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Der Autor Friedhelm Werremeier studierte drei Semester an der Akademie für Publizistik in Aachen und begann dann als Gerichtsreporter zu arbeiten. Seine journalistische Ausbildung erhielt er bei der NRZ Düsseldorf. Seit 1953 arbeitete Werremeier für mehrere große Zeitschriften als Reporter mit dem Spezialgebiet Prozeß- und Kriminalberichterstattung und als Ressortleiter beim ›Stern‹. Neben zahlreichen Tatsachenberichten über Kriminalfälle schrieb er Serien, Reportagen und Features für Illustrierte, Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Besonderes Aufsehen erregte seine Recherche zum ›Fall Heckenrose‹ (über einen Triebtäter in der DDR) und sein Buch über Jürgen Bartsch. Mit Werremeiers Romanstoff ›Taxi nach Leipzig‹ startete 1970 die TATORT-Reihe der ARD, die Buchausgabe erschien im gleichen Jahr, ebenso wie zuvor 1968 der Roman ›Ich verkaufe mich exklusiv‹, unter dem Pseudonym ›Jacob Wittenbourg‹ in der Reihe der rororo-thriller. Mit der Figur des Hamburger Hauptkommissars Paul Trimmel schuf Werremeier eine der profiliertesten Kommissarsfiguren des deutschen Krimis. Friedhelm Werremeier schrieb weiterhin zahlreiche Fernsehdrehbücher und war an der Entwicklung von Serien wie beispielsweise Peter Strohm maßgeblich beteiligt. Gemeinsam mit seiner Frau übersetzte er auch mehrere Bücher des amerikanischen Bestsellerautors Joseph Wambaugh.
Klappentext Einen Mordverdächtigen, der sich zu seiner Entlastung auf Richard Wagner beruft – das hat selbst Trimmel, Hauptkommissar bei der Hamburger Mordkommission, noch nicht erlebt. Natürlich ist er skeptisch, zumal der mutmaßliche Täter Bothüter ein klassisches Motiv gehabt hat, seine geschiedene Frau umzubringen: die »Scheidungsalimente« sind ihm über den Kopf gewachsen. Aber während der »Tristan-Mörder« Schlagzeilen macht, während der Prozeß gegen Klaus Bothüter seinem Höhepunkt zustrebt, muß Trimmel einsehen, daß ihm die Hände gebunden sind. Bothüters Schicksal hängt am Ende nur von der Aussage seiner Tochter ab: Die Zehnjährige ist die einzige Tatzeugin – und dadurch hat sie ihren Vater völlig in der Hand!
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Friedhelm Werremeier
Trimmel und Isolde Kriminalroman
Originalausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE-BUCH Nr. 02/2063 im Wilhelm Heyne Verlag, München Herausgegeben von Bernhard Matt Für diese Taschenbuchausgabe vom Autor Durchgesehen und überarbeitet Ungekürzte überarbeitete Taschenbuchausgabe Copyright © 1980 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Printed in Germany 1983 Umschlagfoto: MALL PHOTODESIGN, Stuttgart Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Gesamtherstellung: Eisnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3-453-10.667-9
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1 Durch eine dicke Glasscheibe wird der Schwurgerichtssaal vom Zuschauerraum getrennt; kugelsicher soll sie sein, und schon vor Jahren, als hier einige Terroristenprozesse stattfanden, hat man sie installiert, damit nicht plötzlich mal ein eingeschmuggelter Colt von hinten nach vorn losging. Die Scheibe stört aber nicht weiter: durch eine Lautsprecheranlage, die jedes Wort und jeden Seufzer deutlich nach hinten überträgt, ist die Öffentlichkeit immer hergestellt. Und keine einzige Schliere trübt den Blick nach vorn auf die dunkle, alte Täfelung, auf die Gerichtstische, die mit ihrem reichen Schnitzwerk aussehen wie das Chorgestühl in einer Hamburger Kirche, und auf die ernsten, gesammelten Gesichter der sogenannten Prozeßbeteiligten. Es gibt modernere Gerichtssäle in Deutschland, ausgestattet mit Stahlrohrsesseln und Möbeln aus hellem Holz, das sich bei näherem Hinsehen als Kunststoff erweist. Hamburg jedoch hat sich schon immer einiges auf seine oft düstere Würde zugute gehalten, und fast immer – so auch heute – hat man am Morgen eines Prozeßtags den Eindruck, als ob gleich der Hauptpastor predigen würde: über die Erlösung natürlich, höchstens zu Karfreitag mal über Mord und Totschlag… Aber kein Hauptpastor zieht auf, sondern Trimmel tritt ein, nur ein Hauptkommissar von der Kripo, als Zeuge geladen im Mordprozeß Bothüter. Sein Pokergesicht paßt in keiner einzigen Partie zu einem Prediger, und reden soll er hier sowieso nur dann, wenn er gefragt wird. Das Gericht jedoch läßt sich Zeit; der Vorsitzende Richter Dr. Eberhard Schellhorn, ein schlanker, glatzköpfiger Herr mit funkelnder Goldbrille, hat den linken Zeigefinger als Lesezeichen in eine Akte gesteckt und flüstert mit seinem rechten Beisitzer. Es ist 9.15 Uhr, der dritte Verhandlungstag: schon am ersten Tag hat das Gericht verkündet, daß es sich unbedingt die Zeit nehmen will, die es braucht. »Nicht nur gut Ding will Weile haben!« hat daraufhin ein Reporter, der für den Hamburger ›Mittag‹ berichtet, süffisant geschrieben – derselbe, der schon in einem Vorbericht zum Prozeß die ironischen Sätze veröffentlicht hat: »Das mag ja alles nach München 5
passen, dieser Fall Bothüter, diese verrückte Geschichte, daß ein Mann seine Frau verläßt, weil sie Isolde heißt und sich auch wie Isolde verhält. Aber seit wann, bitte schön, lassen sich hanseatische Ankläger dazu hinreißen, neben dem Angeklagten, der Isolde am Ende getötet haben soll, auch noch einen gewissen Herrn Richard Wagner für die Untat verantwortlich zu machen? Einen Herrn, der seit fast hundert Jahren verblichen ist?« Ankläger Portheine hat zunächst herzlich gegrinst, als er die Zeitung las. Er ist Oberstaatsanwalt, seit fast zehn Jahren zuständig für Kapitalverbrechen: in dem Job gewöhnt man sich daran, angepinkelt zu werden. Aber dann begann er sich zu ärgern. Der 38jährige Klaus Bothüter, steht in seiner Anklageschrift, soll zum Mörder geworden sein, weil er nach seiner Ehescheidung zuviel Unterhalt zahlen mußte – zugegebenermaßen eine unheimliche Stange Geld. Er soll dann auch noch den Tatbestand einer Körperverletzung und einer Freiheitsberaubung erfüllt haben, indem er seine neunjährige Tochter, die ihn während oder kurz nach der Tat überraschte, in einen Schrank sperrte, so daß sie fast erstickt wäre. Vorher hatte er ihr, damit sie ihn nicht erkannte, angeblich hinterrücks eine Decke über den Kopf geworfen – alles in allem ein zwar ungewöhnlicher, aber durchaus einleuchtender Verbrechensablauf. Man hätte also auf das Brimborium mit Richard Wagner, das hier tatsächlich eine Rolle spielt, leicht verzichten können, wenn es nur darum gegangen wäre, einen Sensationsprozeß zu veranstalten… Aber bitte, sagte sich Portheine – wenn der Angeklagte glaubt, seine geschiedene Frau sei das Opfer eines gewalttätigen Liebestodrituals geworden, sehr frei nach ›Tristan und Isolde‹, ist es sicherlich doch nur fair, auch diese Einlassung in die Anklage aufzunehmen! Soll er’s etwa unterschlagen, daß das Mordopfer Isolde Bothüter die Tochter eines berühmten Dirigenten war? Daß sie einen Wagnerfimmel hatte, der vermutlich zur Scheidung ihrer Ehe führte und zum Mordmotiv gehören kann? Daß die gewaltsam Verstorbene nach Wagners Musik, vor allem nach Tristan, süchtig war wie andere Leute nach Hasch oder Tinke? Nichts da! beschloß Portheine: er ist zwar fest überzeugt, daß es ein Mord aus dem Motivbereich Habgier war, ein Mord wegen der hohen Unterhaltszahlungen. Aber unterschlagen wird hier gar nichts: 6
wenn Richard Wagner auf den Tisch gehört, wird er auf gar keinen Fall unter den Teppich gekehrt! Mehrfach versucht er jetzt, Trimmel zuzunicken, den er seit Jahren gut kennt. Aber der stützt sich aufs Zeugenpult und sieht stur geradeaus; er sieht allerdings auch nicht nach links, obgleich sich dort der smarte Angeklagte fast den Hals ausrenkt, um einem Blick von ihm zu begegnen… Trimmel steht da wie eine Statue. Und die Richter, diese beiden Schwarzfräcke, flüstern immer noch. Und inzwischen hat sich sogar noch der linke Beisitzer herübergebeugt, um nichts zu verpassen. »Beraten sie etwa jetzt schon das Urteil?« notiert der Reporter, der sich vorgenommen hat, möglichst über den Prozeß zu meckern. Immerhin ist der Mann, dem hier der schlimme Vorwurf gemacht wird, seine einst so geliebte Exfrau Isolde heimtückisch und aus Habgier erschlagen zu haben, von Beruf Redakteur. Und warum soll sich nicht auch mal die Presse das Recht einer Krähe herausnehmen, einer anderen Krähe möglichst kein Auge auszuhacken? Robert Gerber heißt der Reporter. Ein ›Free lance‹ seit Jahren, einer, der seine Berichte immer an die Zeitung verkauft, die ihm am meisten zahlt. Oder – seltener – an dasjenige Blatt, das sie im Gegensatz zu den meisten Redaktionen unverändert und ungekürzt veröffentlicht; für diesen Luxus gibt es dann in der Regel sehr viel weniger Honorar. Den Auftrag vom ›Hamburger Mittag‹ indessen hat er angenommen, weil er den ›Mittag‹-Redakteur Klaus Bothüter privat kennt. Insofern ist er Partei, wenn schon keine Prozeßpartei. Robert Gerber, 48 Jahre alt, ist fest davon überzeugt, daß das letzte Wort in diesem Fall noch lange nicht in den Mordakten steht. Er ist sogar Optimist, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Einstellung: er hat nicht mal die Angst, der Indizienprozeß könne mit einem schauerlichen Fehlurteil enden, aus seiner Sicht mit einer Verurteilung. Außerdem hat er schon zu Anfang des Kriminalfalls ein bißchen mitgemischt, und inzwischen kennt er in diesem Prozeß außer seinem angeklagten Kollegen Bothüter auch den jungen Verteidiger Erich Schenkel, den routinierten Oberstaatsanwalt Portheine und den Zeugen Trimmel. Mit dem ist er sogar halbwegs befreundet. Und dann ist da noch was. Gerber wird das Gefühl nicht los, als habe das Schicksal ihm in diesem Fall noch eine wichtige Rolle zugedacht. Gestern abend hat er es, vielleicht unvorsichtigerweise, 7
sogar Trimmel gesagt, als er sich mit ihm für ein Stündchen am Biertisch versammelt hatte; Trimmel hat natürlich gefragt, wie er auf eine solche Idee komme? Gerber war unsicher. »Was soll ich sagen – ich hab’s im Urin!« Trimmel schüttelte den Kopf. »Sie spinnen!« »Das müssen Sie gerade sagen!« Gerber grinste. Keine dreizehn Stunden sind seitdem vergangen, und Trimmel wechselt jetzt doch mal das Standbein. Er nimmt die Hand vom Zeugenpult und sieht auch zum erstenmal in eine andere Richtung: Nach rechts zum Fenster, unter dem Gerber sitzt, inmitten seiner Kollegen. Links von der Presse, keine zwei Meter von ihr entfernt, sitzt allerdings gleich der Staatsanwalt. Und so nimmt letztlich Portheine den Blick entgegen, und im Gegenzug wird er endlich auch seinen eigenen Morgengruß los. »Wir fahren fort mit der Vernehmung des Zeugen Trimmel«, sagt Richter Dr. Schellhorn, »entschuldigen Sie, Herr Trimmel, das Gericht mußte noch eine Verfahrensfrage klären!« Gerber notiert: »Also, so ein Erbsenzähler! Manchmal läßt er Zeugen drei Stunden sitzen und kümmert sich nicht drum, und dann entschuldigt er sich wegen drei Minuten!« »Sie haben uns gestern ja schon ausführlich über Ihre Vernehmungen des Angeklagten Klaus Bothüter berichtet«, sagt der Richter, »wir wollen jetzt mal ein Stück zurückgehen und wissen, was Sie in der Wohnung der ehemaligen Familie Bothüter fanden. Würden Sie dem Gericht bitte schildern, wie es in der Tatwohnung aussah und wie es weiterging?« »Frau Bothüter«, sagt Trimmel, »war offenbar soeben verstorben, als wir eintrafen. Wir beschränkten uns zunächst darauf, uns einen Überblick zu verschaffen, und kamen zu dem Ergebnis, daß die Frau vermutlich mit einer Gipsbüste erschlagen worden war…« »Mit einer Wagnerbüste!« nickt Schellhorn. »…genau. Wir begannen dann mit den Maßnahmen zur Spurensicherung und mit den Befragungen der Nachbarn, natürlich auch mit den Ermittlungen außerhalb des Hauses…« »Was heißt eigentlich wir?« unterbricht Verteidiger Schenkel, wobei er sich, unartig wie manche Advokaten, Notizen macht und nicht einmal aufsieht. 8
»Mein Kollege Petersen und ich«, antwortet Trimmel, »etwas später die Kollegen Laumen und Frau Stiller, außerdem Kriminalhauptmeister Krombach und Obermeister Dagge, die den Tatortfundbericht erstellen sollten. Ich befand mich gerade in der Wohnung nebenan, als mir, glaube ich, Herr Dagge zurief, das Kind sei gefunden worden…« »…das Kind, ja, das arme Kind!« sagt Schenkel im Plauderton. »Eine Meisterleistung der Polizei, nach einer Stunde Arbeit in der Tatwohnung endlich ein überlebendes zweites Opfer zu finden!« Der Vorsitzende läßt seine Fingerspitzen auf den Akten tanzen und legt die Stirn verärgert in Falten, rügt aber vorerst nichts. Und Trimmel läßt sich hier sowieso nicht provozieren. Er sieht vorschriftsmäßig das Gericht an und sagt ausgesprochen friedlich: »Wenn das Gericht es wünscht, kann ich gern zwei Sätze über den Verlauf einer Arbeit am Tatort sagen um zu erklären, wie es zu der verspäteten Auffindung des Kindes Bothüter kommen konnte!« »…also, ich verzichte«, sagt Schenkel, »ich konnt’s mir momentan nur nicht verkneifen!« Da entschließt sich der Richter zu einer Zurechtweisung. »In Ihrem Schlußvortrag werden Sie sich kaum etwas verkneifen müssen, Herr Rechtsanwalt. Im Augenblick allerdings führe ich die Vernehmung!« Schenkel deutet eine Verbeugung an. »Sehr wohl!« »Fahren Sie fort, Herr Trimmel!« »Das Kind Isolde Bothüter wurde zunächst durch einen in der Nähe wohnenden Arzt versorgt, wenig später durch den sofort gerufenen Notarzt. Es stand unter einem Schock, konnte jedoch kurz befragt werden, wer es in den Kleiderschrank gesperrt hatte…« Schenkel hebt den durch einen Füllfederhalter verlängerten Zeigefinger. »Herr Vorsitzender!« »Herr Verteidiger?« »Ich habe den Eindruck, Herr Vorsitzender, daß der Zeuge hier nicht präzise ist. Wie ich den Akten entnommen habe, wurde das Kind aus einem Kleiderschrank befreit, der von innen nicht zu öffnen war, und allenfalls daraufhin erst informatorisch befragt!« Dr. Schellhorn wundert sich. »Genauso habe ich den Zeugen allerdings verstanden…« 9
»Nicht ganz!« behauptet Schenkel. »Er hat gesagt, daß das Kind in den Kleiderschrank eingesperrt worden war, aber nicht, wie es aus diesem Schrank befreit worden ist! Wir wissen alle, daß der allerersten Aussage dieses Kindes eine möglicherweise prozeßentscheidende Bedeutung zukommt… da möchte ich ja nun wirklich präzise wissen, wie’s gewesen ist!« »Also wer, Herr Trimmel, hat das Kind Isolde Bothüter entdeckt und befreit?« fragt Schellhorn. »Die Kriminalmeisterin Frau Stiller.« »Dann, Herr Verteidiger, werden wir diesen Punkt bis zur Vernehmung von Frau Stiller zurückstellen!« »…natürlich. Würden Sie den Zeugen bitte dennoch fragen, ob er als Leiter der Mordkommission wenigstens bei der informatorischen Befragung des Kindes anwesend war?« »Ich war nur in der Nähe!« sagt Trimmel von sich aus. »Das geht aus dem von Ihnen unterzeichneten Schlußbericht allerdings nicht eindeutig hervor«, sagt Schenkel, »und das ist doch wohl zumindest eine Ungenauigkeit!« Anscheinend muß er doch immer das letzte Wort haben, sagt sich der Reporter Gerber. Aber insgeheim freut er sich. Marlies Effenberger kann dem prozessualen Hickhack nur mühsam folgen. Sie sitzt in der ersten Reihe hinter der dicken Scheibe und ist bei ihrem Erscheinen auch heute morgen wieder so oft fotografiert worden, daß sie jetzt noch Schwierigkeiten mit den Augen hat. Eine zierliche, sehr hübsche, sparsam geschminkte Frau in Rock und Bluse, die Verlobte des ›Tristan-Mörders‹, wie Bothüter von manchen Zeitungen genannt wird: seit drei Wochen ist ihr Foto so oft veröffentlicht worden, daß sie denkt, ganz Hamburg müsse sie kennen. Drei Plätze neben ihr sitzt Giacomo Valpone, der letzte Freund der toten Isolde Bothüter; wenn man deren Exehemann nicht so schnell verhaftet hätte, wäre er vielleicht sogar zum Hauptverdächtigen geworden, ausgerechnet wegen seiner ebenfalls fanatischen Liebe zur Musik. Valpone ist ein ruhiger, hagerer Mann Mitte Vierzig, ein Gelehrtentyp mit Geheimratsecken, Lehrer an einer italienischen Schule: er ist mit einem schmalen schwarzen Strickbinder zum gedeckten grauen Anzug äußerst korrekt gekleidet, und genauso korrekt benimmt er sich. Seit er gestern bei der gemeinsamen Zeugenbe10
lehrung erfuhr, welche Rolle Marlies Effenberger in diesem Drama spielt, hat er sie mindestens schon sechsmal höflich gegrüßt. Diesseits der Scheibe schließlich, rechts hinter dem Angeklagten, sitzt der psychiatrische Gutachter Professor Dr. Robert Kemm. Ein kleiner, berühmter, weißhaariger, allerdings selbst sehr krank aussehender Arzt in den Sechzigern, offenbar früh gealtert und verbraucht im Dienst an der leidenden Menschheit. Er wird begleitet von seiner Diplompsychologin Dr. Bause, einer schmächtigen Blondine ohne Vornamen, die den Meister anhimmelt und ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen versucht. Oberstaatsanwalt Portheine kennt den ehemaligen Chef der Hamburger Klinik Rietbrook seit langem, ebenso wie Trimmel. Ihm fällt auf, daß sich der Professor an diesem Morgen mehrfach ans Herz greift. Er fühlt sich unwohl, denkt Portheine, aber muß er das nicht auch in der Situation, in die er hier geraten ist? Muß er sich nicht elend fühlen, nachdem ihn das Schwurgericht um Auskunft darüber gebeten hat, ob dem Angeklagten Bothüter die ihm zur Last gelegten Taten aus der Sicht des Seelenarztes zuzutrauen sind? Trimmel kann inzwischen halbwegs ungestört schildern, wie Klaus Bothüter spätabends nach der Entdeckung der Tat zu ihm gekommen war. Portheine blättert in seinem Exemplar des vorläufigen schriftlichen Gutachtens, das Kemm erstattet hat. »Mit der Darstellung einer von Bothüter wahrscheinlich zunehmend krisenhaft erlebten persönlichen Situation«, liest er, »soll auf keinen Fall ein psychologisches Indiz für seine Täterschaft geliefert werden; es kann also lediglich von der Möglichkeit einer Entladung in einer rational unkontrollierten Gewalttat die Rede sein. Nur in solchem Zusammenhang sind auch Aussagen über vorstellbare Motive zu werten…« Wirklich bitter für einen Arzt, sagt sich Portheine, wenngleich ihm die Sätze durchaus in den Kram passen. Eigentlich sollte es Schwurgerichten verboten sein, einem renommierten Wissenschaftler die Antwort auf die Frage abzuverlangen, ob einem Menschen eine bestimmte Tat zuzutrauen ist! Das sind im Grunde unzumutbare Konflikte – und dennoch, die Methode macht immer mehr Schule! Der Ankläger erinnert sich dann an zwei winzige Episoden, die er vor dem Beginn der heutigen Verhandlung auf dem Flur beobachtet hat. 11
Es entgeht ihm ja kaum was, und natürlich hat er – erstens – bemerkt, daß der Zeuge Valpone die Zeugin Effenberger grüßt. Nun ist das ja noch einigermaßen amüsant, irgendwie sogar rührend. Die beiden kennen sich nicht, gehören eigentlich zwei feindlichen Lagern an – und nun finden sie sich offenbar dennoch in einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammen: die Partnerin des einen ist tot, der Partner der anderen sitzt, möglicherweise noch für sehr lange Zeit… Aber zweitens – wie ist das mit Kemm? Robert Kemm und Marlies Effenberger? Er Professor, sie Lehrerin von Beruf? Kemm mit seiner von jeher bekannten Schwäche für attraktive Frauen? Die beiden kennen sich – das weiß Portheine aus sicherer Quelle. Wie gut sie sich kennen, weiß er zwar nicht. Aber warum ist Kemm heute morgen nicht nur grußlos, sondern mit ostentativ abgewandtem Gesicht an ihr vorbeimarschiert, als sei ihm die Begegnung ungeheuer peinlich? Es gibt eben in jedem großen Prozeß mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere juristische Weisheit sich träumen läßt, denkt der Oberstaatsanwalt am Ende beinahe philosophisch. Es gibt soviel Ungesagtes, so viele Episoden, die nie zur Sprache kommen und die doch so vieles erklären könnten… dennoch: vielleicht ist es besser so. Vielleicht würde viel Schlimmes noch schlimmer. »Schön!« sagt Richter Schellhorn in diesem Moment: »schön« ist offenbar das Lieblingswort der meisten deutschen Gerichtsvorsitzenden. »Herr Bothüter bestritt also schon am Abend des Tattages, mit der Tötung seiner ehemaligen Frau in irgendeinem Zusammenhang zu stehen. Aber unabhängig davon, Herr Trimmel, welchen Eindruck machte Herr Bothüter bei seiner ersten Vernehmung auf Sie? Wirkte er bestürzt, betroffen… war er außer sich, wie man so sagt… wie waren seine Reaktionen, bevor und nachdem Sie ihm mitteilten, daß er als Beschuldigter vernommen werden müsse?« »Oha!« sagt Verteidiger Schenkel. Trimmel überlegt sich die Antwort dreimal. »Als er kam, wirkte er mittelgradig alkoholisiert. Vielleicht deshalb kamen ihm auch mal die Tränen, ohne daß er… daß er restlos verzweifelt zu sein schien. Erstaunlich gefaßt war er dann, nachdem wir ihm eröffnet hatten, daß er unter Verdacht stehe… da hätte man mehr Protest erwarten kön-
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nen. Insgesamt bewies er eigentlich eine erstaunliche charakterliche Selbstdisziplin…« Da ist Schenkel aber sofort auf den Beinen. »Es tut mir leid, Herr Vorsitzender, aber ich kann das nicht hinnehmen! Der Zeuge ist Polizeibeamter, aber wenn ich ihn so reden höre, glaube ich fast, den Herrn psychiatrischen Sachverständigen zu hören! Ich möchte da allerschwerste Bedenken anmelden!« Schellhorn berät sich mit seinem Berichterstatter, und der schüttelt den Kopf. Schellhorn nickt, es kommt auf dasselbe hinaus. »Nach Ansicht des Gerichts ist der Zeuge als langjähriger Leiter einer Mordkommission durchaus in der Lage, bei einer Vernehmung nicht nur Fakten zu sammeln, sondern auch das Verhalten eines Menschen zu beobachten…« »…mittelgradige Alkoholisierung, charakterliche Selbstdisziplin!« unterbricht Schenkel höhnisch. »Das sind keine Verhaltensschilderungen, das sind Wertungen! Ich möchte dringend bitten, hier wenigstens Herrn Professor Kemm zu befragen!« Kemm sieht vorwurfsvoll den Vorsitzenden an: es paßt ihm gar nicht, daß er das Licht seiner Weisheit in Etappen leuchten lassen soll. Schellhorn jedoch hat nicht zu Unrecht den Ruf, Hamburgs geduldigster Richter zu sein. »Herr Professor«, sagt er ironisch, »der Herr Verteidiger zweifelt offenbar daran, ob Sie interessiert sind, einen Augenzeugenbericht über das Verhalten des Angeklagten kurz nach den ihm zur Last gelegten Taten zu hören. Darf ich Sie fragen, ob er damit recht hat?« Kemm steht auf, jetzt doch sehr mühsam. »Ich halte es immer für wertvoll, solche Eindrücke vermittelt zu bekommen. Die Wortwahl ist bei solchen Schilderungen sicherlich nicht entscheidend. Wichtig sind sie für mich vor allem deshalb, weil ich als Arzt meine Gespräche mit einem Probanden regelmäßig erst Tage oder Wochen nach einer Tat aufnehmen kann…« »Hört, hört!« sagt Erich Schenkel verbittert. Aber Kemm sieht ihn direkt an, und sekundenlang lächelt er vor sich hin. »Wenn Sie gestatten, Herr Rechtsanwalt, Sie geraten in die Gefahr der Haarspalterei! Selbst wenn da jetzt ein falscher Zungenschlag laut werden sollte… zurechtrücken könnte ich’s später immer noch…« »Also, Herr Trimmel?« sagt der Richter befriedigt. 13
»Eigentlich«, sagt Trimmel bedächtig, »war ich ja fertig mit meiner Antwort…« Das ist dann so unfreiwillig komisch, daß sich fast jeder im Saal ein kleines Grinsen gestattet. »Sonst noch Fragen an den Zeugen?« erkundigt sich wenig später der Richter. »Eine Frage, Herr Trimmel«, sagt Portheine, »hatten Sie sich nicht gleich bei der ersten Tatortbesichtigung über die ungewöhnliche Tatwaffe Gedanken gemacht?« »Doch, doch«, sagt Trimmel, »ich hab mich auch spontan umgesehen, ob nicht ein anderes Schlagwerkzeug…« »…eben!« sagt Portheine. »Aber es war die Büste, wie wir wissen. Gab es darüber hinaus nicht noch andere… na, Hinweise auf Richard Wagner?« Trimmel nickt. »Schallplatten gab’s. Eine war vermutlich vor oder sogar während der Tat abgespielt worden…« »Wissen Sie noch, welche Platte?« »Sie gehörte zu einem Album mit mehreren Platten, die ebenfalls ausgepackt waren. Es handelte sich um die Oper ›Tristan und Isolde‹ von Richard Wagner.« »Fiel es Ihnen nicht auf, daß die getötete Frau Bothüter mit Vornamen ebenfalls Isolde hieß?« »Doch, natürlich. Wir haben dann ja auch sehr schnell ermittelt, daß Frau Bothüter die Tochter des bekannten Dirigenten Siegfried Matuschek war und von ihm als Wagnerverehrer den Namen Isolde bekommen hatte…« »Sie erinnern sich«, sagt Portheine langsam, »daß später Herr Bothüter in seiner Vernehmung ein etwas… na, sagen wir ungewöhnliches Wortspiel gebrauchte?« »Ich weiß im Moment nicht…« »Dann will ich es Ihnen sagen… Handelte es sich nicht um das Wortspiel ›Trimmel und Isolde‹?« »Ja!« »Sie hatten sich also namentlich vorgestellt?« »Natürlich!« »…aber nicht etwa als Opernfan ausgegeben…?« »Nein!« 14
»Danke«, sagt Portheine, bevor sich das im Publikum aufkommende glucksende Gelächter ausbreiten kann, »ich habe dann keine weitere Frage mehr!« Verteidiger Schenkel verzichtet darauf, den ihm offenbar äußerst lästigen Zeugen dadurch aufzuwerten, daß er ihn in die Zange nimmt, und zur Überraschung des Richters hat auch Professor Kemm keine Frage mehr. Also wird Trimmel unvereidigt entlassen, setzt sich allerdings diesseits der Glaswand auf einen Stuhl und hört weiter zu. Petersen und Laumen haben ihren kurzen Auftritt, würden ebenfalls gern im Saal bleiben, werden aber von Trimmel mit einer knappen Handbewegung wieder an die Arbeit gescheucht. Für den Nachmittag ist die Obermeisterin Stiller bestellt: da könnt’s spannend werden. Zunächst jedoch verkündet der Vorsitzende eine zweistündige Mittagspause: er ist ein ziemlich starker Raucher, und Portheine hat sich sowieso schon gewundert, daß er solange an einem Stück verhandelt hat. Und plötzlich ist jetzt Marlies Effenberger im Saal. Die Polizisten, die Bothüter durch die Hintertür abführen sollen, kennen das Spiel schon und drücken beide Augen zu: Marlies umarmt den ›Bräutigam‹ und sieht ihm tief in die Augen. Sie würde sich auf der Stelle für ihn an den Pranger stellen, wie’s aussieht, so sehr liebt sie ihn. Eine rührende Szene. Nur Verteidiger Schenkel, der ohne Robe noch jünger aussieht als sonst, verzieht mokant das Gesicht. Trimmel wird von Portheine in ein gutbürgerliches SouterrainRestaurant am Karl-Muck-Platz mitgenommen. Er bestellt einen Hering nach Hausfrauenart, kriegt, kaum, daß er sich gesetzt hat, ein kleines Bier, trinkt’s aus und starrt verbiestert vor sich hin. »Ich weiß, was Sie denken«, sagt der Oberstaatsanwalt, »wollen wir wetten?« »Natürlich wissen Sie’s!« »Also?« »Warum«, fragt Trimmel, »mußten Sie unbedingt diesen Unsinn mit Trimmel und Isolde wieder aufwärmen?« Portheine nickt. »Ich hatte es mir tatsächlich überlegt. Aber im Grunde kann doch dieser ganze Wagnerqualm gar nicht oft genug aufgewirbelt werden, weil er sich dann um so eher verzieht… Lie15
bestrank und Todesmotiv… sagen Sie doch selbst, daß man der Sache eigentlich am besten ohne diesen Hintergrund gerecht wird!« »Sie und gerecht!« höhnt Trimmel. »Ich bin gerecht!« behauptet er lächelnd. Aber gleich darauf wird er ernst. »Sie wissen genau, daß ich noch nie eine Mordanklage vertreten habe, von der ich nicht felsenfest überzeugt war!« »Das ändert nichts daran«, sagt Trimmel, »daß die Sache diesmal reichlich dünne ist!« »…eben!« gibt er zu. »Der dünnste meiner Fälle. Und das ist der zweite Grund, warum ich den Isoldeschnack auf Ihre Kosten gebracht habe! Einzig und allein für den Herrn Psychiater, wenn Sie’s noch nicht begriffen haben… der soll sich ruhig sagen, daß einer, der unter Mordverdacht Witze reißt, seine fünf Sinne durchaus noch beisammen hat!« Der Hering kommt, und dem Oberstaatsanwalt werden zwei Spiegeleier serviert. Noch ein Bier für Trimmel, noch ein Wässerchen für den Ankläger: der geht ja nun davon aus, daß er nachmittags ziemlich ins Geschirr muß, mehr jedenfalls als bisher. Und als er sich mit der Serviette sorgsam den Mund abwischt, fragt er Trimmel noch mal: »Sind Sie etwa nicht davon überzeugt, daß Bothüter verurteilt werden muß?« Trimmel zögert. »Ich glaub, daß er’s gewesen ist, auch wenn er von Anfang an einen guten Eindruck gemacht hat. Aber daß er verdonnert wird, davon bin ich nicht überzeugt!« Portheine seufzt. »Es wird schwer werden, leider. Im Übrigen, nehmen Sie’s mir nicht übel… Sie haben eigentlich am wenigsten Grund, sich über meine Taktiken aufzuregen!« »Wieso?« »Nun ja – wenn Sie und Ihre Leute besser ermittelt hätten, stände ich ja besser da!« »Wir haben unsere Grenzen, wie Sie wissen«, sagt Trimmel, »wenn einer in der Vernehmung sagt, er ist müde, müssen wir ihn ins Bett schicken, und wenn wir Fallen stellen, gilt’s gleich als arglistige Täuschung. Ist ja alles gut und schön und muß wohl so sein. Bloß, wenn der Gesetzgeber uns die Flügel stutzt, ist die Justiz hinterher zwangsläufig der Dumme!« »Sicher. Es hängt ja auch noch viel von Ihrer Frau Stiller ab, was die sagt… die werde ich mir ja nun noch mal richtig vornehmen 16
müssen. Meinen Sie nicht doch, daß da mehr drin war – daß Frau Stiller diese Bothüter-Tochter doch zu einer eindeutigeren Aussage hätte bewegen können?« »Wissen Sie noch«, fragt Trimmel daraufhin, »wie ich mal einen Mann zum Geständnis gebracht hab, nachdem er vom Dach gefallen und dem Tode nahe war?« »Die Kleine war aber nicht dem Tode nahe! Die war nach Lage der Dinge ganz okay…« »Da war ein Arzt dabei, drei Ärzte sogar«, sagt Trimmel stur, »genau wie bei dem Mann, der vom Dach gefallen war. Und Ärzte haben immer was dagegen, wenn wir Verletzten Fragen stellen wollen, abgesehen davon, daß sie sicher ihre Gründe dafür haben. Und nachdem Sie mir damals fast ein Disziplinarverfahren angehängt haben… nee, Herr Portheine, seitdem bin ich da sehr viel vorsichtiger! Haben Sie mir damals etwa sehr viel helfen können…?« Portheine antwortet nicht, sondern winkt dem Kellner; der kritzelt zwei Zettel voll, legt sie auf den Tisch und bleibt gleich stehen. Trimmel rundet den Betrag um zwanzig Pfennig auf neun Mark ab, Portheine gibt einen Groschen. Sie kommen geblendet in die Sonne, haben noch Zeit für einen Spaziergang in Planten un Blomen, und Trimmel fragt beiläufig: »Was machen Sie eigentlich, wenn Bothüters Verteidiger demnächst einen Antrag auf Haftentlassung stellt?« »Will er das denn?« fragt Portheine erschrocken. »Keine Ahnung. Bloß, wenn ich Verteidiger wär…« »…ja… ja, also, ich weiß nicht. Ich würde mich wohl mit dem Generalstaatsanwalt beraten, man muß ja den Realitäten ins Auge sehen… also, möglich wär’s sogar, daß ich mich nicht mit Gewalt dagegenstelle, obgleich ich ja, wie gesagt… na ja.« Die letzten zweihundert Meter reden sie dann über die bevorstehende Hamburger Bürgerschaftswahl, aber nicht mehr über den Fall. Als sie das Straf Justizgebäude betreten, wird Portheine gleich an der Personenkontrolle aufgehalten. »Herr Oberstaatsanwalt Portheine? Sie möchten bitte gleich mal zum Herrn Vorsitzenden Richter Doktor Schellhorn kommen!« »Wieso?« fragt er erstaunt. »Weiß ich auch nicht«, sagt der Beamte, »es wär aber sehr dringend, sagt die Geschäftsstelle…« 17
»Was das nun wieder soll…« murrt er, läßt Trimmel aber sofort stehen und nimmt auf der Freitreppe mit seinen ziemlich langen Beinen immer drei Stufen auf einmal. Etwas sehr Schlimmes muß über Mittag passiert sein. Dr. Schellhorn ist totenbleich, als er, ganz gegen seine Gewohnheit, auf die Sekunde pünktlich mit seiner Kammer wieder im Gerichtssaal erscheint. Die Mitrichter und die Schöffen, aber auch Portheine und der Verteidiger machen verschlossene, verkniffene oder gar entsetzte Gesichter. Und Schellhorn läßt die Leute, die sich beim Eintritt des Schwurgerichts erhoben haben, unendlich lange stehen. »Ich habe Ihnen allen die traurige Mitteilung zu machen, daß der psychiatrische Sachverständige, Herr Professor Doktor Kemm, heute mittag einen Herzanfall erlitten hat und im Krankenhaus verstorben ist!« sagt er schließlich mit einer Stimme, die selbst durch die Verstärkermikrofone kaum zu verstehen ist. »Ich darf zunächst der psychologischen Sachverständigen Frau Doktor Bause als Mitarbeiterin von Herrn Professor Doktor Kemm meine und des Gerichts aufrichtige Teilnahme zum Ausdruck bringen, ausdrücklich auch im Namen der übrigen Prozeßbeteiligten…« Frau Dr. Bause nickt. Sie hat geweint, wie man deutlich sieht, und kämpft auch jetzt wieder mit den Tränen. »Ich muß nun immerhin«, fährt Schellhorn fort, »die Frage aufwerfen, die für die Zukunft… den weiteren Verlauf dieser Hauptverhandlung von entscheidender Bedeutung ist. Herr Professor Doktor Kemm hat ein vorläufiges schriftliches Gutachten über den Angeklagten erstattet, hätte allerdings sein endgültiges Gutachten selbstverständlich erst zu einem späteren Zeitpunkt der Hauptverhandlung erstattet und natürlich auch die Ergebnisse der Hauptverhandlung berücksichtigt. Frau Doktor Bause ist als Psychologin naturgemäß nicht in der Lage, diese Aufgabe von Herrn Professor Doktor Kemm zu übernehmen, wie sie mir sagte. Es stellt sich also die Frage, ob es dem Gericht gelingen kann, einen psychiatrischen Sachverständigen zu finden, der Herrn Bothüter während des weiteren Verlaufs der Hauptverhandlung begutachtet…« Er macht eine Pause, sieht nacheinander hinüber zur Verteidigung und zur Staatsanwaltschaft, sieht aber keinerlei Reaktion.
