests genannt, z.B. Überschlag, Frontal-, Seitenanprall), Schlittenversuche, und Impaktor-Tests (verschiedene Anprallkörper wie sie z.B. bei der Prüfung der Fahrzeugfront zum Fussgängerschutz verwendet werden).
Grundprinzipien bezüglich Prüfpraxis, Evaluation der Ergebnisse und Dokumentation werden ebenso im Test- und Zertifizierungswesen wie in anderen Fachbereichen angewendet, z.B. zur Bestimmung der Kraft sich
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Methoden der Trauma-Biomechanik
schliessender Aufzugtüren oder der Prüfung der Reissfestigkeit von Feuerwehr-Netzen. In Full-scale Tests prallt ein Fahrzeug gegen ein Hindernis oder ein anderes Fahrzeug oder es wird mittels beweglichem Stosskörper (z.B. dem in Seitenaufpralltests verwendeten Stosswagen) beaufschlagt. CrashtestDummys verkörpern Fahrzeuginsassen im zu untersuchenden Fahrzeug. Es werden die Kinematik sowie die mechanische Belastung der Dummys während dem Anprall gemessen. Solche Versuche haben den Vorteil, dass durch die Verwendung eines realen Fahrzeugs dessen Eigenschaften (z.B. die Verformungscharakteristik) korrekt berücksichtigt werden. Diese fahrzeugspezifischen Eigenschaften beeinflussen die Fahrzeugbeschleunigung und damit auch die Belastung der Insassen. Zusätzlich zu Aspekten der Fahrzeugsicherheit geben Full-scale Tests beispielsweise auch Auskunft über die nach einer Kollision zu erwartenden Reparaturkosten. Daher werden solche Tests auch von Versicherungen durchgeführt und die Ergebnisse bei der Festlegung der Versicherungsprämien berücksichtigt. Des Weiteren dienen Full-scale Tests auch nicht-biomechanischen Zielsetzungen, wie zum Beispiel der Prüfung der Integrität des Tanksystems. Während in Full-scale Tests das Zusammenwirken von Rückhaltesystemen und Deformationseigenschaften untersucht wird, werden Schlittenversuche primär zur isolierten Prüfung von Rückhaltesystemen oder Fahrzeugkomponenten (z.B. Sitzen) durchgeführt. Zu diesem Zweck werden Teile des Fahrzeugs bzw. die entsprechenden Komponenten auf einem Schlitten montiert. Der Schlitten wird anschliessend ohne wesentliche Beschädigung des Versuchsaufbaus kontrolliert beschleunigt bzw. abgebremst. Somit können der Schlitten und der Aufbau mehrfach verwendet werden, wodurch die Kosten für den Versuch deutlich reduziert werden. Nachteile des Testsverfahrens sind u.a. die Beschränkung auf eine unidirektionale Belastung des Schlittens sowie die Tatsache, dass der Beschleunigungspuls des Schlittens bzw. des durch den Schlitten dargestellten Fahrzeugs vorher angenommen oder bestimmt werden muss (z.B. in einem Full-scale Test oder durch Computersimulation). Komponententests stellen die dritte Kategorie von Testverfahren dar. Durch sie können einzelne Fahrzeugteile quasi-statisch wie auch dynamisch untersucht werden. In quasi-statischen Versuchen wird beispielsweise die Festigkeit der Angriffspunkte der Sicherheitsgurte an der Karosserie geprüft. Des Weiteren können durch die Verwendung von Prüfkörpern wie der “free motion head form” (FMH), die Nachgiebigkeit
Standardisierte Testverfahren
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und die Energie absorbierenden Eigenschaften von Fahrzeuginnenraumstrukturen beurteilt werden. Die FMH ist ein Körper, dessen Grösse und Masse einem Kopf ähnlich sind und der mittels geeigneter Vorrichtung unter verschiedenen Winkeln auf die zu untersuchende Komponente geschossen wird. Fussgängersicherheit kann durch das Beaufschlagen einer Fahrzeugfront mit anderen Dummyteilen (z.B. Modellen des oberen/unteren Beins, Erwachsenen/Kinder-Kopfform) beurteilt werden. Dazu werden die Verformungseigenschaften der Fahrzeugfront ausgewertet. Komponententests bieten grundsätzlich den Vorteil, dass der Anprallpunkt, z.B. der Auftreffpunkt einer Kopfform auf der Motorhaube, millimetergenau festgelegt werden kann. Zudem sind die Tests kostengünstig.
2.6
Standardisierte Testverfahren
Neue Fahrzeugmodelle müssen zahlreiche Anforderungen zum Insassenschutz erfüllen, um die Zulassung zum Markt zu erhalten. Diese Anforderungen und Prüfungen können sich regional erheblich unterscheiden. Die wichtigsten regionalen Prüfstandards sind dabei diejenigen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. In Europa werden die entsprechenden Vorschriften durch die UN Economic Commission for Europe (ECE) festgelegt. ECE R94 beschreibt beispielsweise die Testvorschrift zur Sicherheit bei Frontalkollisionen, während in ECE R95 Seitenkollisionstests definiert sind. Diese Bestimmungen sind in EC Direktiven verankert. Direktive 96/27/EC bezieht sich beispielsweise auf ECE R95 und 96/79/EC beinhaltet ECE R94. Der Einfachheit halber verwenden wir in den folgenden Kapiteln die veralteten, aber immer noch am häufigsten gebräuchlichen Bezeichnungen ECE Rxx. In den USA ist der “Federal Motor Vehicle Safety Standards” (FMVSS) Teil des Federal Register 49 CFR part 571. Da die meisten Automobilhersteller ihre Fahrzeuge weltweit verkaufen wollen, stellen die unterschiedlichen Anforderungen in den verschiedenen Regionen ein beträchtliches Problem dar. Die internationale Harmonisierung von Testvorschriften sowie die internationale Anerkennung von Versuchsergebnissen aus zertifizierten Testzentren bzw. Laboren sind daher wichtige Aspekte des Welthandels. Dementsprechend wurden zahlreiche bilaterale Handelsabkommen zwischen verschiedenen Ländern, Freihandelsinitiativen, sowie UN, US und EU Aktivitäten (“Cassis de Dijon”-Prinzip) unternommen bzw. initiiert. Eine eigene Arbeitsgruppe der
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Methoden der Trauma-Biomechanik
UN/ECE (die Arbeitsgruppe UN/ECE/WP.29) wurde beauftragt harmonisierte Vorschriften, sogenannte GTR (Global Technical Regulations), zu entwickeln. Hinsichtlich dem Crashverhalten von Flugzeugen wurden durch die U.S. Federal Aviation Administration einige Crashtest-Vorschriften als Teil der FAR (Federal Aviation Regulations) verankert. Diese sind grösstenteils mit den entsprechenden Teilen der europäischen JAR (Joint Aviation Authorities of Europe) identisch. Zusätzlich sind technische Geräte, Apparaturen, Sportgeräte usw. einer Unzahl von Vorschriften, Richtlinien und Empfehlungen unterworfen, die durch Regierungsstellen, Hersteller, Versicherungen, Sportverbände und Verbraucherorganisationen aufgestellt wurden. Je nach Land finden sich sehr unterschiedliche Richtlinien und Anwendungen, so dass eine allgemeine Übersicht kaum erstellt werden kann. In Europa werden die meisten Sicherheitsanforderungen jedoch in Verbindung mit Produkthaftung geprüft und sind Bestandteil der Produktzertifizierung (CE Symbol). Wie aus Tabellen 2.2 und 2.3 ersichtlich, sind sich die ECE und die FMVSS Vorschriften sehr ähnlich und enthalten auch viele vergleichbare Anforderungen. Unterschiede bestehen hingegen in den vorgeschriebenen Dummy-Typen, den Testbedingungen und den Auswertungen der Tests (Abb. 2.4). Zudem werden in manchen Fällen verschiedene Grenzwerte für die Insassenbelastung angewendet. Die Erfüllung der ECE- und FMVSSRichtlinien wird häufig auch von anderen Ländern vorgeschrieben, so dass diese Richtlinien als die weltweit bedeutendsten Sicherheitsvorschriften angesehen werden können. Für eine vollständige und aktuelle Beschreibung der Richtlinien wird empfohlen, die jeweiligen Internetseiten zu konsultieren, da sich die Richtlinien nach dem Druck dieses Buches geändert haben könnten. Tabellen 2.4 und 2.5 fassen die Vorschriften zum Insassenschutz gemäss ECE R94 und FMVSS 208 für Frontalkollisionen und gemäss ECE R95 und FMVSS 214 für seitliche Anpralle zusammen. Ausführlichere Informationen zu den in den Tabellen erwähnten Schutzkriterien finden sich für jede Körperregion in Kapiteln 3 bis 8. Es ist anzumerken, dass es weder ECE- noch die FMVSS-Vorschriften gibt, die sich auf Heckkollisionen bei niedrigen Geschwindigkeiten bzw. bei geringem deltav Wert beziehen, obwohl diese Kollisionen häufig vorkommen, häufig zu Beschwerden führen und daher eine erhebliche sozio-ökonomische Bedeutung haben. Um diese Lücke zu schliessen wurde durch die AGU Zürich in Zusammenarbeit mit der Autoliv GmbH Deutschland, dem Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) und der Universität Graz eine neue Testvorschrift entwickelt [Muser et al. 1999].
Standardisierte Testverfahren
47
Tabelle 2.2 ECE Richtlinien (mehr Details unter http://www.unece.org). KRS: Kinderrückhaltesystem. Richtlinie
Kollisionstyp
Anprallgeschwindigkeit
Testkonditionen
Kommentare
R94
frontal
56 km/h
40% Überdeckung, verformbare Barriere
2 Hybrid III Dummys
R12
frontal
48..53 km/h
starre Wand
betrifft Verformung von Lenkrad/Lenksäule
R33
frontal
48..53 km/h
starre Wand
betrifft Stabilität der Fahrgastzelle
R12
frontal
24 km/h
Impaktortest
Bestimmung der Kraft auf einen “body block”-Impaktor
R95
seitlich
50 km/h
bewegliche Barriere, 90° Winkel
1 EuroSID als Fahrer
R32..34
heckwärts
35..38 km/h
bewegliche, starre Barriere (1100 kg Masse)
Integrität des Tanksystems
R42
geringe Kollision
2.5, 4 km/h
Pendel
nur Funktionsprüfung
R44
KRS
50 km/h
Schlittentest
Verwendung verschiedener Dummys je nach KRS
R16
Sitze
-
statisch
Lehnenmoment, Deformation
R17
Sitze
-
Schlittentest, 20 g
Sitzverankerung am Fahrzeugboden, Kopfstützengeometrie
R14
Sicherheits gurte
-
statisch
z.B. Verformung
48
Methoden der Trauma-Biomechanik
Tabelle 2.3 FMVSS Richtlinien (mehr Details unter http://www.nhtsa.dot.gov). K.-typ: Kollisionstyp, KRS: Kinderrückhaltesystem. Richtlinie
K.-typ
Anprallgeschwindig keit
Testkonditionen
Kommentare
571.208 (letzte Version Phase 2)
frontal
25 mph
100% Überdeckung, 0 30° starre Barriere
2 nicht angegurtete Hybrid III Dummys (50% Mann)
35 mph
100% Überdeckung, 0° starre Barriere
2 angegurtete Hybrid III Dummys (50% Mann)
25 mph
100% Überdeckung, 0° starre Barriere (max. 5° schräg)
2 nicht angegurtete Hybrid III Dummys (5% Frau)
35 mph
100% Überdeckung, 0° starre Barriere (max. 5° schräg)
2 angegurtete Hybrid III Dummys (5% Frau)
25 mph
40% Überdeckung, 0° deformierbare Barriere
2 angegurtete Hybrid III Dummys (5% Frau)
-
verschiedene Konfigurationen, Auslösen von Airbags
verschiedene Dummys in OOP Situationen (“out of position”)
571.204
frontal
30 mph
100% Überdeckung, starre Barriere
Lenksäule, rückwärts Verschiebung
571.212
frontal
30 mph
100% Überdeckung, starre Barriere
betrifft die Befestigung der Frontscheibe
Standardisierte Testverfahren Tabelle 2.3 Fortsetzung FMVSS Richtlinien. Richtlinie
K.-typ
Anprallgeschwindig keit
Testkonditionen
Kommentare
571.203
frontal
15 mph
Impaktortest
Bestimmung der Kraft auf einen “body block”Impaktor
571.214
seitlich
33.5 mph
bewegliche, deformierbare Barriere, schräger Anprall
2 SID Dummys
571.301+ 303
Heckkollision, frontal, seitlich
30 mph
bewegliche, starre Barriere (Masse:1800 kg)
Integrität des Tanksystems
581
geringe Kollision
2.5 mph (rear), 5 mph (front)
Pendel/Barriere
nur Funktionsprüfung
571.213
KRS
30 mph
Schlitten
Verwendung verschiedener Dummys je nach KRS
571.210
Sitze
-
statische Tests
z.B. Verformung
571.209
Sicherheitsgurte
-
statische Tests
z.B. Verformung
49
50
Methoden der Trauma-Biomechanik
Abb. 2.4 ECE (links) und FMVSS (rechts) schreiben bei Seitenkollisionen verschiedene Testbedingungen vor.
Tabelle 2.4 Grenzwerte für Frontalkollisionen. FMVSS 208
ECE R94
Dummys
Hybrid III 50% Mann, 5% Frau
2 Hybrid III 50% Mann
Kopf
HIC 15 < 700
HPC < 1000 a3ms< 80 g
HWS (Hals)
Nij <= 1.0, {-4.17kN < Fz < 4.0kN} (Hybrid III 50% Mann) {-2.62 kN < Fz < 2.52 kN} (Hybrid III 5% Frau)
Mext<57 Nm
Thorax
a3ms <= 60 g, Verformung < = 63 mm (Hybrid III 50% Mann)/ Verformung <= 52 mm (Hybrid III 5% Frau)
Verformung < 50 mm
Axialkraft < 10 kN
darf einen vorgegebenen Korridor nicht überschreiten
Femur
VC < 1.0
Knie
Verformung < 15 mm
Tibia
Axialkraft < 8 kN TI < =1.3
Standardisierte Testverfahren
51
Tabelle 2.5 Grenzwerte für Seitenkollisionen. FMVSS 214
ECE R95
Dummys
ES-2, SIDIIs
1 EuroSID
Kopf
HIC 36 < 1000 (beide DummyTypen)
HPC < 1000
Thorax
A max < 82 g (beide DummyTypen) d max < 42 mm (ES-2)
VC < 1.0
Abdomen
F < 2.5 kN (ES-2)
Innere Kraft < 2.5 kN
Becken
F < 5.1 kN (SIDIIs) / F < 6 kN (ES-2)
Kraft Schambeinfuge < 6 kN
Eine modifizierte Version dieser Vorschrift wurde im ISO Standard ISO/ TC22/SC10 verankert. Ergänzend zu den Crashtests, die durch Gesetzgeber vorgeschrieben werden, werden auch durch Verbraucherorganisationen Tests durchgeführt. Da die gesetzlich vorgeschriebenen Tests nur Mindestanforderungen an die Sicherheit von neuen Fahrzeugen stellen und da die Ergebnisse dieser gesetzlichen Tests nicht zwangsläufig veröffentlicht werden, möchten Verbraucherorganisationen durch eigene Tests die Fahrzeughersteller dazu anhalten, höhere Standards als nur die Mindestanforderungen zu erfüllen und die Testergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dadurch sollen die Verbraucher zuverlässige und vergleichbare Informationen zum Crashverhalten einzelner Fahrzeugmodelle erhalten. In Europa wurde die Insassenbelastung in solchen Konsumententests schon mittels Dummys bestimmt, lange vor diese auch Einzug in die gesetzlichen Richtlinien hielten. So wurde der Öffentlichkeit die Wichtigkeit der passiven Sicherheit veranschaulicht. Darüber hinaus zeichnen sich Verbrauchertests durch ein Bewertungssystem aus, durch welches die Verbraucher die Möglichkeit erhalten sollen, das InsassenSchutzpotential verschiedener Fahrzeugtypen zu vergleichen. Solche Bewertungssysteme beinhalten oftmals Dummy-Symbole mit farblich gekennzeichneten Körperregionen von grün (d.h. geringe Belastung) bis rot und Stern-Symbole, wobei die Anzahl der erreichten Sterne mit der Anzahl der im Test erhaltenen Bewertungspunkte korreliert. Dabei können Bewertungspunkte jedoch nicht nur durch Crashtests, sondern auch durch zusätzliche Sicherheitselemente zur Prävention oder Fahrassistenzsysteme
52
Methoden der Trauma-Biomechanik
Tabelle 2.6 Testbedingungen, die beim EuroNCAP [http://www.euroncap.com] angewendet werden. Anmerkung: der Anprall erfolgt immer auf der Fahrerseite, d.h. die nachfolgenden Abbildungen zeigen ein rechtsgelenktes Fahrzeug. Anprall
Testbedingung
Frontalkollision
64 km/h, deformierbare Barriere, 40% Überdeckung zudem Schlittentests zwecks Analyse Knie-Anprall, falls notwendig 2 Hybrid III auf Fahrer- und Beifahrersitz, TNO P1/2 und P3 Dummy in KRS auf Rücksitzen
Seitenkollision
50 km/h, Stosswagen mit deformierbarer Front ES-2 auf Fahrersitz, TNO P1/2 and P3 Dummys in KRS auf Rücksitzen
Pfahlanprall (Kopfschutz)
29 km/h, Fahrzeug wird seitlich auf Pfahl geschoben
Heckkollision (HWSSchutz
3 Schlittentests mit Fahrersitz, leichter, mittlerer und starker Crashpuls
ES-2 auf Fahrersitz
BioRID auf Fahrersitz Fussgängeranprall
40 km/h oder variable Impaktor-Geschwindigkeit, verschiedene Anpralle auf Frontstruktur Impaktoren für oberes Bein, Bein, Kopf eines Erwachsenen und eines Kindes
Standardisierte Testverfahren
53
erhalten werden (ein akustisches Warnsignal bei nicht-angegurteten Insassen oder ein elektronisches Stabilitätsprogramm (ESP) können beispielsweise die abschliessende Bewertung im EuroNCAPTestprogramm positiv beeinflussen). Die wichtigsten Konsumententests sind heute die sogenannten “New Car Assessment Programmes” (NCAP). NCAP-Test werden in Europa (EuroNCAP), Australien, Japan und den USA durchgeführt. Die Versuchsbedingungen und die Auswertung bzw. die Rangsysteme unterscheiden sich jedoch zwischen verschiedenen NCAP-Tests. Tabelle 2.6 listet die Tests des EuroNCAP auf. Es sei darauf hingewiesen, dass in den USA und Australien, NCAP-Tests durch staatliche Stellen bereits durchgeführt wurden, lange bevor Organisationen wie der EuroNCAP mit dem Testen begonnen haben. Es sei zudem darauf hingewiesen, dass die Bewertungen und die Ranglisten der Verbrauchertests nicht zwangsläufig das biomechanisch relevante Crashverhalten eines Fahrzeugs in seiner Absolutheit widerspiegeln, sondern mehr im Sinne eines Vergleichs verschiedener Fahrzeuge, die unter gleichen Bedingungen getestet wurden, zu verstehen sind. Grenzwerte oder Rangsysteme werden üblicherweise derart gewählt, dass beispielsweise ein gewisser Prozentsatz der Fahrzeuge einer Testreihe als “gut” und ein anderer Teil als “schlecht” bewertet wird, selbst wenn — rein hypothetisch — alle Fahrzeuge dieser Testreihe aus biomechanischer Sicht alle unterkritische Ergebnisse aufwiesen. 2.6.1
Crashtest-Dummys
Standardisierte Testverfahren verlangen die Verwendung klar vorgegebener und validierter Prüfkörper. Ein Crashtest-Dummy (auch anthropomorphische Testpuppe oder “anthropomorphic test device” (ATD) genannt) ist ein mechanisches Modell des menschlichen Körpers, das in Crashtests verwendet wird. Mit Hilfe solcher Dummys können auch mechanische Belastungen gemessen werden, die beim lebenden Menschen zu Verletzungen führen würden. Daher besteht der Dummy aus Stahl oder Aluminium (z.B. Skelett), Polymerwerkstoffen (Gelenkflächen, Haut) und Schaumstoffen (Fleisch) und ist mit verschiedenen Sensoren ausgestattet, mit denen Beschleunigungen, Kräfte und Verformungen gemessen werden können. Derzeit sind verschiedene Typen von Crashtest-Dummys verfügbar, die jeweils für bestimmte Belastungsszenarien bzw. Kollisionstypen entwickelt wurden. Im Automobilbau werden Dummys in Tests zur Homologation
54
Methoden der Trauma-Biomechanik
(Zulassungsprüfung) neuer Fahrzeuge sowie in Tests zur Insassensicherheit eingesetzt. Auch in der Luftfahrt werden Dummys — wenngleich in geringerem Ausmass — zu ähnlichen Zwecken verwendet. Historisch gesehen wurden die ersten Dummys für die Aviatik entwickelt, um Fallschirme und Schleudersitze zu testen. Von Prüfkörpern im Allgemeinen und insbesondere von solchen, die in offiziellen Richtlinien verankert sind, wird erwartet, dass sie einige Voraussetzungen erfüllen: • Anthropometrie und Biofidelität. Ein Dummy soll einerseits den Menschen bezüglich Körpergrösse, Masse, Masseverteilung, Trägheitsmomenten und (sitzender) Körperhaltung abbilden und andererseits unter Belastung ein dem Menschen ähnliches biomechanisches Verhalten aufweisen. Der 50-perzentile erwachsene Mann, dessen anthropomorphische Daten in den 1960er Jahren aus der US Population gewonnen wurden (Körpergrösse (stehend): 1.75 m, Gewicht: 78.2 kg), ist der in der Autoindustrie am häufigsten verwendete Dummy. Andere verfügbare Dummy-Typen sind die 5perzentile Frau (1.51 m, 49.1 kg) und der 95-perzentile Mann (1.87 m, 101.2 kg). Zudem sind Dummys vorhanden, die ein 3, 6 bzw. 10 Jahre altes Kind darstellen. Die Biofidelität wird auf Basis von Leichen- und Freiwilligenstudien beurteilt. • Instrumentierung. Der Crashtest-Dummy muss die notwendige Sensitivität und Möglichkeiten aufweisen, um Parameter, die in Bezug auf Verletzungen oder Verletzungsmechanismen relevant sind, messen zu können. • Wiederholbarkeit und Beständigkeit. Es ist zu berücksichtigen, dass ein Dummy auch in der Lage sein muss Belastungen zu ertragen bzw. Daten aufzunehmen, die oberhalb der bekannten Verletzungsgrenzwerten liegen, d.h. der Dummy soll durch den Versuch nicht (oder zumindest nur selten) beschädigt werden. Wiederholbarkeit (d.h. die Wiederholung eines Tests mit dem gleichen Dummy) und Reproduzierbarkeit (d.h. ein Vergleich von Messergebnissen, die unter den selben Testbedingungen, aber mit verschiedenen Dummys (vom gleichen Typ), gewonnen wurden) erfordern eine regelmässige Kalibrierung des Dummys. Zudem spielen praktische Aspekte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung eines Dummys. Einerseits sollen sie robust genug sein, um auch hohen Belastungen zu widerstehen, andererseits sollen sie leicht zu handhaben sein (bei einer Masse von bis zu 101kg!) und die Körper- bzw. Sitzposition soll leicht einzustellen sein. Derzeit sind über 20 verschiedene Dummytypen verfügbar, von denen jedoch nicht alle in gesetzlichen Richtlinien verankert sind.Tabelle 2.7 gibt
Standardisierte Testverfahren
55
Tabelle 2.7 Verschiedene Dummys und ihre Anwendungsbereiche. Anwendung
Dummy (ATD)
Frontalanprall
Hybrid III Familie, THOR
Seitenanprall
EuroSID, EuroSID2, SID, SID-HIII, SID IIs, BioSID, WorldSID
Heckanprall
BioRID, RID2
Fussgänger
POLAR
Kinder
P0, P3/4, P3, P6, P10, Q-dummies, CRABI
Sicherheitsgurt
TNO-10
Impaktor
Kopfform, Hüft-/Bein-Impaktoren für FussgängerAnprall
Abb. 2.5 50%ile Hybrid III Dummy [Denton ATD Inc.].
einen Überblick über die vorhandenen ATDs. Die Familie der Hybrid III Dummys besteht aus einem 3-, 6- und 10-Jährigen, einer kleinen Frau (5-perzentil), einem mittelgrossen Mann (50-perzentil) und einem grossen Mann (95-perzentil). Diese Dummys wurden alle für Tests von Frontalkollisionen entwickelt. Der Hybrid III Dummy des 50perzentilen Mannes (Abb. 2.5) wird am häufigsten für die Evaluation von Fahrzeug-Rückhaltesystemen bei Frontalkollisionen verwendet. Der Dummy ist im US Federal Motor Vehicle Safety Standards (FMVSS) sowie in den europäischen Direktiven verankert. Der Schädel und die Schädelkappe des Hybrid III 50-perzentil Dummys besteht aus Aluminiumgussteilen, die mit einer abnehmbaren Vinyl-Haut überzogen sind. Der Hals wird durch eine segmentierte Gummi- und Aluminium-Konstruktion mit
56
Methoden der Trauma-Biomechanik
zentral geführtem Kabel dargestellt. Er kann so die Rotation bzw. das dynamische Flexions-/Extensionsmoment des menschlichen Halses unter grossser Belastung akurat abbilden. Der Brustkorb wird durch sechs hochfeste Stahlrippen geformt. Diese sind mit Dämpfungselementen aus Polymerwerkstoffen ausgestattet, um die Kraft-Verformungs-Eigenschaft der menschlichen Brustkorbs zu simulieren. Jede Rippen-Einheit stellt dabei in einem Bauteil mehrere anatomisch rechtsseitig und linksseitig liegende Rippen dar. Die RippenEinheiten sind im Bereich des Brustbeins geöffnet, im hinteren Teil sind sie mit der Brustwirbelsäule verbunden. Ein Brustbein, das Platz für ein Potentiometer zur Messung der Brusteindrückung bietet, wird mit der Vorderseite der Rippen verbunden. Der Winkel zwischen Hals und oberem Torso ergibt sich aus der Konstruktion des entsprechenden Lagers, in das ein sechs-achsiger Transducer (die sogenannte “lower neck loadcell”) integriert werden kann. Ein zweiteiliges Schlüsselbein aus Aluminium weist ein integriertes Guss-Schulterblatt auf, welches hinsichtlich der Führung und Interaktion mit dem Schulterteil des Sicherheitsgurtes wichtig ist. Ein gebogener Gummi-Zylinder repräsentiert die gekrümmte Lendenwirbelsäule eines Sitzenden und stellt die Verbindung zum Becken dar. Hier kann eine axiale Kraftmessdose eingebaut werden. Das Becken besteht aus einem Aluminiumguss, der mit einem Schaumstoff und einer Haut aus Vinyl überzogen wurde. Der Oberschenkel schliesst über ein Kugelgelenk an das Becken an. Mittels entsprechender Anschläge wird die Charakteristik des Moments/der Drehung des Oberschenkels relativ zur Hüfte nachgebildet. Oberschenkel, Schienbein und Knöchel können geeignet instrumentiert werden, um das Risiko von Knochenbrüchen zu beurteilen. Das Knie hingegen wurde gestaltet, um Verletzungen der Bänder (Ligamente) zwischen Oberschenkel und Schienbein untersuchen zu können. Fuss und Knöchel des Dummys können Druck auf die Ferse übertragen und den Bewegungsumfang des Knöchels darstellen. Vor einigen Jahren wurde ein weiterer Dummy für Abb. 2.6 THOR Dummy Frontalkollisionen entwickelt. Er wird [Gesac Inc.]. THOR (Test device for Human
Standardisierte Testverfahren
57
Occupant Restraint) (Abb. 2.6) genannt und basiert ebenfalls auf der Anthropometrie des 50-perzentilen Mannes. Im Vergleich zum Design des Hybrid III wurden alle Bauteile mit Ausnahme der Arme überarbeitet bzw. verbessert; die Arme sind mit denjenigen des Hybrid III identisch. Das Gesicht des THOR ist beispielsweise mit einachsigen Kraftsensoren ausgestattet, um die Wahrscheinlichkeit von Frakturen des Gesichtsschädels beurteilen zu können. Des Weiteren wurden die Biofidelität und die Geometrie des Brustkorbs durch Verwendung von elliptischen Rippen verbessert. Zudem wurde die Instrumentierung dahingehend verbessert, dass nun an vier Messpunkten die dreidimensionale dynamische Kompression des Brustkorbs bestimmt werden kann. Ein neues Abdomen wurde entwickelt, um die Eindringung des Beckengurtes sowie eine etwaige Kompression des oberen Abdomens durch einen Airbag messen zu können. Durch Veränderungen der Hüfte und der Beine wurden weitere Möglichkeiten zum Einbau von Mess-Sensoren geschaffen. Zusätzlich wurde das Sprunggelenk in einer dem Menschen ähnlicheren Weise gestaltet. Der erste Dummy für Seitenkollisionen (side impact dummy, SID) wurde in den späten 1970er Jahren an der University of Michigan entwickelt. Der SID basiert auf dem Vorgänger des Hybrid III (dem Hybrid II). Der Thorax wurde überarbeitet, auf Arme und Schultern wurde beim SID verzichtet. Der SID entspricht ebenfalls dem 50-perzentilen Mann und wird in den gesetzlich vorgeschriebenen Seitenaufpralltests (FMVSS 214) in den USA eingesetzt. Die Bestimmungen des Verletzungsrisikos von Kopf, Brust und Hüften stehen beim SID im Vordergrund. Um die Biofidelität des HalsKopf-Übergangs zu verbessern, steht ein SID, der mit dem Kopf und dem Hals des Hybrid III ausgerüstet ist, zur Verfügung (SID-HIII genannt). Dieser kommt in Versuchen zur Überprüfung von SeitenanprallKopfairbags zum Einsatz. Seit dem Jahr 2000 ist ferner ein SID II, d.h. ein Seitenkollisions-Dummy, der eine 5-perzentile Frau repräsentiert, erhältlich. Die europäische Seitenaufprall-Richtlinie (ECE R95) schreibt die Verwendung des Euro-SID1 Dummys, des europäischen SeitenaufprallDummys, vor. Auch in australischen und japanischen Vorschriften ist der Euro-SID1verankert. Eine aktualisierte Version des Dummys, ES-2 genannt, wird heute auch im Rahmen von Tests zur Homologation von Fahrzeugen akzeptiert. Der ursprüngliche, 1989 fertiggestellte Euro-SID stellt einen 50-perzentilen erwachsenen Mann dar. Im Prinzip besteht der Euro-SID aus einem Skelett aus Metall und Kunststoff, das mit einem das Fleisch simulierenden Material, überzogen wird. Die Sitzhöhe des Dummys beträgt 0,904 m, die Masse 72 kg. Abbildung 2.7 zeigt den Dummy, der
58
Methoden der Trauma-Biomechanik
Abb. 2.7 Euro-SID und eines seiner Feder-Dämpfer-Elemente, die als Rippen/ Brustkorb verwendet werden [Denton ATD Inc.].
keine Unterarme aufweist. Kopf und Beine stammen vom Hybrid III, der Thorax wurde eigens entwickelt, um seitliche Anpralle untersuchen zu können. Drei getrennte, identische, mit Schaumstoff überzogene Rippen sind über ein System aus Kolben/Zylinder, Feder und einem Dämpfer (Abb. 2.7) mit dem starren, aus Stahl gefertigten Wirbelsäulen-Segment verbunden. Eine spezielle Schulterkonstruktion ermöglicht es, die Arme in realistischer Weise zu bewegen, so dass die Rippen einem direkten Anprall ausgesetzt sein können. Das Becken wurde so konstruiert, dass die auf die Schambeinfuge wirkende Kraft gemäss ECE R95 gemessen werden kann. Der Dummy kann sowohl für seitliche Anpralle von links, wie auch von rechts verwendet werden. Eine weitere Entwicklung im Bereich der Seitenaufprall Dummys ist der Biofidelic Side Impact Test Dummy (BioSID), der die derzeitigen im USStandard verwendeten SIDs verbessern soll. Obwohl der BioSID bereits seit 1990 verfügbar ist, wurde er bisher noch nicht in die FMVSS 214 integriert. Der BioSID ist mit mehr Sensoren ausgestattet als der SID/ Hybrid III und weist eine grössere Biofidelität auf, die es erlaubt das Verletzungspotential von Thorax, Abdomen und Becken sowie die Eindrückung der Rippen und weitere die Kompression berücksichtigende Verletzungskriterien zu messen. Durch Drehung des Oberkörpers um 180° kann der Dummy für Anpralle von rechts bzw. links konfiguriert werden. Um der Globalisierung der Automobilindustrie Rechnung zu tragen wurde unter dem Dach der International Standardisation Organisation (ISO) durch ein internationales Konsortium ein harmonisierter
Standardisierte Testverfahren
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Abb. 2.8 World-SID [ISO World SID Task Group].
Seitenaufprall-Dummy, World-SID genannt, entwickelt (Abb. 2.8). Es wurde ein mittelgrosser (50-perzentiler) männlicher Dummy vorgestellt, der die Bewertung des Verletzungsrisikos eines Fahrzeugsinsassen im Falle einer Seitenkollision verbessert. Nebst einer verbesserten Biofidelität [z.B. Damm et al. 2006], soll der World-SID grundsätzlich zu einer weltweiten Harmonisierung der entsprechenden Vorschriften zur Fahrzeugsicherheit führen und wird daher wahrscheinlich zukünftig in eine Global Technical Regulation (GTR) integriert werden. Erste World-SIDs bzw. entsprechende Prototypen wurden weltweit in verschiedenen Testzentren evaluiert; im März 2004 wurde die Produktion des World-SID lanciert. Da sich die derzeitigen Sicherheitsvorschriften ausschliesslich auf Frontal- und Seitenkollisionen beschränken, standen bisher entsprechende Dummys im Vordergrund. Die Entwicklung anderer Dummys oder vergleichbarer Prüfkörper war sekundär, da Crashtests zu anderen Unfallszenarien — allen voran Heckkollisionen — nicht vorgeschrieben sind. Da sich nun jedoch auch Beschwerden bzw. Verletzungen aus Heckkollisionen, insbesondere solche, die die Halswirbelsäule betreffen (s. Kap. 4), als erhebliche Problematik herausgestellt haben, wurde die Entwicklung weiterer Dummys, die sich für solche Lastfälle eigenen, notwendig. Derzeit sind zwei verschiedene Dummys für Heckanpralle erhältlich, der BioRID und der RID2. Beide Dummys, die ebenfalls je einen 50-perzilen Mann repräsentieren, wurden in Europa entwickelt und zielen insbesondere auf die Bewertung des Verletzungsrisikos von Halswirbelsäulenbeschwerden (auch “Schleudertrauma” genannt) nach Heckkollisionen mit niedriger kollisionsbedingter Geschwindigkeitsänderung (delta-v) ab. Das Kernstück des “biofidelic rear-end dummy” (BioRID) ist seine aus 24 Segmenten bestehende Wirbelsäule, durch die alle Drehpunkte der
60
Methoden der Trauma-Biomechanik
Abb. 2.9 Der BioRID weist eine segmentierte Wirbelsäule auf [Denton ATD Inc].
menschlichen Wirbelsäule nachgebildet werden. Dank einer solchen Umsetzung kann quasi eine natürliche Bewegung der Wirbelsäule beobachtet werden (Abb. 2.9). Der “rear impact dummy” (RID2) wiederum basiert auf dem THOR Dummy für Frontalkollisionen, wobei jedoch verschiedene Modifikationen erfolgt sind. Hinsichtlich der Analyse von Halswirbelsäulenverletzungen ist dabei insbesondere das geänderte Design der Wirbelsäule relevant. Der Hals besteht aus sieben AluminiumScheiben, die durch Anschläge aus Gummi von einander getrennt sind . Auch die Brust- und Lebenwirbelabschnitte wurden flexibel gestaltet. Der RID2 wurde, wie auch der BioRID, ausschliesslich für Heckkollisionen mit einer Bewegung der Wirbelsäule in sagittaler Ebene (d.h. reine RückwärtsVorwärts-Bewegung) entwickelt. Mittlerweile wurde ein verbesserter Hals für den RID2 vorgestellt, der es ebenfalls erlaubt schräge Heckkollisionen und sogar leichte Frontalkollisionen zu analysieren (der modifizierte Dummy heisst dann RID3D). Wenngleich die Dummys die Möglichkeit bieten, die Kopf-Hals-Kinematik besser zu untersuchen, bringt die erhöhte Flexibilität der Wirbelsäule jedoch auch Schwierigkeiten in der Handhabung mit sich. Die Positionierung des Dummys auf einem Fahrzeugsitz gestaltet sich beispielsweise viel schwieriger als bei einem Hybrid III. Ergänzend zu den oben beschriebenen Dummys existieren verschiedene spezielle Prüfkörper, die im Allgemeinen nur für jeweils einen speziellen Zweck verwendet werden: • Der TNO-10 Dummy eignet sich, um Fahrzeugsicherheitsgurte in einem einer Frontalkollision entsprechenden Lastfall zu prüfen. Der
Standardisierte Testverfahren
61
Dummy repräsentiert hinsichtlich Grösse und Masse (-verteilung) einen 50-perzentilen männlichen Erwachsenen. Auf Unterarme wurde jedoch verzichtet und statt zweier Beine wurden diese zu einer BeinStruktur kombiniert. • Der “Child Restraint Air Bag Interaction” Dummy (CRABI) wird verwendet, um die Auswirkung der Auslösung eines Airbags auf ein in einem auf den Frontsitz montierten Kinderrückhaltesystem sitzenden Kind zu untersuchen. Es gibt drei verschiedene Grössen des CRABI, diese repräsentieren ein 6 Monate, ein 12 Monate und ein 18 Monate altes Kind. Ferner gibt es Kinderdummys aus der Hybrid III Familie, die Q-Dummys sowie Dummys P0 (Neugeborenes) und P3/4 (9 Monate altes Kind). • Der POLAR Dummy (aktuelle Version: POLAR II) wurde entwickelt, um die Bewegung eines Fussgängers im Falle einer FahrzeugFussgänger-Kollision besser abbilden zu können. Mit Hilfe des POLARs (175cm gross, 74kg schwer) sollen mögliche Verletzungen eines Fussgängers genauer untersucht werden. • Es werden Prüfkörper verwendet, die nur aus Teilen eines Dummys bestehen. Die Kopfform “free motion head form” (FMH) stellt einen menschlichen Kopf dar. Wird die Form auf eine entsprechende Beschleunigungsanlage montiert, können z.B. Innenraumstrukturen eines Fahrzeugs mit der Kopfform beschossen werden. So wird ein Kopfanprall an diesen Strukturen simuliert. In manchen Sicherheitsvorschriften (z.B. FMVSS 201) werden solche Versuche vorgeschrieben. Um das Verhalten der Fahrzeugfront im Falle eines Fussgängeranpralls zu prüfen, werden andere Impaktoren verwendet. Diese Impaktoren stellen den Kopf eines Erwachsenen, den Kopf eines Kindes, einen Oberschenkel und einen Unterschenkel dar und kommen beispielsweise in EC Direktiven und dem EuroNCAP Testverfahren (New Car Assessment Programme) zur Anwendung. • Zur Prüfung der Verformungseigenschaften der Lenksäule (z.B. gemäss ECE R12) wird ein Dummy bestehend aus einem einen 50-perzentilen Oberkörper repräsentierenden Block (“50th percentile torso-shaped body block”) verwendet. Teile der ECE R12 wurden durch andere Verordnungen wie der ECE R94 überflüssig und sind daher in Europa nicht mehr vorgeschrieben. Hinsichtlich der Interpretation der aus Dummy-Versuchen gewonnenen Messresultate besteht die Schwierigkeit, dass diese wegen der Vielzahl an Dummy-Konstruktionen, die teilweise für gleiche Testszenarien entwickelt wurden, nur bedingt vergleichbar sind. Um Vergleiche der Ergebnisse zu ermöglichen, müsste man diese auf geeignete Weise skalieren können. In
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Methoden der Trauma-Biomechanik
diesem Zusammenhang wurden die Injury Assessment Reference Values (IRAV) erarbeitet [Mertz et al. 2003]. Die IRAV sind dummy-spezifisch und können daher skaliert und mit Werten anderer Dummys verglichen werden.
2.7
Numerische Simulationen
Dank kontinuierlicher Weiterentwicklungen der Computertechnologie sowie numerischer Methoden, wurden mathematische Modelle immer detaillierter und wirkungsvoller. Heute sind Computersimulationen ein wichtiges Werkzeug der Trauma-Biomechanik und werden in quasi allen Bereichen, von der Auslegung des Crashverhaltens eines Fahrzeugs über Unfallrekonstruktionen bis zu Menschmodellen, zur Untersuchung des biomechanischen Verhaltens und möglicher Verletzungsmechanismen eingesetzt. Mehrkörpermodelle (“multi body systems”, MBS), die auf der Starrkörperdynamik aufbauen (Gleichungen 2.1, 2.2), und Finite Elemente (FE) Modelle, die auf speziellen Formulierungen der Kontinuumsmechanik basieren (Gleichungen 2.3, 2.4), sind die beiden am häufigsten verwendeten Methoden. Mehrkörpermodelle approximieren komplexe Strukturen, wie beispielsweise ein menschliches Organ oder ein Fahrzeug durch einzelne starre Körper, die durch masselose Elemente wie Federn oder Dämpfer miteinander verbunden sind (siehe z.B. Lobdell Thoraxmodell, Kap. 5). Ausserdem sind Grundprinzipen der Mechanik wie das Erstarrungsprinzip und das Kontinuitätsprinzip von St. Venant zu beachten. Mehrkörpermodelle bzw. Teile solcher Modelle können auch durch FEModelle erstellt werden. Zudem können Mehrkörpermodelle auch flexible Strukturen enthalten. In Mehrkörpermodellen werden die verschiedenen Elemente durch kinematische Gelenke verbunden. Durch diese Gelenke werden Relativbewegungen zweier benachbarter Körper eingeschränkt und die Freiheitsgrade des Systems entsprechend reduziert. Es stehen verschiedene Arten von Gelenken zur Modellbildung zur Verfügung, z.B. translatorische Gelenke, Dreh- und Kugelgelenke, von denen jedes durch eine bestimmte Anzahl an Freiheitsgraden charakterisiert ist. Zusätzlich können kinematische Randbedingungen integriert werden (z.B. Feder-/ Dämpferelemente). Die Starrkörper selbst werden nur durch ihre Trägheitseigenschaften sowie die Angriffpunkte etwaiger Gelenke definiert. Zur Modellierung von Kontakten (z.B. Kontakt zwischen Kopf
Numerische Simulationen
63
und Frontscheibe) sowie zur Visualisierung können den Starrkörpern geometrische Formen zugeordnet werden. Zur Modellierung des Menschen oder von Dummys werden diesbezüglich oftmals Ellipsoide verwendet, aber auch andere Formen wie Ebenen und Zylinder können verwendet werden. Das MBS System wird durch externe Belastungen wie einem Beschleunigungsfeld oder einer Kraft beaufschlagt, so dass das Verhalten des Systems als Antwort auf diese Belastung analysiert werden kann. Die Stärke dieser MBS Modelle liegt insbesondere in der Modellierung von Ganzkörperbewegungen. Mittels Approximation des menschlichen Körpers durch gelenkig miteinander verknüpfte Starrkörper und der Zuordnung entsprechender Trägheit und Masse je Starrkörper, kann die Bewegung des ganzen Menschen während einer Belastung simuliert werden. Erste solche Modelle wurden bereits in den 1970er Jahren vorgestellt. Heute ist eine Vielzahl gut validierter Modelle verfügbar. Insbesondere Dummys eignen sich gut, um als MBS modelliert zu werden, da die geometrischen und mechanischen Eigenschaften (Trägheit, Masse, Gelenkcharakteristiken) der einzelnen Dummy-Komponenten eindeutig definiert sind. Abbildung 2.10 zeigt ein Modell des BioRID als MBS. Dieses Beispiel wurde mit der Software MADYMO [TNO 2001] erstellt, welche im Bereich der Fahrzeugsicherheit wahrscheinlich die am häufigsten verwendete Software für MBS Modelle ist. Die Finite Element (FE) Methode, die ursprünglich auf Galerkin's Theorem zurückgeht, reduziert ein Kontiuum auf ein diskretes numerisches Modell aus einzelnen Elementen (z.B. Dreiecke, Vierecke, Hexaedern,
Abb. 2.10 Mehrkörpermodell des sitzenden BioRIDs [nach Schmitt et al. 2004].
64
Methoden der Trauma-Biomechanik
Balken). Jedes Element wird durch eine bestimmte Anzahl an Knoten definiert, wobei nebeneinander liegende Elemente gemeinsame Knoten haben können. Es entsteht ein FE-Netz, in dem die Elemente miteinander verknüpft sind. Die Freiheitsgrade des gesamten FE Modells werden durch die Anzahl der Knoten begrenzt. Abhängig von den gewählten Randbedingungen und der Geometrie des FE-Netzes ergibt sich der Freiheitsgrad des Gesamtmodells. Eine ausführliche Beschreibung der FEMethode findet sich beispielsweise in Bathe (2007) oder Zienkiewicz (1994). Es ist jedoch zu beachten, dass die Art der in der TraumaBiomechanik zu lösenden Aufgabenstellungen (z.B. nicht-lineares Materialverhalten, grosse Verformungen in kurzen Zeitintervallen) spezielle Ansätze zur Lösung der FE-Modelle benötigt. FE-Programme, die in der Trauma-Biomechanik verwendet werden (z.B. PAM-CRASH [ESI 2001], LS-DYNA [Livermore 1999], or Radioss [Mecalog 2000]) basieren auf expliziten Formulierungen zur Integration der Zeitschritte. Diese Formulierungen gehen auf differentielle Bewegungsgleichungen der Knoten zurück und nicht auf Formulierungen des Gleichgewichts der Trägheits-, Feld- und Kontaktkräfte (implizite Formulierung). Ein solcher expliziter Ansatz erfordert weniger Rechenkapazität und lässt sich zur Berechnung einfacher vektorisieren bzw. parallelisieren. Dafür muss der Kontrolle der numerischen Stabilität mehr Aufmerksamkeit beschenkt werden, als dies bei impliziten Formulierungen notwendig ist. Die FE Methode ermöglicht eine detaillierte Analyse der Auswirkungen eines Anpralls sowohl in Bezug auf ein Fahrzeug wie auch auf den Menschen (Abb. 2.11). Beispielsweise ist es durch FE Modelle möglich, die während einer Kollision auftretende Spannungsverteilung im Gehirn zu untersuchen. Solche Forschungsergebnisse tragen erheblich zum Verständnis diffuser Hirnverletzungen bei (s. Kap. 3), insbesondere da sich solche Untersuchungen experimentell quasi nicht bewerkstelligen lassen. Ferner können z.B. in einem Crashtest an einem Dummy-Kopf gemessene Belastungen als Randbedingung für eine Simulation mit einem Modell des Kopfes verwendet werden und dadurch Erkenntnisse über die komplexen Mechanismen zur Entstehung von Hirnverletzungen gewonnen werden. Auch hinsichtlich anderer komplexer biomechanischer Phänomene wie dem Einfluss der Muskelaktivität oder der Interaktion zwischen sich verformendem Gewebe und den im Gewebe befindlichen Flüssigkeiten können mittels FE-Modellen analysiert werden [z.B. Schmitt et al. 2002]. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Bereich der TraumaBiomechanik je nach Fragestellung MBS- sowie FE-Modelle zur Anwendung kommen, wobei die jeweiligen Vor- und Nachteile der einzelnen Methoden zu berücksichtigen sind. FE-Modelle eignen sich für
Numerische Simulationen
65
Abb. 2.11 FE Modelle des Menschen: detailliertes Kopf-Hals-Modell (links) [nach Schmitt et al. 2002] und das Menschmodell THUMS (rechts) [nach Iwamoto et al. 2002].
Untersuchungen komplexer Geometrien und können die Wechselwirkungen verschiedener Körper (über entsprechende Kontaktdefinitionen) detailliert berücksichtigen. Ferner können lokale Verformungen und Spannungsverteilungen analysiert werden, was insbesondere bei Crash-Simulationen wichtig ist. Zudem kann die FEMethode durch detaillierte Modellierung einzelner Körperregionen zur Analyse von Verletzungsmechanismen verwendet werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass eine detailgetreue Modellierung einer komplexen Geometrie zu einer enormen Anzahl von Elementen führt und die zu lösenden Gleichungssysteme somit eine grosse Anzahl an Variablen aufweisen. Nicht-lineare Eigenschaften der im Modell verwendeten Materialien oder grosse Deformationen können erhebliche Computerresourcen zum Lösen der Modelle erfordern und stellen damit eine Einschränkung der Methode dar. Parallel arbeitende Computer (Vektorrechner) können diesen Engpass mindern. Heutzutage sind grosse Computersysteme in der Lage, FE Modelle mit Millionen von Freiheitsgraden zu berechnen, wobei die Rechenzeiten bis zu einigen Tagen betragen können. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der MBS Ansatz durch die Möglichkeit aus, komplexe kinematische Modelle effizient zu lösen. Die benötigten Rechenzeiten sind in der Regel wesentlich kleiner als bei FEBerechnungen, da nur eine vergleichsweise geringe Anzahl an gewöhnlichen Differentialgleichungen bearbeitet werden muss. Daher
66
Methoden der Trauma-Biomechanik
werden Mehrkörpermodelle häufig in der Entwicklung eingesetzt, da sie sich für Optimierungsaufgaben mit vielen Design-Parametern gut eignen. Bezüglich der Modellierung des Menschen besteht für beide Methoden ein grundlegendes Problem. Die Wahl geeigneter Parameter zur Beschreibung des Materialverhaltens lebenden Gewebes ist nur möglich, wenn entsprechende experimentelle Daten zum (zeitabhängigen) Verformungsverhalten vorhanden sind. Solche Daten sind jedoch nur eingeschränkt verfügbar. Zudem sind verfügbare Daten oftmals mit grossen Unsicherheiten behaftet, sei es wegen der generellen biologischen Variabilität oder wegen Einschränkungen, die im zugrunde liegenden Experiment gemacht wurden (bzw. gemacht werden mussten). Zudem ist die Validierung von Menschmodellen, vor allem wenn sie unter verschiedenen Belastungssituationen verwendet werden sollen, ein entscheidender, aber schwierig durchzuführender Schritt. In nahezu allen Entwicklungsbereichen zur Fahrzeugsicherheit bzw. zur Untersuchung von Verletzungen und der Entwicklung geeigneter Schutzmassnahmen werden heute numerische Modelle — sowohl FE- wie auch MBS-Modelle — eingesetzt. Je nach Fragestellung ist die am besten geeignete Methode auszuwählen oder es ist eine Kombination beider Methoden in Betracht zu ziehen. Solche integralen Ansätze (auch HybridModelle genannt) werden beispielsweise bei der Simulation der Wechselwirkung zwischen Fahrzeuginsassen und sich aufblasendem Airbag verwendet. Während der Airbag als FE-Modell gestaltet wird, wird
Abb. 2.12 Beispiel eines Hybrid-Modells. In ein MBS eines Skifahrers wurde das FE-Modell eines Knies integriert, so dass eine detaillierte Analyse der Belastungen der Kreuzbänder möglich wurde [PD Dr. K.-U. Schmitt].
Zusammenfassung
67
der Mensch durch ein Mehrkörpermodell approximiert. Es finden sich viele Beispiele, in denen MBS-Ansätze verwendet werden, um die grobe Bewegung zu modellieren, während FE-Modelle zur Darstellung einzelner Teilaspekte integriert werden (Abb. 2.12). Trotz der weiten Verbreitung und der stetig steigenden Anwendung von Simulationen sowie dem Potential solcher Simulationen, die Anzahl (und damit die Kosten) für Crashtests zu reduzieren, sind sie derzeit nicht in allgemeine Standards der Fahrzeugsicherheit integriert worden. Teilsweise kann dies mit dem Fehlen allgemeiner Richtlinien für die Durchführung von Simulationen und insbesondere zur Qualitätskontrolle von Simulationen erklärt werden. Solche (Qualitäts-) Standards werden zwar von verschiedenen Organisationen und Forschungsgruppen entwickelt, eine entsprechende Festlegung wäre jedoch notwendig, um Simulationen als Teil von (gesetzlichen) Vorschriften zu verankern. Die Komplexität der Modelle (sowie diverse Aspekte der Geheimhaltung der insbesondere von Fahrzeugherstellern in den Modellen verwendeten Daten) machen es für externe Prüfer äusserst schwierig, die Ergebnisse solcher Simulationen nachzuvollziehen bzw. zu validieren. Ergebnisse aus Crashtests sind in den meisten Fällen hingegen offensichtlich.
