Mark Walsh, ein junger Fotograf und Kriegsberichterstatter, gerät in den Bergen Kurdistans in einen Hinterhalt. Verwund...
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Mark Walsh, ein junger Fotograf und Kriegsberichterstatter, gerät in den Bergen Kurdistans in einen Hinterhalt. Verwundet findet er Aufnahme in eig e m Lazarett. Voller Angst erwartet er den Moment der Ausmusterung, der Triage; es geht um Leben oder Tod. Aber Mark hat Glück - der Arzt entscheidet, ihn zu behandeln. Geheilt kehrt er nach New York zurück. G e h e i l t ? Seiner Freundin Elena verschweigt er, was geschehen ist. Je länger er sich etwas vormacht, desto schlechter geht es ihm. Sein Körper rebelliert, und in seinem Kopf ist Leere. Verzweif e l t versucht Elena, Mark zum Reden zu bringen. Da bietet ihr Großvat e r Joaquín, der nach dem Spanischen Bürgerkrieg Kriegsverbrecher psychologisch betreute, den beiden seine Hilfe an. Die drei reisen nach Südspanien, in das große herrschaftliche Haus Joaquíns. Die schöne Umgebung, die Wiesen, die Berge — all das scheint Mark n i c h t wahrzunehmen. Noch immer ist da der weiße Fleck. Verbissen macht er sich auf die Suche nach einem Mann, der vor Jahrzehnten aus Joaquíns Heila n s t a l t p l ö t z l i c h verschwunden war. Das furchtbare Geheimnis, das er lüftet, bringt i h n zu Elena und ins Leben zurück. Scott Andersons bewegender Roman über die Folgen des Krieges, sowohl für die Täter wie für die Opfer, verbindet literarische Verve mit großer Spannung. Liebe und Tod, Schuld und Verantwortung, Haß und Vergebung -
>Triage< ist Lesestoff, der sich verschlingen läßt. Und einen lange nicht losläßt.
Scott Anderson
Triage Roman
Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte
Alexander Fest Verlag
Für meine Mutter Barbara Joy Anderson 1928-1994
Eins
Er war mit zerfetzten Blumen bedeckt. Sie lagen auf seiner Brust und umsäumten seinen Hals wie eine Girlande. Ab und zu, wenn ein Windstoß ihn streifte, bewegten sich einzelne Stengel, flogen Blütenblätter davon. Über sich sah Mark einen Himmel, der grau war. Er suchte den Himmel nach Anhaltspunkten ab — einem Flecken Blau, einem weißen Wolkenrand —, aber das Grau zeigte keine Auflockerungen. Er dachte an das Land, das ihn umgab: Es war braun und breitete sich über Hunderte von Meilen aus, brach zu Schluchten auf, glättete sich zu Ebenen. Dann spürte er den Gesteinsstaub, der sich auf seiner Haut niederließ, leckte ihn von den Lippen. Ihm kam der Gedanke, daß es vielleicht die Blumen gewesen waren, daß einen hier sogar Blumen umbringen konnten. Er stellte sich den Schützen vor, der gelangweilt die Weite unter dem bleiernen Himmel absuchte, Stunde um Stunde, Tag um Tag, bis seine Augen an den Farbtupfern hängenblieben, die Mark in der Hand hielt. Er dachte an die Freude, die der Mann in jenem Moment empfunden haben mußte. Am Morgen war Mark für diesen Himmel dankbar gewesen. Grau, in Kurdistan war das die Farbe eines guten Tages; die Sonne würde ihm nicht die Haut versengen, das grelle Licht würde ihn nicht blenden. Oben angekommen, auf dem Gipfel, hatte er ringsum in die Berge geblickt. Kein Haus, keine Straße. Er war vom höchsten Felsen heruntergestiegen, hatte Wildblumen gepflückt. Die spröden Stengel knackten zwischen seinen Fingern.
Das Artilleriegeschoß hatte er nicht gehört, aber er glaubte, es gesehen zu haben. Als es in den Fels direkt unter ihm einschlug, spritzten die Metallsplitter, die Brocken nach allen Seiten. Verblüfft hatte er dagestanden und die Trümmer in hohem Bogen fliegen sehen. Nein, gestanden hatte er nicht, überlegte sich Mark jetzt. Er war fast sicher, sofort zu Boden geworfen worden zu sein — bevor er etwas hörte, bevor er etwas sah. Er hatte bereits dagelegen, bestreut mit den Blumen, als sich die Splitter am Himmel abzeichneten. Er spürte keinen Schmerz, nur ein diffuses Prickeln, als wäre sein ganzer Körper eingeschlafen. Er hob den Kopf und bemerkte, daß er auf einem großen, flachen Felsen lag. Sein linker Arm war zur Seite gestreckt, er betrachtete ihn gründlich. Mit ihm schien alles in Ordnung zu sein. Der rechte Arm ruhte auf seiner Brust, die Hand hob und senkte sich mit seinem Atem. Mark schaute der Hand einen Moment lang zu. Die Finger zitterten, und er spürte ihr nervöses Vibrieren auf den Rippen. »Colin?« rief er. Er hob den Kopf ein wenig mehr und sah seine Beine. Sie lagen gespreizt auf dem Felsen, die Fußspitzen nach außen gekehrt. Der linke Fuß zuckte. Mark beunruhigte dieses Zucken, er wollte es unterbinden, doch sein Fuß gehorchte ihm nicht. Am rechten Ohr hörte er es tropfen. Mark schaute zur Seite: Sein Kopf hatte in einer Felsmulde gelegen, eine Blutlache sammelte sich dort. Er spürte es durch sein Haar rinnen, auf der Kopfhaut kitzeln, sah es herabtropfen. »Colin?« rief er. Er ließ sich zurücksinken. Blut rann ihm in die Ohren. Mark empfand die Wärme des Blutes als Trost, und er blickte in den Himmel, der jedes Geräusch verschluckte.
Was sollte er tun? Er wußte es nicht. Wenn er aufstünde, würde die Wüstenluft die Pfütze in wenigen Minuten trocknen, und von ihr würde nichts bleiben als ein bißchen Rückstand aus braunem Pulver, einem Pulver, das im Wind verwehen würde. Er wollte die Blutpfütze bewahren. Doch dann entschied er sich anders. Wenn er liegenbliebe, würde er selbst verschwinden. Also rappelte er sich auf. Keine Einzelheit jener Nacht, ihre Geräusche, ihre Gerüche, würde er jemals vergessen können. Jeden Schritt beim Abstieg vom Gipfel, beim Durchqueren des Tals würde Mark in Erinnerung behalten, den abschüssigen Boden unter den Füßen, die Last auf seinem Rücken, das harte Berggras. Der Himmel in seiner undurchdringlichen Schwärze — kein Stern, nicht die Spur eines Mondes — würde ihm bleiben, jedes Stolpern, das ihn zu Boden warf, das Pfeifen des Windes, in dem er Soldatenstimmen zu hören glaubte; das Aufstehen, zu dem er sich zwang, das Wanken auf dem mal samtweichen, mal festen Grasboden, das Weitergehen. Er malte sich aus, wie er im Sucher eines Gewehrs aussehen mußte — ein heller Fleck, Brust und Kopf, der sich über die Grasfläche bewegte, ein Ziel so groß und bleich wie ein Mond. Er versuchte, eine Hand in die Höhe zu halten, zu zeigen, daß er unbewaffnet und in friedlicher Absicht vom Berg herunterkam, versuchte zu vergessen, daß dergleichen in diesem Krieg keine Rolle spielte. Wieder fiel er hin, stand auf, lief weiter, und allmählich verlor sein monotones »Ruhe bewahren, Ruhe bewahren« an Kraft - die Hände wund und geschwollen vom scharfen Gras, die bleischweren Füße über unsichtbare Wurzeln stolpernd, Brust und Kehle zusammengeschnürt von der Last, das Bewußtsein immer leerer wer-
dend, bis es nichts mehr enthielt als den letzten Wunsch Tausender Sterbender: »Hier will ich nicht sterben, hier will ich nicht sterben.« Dann ein anderes Geräusch, lauter als das Rascheln des Grases und sein keuchender Atem, ein Tosen. Mark kletterte die Böschung hinab, schwarz lag der Fluß vor ihm. Hineinlaufend spürte er das eisige Wasser bis an die Knie steigen, dann bis zur Hüfte. Nie würde er den Moment vergessen, als ihn die Strömung erfaßte, den endlosen, verlangsamten Augenblick, als seine Hilflosigkeit zugleich von Angst und Erleichterung abgelöst wurde. Seine Füße rutschten auf den glatten Steinen ab, mit rudernden Armen kämpfte er um Balance, er wurde herumgerissen und sank. Die Kälte schlug ihm wie eine Schockwelle auf die Brust, an die Schläfen. Er wurde hinabgezogen, über Steine geschleift, er schnappte nach Euft, aber schluckte nur Wasser, seine Finger tasteten nach Halt, doch er trieb zu schnell ab, das Gewicht auf seinem Rücken drückte ihn nach unten, ins Tiefe, ins Kalte. Die Last schnürt ihm die Kehle zu, würgt ihn, zieht ihn in die Strömung, drückt ihn ins Flußbett, die Steine rutschen ihm unter dem Rücken entlang, und die würgende Umschnürung läßt nicht nach, erstickt selbst seine Schreie, während das Leben aus ihm weicht. Seine Hände zerren an der Umklammerung, kraftlos, beinahe leblos schon, dann prallt er auf ein Hindernis, ein heftiger Stoß, der ihn zur Seite wirft, die Umschnürung lockert sich für einen Moment, und Mark befreit sich, bekommt wieder Luft, ist erlöst und lebendig und ganz allein, treibt weiter unter dem schwarzblauen Himmel. Mark kroch ans Ufer, zum Umriß eines Baums in der dämmernden Nacht. Er setzte sich unter die kahlen Äste und leckte das Blut von den Händen, den Armen, wie ein
Hund. Nicht der Hauch eines Windes, kein Insekt, kein Vogel, kein schwankendes Schilf, nur das Rauschen des Flusses. Der Himmel verblaßte zu Silber, die Hügel im Osten traten aus der Dunkelheit: Mark, an den Stamm gelehnt, zitterte. Er zitterte, weil ihm die nassen Sachen am Leib klebten, er zitterte, weil er die Finsternis hinter sich gelassen hatte und den Tag anbrechen sah. Er lag unter einer Felsdecke. Ein gelber Schein beleuchtete die unebene Wandfläche mit ihren Rillen und Vertiefungen. Mark bemerkte Schrammen im Fels, offenbar Meißelspuren. Er wußte nicht, wo er sich befand. Lärm schlug ihm ans Ohr. Er hob den Kopf und blickte in einen nebligen Schleier aus Rauch und Staub. Die lange, schmale Höhle war von Petroleumlampen erhellt. Eine Peschmerga-Unterkunft mit Männern auf Armeepritschen, zwei Reihen, die sich an den Wänden entlangzogen, so weit sein Blick reichte. Der Gang dazwischen war voller Leute, die mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saßen und an den Pritschen lehnten. Hunderte von Männern, und alle schienen Lärm zu machen — zu brüllen, zu rufen, vor sich hin zu murmeln. Ein Junge saß am Fuß seiner Pritsche. Er war fünfzehn oder sechzehn, die Ärmel seines olivgrauen Mantels waren hochgekrempelt und entblößten die dünnen Arme. Abgesehen von Mark schien er in der Höhle der einzige zu sein, der still war. Er hatte das Kinn auf die Hände gestützt und starrte so gebannt auf seine Finger, daß Mark glaubte, er würde etwas festhalten — ein kleines Tier vielleicht, einen jungen Vogel, der aus dem Nest gefallen war. Mark spürte den Impuls, ihn zu fragen, worum es sich handele. Dann sah er, daß die Hände mit Binden umwickelt waren, aus denen Blut troff.
Noch einmal blickte Mark in die Runde. Jetzt verstand er den Lärm, wußte, wo er sich befand. Er ließ den Kopf sinken und hörte unter sich Stroh knistern. Die Höhle von Harir. Ein Lazarett mit vierzig Betten und einem Operationsraum, aus dem massiven Fels herausgeschlagen, ohne Lüftung, ohne Strom, ohne Medikamente. Während der fünf Wochen in Kurdistan hatte Mark die Höhle ein halbes dutzendmal besucht, um Bilder für eine Fotoreportage zu machen, der er den Titel »Das schlimmste Krankenhaus der Welt« geben wollte. Jedesmal hatte ihn der Anblick verstört, der Gestank, und er hatte die Minuten gezählt, bis er wieder hinauskam, zurück an die Luft und in die Sonne vor dem Höhleneingang. Das Verlangen danach packte ihn auch jetzt mit Heftigkeit. Er wollte aufstehen. Seine Arme und Beine rührten sich nicht. Mark starrte auf die Wolldecke. Er suchte die Ränder der Pritsche nach Gurten oder Stricken ab, die ihn festbanden, aber er sah keine. Ein erneuter Versuch. Nichts. Er dachte an den Fluß. Bruchstückhafte Erinnerungen: Er wurde wachgerüttelt und blickte in die Gesichter zweier Peschmerga-Kämpfer, über ihnen der graue Himmel, unter sich die kalte Erde. Sie hatten ihn etwas auf kurdisch gefragt, aber Mark wußte nicht mehr, ob er etwas erwidert hatte. Dann Leere, bis zum Erwachen in der Höhle. Mark versuchte sich zu beruhigen. Er stellte sich vor, aus dem Bett zu kriechen, über die Männer im Gang hinweg und immer weiter, bis zu dem schwarzen Vorhang und hinaus ins Freie. Aber daran war nicht zu denken. Selbst sich herunterfallen zu lassen war ausgeschlossen. Er konnte nur liegenbleiben und sich fragen, warum er so starr war wie Stein. Der Lärm der Verwundeten steigerte sich, ein Beiklang
von Angst mischte sich hinzu. Plötzlich ein Lichtschein am hinteren Ende der Höhle, und Mark wußte Bescheid, noch bevor er den Kopf wandte. Dort kam Talzani aus dem OP-Raum, nicht mehr als eine Silhouette vor dem Hintergrund der grellen Lampen. Dann wurden sie abgeschaltet, aber Talzanis weißer Kittel behielt etwas von ihrer Helligkeit, während er sich durch die Reihen der Verwundeten bewegte. Die Triage. Mark hatte sie schon miterlebt, fotografiert. Er fühlte sich von Mattigkeit übermannt. Gewaltsam schüttelte er den Kopf, um den Schlat abzuwehren. Jetzt hieß es auf der Hut sein, höllisch aufpassen, denn die Ausmusterung ging sehr schnell. Wenn man schlief, wenn man zu spät auf Talzanis Fragen antwortete, konnte das als Symptom gewertet werden, und es wurde die blaue Plastikmarke auf die Decke gelegt. Das Schicksal entschied sich mit der Farbe der Marke. Wer Gelb bekam, wurde entlassen. Rot hieß Behandlung. Blau hieß Sterben. Mehrmals schon hatte er — als Fotograf, nicht als Patient — Männer mit blauen Marken Talzani anbetteln und weinen sehen. Geld und Häuser und Frauen hatten sie ihm angeboten, doch der Arzt ließ sich nicht bestechen. Er drehte den Kopf zur Seite und sah den weißen Kittel näher kommen, nur noch sieben oder acht Betten war er entfernt. Das Dunkel, das sein Blickfeld begrenzte, wuchs, die Stimmen in der Höhle wurden flach und dünn. Er wollte den rechten Arm heben. Etwas unter der Wolldecke regte sich. Er hob das linke Bein, dann das rechte. Jedesmal bewegte sich der Stoff. Seine Glieder erwachten wieder zum Leben, gewiß würde Talzani das merken. Mark holte tief Luft, um seinen Atem zu stabilisieren. Aus dem Augenwinkel sah er ihn, jetzt nur noch vier Betten entfernt.
Die Höhlendecke verschwamm zu einer Fläche aus verblichenem Gelb, die sich auf ihn herabzusenken schien. Mark blickte zur anderen Seite, in die hinterste Ecke. Sie lag im Schatten, war dunkel wie der Schlaf. »Salam.« Mark zuckte zusammen, als eine Hand seine Schulter berührte. Er riß die Augen auf. Erst zeichnete sich der schwarze Schnurrbart ab, dann das schmale, jugendliche Gesicht von Ahmet Talzani. Es lächelte. »Ah, Mr. Walsh«, sagte Talzani auf englisch, »Sie machen uns also einen weiteren Besuch. Und was verschafft uns diesmal die Ehre?« Ein Pistolenhalfter ragte aus einer Tasche des fleckigen Kittels. Er kam näher, sein Lächeln schwand. »Was ist passiert? Können Sie sich erinnern?« Mark antwortete nichts, starrte ihn bloß an. Der Sanitäter, ein schon ergrauter Peschmerga, flüsterte Talzani etwas ins Ohr. »Sie wurden unten am Fluß gefunden. Erinnern Sie sich daran?« Mark nickte. Talzani schlug die Decke zurück. Er betrachtete die Schürfwunden auf Marks Brust und an den Beinen, pfiff dann leise durch die Zähne. »Meine Güte! Hat man Sie geschlagen?« »Ich wollte durch den Fluß«, sagte Mark, »und bin fortgetrieben worden.« Der Arzt nahm eine Zigarette aus der Kitteltasche, zündete sie an und legte den Kopf schräg. »Sie waren am anderen Ufer? Wo sind Sie hergekommen?« Mark blickte auf das glimmende Ende der Zigarette. »Ich habe am Morgen einen Ausflug gemacht und mich verlaufen. Dann wurde es dunkel.« Die Neugier wich aus Talzanis Gesicht, und er lächelte
wieder. »Eine gefährliche Gegend für Ausflüge, Mr. Walsh, so dicht am Kampfgebiet.« Der Sanitäter wirkte ungeduldig und flüsterte erneut etwas in Talzanis Ohr. »Er sagt, Sie können nicht laufen. Ist das wahr?« »Weiß nicht«, sagte Mark. »Ich bin aufgewacht, und ... Ich glaube, ich bin nur steif.« Talzani reichte seine Zigarette dem Sanitäter, legte die Hände auf Marks Schultern und drückte zu. »Tut das weh?« Mark schüttelte den Kopf. »Aber spüren Sie etwas?« Mark nickte. Talzani schob die Hände unter Marks Rücken und tastete die Wirbelsäule ab, packte die Hüftknochen und knetete sie, massierte die Kniegelenke, preßte schließlich die Füße. »Keine Schmerzen?« Wieder schüttelte Mark den Kopf. Talzani richtete sich auf, nahm seine Zigarette zurück. Während er auf Mark hinabblickte, blies er den Rauch aus der Nase. »Können Sie die Arme bewegen?« Mark biß die Zähne zusammen und hob die Ellbogen ein wenig in die Höhe. »Und die Beine?« Er versuchte die Beine anzuheben, aber es gelang ihm nicht; indem er die Füße aufstützte, drückte er die Knie ein paar Zentimeter nach oben. »Sehr gut.« Der Sanitäter flüsterte wieder. Talzani zog die Brauen hoch. »Eine Kopfverletzung auch? Unsere Flüsse mögen Sie offenbar nicht gerade, Mr. Walsh.« Die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt, beugte sich der Arzt über ihn und drehte seinen Kopf zur
Seite. Sofort bemerkte er den Kratzer auf seiner Kehle. Er runzelte die Stirn und fuhr mit dem Finger daran entlang. »Eine Schürfwunde. Woher kommt die?« »Keine Ahnung«, sagte Mark. Mit einem Seufzer drückte Talzani Marks Kopf aufs Kissen und grub im verklebten Haar, bis er die Wunde am Hinterkopf gefunden hatte. Mark mußte sich zusammenreißen, als der Arzt die Haut mit den Fingern spreizte, frisches Blut rann ihm am Hals hinab. Der Rauch aus der Zigarette nebelte ihn ein, verflüchtigte sich dann vor seinen Augen. Talzani ließ von ihm ab und trat einen Schritt zurück. Er schnipste sich das Blut von den Fingerspitzen und nahm die Zigarette aus dem Mund. »Sie haben Glück, Mr. Walsh — es ist eine Fleischwunde, vielleicht eine Gehirnerschütterung. Kurdistan ist kein guter Ort für einen Schädelbruch. Aber genäht muß es wohl werden.« Er griff in die Tasche seines Kittels und holte einen Stapel Plastikmarken heraus. »Das Übrige ist schwer zu beurteilen. Ihr Körper ist kräftig gestaucht worden, aber Sie haben keine Lähmungen, und es scheint nichts gebrochen zu sein. Sie haben einen Nervenschock, aber, so Gott will, nur vorübergehend. Das wird sich sehr bald zeigen.« Die Plastikmarken waren dünn, Talzani hielt etwa fünfzig davon in der Hand, gelbe, rote, blaue. Er wog sie in der Linken, schob sie geistesabwesend mit der Rechten durcheinander. »Die Beine werden das größte Problem sein. Das ist immer so. Beine, Beine, Beine. Auf jeden Arm, den ich hier oben amputiere, kommen zehn Beine. Rätselhaft, nicht wahr?« Er wartete auf eine Erwiderung, doch Mark starrte auf die Plastikmarken, verfolgte, wie die Farbe der obersten Marke bei jeder Handbewegung wechselte: rot,
blau, gelb, blau. »Ich hab keine Ahnung, warum das so ist. Ich glaube, die Beine des Menschen sind auf moderne Kriege einfach nicht eingerichtet.« Talzani hörte auf, die Marken zu mischen, und suchte mit seiner behutsamen Chirurgenhand eine gelbe heraus. Er legte sie Mark auf die Brust. »Seien Sie unbesorgt. Ruhen Sie sich aus.« Mark konnte seinen Blick nicht von den Plastikmarken lösen. »Sie werden wieder gesund«, sagte der Arzt. Er beugte sich zu ihm herunter, suchte seinen Blick. »Haben Sie mich verstanden?« Mark fixierte noch immer die Plastikmarken. »Sie werden wieder gesund.« Talzani drehte sich weg und ging zum nächsten. Er erwachte, als zwei Sanitäter ihn auf eine Bahre legen wollten. Sie trugen ihn aus der Höhle, und in der plötzlichen Helligkeit kniff Mark die Augen zusammen. Er überließ sich dem einschläfernden Ruckein der Bahre, lauschte auf das rhythmische Knarren des Segeltuchs, das ihn trug. Sie brachten ihn zur Genesungsstation. Irgendwann früher war das Gemäuer, das auf einer kleinen Ebene zwanzig Meter von der Höhle entfernt stand, eine Schäferhütte gewesen. Mit seinem provisorischen Schilfdach und bloß zwei Wänden ähnelte es jetzt einer Strandhütte, bevölkert von denjenigen, die nicht der Wärme der Höhle bedurften, um die kalten Nächte zu überstehen. Die Sanitäter schufen Platz, indem sie andere Verwundete beiseite schoben, dann hoben sie Mark von der Bahre. Sie betteten ihn auf den Felsboden, warfen eine dicke Decke über ihn und verschwanden.
Durch die Lücken im Dach sah Mark eine blasse Sonne. Er sog die frische Luft ein. Nur ab und zu wehte der Kotund Krankheitsgestank der Höhle zu ihm herüber. Jedesmal schien er an ihm hängenzubleiben, sich in seinen Sachen und seiner Nase festzusetzen. Er wartete und atmete flach durch den Mund, bevor er es wieder wagte, tief Luft zu holen. Am späten Nachmittag hörte er den Lärm in der Höhle anschwellen. Es begann unmerklich wie das Summen eines Generators, dann wurde es immer lauter, bis Mark einzelne Stimmen, einzelne Schreie heraushören konnte. Er blickte zur Höhle, die Kranken, die neben ihm lagen, begannen zu beten. Die Sanitäter trugen die Blauen hinaus, stellten die Bahren ordentlich in einer Reihe ab. Es waren fünf, die mit offenem Mund gen Himmel starrten, wie Fische auf dem Trockenen. Einer konnte die Hände bewegen, und er hob sie, um die Augen vor der Sonne zu schützen. Der Mullah aus Harir kam den Bergpfad herauf. Er trat zu den Bahren, hockte sich nieder, um mit den Verwundeten zu sprechen, senkte den Kopf, um ihr Flüstern zu hören. Talzani kam aus der Höhle. Aufsein Nicken hin packten die Sanitäter die erste Bahre. Der Mullah erhob sich, zog den Koran aus dem Gewand und las laut aus dem Heiligen Buch vor, seine rechte Hand ruhte auf der Stirn des sterbenden Peschmerga. Mark folgte dem Abtransport mit den Augen: Während der Mullah weiter rezitierte und die Hand auf der Stirn des Mannes liegen ließ, ging Talzani hinterher, die Hände auf dem Rücken ineinandergekrallt, den Kopf leicht gesenkt. Die Gebete der Männer in der Genesungsstation wurden lauter. Mark schloß die Augen. Das Echo eines Schusses. Er zuckte zusammen, hielt jedoch die Augen geschlossen.
Vier oder fünf Minuten später ein weiterer Schuß. Dann noch einer und noch einer. Nach dem letzten Schuß öffnete er die Augen und starrte auf das Schilfdach. Ein Schatten beugte sich über ihn. Talzani. Er hielt den Revolver an die Hüfte gepreßt. Sein Gesicht war fahl, seine Augen ähnelten trübem Glas. »Wissen Sie, was Peschmerga heißt?« Mark nickte, aber Talzani schien es nicht zu bemerken. »Es bedeutet >Die dem Tod ins Auge sehen<. Sehr romantisch, nicht wahr? Poetisch. Ich persönlich habe nie jemanden erlebt, der dem Tod ins Auge sieht. Wenn das Ende kommt, schauen sie alle weg.« Der Doktor blickte zu Boden, strich sich mit der zitternden Hand durch das kurze Haar. »Es ist nicht so leicht, was?« fragte er mit ruhiger Stimme. »Ohne Ihren Fotoapparat ist es nicht so leicht.« Er wandte sich zurück zur Höhle und steckte im Gehen den Revolver ein. In der Nacht riß die Wolkendecke auf, durch das Schilf sah Mark Tausende von Sternen. Der Nachmittag war kühl und klar. Durch die Klüfte der umliegenden Berge zogen sich die dunklen Bahnen des Schmelzwassers. Mark saß auf einem Felsvorsprung hundert Meter von der Höhle entfernt, öffnete langsam die Hände und schloß sie wieder. Es fühlte sich an, als steckten ihm dünne Nadeln in den Fingern, aber immerhin, sie waren beweglich. Er griff nach den Knien. Selbst durch den dicken Stoff konnte er die Schwellungen ertasten, und er rieb sie, bis ihm vor Schmerz die Augen tränten. Es war der fünfte Tag nach der Detonation, vier Nächte waren vergangen, seit man ihn am Fluß gefunden hatte. Am Morgen hatte er einen Jungen losgeschickt, um seine Ho-
telrechnung zu bezahlen und seine Sachen zu holen. Jetzt lagen seine Kameratasche und sein Rucksack im Schatten eines Felsens neben der Höhle. Unter ihm schlängelte sich die Straße in Serpentinen den Berghang hinab und verlor sich zwischen den Steinhäusern von Harir. Am anderen Ende des Ortes kam sie wieder zum Vorschein, wand sich durch die Felder- und Hügellandschaft, dann machte sie einen Knick nach Norden und verschwand hinter einem Bergrücken. Irgendwo jenseits des Bergs lag die türkische Grenze. Die Jeeps würden bei Einbruch der Nacht starten. Mark war entschlossen, in einem von ihnen mitzufahren. Er zog die Füße zu sich heran, stützte sich auf die rechte Hand und stand auf. Die Beine waren wacklig, aber sie trugen ihn. Er wartete ein wenig, dann wagte er einen kleinen Schritt. »Gut machen Sie das.« Mark drehte sich um und erkannte Ahmet Talzani, der über das Geröllfeld herankam. Bei Tageslicht sah sein Arztkittel aus, als wäre er mit brauner Farbe bekleckert. Mark, wieder auf seine Füße blickend, machte zwei weitere behutsame Schritte. Er hörte Talzani neben sich gehen. »Gut, sehr gut!« Mark stolperte, fing sich mit dem rechten Fuß ab. Der Schmerz schoß ihm durch die Hüfte und bis in den Kopf. Er stöhnte. »Tut es heute weh?« fragte der Arzt. »Wunderbar. Schmerzen sind immer besser als Taubheit.« Mark setzte seine Gehversuche fort, Talzani beobachtete seine vorsichtigen Schritte. »Sie müßten Krücken haben«, sagte er. Mark wußte, dies war kein Angebot, nur eine Feststellung. »Es wird schon gehen.«
Als er wieder stolperte, packte ihn Talzani am Arm. »Sie sind zu hastig, das ist ein Fehler. Ruhen Sie sich aus.« Er drückte ihn sanft auf einen Felsblock, setzte sich neben ihn und zog eine Zigarette aus der Tasche. »Vielleicht sollten Sie noch einen Tag warten.« »Nein«, sagte Mark. »Ich muß los. Bin so schon überfällig.« »Wie Sie wollen.« Talzani zündete die Zigarette mit einem goldenen Feuerzeug an, legte den Kopf in den Nacken und stieß eine Rauchwolke aus. Er atmete tief ein. »Frühling. Eine zauberhafte Jahreszeit hier. In der Höhle würde ich vergessen, daß es Jahreszeiten gibt, wenn ich mir nicht ab und zu eine Pause verordnen würde.« Er hielt die Zigarette in die Höhe. »Ein bißchen Luft schnappen, in die Gegend schauen. Und natürlich kommt man an den Punkt, wo die Leistung abfällt. Wenn ich zu lange dort drinbleibe, bringe ich am Ende mehr Patienten um, als ich retten kann.« Er lachte verhalten und blickte Mark an. »Und der andere Fotograf, reist er mit Ihnen ab?« »Colin? Nein, erbleibt noch ein paar Tage.« Der Arzt nickte. »Ich hab ihn hier nicht gesehen. Man hätte meinen können, er würde Sie nach Ihrem Unfall besuchen.« »Ich glaube nicht, daß er davon erfahren hat. Am Tag, bevor es passierte, ist er ins Tiefland gefahren.« »Ah, dann ist es verständlich.« Talzani lächelte. »Alle, die in diesem Krieg stecken, denken, sie seien unsterblich. Wäre nicht gut für die Moral, einen Kollegen in der Höhle von Harir enden zu sehen.« Mark erwiderte das Lächeln. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Sie schwiegen. Mark rieb seine zerschundenen Hände, Talzani widmete sich seiner Zigarette, rollte sie zwischen den Fingern. »Trotzdem gehe ich davon aus«, sagte er
schließlich, »daß Sie einen angenehmen Aufenthalt hatten.« Mark warf einen prüfenden Seitenblick auf den Arzt und stellte fest, daß er es ernst meinte. »Oh, es war ein wahres Vergnügen, Talzani. Ich verstehe gar nicht, warum ihr nicht Touristen hierherbringt.« Talzani lachte. »Entschuldigung. Das ist der Moslem in mir. Für uns ist es Ehrensache, daß sich Fremde bei uns wohlfühlen.« Sie schauten einem Hirten zu, der seine Herde auf dem Nachbarhügel zur Weide trieb. Die Schafe waren weiß mit schwarzen Füßen, auf ihrem Weg über den Geröllhang wirkten sie fast zierlich. Talzani verschränkte die Arme und setzte sich bequemer. »Vor zweitausend Jahren sah es wahrscheinlich überall auf der Welt so aus«, sagte er, »diese Art Leben, diese Art Schönheit. Aber die Gegend ist verflucht, bei aller Schönheit. Manchmal frage ich mich, wie das zusammengeht. Empfinden wir die Schönheit trotz oder wegen des Krieges?« Mark fielen andere Länder, andere Kriege ein. Afghanistan, Mozambique, Kambodscha. Dschungel, Berge, Wüsten, Savannen. Überall hatte er Schönheit gefunden. Überall hatte die Landschaft etwas Feierliches gehabt. »Wir stehen hier vor dem Zusammenbruch. BBC meldet, daß die Iraker ihre Offensive ausweiten. Die Ebene ist schon zum größten Teil eingenommen, und jetzt fallen sie in die Berge ein. Die Nachrichten werden von Stunde zu Stunde bedrohlicher. Immer mehr Tote, immer mehr Verletzte.« Er blickte gen Westen, als würde er nach den Invasoren Ausschau halten. »Die Weltöffentlichkeit ist natürlich empört. Im amerikanischen Kongreß werden Reden geschwungen, in der UNO debattieren sie über eine
Protestresolution.« Talzani seufzte. »Aber das ist schon in Ordnung. Es ist ja nicht ihre Schuld. Unsere Kriege haben wir immer verloren. Das können wir Kurden am besten.« Er stand auf und schnipste die Kippe über den Felsrand. Dann trat er an den Abgrund, blickte ihr nach. »Wissen Sie, solange ich lebe, in diesen nur wenigen Jahrzehnten, hatten wir acht Kriege - zwei mit den Türken und je drei mit den Iranern und den Irakern. Wenn ich die Zeit meines Vaters und meines Großvaters hinzurechne, kann man die Kriege überhaupt nicht mehr zählen — mit der Türkei, mit dem Iran und Irak, auch mit Syrien, Rußland, den Briten, den Franzosen, mit allen. Wir sind wie der kleine Mann im Saloon, der sich mit allen Kerlen anlegt. Werden wir von dem einen niedergeschlagen, stehen wir sofort wieder auf und nehmen uns den nächsten vor. Das ganze Leben ein einziger Krieg. Können Sie sich das vorstellen?« »Warum bleiben Sie dann hier?« fragte Mark. Talzani blickte ihn an und zuckte die Schultern. »Wo soll ich denn hin, Mr. Walsh? Hier bin ich zu Hause.« Er trat gegen einen Felsbrocken, als wollte er ihn von seinem Platz bewegen. »Natürlich hab ich mich nicht immer damit abgefunden. Beim Studium in Michigan habe ich Kurdistan gehaßt, den Krieg gehaßt und die militärischen Führer, die ihn schürten. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Wollte in Amerika bleiben und mein Leben genießen. Wollte Chirurg werden, ein richtiger Chirurg, mir eine Frau suchen und in einem wunderschönen großen Haus wohnen.« Er lachte auf, schüttelte den Kopf. »Ein wunderschönes großes Haus. Aus all den Armen und Beinen, die ich hier amputiert habe, könnte ich mir ein Schloß bauen.« Der Felsbrocken war zu groß oder die Erde zu trocken.
Talzani gab es auf und kehrte zu seinem Sitzplatz zurück. »Heimat. Egal, was du machst oder woran du glaubst, der Heimat entkommst du nie. Sie hält dich für immer fest. Man redet zwar von Freizügigkeit, aber am Ende sind wir alle wie die Brieftauben.« Aus dem kilometerweiten Tal trug der Wind Geräusche herauf— das Klappern der Ziegenglocken, Kindergeschrei, Händlerrufe. Mark bemerkte eine schwarze Gestalt auf der Straße, einen Mann, der aus Harir kam. Er spürte, daß auch Talzani den Mann beobachtete. Nach einer Weile erkannte Mark den Mullah. Ein Blick zur Höhle, und er sah, daß wieder eine Bahre draußen stand. »Wie viele sind es heute?« fragte er. Talzani fischte eine neue Zigarette aus der Kitteltasche. »Nur zwei. Und eine Beerdigung.« Er wies mit dem Kopf Richtung Höhle, Mark drehte sich erneut um und sah seitlich des Eingangs ein mannsgroßes, unförmiges Bündel aus schwarzer Plastikfolie liegen, das an beiden Enden mit einem Strick verschnürt war. »Den haben sie heute morgen am Fluß gefunden, schon stark verwest. Ich mußte ihn in Folie wickeln lassen wegen des Gestanks.« Talzani rollte die Zigarette zwischen den Fingern. »Ein merkwürdiger Fall. Die Füße waren verstümmelt, sehr tiefe Wunden, die Knochen zerschmettert wie von einer Explosion, wahrscheinlich eine Tretmine. Aber gleichzeitig waren seine Hände gefesselt. Mit Schnürsenkeln. Jemand hatte seine Hände so zusammengebunden.« Talzani legte die Handgelenke über Kreuz. »Ich kann mir das nicht erklären. Auf den ersten Blick ein Tod durch Sprengstoff, doch dann die Einwirkung einer anderen Person.« Der Arzt blickte Mark an und stieß ein kurzes, ungläubiges Lachen aus. »Sehr verwirrend, finden Sie nicht?« »Ja. Scheint mir auch so.«
Talzani wedelte mit der Hand, als würde er eine Fliege verscheuchen. »Lauter so kleine Rätsel, morbide Seltsamkeiten. Der Krieg ist voll davon.« Schweigend sahen sie dem Mullah zu. Während er die Straße heraufkam, hielt er den Koran aufgeschlagen und schien darin zu lesen. Sein schwarzes Gewand flatterte im Wind. Mark hatte den Zigarettengeruch in der Nase, hörte das trockene Knistern, wenn Talzani einen Zug nahm. »Was tragen Sie so bei sich, Mr. Walsh?« Mark drehte sich zu ihm um. »Wie meinen Sie das?« »Wenn Sie in eine Gegend wie Kurdistan kommen, wo es gefährlich zugeht. Was haben Sie dann bei sich?« Mark zog die Schultern hoch. »Die Fotoausrüstung und Kleidung je nach Klima.« Talzani schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich meine, welchen Schutz.« Er lächelte Mark müde an. »Sicher haben sie irgendeinen Talisman, der Sie behüten soll.« Mark griff in die Tasche seiner Jeans, brachte eine kleine geschwärzte Münze zum Vorschein und reichte sie dem Arzt. »Eine indische Nickelmünze. Über sechzig Jahre alt. Mein Großvater hat sie mir geschenkt, als ich klein war. Sie hat mich in jedem Krieg begleitet.« Talzani nahm die Münze, betrachtete sie, wendete sie hin und her. Der Mullah, fast oben angekommen, ging knapp unter ihnen vorbei. Der Arzt gab die Münze zurück. »Ich möchte Ihnen etwas sagen, was ich hier oben begriffen habe, Mark. Es könnte Ihnen nützlich sein.« Mark spürte sich ein wenig zurückweichen, seine Zehen verkrallten sich in den Schuhen; es war das erste Mal, daß Talzani ihn beim Vornamen nannte. »Es gibt keine Regeln, wer im Krieg überlebt und wer stirbt. Die meisten wollen das nicht wahrhaben. Wir alle erfinden Erklärungen und abergläubische Begründungen,
warum es so oder so kommt. >Ihn hat es erwischt, weil er die Nerven verloren hat, und er ist krepiert, weil er seine Glücksmünze nicht bei sich hatte.< Nichts davon ist wahr. Im Krieg sterben die Menschen, wie es kommt. Mehr ist nicht dran.« Er griff in die Kitteltasche und holte die Plastikmarken heraus. Als wollte er Mark welche anbieten, hielt er sie ihm hin. »Meine kleinen Marken. Auch eine Art Regelwerk. Eine wissenschaftliche Methode, um über Leben und Tod zu entscheiden.« Er zog die Hand zurück und schwenkte sie hin und her. »Wenn es nur so wäre.« Mark dachte an den Moment, als Talzani an seiner Pritsche stand und die Marken mischte. »Können Sie sich vorstellen, daß ich manchmal so müde bin oder die Höhle so dunkel ist, daß ich nicht einmal sicher weiß, welche Farbe ich vergebe? Ob Sie es glauben oder nicht, es haben schon Leute eine blaue Marke bekommen und sind zum Sterben hinausgetragen worden, die nichts weiter hatten als eine Dehydratation oder eine Armfraktur. Es ist furchtbar, ich weiß. Aber es ist wahr.« Der Arzt öffnete seine Kitteltasche und steckte die Marken sorgfältig weg. »Nun, das sind natürlich Irrtümer, aber immer steht die Frage im Raum, wer ein Blauer ist, und das ist eine Frage der Mathematik, nicht der Medizin. In ruhigen Zeiten, wenn im Kampfgebiet nicht viel los ist, hat sogar ein Bauchschuß eine Chance. Aber dann gibt es wieder mehr Verwundete, und der Mann hat Pech, weil jeder, der mehr als zwei Stunden meiner Zeit beansprucht, den Aufwand nicht wert ist. Dann gibt es noch mehr Verwundete, und die Zeit schrumpft auf eine Stunde, eine halbe Stunde, zwanzig Minuten. Sehen Sie, wie das funktioniert? Eine
einfache Rechnung. Kopfrechnung und Glück, mehr braucht man nicht.« Er scharrte mit dem Fuß im Geröll und hinterließ einen Streifen freigelegten Bodens. »Aber glauben Sie bloß nicht, daß ich nachts wachliege und darüber nachdenke. Nein, mein Schlaf ist gesund. Meine kleinen Marken sind für die Verwundeten da, weil sie den Glauben brauchen, daß ein System dahintersteckt. Ich selbst weiß, daß alles Schicksal ist. Wenn man das einmal begriffen hat, lebt es sich leichter hier, denn man ist von der Vorstellung befreit, daß man irgend etwas aufhalten oder verhindern kann. Die einen überleben, die anderen sterben. Das ist alles.« Der Mullah war oben angelangt und kam auf sie zu. Da Talzani ihm ein Zeichen gab zu warten, blieb er in zehn Metern Entfernung stehen, stumm und reglos herüberblickend. Zum ersten Mal bemerkte Mark, daß er mittleren Alters war, einen dunklen Bart und sehr helle Haut hatte. Talzani rückte näher und legte Mark die Hand auf die Schulter. »Sie hatten großes Glück. Wissen Sie das? Der Kopf, die Wirbelsäule. Wenn es irgendwelche Komplikationen gegeben hätte ...« Mark fing den feierlichen, traurigen Blick des Arztes auf. Er zwang sich zu lächeln. »Wirklich, Sie hätten mich erschossen?« »Ja«, flüsterte Talzani und tätschelte ihm die Schulter. »Ja, das hätte ich für Sie getan. Die einen überleben, die anderen sterben. Das ist die einzig mögliche Haltung. Alles andere ist nur Selbstquälerei und Arroganz. Denn wir sind keine Götter, niemand ist ein Gott.« Er stand auf und wandte sich dem Mullah zu, dann drehte er sich überraschend um. »Oh, gute Nachrichten. Ich habe
Ihnen einen Platz in einem der Jeeps zur Grenze besorgt. Er fährt um acht.« »Danke, Ahmet«, sagte Mark. »Danke für alles.« Der Arzt zuckte die Schultern und ging. Mark lauschte den Schritten Talzanis, bis sie sich entfernt hatten. Der Hirte mit seiner schwarzfüßigen Herde war nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie den Gipfel überquert und suchten auf der anderen Seite nach einem Weideplatz. Er griff in die Jacke und holte die Brieftasche heraus, das Foto, das er seit über einem Monat nicht meh betrachtet hatte. In drei Jahren hatte es Risse bekommen, und die Farben waren verblaßt, aber ihr Lächeln strahlt wie eh und je, ihr Haar war noch immer schwarz und sanft. Mark vertiefte sich in den Anblick und überließ sich einem Verlangen, das er sich endlich wieder gestatten durfte. Die Straße. Während er auf sie hinabsah, stellte ersieh vor, daß sie quer durch ganz Kurdistan führte, über die Grenze bis dorthin, wo sie auf ihn wartete. Ein Schuß ertönte, die Berge gegenüber warfen das Echo zurück. Mark lehnte sich an den Felsen, der Höhle den Rücken zugekehrt, und wartete auf den Abend.
Zwei
Elena bearbeitete die Reißzwecke mit den Fingernägeln. Plötzlich löste sie sich und rutschte ihr durch die Finger. Elena hörte sie über den Fußboden springen, aber auf den rissigen Dielen war sie nicht mehr zu sehen. Sie stieg vom Stuhl, rollte das Poster zusammen und stellte es zu den anderen in die Ecke. Die Wände des Wohnzimmers waren wieder weiß. Sie suchte den Fußboden ab, lief hin und her. Aber die Reißzwecke blieb verschwunden. Elena nahm die Plakatrollen und verstaute sie im Büroschrank. Dann brachte sie die Blumen weg. Schnell waren die kleineren Töpfe von den Fensterbrettern an ihre alten Plätze zurückgetragen — die Farne in die Küche, das Orangenbäumchen ins Schlafzimmer. Nur die große Fetthenne machte Schwierigkeiten. Elena packte den Stamm mit der einen Hand, den Rand des Kübels mit der anderen und zerrte sie durch den langen Flur bis ins Büro. Hastig fegte sie das bißchen Schmutz zusammen, das sich unter den Fenstern angesammelt hatte, dann war der Raum so kahl wie zuvor. Das Sofa, der Couchtisch und die Lampe unter dem letzten Fenster, der Diaprojektor auf dem Stuhl mitten im Zimmer, die Stereoanlage und die Kabel, die zur Steckdose führten: das war die ganze Einrichtung. Elena hatte sich das anders vorgestellt, als sie mit Mark im vorigen Sommer in das ehemalige Lagerhaus gezogen war. Die Umbauten blieben oberflächlich - sie hatten zwei große Speicher zusammengelegt, einen als Wohnraum belassen, den anderen mit dünnen Trennwänden in zwei
kleinere Zimmer mit Küche und Bad unterteilt, was den hinteren Zimmern etwas Provisorisches, Unsolides verlieh. Doch der große Wohnraum entschädigte dafür. Er war an die siebzehn Meter lang und etwa halb so breit, vier hohe Fenster blickten auf die Straße, und Elena hatte an Orientteppiche und helle Möbel gedacht, an große Grünpflanzen, die dem Licht zustrebten. Aber als sie einzogen, hatte Mark das Sofa in die Ecke gestellt, die Stereoanlage angeschlossen und den Raum für möbliert erklärt. »Ich möchte ihn gern so schlicht lassen«, hatte er gesagt. »Aber das ist nicht schlicht, sondern klösterlich«, hatte Elena erwidert. »Das ist einfach nur ein leerer Raum.« »In New York ist leerer Raum der größte Luxus.« Sie einigten sich. Der Wohnraum nach seinem Geschmack, alles andere nach ihrem. So kamen Muschelseife und Leinenhandtücher ins Badezimmer, die Schlafzimmerwände wurden mit Familienfotos, mit spanischen und impressionistischen Postern geschmückt. Im anderen Zimmer, dem gemeinsamen Büro, hingen ebenfalls Fotos und Poster, außerdem Cartoons aus dem New Yorker. Und tatsächlich gab es Zeiten, in denen Elena nach der Heimkehr aus der Stadt, nach all dem Gedränge und Geschiebe auf Gehsteigen, in überfüllten Aufzügen und UBahnen, die Leere des Raums als Erholung empfand. Sie zog Schuhe und Jacke aus, legte sich aufs Sofa und verfolgte das Spiel der Sonnenstrahlen auf dem Dielenboden, die grellen Sonnenvierecke auf den weißgekalkten Wänden. Sie fühlte sich verjüngt. Aber dieses Gefühl war nicht von Dauer. Häufiger kam sie sich wie in einem Gefängnis vor, ein Eindruck, der unerträglich wurde, wenn Mark auf Reisen war. Schon Tage vor seiner Abfahrt begann Elena zu überlegen, welches Poster wo hängen sollte, welche Pflanzen auf dem Fensterbrett die schön-
sten Schatten werfen würden, und kaum saß Mark im Flugzeug, wurden die Pläne in die Tat umgesetzt. Sie ging ins Bad, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Der Wasserdruck in dieser Gegend von Brooklyn schwankte beträchtlich, und Elena hatte sich angewöhnt, einfach beiseite zu treten, wenn es zu kalt oder zu heiß wurde. An den Hähnen zu drehen machte alles nur schlimmer. Morgens um sieben hatte Mark aus Istanbul angerufen und ihr gesagt, daß er das nächste Flugzeug nach New York nehmen werde. Sie sprachen nur kurz miteinander, er hatte es eilig, zum Flughafen zu kommen, aber er hörte sich gut an, froh, daß er aus Kurdistan zurückkehrte. Sie fragte ihn, wie die Reise verlaufen sei. Er sagte nur: »Gut. Ich erzähl's dir, wenn ich da bin«, aber das würde er nicht tun, Elena wußte es. Nie erzählte er etwas. »Die Reise war gut, die Reise war schlecht, die Reise war so oder so« mehr bekam sie aus ihm nicht heraus, und nur die beiläufigen Bemerkungen seiner Fotografenfreunde oder seine Fotos in den Illustrierten und Zeitungen konnten Elena einen ungefähren Eindruck davon vermitteln, was er mit gut oder schlecht meinte. Er behielt seine Erlebnisse für sich, als trübes Geheimnis. Sie fragte sich, wie er diesmal aussehen würde. Wahrscheinlich wie immer. Abgemagert, erschöpft. Ein paar Tage lang würde er ausruhen und warten, bis er sich wieder an die friedliche Umgebung gewöhnt hatte - so wie sich Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Am späten Nachmittag kam er. Elena hörte die Tür knarren, sie hörte seine Schritte auf den unebenen Dielen, dann ging sie hinaus in den Wohnraum. Da stand er im letzten Licht des Tages.
Sie lief auf ihn zu, küßte ihm Hals und Gesicht und fuhr mit dem Finger die Kinnlinie entlang. »Ich dachte, du würdest nie zurückkommen.« Mark strich ihr das Haar aus dem Gesicht, blickte ihr in die Augen, dankbar, ihr Haar weich in seinen Fingern zu spüren. Seine Kehle schnürte sich zusammen. »Du hast mir gefehlt«, flüsterte er. Seine Stimme klang würgend und heiser. »Es ist Frühling, die Bäume schlagen aus.« Sie standen an einem der Fenster und blickten auf die Ginkgobäume, die den Gehsteig säumten. Er hatte einen Arm um ihre Hüfte gelegt, mit dem anderen zeigte er nach draußen. Elena sah seine erhobene Hand, ihr Zittern, das Kreuzmuster feiner Schnittwunden. Sie berührte die Fingerknöchel. »Woher kommt das?« »Vom Gras.« Mark senkte die Hand und schob sie in die Tasche. »Es ist scharf wie Rasierklingen.« Sie drehte sich zu ihm um. Er hatte ein Gesicht, das sich schwer fassen ließ - volle, fast weibliche Lippen, eine Nase, die lang und gerade war, grüne Augen. Es war nicht hübsch im landläufigen Sinn, aber Energie ging davon aus, die Augen strahlten. Zugleich war da irgend etwas Befremdliches. Elena konnte sich nie genau daran erinnern, wie Mark aussah, wenn er unterwegs war. Am Anfang hatte sie das beunruhigt. Nachdem er das erste Mal mit einem Auftrag abgereist war, es war im zweiten Monat ihrer Bekanntschaft, hatte sie allein im Bett gelegen und versucht, sich sein Gesicht vorzustellen. Unmöglich. Der Mund, die Kinnlinie, die Augen natürlich: eins nach dem anderen konnte sie sich vergegenwärtigen, aber es gelang ihr nicht, die einzelnen Züge zu
einem Gesicht zusammenzufügen. Sie war aufgestanden und hatte die Schreibtischschublade nach den paar Fotos durchwühlt, die sie von ihm besaß, doch selbst auf ihnen wirkte sein Gesicht nicht so, wie sie es kannte. Sie hatte sich daran gewöhnt. Wenn er jetzt wegfuhr, fand sie sich damit ab, daß sie die Erinnerung an ihn verlieren würde, daß jede Heimkehr ein merkwürdiges Wiedererkennen brachte. Diesmal blieb das Gefühl aus. Der scharfe Zug um seinen Mund, der knochige Körper, den sie umarmte, die zögernde Hand, die er auf ihre Hüfte gelegt hatte, machten es schwer, etwas Vertrautes an ihm zu finden. Während sie am Fenster stand und ihm in die erschöpften Augen blickte, konnte sie sich ohne weiteres vorstellen, daß sie auf der Straße einfach an ihm vorbeigelaufen wäre. Selbst durch die geschlossene Badezimmertür hörte er sie singen. Es war ein spanischer Schlager: gerollte R und dramatische Pausen. Mark wußte nicht, ob die Pausen dazugehörten oder nur auf Elenas mangelnde Konzentration zurückzuführen waren, während sie in der Küche hantierte, den Kühlschrank öffnete und Geschirr aus dem Schrank nahm. Er ließ die Wanne vollaufen. Dampf machte die Luft feucht und dunstig. Elenas Lied war schließlich nicht mehr zu hören. Geflohen war er. Anders konnte man es nicht beschreiben. Immer wenn es in der Vergangenheit schwierige Momente gegeben hatte, war Mark für ein paar Tage an einen neutralen Ort gefahren, in ein ruhiges Hotel irgendwo im Ausland, wo er sich vom Zimmerservice bedienen ließ, Musik hörte und stundenlang Fernsehshows verfolgte, die er nicht verstand — wo er Unterschlupf suchte, bis die
Angst oder der Druck oder die Wut sich soweit gelegt hatten, daß er nach Hause zurückkehren konnte. Diesmal aber hatte er das nicht getan. Nach der morgendlichen Ankunft in Wan hatte er das erste Flugzeug nach Istanbul genommen und war direkt nach New York weitergeflogen, und kaum hatte er die Wohnung betreten, wußte er, daß er einen Fehler begangen hatte. Diesmal, gerade diesmal, hätte er innehalten müssen. Im dunstverhangenen Badezimmer seiner Wohnung fühlte er sich hilflos und, von einer Einsamkeit befallen, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Er klappte den Toilettendeckel herunter, setzte sich und wartete, daß die Wanne voll wurde. An der Wand hingen kleine Leinenhandtücher, auf dem Waschbeckenrand neben ihm stand ein Körbchen mit muschelförmigen Seifenstücken. Der Dampf wurde dichter, und Mark beobachtete, wie die Leinentücher allmählich ihre Konturen verloren, ihre Farben verblaßten. Er stand auf und schritt im engen Raum umher, umwirbelt von Dampfschwaden. Die Bodenkacheln fühlten sich kalt an, schlüpfrig. Er trat ans Waschbecken. Der Spiegel war so beschlagen, daß Mark von seinem Gesicht nur vage Umrisse sah. Er öffnete das Medizinschränkchen: gefüllt mit Elenas Sachen, mit Pinseln, Pudern und Parfüms. Von ihm war kaum etwas dabei. Der ganze Raum verschwamm. Wenn er nach unten blickte, sah er kaum mehr seine Füße. »Mark?« Keine Antwort. Elena öffnete die Badezimmertür und tauchte in den dicken, warmen Nebel ein. Sein Kopf war nach hinten auf die Wanne gesunken, eine Hand baumelte über den Rand. Elena blickte unwillkür-
lich ins Wasser, als würde sie etwas Rotes vermuten, aber es war nur trüb. Dann sah sie, daß sich seine Brust dehnte, sah die Halsschlagader pulsieren, und für einen Moment schloß sie die Augen. Sie griff nach seiner Hand und legte sie sanft ins Wasser. Mark zog die Stirn kraus, doch seine Augen öffneten sich nicht. Elena setzte sich auf den Wannenrand und forschte in seinem Gesicht. »Mark?« Durch das milchige Wasser bemerkte sie Beulen und Prellungen. Elena holte seine Hand wieder aus dem Wasser heraus und beschaute die Schnittwunden. Sie waren nur oberflächlich, kaum mehr als Kratzer. Dann nahm sie einen Waschlappen vom Seifenbehälter und wusch ihn. Sie fürchtete, daß sie ihm wehtat, doch Mark rührte sich nicht. Er war verschmutzt. In dunklen Wolken löste sich der Dreck und färbte das Wasser braun. »So einen Schmutz hab ich noch nie gesehen. Wann hast du das letzte Mal gebadet?« fragte sie, aber Mark wachte nicht auf. Als sie sein Haar wusch, spürte sie etwas Dickes, Schorfiges an seinem Hinterkopf. Er zuckte im Schlaf zusammen, das Wasser schwappte. Elena fuhr mit den Fingern durch das schaumige Haar, bis sie die Wunde wiederfand. Sie war geschwollen und gerötet, eine dünne Linie aus schwarzem Blut lief quer darüber. »O Mark«, sagte sie und hörte das Entsetzen in ihrer Stimme. »Was hast du dir getan?« Sie holte die Flasche mit dem Antiseptikum aus dem Schrank und goß einen Deckel voll über die Wunde. Mit einem frischen Waschlappen verrieb sie die Flüssigkeit be-
hutsam, bis sich der Schorf löste. Darunter quoll frisches Blut hervor. Die Wunde schien nicht entzündet zu sein. Elena zog den Stöpsel heraus und schaute zu, wie der Pegel sank, wie das Wasser allmählich seinen Körper freigab. Jetzt waren die Prellungen deutlich zu sehen, manche Wölbungen klein wie Münzen, andere größer als ihre Handfläche — schwärzlich, purpurrot, alle umringt von häßlichen graugelben Rändern. Der Anblick kam ihr wie eine Indiskretion, eine Zudringlichkeit vor. Sie drehte die Dusche auf und spülte Mark ab, bis das Wasser klar und sauber an ihm herunterlief. »Mark?« Sie küßte ihn auf die Stirn. »Steh auf. Laß dich abtrocknen.« Aber ihre Küsse, selbst das sanfte Tätscheln seiner Wange hatten keine Wirkung. Wie tot lag er da. Elena gab auf, holte das größte Handtuch, breitete es über ihn und trocknete ihn ab, so gut es ging. Sie begann mit einem Tupfen, dann rubbelte sie kräftiger. Sie knäulte eine Ecke des Handtuchs zusammen und rieb ihm damit die Brust, als würde sie einen Topf schrubben, dabei lächelte sie und mußte an ihre Mutter denken, die ihr als Kind mit dem Handtuch die Brust gerubbelt hatte, bis es kitzelte und Elena lachend durch das Badezimmer hüpfte. Bei Mark funktionierte das nicht, doch durch das Rubbeln wurde er wach. Er sah sie wie aus weiter Ferne an, dann lächelte auch er. Er hob die Hand und strich mit dem Finger unter ihren Augen entlang. Nachdem sie ihn ins Bett gebracht hatte, legte sie sich neben ihn, beobachtete, wie ihm die Lider zufielen, hörte, wie sein Atem in den langsamen Schlafrhythmus fiel. Mit der Hand fuhr sie durch sein feuchtes Haar — er war so friedlich im Schlaf. Elena rückte näher an ihn heran, spürte seine Körperwärme unter der Decke, und sie flü-
sterte ihm ins Ohr: »Jetzt bist du zu Hause. Jetzt bist du sicher.« Mark schreckte hoch und war sofort wach. Er starrte an die Decke, lauschend. Glaubte von einer Stimme geweckt worden zu sein, doch in der Wohnung war es totenstill. Er wartete auf Elenas Schritte im Korridor, aber er hörte nichts. Dann vernahm er hinter sich ein regelmäßiges Tropfen. Er blickte aus dem Schlafzimmerfenster und sah aus einem bleiernen Himmel Regen fallen. Offenbar war es Nachmittag. Er streckte die Füße unter der Bettdecke hervor und betrachtete sie. Einmal hatte er einen Soldaten in Nicaragua nach seinem schlimmsten Kriegserlebnis gefragt, und der Mann hatte ihm die Geschichte eines frühmorgendlichen Granatwerferangriffs erzählt, ihm seine Hilflosigkeit geschildert, als er erschreckt und barfuß mitten im Dschungel stand und sich, während die Geschosse durch den Urwald krachten, die Zeit nahm, Strümpfe und Schuhe anzuziehen. Der Soldat hatte ihm das als lustige Anekdote präsentiert, und beide hatten gelacht, aber danach stellte er fest, daß die Angst des Soldaten auf ihn übergegangen war. Seitdem behielt er immer, wenn er in ein Kampfgebiet kam, die Bergstiefel an, selbst beim Schlafen, sobald es auch nur den leisesten Verdacht gab, daß etwas geschehen würde. In Kurdistan hatte er viele Tage und Nächte hindurch die Stiefel nicht ausgezogen. Jetzt betrachtete er seine Füße mit anderen Augen. Wie zart und zerbrechlich sie wirkten! Er bewegte die Zehen und sah die Fußknochen, dünn wie Strohhalme, unter der weißen Haut. Beginnend an der Fußwurzel, sich bis hin zu den Zehen erstreckend, erinnerten sie ihn an einen
Fächer oder an eine exotische Flöte. Ihm fiel ein, daß er mit Elena am Morgen geschlafen hatte, oder vielleicht irgendwann in der Nacht. Er stand auf und ging durch den Flur in die Küche. Nachdem er Wasser aufgesetzt hatte, sah er die Post durch, die Elena auf dem Korridortisch gestapelt hatte. Ein paar Ansichtskarten von Freunden, einige Honorarschecks von der Agentur, aber Mark öffnete nichts, las nichts. Der Teekessel pfiff. Sie hatte einen Zettel auf die Arbeitsplatte neben dem Herd gelegt. »Muß einiges erledigen, bin gegen zwei zurück. Ich liebe Dich, E.« Mark schaute auf die Uhr an der Wand, es war kurz nach drei. Mit der Kaffeetasse ging er ins Badezimmer, um sich zu rasieren. Als der wochenalte Bart verschwunden war, sah er sein eingefallenes Gesicht. Er betastete die Höhlen unter den Augen, die hervortretenden Wangenknochen. Als ob es das Gesicht eines Fremden wäre. Er prüfte seinen Hals. An ein paar Stellen hatte er beim Rasieren Schorf von einer Wunde gelöst und die lange, schmale hellrosa Narbe freigelegt. Er musterte sie im Spiegel, drehte den Kopf nach beiden Seiten und befand, daß sie kaum zu sehen war. Dann ging er ins Schlafzimmer und zog sich an. Die Sachen, die er aussuchte, schwarze Hose, beigefarbenes Hemd, schlotterten ihm am Leib. Im Wohnzimmer schob er eine Beethoven-Sinfonie in den CD-Spieler und drehte die Lautstärke auf. Ein elektrostatisches Knistern, dann klangen Violinen durch den leeren Raum. Er schaute sich um: diese Weite aus weißen Wänden, Holzdielen und Sonnenstrahlen. Vier riesige Fenster, die einem etwas heruntergekommenen, unbewohnten Lagerhaus auf der anderen Straßenseite gegenüberlagen. Symmetrie und Strenge,
ein ungehinderter Blick über Dächer hinweg in den Himmel. Er überlegte, ob er den Raum jemals abgeschritten hatte. Kurz schätzte er die Entfernung ab, setzte vierzehn oder fünfzehn Schritte an. Er stellte die Kaffeetasse ab, trat mit dem Rücken an die Wand und machte sich auf den Weg. Unter ihm blieben die zerschrammten Dielen zurück. Die gegenüberliegende Wand gelangte in sein Blickfeld, er kam näher, dann stieß er mit der Fußspitze an. Achtzehn Schritte. Er drehte sich um, richtete sich erneut an der Wand aus und ging zurück. Achtzehn Schritte. Er nahm die Tasse, der Kaffee war lauwarm und schmeckte bitter. Achtzehn Schritte. Nicht schlecht. Nicht schlecht für einen, der noch vor acht Tagen die Erde unter sich bersten gefühlt hatte. Ein Schluchzen drang ihm aus der Kehle. Es kam überraschend, wie ein Schluckauf, und war sofort wieder verschwunden, so schnell und so losgelöst von allen Gefühlen, daß Mark beinahe an Einbildung glaubte. Elena sah ihre Einkaufsliste durch. Sie hatte sich gegen Erdbeeren entschieden — zu klein und unansehnlich —, aber alles übrige war besorgt. Sie dachte an das erste Mal: Mark hatte von London aus angerufen und sich angekündigt, und Elena war in den Supermarkt gegangen, zum Weinhändler, zum Blumenladen, um seine Rückkehr mit Tulpen, Champagner und Importpralinen zu feiern. Es war aufregend gewesen, das Geld sorglos auszugeben und alles zu kaufen, was ihr ins Auge stach. Damals hatte die Sehnsucht noch etwas Romantisches gehabt — die Gefahr, in die Mark sich begab, die Risiken, auf die er sich einließ. Elena konnte mit ihrer Angst leben, wenn sie sich einredete, daß Marks Tun wichtig war,
sogar ehrenhaft. Allein im Bett, nichts als die kalten Kissen neben sich, oder auf dem Sofa mit einem Buch in der Hand, wurde sie plötzlich vom Klingeln des Telefons aufgeschreckt, und dann war er es. Eine gestörte Verbindung zumeist, mit verwirrenden Echos, die das Verstehen erschwerten, bis sie sich angewöhnten, zwischen Hören und Sprechen längere Pausen zu machen. Er rief von Colombo oder Luanda oder Phnom Penh an, mitten in der Nacht oder um fünf Uhr morgens, zu allen Tages- und Nachtzeiten, weil er stundenlang auf die Verbindung hatte warten müssen. Die Mühsal, die er auf sich nahm, die Vorstellung, daß er all die Stunden in einem dunklen Zimmer ausharren mußte, ohne zu wissen, ob das Gespräch jemals zustande kommen würde, die wachsende Ungeduld, die er bestimmt gespürt hatte, wenn die Zeit verfloß — all das hatte Elena mit einer erregenden Traurigkeit erfüllt, noch lange, nachdem das Gespräch vorbei war, nachdem sie sich immer von neuem ihrer Liebe versichert hatten und das Knacken in der Leitung verstummt war. Dann lag sie im Bett, starrte an die dunkle Decke und dachte an ihn, lief im Wohnzimmer auf und ab und versuchte, sich jedes Wort, das sie gesagt hatten, in Erinnerung zu rufen. Schließlich schliet sie wieder ein oder ging zur Arbeit, erfüllt von der Gewißheit, daß sie für einen kurzen Moment alles über Mark wußte, was Bedeutung hatte, daß er in Sicherheit war und er sie liebte. Bis sein nächster Anruf kam, fünf Tage oder drei Wochen später, versuchte sie, diesen Moment festzuhalten. Aber so war es nur am Anfang gewesen, vor drei Jahren. Jetzt sah alles anders aus. Als sie sich in die Schlange an der Kasse stellte, spürte Elena zwischen sich und ihm eine nicht wegzuleugnende Distanz. Die Empfindung war ihr weder neu noch rätselhaft. Un-
gefähr ein Jahr zuvor hatte sie von ihr Besitz ergriffen, in einem Hotelkorridor von Chicago, am Tag der Beerdigung von Stewart Kunath. Elena hatte Stewart nicht gut gekannt. Der ziemlich beleibte Endzwanziger aus dem Mittelwesten hatte zu Marks New Yorker Freundeskreis von Kriegsfotografen gehört, die zusammen auf Sauftour gingen, wenn sie in der Stadt waren, oder zu zweit die Schlachtfelder der Erde bereisten. In der südafghanischen Helmandwüste war Stewart auf eine Mine getreten. Mark hielt sich gerade in Westafrika auf, doch zur Beerdigung kam er nach Chicago. Bei den Grabreden hatten sich Mark und die anderen Fotografen ein wenig von den übrigen Trauergästen abgesondert. Elena bemerkte, wie nervös sie wurden, als David Richardson, ein britischer Fotograf, der Stewart in Afghanistan begleitet hatte, an den Sarg trat und davon sprach, daß Stewart mit seinen Bildern auf der Suche nach etwas wie Schönheit und Wahrheit gewesen sei, daß er einen schnellen, schmerzlosen Tod gehabt habe und daß die Angehörigen darin vielleicht ein wenig Trost finden könnten. Davids Worte, gesprochen mit elegantem Public-School-Akzent, verflogen in einer Brise. Stewarts Familie schien dafür dankbar zu sein. In der Nacht hielten die Fotografen Totenwache im Hotel. Jemand hatte einen Diaprojektor ausgeliehen oder mitgebracht, und wie immer bei solchen Gelegenheiten trennten sich bald die Geschlechter. Die Männer versammelten sich, um Stewarts Dias an die Wand zu werfen, die Frauen gingen mit Susan, Stewarts Freundin, auf die Veranda. Ab und zu drangen Geräusche aus dem Zimmer zu ihnen - Pfiffe der Bewunderung, sogar Lachen -, und Elena war das befremdlich vorgekommen, geradezu grausam. Susan schien nichts zu bemerken. Sie achtete auch
nicht auf die Hände, die sie hielten und ihr übers Haar strichen, sondern blickte starr auf die Lichter der Stadt. Später traf Elena im Flur auf Mark und David und ein paar andere Fotografen, die, ihre Bierflaschen umklammernd, miteinander tuschelten. Sie verstummten, als sie näher kam. Mark grinste und griff nach ihr, doch sie ging an ihm vorbei und wandte sich an David. Der lehnte an der Wand, sein Kopf schwankte ein wenig, seine Augen waren gerötet und halbgeschlossen. »War es wirklich so?« fragte sie. David glotzte sie an und blinzelte, als müßte er gegen das Einschlafen ankämpfen. Als er sprach, war sein vornehmer Akzent verschwunden. »Er hat nach seiner Mami und nach Morphium geschrien. Ich hab ihn gehalten. Gedauert hat es neun Stunden.« Die anderen Männer hoben nervös die Bierflaschen und nahmen einen Schluck. Als sie im Hotelzimmer allein waren, versuchte Mark sie zu trösten, aber das machte es nur schlimmer. »Was glaubst du, warum ich dir nicht erzähle, was dort los ist?« fragte er sanft und streichelte ihr den Arm. »Was glaubst du, warum niemand darüber redet?« Nach dem Wochenende in Chicago hörte Elena nicht mehr auf zu leben, wenn Mark verreist war. Die Sehnsucht verlor ihre Spannung, ihre Angst unterdrückte sie; mit dem Glauben, daß Marks Arbeit ehrenhaft war, war es vorbei. Sie begriff, daß an Stewarts Grab zwei Lügen ausgesprochen worden waren, daß die Arbeit der Fotografen nichts mit der Suche nach Schönheit und Wahrheit zu tun hatte, und daß sie sich das bloß einredeten, um nicht ins Nachdenken zu verfallen. Anstatt wie früher auf Marks Anrufe zu warten, traf sich Elena wieder mit ihren Freundinnen zum Essen. Eine gesunde Veränderung war es, stellte sie fest. Die Art und Weise, wie Mark lebte, bedeu-
tete für sie ja, daß sie kein normales Zusammenleben erhoffen konnte, daß Distanz vonnöten war. Jetzt war er ihr nur noch dann wichtig, wenn er sich zu Hause aufhielt. Doch das es war nicht, was sie wollte. Nach drei Jahren wollte sie ein Leben ohne Angst, ohne all die Strategien, die sie entwickelt hatte, um es erträglich zu machen. Sie legte die Sachen aufs Transportband und schaute der Kassiererin zu, die jede Packung über den Laserscanner schob. Fünf zellophanumhüllte Köpfe Eisbergsalat kullerten an ihr vorbei. Auffrischen Salat hatte Mark nach der Heimkehr immer den größten Appetit, und Elena sah ihn schon am Küchentisch sitzen und eine Schüssel nach der anderen leeren. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln. »Und, wie war es?« Mark, der ihr am Küchentisch gegenübersaß, nickte. »Gut. Hab eine Menge guter Bilder.« »Einfach nur gut?« Er nickte wieder, und Elena lächelte. »Am Telefon hast du gesagt, du erzählst mir alles, wenn du zurück bist, erinnerst du dich?« Mark erwiderte ihr Lächeln, aber in seinen Augen zeigte sich eine Spur Gereiztheit. »Was willst du wissen?« »Na, alles, was du erlebt hast. Du bist voller blauer Flecke, du hinkst, du hast eine Wunde am Kopf.« Er ließ die Gabel auf den Teller sinken. »Es war nichts weiter. Ich hab mich im Dunkeln verlaufen und bin in einen Fluß gefallen, der hat mich über ein paar Felsen geschleift.« Er zuckte kurz die Schultern. »Das ist schon alles.« Elena blickte auf ihre Hände und zupfte an einem Fingernagel. »Das müssen ja viele Felsen gewesen sein. Du bist grün und blau.«
»Stimmt schon. Ich werde wohl langsam zu alt dafür. Kann mich nicht mehr so beuteln lassen wie früher.« Sie schaute auf und sah, daß er sie beobachtete, noch immer lächelnd, aber sein Gesicht gab kaum etwas preis. »Warum ist Colin nicht mit dir zurückgekommen?« »Ich weiß es nicht.« Mark seufzte. »Er sagte, er wollte noch ein paar Tage bleiben und sehen, was im Tiefland läuft. Ich hab nicht so recht begriffen, warum, aber ...« »Diane ist überhaupt nicht glücklich darüber.« Er nickte. Dann nahm er einen Löffel vom Tisch und drehte ihn zwischen den Fingern. »Wie weit ist sie? Im achten Monat?« »Achteinhalb. Sie bringt ihn um, wenn er nicht rechtzeitig da ist.« Marks Nicken wurde heftiger. Er starrte auf den Löffel. »Colin wird schon zurückkommen. Das wird er ihr nicht antun. In ein paar Tagen ist er da.« »Aber ihr hattet doch vor, zusammenzubleiben und gemeinsam zurückzukommen.« Mark legte den Löffel auf den Tisch. »Du kennst doch Colin. Das ist bei ihm immer so. Er wollte noch mehr Material, also was sollte ich sagen? Ich bin schließlich nicht sein Aufpasser.« Doch. Genau das war der Grund, weshalb sie zusammen unterwegs waren. Um aufeinander aufzupassen, um sich gegenseitig zu helfen, wenn es darum ging, in gefährliche Gegenden hinein-, vor allem wieder herauszukommen. Natürlich hatten sie sich in der Vergangenheit öfter mal getrennt, war einer Wochen, manchmal Monate später nach Hause gefahren als der andere, aber da war auch keiner von ihnen Vater geworden. »Meinst du denn, ich hätte mit ihm dortbleiben sollen?« Er sagte es mit einer so weichen, ernsten Stimme, daß
Elena sofort besänftigt war. Sie stand auf, setzte sich auf seinen Schoß und zog seinen Arm um ihre Hüfte. »Nein.« Während sie sich an ihn schmiegte, blickte sie auf den Teller mit dem Salat. »Ich verstehe nur nicht, was dort mit euch passiert, wie ihr damit umgeht.« Sie richtete sich auf. »Denkt ihr überhaupt an uns, wenn ihr euch da rumtreibt?« Sein Blick war traurig, in die Ferne gerichtet. Er umfaßte sie ein wenig fester und schüttelte langsam den Kopf. »Nur auf der Hinfahrt und wenn ich zurückkomme. Solange ich dort bin, versuche ich, überhaupt nicht an dich zu denken. Wenn ich das tue, wird es unerträglich.« Sie stand auf und führte ihn an der Hand ins Schlafzimmer. Nackt, ein wenig fröstelnd lag sie auf dem Bett und schaute ihm beim Ausziehen zu. Kaum war er zu ihr gekommen, strich sie ihm über die Brust, über die Krümmung seiner Rippen und spürte sein Herz schlagen. In der Nacht drückte sich Mark an sie, hielt sie umarmt. »Ich glaube, ich muß morgen wieder zur Arbeit«, sagte sie, »einen Bericht fertigmachen.« Er küßte ihren Hals. »Ist gut.« Sie wollte sich zu ihm umdrehen, aber sein Arm hielt sie fest. »Es sei denn, du willst, daß ich noch einen Tag zu Hause bleibe.« Er küßte ihren Hals erneut. »Natürlich will ich das.« Elena spürte die Hand, die auf ihrer Schulter lastete. »Es sei denn, du brauchst mich wirklich, meine ich.« Ein kurzes Zucken in den Fingern, eine kleine Anspannung seines Körpers, dann streichelte er ihren Arm wie zuvor. »Nein, so wichtig ist es nicht, ich komm schon zurecht.« Sie versuchte noch einmal, sich zu ihm umzudrehen, um
im Dunkeln seine Augen zu ergründen, eine Erklärung in ihnen zu finden, aber sein Arm hielt sie weiterhin fest. Der nächste Kuß hatte etwas Endgültiges und schien zu besagen, daß er ihr nichts übelnahm, daß sie die Augen zumachen und schlafen sollte. Als Elena am Morgen aufwachte, stellte sie überrascht fest, daß sein Arm noch immer auf ihr ruhte. Mark hatte sie noch nie im Schlaf festgehalten, stets hatte er auf dem Rücken gelegen, an der Außenkante des Betts. Es war eine harmlose Lüge gewesen. Kein Bericht war fällig, überhaupt nichts war fällig, aber die Arbeit, die Elena Donnerstag nachmittags machte, war ein Ausgleich für all das Bedrückende, das an den anderen Wochentagen über ihren Schreibtisch wanderte. Für diese Donnerstagnachmittage hatte sie sich schon mit Grippe aus dem Bett gequält, war sie bei zwanzig Grad minus durch die Stadt gelaufen, einmal sogar die ganzen sechs Kilometer bis zum Büro zu Fuß, weil eine geborstene Wasserleitung die UBahn lahmgelegt hatte — denn wenn sie diese paar Stunden versäumte, wenn sie diese Aufgabe anderen überließ, dann kam ihr alles übrige bedeutungslos vor. Mark wußte, was sie Donnerstag nachmittags im Büro machte, doch Elena zweifelte, ob er verstand, wie wichtig es für sie war. Das New Yorker Büro des UN-Flüchtlingshochkommissariats lag zwei Straßen vom UN-Hauptquartier entfernt, jenem Wahrzeichen am East River, in dem die Abgeordneten tagten und das die Touristen auf Fotos bannten. Durchs Bürofenster konnte Elena nur andere Bürotürme sehen, aber wenn sie dicht an die Scheibe trat und senkrecht nach unten blickte, sah sie auch einen schmalen Streifen der East 44th Street. Die Weltkarte an der Wand war mit über hundert Nadeln
gespickt, den Markierungen UN-gestützter Flüchtlingslager auf den fünf Erdteilen. In den vier Jahren, seit sie hier arbeitete, hatte Elena Dutzende Nadeln hinzugefügt und drei entfernt. Die Markierungen folgten einem bestimmten System. Ganze Büschel von grünen Nadeln - in Malawi, in Angola, in Thailand, eine einzelne auch in Hongkong — bezeichneten Flüchtlingslager, für die Elena in der Vergangenheit als Projektbetreuerin gearbeitet hatte. Die fünf weißen Nadeln, die sich in Pakistan zusammenfanden, verwiesen auf ihr gegenwärtiges Arbeitsgebiet. Die roten Nadeln, am häufigsten vertreten, markierten Lager, mit denen sie sich noch befassen mußte. Andere Betreuer hatten kompliziertere Systeme für ihre Karten entwickelt und benutzten weitere Farben, um Epidemien und Hungersnöte zu kennzeichnen, bunte Fäden, um grenzüberschreitende Flüchtlingsströme zu veranschaulichen — die der ugandischen Flüchtlinge in Kenia, der Tibeter in Nepal —, aber Elena begnügte sich damit, ihre eigene Tätigkeit festzuhalten. Wann immer sie ein wenig Muße fand, saß sie am Schreibtisch, betrachtete die roten Nadeln und überlegte, welche Lager sie sich bei der nächsten Übergabe zuteilen lassen sollte. Stets erinnerten sie die Nadeln daran, daß Bevölkerungen etwas Fließendes waren und wie leicht man auf dieser Welt um seinen Besitz gebracht wurde. Fast durch Zufall war sie an diesen Job geraten. Nach dem Studium der Öffentlichen Verwaltung an der Madrider Universidad Complutense hatte sie gehofft, bei der UNESCO unterzukommen. Die Genfer Personalchefin, eine Frau mittleren Alters in einem hübschen, silberdurchwirkten Sari und mit einem unaussprechlichen Namen, hatte ihr traurig erklärt, daß die spanische Quote leider
schon überschritten sei. Beeindruckt von Elenas Abschlüssen und der Tatsache, daß sie vier Fremdsprachen beherrschte, empfahl sie sie jedoch an das Flüchtlingskommissariat weiter. »Beste Karrierechancen, ein wachsendes Arbeitsfeld«, hatte die Frau gesagt, und ihr Gesicht war dabei so ernst geblieben, daß Elena ihren Sarkasmus nicht sofort begriffen hatte. Die spanische Quote beim Flüchtlingskommissariat war ebenfalls ausgeschöpft. Aber für Elena fand sich trotzdem ein Platz, ja man bot ihr sogar eine Stelle in New York an, der Stadt, von der sie immer geträumt hatte. Elena, die eigentlich auf einen Job im Kulturaustausch erpicht war und erwartet hatte, spanische Flamencotänzer auf Freundschaftsreisen nach China zu schicken, sagte sofort zu. Nur zwei Wochen nach ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag verabschiedete sie sich von ihrer Mutter, ihren Tanten und Onkeln, ihren Cousins und Cousinen am Flughafen Barajas und verließ ihre Heimat — um anderen zu helfen, die ihre Heimat verloren hatten. Nach einer Woche New York wußte sie, daß sie die richtige Wahl getroffen hatte. Sie liebte die Stadt, sie liebte ihre Arbeit. Nach Ablauf eines Jahres übertrug man ihr das erste eigene Projekt, die Betreuung eines Flüchtlingslagers im Hochland von Guatemala, das Indianern Schutz bot, die der Krieg vertrieben hatte. Als er Elena seinen Eltern vorstellte, hatte Mark zum Scherz erzählt, daß er sie in diesem Lager getroffen habe, daß er sie bei einer Fototour zwischen Armeezelten und Wasserfässern entdeckt und sie wegen ihrer langen schwarzen Haare und ihrer olivfarbenen Haut zunächst für ein ungewöhnlich hochgewachsenes Flüchtlingsmädchen gehalten habe. Die wirkliche Begegnung hatte sich, weit
weniger dramatisch, bei der Preisverleihung für einen prominenten spanischen Fotografen im Festsaal des UNHauptquartiers abgespielt. Aber Marks Eltern hatten die Geschichte vom Flüchtlingslager ganz plausibel gefunden, bis Elena sie freundlich darüber aufklärte, daß es so gar nicht gewesen sein konnte. Als Projektbetreuerin besuchte sie nämlich selten die Lager. Auf ihrem bequemen New Yorker Beobachtungsposten kümmerte sie sich darum, daß die Lager alles Nötige erhielten, buchte die Bedarfsmeldungen für Decken und Pritschen, sorgte für die Bevorratung mit Penicillin und Toilettenpapier. In Wahrheit hatte sie nur zweimal ein Flüchtlingslager betreten, beide Male als Mitglied einer größeren Delegation und mit gewissem Widerstreben. Im Büro behielt sie es lieber für sich, daß sie keine Lust hatte, ein Lager vor Ort zu verwalten — eine Aufgabe, um die sich die meisten New Yorker Betreuer rissen. Zuviel hatte sie schon von Katastrophen mitbekommen, von der Überschwemmung, die in den siebziger Jahren Hunderte kambodschanischer Flüchtlinge am Ufer eines thailändischen Flusses ereilt hatte, von kerosinverseuchtem Reis, der Dutzenden von Äthiopiern das Leben gekostet hatte, und nie wollte sie den Leidenden von Angesicht zu Angesicht sagen müssen, daß sie ihnen nicht helfen konnte, ja vielleicht sogar einen Fehler begangen hatte. So war das Schreckliche, das auf ihren Schreibtisch gelangte, dadurch gemildert, daß es auf Papier gebannt war, neutralisiert durch die Sprache der Bürokraten, und schon das reichte ihr. Aus diesen Protokollen und Augenzeugenberichten las sie die Verzweiflung heraus, hörte darin die Sterbelaute ganzer Sippen und Dörfer, roch den Gestank des Todes, und sie hatte nicht den Wunsch, dem noch näher zu kommen.