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»Wie Sie wissen, hat es in den letzten Jahren Fälle gegeben, in denen eine Begutachtung während der Hauptverhandlung nach Ansicht aller Beteiligten erfolgreich stattgefunden hat«, fährt Schellhorn fort, »insofern möchte das Gericht diesen Weg gehen, sich um einen neuen Sachverständigen bemühen und die Hauptverhandlung so zu retten versuchen. Der Herr Oberstaatsanwalt und der Herr Verteidiger haben mir gesagt, daß sie grundsätzlich damit einverstanden sind, jedoch für ihre endgültigen Stellungnahmen etwas Zeit benötigen… ist das korrekt?« »Ich werde mich in drei Tagen abschließend äußern!« versichert Portheine. »Ich habe zwar Bedenken«, sagt Verteidiger Schenkel, »möchte einer Fortführung der Hauptverhandlung aber im Interesse meines Mandanten natürlich nicht im Wege stehen!« »Schön. Ich unterbreche dann die Hauptverhandlung nach Paragraph zwoneunundzwanzig Absatz eins der Strafprozeßordnung bis zum übernächsten Montag…« Das alles hat, ungewöhnlich genug, im Stehen stattgefunden, und nun verschwindet das Gericht hinter der Tür zum Beratungszimmer. Im Saal läuft sofort alles durcheinander: nur Klaus Bothüter, plötzlich in den Hintergrund gedrängt, sitzt verloren an seinem Anklagetischchen und wartet darauf, daß ihn die Wachmannschaft in die UHaft zurückbringt. Trimmel geht zu ihm und gibt ihm die Hand, doch er nimmt sie wie geistesabwesend, wie die Hand eines Fremden. »Hatten Sie nicht auch einen ganz guten Kontakt zu Kemm?« fragt Trimmel. Bothüter zuckt die Schultern. »Er war ganz fair, glaub ich. Aber wenn’s dadurch jetzt noch länger dauert, find ich’s gar nicht mehr fair…« Dann kommen die Polizisten und führen ihn durch die Tür in der getäfelten Wand aus dem Saal. »Ich kann seine Reaktion durchaus verstehen!« sagt Portheine hinter Trimmel. »Naturgemäß ist der Angeklagte immer derjenige, dem der Prozeß am meisten an die Nieren geht…« Trimmel dreht sich um. Portheine trägt die Robe schon über dem Arm. »Wie ist es denn passiert?« fragt Trimmel. »In der Kantine?« »Noch hier im Saal«, sagt Portheine, »wir können kaum draußen gewesen sein. Plötzlich wurde ihm schlecht, und man hat den Ge19
richtsarzt gerufen… aber die Frau Doktor Bause meint, im Grunde war er schon tot, als er hier rausgetragen wurde…« »Verdammt plötzlich…« »Tja, schon… aber mir kam er heute morgen schon was merkwürdig vor…« »Makabre Geschichte!« sagt Trimmel. »Total verrückt!«
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2 Gleich der Anruf, der die Sache ins Rollen brachte, war gespenstisch. »Ich bin… bin tot…« flüsterte eine Frau in den Apparat, und der Obermeister am Notruf in der Polizeifunkzentrale erzählte Trimmel später, es habe sich angehört, als würde sie mit Blut gurgeln. »Ihren Namen«, fragte der Beamte, »Ihre Nummer?« Erstmal kam nichts, außer diesem entsetzlichen Geräusch aus der Kehle. »Wie heißen Sie?« drängte der Polizist. »Wo wohnen Sie; was ist los?« Da gurgelte sie: »…eins… zwei… acht… sieben… sieben… fünf…« Aber weiter kam sie nicht, obgleich der Polizist mehrfach nachfragte: eine Ziffer fehlte, wie er wußte, denn die Hamburger Telefonnummern, die mit eins zwo acht beginnen, sind siebenstellig. Ein einziges Wort kam noch, so ähnlich wie »sofort« – dann fiel der Frau offenbar der Hörer aus der Hand, und sie selbst stürzte: es gab einen Aufprall und machte zweimal ›klack‹. Dennoch, die Verbindung wurde nicht unterbrochen. Der Obermeister gab das Telefon sofort an den Kommissar vom Dienst und sagte: »Das ist ernst… paß auf, ob sie sich wieder meldet!« Und der Kommissar sagte in rhythmischen Abständen »hallo?« und »wer sind Sie?« und »hören Sie doch!« Der Obermeister aber ließ durch die Technik – durch die sogenannte Erdung – die vollständige Nummer ermitteln, und weil das seine Zeit braucht, wählte er von einem anderen Apparat die angegebene unvollständige Nummer an, nacheinander mit den Ziffern eins bis null am Ende. Also 1.287.751 bis 1.287.751 – eine äußerst sinnvolle Idee. Bei einem Freizeichen legte er sofort wieder auf – und wenn besetzt war, machte er ein Kreuz. Drei Nummern waren besetzt. 1.287.752 1.287.758 1.287.759 Die Post fand sehr schnell die Namen und Adressen heraus, die – in dieser Reihenfolge – dazugehörten: 21
Güntherstraße 27. Cremers, H. Uferstraße 16. Oberberg, Maria. Richardstraße 45a. Bothüter, Klaus, Redakteur. Es war der Moment, in dem der Name zum ersten Mal auftauchte. Der Obermeister in der Zentrale schob den Kollegen am Funktisch vom Mikrofon weg. »Peter sechsunddreißig«, sagte er, »bitte kommen!« »Peter sechsunddreißig hört…« »Wo befinden Sie sich?« »Adolfstraße, kurz vor der Sierichstraße, stadtauswärts.« »Fahren Sie sofort ohne Signal Uferstraße sechzehn, ich wiederhole, Uferstraße eins sechs, überprüfen Sie Wohnung Oberberg, Maria, ich wiederhole, Vorname Maria, Ober wie Ober, Berg wie Berg, stellen Sie fest, ob sich eine verletzte Frau in der Wohnung befindet…« »Verstanden!« sagte der Polizist von Peter 36. »Peter vier«, sagte der Obermeister, »bitte kommen!« »Wir sind direkt am Winterhuder Markt«, sagte eine eifrige junge Stimme, »wir können sofort…« Der Obermeister nahm’s genau. »Mit wem spreche ich?« »Peter vier hört…« sagte die junge Stimme kleinlaut. »Fahren Sie Richardstraße fünfundvierzig klein a, ich wiederhole, Richardstraße fünfundvierzig klein a, überprüfen Sie die Wohnung Klaus Bothüter, ich buchstabiere, Berta, Otto, Theodor, Heinrich, Übel, Theodor, Emil, Richard… Klaus mit Konrad… Klaus Bothüter…« »…ob eine verletzte Frau drin ist, verstanden… Zentrale Peter, Peter vier Ende…« Dann nur noch einer. »Peter zweiundneunzig…« »Hier Peter zweiundneunzig«, sagte diesmal eine ältere, äußerst friedliche Stimme, »reg dich ab, Bernie, wir stehen an der Einmündung Wagnerstraße Wandsbeker Allee…« »Peter zweiundneunzig«, sagte der Obermeister, plötzlich merkwürdig schwach, »fahren Sie Güntherstraße siebenundzwanzig, Güntherstraße zwo sieben… Wohnung groß H punkt Cremers, H wie Heinrich, Cremers mit Caesar, hinten Siegfried…« »Zentrale Peter, verstanden, Ende…« 22
Der Kollege vom Funktisch fragte, als der Obermeister aufstand und er seinen Platz wieder einnahm: »Was ist denn eigentlich los?« »Weiß nicht«, sagte der Obermeister, »hoffentlich nix!« Aber eigentlich hoffte er, daß doch was los war. Er hatte sich außerdem schon so in die Sache reingeschafft, daß er restlos davon überzeugt war, daß die Frau tot war. Es lag alles im Raum Hamburg 76, Winterhude, Eilbek, Hohenfelde. Der grün-weiße Streifenwagen Peter 36 fuhr schnell, aber ohne optisches und akustisches Signal durch die Körnerstraße, ein Stückchen über den Hofweg und dann durch den Winterhuder Weg, erwischte eine astreine grüne Welle und kam über die Mundsburg in die Uferstraße. »Zentrale Peter!« sagte der Beifahrer von Peter 36. »Hier Zentrale Peter…« Es war wieder der Kollege, der vor diesem komischen Einsatzbefehl am Funktisch gesessen hatte. »Hier Peter sechsunddreißig. Wir fahren Uferstraße eins sechs vorbei, von außen nichts Besonderes… was liegt denn da nun wirklich an?« »Moment mal…« Drei oder vier Sekunden Pause. »Also, Bernie sagt, da ist ein Notruf gekommen, da kommen drei Adressen in Frage, darunter eure. Es hat sich so angehört, als ob eine Frau buchstäblich kurz vor dem Versterben ist…« Peter 36 machte an der nächsten Straßeneinmündung eine ruhige Drehung und fuhr die Uferstraße langsam wieder zurück. »War die Frau allein?« »Keine Ahnung…« »Na gut. Verstanden, Ende.« Fünfzig Meter vor dem vierstöckigen roten Haus Uferstraße 16 rollte der Streifenwagen in eine markierte Parklücke. Die beiden Polizisten stiegen aus und gingen das letzte Stück zu Fuß. Der eine schaute zur Uhr: es war 20.24 Uhr und noch ziemlich hell. Der andere sah auf das Klingelbrett, und ganz unten rechts, weiß auf schwarz stand: Oberberg. Er drückte auf den Knopf, und man hörte die Klingel gedämpft aus der Parterrewohnung rechts. Gleich darauf ertönte der Summer, und die Haustür sprang auf. Beide Polizisten entsicherten ihre Pistolen, als sie in den dunklen Flur traten. »Moment«, rief eine Frau, »ich telefonier grade, bin sofort fertig…« 23
Die Wohnungstür rechts stand offen, und die Polizisten traten nacheinander in die erleuchtete Diele. Aus einem Zimmer hörten sie die aufgeregte, laute Stimme der Frau: »…das ist doch Terror, der Mann ist doch Terrorist… setzt mir mit einem Mal die Pistole auf die Brust und sagt, er braucht sofort die Wohnung, weil er nirgends mehr sicher ist… nee, weißte, da laß ich mich nicht reinziehen… gut, aber ruf mich später wieder an, ganz bestimmt, hörste…?« Terrorist, Pistole, Wohnung. Lauter Reizwörter: die Polizisten hatten tatsächlich schon ihre Dienstwaffen gezogen, als die Frau im Türrahmen erschien. »Gott’s willen!« sagte sie, fürchterlich erschrocken, nahm aber verdächtigerweise vorschriftsmäßig die Arme hoch. »Sind Sie Frau Maria Oberberg?« Sie nickte verängstigt. Mitte Dreißig mochte sie sein, war ziemlich aus der Puste, und ihre grüne bestickte Bluse stand einen Knopf zu weit offen. »Mit wem haben Sie da gesprochen?« »Mit… mit einer Freundin… was ist denn los?« »Was war da mit Terroristen?« »Mit… mit was?« Aber dann fiel der Groschen. »Oje, das hab ich doch nur so gesagt! Einer Freundin von meiner Freundin ist der Freund abgehauen, und nun will er bei mir pennen… das hab ich gemeint, sonst doch nix…« »Dürfen wir trotzdem mal reinkommen?« »Ungern«, sagte Frau Oberberg, »aber bitte…« Im Wohnzimmer lagen eine Handtasche, zwei Einkaufstüten und ein Schlüsselbund auf dem Tisch: Maria Oberberg war offenbar gerade nach Hause gekommen. Die Beamten steckten die Waffen wieder weg. Immerhin machte einer, fast automatisch, den großen Schrank auf; da fielen gleich Papiere und Dessous heraus, und die Wohnungsinhaberin, in ihrer Unordnung erwischt, wurde böse. »Das geht zu weit!« sagte sie wütend. »Was wollen Sie von mir?« »Wir sollen was überprüfen…« sagte der erste Polizist. »Ja, und was?« Der zweite Polizist sah durch eine Tür ins Schlafzimmer, und plötzlich drängte sich Frau Oberberg an ihm vorbei und riß das Bett24
zeug weg und schrie: »Jetzt reicht’s… gucken Sie doch auch im Lokus nach, ob da Terroristen…« »Ach was!« sagte der erste Polizist. »Was heißt ach was!« »Es tut uns leid, Frau Oberberg… wir hatten da einen Anruf, es könnte jemand schwer verletzt sein… war vielleicht ein mieser Witz, oder es hat jemand aus Versehen eine falsche Nummer angegeben… Ihre Nummer… hier, nehmen Sie meine Karte, es hat sich wirklich erledigt…« Er ging mit seinem Kollegen zum Ausgang, und Gott sei Dank machte die Frau nicht noch mehr Theater. Sie las die Karte, auf der Edgar Biehl stand, und fragte: »Kommt so was denn oft vor, Herr Biehl?« »Tja«, sagte er, »tätig werden müssen wir ja in solchen Fällen immer. Und ärgerlich ist es dann für alle Beteiligten.« Dann aber schimpfte Peter 36 über Funk los, gleich zwei Mann hoch. »So ein Schnarch… Terroristen, dazu ne halbnackte Frau… schickt doch das MEK und die Sitte gleichzeitig… oder kommt doch selber…« »Funkdisziplin!« drohte die Zentrale Peter. »Soll ich dir mal was sagen?« sagte der erste Polizist von Peter 36. »Soll ich dir mal sagen, daß du ne gottverdammte weiße Maus bist?« Immerhin hatte Trimmel zu diesem Zeitpunkt bereits erfahren, daß da eine merkwürdige Sache im Busch war: wie das Leben so spielt, saß er in seiner neuen Stammkneipe hinter dem nahe gelegenen Ernst-Deutsch-Theater, und der eifrige Obermeister aus der Funkzentrale hatte ihn nach zwei Kreuz-und-Quer-Verbindungen tatsächlich am Apparat. »Na und?« sagte Trimmel, nachdem er sich den Fall, der zu diesem Zeitpunkt noch keiner war, angehört hatte. »Herr Hauptkommissar«, sagte der Obermeister, der sonst nie einen Vorgesetzen mit dem Dienstgrad anredete, nicht mal den Präsidenten, wenngleich er den nur einmal auf zwei Meter Distanz im Fahrstuhl gesehen hatte, »die Sache ist doch die. Unsereiner ist doch derjenige, der hinterher immer gesagt kriegt, daß er nicht schnell genug geschaltet hat. Und da dacht ich, nachdem ich nun mal gehört hatte, 25
daß Sie Bereitschaftsdienst haben und sich in der Nähe der… der betreffenden Telefone aufhalten…« »Sagen Sie mal«, fragte Trimmel, erfüllt von plötzlichem Argwohn, »ich kenn Sie doch, Herr…?« »Wolter, Herr Trimmel, Hartwig Wolter. Ich war bis letztes Jahr im Personalrat, aber meine Gesundheit hat mir dann… ich meine, seit letztem Jahr bin ich nicht mehr im Personalrat!« So, so, dachte Trimmel. »Und jetzt sind Sie wieder aktiv?« Er merkte es nicht, daß die Frage doppelten Boden hatte, und er sagte schlicht: »Ja!« Er war so glücklich, den Leiter einer ständigen Mordkommission vom Biertisch aufscheuchen zu können, daß er mit seinem Schicksal seit langem mal wieder zufrieden war: vielleicht mußte Trimmel ja jetzt richtig arbeiten…! Trimmel fragte: »…Wolter, Wolter… hatten wir nicht ein paarmal miteinander zu tun? Heißen Sie nicht Bernie?« »Ach, so ein blöder Spitzname«, sagte Hartwig alias Bernie Wolter, der als Personalrat tatsächlich öfter Beschwerden über Trimmel bearbeitet hatte, »gern hör ich’s nicht…« »Also gut, Herr Wolter, rufen Sie notfalls wieder an!« Er ging zurück ins Lokal, wo Petersen saß, und sagte: »Du glaubst nicht, was uns da für ne Laus erwischt hat…« Zur selben Zeit wurde Bernie in der Zentrale vom Kommissar vom Dienst gefragt: »Drehst du da nicht reichlich hoch?« Bernie jedoch blieb ungerührt. »Wenn hier heute einer einem vor den Koffer scheißt, dann bin ich das!« Viel später konnte er es immer noch nicht richtig fassen, daß er mit seiner Sturheit richtig gelegen hatte. Peter 4, besetzt mit den beiden Polizeimeistern Runge und Dornfeld, erreichte gerade die Richardstraße und parkte gegenüber von Nummer 45a. Das Haus war mindestens achtstöckig, und als Runge und Dornfeld die Straße überquerten, sahen sie reichlich mißmutig an der etwas abgeblätterten hellen Fassade hoch. »Wetten«, sagte Dornfeld, »daß der mindestens direkt unter dem Dach wohnt?« Die Haustür war nur angelehnt, die Namensschilder neben den Klingelknöpfen waren nicht vollständig, ein Schild Bothüter gab’s gar nicht. Wenigstens funktionierte das Treppenlicht.
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Parterre, erster Stock, zweiter Stock. Im Parterre wohnten zwei, auf den Etagen drei Parteien. Gott sei Dank tauchte das Schild Bothüter doch schon im dritten Stock auf, an der Tür der linken Wohnung. Innen brannte Licht. Aber auch nach dem dritten langen Klingeln meldete sich niemand. »Die Adresse ist genauso falsch wie die anderen!« sagte Runge, als die Treppenhausbeleuchtung erlosch. »Da hält irgendeine Ziege die halbe Polente zum Narren!« Das Treppenhauslicht ging wieder an, ohne daß einer von ihnen den Knopf gedrückt hatte, und jemand kam hoch, mit harten, gleichmäßigen Schritten. Er kam bis zum dritten Stock: ein Mann mit Kinnbart in einem Jeansanzug. Überrascht blieb er auf der letzten Halbtreppe stehen. »Hallooo!« sagte er, mit der falschen Betonung. »Guten Abend!« sagte Dornfeld. »Wollen Sie zu mir?« »Sind Sie Herr Bothüter?« »Nee!« sagte der Mann. Er ging die letzten Stufen hoch und schloß die mittlere Wohnung auf, mit dem Namensschild Dalkow in abgemattetem Messing. »Noch mal Glück gehabt, nich?« »Herr Dalkow…« sagte Runge. »Ja?« »Hier bei Bothüter macht niemand auf…« »Wird wohl niemand da sein!« »Ja, aber es brennt Licht…« »Ja – und?« Dornfeld fragte ruhig: »Haben Sie vielleicht einen Schlüssel?« »Ich kenn die Leute kaum!« meinte Dalkow. Immerhin, er überlegte. »Theoretisch könnte man über meinen Balkon klettern… nur, ich weiß nicht…« »Theoretisch könnte was passiert sein!« sagte Dornfeld rasch. »Wir haben einen Notruf gekriegt von einer Frau, der es offenbar ganz mies ging… ist Herr Bothüter verheiratet oder gibt’s da eine Frau?« Da entschloß sich Dalkow zur Nachbarschaftshilfe und sagte: »Kommse mal mit!« Er ging voraus, fand die Sache offenbar so mysteriös, daß er kein Licht machte, ging durch den dunklen Flur in ein dämmriges Wohnzimmer und öffnete leise eine Tür zum Balkon. Er schlich an der Brüstung entlang bis zu einer Trennwand aus undurchsichtigem 27
Drahtglas. Von dort aus brauchte er sich kaum den Hals zu verrenken, um auf den Nachbarbalkon zu schauen. »Oh, Mann!« sagte er plötzlich. »Lassen Sie mich mal!« sagte Runge. Er zog Dalkow, dessen Gesicht in der Dämmerung kalkweiß war, zur Seite und beugte sich so weit wie möglich nach drüben. Dann kletterte er auf die Brüstung, verlagerte vorsichtig sein Gewicht und sprang auf den Balkon der Wohnung Bothüter. Die Balkontür zum hellerleuchteten Wohnzimmer stand offen, und in der Tür auf der anderen Seite des Zimmers sah man zwei Beine, unnatürlich verrenkt. Dunkle Flecken überall, bestimmt Blutflecken. Runge ging vorsichtig an ihnen vorbei durch das Wohnzimmer. Dornfeld war ihm sofort nachgeklettert, und so standen sie dann zu zweit vor der Frau, der die Beine gehörten. Sie hatte sich offenbar noch ans Telefon in die Diele geschleppt und war im Türrahmen zusammengebrochen. Sie lag auf dem Bauch, und der Telefonhörer lag neben ihrem Kopf. Der Kopf schien nur noch eine blutige Masse zu sein, und doch schien der Mund plötzlich »Hallo…« zu sagen. Aber es war nicht der Mund: die Stimme kam aus dem Telefonhörer. Dornfeld nahm den Hörer auf und flüsterte in die Muschel: »Ja, hallo…?« Ein überraschter Laut kam zurück, dann wieder die leise Stimme, eine Männerstimme: »Ja, wer sind Sie… was ist los…?« Dornfeld flüsterte: »Wer sind Sie denn?« »Die Polizei!« drängte die Männerstimme. »Können wir Ihnen jetzt helfen?« »Wieso jetzt?« fragte Dornfeld. »Sind Sie wirklich…?« »…Bott, Kommissar vom Dienst…« »Dornfeld…« sagte er, wie erlöst, »Peter vier… wir haben hier eine Frau gefunden, sie ist… Moment…« Er sah die Frau an: eine ziemlich junge Frau, bekleidet mit Jeans und einer rosa, jetzt blutverschmierten Bluse. Scheußliche Kopfverletzungen, keine Atmung… gerade jetzt eine einzelne Schnappatmung. »Ich glaub, sie stirbt gerade«, sagte er beklommen, »bitte veranlassen Sie alles, Richardstraße fünfundvierzig klein a, Bothüter…« 28
Dann legte er, in all seiner Verwirrung, tatsächlich den Hörer auf. Und zunächst merkten weder er noch Runge, daß sie die Direktleitung zu einem Tatort gekappt hatten, den noch niemand überblickte. Sie begannen, so sinnlos es auch war, unverzüglich mit einer Art Erster Hilfe. »Der ist doch bescheuert!« schrie Bernie in der Zentrale. »Der gehört doch sofort… der hat doch nicht… also, das kann ich dem heute schon garantieren…« »Reg dich ab!« sagte der Kommissar vom Dienst scharf. Er wollte neu wählen, aber da sagte eine friedliche Stimme: »Zentrale Peter, bitte kommen!« Bernie erkannte die Stimme und machte einen gewaltigen Satz zum Funktisch. Er beugte sich ans Mikrofon und sagte laut: »Hier Zentrale Peter!« »Schrei nicht so!« sagte der Mann aus dem Funkwagen, der sich meldete. »Hier Peter zwoundneunzig, Blaumann… wir sind hier Güntherstraße zwo sieben, aber bei Cremers mit Caesar meldet sich keiner… vielleicht sind sie weggegangen nach dem Telefonieren. Sollen wir nun trotzdem…« »Haut ab«, unterbrach Bernie, »hat sich erledigt!« »Schlimm?« fragte Blaumann. »Noch schlimmer…« »Ja – können wir denn nicht helfen?« »Ja, sicher!« sagte Bernie, wie erlöst, daß endlich mal einer außer ihm Initiative entwickelte. »Peter zweiundneunzig und Peter sechsunddreißig, fahren Sie beide Richardstraße fünfundvierzig klein a, Wohnung Bothüter, unterstützen Sie die dort tätigen Kollegen!« »Verstanden, Ende!« kam’s aus beiden Wagen gleichzeitig. Blaumann ist wirklich ein guter Mann, dachte Bernie. Dann jedoch begann er zu grinsen. Friedlich ging er wieder an seine Telefonbatterie und wählte kaltlächelnd abermals die Nummer von Trimmels Kneipe. Die Mordaufklärungsmaschine lief so früh an wie noch nie. Laumen hatte an dem Abend frei, und er wurde, nach Trimmel und Petersen, Bernies nächstes Opfer. Er saß mit gekreuzten Beinen auf seinem Diwan und spielte Flöte; seit er gehört hatte, daß es auch bei 29
der Kripo in Amsterdam einen Flötisten geben sollte, hatte er sein Hobby von früher neu entdeckt. Und nun gab ihm Trimmel persönlich den angeblich dringenden Auftrag, zu ermitteln, ob es bei einer Zeitung oder Zeitschrift in Hamburg oder beim NDR oder sonstwo einen Redakteur Klaus Bothüter gab. »Und dann?« fragte er fatalistisch. »Dann bringst du ihn vorsichtig in die Richardstraße fünfundvierzig a und lieferst ihn bei mir ab!« »Und wenn ich ihn nicht finde?« »Dann kommst du allein!« »Na schön!« sagte Laumen, und seinen Standardsatz für solche Fälle wurde er auch noch los. »Sie wissen doch noch, Chef, daß ich meinen Beruf liebe?« Jeder hatte seine Fragen. Die Kriminalmeisterin Karin Stiller wollte wissen: »Bothüter wie Boot oder Bote?« »Ein Otto«, sagte Trimmel, »und bevor Sie weiter fragen – was sich da in dieser Richardstraße ereignet hat, weiß ich auch noch nicht. Aber da läuft jetzt erst mal bestimmt viel Volk zusammen, und da mischen Sie sich drunter und hören, was so geredet wird, und dann kommen Sie zu mir!« Karin Stiller legte auf und bat ihre Freundin, die zu Besuch war, sich auf unbestimmte Zeit mit dem Fernseher allein zu amüsieren. Welche Aufregungen gerade ihr noch bevorstanden, ahnte sie nicht im geringsten, als sie loszog. Zuerst traf der Notarztwagen vor dem Tathaus ein, und bis dahin lungerten höchstens drei Passanten um den einzelnen Polizeiwagen herum, der da stand. Der junge Doktor rannte jedoch wie Armin Hary die paar Meter zum Hauseingang und die Treppen hoch, und plötzlich waren’s zwölf Leute: Ein Arzt im Sprintertempo, dazu zwei Krankenträger, da muß doch was los sein! Der Arzt allerdings sah dann auf den ersten Blick, daß er auch langsam hätte gehen können. Die Tür zur Wohnung Bothüter im dritten Stock stand offen, und gleich in der Diele lag die Frau, der er helfen sollte, der aber nicht mehr zu helfen war. Sie lag auf dem Rücken, und neben ihr kniete ein Polizist, der ihr offenbar ein Kissen unter die Schultern geschoben und den Gürtel und die Bluse geöffnet hatte. Blutverschmiert 30
und spitzgesichtig und wachsbleich war die Frau: in der vorderen Scheitelregion hatte sie eine Fraktur und es trat Hirnmasse aus. Der Arzt beugte sich über sie: Keine Atmung mehr, keine Pupillenreaktion. Wenn er gewußt hätte, daß die Frau sich mit ihrer schrecklichen Verletzung noch zum Telefon geschleppt und sogar telefoniert hatte, wäre er dennoch nicht überrascht gewesen: nach Verletzungen in diesem Hirnbereich ist fast alles möglich. Unten stoppten mit kreischenden Reifen kurz hintereinander die Streifenwagen Peter 92 und 36, und vier Polizisten sprangen heraus. Inzwischen waren tatsächlich schon an die hundert Neugierige zusammengelaufen, und der Hauptmeister Blaumann tat das Nächstliegende: er ordnete an, die Menschen wenigstens ein paar Meter vom Arztwagen wegzudrängen. Ein grauer, privater Ford kam: Trimmel stieg aus, hinter ihm Petersen. Stumm gingen sie durch die Absperrung, und zwei von den vier Polizisten nickten ihnen halbwegs respektvoll zu. Später erst rollte, fast gemächlich, der sogenannte Mordwagen der Polizei mit den Spurensicherern und ihren Gerätschaften an, ein grüner, geschlossener Kombi. Für die Leute auf der Straße nahm alles seinen geregelten Verlauf, genau wie im Fernsehkrimi: Da war ein Mord passiert, das wußte man inzwischen. Und da wurde jetzt die Bühne aufgebaut, erhellt durch Blaulicht und bevölkert mit dem Notarzt und natürlich dem Kommissar und seinen Assistenten… Bothüter hieß das Schauerstück, und das sprach sich rasch herum. Eins allerdings blieb dem Publikum verborgen: daß sich hier die Mordkommission wirklich nur deshalb in Rekordzeit am Tatort eingefunden hatte, weil einer namens Bernie nach zwanzig Dienstjahren auch mal eine Belobigung wegen umsichtigen Verhaltens kriegen wollte. Trimmel war zunächst in der Wohnungstür Bothüter stehengeblieben, und Petersen, der ihm über die Schulter sah, stand noch im Treppenflur. Sie sahen dem Notarzt zu, der nichts ausrichten konnte und offenbar dennoch viel zu tun hatte: immer wieder beugte er sich über die Frau in der Diele, deren zerschmetterter Kopf in einer Blutlache lag – und immer wieder prüfte er Reaktionen, die es nicht mehr gab.
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Zwei Männer in Weiß mit einer Krankentrage standen herum. Der Arzt richtete sich auf und sagte entschlossen in ihre Richtung: »Aus!« Trimmel trat näher, Petersen blieb auf Tuchfühlung. Trimmel fragte: »Ist sie jetzt gerade gestorben?« »Ja… wieso?« fragte der Arzt. »Weil man mir mitgeteilt hat, daß sie noch telefoniert haben soll…« »Ja, das gibt’s«, sagte der Arzt, »es gibt Fälle, wo eine Kugel den Hirnbereich von Schläfe zu Schläfe durchschlagen hat oder in der Scheitelregion steckengeblieben ist und wo der Getroffene überlebt hat. Hier« – er deutete auf Frau Bothüter, wie’s sein Professor im Hörsaal bei Demonstrationen getan haben mochte – »hier kann’s wirklich so gewesen sein, daß nach dem Schlag der Funktionsausfall erst nach und nach erfolgte, daß die Frau also eine Zeitlang nach der Verletzung tatsächlich noch Funktionen ausüben konnte…« »Aha!« Trimmel sah sich um und blickte ins Wohnzimmer, und er sah sich die Lage der Leiche an und versuchte, sich vorzustellen, wie das abgelaufen sein konnte. »Wenn sie im Wohnzimmer verletzt worden ist, kann sie also noch bis hierher gelaufen sein und telefoniert haben?« »Sag ich ja!« sagte der Arzt. »Im Grunde wär’s sogar noch eine Stunde nach der Entstehung des Traumas vorstellbar!« Er beugte sich über das Telefontischchen, holte einen Totenschein aus der Brieftasche und begann, ihn auszufüllen. »Um den Transport kümmern Sie sich vielleicht…« »Sicher!« sagte Trimmel. Aber sicher später, dachte er: wenn die Frau sowieso tot war, konnte der Tatort einschließlich Leiche erst mal so bleiben. Plötzlich sagte jemand: »Polizeimeister Dornfeld, Herr Hauptkommissar…!« Trimmel wandte sich um. »Ja?« »Wir erhielten um zwanzig Uhr zwölf einen Einsatzbefehl und sind gleich nach unserem Eintreffen über den Balkon der Nachbarwohnung in die Wohnung einge…« »Ich weiß!« sagte Trimmel. »…ja, und dann…« – dann wußte er nicht mehr weiter und wartete einfach ab. 32
Trimmel ging an ihm vorbei in den Wohnraum. Sämtliche Lampen waren eingeschaltet, Blutflecken schimmerten grünlich. Das Zimmer war gar nicht mal billig möbliert, wirkte jedoch merkwürdig unfertig. Ein Hammer lag auf der Fensterbank, daneben Gardinennägel. Und neben dem Fernseher stand ein schwerer Messingaschenbecher, ein Standascher, ein ideales Schlagwerkzeug… Frau Bothüter allerdings war offensichtlich weder mit dem Hammer noch mit dem Ascher erschlagen worden! Petersen sah den Gipskopf, der ursprünglich auf einem gedrechselten Fuß gestanden hatte, als erster. Er lag hinter einem Sessel, von der Tür aus gesehen: der Kopf war der von Richard Wagner gewesen, noch deutlich zu erkennen, auch wenn der Fuß und ein Drittel des Gesichts abgesplittert waren. Drei Trümmer des Meisters nebeneinander, zwischen Blutspritzern auf dem Teppich verstreut… So kam Richard Wagner ins Spiel. »Meinste«, fragte Trimmel entgeistert, »daß die damit totgeschlagen worden ist?« Petersen sah genauer hin. »Immerhin sind Haare dran…« »Nicht zu fassen!« murmelte Trimmel. Hinter dem zweiten Sessel lagen Schallplatten, unordentlich hingeworfen, stapelweise. Wagner von Karajan, Wagner von Solti, Wagner von Boulez, Wagner von Furtwängler. Einzelne, ausgepackte Platten und bunte Alben mit den Starfotos der Dirigenten: Fliegender Holländer, Tristan und Isolde, Meistersinger, Tristan und Isolde, Tannhäuser, Tristan und Isolde sowie der Lohengrin. Nebenan in der Bücherwand war einiges an Elektronik eingebaut. Auf dem Plattenspieler über dem Steuergerät lag eine abgelaufene Platte. Petersen stakste vorsichtig hin, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Noch mal Tristan und Isolde!« »War da nicht Sonntag Premiere in der Staatsoper?« »Ich glaub ja!« Petersen entdeckte zwei Eintrittskarten neben dem Plattenspieler. »Ja. Und die Dame und noch jemand waren anwesend!« Dann konnte er es nicht lassen und setzte die Anlage in Betrieb. Es ertönte, brüllend laut, ein äußerst sehnsüchtiges Motiv. »Stell das Ding ab!« schrie Trimmel. »Mord beim Liebestod!« schrie Petersen zurück. »Das ist der Liebestod aus dem Tristan!« Er stellte die Ruhe wieder her und sagte erschüttert: »Das ist ja ein Musikdrama!« 33
»Also, Isolde«, sagte der Polizeimeister Runge mit wichtiger Miene, »Isolde hieß die Frau Bothüter mit Vornamen!« Krombach stand dann im Türrahmen, der bärtige Hauptmeister von der Spurensicherung, hinter ihm sein ständiger Mitarbeiter Dagge. Krombach sah die Leute im Wohnzimmer, die sicher wieder alle Spuren zertrampelt hatten, finster an und fragte scheinheilig: »Seid ihr schon mit allem fertig?« »Hier hat keiner was angefaßt!« log Trimmel. Sie verzogen sich allesamt nach draußen: Dornfeld und Runge stellten sich auf den Treppenabsätzen oben und unten wie die Schildwachen auf, und Petersen und Trimmel gingen nach nebenan zu Herrn Dalkow, dessen Tür noch immer offenstand. Dann stürzten sich Krombach und Dagge gleichzeitig auf eine Zigarettenkippe unter dem Heizkörper – wie zwei Jungen, die mit scharfen Augen einen Groschen gesehen und gewartet haben, bis sie allein sind… Krombach war als erster am Ziel. Er stellte ein Schildchen mit der Ziffer 1 neben den kostbaren Fund, den er sich, da er etwas kurzsichtig war, aus zehn Zentimetern Entfernung betrachtete: eine Kippe der nicht allzu häufigen Marke Parisienne, nicht ganz bis zum Filter aufgeraucht. Wenn sie Glück hatten, stammte die Kippe vom Mörder. Und bei noch mehr Glück war der Mörder Ausscheider und verriet sich durch seine im Speichel verborgene Blutformel! »Rauchen tut hier sonst keiner!« sagte Dagge; so was riecht man als erfahrener Tatort-Mann. Er sah in einen Glasaschenbecher auf dem Tisch. »Der ist allerdings kürzlich benutzt worden. Wahrscheinlich ist die Kippe rausgefallen, als ihn jemand ausgewischt hat!« Krombach nickte. »Ja, das kann hinkommen!« Allerdings hatte die Kippe nicht mehr geglüht, wenn es so gewesen war: auf dem Teppichboden war keine Brandspur. Krombach überließ Dagge dann das Wohnzimmer, und der streifte hauchdünne Handschuhe über, bevor er seine Gerätschaften auspackte. Sorgsam legte er die Fotoausrüstung auf eine Stelle des Fußbodens, an der es offensichtlich keine Spuren gab. Und systematisch verteilte er weitere Nummernschildchen im Raum, neben jedes Asservat, so auch neben die Trümmer von Richard Wagner. Es sah aus, als arbeite er in Zeitlupe.
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Krombach strich durch die Wohnung. Im Badezimmer sah er eine Wanne mit Blumenkacheln und sorgsam aufgeräumte gläserne Ablagen. Er registrierte: in den übrigen Räumen war’s längst nicht so aufgeräumt. Immerhin stand auch hier der Toilettendeckel offen, und im Abfluß schwammen zwei abgebrannte Streichhölzer, die er herausfischte. Er sah ins Schlafzimmer nebenan: die Betten standen nebeneinander und waren nicht gemacht. Esche antik oder Birke, ebenso der riesige Kleiderschrank. Es sah so aus, als würde der Raum regelmäßig von zwei Personen benutzt. Aber Moment mal, überlegte Krombach – war da im Bad nicht nur eine Zahnbürste gewesen? Er ging zurück, und es war nicht ganz so: hinter einer großen, einer Erwachsenenzahnbürste, steckte noch eine kleinere für Kinder im Glas. In der Küche stand auch ein Teller mit den Resten einer Spaghettimahlzeit mit Tomaten herum, und Krombach als Familienvater wußte, daß die meisten Kinder für ihr Leben gern Spaghetti essen. Außerdem Früchtejoghurt: im Abfalleimer lagen zwei leere Joghurtbecher mit den Resten von Kirschen und Erdbeeren. Also gab’s ein Kind im Haus. Krombach wußte es, bevor er das letzte Zimmer betrat, das Kinderzimmer. Und hier herrschte, wenn die anderen Räume schon unaufgeräumt waren, das reine Chaos. Schulhefte mit der Aufschrift Isolde Bothüter lagen zwischen Jeans und T-Shirts und einzelnen bunten Strümpfen auf dem Boden, ein Stofftier lehnte im Kopfstand an der Wand, ein eingerissenes Poster, das einen manierlichen jungen Künstler mit einer Gitarre zeigte, hing gerade noch an einer Reißzwecke… Eine Tochter also, ein Mädchen im unordentlichsten Alter. Krombach sah in zwei Hefte: Isolde Bothüter mochte im dritten oder vierten Schuljahr sein. Bevor er zurückging zu Dagge, rief er Dornfeld und Runge im Treppenhaus zu: »Irgendwann könnte da ein Kind kommen. Sagt dann besser erst Trimmel Bescheid – laßt es bloß nicht so einfach hier reinlaufen!« Sehr viel wußte Dalkow auch nicht über seine Nachbarn Bothüter, gerade noch, daß der blonde Sonnenschein von nebenan den Namen Isolde wahrscheinlich nach der Mutter bekommen hatte. Ja, und daß der Haushalt seit knapp einem Jahr nur noch aus Mutter und Tochter bestand, aus der großen und aus der kleinen Isolde, weil die Eheleute 35
geschieden worden waren: so was kriegt man mit, meinte Dalkow, obgleich’s ziemlich friedlich abgegangen war. Seit drei Monaten etwa hatte sich Frau Bothüter dann einen neuen festen Freund zugelegt, der allerdings wohl auch vorher schon ein paarmal zu Besuch gekommen war, einen netten, ganz gut aussehenden Ausländer, nicht mehr sehr jung, wohl einen Italiener… »Wohnt der hier?« fragte Trimmel. »Wohnen wohl nicht«, sagte Dalkow zögernd, »aber kommen tut er eigentlich oft!« Er sah auf die Uhr. »Wundert mich, daß er heute nicht da ist…« Petersen fragte: »Wenn er da ist, hört er mit Frau Bothüter wahrscheinlich ziemlich viel Musik?« »Sicher, dann auch«, sagte Dalkow, »aber tagsüber hat sie ihre Stereoanlage auch immer voll drauf. So wie vorhin, als Sie’s ausprobiert haben – und nix als Richard Wagner, morgens bis abends. Ich wär da bestimmt auch abgehauen…« »Sind Sie denn tagsüber viel zu Hause?« »Ich bin momentan arbeitslos.« »Ach so. Aber daß das nebenan immer Wagner war, wissen Sie positiv?« Dalkow lachte. »Meine Freundin hat’s mir gesagt und außerdem die Frau Bothüter selbst. Sie ist ja übrigens die Tochter von dem Dirigenten Matuschek…« »Matuschek?« fragte Trimmel erschrocken. »Dieser berühmte Siegfried Matuschek?« »Ja. Von daher hat sie’s, hat sie gesagt. Wenn’s mich stören würde, könnte sie’s leiser drehen, aber so richtig hätt man nur dann was davon, wenn’s laut wär… also die drei Mal, die ich mit ihr geredet hab, war sie ganz passabel. Wegen dem Lärm hätt sie von mir aus noch lange leben dürfen!« Trimmel faßte sich. »Kommt ihr Mann noch zu Besuch? Dieser Klaus Bothüter?« »Ja, so zwei-, dreimal hab ich ihn noch gesehen«, sagte Dalkow. »Geredet wird außerdem viel, von wegen, er hätt immer noch was mit ihr…« »Aha. Wissen Sie, wo er jetzt wohnt?« »Nee.« »Und der andere? Der Italiener?« 36
»Der Buongiorno?« Dalkow dachte nach. »Genau weiß ich’s auch nicht. Aber ein paarmal hab ich ihn aus dem Bus aussteigen sehen, der von Eppendorf kam…« »Sagen Sie mal«, sagte Petersen in diesem Moment, »das Kind lebt doch bei der Mutter?« Dalkow sah ihn groß an. »Sicher…« »Aber ist das denn normal, daß es jetzt noch nicht zu Hause ist?« »Also, da kann ich Sie beruhigen«, sagte Dalkow, »das Mädchen schläft alle Nasenlang bei ihrer Freundin, hat sie mal erzählt…« Er stand auf, öffnete eine Vitrine und holte eine Flasche rauchzarten Whisky heraus. Mittendrin blieb er stehen. »Aber warten Sie mal… das ist allerdings komisch…« »Was denn?« drängte Trimmel. Dalkow setzte sich, die Flasche in der Hand. »Weil sie meistens… meistens schläft sie ja aushäusig, wenn der Ita… wenn ihre Mutter Besuch hat. So, wie ich das beurteilen kann…« »Ich denk, der kommt regelmäßig?« »Na, jeden Abend nun auch nicht… manchmal fünfmal, manchmal nur zweimal die Woche…« Petersen sah Trimmel an, und der hielt den Kopf merkwürdig schief. »Kennen Sie die Eltern der Freundin?« »Leider nicht!« sagte Dalkow. »Aber lassen Sie doch mal nachrechnen…« Er stellte die Flasche auf den Fußboden und rechnete stumm mit den Fingern. »Mittwoch!« sagte er schließlich. »Heute ist Mittwoch, und da kommt der Kerl immer! Da spielen sie nämlich auch mal Verdi, den kenn ich besser! Wahrscheinlich hat Frau Bothüter gedacht, daß ihr Freund heute kommt, und die Tochter deshalb weggeschickt… ja, und dann ist er eben doch nicht gekommen… oder…« »Oder?« fragte Petersen. »…oder doch?« »Herr Dalkow«, sagte Trimmel ernst, »wenn Sie der Ansicht sein sollten, daß er heute schon früher hiergewesen und womöglich der Mörder ist… Herr Dalkow, so was kann man zwar nie ausschließen, aber behalten Sie’s vorerst doch vielleicht mal besser für sich!« Dagge nebenan strich Pulver auf alle möglichen Fingerspuren, kroch auf dem Fußboden herum, sicherte Mikrospuren mit Tesafilm und 37
sprach zwischendurch in einen Recorder: »…Tropfspuren in Richtung Dielentür anscheinend jünger als Lache hinter dem Sessel… Haare an mutmaßlichem Tatwerkzeug Wagnerbüste werden asserviert…« Dann erschienen, unmittelbar hintereinander, Karin Stiller und Laumen. »Hallo, Freunde!« sagte Karin – etwas bedrückt, weil sie gleich beim Betreten der Wohnung gezwungen gewesen war, über eine Leiche zu steigen. Laumen nickte den anderen nur zu. Krombach nickte zerstreut zurück. Er hatte kurz zuvor einen Sekretär geöffnet und studierte eine dünne Akte – die Scheidungsakte Bothüter. »Die hat ja ganz schön Kohlen gekriegt nach ihrer Scheidung«, sagte er, »über siebzehnhundert im Monat…« Dagge erhob sich. »Netto?« Er und die anderen kamen neugierig näher. Krombach nickte. »Wenn ich meiner Alten soviel zahlen müßte, wär ich pleite!« Er überlegte. »Vielleicht war der Herr Bothüter ja pleite?« Dagge überflog den Text gründlicher. »Komm, hör nicht die Flöhe husten! Vierhundert von den siebzehn sind für die Tochter!« Dann kniete er sich wieder auf den Boden und versuchte zu arbeiten. »Apropos Tochter«, sagte Krombach nachdenklich, »die Tochter hier müßte so ungefähr zehn sein…« Laumen, der als erstes die Personalien festgestellt hatte, blätterte in seinem Notizbuch. »Gemeldet sind hier Klaus Bothüter, Redakteur, achtunddreißig, Isolde Bothüter, Hausfrau, neununddreißig – ja, und noch ne Isolde Bothüter, Schülerin, neun…« »Mein Benno ist auch neun!« sagte Dagge. »Aha!« meinte Krombach. »Und wo ist diese Tochter jetzt! Ist deiner abends etwa nicht zu Hause, wenn’s dunkel wird?« Er sah Dagge und dann, um Zustimmung bemüht, Karin Stiller an. Dagge seufzte. »Benno ist meist um sieben zu Hause, und um acht wird gegessen. Zwei-, dreimal ist er später gekommen, da hab ich ihm ins Gewissen geredet – seitdem ist er pünktlich. Hat zwar gesagt, ich würd ihn unterjubeln… unterjochen, hat er gemeint…« Krombach war der einzige, der nicht lächelte. »Sie sind doch auch geschieden, Karin«, fragte er wenig taktvoll, »hat man als geschiedene Frau nicht sogar ein besonders enges Verhältnis zu Töchtern?« 38
»Ich hab keine«, sagte Frau Stiller, »mir kommt das ziemlich weit hergeholt vor…« »Wieso weit hergeholt?« räsonierte Krombach. »Gucken Sie sich doch bloß mal die Bilder an, die hier rumhängen und rumstehen!« Es waren dreierlei Bilder, sah Karin Stiller. Erstens alte Fotos mit Unterschriften, etwa: »Das Bayreuther Festspielhaus in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. In der Mitte glaubt man, Cosima Wagner zu erkennen.« Zweitens Richard Wagner persönlich, unter anderem eine Rötelzeichnung von Franz von Lenbach, dazu ältere Szenenfotos aus Wagneraufführungen: »Der Fliegende Holländer, Erster Akt, Bayreuther Festspiele 1961, vorne Georg Paskuda als Steuermann und Josef Greindl als Daland«. Drittens aber, und das war zu diesem Zeitpunkt besonders interessant: Frau und Tochter Isolde Bothüter in Color, einzeln und gemeinsam – die Mutter immer tiefernst, wie bekümmert darüber, daß sie nur dunkle Augen und schwarzes Haar hatte, die Tochter dagegen blauäugig und strahlend unter goldenen Flechten… »Hübsches Kind!« sagte Karin Stiller. »Hübsches Kind?« empörte sich Krombach. »Die hat das Kind vergöttert, das sehen Sie doch! Ihr ein und alles! Um so unverantwortlicher find ich’s, daß sie das Gör noch im Stockdustern rumlaufen läßt! Manche Menschen sollte man doch glatt in den…« »Arsch treten!« wollte er sagen. Immerhin war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß die Mutter, die sich nach seiner Meinung nicht genug um ihr Kind kümmerte, drei Meter entfernt erschlagen auf dem Boden lag. Und just in diesem Augenblick betrat auch der Obermeister Edgar Biehl von Peter 36 das Wohnzimmer. »Was wollen Sie denn?« fragte Krombach unwirsch. »Wie kommen Sie überhaupt hier rein?« Der Mann kam ihm als Blitzableiter wie gerufen. »Ich wollte… ich will zur Mordkommission…« »Sie sprechen mit der Mordkommission!« »Na schön!« sagte Biehl bedächtig. »Also… wir haben vorhin eine Frau überprüft, und die hat mich jetzt über die Zentrale angerufen. Ich muß dazu sagen, daß sie sich vorher was aufgeregt hatte, weil wir ihr in die Schränke geguckt hatten; jedenfalls hat sie mir gesagt, daß wir da, wo wir jetzt sind, auf jeden Fall gründlicher in die Ecken gucken sollten als bei ihr. Wahrscheinlich hat sie sich inzwischen 39
einen angetüdelt, so hörte sich das jedenfalls an, und vielleicht wollte sie sich ja auch nur für ihre Aufgeregtheit entschuldigen. Aber kann’s nicht sein, was weiß ich, daß sie was mit dem Fall zu tun hat und uns – euch, mein ich – einen Tip geben wollte?« »Wie hieß die Frau denn?« »Oberberg. Maria Oberberg…« »Nie gehört«, meinte Krombach. »Aber sagen Sie mal, Kollege… was, bitte, könnte die Frau denn mit diesem Fall zu tun haben?« »Weiß ich doch nicht!« sagte Biehl. »Aber hier – hier war das ja schließlich zuerst auch nur ne Überprüfung, und hier ist ja einiges gefunden worden!« Angesichts dieser Logik wurde Krombach unsicher. »Was hat die Frau denn genau gesagt?« »Es wär die Pflicht der Polizei, überall reinzugucken. Das müßt sich nun mal jeder Staatsbürger gefallen lassen… ganz vernünftig im Grunde…« Dagge starrte ihn verständnislos an. Und Krombach fragte, unverschämt süffisant: »Habt ihr der armen Frau denn nicht mal richtig reingeguckt!« »Kollege, ich geh jetzt«, sagte Biehl sauer. »Ich hab euch einen Hinweis geben wollen, und ob er was hilft, kann ich ja nicht wissen. Ich weiß nur, daß die Kollegen Spurensicherer mit die blödesten Nasen sind, die ich je getroffen hab! Wiedersehn!« Damit zog er ab. »Ist doch nicht zu fassen!« erklärte Krombach. Und moserte gleich weiter: »Lauter Verrückte! Hier stimmt doch hinten und vorne nichts!« Karin Stiller sah sich um. Abgesehen davon, daß – wie in jeder Mordwohnung – überhaupt nichts stimmte, stimmte eigentlich alles. »Und nun«, sagte Krombach, »tu ich keinen Handschlag mehr, bis ich nicht weiß, wo dieses Balg ist!« »Hast du denn überhaupt schon einen getan?« fragte Dagge hinterhältig. »Bis jetzt hast du mich doch nur von der Arbeit abgehalten!« »Mein lieber Scholli…« warnte Krombach. »Also, ich guck jetzt mal nach!« sagte Karin Stiller und ging entnervt aus dem Zimmer. Und damit, endlich, nahmen die Dinge ihren Lauf… und ob letzten Endes die möglicherweise angetrunkene Frau Oberberg, der Beamte Biehl oder Krombach in seiner Hysterie den 40
Anstoß gegeben hatte, tatsächlich »mal richtig in die Ecken zu gukken«, war schon kurze Zeit später völlig egal… Karin Stiller ging in die Diele, wieder vorsichtig an den Blutspuren und der toten Frau vorbei, und schob alle Kleidungsstücke in der Garderobe einzeln zur Seite. Es flog eine Menge Staub auf. Sie ging ins Bad und öffnete den Spiegelschrank über der Ablage: er war proppenvoll von Cremes und Lotions; dazwischen lagen Wattebäuschchen. In der Küche untersuchte Frau Stiller nochmals den Abfalleimer, weil sie grundsätzlich nie halbe Sachen machte. Und so öffnete sie schließlich, von Krombach auf Schritt und Tritt verfolgt, im Schlafzimmer den großen Kleiderschrank, erst die linke, dann die rechte doppelte Tür… »Nein!« sagte sie – entsetzlich erschrocken. Erst sah sie nur die riesigen, angstvollen Augen. Dann das Kind selbst, halb unter Kleidern vergraben. Sie hob es heraus. Es war bei Bewußtsein; die tiefblauen Augen flatterten. »Ganz ruhig«, flüsterte Karin Stiller, »ist jetzt alles gut…« Das Mädchen zitterte am ganzen Körper. Krombach rannte zum Telefon, neben die tote Mutter. »Einen Arzt – sofort!« Karin Stiller hielt das Mädchen im Arm, streichelte es und sagte ununterbrochen: »Alles gut, Isolde…!« Als Isolde Bothüter endlich anfing zu weinen, war sie so glücklich, daß sie gleich mitweinte. Zuerst kam ein Orthopäde, der im Nachbarhaus wohnte, ein umsichtiger Mann, der in seiner Praxis oft mit Kindern zu tun hatte. Er fühlte Isolde den Puls, und als er sie vorsichtig auf die Beine stellte, blieb sie stehen: der Kreislauf war offenbar recht stabil. Dann erschien der Gerichtsmediziner Professor Sorge, der sich eigentlich nur die Leiche ansehen wollte. Trimmel dirigierte ihn ins Schlafzimmer, und als er herauskam, sagte auch er: »Sie scheint’s gut überstanden zu haben!« Und schließlich kam noch der Notarzt, diesmal ein anderer als vorhin, ein jüngerer Mann: er schlug offenbar genau den richtigen Ton an. »Du«, meinte er, »das ist ja vielleicht ein Quatsch, den da einer mit dir gemacht hat…!« Isolde nickte, wenn auch noch etwas kläglich.