2.8
Zusammenfassung
Statistiken und Datenbanken sind Werkzeuge um das reale Unfallgeschehen und dabei auftretende Verletzungen zu beobachten. Sie erlauben es zudem gewisse Trends zu erkennen, beispielsweise im Zusammenhang mit neuen Fahrzeugen oder der Verwendung von Schutzausrüstung im Sport. Bezüglich Strassenverkehrsunfällen sind STAIRS und GIDAS wichtige europäische Datenbanken, in den USA sind insbesondere NASS und FARS relevant. Das in der Trauma-Biomechanik bedeutendste System zur Klassifizierung von Verletzungen ist die Abbreviated Injury Scale (AIS). Risikofunktionen stellen einen Zusammenhang zwischen bestimmten Parametern (z.B. zur Unfallschwere oder einer mechanischen Belastung) und dem Risiko, eine Verletzung zu erleiden, her. Unfallrekonstruktionen dienen der Ermittlung des Ablaufs eines Unfalls und der entsprechenden, technischen Parameter, die das Ereignis beschreiben wie beispielsweise die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v). Die Bestimmung der daraus resultierenden biomechanischen Belastung einer involvierten Person ist jedoch erheblich komplexer.
68
Methoden der Trauma-Biomechanik
Um dieses biomechanische Verhalten zu eruieren werden Leichenversuche, Tiermodelle oder — sofern verantwortbar — Freiwilligen-Versuche durchgeführt. Die so erhaltenen Daten erlauben es, das Verletzungsrisiko zu untersuchen und sind zudem wichtiger Input für die Entwicklung und Validierung von Crashtest-Dummys und Computermodellen. Relativ einfache Mehrkörpermodelle, komplexe Finite Elemente Modelle oder Kombinationen dieser Methoden werden beispielsweise bei der Entwicklung von Sicherheitsmassnahmen oder Fahrzeugstrukturen immer wichtiger. Full-scale Crashtests, Schlittentests und Impaktor-Tests sind in der Trauma-Biomechanik verbreitete experimentelle Methoden. Full-scale Tests sind zwar teuer, erfordern dafür weniger Vereinfachungen bzw. Annahmen zur Testdurchführung. Schlitten- und Impaktortests hingegen eignen sich wegen geringerer Kosten gut für Studien mit Parametervariationen. Es stehen verschiedene Dummys zur Verfügung, wobei ein Dummy üblicherweise für einen speziellen Belastungsfall entwickelt wurde. Die Durchführung und Auswertung standardisierter Tests ist in Vorschriften wie ECE und FMVSS oder in von Verbraucherorganisationen initiierten Richtlinien (z.B. EuroNCAP) verankert.
2.9
Referenzen
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70
Methoden der Trauma-Biomechanik
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3 Kopfverletzungen
Erhebliche Fortschritte in der Erforschung der zu Kopfverletzungen führenden Verletzungsmechanismen sowie die Einführung verschiedener Massnahmen zur Prävention von Kopfverletzungen haben zu einer Reduktion der Häufigkeit und der Verletzungsschwere geführt. Nichtsdestotrotz führen in Unfällen erlittene Kopfverletzungen weiterhin oft zu bleibenden körperlichen Schäden oder gar zum Tod. Einer kurzen Zusammenfassung der hier relevanten anatomischen Strukturen des Kopfes folgt eine Beschreibung und Klassifikation möglicher Kopfverletzungen und der entsprechenden Verletzungsmechanismen. Anschliessend werden das biomechanische Verhalten des Kopfes, das in verschiedenen Experimenten untersucht wurde, sowie daraus abgeleitete Verletzungskriterien, mit deren Hilfe die Belastungen des Kopfes in Crashtests quantifiziert werden, diskutiert. Spezielle Aspekte von Kopfverletzungen im Sport werden in einem eigenen Kapitel besprochen. Abschliessend werden grundlegende Prinzipien zur Prävention von Kopfverletzungen vorgestellt. Sicherheitsgurte und Airbags können Kopfverletzungen durch das Vermeiden eines Kopfanpralls verhindern. Helme oder deformierbare Strukturen im Fahrzeuginnenraum bzw. an äusseren Fahrzeugstrukturen können die Folgen eines Kopfanpralls durch Verteilung der Anprallkraft auf eine grössere Fläche und durch Energieabsorption mildern.
3.1
Anatomie des Kopfes
Der menschliche Kopf kann durch einen mehrschichtigen Aufbau beschrieben werden: die äussere Kopfschwarte, der Schädel, die Hirnhäute und schliesslich das Gehirn im Inneren.
K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
72
Kopfverletzungen
Abb. 3.1 Anatomie des Kopfes: knöcherne Strukturen des Schädels (oben), die Hirnhäute (Mitte) und das Gehirn (unten) [nach Sobotta 1997].
Anatomie des Kopfes
73
Die Kopfschwarte ist zwischen 5 mm und 7 mm dick; sie besteht aus der wiederum mehrschichtig aufgebauten Haut, dem subkutanen Gewebe unterhalb der Haut sowie Muskeln und Faszien. Die Kopfschwarte kann in gewissem Umfang als Ganzes relativ zum Schädel bewegt werden. Unterhalb der Schwarte befinden sich eine Schicht aus lockerem Bindegewebe sowie das Periost (eine fibröse Membran; auch Knochenhaut genannt), das den knöchernen Schädel umgibt. Der Schädel eines Erwachsenen besteht aus mehreren Knochen, die mit einander verwachsen sind. Es sind die entsprechenden “Nähte”, an denen die Knochen zusammengewachsen sind, sichtbar (Abb. 3.1). Der Unterkiefer ist als einziger Gesichtsknochen durch je ein Gelenk auf beiden Kopfseiten mit dem Schädel verbunden. Die Dicke und Ausformung der Schädelknochen kann bei verschiedenen Personen deutlich variieren. Die innere Oberfläche des Schädeldaches ist konkav, wobei eine irregulär geformte Knochenplatte die Basis bildet. Diese Schädelbasis enthält mehrere Öffnungen unterschiedlicher Grösse, durch die Arterien, Venen und Nerven verlaufen. Zudem weist sie eine grössere Öffnung (foramen magnum, Hinterhauptsloch) auf, durch welches das Rückenmark verläuft. Drei sogenannte Hirnhäute umgeben das Rückenmark und das Gehirn und grenzen diese Strukturen vom umgebenen Knochen ab (Abb. 3.1): die harte Hirnhaut (dura mater), die Spinnwebshaut (arachnoidea) und die weiche Hirnhaut (pia mater). Während die harte Hirnhaut eine feste, fibröse Membran darstellt, ist die Spinnwebshaut entsprechend ihrem Namen netzartig aufgebaut. Beide Hirnhäute werden durch einen kleinen Bereich, den sogenannten subduralen Raum von einander getrennt. In analoger Weise trennt der subarachnoidale Raum die Spinnwebs- von der weichen Hirnhaut. Die weiche Hirnhaut bedeckt die unregelmässige, gewundene Oberfläche des Gehirns. Cerebrospinale Flüssigkeit (auch Liquor genannt) findet sich im Arachnoidalraum sowie in den Hohlräume des Gehirns (Hirnventrikel). Somit kann diese Flüssigkeit das Gehirn (sowie das Rückenmark, das sie ebenfalls umgibt) vor den mechanischen Erschütterungen schützen. Da die cerebrospinale Flüssigkeit einer kontinuierlichen Fliessbewegung unterliegt und das Gehirn von allen Seiten umspült, wirkt sie als Puffer bzw. Dämpfer. Das Gehirn sowie der Schädel werden durch verschiedene Blutgefässe versorgt. Teilweise durchdringen diese Blutgefässe die Hirnhäute. Die sogenannten Brückenvenen gehen beispielsweise über den Subduralraum hinweg, sie können daher im Falle einer Relativbewegung zwischen Gehirn und Schädel verletzt werden (s. Kap. 3.2.). Im Schädelinneren befindet sich das Gehirn, das gemeinsam mit dem
74
Kopfverletzungen
Abb. 3.2 Mögliche Kopfverletzungen.
Rückenmark als zentrale Nervensystem (ZNS) bezeichnet wird. Sowohl hinsichtlich Struktur wie auch in Bezug auf die Funktionen können fünf Bereiche unterschieden werden: Grosshirn (cerebrum), Kleinhirn (cerebellum), Mittelhirn (mesencephalon), Varols-Brücke (pons) und das verlängerte Rückenmark (medulla oblongata) (Abb. 3.1).
3.2
Verletzungen und Verletzungsmechanismen
Die schwerwiegendsten Kopfverletzungen sind solche, die den Schädel und das Gehirn einschliesslich der Hirnhäute betreffen. Abbildung 3.2 gibt einen schematischen Überblick über mögliche Kopfverletzungen. Prinzipiell werden Schädel-Hirn-Traumen als “offen” oder “geschlossen” charakterisiert, wobei die Unterscheidung davon abhängt, ob die harte Hirnhaut verletzt wurde (“offen”) oder nicht (“geschlossen”). Weichteilverletzungen des Schädels oder des Gesichts sind häufig. Meistens handelt es sich dabei um Kontusionen (Prellungen/Quetschungen) oder Lazerationen (Risse), die als leichte Verletzungen klassifiziert werden und eher im Hintergrund stehen. Ebenso werden Verletzungen des Gesichts, beispielsweise von Auge oder Ohr, als leichte Verletzungen betrachtet und daher mehrheitlich als AIS1 oder AIS2 Verletzungen klassifiziert. Auf eine Diskussion dieser leichten Verletzungen wird verzichtet. Schwerwiegende Kopfverletzungen können durch Frakturen entstehen. Frakturen des Gesichtsschädels schliessen Frakturen des Nasenbeins, dem am häufigsten gebrochenen Schädelknochen, und des Oberkiefers ein. Letztere werden als schwere Verletzungen mit einer Codierung bis AIS3
Verletzungen und Verletzungsmechanismen
75
Abb. 3.3 Einteilung von Frakturen des Gesichtsschädels nach LeFort [nach Vetter 2000].
betrachtet. Abbildung 3.3 zeigt die gebräuchliche Einteilung von Oberkieferfrakturen nach LeFort. Beispiele für Kopfverletzungen verschiedener AIS-Grade sind in Tabelle 3.1 zusammengestellt.
Tabelle 3.1 AIS Klassifikation von Kopfverletzungen [AAAM 2005]. AIS Code
Beschreibung/Beispiele
1
Haut/Schädel: Schürfung, oberflächlicher Riss/Schnitt Gesicht: Nasenbeinfraktur
2
Haut: grosser Ausriss Fraktur Schädeldach: einfach Unterkieferfraktur: offen, verschoben Oberkieferfraktur: LeFort I und II
3
Schädelbasisfraktur Oberkieferfraktur: LeFort III vollständiger Verlust der Kopfhaut einmalige Kleinhirn-Prellung
4
Fraktur Schädeldach: komplex, offen, mit Exposition oder Verlust von Hirngewebe kleines epidurales oder subdurales Hämatom
5
grosse eindringende Verletzung (>2cm) Hirnstammkompression grosses epidurales oder subdurales Hämatom diffuse axonale Verletzung (DAI)
6
massive Destruktion von Hirnschädel und Gehirn
76
Kopfverletzungen
Abb. 3.4 Die Blutung in den Epiduralraum wird epidurales Hämatom genannt und kann Kontusionen des Gehirns zur Folge haben [nach Vetter 2000].
Abb. 3.5 Mögliche Verletzungsmechanismen.
Frakturen des Schädels werden in Schädelbasis-Frakturen und Schädeldach-Frakturen unterteilt, wobei man unter Frakturen des Schädeldachs alle nicht an der Schädelbasis erfolgten Brüche zusammenfasst. Es sei angemerkt, dass Schädelbasisfrakturen in konventionellen Röntgenaufnahmen schlecht zu erkennen sein können, so dass die eindeutige Diagnose schwierig sein kann. Verletzungen des Gehirns können klinisch in zwei grosse Gruppen unterteilt werden: diffuse und fokale Verletzungen. Diffuse Hirnverletzungen schliessen ein breites Spektrum von milden Kontusionen bis diffusen Verletzungen der weissen Hirnsubstanz ein. Die häufigste Form einer solchen Hirnverletzung ist die Gehirnerschütterung (vollständig
Verletzungen und Verletzungsmechanismen
77
reversibel, kurzzeitige Bewusstseinsstörung). Vor allem im Sport wird eine milde traumatische Gehirnverletzung (“mild traumatic brain injury”, MTBI) häufig diagnostiziert (s. Kap. 3.5). Eine schwerere Form der Gehirnerschütterung geht mit sofortigem Bewusstseinsverlust einher. Die Folgen einer solchen Gehirnerschütterung hängen stark davon ab, ob zusätzliche Verletzungen des Gehirns aufgetreten sind oder nicht [Melvin und Lighthall 2002]. Diffuse axonale Verletzung (“diffuse axonal injury”, DAI) beschreibt eine Unterbrechung der Fortsätze (Axone) von Nervenzellen der Hirnhemisphäre und der subkortikalen weissen Hirnsubstanz. Schwellungen können eine diffuse Gehirnverletzung überlagern und dadurch die Auswirkung der primären Verletzung durch einen ansteigenden Hirndruck verstärken. Fokale Gehirnverletzungen beschreiben Läsionen mit räumlich begrenzten Schädigungen. Beispiele sind Hämatome und Kontusionen, wobei Kontusionen die häufigsten Verletzungen nach einem Kopfanprall sind. Im Allgemeinen werden Kontusionen auf der Seite des Anpralls (Coup-Kontusion) und auf der der Anprallstelle gegenüberliegenden Seite (Contre-coup Kontusion) beobachtet. Dabei werden die Contre-coup Kontusionen als bedeutsamer als die Coup-Kontusionen angesehen [Melvin und Lighthall 2002]. Hinsichtlich Hämatomen werden in Abhängigkeit der Stelle der Einblutung drei verschiedene Typen unterschieden: epidurale, subdurale und intrazerebrale Hämatome. Epidurale Hämatome (Abb. 3.4) beschreiben eine Blutung zwischen Schädel und der harten Hirnhaut und können nach einer Verletzung des Schädels und/oder der darunter verlaufenden Blutgefässe auftreten. Sie entstehen daher nicht infolge einer Gehirnverletzung. Entsteht das Hämatom zwischen der harten und weichen Hirnhaut, wird es subdurales Hämatom genannt. Ursachen subduraler Hämatome können a) Lazerationen der kortikalen Venen und Arterien durch penetrierende Verletzungen, b) durch grossflächige Kontusionen bedingte Blutungen in den Subduralraum oder c) Rupturen der (zwischen der Gehirnoberfläche und dem duralen Sinus verlaufenden) Brückenvenen sein. Die mit einem solchen Hämatom verbundene Sterberate liegt in den meisten Studien über 30 % [Melvin und Lighthall 2002]. Intrazerebrale Hämatome sind abgegrenzte Blutansammlungen innerhalb des Gehirns; sie können z.B. mittels computertomographischen Aufnahmen von Kontusionen unterschieden werden. Die zu Kopfverletzungen führenden Mechanismen sind vielfältig. Grundsätzlich können Verletzungen durch statische oder dynamische Belastungen entstehen (Abb. 3.5). Im hier diskutierten Zusammenhang werden statische Belastungen üblicherweise als Belastungen definiert, die länger als 200 ms auf den Körper einwirkten. Unter solch einer statischen
78
Kopfverletzungen
Abb. 3.6 Verschiedene Verletzungsmechanismen nach Kopfanprall; Frakturen müssen nicht zwangsläufig entstehen [nach Vetter 2000].
Belastung verformt sich der Kopf, bis die maximale Deformation erreicht ist. Dann treten Schädelfrakturen auf, oftmals mehrere. Bei Unfällen sind solche statischen Belastungen jedoch selten, dynamische Belastungen machen hier den überwiegenden Lastfall aus. Es werden zwei Typen von dynamischen Belastungen unterschieden: solche mit und solche ohne Kopfanprall. Die Auswirkungen der beiden Typen sind unterschiedlich. Ein direkter Anprall des Kopfes an einen Gegenstand (oder der Anprall eines Gegenstands an den Kopf) führt zu einer Verformung des Kopfes. Nachfolgend können eine direkte Fraktur (in der Regel bedingt durch Biegung und oftmals nahe der Anprallstelle) oder eine indirekte Fraktur (Berstungsfraktur in Richtung des Vektors der einwirkenden Kraft) auftreten. Zudem können nach einer Verformung des Kopfes, selbst ohne Fraktur, lokale Gehirnverletzungen, wie epidurale Hämatome oder Kontusionen sowie Verletzungen der Kopfhaut, beobachtet werden. Des Weiteren entstehen durch den Anprall Stosswellen, die sich in Schädel oder Gehirn ausbreiten (Abb. 3.6). Die Wellenausbreitung im Gehirn kann zu einem Druckgradienten mit positivem Druck auf der Seite des Anpralls (coup) und negativem Druck auf der gegenüberliegenden Seite (contre-coup) führen. Ein solcher Mechanismus wird als Ursache für intrakraniale Kompression vermutet, die zu fokalen Hirnverletzungen führen kann. Es ist jedoch noch nicht völlig geklärt, ob die Verletzung durch den negativen Druck (Zugbelastung des Hirns, die z.B. zu Blutungen oder Rissen führt) oder durch Kavitationsphänomene entsteht [Viano 2001]. Ausserdem kann ein Druckgradient eine Scherbeanspruchung der tiefen Gehirnstrukturen begünstigen. Ein Kopfanprall kann zudem zu einer Relativbewegung zwischen der Gehirnoberfläche und der inneren Kontur der Schädeldecke führen. Oberflächliche Kontusionen des Gehirns und Rupturen der Brückenvenen,
Mechanisches Verhalten des Kopfes
79
die subdurale Hämatome verursachen, können die Folge sein. In Situationen ohne Kopfanprall wird der Kopf ausschliesslich durch Trägheitskräfte beaufschlagt. Die Beschleunigung (oder Abbremsung) des Kopfes resultiert in entsprechenden Trägheitskräften. Es kann sich dabei um translatorische und/oder rotatorische Beschleunigung handeln. Eine translatorische Beschleunigung führt im Allgemeinen zu fokalen Gehirnverletzungen, während eine Rotationsbeschleunigung auch diffuse Gehirnverletzungen hervorrufen kann. Subdurale Hämatome als fokale Schädelverletzung bilden eine Ausnahme, da durch eine Beschleunigung ebenfalls eine Relativbewegung zwischen Gehirn und Schädel mit nachfolgender Ruptur von Brückenvenen induziert werden kann. Da natürlich auch bei einem Kopfanprall Beschleunigungen auftreten, sind die oben beschriebenen Mechanismen in solchen Fällen ebenso relevant. Kopfschmerzen können ferner durch Verletzungen der oberen Halswirbelsäule entstehen, d.h. Kopfschmerzen müssen nicht zwangsläufig auf eine “Kopfverletzung” (sei es mit oder ohne Kopfanprall) hindeuten. Daher ist eine umfassende Untersuchung des zugrunde liegenden Sachverhalts, insbesondere hinsichtlich einer dynamischen Belastung der betreffenden Person, notwendig, um eine voreilige Diagnose einer zerebralen Kontusion oder der milden traumatischen Gehirnverletzung (MTBI) zu verhindern.
3.3
Mechanisches Verhalten des Kopfes
Um die mechanischen Eigenschaften des Kopfes unter stossartiger Belastung zu untersuchen wurden Experimente mit Leichen durchgeführt. Das Verhalten des Kopfes bei einem Anprall wurde durch die Beschleunigung und die Kraft beschrieben und hängt daher von den Trägheitseigenschaften des Kopfes und der Anprallfläche ab. Für einen 50perzentilen Mann beträgt die durchschnittliche Masse des Kopfes 4.54 kg. Die durchschnittlichen Trägheitsmomente sind Ixx = 22.0x10-3 kgm2, Iyy = 24.2x10-3 kgm2, and Izz = 15.9x10-3 kgm2 [z.B. Beier et al. 1980]. Hinsichtlich dem Kopf von Kindern sind nur sehr wenige Daten vorhanden [siehe z.B. Prange et al. 2004]. Die meisten der durchgeführten Leichen-Versuche sind Fall-Versuche, in denen die Leiche bzw. der Kopf auf eine starre, flache Oberfläche prallt. Tabelle 3.2 fasst die in verschiedenen Studien bestimmten, zu einer Fraktur führenden Maximal-Kräfte zusammen. Des Weiteren wurden die bei einem Kopfanprall auftretenden Beschleunigungen untersucht. Grundsätzlich
80
Kopfverletzungen Tabelle 3.2 Kräfte, die zu Schädelfrakturen führen können. Anprallbereich
Kraft [kN]
Referenz
frontal
4.2 5.5 4.0 6.2 4.7
Nahum et al. 1968 Hodgson et al. 1971 Schneider und Nahum 1972 Advani et al. 1975 Allsop et al. 1988
lateral
3.6 2.0 5.2
Nahum et al. 1968 Schneider und Nahum 1972 Allsop et al. 1991
okzipital
12.5
Advani et al. 1982
treten bei der Messung der Beschleunigung am Kopf zwei Schwierigkeiten auf: erstens können die Beschleunigungssensoren nicht im Schwerpunkt des Kopfes angebracht werden und zweitens ist der Kopf kein Starrkörper. Daher wurden verschiedene Methoden, die Beschleunigung zu messen, vorgeschlagen [z.B. Padgaonka et al. 1975]. Zudem wird ebenfalls empfohlen, die Rotationsbeschleunigung des Kopfes zu messen, so dass daraus dann die Beschleunigung im Schwerpunkt berechnet werden kann. Trotzdem bleiben einige Unsicherheiten bestehen, da die genaue Steifigkeitsverteilung des Kopfes im Allgemeinen nicht bekannt ist. Ein Ergebnis der ausführlichen Leichenversuche zur Bestimmung der Kopfbeschleunigung ist die Wayne State University Cerebral Concussion Tolerance Curve, kurz auch Wayne State Tolerance Curve (WSTC) genannt [Gurdjian et al. 1953, Lissner et al. 1960, Gurdjian et al. 1966]. Die WSTC beschreibt den Zusammenhang zwischen der Wirkungsdauer und einer durchschnittlichen, antero-posterior wirkenden translatorischen Kopfbeschleunigung, die bei einem Kopfanprall zu einer Kopfverletzung gleicher Verletzungsschwere führt (Abb. 3.7). Durch klinisch dokumentierte Fälle von Schädelfrakturen mit begleitender Gehirnerschütterung wurden Korrelationen zwischen den Leichenversuchen und Gehirnverletzungen gebildet. Tatsächlich hatten 80 % dieser Fälle mit Gehirnerschütterung auch lineare Schädelfrakturen [Melvin und Lighthall 2002]. Gurdjian und Kollegen nahmen daher an, dass man durch Bestimmung der Toleranzwerte bezüglich Frakturen auch auf die Toleranzwerte für Gehirnverletzungen schliessen könne. Bei Kombinationen aus Beschleunigungen und einer Wirkungsdauer des Beschleunigungspulses, die oberhalb der Kurve liegen, geht man davon aus, dass die Verletzungstoleranz überschritten wird, d.h. dass solche
Mechanisches Verhalten des Kopfes
81
Abb. 3.7 Die Wayne State Tolerance Curve (Beschleunigung vs. Wirkdauer des Beschleunigungspulses) [nach Krabbel 1997].
Belastungen schwere, irreversible Gehirnverletzungen verursachen können. Kombinationen, die unterhalb der Kurve liegen, überschreiten diese Grenzwerte nicht, können aber zu reversiblen Verletzungen führen. Da die ursprüngliche WSTC nur ein Zeitfenster von 6 ms abdeckt, wurde die Kurve für Wirkdauern von mehr als 6 ms mit Daten aus Tierversuchen und Experimenten mit Freiwilligen ergänzt. Die Testbedingungen, die der modifizierten Kurve zugrunde liegen, werden in Tabelle 3.3 zusammengefasst. Wie aus der Kurve ersichtlich ist, kann der Kopf bei kleinerer Wirkdauer grössere Beschleunigungen ertragen.
Tabelle 3.3 Grundlagen der WSTC. Pulsdauer 2 - 6 ms
Testobjekt Leichen
6-20 ms
Leichen und Tiere
> 20 ms
Freiwillige
Versuchsart Fallversuche Anprall
Schlittenversuche
Messungen Beschleunigung am Hinterkopf Beschleunigung des Schädels, Hirndruck Beschleunigung des ganzen Körpers ohne Kopfanprall
Verletzungskriterium Schädelfraktur pathologische Veränderungen Gehirnerschütterung, Bewusstseinsstatus
82
Kopfverletzungen
Die WSTC wird durch Experimente aus Japan gestützt, diese führten zur Definition der Japan Head Tolerance Curve (JHTC) [Ono et al. 1980]. Die JHTC gründet sich hauptsächlich auf Experimente mit Primaten und einer Übertragung (Skalierung) der Ergebnisse auf den Menschen. Die Unterschiede zwischen WSTC und JHTC können für Zeitintervalle bis 10 ms vernachlässigt werden und für grössere Einwirkdauern sind nur geringe Abweichungen auszumachen. Logarithmiert man die WSTC ergibt sich eine Gerade mit Steigung -2.5. Darauf aufbauend schlugen Gadd et al. (1961) das erste Verletzungskriterium für den Kopf, den “Severity Index” (SI) vor. In modifizierter Form wird dieses Kriterium auch heute noch verwendet (s. Kap. 3.4.1). Verwendet man die WSTC oder Kriterien, die davon abgeleitet wurden, so sind gewisse Einschränkungen, die sich aus den Testbedingungen der zur Erstellung der Kurve durchgeführten Experimente ergeben, zu berücksichtigen. Die geringe Anzahl an Datenpunkten, die Position der Beschleunigungssensoren (am Hinterkopf), das Nicht-Messen der Rotationsbeschleunigung und die Techniken, mit denen die Daten aus Tierversuchen auf den Menschen übertragen wurden, sind Beispiele für nicht unerhebliche Limitationen. Aus biomechanischer Sicht liegt der grösste Kritikpunkt an der WSTC jedoch in der Annahme des Zusammenhangs zwischen Schädelfrakturen und Gehirnverletzungen. Diese Hypothese bleibt zu bestätigen. Es fehlt der experimentelle Nachweis, für einen Zusammenhang zwischen einer funktionellen Gehirnschädigung und biomechanischen Parametern, die einen Versagensmechanismus des Gewebes beschreiben [Melvin und Lighthall 2002]. Beachtet man, dass die WSTC auf direkten frontalen Kopfanprall-Tests beruht, können die Ergebnisse genau genommen nicht auf Situationen ohne Kopfanprall bzw. Kopfanpralle aus anderen Richtungen angewendet werden. Nichtsdestotrotz ist die WSTC nach wie vor die wichtigste Datenquelle bezüglich dem Verhalten des Kopfes unter linearer Beschleunigung. Andere experimentelle Studien haben den Einfluss der Rotationsbeschleunigung, die zu diffusen Gehirnverletzungen und subduralen Hämatomen führen kann, untersucht. Zusätzlich zu Versuchen an Freiwilligen und Leichen, wurden an Primaten Kopfdrehungen ausgeführt und dabei die Rotationsbeschleunigung gemessen sowie die resultierenden Verletzungen beurteilt [z.B. Ommaya et al. 1967, Hirsch et al. 1968, Gennarelli et al. 1972]. Es hat sich gezeigt, dass die Winkelbeschleunigung und die damit verbundenen Verletzungstoleranzen
Mechanisches Verhalten des Kopfes
83
von der Masse des Gehirns abhängen. Daher wurde die Belastungsgrenze für den Menschen durch Extrapolation der Ergebnisse aus den Versuchen mit Primaten bestimmt (Abb. 3.8). Tabelle 3.4 gibt einen Überblick über häufig verwendete Toleranzwerte. Zusätzliche Arbeiten mit Freiwilligen deuten jedoch darauf hin, dass bei kurzen Wirkungsdauern auch deutlich höhere Toleranzwerte bis zu 25000 rad/s2 möglich sind [Tarriere 1987]. In diesem Abschnitt wurden verschiedene experimentelle Studien vorgestellt, die zum Ziel hatten, das Risiko von Kopfverletzungen aus einem speziellen Parameter, der translatorischen bzw. rotatorischen Beschleunigung, abzuleiten. Eine umfassende Beschreibung dieser Versuche findet sich beispielsweise in Goldsmith (2005). In der überwältigenden Mehrheit von Kopfbelastungen ist zu erwarten, dass sowohl translatorische und rotatorische Beschleunigungen auftreten und daher in ihrer Kombination zu Gehirnverletzungen führen. Dementsprechend muss eine umfassende Voraussage des Risikos von Kopfverletzungen die Reaktion des Gehirns unter allen möglichen Kombinationen von mechanischen Belastungen berücksichtigen. Die Entwicklung komplexer mathematischer Modelle des Kopfes (z.B. mittels der FE-Methode) zielt in diese Richtung. In Verbindung mit Untersuchungen zum biomechanischen Verhalten des lebenden Menschen, scheint es möglich, dass solche Modelle substantielle Beiträge zum heutigen Verständnis der Entstehung von Kopfverletzungen und den entsprechenden Verletzungstoleranzen leisten können.
Abb. 3.8 Aus Experimenten bestimmte Toleranzwerte bezüglich Rotationsbeschleunigung, die dann auf den Menschen skaliert wurden [nach Krabbel 1997].
84
Kopfverletzungen
Tabelle 3.4 Grenzwerte für Winkelbeschleunigungen und -geschwindigkeiten des Gehirns. Grenzwert
Art der Gehirnverletzung
Referenz
50% Wahrscheinlichkeit:
Gehirnerschütterung
Ommaya et al. (1967)
·· α = 4500 rad/s2 und/oder · α = 70 rad/s
Ruptur von Brückenvenen
Löwenhielm (1975)
2000 rad/s2 < α·· < 3000 rad/s2
Scherung an der Gehirnoberfläche
Advani et al. (1982)
(allgemein)
Ommaya (1984)
·· α = 1800 rad/s2 für t > 20ms · α = 30 rad/s für t ≤ 20ms
· α < 30 rad/s: AIS 5: α·· = 4500 rad/s2 · α > 30 rad/s: AIS 2: α·· = 1700 rad/s2
AIS 3: α·· = 3000 rad/s2 AIS 4: α·· = 3900 rad/s2 AIS 5: α·· = 4500 rad/s2
3.4
Verletzungskriterien für Kopfverletzungen
Obwohl in der passiven Fahrzeugsicherheit auch in den letzten Jahren, beispielsweise im Bereich der Rückhaltesysteme, grosse Fortschritte erzielt wurden, um die Häufigkeit und Schwere von Kopfverletzungen zu reduzieren, ist nach wie vor nur ein einziges Kopfverletzungskriterium weit verbreitet: das Head Injury Criterion (HIC), das vor über 30 Jahren entwickelt wurde. Neben dem HIC und seinem europäischen Äquivalent, dem Head Protection Criterion (HPC), werden das sogenannte 3 msKriterium und das “Generalised Acceleration Model for Brain Injury Threshold” (GAMBIT) vorgestellt. All diese Kriterien basieren ausschliesslich auf der Kopf-Beschleunigung. Verletzungen, die mehr durch eine Anprallkraft als durch Beschleunigung entstehen, werden daher nicht durch diese Kriterien abgedeckt. In anderen Worten: diese Kriterien sind nicht geeignet, das Verletzungsrisiko in Bezug auf Frakturen der
Verletzungskriterien für Kopfverletzungen
85
knöchernen Strukturen des Kopfes zu beurteilen. Der derzeit einzige Dummy, der in der Lage ist auf das Gesicht einwirkende Kräfte zu messen, ist der THOR Dummy (s. Kap. 2.6.1). In aktuellen Crashtest-Standards ist dieser Dummy jedoch nicht vorgeschrieben. Ansätze zur Definition verbesserter Kopfverletzungskriterien berücksichtigen die Änderung der kinetischen Energie, die der Kopf durch den Anprall erfährt (HIP, Newman et al. 2000), oder verwenden mathematische Modelle (z.B. FE-Modelle), um die erwartete Scherung des Gehirns zu bestimmen und umgehen damit die Diskussion, ob nun die translatorische oder rotatorische Beschleunigung wichtiger sei [Willinger und Baumgartner 2001, Takhounts et al. 2003, 2008]. Allerdings erfordern solche Kriterien umfangreiche Modellierungen und Berechnungen nach z.B. einem Crashtest. 3.4.1
Head Injury Criterion (HIC)
Das Kopfverletzungskriterium HIC basiert historisch gesehen auf der Arbeit von Gadd (1961), der die Wayne State Tolerance Curve (WSTC) (s. Kap. 3.3) verwendet hat, um den sogenannten “Severity Index” (SI) zu definieren. Versace (1971) schlug dann 1971 eine Version des HIC als Mass für eine durchschnittliche, mit der WSTC korrelierte Beschleunigung vor. Die aktuelle Version des HIC wurde schliesslich durch die US National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) vorgeschlagen und ist in FMVSS 208 verankert. Das HIC wird gemäss der folgenden Formel berechnet: t2 1 HIC = max --------------t –t 2 1
∫ a ( t ) dt
2,5 (t – t ) 2 1
(3.1)
t1
wobei t2 und t1 zwei beliebige Zeitpunkte während der Dauer der Beschleunigung sind. Die Beschleunigung wird als Vielfaches der Erdbeschleunigung [g] und die Zeit in Sekunden gemessen. In obiger Formel wird die resultierende Beschleunigung eingesetzt. Gemäss FMVSS 208 dürfen t2 und t1 nicht weiter als 36 ms auseinander liegen (daher HIC36 genannt). Das Maximum des HIC36 darf für den 50-perzentilen Mann einen Wert von 1000 nicht überschreiten. 1998 wurde durch die NHTSA zudem das HIC15 eingeführt, d.h. das HIC wird für ein Zeitintervall von 15 ms ausgewertet [Kleinberger et al. 1998]. Als zugehöriger Grenzwert wurde
86
Kopfverletzungen
für den 50-perzentilen Mann ein Maximum von 700 vorgeschlagen. Um den Zusammenhang zwischen dem HIC und Verletzungen des Schädels und des Gehirns zu bestimmen, wurden vorhandene Messdaten mittels statistischen Methoden ausgewertet (z.B. durch Kurvenanpassungen (Daten-Fit), Weibull Verteilungen, Maximum Likelihood Methode) [Hertz 1993]. Am besten liessen sich die Daten mittels logarithmischer Normalverteilung anpassen (Abb. 3.9). Die Wahrscheinlichkeit einer Schädelfraktur (AIS ≥ 2) wird durch folgende Gleichung beschrieben: ln ( HIC ) – μ p ( fracture ) = N ⎛ ----------------------------------⎞ ⎝ ⎠ σ
(3.2)
wobei N( ) eine kumulative Normalverteilung mit, μ = 6.96352 and σ = 0.84664, darstellt. Da die Daten, die zur Bestimmung der Risikoanalyse verwendet wurden, aus Versuchen mit sehr kurzen Belastungen von typischerweise weniger als 12 ms stammen, ist die HIC-Kurve sowohl für das HIC15, wie auch das HIC36 anwendbar. Die Wahrscheinlichkeit einer Schädelfraktur (AIS ≥ 2), die mit einem HIC15 Grenzwert von 700 für einen 50-perzentilen Mann verbunden ist, beträgt 31 %. Für einen Grenzwert von 1000 für das HIC36 (50-perzentiler Mann) liegt sie bei etwa 48 %. Grundsätzlich gelten gegenüber dem HIC auch die Vorbehalte, die gegenüber der WSTC geäussert wurden (s. Kap. 3.3). Das NichtBerücksichtigen der Rotationsbeschleunigung wird vielfach kritisiert. Ein
Abb. 3.9 Zusammenhang zwischen HIC und der Wahrscheinlichkeit einer Schädelfraktur (AIS ≥ 2) (Risikofunktion) [nach Hertz (1993)].
Verletzungskriterien für Kopfverletzungen
87
weiterer Nachteil ist das Fehlen einer Funktion, durch die der Zusammenhang zwischen einer Verletzung des menschlichen Kopfes und der in einem Crashtest-Dummy gemessenen Beschleunigung beschrieben wird. Trotzallem ist das HIC das im Automobil-Bereich am häufigsten verwendete Kopfverletzungskriterium. 3.4.2
Head Protection Criterion (HPC)
Die Bestimmung des HPC Kriteriums wird durch die Regelungen ECE R94 und R95 vorgeschrieben. Daher wird das HPC sowohl in frontalen wie in seitlichen Kollisionen zur Quantifizierung einer Kopfbelastung verwendet. Die Definition und die Berechnung des HPC sind identisch mit denjenigen des HIC36. Das dazugehörige maximale Zeitintervall beträgt entsprechend 36 ms. Der Grenzwert für frontale und seitliche Beaufschlagung beträgt 1000. In Fällen, in denen kein Kopfanprall auftritt, gilt das HPC unabhängig von den tatsächlich gemessenen Beschleunigungen als erfüllt. Sofern der Zeitpunkt des Kopfkontaktes zuverlässig bestimmt werden kann, werden für t1 und t2 (s. Gleichung 3.1) diejenigen Zeitpunkte gewählt, die das Intervall zwischen dem Beginn und Ende des Kopfkontaktes definieren. 3.4.3
3 ms Kriterium (a3ms)
Das 3 ms Kriterium basiert ebenfalls auf der WSTC. Es ist als Beschleunigung definiert, die für eine Dauer von 3 ms auf den Kopf wirkt und sollte 80 g nicht überschreiten [Got et al. 1978]. Dieses Kriterium ist auch in ECE R21 und R25, den Richtlinien, die sich auf den Anprall eines Insassen an Strukturen des Fahrzeuginnenraums bzw. den Anprall an Rückhaltesysteme beziehen, verankert. Auch die entsprechende US Vorschrift (FMVSS 201) wie auch die Richtlinie für Frontalanpralle FMVSS 208 erfordern die Einhaltung dieses Kriteriums. Des Weiteren wird eine modifizierte Version des a3ms Kriteriums bei Helm-Tests verwendet. Hier wird ein Zeitintervall von 5 ms vorgegeben, während dem die Beschleunigung 150 g nicht überschreiten darf. Details zum sogenannten a5ms Kriterium finden sich in ECE R22. 3.4.4 Generalized Acceleration Model for Brain Injury Threshold (GAMBIT)
Als ein die Translations- und Rotationsbeschleunigung verbindender
88
Kopfverletzungen
Ansatz wurde das “Generalized Acceleration Model for Brain Injury Threshold” (GAMBIT) vorgeschlagen [Newman, 1986]. Unter der Annahme, dass eine kombinierte Belastung aus translatorischer und rotatorischer Beschleunigung Kopfverletzungen verursachen kann, wurde folgende Beziehung vorgeschlagen: 1 --·· ⎞ m k n ⎛ a( t ) ϕ(t) GAMBIT = ⎛ ---------⎞ + ⎜ --------·· -⎟ ⎝ a ⎠ ⎝ ϕc ⎠ c
(3.3)
·· a(t) und ϕ ( t ) bezeichnen hierbei die translatorische bzw. rotatorische ·· Beschleunigung. ac und ϕ c sind kritische Toleranzwerte für diese Beschleunigungen und n, m und k sind Konstanten. Die Bestimmung der Konstanten erfolgt durch Anpassung an verfügbare experimentelle Daten mittels statistischen Methoden und Computersimulationen. Eine mögliche Lösung nach Kramer (1998/2006) lautet 1 ------2,5 ·· 2,5 2,5 ϕ(t) a(t) + ⎛ ----------⎞ GAMBIT = ⎛ ---------⎞ ⎝ 25 ⎠ ⎝ 250 ⎠
(3.4)
··
wobei a(t) und ϕ ( t ) in [g] bzw. [krad/s2] eingesetzt werden. Abbildung 3.10 zeigt Kurven von konstanten GAMBIT-Werten, die sich bei Verwendung von Gleichung 3.4 ergeben. Für die Kurve des GAMIT mit 1.0 wurde die dazugehörige Wahrscheinlichkeit, eine irreversible Kopfverletzung zu erleiden, mit 50 % angegeben. Kopfbelastungen ohne Kopfanprall resultierten in GAMBIT-Werten unter 0.62.
Abb. 3.10 GAMBIT Kurven für verschiedene konstante GAMBIT-Werte [nach Kramer 1998/2006].
Kopfverletzungen im Sport 89
Nimmt man an, dass die translatorischen und rotatorischen Anteile der Beschleunigung in gleichem Masse zur Verletzungswahrscheinlichkeit beitragen und nimmt man ferner an, dass die Toleranzwerte, die aus Experimenten mit reiner translatorischen Beschleunigung oder reiner Winkelbeschleunigung stammen, auch im Falle einer Kombination beider Anteile gelten, dann kann Gleichung 3.3. folgendermassen vereinfacht werden: ·· am ϕm GAMBIT = --------- + -------250 10
(3.5)
·· am [g] und ϕ m [krad/s2] beschreiben dabei die mittlere Translationsbzw. die mittlere Rotationsbeschleunigung. Zudem werden 250 g als maximal ertragbare translatorische Beschleunigung und 10 krad/s2 als Grenzwert für die Winkelbeschleunigung angenommen [Newman 1986]. Ein GAMBIT-Wert von 1.0 entspricht dann der allgemeinen Toleranzgrenze. Die Validierung des GAMBIT ist auch heute noch ausstehend, so dass dieses Kriterium kaum verwendet wird und bisher auch in keine Richtlinie integriert wurde.
3.5
Kopfverletzungen im Sport
Die Häufigkeit von Kopfverletzungen hängt stark von der Sportart ab. Eine Auswertung unter den Mannschaftssportarten der Olympischen Spiele 2004 zeigte, dass 24 % aller gemeldeten Verletzungen Kopfverletzungen waren [Junge et al. 2006]. Leichte Gehirnerschütterungen wurden am häufigsten erlitten (11 %) gefolgt von Lazerationen (4 %), Frakturen (2 %) und Kontusionen (Prellungen) (2 %). Im Handball wurden 42 % der Kopfverletzungen registriert, im Fussball 20 %, in Basketball und Hockey je 13 %. Für andere Sportarten wurden Verletzungshäufigkeiten in ähnlicher Grössenordnung berichtet: Skifahren/Snowboarden 3-15 % [z.B. Hunter 1999, Levy et al. 2002], Eishockey 4-18 % [McIntosh et al. 2005], Baseball 11 % für reine Kopfverletzungen (28 % für Gesichtsverletzungen) [Yen et al. 2000], Reitsport 19 %, Boxen 16 % für Gehirnerschütterungen [Zarzyn et al. 2003]. Die häufigste Ursache für Kopfverletzungen im Sport ist ein direkter Kopfanprall (bzw. ein Anprall an den Helm), z.B. im Zuge einer Kollision, dem Kontakt mit einem Gegenspieler oder einem Sturz. Wenngleich Gehirnerschütterungen im Sport oftmals als leicht oder mild klassifiziert werden, sind sie jedoch vor allem im Profi-Sport ein ernsthaftes Problem. Wiederholt erlittene Gehirnerschütterungen können
90
Kopfverletzungen
zur Degeneration von Hirngewebe führen. Daher ist sicherzustellen, dass Spieler, die nach erlittener (milder) Gehirnerschütterung wieder in den Sport zurückkehren, vollständig genesen sind (s. auch Kap. 9). Die milde traumatische Gehirnverletzung (“mild traumatic brain injury” MTBI) beschreibt einen komplexen patho-physiologischen Prozess nach einer mechanischen Belastung des Gehirns. Die typische MTBI ist durch verschiedene klinische Symptome gekennzeichnet, wie diese üblicherweise auch bei milden diffusen Gehirnverletzungen (Kap. 3.2) auftreten können. Diese Symptome, die auch kurzzeitige neurologische Beeinträchtigungen beinhalten können, bilden sich in der Regel nach einigen Tagen zurück. Trotzdem ist die MTBI als eine Verletzung des Gehirns zu betrachten, die eine entsprechende Behandlung und Überwachung benötigt. Dies gilt vor allem, da angenommen wird, dass wiederholte MTBIs zu chronischen, degenerativen Schädigungen des Gehirns führen können [z.B. Bailes und Cantu 2001, Biasca et al. 2006a, b, Delaney et al. 2006]. Es wird daher empfohlen jede MTBI entsprechend zu dokumentieren. In der Literatur finden sich verschiedene Studien, die Kopfbelastungen und mögliche Verletzungskriterien und -grenzwerte bezüglich Gehirnerschütterungen bzw. MTBI untersucht haben. Die verwendeten Methoden zur Bestimmung der Kopfbelastung reichen von Videoanalysen über die Verwendung von Crashtest-Dummys zu Messungen der Belastung mit Hilfe von instrumentierten Helmen und Computersimulationen. Tabelle 3.5 fasst einige dieser Studien zusammen. Wie man sieht variieren die Ergebnisse signifikant, was die Schwierigkeit geeignete Verletzungsgrenzwerte zu definieren, verdeutlicht. Eine Toleranzgrenze von 200 g für translatorische Beschleunigung und 4500 rad/s2 für Rotationsbeschleunigung wurde von Ommaya (1984, siehe auch Kap. 3.3) vorgeschlagen. Pellman et al. (2003) analysierten Kopfanpralle in der US National Football League NFL und schlugen als Grenzwert für Gehirnerschütterungen einen HIC-Wert von 250 vor. King et al. (2003) assoziierten ein HIC von 235, eine lineare Beschleunigung von 79 g und eine Winkelbeschleunigung 5757 rad/s2 mit einem 50 %igen Risiko eine MTBI zu erleiden. Ein HIC von 333, eine lineare Beschleunigung von 98 g und eine rotatorische Beschleunigung von 7130 rad/s2 korrespondierten mit einem 75 %igen MTBI-Risiko. Unter Verwendung eines FE-Modells des Kopfes untersuchten Zhang et al. (2004) Verletzungstoleranzen des Gehirns. Die Interpretation der Ergebnisse lässt den Schluss zu, dass Scherbeanspruchungen im Bereich des Hirnstamms als Indikator für das Verletzungsrisiko bezüglich Gehirnerschütterungen geeignet sind. Eine Scherspannung von 7.8 kPa wurde als Toleranzwert für ein 50 %iges Risiko eine MTBI zu erleiden, bestimmt. Zudem zeigte das
trans. Beschl. [g]
< 85
98 ± 28
60.5 - 168.7
81
32 ± 25
Sportart
Am. Football (Profi-Liga)
Am. Football (Profi-Liga)
Am. Football (CollegeLiga)
Am. Football (CollegeLiga)
Am. Football (CollegeLiga)
2020 ± 2042 y-Achse
-
-
6432 ± 1813
< 6000
rot. Beschl. [rad/s2]
26 ± 64
200
-
381 ± 197
240 (HIC15)
HIC [-]
-
-
-
7.2 ± 1.8
-
delta-v [m/s]
Durchschnitt aus 3311 Fällen, Helm mit integrierten Beschl.sensoren Duma et al. 2005
Gehirnerschütterung (ein Fall), Helm mit integrierten Beschl.sensoren Duma et al. 2005
Gehirnerschütterung, Helm mit integrierten Beschl.-sensoren Guskiewicz et al. 2007
Gehirnerschütterung, VideoAnalyse/Rekonstruktion mit Hybrid III Dummy Pellman et al. 2003 and Viano et al. 2007
Grenzwert für reversible Hirnverl., Computersimulation Zhang et al. 2004
Kommentar/Referenz
Tabelle 3.5 Daten zum Verletzungsrisiko bezüglich Gehirnerschütterung/MTBI. (Abkürzungen: Am.Football = American Football, Beschl. = Beschleunigung, trans.= translatorisch, rot. = rotatorisch).
Kopfverletzungen im Sport 91
Modell, dass der intrakranielle Druck als allgemeiner Indikator für Kopfverletzungen dienen könnte. Dabei wurde der intrakranielle Druck stärker durch eine translatorische Beschleunigung beeinflusst, während eine Scherbeanspruchung im Zentrum des Gehirns stärker mit einer
rot. Beschl. [rad/s2]
4235 ± 1716
-
-
6343 ± 1789
<675.9
9306 ± 4485
trans. Beschl. [g]
60 ± 23
21-23
29.2 ± 1.0 35.0 ± 1.7 54.7 ± 4.1
58 ± 13
<43.6
71.2 ± 32.2
Sportart
Am. Football (Profi-Liga)
Am. Football (CollegeLiga)
Am. Football Hockey Fussball
Boxen
Boxen
Boxen (Kinnhaken) -
-
71 ± 49
22.5 ± 3.6 13.5 ± 1.8 48.5 ± 7.0
-
121 ± 64
HIC [-]
-
-
-
-
-
5.0 ± 1.1
delta-v [m/s]
nicht verletzungsinduzierend, Schläge auf Kopf eines Hybrid III Dummys Viano et al. 2005
keine MTBI, Werte für verschiedene Schläge Smith et al. 1988
Schläge auf Kopf eines Hybrid III Dummys Walilko et al. 2005
keine Gehirnerschütterungen, Beschl.-sensor am Helm Naunheim et al. 2000
keine Gehirnerschütterung, Helm mit integrierten Beschl.-sensoren Mihalik et al. 2007
keine Verletzung, Daten aus VideoAnalyse/Rekonstruktion mit Hybrid III Dummys Pellman et al. 2003
Kommentar/Referenz
Tabelle 3.5 Fortsetzung Daten zum Verletzungsrisiko bezüglich Gehirnerschütterung/MTBI.
92 Kopfverletzungen
Rotationsbeschleunigung zusammenhing. Zusammenfassend ist jedoch festzuhalten, dass die verschiedenen Anstrengungen zur Definition eines Verletzungskriteriums für Gehirnerschütterungen derzeit noch nicht ganz schlüssig sind. Da
Kopfverletzungen im Sport 93
Kopfanpralle unterschiedlicher Intensität und an unterschiedlichen Stellen zu Gehirnerschütterungen führen können und auch zusätzliche Faktoren, wie die Anzahl unterkritischer Belastungen oder die Anzahl früher erlittener Gehirnerschütterungen eine Rolle spielen können, erscheint es grundsätzlich schwierig, allgemein gültige Verletzungsgrenzwerte zu definieren. Zudem ist eine Kopplung von Kopfund Halswirbelsäulenverletzungen zu berücksichtigen. Einerseits kann ein Kopfanprall auch ein gewisses Risiko für eine Halswirbelsäulenverletzung in sich bergen, andererseits können Eigenschaften der Halswirbelsäule (z.B. deren muskuläre Ausbildung) Messungen, beispielsweise des HIC, beeinflussen. Eine solche Kopplung könnte teilweise erklären, warum für professionelle Athleten, jugendliche Sportler, Frauen oder Kinder unterschiedliche Verletzungsrisiken bezüglich Gehirnerschütterungen beobachtet werden [Viano et al. 2007]. Bezüglich dem Boxen (bei dem Verletzungen des Gesichts und insbesondere der Augen die häufigsten Verletzungen sind) wurden einige Studien durchgeführt, in denen die durch einen Schlag auf den Kopf übertragenen Belastungen bestimmt wurden. Es wurden maximale Schlagkräfte von 1666 N bis 6860 N angegeben, wobei die Zahlen stark vom Körpergewicht des Boxers abhängen [Walilko 2005]. Für einen Boxer der Schwergewichtsklasse haben Atha et al. (1985) Experimente mit einem ballistischen Pendel durchgeführt. Der Boxer musste Schläge auf einen 7 kg schweren Metallzylinder ausführen. Dabei erzielte dessen Faust Geschwindigkeiten bis zu 8.9 m/s bei einer maximalen resultierenden Schlagkraft von 4096 N. Die maximale Beschleunigung des Pendels betrug durch den Schlag 53 g. Smith et al. (2000) beschreiben maximale Kräfte von 4800 N für leistungsstarke Boxer, 3722 N für Boxer mittleren Niveaus und 2381 N für Anfänger. Mittels eines instrumentierten Kopfes wurden je nach Art des Schlages translatorische Beschleunigungen bis 43.6 g und Rotationsbeschleunigungen bis 675.9 rad/s2 gemessen [Smith et al., 1988]. Da diese Werte unterhalb den von Ommaya vorgeschlagenen Grenzwerten liegen (200 g, 4500 rad/s2), wurde geschlossen, dass wiederholte, unterkritische Schläge zu einer MTBI führen. Walilko et al. (2005) führten Versuche durch, bei denen für die Olympiade qualifizierte Boxer Schläge auf einen instrumentierten Hybrid III Dummy ausführten. Die durchschnittliche Schlagkraft betrug 3427 ± 811 N, die Geschwindigkeit der Hand erreichte 9.14 ± 2.06 m/s, die effektive (Schlag-) Masse lag bei 2.9 ± 2 kg und die am Hals gemessene Scherkraft betrug 994 ± 318 N. Für Boxer der Schwergewichtsklasse war die effektive Masse des Schlags, und damit auch die resultierende Kraft, grösser. Aus den Ergebnissen wurde geschlossen, dass das Risiko einer
94
Kopfverletzungen
Gehirnverletzung bei geraden Schlägen, bei denen “nur” eine translatorische Beschleunigung auftritt, gering ist (kleiner 2 %). Die hohen gemessenen Winkelbeschleunigungen (über 4500 rad/s2) deuten jedoch auf ein Verletzungsrisiko durch Kopfrotation hin. Für schwere Gehirnverletzungen, wie die diffuse Verletzung der Nervenzellfortsätzen (Axone) in der weissen Hirnsubstanz (DAI, s. Kap. 3.2), bestimmten Margulies und Thibault (1992) einen Grenzwert der Kopfrotation von 9000 rad/s2. Dieser Wert liegt etwas tiefer als die von Ommaya et al. (2002) vorgeschlagenen Werte von 12500 rad/s2 für eine milde DAI, 15500 rad/s2 für eine moderate DAI und 18000 rad/s2 für eine schwere DAI. Nach Vergleichen zwischen Belastungen, die Freiwillige in einem Boxkampf erlitten haben, und den genannten Grenzwerten kamen Smith und Meany (2002) zum Schluss, dass es unwahrscheinlich ist, durch Boxen eine DAI zu erleiden. Allgemein ist festzuhalten, dass im Sport der Rotationsbeschleunigung im Zusammenhang mit Verletzungsmechanismen diffuser Gehirnverletzungen eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Sie erfährt daher erhebliche Beachtung. Auch Kopfbälle (z.B. im Fussball) werden in dieser Hinsicht immer wieder kontrovers diskutiert [z.B. Kirkendall et al. 2001]. Es wird argumentiert, dass die translatorische Komponente der Beschleunigung bei Kopfbällen weniger verletzungsinduzierend ist und ihr daher leichter widerstanden werden kann (beispielsweise durch eine entsprechend starke Nackenmuskulatur). Im Gegensatz dazu wird die rotatorische Beschleunigung mit einem höheren Verletzungsrisiko in Verbindung gebracht und sollte daher vermieden werden, z.B. durch gute Technik. Um das Risiko einer Gehirnerschütterung beim Kopfball zu reduzieren werden von verschiedenen Sportverbänden unterschiedliche Massnahmen propagiert. Diese reichen von Vorschlägen für ein geeignetes Training, durch das man eine Kopfrotation verhindern soll, über die Verwendung kleinerer und leichterer Bälle für Jugendliche bis zu einem Verbot von Kopfbällen für junge Spieler. Vom biomechanischen Standpunkt aus gesehen, erscheint es jedoch als unwahrscheinlich, dass im Sport entweder isoliert lineare oder isoliert rotatorische Beschleunigungen auftreten. Yang (2007) analysierte zum Beispiel Daten aus Spielen der NFL und fand einen fast linearen Zusammenhang zwischen Translations- und Rotationsbeschleunigung. Daher sind bei Untersuchungen zum Verletzungsmechanismus von Kopfverletzungen im Sport immer beide Komponenten zu berücksichtigen.