Statt dessen sammelte sie die nüchternen Zeugnisse von Wundern. Schwangere Frauen, die ihr Kind gebaren, sobald sie das Lagertor erreichten, nachdem sie das Ungeborene elf, zwölf, in einem Fall sogar vierzehn Monate in sich getragen hatten — die Natur weigerte sich, es der Gefahr auszuliefern. Gebrechliche Greise, die wochenlang über Gebirgspfade geirrt waren, sich von Schnee ernährend, Familien, die bei der Flucht auseinandergerissen wurden und sich im Lager wiederfanden. Elena klammerte sich an diese Wundergeschichten, machte sich Kopien von den Berichten und legte sie in einer gesonderten Mappe ab. Und Donnerstag nachmittags wurde sie zu einem Wesen, das selbst Wunder vollbrachte. Jeden Donnerstag meldeten die UN-Lagerverwalter aus aller Welt die Neuzugänge nach New York, Listen mit den Namen derjenigen, die im Verlauf der letzten Woche eingetroffen waren. Zugleich kamen Suchanträge, manchmal Hunderte auf einmal, da die Neuankömmlinge ihre Verwandten in den Lagern wiederfinden wollten. Auch das war nur papieren, Namen und Zahlen, aber wenn Elena die Listen durchging, sah sie die Gesichter der Suchenden vor sich, denen sie vielleicht einen Platz in der Welt zurückgeben konnte. An diesem Donnerstagvormittag saß Elena unter der Weltkarte und wartete auf den Nachmittag. Marks Filme sollten gegen Mittag fertig sein. Durch das Wohnzimmerfenster sah er den strahlend blauen Himmel. Bis zum Atelier waren es fast fünf Kilometer, und er freute sich auf den langen Spaziergang in der Sonne und frischen Luft. In den winzigen Vorgärten Brooklyns hielt er Ausschau nach sprießenden Knospen, an den Straßenbäumen nach erstem Grün, aber dafür war es noch zu früh. Unter seinen
Füßen knirschte der Sand, der auf den Gehsteigen lag — ein Überbleibsel des New Yorker Winters. Seine Windjacke war ein wenig zu dünn für den kühlen Tag, und er mußte einen Schritt zulegen, um nicht zu frieren. Seine Beine fühlten sich kräftig an, die Anstrengung erzeugte in ihnen ein wohliges Prickeln. Obwohl er sich vorgenommen hatte zu trödeln — er hatte die Schaufenster der Antiquitätenläden auf der Atlantic Avenue studiert und einen Umweg zur Promenade der Brooklyn Heights gemacht -, war er eine Stunde zu früh in der Purcell Street. Er stand vor dem Aperture-Studio und wußte nicht, wie er sich die Zeit vertreiben sollte, mit den Laboranten zu fachsimpeln hatte er wenig Lust. Da fiel ihm das vertraute gelbe Schild von Chung's China ins Auge. Die Fotografen, die das Atelier nutzten, gingen oft und gern zu Chung, wenn sie ein bißchen zu früh dran waren oder auf die Erledigung von Sonderwünschen warteten. Er kaufte sich eine Times und lenkte seine Schritte zum Restaurant. Das Türglöckchen klingelte, als er eintrat. Der Gastraum, ein Dutzend Plastiktische unter grellbunten Papierlaternen, dazu rote Tapeten mit Brokateffekt, war leer und träumte dem mittäglichen Ansturm entgegen. Chung steckte den Kopf aus der Küche und zog ein unwilliges Gesicht. Er war Ende Sechzig, lang und glatzköpfig und so dürr, daß man seine Knochen fast durch die Haut zu sehen meinte. Als er Mark erkannte, schwand sein Unmut, und er kam herbeigeeilt. »Ah, Mr. Walsh! Willkommen, willkommen!« Ein paar Schritte vor Mark blieb er stehen und musterte ihn: die Sachen, die Mark zu weit geworden waren, den abgehärmten Zug um Kinn und Augen. Ein breites Grinsen zeigte sich auf Chungs Gesicht. »Sie nehmen ab!« Er
hob den Daumen. »Sieht gut aus!« Er geleitete Mark zu dessen Stammtisch am Fenster. »Kommt noch jemand?« »Nein, ich bin allein.« Chung räumte das andere Gedeck ab. »Sie waren lange weg. Ferien?« »Arbeit.« »Ein guter Job für Sie.« Er strich sich über den nicht vorhandenen Bauch. »Da haben Sie jede Menge Bewegung.« Mark bestellte wie immer Sezuan-Hühnchen, das einzige schmackhafte Gericht, das er auf der Speisekarte gefunden hatte. Während Chung in der Küche mit den Töpfen klapperte, warf er einen Blick auf die Titelseite der Zeitung. Rechts unten las er die Überschrift einer Doppelkolumne: »Irak weitet Kurdenoffensive aus. Weißes Haus äußert Besorgnis.« Er überflog den Anfang des Artikels, dann legte er die Zeitung weg. Mark las nichts mehr über Kriegsregionen, in denen er schon einmal gewesen war. Denn eines hatte er in den vergangenen neun Jahren begriffen: Moderne Kriege fanden meist kein Ende. Sie zogen sich über Generationen hin, flackerten auf, kühlten sich wieder ab, in Wahrheit aber erlosch das Feuer nie. Wie viele Artikel über die neuesten Nahost-Friedensgespräche oder Anschläge in Belfast oder Aufstände in Kaschmir konnten einem Zeitungsleser im Lauf seines Lebens zugemutet werden? Wer hatte die Seelenstärke, den Kampf um die Freiheit Tibets oder die Unabhängigkeit der Westsahara und eine ganze Serie weiterer Konflikte in aller Welt mit stets gleichbleibender Ergriffenheit zu verfolgen — Konflikte, die unlösbar waren und auch in fünfzig Jahren nicht zu entscheiden sein würden? Für Mark war der Krieg zum Beruf geworden. Wenn man seinem Job den Beigeschmack von Romantik und Aben-
teuer nahm, ließ er sich am ehesten mit dem eines Börsenspekulanten vergleichen. Um erfolgreich zu sein, mußte erraten werden, welcher Krieg in der Gunst des Publikums steigen und welcher seinen Öffentlichkeitswert verlieren, welcher Krieg ein journalistischer Flop werden und welcher ein diplomatisches oder, besser noch, ein militärisches Eingreifen der Amerikaner nach sich ziehen würde. Auch das Geschäft mit dem Krieg kannte Spitzennotierungen und Kursstürze. Die Buschkriege, die niemanden interessierten, die unbeachtet vor sich hin schwelten, bis eines Tages besonders abscheuliche Greueltaten bekannt oder bei einem der Gegner Kernwaffen vermutet wurden, konnten dem Reporter, der früh genug Lunte roch und rechtzeitig an Ort und Stelle war, über Nacht ein Vermögen einbringen. Wie beim Aktiengeschäft kam es nur darauf an, den Trend zu erschnuppern und genau zu wissen, wann man ein- und wieder aussteigen mußte. Auch wenn das alles zynisch klang — es war ein Zynismus, den der Markt lehrte. Kurdistan war ein Lehrbeispiel, der ewige Konflikt zweiter Ordnung. Mark warf einen zweiten Blick auf die Überschrift. Eine massive Reaktion auf die Offensive des Irak, eine, die das Gespenst eines amerikanischen Vergeltungsschlags heraufbeschwor, hätte die Story zur Spitzenmeldung der Nachrichtensendungen gemacht und sowohl den Marktwert als auch die Umlaufzeit seiner Fotos verbessert. Die »Besorgnis« des Weißen Hauses besagte indes, daß die Regierung nichts zu unternehmen gedachte. Deshalb war der Times-Artikel nach unten geschoben worden, deshalb waren seine Fotos weniger wert, und deshalb hatte er weniger Zeit, sie in Umlauf zu bringen — eine Woche vielleicht, bis Kurdistan ganz aus den Nachrichten verschwunden wäre.
Trotzdem, überlegte sich Mark, er war nicht nach Kurdistan gereist, weil er eine amerikanische Intervention erwartete. Es war der Verdacht, daß die Iraker eine Frühjahrsoffensive starten würden, groß genug, um den Krieg ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zurückzubefördern - und damit hatte er richtig gelegen. Hätte er danebengetippt, wären seine Reise und all seine Fotos so gut wie wertlos gewesen. Colin war schlau genug, sich dem harten Nachrichtengeschäft zu entziehen. Schon seit langem finanzierte er sich durch »Firmenfotos« — Aufnahmen moderner Industrieanlagen und lächelnder Angestellter für Firmenjahrbücher, Aufträge, die einem Fotografen für ein paar Wochen Arbeit gut und gerne zehn- bis fünfzehntausend Dollar einbrachten. Colin konnte sich daher seine gelegentlichen Ausflüge in die Kriegsregionen leisten, ohne sich um Schlagzeilen und die Aktualität seiner Fotos zu kümmern. Seinem Gegenstand näherte er sich mit dem Auge des Künstlers: Für ihn waren die Schauplätze Nebensache, bloß Teil eines übergeordneten Themas; seine Fotos der Rekruten, Drahtzieher und Toten eines Krieges bereicherten Mappen mit Fotos anderer Kriege. Erst wenn er den Eindruck gewann, daß sich zu einem Thema genügend Bilder angesammelt hatten, dachte er an eine weitere Verwendung — im Rahmen eines größeren FotoEssays oder einer Ausstellung etwa —, und so besaßen seine Bildserien einen inneren Zusammenhalt, eine Tiefe, die bei den nur auf Aktualität bedachten Pressefotografen nicht zu finden war. Manchmal war Mark ein wenig neidisch auf Colin —nicht auf seine Erfolge als Firmenfotograf natürlich, sondern auf seine entspannte Arbeitssituation in den Kampfgebieten. Andererseits bewirkte gerade das Fehlen einer direk-
ten Konkurrenz, daß sie auf ihren Reisen so gut miteinander auskamen. Mark warf einen Blick aus dem Fenster. Er fragte sich, ob die Purcell Street um diese Tageszeit immer so unbelebt war, und dachte an seinen letzten Besuch bei Chung. Damals hatte er hier zusammen mit Colin gesessen, am Tag vor der Abreise, während die Aperture-Leute das bestellte Fotomaterial aus dem Warenlager holten. Sie waren aufgekratzt gewesen, wild entschlossen, dem New Yorker Winter zu entfliehen, wieder auf Safari zu gehen, und hatten mit chinesischem Bier auf gutes Gelingen angestoßen. Das war erst sieben Wochen her. Es kam ihm viel länger vor. Was Mark jetzt vor allem brauchte, war Zeit. Das war das erste, was er sich nach dem Erwachen in der Höhle von Harir eingeschärft hatte, was er in den Tagen seither unaufhörlich wiederholt hatte. Er würde Elena erzählen, was auf dem Berg passiert war, im Fluß, in der Höhle, er würde ihr alles erzählen, aber erst mußte er mit sich selbst ins reine kommen. Er hatte es sofort gewußt, noch bevor er bergab stolperte, sogar bevor er nachsah, ob er noch alle Glieder beisammen hatte. Beim ersten Blick, den er in den grauen Himmel richtete, hatte er bereits gewußt, was ihn erwartete, in der nächsten Stunde und in den nächsten zehn Jahren, und schon als er sich hochmühte und den Hang hinabhumpelte, hatte er begriffen, daß er in ein anderes Leben eintrat, daß er nie •wieder der gelassene, selbstsichere Mensch sein würde, der er gewesen war. Vielleicht war das der Hauptgrund, weshalb er jetzt vor allem Zeit brauchte, Zeit, sich mit seinem neuen Schicksal zu versöhnen. Und was, "wenn er sich nie damit versöhnte? Was geschah mit den unsichtbaren Verletzungen? Würden sie einfach
abheilen? Es war nur ein Gedanke, nur die Andeutung eines Gedankens, aber sein Herz begann heftig zu pochen, und er wußte nicht, ob es die Angst oder die Hoffnung war, die das Herzklopfen verursachte. Sein Blick fiel erneut auf die Überschrift. Er zog die Zeitung näher heran und begann zu lesen, dann blätterte er um und las den Rest des Artikels auf der zweiten Seite: In Windeseile rückten die Iraker, mit Hilfe von Panzern und Artillerie, über die Wüstenebene vor und überrollten die Abwehr der Peschmerga; offenbar bauten die Kurden eine neue Verteidigungslinie in den Vorgebirgen auf, einem Gelände, das den schnellen Vormarsch der Iraker behinderte. Mark war schon Zeuge von Wüstenkriegen geworden, und es gab nur wenige Dinge, die schrecklicher waren. Der Geschützdonner war im flachen Gelände über achtzig Kilometer hinweg zu hören, der feine Staub wurde hoch in die Luft geschleudert, und was einem entgegenkam, waren nicht Panzer und Soldaten, sondern eine riesenhafte Walze aus Staub und Gedröhn, eine stetig vorwärts rollende Lawine, die den Tag in Nacht verwandelte, einem die Sicht nahm, bis man die Hand kaum noch vor Augen sehen konnte, bis man sich vorkam wie lebendig begraben. Wie viele solche Kriege hatte es schon gegeben? Wie viele Menschen waren schon in diesen Wüstenstürmen zermalmt worden und unauffindbar unter den Staubmassen verschwunden? Mark ließ die Zeitung sinken. Er sah Colin vor sich, allein in der Wüste, und die donnernde Staubwalze rollte auf ihn zu, verschlang ihn, überschüttete ihn mit dickem braunem Pulversand. Die Vorstellung schnürte Mark die Kehle zu. Das dottergelbe Schild des Chinarestaurants, das von der hellen Vormittagssonne angestrahlt wurde, breitete sei-
nen goldenen Abglanz über die Tische am Fenster. Immer wenn jemand vorbeiging, blickte Mark kurz auf, in der Hoffnung, einen Kollegen zu sehen, doch vorbei liefen nur fremde Leute. »Ah, Miss Morales! Guten Tag! Willkommen!« Sem, in Hemdsärmeln und mit schiefem Schlips, schaute strahlend von seinem Computer auf. Er hielt ein Bündel Papier in die Höhe und lachte. »Diese Woche sind es sehr viele!« Als sie die Betreuung der pakistanischen Lager vor fünf Monaten übernahm, hatte Elena Sems Mithilfe bei der Bearbeitung der Suchmeldungen beantragt, zum einen, weil die Lager so schnell wuchsen, daß sie kaum mit der Arbeit nachkam, zum anderen, weil sie wußte, daß der vierzigjährige Kambodschaner Freude an dieser Arbeit hatte. Jeden Donnerstag trafen sie sich nach dem Mittagessen in dem tristen, fensterlosen Aktenraum des achtzehnten Stocks und belegten die zwei freien Computer in der hinteren Ecke. »Schon fündig geworden?« fragte sie. »Bis jetzt nicht, aber ich habe erst sechs geschafft.« Er lächelte immer noch. Sie setzte sich neben ihn und schaltete den Computer ein. Sem teilte den Papierstapel in der Mitte und überreichte ihr die obere Hälfte wie ein Geschenk. »Unglaublich«, sagte Elena und blätterte in den Seiten. »Das müssen ja diesmal über dreihundert sein.« »Vierhundertzwölf«, sagte Sem. »Ich hab sie gezählt.« »Wegen des Angriffs auf Kandahar?« Er nickte. »Ich glaube, ja. Ein sehr massiver Sturm.« Sem hatte die Angewohnheit, Kriegsereignisse so darzustellen, als handelte es sich um Witterungen. Anfangs hatte Elena dies seinem mangelhaften Englisch zugeschrieben,
aber dann wurde ihr klar, daß es metaphorisch gemeint war, und bald darauf tat sie es ihm nach. Wenn eine Stadt von der Armee eingeschlossen wurde, war es ein Sturm, der ein Schiff auf hoher See zum Sinken brachte, der es zerschmetterte und auseinanderbrechen ließ, und Tage später wurde dann Treibgut angespült, und Überlebende strömten in einer langsamen Flutwelle zum rettenden Lager. Sie warf einen Blick auf die Ergänzungsliste des Lagers Loralai — 281 neue Namen — und nahm sich die erste Suchmeldung vor. »FaridaWahedRabbani, geb. 14. März 1947 in Helmand, Afghanistan, sucht ihren Sohn Mahmoud Ali Rabbani (geb. n. Februar 1966 in Kandahar, Afghanistan), ihre Tochter Anahita Wahed Rabbani (geb. 24. April 1971 in Kandahar, Afghanistan), ihren Bruder Hamid Shah Khalis (geb. 14. März 1947 in Helmand, Afghanistan). Zwillinge also.« Sem schaute fragend herüber. Elena hielt ihm die Seite hin und zeigte auf die zwei identischen Geburtsdaten. »Sie sucht nach ihrem Zwillingsbruder.« Seine Miene klärte sich auf, er nickte eilig. »Zweieiige Zwillinge. Sehr selten in Kambodscha.« Elena gab den Namen Mahmoud Ali Rabbani ein und starrte auf das rote Lämpchen, bis der Rechner die Datenbank durchsucht hatte und die Meldung auf dem Bildschirm erschien: »Kein Eintrag gefunden.« Sie versuchte es mit Anahita Wahed Rabbani und dann mit Hamid Shah. Beide Male Fehlanzeige. Elena legte die Suchmeldung mit der Schrift nach unten neben den Computer. »Ah!« rief Sem und klatschte in die Hände. »Ich hab einen!« Elena lächelte zu Sem hinüber, der hastig tippte.
»Mr. Sayed Khan Aziz, Lager Gulistan II«, sagte er zu seinem Computer, »Ihre Mutter, Ihr Neffe und zwei Schwestern erwarten Sie im Lager Darbak in Peshawar. Gute Nachrichten für Sie, mein Freund.« Als er die Dias in den vierunddreißig Boxen chronologisch sortiert hatte, war er mit den Vorbereitungen fertig. Mark zog die Rollos herunter und schob Sofa und Couchtisch quer durch den Raum, bis sie neben dem Projektor standen, dann ließ er sich mit der Fernbedienung auf dem Sofa nieder. Im Schein des Lichtvierecks an der Wand schlug er sein Notizbuch auf und überflog die ersten Seiten. Er hatte sich bemüht, jedes einzelne Bild zu dokumentieren, wie es das professionelle Arbeiten verlangte, aber wieder einmal war es ihm nicht gelungen durchzuhalten. Die ersten drei Kurdistan-Filme waren noch gewissenhaft erfaßt, dann verwandelten sich seine Notizen in flüchtige Kritzeleien, die nichts als die nötigsten Daten und Fakten enthielten. Doch das reichte schon. Ein Fotojournalist wußte immer, wo seine guten Motive lauerten und wann die langen Flauten kamen. Mark ließ die Fernbedienung klicken: Das weiße Viereck machte dem ersten Kurdistan-Foto Platz. Die ersten sechs Boxen sah er schnell durch. Nichts Aufregendes, nur ein paar Motive, die fürs Archiv geeignet waren — Kurdinnen beim Räumen von Panzersperren, ernste Peschmerga-Kadetten beim Exerzieren mit Gewehrattrappen, eine Aufnahme eines kleinen Jungen, der einen Sandsack mit dem Bajonett aufspießt. Mark nahm die guten Bilder heraus, stapelte sie auf dem Tischchen und hielt die Nummern auf einem leeren Blatt seines Notizbuchs fest. Später konnte er alles noch einmal in Ruhe
durchsehen. Jetzt kam es darauf an, die Bildreportage für Amys Agentur zusammenzustellen. Der Überfall aus dem Hinterhalt fand sich ab dem siebenten Film. Mark schlug eine neue Seite auf und klickte langsamer, nahm sich Zeit für jede Aufnahme. Als erstes sah er den irakischen Konvoi — zwei Truppentransporter und einen Jeep — durch die Schlucht kommen, langsam, ohne Staub aufzuwirbeln. Beim vierten Dia hielt er an: Die Fahrzeuge befanden sich in der Bildmitte, rechts und links erstreckte sich die staubige Straße, die dem Ganzen Perspektive und Geschlossenheit verlieh, ein hübsches menschliches Detail war der Arm des Fahrers im ersten Lkw, der aus dem offenen Fenster hing. Er nahm das Dia aus dem Schlitten, legte es auf den Tisch und klickte weiter. Der Angriff: Sandfontänen spritzen hoch, als die Geschosse die Straße aufreißen, Soldaten springen aus den Lkws, schon liegen vier Iraker am Boden, Rauch und Staub, ein grellorangefarbener Feuerball über dem Verdeck des Leitfahrzeugs. Der Film ist noch nicht zur Hälfte verschossen, da hat er schon einen Iraker im Fall erwischt, einknickende Beine, eine ausgestreckte Hand, die den Sturz abfangen soll. Das Gemetzel geht weiter, im Dreisekundentakt auf Film gebannt. Flammen schlagen aus dem Verdeck des Lkws, er verwandelt sich in eine Fackel, auch der zweite Lkw geht in Rauch auf. Bei Nummer sechsunddreißig, dem letzten Bild, ist der Jeep verschwunden, seitlich im Graben gelandet, fast ganz auf die Seite gekippt. Mark zählte die Nummern im Notizbuch und die Dias im Stapel durch: Fünf Treffer auf einem Film. Er legte die achte Serie Dias ein und drückte auf den Knopf der Fernbedienung.
Der Überfall ist geglückt, nichts regt sich mehr. Sechs Iraker liegen auf der Straße, zwei in den Felsen, die geschwärzten Fahrzeuge brennen aus, die drei Insassen des Jeeps sind zusammengesackt, starr und stumm. Dann der denkwürdige Moment, der die Peschmerga — schon aus der Stellung gekrochen und auf dem Weg nach unten — wieder Deckung suchen läßt: Zwei Iraker kommen zwischen den Felsen am Straßenrand hervor, unbewaffnet, und blicken direkt zu Mark hinauf, mit weißen Gesichtern und weit offenen Mündern schreien sie etwas. Bild sechs: Sie heben die Hände, um sich zu ergeben. Sieben: Sie scheinen sich zu erinnern, daß es in diesem Krieg kein Pardon gibt, und wenden sich zur Flucht. Sie nehmen die Beine in die Hand, nutzen den Uberraschungseffekt, und schon sind sie weit weg, zwei braune Flecken am Bildrand. Bild elf: Der linke Soldat strauchelt und geht nieder. Der andere dreht sich um, zeigt ein unscharfes Profil, sieht seinen Kameraden fallen, aber unter Sterbenden gibt es keine Freundschaft, also rennt er weiter, mit rudernden Armen, mit eingezogenem Kopf, seine weit ausgreifenden Sprünge wirbeln Staub auf, er rennt und rennt, bis er aus dem Bild verschwindet, bis ihn das fünfzehnte Bild wieder eingefangen hat, dann fällt auch er. Die Peschmerga laufen von einem Iraker zum anderen, noch immer in höchster Anspannung, und erledigen die Verwundeten mit kurzen Feuerstößen in den Kopf. Das fünfundzwanzigste Bild, und alles ist vorbei. Die Peschmerga vor den brennenden Lkws lachen in die Kamera, schießen jubelnd in die Luft, plündern die Toten. Bild dreiunddreißig: Ein Peschmerga tanzt auf der Straße, das Gewehr mit beiden Händen in die Höhe gestreckt, zu seinen Füßen ein irakischer Soldat. Mark trat an die Wand, um das Bild genauer zu betrach-
ten. Jetzt erinnerte er sich. Der Kopf des Irakers war völlig zerfetzt. Ein außergewöhnliches Foto, eine Greuelszene im Vordergrund, der ausgelassen tanzende Peschmerga dahinter. Mark kehrte an den Projektor zurück, nahm das Dia heraus und legte es zur Seite. Zu gruselig für eine Fotoreportage oder als Einzelbild für den Inlandsmarkt, aber ziemlich chancenreich bei asiatischen Illustrierten. Die neunte Box, noch mehr von den Nachwehen des Überfalls. Die Peschmerga kommen zur Ruhe. Die Erregung verebbt. Bedrückt und mit schweren Lidern laufen sie zwischen den Toten herum, als würden sie jeden Moment zusammensinken und einschlafen. Sie machen sich auf den Rückzug, sie bugsieren die Beute —Waffen, Munitionskisten, Goldkettchen mit islamischen Amuletten — den Berghang hinauf, sie sehen aus wie gewöhnliche Lastenträger, und der Staub in ihren Gesichtern wird eins mit dem Braun der Felsen, an denen sie sich vorbeischleppen. Mark schaltete den Projektor ab, lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Er zählte die ausgewählten Bilder vom Überfall durch: elf. Mehr als genug für eine Fotoreportage. Aber ihn reizte noch immer die Serie mit den beiden fliehenden Soldaten. Er bückte sich und hob die achte Box vom Fußboden auf. Jetzt sah er, daß die ersten Aufnahmen ein wenig unscharf waren: Die Iraker waren zu nah gewesen, als sie aus der Deckung kamen, am vorderen Rand des Schärfebereichs. Brillante Schärfe dann beim Beginn der Flucht, aber die beiden entfernten sich vom Schauplatz, den brennenden Lkws mit den Toten. Außerdem hatte Mark schon zu viele Bilder. Zögernd schob er die Serie in die Box zurück und fand sich schließlich damit ab, daß er die Geschichte zweier Männer, die ihrem Schicksal entrinnen wollen, für sich
behalten mußte, daß sie in die große, nie geschriebene Chronik der anonymen Tode eingehen würde. Wieder ein kleiner Triumphschrei von Sem. »Miss Feroza Durrani von Shagai I, heute ist Ihr Glückstag! Ihr Mann und Ihre Kinder sind wohlauf und erwarten Sie im Lager Darbadin. Alles Gute und tausend Küsse für die Kleinen!« Elena lachte und stieß ihn schelmisch mit der Schulter an. »Du Spinner!« Sem kicherte mit einer hellen Mädchenstimme. Eine Zeitlang war Elena nervös gewesen, wenn sie an die Auswirkungen möglicher Datenfehler dachte. Überall konnte es zu Irrtümern kommen. Wenn Flüchtlinge nicht schreiben konnten, mußte ein Helfer die Suchmeldung ausfüllen und die arabischen Namen auf englisch niederschreiben. Wie leicht werden Namen bei Übertragungen verstümmelt, oder sie selbst und Sem konnten bei der Eingabe Fehler machen. Wie viele Menschen hatten sich verfehlt, weil ein Name falsch geschrieben, eine Ziffer des Geburtsdatums falsch eingetippt war? Gab es eine Methode, solche Fälle herauszufischen? Elena hatte schließlich entschieden, daß sie an solche Irrtümer nicht denken durften. Wenn sie am Abend nach Hause gingen, sollten sie sich nur an ihren Funden freuen. Ebensowenig beschäftigte sie sich noch damit, was den Flüchtlingen in den Lagern bevorstand. Sowie die Flüchtlinge begriffen hatten, daß es für sie kein Zuhause mehr gab, kein Land, das sie aufnehmen würde, war Elena schon mit neuen Lagern befaßt, und die alten verwandelten sich für sie in grüne Nadeln auf der Weltkarte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als diese Menschen zu vergessen. Aber an den Donnerstagnachmittagen war sie bei ihnen, helfend, daß sie sich in der kurzen Phase nach den Schrecken der
Flucht und vor dem Einsetzen der Hoffnungslosigkeit wiederfanden, und Elena wollte sich nur zu gern einreden, daß diese Phase endlos gedehnt werden konnte — bis alle Kinder ihre Mütter, bis alle Familien eine neue Heimat gefunden hatten. Sie wußte, daß das eine Illusion war — die Nadeln an der Wand, all die Papiere, die über ihren Schreibtisch wanderten, klärten sie darüber auf—, doch an den Donnerstagnachmittagen schien alles möglich zu sein, und diese Hoffnung war es, die sie weitertrieb. Noch ein paar Bilder fürs Archiv — Mark erinnerte sich an die Tage der Langeweile, an das Warten auf Ereignisse, auf interessante Motive. Box neunundzwanzig, der Film, den er mit Colin an einem Nachmittag in Ranya verschossen hatte. Colin als Dritte-Welt-Flaneur in einer chaikana am Straßenrand, die Augen hinter der Sonnenbrille versteckt, die Teetasse mit Whisky zum Prosit erhoben. Colin als Peschmerga, dem der Turban übers linke Ohr rutscht, die Kalaschnikow im Anschlag, die Zähne gefletscht. Dann hatte Colin die Kamera übernommen: Mark beim Bummeln, Mark als Peschmerga, Mark als guter Onkel, umdrängt von bettelnden Kindern. Schließlich sie beide zusammen, aufgenommen von einem hilfsbereiten Ladenbesitzer: Mark und Colin an einem kleinen Blechtisch — Arm in Arm lächeln sie in die Welt hinaus. Mark beförderte die Dias in die Box zurück und legte sie neben sich aufs Sofa. Elena würde sich freuen. Und die gelungenen würde er auch Diane zeigen. Gegen sechs war er fertig. Er schaltete den Projektor ab und schob ein Rollo hoch. Das Wetter hatte sich gehalten, der Himmel über den Dächern war wolkenlos, das Blau nahm schon eine abendliche Tönung an. Er reckte die Glieder und drückte die steifen Knie durch.
Dann drehte er sich um und schätzte die Größe des Raums ab. Er trat ans eine Ende, stellte sich mit dem Rücken an die Wand und durchmaß den Raum. Einundzwanzig Schritte. Er stutzte. Hatte er vergessen, wie viele Schritte es am Vortag gewesen waren? Bestimmt nicht einundzwanzig. Vielleicht hatte er sich verzählt? Er ging denselben Weg zurück. Einundzwanzig. An die Wand gelehnt, starrte er auf den Lichtfleck am Fußboden unter dem hellen Fenster, schließlich wanderte sein Blick zu den Diaboxen auf dem Couchtisch hinüber. Er spürte, daß ihm die Tränen kamen, und wandte sich schnell ab. Das Licht blendete ihn und ließ die Welt da draußen in glitzernde Kristalle zerfallen. Er stand mitten im Zimmer, barfuß und zerzaust. Elena stellte die Tasche ab, legte den Mantel über den Korridortisch und ging mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Du hast mir gefehlt.« »Du mir auch.« Über seine Schulter blickend, sah Elena die Diaboxen auf dem Couchtisch stehen, die verstreuten Zettel auf Tisch und Sofa. »Hast du schon mit der Durchsicht angefangen?« Sie spürte sein Nicken. »Ich bin sogar schon fertig. Morgen gehe ich zu Amy.« »Wie sind sie geworden?« »Gut. Zwei starke Reportagen und eine ganze Menge fürs Archiv. Die Fahrt hat sich gelohnt.« Elena hielt ihn umarmt und ließ ihren Blick schweifen. Das waren die Momente, in denen sie wünschte, der Raum wäre einladender möbliert. »Ich will dich nie verlieren«, sagte sie. Mark lächelte sie an. »Das wirst du auch nicht.«
»Aber was, wenn du verlorengehst?« Sein Lächeln schwand. »Man geht nicht einfach so verloren.« »Doch. Ständig gehen Menschen verloren. Jeden Tag suche ich nach ihnen.« Er löste sich sanft aus ihrer Umarmung und nahm sie bei der Hand. »Komm.« Zusammen gingen sie zum hintersten Fenster, durch das man die beste Sicht auf den Abendhimmel hatte.
Drei
» Es sieht nicht so aus, als würden wir noch sehr oft zu zweit beim Essen sitzen«, sagte Elena. Diane lächelte und strich sich über den gewölbten Bauch. »Zwei Wochen noch, dann bin ich dieses kleine Ungetüm los. Endlich nicht mehr das Gefühl, eine Wassermelone durch die Gegend zu schleppen.« Sie saßen im Land of Thai, wo sie sich an den Freitagnachmittagen trafen. Diese Zeit paßte ihnen. Noch immer hielt Elena am spanischen Brauch später Mahlzeiten fest, und Diane war es in ihrem Zustand lieber, das Gedränge der Mittagszeit zu umgehen. Ab drei gab es kaum noch Gäste im Lokal: sie konnten sich Zeit lassen und ungestört miteinander plaudern. Diane beugte sich vor. »Aber weißt du, was verrückt ist? Plötzlich denken alle, ich wäre eine Touristin. Im Taxi hat mir der Fahrer angeboten, mir für fünzig Dollar die Sehenswürdigkeiten von Manhattan zu zeigen.« Elena lachte, legte den Kopf schräg und unterzog ihre Freundin einer kritischen Musterung. Irgend etwas schien tatsächlich anders. Diane, von skandinavischer Statur, hatte immer sehr robust gewirkt, aber in der letzten Phase der Schwangerschaft waren ihre Wangen rosig geworden, und ihr blondes Haar leuchtete noch heller als zuvor. »Jetzt weiß ich, warum«, sagte sie. »Du siehst zu gesund aus für New York.« »Wunderbar! Gesund und naiv, der ideale Kandidat für jeden Straßenräuber.« Diane schüttelte amüsiert den Kopf. »Und wie geht's Mark?«
»Gut«, sagte Elena. »Noch ein bißchen erschöpft von der Reise. Heute ist er bei seiner Agentin.« »Immer noch voller blauer Flecke?« Elena nickte. »Und er hinkt ein wenig. Aber das wird sich geben.« Diane grinste. »Ich wette, die beiden sind einfach in ihrer Entwicklung stehengeblieben. Welcher erwachsene Mann fällt schon in einen Fluß? Na, wenigstens haben sie sich wieder was zu erzählen.« Elena kannte Diane fast so lange wie Mark. Getroffen hatten sie sich auf der Verlobungsparty eines Fotoreporters. Mark war von einem Kollegen in eine Diskussion verwickelt worden, Elena wanderte durch den Raum, lächelte jeden an, der ihr begegnete, und hielt sich aus den Gesprächen heraus. Sie fühlte sich fehl am Platz. Die Männer redeten über Guerillakriege und Fotografie, über ihre Heldentaten, ihre Glückstreffer. Die Frauen und Freundinnen, alle etwas zu schön, zu elegant, bildeten ihre eigenen Kreise und sprachen über Restaurants, Kinder und Filme. Jemand tippte ihr auf die Schulter, Elena drehte sich um und sah sich einer blonden Frau Mitte Dreißig gegenüber — ein bißchen älter und weniger schlank als die anderen. »Du bist Elena? Ich bin Diane, Colins Frau. Mark hat von dir erzählt.« Colin, Marks besten Freund, hatte Elena nur ein paar Wochen zuvor kennengelernt, bei der Eröffnung einer Fotogalerie. Colin hatte sich um sie gekümmert und sie nach ihrer Arbeit gefragt. Diane stellte sich neben Elena und betrachtete die Grüppchen der in Gespräche vertieften Männer. »Ist das nicht merkwürdig? Fotografen halten sich immer für faszinierend, aber wenn man sie zusammenkommen läßt, sind sie
genauso langweilig wie Ärzte oder Anwälte. Stehen rum und quatschen und lassen die Frauen mit ihren Frauengeschichten allein. Allerdings ist das immer noch besser, als in ihre Gespräche verwickelt zu werden — endlose Horrorgeschichten über Blenden und Verschlußzeiten.« Sie beugte sich näher. »Wenn ich dir was raten darf: Ich mag deinen Mark sehr, er ist wirklich süß, aber trotzdem ist er ein Fotograf, und irgendwo sind die alle gleich. Frag ihn nie um Rat, wenn du fotografierst. Kauf dir deine eigene Kamera, irgendwas Vollautomatisches, und sieh zu, daß er die Finger davon läßt.« Jetzt erst begriff Diane. »Ach so, du fotografierst gar nicht?« »Nein.« Lächelnd schüttelte Elena den Kopf. Diane wirkte erleichtert. »Dann ist ja gut. Ich dachte schon. Es laufen so viele Fotografinnen herum, manche sind wirklich Spitze, aber bei solchen Anlässen hier sieht man sie selten.« Sie zeigte auf ein paar plaudernde Frauen. »Fotografen haben im allgemeinen eine Schwäche für Frauen, die hübsch und langweilig sind und sie bewundern. Mit den meisten kann man sich überhaupt nicht unterhalten. Ich könnte immer in die Luft gehen auf diesen Vernissagen.« Diane schien erst jetzt zu bemerken, daß auch Elena hübsch war und sich von ihrer Beschreibung getroffen fühlen mußte. Sie nippte an ihrem Drink. »Ich glaube, ich sollte nicht so viel reden.« Elena lachte. »Langweilig sein, das krieg ich schon hin. Aber mit der Bewunderung wird es nicht klappen.« Die ganze Party über blieben sie beisammen, und danach gingen sie zu viert ins Restaurant. Elena staunte über Dianes verspielt-boshaften Umgang mit Colin. Die beiden schienen eine Art Balance gefunden zu haben: Diane war
stolz auf Colin und seine Arbeit, erstarrte jedoch nicht in Verehrung, schätzte auch ihren eigenen Beruf als Mitarbeiterin des Metropolitan Museum of Art keineswegs gering. Nach diesem Abend war Elena froh, eine Freundin gefunden zu haben, die ihre Sorgen als Frau eines Kriegsfotografen teilen konnte und trotzdem ihr eigenes Leben lebte; bald machte sich ihre Freundschaft von gesellschaftlichen Anlässen, auch von den Männern unabhängig, und sie trafen sich wie an diesem Freitagnachmittag. »Ich mache mir Sorgen um Colin.« Elena sah, daß Diane ihren Salat weggeschoben hatte. Ihre Aufmerksamkeit schien ganz der Serviette zu gelten, die sie in der Hand hielt. »Hast du nichts von ihm gehört?« Diane knüllte die Serviette zusammen. »Nein. Jetzt sind es schon fast zwei Wochen. Ich weiß, das ist nichts Ungewöhnliches, trotzdem ...« »Mark sagte, er wollte noch sehen, was im Tiefland passiert, nur ein paar Tage länger bleiben.« »Ich weiß.« Diane nickte müde. »Aber warum gerade jetzt? Zwei Wochen vor der Entbindung, und mein Mann treibt sich irgendwo in Kurdistan rum. So ein Arschloch!« Beide lachten. Doch als Diane auf die Straße hinaussah, fielen Elena die Sorgenfalten auf. »Das Tiefland . . . « Sie wandte sich wieder zu Elena. »Da findet doch eine Offensive der Iraker statt, oder? Gestern hab ich es in der Zeitung gelesen.« Elena nickte. »Aber ich bin sicher, daß ihm nichts passiert ist, Diane. Er macht das schon so lange. Weiß genau, wann er verschwinden muß.« Diane lächelte dünn. »Stimmt schon. Wenn er allerdings nicht bald hier aufkreuzt, passiert ihm wirklich etwas.« Ihre Freundin nahm einen Schluck Mineralwasser. »Was
hältst du davon, wenn ich ein Telex in die kurdischen Lager schicke?« »Kurdische Lager?« »Die Flüchtlingslager. Sie werden vom Roten Kreuz geleitet, aber es sind auch eine Menge UN-Leute dort.« Diane schien zu zweifeln. »Was soll das bringen?« »Sie können dort Erkundigungen einziehen. Ich bringe einen Dringlichkeitsvermerk an. Ein blonder Amerikaner von eins neunzig Größe ist dort nicht so leicht zu übersehen.« »Das ist ein riesiges Gebiet, Elena. Ich weiß nicht mal, wo genau er hinwollte.« »Mark wird es schon wissen. Nachher holt er mich vom Büro ab. Er kann mir die Details sagen, dann schicke ich das Telex los. Schaden kann's nicht.« Diane überlegte, wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Wenn ich mir vorstelle, daß da so ein UN-Typ angerannt kommt und zu Colin sagt, er soll seine Frau anrufen ... Er wird toben. Andererseits: Machen wir's einfach. Wenn es nicht zuviel Mühe ist.« Elena zog den Stift aus der Jackentasche und riß eine Ecke von ihrer Serviette ab. »Was soll ich ihm ausrichten lassen?« Amy Mavroules stieß den Rauch ihrer Zigarette aus und musterte Mark von oben bis unten. »Du siehst ja furchtbar aus.« »Danke«, sagte Mark. »So fühle ich mich auch.« Er sank in den Ledersessel am Schreibtisch, der mit Papieren, Fotos und Mappen bedeckt war. »Hat die Reise etwas gebracht?« »Ich glaube schon.« Mark klappte einen Umschlag auf und stapelte den Inhalt auf seinem Schoß. Er reichte ihr die erste Steckfolie, siebzehn Dias, die er für das Archiv
ausgesucht hatte, dazu ein Blatt mit Bildkommentaren. Arny drückte die Zigarette aus, setzte ihre Bifokalbrille auf und legte die Steckfolie auf den Leuchtkasten. Sie war eine große, beängstigend magere Engländerin griechischer Herkunft, mit wirrem schwarzem Haar, spindeldürren Fingern und einer Schwäche für Folklorekleider — Buntes aus Guatemala, paillettenverzierte Stoffe aus Nepal —, die ihr nicht standen. Beim ersten Treffen hatte sie auf Mark wie ein Harlekin gewirkt. Doch der Eindruck täuschte. Amy Mavroules, Anfang Fünfzig, gehörte zu den besten freien Fotoagenten New Yorks, und es hatte Mark einige Mühe gekostet, auf ihre Klientenliste zu gelangen. Stumm studierte sie seine Bilder, sah auf, um die Kommentare zu lesen, vertiefte sich wieder in die Dias. »Nette Aufnahmen, nur ein bißchen sentimental. Ich schicke sie rum, aber erwarte nicht viel, es sei denn, Kurdistan gewinnt Gold.« Amy bezog ihr Vokabular für die Kriegsindustrie aus dem Sport. Mark reichte ihr die zweite Steckfolie, die das Dia mit dem zerfetzten Kopf des Irakers enthielt. Amy warf nur einen kurzen Blick darauf und legte sie beiseite. »Igitt. Die gehen nach Asien.« Sie nahm die nächste Folie. »Ein Überfall auf einen irakischen Konvoi«, erklärte Mark. »Sie haben neunzehn Soldaten erledigt, zwei Transporter geknackt und einen Jeep.« Amy las den Sammelkommentar und ging die Bilder der Reihe nach durch. »Gute Serie. Schade, daß Life nur noch Schund bringt. Ich schicke sie trotzdem mal hin. Eigentlich müßten wir auch was in Europa finden. Es gibt doch viele Kurden in Deutschland. Oder verwechsle ich die mit den Türken?« Mark nickte. »Beides. Kurden und Türken.«
»Okay«, sagte sie, »ich versuche es beim Stern.« Amy las die Überschrift, die er an die obere Kante der letzten Folie geklebt hatte, und blickte ihn über den Rand der Brille hinweg an. »Das schlimmste Krankenhaus der Welt?« Mark zuckte die Schultern. »Arbeitstitel.« »Geht nicht, da denken alle, das ist ein neuer Kassenskandal.« Kopfschüttelnd legte sie die Bilder auf den Leuchtkasten und griff nach dem letzten Kommentar. Mark sah den gespannten Ernst in ihrem Gesicht, während sie seine Erläuterungen las. Sie nahm sich Zeit für diese Fotos, betrachtete jedes einzelne gründlich. Nach dem letzten Dia starrte sie ihn an. »Mein Gott«, sagte sie leise. »Eine unglaubliche Geschichte!« »Wirklich?« Sie schaute auf die Uhr, wurde sofort geschäftsmäßig. »Damit gehe ich in die Auktion. Alle großen Wochenblätter kriegen das per Fotofax mit einem Termin bis Dienstagnachmittag.« Sie wühlte in ihren Papieren, fand einen Stift, kritzelte etwas auf einen Umschlag. Mitten im Schreiben hielt sie inne und blickte auf. »Die Times schickt einen Reporter nach Burma und sucht noch einen Fotografen. Hast du Lust?« »Nach Burma? Na klar!« Amy zeigte auf die Lazarettbilder, die noch immer auf dem Leuchtkasten lagen. »Wenn die das sehen, nehmen sie dich sofort.« Geschmeichelt betrachtete er sie. Bei der Times hatte sie ihn noch nie empfohlen. Sie zündete sich eine Zigarette an, blinzelte durch den Rauch. »Hast du noch mehr?« »Nein, das ist alles.« Mark erhob sich und wandte sich zum Gehen.
Auf dem halben Weg zur Tür rief sie ihn zurück. Den Telefonhörer am Ohr, blickte sie mit gerunzelter Stirn auf seine Beine. »Du humpelst ja. Bist du in Ordnung?« »Nur ein bißchen angeknackst. Wird schon werden.« Ihre Miene entspannte sich. Mit ihren langen Fingernägeln klopfte sie auf die Lazarettfotos, strahlte. »Sehr gute Arbeit, Mark.« Er strahlte zurück. Er kam mit Champagner und einem Dutzend Rosen. Als er seinen Besuch bei Amy beschrieb, versuchte Elena, in seine Begeisterung einzustimmen. »Sie will die Bilder verauktionieren? Das ist ja wundervoll!« Sie merkte, daß ihrer Stimme Enthusiasmus fehlte. Mark schien das nicht aufzufallen. Er rieb sich die Knie. »Jetzt gibt's Champagner!« Sein Blick wanderte die Regale entlang, als würde er nach Gläsern suchen, dann blieb er an Elena hängen. »Ist was?« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich war mit Diane essen. Sie hat noch immer nichts von Colin gehört und macht sich Sorgen.« Mark setzte sich, starrte auf die Wand über ihrem Kopf, langsam nickend. »Ja, ich weiß ... Aber es sind doch erst ein paar Tage.« »Nein, es sind mehr als ein paar Tage.« Sie zeigte auf den Wandkalender. Der 9. März war blau eingekreist. »Am neunten wolltet ihr wieder zurück sein. Wann hattest du deinen Unfall?« Einen Moment blickte er auf den Kalender. »Das muß der siebte gewesen sein.« »Der siebte. Und das war der Tag, an dem Colin ins Tiefland weitergefahren ist?« Wieder nickte er.
»Heute ist der sechzehnte: neun Tage!« »Okay. Aber das bedeutet nicht viel in Kurdistan. In so einer Gegend verliert man leicht neun Tage.« »Ich weiß, aber Diane macht sich Sorgen. Ich hab ihr anseboten, ein Telex zu schicken.« »Ein Telex?« Er zog die Stirn kraus. »An wen?« »An die UN-Leute vor Ort. Ob sie ihn gesehen haben.« Sein Blick irrte durch das Büro, ein paar Sekunden lang. »Das ist zwar eine nette Geste von dir, trotzdem glaube ich, daß sie voreilig ist. Neun Tage in Kurdistan: Das bedeutet überhaupt nichts. Warte noch eine Weile. Wenn er hier auftaucht, während ihn die UN in ganz Kurdistan sucht, wäre das peinlich. Und die Leute in den Lagern, die haben wirklich anderes zu tun.« »Peinlich?« Elena spürte Wut in sich aufsteigen. »Habt ihr Kerle denn keine anderen Sorgen? Diane steht kurz vor der Entbindung. Ihr Mann ist im Kriegsgebiet, sie hat seit zwei Wochen nichts von ihm gehört, und du hast Angst vor Peinlichkeiten.« An der Champagnerflasche bildete sich eine Lache aus Kondenswasser, und in regelmäßigen Abständen fiel ein Tropfen vom Schreibtischrand zu Boden; daneben lagen die Rosen. »Okay«, sagte er, »du hast recht.« »Danke.« Sie schlug eine neue Seite ihres Schreibblocks auf. »Also: Wo hast du Colin zuletzt gesehen, und wo wollte er hin?« Er musterte die Blumen. »Laß mich überlegen ... Das war in Rawanduz, am Morgen des siebten März. Er sagte, er wollte noch ein paar Tage ins Tiefland, nur sehen, was dort los ist. Weil ich alles im Kasten hatte, sagte ich ihm, daß ich abreisen würde.« »Er hat nicht genau gesagt, wo er hinwollte?« Mark dachte nach. »Nein, er hatte wahrscheinlich kein be-
stimmtes Ziel. Es gibt nur die eine Straße von dort bergab, aber wenn man aus dem Gebirge heraus ist, sind da hundert kleine Orte und viele Straßen.« »Wann hat die irakische Offensive begonnen?« Er drehte sich erneut zum Kalender um. »Ich bin mir nicht sicher. Gehört habe ich davon um den elften, vielleicht zwölften herum, also wahrscheinlich einen Tag vorher.« Elena legte den Stift zur Seite, schaute ihn forschend an. »Müssen wir uns Sorgen machen, Mark?« Er sah ihr in die Augen, schüttelte dabei den Kopf. »Nein. Colin ist sehr vorsichtig. Er macht keine Dummheiten.« Ihr Gesicht, eben noch ernst, verzog sich zu einem gequälten Lächeln. »Das ist wohl eher deine Spezialität, oder?« Mark stutzte, verstand nicht, was sie meinte. »Colin hat Diane erzählt, daß du derjenige mit den dummen Ideen bist, die euch fast Kopf und Kragen kosten.« Er blickte auf seine Hände hinab, die gefaltet in seinem Schoß lagen. Aus irgendwelchen Gründen empfand er die Bemerkung als verletzend, als eine Art Vertrauensbruch. »Ich glaube, das stimmt«, antwortete er leise. Er überlegte, was er noch sagen konnte, aber es fiel ihm nichts ein. Elena nahm den Schreibblock, stand auf, küßte ihn auf die Wange. »Es tut mir leid, ich hab's nur so gesagt, ein Scherz.« Noch einmal küßte sie ihn und richtete sich wieder auf. »Ich bringe das zum Telex hinunter, dann gehen wir feiern, okay?« Sanft kratzte sie ihm über den Rücken. »Ich freue mich, daß es bei Amy so gut gelaufen ist. Ich bin wirklich stolz auf dich, weißt du?« Mit unsicherem Lächeln schaute Mark zu ihr auf. Die Bäume rauschten und knarrten im Wind. Seite an Seite stiegen sie den gewundenen Pfad hinauf, und bei jedem Schritt spürte Elena die Last seines Arms.