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»Hast du denn gesehen, wer’s gemacht hat?« fragte die Polizistin Stiller. Da zögerte Isolde. »War’s Mamas Freund?« »Mamas Freund… ach wo!« »Oder… oder Papa?« Karin Stiller wollte später jeden Eid schwören, daß das blonde, schlaksige Mädchen daraufhin genickt habe. Aber Trimmel im Türrahmen konnte es nicht sehen, und der Notarzt sagte von Anfang an, also, ihm sei da nichts aufgefallen… »War Papa heute hier?« drängte Karin Stiller. »Ich sag nicht Papa«, sagte Isolde, »ich sag Klaus…« »…ja, war er denn hier?« »Ich weiß nicht!« »Ja, aber du mußt doch…« »Ich will nicht darüber sprechen!« sagte sie heftig. »Wo ist meine Mutter?« Der junge Notarzt griff ein. »Sie ist im Krankenhaus, und da fahren wir jetzt beide auch mal hin!« »Warum!« »Ja, nun, zur Vorsicht, warum sonst? Das machen wir auch bei Erwachsenen, wenn die mal aus Versehen im Schrank eingesperrt worden sind…« »Erwachsene«, sagte Isolde altklug, »werden doch nicht aus Versehen im Schrank eingesperrt!« Da versuchte Karin Stiller es nochmals. »…sicher, die spielen anders. Hast du denn mit Pa… mit Klaus gespielt?« »Weiß nicht!« sagte Isolde, jetzt richtig verstockt. »Sehen Sie bitte nach, ob draußen alles in Ordnung ist!« sagte der Notarzt energisch. Und zu Isolde: »Ich glaub, es ist besser, ich trag dich!« Weil nun aber draußen überhaupt nichts in Ordnung war, nahm Karin Stiller ein Bettlaken aus dem Schrank, und der Arzt hüllte das Mädchen ein. »Muß das denn sein?« fragte Isolde. »Ach, weißt du, da sind wir besser vorsichtig…« Er trug das Mädchen so aus der Wohnung, daß es die tote Mutter nicht sehen konnte. Es war merkwürdig, wie eng es sich an ihn ku42
schelte. »Merkwürdig…« sagte auch der Orthopäde, der jetzt wieder hervortrat. »Hätte man dem Kind nicht eine Beruhigungsspritze geben sollen oder ein Zäpfchen?« fragte Frau Stiller. »War doch nicht nötig, wär doch sozusagen wieder eine neue Aggression gewesen… nee, nee, zur Beruhigung nimmt man ein Kind immer noch am besten auf den Arm…« »Ja… sicher…« »Aber sagen Sie mal«, sagte er, »ich weiß ja nicht, was da alles vorgefallen ist… Sie haben das Mädchen doch dreimal gefragt, ob’s von Papa eingesperrt worden ist… von Klaus?« »Ja?« Er wiegte bedächtig den Kopf. »Man soll ja vorsichtig sein… aber ich möchte annehmen, daß es sich, aus welchem Grund immer, um die Antwort rumgedrückt hat…« »…daß es doch gesehen hat, wer’s war?« »Deutlicher – daß es den Vater gesehen hat!« Da trat Trimmel hinzu. »Das werden Sie möglicherweise mal vor Gericht aussagen müssen, Herr Doktor!« »Ja, schon… ich könnte allerdings immer nur diesen Eindruck wiedergeben…« Er riß ein leeres Blatt von seinem Rezeptblock und hinterließ es als Visitenkarte, bevor er das Haus verließ. Dr. Thomas Hase las Trimmel. Leute wie der, dachte er, konnten leicht einen Prozeß entscheiden – so oder so. Laumen war losgezogen, um Klaus Bothüter doch noch aufzutreiben; vorher hatte er nur ermittelt, daß er Redakteur beim ›Hamburger Mittag‹ war und seinen freien Tag hatte. Trimmel hatte Oberstaatsanwalt Portheine informiert, und Karin Stiller hatte das Jugendamt benachrichtigt, einen Herrn Kohlhäufel, der Bereitschaftsdienst hatte: morgen vormittag würde sie mit ihm gemeinsam versuchen, das Kind Isolde vorsichtig zu befragen, und vielleicht schon mal vor ihm allein mit Isolde reden. Im Mordhaus gingen, obgleich es inzwischen fast Mitternacht war, vier Leute von der Abteilung Ermittlung von Tür zu Tür: erstens, fragten sie, wer kennt die Freundin, bei der Isolde Bothüter öfter übernachtete? Zweitens, wer ist der Italiener, der so
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oft zu Frau Bothüter gekommen und anscheinend gerade heute weggeblieben war? In der Mordwohnung sagte Professor Sorge, nachdem er die tote Frau endlich in Ruhe untersucht hatte: »Gestorben ist sie vor höchstens zwei Stunden. Die Schädelverletzung kann vor zwei, aber auch vor sechs Stunden gesetzt worden sein. Ein lebender Körper reagiert ziemlich unberechenbar, und es wird schwierig sein, den Verletzungszeitpunkt einzugrenzen!« »Die Todesursache ist klar?« fragte Trimmel. »Eindeutig«, sagte Sorge, »eindeutig das Schädeltrauma mit schwerer Hirnverletzung. Keinerlei Anzeichen für andere Ursachen. Schürfwunden am Knie und an den Armen dürften entstanden sein, als die Frau sich aufrappelte und aus dem Raum schleppte. Im Übrigen sprechen wir uns dann morgen gegen Mittag, ich nehm sie mir gleich als erstes vor… kommen Sie selbst zur Obduktion?« »Petersen wird dabeisein!« entschied Trimmel. »Gut. Wir hören dann voneinander…« Fünf Minuten nachdem er weg war, wurde endlich auch die Leiche aus der Diele abtransportiert. Es kam die letzte Viertelstunde in der Mordwohnung, im Allgemeinen der erste Moment der Besinnung im kleinen Kreis. Krombach hockte auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und klagte sich ununterbrochen selbst an. »Ich häng den Job an den Nagel«, jammerte er, »ich mach sonst immer als erstes alle Türen auf – da komm ich nie drüber weg!« Trimmel beachtete ihn nicht, solange er nicht zu laut wurde. »Irgendwie will mir das alles nicht in den Kopf. Erst schlägt einer die Mutter tot, dann wird er von der Tochter überrascht und sperrt sie ein… man hätt eigentlich kaum annehmen können, daß er die am Leben läßt…« »Ja, eben!« sagte Krombach. »Ich hätt doch gar nicht auf die Idee kommen können, daß…« »Sei jetzt mal ruhig!« sagte Trimmel. Er wandte sich an Petersen. »Wie siehst du das denn?« Petersen hatte sich bereits entschieden. »Jeder andere als der Vater hätt das Kind auch umgebracht. Außerdem sieht’s weder nach Sexualmord noch nach Raubmord aus…« 44
»Ja, Moment«, sagte Krombach, »da wär ich vorsichtig! Ich hab die ganze Wohnung gefilzt und nicht mehr als drei Pfennige gefunden!« Er deutete auf die umgekippte Handtasche auf dem Sofa. »Damenhandtaschen sind selten so leer!« »Wie willste das beweisen?« »Ich kann morgen ja gleich mal zur Bank gehen, ob sie was abgehoben hatte!« sagte Petersen. Krombach, immer noch bemüht, seine schreckliche Nachlässigkeit wiedergutzumachen, erinnerte sich an das Scheidungsurteil Bothüter gegen Bothüter im Sekretär. Er sprang auf und holte es heraus. »Hier«, sagte er, »vielleicht sollten Sie das mal lesen!« Trimmel nahm die schmale Akte und überflog sie. »Mein lieber Mann… siebzehnhundert monatlich an die Gattin… wenn das kein…« »Motiv ist« wollte er sagen. Aber gerade jetzt ging das Telefon, und Petersen hob ab. »Hallo?« Jemand redete, aber zu verstehen war nichts. »Ich werde ihn fragen!« sagte Petersen schließlich, hielt die Muschel zu und fragte Trimmel: »Wollen Sie mit Ihrem Freund Gerber reden?« »Oje…« sagte Trimmel. Trotzdem nahm er den Hörer und meldete sich. »Was gibt’s denn?« »Das frag ich ja nun Sie«, sagte der Reporter Gerber, »ich ruf übrigens für den ›Hamburger Mittag‹ an, unser Redakteur Bothüter soll… ja, wie sagt man da, soll Witwer sein?« Trimmel sagte: »Seine geschiedene Frau ist tot!« »Tatsächlich ermordet?« »Es sieht so aus, als ob sie gewaltsam zu Tode gekommen ist… war’s das?« »Nicht ganz, Herr Trimmel… Ihre Leute haben sich ja auch schon in der Redaktion erkundigt…« »Kann sein.« »…da wollten sie ihm ja sicher nicht nur erzählen, daß was passiert ist?« »Hören Sie zu, Gerber«, sagte Trimmel, »es ist noch viel zu früh, um da was sagen zu können. Rufen Sie mich morgen an und lassen Sie mich…«
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»Ja, aber eine Frage noch… wissen Sie eigentlich schon, daß Frau Bothüter – Isolde hat sie ja geheißen – als Tochter des berühmten Siegfried Matuschek ein ganz extremer Wagnerfan gewesen ist?« »Woher wissen Sie das denn?« fragte Trimmel überrascht. »Das«, sagte Gerber mit kaum unterdrücktem Triumph, »hat mir Klaus Bothüter gerade selbst erzählt!« »Ach nee! Ist er etwa in Ihrer Nähe?« »Ich kann ihn jederzeit erreichen«, sagte Gerber diplomatisch. »Er würd Ihnen auch jederzeit zur Verfügung stehen… ich würd allerdings gern dabeisein…« Eine ziemliche Unverschämtheit, dachte Trimmel – typisch Gerber! Aber er behielt’s für sich. »Er soll in einer halben Stunde im Präsidium sein!« Er knallte den Hörer auf die Gabel und sah Petersen an. »Bothüter kommt und bringt die Presse gleich mit!« »Hoffentlich kommt er wirklich!« sagte Petersen. »Ja, meinste, die lassen sich das durch die Lappen gehen? Morgen früh sind sie damit auf dem Markt – denen ist es doch egal, ob zufällig ihr eigener Mann Federn läßt!« Petersen meinte skeptisch: »Ich weiß nicht, ob Sie die Interessenlage da richtig sehen…« »Wart’s ab«, sagte Trimmel, »dann siehste’s!« Der italienische Freund von Isolde Bothüter senior hieß Giacomo Valpone. Er befand sich bei seinen Landsleuten ›Cuneo‹ auf St. Pauli, und das Essen blieb ihm im Hals stecken, als er abgeholt wurde. Petersen nahm ihn sich vor, und als erstes bot er ihm eine von Laumens Zigaretten an, eine gängige Marke. »Rauchen Sie?« »Danke«, sagte Valpone, »ich bin Nichtraucher!« Also rauchte er auch keine weniger gängigen Parisienne. »Wo und wie haben Sie Frau Bothüter kennengelernt?« fragte Petersen. »An der italienischen Schule, an der ich unterrichte!« Er sprach fast ohne Akzent. »Wir besprachen das Libretto zu einer Oper von Verdi…« »Welcher?« »Die Macht des Schicksals«, sagte er zögernd. »Ich bin von ihr – sie ist ja die Tochter des berühmten Dirigenten Professor Matuschek, unseres größten Wagnerinterpreten – wenig später nach Hause einge46
laden worden, um eine italienische Wagneraufnahme zu hören. Sehr bald haben wir uns dann ganz der Musik hingegeben…« »Aha!« sagte Petersen. »Haben Sie sich nicht auch gelegentlich einander hingegeben? Auch schon, als Frau Bothüter noch verheiratet war?« »Muß ich das beantworten?« »Nee, reicht schon!« sagte Petersen großzügig. Valpone fühlte sich deutlich unbehaglich. »Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Wir liebten beide die Musik, wir haben uns immer ganz verloren an die Musik, das Leben ist dann klein und unwichtig mit seinen Problemen…« »Natürlich!« meinte Petersen verständnisvoll. »Und wie war das an Frau Bothüters Todestag?« Valpone sah ihn groß an. »Da war ich bei ihr bis drei Uhr und bin dann in die Schule gegangen…« »…und dafür gibt’s Zeugen?« »Zwölf!« sagte er. »Zwölf meiner Schüler!« Petersen schrieb drei Adressen auf, ging nach nebenan und bat einen Kollegen, Valpones Alibi zu überprüfen. Er ging zurück. »Waren Sie Sonntagabend nicht gemeinsam mit Frau Bothüter in der Staatsoper? Bei der Tristan-Premiere?« »Ja!« sagte Valpone. »Waren wir in Reihe eins!« »Und als Sie jetzt zuletzt zu Besuch waren… haben Sie da gemeinsam Tristan und Isolde gehört?« »Nein…« »Sondern?« »Haben wir… uns geliebt!« »Und hinterher gestritten?« »Wir haben uns nie gestritten!« sagte Valpone und brach um ein Haar wieder in Tränen aus. Der Kollege rief Petersen kurz darauf heraus und erklärte, daß Valpones Alibi auf Anhieb dreimal bestätigt worden war. Petersen ging zu Trimmel und sagte: »Den können wir gleich wieder laufenlassen, Chef! Der weiß nicht mal, was ein falsches Alibi ist!« Trimmel nickte. »Okay. Ich glaub’s ja auch nicht, daß er es gewesen ist!« So legte sich, auf Petersens Betreiben, die Kripo recht frühzeitig fest, und Valpone bedankte sich aufrichtig, als er gehen konnte. Im 47
Fahrstuhl fuhr er dann, ohne es jemals zu erfahren, an Klaus Bothüter vorbei, nun doch schon dem eigentlichen Verdächtigen. Bothüter kam tatsächlich mit Gerber sowie mit seiner Freundin Marlies Effenberger, der ungewöhnlich hübschen Lehrerin. Die Herrschaften wurden gebeten, kurz Platz zu nehmen, was Frau Effenberger von vornherein nur äußerst unwillig und unter Protest tat. Innen stritt sich Trimmel noch mit Laumen, der mit Valpones ›Freilassung‹ überhaupt nicht einverstanden war. »Das ganze Brimborium«, sagte er kopfschüttelnd, »ne Wagnerbüste als Tatwaffe, Liebestod in Stereo, der Vater ein halber Furtwängler…« »…wahrscheinlich sogar ein ganzer!« kam ihm Trimmel entgegen. »…und dann dieser verrückte italienische Musikfreund! Chef, ich versteh Sie wirklich nicht!« »Glaub mir«, sagte Trimmel. »Gerade weil er ein Musikverrückter ist, hätt er nie und nimmer…« Dann ging die Tür auf. Marlies Effenberger trat ein – sie hatte es offenbar nicht mehr ausgehalten. Sie stellte sich kurz als Bothüters ›Verlobte‹ vor, entschuldigte sich sogar für ihr Eindringen, sagte jedoch ebenso höflich wie bestimmt: »Ich glaube, ich kann die… die Prozedur wesentlich abkürzen. Ich habe zugunsten von Herrn Bothüter eine wichtige Aussage zu machen!« »Und welche?« fragte Trimmel. »Ich war heute abend seit neunzehn Uhr gemeinsam mit Herrn Bothüter in einer Gaststätte an der Rutschbahn. Ununterbrochen, bis vor kurzem!« »Ja – und vorher?« »Vorher war Herr Bothüter in meiner Wohnung! Er besitzt einen Schlüssel und ist schon um zwei Uhr nachmittags gekommen. Das läßt sich nachweisen…« »Wie denn?« »Ganz einfach.« Sie redete immer schneller. »Herr Bothüter und ich sind, wie gesagt, gegen Mitternacht nach Hause gekommen, und gleich darauf hat ja auch schon Herr Gerber angerufen, daß Klaus von Ihnen gesucht wird. Vorher hatte Klaus mir aber schon gesagt, er hätte Bier getrunken, und nun habe ich nach dem Anruf von Herrn Gerber gesehen, daß auf dem Abwaschbord in der Küche drei leere Flaschen stehen!« 48
»So, so«, meinte Trimmel, »aber nun gehen Sie trotzdem erst mal wieder nach draußen!« Petersen hielt Klaus Bothüter die Zigaretten hin, als Trimmel ins Vernehmungszimmer kam. »Rauchen Sie?« »Danke. Aber ich nehm meine!« Trimmel und Petersen sahen mit großen Augen, wie Bothüter eine rote Packung aus der Jackentasche nahm: Parisienne. Wie die Kippe aus der Mordwohnung! »Rauchen Sie die immer?« »Ausschließlich!« Er stand immer noch aufrecht hinter seinem Stuhl. »Wollen Sie stehen bleiben?« fragte Trimmel. »Dauert’s denn länger?« »Kommt drauf an…« Endlich setzte er sich. Und dann begann Petersen die Vernehmung schulmäßig und nach den Regeln der Kunst. »Wenn ich fragen darf, Herr Bothüter… wann genau sind Sie eigentlich das letzte Mal bei Ihrer geschiedenen Frau gewesen?« »Gestern«, sagte er, »daß heißt, nein, es ist ja schon ein Uhr durch… also vorgestern. Ja – vorgestern!« Petersen gab Bothüter, dessen Hände momentan stark zitterten, höflich Feuer für seine Parisienne. Bothüter sah mit seinem modischen kurz geschnittenen Haar erheblich jünger aus, als er war. Schmale Lippen hatte er, blaue Augen wie seine Tochter, auch diese schlaksige, eckige Gestalt… immerhin, er war mindestens einsfünfundachtzig groß. Eine etwas zu lange, gerade Nase, lange Beine und schmale Hüften: das, was man einen Frauentyp nennt. Zur Zeit, schätzte Trimmel, hatte er etwa eineinhalb Promille intus. »Sind Sie nach der Scheidung noch öfter in der Richardstraße gewesen?« fragte Trimmel. »Gott – was heißt öfter?« »Aber Sie haben…« »Also, nun warten Sie mal!« unterbrach Bothüter. »Ich habe gehört, daß die Polizei mich als Zeugen gesucht hat. Deshalb bin ich hergekommen. Ich bin allerdings todmüde und würd vorschlagen, daß Sie die Vernehmung morgen durchführen. Meinen guten Willen 49
zur Mitwirkung bei den Ermittlungen habe ich ja unter Beweis gestellt…« Petersen sah Trimmel an, und der nickte. »Ich glaub nicht, daß Sie hier nur als Zeuge aussagen sollen…« sagte Petersen bedächtig. »Sondern?« fragte Bothüter lauernd. Seine Hände zitterten plötzlich nicht mehr – wenn’s ernst wurde, hatte er sich offenbar hervorragend in der Gewalt. »…sondern daß der Verdacht besteht, daß Sie den Tod Ihrer Frau ursächlich herbeigeführt haben… so gesehen ist es natürlich eine Beschuldigtenvernehmung, worauf wir Sie in aller Form hinweisen müssen!« »Also tatsächlich!« sagte Bothüter lakonisch. Er nahm zwei Züge aus der Parisienne. »Ich hab’s nicht glauben wollen, als Gerber so was vermutete…« »Wieso denn nicht?« fragte Trimmel. »Ihre Braut hat doch gerade versucht, Ihnen ein Alibi zu geben!« »Aber doch nicht auf meinen Wunsch hin!« Unversehens hatte Bothüter Tränen in den Augen. »Ich und Isolde… meinen Sie nicht, daß ich schon geschockt genug bin, seit ich… seit ich erfahren habe, daß sie ermordet worden ist?« »Fragt sich nur, wann Sie’s erfahren haben!« sagte Trimmel ungerührt. Die Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. »Was, bitte«, fragte Bothüter ruhig, »machen Sie zur Grundlage Ihrer Verdächtigungen?« »Ich kann’s Ihnen gern vorhalten«, sagte Trimmel, »aber entweder machen wir ne richtige Vernehmung oder gar keine. Und wenn wir anfangen, kommen Sie mir später nicht damit, daß Sie sagen, Sie wären müde gewesen und hätten nicht mehr folgen können!« Bothüter überlegte. »Kann ich mal einen Moment mit meinem Kollegen Gerber sprechen?« »Ja. Aber nur in meiner Gegenwart!« »Einverstanden!« Robert Gerber wurde hereingebeten. Das Theater wurde immer absurder.
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»Bobby, das ist das letzte!« sagte Bothüter nahezu heiter. »Die Herren behaupten allen Ernstes, ich hätte Isolde umgebracht! Was sagst du dazu?« »Stimmt das?« fragte Gerber. »Ja!« sagte Trimmel. »Aber bevor wir hier Privatgespräche anfangen… ich hab Herrn Bothüter so verstanden, daß er sich mit Ihnen nur beraten möchte, wann er sich vernehmen lassen will. Ich mach Sie allerdings darauf aufmerksam, Herr Bothüter, daß Sie mindestens über Nacht hierbleiben müssen, wenn Sie sich heute nicht äußern…« »Ruf doch eueren Justitiariat an!« schlug Gerber vor. »Soll ich dir die Nummer raussuchen?« Bothüter zögerte. »Hat man mir hier auch schon vorgeschlagen. Andererseits möcht ich zu gern mal wissen, wie weit die Herren das noch treiben…« Er gab sich einen Ruck. »Okay! Bobby, du bist mein Zeuge – ich bleibe hier, wenn auch nur gezwungenermaßen, und ich sage erst morgen aus, wenn überhaupt; ich werde mich morgen mit einem Anwalt beraten. Und jetzt« – zu Trimmel, mit ausgebreiteten Armen – »walten Sie Ihres Amtes! Machen Sie Ihren Scheiß!« Plötzlich sagte Petersen: »Wenn ich an Ihren Verdacht von vorhin denke, Herr Trimmel…« »Noch einen?« höhnte Bothüter. »…offenbar hatten Sie da völlig recht! Die Herrschaften sind ja sämtlich für den ›Hamburger Mittag‹ tätig, und nun paßt’s ihnen offenbar hervorragend in den Kram, daß wir einen von ihnen festnehmen – der andere hat ja dadurch automatisch seine Exklusivgeschichte…« »Sie sind doch verrückt!« sagte Gerber scharf. »Sie können ihn ja auch laufenlassen!« »Schluß jetzt!« sagte Trimmel. »Ich seh’s nicht mehr ganz so kraß, aber es ist sicher was dran! Kann Ihnen einer was für die Nacht holen, Herr Bothüter?« »Ja. Marlies… Frau Effenberger. Aber nur für eine Nacht, das sag ich Ihnen!« Als er anschließend wieder mit den Polizisten allein war, gab er immerhin seine Personalien an, auf Befragen auch noch die seiner toten Exfrau. »Falls Ihnen das was sagt«, erklärte er von sich aus, »eine geborene Matuschek…« 51
»Ja, ich weiß Bescheid!« sagte Trimmel. Marlies Effenberger kam in Rekordzeit mit einem Köfferchen zurück, und Bothüter verabschiedete sich von ihr mit einem langen, innigen Kuß. Gerber sprang wie ein Derwisch um die beiden herum und machte Fotos von der Szene. »Eben doch ne schöne Exklusivstory!« sagte Petersen angewidert. »Was dagegen!« fragte Gerber, ohne ihn anzusehen. »Ihr Bier!« meinte Petersen. Schließlich wurde es allerdings auch Trimmel zuviel. »Ihr seid doch richtige Exhibitionisten!« Da hörte Gerber auf; er war offenbar fertig. »Ich?« sagte er entrüstet. »Ich hab hier ja wohl den allerbeschissensten Job! Ein Kollege von mir wird fälschlich unter Mordverdacht festgenommen, und ich muß drüber schreiben! Und Sie als guter Bekannter von mir sind derjenige, der den Mist macht, wahrscheinlich erklär ich mich besser selber für befangen, bloß, damit ich keinem auf die Füße trete…« »Hauen Sie ab!« sagte Trimmel. Und er tat’s, wenn er auch noch reichlich anzüglich »Wiedersehen!« sagte. »Das geht nicht gut aus, Herr Trimmel, das prophezeie ich Ihnen…!« Als Trimmel sich gegen drei von Petersen und Laumen verabschiedete, sagte er: »Dieser Bothüter ist ja eigentlich ein erstaunlich disziplinierter Mensch. Und Gerber, na ja – der kennt sowieso keine Verwandten…« »Ich hab nie begriffen«, sagte Laumen, »was Sie an dem Typ finden!« »Er ist ne Sorte Mensch für sich«, verteidigte ihn Trimmel, »natürlich hat er seine Mucken – welcher Reporter hat die nicht? Aber Gerber ist wenigstens kein ganz so krummer Hund… vor allem ist er ehrlich, und nach so einem kannst du heute lange suchen!« »Ehrlich?« fragte Laumen. »Der und ehrlich? Was heißt das überhaupt… ich halt jedenfalls jede Wette, daß der von nun an jeden Tag zweimal in seiner Zeitung behauptet, daß wir einen Unschuldigen nach dem anderen verhaften!«
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3 Robert ›Bobby‹ Gerber berichtete dann tatsächlich sehr regelmäßig über den Fall – sachkundig zwar, aber vor allem auch immer sehr laut. Heute fragt er im ›Hamburger Mittag‹, sozusagen Klaus Bothüters geistiger Heimat, in den üblichen balkenhohen Schlagzeilen: 181 TAGE NACH DER BLUTTAT IN HÖHENFELDE – KOMMT DER TRISTAN-MÖRDER HEUTE FREI? Richter Schellhorn liest es beim Frühstück, schüttelt zunächst den Kopf, sagt dann aber amüsiert: »Na, so was!« »Kommt er denn frei?« fragt seine Frau. »Wie’s aussieht«, sagt Schellhorn, »weiß die Zeitung wieder mal mehr als das Gericht. Schenkel überlegt offenbar, ob er einen Antrag auf Haftentlassung stellen soll… eigentlich kein guter Stil, daß er das auf diese Weise ankündigt. Gelegentlich sind diese jüngeren Anwälte ganz erfrischend, aber ein paar Formen könnten sie manchmal ja doch einhalten…« »Ja, aber was passiert, wenn er…« »Wenn er den Antrag stellt«, sagt Eberhard Schellhorn, »werden wir beraten und beschließen. Mehr weiß ich auch nicht!« Sie schenkt ihm Tee nach und kommt dann auf die Sache zurück. Alle hanseatischen Damen reden über den Fall Bothüter, und sie wird glühend beneidet, weil sie mit dem Vorsitzenden verheiratet ist – dabei weiß sie meist weniger als die anderen, weil Schellhorn schrecklich verschwiegen ist. »Wenn du mich fragst«, sagte sie jetzt, »ich glaube nie im Leben, daß die Tochter jemals zugibt, daß es ihr Vater getan hat! Da hätte die Polizei wohl gründlicher fragen müssen, gleich am Anfang! Jetzt wird das Kind höchstens lügen, um seinen Vater zu schützen… was meinst du?« »Gar nichts wird sie sagen!« meint Schellhorn. »Ja, aber könnt ihr den Mann dann überhaupt verurteilen?« »Ach, komm«, sagt der Vorsitzende Richter, »du weißt doch, daß es eine Kollegialentscheidung ist!« Am späteren Vormittag zieht er an der Spitze des Gerichts in den dunklen Saal ein. Auf der Gutachterbank sitzt ein neues Gesicht, ein 53
großer, etwas aufgeschwemmter, gehemmt wirkender Mann: Kemms Oberarzt Professor Rohde, wie man sich zuflüsterte, als er sich leicht unsicher dem Schwurgerichtssaal näherte und die Terminliste studierte. »Das Schwurgericht gibt zunächst folgendes bekannt«, sagt Schellhorn, »nachdem die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung ihr Einverständnis erklärt hatten, gegebenenfalls einen neuen Sachverständigen zu bestellen, hat das Schwurgericht mit Herrn Professor Rohde Rücksprache genommen. Herr Professor Rohde erklärte, daß er während der Untersuchung des Angeklagten Bothüter durch Herrn Professor Kemm mehrfach konsiliarisch an den Explorationen teilgenommen hat… er fühle sich, sagte er dem Schwurgericht, nicht zuletzt deshalb in der Lage, die psychiatrische Begutachtung von Herrn Bothüter zu übernehmen… Herr Wachtmeister, rufen Sie jetzt bitte die Zeugin Stiller herein…« »Moment, Herr Vorsitzender!« sagt Rechtsanwalt Schenkel, und der Wachtmeister bleibt an der Tür stehen. »Im Interesse meines Mandanten darf ich vielleicht doch fragen, wie sich das Schwurgericht und Herr Professor Rohde die Sache praktisch vorstellen?« Schellhorn hat’s kommen sehen. »Eine gewisse Verzögerung der Hauptverhandlung wird sich natürlich nicht vermeiden lassen, Herr Rechtsanwalt…« »Die Auskunft genügt mir nicht«, sagt Schenkel, »wie, bitte, soll das im Einzelnen ablaufen?« Schellhorn sieht, daß Rohde zu ihm herüberschaut, entschließt sich jedoch, selbst zu antworten. »Herr Professor Rohde hat Herrn Bothüter am letzten Wochenende bereits zweimal aufgesucht, Herr Bothüter war mit der Untersuchung einverstanden. Wir werden des weiteren zwei- oder dreimal von der Möglichkeit des Paragraphen zwoneunundzwanzig Absatz eins Strafprozeßordnung Gebrauch machen und bis zu zehn Tagen unterbrechen, um Herrn Professor Rohde Gelegenheit zu geben, ausreichend oft mit Herrn Bothüter zu sprechen. Außerdem steht Herr Bothüter auch nach und zwischen den Verhandlungstagen zur Untersuchung zur Verfügung…« »Einen Monat!« sagt Schenkel klagend. Seltsamerweise klingt’s richtig heuchlerisch. »Einen ganzen Monat dauert’s länger! Ob ich das so ohne weiteres hinnehme…« 54
Er setzt sich, und dem Gericht ist nun klar, was er beabsichtigt. Wenn die nächsten Stunden keine Sensation bringen, wird er seinen Antrag auf Haftentlassung seines Mandanten tatsächlich einbringen. Drei Minuten später steht endlich Karin Stiller Rede und Antwort. Sie macht’s wirklich nicht ungeschickt, denkt Trimmel, sie spielt die Versäumnisse des Kollegen Krombach am Tatort geschickt herunter. »Herr Krombach«, sagt sie, »bat mich, eine eingehende Untersuchung der Wohnung Bothüter vorzunehmen. Offenbar war er bis dahin noch nicht dazu gekommen, weil ja, soweit ich weiß, immer noch versucht worden war, das Leben von Frau Bothüter zu retten… so entdeckte ich dann erst kurz darauf das Kind im Kleiderschrank und rief Herrn Krombach, der sofort einen Arzt herbeischaffte…« »Drei Ärzte waren’s ja dann!« nickt der Richter. »Nacheinander, ja .« »Aber das Kind Isolde Bothüter war nicht verletzt… ist das zutreffend, Frau Stiller?« »Es war äußerlich nicht verletzt, stand aber unter einem Schock. Ich habe ihm deshalb nur ein paar Fragen gestellt, die sich aus der Situation ergaben…« »Nämlich?« »Ob es«, sagt Frau Stiller vorsichtig, »den Mann erkannt hatte, der es in den Schrank verbracht hatte…« »…wieso Mann?« fragt Schenkel dazwischen. »Weil es schlecht vorstellbar war«, sagt sie, »daß Frau Bothüter es selbst getan haben könnte, etwa um das Kind für die Zeit einer Verabredung, mit der sie rechnete, aus dem Weg zu haben…« »Da wär ich aber gar nicht so sicher«, meint Schenkel, »vor allem schon deswegen nicht, weil ich ein risikoreiches, tödlich verlaufenes Rendezvous durchaus für möglich halte…« Schellhorn klopft ungeduldig mit dem Bleistift. »Hatte das Mädchen die Person erkannt, Frau Stiller?« »Ich muß präzisieren«, antwortet sie, »meine Frage an das Kind lautete, ob es der Vater gewesen war… Herr Bothüter…« »Und?« »Daraufhin nickte das Kind!«
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»Sind Sie sich da ganz sicher?« fragt Schellhorn eindringlich. »Sie wissen, daß dies eine der wichtigsten Fragen der gesamten Hauptverhandlung ist?« »Ich bin mir ganz sicher, Herr Vorsitzender!« antwortet Karin Stiller klar und deutlich. »Hat Isolde Bothüter in dieser Situation oder später eine weitergehende Aussage gemacht?« »Nein!« Er blättert in der Akte. »Hat sie nicht gesagt, sie wolle nicht darüber sprechen?« »Das ja…« »Danke, Frau Zeugin!« Schellhorn sieht in die Runde. »Noch Fragen an die Zeugin?« »Aber sicher!« sagt Schenkel. Doch zunächst steht der Oberstaatsanwalt auf. »Frau Stiller, hatten Sie den Eindruck, daß das Kind den Sinn Ihrer Frage klar verstanden hatte?« »Ja!« »Ging dieser Frage, ob es der Vater gewesen war, nicht eine andere Frage voraus?« »Doch, doch«, sagt die Zeugin, »Frau Bothüter hatte ja einen… einen ständigen Freund, und insofern fragte ich das Kind, ob es vielleicht diesen Freund erkannt hatte…« »Was antwortete das Kind?« »Es sagte nein… ich meine, es hatte also auch diese Frage bereits klar verstanden!« »Gab es zu der Zeit Ihrer Fragen noch andere Leute in dem betreffenden Zimmer?« »Ja, Herrn Doktor Hase, einen Arzt aus der Nachbarschaft… er sagte später, auch er hätte den Eindruck gehabt, daß das Mädchen die Frage nach dem Vater bejaht hätte…« »Keine weiteren Fragen mehr!« »Herr Rechtsanwalt?« sagt der Richter. Schenkel steht auf, als wolle er plädieren. Und es ist auch ein Plädoyer – er geht mindestens bis knapp an die Grenze, an der das Gericht einschreiten müßte. »Ich entnehme der Anklage«, sagt er, »daß die Episode, die wir hier gerade zu klären versuchen, eine der tragenden Säulen des Indiziengebäudes gegen meinen Mandanten ist. 56
Nach meiner Ansicht ist sie allerdings nicht mehr und nicht weniger als eine traurige, wenn nicht sogar verwerfliche Episode…« Er macht eine Kunstpause, und Portheine schickt Trimmel einen komplizenhaften Blick: das hatten wir ja neulich schon mal, soll das heißen, die sogenannten Grenzen und Möglichkeiten der Kriminalpolizei im Rechtsstaat… »Ein neunjähriges Kind«, fährt Schenkel mit erhobener Stimme fort, »sitzt eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, vielleicht auch vier oder fünf Stunden hilflos in einem engen, dunklen Schrank, man stelle sich eine so aberwitzige, schreckliche Situation vor! Es wird schließlich, vielleicht gerade noch, bevor es erstickt, von der Polizei aus Zufall, sicher nicht durch ihre Tüchtigkeit, entdeckt und befreit und gerettet… ja, und dann hat die Polizei nichts anderes zu tun, als diesem völlig verstörten Geschöpf inquisitorische Fragen zu stellen…« »Plädieren Sie nicht, sondern stellen Sie Fragen!« sagt Schellhorn energisch. Aber Schenkel ignoriert es. »…und dann läßt sich ein erfahrener Oberstaatsanwalt effektiv dazu verleiten, das zweifelhafte und verwerfliche Ergebnis dieser Befragung zum Beweis für begangene Körperverletzung und Mord hochzustilisieren!« Er schreit jetzt fast, und Unruhe macht sich breit. »Hohes Schwurgericht«, schreit er, »ich denke nicht im Traum daran, einer Zeugin wie dieser rücksichtslosen, jawohl, rücksichtslosen sogenannten Kriminalmeisterin auch nur eine einzige Frage zu stellen! Ich denke nicht daran, diese Zeugin auch noch aufzuwerten!« Donnerwetter! denkt der Reporter Gerber. Schellhorn jedoch sagt, nachdem Schenkel sich gesetzt hat und bitterböse vor sich hin starrt, so laut wie bisher nie: »Das ist das erste und letzte Mal, Herr Rechtsanwalt, daß ich mir einen solchen Angriff auf eine Zeugin gefallen lasse! Das ist mein bitterer Ernst, Herr Rechtsanwalt! Und es würde mich absolut nicht wundern, wenn Frau Stiller gegen Ihre Unterstellungen angehen würde!« Puterrot ist er: so hat man den Vorsitzenden Richter Dr. Schellhorn wirklich in zehn oder fünfzehn Jahren nicht gesehen. Schenkel erhebt sich, aber seine Entschuldigung ist eine neue Frechheit: »Ich nehme das Wort von der sogenannten Kriminalmeisterin mit Bedauern zurück!« 57
»Haben Sie also keine Fragen?« »Sagte ich das nicht?« fragt er, schon wieder arrogant. »Dann«, sagt Schellhorn grollend, »kann die Zeugin im allseitigen Einverständnis entlassen werden!« Zehn Minuten Pause: das alles muß sich nun ja doch erst abkühlen. Portheine zieht Frau Stiller beiseite und bietet ihr an, ein Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung gegen den Anwalt Schenkel in Gang zu bringen. Aber sie will nichts davon wissen, und er sagt, er überlegt sich, ob er von Amts wegen vorgeht. »Lassen Sie’s sein!« bittet sie. Trimmel kommt hinzu. »Der Kerl hat doch wirklich nicht alle Tassen im Schrank!« »Sicher. Ich könnt ihm die Augen auskratzen«, sagt Karin Stiller, »aber auf der anderen Seite muß er ja auch was tun für Bothüter. Und irgendwo, mein ich, hat er sogar ein bißchen recht…« »Wieso das denn?« fragt Trimmel fassungslos. »Ja, nun… irgendwo ist es ja tatsächlich pervers, hab ich mir überlegt, als er da losdonnerte, wenn man in einer solchen Situation ein Kind auszuquetschen versucht, auch noch als Frau…« Da dreht Trimmel sich um und geht weg. Es übersteigt seinen Horizont – im Grunde sollte er vorzeitig in Pension gehen, denkt er, ob er Lust dazu hat oder nicht. Petersen gibt ihm neuerdings bei jeder Gelegenheit kontra, sein Lieblingspolizist Höffgen hat total verrückt gespielt, in diesem Fall Bothüter wurde sogar Laumen schon mucksch, nun auch noch Karin Stiller… Polizisten von gestern, denkt er, sterben aus wie die Mammuts… Karin Stiller steht plötzlich neben ihm. »Nehmen Sie doch nicht alles so wörtlich, Chef! Wenn die Advokaten noch frecher werden, sind wir nächstens genau so vigilant, und dann hat sich’s wieder!« »So einfach ist das?« fragt er bitter. »Wär ich sonst noch bei der Schmiere?« sagt sie. Nach der Pause sitzt plötzlich, wie selbstverständlich diesseits der Glaswand, ein imponierender, großer, weißhaariger Mann – der Vater Isolde Bothüters, der berühmte Dirigent Professor Siegfried Matuschek. Seltsamerweise haben ihn nicht mal die Fotografen erwischt – keiner weiß, wie er reingekommen ist. Da er seinerzeit der Polizei 58
nur ein einziges ›informatorisches Gespräch‹ gewährte und es dann auch abgelehnt hatte, als Nebenkläger am Prozeß teilzunehmen, ist er hier lediglich in der Rolle des Zuhörers. Der 72jährige Rentner Matthias Brungs, ein pensionierter Bundesbahnrat, wird als nächster Zeuge aufgerufen. Einer, der wirklich wichtig hätte sein können – wenn er sich besser erinnert hätte. So aber… So sagt er lediglich voller Ärger darüber, daß er jemals was gesagt hat: »Ich kann nicht mehr und nicht weniger sagen, als daß ich an dem Nachmittag, an dem Frau Bothüter zu Tode kam, einen Mann in heller Hose und blauem Hemd aus dem Hause habe kommen sehen. Ungefähr zur Tatzeit…« »Einen blonden Mann?« fragt Portheine. »Ja. Einen blonden Mann!« »Hatte er in etwa die Statur von Herrn Bothüter? Sehen Sie sich ihn genau an!« »In etwa!« höhnt Schenkel. »Lassen Sie mich gefälligst ausreden, Herr Rechtsanwalt!« sagt Portheine ungewohnt grob. »Herr Brungs – erkennen Sie in dem Angeklagten den betreffenden Mann wieder?« »Nein!« sagt Brungs daraufhin kleinlaut. Schenkel meldet sich, bitterböse. »Herr Zeuge – haben Sie den betreffenden Mann von vorn oder von hinten gesehen?« »Von hinten…« Schenkel nickt. »Mit allem schuldigen Respekt, Herr Vorsitzender, der Angeklagte ist blond, und er trug an jenem Tag eine helle Hose und ein blaues Hemd. Das aber trifft auf Zigtausend Hamburger zu… also, manchmal finde ich es wahr und wahrhaftig hanebüchen, was uns hier von der Anklage aufgetischt wird! In etwa, wie der Herr Ankläger zu sagen beliebte… Keine Fragen!« Da steht Professor Matuschek auf. »Hohes Gericht«, sagt er mit Würde, bevor ihn jemand hindern kann, »es geht hier um den Tod meiner Tochter! Aber selbst unabhängig davon finde ich es empörend, wie der Verteidiger hier die Zeugen zu beeinflussen versucht!« »Ich?« sagt Schenkel, seinerseits entrüstet. Schellhorn sagt voller Langmut: »Herr Professor, Sie sind hier zwar nur Zuhörer, aber wir nehmen nach der besonderen Lage der Dinge Ihre Ansicht zur Kenntnis. Wir bitten Sie allerdings dringend, 59
weitere… Demonstrationen zu unterlassen. Von einer Zeugenbeeinflussung kann hier jedenfalls nicht die Rede sein, das Schwurgericht würde sich dagegen sofort verwahren…« »Ein Skandal ist es!« sagt Siegfried Matuschek, diesmal ungerügt. Dann setzt er sich wieder. Und dann kommt Dr. Thomas Hase, neunundvierzig Jahre alt, Facharzt für Orthopädie. Trimmel erinnert sich, daß er schon am Tatort das Gefühl hatte, der Mann könne eines Tages tatsächlich prozeßentscheidend sein, auf welche Weise immer. Und Dr. Hase hat gleich eine Art Spickzettel mitgebracht. »Ich war Zeuge einer Befragung des Kindes Isolde Bothüter durch eine mir unbekannte Polizistin«, liest er vor, »dabei hat sich das Kind eindeutig um die Frage, ob sein Vater es eingesperrt hatte, herumgedrückt!« »Was ist das für ein Zettel?« fragt der Richter. »Ich habe mir damals gleich meinen Eindruck aufgeschrieben und den Zettel dann aufbewahrt…« »Haben Sie den Zettel auch bei Ihrer polizeilichen Vernehmung dabeigehabt?« »Ja.« Schellhorn schüttelt den Kopf. »Hier, Blatt vier acht der Akten… nach meiner Meinung hat sich das Kind eindeutig um die Frage, ob sein Vater es eingesperrt hatte, herumgedrückt… wörtlich dasselbe! Herr Doktor Hase, das Schwurgericht hat ein Anrecht darauf, Ihren Eindruck von damals mit Ihren eigenen, heutigen Worten mitgeteilt zu bekommen…« »Es sind meine Worte!« sagt Dr. Hase. »Sie könnten Sie uns nicht ohne Zettel mitteilen?« Da läßt der Zeuge den Zettel sinken und sagt, ohne zu stocken: »Ich war Zeuge der kurzen Befragung des Kindes Isolde Bothüter durch eine mir damals unbekannte Polizeibeamtin, und nach meiner Ansicht hat sich das Kind eindeutig um die Frage, ob sein Vater es eingesperrt hatte, herumgedrückt…« Ein idiotischer Prozeß: er hat’s tatsächlich auswendig gelernt! Immerhin sieht er, daß er auf dem besten Wege ist, den Richter zu verärgern. Hastig sagt er: »Herr Vorsitzender, ich will Sie ja nicht verärgern… nur, ich könnte Ihnen beim besten Willen nicht mehr sagen…« 60
»Sonst noch Fragen?« bellt Dr. Schellhorn. Portheine schüttelt den Kopf, ohne aufzusehen. Schenkel sagt: »Nein, nein!« Und zur allseitigen Überraschung meldet sich zum ersten Mal der neue Psychiater Rohde. »Herr Kollege Hase… wie würden Sie Ihren Gebrauch des Wortes ›herumgedrückt‹, ›um die Frage herumgedrückt‹ definieren?« Dr. Hase verzieht keine Miene. »Ich habe gemeint, daß das Kind nicht antworten wollte. Es machte von seinen kindlichen Möglichkeiten Gebrauch und erkannte vermutlich seine Situation… es erkannte, daß es nicht gezwungen werden würde, zu antworten…« »Aber angenommen, man hätte es zwingen können?« »Puhhh…« sagt er. »Sie meinen, ob es dann die Wahrheit gesagt oder immer noch gelogen hätte? Also, das kann ich nicht entscheiden, Herr Professor!« Rohde nickt. »Aber was«, fragt Portheine jetzt doch noch, »wäre denn nach Ihrer Meinung die Wahrheit gewesen?« Die Antwort ist buchstäblich druckreif und kommt auf Antrag der Verteidigung wortwörtlich ins Protokoll: »Die Wahrheit könnte beides sein. Entweder könnte das Kind einen Haß auf den Vater gehabt haben, dann könnte es sich gewünscht haben, der Vater würde verdächtigt und vielleicht eingesperrt werden, und dann könnte es ihn durch seine Reaktion zu belasten versucht haben. Oder es könnte seinen Vater geliebt haben, dann würde es natürlich um jeden Preis bemüht gewesen sein, ihn sozusagen nicht auszuliefern, dann hätte es, womöglich sogar unter größten Schwierigkeiten, vielleicht in dieser Richtung gelogen. So oder so gibt es die Möglichkeit einer Motivation, die Wahrheit zu verbergen, und entsprechend könnte die Wahrheit auch so oder so ausgesehen haben…« Portheine sagt: »Ich versteh Sie so, Herr Doktor Hase. Das Kind hat seinen Vater ja immerhin einmal durch ein Nicken belastet. Entweder wäre dieses Nicken also der nicht zur vollständigen Ausführung gelangte Versuch gewesen, den Vater falsch zu belasten. Oder die Tatsache, daß dann nichts mehr kam, wäre als Versuch zu werten, den Vater nicht zu schwer zu belasten?« »Beziehungsweise, ihn zu entlasten!« ergänzt Dr. Hase. »Richtig!«
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Anschließend wird der Notarzt vernommen, der Isolde damals aus dem Haus getragen hat: Er bleibt dabei, er hat gar keine Erinnerung an eine Reaktion des Kindes auf die Frage nach dem Täter. Der Vertreter des Jugendamts, Hanspeter Kohlhäufel, wird als Zeuge aufgerufen: ein jüngerer, sportlicher Mensch, der immer mokant zu lächeln scheint, auch wenn’s gar nichts zu lachen gibt. Er schildert zunächst, wie er ›netterweise‹ noch am Tatabend von der Polizei informiert wurde: »Man sagte mir, das Mädchen sei in die Eppendorfer Kinderklinik eingeliefert worden, und ich hab dann dort angerufen. Der diensthabende Arzt bestätigte mir, daß Isolde Bothüter unverletzt sei, vorsichtshalber aber noch zwei Tage beobachtet werden solle. Also war sie zunächst untergebracht, so daß spontan nichts weiter unternommen werden mußte…« »Einiges haben Sie aber am nächsten Tag unternommen?« »Es stellte sich da die Frage«, sagt Kohlhäufel, »wie es in der geschiedenen Ehe Bothüter mit der elterlichen Sorge ausgesehen hatte…« »Mit was?« fragt Schenkel. »…mit der elterlichen Sorge«, sagt er, »früher hieß das elterliche Gewalt. Ich sah also beim Familiengericht die Scheidungsakten ein und stellte fest, daß Frau Bothüter das Sorgerecht besessen hatte. Da sie nun tot war, hätte Herr Bothüter in Anspruch genommen werden können… leider erfuhr ich jedoch durch eine Rückfrage bei der Polizei, daß er als Tatverdächtiger festgenommen worden war. Ich erkundigte mich deshalb nach den Großeltern und eventuellen Geschwistern der Mutter oder des Vaters, allerdings erfolglos – es gab keine lebenden Verwandten außer Herrn Professor Matuschek, dem Vater von Frau Bothüter. Herr Professor Matuschek kam jedoch wegen seines Alters nicht als Vormund in Frage, und so bestellte der Richter das Jugendamt zum Vormund des Mädchens…« »Gingen Sie nicht irgendwann auch ins Krankenhaus?« fragt Dr. Schellhorn. »Gegen mittag, ja. Dort traf ich die Eheleute Gabriel an, Freunde der Familie Bothüter… ich meine, das war so, Herr Vorsitzender. Die Polizei hatte nachts zuvor nach den Eheleuten Gabriel gesucht, ihren Namen aber nicht erfahren können; die Eheleute Gabriel hatten sich dann jedoch gleich von sich aus erkundigt und ins Krankenhaus begeben, als sie die Nachricht in der Zeitung gelesen hatten…« 62
