Arkadi und Boris Strugatzki Troika
Wir saßen in der staubigen Grünanlage unter den Fenstern der Werkverwaltung im Gras...
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Arkadi und Boris Strugatzki Troika
Wir saßen in der staubigen Grünanlage unter den Fenstern der Werkverwaltung im Gras und verdauten unser Mittagessen — jeder auf seine Weise. Fedja las die »Kiteshgradskije Nowosti«, wobei er mit seinem steifen schwarzen Finger langsam die Zeilen entlangfuhr; Vitjka Kornejew brütete finstere Pläne aus; Edik Amperjan fragte, Roman Oira-Oira antwortete; ich aber nutzte die Gelegenheit, mir die Achselhöhlen zu bräunen. Uns störten weder Mücken noch Bremsen — wahrscheinlich verdauten auch sie gerade ihr Mittagessen. Unten am Steilhang trug die kühle Kitesha in ihrem kristallklaren Naß majestätisch giftig-orangefarbene Abwässer vorbei. Am anderen Ufer dehnte sich wohlig saftiges Wiesenland in der
Sonne. Über einen glatten gelben Damm kroch, weiße Dampfwölkchen ausstoßend, eine Spielzeugeisenbahn. Im blauen Dunst am Horizont schimmerte der Zackenrand des fernen Waldes. Über den grauen Türmen der Alten Festung manövrierte, in der Sonne funkelnd, eine kleine fliegende Untertasse. Die Fenster der Werkverwaltung standen offen, und man hörte, wie die Schreibmaschinen lahm und unsicher auf die energischen, ungestümen Salven der Rheinmetall-Rechenmaschinen aus der Buchhaltung antworteten. Schloß man die Augen, so konnte man sich einbilden, mitten in einem Kampfgebiet von lokaler Bedeutung zu sein. Im Souterrain der Verwaltung wummerte, einem komplizierten Rhythmus gehorchend, schwerfällig und abgehackt das Druckwerk der Tabelliermaschinen. Im Sturzflug niedergehenden Bombern gleich, heulten und kreischten im Lager die Kreissägen. Ladestreifen auf Ladestreifen schossen die Schnellfeu- er-Drucklufthämmer gegen die Bomber ab. In den Reparaturwerkstätten kurvten, drohend mit den Raupenketten rasselnd, Panzer umher, und aus den Werkhallen drang das weitreichende Krachen eines Dampfhammers. Obendrein wurden am Lagertor gerade Eisenbleche von einem Lastwagen abgeladen, was ein kräftiges militärisches Geräusch verursachte, zu dem mir jedoch kein passender Vergleich einfiel. »Was ist das da drüben für eine Ruine?« fragte Edik. »Das ist Alt-Kiteshgrad«, antwortete Roman. »Das nämliche?« »Genau. Zwölftes Jahrhundert.« »Und warum sieht man nur zwei Türme?« fragte Edik. Roman erklärte ihm, daß vor der Belagerung noch vier Türme dagestanden hätten: »Schreckgespenst«, »Kobold«, »Giftspukker« und »Schächer«. Godzilla habe die Mauer zwischen »Kobold« und »Schächer« niedergebrannt, sei in den Hof eingedrungen und so ins Hinterland der Verteidiger gelangt. Dem Vernehmen nach sei er jedoch ein Dummkopf und der zwar stärkste, aber beschränkteste aller vierköpfigen Drachen gewesen. Von Taktik habe er nichts gewußt und auch nichts wissen wollen, weshalb er sich, statt einen Turm nach dem anderen durch gezielte Schläge zu zerschmettern, auf alle vier zugleich gestürzt habe, wofür seine
Köpfe zum Glück gerade ausgereicht hätten. Die Belagerten aber seien erfahrene und selbstvergessen kämpfende Unholde gewesen, nämlich die Räuberbrüder Nachtigall Odichmantjewitsch und Frosch Odichmantjewitsch, denen sich das Flotte Einauge und der mit ihnen verbündete böse Geist Kontschar, genannt Pickel, angeschlossen hätten. Und natürlich sei Godzilla ein Opfer seiner Dummheit und Habsucht geworden. Allerdings sei es ihm anfangs gelungen, Kontschar, der an diesem Tag durch eine Virusgrippe geschwächt war, zu überwältigen, und in den »Giftspucker« sei voller Gier Godzillas Spießgeselle, der Vampir Beowulf, eingedrungen, der daraufhin übrigens sofort jegliche Kampfhandlungen eingestellt und sich dem Trunk und Raub ergeben habe. Dies sei jedoch Godzillas erster und einziger Erfolg während des ganzen Feldzugs gewesen. Nachtigall Odichmantjewitsch habe an der Schwelle des »Kobolds« wild und frohgemut um sich geschlagen und sei keinen Schritt zurückgewichen. Frosch Odichmantjewitsch habe aus jugendlichem Leichtsinn die erste Etage des »Schreckgespensts« aufgegeben, sich dann aber in der zweiten verschanzt, den Turm ins Wanken gebracht und sich zusammen mit ihm genau in dem Moment auf den ihn angreifenden Kopf gestürzt, als das listige und kaltblütige Flotte Einauge, das den Kopf an der rechten Flanke in die Salpeterkeller des »Schächers« gelockt hatte, den Turm samt Inhalt in die Luft jagte. Nachdem der ohnehin nicht sonderlich aufgeweckte Godzilla die Hälfte seiner Köpfe eingebüßt hatte, sei er, vollends übergeschnappt, Freund und Feind zermalmend, durch die Festung gerast und habe dann, wild um sich schlagend, den Rückzug angetreten. Damit sei der Kampf beendet gewesen. Dem berauschten Beowulf habe Nachtigall Odichmantjewitsch mit einem akustischen Schlag den Garaus gemacht, worauf er selbst seinen zahlreichen Brandwunden erlegen sei. Die heil davongekommenen Hexen, Waldschrate, Wassergeister, Kobolde, Schreckgespenster und Hausgeister hätten die demoralisierten Vampire, Trolle, Gnomen, Satyrn, Najaden und Dryaden niedergemetzelt und sich, führerlos geblieben, in den umliegenden Wäldern verstreut. Was den dümmlichen Godzilla angehe, so habe es ihn in einen großen,
heutigentags Kuhschlick genannten Sumpf verschlagen, in dem er bald darauf an einer Gasgangrän eingegangen sei. »Interessant«, murmelte Edik, während er hinter vorgehaltener Hand die vom Unkraut überwucherten grauen Stümpfe des »Kobolds« und des »Giftspuckers« betrachtete. »Hat man da freien Zutritt?« »Ja«, antwortete Roman. »Für fünf Kopeken.« »Schade«, meinte Edik. »Ich werd nicht dazu kommen, sie mir anzusehen.« Roman schwieg, während Vitjka Kornejew sich von seinen finsteren Gedanken losriß und Edik mitleidig ansah. »Und diese Untertasse?« fragte Edik. »Ist das eine von uns?« »Wahrscheinlich«, sagte Roman. »Da trainiert irgendein Kolonist, um nicht aus der Übung zu kommen.« »Und wo ist die Kolonie?« »Im Stadtpark, am anderen Ende der Stadt.« »Wollen wir mal hin?« schlug Edik vor. »Das hat noch Zeit«, erwiderte Roman. Edik blickte auf die Uhr. »Schon vier«, meinte er besorgt. »Wir haben bloß noch eine Stunde Zeit, aber vielleicht schaffen wir's. Bis die sich da drin ausgekaspert und alle Papiere unterschrieben haben...« »Bis die dir deine Papiere unterschreiben, du Nappsülze«, sagte der ungehobelte Vitjka, »bis die sich da drin ausgekaspert haben, kannst du noch baden gehen, dir einen Sonnenbrand holen, Ski laufen, heiraten und dich wieder scheiden lassen« (Edik sah ihn erstaunt an), »die Kolonie wird dir bis dahin zum Halse raushängen, und beim Anblick dieser blöden Ruinen wird dir kotzübel werden...« »Was hat er nur?« fragte Edik, an Roman gewandt. Roman wälzte sich wortlos auf den Rücken und schlug die Beine übereinander. Da blickte Edik mich an. Er hatte so klare und naive Augen, als wäre er nicht von dieser Welt, er stand noch so im Banne seiner Abteilung für Lineares Glück, roch noch so nach Äpfeln und nach Kinderlachen, war noch so verwöhnt durch die Freundschaft mit klugen und guten Menschen, durch Ratio und Gerechtigkeit,
durch die sterile Luft des reinen Wissens. So waren auch Roman und Vitjka vor zwei Wochen noch gewesen. »Edik«, sagte ich freundlich, »wie ich sehe, willst du heute abend noch zum Institut zurück?« »Ja«, antwortete Edik. »Wieso?« »Und du hast überhaupt keine Zeit? Alles ist vorbereitet, und du möchtest gleich morgen früh anfangen?« »Natürlich.« »Und dir brennt's so auf den Nägeln, daß du keinen Tag länger bleiben kannst, um dir wenigstens noch die Kolonie anzusehen?« »J-ja. Ich würd ja ganz gern, aber... Was ist eigentlich los?« »Und die Festung zu besichtigen?« fuhr ich fort. »Und nach Godzillas Zähnen zu suchen, die die Nachtigall Odichmantjewitsch ihm ausgeschlagen hat?« ergänzte Roman. »Und da wären noch die Mädchen«, sagte Vitjka bitter. »Oh, die Kiteshgrader Mädchen!« »Ich versteh euch nicht, Jungs«, sagte Edik und bekam vor Kränkung eine dicke Unterlippe. »Ich finde das gar nicht komisch.« »Du ahnst überhaupt noch nicht, wie wenig komisch das alles ist«, sagte Roman. »Du kommst ja nicht mal auf die Idee, uns zu fragen, warum wir hier so lange hocken - Sascha schon seit zwei Monaten, Vitjka und ich seit drei Wochen. Du bist doch nicht etwa unter die Egoisten gegangen?« »Wieso? Warum? Sascha hat hier im Werk zu tun.« »Und Vitjka und ich?« »Na... Ich weiß nicht. Aber was geht mich das eigentlich an?« »Ein Egoist«, sagte Roman traurig, als er seine schlimme Ahnung bestätigt fand. »Gucken Sie mal, Fedja. So sieht ein Egoist aus.« Fedja fuhr zusammen, warf über die Zeitung hinweg einen Blick auf Edik, nahm verlegen den Kneifer ab und rieb die Linsen an seiner Hose blank. »Meiner Meinung nach...«, murmelte er. »Nein. Ein Egoist? Das kann nicht sein. Wieso denn?« »Danke, Fedja«, sagte der höfliche Edik. »Das war ein Scherz.« Er musterte uns kritisch. »Ihr meint, hier ist ein Papierkrieg im Gange, der mich eine Weile aufhalten wird?« »Nein«, sagte ich. »Nach unserem gewöhnlichen, vielge.schmähten Papierkrieg riecht's hier leider überhaupt nicht.«
»Ein Papierkrieg!« sagte Vitjka verächtlich und spuckte durch die Zähne auf eine Butterblume. Die Butterblume ließ sofort den Kopf hängen. »Ein Papierkrieg ist im Grunde genommen was Herrliches, Edik«, sagte Roman schwelgerisch. »Da bringst du beispielsweise die ausgehende Post zur Unterschrift, der Buchhalter, dieser Schelm, aber schickt dich erst mal zum Direktor, damit er's abzeichnet. Du gehst zum Direktor, der Direktor aber hat natürlich gerade eine Sitzung. Du mußt warten, du sitzt im Ledersessel rum, schwatzt mit dem Referenten, blätterst in der Zeitung, kehrst zum Buchhalter zurück, der Buchhalter, dieser Schelm, aber ist gerade essen gegangen. Du sitzt im Ledersessel rum, schwatzt mit dem Rechnungsführer...« »Feine Kerle sind das«, sagte Vitjka. »Ein, zwei Tage, und die Sache ist geritzt.« »Und hier?« fragte Edik interessiert. »Hier, Edik«, sagte ich, »geht's anders zu. Hier handelt sich's um die TFRUUE.« »Na und? Das weiß ich doch.« »Weißt du auch, was das ist: TFRUUE?« erkundigte sich Roman. »Na klar: das ist die Troika für die Realisierung und Umverteilung unerklärter Erscheinungen.« Vitjka stimmte ein krächzendes Gelächter an. »Tja«, sagte Roman und wiegte bedenklich den Kopf. »Realisierung und Umverteilung. Was stellst du dir darunter vor?« »Darunter stelle ich mir überhaupt nichts vor. Wozu auch? Vor zwei Monaten hab ich einen Antrag gestellt. Vor einem Monat hat man mich freundlicherweise davon in Kenntnis gesetzt, daß mein Antrag registriert worden ist. Heute brauche ich ein Exponat aus der Kolonie, für unerklärte Erscheinungen, und darum bin ich hier.« »Ihr Schelme!« krähte plötzlich der Panurg. »Ihr Krauter und Buchhalter! Dabei hat das Matriarchat Vorteile! Im Zentralen Moskauer Schwimmbad hatte sich ein Bürger angewöhnt, unterzutauchen und die Schwimmerinnen an den Beinen zu ziehen, bis eine von ihnen dem Flegel einen kräftigen Fußtritt verpaßte.«