»Fühlst du dich gut? Sollen wir vielleicht langsamer gehen?« »Nein, alles in Ordnung. Nur meine Knie sind ein bißchen steif.« Durch einen Torbogen betraten sie die Cloisters. Mark staunte, wie leer die Anlage war: An diesem Sonntagmorgen hatten sie das ganze Gelände für sich. Aber es war noch früh, und das Museum am Nordwestzipfel von Manhattan war schwer zu erreichen. Nicht, daß er hierher gewollt hatte. Der Tag war sonnig, der wärmste seit seiner Rückkehr, und er wäre lieber durch den Central Park oder am Wasser entlanggelaufen, doch in Manhattan war das Museum Elenas Lieblingsziel, und er hatte sich gefügt. Er bemühte sich, Interesse an den Ausstellungsräumen und Kapellen zu zeigen, an den Säulen, Bögen, Wandbildern, aber das Sonnenlicht, das schräg durch die bunten Scheiben fiel, lockte ihn nach draußen. Als sie zur Schatzkammer kamen, zu Vitrinen mit Juwelen und Goldschmiedearbeiten, legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Ich gehe ein bißchen in den Hof. Laß dir Zeit.« Er gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange und öffnete die massive Eichentür zum Hof des Bonnefont-Klosters. Die Sonne schien über die hohe Mauer, die den Wind aus dem Klostergarten fernhielt, und Mark war froh, der Stille und muffigen Kälte des Bauwerks entkommen zu sein. Er sog die Frühjahrsluft ein, wanderte im Kreuzgang auf und ab, studierte das schlichte Muster der Terrakottakacheln unter seinen Füßen. Immer wenn er die Westseite erreichte, ließ er sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Vor einem Schild blieb er stehen und las, daß er sich in einem Kräutergarten befand und in dem kleinen Innenhof, den er umrundete, über zweihundertfünfzig verschie-
dene Pflanzen des Mittelalters wuchsen. Erbetrat den Garten und beugte sich über eine verdorrte Staude, studierte die gezackte Kante eines braunen Blatts, ohne die leiseste Idee, worum es sich handelte. Der trostlose Anblick erfüllte ihn mit Traurigkeit. Er trat durch das Tor, lief hinüber zum Hochufer des Hudson, wo ihn der Wind mit aller Wucht traf und ihm das Haar nach hinten wehte. Das Glitzern des Wassers und der stählernen George-Washington-Brücke blendete ihn fast schmerzhaft, und er kniff die Augen zusammen. Da stand er, nahm den strahlenden Morgen in sich auf, und mit einemmal fiel die Bedrückung von ihm ab. Im frischen Wind, der an ihm rüttelte, im Gleißen des Wassers und der Stahlkonstruktion, in all den Pflanzen ringsum, die den Winter überstanden hatten, entdeckte er plötzlich so etwas wie Schönheit. Elena stand an einem kleinen Fenster und beobachtete ihn. Immerfort lief er im Hof auf und ab, mit gesenktem Kopf, mit schleppenden Schritten. Von hinten wirkte er wie ein alter Mann; wenn er sich umdrehte, sah sie in seinem Gesicht die Furchen. Es ging ihm nicht besser. Das Humpeln, der Schmerz, alles wurde schlimmer, auch wenn er das Gegenteil behauptete. Jetzt fiel es ihr auf, und gleich darauf begriff sie, warum sie es nicht schon vorher bemerkt hatte: Er hielt es vor ihr geheim. Nur wenn er sich allein glaubte, gab er den Schmerzen nach. Sie sah ihn aus dem Kreuzgang in den Garten treten, dann zum Fluß hinüberlaufen. Dort stand er allein, aufrecht, das Gesicht zum Himmel gewandt. Ob er weinte?
Ihre Schritte schreckten ihn auf. Ruckartig drehte er sich um, und Elena sah, daß seine Augen glitzerten. Einen Moment schaute er sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. Dann strich er ihr mit dem Handrücken über die Wange, ließ die Hand sinken, blickte wieder auf den Fluß hinaus. »Ich habe mich entschieden«, sagte er. »Auf den BurmaTrip verzichte ich. Ich werde Amy sagen, daß sie meinen Namen aus der Liste streichen soll.« Elena musterte ihn von der Seite. Sie wollte seine Augen sehen, aber er drehte sich nicht um. »Im Ernst? Du wolltest doch schon immer mal für die Times arbeiten.« »Jetzt nicht«, flüsterte er. »Wird noch andere Kriege geben. An Kriegen wird es weiß Gott nicht mangeln.« Was sollte sie davon halten? Sie wollte nicht, daß er nach Burma fuhr, sie wollte überhaupt nicht, daß er zu diesen Kriegsschauplätzen fuhr, aber sie wollte wissen, warum er auf die Reise verzichtete. Ob er krank war, ob er Angst hatte? Wie sollte sie erkunden, warum so überraschend in Erfüllung ging, was sie sich drei Jahre lang gewünscht hatte? »Ist in Kurdistan irgendwas passiert?« Einen Moment überlegte er, ob er ihr etwas erzählen sollte. Vielleicht vom Granateinschlag auf der Bergkuppe oder von dem Arzt an seiner Pritsche, der mittels Plastikmarken über sein Leben oder Sterben entschieden hatte. Oder von der ersten Nacht in der Genesungshütte, als er auf dem Rücken gelegen und durch das Strohdach in den Wüstenhimmel geblickt hatte, dessen Sterne nicht glommen, sondern leuchteten: wie Millionen winziger Monde. Oder von den Minuten jener endlosen Nacht, in denen er glaubte, Elena nie wiederzusehen, nie wieder gehen zu können, in denen er verzweifelt war und weinte, ohne sein Gesicht vor den anderen zu verbergen.
Aber wie sollte man davon erzählen? Hatte man einmal angefangen, gab es kein Halten mehr. All diese Dinge gehörten zusammen, verflossen ineinander, und wenn er an einer Stelle nachgab, würde der ganze Damm brechen. Er konnte nicht: ein Wort zuviel, und er wäre verloren. Zeit, er brauchte Zeit. Jeden Morgen, wenn er die Augen öffnete, jede ruhige Minute des Tages sagte er sich, daß er Zeit brauchte, um wieder Boden unter den Füßen zu spüren und darauf zu vertrauen, daß er ihn trug. Er drehte sich zuElenaum. »Ja. Ich habe eine Offenbarung erlebt: daß ich dich nicht verlieren darf. Daß wir ein Kind haben sollten.« Sie kamen zu spät zu Michael Barnards Party. Der Eoft in Soho quoll über von Gästen, Michael hatte seine Wohnzimmermöbel beiseite geschoben und den Raum in einen Tanzsaal verwandelt. Mitten im Zimmer stand ein Videoprojektor und warf einen von Michaels Dokumentarfilmen an die Wand; augenscheinlich ein Film über den Krieg in Burundi. Der Ton, falls es denn einen gab, ging unter im Gedröhn der Walzermusik, die so laut war, daß Mark die Dielen vibrieren fühlte. Tanzende Paare wogten im Eichtkegel des Projektors hin und her, warfen ihre Schatten auf Soldaten an Straßensperren und bei Schießereien in der Innenstadt von Bujumbura. Die Farben Afrikas, mit denen der Projektor die Tanzenden bekleckste, verliehen ihnen Grazie. Diane winkte ihnen von einem Sofa her zu. Sie bahnten sich den Weg zu ihr hinüber und knieten sich hin, um gegen die Eautstärke der Geigen anzukommen. »Ob der Lärm dem Baby schadet?« schrie Diane. »Nein«, schrie Mark zurück. »Babys lieben klassische Musik.«
Er zog Diane an der Hand vom Sofa hoch, führte sie auf die Tanzfläche. Es war ein komischer Anblick: eine hochschwangere Frau und ein dürrer Mann mit stocksteifen Beinen. Die anderen Paare blieben stehen, lachten, spornten sie an. Elena, die neben dem Sofa stand, lachte mit. Doch der Spaß nutzte sich ab, und Elena verspürte ein wachsendes Unbehagen, als sie in die Runde blickte. Manche standen noch immer da und lachten, die meisten aber tanzten weiter und machten einen großen Bogen um das seltsame Paar, das über den Boden schlurfte, ohne den Takt zu halten, und dessen groteske Silhouette sich an der Wand abzeichnete. Irgendwann hielt es Elena nicht länger aus. Sie verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach Bekannten. Im Korridor, während sie Michaels gerahmte Fotos betrachtete, wurde sie plötzlich beim Arm gepackt und herumgedreht. Es war Diane, das Gesicht rot vor Aufregung. »Warte, du Biest, du hast mir nicht erzählt, daß du schwanger bist!« »Wie bitte?« »Mark hat es mir gerade erzählt. Seit wann weißt du es?« Elena starrte Diane verständnislos an, dann schaute sie an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Mark war nicht zu sehen. »Ich weiß nicht, wovon du redest, Diane.« »Aber Mark hat gesagt, ihr kriegt ein Baby!« Jetzt begriff sie. Sie schüttelte lachend den Kopf. »Nein, Mark war gestern in einer seltsamen Stimmung. Er sagte, er wünscht sich ein Baby, aber dazu gehören immer noch zwei.« »Na komm!« Diana stieß sie sanft an. »Mach den Jungen glücklich. Und wir könnten Babydurchfallgeschichten austauschen.«
Elena lachte, schüttelte den Kopf energischer. »Vielleicht irgendwann, aber nicht jetzt. Ich fürchte, da mußt du allein durch.« Diane zog einen Schmollmund. Elena schaute wieder ins Wohnzimmer hinüber, und jetzt sah sie Mark. Er hatte den Arm um Michael gelegt und schien sich zu amüsieren. Elena goß sich Kaffee ein, trug ihn zum Tisch und setzte sich neben Mark. Der blickte aus dem Fenster, als hätte er nichts bemerkt. Mit der Hand wedelte sie vor seinen Augen. »Hallo! Guten Morgen!« Er wandte sich ihr zu, doch sein Blick war abwesend. »Hallo.« »Was gibt's denn da draußen zu sehen?« »Ich schau mir nur die Bäume an.« Er nahm einen Schluck. »Ich glaube, sie bekommen bald Blätter.« Elena betrachtete die Ginkgo-Bäume am Straßenrand. Es würde noch Wochen dauern, bis sie grün wurden. »Warum hast du Diane erzählt, daß wir ein Baby kriegen?« »Weil ich ein Baby will«, sagte er ruhig. Wieder blickte er raus. »Gut, ich auch, aber nicht jetzt. Wir haben das besprochen. Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, noch ein paar Jahre zu warten.« Mark zog die Schultern hoch. »Okay.« Elena war versucht, das Rollo herunterzuziehen oder irgend etwas zu tun, um ihn aus seiner Versunkenheit aufzuschrecken. »Sieh mich an!« Er zögerte, blinzelte, dann drehte er sich zu ihr um. »Ich mache mir Sorgen um dich.« »Sorgen? Um mich?« »Allerdings. Du solltest mal zu Harold gehen.« Der alte Harold Feinbaum hatte seine Praxis auf der
Upper West Side; Mark und viele seiner Kollegen hielten ihm seit Jahren die Treue. Er schrieb bescheidene Rechnungen, weil er die Fotografen für ein aufregendes Völkchen hielt, und die exotischen Krankheiten, die sie von ihren Reisen nach Hause brachten - Tropeninfektionen, Blutparasiten —, boten ihm eine willkommene Abwechslung zu den profanen Gebrechen seiner anderen Patienten. »Warum sollte ich zu Harold gehen?« Elena dachte an sein Verhalten in den letzten Tagen, seine merkwürdige Stimmung in den Cloisters, seinen Übermut auf Michaels Party. Aber sie wußte, daß Mark abblocken würde, wenn sie davon anfing, und hielt es für klüger, bei den körperlichen Dingen zu bleiben. Sie strich ihm mit der Hand durchs Haar, betastete seine Wunde. »Deine Wunde heilt nicht. Und dein Hinken wird immer stärker. Du mußt zum Arzt.« Er schob ihre Hand weg. Plötzlich war er böse. »Was ist denn mit dir los, Elena? Ich erzähle dir, daß ich mir mehr Zeit für dich nehmen will, daß ich mir ein Kind mit dir wünsche, und du fängst an, an mir herumzunörgeln!« »Darum geht's nicht.« »Doch, genau darum. Die Wunde, das Hinken — alles Blödsinn, und wir beide wissen es.« Die Wut verschwand so schnell, wie sie gekommen war. An ihre Stelle trat etwas Schüchternes, fast Flehendes. »Laß mich noch ein paar Tage abwarten, wie es weitergeht, okay?« Seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton. »Mir fehlt nichts, wirklich nicht.« Mit einemmal wirkte er so verloren, daß Elena nichts mehr zu sagen wußte. Sie griff nach seiner Hand. »Willst du dich immer noch mit den anderen zum Essen treffen?« Mark hatte sich auf der Party mit ein paar Kollegen verabredet; sie wollten sich an einem Ort treffen, wo sie in Ruhe
miteinander reden konnten. Er strahlte Elena an. »Natürlich ! Warum denn nicht?« Sie warf einen Blick auf die Uhr, stand auf und hängte sich die Schultertasche um. »Wahrscheinlich komme ich direkt von der Arbeit ins Restaurant. Macht es dir was aus, wenn du ...« Sie stockte. »Ruf doch Harold einfach mal an und frag ihn, was er meint.« Er nickte, lächelte sie an. »Na gut. Ich denke darüber nach. Bis heute abend dann.« Als er die Wohnungstür zuklappen hörte, erhob er sich vom Küchentisch und ging ins Wohnzimmer hinüber. Still lag es im hellen Morgenlicht, es wirkte beinahe unheimlich: als wäre es über Monate verwaist gewesen. Er stellte sich mit dem Rücken an die Wand und durchquerte den Raum. Vierundzwanzig Schritte. Waren es mehr als beim letzten Mal, waren es genauso viele? Er erinnerte sich nicht. Mit einem Stift schrieb er so klein, daß Elena es nicht entdecken konnte, die Zahl 24 an die Wand. Im Schlafzimmer trat er vor den Spiegel, der an der Tür befestigt war. Er strich sich durchs Haar, begutachtete seine Rasur. Seine Sachen — die Jeans und das olivfarbene Baumwollhemd — waren ihm ein wenig zu weit. Der Spiegel, in halber Körperhöhe beginnend, war von einem schmalen Holzrahmen umgeben. Mark mußte bis ans Bett zurückgehen, um auch die Füße zu sehen; er stellte fest, daß er sich krumm hielt, und richtete sich auf. Mit gereckten Schultern ging er auf den Spiegel zu. Nach drei Schritten stockte er, erschreckt von dem, was er sah: Sein rechtes Bein schien zu lahmen, mit dem linken war es ähnlich. Er kehrte um, versuchte es noch einmal. Diesmal klappte es besser. Seine Beine waren steif, aber
ein bißchen Schwung war von Vorteil. Er wiederholte die Übung: Schon viel besser. Jetzt war sein Schritt locker, beschwingt, das Hinken kaum noch sichtbar. Er trat dicht vor den Spiegel und studierte sein Gesicht. Seine Züge wirkten starr, sein Blick war bohrend. Er glättete den Hemdkragen, übte ein entspanntes Lächeln. Dann streckte er die Hand aus, wie um sein Spiegelbild zu begrüßen. »Hallo, MarkWalsh!« Kaum hatte ihr der Mann mit dem südländischen Teint — er schien Ende Vierzig zu sein, war aber noch schlank die Hand gegeben, zog er schon schnuppernd die Nase kraus. In diesem Moment fielen Elena die Rosen ein, und sie lachte. »Oh, tut mir leid. An den Geruch hatte ich mich schon gewöhnt.« Sie zeigte auf den Strauß, den Mark ihr am Freitag mitgebracht hatte und der nun, die schwärzlich verfärbten Blüten nach unten weisend, an der Bürotür aufgehängt war. »Ich habe sie am Wochenende hier vergessen und wollte sie nicht gleich wegwerfen. Meine Mutter hat Blumen immer so zum Trocknen aufgehängt, aber ich weiß nicht, ob das mit allen Rosen geht.« Lewis Perez blickte auf den Strauß, dann auf die Blütenblätter, die den Teppich bedeckten, und lächelte schief. »Nein, ich fürchte, nicht.« Ohne daß er es merkte, taxierte sie ihn. Mit dein angegrauten Haar und dem dunklen Anzug sah er wie ein erfolgreicher Geschäftsmann aus, vielleicht auch wie ein Anwalt, aber in seiner Erwiderung hatte etwas seltsam Vertrautes gelegen, das sie verunsicherte. Hinzu kam der Umstand, daß sie nicht wußte, wer er war und was er wollte. Mitten am Vormittag war er in ihrem Büro erschienen und wollte sie sprechen, ohne sich vorher angekündigt zu
haben. Sie setzte sich an den Schreibtisch und wies auf einen Sessel. »Bitte sehr.« Er ließ sich nieder und schlug die Beine übereinander. Zerstreut zupfte er an der Bügelfalte über dem Knie. »Bitte verzeihen Sie den Überfall. Ich hätte zumindest anrufen müssen, aber ich hatte Angst, daß Sie dann vielleicht ablehnen würden, mit mir zu sprechen.« Noch einmal lächelte er. »Ich möchte mit Ihnen über Ihren Großvater sprechen, Joaquín Morales. Über seine Klinik.« Elena wich zurück, ihre Augen verengten sich. Sie warf einen raschen Blick auf die Tür: Hätte sie sie bloß offen gelassen. »Was wollen Sie von mir, Mr. Perez? Wie haben Sie mich ... ?« »Wie ich Sie gefunden habe?« Er hob seine Aktentasche auf den Schoß, holte einen dünnen Stoß Fotokopien heraus und hielt ihn in die Höhe. »Ihr Artikel in der Studentenzeitung der Universidad Complutense. Im Beitext steht, daß Sie eine Stellung bei der UN in New York antreten würden. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, Sie nach so vielen Jahren hier zu finden, manchmal hab ich eben Glück. Ich wohne in Hartford und komme oft in die Stadt.« Er wies auf die Überschrift des Artikels. »>Die Enkelin eines Kriegsverbrechers< Das kam mir doch ein bißchen hart vor. War das Ihre Idee oder die des Redakteurs?« Elena hatte sich ein wenig gefangen. Ihr Gefühl, überrumpelt worden zu sein, wich wachsendem Ärger. »Mr. Perez, ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen, und ich möchte über meinen Großvater nicht sprechen. Seit Jahren habe ich keinen Kontakt mit ihm, auch nicht über ihn habe ich gesprochen, und dabei soll es bleiben. Ja, die Überschrift habe ich selbst gewählt, weil das, was er getan hat, in meinen Augen ein Verbrechen war, ein schweres
Verbrechen. Diesen Abschaum zu behandeln, diese Leute zu heilen, damit sie wieder unschuldige Menschen ermorden konnten - das hat ihn genauso schuldig gemacht, wie seine Patienten es waren. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.« Sie stand auf. »Sie haben den Artikel gelesen, Sie wissen nun, wie ich dazu stehe, also ...« »Es tut mir leid. Bitte!« Lewis Perez steckte schnell die Papiere wieder ein, als wären sie der Grund ihrer Verärgerung. »Bitte hören Sie mir ein paar Minuten zu. Es geht um meinen Vater. Er war Patient der Klinik. Ich möchte herausbekommen, was aus ihm geworden ist.« Elena starrte ihn an. Seine Selbstsicherheit war verflogen, sein Blick hatte jetzt etwas Verzweifeltes, fast Unterwürfiges. »Wie meinen Sie das? Was ist mit ihm passiert?« »Verschwunden. 1939 wurde er in die Klinik eingeliefert, im späten Frühling, er blieb dort drei oder vier Monate, dann war er weg. Er kam nie mehr nach Hause zurück. Ich war noch klein, aber meine Mutter hat jahrelang nach ihm gesucht, ohne auch nur eine Spur zu finden.« Fast gegen ihren Willen setzte sich Elena wieder. Sie blickte auf ihren Schreibtisch, verwirrt, dann schaute sie Perez an. »Es tut mir leid, ich verstehe Sie nicht.« Er nickte rasch und hob beide Hände. »Ich will es Ihnen erklären. Er war Offizier der spanischen Armee, ein Hauptmann. Nach Auskunft meiner Mutter hatte er einen Nervenzusammenbruch, kurz nach dem Ende des Spanischen Bürgerkrieges, im Frühjahr 1939. Er kam in die Klinik Ihres Großvaters. Gegen Ende des Sommers wurde er entlassen, aber er kam nie nach Hause zurück. Meine Mutter suchte acht Jahre lang nach ihm, vergeblich. 1947 sind wir dann — sie und ich — nach Amerika ausgewandert und nach Connecticut gezogen. Sie hat wieder geheiratet und nie mehr über meinen Vater und die Vergangenheit ge-
sprachen. Sie wollte auch nicht, daß ich nach ihm suche und ihre Unterlagen durchsehe.« Er räusperte sich. »Nun, der Verlust saß tief, denke ich.« Elena nickte. Zögernd suchte er in der Aktentasche nach anderen Papieren. »Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben, und ich dachte mir, daß ich nach der Liberalisierung in Spanien vielleicht etwas mehr herausbekommen könnte.« Er lachte kurz auf. »Nun ja. Liberalisierung heißt nicht, daß die Bürokratie beweglicher geworden ist.« Er stellte die Aktentasche auf den Boden und breitete seine Papiere fächerförmig auf der Schreibtischkante aus. Elena konnte die Briefe nicht lesen, da sie verkehrt herum lagen, sie griff auch nicht danach. »Wenn es Sie tröstet«, sagte er, den Blick gesenkt, »die Klinik Ihres Großvaters war nicht die einzige dieser Art. Die Regierung hat nach dem Bürgerkrieg ein ganzes Netz von solchen Anstalten errichtet, mindestens sechs oder sieben, alle in entlegenen Gegenden, alle sehr unauffällig. Offenbar war es Franco peinlich, daß seine Leute psychiatrische Behandlung brauchten, aus seiner Sicht nur zu verständlich. Daß seine Patrioten, die Retter des Vaterlands und des Glaubens, durch das, was sie gesehen und getan hatten, traumatisiert worden waren, ließ auf ein schlechtes Gewissen schließen, zumindest auf den Verlust der Kampfmoral, und das zuzugeben konnten sich die Faschisten nicht leisten.« Perez schaute zu ihr auf und tippte mit dem Finger auf die Papiere. »Aber von all den Kliniken war die Ihres Großvaters die heikelste. Sie war nämlich ausschließlich für Offiziere bestimmt. Was macht es schon, wenn der Pöbel oder irgendwelche Bauern den Verstand verlieren? Doch wenn es die wahren Söhne des Vaterlands trifft — unmöglich!
Also löste Franco dieses Problem wie viele andere, er schaffte es einfach ab. Die Krankenakten der Klinik Ihres Großvaters wurden gehütet wie Staatsgeheimnisse. Diejenigen, die als geheilt galten — als >geläutert<, wie Ihr Großvater das nannte —, wurden entlassen, ohne daß der Klinikaufenthalt in ihren Soldbüchern auftauchte. Diejenigen, die nicht geheilt werden konnten, wurden dagegen verstoßen — sie mußten die Uniform ablegen, wurden aus der Armee entlassen, auf die Straße gesetzt und sich selbst überlassen. So ist es meinem Vater ergangen. Verstoßen, eine Unperson, aus allen Akten gestrichen.« Er blickte hoch, lachte wieder kurz auf. »Es hat mich drei Jahre gekostet, wenigstens das herauszubekommen.« Elena musterte die Weltkarte mit den verschiedenfarbigen Nadeln. »Aber die Faschisten haben über alles Buch geführt. Wenn Ihr Vater Offizier war, muß es irgendwelche Unterlagen geben — Pensionspapiere, Versetzungsmeldungen.« Überlegen schwenkte Perez den Zeigefinger, wühlte in seinen Papieren und förderte ein paar zusammengeheftete Blätter zutage, die er ihr zum Lesen hinlegte. Ein Bericht des spanischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 1986. Er trug den Titel Die Unpersonen. Über die Behandlung nationalistischer Kriegstrauma-Patienten in den Nachkriegsjahren. »Daraus habe ich die meisten Informationen bezogen«, sagte Perez. »Das Schöne an dem ganzen System war, daß alle, die als unheilbar galten, schlichtweg ausgelöscht wurden. Ihre amtlichen Unterlagen wurden vernichtet. Für sie gab es keine Pension, keine medizinische Behandlung, keinen Nachweis, daß sie je in der Armee gewesen waren. Wenn einer von ihnen durchdrehte und das halbe Dorf umbrachte, sagten die Leute: >Er ist in der Franco-Armee
verrückt geworden. Dann konnte die Regierung behaupten: >Er ist nie Soldat gewesen, in unseren Unterlagen kommt er nicht vor, zu diesem Wahnsinn ist nur ein Republikaner fähig.< So lief das unter Franco.« Er zeigte auf die Abhandlung. »Hier werden zwei solche Fälle behandelt. Die Männer sind jetzt über siebzig und setzen ihre Ansprüche gerichtlich durch. Sie haben Fotos von sich in Uniform, eidesstattliche Erklärungen alter Kameraden, sie haben genaue Angaben über ihre Laufbahn und Standorte, aber die Regierung findet nirgends amtliche Unterlagen über sie. Und was meinen Vater betrifft: Alles, was ich über ihn weiß, stammt von meiner Mutter. Meine Briefe an die spanische Regierung« — das also waren die ausgebreiteten Papiere — »haben nicht das geringste ergeben, obwohl manche Dienststellen sich sehr hilfsbereit verhalten haben.« Elena starrte ratlos auf seine Anfragen, die lang und ausführlich waren, und auf die kurzen Antworten aus Spanien. Die Briefe erinnerten sie an viele andere, die über ihren Schreibtisch gewandert waren. »Es tut mir ja leid, Mr. Perez, aber ...« »Lewis. Nennen Sie mich Lewis.« Elena nickte. »Aber ich weiß nicht genau, was Sie von mir erwarten, was ich für Sie tun kann.« »Ganz einfach. Ich habe vor einiger Zeit die Adresse Ihres Großvaters ermittelt und ihm geschrieben.« Erneut blätterte er in seinen Papieren und reichte ihr ein paar zusammengeheftete Seiten. »Ist das seine Adresse?« Sie las die Adresse auf dem obersten Blatt: Casa de los Queridos, Penuelas, Spanien. Sie bejahte. Seufzend legte Perez die Blätter zurück. »Wissen Sie, mittlerweile habe ich die Hoffnung aufgegeben, meinen Vater wiederzufinden, tot oder lebendig. Ich möchte nur etwas
über ihn erfahren. Wie er war, was mit ihm passiert ist. Oft hatte ich vor, ins Dorf meiner Eltern zu fahren, aber ...« Plötzlich wirkte er verstört. Als er wieder sprach, war seine Stimme viel leiser, fast flüsterte er. »Vor allem jedoch möchte ich wissen, was in der Klinik mit ihm geschehen ist, und der einzige, der mir darüber Auskunft geben kann, ist Ihr Großvater. Ich habe ihm schon sieben- oder achtmal geschrieben, aber eine Antwort habe ich nie erhalten.« Aufschauend suchte er Elenas Blick. »Deshalb bin ich hier. In der Hoffnung, daß Sie zwischen mir und Ihrem Großvater vermitteln können, mit einem Brief vielleicht oder einem Anruf. Sie erwähnen in Ihrem Artikel, daß Sie ihm früher sehr nahestanden.« Elena sah ins Leere. Einen Moment lang war sie versucht, diesem Mr. Perez zu helfen. Dann machte sie sich bewußt, wohin das führen würde: daß sie sich jene Blöße geben würde, auf die ihr Großvater immer gewartet hatte. »Es tut mir leid, Mr. Perez«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Wirklich, ich würde Ihnen gern helfen. Aber im Fall meines Großvaters ...« Ihr Blick flog über die Wände, während sie nach Worten suchte. »Als ich davon erfuhr, habe ich geschworen, nie wieder mit ihm zu sprechen. Und dabei soll es bleiben. Tut mir leid.« Perez nickte betrübt. »Ich habe allerdings seine Telefonnummer.« Sie zog die Schublade auf, nahm ihr Adreßbuch heraus und schlug die erste Seite auf. »Vielleicht haben Sie mehr Glück, wenn Sie ihn anrufen. Er spricht fließend Englisch.« »Danke«, sagte Perez und tastete in der Manteltasche nach einem Stift. »Und darf ich Ihnen meine Karte dalassen? Für den Fall, daß Ihnen noch etwas einfällt oder Sie Ihre Meinung ändern?« Während er die Nummer ihres Großvaters notierte, las sie
seine Visitenkarte. Er war Investmentbanker, stellvertretender Geschäftsführer einer Firma in Hartford. Als sie wieder aufsah, betrachtete er die Fotos und Gegenstände an der Wand. »Ist das nicht verrückt? Sie setzen sich für Kriegsflüchtlinge ein und versuchen, Familien zusammenzuführen, und hier bin nun ich, um ...« Er verharrte beim Foto eines salvadorianischen Mädchens, das Mark aufgenommen hatte. Es trug ein zerlumptes rotes Kleid, aß eine Orange und lachte in die Kamera. »Sagen Sie: Finden Sie viele von den vermißt Gemeldeten wieder?« »Nein. Wenige.« Während eines kurzen Schweigens warf Elena einen Blick auf Perez' Papiere. Ihren Artikel hatte er nicht wieder herausgeholt, aber sie erinnerte sich an ihre Worte, an den Haß, mit dem sie die Patienten ihres Großvaters überzogen hatte. »Es tut mir leid, daß ich mich damals so über die Insassen der Klinik geäußert habe. Jetzt bin ich sicher, daß sie nicht alle Kriegsverbrecher waren. Manche waren wahrscheinlich einfach zu sensibel für das, was sie durchmachen mußten. Vielleicht gehörte auch Ihr Vater dazu.« Perez lächelte. »Vielen Dank. Sehr nett von Ihnen. Aber mein Vater hatte einen Spitznamen: Man nannte ihn die Bestie von Olia — so heißt das Heimatdorf meiner Eltern. Jetzt wissen Sie, warum ich nie hingefahren bin. Ich weiß, es ist feige von mir, aber zu erfahren, was er alles getan hat... Es ist die Klinik, die mich interessiert. Was dort passiert ist, warum er dorthin kam, ob ihn seine Taten gequält haben. Trotzdem vielen Dank für Ihre Worte.« Er sammelte seine Papiere ein, schob sie zurück in die Aktentasche. »Möchten Sie, daß ich Ihrem Großvater irgend etwas ausrichte, falls es mir gelingt, mit ihm zu sprechen?«
Einen Moment überlegte sie. Wieder die Versuchung. Und wieder sah sie die Folgen. »Nein. Nein, danke.« »Dann hab ich die Balance verloren, und zack, weg war ich. Mir kam es vor, als wäre ich zwanzig Minuten unter Wasser gewesen, gegen jeden Stein bin ich geknallt, der da unten lag. Als ich dann im Spital lag, guckte mich der Arzt an und fragte: >Wer hat Sie denn verdroschen?<« Vereinzeltes Lachen am Tisch. Elena schmunzelte und trank einen Schluck Clubsoda. Die Kellner des Francesca hatten drei Tische aneinandergeschoben, damit die elf Personen zusammensitzen konnten. Sie waren bedeckt mit Brotkörben, überragt von den kurzen roten Trinkhalmen der Getränke. Elena saß am anderen Ende der Tafel und verfolgte mit einem Ausdruck von Unbehagen, wie Mark seinen Freunden die Strapazen, die er durchgestanden hatte, als Anekdote darbot. »Dann setzte er sich doch glatt zu mir und sagte: > I c h wette, Sie hatten einen amüsanten Aufenthalte« Wieder lachten ein paar, und Mark schüttelte mit gespieltem Unglauben den Kopf, während er das Glas an die Lippen hob. Michael Barnard schaute, sich weit vorbeugend, an den anderen vorbei zu Mark hinüber. »Und wo war Colin, als das passierte?« Marks Gesicht erstarrte, er setzte das Glas ab, ohne getrunken zu haben. »Keine Ahnung. Er ist kurz davor ins Tiefland gefahren. Wir haben den Kontakt verloren.« Er schob sein Glas nervös über den Tisch. »Seitdem keine Nachricht mehr von ihm. Es sind jetzt fast zwei Wochen.« Sein Blick wanderte über den Tisch bis zu Elena. »Allmählich machen wir uns Sorgen. Stimmt's?«
Alle blickten Elena an. Plötzlich fühlte sie sich wie in einem Verhör. »Ja«, brachte sie heraus. »Ja, stimmt.« Ein ernster Ton kam auf. Einer der Fotografen entwickelte Theorien, wie Colins Ausbleiben zu erklären sei; die Frauen zeigten Mitleid mit Diane, die kurz vor der Entbindung mit solchen nervlichen Anspannungen fertigwerden mußte. Die Stimmung blieb gedrückt, bis Warren Parkham, Anfang Vierzig und Vater zweier Kinder, sagte: »Na, wenn er klug ist, bleibt er weg, bis das Kind drei ist.« Jetzt lachte der ganze Tisch, und Elena sah ihren Freund lauter lachen als alle anderen. Aber es klang seltsam — künstlich und gezwungen. Und dann, als das Gelächter versiegte, klappte sein Mund so plötzlich zu, daß Elena glaubte, sich verguckt zu haben. Die Lachfalten, die sie eben noch um Marks Mund und Augen gesehen hatte, waren verschwunden. Sein Gesicht wurde maskenhaft glatt. Doch es war, als wären seine Reaktionen nicht genau auf das Geschehen abgestimmt, als kämen sie um Bruchteile von Sekunden zu früh oder zu spät. Dann begriff sie, und die Härchen auf ihren Armen begannen zu kribbeln: Mark kopierte die anderen. Er hatte keine eigenen Gefühle. Es war noch nicht einmal acht, lange bevor die meisten anderen zur Arbeit kamen. Am Schreibtisch sitzend, lauschte sie auf die ungewohnte Stille im Haus. Fast die ganze Nacht hatte sie wach gelegen. Viele Male war sie drauf und dran gewesen, Mark zu wecken, um ihm von ihrer Beobachtung im Restaurant zu erzählen. Jedesmal war sie davor zurückgeschreckt. Als es hell wurde, sah sie ihn schlafen, sah den bleichen Himmel draußen, und plötzlich packte sie der Drang zu fliehen. Sie zog sich schnell an, bewegte sich fast geräuschlos durch die Woh-
nung, und während sie zur U-Bahn lief, kam die Sonne gerade über die Dächer und tauchte die menschenleere Straße in Gold. Das hatte Elena schon lange nicht mehr erlebt, ein Trost. Sie starrte aufs Telefon und überlegte, wen sie anrufen könnte. Unter normalen Umständen wäre es Diane gewesen, doch jetzt konnte sie ihre Freundin mit derartigen Dingen nicht behelligen. Sie dachte an Kollegen, an Freundinnen, sogar an Marks Kollegen, aber es war noch zu früh, und niemand erschien ihr passend. Auf ihrem Schreibtisch bemerkte sie die Visitenkarte, die Lewis Perez ihr am Vortag gegeben hatte, und fuhr zerstreut mit dem Finger über das erhabene Firmenzeichen. Warum hatte ihr Großvater ihm nie geantwortet? Sie schob die Karte weg und schaute erneut auf die Uhr. Kurz vor acht, fast vierzehn Uhr in Madrid. Spontan griff sie zum Hörer und wählte. »Diga?« Es war die Stimme ihrer Mutter, schwach und kratzig, wieder einmal eine schlechte Verbindung. »Hola, Mama.«
»Elena?! Mi querida! Dónde está?« Elena lachte. »En Nueva York, Mama. Yo vivo aquí, recuerdas?« »Ah, Nueva York. Estupendo.« Alle ihre Gespräche begannen so. Noch immer war ihre Mutter so altmodisch, Überseetelefonate als mittlere Wunder zu betrachten, und Elenas unzählige Anrufe in den letzten vier Jahren hatten daran nichts geändert. In ratterndem Spanisch teilte sie die Familienneuigkeiten mit, wie immer gejagt von zwei Ängsten - daß die Verbindung zusammenbrechen könnte und daß Elena für den Anruf ein kleines Vermögen ausgeben müßte. Atemlos erzählte sie von einem Ballett, das sie am Wochenende in der Kö-
niglichen Oper gesehen hatte, von den akademischen Fortschritten und Liebeswirren der Cousinen, von Geschehnissen bei Freunden und Nachbarn. »So, jetzt reicht's«, sagte sie unvermittelt, »wir werden gleich getrennt. Wie geht's dir? Wann kommst du mal nach Hause?« »Oh, das weiß ich nicht. Bald, hoffentlich.« »Was fehlt dir?« »Nichts, gar nichts. Mir geht's gut.« »Erzähl nichts. Ich höre an deiner Stimme, daß irgendwas los ist.« »Wirklich, Mama, es ist nichts.« »Du bist so eine schlechte Lügnerin. Du konntest mir noch nie was verbergen.« Da sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus: Sie erzählte, wie Mark vor ihren Augen verfiel und welche Angst ihr sein Verhalten im Restaurant eingejagt hatte. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Ich fürchte, es ist eine Art Zusammenbruch.« »Du mußt mit ihm zum Arzt, Elena.« Ihre Mutter klang jetzt ernst, fast streng. »Bring ihn auf der Stelle zum Arzt.« »Hab's versucht. Er will nicht.« »Er muß! Schlepp ihn einfach hin.« »Das schaffe ich nicht, er ist größer als ich«, versuchte Elena zu scherzen. »Soll ich rüberkommen? Ich komme und helfe dir.« »Nein, Mama, danke. Es geht auch so.« Und schon bereute sie ihre Offenherzigkeit. »Mach dir keine Sorgen. Ich schicke ihn sofort zum Arzt.« »Sofort«, beharrte sie. »Wirklich sofort.« »Okay, ich verspreche es.« »Und ruf mich an, ja? Ruf mich morgen abend an.« »In Ordnung.«
Eine kurze Stille, ein Knacken in der Leitung. »Ich denke an dich, Elena.« »Danke, Mama«, sagte sie, und ihre Kehle schnürte sich zu. Mark lag auf dem Rücken und wartete auf ihre Schritte, das Klappen der Tür, ihr leises Gesumm bei den morgendlichen Verrichtungen. Nichts zu hören: Er war allein. Er warf die Decke beiseite, schob die Füße über die Bettkante. Auf die Arme gestützt, versuchte er aufzustehen. Seine Knie zitterten, seine Beine schienen bleischwer, doch sie trugen ihn. Trotzdem traute er seinem Balancegefühl nicht; er sank auf die Bettkante zurück und zog sich im Sitzen an. Nachdem er den Spiegel aus der Halterung gelöst hatte, trug er ihn ins Wohnzimmer, wo er ihn an die hintere Wand lehnte. Dann ging er ans andere Ende: Wie einen kleinen, fernen Gegenstand entdeckte er sich in der Mitte der silbernen Fläche. Er machte sich auf den Weg und sah sein Spiegelbild wachsen. Besonders konzentrierte er sich auf die Knie, streckte sie und warf die Beine nach vorn, bis er beinahe den Halt verlor. Siebenundzwanzig Schritte. Er trat zur Stereoanlage und legte Mahlers Zweite Sinfonie auf. Violinen und Hörner übertönten seinen Schritt, und so lief er hin und her, bis die Musik zu Ende war. Achtundzwanzig. Er ließ die CD von vorn laufen und ging weiter. Dreißig. Seine Uhr piepste, es war zehn. Allmählich schmerzten seine Sohlen, also zog er Hausschuhe an. Dreiunddreißig Schritte. Vor dem Spiegel blieb er stehen. Er streckte die Hand aus. »Hallo, Mark Walsh.« Es klang zu steif, die Worte abgehackt. Er versuchte es noch einmal. »Hallo, Mark Walsh!« Schon besser, aber noch immerzu zaghaft. »Hallo! Ich bin Mark Walsh.«
Das klang gut. Zuversichtlich. Doch seine Schultern hingen schlaff, seine Beine zitterten. »Hallo, Mark Walsh, wie geht's?« Seine Haltung war nun selbstbewußt, sein Gesicht zeigte ein freundliches Lächeln. Er sah die Zahl 24 und überlegte, wann er sie an die Wand geschrieben hatte. Gestern? Wirklich erst gestern? Seine Brust krampfte sich zusammen, und er wurde von dem Gedanken gepackt, daß er nicht wirklich hier stand, daß er schon lange tot war, daß er dort oben auf dem Gipfel zurückgeblieben war, im Gras der Bergwiese, in der schwarzen Strömung des Flusses. Vielleicht auch schon vorher: in Afghanistan oder im Libanon, in einem entlegenen Tal, in der Nähe eines Dorfes, dessen Namen er nicht kannte. Wie konnte es sein, daß er nach neun Jahren in diesem Beruf, nach allem, was er gesehen und erlebt hatte, noch immer lebend vor dem Spiegel stand, in seiner eigenen Wohnung, während die Morgensonne durch die Fenster schien? Mit einer letzten Anstrengung baute er sich vor dem Spiegel auf. Er stand gerade, die Schultern gereckt, und streckte mit einem breiten Lächeln die Hand aus. »Mark Walsh. Freue mich, Sie kennenzulernen!« Da wußte er, daß er noch lebte, trotz allem, was ihm passiert war, daß er seinen Mann stand und daß er es schaffen würde. Elena lehnte am Küchenbuffet und sah ihn in dem Essen stochern, das sie ihm zubereitet hatte. »Du mußt zu Harold gehen.« Argwöhnisch schaute Mark zu ihr auf. »Klar. In ein paar Tagen. Wenn es bis dahin nicht besser ist.« »Morgen. Nicht in ein paar Tagen. Gleich morgen.« Sie setzte sich neben ihn; er starrte auf seinen Teller. »Dir geht
es nicht gut, Mark. Ich weiß zwar nicht, was dir fehlt, aber ich weiß, daß du zum Arzt mußt.« Sie drückte seine Hand, um einen Blick von ihm zu erhäschen. »Wenn du willst, komme ich mit.« »Nein, schon gut. Das kriege ich hin.« »Aber du gehst? Versprochen?« Er nickte, blinzelte nervös. Sie beugte sich vor und küßte seine Fingerknöchel. »Mark, ich hab dich lieb.« Dann ließ sie seine Hand los und richtete sich wieder auf. Das also war geschafft. Für heute abend gab es nichts mehr zu tun, nichts mehr mit sanftem Druck durchzusetzen. Elena schaute hinaus in die Abenddämmerung. »Es ist noch früh. Was möchtest du tun?« »Dich lieben.« Sie starrte ihn an. Das war absurd. So absurd, als hätte er vorgeschlagen, Wasserski zu fahren. An seinem traurigen, verängstigten Gesicht erkannte sie, daß er sie nicht lieben wollte, zumindest nicht aus Gründen, die ihr vertraut waren. Aber konnte sie ihm denn sagen: Nein, du bist so kaputt, daß du nicht mehr weißt, was du willst? Sie nickte zögernd. »Na gut.« Sein Blick war das erste, was Elena an jenem Abend vor drei Jahren aufgefallen war: so wachsam, so flink, wie sie es nie zuvor an jemandem gesehen hatte. An jenem Abend hatte sie geglaubt, es liege Angst in diesem Blick, vielleicht auch etwas Besessenheit, und das hatte sie gereizt, hatte ihre Neugier entfacht. Erst mit der Zeit, als sie schon eine Weile zusammen waren, begriff sie, daß seine Augen einfach zuviel gesehen hatten und deshalb ständig auf der Hut waren. Er drang in sie ein, Elena hielt ihn mit beiden Händen umschlungen. Seine Schulterblätter ragten in die Höhe,
und überdeutlich zeichneten sich seine Rippen unter der mageren Brust ab. Sie umfaßte seine Hüfte, die sich kraftlos auf sie niedersenkte, und streichelte ihn. Sein ganzer Körper erschien ihr wie eine Ansammlung stumpfer, zerbrechlicher Waffen. Nach einer Weile wurden seine Bewegungen langsamer und unregelmäßig, dann hörte er ganz auf. Elena öffnete die Augen und sah, daß er entmutigt auf sie herabblickte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Meine Beine. Sie machen nicht mit.« Sie rollte ihn behutsam zur Seite, legte sich auf ihn und fiel in einen sanften Schaukelrhythmus. Seine Augen waren weder wachsam noch flink, zeigten weder Besessenheit noch andere Regungen. Um sie nicht sehen zu müssen, bettete Elena den Kopf aufs Kissen. Ihre Finger wühlten in seinem Haar, stießen auf die Wunde an seinem Hinterkopf. Sie schloß die Augen, steigerte ihr Tempo und hoffte, daß es bald vorbeiginge. Sein Körper bäumte sich auf, und Elena stellte sich vor, wie sein Blut zusammenströmte und er sich in sie ergoß. Später lag sie neben ihm und spürte seinen heißen, flachen Atem an ihrem Hals. Sie strich ihm über den Arm, seine Härchen kitzelten ihre Fingerspitzen. Den Kopf hebend, schaute sie ihn an. »Mark, bitte sag mir, was dort gewesen ist.« »Nichts, Elena.« Seine Augen waren graue Steine. »Nichts ist gewesen.« Sie war gerade erst zehn Minuten im Büro, als ihre Mutter anrief. Das hatte sie nie zuvor getan, und Elena war sofort alarmiert. »Ist was passiert, Mama?« »Nichts, meine Kleine, nichts. Na ja, ein bißchen.« Elena dachte an ihre Verwandten, an Autounfälle, Krebs-
erkrankungen, dann merkte sie, daß die Stimme ihrer Mutter gar nicht besorgt geklungen hatte. Eher abwartend, ein wenig verhalten, vielleicht schuldbewußt. »Wahrscheinlich wirst du jetzt böse mit mir sein.« »Was hast du denn angestellt?« »Ich?« Protestierend hob ihre Mutter die Stimme. »Nichts!« Elena seufzte. »Na gut. Also, worauf willst du hinaus?« »Nach unserem Gespräch gestern habe ich mir natürlich Sorgen um Mark gemacht, und ich habe überlegt, wer in solchen Dingen Bescheid weiß. Da fiel mir dein Großvater ein. Ich habe ihn angerufen.« Elena atmete auf. »Das ist alles? Ach Mama, deshalb hättest du doch nicht hier anrufen müssen.« »Ich meine nicht meinen Vater, sondern den Vater deines Vaters. Opa Joaquín.« »Oh.« »Ich weiß, daß du etwas dagegen hast, aber schließlich ist er ein Fachmann.« Ihr Großvater war kein Fachmann und war nie einer gewesen, aber Elena wollte diese Auseinandersetzung nicht von neuem beginnen. »Na, wenn du meinst. Mir wäre zwar lieber gewesen, du hättest das nicht getan, aber was soll's.« Ihre Mutter hüstelte bedeutungsvoll. »Er kommt nach New York.« »Was?« Elena fuhr hoch. »Ich habe ihm gesagt, es sei nicht nötig, aber er besteht drauf. Er sagt, er könne Mark helfen.« »Das kann er nicht!« schrie Elena gegen ihren Willen. »Er kann überhaupt nichts tun!« »Er will doch nur helfen, Elena.« »Das kann er aber nicht. Er macht alles nur schlimmer. Ruf ihn an und sag ihm, er soll nicht kommen!« »Ich hab's ja versucht. Hab ihm gesagt, du kämst gut zu-
recht, aber er läßt es sich nicht ausreden. Er ist ein Fachmann.« »Nein, das ist er nicht, Mama! Er ist ein Scharlatan. Und ein Verbrecher. Tut mir leid, er ist nun einmal dein Schwiegervater, und du magst ihn, aber das mußt du einfach verstehen.« Ihre Mutter klang verletzt. »Du mußt verzeihen lernen, Elena. Das ist alles lange her, fast fünfzigjahre schon, mein Gott.« Elena massierte ihre Schläfe. »Ich habe nicht die Zeit, das alles wieder aufzurollen, Mama. Ich will ihn einfach nicht sehen, erst recht nicht jetzt. Ruf ihn bitte an und sag ihm, daß er nicht kommen soll.« »Das hab ich doch versucht! Du weißt, wie starrköpfig er ist.« »Okay, dann rufe ich ihn an.« Wieder das nervöse Hüsteln am anderen Ende der Leitung. »Dann mußt du dich beeilen. Er fliegt in drei Stunden.« »Er kommt schon heute? Mama, nein!« »Er ist ein Mann der Tat, Elena. Das mußt du ihm lassen.« Mark stieß die Glastür der Buchhandlung auf und trat ein. »Wo ist die Reiseabteilung?« Die Kassiererin musterte ihn fragend, dann machte sie eine Kopfbewegung. »Oben.« Er hastete so zielstrebig durch das Erdgeschoß, daß die Kunden von ihren Büchern aufschauten und zur Seite wichen. Er stieg die Treppe hinauf. Als erstes suchte er Bücher über die Umgebung New Yorks. Schon vor längerer Zeit hatte er mit Elena überlegt, daß es besser sei, aus New York wegzuziehen, doch der Gedanke hatte nie konkrete Gestalt angenommen. Das größte Problem war immer Elenas Arbeit gewesen, jeden
Morgen mußte sie in die 44th Street fahren, und dafür war Brooklyn günstig gelegen. Jetzt aber wurde alles anders. Wenn sie ein Baby bekamen, würde sich Elena wahrscheinlich ein halbes Jahr beurlauben lassen. Und daß sie danach ihre Stelle wieder antrat, war kaum zu erwarten — nein, eher nicht. Bei anderen Paaren hatte Mark ähnliches schon öfter beobachtet, und da seine Karriere gerade kräftig Aufwind bekam, seine Bilder in Auktionen gingen und man ihm erstklassige Aufträge anbot, konnten sie sich das auch leisten. Er würde sie alle ernähren, sich, Elena und das Kind. Er blätterte in Büchern über Long Island. Nicht seine Lieblingsgegend, aber gute Verkehrsverbindungen für Elena. Dann fiel ihm das Baby ein und daß die Fahrzeiten bald keine Rolle mehr spielen würden. Also war Long Island erledigt. Connecticut? Nein, unmöglich. Nichts als ein großer Rasen, auf dem sich an den Wochenenden Versicherungsleute, Banker tummelten. Auch das nördliche New Jersey nicht. Zu nah an der Stadt, ein häßliches Anhängsel. Er griff nach einem Buch über das Hudson Valley. Ansichten von Kleinstädten an einem Fluß, schlecht fotografiert, schlecht gedruckt, doch interessant hinsichtlich der Entfernungen. Hudson Valley? Die Adirondacks nahebei, noch nicht alle ländlichen Gegenden von Suburbia überwuchert, recht gute Schulen für das Kind. Ja, das war eine Möglichkeit. Mark lief die Regale ab und blieb bei den ausländischen Reiseführern stehen. Vorher hatten sie einen Urlaub nötig. Die Karibik? Indonesien? Brasilien? Etwas Exotisches, doch nicht zu anstrengend. Etwas, wo man am Strand liegen konnte, die Welt war schließlich voll davon.
Es schnarrte ein paarmal, dann hörte sie die Stimme ihres Großvaters auf dem Anrufbeantworter. Sie fuhr zusammen. Anrufbeantworter waren in Spanien noch nicht sehr verbreitet, und daß ihr Großvater neue Moden mitmachte, hatte sie nicht erwartet. Als der Piepton kam, war sie um die rechten Worte verlegen. »Hallo, Großvater. Hier ist Elena. Ich habe gerade von meiner Mutter erfahren, daß du herkommen willst. Ich finde, das ist keine gute Idee. Mark hat...« Sie suchte nach einer glaubhaften Lüge. »Mark hat schon einen Arzt, mit dem er sehr zufrieden ist. Überhaupt geht es ihm schon viel besser als gestern. Also fühl dich nicht gedrängt zu kommen. Bitte, komm nicht!« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, kamen sie ihr unnötig direkt, geradezu grob vor. »Es tut mir leid, hier ist im Moment alles etwas schwierig, nicht die beste Zeit für einen Besuch. Okay? Ruf mich bitte an, wenn du die Nachricht erhalten hast.« Sie gab ihre Nummer durch. Was sollte sie noch sagen? Daß sie ihn gern hatte, daß sie ihn vermißte? Was das betraf, konnte sie nicht lügen. »Ich glaube, das ist alles. Mach's gut.« Sie legte auf. Noch drei Stunden bis zu seinem Abflug. Sicherlich war er noch nicht zum Flughafen gefahren, sicherlich packte er noch. Sie stellte sich vor, wie ihr Großvater in seinem Wohnzimmer stand und ihre Worte hörte, die ersten Worte nach fast sechs Jahren, und daß sie ihm weh taten. Joaquín beugte sich über den Anrufbeantworter und sah die Kassette zurückspulen, als Carmen eintrat. »Wer war das?« »Elena. Ich bin nicht schnell genug gewesen.« »Freut sie sich, daß Sie kommen?« »Freuen ist nicht das richtige Wort«, sagte Joaquín. »Ich
würde eher sagen, sie ist... außer sich. Überglücklich.« Er drehte sich zu seiner Haushälterin um. »Wir stehen uns sehr nahe, wissen Sie.« »Darf ich Ihnen behilflich sein?« Mark wandte sich von den Stofftieren ab und sah sich einem gepflegten Mann Mitte Zwanzig mit weißem Hemd und dunkler Krawatte gegenüber. »Danke, ich sehe mich nur um.« Der Verkäufer kam ein wenig näher und senkte die Stimme. »Ich meine: Fehlt Ihnen was? Brauchen Sie Hilfe?« Mark griff nach einem kleinen Pandabären — oder war es ein Waschbär? —, und der junge Mann nahm ihn beim Ellbogen, als er zu wanken begann. »Sind Sie in Begleitung hier? Möchten Sie, daß ich j e manden anrufe?« Die Wand war bis fast unter die Decke voller Stofftiere. Mark fühlte sich eingekreist, er rang nach Luft. »Nein«, flüsterte er, »nein, es geht schon.« Er verließ das Geschäft und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Jetzt fiel ihm auf, daß die Leute ihn seltsam anschauten. Er wich den Blicken aus und sah sein Spiegelbild in einem Schaufenster, seinen schlurfenden Gang, seinen gekrümmten Rücken. Im Weitergehen betastete er die Wunde am Hinterkopf, die dicke Schwellung. Doch seine Finger blieben sauber und trocken. Im Eingang zur U-Bahn blieb er stehen. Lange spähte er die Treppe hinunter, in die Dunkelheit, und war außerstande weiterzugehen. Er lehnte sich ans Geländer, hob den Kopf, schnappte nach Luft. »Brauchen Sie Hilfe?« Eine gebeugte alte Dame schaute zu ihm auf, als wäre er eine moderne, etwas fragwürdige Skulptur.
»Wenn Sie mir ein Taxi besorgen könnten, bitte?« Sie half ihm in den Wagen, und als er anfuhr, lehnte sich Mark ans Seitenfenster. Der kalte Wind blies ihm ins Gesicht, und er war froh, den Blicken der Leute entkommen zu sein. Erneut rief sie zu Hause an, und wieder schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie legte auf und wählte die Nummer von Harold Feingolds Praxis. »Hallo, hier ist noch einmal Elena Morales. Ist Mark Walsh inzwischen bei Ihnen eingetroffen?« Die Frau in der Anmeldung seufzte gereizt. »Nein, Ms. Morales. Und angerufen hat er auch nicht. Geben Sie mir doch Ihre Nummer, ich rufe Sie zurück, sobald er sich hier meldet.« Elena überlegte. Mark würde glauben, daß sie ihm nachspionierte. »Nein, schon gut. Tut mir leid, ich werde Sie nicht mehr behelligen.« »Danke, Ms. Morales.« Elena knallte den Hörer auf. Wo steckte er? Sie wählte erneut und wartete eine kleine Ewigkeit, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete. »Mark, ich weiß nicht, wo du dich aufhältst, aber ruf mich bitte an, sowie du zu Hause bist.« Sie dachte einen Moment nach: Es war zwecklos, heute noch weiterzuarbeiten. »Ach nein, laß es bleiben, ich komme jetzt nach Hause. Ich glaube, wir kriegen heute noch Besuch.« Er lehnte den Kopf an den kühlen Wannenrand und sah den Dampf aufsteigen. Die Hitze des Wassers wärmte ihm die Glieder, durchströmte seine Knie und Hüften, tat ihm gut. Von fernher hörte er das Telefon klingeln. Es klingelte viermal, dann sprach eine Stimme auf den Anrufbeant-
worter. Was der Anrufer sagte, hörte er nicht. Ob es Amy mit Neuigkeiten von der Auktion war? Er schloß die Augen und sah jedes Bild, jeden Moment, als ob er ihn von neuem durchlebte, als ob er ihm nie entkommen wäre. Mustafa Karim, einunddreißig, Bauernsohn, Vater dreier Kinder, einst Fließbandarbeiter bei Opel in Rüsselsheim, jetzt mit einer Kugel im Bauch in der Höhle von Harir. Dr. Ahmet Talzani, vierunddreißig, Sohn eines Ladenbesitzers, einst Neurologiestudent an der Universität Michigan, jetzt Lazarettarzt mit blutbeflecktem Kittel. Talzani beugt sich über Mustafa, spricht zu ihm, während seine Finger mit den Plastikmarken spielen. Dann streckt er die rechte Hand aus, und die Marke, die sie hält, verschwimmt über Mustafas Brust zu einem unkenntlichen Wölkchen. Mustafa starrt mit geweiteten Augen in die Kamera, seine Lippen entblößen braune Stummelzähne, und im Vordergrund, ganz am unteren Bildrand, umklammern Mustafas blutverklebte Finger die Plastikmarke, und sie ist blau. Vor der Höhle, ohne Blitzlicht. Drei Männer auf Bahren in der Sonne, da liegt Mustafa, er hat blaue Augen. Dann wird Mustafa zum Friedhof getragen, neben ihm der Mullah, aus dem Koran vorlesend, Talzani am linken Bildrand, mit gesenktem Kopf. Ein letztes Gebet, Mustafas Hände werden über der Brust gefaltet, sein Mund ist zur Grimasse verzogen, er hat Angst. Jetzt kniet sich Talzani neben ihn, zieht die Decke weg, die Decke ist braun. Mustafa preßt die Augen zu, sein Mund ist zum Schreien geöffnet, die Pistole. Die nächsten Aufnahmen mit Serienbildschaltung, weil alles sehr schnell gehen wird, ein hellgelber Blitz in Talzanis Hand, ein rotes Wölkchen, und Mustafas Kopf ist zur Seite gedreht, mit aufgestülpten Lippen, der Schmerz oder die Angst oder der Schrecken sind aus seinem Gesicht gewichen. Mustafa hat seinen
Frieden, seine Seele ist schon unterwegs zum Paradies, steigt auf in den blauen Himmel. Dann eine andere Vision, gegen die Mark ankämpfte: Colin, allein in der Wüste, und eine donnernde Walze aus Sand rollt auf ihn zu, türmt sich über ihm auf, er rudert mit den Armen und versucht taumelnd zu entkommen, aber es ist zu spät, sie hat schon seine Füße erreicht, verschlingt ihn. Mark öffnete die Augen: Das Bild war verschwunden. Er schaute ins Wasser und sah seinen Leib, weiß und trüb, verschwommen. Er berührte seine Beine. Sie fühlten sich an, als gehörten sie jemand anderem. Er versuchte, sie aus dem Wasser zu heben, aber er machte nur ein paar Wellen, die Beine kamen nicht hoch. Sich am Wannenrand festhaltend, wollte er sich hochstemmen, umsonst. Die plötzliche Angst, die Hitze, der Dunst nahmen ihm den Atem. Er schob sich über den Wannenrand, die Beine folgten nach und krachten dumpf auf die Kacheln. Der Boden war angenehm kühl, aber in den Beinen spürte er nichts. Er rollte sich auf den Rücken und sah Dampf von seiner Brust aufsteigen. Dann war er wieder auf dem Berggipfel, stolperte auf den Fluß zu und sprach sein letztes Gebet: »Hier will ich nicht sterben, hier will ich nicht sterben.« Und diesmal ließ er den Tränen freien Lauf. So fand sie ihn. Sein bleicher Körper auf den weißen Kacheln, die grünen Augen geöffnet, zitternd vor Kälte. Anstatt in Panik zu geraten, holte sie ein Handtuch und trocknete ihn, so gut es ging, ab. Sie brachte ihm frische Sachen und half ihm beim Anziehen für die Fahrt ins Krankenhaus. Sie weinte nicht. Beherrscht setzte sie sich neben ihn auf
den Badezimmerboden, nahm seinen Kopf auf den Schoß, streichelte ihm die Wange und wartete mit ihm auf die Sirene des Krankenwagens. Sie fragte nicht, ob er Angst habe. Statt dessen erzählte sie von ihrem Großvater. »Er kommt dich besuchen«, sagte sie. Da hörte sie schon die Sirene. »Du wirst ihn sicher mögen. Er ist ein Faschist.« Wieder die Hilflosigkeit. Mark spürte kräftige Hände, die ihn auf die Trage hoben, die Gurte über Brust und Knien wurden festgezogen, mit Verwirrung und Staunen nahm er wahr, aus welch niedriger Perspektive er sein eigenes Wohnzimmer sah. Dann wurde er hinausgebracht, schräg im zu engen Service-Lift aufgestellt, und erneut spürte er die kräftigen Hände, die auf seine Brust drückten, sich unter seine Achseln schoben und ihn in der Schräglage hielten, bis der Fahrstuhl unten war. Er wurde in den Krankenwagen bugsiert, Elena saß bei ihm, und Mark versuchte im Gesicht des jungen Latinos zu lesen, der sich über ihn beugte, ihm eine kalte, ledrige Hand an den Hals legte, um seinen Puls zu fühlen. Fröstelnd lag er in der Notaufnahme und blinzelte in das grelle Licht, das von den Kacheln, dem Chrom, dem weißen Bettzeug abstrahlte. Mit den Gesichtsmasken, Hauben, OP-Handschuhen und den grünen, pyjamaartigen Kitteln sahen alle um ihn herum geheimnisvoll aus. Ruhe erfüllte ihn; friedlich überließ er sich der klinisch sauberen, unblutigen Umgebung. Eine Frau mit Maske und Schmetterlingsbrille beugte sich über ihn. »Wie fühlen Sie sich?« »Gut«, sagte er und entzifferte das kleine weiße Namensschild auf ihrem Kittel: »Patricia Swenson, Notaufnahme«.
Er betrachtete die muskulösen Unterarme des Krankenpflegers, der ihn einen Korridor entlangrollte, er lauschte im halbdunklen Röntgenraum auf das Summen der Geräte. Auf der Rückfahrt kamen sie an einem alten Mann vorbei, der auf einer Liege festgeschnallt war und sich stöhnend den Bauch hielt. Mark erinnerte sich an die Autobombe im Basar von Karatschi, an Colin, der plötzlich zur Seite lief, über Leichenreste stolperte und sich in einen Graben erbrach. Patricia Swenson stand wieder neben ihm. Sie hielt eine Röntgenaufnahme in die Höhe, Mark sah die rauchig weißen Umrisse seines Schädels und folgte dem Finger der Schwester, bis er an einem kleinen weißen Punkt innehielt. »Sie haben einen Fremdkörper im Kopf.« Mark dachte an die Nacht im Hotel von Karatschi, an den betrunkenen, tobenden Colin, der laut fluchte und sich den Kopf hielt, als flöge er jeden Moment auseinander. Auf dem Bauch liegend, hörte Mark das Summen des Rasierers hinter dem Ohr. Eine Männerstimme — »das piekst jetzt ein bißchen« —, dann spürte er den ersten Stich. Er klammerte sich an den Rand der Liege, biß die Zähne zusammen, und hinter seinen geschlossenen Lidern erschien ein Nachmittag in der Blue Moon Tavern, vier Monate nach Karatschi, eine Woche vor Kurdistan, als Colin ihm gesagt hatte, er werde nicht mitkommen: »In meinem Kopf bleiben Narben zurück. Jedesmal bleiben Narben zurück.« Die OP-Lampen waren nah und warm. Trotz der Narkose spürte Mark die Finger in Gummihandschuhen, die den Schnitt weiteten, das Kratzen von Stahl an seinem Schädel, keinen Schmerz, nur eine Wahrnehmung. Und ihm fielen die Worte ein, mit denen er Colin im Blue Moon zum Mitkommen bewegt hatte: »Du mußt die Dinge auseinanderhalten. Dann spürst du nichts.«
Vier
Der Warteraum hatte das triste Aussehen eines Busbahnhofs - lange Reihen Plastikstühle, stumpfgraues Linoleum am Boden, Leuchtstoffröhren an der Decke, die ein hartes Licht verbreiteten, schattenlos und kalt. Elena gegenüber saß eine Latino-Familie, Mutter, Vater und drei kleine Kinder, eng aneinandergeschmiegt und leise flüsternd. Der Kleinste saß auf dem Schoß seiner Mutter, und Elena beobachtete, wie die Mutter dem Kind durch das dichte schwarze Haar strich, den nachdenklichen Blick auf den Fußboden geheftet. Die Milchglastür zur Notaufnahme öffnete sich. Eine Frau in grüner Krankenhauskluft kam herein. Sie warf einen Blick auf eine Liste und schaute suchend in den Raum. »Ms. Morales?« Elena stand auf. »Hallo«, sagte die Frau. »Gehören Sie zu Mark Walsh?« Elena nickte. »Nun, wir haben erstmal ein bißchen bei ihm aufgeräumt.« Die Schwester wies Richtung Tür. »Jetzt ist er in der Neurologie.« »Wie geht es ihm?« »Oh, er wird's überleben«, antwortete die Schwester fröhlich. »Wir haben nur die Kopfwunde behandelt. Sie ist eher harmlos, keine Fraktur, keine Infektion, aber wir haben einen Gegenstand entfernt.« »Einen Gegenstand? Was meinen Sie damit?« Das Lächeln der Schwester schwand. »Einen Fremdkörper, der nicht dahingehörte.«
»Aber was für ein Fremdkörper?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Dafür ist die Pathologie zuständig.« Die Schwester wippte auf den Absätzen und wollte gehen. »Also ...« »Und was ist mit seinen Beinen?« Die Schwester musterte sie kurz. »Dafür ist die Neurologie zuständig, tut mir leid. Doch ich bin sicher, daß die Neurologin jede Ihrer Fragen beantworten kann.« Ihr Blick löste sich von Elena, wanderte durch den tristen Warteraum. »Gedulden Sie sich bitte noch ein paar Minuten.« Sanfte, zielstrebige Hände tasteten seine Wirbelsäule ab, verharrten an bestimmten Punkten, um zu reiben oder zu drücken, kneteten seine Hüftmuskeln, seine Knie, preßten seine Füße und drehten sie vorsichtig in den Gelenken. »Ist wie eine Massage der Extraklasse, was?« Dr. Christopher breitete das Laken über ihn und rollte ihn auf den Rücken. Sie war Mitte Dreißig, hatte zurückgebundenes blondes Haar, und Mark verfolgte minutenlang ihre Mundbewegungen, solange sie die Akte las und seine Röntgenaufnahme gegen das Licht hielt. Zuvor, während sie seine Beine untersucht hatte, war ein Pfleger hereingekommen und hatte ein Plastiktütchen mit grünem Aufkleber auf den Nachttisch gelegt. Dr. Christopher griff nach dem Tütchen und tippte mit dem Finger auf den Gegenstand, der sich darin befand. Mit strahlendem Lächeln wandte sie sich an Mark. »Also, Mr. Walsh, gibt es da noch etwas, was Sie mir erzählen wollen?« Mark verstand nicht. Sie strich die Tüte glatt und setzte sich auf den Hocker neben der Liege.