»Im ›Hamburger Mittag‹!« nickt der Richter. »…richtig. Sie sagten mir, daß Isolde Bothüter und ihre Tochter Beate befreundet seien und sich auch öfter über Nacht besuchten, und sie seien bereit, Isolde für die nächste Zeit bei sich aufzunehmen…« »So kam’s dann ja auch…« »Ja. Heimplätze sind knapp und teuer, wissen Sie, und Kinder in einer Problemsituation sind in einem familiären Umfeld immer am besten aufgehoben. Selbstverständlich habe ich mich vorher erkundigt, ob die Eheleute Gabriel als Pflegeeltern geeignet waren… da gibt’s ja auch Pflegegeld und so, für manche Leute ein Anreiz – aber Herr Gabriel ist Steuerberater und sagte von sich aus, er würde das Geld für Isolde zurücklegen…« »Das ist ja sehr nobel!« sagt Schellhorn, dem es inzwischen ein bißchen zu langsam geht. »Was mich mehr interessiert – wie verlief Ihre erste Begegnung mit Isolde Bothüter selbst?« »Das war ganz eindrucksvoll. Das Kind ist ungewöhnlich aufgeweckt und verfügt über einen erstaunlichen, vor allem gegenwartsbezogenen Wortschatz… ich stellte mich vor und sagte, ich käme vom Jugendamt, und da wollte sie erst mal wissen, ob ich Sozialarbeiter sei… ich mein, ich bin Sozialarbeiter, aber daß eine Neunjährige diese Begriffe kennt, ist doch recht erstaunlich…« »Allerdings!« sagt der Richter. »Sie wirkte auch kaum befangen, freilich sehr deprimiert, weil ihr die Eheleute Gabriel gerade schonend erklärt hatten, daß ihre Mutter tot war… und wohl auch, daß sie gewaltsam gestorben war… ich äußerte zunächst Bedenken dagegen, daß sie’s getan hatten, ließ mich dann aber überzeugen, daß man ein Kind mit dieser Intelligenz nicht mit halben Wahrheiten abspeisen kann…« »Hatte die Kriminalpolizei dem Mädchen denn vorher nichts gesagt?« fragt Schellhorn. »Da war eine Frau Stiller, sie ist ja hier im Saal…« Er dreht sich um und lächelt ihr zu. Karin Stiller wird unwillkürlich rot. »…und ich muß sagen, sie hatte sich aus unserer Sicht sehr vernünftig verhalten und auf Anraten des Arztes bis zu meinem Eintreffen auf alle Befragungen verzichtet. Schon deshalb hatte ich nichts 63
dagegen, daß sie bei meinem weiteren Gespräch mit dem Kind Bothüter anwesend war…« »Ach nein!« sagt Verteidiger Schenkel. »Frau Stiller«, fragt der Vorsitzende, »stimmt das?« Karin Stiller steht auf. »Ja.« »Warum haben Sie uns denn nichts davon gesagt?« »Ich habe es gesagt, Herr Vorsitzender… Sie fragten mich, ob das Kind nach seiner Auffindung oder später eine Aussage von Belang gemacht habe, und ich habe die Frage beantwortet. Isolde Bothüter hat keine Aussagen von Belang gemacht…« Schellhorn schüttelt den Kopf, ein bißchen wie Papa Ungnädig, bohrt aber nicht weiter nach. Auch Schenkel gibt sich zufrieden: schließlich hat er gerade diese Zeugin schon genug verprügelt. Karin Stiller setzt sich also wieder, und Kohlhäufel erzählt weiter. »Isolde Bothüter kam von sich aus auf ihre Situation zu sprechen, und ich fragte sie, ob sie eventuell bei der Familie Gabriel bleiben wolle, was sie sofort bejahte. Zur Sache selbst, ich meine, ob sie ihren Vater erkannt hatte, stellte ich nur einige vorsichtige, allerdings eindringliche Fragen, die sie, wie Frau Stiller ja sagte, verneinte. Ich meine, Herr Vorsitzender, das ist eine sehr zweischneidige Sache… natürlich kann ich einem Kind in dieser Lage einreden, es könne durch eine geeignete Aussage seinen Vater nicht nur belasten, sondern auch entlasten… nur, gerade hier würde ich ja sehr leicht Gefahr laufen, dem Kind eine Lüge, eine grobe Unwahrheit in den Mund zu legen!« »Hatten Sie den Eindruck, daß Isolde Bothüter ihrem Vater emotional zugetan war?« »Deutlich!« sagt er sofort. »Viel mehr zugetan als der Mutter! Die Nachricht, daß der Vater festgenommen war, schien sie viel mehr zu treffen als der Tod der Mutter! Aber Entsprechendes erleben wir ja oft bei Scheidungswaisen und ihren Vätern…« »…ja, ja«, unterbricht Schellhorn, »Väter und Töchter… sagen Sie noch, Herr Kohlhäufel, wie geht’s Isolde Bothüter heute?« »Sie ist eigentlich erstaunlich gelassen, auch nach Ansicht der Eheleute Gabriel. Sie besucht dieselbe Schule wie vorher, die Mitschüler reden offenbar kaum über die Sache… wir überlegen wirklich seit einem halben Jahr, ob wir sie einer psychologischen Therapie zuführen sollen, ohne uns schlüssig zu werden…« 64
»Könnte sie ohne Schaden vom Gericht vernommen werden?« Da allerdings hat er Bedenken. »Äußerlich würde sie’s gut überstehen. Aber vielleicht könnte man vorsichtshalber doch verzichten… sie hat mir sowieso mehrfach gesagt, daß sie von ihrem Recht Gebrauch machen wird, die Aussage zu verweigern…« Schellhorn berät sich kurz und flüsternd mit den anderen Richtern und entscheidet dann: »Wir werden die Frage bis nach der Mittagspause zurückstellen. Danke, Herr Kohlhäufel!« Nach der Mittagspause macht Portheine, wie Trimmel beobachtet, einen seltsam finsteren Eindruck. Und dann kommt tatsächlich auch noch der Antrag, an den er bis zuletzt nicht glauben wollte, obgleich er im ›Hamburger Mittag‹ schon angekündigt worden war: Rechtsanwalt Schenkel bittet ums Wort und reitet seine Attacke gegen den Staatsanwalt. »In der Strafsache gegen Bothüter, Klaus, wegen des Verdachts des Mordes«, liest er vor, »stelle ich den Antrag, den gegen den Angeklagten Klaus Bothüter bestehenden Haftbefehl aufzuheben. Begründung. In vier Tagen überaus gründlicher Beweisaufnahme ist der Tatverdacht gegen den Angeklagten keineswegs erhärtet worden. Es gibt, bei Licht besehen, keinen einzigen zwingenden Beweis für den Vorwurf der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte habe seine geschiedene Frau ermordet und an seiner minderjährigen Tochter eine Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung begangen. Selbstverständlich ist auch aus der Sicht der Verteidigung der Tatverdacht gegen Klaus Bothüter noch nicht völlig ausgeräumt, was auch logisch ist, da die Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen ist. Fest steht jedoch schon jetzt, daß der Tatverdacht heute nicht mehr als dringender Verdacht, ich betone, nicht mehr als dringender Tatverdacht angesehen werden kann. Damit sind aber die gesetzlichen Voraussetzungen für die weitere Inhaftierung des Angeklagten Klaus Bothüter weggefallen…« Acht Minuten lang trägt Schenkel seinen Schriftsatz vor, und im Grunde, denkt der Richter halbwegs erstaunt, sagt er genau das, was er schon von seiner Frau gehört hat. »Wir haben gehört, daß die Verweigerung der Aussage durch die kindliche Zeugin Isolde Bothüter als gesichert angesehen werden kann, von daher ist also keine weitere Belastung zu erwarten. Es ist aber auch nicht zu erwarten, daß das Schwurgericht nach den heuti65
gen Aussagen der Zeugen Stiller, Doktor Hase und Kohlhäufel zu einer Verurteilung des Angeklagten kommen wird. Was die übrigen Indizien betrifft, auch wenn sie hier nicht vorweggenommen werden sollen, so ist die Verteidigung überzeugt, sie im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung mühelos entkräften zu können…« Das, denkt Trimmel, ist eine seltsame Ermessensfrage für das Gericht: es kann oder es kann nicht – und verpflichtet, Bothüter freizulassen, ist es ganz bestimmt nicht… »…einhunderteinundachtzig Tage jedenfalls befindet sich Herr Bothüter mit dem heutigen Tag in Untersuchungshaft«, sagt Schenkel eindringlich, »nach Ansicht der Verteidigung einhunderteinundachtzig Tage zuviel. Und wenn wir dann noch, wie wir heute gehört haben, durch den Tod des Sachverständigen Professor Kemm zusätzlich eine mindestens einmonatige Verzögerung der Verhandlung in Kauf nehmen müssen – dann, Hohes Gericht, fällt wohl auch der sogenannte Fluchtversuch des Angeklagten nicht mehr ins Gewicht! Dann erscheint es einfach unzumutbar, Herrn Bothüter auch nur noch eine einzige Stunde festzuhalten!« »Sind Sie fertig?« fragt Dr. Schellhorn, weil Schenkel sich nicht setzt. »Doch, natürlich…« sagt er, mitgerissen vom eigenen Feuer und zum ersten Mal leicht verwirrt. Er nimmt Platz. »Dann wird das Gericht über den Antrag beraten!« Erst im letzten Moment fällt dem Vorsitzenden ein, daß er im Begriff ist, eine prozessuale Todsünde zu begehen, wie ein Anfänger. »Herr Oberstaatsanwalt«, sagt er, während ihm zum zweiten Mal an diesem Nachmittag das Blut ins Gesicht schießt, »verzeihen Sie… Ihre Stellungnahme?« Da sagt Portheine, der seit zwei Verhandlungstagen eigentlich immer mildere Töne von sich gegeben hatte, zur allgemeinen Überraschung mit großer Heftigkeit: »Die Staatsanwaltschaft widersetzt sich dem Antrag der Verteidigung auf Aufhebung des Haftbefehls auf das entschiedenste!« »Gut!« sagt Schellhorn. Es klingt fast erleichtert. Trimmel geht sofort zu Portheine, nachdem das Gericht draußen ist. »Eigentlich wollten Sie doch gar nicht so laut widersprechen?«
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»Ich hab von Natur aus was dagegen, daß Mörder frei herumlaufen!« sagte Portheine, verbittert wie nie. »Eine Haftentlassung ist ja noch kein Freispruch…« »Ach nein?« sagt Portheine höhnisch und stapelt seine Gesetzbücher aufeinander, daß es knallt. »Wann haben Sie denn in den letzten zehn Jahren gehört, daß ein Angeklagter dann doch noch verurteilt worden ist?« Ein völlig anderer Mann ist das plötzlich, denkt Trimmel, total verwandelt, seit sie noch vor wenigen Tagen in Planten un Blomen durch die Sonne marschiert sind. »Sie haben ja keine Ahnung!« sagt Portheine wütend. »Kommen Sie mal mit auf einen Kaffee, wenn der Ihnen dann noch schmeckt…« Er läuft aus dem Saal, rennt Schenkel fast über den Haufen und stürmt durch Gänge und Treppenhäuser. Erst in der für Gerichtspersonen reservierten Gerichtskantine zieht er sich die Robe aus, wirft sie achtlos über einen Stuhl und bestellt zwei Kaffee mit Cognac. Dann erscheint auch Trimmel, setzt sich zu ihm und sagt erstaunt: »So hab ich Sie ja nun noch nie erlebt!« Portheine zündet sich eine Zigarette an, so selten er sonst raucht. »Also, ich treffe da heute mittag zufällig im Zivilgebäude einen Amtsrichter, einen gewissen Bilges, und im nachhinein bin ich mir nicht mal sicher, ob’s ein Zufall war. Herr Bilges quatscht mich an und fragt scheinheilig, wie’s im Fall Bothüter steht. Gott, was soll ich sagen! Fifty-fifty, sag ich, und da sagt er doch tatsächlich, daß er seit zwei Tagen einen Antrag von Bothüter auf dem Tisch hat…« »Ein Amtsrichter?« fragt Trimmel verwundert. »Ja, ein Familienrichter. Und ob Sie’s glauben oder nicht, Bothüter hat beantragt, ihm für den zu erwartenden Fall seines Freispruchs das elterliche Sorgerecht für seine Tochter Isolde zu übertragen! Und das stellen Sie sich mal illustriert vor!« »Ist nicht möglich!« sagt Trimmel, tatsächlich perplex. »Ist es auch nicht, und trotzdem ist es so! Mann Gottes, ich denk, ich werde verrückt… da soll einem ein Kind zugesprochen werden, der die Mutter des Kindes totgeschlagen hat und das Kind selbst fast auch noch! Da kriege ich doch eine Gänsehaut allein bei der Vorstellung!« 67
Ein Mädchen bringt den Kaffee und den Cognac, und Portheine kippt den Cognac sofort hinunter. »Noch einen!« »Der Kerl hat ja wirklich Nerven…« »Ja, nicht?« Portheine drückt die Zigarette aus. »Eine Unverfrorenheit sondergleichen…« »…vor allem, er hat sich ja nie sonderlich für das Kind interessiert! Das hat er mir selbst gesagt, mit seinem Beruf und so hätt er sich ja leider nie so recht um das Kind kümmern können…« »Ja. Ich hab’s aus Ihrem Bericht herausgelesen«, sagt Portheine, »der wollte doch gar nicht! Warum will er jetzt?« »Nun ja«, überlegt Trimmel, »sehn Sie’s mal so, Herr Portheine. Sehn Sie’s mal ganz wertfrei. Ursprünglich hat die Mutter Bothüter das Sorgerecht gehabt… und daß sie’s damals bekommen hat, heißt ja nicht automatisch, daß der Vater ein unwürdiger Mensch ist. Da hat sicher auch der Gesichtspunkt eine Rolle gespielt, daß ein Scheidungskind angeblich immer besser bei der Mutter bleibt als beim Vater… auf jeden Fall kann’s eine Entscheidung sechzig zu vierzig für die Mutter gewesen sein, vielleicht sogar noch knapper gegen den Vater. Und von daher ist er zunächst mal der nächste Anwärter, wenn die Mutter ausfällt – logisch! Oder?« »So gesehen, ja!« sagt Portheine, als Jurist immerhin auch im Zorn an abstraktes Denken gewöhnt. »Nur ist hier die Mutter ja nicht unter die Tram gekommen oder an Lungenentzündung gestorben, sondern der Vater wird mit ihrem Ableben ursächlich in Zusammenhang gebracht! Und das ist ja wohl ein himmelweiter Unterschied, oder?« Trimmel nickt. »Noch ja. Noch!« »Und später nicht? Wenn er tatsächlich freigesprochen werden sollte?« »So können Sie nicht argumentieren, das wissen Sie selber! Sollte ihm nach einem Freispruch das Sorgerecht mit der Begründung verweigert werden, daß er mal angeklagt war, wär’s ein astreiner Freispruch zweiter Klasse. Von wegen mangels Beweises… und das ist ja lange abgeschafft, wie Sie wissen!« »Gott sei Dank hat das Jugendamt da noch mitzureden…« »…aber das kann ja wohl kaum als Superstaatsanwaltschaft mit Sondergesetz arbeiten!« »Trotzdem«, sagt Portheine stur, »so geht es nicht!« 68
Er trinkt aus, zahlt und zieht sich in der Kantine die Robe wieder an; vom Nebentisch her sehen zwei Advokaten amüsiert zu. »Ich werde es verhindern«, sagt er laut, »dagegen kämpfe ich bis zuletzt, das schwöre ich Ihnen!« Dann aber fällt ihm was ein. »Sagen Sie mal, Trimmel, Sie haben doch die Vernehmungen Bothüter auf Tonband… die haben wir uns doch mal angehört?« »Ja, warum?« »Ooch, erst mal nur sooo…« Er dreht sich auf dem Absatz um und marschiert davon, aber deutlich aufrechter. Trimmel trinkt seinen Kaffee zu Ende, und ein schales Gefühl hat auch er: komisch ist diese Geschichte weiß Gott nicht! Gallenbitter ist sie… unmoralisch und tückisch… um so bitterer, je länger man darüber nachdenkt… Als er den Schwurgerichtssaal wieder erreicht, kann er gerade noch hineinschlüpfen, bevor der Wachtmeister die Tür von innen zumacht. »Das Schwurgericht verkündet folgenden Beschluß«, sagt Richter Schellhorn, sobald wieder Ruhe herrscht, »der Antrag der Verteidigung, den Angeklagten Klaus Bothüter aus der Haft zu entlassen, wird abgelehnt…« Schenkel hört sich’s trotzig an, und Portheine schafft es wider Erwarten, gleichmütig auszusehen. »Entgegen der Ansicht der Verteidigung«, sagt Schellhorn, »es bestehe kein dringender Tatverdacht mehr, ist das Schwurgericht der Überzeugung, daß dies doch der Fall ist. Bevor das Schwurgericht nicht die Frage geklärt hat, ob die Zeugin Isolde Bothüter nicht doch von einem beauftragten Richter vernommen werden soll und kann, darf von einer Entkräftung des dringenden Tatverdachts nicht die Rede sein. Aber selbst dann, wenn das Kind Bothüter, was wahrscheinlich ist, die Aussage verweigert, erscheint es voreilig, vorzeitige Vermutungen über das Ergebnis der weiteren Beweiserhebung anzustellen und diese praktisch vorwegzunehmen. Nach dem Ende der weiteren Beweiserhebung bleibt es der Verteidigung selbstverständlich überlassen, einen neuen Antrag zu stellen. Außerdem wird sie die Gelegenheit nutzen können, ihre Argumente beim nächsten Haftprüfungstermin vorzutragen…«
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Er legt das Blatt, auf dem er sich seine Begründung notiert hat, zur Seite und nimmt ein anderes zur Hand. »Das Schwurgericht verkündet des weiteren den Beschluß, die Zeugin Isolde Bothüter am Freitag dieser Woche durch Richter am Landgericht Bauermeister in Anwesenheit des Herrn Oberstaatsanwalts und des Herrn Verteidigers vernehmen zu lassen. Anwesend sein soll auch der Vertreter des Jugendamts, Herr Oberinspektor Kohlhäufel, als gesetzlicher Vertreter der Zeugin Isolde Bothüter. Auf jeden Fall soll der kindlichen Zeugin ein Auftreten vor dem Schwurgericht erspart bleiben. Das Gericht möchte jedoch nicht von sich aus auf die Zeugin verzichten…« Er vertagt die Verhandlung auf den nächsten Montag, und an diesem Tag, sagt er, wird das Schwurgericht das Ergebnis der Befragung des Kindes bekanntgeben. »Und was können wir sonst noch am Montag machen?« mault Verteidiger Schenkel. »Ich denke«, sagt der geduldige Richter, »daß wir wenigstens noch die Zeugen Westphal und Kohl hören können!« – einen Gastwirt und einen Bankmenschen, von denen sich momentan eigentlich niemand einen großen Beitrag zur Wahrheitsfindung erhofft. »Von mir aus können wir drauf verzichten!« meint Schenkel. »Von mir aus nicht!« sagt Portheine böse. Auf der Treppe zum Ausgang wird Trimmel von Marlies Effenberger angesprochen. »Finden Sie diese Prozeßverschleppung in Ordnung?« fragt sie wütend. »Es ist alles korrekt!« antwortet Trimmel. »…sehr korrekt, ja… Bothüter hat schon soviel überstanden, wird er auch das überstehen!« Trimmel bleibt stehen. »Ich will Ihnen was sagen, Frau Effenberger. In meiner ganzen Praxis ist selten einer so ganz ohne Grund vor Gericht gekommen. Es ist allerdings noch nie einer verurteilt worden, wenn’s auch nur den allergeringsten Zweifel gegeben hat!« »Da kenn ich aber ganz andere Sachen…« »In meiner Praxis nicht, hab ich gesagt, hören Sie bitte richtig hin!« Er sieht sie von der Seite an. »Immerhin kann ich Sie verstehen, wenn Sie meinen, für das Kind wär’s besser gewesen, wenn der Vater heute rausgekommen wär…« 70
»Für ihn selbst auch!« sagt sie. Über Bothüters Antrag auf Sorgerechtsübertragung sagt sie kein Wort. »Ich wünsch Ihnen noch ’n schönen Abend!« Damit rauscht sie davon. Am Straßenrand steht Portheine, ziemlich bedrückt; er wartet offenbar auf ein Taxi. Trimmel will zu ihm gehen, als ihn unvermittelt der Sozialarbeiter Kohlhäufel anspricht. »Ich würd Sie gern mal was fragen, Herr Trimmel… allein, wenn’s geht…« »Ich bin allein – sehn Sie doch!« Kohlhäufel lächelt; man weiß bei ihm nie, ob er ein Zyniker oder eine Seele von Mensch ist. »Sie kennen doch sicher diesen Antrag Bothüters auf Sorgerecht…« »Ja. Kenn ich.« Auch der noch, denkt er. Noch einer mit seelischen Qualen. »Seine Verlobte, mit der Sie gerade sprachen, hat den Antrag ja mit unterschrieben, das Jugendamt hat vom Familiengericht die Kopie gekriegt… also, man hat ja schon ein dummes Gefühl, wenn der eigentliche Antragsteller noch unter Mordanklage steht…« »Sie müssen’s ja nicht heute entscheiden!« sagt Trimmel. »Also, entscheiden tun wir’s sowieso nicht – das Jugendamt als derzeitiger Vormund muß da nur zustimmen…« »Und?« fragt Trimmel. »…nun ja, theoretisch könnten wir uns da immer querlegen und auf Konfrontationskurs gehen. Fragt sich nur, ob wir das als ratsam ansehen würden…« »Und nun soll ich Ihnen sagen, ob Sie sich querlegen sollen? Nee, Bester – da halt ich mich raus!« Kohlhäufel lächelt und nickt. »Wir wollen natürlich nur das Beste für das Kind, und Sie sind doch ein alter Fuchs, Herr Trimmel – da muß Ihnen doch alles viel klarer sein als mir. Direkt gefragt, Herr Timmel: wird Bothüter freigesprochen oder nicht?« Trimmel starrt ihn verblüfft an. »Mehr wollen Sie nicht wissen?« »Wieso mehr?« fragt Kohlhäufel, seinerseits erstaunt. »Tatsächlich nur, ob er freigesprochen wird?« »Ja, sicher…« »Mann«, sagt Trimmel und deutet hinunter zur Straße, »sehen Sie sich doch mal den Staatsanwalt an, dann wissen Sie doch sofort, was hier läuft!« 71
4 Das Unbehagen hatte Trimmel immerhin gleich am Morgen nach der Ermordung von Isolde Bothüter gepackt. Bereits früh gegen sechs geisterte er auf Socken in seiner Küche herum, um seine schlafende Freundin Gaby nicht zu wecken. Er kochte sich Kaffee und kam mehr und mehr zu der Überzeugung, daß die Mordkommission sich am Fall Bothüter leicht die Zähne ausbeißen könnte. Das war zu dem Zeitpunkt, zu dem weiß Gott noch niemand an prozessuale Schwierigkeiten oder Beweisnöte denken konnte, eine merkwürdige Prognose. Laumen, gewiß, der war in der Nacht zuvor skeptisch gewesen. Aber ausgerechnet Petersen, sonst immer der Zweifler, hatte gesagt: »Die Sache können wir in drei Tagen fix und fertig an die Staatsanwaltschaft abgeben!« Jetzt, bei Tageslicht, sortierte Trimmel seine Bedenken: es war nie gut, dachte er, wenn die Hauptpersonen in einer Tragödie einen schwierigen oder gar unberechenbaren Charakter hatten. Es gab hier ein Opfer mit einer Macke und einen Verdächtigen, der es offenbar verstand, sich in kritischen Situationen eine Maske vor die Seele zu hängen. Und apropos Maske: wie hätte Bothüter es fertigbringen können, unerkannt und gegen ihren Willen seine äußerst aufgeweckte neunjährige Tochter einzusperren? Vor allem aber gab es erfahrungsgemäß immer Probleme, wenn ein Straftäter sich anders verhielt als andere Täter in seiner Lage. Warum hatte der Mann, der die geschiedene Frau Bothüter erschlug, später nicht auch das Kind umgebracht und anschließend Selbstmord verübt? Und wenn man auch noch so froh sein mußte, daß das Kind lebte: warum, wie gesagt, war er das Risiko eingegangen, erkannt und verraten zu werden? Eine – psychologische – Antwort gab’s. Wenn Bothüters Tat kein Mord, sondern ›nur‹ ein Totschlag im Affekt gewesen war, hätte er möglicherweise sein sogenanntes Vernichtungspotential verbraucht und die zweite Tötung nicht mehr über sich gebracht. Das wäre gleichzeitig allerdings auch ein psychologisches Indiz für seine Täterschaft bei der Tötung der Mutter.
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Irgendwas jedoch störte Trimmel an dieser Konstruktion, ohne daß ihm zunächst klar wurde, was es war. Er wartete noch ein Viertelstündchen, holte sich dann das Telefon an der langen Schnur auf den Kaffeetisch und rief Portheine an. »Ja, bitte?« sagte der Oberstaatsanwalt mit einer so klaren Stimme, als habe er seine Naßrasur schon hinter sich. »Die Sache von heute nacht«, sagte Trimmel, »die ist noch ziemlich dramatisch geworden. Die Frau ist tot, und wir haben den geschiedenen Mann festgenommen. Redakteur ist er…« »Oje!« »…ja, beim ›Hamburger Mittag‹, und vermutlich können wir ihn heute vor den Haftrichter bringen. Offenbar hat er sogar nicht nur die Tötung begangen, sondern auch noch eine Körperverletzung oder versuchte Tötung an seiner Tochter…« »Erzählen Sie!« sagte Portheine begierig. Er tat’s spannend, weil er wußte, daß der Ankläger im Grunde lieber Kriminalromane als Schriftsätze las, und weil er ihn bei Laune halten wollte. Er berichtete von der Entdeckung der Tochter, die sie alle fürchterlich schockiert hatte, und er merkte schon, wie gut es ankam. Und als er auf die Familienverhältnisse und auf Richard Wagner und auf Tristan und Isolde zu sprechen kam, stöhnte Portheine fast lüstern auf. »Das gibt Schlagzeilen, Trimmel!« prophezeite er. »Liebestod einer Dirigententochter! Sind Sie da um Himmels willen vorsichtig bei Ihrem manchmal etwas leichtfertigen Umgang mit der Presse!« Das war allerdings die pure Heuchelei, und Trimmel mußte grinsen, obgleich ihm gar nicht zum Lachen zumute war. Geradezu hinterhältig fuhr er fort: »Als Tatwerkzeug kommt eine Büste von Wagner in Betracht…« »…doch nicht zu fassen…!« »…ja, doch, und das eigentliche Motiv ist wahrscheinlich auch nicht von schlechten Eltern. Vielleicht gar nicht mal nur Liebestod und so… eher diese ganze Problematik um die Scheidungsgesetze, die ist ja immer noch aktuell! Dem tatverdächtigen Exgatten Bothüter hat man wirklich fast das Hemd ausgezogen, so viel mußte er blechen…« Portheine versuchte sachlich zu bleiben. »Meinen Sie, daß er bald ein Geständnis ablegen wird?« 73
»Ja, sehen Sie«, sagte Trimmel, »genau darauf wollt ich zu sprechen kommen. Da bin ich nämlich äußerst skeptisch – Bothüter scheint mir ein ungewöhnlich zäher Typ zu sein, da machen Sie sich am besten jetzt schon auf einen ausgewachsenen Indizienprozeß gefaßt…« »Trimmel«, mahnte der Oberstaatsanwalt, »was soll denn in diesem Stadium schon die Spökenkiekerei?« »Hoffentlich ist es eine«, antwortete er, »trotzdem, Herr Portheine, ich wollte Sie jetzt schon bitten – lassen Sie uns da um Himmels willen Zeit und drängeln Sie nicht!« »Daß Sie immer meinen müssen, Sie hätten eine Rückversicherung nötig!« sagte er vorwurfsvoll. »Immer ja nun auch nicht«, sagte Trimmel, »abgesehen davon, daß es nie verkehrt ist und daß wir hier wahrscheinlich beide eine gebrauchen könnten. Sehn Sie’s mal so… mir persönlich ist es egal, daß mein Job ein Schleudersitz ist, und ob uns ein Täter mehr oder weniger durch die Lappen geht, ist mir im Grunde auch egal – so viele sind’s ja nicht! Aber was ich hier befürchte, ist dies… wir sind auf eine mutmaßliche Tatzeugin angewiesen, die gerade neun Jahre alt ist. Wenn wir die zu hart anfassen, sofern man uns überhaupt erlaubt, daß wir sie anfassen, gibt’s Ärger. Und wenn wir sie in Frieden lassen, sagt sie nix, und wir kommen womöglich nicht weiter, und dann gibt’s genauso Ärger! Und hinterher wird wieder alles auf die dusselige Polizei geschoben!« »Da ist was dran!« sagte Portheine zögernd. »Lassen Sie mich mal nachdenken…« Trimmel wußte es ja, während der Oberstaatsanwalt offenbar sein Gehirn rotieren ließ: natürlich war eine Menge dran, wie sich später dann ja auch herausstellte, spätestens bei dieser groben Attacke des Anwalts Schenkel gegen Karin Stiller im Schwurgericht. Portheine entschloß sich letztlich zur Vorsicht. »Vielleicht gehen Sie mit dem Kind doch besser möglichst sanft um. Aber tun Sie alles, um Ihren Verdächtigen selbst zu knacken! Da wär ich dann weniger zimperlich!« Gaby Montag, Trimmels Immer-noch-Lebensgefährtin, kam in die Küche und streichelte ihm sacht die Bartstoppeln. Natürlich merkte sie, wie deprimiert er war, schob es zunächst allerdings nur auf seine 74
Unausgeschlafenheit. Sie machte ihm Rühreier, und dabei erzählte er ihr, viel ausführlicher als gewöhnlich, daß es eine schlimme Nacht gewesen war – erzählte ihr von der erschlagenen Mutter und der Tochter im Schrank, alles sein Fall, einer von vielen, allesamt blutig und traurig. Erzählte ihr, daß an jeder Ecke Hinweise auf Tristan und Isolde gefunden worden waren, Büsten und Bilder, Staatsopernkarten und Schallplatten – daß es eine Geschichte unter lauter Wagnerverrückten war und nicht zuletzt von daher besonders enervierend. »Ich hab manchmal einfach keine Lust mehr!« sagte er am Ende wehklagend. »Sind doch keine zehn Jahre mehr!« tröstete sie ihn. »Ach, komm«, sagte er. »Ein Tag ist zuviel!« »Ja, sicher, aber…« Da klingelte das Telefon. »Sind Sie schon auf?« fragte Karin Stiller. »Was gibt’s denn?« »Ich bin hier im Krankenhaus, und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich komm nicht ran an das Kind!« »Das Jugendamt mauert?« »Ja, und wie! Gestern nacht sagt mir der zuständige Sozialarbeiter am Telefon, ich kann das Mädchen eventuell heute vernehmen, vorhin ruf ich ihn an, und da sagt er, daß er momentan gar keine Vernehmung verantworten kann. Ich sag, wie’s denn morgen wär… da sagt er glatt, er läßt sich keine vierundzwanzig oder sechsunddreißig Stunden abhandeln…« »Ist doch immer dasselbe mit diesen Jugendämtern!« sagte Trimmel düster. »Eben. Aber warum ich Sie anrufe – meinen Sie nicht, daß ich’s einfach auf eigene Faust versuchen soll?« »…nee, nee, das bringt nichts! Erstens ist es ein Kind, zweitens auch noch die Tochter des Verdächtigen – die hat ja effektiv ein doppeltes Recht auf Aussageverweigerung! Bleiben Sie erst mal da, vielleicht findet sich ja noch ne Lücke, aber versuchen Sie’s auf keinen Fall mit der Brechstange!« Er legte auf und sah Gaby geistesabwesend an. »Komm, trink noch Kaffee!« sagte Gaby. »Weißt du noch, wie verzweifelt du warst, als wir uns kennenlernten?« 75
Er nickte. Und plötzlich fragte er: »Kennst du eigentlich diesen Tristan!« »Also, gesehen hab ich ihn dreimal – einmal sogar mit Karl Böhm am Pult…« »Und?« »Ja, also… das ist mehr Musik als alles, was ich je gehört hab!« sagte Gaby fast verklärt. »Aber ist die Geschichte nicht ziemlich unmoralisch?« Sie überlegte. »Schicksalhaft, würd ich sagen…« »Das«, stellte Timmel fest, »ist oft dasselbe!« »…abgesehen davon hab ich die meiste Zeit die Augen zugemacht und nur zugehört. Da kommt’s wirklich nur auf die Musik an – die Geschichte kannst du vergessen, vor allem in der heutigen Zeit…« »Ich leider nicht!« Er hatte seine Grämlichkeit wiedergefunden. Und die Stimmung würde andauern, dachte sie, bis er es hinter sich gebracht hatte. Je eher, desto besser: sie ging ins Schlafzimmer, legte ihm frische Wäsche und einen anderen Anzug zurecht und bestellte ihm für viertel nach acht ein Taxi, weil er doch wohl zu müde war, um selbst zu fahren. »Mach’s gut, Alter!« sagte sie, als er durchstartete, rasiert und frisch geduscht, in einen abermals sonnigen Morgen. Er fühlte sich schon wieder hellwach: es war gut, daß er sich den Fall mal von der Seele geredet hatte. So was bringt immer Klarheit, und die Fragen an den schlauen Redakteur Bothüter hatte er jetzt griffbereit. Warum, würde er fragen, nimmt ein Mann ausgerechnet einen Komponistengipskopf, wenn er eine Frau erschlagen will? Wenn’s genug andere Waffen in der Nähe gibt, vom schweren Aschenbecher bis zum Hammer? Wieso, mein Bester, läßt sich ein neunjähriges Kind einsperren, ohne daß es kratzt und beißt? Ob’s nicht doch so sein könnte, daß es den Mann kannte, der’s tat? Ganz theoretisch würde er natürlich nur fragen, und ganz theoretisch würde Bothüter antworten. Praktisch aber würde er sich verraten und es erst merken, wenn es zu spät war… antworten, jedenfalls, würde er bestimmt. Theoretische Fragen nämlich werden von den allermeisten klugen Menschen beantwortet; sie sind gar nicht im76
stande, sie im Raum stehen zu lassen. Und Bothüter war ein kluger Mensch – das, wenigstens, stand fest. Also, nun passen Sie mal auf, Herr Bothüter, würde er deshalb sagen, denken Sie mal ganz scharf nach. Da hat einer ein Kind hilflos im Kleiderschrank vergraben, hat’s vorher allerdings, aus welchen Gründen immer, nicht übers Herz gebracht, es für immer zum Schweigen zu bringen. Soweit klar, ja? Gut. Aber nun hat die Polizei das Kind später ja nur halbwegs zufällig gefunden, und wenn sie es noch später gefunden hätte, wär’s möglicherweise erstickt… Tja, mein Bester. Hätte man da eigentlich nicht erwarten müssen, daß der Mann, der das alles getan hat, wenigstens mal anonym bei der Polizei anruft, sobald er in Sicherheit ist, und sagt: Holt sofort das Kind aus dem Schrank!? Petersen, wie immer ein Frühaufsteher, hatte zwei nicht uninteressante Nachrichten hinterlassen, als er zur Obduktion gegangen war: erstens, daß er jenen Bundesbahnrentner Brungs vernommen habe, der einen Mann wie Bothüter aus dem Tathaus hatte kommen sehen. Zweitens, daß ihm von der Bank mitgeteilt worden sei, Frau Bothüter habe am Vormittag ihres Todes 600 Mark abgehoben – dies, im Übrigen, sei nur möglich gewesen, weil Klaus Bothüters Monatszahlungen gerade eingegangen waren, mit nur drei Tagen Verspätung. Laumen erschien fast gleichzeitig mit Trimmel: er hatte in der Harvestehuder Rutschbahn den Gastwirt Westphal aus dem Bett geklingelt und ihn gefragt, ob am Abend zuvor, mit oder ohne Dame, der Redakteur Bothüter dagewesen war. »Die beiden waren tatsächlich da«, berichtete Laumen, »und haben Krebse mit Tomatensauce gegessen…« »Kann man das denn essen?« fragte Trimmel. Laumen lachte. »Hab ich auch gefragt, aber da war der Wirt schwer beleidigt. Das soll sogar ne außergewöhnliche Delikatesse sein…« »Und? Hat’s ihm wenigstens geschmeckt?« »Angeblich ja. Sehr gut sogar, wenn er vorher jemand umgebracht hat. Er hat zwar was aufm Teller liegenlassen, sagt der Wirt, aber er wär grundsätzlich kein großer Esser. Außerdem hat er ne Zeche von achtzig Mark anschreiben lassen; das wär auch ne Marotte von ihm, schließlich ist er da Stammgast. Die Rechnung hab ich dabei…« Er legte sie Trimmel vor. 77
Trimmel sah sie sich an. »Demnach hätte Klaus Bothüter die sechshundert Mark also nicht geklaut…« »Eben, sonst hätt er ja zahlen können!« »Oder er war besonders gerissen und läßt das Geld absichtlich stecken. Damit wir ihm nicht von daher draufkommen, daß er seine Frau umgebracht und dann auch noch schäbigerweise ausgeraubt hat…« »Also, für so schlau halt ich ihn nicht«, meinte Laumen skeptisch. »Ich mein ja auch immer noch, daß wir nicht gerade hundertprozentig davon ausgehen können, daß es Bothüter gewesen sein muß…« Ein ziemlich starkes Indiz gegen Klaus Bothüter war immerhin der Dienstplan des ›Hamburger Mittag‹, den Laumen selbst schon in der vergangenen Nacht mitgenommen hatte. Am Tattag hatte Bothüter tatsächlich dienstfrei gehabt – da hätte er also leicht seine Exfrau aufsuchen und umbringen können. Am Tag zuvor jedoch, an dem er sie nach seinen eigenen Angaben zuletzt besucht haben wollte, war er offenbar durchgehend in der Redaktion gewesen – da schien wirklich was faul zu sein. Außerdem war an diesem Tag vor dem Mord auch Giacomo Valpone in der Richardstraße erschienen, um Wagner und vielleicht etwas Verdi zu hören oder sonstwas zu tun, wenn auch erst abends. »Ich nehm mir Bothüter dann mal vor!« kündigte Trimmel an. »Erst mal allerdings allein…« Laumen protestierte. »Meinen Sie nicht, daß ein Kreuzverhör auch seine Vorteile hat?« Trimmel jedoch blieb dabei. »Auf die übliche Tour können wir den Kerl nie knacken, und foltern ist ja nun mal verboten. Du kannst mir glauben oder nicht: der würd nicht mal auf stur schalten, sondern sogar jede Menge mit uns reden – und trotzdem würd er uns verschaukeln, daß wir’s nicht mal merken, wenn er wieder weg ist!« »Aber Sie alleine – ist das vielleicht ne Geheimwaffe?« sagte Laumen pampig. »Komm, Junge«, meinte Trimmel friedlich, »erstens laß ich sowieso ein Tonband laufen. Zweitens will ich ihm überhaupt noch keine direkten Fragen stellen. Und drittens – gib mir einfach mal ne Chance!«
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Trotzdem, wenn’s dann auch ›unfeierlich‹ vonstatten ging, unter vier Augen: eine Vernehmung war’s immer – eindeutig eine Beschuldigtenvernehmung. Nachdem Bothüter um Punkt zehn Uhr vorgeführt worden war, gab ihm Trimmel zunächst mal, der guten Ordnung wegen, die Vorwürfe bekannt, die im Einzelnen gegen ihn erhoben wurden: Die Tötung seiner geschiedenen Frau – darüber war er ja schon informiert. Aber die Umstände der versuchten Tötung seiner leiblichen Tochter… als ihm die mitgeteilt wurden, sah er Trimmel an, als habe der den Verstand verloren. Und dabei war das ja noch gar nicht alles… »Sie haben doch wohl den Verstand verloren!« sagte Bothüter dann auch wörtlich. Und wenn er da wirklich schauspielerte, ähnlich wie bei seinen Tränen in der Nacht zuvor, war er weiß Gott ein hervorragender Schauspieler – ein Charakterschauspieler. Immerhin war er ganz schnell wieder auf der Höhe der Situation – eine Beobachtung, die Trimmel dann noch oft genug machen konnte. Er hörte genau zu, als er über seine Rechte belehrt wurde: Natürlich könne er, wie jeder Beschuldigte, die Aussage verweigern. Er könne auch, wie ihm bereits gesagt worden sei, jederzeit einen Rechtsanwalt seiner Wahl um Rat fragen, wie er sich verhalten solle – er könne überhaupt jede ihm sinnvoll erscheinende Möglichkeit wahrnehmen, die vorliegenden Verdachtsmomente aus der Welt zu schaffen… »Das«, sagte Klaus Bothüter daraufhin, »habe ich auch stark vor!« »Bitte, bitte!« Das Tonband wurde in Gang gesetzt. »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben… Sie sind mit der Tonträgeraufnahme einverstanden und wollen Angaben machen, Herr Bothüter?« Er lächelte schwach. »Der Boß der Mordkommission wär kein Unmensch, hat mir mein Kollege Gerber gesagt. Außerdem sind das nach meiner Ansicht zwei Paar Schuhe: wenn Sie mich beschuldigen, muß ich mich ja noch lange nicht schuldig fühlen. Sehen wir also erst mal zu, wie’s läuft… mit einem Anwalt, wissen Sie, den würde zwar zunächst mein Verlag stellen, und das hatte ich mir auch noch bis vorhin überlegt – aber bitte, warten wir’s erst mal ab! Ich hab seit meiner Scheidung nicht mehr die allergrößte Meinung von den Brüdern!« 79
»Wieso haben Sie sich überhaupt scheiden lassen?« fragte Trimmel, dankbar für das Stichwort. »Das hat nie einer so recht begriffen außer mir selbst. Und ob ausgerechnet Sie’s begreifen würden… müssen Sie mir nicht erst mal sagen, was im Einzelnen mich belastet?« Trimmel sah ihn starr an. »Sie hatten Zeit und Gelegenheit für die Tat. Sie haben kein Alibi außer dem Gefälligkeitsalibi mit den drei Bierflaschen…« »Oha!« sagte Bothüter. »Da kennen Sie aber die rechtschaffene Frau Effenberger schlecht!« »Dann haben Sie sie eben getäuscht!« »Na schön – ich hab sie getäuscht. Hat mich denn wenigstens einer in der Richardstraße gesehen?« »Einer ja. Allerdings kein sehr sicherer Zeuge«, räumte Trimmel ein. »Sicherer ist uns da Ihre Parisienne-Kippe, die am Tatort lag…« »Die stammt vom Tag vorher!« »…nee, Herr Bothüter! Am Tag vorher hatten Sie Dienst, da konnten Sie nicht aus dem Haus!« »Doch!« behauptete er. »Das können Sie nicht beurteilen – Sie wissen doch gar nicht, wie’s in ner Redaktion zugeht! Es ist ziemlich einfach, da mal für zwei stille Stunden zu verschwinden…« »Mann Gottes – und da hätten Sie nicht mal einer Sekretärin Bescheid gesagt, wenn schon nicht dem Chefredakteur?« »Überprüfen Sie’s doch!« sagte er lakonisch. »Nächster Punkt?« »Der nächste Punkt«, sagte Trimmel, »wär der, daß Ihre geschiedene Frau wohl nicht gerade das war, was man eine Superhausfrau nennt…« »Das stimmt, leider. Wenn sie ihre Musik hörte, hätten ne Menge Kippen rum liegen können…« »Eben! Und bevor sie starb, hat sie ja Musik gehört. Warum hätte sie dann aus gerechnet einen bestimmten Aschenbecher so besonders sorgfältig auswischen sollen, ausgerechnet den mit Ihrer ParisienneAsche?« »Kann Ihre Technik etwa feststellen, daß bestimmte Aschenreste von ner bestimmten Zigarettenmarke stammen?« »Im Moment versuchen sie’s, und wahrscheinlich schaffen sie’s. Aber unabhängig davon… ich glaub sowieso, daß Sie den Aschenbe80
cher ausgewischt haben. Dabei ist Ihnen leider die Kippe, um die’s hier geht, rausgefallen!« Bothüter blieb unbeeindruckt. »Einstweilen halte ich das alles für Kokolores!« Trimmel zuckte die Schultern. »Haben Sie vielleicht eine ähnlich überzeugende Erklärung für Ihre frischen Fingerabdrücke in der Wohnung und in der Wagnerbüste?« »Wie frisch waren die denn?« »Passen Sie auf«, sagte Trimmel, weil Bothüter ihn hier tatsächlich an einer schwachen Stelle erwischt hatte, »wenn unsere kriminaltechnischen Untersuchungen schon abgeschlossen wären, würd ich Ihnen entweder noch massivere Vorhalte machen oder gar keine, zugegeben. Einstweilen geht’s hier um sehr massive…« »Verdachtsmomente!« vollendete Bothüter höhnisch. »Beweise kriegen wir später oder nie!« »Ein ziemlich dickes Verdachtsmoment«, fuhr Trimmel fort, »ist das mutmaßliche Motiv. Gerade einer wie Sie ist ja im Moment der Scheidung automatisch zum Konflikttäter programmiert. Dieses ewige Liebestodgedudel… also, früher wär da todsicher Ihre Frau schuldig gewesen. Früher hätten Sie da möglicherweise keinen Pfennig an Scheidungsalimenten zahlen müssen…« »…Aber…?« »…na ja – inzwischen gibt’s das neue Scheidungsrecht, ohne Schuldfrage… und da kann hundertmal die Frau schuld sein, da zahlen Sie trotzdem, bis Sie schwarz sind. Da sind Sie jeden Ersten schon unterm Gefrierpunkt…« »Sogar am absoluten Nullpunkt!« sagte Bothüter. »Aber ich hab ja damit gerechnet, daß Sie mir damit kommen. So sieht’s aus mit meinen Finanzen!« Er gab Trimmel einen Zettel. »Hab ich letzte Nacht mal zusammengestellt…« Netto: DM 3.143 las Trimmel. Für das Kind: DM 385 Bleiben: 2.758. 215 an Ehefrau: DM 1.303. Bleiben: DM 1.655. Trimmel sah auf. »Verdammt bitter…« »Ja. Aber es geht ja noch weiter! Achthundert an Miete. Hundertneunzig Krankenkasse. Hundertzwanzig im Monat Ratenzahlung für die Stereoanlage – Raumton für Wagner, das ist sowieso der größte Witz! Elfhundertzehn also gehn noch runter… da sind dann noch fünfhundertfünfundvierzig übrig! Und damit finanzier ich das Auto 81