Der Panurg lachte schallend. »Sie traf ihn genau an der Kinnlade, stieg aus dem Becken und ging sich umziehen. Die Zeit verstrich, der flegelhafte Bürger aber tauchte nicht wieder auf. Später fischten sie ihn heraus.« Wieder lachte der Panurg aus vollem Halse. »Sie fischten ihn heraus, versteht ihr, aber er war schon kalt! Seine Kinnlade war zerschmettert!« Wir alle, außer Edik, wollten uns vor Lachen ausschütten — allerdings hatte ich eine Gänsehaut gekriegt, Roman war blaß geworden, und Fedjas Nackenhaar sträubte sich. Vitjka aber spuckte, wieder ernst werdend, auf die Stiefmütterchen und fragte Edik: »Verstehst du?« »Nicht ganz«, sagte Edik, während er zusah, wie der Panurg sich mit der Narrenkappe die Augen wischte. »Findest du das nicht komisch?« fragte Vitjka. »Wenn ich ehrlich sein soll, nein«, antwortete Edik. »Macht nichts, daran gewöhnst du dich«, versprach Vitjka. »Zeit hast du ja jetzt genug.« »Ja«, sagte Roman. »Zeit hast du jetzt. Noch nie in deinem Leben hast du so viel Zeit gehabt. Ich will dir auch erklären, warum. Die TFRUUE, Edik, ist nicht die Troika für Realisierung und Umverteilung, sondern die Troika für Rationalisierung und Utilisierung.« »Na und?« fragte Edik. »Er glaubt, die TFRUUE ist so was wie ein Lagerverwalter«, sagte Roman mitleidig, an Vitjka und mich gewandt. »Er glaubt, er braucht bloß einen Schein vorzulegen, und schon kriegt er alles, was er will. Was ist die TFRUUE?« fragte er. Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Die TFRUUE ist ein maßgebliches administratives Organ, das seine Funktionen strikt und unverdrossen erfüllt und niemals anderen administrativen Organen ins Handwerk pfuscht.« »Verstehst du?« sagte Vitjka zu Edik. »Ein Lagerverwalter ist ein Lagerverwalter, die TFRUUE aber ist die TFRUUE.« »Na, hört mal...«, setzte Edik an, Roman aber fuhr fort: »Was ist Rationalisierung?«
»Rationalisierung«, antwortete Vitjka finster, »ist die Riesensauerei, bei der etwas Unerklärtes von maßgeblichen Hohlköpfen auf das Niveau des Alltäglichen gehoben oder runtergezerrt wird.« »Na, hört mal...«, entgegnete Edik verwirrt. »Und was ist Utilisierung?« fragte Roman. »Utilisierung«, sagte ich zu Edik, »ist die Anerkennung beziehungsweise kategorische Nichtanerkennung des Existenzrechts einer rationalisierten Erscheinung in unserer vergänglichen realen Welt.« Wieder wollte Edik etwas sagen, aber Roman kam ihm zuvor: »Können die Entscheidungen der Troikas angefochten werden?« »Jawohl, das können sie«, sagte ich. »Aber das führt zu nichts.« »Du fliegst voll auf die Schnauze«, erläuterte Vitjka. Edik schwieg. Der Ausdruck entschlossener Bereitschaft zu noblem Protest wich langsam aus seinem Gesicht. »Sind die Empfehlungen und Wünsche interessierter Personen für die Troika maßgeblich?« fragte Roman im Ton eines Provinzadvokaten. »Nein«, sagte ich. »Allerdings werden sie geprüft. In der Reihenfolge ihres Eingangs.« »Was ist eine interessierte...«, setzte Roman an, aber Edik unterbrach ihn. »Etwa ein STEMPEL?« fragte er entsetzt. »Ja«, antwortete Roman. »Leider.« »Ein großer?« »Ein sehr großer«, sagte Roman. »So einer ist dir noch nicht untergekommen«, fügte Vitjka hinzu. »Ein runder?« »Ein säuisch runder«, sagte Roman. »Die Chancen sind gleich Null.« »Na, hört mal...«, murmelte Edik, sichtlich um Fassung bemüht. » Könnten wir... Könnten wir nicht eine Quadratur vornehmen? Vielleicht mit Hilfe der Kiwrin-Oppenheimer-Transforma- tion?« Roman schüttelte den Kopf. »Die Shemaitis-Determinante ist gleich Null.« »Du meinst nahe Null?«
Vitjka brach in ein unangenehmes Wiehern aus. »Daraufwären wir ohne dich nie gekommen«, sagte er. »Gleich Null, Kollege Amperjan! Gleich Null!« »Die Shemaitis-Determinante ist gleich Null«, wiederholte Roman. »Die Dichte des administrativen Feldes ist in jedem zugänglichen Punkt größer als die Zahl Odins und die administrative ResiStenz absolut, so daß sämtliche Bedingungen des Theorems von der legalen Einwirkung gegeben sind...« »Und wir alle tief im Schlamassel stecken«, schloß Vitjka. Edik war völlig erledigt. Seine Beine zuckten zwar noch, seine Fühler bebten, und die Flügeldecken hoben sich, aber das waren reine Reflexe. Er klappte ein paarmal den Mund auf und zu, griff sich dann ein prächtiges Notizbuch mit der Aufschrift »Dem Delegierten der städtischen Gewerkschaftskonferenz« aus der Luft und begann hektisch zu kritzeln, wobei er immer wieder die Mine abbrach und sie ungeduldig wieder nachstellte. Dann löste er den Bürobedarf wieder in der Luft auf, kaute ohne besonderen Appetit auf seinen Fingern und starrte geistesabwesend auf die friedliche Landschaft hinter dem Fluß. Alle schwiegen. Roman lag, die Beine übereinandergeschlagen, auf dem Rücken und schien zu schlafen. Vitjka, der sich von neuem in die Flut seiner finsteren Gedanken vertieft hatte, schniefte geräuschvoll und spuckte Gift und Galle in die Natur. Ich konnte diesen herzzerreißenden Anblick nicht länger ertragen, wandte mich ab und sah Fedja beim Lesen zu. Fedja war ein sanftes, gutmütiges, taktvolles Geschöpf und obendrein sehr hartnäckig. Das Lesen bereitete ihm große Mühe. Jeder andere hätte eine so aufreibende Sache längst aufgegeben und sich für unbegabt und untauglich erklärt. Fedja aber war aus anderem Holz geschnitzt. Er biß auf Granit, ohne seine Zähne oder den Stein zu schonen. Langsam fuhr er mit dem Finger über die Zeilen, hielt sich besonders lange bei den Zischlauten und beim Weichheitszeichen auf, ächzte vor Anstrengung, bewegte gewissenhaft die großen grauen Lippen, die lang und biegsam waren wie bei einem Schimpansen, und hielt, wenn er auf ein Semikolon stieß, bestürzt inne, legte die Stirn in Falten, und seine abstehenden großen Zehen zuckten krampfhaft. Während ich ihm
so zusah, kam er zu dem Wort »Desoxyribonukleinsäure«, versuchte es zweimal in einem Anlauf zu nehmen, was ihm aber nicht glückte, las es dann Silbe für Silbe, verhaspelte sich, begann zu buchstabieren, kriegte das Zittern und sah schüchtern zu mir herüber. Der Kneifer saß merkwürdig schief auf seinem breiten Nasenrücken. »Desoxyribonuklein«, sagte ich. »Das ist eine Säure. Die Desoxyribonukleinsäure.« Er lächelte kläglich und rückte den Kneifer zurecht. »Eine Säure«, wiederholte er atemlos. »Und warum heißt sie so?« »Anders kann man sie nicht bezeichnen«, sagte ich mitleidig. »Höchstens noch mit einer Abkürzung: L)NS. Lassen Sie das einfach aus, Fedja, und lesen Sie weiter.« »Ja, ja«, sagte er. »Ich werd's lieber auslassen.« Er las weiter, und ich sah ihm zu und dachte an die ungeheure Macht, die der GROSSE RUNDE STEMPEL haben mußte, wenn seine Berührung mit einem Fetzen Papier genügte, um diesen freiheitsliebenden Schneemenschen, diesen gutmütigen, taktvollen Herrscher über unerreichbare Gipfel für immer zu versklaven und in ein simples Ausstellungsstück, in ein Anschauungsmittel für populärwissenschaftliche Vorträge über die Grundlagen des Darwinismus zu verwandeln. Dann hörte ich ein leises Quaken und drehte mich um. Auch Kusma war natürlich zur Stelle. Er hockte auf dem Dach der Werkverwaltung und äugte scheu zu uns herüber. Ich winkte ihm zu und lockte ihn mit dem Finger. Wie immer wurde er furchtbar verlegen und wich ein Stück zurück. Ich klopfte einladend auf das Gras neben mir. Das brachte Kusma vollends aus der Fassung, und er versteckte sich hinter einem Abzugsrohr. Vitjka bellte plötzlich: »Man sollte zuschnappen und abhauen. Die können mich alle mal... Ein STEMPEL, na und?, 's wär' doch nicht das erste Mal.« »In unserer Situation kommt's darauf an, die Ruhe zu bewahren«, sagte Roman, ohne die Augen zu öffnen. »Was wir brauchen, ist Ausdauer und Kaltblütigkeit. Wir müssen nach neuen Wegen suchen.«
»In unserer Situation kommt's darauf an, rechtzeitig abzuschwirren«, widersprach Vitjka. »Und zwar mit einer Beute im Schnabel.« »Nein, bloß nicht.« Edik fuhr erschrocken auf. »Nein! In unserer Situation kommt's darauf an, nichts zu tun, dessen wir uns später schämen müßten.« Ich blickte auf die Uhr. »In unserer Situation kommt's darauf an, nicht die Eröffnung der Sitzung zu verpassen. Lawr Fedoto- witsch sieht sehr auf Pünktlichkeit.« Wir standen auf. Auch Fedja erhob sich aus Höflichkeit. Als wir die Grünanlage verließen, wandte ich mich noch einmal um. Fedja las schon wieder. Neben ihm hockte Kusma und kaute auf der Narrenkappe, die der Panurg mal wieder liegengelassen hatte. Punkt fünf überschritten wir die Schwelle des Sitzungssaals. Wie immer war außer dem Kommandanten der Kolonie noch keiner da. Der Kommandant saß an seinem Tischchen, hatte eine Akte aufgeschlagen vor sich liegen und konnte vor Ungeduld kaum noch stillsitzen. Der Mann hatte die Augen einer antiken Statue, seine Lippen aber bewegten sich unaufhörlich, als halte er im stillen ein leidenschaftliches Plädoyer. Von uns nahm er keine Notiz, und wir setzten uns leise auf die Stühle an der Wand, unter das Schild »Vertreter«. Roman holte seine Nagelfeile hervor, Vitjka versenkte die Hände in den Taschen und streckte die Beine in die Mitte des Raumes. Edik nahm eine weltmännische Pose ein und sah sich unauffällig nach allen Seiten um. Gleichmütig schweifte sein Blick über den Demonstrationstisch am Eingang und das kleine Tischchen mit dem Schild »Wissenschaftlicher Berater«, verweilte mit einiger Besorgnis auf dem riesigen, mit grünem Tuch bespannten Tisch für die Troika und blieb dann beunruhigt an dem in seine Arbeit vertieften und hinter dem Aktenberg fast verschwindenden Kommandanten hängen. Beim Anblick des monströsen braunen Panzerschranks, der in der Ecke hinter dem Kommandanten düster aufragte, geriet Edik zum erstenmal in Panik, und als er den Blick hob und an der Wand die riesige Losung auf rotem Kattun entdeckte: »Das Volk braucht keine ungesunden Sensationen, das Volk braucht gesunde Sensationen!«, wurde er blaß, und ich begriff: Edik ist fix und fertig.