»Was ist nun wirklich passiert? Die Geschichte mit dem Fluß ist doch Unsinn. Das hab ich auf den ersten Blick gesehen.« »Nein, ist sie nicht«, erwiderte Mark. »Es ist so gewesen.« Sie forschte in seinem Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Na gut. Aber dann ist noch was anderes passiert, was Sie uns verschweigen. Ihre Verletzungen können nicht daher rühren, daß Sie über ein paar Steine geschleift wurden. Sie haben Schwellungen und Reizungen entlang der Wirbelsäule. Das wird als Rückenmarksschock bezeichnet, und verursacht wird er durch eine schwere Stauchung der Wirbelsäule entweder von unten oder von oben. Der Stoß ging durch Ihren Körper und wurde von der Wirbelsäule aufgefangen. Hierzulande kommt es dazu, wenn jemand aus dem dritten Stock springt oder einen Kopfsprung ins flache Wasser macht, auch Blitzschlag kommt in Frage. Eine schwere Stauchung — da muß der Aufprall auf den Stein im Fluß schon sehr heftig gewesen sein. Und wenn Ihnen das passiert wäre, dann wären Sie jetzt nicht hier.« Dr. Christopher nahm die aufgeklappte Karteikarte vom Nachttisch. »In Ihrer Krankenakte steht, daß Sie Kriegsfotograf sind, daß Sie gerade in Kurdistan waren, und das bringt mich auf eine andere mögliche Erklärung: einen Granatschock.« Sie musterte Mark über den Rand der Krankenakte. »Sind in Ihrer Nähe irgendwelche Bomben oder Geschosse detoniert, Mr. Walsh?« Er schwieg. Sie legte die Akte weg und zeigte ihm das Plastiktütchen. Er erkannte einen gekrümmten schwarzen Gegenstand von der Größe eines Fingernagels. »Ehrlich gesagt, ich bin auch erst drauf gekommen, als ich das hier gesehen habe. Es wurde aus Ihrem Kopf entfernt. Ist Metall — Stahl, genauer gesagt.« Sie las vor, was auf dem grünen Aufkleber stand: »Zusammensetzung: Stahl-Kad-
mium-Legierung mit Spuren von Trinitrotoluol, TNT. Drei Millimeter dick, zerklüftete Ränder, an zwei Seiten eingerollt, weist auf extreme Krafteinwirkung hin. Vermutlich ein Granatsplitter.« Sie tat das Tütchen beiseite und wandte sich ihm zu. »Was ist passiert, Mr. Walsh?« Er blickte in eine Ecke des Raums. »Ein Geschoß.« »Wie weit entfernt?« »Vielleicht zwölf, fünfzehn Meter. Ich stand auf einem Berg. In den Hang unter mir ist es eingeschlagen.« »Also waren Sie vor der direkten Druckwelle geschützt. Woraus bestand der Untergrund? Felsen?« »Vor allem Felsboden, stellenweise Erde.« »Und während der Detonation standen Sie auf dem Felsboden?« Er versuchte sich zu erinnern. »Ja, wahrscheinlich.« Dr. Christopher nickte. »Felsen leiten Druckwellen sehr gut weiter. Okay, jetzt wird Ihre Geschichte glaubhaft.« Sie zog einen Stift hervor, nahm seine Akte und begann zu schreiben. Mark lauschte auf das Kratzen des Stifts, ein angenehmes Geräusch, während er mit dem Plastikband an seinem Handgelenk spielte. Endlich war ihm etwas leichter: als wäre ein Last von ihm genommen. Als das Kratzen aufhörte, blickte er hoch und sah, daß Dr. Christopher ihn betrachtete. In ihrem Blick lag etwas Zutrauliches, fast Neugieriges, das er vorher nicht bemerkt hatte. »Damit wäre ein Rätsel gelöst«, sagte sie sanft, »aber daraus ergibt sich ein noch größeres. Warum haben Sie nicht gesagt, was wirklich passiert ist? Warum haben Sie es Ihrer Partnerin nicht erzählt?« Mark fühlte sich auf der Untersuchungsliege wehrlos und ausgeliefert. »Weiß nicht. So fiel es mir am leichtesten.«
»Wieso das?« »Elena hat Angst um mich, wenn ich in diese Gegenden fahre. Hätte ich ihr davon erzählt, wäre sie entsetzt gewesen. Nach der Detonation bin ich in den Fluß gefallen und habe mir die Prellungen geholt, also hab ich's darauf geschoben. Wer sollte das auch auseinanderhalten?« Dr. Christopher blickte ihn abwartend und mit verschränkten Armen an. »Ihre Freundin meinte bei der Einlieferung, daß Sie sich seit Ihrer Rückkehr seltsam verhalten hätten — abwesend, nervös, gereizt. Sie hätten anfangs nur ein wenig gehinkt, dann schlimmer. Stimmt das?« »Vermutlich.« Mark mußte schlucken. »Trotzdem geht Ihre Heilung voran.« Sie wedelte mit der Hand über seinem Körper. »Dank der Computertomographie haben wir einen guten Einblick in die Symptomatik beim Rückenmarksschock, und alles deutet darauf hin, daß Sie den Höhepunkt der Krise schon vor ein, zwei Wochen überschritten haben.« Gedankenverloren strich sie über das Tütchen mit dem Granatsplitter. »Organische Schäden lassen sich an Ihren Beinen nicht feststellen. Keine größeren Nervenverletzungen, keine Frakturen oder Bänderrisse, keine rein physiologischen Ursachen für eine Lähmung. Wir können natürlich noch ein paar Untersuchungen machen, Sie zu anderen Spezialisten überweisen ...« Sie schaute ihn forschend an. »Ich bin jedoch ziemlich sicher, daß die Verletzungen, die Sie sich in Kurdistan zugezogen haben, nachträglich durch eine Art psychosomatische Reaktion kompliziert wurden. Wenn ich die Diagnose mit dem vergleiche, was Ihre Partnerin gesagt hat, ist das die beste Erklärung.« Sie versenkte das Tütchen in ihrer Kitteltasche. »Ich bin kein Psychiater, Mr. Walsh, aber ein Psychiater wäre jetzt meiner Meinung nach genau das richtige für Sie.«
Sie schaute auf die Uhr und erhob sich abrupt, griff nach der Krankenakte und sagte mit einem verhaltenen Lächeln: »Was sagen wir also Ihrer Partnerin?« »Wie meinen Sie das?« »Sie möchte mit mir sprechen, aber aus Rechtsgründen darf ich ohne Ihre Erlaubnis nichts mitteilen.« Mark blickte auf das Plastikarmband. »In Ordnung. Sie können ihr alles sagen.« »Eine gute Entscheidung.« Sie schlug ihm sanft mit der Mappe auf den Arm. »Die Pfleger bringen Sie gleich rauf. Alles Gute, Mr. Walsh.« Mit schnellen Schritten verließ sie den Raum. Er erkannte sie sofort. Eine atemberaubend schöne Frau mit langem schwarzem Haar, zart gebaut — erst später wunderte sich Joaquín, warum er sie mitten im Gedränge sofort ausgemacht hatte. Bei ihrer letzten Begegnung war Elena zweiundzwanzig gewesen, hübsch zwar, doch noch ungelenk und schlaksig, eher Mädchen als Frau. Erst später, als er schlaflos in seinem Hotelbett lag, wurde ihm klar, warum er seine Enkeltochter gleich erkannt hatte: Sie war die einzige Wartende in der Ankunftshalle gewesen, die den Ankommenden nicht mit freudigem Ausdruck entgegengesehen hatte. »Elena, meine Kleine!« rief er auf spanisch. Erließ den Gepäckkarren stehen, eilte zum Geländer, lehnte sich hinüber und umarmte sie. Herzhaft küßte er sie auf beide Wangen und hielt sie, da sie zurückwich, an den Schultern fest. »Laß dich ansehen! Ich wußte, daß du eine Schönheit wirst, aber das ist ja schon fast kriminell!« Elena lächelte, verdrehte die Augen. »Danke, Großvater.« Sie blickte an ihm vorbei. »Vielleicht solltest du weitergehen. Du hältst den Betrieb auf.«
Joaquín ließ die Arme sinken. »Ja, natürlich.« Er holte seinen Gepäckkarren und reihte sich in den Strom der Ankömmlinge ein. Elena staunte, wie leichtfüßig er für einen Mann von Mitte Siebzig noch war. Von hinten konnte man ihn gut und gerne für zwanzigjahre jünger halten, wenn man das schüttere weiße Haar übersah. Sie verließ ihren Platz am Geländer und nahm ihn am Ausgang in Empfang. Abseits von der Menge drückte er sie noch einmal. »Du siehst wundervoll aus, meine Kleine. Wirklich wundervoll.« Sie machte sich steif, seiner Umarmung widerstrebend, und er ließ sie los. »Wie war dein Flug?« Seinen Karren packend, setzte sie sich in Bewegung. »Mein Flug? Unsäglich. Früher waren Flugreisen noch ein Ereignis, wie ein Theaterbesuch. Die Leute haben sich gut angezogen.« Joaquín strich über das Revers seines Kammgarnanzugs. »Aber heute« — er winkte ab, blickte zur Menge hin — »kurze Hosen, T-Shirts und Kaugummi. Selbst in der ersten Klasse. Nenn es Gleichberechtigung, wenn du willst, für mich ist es der letzte Triumph der Barbarei. Das Essen war allerdings nicht schlecht.« Draußen war es naßkalt, es nieselte, undJoaquín knöpfte den Mantel zu, als sie zum Taxistand hinübergingen. Er atmete tief durch und schmeckte das Gemisch aus Autound Flugzeugabgasen. »Ah, New York! Vor zwanzig Jahren war ich das letzte Mal hier. Eine aufregende Stadt, aber gefährlich damals, kein Ort für junge Frauen ohne Begleitung. Ist Mark nicht mitgekommen?« »Nein.« Elena sah auf die Reihe der gelben Taxis, auf die langsam kürzer werdende Schlange der Wartenden vor ihnen, dann drehte sie sich um. »Er wollte, aber ...« —Joaquín bemerkte ein unsicheres Flackern in den Augen sei-
ner Enkeltochter - »aber ich dachte, es wäre besser, dich allein zu treffen.« »Absolut richtig. Damit wir uns wieder ein bißchen näherkommen.« Strahlend nahm er Elenas Hand. Sie erwiderte kurz seinen Druck, dann zog sie die Hand weg. Kein guter Anfang. Doch es kam noch schlimmer. Auf der Fahrt ins Hotel redete Joaquín ohne Unterlaß über die Familie, seinen Garten, seine Malerei — er versuchte alles, um die peinliche Kluft zu überbrücken. Elena hörte mit steifem Lächeln zu, nickte gelegentlich und blickte aus dem verregneten Fenster in die Nacht. Als ihm der Gesprächsstoff ausging, lauschte auch er auf das regelmäßige Geräusch der Betonrillen, das Zischen der feuchten Reifen. »Mark ist im Krankenhaus«, sagte sie schließlich. »Was?« Er drehte sich zu ihr um, packte sie am Arm. »Mein Gott, warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Was ist passiert?« »Heute nachmittag ist er zusammengebrochen.« Joaquín hörte ihre ruhige, beherrschte Stimme. »Er konnte nicht mehr laufen.« »Er kann nicht mehr laufen? Guter Gott!« Sie musterte ihn ihm Dunkeln. »Sie glauben nicht, daß es physiologische Ursachen hat. Mark hat es mir nicht erzählt, aber es gab da eine Explosion in Kurdistan. Er hat Glück, daß er noch am Leben ist. Die Ärzte vermuten ein seelisches Trauma.« »Ein seelisches Trauma? Sind sie davon wirklich überzeugt?« »Ziemlich.« Joaquín ließ sich erleichtert nach hinten fallen. »Und ausgerechnet in diesem Moment komme ich. Ist das nicht ein Ding? Schicksal!« Elena griff in ihre Umhängetasche und holte ein Bündel
Papiere heraus. »Das Krankenhaus hilft mir bei der Suche nach einem geeigneten Psychiater. Ich habe schon morgen früh einen Termin.« »Den kannst du gleich absagen, jetzt bin ich da.« Er nahm ihr die Papiere aus der Hand. »Du brauchst dich um nichts mehr zu sorgen, Elena. Ich kümmere mich um alles.« »Er braucht einen Spezialisten. Sie glauben, daß er unter einer Art Kriegstrauma leidet.« »Ausgezeichnet«, sagte Joaquín und blätterte in den Papieren. »Kriegstraumata sind meine Spezialität.« »Er braucht einen Arzt, Großvater. Einen richtigen Arzt.« »Haben die das im Krankenhaus gesagt? Die klingen mir nicht sehr kompetent.« Er hielt die Papiere ans Fenster und las im Schein der Straßenbeleuchtung. »Was für eine Checkliste? Eine Checkliste der Symptome? Wofür halten die uns? Für Ziegenhirten?« Er blätterte um und fuhr mit dem Finger eine Zeile entlang. »Ha! Hör dir das an: >Eine intensive Langzeit-Psychotherapie könnte erforderlich sein.<« Joaquín warf die Papiere auf den Sitz. »Diese Banditen! Stell dir das vor: eine intensive Langzeit-Psychotherapie! Die müßte man direkt bei der zuständigen Stelle anzeigen!« »Sie sind die zuständige Stelle«, sagte Elena. »Na, du kannst dich beruhigen, ich werde dieses ekelhafte Komplott durchkreuzen. Eine Woche. Eine Woche, Elena, und ich habe Mark von seinem kleinen Trauma geheilt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich besorge ihm einen richtigen Arzt.« »Mach dich nicht lächerlich, mein Kind. Du bist müde und durcheinander, und diese . . . « — er tippte mit dem Finger auf die Papiere — »diese Ganoven nutzen das aus.« »Ich weiß, daß du ihm nur helfen willst, aber ...«
»Kein Aber. Ich kann ihm helfen, besser als all diese Ärzte, wie du sie zu nennen beliebst.« »So wie du den anderen geholfen hast? Er gehört nicht so recht zu deiner Sorte Patienten, oder?« Sich umdrehend, sah Joaquín die kalte Wut in ihren Augen. »Das ist lange her, Elena. Du weißt nicht, wie das damals war.« »Tut mir leid.« Sie blickte zur Seite. »Du hast recht. Ich bin müde und durcheinander. Ich wollte das nicht alles wieder aufrollen.« Angestrengt schaute er in die Regennacht hinaus. Er spürte ihre Hand auf dem Knie, doch er drehte sich nicht um. »Laß mich einfach tun, was ich für richtig halte, okay?« sagte sie. »Dann werden wir uns vielleicht vertragen, solange du hier bist.« »Ich bin gekommen, um euch zu helfen.« Sie schwiegen. Vorm Hotel warteten sie wortlos, bis der Hotelboy den Koffer aus dem Taxi gehoben hatte. »Wenn du mich morgen früh abholst, könnten wir zusammen zum Krankenhaus fahren«, sagte er schließlich. Elena lächelte gezwungen, warf einen raschen Blick auf ihre Uhr. »Du mußt ausschlafen, Großvater, für dich ist es fast fünf Uhr morgens. Ich rufe dich an, sowie ich mit den Ärzten gesprochen habe.« Er nickte. »Dann treffe ich dich eben dort. Wie heißt das Krankenhaus?« »Brookdale. Aber bitte warte meinen Anruf ab. Okay?« Joaquín nickte wieder. Elena trat auf ihn zu und küßte ihn flüchtig auf die Wange. »Tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Gute Nacht, Großvater. Hoffentlich kannst du schlafen.« Er blieb auf dem Gehweg stehen, sah sie wieder ins Taxi
steigen und davonfahren. Wie war es möglich, daß ihm sein einziges Enkelkind so vollständig entgleiten konnte? Erst als die Rücklichter des Taxis verschwunden waren, ging er hinein. »Bitte sehr, Mr. Morales, Zimmer 417.« Der Angestellte reichte ihm den Schlüssel über die Marmortheke. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Über der Rezeption sah Joaquín eine Uhr. Kurz vor elf. Plötzlich war er schwach vor Müdigkeit. »Ja. Wenn Sie mich bitte um sechs Uhr wecken wollen.« »Natürlich.« Der Angestellte machte sich an einer Schalttafel unter der Theke zu schaffen. Er blickte hoch, keck lächelnd. »Alles klar, Mr. Morales.« »Danke.« Joaquín machte sich auf den Weg, dann drehte ersieh auf dem Absatz um. »Es heißt >Doktor<.« »Wie bitte?« »Doktor Morales.« »Oh, entschuldigen Sie.« Der Angestellte wühlte in den Unterlagen, dann hielt er eine Karteikarte hoch. »Es stand nicht auf der Anmeldung, ich werde das korrigieren.« Joaquín lächelte und machte eine großzügige Geste. »Schon gut. Meine Enkeltochter hat die Reservierung vorgenommen. Wahrscheinlich hat sie es einfach vergessen.« Als er dem Boy zu den Fahrstühlen folgte, griff er in die Manteltasche und holte die Papiere heraus, die Elena ihm im Taxi gezeigt hatte. Es war das Zeitalter der Rücksichtslosen und Gerissenen, alle guten Dinge fielen denen zu, die nur flink genug zupackten, dachte Joaquín. In seinen Augen war der Bürgerkrieg wie ein Meteor über Spanien gekommen, ein Flammenwurf, eine Laune der Natur, grausam und unabwendbar, und schon bevor
die ersten Erschütterungen verebbt waren, bevor die ersten Blutorgien ein Ende gefunden hatten, nutzten die Brutalen und Skrupellosen die Gunst der Stunde und rissen das Land an sich. Die Tyrannen waren schneller als die Anständigen, immer und überall: Im Nu wurden die Anständigen beider Seiten ausgeschaltet. Der Sieg gehörte denen, die keine Gnade kannten, die das Arsenal der Grausamkeit am besten nutzten. War das zu bedauern? Natürlich. Aber Joaquín hatte früh gelernt, daß Bedauern genauso zwecklos war wie übers Wetter zu klagen. Er war in diese Zeit hineingeboren, von ihr geformt worden, und wenn er ebenfalls Grausamkeiten zu gewärtigen hatte, dann war er lieber aufseilen der Starken. Das Landhaus war vom siebzehnten Herzog von Orellana auf einer kleinen Anhöhe inmitten der Vega errichtet worden, einer fruchtbaren Niederung westlich der Stadt Granada. Es trug den Namen Casa de los Queridos — Haus der Geliebten —, und schon darin hätte man ein böses Omen erblicken müssen; im südlichen Spanien war kein Platz für Sentimentalitäten, erst recht nicht im südlichen Spanien der dreißiger Jahre. Seit etwa vierhundert Jahren waren die Orellana Herren über große Ländereien in der Vega de Granada. Der siebzehnte Orellana jedoch unterschied sich von allen seinen Vorgängern: Ihm fehlte es an Frömmigkeit, statt dessen war er ehrgeizig, und er sah sich als ein Mann der Moderne. Als er 1909 sein Erbe antrat, befreite er sich und seine Familie aus der Abhängigkeit von den landwirtschaftlichen Erträgen, indem er den größten Teil seines Bodens verkaufte und sein Geld in jene Techniken und Unternehmungen steckte, die gerade die Welt veränderten. Zum Zeichen dessen beschloß er, der Familie ein
weiteres Landhaus zu bauen, und zu Ehren seiner Gattin und seiner Töchter nannte er es Casa de los Queridos. Bei der Einrichtung des Hauses zeigte sich der Herzog verschwenderisch. Italienische Möbel und englische Puppen für die Räume der Töchter, vergoldete Tische und Brokatvorhänge für den Damensalon, Glasschränke aus Kirschholz für das Silber, das Kristall und Porzellan im Speisezimmer. Die Salons waren mit Kronleuchtern und Gobelins ausgestattet, mit Louis-quatorze-Diwanen und Sesseln aus Cordoba-Leder, und ins rosenholzgetäfelte Arbeitszimmer des Herzogs stellte man einen Mahagonischreibtisch, dessen Ausmaße so gewaltig waren, daß er im Raum zusammengebaut werden mußte und sich nicht mehr wegbewegen ließ. Besonders dieser letzte Einfall hätte einen anderen Mann womöglich nachdenklich gestimmt, denn in Andalusien gilt der Wunsch, Dinge für die Ewigkeit zu bauen, als eine sichere Methode, Unglück heraufzubeschwören. Genau darum aber ging es dem Herzog. Er hatte sich von den Fesseln des Aberglaubens und der Tradition befreit: Frohgemut marschierte er der neuen Zeit entgegen. Doch die Zeit, von der der Herzog träumte, brach erst an, und so entging ihm, daß er nur zu Teilen der moderne Mensch war, für den er sich hielt. Trotz seiner fortschrittlichen Ideen auf dem Gebiet der Technik und des Unternehmertums nämlich sah er den Gang der Geschichte noch wie seine Vorfahren: als gleichförmigen Ablauf von Tagen, Monaten, Jahreszeiten. Er konnte nicht wissen, daß die Geschichte selbst an Fahrt gewann wie ein Gegenstand im freien Fall; daß sie beides unendlich wachsen ließ: Großartigkeit und Schrecken; daß nun in kürzester Zeit zerstört sein würde, was in vierhundertjähriger Arbeit errichtet worden war.
Im Herbst 1913 wurde das Landhaus fertiggestellt. In jenem Winter blieb der Schnee in den Bergen aus. Im Frühjahr fiel in der Vega kein Tropfen Regen. Als der Sommer kam, war das Tal von Granada genauso braun wie die umliegenden Berge, und alle Weizenfelder waren verdorrt. Zu spät begriff der Herzog, daß sein ganzer Reichtum seine Beteiligungen an Reedereien, Eisenbahnen, Banken — sich in wertloses Papier verwandelte, wenn die Landwirtschaft versagte, daß seine Ideen ihn nicht so vollständig von der Bindung an den Boden befreiten, wie er geglaubt hatte. Damit begann der Niedergang der Familie, und er vollzog sich mit einer Schnelligkeit, die kein Orellana je für möglich gehalten hätte. Um zu retten, was zu retten war, brachte der siebzehnte Herzog immer größere Opfer: 1919 entließ er den letzten Diener, in der Rezession von 1923 verkaufte er die letzten Landparzellen, 1927 wurden sogar die Eukalyptusbäume, die das Anwesen zierten, verheizt. Trotzdem vermochte er den Ruin bloß aufzuschieben. In der Wirtschaftskrise von 1930 mußte er die Einrichtung des Landhauses zu Markte tragen; die kostbaren Stücke verschwanden in derselben systematischen Manier, die alle Unternehmungen des Herzogs ausgezeichnet hatten. Erst wanderte die Ausstattung der Salons in ein Madrider Auktionshaus, dann die des Eßzimmers, und schließlich erreichte die Verödung des Hauses auch das Obergeschoß mit den Schlafzimmern. Nach jedem Verlust zog sich die Familie tiefer in ihren dezimierten Hausstand zurück, bis der ehemalige Besitz der Orellana, für dessen Durchquerung man einst einen ganzen Tag gebraucht hatte, im Sommer 1938 auf eine Küche, ein Arbeitszimmer und zwei Schlafzimmer zusammengeschrumpft war und die Dorfbewohner einen neuen Namen für das Haus auf dem
Hügel prägten: Casa de los Caídos - Haus der Gescheiterten. Das war der Moment, in dem Joaquín die Szene betrat, ein schmächtiger junger Mann mit geborgter Falangistenuniform, der aus der Küstenstadt Almeria stammte und nun, nachdem er das Medizinstudium abgebrochen hatte, als Flüchtling in Granada lebte. Der Herzog begrüßte ihn als Retter. Was Joaquín sah, als er an einem Julinachmittag des Jahres 1938 aus dem Taxi stieg, war ein Herrenhaus, das dabei war, sich in seine Bestandteile aufzulösen. Die Umfassungsmauer war seit vielen Jahren ungestrichen; allerorten bröckelte der Putz ab und gab das Gemäuer frei. Selbst die Ziegelpfeiler des Portals wirkten zerschrammt, ja förmlich zernagt, und nur die rostigen Angeln deuteten an, daß sich hier einmal das Tor befunden hatte. Eintretend schaute er sich um. Der Garten zeugte von einer Vorliebe für Symmetrien. Die von den Mauern umgrenzte Fläche schien streng quadratisch zu sein, an jeder Seite etwa sechzig Meter lang, schätzte Joaquín, und die Bäume zu beiden Seiten der Einfahrt standen einander in exakter Ausrichtung gegenüber. Früher hatten Eukalyptusbäume im Abstand von drei Metern die Innenmauer gesäumt. Jetzt sah man Baumstümpfe, noch immer verbreiteten sie ein wenig Duft. Er betrachtete das Haus: ein massiges zweistöckiges Gebäude mit zwei unterteilten Fenstern auf jeder Seite des Eingangs und vier Fenstern im Obergeschoß. Die stuckverzierte Fassade war nach andalusischer Sitte einst ockergelb gestrichen worden, die Dachfirste von grünglasierten Ziegeln gekrönt. Jetzt wirkte die Villa verlassen. In den Fenstern fehlten Scheiben, Dachziegel hatten sich gelöst, aus den Löchern wucherte Unkraut. Vorbei an verwilder-
ten Blumenrabatten ging er die Einfahrt hinauf, dann über die steinerne Treppe zum Eichenportal. Gerade wollte er zum Klopfer greifen, einer Hand aus Messing, als sich die Tür öffnete. Auf der Schwelle stand ein alter, gebeugter Mann mit einem verschreckten Ausdruck, den Joaquín in Gesichtern Hungernder schon oft gesehen hatte. »Guten Tag. Ich möchte zum Herzog von Orellana.« Der alte Mann richtete sich langsam auf und hob standesbewußt das Kinn. »C'est moi«, sagte er nach Art der spanischen Aristokraten. Joaquín machte eine knappe Verbeugung und stellte sich vor. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, Eure Exzellenz, aber in gewissen Kreisen Granadas wurde die Andeutung laut, daß Sie dieses großartige Anwesen zum Verkauf anzubieten gedenken.« Er sandte dem Herzog einen unterwürfigen Blick. »Wenn ich mich irre, bitte ich Sie, meine Entschuldigung entgegenzunehmen. Ich werde mich auf der Stelle verabschieden.« Einen Moment lang rührte der Herzog sich nicht. Dann bat er Joaquín hinein, indem er dessen Verbeugung erwiderte. »Bitte.« Die symmetrische Anlage des Grundstücks setzte sich im Haus fort. Zu beiden Seiten des Vestibüls führten große Flügeltüren zu identisch geformten Salons, die wiederum inje einen weiteren Raum überleiteten, in das herrschaftliche Speisezimmer auf der einen und ins Damenzimmer auf der anderen Seite. Unauffällig kleine Türen verbanden diese hinteren Räume mit der Küche und dem Dienstbotentrakt im rückwärtigen Teil des Hauses. Alle Zimmer waren kahl und verödet, und das einzige Anzeichen dafür, daß hier einmal Leben geherrscht hatte, waren ein paar helle Flächen, die sich dort, wo einmal Bilder gehangen hatten, auf den Wänden abzeichneten.
»Es war nicht immer so. Früher besaßen wir viel.« »Aber auf diese Weise«, versicherte Joaquín, »wirken die Räume noch großzügiger.« Der Herzog führte ihn ins Vestibül zurück und die Marmortreppe hinauf ins Obergeschoß. Dort mündete die Treppe in eine Balustrade, die dem Treppenhaus den Charakter eines Innenhofs verlieh. »Es gibt fünf Schlafzimmer und zwei Badezimmer«, sagte der Herzog und öffnete die Türen zu den großen leeren Räumen. Er zögerte, dann zeigte er auf die geschlossene Tür gegenüber dem Treppenabsatz. »Und natürlich mein Arbeitszimmer.« Nur zwei der oberen Räume waren bewohnt — Strohmatratzen, einfache Bauernmöbel, Kruzifixe an der Wand. In einem von ihnen wurde Joaquín der Herzogin und der im Haus verbliebenen Tochter vorgestellt, einer hageren, nervösen Frau Anfang Vierzig, an deren schlechten Zähnen und dunkler Hautfarbe der Abstieg der Familie abzulesen war. Aus Höflichkeit warf er einen kurzen Blick hinein; dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die leeren Zimmer. Er schritt sie ab, blickte aus den Fenstern, beklopfte die Wände, wie um ihre Festigkeit zu prüfen. Stets stand der Herzog dabei, ergeben wie ein Butler. Erst am Ende des Rundgangs öffnete er die Tür zum Arbeitszimmer. »Was für ein großartiger Schreibtisch!« »Ja«, erwiderte der Herzog. »Aus brasilianischem Mahagoni. Drei Tischler haben einen Monat gebraucht, um ihn zubauen.« »Das kann ich mir vorstellen.« Joaquín studierte die filigranen Schnitzereien, die den Schreibtisch vorn und an den Seiten zierten: Eisenbahnen, Schiffe, Fabriken, alle mit zartgeschnitzten Rauchfahnen versehen. Er beugte
sich über die polierte Schreibtischplatte und fragte sich, wie es den Handwerkern gelungen war, sie so fugenlos zusammenzusetzen, bis er erkannte, daß die riesige Furnierfläche aus einem Stück war. »Ein Meisterwerk.« Er sah den Herzog an. »Und Sie können sich nicht von ihm trennen!« »Er wurde hier in diesem Zimmer gebaut«, sagte der Herzog mit verlegenem Unterton. »Man bekommt ihn nicht hinaus.« Dann hat er sich das alles selbst zuzuschreiben, dachte Joaquin, seiner Eitelkeit und seinem Hochmut. Sie kehrten ins Erdgeschoß zurück. Der Herzog ließ ihn in einem der beiden Salons stehen und kehrte mit zwei Stühlen aus der Küche zurück. Er stellte sie mitten in den Raum und forderte den jungen Mann auf, Platz zu nehmen. »Ich sehe, daß Sie ein aufrichtiger Mann sind«, sagte Joaquin, »also will ich mit Ihrer Erlaubnis offen reden.« Sein Blick irrte durch den kahlen Raum. »In Anbetracht meiner Jugend mag es Sie überraschen, daß ich so etwas wie ein Gelehrter auf dem Gebiet der Psychologie bin und — Bescheidenheit beiseite — einen gewissen Ruf genieße. Kurz nach Beginn des Krieges vor nunmehr fast zwei Jahren bin ich für die Militärjunta in Granada tätig geworden, auf strikt informeller Basis natürlich, und habe mich mit gewissen Problemen befaßt, die unter Offizieren und Truppen aufgetreten sind, sehr delikaten Problemen« - er warf dem Herzog einen verschwörerischen Blick zu —, »Problemen, die sozusagen weder unter die Zuständigkeit der Kirche noch der Medizin fallen. Die Erfolge, die ich auf diesem Gebiet erzielt habe, bewogen gewisse Elemente in der Militärverwaltung, die wir mit gutem Gewissen als fortschrittlich bezeichnen können, die Einrichtung einer
festen Anstalt vorzuschlagen, einer Klinik, wenn Sie so wollen, die sich speziell diesen Problemen widmet, da sie in naher Zukunft noch zunehmen werden. Als gebildeter Mensch werden Sie die Bedeutung eines solchen Vorhabens zu würdigen wissen.« Joaquín machte eine Pause. Der Blick des Herzogs war leer: nicht die geringste Spur von Verstehen. »Der Krieg geht zu Ende, Eure Exzellenz. Die Macht der Republikaner ist gebrochen. Ob der endgültige Zusammenbruch in einem Monat oder in einem Jahr zu erwarten ist, er ist unausweichlich. Was wird dann in Spanien passieren? Es wird die Zeit der Siegesfeiern und Paraden sein, fürs erste — und natürlich die Zeit der großen Prozesse. Danach wird Stille herrschen, eine schreckliche Stille.« Er grinste. »Immer denkt man, das Ende eines Krieges sei eine erfreuliche Sache, aber ich bezweifle, daß es jemals so war. Der Krieg ist ein Betäubungsmittel. Die Kanonen donnern, und wir spüren nichts, wir sind taub. Erst im Frieden kommen die Schmerzen. Und was geschieht dann?« Der Herzog starrte vor sich hin. Joaquín beugte sich zu ihm. Gedämpft, fast verschwörerisch sprach er weiter. »Es ist zwar nicht leicht, das zuzugeben, aber nicht nur die Republikaner haben in diesem Krieg Unrecht getan. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß es auch bei den Patrioten Übergriffe gegeben hat, daß manche die Grenzen christlichen Empfindens überschritten und sich übertriebenen Leidenschaften hingegeben haben. Ist es ketzerisch, so etwas zu sagen? Aber wir sind ja unter uns.« Er rückte noch näher, verfiel ins Flüstern. »Und so wird es wieder sein: Wenn der Krieg zu Ende ist, wenn die Republikaner am Boden liegen und die Ostprovinzen befreit sind, wird Spanien ein Blutbad der Rache erleben. Die
Bürgerwehren und Tribunale werden wüten, die Undisziplinierten werden sich austoben. Wer ist dann noch in Sicherheit? Wie weit wird es mit dem Rachedurst gehen? Sie sehen, uns stehen gefährliche Zeiten bevor. Für viele von uns gefährlicher als die, die wir hinter uns haben.« Er lehnte sich zurück, ohne den alten Mann aus den Augen zu lassen. »Aber wir dürfen diese Zustände nicht einreißen lassen. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, die verhindern, daß das Vaterland ein Opfer der Gewalttätigkeit wird. Aus diesem Grund sind die fortschrittlichen Elemente der Junta an mich herangetreten und haben mich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, inständig gebeten, hier in der Casa de los Queridos eine Klinik zur Behandlung von Patrioten einzurichten, die ihren niederen Instinkten anheimgefallen sind, damit sie geheilt werden können, damit ihre Leiden gelindert werden können.« Er lächelte. »Wir könnten diese Dinge zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten regeln. Im Moment bewohne ich sehr hübsche Räume in der Nähe der Kathedrale, vier Zimmer und eine Terrasse mit Blick auf die Alhambra. Ich möchte nicht so weit gehen, diese Wohnung als luxuriös zu bezeichnen, aber gewiß wird sie ausreichend für Sie, Ihre Gattin und Ihre Tochter sein sowie für Ihre« — er blickte flink in die Runde - »Besitztümer. Und dank meiner hervorragenden Beziehungen zur provisorischen Junta verfüge ich über einige Privilegien, die angesichts der gegenwärtigen Lebensverhältnisse vom Großteil der Bevölkerung mit Neid betrachtet werden dürften. Dieses hohe Maß an Sicherheit, die freundschaftlichen Beziehungen, die mich ausreichend mit allem Nötigen versorgen, das ist in diesen Zeiten nicht zu unterschätzen. Ganz zu schweigen vom kulturellen Leben in Granada, das vermutlich für
Ihre Gattin und Ihre Tochter von größtem Interesse sein wird.« Eine Weile war es still in dem großen, leeren Raum. Der Herzog ließ den Blick über die Decke schweifen, bis er an einer Stelle verharrte, wo der Putz heruntergefallen war. Er räusperte sich. »Vielleicht läßt sich über den Preis verhandeln, Don Joaquin, aber ich muß Ihnen sagen, das ist ein sehr teures Haus.« Joaquín forschte lange in den Augen des alten Mannes, als könnten sie ihm irgend etwas verraten. Schließlich seufzte er, stand auf und lief, scheinbar in Gedanken versunken, auf und ab. Am Fenster blieb er stehen und musterte den Nachmittagshimmel. »Hören Sie«, begann er leise. »Es ist mir sehr schwergefallen, Casa de los Queridos zu finden. In Granada sagte man mir, das Haus liege zwanzig oder dreißig Kilometer in Richtung Westen, aber hier gibt es viele Straßen, und die Dorfbewohner, die ich fragte, konnten mir keine Auskunft geben. Stellen Sie sich meine Verwirrung vor. Dann endlich klärte mich ein Bauer auf. >Oh, Sie meinen caídos, nicht queridos. Casa de los Caídos.< Und so fand ich hierher.« Joaquín drehte sich um und sah, wie der alte Mann zu Boden blickte. »Sie wissen ja wohl, daß Ihr Haus überall in der Vega als das >Haus der Gescheitertem bekannt ist.« Der Herzog schwieg. »Verzeihen Sie meine Direktheit, aber dieses Haus hat für Sie kaum noch einen Wert. Sie und Ihre Familie hungern, und ein Haus kann man nicht essen.« Er lehnte sich ans Fenster. Als der Alte endlich aufschaute, verriet seine Haltung
Trotz. »Meine Familie lebt seit über vierhundert Jahren auf diesem Land. Das ist mein Geburtsrecht. Ich lasse mich nicht vertreiben, und ich lasse mich nicht beleidigen. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, und wir haben sie überlebt. Wir werden auch überleben, was jetzt kommt.« Mit einem Ruck erhob er sich. »Ich habe schon zuviel Zeit auf Sie verschwendet. Wollen Sie also bitte ...« »Setzen!« Fassungslos starrte der Herzog seinen jungen Besucher an, als wäre er von ihm geohrfeigt worden. Joaquín, noch immer ans Fenster gelehnt, wies auf den Stuhl. »Setzen!« Gehorsam wie ein Kind setzte sich der Herzog. Joaquín kam zurückgeschlendert und ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder. Mit amüsierter Miene musterte er den verdatterten Alten. »In welcher Zeit leben wir?« fragte er. »In welcher Zeit?« wiederholte der Herzog leise. »Das Zeitalter, das angebrochen ist. Haben Sie keine Ahnung, was los ist? Sind Sie nie aus dem Haus gegangen?« Der Herzog blinzelte verwirrt und schwieg. »Dann will ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Sie handelt von Spanien und wie heutzutage über Leben und Tod entschieden wird.« Er griff in die Manteltasche und holte eine Zigarettenschachtel heraus, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. »Ich hatte Glück. Als der Mob kam, war ich gerade nicht zu Hause. Meiner Familie war dieses Glück nicht vergönnt. Das war in Almeria. Ich nehme an, selbst Sie werden wissen, was zu Kriegsbeginn in Almeria passiert ist.« Er wartete, bis der alte Mann nickte. »Von meiner Familie, meinen Eltern, Geschwistern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, habe ich seit fast zwei Jahren nichts gehört. Nach dem zu schließen, was ich
an jenem Tag in Almeria erlebt habe, werde ich auch in Zukunft nichts von ihnen hören.« Er rollte die Zigarette in den Fingern und beobachtete den Herzog. Dann lächelte er. »Aber das war natürlich der republikanische Mob, Kommunisten, Anarchisten. Unsere haben bessere Manieren. Es sind schließlich Christen.« Sein Lächeln verschwand. »Jetzt wissen Sie, in welcher Zeit wir leben. Und Sie reden von Geburtsrechten? Das, was ich Ihnen zu sagen habe, ist viel einfacher. Was braucht man heute, um eine Familie verschwinden zu lassen? Man braucht überhaupt nichts. Ein Wort, eine Handbewegung« — er machte eine träge, wegwerfende Geste —, »manchmal muß man einfach nur die Klappe halten.« Mit einem taxierenden Blick schaute er im Raum umher. »Es ist also Zeit, sich zu überlegen, was uns das Glück beschert. Was glauben Sie: Wird sich Ihr Schicksal nach so vielen Jahren des Unglücks zu Ihren Gunsten wenden? Oder genauer gesagt, Sind Sie bereit, Ihr Glück gegen meines in die Waagschale zu werfen, gegen einen, der so ein verdammtes Glück hatte wie ich?« Er lachte dem Herzog ins Gesicht. »Schwierige Fragen, was? Wo so viel von der Antwort abhängt.« Der alte Mann war bleich geworden, er zitterte. »Wollen Sie mich etwa bedrohen?« »Nein«, sagteJoaquín, »nur aufklären.« Noch immer zitternd, blickte der Herzog zum Fenster, und lange Zeit war im Raum nichts zu hören als sein angestrengtes Atmen. »Welcher Preis?« fragte er schließlich. »Was sagten Sie?« Der Herzog raffte seinen letzten Stolz zusammen, richtete sich auf und schaute Joaquín mit Verachtung an. »Welchen Preis bieten Sie, zusätzlich zur Wohnung in Granada?« Joaquín griff in die Hosentasche und zog eine Pesete her-
aus. Er hielt die Münze in die Höhe, dann warf er sie dem alten Mann vor die Füße. So trennte sich die Familie Orellana von dem Haus, das Zeuge ihres Ruins geworden war. Im August 1938 luden sie ihre Habseligkeiten auf einen Laster, fuhren nach Granada und bezogen die Wohnung in der Nähe der Kathedrale. Joaquín führte den Herzog bei den Männern ein, die sein zukünftiges Schicksal bestimmen sollten, den Offizieren der Militärverwaltung und dem Ortschef der Guardia Civil, dann lud er seinen eigenen Besitz auf einen Laster und bezog sein neues Haus, die Casa de los Queridos. Es dauerte noch ganze sieben Monate, bis der Bürgerkrieg im März 1939 beendet war. Die Soldaten der zerschlagenen Republik, die nicht nach Frankreich hatten fliehen können, wurden von Franco-Milizen gejagt, gerichtet, massakriert. In all jenen Monaten erwachte Joaquín jeden Morgen im kahlen, düsteren Gemäuer seines neuen Hauses. Wenn er Gesellschaft oder etwas zum Leben brauchte, lief er die drei Kilometer nach Penuelas zu Fuß, manchmal machte er eine Wanderung ins nahe Gebirge, und ständig sagte er sich: Ich warte, ich warte einfach ab. Allmählich erkannte er darin eine Art Strafe. Als der Krieg vorbei war, wurden Betten geliefert, sechsundvierzig eiserne Bettgestelle aus dem Fort Jaen, die in den Räumen des Obergeschosses aufgestellt wurden wie in einer Kaserne. Bald folgten Aktenschränke, Mannschaftsspinde und ein zusammengewürfeltes Sortiment Polstermöbel für die unteren Räume — sowie ein Trupp republikanischer Gefangener. Im Juni 1939 erstrahlte die Casa de los Queridos in neuem Glanz. Die Wände waren verputzt und gestrichen, die verfaulten Balken ersetzt, man hatte das Dach repariert, und alle Räume erhielten elektrischen
Strom. Sogar der Garten wurde in Ordnung gebracht, das eine oder andere Blumenbeet angelegt, ein neues Tor eingebaut, und neuerdings war die Krone der Umfassungsmauer mit grünen Glasscherben gespickt. Dann kam das Personal — die Krankenschwester, die Köchin, zwei Verwalter. Am Tor wurde ein Messingschild angebracht, und schließlich traf die erste Wagenladung Patienten ein. Als die sechzehn Männer aus dem Lkw auf die Lehmstraße gesprungen waren und ihre Augen sich an das harte andalusische Sonnenlicht gewöhnt hatten, sahen sie zwei Wachposten in schwarzen Uniformen vor einem schmiedeeisernen Tor stehen, und am Torpfeiler erblickten sie ein Bronzeschild: Institute Morales para la Purificación Psicológica. Scheinbar hatten die Männer, die keine Uniformen mehr trugen, sondern in Zivil oder Krankenhauskluft gekleidet waren, nur wenig miteinander gemein. Der Jüngste war neunzehn, der Älteste zweiundsechzig, und sie entstammten den unterschiedlichsten Offiziersrängen und Gesellschaftsschichten. Im Institute Morales jedoch wurden sie Kameraden: Patrioten allesamt, die in treuer Pflichterfüllung für ihr Vaterland an einen Ort geraten waren — eine Bergwiese, eine Dorfstraße, eine Schlucht —, wo eine falsche Entscheidung getroffen wurde, wo die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten, wo die blutgetränkte Erde in ihre Seelen eingedrungen war. »Ich bin Dr. Joaquín Antonio Morales. Wo finde ich bitte Mr. MarkWalsh?« Die Schwester an der Anmeldung sah den Mann, der sie angesprochen hatte, mißtrauisch an, dann schaute sie in ihr Verzeichnis. »Er liegt in Zimmer 1523, zweites Bett rechts. Aber ich habe sie nicht auf der Besucherliste, Dr. ...«
»Morales. Das ist verständlich. Ich komme direkt aus Spanien — schließlich handelt es sich um einen Notfall —, und so was kann passieren. Wo finde ich das Zimmer?« Die Schwester wies widerstrebend in den linken Korridor. »Aber Dr. Christopher, die Ärztin von Mr. Walsh, hat eine Besuchsbeschränkung angeordnet.« Joaquín nickte. »Sehr vernünftig. Bitte sehen Sie zu, daß wir nicht gestört werden.« Mit entschlossenem Schritt machte er sich auf den Weg. Durch das Fenster sickerte das gelbliche Licht eines trüben Morgens. Im Krankenzimmer herrschte Stille. Joaquín lüftete den zweiten Vorhang auf der rechten Seite und schlüpfte lautlos hinein; als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er die Umrisse des Schlafenden. Er trat näher heran. Ein hübscher junger Mann. Das Gesicht ein bißchen eingefallen, aber angenehme Züge, ein starkes Kinn. Mit Erleichterung sah Joaquín, daß er nicht an Schläuche angeschlossen war, nicht einmal einen Traubenzucker-Tropf gab es. Auf dem Nachttisch stand eine Leselampe. Joaquín schob sich am Stuhl vorbei, schaltete die Lampe ein und richtete sie auf das Gesicht des Schläfers. Als das grelle Licht ihn traf, schreckte Mark auf und hielt sich die Augen zu. Blinzelnd nahm er wahr, daß ein alter Mann an seinem Bett saß und ihn betrachtete. »Ah, jetzt bist du also wach. Hast du gut geschlafen?« Mark konnte den Akzent nicht lokalisieren. Französisch war es nicht, eher italienisch oder spanisch. Der Mann drehte die Lampe zur Wand, lächelte und entblößte ein perfektes Gebiß. »Und wie fühlst du dich an diesem wunderschönen Morgen?«
Mark spannte die Glieder an, blickte zum Fußende hinab und sah, daß seine Knie und Füße sich bewegten. »Gut«, sagte er. »Wunderbar.« Der alte Mann zog den Stuhl näher heran, schlug die Beine übereinander, klappte einen Schreibblock auf und zog einen silbernen Stift aus der Manteltasche. Wieder lächelte er. »Das ist schon sehr bemerkenswert, wenn ich so freimütig sein darf. Gestern um diese Zeit saß ich noch zu Hause in Granada, als Isabela mir von deinen Problemen erzählte und mich fragte, ob ich dir irgendwie helfen könnte. Natürlich habe ich gezögert, da ich schon lange nicht mehr praktiziere, aber sie machte sich Sorgen, und so habe ich mich bereit erklärt, sofort loszufliegen. Das zumindest ist man seiner Familie schuldig. Daß ich ausgerechnet in diesem entscheidenden Moment eintreffen würde, habe ich mir nicht träumen lassen.« Der alte Mann hielt inne und drohte Mark mit dem Zeigefinger. »Aber deshalb darfst du nicht glauben, daß ich nur aus Familiensinn handle. Keineswegs! Mich reizt diese Aufgabe, und ich fühle mich ehrlich gesagt geschmeichelt, daß ich nach so vielen Jahren noch immer gebraucht werde. Für die damalige Zeit war meine Technik ziemlich revolutionär, mußt du wissen, und in gewissen Kreisen hat sie mich, Bescheidenheit beiseite, zur Berühmtheit gemacht. Dann wurde alles angezweifelt und ins Politische gezogen. Hätte ich meine Methode in einem größeren Rahmen erproben können, auch an Zivilisten wie dir zum Beispiel, nicht nur an Kameraden, hätte ich meine Kritiker schlagen und die Wirksamkeit meiner Technik weltweit beweisen können. Und j etzt bin ich hier bei dir, j etzt ist die Gelegenheit vielleicht doch noch gekommen. Ich glaube, es war Vorsehung. Aber nun sollten wir anfangen.«
Mark blickte den Alten verständnislos an. Ein altmodischer Anzug, vielleicht fünfziger Jahre, doch gepflegt. Das schüttere weiße Haar war glatt zurückgekämmt und reichte im Nacken bis zum Hemdkragen. Unter den buschigen Augenbrauen scharfe braune Augen, eine markante Nase überragte den eher schmalen Mund. »Entschuldigen Sie ... aber wer sind Sie?« Der Mann lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Wie dumm von mir! Ich habe vergessen, mich vorzustellen.« Er beugte sich vor, ergriff Marks Hand mit beiden Händen. »Ich bin Joaquín Morales, Elenas Großvater — väterlicherseits natürlich. Ich habe viel über dich gehört. Mir ist, als wären wir schon alte Freunde.« Er lehnte sich wieder zurück. »Elena und ihre Mutter — das ist lsabels — erzählen mir immer von deinen Abenteuern, deinen Reisen. Ein spannendes Leben, nicht wahr? Und nun endlich ergibt sich die Chance, dich persönlich kennenzulernen, wenn auch unter ungewöhnlichen Bedingungen.« Erwartungsvoll blickte er Mark an. »Ich nehme an, auch du hast schon viel über mich gehört.« Mark war um eine Antwort verlegen. Elena hatte oft vom Vater ihrer Mutter erzählt, aber von ihrem anderen Großvater hatte er erstmals am Abend zuvor gehört. Mark wollte den alten Mann nicht kränken. Er rückte das Kissen zurecht und antwortete: »Nein, nicht allzuviel.« »Seltsam.« Joaquín neigte den Kopf. »Aber so ist die Elena nun mal, verschlossen. Schon als Kind war sie so still, so unzugänglich, hat kaum den Mund aufgemacht. Aber das muß ich dir ja nicht sagen, du kennst sie schließlich genauso gut wie ich. Schuld daran ist wohl, daß ihr Vater starb, als sie noch klein war, das hat sie bindungsscheu gemacht, so schnell vertraut sie keinem. Für ein Kleinkind natürlich eine traumatische Erfahrung. Daher ist es nur zu
verständlich, daß sie in mir so etwas wie einen Ersatzvater sah. Doch jetzt bin ich alt - dem Tod nahe, möchte man meinen —, und sie wird das Gewicht dieser Bindung nicht mehr wahrhaben. Ein unbewußter Vorgang zweifellos, und ich kann dir versichern, daß ich es nicht persönlich nehme. Sie braucht es — Selbstschutz, verstehst du? Das sind normale psychologische Reaktionen. Normal, aber kompliziert. Sicher hast du schon festgestellt, daß sie eine komplizierte junge Frau ist. Aber so lieb. Im Grunde ist sie ein ganz liebes Mädchen. Als Einzelkind ohne Vater vielleicht nur ein bißchen zu weich erzogen. Das führt leicht zu einem gewissen Starrsinn, zu einem überzogenen und harten Urteil, dem ein größerer Reichtum an familiären Beziehungen hätte entgegenwirken können, das erklärt vieles. Hat sie dir schon Dinge dieser Art über mich erzählt?« Mark blickte verwirrt umher. »Sie hat mir gesagt, Sie seien ein Faschist.« »Ah, genau, wie ich sagte!« Joaquín warf die Hände hoch und lachte. »Ein Faschist. Das ist stark! Sie war immer schon witzig, auch wenn ich mich nicht erinnern kann, daß sie jemals politische Ansichten hatte. Sicher ist das auf deinen Einfluß zurückzuführen. Ein Faschist, wie schlau!« Er seufzte amüsiert, dann gab er sich einen Ruck. »Diese vergnügliche Unterhaltung lenkt uns nur ab. Zeit ist kostbar. Tut mir leid, jetzt müssen wir uns an die Arbeit machen.« Plötzlich war er streng, geradezu geschäftsmäßig, und stützte den Schreibblock auf die Armlehne. »Zuerst möchte ich die Krankengeschichte aufnehmen. Einverstanden?« Mark nickte. »Alter?« »Einunddreißig.«
Joaquín begann zu schreiben. »Geschwister?« »Zwei Schwestern, ein Bruder.« »Jünger oder älter?« »Alle älter.« »Und die Kindheit? Normal verlaufen?« »Ja, ziemlich normal.« »Ist die Familie religiös?« »Nein, wir sind nie zur Kirche gegangen.« Joaquín blickte auf. »Und wie steht's mit dir? Bist du gläubig?« »Nein, eigentlich nicht.« »Oh, das ist schlecht. Der Glaube vereinfacht die Dinge. Na, wir werden es schon hinkriegen, was?« Er begann ein neues Blatt. »Gut. Fangen wir an.« »Das war's schon?« Der alte Mann schien verwirrt. »Wie bitte?« »Mehr Hintergrundinformationen brauchen Sie nicht?« Joaquín blätterte zurück und überlas seine kargen Notizen. »Nein, ich glaube nicht. Außer, du möchtest von dir aus noch etwas hinzufügen.« »Ich dachte, daß Psychiater einen immer über Kindheitserlebnisse und Bindungen ausfragen.« Joaquín schüttelte den Kopf. »Das ist absolut überflüssig.« »Und müssen Sie mich nicht über meine Träume befragen?« Joaquín wurde unwillig. »Es mag eine persönliche Schwäche von mir sein, aber die Träume anderer Leute finde ich immer ein bißchen ... ermüdend.« Ungläubig sah Mark ihn an. »Sie sind wirklich Psychiater?« Joaquíns Augen waren zur Decke gerichtet. »Das hängt wohl von der Definition ab. Wenn du darunter jemanden verstehst, der an der Universität Psychiatrie studiert hat, der einen akademischen Titel besitzt und eine reguläre
Praxis unterhält, dann bin ich kein Psychiater.« Er lächelte Mark wohlwollend an. »Ich ziehe es vor, mich als Fachmann für die menschliche Seele zu bezeichnen.« »Klasse«, sagte Mark. Joaquín grinste. »Erzähl mir ein Kriegserlebnis.« »Wie bitte?« »Ein Kriegserlebnis. Fang mit dem ersten an.« Als sie die Kaffeetasse auf den Korridortisch gestellt hatte, hörte sie den Anrufbeantworter ab. Der gestrige Tag zog noch einmal an ihr vorbei. Mit jedem der vielen Anrufe — »Mark, wo steckst du?« - war ihre Stimme nervöser geworden. Eine Nachricht stammte von Diane, sie klang müde und hatte nur ein wenig reden wollen. Marks Agentin, Amy Mavroules, teilte mit rauchiger Stimme mit, daß die Lazarett-Reportage für zehntausend Dollar an den Stern verkauft war und daß sie noch auf Angebote verschiedener amerikanischer Verlage wartete. Das kommt gerade recht, dachte Elena. Marks Versicherung zahlte nicht für eine psychiatrische Behandlung, und so konnte er mit dem Geld zumindest die ersten paar Monate der Therapie finanzieren. Sie ging im Wohnzimmer umher, an ihrem Kaffee nippend, und überlegte, was sie an diesem Vormittag zu erledigen hatte. Im Büro mußte sie Bescheid sagen, daß sie heute nicht kommen würde, sie müßte Marks Eltern anrufen. »Er liegt im Krankenhaus, aber kein Grund zur Besorgnis, er leidet nur an ... Erschöpfung.« Irgend etwas dieser Art, was sie nicht erschrecken würde. Dann der Termin im Krankenhaus, einen Psychiater für Mark auswählen, Mark gut zureden. Und schließlich: Joaquín. Bei diesem Gedanken spürte sie etwas wie Reue. Sie war zu grob gewesen gestern abend. Die Anspannung, sagte
sie sich, weil er ungeladen kam, und das im ungünstigsten Moment — weil er wieder versucht hatte, sich in ihr Leben zu drängen. Sie wechselte hinüber ins Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und nahm die Mappe mit seinen Briefen heraus. Im Lauf der Jahre hatten sich ein paar Dutzend angesammelt, die meisten ungeöffnet, keiner beantwortet. Ihre Reue verwandelte sich in Beschämung. Sie legte die Mappe weg und ging ins Wohnzimmer zurück. Ich muß ihn anrufen, beschloß sie, mich für meine Unfreundlichkeit entschuldigen. Aber es war erst acht. Nach der langen, anstrengenden Reise würde er bestimmt noch fest schlafen. »Was für ein Kriegserlebnis?« fragte Mark. »Ich hab etliche auf Lager.« Joaquín senkte leicht den Kopf. »Ich habe mich nicht klar ausgedrückt, der alte Fehler. Ein Erlebnis, das dich tief getroffen hat, meine ich. Nicht unbedingt das gefährlichste. Auf den persönlichen Eindruck kommt es an. Dein erstes Erlebnis dieser Art.« »Und was soll das bezwecken?« »Bitte!« Joaquín hob die Hände. »Wir dringen in eine geheimnisvolle Wissenschaft ein, da kann man nicht immer genau vorhersagen, wohin die Reise führt. Im Moment reicht vielleicht die Vorstellung, daß du mir einen Gefallen tust.« Mark dachte nach. »Das erste Mal, das könnte Beirut gewesen sein.« »Beirut!« Joaquín strahlte. »Eine großartige Stadt. Das Paris des Nahen Ostens, hieß es immer. Vor den Kämpfen natürlich, vor deiner Zeit«, sagte er wehmutsvoll. »Aber bitte, sprich weiter.«
»Es war im Sommer 1980, in der Stadt ein einziges Chaos. Es gab mehrere Gruppierungen, die sich bekämpften, sich verbrüderten und wieder verfeindeten, und morgens wußte keiner, wer sich im Lauf des Tages mit wem ein Gefecht liefern würde. Der komplette Wahnsinn.« Er schüttelte den Kopf, kratzte sich am Kinn. »Ja, eine traurige Sache. Weiter.« »An diesem Tag kämpfte die libanesische Armee — oder was davon übrig war — gegen eine der schiitischen Milizen im alten Stadtzentrum westlich der Grünen Linie. Die Schießereien hatten den ganzen Vormittag gedauert, und als ich am frühen Nachmittag dorthin kam, kämmte die Armee gerade das Viertel durch. Sie fingen schiitische Jugendliche ein, brachten sie zum Verhör in die Kaserne, und deshalb hatten sie an einer Kreuzung eine Art Verladestation eingerichtet, wo drei oder vier Lkws standen. Alle paar Minuten kam einJeep, beladen mit Jugendlichen aus einer der Seitenstraßen, hielt auf der Kreuzung, und die Jungs — ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt — stiegen aus, einer nach dem anderen. Sie mußten durch ein Spalier aus Soldaten zu den Lkws rennen, wo sie dann auf die Pritsche hinaufgezerrt wurden. In der Nähe hörte man Schüsse, nur ein paar Straßen entfernt, und die Soldaten waren hektisch. Sie haben das nicht an denjungs ausgelassen, weder geschlagen noch getreten, aber man sah, daß sie es eilig hatten, daß sie so schnell wie möglich weg wollten.« »Verständlich«, sagte Joaquín, »klar. Und dann kamst du.« »Dann kam ich. Ich hab nach einem guten Standort zum Fotografieren gesucht und stellte mich in den Eingang eines ausgebrannten Hauses. Von dort hatte ich einen idealen Blick auf die Jungs, die durch das Spalier der Soldaten laufen mußten. Alles war voll Rauch und Staub, und ich habe diese Kinder ins Visier genommen — mit ihrer Angst,
ihren aufgerissenen Augen, den gefesselten Händen —, wie sie von links nach rechts rannten, und die Soldaten von hinten, keine Gesichter, nur Uniformen, die Gewehre in der Hand.« »Filmreife Szene«, sagte Joaquín. »Doch dann passierte es.« »Ja. Es war vielleicht der zehnte oder elfte Jeep. Ich hab den Jungen gleich gesehen, meine Aufmerksamkeit war sofort auf ihn gelenkt. Alle anderen duckten sich auf der Ladefläche und warteten auf den Befehl zum Losrennen, doch dieser eine Junge stand kerzengerade und blickte mit großen, angstgeweiteten Augen umher. Die anderen schauten zu ihm hoch und wollten offenbar, daß er Deckung suchte, aber es war, als hätte er sie nicht gehört.« »Erinnerst du dich, wie der Junge aussah?« »Er war noch klein, etwa vierzehn. Er hatte kurzes schwarzes Haar, dunkle Haut. Er war ganz schmal — seine Arme waren erschreckend dünn —, und er trug ein weißes T-Shirt.« Joaquín machte sich hastig Notizen und nickte Mark aufmunternd zu. »Er stand einfach da, zitternd, und starrte auf all die Soldaten. Dann sah er mich im Eingang stehen. Er hat mich lange fixiert, zumindest kam es mir so vor, wahrscheinlich nur drei oder vier Sekunden. Aber es war ein so entschlossener Blick. Man konnte meinen, daß er etwas im Schilde führte. Und dann sprang er.« Joaquín blickte von seinen Notizen auf. »Er sprang?« »Er sprang aus dem Jeep und rannte auf mich zu.« »Warum denn das?« Mark zuckte die Schulter. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er gehofft, daß ich, ein Ausländer und Zivilist, ihn beschützen würde, ich weiß es nicht. Bin ja kein Psychiater.« Joaquín grinste. »Nicht schlecht. Bitte weiter.«
»Die Soldaten waren irritiert, nur eine Sekunde lang, aber er schaffte es an ihnen vorbei und rannte auf mich zu. Sofort liefen sie zusammen, fuchtelten mit den Gewehren und brüllten >Stehenbleiben!<, aber er rannte weiter, quer über die Straße, direkt auf mich zu. Ich reiße die Kamera hoch und drücke ab, und er bleibt vor mir stehen, einen guten Meter entfernt, und starrt mich an. Sagt nichts, steht nur da. Ich höre ihn atmen, hecheln, er ist ganz nahe, aber er sagt nichts. Ich möchte ihm zurufen, was machst du da? Denn ich sehe hinter ihm die Soldaten kommen. Sie sind vielleicht noch sieben Meter entfernt, die Gewehre im Anschlag, und ich weiß, daß sie auf ihn schießen wollen, daß die Kugeln, die ihn treffen, auch mich erwischen werden. Also ducke ich mich in den Eingang und ziehe den Kopf ein. Da hocke ich und warte, aber nichts passiert. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Irgendwann schaue ich auf und sehe, daß er immer noch dasteht. Er blickt auf mich hinab, aber seine Augen sind verändert. Nicht mehr verschreckt, sondern ruhig und entspannt. Und dann seufzt er. Ich schwöre bei Gott, er schloß die Augen und seufzte. Das war das Seltsame. Kein Schreien, kein Weinen, nur ein langer, tiefer Seufzer. Und dann ... das war das Ende der Geschichte.« Joaquín zog eine Braue hoch. »Ich bin mir nicht sicher, was du damit meinst.« »Naja, ein Soldat ist zur Seite gelaufen, um mich aus der Schußlinie zu kriegen, vermute ich, und dann schoß er, vielleicht aus drei Metern Entfernung.« »Er hat den Jungen erschossen?« »Er hat den Jungen erschossen.« »Und der Junge war tot.« »Der Junge war tot.« Mark schwieg einen Moment. »Ich wüßte gern, ob seine Familie die Leiche bekommen hat.«
Joaquín legte den Schreibblock auf den Fußboden und steckte den Stift weg. »Eine interessante Geschichte. Traurig und interessant. Warum hat dich dieser Vorfall berührt?« Mark blickte ihn verständnislos an. »Würde das nicht jeden berühren?« Der andere zog die Schultern hoch. »Nicht unbedingt. Für mich war es immer faszinierend, wie unterschiedlich Menschen in kritischen Situationen reagieren.« Er faltete die Hände. »Einmal habe ich einen Mann behandelt, der hatte im Spanischen Bürgerkrieg die schrecklichsten Dinge gesehen und mitgemacht, und wie es schien, hatte ihn nichts davon aus der Ruhe bringen können. Er kehrte nach Hause und in seinen Beruf zurück, und es ging ihm gut, bis er eines Tages zufällig eine alte Frau sah, die einen Korb Orangen zum Markt trug. Der Korb ging entzwei, die Orangen kullerten in alle Richtungen davon. Aus irgendeinem Grund wurde der Mann durch den Anblick der alten Frau, die ihren Orangen nachrannte, völlig zerstört. Als er zu mir gebracht wurde, war er nur noch ein Wrack. Tagelang redete er von der Frau und den Orangen, und schon beim Gedanken an sie konnte er nicht mehr aufhören zu weinen. Ich habe mich oft gefragt, was aus dem Mann geworden wäre, wenn er die alte Frau nicht gesehen hätte oder der Vorfall einen Tag früher oder später passiert wäre, wenn sie Eier statt Orangen verloren hätte. Wäre er in Frieden alt geworden? Vielleicht, vielleicht. Das Herz ist ein unberechenbares Tier.« Er lächelte. »Aber nun zu dir. Warum hat dich dieser Junge in Beirut so betroffen gemacht?« Marks Augen wanderten über die Zimmerdecke. »Ich glaube, ich habe mich irgendwie verantwortlich gefühlt.« »Weil der Junge nicht losgerannt wäre, wenn du nicht da-
gestanden hättest? Weil die Soldaten möglicherweise nicht geschossen hätten, wenn du ihn an dich gezogen hättest, statt in Deckung zu gehen?« »So in etwa.« Marks Blick war noch immer abwesend. »Nun, das ist einleuchtend. Du hast dich verantwortlich gefühlt, weil du es in hohem Maß tatsächlich warst.« Verdutzt schaute Mark ihn an. »Bin ich zu hart? Sag mal, wie vielen Leuten hast du diese Geschichte schon erzählt? Waren es drei, vier, zwanzig?« Mark schwieg. »Und alle haben dir gesagt, es war nicht deine Schuld, stimmt's? Haben gesagt, mach dir keine Vorwürfe, du konntest nichts tun, ist es so?« Fast gegen seinen Willen nickte Mark. »Aber du warst nie davon überzeugt. Dir geht die Sache nach. Alle, denen du die Geschichte erzählt hast, haben dich von jeder Schuld freigesprochen, und trotzdem fühlst du dich schuldig. Jetzt erzählst du mir das Ganze und erwartest, daß ich dir dasselbe sage. Glaubst du, daß es diesmal anders ist? Glaubst du wirklich, daß ich — einer, den du gar nicht kennst und den du für eine Art Scharlatan hältst — dich beruhigen kann, indem ich sage: Vergiß es, dein Gewissen ist rein?« Joaquín lächelte und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. »Du hast ein Problem, Mark. Du suchst bei anderen Vergebung, aber du hast selbst gemerkt, daß dir kein Mensch Absolution erteilen kann. Nur Gott kann dir die Vergebung gewähren, die du suchst. Doch du glaubst nicht fest genug an Gott. Das heißt, du suchst etwas, was es für dich nicht gibt. So etwas nennt man ein Dilemma.« »Was sind Sie? Ein wandernder Missionar?« Joaquín warf den Kopf zurück und lachte. »Um Himmels
willen, nein. Ich bin seit vielen Jahren Atheist. Ein Missionar — das ist ja köstlich!« Er griff nach seinem Schreibblock und zog das Papierbündel heraus, das er von Elena erhalten und zwischen die Seiten gelegt hatte. »Hier! Als Ersatz haben wir die moderne Medizin.« Aus der Manteltasche nahm er seine Brille, setzte sie auf und begann zu lesen. »Posttraumatische Störung. Patient war einem Erleben ausgesetzt, das außerhalb des normalen menschlichen Erfahrungsbereichs liegt und das auf fast jeden erheblich verstörend wirken würde.« Er musterte Mark über den Brillenrand. »Na, wie halten wir es? War der Granateinschlag in Kurdistan ein erheblich verstörendes Erleben?« Mark antwortete nicht, sah den Alten bloß an. Joaquín überblätterte ein paar Seiten, bis er auf die nächste Stelle stieß: »Eine intensive Langzeit-Psychotherapie könnte erforderlich sein.« Er warf die Papiere aufs Bett und sagte grinsend: »Gott wäre bei weitem billiger, oder?« Joaquín lehnte sich zurück, wobei er die Brille in die Tasche steckte. »Sie haben große Pläne mit dir, mein Junge. Intensive Langzeit-Psychotherapie. Sie werden dich an einen Spezialisten überweisen, und er wird in deine Seele eintauchen, bis er das Problem findet und es ausmerzt wie Unkraut. Sie werden dich in ihre Therapiegruppen stekken und dich über deine erheblich verstörenden Erlebnisse ausfragen. Sie werden deine Kindheit analysieren, deine Geschwisterquerelen ans Licht zerren - und du wirst sogar die Möglichkeit bekommen, über deine Träume zu reden. Und während der ganzen Zeit wird Elena warten, daß du gesund wirst, daß ihr Mark wieder so wird, wie er war.« Er legte die Fingerspitzen aneinander. »Aber ich möchte gern hören, was deine Meinung ist. Wird dich eine intensive Psychotherapie heilen? Denk einmal fünf Jahre voraus. Du hast tausend therapeutische Sitzungen
hinter dir, du hast deine Seele entblößt. Geht es dir besser? Bist du geheilt? Ist der Junge aus Beirut dann aus deinem Leben verschwunden? Und der Granateinschlag auch?« »Ich weiß es nicht.« »Ich glaube, du weißt es sehr wohl«, sagte Joaquín. »Es gibt keine Erlösung, Mark. Es gibt keinen Gott, der dir verzeiht, und keinen Psychiater, der dich kuriert. Diese moderne Einbildung, daß wir unsere Schmerzen einfach hinter uns lassen können, ist wirklich absurd. Wir werden sie niemals los. Wir schleppen sie für immer mit uns herum. Genau das ist es, was Leben bedeutet.« Sich erhebend griff Joaquín nach Marks Hand. »Aber ich kann dir helfen, mein Junge. In einer Woche oder höchstens zwei kann ich mehr für dich tun als diese sogenannten Ärzte in zehn Jahren. Ich kann dir zeigen, wie man mit den Schmerzen lebt. Schau mich an, ich bin sechsundsiebzig. Ich habe meine ganze Familie verloren — Eltern und Geschwister. Ich habe meine Frau und meinen einzigen Sohn verloren. Ich habe jeden verloren, den ichje geliebt habe, und all das trage ich für immer in mir. Sieh mich an. Hier stehe ich und lache, ich bin gesund und munter und habe noch Freude an der Welt.« Von oben schaute er lange auf Mark hinab. »Na, laß es dir durch den Kopf gehen.« Er tätschelte ihm die Hand und steckte die Fotokopien in den Schreibblock zurück. »Elena wird bald kommen. Wahrscheinlich wird sie nicht erfreut sein zu hören, daß ich hier gewesen bin. War alles meine Idee, mußt du wissen. Aber du kannst ihr sagen, ich bin in der Cafeteria.« »Mach ich«, sagte Mark. »Vielen Dank.« Der alte Mann zog die Schultern hoch. »Keine Ursache. Das zumindest bin ich meiner Familie schuldig.« Er schlug
den Vorhang zur Seite und war schon im Gehen, da drehte er sich noch einmal um. »Ich weiß, ich bin sehr neugierig. Aber dieses Foto von dem Jungen — ist es etwas geworden?« »Ja.« »Und wie sah es aus?« Mark senkte den Blick. »Es war ein gutes Foto. Ich hatte ihn in der Bildmitte, er rannte auf die Kamera zu. Seine Augen waren im Licht, das Haar war ihm aus der Stirn geweht. Der Hintergrund ein wenig unscharf, aber man erkannte, daß Soldaten mit ihren Gewehren hinter ihm her waren.« »Ein aussagestarkes Bild. Hast du es verkauft?« Mark schaute auf. »Nein. Hab ich nicht.« »Aber du hast es versucht.« Mark musterte den alten Mann, seine spöttische Miene. »Doch. Sie sagten, es fehlt der Zusammenhang.« »Ah, der Zusammenhang«, sagte Joaquín. »Das ist wohl immer ein Problem.« Er wandte sich zum Gehen. »Werfen Sie mir das vor?« rief Mark. »Denken Sie, ich hätte es nicht anbieten dürfen?« Joaquín drehte sich langsam zu ihm um, und sein Lächeln wurde etwas breiter. »Du bist der Moralist, Mark, nicht ich.« Seine Wangen hatten wieder Farbe, und er wirkte ruhig. Nichts erinnerte mehr an die zitternde, bleiche Gestalt, die sie am Nachmittag zuvor auf dem Badezimmerboden gefunden hatte. Sie setzte sich auf die Bettkante und strich ihm das Haar zurück. »Ich hab deinen Eltern gesagt, es wäre nur Erschöpfung«, erklärte sie, »vielleicht ein Parasit, den du dir dort unten eingefangen hast. Für den Moment war es wohl das Beste. Aber sie möchten dich natürlich sprechen.«
Mark nickte. »Ich ruf sie an.« »Von Amy kam eine Nachricht. Der Stern hat die LazarettReportage für zehntausend Dollar gekauft.« »Europäische oder nur deutsche Rechte?« »Hat sie nicht gesagt.« Er schaute nach unten. »Wahrscheinlich nur die deutschen. Hoffe ich jedenfalls. Werde nachfragen.« Elena strich ihm über ein Schienbein. »Wie geht es deinen Beinen?« »Gut.« Er bewegte sie, um ihr zu zeigen, daß sie sich gebessert hatten. »Nachher kommt der Physiotherapeut. Er stellt mir einen Übungsplan für zu Hause auf.« Elena sah ihm ins Gesicht. »Warum hast du mir nichts von der Explosion erzählt, Mark?« Er blickte zur Seite, drehte mechanisch am Plastikband an seinem Handgelenk. »Ich weiß es nicht.« »Hattest du Angst davor, wie ich reagieren würde?« Er schwieg. Sie streckte die Hand aus und streichelte seine Wange. »Du wirst morgen entlassen. Der Arzt kommt dann am Abend zu uns. Er heißt Robert Hershbach. Ein Vietnam-Veteran, der sich auf Kriegstraumata spezialisiert hat. Ich hab ihn am Telefon gesprochen, und er klang gut. Ich glaube, du wirst mit ihm zurechtkommen.« »Und was ist mit deinem Großvater?« Ruckartig zog Elena die Hand zurück. »Wie bitte?« »Dein Großvater. Er hat mir seine Hilfe angeboten. Könnte sein, daß er's gut macht.« Verblüfft sah sie ihn an. Sie schüttelte den Kopf, als würde sie nicht verstehen. »Moment mal. Wann hast du mit meinem Großvater gesprochen?« »Er war heute morgen hier. Wir haben zwei oder drei Stunden miteinander geredet.« »Was? Zwei oder drei Stunden?«
»Er ist faszinierend. Warum hast du mir nie von ihm erzählt?« Elenas Blicke glitten über die Wand. Sie dachte an die Taxifahrt vorn Flughafen ins Hotel: Da hatte sie ihm alles erzählt. Beim Aussteigen hatte er sie nach dem Namen des Krankenhauses gefragt, offenbar hatte er schon alles geplant. Und während sie am Morgen ihre Anrufe und Termine erledigte, während sie sich geschämt hatte, den alten Mann gekränkt zu haben, während sie dachte, er würde sich in seinem Hotel von den Strapazen der Reise erholen, hatte er hier im Krankenhaus Mark besucht. »Mein Großvater kann dir nicht helfen«, sagte sie. »Warum nicht? Er sagt, er ist ein Spezialist.« »Er ist kein Spezialist, Mark. Er ist ein Schwindler.« Sie stand auf, von plötzlicher Nervosität ergriffen. »Wenn du wissen willst, warum ich nie über ihn gesprochen habe, ich kann's dir sagen. Nach dem Spanischen Bürgerkrieg hat mein Großvater eine falsche psychiatrische Klinik betrieben. Seine Patienten waren Kriegsverbrecher, faschistische Offiziere, die im Krieg Greueltaten begangen hatten — >Beichtvater der Faschisten< wurde er genannt. Wer ein Dorf ausgelöscht hatte, wer Menschen zu Tode gefoltert hatte, mußte nur in die Klinik von Doktor Joaquín Morales gehen, dort wurde er von aller Schuld befreit. Natürlich war er kein richtiger Arzt und auch kein richtiger Psychiater, aber das spielte im Franco-Spanien keine Rolle.« »Aber er hat interessante Ideen, Elena. Er ...« Mark suchte nach Worten, nach Begründungen, doch er wußte nicht einmal, warum ihm Joaquín so verlockend erschien: weil er glaubte, daß ihm der alte Mann helfen konnte, oder weil er sicher war, daß es ihm nicht gelingen würde? »Jedenfalls war das alles im Spanischen Bürgerkrieg. Weißt du, wie lange das her ist?«
»Ja, ich weiß, wie lange das her ist. Und ich weiß auch, daß den Opfern nie Gerechtigkeit widerfahren ist. Hunderttausende unschuldige Menschen mußten sterben, und wenn die Mörder Gewissensbisse bekamen, gingen sie zu meinem Großvater, der ihnen die Schuld abnahm.« »Das macht er nicht. Ich habe seine Technik kennengelernt.« »Seine Technik? Er hat keine Technik. Er ist ein Schwindler. Ein Schwindler und Kriegsverbrecher. Vielleicht hat er keine Menschen unigebracht, aber er hat Schlimmeres getan: Er hat sie ausgelöscht. All die unschuldigen Opfer, wenigstens als Gespenster konnten sie weiterleben, ihre Mörder in die Träume verfolgen. Aber mein Großvater hat sie aus der Erinnerung verbannt. >Läuterung< hat er das genannt.« »Ich glaube, er kann mir helfen.« »Nein, kann er nicht. Bitte tu's nicht, und sei es nur meinetwegen. Er hat immer wieder versucht, sich in mein Leben zu drängen, seit ich die Wahrheit über ihn erfahren habe. Jetzt will er dich dazu benutzen. Bitte laß es nicht zu. Tu es für mich.« Mark strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Er ist dein Großvater, Elena. Du mußt verzeihen.« Sie stieß seine Hand weg. »Sag mir nicht, was ich zu tun habe.« Sie maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Wag es nicht!« Er sah an sich herab. »Es dauert nur ein paar Tage, nicht länger.« Wieder tastete er nach ihrer Wange. »Und wenn das nicht hilft ...« Sie seufzte, schüttelte langsam den Kopf, doch es war eine Geste der Erschöpfung, der Resignation, und diesmal ließ sie seine Hand gewähren.