Prävention von Kopfverletzungen
3.6
95
Prävention von Kopfverletzungen
Um den Kopf vor Verletzungen zu schützen wurden verschiedenen Ansätze vorgeschlagen, die im Grunde genommen jedoch alle auf Polsterung (Padding), Kraftverteilung oder dem Verhindern eines Kopfanpralls hinauslaufen [z.B. Newman 2002]. Wie oben beschrieben sind die auf den Kopf übertragene Kraft und Beschleunigung (sowohl translatorisch wie rotatorisch) die relevanten physikalischen Parameter, die die Belastung des Kopfes bestimmen. Die meisten Schutzvorrichtungen zielen primär auf eine Reduktion der Translationsbeschleunigung durch Reduktion der beim Anprall auf den Kopf wirkenden Kräfte ab. Oftmals führt dies auch zu einer Reduktion der Rotationsbeschleunigung, da diese durch exzentrische, nicht im Kopfschwerpunkt angreifende Kräfte generiert werden. Die Verwendung von deformierbarem Material als Polsterung stellt eine Möglichkeit dar, Kräfte zu dämpfen, die den Kopf verletzen könnten. Die Steifigkeit des gewählten Materials sowie der vorhandene Deformationsweg definieren die maximale Kraft (und damit auch die Beschleunigung), die am Kopf zu erwarten ist. Die Energie absorbierenden Eigenschaften des Materials sind hingegen der entscheidende Faktor bezüglich der Einwirkdauer des Beschleunigungspulses. Energieabsorption kann durch Verformung oder Zerstörung des Materials (wie z.B. bei der Polsterung von Helmen) erreicht werden. Falls ein Kopf auf ein Objekt prallt, das sich verformt und dadurch ein Abbremsen des Kopfes über eine grössere Distanz erlaubt, werden die wirkenden Kräfte kleiner. Dementsprechend werden die Beschleunigungen kleiner und auch daraus abgeleitete Verletzungskriterien wie das HIC werden günstigere Werte liefern. Das Ausmass der Energieabsorption hängt stark von den Materialeigenschaften, der Materialdicke und der Form des Paddings ab (s. auch Kap. 3.6.1). Um den Kopf mittels einer Polsterung effektiv schützen zu können, muss daher ein Kompromiss zwischen den folgenden Anforderungen gefunden werden: maximal mögliche (bzw. zweckmässige) Dicke der Polsterung, maximale Fläche des Paddings, einheitliche Druckfestigkeit des Paddingmaterials und Gewicht. Die ersten beiden Anforderungen betreffen die Energie absorbierenden Eigenschaften, während die beim Anprall auftretende Kraft durch die dritte Anforderung kontrolliert wird. Die Dauer des Beschleunigungspulses schliesslich wird durch die Elastizität des Materials bestimmt. Aus praktischen Überlegungen sind die Möglichkeiten dieser Parameter jedoch eingeschränkt.
96
Kopfverletzungen
Grundsätzlich gelten für das Padding in einem Fahrzeuginnenraum oder einem Helm die gleichen Prinzipien, es sind zusätzlich aber Anforderungen z.B. bezüglich Komfort oder Belüftung zu berücksichtigen. Des Weiteren ist das Gewicht des Helms durch eine geeignete Auswahl des Paddingmaterials zu optimieren. Entsprechende Richtlinien und Vorschriften definieren je nach Art des Helms — sei es ein Motorradhelm oder ein Sporthelm — die verschiedenen Anforderungen. In Ergänzung zu den erwähnten Energie absorbierenden Elementen sind alle modernen Fahrzeuge mit Rückhaltesystemen, wie Sicherheitsgurten und Airbagsystemen ausgestattet, die ebenfalls der Prävention von Kopfverletzungen dienen. Der Sicherheitsgurt (eher ein 3-Punkt-Gurt als ein Beckengurt) soll durch ein Zurückhalten des Insassen einen Kopfanprall verhindern. Bei Frontalkollisionen reduziert der Sicherheitsgurt das Risiko eines Kopfanpralls an Strukturen des Fahrzeuginnenraums, wie beispielsweise der Lenksäule, der A-Säule oder des Armaturenbretts, sehr effektiv. Zudem tragen Airbags zu einer weiteren Reduktion von Kopfverletzungen, insbesondere schweren Gehirnverletzungen bei [Melvin und Mertz 2002]. Durch eine Verteilung der auf den Insassen wirkenden Kräfte auf eine grössere Fläche am Körper (einschliesslich Kopf) können hohe, konzentrierte Krafteinleitungen reduziert werden. Zudem erlaubt der Airbag ein kontrolliertes Abbremsen des Insassen innerhalb der Fahrgastzelle und reduziert gleichzeitig Relativbewegungen zwischen einzelnen Körperregionen. In speziellen Situationen können Airbags jedoch auch zu einer zusätzlichen Belastung des Insassen führen (s. Kap. 5). 3.6.1
Prävention von Kopfverletzungen bei Fussgängern
Kopfverletzungen sind die häufigste Todesursache bei Fussgängern, die von einem Fahrzeug angefahren werden. Um diese Verletzungen infolge Kopfanprall an die Fahrzeugfront zu verhindern bzw. um die Verletzungsfolgen zu reduzieren, müssen die Verformungseigenschaften der Motorhaube und der Kotflügel angepasst werden. Mit der Einführung von europäischen Testvorschriften zur Homologation neuer Fahrzeuge, wurde die Implementierung nachgiebiger Motorhauben und Kotflügel ein wichtiger Aspekt in der Fahrzeugentwicklung. Kritische Punkte sind der steife Rahmen der Motorhaube sowie die Strukturen zur Versteifung derselben. Vor allem die auf der Unterseite der Motorhaube liegenden Verstärkungen sind hinsichtlich Kopfanprall eines Fussgängers relevant. Falls der Kopf eines Fussgängers auf eine dieser
Prävention von Kopfverletzungen
97
steifen Strukturen prallt, ist mit einer hohen Kopfbeschleunigung zu rechnen. Weniger starke Versteifungen sind diesbezüglich vorteilhaft [Kessler et al. 1988]. Ein vom konventionellen Rahmen-undStreben-Design abweichender Ansatz wurde von Mazda (2003) vorgestellt. Diese Motorhaube verwendet eine Konstruktion aus kegelförmigen Strukturen, die den Abb. 3.11 Design einer Energie Anprall eines Fussgängers dämpfen absorbierenden Motorhaube [Mazda (Abb. 3.11). 2003]. Die Eigenschaften des Materials der Motorhaube beeinflussen deren Deformationsverhalten natürlich ebenfalls beträchtlich. Im Allgemeinen ist der Abstand unterhalb der Motorhaube das Mass, das die maximale Verformung vorgibt. Abgesehen von einer geänderten Bauweise der Motorhaube selbst, wurden Systeme entwickelt, die die Motorhaube leicht anheben können (auch "pop-up" Motorhauben genannt, Abb. 3.12). Durch Anheben des hinteren Teils der Motorhaube wird zusätzlicher Raum unterhalb der Motorhaube gewonnen, der dann zur Deformation und
Abb. 3.12 Bereits 1983 wurde durch die AGU Zürich eine sich öffnende Motorhaube entwickelt und deren Wirksamkeit gezeigt (obere Reihe). Das Bild unten rechts zeigt eine Variante, wie sie in heutigen Fahrzeugen eingebaut wird [Autoliv 2003].
98
Kopfverletzungen
Abb. 3.13 Airbags zur Prävention von Verletzungen bei Fussgängerkollisionen. Die obere Reihe zeigt MotorhaubenAirbags ohne (links) und mit anhebender Motorhaube (rechts). Das Bild unten rechts zeigt eine Version mit zusätzlichem Airbag zur Abdeckung der vorderen Motorhaubenkante [Ford 2003, Autoliv 2003, Mazda 2003].
Energieabsorption zur Verfügung steht. Je nach Sensor und Auslöseeinheit können solche Systeme aktiviert werden, wenn ein Fussgängeranprall wahrscheinlich ist oder wenn er tatsächlich erfolgt. Airbags im Bereich des vorderen Stossfängers bzw. der Motorhaubenkante oder unterhalb der Frontscheibe stellen eine weitere Möglichkeit der Verletzungsprävention dar und können ergänzend zur aufstellbaren Motorhaube verwendet werden. Die Airbags im vorderen Bereich können durch einen Sensor, der z.B. im Kühlergrill integriert sein kann und der eine unausweichliche Fussgänger-Fahrzeug-Kollision detektiert, gezündet werden. Die Airbags unterhalb der Frontscheibe können durch einen Sensor an der Fahrzeugfront ausgelöst werden (Abb. 3.13). Grundsätzlich ist es wichtig, die Kinematik des Fussgängers nach dem primären Anprall am Fahrzeug im Hinblick auf einen Sekundäranprall auf der Strasse zu betrachten (Abb. 3.14). Andernfalls ist es durchaus vorstellbar, dass ein optimiertes Fahrzeugdesign zum Schutz vor Verletzungen durch den Primäranprall, das Verletzungsrisiko beim Sekundäranprall erhöht, was natürlich ausserordentlich kontraproduktiv wäre.
Zusammenfassung
99
Abb. 3.14 Mehrkörper-Computersimulation einer Fussgängerkollision. Die Kinematik (Flugbahn) des Fussgängers ändert sich erheblich bei höherer Kollisionsgeschwindigkeit (oben: 30 km/h, unten: 40 km/h). Dies verdeutlicht, dass auch der Sekundäranprall auf der Strasse berücksichtigt werden muss [AGU 2003].
3.7
Zusammenfassung
Gehirnerschütterungen und MTBI sind im Sportbereich von grosser Relevanz. Obschon das Verletzungsrisiko in verschiedenen Studien untersucht wurde, ist die Definition eines allgemeinen Verletzungsgrenzwertes schwierig, da verschiedene Parameter das Risiko beeinflussen können (z.B. mehrere unterkritische Belastungen). Im Automobil-Bereich werden hingegen verschiedene Verletzungskriterien angewendet. Die Wayne State Tolerance Curve ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Bezugsgrösse und stellt die Basis für verschiedene Kopfverletzungskriterien dar. Das HIC ist das derzeit am weitesten verbreitete Kriterium, obwohl kritisiert wird, dass es ausschliesslich auf der translatorischen Beschleunigung beruht.
3.8
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4 Verletzungen der Wirbelsäule
Verletzungen der Wirbelsäule und insbesondere des Rückenmarks können zu lang andauernden Beeinträchtigungen bis hin zu Querschnittslähmungen oder Tetraplegien führen. Die Halswirbelsäule ist das Segment der Wirbelsäule, das am häufigsten verletzt wird. Da Hals und Kopf eine funktionelle Einheit bilden, schliessen Belastungen des Kopfes oftmals auch eine Belastung des Halses ein. Im Strassenverkehr werden schwere Halswirbelsäulenverletzungen beispielsweise bei Unfällen mit nicht angegurteten Fahrzeuginsassen (Kopfanprall) oder bei Motorradunfällen (mit und ohne Helm) beobachtet. Die überwiegende Mehrheit der Halswirbelsäulenverletzungen gehört jedoch zur Gruppe der leichten Weichteilverletzungen, die üblicherweise als AIS1 klassifiziert werden und die oftmals kein morphologisches Korrelat aufweisen, d.h. morphologische Veränderungen sind mit derzeitigen Diagnosemöglichkeiten nicht festzustellen. Wenngleich diese Verletzungen nicht mit einer offensichtlich strukturellen Verletzung der Halswirbelsäule oder des zentralen Nervensystems verbunden sind, treten sie doch häufig auf und können den Einzelnen stark beeinträchtigen. Tatsächlich sind diese Verletzungen die am häufigsten im Strassenverkehr erlittenen Verletzungen und daher von besonderer Bedeutung. Die mit diesen Verletzungen assoziierten gesellschaftlichen Kosten werden in Europa auf 5 bis 10 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Obwohl die meisten Betroffenen in kurzer Zeit vollständig genesen, können sich in einzelnen Fällen langwierige medizinische Probleme entwickeln, so dass diese Weichteilverletzungen zu den häufigsten Ursachen für medizinisch bedingte Behinderungen von Fahrzeuginsassen zu zählen sind [Bylund et al. 1998]. Hieraus können sich lange Arbeitsausfälle und entsprechende Rentenansprüche ergeben. Die sozioökonomische Bedeutung dieser Verletzungen ist daher gewaltig. Ein besseres Verständnis der in diesem Zusammenhang relevanten Parameter bezüglich Fahrzeug, Kollision und Insassen ist erforderlich, um geeignete Massnahmen zur Prävention zu entwickeln. K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
106
Verletzungen der Wirbelsäule
Der Verletzungsmechanismus der zu leichten Verletzungen der Halswirbelsäulen-Weichteile führt, ist heute noch nicht vollständig bekannt. Auch medizinische Aspekte zu Diagnose und Therapie werden nach wie vor diskutiert und können noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden [z.B. Murer et al. 2002]. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass man in der Literatur verschiedene Begriffe findet, um diese HalswirbelsäulenBeschwerden zu beschreiben. “Schleudertrauma” ist wahrscheinlich der am häufigsten verwendete Begriff; in den Anfängen der Beschreibung und Erforschung dieser Beschwerden war auch der Begriff “Peitschenschlagverletzung” gebräuchlich. Beide Begriffe sind missverständlich und falsch, da sie bereits einen Verletzungsmechanismus implizieren (nämlich eine nach vorne und hinten gerichtete Bewegung wie sie bei einem Peitschenknall beobachtet wird bzw. ein wie auch immer gerichtetes “Schleudern”), obwohl der zugrunde liegende Mechanismus bisher noch nicht vollständig geklärt werden konnte (s. Kap. 4.2). Auch im Englischen werden verschiedene Begriffe verwendet: “soft tissue neck injuries”, “cervical spine disorders (CSD)”, “whiplash injuries” oder “whiplash associated disorders (WAD)”. Grundsätzlich ist zu diskutieren, ob der Begriff einer Verletzung hier überhaupt haltbar ist, da eine Verletzung automatisch das Vorhandensein morphologischer Veränderungen impliziert. Man müsste hier zwischen “Verletzungen” und “Nackenschmerzen”, “Beschwerden” oder “Symptomen” differenzieren; in der Praxis werden diese Begriffe jedoch fälschlicherweise oftmals als Synonyme verwendet. Eine zunehmende öffentliche Wahrnehmung solcher HalswirbelsäulenBeschwerden sowie eine erhebliche Aufmerksamkeit durch die Medien haben zu verstärkten Anstrengungen bei der Entwicklung von Präventionsmöglichkeiten beigetragen. In Kapitel 4.6 werden verschiedene Schutzsysteme vorgestellt. Andere Aspekte von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule wie Epidemiologie, medizinische Diagnose und Therapie oder die ökonomische Bewertung werden hier nicht detailliert behandelt. Hierzu wird auf die Literatur verwiesen [z.B. Ferrari 1999, Yoganandan und Pintar 2000, McElhaney et al. 2002].
4.1
Anatomie der Wirbelsäule
Die menschliche Wirbelsäule ist die lasttragende Struktur für Kopf und Torso (Abb. 4.1). Sie setzt sich aus 7 Hals-, 12 Brust- und 5 Lendenwirbeln
Anatomie der Wirbelsäule
107
Abb. 4.1 Die menschliche Wirbelsäule Abb. 4.2 Die verschiedenen Teile eines [nach Sobotta 1997]. Wirbelkörpers [nach Sobotta 1997].
Abb. 4.3 Wichtige Ligamente und ihre Angriffspunkte am Wirbelkörper [nach Sobotta 1997].
zusammen. Die Wirbel der Halswirbelsäule (HWS) werden von C1 bis C7 numeriert, wobei C1 der oberste, über die okzipitalen Kondylen an den Kopf gekoppelte Wirbel ist. T1 bis T12 beschreiben die Brustwirbel und L1 bis L5 die Lendenwirbel. Die Wirbelsäule schliesst mit dem Kreuzbein (Sakrum) und dem Steissbein (Coccyx) ab, die anatomisch bereits als Teile des Beckens betrachtet werden. Die Grösse der einzelnen Wirbelkörper
108
Verletzungen der Wirbelsäule
Abb. 4.4 Der Spinalkanal mit Weichteilen [nach Sobotta 1997].
Abb. 4.5 Halswirbelkörper C1 (Altas, links) und C2 (Dens axis, rechts) [nach Sobotta 1997].
nimmt vom Kopf bis zum Steiss, d.h. von kranial nach kaudal, zu. Nebeneinander liegende Wirbelkörper werden durch Zwischenwirbelscheiben (auch Bandscheiben genannt) von einander getrennt. Eine seitliche Ansicht der gesamten Wirbelsäule zeigt deren typische, gekrümmte Form: Lordose im Hals- und Lendenbereich, Kyphose im Brustbereich (Abb. 4.1). Von vorne betrachtet ist die Wirbelsäule gerade. Im Allgemeinen besteht jeder Wirbel aus einem zylinderförmigen Wirbelkörper, einem Wirbelbogen, dem Dornfortsatz (Processus spinosus) und den beiden Querfortsätzen (Processus transversi) (Abb. 4.2). Die seitlichen und hinteren Fortsätze dienen als Angriffspunkte für Muskeln und Ligamente, die für Stabilität sorgen und die Bewegungen des Halses und des Kopfes ermöglichen. Drei Ligamente verlaufen über die gesamte Länge der Wirbelsäule: das vordere und das hintere Längsband (Lig. longitudinale anterior bzw. posterior), welche die vorderen bzw. hinteren Teile der Wirbelkörper verbinden, und das Supraspinalband (Lig. supraspinale), welches entlang der Spitzen der Dornfortsätze verläuft (Abb.
Anatomie der Wirbelsäule
109
4.3). In neutraler Position stehen die Ligamente der Wirbelsäule im Allgemeinen unter leichter Zugspannung. Bezüglich der Muskulatur unterscheidet man oberflächliche, mittlere und tiefe Muskeln. Die Muskeln sind bezüglich der Sagittalebene symmetrisch aufgebaut, d.h. alle Muskeln kommen in Paaren vor. Die tiefe Muskulatur besteht verstärkt aus kurzen Muskeln, die mit den Wirbelkörpern verbunden sind. Die mittleren Muskeln hingegen verlaufen über längere Distanzen und verbinden beispielsweise den Hals mit dem Thorax und dem Kopf. Die oberflächlichen Muskeln sind nicht direkt mit der Wirbelsäule verbunden. Die Wirbellöcher (Foramina vertebralia) aller Wirbel bilden den Wirbelkanal, in dem das Rückenmark verläuft (Abb. 4.4). Der Kanal ist, wie das Gehirn, mit Hirnhäuten ausgekleidet und wird von cerebrospinaler Flüssigkeit (CSF) umspült. Des Weiteren befinden sich auch Blutgefässe, insbesondere Venen, im Spinalkanal. Die beiden oberen Halswirbel C1 und C2 unterscheiden sich in ihrer Form von den übrigen Wirbeln. C1, auch Atlas genannt, besteht nur aus einem knöchernen Ring mit grossen knorpeligen Gelenkflächen. Gemeinsam mit dem zweiten Halswirbel, der auf seiner oberen Seite einen Zapfen (Dens axis) aufweist, bilden sie das atlanto-axiale Gelenk. Zwischen diesen beiden Wirbeln gibt es keine Zwischenwirbelscheibe (Abb. 4.5). Man unterscheidet vier grundlegende, physiologische Bewegungen des Halses: Flexion (Vorwärtsneigung), Extension (Rückwärtsneigung), laterale Biegung (Seitneigung) und (axiale) Rotation (Abb. 4.6). Ferner können verschiedene Kombinationen dieser Grundbewegungen ausgeführt werden. Zur Ausführung dieser Bewegungen sind verschiedene Gelenke notwendig. Neben dem atlanto-axialen Gelenk, das die Drehung des Kopfes ermöglicht, können intervertebrale Gelenke (Kompressions- und Scher-) Kräfte und Momente übertragen. Dazu tragen sowohl die Bandscheiben mit
Abb. 4.6 Die vier Grundbewegungen von Kopf und Hals [nach Sances et al. 1984].
110
Verletzungen der Wirbelsäule
Tabelle 4.1 Beispiele für Wirbelsäulen-Verletzungen gemäss AIS [AAAM 2005]. AIS Code
Beschreibung
1
Haut, Muskeln: Schürfungen, Kontusionen (Hämatome), kleine Lazeration
2
vertebrale Arterien: kleine Lazeration Hals-/Brustwirbelsäule: Dislokation ohne Fraktur Brust-/Lendenwirbelsäule: Diskushernie
3
vertebrale Arterien: erhebliche Lazeration Hals-/Brustwirbelsäule: multiple Lazerationen der Nervenwurzel
4
Hals-/Brustwirbelsäule: unvollständige Kontusion des Rückenmarks
5
Hals-/Brustwirbelsäule: Lazeration des Rückenmarks ohne Fraktur
6
Enthauptung Halswirbelsäule: Lazeration des Rückenmarks in Höhe C3 oder höher mit Fraktur
ihrem Aufbau aus einem faser-verstärkten äusseren Ring und dem gallertartigen, viskosen Kern wie auch die Facetten-Gelenke (Zygapophysen-Gelenke) der Wirbelkörper bei.
4.2
Verletzungsmechanismen
Die “Abbreviated Injury Scale” (AIS) bewertet verschiedene Verletzungen der Wirbelsäule hinsichtlich deren Lebensbedrohlichkeit (Tab. 4.1). Im Allgemeinen werden Verletzungen der Halswirbelsäule dabei als schwerwiegender und lebensbedrohlicher eingeschätzt als solche, die tiefer liegende Bereiche der Wirbelsäule betreffen [Viano 2001a]. Grundsätzlich können Halswirbelsäulenverletzungen anhand der möglichen Bewegungsrichtungen und möglicher mechanischer Belastungen unterteilt werden (Abb. 4.6 und 4.7). Scherbeanspruchung in antero-posteriorer Richtung (d.h. von vorne nach hinten) und axiale Torsion können zu einer Dislokation des atlanto-okzipitalen Gelenks führen. Grosse Kompressionsbelastungen können in einer Fraktur des Atlas (C1) resultieren, wobei der Wirbel in zwei bis vier Teile bricht (Jefferson’s
Verletzungsmechanismen
111
Abb. 4.7 Mögliche Belastungen der Halswirbelsäule: Biegemomente (hier abgebildet: Flexion, nicht gezeigt: Extension), Kompression (Druck), Zug, axiale Torsion, Scherung [nach McElhaney et al. 2002].
Fraktur, Abb 4.8). Ist die axiale Kompression mit einer Extension der Halswirbelsäule kombiniert, können C2-Frakturen entstehen (auch “hangman’s fractures” genannt). Bei Autounfällen treten solche Frakturen beispielsweise auf, wenn ein nicht-angegurteter Insasse mit Stirn oder Gesicht an die Frontscheibe prallt [Viano 2001a]. Grundsätzlich wird der Hals bei Strassenverkehrsunfällen meist durch Kräfte, die von einem Kopfanprall ausgehen, oder durch eine Kombination aus Biegung mit Axial- oder Scherkräften belastet. Bedingt durch die anatomische Krümmung der Halswirbelsäule ist quasi immer eine Biegung in irgendeine Richtung involviert. Während reine Kompression zu den oben beschriebenen Frakturen führen kann, wird angenommen, dass eine Beschleunigung des Kopfes ohne Kopfanprall und Belastungen durch Auslösung eines Airbags eine reine Zugbelastung mit Verletzungen der oberen Halswirbelsäule verursachen können [McElhaney et al. 2002]. Die Dislokation der okzipitalen Kondylen, Verletzungen von Ligamenten und Frakturen, wie beispielsweise eine Fraktur des Dens axis (Abb. 4.8), können durch Zugbelastungen induziert werden [Nightingale et
Abb. 4.8 Frakturen des Dens Axis (“Hangman’s fracture”, links) und des Atlas (“Jefferson’s fracture”, rechts) [nach Vetter 2000].
112
Verletzungen der Wirbelsäule
Abb. 4.9 Gleichzeitige Kompression und Flexion der Halswirbelsäule kann zu Keilfrakturen (A), Berstungsfrakturen (B) oder bilateraler Dislokation der Facettengelenke (C) führen. Obwohl die Abbildung auch eine Rotation des Kopfes als Teil des Verletzungsmechanismus andeutet, konnte gezeigt werden, dass eine solche Rotation nicht zwingend erfolgen muss [nach McElhaney et al. 2002].
al. 1998]. Da ein Kopfanprall jedoch häufig beobachtet wird, treten vorwiegend die folgenden Belastungskonfigurationen auf: Kompression-Flexion, Kompression-Extension, Zug-Flexion, Zug-Extension und seitliche Biegung. Keil-Frakturen (“wedge fractures”) des vorderen Teils der Wirbelkörper entstehen durch eine Kombination aus einem Biegemoment in Flexionsrichtung und einer axialen Kompressionskraft. Oftmals wird dieses Belastungsszenario noch durch eine Kopfrotation überlagert, diese ist jedoch nicht entscheidend [McElhaney et al. 2002]. Bei steigender Belastungen sind Berstungsfrakturen und Dislokationen (mit Fraktur) der Facetten zu erwarten (Abb 4.9). Diese Frakturen sind instabil und können daher zu einer Verletzung des Rückenmarks führen, wobei das Ausmass der Verletzung davon abhängt, wie stark der Wirbelkörper bzw. seine Fragmente in den Spinalkanal eindringen [Viano 2001a]. Kompression-Extension führt zu Frakturen der hinteren, knöchernen Strukturen der oberen und unteren Halswirbelsäule [z.B. Pintar et al. 1995, Nightingale et al. 1997]. Wie in Abbildung 4.10 dargestellt, kann beispielsweise ein frontaler Kopfanprall mit einer Extension des Halses zu einer Belastungskombination aus Kompression und Extension führen. Eine Frontalkollision mit zurückgehaltenem Oberkörper (z.B. durch den Sicherheitsgurt) ohne Kopfanprall kann hingegen zur Flexion der Halswirbelsäule bei gleichzeitiger Zugbeanspruchung führen. Durch solche Belastungen induzierte bilaterale Dislokationen der Facettengelenke wurden durch McElhaney et al. (2002) beschrieben. Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass solche Verletzungen auch durch eine Kombination aus Kompression und Flexion entstehen können, so dass in diesem Zusammenhang eher die Grösse des Biegemomentes als die axiale
Verletzungsmechanismen
113
Abb. 4.10 Kompression und Extension. Die Kompression der HWS kann dadurch verstärkt werden, dass sich der Oberkörper aufgrund seiner Trägheit in Richtung Kopf bewegt (auch als “Nachstossen” des Oberkörpers bezeichnet) [nach Goldsmith und Ommaya 1984].
Abb. 4.11 Zugbelastung bei gleichzeitiger Extension kann durch Vorwärtsbewegung des Oberkörpers bei fixiertem Kopf (A), durch Trägheit bedingter Belastung der HWS bei abrupter Vorwärtsbeschleunigung des Torsos (B) oder durch Belastung des Kinns nach hinten und oben (C) auftreten [nach McElhaney et al. 2002].
Belastung die entscheidende Rolle spielt. Wie in Abbildung 4.11 dargestellt wird, können verschiedene Verletzungen durch eine Zug-Extensionsbelastung entstehen. Solch ein Lastfall tritt üblicherweise auf, wenn ein nicht-angegurteter Fahrzeuginsasse gegen die Frontscheibe oder das Kinn an das Armaturenbrett prallt. In beiden Fällen wird der Kopf nach hinten gedreht und der Hals so einer Zugbelastung sowie einem Extensionsmoment ausgesetzt. Beim Kopfanprall kann zudem wie oben erwähnt eine Fraktur des C2-Wirbels auftreten. Zudem wurde die Hypothese aufgestellt, dass
114
Verletzungen der Wirbelsäule
Belastungen unter Zug und Extension auch zu Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule führen können (“Schleudertrauma”). Ein ausführliche Diskussion dieser Verletzungen bzw. Beschwerden findet sich im Verlauf dieses Kapitels. Verletzungen durch seitliche Biegung der Wirbelsäule werden beispielsweise bei Fahrzeugkollisionen mit seitlichem Anprall beobachtet. Zusätzlich zur seitlichen Biegung treten oftmals auch axiale Belastungen (z.B. Kompression) oder Scherkräfte auf (Abb. 4.12). Dadurch können seitliche Keilfrakturen der Wirbelkörper sowie (in der Regel einseitige) Frakturen der seitlichen oder hinteren knöchernen Strukturen auftreten. Des Weiteren kann eine seitliche Biegung auch in Kombination mit Torsion vorkommen. Solche Fälle führen möglicherweise zu einseitigen Dislokationen oder einseitigen Blockaden der Facettengelenke [Moffat et al. 1978]. Eine reine Torsion des Halses wird bei Fahrzeugunfällen jedoch nur selten beobachtet [Viano 2001a]. Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule (unspezifisch auch als “Schleudertrauma” bezeichnet) sind mit Abstand die häufigsten im Strassenverkehr erlittenen Wirbelsäulenverletzungen. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, eine solche Verletzung zu erleiden als Männer [z.B. Linder et al. 2008]. Weichteilverletzungen werden als Folge von leichten Heckkollisionen (d.h. Heckkollisionen mit geringem delta-v Wert) wie auch nach frontalen oder schräg-frontalen Kollisionen von angegurteten Fahrzeuginsassen mit oder ohne Kopfanprall beklagt. Die Symptome sind vielseitig und können von Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, Benommenheit und Schwindel bis zu Sehstörungen und neurologischen Ausfällen reichen [z.B. Ferrari 1999]. In vielen Fällen sind selbst mit neuesten diagnostischen Möglichkeiten keine Läsionen nachweisbar. Daher werden solche Verletzungen meistens als
Abb. 4.12 Laterale (seitliche) Biegung mit Kompression kann zu Frakturen auf der Druckseite führen [nach Vetter 2000].
Verletzungsmechanismen
115
leichte (AIS1) Verletzungen klassifiziert, wobei die AIS Skala diesbezüglich sehr grob ist. Um eine genauere Beurteilung dieser Weichteilverletzungen zu ermöglichen, wurde von der Quebec Task Force (QTF) [Spitzer et al. 1995] ein eigenes System zur Klassifizierung erarbeitet, welches die Symptome und Beschwerden nach klinischen Gesichtspunkten in vier Gruppen einteilt (Tab. 4.2). Hinsichtlich des zugrunde liegenden Verletzungsmechanismus, müssen sich entsprechende Hypothesen auf Experimente (s. Kap. 4.3) oder symptomatische klinische Beschreibungen abstützen. Wegen der komplexen Anatomie der Halswirbelsäule finden sich auf engem Raum verschiedene verletzliche Strukturen. Dementsprechend wurden unterschiedliche Gewebe als Verletzungsursache in Betracht gezogen. In vielen Studien wurde angenommen, dass Ligamente und Muskeln verletzt werden. Auch eine Schädigung der Zygapophysealgelenke wird oft vermutet. Zudem wurden Verletzungen des Nervengewebes, vor allem in der Nähe der Ganglien (Nervenknoten), beschrieben. Weitere Hypothesen, die Strukturen wie z.B. die Vertebralarterien oder die Zwischenwirbelscheiben als verletzungsursächlich betrachten, werden hingegen sehr kontrovers diskutiert [z.B. Ferrari 1999]. Die Analyse der Bewegung des Halses während einer Heck- oder Frontalkollision offenbart eine komplexe Abfolge verschiedener Phasen unterschiedlicher mechanischer Belastung. Die Insassenbewegung bei einer Heckkollision (d.h. ein Fahrzeug wird von hinten angestossen und dadurch nach vorne beschleunigt) kann beispielsweise in drei Phasen unterteilt Tabelle 4.2 Klassifikation von HWS-Beschwerden gemäss Quebec Task Force [nach Spitzer et al. 1995]. Grad
Klinische Symptome
0
keine HWS-Beschwerden keine physischen Anzeichen
1
Nackenschmerzen, nur Steifigkeit oder Überempfindlichkeit keine objektivierbaren Ausfälle
2
wie Grad 1 zusätzlich muskuloskeletale Befunde (z.B. Bewegungseinschränkung)
3
wie Grad 1 zusätzlich neurologische Befunde
4
wie Grad 1 zudem HWS-Fraktur oder Dislokation
116
Verletzungen der Wirbelsäule
*
*
Abb. 4.13 Die verschiedenen Phasen einer Heckkollision: Retraktion, Vorwärtsbewegung, Rückhaltung durch Sicherheitsgurt [nach Muser et al. 2000]. Das Auftreten der (inversen) S-Verformung ist durch * gekennzeichnet.
werden (Abb. 4.13). In der ersten Phase (Retraktion) wird ein Insasse, der aufrecht in einem der Vordersitze sitzt, durch die Sitzlehne nach vorne bewegt. Die Berührung und Kraftübertragung erfolgt dabei hauptsächlich im Schulterbereich. Bedingt durch seine Trägheit hat der Kopf, der quasi frei im Raum steht (d.h. er hat keinen Kontakt zu einer Fahrzeugstruktur), die Tendenz so zu verharren. Bezogen auf den Insassen hinkt der Kopf der Bewegung des Oberkörpers somit nach. Der Kopf bewegt sich relativ zum Oberkörper gerade, d.h. ohne Rotation, nach hinten (daher Retraktion). Folglich erfährt der obere Teil der Halswirbelsäule in eine Flexion, während der untere Teil in eine Extension gezwungen wird. Diese Verformung des Halses — auch S-Verformung genannt — wird bezüglich des Verletzungsmechanimus als kritisch betrachtet. Das Auftreten dieser Verformung des Halses wurde in unterschiedlichen Experimenten mit Freiwilligen, Leichen und Dummys, die mit einem speziellen Hals ausgestattet waren, nachgewiesen [siehe z.B. Ono et al. 1997, 1998, Eichberger et al. 1998, Grauer et al. 1997, Svensson et al. 1993, Wheeler et al. 1998, Yoganandan and Pintar 2000]. Im Anschluss an die S-Verformung beginnt sich der Kopf nach hinten zu drehen, wodurch die gesamte Halswirbelsäule eine Extension erfährt. Die maximale Extension schliesst die Retraktionsphase ab. Der Umfang der Extension wird durch die Unfallschwere, das Vorhandensein einer Kopfstütze sowie dem physiologischen Bewegungsumfang des Insassen begrenzt. Die zweite Phase beschreibt eine Vorwärtsbewegung in Richtung der Fahrzeugbewegung, d.h. Kopf, Hals und Torso bewegen sich nach vorne. Diese Phase wird stark durch die Eigenschaften des Fahrzeugsitzes, insbesondere durch dessen Elastizität und dem damit verbundenen Rebound-Effekt [Muser et al. 2000], beeinflusst. Durchläuft der Insasse wieder diejenige Sitzposition (in Sagittalebene), die er zu Beginn des Anstosses inne hatte, so endet diese Phase und es schliesst sich die dritte Phase an. In der dritten Phase wird der Insasse durch den Sicherheitsgurt
Verletzungsmechanismen
117
zurückgehalten. Die Bewegung der Brustwirbelsäule wird durch den Gurt gestoppt, der Kopf bewegt sich jedoch weiter nach vorne. Folglich kann wieder eine Relativbewegung zwischen Kopf und Thorax, eine inverse SVerformung, beobachtet werden. Wegen der Dämpfung der Rückhaltekräfte durch den Brustkorb ist der Effekt jedoch weniger stark ausgebildet als die S-Verformung in der ersten Phase. Zudem sind an der zweiten SVerformung mehr Wirbelkörper beteiligt, da der Oberkörper durch die Gurtführung an einem tieferen Punkt gehalten wird. Durch die Beteiligung eines grösseren Teils der Wirbelsäule reduziert sich die Belastung des einzelnen Wirbelkörpers [Muser et al. 2000]. Eine Flexion der gesamten Halswirbelsäule schliesst die kinematischen Phasen der Insassenbewegung bei einer Heckkollision ab. Bei Frontalkollisionen (ohne Kopfanprall) können ähnliche Bewegungsmuster, einschliesslich der inversen S-Verformung, beobachtet werden. Betrachtet man die komplexe Insassenkinematik, überrascht es nicht, dass hinsichtlich Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule verschiedene Verletzungsmechanismen diskutiert werden [z.B. Walz and Muser 1995]. Eine Scherung der Wirbelkörper wurde beispielsweise mit Verletzungen der Facetten der Intervertebralgelenke in Verbindung gebracht [Yang et al. 1997]. Eine Hyperextension des Halses, also eine Extension über das physiologische Maximum hinaus, wird ebenfalls als möglicher Verletzungsmechanismus angesehen [Mertz und Patrick 1971]. Fälschlicherweise wird dieser Mechanimus noch in vielen Arztberichten genannt, obwohl er in Fahrzeugen mit Kopfstützen sehr selten geworden ist. Eine weitere Hypothese, die von Aldman (1986) aufgestellt wurde, geht davon aus, dass durch die Bewegung des Halses ein Druckgradient in den flüssigkeitsgefüllten Räumen, insbesondere in den Venen und der cerebrospinalen Flüssigkeit im Wirbelkanal, entstehen kann, wodurch Nervenzellen geschädigt werden können [Svensson et al. 1993, Schmitt et al. 2001]. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass verschiedene Hypothesen zur Ursache von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule aufgestellt wurden, der zugrunde liegende Mechanismus ist jedoch nur schwer zu verstehen und daher noch nicht vollständig geklärt oder gar wissenschaftlich bewiesen. In der Praxis wird angenommen, dass die Sförmige Deformation beim Verletzungsmechanismus eine entscheidende Rolle spielt. Daher wurden Verletzungskriterien definiert, die auf dieser SForm basieren (s. Kap. 4.4) und es wurden neue Dummys entwickelt, die in der Lage sind, die relative Bewegung zwischen Kopf und Torso zu reproduzieren (s. Kap. 2.6.1). Untersucht oder beurteilt man die Kausalität
118
Verletzungen der Wirbelsäule
zwischen “einem Unfall” und die von einem Patienten angegebenen Halswirbelsäulen-Beschwerden, so sind die tatsächlichen technischen und biomechanischen Umstände des Ereignisses zu berücksichtigen. Andernfalls kann es, insbesondere bei einer Kausalitätsbeurteilung durch nicht speziell ausgebildete Ärzte, zu Missverständnissen und fehlerhaften technischen und biomechanischen Annahmen und Interpretationen kommen. Da Halswirbelsäulen-Beschwerden häufig Gegenstand von (versicherungs-) rechtlichen Auseinandersetzungen sind, ist es wichtig, dass Gutachten auf interdisziplinärer Basis erarbeitet werden. Verletzungen im thorako-lumbalen Teil der Wirbelsäule als Folge von Autounfällen sind selten und spielen verglichen mit HalswirbelsäulenVerletzungen nur eine untergeordnete Rolle. Hingegen werden Rückenschmerzen nach Kollisionen häufig beklagt und natürlich können auch schwere Verletzungen des Rückenmarks auftreten. King (2002) unterscheidet sieben verschiedene Typen von thorako-lumbalen Wirbelsäulenverletzungen: Keilfrakturen im vorderen Teil des Wirbelkörpers, Berstungsfrakturen des Wirbelkörpers, Dislokationen und Frakturen mit Dislokationen, Rotationsverletzungen, Chance-Frakturen, Hyperextensionsverletzungen und Weichteilverletzungen. In Autounfällen können vordere Keilfrakturen aus einer Kombination von Flexion und axialer Kompression entstehen. Ein typisches Beispiel sind schwere Frontalkollisionen, bei denen der obere, über die Schulter geführte Teil des Sicherheitsgurtes grosse Kräfte auf den Torso überträgt, wodurch die gekrümmte Brustwirbelsäule gestreckt und so eine axiale Kompression bei gleichzeitiger Flexion erzeugt wird. Experimente mit Leichen und Freiwilligen, die von einem 3-Punkt-Gurt gehalten wurden, zeigten, dass in der Brust-/Lendenwirbelsäule Kompressionskräfte auftreten, durch die Keilfrakturen hervorgerufen werden können [Begeman et al. 1973]. Grundsätzlich können solche Verletzung in jeder Höhe der thorakolumbalen Wirbelsäule entstehen, im Bereich von T10 bis L2 sind sie jedoch am wahrscheinlichsten [King 2002]. Vordere Keilfrakturen werden zudem bei Flugzeugunfällen beobachtet, insbesondere wenn ein Pilot das Flugzeug mittels Schleudersitz verlässt. Historisch gesehen war diese SchleudersitzProblematik der Anstoss, Verletzungen der thorako-lumbalen Wirbelsäule genauer zu untersuchen. Chance Frakturen (benannt nach G. O. Chance, der diesen Typ von Frakturen 1948 erstmals beschrieb) werden bei Frontalkollisionen durch unsachgemässes Tragen eines Beckengurts verursacht. Wenn der Winkel des Beckengurtes relativ zu Horizontalen zu klein ist, kann der Gurt über den Beckenkamm nach oben rutschen und dabei die Organe im Bauchraum komprimieren (s. Kap. 6.2). Zudem kann dies eine Flexion der
Biomechanisches Verhalten und Toleranzen
119
Lendenwirbelsäule zur Folge haben, wodurch die posterior gelegenen Teile der Wirbelsäule gespreizt werden und beispielsweise Rupturen der über bzw. zwischen den Dornfortsätzen verlaufenden Längsbänder auftreten können. Ferner wird das Rückenmark gestreckt und kann verletzt werden. Verletzungen der Weichteile der thorako-lumbalen Wirbelsäule werden ebenfalls oft nach Autounfällen beschrieben. Davon betroffen sind die Zwischenwirbelscheiben, die verschiedenen Ligamente, die Facettengelenke, die Muskeln und mit der Wirbelsäule verbundene Sehnen. Schmerzen im unteren Rücken sind ein typisches Beschwerdebild, das durch ganz unterschiedliche Ereignisse — von leichten Heckkollisionen bis zu schweren Frontalkollisionen — hervorgerufen werden kann. In manchen Fällen sind solche Rückenbeschwerden auch mit Rissen oder Auswölbungen der Bandscheiben in Verbindung zu bringen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen einer stossartigen Belastung und einem Bandscheibenvorfall (bzw. einer Hernie) besteht üblicherweise nicht [King 2002]. Bandscheibenvorfälle sind im Allgemeinen das Ergebnis langsamer, degenerativer Veränderungen.
4.3
Biomechanisches Verhalten und Toleranzen
Die mechanischen Eigenschaften der menschlichen Wirbelsäule waren Gegenstand zahlreicher Versuche mit Freiwilligen, Leichen, Tieren oder Dummys. Es wurden statische wie dynamische Experimente (mit und auch ohne Kopfanprall) in unterschiedlichen Testanordnungen durchgeführt. Zudem ist es üblich sogenannte funktionelle Einheiten der Wirbelsäule zu testen. Eine funktionelle Einheit meint dabei üblicherweise ein Bewegungssegement bestehend aus zwei oder drei Wirbeln. Strukturen, die für die Untersuchung nicht von Interesse sind (z.B. Muskelgewebe), werden entfernt. Zur Analyse der Kopf-Hals-Kinematik verwenden manche Studien auch grössere Einheiten, die aus Kopf und Hals einer Leiche bestehen. Der Hals wird zu Versuchszwecken an seinem unteren Ende fixiert (z.B. in Kunststoff gegossen) und auf einen (Mini-) Schlitten montiert. Dieser kann dann beschleunigt werden. Es ist bei solchen experimentellen Arbeiten jedoch zu beachten, dass die Verwendung von funktionellen Einheiten die Kinematik signifikant beeinflussen kann. Diese jeweiligen Einschränkungen der Versuchsdurchführung sind bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen. Die Muskelaktivität kann in experimentellen Arbeiten oftmals nicht simuliert werden, da die Muskeln entweder entfernt wurden (funktionelle
120
Verletzungen der Wirbelsäule
Abb. 4.14 Experimenteller Aufbau von Mertz und Patrick (1967) zur Durchführung statischer Versuche mit Freiwilligen.
Einheiten) oder ohne Tonus sind (Leichenversuche). Ausschliesslich Experimente mit Freiwilligen erlauben es, die Muskelaktivität bis zu einem gewissen Grade zu messen. Die Verletzungstoleranz gegenüber anderen Verletzungen im Wirbelsäulenbereich, wie beispielsweise Verletzungen der Arterien sind schwierig zu untersuchen, da die physiologischen Belastungsgrenzen nicht hinreichend genau definiert werden können. Viele Studien zum biomechanischen Verhalten der Halswirbelsäule verweisen bzw. stützen sich nach wie vor auf Toleranzwerte, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren beispielsweise von Mertz und Patrick (1967, 1971) durch Versuche mit Freiwilligen und Leichen bestimmt wurden. Abbildung 4.14 zeigt einen Versuchaufbau zur Untersuchung der statischen Eigenschaften des Halses. Des Weiteren wurden Schlittenversuche durchgeführt, um die dynamischen Effekte bei einer Belastung des Halses zu berücksichtigen [Goldsmith und Ommaya, 1984]. Durch Freiwilligenversuche wurden Daten bis zur Schmerzgrenze gewonnen, mittels Leichenversuchen konnten die Grenzwerte bis hin zu schweren Verletzungen erweitert werden (Abb. 4.15). Neuere Studien untersuchten die Relativbewegung der einzelnen Wirbelkörper zu einander, indem Schlittenversuche mit Freiwilligen durchgeführt wurden und dabei bildgebende (Röntgen-) Verfahren wie die Cineradiographie zum Einsatz kamen [z.B. Ono und Kaneoka 1997, 2001, Ono et al. 2006]. Dadurch konnten die Bewegungsmuster jedes einzelnen Wirbels beurteilt werden.
Biomechanisches Verhalten und Toleranzen
121
Abb. 4.15 Von Goldsmith und Ommaya (1984) bestimmte Korridore für das belastungsabhängige Verhalten von Kopf bzw. Halswirbelsäule bei Extension (oben) und Flexion (unten).
122
Verletzungen der Wirbelsäule
Für die Lendenwirbelsäule wurden durch verschiedene Experimente mit funktionellen Einheiten Grenzwerte für Frakturen ermittelt. Kompressionsfrakturen wurden bei Belastungen im Bereich von ca. 2 kN bis 6 kN beobachtet [z.B. Hutton und Adams 1982, Myklebust et al. 1983, Yoganandan et al. 1988, Myers et al. 1994, Belwadi und Yang 2008]. Für vorwärts, rückwärts und nach unten gerichtete Beschleunigungen wurde vorgeschlagen, dass für eine Wirkdauer von weniger als 100 ms ein Grenzwert von 40 g für gut gesicherte, sitzende Fahrzeuginsassen nicht überschritten werden sollte [Viano 2001a]. Tabelle 4.3 fasst in der Literatur vorgestellte Toleranzwerte für die Halswirbelsäule zusammen. Die Toleranzwerte wurden mittels verschiedener Experimente gewonnen. Da dabei unterschiedliche Techniken und Testbedingungen zum Einsatz kamen, zeigen die Daten eine erhebliche Streuung. Zudem ist immer zu beachten, dass Toleranzen nicht nur eine Funktion des jeweiligen Lastfalls sind, sondern auch von einer Vielzahl anderer Faktoren, wie beispielsweise der Variabilität der anatomischen Strukturen (z.B. bezüglich Geometrie oder Eigenschaften wie der Knochendichte) und möglichen degenerativen Veränderungen abhängen. Daher ist es nicht überraschend, dass auch für Männer und Frauen unterschiedliche Grenzwerte bestimmt wurden. Nightingale et al. (1997) beschreiben signifikante Unterschiede für das Versagen nach Kompression. Für Kompressionsfrakturen der Halswirbelsäule bestimmten McElhaney et al. (2002) Kräfte bis 1.68 kN für Frauen und 3.03 kN für Männer sowie 3.64 kN bis 3.94 kN für männliche Jugendliche. Ebenso sind Unterschiede zwischen Wirbelsäulen von Erwachsenen und Kindern bekannt [z.B. Yoganandan und Pintar 2000, Yoganandan et al. 2002]. Auch könnten geometrische Faktoren, wie beispielsweise der kleinere Halsumfang von Frauen, einen Einfluss auf die Kinematik der Halswirbelsäule bei Heckkollisionen haben und zu höheren Winkelbeschleunigungen führen [Dehner et al. 2007]. Eine Beschreibung weiterer Unterschiede zwischen dem in Versuchen zu Heckkollisionen bestimmten dynamischen Verhalten weiblicher und männlicher Freiwilliger (z.B. bezüglich der Kopfbeschleunigung) findet sich in Linder et al. (2008). Hinsichtlich einer Beeinflussung des biomechanischen Verhaltens durch degenerative Veränderungen wie Osteochondrose, Spondylose, Spondylarthrose oder einer Reduktion der Bandscheiben-Höhe (ohne Beteiligung des Rückenmarks) erlaubt die Literatur derzeit kein abschliessendes Urteil. Bezogen auf Nackenschmerzen wird beispielsweise in der Literatur kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Degeneration und dem Ausmass der klinischen Beschwerden beschrieben [z.B. Meenen
Biomechanisches Verhalten und Toleranzen
123
Tabelle 4.3 Belastungstoleranzen der Halswirbelsäule (Abkürzungen: F= Freiwillige, L= Leichen, FE= funktionelle Einheit). Belastung
Testobjekte
Extension
F
Flexion
Druck
Zug
Scherung (a-p)
Kriterium
Grenzwert
Referenzen
keine Verletzung (statisch)
23.7 Nm
Goldsmith & Ommaya 1984
Schmerz
47.3 Nm
Mertz & Patrick 1971
keine Verletzung
47.5 Nm
Goldsmith & Ommaya 1984
L
AIS2 Verletzung der Ligamente
56.7 Nm
Goldsmith & Ommaya 1984
F
Schmerz
59.4 Nm 59.7 Nm
Mertz & Patrick 1971 Goldsmith & Ommaya 1984
maximal, freiwillig ertragene Belastung
87.8 Nm 88.1 Nm
Mertz & Patrick 1971 Goldsmith & Ommaya 1984
L
AIS2 (keine Frakturen)
189 Nm 190 Nm
Mertz & Patrick 1971 Goldsmith & Ommaya 1984
L
bilaterale Dislokation der Facettengelenke
1.72 kN
Myers et al. 1991
Kompressionsverletzugen
4.8 kN bis 5.9 kN
Maiman et al. 1983
F
keine Verletzung (statisch)
1.1 kN
Mertz & Patrick 1971
L
Versagen
3.1 kN
Shea et al. 1991
F
keine Verletzung
845 N
Mertz & Patrick 1971
L
irreversibler Schaden
2 kN
Goldsmith & Ommaya 1984
FE
(odontoide) Frakturen
1.5 kN
Doherty et al. 1993
FE
Rupturen der Ligamente
824 N
Fielding et al. 1974
124
Verletzungen der Wirbelsäule
et al. 1994, Marchiori und Henderson 1996, Nykänen et al. 2007, Carroll et al. 2008].