Just in dem Moment schien dem Kommandanten aufzugehen, daß sich etwas noch ganz und gar Unkontrolliertes im Raum befand. Er schrak zusammen, witterte mit seiner großen Nase und erblickte Edik. »Ein Unbefugter!« sagte er in seltsamem Ton. Edik stand auf und verbeugte sich. Der Kommandant schob sich, ohne ihn aus den Augen zu lassen, hinter dem Tisch hervor, kam mit schleichenden Schritten näher, blieb dicht vor Edik stehen und streckte die Hand vor. Edik schüttelte ihm die Hand und stellte sich vor: »Amperjan.« Dann trat er einen Schritt zurück und verbeugte sich noch einmal. Der Kommandant war so erschüttert, daß er eine Weile wie vom Donner gerührt dastand. Dann hob er die Hand vors Gesicht und betrachtete sie ungläubig. Anschlie ßend suchte er, als hätte er etwas verloren, mit den Blicken den Fußboden ab. »Grüß dich, Subo«, sagte der ungehobelte Vitjka. »Edik, das ist Subo. Gib ihm schon deine Papiere, sonst trifft ihn noch der Schlag.« Damit kam Vitjka der Wahrheit ziemlich nahe. Mit einem krampfhaften Lächeln auf den Lippen sah sich der Kommandant nach wie vor fieberhaft um. Edik wies sich hastig aus, und der Kommandant kam zu sich. Seine Bewegungen wurden wieder sinnvoll. Erst verschlang er mit den Augen das Foto im Ausweis und anschließend Edik selbst. Die unübersehbare Ähnlichkeit zwischen Foto und Original versetzte ihn in Begeisterung. »Sehr angenehm!« rief er. »Mein Name ist Subo. Ich bin der Kommandant. Sozusagen ein Vertreter der städtischen Administration. Setzen Sie sich, Kollege Amperjan, machen Sie's sich bequem, wir werden noch eine Weile das Vergnügen miteinander haben.« Plötzlich verstummte er und sprintete zu seinem Platz zurück. Es wurde auch höchste Zeit. Aus dem Vorzimmer hörte man Schritte, Stimmen und Gehüstel, die Tür wurde gebieterisch aufgestoßen, und den Raum betrat die Troika in voller Besetzung zu viert - nebst dem wissenschaftlichen Berater Professor Wybegallo. Lawr Fedotowitsch Wunjukow begab sich, ohne jemand eines Blickes zu würdigen, zum Platz des Vorsitzenden,
ließ sich dort nieder, stellte eine wuchtige Aktentasche vor sich hin, ließ die Schlösser schnappen und baute ein paar für einen erfolgreichen Vorsitz unentbehrliche Dinge auf dem grünen Tuch auf: eine krokodilslederne Schreibmappe für Leitungskader, einen Satz Kugelschreiber in einem Saffianetui, eine Schachtel Herzegowina, ein Feuerzeug in Form eines Triumphbogens und ein Prismentheaterglas. Der Oberst der motorisierten Kavallerie ließ sich, mit seinen Medaillen klimpernd, an Lawr Fedotowitschs rechter Seite nieder, zog die grauen Brauen hoch und schlief, einen Ausdruck grenzenloser Verwunderung und Mißbilligung im Gesicht, friedlich ein. Rudolf Archipowitsch Chlebowwodow, der in den letzten drei Stunden noch gelber und dürrer geworden war, setzte sich neben Lawr Fedotowitsch und fing sofort an, ihm etwas ins Ohr zu flüstern, wobei seine entzündeten Augen mit den gelblichen Augäpfeln ziellos durch die Zimmerecken huschten. Farfurkis nahm wie gewöhnlich nicht am Tisch Platz. Er ließ sich demokratisch auf einem ungepolsterten Stuhl gegenüber dem Kommandanten nieder, holte ein dickes Notizbuch mit morschem Einband hervor und machte sich einen Vermerk. Auf uns schienen die Mitglieder der Troika überhaupt nicht zu achten. Ganz anders der wissenschaftliche Berater Professor Wybegallo. Er musterte uns gleichgültig, runzelte die Brauen, blickte kurz zur Decke hoch, als versuche er sich zu erinnern, wo er uns schon einmal gesehen haben könnte, setzte sich, wobei offenblieb, ob er sich nun erinnert hatte oder nicht, an sein Tischchen und waltete emsig seines verantwortungsvollen Amtes. Vor ihm tauchte der erste Band der »Kleinen Enzyklopädie« auf, ihm folgten der zweite, der dritte, der vierte Band... »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor und musterte die Anwesenden mit einem Blick, dem nichts verborgen blieb. Alle waren bereit: der Oberst schlief, Chlebowwodow flüsterte, Farfurkis machte einen zweiten Vermerk, der Kommandant blätterte wie ein Schüler vor der Leistungskontrolle krampfhaft in einer Akte, während Wybegallo den sechsten Band auspackte. Was die Vertreter, das heißt uns, angeht, so hatten wir hier nichts zu mel-
den. Ich warf einen Blick zu Edik hinüber und wandte mich rasch wieder ab. Edik stand kurz vor der völligen Demoralisierung — Wybegallos Erscheinen hatte ihm den Rest gegeben. »Hiermit erkläre ich die Abendsitzung der Troika für eröffnet«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Der nächste Vorgang! Tragen Sie vor, Kollege Subo.« Der Kommandant sprang auf und setzte, eine aufgeschlagene Akte vor sich, mit hoher Stimme an: »Edelweiß Sacharowitsch Maschkin...« Der wachsame Farfurkis unterbrach ihn jedoch sofort. »Ich protestiere!« rief er, an Lawr Fedotowitsch gewandt. »Wo bleibt die laufende Nummer des Vorgangs? Warum werden die einzelnen Punkte nicht benannt?« Lawr Fedotowitsch drehte den Kopf zur Seite und sah den Kommandanten eine Zeitlang an. »Eine zutreffende Verallgemeinerung«, stieß er schließlich hervor. »Benennen Sie die einzelnen Punkte, Kollege Subo.« Der Kommandant fuhr sich mit der trockenen Zunge über die trockenen Lippen und fing noch einmal, nun bereits mit tiefer, gleichsam belegter Stimme, von vorn an: »Vorgang Nummer zweiundvierzig. Familienname: Maschkin. Vorname: Edelweiß. Vatersname: Sacharowitsch...« »Seit wann heißt der denn Maschkin?« fragte Chlebowwodow unwirsch. »Babkin heißt er und nicht Maschkin. Edelweiß Petrowitsch Babkin. 1947 hab ich mit ihm im Molkereikomitee zusammengearbeitet. Edik Babkin, so ein Stämmiger, der für sein Leben gern Sahne aß. Übrigens hieß er auch nicht Edelweiß, sondern Eduard. Eduard Petrowitsch Babkin.« l.awr Fedotowitsch wandte ihm langsam das steinerne Gesicht zu. »Babkin?« stieß er hervor. »Erinnere mich nicht. Fahren Sie fort, Kollege Subo.« »Vatersname: Sacharowitsch«, wiederholte der Kommandant. Sein Mundwinkel zuckte. »Geburtsjahr und -ort: 1901, Smolensk. Nationalität...« »E-dul-weiß oder E-del-weiß?« fragte Farfurkis. »Edelweiß«, sagte der Kommandant. »Nationalität: Belorussisch. Schulbildung: unvollendete Mittelschulbildung, unvollendete
Fachschulbildung. Fremdsprachenkenntnisse: Russisch perfekt, Ukrainisch und Belorussisch mit Wörterbuch. Gegenwärtige Arbeitsstelle...« Plötzlich schlug sich Chlebowwodow vor die Stirn, daß es krachte. »Ach nein!« schrie er. »Der ist ja tot!« »Wer ist tot?« fragte Lawr Fedotowitsch mit hölzerner Stimme. »Na, dieser Babkin! Jetzt weiß ich's wieder, als wär's erst gestern gewesen: 1956 ist er an einem Herzinfarkt gestorben. Damals war er Finanzchef der Allrussischen Gesellschaft für Naturforscher. Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich hin und gab den Geist auf. Also stimmt hier was nicht.« Lawr Fedotowitsch nahm das Theaterglas und musterte den Kommandanten, dem es die Sprache verschlagen hatte. »Ist der Fakt seines Todes bei Ihnen vermerkt?« erkundigte er sich nach einer Weile. »Jesus Christus«, murmelte der Kommandant. »Was für ein Fakt? Warurh soll er tot sein? Er ist quietschfidel und wartet draußen im Vorzimmer.« »Einen Augenblick.« Farfurkis schaltete sich ein. »Sie gestatten, Lawr Fedotowitsch? Kollege Subo, wer wartet draußen im Vorzimmer? Aber exakt: Familienname, Vorname, Vatersname.« »Na, Babkin«, sagte der Kommandant verzweifelt. »Das heißt, Moment mal, was rede ich da? Nicht Babkin, sondern Maschkin! Maschkin wartet draußen. Edelweiß Sacharowitsch Maschkin.« »Verstehe«, sagte Farfurkis. »Und wo ist Babkin?« »Babkin ist tot«, sagte Chlebowwodow resolut. »Soviel steht fest. Und zwar seit 1956. Er hatte allerdings einen Sohn. Paschka hieß er, glaub ich. Pawel Eduardowitsch also. Den hab ich vor kurzem mal getroffen. Er leitet jetzt ein Geschäft für Textilflicken in Golizyno, was bei Moskau liegt. Ein ganz brauchbarer Mann, nur heißt er, glaub ich, doch nicht Paschka, also nicht Pawel...« Ich füllte ein Glas mit Wasser und reichte es dem Kommandanten. In der eingetretenen Stille hörte man jeden Schluck. Lawr Fedotowitsch knetete eine Papirossa und blies hinein. »Nichts ist vergessen«, stieß er hervor. »Und das ist gut. Kollege Farfurkis, nehmen Sie bitte ins Protokoll auf, und zwar in den konstatierenden Teil, daß die Troika es für angezeigt hält,
Maßnahmen zur Auffindung von Eduard Petrowitsch Babkins Sohn zwecks Klärung seines Vornamens einzuleiten. Das Volk braucht keine namenlosen Helden. Namenlose Helden gibt es bei uns nicht.« Farfurkis nickte und kritzelte rasch etwas in sein Notizbuch. »Haben Sie sich nun satt getrunken?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch, während er den Kommandanten durchs Theaterglas betrachtete. »Dann tragen Sie weiter vor.« »Gegenwärtige Arbeitsstelle und Beruf: Rentner und Erfinder«, las der Kommandant mit unsicherer Stimme. »Aufenthalte im Ausland: keine. Kurz umrissenes Wesen des Unerklärten: eine heuristische Maschine, das heißt eine mechanisch-elektronische Vorrichtung zur Lösung von ingenieurtechnischen, wissenschaftlichen, soziologischen und sonstigen Problemen. Nächste Angehörige: Vollwaise, keine Geschwister. Ständige Wohnanschrift: Nowosibirsk, Stschukinskajastraße 2.3, Wohnung 88. Das ist alles.« »Alles?« fragte Lawr Fedotowitsch. »Wirklich alles?« erkundigte sich Farfurkis sarkastisch. »Alles!« sagte der Kommandant entschieden und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel trocken. »Gibt es Vorschläge?« fragte Lawr Fedotowitsch und senkte die schweren Lider. »Aufsitzen!« brüllte da plötzlich der Oberst im Schlaf. »Lanzen vor! Motoren an! Im Trab, marsch, marsch!« Das gefiel uns allen sehr, und selbst der kreidebleiche Edik kam ein wenig zu sich. Außer uns aber achtete niemand auf den Oberst. »Ich würde vorschlagen, ihn reinzuholen«, sagte Chlebowwodow. »Warum schlage ich das vor? Vielleicht ist's der Paschka?« »Gibt es andere Vorschläge?« fragte Lawr Fedotowitsch. Er scharrte auf der Suche nach einem Knopf auf dem Tisch herum, fand aber keinen und sagte zum Kommandanten: »Der Vorgang soll reinkommen, Kollege Subo.« Der Kommandant stürzte Hals über Kopf zur Tür, steckte den Kopf hinaus und wich rückwärts zu seinem Platz zurück. Unter der Bürde eines riesigen schwarzen Kastens folgte ihm mit Schlag-
seite ein hagerer alter Mann, der ein Tolstoi-Hemd und eine militärische Stiefelhose mit orangenfarbener Paspel trug. Auf seinem Weg zum Tisch versuchte er mehrmals anzuhalten und sich würdevoll zu verneigen, aber der Kasten, der eine ungeheure träge Masse haben mußte, zog ihn unerbittlich vorwärts, und wenn Roman und ich den alten Mann nicht einen halben Meter vor dem schon ins Zittern geratenen Farfurkis zum Stehen gebracht hätten, wäre die Sache möglicherweise nicht ohne Opfer abgegangen. Den alten Mann kannte ich — er war wiederholt in unserem und auch in vielen anderen Instituten aufgekreuzt, und einmal hatte ich ihn sogar im Vorzimmer des stellvertretenden Ministers für Schwermaschinenbau gesehen, wo er geduldig, adrett und voller Enthusiasmus als erster in der Reihe der Wartenden saß. Dies war ein völlig harmloser alter Mann, der sich jedoch ein Leben außerhalb des wissenschaftlich-technischen Schaffens leider nicht vorstellen konnte. Ich nahm ihm den schweren Kasten ab und stellte seine Erfindung auf den Demonstrationstisch. Der endlich von seiner Last befreite alte Mann verbeugte sich und sagte mit zittriger Stimme: »Habe die Ehre: Maschkin, Edelweiß Sacharowitsch, Erfinder.« »Das ist er nicht«, murmelte Chlebowwodow halblaut. »Keine Ähnlichkeit. Das ist bestimmt ein ganz anderer Babkin. Wahrscheinlich ein Namensvetter.« »Ja, ja«, stimmte der alte Mann lächelnd zu. »Ich stelle mich dem Urteil der Öffentlichkeit. Hier, der Kollege Professor — Gott schenke ihm Gesundheit - befürwortet meine Erfindung. Ich bin bereit, sie Ihnen, falls der Wunsch besteht, vorzuführen, denn allmählich wird's mir peinlich, von meinem Gastrecht in Ihrer Kolonie so lange Gebrauch zu machen.« Lawr Fedotowitsch, der ihn aufmerksam gemustert hatte, legte das Theaterglas beiseite und senkte langsam den Kopf. Der alte Mann hastete geschäftig hin und her. Er nahm den Deckel von dem Kasten, unter dem ein Ungetüm von einer alten Schreibmaschine zum Vorschein kam, holte ein zusammengerolltes Kabel aus der Tasche, steckte das eine Ende in die Maschine, sah sich auf der Suche nach einer Steckdose um, wickelte, als er endlich
eine entdeckt hatte, das Kabel auseinander und schob den Stecker in die Dose. »Dies ist, wenn Sie herzusehen belieben, eine sogenannte heuristische Maschine«, sagte der alte Mann. »Ein präzise arbeitendes mechanisch-elektronisches Gerät zur Beantwortung beliebiger Fragen wissenschaftlicher und ökonomischer Art. Wie arbeitet nun diese Maschine? Da ich nicht über die nötigen Mittel verfüge und bei allen möglichen Bürokraten abgeblitzt bin, ist sie noch nicht restlos automatisiert. Die Fragen werden mündlich gestellt, ich tippe sie auf der Maschine und gebe sie damit nach dadrinne weiter, bring sie ihr sozusagen zu Bewußtsein. Und auch ihre Antworten werden - wiederum wegen der unvollständigen Automatisierung — von mir getippt. Ich bin hier gewissermaßen so was wie ein Mittler, hähä! Also, bittschön, wenn's beliebt.« Er trat hinter seine Maschine und betätigte mit großartiger Geste einen Kippschalter. Im Innern der Maschine leuchtete ein Lämpchen auf. »Bittschön«, wiederholte der alte Mann. »Was ist das da für ein Lämpchen?« fragte Farfurkis mißtrauisch. Der alte Mann hämmerte auf die Tisten, riß das Blatt mit einem Ruck aus der Maschine und trabte damit zu Farfurkis. Farfurkis las vor: »Frage: Was ist das dadrinne... äh... für ein lmp? El- em-pe... Ka-pe-em wahrscheinlich? Was soll das sein: el-em-pe?« »Lmp heißt Lämpchen«, sagte der alte Mann kichernd und rieb sich die Hände. »Wir verschlüsselnd halt ein bißchen.« Er riß Farfurkis das Blatt aus der Hand und zuckelte zu seiner Maschine zurück. »Das war also die Frage«, sagte er, während er den Bogen einspannte. »Und jetzt gucken wir mal, was sie antwortet.« Die Mitglieder der Troika sahen ihm neugierig zu. Professor Wybegallo strahlte in väterlichem Wohlwollen und klaubte mit eleganten, geschmeidigen Bewegungen ein paar Krümel aus seinem Bart. Edik saß in stiller, nun schon völlig bewußt gewordener Verzweiflung da. Der alte Mann hieb unterdessen munter auf die Tasten und riß dann das Blatt heraus. »Hier ist nun, wenn's beliebt, die Antwort.« Farfurkis las vor: »Dadrinne... hm... ist ein Licht. Hm. Was für ein Licht?«