Als sie auf den Tisch in der Cafeteria zusteuerte, stand Joaquín auf und wollte sie umarmen. »Ah, meine Kleine! Bei Tageslicht bist du sogar noch schöner.« Aber Elena blieb am anderen Ende des Tisches stehen. Sie war wütend und blickte beim Sprechen auf ihre Hände. »Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu treffen.« »Auch für mich kam es überraschend«, sagte Joaquín. »Punkt sechs war ich munter — wegen der Zeitverschiebung, nehme ich an.« »Ich dachte, du würdest im Hotel auf mich warten.« »Genau das wollte ich. Aber dann habe ich mir überlegt, wenn ich schon mal wach bin, kann ich auch gleich ins Krankenhaus hinüber und mich mit Mark bekannt machen. Eine Laune, wenn du so willst.Wir hatten ein nettes Gespräch, und alles entwickelt sich prima. Ein sympathischer junger Mann übrigens. Ich kann dir gut nachfühlen, wie sehr du ihn magst.« »Es wird dir nicht gelingen.« »Aber natürlich, meine Kleine. Eine Woche reicht, vielleicht ein paar Tage mehr — weil er ja Zivilist ist.« Sie schaute auf. »Ich rede nicht von Mark, ich rede von mir. Ich weiß, warum du gekommen bist, Großvater. Es wird dir nicht gelingen.« Er blickte auf die Reste seines Essens, auf den Kaffee, der in seinem Styroporbecher längst erkaltet war. »Du bist alles, was mir geblieben ist, Elena.« Am Morgen des folgenden Tages wurde Mark aus dem Krankenhaus entlassen. Joaquín trat ins Wohnzimmer, setzte den Koffer ab und breitete die Arme aus. »Wunderschön!« rief er Mark zu, der von Elena in einem gemieteten Rollstuhl umhergeschoben wurde. »Habt ihr das alles selbst eingerichtet?«
Fünf
Seine Familie lebte im ganzen Land verstreut, doch Mark hatte, sooft er in der Ferne an sie dachte, die Häuser seiner Eltern und Geschwister mit jedem Detail vor Augen - die Wohnanlage seiner Eltern in Fort Lauderdale, von wo der Blick über einen Jachthafen auf den Ozean geht, Jessicas winziges Haus an einem braunen, von der Sonne ausgedörrten Hang in San Diego, Roberts an der Küste von Seattle gelegenes Bauwerk, hochaufragend, mit Gewölbedecken und schlanken Fenstern (ein Bild, das sich mit dem nächtlichen Klang des Nebelhorns verband), und Lauras Halbgeschoßhaus mit dem Swimmingpool für die Mädchen, das in einer von Bäumen dicht gesäumten Vorortstraße Chicagos stand. Vier Häuser, vier kleine Welten, alle mindestens tausend Meilen voneinander entfernt. Aber wenn Mark irgendwo weitab unterwegs war, ohne Orientierung und Übersicht, dann gaben ihm diese vier Orte Halt. Zuerst rief er seine Eltern an. »Es ist wirklich nichts Ernstes. Nur ein Blutparasit, der mich nach und nach geschwächt hat. Ich soll ein paar Wochen ausspannen und Antibiotika nehmen.« »Na, Gott sei Dank«, antwortete seine Mutter. »Wir haben uns Sorgen gemacht seit Elenas Anruf.« Ihre helle Stimme lachte. »Ich jedenfalls. Dein Vater würde nie zugeben, daß er sich um irgendwas Sorgen macht.« »Quatsch, ich wußte doch, daß es nichts Ernstes ist«, sagte sein Vater, der mit einem schnurlosen Telefon auf der Veranda saß. Im Hintergrund hörte Mark den surrenden
Ton des von der Takelage gepeitschten Aluminiummastes. »Und wie war die Reise sonst? Hat sich's gelohnt?« »Ja.« Mark berichtete vom Verkauf der Bilder an den Stern und vom Interesse anderer Zeitschriften. Seine Eltern fragten nicht, was die Bilder zeigten, ihm war es recht. »Hör mal, ich hab eine Idee«, meinte plötzlich seine Mutter. »Warum willst du dich nicht hier bei uns erholen? Die Sonne wird dir guttun, und ich denke, auch Elena hat nichts dagegen, ein paar Tage aus der Kälte herauszukommen.« Das klang verlockend. Fast ein halbes Jahr lag der letzte Besuch bei seinen Eltern schon zurück. Mark erinnerte sich an einen Hafenspaziergang mit dem Vater, der die Jachten bewundert hatte; über die primitiven Segelboote der armen Schlucker hatte er sich mokiert. Seine Mutter war quicklebendig gewesen wie seit Jahren nicht mehr. Nach dem Umzug nach Florida hatte sie Anschluß bei einem rührigen Frauenkreis der Unitarischen Kirche gefunden; seitdem war sie ständig mit Briefkampagnen zugunsten der vietnamesischen Boatpeople oder mit Aktionen zur Rettung des Sumpflands von Louisiana befaßt. »Ich habe erkannt, daß ich der Welt etwas zurückgeben muß«, hatte sie erklärt. »Wunderbar!« kommentierte sein Vater. »Und sie hat beschlossen, es in Form von Briefmarken zu tun.« Es schien, als seien seine Eltern sich in Florida nähergekommen, als hätte die Sonne einen wohltuenden Einfluß auf sie gehabt. Offenbar hatte ihnen der Überfluß von Zeit endlich ermöglicht, zu tun, was ihnen wichtig war. Für Mark war es ein erholsamer Besuch gewesen: Spaziergänge am Strand, Waten im kühlen Märzwasser. »Keine schlechte Idee«, sagte er ins Telefon. »Ich muß nur Elena fragen, wie es mit ihren Terminen aussieht.«
Erst als er auflegte, fielen ihm seine Beine ein, der Rollstuhl, Joaquín. Dann dachte er an ein Gespräch, das er in der letzten Nacht des Besuchs mit seinem Vater gehabt hatte. Die Frauen waren längst schlafen gegangen, und sie beide spielten Romme auf der Veranda, Romme bei billigem Bier und kubanischen Zigarren, die Mark aus Europa mitgebracht hatte. Sein Vater blinzelte in sein Blatt und ließ die Zigarre im Mund umherwandern, wie in einem Gangsterfilm aus den dreißiger Jahren. »Weißt du«, meinte er unvermittelt, »du warst immer der aufgeweckteste von allen. Außerdem neugierig. Den anderen war schnurzegal, was in der Welt passierte, aber du kamst jeden Abend rein, um mit mir die Nachrichten zu sehen. Bist mir auf den Schoß geklettert und hast mich mit Fragen gelöchert, was da denn los sei, wo sich das eigentlich abspiele, warum der Mann das gesagt habe - schön lästig jedenfalls.« Sie lachten. Sein Vater hielt die Zigarre mit den Zähnen fest. »Aber einmal, du warst vielleicht sieben oder acht, wurde etwas gezeigt, ich weiß nicht mal mehr, was es war, ein Flugzeugabsturz oder irgendwas aus Vietnam, jedenfalls war es ziemlich grauenvoll, und alles war deutlich zu sehen, und du hast dir die Augen aus dem Kopf geheult. Bist in dein Zimmer hoch und hast die Tür abgeschlossen. Wir haben sicher eine Viertelstunde an die Tür geklopft, doch du wolltest uns nicht sehen. Wir hörten dich weinen, und du hast nicht aufgemacht. Das war eins meiner bedrükkendsten Erlebnisse. Also ging ich in den Keller, holte den Werkzeugkasten und hob die verdammte Tür aus den Angeln. Erinnerst du dich?« Mark schüttelte den Kopf. »O doch, das hat dich damals ziemlich fertiggemacht, noch
Tage danach.« Er studierte sein Blatt und legte eine Karte ab. »Und darüber habe ich mich immer gewundert. Robert zum Beispiel, der war ein kleines Monster. Nichts konnte ihn wirklich aus der Fassung bringen. Wenn mir jemand vor zwanzig Jahren erzählt hätte, einer meiner Söhne würde Architekt werden und der andere Kriegsfotograf, ich hätte mit Sicherheit danebengetippt.« Er schob seine Karten zusammen und legte sie auf den Tisch. »Ich weiß, deine Mutter bearbeitet dich immer wegen der Gefahren, ständig macht sie sich Sorgen, aber darüber rede ich jetzt nicht. Schließlich ist es dein Leben, und du bist klug genug, es nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Ich meine was anderes. Du darfst nicht vergessen, auch ich war im Krieg.« Mark hatte das nicht vergessen, doch es gehörte einfach nicht zu dem Bild, das er sich von seinem Vater machte. Selbst der kerzengerade Rücken und die verblassende Tätowierung an seinem Oberarm hatten ihn nie daran erinnert, daß sein Vater, sanft und freundlich, wie er war, einmal bei den Marines gedient hatte. »Tarawa — das ist jetzt fünfundvierzig Jahre her, aber für mich ist es noch immer wie heute. Ich brauch nur die Promenade runterzugehen« — Mark sah, wie die Glut der Zigarre kurz in Richtung Strand schwenkte —, »und plötzlich habe ich so einen Schnappschuß im Kopf, das Bild von einem Kumpel, an den ich seit Jahren nicht gedacht habe. Ich weiß genau, wie er aussah, wie er gesprochen hat, was aus ihm wurde, denn in mir steckt das alles drin, und so wird's immer bleiben. Du kommst nicht nach Hause zurück und lebst weiter, als wäre nichts gewesen.« Sein Vater suchte im Dunkeln seine Augen. »Wie lange machst du das jetzt? Sieben, acht Jahre?« »Neun.«
»Neun Jahre. Du hast dir einen Namen gemacht, du könntest dir andere Themen suchen. Warum machst du weiter?« »Weil ich auf diesem Gebiet gut bin.« »Dann versuch, woanders gut zu sein. Dieser Wahnsinn hat seinen Preis.« Mark lächelte. »Du warst neunzehn, Dad, als du frisch aus der Provinz nach Tarawa kamst. Klar, daß dir das an die Nieren gegangen ist.« »Ach, und du bist so viel härter und schlauer? Nimmst das alles mit links? Schau mich an und sag mir, daß dich das alles nicht belastet.« Mark schaute ihn an und sagte: »Es belastet mich nicht.« Im Halbdunkel, in einer Wolke aus Zigarrenrauch, musterte ihn sein Vater mit zusammengekniffenen Augen. Ungläubig senkte er den Blick auf die Karten, schüttelte den Kopf. »Wenn es so ist, tut es mir leid um dich, mein Sohn. Ich glaube, das ist das Traurigste, was ich je gehört habe.« So wurde Mark bewußt, daß er nicht nach Florida fliegen konnte. Erst mußte er verarbeitet haben, was ihm in Kurdistan passiert war. Sein Vater würde ihm sonst die Wahrheit von den Augen ablesen, und irgendwann, bei einem Spaziergang oder beim Rauchen auf der Veranda, müßte er mit seiner Geschichte herausrücken. Dann rief er Jessica an. »Hallo?« Sowie er sie sprechen hörte, sah er vor sich, was sich in vier amerikanischen Wohnzimmern zugetragen hätte, wäre er nicht aus Kurdistan zurückgekehrt. Nach dem ersten Schock wären sie, seine Mutter, seine Schwestern, sein Bruder, auf und ab gelaufen, hätten aus dem Fenster gestarrt oder auf den leisegestellten Fernseher, und die Nachricht wäre ihnen völlig irreal vorgekommen, unwahr-
scheinlich und absurd, und schließlich wäre ihnen der Atlas im Regal eingefallen. Sie hätten in ihm geblättert, hätten nach Kurdistan gesucht, hätten auf das Wort gestarrt und versucht, ihm eine Bedeutung abzugewinnen, einen Hinweis, irgendeinen Aufschluß, doch dabei hätten sie bereits gedacht: Was für eine Sinnlosigkeit, so weit weg von zu Hause zu sterben. Allein sein Vater hätte etwas anderes gedacht. Allein sein Vater konnte Trost aus einem furchtbaren Gedanken ziehen, den er jedoch nie äußern würde: In Wahrheit ist Mark längst gestorben. »Ich glaube, es waren die Blumen, die mich inspiriert haben«, sagte Joaquín. »Der Mohn, genauer gesagt. Im Frühling sind die Felder um Granada voll davon. Erst sind es nur ein paar in den Niederungen, dann breiten sie sich aus, ganz plötzlich, die Hänge hinauf und immer höher, bis schließlich alle Berge in Blüte stehen. In den ersten Tagen warte ich noch, bleibe unten, und wenn sie dort abblühen, folge ich ihnen bis hinauf zur Schneegrenze; ja, ich gebe zu, es klingt ziemlich albern, aber ich wollte sie festhalten, sie sollten nicht welken, nicht verblühen, auch im Winter sollten sie mir den Frühling bewahren. Und das hat mich zum Malen gebracht.« Sie aßen am Küchentisch, Joaquín undElena einander gegenüber, Mark im Rollstuhl an der Seite. Joaquín ließ das Messer sinken und blickte seine Enkeltochter an. »Natürlich, Elena erinnert sich bestimmt an den Mohn. Weißt du noch, wie sehr du ihn geliebt hast? Wie du ihn gepflückt und nach Hause gebracht hast? Ich stand mit deiner Mutter im Garten und sah dich stolz zum Tor hereinkommen. Du hast dein Kleidchen hochgehalten, und die ganzen Blumen lagen darin.«
Elena lächelte dünn. »Ja, ich weiß.« Sie nippte an ihrem Weinglas und sagte zu Mark: »In Granada ist Großvater berühmt für seine Landschaftsbilder.« »Ich bitte dich!« Joaquín hob abwehrend die Hand. »Berühmt ist van Gogh, ich bin allenfalls bemerkenswert. Jawohl, ich bin so unbescheiden zu behaupten, daß ich eine gewisse Begabung habe, eine gewisse Meisterschaft sogar, die mich über Amateure erhebt, aber das ist nicht mein Verdienst allein, das habe ich auch der Landschaft zu verdanken.« Er wandte sich an Mark. »Es gibt Gegenden, die einen irgendwie zur Malerei inspirieren - Arles, Venedig, Granada.« Er seufzte. »Nun, um das zu verstehen, mußt du sie wohl mit eigenen Augen gesehen haben.« »Gern. Ich wollte schon immer mal nach Spanien.« »Recht so, mein Junge.« An Elena gerichtet, sagte er: »Weißt du was: Die Mohnblüte steht kurz bevor. Als ich abfuhr, sah ich schon ein paar Knospen. Noch eine Woche, und alles steht in Blüte.« Er wandte sich wieder Mark zu: »Ja, eine gute Idee. Für deine Therapie wäre das ideal, und Platz haben wir mehr als genug. Das Haus ist riesig, Elena weiß es, und Carmen bekommt mal wieder zu tun.« Elena schob die Gabel über den Teller. »Wie geht's ihr?« »Bitte!« Erneut hob Joaquín die Hand. »Reden wir über was Angenehmes. Carmen ist meine Haushälterin«, erklärte er Mark. »Eine völlig nichtsnutzige Frau, aber im Lauf der Jahre ist sie zu einer Dauereinrichtung geworden, einfach nicht mehr abzuschaffen. Ihr grauer Star ist schon so weit fortgeschritten, daß sie nicht mehr ordentlich reinemachen kann, aber sie weigert sich, zum Arzt zu gehen. Eine richtige Primitive: unbeherrscht, abergläubisch, störrisch. Aus Galicien natürlich.« Elena lachte widerwillig. »Du bist furchtbar, Großvater. Carmen ist eine prachtvolle Frau.«
»Wie ich sagte. Und dich hat sie immer bewundert, Elena. Sie würde sich riesig freuen, wenn du uns besuchen kämest.« »Das ist ein bißchen unrealistisch, meinst du nicht?« Sie deutete mit dem Kopf auf Marks Rollstuhl. »Ganz und gar nicht. Noch zwei oder drei Tage, und dieses Ding ist überflüssig.« Abermals fühlte Elena Ärger in sich hochsteigen. »Ich möchte nur wissen, wo du diese Sicherheit hernimmst.« Joaquín kicherte selbstgefällig. »Tja, meine Liebe. Ich bin nun mal ein Experte.« Mit großspuriger Geste nahm er einen Schluck Wein. »Aber doch nicht so, daß du keine Fehler machst, oder?« Mit einer gewissen Genugtuung sah sie, daß er verunsichert war. »Neulich hatte ich Besuch in meinem Büro, vom Sohn eines deiner Patienten. Sein Vater hieß Carlos Perez. Erinnerst du dich an ihn?« Joaquín setzte das Glas ab, und seine Augen wanderten über das Tischtuch. »Perez ... Carlos Perez . . . « E r schüttelte den Kopf. »Ein Allerweltsname.« »Er hatte einen Spitznamen. Man nannte ihn die Bestie von Olía.« Joaquín lachte betreten auf. »Oh, diese dramatischen Spitznamen damals! Es gab die Bestie von Gijón und die Bestie von Segovia, wenn ich mich recht entsinne. Nicht sehr erfindungsreich, diese Namen, aber sehr pathetisch!« Er grinste Mark an, doch dann fing er den eisigen Blick Elenas auf; er zog die Schultern hoch. »Die Bestie von Olía? Tut mir leid. Kann mich nicht erinnern. Immerhin war das ...« »Er gehörte zu den Unheilbaren. So hast du doch diejenigen genannt, die vor die Tür gesetzt wurden, die man ihrem Schicksal überließ, oder? Er ist nicht nach Hause
zurückgekommen, seine Familie hat ihn nie wiedergesehen. Sein Sohn hat dir Briefe geschrieben und dich um Auskunft gebeten.« Joaquín richtete sich auf, eifrig nickend. Augenscheinlich war er erleichtert. »Ja, richtig, die Briefe! Jetzt erinnere ich mich. Vor einem Jahr etwa kam der erste.« Hastig wechselte sein Blick zwischen Elena und Mark hin und her. »Das muß ich zu meiner Schande gestehen. Ich hätte ihm längst antworten müssen, aber siehst du, ich kann mich nicht an seinen Vater erinnern, und die Akten gingen an die Behörde zurück. Das ist alles so lange her, so viele Patienten, so viele Männer, die ... Trotzdem hätte ich ihm schreiben müssen. Eine Schande, daß ich's nicht getan habe.« Er beugte sich zu Mark hinüber. »Du weißt ja, wie das geht. Man nimmt sich was vor, dann vergeht Zeit, und bald ist es vergessen. Aber - nein, wirklich, das ist unverzeihlich.« »Ich habe seine Telefonnummer«, sagte Elena. »Du kannst ihn von hier aus anrufen.« Joaquín gab sich erfreut. »Hervorragend! Ein Gespräch ist sowieso viel besser. Noch besser wäre es natürlich, ich könnte ihm etwas sagen, mich an etwas erinnern. Aber — ja, telefonieren wäre ideal.« »Ich muß schon sagen, ein bißchen überrascht mich das, Großvater.« Elena stocherte auf ihrem Teller herum. »Da er so ein schwieriger Patient war, müßtest du doch irgendeine Erinnerung an ihn haben.« Sie schaute ihn an. »Aber vielleicht gab es ja sehr viele Unheilbare.« Sie fixierten sich, wandten den Blick nicht voneinander ab — ein Augenduell. »Nicht so viele«, sagte Joaquín schließlich. »Nicht so viele. Aber manchmal kam es schon vor«, sagte er zu Mark. »Eine schreckliche Notwendigkeit. Es kamen immer mehr
Patienten, mußt du wissen, und noch mehr haben gewartet. Was sollte man also mit denen machen, denen nicht zu helfen war, die nicht schnell genug auf die Therapie ansprachen? Wir mußten Platz für die anderen schaffen. Wenn alle Mittel versagten, mußten wir sie entlassen. Was hätten wir tun sollen?« Plötzlich wirkte er kalt und abweisend. »Aber wir haben sie nie einfach vor die Tür gesetzt. Immer hab ich versucht, sie ihren Familien zu überstellen. Das war Ehrensache. Was in diesem Fall schiefging, mit diesem Perez, das weiß ich nicht, ich kann es mir nicht mal vorstellen.« Er seufzte, schüttelte den Kopf. Nach kurzem Schweigen wandte er sich an Mark. »Spielst du Schach?« »Nein, hab ich nie gelernt.« »Ich werd's dir beibringen.« Die Wohnung hatte sich in einen fremdartigen Ort verwandelt. Wenn Elena sich in der Küche umsah, entdeckte sie Dinge, die sie vorher nicht bemerkt hatte - Risse in der Decke, eine Delle im Linoleum. Selbst Sachen, die von ihr stammten — ein Gauguin-Druck über der Spüle, der getrocknete Rosmarin auf dem Fensterbrett —, kamen ihr jetzt merkwürdig vor. Es war kein vorübergehender Eindruck. Seit dem Augenblick, als sie die Wohnungstür aufgemacht hatte und ihr Großvater über die Schwelle getreten war, quälte sie dieses Gefühl. An den Rahmen der Küchentür gelehnt, sah sie zu den Männern im Wohnzimmer hinüber, die sich über das winzige Schachbrett auf dem Couchtisch beugten, zu Mark in seinem Rollstuhl, dem Großvater auf dem Sofa. Die Deckenlampe tauchte beide in gelbes Licht. Minutenlang blieben sie in ihr Spiel versunken, ohne zu bemerken, daß sie beobachtet wurden. Die Arroganz des Großvaters, seine Behauptung, er könne
Mark umgehend gesund machen, das war der Grund, glaubte sie, weshalb sie am Eßtisch den verschwundenen Patienten erwähnt hatte. Erst im Lauf des Abends wurde ihr klar, daß ihre Gereiztheit noch andere Ursachen hatte. Wie ein Gespenst schlich sich Joaquín in ihr Leben; Elena fühlte sich machtlos, von neuem überrumpelt bei jedem Versuch, sich zu wehren. Immerhin wußte sie jetzt, daß sie sich nicht stumm in ihre Rolle fügen würde. Später, nachdem sie Mark aus dem Rollstuhl ins Bett geholfen hatte, legte sie sich dicht neben ihn. »Glaubst du, er könnte dir helfen?« »Kann ich noch nicht sagen. Aber Schach kommt mir interessant vor.« »Wir fliegen nicht nach Spanien, Mark. Egal, was er sagt oder verspricht, wir fliegen nicht mit ihm nach Spanien.« Ein paar Minuten darauf, sie war schon fast eingeschlafen, wurde sie von seiner sanften Stimme zurückgeholt. »Was meinst du, wo er hingegangen ist?« Fragend hob sie den Kopf. Mark lag mit dem Rücken zu ihr. »Von wem sprichst du?« »Von Joaquíns früherem Patienten, dem unheilbaren. Was denkst du, was aus ihm geworden ist?« Sie streichelte ihm den Nacken. »Weiß ich nicht. Wenn er Glück hatte, hat er in irgendeinem Dorf Unterschlupf gefunden, und die Leute haben sich um ihn gekümmert. Das gab es in Spanien öfter. Wenn nicht, dann ist er umhergeirrt, bis er verhungerte oder erfror oder ... Ich weiß es doch nicht.« »Glaubst du, er wollte nach Hause zurück?« »Bestimmt. Er hatte eine Frau, einen kleinen Sohn. Wahrscheinlich hat er es versucht.« Lange schwieg Mark, aber Elena spürte, daß er wachlag, ins Dunkel blickend.
»Wäre schrecklich«, sagte er irgendwann, »auf diese Weise zu sterben. In der Einöde, von Menschen verlassen. Muß furchtbar sein.« Sie fragte sich, ob er in diesem Moment an Colin dachte. Das Telex, vor fünf Tagen abgeschickt, war noch immer unbeantwortet. Auch Diane hatte nichts von ihm gehört; mit jedem Tag wirkte ihre Heiterkeit gezwungener. Elena vermutete, daß sich inzwischen auch Mark um Colin Sorgen machte, aber jetzt war nicht der Augenblick, darüber zu reden. Sie schmiegte sich an ihn, küßte seinen Hals. »Du darfst nie mehr fortgehen«, sagte sie. »Ich laß dich nie mehr weg.« Von einem Poltern, das in regelmäßigen Abständen aus dem Wohnzimmer kam, erwachte sie. Sie war verwirrt, bis ihr einfiel, daß ihr Großvater morgens Gymnastik betrieb. Als sie sich den Bademantel angezogen hatte, ging sie in die Küche, um Kaffee zu machen. »Guten Morgen, meine Kleine.« In einen lässigen Sportdreß gekleidet, vollführte er Hampelmann-Sprünge. Die Arme bekam er kaum über den Kopf, die Füße lösten sich nur knapp vom Boden, doch er gab nicht auf. »Kaffee habe ich schon gekocht.« Zurück im Schlafzimmer, half sie Mark beim Anziehen, setzte ihn in den Rollstuhl und fragte sich, wie lange das zu ihrem morgendlichen Ritual wohl gehören würde. Sie schob ihn durch den langen Flur und rückte den Rollstuhl jedesmal gerade, wenn er zu nahe an die Wand herankam. »Ah, der Patient erscheint!« rief Joaquín, das Gesicht gerötet von sportlicher Anstrengung. »Raus aus dem Stuhl, mein Junge, raus aus dem Stuhl! Erst die Gymnastik, dann ein leichtes Frühstück, dann vielleicht eine Partie Schach!«
Mit großen Schritten eilte er auf Mark zu, packte ihn fest am Arm und zog ihn hoch. »Warte«, rief Elena, »erst muß er seine Streckübungen machen.« »Streckübungen? Zeitverschwendung, mein Kind. Diesen Luxus können wir uns nicht leisten. Am wichtigsten ist das Gehen.« Sie verfolgte, wie er Mark herumführte, wie er ihn stützte, während Mark mit zitternden Beinen winzige Schritte machte. »Erstaunlich!« lobte Joaquín, »schon diese schnelle Besserung ist erstaunlich.« Mißmutig zog sich Elena ins Arbeitszimmer zurück und schloß die Tür. Sie erledigte Post, brachte ihr Adreßbuch auf den neuesten Stand, heftete Papiere in Aktenordner — versuchte, sich die Zeit zu vertreiben. Durch die dünne Wand hörte sie Gesprächsfetzen, das Lachen des Großvaters, seine schweren Schritte, das Quietschen seiner neuen Turnschuhe auf den Dielen. Sie fühlte sich aus ihrer eigenen Wohnung verbannt und bereute, daß sie nicht ins Büro gegangen war. »Die Fotos im Korridor sind ja hervorragend«, sagte Joaquin, »besonders die Gebirgsbilder. Hast du die aufgenommen?« Mark blickte vom Schachbrett auf und nickte. »Vorjahren schon. Oben in Alaska. Ich habe als Landschaftsfotograf angefangen.« »Und das hast du abgebrochen, bei diesem Talent?« Mark zuckte die Schultern. »Damit war kein Geld zu verdienen. Ich kam mir vor wie ein armer Poet.« »Also hast du dich dem Krieg zugewandt.« Joaquín wiegte den Kopf. »Schrecklich, was? — Diese ökonomischen
Zwänge, die dem Künstler auferlegt werden. Wünschenswert wäre eine Welt, in der schöpferische Geister von solchen Sorgen befreit sind, in der sie sich ungehindert entfalten können.« Er lachte auf. »Guter Gott, ich klinge schon wie ein mieser kleiner Sozialist.« Das Telefon klingelte, und Mark hörte durch die Wand, wie Elena mit dem Anrufer sprach. »Und wo hast du so gut Englisch gelernt?« »O bitte!« Joaquín kicherte, protestierend hob er die Hand. »Ich bin wie die Axt im Walde. Sehr nett, daß du mir Komplimente machst, aber falsche Höflichkeiten können wir uns ersparen. Nein, früher einmal war mir die Sprache vielleicht geläufig, damals in der Klinik, aber inzwischen habe ich fast alles vergessen.« Mark wunderte sich. »Du hast dein Englisch in der Klinik gelernt?« »Ja, wir hatten eine englische Krankenschwester, eine Volontärin. Erica Humphries hieß sie. Sie blieb über ein Jahr, und wenn etwas Zeit dafür war, brachte sie mir ein paar Wörter bei. Ein entzückendes Mädchen, sehr gebildet.« »Was hatte denn eine englische Krankenschwester in deiner Klinik zu suchen?« Joaquín drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Da siehst du's. Du hast zu viele Geschichtsbücher gelesen. Du denkst, ganz Europa, die ganze zivilisierte Welt war gegen Franco. Falsch, absolut falsch. Das kam erst später, nach dem Zweiten Weltkrieg, als plötzlich alle schon immer Antifaschisten gewesen waren. Wie in Frankreich angeblich jeder bei der Resistance gewesen ist und gegen Vichy gekämpft hat, waren alle Spanier plötzlich Franco-Gegner. In Wirklichkeit kamen nach dem Bürgerkrieg Hunderte, vielleicht sogar Tausende Freiwillige aus ganz Europa Lehrer, Techniker, Krankenschwestern -, die Franco als
Helden verehrten und beim Wiederaufbau des Landes helfen wollten. Auch Erica Humphries. Politisch war sie vielleicht nicht ganz auf dem laufenden, aber sie war ein reizendes Mädchen, eine fähige Kraft.« Mark lächelte. »Womöglich sogar mehr als das, was?« Joaquín verstand ihn nicht gleich. »Na ja, wie ich sagte, sie war Engländerin . . . « Dann begriff er. »O nein! Unsere Moral war damals äußerst streng. Beziehungen zu einer Krankenschwester, einer ausländischen gar, das wäre undenkbar gewesen. Unter Franco ging es gesittet zu.« Er hielt inne, nachdenklich geworden. »Nun ja, es war schon eine besondere Moral, die Moral der Cruzada. Für das Töten fand sich immer eine Rechtfertigung. Aber Ehebruch? Das war selbst im Krieg verboten.« Beide lachten. Mark, sich dem Schachbrett zuwendend, versuchte, zum Spiel zurückzufinden. Die Züge von König, Dame, Läufer und Turm hatte er schnell begriffen, die hatten ihre Logik, die Bauern und Springer dagegen bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Ohne besondere Absicht zog er die Königin ein paar Felder zurück. Joaquín lehnte sich sofort vor und studierte den Zug. »Aber ich muß sagen, deine Gebirgsfotos finde ich ganz außergewöhnlich. Vielleicht deshalb, weil ich als Landschaftsmaler in ihnen etwas Verwandtes spüre. Ich habe mich zwar auch als Porträtist versucht, gar keine Frage, aber ich fürchte, daß mich Menschen nicht sonderlich interessieren. Es ist die Natur, die mich begeistert.« Joaquín wedelte mit dem Finger. »Nein, das ist ungenau. Der Aufstand der Natur gegen den Menschen, das blühende Unkraut in der Ackerfurche, der störrische Wuchs der Olivenbäume in der Plantage — das ist es, was uns fesselt. Ja, nenn mich nur einen Neoklassizisten, wenn es sein muß — obwohl ich mich lieber als Antimodernisten bezeichne —,
doch das ist der Grund, weshalb ich ausschließlich in Öl male. Und du weißt das sicher zu würdigen.« Er beugte sich weit vor, bis sein Gesicht nur noch ein paar Zentimeter von Mark entfernt war. »Kannst du dir vorstellen, daß mir vor ein paar Jahren ein Galerist in Granada, irgendein verdächtiges Individuum aus der Kaffeehausszene von Barcelona, allen Ernstes den Vorschlag machte, es mit Aquarellen zu probieren? Ungelogen! Wie soll man so ein Barbarentum verkraften? Wäre ich jünger gewesen, ich hätte diesen kleinen Zuhälter direkt vor seinem Souvenirladen zusammengeschlagen.« Er lehnte sich zurück, sank erschöpft ins Sofa. »Der Ehrgeiz! Davon haben die keinen Begriff. Die reden von Inspiration und Ästhetik und Disziplin, aber das sind nur die kleinsten Faktoren der Kunst. Ohne den Ehrgeiz bedeuten sie überhaupt nichts, schlimmer noch, sie werden zu Schwächen. Was ist ein Landschaftsgemälde denn anderes als der Versuch, die Welt in ihrer ganzen Komplexität wiederzugeben, in allen Schattierungen, Tiefen und Strukturen? Es ist zwar unmöglich, aber was zählt, ist der Wunsch, es zu schaffen. Ölfarbe, nur die Ölfarbe kann dem Ehrgeiz, den wahre Kunst erfordert, Genüge tun.« Lächelnd winkte er ab. »Aber wem erzähle ich das! Du hast auf deinem Gebiet sicher mit ähnlichen Perversionen zu tun.« Mark war verwirrt. »In der Fotografie versuchst du doch, einen bestimmten Moment festzuhalten«, fuhr Joaquín fort. »Egal, ob es sich um einen Berg, einen Menschen oder um ein Fußballspiel handelt. Aber der Ehrgeiz besteht doch darin, das Gesehene genauso wiederzugeben, wie es in dem entsprechenden Moment erscheint, hab ich recht? Das Bild künstlich zu verschönern, mit Hilfe von Filtern oder Retuschen den Himmel blauer, die Wolken dunkler zu machen, ist eine
Verfälschung des künstlerischen Prozesses, würde ich behaupten.« Er brach ab, plötzlich aus dem Konzept gebracht. »O Gott, ich hoffe, ich hab dich nicht gekränkt.« Mark grinste. »Nein, nein, keine Sorge. Ich glaube, du bist nur ein bißchen konservativ.« »Diesen Vorwurf habe ich schon öfter gehört.« »In meinem Beruf benutze ich ständig Filter. Wenn der Kontrast nicht stark genug oder das Licht zu hart ist, muß ich das mit Filtern ausgleichen.« »Ja, natürlich. Wie du schon sagst, das ist dein Beruf.« Joaquin deutete zum Korridor. »Ich denke eher an deine Gebirgsbilder. Hast du für die auch Filter benutzt? Hast du die Farbe des Himmels verändert?« Mark schüttelte den Kopf. »Siehst du? Ich hab es gewußt. Über Fotografie weiß ich kaum etwas, doch an diesen Bildern erkenne ich deinen Ehrgeiz. Kriegsfotografie ist nur dein Job - in dem du sehr gut bist —, nicht aber deine Kunst. Wenn du zur Naturfotografie zurückkehren würdest, wenn du zum Beispiel nach Spanien kämest, um die Berge zu fotografieren, würdest du deine Filter wegwerfen. Ich weiß es genau, ich erkenne in dir den Puristen. Du würdest durchs Gebirge streifen, bis du genau das Bild gefunden hast, das du suchst, stundenlang würdest du auf den richtigen Moment warten, auf die ideale Mischung von Licht und Schatten, weil das dein künstlerischer Anspruch von dir verlangt, und alles andere wäre unter deiner Würde.« Mark lächelte den alten Mann kurz an. »Mag sein«, sagte er. »Mag sein.« Dann bewegte er den Turm drei Felder nach vorn. »Ah«, sagte Joaquín. »Ein kühner Zug. Ich sehe schon, aus dir wird ein guter Stratege.«
Seltsamerweise galt ihr erster Gedanke nicht Diane, sondern Sem. Es war Donnerstagnachmittag, und obwohl sie sich im Büro entschuldigt hatte, sah Elena ihn dort im Aktenraum des achtzehnten Stocks vor dem Stapel mit Suchmeldungen sitzen und jedesmal aufschauen, wenn draußen jemand vorbeiging, immer in der Hoffnung, daß sie es war, die eintrat, um die Arbeit und die Freude des Erfolgs mit ihm zu teilen. Elena legte den Hörer auf und erhob sich vom Schreibtisch. Als sie hereinkam, blickten die Männer auf. »Schlechte Nachrichten«, sagte sie zu Mark. »Es geht um Colin.« Da schien er zu schrumpfen, auf eine so körperliche Weise, daß sie hörte, wie sich sein Rücken in die weiche Lehne des Rollstuhls preßte. »Ein Anruf aus dem Büro. Die UN-Abteilung Nord-Kurdistan hat mein Telex beantwortet. Sie haben Colins Gepäck in seinem Hotelzimmer in Rawanduz gefunden. Er ist nie bis ins Tiefland gekommen.« Sie sah, wie Marks Blick langsam von ihr abglitt, wie er nach draußen wanderte zum Himmel. Die Muskeln unter seinen Wangenknochen zuckten. »Aber er wollte nur für ein paar Tage dorthin. Er hätte sowieso die meisten Sachen dagelassen.« »Alle seine Sachen waren dort, Mark. Seine Kleidung, Kameras, Paß, alles. Aus Rawanduz ist er nie rausgekommen.« Joaquín räusperte sich. »Dafür gibt es einfache Erklärungen. Vielleicht ist er festgehalten worden, von der anderen Seite gefangengenommen ...« Elena nickte. »Könnte sein. Wahrscheinlich hätten wir dann schon Nachricht von ihm, aber möglich ist es. Mark?« Sie wartete, bis er sich ihr zuwandte, mit Augen, die auf
etwas blickten, was sie nicht sah. »Ihr habt doch beide im Hotel von Rawanduz gewohnt. Hast du Colin nicht gehen sehen - an dem Tag, als ihr euch getrennt habt?« »Nein. Ich bin am Morgen los, er am Nachmittag.« »Und wie war das nach deinem Unfall? Bist du noch mal ins Hotel zurückgekommen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab jemanden geschickt, um meine Sachen zu holen, und bin direkt von Harir aus abgefahren.« Sie hoffte auf mehr, doch Mark senkte den Blick, betrachtete seine Finger, die über das Armpolster des Rollstuhls strichen. »Fällt dir jemand ein, den wir noch fragen könnten, jemand, der vielleicht etwas weiß?« Wieder schüttelte er den Kopf, langsam, ohne aufzublicken. »Ich weiß es nicht. Wirklich.« »Es muß jemanden geben, Mark. Bitte, denk nach!« Joaquín stand vom Sofa auf und legte die Hand auf Elenas Arm. »Ich glaube kaum, daß das Sinn hat. Nicht jetzt.« Elena nickte und rieb sich mit zitternden Fingern die Augen. »Diane. Mein Gott, was soll ich Diane sagen? Was soll ich ihr bloß sagen, Mark?« Nochmals schüttelte er den Kopf, als stünde er unter Schock. »Du sagst ihr genau, was du weißt«, befahl Joaquín. »Ich befürchte, du siehst die Sache zu sehr von der finsteren Seite. Sogar in den schlimmsten Zeiten, auch im Krieg, tauchen die meisten Leute, die vermißt werden, irgendwann wohlbehalten wieder auf. Wenn tatsächlich das Schlimmste passiert wäre, müßte doch jemand seine Leiche gefunden haben. Ohne Leiche bleibt immer ein Stück Hoffnung. Ist es nicht so, mein Junge? Hast du die Erfahrung nicht auch gemacht?«
Endlich hob Mark den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht.« Elena strich dem Großvater über die Hand, die noch immer auf ihrem Unterarm ruhte. Zum ersten Mal war sie dankbar, daß er da war. Sie glaubte seinen Worten nicht, aber für den Moment spendeten sie Trost. Es war, als würde ein Film ablaufen: Er sah Elena durch die Wohnung schreiten, sah, wie sie sich zum Gehen fertig machte, er spürte ihren Kuß auf der Wange, hörte die Wohnungstür zuschlagen, doch alles nur von fern, als wäre er selbst nicht anwesend. Sogar Joaquín, der ihm gegenüber auf dem Sofa saß, das Schachbrett, alles schien unwirklich. Und plötzlich begriff er, warum: Er war wieder in Kurdistan. Die Bilder jenes Nachmittags auf der Bergkuppe, der Nacht am Fluß, sie hatten sich von neuem in seine Wahrnehmung gedrängt. Er blinzelte. »Du machst dir Sorgen um deinen Freund«, sagte der Alte verständnisvoll. »Möchtest du darüber reden?« »Ich wüßte nicht, was es da zu sagen gibt.« Joaquín nickte. »So ist es sicher am besten. Du bist jetzt nicht in der Verfassung, dich mit den Problemen anderer zu befassen. Er wird schon wieder auftauchen. Davon bin ich überzeugt.« Er schaute auf die Uhr. »Nun komm, es ist Zeit für die Übungen. Und danach erzählst du mir wieder eine von deinen Geschichten.« »Ich und Beth, wir sind heute morgen eingeflogen, um Diane unter die Arme zu greifen und gemeinsam auf Nachricht zu warten ...« Sylvia lachte Diane an, die neben ihr auf dem Sofa saß. »Mütter müssen eben überall ihre Nase reinstecken.« Sylvia war schlank und braungebrannt. Ihre Sprache, ihre Gesten waren flink, fast abrupt, und Elena fühlte sich an
die zielstrebig-energischen Frauen erinnert, die in den Straßen Manhattans unterwegs waren. Dianes jüngere Schwester Beth hingegen wirkte kindlich und verträumt. Sie saß auf der Seitenlehne des Sofas und schaute mit ratloser Miene auf Mutter und Schwester hinab. »Hast du nichts von den UN-Leuten gehört?« fragte Diane. Elena wich Sylvias bohrendem Blick aus. Sie war noch nicht soweit. Im Taxi hatte sie vergeblich versucht, der Nachricht, die sie zu überbringen hatte, eine optimistische Note zu verleihen. »Nein«, sagte sie. »Noch nicht.« Diane seufzte und versetzte dem Sofakissen einen kleinen Hieb. »Ich bin sicher, es gibt keinen Grund zur Sorge«, sagte Sylvia mit einem Lächeln. »Wir haben uns ans State Department gewandt und unseren Mann im Kongreß angesprochen. Außerdem: Colins Familie tut, was sie kann.« Sie drehte sich zu Diane um. »Weißt du, Colins Vater hat mir erzählt, daß seine Kollegen eine Art Stiftung gründen wollen, einen Preis für Reporter. Ist das nicht toll? Man gewinnt seinen Glauben an die Menschheit zurück, findest du nicht?« Diane nickte und wandte sich an Elena. »Wie geht es Mark?« »Gut. Er und mein Großvater sind unzertrennlich. Ich weiß nicht, ob man das als Therapie bezeichnen kann, aber wenigstens lernt er Schach spielen.« Sylvia warf lachend den Kopf zurück. »Das ist ja unbezahlbar!« »Und hat Mark noch irgendwelche Ideen, an wen wir uns wenden könnten?« Elena verneinte. »Na, es wird ihm schon was einfallen, sowie er ein bißchen
Zeit zum Nachdenken hat.« Sylvia sprang auf. »Ihr Mädchen sorgt für die Geselligkeit, ich mache mich über die Küche her.« Mit raschem, festem Schritt verließ sie das Wohnzimmer. Sofort herrschte beklommenes Schweigen. Beth rutschte von der Sofalehne zu Diane hinunter, und schweigend hörten sie Sylvia in der Küche hantieren, die vergnügt vor sich hin summte und mit den Schranktüren klappte. Elena wußte nicht, wie sie beginnen sollte. Sie wünschte Mark herbei, einen starken, gesunden Mark. Aber sie wollte sich, wenn sie es schon nicht über sich brachte, Diane die Wahrheit zu sagen, auch nicht an einer Scheinunterhaltung beteiligen. Sie erhob sich von ihrem Sessel. »Vielleicht kann ich eurer Mutter helfen.« Syliva warf ihr einen raschen Seitenblick zu, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Also wirklich, diese Küche ist ein einziges Durcheinander. Hier steht ja nichts am richtigen Platz. Hast du eine Ahnung, wo sie den Senf versteckt?« Elena griff in den Wandschrank neben dem Herd und nahm das Glas heraus. »Seltsam«, sagte Sylvia. »Bei mir steht er immer im Kühlschrank.« Sie musterte die Sachen, die sie zusammengetragen hatte: Brot, Salat, Käse, Frühstücksfleisch. »Ich glaube, das ist alles.« Elena schaute Sylvia zu, die mit ihren mageren, schnell zupackenden Händen vier Pappteller ausbreitete, Brot schnitt, Senf verteilte. Sie bewegte sich wie ein Automat, und Elena fand es beruhigend, ihr zuzusehen, eine willkommene Ablenkung von der lastenden Stille im Wohnzimmer. »Kann ich dir helfen?« fragte sie. Plötzlich hielten Sylvias Hände still. Sie blickte auf, und
Elena bemerkte erschrocken, daß sie Tränen in den Augen hatte. »Du weißt was, stimmt's?« Sofort spürte Elena die eigenen Tränen kommen. Sie nickte. Sylvia lehnte sich ans Büffet. »O nein«, sagte sie, »o nein.« »Uganda?« Joaquín blickte interessiert von seinem Schreibblock auf. »Aha. Das Reich des Idi Amin. Schillernde Figur. Total verrückt, aber über seine Extravaganzen muß man sich einfach amüsieren.« Er lachte. »Ich weiß noch, wie er Queen Elizabeth darüber belehrte, wie sie ihr Land zu regieren habe. Und daß er sich auf dem Thronsessel von einer Gruppe weißer Männer umhertragen ließ. Erinnerst du dich? Sehr witzig. Naja, vielleicht nicht ganz so witzig, wenn man zu den Opfern zählte.« Er klopfte mit dem Stift aufs Papier. »Tut mir leid, ich hab dich unterbrochen.« Mark lächelte. »Schon gut. Meine Geschichte spielt 1986. Da war Idi Amin schon lange von der Bildfläche verschwunden.« Joaquín schien enttäuscht. Mark nahm einen Schluck Bier und blickte hinaus in den Nachmittagshimmel. »Nur die wenigsten wissen das, und die Medien haben sich nie darum gekümmert, aber nach Amin wurde in Uganda alles noch viel schlimmer. Er war zwar verrückt, hielt jedoch wenigstens das Land zusammen. Als er weg war, fiel alles auseinander, der Bürgerkrieg fing an. Kampfgebiet war vor allem das Luwero-Dreieck, eine Gegend nördlich der Hauptstadt, und es gab Meldungen, daß die Armee dort Massaker verübte. Doch waren das kaum mehr als Gerüchte, denn das Gebiet war abgeriegelt, und niemand durfte hinein. Anfang 1986 stürzte dann die Regierung, und die Rebellen kamen an die Macht. Also beschloß ich,
an Ort und Stelle nachzusehen, was passiert war. Ich glaube, ich war einer der ersten, die ins Luwero-Dreieck reisten.« Gedankenverloren sah Mark auf die Bierflasche in seiner Hand, kratzte mit dem Fingernagel am Etikett. »Ich frage mich, wie ich das beschreiben soll. Dafür gibt es keine Worte. Es überstieg alles Vorstellbare. Zwei Jahre lang hatte die Armee jeden umgebracht, der ihr in die Quere kam. Niemand weiß, wie viele sterben mußten, vielleicht dreihunderttausend, vielleicht eine halbe Million. Aber damit nicht genug. Sie hatten nicht nur versucht, das Volk auszurotten, sondern ihr Ziel war auch, die ganze Gegend zu verheeren. Sie haben die Krankenhäuser mit Bulldozern niedergewalzt, die Brunnen gesprengt, Bewässerungssysteme zerstört, sie kamen mit Lkws und haben alles nach Kampala abtransportiert, was nicht niet- und nagelfest war — Fenster, Türklinken, Glühbirnen —, und was sie nicht mitnehmen konnten, das demolierten sie. Doch das war es nicht. Das Schlimmste waren die Überlebenden. Zwei Jahre lang hatten sie sich im Wald versteckt, von Wurzeln und Insekten gelebt, und allmählich kehrten sie zurück. Ihre Dörfer existierten nicht mehr, ihre Familien waren verschwunden. Sie gerieten in eine Art Dauerschock. Anstatt die Felder in Ordnung zu bringen und Häuser zu bauen, sammelten sie die Toten ein, die Knochen der Toten. Da fuhr man eine Straße entlang und sah sie auf dem Feld Knochen zusammensuchen, Knochenbündel auf dem Kopf. Sie brachten sie zu einem zentralen Platz und sortierten sie zu Haufen. Hier die Schädel, dort die Rippen, da die Hüftknochen und so weiter. Jedes Dorf, das man besuchte, war damit beschäftigt. Dann kamen die Überlebenden und sahen die Knochenberge durch. Als würden sie den normalen Alltag kopieren, als würden sie
auf den Markt gehen und einkaufen. Aber sie suchten nach ihren Angehörigen, wollten deren Knochen finden, und ich glaube, das war das Schrecklichste, denn sie konnten es ja nicht wissen. Ein Knochen, ein Schädel sieht fast genauso aus wie jeder andere, und nichts weist daraufhin, ob es sich um Überreste des Vaters, der Mutter oder des Nachbarn handelt. Aber sie schienen sich an den Glauben zu klammern, daß sie nur systematisch genug suchen müßten.« Mark stellte die leere Flasche auf den Couchtisch. Das Etikett war verschwunden, statt dessen lagen kleine Papierkügelchen zu seinen Füßen. »So etwas hatte ich noch nie erlebt. Wohin ich auch schaute, sah ich Motive, eins schrecklicher als das andere. Ich muß an die dreißig Filme verschossen haben an diesem Tag.« Joaquín lachte verhalten. »Das kann ich mir vorstellen. Gab es einen Moment, der sich dir besonders eingeprägt hat?« Mark nickte. »Es war später Nachmittag, gutes Licht, und ich besuchte ein Dorf mit einer außergewöhnlich großen Sammlung — drei- oder vierhundert Schädel. Kaum hatte ich zu fotografieren begonnen, kam eine Frau auf mich zu, etwa dreißig, fünfunddreißigjahre alt. Ich weiß nicht, warum sie gerade zu mir kam. Vielleicht, weil ich ein Weißer bin, denn das ist eine ziemlich urtümliche Gegend, wo die Weißen bislang nur als Entwicklungshelfer oder Missionare in Erscheinung getreten sind. Vielleicht also, dachte sie, ein Weißer sei zum Helfen dort, oder mein Fotoapparat hat sie gelockt, wer weiß? Jedenfalls hielt sie ein Foto in der Hand, ein altes Familienbild von ihrem Mann und ihren vier Kindern, alle noch klein, zwischen fünf und elf etwa, und sie wollte, daß ich ihr bei der Suche
helfe. Ständig zeigte sie abwechselnd auf das Foto und die Schädel. Ich wollte ihr erklären, daß das unmöglich ist, daß man Schädel nicht unterscheiden kann, aber sie konnte kein Englisch, sie verstand mich nicht. Steht einfach da mit ihrem Foto, blickt mich an und wartet.« Mark zupfte an einem kleinen Riß im Plastikpolster seines Rollstuhls. »Deshalb gebe ich schließlich nach. Ich gehe zu dem Haufen aus Erwachsenenschädeln und spiele ihr vor, daß ich jeden einzelnen untersuche; dann wähle ich einen aus und bringe ihn ihr. Sie wickelt sich ein Tuch von der Hüfte, breitet es auf dem Boden aus und legt den Schädel darauf. Wieder hält sie mir das Bild hin, diesmal auf das größte Kind zeigend, ich glaube, ein Mädchen mit weißer Bluse und einem Rock — etwa wie eine katholische Schuluniform. Also begebe ich mich zu den Kinderschädeln und mache dasselbe: gehe drumherum und schaue mir die Schädel an, tue so, als wüßte ich genau, worauf es ankommt, bis ich mich selbstsicher für einen entscheide und ihn ihr bringe. Am Ende habe ich ihr fünf Schädel gebracht, die sie alle auf das Tuch legt, bevor sie es zum Bündel schnürt und sich auf den Rücken hebt.« Mark ließ die Armlehne los und rieb sich das Kinn. »Was mich jedoch am meisten erschüttert hat, was mich wirklich fertigmachte: Sie wollte mich dafür bezahlen. Sie holte ein altes Portemonnaie aus ihrem Kleid und wollte mir Geld geben, es war, wie soll ich sagen ...« Mark blickte zur Decke, suchte nach Worten. »Ich weiß nicht. Darin lag etwas so Trauriges und Würdevolles, Stolzes. Natürlich lehnte ich ab, ich sagte, ich hätte es umsonst getan, aber sie war hartnäckig, genau wie ich. Es dauerte ewig, bis sie schließlich nachgab. Sie lächelte mich an, dankte mir, drehte sich um und verschwand mit ihrem Bündel. Das
war's.« Er blickte Joaquín an. »Keine sehr gute Geschichte, oder?« »In meinem Beruf kenne ich keine guten oder schlechten Geschichten.« Er legte den Stift zur Seite und überflog seine Notizen, bis er prüfend aufschaute. »Keine Fotos diesmal? Hast du kein Bild von der Frau gemacht?« Mark verneinte. »Seltsam.« »Ist das wichtig?« Joaquín zog die Schultern hoch. »Wer weiß?« Er legte den Block neben sich aufs Sofakissen und faltete die Hände im Schoß. »Ich befürchte, du irrst dich in einer Hinsicht. Wahrscheinlich wußte die Frau sehr gut, daß du ihr etwas vorgespielt hast. Wofür sie dankbar war, wofür sie dich bezahlen wollte, war das Schauspiel, das du ihr zuliebe veranstaltet hast. Es ist gar nicht so einfach, ein Überlebender zu sein. Manchmal müssen wir uns an die Magie klammern, an Dinge glauben, von denen wir wissen, daß sie nicht stimmen, einfach um weiterleben zu können. Zuweilen müssen wir sogar die Toten beneiden.« Mark bemerkte einen schmerzlichen Zug in seinem Gesicht. Joaquín drehte sich schnell weg und schaute in eine Zimmerecke. »Es gibt so viel Trauriges auf der Welt.« Er seufzte, dann wollte er weitersprechen, und Mark sah ihn erwartungsvoll an. Aber der Moment ging schnell vorüber. Joaquín richtete sich auf, grinste, klopfte sich auf den Bauch. »Ich habe Hunger. Wie war's mit einem Sandwich?« Der Abend schleppte sich dahin. Auf leisen Sohlen bewegten sich die vier Frauen durch die Wohnung, und wenn sie sprachen, sprachen sie gedämpft, als würden Geräusche
ihre Befürchtungen wahrmachen. Elena mußte an die Nacht in dem Hotel in Chicago denken, nachdem sie Stewart Kunath begraben hatten, das ganze Zimmer voller stummer, trauernder Frauen. Etwas schnürte ihr den Hals zu, sie wollte fliehen, aber sie wußte, daß es Frauenart war, zusammen zu warten, zusammen zu trauern. Es war undenkbar, Diane gerade jetzt zu verlassen. Sie rief Mark an und sagte, sie werde über Nacht bleiben. Als sie auflegte, kam Diane ins Wohnzimmer. Sie trug einen Morgenmantel, war bleich und erschöpft. Neben Elena ließ sie sich nieder. »Kommst du wirklich mit dem Sofa aus?« »Kein Problem. Ich kann überall schlafen.« Nickend blickte Diane auf den Wandschmuck: afrikanische Masken und ein präkolumbianischer Kopfputz, den Colin aus Mittelamerika mitgebracht hatte. Sie lächelte versonnen. »Eine Weile lief alles so schön. Das erste Mal, als ich ihm entgegengeflogen bin, das war in Bangkok. Er kam gerade aus Kambodscha und holte mich vom Flughafen ab. Wir haben ein Auto gemietet und sind geradewegs zum Strand, zu einem dieser unglaublichen, menschenleeren Strande mit Palmen und weißem Sand und einer kleinen Hütte direkt am Wasser. Es war wie im Traum, wir lagen in der Hängematte, hörten die Brandung rauschen und den Ventilator an der Decke, und ich dachte: >Sind wir nicht clever?<« Sie seufzte leise. »Weißt du noch, wie wir unsere Witze gemacht haben, wie toll wir uns fanden? Das perfekte Arrangement: Die Jungs waren unterwegs und machten ihr Ding, blieben uns von der Pelle, und wir mußten weder kochen noch Sportsendungen sehen. >Das ist besser, als einen Arzt zu heiraten. (Weißt du noch?«
Elena sah ihr ins Gesicht: Das Lächeln war verschwunden. »Er ist tot, stimmt's?« »Ich weiß es nicht, Diane.« Elena griff nach ihrer Hand. »Ich weiß es nicht.« Diane lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Mein Gott, Elena, was ist aus uns geworden?« Er fühlte sich in grelles, heißes Licht getaucht. Obwohl er sich sofort ins Kissen grub, erkannte er blinzelnd, daß die Leselampe auf ihn gerichtet war, nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Draußen vor dem Fenster war es dunkel. »Ah, du bist ja wach«, sagte Joaquín. »Mein Gott, wie spät?« Joaquín stand hinter der Lampe, schon angekleidet, schon voller Tatendrang. »Viertel vor sechs. In Granada ist es bald Mittag.« »Wir sind hier nicht in Granada, Joaquín.« »Morgenstund' hat Gold im Mund.« Er half Mark beim Anziehen, griff ihm unter den Arm, stellte ihn auf die Füße. »Wo ist der Rollstuhl?« »Den brauchen wir nicht«, sagte Joaquín. »Zum Wohnzimmer können wir laufen.« »Ich möchte Kaffee.« »Später. Erst eine Runde Übungen, dann den Kaffee.« Mark blickte den Alten verwundert an. »Bist du sicher, daß du kein Katholik mehr bist?« Joaquín lachte lauthals. »Wunderbar! Sarkasmus ist ein empfindliches Pflänzchen. Bei Trauma-Patienten erholt es sich immer erst ganz zuletzt. Du machst erstaunliche Fortschritte.« Sie begaben sich auf den Weg durch den Korridor. Ab und
zu stieß Mark gegen eine Wand oder verlor den Halt, aber er war überrascht, wieviel besser als am Vortag er vorankam. Sie durchmaßen das Wohnzimmer. Fünfundzwanzig Schritte. Gestern waren es noch dreißig gewesen. »Sehr gut«, sagte Joaquín. »Morgen wirst du ganz ohne Hilfe gehen.« Mark blickte auf seine Beine: Sie fühlten sich wie Gummi an, doch waren seine Schritte noch vor kurzem das Maß seines Verfalls gewesen, wurden sie jetzt zum Maß seiner Genesung. Mit jedem Tag würde er weniger Schritte brauchen, um das Wohnzimmer zu durchqueren. Und dann, bald schon könnte er aus der Wohnung schlüpfen, bis zur Straßenecke gehen, vielleicht sogar in den Park. Nach etwa zwanzig Durchquerungen setzte Joaquín ihn in den Rollstuhl und verschwand in die Küche, um nach dem Kaffee zu sehen. Als Mark dankbar seinen Morgentrank schlürfte, blieb der Alte neben ihm stehen und blickte sich interessiert im Raum um. Mark fiel ein, daß er geträumt hatte. Nun, aufgemuntert durch den Kaffee, kamen ihm einzelne Traumbilder wieder zu Bewußtsein: Als Joaquíns verschwundener Patient war er einen Sandweg entlanggelaufen, durch einen Wald, über die Berge. Er war gelaufen, einfach nur gelaufen. »Was glaubst du, was aus dem Mann geworden ist, dem Patienten aus deiner Klinik, von dem Elena erzählt hat?« Joaquín nahm einen Schluck Kaffee. »Du meinst die Bestie von Soundso? Weiß nicht. Ich habe immer darauf geachtet, daß jeder zu seiner Familie zurückkehrte, vor allem die Unheilbaren. Wie es passieren konnte, daß er übersehen wurde, da hab ich nicht die geringste ...« »Ich meine, was aus ihm geworden ist, seit er verschwunden war, nicht, was in deiner Klinik geschah. Glaubst du, er ist einfach fortgelaufen?«
»Schwer zu sagen. Woher soll ich das wissen?« »Kann es sein, daß er in die Berge ging und irgendwo starb, wo ihn keiner gefunden hat?« Joaquín zog die Schultern hoch, dann sah er Marks angestrengt fragenden Blick. »Nein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß es so war.« Er trat ein paar Schritte beiseite und musterte die Wände. »Warum läßt du eigentlich alles so kahl?« »Keine Ahnung. Elena wirft mir vor, ich sei ein Asket.« »Eine Eigenart, die man fördern sollte. Hast du vielleicht einen Stift? Einen Filzstift?« »Im Arbeitszimmer müßte einer sein.« Joaquín lief durch den Flur und kam mit einem schwarzen Marker zurück. Er gab ihn Mark und schob den Rollstuhl dicht an die Wand. »Ich bin nicht bewandert in der Geographie Kurdistans. Kannst du mir die Landkarte aufzeichnen?« Mark schaute ihn verdutzt an. »An die Wand?« »Ja. Nur eine grobe Skizze. Keine Sorge. Wir können's ja später wieder übermalen.« Elena wurde von einer Hand wachgerüttelt. Sie sah die Uhr auf dem Kaminsims — kurz vor acht —, dann Beth, die sich im Männernachthemd über sie beugte. »Bei Diane haben die Wehen eingesetzt.« »Was?« Das klang absurd, wie ein schlechter Scherz. »Es ist doch noch viel zu früh.« »Nur ein paar Tage«, sagte Beth. »Wir haben ein Taxi gerufen. Es muß gleich hier sein.« Elena schlug die Decke zurück und lief ins Badezimmer. Als sie wieder herauskam, sah sie die drei Frauen schon an der Wohnungstür stehen. Sylvia trug eine große Tasche, Diane stand in der Mitte, von den beiden anderen ge-
stützt. Sie wirkte fiebrig, ihre Unterlippe zitterte leicht, und sie sandte Elena ein hilfloses Lächeln. »Ich glaube, es geht los.« Durch den Hausflur eilten sie zum Fahrstuhl. Elena schien es, als hätten sie kein bestimmtes Ziel, nur den dringenden Wunsch, diesem Ort des Harrens und Hoffens zu entkommen. Mark kam ins Wohnzimmer zurückgerollt. »Das war Elena. Diane hat ihre Wehen bekommen. Sie haben sie gerade ins Krankenhaus gebracht.« »Ausgezeichnet«, sagte Joaquín. »Ein besonderer Tag für sie. Ist es das erste Kind?« Mark nickte. »Wundervoll. Und was ist mit Colin? Irgendwelche Nachrichten?« »Nein.« Joaquín wiegte enttäuscht den Kopf. »Das ist ein Grund zur Sorge, sollte man meinen. Trotzdem bin ich sicher, daß wir bald von ihm hören werden.« Lächelnd wandte er sich dem Notizblock auf seinem Schoß zu. »Aber jetzt zurück zu deiner Geschichte.« Mark seufzte. »Muß es ausgerechnet jetzt sein, Joaquín? Ich bin momentan wirklich nicht in der Stimmung.« »Es wäre nur zu deinem Besten. Oder möchtest du lieber etwas anderes tun?« Mark lachte sarkastisch. »Und ob ich das möchte! Spazierengehen, frische Luft schnappen! Aus dieser verdammten Wohnung herauskommen!« »Sehr gut«, sagte Joaquín. »Das beste Anzeichen für die Besserung psychischer Probleme — und das trifft auch auf viele physische Krankheiten zu — besteht darin, daß dem Betroffenen die Symptome langweilig werden. Das habe
ich oft erlebt. Schließlich ist es nicht gerade angenehm, sich ständig mit sich selbst zu beschäftigen, immer in der Vergangenheit, in den Erinnerungen zu wühlen. Es ist viel schöner, an nichts zu denken, in den Tag hineinzuleben, stimmt's?« Mark nickte. »Und deshalb bin ich hier, mein Junge, um dir dazu zu verhelfen. Ich verspreche dir, daß dir die Welt schon sehr bald wieder offensteht, daß du glücklich weiterleben wirst, glücklicher als zuvor. Aber noch sind wir nicht ganz am Ziel. Kurz davor, aber noch haben wir es nicht geschafft.« »Und was steht dem im Weg?« Joaquín blickte auf seinen Notizblock. »Im Moment ein Picknick von einer Gruppe Marinekadetten in Sri Lanka.« Er grinste. »Ein Picknick, von dem ich fürchte, daß es kein gutes Ende nehmen wird.« Erst eine Weile nachdem Mark von seiner verspäteten Ankunft auf dem abgeschiedenen Seegrundstück erzählt hatte, von dem Picknick der Kadetten, eigentlich Kinder in blauen Uniformen, die unter Palmen lagen, als würden sie schlafen, von seinem Schreck, als er mitten zwischen ihnen stand und plötzlich bemerkte, daß sie tot waren, von seiner Erstarrung, während er an einem Baum lehnte, auf das Rascheln der Palmen, den rauschenden Ozean und das Knistern der auf dem Grillrost verkohlenden Fische lauschte, die Mischung aus Salzluft, Blut- und Brandgeruch einatmete und begriff, daß er an diesem Strand das einzige Lebewesen war — erst danach spürte er, aus dem Fenster in den hellen Tag hinaussehend, den Schmerz im Kopf, den Schmerz hinter den Augen, als wäre dies dazu angetan, all die Schreckensbilder zu vertreiben. »Es fällt dir nicht leicht, was?« fragte Joaquín leise. »Nein.« Mark blickte zur Seite. »Nein, wirklich nicht.«
»Sag mir bitte noch eins: In dem Moment, als du bemerkt hast, daß du der einzige Lebende bist, was hast du da gedacht?« »Nichts.« »Hast du etwas gefühlt?« »Nein.« »Na komm, irgendwas mußt du gefühlt haben. Angst? Trauer? Die Erleichterung, überlebt zu haben?« Mark drehte sich zu Joaquín um. »Laß die Finger von mir!« Der alte Mann zuckte zurück. »Wie bitte?« »Laß mich in Ruhe. Du bist kein richtiger Psychiater, und ich bin keiner von deinen Kriegsverbrechern, also hör auf mit diesem Mist.« Joaquín beobachtete ihn, und sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Aber du wolltest doch gar keinen richtigen Psychiater, du wolltest mich! Und in deiner kritischen Verfassung war das eine kluge Wahl. Ein richtiger Psychiater wäre mit deinen Antworten nicht zufrieden, mir reichen sie vollauf. Siehst du? Du hast großes Glück, mein Junge, daß ich für dich dabin.« Er blickte zur Wand hinüber, auf die Mark vor einiger Zeit eine Skizze von Kurdistan gezeichnet hatte. »Die Kurden haben wirklich Pech mit ihrer Geographie, was? Irak, Iran, Türkei, ein bißchen Armenien, ein bißchen Syrien, immer dazu verurteilt, Geiseln ihrer Nachbarn zu werden.« Er schnalzte mit der Zunge. »Das ist eine Marotte von mir, aber auf diese Weise kann ich mir Gegenden besser vorstellen. Könntest du noch eine Skizze vom engeren Umkreis machen? Ich möchte gern wissen, wie es dort aussah, wo die Granate eingeschlagen ist. Natürlich nicht jedes Detail, aber die Lage des Bergs, des Flusses, den Punkt der Detonation.«
Mark zuckte die Achseln. »Warum nicht?« Joaquín nahm den schwarzen Stift in die Hand und begab sich mit Mark an die bereits bekritzelte Wand. Elena meinte, sich an ihren Vater erinnern zu können, glaubte vor Augen zu haben, wie sie auf seinem Schoß saß, mit ihm im kleinen Madrider Hausgarten spielte. Schon vor ihrem dritten Geburtstag war er gestorben, und Elena konnte sich nie sicher sein, ob ihre Erinnerungen nicht vielleicht von Fotos oder Familiengeschichten stammten. Eins aber wußte sie genau: Seit jenem Abend genau einen Monat vor ihrem dritten Geburtstag, als das Auto ihres Vaters zwischen Madrid und Burgos von der Straße abgekommen war, hatte sie immer nur mit Frauen gelebt. Seit jenem Abend wohnte sie mit ihrer Mutter allein, in der Schule hatte es nur Mädchen gegeben, vor dem Haus hatte sie nur mit Mädchen gespielt, und auch bei Familienfesten hielt sie sich an ihre Cousinen. Selbst an der Universität hatte sich das fortgesetzt, im New Yorker UN-Büro und auch jetzt im Wartezimmer der Entbindungsstation mitten in Manhattan, wo sie mit zwei Frauen auf ein Ereignis harrte, das ihre Freundin betraf. Sylvia, die neben ihr saß, blätterte in einer alten Illustrierten. Sie hatte die Angewohnheit, die Seiten erst zu lange festzuhalten, dann mit einem Schnappgeräusch loszulassen. Als sie mit dem Heft durch war, warf sie es auf das Tischchen und nahm sich ein neues. »Ich kann keinen klaren Gedanken fassen«, sagte sie. »Seit fast drei Stunden schon haben wir nichts gehört. Vielleicht sollten wir mal nachfragen.« »Ich bin sicher, daß alles in Ordnung ist«, meinte Elena. »Sie würden bestimmt Bescheid sagen, wenn es Probleme gäbe.«
Ihr Vater war bloß eine vage Erinnerung: eine Gestalt, die sich aus dem Hörensagen zusammensetzte. Mehr konnte es nicht gewesen sein. Wirklich kennengelernt hatte Elena nur zwei Männer: Der eine, Mark, war nur noch ein Schatten seiner selbst, und den anderen, ihren Großvater, hatte sie vor langer Zeit aus ihrem Leben gestrichen. Sie saßen am Küchentisch, ihr Abendessen, ein Fertiggericht aus dem kleinen Laden an der Ecke, war beendet, und Joaquín schenkte gerade die zweite Flasche Rotwein ein. Er blätterte in seinen Notizen, las hier ein Stück, schrieb dort eine Bemerkung an den Rand und griff nebenbei immer wieder zum Weinglas. »Du hast sicher erkannt, warum ich dich nach deinen Kriegserlebnissen gefragt habe. Ich wollte sehen, ob sich ein durchgehendes Muster ergibt, ein roter Faden. Was das betrifft, hatte ich einen gewissen Erfolg. Schuldgefühle natürlich. Die Schuld des Überlebenden. Sie ist bei dir stark ausgeprägt. Der Junge in Beirut, die Frau in Uganda, das Picknick in Sri Lanka — immer hast du das Gefühl gehabt, nicht genug zur Hilfe und Rettung beigetragen zu haben.« »Ist das etwa krankhaft?« fragte Mark. Joaquín musterte ihn über den Brillenrand hinweg. »Hoffen wir's nicht. Hoffen wir lieber, daß jeder andere in dieser Situation genauso reagieren würde. Schuldgefühle im Krieg beweisen nur, daß du ein Gewissen hast, eine bewundernswerte Eigenschaft. Leider ist sie in deinem Beruf nicht allzu nützlich.« Er schlug eine neue Seite auf. »Und noch etwas habe ich bemerkt. In deinen Geschichten bist du immer der Außenseiter, der Beobachter. Das ist ganz natürlich, da du ja dort fremd bist, aber mir fällt auf, daß dieses Fremdsein immer auch ein gewisses Vergnügen enthält. Man sieht
die Welt wie einen Film, und ich nehme an, daß diese Wahrnehmung bei einem Fotografen besonders naheliegt. Sicherlich kein origineller Gedanke, doch mir scheint, daß die Kamera ein bequemes Instrument ist, um zwischen sich und der Welt Distanz zu wahren. Stimmst du mir zu?« »Klar«, sagte Mark. »Das ist bei uns ein ständiges Thema. Übrigens auch der Grund, warum die Fotoreporter im Krieg so viel häufiger umkommen als die Berichterstatter. Man vergißt irgendwie, daß man mittendrin steckt, daß alles, was da passiert, Realität ist.« Joaquín nickte. »Aber manchmal geht der Abstand verloren, stimmt's? Manchmal wirst du mit der Welt konfrontiert: mit demjungen, der Frau, den Kadetten. Und wenn das passiert, gibt es keinen, der dir beisteht. Natürlich vergleiche ich deine Situation mit der eines Soldaten. In vielerlei Hinsicht hast du es leichter: Du sollst niemanden töten, du kennst die Gefallenen nicht, sie sind weder deine Freunde noch deine Kameraden, trotzdem ist deine Arbeit schwer. Wenn du aus deiner Immunität heraustrittst, bist du ganz allein, niemand trägt deine Last. Keiner, der nicht dort war, kann wirklich ermessen, was dir geschehen ist. Eine einsame Existenz. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb du oft mit anderen Fotografen zusammen reist.« Er blickte Mark abwartend an. Mark erwiderte seinen Blick. »Ja, glaube ich auch.« Joaquín widmete sich wieder seinen Notizen. »Nun, damit lassen sich die offensichtlicheren Dinge erklären. Ich weiß nicht, welche Bedeutung sie haben, aber im weiteren Verlauf . . . « Er blätterte in seinen Aufzeichnungen und summte leise vor sich hin, bis er mit dem Finger auf eine Stelle zeigte. »Hier ist etwas Auffälliges. Eine seltsame
Geisteshaltung. Ich würde nicht sagen, daß es ein Tick ist, aber du bist immer sehr mit der Frage befaßt, was mit den Toten geschieht. Zuerst ist mir das bei demjungen in Beirut aufgefallen. Am Ende sagtest du: >Ich weiß nicht, ob seine Familie die Leiche bekommen hat.<« Er blickte prüfend zu Mark auf. »Eine merkwürdige Feststellung in diesem Zusammenhang, oder? Man könnte auch sagen, ein Fehlschluß.« Er blätterte weiter. »Dann wieder in Uganda. Noch bevor du die Frau erwähnt hast, beschreibst du die Dorfbewohner, die nach den Knochen ihrer Angehörigen suchen.« Wieder blätterte er um. »Dann die Kadetten. Du hast dich gefragt, ob die Leichen der Kinder von Tieren verschleppt wurden, ob sie einfach aufhörten zu existieren.« Er legte den Block beiseite. »Interessant, nicht wahr? Warum ist dir das Schicksal der Toten so wichtig?« »Ich weiß nicht. Vielleicht Aberglaube.« »Aberglaube?« »Daß man die Toten den Familien zurückgeben muß, daß man sie nicht allein umherwandern lassen darf.« »Wie Gespenster«, sagte Joaquín. »Du redest jetzt von Gespenstern.« »Möglich.« »Und du glaubst an Gespenster?« »Weiß nicht.« Joaquín lehnte sich zurück. »Dir ist natürlich klar, daß die Toten nur ein Symbol sind — ich weiß, die Arzte haben grandiosere Bezeichnungen dafür—, aber für dich sind sie nur ein Symbol. Wen kümmern Tote? Was macht es schon, ob sie in tausend Stücke fliegen oder ob ihre Knochen von Tieren im Wald verstreut werden? Die Toten sind ohne jede Bedeutung. Die Überlebenden hingegen, die sind wichtig. In Wahrheit sind nämlich sie die Verlassenen, die einsamen Wanderer. Findest du nicht?«
Mark schwieg. Joaquín füllte die Gläser nach. Er schien äußerst zufrieden mit sich. »Ehrlich gesagt, am Anfang hatte ich meine Zweifel, ob ich dir helfen könnte. Mein Beruf verlangt zwar unbedingtes Selbstvertrauen, aber im stillen habe ich mich gefragt, inwieweit meine Arbeit mit den Soldaten auf deine Situation übertragbar sein würde. Jetzt merke ich, es ist genau dasselbe Problem. Du bist andere Wege gegangen, du hast andere Erfahrungen gemacht, aber wir sind am selben Punkt angelangt, oder?« Er nahm einen kräftigen Schluck und blickte triumphierend zur Zimmerdecke. Es war seine Altmännermanier, seine Neigung zur Selbstbeweihräucherung, die in Mark erstmals etwas wie Furcht erweckte. »Tut mir leid, Joaquín, ich weiß nicht, wovon du redest.« »Nein? Dann werde ich's dir sagen.« Er setzte das Weinglas ab und drehte den Stiel zwischen den Fingern. »Institute Morales para la Purificación Psicológica — ein klangvoller Name, findest du nicht? Strahlt Autorität aus, Ehrgeiz, Selbstvertrauen. In Wirklichkeit habe ich etwas sehr Einfaches vorgehabt. Meine Patienten — die Soldaten — kamen als Verlassene und Verlorene zu mir. Sie hatten Greueltaten begangen, Dinge, für die es keine Vergebung gibt, keine Sühne. Sie wußten das — ihre Seele wußte es —, und ich war ihre letzte Hoffnung, denn ich konnte sie läutern. Elena hat dafür kein Verständnis, sie macht es sich zu leicht: Diese Männer waren Kriegsverbrecher, sie waren böse, und da ich ihnen geholfen habe, bin ich ebenfalls böse.« Er nahm das Glas in beide Hände. »Aber mit Gut oder Böse hat das nicht das geringste zu tun. Wie viele wirklich böse Menschen sind dir in all diesen Kriegen begegnet? Ein oder zwei vielleicht, mehr vermutlich nicht. Nein.