4.4
Verletzungskriterien
In Ergänzung zu den in Kapitel 4.3 vorgestellten Toleranzwerten für Belastungen der Wirbelsäule wurden verschiedene HalswirbelsäulenVerletzungskriterien definiert. Neben den in aktuellen Vorschriften enthaltenen einfachen Vorgaben bezüglich zulässiger Kräfte, wurden mehrere komplexere Verletzungskriterien entwickelt — insbesondere im Hinblick auf “Schleudertraumata”. Selbst Kriterien, die gleiche Kollisionstypen beurteilen, basieren auf unterschiedlichen Konzepten, so dass die Beurteilung einer Belastung aufgrund eines Kriteriums zwar hilfreich, aber möglicherweise nicht ausreichend ist. Unterschiedliche Kriterien konzentrieren sich je nach ihrer Definition auf unterschiedliche Phasen der Insassenbewegung. Folglich können unterschiedliche Informationen zum Verletzungsrisiko gewonnen werden. Zudem lassen solche Auswertungen mitunter auch Rückschlüsse auf Einflussfaktoren, wie beispielsweise die Konstruktion eines Sitzes oder den Verletzungsmechanismus, zu. Grundsätzlich sind Verletzungskriterien auf die ihrer Definition zugrunde liegenden Randbedingungen beschränkt. Bei der Anwendung auf andere Fälle, z.B. auf einen anderen Kollisionstyp, ist entsprechende Vorsicht walten zu lassen. Anpassungen der Versuchsdurchführung und/ oder der Auswertung und Interpretation der erhaltenen Ergebnisse könnten notwendig werden. Dies gilt selbstverständlich auch für die Auswahl eines Crashtest-Dummys. Wie in Kapitel 2.6.1. dargestellt, unterscheidet sich der Aufbau verschiedener Dummys, insbesondere bezogen auf den Hals, erheblich. Daher wird die Beurteilung von Halswirbelsäulenverletzungen durch die Bestimmung von Hals-Belastungen und Verletzungskriterien immer durch die Auswahl des Dummys beeinflusst [z.B. Muser et al. 2000, 2002, Bortenschlager et al. 2007]. In Bezug auf Verletzungen der Halswirbelsäule werden folgende Verletzungskriterien häufig verwendet: NIC [Boström et al. 1996], Nij [Klinich et al. 1996, Kleinberger et al. 1998] und Nkm [Schmitt et al. 2001, 2002a]. Während das Nij entwickelt wurde, um das Risiko schwerer HWSVerletzungen bei Frontalkollisionen zu bewerten, beziehen sich die beiden anderen Kriterien auf Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule nach Heckkollisionen. Studien von Kullgren et al. (2003) und Muser et al. (2003)
Verletzungskriterien
125
konnten zeigen, dass sowohl das NIC wie auch das Nkm gut mit dem Risiko, bei einer Heckkollision eine AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen zu erleiden, korrelieren. Daher wurden diese Kriterien in dem kürzlich durch EuroNCAP (s. Kap. 2.6) neu eingeführten Sitztest zur Bestimmung des Risikos von Halswirbelsäulenverletzungen integriert. Wenngleich die biomechanischen Grundlagen dieser EuroNCAP Bewertung in mehrerer Hinsicht Schwachpunkte aufweisen [z.B. Bortenschlager et al. 2007, Farmer et al. 2008, Schmitt und Muser 2009], so ist eine Korrelation zwischen diesen Testergebnissen und realen Beobachtungen nicht zwangsläufig ausgeschlossen. Kullgren et al. (2007) konnten beispielsweise zeigen, dass Fahrzeuge, die mit Systemen zur Prävention vor HWS-Verletzungen ausgestattet waren, in dynamischen Tests besser abschnitten und auch bei Auswertungen realer Unfälle mit einem geringeren Verletzungsrisiko einhergingen. Vergleichbare Ergebnisse wurden ebenfalls von Farmer et al. (2008) berichtet. Eine grundsätzliche Einschränkung von Verletzungskriterien stellt die Tatsache dar, dass sie nur unter kontrollierten Bedingungen (d.h. in Experimenten) bestimmt werden können. Reale Verkehrsunfälle können retrospektiv nicht unter Zuhilfenahme solcher Kriterien beurteilt werden, da die Belastungen des Halses nicht gemessen werden können. Hinsichtlich Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule stellt dies ein nicht unerhebliches Problem dar, da solche Verletzungen (bzw. Beschwerden) häufig zu juristischen Auseinandersetzungen führen und als Teil dieser juristischen Aufarbeitung oftmals ein Gutachten zur Beurteilung, ob beklagte Beschwerden von einem bestimmten Unfallereignis verursacht wurden (d.h. zur Kausalität von Beschwerden und Unfall), erforderlich ist. Daher wurden spezielle Ansätze entwickelt, um die biomechanische Kausalität in geeigneter Weise zu beurteilen [Walz und Muser 2000, Schmitt et al. 2002b, 2003a]. Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v, s. Kap. 2.4) des Fahrzeugs des Verletzen, die mittels Unfallrekonstruktion bestimmt werden kann, wurde mit dem Verletzungsrisiko in Bezug gesetzt. Für frontale und seitliche Kollisionen finden sich in der Literatur Verletzungsgrenzwerte zwischen einem minimalem delta-v Wert von 16 km/h bis 20 km/h [z.B. Ferrari 1999, Kornhauser et al. 1996, Watts et al. 1996, Kullgren et al. 2000]. Für Heckkollisionen werden delta-v Werte von 8 km/h bis 15 km/h beschrieben [z.B. Ferrari 1999, Schuller 2001]. Wie jedoch durch verschiedene Wissenschaftler immer wieder betont wird, ist es nicht ausreichend, bei der Begutachtung von solchen HWSBeschwerden ausschliesslich auf den delta-v Wert abzustellen. Auch sind
126
Verletzungen der Wirbelsäule
zusätzliche fahrzeugspezifische Parameter (z.B. Fahrzeugsteifigkeit) und die individuelle Konstitution des zu begutachtenden Fahrzeuginsassen zu berücksichtigen. 4.4.1
NIC
Ausgehend von der Annahme, dass sich durch plötzliche Verformung der Halswirbelsäule auch die Strömungsverhältnisse in den flüssigkeitsgefüllten Räumen der Halswirbelsäule ändern und dadurch ein Druckgradient entsteht, wurde das NIC (“neck injury criterion”) von Boström et al. (1996) entwickelt. Die Definition des NIC als Funktion der Zeit wurde durch Tierversuche validiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Druckgradienten zu einer Verletzung führen, konnte durch den in Gleichung 4.1 dargestellten Zusammenhang zwischen der antero-posterior auf den Kopf-Schwerpunkt wirkenden Beschleunigung (d.h. in x-Richtung gemäss Definition SAE J211/2) relativ zur Beschleunigung des ersten Brustwirbels (T1) und der daraus abgeleiteten Geschwindigkeit beschrieben werden. NIC ( t ) = 0,2a rel ( t ) + v rel ( t )
2
(4.1)
Der Grenzwert, ab dem ein deutliches Risiko einer leichten Halswirbelsäulen-Verletzung (AIS1) anzunehmen ist, wurde auf 15 m2/s2 festgesetzt. Dieser Wert hat sich in verschiedenen Studien bewährt und wird auch heute noch verwendet. Es hat sich jedoch gezeigt, dass nur für die Retraktionsphase einer Heckkollision sinnvolle Werte erhalten werden, d.h. sinnvolle Werte können nur berechnet werden, solange die gemessenen Beschleunigungen von Kopf und T1 rückwärts gerichtet sind (unter Verwendung eines fahrzeugfixierten Koordinatensystems). Zudem hat sich gezeigt, dass die NIC(t)-Kurve mit einem deutlichen Fehler behaftet ist, sobald sich der Kopf nicht mehr parallel zu T1 bewegt, d.h. sobald der Kopf einen Extensionswinkel von ungefähr 20° bis 30° aufweist. Daher wurde das NICmax eingeführt. Dieser beschreibt das Maximum der NIC(t)-Kurve zwischen dem Beginn der Kollision und dem Zeitpunkt, an dem der Kopf seine Bewegungsrichtung, relativ zum Hals, umkehrt (vgl. Abb. 4.13). Eine auf leichte Frontalkollisionen angepasste Version des NIC — NICprotraction genannt — wurde von Boström et al. (2000) vorgeschlagen und mit lang anhaltenden AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen (d.h. AIS1 Verletzungen, bei denen für mehr als 6 Monate Symptome auftreten) korreliert. Als Grenzwert für ein Verletzungsrisiko von 50 % wurde 25 m2/
Verletzungskriterien
127
s2 vorgeschlagen. Bohmann et al. (2000) weiteten die Korrelation auf kurzzeitige und langwierige Beschwerden aus und reduzierten diesen Wert auf 15 m2/s2. Die folgenden Gleichungen werden zur Bestimmung des NICprotraction verwendet: NIC generic ( t ) = 0,2a rel ( t ) + v rel ( t ) v rel ( t ) NIC protraction ( t ) = Min ( NIC generic ( t ) )
4.4.2
(4.2) (4.3)
Nij
Dieses Kriterium wurde von der US National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) [Klinch et al. 1996, Kleinberger et al. 1998] zur Beurteilung des Risikos, in einer Frontalkollision eine schwere Halswirbelsäulenverletzungen zu erleiden, eingeführt. Hierbei werden auch Kollisionen, bei denen der Airbag ausgelöst wird, berücksichtigt. Es handelt sich somit um Ereignisse mit grösserer Unfallschwere mit höherem delta-v Wert. Das Nij Kriterium wurde in FMVSS 208 aufgenommen. Das dem Nij zugrunde liegende Konzept wurde von Prasad und Daniel (1984) entwickelt. Diese führten Crashtests mit Tieren (Ferkel als Modell für ein Kind) durch und schlugen als Indikator für HWS-Verletzungen eine Kombination aus axialen Kräften und Momenten vor. Das Nij Kriterium beschreibt daher eine Linearkombination aus der axialen Kraft und dem sagittalen Biegemoment (Flexion/Extension), wobei beide mittels kritischen Referenzwerten normalisiert werden: Fz My N ij = ---------- + -----------F int M int
(4.4)
Fz und My beschreiben die axiale Kraft bzw. das sagittale Biegemoment. Fint und Mint sind die kritischen Referenzwerte, die für einen ein 3jähriges Kind repräsentierenden Dummy ermittelt und validiert wurden. Durch Skalierung wurden auch für andere Dummy-Grössen entsprechende Referenzwerte bestimmt, so dass das Nij auch für diese Grössen angewendet werden kann. Die derzeitigen Referenzwerte, wie sie von der NTHSA vorgeschlagen werden, sind in Tabelle 4.4. zusammengefasst. Wertet man das Kriterium für alle möglichen Lastfälle aus, so erhält man vier Werte: Nte für Zug und Extension (t: tension, e: extension), Ntf für Zug und Flexion (t: tension, f: flexion) sowie Nce und Ncf für die analogen Werte zur Kompression. Für jeden Lastfall gilt ein Verletzungsgrenzwert von 1.0. Um den Effekt von auslösenden Seitenairbags analysieren zu können,
128
Verletzungen der Wirbelsäule
Tabelle 4.4 Referenzwerte zur Berechnung des Nij gemäss FMVSS 208. Dummy
My (Flexion/Extension) [Nm]
Fz (Druck/Zug) [N]
HIII 50%
310/ 135
6160/ 6806
HIII 5%
155/ 67
3880/ 4287
HIII 5% (“out of position”)
155/ 61
3880/ 3880
HIII 6 Jahre
93/ 37
2800/ 2800
HIII 3 Jahre
68/ 27
2120/ 2120
modifizierten Duma et al. (1999) das Nij derart, dass das sagittale Biegemoment durch das gesamthafte Biegemoment ersetzt wurde. Um das Risiko einer AIS1 Halswirbelsäulenverletzung beurteilen zu können, wurden reduzierte Grenzwerte von 0.2 und 0.16 für längere bzw. kurze Beschwerdedauern vorgeschlagen [Boström et al. 2000, Bohmann et al. 2000]. Wendet man das Nij jedoch in seiner ursprünglichen Form für Heckkollisionen (für die es nicht entwickelt wurde) an, ergeben sich Schwierigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse [Linder et al. 2000]. Daher wurde eine angepasste Form des Nij — Nkm genannt — entwickelt, welches insbesondere für die Bewertung von Heckkollisionen bei niedrigem delta-v Wert geeignet ist. 4.4.3
Nkm
Das Halswirbelsäulen-Schutzkriterium Nkm wurde von Schmitt et al. (2001, 2002a) vorgestellt. Ihm liegt die Hypothese zugrunde, dass ein Verletzungskriterium aus einer Linearkombination aus Kräften und Momenten bestehen sollte. Ein ähnlicher Ansatz führte zur Definition des Nij Kriteriums für frontalen Anprall [Kleinberger et al. 1998], so dass das Nkm als Modifikation desselben betrachtet werden kann. In Bezug auf mögliche Verletzungsmechanismen in Heckkollisionen erscheinen jedoch sagittale Scherkräfte relevanter zu sein als axiale Kräfte. Eine Kombination aus Scherung und sagittalem Biegemoment lässt sich in der Halswirbelsäule häufig beobachten, auch während der S-Verformung
Verletzungskriterien
129
[z.B. Deng et al. 2000]. Heutzutage wird die S-Verformung hauptsächlich mit der ersten Phase (Retraktion) in Verbindung gebracht, aber auch eine inverse S-Verformung (d.h. der Kopf eilt dem Torso in seiner räumlichen Bewegung voraus) kann zu einer ähnlichen Konfiguration und damit auch zu einem entsprechenden Verletzungsrisiko führen [Boström et al. 2000]. Eine inverse S-Verformung, die beispielsweise während der ReboundPhase (dritte Phase, vgl. Abb. 4.13) auftritt, kann wegen der oben beschriebenen Einschränkungen nicht mit Hilfe des maximalen NIC beurteilt werden. Des Weiteren wird angenommen, dass Scherkräfte, insbesondere im oberen Teil der Halswirbelsäule, zu Verletzungen der Facettengelenke führen können [Yang et al. 1997, Deng et al. 2000, Winkelstein et al. 2000]. Obwohl der tatsächliche Verletzungsmechanismus (noch) unbekannt ist, scheint eine Kombination aus Scherbeanspruchung und Flexions-/ Extensions-Moment für Verletzungen der Halswirbelsäule relevant zu sein. Daher fokussiert das Nkm nicht auf einen einzigen Verletzungsmechanismus, sondern berücksichtigt das potentielle Verletzungsrisiko, das durch eine Kombination aus Kräften und Momenten beschrieben wird. Da für die Berechnung einer resultierenden, auf eine Halsstruktur wirkenden Belastung eine lineare Kombination aus den wirkenden Kräften und Momenten dem gängigen mechanischen Verständnis entspricht, wurde auch hier eine Linearkombination aus Scherkraft und Moment gewählt. Zudem wird die Interpretation des Ergebnisses des Nkm leichter nachvollziehbar, wenn eine Linearkombination verwendet wird — ein praktischer Gesichtspunkt, der für die Verwendung des Kriteriums wichtig ist. Von auf den Menschen wirkenden axialen Kompressions- bzw. Zugkräften wird angenommen, dass diese auch Einfluss auf die Grösse der auftretenden Scherbelastung haben [Yang et al. 1997]. Somit gehen diese indirekt ebenfalls ins Nkm ein. Zudem ist zu beachten, dass sich die Messung einer Axialkraft durchaus etwas schwierig gestaltet. Führt man Crashtests mit einem Dummy mit Standard-Instrumentierung durch, wird ein zusätzlicher Kraftsensor zur Messung der Axialkraft benötigt, der an der Messposition am oberen Hals montiert werden muss, um die auftretende Axialkraft zu messen. Dabei können verschiedene Messungenauigkeiten auftreten: • die Zentripetalkraft, die durch Rotation des Dummys um seine Hüfte entsteht, wird als Axialkraft gemessen • da die meisten der heutigen Dummys (mit Ausnahme des BioRID) die kyphotische Krümmung der Brustwirbelsäule nicht nachbilden, werden dementsprechend auch die Kompressionskräfte, die durch ein
130
Verletzungen der Wirbelsäule
Aufrichten (Strecken) der Brustwirbelsäule entstehen, nicht berücksichtigt. • derzeitige Dummy-Konstruktionen erlauben keine physiologische Rückwärtsbewegung des Kopfes während der ersten Phase einer Heckkollision (Retraktion), in der der Torso durch die Rückenlehne des Sitzes nach vorne geschoben wird, der Kopf sich wegen seiner Trägheit jedoch relativ zum Torso nach hinten bewegen sollte. Da der Hals des Dummys jedoch gelenkig mit dem Kopf und dem Torso verbunden ist, wird stattdessen eine Rotation des Kopfes hervorgerufen, durch die axiale Kräfte erzeugt werden (obwohl sich der Kopf eigentlich ohne Rotation relativ zum Torso bewegen sollte). • in Fällen, in denen der Kopf in Extension über die Kopfstütze hinaus ragt und diese dadurch in eine niedrigere Position der Höheneinstellung drückt (“hammer effect”), werden axiale Kräfte gemessen. Wegen dieser Ungenauigkeiten in Verbindung mit der Messung der Axialkraft ist diese nicht explizit in die Definition des Nkm eingegangen. Das Nkm Kriterium wurde daher folgendermassen definiert: F (t) M (t) y x N km ( t ) = ------------- + -------------M int F int
(4.5)
Hierbei sind Fx(t) und My(t) die Scherkraft bzw. das Biegemoment in Flexion/Extension. Beide Werte sollten mit dem Sensor an der oberen Position am Hals des Dummys gemessen werden. Fint und Mint repräsentieren Referenzwerte, auf die die Kraft bzw. das Moment normiert werden. Unterscheidet man eine positive Scherkraft, eine negative Scherkraft, Flexion und Extension, so beschreibe das Nkm Kriterium vier verschiedene Belastungssituationen: Nfa, Nea, Nfp und Nep. Der erste Index beschreibt das Moment (f: Flexion, e: Extension) und der zweite verweist auf die Richtung der Scherkraft (a: anterior, d.h. in positiver x-Richtung, p: posterior, d.h. in negativer x-Richtung). Es wird die Vorzeichenkonvention gemäss SAE J211/2 angewendet. Folglich beschreibt eine positive Scherkraft, die mittels des oberen Kraftsensors am Hals des Dummys gemessen wurde, eine relativ zum obersten Halswirbel rückwärts gerichtete Kopfbewegung. Die Referenzwerte, die zur Berechnung des Kriteriums notwendig sind (Tab. 4.5), beschreiben Toleranzwerte für das Auftreten von AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen [Goldsmith und Ommaya, 1984]. Die Werte basieren auf Versuchen mit Freiwilligen [Mertz und Patrick, 1993] und geben Toleranzen an, bis zu denen keine Verletzung zu erwarten ist. Die Experimente zeigen keinen Richtungsunterschied für die maximal
Verletzungskriterien
131
Tabelle 4.5 Referenzwerte zur Berechnung des Nkm. Lastfall
Wert
Referenz
Extension
47.5 Nm
Flexion
88.1 Nm
Goldsmith und Ommaya, 1984 Mertz und Patrick, 1993
negative und positive Scherkraft
845 N
ertragbaren Scherkräfte. Die Validierung des Kriteriums erfolgte durch Auswertung von Schlittenversuchen und Computersimulationen [Schmitt et al. 2002a]. Zur Berechnung der Nkm Werte werden die Messkurven der Kräfte bzw. Momente durch die jeweiligen Referenzwerte geteilt und dann die vier verschiedenen Lastfälle identifiziert. Schliesslich werden die entsprechenden Scherkräfte und Momente bei unveränderter Zeitachse addiert und das jeweilige Maximum der resultierenden Kurve bestimmt. Folglich beschreibt Nep beispielsweise das während der Messzeit beobachtete Maximum von gleichzeitig auftretender Extension und negativer Scherkraft. Tritt im untersuchten Zeitfenster eine Kombination der Lastfälle nicht auf, so fehlt diese Komponente des Nkm. Als kritischer Nkm Wert gilt 1.0, durch den berücksichtigt wird, dass sowohl ein den entsprechenden Referenzwert übersteigendes Moment, wie auch eine übersteigende Kraft ein Risiko bezüglich Halswirbelsäulenverletzung darstellen. Die Zweckmässigkeit des Nkm und seine Anwendbarkeit bei leichten Heckkollisionen wurde durch verschiedene Studien gezeigt [z.B. Muser et al. 2002, Szabo et al. 2002, Kullgren et al. 2003]. Inbesondere konnte auch gezeigt werden, dass mittels Nkm die Phase der InsassenVorwärtsbewegung beurteilt werden kann. Somit liefert das Nkm ergänzende Informationen, die beispielsweise mit dem NICmax nicht gewonnen werden können, da sich dieses nur auf die Phase der Retraktion bezieht. Hinsichtlich der Korrelation zwischen Nkm und dem Verletzungsrisiko für HWS-Verletzungen fanden Muser et al. (2003), dass der Lastfall des Nea den stärksten Zusammenhang aufweist. Zudem berichten Kullgren et al. (2003) über eine gute Korrelation zwischen Nkm und AIS1 Verletzungen der Halswirbelsäule und empfehlen daher das Nkm (und das NIC) zur Verwendung. In der Praxis wird mitunter auch nur ein
132
Verletzungen der Wirbelsäule
maximaler Nkm-Wert angegeben, womit der grösste Wert unabhängig von der Lastfallkombination gemeint ist. Des Weiteren wurde gezeigt, dass die Nkm Werte geeignet sind, verschiedene Eigenschaften eines Fahrzeugsitzes zu quantifizieren [Muser et al. 2002]. In Bezug auf immer wieder geführten Diskussionen über Design-Prinzipien für verbesserte Fahrzeugsitze, vor allem hinsichtlich der Frage, wie viel Deformation (Plastizität) man zulassen sollte oder ob Elastizität im Vordergrund stehen soll [z.B. Parkin et al. 1995], konnte gezeigt werden, dass das Nkm als hilfreiches Mass im Optimierungsprozess verwendet werden kann, um zu einem ausgewogenen Sitzdesign zu gelangen. Daher wurde vorgeschlagen, das Kriterium zudem in einen ISO Standard für Sitztests aufzunehmen. 4.4.4
LNL
Ein weiteres Verletzungskriterium um das Risiko von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule zu bewerten, nennt sich “Lower Neck Load Index” (LNL) und wurde von Heitplatz et al. (2003) vorgeschlagen. Das LNL Kriterium berücksichtigt drei Kraftkomponenten und zwei Momente, die alle am unteren Ende des Halses gemessen werden (Gleichung 4.6). Folglich wird zur Auswertung dieses Kriteriums ein Dummy benötigt, der am unteren Hals mit einem entsprechenden Sensor ausgerüstet ist.
( My lower ( t ) ) 2 + ( Mx lower ( t ) ) 2 LNL ( t ) = ----------------------------------------------------------------------------- + C moment Fz lower ( t ) ( Fy lower ( t ) ) 2 + ( Fx lower ( t ) ) 2 + -------------------------------------------------------------------------- + -----------------------C shear C tension
(4.6)
Fi(t) und Mi(t) beschreiben die Komponenten der Kräfte bzw. der Momente. Im Nenner stehen Referenzwerte, für die bei Verwendung eines RID Dummys folgende Werte vorgeschlagen wurden: Cmoment = 15, Cshear = 250 und Ctension = 900 [Heitplatz et al. 2003]. Für andere Dummy-Typen wurden bisher noch keine Referenzwerte vorgestellt. Bei der Anwendung auf Heckkollisionen wird die Definition des LNL derjenigen des Nkm sehr ähnlich, mit Ausnahme des zusätzlichen Terms der Zugkraft sowie der Tatsache, dass die Daten am unteren Ende des Halses gemessen werden. Erfahrungen mit dem LNL sind derzeit nur sehr begrenzt vorhanden. Zudem bestehen weitere Einschränkungen, beispielsweise
Verletzungskriterien
133
dadurch, dass noch kein biomechanischer Zusammenhang zu einem Verletzungsmechanismus und noch keine Korrelation zum realen Verletzungsgeschehen erarbeitet wurden [Bortenschlager et al. 2003]. 4.4.5
Verletzungskriterien in ECE und FMVSS
Derzeitige Richtlinien spezifizieren maximale Belastungen, die im Falle einer Frontalkollision auf die Wirbelsäule wirken dürfen (ECE R94, FMVSS 208). Für leichte Heckkollisionen sind keine Tests zur Homologation neuer Fahrzeuge vorgeschrieben. ECE R94 schreibt vor, dass das Extensions-Moment 57 Nm nicht überschreiten darf. Zudem müssen die Scherkräfte und die axialen Zugkraft unterhalb der in Abbildung 4.16. dargestellten Werte liegen. FMVSS 208 enthält verschiedene Grenzwerte für Kompression, Zug,
Abb. 4.16 Maximal zulässige Kräfte der Halswirbelsäule in Abhängigkeit der Einwirkdauer (gemäss ECE R94). Oben: Zugkraft, unten: Scherkraft.
134
Verletzungen der Wirbelsäule Tabelle 4.6 Grenzwerte für Belastungen des Halses gemäss FMVSS 208. Lastfall
Grenzwert
Flexion
190 Nm
Extension
57 Nm
axialer Zug
3300 N
axiale Kompression
4000 N
Scherung (anterior und posterior)
3100 N
Scherung, Flexion und Extension (Tab. 4.6). Diese Werte basieren auf Versuchen mit Freiwilligen, Leichen und Dummys und gelten für den 50perzentilen Mann. 4.4.6
Weitere Verletzungskriterien
Das “intervertebral neck injury criterion” (IV-NIC) geht auf die Annahme zurück, dass Halswirbelsäulen-Beschwerden nach Heckkollisionen durch intervertebrale Rotation (d.h. einer Bewegung benachbarter Wirbelkörper) entstehen, wobei die physiologische Grenze für eine solche Bewegung überschritten wird [Panjabi et al. 1999]. IV-NIC definiert sich als Verhältnis der intervertebralen Bewegung unter traumatischer Belastung θtrauma und dem physiologischen Bewegungsumfang θphysio (Gleichung 4.7). Das Kriterium wird für jedes Intervertebral-Gelenk i definiert und für Flexion und Extension getrennt berechnet. Θ trauma, i IV – NIC i = ---------------------------Θ physio, i
(4.7)
Folglich bestimmt der maximale IV-NIC Wert die Zeit, den Ort und die Belastungssituation (Flexion/Extension) der maximalen intervertebralen Bewegung. Für Werte grösser als 1.0 wird der physiologische Bewegungsumfang überschritten. Noch ist das IV-NIC Kriterium nicht validiert. Da zudem in derzeitigen Dummy-Typen einzelne Wirbelkörper (sofern vorhanden) durch Gelenkbolzen bzw. Scharniergelenke miteinander verbunden sind, kann eine intervertebrale Bewegung nicht nachgebildet werden. Die Evaluation des IV-NIC Kriteriums in Experimenten mit Dummys ist daher nicht möglich. Schwierigkeiten bestehen zudem in der Festlegung des
Verletzungskriterien
135
physiologischen Bewegungsumfangs, der in der Studie von Panjabi et al. (1999) ausschliesslich auf Basis einer einzelnen Probe (Leiche) bestimmt wurde. Das “neck displacement criterion” (NDC) wurde entwickelt, um das Risiko von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule bewerten zu können [Viano 2001b]. Es bewertet die S-Verformung des Halses durch Berücksichtigung des Extensionsmoments, der Verschiebung in z-Richtung (axial) und der Verschiebung in x-Richtung (sagittal). Durch Aufzeichnen der Kopfrotation gegenüber der Verschiebung in x-Richtung und der Verschiebung in z-Richtung gegenüber derjenigen in x-Richtung erhält man zwei NDC Diagramme. Zur Bewertung der Diagramme wurden mit Hilfe von Schlittenversuchen (mit Freiwilligen, BioRID und Hybrid III Dummys) Korridore für Toleranzbereiche entwickelt. Diese Korridore können jedoch noch nicht als abschliessend betrachtet werden. Eine Studie von Kullgren et al. (2003) kam zu dem Schluss, dass das NDC nicht gut mit dem realen Risiko, eine HWS-Verletzung zu erleiden, korreliert. Sonst wurden bis heute keine zusätzlichen umfangreichen Arbeiten zum NDC veröffentlicht und es wird entsprechend selten verwendet. Von Kuppa et al. (2005) wurde vorgeschlagen, die Rotation des Kopfes relativ zum Torso als Verletzungskriterium für Halswirbelsäulenverletzungen einzuführen. Das Kriterium wurde unter Verwendung von magnetohydrodynamischen Winkelsensoren, die in einen Hybrid III Dummy eingebaut wurden, entwickelt. Das “whiplash injury criterion” (WIC) betrachtet das obere und untere Moment um die y-Achse (Flexion/Extension) am Hals [Munoz et al. 2005]. Nach Experimenten mit einem BioRID wurde das WIC Kriterium als die Differenz zwischen dem Moment um die okzipitalen Kondylen und demjenigen um den Sensor auf Höhe von T1 definiert. Das Kriterium soll in Bezug zur S-Verformung stehen, hat bisher jedoch nicht viel Aufmerksamkeit erfahren. 4.4.7
Korrelation zwischen Verletzungskriterien und -risiko
Da bis heute kein Verletzungsmechanismus für AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen eindeutig identifiziert werden konnte, gestaltet sich die Valdierung der entsprechenden Verletzungskriterien schwierig. Es sind daher Methoden anzuwenden, die zwar keinen Bezug zu einem Verletzungsmechnismus haben, aber trotzdem geeignet sind, um die Stärke, mit der ein Kriterium mit dem tatsächlichen Verletzungsrisiko korreliert, zu untersuchen. Die Ergebnisse solcher Korrelationsanalysen
136
Verletzungen der Wirbelsäule
können dann auch verwendet werden, um Crashtests zur Bewertung des Verletzungsrisikos zu entwickeln. Es wurden zwei Studien veröffentlicht, in denen die Qualität, mit der Verletzungskriterien AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen voraussagen, untersucht wurde. Die Studien verwendeten verschiedene Methoden und eignen sich daher gut, um vergleichend aufzuzeigen, wie die Korrelation zwischen Verletzungskriterien und dem realen Verletzungsrisiko analysiert werden kann. Kullgren et al. (2003) rekonstruierten reale Verkehrsunfälle zur Validierung verschiedener Verletzungskriterien. Die benötigten Daten zur Rekonstruktion stammen dabei von Fahrzeugen, die mit einem Unfalldatenschreiber ausgerüstet waren und so die technischen Parameter einer Kollision aufzeichneten. Des Weiteren standen medizinische Informationen über die von den Fahrzeuginsassen erlittenen Verletzungen zur Verfügung. Eine Fahrzeugflotte von über 40’000 mit Unfalldatenspeichern ausgestatteten Fahrzeugen wird seit 1996 in Schweden zu Forschungszwecken beobachtet. Alle Unfälle dieser Fahrzeuge werden — unabhängig von den Reparaturkosten oder etwaigen Verletzungen — aufgenommen. Zur Auswertung in dieser Studie wurden die folgenden Einschlusskriterien definiert: das Fahrzeug musste eines der drei in der Fahrzeugflotte am häufigsten vorkommenden Typen sein, der Unfall musste ein einmaliger Heckanstoss sein, bei dem ein Crashpuls aufgezeichnet wurde und schliesslich durften die Insassen auf den Vordersitzen keine früheren länger anhaltenden AIS1 HalswirbelsäulenBeschwerden gehabt haben. 79 Unfälle mit 110 Insassen wurden ausgewertet. In numerischen Simulationen wurden Modelle der Vordersitze der drei gewählten Fahrzeugtypen mit den gemessenen Crashpulsen beaufschlagt. Die Insassen wurden dabei durch das Modell eines BioRID dargestellt. Die berechneten Belastungen des Dummys wurden anschliessend mit den realen Verletzungsdaten korreliert. Es zeigte sich, dass das NICmax, das Nkm, das NDC und das Moment, gemessen am unteren Sensor des Halses (Höhe T1), geeignet waren, AIS1 Verletzungen vorauszusagen. Hinsichtlich der Fahrzeugbeschleunigung als Verletzungsindikator, fanden Kullgren et al., dass das Risiko länger andauernder HWSBeschwerden (d.h. die Beschwerden halten länger als einen Monat an) unterhalb von 5 g mittlere Beschleunigung sehr gering war. Bei einer mittleren Beschleunigung über 7 g scheint das Risiko jedoch gegen 100 % zu gehen. Keiner der Insassen beklagte hingegen Beschwerden für mehr als einen Monat, solange die mittlere Beschleunigung unterhalb von 3 g lag.
Verletzungskriterien
137
Des Weiteren zeigte sich, dass das NICmax und das Nkm unter Verwendung eines BioRID als Mensch-Modell angewendet werden kann, um das Risiko einer AIS1 Halswirbelsäulenverletzung zu beurteilen. Zusammen mit der statistischen Auswertung ergaben sich für den NICmax und das Nkm eine relative hohe positive und eine sehr hohe negative Vorhersagenswahrscheinlichkeit. Dies legt nahe, dass beide Verletzungskriterien eine hohe Trennschärfe aufweisen und daher beide zur Risikoabschätzung hinsichtlich AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen verwendet werden sollten. Es wurde daher vorgeschlagen, dass sowohl das NICmax wie auch das Nkm bei der Auswertung von Crashtests von Heckkollisionen angewendet werden sollte. MIX =
⎛ NIC max⎞ 2 ⎛ N km⎞ 2 ⎜ ---------------------⎟ + ⎜ -----------⎟ ⎝ NIC av ⎠ ⎝ N av ⎠
(4.8)
In einem ersten Ansatz wurde als Kombination der beiden Kriterien das MIX Kriterium entwickelt (Gleichung 4.8). Der Index “av” steht für das durchschnittliche NICmax bzw. Nkm der jeweiligen Messung. Es konnte im Rahmen der Studie zwar gezeigt werden, dass das MIX geeignet ist, das Risiko für Halswirbelsäulenverletzungen zu bewerten, weitere Studien zur Anwendung des Kriteriums sind jedoch noch erforderlich. Hinsichtlich des NDC wurde keine Korrelation zum realen Verletzungsvorkommen gefunden. Teilweise wurde dies damit erklärt, dass das NDC entwickelt wurde, um mit Hilfe eines Hybrid III Dummys AIS1 Halswirbelsäulenverletzungen zu untersuchen, während in dieser Studie ein BioRID verwendet wurde. Das unten am Hals gemessene Moment zeigte ebenfalls nur eine geringe Anwendbarkeit. Die zweite Studie wurde von Muser et al. (2003) publiziert. Hier wurde die Korrelation zwischen Verletzungskriterien und realem Verletzungsrisiko aufgrund von Ergebnissen von Schlittenversuchen sowie der Auswertung einer Unfalldatenbank untersucht. Mit verschiedenen Sitzen aktueller Fahrzeugmodelle wurden Schlittentests durchgeführt. Dabei wurden zwei verschiedene Dummy-Typen verwendet: der BioRID und der RID2. Nach Auswertung der Schlittenversuche wurden die Ergebnisse mit dem Verletzungsrisiko gemäss einer Unfalldatenbank korreliert. Die Korrelation wurde graphisch beurteilt, in dem für jeden Dummy-Typ und jeden ausgewerteten Parameter lineare Trendlinien bestimmt wurden. Die in dieser Studie verwendete Datenbank wurde vom GDV (Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft) aufgebaut und diente als Basis für die Ermittlung des realen Verletzungsrisikos. Die
138
Verletzungen der Wirbelsäule
Datenbank erfasst Kollisionen, die einer grossen deutschen Versicherungsgesellschaft gemeldet werden und wurde hinsichtlich Heckkollisionen in den Jahren 2000 und 2001 ausgewertet (N= ca. 300’000). Zur Auswertung in dieser Studie mussten folgende Einschlusskriterien erfüllt sein: • Kollisionstyp: Heckkollision • entsprechende Daten aus Schlittenversuchen müssen vorhanden sein • es müssen mindestens 100 Fälle pro Fahrzeugmodell vorliegen Es wurden fünf verschiedene Fahrzeugmodelle gefunden, die alle Kriterien erfüllten. Für jedes Modell wurde die Verletzungshäufigkeit aus der Datenbank extrahiert. Die Verletzungskriterien, die mittels der Schlittenversuche bestimmt wurden, wurden dann durch das Aufzeichnen linearer Trendlinien (je Dummy-Typ und je gemessenem Parameter) mit der Verletzungshäufigkeit korreliert. Mit dieser Methode war es möglich, das Schutzpotential eines Sitzsystems zu quantifizieren. Es konnte gezeigt werden, dass der Lastfall Nea des Nkm bei Verwendung eines BioRID die stärkste Korrelation zum Verletzungsrisiko aufweist. Auch das NICmax zeigte jeweils eine positive Korrelation zwischen Verletzungsrisiko und den in den Schlittenversuchen gemessenen Parametern. Wegen der beschränkten Anzahl an derzeit in der Datenbank registierten Fällen (nur fünf Fahrzeugmodelle erfüllten die Einschlusskriterien) wurde darauf hingewiesen, dass weitere Abklärungen notwendig sind, um die Ergebnisse besser abzustützen.
4.5
Wirbelsäulenverletzungen im Sport
Für Sportunfälle, die zu Wirbelsäulenverletzungen führen, gelten ebenfalls die oben beschriebenen Grundsätze. Zusätzlich können direkte Anpralle an die Wirbelsäule beobachtet werden. Zerrungen von Muskeln oder ligamentären Strukturen sind wahrscheinlich die häufigsten (leichten) Halswirbelsäulenverletzungen im Sport. Auch treten oft Kompressionsfrakturen auf. Frakturen durch repetitive Belastung, wie beispielsweise sakrale Ermüdungsfrakturen, die quasi ausschliesslich im Laufsport auf Leistungssport-Niveau berichtet werden, sind hingegen eher selten (s. Kap. 9). Am verletzlichsten ist die Halswirbelsäule; der häufigste Verletzungsmechanismus ist eine Kompression-Flexion (Abb. 4.9). In neutraler Position weist die Halswirbelsäule wegen der normalen Lordose eine Extension auf. Wird der Hals etwas nach vorne gebeugt (Flexion um
Wirbelsäulenverletzungen im Sport
139
ca. 30°) wird die Halswirbelsäule gestreckt, sie wird gerade ausgerichtet. Wird nun eine Kraft auf den Scheitelpunkt des Kopfes aufgebracht, so wird die Belastung ohne grössere Absorption der Energie durch die paravertebrale Muskulatur entlang der Längsachse der Halswirbelsäule übertragen. Folglich wird die Halswirbelsäule zwischen Kopf und Torso komprimiert. Frakturen, Luxationen oder Dislokationen können die Folge sein. Ein solcher Mechanismus kann bei Bewegungen, die Kopf voran ausgeführt werden, beispielsweise im American Football, in Kontaktsportarten wie auch beim Kunstspringen (Kopfsprung), auftreten. Nach Kopfsprüngen in seichtes Wasser werden, insbesondere in Fällen mit Kopfanprall, oftmals Verletzungen durch axiale Kompression beobachtet. Für Verletzungen durch axiale Kompression weisen die Wirbel im Bereich zwischen C5 und C7 ein besonderes Risiko auf [Aito et al. 2005, Boden und Jarvis 2008, Wennberg et al. 2008]. Schwere Verletzungen des zervikalen Rückenmarks kommen bei Sportunfällen glücklicherweise nur selten vor. Solche Verletzungen werden eher im Brust- oder Lendenwirbelbereich beobachtet. Insbesondere instabile Frakturen und Dislokationen können schwere Rückenmarksverletzungen verursachen, die zu dauerhaften neurologischen Schäden führen können. Meistens treten diese Verletzungen in der unteren Halswirbelsäule auf [z.B. McIntosh und McCrory 2005, Boden und Jarvis 2008]. Im Gegensatz dazu können vorübergehende Lähmungen (Quadriplegien, Paresen) im klinischen Erscheinungsbild grosse Unterschiede bezüglich Schwere und entsprechenden Ausfällen aufweisen [z.B. Vaccaro et al. 2002]. Vom zervikalen Rückenmark können Episoden vorübergehender Quadriplegie ausgehen. Der Episode folgt in der Regel nach 10-15 min., manchmal jedoch auch erst nach zwei Tagen, eine vollständige Erholung [Torg et al. 2002]. Eine solche Neuropraxia wird entsprechend der Art der neurologischen Defizite klassifiziert. Der Ausdruck Plegie wird für Episoden mit vollständiger Lähmung verwendet, Parese für Episoden mit motorischer Schwäche und Parästhesie für Episoden, die sich durch Sensibilitätsstörungen ohne motorische Beeinträchtigung auszeichnen. Bei Athleten mit verengtem anterposteriorem Durchmesser des Spinalkanals kann das Rückenmark bei forcierter Hyperextension oder Hyperflexion komprimiert werden und so zu vorübergehenden motosensorischen Beeinträchtigungen führen. Penning (1962) beschrieb diese Kompression des zervikalen Rückenmarks als “Zangen-Mechanismus”. Pavlov et al. (1987) schlugen daher vor, das Grössenverhältnis zwischen Spinalkanal und Wirbelkörper zu bestimmen, um zu überprüfen, ob ein Sportler einen engen Spinalkanal aufweist und damit einem höheren Risiko
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Verletzungen der Wirbelsäule
einer Rückenmarkskompression ausgesetzt ist. Das Verhältnis zwischen Spinalkanal und Wirbelkörper berechnet sich dabei aus dem Abstand zwischen dem Mittelpunkt des hinteren Teils des Wirbelkörpers und dem nächsten Punkt auf der entsprechenden spinolaminären Linie geteilt durch die anteroposteriore Weite des Wirbelkörpers. Normalerweise liegt das Spinalkanal-Wirbelkörper-Verhältnis unabhängig von Geschlecht oder Alter nahe beim Wert 1. Patienten mit zervikaler Neuropraxia weisen auf einem oder mehreren Niveaus ein Verhältnis von 0.8 oder weniger auf. In den thorakalen und lumbalen Segmenten der Wirbelsäule werden ähnliche Verletzungsmuster wie in der Halswirbelsäule beobachtet. Kompressionsfrakturen lumbaler Wirbelkörper werden beispielsweise auch im Schneesport erlitten [Yamakawa et al. 2000, Franz et al. 2008]. Des Weiteren werden häufig lumbale Rückenschmerzen beklagt. Ganz allgemein wird geschätzt, dass 85-90 % der erwachsenen Bevölkerung während ihres Lebens irgendwann einmal unter lumbalen Rückschmerzen leiden [Trainor und Wiesel 2002]. Folglich leiden auch Sportler unter solchen Rückenschmerzen, wobei jedoch nicht klar abzugrenzen ist, ob sie mit einem höheren Risiko behaftet sind [Bono 2004]. Manche Studien deuten an, dass für gewisse Athleten (z.B. Ringer, Turner) ein höheres Risiko für Rückenschmerzen vorliegt; die Ergebnisse sind jedoch noch nicht abschliessend. Verschiedene Risikofaktoren wie die Flexibilität der lumbalen Wirbelsäule, die Funktion der unteren Extremitäten oder der Einfluss von (Sport-) Schuhen wurden in diesem Zusammenhang untersucht. Als grösser Prädiktor hinsichtlich Rückenschmerzen bei Sportlern konnte bisher eine Krankengeschichte mit früher bereits erlittenen Rückenschmerzen identifiziert werden, d.h. wer bereits einmal entsprechende Schmerzen hatte, weist eine grössere Wahrscheinlichkeit auf, nochmals welche zu erleiden [Bono 2004]. Sportliche Aktivität scheint ein Risikofaktor für eine Degeneration der Bandscheiben zu sein, wobei das Ausmass der Degeneration von der Sportart und der Intensität, mit der diese betrieben wird, abhängt [Sward et al. 1991]. Die Häufigkeit einer Spondylolyse ist bei Sportlern nicht grösser als bei der allgemeinen Bevölkerung. Manche Arbeiten deuten jedoch darauf hin, dass für spezielle Sportarten wie Gewichtheben, Kunstspringen oder Ringen von einer erhöhten Häufigkeit auszugehen ist [Bono 2004].
Prävention von HWS-Verletzungen
4.6
141
Prävention von HWS-Verletzungen
Die Ursachen für Halswirbelsäulenverletzungen im Sport sind zahlreich und hängen beispielsweise von der Sportart, der Konstitution des Athleten und der konkreten Belastungssituation ab. Daher ist es kaum möglich eine allgemeingültige Präventionsstrategie aufzustellen und anzuwenden. Für einige Sportarten wie American Football wurden spezielle Halskragen entwickelt, die die HWS-Belastungen reduzieren sollen [Rowson et al. 2008]. Die Anwendbarkeit solcher Ausrüstungen ist jedoch auf gewisse Sportarten beschränkt, da sie mit einer Reduktion der Beweglichkeit von Kopf und Hals einhergeht. Im Strassenverkehr sind Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule von grosser Bedeutung. Daher zielt die Entwicklung von Fahrzeugsitzen darauf ab, Sitze zu konstruieren, die auch hierfür einen guten Schutz bieten. Dies ist jedoch ein schwieriges Unterfangen, da der Verletzungsmechanismus nicht vollständig bekannt ist. Im Sinne eines holistischen Ansatzes wurden Grundsätze zur Entwicklung von Sitzen mit guter Schutzwirkung formuliert [Walz und Muser 1995, Lundell et al. 1998]. Diese Grundsätze stellen die Minimierung der Relativbewegung zwischen Kopf und Thorax in den Vordergrund, wodurch nach quasi allen gängigen Hypothesen zum Verletzungsmechanismus die biomechanische Belastung des Halses reduziert würde. Ein solcher Ansatz birgt jedoch das Risiko, dass ein erheblicher Aufwand betrieben wird, um gewisse Belastungen der HWS zu reduzieren, die letztlich jedoch nicht für die entsprechenden Beschwerden verantwortlich sind, oder um Belastungen zu reduzieren, die bereits vor Beginn der Sitzoptimierung unkritisch waren. Die stetig steigende Anzahl an Patienten mit HWS-Beschwerden und die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten verlangen jedoch, dass dieses Risiko eingegangen wird und Massnahmen ergriffen werden, selbst wenn es noch längere Zeit dauert, ehe die zugrunde liegende Biomechanik restlos geklärt ist. Es wird angenommen, dass ohne relative Beschleunigung zwischen Kopf und Torso keine HWS-Beschwerden entstehen. Ein Reduktion dieser relativen Beschleunigung führt insbesondere auch zu guten Werten des Verletzungskriteriums NIC, das oft verwendet wird, um das Risiko von Halwirbelsäulenverletzungen zu bewerten. Berücksichtigt man Hypothesen, die eine Relativbewegung zwischen benachbarten Wirbeln als verletzungsinduzierend betrachten, so muss diese Bewegung verhindert werden. Daher sollte die natürliche Krümmung der Wirbelsäule während einer Kollision unverändert beibehalten werden. Zudem ist die Phase der
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Verletzungen der Wirbelsäule
Vorwärtsbewegung (“rebound phase”), in der ebenfalls eine S-Verformung der HWS auftreten kann, zu berücksichtigen. Um die Wechselwirkung mit dem Sicherheitsgurt zu minimieren, ist die Rückfederung des Sitzes zu reduzieren. Das Potential eines Sitzes, HWS-Beschwerden zu verhindern, wird mittels Versuchen, in denen Beschleunigungen, Kräfte, Momente und daraus abgeleitete Verletzungskriterien bestimmt werden, beurteilt. Um eine breite Basis zur Analyse und Beurteilung zu gewährleisten, sollte man dabei nicht ausschliesslich auf einen Belastungswert bzw. ein Verletzungskriterium abstellen. Alle Werte bzw. Kriterien sind zu reduzieren. Wegen der mit dem Verletzungsmechanismus verbundenen Unsicherheit, ist der Anstieg eines Wertes — selbst bei gleichzeitiger Reduktion eines anderen — zu vermeiden. Heute sind verschiedene Sitzsysteme zur Prävention von HWSBeschwerden erhältlich und erste Studien zeigen bereits, dass solche Systeme die Fähigkeit besitzen, das Verletzungsrisiko signifikant zu reduzieren [Boström und Kullgren 2007, Kullgren et al. 2007, Farmer et al. 2008]. Im Prinzip können alle Hauptkomponenten eines Fahrzeugsitzes, sei es die Kopfstütze, die Sitzlehne (einschliesslich Lehnengelenk), die Sitzfläche oder die Sitzschiene als Basis für die Entwicklung eines Schutzsystems dienen. Im Folgenden werden verschiedene aktuelle Systeme zusammengefasst. 4.6.1
Kopfstützen-Geometrie und -Material
Kopfstützen, die ursprünglich eingeführt wurden, um schwere, durch Hyperextension verursachte Halswirbelsäulenverletzungen zu verhindern, können auch eine plötzliche Relativbewegung zwischen Kopf und Torso (S-Verformung) verhindern. Dieses Schutzpotential kann jedoch nur genutzt werden, wenn die Kopfstütze korrekt eingestellt werden kann. Der Einfluss der Kopfstützen-Geometrie auf das Schutzpotential der Kopfstütze wurde in verschiedenen Studien untersucht. Eine Reduktion von Fällen mit HWS-Beschwerden konnte bei Zunahme der (einstellbaren) Kopfstützenhöhe festgestellt werden [Eichberger et al. 1996, Hell et al. 1998, Ferrari 1999]. In ähnlicher Weise zeigte sich der Einfluss des Abstands zwischen Kopf und Kopfstütze [Ferrari 1999, Hofinger et a. 1999, Wiklund und Larsson 1998]. Je kleiner dieser Abstand ist, desto effektiver wird die S-Verformung verhindert. Obwohl sich die Konstruktion von Kopfstützen gemäss Insurance Institute for Highway Safety (IIHS) über die letzten Jahre verbessert hat,
Prävention von HWS-Verletzungen
143
kann die Höhe einiger Kopfstützen für einen mittelgrossen Mann nicht ausreichend hoch eingestellt werden [Chapline et al. 2000]. Einerseits kann dies an einer schlechten Kopfstützen-Geometrie liegen, die sich konstruktionsbedingt nicht richtig einstellen lässt, andererseits kommt es oft vor, dass Fahrzeuginsassen die Kopfstütze nicht korrekt einstellen. Hinsichtlich der Kopfstützen-Höhe wird eine minimale Höhe empfohlen, bei der die Oberkante der Kopfstütze auf gleicher Höhe wie der Scheitelpunkt des Kopfes ist. So soll gewährleistet sein, dass der Schwerpunkt des Kopfes auch in Fällen abgestützt wird, in denen er sich durch ein Aufrichten der Brustwirbelsäule (wie dies bei Heckkollsionen beobachtet wird, wenn die Kyphose durch die Sitzlehne gestreckt wird) leicht nach oben bewegt. Zudem sollte die Kopfstütze so nahe am Kopf anliegen wie möglich. Einige Hersteller bieten daher aktive bzw. re-aktive Kopfstützen-Systeme an, die den Abstand zwischen Kopf und Kopfstütze reduzieren (s. Kap. 4.5.2). Des Weiteren sind Zusatzkopfstützen zur Minimierung des Abstands zwischen Kopf und Kopfstütze erhältlich. Es kann jedoch nicht nur die Geometrie einer Kopfstütze optimiert werden. Auch die innere Struktur, inbesondere das verwendete Material (Padding) kann modifiziert werden, um HWS-Beschwerden zu verhindern. Schmitt et al. (2003a) untersuchten den möglichen Vorteil der Verwendung von Energie absorbierenden Schäumen als Kopfstützen-Material. Zusammenfassend zeigte die Studie, dass die Verwendung visko-elastischer Schäume die maximale Beschleunigung des Kopfes deutlich reduziert (Abb 4.17). Eine Reduktion des NICmax wurde hingegen erst bei Heckkollisionen mit höherer Geschwindigkeitsänderung (delta-v) beobachtet. Für solche Heckkollisionen deuten numerische Simulationen auch darauf hin, dass dickere Kopfstützen die Belastung auf Kopf und Hals reduzieren. Verwendet man statt dem im Fahrzeuginnenraum gebräuchlichen Polyurethan-Schaum einen visko-elastischen Schaum, so reduzierten sich die Belastungen weiter. Der grosse Einfluss des initialen Abstandes zwischen Kopf und Kopfstütze wurde somit bestätigt. Diese Ergebnisse bestätigen zudem eine Studie von Szabo et al. (2002), in der verschiedene Sitze und Sitzlehnen-Schäume analysiert wurden. Selbst wenn visko-elastische Schäume verwendet wurden, hatte die SitzGeometrie einen dominierenden Einfluss auf die Inassenkinematik und das Risiko HWS-Beschwerden zu erleiden. Andererseits könnte die Kontrolle der Insassenkinematik durch eine optimierte Sitzlehnengeometrie gemeinsam mit einer angepassten Verteilung der Steifigkeit des Schaumes in Sitzlehne und Kopfstütze ein praktikabler Ansatz sein, um ohne grösseren technischen Konstruktionsaufwand eine Schutzwirkung zu erzielen. Ein entsprechender Ansatz wurde im System WIL (Whiplash
144
Verletzungen der Wirbelsäule
Abb. 4.17 Einfluss verschiedener Kopfstützen-Schäume auf die Kopfbeschleunigung (hier gemäss numerischer Simulation bei einem delta-v Wert von 30 km/h). Die maximale Beschleunigung reduziert sich bei Verwendung einer dickeren Kopfstütze signifikant, wobei die Reduktion für einen visko-elastischen (VE) Schaum grösser ausfällt als für einen Polyurethan- (PU) Schaum [Schmitt et al. 2003b].