»Eine Sekunde!« rief der Erfinder, riß ihm das Blatt aus der Hand und trabte wieder zu seiner Maschine zurück. Und nun ging's los. Die Maschine gab eine unwissenschaftliche Erklärung des Begriffs Leuchtstofflampe, dann antwortete sie Farfurkis, daß sie das Wort dadrinne entsprechend den Regeln der Grammatik schreibe, und dann... FARFURKIS Welcher Grammatik? MASCHINE Na, der unsrigen Grmtk. CHLEBOWWODOW Kennen Sie Eduard Petrowitsch Babkin? MASCHINE Nein. LAWR FEDOTOWITSCH Chrrrm... Gibt es Vorschläge? MASCHINE Mich als wissenschaftlichen Fakt anzuerkennen. Der alte Mann tippte und flitzte wie aufgezogen hin und her. Der Kommandant kippelte vor Begeisterung mit seinem Stuhl und zeigte mir den Daumen. Vitjka, der sich auf seinen Platz gelümmelt hatte, wieherte wie im Zirkus. CHLEBOWWODOW gereizt So kann ich nicht arbeiten. Was pendelt er immer hin und her wie ein Blech im Wind? MASCHINE Weil er sich dazuhält. CHLEBOWWODOW Verschonen Sie mich mit Ihrem Geschreibsel! Ich hab Sie nichts gefragt, können Sie das begreifen oder nicht? MASCHINE Jawohl, das kann ich. Der Troika ging allmählich auf, daß sie sich aller weiteren Fragen, auch der rhetorischen, enthalten mußte, wenn sie die heutige Sitzung noch einmal zu Ende bringen wollte. Stille trat ein. Rechtschaffen müde, setzte sich der alte Mann auf eine Sesselkante und wischte sich, hastig durch den halboffenen Mund atmend, mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht. Wybegallo blickte stolz in die Runde. »Ich habe einen Vorschlag«, sagte Farfurkis, jedes Wort sorgsam abwägend. »Der wissenschaftliche Berater soll ein Gutachten erstellen und uns seine Meinung darlegen.« Lawr Fedotowitsch blickte Wybegallo an und senkte majestätisch das Haupt. Wybegallo stand auf. Wybegallo fletschte liebenswürdig die Zähne. Wybegallo preßte die Rechte ans Herz. Wybegallo ergriff das Wort. »Tjä...«, sagte er. »Das könnte mißverstanden werden, Lawr Fedotowitsch. Schließlich je suis un Befürworter von ce noble vieux1. Das könnte Anlaß zu Gerede geben. Tjä... Vetternwirt-
schaft, protection, könnte es heißen. Dabei ist die Sache doch klar, der Vorteil liegt auf der Hand, die Rationalisierung ist schon... tjä... im Verlauf des Experiments erfolgt. Ich möchte ein so gutes Vorhaben nicht gefährden und die Initiative des Volkes nicht erstikken. Was wäre besser? Besser wäre es, wenn eine nichtinteressierte Person... tjä... ein Unbeteiligter ein Gutachten erstellte. Unter den hier anwesenden Vertretern sehe ich den Kollegen Alexander Iwa- nowitsch Priwalow.« (Ich fuhr zusammen.) »Ein Kollege, der sich mit elektronischen Maschinen auskennt. Und eine nichtinteressierte Person. Soll er das tun. Ich glaube, das wäre optimal.« Lawr Fedotowitsch nahm sein Theaterglas und musterte uns alle der Reihe nach. Ich geriet in Verlegenheit. Vitjka wieherte so, daß es schon unanständig war. Roman stieß mich mit dem Ellbogen an, und Edik flüsterte flehentlich: »Los, Sascha! Gib's ihnen! So eine Gelegenheit kommt nicht wieder!« »Es gibt den Vorschlag«, sagte Farfurkis, »den Kollegen Vertreter zu bitten, die Arbeit der Troika zu unterstützen.« Lawr Fedotowitsch legte das Theaterglas beiseite und erteilte seine Zustimmung. Nun richteten sich alle Blicke auf mich. Wäre nicht der alte Mann gewesen, hätte ich mich natürlich nie im Leben auf so was eingelassen. Aber ce noble vieux plinkerte so kläglich mit seinen roten Lidern, und seine ganze Gestalt versprach mir so eindringlich, daß er sein Leben lang für mich beten würde, daß ich nicht anders konnte. Ich stand auf und trat an die Maschine. Der alte Mann strahlte mich an. Vitjka scharrte vor Begeisterung mit den Füßen. Ich sah mir das Aggregat von allen Seiten an und sagte: » Na schön. Es handelt sich um eine relativ gut erhaltene Re- mington-Schreibmaschine, Modell 1906, mit einem sauberen vorrevolutionären Schriftbild.« Ich fing einen flehenden Blick des alten Mannes auf und ließ seufzend den Kippschalter klicken. »Mit einem Wort: Vorliegende Schreibkonstruktion enthält leider nichts Neues, sondern nur etwas sehr Altes...« »Dadrinne!« flüsterte der alte Mann. »Dadrinne hat's einen Analysator und einen Denker...« »Einen Analysator...«, sagte ich. »Einen Analysator gibt's hier nicht. Dafür einen serienmäßig gefertigten, ebenfalls alten Gleich-
i Wybegallo weist in seinem miserablen Französisch darauf hin, daß er die Erfindung »dieses ehrenwerten alten Mannes« befürwortet hat. richter. Und eine gewöhnliche Leuchtstofflampe. Einen Kippschalter. Einen guten, nagelneuen Kippschalter. Tja. Außerdem ist da noch ein Kabel. Ein sehr gutes, völlig neues Kabel. Das ist, glaube ich, alles.« »Und Ihre Schlußfolgerung?« erkundigte sich Farfurkis lebhaft. Edik nickte mir ermunternd zu, während Vitjka und Roman mir mit vereinten Kräften zeigten, wie man einen rechten Kinnhaken anbringt. Ich gab ihnen zu verstehen, daß ich mein Bestes tun würde. »Meine Schlußfolgerung...«, sagte ich. »Beschriebene Remington-Schreibmaschine, gekoppelt mit einem Gleichrichter, einer Leuchtstofflampe, einem Kippschalter und einem Kabel, enthält absolut nichts Unerklärtes.« »Und ich?« schrie der alte Mann. Roman und Vitjka zeigten mir einen Linkshaken, aber ich brachte es nicht übers Herz. »Nun, natürlich...«, murmelte ich. »Da steckt viel Arbeit drin.« (Edik griff sich an den Kopf.) »Man merkt natürlich die gute Absicht...« (Roman musterte mich verächtlich.) »Ja wirklich«, sagte ich, »der Mann hat sich redliche Mühe gegeben. So geht's ja nun auch nicht.« (»Kretin«, stieß Vitjka unüberhörbar hervor. »Godzilla!«) »Nein... Warum auch nicht? Magder Mann dran arbeiten, wenn's ihm Freude macht. Ich meine nur, daß an der Maschine nichts Unerklärtes ist. Ansonsten ist die Sache gar nicht so ohne...« »Gibt es Fragen an den kommissarischen Geschäftsführenden des wissenschaftlichen Beraters?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch. Als der alte Mann den fragenden Unterton hörte, sprang er auf und wollte zu seiner Maschine laufen, aber ich faßte ihn um die Taille und hielt ihn zurück. »Ja, ja«, sagte. Farfurkis. »Halten Sie ihn fest, wirklich, sonst kommen wir nicht weiter. Schließlich ist das hier keine Quizsendung.«
»Richtig!« stimmte Chlebowwodow zu, während der alte Mann wild um sich schlug und sich meinem Griff zu entwinden suchte, so daß ich mir fast wie ein Gendarm vorkam. »Und überhaupt könnten Sie sie einstweilen abschalten, sie braucht nicht alles mitzuhören.« Ich sorgte dafür, daß ich eine Hand frei bekam, und betätigte den Kippschalter. Das Lämpchen erlosch, und der alte Mann gab endlich Ruhe. »Ich hab trotzdem noch eine Frage«, sagte Chlebowwodow. »Wie bringt sie eigentlich die Antworten zuwege?« Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Roman und Vitjka amüsierten sich finster. Edik musterte die Troika mit zusammengekniffenen Augen. Wybegallo war zufrieden. Er zog einen Holzspan aus seinem Bart und stocherte damit in seinen Zähnen. »Gleichrichter gibt's da und alle möglichen Kipper«, sagte Chlebowwodow. »Das alles hat uns der kommissarische Geschäftsführende ziemlich genau erklärt. Nur eins hat er uns nicht erklärt: die Fakten. Dabei ist's doch ein nicht von der Hand zu weisender Fakt, daß man auf jede Frage eine Antwort kriegt. Und zwar schriftlich. Ja, die Maschine antwortet sogar, wenn man gar nicht ihr, sondern einem anderen eine Frage stellt. Sie, Kollege kommissarischer Geschäftsführender, aber behaupten, daß es da nichts Unerklärtes gibt. Das stimmt doch alles weder vorn noch hinten. Wir begreifen nicht, was die Wissenschaft zu diesem Punkt meint.« Die Wissenschaft in meiner Person war sprachlos. Chlebowwodow hatte mich umgehauen, an die Wand gedrückt, zu Boden geschmettert und überrollt. Dafür reagierte Wybegallo prompt. »Tjä...«, hob er an. »Ich sag doch, daß das ein dankenswertes Vorhaben ist! Es enthält sehr wohl ein Element des Unerklärten, außerdem ist's eine Initiative von unten. Darum hab ich's ja auch empfohlen. Mon cher«, sagte er zu dem alten Mann, »erklär den Kollegen mal, wie das bei dir funktioniert.« Der alte Mann fuhr wie elektrisiert in die Höhe. »Das ist die größte Errungenschaft des Neutronen-Megaloplasmas!« rief er. »Ein Feldrotor graduiert sich divergenzmäßig entlang dem Spin
und verwandelt die Fragematerie dadrinne in spirituelle elektrische Wirbel, aus welchen sich die Antwort-Synecdoche ergibt...« Mir wurde schwarz vor Augen. Auf meine Zunge trat ein bitterer Geschmack, die Zähne taten mir weh, der verfluchte noble vieux aber redete und redete. Und seine Rede plätscherte dahin wie ein Bächlein. Dies war ein raffiniert zusammengestellter, sorgsam einstudierter und nicht zum erstenmal gehaltener Vortrag, in dem jede Silbe und jede Intonation emotional geladen war, dies war ein Kunstwerk, und wie jedes echte Kunstwerk ließ es die Zuhörer besser, weiser und bedeutsamer werden, verwandelte es sie und hob sie ein paar Stufen höher. Der alte Mann war kein Erfinder, er war ein Künstler, ein genialer Redner, der würdige Schüler eines Demosthenes, eines Cicero, eines Johannes Chrysostomos. Ich trat taumelnd zur Seite und lehnte die Stirn gegen die kühle Wand. ...Alle lauschten aufmerksam: Der grauhaarige Oberst unverwandt unter den zottigen Brauen hervorblickend. Feierlich und streng blitzte im Halbdunkel das Gold an seiner Uniform, und die schweren Trauben der Orden blinkten matt. Lawr Fedotowitsch mit gesenktem Schädel, die vom schwarzen Samt des Ornats umspannten breiten Schultern hängenlassend. Chlebowwodow wie ein zum Sprung geducktes Raubtier. Er stemmte seine großen weißen Hände gegen die mit Ornamenten verzierten Armlehnen und drückte mit der Brust seine massive Platinkette gegen die Tischkante. Farfurkis aber hatte sich zurückgelehnt und lauschte, den Blick nachdenklich auf das niedrige Deckengewölbe gerichtet. Der Erfinder war längst verstummt, alle aber saßen reglos da und schienen der tiefen mittelalterlichen Stille nachzuhorchen, die die glitschigen Gewölbe umfing. Schließlich hob Lawr Fedotowitsch den Kopf und stand auf. »Von Rechts wegen dürfte ich erst als letzter sprechen«, sagte er. »Aber es gibt Fälle, in denen sich das Recht gegen seine Adepten richtet, und dann muß man es beiseite schieben. Ich spreche als erster, weil wir es hier mit einem solchen Fall zu tun haben. Ich spreche als erster, weil ich nicht länger schweigen kann. Ich spreche als erster, weil ich Widerspruch weder erwarte noch dulde.«
Reglos wie eine Statue stand der Erfinder neben seinem Golem, diesem ungeheuren eisernen Orakel, in dessen Bauch langsam düstere Lichter aufglommen und erloschen. »Wir sind die Hüter der Wissenschaft, wir sind das Tor zu ihrem Tempel, wir sind die leidenschaftslosen Filter, die sie vor Falschheit, Leichtsinn und Irrtümern bewahren. Wir schützen die Saat des Wissens vor dem Unkraut der Ignoranz und der Afterweisheit. Und solange wir das tun, sind wir keine Menschen, sondern handeln ohne Nachsicht, ohne Erbarmen, ohne Ansehen der Person. Für uns gibt es nur ein Kriterium: die Wahrheit. Die Wahrheit ist jenseits von Gut und Böse, die Wahrheit existiert unabhängig vom Menschen und von der Menschheit, aber nur solange es Gut und Böse gibt, solange es den Menschen und die Menschheit gibt. Wozu ist die Wahrheit gut, wenn es keine Menschen mehr gibt? Wenn jede Frage beantwortet wird, braucht man nicht mehr nach Wissen zu streben, und die Menschheit hört auf zu existieren — wozu ist dann die Wahrheit gut? Wenn der Dichter sagt: >Und keine Antwort stößt auf Fragens beschreibt er den schlimmsten Zustand der menschlichen Gesellschaft - ihren Endzustand. Ja, der Mann, der hier vor uns steht, ist ein Genie. Er verkörpert den Endzustand der Menschheit. Aber zugleich ist er ein Mörder, denn er tötet den Geist. Mehr noch, er ist ein Massenmörder, denn er tötet den Geist der ganzen Menschheit. Und darum können wir nicht länger leidenschaftslose Filter sein, darum müssen wir uns daran erinnern, daß wir Menschen sind, und uns als Menschen vor dem Mörder schützen. Nicht debattieren müssen wir, sondern Gericht halten! Für ein solches Gericht aber gibt es keine Gesetze, und darum dürfen wir nicht Gericht halten, sondern müssen erbarmungslos ahnden, wie das nur vom Entsetzen Gepackte tun. Und ich als der Rangälteste hier verletze jetzt das Recht und fordere als erster seinen Tod!« »Den Menschen töten, die Maschine pulverisieren«, sagte der Oberst heiser. »Den Menschen töten«, murmelte Ghlebowwodow langsam und gleichsam bedauernd, »die Maschine pulverisieren und diesen ganzen Vorfall dem Vergessen anheimgeben.« Er legte eine Hand über die Augen.