Böse, das ist schon wieder zu einfach. Das Leben ist viel komplizierter. Du wirst mir sicherlich zustimmen, daß die meisten nur schwach sind und deshalb in schwierige Situationen geraten.« Er wartete auf Marks Nicken. »Und was passiert, wenn diese Männer triumphieren, wenn sie Macht ausüben können? Wer schon tausend Bauern getötet hat, tausend Kommunisten, dem macht es nichts aus, noch einmal tausend zu töten. Wer einmal gefoltert hat, dem fällt es nicht schwer, weiterzufoltern. Es ist leicht, die leichteste Sache der Welt, sofern man einmal die Schwelle überschritten hat und nicht mehr auf Vergebung hoffen kann. Das war die Lage, in der wir uns 1939 in Spanien befanden, und genau das versteht Elena nicht. Was sollte ich tun? Hätte ich die Schlächter sich selbst überlassen sollen? Dann hätte das Morden kein Ende gehabt. Nein, das mußte ich verhindern. Also habe ich sie geläutert, ich habe sie der Menschheit zurückgegeben. Wie viele Leben habe ich auf diese Weise gerettet? Ich glaube, sehr viele.« Joaquín trank sein Glas leer. »Aber Elena hört nicht einmal zu. Früher war sie wie mein eigenes Kind. Ich war der Vater, sie die Tochter, doch vor sechs Jahren, als sie von der Klinik erfahren hat, ist sie mir verlorengegangen, und das macht mir zu schaffen. Wenn ich sie nur dazu bringen könnte, nach Hause zu kommen. Dann könnte ich ihr begreiflich machen, wie es damals in Spanien zuging und warum ich diese Arbeit übernommen habe. Sie aber weigert sich. Hört mir nicht einmal zu.« Er seufzte, den Blick aus dem Küchenfenster in die Nacht gerichtet. Plötzlich sah er alt aus, gebrochen und müde. »Tut mir leid für dich, Joaquín.« Joaquín gab sich einen Ruck und lächelte. Der Wein hatte seine Zähne rötlich gefärbt. »Du wirst dich fragen, was
das alles mit dir zu tun hat.« Er beugte sich vor. »Ich sage es dir geradeheraus: Du bist gefallen, mein Junge. Im Herzen weilst du bei den Toten, und du findest den Rückweg nicht. Du versuchst es, gibst dir alle Mühe, aber du schaffst es nicht. Tust so, als würdest du lachen, als würdest du lieben, doch in Wirklichkeit empfindest du kaum etwas. Ein Gespenst, wie du sagtest. Du bist andere Wege gegangen, du hast nicht gemordet, hast keine Greueltaten begangen, aber du bist genauso verzweifelt, wie es meine Soldaten waren. So, wie ich sie gerettet habe, kann ich jedoch auch dich retten. Ich kann dich nach Hause zurückbringen.« Mark hob sein Glas. Er spürte den beizenden Geschmack des Weins auf der Zunge und zwang sich zu lächeln. »Indem du mich läuterst?« »Indem ich dich läutere.« Es war ein Mädchen. Die drei Frauen beugten sich über Diane, streichelten ihr die Wangen, strichen ihr übers Haar. Abwechselnd nahmen sie das winzige, rosige Wesen auf den Arm, betrachteten es entzückt, stießen sanfte Gurrlaute aus und küßten die zarten Fingerchen, vergossen Tränen der Rührung. Und Tränen der Furcht. »Eine gefährliche Gegend, nicht wahr? Besonders dort, wo du dich aufgehalten hast.« Joaquíns Finger tippte auf die Skizze. »Im Westen und Süden die Iraker, im Norden die Türken und jenseits der Berge die Iraner - keine gute Lage für ein Land.« Er stand an der Wand und bückte sich, die Brille auf der Nase, um die wirren Linien zu studieren. Mark saß neben ihm im Rollstuhl. Dann trat er einen Schritt zur Seite und betrachtete die zweite Skizze. »Der Schauplatz des Geschehens«, murmelte er.
Minutenlang versenkte er sich in Marks Zeichnung: die doppelte Schlangenlinie des Flusses, das kleine, krumme Oval der Bergkuppe. Mark hatte zwei Kreuzchen angebracht, eins mitten im Oval, die Stelle markierend, an der er sich zur Zeit der Explosion befunden hatte, das andere am Fluß, wo er ans Ufer gekrochen war und die Kurden ihn unter einem Baum aufgelesen hatten. Joaquín setzte den Finger auf das zweite Kreuzchen und verfolgte Marks Fluchtweg zurück: den Fluß aufwärts, durch das Tal und bis zum Kreuzchen auf dem Berg. »Eine ganz schöne Strecke. Muß in deinem Zustand ziemlich anstrengend gewesen sein.« Mark zuckte die Schultern. »So schlimm war es nicht.« »Und aus welcher Richtung kam das Geschoß?« »Keine Ahnung. Ich nehme an, von Westen.« Er zeigte auf die leere Wand links neben der Skizze. »Und wo genau ist es eingeschlagen?« Sich vorbeugend deutete er auf einen Punkt knapp außerhalb des Ovals. »Etwa hier.« Joaquín nahm den Stift aus der Tasche und reichte ihn Mark. »Zeichne es doch ein.« Mark schob sich näher an die Wand und fügte ein weiteres Kreuzchen hinzu. Nachdenklich folgte Joaquín den Linien mit dem Finger. Er wirkte sehr konzentriert, als hätte er eine schwierige mathematische Formel zu knacken. »Hier also hast du gestanden«, sagte er abwesend, wie zu sich selbst, und Mark schaute dem gekrümmten Finger zu, der sich über die Wand bewegte. »Hier ist die Granate eingeschlagen ... und wo war Colin?« Die Zeit blieb stehen. Alles blieb stehen. Nur einen kurzen Augenblick lang, aber in diesem Moment war alles in grelles Weiß getaucht — kein Geräusch, keine Bewegung,
kein Gedanke —, und dann befand er sich auf dem Berg, in derbraunen, stillen Landschaft Kurdistans. Er steht auf, die Blütenblätter fallen von ihm ab. Eine Blutlache hinter sich lassend, rennt er bergab. Keine Stimme, die ihn ruft, niemand, der ihn tröstet, nur der Wind und sein eigener Schatten auf den Felsen. So kommt er zu der Stelle, wo der Boden schwarz ist. Dort findet er ihn. »Es ist etwas passiert«, sagt Colin. »Ich glaube, etwas Schlimmes ist passiert.« Mark schaut ihn einen Moment an, starr und wie gelähmt, bis er begreift, daß Colin aufstehen will, daß er einen Stein umklammert, um auf die Füße zu kommen. Mark greift ihm unter die Achseln und legt ihn zurecht, streicht ihm besänftigend über das Gesicht und drückt seinen Kopf nach unten, damit er nicht sieht, wie schlimm es ist. »Es wird schon werden«, sagt er. »Alles wird gut. Bleib einfach still liegen.« Als Colin sich beruhigt hat, läuft Mark auf dem aufgewühlten Flecken Erde umher, bis er den einen Stiefel findet, dann den anderen. Jedesmal kniet er sich hin und versucht, nicht mit den Sinnen zu erfassen, was er sieht, was er berührt, während er die Schnürsenkel aus den Ösen zieht. Abwegig und ungerecht scheint es ihm, daß Schuhe und Schnürsenkel die Explosion — die den Felsboden zu Staub und Splittern zermalmt, die einen menschlichen Körper zerrissen hat — unversehrt überstanden haben. Kaum ist er zu seinem Freund zurückkehrt, die Schnürsenkel in der Hand, kommen sie ihm wie Geschenke des Himmels vor, gesandt, um das Blatt doch noch zu wenden. Er kniet sich neben Colin und bindet die Schnürsenkel fest um dessen Beine, etwa eine Handbreit über der Stelle, wo die Fußknöchel gewesen waren. Dann hält er Colins Hand und blickt ihm in die verschreckten Augen.
»Rette mich, Mark. Rette mich. Bitte bring mich nach Hause.« Mark nickt und verspricht ihm durch einen Tränenschleier: »Keine Sorge, Colin. Ich rette dich. Ich bring dich nach Hause, wir reisen ab.« Immer wieder sagt er es. Eine Weile später spricht Colin mit seiner Frau und gleitet ins Delirium, doch darin ist nichts Friedvolles, Scham und Hilflosigkeit lassen nicht von ihm ab. »Guck nicht hin, Diane. Bitte guck nicht hin. Mir ist etwas Schlimmes passiert, bitte nicht gucken.« Erst ganz am Ende ist es anders. Colin öffnet die Augen, sie sind jetzt friedlich und sanft, er lächelt und streicht Mark mit der blutverschmierten Hand über die Wange und flüstert: »Diane, das war vielleicht eine Tour. Ich dachte, ich würde nie zurückkommen. Und du hast mir so gefehlt.« Danach legte sich Mark neben seinen Freund und wartete auf den Abend, auf den Schutz der Dunkelheit, den sie für ihren langen Weg brauchen würden, für ihren Weg durch das hohe Gras und über den Fluß — bis nach Hause. Ihr Großvater wartete mitten im Wohnzimmer, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf gesenkt wie ein Verurteilter. Elena schaute an ihm vorbei auf den Rollstuhl, der verwaist unter dem Fenster stand. »Wo ist Mark?« »Im Schlafzimmer. Er hat dir etwas mitzuteilen.« Die Gewißheit traf sie wie ein Blitz. »Es geht um Colin, stimmt's?« Joaquín nickte. Sie trat ans Fenster und blickte in den Nachthimmel von Brooklyn. »Diane hat ihr Baby bekommen.« Aus dem Augenwinkel sah sie Joaquín näher kommen.
»Ich bin deinetwegen hier, Elena.« »Es ist ein Mädchen.« »Du hast mir gefehlt.« »Und nun ist ihr Vater tot.« »Du bist alles, was mir geblieben ist. Die einzige Liebe, die ich noch habe.« »Was soll jetzt aus ihr werden?« »Komm mit mir nach Spanien. Komm nach Hause!« Er hatte sie kaum erreicht, da spürte Elena schon seine Umarmung, den Stoff seiner Hausjacke an ihrer Wange, den Trost, den sie so lange entbehrt hatte. Er war bleich vor Erschöpfung, so bleich wie an dem Tag, als sie ihn auf dem Badezimmerboden gefunden hatte. Elena setzte sich zu ihm aufs Bett, strich ihm sanft über die Stirn. »Warum hast du mir nichts gesagt?« Er starrte an die Decke, schien weit weg. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte so sehr, daß es nicht stimmt. Eine Weile habe ich mir sogar eingebildet, daß es nicht ...« Er blickte sie an, und in seinen Augen war so viel Traurigkeit und Scham, daß sie zu weinen anfing. »Und was willst du jetzt tun?« »Ich will weg. Mit dir. Nach Spanien.« Sie nickte. Und streichelte sein Gesicht. Diane saß, auf Kissen gestützt, in ihrem Klinikbett, das schlafende Baby ruhte an ihrer Brust, Mutter und Schwester standen neben ihr. Als er hereinkam, drehten sie sich zu ihm um. Diane sandte ihm ein dünnes Lächeln. »Hallo, Mark.« Wortlos schoben sich die beiden Frauen an ihm vorbei
und verließen das Zimmer. Er blieb arn Fußende des Bettes stehen und blickte in den grauen Morgenhimmel hinaus. Eine lange Zeit schwiegen sie. Sie löste eine Hand von ihrem Baby und zog sich die Decke unters Kinn. »Möchtest du das Kind sehen?« fragte sie. »Möchtest du es halten?« Mark schloß die Augen. Sein Kinn begann zu zittern. »Du läufst schon sehr gut, Mark, aber du bist so schmal geworden. Du mußt mehr essen.« Er schwieg. »Elena sagt, ihr wollt alle nach Spanien.« Er nickte. »Das ist doch schön, oder? Mal aus allem rauskommen.« Tränen quollen aus seinen Augen. »Ich wußte nicht, wie ich von ihm Abschied nehmen sollte. Er war doch mein Freund. Ich weiß es immer noch nicht. Es tut mir so leid.« »Oh, Mark«, sagte Diane. Auch sie weinte. »Natürlich war er dein Freund. Er würde nicht wollen, daß du das alles durchmachst. Es war nicht deine Schuld. Niemand macht dir einen Vorwurf.« Sie streckte eine Hand nach ihm aus. »Komm her. Ich habe dich doch gern. Tu dir das nicht an. Bitte.« Er schüttelte den Kopf. »Schau mich wenigstens an. Bitte, schau mich an.« Doch Marks Augen blieben fest geschlossen.
Sechs
Es war ein Stiller, leuchtend klarer Tag. Während sich das Taxi die letzte Anhöhe hinaufquälte, faßte Elena Mark am Arm und wies aus dem Fenster. »Die Drachenzähne«, sagte sie. Auf der langen weißen Mauer des großväterlichen Anwesens glitzerten Glasscherben in der Nachmittagssonne. »Als ich noch klein war, habe ich die Scherben Drachenzähne genannt.« Joaquín, der vorn saß, drehte sich um. »Stimmt. Ich weiß es noch.« Mark nahm das Haus von der Einfahrt aus in Augenschein. Eigentlich ein Landsitz, die Anzeichen des Verfalls — das Unkraut zwischen den Dachziegeln, die weißen Stellen dort, wo die Ockerfarbe der Fassade abgeblättert war — unterstrichen den Eindruck verblaßter Größe. Auf seinen Stock gestützt, kletterte er die fünf Stufen zur Eingangstür hinauf. »Das ist ja ein Palast, Joaquín. Ich hatte keine Ahnung, in welchem Luxus du lebst.« Joaquín, mit dem Hausschlüssel hantierend, winkte ab. »Unsinn. Bloß eine Ruine. Aber der Garten macht mir große Freude.« Mark blickte sich um. Blumenbeete und Azaleenbüsche wirkten wie mit dem Lineal angelegt, der Rasen war gepflegt. »Das ist das Werk von Ahmet«, erklärte Joaquín. »Er stammt aus Marokko, aus der Wüste, und hat daher eine natürliche Vorliebe für Gärten, nehme ich an.« Und zu Elena gewandt: »All die Jahre mit schlechten Gärtnern. Warum bin ich nicht früher auf die Moslems gekommen?«
Als er die schwere Eichentür aufgestoßen hatte, trat er zurück und wies die beiden hinein. Sofort bemerkte er, daß Mark die Baumstümpfe entlang der Außenmauer musterte. »Das waren Eukalyptusbäume. Der Vorbesitzer hat sie in den zwanziger Jahren verfeuert. Die reinste Idiotie, aber er machte lauter Dummheiten. Er hat sich einen Mahagonischreibtisch bauen lassen, der so groß ist, daß man ihn nicht aus dem Zimmer bekommt. Kannst du dir das vorstellen? Na, du wirst sehen.« Joaquín wartete, bis die beiden eingetreten waren — Elena mit den beiden kleinen Koffern, dahinter Mark —, dann nahm er seine eigene Reisetasche und folgte ihnen. Hinter einem Türbogen zur Linken sah Mark einen riesigen holzgetäfelten Raum mit an die fünf Meter Deckenhöhe und einem weißen Marmorkamin. Die Sonnenstrahlen, die schräg durch vier Fenster hereinkamen und das Zimmer in ein rubinrotes Licht tauchten, enthüllten, daß es völlig leer war. Am hinteren Ende führte eine geöffnete Flügeltür zu einem weiteren Raum, fast genauso groß und ebenfalls unmöbliert. »Hier sieht es fast wie in deinem Wohnzimmer aus, was?« sagte Joaquín, der Mark über die Schulter blickte. »Ich wußte nie, was ich mit diesen Räumen anfangen sollte, also habe ich sie einfach so belassen. Kommt weiter.« Sie deponierten das Gepäck im Vestibül und traten durch die gegenüberliegende Tür in einen Salon ein, der mit einem schäbigen grauen Teppich und bescheidenem Mobiliar ausgestattet war, ein paar zerschlissenen Sesseln und einem offenbar schaumgummigepolsterten Sofa, an der Wand einfache Bücherschränke, deren Regalbretter sich unter der Last der Bücher bogen. Auf dem KunststoffCouchtisch vor dem Sofa standen ein kleiner Fernseher, ein Telefon und der Anrufbeantworter.
»Bei mir ist es nicht sehr elegant«, sagte Joaquín, »aber für meine Bedürfnisse reicht es.« Er öffnete die Flügeltür zum angrenzenden Raum. »Der Damensalon. Das kleine Museum meiner Frau.« Der Kontrast war beeindruckend. Hier fanden sich zierliche Rosenholzmöbel, antike Vasen auf Teakholzpodesten, ein dicker Perserteppich. Selbst das Sonnenlicht, durch die Samtvorhänge gedämpft, wirkte üppig und vornehm. »Genau, wie ich es in Erinnerung habe«, sagte Elena. Joaquín blickte in die Runde. »Ja, die arme Violeta. Sie wollte mich immer zu ihrem Stil bekehren.« Er lächelte müde. »Sie sagte, ich hätte den Geschmack eines Bauern.« Sie gingen in die Küche weiter, einen luftigen Raum mit Kiefernschränken und Terrakotta-Kacheln, an dessen gekalkten Wänden getrocknete Blumen und Knoblauchzöpfe hingen. Ein großes Fenster ermöglichte den Blick auf den hinteren Garten. Mark sah einen mit Trittsteinen belegten Weg, der quer über den Rasen zu einer Pforte in der Außenmauer führte, dahinter ein Feld mit Luzerne. Am Fenster stand ein Eßtisch mit drei Stühlen, auf dem Fußboden stapelten sich alte Zeitungen und Illustrierten. »Mein Leseraum«, sagte Joaquín. »Morgens ist es hier sehr angenehm.« I h m fiel auf, daß Mark die Töpfe, Pfannen und Küchenutensilien musterte, die an den Wänden hingen. »Alles nur zur Zierde. Seit Violetas Tod hat niemand mehr die Sachen angerührt.« »Und wovon ernährst du dich?« fragte Elena. Joaquín zog die Schultern hoch. »Obst, Käse, SerranoSchinken, alles, was keinen Aufwand macht.« Zurück im Vestibül griffen sich er und Elena das Gepäck und stiegen hinter Joaquín die Marmortreppe zum Obergeschoß hinauf. Mit einem Blick über die Schulter be-
merkte er, daß Mark sein ganzes Gewicht auf das Geländer stützte. »Nimm dich in acht. Das Holz könnte morsch sein.« Auf dem Treppenabsatz wandte er sich nach links und öffnete eine Tür. Das Zimmer lag in der Nordwestecke des Hauses und hatte Fenster in beide Richtungen, so daß das harte, von zwei Seiten hereinströmende Licht der Nachmittagssonne die spartanische Einrichtung noch unterstrich: ein großes Himmelbett in der Ecke, zwei alte Kommoden und ein niedriger Schreibtisch mit Stuhl unter dem Westfenster - sonst nichts, ein nackter Fußboden, kahle Wände. »Ich dachte mir, hier werdet ihr euch am wohlsten fühlen«, sagte Joaquín. »Hier habt ihr Ruhe, und das Badezimmer ist gleich um die Ecke.« Mark stellte sich in die Mitte des Zimmers. Durchs Nordfenster sah er ein rotbraunes, baumloses Bergmassiv mit Resten von Schnee in der Gipfelregion. Das andere Fenster blickte über das breite Tal: grüne Felder und weiße Dörfer. Minutenlang blieb er stehen und konnte nicht fassen, daß es ihn nach der hektischen Betriebsamkeit der vergangenen Tage in dieses sonnendurchflutete Zimmer in Südspanien geführt hatte. Doch das seltsame Gefühl jeglicher Ankunft, wenn sich Erleichterung, endlich am Ziel zu sein, mit einer Art Ungläubigkeit mischt, war ihm wohlvertraut. Das letzte Mal hatte er es in Kurdistan empfunden, an dem Nachmittag, als Colin und er in Rawanduz Zimmer im zweiten Stock des Hotels bezogen. Nach den Strapazen der Reise war damals jener Moment gekommen, in dem er das Foto seiner Freundin betrachtet und sich gefragt hatte, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, daß er sie nie wiedersehen werde, jener Moment, in dem er
nicht glauben wollte, daß er so weit gereist war, um in einem kalten, muffigen Zimmer mit blaugrünem Ölpaneel und einer nackten Vierzigwattbirne am Ziel zu sein. »Danke, es ist zauberhaft«, sagte er zu Joaquín. »Ziemlich bescheiden, aber das scheint ihr ja zu mögen. Kommt, ich zeige euch die anderen Zimmer.« Er machte die nächste Tür auf— ein großes Badezimmer mit weißem Kachelboden. Er stellte sich ans Waschbecken und drehte an einem der Hähne. »Ich habe Carmen, meine fürchterliche Haushälterin, gebeten, das Wasser in diesem Trakt anzustellen, doch ...« Es zischte und stöhnte in der Leitung, plötzlich schoß ein Schwall Wasser in den Ausguß. »Voilà. Ausnahmsweise hat sie daran gedacht.« Sie zogen weiter. Joaquín pochte im Vorübergehen an die nächste Tür — »mein Lagerraum, ein wüstes Durcheinander« —, dann öffnete er zwei weitere Räume, die genauso leer waren wie die Zimmer im Erdgeschoß. »All diese Zimmer«, murmelte er, »wozu?« Sie sahen das zweite Badezimmer, das ähnlich ausgestattet war wie das ihre. Auf einem Wandbord befanden sich Joaquins Utensilien säuberlich aufgereiht. Dann kam, noch spartanischer eingerichtet als das Gästezimmer, sein Schlafzimmer in der Südostecke des Hauses: die gleichen kahlen Dielen und Wände, ein schmales Eisenbett mit durchhängender Matratze, eine Kommode, an deren Schubladen die Griffe fehlten. Wären nicht die großen Fenster mit der prächtigen Aussicht auf die Vega gewesen, hätte man es für eine Gefängniszelle halten müssen. »Mein Gott, du lebst ja wie ein Jesuit!« sagte Elena. Scherzhaft hob der Alte den Finger. »Nur keine Beleidigungen, meine Liebe!« Er führte sie zur nächsten Tür und öffnete sie mit Schwung.
»Aber jetzt! Hier findet das Leben statt!« Mark roch das Terpentin schon im Flur. Sie blickten auf ein wildes Durcheinander: auf dem Boden Putzlappen, verworfene Skizzen, ausgequetschte Farbtuben. Wahllos an die Wände gelehnt standen Dutzende Gemälde, manche offenbar vollendet, andere nur mit schemenhaften Konturen; außerdem gab es nahe dem Fenster zwei große Staffeleien. Überall, auf dem Fußboden, an den Wänden und sogar an den Fensterrahmen, war Farbe verschmiert. »Das ist ja wunderbar«, sagte Mark. »Nun, sagen wir angemessen. Früher war's besser. Hier, ich zeig's dir.« Er lotste Mark an der Staffelei vorbei zum Ostfenster und tippte an die Scheibe. »Bis in die siebziger Jahre hinein konnte ich von hier aus die Kathedrale und die Alhambra sehen - ein erhebender Anblick -, dann haben sie diese gräßlichen Hochhäuser gebaut, siehst du?« In der Ferne, jenseits der Felder und Baumgürtel, zeigten sich die Vororte Granadas, eine Kette von weißen Türmen, wie Grabsteine. Dahinter erhob sich der Mulhacen, der höchste Berg Spaniens, dessen Schneefelder in diesem Moment rot in der Abendsonne glühten. »Die Aussicht ist ebenfalls umwerfend«, sagte Mark. Beim Hinausgehen blieb er stehen und bückte sich, um die Bilder zu betrachten. Einige variierten dasselbe Motiv — eine kleine Plaza mit der Ruine eines Brunnens und einem baufälligen Kirchturm im Hintergrund —, aber alle zeugten von einer geübten Hand. Die Farbe war dick und narbig aufgetragen, die feine Abstimmung der Töne, von Licht und Schatten, hauchte den Bildern Leben ein. Mark nickte: »Jetzt verstehe ich, warum du berühmt bist.« Der schüttelte lachend den Kopf, als würde ihn so viel Lob verlegen machen. »Ich bitte dich! In tausend Jahren ist mein Name nur noch eine Fußnote.«
Sie kamen ins Arbeitszimmer. Auf einem riesigen Orientteppich stand der Mahagoni-Schreibtisch. Die polierte Platte war leer bis auf ein Onyx-Tintenfaß, aus dem zwei symmetrisch angeordnete silberne Federhalter ragten. Dahinter erhob sich ein Ledersessel mit hoher Lehne, eingerahmt von zwei Stehlampen, an der Wand dazwischen war hinter Glas eine alte spanische Flagge angebracht, und direkt über der Flagge ein Porträt des herrisch dreinblikkenden Diktators Francisco Franco in Uniform. Wären die Familienfotos entlang der getäfelten Seitenwand nicht gewesen, hätte man sich in ein Museum versetzt gefühlt, in die getreue, mit Samtkordeln abgesperrte Reproduktion einer historischen Stätte. »Der berühmte Schreibtisch«, erklärteJoaquín. »Ziemlich bizarr, nicht wahr?« »Nicht so bizarr wie das Franco-Bild «, sagte Elena. Joaquín überhörte ihren Kommentar. »Hier habe ich meine Patienten empfangen«, sagte er zu Mark. Er wies auf drei einfache Stühle, die an der rückwärtigen Wand standen. »Damals war eine förmliche Einrichtung noch von größter Bedeutung, wollte man den Sitzungen eine professionelle Atmosphäre verleihen - und die Männer haben, scheint es, sehr darauf angesprochen. Heutzutage werden solche Feinheiten natürlich vernachlässigt, man zieht Händchenhalten und Streicheleinheiten vor und sitzt im Kreis herum. Das ist der Niedergang unseres Berufes, fürchte ich.« »Und welcher Beruf wäre das, wenn ich fragen darf?« Elena fixierte noch immer das Franco-Bild. Joaquín warf laut lachend den Kopf zurück. »Ah, qué rico, meine Kleine, qué rico! Nach der langen Reise ist dein Witz noch immer scharf wie ein Dolch!«
Sie liebten sich langsam und träge, aus purer Erschöpfung flossen sie ineinander. Elena blickte in den funkelnden Sternenhimmel hinaus und atmete den schwachen Eukalyptusduft, der vom Garten hereinwehte. Sie ließ ihre Gedanken schweifen, die schemenhaft und wolkig waren, kamen und gingen, bis sich eine Erinnerung in ihr festsetzte. »Das war das Zimmer meines Vaters.« Sie wußte nicht, ob Mark noch wach war, nicht einmal, ob sie den Satz laut ausgesprochen hatte, aber Mark hob den Kopf und schaute sie an. »Ich meine Großvaters Atelier. Als mein Vater noch klein war, war es sein Kinderzimmer. Nach seinem Tod machte Großvater ein Heiligtum daraus. Er hängte die Stierkampfplakate meines Vaters wieder an die Wände, überall hingen Kinderfotos. Wenn ich zu Besuch war, hatte ich Angst vor diesem Zimmer, es war wie verwunschen. Aber noch seltsamer ging es mir heute, als ich sah, daß alles weg war. Ich frage mich, warum Großvater sein Atelier ausgerechnet dort eingerichtet hat.« Mark strich Elena über die Stirn. Er dachte an die Aussicht auf den Mulhacen. »Vielleicht ist das eine andere Art, deines Vaters zu gedenken.« »Vielleicht.« Sie musterte nachdenklich die Bettdecke, dann schaute sie ihn mit einem forschenden, fast angstvollen Blick an. »Aber was hat er mit den Sachen meines Vaters gemacht? Glaubst du, er hat sie weggeworfen?« Während er ihr mit der Hand übers Haar fuhr, ließ er all die leeren Räume in der Casa de los Queridos Revue passieren. »Nein, sicher nicht. Wie soll ein Vater das über sich bringen?« Er küßte sie auf die Wange. »Schlaf jetzt.« Wenig später wachte Elena auf. Sie befreite sich aus Marks Umarmung und schaute auf das Leuchtzifferblatt ihrer
Armbanduhr. Es war kurz vor sechs: in New York nicht einmal Mitternacht. Die Zeitumstellung hatte ihr schon immer Schwierigkeiten gemacht. Sie zog ein Nachthemd über und trat ans Fenster. Der Mond war fast voll. Tief stand er über der Bergkette im Norden, die Felder der Vega leuchteten düster im silbrigen Licht. Elena war es, als würde sie an Bord eines Schiffes stehen und auf das nächtliche Meer hinausblicken. Sie gähnte und hoffte, wieder schläfrig zu werden; aber ihre Nacht war vorbei. Die Uhr in der Küche tickte wie ein Metronom. Sie kochte sich Kaffee, laut klang das Zischen der Maschine durch das schlummernde Haus. Dann ging sie mit der Tasse hinaus auf die Treppe, die zum Garten führte. Eine Weile lauschte sie auf die Geräusche. In Gebüschen machten sich Vögel bemerkbar, sie hörte das Rascheln des Laubs, Flattern, wenn auch keinen Gesang. Irgendwo wurde eine Schafherde auf die Weide getrieben: Glocken tönten hohl, und die abgehackten Rufe des Hirten hallten herüber wie Husten. All das war ihr vertraut, auf unheimliche Weise vertraut. In den vergangenen sechs Jahren hatte sie nur selten daran gedacht, doch jetzt war ihr, als wäre sie nie fort gewesen das Knarren der alten Eichentür und des Treppengeländers, die herüberklingenden Geräusche der Schafherde —, alles schien sich gleichgeblieben, alles schien wie früher, als weideten dort noch immer die Schafe, denen sie als Kind gelauscht hatte, eine alterslose Herde auf der Suche nach Futter. Sie hatte eine schlimme Woche hinter sich, die schlimmste ihres Lebens, dachte sie. All die Mühe mit Mark, mit dem Großvater, im Büro das Ringen um sofortigen Urlaub, die vielen kleinen Anstrengungen, die jede Reise mit sich
bringt, und dazu noch ihr Wunsch, soviel Zeit wie möglich mit Diane zu verbringen, ihr beizustehen, während sich der Schock allmählich in Trauer verwandelte und dann, in den letzten Tagen, in eine Art Wut. »Warum?« fragte Diane wieder und wieder. »Warum hat Mark uns nichts gesagt?« Es war eine Frage, die auch Elena in vielen verschiedenen Varianten an Mark gerichtet hatte. Abwechselnd waren Mitgefühl, Wut und Tränen im Spiel, wenn sie sagte: »Glaubst du, das hat es einfacher gemacht?« — »Dachtest du, wir würden Colin einfach vergessen?« — »Hättest du uns jemals etwas verraten?« Und jedesmal antwortete er nur: »Ich weiß es nicht« — dieselbe Antwort, die sie ihrer Freundin gab: »Ich weiß es nicht, Diane. Ich weiß nicht, warum Mark das getan hat.« Während der ganzen letzten Tage hatte es nur einen einzigen Moment gegeben, in dem ihr das Herz ein wenig leichter geworden, in dem ihr vielleicht sogar ein Lächeln über die Lippen gegangen war: als sie mit ihrem Großvater in den Antiquitätenläden der Atlantic Avenue einen Spazierstock für Mark suchte. Sie hatte einen schönen Hickorystock gefunden, dessen Griff ein geschnitzter Entenkopf bildete, und sie war schon auf dem Weg zur Kasse gewesen, als ihr der Großvater den Stock aus der Hand nahm. »Nein«, sagte er. »Nimm lieber einen billigen, in ein paar Tagen schon wird er völlig überflüssig sein.« Er wies auf den Stockständer im hinteren Ladenteil. »Den billigsten, den sie haben.« Jetzt, auf den Stufen zum Haus ihres Großvaters, ertappte sich Elena dabei zu hoffen, daß der Stock doch nicht allzu schnell nutzlos werden würde. Im Lauf der Woche war ihr klargeworden, daß sie eine Entscheidung fällen mußte —
eine Entscheidung über sich, über Mark und darüber, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Solange es dringlichere Probleme gab, solange Mark an einem Stock durch die Gegend humpelte, konnte sie diese Entscheidung vor sich herschieben. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, zeichneten sich Einfahrt und Beete deutlicher ab, und über den Bergen im Osten sah sie den ersten Hauch des Morgens. Sie kehrte in die Küche zurück, goß sich Kaffee nach und wanderte durch die Räume im Erdgeschoß. Jetzt wurde es rasch hell, und Elena erkannte die Büsche und Hecken, in denen sie sich als Kind versteckt hatte. Sie stieg die Treppe hinauf, blieb oben stehen und lauschte. Von der einen Seite hörte sie das Schnarchen des Großvaters, von der anderen, dort, wo Mark schlief, kam kein Laut. Sie ging in das Arbeitszimmer und studierte die Fotos an der Wand: ihr Vater als kleiner Junge, als Student, die Großmutter als junge Frau, als Mutter, im Sterbebett, Elena als Baby, als kleines Mädchen, als schlaksiger Teenager. Dann trat sie ins Atelier. Wie schlafende Riesenvögel ragten die Staffeleien vor ihr auf, und durch das Fenster sah sie, daß die Berge im Osten jetzt eine Silhouette vor dem nunmehr kobaltblauen Himmel bildeten und der Mulhacen von einer goldenen Aura gekrönt war. Schließlich öffnete sie die Tür zu der Abstellkammer, die ihnen der Großvater nicht gezeigt hatte. An der Innenwand standen fünf vollgepackte Holzkisten, deren Inhalt unter einer dicken Staubschicht verborgen war. Elena hockte sich hin und sah behutsam die erste Kiste durch, während ihr der Staub schon in der Kehle kratzte. Das waren die Sachen ihres Vaters: Schulbücher, Spielzeug, Fotos, zusammengefaltete Poster von Fußballern und Stierkämpfern, sogar ein paar Kleidungsstücke
aus seiner Kindheit. Elena richtete sich auf und schaute sich im Zimmer um. In einer Ecke häuften sich Trümmer zerbrochener Stühle und Bettgestelle. Zwischen den beiden Fenstern waren etwa vierzig Spindkästen bis fast zur Decke übereinandergestapelt. An der anderen Wand standen vier große Aktenschränke. Alles war überdeckt von einer dicken Staubschicht, Elenas Schritte wirbelten sie auf. Sie klopfte gegen ein paar Spindkästen, sie klangen hohl, und der Turm begann zu schwanken. Elena wandte sich den Aktenschränken zu und entzifferte ein Metallschildchen, das an der obersten Schublade eines Schranks befestigt war: Instituto Morales. Darunter ein kleines Kärtchen mit dem handschriftlichen Vermerk: Ingresos - Zugänge. Mit etwas Mühe gelang es ihr, die sperrige Lade aus der angerosteten Führung herauszuziehen. Dutzende von Akten, jede mit dem Namen eines Mannes gekennzeichnet, in alphabetischer Reihenfolge. Elena griff sich einen Stapel und trat ans Fenster, um besser sehen zu können. Sie schlug die erste Akte auf. Eine Vielzahl amtlicher Schreiben, alle auf rauhem, durchscheinendem Papier und mit den Stempeln des faschistischen Spaniens versehen. Der Reihe nach gelesen, gaben sie Kunde vom bemerkenswerten Aufstieg und Fall eines Jörge Ernesto Acosta: 1936, mit siebzehn Jahren, ein analphabetischer Bauernsohn, mit achtzehn Unteroffizier der Franco-Armee, mit zwanzig Leutnant und Träger einer Tapferkeitsmedaille, mit einundzwanzig ein seelisches Wrack, das dem Institute Morales zur Behandlung überstellt wurde. Das letzte Blatt der Akte war mit »Vorläufige Diagnose« überschrieben, und Elena erkannte die winzige, gequetschte Handschrift ihres Großvaters. »Lt. Jorge Acosta ist durch einen Vorfall gestört, der sich
am Nachmittag des 4. Januar 1939 bei einem Gehöft etwa vier Kilometer westlich der Gemeinde Santa Lucia, Provinz Valencia, ereignete. Lt. Acosta befindet sich in einer auffällig labilen Verfassung, er neigt zu plötzlichen Anfällen von Schwermut und findet weder in der Obhut seiner Angehörigen noch im Wissen um Gottes unendliche Gnade einen ausreichenden Halt.« Elena schlug die nächste Akte auf, amtliche Dokumentation eines ähnlichen Aufstiegs und Ruins. Sie blätterte in den Seiten, bis sie zu den Notizen ihres Großvaters kam. »Sgt. José Aguilera bleibt dauernd gestört durch eine Reihe von Vorfällen, die sich am Morgen des 22. Februar 1938 in Teruel, Provinz Teruel, ereigneten und in den nachfolgenden drei Tagen während der Befreiung der Stadt mehrfach wiederholten. Sgt. Aguilera zeigt kaum äußerliche Symptome einer psychischen Störung, abgesehen von einem übertriebenen Hang zu Reinlichkeit und Ordnung sowie einer leichten Erregbarkeit bei Verstößen gegen ebenjene rigiden Sauberkeitsvorstellungen. Er sträubt sich heftig gegen eine Rückkehr zu Frau und Kindern und weist mit beachtlicher Hartnäckigkeit den Gedanken zurück, daß er Trost in Gottes unendlicher Gnade finden könnte.« Sie las weitere Akten: »Major Alcántara ist überzeugt, daß er vom Geist verschiedener Personen besessen ist, die von seiner Hand umgekommen sind.« — »Lt. Alvarado hat seit seiner Teilnahme an der Befreiung von San Sebastian vor vierzehn Monaten keinen Schlaf mehr gefunden und verbringt jede Nacht mit der Suche nach dem Maskottchen der Kompanie, einem kleinen Hund, der offenbar während der Kampfhandlungen verlorenging.« Jeder Bericht endete mit dem Hinweis auf Gottes unendliche Gnade, die von den Patienten entweder verschmäht oder vergeblich erfleht wurde.