Injury Lessening) umgesetzt [Sekizuka 1998, Sawada und Hasegawa 2005]. 4.6.2
Systeme zur Optimierung der Kopfstützen-Position
Gemäss dem oben beschriebenen Paradigma keine Relativbewegung zuzulassen, könnten HWS-Beschwerden theoretisch vermieden werden, indem der Kopf im Fall einer Kollision direkt an der Kopfstütze anliegt. Verschiedene Ideen wurden publiziert, wie dies erreicht werden könnte. Muser et al. (1994) entwickelten eine Kopfstütze, die mit kapazitiven Sensoren und elektrischer Aktorik ausgestattet war, so dass immer ein voreingestellter Abstand zum Kopf eingehalten wurde, d.h. die Kopfstütze folgte etwaigen Kopfbewegungen des Insassen automatisch nach. Vor allem aus Kostengründen kam das System damals nicht auf den Markt, heute ist es jedoch in einigen Luxusfahrzeugen verfügbar. Auf Basis eines
Prävention von HWS-Verletzungen
145
Abb. 4.18 Prinzip des SAHR-Systems [nach Viano und Olsen 2001].
ähnlichen Kopfstützen-Designs schlugen Matsubayashi et al. (2007) vor zusätzlich ein Radarsystem zu installieren, welches unvermeidbare Heckkollisionen erkennt. Besteht ein hohes Risiko eines Anpralls, warnt das System die Fahrzeuginsassen und führt die Kopfstütze näher an den Kopf der Insassen heran. Das System SAHR [Wiklund und Larsson 1998] ist ein re-aktives Kopfstützensystem: es bewegt die Kopfstütze im Fall eines Anpralls nach oben sowie näher in Richtung Kopf des Insassen. Somit wird der Abstand zwischen Kopf und Kopfstütze nur dann verringert, wenn es notwendig ist. Abbildung 4.18 illustriert das Prinzip dieser selbstausrichtenden Kopfstütze. Der sich in Richtung Sitzlehne bewegende Torso drückt auf eine Platte, die mittels Hebelarm mit der Kopfstütze verbunden ist. Dieser Wippen-Mechanismus bewegt die Kopfstütze relativ zum Insassen nach oben und nach vorne, was zu einem früheren Kopfkontakt führt. Verschiedene Studien konnten den Präventionseffekt bezüglich Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule nachweisen [z.B. Viano und Olsen 2001, Muser et al. 2002]. Das SAHR System ging als eines der ersten Schutzsysteme 1997 in die Serienproduktion ein. Seither ist das Konstruktionsprinzip weit verbreitet und es wurden diverse ähnliche Systeme vorgestellt.
146
Verletzungen der Wirbelsäule
Des Weiteren wurden Systeme vorgestellt, die die Kopfstütze im Fall einer Kollision nach vorne bewegen ohne dabei auf eine Kraftkopplung zum Insassen angewiesen zu sein. Manche Systeme verwenden mehr oder weniger klassische, in die Kopfstütze integrierte Airbags, die jedoch langsamer, mit Druckluft, aufgeblasen werden. Ein anderes, in Serienproduktion eingebautes System (Abb. 4.19) verwendet vorgespannte Federn als Energiequelle. Als Argument für solche aktiven Systeme wird oftmals angeführt, dass ein Insasse, der leichter ist als z.B. ein 50perzentiler Mann, wegen seinem geringeren Körpergewicht nicht genug Kraft aufbringt, um Systeme vom SAHR Typ weit genug nach vorne zu bewegen. Verschiedene Zusatz-Kopfstützen zum Nachrüsten, die im Wesentlichen aus einem zwischen Kopfstütze und Kopf plazierten Kissen bestehen, können ebenfalls den Abstand zwischen Kopf und Kopfstütze reduzieren. Solche Systeme können einen signifikanten Beitrag zur Reduktion Verletzungsrisiko beitragen. Allerdings wird oftmals eingewendet, dass ein zu kleiner Kopf-Kopfstützen-Abstand nicht komfortabel sei, so dass solche Nachrüstsysteme auf eine Verwendung bei alten Fahrzeugsitzen mit einem Abstand von 10 cm oder mehr beschränkt seien.
Abb. 4.19 Crash-aktive Kopfstütze (CAK) [Keiper 2006]. 4.6.3
Systeme mit kontrollierter Bewegung des Sitzes
Ein weiterer Ansatz postuliert, dass nicht die Relativbewegung an sich zu einem erhöhten Risiko für Halswirbelsäulenverletzungen führt, sondern vielmehr deren “Heftigkeit” im Sinne von relativer Geschwindigkeit und Beschleunigung. Es sollte demnach möglich sein, das Verletzungsrisiko zu reduzieren, in dem z.B. durch ein dämpfendes System in der Sitzlehne die Beschleunigung des oberen Torsos verringert und folglich auch die relative
Prävention von HWS-Verletzungen
147
Abb. 4.20 Der WHIPS Sitz ermöglicht eine rückwärts gerichtete Translatsionsbewegung, der sich eine Rotation der Sitzlehne anschliesst [nach Lundell et al. 1998].
Geschwindigkeit zwischen Kopf und Torso reduziert wird. Der WHIPS Sitz [Lundell et al. 1998] zeichnet sich durch ein Lehnengelenk aus, das eine kontrollierte Rückwärtsbewegung der Lehne während einer Heckkollison erlaubt. Wird eine kritische Belastung überschritten, wird die Bewegung in zwei Schritten ausgeführt: einer translatorischen Rückwärtsbewegung der Sitzlehne folgt eine Drehbewegung, durch die sich die Lehne neigt (Abb. 4.20). Versuche unter Bedingungen einer leichten Heckkollision zeigten, dass durch einen WHIPS Sitz vorteilhafte HWS-Verletzungskriterien erreicht werden [z.B. Hell et al. 1999, Muser et al. 2000, Langwieder et al. 2000]. Das WHIPS System ist ebenfalls eines der ersten Systeme, das auf den Markt gebracht wurde, so dass es mittlerweile entsprechend verbreitet ist, um statistische Analysen zu seinem Schutzpotential machen zu können [Jakobsson 2005, Jakobsson et al. 2008]. Ähnliche Effekte können auch mit Systemen, die an anderen Sitzkomponenten angreifen, erreicht werden. Die Sitzschiene, die eine Längsverstellung des Sitzes ermöglicht, diente beispielsweise als Angriffspunkt für ein solches System [Schmitt und Muser 2002, Schmitt et al. 2003c, 2003d]. Unter der Annahme, dass die relative Beschleunigung zwischen Kopf und T1 und folglich auch das NICmax, reduziert werden müssen, um HWS-Beschwerden zu verhindern, wurde eine Möglichkeit geschaffen, die eine translatorische, gedämpfte Bewegung des Sitzes relativ zum Fahrzeug erlaubt. Daraus resultiert eine zeitliche, später auftretende Beschleunigung des Torsos, wodurch die Belastung von Kopf und oberem Torso synchronisiert wird.
148
Verletzungen der Wirbelsäule
Schlittenversuche und numerische Simulationen konnten zeigten, dass bereits ein relativ kleiner Deformationsweg der Sitzschiene (ca. 40 mm) ausreicht, um eine signifikante Reduktion der Verletzungskriterien wie NICmax und Nkm zu erreichen. Da die Sitzschiene relativ leicht auszutauschen ist, sind Änderungen an der Sitzschiene wesentlich leichter vorzunehmen als beispielsweise Änderungen des Lehnengelenks. Daher wird auch das System WipGARD [Zellmer et al. 2001], ein für einige Volkswagen Modelle geeignetes System zum Nachrüsten, zwischen Sitzschiene und Fahrzeugbogen montiert. Wie WHIPS erlaubt auch WipGARD eine Translation und Rotation der Sitzlehne. Beim WipGARD führt jedoch der gesamte Sitz diese Bewegung aus (Abb. 4.21). Zum Auslösen des WipGARD muss eine kritische Kraft überschritten werden.
Abb. 4.21 Auch das WipGARD System erlaubt Rotation sowie eine Translationsbewegung (oben). Um die Sitzfläche anzuheben muss eine Niete abgerissen werden (unten) [nach Zellmer et al. 2001].
Mit fortschreitender Durchsetzung des Marktes mit den beschriebenen Systemen, deuten erste Studien darauf hin, dass einige Systeme tatsächlich einen signifikanten positiven Effekt im Sinne einer Reduktion des Verletzungsrisikos aufweisen [Jakobsson und Norin 2004, Krafft et al. 2004].
Zusammenfassung
4.7
149
Zusammenfassung
Die Halswirbelsäule ist derjenige Bereich der Wirbelsäule, der sowohl im Sport wie auch bei Strassenverkehrsunfällen am häufigsten verletzt wird. Im Strassenverkehr sind dabei insbesondere AIS1 Verletzungen der HWS von Bedeutung. Obwohl der Verletzungsmechanismus noch nicht vollständig geklärt ist, wurden Ansätze verfolgt, um das Verletzungsrisiko durch verbesserte Fahrzeugsitze zu reduzieren. Die Einführung von standardisierten Sitztests und entsprechenden Bewertungen der Sitze (z.B. im Rahmen des EuroNCAP) sollen solche Anstrengungen forcieren. Die Korrelation zwischen dynamischen Tests und dem realen Verletzungsrisiko ist daher entscheidend. Derzeit wurden verschiedene Verletzungskriterien vorgeschlagen, wobei NIC und Nkm am weitesten verbreitet sind. Nichtsdestotrotz sind weitere Forschungsanstrengungen notwendig, um die biomechanischen Grundlagen zu verbessern — beispielsweise im Hinblick auf das höhere Verletzungsrisiko von Frauen.
4.8
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Verletzungen der Wirbelsäule
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5 Thoraxverletzungen
Verletzungen des Thorax werden im Allgemeinen in Frontal- und Seitenkollisionen sowie in Kollisionen, deren Anprallwinkel zwischen diesen beiden Extremen liegt, erlitten. Häufig entstehen Thoraxverletzungen durch direkten Anprall, beispielsweise an Strukturen des Fahrzeuginnenraums wie dem Lenkrad, dem Sicherheitsgurt, der Türe oder dem Armaturenbrett. Im Sport kann ein Anprall durch Kontakt mit einem Mitspieler (Fussball, Eishockey) oder durch Schläge (Boxen, Taekwondo) erfolgen. Die meisten Thoraxverletzungen entstehen als Folge eines stumpfen Anpralls. Verletzungen durch Kontakt mit spitzen, scharfkantigen Objekten sind im Rahmen von Strassenverkehrsunfällen selten. Sie können allenfalls durch Gegenstände im Fahrzeuginnenraum verursacht werden oder kommen vor, wenn ein Fahrzeuginsasse aus dem Fahrzeug herausgeschleudert wird. Dieses Kapitel konzentriert sich daher auf Fälle mit stumpfem Anprall.
5.1
Anatomie des Thorax
Der Thorax besteht aus dem Brustkorb und den darunter liegenden Organen. Er erstreckt sich von der unteren Halswirbelsäule bis zum Zwerchfell, welches den Thorax nach unten hin abschliesst und ihn vom Abdomen trennt (Abb. 5.1). Der Brustkorb wird von 12 Rippen-Paaren geformt. Diese sind posterior mit der Brustwirbelsäule (T1-T12) verbunden. Auf der vorderen Seite des Thorax sind die sieben oberen Rippen mit dem Brustbein knorpelig verwachsen, während die unteren Rippen indirekt mit dem Brustbein gekoppelt oder mit Muskeln und der Bauchdecke verbunden sind. Untereinander sind die Rippen durch innere und äussere Muskeln (interkostale Muskulatur) verbunden.
K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
158
Thoraxverletzungen
Ansicht von links.
Abb. 5.1 Anatomie des Thorax [nach Sobotta 1997, Netter 2003].
Anatomie des Thorax
159
Da die Verbindungen mit den Wirbelkörpern, der interkostalen Muskulatur und dem Brustbein nicht steif sind, sondern eine gewisse Flexibilität aufweisen, bildet der Brustkorb eine zwar stabile, aber doch deformierbare Schutzhülle für die inneren Organe und unterstützt zudem die Atmung. Während der Brustkorb eines Neugeborenen sehr nachgiebig ist, nimmt dessen Steifigkeit mit dem Alter zu, wobei jedoch eine gewisse Beweglichkeit erhalten bleibt. Bei älteren Personen werden insbesondere die Gelenke zwischen den Rippen und dem Brustbein bzw. den Wirbelkörpern steifer. Zusätzlich verändern sich auch die mechanischen Eigenschaften der knöchernen Rippen, die spröder werden. Dadurch steigt das Risiko von Rippenfrakturen; die Schutzfunktion des Brustkorbs wird reduziert. Das vom Brustkorb umfasste Volumen kann in drei Bereiche unterteilt werden. Der rechte und linke äussere Bereich enthält die Lungenflügel. Im mittleren Teil (Mediastinum genannt) liegen u.a. das Herz, die Luftröhre sowie grosse Blutgefässe. Der linke Lungenflügel besteht aus zwei Lungenlappen, der rechte Lungenflügel besitzt drei Lappen. Zwei Membrane umhüllen die Lunge: die Pleura visceralis umschliesst das Lungengewebe und die Pleura parietalis kleidet die Innenseite des Brustkorbs (einschliesslich der kranialen Seite des Zwerchfells und der Wirbelkörper) aus. Die Pleura visceralis und die Pleura parietalis sind nicht miteinander verbunden, sondern lassen einen kleinen Spalt. Dieser Pleura-Spalt ist ein abgeschlossener Raum. Um die Lunge entfaltet bzw. luftgefüllt zu halten, herrscht im Pleura-Spalt ein Unterdruck. Kann dieser Unterdruck nicht aufrecht erhalten werden (z.B. durch eine Perforation der Brust), füllt sich der Pleura-Spalt mit Luft und die Lunge fällt in sich zusammen. Dieses Phänomen wird Pneumothorax genannt (s. auch Kap. 5.2.2). Zur Atmung arbeiten das Zwerchfell, die Rippen und die interkostale Muskulatur wie eine Pumpe, um Luft in die Lunge zu saugen (Inspiration) bzw. um Luft aus der Lunge herauszupressen (Exspiration). Zur Inspiration hebt sich der Brustkorb während sich das Zwerchfell senkt, so dass das Volumen des Thorax vergrössert wird. Folglich wird die Lunge auseinandergezogen und Luft eingesogen. Zur Exspiration entspannen sich die Thoraxstrukturen und das Zwerchfell wieder. Das Mediastinum liegt zwischen den beiden Lungenflügeln, den Brustwirbeln und dem Brustbein und enthält neben dem Herz auch grosse Blutgefässe wie die Aorta, die Hohlvene (Vena cava), sowie die Lungenarterien und -venen (Abb. 5.1). Wegen der räumlichen Enge im Mediastinum können diese Strukturen durch Druck auf den vorderen
160
Thoraxverletzungen
Brustkorb leicht verletzt werden.
5.2
Verletzungsmechanismen
Die hier beschriebenen Thoraxverletzungen und deren Verletzungsmechanismen konzentrieren sich auf stumpfe Traumen in Strassenverkehrsunfällen. Daher werden nur Situationen betrachtet, bei denen ein flaches oder stumpfes Objekt auf den Brustkorb trifft, ohne in diesen einzudringen. Solche Situationen treten meist bei Unfällen, bei denen ein Fahrzeuginsasse an Strukturen wie dem Lenkrad, dem Armaturenbrett oder an Komponenten der Rückhaltesysteme prallt, auf. In diesem Zusammenhang sind insbesondere auch Fälle zu beachten, in denen der Insasse nicht in der vorgesehenen Weise auf dem Sitz sitzt, sondern eine andere Position einnimmt ("out-of-position"), also beispielsweise die Füsse auf das Armaturenbrett legt. Des Weiteren sind Thoraxverletzungen bei älteren Fahrzeuginsassen zu berücksichtigen [Yoganandan et al. 2007]. Erfährt der Thorax einen stumpfen Anprall können drei verschiedene Verletzungsmechanismen unterschieden werden: a) Kompression, b) eine Belastung, die durch Viskosität charakterisiert ist, und c) eine Belastung der inneren Organe durch Trägheit. Zudem können Kombinationen dieser drei Typen auftreten. Die resultierenden Verletzungen können als Verletzungen der knöchernen Strukturen und der Weichteile charakterisiert werden. Sehr häufig werden der Brustkorb und die Lunge in Verbindung mit Rippenfrakturen, Frakturen des Brustbeins und Rupturen der Pleura verletzt. Falls Frakturen der Wirbel auftreten können auch Verletzungen des Rückenmarks entstehen, die zu temporären neurologischen Ausfällen bis hin zu Querschnittslähmungen führen können. Glücklicherweise sind solche Verletzungen selten, ebenso wie Verletzungen der Aorta, des Herzens, der Speiseröhre und des Zwerchfells. Ein Überblick über verschiedene Verletzungen und deren AIS Code (Abbreviated Injury Scale) fasst Tabelle 5.1 zusammen. Da die heutige Fahrzeugflotte immer noch einen nicht unerheblichen Anteil an Fahrzeugen enthält, die mit älteren Rückhaltesystemen ausgerüstet sind und da ein signifikanter Teil der Fahrzeuginsassen vorhandene Rückhaltesysteme wie den Sicherheitsgurt nicht oder nicht korrekt benutzt, werden entsprechend immer noch Verletzungen der knöchernen Thoraxstrukturen beobachtet (z.B. durch Anprall an das Lenkrad). Mit zunehmender Benutzung der Sicherheitsgurte und zunehmender Verbreitung von modernen Frontairbags ist zu erwarten,
Verletzungsmechanismen
161
Tabelle 5.1 Beispiele der AIS Einteilung von Thoraxverletzungen der knöchernen Strukturen und der Weichteile [AAAM 2005]. AIS knöcherne Verletzungen
AIS Weichteilverletzungen
1 eine Rippenfraktur
1 Kontusion der Bronchien
2 2-3 Rippenfrakturen; BrustbeinFraktur
2 Einriss der Bronchien
3 4 oder mehr Rippenfrakturen auf einer Seite; 2-3 Rippenfrakturen mit Hämato- oder Pneumothorax
3 Lungenkontusion, leichte HerzKontusion
4 Dreschflegel-Thorax (“flail chest”); 4 oder mehr Rippenfrakturen auf jeder Seite; 4 oder mehr Rippenfrakturen mit Hämato- oder Pneumothorax
4 beidseitige Lungen-Lazeration; kleine Aorta-Lazeration; erhebliche Herz-Kontusion
5 beidseitiger Dreschflegel-Thorax (“flail chest”)
5 erhebliche Aorta-Lazeration; Lungen-Lazeration mit Pneumothorax 6 Aorten-Lazeration mit nicht auf das Mediastinum beschränkter Blutung
dass die Häufigkeit dieser Verletzungen abnehmen wird. Während die Mechanismen von Rippenfrakturen und einigen Lungenverletzungen heute bereits relativ gut bekannt sind, sind Mechanismen, die zu Verletzungen
Abb. 5.2 Mögliche Weichteil-Verletzungen des Thorax.
162
Thoraxverletzungen
anderer Organe des Thorax führen, weniger gut erforscht. Abbildung 5.2 fasst mögliche Weichteilverletzungen zusammen. 5.2.1
Rippenfrakturen
Gemäss AIS kann eine einzelne Rippenfraktur als AIS1 Verletzung betrachtet werden. Sind 2-3 Rippen gebrochen, erhöht sich die Klassifikation auf AIS2. Folglich sind solche Frakturen in der Regel nicht schwerwiegend und tatsächlich heilen isolierte, einzelne Rippenfrakturen üblicherweise ohne besondere Therapie von selbst. Treten jedoch multiple Frakturen auf, so kann es zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Bleiben die Haut und das über der Fraktur liegende Gewebe intakt, spricht man von einer geschlossenen Fraktur. Perforieren scharfe Kanten der gebrochenen Rippen jedoch den Brustkorb, spricht man von offenen Frakturen. Solche offenen Frakturen sind besonders besorgniserregend, da sie zu einem Pneumothorax, einem Kollaps der Lunge oder auch zu Infektionen führen können. Gebrochene Rippen können zudem die Pleura visceralis und/oder parietalis perforieren und dadurch Atemprobleme verursachen. Im Allgemeinen entstehen durch eine sagittale Belastung des Thorax eher einzelne Rippenfrakturen, während ein seitlicher Anprall häufiger zu multiplen Rippenfrakturen (bzw. Rippenserienfrakturen) führt. Grundsätzlich können Rippen an irgendeiner Stelle brechen, am wahrscheinlichsten ist es jedoch, dass sie am Punkt ihrer grössten Krümmung und am Angriffspunkt der wirkenden Kraft brechen. Da die Rippen seitlich stärker gekrümmt sind und da dort weniger Muskelgewebe die Rippen bedeckt und dadurch schützt, sind laterale Frakturen wahrscheinlicher. Die Lokalisation seitlicher Rippenfrakturen hängt zudem von der Form des anprallenden Körpers ab (Abb. 5.3). Im Falle multipler Rippenfrakturen kann die Thoraxwand ihre Stabilität verlieren. Dies kann dazu führen, dass die Bewegung des Thorax umgekehrt zur normalen Bewegung erfolgt: beim Einatmen (Inspiration)
Abb. 5.3 Lokalisation von Rippenfrakturen in Abhängigkeit eines Anprallkörpers [nach Kramer 1998].
Verletzungsmechanismen
163
wird die verletzte Thoraxwand angesaugt und reduziert dadurch das Lungenvolumen. Bei Exspiration bewegt sich die Wand nach aussen und erschwert dadurch das Herauspressen der Luft aus der Lunge. Je grösser die Fläche einer derart verletzten Thoraxwand, desto geringer der Luftaustausch. Das Phänomen wird Dreschflegel-Thorax (“flail chest”) genannt und kann letztlich zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff (Hypoxie) führen. Wie Leichenversuche zeigten [z.B. Stalnaker und Mohan 1974, Melvin et al. 1975] hängt die Anzahl der Rippenfrakturen mehr von der Grösse der Durchbiegung der Rippen als vom zeitlichen Verlauf der Biegung bzw. der Biegegeschwindigkeit ab. Wegen der Viskosität des Thorax wird die Grösse der Kraft jedoch durch das Zeitprofil, mit der sie einwirkt, bestimmt. Für ein bestimmtes zeitabhängiges Profil der Belastung scheint die Höhe der Kraft mit der Anzahl der Rippenfrakturen zusammenzuhängen. Die plastischen Verformungseigenschaften des Knochens können zudem einen wichtigen Einfluss auf die maximalen, in Rippen auftretenden Spannungen haben (s. Kap. 2.2). Wird an einer Stelle die maximale plastische Spannung überschritten, ist keine (bzw. nur sehr geringe) Steigerung mehr möglich; die Bruchgrenze ist erreicht. Wird die plastische Verformung vernachlässigt, werden die zugehörigen Spannungen überschätzt. Des Weiteren ist das Auftreten von Rippenfrakturen sehr altersabhängig. Kann der Brustkorb bei jungen Menschen von vorne ohne das Auftreten von Frakturen derart zusammengedrückt werden, bis er die Wirbelsäule berührt (wobei allerdings die inneren Organe entsprechend komprimiert werden), so brechen die Rippen von Personen, die älter als 50 Jahre sind schon bei viel niedrigeren Belastungen (z.B. auch im Zuge einer HerzLungen-Wiederbelebung). 5.2.2
Lungenverletzungen
Verletzungen des Atemsystems sind vor allem Verletzungen der Lunge (Abb. 5.2). Durch Kompression des Thorax (sowohl mit als auch ohne Rippenfraktur) kann eine Kontusion der Lunge entstehen. Dies tritt oftmals in Kombination mit einem sogenannten Dreschflegel-Thorax (s. oben) auf. Im Unterschied zu Rippenfrakturen hängen Lungenkontusionen vom zeitlichen Verlauf einer Belastung ab [Fung und Yen 1984]. Bei hohen Geschwindigkeiten wird eine Druckwelle durch die Thoraxwand auf das Lungengewebe übertragen, die zu Verletzungen der Kapillaren der Alveolen (Lungenbläschen) führt. Manchmal wird auch eine zentrale Kontusion der Lunge ohne Schädigung des umliegenden Gewebes
164
Thoraxverletzungen
beobachtet. Im Sinne einer Komplikation erhöht eine Lungen-Kontusion zudem das Risiko eine Pneumonie (Lungenentzündung). Eine Lazeration und gelegentlich auch Perforation des Lungengewebes kann nahe von Rippenfrakturen auftreten. Hierdurch kann sich ein Pneumooder Hämatothorax entwickeln. Im ersten Fall füllt sich der Pleura-Spalt mit Luft, im zweiten mit Blut. Eine Kombination, bei der der Pleura-Raum sowohl Blut wie Luft enthält heisst Hämato-Pneumothorax. Ein Pneumothorax resultiert aus einer Perforation der Pleura, d.h. im Membranbeutel zwischen Lunge und Brustkorb ist (z.B. durch eine gebrochene Rippe) ein Loch entstanden. Beim Einatmen reduziert sich der intrapleurale Druck und es wird Luft durch das Loch aus der Lunge in den Pleura-Spalt gesogen; beim Ausatmen wird die Lazeration hingegen zusammengedrückt, so dass die Luft aus dem Pleura-Spalt nicht mehr austreten kann. Folglich nimmt die Luft im Pleura-Spalt zu und komprimiert schliesslich die Lunge. Ein Hämatothorax reduziert das effektive Lungenvolumen durch Blut im Pleuraspalt. Die Einblutung kann durch Verletzungen entsprechender Blutgefässe, z.B. im Lungengewebe, bedingt sein. 5.2.3
Verletzungen anderer Organe des Thorax
Durch eine Belastung des Thorax kann das Herz verschiedene Verletzungen erleiden, beispielsweise Kontusionen und Lazerationen (Riss-/ Schnittwunden) (Abb. 5.2). Eine Kontusion entsteht durch Kompression und hängt mit der damit verbundenen Kompressionsgeschwindigkeit zusammen. Eine Lazeration hingegegen ist von der Grösse der Kompression abhängig. Je nach Charakteristik der Belastung (insbesondere bei hoher Geschwindigkeit) können zudem Herzrhythmusstörungen, Kammerflimmern oder ein Herzstillstand auftreten. Eine solche Belastung unter hoher Geschwindigkeit (15 - 20 m/s) scheint die elektromechanische Signalübertragung zu beeinträchtigen. Abbildung 5.4 illustriert eine Kompression des Herzens zwischen Brustbein und Wirbelsäule. Des Weiteren können grosse thorakale Blutgefässe wie die Aorta verletzt werden. Rupturen und Lazerationen sind die bei einem stumpfen Trauma am häufigsten beobachteten Verletzungen. Cavanaugh (2002) berichtet, dass arterielle Verletzungen zwar nur für 6 % bis 8 % der Verletzungen mit AIS >2 verantwortlich sind, diese aber 27 % bis 30 % der damit verbundenen Kosten entsprechen. Erwähnenswert ist ferner, dass 80 % bis 85 % derjenigen, die bei einem Strassenverkehrsunfall ein Aortentrauma erleiden, noch an der Unfallstelle versterben [Smith und Chang 1986]. Die
Verletzungsmechanismen
165
Abb. 5.4 Kompression des Herzens [nach Kramer 1998].
entsprechenden Verletzungsmechanismen fanden sich überwiegend bei Autounfällen mit hoher Geschwindigkeit gefolgt von Stürzen und angefahrenen Fussgängern [Ochsner et al. 1989]. Es wird davon ausgegangen, dass eine Ruptur der Aorta entweder durch Zug- oder Scherkräfte zwischen relativ beweglichen Teilen des Gefässes und besser fixierten Stellen oder durch direkte Kompression gegen die Wirbelsäule oder durch plötzlichen exzessiven Anstieg des Drucks in der Aorta entsteht. Abbildung 5.5. zeigt schematisch verschiedene Möglichkeiten einer Ruptur der Aorta bei Kompression des Thorax. Des Weiteren hat Viano (1983) darauf hingewiesen, dass sich das mit Blut gefüllte Herz durch seine Trägheit innerhalb des Thorax verschieben kann und dadurch Strukturen, die den Bogen der Aorta fixieren, wie die nach oben abzweigenden Arterien oder das Ligamentum arteriosum, gestreckt werden können. Dies kann bei der vertikalen, lateralen oder schrägen Verschiebung des Herzens vorkommen. Zudem beschreibt Viano die Möglichkeit einer Lazeration der Aorta durch eine Kombination aus
Abb. 5.5 Kompression des Herzens und mögliche Rupturen der Aorta [nach Viano 1990].
166
Thoraxverletzungen
Abb. 5.6 Druck auf den Thorax kann in Kombination mit einer Hyperextension des Halses zu Verletzungen der Aorta führen [nach Viano 1990].
Abb. 5.7 Lazeration des Zwerchfells durch stumpfen Anprall am Abdomen [nach Viano 1990].
Kompression und Hyperextension der Halswirbelsäule (Abb. 5.6). Es zeigte sich, dass der Bereich des Aortenisthmus (Engstelle der Aorta) distal der Abzweigung der linken Arteria subclavia die häufigste Stelle für thorakale Aorten-Verletzungen ist. 90 % solcher Verletzungen treten hier auf [Creasy et al. 1997]. Weitere Verletzungen der Organe des Thorax schliessen Rupturen der Speiseröhre und Lazerationen des Zwerchfells mit ein. Letztere führen zu Hernien. Wie Abbildung 5.7 zeigt, kann eine Lazeration des Zwerchfells auch Folge eines stumpfen Traumas des Bauchraums sein (s. auch Kap. 6).
5.3
Biomechanisches Verhalten
Um das biomechanische Verhalten des Thorax mittels Parametern wie Beschleunigung, Kraft, Verformung oder Druck charakterisieren zu können, wurde eine Vielzahl von kontrollierten Laborversuchen
Biomechanisches Verhalten
167
durchgeführt. Vor allem in den 1970er Jahren wurden umfangreiche Leichenversuche durchgeführt, um Verletzungen nach einem Anprall zu untersuchen. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden dann zur Entwicklung von Dummys für Frontal- und Seitenkollisionen wie auch für die Definition von Verletzungskriterien verwendet. Des Weiteren wurden mit diesen Daten mathematische Modelle des Thorax erstellt und validiert. Als Versuchsanordnung wurden hauptsächlich Pendel- und Schlittenversuche gewählt. Zusätzlich wurden quasi-statische Experimente, teilweise mit Freiwilligen, durchgeführt, um die Steifigkeit des Thorax zu bestimmen. 5.3.1
Frontale Belastungen
Um das biomechanische Verhalten des Thorax unter frontaler Belastung zu untersuchen, wurden umfassende Versuchsreihen durchgeführt. Mit Hilfe eines starren Pendels wurde der Oberkörper von Leichen mechanisch beaufschlagt (Abb. 5.8), die Verschiebung des Brustbeins gemessen und so die Kraft-Verformungs-Charakterisik des Thorax ermittelt [z.B. Kroell et al. 1971, 1974, Stalnaker und Mohan 1974]. Abbildung 5.9 zeigt eine typische in solchen Versuchen bestimmte Kraft-Verformungs-Kurve. Die Kurve zeigt eine Hysterese, die in eine Phase der Belastung und eine Phase der Entlastung unterteilt werden kann. Die Belastungsphase zeichnet sich durch einen starken initialen (Kraft-) Anstieg, der durch die viskosen Eigenschaften des Thorax bestimmt wird, und durch ein ebenfalls durch die Viskosität zu erklärendes Plateau aus. Bei maximaler Verformung bewegen sich das Pendel und das Testobjekt gemeinsam mit gleicher Geschwindigkeit. Die zu diesem Zeitpunkt gemessenen Kräfte setzen sich aus der Trägheit (bedingt durch die Beschleunigung des gesamten Körpers) und den elastischen Kräften der Kompression des Gewebes zusammen. Die Entlastungsphase beschreibt die Entlastung des komprimierten Gewebes und zeigt ein elastisches nicht-lineares Verhalten des Thorax. Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem Kraft-Plateau und der Geschwindigkeit des Impaktors (bzw. des Pendels) zeigte sich, dass das Kraft-Plateau mit der Geschwindigkeit des Impaktors zunahm. Ausnahmen waren Fälle, in denen der Impaktor eine geringe Masse, aber hohe Geschwindigkeit, aufwies. Hier trat kein Kraft-Plateau auf. Des Weiteren wurde gezeigt, dass eine geringere Masse des Impaktors zu geringerer Verformung führt [Lobdell et al. 1973]. Basierend auf Leichenversuchen wurden Kraft-VerformungsKorridore für unterschiedliche Kombinationen aus Impaktormasse und Geschwindigkeit bestimmt, die als Vorgaben für das Verhalten von
168
Thoraxverletzungen
Abb. 5.8 Verwendung eines Impaktors zur Beaufschlagung des Brustbeins einer Leiche [aus Kroell et al. 1971].
Abb. 5.9 Kraft-Verformungs-Kennlinien des Thorax aus Experimenten mit frontaler Beanspruchung [aus Kroell et al. 1974].
Crashtest-Dummys dienen. In Ergänzung zu den dynamischen Pendelversuchen, die sich auf einen Anprall am Brustbein konzentrierten, wurden quasi-statische Experimente durchgeführt. Da 3-Punkt-Sicherheitsgurte und Airbags immer weiter verbreitet sind, wird auch die Betrachtung der frontalen Belastung unter
Biomechanisches Verhalten
169
Abb. 5.10 Ergebnisse quasi-statischer Freiwilligenversuche (KraftVerformungskurve). Der Einfluss eines angespannten (“tensed”) und eines entspannten (“relaxed”) Thorax wird deutlich [aus Lobdell 1973].
langsamerer Beaufschlagung wichtiger. Auch die Verteilung der durch einen auslösenden Airbag auf die Rippen übertragenen Kraft und die durch den Sicherheitsgurt auf das Schlüsselbein übertragene Belastung erfordern eine quasi-statische Betrachtung der Belastung des Thorax. Zur Durchführung solcher Versuche wird das Brustbein von Freiwilligen oder Leichen über eine Platte beaufschlagt, wobei der Rücken der Person (bzw. Leiche) an einer starren, unverformbaren Struktur anliegt. Die applizierte Kraft und die Eindrückung des Thorax (in antero-posteriorer Richtung) werden gemessen. Aus entsprechenden publizierten Messergebnissen leiteten Melvin et al. (1985) bei einer Eindrückung des Thorax von bis zu 41 mm eine lineare Steifigkeit von etwa 26.3 N/mm ab. Für grössere Deformationen von mehr als 76 mm steigt die Steifigkeit auf 120 N/mm an. Diese Ergebnisse werden jedoch durch die individuelle Konstitution der Testpersonen beeinflusst und unterscheiden sich ferner erheblich je nach Zustand während der Durchführung des Tests (z.B. angespannter bzw. entspannter Thorax bei Freiwilligenversuchen, frische oder balsamierte Leiche). Die in Abbildung 5.10 dargestellten Ergebnisse von Lobdell et al. (1973) zeigen beispielsweise einen deutlichen Unterschied zwischen angespanntem bzw. entspanntem Oberkörper bei Versuchen mit Freiwilligen. Das Ergebnis, dass die Steifigkeit des Thorax in angespanntem Zustand zunimmt, kann im Zusammenhang mit Verletzungstoleranzen als vorteilhaft betrachtet werden. Der Einfluss des Tragens eines Sicherheitsgurtes, insbesondere des diagonalen Schultergurtes (z.B. als Teil eines 3-Punkt-Gurtes) auf die Belastung eines Fahrzeuginsassen wird ebenfalls seit den späten 1970er
170
Thoraxverletzungen
Jahren untersucht. Es wurde beobachtet, dass der Thorax unter konzentrierten Belastung durch den Sicherheitsgurt stärker verletzlich ist. Verletzungen wegen einer Belastung durch den Sicherheitsgurt schienen durch Kompression des Thorax verursacht zu werden. Moderne Gurtsysteme weisen daher beispielsweise einen Gurtkraftbegrenzer auf. Aus einer Analyse von Unfalldaten schlossen Bendjellal et al. (1997), dass die durch den Schultergurt übertragene Kraft 4 kN nicht überschreiten sollte. Auch Foret-Bruno et al. (1998) schlugen eine Gurtkraftbegrenzung auf 4 kN, kombiniert mit einem abgestimmten Airbagsystem, vor. Sie schätzten, dass bei Frontalkollisionen dadurch 95 % der AIS3+ Thoraxverletzungen verhindert werden könnten. Auch die Belastung des Thorax durch das Auslösen von Airbags wurde in verschiedenen Studien bewertet [z.B. Cavanaugh 2002]. Im Allgemeinen wurde das Entstehen von Verletzungen mit dem Druck im Airbag in Verbindung gebracht. Auf einen Fahrzeuginsassen können grosse Kräfte wirken, wenn zu einem Zeitpunkt während des Aufblasens des Airbags dessen verfügbares Volumen kleiner ist, als das erzeugte Gas-Volumen. Befindet sich ein Fahrzeuginsasse beispielsweise in einer ungünstigen Sitzposition zu nahe am Airbag (“out of position”) und behindert dessen Vorgang des Aufblasens, kann auf den Thorax des Insassen eine durch den Druck im Airbag entstehende Kraft wirken. Abbildung 5.11 illustriert eine solche Belastung (“punch-out mechanism”). Die Wechselwirkung mit dem Airbag wird dabei durch eine zu geringe Nähe zum Airbagsystem bestimmt, wodurch eine normale Entfaltung des Airbags eingeschränkt wird. Dies kann bereits ganz am Anfang der Entfaltung (z.B. auch schon durch eine Position auf dem noch geschlossenen Airbag-Modul) auftreten oder auch erst zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem der Airbag bereits teilweise aufgeblasen wurde (“membrane loading”, Abb. 5.11). In letzterem Fall umschlingt der Airbag neben dem Thorax auch den Kopf-HalsBereich, so dass zusätzlich zu Verletzungen des Thorax auch Kopfverletzungen (z.B. Schädelbasisfrakturen) auftreten können [McElhaney et al. 2002]. Es zeigt sich somit, dass die Abstimmung zwischen Airbag- und Gurtsystem ein wichtiger Aspekt zur Maximierung des Nutzens solcher Systeme ist. Nach Untersuchung von Unfällen mit ausgelöstem Frontairbag kam Otte (1995) zu dem Schluss, dass das Schutzpotential eines 3-PunktSicherheitsgurtes bis zu einem delta-v Wert von 35 km/h bis 40 km/h ausreichend ist. Bei höheren delta-v Werten sollte ein zusätzliches Airbagsystem aktiviert werden. Kallieris et al. (1995) halten im Gegensatz dazu eine Kompression des Thorax, wie sie durch einen Airbag entsteht, für vorteilhaft, da die Kraft gleichmässiger verteilt wird. Nach der
Biomechanisches Verhalten
171
Abb. 5.11 Mechanismen für Verletzungen, die durch Auslösen des Airbags verursacht werden. Links: Druck auf den Thorax (“punch-out loading”). Rechts: Druck auf Thorax und den Kopf-Hals-Bereich (“membrane loading”) [aus Melvin und Mertz 2002].
Durchführung von Leichenversuchen (Frontalkollision, 48 km/h Kollisionsgeschwindigkeit) schlugen sie vor, insgesamt das Rückhalten des Insassen zwar durch einen Gurt zu bewerkstelligen, zur Entschärfung des Verletzungsrisikos des Thorax sollte dieser jedoch mittels Airbagsystemen geschützt werden. Der Index CTI (“combined thoracic index”) wurde entwickelt, um in Crashtests sowohl die Belastung durch einen Airbag wie durch ein Gurtsystem zu bewerten (s. Kap. 4.5). Verschiedene Toleranzwerte für eine Belastung des Thorax bei Frontalkollisionen sind in Tabelle 5.2 zusammengestellt. Auf Basis experimenteller Ergebnisse wurde ein mathematisches Modell zur Beschreibung des Verhaltens des Thorax unter frontaler Belastung entwickelt [Lobdell et al. 1973]. Das Massepunkt-Modell (“lumped-mass model”) verwendet Massepunkte, Federn und Dämpfer (Abb. 5.12), wobei die Kraft-Verformungs-Antwort des Modells an die experimentell bestimmten Korridore unter geringer und hoher Beaufschlagungsgeschwindigkeit angepasst wurde [Kroell et al. 1971, 1974]. Zwischenzeitlich wurde das Modell in verschiedenen Arbeiten modifiziert und mit zusätzlichen Versuchsdaten validiert. Im Rahmen von Designstudien zum Thorax von Dummys wird das Modell immer nochangewendet, obschon entsprechende Finite Elemente Modelle immer ausgereifter werden (s. Kap. 2).
172
Thoraxverletzungen
Tabelle 5.2 Toleranzwerte für frontale Belastung des Thorax. Toleranzwerte
Verletzungen
Referenzen
3.3 kN auf Brustbein
leichte Verletzung
Patrick et al. (1969)
8.8 kN auf Brust und Schultern
leichte Verletzung
Patrick et al. (1969)
3ms Wert für Hybrid III
FMVSS 208 (alte Version)
58 mm
keine Rippenfraktur
Stalnaker und Mohan (1974)
52 mm
Grenze für Hybrid III (5%)
FMVSS 208
63 mm
Grenze für Hybrid III (50%)
FMVSS 208
20 %
Beginn von Rippenfrakturen
Kroell et al. (1971,1974)
40 %
Dreschflegel-Thorax (“flail chest”)
Kroell et al. (1971,1974)
1.0 m/s
25 % Wahrscheinlichkeit für AIS ≥4
Viano und Lau (1985)
1.3 m/s
50 % Wahrscheinlichkeit für AIS ≥4
Viano und Lau (1985)
50 % Wahrscheinlichkeit für AIS >3 bei Leichen
Kleinberger et al. (1998)
Kraft:
Beschleunigung: 60 g Eindrückung:
Kompression:
VCmax:
Combined Thoracic Index CTI: Amax/60g+Dmax/ 76mm
Abb. 5.12 Viskoses Thoraxmodell [aus Lobdell 1973].
Biomechanisches Verhalten 5.3.2
173
Laterale Belastungen
Um das biomechanische Verhalten den menschlichen Körpers unter seitlich einwirkender Belastung zu untersuchen, wurden die gleichen Methoden wie zur Analyse des Effekts frontaler Belastungen verwendet. Leichenversuche waren die Methode der Wahl, um die Kraft-VerformungsKennlinien des Thorax unter lateraler Beanspruchung zu bestimmen. Als Ergebnis solcher Experimente wurden Hysterese-Kurven erhalten, die denjenigen aus frontalen Belastungen ähnlich sind. Ein Unterschied bestand jedoch darin, dass man kein oder nur ein wesentlich weniger ausgeprägtes Kraft-Plateau festgestellt hat. Zudem wurde gezeigt, dass der Widerstand des Thorax gegen seitliche Belastungen geringer ist als gegen frontale Belastungen. Auch hat der Arm der Testperson bzw. des Testobjekts je nach Position während des Anpralls einen Einfluss auf die Ergebnisse. Der Arm kann ganz oder teilweise zwischen der anprallenden Masse und dem Thorax liegen oder angehoben sein. Cesari et al. (1981) demonstrierten diesen Einfluss in einer Testreihe mit Leichen. Es zeigte sich, dass der Arm eine schützende Wirkung haben kann, wenn er sich zwischen dem anprallenden Objekt und dem Thorax befindet. Zusätzlich zu Tests mit Impaktoren wurden sogenannte Fall-Versuche durchgeführt, um die Kraft-Deformations-Charakteristik der Thorax-Seite des Anpralls zu analysieren. Dazu hat man Leichen aus einer Höhe von 1 m bis 3 m auf eine Kraftmessplatte fallen lassen [z.B. Stalnaker et al. 1979, Tarriere et al. 1979]. Die Ergebnisse, die teilweise auch mit abgedeckten bzw. gepolsterten Kraftmessplatten erzielt wurden, sind in Tabelle 5.3 zusammengefasst. Als weiteres Resultat dieser Versuche wurde ein Korridor zur Entwicklung eines Seitenanprall-Dummys vorgeschlagen. Um die Auswirkungen von Seitenkollisionen zu untersuchen wurden auch an der Universität Heidelberg entsprechende Schlittenversuche durchgeführt [Kallieris et al. 1981]. Ein Sitz, dessen Bezug einen geringen Reibungskoeffizienten aufwies, wurde auf einem Schlitten montiert. Der Schlitten wurde dann aus einer gewählten Geschwindigkeit abrupt abgebremst, so dass die auf dem Sitz sitzenden Testobjekte (Leichen) seitlich rutschten und gegen eine (gepolsterte und ungepolsterte) Wand prallten. Die Beschleunigungen der Rippen, des Brustbeins und der Brustwirbelkörper wurden gemessen. Es zeigte sich, dass neben den Beschleunigungen auch physische Parameter der Testobjekte einen signifikanten Einfluss auf das Entstehen von Verletzungen hatten. Daher wurde der “Thoracic Trauma Index” (TTI) vorgeschlagen [Eppinger et al. 1984], der unter anderem auch das Alter berücksichtigt (s. auch Kap. 5.4). Heutige Seitenanprall-Dummys erlauben die Messung der Beschleunigung
174
Thoraxverletzungen
Table 5.3 Toleranzwerte für seitlichen Anprall des Thorax. (Abkürzungen: Wkt.= Wahrscheinlichkeit). Toleranzwerte
Verletzungen
Referenzen
Kraft: 7.4 kN
AIS0
Tarriere et al. (1979)
10.2 kN
AIS3
Tarriere et al. (1979)
5.5 kN
25% Wkt. von AIS ≥4
Viano (1989)
T8-Y 45.2 g
25% Wkt. von AIS ≥4
Viano (1989)
T12-Y 31.6 g
25% Wkt. von AIS ≥4
Viano (1989)
60 g
25% Wkt. von AIS ≥4
Cavanaugh et al. (1993)
TTI(d) 85 g
Max. für SID bei Fahrzeug mit 4 Türen
FMVSS 214
TTI(d) 90 g
Max. für SID bei Fahrzeug mit 2 Türen
FMVSS 214
TTI 145 g
25% Wkt. von AIS ≥4
Cavanaugh et al. (1993)
TTI 151 g
25% Wkt. von AIS ≥4
Pintar et al. (1997)
35%
AIS3
Stalnaker et al. (1979), Tarriere et al. (1979)
33%
25% Wkt. von AIS ≥4
Cavanaugh et al. (1993)
38.4%
25% Wkt. von AIS ≥4
Viano (1989)
VCmax halber Thorax: 0.85 m/s
25% Wkt. von AIS ≥4
Cavanaugh et al. (1993)
VCmax halber Thorax: 1.0 m/s
50% Wkt. von AIS ≥3
Viano (1989)
1.47 m/s
25% Wkt. von AIS ≥4
Viano (1989)
Beschleunigung:
TTI(d):
Kompression der Hälfte des Thorax:
Kompression des ganzen Thorax:
auf Höhe der oberen und unteren Rippen, so dass der TTI zur Bewertung von lateralen Belastungen berechnet werden kann.
Verletzungstoleranzen und - kriterien
5.4
175
Verletzungstoleranzen und - kriterien
Wie in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben wurde, entstehen Verletzungen des Thorax durch Kompression, Belastungen aufgrund der Viskosität und Trägheit des Thorax sowie aus Kombinationen derselben. Mit Hilfe verschiedener Experimente wurden das biomechanische Verhalten des Thorax unter Belastung sowie entsprechende verletzungsinduzierende Toleranzwerte bestimmt. Zudem wurden Verletzungskriterien entwickelt, die einer gewissen Belastung des Thorax ein entsprechendes Verletzungsrisiko zuordnen. In diesem Kapitel werden die am häufigsten verwendeten Verletzungskriterien bezüglich Thorax und Toleranzwerte vorgestellt (s. auch Tab. 5.2 und 5.3). 5.4.1
Beschleunigung und Kraft
Erste Versuche die Belastung des Thorax zu quantifizieren, konzentrierten sich auf die Beschleunigung. Als Toleranzwert für schwere Thoraxverletzungen nimmt man heutzutage eine maximale Beschleunigung der Wirbelsäule an, die bei einer Einwirkdauer von 3 ms oder länger bei frontaler Belastung einen Wert von 60 g nicht überschreiten darf. Dieser Wert ist auch in FMVSS 208 zur Beurteilung von Frontalkollisionen festgeschrieben. Für laterale Anpralle wurden unterschiedliche Grenzwerte vorgeschlagen (s. Tab. 5.2). In engem Bezug zur Beschleunigung steht die Definition von Toleranzwerten für eine einwirkende Kraft. Nimmt man eine effektive Masse des Thorax von 30 kg an, so entspricht eine Kraft von 17.6 kN der Beschleunigung von 60 g. Leichenversuche von Patrick et al. (1969) zeigten jedoch, dass leichte knöcherne Verletzungen bereits bei 3.3 kN für einen Anprall am Brustbein und 8.0 kN für eine verteilte Belastung auf Schultern und Thorax auftraten. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Zuverlässigkeit eines einzelnen Beschleunigungs- oder Kraftkriteriums als allgemeiner Parameter zur Beurteilung von Thoraxverletzungen eher beschränkt ist. Zudem berücksichtigt keines der beiden Kriterien das viskose Verhalten des Thorax. Folglich wurden komplexere Kriterien entwickelt, um eine bessere Korrelation mit den Ergebnissen experimenteller Studien zu erhalten. 5.4.2
Thoracic Trauma Index (TTI)
Beim “Thoracic Trauma Index” (TTI) handelt es sich um ein
176
Thoraxverletzungen
Verletzungskriterium, das zur Bewertung von Seitenkollisionen entwickelt wurde. Es wurde dabei angenommen, dass das Auftreten von Verletzungen an das Mittel der maximalen seitlichen Beschleunigung des Brustkorbs (auf der Seite des Anpralls) und der Beschleunigung der unteren Brustwirbelsäule gekoppelt ist. Zudem berücksichtigt der TTI das Gewicht und das Alter der Testperson (bzw. Leiche) und kombiniert damit Informationen zur Kinematik mit Parametern zur individuellen Konstitution. Das TTI Kriterium (Dimension: [g]) ist wie folgt definiert: TTI = 1,4AGE + 0,5 ( RIB y + T12 y ) ( M ⁄ M std )
(5.1)
wobei AGE das Alter der Testperson (in Jahren) beschreibt; RIBy [g] repräsentiert das Maximum des Absolutwerts der lateralen Beschleunigung auf Höhe der 4. und 8. Rippe auf Seite des Anpralls; T12y [g] ist das Maximum des Absolutwerts der seitlichen Beschleunigung am 12. Brustwirbel; M beschreibt die Masse [kg] der Testperson und Mstd ist ein Referenzwert von 75 kg. Verwendet man zur Durchführung von Crashtests einen 50-perzentilen Hybrid III Dummy kann eine modifizierte Form des TTI, der TTI(d), berechnet werden. Um die TTI(d) Werte zu bestimmen wird der altersabhängige Term in Gleichung 5.1 weggelassen und das Masseverhältnis wird zu 1.0. Es ist zu beachten, dass die Beschleunigungssignale vor der Berechnung des TTI bzw. TTI(d) bearbeitet werden müssen, d.h sie sind zu filtern und die Abtastrate (sampling) ist gemäss den Vorgaben aus FMVSS 214 und SAE J1727 anzupassen. Es wurde eine grosse Anzahl an Experimenten durchgeführt, um TTIWerte mit Thorax-Verletzungen zu korrelieren [z.B. Kallieris et al. 1981]. Anschliessend wurden mittels statistischer Methoden Risikofunktionen definiert. Folglich reflektiert der TTI mehr eine statistische Korrelation als eine biomechanische. Dies gilt insbesondere da es keinen direkten Bezug zu einem Verletzungsmechanismus aufweist. 5.4.3
Compression Criterion (C)
Nach der Durchführung von stumpfen Anpralltests schlossen Kroell at al. (1971, 1974), dass die maximale Thorax-Kompression gut mit der AIS Einteilung von Verletzungen korreliert, während Kraft und Beschleunigung dies nicht taten. Es wurde folgende Beziehung gefunden: AIS = – 3,78 + 19,56C
(5.2)
Verletzungstoleranzen und - kriterien
177
Hierbei definiert sich die Kompression C als Deformation der Brust geteilt durch die Dicke des Thorax. Misst man eine Eindrückung des Thorax von 92 mm bei einer Dicke von 230 mm für einen 50-perzentilen Mann, ergibt sich eine Kompression C von 40 %, was eine AIS4 Verletzung erwarten lässt. 30 % Kompression führt zu AIS2 Verletzungen. Die statistische Analyse des Verletzungsrisikos zeigt, dass bei Frontalkollisionen eine Thorax-Kompression von 35 % mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 % zu einer schweren Verletzung gemäss AIS4 oder mehr führt. FMVSS 208 gestattet bei einem 50-perzentilen Hybrid III Dummy für Frontalkollisionen eine maximale Eindrückung von 76 mm. 5.4.4
Viscous Criterion (VC)
Das VC Kriterium (“viscous criterion” oder auch “velocity of compression” genannt) ist ein Brustverletzungskriterium, welches berücksichtigt, dass Weichteilverletzungen nicht nur von der Kompression selbst, sondern auch von der Geschwindigkeit der Kompression abhängen. Der VC-Wert [m/s] beschreibt das Maximum des (zeitabhängigen) Produkts aus der Verformungsgeschwindigkeit und der Deformation des Thorax. Beide Parameter werden durch Messen der Rippeneindrückung (Seitenkollision) bzw. Brusteindrückung (Frontalkollision) bestimmt. Folglich gilt: d[D(t)] VC = V ( t ) × C ( t ) = ------------------dt
D(t ) b
× -----------
(5.3)
wobei V(t) [m/s] die Geschwindigkeit der Deformation darstellt und durch Differentiation der Verformung D(t) berechnet wird. C(t) steht für die Funktion der Kompression, die als Verhältnis der Deformation D(t) und der anfänglichen Dicke des Torsos b definiert ist. Details, wie die Messdaten gefiltert werden müssen, finden sich für Seitenkollisionen in ECE R94 bzw. für Frontalkollisionen in SAE J1727. Oftmals wird auch das Maximum des VC, VCmax, angegeben, für das eine gute Korrelation mit dem Risiko für Thoraxverletzungen gefunden wurde [Viano und Lau 1985]. Unter Verwendung des Lobdell Modells (s. Kap. 5.3.1) kann eine Beziehung zwischen VC und der vom Thorax absorbierten Energie hergeleitet werden. Als Grenzwerte schreiben sowohl ECE R95 (Seitenanprall) und ECE R94 (frontaler Anprall) einen VC-Wert von kleiner oder gleich 1.0 m/s vor. 5.4.5
Combined Thoracic Index (CTI)
Der Index CTI stellt ein weiteres Verletzungskriterium für den Thorax unter frontaler Beanspruchung dar [Kleinberger et al. 1998]. Als Kombination
178
Thoraxverletzungen
aus Kompression und Beschleunigung zielt das CTI Kriterium insbesondere auf die Bewertung von Belastungen durch Airbags und Gurtsysteme ab. Der CTI ist definiert aus dem 3 ms Wert der resultierenden Beschleunigung der Wirbelsäule (analog zum 3 ms Kriterium) und der Eindrückung der Brust und wird gemäss folgender Gleichung berechnet: A D max- + -------------maxCTI = ------------A int D int
(5.4)
worin
Amax = 3 ms Wert der resultierenden Beschleunigung der Wirbelsäule [g] Aint = kritischer 3 ms Referenzwert [g] Dmax = Eindrückung der Brust [mm] Dint = kritischer Referenzwert der Eindrückung [mm]. Die kritischen Referenzwerte wurden für verschiedene Dummy-Typen bestimmt. Für den 50-perzentilen Hybrid III lauten sie beispielsweise 85 g für Aint und 102 mm für Dint. Das CTI Kriterium berücksichtigt die unterschiedliche Belastung des Thorax durch Gurt- bzw. Airbagsystem. Es basiert auf der Annahme, dass der Gurt bei gegebener Belastung einen grösseren Druck über seine Kontaktfläche aufbaut als ein Airbagsystem, welches eine grössere Kontaktfläche hat. Bei einem kombinierten Gurt-/Airbagsystem kann die konzentrierte Belastung quasi entlang einer Linie (d.h. die Kraftübertragung durch den Gurt ist grösser als jede durch den Airbag) oder über eine verteilte Fläche (d.h. der Airbag ist dominant) übertragen werden. Der CTI soll somit die gesamte Spanne möglicher Lastfälle zwischen diesen beiden Extremen abdecken. Während die maximale Beschleunigung des Thorax ein Mass für die Grösse gesamthaft auf den Torso wirkenden Kräfte im Verhältnis zu seiner Masse ist, ist die ThoraxEindrückung ein Indikator für die durch den Gurt übertragene Belastung. Je grösser die Eindrückung pro Einheit Beschleunigung ist, desto grösser ist der relative Anteil des Gurtsystems [Cavanaugh 2002]. Der Entwicklung des CTI liegen Leichenversuche zugrunde; die Korrelation des CTI zur Verletzungsschwere gemäss AIS erfolgte durch logistische Regressionsanalyse. Derzeit ist der CTI Teil des FMVSS 208, in dem auch Details zur Datenakquisition und den verschiedenen Referenzwerten gegeben werden. 5.4.6
Weitere Kriterien
Das “Rib Deflection Criterion” (RDC) beschreibt die Eindrückung der
Thorax-Verletzungen im Sport
179
Rippen in Folge einer Seitenkollisionen; die Angabe erfolgt in [mm]. Gemäss ECE R95 soll das RDC kleiner oder gleich 42 mm sein (Verwendung eines Seitenanprall-Dummys). ThCC (oder TCC) ist die Abkürzung für “Thoracic Compression Criterion”. Das ThCC beschreibt die Kompression des Thorax bei Frontalkollisionen als Eindrückung zwischen Brustbein und Wirbelsäule. Zur Bestimmung wird der Absolutwert der Thorax-Kompression (in [mm]) verwendet; der heute verwendete Grenzwert legt ein Maximum von 50 mm fest (ECE R94).