Farfurkis richtete sich in seinem Sessel auf, seine Augen waren verkniffen, die dicken Lippen zitterten. Er wollte schon den Mund aufmachen und die geballte Faust heben, schüttelte aber plötzlich den Kopf und sagte gereizt: »Also Kollegen, haben wir uns da nicht ein bißchen verrannt? So geht's ja nun wirklich nicht.« »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor und drehte den Kopf hin und her. Chlebowwodow, der in der immer dichter werdenden Dämmerung kaum noch zu erkennen war, steckte seine Nase in ein großes kariertes Tuch und nuschelte: »Vielleicht sollten wir Licht machen? Die Sitzung zieht sich heute ziemlich in die Länge.« Der Kommandant sprang auf und knipste das Licht an. Alle kniffen die Augen zu, und der Oberst der motorisierten Kavallerie erwachte mit einem Grunzer. »Wie?« fragte er mit knarrender Stimme. »Schon? Ich bin dafür, daß wir vorrücken. Vorrücken... Die motorisierte Kavallerie entscheidet alles. Lanzen, Säbel und die entsprechende Bodenfreiheit. Hinten links, da hinkt's, aber das läßt sich beheben. Beheben... Also, ich bin dafür, daß wir vorrücken.« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch und sah mit einem starren Blick auf die Remington. »Ich spreche im Namen aller, wenn ich beschließe, den Vorgang Nummer zweiundvierzig als rationalisiert zu betrachten. Um zur Frage der Utilisierung zu kommen, schlage ich dem Kollegen Subo vor, den Antrag zu verlesen.« Der Kommandant blätterte hastig in der Akte, während Professor Wybegallo hinter seinem Tisch hervorkam und erst dem alten Mann und dann, ehe ich ausweichen konnte, auch mir gefühlvoll die Hand drückte. Er strahlte. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Zu den Jungs wagte ich nicht hinüberzusehen. Während ich mich noch mit der Frage herumschlug, ob ich Lawr Fedotowitsch die Remington an den Kopf werfen sollte, packte mich der alte Mann, saugte sich wie eine Zecke an meinem Hals fest und küßte mich dreimal, wobei er mich mit seinen Bartstoppeln kratzte. Wie ich auf meinen Stuhl zurückkam, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß Vitjka zu mir sagte: »Hohlkopf! Schöngeist!«, daß Roman mir die Nase abwischte und
Edik flüsterte: »Ach, Sascha! Nimm's nicht so tragisch, das kann jedem mal passieren.« Unterdessen blätterte der Kommandant die ganze Akte durch und teilte mit kläglicher Stimme mit, daß zu diesem Vorgang kein Antrag vorliege. Farfurkis protestierte augenblicklich und zitierte einen Paragraphen der Instruktion, der besagte, daß eine Rationalisierung ohne Utilisierung Nonsens und nur bedingt als rechtswirksam anzusehen sei. Chlebowwodow schrie, bei ihm komme man mit solchen Mätzchen nicht durch, er wolle sein Gehalt nicht für nichts und wieder nichts beziehen und gestatte dem Kommandanten nicht, vier Stunden Arbeitszeit in den Wind zu schreiben. Lawr Fedotowitsch blies zustimmend in eine Papirossa, und Chlebowwodow redete sich noch mehr in Rage. »Wenn das nun ein Verwandter von meinem Babkin ist?« lamentierte er. »Was heißt, es liegt kein Antrag vor? Es muß einfach einer vorliegen! Sehen Sie sich den alten Mann doch bloß mal an! So eine urwüchsige, interessante Gestalt! Mit solchen alten Männern kann man doch kein Schindluder treiben!« »Das Volk läßt nicht zu, daß wir mit alten Männern Schindluder treiben«, warf Lawr Fedotowitsch ein. »Und das mit Fug und Recht.« »Eben!« bellte Wybegallo plötzlich. »Das Volk! Ergo: Das Volk läßt das nicht zu! Was heißt, es liegt kein Antrag vor, Kollege Subo? Haben Sie nicht einen Antrag für die Black box, den Schwarzen Kasten? Jawohl, den haben Sie! Wie können Sie dann behaupten, Sie hätten keinen?« Mich überlief's eiskalt. »Warten Sie!« sagte ich, aber niemand hörte auf mich. »Das ist doch nicht der Schwarze Kasten!« schrie der Kommandant und preßte die Hände gegen die Brust. »Der Schwarze Kasten läuft unter einer ganz anderen Nummer!« »Dieser Kasten soll nicht schwarz sein?« schrie Wybegallo zurück und fuchtelte mit dem schäbigen schwarzen Deckel der Remington. »Welche Farbe hat dieser Kasten denn Ihrer Meinung nach? Ist er etwa grün? Oder weiß? Wollen Sie uns hier desorientieren und mit alten Männern aus dem Volk Schindluder treiben?«
Der Kommandant lamentierte, natürlich sei auch das ein schwarzer und keineswegs ein grüner oder weißer, sondern eindeutig ein schwarzer Kasten, aber eben nicht jener Schwarze Kasten, der als Vorgang unter der Nummer siebenundneunzig geführt werde und für den ein Antrag des Kollegen Alexander Iwanowitsch Priwalow vorliege, dieser schwarze Kasten dagegen sei eigentlich gar kein Kasten, sondern eine heuristische Maschine, die als Vorgang die Nummer zweiundvierzig trage und für die kein Antrag vorliege. Wybegallo brüllte, tjä, man solle hier nicht mit Zahlen jonglieren und mit alten Männern Schindluder treiben, schwarz bleibe schwarz und werde niemals weiß oder grün. Ergo möge man hier keinen Machismus und Empiriokritizismus verbreiten, sondern die Kollegen Mitglieder der maßgeblichen Troika möchten sich den Kasten mal selbst ansehen und sagen, ob er etwa schwarz sei oder beispielsweise grün. Bei dem Lärm wurde der Oberst wach, rollte mit den Augen und befahl, die Zügel zu ergreifen, die Schweißdecken zu wechseln und den dritten Gang einzulegen. Vitjka pfiff gellend auf zwei Fingern. Roman und Edik riefen: »Nieder!« Ich aber wiederholte immer wieder wie ein defektes Grammophon: »Mein Schwarzer Kasten ist kein Kasten, mein Schwarzer Kasten ist kein Kasten...« Schließlich hatte sogar Lawr Fedotowitsch das Gefühl, daß da was nicht stimmte. »Chrrrm«, sagte er, und alles wurde still. »Ein Hindernis? Kollege Chlebowwodow, räumen Sie's aus dem Weg.« Chlebowwodow trat entschlossen auf Wybegallo zu, nahm ihm den Kasten aus der Hand und betrachtete ihn aufmerksam. »Wofür hat der Kollege Subo einen Antrag?« fragte er. »Für die Black box, den Schwarzen Kasten«, sagte der Kommandant verzagt. »Den Vorgang Nummer siebenundneunzig.« »Ich frage nicht, welche Nummer der Vorgang hat«, entgegnete Chlebowwodow. »Ich frage, ob er einen Antrag für den Schwarzen Kasten hat.« »Ja«, gab der Kommandant zu. »Und von wem?«
»Vom Kollegen Priwalow aus dem Forschungsinstitut für Hexerei und Zauberkünste. Da sitzt er.« »Ja«, warf ich leidenschaftlich ein, »aber mein Schwarzer Kasten ist kein Kasten, genauer gesagt, nicht ganz ein Kasten.« Chlebowwodow achtete jedoch nicht auf mich. Er hielt den Kasten gegen das Licht, schob sich dann auf den Kommandanten zu und stieß drohend hervor: »Ist er ein Bürokrat? Sieht er etwa nicht, welche Farbe das hier ist? Die Rationalisierung ist vor seinen Augen erfolgt, der Kollege Vertreter der Wissenschaft sitzt vor ihm und wartet auf die Erledigung seines Antrags. Versteht er? Es ist längst Abendbrotzeit, draußen wird's schon dunkel, er aber jongliert hier mit Zahlen.« Ich spürte, wie mich Trübsal überkam und meine Zukunft ein einziger trister, nicht enden wollender, ganz und gar irrationaler Alptraum war. Trotzdem begriff ich nicht, was vor sich ging, und stammelte nur immerzu kläglich, mein Kasten sei nicht ganz ein Kasten, genauer gesagt, ganz und gar kein Kasten. Ich wollte das Mißverständnis für mein Leben gern aufklären. Auch der Kommandant murmelte etwas Überzeugendes, aber Chlebowwodow kehrte wieder auf seinen Platz zurück und drohte ihm mit der Faust. »Der Kasten ist schwarz, Lawr Fedotowitsch«, meldete er triumphierend. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen, ich hab ihn mir selbst angesehen. Ein Antrag liegt vor, und der Vertreter ist anwesend.« »Das ist nicht der Schwarze Kasten!« jaulte ich mit dem Kommandanten im Chor, aber Lawr Fedotowitsch, der uns durch sein Theaterglas musterte, entdeckte offenbar eine Ungereimtheit an uns und schlug unter Berufung auf die Meinung des Volkes vor, unverzüglich zur Utilisierung zu schreiten. Einwände gab es nicht, alle Verantwortlichen, ja selbst der schlafende Oberst nickten. »Den Antrag!« befahl Lawr Fedotowitsch. Und schon lag mein Antrag vor ihm auf dem grünen Tisch. »Den Entscheid!« Der Entscheid fiel auf den Antrag. »Den STEMPEL!!!« Die Tür des Panzerschranks ging knarrend auf, es roch nach Aktenmief, und vor Lawr Fedotowitsch blinkte kupfern der
GROSSE RUNDE STEMPEL. Und da begriff ich, was im nächsten Augenblick geschehen würde. In mir sträubte sich alles. »Aufhören!« krächzte ich. »Hilfe!« Lawr Fedotowitsch packte den STEMPEL mit beiden Händen und hielt ihn über den Antrag. Ich nahm all meine Kräfte zusammen und sprang auf. »Das ist nicht der Schwarze Kasten!« brüllte ich aus vollem Halse. »Was soll das? Jungs!« »Einen Augenblick«, sagte Edik. »Hören Sie mich bitte erst mal an.« Lawr Fedotowitsch hielt in seiner unerbittlichen Bewegung inne und richtete seinen starren Blick auf Edik. »Ein Unbefugter?« erkundigte er sich. »Aber nein«, sagte der Kommandant schwer atmend. »Ein Vertreter. « »Dann brauchen Sie ihn nicht zu entfernen«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor und wollte den GROSSEN RUNDEN STEMPEL aufs Papier drücken, aber da war irgendein Hindernis. Der STEMPEL ließ sich nicht aufs Papier drücken. Anfangs stemmte sich Lawr Fedotowitsch einfach dagegen, dann stand er auf und legte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf, aber ohne jeden Erfolg — zwischen dem STEMPEL und dem Papier klaffte eine Lücke, deren Größe sichtlich von den Anstrengungen des Kollegen Wunjukow abhing. Diese Lücke schien ein unsichtbarer, aber außerordentlich elastischer Stoff auszufüllen, der das Anbringen des STEMPELS verhinderte. Schließlich merkte Lawr Fedotowitsch, daß alle Mühe vergebens war, setzte sich, ließ die Hände auf den Armlehnen ruhen und blickte den STEMPEL streng, wenn auch nicht im geringsten verwundert an. Der STEMPEL hing reglos in etwa zwanzig Zentimeter Höhe über meinem Antrag. Die Hinrichtung war aufgeschoben, und ich nahm meine Umwelt wieder wahr. Edik sprach schön und emphatisch von der Vernunft, von einer ökonomischen Reform, von menschlicher Güte, von der Rolle der Intelligenz und der staatsmännischen Weisheit der Anwesenden. Die Anwesenden hörten aufmerksam, aber unwillig zu. Chlebowwodow rutschte auf seinem Stuhl hin und her
und blickte immer wieder zur Uhr. Roman und Vitjka saßen völlig verkrampft da, und anfangs glaubte ich sogar, sie wären von einer Lähmung befallen. Beide waren in Schweiß gebadet, Vitjka dampfte, während Roman, der etwas schwächer in den Knien war, leise stöhnte und vor Anstrengung ächzte. Sie hielten den STEMPEL fest, sie, meine lieben Freunde, retteten mich Esel und Waschlappen und sorgten dafür, daß ich die Suppe, die ich mir eingebrockt hatte, nicht auszulöffeln brauchte. Ich mußte etwas tun. Ich mußte mir schnellstens etwas einfallen lassen. «... und siebentens, Kollegen«, sagte Edik bedächtig, »dürfte jedem Fachmann und erst recht einer so maßgeblichen Organisation klar sein, daß die Black box, der Schwarze Kasten, nichts anderes ist als ein Begriff aus der Informationstheorie, der nicht das geringste mit einer bestimmten Farbe oder Form eines realen Gegenstands zu tun hat. Eine Black box ist diese alte Remington mit ihren simplen elektrischen Vorrichtungen, die man in jedem Elek- troladen kaufen kann, am allerwenigsten, und ich finde es merkwürdig, daß Professor Wybegallo einer maßgeblichen Organisation eine Erfindung aufschwatzt, die keine Erfindung ist, und eine Lösung, die einzig und allein dazu dient, ihre Autorität zu untergraben.« »Ich protestiere«, sagte Farfurkis. »Erstens, Kollegen, hat der Vertreter die Geschäftsordnung verletzt, das Wort ergriffen, das ihm niemand erteilt hat, und obendrein die Redezeit überschritten. Das zum ersten.« (Entsetzt sah ich, wie der STEMPEL schwankte und Zentimeter um Zentimeter tiefer sank.) »Weiter. Wir können dem Kollegen Vertreter nicht gestatten, unsere besten Leute zu verleumden, einen verdienstvollen Professor, den offiziellen wissenschaftlichen Berater, Kollegen Wybegallo, anzuschwärzen und den hier vorliegenden und von der Troika bereits anerkannten Schwarzen Kasten weißzuwaschen. Das zum zweiten.« (Wieder sank der STEMPEL um ein paar Zentimeter. Vitjkas Wirbel knackten so laut, daß es im ganzen Saal zu hören war.) »Und schließlich dürfte Ihnen, Kollege Vertreter, bekannt sein, daß sich die Troika nicht für Erfindungen interessiert. Das Spezialgebiet der Troika ist die unerklärte Erscheinung und in vorliegendem Fall der
bereits untersuchte und rationalisierte Schwarze Kasten, auch heuristische Maschine genannt.« »Wenn wir jeden Vertreter zu Wort kommen lassen«, fügte Chlebowwodow gekränkt hinzu, »sitzen wir bis in die Puppen hier.« Wieder sank der STEMPEL ein Stück tiefer. Die Lücke betrug jetzt höchstens noch zehn Zentimeter. »Das ist nicht der Schwarze Kasten«, sagte ich und verlor von neuem zwei Zentimeter. »Den Kasten hier kann ich nicht gebrauchen!« (Noch einen Zentimeter.) »Ich protestiere! Was soll ich mit dieser alten Klapperkiste? Ich werd mich beschweren!« »Das steht Ihnen frei«, sagte Farfurkis großmütig und gewann einen weiteren Zentimeter. Noch einmal meldete sich Edik zu Wort. Er bemühte die Schatten Lomonossows und Einsteins, zitierte aus Leitartikeln zentraler Presseorgane, besang die Wissenschaft und unsere weisen Organisatoren, aber alles vergebens. Lawr Fedotowitsch hatte von dem Hindernis offenbar die Nase voll und fiel dem Redner mit dem kurzen Einwurf ins Wort: »Das überzeugt nicht.« Es gab einen lauten Knall, und der GROSSE RUNDE STEMPEL saugte sich an meinem Antrag fest. Wir verließen den Sitzungssaal als letzte. Wir waren deprimiert. Roman ächzte und rieb sich das lahme Kreuz. Vitjka, der vor Wut und Müdigkeit ganz grau war, zischte: »Waschlappen, Memmen, Kulturträger, Muttersöhnchen... Man sollte zuschnappen und abhauen, statt hier leeres Stroh zu dreschen!« Edik faßte mich unter. Auch er war bedrückt, ließ sich aber nichts anmerken. Von der trägen Masse seines Aggregats gezogen, tänzelte der gute alte Edelweiß um mich herum. Er säuselte mir Worte ewiger Liebe ins Ohr, versprach, die Füße zu waschen und Wasser zu trinken, und verlangte Wege- und Tagegelder. Edik gab ihm drei Rubel und sagte ihm, er solle übermorgen wiederkommen. Edelweiß schlug noch einen halben Rubel wegen gesundheitsschädlicher Arbeitsbedingungen heraus und verschwand. Da wurde mir wohler, und ich merkte, daß auch Vitjka und Roman nicht mehr da waren. »Wo ist Roman?« fragte ich mit schwacher Stimme.