und meine Klamotten und auch noch ne Freundin… ist doch stark, oder?« »Ein starkes Motiv!« nickte Trimmel. »Sag ich ja!« Im Moment hatte Bothüter sein volles Mitgefühl. »Gibt überhaupt kein besseres!« sagte Bothüter. »Also, einzig und allein auf Motive hin«, sagte Trimmel, »ist noch nie einer gehängt worden. Und wenn Sie gestern zufällig in Feuerland gewesen wären oder ein besseres Alibi hätten, säßen Sie nicht hier, trotz Ihres Motivs.« »Nur hätt ich das Geld für den Flug nach Feuerland nicht gehabt«, sagte Bothüter bitter, »selbst wenn ich vorher gewußt hätte, daß es mir helfen würde…« »Hätte Ihre Freundin Ihnen nicht was leihen können?« »Die hilft mir schon genug, wenn Sie daraus nun nicht auch noch einen Vorwurf wegen Zuhälterei konstruieren…« »Hat sie Ihnen auch gelegentlich geholfen, die Unterhaltszahlungen pünktlich zu leisten?« »Hat sie!« »Auch die letzten Tage?« »Auch.« »Und Sie haben nichts davon wiedergekriegt?« fragte Trimmel scheinheilig. »Wie meinen Sie das?« »Nun ja… Ihre geschiedene Frau hatte ziemlich viel von Ihrer Zahlung abgehoben, bevor sie umgebracht wurde. Das Geld war aber nicht mehr da, als wir sie gefunden haben, und Belege über größere Einkäufe haben wir auch nicht gefunden. Also könnte das Geld geklaut worden sein…« Er wurde merkwürdigerweise dunkelrot. »Wollen Sie mir etwa auch noch Leichenfledderei unterstellen?« Trimmel zuckte die Achseln. »Ist das denn noch schlimmer?« »Irgendwie ja…« sagte Bothüter. Trimmel fragte weiter. »Sie waren immer noch in der Richardstraße gemeldet?« Er überlegte. »Tatsächlich! Umgemeldet hab ich mich nie!« »Hatten Sie auch noch Ihren Schlüssel für die Wohnung?«
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»Den nun nicht!« sagte Bothüter. »Ich war nie daran interessiert, meine Exgattin mit anderen Männern im Bett zu erwischen. Ich hatte die Scheidung nämlich ziemlich ernst genommen!« »Gingen Sie vielleicht nur noch wegen Ihrer Tochter hin?« »Genau. Mit der durfte ich alle zwei Wochen sonntags zusammen sein, und meist hab ich davon auch Gebrauch gemacht. Das ist übrigens das, was mich momentan am allermeisten interessiert – was ist eigentlich mit meiner Tochter?« »Gott, ja – sie war ja im Schrank eingesperrt gewesen, wie Sie wissen…« »Sicher weiß ich’s!« »…aha. Aber soweit geht’s ihr wieder ganz gut…« »Ich will sie sehen!« verlangte er. »Ja, das ist momentan etwas heikel…« »Und wieso?« Trimmel zögerte. »Die Kleine meint wohl, daß Sie derjenige gewesen sind, der sie eingesperrt hat. Und wenn Sie das getan haben, sind Sie ja auch derjenige gewesen, der den Mord begangen hat…« »Sie spinnen doch!« sagte Bothüter fassungslos. »Kann ja sein. Nur wär ein Zusammentreffen zwischen Ihnen und Ihrer Tochter derzeit etwas kritisch. Da müßt ich mindestens den Staatsanwalt fragen, wenn nicht den Richter…« »Dann tun Sie’s gefälligst!« »So schnell wie möglich!« versprach Trimmel. »Aber nicht vor morgen! Heute haben wahrscheinlich die Ärzte was gegen Ihren Besuch…« »Irgendein Trick fällt Ihnen ja immer ein!« sagte Bothüter böse; damit zumindest kam er der Wahrheit sehr nahe. »Können Sie sich nicht selbst ausmalen, welchen Blödsinn Sie sich da ausgedacht haben? Die Kleine ist derart kratzbürstig – also, mir wär doch total das Gesicht zerkratzt worden, wenn ich sie tatsächlich einzusperren versucht hätte! Gerade von mir hätte sie sich das doch am allerwenigsten gefallen lassen!« »Sie könnten eine Maske getragen haben, um nicht erkannt zu werden…« überlegte Trimmel. »Hirnverbrannt! Total hirnverbrannt! Sie können doch nicht im Ernst annehmen, ein Kind würde seinen Vater nicht auch unter einer Maske erkennen! Das ist doch hier nicht wie beim Nikolaus! Gerade 83
ich habe immer zu den altmodischen Vätern gehört, die ihr Kind auch mal richtig feste in den Arm nehmen… meinen Sie nicht, daß dadurch eine gewisse Intimität entsteht? Daß man sich bei intensiven Berührungen erkennt, auch, wenn man das Gesicht nicht sieht?« »Das ist sicher nicht ganz von der Hand zu weisen!« gab Trimmel zu. Er gab es sogar gern zu – denn in diesem Moment entschied er sich für einen Tathergang, der dann auch in die Akten und in die Anklage kam. »Sie dürften nach dem… nach der Tötung hinter der Wohnungstür gestanden und dem Kind eine Decke oder so was über den Kopf geworfen haben…« »Aber auch dabei hätte sie mich erkannt!« »Eben!« sagte Trimmel befriedigt. »Hat sie ja auch!« »Das soll sie mir allerdings erst mal selbst sagen!« zürnte Bothüter. »Ich verlange sofort eine Gegenüberstellung!« »Einen Tag noch!« sagte Trimmel – bittend, wenngleich er’s nicht nötig hatte. »Sehn Sie mal – selbst wenn das Mädchen klipp und klar sagen sollte, Sie seien’s nicht gewesen oder sie hätte sie nicht erkannt… rauskommen würden Sie heute so und so nicht! Verhaftet werden Sie immer!« »Terror ist das!« klagte Bothüter. »Wir sind eben doch ein gottverdammter Polizeistaat!« Trimmel nahm’s hin. »Sie kommen raus, sobald sich Ihre Unschuld herausstellt oder Ihre Schuld nicht eindeutig nachzuweisen ist! Daß Sie in Verdacht geraten sind – dafür sind Sie schließlich selber verantwortlich!« Bothüter dachte lange nach, und das Tonband lief zwei Minuten ins Leere. »Wer ist jetzt eigentlich rechtlich für das Kind zuständig?« fragte er schließlich. »Sicher das Jugendamt.« »Und wer ist zuständig, wenn ich wieder frei bin?« »Auch noch das Jugendamt… Sie haben ja offenbar auf das Sorgerecht verzichtet…« Bothüter nickte. Das Problem schien ihn stark zu beschäftigen, auch wenn er im Moment größere Sorgen hatte. »Den Ärger hab ich mir tatsächlich selbst eingebrockt. Mit dem Sorgerecht für die Mutter… da hab ich bei der Scheidung wirklich was zugelassen, was ich selbst für kriminell hielt…« »Inwiefern?« 84
»Ach – mein Anwalt hatte ursprünglich sogar einen Antrag gestellt, daß ich Isolde kriege. Aber er hatte mir auch gesagt, daß ich erfahrungsgemäß kaum eine Chance hätte… also hab ich resigniert…« »Nur deswegen?« fragte Trimmel. »Sagen wir, hauptsächlich!« sagte Bothüter ehrlich. »Wahrscheinlich hatte ich auch Angst davor, daß ich nicht wissen würde, was ich mit Isolde überhaupt anstellen sollte. Alleinstehend und berufstätig und so…Schenkel war jedenfalls heilfroh, daß ich schließlich nachgab…« »Schenkel?« fragte Trimmel. »Rechtsanwalt Schenkel?« »Ja. Kennen Sie ihn?« Er nickte. »Hat der Sie geschieden?« »Ja. Auf dem Weg des geringsten Widerstands. Was das Kind betrifft – am Ende hat er mich gegen meine Überzeugung und gegen die Interessen des Kindes geschieden!« »Sie hielten Ihre Frau also offenbar nicht für eine gute Mutter?« »Nee – nicht die Bohne!« sagte er, »außerdem hatte mir meine Tochter ständig gesagt, daß sie bei mir bleiben wollte! Und ich Idiot, mir fiel nichts anderes ein, als sie zu vertrösten, daß ich das später ändern würde…« »…daß Sie sie dann doch zu sich nehmen würden?« »Klar!« sagte er, ein bißchen zu schnell. »Und jetzt?« »Jetzt?« sagte Bothüter erstaunt. »Jetzt sitz ich doch!« »Warum«, fragte Trimmel weiter, »war Ihre Frau Ihrer Ansicht nach keine gute Mutter?« Da stand Bothüter auf und ging dreimal im Zimmer auf und ab. Er setzte sich wieder und sagte todernst: »Da saß mal ein Papst in der Hölle, Herr Trimmel, und da fragte ihn einer, hör mal, Papst, wie kommst du denn in die Hölle? Tja, sagte der Papst, das ist eine lange Geschichte… kapiert?« »Glaub schon. In Ihrem Fall ist Ihre Ehe eine lange Geschichte, meinen Sie?« »Nicht mal nur die Ehe. Auch schon die Zeit, als ich meine Frau kennenlernte… das kann ich Ihnen gern erzählen. Da war ich Jungredakteur und wollte ein großer Feuilletonstar werden und durfte ab und an auch mal über ein Konzert schreiben… so Jugendträume, wissen Sie, inzwischen schreib ich als dritter Mann über hanseatische 85
Landespolitik… na ja, jedenfalls lerne ich Isolde Matuschek in einem Konzert kennen und mach sie an wie eine Menge Mädchen vorher… ja, und dann wird’s die große Liebe. Da mag’s auch eine Rolle gespielt haben, daß sie diesen berühmten Vater hatte… von dem war ich zwar ziemlich schnell enttäuscht, weil er ausgesprochen dumme Sprüche klopfte, wenn er nicht gerade dirigierte. Und daß ich mit einem Mal ein Star war unter meinesgleichen, als künftiger Schwiegersohn Matuscheks in der schönsten Villa von Othmarschen… wissen Sie, da kam eins zum anderen, als wir heirateten. Aber trotzdem, vor allem war ich total verrückt nach ihr… ich habe sie effektiv aus Liebe geheiratet, behaupte ich. Und als Isolde geboren wurde, hätte ich uns alle am liebsten einrahmen lassen…« »War Ihre Frau wenigstens damals ne gute Mutter?« »Im Grunde auch nicht«, sagte er zögernd, »mit ihren ganzen Verrücktheiten. Nur, ich wollt’s nie wahrhaben, daß sie vom ersten Tag an, als wir uns kennenlernten, immer geisteskranker wurde…« »Meinen Sie das wörtlich?« »Doch, doch«, sagte er, jetzt um jedes Wort bemüht. »Daß sie ständig Wagner hörte, war’s ja nicht allein… sie hatte ein fortschreitendes psychisches Leiden, das es angeblich gar nicht gibt… nach meiner Diagnose eine bisher nicht beschriebene Form von Spaltungsirresein!« »Sie hielt sich für eine andere Person?« »Tristan und Isolde«, nickte er, »sie hielt sich glatt für Isolde aus der Oper. Zuletzt war das nicht mehr zu ertragen…« »Wie äußerte sich das?« »Ja, wie…« sagte er bedrückt. »Das ist keine Vorehe mehr… aber gut, wenn wir schon soweit sind, muß ich Ihnen ja wohl doch noch die Ehegeschichte als solche erzählen, sonst begreifen Sie’s doch nicht… aber könnte ich vorher nicht mal einen Tee kriegen?« Immerhin blieb er beim Thema. »Ich muß mal fragen«, sagte er und trank einen Schluck, »kennen Sie eigentlich den Tristan?« »Nicht sehr gut…« sagte Trimmel ehrlich. Bothüter setzte die Tasse ab. »Da sind Sie wahrhaftig nicht der einzige. Das berühmteste Liebespaar der Weltliteratur ist ziemlich aus der Mode gekommen…«
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Da klang Spott mit, argwöhnte Trimmel. »Ich erinnere mich dunkel«, sagte er, »daß ne Menge Mord und Totschlag in der Geschichte vorkommt. Von daher ist es für mich sicher ne Bildungslücke…« Bothüter lächelte. »Nett gesagt. Nur, ich weiß nicht, ob Sie mir ohne die Kenntnis der wichtigsten Handlungsstränge folgen können… auf der anderen Seite, ich kann Ihnen hier ja schlecht die ganze Geschichte vorsingen…« »…aber ohne Ton?« schlug Trimmel vor. »Ich kann’s versuchen«, entschied der Beschuldigte Bothüter, »Sie sagen mir dann, wenn’s zu üppig wird!« Er zündete sich eine Zigarette an, Parisienne natürlich, und Trimmel nahm sich die erste Zigarre des Tages. Blaue Rauchschwaden stiegen hoch, und Bothüter begann. »Richard Wagner hat das dramaturgisch so dargestellt, daß die irische Königstochter Isolde den König Marke von Cornwall heiraten sollte, leider Gottes aber schon dessen Neffen Tristan liebte. Mit Tristan, den der König ausgerechnet auch noch als Brautwerber geschickt hatte, verband Isolde nämlich eine merkwürdige Vorgeschichte… da haben Sie übrigens schon den ersten Mord und Totschlag! Jedenfalls hatte Tristan Jahre zuvor schon den früheren Verlobten von Isolde im Kampf erschlagen, wobei er selber lebensgefährlich verletzt worden war. Und wie das Leben so spielt, war Isolde auch noch heilkundig und hatte ihn – den Tristan, mein ich – gerettet und gesundgepflegt und sich in ihn verliebt. Tristan seinerseits hatte sich zwar auch in Isolde verliebt, war aber erst mal wieder nach Cornwall zurückgereist… so gesehen schon ein starkes Stück, daß er dann nicht als Liebhaber zurückkam, sondern im Auftrag seines Onkels… Sie können mir folgen?« »Erzählen Sie weiter!« sagte Trimmel. Er sah voller Staunen, wie sich Bothüters Gesicht immer mehr rötete, während er redete: wie vom Winde verweht das Gesicht, tatsächlich wie bei einem Kind, das sein Lieblingsmärchen von anno dazumal einem Erwachsenen erzählen muß. Das Kind war größer geworden und schämte sich ein bißchen, und es tat so, als würde es längst über das Märchen lachen: es redete altklug, ein bißchen spöttisch und vor allem sehr auf Distanz bedacht… oder war’s, einmal mehr, Bothüters Schauspielkunst, die hier zum Tragen kam? 87
»…und nun«, sagte Klaus Bothüter, »fühlte sich Isolde verraten und verkauft und wollte sterben, und zwar gemeinsam mit Tristan! Sie ließ sich von ihrer Dienerin, einer gewissen Brangäne, Gift mischen, den berühmten Todestrank in der Geschichte, und statt dessen mixte Brangäne hinter Isoldes Rücken den berühmten Liebestrank zurecht! Und dann trank Isolde gemeinsam mit dem hinsichtlich der Getränkeverwechslung ahnungslosen Tristan das Gebräu aus, und dann raten Sie mal, was passierte?« »Sie starben nicht«, riet Trimmel, »sondern sie liebten sich nun erst recht!« »Richtig!« sagte Klaus Bothüter. »Noch auf dem Schiff von Irland nach Cornwall sanken sich Tristan und Isolde in höchster Leidenschaft in die Arme! Und als Isolde dann mit diesem König Marke schon verheiratet war, verabredete sie sich hinter seinem Rücken zu einem heimlichen Rendezvous mit Tristan. Der Liebestrank wirkte nämlich offenbar nicht nur einmal, sondern bis an das Ende aller Tage. Und das näherte sich jetzt…« Diesmal legte er eine richtige Kunstpause ein, und sein Lächeln war gar nicht mehr spöttisch, als er sah, daß Trimmel ihm fasziniert zuhörte. »Ich will’s mal kurz machen«, fuhr er fort, gekonnt wie ein Profi, »ein gewisser Melot, den Tristan für seinen Freund gehalten hatte, verpfiff die Liebenden bei König Marke, und infolgedessen wurden sie von Marke und seinen Leuten in flagranti erwischt. Es gab ein Handgemenge, bei dem Tristan von Melot schwer an der Brust verletzt wurde, und sein Gefolgsmann Kurwenal konnte ihn gerade noch nach Kareol in der Bretagne bringen, auf die Burg seiner Väter. Dort siechte er dahin, und nur eine einzige Person auf der ganzen Welt hätte ihn zu dem Zeitpunkt noch retten können, eben seine angeheiratete Tante Isolde, die er liebte und die ihn liebte und die ihn ja schon einmal gerettet hatte! Kurwenal gelang es unter erheblichen Schwierigkeiten, Isolde tatsächlich nach Kareol zu holen… aber da riß sich Tristan in einer Art fiebriger Verzückung den Verband von der Brust und starb in Isoldes Armen…« »Also in dem Fall kein Fremdverschulden!« stellte Trimmel sachlich fest. Bothüter sah ihn erstaunt an. »Natürlich nicht! Im Gegenteil! König Marke war nämlich sogar ebenfalls angesegelt gekommen, weil er 88
von Brangäne inzwischen die Sache mit dem Liebestrank erfahren hatte und weil ihm endlich ein Licht aufgegangen war, wieso sein getreuer Neffe ihn mit Isolde hintergangen hatte! Marke war gar nicht so ein lüsterner alter Haifisch – im Gegenteil, er hatte die feste Absicht, Tristan zu verzeihen und ihm Isolde zu schenken! Aber nun konnte er nur noch das Schicksal beklagen und die Leichen segnen…« »Wieviel waren ’s denn inzwischen?« »Mindestens vier!« sagte Klaus Bothüter traurig. »Kurwenal hatte Melot erschlagen und kam nun durch Melots Leute ums Leben. Tristan lag sowieso tot auf dem Boden, nun starb auch Isolde…« »Wie denn?« Er hob bedauernd die Schultern. »Isolde… die wurde nicht durch Menschenhand umgebracht, nicht durchs Schwert und nicht durch Gift… die starb an gebrochenem Herzen. Oder am Schicksal, wie man will… das Schicksal spielt in der Geschichte sowieso die Hauptrolle…« »Den Eindruck hab’ ich allerdings auch!« sagte Trimmel. Er erinnerte sich an das, was Gaby gesagt hatte. »In meiner Geschichte«, fuhr Bothüter fort, nachdem er sich eine neue Parisienne genommen hatte, »hatte das Schicksal nun die Hauptrolle wie folgt besetzt…« Er zückte einen Kugelschreiber, sah sich suchend um, und Trimmel schob ihm ein Blatt Papier über den Tisch. Da malte er zunächst, oben in der Mitte, das Blatt im Querformat, einen dicken Punkt. »Das ist meine ehemalige Frau!« Er malte einen zweiten Punkt, weiter unten links, und verband beide Punkte mit einer Linie. »Das ist die Königin Isolde. Ich sagte Ihnen ja, meine Ehefrau Isolde hatte sich in pathologischem Ausmaß mit Wagners Isolde identifiziert…« Und nun zwei Punkte untereinander, etwa auf der Höhe des Wagner-Isolde-Punktes, mit diesem wiederum durch zwei Linien verbunden, Linien von links nach rechts. »Das ist Tristan!« »Zweimal?« fragte Trimmel.
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Er nickte. »Und da kommen wir jetzt zum Kern. Meine Ehefrau Isolde überträgt in ihrer eingebildeten Eigenschaft als Wagners Isolde ihren Spaltungsdrang auch noch auf den realen Partner, kapiert?« »So gesehen ja«, sagte Trimmel, »bloß, so was hab ich tatsächlich mein Lebtag noch nicht gehört…« »Das sagte ich Ihnen ja«, erwiderte Bothüter, diesmal wirklich von oben herab, »das ist ja meine Entdeckung.« »Haben Sie das jemals mit einem Psychiater diskutiert?« Da lachte er kurz und höhnisch und sagte: »Nebbich. Hätt mir doch niemand geglaubt! Bei meiner Scheidung hat’s ja nicht mal besonders viel Krach gegeben, und am Ende hat man mir dann trotzdem zu verstehen gegeben, ich hätt ne Meise, und Isolde wär total in Ordnung! Da verliert man dann doch die Lust an der Menschheit, da fühlt man sich doch in ihren wertvollsten Gefühlen verhohnepiepelt! Und davon sogar mal ganz abgesehen, von wegen Psychiater… ich hab niemals was anderes vorgehabt, als die Frau, die ich bis zuletzt liebte, auf den Weg der Besserung zu bringen! Ohne Psychiater und andere Klugscheißer und Nichtsnutze!« Trimmel sagte nach kurzem Nachdenken: »Man könnte allerdings geteilter Meinung darüber sein, ob eine Scheidungsklage, die einer seelisch angeknacksten Frau ins Haus geschickt wird, unbedingt eine positive Therapie ist…« »In der Form ist das sicher richtig«, räumte Bothüter ein, »bloß, in der Form ist es ja nicht abgelaufen! Ich hab’s doch drei, vier Jahre auf andere Art versucht, bevor ich zum Anwalt gegangen bin…« »…zu Herrn Schenkel…« »…ja, zu dieser Nase! Ich hab’s im Guten versucht; ich hab versucht, auch noch das Allerletzte mit ihr auszudiskutieren, und wenn das Kind nicht gewesen wär, würd ich in ihrem Interesse wahrscheinlich heute noch diskutieren! Aber gerade das Kind… gerade Kindern gegenüber soll man ja keine Scheinehe aufrechterhalten und auch keine zerrüttete stützen, das können Sie heute ja überall nachlesen, wär ja auch nicht besonders ehrlich – deshalb schließlich mein Scheidungsentschluß! Aber sonst – glauben Sie mir eins, ich hab sogar allen Ernstes versucht, mich selber zu spalten und im Intimbereich mit meiner Gattin Oper zu spielen!«
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Trimmel sah auf die Zeichnung. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren Sie für Ihre damalige Frau so was wie der halbe Tristan?« »Die eine Hälfte!« korrigierte Bothüter. »Und die andere?« »Die andere Hälfte«, sagte Bothüter, »war die bessere. War ihr Vater Siegfried Matuschek… und das will ich nun mal deutlicher sagen als vorhin… Siegfried Matuschek ist ein richtiges Arschloch, vornehmer geht’s nicht, ne richtige Sau! Er hat seine Tochter Isolde auf dem Gewissen, wenn Sie mich fragen, er und kein anderer! Der klassische Typ eines Inzestverbrechers…« »Psychisch, meinen Sie?« »Nicht mal nur – da ist todsicher auch real was gelaufen! Ich glaube felsenfest, daß er seine Tochter bloß deshalb mit diesem ganzen Tristan-und-Isolde-Dunst eingenebelt hat, damit sie mit ihm das Beilager teilt, wie Wagner gesagt hätte! Herr Trimmel, das hätten Sie erleben müssen – diese schwülen, geilen Gespräche bei Dirigentens am flackernden Kaminfeuer… ich war ja damals blind, weil ich in das Fräulein Kronprinzessin verknallt war, ich hab mir das auch noch angehört, statt daß ich den Leuten ins Feuer gepinkelt hätte! Ich hab’s damals ja auch noch gar nicht auf meine Braut bezogen, wenn der Alte Schopenhauer zitiert hat, daß sich die Balken bogen… daß Wagner den ganzen Tristan im Reich der Schwermut empfangen hat, und daß auf der Welt passieren kann, was will, daß trotzdem über allem die Liebe steht! Die darf alles! Die rechtfertigt natürlich auch… heute erst ist mir das klar… rechtfertigt jederzeit auch ein geschlechtsvertrauliches Verhältnis zwischen dem Herrn Vater und der Tochter… bah!« »Warum haben Sie sie nicht direkt gefragt, ob sie eins gehabt hat?« »Hab ich ja, hundertmal! Aber da ist sie jedesmal eingerastet… ein paarmal allerdings hat sie mir immerhin gesagt, von ihr aus hätt’s ohne weiteres passieren können, aber Siegfried als Ehrenmann wäre ja viel zu feige gewesen…« »Und Sie haben’s ihr nicht geglaubt?« »Keine Sekunde! In dem Punkt war er nämlich weder feige noch um ne Ausrede verlegen, da hat er Richard Wagner selber zum Kronzeugen gemacht! Wagners Schwermut, hat er gesagt, die den Meister anno achtzehnsiebenfünfzig heimsuchte, hat mit dem Tristan 91
überirdische Blüten getrieben… viel später erst ist mir aufgegangen, daß die ganze sogenannte Schwermut vermutlich überhaupt nichts anderes war als die angeblich unerfüllte Liebe zu Mathilde Wesendonck. Wagner ging’s damals ziemlich mies, und Mathilde war ausgerechnet die Ehefrau des einzigen Menschen, der’s noch gut mit ihm meinte. Nun glaubt aber im Grunde kein Mensch, daß zwischen Wagner und Mathilde kein Sexualverhältnis bestanden hat… also, ein sogenannter anständiger Mann war Wagner selten, und daß er zu der Zeit noch mit seiner Frau Minna verheiratet war, hat ihn sicher auch nicht besonders gestört. Genau wie Tristan und Isolde hat er sich also vermutlich über alle Hemmungen von Sitte und Anstand hinweggesetzt, und das Alibi dafür – das hatte er sich ja nun gerade selbst konstruiert! Nämlich den Liebestrank. Was soll man machen? sagt sich der Sexualstraftäter. Kannst ja nix machen, sagt er sich, gegen den Liebestrank ist kein Gegenkraut gewachsen! Weiß Gott ne herrliche Beruhigungspille für Ehebrecher und Kinderschänder!« Trimmel war beeindruckt, eigentlich wider Willen. Eine gute Rhetorik, dachte er, eigentlich auch eine glasklare Beweisführung: wenn sie Sprünge hatte, waren sie geschickt kaschiert. »Ich hätte trotzdem noch zwei Fragen. Hat die nach Ihrer Ansicht von der eigenen Tochter sexuell betrogene Mutter Ihrer Frau nie Verdacht geschöpft?« »Die verstand sich stets als Dienerin ihres Mannes und ihres Stammes«, erklärte Bothüter, »so gesehen war sie Dienerin Brangäne persönlich. Sie hätte der Unmoral bestimmt eher das Bett bereitet, statt daß sie eingeschritten wäre…« »…und Ihre Frau selbst – wie hat die es verkraftet beziehungsweise nicht verkraftet?« Bothüter überlegte. »Das mutmaßliche inzestuöse Verhältnis hat sich massiv ehestörend ausgewirkt!« sagte er schließlich geschraubt. »Wie?« »Ich will’s mal andeuten«, sagte er zögernd und wurde dann doch sehr deutlich. »Sie war immer ein… ein geiles Weib. So verrückt nach Sex, daß es mir am Ende effektiv über die Potenz ging. Am Anfang war ihre… ihre Wildheit ja das, was mich faszinierte – achtmal täglich, wenn’s nach ihr gegangen wäre. Aber dann bin ich mehr und mehr ausgestiegen – immer dieselben Allüren, Licht aus und ein riesiger Armleuchter mit Kerzen dran, ein Hochzeitsgeschenk von ihrem Vater… ja, und immer die Musik! Tristan und Isolde und 92
höchstens bei der üblichen Frühstücksnummer mal was Leichteres, etwa die Meistersinger. Wirklich jede Nummer als Opernpremiere! Manchmal bin ich ziemlich ausgeflippt…« »Gewalttätig?« »Eigentlich nicht… das heißt, einmal hab ich ne Tannhäuser-Platte als Diskus benutzt…« »Aha!« sagte Trimmel. »Und dabei hat sie zufällig den Kopf in die Flugbahn gehalten?« »…so ungefähr. Aber eine Delle hat sie hinterher nicht gehabt… weder sie noch die Platte!« Offenbar fiel ihm ein, daß sie inzwischen eine erhebliche Delle hatte. »Tschuldigung!« fügte er hinzu. »Und eins noch – es ist ja beim… beim Vögeln passiert, und hinterher war sie wilder als die wilden Walküren beim Walkürenritt! Sie hatte da eindeutig masochistische Tendenzen… aber wenn Sie jetzt den Schluß ziehen sollten, daß einer, der seiner Frau ne Wagnerplatte auf den Kopf haut, auch mal ne Wagnerbüste nehmen könnte – Herr Trimmel, da wären Sie ziemlich auf dem Holzweg!« »Wir wollen’s nicht überbewerten«, sagte Trimmel friedlich. »Es schlägt sicher nicht jeder gleich seine Frau tot, dem schon mal die Hand ausgerutscht ist. Aber ist sie Ihnen vielleicht mal öfter ausgerutscht?« Wieder zögerte er. »Damit Sie sehen, wie ehrlich ich tatsächlich bin… zwei-, dreimal hab ich mich von ihr überreden lassen, sie zu würgen. Spielerisch zu würgen, aber gar nicht mal so schwach – eben ihr Masochismus… sie stand auf so was! Sie war sexuell nämlich oft eine geradezu klassische Masochistin, und wenn ich nicht so stinknormal wäre…« Wieder Pause. Und mit einem Mal war’s ganz totenstill – es war, als sei unten auf der Straße sogar der Verkehr stehengeblieben. »Sie, da fällt mir was ein!« sagte Bothüter mit Nachdruck. »Ich glaub, ich ahne, wie Isolde zu Tode gekommen ist – welches Motiv dahintersteckt! Ich glaub hundertprozentig, daß sie – wie nennt man das? – an einem klassischen Sexualunfall zugrunde gegangen ist!« »Ach nee…« »Doch, doch… Isolde hat mir selbst erzählt, daß sie nach der Scheidung einen Italiener kennengelernt hatte, der mindestens so ’n großer Wagnerverehrer war wie sie selbst – außerdem wäre er im Bett sogar noch besser als ich! Und das müßte ja auch heißen, daß er besser als 93
ich auf ihre gewalttätigen masochistischen Wünsche eingegangen ist – aber nun frag ich mich, warum muß der Sexualunfall, wenn wir den doch mal als wahrscheinlich ansehen, ausgerechnet mir passiert sein? Warum kann er nicht, was doch viel naheliegender ist, ihm passiert sein?« »Also, mir erscheint das reichlich weit hergeholt…« meinte Trimmel. »Ja, wieso denn? Das paßt doch auch zu diesen Schicksalsgesängen… die Figuren bei Wagner sind doch meistens sowieso nur glücklich, wenn’s irgendwo weh tut! Fragen Sie den Mann doch mal!« »Erstens, Ihre Exfrau ist nicht erwürgt, sondern erschlagen worden. Zweitens, wir haben den Mann gefragt, und er hat ein bombensicheres Alibi für die Tatzeit. Drittens allerdings, wenn Sie schon selbst auf ihn kommen – waren Sie seinetwegen vielleicht eifersüchtig?« »Wieso soll ich eifersüchtig sein, wenn meine Ehemalige sich anderweitig tröstet?« »Oh, da wär ich nicht so sicher!« sagte Trimmel. »Könnt’s nicht sein, daß der Herr schon mal in Ihrem Schlafzimmer gewesen ist, als Sie noch verheiratet waren?« Bothüter sah ihn fast verstört an – fast so, als hätte er soeben eine besonders schlimme Nachricht gehört. »Heißt das, daß Isolde Ihrer Ansicht nach… fremdgegangen ist?« »Ich war nicht dabei«, sagte Trimmel, »aber ausschließen würd ich’s nicht…« »Nicht zu fassen!« sagte er. »Na ja…« »Und wie war’s in dieser Hinsicht bei Ihnen?« Da lachte er, wenn auch etwas kläglich nach dem Schock über die möglicherweise frühe Untreue der Exgattin. »Bevor Sie es von anderen Leuten hören… da lief einiges, aber Spaß gemacht hat’s selten…« »Was Festeres dabei? Oder nur Gelegenheiten?« Er verzog das Gesicht. »Mit einer war ich öfter los… mit Marlies Effenberger, Sie kennen sie ja. Aber daß da überhaupt was lief – das war immer nur Wut und außerdem tatsächlich Eifersucht!« »Ja, aber auf wen denn?« fragte Trimmel. »Wenn Sie von dem Italiener während Ihrer Ehe nichts wußten?« 94
»Sagte ich doch – effektiv auf meinen Schwiegervater und auf Herrn Tristan! Tristan hinten, Tristan vorne – gerade in der letzten Zeit hat sie ihre Anlage immer dann aufgedreht, wenn ich abgeschlafft nach Hause kam und die Tagesthemen sehen wollte… buchstäblich, kaum noch ne Tagesschau ohne Isoldes letzte Worte, in des Weltatems wehendem All ertrinken, versinken, unbewußt, höchste Lust… Sie, ehrlich – da gab’s was Näherliegendes für mich als Fremdgehen!« »Was denn?« fragte Trimmel. »Saufen!« sagte Bothüter. »Da gab’s ne Zeit, da hab ich mich jeden Abend aus Verzweiflung vollaufen lassen!« »Übertreiben Sie nicht etwas?« »Kaum!« Er nahm sich eine neue Zigarette, zündete sie an und pustete das Feuerzeug so gewaltsam aus, als müsse er ein Sonnwendfeuer löschen. »Und dann eins… daß sie mich im Bett abwechselnd Siegfried und Tristan nannte, wenn wir schon noch mal im Bett waren – das hab ich ja sogar noch toleriert. Aber als ich dahinterkam, was sie mit der Tochter anstellte – da war es aus! Der hatte sie schon mit fünf den kompletten Tristan-Text eingetrichtert, die ganze sogenannte Handlung in drei Aufzügen… Schnacks dabei, sag ich Ihnen, die könnten vom Guru von Poona stammen! Und so geht’s nicht weiter, hab ich: zuerst Isolde gesagt – meiner Frau, meine ich – und dann meinem Rechtsanwalt. Und dann war ich nach meiner Scheidung trotzdem finanziell der Gelackmeierte und außerdem noch das Kind los!« Trimmel sah ihn nachdenklich an. »Hat Ihr Rechtsanwalt dem Scheidungs- oder Familienrichter denn nicht mitgeteilt, was da so lief?« »Ich hatte ihm ja gar nicht alles erzählt!« sagte Bothüter. »Sie sind effektiv der erste, dem ich’s erzähl! Meinen Verdacht wegen der Blutschande, den hatte ich Schenkel zwar erzählt, aber da hat Schenkel gesagt, wenn ich das nicht beweisen könnte, gäb’s einen Riesenärger. Gerade, weil Matuschek ein so bekannter Mann ist…« Trimmel überlegte. Es war sicherlich nicht seine Aufgabe, gegen Siegfried Matuschek ein Verfahren wegen Blutschande in Gang zu bringen; auf der anderen Seite allerdings hatte Bothüters Schilderung durchaus einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad. Siegfried Matuschek, alt zwar, aber nicht allzu gebrechlich, hatte bereits jede förm95
liche Vernehmung mit dem Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit kategorisch abgeblockt. »Was ist?« fragte Bothüter. »Träumen Sie?« Da griff Trimmel ihn, wenn auch noch behutsam, zum ersten Mal direkt an. »Wenn ich Ihre Probleme so höre, Herr Bothüter – haben Sie sich am Ende, als Sie nach Ihrer Scheidung mit leeren Händen dastanden, nicht Ihrerseits mal aus lauter Wut über diese Regeln von Gesetz und Moral hinweggesetzt? Haben Sie Ihre Probleme vielleicht doch selber gelöst? Mit Gewalt?« Bothüter setzte wieder sein wehmütiges, diesmal allerdings auch fast verständnisvolles Lächeln auf. »Sie halten mich demnach nach wie vor für einen Konflikttäter?« »Im Grunde ja…« gab Trimmel zu. Bothüter nickte. »Dann will ich mich mal so massiv verteidigen wie bisher nie. Dieser ganze Fall, den Sie mir da anhängen wollen, ist doch im Grunde abgelaufen wie eine miese, tragische Oper…« »Ja. Und?« »Ich hasse Opern, Herr Trimmel! Und deshalb spiel ich sie nicht! Ich hasse Opern wie die Pest, heute jedenfalls, und die Gründe: dafür hab ich Ihnen ja inzwischen erzählt! Leuchtet Ihnen das ein?« Trimmel schüttelte den Kopf. »Umgekehrt, Herr Bothüter… Sie sind immer noch verrückt nach Opern! So, wie Sie mir da den Tristan erzählt haben… so tragisch und blutig können Opern gar nicht sein, daß sie Ihnen nicht doch gefallen! So sieht das aus!« Da endlich geriet Klaus Bothüter zum ersten Mal richtig aus den Fugen. »Gott, sind Sie schlau!« sagte er gehässig. Nachmittags wurde der Verdächtige dem Richter vorgeführt, und der erließ erwartungsgemäß Haftbefehl, wenngleich in der bisherigen Vernehmung keine wesentlichen neuen Verdachtsmomente hinzugekommen waren. »Wollen wir nicht weitermachen?« fragte Bothüter, wieder sehr cool, gleich anschließend. »Nein, erst morgen!« entschied Trimmel. »Ich will’s nicht erleben, daß Sie womöglich ’n Geständnis ablegen und es später widerrufen und einfach behaupten, Sie wären total übermüdet gewesen… so was gibt’s!«
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»Aber nicht bei mir!« sagte Bothüter entrüstet. »Vergleichen Sie mich nicht immer mit anderen Leuten – Sie wissen doch, daß ich nichts zu gestehen habe!« »Ach – wer weiß das wirklich?« fragte Trimmel ungerührt. Karin Stiller war aus dem Krankenhaus zurück, als Trimmel in sein Büro zurückkam. »Und?« fragte er. »Nichts!« sagte sie. »Mit dem Arzt hatte ich mich schon arrangiert, als Sie mich gebremst haben. Aber als erst der Jugendamtsmensch da war, dieser Kohlhäufel… er war zwar etwas kooperativer als am Telefon, aber er ließ mich erst mit rein zu Isolde Bothüter, nachdem ich versprochen hatte, keine einzige Frage zu stellen. Statt dessen fragte er dann – so plump und direkt, ob sie ihren Vater in der Wohnung erkannt hätte, daß sie nur genauso plump nein sagen konnte. Wissen Sie, bei allem Elend – die Kleine hat sich da richtig als Star gefühlt! Die ist außerdem hochintelligent und übersieht sofort jede Situation!« »Der Vater auch…« sagte Trimmel. »Ich glaub jedenfalls mehr denn je, daß die Tochter ihren Vater deckt!« »Sicher. Morgen will er sie sehen…« »Ach – da wird er aber in jedem Fall Pech haben!« sagte Karin Stiller. »Kohlhäufel hat veranlaßt, daß außer ihm selbst erst mal gar keiner zu ihr kann! Sie hat gar nicht groß heftig protestiert – womöglich hat sie instinktiv Angst, daß sie in eine Konfliktsituation kommt und sich dann doch noch verplappert…« Später, als sie komplett waren, spielte Trimmel seinen Leuten die wichtigsten Stellen der bisherigen Vernehmung Bothüters vom Tonband vor. Klaus Bothüters ›Theorie‹, seine Exfrau sei unter Umständen gar nicht vorsätzlich getötet worden, sondern vermutlich einem ›klassischen Sexualunfall‹ zum Opfer gefallen, imponierte vor allem Laumen: »Das ist gar nicht so abwegig, daß Valpone auf die Weise doch damit zu tun hat!« »Unsinn!« sagte Petersen. »Wieso? Hat Valpone nicht gesagt, daß das Scheißleben unwichtig ist, wenn man Musik hört, oder so ähnlich?« »Das kannst du doch nicht wörtlich nehmen! Denk doch mal eine Sekunde nach, wie wir die Frau gefunden haben!« 97
»Wie denn?« »Ja, doch wohl total angezogen!« sagte Petersen. »Und wenn der Italiener oder sonstwer ihr den Gipskopf tatsächlich bei einem perversen Liebesspiel über den Schädel gezogen hätte, wär sie ja wohl nackt oder halbnackt gewesen! Und eh du auch noch damit anfängst, daß sie ja noch mal zu sich gekommen ist… da hat sie telefoniert, und da hätte sie alles Mögliche tun können, aber sich keine Jeans und ihren BH anziehen können!« Trimmel sagte: »Ich hatte vorübergehend die Idee, der Sexualunfall wär Bothüter selber passiert, und er verkauft mir wenigstens die halbe Wahrheit…« »Einen gewissen Sinn für originelle Spielchen hatte die Frau«, sagte Petersen mokant, »ihre Schamhaare, hab ich bei der Obduktion gesehen, hatte sie zurechtgeschnitten wie ein Herz…« »Aber?« fragte Trimmel. »…aber ob’s ihr mit ihrem Exgatten oder ihrem Freund passiert wäre – ausgezogen hätte sie sich immer!« »Ich halt’s für eine Art Raubmord«, meinte Karin Stiller, »eine Art indirekten Raubmord…« »Na schön!« Laumen blätterte in seinem Notizbuch. »In der Redaktion beim ›Hamburger Mittag‹ sagt die Sekretärin, die für Bothüter zuständig ist, er war an dem Tatnachmittag tatsächlich nicht im Büro, weil er frei hatte, aber am Nachmittag davor war er auch mal weg. Sie glaubt zwar nicht, daß er da länger als zwei Stunden weg war, aber festlegen will sie sich auch nicht. Das kann ihn also höchstens entlasten. Dagegen haben mir zwei Kollegen von ihm gesagt, daß er kürzlich erzählt hat, er käme finanziell hinten und vorn nicht mehr hoch, und das würd alles ein schlimmes Ende nehmen…« »Hat’s ja dann auch!« sagte Petersen lakonisch. »Ich hab jedenfalls festgestellt, daß Valpone ein Sparkonto mit fast zwölf Mille hat! Und nachdem der Leiche vermutlich mehrere hundert Mark aus der Handtasche geklaut worden sind… also, Valpone hätte das nicht nötig gehabt, Bothüter allerdings um so mehr!« Karin Stiller war kurz aus dem Zimmer gegangen, und zum Erstaunen ihrer Kollegen kam sie mit einem Plattenspieler zurück. Sie packte aus einer Plastiktüte eine Kassette mit Schallplatten aus und sagte allen Ernstes: »Ich will mir das nun endlich mal anhören!« 98
So kam es, daß sich dann die gesamte Mordkommission Bothüter fast zwei Stunden lang die Höhepunkte aus Tristan und Isolde anhörte: Wagners Spiel mit den Halbtönen entging ihr zwar ebenso wie die Erhöhung und Erniedrigung der Stammtöne, die sich der Meister gestattet hatte. Aber die Musik, präsentiert von Karl Böhm, ging allen doch ziemlich unter die Haut. Gegen zehn Uhr endlich war Trimmel zu Hause, und selbst da noch sagte er zu Gaby: »Ich kann mir sogar vorstellen, daß man das öfter hören kann!« »Ich sag dir ja, ich hab’s früher öfter gehört…« meinte Gaby versonnen. »…aber jeden Tag ja nun auch nicht!« Er ging zeitig zu Bett, und vor dem Einschlafen fiel ihm ein, daß er seine entscheidenden Fragen an den mordverdächtigen Klaus Bothüter noch nicht losgeworden war: Warum der Wagnersche Gipskopf? Und warum die Gleichgültigkeit gegenüber dem eingesperrten Kind? »Morgen knack ich ihn«, sagte er grimmig, »morgen sagt er mir alles!« »Ganz bestimmt, Paul«, antwortete Gaby Montag sanft, »du kannst ja zaubern…« »Entzaubern werd ich ihn!« sagte er, richtig drohend. Das Tonband lief wieder, und Trimmel sagte: »Das Jugendamt ist mit einer Begegnung zwischen Ihnen und Ihrer Tochter zur Zeit nicht einverstanden, Herr Bothüter!« »Dann brauch ich eben doch einen Anwalt!« sagte er cool. »Jetzt gleich?« »Fünfundvierzig zwölf siebenfünfzig… Rechtsanwalt Erich Schenkel. Ich glaub, ich nehm doch Schenkel…« »Ja, aber mit dem waren Sie doch gar nicht zufrieden?« »Als Strafanwalt soll er besser sein, hat Bobby Gerber mir gesagt…« Trimmel wählte, und er verkniff sich die Bemerkung, daß ja offenbar doch schon einiges zwischen Bothüter, Gerber und Marlies Effenberger besprochen worden war, bevor sie vorgestern nacht zum Präsidium fuhren. »Hier, sprechen Sie selbst…«
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Schenkel war nicht in seiner Kanzlei, aber die Sekretärin kannte Bothüter. Sie konnte ihm zusagen, daß ihr Chef ihn noch am späten Nachmittag in der Haft besuchen würde. »Wollen Sie nun bis dahin nichts mehr sagen?« fragte Trimmel. »Wieso?« wunderte sich Bothüter. »Schenkel soll doch erst mal nur dafür sorgen, daß ich mein Kind sehen kann…« »Okay. Dann erst mal zwei Kleinigkeiten. Es wurde festgestellt, daß Ihre Frau ihre Schamhaare praktisch wie eine Frisur geschnitten hatte…« »Das Herzchen!« sagte Bothüter und errötete leicht. »Hatte sie das immer noch?« »Ja. Irgendwie paßt das ja auch zu Ihrer Aussage von gestern über ihre… ihre sexuelle Interessiertheit. Dann möcht ich Sie fragen, ob sie hinsichtlich der Frau Effenberger festere Absichten hatten?« »Keine so eindringlichen«, sagte er, »daß ich deswegen meine Verflossene hätte beseitigen müssen…« »Na gut.« Trimmel wechselte das Thema. »Ich hab mir gestern übrigens Tristan und Isolde angehört…« Klaus Bothüter sah ihn fassungslos an. »Also Sie und Tristan! Trimmel und Isolde, wirklich…!« Da war es heraus, das Wortspiel auf dem Tonband und in der Welt. »…Sie verstehen das bitte nicht falsch, Herr Trimmel, aber da krieg ich ja Schüttelfrost… vor lauter Mitgefühl, was die Polizei alles machen muß…« »Man kann es sich nicht aussuchen!« sagte Trimmel. »…wirklich zu komisch… das Sehnen hin zur heiligen Nacht, wo urewig, einzig wahr, Liebeswonne ihm lacht… ganz uns selbst gegeben, der Liebe nur zu leben… ehrlich, Herr Trimmel, haben Sie sich nicht halb kringelig gelacht?« »Eigentlich bin ich eher nachdenklich geworden… sagen Sie mal, Herr Bothüter, Sie haben doch gestern gesagt, die Sprüche von Wagner, die könnt auch der Guru von Poona von sich gegeben haben?« Plötzlich war Bothüter ganz ernst. »Kennen Sie denn dieses Poona?« »O ja«, sagte Trimmel, »neulich hatten wir mal einen Poonajünger, der hatte ausgerechnet auf Sankt Pauli eine Art Mission veranstaltet, und da hatte er prompt Ärger gekriegt… grade noch, daß er bei der Schlägerei nicht zu Tode gekommen ist! Der hat mir dann einiges 100