5.5
Thorax-Verletzungen im Sport
Hinsichtlich Verletzungen des Thorax im Sport finden sich in der Literatur keine systematischen Untersuchungen. Die oben beschriebenen Verletzungen und Verletzungsmechanismen gelten auch für traumatische Sportverletzungen. Verletzungen durch direkten Anprall, wie beispielsweise durch Schläge oder Gegenstände (z.B. Puck, Ball, Baseball), werden ebenso beobachtet wie indirekte Belastungen. Serina und Lieu (1991) untersuchten das Verletzungspotential von Tritten im Taekwondo. Durch Videoauswertungen von Tritten gegen den Thorax wie auch durch Modellierungen wurde das Verletzungsrisiko analysiert: es wurden maximale Verformungen der Brust von 5 cm und VC-Werte von bis zu 1.4 m/s bestimmt. Des Weiteren können Überlastungsverletzungen beispielsweise in Form von Überlastungsfrakturen des Brustbeins oder der Rippen beobachtet werden [Karlson 1998, Christiansen und Kanstrup 1997, Coris und Higgins 2005]. Dabei scheint es sich jedoch um ein eher seltenes Phänomen zu handeln.
5.6
Zusammenfassung
Verletzungen des Thorax sind am häufigsten mit einem stumpfen Trauma verbunden. Kompression, Viskosität und Trägheit sind relevante Parameter im Zusammenhang mit der Verletzungsursache. Insbesondere die viskoelastischen Eigenschaften des Thorax spiegeln sich in dessen biomechanischem Verhalten wieder. Folglich berücksichtigen manche Verletzungskriterien auch die Geschwindigkeit, mit der der Thorax deformiert wird.
180
5.7
Thoraxverletzungen
Referenzen
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6 Verletzungen des Abdomens
Verletzungen der menschlichen Bauchhöhle treten im Allgemeinen als stumpfes Trauma oder Penetration auf, wobei ersteres als Folge von Strassenverkehrsunfällen häufiger vorkommt. Oft werden solche Verletzungen nicht sofort erkannt bzw. lassen sich äusserlich nicht erkennen. Die Untersuchung des biomechanischen Verhaltens des Abdomens hat sich als besonders schwierig herausgestellt und auch die erhaltenen Ergebnisse sind nicht leicht zu interpretieren. Daher mangelt es immer noch an ausreichendem Wissen über Verletzungsmechanismen und geeignete Verletzungskriterien. “Der Leser muss sich der grossen Variabilität der biomechanischen Eigenschaften und Toleranzwerte sehr bewusst sein. Diese wird in erster Linie durch die grosse biologische Variabilität zwischen verschiedenen Personen sowie durch die Auswirkungen des Alterns bestimmt. Durchschnittswerte, die zur Konstruktion und Auslegung hilfreich sind, können auf Individuen nicht angewendet werden” [King 2001]. Dieser Mangel an Know-how zeigt sich beispielsweise auch bei den verschiedenen Crashtest-Dummys, die nur eine rudimentäre Nachbildung des Abdomens aufweisen (s. Kap. 2). Eine ausgezeichnete Übersicht über abdominale Verletzungen wurde auch von Rouhana (2002) veröffentlicht.
6.1
Anatomie des Abdomens
In Richtung des Kopfes (kranial) wird das Abdomen durch das Zwerchfell begrenzt, in Richtung kaudal durch die Beckenknochen und Muskulatur. Die Lendenwirbelsäule, die selbst nicht als Teil des Abdomens betrachtet wird, bildet gemeinsam mit dem Kreuzbein (Os sacrum) und dem Becken die hintere Grenze des Abdomens. Nach vorne wie auch zur Seite wird das obere Abdomen durch den unteren Brustkorb abgegrenzt. Das untere Abdomen ist vorne und seitlich von Muskulatur umgeben. Wegen der
K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
184
Verletzungen des Abdomens
Rippen weist das obere Abdomen ein anderes biomechanisches Verhalten und andere Toleranzgrenzen als der untere Teil auf. Die Präsenz der unteren Rippen (wenngleich nicht direkt mit dem Brustbein verbunden, s. Kap. 5) spielt insbesondere bei Heck- und Seitenkollisionen eine Rolle. Bei Frontalkollisionen hingegen scheinen Organe, die direkt vor der Wirbelsäule liegen, eine höheres Risiko aufzuweisen komprimiert zu werden, als Organe, die seitlich der Wirbelsäule liegen. Die Bauchhöhle beherbergt verschiedene Organe, die im Allgemeinen in kompakte Organe und Hohlorgane unterteilt werden können. Das Unterscheidungsmerkmal der beiden Gruppen bildet dabei die Dichte des gesamten Organs (nicht des Gewebes). Kompakte Organe wie Leber, Milz, Bauchspeicheldrüse, Nieren, Eierstöcke und Nebennieren weisen eine höhere Dichte auf als Hohlorgane wie Magen, Dick- und Dünndarm, Blase und Gebärmutter. Die geringere Organ-Dichte erklärt sich durch die relativ grossen Hohlräume in den Organen selbst. Diese Hohlräume können beispielsweise mit “Luft” oder Verdauungsmasse gefüllt sein. Die kompakten Organe hingegen enthalten flüssigkeitsgefüllte Gefässe und weisen daher eine grössere Dichte auf. Die grössten Blutgefässe des Abdomens sind die abdominale Aorta und die untere Hohlvene (Vene cava), die Hüftarterien und die Hüftvenen. Die Aorta und die Hohlvene treten von kranial durch getrennte Öffnungen durch das Zwerchfell in den Bauchraum ein. Abbildung 6.1 zeigt die Anordnung der Bauchorgane. Hinsichtlich des biomechanischen Verhaltens bei traumatischen Belastungen ist zu beachten, dass die Organe in der Bauchhöhle eine relativ grosse “Beweglichkeit” bzw. Verschiebbarkeit aufweisen. Sie sind weder mit der Bauchdecke noch untereinander starr fixiert. Teilweise sind sie von Fett umgeben (z.B. die Nieren) oder mit Falten des Bauchfells verbunden (z.B. die Därme). Das Bauchfell (eine Membran, Serosa genannt) umgibt den Bauchraum und die Organe. Es ist glatt und feucht und wirkt daher als Schmierstoff und trägt somit auch zur “Beweglichkeit” der Organe bei. Folglich können die Bauchorgane sich auch an verschiedene Körperhaltungen wie Sitzen oder Stehen anpassen. Des Weiteren ändert sich beispielsweise die Lage der Leber mit der Atmung, sie bewegt sich mit dem Zwerchfell. Diese “Beweglichkeit” hat daher auf das biomechanische Verhalten einen grossen Einfluss, wie auch auf die Ergebnisse experimenteller Studien zur Untersuchung von Verletzungsmechanismen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mögliche Verletzungsmechanismen aus anatomischer Perspektive vom komplexen Aufbau des Abdomens sowie den physikalischen Eigenschaften und der Struktur der Organe abhängen müssen.
Verletzungsmechanismen
185
Abb. 6.1 Die Bauchorgane als Projektion auf die Körperoberfläche [nach Sobotta 1997].
6.2
Verletzungsmechanismen
Wegen des komplexen Aufbaus des Abdomens werden sowohl der Entstehungsort, die Wahrscheinlichkeit wie auch die Schwere von Verletzungen nach stumpfen Traumen durch verschiedene Faktoren beeinflusst. An erster Stelle scheint die anatomische Lage eines Organs zu dessen Verletzungsrisiko beizutragen. Organe, die vor der Wirbelsäule liegen, werden im Falle einer frontalen Belastung eher gegen die Wirbelsäule gedrückt (und dadurch komprimiert) als Organe, die seitlich liegen. Zudem wird das obere Abdomen teilweise durch den Brustkorb überdeckt und dadurch bei frontalen Belastungen geschützt. Bedingt durch die unsymmetrische Anordnung der Bauchorgane ist deren
186
Verletzungen des Abdomens
Abb. 6.2 Häufigkeit von Verletzungen des Abdomens mit AIS > 3 für verschiedene Organe bei seitlichem Anprall von rechts bzw. links [nach Rouhana et al. 1985].
Verletzungsrisiko entsprechend von der Richtung der Belastung abhängig. Erfolgt eine Beaufschlagung von rechts ist eine Verletzung der Leber wahrscheinlicher als bei einem Anprall von links (Abb. 6.2). Dabei kann es in der Leber — wie auch bei der Lunge — zu einer zentralen Ruptur kommen, ohne dass das umliegende Gewebe dadurch verschoben bzw. verändert wird. Beispiele möglicher Verletzungen des Abdomens und ihre Klassifizierung gemäss Abbreviated Injury Scale (AIS) sind in Tabelle 6.1 zusammengestellt. Bei Fahrzeugkollisionen haben die Strukturen im Fahrzeuginnenraum im Falle eines Anpralls einen erheblichen Einfluss auf die Verletzungsschwere. Mögliche Kontaktflächen können Lenkrad/Lenksäule, die seitlichen Türen, die Armlehne, das Armaturenbrett oder das Handschuhfach sein, wobei nicht angegurtete Fahrzeuginsassen ein entsprechend höheres Risiko haben, tatsächlich an eine solche Struktur zu prallen als angegurtete. Auch die Beschaffenheit der Organe selbst ist im Zusammenhang mit Verletzungen wichtig. Es wurde festgestellt, dass kompakte Organe häufiger verletzt werden als Hohlorgane. Zudem kann der pathologische Zustand eines Organs einen merklichen Einfluss auf die Verletzungstoleranz haben, da sich die Materialeigenschaften (z.B. Steifigkeit) entsprechend verändern.
Verletzungsmechanismen
187
Tabelle 6.1 Beispiele von AIS Klassifikationen von Verletzungen des Abdomens [AAAM 2005]. AIS Code
Beschreibung
1
Haut, Muskel: Kontusion (Hämatom)
2
Milz- oder Leber-Kontusion (<50% Oberfläche)
3
erhebliche Nieren-Kontusion, Milz-Ruptur
4
abdominale Aorta: kleine Lazeration Niere/Leber: Ruptur
5
Niere: vollständige Zerstörung des Organs und seines Gefäss-Systems
6
Abriss der Leber (vollständige Trennung aller Gefässe)
Des Weiteren zeigte sich, dass der medizinische Zustand einer Person relevant ist. Frühere Operationen, die zu Verwachsungen innerhalb der Bauchhöhle führen können, scheinen beispielsweise ein prädisponierender Faktor für Verletzungen zu sein. Auch das Alter einer Person beeinflusst das Verletzungsrisiko bei stumpfen Bauchtraumen, wobei Kinder und ältere Personen ein höheres Risiko aufweisen. Insbesondere bezüglich Kindern sind im Vergleich zu Erwachsenen andere anatomische Gegebenheiten zu beachten. So ist das Abdomen proportional grösser als beim Erwachsenen und die Leber wird weniger durch den Brustkorb geschützt, wodurch sie einem grösseren Risiko ausgesetzt ist. Khaewpong et al. (1995) untersuchten Fahrzeugunfälle, bei denen durch Rückhaltesysteme gesicherte Kinder eine Verletzung des Abdomens erlitten haben. Es zeigte sich, dass fast 90 % dieser Verletzungen mit dem Anprall an das Rückhaltesystem verbunden waren. Alle verletzten Kinder wurden dabei in einem Rückhaltesystem transportiert, dass nicht geeignet war und/oder nicht korrekt benutzt wurde.
188
6.3
Verletzungen des Abdomens
Bestimmung des biomechanischen Verhaltens
In gleicher Weise wie auch für andere Körperregionen wurde das biomechanische Verhalten des Abdomens in experimentellen Studien mit Leichen oder Tieren untersucht. Manche Studien verwendeten dabei Impaktoren, die das Abdomen vollständig abdeckten (sowohl in frontalen wie seitlichen Belastungen). Das dadurch bestimmte Verhalten des gesamten Abdomens vernachlässigt jedoch dessen inhomogenen Aufbau. Die Stelle der Krafteinleitung (z.B. rechte oder linke Seite) wie auch die Körperhaltung während der Belastung spielen eine wichtige Rolle. Des Weiteren beeinflussen die gewählten Versuchsbedingungen selbstverständlich auch die Ergebnisse der Experimente. Zur Untersuchung des biomechanischen Verhaltens des Abdomens mittels Leichenversuchen wird häufig eine Position verwendet, bei der der Rücken an einer Wand o.ä. anliegt (“fixed back condition” im Vergleich zu “free back condition”). Durch eine solche Versuchsanordnung wird jedoch der Einfluss der Wirbelsäule eliminiert. Aus Sicht der Versuchsdurchführung hat es sich zudem als recht schwierig erwiesen, die Verformung des Abdomens genau zu ermitteln. Meistens wurden Aufnahmen aus Hochgeschwindigkeit-Videokameras ausgewertet, wobei die Eindringung entweder in Bezug auf einen festen Messpunkt (z.B. auf der Wirbelsäule) oder relativ zu einem äusseren Gegenstand bestimmt wurde.
Abb. 6.3 Kraft-Verformungs-Charakteristik des unteren Abdomens verschiedener Testobjekte bei frontaler Belastung durch einen starren Impaktor [nach Nusholtz et al. 1988].
Bestimmung des biomechanischen Verhaltens 189
Abb. 6.4 Mögliche Verletzungen und Verletzungsmechanismen für verschiedene Organe.
Wegen der schlechten Qualität der meisten Videoaufnahmen, konnte die tatsächliche Eindringung in vielen Studien gar nicht bestimmt werden. Stattdessen wurden nur die Kraftdaten veröffentlicht. Die Ergebnisse einiger Studien scheinen zudem nicht sehr zuverlässig zu sein [Rouhana 2002]. Heute sind aus Leichenversuchen gewonnene Kraft-VerformungsKurven für das untere Abdomen unter frontaler Belastung verfügbar [Cavanaugh 1986, Nusholtz et al. 1988] (Abb. 6.3). Auch Hardy et al. (2001) und Foster et al. (2006) haben entsprechende Daten aus Leichenversuchen publiziert, bei denen die Versuchsbedingungen auch Belastungen durch Airbags und Sicherheitsgurte berücksichtigten. Für frontale Belastungen gegen das obere Abdomen wurde vorgeschlagen, die gleichen Daten wie für das untere Abdomen zu verwenden, solange keine besseren Daten verfügbar sind [Rouhana 2002]. Hinsichtlich seitlichen Belastungen wurden Schlittenversuche, Pendelversuche und Fallexperimente mit Leichen durchgeführt. Die Fallversuche untersuchten insbesondere den Anprall an Armlehnen, d.h. man liess die Leiche aus einer gewissen Höhe auf eine Armlehne fallen [z.B. Walfisch et al. 1980]. Statt Kraft-Verformungs-Kurven wurde der zeitliche Verlauf der gemessenen Kraft veröffentlicht. Die Belastung von Nieren unter stumpfem Anprall wurde durch Schmitt et al. (2006a,b) in Pendelversuchen an menschlichen Nieren wie auch an Nieren von Schweinen untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass ein Versagen des Nieren-Gewebes in erster Linie durch die Energie der Belastung gesteuert wird. Die visko-elastischen Eigenschaften der Niere wurden beschrieben und entsprechende Kraft-VerformungsCharakteristiken bestimmt. Abbildung 6.4 zeigt mögliche Verletzungsmechanismen und
190
Verletzungen des Abdomens
resultierende Verletzungen für die drei am häufigsten verletzten Organe.
6.4
Verletzungstoleranzen
Es wurden verschiedene Studien durchgeführt, um das biomechanische Verhalten des Abdomens unter Belastung zu quantifizieren und daraus geeignete Verletzungskriterien abzuleiten. In diesem Zusammenhang wurde das Potential unterschiedlicher mechanischer Parameter als Verletzungsprädiktor analysiert, doch obwohl verschiedenste Möglichkeiten untersucht wurden, konnten hinsichtlich Verletzungstoleranzen und Grenzwerten nicht viele Schlussfolgerungen gezogen werden. Dies reflektiert wiederum den komplexen Aufbau des Abdomens wie auch die Schwierigkeiten der Durchführung geeigneter Experimente. Folglich ist weitere Grundlagenforschung notwendig, um Verletzungsmechanismen zu untersuchen und Verletzungstoleranzen zu definieren. Dieser Abschnitt fasst die wichtigsten Versuche, Indikatoren für Abdominalverletzungen zu quantifizieren, zusammen. Im Allgemeinen wird angenommen, dass die auf einen Menschen einwirkende Kraft gut mit den entstehenden Verletzungen korrelieren sollte. An anästhetisierten Kaninchen durchgeführte Experimente unter seitlicher Belastung, haben diese Hypothese bestätigt. Es konnte gezeigt werden, dass die maximale Kraft gut mit der Wahrscheinlichkeit einer Nierenverletzung mit AIS ≥ 3 korreliert [Rouhana et al. 1986]. Die Wahrscheinlichkeit einer Leberverletzung zeigte hingegen keine Korrelation. Miller (1989) führte Tierversuche mit Schweinen durch und fand unter Berücksichtigung der Belastungen durch einen Sicherheitsgurt eine gute Korrelation zwischen der maximalen Kraft und der Wahrscheinlichkeit von Verletzungen des unteren Abdomens vom Schweregrad AIS ≥ 3 und AIS ≥ 4. Wenngleich aus den Tierversuchen keine Grenzwerte abgeleitet werden konnten, so wurde auf Basis von Leichenversuchen als Toleranz für eine maximal ertragbare Kraft ein Wert von 4.4 kN vorgeschlagen [Talantikite et al. 1993]. Im Gegensatz dazu scheint die Beschleunigung kein geeigneter Indikator für Verletzungen des Abdomens zu sein [Rouhana 2002]. Die Messung der Beschleunigung stellt eine erhebliche Schwierigkeit dar, da die Beschleunigung typischerweise mittels Sensoren an der Wirbelsäule bzw. dem Brustkorb bestimmt wird. Befestigt man jedoch Beschleunigungssensoren an diesen Strukturen, so misst man im Wesentlichen die Beschleunigung des gesamten Körpers. Daher ist eine
Verletzungstoleranzen
191
gute Korrelation zu abdominalen Verletzungen nicht zwangsläufig zu erwarten. Bedenkt man, dass die kompakten Organe des Abdomens “flüssigkeitsgefüllt” sind, so wäre ein zeitabhängiges Verhalten dieser Organe anzunehmen. Verschiedene Studien, darunter die Arbeit von Mertz und Weber (1982), die Experimente mit Schweinen durchführten, konnten einen starken Einfluss der Kompressionsrate auf das Entstehen von Verletzungen nachweisen. Analog zur Belastung des Thorax, wurde auch hier für das Produkt aus maximaler Eindring-Geschwindigkeit V und maximaler Kompression des Abdomens C eine gute Korrelation zur Verletzungsschwere erhalten [z.B. Rouhana et al. 1984, Stalnaker und Ulman 1985]. Es zeigte sich zudem, dass für sehr langsame Geschwindigkeiten (z.B. Belastung durch den Sicherheitsgurt) die maximale Kompression ein besserer Verletzungsindikator war. Für höhere Geschwindigkeiten (z.B. Belastung durch Airbag) war die maximale Geschwindigkeit ein besserer Verletzungsprädiktor. Für zwischen diesen beiden Fällen liegende Geschwindigkeiten und Eindrückungen erwies sich das Produkt V*C als besserer Prädiktor als die maximale Geschwindigkeit bzw. Kompression einzeln. Ergänzend konnte gezeigt werden, dass das Produkt aus maximaler Kraft F und maximaler Kompression C gut mit der Wahrscheinlichkeit für Verletzungen vom Typ AIS ≥ 4 korreliert [Rouhana 1987]. Hinsichtlich der Leber wurden von Kallieris und Mattern (1984) Lazerationen des Gewebes bei angegurteten Fahrzeuginsassen in Seitenkollisionen (kollisionsnahe Sitzposition) ab Beschleunigungen von 75 g beobachtet. Untersuchungen zum stumpfen Anprall der Nieren zeigten, dass moderate bis schwere Nierenverletzungen ab einer AnprallEnergie von 4 J bzw. einer entsprechenden Energiedichte (“strain energy density”) von 25 kJ/m3 zu erwarten sind [Schmitt et al. 2006a,b]. 6.4.1
Verletzungskriterien
Derzeit ist nur in der europäischen Vorschrift zu Seitenkollisionen (ECE R95) ein Grenzwert für Belastungen des Abdomens verankert. Die maximale auf das Abdomen wirkende Kraft (“abdominal peak force”, APF), die mit einem EuroSID Dummy bestimmt werden kann, muss unterhalb eines Wertes von 2.5 kN für die innere Kraft liegen (dies entspricht 4.5 kN einer äusseren Kraft). ECE R44 (Kinderrückhaltesysteme) schreibt eine qualitative Prüfung der Gurtposition vor. Zudem wird bei dynamischen (Schlitten-) Versuchen eine
192
Verletzungen des Abdomens
Knetmasse auf dem Bauch des Crashtest-Dummys plaziert, so dass nach dem Test beurteilt werden kann, ob eine Eindringung des Gurtes in den Bauchraum zu erwarten wäre. Es sei angemerkt, dass bei derzeitigen Kinder-Dummys im Gegensatz zu Seitenanprall-Dummys keine Möglichkeit besteht, die Belastung des Abdomens zu messen. Es werden zwar verschiedene Vorschläge zu einer entsprechenden Instrumentierung eines Kinder-Dummys diskutiert, bisher aber noch nicht implementiert.
6.5
Einfluss des Sicherheitsgurtes
Im Kontext von abdominalen Verletzungen wird der Einfluss des Sicherheitsgurtes, vor allem des Beckengurtes, oft diskutiert. Seit den 1960er Jahren wird das sogenannte “Gurt-Syndrom” (“seat belt syndrome”) immer wieder in der Literatur beschrieben. Dabei wird angenommen, dass der Sicherheitsgurt durch ein Verrutschen aus der korrekten Position und/ oder durch unsachgemässe Benutzung eine Belastung auf das Abdomen ausüben kann. Sowohl das Verrutschen wie auch fehlerhafte Benutzung beziehen sich primär auf den Beckengurt bzw. den Beckenteil eines 3Punkt-Gurts. Das Verrutschen tritt bei Kollisionen mit hoher Geschwindigkeitsänderung (Δv) auf, wobei das Becken des Insassen unter dem Gurt durchrutscht, so dass der Gurt das Abdomen belastet (der Insasse taucht quasi unter dem Beckengurt durch, daher “submarining”). Der Aufbau des Sitzes, insbesondere der Sitzfläche, hat folglich einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines Durchrutschens des Insassen. Um diesen Bewegungsablauf zu verhindern, weist die Polsterung der Sitzfläche häufig einen keilförmigen Zuschnitt, mit entsprechendem Anstieg des Polsters an der Vorderkante, auf. Auch werden Anti-Rutsch-Airbags und ähnliche Systeme, die das Becken eines Insassen zurückhalten sollen, eingesetzt. Wird der Beckengurt nicht sachgemäss geführt, d.h. verläuft das Gurtband oberhalb des Beckens (spina iliaca superior anterior), wird statt des stabilen Beckens das Abdomen belastet. Die korrekte Gurtführung ist insbesondere bei Kindern und Schwangeren kritisch [z.B. Arbogast et al. 2004]. Nichtsdestotrotz sollten Schwangere unbedingt den Sicherheitsgurt tragen. Die US Strassenverkehrsbehörde (US National Highway Traffic Safety Administration) empfiehlt schwangeren Frauen den Beckengurt tief, über das Becken zu führen und den (Beifahrer-) Airbag nicht auszuschalten. Da eine Verletzung der Schwangeren nachweislich ein Prädiktor für eine Schädigung des Fötus ist, dient die korrekte Verwendung von Rückhaltesystemen auch dem Schutz des Fötus [z.B. Klinich et al. 2008].
Verletzungen des Abdomens im Sport 193
Systeme, die auch bei Schwangeren eine geeignete Gurtführung gewährleisten, sind kommerziell erhältlich. Allerdings sind die aktuellen Forschungsergebnisse hinsichtlich dem Verletzungsrisiko schwangerer Fahrzeuginsassen noch nicht völlig schlüssig [siehe z.B. Manoogian et al. 2007]. Trotz möglicher Verletzungen des Abdomens durch ein Durchrutschen unter dem Gurt sowie fehlerhafter Benutzung, wurde die Effektivität des Sicherheitsgurtes in vielen Studien überzeugend nachgewiesen. Nicht angegurtete Fahrzeuginsassen haben ein etwa doppelt so grosses Risiko tödliche Verletzungen zu erleiden wie angegurtete Personen [z.B. Langwieder et al. 1990, Lane 1994, Rouhana 2002]. Langwieder et al. (1990) berichten zudem, dass bis zu 90 % aller mit dem Sicherheitsgurt in Verbindung gebrachten Verletzungen AIS1-Verletzungen sind. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Verletzungsbild durch die Verwendung des Gurts verändert. Während der Sicherheitsgurt Verletzungen von Kopf, Hals und Thorax zuverlässig reduziert, könnte er bei fehlerhaftem Tragen möglicherweise für häufigere, aber leichte Verletzungen des Abdomens verantwortlich sein [Harms et al. 1987].
6.6
Verletzungen des Abdomens im Sport
Stumpfe wie auch penetrierende Bauchtraumen kommen im Sport nur selten vor, dafür finden sich in der Literatur einige Fall-Beschreibungen von Hernien und Verletzungen der Leiste. Die sogenannte “Sport-Hernie” wurde insbesondere bei Athleten in Sportarten, die ein wiederholtes, schnelles (Ver-) Drehen erfordern, beschrieben (z.B. beim Eishockey, Fussball, Tennis, Feldhockey). In vielen dieser Fälle ist eine eigentliche Hernie jedoch nicht zu erkennen. Zur Ursache dieser Sport-Hernie werden in der Literatur verschiedene Theorien beschrieben, von denen die meisten ein Überlastungssyndrom implizieren. Abduktion (Abspreizen), Adduktion (Anziehen) und Flexion-Extension der Hüfte führen Scherkräfte über die Schambeinfuge. Diese führen zu Spannungen (Belastungen) der Muskulatur der Leistenwand, die senkrecht zu den Fasern der Faszie und Muskeln wirken. Eine Zugbelastung auf die Muskulatur der Adduktoren gegen den Widerstand einer fixierten unteren Extremität kann zu signifikanten Scherkräften über die Hemipelvis führen. Eine daraus folgende Schwächung oder ein Reissen der transversalen Faszie oder verbundener Sehnen wurde als Ursache entsprechender Schmerzen vermutet. Eine systematische Übersicht über Sport-Hernien findet sich
194
Verletzungen des Abdomens
beispielsweise in Caudill et al. (2008). Andere Ursachen für, häufig chronische, Leistenschmerzen können Schambein-Ödeme oder Neuropathien mit Kompressionen von Nerven sein [z.B. Macintyre et al. 2006, Harmon 2007].
6.7
Zusammenfassung
Verletzungen des Abdomens werden bei Fahrzeuginsassen am häufigsten im Zusammenhang mit der (unsachgemässen) Verwendung des (Becken-) Gurtes und/oder bei seitlichen Kollisionen diskutiert. Die biomechanischen Grundlagen bezüglich Verletzungsmechanismen und -grenzwerten sind nach wie vor eher schwach. Crashtest-Richtlinien wie die ECE R95 (Seitenanprall) berücksichtigen die maximale auf das Abdomen wirkende Kraft als Verletzungskriterium.
6.8
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Verletzungen des Abdomens
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7 Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Verletzungen der unteren Extremitäten spielen insbesondere im Sport (z.B. Fussball, Skifahren) eine grosse Rolle. Aber auch bei Frontalkollisionen im Strassenverkehr stellen sie mittlerweile häufig erlittene, nicht unerhebliche Verletzungen dar, da bei Rückhaltesystemen wie Sicherheitsgurten und Airbags der Schutz der Beine (und Arme) nicht im Vordergrund steht. Wenngleich meist nicht lebensbedrohlich, so haben Verletzungen der Extremitäten jedoch oftmals langwierige Beeinträchtigungen zur Folge [Håland et al. 1998, Crandall 2001]. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Verletzungen des Beckens und der Beine. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Anatomie folgt die Beschreibung möglicher Verletzungsmechanismen und Verletzungen. Untersuchungen zum biomechanischen Verhalten sowie gängige Verletzungskriterien werden vorgestellt. Abschliessend werden spezifische Aspekte von Sportverletzungen diskutiert.
7.1
Anatomie der unteren Extremitäten
Die unteren Extremität können in das Becken, die Oberschenkel, die Knie, die Unterschenkel, die Knöchel und den Fuss unterteilt werden (Abb. 7.1). Das Becken (Pelvis), das die unteren Extremitäten mit der Wirbelsäule verbindet, wird von einem Ring aus vier Knochen gebildet: zwei Hüftbeine formen die seitlichen und vorderen Teile, während das Kreuzbein (Sakrum) und das Steissbein (Coccyx) den hinteren Teil darstellen (Abb. 7.2). Mechanisch gesehen stellt das Becken den einzigen Lastpfad dar, um das Körpergewicht des Torsos zum Boden zu übertragen. Daher ist die Struktur des Beckens recht massiv. Die Hüftknochen setzen sich aus drei miteinander verschmolzenen Knochen zusammen (Os ilium, Os ischium, Os pubis). Zudem befindet sich in diesem Bereich die Hüftgelenkspfanne
K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
198
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Abb. 7.2 Knöcherne Strukturen des Beckens [nach Sobotta 1997]. Abb. 7.1 Anatomie der unteren Extremität [nach Sobotta 1997].
(Acetabulum), eine kugelförmige, mit Knorpel ausgelegte Aussparung. Die Schambeine und die Schambeinfuge, d.h. der Knorpel, welcher das rechte mit dem linken Schambein verbindet, bilden den vorderen Teil des Beckens. Insbesondere die dünneren, rahmenähnlichen Teile der Schambeine (ramus pubis superior und ramus pubis inferior) werden häufig verletzt. Das Kreuzbein, das die Rückwand des Beckens formt, setzt sich aus mehreren, verwachsenen Wirbelkörpern zusammen. Dem Rückenmark entstammende Nerven (z.B. Ischias-Nerv) laufen in entsprechenden Öffnungen durch das Kreuzbein. Des Weiteren verlaufen auch grössere Blutgefässe nahe dem Kreuz- und Steissbein. Abbildung 7.3 illustriert die Orientierung des Beckens in Abhängigkeit der Körperhaltung. Es ist offensichtlich, dass die Körperhaltung — beispielsweise bei einem Anprall an das Knie — einen Einfluss auf die Auswirkung mechanischer Belastungen hat. Des Weiteren bestehen Unterschiede zwischen der Becken eines Mannes
Anatomie der unteren Extremitäten
199
Abb. 7.4 Proximales Ende des Femurs [nach Sobotta 1997].
Abb. 7.3 Ausrichtung der Hüfte in verschiedenen Körperhaltungen: stehend (oben) und sitzend (unten) [nach Kramer 1998]. Abb. 7.5 Knochen des Fusses [nach Sobotta 1997].
und derjenigen einer Frau. Die Form wie auch die mechanischen Eigenschaften der Knochen sind etwas verschieden. Für die Betrachtung von Verletzungsmechanismen sind diese Unterschiede jedoch primär nicht relevant und werden daher hier nicht weiter diskutiert. Der Oberschenkelknochen (Femur) schliesst am proximalen Ende mit dem Hüftgelenk und am distalen Ende mit dem Knie ab. Die verschiedenen Bereiche des Knochens, insbesondere des Oberschenkelhalses, sind in Abbildung 7.4 dargestellt. Das Schienbein (Tibia) und das Wadenbein (Fibula) bilden den Unterschenkel zwischen Knie und Knöchel. Das Kniegelenk verbindet den Femur und den Unterschenkel (Abb. 7.1) und stellt einen anatomisch recht kompakten Bereich dar, in den verschiedene Muskeln, Sehnen, Bänder und Menisken involviert sind. Strukturen des Knies, wie die Kniescheibe, werden dabei häufig durch einen direkten Anprall verletzt. Das Bein wird ferner von einer starken Muskulatur umgeben, die beachtliche Kräfte erzeugen kann und daher Einfluss auf etwaige Verletzungsmechanismen nehmen kann (s. Kap. 7.2.2). Der Fuss bildet den Abschluss des Beins. Er besteht aus verschiedenen
200
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Knochen: das Fersenbein (Os calcaneus) und der Talus befinden sich am proximalen Ende, die Mittelfussknochen (Ossa metatarsalia) und die Zehenglieder (phalanx) am dorsalen (Abb. 7.1 und 7.5).
7.2
Verletzungsmechanismen
Frakturen sind die am häufigsten durch Unfälle erlittenen Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten. Sie entstehen eher durch Sportunfälle bzw. Stürze als durch Unfälle im Strassenverkehr. Hüftfrakturen, insbesondere Oberschenkelhalsfrakturen, treten oft als Folge eines Sturzes auf, vor allem bei älteren Personen. Diese Frakturen sind daher von erheblicher Bedeutung [Majumder et al. 2008]. Weltweit erleiden jährlich ungefähr 1.7 Millionen Menschen eine solche Hüftfraktur [Kannus et al. 1999]. Im Unterschied dazu kommen Beckenfrakturen bei Strassenverkehrsunfällen selten vor. Sie tragen nur rund 1 % zum gesamten “Injury Priority Rating” (IPR, s. Kap. 2) bei [King 2002]. Eine Analyse von Frontalkollisionen von Personenwagen [Kramer 1998] zeigte, dass Beckenund Hüftverletzungen in nur ca. 7 % aller untersuchten Fälle vorkamen, während 35 % aller Fahrzeuginsassen eine Kopfverletzung erlitten. 25 % der Insassen wiesen jedoch Bein- oder Fussverletzungen auf. Ähnliche Ergebnisse lieferte eine Auswertung der NASS Datenbank [Crandall 2001]. Es zeigte sich bei Frontalkollisionen, insbesondere für Verletzungen mit einer Schwere von AIS ≥ 2, ein grosser Einfluss der Rückhaltesysteme auf das Verletzungsrisiko der unteren Extremitäten (Abb. 7.6) Es wurde beobachtet, dass die Häufigkeit von Verletzungen der Beine ungefähr doppelt so gross ist wie jene von Kopfverletzungen, wenn ein Fahrzeuginsasse angegurtet ist und das Fahrzeug mit einem Airbag ausgerüstet ist. Die Auswertung nach verschiendenen Regionen der Beine zeigte zudem, dass die Füsse und Knöchel das höchste Risiko einer Verletzung vom Typ AIS ≥ 2 aufweisen. Des Weiteren zeigten Morris et al. (2006) aufgrund von Unfalldaten aus Grossbritannien, dass AIS ≥ 2 Verletzungen der unteren Extremitäten mit Abstand die teuersten Verletzungen sind und für ca. 43 % der Verletzungsfolgekosten bei frontalen und seitlichen Kollisionen verantwortlich sind. Bedingt durch die Tatsache, dass das Becken und der proximale Femur oftmals gemeinsam verletzt sind, werden solche Verletzungen meist als “Hüftverletzungen” beschrieben. Das Wort “Hüfte” bezeichnet jedoch weder eine bestimmte anatomische Struktur, noch kann einer “Hüftverletzung” ein bestimmter Verletzungsmechanismus zugeordnet
Verletzungsmechanismen
201
Abb. 7.6 Verteilung von Verletzungen mit Schweregrad AIS ≥ 2 bei frontaler Belastung je nach Körperregion (oben) und je nach Bereichen der Beine (unten) sowie in Abhängigkeit der benutzten Rückhaltesysteme [nach Crandall 2001].
werden. Genau genommen wird die Hüfte durch die knöchernen Strukturen um das Hüftgelenk gebildet (Femur-Kopf, Pelvis, Acetabulum). Frakturen des proximalen Teils des Femurs werden oftmals jedoch ebenfalls Hüftfrakturen genannt. Ganz allgemein können Frakturen offen oder geschlossen sein. Während bei einer geschlossenen Fraktur die Haut und das weiche Gewebe über der Fraktur intakt bleiben, wird der Knochen bei offenen Frakturen exponiert, d.h. er ist von aussen sichtbar.
202
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Abb. 7.7 Mögliche Frakturen als Folge eines Anpralls des Knies [nach Crandall 2001].
Abb. 7.8 Typisierung verschiedener Frakturen [nach Levine 2002]. Es ist zu beachten, dass Frakturen durch Biegen auch als direkte Fraktur auftreten können.
Verletzungsmechanismen
203
Weitere Parameter zur Klassifizierung von Frakturen können die Lage der gebrochenen Knochenstücke (verteilt bzw. verschoben/an der Frakturstelle verbleibend) oder die Stelle der Fraktur innerhalb des Knochens (intraartikular, metaphyseal, diaphyseal) sein [vgl. z.B. Levine 2002]. Im Allgemeinen können Frakturen von Langknochen, insbesondere Frakturen der Knochen der Beine, in Abhängigkeit der zum Bruch führenden Belastung unterschieden werden. Dabei werden vier mögliche Belastungstypen unterschieden: direkte Belastung, indirekte Belastung, wiederholte Belastung und Penetration. Bei Unfällen im Strassenverkehr sind direkte und indirekte Belastungen die am häufigsten zu Frakturen führenden Belastungstypen. Prallt das Knie eines Fahrzeuginsassen bei einer Frontalkollision beispielsweise an das Armaturenbrett, so kann dies zu einer direkten Belastung mit Fraktur der Kniescheibe oder auch zu einer indirekten Belastung mit Fraktur des Femurschaftes oder des Acteabulums führen (Abb. 7.7). Wie Abbildung 7.8 zeigt, können direkte und indirekte Belastungen verschiedene Fraktur-Typen zur Folge haben. Ebenso wie andere Verletzungen werden auch Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten gemäss AIS kategorisiert (Tab. 7.1). In den
Tabelle 7.1 Beispiele für Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten und deren AIS Klassifikation [AAAM 2005]. AIS Code
Beschreibung
1
Knöchel, Hüfte: Verstauchung, Kontusion
2
Kniescheibe, Tibia, Fibula, Fersenbein, Mittelfuss: Fraktur Becken: Fraktur (geschlossen) Fusszehe: Amputation Hüfte, Knie: Dislokation Muskeln, Sehnen: Lazeration (Ruptur, Einriss, Avulsion)
3
Femur: Fraktur Becken: Fraktur (offen) Amputationsverletzung unterhalb des Knies
4
Becken: “open book” Fraktur Amputationsverletzung oberhalb des Knies
5
Becken: erhebliche Verformung mit Unterbrechung der Blutversorgung und einem Blutverlust von mehr als 20%
6
-
204
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
folgenden Abschnitten werden mögliche Verletzungen und die ihnen zugrunde liegenden Verletzungsmechanismen diskutiert. Dabei beschränkt sich diese Darstellung auf Verletzungen, die durch stossartige Belastungen entstehen. 7.2.1
Verletzungen des Beckens und des proximalem Femurs
Verletzungen des Beckens werden klinisch in isolierte Frakturen des Beckenrings, multiple Frakturen des Beckenrings, Frakturen des Sakrums und assoziierte Verletzungen unterteilt. Eine isolierte Fraktur des Beckenrings zeichnet sich durch eine einzelne Fraktur an einer Stelle des Rings (z.B. am Schambein oder dem Ilium) aus. Frakturen des oberen und unteren Schambein-Asts werden häufig nach seitlicher Belastung mit Anprall am grossen Trochanter beobachtet. Der Beckenring bleibt nach einer isolierten Fraktur stabil, d.h. es erfolgt keine grosse Verschiebung der gebrochenen Segmente. Im Gegensatz dazu wird der Beckenring bei multiplen Frakturen instabil und es sind grosse Verschiebungen der einzelnen Segmente möglich. Auch können in Kombination mit multiplen Frakturen Verletzungen des Uro-Genitalbereichs auftreten. Frakturen des Kreuzbeins (Sakrum) kommen bei extensiven Verletzungen des Beckens vor. Meist erfolgt die Fraktur über dem Foramen oder in der Nähe der Durchtrittslöcher der Nerven. In diesem Fall sind auch die Nerven selbst gefährdet. Weitere Verletzungen, insbesondere starke Blutungen, können mit Beckenfrakturen einhergehen. Starke Blutungen grosser Blutgefässe der Beckenwand, wie auch aus der Oberfläche der Frakturstelle selbst, können lebensbedrohlich sein (selbst wenn die Fraktur operativ versorgt wird). Aus biomechanischer Sicht sind entweder Kompression, vertikale Scherkräfte oder eine Kombination der beiden die entscheidenden Mechanismen, die zu Frakturen des Beckens führen. Kompression des Beckens kann zudem in seitliche und frontale (d.h. antero-posteriore, a-p) Kompression unterteilt werden. Abbildung 7.9 zeigt mögliche FrakturStellen bei seitlicher Kompression. Wird das Becken durch eine von vorne nach hinten gerichtete Kraft komprimiert, können multiple Frakturen der Schambeinäste auftreten (“straddle fracture”). Eine antero-posterior (a-p) gerichtete Kompression, bei der die Kräfte auf den rechten oder linken Beckenkamm einwirken, kann in einer Scharnier- oder “open book”Fraktur resultieren (Abb. 7.9). Im Falle einer solchen a-p Kompression wird der Durchmesser des Beckens vergrössert, so dass Zugkräfte auf das im Becken liegende Gewebe wirken können. Dadurch können Verletzungen
Verletzungsmechanismen
205
der Ligamente entstehen. Wird das Becken durch vertikal wirkende Kräfte beansprucht, können Scherkräfte entstehen, die zu Frakturen wie auch Rupturen der Ligamente führen können (Abb. 7.10). Frakturen des Beckens waren bis in die frühen 1990er Jahre bei Fussgängern, die in Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen verletzt wurden, dominant. Wurde der Fussgänger durch ein Fahrzeug seitlich am Becken angestossen, entstanden Frakturen am Schambein (vorwiegend auf der dem Fahrzeug abgewandten, der nicht angestossenen Seite). Diese Verletzungen werden heute quasi nicht mehr beobachtet. Durch Veränderungen der Form und der Strukturen der Fahrzeugfront wurde die Kinematik des angefahrenen Fussgängers derart beeinflusst, dass keine Becken-Frakturen mehr auftreten [Otte 2002, Snedeker et al. 2003]. Wie bereits erwähnt wird die Hüfte häufig durch Stürze verletzt. Eine solche laterale Belastung führt in der Regel zur Fraktur des Oberschenkelhalses. Da Veränderungen wie Osteoporose das Frakturrisiko erhöhen sind Oberschenkelhals-Frakturen bei geriatrischen Patienten bereits durch geringe Energie-Einwirkung möglich [Levine 2002]. Stürze sind zudem im Zusammenhang mit Epilepsie-Patienten relevant, wobei neben der Hüfte vor allem der Kopf verletzt wird. Schwere Verletzungen sind jedoch selten [Lawn et al. 2004]. Auch Fussball-Torhüter belasten bei
Abb. 7.9 Mögliche Frakturstellen nach seitlicher Kompression des Beckens [nach Vetter 2000].
Abb. 7.10 Fraktur und Ruptur von Ligamenten durch vertikale Scherkräfte (rechts). “Open book” Fraktur (links) [nach Vetter 2000].
206
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Abb. 7.11 Links: Dislokation der rechten Hüfte. Rechts: Dislokation und Fraktur des Acetabulums der linken Hüfte nach seitlichem Anprall. Der Femur-Kopf wurde in die mediale Wand des Acetabulums gestossen [Quelle: Prof. F. Walz].
seitlichen Hechtsprüngen häufig ihre Hüfte [Schmitt et al. 2008a, 2009]. Zum Schutz der Hüfte bei Älteren so wie bei Sportlern werden HüftProtektoren verwendet [Schmid Daners et al. 2008, Schmitt et al. 2008b]. In Autounfällen werden Frakturen des proximalen Femurs jedoch nur sehr selten beobachtet. Seitliche Belastungen hingegen führen eher zu Frakturen der Schambeine. Luxationen und Dislokationen des Hüftgelenks (Abb. 7.11), möglicherweise in Kombination mit einer Fraktur des Acetabulums, können auch durch lateralen Anprall entstehen. Im Prinzip kommt es zu einer Dislokation der Hüfte, wenn sich diese in Flexion und Adduktion befindet und gleichzeitig über den Femur in Rückwärtsrichtung belastet wird. Eine solche Belastungssituation tritt beispielsweise auf, wenn ein Fahrzeuginsasse mit übereinander geschlagenen Beinen im Fahrzeug sitzt und eine Frontalkollision erfährt. 7.2.2
Bein-, Knie- und Fussverletzungen
Eine Untersuchung des Verletzungsmechanismus, der bei frontalen Fahrzeugkollisionen zu einem Anprall am Armaturenbrett und nachfolgender Fraktur des Femurs führt, zeigte, dass die meisten Frakturen durch axiale Kompression entstanden (62 %), gefolgt von Biegung (24 %), Torsion und Scherung (je 5 %) [Crandall 2001]. Neben dem mechanischen Lastfall wird die Erscheinungsform einer Fraktur des Femurschaftes durch eine leichte Krümmung des Knochens (bei der die konvexe Seite der Krümmung nach vorne zeigt) beeinflusst. Dies spielt vor allem bei
Verletzungsmechanismen
207
indirekten Belastungen des Femurs eine Rolle (Abb. 7.7). Ein Anprall des Knies kann zu einer Fraktur der Patella führen (direkte Belastung der Kniescheibe). Durch starke Kontraktion der Muskulatur, insbesondere des Quadrizeps, bei leicht gebeugtem Knie kann ferner eine indirekte Beanspruchung der Patella auftreten. Dies kann ebenfalls eine Patella-Fraktur zur Folge haben [Levine 2002]. Wichtig ist zudem der Anprallwinkel relativ zum Oberschenkel, unter dem das Knie beaufschlagt wird [Meyer und Haut 2003]. Im Unterschied zum stabilen Kugelgelenk der Hüfte, tragen die knöchernen Strukturen des Knies nur wenig zu dessen Stabilität bei. Dies macht die Bänder des Knies verletzungsanfällig (s. auch Kap. 7.5). Ist das Knie gebeugt während die Tibia durch einen Anprall kraftvoll nach hinten gestossen wird, kann das hintere Kreuzband reissen. Bei seitlichen Belastungen (z.B. Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen) werden auch Rupturen der (seitlichen) kollateralen Bänder beobachtet. Eine vollständige Dislokation des Knies kann zum Riss aller vier Hauptbänder des Knies führen. Analog zu Femur-Frakturen, können auch Frakturen der Tibia durch direkte oder indirekte Belastung des Beins entstehen. Dabei stellen TibiaFrakturen die häufigsten Frakturen langer Knochen dar [Crandall 2001] und da das Schienbein quasi direkt unter der Haut liegt (d.h. es wird nur durch eine sehr dünne Schicht weichen Gewebes bedeckt) sind solche Frakturen oftmals offene Frakturen. Die häufigsten Frakturen treten im mittleren Bereich des Schafts und im distalen Drittel der Tibia auf, da dort die Querschnittsfläche am kleinsten ist und entsprechend das kleinste auf die Querschnittsfläche bezogene Trägheitsmoment auftritt. Hinsichtlich der Belastungsart berichtet Crandall (2001), dass für die Tibia wie auch die Fibula axiale Belastung und direkter Anprall gleich oft vorkommen. Brechen sowohl Tibia und Fibula hängt die Stabilität der Fraktur von der Frakturstelle ab, d.h. die Fraktur ist weniger stabil, wenn beide Knochen auf gleicher Höhe brechen. Eine komplexere Form der Tibia-Fraktur ist die Fraktur des Tibia-Plateaus, d.h. eine Fraktur im Bereich des Tibiakopfes einschliesslich einer Schädigung der Knorpelfläche des Kniegelenks. Solche Frakturen sind jedoch selten, sie machen nur ca. 1 % der klinisch beschriebenen Frakturen aus, stellen jedoch 10 % aller bei Fahrzeugkollisionen unterhalb des Knies auftretenden Verletzungen vom Schweregrad AIS ≥ 2 dar [Crandall 2001]. Vom Mechanismus her können direkte Belastungen des Knies, rein axiale Beanspruchung sowie axiale Beanspruchungen bei gleichzeitiger Hyperextension des Knies verantwortlich sein. Eine axiale Beanspruchung kann dabei durch Intrusion des Fahrzeugbodens bei gleichzeitigem Einklemmen des Knies (z.B. unter dem Armaturenbrett) auftreten.