»Flirten gegangen«, antwortete Edik. »Mein Gott«, sagte ich. »Mit wem denn?« »Mit der Tochter des Kollegen Goly.« »Verstehe«, sagte ich. »Und Vitjka?« Edik zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht«, meinte er. »Meiner Ansicht nach ist Vitjka dabei, eine große Dummheit zu begehen.« »Will er die umbringen?« fragte ich entzückt. Edik redete mir das aus, und wir traten ins Freie. Fedja wartete schon auf uns. Er erhob sich von der Bank, auf der er gesessen hatte, und zu dritt schlenderten wir Arm in Arm die Straße des Ersten Mai entlang. »Sind Sie müde?« fragte Fedja. »Schrecklich«, sagte Edik. »Ich bin zu müde, um zu sprechen, zu müde, um zuzuhören, und obendrein ganz dumm im Kopf. Merkt man mir das nicht an, Fedja?« »Noch nicht«, sagte Fedja schüchtern. »So was fällt gewöhnlich erst nach ein, zwei Stunden auf.« Ich sagte: »Ich möchte was essen. Ich möchte mich vergessen. Gehen wir ins Café. Schlemmen wir mal richtig - mit Eis und allem Drum und Dran.« Edik war dafür, und auch Fedja hatte nichts dagegen, obwohl er mit Eis nichts anzufangen wußte. Die Straßen waren voller Menschen, aber niemand flanierte auf den Gehwegen, wie das an Sommerabenden in allen Städten üblich ist. Die Kiteshgrader saßen still und manierlich auf ihren Außentreppchen und knackten schweigend Samenkerne. Kerne von Wassermelonen, Sonnenblumen, Kürbissen und Zuckermelonen. Die Außentreppchen waren mit Ornamenten und Figuren verziert, mit Pfeilern oder auch nur mit gehobelten Brettern versehen — die berühmten Kiteshgrader Außentreppchen, unter denen man jahrhundertealte Museumsstücke antraf, die vom Staat geschützt und von schweren, davon kündenden Eisenschildern verunstaltet wurden. Irgendwo auf einem Hinterhof jaulte eine Harmonika — jemand ließ dort, wie es so schön heißt, alle Register spielen. Edik fragte Fedja interessiert nach dem Leben in den Bergen. Fedja hatte von Anfang an eine starke Zuneigung zu dem höflichen Edik gefaßt und gab bereitwillig Auskunft.
»Das Schlimmste«, erzählte Fedja, »sind die Bergsteiger mit ihren Gitarren. Sie können sich nicht vorstellen, Edik, wie schrecklich es ist, wenn in unseren trauten, stillen Bergen, wo nur hin und wieder eine Lawine zu Tale poltert, und auch das nicht ohne vorherige Ankündigung, plötzlich jemand dicht an Ihrem Ohr klimpert, mit den Füßen stampft und grölt, daß irgendein >Bergfex< einen >steilen Zahn< bestiegen hat und >auf ihm herumrammelt< und daß irgendeinem >Unglücksraben< >der Magen hochkommt«. Das ist eine wahre Plage, Edik. Manche bei uns werden krank davon, ja, die Schwächsten sterben sogar. Zu Hause hab ich ein Cembalo«, fuhr er träumerisch fort. »Es steht hoch oben auf einem Gletscher. In ruhigen, windstillen Mondnächten spiele ich gern darauf. Dann hören mich die Hunde im Tal und stimmen heulend ein. Wirklich, Edik, mir kommen die Tränen, so schön und so traurig ist das. Der Mond scheint, die Töne hallen durch den Raum, und in weiter Ferne heulen ein paar Hunde...« »Und was sagen Ihre Artgenossen dazu?« fragte Edik. »Von denen ist zur Zeit keiner da. Nur ein Junge bleibt gewöhnlich bei mir zurück, aber der stört mich nicht. Er lahmt auf einem Bein. Aber das ist für Sie uninteressant.« »Im Gegenteil, mich interessiert das sehr.« »Nein, nein. Aber jetzt möchten Sie sicher erfahren, wie ich zu dem Cembalo gekommen bin. Stellen Sie sich vor, das haben Bergsteiger mitgebracht. Sie wollten einen Rekord aufstellen und ein Cembalo auf unseren Berg schleppen. Bei uns auf dem Gipfel finden Sie die erstaunlichsten Dinge. Da fällt's einem Bergsteiger ein, mit dem Motorrad zu uns heraufzukommen, und schon haben wir einen wenn auch lädierten Feuerstuhl. Gitarren gibt's da, Fahrräder, alle möglichen Büsten, ja sogar Fliegerabwehrkanonen. Ein Rekordjäger wollte unbedingt mit dem Traktor zu uns rauf, konnte aber nur eine Straßenwalze auftreiben. Wenn Sie wüßten, wie er sich damit abgestrampelt hat! Aber er hat's nicht geschafft bis zum ewigen Schnee. Fünfzig Meter weiter, und wir besäßen eine Straßenwalze.«
Wir kamen zum Café, und Fedja verstummte. Auf den hellerleuchteten Stufen der prächtigen steinernen Freitreppe drückte sich die Quasselstrippe, eine sprechende Wanze, vor dem Drehkreuz herum. Sie brannte darauf hineinzukommen, der Portier aber ließ sie nicht. Die Quasselstrippe war außer sich und verströmte wie immer, wenn sie sich aufregte, einen starken, Fedja als Nichttrinker unangenehmen Geruch nach teurem Kognak, und zwar nach Courvoisier. Ich machte sie auf die Schnelle mit Edik bekannt, setzte sie in eine Streichholzschachtel und gebot ihr, sich ruhig zu verhalten, was sie anfangs auch tat. Aber kaum hatten wir den Saal betreten und einen freien Tisch entdeckt, da fläzte sie sich auch schon auf einen Stuhl und trommelte auf den Tisch, um einen Kellner herbeizuzitieren. Sie selbst aß und trank in dem Café natürlich nichts, dürstete aber nach Gerechtigkeit und hundertprozentiger Übereinstimmung zwischen der Arbeit der Kellnerbrigade und dem hohen Titel, um den diese Brigade rang. Außerdem spuckte sie große Töne vor Edik, wußte sie doch, daß er extra ihretwegen, als ihr künftiger Brötchengeber, nach Kiteshgrad gekommen war. Edik und ich bestellten uns Rührei auf Hausfrauenart und Krebssalat. Fedja, den man in dem Café schon gut kannte, bekam rohe geriebene Kartoffeln, Mohrriibenkraut und Kohlstrünke, während man der Quasselstrippe gefüllte Tomaten vorsetzte, die sie aus Prinzip bestellt hatte. Als ich meinen Salat verzehrt hatte, merkte ich, daß ich hundemüde war, kaum noch ein Wort herausbrachte und nichts mehr sehen und hören wollte. Außerdem fuhr ich dauernd zusammen, weil ich in dem Stimmengewirr immer wieder ein Winseln zu hören glaubte: »...die Füße zu waschen und Wasser zu trinken... Dadrinne hat's...!« Dafür war die Quasselstrippe, die sich den Tag über nach Herzenslust ausgeschlafen hatte, munter wie nie und demonstrierte Edik genüßlich ihre philosophische Denkweise, ihr souveränes Urteil und ihren Hang zu Verallgemeinerungen. »Was für unnütze, unangenehme Geschöpfe!« sagte sie, während sie sich arrogant im Saal umsah. »Wahrhaftig, nur solche mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten schwerfälligen Wiederkäuer sind imstande, den Mythos in die Welt zu setzen, sie seien
die Herren der Natur. Ich frage mich: Wie kann ein solcher Mythos entstehen? Wir Insekten beispielsweise halten uns zu Recht für die Herren der Natur. Wir sind zahlreich und allgegenwärtig, wir vermehren uns in Windeseile, und viele von uns vergeuden ihre kostbare Zeit nicht mit sinnloser Sorge um die Nachkommenschaft. Wir besitzen Sinnesorgane, von denen Wirbeltiere wie Sie überhaupt keine Ahnung haben. Wir können Jahrhunderte in Anabiose verbringen, ohne Schaden zu nehmen. Die intelligentesten Vertreter unserer Klasse sind als große Mathematiker, Architekten und Soziologen in die Geschichte eingegangen. Wir haben uns eine ideale Gesellschaftsordnung geschaffen und gigantische Territorien erobert, wir sind überall. Stellen wir die Frage mal so: Können die Menschen, die von allen Säugetieren am höchsten entwickelt sind, etwas, dessen wir nicht fähig wären? Sie prahlen gern damit, daß Sie imstande sind, Werkzeuge herzustellen und zu benutzen. Entschuldigen Sie, aber ich finde das lächerlich. Dabei muß ich immer an einen Krüppel denken, der sich seiner Krücken rühmt. Da bauen Sie sich unter unsäglichen Mühen Behausungen und verwenden dafür so widernatürliche Kräfte wie Feuer und Dampf, Sie bauen schon seit Jahrtausenden und immer wieder anders und können doch keine wirklich bequeme und vernünftige Art der Behausung finden. Die schäbigen Ameisen dagegen, die ich wegen ihres ungehobelten Wesens und ihrer kultischen Verehrung der physischen Kraft zutiefst verachte, haben dieses simple Problem schon vor hundert Millionen Jahren gelöst, und zwar ein für allemal. Sie rühmen sich Ihrer unentwegten Weiterentwicklung, der angeblich keine Grenzen gesetzt sind. Da können wir nur lachen. Sie suchen nach etwas, das längst gefunden und patentiert ist, das es seit unvordenklichen Zeiten gibt: einer vernünftigen Gesellschaftsordnung und dem Sinn des Lebens. Den Cimex lectula- rius bezeichnen Sie als Parasiten und reden sich ein, das sei etwas Schlechtes. Aber seien wir doch konsequent! Was ist ein Parasit? Dieser Begriff stammt von dem griechischen Wort parasitos, was soviel wie Kostgänger oder Freischlucker heißt. Selbst Ihre Wissenschaft bezeichnet jene Art als parasitär, die auf Kosten einer anderen Art existiert. Was soll's, ich bekenne voller Stolz: Jawohl,
ich bin ein Parasit! Ich ernähre mich von den Lebenssäften der Geschöpfe einer anderen Art, der sogenannten Menschen. Wie aber steht's um diese sogenannten Menschen? Könnten sie ihrer zweifelhaften Tätigkeit etwa nachgehen oder überhaupt nur existieren, wenn sie sich nicht mehrmals am Tage die Lebenssäfte nicht nur einer, sondern einer Vielzahl anderer Arten sowohl des Tier- als auch des Pflanzenreichs einverleibten? Dummköpfe und Heuchler werfen uns vor, daß wir uns im Schutz der Dunkelheit an unser sogenanntes Opfer heranpirschen und uns seinen schläfrigen und demzufolge wehrlosen Zustand zunutze machen. Auf dieses scheinheilige Gefasel kann ich nur antworten: Bringen WIR unser Opfer etwa um, bevor wir uns seine Säfte einverleiben? Erfinden WIR etwa immer ausgeklügeltere Tötungsverfahren? Entwickeln und praktizieren WIR etwa jene brutale Verunstaltung unserer Opfer, die man künstliche Auslese nennt, um sie bequemer fressen zu können? Nein! Wir, selbst die Wildesten und Unzivilisiertesten unter uns, nehmen uns nur einen winzigen Teil der reichen Gaben, mit denen die Natur Sie ausgestattet hat. Sie aber gehen noch weiter. Man könnte Sie als Superparasiten bezeichnen, denn keiner anderen Art ist es bisher in den Sinn gekommen, auf eigenen Artgenossen zu schmarotzen. Ihre Obrigkeit schmarotzt auf ihren Untergebenen, Ihre Verbrecher schmarotzen auf den sogenannten Anständigen, Ihre Dummköpfe schmarotzen auf Ihren Weisen. Und das wollen die Herren der Natur sein!« Edik hörte mit professioneller Aufmerksamkeit zu, der Panurg aber lachte plötzlich schallend und rief, mit seinen Schellen klingelnd: »Das ist eine Abfuhr, der Teufel hole mich mit allen Eingeweiden einschließlich des Wurmfortsatzes und des Zwölffingerdarms! Ich erlaube mir nur noch hinzuzufügen, daß Oda Nobunaga, ein berühmter Haudegen und Tyrann von grenzenloser Grausamkeit, häßlich wie eine Meerkatze war und keine Lüge duldete. Alle, die sich nicht seinen Vorstellungen entsprechend verhielten, hackte er eigenhändig an Ort und Stelle in Stücke oder überließ sie zum Zersäbeln einem gewissen Toyotomi Hideyoshi, der sich ebenfalls sehr gut darauf verstand. >Stimmt's, was die
Leute sagen: Ich hätte Ähnlichkeit mit einem Affen?< fragte Oda Nobunaga eines Tages seinen Vertrauten, den er schon lange bei den Hammelbeinen zu kriegen suchte. Der Speichellecker wurde leichenblaß und machte sich die Hosen voll, und Oda Nobunaga griff schon nach dem Schwert, als der dem Untergang Geweihte in seiner Verzweiflung auf einen Ausweg verfiel. >Nicht doch, Euer Exzellenz!« rief er. >Wie könnte man so was behaupten! Im Gegenteil: Der Affe hat die unvergleichliche Ehre, Euch zu ähneln!« Was den grimmigen Diktator in die heiterste Gemütsverfassung versetzte.« »Ich verstehe Ihre Andeutung nicht«, erklärte die Quasselstrippe würdevoll, aber über ihr Gesicht glitt ein Schatten des jahrhundertealten tiefverwurzelten Grauens vor dem drohenden Phantom des ungeheuren Zeigefingers, der mit der Unerbittlichkeit des Schicksals näher rückt. »Ich bin natürlich kein großer Dialektiker«, sagte Fedja, während er mit seinen prächtigen Zähnen an einem Kohlstrunk nagte, »bin aber in der Vorstellung groß geworden, daß der menschliche Verstand den Gipfel der Schöpfung darstellt. Wir in den Bergen fürchten die menschliche Weisheit von alters her und verneigen uns vor ihr, und nun, da mir eine leidliche Bildung zuteil geworden ist, werde ich nicht müde, die Kühnheit und den Scharfsinn zu bewundern, mit denen der Mensch die sogenannte zweite Natur erschafft. Der menschliche Verstand, das ist... das ist...« Er schüttelte den Kopf und verstummte. »Die zweite Natur!« rief die Wanze höhnisch. »Das dritte Element, das vierte Reich, der fünfte Zustand, das sechste Weltwunder... Ein großer Vertreter der Menschheit könnte fragen: Wozu braucht ihr zwei Naturen? Die eine habt ihr schon versaut und wollt sie jetzt durch eine andere ersetzen... Ich sagte es bereits, Fedja: Die zweite Natur, das sind die Krücken eines Krüppels. Und was den Verstand angeht... Es wäre besser, Sie würden nicht davon reden und ich brauchte nichts davon zu hören. Jahrtausendelang faseln diese mit einer Nährmischung gefüllten Weinschläuche schon vom Verstand und können sich doch bis heute nicht darauf einigen, was das überhaupt ist. Nur in einem Punkt stimmen sie überein: Außer ihnen besitzt niemand Verstand. Betrachtet man