erzählt, daß Poona an und für sich ein riesiger Slum gewesen ist, aber daß der Guru angebetet wurde wie Jesus. Liebe wär der unterste Nenner der Energie, die wir Gott nennen, soll er mal gesagt haben, und das soll dann eine Art Wahlspruch geworden sein…« Bothüter nickte zustimmend. »Unter Liebe versteht er allerdings nur Sex. Sex für alle – das ist ja gerade die Mausefalle! Da fliegt doch jeder drauf, der sich einredet, daß er dem westlichen Leistungsstreß entfliehen muß und außerdem möglichst dreimal am Tag bumsen muß… aber was hat das mit uns zu tun?« »Ich hab den sicheren Eindruck«, sagte Trimmel provozierend, »daß dieser Guru, dieser…« »…Bhagwan…« sagte Bothüter. »…daß der für Sie das allerletzte an Mystik und Mythos und Spinnerei ist…« »Stimmt!« »…und daß Sie alles verabscheuen, was mit Mystik und Mythos und Spinnerei zu tun hat…« »Doch, das haben Sie gut erkannt!« »…und daß Sie den Bhagwan gestern quasi als Kontrastprogramm ins Spiel gebracht haben. Damit ich begreife, daß Sie Richard Wagner in seiner Eigenschaft als Sprücheklopfer ziemlich hassen. Stimmt’s?« Bothüter ließ sich Zeit. »Sie rühren da tatsächlich an meiner vielleicht empfindlichste Stelle«, sagte er schließlich, »und ich komm auch dahinter, worauf Sie hinauswollen. Bhagwan und Bayreuth… banne das Bangen, holder Tod, sagt Wagner, und der Guru will, daß wir fliegen sollen und sterbend aufgehn im Meister… wirklich ein und dieselbe Mischpoke! Aber nun wollen Sie sicher wissen, ob ich diese falschen Fuffis von Propheten so hasse, daß ich sie gelegentlich umbringe, nicht?« »Ja. Rational, wie Sie gebaut sind…« »Anhängen würd ich ihnen alles«, sagte Bothüter nachdenklich, »das hängt auch vom Schaden ab, den sie anrichten, Bhagwan sicher mehr als Wagner… trotzdem, umbringen…« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Aber in allerletzter Konsequenz?« fragte Trimmel. »Beispielsweise, wenn ein falscher Prophet seinen Flurschaden in Ihrer unmittelbaren Umgebung anrichtet?« 101
»Nein! Auch dann nicht! Und auch Isolde nicht – die war zwar längst so verrückt, daß sie als falscher Prophet durchgehen konnte. Bloß, ich hab sie nicht umgebracht!« »Ich mein’s gar nicht mal so direkt, Herr Bothüter…« »…natürlich meinen Sie’s direkt! Bloß, weil ich Ihnen gestern gesagt habe, daß ich diese Verquickung von Sex und Tod und Erlösung nicht mehr aushalten konnte! Daß ich bald wahnsinnig geworden bin bei dieser idiotischen Erlösungssehnsucht, dieser totalen Entspannung… aber, Herrgott noch mal, ich hab’s wirklich vorgezogen, mich scheiden zu lassen!« Momentan, dachte Trimmel, übersieht er Gott sei Dank, daß er hinsichtlich seiner Tochter keine so ›elegante‹ Lösung gefunden hatte. Er schien in die Falle zu gehen, bei all seiner Klugheit; die Falle war fast schon zu… »Warum reden Sie nicht weiter?« fragte Bothüter. Er war offenbar völlig ahnungslos. »Weil Sie mich in diesem Punkt überzeugt haben. Anderweitig allerdings noch nicht… also, nur noch mal ganz theoretisch. Sie gehen davon aus, daß diese Gurus Rattenfänger sind und die Menschheit verarschen und dabei auch noch Riesengeschäfte machen?« »Ganz theoretisch«, antwortete er, »wenn einer den Leuten einredet, daß sie sich aus mystischen Gründen Bärte wachsen oder Glatzen schneiden lassen müssen, find ich das genauso ekelhaft, als wenn einer meint, man müsse sich zur Feier des Liebestods ’n Smoking anziehen. Wenn einer die Angst der Menschen vorm Sterben ausnutzt und den guten alten Tod mit diesem idiotischen Liebestod gleichsetzt, könnt ich rot sehen. Ein Orgasmus mit anschließender Erschöpfung ist nun mal nicht dasselbe wie ’n Exitus – und wenn da einer herkommt und eine an und für sich doch wohl kostenfreie menschliche Betätigung wie Ficken sogar noch für sündhaft teures Geld als Religion verkauft… Sie, dann könnt ich am Ende vielleicht doch mal ausflippen, zugegeben! Da wär dann bei mir vielleicht definitiv mal Sense!« »Dann gehört der Betreffende bestraft?« »Dann gehört er bestraft!« »Und die Verführten müssen gerettet werden?« »Die müssen gerettet werden – richtig!« 102
Endlich, dachte Trimmel, hatte er ihn da, wo er ihn haben wollte. Endlich hatte er ihn bis auf die Haut entzaubert. »Ich faß mal alles zusammen«, sagte Trimmel, »von gestern und heute. Für’s Protokoll…« »Bitte!« »Sie sind im Verlauf Ihrer Ehe zu der Überzeugung gekommen, daß Ihre Frau mehr und mehr einer verhängnisvollen Mystik verfiel und immer verrückter wurde?« »Im Prinzip ja…« »Sie ließen sich scheiden, weil Sie die Sache als hoffnungslos ansahen?« »Genau!« »Sie hatten zusätzlich Angst, Ihre Frau würde Ihnen auch noch die Tochter seelisch vergiften, waren dann allerdings nicht konsequent genug und beließen ihr das Kind?« »Ich habe Ihnen mehrfach gesagt, daß ich’s inzwischen sehr bereut habe…« »Ja, ja – darauf will ich ja hinaus: Sie überlegten pausenlos, ob Sie’s nicht ändern könnten! Und nun muß ich Sie doch noch mal direkt fragen, Herr Bothüter. Ihr eigentlicher Feind war ja nun der in Ihren Augen falsche Prophet Richard Wagner – wehren allerdings konnten Sie sich nur gegen seine fanatische und Unheil stiftende Jüngerin, Ihre Frau. Könnten Sie die Unheilstifterin nun nicht doch dadurch bestraft haben, daß Sie ihr sinnigerweise die Büste ihres eigenen Gurus über den Kopf schlugen?« Bothüter war nicht mal wütend. »Sie drehen sich zum ersten Male im Kreise, Herr Trimmel…« »Nee, nee – ich will nämlich auf folgendes hinaus. Ob Sie es waren oder jemand anderes… derjenige, der Ihre Exgattin erschlagen hat, stand psychologisch vor einem schrecklichen Dilemma, als er das unschuldige Kind einsperrte. Beziehungsweise auch gerade nicht… er wollte zwar die Mutter bestrafen, das Kind aber wohl eher retten! Und nun frag ich Sie… wir haben das Kind später ja nur zufällig gefunden, und wenn wir’s nur etwas später gefunden hätten, hätte es leicht ersticken können…« »Ja. Und?« »Tja, mein Bester – hätt man da nicht im Grunde erwarten müssen, daß der Täter, der die falsche Prophetin erschlagen hat, etwas mehr 103
Fürsorge für das Opfer der Prophetin aufbringt? Wenn er das Kind schon einsperren muß, damit er nicht gleich erwischt wird… hätt man nicht wenigstens erwarten müssen, daß er anonym bei der Polizei anruft, sobald er in Sicherheit ist? Daß er der Polizei sagt, sie soll sofort das Kind aus der Kiste holen?« Bothüter saß da wie erstarrt. Und tatsächlich auch wie erwischt: er wurde abwechselnd blaß und rot, und das zumindest stand später nicht in der Tonbandabschrift. »Vielleicht war ja kein Telefon in der Nähe«, sagte er mühsam, »vielleicht hat er Angst gehabt… er war einfach fertig mit den Nerven, hat die Nerven nicht mehr gehabt…« »Ist das nicht eine Art Geständnis, Herr Bothüter?« fragte Trimmel eindringlich. »Das… das ist absolut kein Geständnis…« »Sie sind’s also nicht gewesen, haben sich gerade nur in die Lage des Täters versetzt?« »Sie sind ein Ferkel!« sagte Bothüter dumpf. »Oder sind Sie’s doch gewesen… Herr Bothüter, kennen Sie die seelische Lage des Täters aus eigenem Erleben?« »Ich… ich weiß nicht… ich weiß tatsächlich nicht mehr, wo mir der Kopf steht… hören Sie auf!« »Gleich. Sobald Sie mir gesagt haben, wie sich der Täter nach der Tat fühlte…« »Er hat Angst gehabt«, sagte Bothüter sehr leise, »er war fertig mit den Nerven… hören Sie auf!« »Okay, es reicht! Ich hab nicht die Absicht…« »Natürlich haben Sie die, Sie Schwein!« schrie er. »Aber ich sag Ihnen eines – das ist kein Geständnis, das ist nie und nimmer ein Geständnis, ich werde jetzt…« Urplötzlich griff er über den Tisch und stellte das Tonband ab. »Ab sofort können Sie denken, was Sie wollen! Beweisen können Sie überhaupt nichts! So was von Hinterfotzigkeit… aber Sie kriegen mich heute nicht, und Sie kriegen mich morgen nicht, und Sie kriegen mich nie, das schwör ich Ihnen!« »Vielleicht…« murmelte Trimmel. »Vielleicht hab ich Sie aber auch schon…« »Lassen Sie mich bitte abholen! Ich hab ne Verabredung mit meinem Anwalt, wie Sie wissen!« 104
Knapp zwanzig Minuten später war er ›geflitzt‹. Abgehauen und getürmt, kurz hinter dem Hauptbahnhof – und von dort aus rief einer der beiden Beamten, die ihn in die Untersuchungshaftanstalt bringen sollten, aufgebracht und völlig außer sich bei Trimmel an. »Sie haben gesagt, wir sollen ihn nicht an die Kette nehmen!« zeterte er in den Hörer, »mir kam das gleich nicht geheuer vor, aber Sie wollten’s ja! Meinen Kollegen hat er mit ’m Kopf vor ’n Innenspiegel geschlagen, der blutet jetzt noch, dann ist er rausgesprungen! Natürlich sind wir hinterher, aber sollen wir vielleicht mitten auf der Mönckebergstraße hinter ihm herballern?« »Natürlich nicht!« sagte Trimmel beruhigend, sobald er zu Wort kam. »Der ist auch nicht weit… ich glaub, ich weiß sowieso, wo er ist…« »Und was soll der Scheiß?« tobte der Beamte. »In meiner ganzen Laufbahn ist mir…« »Hörn Sie auf!« schrie Trimmel zurück. »Wenn hier einer einen reingehängt kriegt, bin ich das doch!« Sanfter fügte er hinzu: »Und nun gehn Sie zum Arzt!« Er legte auf, überlegte kurz und entschloß sich dann, keine Großfahndung anzuleiern. Statt dessen gab er die dringende Order, alle Eingänge des Krankenhauses Barmbek zu überwachen, und ließ sich von Petersen schleunigst dorthin bringen – auf die Station, auf der immer noch das Kind Isolde Bothüter lag und sich vermutlich schrecklich langweilte… Er hatte recht. Momentan allerdings langweilte sich das Kind überhaupt nicht, denn es hatte Besuch. Klaus war da, sein über alles geliebter Vater Klaus… er war, wie sich wenig später herausstellte, ohne eine müde Mark auf dem schnellsten Weg mit dem Taxi zum Krankenhaus gefahren, hatte seine Jacke als Pfand im Taxi liegenlassen und dem Fahrer gesagt, er komme gleich wieder. Er war in einer stillen Seitenstraße über den Eisenzaun geklettert und auf diese Weise der Polizeiüberwachung entgangen, hatte sich auf dem Gelände zur richtigen Station durchgefragt – und befand sich, als Trimmel und Petersen eintrafen, schon seit über zehn Minuten bei seiner Tochter! »So, so!« sagte Trimmel, als er Klaus und Isolde Bothüter in inniger Umarmung vorfand. »Da haben Sie ja Ihre Gegenüberstellung!« 105
»Alle Achtung«, sagte Bothüter sarkastisch, ohne das Kind loszulassen, »das ging ja schnell!« Zu Isolde gewandt sagte er: »Siehst du, ich hab’s dir ja gesagt – nun muß ich schon wieder gehen…« »Ja, leider!« sagte Trimmel zu Isolde. »Sie sind saublöd!« giftete sie. »Ja. Aber sei mir trotzdem nicht böse…« Klaus Bothüter war immerhin vernünftig genug, sich ohne viele Worte von dem Mädchen zu verabschieden; wahrscheinlich hatte er ja auch schon alles gesagt, was zu sagen war. »Ich komm so schnell wie möglich wieder!« versprach er. »Ich weiß aber nicht, wann…« Auf dem Flur fragte Trimmel: »Das war also wirklich nötig, Herr Bothüter?« Bothüter sagte todernst: »Ab sofort geht’s mir immer nur um mein Kind!«
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5 Hundertdreiundachtzig Tage lang hatten die dramatischen Höhepunkte im Fall Bothüter, das Fast-Geständnis und die Flucht, in den Akten geschlummert. Und auch jetzt, am hundertvierundachtzigsten Tag, sieht’s zunächst nicht so aus, als ob sich jemand an sie erinnern würde. Hanna Gabriel, seit einem halben Jahr Isoldes Pflegemutter, kauft Kuchen – damit das Schwurgericht bei seiner Sitzung in ihrer Wohnung nicht verhungert. Ihr Mann Peter, den sie Pille nennt, spielt mit Isolde und der eigenen Tochter Beate im Kinderzimmer ›Büro‹ – sein liebstes Spiel, denkt Frau Gabriel, als sie mal kurz reinschaut. Trotzdem – daß er sich heute, wo sie vor Nervosität sterben könnte, freigemacht hat, rechnet sie ihm hoch an. Um Punkt vierzehn Uhr klingelt es. »Bleibt mal hier!« sagt Pille Gabriel zu den Mädchen und geht zur Wohnungstür. Isolde schubst Beate von der Kinderzimmertür weg und guckt durchs Schlüsselloch in die Diele, bis sie es, zu Tode enttäuscht, sicher weiß: Klaus ist nicht dabei! »Guten Tag«, sagt der Richter am Landgericht Bauermeister, »Herr Gabriel, nehme ich an?« »Bitte, meine Herren… meine Dame…« Außer Bauermeister sind Oberstaatsanwalt Portheine, Verteidiger Schenkel, Jugendamtsvertreter Kohlhäufel und die Protokollführerin Raschke im Kunstpelz erschienen. Einen von ihnen hat Isolde Bothüter, die Hauptperson dieser Gerichtsveranstaltung, erkannt: den Herrn Kohlhäufel. Den Hanspeter, wie sie ihn nennen darf. Also, beschließt sie, wird sie sich an ihn halten. Richter Bauermeister leitet die Sitzung im Wohnzimmer der Familie Gabriel längst nicht so souverän, wie es Richter Schellhorn mit seiner Erfahrung getan haben würde. »Es geht also… es geht darum«, sagt er etwas stockend, »und Sie alle wissen das ja… also, es geht darum, ob die kindliche Zeugin Isolde Bothüter eine Aussage über ihre Erlebnisse am Todestag ihrer Mutter machen will…« »Soll ich sie holen?« fragt Kohlhäufel. »Bitte, ja…«
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Kohlhäufel geht aus dem Zimmer und kommt gleich darauf mit Isolde zurück. Sie sieht älter aus als auf den Fotografien, die das Gericht kennt: ziemlich lang aufgeschossen für ihre mittlerweile zehn Jahre, ziemlich dürr außerdem, und die früher geflochtenen langen blonden Haare hängen glatt herunter. Die blauen Augen gukken etwas ängstlich, aber gar nicht besonders traurig in die Gegend. Und irgendwie, denkt Schenkel, erinnert ihn die Tochter doch sehr an den Vater, seinen schlaksigen Mandanten. »Guten Tag, Isolde«, sagt Richter Bauermeister und reicht ihr die Hand, die sie zögernd nimmt, »setz dich mal. Den Herrn Kohlhäufel kennst du ja, nicht wahr?« Isolde nickt, und Kohlhäufel drückt sie sacht in einen Sessel, der viel zu groß für sie ist. »…er hat dir ja gesagt, um was es geht, aber ich muß es dir auch noch mal sagen. Du sollst uns erzählen, wie das an dem Tag war, als du in den Kleiderschrank gesperrt worden bist…« »Ich kann mich da nicht mehr erinnern!« sagt Isolde. Bauermeister nickt. »Wir könnten dir ja Fragen stellen, Isolde… aber ich muß dir erst noch sagen, daß du uns auch gar nichts zu sagen brauchst, wenn du lieber die Aussage verweigern möchtest. Sieh mal, das ist vom Gesetz so vorgeschrieben, weil dein Vater ja angeklagt ist und weil du seine Tochter bist…« »Klaus hat nichts damit zu tun!« sagt Isolde. »Ja, aber das ist schon eine Aussage!« sagt Bauermeister, ziemlich überfordert. »Weißt du, bevor du überhaupt was sagst, mußt du uns wirklich erst mitteilen, ob du die Aussage verweigerst oder ob du aussagen willst…« »Ich verweigere die Aussage!« sagt das Kind. Kohlhäufel möchte schwören, daß sie das im Fernsehen gehört und dann hundertmal mit ihrer Freundin Beate geübt hat. Bauermeister wendet sich an die Protokollführerin. »Haben Sie das notiert?« Sigrun Raschke nickt. »Die Zeugin berief sich im Einvernehmen mit ihrem gesetzlichen Vertreter auf die gesetzlichen Möglichkeiten und machte von ihrem Recht zur Aussageverweigerung Gebrauch…« »Aber ich habe Klaus wirklich nicht erkannt!« sagt das Kind dazwischen. Schenkel muß grinsen, obgleich es für ihn gar nicht so gut 108
ist, wenn Isolde doch noch was von sich gibt: dann nämlich könnte sich das Gericht bei der Beweiswürdigung unter Umständen auf den Standpunkt stellen, die Zeugin habe gelogen. Kohlhäufel hilft ihm, ohne es zu wollen. »Du hast das doch verstanden, Isolde… entweder, oder. Entweder mußt du alles sagen, oder du mußt den Mund halten…« »Eben!« sagt Schenkel leichtsinnigerweise. Denn da sieht ihn Isolde mit einem Mal groß an, und es fällt ihr wie Schuppen von den Augen: den kennt sie ja auch! Der war doch schon mal hier, drei Wochen nachdem das mit Klaus passiert war… und das mit Mami, natürlich! Der hat doch Kaugummi für sie mitgebracht und gelbe Rosen für Frau Gabriel – dabei hat er sie ja gar nicht gekannt! »Sind Sie der Verteidiger von Klaus?« fragt sie. »Ja, das bin ich!« sagt er, und vor Ärger über sich selbst wird er rot. »Dann grüßen Sie ihn schön! Haben Sie ihn damals auch von mir gegrüßt? Er hat mich nie wiedergegrüßt!« Schenkel spürt, wie ihn plötzlich alle ansehen. Er hört, wie Portheine ihn fragt: »Sie kennen die Zeugin persönlich, Herr Rechtsanwalt? Seit längerem?« »Ja, natürlich«, sagt er sofort, »natürlich habe ich sie im Auftrag meines Mandanten besucht, weil er überzeugt sein wollte, daß sie bei der Familie Gabriel gut untergebracht war…« »So, so…« »…ich verbitte mir diesen Ton, Herr Oberstaatsanwalt! Es gehört zweifelsfrei zu meinen Aufgaben als Anwalt, mich auch außerhalb des Gerichtssaals und über die unmittelbare Verteidigung hinaus um die Probleme meiner Mandantschaft zu kümmern! Und in diesem Fall…« »Sie hätten doch zu uns kommen können«, unterbricht Kohlhäufel vom Jugendamt, »wir hätten Ihnen da bestimmt Auskunft gegeben und unsere Vorschriften sicher nicht kleinlich ausgelegt, nach Lage der Dinge…« »Hätten Sie mir auch den unmittelbaren Eindruck vermitteln können?« fragt Schenkel patzig. Bauermeister sagt hilflos: »Meine Herren, ich…« »Ich lasse mir nicht vorschreiben, Herr Bauermeister«, erklärt Schenkel, »was ich im Rahmen meines Mandats zu tun habe und was 109
nicht! Ich bitte das Gericht in aller Form, mich vor allem gegen die Verdächtigungen nicht prozeßbeteiligter Personen in Schutz zu nehmen, beispielsweise gegen die Anwürfe des Vertreters des Jugendamts…« Kohlhäufel schüttelt den Kopf. Isolde aber begreift sofort, daß es gegen Hanspeter geht. Und wenn Klaus schon nicht da ist, wenn sie ihn nicht in Schutz nehmen kann… dann kann sie ja doch wenigstens Hanspeter helfen, sagt sie sich. Also petzt sie, an dieser Stelle nicht so ganz auf der Höhe der Situation, verpetzt Schenkel, weil sie nicht begreift, daß sie damit auch Klaus schadet: »Der Verteidiger hat mir damals gesagt, daß ich Hanspeter gar nicht sagen soll, daß er mich besucht hat!« »Stimmt das?« fragt Portheine. »In dieser Form bestimmt nicht!« sagt Schenkel. »Und es ist eine Ungeheuerlichkeit…« Aber nun setzt sich Bauermeister durch. »Bitte bringen Sie die Zeugin hinaus, Herr Kohlhäufel… schönen Dank auch, Isolde, daß du uns zugehört hast…« »Ich danke auch!« sagt Isolde. Sobald sie draußen ist, befiehlt der Richter der Protokollführerin: »Streichen Sie diesen ganzen Punkt aus dem Protokoll, Frau Raschke! Wenn die Zeugin die Aussage verweigert, kann sie auch keine Teilaussage machen!« Schenkel ist damit einverstanden. Es hätte nicht viel gefehlt, daß Isolde Bothüter auch noch Marlies Effenberger ins Spiel gebracht hätte, die sich seit Wochen und Monaten um sie bemüht und häufig mit ihr spazierengeht, um ihr Vertrauen zu gewinnen… natürlich ohne Wissen des Jugendamts und des Gerichts sowieso… peinlich wär’s gewesen, äußerst peinlich und schädlich… Immerhin beugt sich jetzt Portheine im Sessel vor. »Ich meine, Herr Bauermeister, daß wir auf die Möglichkeit zur Gewinnung neuer Erkenntnisse, die sich uns da gerade aufgetan hat, nicht ganz verzichten müßten…« »Dann beantrage ich«, sagt Schenkel laut, »Frau Gabriel als Zeugin darüber zu vernehmen, daß ich mit Isolde Bothüter keinerlei Gespräche geführt habe, die als Zeugenbeeinflussung zu werten wären. Abgesehen davon, daß ich einen nahen Verwandten eines Mandanten 110
ohne weiteres auf sein Recht zur Aussageverweigerung hinweisen kann…« »Stop, Herr Rechtsanwalt!« sagt Bauermeister energisch. »Anträge stellen Sie bitte im Gerichtssaal! Ich schlage vor, daß wir jetzt gehen…« Und also geschieht’s dann auch, streng nach der Strafprozeßordnung; Hanna Gabriel bleibt auf ihrem Kuchen sitzen. Das Kollegium bedankt sich und hat’s scheinbar sehr eilig, und nur der Anwalt von Herrn Bothüter sagt ihr im Hinausgehen: »Vielleicht muß ich Sie Montag noch mal als Zeugin benennen!« Damit stürzt er sie in einen neuen Abgrund von Lampenfieber und Nervosität, gerade, als sie gedacht hat, sie hat’s endlich hinter sich. Scheinbar will’s dann der Zufall, daß Portheines grüner Mittelklassewagen auf dem Parkstreifen direkt vor Schenkels Luxuslimousine steht – und daß er nicht anspringt. Schenkel geht hin. »Will er nicht?« »Weiß auch nicht«, sagt Portheine, »werd wohl ein Taxi nehmen müssen…« »…aber ich kann Sie doch mitnehmen!« sagt Schenkel. »Nachdem wir uns gerade wieder beharkt haben?« fragt Portheine heuchlerisch. »Nun reden Sie doch keinen Stuß!« grinst Schenkel. Portheine nickt, lächelt seinerseits, geht aber noch mal vor und zurück, um sich zu überzeugen, daß er kein Parkverbot übersehen hat. Dann schließt er sein Auto ab und setzt sich zu Schenkel auf den Beifahrersitz. »Bitte anschnallen!« sagt der Anwalt anzüglich, fährt aber äußerst manierlich. Stoppt bei Gelb, wenn er noch leicht über die Kreuzung huschen könnte, und läßt sich auf dem Rothenbaum geradezu genüßlich überholen. Zunächst hatte er keinerlei Hintergedanken, als er Portheine mitnahm; inzwischen denkt er allerdings doch, daß er ihn mal ein bißchen aushorchen könnte. »Manchmal«, sagt Portheine nach einer Weile, »kommt’s mir wirklich so vor, als ob gerade wir beide etwas friedlicher miteinander umgehen könnten. Vorhin bei den Leuten hab ich mir zum Schluß überlegt, ob ich an Ihrer Stelle nicht genauso versucht hätte, das Kind ruhig zu stellen…« 111
»…unterstellt, ich hätt’s getan!« lächelt Schenkel und fädelt sich an der Ecke Hallerstraße vorschriftsmäßig in die Geradeausspur ein. »…sicher, sicher… außerdem fand ich’s ja auch gut, daß Sie gleich die Pflegemutter als Zeugin angeboten haben… aber was ich Sie immer schon mal fragen wollte, Herr Schenkel, warum haben Sie der Verlobten Bothüters eigentlich nicht ebenfalls nahegelegt, die Aussage zu verweigern?« »Ja, aber die hat doch nur Gutes für die Verteidigung ausgesagt?« wundert sich Schenkel. »Also, riskant war’s!« sagt Portheine. »Ich will Sie ja auch wirklich nicht fragen, welche Strategie Sie mit Bothüter ausgeheckt haben, nachdem er bei seiner zweiten polizeilichen Vernehmung doch verdammt in die Enge geraten war… aber der ganze Fall würde sicher lange nicht so gut für Sie laufen, wenn hier nicht ein Exehemann und Kindsvater, sondern ein Familienfremder angeklagt wäre… stimmt’s?« »Das stimmt«, sagt Schenkel, »unabhängig von Marlies Effenberger…« Inzwischen sind sie glatt über den Dammtor-Schlenker gekommen, und normalerweise ist die Fahrt gleich zu Ende. Schenkel denkt, daß er sich beeilen muß. »Wenn ich auch mal fragen darf… haben Sie eigentlich noch ein As im Ärmel?« »Grundsätzlich hab ich nicht so schlechte Karten, wie Sie denken«, sagt Portheine, »außerdem wissen Sie ja, was noch kommt. Ihr Antrag auf Haftentlassung für Bothüter war vielleicht ein bißchen voreilig…« »Ach wo! Was kommt denn noch? Ein Wischiwaschigutachten, daß die Fingerabdrücke am Gipskopf vermutlich vom Tattag stammen… vermutlich, ich bitt Sie! Daß die an der komischen Zigarettenkippe festgestellte Blutformel eindeutig dem Angeklagten zuzuordnen ist… na und? Hat er das je bestritten? Hatten Ihre Superchemiker nicht schon vorher festgestellt, daß die Reste im Aschenbecher von einer Parisienne-Zigarette stammten? Das Honorar für solche Gutachten ist doch rausgeschmissenes Geld, wenn Sie mich fragen!« »Warten Sie’s ab!« sagte Portheine. Schenkel steuert den Wagen an die Parkuhren zwischen dem Zivilund dem Strafjustizgebäude, wo um diese Zeit genügend Plätze zu kriegen sind, und will schon aussteigen, nur halb zufrieden. Der 112
Oberstaatsanwalt jedoch sagt völlig überraschend, er würde es begrüßen, wenn er noch einen Moment Zeit hätte… da sei nämlich noch ein Problem, von dem er seit einigen Tagen nachts träumen müsse… »So feierlich?« fragt Schenkel verwirrt. »Alpträume hab ich«, sagt Portheine, »richtige Alpträume!« Und das stimmt auch: Seine anfängliche Begeisterung über den ›schönen‹ Fall hat sich längst ins Gegenteil verkehrt. Er nimmt die Zigarette, die Schenkel ihm anbietet, und macht einen abgrundtiefen Lungenzug. Hinterher seufzt er auch noch, und Schenkels Verwirrung wächst. Sie erreicht ihren Höhepunkt, als Portheine allen Ernstes sagt: »Das ist eins der schwersten Gespräche meines Lebens, Herr Schenkel!« Der Anwalt schweigt. »Ich will mal so anfangen«, sagt Portheine, »die Indizien gegen Ihren Mandanten waren unbedingt ausreichend, um Anklage gegen ihn zu erheben. Und bevor Sie widersprechen… ich geh hier unter vier Augen gern mal in Vorlage, ich bin mir allerdings keineswegs sicher, ob mein Material auch zu einer Verurteilung führt. Trotzdem sage ich Ihnen jetzt schon, daß ich für den Fall eines Freispruchs in die Revision zu gehen beabsichtige… es sei denn, Sie würden mir in einer nicht unmittelbar prozeßbezogenen Sache entgegenkommen…« »Weiß Ihr Leitender Oberstaatsanwalt von diesem Gespräch?« fragt Schenkel wachsam. »Er weiß es nicht. Aber Sie und ich wissen, daß er meine Empfehlung, Revision einzulegen oder keine Revision einzulegen, sicher nicht ohne weiteres unter den Tisch fallen lassen kann…« »Also?« »Ihr Mandant«, sagt Portheine, »wird dadurch belastet, daß er Zeit und Gelegenheit hatte, seine ehemalige Frau umzubringen, daß er ein hervorragendes Motiv hatte und daß sein Alibi nur aus der, wie Sie sagen würden, Wischiwaschi-Aussage einer Sekretärin und aus drei leeren Bierflaschen besteht.« »Das kennen wir ja alles…« nickt Schenkel. »Ich darf’s der Vollständigkeit halber doch noch mal aufzählen… in der Tatwohnung gab’s Fingerabdrücke, sogar an der Tatwaffe, und ebenso Zigarettenreste seiner Marke, und die stammen doch wohl 113
eher vom Tattag als vom Tag davor, wie er behauptet… da fällt mir übrigens gerade ein, daß ihn meines Wissens nie jemand gefragt hat, warum er ausgerechnet am Tag vor der Tat die Wagnerbüste in die Hand genommen haben könnte, aber na ja… ich will mal unterstellen, daß Sie all diese Argumente und Indizien entkräften können…« »Ja. Weiter?« »Weiter ist da das schriftliche Gutachten von Herrn Kemm, daß er von seiner Psyche her durchaus der Täter sein könnte… Auch Sie glauben sicher nicht, daß Professor Rohde demnächst zu anderen Ergebnissen kommt als sein verstorbener Lehrmeister. Und am Ende hat Bothüter ja auch noch selbst zugegeben, daß er schon früher tätlich gegen seine Frau vorgegangen ist, sogar mehrfach…« »Ich seh trotzdem den Sinn Ihrer Bestandsaufnahme nicht so ganz ein!« sagt Schenkel, noch sehr höflich. »Ja, warten Sie’s doch ab! Ich mußte Ihnen zunächst nur noch mal demonstrieren, daß Bothüter gewiß nicht leichtfertig in Haft genommen worden ist… daß schon von daher zwangsläufig was hängenbleibt, gleichgültig, wie das Urteil ausfällt. Darüber hinaus gibt’s auch noch Überlegungen, die juristisch vielleicht nicht mehr von entscheidender Relevanz sein mögen, wohl aber für den gesunden Menschenverstand…« »Nämlich?« fragt Schenkel. »Einmal die Ihnen bekannte Mutmaßung, daß ein Fremdtäter das Kind, das wir gerade besucht haben, bei dessen überraschendem Erscheinen während oder gleich nach der Tat mit größter Wahrscheinlichkeit eben doch getötet hätte…« »Zweitens!« »Die Befragung des Kindes gleich nach seiner Rettung, über die Sie sich dieser Tage ja so aufgeregt haben. Überlegen Sie mal genau. Isolde Bothüter sagte laut Polizeibericht auf die Frage, ob sie Mamas Freund Valpone erkannt habe, eben doch schlicht nein. Und als sie dann die Frage beantworten sollte, ob sie ihren Vater erkannt hatte, Klaus, wie sie ihn nennt, da sagte sie nichts mehr… also, ich kann daraus nur folgern, daß das Kind erstens tatsächlich jemanden erkannt hat und zweitens eben doch den Vater erkannt hat!« »Noch was?« »Ja«, sagt Portheine, »und das dürfte Ihnen neu sein. Bothüters zweite polizeiliche Vernehmung, Sie erinnern sich. Da war er dicht 114
davor, ein Geständnis abzulegen. Dichter jedenfalls, als es im Protokoll steht…« »Und warum steht’s nicht drin?« »Ja, warum nicht?« sagt Portheine. »Über den Punkt hab ich mit dem Hauptkommissar Trimmel mehrfach diskutiert. Und Trimmel hat ja nun auch schon ausführlich über seine Vernehmung ausgesagt… aber da war jedenfalls noch was Unwägbares, da hat Bothüter wirklich fast die Nerven verloren. Und gerade diese Szene, wissen Sie, die ist ohne alles Beiwerk nicht für mich als Ankläger, aber für mich als Menschen der absolute, schlagende und endgültige Beweis für Bothüters Täterschaft! Da gab’s eine Szene… also, da hätte weiß Gott jeder außer Ihrem cleveren Mandanten den Rest sozusagen auch noch ausgespuckt!« »Wenn’s einen Rest gäbe!« meint Schenkel wenig beeindruckt. »…sicher!« nickt Portheine. »Aber ich stell Ihnen nun mal eine eigentlich unanständige Frage. Können Sie, Erich Schenkel, in Ihrem tiefsten Inneren ausschließen, daß der Mann, den Sie da mit viel Bravour verteidigen und vielleicht auch zum Freispruch führen, doch schuldig ist?« »Erwarten Sie darauf wirklich eine Antwort?« »Nein«, sagt Portheine, »das reicht schon. Das hätte nur dann nicht gereicht, wenn Sie gleich ja gesagt hätten!« Schenkel sieht auf die Uhr. »Ich hab’s zwar nicht sehr eilig, Herr Portheine, aber ich glaube, ich ahne inzwischen, worauf Sie hinauswollen. Ich ahne sozusagen Schreckliches. Wollen Sie es mir nicht doch allmählich schonend beibringen?« »Es geht mir um die Sache mit dem Antrag Bothüters, ihm das Sorgerecht für seine Tochter zu übertragen!« sagt er, sicher nicht sehr schonend. »Hab ich mir doch gedacht!« »Glauben Sie wirklich, Herr Schenkel, daß das eine moralisch gutzuheißende, eine menschlich überhaupt zu vertretende Aktion ist?« Schenkel sieht ausdruckslos durch die Windschutzscheibe und denkt nach. Schließlich sagt er: »Warum nicht?« Portheine antwortet: »Habe ich Ihnen das nicht gerade ausführlich dargelegt?« »Sie haben«, sagt Schenkel bedächtig, »ein Plädoyer als Mensch gehalten. Sie haben ein gutes Plädoyer gehalten… aber sagen Sie mir 115
trotzdem, ob ich nach Ihrer Ansicht Bothüters Wunsch, künftig mit seiner Tochter zu leben, nicht hätte unterstützen sollen?« »Sie hätten es ihm ausreden müssen!« »Ach ja?« »Sie hätten ihm sinngemäß dasselbe sagen müssen, was ich Ihnen hier gesagt hab!« Da schüttelt Schenkel den Kopf. »Sie irren, Herr Portheine! Ich bin, im Gegensatz zu Ihnen, absolut der Auffassung, daß es für Vater und Tochter Bothüter gar nichts Besseres gibt als diese Familienzusammenführung! Und was den Teilaspekt betrifft, da könnten nächstens ein Mörder und seine Mitwisserin zusammenleben müssen… da, Herr Portheine, haben Sie mich vorhin offenbar doch sehr frei interpretiert! Ich bin nämlich felsenfest davon überzeugt, daß Bothüter unschuldig ist!« »Sie lügen!« sagt Portheine erregt. »Alle Advokaten lügen, meinen Sie?« sagt Schenkel mit bitterer Ironie. »Es hat seine Grenzen, Herr Oberstaatsanwalt…« »Sie übersehen die Situation nicht!« »Schreien Sie doch nicht so!« schlägt Schenkel vor. »Erst mal in der Sache selbst, Herr Portheine, in der Strafsache… da haben Sie sich in Ihrer Anklage nicht mal auf ein Motiv festlegen können! Zum einen soll Klaus Bothüter gemordet haben, weil ihm die monatlichen Zahlungen zu hoch waren, zum anderen, weil er die Menschheit und vor allem seine Tochter von einer ansteckend Geisteskranken befreien wollte – der schiere Wahnwitz! Aber das mal ganz außen vor… wenn Sie sich in punkto Motiv nicht mal mit sich selbst einig sind, wieso sollten dann andere von Bothüters Täterschaft überzeugt sein?« »Das zentrale Motiv ist für mich eindeutig das Problem der Unterhaltszahlungen«, wehrt sich Portheine, »so steht’s in der Anklage!« »Ja, aber es wird nicht deutlich genug, basta! Und im übrigen – selbst, wenn das von Ihnen als totale menschliche Katastrophe an die Wand gemalte Ereignis der Sorgerechtsübertragung eintreten sollte… was wäre damit denn passiert? Wissen Sie nicht, daß es in Hamburg beispielsweise einen äußerst aktiven Kinderschutzbund gibt, der die Situation im Fall Bothüter sicher längst im Auge hat und auch künftig haben wird? Was, außerdem, könnte an Unreellem in der Vater-Tochter-Familie passieren, wenn man davon ausgeht, daß 116
sich auch das Jugendamt noch jahrelang um die Verhältnisse kümmern wird? Was Sie hier vorbringen, Herr Portheine, ist absolut ehrenwert, aber dennoch nicht gutzuheißen… Sie machen aus einem halbwegs normalen Vorgang buchstäblich eine düstere ÖdipusSchnödipus-Tragödie! Das ist die Sache einfach nicht wert, wissen Sie, das gibt sie nicht her, und deshalb können wir da einfach nicht ins Geschäft kommen!« Portheine versucht’s dennoch. »Ich möchte Sie fast fragen, ob Ihr Sorgerechtsantrag ein Teil Ihrer Verteidigungsstrategie ist…« »Zu komisch! Hab ich in der Hauptverhandlung ein Wörtchen davon gesagt?« »Dazu haben Sie ja noch Zeit genug!« meint Portheine. »Ich bin sogar ziemlich sicher, daß Sie’s noch tun werden. Ein Hauch von Vaterliebe hat sicher noch keinem Angeklagten geschadet!« »Nun aber mal knallhart, Herr Portheine. Meinen Sie nicht, daß das so und so nicht Ihr Bier ist?« »Überreden Sie Bothüter, daß er den Antrag zurückzieht«, sagt der Oberstaatsanwalt erschöpft. »Als Mensch und Vater – überreden Sie ihn von mir aus mit dem Argument, ich würde gegen einen möglichen Freispruch keine Revision einlegen…« »Abgelehnt!« »Überschlafen Sie’s!« »Nein – das Angebot ist zu billig! Bothüter als unschuldig in die Mühlen der Justiz geratener Mann würde nichts als Empörung empfinden!« »Wiedersehn, Herr Rechtsanwalt!« sagt Portheine daraufhin frostig. »Den Quatsch hätten Sie sich sparen können!« Entrüstet steigt er aus dem Auto. »Ja, Moment noch, Herr Oberstaatsanwalt«, ruft der Anwalt ihm nach, »können wir nicht wenigstens auf die Zeugin Gabriel gemeinsam verzichten?« Portheine bleibt stehen. »Die Pflegemutter? Oh, ja… einverstanden! Die sagt sicher nicht aus, was Sie da für krumme Sachen gemacht haben!« Das ist dann doch wohl eine offene Kriegserklärung. Und Schenkel schießt sofort zurück. »Ist Ihr Auto eigentlich wirklich nicht fahrbereit, Herr Portheine?« Der Verdacht ist ihm spontan gekommen – aber er hat offenbar ins Schwarze getroffen. 117
Portheine rennt blind vor Wut auf die Straße zwischen dem Parkplatz und dem Justizgebäude – und um ein Haar wäre der Prozeß Bothüter dadurch geplatzt, daß der Ankläger von einem Auto überfahren worden wäre, das mit quietschenden Bremsen an seinen Hosenbeinen zum Stehen kommt. Am Samstag regnet es in Hamburg, und Portheine wird auf dem Weg von der U-Bahn zu seinem Wagen, der tatsächlich nicht kaputt war, total durchnäßt. Sonntags, als es kurz aufklart, fährt er mit Frau und Tochter gegen alle hamburgische Vernunft in die Lüneburger Nordheide; dort allerdings regnet es schon wieder Bindfäden, und das Ausflugslokal in der Nähe von Buchholz ist von Schutzsuchenden überfüllt. Die geradezu denkwürdig schlechte Stimmung des Oberstaatsanwalts ließe sich also zwanglos erklären – in Wirklichkeit allerdings ärgert er sich inzwischen schwarz über die Idee, ›zwanglos‹ ein Gespräch mit Schenkel herbeizuführen. Vor allem aber wird er immer noch halb wahnsinnig bei dem Gedanken, der Mörder Bothüter könne demnächst nicht nur freigesprochen, sondern auch noch mit dem Sorgerecht für seine Tochter belohnt werden… Immer wieder sieht er seine Tochter Susanne an. Sie ist zwei Jahre älter als Isolde Bothüter, und der sieht sie, wie er glaubt, sogar etwas ähnlich. »Was guckste mich so an?« fragt Susanne. »Ich?« sagt er wütend. »Du spinnst doch!« Er ist kaum wieder zu Hause, als er Trimmel anruft. »Kommen Sie morgen unbedingt mit den Vernehmungstonbändern Bothüter ins Gericht!« »Warum?« »Müssen Sie eigentlich ständig warum fragen?« giftet Portheine. »Weil ich’s mir gerade überlegt habe – darum! Weil ich die Bänder doch vorspielen lassen will!« »Ja, aber das geht doch gar nicht…« »Doch – es geht dann, wenn Sie mitspielen! Und Sie müssen mitspielen!«
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Er hat’s im Guten versucht, sagt er, Schenkel zu überzeugen, daß die Idee mit der Sorgerechtsübertragung an Klaus Bothüter eine Schnapsidee ist. Es hat nichts gefruchtet, im Gegenteil… »…deshalb müssen wir’s jetzt mit der Brechstange versuchen. Wir müssen einfach alles bringen, damit Bothüter verurteilt wird!« Aus dem Mund eines Oberstaatsanwalts sind das seltsame Worte. »Wir müssen das Gericht überzeugen, daß es sich diese Tonbänder anhört – diese eine Stelle, wo Bothüter am Boden ist… das ist unsere letzte Chance!« »Aber Schellhorn muß das ablehnen!« »Normalerweise ja – sicher! Aber wenn ich Sie zu irgendeinem Detail befrage, und Sie haben dann erkennbar Erinnerungslücken – dann kann ich beantragen, daß Ihnen Ihre eigenen Bänder praktisch als Vorhalt vorgespielt werden, damit Ihnen die Vernehmungssituation wieder plastisch vor Augen steht! Und dann hören’s ja alle…« Portheine hört förmlich, wie Trimmel nach Luft schnappt. »Ich sag’s noch mal – das Opfer müssen Sie bringen, Trimmel!« »…mich als Stümper und Anfänger hinstellen lassen? Als einen, der nicht mal nach einem Tonband eine Vernehmungsniederschrift machen kann? Irgendwo hat die Weisungsbefugnis der Staatsanwaltschaft ja ihre Grenzen…« »Herr Trimmel, ich bitte Sie… das ist eine Bitte!« Noch dreimal holt Trimmel tief Luft. »Also gut«, sagt er dann, »mach ich mich also zum Affen und laß mir öffentlich eine reinhängen – pfui Deibel!« Er legt abrupt auf. »Danke schön!« sagt Portheine in die tote Leitung. Gleich darauf sagt er lauthals: »Scheiße!« »Nun reicht’s aber!« sagt Frau Portheine, am Ende mit ihrer Geduld. »Laß dich doch von diesem Fall nicht total verrückt machen!« »Tschuldige!« sagt er. »Es geht mir auch schon besser!« Trimmel starrt zehn Minuten aus dem Fenster. Dann entschließt er sich, Gerber anzurufen – einen Freund sozusagen, der zur Zeit im feindlichen Lager steht. Und Gerber ist zu Hause, hat ein Manuskript in der Maschine, das ihm überhaupt nicht schmeckt, und sagt deshalb sofort zu, in die Gaststätte an der Mundsburg zu kommen. »Sie haben Bothüters Verflossene doch schon länger gekannt?« fragt Trimmel dort als erstes. »War sie eigentlich ne gute Mutter?« 119
»Gott ja – unter ihrem Wagnertick hat das Familienleben wahrscheinlich ganz erheblich gelitten…« Trimmel nickt. Das Bier kommt. »Zum Wohl. Aber nun sagen Sie mir mal« – er wischt sich den Schaum vom Mund – »…ganz im Vertrauen, halten Sie es für möglich, daß sie nicht nur diese maßlosen musikalischen, sondern auch masochistische Neigungen hatte?« Gerber sieht ihn verständnislos an. »Sexuell?« »Ja…« »Also, ich hab zwar nix mit ihr gehabt… aber ich weiß noch, wie er sie damals mitgebracht hat – die war unheimlich scharf! Ich hab selten ne Frau gesehen, die ihrem Kerl mitten im Lokal so unverschämt an die Hose ging. Trotzdem, masochistisch… wie kommen Sie überhaupt auf die Idee?« »Hat Bothüter mir selbst gesagt! Sie soll ihn gelegentlich – aber wehe, Gerber, wenn ich da Einzelheiten aus der Vernehmung in der Zeitung lese –, sie soll ihn sogar mit Tristan angeredet haben, vor allem aber hat sie sich angeblich ständig für die Wagnersche Isolde gehalten, und von daher war sie von… von Todessehnsucht erfüllt…« Gerber schüttelt den Kopf. »Quatsch! Ich hab mich inzwischen ja mal mit der Sache beschäftigt… Wagners Isolde ist ganz bestimmt keine Masochistin, die verkörpert viel eher das Prinzip Leben! Tristan dagegen – der ist eigentlich das Prinzip Tod! An ihm geht Isolde kaputt, ausdrücklich gegen ihren Willen!« »Na ja – so steht’s ja auch in der Anklage…« »Lassen Sie doch diese Witze, wenn wir uns schon ernsthaft unterhalten! Wenn Klaus so was gesagt hat, hat er die Tristangeschichte wohl nicht richtig begriffen! Außerdem, warum hat er Ihnen das überhaupt gesagt?« »Er meint, der Mord wär in Wirklichkeit ein masochistischer Sexunfall gewesen!« sagt Trimmel. Er erzählt ihm die Einzelheiten. »Schwachsinn!« sagt Gerber hinterher. »Das kann er nicht ernst gemeint haben… ich seh das eher so, daß da jemand aus Zufall mit der Wagnerbüste zum Mörder geworden ist, und daß er dann dieses ganze Brimborium mit dem Liebestod aufm Plattenteller und Schopenhauer und so nur aufgebaut hat, um die Kripo auf Abwege zu bringen!« 120
»Ja, da sprechen Sie mir aus der Seele«, sagt Trimmel, »so seh ich das auch! Jedenfalls, wenn er meint, daß er uns überhaupt auf Abwege bringen muß, ist er’s ja auch gewesen oder?« »Wer ist er?« »Na – Bothüter! Das müßten Sie inzwischen sogar als Partei einsehen!« »Gott sei Dank sind Sie kein Richter!« sagt Gerber daraufhin stocksauer, weil er sich überfahren fühlt. »Wenn Sie zu sagen hätten, gäb’s wahrscheinlich noch Standrecht! Zahlen!« Er zahlt demonstrativ nur das Bier, das er selbst getrunken hat. Aber Trimmel ist mit dem Abend äußerst zufrieden. Am Montagmorgen holt Trimmel, längst nicht mehr so sauer wie bei seinem gestrigen Gespräch mit Portheine, die Tonbänder aus dem Büro und bringt sie zur Staatsanwaltschaft; sicherheitshalber hat er gleich auch das Gerät mitgebracht. »Wenn’s ohne geht«, verspricht Portheine, »verzichte ich natürlich. Aber wahrscheinlich ist es nicht…« »Wahrscheinlich ist es sicher nicht!« sagt Trimmel mit nahezu heiterem Fatalismus. Im Schwurgericht teilt Richter Bauermeister zunächst mit, daß es über die Vernehmung von Isolde Bothüter nichts mitzuteilen gibt. Anschließend wird der Bankmensch gehört, bei dem Frau Bothüter am Morgen ihres Todestags Geld abgehoben hatte; dazu müßte dann der Wirt Westphal aussagen, bei dem Bothüter am Tattag Krebse mit Tomaten gegessen hatte. Schellhorn kramt jedoch ein bestimmtes Papier heraus – ein Attest. »Hier!« sagt er. »Herr Westphal hat sich während der polizeilichen Ermittlungen das Bein gebrochen und liegt immer noch im Krankenhaus. Es fragt sich, ob wir auch ihn außerhalb des Gerichtssaals vernehmen lassen, oder ob wir uns mit seiner polizeilichen Vernehmung begnügen können?« »Ich verzichte!« sagt Schenkel. »Ich verzichte damit ausdrücklich auf einen Entlastungszeugen, möchte ich betonen!« Portheine bittet um eine kurze Unterbrechung. Und Trimmel ruft im Büro an und erreicht Laumen. »Was ist denn mit diesem Westphal?«