208
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Die Verletzungsmechanismen von Knöchel- und Fuss-Verletzungen sind eng mit den möglichen Bewegungsrichtungen des Knies und des (Hinter-) Fusses verknüpft (Abb. 7.12). Gemäss Crandall (2001) treten Knöchelverletzungen bei Frontalkollisionen hauptsächlich durch axiale Belastung (58 %), Supination (15 %) und Pronation (11 %) auf. Nur 5 % resultieren aus einem direkten Anprall. Verletzungen der Mittelfussknochen werden hingegen nur durch direkten Anprall verursacht und 100 % aller Fersenbein-Frakturen entstehen durch axiale Kompression. Eine reine axiale Belastung kann zudem in Frakturen des Talus resultieren, sogenannten Pylon-Frakturen, bei denen durch eine Verschiebung des Talus in Richtung Tibia sowohl die distale Tibia wie auch das Fersenbein und der Talus selbst betroffen sind. Eine Dorsalflexion (z.B. durch ein Eindringen des Fahrzeugbodens oder der Pedale in die Fahrgastzelle) und ein Fixieren bzw. Einklemmen des Knies können die auftretenden axialen Kräfte vergrössern. Supination und Pronation sind für die Mehrheit der Malleolar- (Knöchel) Verletzungen, insbesondere Frakturen, verantwortlich, so dass der Knöchel eines der am häufigsten verletzten Gelenke des Körpers darstellt (s. auch Kap. 7.5). Die Drehgeschwindigkeit, die Orientierung des Knöchels sowie individuelle Faktoren wie das Alter oder frühere Verletzungen sind Faktoren, die einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, eine Knöchelverletzung zu erleiden, haben [Crandall 2001]. In Fahrzeugunfällen beobachtete Fussverletzungen, insbesondere Mittelfussfrakturen, entstehen meist durch Belastungen über die Pedale. Berührt die Ferse zudem den Fahrzeugboden, so können ferner Kräfte auf das Fersenbein übertragen werden und zu dessen Fraktur führen [Levine 2002]. Des Weiteren haben Leichenversuche gezeigt, dass einer Vorspannung (Vorbelastung) der Achilles-Sehne das Entstehen von Pylon-Frakturen
Abb. 7.12 Bewegungsrichtungen des Fusses [nach Crandall et al. 1996].
Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten
209
beeinflusst. Bei einer Vorspannung von 2 kN waren deutlich weniger zusätzliche Kräfte notwendig, um eine solche Fraktur zu verursachen als bei Fällen ohne Vorspannung [Kitagawa et al. 1998a]. Zudem führt eine Vorbelastung der Achilles-Sehne zu einer Zugbelastung und daher eher zu Frakturen des Fersenbeins. Verletzungsmechanismen werden ferner erheblich durch die Bein-Muskulatur beeinflusst. Gemäss Cappon et al. (1999) können die hinteren Muskeln (Plantarflexoren) über 3.5 kN erzeugen, während für die vorne liegende Muskulatur (Dorsiflexoren) 1.4 kN gemessen wurden [Petit et al. 1998]. Durch Anspannen der Muskeln vor einer Kollision bzw. einer erwarteten Belastung kann ein zusätzlicher Beitrag von über 2.8 kN resultieren [Crandall et al. 1995]. Schlittenversuche und Computersimulationen zeigten, dass durch Muskelkräfte vor allem die in axialer Richtung wirkenden Kräfte, die effektive Masse und die (mechanische) Steifigkeit des Beins erhöht werden. Ferner ändern sich die Spannungsverteilung innerhalb des Knochens und die Kinematik, die weniger Auslenkung nach vorne sowie weniger Drehung im Gelenk ausweist [Crandall et al. 1995]. Nichtsdestotrotz ist die Rolle, die die Muskulatur bei verschiedenen Verletzungsmechanismen spielt, derzeit nur ansatzweise bekannt, so dass diesbezüglich weitere Forschungsarbeiten wichtig wären.
7.3 Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten Das belastungsabhängige Verhalten einzelner Knochen wie des Femurs, der Tibia oder der Fibula wurde in Experimenten mit ähnlichem Aufbau wie bei Materialprüftests (z.B. Biege- oder Torsionsversuche) bestimmt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 7.2 zusammengefasst. Um das biomechanische Verhalten des Beckens unter vertikaler, frontaler und seitlicher Belastung zu untersuchen wurden Leichenversuche durchgeführt. Da die Versuchsaufbauten (teilweise mit starren, teilweise mit gepolsterten Impaktoren) wie auch die Versuchsdurchführungen (z.B. hinsichtlich Instrumentierung und Position der Leiche) verschieden waren, ist es schwierig die jeweiligen Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Da in manchen Versuchen keinerlei Frakturen auftraten, ist auch die Interpretation der Resultate schwierig bzw. teilweise nicht schlüssig. Nusholtz et al. (1982) führten Experimente durch, in denen die Belastungssituation einer Frontalkollision im Strassenverkehr durch Verwendung eines Pendelschlagversuchs nachgestellt wurde. Das Knie
210
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Tabelle 7.2 Mechanische Kenngrössen (Mittelwerte) der Bein-Knochen laut Levine (2002). Femur
Tibia
Mann
Frau
Drehmoment [Nm]
175
Biegung [kN]
3.92
Maximales Moment (Durchschnitt) [Nm] Kompression in Längsrichtung [kN]
Fibula
Mann
Frau
Mann
Frau
136
89
56
9
10
2.58
3.36
2.24
0.44
0.30
310
180
207
124
27
17
7.72
7.11
10.36
7.49
0.60
0.48
einer sitzenden Leiche wurde mit einem Pendel beaufschlagt. Bis zu einer Anprallkraft von 37 kN wurden keine Frakturen des Beckens bzw. Hüfte detektiert. Brun-Cassan et al. (1982) beaufschlagten den gesamten Körper einer nicht angegurteten Leiche, wobei am Knie maximale Kräfte zwischen 3.7 kN und 11.4 kN gemessen wurden. Auch hier wurden bis auf eine Ausnahme keine Becken-Frakturen festgestellt. Im entsprechenden Fall wurden bei einem Knieanprall von 8.8 kN Frakturen der rechte Kniescheibe und des Beckenkamms gefunden. Obschon die Ergebnisse der Leichenversuche recht unterschiedliche Ergebnisse aufweisen, wurde in FMVSS 208 eine maximal zulässige axiale Belastung des Femurs von 10 kN vorgeschrieben. Auch in Bezug auf seitliche Belastungen werden in der Literatur divergierende Resultate beschrieben. Weder die maximale Beschleunigung des Beckens noch die maximale Deformation des Beckens scheinen gut mit der Wahrscheinlichkeit, eine Becken-Fraktur zu erleiden, zu korrelieren. Gemäss Viano et al. (1989) zeigte sich jedoch, dass das Verhältnis von Deformation des Beckens zu deren Breite (angegeben in Prozent der Kompression) ein zuverlässiges Mass für Frakturen der Schambeinäste darstellt. 27 % Kompression des Beckens korrespondierte dabei mit einer Wahrscheinlichkeit für eine schwere Verletzung von 25 %. Dieses Ergebnis wurde durch Cavanaugh et al. (1990), die ebenfalls seitliche Belastungen mittels Leichenversuchen analysierten, bestätigt. Ein leicht höherer Wert einer Kompression von 32.6 % entsprach hier einer 25 %igen Wahrscheinlichkeit einer Fraktur der Schambeinbogen. Die (visko-elastischen) Materialeigenschaften wie auch das Versagen der nicht-knöchernen Strukturen des Beins wurden in verschiedenen
Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten
211
experimentellen Arbeiten untersucht, wobei die Ergebnisse wiederum eine grosse Streuung aufweisen. Solche Abweichungen sind jedoch zu erwarten, da für Sehnen und Bänder die maximal ertragbare Belastung von der Querschnittsfläche des Gewebes abhängt. In der Literatur finden sich Durchschnittswerte für die maximal ertragbaren Zugspannungen für Sehnen und Bänder, die zwischen 50 und 100 MPa liegen. In Abhängigkeit des jeweiligen Versuchsaufbaus werden Versagensgrenzen für Bänder des Knies von 7 bis 40 % Dehnung beschrieben [z.B. Butler et al. 1986, Kerrigan et al. 2003, Arnoux et al. 2004, Robinson et al. 2005]. Abbildung 7.13 stellt typische Spannungs-Dehnungs-Diagramme für Ligamente des Knies dar. Dynamische, an Leichen durchgeführte Versuche zeigen, dass ein 50 %iges Risiko einer Verletzung des Kollateralbands mit einem Biegemoment von 117 bis 134 Nm einhergeht [Ivarsson et al. 2003]. Verschiedene andere Studien dokumentieren hingegen eine grössere Spanne für Versagensgrenzwerte, so dass diesbezüglich (noch) keine allgemeingültigen Schlussfolgerungen gezogen werden können. Auch hinsichtlich des biomechanischen Verhaltens des Unterschenkels und des Fusses wurden Experimente an Leichen und Freiwilligen durchgeführt. Hirsch und White (1965) bestimmten die Kraft-VerformungsKennlinien für statische, axiale Belastungen bei Leichen und Freiwilligen. Ein Vergleich der Ergebnisse legt den Schluss nahe, dass bezüglich der Druckfestigkeit von Fuss und Knöchel kein Unterschied zwischen Abb. 7.13 Spannungs-DehnungsKurven der Patella-Sehne (PT), des vorderen (VKB) und hinteren (HKB) Kreuzbandes und der seitlichen Faszien-KnochenÜbergange des lateralen Kollateralbands (LKB) [nach Butler et al. 1986].
212
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
lebendem und totem Gewebe besteht [Crandall et al. 1996]. Ferner wurde das Verhalten von Tibia und Knöchel auch unter dynamischer, axialer Belastung mittels Leichenversuchen analysiert [z.B. Petit et al. 1996, McMaster et al. 2000]. Abbildung 7.14 illustriert einen entsprechenden Versuchsaufbau, bei dem Fuss und Tibia durch ein Pendel beaufschlagt werden. Als Versagensgrenzen für Tibia-Frakturen wurden beispielsweise folgende Werte bestimmt: 7.8 kN [Begeman und Prasad 1990], 8.0 kN [Yoganadan et al. 1996]. 7.3 kN wurden für Pylon-Frakturen beschrieben [Kitagawa et al. 1998b] und ein Toleranzwert von 8.1 kN wurde für Fersenbein-Frakturen bestimmt [Begeman und Prasad 1990]. Für Dorsalflexion/Plantarflexion wurde das biomechanische Verhalten in statischen wie auch dynamischen Tests untersucht. Leichenversuche zeigten, dass bei einer erzwungenen Dorsalflexion von 45° eine 50 %ige Wahrscheinlichkeit einer Knöchelverletzung besteht [Levine 2002]. Rudd et al. (2004) kamen in ihren Versuchen zu dem Ergebnis, dass ein Moment von 59 Nm, gemessen am Knöchel, einem Risiko von 25 % für eine Knöchelfraktur bei Dorsalflexion entspricht (Angabe für einen 50perzentilen Mann). Parenteau et al. (1998) führten quasi-statische Experimente durch. Sie stellten Verletzungen bei 47.0±5.3° und 36.2±14.8 Nm bei Dorsalflexion und 68.7±5.9° sowie 36.7±2.5 Nm bei Plantarflexion fest. Dynamische Versuche führten bei 138 Nm zu Verletzungen, wobei hier eine grosse Variabilität von ±50 Nm bestand [Begeman und Prasad 1990]. In ähnlicher Weise wie die Untersuchungen zu Dorsi-/Plantarflexion wurden auch Pronation und Supination des Fusses statisch und dynamisch analysiert. Für quasi-statische Belastungen fanden Parenteau et al. (1998) beispielsweise eine Versagensgrenze von ca. 34 Nm bei Supination und
Abb. 7.14 Versuchsaufbau zur Durchführung dynamischer Experimente zur Bestimmung des biomechanischen Verhaltens [nach Crandall 2001].
Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten
213
48 Nm bei Pronation. Abbildung 7.15 zeigt Ergebnisse für das biomechanische Verhalten bei Supination und Pronation gemäss Crandall et al. (1996). Wie in den obigen Abschnitten beschrieben wurde, haben die bisher durchgeführten Experimente zu Ergebnissen mit einer nicht unerheblichen Streuung geführt. Dabei wurden zusätzliche Einflüsse durch aktive und passive Muskelkraft, durch eine im Moment der Belastung bereits bestehende Belastung bzw. Spannung oder auch individuelle Faktoren wie die Knochendichte nicht berücksichtigt [McMaster et al. 2000]. Zur Quantifizierung solcher Einflüsse wie auch zur Verbesserung der bisherigen Datenlage und damit zur besseren Definition von Verletzungstoleranzen, Verletzungskriterien, mathematischen Modellen oder Crashtest-Dummys sind weitere experimentelle Untersuchungen notwendig.
Abb. 7.15 Ergebnisse quasi-statischer Freiwilligen- und Leichenversuche beschreiben das biomechanische Verhalten für Pronation (oben) und Supination (unten) in Form von Korridoren [nach Crandall et al. 1996].
214
7.4
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Verletzungskriterien
Derzeitige Richtlinien und Vorschriften enthalten nur wenige Kriterien zur Beurteilung des Verletzungsrisikos des Beckens und der unteren Extremitäten. Grundsätzlich ist dies nicht überraschend, da die Anzahl der zugrunde liegenden Experimente klein ist und die Ergebnisse in einigen Aspekten noch nicht wirklich schlüssig sind. Es wurden jedoch weitere Kriterien vorgeschlagen; diese wurden aber noch nicht in Vorschriften aufgenommen. In Ergänzung zu vorgeschriebenen (gesetzlichen) Tests, berücksichtigen Testvorgaben von anderen Organisationen wie EuroNCAP bereits Verletzungen der Beine bei Fussgängern (s. auch Kap. 2.6). 7.4.1
Kompressionskraft
Zum Schutz des gesamten Komplexes von Hüfte, Oberschenkel und Knie schreibt FMVSS 208 eine maximale Kraft in axialer Richtung des Femurs von 10 kN vor. ECE R94 gibt eine maximale Kompression in axialer Richtung der Tibia eines Crashtest-Dummy vor (“tibia compression force criterion”, TCFC). Derzeit liegt dieser Grenzwert des TCFC bei 8 kN. 7.4.2
Femur-Kraft-Kriterium (Femur Force Criterion, FFC)
Das FFC Kriterium wird in ECE R94 beschrieben und dient der Beurteilung der auf den Femur einwirkenden Kompressionskraft wie auch der Zeitdauer [ms], für die diese Kraft wirkt. Das FFC wird aus der Kompressionskraft [kN], die in axialer Richtung auf den Femur wirkt, bestimmt. Abbildung 7.16 stellt die Grenzwerte dieser Kraft dar, die nicht überschritten werden dürfen. 7.4.3
Tibia-Index (TI)
Der Tibia-Index (TI) berücksichtigt Biegemomente sowie die in axialer Richtung auf die Tibia wirkende Kraft. Durch Berücksichtigung dieser beiden Grössen soll das Risiko für Frakturen des Tibia-Schafts bestimmt werden. Der TI berechnet sich gemäss folgender Gleichung: M F TI = -------------- + ------------M F k rit k rit
(7.1)
wobei M das Biegemoment beschreibt und F die Kraft der Kompression
Verletzungskriterien
215
Abb. 7.16 Vorgeschriebene Femur-Kraft gemäss ECE R94.
darstellt. Mkrit und Fkrit sind Referenz- bzw. Normierungswerte, die aus statischen Biegeversuchen der Tibia gewonnen wurden [Yamada 1970]. Für einen 50-perzentilen Mann sind 225 Nm für das Biegemoment und 35.9 kN für die Druckkraft zu verwenden. Das Maximum des am oberen und unteren Ende der Tibia bestimmten TI darf an keiner Stelle einen Wert von 1.3 überschreiten (ECE R94). Als weitere Beschränkung wurde eine maximale Kompression definiert. Die maximale Kompressionskraft muss kleiner als 8.0 kN sein. Durch Skalierung der oben genannten Referenzwerte wurden entsprechende Werte für andere Hybrid III DummyGrössen wie die 5-perzentile Frau und den 95-perzentilen Mann definiert. Weitere Details zur vorgeschriebenen Auswertung (z.B. der vorgegebenen Filterung der Messwerte) sind in ECE R94 beschrieben. 7.4.4
Weitere Kriterien
Für seitliche Belastungen wird die maximale Dehnung der Schambeinfuge als Mass für die Verformung des Beckens verwendet. Das entsprechende Kriterium ist die Schambeinfugen-Kraft (“pubic symphysis peak force”, PSPF), die einen Wert von 6 kN nicht überschreiten darf (vgl. ECE R95). Eine maximale Verschiebung der Tibia von 15 mm wird in ECE R94 (Frontalkollision) zum Schutz der Bänder des Knies beschrieben. Zudem werden maximale Belastungen zum Schutz den Fusses und des Knöchels, beispielsweise eine maximale Kraft von 7.5 kN, diskutiert.
216
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
7.5 Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport Verschiedene intrinsische wie extrinsische Faktoren werden hinsichtlich ihres Einflusses auf das Verletzungsrisiko von Sportverletzungen von Becken und unteren Extremitäten diskutiert [z.B. Murphy et al. 2002]. Während mehrere Studien gezeigt haben, dass die Verletzungshäufigkeit im Training höher ist als während einem Wettkampf oder Spiel, werden andere mögliche Einflüsse wie Leistungsstufe, Schuhe oder ein stabilisierender Knöchel-Verband (Sporttape) kontrovers diskutiert. Hinsichtlich intrinsischer Faktoren konnte nachgewiesen werden, dass eine frühere Verletzung — insbesondere in Kombination mit ungenügender Rehabilitation — das Risiko einer erneuten Verletzung erhöht. Eine Korrelation zwischen dem Verletzungsrisiko und anderen Faktoren wie Bein-Dominanz, Fitness-Status, Körpergrösse oder Beweglichkeit konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden oder hing stark vom Design der entsprechenden Studie ab. Diese inkonsistenten Resultate spiegeln die grosse Variabilität der verschiedenen Sportarten sowie der individuellen Eigenschaften der Athleten wieder und erschweren (bzw. verunmöglichen) eine systematische Darstellung von Verletzungsmechanismen und Verletzungstoleranzen. Verletzungen der Muskulatur der Beine sind im Sport häufig. Ein stumpfer Anprall, beispielsweise durch das Knie eines Anderen oder durch einen Sturz, übt Druck auf die Muskeln aus und stellt den überwiegenden Mechanismus von Muskelkontusionen dar. Geeignete Werte für ein Verletzungsrisiko von Muskelkontusionen werden derzeit nicht beschrieben. Dies kann dahingehend gedeutet werden, dass individuelle Faktoren das Entstehen einer solchen Verletzung stark beeinflussen. Im Rahmen einer Studie zur Hüftbelastung von Fussball-Torhütern beim seitlichen Hechtsprung schätzten Schmitt et al. (2009) das Risiko einer Kontusion im Bereich der Hüfte ab. Der experimentell bestimmte Grenzwert lag im Bereich von 110-125 N/cm2. In ungefähr 9 bis 17 % aller Fälle entwickelt sich nach einem direkten Anprall eine Myositis ossificans traumatica, wobei davon ausgegangen wird, dass bei einer solchen Entwicklung die Verletzungsschwere eine Rolle spielt. Myositis ossificans traumatica beschreibt eine nichtneoplastische Bildung von Knochen und Knorpel im Bereich der zuvor erlittenen Verletzung bzw. entsprechender Hämatome. Die genaue Ursache, die Beziehung zu anderen Knochenbildungen (nach Operationen, erblich bedingt) und mögliche Behandlungen sind noch nicht vollständig geklärt
Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport 217
[Beiner und Jokl 2002]. Zerrungen der hinteren Oberschenkel-Muskulatur kommen vor allem in Sportarten vor, die Rennen, Sprinten oder Springen erfordern [Schache et al. 2009], treten aber ebenso bei (Ballett-) Tanz und Wasserski fahren auf. Auffallend ist eine hohe Wieder-Verletzungshäufigkeit, d.h. ein erhöhtes Risiko nach erlittener Verletzung wieder eine solche zu erleiden. Es wird vermutet, dass eine Zerrung der hinteren Oberschenkelmuskeln gegen Ende der Schwung-Phase entsteht, wenn die Muskeln die Extension des Knies abremsen, d.h. die Muskulatur kontrahiert während sie gestreckt wird. Folglich muss die Muskulatur von exzentrischer nach konzentrischer Kontraktion umstellen, wodurch eine höhere Verletzlichkeit erklärt werden könnte [Peterson und Hölmich 2005]. Die knöchernen Strukturen der unteren Extremitäten können in verschiedenen Situationen derart belastet werden, dass die FrakturGrenzwerte (s. Kap. 7.2 und 7.3) überschritten werden und direkte oder indirekte Frakturen resultieren. Zudem können wiederholte, aber unterkritische Belastungen zu einer Kumulierung von Mikrotraumen führen, wodurch Ermüdungsbrüche entstehen können (s. Kap. 9). Ermüdungsfrakturen von Tibia, Femur oder den Mittelfussknochen werden beispielsweise bei Langstreckenläufern oder Ballett-Tänzern beobachtet. Bedingt durch die hohe Stabilität des Hüftgelenks sind Dislokationen und Subluxationen im Sport selten, wenngleich nicht unmöglich. Anteriore Dislokationen werden manchmal als Folge von heftigen Kollisionen beim Skifahren und Kontaktsportarten beobachtet. Frakturen des Beckens sind im Sport ebenfalls ungewöhnlich [Anderson et al. 2001]. Der proximale Femur kann durch direkten Anprall eine Fraktur erleiden (s. Kap. 7.2.1); auch können Ermüdungsfrakturen durch Überbelastung entstehen. Unter normalen Bedingungen bewirkt das nach unten gerichtete Biegemoment (durch Kraft auf Femurkopf bezogen auf die Länge des Femurhalses), dass im oberen Teil des Oberschenkelhalses Zugspannungen wirken. Diese werden durch Kontraktion der Abduktoren und daraus resultierendem Druck auf den oberen Teil des Femurhalses kompensiert. Ermüdet jedoch die Muskulatur (z.B. der M. gluteus medius) wird dieser neutralisierende Effekt reduziert und der Oberschenkelhals erfährt Zugspannungen [Egol et al. 1998]. Folglich können gerade in solchen Fällen durch wiederholte Belastung Ermüdungsfrakturen entstehen. Die verschiedenen Strukturen des Knies können durch direkte und indirekte Belastung verletzt werden. Wie bereits in Kapitel 7.2.2 beschrieben können Frakturen der Kniescheibe (Patella) vorkommen. Zudem werden auch Rupturen der Patellasehne, patellofemorale Schmerzen (“patellofemoral pain syndrome”) oder patellare
218
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Sehnenentzündungen (als Springerknie, "jumper's knee", bekannt) beobachtet. Die Mehrheit der im Sport erlittenen Knieverletzungen betreffen jedoch die Bänder und die Menisken. In einer Auswertung von Daten zu über 7000 Knieverletzungen fanden Majewski et al. (2006), dass die meisten Verletzungen das vordere Kreuzband (VKB) betrafen (20.3 %). Gefolgt von Läsionen des medialen Meniskus (10.8 %), des lateralen Meniskus (3.7 %), des medialen Kollateralbands (MKB) (7.9 %), des lateralen Kollateralbands (LKB) (1.1 %) und des hinteren Kreuzbandes (HKB) (0.65 %). Die am häufigsten zu solchen Knieverletzungen führenden Sportarten waren Fussball (35 %) und Skifahren (26 %). LKB Verletzungen wurden vor allem beim Tennis und Turnen beobachtet, MKB Verletzungen beim Judo und Skifahren, VKB-Verletzungen beim Handball und Volleyball, HKB-Verletzungen ebenfalls beim Handball, laterale Meniskusverletzungen beim Turnen und (Ballett-) Tanzen sowie mediale Meniskusläsionen beim Tennis und Jogging. Zu den mechanischen Funktionen der Menisken gehören Kraftübertragung und Stoss- (Energie-) Absorption (d.h. Dämpfung). Zudem leisten sie einen Beitrag zur Stabilität des Knies und erleichtern Drehbewegungen. Kommt es zum Versagen der Menisken, so sind im Allgemeinen Komponenten aus Scherung und Kompression involviert. Risse in den Menisken werden beispielsweise durch eine Rotation des Körpers bei fixiertem und (durch die Körpermasse) belastetem Knie verursacht. Dies kann sowohl bei einer Kombination aus Flexion und Rotation wie auch bei Extension und Rotation jeweils unter Belastung durch das Körpergewicht beobachtet werden. VKB-Rupturen erfolgen meist in Folge einer kombinierten Belastung aus Valgus-Stellung (Valgus: “X-Beine”, Varus: “O-Beine”) und nach aussen drehender Tibia-Rotation oder aus Hyperextension mit nach innen gerichteter Tibia-Rotation [Whiting und Zernicke 1998]. Der erste Mechanismus wird zum Beispiel beim Rugby oder beim American Football beobachtet, wenn der Fuss unter Belastung des Körpergewichts auf dem Boden steht, während ein anderer Spieler lateral an das Knie prallt und dadurch Valgus und Rotation verstärkt. Durch den zweiten Mechanismus können VKB-Rupturen im Basketball oder beim Turnen bei einer Landung nach einem Sprung entstehen. Beim Skifahren werden üblicherweise drei Verletzungsmechanismen, die zu VKB-Rupturen führen, in Betracht gezogen [Hunter 1999]: (a) Valgus mit externer Rotation (Verkanten der Skier auf der Innenseite mit Sturz nach vorne zwischen die Skier), (2) VKB-Verletzung durch Landung auf dem hinteren Teil der Skier bei gestrecktem Knie, wodurch der Skischuh die Tibia nach vorne verschiebt sobald auch der vordere Teil der Skier den
Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport 219
Boden berührt, (3) “Phantom-Fuss” Phänomen (“phantom foot mechanism”, Sturz nach hinten zwischen die Ski bei Verkanten der Innenseite des Tal-Skis wodurch dem Bein eine Innenrotation aufgezwungen wird). Verletzungen des hinteren Kreuzbandes (HKB) sind weniger häufig, können jedoch auftreten, wenn die Tibia relativ zum Femur nach hinten verschoben wird. Abbildung 7.17 zeigt ein Beispiel einer HKB-Verletzung. Eine Ruptur des HKB ist zudem bei Stürzen auf das gebeugte Knie möglich, wenn dadurch die Tibia nach hinten verschoben wird bzw. wenn das Knie bei gleichzeitiger Plantarflexion des Fusses in eine Flexion gezwungen wird oder bei raschem Einknicken des leicht gebeugten Knies. Obschon allgemein anerkannt ist, dass eine Verletzung des HKB üblicherweise bei Flexion oder Hyperflexion des Knies auftritt, so wird die Auswirkung eines von der Tibia ausgehenden Drehmoments kontrovers diskutiert [Whiting und Zernicke 1998, Senter und Hame 2006]. Es sei angemerkt, dass Sportlerinnen hinsichtlich Knieverletzungen ein höheres Risiko als Sportler aufweisen. Dies gilt insbesondere für VKBRupturen, die ohne Anprall entstehen. Es werden verschiedene Ursachen für die höhere Verletzungshäufigkeit diskutiert, u.a. werden anatomische und physiologische Unterschiede (z.B. Grösse/Form des Femur(endes), Muskelkraft, Ligament-Dominanz, Sexualhormone) sowie Unterschiede in der neuromuskulären Balance in Betracht gezogen. Eine umfangreiche Übersicht zu diesem Thema findet sich in Dugan (2005). Der Knöchel gehört zu den im Sport am häufigsten verletzten Gelenken des Körpers. 75 % aller Knöchelverletzungen betreffen die Bänder des Knöchels, wobei in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle (85 %) Zerrungen durch Verletzungen bei Supination (typischerweise durch ein Umknicken nach aussen bei auf dem Boden fixiertem Fuss) auftreten [Whiting und Zernicke 1998]. Faktoren, die auf ein erhöhtes
Abb. 7.17 Verletzung des hinteren Kreuzbandes durch eine Verschiebung der Tibia relativ zum Femur nach hinten [nach Peterson und Renström 2002].
220
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
Verletzungsrisiko hindeuten, sind u.a. statische Fuss-Parameter (z.B. ein hoher longitudinaler Bogen, ein breiter Fuss) sowie Gang-Parameter (z.B. ein mehr auf die Seite des Fusses ausgerichteter Gang). Diese Risikofaktoren sind jedoch weiterhin Gegenstand kontroverser Diskussionen und daher noch nicht als allgemeingültig zu betrachten [Morrison und Kaminski 2007]. Weitere Verletzungen von Knöchel, Fuss und Achilles-Sehne wurden bereits in Kapitel 7.2.2 beschrieben; sie sind auch auf Sportverletzungen übertragbar. Zusätzlich treten Verletzungen durch Überlastung des Fusses (Ermüdungsfrakturen) und der AchillesSehne (mögliche Ruptur bei Degeneration der Sehne) auf. Verletzungen dieser Art werden vor allem bei Ausdauersportlern und Militärrekruten beschrieben (s. Kap. 9).
7.6
Prävention
Präventionsstrategien im Sport hängen stark von der jeweiligen Sportart wie auch individuellen Faktoren ab. Daher ist es nicht überraschend, dass das Schutzpotential verschiedener Massnahmen sehr kontrovers diskutiert wird und sich mitunter gegensätzliche Meinungen finden. Die Verwendung von Verbänden, Stützen bzw. Tapes zur Stabilisierung des Knies [z.B. Najibi und Albright 2005] oder der Effekt von Schienbeinschonern zur Verhinderung von Tibia-Frakturen [z.B. Francisco et al. 2000] sind beispielsweise Gegenstände solcher Diskussionen. Zum Schutz der Hüfte sind sowohl für ältere Personen wie auch für Sportler verschiedene Protektoren verfügbar. Prinzipiell verwenden diese Protektoren eine harte Schale zur Verteilung der Anprallkraft und/oder Energie absorbierenden Schaum (s. auch Kap. 3.6). Je nach Design und verwendetem Material variiert das Schutzpotential solcher Protektoren erheblich [z.B. Schmid Daners et al. 2008, Schmitt et al. 2008b]. Im Bereich der Fahrzeugsicherheit findet sich — im Unterschied zum Sport — recht grosse Übereinstimmung, durch welche Massnahmen sich die Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten reduzieren lassen. Kniepolster, die im unteren Teil des Armaturenbretts angebracht werden, sollen das Knie bei direktem, frontalen Anprall schützen (ferner dienen sie bei nicht angegurteten Insassen zur deren Abstützung). Um Verletzungen der Knie-Ligamente zu verhindern ist es wichtig, dass die Kniepolster auch den oberen Teil der Kniescheibe abdecken, so dass die Kräfte axial in den Femur übertragen werden können. Des Weiteren wurden Knie-Airbags entwickelt, durch die die Belastung des Knies bei
Prävention
221
Abb. 7.18 Möglichkeiten zur Prävention von Verletzungen der unteren Extremitäten: Knie-Airbag (rechts) und Anti-Rutsch-Airbag, der zudem ein “submarining” (s. Kap. 6) verhindert (links) [Autoliv 2003].
Frontalkollisionen reduziert werden soll (Abb. 7.18). Erste Fahrzeugmodelle werden bereits mit solchen Systemen ausgerüstet. Um Knie und Beine eines Insassen in sicherem Abstand vom Armaturenbrett zu halten, d.h. um ein nach vorne Rutschen des Insassen zu vermeiden, wurde ein Airbag vorgestellt, der sich im Bereich der Vorderkante der Sitzfläche befindet [Autoliv 2003]. Durch ein Auslösen des Airbags wird zudem das in Kapitel 6 beschriebene “submarining” verhindert und so auch das Verletzungsrisiko des Abdomens reduziert. Weitere Massnahmen betreffen die Konstruktion der Fahrgastzelle, die derart optimiert wird, dass eine Intrusion bzw. die Intrusionsgeschwindigkeit im Bereich der Beine möglichst klein ist. Durch konstruktive Veränderungen der Pedale können zudem die auf die Füsse übertragenen Kräfte reduziert werden. Ferner wurden Fuss-Airbags entwickelt. Diese sind am Fahrzeugboden angebracht und sollen vor Verletzungen der Knöchel und der Beine, die durch Deformation des Bodens entstehen, schützen. Durch ein Anheben der Ferse wird die Dorsalflexion des Fusses reduziert. Håland et al. (1998) konnten zeigen, dass solche Airbags die Beschleunigung des Fusses um bis zu 65 %, diejenige der Tibia um bis zu 50 % und den Tibia-Index um 30 % bis 60 % reduzieren. 7.6.1
Massnahmen zum Fussgängerschutz
Während Technologien zum Erkennen von Fussgängern (z.B. durch Infrarot-Kameras) und zur Warnung des Fahrers Unfälle verhindern sollen,
222
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
werden parallel dazu Möglichkeiten entwickelt, um Verletzungen des Fussgängers im Falle einer unvermeidbaren Kollision gering zu halten. Beispielsweise durch Minimieren der Aggressivität der Geometrie und Struktur der Fahrzeugfront, soll das Verletzungsrisiko für den Fussgänger reduziert werden. Bezüglich der Geometrie konnten verschiedene Studien zeigen, dass die Form der Fahrzeugfront einen grossen Einfluss auf mögliche Verletzungen hat. Die Auswertung der GIDAS Datenbank (s. Kap. 2) zeigte beispielsweise, dass Verletzungen von Becken und oberem Bein nur bei Fahrzeugen mit eher scharfkantiger und hoher Motorhaubenkante vorkommen [Otte 1999, 2002]. Dieses Ergebnis wurde durch Snedeker et al. (2003) bestätigt, die durch numerische Simulationen zeigen konnten, dass ein Fahrzeug mit niedriger Motorhaubenkante (<750 mm), einem grossen Radius der Kante (>250 mm), einer mittleren Stossfängerhöhe (>150 mm) und einer ausreichend hohen Oberkante des Stossfängers (>490 mm) bei einem seitlichen Anprall an einen Fussgänger mit einer Kollisionsgeschwindigkeit von bis zu 40 km/h praktisch jegliche Frakturen von Becken/Oberschenkel verhindert werden könnten. Zudem konnte gezeigt werden, dass die Rundung der Motorhaubenkante einen erheblichen Einfluss auf die Kinematik des Fussgängers hat. Auch scheint gemäss diesen Berechnungen ein direkter Zusammenhang zwischen dem Radius der Motorhaubenkante und den im Acetabulum erzeugten mechanischen Spannungen zu bestehen. Die Anprallgeschwindigkeit, mit der der Oberschenkel auf die Motorhaube trifft, ist ein kritischer Faktor hinsichtlich des Verletzungsrisikos. Diese Anprallgeschwindigkeit ist oftmals jedoch nicht mit der Kollisionsgeschwindigkeit identisch, da die Anprallgeschwindigkeit stark von der Form, insbesondere dem Radius, der Haubenkante abhängen kann [Snedeker et al. 2003]. Als potentiell verletzungsinduzierend können sich auch an der Fahrzeugfront angebrachte Ornamente bzw. Kühlerfiguren erweisen. Daher müssen solche Bauteile derart gestaltet werden, dass sie bei einem Anprall umklappen oder sich wegdrehen. In der Schweiz sind diesbezüglich die Design-Richtlinien des Bundesamtes für Strassen massgeblich [ASTRA 2002]. Auch von Frontbügeln (zusätzliche Stossstangen) geht — insbesondere für Kinder — ein Verletzungsrisiko aus. Die Verwendung solcher Bügel wurde in der Schweiz daher vom Gesetzgeber eingeschränkt [ASTRA 2002]. Ein weiterer relevanter Aspekt bei Fussgänger-Fahrzeug-Kollisionen ist die Struktur der Fahrzeugfront, vor allem die Deformationseigenschaften der Front vom Stossfänger bis zur Motorhaube. Der Stossfänger kann so
Zusammenfassung
223
ausgelegt werden, dass er eine höhere Energieabsorption gestattet. Verschiedene Designbeispiele konnten zeigen, dass ein Aufbau aus Schäumen unterschiedlicher Dichte und einem geeigneten Träger die Beine eines Fussgängers stützen und gleichzeitig die übertragene Kraft reduzieren kann, so dass das Verletzungsrisiko sinkt. Zudem kann der Träger bzw. das Gehäuse der Frontscheinwerfer nachgiebig gestaltet werden, so dass der Scheinwerfer bei einem Anprall eingedrückt wird, wodurch sich ebenfalls das Verletzungsrisiko reduziert.
7.7
Zusammenfassung
Verletzungen der unteren Extremitäten sind im Sport häufig, wobei vor allem Rupturen der Bänder und Verletzungen der Gelenke beobachtet werden. Ältere ziehen sich vor allem bei Stürzen Hüftverletzungen zu. Zudem erleiden Fussgänger, die von einem Fahrzeug angefahren werden, oftmals Verletzungen an den unteren Extremitäten. Fahrzeug-FussgängerKollisionen sind daher ein wichtiger Aspekt der Sicherheit im Strassenverkehr. Folglich wird das Verletzungsrisiko hinsichtlich der Beine als Teil der Fussgänger-Sicherheit auch im Rahmen von Testverfahren wie dem EuroNCAP geprüft. Ergänzend finden sich in derzeitigen gesetzlichen Vorschriften Begrenzungen der maximal zulässigen Kompression der Beine bei Fahrzeuginsassen.
7.8
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Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten
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8 Verletzungen der oberen Extremitäten
Verglichen mit anderen Körperregionen haben Verletzungen der oberen Extremitäten im Bereich Fahrzeugsicherheit wohl die geringste Aufmerksamkeit erfahren. Teilweise lässt sich das durch die Tatsache erklären, dass diese Verletzungen in der Regel nicht lebensbedrohlich sind. Nichtsdestotrotz können sie jedoch zu langwierigen Einschränkungen und daher zu erheblichen gesellschaftlichen Kosten führen. Durch die Einführung von zusätzlichen Rückhaltesystemen wie den Airbags sind Verletzungen der Arme und Hände wieder mehr ins Interesse gerückt. Wegen ihrer Nähe zu den oberen Extremitäten haben insbesondere Seitenairbags entsprechende Aufmerksamkeit erfahren, aber auch der Effekt von Frontairbags, die nahe der Hände und Unterarme gezündet werden, wird untersucht. Immer neue Airbag-Entwicklungen, wie beispielsweise mehrstufige Airbags, erfordern eine regelmässige Überprüfung der gängigen Ansichten hinsichtlich deren Schutzpotential und etwaigen von Airbags ausgehenden Verletzungsrisiken. Im Gegensatz zum Automobil-Bereich sind Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport häufig. Sie sind daher entsprechend oft Gegenstand der Forschung. Zahlreiche Studien analysierten die Kinematik der oberen Extremitäten bei unterschiedlichen Bewegungsabläufen wie dem Werfen, einem Golf- oder einem Tennisschlag. Zudem finden sich viele Studien zu Diagnose und Behandlung von Sportverletzungen der oberen Extremitäten. Hinsichtlich Verletzungsmechanismen bestehen jedoch weiterhin viele ungelöste Fragen und bezüglich Verletzungskriterien und Verletzungsgrenzwerten finden sich quasi keine konklusiven Arbeiten.
8.1
Anatomie
Schulter (bzw. Schultergürtel), Oberarm, Unterarm und Hand bilden eine obere Extremität. In Abbildungen 8.1 und 8.2 sind die entsprechenden
K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
228
Verletzungen der oberen Extremitäten
Akromion Bursa subacromialis
M. supraspinatus
Humerus M. biceps brachii
Abb. 8.1 Knochen und Gelenke der oberen Extremitäten [nach Sobotta 1997].
Abb. 8.2 Knöcherne Struktur der Hand [nach Sobotta 1997].
knöchernen Strukturen dargestellt. Die Schulter besteht aus Schulterblatt (Scapula), Schlüsselbein (Clavicula) sowie den Gelenken, die den Oberarm mit dem Oberkörper verbinden. Der Oberarm besteht aus dem Oberarmknochen (Humerus) und ist via Schultergelenk mit der Schulter verbunden. Das Schultergelenk weist eine grosse Beweglichkeit auf. Die Bewegung von Schlüsselbein und
Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen
229
Schulterblatt ermöglicht eine Verschiebung der Schulter in horizontaler wie auch frontaler Ebene. Zudem erlaubt das Schultergelenk Rotationen um die drei anatomischen Achsen. Das Ellenbogengelenk verbindet den Ober- mit dem Unterarm, der wiederum aus Elle (Radius) und Speiche (Ulna) besteht. Das Ellenbogengelenk ermöglicht die Beugung (Flexion) und Streckung (Extension) des Unterarms relativ zum Oberarm. Zudem ist das Ellenbogengelenk an der Drehung des Unterarms (Pronation/Supination) beteiligt. Diese Drehung wird durch die Ulna im Handgelenk ergänzt. Das Handgelenk schliesslich verbindet den Unterarm mit der Hand. Nebst den knöchernen Strukturen sind die oberen Extremitäten mit entsprechenden Muskeln, Bändern, Sehnen und weiterem Weichteilgewebe (z.B. Bursa) ausgestattet. Es ist anzumerken, dass sich die Masse sowie die Knochendichte der oberen Extremitäten von Männern und Frauen unterscheiden. Frauen weisen sowohl eine geringere Masse wie auch eine geringere Knochendichte auf. Diese Unterschiede können sich im Alter verstärken (z.B. durch Osteoporose) und haben einen entsprechenden Einfluss auf die biomechanischen Eigenschaften dieser Strukturen.
8.2
Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen
Frakturen der Langknochen der oberen Extremitäten bilden den Schwerpunkt der Verletzungen. Natürlich können auch Weichteile und Muskeln verletzt werden (z.B. Abschürfungen der Haut durch Kontakt mit einem Airbag [Duma et al. 2003, Rath et al. 2005]), solche Verletzungen als Folge von Fahrzeugunfällen spielen jedoch eine untergeordnete Rolle. Hinsichtlich Frakturen kann auch hier die in Kapitel 7 dargestellte Klassifikation angewendet werden. Sehr häufig sind Frakturen des Schlüsselbeins, die beispielsweise durch direkten Anprall, durch Kompression bei seitlicher Belastung der Schulter oder durch einen Sturz auf den ausgestreckten Arm entstehen können. Eine typische Fraktur der Speiche ist die Ulnaschaftfraktur (“nightstick fracture”), bei der es sich um eine isolierte, diaphysäre (d.h. den mittleren Teil des Knochen betreffende) Ulnafraktur handelt. Sie entsteht durch direkten Anprall (bei geringer einwirkender Energie z.B. durch einen Airbag) und weist eine transversale Frakturlinie durch die Ulna auf (s. Abb. 7.8). Frakturen des Humerus resultieren hauptsächlich durch direkten Anprall, können aber auch ganz ohne Kontakt entstehen. Es wurden einige Fälle beschrieben, bei denen Muskelkräfte, beispielsweise bei einem Wurf, zu einer Fraktur des
230
Verletzungen der oberen Extremitäten
Humerus führten [Levine 2002]. Eine Auswertung von Fahrzeugunfällen in Grossbritannien mit Hinblick auf Verletzungen der oberen Extremitäten bei Insassen von Fahrzeugen, die nicht mit Airbags ausgerüstet waren [Frampton et al. 1997], zeigte, dass 86 % aller dieser Verletzungen vom Schweregrad AIS1 (d.h. kleinere Abrasionen, Kontusionen, Lazerationen) waren. Folglich waren 14 % vom Schweregrad AIS ≥ 2, wobei Frakturen bei allen Kollisionstypen die häufigsten Verletzungen waren. Bei Frontalkollisionen wurden Frakturen des Unterarms am häufigsten beobachtet. Schulterverletzungen entstanden vor allem bei Seitenkollisionen und Überschlägen, wobei ClaviculaFrakturen die häufigsten Schulterverletzungen waren. Frakturen des Humerus fanden sich in Insassen-nahen Seitenkollisionen, nicht jedoch bei Frontalkollisionen oder Überschlägen. Handverletzungen wurden gelegentlich nach Frontalkollisionen festgestellt. Huelke et al. (1997) untersuchten eine Stichprobe von 540 Unfällen, bei denen der Fahrerairbag ausgelöst wurde. Es zeigte sich, dass 34 % aller Fahrer AIS1 Verletzungen der oberen Extremitäten erlitten; 3 % wiesen Verletzungen vom Typ AIS ≥ 2 auf. Ein Anstieg von AIS ≥ 2 Verletzungen der oberen Extremitäten von 1.1 % auf 4.4 % als Folge von Airbagzündungen wurde von Kuppa et al. (1997) beobachtet. Auch eine Studie von Goldman et al. (2005) legt nahe, dass eine zunehmende Ausrüstung der Fahrzeugflotte mit Airbags zu einem Anstieg von Verletzungen der oberen Extremitäten führt. Im Gegensatz dazu berichten Segui-Gomez und Baker (2002), die Fahrzeugmodelle der Baujahre 1993 - 1997 mit solchen der Baujahre 1998 - 2001 verglichen haben, von einer Abnahme der Verletzungen von Armen/Händen seit modifizierte, weniger aggressive Airbags (sogenannte “depowered airbags”) eingeführt wurden. Unterschiede der Verletzungsmuster von Fahrern verglichen mit anderen Fahrzeuginsassen zeigte eine Analyse der amerikanischen Datenbank CIREN (“Crash Injury Research Engineering Network”) von Conroy et al. (2007). Nur 24.8 % aller Insassen wiesen Verletzungen der oberen Extremitäten auf. Die Hälfte der Verletzungen von Fahrern waren Frakturen am Unterarm; von den anderen Insassen erlitten hingegen nur ein Drittel solche Verletzungen. Bei Seitenkollisionen traten bei Insassen öfter Clavicula-Frakturen auf (29.5 % verglichen mit 17.1 % für Fahrer). Unterarm-Frakturen entstanden oftmals durch Airbags, aber nur 10 % aller Frakturen bei Fahrern wurden durch ein Wegschleudern des Arms durch den Airbag (eventuell mit anschliessendem Anprall an einer Innenraumstruktur, “airbag fling”) in Verbindung gebracht. Airbag-induzierte Verletzungen der oberen Extremitäten bei
Verletzungshäufigkeiten und - mechanismen
231
Seitenkollisionen wurden auch von McGwin et al. (2008) beschrieben. Wenngleich in dieser Studie kein Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein eines Seitenairbags und dem allgemeinen Verletzungsrisiko gefunden wurde, so wurde doch ein erhöhtes Risiko speziell für Dislokationen und AIS ≥ 2 Verletzungen beobachtet. Für das Risiko einer Fraktur wurde hingegen kein Unterschied festgestellt. Zusammenfassend wurden in den zuvor zitierten Studien somit folgende Ursachen für Verletzungen der oberen Extremitäten identifiziert: • direkter Kontakt mit einem Airbag • Kontakt zu Strukturen im Fahrzeuginnenraum (einschliesslich Intrusionen, z.B. bei Seitenkollisionen) • Kontakt des Arms zu einer Innenraumstruktur durch Wegschleudern des Arms durch den Airbag • Verletzungen durch Kontakt mit einem anderen Fahrzeuginsassen Des Weiteren wurde beobachtet, dass Frakturen der Clavicula durch den diagnoal über die Schulter verlaufenden Teil des Sicherheitsgurts, durch den die Gurtkraft auf die Clavicula übertragen wird, verursacht werden können. Einige Studien weisen zudem darauf hin, dass Frauen ein höheres Risiko für AIS ≥ 2 Verletzungen der oberen Extremitäten haben [z.B. Bass et al. 1997, Schneider et al. 1998, Atkinson et al. 2002]. Als mögliche Ursachen für dieses erhöhte Risiko werden folgende Faktoren diskutiert: 1) Frauen weisen im Allgemeinen kleinere Knochen auf, was zu einer reduzierten Festigkeit bzw. Bruchgrenze führt, 2) Frauen erfahren altersbezogen eine grössere Reduktion der Knochendichte (stärkere Osteoporose), 3) Frauen sind im Allgemeinen von geringerer Körpergrösse und sitzen daher näher am im Lenkrad eingebauten Airbag, 4) junge Frauen bilden Knochen eher an der endokortikalen Oberfläche, wodurch die Biegesteifigkeit des Knochens reduziert wird (bei jungen Männern erfolgt die Knochenbildung hingegen eher periossal, d.h. um den Knochen herum. Die Kortikalis (äussere kompakte Knochenschicht) liegt somit weiter von der Längsachse des Röhrenknochens entfernt; es kann ein höheres Biegemoment ertragen werden)[z.B. Schoenau 2001]. Abschliessend sei zudem angemerkt, dass das Auftreten von Airbaginduzierten Verletzungen natürlich von der Charakteristik des Airbags abhängt. In diesem Zusammenhang wird der Ausdruck Aggressivität verwendet, mit dem der Einfluss des Airbag-Designs bezogen auf Parameter wie das Design der Airbagabdeckung, der Druck-Zeit-Verlauf, der Art des Saums und die Airbag-Faltung beschrieben wird. Die Aggressivität eines Airbags wird bestimmt, in dem das Verletzungsrisiko verschiedener Airbagsysteme verglichen wird (z.B. mit Hilfe des “Research
232
Verletzungen der oberen Extremitäten
Arm Injury Device”, s. Kap. 8.4).
8.3
Verletzungstoleranzen
Bereits Weber (1859) und Messerer (1880) bestimmten die Kräfte und Momente, die zu einem Versagen der Knochen der oberen Extremitäten des Menschen führen. Diese Arbeiten blieben auch für lange Zeit die massgeblichen Referenzen, bis seit den späten 1990er Jahren Verletzungen der oberen Extremitäten wieder vermehrt ins Interesse gerückt sind. Mehrere Forschungsgruppen haben das biomechanische Verhalten experimentell untersucht und so zusätzliche Daten gewonnen. Tabelle 8.1 fasst die Toleranzwerte bezüglich des Humerus zusammen. Bass et al. (1997) führten Leichenversuche zur Bestimmung des Frakturrisikos des Unterarms durch. Die Ergebnisse zeigten, dass die Position des Humerus, der Pronationswinkel des Unterarms (Pronation: Einwärtsdrehung) sowie die Position des Unterarms relativ zum AirbagModul das Risiko, durch das Auslösen des Airbags verletzt zu werden, beeinflussen. Zudem wurde aus den Resultaten geschlossen, dass ab einer gewissen Stärke des Unterarms das Risiko selbst dann gering ist, wenn der
Tabelle 8.1 Toleranzwerte für den Humerus. Humerus-
Referenz
Biegemoment
Scherkraft
Mann [Nm]
Frau [Nm]
Mann [kN]
115
73
Weber (1859)
151
85
Messerer (1880)
157
84
1.96
230
130
2.5
138 217
Frau [kN]
Kirkish et al., (1996) 1.7
Kirkish et al., (1996), skaliert auf 50-perz. Mann und 5-perz. Frau Kallieris et al. (1997)
154
Duma et al. (1998a)
128
Duma et al., (1998b), skaliert auf 50-perz. Mann und 5-perz. Frau
Verletzungstoleranzen
233
Unterarm nahe dem Airbag positioniert ist. Diese Ergebnisse unterstützen die Hypothese, wonach Frauen ein höheres Risiko haben, entsprechende Verletzungen zu erleiden. Pintar et al. (1998) untersuchten menschliche Unterarme unter dynamischen Biegebelastungen und stellten fest, dass das mittlere Biegemoment, bei dem die (männlichen und weiblichen) Versuchsproben versagten, bei 94 Nm lag. Es zeigte sich jedoch, dass die Toleranz des Unterarms gegenüber Biegung stark mit der Knochendichte, der Knochenfläche und der Masse des Unterarms korrelierte. Folglich kam die Studie zu dem Ergebnis, dass Personen mit geringer Knochendichte und geringer Unterarm-Masse ein höheres Fraktur-Risiko aufweisen. Im Hinblick auf die Richtungsabhängigkeit einer Belastung zeigten Leichenversuche von Duma et al. (1998b), dass ein Unterarm in Supination (Auswärtsdrehung) um 21 % stärker ist (91 Nm) als in Pronation (75 Nm). Nach der Durchführung von weiteren Versuchen mit weiblichen Unterarmen in Pronation und eine Skalierung der Ergebnisse auf die Anthropometrie der 5-perzentilen Frau wurde ein Toleranzwert von 58 Nm ermittelt. Nimmt man an, dass sich der Unterarm eines Fahrers beim Griff ans Lenkrad typischerweise in Pronation befindet, kann dieser Wert als konservativer Verletzungsgrenzwert betrachtet werden. Begeman et al. (1999) analysierten den Unterschied zwischen statischer und dynamischer Belastung. Neben quasi-statischen Biegeversuchen wurden mittels Fallgewicht, das zu einer Belastung von ca. 3 m/s führte, auch dynamische Tests durchgeführt. Eine Fraktur von Ulna oder Radius trat bei einer durchschnittlichen dynamischen Maximalkraft von 1370 N und einem durchschnittlichen Moment von 89 Nm auf. Die statische Bruchkraft bzw. das -moment waren ungefähr 20 % geringer. Am häufigsten wurden einfache Frakturen (z.B. “nightstick fractures”) beobachtet. Die Unterschiede zwischen Ulna und Radius waren nicht signifikant. Im Gegensatz zur Arbeit von Pintar et al. (1998) wurde auch keine Korrelation des Versagensmoments zum Alter, dem Querschnitt, der Knochendichte oder dem Trägheitsmoment festgestellt. Da selbst Proben, bei denen bereits ein Knochen gebrochen war, immer noch ein hohes Versagensmoment aufwiesen, schlossen die Autoren, dass andere Strukturen des Unterarms eine grosse unterstützende Wirkung haben. Hinsichtlich des Ellenbogens beobachteten Duma et al. (2001), dass Verletzungen nicht nur durch axiale Kräfte, sondern auch durch Kräfte, die senkrecht auf den horizontalen Unterarm wirken, entstehen können. Eine Linearkombination aus auf den Ellenbogen wirkender Axial- und Scherkraft zeigte daher eine statistisch signifikante Korrelation zu Verletzungen des Ellenbogens. Als Grenzwerte für ein 50 %iges Risiko
234
Verletzungen der oberen Extremitäten
einer Ellenbogenfraktur bestimmten Duma et al. (2002) in Leichenversuchen eine Kompressionskraft von 1780 N (bei einem Beugungswinkel von 30° relativ zur Längsachse des Unterarms). Experimentelle Studien zum Schulterkomplex untersuchten dessen Verhalten bei mechanischer Belastung [z.B. Bolte et al. 2003, Compigne et al. 2004] wie auch die mechanischen Eigenschaften einzelner anatomischer Strukturen (z.B. der Ligamente, Koh et al. 2004). Seitliche und schräge Belastungen, wie sie bei Seitenkollisionen und schräg-frontalen Kollisionen vorkommen, standen im Mittelpunkt dieser Untersuchungen. Als Ergebnisse der Studien konnten Daten gewonnen werden, die insbesondere zur Evaluation und zur Verbesserung der Biofidelität von Crashtest-Dummys wichtig sind. Zudem wurden Verletzungsgrenzen (vor allem für Frakturen der Clavicula) angegeben, bedingt durch die Komplexität der Schulterregion sind diese jedoch noch nicht konklusiv.