die ganze Geschichte dieses Geschwätzes, so erkennt man auf den ersten Blick, daß das sogenannte Denken nichts anderes ist als das Erfinden mehr oder weniger komplizierter Termini zur Bezeichnung von Erscheinungen, die der Mensch nicht begreift. So kommt es zu Begriffen wie REIZBARKEIT, EMPFINDUNG, INSTINKTE, BEDINGTE REFLEXE, UNBEDINGTE REFLEXE, ERSTES SIGNALSYSTEM, ZWEITES SIGNALSYSTEM... Und jetzt haben sie auch noch ein drittes entdeckt, dessen wir Wanzen uns übrigens seit unvordenklichen Zeiten bedienen. Und was bemerkenswert ist: Sobald sich's um ein winziges Geschöpf handelt, das man leicht mit irgendeinem chemischen Teufelszeug vertilgen oder einfach mit dem Finger zerdrücken kann, macht man mit ihm nicht viel Umstände. Natürlich besitzt ein solches Geschöpf Instinkte, eine primitive Reizbarkeit, eine niedere Form der Nerventätigkeit... Die typische Weltsicht narzißtisch veranlagter mittelgradig Schwachsinniger. Aber die Menschen haben ja so viel Verstand, sie müssen ja alles begründen, damit sie ein Insekt ohne Gewissensbisse zerdrücken können! Sehen Sie sich's nur an, Fedja, wie sie's begründen. Nehmen wir zum Beispiel eine Erdwespe, die ihre Eier in einem Nest ablegt und für ihre Nachkommenschaft Nahrung herbeischleppt. Was tun diese Banditen nun? Sie stehlen barbarisch die abgelegten Eier und beobachten dann mit der Genugtuung von Idioten, wie die unglückliche Mutter das leere Nest mit Zement verschließt. Wie dumm so eine Wespe doch ist, heißt es dann, sie weiß nicht, was sie tut, und deshalb sind ihre Instinkte blind. Verstehen Sie? Die Wespe besitzt keinen Verstand, sie darf notfalls mit dem Fingernagel zerquetscht werden. Sie, die Menschen, haben ihren Kosmos-Mosmos, ihre Photo-Motosynthese, die armselige Wespe aber kümmert sich bloß um ihre Vermehrung, und auch das nur auf dem Niveau primitiver Instinkte. Diesen Säugern kommt's überhaupt nicht in den Sinn, daß die Wespe ein reiches Geistesleben führt, daß sie sich in ihrem kurzen Dasein Wissenschaften und Künste aneignen muß — und will! —, von denen diese Warmblüter überhaupt nichts ahnen, daß sie einfach weder die Zeit noch den Wunsch hat, nach ihren Kindern zu sehen, zumal das gar keine Kinder sind, sondern unverständige
Eier. Ja, natürlich, die Wespen haben ihre Regeln, ihre Verhaltensnormen, ihre Moral. Und da sie von Natur aus in Fragen der Arterhaltung äußerst leichtfertig sind, sieht das Gesetz eine Bestrafung vor, falls die elterlichen Pflichten vernachlässigt werden. Jede ordentliche Wespe muß bei ihren Handlungen eine bestimmte Reihenfolge einhalten: Sie muß ein Nest graben, die Eier ablegen, gelähmte Raupen herbeischleppen und das Nest verschließen. Darauf wird geachtet, es gibt heimliche Kontrollen, die Wespe muß immer damit rechnen, daß hinter dem nächsten Stein ein Aufpasser lauert. Natürlich sieht die Wespe, daß man ihre Eier gestohlen hat oder daß die Nahrungsvorräte verschwunden sind. Aber sie kann kein zweites Mal Eier legen, und sie denkt gar nicht daran, ihre Zeit damit zu vergeuden, die Lebensmittelvorräte zu erneuern. Sie ist sich der Unsinnigkeit ihrer Handlungen durchaus bewußt, tut aber so, als hätte sie nichts gemerkt, und führt das Programm zu Ende, sonst blüht ihr nämlich ein Gang durch mindestens ein Dutzend Instanzen des Komitees für Arterhaltung. Stellen Sie sich eine Chaussee vor, Eedja, eine wunderbar glatte Hauptverkehrsstraße, die sich von Horizont zu Horizont erstreckt. Und mitten auf diese Straße stellt ein Experimentator ein Schild mit der Aufschrift >Umleitung<. Der Kraftfahrer ahnt, daß das ein dummer Scherz ist, hält sich aber an die Regeln und Verhaltensnormen eines ordentlichen Verkehrsteilnehmers, biegt ab, rumpelt über Bülten, kämpft sich durch Schlamm und Modder und vergeudet eine Menge Zeit und Nerven, um zweihundert Meter weiter wieder auf dieselbe Chaussee zurückzukehren. Warum? Aus genau demselben Grund: Er hält sich an die Gesetze und scheut vor einem Gang durch die Instanzen der Verkehrsmiliz zurück, zumal er genau wie die Wespe allen Grund zu der Annahme hat, daß das eine Falle ist und im Gebüsch ein Inspektor mit einem Motorrad hockt. Und nun stellen wir uns einmal vor, daß ein unbekannter Experimentator diesen Versuch anstellt, um den Intelligenzgrad des Menschen zu testen, und daß dieser Experimentator ein ebenso narzißtisch veranlagter Dummkopf ist wie jener Zerstörer des Wespennests. Ha, ha, ha! Zu welchen
Schlußfolgerungen muß er kommen!« Die Quasselstrippe trommelte begeistert mit allen Pfoten auf den Tisch. »Nein, Quasselstrippe«, sagte Fedja. »Sie vereinfachen die Dinge zu sehr. Ein Mensch, der am Lenkrad eines Kraftfahrzeugs sitzt, kann natürlich nicht durch Intelligenz glänzen...« »Genausowenig«, fiel ihm die pfiffige Wanze ins Wort, »wie die Wespe beim Eierlegen. Dazu, wissen Sie, bedarf's keiner Intelligenz.« »Warten Sie, Quasselstrippe«, sagte Fedja. »Sie bringen mich immerzu aus dem Konzept. Ich wollte sagen... Na bitte, jetzt hab ich vergessen, was ich sagen wollte. Ach ja! Um die Größe des menschlichen Verstandes bewundern zu können, muß man das ganze Gebäude dieses Verstandes, alle Errungenschaften der Wissenschaft, der Literatur und der Künste überblicken. Sie haben sich so geringschätzig über den Kosmos ausgelassen, dabei sind Satelliten und Raketen ein begeisternder, großer Schritt vorwärts. Sie müssen doch zugeben, daß kein Gliederfüßer einer solchen Großtat fähig ist.« Die Wanze zuckte verächtlich mit den Fühlern. »Darauf könnte ich Ihnen erwidern, daß die Gliederfüßer den Kosmos nicht brauchen«, sagte sie. »Aber die Menschen brauchen ihn ja auch nicht, und darum wollen wir gar nicht davon reden. Sie verstehen die einfachsten Dinge nicht, Fedja. Jede Art hat ihren historischen, von Generation zu Generation überlieferten Traum. Die Verwirklichung dieses Traums bezeichnet man gewöhnlich als Großtat. Die Menschen hatten zwei uralte Träume: den Traum, überhaupt fliegen zu können, der dem Neid auf die Insekten entsprang, und den Traum, zur Sonne zu fliegen, der der Unwissenheit entsprang, glaubten sie doch, so einfach nach den Sternen greifen zu können. Nun darf man aber nicht erwarten, daß verschiedene Arten und erst recht Klassen und Typen von Lebewesen ein und denselben Großen Traum hätten. Es wäre albern, anzunehmen, Fliegen träumten seit Generationen vom freien Flug, Kraken von den Meerestiefen und wir, Cimex lectularius, von der Sonne, die wir nicht ausstehen können. Jeder träumt von dem, was ihn unerreichbar, aber verheißungsvoll dünkt. Ein uralter Traum der Kraken ist bekanntlich die freie Bewegung auf dem Festland, und
in ihrem nassen Element denken sie viel und fruchtbar darüber nach. Ein ewiger, unheilvoller Traum der Viren ist die absolute Weltherrschaft, und wie grausam die Methoden auch sein mögen, derer sie sich gegenwärtig bedienen, kann man ihnen doch Hartnäckigkeit, Erfindungsgeist und die Fähigkeit, sich für ein großes Ziel zu opfern, nicht absprechen. Und der hehre Traum der Spinnentiere? Vorjahrmillionen sind sie unüberlegt aus dem Meer aufs Festland übergewechselt und sehnen sich seitdem danach, in ihre heimischen Gefilde zurückzukehren. Sie sollten einmal ihre Lieder und Balladen übers Meer anhören! Es zerreißt einem das Herz. Im Vergleich zu diesen Balladen ist der Heldenmythos von Dädalos und Ikaros nur ein unterhaltsames Histörchen. Und was geschah? Sie haben wirklich einiges erreicht, und zwar auf eine höchst raffinierte Art und Weise, sind den Gliederfüßern doch überhaupt recht raffinierte Lösungen eigen. Sie machen ihren Traum wahr, indem sie neue Arten schaffen. Erst schufen sie die Wasserläufer und dann die Wasserspinnen, und zur Zeit läuft die Entwicklung einer wasseratmenden Spinne auf vollen Touren. Von uns Wanzen ganz zu schweigen. Wir haben unser Ziel vor langer Zeit erreicht, als sich diese mit einer Nährmischung gefüllten Weinschläuche in der ganzen Welt breitmachten. Verstehen Sie mich recht, Fedja. Jeder Stamm mag seinen Traum haben. Aber man sollte den anderen Planetenbewohnern gegenüber nicht allzusehr mit seinen Errungenschaften prahlen, sonst läuft man Gefahr, sich lächerlich zu machen. Wem Ihre Träume fremd sind, der betrachtet Sie als Hohlkopf, und wer seinen eigenen Traum längst verwirklicht hat, hält Sic für einen Schaumschläger.« »Ich kann Ihnen darauf nichts erwidern, Quasselstrippe«, sagte Fedja, »aber ich muß gestehen, daß es mir unangenehm ist, Ihnen zuzuhören. Erstens mag ich's nicht, wenn man auf der Hand liegende Dinge durch hinterhältige Haarspalterei zu widerlegen sucht, und zweitens bin ich schließlich auch ein Mensch.« »Sie sind ein Schneemensch. Sie sind das fehlende Glied. Bei Ihnen ist nicht viel zu holen. Wenn Sie's genau wissen wollen, sind Sie nicht mal eßbar. Aber warum widerspricht mir kein sogenannter Homo sapiens? Weshalb tritt keiner für die Ehre seiner Art,
seiner Klasse, seines Typs ein? Ich will's Ihnen verraten: weil's nichts dagegen zu sagen gibt.« Der aufmerksame Edik überhörte die Herausforderung. Ich hätte der Quasselstrippe sehr wohl einiges entgegnen können, schwieg aber, weil ich sah, daß Fedja verstimmt war und sprechen wollte. »Nein, lassen Sie mich etwas dazu sagen«, erklärte er. »Jawohl, ich bin ein Schneemensch. Jawohl, es ist üblich, uns zu beleidigen. Uns beleidigen sogar die Menschen, unsere engsten Verwandten, unsere Hoffnung, das Symbol unseres Glaubens an die Zukunft. Nein, nein, Edik, lassen Sie mich ausreden. Uns beleidigen die unwissendsten und rückständigsten Schichten der menschlichen Gattung, indem sie uns den gemeinen Spitznamen Yeti geben, der Swifts Yahoo entspricht, oder den Namen Golubjawan, was soviel wie Riesenaffe oder abstoßender Schneemann heißt. Und auch die progressivsten Vertreter der Menschheit beleidigen uns, indem sie uns das fehlende Glied< oder >Menschenaffe< nennen und uns noch andere, wissenschaftlich klingende, aber ehrenrührige Namen geben. Vielleicht haben wir's verdient, daß man die Nase über uns rümpft. Wir sind langsam im Denken und viel zu anspruchslos, das Streben nach dem Höheren ist in uns nur schwach entwikkelt, und unser Verstand schlummert noch. Aber ich glaube, ja, ich weiß, daß das ein MENSCHLICHER Verstand ist, für den die Umgestaltung der Natur —zunächst der uns umgebenden und später auch der eigenen —der höchste Genuß ist. Sie dagegen, Quasselstrippe, sind ein Parasit. Verzeihen Sie mir, aber ich gebrauche diesen Terminus im wissenschaftlichen Sinne. Ich will Sie nicht kränken, aber Sie sind ein Parasit und können nicht verstehen, was für ein Genuß das ist — schließlich ist die Natur unendlich, und man kann sie endlos umgestalten. Darum bezeichnet man den Menschen als den Herrn der Natur! Weil er die Natur nicht nur erforscht und nicht nur einen passiven Genuß in der Vereinigung mit ihr findet, sondern weil er sie umgestaltet, weil er sie nach seinen Bedürfnissen und Wünschen, ja bald nur noch nach Lust und Laune formt.«
»Nun ja!« sagte die Wanze. »Vorläufig aber faßt er, dieser Mensch, einen gewissen Fedja um die breiten, behaarten Schultern, führt ihn auf ein Podium und schlägt einem gewissen Fedja vor, einer Menge Samenkerne knackender Spießer die Menschwerdung des Affen vorzuführen. Achtung! Achtung!« schrie sie plötzlich. »Heute hält Doktor Wjalobujew-Frankenstein im Klub einen Vortrag zum Thema >Der Gegensatz von Darwinismus und Religion< und demonstriert dem Publikum anschaulich die Menschwerdung des Affen! Erster Akt: >Der Affe<. Fedja hockt unter dem Tisch des Vortragenden und laust sich das Fell, wobei er mit nostalgischen Augen um sich schaut. Zweiter Akt: >Der Menschenaffen Fedja spaziert mit einem Besenstiel auf dem Podium umher und überlegt, worauf er eindreschen könnte. Dritter Akt: »Der Affenmensch<. Fedja entfacht unter Aufsicht und Anleitung eines Feuerwehrmanns ein kleines Feuer auf einem Kuchenblech und mimt dabei zugleich Schrecken und Begeisterung. Vierter Akt: "Die Arbeit erschafft den Menschen". Fedja spielt mit Hilfe eines defekten Abbauhammers einen urzeitlichen Schmied. Fünfter Akt: >Apotheose<. Fedja setzt sich ans Klavier und spielt den »Türkischen Marsch«. Beginn des Vortrags: achtzehn Uhr. Nach dem Vortrag läuft der neue ausländische Film >Am letzten Ufer<. Anschließend Tanz!« Fedja, der sich außerordentlich geschmeichelt fühlte, lächelte verlegen. »Ach, Quasselstrippe«, sagte er gerührt, »ich wußte doch, daß es zwischen uns keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten gibt. Natürlich vollbringt der Verstand seine se gensreichen Wunder eben auf diese Weise — langsam und allmählich — und kündigt uns so Genies wie Archimedes, Newton und Einstein an. Aber Sie dürfen meine Rolle bei dieser Kulturveranstaltung nicht so übertreiben, obwohl ich verstehe, daß Sie mir damit eine Freude bereiten wollten.« Die Wanze blickte so verstört drein, daß mich ein Kichern ankam. Fedja wurde unruhig. »Hab ich was Falsches gesagt?« fragte er. »Sie, Fedja, sind schon in Ordnung«, sagte ich. »Sie haben die Quasselstrippe so schockiert, daß sie nicht mehr sie selbst ist.