Elena tat die Akten in die Schublade zurück und verließ den Raum. Mark schlief noch, sein Gesicht wirkte friedlich und entspannt, sein Stock lehnte am Stuhl. Draußen hob sich bläulicher Morgendunst, und die aufgehende Sonne tauchte die Vega in Gold. Ein neuer Tag begann. Mit einemmal begriff Elena, daß Verletzungen, die Kriege verursachen, in ganz anderer Gestalt auftreten können, als sie bislang geglaubt hatte. Zu den Opfern zählten längst nicht nur die Toten, die Verstümmelten, die Blinden. Opfer waren auch diejenigen, die scheinbar unversehrt zurückkehrten — lächelnd, sogar lachend —, doch innerlich nicht wiederzuerkennen waren, weder für sich selbst noch für ihre nächsten Angehörigen. Mark bewegte sich, er schlug die Augen auf, sah Elena am Bett stehen. Er lächelte. Die Tage vergingen still. Sie fuhren zum Picknicken in die Berge, bummelten durch die Alhambra und die alten Gassen von Granada, meistens aber verbrachten sie die Nachmittage lesend im Garten und die Abende bei Wein und Gesprächen am Küchentisch. Doch obwohl Mark allmählich immer besser laufen konnte, obwohl er stets eine freundliche Miene machte, gab es Momente, in denen er sich auf der Bergkuppe, am Fluß oder in der Höhle wiederfand - Momente ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung, mochte er gerade mit Joaquin über die Felder gehen oder mit Elena im Bett liegen. Plötzlich und ungebeten standen ihm die Bilder vor Augen: Colins Gesicht, Colins verwundete Beine, der Mullah an der Bahre des todgeweihten Mustafa Karim, die blauen Plastikmarken — dann wurde Mark von Trauer gepackt, so stark, daß sie ihn beinahe erdrückte. Sobald es vorüber war, suchte er abzuschütteln, was er gesehen hatte, indem
er vorgab, daß es ihm gut gehe, ja immer besser gehe, daß er in die Welt der Lebenden zurückgefunden habe - bis die Bilder abermals kamen. Manchmal bemerkte Elena eine Art Schmerz in seinen Augen, oder sie spürte Bestürzung im plötzlichen Klammergriffseiner Finger. Dann umarmte sie ihn und fragte, ob er mit ihr reden wolle. Ein andermal wieder ignorierte sie die Anzeichen, blickte weg oder sprach weiter oder zog ihre Hand zurück, denn sie wollte sich ihren Glauben an die Normalität bewahren. Sie brauchte die Überzeugung, daß dies nur ein vorübergehender Zustand war, eine Schlechtwetterphase, die sich schneller verzog, wenn man sie nicht beachtete. Oft wünschte sie sich, sie könnte die selbstgewählte Distanz zu ihrem Großvater aufheben, ungezwungen über seine Scherze lachen, ihm Kindheitserinnerungen erzählen. Doch jede Nacht, wenn die anderen schliefen, ging sie in den Abstellraum und las weiter in den Akten, um ihre Erinnerung zu stärken, sich zu wappnen gegen die Anfechtungen des nächsten Tags. Es war anstrengend, diese Strategie durchzuhalten, und allmählich sehnte sich Elena der Reise nach Madrid entgegen — nicht nur, um ihre Mutter wiederzusehen, sondern auch, um der lastenden Atmosphäre im Landhaus zu entgehen. Am Abend des sechsten Tages, als sie mit Mark auf dem Rückweg von Penuelas war, beladen mit Einkäufen für die Küche, blieb sie auf einmal stehen, mitten auf der Straße, und erklärte: »Meine Mutter wird schon ungeduldig. Ich überlege, ob ich nicht morgen mit dem Zug nach Madrid fahren soll.« Er benutzte den Stock nicht mehr, ging vielmehr steif wie ein Mann mit Beinschienen. Wehrlos sah er aus, wie er dort auf der Straße stand, das rechte Knie ein wenig zitternd, die Arme vom Gewicht der Einkaufsbeutel nach
unten gezogen, und Elena spürte augenblicklich, wie ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet. »Nur für ein paar Tage. Du wirst doch zurechtkommen, oder?« Er lächelte. »Natürlich. Laß dir nur Zeit.« In der Nacht nahm sie sich den letzten Schrank des Abstellraums vor, der die Aufschrift salidas trug. Eine Weile las sie die handschriftlichen Kommentare des Großvaters, seine abschließenden Worte über die geheilten Patienten des Instituto Morales. »Mit großer Freude darf ich hiermit bestätigen, daß Lt. Arsenio Castaneda von seinen psychologischen Beschwerden vollständig geläutert wurde und in den Schoß Gottes zurückgekehrt ist. Por la gracia de Dios, viva El Caudillo!« »Es ist mein vorzügliches Privileg zu konstatieren, daß Oberst Hector Vidalia Saenza, einer unserer kompliziertesten und schwierigsten Fälle, nach langem Bemühen schließlich geläutert wurde und Trost und inneren Frieden im Schöße Gottes gefunden hat. Por la gracia de Dios, viva El Caudillo!« Elena stand im trüben Licht und überlegte, ob sich diese Wunder tatsächlich ereignet haben konnten, ob die großartigen Behauptungen ihres Großvaters auch nur annähernd Berechtigung hatten. Sie versuchte sich die zerstörten Männer vorzustellen, die aus dem Kliniktor traten und auf ihre Angehörigen, ihre Dörfer, auf Spanien zustürmten. Sie dachte an Mark, der im Nachbarzimmer schlief, und fragte sich, welches Wunder wohl auf ihn wartete. Sie blieben auf dem Bahnsteig stehen, bis der Zug zu einer kleinen silbernen Schlange wurde, bis er gänzlich verschwunden war. »Nun sind wir unter uns.« Joaquín lächelte Mark an. »Wie fühlst du dich?«
Mark zog die Schultern hoch und sog die frische Frühlingsluft ein. »Gut. Schöner Tag heute.« »Und wie steht es mit deinen Traumata? Alle gebessert?« Mark blickte auf die gleißenden Schienen und kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht. Vielleicht ein wenig.« »Bestens«, sagte Joaquín. »Gehen wir einen Kaffee trinken.« Sie setzten sich im Bahnhofscafe an einen kleinen Tisch. Joaquín schaufelte drei Löffel Zucker in seinen Espresso und summte beim Umrühren vor sich h i n . »Wir haben den ganzen Tag vor uns. Was wollen wir machen?« Mark starrte den Löffel an, der unablässig in der Tasse rührte. Alles schien miniaturisiert — der Tisch, die Espressotasse, der Löffel. »Ich weiß nicht, ob es so funktioniert«, sagte er. Sein Gegenüber blickte ihn fragend an. »Wovon sprichst du?« »Diese Traurigkeit, sie hört nicht auf. Sie steckt in mir, ich werde sie nicht los.« Joaquín hob die Tasse an die Lippen. »Hervorragend. Deine Erholung schreitet voran.« »Ich frage mich, ob ich nicht zu einem Spezialisten gehen sollte.« »Bitte nicht das wieder!« Er zog eine Grimasse. »Ich weiß einfach nicht weiter. Wenn es überhaupt eine Änderung gegeben hat, dann zum Schlimmeren.« Joaquín schlürfte geräuschvoll. »Das ist doch ganz natürlich. Am Anfang hattest du einen Schock und hast nichts gespürt. Jetzt baut sich der Schock ab, du wirst gesund, und Gesundung ist immer schmerzhaft. Darin sind sich Seele und Körper gleich.« Mark fiel die Bemerkung Talzanis ein — Schmerzen sind immer besser als Taubheit. »Aber ich hab nicht das Gefühl,
daß ich gesund werde. Mir wird nichts leichter. Jeden Morgen ist es das erste, was mir einfällt. Jeden Tag ...« Joaquín unterbrach ihn mit erhobener Hand. »Und ein Spezialist soll dem ein Ende setzen? Wie soll der dir denn helfen?« Er beugte sich zu ihm hinüber. »Verstehst du nicht? Keiner kann dir diese Last abnehmen, weil keiner weiß, wie sehr du leidest — weder ich noch Elena noch irgendein Spezialist. Schmerz ist die intimste Sache, die es gibt. Wenn du das nicht kapierst, wenn du weiterhin glaubst, daß irgendein Fremder deine Probleme lösen kann, dann wirst du nie geheilt.« Er richtete sich auf und bemerkte Marks Verwirrung. »Ah, du spürst einen Widerspruch! Du denkst: Warum bin ich dann hier? Er hat doch versprochen, mir zu helfen.< Nun, ich kann dir ja helfen. Wenn dir überhaupt einer helfen kann, dann bin ich es.« Joaquín schüttete den restlichen Espresso hinunter und stand auf. »Gehen wir. Ich möchte dir etwas zeigen.« Sie fuhren in östlicher Richtung aus Granada heraus und nahmen die Straße zum Skizentrum auf dem Mulhacen. Fast eine Stunde lang führte sie in zahllosen Haarnadelkurven bergauf. Die Gegend wurde immer karger und winterlicher, bis sie sich in ein Schneefeld verwandelte; dann erreichten sie den Gipfel und fuhren an der Hütte und den Parkplätzen vorbei zu einem Wirtschaftsweg, der tief in den Schnee einschnitt und zu einem Skilift-Mast auf einem Felskamm führte. Joaquín hielt an, sie stiegen aus und gingen durch die kalte Luft bis an den Rand des Abhangs. Unter ihnen breitete sich die Welt aus. Zwischen die Berge gebettet lag Granada; dahinter erstreckte sich das grüne Talbecken. In regelmäßigen Abständen trug der Wind das Klacken der leeren Skisessel herüber. »Siehst du dort?« Joaquín wies auf eine Landstraße und
eine Gruppe von Gebäuden am Südzipfel der Hochebene. »Das heißt El Suspiro de Moros - Seufzer der Mauren. Als die Mauren aus Granada vertrieben wurden, blieb der Sultan an dieser Stelle stehen und warf einen letzten Blick auf die Alhambra. Er weinte, dann drehte er sich um und setzte seinen Weg ins Exil fort.« Mark sah den Schatten einer tiefen Rinne, eines gewundenen Wegs über Felsen und braune Erde, der sich bis zum Mittelmeer hinzog — einem flachen blauen Streifen am dunstigen Horizont. »Im allgemeinen wird angenommen, daß die Mauren auf diesem Weg zur Küste zogen und von dort auf Nimmerwiedersehen nach Afrika segelten.« Joaquín ließ die Hand sinken und bedachte Mark mit einem vielsagenden Blick. »Natürlich stimmt das nicht. Komm mit.« Er lief weiter auf dem Felskamm entlang, Mark immer hinter ihm. Das Land im Südosten kam allmählich in Sicht, und Mark bemerkte, daß sich unmittelbar unter ihnen ein anderes Tal erstreckte. Es verlief parallel zur Küste und war viel tiefer und zerklüfteter als das Tal von Granada, nur ein schmales Band aus grünen Feldern und weißen Dörfern, die sich an die steilen Hänge klammerten. »Die Alpujarra«, sagte Joaquín. »Nur wenige spanische Geschichtsbücher erwähnen das, aber dorthin zogen sich viele Mauren im Jahr 1492 zurück. Der Sultan schloß einen Vertrag mit Königin Isabella und erhielt im Tausch gegen Granada dieses Tal, das die Mauren in einen blühenden Garten verwandelten — sie legten Terrassen an, errichteten eine Regierung, entwickelten ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem. Sie lebten dort achtzigjahre lang, und es gäbe sie heute noch, wären die Spanier nicht vertragsbrüchig geworden. In den sechziger Jahren des sech-
zehnten Jahrhunderts befand nämlich der katholische König, daß in Spanien für Heiden kein Platz sei, weshalb die Mauren vor die Wahl gestellt wurden, sich entweder taufen zu lassen oder zu verschwinden. Und die Alpujarra war ihr letzter Vorposten.« Er lachte. »Was passierte dann? Was glaubst du? Das Tal wurde mit Bauern aus Galicien und Asturien besiedelt — mit guten Spaniern, guten Katholiken — und war sofort ruiniert. Die Terrassen verfielen, niemand verstand das komplizierte Bewässerungssystem, und die Alpujarra wurde eine der ärmsten Regionen des Landes. So ist es bis heute. Viele Dörfer dort unten kannten bis in die siebziger Jahre hinein keinen elektrischen Strom, keine Schulen, nicht einmal Straßen.« Ins Tal hinabblickend wärmte sich Joaquín die Hände in der Manteltasche. »Bemerkenswert daran ist, daß es kein Bedauern gibt. Du wirst wohl keinen einzigen Bewohner der Alpujarra finden, der sich die Mauren zurückwünscht. Du siehst, wir Spanier halten an der Vorstellung nationaler Reinheit fest — darin sind wir noch schlimmer als die Deutschen. Lieber arm sein und leben wie ein Tier, als sich fremden Einflüssen auszusetzen.« Er blickte Mark mit hochgezogenen Brauen an. »Und wie erlangt eine Nation diese Reinheit? Durch die Säuberung — la limpieza. Das ist die Geschichte Spaniens: die Mauren, die Juden, die Ketzer zur Zeit der Inquisition, die Republikaner des Bürgerkriegs. Spanien wurde von all diesen Einflüssen befreit, und jedesmal wurde das Vaterland gerettet, gesäubert, bis es im alten Glanz erstrahlte« — mit einer schweifenden Geste wies er ins Tal—, »gesäubert bis zum Ruin. Interessant, oder?« Mark nickte. »Tragisch.« »Tragisch?« Joaquín dachte einen Moment nach. »Ich
weiß nicht. Es ist genau das, was der Spanier will, was ihm gefällt.« Sie blickten stumm in die Landschaft, verfolgten die wandernden Wolkenschatten. Nach einer Weile zeigte Joaquin auf eine Gipfelgruppe am anderen Ende des Alpujarra-Tals, etwa achtzig Kilometer südöstlich. »Hinter diesen Bergen liegt Almería. Als der Krieg anfing und die Blutschwadronen umherzogen, bin ich dort durchgekommen.« Er senkte die Hand. »Es war schrecklich und so sinnlos, denn Almería hätte dem Krieg genausogut entgehen können, zumindest den schlimmsten Auswüchsen in den ersten Tagen. Es war eine liberale Stadt, die Kommunisten und die Gewerkschaften hatten viel Macht, aber als Franco den Aufstand befahl, folgte die Garnison von Almería dem Aufruf. Sie wurde natürlich schnell zerschlagen, und dann brach der republikanische Mob los, sie brachten alle zur Strecke, die sie für unzuverlässig hielten — die Geistlichen, die Landbesitzer, die Konservativen. Furchtbar. Ich war nicht zu Hause, als es losging, aber meine Familie war bekannt — treue Monarchisten, gegen die Linken. Ich wußte, daß sie uns holen würden, ich sah ja, was sie auf den Straßen trieben, aber es gab keine Möglichkeit, zu ...« Joaquín starrte auf die fernen Gipfel und zog die Schultern hoch, als eine Windbö über den Felskamm wehte und die beiden Männer mit Pulverschnee bestäubte. »Also bin ich geflohen. Fast einen Monat habe ich mich im Haus eines Freundes versteckt, dann bin ich in die Berge hinaufgestiegen. Als ich oben angelangt war, wußte ich nicht weiter. Die Alpujarra war ein einziges Schlachthaus. Blutschwadronen von beiden Seiten wüteten überall. Ich bin auf dem Gebirgskamm entlanggezogen, bis es nicht mehr weiterging.« Mit dem Finger deutete er über
die Gipfelkette bis hin zu einem Berg, der ihnen gegenüberlag. »Schließlich hatte ich keine Wahl mehr. Entweder ich blieb oben und verhungerte, oder ich stieg in die Alpujarra hinab.« Der Finger zog eine Linie den jenseitigen Berghang hinab über die terrassierten Felder, vorbei an den weißen Dörfern. »Es war sehr schwierig. Ich bewegte mich nur nachts und versteckte mich, wann immer ich jemanden hörte oder sah. Tagsüber blieb ich im Wald oder zwischen den Felsen. Aber irgendwann kam ich an diesen Fluß dort« — er wies auf ein grünes Band, das sich durchs Tal schlängelte —, »und dann bin ich auf dieser Seite wieder hinaufgestiegen, rennend, auf allen vieren und immer wieder Deckung suchend, bis ich hier oben ankam.« Jetzt zeigte sein Finger auf den Platz, an dem sie standen. »Und erst, als ich hier stand, als ich die Alpujarra hinter mir sah und Granada vor mir, wußte ich, daß ich es geschafft hatte, daß ich entkommen war.« Er trat näher an Mark heran und schaute ihm ins Gesicht. Der Wind hatte zugenommen, heftige Böen rüttelten an den Liftsesseln, die über ihnen mit quietschenden Geräuschen hin und her schaukelten. Joaquín bohrte seine Schuhspitze in den Schnee. »Und genau an dieser Stelle habe ich etwas ganz Erstaunliches erlebt. Es wurde gerade hell. Ich blieb einen Moment stehen und blickte zurück auf die Welt, der ich entflohen war« — er zeigte nach Südwesten —, »da sah ich weit draußen auf dem Mittelmeer etwas, das glänzte wie Gold. Ich wußte nicht, was es war. Die Sonne konnte es nicht sein, denn die ging gerade im Osten auf, aber es war fast genauso hell, als würde dort eine zweite Sonne aufgehen. Und weil ich mir das nicht erklären konnte, hielt ich es für ein Wunder - damals war ich noch Katholik -, ein Zei-
chen dafür, daß Gott mir ein neues Leben schenkte. Doch das war keine erfreuliche Einsicht — Wunder sind selten erfreulich, vermute ich -, sie bedeutete nämlich, daß ich allein war, daß ich niemanden mehr hatte, daß meine Angehörigen, meine Freunde für mich verloren waren. Aber mir blieb keine andere Wahl. Entweder ich nahm dieses neue Leben an, oder ich mußte sterben.« Joaquín drehte sich weg und blickte in Richtung Granada. Schweigend nahm er die Landschaft in sich auf, und plötzlich, mit einem Grinsen, wandte er sich zu Mark. »Und weißt du, was es war, das Wunder? Es war die Wüste Afrikas. Unglaublich, aber wahr. Die afrikanische Küste ist schließlich mehr als zweihundert Kilometer entfernt. Ich hab mir aber sagen lassen, daß sie an klaren Tagen zu sehen sein soll.« Er lachte. »Sand!« Wind pfiff den beiden Männern eisig um die Ohren. Joaquins Lachen schwand, er stampfte mit den Füßen, um gegen die Kälte anzukämpfen. »Du hältst mich vielleicht für verständnislos, aber das stimmt nicht. Ich begreife sehr wohl, wie schwer es für dich ist, die Erlebnisse in Kurdistan zu verarbeiten. Aber du darfst dich von ihnen nicht kaputtmachen lassen. Du mußt dich von der Vergangenheit lösen. Wir alle müssen uns davon lösen. Es ist das Schwerste überhaupt, und trotzdem müssen wir es tun. Nicht nur weil es notwendig ist, sondern auch aus einer Verpflichtung heraus, denn niemand hat das Recht, sein Leben wegzuwerfen. Ob du nun an Gott glaubst oder nicht, niemand hat das Recht dazu.« Mark hatte den Blick aufs Mittelmeer gerichtet. »Vergiß die Toten«, flüsterte er wie zu sich selbst. »Die Toten brauchen uns nicht mehr - das hat mir ein Arzt in Kurdistan gesagt.« Heute sah man kein helles Licht überm Meer, keine afri-
kanischen Sanddünen, nur einen weißen Dunststreifen am Horizont, in dem Himmel und Meer verschmolzen. »Er hieß Talzani. Ahmet Talzani. Er wußte schon, daß Colin tot war. Deshalb hat er das zu mir gesagt. Sie haben seine Leiche am Fluß gefunden und zum Lazarett geschleppt — sie war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Ich habe Talzani verschwiegen, daß es Colin war, ich hab ihn belogen wie alle anderen auch. Aber er kannte die Wahrheit.« Er blickte Joaquín an. »>Vergiß die Toten.<« Joaquín nickte. »Aber wie soll man das tun? Ich weiß nicht, wie man das macht.« »Das ist nur zum Teil eine Frage des Willens, fürchte ich. Wenigstens hilft uns der Wille, das Terrain zu erkennen, wenn wir es betreten.« Mark schaute Joaquín fragend an. »Welches Terrain?« »Oh, ich glaube, das entscheiden nicht wir. Dafür sind wir zu unbedeutend. Nein, nur eine höhere Macht kann uns erlösen, normalerweise der Glaube, doch wir Ungläubigen müssen uns mit irdischen Gegebenheiten begnügen.« Er machte eine Handbewegung, als wolle er etwas umfassen, umgreifen. »Das Land, das Meer, manchmal nur der Sand. Das kann uns von Sorgen aller Art befreien, vorausgesetzt, wir lassen es zu.« Der Wind hatte nachgelassen, das wilde Schaukeln der Liftsessel beruhigte sich. Joaquín trat an den Rand der Felsklippe und spähte in die zerklüfteten Abgründe des Alpujarra-Tals hinab. »Ein grausames Land. Man sagt, wir Spanier seien grausam, weil wir in einem grausamen Land geboren werden, doch das stimmt nicht.« Er deutete mit dem Kinn nach unten. »Wir haben das Land grausam gemacht. Das war einmal ein blühender Garten.«
Er lächelte. »Es könnte interessant für dich sein, das Tal zu erkunden. Wenn du die Hauptstraße verläßt, sind die Dörfer ganz unberührt, geradezu fotogen.« Mark befolgte diesen Rat mit Eifer. Jeden Morgen stieg er mit der Kameratasche ins Auto und verließ die Casa de los Queridos in östlicher Richtung. Die erste Stunde der Fahrt mußte überstanden werden — die Vega war durchsetzt von Schrottplätzen und tristen Gewerbeparks, dann kamen die ersten Hochhäuser der Vororte Granadas. Sowie Mark die Auffahrt zur südlichen Landstraße bei El Suspiro de Moro erreicht hatte, bot sich ihm ein ähnliches Bild, nur war der Verkehr noch dichter geworden, und noch mehr Reklameflächen säumten die Straße, noch mehr Fahrwege und Siedlungen verunstalteten die Hügel. Erst als sich die Chaussee zur Küste hin absenkte, als er in die Straße zur Alpujarra abbog und die engen, touristenverstopften Gassen von Lanjaron hinter sich ließ, als er endlich die großartige Kulisse des Tals vor sich sah, wurde ihm wohler. Die Alpujarra ähnelte eher einer gewaltigen Schlucht als einem Tal. An ihrer Westmündung war sie ziemlich breit, der Guadalfeo strömte träge dahin. Doch je weiter Mark vordrang, desto zerklüfteter wurde die Landschaft, der Talgrund verwandelte sich in ein Gewirr aus Bergrücken und Geröllhalden, und der Guadalfeo schrumpfte zu einem schmalen, flinken Bergbach. Die Gebirgsflanken rückten näher und ragten immer steiler auf, dann wieder wurden sie durch die tiefen Einschnitte der Seitentäler zerrissen. Überall sah er kleine, weißgekalkte Dörfer: im Schatten der Schluchten, auf Felstürmen, an windzerzausten Grashängen direkt unterhalb der Schneegrenze. Ihm kam die Lage dieser Orte wie eine altertümliche Form der
Bestrafung vor. Offenbar waren sie mit Absicht so angelegt worden, daß die Bewohner für immer auf lebenswichtige Dinge verzichten mußten — auf Wasser, Sonne, Ackerboden. Jeden Tag stellte er den Wagen in einer anderen Gegend ab, nahm die Kameratasche und stieg in die Berge. Ab und zu drang er in eins der Dörfer vor, durchlief die krummen Gassen, doch meistens blieb er an den Rändern, besichtigte die Terrassenfelder, die Olivengärten, die Waldstreifen aus Krüppelkiefern. Tag für Tag kletterte er ein wenig höher. Er kletterte ohne Unterbrechungen und genoß das wohlige Brennen in seinen wiedererstarkenden Beinmuskeln; er atmete den würzigen Duft der feuchten Frühlingserde; er lauschte dem fernen Klang der Schafsglocken. Und irgendwann gelangte er zu einer Stelle — einem Felsvorsprung, einer Wiese —, an der er allein war und auf die Welt hinabblicken konnte. Dort blieb er sitzen, schaute ins Tal und hörte nichts außer seinem Atem und dem Wind, der von den Schneegipfeln herunterwehte. Er war glücklich, und er redete mit Colin. »Gefällt es dir hier? Schön hier, was?« Manchmal, wenn er fotografierte, fragte er Colin nach seiner Meinung. »Soll ich eine kleinere Blende nehmen? Wäre es nicht besser mit Stativ?« Oder er beklagte sich bei ihm über den Dunst, der die Fernsicht behinderte. Ab und zu kam er auf Diane, auf gemeinsame Reiseabenteuer zu sprechen. »Weißt du noch? Die Geburtstagsfeier für den Mujaheddin-Kommandeur in Peshawar? Absurd, was? Oder der Fischzug mit Handgranaten bei den TamilTigers?« Dann lachte er und schüttelte den Kopf. »Verrückte Sachen haben wir erlebt!« Nachmittags, wenn die Dörfer im Schatten der Berge versanken und der Guadalfeo in der Dämmerung unsichtbar
wurde, stand Mark auf und strich sich die Hosen glatt. Plötzlich spürte er die Kälte. »Ich glaube, jetzt sollten wir umkehren.« Irgendwann auf dem Rückweg zum Auto blieb Colin zurück. Mark warf einen Blick über die Schulter, winkte ihm kurz zu. »Keine Sorge«, rief er. »Morgen bin ich wieder da.« In der Casa de los Queridos nahm er mit Joaquín ein einfaches Mahl aus Brot, Käse und Serrano-Schinken ein. Sie sprachen über angenehme Dinge — maurische Architektur, die Technik der Ölmalerei —, dann setzten sie sich mit einer Flasche Wein in den Garten. Die Bilder, die ihn verfolgt hatten, blieben aus, auch Anwandlungen der Schwermut. Er streckte sich im Sessel, prüfte den Geschmack des Weines und hörte Joaquín zu, der ihm den Sternenhimmel erklärte. In Madrid saß Elena um dieselbe Zeit beim Essen zu Hause mit ihrer Familie oder in einem Cafe mit Freundinnen aus der Studentenzeit. Für sie waren es Tage der erzwungenen Leichtigkeit und Zerstreuung. Mit ihren Verwandten redete sie über die Reize New Yorks, wobei sie alle bedrückenden Umstände ihres Lebens unterschlug; sie zählte die exotischen Weltgegenden auf, die Mark besucht hatte, aber sie schwieg über das Schreckliche, dem er dort begegnet war. Mit keinem Wort erwähnte sie, warum sie nach Spanien gekommen waren und warum Mark es vorgezogen hatte, in Granada zu bleiben. Die Verwandten wußten Bescheid — Elena erkannte an ihren ernsten Mienen, daß sie von ihrer Mutter ins Bild gesetzt worden waren, doch bei jeder Zusammenkunft wurde der gute Ton gewahrt, und alle taten so, als ob Elena keine Sorgen
habe, dieses Goldkind der Familie, dieses intelligente, ehrgeizige Mädchen, das seinen eigenen Weg gewählt und es so unvorstellbar weit gebracht hatte. Aber so konnte es nicht immer bleiben. Schon am vierten Tag, im Haus ihres Onkels Javier, hatte alles ein Ende. Es ging auf Mitternacht zu, und sie saßen bei Kaffee und Brandy im Wohnzimmer, als ihre jüngeren Cousinen Ana und Luisa unbedingt ein Bild von Mark sehen •wollten. Elena sträubte sich, doch schließlich gab sie nach, griff in die Handtasche und reichte ihnen die Brieftasche. Ana und Luisa drängten sich auf der Couch aneinander und studierten die kleinen Fotos im Folienfenster. »Qué guapa!« Ana kicherte. »Und so stark!« Die vierzehnjährige Luisa sagte mit ernster Stimme: »Er muß ja unheimlich mutig sein!« Elena starrte die Mädchen an und konnte nichts entgegnen. Ja, dachte sie, so stark ist er, daß er weder lachen noch weinen kann, daß er seinen besten Freund sterben sieht und dann so tut, als wäre nichts geschehen. Ihr kamen die Tränen, und sie rannte aus dem Zimmer. Im Taxi, das sie nach Hause brachte, griff die Mutter nach ihrer Hand. »Es tut mir leid, Elena. Ich hätte wissen müssen, daß es eine Folter für dich ist. Es wollten dich nur alle so gern sehen.« Elena nickte und blickte auf die regennasse Straße hinaus. »Ist schon gut.« Ihre Mutter beugte sich zu ihr. »Sprich dich aus.« »Ich weiß nicht, warum, Mama. Quälen tut mich nicht so sehr das, was er getan hat, sondern die Frage, warum er es getan hat. Ich habe mir solche Mühe gegeben, es zu begreifen. War es der Schock? Waren es die Schuldgefühle? Solange ich das nicht verstehe, habe ich das Gefühl, daß ich ihn überhaupt nicht kenne.«
Die Mutter streichelte ihre Hand. »Aber du wirst es niemals wissen«, sagte sie leise. »Weil er es niemals wissen wird. Der Mensch ist auch für sich selbst undurchschaubar, und wenn man nach den Gründen forscht, kann man verrückt werden. Wir müssen uns damit abfinden, daß Menschen unerklärliche Dinge tun.« »Aber es gibt immer Gründe. Es muß einen Grund geben!« Ihre Mutter zuckte die Schultern. »Und welcher Grund soll das sein? Welcher könnte dich erleichtern? Du siehst, es ist sinnlos. Jetzt kommt es doch nur darauf an, daß Mark wieder gesund wird.« »>Zurückgekehrt in Gottes Schoß< - das war Großvaters Ausdruck, wenn er meinte, daß seine Patienten geheilt seien.« »Wirklich?« Die Mutter lächelte und musterte sie, ein wenig überrascht. »Ich meinte immer, er sei ein Atheist.« Jetzt lächelte auch Elena. »Nein, damals nicht, vermute ich. Ich glaube, ein Atheist hätte es unter Franco nicht ganz leicht gehabt.« Ihre Mutter lachte hell auf, fragte dann aber mit vorsichtiger Stimme: »Wie kommst du überhaupt mit ihm zurecht?« »Es geht. Ich weiß, daß ich sehr hart zu ihm war. Und auf irgendeine Weise, die ich nicht recht verstehe, glaube ich, daß er für Mark eine Hilfe ist. Trotzdem ist es schwer. Wenn ich daran denke, was er getan hat, an die schrecklichen Männer, die er behandelt hat...« »Es war nicht so einfach, wie du vielleicht glaubst, meine Liebe. Auf beiden Seiten ist es in diesem Krieg zu unvorstellbaren Greueltaten gekommen. Und denke daran, dein Großvater hatte alles verloren. Er war noch jung und hatte bereits seine ganze Familie verloren.«
»Ich weiß«, sagte Elena. »Ich weiß ja, daß ich zu hart zu ihm war.« Schweigend fuhren sie weiter. Auf der Avenida Castellana bog das Taxi in die Galle Legazpi ein, und im Vorbeifahren sah Elena die Umrisse ihrer alten Grundschule. Das dreistöckige Gebäude wirkte noch bedrückender, als sie es in Erinnerung hatte. »Ich glaube, du solltest nach Granada zurückfahren.« Sie schaute ihre Mutter an. »Wie bitte?« »Ich weiß, es ist eine Qual für dich, Elena — all diese Besuche, auf denen du immer ein freundliches Gesicht machen mußt, während du dich in Wirklichkeit um Mark sorgst. Du solltest zu ihm zurückfahren.« »Aber ich möchte doch bei dir sein, Mama. Außerdem schämt sich Mark. Ich habe den Eindruck, daß ihm wohler ist, wenn ich nicht bei ihm bin.« Die Mutter tätschelte ihren Arm. »Dann tu's für deinen Großvater. Ich bleibe dir noch lange erhalten, aber dein Großvater ist fast achtzig. Du hast ihn immer geliebt, und du warst wie eine Tochter für ihn. Wenn du dich mit ihm versöhnst, bevor er stirbt, machst du ihn glücklich.« Elena lachte sanft. »Ich glaube nicht, daß er in absehbarer Zeit sterben wird, Mama. Manchmal denke ich, er stirbt niemals.« Die Mutter schmunzelte. »Bitte, tu's mir zuliebe. Im Sommer komme ich nach New York, dann verbringen wir ein paar schöne Tage miteinander, aber jetzt solltest du bei deinem Großvater sein.« Elena blickte auf die Straßenlaternen, auf die verschlossenen Ladenfronten der Calle Legapzi, an denen sie in ihrer Jugend so viele Male vorbeigelaufen war. Sie nickte. Im Bett dachte sie darüber nach, wie weit sie sich innerlich von Madrid entfernt hatte: Die Menschen und Straßen,
die ihr so vertraut gewesen waren, waren ihr fremd vorgekommen. Dann versuchte sie sich Marks Gesicht vorzustellen, das Gesicht, bevor sich der Schmerz in seinen Augen eingenistet hatte. Früher war ihr das immer schwergefallen, doch diesmal setzte sich sein Gesicht langsam aus den einzelnen Zügen zusammen, bis es klar vor ihr stand. Dann fiel ihr der Ausdruck ein, den ihr Großvater für seine entlassenen Patienten verwendet hatte, und sie flüsterte die Worte, als wären sie ein Gebet. Mark beugte sich über das Lenkrad, um das Schild am Straßenrand besser erkennen zu können. Er befand sich am Südhang des Alpujarra-Tals, auf einer Bergstraße, auf der er zum ersten Mal fuhr, und beinahe hätte er das kleine Schild übersehen. Es zeigte schwarze Buchstaben auf weißem Grund, vom Rost angefressen, aber gerade noch so deutlich, daß er sie aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Der Name rief etwas in ihm wach: Olia. Er hatte gebremst und war im Rückwärtsgang bis zur Abzweigung der Straße zurückgefahren. Er ließ den Motor laufen und überlegte, wo er den Namen schon gehört hatte, starrte das Schild an, als könnte es ihm Antwort geben. Endlich fiel es ihm ein. Er blickte den ungepflasterten Fahrweg hinauf und folgte seinem Zickzackkurs den kahlen Berghang entlang, aber er konnte keine Anzeichen für ein Dorf, überhaupt keine Lebensspuren ausmachen. Inzwischen wußte er, daß es etliche Minuten dauern konnte, bis er ein Ziel erreichte, selbst wenn es nur wenige Kilometer entfernt hinter dem nächsten Gipfel lag. Er blickte auf die Uhr. In einer guten Stunde sollte Elenas Zug in Granada eintreffen. Schon jetzt war er spät dran. Nach einigem Zögern legte er den Gang ein und fuhr weiter. Er prägte sich
ein paar auffällige Wegmarken ein, um das einsame Stück Straße irgendwann wiederzufinden. Sie führte Mark durch den hinteren Garten, sperrte die kleine Pforte auf und lief mit ihm übers Luzernenfeld. Sie hielten sich bei der Hand, und Elena erzählte von Madrid, von den Dingen, die sie erlebt und gehört hatte, und ließ die ernsten Themen aus. »Und wie ist es dir ergangen?« »Gut«, sagte er. »Es war sehr erholsam. Ich bin jeden Tag durch die Alpujarra gefahren, in den Bergen herumgeklettert und habe ein paar Fotos gemacht. Fabelhafte Landschaft.« Elena nickte. Sie pflückte eine Mohnblume. »Daß dir die Alpujarra gefallen würde, konnte ich mir denken. Eine Gegend ganz nach deinem Geschmack - wild und abgelegen.« Nach ein paar weiteren Schritten über das grüne Feld, das vom Rot der Mohnblumen gesprenkelt war, blieb Mark stehen und sagte aufgeregt: »Beinahe hätte ich's vergessen. Ich bin an dem Dorf vorbeigekommen, aus dem der verschwundene Patient stammte. Olía. Die Bestie von Olía. Erinnerst du dich?« Elena sah ihn forschend an. Irgend etwas an seinem plötzlichen Eifer kam ihr seltsam vor. »Carlos Perez«, sagte sie. »Stimmt. Ich dachte mir, ich fahre morgen in das Dorf und frage ein bißchen herum, ob er jemals dort aufgetaucht ist. Kommst du mit?« Sie lief weiter, den Blick auf den gefurchten Ackerboden gerichtet. Auch sie war der Sache nachgegangen. Bei einem der nächtlichen Besuche im Abstellraum hatte sie den Namen auf den Patientenakten gesucht, doch seine Unterlagen waren, so wie es der Großvater gesagt hatte,
verschwunden. Die Mappe mit dem Namen Carlos Miguel Perez enthielt lediglich ein vergilbtes Blatt mit den Daten seiner Einlieferung und seiner Entlassung sowie den Vermerk, daß seine Akte an die Militärverwaltung überstellt worden war. Aber Elena hatte seinen Sohn kennengelernt. Sie hatte einen plausiblen Grund, sich für den verschwundenen Patienten zu interessieren. Wie sollte sie sich jedoch Marks Neugier erklären? Schon in New York hatte sie sich darüber gewundert, das fiel ihr jetzt erst auf. »Klar«, sagte sie. »Ich komme mit.« Vom Fenster seines Arbeitszimmers aus sah Joaquín Elena und Mark Hand in Hand über das Luzernenfeld laufen. An der Wand neben ihm hingen gerahmte Fotos, etwa dreißig an der Zahl. Sie waren nach keinem besonderen Muster geordnet, sondern stellten aufs Geratewohl eine kleine, lückenhafte Chronik seines Lebens dar. Den Mittelpunkt bildete eine unscheinbare, verblichene Fotografie, ein Studioporträt, das ihn als dreiundzwanzigjährigen jungen Mann am Vorabend des Krieges zeigte. Er saß steif da, mit gereckter Brust, die Hände im Schoß gefaltet. Fast alles an ihm wirkte wie die Idealverkörperung eines jungen spanischen Aristokraten — der schwarze Anzug im Kontrast zur wachsbleichen Gesichtsfarbe, der gezwirbelte Schnurrbart, das pomadisierte, streng zurückgekämmte Haar. An der Wand war es das älteste Foto. Auf den anderen Schwarzweißbildern herrschten ebenfalls steife Posen vor. Da stand Joaquín im Mantel auf dem Gemäuer der Alhambra, kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs, die Hand auf der Schulter seines besten Freundes Arnulfo Benavides, der in seiner Falangistenuniform verloren und geisterhaft aussah, bereits gezeichnet vom Lun-
genkrebs, dem er später erliegen sollte. Dann Joaquín im Arztkittel, stolz neben dem Bronzeschild »Institute Morales para la Purificación Psicológica« am Tor seines Anwesens. Joaquín im Korbsessel im Garten sitzend, umgeben von Patienten in Zivil und Geistlichen in schwarzen Gewändern. Und da war das erste Bild von Violeta, einer bemerkenswert schönen jungen Frau in einem weißen Sommerkleid und mit zurückgestecktem Haar, hinter ihr die gemalte Atelierkulisse einer Küstenlandschaft; ein weiteres Foto zeigte ihre Hochzeit imjahre 1942. Joaquín war nun glattrasiert und wirkte elegant, ja schneidig in seinem hochgeschlossenen Frack, während Violetas hübsches Gesicht von einem weißen Schleier beschattet wurde. Sie standen vor dem Altar, im Dunkel des Hintergrunds glänzte goldener Kirchenschmuck, die schmalen Fenster wirkten wie grellweiße Säulen, und neben dem Brautpaar gruppierten sich der Pfarrer, die Familienangehörigen, Offiziere und Funktionäre der Falangistenpartei. Außerdem ein Bild des stolzen Vaters Joaquín, der seinen kleinen Victor auf der Freitreppe der Casa de los Queridos in die Kamera hält, und ein zweites, dazugehöriges, auf dem Violeta das Kind in den Armen wiegt. Die Schwarzweißfotos aus den fünfziger Jahren begannen Pastelltöne zu zeigen, die Ateliermaler per Hand hinzugefügt hatten. Arnulfo Benavides war verschwunden, dasselbe galt für die Patienten, die Geistlichen und den Arztkittel. Jetzt gab es nur noch Familienbilder: Violeta und Joaquín eingehakt auf der Madrider Plaza Mayor, Victor mit seinen Eltern bei der Erstkommunion und bei Schulfeierlichkeiten. Allmählich setzten sich Farbfotos durch, lebensechter vielleicht, aber auch grausamer, denn die Farbe machte den fortschreitenden Verfall Violetas nur
noch deutlicher sichtbar; die lebensprühende Frau hatte sich in ein Gespenst verwandelt, ihr Gesicht wirkte fahl, der Glanz ihrer Augen zeugte von Qualen, die auch Joaquín verändert hatten. Sein einstmals glattes Gesicht zeigte Sorgenfalten, sein sanft geschwungener Mund verzog sich zur Grimasse. Dann gab es nur noch Vater und Sohn. Der Vater nahm zu, der Sohn wuchs zu einem jungen Mann heran und war irgendwann selbst Vater. Daneben, ein wenig abgesetzt von den anderen, das erste Foto von Elena. Joaquín, inzwischen ergraut, hält sie auf der Freitreppe in die Höhe, wie er einst seinen Sohn präsentierte. Die Hände, die das dreimonatige Kind umfassen, wirken riesig. Dann ein Foto von Elena, fast dreijährig und in einem geblümten Kleidchen, mit ihren Eltern in einem Madrider Park, ein wenig unscharf, aber es war das letzte Bild von Victor, zwei Wochen später verunglückte er. Danach gab es nur noch Fotos von Elena: Elena schlafend auf dem Schoß ihres Großvaters, Elena mit sieben oder acht Jahren beim Spaziergang durch ein Mohnfeld an der Hand Joaquins, Elena als Teenager, schlaksig, unsicher, aber noch immer zutraulich in die Umarmung ihres Großvaters geschmiegt. Das war das letzte Bild. Kein Foto aus ihrer Studentenzeit, kein sichtbares Zeugnis des Tages, an dem sie ein Buch über die spanische Geschichte aufgeschlagen und ihren Großvater als Psychiater einer Kriegsverbrecherklinik beschrieben gefunden hatte. Vor dieser Entdeckung brach Joaquíns Lebenschronik ab. Als sich die Sonne über die westlichen Berge senkte, kehrten Elena und Mark um und gingen zum Haus zurück. Die Dörfer an den fernen Hängen lagen bereits im Schatten, aber die Vega war noch erleuchtet von den schrägen Strahlen der Abendsonne. Sie verliehen dem Rot der Mohnblüten einen eigentümlichen Glanz, in dem die
ockerfarbene Casa de los Queridos mit ihren Fenstern und den glitzernden Glasscherben auf der Umfassungsmauer wie Gold erstrahlte. Am Fenster seines Arbeitszimmers stehend, sah Joaquín die beiden, Mann und Frau, zum Haus zurückkehren. Der Anblick erfüllte ihn mit Freude, fast überwältigte sie ihn.
Sieben
»Ah, guten Morgen, meine Kleine«, rief er. »Ich glaube, ich hab dich schon rumoren hören.« Dicke Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Ostfenster des Ateliers und brachten die Farbkleckse auf dem Fußboden zum Glänzen, als wären sie noch frisch. Joaquín stand an der Staffelei, einen Pinsel in der Hand, Elena lief auf ihn zu und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Guten Morgen, Großvater.« Sie stellte sich neben ihn und betrachtete das Bild — ein Wäldchen aus Mandelbäumen, ein verfallenes Bauernhaus unter einem grauen Himmel. »Schön!« Er schnaufte. »Mach dich nicht über mich lustig. Es ist abscheulich. Nur krankhafte Neugier treibt mich voran.« Mit der Pinselspitze tupfte er winzige Punkte eines kräftigeren Blaus an den Himmel. »Ihr wollt heute beide in die Alpujarra?« Sie nickte. Eine Weile schaute sie ihrem Großvater zu und verfolgte, wie sich das leichte Zittern seiner Hand jedesmal verlor, wenn der Pinsel sich der Leinwand näherte. »Hältst du das für eine sinnvolle Idee?« Joaquín blickte sie fragend an. »Daß Mark diesen Carlos Perez suchen will? Irgend etwas daran beunruhigt mich.« »Wieso?« »Weiß nicht. Er war so aufgeregt, als er gestern davon anfing. Mir ist fast so, als wollte er damit etwas an Colin wiedergutmachen.« Ihr Blick irrte durchs Atelier, dann blieb er an Joaquín hängen. »Was meinst du?«
Joaquín zog den Pinsel durch die blaue Farbe auf seiner Palette. »Schwer zu sagen. Was seine Motive betrifft, hast du wahrscheinlich recht, aber vielleicht ist das gar nicht so falsch. Alles hängt davon ab, wie er die Enttäuschung verkraften wird.« »Enttäuschung? Du meinst, er wird nichts herausfinden?« Joaquín musterte sie über den Brillenrand. »Nein.« Er wandte sich dem Bild zu. »Jedenfalls denke ich manchmal, daß wir zu sehr darauf achten, ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist. Für jemanden in Marks Situation kommt es vor allem darauf an, überhaupt eine Entscheidung zu treffen, handlungsfähig zu werden. Ein Umstand, der in der Fachwelt oft übersehen wird.« Elena trat einen Schritt beiseite. Die Sonne wärmte ihr den Rücken. »Mit der Fachwelt meinst du die Scharlatane der Psychiatrie?« Joaquín drehte sich um und erhaschte die Spur eines verschmitzten Lächelns. Nie hatte sie versucht, darüber Scherze zu machen; immer war es Empörung gewesen, was sie zu solchen Äußerungen getrieben hatte. Lachend warf er den Kopf zurück. »Ach, Elena, wie ich deinen Humor vermißt habe! Die Scharlatane der Psychiatrie? Qué rico!« »Aber es stimmt doch!« protestierte sie, nun auch lachend. »Du selbst warst ein Scharlatan!« Ein paar Minuten später, sie war schon im Gehen, drehte sie sich in der Tür noch einmal um. »Ich habe übrigens deine alten Patientenakten im Abstellraum gefunden und ein paar von ihnen gelesen. Es tut mir leid, ich hätte dich um Erlaubnis fragen sollen. Aber ich glaube, es hat mir geholfen, Mark ein bißchen besser zu verstehen.« Joaquín zog langsam die Schultern hoch. »Du brauchst nicht um Erlaubnis zu fragen. Schau dich um, wann im-
mer du willst.« Er tupfte den Pinsel in die Farbe. »Hast du etwas Interessantes gefunden?« Elena nickte. »Du hattest recht, was die Akte von Carlos Perez betrifft. Sie fehlt tatsächlich. Es ist nur ein Vermerk da, daß er in Unehren entlassen wurde und daß man seine Unterlagen an die Militärverwaltung geschickt hat. Ich habe Mark den Zettel gezeigt.« Joaquín hob den Pinsel und seufzte tief. Er wandte sich der Leinwand zu und sah sie nicht an, als er mit leiser Stimme sprach: »Schrecklich. Es war schrecklich, was wir diesen Unheilbaren angetan haben. Aber nach allem, was sie durchgemacht hatten, kam es nicht mehr darauf an.« Er schnipste mit den Fingern. »Abfall!« Dann drehte er sich zu ihr um. »Es lag nicht in meiner Macht, Elena. Ich konnte nichts für sie tun.« »Ich weiß, Großpapa, ich weiß.« Sie lehnte sich an den Türrahmen und blickte im Raum umher. Sie hatte den Eindruck, daß ihr Großvater hier die meiste Zeit verbrachte. Das übrige Haus wirkte fast unbewohnt. »Warum hast du gerade hier dein Atelier eingerichtet? Die Aussicht und das Licht sprechen zwar dafür, aber schließlich war es das Zimmer meines Vaters mit all seinen Sachen.« Er schien eine Weile zu überlegen, als hätte er nie darüber nachgedacht. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Aber es kam der Tag, als es mir richtig vorkam, das zu tun.« »Mark meinte, das ist vielleicht deine Art, seiner zu gedenken.« Er lächelte schwach. »Ja, möglich. Ich nehme an, das stimmt.« Unten stand Mark noch immer am Eßzimmertisch. Die Akte lag geöffnet vor ihm, und er starrte auf das vergilbte Blatt Papier, als wären dort nicht nur zwei karge Sätze zu
lesen, sondern eine lange Krankengeschichte. Aufblickend sah er Elena in der Tür lehnen. »Viel ist es nicht, was?« sagte sie. »Wenigstens etwas. Außerdem habe ich ein gutes Gefühl. Ich glaube, wir werden ihn finden.« Mark bog in Lanjarón in die untere Ausfallstraße ein und fuhr weiter bergab in Richtung Guadalfeo. Das Flußbett lag noch im Schatten, und Tau überzog die Felder mit einem milchigen Schleier. Als die schmale Eisenbrücke vor ihnen auftauchte, bremste er ab. »Weißt du, was Guadalfeo bedeutet?« fragte Elena und blickte in das schäumende Wasser. »Es bedeutet >häßlicher Fluß<. Feo ist spanisch, aberguadal kommt aus dem Arabischen, von den Mauren.« Sie sah zu Mark hinüber. »Ich nehme an, er war schon damals häßlich.« Sie fuhren nach Osten. Die Straße schlängelte sich durch Seitentäler und umrundete die Ausläufer der südlichen Bergwand. Dieser Teil der Alpujarra war unfruchtbar, ganz im Gegensatz zur Nordwand des Tals, wo sich Mark am liebsten aufgehalten hatte. Dort, am bewässerten, sonnigen Hang der Sierra Nevada, gab es Bäche, Wald und Wiesen; hier hingegen sah man nur nackte Bergwände und unten im Tal das braune Band des Guadalfeo, auf das sich jetzt das Glitzern der Morgensonne legte. Eine Stunde später hatten sie das rostige Ortsschild von Olía gefunden. Sie bogen in den Fahrweg ein, der in die Berge hinaufführte. Nach etlichen Kilometern gelangten sie in eine Karstlandschaft voller Felstürme und Klippen. Mark begann die roh behauenen Gedenksteine zu zählen, die an abgestürzte Fahrer erinnerten. Tatsächlich entdeckte er immer wieder Autowracks, die in einer Tiefe von mehr als hundert Metern im Abgrund lagen, während Elena
sich an den Türgriff klammerte und wie gebannt in die Schluchten starrte. An einem Berghang sah Mark ein kleines weißes Haus, umstanden von Kiefern, direkt darunter mehrere Terrassen, auf denen Olivenbäume wuchsen. Es war das erste Gebäude, seit sie die Hauptstraße verlassen hatten, und wegen der Entfernung blieb offen, ob es bewohnt war. Kein Weg führte dorthin, augenscheinlich nicht einmal ein Trampelpfad, aber das Haus wirkte intakt, die Terrassen waren in gutem Zustand, und Mark begriff, daß sie in eine Welt eindrangen, in der die Zyklen von Wachstum und Verfall so verlangsamt waren, daß sie für Fremde unsichtbar blieben. Je weiter sie jedoch kamen, desto leichter wurde es, wieder zwischen Leben und Tod zu unterscheiden. Obwohl sie allein auf der Straße waren — auf der ganzen Strecke war ihnen kein einziges Fahrzeug begegnet —, sahen sie Spuren anderer Autos, Kruzifixe, Plastikblumen und Fotos am Wegrand, rostende Wrackteile im Abgrund. In dieser Landschaft konnten sogar die makabren Symbole des Todes Trost bieten. Sie ließen die zerklüfteten Schluchten hinter sich und gelangten in ein Weideland auf dem Kamm des Küstengebirges. Hinter ihnen lag die Alpujarra mit den schneebedeckten Gipfeln der gegenüberliegenden Gebirgswand, vor ihnen fielen die Berge gemächlich zum Mittelmeer ab, ein blaßblauer Dunststreifen vor ihren Augen. Der Weg ging steil bergab, und Mark bremste den Wagen auf Schrittempo herunter, lenkte an den tiefen Furchen vorbei und hörte Pflanzen und Steine am Boden entlangkratzen. Hinter einer Anhöhe tauchten ein paar Steinhäuser und Terrassenfelder auf, außerdem etwas, das ihn kurz erschreckte — er stoppte den Wagen. Unmittelbar neben der Straße befand sich, in eine Hangnische gedrückt,
der Friedhof des Dorfes. Das weiße Mauerviereck ähnelte einer Festung, der Torbogen zur Straße war von einem blechernen Kruzifix gekrönt. »Wollen wir rein?« fragte Elena. Mark warf einen Blick auf die ersten noch etwa hundert Meter entfernten Häuser, dann schaute er zum Friedhof hinüber und nickte. Sie stapften durch dichtes Unkraut und öffneten das Tor. Die Toten wurden hier in Nischen beerdigt, die vierfach übereinander in Mauern eingelassen waren. Die meisten waren durch Marmorplatten verschlossen, auf denen Namen standen, aber viele waren offengeblieben, so daß Mark an eine halbleere Bienenwabe denken mußte. Neben jeder Gruft sah man kleine Blechvasen, hier und da welke Blumen, kahle Stengel, die schwarzen Blütenblätter einer vertrockneten Rose. Sie liefen zusammen die Wände ab, und Mark entzifferte sorgfältig alle Namen, an denen sie vorbeikamen. Der Name Perez war oft vertreten — Ernesto Emilio Perez, Lucía Chamorro Perez, Infanta Perez. An jeder der vier Mauern tauchte er auf, den gesuchten Vornamen allerdings fanden sie nicht. Als sie ihre Runde beendet hatten und den Friedhofverlassen wollten, drehte sich Mark noch einmal um. In der Mitte stand ein primitiver Schrein, eine Betonsäule, die einen kleinen, trüb verglasten Schaukasten trug. Auf einer schmalen Ablage sah Mark Kerzenstummel und Reste verdorrter Blumen; durch das Glas blickten ihn die schmerzerfüllten Augen der Jungfrau Maria an. Er drehte sich um und sah, wie Elena vom Eingang zu ihm herüberblickte. »Vielleicht ist er noch am Leben.« Sie schwieg. Der Weg endete bei den ersten Häusern. Autos gab es
nicht, auch keine frischen Reifenspuren. Sie stellten den Wagen unter einem Baum ab und stiegen über einen Felspfad ins Dorf hinab. Es schien verlassen zu sein. Morsche Türen hingen schief in den Angeln, und in den Wegrillen stand dick die weiße Schlemmkreide, mit der die Häuser einst getüncht worden waren. Langsam gingen sie weiter und blickten in die Türen und leeren Fensterlöcher, um nach Lebenszeichen zu suchen, aber sie fanden nur Unrat, Sonnenstrahlen fielen durch eingestürzte Dächer. An einer steinernen Treppe, die ins untere Dorf führte, endete der Weg. Sie blieben stehen, um die Gassen zu überblicken, um irgendein menschliches Wesen zu hören oder zu sehen, aber da war nichts, nur das Quietschen eines Scharniers, das sich im leichten Wind bewegte. Sie kamen zur Plaza. Der kleine Springbrunnen war in zwei Teile zerbrochen, auf der Betonbank im Schatten eines Baums saß ein alter Mann. Er trug eine Mütze und beugte sich über seinen Stock, ohne sich zu regen. Einen Moment lang dachte Mark mit klopfendem Herzen, daß es Carlos Perez sein könnte, verdörrt und mumifiziert wie die Rosen auf dem Friedhof. Sie waren nur noch ein paar Schritte entfernt, als der Alte so plötzlich den Kopf hob, daß sie mitten im Gehen erstarrten. Er war uralt, hatte ein dunkles, zerfurchtes Gesicht, doch seine braunen Augen weiteten sich vor Staunen, als er die beiden erblickte. Eine Weile bewegte sich niemand. Dann erhob sich der Alte von der Bank und zog, eine kavaliershafte Geste andeutend, die Mütze. Joaquín hatte noch eine Weile an der Staffelei gestanden und gemalt, aber er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Elenas Fragen hatten ihn aus der Ruhe gebracht.
Er holte sich einen Stuhl aus dem Arbeitszimmer und stellte ihn ans Fenster, wo er den Vormittag verbrachte, die Ellbogen aufs Fensterbrett gestützt, um den Wechsel von Licht und Schatten auf dem Mulhacén zu beobachten. Von all dem Schrecklichen, an das er sich erinnerte, gab es nur zwei Dinge, die ihn noch immer verfolgten. Das eine Erlebnis hatte sich oben auf diesem Berg abgespielt, das andere in dem Raum, in dem er saß. Es war ein Wunder gewesen. So hatte er es Mark erklärt. Warum auch nicht? Der Junge brauchte ein bißchen Wunderglauben. Und auch Joaquín selbst wußte nicht, wie er die grausigen Ereignisse jenes Tages anders beschreiben sollte. Bei Tagesanbruch hatte er den Kamm erreicht. Die Alpujarra hinter ihm war noch in Nacht gehüllt; im fernen Südwesten glänzten die Dünen der Sahara wie Gold, wie ein zweiter Sonnenaufgang. Vor ihm, noch unter einem Dunstschleier, lag Granada, wo er hier und da die orangefarbenen Pünktchen der Brandstellen sah. So stand er dort oben, nahe dem höchsten Gipfel Spaniens, zu Tode erschöpft, frierend, hungrig, aber er konnte sich nicht entschließen, weiterzugehen, ein Zögern hielt ihn zurück: Hinter ihm lagen Schwärze und Zerstörung und alles, was er geliebt hatte, vor ihm Wärme, Leben, aber auch Einsamkeit. Bis zum letzten Moment hatte er gewartet, sich ein letztes Mal an die Sehnsucht nach Eltern und Geschwistern geklammert, ein letztes Mal Trost in Gesichtern gesucht, die er besser kannte als das eigene, er hatte gewartet, bis der Hunger und die Kälte, die ihm gefolgt waren wie ein Schatten, einem köstlichen Gefühl der Wärme wichen, dem Schlaf des Todes. Dann hatte er seine Kräfte zusammengerafft und war ins Tal hinabgestiegen.
Joaquín wandte sich vom Fenster ab und musterte die farbverschmierten Wände des Ateliers. Die andere Trennung war ihm genauso schwergefallen. Ja, den letzten Rest seines Muts und seiner Kraft hatte es ihn gekostet, diesen Raum von den Hinterlassenschaften seines einzigen Sohnes zu befreien. Denn er hatte das Zimmer keineswegs in ein Atelier verwandelt, um seines Sohnes zu gedenken, wie Elena vermutete, sondern um sich endgültig von ihm zu verabschieden. Er erhob sich und ging in den Abstellraum. Auf dem staubigen Boden sah er Elenas Spuren, kleine, zarte Fußabdrücke, hin zu den Spindkästen, dann hinüber zu den Aktenschränken, wo der Fußboden staubfrei war wie am Fenster, unter dem sie viele Stunden mit dem Lesen der Akten zugebracht hatte. Arme Elena. So sehr vertraute sie der Aussagekraft alten Papiers. Er warf einen Blick auf die fünf Kisten mit Victors Sachen, die an der Wand aufgereiht waren. Offensichtlich hatte sie sich an ihnen zu schaffen gemacht, der Staub hatte sich noch nicht wieder auf Büchern und Fotos abgesetzt. Genauer hinzusehen brachte er nicht über sich. Statt dessen ging er behutsam, um keinen Staub aufzuwirbeln, zu dem Berg alter Bettgestelle am anderen Ende der Kammer. Er wischte eine Bettkante sauber, setzte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ den Blick umherschweifen. Er hatte Mark nicht genau erklärt, worin das Wunder auf dem Mulhacen bestanden hatte, und auch über sein Verhältnis zu Gott hatte er ihn im unklaren gelassen. Zwar war er wirklich Atheist gewesen — fast dreißigjahre lang—, aber jetzt glaubte er inbrünstig an Gott. Die Schwierigkeit war nur, daß er ihn haßte, und das war etwas, das er dem jungen Mann in seinem Zustand nicht zumuten wollte.
Wäre er gleich aufrichtig zu Mark gewesen, hätte er ihm gestanden, daß er seinen Glauben in den ersten Tagen des Krieges verloren hatte. In jugendlichem Zorn hatte er entschieden, es könne keinen Gott geben, der so viel Böses mit ansah, ohne dafür Rache zu nehmen. Er hätte Mark gesagt, daß er in all den Jahren in der Klinik und auch in den letzten, schweren Tagen Violetas ungläubig geblieben war; schließlich war der Krebs ein Zufallsereignis, genauso wahllos wie die Zeugung. Joaquín lehnte sich an die Wand, die rostigen Bettfedern quietschten. Hätte er Mark davon erzählt, hätte er hinzufügen müssen, wie der Glaube in ihn zurückkehrte, er hätte den kühlen und trüben Novembernachmittag des Jahres 1965 beschreiben müssen, als Isabela anrief und er von Victors Unfall bei Burgos erfuhr. Joaquín hatte damals begriffen, was ihm noch heute klar war: Es gab eine Grausamkeit, die war zu erlesen, eine Rache, die war zu gezielt, als daß er jemals wieder an Gottes Existenz hätte zweifeln können. Aber erklären konnte er das niemandem. Wenn er etwas in seinem langen Leben erworben hatte, dann war es die Einsicht, daß jeder seinen eigenen Weg zu Gott zurückfinden muß. Antonio, der Dorfälteste von Olía, der die beiden Fremden auf der Plaza bemerkt hatte, übernahm die Rolle des Gastgebers. Er führte Elena und Mark in sein Haus und ließ die anderen Dorfbewohner von einem seiner Enkel benachrichtigen, während auf der Veranda Tische und Stühle bereitgestellt wurden. Man trug Wein und Oliven auf, und nach wenigen Minuten erschienen die letzten vierzehn Einwohner Olías, um die Besucher in ihrer Mitte zu begrüßen. Bis auf zwei alte Paare gehörten sie alle zu Antonios Fa-
milie: seine Frau Marta, seine Schwiegertochter, die zwei Enkel mit ihren Frauen und drei Urenkeln. Wie ein Zeremonienmeister nahm der Alte neben Elena und Mark Aufstellung, hob ein Glas mit dem Rotwein und wartete auf Ruhe. »Don Mark und Senora Elena«, rief er mit lauter Stimme und im dickzüngigen, abgehackten Dialekt Andalusiens, »es ist uns eine große Ehre, euch bei uns zu haben. Schon viele Jahre ist es her, daß wir Besuch hatten. Herzlich willkommen!« Alle Erwachsenen tranken einen Begrüßungsschluck, dann erklärte Antonio: »Unsere Freunde sind gekommen, um nach Carlos Perez zu suchen.« Zu Elenas Überraschung löste der Name bei den Dorfbewohnern sichtlich Trauer aus. Selbst die Kinder schienen ihn zu kennen. »Erinnert ihr euch an ihn?« fragte sie. »Natürlich!« rief der alte Mann. »Alle erinnern sich an Carlos Perez! Er hat Julia Castañeda geheiratet. Sie hatten einen Sohn.« Elena warf einen Blick in die Runde. Marta, Antonios Frau, nickte bestätigend, auch das ältere der beiden Paare, das Ende Sechzig zu sein schien. »Lebt er ... lebt er etwa hier?« Die Frage löste ein amüsiertes Lachen bei Antonios Enkeln aus, aber der alte Mann blieb ernst. Ernst schüttelte er den Kopf und ließ sich neben Mark und Elena auf den Stuhl sinken. »Nein. Leider ist er nicht mehr da. Eine traurige Geschichte. Eine von vielen traurigen Geschichten in Olía.« Wie abwesend schob er das Weinglas auf der rauhen Tischplatte umher. »Carlos war ein sehr guter Freund von mir«, sagte er leise. »Zwei Jahre jünger als ich, aber da Olía ein winziges Dorf ist, waren wir Kinder alle miteinander befreundet. Ein
aufgeweckter Junge, immer zu Streichen aufgelegt. Und ich weiß noch, daß er beim Bau des neuen Brunnens half. Er war so klein, daß er unten im Schacht arbeiten mußte. Julia war ein paar Jahre jünger als er, und damals kamen Jungen und Mädchen nicht so zusammen wie heute. Ich weiß noch, daß sie sehr hübsch war, auch klug. Das Auffälligste an Carlos war seine Intelligenz. In der Schule war er der Beste, den wir je hatten, sehr schnell im Rechnen, und wir wußten alle, daß er nicht in Olía bleiben würde, daß er irgendwo anders sein Glück macht. Und so war es auch.« Antonio blickte auf. »Ihr wißt doch, daß er zur Armee ging und Offizier wurde, oder?« Mark und Elena nickten. »Er war in der Kaserne von Bermez stationiert — das war im Krieg, im Bürgerkrieg, kurz nachdem er und Julia geheiratet hatten. Dann wurde er befördert und kam nach Granada. Wir haben hier ein Fest gefeiert, bevor er in die Stadt abfuhr, ein großes Fest, ganz Olia war dabei. Julia war damals schwanger, und Carlos war sehr aufgeregt. Ich weiß noch, daß er sagte, er werde einen Sohn bekommen, sein erstes Kind werde ein Sohn werden, und später sahen wir, daß er recht hatte. Nach dem Krieg war Julia eine Zeitlang mit demjungen hier. Luis hieß er, vielleicht auch Alejandro.« »Luis«, bestätigte Mark. »Und Carlos kam nicht zu ihnen zurück?« Antonio schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben nie die ganze Geschichte erfahren, aber in so einem kleinen Dorf hört man doch dies und das. Es sieht so aus, als sei Carlos nach Kriegsende krank geworden.« Er schwieg, schob wieder das Glas umher. »Um die Wahrheit zu sagen, er wurde verrückt. Er wurde in eine Anstalt gesteckt, und dann war er vermißt. Julia und ihre Familie haben nach
ihm gesucht, fünf oder sechs Jahre lang - an der Küste, in der Alpujarra, in ganz Andalusien - nichts. Er blieb verschwunden.« Mit einem Seufzer griff er nach dem Weinkrug, schenkte Mark und Elena nach, dann sich selbst. »Julia ist später mit dem Jungen fortgegangen. Es gab hier keine Zukunft für sie, eine Witwe, die sich nicht neu verheiraten durfte ...« Er winkte langsam mit der Hand. »Später haben wir gehört, sie sind nach Amerika. Mehr wissen wir nicht.« Daraufhin erzählte Elena den Dorfbewohnern, was sie über Julia Perez und ihren Sohn wußte: daß Julia vor einiger Zeit gestorben und der Sohn ein erfolgreicher amerikanischer Geschäftsmann, ein Bankier, geworden war. Diese Nachricht schien die gedrückte Stimmung, die sich in der Veranda ausgebreitet hatte, ein wenig zu vertreiben, und bald wurden die beiden Gäste mit allerlei Fragen bestürmt — wie es sich in Amerika so lebe, wovon die beiden sich ernährten. Wein wurde nachgeschenkt, die Frauen liefen abwechselnd ins Haus und kamen mit Wurst- und Käsetellern zurück, eine Flasche hausgemachter Branntwein tauchte auf. »Und was ist aus Carlos' anderen Verwandten geworden?« fragte Mark in einer Gesprächspause. »Sind noch welche von ihnen da?« Antonios Gesicht wurde ernst. »Tut mir leid, Don Mark. Früher waren sie zahlreich, jetzt sind sie alle weg. Alle sind fortgegangen.« Der alte Mann zeigte über die Schulter auf das verfallene Dorf. »Wir waren hier einmal fast dreihundert Leute. Jetzt, wie ihr seht, sind nur noch ein paar übrig. Wir hatten Krieg, Dürren, Insektenplagen, und jedesmal sind welche fort ...« Er machte eine Flatterbewegung mit den Händen. »Die meisten in den fünfziger Jahren, etliche in den Sechzigern. Ich glaube, der letzte Perez ist 1957
weggegangen, die Castañedas Anfang der sechziger Jahre. Die genauen Daten weiß ich nicht mehr.« »Wißt ihr, wo sie heute leben?« »Unmöglich zu sagen. In ganz Spanien verstreut. In Madrid, Malaga, vielleicht sogar Barcelona. Manche sind zurückgekehrt, natürlich nur zu Besuch, aber auch das ist seit zehn, fünfzehn Jahren nicht mehr vorgekommen — ich kann euch also nichts sagen.« Mark stand auf und trat an die Brüstung der Veranda. Antonios Haus befand sich am oberen Dorfrand, weshalb man von hier aus die Dächer von Olía überblicken konnte. Zwischen zwei Bergen hindurch sah er das Mittelmeer und die Küste mit ihren Hotels und Ferienanlagen. Olía und das Meer waren durch höchstens fünfundzwanzig Kilometer Berge und Schluchten getrennt, doch es hätten auch tausend Kilometer sein können, eine Welt so weit entfernt wie das Spanien zur Zeit des Bürgerkriegs, ein seltsamer Ort, wo das Vergehen der Zeit wenig Bedeutung hatte, wo Vergangenheit und Gegenwart ineinanderflössen. Antonio hatte sich neben ihn gestellt und blickte ebenfalls in die Ferne. Nach einer Weile fragte Mark: »Und was hat es mit seinem Ruf auf sich?« Der alte Mann war verwirrt. »Ruf?« Mark suchte vergeblich nach dem spanischen Wort für >berüchtigt<. »Ich habe gehört, daß Carlos Perez im Krieg einen schlechten Ruf hatte.« Antonios Stirnfalten vertieften sich, dann klarte sein Blick auf. »Du meinst die Blutschwadron?« Mark nickte. »Ja, als der Krieg anfing, hat Carlos das gemacht. Er hat mit ein paar anderen Soldaten eine Schwadron gebildet, Freunden von hier. Sie waren überall in der Gegend zu-
gange, bis hin nach Orgiva, sogar in Cadíar, wenn ich mich recht erinnere. Meintest du das?« »Hatte er nicht einen Spitznamen? Wurde er nicht die >Bestie von Olía< genannt?« »Ja, richtig. Die Bestie von Olía.« Antonio sprach das so selbstverständlich, so gelassen aus, daß Mark nicht wußte, wie er reagieren sollte. Er blickte auf die verfallenen Dächer des Dorfes. »Und hat er hier Menschen umgebracht? Hier in Olía?« »O ja! Sehr viele!« Antonio hob den Stock und zeigte auf eine Ruine direkt unterhalb der Veranda, ein Haus mit dunklen Fensterlöchern und eingesunkenem Dach. »Den Schullehrer, Roberto Molina. Und da drüben«, der Stock wies auf ein anderes verwahrlostes Haus, »Alberto Serrano und seinen Bruder Gustavo. Und dann dort unten, gleich an dem Weg, den man da sieht ...« Er senkte langsam den Stock. »Nun, es waren viele. Hier in Olía waren es vierzehn, glaube ich, in anderen Orten noch viel mehr. Zu viele, um sie zu zählen. O ja, Carlos und seine Blutschwadron. Die haben eine Menge umgebracht.« Mark sah in die freundlich versonnene Miene des Alten, fassungslos. »Und das war nichts Schlimmes? All das Töten war rechtmäßig?« Antonio schien die Frage zu befremden. Mark drehte sich zu den anderen Dorfbewohnern um. Auch sie wirkten, als hätten sie nicht verstanden. »Aber Don Mark«, sagte Antonio, »das war doch keine Frage von Recht oder Unrecht, von Gut oder Böse. Damals war Krieg. Und wir hier, wir waren wie Schafe unter Wölfen.« Er zeigte mit dem Stock auf die Berge im Osten. »Da drüben die Republikaner« — er zeigte nach Westen — »und dort die Nationalisten. Dazwischen saßen wir. Wir hatten nichts verbrochen, niemand war hier politisch, aber
wir waren unter die Wölfe geraten, also mußten wir uns entscheiden. Einige mußten geopfert werden, damit die anderen überleben konnten, damit wir retten konnten, was zu retten war. So geht das im Krieg. Carlos half uns dabei, und zum Glück für uns hatte er sich für die richtige Seite entschieden.« Der alte Mann legte Mark die Hand auf die Schulter und beugte sich vor. »Aber zu seinem eigenen Unglück hat Carlos einen furchtbaren Fehler gemacht. Verstehst du, welchen Fehler er gemacht hat?« Mark bemerkte im Gesicht des Mannes Spuren eines Lächelns. Er schüttelte den Kopf. »Olía war unser Schutz. In seiner Ungeduld, in seinem Eifer hat Carlos das vergessen. Wenn du deine Leute verläßt, bist du allein, und dir kann alles mögliche zustoßen. Daran hat er nicht gedacht. Als er von hier weg ist ... Na, ich sagte schon, wir waren wie Schafe unter Wölfen, und keiner, auch nicht Carlos, konnte wissen, was ihn da draußen an Schrecklichem erwartete.« Über die Berge und Schluchten sah der alte Mann zum Meer. Joaquín verließ den Abstellraum und ging hinüber in sein Arbeitszimmer. Er musterte den Ledersessel, den großen Schreibtisch, die zwei Stühle an der Wand, dann wandte er sich den Fotos zu. Er trat näher und betrachtete das handkolorierte Foto von sich und seinem Freund, dem Oberst Arnulfo Benavides, entstanden an einem Frühlingstag des Jahres 1944 auf den Mauern der Alhambra. Dichter Nebel hatte an jenem Tag über Granada gelegen. Immer nur für kurze Augenblicke gaben die Dunstschwaden Dächer oder Straßenschluchten frei, um gleich darauf alles wieder in Weiß zu hüllen. Bei normalen Windver-
hältnissen und wenn die Luft klar war, konnte man die Autohupen hier oben aus zehn Kilometern Entfernung hören; doch an diesem Tag drang kein Laut herauf. Noch nie hatte Joaquín so einen Nebel gesehen, und in der Stille kam er sich auf den Mauern ganz verloren vor. Sie waren in den Palast hineingegangen, sie hatten die Räume besichtigt, den Saal mit dem Sternenhimmel, sie hatten die feinen Holzschnitzereien bewundert und die Reste alter blauer Farbe gesehen, die noch in den Ritzen der Gewölbe saß, sie waren durch die Gärten gewandert, und die düstere Stimmung hatte ihr Gespräch gedämpft. Andere Besucher tauchten aus dem Nichts auf und entzogen sich wieder, Gespenster — verängstigte Gespenster, denn es schien die Befürchtung zu geben, daß der, der an diesem Tag die ausgetretenen Pfade verläßt, auf Nimmerwiedersehen verschwinden könnte. »Gehen wir zum Sevilla-Turm«, sagte Arnulfo. In seiner Stimme klang Wagemut an, als wäre es ein Abenteuer, den Turm zu besteigen, der abseits des Rundgangs über dem Abgrund thronte. Sie kletterten bis zur Zinne, und beim Hinabblicken sahen sie nicht mehr als Umrisse von Bäumen und Felsgeröll. Dann verdichtete sich der Nebel, plötzlich wirbelte er von unten hoch und hüllte sie so dicht ein, daß Joaquín die eigenen Füße nicht mehr sehen konnte. »Menschenskinder!« hörte er Arnulfos aufgeregte Stimme von irgendwo, »das ist ja unglaublich!« Joaquín antwortete nicht. Er spürte Nässe im Gesicht, und er starrte ins Weiße, wartete, daß es vorbeiging, in dem Bewußtsein, daß er für die Welt völlig unsichtbar war. »Joaquín? Joaquín?« Er sah die im Leeren schwebende Hand seines Freundes, die Finger, die nach ihm tasteten, und Joaquín wich zu-
rück, erschreckt von dem Gedanken, daß es so leicht sein konnte, die Hand zu packen, den Freund an die Brüstung zu zerren und auf die Felsen hinunterzuwerfen, weil alles von diesem Weiß verschluckt werden würde. »Joaquín? Wo bist du? Ist was mit dir?« Arnulfos Stimme klang nervös, aber Joaquín antwortete nicht, sondern wich weiter der Hand aus, die nach ihm griff. Und mit einemmal verstand er, warum nichts geschehen würde, warum es so furchtbar wäre, wenn es geschähe. Denn am Blick sterbender Männer hatte er erkannt, daß es nicht etwa ihre Mütter, ihre Kinder und Geliebten waren, die ihnen in diesen letzten Momenten vor Augen traten, sondern ihre Verbrechen, und diese Beobachtung hatte ihn zu der Einsicht gebracht, daß, wer Verbrechen beging, sie mit Bedacht begehen mußte. »Joaquín, bitte!« Arnulfo wurde ungeduldig. »Hier bin ich«, sagte Joaquín, die Hand seines Freundes ergreifend. »Hab dich nur gefoppt. Was für ein Kindskopf bist du!« Auf der langen Rückfahrt sprachen sie kaum: Ihre Stimmung war gedrückt, trostlos wie das verkarstete Land ringsum. Ab und zu dachte Mark, Elena sei eingeschlafen, aber wenn er kurz zu ihr hinübersah, stellte er fest, daß sie in die Berge blickte. Es war schon spät, als sie die Hauptstraße der Alpujarra erreichten. In der Tiefe des Tals hing das restliche Tageslicht wie ein Rauchschleier. »Ich glaube, das war's dann«, sagte sie. Mark sah zu den Schneegipfeln, zu den weißgekalkten Dörfern hoch oben am anderen Hang. »Morgen will ich mal dort hinauf, mich in ein paar Dörfern umsehen, die Friedhöfe absuchen. Du kannst mitkommen, wenn du willst.«
Die Straße senkte sich zur Brücke hin ab. Der Fluß wurde sichtbar. Er floß nun neben der Straße. »Warum ist dir das so wichtig, Mark?« Kurz vor der Brücke fuhr er an den Rand und hielt an. Er spähte durch die Frontscheibe auf die Stahlstreben, die sich vor dem Abendhimmel abzeichneten; dann stieg er aus, ging bis zur Mitte der Brücke und blickte über das Geländer ins Wasser. Der Fluß führte Frühlingshochwasser, das braun dahinschoß, er war über die Ufer getreten und hatte ein Birkenwäldchen auf der anderen Seite überschwemmt. Mark wollte sich den Fluß, den anderen Fluß, zurückrufen, die starke, unpassierbare Strömung, die einen Mann sofort wegspülte. Aber sein Gedächtnis war zu gut. Es wäre ein leichtes gewesen hinüberzukommen: Der Fluß war viel träger gewesen und höchstens hüfttief. Nur seine Hast, ein falscher Schritt hatten ihn zu Fall gebracht. Er hörte Elena neben sich. »Der häßliche Fluß.« Er lachte auf. »Er ist wirklich ganz schön häßlich, oder?« Er lehnte sich ans kalte Geländer. Auch das letzte Abendlicht warjetzt aus dem Talgrund verschwunden. Die Schatten krochen die Hänge der Sierra Nevada hinauf bis hoch zu den beschneiten Gipfeln. Er dachte über ihre Frage nach, über eine mögliche Antwort und begriff, daß es zwecklos war, daß er ihr alles sagen, aber nichts erklären konnte. Joaquín hatte recht. Was diese Dinge betraf, konnte es keine Verständigung geben. Jeder war mit seiner Last allein. »Ein grausames Land, hat Joaquín gesagt.« Er lächelte Elena zu. »Aber ich nehme an, das ist überall dasselbe. Die Welt ist schließlich schon sehr alt.« Elena forschte in seinem Gesicht und griff nach seinem Arm.