8.4 Verletzungskriterien und Bewertung des Verletzungsrisikos durch Airbags Derzeit ist die Bewertung des Verletzungsrisikos der oberen Extremitäten weder durch gesetzliche Vorschriften zur Fahrzeugsicherheit noch in Richtlinien oder Tests von Verbraucherorganisationen (z.B. EuroNCAP) enthalten. Es gibt weder festgelegte Verletzungskriterien noch entsprechende Testprozeduren. Hardy et al. (1997, 2001) präsentierten jedoch die Idee der Bewertung des Risikos von Unterarm-Frakturen durch Bestimmung der durchschnittlichen distalen Unterarm-Geschwindigkeit (“Average Distal Forearm Speed”, ADFS). Auf Basis statischer und dynamischer Versuche, die mittels Leichen wie auch anderen Testobjekten (d.h. Hybrid III Dummy, RAID, SAE Arm) an Airbags durchgeführt wurden, zeigte sich, dass die distale Geschwindigkeit des Unterarms als Funktion der Masse des Unterarms und dessen Abstand zum Airbag ein guter Prädiktor für die Wahrscheinlichkeit einer Unterarm-Fraktur darstellt. Nach Skalierung der Ergebnisse auf die Geometrie einer 5-perzentilen Frau konnte einem 50 %igen Fraktur-Risiko ein ADFS-Wert von 10.5 m/s zugeordnet werden. Die ADFS nimmt linear ab, wenn der Abstand zum Airbag-Modul zunimmt. Weitere Studien untersuchten Möglichkeiten, wie Verletzungen der oberen Extremitäten im Rahmen von Crashtests evaluiert werden können und wie die Aggressivität von Airbags in Bezug auf solche Verletzungen
Verletzungskriterien und Bewertung des Verletzungsrisikos durch Airbags 235
bewertet werden kann. Um durch Zündung des Fahrerairbags verursachte Frakturen des Unterarms zu untersuchen, verwendeten Saul et al. (1996) einen besonders instrumentierten Arm eines 50-perzentilen Hybrid III Dummys, mit dem Beschleunigungen und Biegemomente gemessen werden konnten. Es fanden sich Korrelationen mit der Aggressivität des Airbags, der Nähe zum Airbag und der relativen Position des Arms zum Airbag. Bass et al. (1996) montierten den sogenannten SAE Arm, der einen eigens konstruierten und instrumentierten Arm einer 5-perzentilen Frau repräsentiert, an einen Hybrid III Dummy. Das 50 %ige Risiko einer Ulnaoder Radius-Fraktur entsprach einem Moment am Unterarm von 61 Nm ± 13 Nm. Das 50 %ige Risiko einer Ulna- und Radius-Fraktur entsprach einem Moment von 91 Nm ± 14 Nm. Um eine reproduzierbare Bewertung der Airbag-Aggressivität zu ermöglichen wurde das “Research Arm Injury Device” (RAID) entwickelt [Kuppa et al. 1997]. Bei der Untersuchung der Wechselwirkung zwischen gezündetem Airbag und dem Arm zeigte sich, dass die Orientierung des Unterarms relativ zum Airbag-Modul und der Abstand zwischen Unterarm und Airbag-Modul signifikante Parameter bezüglich des maximalen gemessenen Biegemoments waren. Neben den Möglichkeiten, die die verschiedenen Arm-Modelle bieten, wurden zwischen den Modellen jedoch auch Unstimmigkeiten festgestellt. Erhebliche Unterschiede im Verhalten zwischen Leichen und dem Hybrid III Dummy wurden beispielsweise von Kallieris et al. (1997) beobachtet, die die Interaktion des Schulter-Arm-Komplexes mit Seitenairbags untersuchten. Ein Vergleich von Ergebnissen aus statischen SeitenairbagTests mit einem EuroSID-1, einem instrumentierten Hybrid III Arm und Leichen zeigte ebenfalls grosse Unterschiede in der Kinematik der oberen Extremitäten [Sokol Jafredo et al. 1998]. Zwischen den am Dummy und an der Leiche gemessenen Kräften bestand keine Korrelation. Duma et al. (1998a) dokumentierten Unterschiede in der Kinematik zwischen einem an einem 5-perzentilen Hybrid III Dummy montierten SAE Arm und Leichen, die gemessenen Momente waren in beiden jedoch ähnlich. Es wurden verschiedene Vorschläge veröffentlicht, wie man aktuelle Crashtest-Dummys modifizieren könnte, um die Kinematik und die Belastung der oberen Extremitäten besser zu berücksichtigen. Törnvall et al. (2007, 2008) entwickelten zum Beispiel eine neue Schulter für den THOR Dummy, die eine dem Menschen ähnliche Clavicula und ein verbessertes Schultergelenk aufweist.
236
Verletzungen der oberen Extremitäten
8.5 Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport Leistungs- wie Breitensportler erleiden eine Vielzahl von Verletzungen der Knochen, Muskeln, Bänder, Sehnen und Nerven der oberen Extremitäten. Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurde, sind auch die oberen Extremitäten anfällig für Frakturen, Luxationen, Dislokationen, (teilweisen) Rupturen von Sehnen oder Bändern wie auch Verletzungen der Muskeln und Nerven. Insbesondere die Gelenke weisen ein hohes Verletzungsrisiko auf. Die vier Gelenke des Schultergürtels (Abb. 8.3) und die Gelenke an Ellenbogen, Handgelenk und der Hand ermöglichen einen grossen Bewegungsumfang und gestatten die Ausführung komplexer Bewegungsmuster. Die Stabilität eines Gelenks bestimmt dabei dessen Widerstandsfähigkeit gegen Dislokationen. Ein Zugewinn an Beweglichkeit geht mit einer reduzierten Stabilität einher. Dies gilt insbesondere für die Schulter, die wegen ihrer relativ schwachen knöchernen Passung und begrenzter Unterstützung durch die Muskulatur für Dislokation anfällig ist. Es wird geschätzt, dass Schulterverletzungen zwischen 8 % und 13 % aller Sportverletzungen ausmachen [Ong et al. 2002]. Sportarten, bei denen oft Bewegungen über Kopf ausgeführt werden, wie Tennis, Baseball, Volleyball oder Schwimmen, können entsprechende Überlastungssyndrome zur Folge haben. Verletzungen im American Football, Hockey oder Kontaktsportarten resultieren hingegen meist durch ein direktes Trauma, z.B. eine Fraktur der Clavicula durch einen Sturz auf die Schulter. Durch direkten Anprall an eine Schulter, die abgespreizt (Abduktion)
Abb. 8.3 Die Gelenke des Schultergürtels.
Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport 237
und nach aussen rotiert ist, kann es zu anteriorer glenohumeraler Instabilität (Luxation) kommen. Seltener tritt eine posteriore glenohumerale Instabilität auf (z.B. nach heftigem frontalen Schulteranprall bei Mannschaftssportarten). Akromioclaviculare Zerrungen können durch direkte oder indirekte Krafteinleitung entstehen, wobei meist eine Verschiebung des skapularen Prozesses des Akromions vom distalen Ende der Clavicula her erfolgt. Des Weiteren werden Verletzungen der Muskulatur der Rotatorenmanschette und Verletzungen des Akromions beobachtet. Diese werden oftmals durch eine Kraft entlang des anliegenden Arms (Adduktion), durch die der Kopf des Humerus gegen den korakoacromialen Bogen gestossen wird, verursacht. Vor allem in Sportarten mit über Kopf Aktivitäten sind Überlastungsverletzungen der Schulter verbreitet. Häufig sind dabei die Sehnen der Rotatorenmanschette betroffen (z.B. Tendinitis bei Gewichthebern). Es wird vermutet, dass die Form des Akromions (flach, gebogen oder abgewinkelt) das Auftreten der Verletzung beeinflusst. Zudem wird vermutet, dass auch das sogenannte Impingementsyndrom mit der Form des Akromions zusammenhängt. Impingementsyndrom beschreibt hier eine Abduktion des Arms, bei der die suprahumeralen Strukturen (insbesondere die Supraspinatus-Sehne und die subacrominalen Bursae) gegen die anteriore Oberfläche des Akromions und des korakoacromialen Bogens gepresst werden [Whiting und Zernicke 1998]. Des Weiteren können Funktionsstörungen der Bizeps-Sehne (z.B. durch Ruptur) Schulterschmerzen verursachen. Da der Ellenbogen wesentlich stabiler als die Schulter ist, ist eine Luxation weniger wahrscheinlich. Die knöchernen Strukturen des Ellenbogens können jedoch als Folge von direkten wie auch indirekten Belastungen brechen. In Abbildung 8.4 sind die verschiedenen Frakturtypen und die zum jeweiligen Frakturtyp führenden mechanischen Belastungen zusammengestellt. Verletzungen der Nerven des Ellenbogens werden insbesondere in Sportarten, die Werfen oder Benutzung eines Schlägers (z.B. Tennis, Badminton) beinhalten, erlitten [Keefe und Lintner 2004]. In diesen Sportarten werden zudem häufig Überlastungsverletzungen wie Epicondylitis, Tendinitis, myotendniose Überdehnungen oder Osteochondrose beobachtet, wobei die Epicondylitis am weitesten verbreitet ist. Als Folge wiederholter Belastungen nehmen Mikroschäden zu. Es wird eine zunehmende Degeneration des Gewebes beobachtet bis es schliesslich zu einer Entzündung kommt. Man unterscheidet zwischen lateraler und medialer Epicondylitis. Laterale Epicondylitis beschreibt einen degenerativen Zustand der Fasern der Sehne zwischen der
238
Verletzungen der oberen Extremitäten
Abb. 8.4 Ellenbogen-Frakturen durch Hyperextension, axiale Kompression, Abduktion (oben, von links nach rechts), Dislokation und Kombinationen aus Abduktion und Hyperextension (unten, von links nach rechts). Abkürzungen: H: Humerus, R: Radius, U: Ulna, C: Kompression, T: Zug [nach Barlett 1999].
knöchernen Epicondyle auf der Aussenseite des Ellenbogens. Diese Sehnen verankern diejenigen Muskeln, die Hand und Handgelenk strecken bzw. anheben. Da viele Tennisspieler eine laterale Epicondylitis erleiden, ist diese auch unter dem Ausdruck “Tennis-Ellenbogen” bekannt. Von folgende Faktoren wird vermutet, dass sie die Entstehung einer lateralen Epicondylitis begünstigten: schlechte Technik (insbesondere beim Rückhand-Spiel), exzentrisches Auftreffen des Balls auf dem Schläger, zu fest angespanntes bzw. verkrampftes Halten des Schlägers, Schwingungen des Schlägers [Whiting und Zernicke 1998]. Mediale Epicondylitis betrifft hingegen den Ansatz der Flexor-Sehne an der medialen Epicondyle und wird vor allem bei Sportlern, die werfen, bei Golfern und Tennisspielern (Vorhand und Aufschlag) beobachtet.
Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport 239
Bezüglich Unterarm und Handgelenk werden im Sport Frakturen des distalen Radius sehr häufig beobachtet. Beim Sturz auf den ausgestreckten Arm bei (hyper-) extendierter Hand (z.B. ein Sturz beim Inline-Skaten oder Snowboarden) werden Kompressionskräfte induziert, die zu einer Fraktur führen können. Es wurden verschiedene Systematiken vorgeschlagen, um distale Radiusfrakturen nach klinischen (radiologischen) Gesichtspunkten oder in Bezug auf den Verletzungsmechanismus (analog zur Klassifikation in Kap. 7.2) zu kategorisieren. Im Zusammenhang mit Radius- (und Ulna-) Frakturen wird oftmals die Ulna-Varianz genannt. Die Ulna-Varianz ist als Verhältnis zwischen der Länge der Ulna und des Radius definiert, d.h. sie charakterisiert die Längendifferenz der beiden Knochen. Sind beide Knochen gleich lang, ist die Ulna-Varianz null. Eine positive Ulna-Varianz bedeutet, dass - gemäss Röntgenbild in neutraler Armrotation - die Ulna länger als der Radius ist. Die meisten Menschen weisen eine leicht negative Ulna-Varianz auf, so dass der Radius ca. 80 % der Kompressionskräfte aufnimmt, die über die Hand übertragen werden [Whiting und Zernicke 1998]. Eine allgemeingültige Korrelation der Ulna-Varianz zum Frakturrisiko wurde jedoch (noch) nicht gefunden. Eine Untersuchung zur Belastung des Handgelenks beim Turnen am Pferd [Markolf et al. 1990] zeigte, dass — in Abhängigkeit von der jeweiligen Übung — Belastungen bis zum zweifachen des Körpergewichts bzw. bis zum 219fachen Körpergewicht pro Sekunde auftreten können. Des Weiteren wird vermutet, dass gerade bei jugendlichen Turnern wiederholte Verletzungen im Bereich der Epiphyse des Radius zu einem frühzeitigen Ende des Knochenwachstums und somit zu einer entsprechenden UlnaVarianz führen. Das bei Turnern häufige Vorkommen von Handgelenksverletzungen und Überlastungssyndromen ist somit nicht überraschend. Sinnvolle Abschätzungen bzw. Empfehlungen, welche Belastungen das Handgelenk verletzungsfrei ertragen kann, sind derzeit wegen der Vielzahl individueller Einflussfaktoren jedoch nicht vorhanden. Im Gegensatz dazu finden sich diverse Studien zur Belastung des Handgelenks und des Unterarms durch Vorwärts- und Rückwärtsstürze. Experimentelle Studien untersuchten das Frakturrisiko mittels Leichenarmen, wobei Belastungen simuliert wurden, die einem Sturz auf den ausgestreckten Arm entsprechen sollen. Teilweise wurden die Versuche zudem unter Verwendung von Handgelenkprotektoren durchgeführt, um deren Wirksamkeit zu untersuchen. Die Versuchsergebnisse weisen eine grosse Streuung auf. Giacobetti et al. (1997) beschrieben beispielsweise eine durchschnittliche zur Fraktur führende Kraft eines ungeschützen Arms von 2245 N (Bereich: 1470 - 4116 N). Tabelle 8.2 fasst verschiedene Ergebnisse solcher Studien zusammen. Wie man sieht wird der Vergleich
240
Verletzungen der oberen Extremitäten
der Versuchsergebnisse durch unterschiedliche Versuchsanordnungen und Versuchsbedingungen erschwert. Ergänzend wurden Experimente mit mechanischen Modellen des Unterarms (ähnlich dem Arm eines CrashtestDummys) [z. B. Kim et al. 2006] sowie Freiwilligenversuche [z.B. Hwang et al. 2006, Schmitt et al. 2009] durchgeführt. Auch wurde das Frakturrisiko (z.B. im Hinblick auf die Richtungsabhängigkeit der einwirkenden Belastung) mittels Computersimulationen analysiert [Troy et al. 2007]. Es konnten verschiedene Parameter, die das Frakturrisiko beeinflussen, identifiziert werden. Dazu zählen u.a. der Winkel der Ellenbogenbeugung beim Aufprall, die Sturzrichtung, die Aufprallgeschwindigkeit sowie die effektive Masse [Chiu und Robinovitch 1998, Chou et al. 2001, DeGoede et al. 2002a/b, Kim et al. 2003, Schmitt et al. 2009]. Der Winkel der Ellenbogen-Flexion weist beispielsweise einen signifikanten Einfluss auf die effektive Masse, die auf den Unterarm wirkt,
Tabelle 8.2 Studien, die das Verletzungsrisiko der Handgelenke und das Schutzpotential von Handgelenkschützern untersucht haben. Referenz
Versuchsaufbau/ Belastung
positives Schutzpotential
Giacobetti et al. 1997
75° Dorsalflexion Anprallgeschwindigkeit: 25mm/s durchschnittliche Bruchkraft: 2245 N
nein
Lewis et al. 1997
60-70° Dorsalflexion 63.5-152.4 cm Fallhöhe
ja
Moore et al. 1997
75° Dorsalflexion 78-104 cm Fallhöhe 16 kg Impaktormasse
ja
Greenwald et al. 1998
75° Dorsalflexion 40 cm Fallhöhe 23 kg Impaktormasse
geringer Effekt unter grosser Belastung, möglicherweise prophylaktischer Effekt bei Belastung mit niedriger Energie
Staebler et al. 1999
75° Dorsalflexion Belastung 100 N/s
ja
McGrady et al. 2001
30.5/76 cm Fallhöhe
ja
Zusammenfassung
241
auf. Eine Beugung des Ellenbogens im Moment des Aufpralls reduziert die effektive Masse und damit die auf das Handgelenk wirkende Kraft, d.h. das Frakturrisiko wird reduziert. Je nach Versuchsanordnung führten die in der Literatur beschriebenen experimentellen Arbeiten jedoch zu sehr unterschiedlichen Angaben für die effektive Masse. Während Kim et al. (2006) oder Schmitt et al. (2009) die effektive Masse (für eine Seite) mit ca. 5 % des Körpergewichts bzw. 3-5 kg angeben, verwenden Greenwald et al. (1998) über 20 kg (bilateral). Zum Schutz vor Frakturen des Handgelenks werden verschiedene Handgelenkprotektoren angeboten. Ein Grossteil dieser Protektoren zielt darauf ab, die bei einem Sturz einwirkenden Kräfte vom Handgelenk weg, in Richtung Unterarm zu leiten. Zusätzlich sollen Abrasionen verhindert werden. Über das Schutzpotential solcher Protektoren wird kontrovers diskutiert, wobei in manchen Studien ein Nutzen der Protektoren nachgewiesen wurde, während in anderen Studien kein Schutzpotential gezeigt werden konnte (s. Tab. 8.2). Eine umfassende Zusammenstellung der Literatur zu diesem Themenkreis findet sich in Russel et al. (2007). An Sportverletzungen der Hand werden vor allem Frakturen der Mittelhand- und Fingerknochen sowie Zerrungen und Rupturen der kollateralen metacarpophalangealen und interphalangealen Ligamente beobachtet [z.B. Bartlett 1999]. Wenngleich Verletzungen der Hand den Athleten bei der Ausübung seines Sports einschränken oder diese gar für einen längeren Zeitraum unmöglich machen, so können solche Verletzungen doch oftmals nicht-operativ behandelt werden, so dass eine Rückkehr zum Sport nach entsprechender Rehabilitation möglich ist [Snead und Rettig 2001].
8.6
Zusammenfassung
Im Sport werden die oberen Extremitäten häufig verletzt. Zusätzlich zu Frakturen und Rupturen treten vor allem Luxationen der verschiedenen Gelenke sowie Überlastungsverletzungen auf. Im Zusammenhang mit Fahrzeugunfällen werden Airbag induzierte Verletzungen der oberen Extremitäten diskutiert. Ein standardisiertes Prüfverfahren zur Beurteilung des damit verbundenen Verletzungsrisikos ist derzeit ebenso wenig vorhanden wie allgemein akzeptierte Verletzungskriterien. Das biomechanische Verhalten sowie die Belastungen, die zu Frakturen der knöchernen Strukturen oder zu Rupturen der Ligamente führen, wurden hingegen in verschiedenen experimentellen Studien untersucht.
242
8.7
Verletzungen der oberen Extremitäten
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Verletzungen der oberen Extremitäten
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9 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung
Ein Unfall ist definiert als ein heftiges, ungewöhnliches, möglicherweise gesundheitsschädigendes Ereignis, das plötzlich und unerwartet auftritt und in der Regel von kurzer Dauer ist. Personen, die einen Unfall erleiden, können im Allgemeinen nicht oder nur unzureichend auf das Ereignis reagieren, um eine Verletzung zu verhindern. Der Ausdruck “chronisch” impliziert hingegen eine Belastung, die über einen — im Vergleich zur typischen Dauer eines Unfalls — langen Zeitraum wirkt. Demzufolge sind physische wie auch mentale Reaktionen der betroffenen Personen immer möglich und können nicht vernachlässigt werden. Entscheidend ist, dass bei chronischer mechanischer Überlastung Gesundheitsschäden und/oder Verletzungen bei Belastungen auftreten können, die für sich genommen unterhalb der individuellen Verletzungstoleranzen (die in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurden) liegen. Die Auswirkung der Belastungen wird jedoch durch die lange Einwirkdauer bestimmt und verschärft. Dabei tritt die Belastung nicht zwangsläufig ununterbrochen auf; sie kann regelmässig oder auch unregelmässig wirken, z.B. nur während Trainingszeiten (Sport) oder Arbeitszeiten (Baumaschinen). Teilweise wirken diese Belastungen über Jahre hinweg. Die einzelne Belastung selbst ist in der Regel ungefährlich bzw. der Körper kann sich rasch davon erholen. Ursachen, Mechanismen, Belastungsmuster, Toleranzen wie auch Prävention und Möglichkeiten zur Minderung von Gesundheitsschäden unterscheiden sich daher deutlich von denjenigen, die aus der Analyse von Unfällen bekannt sind. Der Unterschied zwischen Verletzung und Erkrankung ist oftmals nicht klar abgegrenzt. Langwierige Folgen von möglicherweise schädigenden mechanischen Belastungen werden mit der Ausübung verschiedener Berufe (z.B. im Bereich Bau) in Verbindung gebracht, als Berufskrankheiten betrachtet und als solche behandelt. Andere Verletzungen wie das “Repetitive Strain Injury (RSI) Syndrome” (wiederholte
K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
248
Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung
Zerrungsverletzung), das bei Tennisspielern beobachtet werden kann, werden — trotz des Namens — als Krankheit und nicht als Verletzung betrachtet, da es sich klinisch erst nach zahlreichen mikroskopischen Verletzungen in Form von entsprechenden Beschwerden manifestiert. Zudem ist es schwierig, objektive, quantitative Diagnoseverfahren zu entwickeln [z.B. Gouttebarge et al. 2009]. Chronisch-mechanische Belastungen, die zu gesundheitlichen Problemen führen können, treten in verschiedener Form auf. Das Spektrum der Belastungsszenarien reicht dabei von stochastisch auftretenden, einzelnen Stössen, die während gewisser Arbeiten oder sportlicher Aktivität vorkommen (z.B. beim Boxen), bis zu kontinuierlich wirkenden Belastungen, z.B. Vibrationen bzw. lauten Geräuschen. Ebenso verschieden sind die Merkmale der betroffenen Personen, beispielsweise hinsichtlich Beruf, körperlicher Aktivität oder sozialem Umfeld. Dementsprechend sind auch die Erfassung und Dokumentation der Belastungen, Bestimmungen und Eingriffe von Behörden, die juristische Würdigung, Gesetze, Haftungsfragen und Versicherungsdeckungen und folglich auch das Vorgehen und etwaige Konsequenzen nach einer Verletzung sehr verschieden. Hinzu kommt, dass Behörden, in deren Kompetenzbereich die Überwachung bzw. der Schutz vor chronischen Belastungen fällt, im Allgemeinen keine Verknüpfung zur Sicherheit im Strassenverkehr oder anderen Bereichen des Unfall- bzw. Risikomanagements haben, so dass hier üblicherweise keine Synergien vorherrschen. Chronische mechanische Überlastung, Ermüdung oder Fehlhaltungen können sich in verschiedenen Formen und Schweregraden manifestieren: • Ein Arbeiter, der routinemässig einen Bohrhammer benutzt, kann eine Triangular Fibrocartilage Complex (TFCC) Läsion (auch ulnokarpale Bandkomplex-Verletzung genannt) erleiden. • Nach einer anstrengenden Wanderung können unsere Füsse schmerzhafte, aber harmlose Blasen aufweisen. • Eine vielversprechende Sportlerkarriere kann durch zu häufiges und ungeeignetes Training beendet werden. • Wiederholte Exposition zu lauter Musik kann permanente Hörschäden verursachen. • Rückenschmerzen, die teilweise zu erheblichen Einschränkungen führen können, können durch routinemässige Hausarbeiten in unphysiologischer Haltung entstehen. • Bluthochdruck führt zu einer gesteigerten, schliesslich schädigenden Leistung des Herzens. • Das Herz eines Rad- oder Ruder-Profis, der durch intensives Training eine physiologische Hypertrophie entwickelt, erfordert eine besondere
Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung 249
Beachtung und entsprechendes “Rück-”Training nach dem Ende der Leistungssportaktivitäten. Im Strassenverkehr bezieht sich Sicherheit fast ausschliesslich auf plötzlich auftretende Situationen und Schutzsysteme (z.B. Airbag) wirken oftmals nur kurzzeitig, während mögliche schädigende chronische Belastungen etwa aufgrund langer täglicher Autofahrten, hauptsächlich durch komfortorientiertes und ergnomisches Design (z.B. der Sitze) kontrolliert werden. Berufskrankheiten und Verletzungen aus Arbeitsunfällen — insbesondere solche, die auf chronische mechanische Belastung zurückzuführen sind — wurden im Gegensatz dazu wegen ihrer hohen sozioökonomischen Signifikanz, der politischen Dimension, Versicherungsansprüchen und Unfallversicherungen sehr ausführlich untersucht. In den Industrieländern sind daher eine Vielzahl von Vorschriften zur Arbeitsplatzsicherheit in Kraft getreten, deren Einhaltung durch staatliche Stellen wie auch Versicherungen überprüft wird. In den USA trat 1970 der “Occupational Safety and Health Act” (OSHA) in Kraft. Dadurch erfuhr die Arbeitsplatzsicherheit zunehmende Aufmerksamkeit und es konnten eindrucksvolle Verbesserungen erzielt werden, obschon auch die De-Industrialisierung einen signifikanten Beitrag dazu geleistet haben könnte (Tab. 9.1). Auf internationaler Ebene beobachtet die “International Labor Organization” (ILO, www.ilo.org) die Situation der Arbeitsunfälle und gibt entsprechende Empfehlungen zur Verbesserung der Sicherheit heraus. Die Situation im Hinblick auf Schädigungen durch sportliche Aktivität ist ebenfalls durch erhebliche Gesundheitskosten gekennzeichnet (Tab. 9.2), unterscheidet sich sonst jedoch von derjenigen der Arbeitswelt. In der öffentlichen Wahrnehmung steht eher der Gesundheitszustand prominenter Sportler oder Teams im Vordergrund, während durch Sport verursachte Schädigungen der Allgemeinen Bevölkerung weniger Aufmerksamkeit erfahren. Wird die Sicherheit im professionellen Sport primär durch entsprechende Regeln, dem Einsatz von Schiedsrichtern oder der Ausbildung von Trainern addressiert, so finden sich im Breitensport wenig systematische, meist ad hoc initiierte Massnahmen, die sich auf allgemeine Empfehlungen beschränken und/oder von Sportartikel-Herstellern promotet werden. Dies kann wohl dadurch erklärt werden, dass Sportaktivitäten in der Regel Freizeitvergnügen darstellen. Wiederum sehr unterschiedlich sind die Umstände bezüglich Gesundheitsproblemen durch kontinuierlich anstregende Haushaltsarbeiten. Dieser Bereich ist aus wissenschaftlicher Sicht praktisch unerforscht.
250
Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung
Tabelle 9.1 Entwicklung der Arbeitsplatzsicherheit von 1970 bis 2005 in den USA (Zahlen bis 1990 sind Schätzungen aus “National Safety Council Accident Facts”, Zahlen ab 1990 basieren auf Angaben des “Bureau of Labor Statistics”). Jahr
Getötete
Beschäftigte (x10-3)
Getötete pro 100'000 Beschäftigte
1970
13’800
77’000
18
1975
13’000
85’200
15
1980
13’200
98’800
13
1985
11’500
106’400
11
1990
10’500
117’400
9
1995
6’275
126’200
5
2000
5’920
136’377
4.3
2005
5’734
142’894
4.0
Tabelle 9.2 Unfälle/Verletzungen sowie Erkrankungen durch Sport (Schätzung für die Schweiz gemäss Bundesamt für Gesundheit, 2001). Direkte Kosten beinhalten Gesundheitskosten, indirekte Kosten werden durch Arbeitsausfall, Verwaltungsaufwand usw. verursacht. Die Zahlen sind in Relation zu 7.5 Mio. Einwohnern und einem BSP von ca. 500 109 CHF zu sehen. Unfälle
Sport verursacht...
Erkrankungen
300’000
direkte Kosten [CHF]
indirekte Kosten [CHF]
1.1 109
2.3 109
Körperliche Betätigung einer Mehrheit der Bevölkerung verhindern...
2.3 106
2.7 109
1.4 109
Bewegungsmangel der Bevölkerung verursacht...
1.4 106
1.6 109
0.8 109
Arbeitsmedizin
251
Rheumatologie, Orthopädie, Neurologie, Sportmedizin, Radiologie sowie Schmerztherapie sind diejenigen medizinischen Disziplinen, die bei chronischen Beschwerden hauptsächlich involviert sind. Bei Beteiligung psychischer und sozialer Faktoren kann zudem auch die Psychiatrie relevant sein. Während hier betrachtete Erkrankungen wie Bursitis (Entzündung einer Bursa, d.h. eines Schleimbeutels zur Reduktion der Reibung zwischen Haut, Ligamenten oder Sehnen und knöchernen Strukturen) vor allem durch externe mechanische Überlastung über einen längeren Zeitraum entstehen, kann eine mechansiche Überlastung jedoch auch durch den Körper selbst verursacht werden. Fettleibigkeit, Bluthochdruck oder muskuläre Dysbalance sind Beispiele für Belastungen, die ein entsprechendes Risiko hinsichtlich Gesundheitsschäden und frühzeitigem Tod bedeuten können. Haltungsschäden, z.B. durch kontinuierliches Arbeiten in gebeugter Körperhaltung, stellen eine weitere Quelle für gesundheitliche Probleme dar. Die quantitative Anwendung biomechanischer Ansätze, wie sie in diesem Buch vorgestellt wurden, ist angesichts der Vielzahl dieser Umstände schwierig. “Einfache”, beschreibende Statistiken, d.h. die Sammlung von Fallzahlen und deren Beobachtung während mehrerer Jahre, überwiegen hier. Realistische Experimente zur Langzeit-Belastung können kaum durchgeführt werden, analytischen Ansätzen fehlt das Grundlagenwissen und zudem darf nicht vernachlässigt werden, dass physiologische und psychische Reaktionen unter länger anhaltendem Schmerz enorme individuelle Variationen aufweisen. Folglich beschränken sich Aktivitäten zur Arbeitsplatzsicherheit zu einem grossen Teil auf die Prävention von Unfällen und daraus resultierenden Verletzungen. Die Rehabilitation ist sowohl im Falle von Unfallfolgen wie auch bei chronischen Leiden wichtig. Hierbei ist die Biomechanik in so fern relevant, als dass sich Physiotherapie, physikalische Therapie, orthopädische Hilfen, Rollstühle, Trainingsgeräte usw. auf der Anwendung von Methoden und dem Design von Apparaten abstützen, bei denen biomechanische Grundsätze zwar auf einem einfachen, aber dennoch wichtigen Niveau eine Rolle spielen. Da dies jedoch keinen direkten Bezug zur Trauma-Biomechanik hat, werden diese Bereiche hier nicht weiter vertieft.
9.1
Arbeitsmedizin
Zahlreiche Berufe und Arbeitsbedingungen sind mit schwerer und
252
Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung
anstrengender mechanischer Belastung in Verbindung zu bringen; sie schliessen ein grosses Spektrum an Tätigkeit vom Bergbau bis Balletttanz ein. Das Problem lang andauernder Gesundheitsschäden ist in all diesen Bereichen relevant, es ist jedoch in jedem Fall verschieden zu behandeln. Zudem differieren vorgeschriebene Arbeitsbedingungen und -standards je nach Land erheblich von einander. Der Einfluss von Gewerkschaften oder NGOs, wie auch juristische Aspekte hinsichtlich Frühpensionierung, Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsunfallversicherung sind ebenfalls zu beachten und entsprechend den lokalen politischen Gegebenheiten verschieden. Des Weiteren wurden Unterschiede je nach Geschlecht beobachtet. Die besonderen Risiken von Frauen in diesem Umfeld werden beispielsweise in einem ausführlichen Bericht der WHO diskutiert (P. Kane, ed., Women and Occupational Health). Eine Vielzahl von Vorschriften wie auch Status-Berichten zur Gesundheit von Personen in anstrengenden, unfallgefährdeten Arbeitsbereichen werden durch die Occupational Safety and Health Administration des US Department of Labor (http://www.osha.gov) erlassen. Andere Länder unterhalten vergleichbare Behörden bzw. Organisationen. In der Schweiz werden diese Aufgaben für gewisse Teile der arbeitenden Bevölkerung beispielsweise durch die (teilweise in gesetzlichen Auftrag handelnde) Unfallversicherung Suva übernommen. Im Folgenden sind einige Kommentare für ausgewählte Berufsgruppen zusammengestellt: • Baugewerbe, Bergbau, Wald-/Holzarbeit: Diese Berufsgruppen werden im Zusammenhang mit harter körperlicher Arbeit meist zuerst genannt. Frühzeitige Invaliditäts-Renten und krankheitsbedingte Arbeitsausfälle sind in diesen Branchen keine Seltenheit [Brenner and Ahern 2000] und die zugrunde liegenden Problematiken sind seit langen bekannt. Während das unfallbedingte Verletzungsrisiko durch zahlreiche Vorschriften angegangen wird (Helme, Handschuhe, Gehörschutz usw.), sind Langzeit-Folgen nur schwer zu kontrollieren. Teilweise stossen Präventionsmöglichkeiten hier auf praktische Grenzen, wenn z.B. ein zu hebendes Gewicht nicht reduziert werden kann. Folglich sind Rückenbeschwerden weit verbreitet [Latza et al. 2002]. Die Kosten durch Gesundheitsprobleme sowie die Notwendigkeit weiterer Effizienzsteigerungen führen daher zu vermehrtem Einsatz von Maschinen. • Pflegeberufe: Pflegeberufe sind zu einem gewissen Teil mit anstrengender, körperlicher Arbeit und daraus folgenden Beschwerden verbunden. Die durch die EU geförderte Studie NEXT (Nurses Early Exit Study) hat die Lage intensiv untersucht. Die physische Belastung,
Arbeitsmedizin
253
Tabelle 9.3 Maximale Geräuschpegel in verschiedenen Situationen (Quelle: The Safe Side, Wisconsin, USA, vol. VII, 2004). Lautstärke [dBA]
•
•
Lautstärke [dBA]
Knallkörper
125-155
Rasenmäher
90-110
Konzerte
120
Auto-Hupe
110
Gewehrschuss
150-167
Presslufthammer
113
Kino
118
Haartrockner
90
Sportanlass
127
Kettensäge
110
Fitness Centre, Aerobics Studio
150
Stereoanlage
105 - 120
Motorboote
85-115
Spielsachen
135-150
Motorräder
95-120
d.h. das Heben, das Beugen über Patienten sowie die Arbeit mit unkooperativen und aggressiven Patienten wurden dabei als die hauptsächlichen Probleme identifiziert. Professionelles Tanzen (klassisches Ballett, Breakdance): Amenorrhö (Ausbleiben der Regelblutung) ist bei Frauen, die regelmässig körperlich belastender Arbeit oder sich häufig änderndem Arbeitsumfeld ausgesetzt sind (wie z.B. Balletttänzerinnen oder Langstrecken-Flugbegleiterinnen), eine häufige Komplikation. Damit einhergehender Verlust von Knochendichte kann nicht systematisch durch Training kompensiert werden [Warren et al. 2002]. Erwartungsgemäss ist bei Balletttänzern vor allem das Sprunggelenk von chronischen Leiden betroffen [Rand 1999]. Ein umfangreicher Überblick über die Risiken von professionellen Tänzern findet sich in [Dance Medicine — The Dancer's Workplace, Unfallkasse Berlin]. Die besonderen Risiken beim Breakdance wurden von Kauther el al. (2009) untersucht. Lärm: Hörverlust ist eine häufige Folge einer übermässigen LärmExposition. In manchen Fällen werden, selbst mit kleinen Musikgeräten mit Kopfhörern, enorme Lautstärken erzielt (Tab. 9.3). Seit der weit verbreiteten Nutzung von leistungsstarken Musikanlagen
254
Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung
hat sich die Problematik erheblich ausgeweitet, da viele junge Menschen davon betroffen sind. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Problematik ebenfalls im traditionellen, klassischen Umfeld besteht: Die maximale Lautstärke, der ein Musiker eines Wagner spielenden Orchesters ausgesetzt ist, kann bis 140 dBA betragen. Das Risiko eines Hörschadens ist stark mit der Expositionszeit korreliert. Gemäss der Schweizerischen Unfallversicherung werden 4 h/Woche Disko-Musik bei 93 dBA (geschlossener Raum) oder 2 h/Woche Openair-Konzert bei 100 dBA als tolerierbar angesehen; mangels besseren Wissens wird zur Extrapolation ein linearer Verlauf angenommen.
9.2
Sport
9.2.1
Allgemeine Betrachtungen
Überlastungsverletzungen machen ungefähr 50 % aller Sportverletzungen aus [Wilder und Sethi 2004]. Sie entstehen in der Regel durch physische Überbeanspruchung (“overuse syndrome”). Wiederholtes Mikrotrauma, das die Selbstheilungsmöglichkeiten des Körpers übersteigt, führt zu einer Akumulation der Mikrotraumen und schliesslich zu makroskopischen Verletzungen und entsprechenden klinischen Symptomen. Das “Repetitive Strain Injury (RSI) Syndrome" ist ein weiterer Ausdruck, der das Phänomen beschreibt. Zu den am häufigsten klinisch beobachteten Problemen gehören: • Tendinitis (schmerzhafte Entzündung einer Sehne) zählt in diesem Kontext zu den am häufigsten diagnostizierten Beschwerden. Altersbedingte Degeneration, die viele grosse Sehnen der oberen wie unteren Extremitäten betreffen kann, verstärkt die Symptomatik [Karamanidis und Arampatzis 2006]. Dies führt zu einer erhöhten Prädisposition für schmerzhafte Läsionen während sportlicher Aktivität. Veränderungen der Kollagenzusammensetzung wurden als hauptsächliche Ursache identifiziert [Riley et al. 1994]. Spezifische Beispiele sind Tendinitis der Rotatorenmanschette, “Tennis Ellenbogen” (laterale Epicondylitis, s. Kap. 8.5), Tendinitis der Achilles-Sehne, die bei Aktivitäten wie Laufen, über Kopf Werfen und Aufschlägen beim Tennis beobachtet werden. Es ist zu beachten, das diese Läsionen eindeutig mit unwiederbringlichen degenerativen Veränderungen verbunden sind und nicht “nur” vorübergehende
Sport 255
Entzündungen darstellen. Der Ausdruck Tendinopathie beschreibt den Sachverhalt in diesen Fällen wohl geeigenter als der Ausdruck Tendinitis, der rein entzündliche Prozesse impliziert. • Medial Tibial Stress Syndrome (MTSS, teilweise auch mediales Schienbeinkantensyndrom genannt) beschreibt ein typisches Überlastungssydrom am Bein [Madeley et al. 2007]. Ein angepasstes Training und entsprechende Rehabilitation werden zur Verbesserung der Knöchelmuskulatur empfohlen. • Ermüdungsfrakturen werden durch kleinste Risse im Knochen charakterisiert. Diese Mikrorisse entstehen oft durch repetitive Überlastung (beispielsweise bei Basketballspielern, die auf dem Platz quasi dauernd Springen) [Snyder et al. 2006, Wilder and Sethi 2004, Egol et al. 1998, Fredericson et al. 1997]. Eine Reaktion auf eine solche Verletzung illustriert die in Abbildung 1.2 gezeigte MikrokallusBildung. Während solche mikroskopischen Verletzungen, sofern sie selten genug sind, die Remodellierung von Knochen begünstigen (unser Skelett wird unter normalen Bedingungen innerhalb von 4-6 Jahren einmal ersetzt) [z.B. Martin 2003], ist eine kontinuierliche extensive Bildung von Mikrorissen schädlich. Bei jugendlichen Athleten werden zudem Epiphysitis oder Apophysitis, d.h. Überlastungsverletzungen der Wachstumszone wie Morbus OsgoodSchlatter (schmerzhafte Reizung der Insertion der Patellasehne am vorderen Schienbein) oder ein "shin splint" genanntes Syndrom (ähnliche Symptome) beobachtet [Wilder und Sethi 2004]. Durch die verschiedenen im Sport typischen extensiven Bewegungen wie Springen oder Rennen, sind die unteren Extremitäten, insbesondere Fuss und Knöchel [Valderrabano et al. 2006], Sportschuhe und die Struktur des Bodens (steif, elastische oder Energie absorbierend) wichtig [z.B. Bartlett 1999]. Da bezüglich Fuss und Knöchel für verschiedene Sportarten bis zu einem gewissen Grad typische Belastungsszenarien definiert werden können, ist eine quantitative Analyse des Designs von Sportschuhen möglich [Reinschmidt und Nigg 2000, Stefanyshyn und Nigg 2000]. Im Falle von Laufschuhen spielen die Kontrolle der Pronation sowie die Dämpfung eine wichtige Rolle. Bei Hallenschuhen wurden die laterale Stabilität, die torsionale Flexibilität, die Dämpfung und der Kraftschluss (Traktion) als signifikante Designparameter bezüglich Verletzungsprävention ausgemacht. Ein weiteres mit Sportschuhen assoziiertes (aber auch anderweitig auftretendes) Problem ist die Onychodystrophie (Nagelveränderung) bzw. Mycosis (Pilz-Infektion der Nägel) durch chronische mechanische Irritation [Romano et al 2005]. In ähnlicher Weise ist das Knie, vor allem beim Springen, von Interesse
256
Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung
[Tibesku und Pässler 2005]. In der Literatur finden sich umfangreiche Empfehlungen zur Prävention von Überlastungsverletzungen im Sport [z.B. Niams 2007, NCSS 2007, bfu 2009]. Zusätzlich stellt die Schulung und Sensibilisierung von Trainern, insbesondere im Profi-Sport, eine wichtige Aufgabe dar. 9.2.2
Kontakt-Sportarten
Einige Kontakt-Sportarten (Boxen, Kick-Boxen, Ringen, Kampfsport) können zu Verletzungen führen. Es ist primär die Aufgabe des/der Schiedsrichter/s die jeweiligen Regeln durchzusetzen und akute ernsthafte Verletzungen zu verhindern (wobei Riss-Wunden an Augenbraue oder Lippe hier keine als ernsthaft betrachteten Verletzungen darstellen müssen). Während ein einmaliges K.O. (knock-out) eher harmlos ist und üblicherweise eine vollständige Erholung möglich ist, so ist dies für mehrfach erlittene Belastungen dieser Art nicht der Fall. Boxen, Kick-Boxen, Ringen und Kampfsportarten unterliegen teilweise strengen Regeln, wie beispielsweise denjenigen der World Boxing Association [WBA 2007] oder der Fédération Internationale de la Lutte Amateur [FILA 2007]. Nichtsdestotrotz spielen Langzeitfolgen solcher Sportarten in diesen Regeln nur eine untergeordnete Rolle. Ferner zeigte eine Untersuchung von Taekwondo-Kicks im Wettkampf [Serina und Lieu 1991], dass verletzungsinduzierende Belastungen des Thorax erreicht werden können (s. auch Kap. 5.5).
9.3
Hausarbeit
Wie oben bereits erwähnt sind die Langzeitfolgen von Hausarbeit mehrheitlich unerforscht, wenngleich unphysiologische Körperhaltungen beim Arbeiten in der Küche (niedrige Arbeitsflächen, die zu Rückenbeschwerden führen können) oder Reinigungsarbeiten (gebeugte Haltung) nicht unüblich sind. Beschwerden, die aus solchen Tätigkeiten resultieren, werden meist durch Hausärzte ohne nennenswerte Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen behandelt. Trotzdem nehmen sich einige Verbraucherschutzorganisationen diesem Themenkreis an und versuchen die entsprechenen Probleme zu analysieren, Betroffene zu beraten und geben Empfehlungen ab.
Zusammenfassung
9.4
257
Zusammenfassung
Chronische Erkrankungen und Verletzungen durch mechanische Überbelastung, Ermüdung oder Fehlhaltungen stellen ein erhebliches soziales und sozioökonomisches Problem dar. In den Industriestaaten wird das Problem durch die steigende Lebenserwartung und damit durch einen höheren Anteil älterer Personen verstärkt. Die Biomechanik wie sie in diesem Buch vorgestellt wurde, hat in diesem Bereich jedoch nur eine sehr eingeschränkte Relevanz. Quantitative Toleranzgrenzen für Belastungen als Funktion der Häufigkeit und Dauer dieser Belastungen existieren kaum. Dies liegt vor allem daran, dass bislang die Anwendung quantitativer biomechanischer Methoden, d.h. Messung, Analyse und Modellierung einer dauerhaften mechanischen Exposition, nicht umfassend und systematisch erfolgt ist. Folglich überwiegen qualitative Empfehlungen, allgemeine Regeln und Ansätze zur Beobachtung und statistischen Beschreibung. In Anbetracht der hohen Signifikanz der Langzeitfolgen mechanischer Belastungen, stellt deren Erforschung eine grosse zukünftige Herausforderung für die Biomechanik dar.
9.5
Referenzen
Bartlett R (1999): Sports biomechanics, E& FN Spon Publ., London, UK bfu - Swiss Council for Accident Prevention (2009): www.bfu.ch/englisch Brenner H, Ahern W (2000): Sickness absence and early retirement on health grounds in the construction industry in Ireland, Occup Environ Med, Vol. 57, pp. 615-620 Egol K, Koval K, Kummer F, Frankel V (1998): Stress fractures of the femoral neck, Clinical Orthopaedics and related Research, Vol. 348, pp. 72-8 FILA - Fédération Internationale de la Lutte Amateur (2007): http://www.filawrestling.com Fredericson M, Bergman A, Matheson G (1997): Ermüdungsfrakturen bei Athleten, Orthopäde, Vol. 26, pp. 961-971 (extract from Baxter (Ed.): The foot and ankle in sport, 1995, Mosby-Year Book: 84, St. Louis, MO, USA) Gouttebarge V, Wind H, Kuijer AP, Sluiter JK, Frings-Dresen MH (2009): Construct validity of functional capacity evaluation lifting tests in construction workers on sick leave as a result of musculoskeletal disorders, Arch Phys Med and Rehab, Vol. 90, pp. 302-308 Kane P (1999): Women and Occupational Health. Global Commission on Women's Health, WHO 1999 Karamanidis K, Arampatzis A (2007): Age-related degeneration in leg-extensor muscle-tendon units decreases recovery performance after a forward fall:
258
Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung
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Referenzen
259
Wilder R, Sethi S (2004): Overuse injuries: tendiopathies, stress fractures, compartment syndrome, and shin splints, Clin Sports Med, Vol. 23, pp. 55-81
10 Index
Der folgende Index listet in erster Linie Schlagworte, die in mehreren Kapiteln relevant sind, sowie Abkürzungen, die oftmals aus dem Englischen stammen, auf. Anatomische Begriffe und spezifische Verletzungen sind nicht enthalten; diese werden in den Kapiteln der jeweiligen Körperregion erläutert. D A DAI (diffuse axonal injury) 75, 77, a3ms (3ms-Kriterium) 50, 87 94 ADFS (average distal forearm delta-v 36 speed) 234 E Airbag 61, 96, 111, 127, 146, 169f, ECE 45, 47, 50f, 133 178, 220, 230, 234 ECE R12 61 AIS (abbreviated injury scale) 30, ECE R21 87 75, 110, 160, 186, 203, 230 ECE R22 87 Arbeitsmedizin 10, 251 ECE R25 87 B ECE R44 191 biomechanisches Verhalten 39, 54, ECE R94 45, 50, 61, 87, 133, 79, 119, 166, 188, 209, 232 177, 179, 214, 215 BioRID 52, 59, 129, 137 ECE R95 45, 51, 57, 177, 179, BioSID 58 191, 215 Boxen 17, 89f EES (energy equivalent speed) 36 C Epidemiologie 19 C (compression criterion) 176 Ermüdungsbruch/-fraktur 138, 217, Computersimulation 12, 37, 62, 99 220, 248, 255 CRABI 61 F Crashtest-Dummy 42, 44, 53 FFC (femur force criterion) 214 siehe auch BioRID, BioSID, Finite Elemente (FE) Methode/ CRABI, Hybrid III, POLAR, -Modelle 38f, 62 SID, THOR, TNO-10 WorldFMH (free motion head form) 44 SID CTI (combined thoracic index) 171, 177 K.-U. Schmitt et al., Trauma -Biomechanik, DOI 10.1007/978-3-642-11596-7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
262
Index
FMVSS 45, 48f, 55 FMVSS201 61, 87 FMVSS208 46, 50, 85, 87, 127f, 133f, 172, 175, 177f, 210, 214 FMVSS214 46, 51, 57, 174, 176 (American) Football 16, 90, 139, 141, 218, 236 Frontalkollision 36, 45f, 50, 55f, 60, 96, 112, 115, 118, 126f, 133, 170f, 175, 177, 179, 184, 200, 203, 206, 208f, 215, 221, 230 Fussball 16, 39, 89, 94, 193, 205, 216, 218 Fussgängersicherheit/-schutz/ -kollision/-Dummy/-Airbag 3, 45, 55, 61, 96, 98f, 165, 205, 207, 214, 221f G GAMBIT 87 Gehirnerschütterung 76, 80, 84, 89 H Handgelenkprotektor 239, 241 Heckkollision 46, 59f, 114f, 124f, 128, 130, 132f, 137, 143, 147 Helm 87, 90, 95f Hernie (Diskus-/Sportler-) 110, 119, 166, 193 HIC (head injury criterion) 50f, 85, 90 HPC (head protection criterion) 50f, 87 Hybrid III 55, 91, 93, 128, 137, 172, 176, 215, 235 I Inline-Skaten 239 IPR (injury priority rating) 32
IRAV (injury assessment reference value) 62 ISS (injury severity score) 32 IV-NIC (intervertebral NIC)134 K Kind(er) 4, 29, 45, 47f, 54f, 61, 79, 93, 122, 127, 187, 191f, 222 Kollisionsgeschwindigkeit 35 Kontaktsport 139, 217, 236, 256 Kopfstütze 47, 116, 130, 142, 144 L Lähmung (siehe Plegie) Lärm 3, 253 Leistenverletzungen (siehe auch Hernie) 193 LNL (lower neck load index) 132 M Mehrkörpermodell 62 Menschmodell 40, 42, 62 MIX Kriterium 137 MTBI (mild traumatic brain injury) 77, 90, 93 Myositis ossificans traumatica 216 N Euro) NCAP (new car assessment programme) 52f, 61, 125, 214, 234 NDC (neck displacement criterion) 135f NIC (neck injury criterion) 125f, 136 Nij 127 Nkm 125, 136 O
out of position 48, 128, 170 P
Plegie 139 POLAR 61 Polsterung (Padding) 95, 192 Prellung 32, 74, 89
Index
PSPF (pubic symphysis peak force) 215 Q
QTF (Quebec Task Force) 115 R
RAID (research arm injury device) 235 RDC (rib deflection criterion) 178 Rebound 116 RID/RID2/RID3d 59f, 132 Risikofunktion 30, 33, 86, 176 RSI (repetitive strain injury) 247 Rückenschmerz 118, 140, 248 S
SAE Arm 235 SAHR 145 Schienbeinkanten-Syndrom/ -schoner 220, 255 Seitenkollision/-anprall 43, 45, 50f, 55, 57, 173, 176f, 179, 191f, 230f, 234 SI (severity index) 82, 85 Sicherheitsgurt/-systeme 14, 44, 47, 55f, 96, 116, 118, 142, 160, 168f, 190f, 231 SID 57, 174 Sitz/-lehne/-position/-schiene/-test 47, 49, 116, 124f, 130, 132, 137, 141, 143, 146f, 160, 170, 191f, 221, 249 Skifahren 16, 89, 217, 218 Snowboard 16, 89, 239 Starrkörper/-dynamik/-modell 24, 35, 37f, 62 Stosszahl 36 submarining 192, 221 S-Verformung 116 T
TCFC (tibia compression force criterion) 214
263
ThCC/TCC (thoracic compression criterion) 179 THOR 56, 85, 235 TI (tibia index) 50, 214 TNO-10 60 TTI (thoracic trauma index) 173f U
Überdeckung 36 Ulna-Varianz 239 Unfallrekonstruktion 34f Unfallstatistik 19 V
VC (viscous criterion) 50f, 177 Verletzungskriterium 29 W
WHIPS 147 WIL 143 WipGARD 148 World-SID 59 WSTC (Wayne State Tolerance Curve) 80f, 85, 87