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»Ach, das wollt ich Ihnen ja immer schon erzählen«, sagt Laumen, »der hatte doch die Büchse, in der er seine Schuldscheine verwahrt, oben aus dem Regal geholt. Dann hat er mir den Schuldschein Bothüter gegeben, und kaum bin ich weg, will er die Büchse wieder raufstellen und fällt dabei von der Stehleiter – der war offenbar noch total blau!« »Also, wirklich«, sagt Trimmel, »was wir alles so in die Schuhe geschoben kriegen!« Dann geht’s weiter. Portheine wie auch Schenkel verzichten auf den Zeugen Westphal. Und Portheine steht auf. »Ich möchte dem Angeklagten einige Fragen zum Ablauf der bisherigen Beweiserhebung stellen… Herr Bothüter, wie oft haben Sie nach Ihrer Scheidung Ihre ehemalige Frau noch besucht? Und worüber haben Sie dann gesprochen?« Bothüter steht ebenfalls. »Nur über Geld…« »…über Ihre monatlichen Zahlungen, sicher. Stimmt es eigentlich, daß Ihre ehemalige Frau gegen Sie klagen wollte, weil sie ihre Ansprüche dem allgemeinen Geldverfall anpassen lassen wollte?« »Das hatte sie vor«, sagt Bothüter, »aber sie wäre nicht damit durchgekommen. Meine Zahlungen hätten sich nur erhöht, wenn ich nennenswerte Gehaltserhöhungen bekommen hätte…« »Aber sie drohte Ihnen?« »Mit Maßen!« sagt er fast lässig. »Ich möchte Sie dann fragen, wo die Gespräche zwischen Ihnen und Ihrer ehemaligen Frau in der Regel stattfanden. Im Wohnzimmer, im Schlafzimmer…« »Im Schlafzimmer bestimmt nicht!« sagt Bothüter unter dem Glucksen des Publikums. »Also im Wohnzimmer. Sie saßen wo?« »Ja, im Sessel vermutlich, oder auf dem Sofa…« »Herr Bothüter«, fragt Portheine eindringlich, »pflegten Sie bei solchen Gelegenheiten gelegentlich zu prüfen, ob irgendwelche Schäden an den Einrichtungsgegenständen aufgetreten waren?« Bothüter gibt sich erstaunt. »Wieso das denn?« »Das sag ich Ihnen gern. Wie erklären Sie es sich, Herr Bothüter, daß Sie bei Ihrem letzten Besuch ausgerechnet den Gegenstand in die Hand nahmen, der zum Mordwerkzeug wurde?« 122
Bothüter überlegt. »Vielleicht stand die Büste schief, und ich hab sie zurechtgerückt… also wirklich, ich kann mich da nicht an jeden Handgriff erinnern…« »Danke, Herr Bothüter, das Gericht wird den merkwürdigen, den nach meiner Ansicht überaus merkwürdigen und seltsamen Zufall zu würdigen wissen. Im Übrigen, Herr Bothüter – fanden Ihre Besprechungen mit Ihrer geschiedenen Frau zuweilen nicht doch im Schlafzimmer statt? Haben Sie sie nicht noch nach der Scheidung zum Geschlechtsverkehr aufgefordert und herumgepöbelt, Sie könnten was für Ihr Geld verlangen?« »Das ist doch das letzte!« schreit Schenkel. »Halten Sie den Mund!« schreit Portheine zurück. Bothüter aber sagt: »Ich habe, ohne zu pöbeln, ein einziges Mal in betrunkenem Zustand mit meiner ehemaligen Frau geschlafen. Dies geschah allerdings auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin!« »Warum haben Sie dem Gericht davon nichts gesagt?« »Weil ich nicht danach gefragt worden bin!« »Ach! War es nicht eher so, daß Ihre heutige Lebensgefährtin Frau Effenberger im Saal anwesend war und nichts davon erfahren sollte?« »Hören Sie doch auf!« sagt Bothüter. »Frau Effenberger ist über den Vorfall längst unterrichtet!« »Woher wissen Sie das eigentlich alles, Herr Oberstaatsanwalt?« fragt Schellhorn interessiert. »Ein vertraulicher Hinweis. Nachdem der Angeklagte den, wie er sagt, Vorfall zugegeben hat, kann das Gericht die Vertraulichkeit sicherlich respektieren…« »Merkwürdige Sache!« sagt der Richter leicht unmutig. »Haben Sie noch konkrete Fragen?« »Fragen im Moment nicht…« sagt Portheine gedehnt. Aber dann zieht er die Notbremse, wie der Reporter Gerber notiert. Und Trimmel denkt, daß er jetzt doch noch seinen allerletzten Knüppel aus der Tasche zieht. »…ich möchte dem Hohen Schwurgericht immerhin die mir bekanntgewordene Tatsache nicht vorenthalten, daß Herr Rechtsanwalt Schenkel im Auftrag von Herrn Bothüter beim Familiengericht beantragt hat, Herrn Bothüter möge für den Fall seines Freispruchs das Sorgerecht für seine Tochter Isolde übertragen werden…« 123
Alle sehen daraufhin Schenkel an, vor allem die Schöffen mit ganz großen Augen, und Schenkel schüttelt heftig den Kopf und macht ein Gesicht, als habe er es hier mit Schwachsinnigen zu tun. »Ich wüßte nicht, Herr Vorsitzender, was dieses Faktum mit dem hier anstehenden Verfahren zu tun haben könnte… selbstverständlich hätte ich dem Gericht längst Mitteilung gemacht, wenn ich auch nur einen irgendwie gearteten Zusammenhang zu erkennen vermöchte…« »Ja, aber wieso denn diese falsche Bescheidenheit, Herr Verteidiger?« fragt Portheine heuchlerisch. »Die Information kann doch nur dazu dienen, Ihren Mandanten als Ehrenmann hinzustellen, nachdem es immer geheißen hat, er hätte nach der Scheidung von seiner Tochter nichts wissen wollen…« »Was hätte er?« schreit Schenkel. »Was hätte er nicht?« »Sie haben’s doch verstanden!« sagt Portheine provozierend. »Ich hab wörtlich verstanden, daß Sie da gerade eine ungeheuerliche Verleumdung von sich gegeben haben!« »Aber ich bitte Sie! Herr Vorsitzender, ich beantrage, im Protokoll nachsehen zu lassen, daß der Zeuge Trimmel genau diese Aussage gemacht hat! Genau die Aussage, Herr Bothüter habe es nach der Scheidung abgelehnt, seine Tochter bei sich aufzunehmen!« Schellhorn hätte längst eingreifen können, hat’s aber laufen lassen, weil er wissen will, was der Ankläger hier eigentlich beabsichtigt. Er sieht zur Protokollführerin Sigrun Raschke hinüber, die bereits im Protokoll blättert und energisch den Kopf schüttelt. »Davon ist in den Aussagen Trimmel nicht die Rede!« »Ja, dann muß ich mich ja geradezu bei Herrn Schenkel entschuldigen!« sagt Portheine, scheinbar bestürzt. »Allerdings muß ich ebenso den Antrag stellen, den im Saal anwesenden Zeugen Trimmel zu diesem Punkt nochmals zu befragen…« Raffiniert, denkt Trimmel, elegant und unanständig bis dorthinaus! Und nun wird ihm selbst doch wohl kaum noch was anderes übrigbleiben, als elegant, raffiniert und unanständig bis dorthinaus mitzuspielen. »Herr Trimmel«, fragt Schellhorn, nachdem er ihn nach vorn gerufen hat, »also, wie war das denn mit dieser Geschichte, die der Herr Oberstaatsanwalt geklärt haben möchte?«
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Er muß jetzt lügen, ohne dabei zu sehr das Gesicht zu verlieren. »Irgendwann in der zweiten oder schon ersten Vernehmung habe ich Herrn Bothüter gefragt, wie es dazu gekommen ist, daß seiner geschiedenen Frau und nicht ihm das Sorgerecht zugesprochen wurde… nur, wissen Sie, das ist ja inzwischen lange her, und ich… ich…« »Sie können sich nicht mehr an Details erinnern?« »…doch, schon… ich habe ihn gefragt, ob er nicht um dieses Sorgerecht zu kämpfen versucht hat…« Portheine meldet sich. »Herr Vorsitzender, ich würde fast vorschlagen, die Sache, die mir doch nicht ganz unwichtig zu sein scheint, zu vereinfachen. Die polizeiliche Vernehmung des Angeklagten ist seinerzeit, wie mir bekannt ist, auf Tonträger aufgezeichnet worden, ich habe die Bänder sogar zufällig hier bei mir…« »Toller Zufall!« sagt Schenkel anzüglich. »Aber sie gehören gewissermaßen zu meinen Handakten, Herr Verteidiger! Und wär’s deshalb nicht einfach sinnvoll, Herr Vorsitzender, Herrn Trimmel die Bänder vorzuspielen, damit er sich vielleicht besser erinnert?« »Wir könnten dem Zeugen sein eigenes Vernehmungsprotokoll vorlesen…« überlegt Schellhorn. »Es ist möglicherweise nicht komplett«, sagt Portheine beharrlich, »auch wenn es mir äußerst schwerfällt, bei einem so erfahrenen Mann wie Herrn Trimmel eine solche Vermutung aussprechen zu müssen…« »Herr Trimmel, was sagen Sie dazu?« »Ich kann eine Unterlassungssünde letzten Endes nicht völlig ausschließen!« sagt Trimmel tapfer. »Also, ich erhebe Einspruch!« sagt Verteidiger Schenkel. »…aber bitte, Herr Rechtsanwalt«, sagt der Ankläger erstaunlich sanft, »es handelt sich hier doch nur um einen bislang noch nicht erschlossenen Weg zur Wahrheitsfindung, den Sie sicherlich nicht blockieren wollen!« »Es handelt sich um einen Trick!« sagt Schenkel grob – und damit hat er genau einen Tick zuviel gesagt. Denn das Gericht, das bis dahin noch zögerte, ist nun verärgert. Es ordnet an, dem Antrag Portheines stattzugeben und die Bänder abzuspielen. 125
Niemand grinst, als dann das Wortspiel Trimmel und Isolde über den Lautsprecher kommt, und bei der Geschichte mit den herzförmigen Schamhaaren der toten Isolde Bothüter verzieht nur Marlies Effenberger den Mund. Ansonsten regt sich nicht mal jemand über Bothüters Seitenhiebe gegen Rechtsanwalt Schenkel auf, nicht mal Schenkel selbst. Er erhebt erst Einspruch, als Bothüter in der Vernehmung die Tristan-und-Isolde-Geschichte erzählt. »Das, was der Herr Oberstaatsanwalt dem Zeugen vorhalten wollte, hat der Zeuge ja nun gehört. Insofern können wir das Hörspiel sicher abbrechen…« Ein Hörspiel ist es in der Tat – aber das Gericht ist inzwischen offenbar daran interessiert, es nun auch zu Ende zu hören. Portheine jedenfalls hat’s leicht, als er sagt: »Es kommt nach meiner Erinnerung noch mehr zum Thema Sorgerecht, ich weiß leider im Einzelnen auch nicht mehr, wo…« »Also werden wir die Vernehmung weiter anhören!« entscheidet Richter Schellhorn. Dann, auf dem Umweg über den Guru von Poona, kommt das sogenannte Fast-Geständnis. »Sie sind’s also nicht gewesen? Haben sich gerade nur in die Lage des Täters versetzt?« fragt Trimmels Stimme. »Sie sind ein Ferkel!« sagt Bothüter vom Band. »Oder sind Sie’s doch gewesen… Herr Bothüter, kennen Sie die seelische Lage des Täters aus eigenem Erleben?« »Ich… ich weiß nicht…« sagt die Stimme bedrückt, »ich weiß tatsächlich nicht mehr, wo mir der Kopf steht… hören Sie auf…!« »Gleich!« sagt Trimmels Stimme. »Sobald Sie mir gesagt haben, wie sich der Täter nach der Tat fühlte…« Bothüters Stimme, sehr leise, aber einwandfrei zu verstehen, antwortet: »Er hat Angst gehabt… er war fertig mit den Nerven… hören Sie auf!« Noch mal Trimmels Stimme: »Okay, es reicht. Ich hab nicht die Absicht…« Bothüters Stimme, schreiend: »Natürlich haben Sie die, Sie Schwein! Aber ich sag Ihnen eines – das ist kein Geständnis, das ist nie und nimmer ein Geständnis… ich werde jetzt…« Knack! sagt das Tonband. 126
»An dieser Stelle«, sagt der Zeuge Trimmel unaufgefordert, »hat Herr Bothüter das Band abgestellt!« »Was hat er noch gesagt?« fragt Portheine. »Ich würd ihn heute und überhaupt nicht kriegen«, sagt Trimmel, erleichtert, daß er sich wieder präzise erinnern darf, »und ich sollte die Vernehmung beenden und ihn wegbringen lassen, weil er eine Verabredung mit seinem Anwalt hätte… mit Herrn Schenkel… gleich anschließend ist er dann geflüchtet und hat seine Tochter besucht!« Schellhorn greift ein, fast schweren Herzens, weil er sichtlich beeindruckt ist. »Sie wollten Herrn Trimmel eigentlich zu einem ganz bestimmten Punkt befragen, Herr Oberstaatsanwalt…« »…natürlich. Herr Trimmel! Erinnern Sie sich jetzt deutlicher, daß Herr Bothüter seinerzeit zugegeben hatte, er könne aus privaten und beruflichen Gründen mit dem Sorgerecht für seine Tochter Isolde nichts anfangen?« »Ja. Er sagte, daß er das Kind sogar gegen seine Erkenntnis, die Mutter sei keine ideale Mutter, bei der Mutter belassen beziehungsweise sich nicht ernsthaft um das Sorgerecht bemüht habe!« »Danke, Herr Trimmel. Keine weiteren Fragen mehr…« »Herr Rechtsanwalt?« fragt Schellhorn. »Keine Fragen!« erklärt Schenkel. »Aber eine Erklärung, wenn das Gericht gestattet. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Staatsanwaltschaft diese Tonbänder buchstäblich mit Gewalt in dieses Verfahren eingeführt hat. Es kam ihr nicht einen Moment lang darauf an, etwas über Herrn Bothüters damalige Einstellung zum Sorgerecht für seine Tochter zu erfahren… sie wollte ausschließlich dieses sogenannte Fast-Geständnis zu Gehör bringen. Dazu dieser Umweg, der jeden von uns Stunden kostet! Dazu dieser Trick… ich stehe nicht an, das Wort zu wiederholen! Und dazu meine Meinung. Ich bitte das Gericht erstens, sorgsam zu prüfen und festzustellen, daß das Fast-Geständnis nicht mehr und nicht weniger als ein haltloses Wortgeplänkel ist, und zweitens, zu prüfen und festzustellen, daß es unrechtmäßig eingeführt worden ist und deshalb bei der späteren Beweisführung überhaupt nicht verwendet werden darf!« Aus dem Stegreif war das ganz gut, denkt Portheine. »Wollen Sie erwidern?« fragt ihn Schellhorn. 127
»Doch, ja, in einem Punkt. Im Gegensatz zu der Auffassung der Verteidigung kam’s der Staatsanwaltschaft doch darauf an, Herrn Bothüters, ich darf mal sagen: Sorgerechtsvergangenheit kennenzulernen. Und wenn die Verteidigung jetzt den Vorwurf der Stimmungsmache erhebt, möchte ich ihr zu bedenken geben, ob der jetzige Antrag auf Sorgerechtsübertragung nicht eine sehr viel massivere Stimmungsmache darstellt, und zwar eine von langer Hand vorbereitete Stimmungsmache!« »Wie soll ich das verstehen?« will Schellhorn wissen. »Ich bin eigentlich überrascht«, antwortet Portheine, »daß die Verteidigung den Antrag auf die Übertragung des Sorgerechts nicht schon von sich aus in das Verfahren eingeführt hat, ich deutete es ja schon an. Wenn ich also eine Stimmungsmache betrieben hätte, wäre sie doch eindeutig der Verteidigung zugute gekommen, als Zeugnis für die menschliche Anständigkeit des Angeklagten Bothüter… in jedem Fall bin ich der Verteidigung sicherlich nur zuvorgekommen…« »Sie unterschätzen mich«, sagt Schenkel, »Sie glauben einfach nicht, was ich für ein anständiger Mensch bin! Aber Sie haben nach meiner Ansicht die Frage des Herrn Vorsitzenden überhaupt nicht beantwortet… wieso handelt es sich bei dieser Geschichte um eine von langer Hand vorbereitete Stimmungsmache?« »Da sind mir schon vor einiger Zeit Informationen zu Ohren gekommen«, erklärt Portheine zögernd, »Herr Bothüter, Herr Rechtsanwalt Schenkel und Herrn Bothüters Verlobte, Frau Effenberger, hätten sich eine Art Schlachtplan zurechtgelegt, der das Schwurgericht beeindrucken sollte…« Schellhorn sagt scharf: »Das ist das zweite Mal, Herr Oberstaatsanwalt, daß Sie hier mit Informationen aufwarten, die nicht aktenkundig sind…« Portheine zögert. »Es handelt sich um Informationen aus dem Umkreis des Sachverständigen Professor Kemm. Er starb, bevor ich ihn dazu… natürlich in öffentlicher Sitzung… befragen konnte…« »Sie könnten es nicht wenigstens präzisieren?« »Die Worte Schlachtplan und Stimmungsmache«, sagt Portheine, »stammten von Herrn Professor Kemm persönlich. Zu weiteren Auskünften sehe ich mich leider nicht imstande!« 128
Er setzt sich, und Schellhorn wendet sich an Schenkel. »Ist es Ihnen möglich, zur Aufklärung des Gerichts beizutragen?« Kemm ist tot, denkt Schenkel, also kann er nicht mehr widersprechen. »Ich habe selten in einer Schwurgerichtsverhandlung eine solche Räuberpistole hören müssen!« behauptet er. Das Gericht berät sich flüsternd, bevor Schellhorn nochmals Portheine befragt. »Das Gericht vermag immer noch nicht einzusehen, warum Sie auf diese Sorgerechtsproblematik tatsächlich so großen Wert zu legen scheinen. Das Gericht würde von sich aus auch den Angeklagten und die Zeugin Effenberger befragen, was es mit diesem sogenannten Schlachtplan auf sich hat, allerdings nur dann, wenn Sie deutlicher machen könnten, warum dieser Punkt geklärt werden muß…« Portheine steht wieder auf. »Ich verzichte auf weitere Befragungen zu diesem Punkt. Vielleicht habe ich seine Bedeutung für dieses Verfahren überschätzt… das mag dadurch zustande gekommen sein, daß ich grundsätzlich der Ansicht bin, die Übertragung des Sorgerechts für Isolde Bothüter an den Angeklagten könnte eines Tages zu Lasten des Kindes gehen. Dafür wollte ich letzten Endes nicht allein die Verantwortung übernehmen!« Schellhorn schüttelt den Kopf. Und Schenkel fragt noch, wieder einmal einen Tick zu arrogant: »Wieso fühlen Sie sich in dieser Hinsicht überhaupt verantwortlich?« Portheine antwortet kurz und bündig: »Weil ich ein Mensch bin!« Zwei Minuten später vertagt Schellhorn die zuletzt so unerfreuliche Verhandlung auf den kommenden Mittwoch. Trimmel beobachtet, wie sich gleich darauf wieder die übliche Umarmung zwischen Klaus Bothüter und Marlies Effenberger abspielt; er hat seltsamerweise den Eindruck, daß sie sehr viel kürzer, wenn nicht sehr viel kühler ist. Gerber kommt zu ihm. »Ihre Tonbänder waren ja Weltklasse!« sagt er säuerlich. »Hätten Sie nur noch Amtsrichter Pidde zitieren müssen…« »Wer ist das?« fragt Trimmel. »Ein ulkiger Vogel aus Gifhorn… wurde von den Nazis zwangspensioniert und hat aus Rache nachgewiesen, daß in sämtlichen Musikdramen des damals hochgeschätzten Richard Wagner schlimmste kriminelle Elemente enthalten sind. Bei Tristan und Isolde gibt’s den 129
versuchten Giftmord im ersten Aufzug, und die Ehebrecherei im zweiten Aufzug zieht dann ja auch mindestens drei Bluttaten nach sich…« »So was gibt’s tatsächlich?« wundert sich Trimmel. Gerber nickt. »Bloß, der Bhagwan auf Ihren Tonbändern, der hat zwar noch schönere Sprüche drauf, von wegen, daß wir alle eins sind mit der Schöpfung, und daß wir nicht den Tod unseres Körpers, sondern unseres Ego begreifen müssen… aber mit so was können Sie natürlich jeden Quatsch in der Weltgeschichte beweisen und widerlegen, nicht nur Wagners Texte…« »Trotzdem mein ich«, sagt Trimmel, »daß Bothüter die Verbindung von Bayreuth und Poona ganz gut nachgewiesen hat…« »Ja, ja«, sagt Gerber fast bösartig. »Aber irgendwie können Sie sich die Hand reichen, Bothüter und Sie… paßt alles, wackelt und hat Luft!« Und weg ist er. Dafür steht Portheine neben Trimmel. »Schönen Dank«, sagt er herzlich, »ist ja eigentlich ganz gut gelaufen…« »Ja, es hätt schlimmer kommen können!« Sie gehen gemeinsam zum Ausgang. »Ich weiß ja nicht, ob’s beim Gericht gezündet hat«, meint Portheine. »Aber Schenkel schien mir zum Schluß doch was angeschlagen zu sein. Marlies Effenberger war auch ziemlich geschafft… haben Sie gesehen, wie sie Klaus vorhin die kalte Schulter gezeigt hat?« »Hhm, merkwürdig. Aber was ich Sie fragen wollte… ist da eigentlich was dran? Von wegen Schlachtplan und so?« Portheine grinst. »Ihnen kann ich’s ja sagen… meine Frau hat einen stinkreichen Vetter, einen gewissen Koblenz, Helmut Koblenz… der war mal irgendwann bei Schenkel eingeladen und hat da eine merkwürdige Szene beobachtet. Kemm war dabei, und die Effenberger auch – die kennt den Schenkel offenbar schon länger; vielleicht hat sie die Verbindung zwischen Schenkel und Bothüter überhaupt erst hergestellt. Jedenfalls muß da rund um Kemm was Finsteres gelaufen sein!« Richtig gesprächig ist er – jetzt, da er’s hinter sich hat. »Was soll gelaufen sein?« fragt Trimmel. »Nun ja – Kemm und Bothüters Freundin hatten da irgendein merkwürdiges Rencontre… so recht wollte Koblenz auch nicht mit der Sprache raus, als er das dann meiner Frau und mir erzählte. Weil 130
er ja wiederum auch eng mit Schenkel befreundet ist… außerdem, ich hatte da überhaupt auch nur deshalb zugehört, weil ich am selben Tag hier auf dem Flur was Komisches gesehen hatte. Kemm hatte die Effenberger gesehen und regelrecht wütend weggeguckt… das stellen Sie sich mal vor! Der gute Kemm, Gott hab ihn selig – Kemm mit seinem Sinn für Schönheit guckt bei einem hübschen Mädchen weg! Und das auch noch an demselben Tag, an dem Kemm hier verstorben ist! Ich hatte mir ja schon am Morgen gesagt, an dem Fall hat er sich in seinem offensichtlich angeknacksten Zustand doch wohl übernommen…«
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6 Der kleine, berühmte Mann, der so früh und binnen weniger Jahre zum Greis geworden war, hatte die letzte Arbeit seines Lebens tatsächlich sehr ernst genommen. Und sie war ihm auch sehr schwergefallen: der Fall Bothüter, äußerte er mehrfach im vertrauten Kreis seiner Oberärzte, scheine komplexer zu sein als fast alle Gutachtenfälle, die ihm in den Jahrzehnten seiner Tätigkeit übertragen worden waren. Wie es seine Art war, hatte Professor Kemm die Akten fast auswendig gelernt, bevor er sich mit Klaus Bothüter zu einem ersten Gespräch verabredete. An einem Dienstag sollte es stattfinden, morgens um zehn in der Untersuchungshaftanstalt, und es war auch schon alles arrangiert worden. Das eine ›Arrangement‹ allerdings, das später soviel Wirbel aufrührte, stand noch aus, und es war hinter seinem Rücken getroffen worden. Für den Sonntagabend zuvor hatte Schenkel Kemm und ein paar andere ›nette Leute‹ zu einem Fläschchen Wein in sein Haus nach Lütjensee eingeladen, und unter den Gästen war auch die Lehrerin Marlies Effenberger. Kemm kannte sie nicht: es war just vor dem Zeitpunkt, zu dem die Zeitungen ihre Verbindung zum ›TristanMörder‹ Klaus Bothüter ausfindig gemacht hatten. Kemm war dann natürlich der Star unter dem Sternenhimmel, der sich über dem großen Garten des Anwalts, über dem nahen See und bis über die Autobahn Hamburg-Lübeck wölbte. Champagner gab es zum Auftakt der Runde, trocken wie Seide; zu kanadischem Hummer wurde anschließend ein steiniger, leicht mineralischer Chablis des Jahres 1969 vom Weinberg Grenouilles kredenzt. Ein kräftiges Hoch lag über Lütjensee und Hamburg und dem übrigen Mitteleuropa, und die Lufttemperatur betrug um 20.45 Uhr immer noch 27 Grad. »Mein lieber Schenkel«, sagte Robert Kemm mit dem Nachdruck des Wissenschaftlers, »Sie und der liebe Gott beschenken uns wieder mal überreichlich, und wir danken Ihnen beiden!« Marlies Effenberger hob ihr Glas mit den anderen, die sie nicht kannte: er hat recht, dachte sie fast widerwillig, der Wein ist wirklich spitze…
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»Finden Sie nicht, daß ich recht habe?« fragte Kemm. Er stand plötzlich neben ihr. Sie lächelte, und es fiel ihr leichter, als sie gedacht hatte. »Sie gelten ja als Kapazität auf Ihrem Gebiet, Herr Professor, aber auf anderen Gebieten kann man sich Ihnen offenbar genauso anvertrauen!« Kemm lachte. »Man lernt im Laufe der Zeit, sich den Mantel intellektueller Omnipotenz umzuhängen…« Marlies antwortete liebenswürdig: »Er steht Ihnen hervorragend, Herr Professor!« »Kommen Sie, kommen Sie!« sagte Kemm geschmeichelt, und offenbar meinte er’s wörtlich, denn er tat einen Schritt in den Garten. Und Marlies folgte ihm, fast wie zufällig und schlendernd, sicherlich an die achtzig Meter bis zum letzten der Lampions, die Erich Schenkel auch zu zwanglosen Gelegenheiten aufhängen ließ… »Schenkel hat von seinem Vater eine Menge Geld geerbt«, erzählte Kemm, »auf die Weise kann er sich für einen jungen Anwalt eine Menge Unabhängigkeit leisten. Und ich find’s auch herzerfrischend, wie er sich dann an Abenden wie heute Mühe gibt, seines Vaters Geld mit netten Leuten zu teilen…« »Das hat er schon immer gern getan!« sagte Marlies. »Sie kennen ihn schon länger?« »Vor vier Jahren hat er mich in einer Führerscheingeschichte vertreten… seitdem sind wir befreundet…« »Sieh an, sieh an«, sagte Kemm verschwörerisch, »die geheime Ecke im Herzen des jungen Staranwalts…« »Falsch!« sagte sie lächelnd. »Beziehungsweise schon länger nicht mehr…« »Und warum?« »Weil er weiß, daß mein Herz heute einem anderen Mann gehört…« »…und das respektiert er? Alle Achtung! Ein großzügiger Mensch!« Er hielt eine längere Rede über mindestens fünf Meter, im Schlenderschritt zurückgelegt: wie sehr er Schenkel tatsächlich schätze, und wie gern er seinen stilvollen, unaufdringlichen Einladungen folge. Immer wieder streute er Komplimente ein: schöne Menschen lerne man regelmäßig bei Erich Schenkel kennen, interessante Frauen, kluge Leute einfach… 133
»Ich erleb’s gerade…« sagte Marlies charmant. Vor Gericht, fuhr der Professor fort, gelte der Anwalt ja als unerbittlicher Kämpfer für seine Mandanten, und die Richter kriegten oft graue Haare, wenn er sich als Verteidiger bei ihnen vorstelle. Privat aber sei er eben doch ganz anders, überhaupt nicht so streitsüchtig und so frech wie gelegentlich in seinen Prozessen… vor allem aber sei er wirklich auch ein weißer Rabe unter den Advokaten, weil er Berufliches und Privates nie auch nur eine Minute lang miteinander verquicke… Bis auf heute, dachte Marlies beklommen. Hoffentlich ist seine Sympathie für Schenkel wirklich so groß, daß er ihm einiges verzeiht! Kemm indessen dachte daran, wie er noch vor wenigen Jahren ein so hübsches, auffallendes Mädchen umgarnt haben würde, bis sie seinem Charme kaum noch entrinnen konnte… als Arzt wußte er ja, wie es jetzt um ihn stand, und eine leise, aber schmerzhafte Melancholie packte plötzlich sein Herz, unvermittelt auch von einer Salve von Extrasystolen begleitet… »Ist Ihnen nicht gut?« fragte Marlies besorgt. »Ach, ich werde älter«, sagte Kemm, »zuweilen wird man eben daran erinnert…« »Wollen wir nicht zurückgehen?« »Ach wo!« Er ging weiter. »Eigentlich wird das Altern von hübschen Erscheinungen begleitet… leichte Herzstörungen… fast schon symbolisch signalisieren sie dem Manne den Auftritt eines attraktiven Weibchens…« »Schön gesagt«, sagte Marlies, »trotzdem sollten Sie es nicht auf die leichte Schulter nehmen…« »…aber es ist so, Kind – nicht besser und auf gar keinen Fall schlechter!« Da glaubte sie, der richtige Moment sei gekommen. Die Sterne wanderten weiter. Die Gäste auf der Terrasse im Hintergrund lachten. »Auch ich habe gelegentlich Herzstörungen«, sagte Marlies Effenberger, »allerdings, sie signalisieren mir den Abgang eines hübschen Männchens…« »Es gibt keinen Mann, der Sie verlassen haben könnte!« behauptete Kemm. 134
»Es war ja auch nicht freiwillig…« »Oje«, vermutete er, »eine böse Ehefrau! Er ist unglücklich verheiratet – stimmt’s?« Sie blieb stehen. »Lassen Sie uns zurückgehen, Professor… es ist mein Problem, und ich habe kein Recht, Sie mit meinen Problemen…« »Sie haben das Recht, Marlies! Jetzt!« Da schüttelte sie den Kopf, sagte aber dennoch ohne alle Umschweife: »Mein Freund ist verhaftet worden!« »Wieso das denn?« »Eine verhängnisvolle Geschichte…« »Betrug? Wirtschaftsvergehen? Irgendwas mit dem Auto?« »Schlimmer«, sagte sie leise, »ein Sexualdelikt…« »Nun machen Sie aber mal einen Punkt!« sagte Kemm im Ton tiefster Entrüstung. »Kein Mann, den Sie lieben, begeht ein…« »…doch!« sagte sie. »Ja, was denn?« »Er soll ein psychopathologisches Sexualdelikt an seiner früheren Lebensgefährtin begangen haben!« erklärte sie – halbwegs zutreffend, wenn man Bothüters Motivvariante des Falles zugrunde legte, aber auch reichlich undeutlich. »Ich bin natürlich fest von seiner Unschuld überzeugt. Sicher wird er auch freikommen, aber bis dahin…« »…bis dahin weinen Sie…« sagte Kemm, übertrieben väterlich. Denn er war immer noch nichtsahnend. »Ja – aber ich kämpfe auch! Er hat nämlich ein Kind, müssen Sie wissen, und um das Kind will ich mindestens ebenso kämpfen wie um ihn… ich will’s zu mir nehmen, und deshalb möchte ich ihn schon in der Haft heiraten!« »Ungewöhnlich!« diagnostizierte Kemm. »Also, ich find’s ganz normal…« Er überlegte, ob er sich nicht doch intensiver um die seelischen Beschwerden der jungen Dame kümmern sollte… ob es vielleicht doch ein Weg zu einer väterlichen Freundschaft sein könnte, wenn auch nur nach außen hin. »Von Berufs wegen bin ich ja über die meisten ungewöhnlichen Kriminalfälle im norddeutschen Raum wenigstens in Umrissen informiert. Könnte mir der Fall Ihres Freundes vielleicht bekannt sein?« 135
Das kam zu plötzlich. »Könnte sein…« gab sie zu. »Ach ja?« »Ich hab gelesen, Sie sind zum psychiatrischen Sachverständigen bestellt worden…« »Ich?« fragte er verblüfft. »Er heißt Klaus Bothüter…« »Ach, sieh mal an…« Kemm blieb stehen, fingerte in seinen Taschen nach einer Zigarette, die er auf keinen Fall rauchen sollte und deshalb auch nicht besaß, und erkundigte sich: »Haben Sie eine Zigarette?« Sie hatte eine, und sie hatte auch Feuer. Er paffte vor sich hin, zog aber insgeheim doch eine Portion Rauch in die Lungen. »Und nun sagen Sie mir mal, ob ich mich vielleicht doch in Ihnen getäuscht habe, ob Sie vielleicht doch ein ulkiges kleines Luder sind?« »Bestimmt nicht, Herr Professor…« »…ob Sie es nicht darauf angelegt haben, mich hier in der Strafsache Bothüter auszuhorchen? Aufs Kreuz zu legen?« »Herr Professor, ich wollte nur…« Aber nun war er wütend. »Unser Freund Schenkel, hat der da etwa auch mitgespielt?« »Er hatte keine Ahnung!« log sie. »Zufälle gibt’s…« »…es war kein Zufall!« sagte sie beschwörend. »Ich wollte tatsächlich mit Ihnen sprechen, aber ich wäre doch normalerweise nie an Sie herangekommen! Ich wollte Sie ganz, ganz dringend um eins bitten, mit Ihrer Aufgabe als Gutachter hat das gar nichts zu tun…« »Woher wissen Sie eigentlich, daß ich Gutachter bin?« »…das hat doch in der Zeitung gestanden, Herrgott noch mal… ich wollte Sie doch nur bitten, weil Sie Klaus in der nächsten Zeit öfter sprechen…« »Schluß jetzt!« Er ließ sie stehen und ging zurück zur Terrasse, zu den lachenden Gästen. Ehrpusselig war er ja schon immer, dachte sie mit dem letzten Rest ihres Verstandes; das zumindest hatte Schenkel befürchtet, als sie den Plan ausheckten… ehrpusselig immer dann, wenn es ihm in den Kram paßte… 136
Und dann schossen ihr die Tränen in die Augen. Dann rannte sie einfach davon, den Kaminrock bis über die Knie hochgerafft, nicht zurück zur Terrasse und zum Haus, sondern quer durch die Büsche auf den schmalen Weg zwischen den Grundstücken. Sie rannte zur Straße und zu ihrem Auto, fand den Schlüssel in ihrem Abendtäschchen, stieg ein und startete durch. Heulend raste sie los. Sie hätte fast noch einen Gartenzaun gerammt, auch noch einen Mercedes, womöglich gar noch den Wagen von Kemm… Aber nach knapp hundert Metern stieg sie auf die Bremse und hielt an. Und mit einem Mal lachte sie hysterisch los und konnte sich kaum noch einkriegen. Sicherlich, dachte sie – die Party, die jetzt hinter ihr lag, war ein einziger Alptraum gewesen. Aber war sie nicht auch ein Erfolg gewesen – trotz allem? Konnte daraus nicht sogar noch mehr werden? Für den Gastgeber Erich Schenkel war die Party bestimmt ein Erfolg: den Montrachet aus dem Jahre 1950, vom Baron Thénard, hatten seine Gäste soeben mit ostentativem Applaus bedacht. Es war der vorletzte Weiße, den er ins Auge gefaßt hatte, ohne dabei Kemm und Marlies gänzlich aus den Augen zu verlieren. Als er sah, daß Kemm allein zurückkam, füllte er schnell ein geschliffenes Glas und hielt es ihm entgegen. »Sie müssen kosten, Herr Professor…« »Ich muß Sie sprechen!« sagte Kemm. Er rannte sofort ins Haus, und Helmut Koblenz, einer der zwölf Geladenen, knuffte Schenkel in die Rippen. »Du, der ist stocksauer…« Aber wie schlimm es tatsächlich war, erkannte Schenkel erst unter vier Augen in der Bibliothek. »Es ist dies das Ende unserer Beziehung, Herr Schenkel!« sagte Kemm scharf. »Moment, Moment…« »Lassen Sie mir bitte meinen Mantel bringen!« »Herr Kemm, was soll der Unsinn?« fragte Schenkel. »Sie haben keinen Mantel, weil’s warm ist, und im Biedermeier leben Sie auch nicht… was ist los?« »Sie sind doch wohl des Teufels«, polterte Kemm, »schicken mir da eine Ische auf den Hals, damit sie mich aushorcht! Haben Sie im
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Seminar über den richtigen Umgang mit Sachverständigen blaugemacht?« »Darf ich mal?« sagte Schenkel. »Erstens ist Marlies Effenberger keine Ische, sondern eine gute Freundin von mir…« »…eine sehr gute, ja, ja!« höhnte Kemm. »…zweitens hat sie mich lediglich um den Gefallen gebeten, mit Ihnen auf neutralem Terrain reden zu können… und das hab ich arrangiert, nachdem sie mir gesagt hatte, was sie von Ihnen wollte, und keinen Fatz mehr!« »Und was wollte sie von mir?« »Hat sie’s Ihnen denn nicht gesagt?« »So weit«, sagte Kemm, »habe ich es nicht kommen lassen!« Da sagte Schenkel dann wenigstens die halbe Wahrheit, wenn er es schon für sich behielt, daß sie Kemm in erster Linie bewegen wollte, Klaus Bothüter aus wissenschaftlicher Sicht als Gewalttäter auszuschließen. »Sie wollte Sie bitten, im Verlauf Ihrer Untersuchung Bothüter dazu zu bringen, sie in der Haft zu heiraten!« »Und sein Kind würde sie auch am liebsten zu sich nehmen?« »Also wissen Sie’s doch! Sie ist überzeugt, daß Bothüter freigesprochen wird – ich übrigens auch – und daß er dann sofort das Sorgerecht für die Tochter kriegt, diese verhinderte Kronzeugin. Dahinter steckt nur der Wunsch nach einer intakten Familie, wenn Sie so wollen… ist doch menschlich!« »Lieben Sie diese Frau eigentlich?« fragte Kemm. »Ich bin verrückt nach ihr!« sagte der Anwalt, momentan überrumpelt. »Aber es ist hoffnungslos, das nur nebenbei…« »Dann will ich Ihnen mal was sagen…« Er nahm aus einem Sandelholzkästchen eine kostbare Zigarre und bereitete sie vor. »Sie planen da offenbar den Doppelschlag… Bothüter soll freikommen und gleich in den Schoß einer kompletten Familie kommen…« »Genau!« sagte Schenkel, »So ein uneigennütziger Mensch kann ich sein!« »Aber die Risiken sind Ihnen klar?« »Ob Sie mir das Risiko strafrechtlich erleichtern könnten, wage ich momentan natürlich nicht zu hoffen… ansonsten sehe ich keine unüberwindlichen Schwierigkeiten…« Kemm nahm das schwere, goldene Feuerzeug, das Schenkel ihm reichte, und sagte bedeutsam: »Ich darf ja nicht rauchen!« 138
»Dürfen…« sagte Schenkel gedehnt. »Was darf man schon?« »Kennt diese Person, diese…« »Marlies Effenberger!« »…kennt sie das Kind eigentlich?« »Natürlich – das ist doch das mindeste! Sie hat das Mädchen schon mehrfach besucht… hat ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihm gewonnen, auch zu den momentanen Pflegeeltern – die wären sofort einverstanden, dem Vater und ihr das Kind zu übergeben. Nicht zuletzt deshalb, weil auch sie nicht glauben können, daß Bothüter ein Mörder ist…« Aromatische, wenn auch verbotene Wolken stiegen auf. »Kinder in solchen Situationen werden immer zu Opportunisten und Schauspielern. Was sagt das Jugendamt zu dem Fall?« »Es weiß noch nichts davon, muß es aber bald erfahren. Gerade, was das Jugendamt betrifft, wär’s gut, wenn die beiden heirateten… sonst kommen die doch todsicher mit ihrer üblichen Ochsentour! Erst darf das Kind den Papa mal besuchen, dann mal über Nacht bleiben, dann wird wieder mal geprüft und sowieso ständig beobachtet, wie sie behaupten, obgleich sie kaum was tun… jedenfalls, normalerweise denken die doch frühestens nach einem halben Jahr daran, sich mit dem Sorgerechtsproblem für den Vater überhaupt zu beschäftigen! Und bis dahin geben sie meistens negative oder hinhaltende Stellungnahmen ans Familiengericht!« Kemm nickte. »Das kenn ich. Allerdings sind das nicht die Schwierigkeiten, die ich meinte…« »Sondern?« »Herr Schenkel, Sie lassen sich da auf was ein, was Sie überhaupt nicht übersehen können!« »Ja, aber ich kenn die Verhältnisse! Ich hab die Ehe Bothüter doch geschieden!« »Und?« fragte Kemm. »Wieso hat die Mutter da das Sorgerecht bekommen?« »Da wollte er’s nicht haben!« gab Schenkel zu. »Außerdem hat er sich damals ja nicht schlecht benommen, wenn ich Ihrem berühmten Kollegen Lempp folgen darf. Der sagt ja sicher nicht ohne Grund, daß derjenige Elternteil, der von vornherein aufs Sorgerecht verzichtet und dadurch häßliche Auseinandersetzungen vermeidet, vielleicht am ehesten im Sinne des Kindes handelt!« 139
»Aha. Und jetzt hat er – Bothüter, mein ich – es sich anders überlegt?« »Jetzt ist die Mutter ja tot – jetzt sieht das doch anders aus! Und vor allem« – er zögerte – »vor allem macht Frau Effenberger Dampf dahinter…« »Soll ich Ihnen mal sagen«, sagte Kemm, »wer hier wirklich Dampf dahinter macht?« »Na ja – der Vater…« »Nein – das Kind selbst!« sagte der Psychiater. »Wissen Sie, ich kenn die Akten so gut wie Sie, wenn auch noch nicht alle Personen. Das Verhalten des Kindes macht das ganz deutlich… es ist total vaterfixiert, und weil Kinder ihre sozialen Wertgefühle bekanntlich erst ziemlich spät entwickeln, freut es sich eher über den Tod der Mutter, als daß es trauert… können Sie mir da folgen?« »Schweren Herzens…« sagte Schenkel. »…sicher – so was will euch normalen Menschen nie in den Sinn! Aber Sie können’s ja auch positiv sehen, mit demselben Ergebnis. Der Tod der Mutter hat das Kind in die Lage versetzt, sich den Vater mehr denn je zu wünschen – es macht hier wahrhaftig ein legitimes Recht geltend. Aber dann, aber dann, Herr Schenkel…« »Was dann?« »Dann – später – wird’ sich zeigen, welches Trauma das Kind tatsächlich erlitten hat, als seine Mutter erschlagen wurde! Später erst wird es sich bewußt werden, welche schreckliche Möglichkeit der Erpressung es gegenüber dem Vater besitzt, vorausgesetzt, es hat gesehen, daß der Vater die Mutter umgebracht hat oder wenigstens am Tatort war… und daß es so war, Herr Schenkel, daran mögen Sie zweifeln, aber ich nicht! Ich bin zweihundertprozentig von der Täterschaft Bothüters überzeugt – und das Verhalten der Tochter bestärkt mich doch sogar noch in meiner Überzeugung! Da ist heute bereits der Gedanke der Erpressung im Spiel, wertfrei gesagt – erstens durch die Tatsache der Aussageverweigerung, zweitens aber vor allem daraus erkennbar, daß das Mädchen sich so hervorragend mit seiner, wie sie meint, künftigen Stiefmutter versteht! Denn die macht den Dampf, den das Kind selbst noch nicht machen kann, de facto dahinter – also muß es sich doch mit der Person vertragen! Auf Teufel komm raus!« »Ja, was soll ich denn machen?« fragte Schenkel hilflos. 140
»Lassen Sie die Finger davon!« sagte der Psychiater unbarmherzig. »Denken Sie immer daran, daß Isolde Bothüter, wenn sie fünfzehn ist und von ihrem Vater das Moped, das sie dringend haben will, nicht kriegt, sofort sagen kann, daß sie dann zur Polizei geht und ihn anzeigt… eine schreckliche Vorstellung, aber so ist es doch!« Schenkel nickte, wenn auch noch zögernd. Und genau in diesem Moment kam Helmut Koblenz in die Bibliothek. »Ich darf die Herren wirklich nur kurz stören«, sagte er heiter, »aber was hast du jetzt auf dem Programm, Erich? Was trinken wir als nächstes?« »Den fünfundvierziger Cheval-Blanc«, sagte Schenkel, »ich bin gleich da…« »Oha«, erklärte Kemm, »ein sensationeller Jahrgang! Da bin ich dann doch noch dabei…« So kam’s dann, daß Koblenz hinterher seinem Schwippschwager Portheine erzählen konnte, es habe an diesem Abend zwischen Kemm und Schenkel bis zuletzt die größte Eintracht geherrscht. So kam es, daß Kemm noch weit über seinen Tod hinaus fälschlich in den Verdacht geriet, er sei eine Figur in einem äußerst unmoralischen Schlachtplan gewesen. Koblenz verließ die Weinfete seines Freundes Schenkel als allerletzter Gast gegen zwei Uhr früh. Und als einziger kriegte er auch noch mit, daß Schenkel sogar noch um diese Zeit Besuch bekam. Vier Häuser weiter stieg Marlies Effenberger aus einem alten grauen Mini, gerade als Koblenz – etwas leichtsinnig wegen des reichlich genossenen Alkohols – mit seinem Schlitten vorbeifuhr. Er fuhr langsamer – und er sah, daß das bildhübsche Mädchen, das die Party leider schon sehr früh verlassen hatte, tatsächlich wieder in Schenkels Haus ging. Sieh mal an!, dachte Koblenz amüsiert und ein bißchen neidisch. Aber dann gab er Gas, vergaß den Vorfall für längere Zeit und erzählte ihn wirklich erst lange danach dem Oberstaatsanwalt in seiner Familie. Der gab es an Trimmel weiter, aber auch erst, als alles lange vorbei war… so allerdings konnten sich dann ganz zum Schluß wenigstens ein paar Eingeweihte ihre Gedanken machen. Gedanken, letztlich, die der Wahrheit sehr nahe kamen, wenn’s auch von keinerlei Nutzen mehr war.