»Ich möchte ihn nur gern finden, das ist alles«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Ah, die Heimkehr Schliemanns!« rief Joaquín, als Mark in die Küche trat. Er warf die Illustrierte hin und zog den Stuhl neben sich heraus. »Und welche Schätze hat die Expedition zutage gefördert?« Mit fragender Miene setzte sich Mark auf den angebotenen Stuhl. »Wer ist Schliemann?« Joaquín war sprachlos. »Heinrich Schliemann? Der große Archäologe? Der Entdecker von Troja und Mykene?« »Tut mir leid. Ich bin in Amerika zur Schule gegangen.« Joaquín lachte. »Deine Patentausrede. Es ist wirklich eine Schande, daß ein solches Volk zur Weltmacht werden konnte.« Er nahm ein leeres Glas und goß Mark Mineralwasser ein. »Also, seid ihr fündig geworden?« »Nicht so richtig.« Mark erzählte ihm von Olía, dem Friedhof, dem Treffen mit Antonio und den anderen Dorfbewohnern. »Ich dachte, daß ich morgen in der Gegend von Lanjarón suchen könnte, in ein paar größeren Orten.« In diesem Moment trat Elena ein. Joaquín schaute auf und sah sie mit ernstem Blick in der Tür stehen. »Komm, meine Liebe, setz dich. Hier ist Wasser, und der Kognak steht auf dem Buffet.« Sie lächelte säuerlich. »Später vielleicht. Ich muß mich erst frisch machen.« Eine Sekunde lang sah sie Mark an, voll Abschätzigkeit, dann war sie weg. Joaquín nahm einen Schluck von seinem Mineralwasser. »Du willst die Suche also ausweiten? Hältst du das für klug?« Mark zog die Brauen zusammen. »Wie meinst du das?« Joaquín entdeckte ein merkwürdiges Blitzen in seinen
Augen, wie lauerndes Mißtrauen. Schon einmal hatte er das an ihm beobachtet, in einer Nacht am Küchentisch in New York, kurz bevor er ihn ein letztes Mal zu den Kartenskizzen im Wohnzimmer geführt hatte. Er senkte den Blick auf seine Hände, zupfte an seinem Fingernagel. »Um ehrlich zu sein, Elena macht sich um all das ein bißchen Sorgen. Sie glaubt, du hast dich auf dieses Vorhaben geworfen, um die Sache mit Colin wiedergutzumachen. Eine Art Sühne, wenn du so willst.« »Das ist nicht wahr. Ich mach das nur, weil ich nun einmal hier bin und nichts weiter zu tun habe, aus Spaß, wenn du so willst. Wenn ich also etwas für diesen Sohn herausfinden kann ... Denkst du denn auch so?« »Oh, ich nehme an, zum Teil trifft es schon zu, aber ich neige dazu, diese Dinge gelassen zu sehen. Es kann ja nichts schaden, solange du realistisch bleibst.« »Wieso realistisch?« Noch immer sah Joaquín dieses Glimmen in Marks Augen. »Du wirst ihn nicht finden, und du weißt es. Oder?« Mark wandte sich ab, sein Blick wanderte über den Tisch zu seinem Spiegelbild im dunklen Fenster. »Weiß nicht, Joaquín. Ich bin da ganz zuversichtlich. Eigentlich bin ich überzeugt, daß ich ihn finden werde.« Sein Profil musternd, lauschte Joaquín auf das Ticken der Wanduhr, auf den Wind, der in den Büschen rauschte. »Nein«, sagte er, »nein, das wirst du nicht.« Er legte Mark die Hand auf den Arm. »Tut mir leid. Ich möchte nur nicht, daß du eine Enttäuschung erlebst.« Er drückte den Arm, um zu erreichen, daß Mark sich zu ihm umdrehte, aber Mark blieb steif sitzen und starrte mit blinzelnden Augen ins dunkle Fenster.
Acht
»In New York sind weniger als zehn Grad, und es regnet, stand gestern in der Zeitung«, sagte Mark. »Zu schade, daß wir das verpassen.« Er steuerte den Mietwagen gerade durch eine steile Haarnadelkurve, als er durch die Bäume am Hang die ersten Häuser von Lanjarón sah. Der Ort war still an diesem Morgen, die Kurgäste noch in ihren Hotels, die Tagestouristen noch auf der Anfahrt. Langsam fuhr er durch die Hauptstraße. Auf der Suche nach einem Friedhof durchforschte er die Nebenstraßen; normalerweise, so hatten seine Fahrten durch die Alpujarra ihn gelehrt, lagen die Friedhöfe außerhalb der Orte, aber er war sich nicht sicher, ob das auch für Lanjarón zutraf. Das Städtchen, berühmt für seine artesischen Brunnen von angeblich heilkräftiger Wirkung, war zu einer unschönen Ansammlung von Cafés, Kurhotels und Souvenirläden geworden. Ihm kam eine Idee. Er hielt am Straßenrand und suchte mit den Augen die Geschäfte ab, die gerade öffneten, während seine Finger auf dem Lenkrad Klavier spielten. »Vielleicht sollten wir ein paar Blumen besorgen. Keine Friedhofsblumen, nur einen schönen Frühlingsstrauß.« Er überlegte einen Moment. »Ja. Das wäre gut.« Er stieg aus und kam nach ein paar Minuten mit einem großen Strauß bunter Wildblumen zurück, legte ihn auf den Rücksitz und setzte sich wieder ans Steuer. »Jetzt müssen wir ihn nur noch finden«, murmelte er. Er fuhr weiter, erneut nach dem Friedhof Ausschau haltend,
bis er am äußersten Ostrand der Ortschaft auf einem Berg festungsartige Mauern sah. »Voilà.« Er bog in einen schattigen Fahrweg ein, der so holprig war, daß das Auto hüpfte und schwankte. Der Weg stieg an, bis die Baumwipfel unter ihm zurückblieben, dann führte er auf ein Bergplateau und endete vor den hohen Mauern des Friedhofs, die in der Morgensonne grellweiß leuchteten. Mark bremste und starrte eine Weile die Mauern an, dann wandte er sich zum Beifahrersitz. »Verzeih mir, Colin. Ich hab es versucht. Aber ich konnte dir nicht mehr helfen.« Joaquín öffnete die Tür, die von der Küche in den Garten führte, stieg die Treppe hinab und eilte über den Plattenweg. »Elena, meine Liebe, ich dachte, du wärst mit Mark losgefahren!« Seine Stimme verriet Überraschung, sogar Erschrecken. »Hast du hier die ganze Zeit allein gesessen?« Elena, die am Gartentisch saß, lächelte ihm entgegen. »Ich war hier nicht angekettet, Großvater. Und wenn, hätte ich immer um Hilfe schreien können.« Lachend setzte sich Joaquín neben sie. »Trotzdem. Hätte ich gewußt, daß du hier bist, hätte ich nicht meine Zeit damit verschwendet, ein wunderbares Stück Leinwand zu verderben.« Er wandte sich ihr zu. »Du bist also vom Suchtrupp abgesprungen?« Elena wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht, was Mark beabsichtigt.« Sie dachte an den Tag zurück, als sie die Cloisters besucht hatten und er ans Hochufer des Hudson gelaufen war; so hatte sie ihn heute morgen bei den Vorbereitungen für die Fahrt erneut erlebt. »Ich glaube, es wird wieder schlimmer mit ihm.« Sie blickte ihren Großvater an. »Hast du eine Ahnung, was in ihm vorgeht?« »Wer kann das schon sagen? Vielleicht ist das seine Art, mit
dem, was in Kurdistan passiert ist, fertigzuwerden. Da sucht sich jeder seine eigenen Wege. Aber ich glaube nicht, daß wir uns allzu viele Sorgen machen müssen.« Elena nickte, von seinen Worten plötzlich beruhigt, und ließ den Blick durch den Garten schweifen, an der Mauer mit den Glasscherben entlang, durch die Pforte aufs Feld hinaus. Sie hörte Vögel singen. »Vielleicht können wir, wenn du mit dem Malen fertig bist, zum Picknicken auf den Berg fahren.« Joaquín schlug mit der Hand auf den Tisch. »Exzellente Idee!« Er dachte an sein Bild, mit dem er sich schon am Vortag vergeblich abgemüht hatte. »Eigentlich habe ich die Leinwand heute schon genug verschandelt. Wir können gleich los, ich muß nur noch die Tuben zuschrauben.« Er stand auf und eilte zum Haus zurück. »Und wenn er ihn nun findet?« rief Elena ihm nach. »Die Möglichkeit besteht doch, oder?« Joaquín blieb stehen, drehte sich um. Da saß seine Enkeltochter in der Sonne: Sie war ein so schönes, fröhliches Kind gewesen, und es hatte Momente gegeben, da die Liebe zu ihr ihn fast überwältigt hatte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war er den Tränen nahe. »Ja, mein Kind. Die Möglichkeit besteht immer.« Immer härter überblendete die Sonne, langsam höher steigend, die kräftigen Farben des Morgens. Sie spiegelte sich im polierten Marmor der Gräber, während die Luft über dem Friedhof allmählich zu flimmern begann. Fast eine Stunde lang hatte er vergebens die Gräber von Lanjaron abgesucht; dann war er zehn Kilometer auf der Talstraße nach Orgiva weitergefahren. Hier gab es wenigstens einen Wärter, Francisco, einen ausgemergelten Greis mit zerschlissener blauer Jacke und ebenso blauer Kappe.
Diensteifrig lief er vor Mark her, um ihn in die entlegensten Winkel des ummauerten Areals zu führen. In einer Ecke, wo die Grabsteine schlichter, die Wege ungepflegter wirkten, blieb er stehen. »Hier ist die älteste Abteilung. Wie war noch der Name?« »Carlos Miguel Perez.« »Ja, von denen haben wir welche hier«, sagte der Alte nikkend. Zielstrebig bog er in einen Seitenweg ein, umrundete Gräber, bückte sich, um Inschriften zu entziffern, lief weiter und bückte sich erneut. Dann richtete er sich auf und winkte. Mark beugte sich über das Grab: »Carlos Miguel Perez, 1881-1942.« »Das ist er doch, oder?« »Nein, zu alt.« Mark schüttelte den Kopf. »Der, den ich suche, ist wahrscheinlich um 1910, 1912 geboren.« Der Alte seufzte, setzte aber sogleich die Suche fort. Nach ein paar Minuten pfiff er und winkte Mark zu einem anderen Grab dicht an der Friedhofsmauer; er hielt den Finger daraufgerichtet, als könnte es verschwinden, wenn er es nicht im Auge behielt. »Ein Kind?« rief er. »War es ein Kind?« Erwartung lag in seiner Stimme. Mark las die Inschrift: Carlos Miguel Perez, 1913-1919. Fünf oder sechs Jahre alt, ein kleiner Junge. »Nein. Das ist er nicht.« Eine Weile standen sie nebeneinander, auf den Grabstein starrend, als könnten sie das Sterbedatum durch schiere Willenskraft aufheben. »Ich fürchte, das war's«, sagte Francisco. »Ich kenne alle Gräber hier, und der Carlos Perez, den Sie suchen, den haben wir nicht.«
Er führte sie auf eine Bergwiese, die von jungen Kiefern gesäumt war. Ringsum leuchtete grünes Frühlingsgras, blühten Wiesenblumen; unter ihnen erstreckte sich die Vega. »Gefällt es dir hier?« »Zauberhaft.« Joaquín klappte einen Aluminiumstuhl auf, und Elena breitete eine Decke ins Gras. Sie streckte sich aus. Die Orte im Tal glitzerten wie frisch geputzt. »Ich hatte schon vergessen, wie schön es hier ist«, sagte sie, auf einem Grashalm kauend. »Nein: Vergessen ist nicht der richtige Ausdruck. In all den Jahren, die ich weg war, dachte ich nur, ich hätte die Schönheit übertrieben.« »Ja, das kenne ich.« Die Mittagssonne war schon recht heiß. Sie ließ die Schneegipfel in der Ferne fast unglaubhaft erscheinen. »Aber sie ist auch demütigend, diese Schönheit, nie kann man sie fassen, nie wird man ihr gerecht.« »Wenn das so leicht wäre, würde es dich bald langweilen.« Joaquín lächelte. »Richtig. Aber ich meine nicht nur die Malerei. Nein, die Schönheit nimmt die verschiedensten Formen an, aber das Land lehrt jeden dieselbe Lektion. Es erinnert uns an unsere Unscheinbarkeit, unseren Abfall von der Gnade.« Elena hob den Grashalm vor ihre Augen: Er schmeckte süßlich, ein wenig wie Milch. »Du klingst schon wieder wie ein Katholik, Großvater.« Joaquín lachte. »Schlimmer noch. Wie ein katholischer Philosoph.« Er beugte sich vor, packte den Picknick-Korb aus. In aller Muße aßen sie Käse und Serrano-Schinken, der Wein wurde warm. »Mir tut der Sohn von Carlos Perez leid«, sagte sie nach
einer Weile. »Der Mann, der mich in New York besucht hat.« Joaquín wurde aus seinen Träumereien gerissen. Er nahm einen Schluck. »Warum tut er dir leid?« »Wegen seiner schrecklichen Alternative - entweder nichts über seinen Vater zu wissen oder zu erfahren, wer er wirklich war. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.« »Ja, das dürfte bedrückend sein.« Elena pflückte sich einen neuen Grashalm. »Ich frage mich, ob es zutraf: >Die Bestie von Olia.<« Das Kinn auf die Hand gestützt, verfolgte Joaquín eine Biene auf ihrem Weg durch die Kleeblüten. »Wahrscheinlich war er wie jeder andere normal. Ein guter Ehemann, ein guter Vater. Und ohne Zweifel fromm — das waren damals alle.« Elena zupfte den Halm auseinander, Hülle um Hülle, bis sie nur noch einen zarten weißen Stengel zwischen den Fingern hielt. »Wie hast du sie eigentlich geheilt, Großvater?« Joaquín lächelte sanft. »Oh, ich habe sie nicht geheilt. Das dachten sie nur, und daraufkam es an. Für das, was diese Männer erlitten haben, gibt es keine Heilung. Wenn überhaupt etwas, dann habe ich ihnen beigebracht, die geschichtlichen Erklärungen zu vergessen, sie verachten zu lernen.« Elena richtete sich auf und blickte ihn an, die Augen mit der Hand überschattend. »Wie meinst du das?« »Die schlimmste Erfindung des Menschen ist die Geschichtsschreibung. Wäre ich fromm, würde ich sie ein furchtbares Sakrileg nennen, denn sie versucht zu erklären, warum Dinge passieren. >Dieser Krieg brach aus, weil die Kommunisten an die Macht kamen.< — >Dieser Soldat hat jene Greueltat begangen, weil sein bester Freund in der
Schlacht von Guadarrama gefallen war.< Verstehst du? So, wie wir Gott erfunden haben, haben wir auch die Geschichte erfunden, denn die Alternative dazu ist zu schrecklich, als daß wir sie ertragen könnten. Sich damit abzufinden, daß es keine Motive gibt, daß wir nur Tiere sind besondere Tiere zwar, aber immerhin - und daß es keine Erklärung für die Dinge gibt, die wir tun oder die uns angetan werden, das ist zu furchtbar. Also schreiben wir Geschichte. Tiere können Nester bauen, können sich verständigen, können sich gegenseitig umbringen, aber nur wir haben die Geschichtsschreibung erfunden, und das ist unser größter Luxus. Der Preis für unsere Besonderheit.« Er stellte sein Glas ins Gras und schüttelte sich vor Abscheu. »Dios, ich hab es so satt, immer diese historischen Rechtfertigungen zu hören. Schau dir nur an, wie das heute geht. Wie sie von Israel, Irland oder Afrika reden — Jahrhunderte von Kriegen und Stammesfehden.« Mit plötzlicher Erregung beugte er sich zu Elena herunter. »Unseren Krieg haben nicht religiöse oder politische Gründe verursacht, eine Agrarreform oder was immer du iit deinen Lehrbüchern gelesen hast. Er ist aus dem Nichts entstanden. Wenn wir unbedingt einen Grund brauchen, dann laß uns zugeben, daß es die Langeweile war, daß wir in den Krieg gezogen sind, weil uns der Frieden zu öde geworden war. Wir haben uns gegenseitig abgeschlachtet, weil wir wissen wollten, wie das ist, wenn Blut fließt, weil es uns spannend vorkam. Das war der ganze Grund.« »Aber Großpapa, so einfach war es auch wieder nicht!« »So? Glaubst du? Welches sind denn die großartigen Gründe dafür, daß die Nationalisten viertausend unschuldige Leute in Granada ermordet haben? Daß die Republikaner in Ronda fünfhundert Menschen von der Brücke gestoßen haben? Was hat uns die Geschichtsschreibung
dazu zu sagen? Zum Teufel mit der Geschichte! Wenn man etwas daraus lernen kann, dann nur, wie zerbrechlich die Zivilisation ist und daß im Krieg jeder Mann — ob Faschist, Kommunist, Lehrer oder Bauer - zur Bestie werden kann.« Er starrte seine Enkeltochter an, dann entspannte sein Blick sich plötzlich, und er sank zurück auf den Stuhl. »Aber das ist nun einmal nicht sehr zufriedenstellend. Kein guter Stoff für Lehrbücher. Für die Professoren und Historiker ist es viel bequemer, von Verfassungskrisen und Wirtschaftsproblemen zu faseln: >Wir haben Spaniens größten Dichter ermordet und fünfhundert Menschen von einer Brücke gestoßen, weil wir unter einer Verfassungskrise litten.< Zum Teufel mit den Historikern!« Elena sah, daß er mit den Zähnen knirschte. »Aber deine Klinik, wenn du dieser Meinung warst, warum hast du ihnen dann geholfen?« Joaquín zuckte die Schultern. »Genau deshalb: weil ich dieser Meinung war. Als ich sah, daß es keinen anderen Grund gab als die Barbarei, sah ich auch, wie es weitergehen würde. Wenn der Mensch erst einmal in die Barbarei fällt, fällt er noch tiefer; wer einmal gemordet hat, der mordet leicht. Es wird zur Routine, schließlich sogar zum Heilmittel gegen seelische Qualen, ein Teufelskreis. Das ist es, was in einem Krieg passiert, in jedem Krieg. Am Ende siegt die eine Hälfte der Mörder über die andere Hälfte, und was dann? Ich werd's dir sagen. Das Schlachten dauert so lange, wie die Mörder von ihrem Gewissen getrennt sind. Das war die Lage, mit der wir es 1939 zu tun hatten. Ob Nationalisten oder Republikaner — es spielte keine Rolle mehr, wer siegte. Auf beiden Seiten gab es Bestien, deren Blutdurst nicht zu stillen war. Sollte ich stumm danebenstehen und sie gewähren lassen? Nein, das konnte ich nicht. Mit meiner Klinik verband sich die Hoffnung, diese Männer ein
zweites Mal zu Menschen zu machen, damit das Schlachten aufhörte, damit Spanien Frieden finden konnte.« Elena legte sich wieder hin und stützte sich auf die Ellbogen. »Aber es hat doch nicht funktioniert! Das Morden hat nicht aufgehört. Franco hat nach dem Krieg noch Tausende - Zehntausende - umgebracht. Noch 1970 hat er Hinrichtungen befohlen.« Mit einemmal wirkte Joaquín müde, seine Lider wurden schwer. »Ja, daran ist es gescheitert«, sagte er, »an Franco, am Caudillo.« Verachtungsvoll dehnte er die Silben. »Es ist eine Frage des Gewissens. Denn das hatten alle Männer, die in meine Klinik eingewiesen wurden, gemeinsam: Sie waren krank, weil sie nicht mit ihrem Gewissen zurechtkamen. Nur Franco hatte kein Gewissen: Der Tod, das Töten, bedeutete ihm nicht das geringste. Weißt du, nach dem Krieg hat er Listen von allen gefangenen Republikanern bekommen, von all den Tausenden in den Gefangenenlagern. Monate hat er damit verbracht, diese Listen durchzugehen, jeden Abend nach der Arbeit, hinter jedem, der hingerichtet werden sollte, machte er Häkchen. Er beendete sein normales Tagesgeschäft, aß mit seiner Frau und seinen Kindern zu Abend, dann ging er in sein Arbeitszimmer und machte Häkchen. Die Namen waren nur Posten im Kontorbuch des Caudillo.« Den Kopf in den Nacken gelegt, blinzelte er in den Himmel. »Ich habe mich oft gefragt, worauf er seine Entscheidungen gründete. Akten gab es nur über einen winzigen Teil der Gefangenen, über die Befehlshaber und solche, die auffällig geworden waren. Wie also hat er über das Schicksal all der anderen entschieden? Hat er diese Männer erschießen lassen, weil ihm ihre Namen nicht paßten oder der Name ihres Heimatorts? Oder weil er zufällig an einem sauren Magen litt? Ich bin mir sicher, daß es so war und daß es ihn
keine Sekunde seines Schlafs gekostet hat.« Er schüttelte den Kopf. »Wie ein fleißiger Ladenbesitzer, der jeden Abend sein Journal führt ... Ja, bei Franco war keine Hoffnung. Wer kein Gewissen hat, ist nicht zu retten.« Er grinste. »Und weißt du, daß er durch reinen Zufall an die Macht kam? Wäre Calvo Sotelo nicht ermordet worden, wäre er der Caudillo geworden. Wäre Sanjurjos Flugzeug nicht in Portugal abgestürzt, wäre er es geworden, und hätten die Republikaner Primo Rivera nicht hingerichtet, dann wäre er es eben geworden. Und keiner dieser Männer hätte Spanien so viele Grausamkeiten zugefügt wie Franco.« Sein Gesicht war wieder ernst. Er zog die Schultern hoch. »Waren das wirklich nur Zufälle? Die Historiker haben jede Menge Gründe gefunden.« Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Es war das erste Fahrzeug, das vorbeikam, seit sie dort saßen, und Elena schaute ihm nach, bis es außer Sicht- und Hörweite war. Plötzlich versiegte die Quelle all ihrer Empörung und Scham, löste sich auf in ein Dunstgebilde. »Wenn du ihn so sehr verachtet hast, Großpapa, warum hängt dann sein Bild bei dir an der Wand?« »Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht zur Warnung. Als eine Erinnerung daran, wie normal, wie durchschnittlich eine Bestie aussehen kann. Oder es ist eine Art Rache.« Er lachte auf. »Um ehrlich zu sein, etwas an der Geschichtsschreibung gefällt mir doch, und das ist die Gleichgültigkeit, mit der sie ihre Helden wählt. Daß sie auch den Verlierern die Chance gibt, zurückzukommen und am Ende zu triumphieren. Es passiert nicht allzuoft, normalerweise wird die Geschichte von den Siegern diktiert. In unserem Krieg ist es trotzdem so gewesen. Zwar haben wir Nationalisten gesiegt, aber wir wurden zu den Mächten der Fin-
sternis und des Bösen, die Republikaner hingegen zu den gefallenen Engeln der Freiheit, der Güte und des Lichts. Oh, ich glaube, das hätte man vorhersehen können. Sie hatten Picasso und die Passionara, Tausende Bilder, Gedichte, Bücher, mit denen die Getreuen ihr Schicksal beweinen konnten. Was hatten wir? Wir hatten Franco und seine Blauhemden und seine kriecherischen Pfaffen. Wir haben den kürzeren gezogen, verstehst du?« Jetzt lachte er lauter, doch Elena kam das Lachen seltsam vor, hohl und bitter. »Und ich wurde natürlich zum >Beichtvater der Faschisten< zum Freund der Folterer. Nun, meinetwegen. Das ist nur ein kleiner Preis für die Genugtuung, daß der Caudillo Schlimmeres erleiden mußte. Selbst heute noch sage ich mir, wenn ich das Bild betrachte: Mich wird man vergessen, aber du, Francisco, bist unsterblich. Noch in hundert Jahren wird man auf dein Grab spucken.« Elena erhob sich von der Decke und ging barfuß durchs Gras: Es war kühl und feucht. Überall blühte der Löwenzahn; sie pflückte ein paar Stengel und sah die dicke Wolfsmilch hervorquellen. »>Geläutert<«, sagte sie. »>Zurückgekehrt in Gottes Schoß<. Das hast du deinen Patienten bei der Entlassung in die Akte geschrieben.« »Wirklich?« Joaquín tat erstaunt. »Das hatte ich vergessen. Wie peinlich!« Sie kam zurück. »Aber was hast du wirklich mit ihnen gemacht? Wie hast du ihnen geholfen?« Joaquín dachte nach. »Ich nehme an, erst habe ich sie ausgezogen. Ich habe ihnen die Uniformen weggenommen, ich habe ihre Ränge ignoriert, ich habe ihnen die Augen geöffnet für das, was sie getan hatten. Ich habe ihre Ausreden nicht gelten lassen. Ich habe sie beschimpft, und ich habe mich vor ihnen geekelt, und ich glaube, das haben
sie respektiert, das war es, was sie brauchten. Dann habe ich sie wieder angezogen. In den meisten Fällen war das nicht schwierig. Ein bißchen Seelenforschung, ein paar tränenreiche Bekenntnisse, dann kamen die Priester, schwenkten Weihrauch und murmelten lateinische Wörter, und schon ging es ihnen besser. Bei den Intelligenteren war es diffiziler. Philosophische Diskussionen über Moral, Willensfreiheit, nichts allzu Tiefgründiges. Die Macht der Mythen, der Sinn des Glaubens. Ich habe sie davon überzeugt, daß sie heilbar waren, und so hat es geklappt.« »Und was war mit denen, die nicht heilbar waren, solchen wie Carlos Perez?« Joaquín blickte in die Ferne. Die Frage schien ihn traurig zu stimmen. »Zum Glück kam das nur selten vor. Sehr selten. Vielleicht war es nur mein Egoismus, aber ich wollte sie nicht aufgeben, ich habe mir mit jedem große Mühe gemacht. Aber irgendwann war natürlich Schluß. Immer ist irgendwann Schluß. Sie zeigten keine Fortschritte, so viele warteten auf ein Bett in der Klinik, und man kam zu dem Punkt, wo ...« Er hob den Arm, machte eine Handbewegung über die Schulter. »Dann kam der Rausschmiß«, sagte Elena. »Sie wurden aus der Geschichte entfernt.« »Genau so.« Mark nahm das Glas Mineralwasser von der Theke. Er ließ den Blick über das Regal mit den aufgereihten Spirituosen wandern: Wie weit war er in diesem Moment von allem entfernt, was ihm vertraut war. Nach dem fünften Friedhof hatte er aufgegeben. Bei der Rückfahrt nach Orgiva war er in eine tiefer gelegene Straße eingebogen, die hinunter zum Fluß führte. An ei-
ner Cafébar kurz vor der Brücke hielt er an. Es war mitten am Nachmittag, der Raum leer bis auf das junge Mädchen hinter dem Tresen, einen gelben Hund, der an der Tür schlief, und vier alte Männer, die an einem Ecktisch Karten spielten. Sie rauchten die starken Zigaretten der Einheimischen. Dick und träge stand Rauch in der Luft. Mark lehnte sich an die Theke; abwesend wischte er mit dem Finger in einer kleinen Wasserlache. Mit einem Schlag war ihm bewußt geworden, wie sinnlos sein Tun war. Nach dem Besuch eines kleinen Dorffriedhofs an der Nordflanke des Höhenzuges war er stehengeblieben, um die Aussicht über die Alpujarra zu genießen. Den Blick auf die zahllosen Dörfer gerichtet, die an den Berghängen lagen, auf all die verstreuten Gehöfte und kleinen Orte, dachte er: Warum habe ich ausgerechnet diesen Friedhof abgesucht, nicht einen von den vielen anderen weiter westlich oder östlich? Carlos Perez hätte überall hingehen und überall sterben können. Wenn er alle Friedhöfe der Alpujarra absuchen wollte und anschließend womöglich noch die Andalusiens und ganz Spaniens, würde er Jahre brauchen, ohne seinem Ziel auch nur ein wenig näher zu kommen. Er legte eine Hundertpesetenmünze auf die Theke und nickte dem Mädchen zu. »Gracias.« »Adiós.« Er stieg über den Hund und schlüpfte durch die Perlenschnüre im Eingang. Noch war es nicht spät, aber im Tal machten sich schon Schatten breit. Er sah die Brücke in hundert Metern Entfernung und beschloß, ihr wie tags zuvor einen Besuch abzustatten. Über das Geländer gebeugt, starrte er in die Strömung. Eines Nachts in der Casa de los Queridos hatte ihn Elena nach Colins Grab gefragt. »Wie sieht es aus?«
Mark hatte ihr den Blick beschrieben, den man vom Berg über der Lazaretthöhle hat, die Gipfel, das Tal, den Klang der Schafsglocken, die Rufe der Händler und der spielenden Kinder, die von der Stadt im Tal heraufklangen. Er hatte ihr erzählt, daß er das Grab mit einer kleinen Steinpyramide markiert und seine alte indische Münze in die Erde gesteckt hatte. »Wir müssen einmal dorthin«, sagte Elena, »sobald sich die Lage beruhigt hat, und sobald du das verkraften kannst. Wir könnten ihn überführen.« Mark legte ihr einen Arm auf die Schulter. Wie sollte er ihr erklären, daß dort Hunderte verscharrt waren, es Hunderte anonyme Steinhaufen gab? Wie sollte er ihr begreiflich machen, daß die Toten eines Tages zusammen beerdigt wurden, in einem Graben, der täglich von einem Traktor neu aufgerissen wurde? Daß man einen ganzen Berghang nach einer kleinen, unscheinbaren Münze umwühlen müßte, um Colin wiederzufinden? Sanft hatte er sie aufs Haar geküßt. »Ja, das wäre gut.« Er drehte sich um, lehnte den Rücken ans Geländer, warf noch einmal einen Blick auf die Alpujarra. Unter den südlichen Höhenzügen bemerkte er in sechs oder acht Kilometern Entfernung eine kahle Felskuppe, die einsam in die Höhe ragte, weit entfernt von den Dörfern und Gehöften. Ihr zerklüfteter Gipfel wurde von der sinkenden Sonne erfaßt. Sofort entschloß er sich, dorthin zu fahren. Am frühen Nachmittag hatten sich über der Sierra Nevada Wolken aufgetürmt, nun trieben sie westwärts über die Vega und tauchten die Ortschaften und Felder abwechselnd in Licht und Schatten. Abendkühle machte sich bereits bemerkbar, die Luft wurde feucht.
»Wie ist es in Almería?« Elena lag auf der Decke, den Kopf auf den Arm gestützt. Ungelenk drehte Joaquín sich zu ihr um, als wäre er aus einem Schlummer erwacht. »Warum fragst du, meine Liebe?« Sie hob den Kopf. »Nur aus Neugier. Mir fällt auf, daß ich nie dort war.« Joaquín senkte den Blick auf seine gefalteten Hände. »Wie es heute dort aussieht, weiß ich nicht. Ich nehme an, die Stadt ist mächtig gewachsen, aber ich kann dir sagen, daß sie früher sehr schön war. Hohe Felsküste, dahinter die Sierra, alte maurische Bauten, ein paar der besten Flamencosänger Andalusiens ... Was soll ich dir erzählen? Eine wundervolle Stadt.« »Bist du nie wieder dort gewesen?« »Nein. Nur unmittelbar nach dem Krieg natürlich, um zu sehen, ob noch jemand lebte, ob noch etwas von unserem Haus übriggeblieben war, aber ... Nein, seitdem bin ich nicht mehr dort gewesen.« Elena richtete sich auf und winkelte die Beine an. »Warum fahren wir nicht hin? Wir könnten gleich morgen den Tag dort verbringen.« Joaquíns Blick wurde hart. »Warum sollten wir das tun?« »Ich möchte die Stadt kennenlernen. Sehen, wo du aufgewachsen bist, wo meine Vorfahren gelebt haben. Willst du nicht wissen, wie sich alles verändert hat?« »Nein. Ich habe genug davon.« Elena studierte das Karomuster der Decke. Sie nickte langsam, wie in Gedanken versunken. Joaquín erhob sich ächzend von seinem Stuhl und machte ein paar steife Schritte. »Es wird schon spät, wollen wir nicht zurück?« Er blieb vor ihr stehen. »Weißt du, das ist alles Vergangenheit und nicht mehr wichtig. Wir sollten uns über erfreulichere Dinge unterhalten.«
Sie sammelte die Sachen ein, packte Gläser, Abfälle und Verpackungen in den Korb, schüttelte die Decke aus und kniete sich ins Gras, um sie zusammenzulegen. »Ich muß dich um Entschuldigung bitten, Großpapa«, sagte sie. »Aber du mußt bedenken, wie jung ich war, als ich das schrieb, eine Studentin. Du weißt, wie selbstgerecht man in diesem Alter sein kann.« »Habe davon gehört.« Sie blickte zu ihm auf. »Ich wußte nicht, wie sehr ich dir damit weh getan habe.« Joaquín zuckte mit den Schultern. »Nicht der Rede wert. Du bist da. Das ist das Wichtige. Ich habe dich wieder.« Sie fuhren durch die Abenddämmerung, und als sie zur Casa de los Queridos kamen, war es schon dunkel. Im Haus brannte kein Licht, vom Mietwagen keine Spur. »Seltsam«, sagte Joaquín, als sie den Kiesweg hinauffuhren, »Mark ist noch nicht zurück.« Elena blickte zu den Fenstern hinauf, die das Licht der Scheinwerfer reflektierten. Plötzlich wurde sie von dem Gedanken gepackt, daß Mark dort geblieben sein könnte, irgendwo in der Finsternis, weil er nicht gefunden hatte, wonach er suchte. Er saß auf der Felskuppe, die Arme um die Knie geschlungen, und beobachtete, wie es Nacht wurde. Es wurde stockfinster: Der Himmel war bedeckt, kein Mond schien, und all die Dörfer und Gehöfte der Alpujarra lagen hinter den Bergwänden verborgen. Die einzigen Lichter, die er sah, gehörten Autos, die tief unten im Tal vorüberfuhren. Er spürte einen Schauer von Kälte und kauerte sich zusammen. Er war vom Felsplateau aufgestanden, und Blütenblätter waren von ihm abgefallen. Eine Blutlache hinter sich las-
send, hatte er sich an den Abstieg gemacht. Keine Stimme hatte ihn gerufen, nur der Wind und sein eigener Schatten auf den Felsen. So war er zu der Stelle gekommen, wo der Boden schwarz war. Dort fand er ihn. »Es ist etwas passiert«, sagte Colin. »Ich glaube, etwas Schlimmes ist passiert.« Er hatte ihm beigestanden, so gut er konnte, hatte ihn getröstet; irgendwann aber kam der Punkt, wo es nichts mehr zu tun gab, wo das Sterben ein Ende haben mußte, und endlich war Colins Kopf zur Seite gesunken. Mark hatte sich neben ihn gelegt und auf die Dunkelheit gewartet. Erst dann machte er sich auf den langen Weg. Er stand auf. Im Wind, der an ihm rüttelte, fühlte er sich klein und schutzlos. Kaum, daß er die eigenen Füße sehen konnte: So dunkel war es. Er ging los, langsam, tastend, Schritt für Schritt bergab, hinab ins Tal, zur Straße, zum Fluß. Im Gehen rief er sich jene andere Nacht ins Gedächtnis: Colins Gewicht auf seinem Rücken, das schreckliche Geräusch, wenn sie zu Boden fielen, den Anblick der leblosen Hände, die, mit Schnürsenkeln zusammengebunden, über seine Schulter baumelten und bei jedem Schritt hin und her schaukelten. Er dachte an das Gras, das ihm in die Finger schnitt, an den Wind, der heulte, als würden Soldaten schreien, an die Panik, die ihn packte, bis er nichts mehr über die Lippen brachte als das letzte Stoßgebet der Sterbenden. »Hier will ich nicht sterben.« Nach langer Zeit — waren es zwei Stunden, drei Stunden oder vier? — hörte er das dunkle, stetige Rauschen des Flusses. Er trat auf die Straße, die um diese Zeit verlassen war, und lief am Rand entlang, auf die Brücke zu, und er lauschte auf das Tosen des Wassers in der Schlucht. Als er um eine Biegung kam, tauchten die Lichter von Orgiva
vor ihm auf, die die Stahlstreben der Brücke beleuchteten. Arn anderen Ufer sah er den geparkten Mietwagen vor der Cafébar stehen. Die Motorhaube leuchtete im Schein einer einsamen Straßenlampe. Er wollte weiter zur Brücke gehen, doch dann entschied er sich anders, verließ die Straße und kletterte vorsichtig zum Ufer hinab. Nachdem er sich durch ein Wirrwarr aus Felsbrocken, Büschen und Gerumpel gearbeitet hatte, erreichte er das Wasser. Der Fluß strömte vorbei — mit einer Gewalt, daß ihm die Gischt ins Gesicht sprühte. Er blieb stehen und rief sich den Moment zurück, als er die Kälte des Wassers gespürt hatte, sein Fuß war vom glatten Stein abgerutscht, dann das Würgen der Last an seinem Hals, die ihn nach unten zog, in irgendeine eiskalte Tiefe. Wie unwahrscheinlich ihm das vorgekommen war! Nur ein kleiner Bergfluß war es gewesen, kaum hüfttief, nicht der Rede wert. Im schwachen Licht, das von der Straßenlampe und der Brücke herüberschien, sah er, daß der Guadalfeo an dieser Stelle eine kleine Bucht bildete. Sanft schwappte das Wasser gegen den Felsbrocken, auf dem er stand, schwarz und still. »Keine Sorge«, flüsterte er. »Ich bring dich nach Hause. Ich laß dich nicht im Stich.« Als sie am Gartentisch saßen und den Wind in den Büschen hörten, war ihr Gespräch fast verstummt. Nach einer Weile schlug Joaquín mit der Hand auf die Tischkante und stand auf. »Also, meine Liebe, langsam hab ich das Gefühl, daß er sich verirrt hat. Vielleicht hat er Probleme mit dem Auto. Aber das ist kein Grund zur Sorge. Er ist ja intelligent genug, sich irgendwo eine Pension zu suchen.« Es war eine Beschwichtigung, an die sie beide nicht recht
glaubten. Warum rief er nicht wenigstens an? Joaquín beugte sich über sie, legte ihr die Hand auf die Schulter und küßte sie aufs Haar, wie er es immer getan hatte, solange sie noch klein war. »Kommst du zurecht?« Sie nahm seine Hand, drückte sie gegen ihren warmen Hals. »Wird schon, Großpapa, danke. Du solltest jetzt schlafen gehen.« Wenig später stand auch sie auf und folgte ihm ins Haus. Als sie im Obergeschoß war, blickte sie die Balustrade entlang: Aus dem Zimmer des Großvaters drang kein Licht. Vor ihr lag das Arbeitszimmer, die Flügeltür stand offen. Sie trat über die Schwelle und knipste eine Stehlampe an; in ihrem Schein wirkte die spanische Flagge verblichen, Francos Bild hinter der glänzenden Scheibe fast unsichtbar. An den Schreibtisch gelehnt, blickte sie zur Galerie der Fotos hinüber. Es gab keine Bilder von Joaquíns Familie, seinen Eltern, Geschwistern, Anverwandten, und Elena begriff, wie schrecklich es war, der einzige Überlebende zu sein, eine Last auf der Seele, die nicht mehr leichter wurde. Joaquín lag auf seinem schmalen Eisenbett und versuchte, den Schlaf herbeizuzwingen. Schließlich gab er es auf und trat ans Fenster. Jenseits der Mauer, hinter dem dunklen Feld, sah er die Lichter von Penuelas, aber darüber gab es nichts, keinen Mond, keine Sterne: als hätte jemand eine schwarze Decke über die Vega gebreitet. Wo mochte Mark stecken? Was hatte er sich nur gedacht? Im Bett war ihm klargeworden, daß er und Elena sich geirrt hatten; hinter Marks Suche nach Carlos Perez steckte nicht die Suche nach seinem Freund. Nein: Colin war immer bei ihm, hatte ihn nie verlassen. Mark suchte sich selbst, suchte einen Weg von den Toten zurück zu den Lebenden.
Am Vormittag hörte Elena das Auto. Es kam die Einfahrt hinauf, und als sie aus der Tür trat, sah sie ihn schon auf den Stufen sitzen. Seine Hose war verschmiert und schlammverkrustet, seine Socken und Schnürsenkel voller Kletten, die Hände und Arme mit Kratzern übersät. Sie legte ihm Hand auf den Rücken, wickelte sich eine seiner Locken um den Finger. »Ich wollte ihn nur finden«, sagte er leise. »Das ist alles.« Joaquín, der Elena gefolgt war, rieb sich mit einem Lappen die Farbe von den Fingern, stieg die Treppe hinunter und nahm die beiden in Augenschein. Flehend und verzweifelt blickte Elena zu ihm hinüber; Mark starrte in den Garten, als würde er nichts anderes wahrnehmen. Joaquín lief am Mietwagen vorbei, auf dessen Rücksitz er einen großen Strauß verwelkter Blumen sah. Beim Einfahrtstor blieb er stehen. Noch immer rieb er sich die Hände, untersuchte sie nach hartnäckigen Farbspuren. Zwischendurch blickte er die einsame Landstraße auf und ab. Nie war es um Mark gegangen. Immer nur um Elena. Und wenn er ehrlich war, hatte er die Sache mit Bedacht eingefädelt: Es war die beste — und einzige — Strategie gewesen, die sich ihm geboten hatte. Aber nun war ihm der junge Mann ans Herz gewachsen, er wollte ihm helfen; überdies begriff er, daß alles miteinander zusammenhing. Falls er Mark nicht heilen konnte, würde auch Elena ihm wieder verlorengehen, ein für allemal. Erneut prüfte er seine Hände. Mit einem Seufzer legte er den Lappen neben das Tor und ging zurück zum Haus. Als er zum Wagen kam, sah er sie noch immer auf der Treppe sitzen. Er blieb stehen, öffnete den Wagenschlag und rief: »Na kommt. Ich bringe euch zu Carlos Perez.«
Neun
Sie fuhren tief in die Alpujarra hinein, über die Guadalfeo-Brücke und den schmalen Fahrweg nach Olia hinauf. Der Wagen quälte sich durch die Schluchten, dann kamen die ersten Klippen, schließlich lenkte Joaquín das Auto an den Rand und hielt. Als Mark einen Blick aus dem Fenster warf, sah er das Bauernhaus, das sie schon damals bemerkt hatten, ein weißes Häuschen, errichtet auf dem Abhang über den Olivenbäumen und den Terrassenfeldern, den Kiefernwald im Rücken. Joaquín schritt voran. Je näher sie kamen, desto deutlicher sah Mark, daß die Olivenbäume seit langem verwildert waren. Unkraut wucherte die Stämme hoch, tote Äste ragterrin die Luft. Das Haus war nur eine kleine Schäferhütte, Fensterscheiben fehlten, das Dach war an einer Seite eingesunken. Sie gingen weiter, in den Wald hinein, der sich bald zu einer Bergwiese öffnete, und dort blieb Joaquín stehen. Alles war still, bis auf das Säuseln des Windes in den Kiefern, das Knarren der Aste ab und zu. Joaquín stand in der Mitte der Lichtung und blickte zu den wogenden Bäumen auf. »Folgendes kann ich euch über Carlos Perez sagen«, begann er, als würde er zu den Kiefern sprechen. »Er war ein Mann mit einem Gewissen. In Anbetracht seiner Taten ist das schwer zu glauben, aber es stimmt. Sein Gewissen blieb ihm treu. Das war sein Untergang.« Er wandte sich Mark und Elena zu, die ein paar Meter entfernt stehengeblieben waren. »Die Wahrheit ist, ich habe ihn gern gehabt. Sehr gern sogar, aber ich konnte ihn nicht retten.«
Mit einer fahrigen Geste fuhr seine Hand durch sein schütteres Haar. »Als er zu mir kam, war er ein Wrack. In der Alpujarra hatte er schrecklich gewütet, Hunderte von Menschen umgebracht, er und seine kleine Blutschwadron. Wo er auch auftauchte, in jedem Dorf, das sie einnahmen, ermordeten sie alle, die mit den Republikanern sympathisierten oder auch nur den Anschein erweckten, das zu tun. Fürchterliche Gemetzel, er war einer der schlimmsten Schlächter, die in meine Klinik eingewiesen wurden. Die Generäle hatten das natürlich anders gesehen. >So ein guter Soldat! Wir befördern ihn zum Offizier und versetzen ihn nach Granada, damit er dort weitermachen kann.< Also kam er nach Granada, er und seine Frau, und wurde den Säuberungskommandos zugeteilt. Noch mit dem letzten Feind machte er kurzen Prozeß.« Joaquín ließ die Hand sinken. »Und dann bekamen sie einen Sohn« - er warf einen Blick auf Elena —, »offenbar der Mann, den du getroffen hast, und seltsamerweise erwies sich dieser Sohn für Carlos als Stolperstein. Mit einemmal stellte er fest, daß er nicht mehr töten konnte, daß seine Taten ihn verfolgten. Er wurde aus dem Einsatz zurückgezogen und in den Stab versetzt, aber selbst das half nichts. Er brach zusammen, wurde zu mir gebracht. Mit dem ersten Schub traf er ein.« Joaquín begann, auf und ab zu gehen. »Übrigens war er ausgesprochen intelligent. Auch das warf Probleme auf. Die klügsten Patienten waren immer die schwierigsten, und Carlos war, glaube ich, der klügste von allen — also sehr schwierig. Es gab Zeiten, da schien es besser mit ihm zu werden, da war er glücklich, wollte sofort zurück zu Frau und Kind. Aber dann kamen wieder Umnachtung und Verzweiflung und schmetterten ihn zu Boden.«
Er blieb stehen - sein Blick schweifte über die Bäume. »Das Kind spielte eine entscheidende Rolle. Carlos liebte seinen Jungen, er war sein ein und alles. Carlos hatte ein kleines Familienfoto - er, seine Frau und das neugeborene Kind -, und er redete ständig davon, zeigte den Patienten das Bild und erzählte, wie er sich nach der Entlassung um seinen Sohn kümmern und was er später einmal mit ihm tun würde. Es war aber eine Liebe, die aus der Verzweiflung kam, versteht ihr? Eine gefährliche Sache. In seinem Zustand sehr gefährlich.« Fröstelnd zog er die Schultern hoch und begann erneut, auf und ab zu laufen. »Mein Gott, die Stunden, die ich mit ihm verbracht habe! Dann die vielen Male, als ich drauf und dran war, ihn zu entlassen, aber immer kam die Umnachtung zurück, und er stürzte ab. Eine Art Wahnsinn war es. Er prahlte damit, sich umzubringen, sich, seine Frau, seinen Sohn, seine Familie, sein ganzes Dorf, alle, die er kannte, und er war überzeugt davon, böse zu sein, abgrundtiefböse, ohne Hoffnung auf Sühne, und daß dieses Böse alles um ihn herum infiziert hatte. Die einzige Lösung, die einzig mögliche Wiedergutmachung sah er darin, jedermann zu beseitigen. Zu diesen Zeiten mußte er eingesperrt werden, Tag und Nacht blieb er ans Bett gefesselt. Er war nicht zu besänftigen, eine Gefahr für sich selbst, für die anderen Patienten, für uns.« Joaquín unterbrach sich. Eine Weile war es still. »Und immer war da der Druck, ihn zu entlassen. So viele andere warteten auf einen Platz, immer drängte die Militärverwaltung, ihn endlich abzuschieben. Wieder und wieder sagte ich, er ist noch nicht soweit, er braucht Zeit, doch schließlich erteilten sie mir einen Befehl. Da erst bekam ich heraus, wie sie mit Problemfällen verfuhren — Entlassung aus der Armee, Sicherstellung der Akten, dann
hinaus auf die Straße —, als hätten sie nie mit ihnen zu tun gehabt. So sollte ich es auch mit Carlos machen, aber ich konnte nicht. Wochenlang schob ich es vor mir her und suchte nach einem Ausweg. Er hatte gerade eine gute Phase, wollte unbedingt nach Hause, aber ich wußte, daß er nicht geheilt war, daß der nächste Zusammenbruch kommen mußte und daß er dann seine Drohung wahrmachen würde: seine Familie töten, so viele andere töten, wie er nur konnte, zum Schluß sich selbst. Ich war mir sicher, daß es passieren würde. Was sollte ich also tun?« Er fixierte Mark und Elena mit einem traurigen, müden Lächeln. »Ihr wißt natürlich, was ich getan habe.« Sie blickten ihn nur an. Am Rand der Lichtung war ein Baumstumpf, Joaquín ließ sich tastend darauf nieder und stützte die Ellbogen aufs Knie. »Ich hab ihn hierhergebracht. Am Tag, als er entlassen wurde, am 15. September 1939. Wir fuhren mit dem Stabsfahrzeug. Ich brachte ihn nach Hause, hatte keine andere Wahl. Wir waren allein im Auto und unterhielten uns, und er war so aufgeregt, endlich nach Hause zu kommen, er dankte mir ununterbrochen, weinte vor Glück, und die ganze Zeit dachte ich: >Was machst du hier nur? Das kannst du doch nicht tun, das kannst du nicht tun.< Und dann sah ich dieses Anwesen hier, das einzige weit und breit, schon damals war es verlassen. Da wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich hielt an und sagte, daß wir nicht weiterfahren könnten. Erzählte ihm, daß die Straße weiter oben unterspült sei, daß wir zu diesem Gehöft gehen sollten, daß jemand aus Olia kommen und ihn zu Pferd nach Hause bringen werde. Nun, eine ziemlich merkwürdige Geschichte, aber Carlos dachte sich nichts dabei, schließlich kamen wir gut miteinander aus, er vertraute mir. Also gingen wir hinauf, und ich weiß noch, wie Carlos fragte: >Bist du sicher, daß
es hier ist?< Ich sah die Bäume, den jungen Kiefernwald und sagte: Vielleicht dort im Wald. Ich glaube, sie sagten, wir sollen im Wald warten. < So kamen wir auf diese Lichtung. Carlos lief sehr schnell, er hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Ich weiß noch, daß er dort stand« -Joaquín zeigte ans andere Ende der Lichtung -, »er blickte umher, suchte zwischen den Bäumen nach Spuren von Pferden, stutzte und wurde immer unruhiger. >Hier?< fragte er. >Bist du wirklich sicher?< Als er sich zu mir umdrehte, hatte ich schon auf ihn angelegt.« Joaquín rieb sich das Kinn, atmete tief durch. »Er war schockiert, aber nur für einen Moment. Darin machte er etwas, worauf ich nicht gefaßt war, und ich habe es nie vergessen. Er wußte, was passieren würde, doch er hat sich nicht gewehrt, nicht gebettelt, nicht angegriffen. Statt dessen schlug er die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Ich kann das nicht erklären, und vielleicht werdet ihr mir nicht glauben, aber meiner Meinung nach weinte er nicht um Gnade oder weil er sterben sollte. Es war etwas anderes. Ich glaube, es war die Erleichterung, die ihn zum Weinen brachte. Er begriff, daß es so enden mußte, daß er versucht hatte, ins Leben zurückzukehren, daß ich ihm hatte helfen wollen, daß wir beide gescheitert waren und es keine Hoffnung gab. Ich glaube, er weinte aus Erleichterung, weil er sich nicht weiter plagen mußte, weil die Last der Hoffnung von ihm genommen war. Dann schaute er mich an. Er weinte noch immer, aber er nahm die Hände vom Gesicht und schaute mich an. Ich fragte ihn, ob er ein Gebet sprechen wolle, und ich weiß noch, er blickte in die Bäume, als hätte ich ihn gebeten, nach einem Vogel zu suchen. Er drehte mir den Rücken zu und schüttelte den Kopf. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, und er nickte.«
Joaquín starrte auf die Stelle, an der Carlos Perez gestandenhatte. »Er fiel hintenüber, flach auf den Rücken. Kein Laut kam von ihm. Ich sah nach, ob er tot war. Seine Augen standen offen, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Das hatte ich nicht erwartet. Ich wußte nicht, daß so etwas möglich war. Die Tränen quollen ihm noch immer aus den Augen.« Er kratzte sich mit der Hand an der Wange, eine zittrige Bewegung. »Dann habe ich ihn begraben. Direkt dort drüben.« Er zeigte auf die Kiefern am anderen Ende der Lichtung. Anschließend legte er die Hand in den Schoß. An einen Baum gelehnt, blickte Mark in die vom Wind bewegten Kronen. Elena hatte sich auf den Boden gesetzt; behutsam strich sie über das Frühlingsgras. »Was sollte ich tun?« fragte Joaquín leise. Sein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. »Ihn freilassen?« Schweigen, nur der Wind war zu hören. »War er der einzige?« fragte Elena nach einer Weile. Joaquín schüttelte den Kopf. »Nein. Er war der erste und der Schwierigste. Im ganzen waren es acht. Drei hier, die anderen an anderen Orten. Alle diejenigen, die nicht gerettet werden konnten und zu gefährlich waren, um frei herumlaufen zu dürfen.« Elena schaute ihm ins Gesicht. »Aber wie konntest du das wissen, Großvater? Wie konntest du so sicher sein?« Joaquín hielt ihrem Blick stand. »Ich war mir nicht sicher, meine Liebe. Ich konnte es nur vermuten. Mehr ist uns allen nicht vergönnt. Nur Vermutungen.« »Und das hat dir gereicht? Das hat dir das Recht gegeben, eine solche Entscheidung zu treffen?« Mit einem Ruck zog er die Schultern hoch. »Wer sollte es sonst tun? Ich war da, niemand sonst. Ich war es, der entscheiden mußte.«
Er erhob sich von dem Baumstumpf und ging langsam hinüber zu der Stelle zwischen den Bäumen, wo er Carlos Perez begraben hatte. Nichts deutete daraufhin, daß dort die Erde aufgewühlt worden war. Als er sich umdrehte, sah er, daß Mark noch immer in die Bäume starrte, Elena neben sich im Gras; er lief auf seine Enkeltochter zu und bemerkte, daß sich sein Mund gegen seinen Willen zu einem Lächeln verzog. »Das macht die Sache wohl noch komplizierter, was?« rief er, um Humor bemüht. »Was sollst du nun von deinem alten Großvater halten? Jetzt ist er nicht mehr nur der >Beichtvater der Faschisten< sondern auch noch der Mörder der Mörder. Macht es das besser oder schlimmer? Ich fürchte, deine Geschichtsbücher werden dir da nicht weiterhelfen, es ist wohl eher eine philosophische Frage.« Einen Meter vor ihr blieb er stehen und wartete, daß sie seinen Blick erwiderte. Ihre Augen hatten einen stumpfen, erschöpften Ausdruck, aber Joaquín konnte keinen Abscheu entdecken. Er lächelte sie zaghaft an. »Zu dumm, daß Franco mich nicht in Dienst genommen hat, was?« Sie reagierte nicht. Er wandte sich an Mark. »Und du, mein Junge? Du weißt vermutlich, daß ich das hier für dich getan habe. Ich hoffe, es hat sich gelohnt.« Auch Mark sah ihn nicht an. Noch immer starrte er ins Weite, und Joaquín machte zwei vorsichtige Schritte in seine Richtung. Der Wind, langsam kräftiger werdend, ließ die Kiefernnadeln rascheln, daß es klang wie Wasserrauschen. »Ich bin zwar ein Scharlatan, aber ich wußte sofort die Wahrheit, als ich Colins Namen hörte und dein Gesicht sah.« Joaquín wartete auf eine Reaktion, umsonst. Theatralisch schob er die Schultern hoch, breitete die Arme
aus. »Aber da ich meine eigenen Geheimnisse zu hüten hatte, mußte ich auch dein Schweigen respektieren und daraufwarten, daß du mir zu gegebener Zeit sagen würdest, was vorgefallen war.« Er lachte leise. »Nun, mit ein bißchen Nachhilfe meinerseits.« Wieder wartete er vergeblich, daß Mark sich regte. »Sieh mich an!« Mark drehte sich um, als würde es ihm Schmerzen bereiten. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Ich wußte von Anfang an, daß da noch mehr war, daß du mir etwas verschwiegen hattest, und selbst das habe ich respektiert. Aber jetzt ist es Zeit, mein Junge. Jetzt mußt du auspacken. So kannst du nicht weitermachen.« Er lächelte ihm aufmunternd zu und zeigte mit der Hand auf die Lichtung. »Ich sage nicht, daß es leicht ist oder daß du dich sofort besser fühlen wirst. Aber ich sage dir, daß du nicht so hart im Nehmen bist wie ich. Du hältst das nicht länger durch.« Er warf einen Seitenblick auf Elena: Sie schaute ihnen zu. »Du mußt zurückkehren zu den Menschen, die dich lieben.« Mark drückte die Stirn an den Baumstamm. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Er starb einfach nicht«, flüsterte er. »Er hat gefleht, ich solle ihn retten, aber ich konnte wirklich nichts tun. Ich hab's versucht, hab's so lange versucht, aber ich wußte nicht, was ich noch tun sollte, er starb, und es nahm kein Ende. Ich konnte es irgendwann nicht mehr mit ansehen. Ich konnte ihn nicht länger sterben sehen.« Da hatte er sich neben ihn gelegt, hatte ihn in die Arme genommen und ihm das Gesicht geküßt, hatte er nach unten gegriffen, sich an den zitternden Beinen entlanggetastet, bis er die Schnürsenkel fand, die die Beinstümpfe abschnürten, und er hatte behutsam die Knoten gelöst. Und während Colin sein Blut verströmte, das kleine La-
chen bildete, bevor es in der Erde versickerte, hatte er ihn im Arm gehalten, hatte ihm über die Wangen gestrichen und ihm in die Augen gesehen, in die nun endlich Frieden und Sanftheit einkehrten. Immer von neuem sagte er: »Mach dir keine Sorgen. Ich bring dich nach Hause. Ich laß dich nicht im Stich.« »Ich hab's versucht«, sagte Mark, die Stirn noch immer gegen den Stamm gepreßt. »Ich hab's versucht, aber er hat mir den Hals abgeschnürt, und ich lag im Wasser. Ich sagte immer: >Keine Sorge, ich hab dich fest im Griff, ich bringe dich nach Hause<, aber er wollte nicht mehr, er wollte mich mit sich nehmen, er hat mir den Atem genommen, und schließlich ließ ich ihn los. Ich mußte ihn abwerfen.« Er blickte Joaquín an. »Was sollte ich tun?« Joaquín trat auf ihn zu, wischte ihm mit dem Daumen die Tränen ab, legte den Arm um seine Schultern und zog ihn an sich. »Nichts. Du hast getan, was du konntest. Jetzt ist es vorbei. Vorbei!« An der Brücke über den Guadalfo hielten sie an. Elena reichte Mark den Blumenstrauß vom Rücksitz nach vorn, er stieg aus und kletterte die Böschung hinunter. Unten lief er an einem Feldrain entlang bis zum überschwemmten Birkenwäldchen, setzte sich an den Rand, stemmte die Beine gegen einen Baum und sah das braune Wasser unter seinen Füßen dahinströmen. »Schön hier unten«, sagte er. »Schade, daß der Fluß so dreckig ist, aber das ist das Frühjahrshochwasser, ist eben immer ein bißchen schmutzig. Trotzdem ist es am Wasser schön.« Er löste das Blumenband, und die Stengel fielen lose zu Boden. Erhob einen auf, der vier weiße, anemonenartige Blüten hatte, beugte sich vor und legte ihn aufs Wasser.
Dann noch einen und noch einen. Bis sie von der Strömung erfaßt wurden, trieben sie langsam, immer wieder von Felsen aufgehalten, dahin. Joaquín und Elena sahen von der Brücke aus zu. Ein kühler Nachmittagswind wehte, und das eiserne Geländer fühlte sich kalt an. Elena schob sich näher an ihren Großvater, schlüpfte unter seinen Arm, schmiegte sich in seine Umarmung. Die letzte Blume behielt er eine Weile in der Hand. Es war eine Sorte, die er nicht kannte, der Stengel braun und drahtig, die vielen kleinen orangefarbenen Blütenblätter trocken und dünn wie Papier. Als er sie aufs Wasser legte und zwischen den Birkenstämmen davontreiben sah, spürte er auch Colin schwinden, den Ausdruck seines Gesichts, seine Art zu sprechen, seine Stimme. Und mit den Blumen, mit seinem Freund wich noch etwas anderes von ihm — die Schlinge um seinen Hals, das nachtschwarze Wasser. Er beobachtete, wie die Blumen sich in der Strömung entfernten, über die Steine, an Baumstämmen vorbei, bis sie verschwunden waren. »Gute Reise«, sagte er tonlos. Als Elena ihn zurückkommen sah, konnte sie sich erstmals vorstellen, wie dieser Tag, diese Reise enden würde. Sie würde sich im Eckzimmer zu Mark ins Bett legen, seinen Kopf in die Hände nehmen, vorsichtig und sanft in seinem Haar nach der Narbe tasten, sie würde ihm ins Gesicht blicken und keine grünen Steine mehr finden, sondern Augen, die vor Verlangen leuchteten, voll trauriger Hoffnung auf den Moment, wieder lachen zu können. Und dieses Leuchten würde ihr bleiben, selbst wenn sie das Ohr an seine Brust legte, um dem Herzschlag zu lauschen, selbst wenn sie schlief, in seinen Armen eingehüllt ins Dunkel einer mondlosen Nacht.
Dank Einen Roman zu schreiben ist etwas ganz Besonderes, das, zumindest was mich betrifft, hauptsächlich anderen zu verdanken ist. Für die beharrliche Ermutigung und die klugen Ratschläge über viele Jahre und alle Phasen hinweg, die dieses Buch durchlaufen hat, möchte ich in erster Linie vier Menschen meinen Dank aussprechen: Barrie Kessler, meiner Mutter, meiner Großmutter Louise Coonrad und Rebecca Lee. Großer Dank gilt auch meinen Agentinnen Deborah Schneider und Patty Detroit für ihre unablässige Unterstützung, meinen Lektoren Scott Moyers und Gillian Blake beim Scribner Verlag für ihren Enthusiasmus und die gute Arbeit, Collin Harrison von der Zeitschrift Harper's für Ansporn und väterliche Tips (zu spät bemerkte ich, daß er in Wirklichkeit der jüngere von uns beiden ist), Connie Brothers sowie Frank Conroy von der Autorenwerkstatt Iowa, weil sie mir halfen, zur Belletristik zurückzukehren, und der Copernicus Society of America für die finanzielle Unterstützung. Schließlich danke ich meinen Freunden Rebecca Brian, Craig Cuny, John »Pinky« Faherty, Pete Manno, Chuck Siebert und Jen Wood, die mich alle miteinander daran erinnerten, daß Schreiben nicht alles ist, ja daß zu einem erfüllten Leben weit mehr gehört: nicht zuletzt ein gutes Billardspiel, verräucherte Bars und lange Autofahrten ohne bestimmtes Ziel.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel >Triage< im Verlag Scribner, New York © 1998 Scott Anderson
Deutsche Ausgabe: © 1999 Alexander Fest Verlag, Berlin Alle Rechte vorbehalten, auch das der photomechanischen Wiedergabe Umschlaggestaltung: Ott + Stein, Berlin Umschlagreproduktion: CitySatz & Nagel, Berlin Buchgestaltung: sans Serif- Lisa Neuhalfen, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1999 ISBN 3-8286-0034-4
Scott Anderson, geboren 1959, ist Journalist und Kriegsberichterstatter. Er hat an die siebzig Länder bereist und veröffentlichte zahlreiche Artikel über Kriege, Bürgerkriege und Organisierte Kriminalität. >Triage< ist sein erster Roman.
Ein junger Kriegsfotograf kehrt aus den Bergen Kurdistans als ein anderer nach New York zurück. In seiner Erinnerung ist ein weißer, lähmender Fleck. Seine spanische Freundin Elena versucht, ihn ins Leben zurückzuholen, ihre Liebe zu retten. Scott Andersens bewegender Liebesroman verbindet literarische Verve mit großer Spannung.
»>Triage< ruft uns erneut in Erinnerung, wie Kriege im Seelenleben der Opfer fortdauern.« Stewart O'Nan
»Scott Andersons Roman über einen Kriegsfotografen, der kurz davor ist, durchzudrehen, hat mich wochenlang nicht losgelassen. Von den dramatischen Anfangsszenen in Kurdistan bis hin zum überraschenden, schönen Ende.« Sebastian Junger