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»Hallo«, sagte Marlies, »darf ich reinkommen?« »Ja – Marlies…« sagte Schenkel, völlig verwirrt. Sie ging an ihm vorbei auf die Terrasse, auf der es, wie nach jeder noch so kultivierten Gesellschaft, aussah wie auf einem Schlachtfeld. Mittendrin nahm sie Platz, nahm ein lauwarmes Glas Champagner, das herumstand, trank es aus und sagte tapfer: »Ich wollte mich entschuldigen, Erich!« »Ich… ich hol uns was Frisches zu trinken!« sagte Schenkel, ging in die Küche und kam mit einer Flasche Taittinger Brut und zwei Gläsern zurück. »Was heißt hier entschuldigen? Warst du schon zu Hause?« »Ich hab hier in der Nähe gewartet…« »Das ist nicht… die ganze Zeit?« Sie lächelte ihn an und nickte. »Es war mir wichtig.« »Hast du… hast du Kemm abfahren sehen?« »Ja. Aber er hat mich nicht gesehen!« »Gott – das meinte ich nicht! Wir haben uns noch ganz vernünftig unterhalten. Vielleicht hätten wir besser von Anfang an mit offenen Karten spielen sollen… jetzt verzeiht er dir nie mehr, weil er gerade Frauen nie verzeiht… meine Schuld! Ausschließlich meine Schuld!« Da stand sie unvermittelt auf und küßte ihn. »Sag nicht so was… ich hab dir so viel zu danken!« Sie setzte sich wieder hin. »Was hat er denn noch gesagt?« »Na ja… zuerst wollte er mir die Freundschaft kündigen und was nicht alles…« »Und dann?« Er setzte sich aufrecht hin. »Also, weißt du… vielleicht sollte ich den Antrag ans Familiengericht doch nicht schreiben… den Antrag wegen Isolde…« »Was?« sagte sie entsetzt. »Nun guck doch nicht so entsetzt… fang bloß noch an zu heulen! So ganz falsch war das ja nicht, was mir Kemm gesagt hat, glaub’s mir…« »Ja, was denn?« Er zuckte die Schultern. »Papermoon mit umgekehrten Vorzeichen… Vater und Tochter in einer Situation, die nicht gutgehen kann… er ist zwar kein Jugendpsychiater, aber Ahnung hat er ja auch…« Dann erzählte er, so präzise er es in seinem längst nicht 142
mehr nüchternen Zustand konnte, was Kemm im Einzelnen ›dagegen‹ vorgebracht hatte. Sie unterbrach ihn kein einziges Mal, und am Ende nickte sie sogar. »Klingt ja alles ganz einleuchtend. Trotzdem – ich glaube, ich kann dem Kind eine gute Mutter sein…« »Ja – aber Klaus…« sagte Schenkel. »Warum sollte Klaus kein guter Vater sein?« fragte sie. Da wurde er wütend. »Klar. Das bißchen Schwurgericht, das wir bis dahin noch gewinnen müssen…« »Wie meinst du das?« »Schlicht und einfach so, daß die Sache nach wie vor auf der Kippe steht! Das kann wirklich so und so ausgehen… abgesehen davon, daß ich mehr denn je im Zweifel bin, ob ich da der richtige Verteidiger bin. Ich kann den Kerl inzwischen noch weniger ausstehen als früher!« »Also wieder die alte Geschichte…« sagte Marlies Effenberger nachsichtig. »Nein – neue Geschichten! Ich finde ihn einfach widerlich mit seiner Arroganz und all seinen Macken!« »Was hat er denn gemacht? Bloß, weil er mal aus… aus purer Sehnsucht nach seiner Tochter getürmt ist?« »Ja, auch – weil’s typisch ist! Aus Sehnsucht – ich lach mich tot! Er ist der Größte, er allein weiß, wo s’ längs geht, nur er! Ist doch ein Wunder, daß sich der Staatsanwalt nicht schon lange bei ihm entschuldigt hat, daß er ihn angeklagt hat!« Die Nacht war grau geworden und wurde hellgrau. Die Sterne verblaßten; warm war’s immer noch, sicher um 24 Grad. »Ich find’s gut, daß er sein Selbstgefühl nicht verloren hat!« erklärte Marlies. »Diese Haft muß doch grauenhaft sein… dann die ganzen Jahre vorher mit dieser schrecklichen Frau…« »Schrecklichen Frau?« wiederholte Schenkel. »Ja, sicher! Nach dem, was er mir erzählt hat, war die ja wirklich verrückt. Außerdem ein Eisbrocken im Bett… vom ersten Tag an…« »Das glaubst du? Das glaubst du unbesehen?« Schenkel stand auf, stellte seinen Champagner ab, ging ins Haus und kam mit einem roten, ziemlich umfangreichen Aktenordner zurück. Er blätterte, bis er die Stelle, die er suchte, gefunden hatte. »Hier… Kriminalhauptmeister Petersen, Aktenvermerk… war ich auftragsgemäß bei der 143
gerichtlichen Leichenöffnung, vorgenommen an Frau Isolde Bothüter, anwesend. Zum eigentlichen Ergebnis wird auf das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin verwiesen…« Er hob die Stimme. »Darüber hinaus fiel auf, daß die Schambehaarung der unbekleideten – na, logisch, unbekleideten! –, die Schambehaarung der unbekleideten Leiche in Herzform geschnitten war, was für die weiteren Ermittlungen und so weiter…« Marlies Effenberger fiel das Glas klirrend aus der Hand. »Da staunst du, was?« sagte Schenkel. »Unten rum ein Herzchen… war offenbar doch kein solcher Eisbrocken, die verstorbene Frau Bothüter, hatte durchaus Sinn für originelle Späßchen… was hast du denn?« Sie stand auf und ging ins Bad. Nach einer Weile rauschte die Toilette. Na schön, dachte Schenkel, das also war’s! Er brachte den Aktenordner weg, und aus einer Laune heraus legte er, als er am Fernseher vorbeikam, ein Videoband auf, das er eigentlich aus beruflichen Gründen mitgeschnitten hatte, zur Vorbereitung auf den Mordprozeß Bothüter… Siegfried Matuschek dirigiert Tristan und Isolde in der Hamburger Staatsoper – das Orchestervorspiel zum ersten Aufzug… Marlies blieb ewig weg. Schenkel öffnete eine neue Flasche Champagner – der Tag war so und so zum Teufel. Hinter ihm schlug die Tür zu, und im selben Moment ließ er den Korken knallen. Während des Einschenkens drehte er sich um – und dann lief der Champagner über den Rand des Glases, und er dachte gar nicht daran, die Flasche abzusetzen… Marlies war hereingekommen, öffnete den Gürtel ihres Kaminrocks und ließ den Rock einfach fallen. Und unter dem Rock war nichts mehr: von der Taille an abwärts war sie vollständig nackt. »Du hast ja… du hast ja auch ’n tollen Friseur…« sagte Schenkel mühsam. »Gefällt’s dir?« fragte sie – lächelnd, aber totenbleich. Da stellte er die Flasche und das Glas ab, ging auf sie zu und umarmte sie mit feuchten Händen. Seine rechte Hand schob sich zwischen ihre Körper, ihren Leib abwärts, und kraulte das herzförmige Haar in ihrem Schoß. Und zu alledem dirigierte immer noch Siegfried Matuschek. 144
Am hellen Vormittag machte er Frühstück. Nackt saßen sie auf der Sonnenterrasse. Marlies rauchte und lehnte sich im Sessel zurück. »Wer hat’s dir denn eigentlich geschnitten?« fragte Schenkel lächelnd. »Ich selbst natürlich. Das wird übrigens nicht geschnitten, sondern gezupft!« Sie kraulte die Härchen in ihrem Schoß und sah sich um. »Ich find’s ja immer noch schön bei dir hier draußen…« »Ja, ich auch. Fast noch schöner als früher… was uns betrifft, meine ich!« Sie nickte. »Wollen wir’s wiederholen?« »Das fragst du mich?« Da lachte sie, ziemlich abschätzig. »Klaus kann ruhig mal ne Weile auf Herzchen verzichten!« »Kleine Privatstrafe?« fragte er. »Ist doch eigentlich ganz originell, die Idee… seit wann gibt’s denn Strafe für zuviel Phantasie?« »Für zuviel nie«, sagte sie und drückte entschlossen die Zigarette aus. »Aber immer für zu wenig – bei mir jedenfalls! Wann mußt du weg?« Er überlegte. »Heute ist Montag… also, sicher nicht vor dem späten Nachmittag…« dann erhob er sich, ging um den Tisch herum und küßte das Herz abermals. Später schlug sie ihm allen Ernstes das groteskeste Geschäft vor, das ihm je angetragen worden war. Sie schlug ihm vor, nicht nur heute, sondern präzise bis zu Klaus Bothüters Freispruch wieder – wie früher – miteinander ins Bett zu gehen. Allerdings müsse er als Gegenleistung alles tun, auch das allerletzte, um ihn tatsächlich freizukriegen – er müsse die beste Verteidigung führen, die überhaupt vorstellbar sei… »Ich soll also kämpfen«, fragte er konsterniert, »um dich möglichst schnell wieder loszuwerden?« »Ja. Ist das etwa unmoralisch?« Er fror in der Mittagssonne. »Doch, ziemlich…« »Na und?« »Nichts und! Das ist unmoralisch! Erstens werde ich noch mal drüber nachdenken, zweitens, wenn ich’s mach, fänd ich’s in jedem Fall gut, wenn’s unter der Bettdecke bliebe… unter uns, mein ich…«
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»…ja, aber sicher! Schon wegen Kemm und wegen dem Sorgerecht für die Kleine…« »Das wollten wir doch lassen?« fragte er, erneut sehr erschrocken. »Bloß, weil der Herr Kemm gesponnen hat? Du spinnst doch! Das gehört doch zur guten Verteidigung – das ist wichtig für uns!« »Für dich, meinst du?« »Natürlich für mich!« bestätigte sie, geradezu schonungslos ehrlich. »Und das Kind? Wer denkt an das Kind?« »Meine Güte – ich bin doch Lehrerin! Da werd ich mir schon Mühe geben, wenn’s soweit ist!« Gegen Abend fuhr Erich Schenkel nach Hannover, um einen Mandanten in einer Konkurssache zu besuchen. Er hätte nach Hamburg zurückfahren können, nahm sich aber ein Zimmer im Luisenhof und ging mit einer Flasche Whisky ins Bett. Er erinnerte sich in allen Einzelheiten, wie Marlies ihn noch in der Nacht nach Bothüters Festnahme aus dem Bett geklingelt und ihn beschworen hatte, die Verteidigung zu übernehmen – damals schon seltsam genug, wenn man sich vor Augen führte, daß Marlies mal seine Freundin gewesen war, daß Bothüter sie ihm weggenommen hatte, wenngleich sie immer behauptete, es sei ausschließlich ihr Entschluß gewesen, und daß ausgerechnet er Bothüter jetzt rauspauken sollte. Damals hatte er weder ja noch nein gesagt und die Sache davon abhängig gemacht, daß Bothüter selbst sich bei ihm melden sollte – genau das jedoch hatte Bothüter dann getan! Aber trotz- und alledem: das war doch alles gar nichts gegen das, was jetzt auf ihn zukam! Erich Schenkel lag im Bett und trank und sehnte sich nach Marlies Effenberger. Er zwang sich dennoch, den unmoralischen Pakt, der jetzt auf ihn zukam, nochmals nach allen Seiten hin zu durchdenken. Und während er immer betrunkener wurde, kamen ihm folgende klare Gedanken: Es würde ihm vermutlich gelingen, Klaus Bothüter zum Freispruch zu verhelfen und insofern Ruhm an seine Verteidigerfahnen zu heften. Ebenso würde er es schaffen, daß Bothüter vom Familiengericht das Sorgerecht für Isolde übertragen bekäme; auf diese Weise hätte das Kind seinen Vater wieder und dazu eine neue Mutter. 146
Auf der anderen Seite allerdings war er in seinen geheimsten Gedanken nie so recht von der Unschuld Bothüters überzeugt, was man als Strafverteidiger ja nicht unbedingt sein muß, hier allerdings wohl schon eher sein sollte, im Hinblick auf das Kind. Selbst er als Verteidiger wurde den Verdacht nie los, daß der clevere Klaus das Wagnertheater nur inszeniert hatte, um die Kripo von der richtigen Spur – besser: vom richtigen Tatmotiv – abzulenken. Insofern fragte sich Schenkel: würde Bothüter trotz eines Freispruchs durch die Sorgerechtsübertragung nicht Lebenslänglich bekommen? Würde er nicht von Gott oder von wem immer damit bestraft werden, daß er bis an das Ende seiner Tage mit seiner Mordzeugin zusammenleben müßte? Dann Marlies. Konnte Marlies mit ihrer Egozentrik und Gefühlskälte der Bothüter-Tochter wirklich die Mutter sein, die ein derart gefährdetes Kind brauchte? Nie könnte sie das! dachte Erich Schenkel. Aber gleich darauf dachte er: Doch! Gerade sie könnte es! Gerade, weil sie ein seelisches Monster ist! Kemm hat sicher in allem recht, dachte er – einen Punkt allerdings hat er übersehen. Er hat bei seiner Rede für die Menschlichkeit schlicht übersehen, daß Marlies Effenberger ihr Gefühlsdefizit immer durch einen unheimlichen Willen ausgleichen kann. Und daß sie das, wozu sie seelisch allein nicht imstande ist, notfalls eben seelisch und körperlich schafft. Da hat sie wohl buchstäblich keine Hemmungen. Sechzehn Stunden später kam Marlies Effenberger wieder nach Lütjensee, und Schenkels Probleme erledigten sich in kürzester Zeit wie von selbst. »Sag mal«, meinte er hinterhältig, »was ich noch fragen wollte – bist du auf der Party eigentlich tatsächlich unten ohne gewesen? Ohne Slip, mein ich?« »Ja.« »Und warum?« »Damit sich unter dem engen Rock nichts abzeichnet – warum sonst?« »So eng war der doch gar nicht… mal ehrlich, hast du dir da was im Hinblick auf Kemm ausgerechnet?«
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Da lachte sie. »Okay. Wenn er versucht hätte, mich anzufassen – den Schock hätt ich ihm wahrscheinlich ausführlich gegönnt…« »Der Wahrheit eine Chance!« sagte er sarkastisch. »Dann möchte ich nur noch gern wissen, was passiert, wenn Bothüter frei ist und du mit ihm oder er mit dir keine Lust mehr hat?« »Mach dir da besser keine falschen Hoffnungen!« sagte sie. »Klaus ist für mich nun mal der beste Lover… ich kann mir nicht vorstellen, daß sich da so schnell was ändert. Außerdem hätten wir ja beide die Verpflichtung durch das Kind, und so leicht nehm ich das ja nun auch nicht…« »Sehr ehrenwert!« sagte er mit zynischem Unterton. »Dann wollen wir mal…« Dann wollen wir mal ein Gläschen trinken! hatte er sagen wollen. Aber sie zog sich schon aus: die Bluse, den BH, den Rock und diesmal auch den Slip von Peter Palmers. Und zwischendurch fragte sie: »Wieviel Zeit haben wir denn eigentlich insgesamt?« »Drei Monate Vorbereitung«, überlegte er, »drei bis vier Wochen Prozeß… also, vier Monate übern Daumen, eher mehr als weniger, das Gericht ist nicht das schnellste…« »Na, bitte!« sagte sie. »Ist das nichts?« Sie räkelte sich nackt und einladend auf einer Liege. »Soll ich etwa noch vier Monate leben wie ne Nonne?« »Vier Monate…« wiederholte er, mixte aber noch zwei Martinis, bevor er sich auch nur die Jacke auszog. »Na – Prost! Wird sicher ne verdammt lustige Zeit!«
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7 Fünf Monate hat’s dann sogar gedauert, und nicht einen Tag lang hat Marlies ihren Pakt nicht erfüllt. Aber heute ist es soweit, und zunächst bemerkt der Reporter Gerber, daß Verteidiger Schenkel die Bothüter-Braut ausgesprochen fürsorglich auf einen Platz diesseits der dicken Glasscheibe dirigiert – zwei Stühle neben Siegfried Matuschek, den es am Tag der Urteilsverkündung ebenfalls nicht zu Hause gehalten hat. Hinter der Scheibe drängen sich die Menschen, und gleich darauf zieht Dr. Schellhorn an der Spitze seiner Mitrichter und Schöffen in den Saal ein. Zum letzten Mal im Fall Bothüter die Prozession der Wahrheitsfindung, denkt Gerber, Gott sei Dank! Und überrascht ist sowieso niemand, als der Vorsitzende bekannt gibt, daß es der Wahrheit leider nun doch gelungen ist, zu entwischen: »Im Namen des Volkes«, sagt Schellhorn stehend, »der Angeklagte Klaus Bothüter wird freigesprochen. Für die Dauer der erlittenen Untersuchungshaft steht ihm eine Entschädigung zu. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse…« »Bravo!« ruft einer, der sich angetrunken in den Zuschauerraum geschlichen hat. Aber weil der Lautsprecher nur von vorn nach hinten funktioniert, hört’s im eigentlichen Gerichtssaal niemand; es ist also die schiere Routine, als Dr. Schellhorn sich setzt und erklärt: »Die Justiz scheut keine Kritik, duldet jedoch auch keinen Beifall von der falschen Seite!« Es sei nie die Sache eines Schwurgerichts, sagt er, parallel zum Freispruch eines Angeklagten einen anderen Täter benennen zu müssen – man habe, hier wie immer, ausschließlich entscheiden müssen, ob diesem einen Angeklagten eine Tat mit letzter Schlüssigkeit nachgewiesen werden konnte… Düstere Würde bis zuletzt, sagt sich Gerber. Würde sogar noch dann, wenn andere Leute sich schämen müßten, mit so viel Arbeit so wenig erreicht zu haben. Im Zweifel für den Angeklagten, klar. Man bekennt, daß man glaubt, daß man nichts glauben kann. Ist die Justiz nicht eine Religion mit umgekehrten Vorzeichen? 149
Schellhorn zählt in seiner Urteilsbegründung nochmals die Indizien auf, die Bothüter belasten: die Fingerabdrücke an der Wagnerbüste, die Zigarettenreste ein paar Meter neben der Leiche, den Dienstplan, der dem Angeklagten die Möglichkeit bot, die Tat zu begehen. Außerdem ein schon deshalb klassisches Motiv, weil es so profan ist, nämlich Geldnöte… und und und… Portheine denkt, daß in der Justizgeschichte der Bundesrepublik schon Leute verurteilt worden sind, die weniger belastet waren. Sein dreistündiges Plädoyer vor drei Tagen war ein gutes Plädoyer, wie überraschend sogar der ›Hamburger Mittag‹ geschrieben hat. Und so vieles ist unter der Decke geblieben, sosehr er sich als Anwalt des Staates auch bemüht hat, es hervorzuzerren. Und dennoch, denkt er. Vielleicht ist es gut so. Wenn’s einen anderen Verlauf genommen hätte, wäre vielleicht vieles Schlimme noch schlimmer geworden… Portheine ist froh, daß ihm der Leitende Oberstaatsanwalt in einem abschließenden Gespräch gesagt hat, eine Revision würde vermutlich doch nichts bringen, und er möge verzichten. Da hätt’s schon so viel Wirbel gegeben, da solle nun nicht auch noch neuer Wirbel gemacht werden… allerdings brauche die Staatsanwaltschaft ihre ›Verzichtserklärung‹ ja nicht gleich nach der Urteilsverkündung abzugeben, hat der Behördenleiter gesagt – besser ließe man das in aller Stille einschlafen. »Wenn wir jedenfalls alles zusammenfassen«, sagte der Richter, »gibt es in der Tat sehr viele Mosaiksteine, die den Angeklagten als den Mörder seiner geschiedenen Frau auszuweisen scheinen. Wenn er trotzdem freizusprechen war, bedeutet das nicht, daß er nicht doch der Täter sein könnte…« Da steht mit einem Male Siegfried Matuschek auf. »Ich erhebe Einspruch«, sagt er laut, »Sie können doch nicht…« »Ruhe bitte!« schreit Schellhorn. »Ruhe bitte?« schreit Matuschek zurück. »Diese Untat darf nicht ungesühnt bleiben!« Dann setzt er sich wieder. »Ich werde bei einer nochmaligen Störung sofort den Saal räumen lassen!« sagt Schellhorn böse. Und fährt, rot im Gesicht, fort mit seinen Einzelheiten: »…weiterhin sind der toten Frau Bothüter, wie der Zeuge Trimmel dargelegt hat, im Verlauf des Tatgeschehens offensichtlich sechshundert Mark geraubt worden. Dazu hat das Ge150
richt die Aussage des Zeugen Westphal verlesen lassen, der wegen eines Krankenhausaufenthalts nicht zur Hauptverhandlung erscheinen konnte. Bei Westphal, einem Gastwirt, hat der Angeklagte am Abend nach der Tat gegessen, und anschließend hat er, wie Westphal bei der Polizei aussagte, die Zeche anschreiben lassen…« Wieder ist Siegfried Matuschek auf den Beinen. »In der Gaststätte Westphal hat Herr Bothüter doch sein halbes Vermögen gelassen!« Ein letztes Mal bewahrt Schellhorn die Fassung. »Der Angeklagte«, trägt er weiter vor, »hatte also offensichtlich kein Geld, und er wird hierdurch eindeutig entlastet. Es widerspräche den logischen Denkgesetzen, daß jemand eine Rechnung über achtzig Mark schuldig bleibt, wenn er sechshundert Mark in der Tasche hat…« Dann kracht’s. »Das ist doch Schwachsinn!« ruft Matuschek außer sich und springt auf. »Dieser Wirt deckt ihn doch!« »Sehr richtig!« schreien Zuschauer jenseits der Glaswand – man kann’s förmlich an ihren Gesichtern ablesen. »Bravo… wo bleibt der Rechtsstaat?« »Das ist ein schreckliches Fehlurteil, Herr Gerichtspräsident!« schreit Matuschek hysterisch. Dazwischen klopft Schellhorns Hammer im Stakkato. »Die Verhandlung ist unterbrochen!« schreit der Richter. Der Mann, der ohne sein Zutun den Tumult ausgelöst hat, hinkt an seinen Krücken die letzten Stufen zum Gerichtsflur hinauf. Dort sieht er eine erregt diskutierende Menge; um den weißhaarigen Siegfried Matuschek schart sich eine größere Gruppe von Menschen. Fotografen blitzen, und etwas abseits steht jemand, den der Mann kennt: Bobby Gerber. Der grinst und zündet sich gerade eine Zigarette an. Der Gastwirt Westphal hinkt auf ihn zu. »Tag, Herr Gerber… was ist denn hier los?« »Tag, Herr Westphal… können Sie wieder laufen?« »Sehn Sie ja… was hab ich denn da verpaßt?« »Bothüter ist freigesprochen worden«, sagt Gerber, »und Herrn Professor Matuschek hat das nicht gepaßt – deshalb hat er Putz gemacht. Zigarette?« »Danke, gern…« Er läßt sich auch Feuer geben. »Schade, ich wollt pünktlich sein, aber bis ich ’n Parkplatz hatte, und dann in meinem 151
Zustand…« Seine Stimme wird hoffnungsvoll: »Aber es geht doch noch weiter?« »Sicher«, sagt Gerber. »Sie waren gerade an dem Punkt, daß Bothüter in Ihrem geschätzten Etablissement kein Geld dabei hatte, und dann…« »…nee, nee, Geld dabei hatte er«, sagt Westphal, »das hab ich gesehen!« Gerber, der seine Zigarette austreten wollte, erstarrt in der Bewegung. »Was haben Sie gesehen?« »Genau sechs Hunderter hat er gehabt«, sagt Westphal arglos, »hat sie wie ein Kartenspiel auf den Tisch geblättert, als ich ihm die Rechnung bring, und dann mit einem Mal sagt er zu seiner Braut, ach nee, das ist besser so, und schiebt die Scheine wieder zusammen und steckt sie weg, eben wie ’n Kartenspiel, und zu mir sagt er, schreib mal an, Adolf, ich hab noch was vor… na ja, warum nicht?« »Haben Sie das denn nicht ausgesagt?« fragt Gerber verstört. »Wieso? Der Typ von der Kripo hat mich nur gefragt, ob Klaus bezahlt hat… spielt das denn ne Rolle?« Bevor Gerber antworten kann, öffnet der Justizwachtmeister die Saaltür von innen. »Bitte eintreten – die Verhandlung wird fortgesetzt!« Er sieht den gehbehinderten Mann und hilft ihm, im Gewühl einen Platz zu kriegen. Gerber bleibt wie eine Salzsäule stehen. »…der Vater der Ermordeten hat mir sein Bedauern darüber ausrichten lassen, daß er sich zu der Störung hat hinreißen lassen«, sagt Dr. Schellhorn, »dies und die besonderen Umstände seiner Situation haben mich veranlaßt, ihn von der weiteren Urteilsbegründung nicht auszuschließen…« Es gibt schon wieder eine Störung, wenn auch nur eine kleine: die Saaltür öffnet sich, und mit kreidebleichem Gesicht kommt der Reporter Gerber herein. Er geht mit rücksichtslos knallenden Absätzen zu seinem Platz in der Pressebank; Schellhorn verfolgt ihn mit den Augen, sagt jedoch nichts, obgleich es ihn deutlich Mühe kostet. »Ich fahre dann abermals fort«, sagt der Richter, als Gerber endlich sitzt, »auch frühere Tätlichkeiten des Angeklagten gegenüber seiner später ermordeten Frau sind sicherlich ein Hinweis darauf, er könne für die hier verhandelte Tat verantwortlich sein. Allerdings hat der Angeklagte aus freien Stücken daraufhingewiesen, daß er beispiels152
weise mal eine Schallplatte auf dem Kopf seiner Frau zu zerschlagen versucht hat…« Und das, sagt sich jeder, ist ja auch wieder als Entlastung zu werten! Trotzdem: wenn man das alles so hört, könnte man nach dem haarsträubenden Tonband von neulich glatt Angst kriegen, daß es einem nächstens genauso geht! sagt sich Marlies Effenberger an dieser Stelle beklommen. Wieso habe ich mir eigentlich jemals einbilden können, dieser Klaus sei der schiere Lichtmensch? Wieso hab ich geglaubt, ich sei die einzige, die sich für ihn die Haare ausreißt? Und bei aller Liebe – was mach ich, wenn er mir eines Tages gesteht, daß er doch derjenige ist, der hier zugeschlagen hat? Mit einem Mal hat sie Angst. Zum ersten Mal in dieser ganzen Affäre. Nackte Angst. Und der Trost, den sie findet, ist nur ein halber Trost: Wenn’s ernst wird, gibt’s ja immer noch Erich Schenkel. Das Fast-Geständnis Bothüters streift Schellhorn nur mit einem Satz. Die Rolle der Kronzeugin Isolde tut er mit zwei Sätzen ab: »Sie hat die Aussage verweigert. Deshalb durfte das Schwurgericht auch ihre unfreiwillig zustande gekommene Teilaussage vor der Polizei nicht verwerten, weil sie nicht rechtzeitig auf ihr Recht zur Aussageverweigerung hingewiesen worden war!« Das ›Nebenmotiv‹, Bothüter könne aus quasi ideologischer Überzeugung getötet haben, fällt jetzt ganz unter den Tisch. Und drei Sätze über den vorstellbaren ›Sexunfall‹ sind nach Gerbers Ansicht auch nicht zuviel: »Zwar hat der Gerichtsmediziner Professor Sorge mitgeteilt, es gebe zuweilen auch im Zusammenhang mit abwegigen sexuellen Betätigungen brutale Gewaltanwendungen. Aber es haben sich in der Hauptverhandlung keine weiteren Hinweise in dieser Richtung ergeben. Das Gericht hält diese Möglichkeit insofern für äußerst unwahrscheinlich!« Die üblichen Sprüche allerdings klopft Schellhorn in ganzen Salven: »Das Gericht steht unter der Pflicht, nach den Grundsätzen unseres Rechtsstaates Recht zu sprechen… es war ein kompliziertes Verfahren, dem die Dauer der Untersuchungshaft angemessen war… wenn der Angeklagte Bothüter es letztlich doch gewesen ist, wird er sein Lebtag lang mit seinem Gewissen fertig werden müssen…«
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Gerber möchte aufspringen und schreiend wie vorher Matuschek verkünden, daß hier Schwachsinn verkündet wird. Daß er es besser weiß, und daß die Wahrheit hier so entsetzlich nahegelegen hat… Statt dessen aber beißt er sich auf die Knöcheln seines linken Zeigefingers, bis er blutunterlaufen ist. Schellhorn sagt: »Wir müssen noch auf folgendes eingehen. Die psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen Professor Rohde und Frau Doktor Bause halten es, ausdrücklich in Übereinstimmung mit den schriftlichen Äußerungen des verstorbenen Herrn Professor Doktor Kemm, grundsätzlich für möglich, daß Klaus Bothüter ein Verbrechen dieser Art begangen haben kann…« Da empört sich insgeheim Kohlhäufel vom Jugendamt, dienstlich und privat ein aufrechter Demokrat, der nicht anwesend war, als Rohde sein Gutachten erstattet hatte. Wenn sie Bothüter schon freisprechen, sagt er sich, sollen sie ihm nicht durch die psychiatrische Hintertür doch noch was anzuhängen versuchen! Aber warte! frohlockt er dann, richtig mit klammheimlicher Freude. Er wird wiedergutmachen, was die Seelenklempner mies gemacht haben: Gleich nächste Woche wird er dem Familienrichter empfehlen, das Sorgerecht für Isolde Bothüter möglichst ohne Verzögerung an den Vater zu geben. Er wird den Fall ohne jede Einschränkung als Normalfall beurteilen – eben wie einen Fall, in dem ein Elternteil verstorben ist. Und als Schellhorn dann sagt, das Schwurgericht könne sich letzten Endes doch nicht mit den Ansichten der Sachverständigen einverstanden erklären, ändert das auch nichts mehr an Kohlhäufels Entschluß. Schenkel hat zuletzt überhaupt nicht mehr hingehört. Das also war’s, denkt er immer wieder – wie an jenem Sommermorgen in Lütjensee. Aber diesmal war’s endgültig und für immer. Ist er eigentlich ein Held oder ein Narr, weil er hier gekämpft hat wie ein Berserker, getreu seinem Versprechen? Tristan! denkt er plötzlich, und um ein Haar hätte er laut in den Saal geprustet. Er ist doch Tristan – er ist derjenige, der dem King die Braut, die er selbst liebt, ins Bett legt… Schenkel holt, während Schellhorn sich dem Ende nähert, seinen Kalender aus der Tasche und tut so, als mache er sich Notizen. In 154
Wirklichkeit allerdings streicht er nur den Namen und die Telefonnummer Effenberger aus und macht hinter dem Namen und der Nummer eines anderen Mädchens einen dicken Strich. Trimmel horcht nochmals auf, als Dr. Schellhorn erklärt, wie schwer es für das Gericht gewesen sei, zu seinem komplizierten, hochintelligenten Angeklagten eine Brücke zu finden. Sieh an! sagt er sich. Er hatte ja eine Brücke gefunden, und auf seiner Brücke war Klaus Bothüter bis ganz kurz vor den Zellentrakt der Lebenslänglichen gewandelt… Am Ende allerdings ist es Trimmel wahr und wahrhaftig gleichgültig, daß Bothüter gleich als freier Mann aufstehen kann. Und eins, denkt er, darf man fairerweise sicher auch nicht verschweigen: was Bothüter da über die Gurus und falschen Propheten gesagt hat – da war ja was dran! Allein dafür müßte er mildernde Umstände kriegen… ist es von daher nicht sogar sinnvoll, daß er sie gar nicht mehr nötig hat? »Abschließend möchte es das Schwurgericht allerdings nicht versäumen«, erklärt Dr. Schellhorn, »darauf hinzuweisen, daß es für den Fall einer Täterschaft von Klaus Bothüter unbedingt von einem Verbrechen aus materiellen Motiven überzeugt sein würde!« Na, Gott sei Dank! geht es Robert Gerber zynisch durch den Kopf. Bothüter aber, sieht er, scheint sich kaum noch dafür zu interessieren, obgleich es ihn doch nach wie vor am allermeisten angeht… Bothüter überlegt sich sicher schon das Angebot, für den ›Hamburger Mittag‹ eine Serie über seine bittere Zeit als Tristan-Mörder zu schreiben. Bitter vor allem deshalb, denkt Gerber, weil er ja nun mal der Tristan-Mörder ist – weil er buchstäblich bis zur letzten Folge lügen muß! Gerber hat sekundenlang einen Alptraum am hellichten Tag. Sieht sich an einer Ampel stehen, unter dem fast hypnotischen Zwang, an der nächsten Ecke rechts abzubiegen, mitten in der Hamburger Rushhour, um schnellstens zu Trimmel ins Präsidium zu fahren und ihm zu sagen, welches Licht ihm der Gastwirt Westphal aufgesteckt hat… Er wird’s nie tun, denkt er, als er wach wird. Das nicht.
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»…also war der Haftbefehl gegen den Angeklagten Bothüter aufzuheben«, kommt Schellhorns Stimme wie von fern, »die Verhandlung ist damit geschlossen…« Alles springt auf und läuft durcheinander. Marlies Effenberger zu Bothüter, und seine Kollegen auch. Bothüter schüttelt tausend Hände und wird umarmt, und der Verteidiger Erich Schenkel geht einfach weg, obgleich es doch auch die Stunde seines Triumphes ist… »Sind Sie nun zufrieden?« fragt Trimmel. Er steht mit einem Male dicht neben Gerber, der immer noch in der Pressebank sitzt – wie aus dem Boden gewachsen. Der Reporter schreckt zusammen. »Was… was sagen Sie? Ach so, ja, ja…« Er steht auf, und dann sagt er fast hoffnungsvoll: »Vielleicht gibt’s ja noch ne Revision…« »Nee, gibt keine«, sagt Trimmel, »hat mir der Staatsanwalt gesagt, brauchen Sie keine Angst zu haben… aber sagen Sie mal, wollen wir heute abend nicht zusammen essen gehen und uns wieder vertragen? Wollen wir nicht mal in diese Kneipe an der Rutschbahn gehen?« »Ach, ich weiß nicht!« sagt Gerber, und die eigene Stimme ist ihm fremd, als er plötzlich drauflos plappert. »Nie hat dieser Westphal Krebse mit Tomatensauce, früher hat er die immer gehabt. Ich hab ihn neulich auf Ehre und Gewissen gefragt, wann er nun endlich mal wieder Krebse mit Tomatensauce hat… weiß er noch nicht, hat er gesagt, der weiß doch nie was! Außerdem… ich glaub, ich hab die nächste Zeit überhaupt keine Zeit… müssen Sie bitte verstehen, Herr Trimmel… Wiedersehn…« Und weg ist er. Unten auf der Straße steht ein schlaksiges, zehnjähriges Mädchen in Jeans und mit roten Rosen. Isolde Bothüter, flankiert von Hanna Gabriel und inzwischen auch Marlies Effenberger, wartet auf ihren Vater, der sich im Treppenhaus des Gerichts immer noch lachend durch die Fotografen quält; demnächst sind sie ja wieder seine Kollegen. Also kommt erst Trimmel des Weges, bleibt im Eingang des Strafjustizgebäudes stehen und erkennt das Kind, das er nur am Mordabend gesehen hat, auf den ersten Blick. Als Bothüter erscheint, tritt Kohlhäufel zu Trimmel. »Rührend!« sagt er. »Ist das nicht rührend?« 156
»Ja«, sagt Trimmel, »ungeheuer…« Die Fotografen halten auch die Vater-Tochter-Begegnung im Bild fest. Aber irgendwas scheint da nicht ganz glatt zu laufen… Isolde gestikuliert heftig mit ihrem Vater, die Damen stehen etwas betreten daneben. Isolde dreht sich plötzlich um, die Hände auf dem Rücken verschränkt… da jedoch geht Bothüter zu ihr, nimmt sie in den Arm, und endlich schlingt auch sie die Arme um seinen Hals. »Wissen Sie was, Herr Trimmel?« sagt Kohlhäufel. »Manchmal glaub ich einfach an eine höhere Gerechtigkeit… ich bin so froh, daß es so gekommen ist… daß die Kleine jetzt endlich ihren Vater hat, ganz für sich…« »Ja, das hat sie…« sagt Trimmel. »Er hat sie allerdings auch ganz für sich!« Dann nickt er Kohlhäufel einen Gruß zu und geht davon.
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