Sehen Sie nur, aus Verzweiflung frißt sie sogar ihre gefüllten Tomaten.« »Es ist die reinste Freude, Ihnen zuzuhören«, schrie der Panurg. »Die Ohren füllen sich mit Frühlingssäften und blühen auf wie Rosen. Was ist dagegen ein Cicero? Ein Claudius-Publius-Aurelius? Was übrigens die großen Redner angeht, so sah Cicero der Jüngere, seinerzeit römischer Begründer Bucharas, der Montaigne zufolge seinem Vater nur darin glich, daß er denselben Namen trug, auf einem seiner Gastmahle einen gewissen Cestius, der sich unter die Würdenträger gemischt hatte. Dreimal erkundigte sich Cicero der Jüngere bei seinem Diener nach dem Namen dieses ihm unbekannten, ungebetenen Gastes, und dreimal vergaß er, durch seine Hausherrenpflichten abgelenkt, diesen Namen wieder, so daß der Diener, der es müde war, sich immer zu wiederholen, damit sich der Name Cestius dem Gedächtnis seines Herrn einprägte, schließlich zu ihm sagte: >Das ist Cestius, der, wie man sich erzählt, die eigene Redekunst weitaus höher schätzt als die Eures Vaters.< Und was geschah? Cicero der Jüngere geriet in Wut und ließ den erstaunten Cestius auf der Stelle auspeitschen.« »Ja, Quasselstrippe, ich höre Ihnen mit großem Interesse zu«, sagte Edik. »Natürlich hab ich nicht die Absicht, Ihnen in irgendeiner Weise zu widersprechen, weil uns, wie ich meine, noch viele Dispute über ernstere Probleme bevorstehen. Ich möchte nur bemerken, daß Ihre Urteile leider allzuviel Menschliches und viel zuwenig Originelles, nur dem Cimex lectularius Eigenes enthalten.« »Mag sein, mag sein!« schrie die Wanze gekränkt. »Alles gut und schön. Aber vielleicht läßt sich wenigstens ein Vertreter des Homo sapiens zu einer Erwiderung auf die Gedankengänge herab, die mir zu äußern hier verstattet war? Oder — ich wiederhole es — gibt's dagegen nichts zu sagen? Oder hat der vernunftbegabte Mensch mit dem Verstand nicht mehr zu schaffen als die Brillenschlange mit jenem weitverbreiteten optischen Gerät? Oder fehlt ihm ein Argument, das ein Wesen, welches nur primitive Instinkte besitzt, begreifen könnte?«
Ich hatte ein solches Argument und machte genüßlich davon Gebrauch, indem ich der Quasselstrippe meinen Zeigefinger vor die Nase hielt und anschließend so tat, als wischte ich einen Tropfen vom Tisch. »Sehr witzig«, sagte die Wanze und wurde blaß. »Das zeugt wahrhaftig von höchster geistiger Potenz.« Fedja bat schüchtern darum, ihm den Sinn dieser Pantomime zu erklären, aber die Quasselstrippe rief, das sei alles Unsinn. »Mich ödet's hier an«, verkündete sie übertrieben laut und sah sich hochnäsig nach allen Seiten um. »Gehen wir.« Ich zahlte, und wir traten auf die Straße hinaus, wo wir stehenblieben, um zu beratschlagen, was wir mit dem angebrochenen Abend anfangen könnten. Fedja schlug einen Besuch bei Spiridon vor, die Quasselstrippe aber protestierte. Sich mit Warmblütern zu unterhalten sei schon kein Zuckerlecken, erklärte sie, sich danach aber noch mit einem Kopffüßer herumzustreiten — nein, das sei zuviel verlangt, da gehe sie doch lieber ins Kino. Die Quasselstrippe tat uns leid - so erschüttert und schockiert war sie über meine vielleicht wirklich etwas taktlose Geste—, und wir wollten uns gerade zum Kino aufmachen, als der gute alte Edelweiß hinter einer Bierbude hervorstürmte. In der einen Hand hielt er krampfhaft ein Bierglas, die andere umklammerte sein Aggregat. Mit schwerer Zunge drückte er der Wissenschaft und mir persönlich seine Ergebenheit aus und forderte Wegegelder, Bergzulage und Kostenrückerstattung für irgendwelche Stecker. Ich gab ihm einen Rubel, und er verschwand wieder hinter der Bierbude. Wir machten uns auf den Weg zum Kino. Die Quasselstrippe konnte und konnte sich nicht beruhigen. Sie spielte den wilden Mann, pöbelte die Passanten an und glänzte mit Aphorismen und Paradoxa, man merkte jedoch, daß sie außer sich war. Um ihr das seelische Gleichgewicht wiederzugeben, hielt Edik ihr vor Augen, welch gigantischen Beitrag sie, die Wanze Quasselstrippe, zur Theorie des Linearen Glücks beisteuern könne, und ließ etwas von Weltruhm und der Unvermeidlichkeit längerer Auslandsreisen, darunter auch in exotische Länder, durchblicken. Und schon war das seelische Gleichgewicht wiederhergestellt, die Quasselstrippe
schöpfte sichtlich Mut und benahm sich gesetzter, und sobald im Saal das Licht ausging, durchstöberte sie hungrig die Reihen, so daß Edik und ich an dem Film nicht viel Freude hatten: Edik fürchtete, jemand könnte die Quasselstrippe in aller Stille zerquetschen, während ich ständig auf häßliche Szenen gefaßt war. Vitjka hatte die Nacht nicht im Hotel verbracht. Roman dagegen war anscheinend sehr spät gekommen, so daß Edik und ich ihn mit kaltem Wasser aus dem Bett treiben mußten. Zum Frühstück nahmen wir auf die Schnelle ein wenig Kefir und ein paar Gurken zu uns. Ich hatte es sehr eilig, denn ich konnte es kaum erwarten, den Kommandanten zu treffen und meine jetzige Lage mit ihm zu besprechen. Der Kommandant hatte mich ins Herz geschlossen, weil ich ihm von Zeit zu Zeit half, aus Professor Wybegallos verworrenen Gutachten schlau zu werden, und ihn überhaupt gut verstand. Kunststück: Da lebte der Mann still vor sich hin, ohne sich sonderlich hervorzutun, ohne jemand sonderlich zu stören, und ging ohne Beanstandung seiner Arbeit als Verwalter eines Wohnheims nach, bis ihn plötzlich der Kollege Goly zu sich bestellte, ihn seiner religiösen Neigungen wegen tadelte und zum Kommandanten der Kolonie für unerklärte Erscheinungen beförderte. Wäre er jünger und belesener gewesen, hätte er sich hier möglicherweise entfaltet, aber so einer war der Kollege Subo nicht. Er war ein Arbeitstier und außerdem viel zu sensibel. »Ich geh da zugrunde.« So klagte er mir manchmal sein Leid. »Ich geh da zugrunde, Alexander Iwa- nowitsch — mit all den bärtigen, stinkenden Schlangen, den Tintenfischen und Außerirdischen. Ich hab schon jeden Appetit verloren, werd immer dünner, meine Frau macht mir die Hosen immer enger, und es besteht keinerlei Aussicht... Heute ist mir schon wieder so ein Parasit zugeflogen. Spricht kein Wort Russisch, frißt weder Grütze noch Fleisch, sondern nascht, wie sich herausstellt, Zahnpasta. Ich kann bald nicht mehr. Ich werd mich beschweren, so was ist ungesetzlich, ich geh bis zum Kollegen Goly...« Ich konnte den Mann gut verstehen. Die jämmerliche Lage des Kommandanten wurde durch die Geschichte mit dem vernunftbegabten Delphin Isaac noch
verschlimmert. Der Delphin selbst war aus unerfindlichen Gründen längst krepiert, aber sein Vorgang existierte noch und bereitete nach wie vor Verdruß. Und das kam so. Erstens war lsaac eingegangen, bevor er die für ihn bestimmten zwei Tonnen frischen Kabeljau verzehrt hatte. Dieser einstmals frische Kabeljau hing jetzt wie ein Mühlstein am Hals des unglücklichen Kommandanten, und es gab keine Möglichkeit, den Fisch loszuwerden. Der Kommandant aß mit seiner ganzen Familie davon, lud Gäste ein, versorgte die Hälfte aller Kiteshgrader Hunde, zog sich ein paarmal eine Fischvergiftung zu und beförderte sein bestes Schwein damit ins Jenseits, der Kabeljau aber wollte und wollte nicht alle werden. Zweitens konnte der Vorgang Isaac nicht abgeschlossen werden, weil der tote Delphin, während sein Totenschein durch die Instanzen wanderte, ausgestopft und einer Kiteshgrader Schule als Anschauungsmaterial übergeben worden war. Unterdessen weckten die Umstände seines Todes bei den Instanzen gewisse Zweifel, und der Totenschein kam mit dem Entscheid zurück, eine Obduktion vorzunehmen, um erwähnte Umstände zu klären. Seitdem erhielt der Kommandant wöchentlich eine Anfrage: »Wo bleibt der Obduktionsbefund?« Worauf er regelmäßig antwortete, man sei »um eine rasche Erledigung Ihres Schreibens vom Soundsovielten bemüht«. Der Kabeljau konnte nicht abgeschrieben werden, weil der Delphin nicht abgeschrieben worden war; der Delphin aber war nicht abgeschrieben worden, weil keine Obduktion stattgefunden und Chlebowwodow über den toten Isaac gesagt hatte: »Daß er krepiert ist, ist mir schnuppe. Ich hab versprochen, ihm auf die Schliche zu kommen, und ich werd ihm auf die Schliche kommen.« Der Grund für Chlebowwodows Hartnäckigkeit aber war, daß der Delphin ihn bei ihrer ersten Begegnung nach Chlebowwodows Worten: »Was sollen wir uns mit dem abgeben - das ist ein gewöhnlicher sprechender Fisch, davon hab ich schon gelesen« in vier europäischen und zwei asiatischen Sprachen laut und deutlich als Idioten bezeichnet hatte.
Und auch an diesem Morgen hockte der Kommandant, in das hoffnungslose Studium des von Anfragen geschwollenen Vorgangs Isaac vertieft, an seinem Tisch. »Ich geh kaputt«, sagte er, während er uns die Hand drückte. »Für nichts und wieder nichts geh ich hier kaputt. Wenn sie mir auch heute nicht erlauben, den Kabeljau abzuschreiben, hänge ich mich auf. Aber wo steckt denn der Kollege Kornejew? Sein Vorgang wird heute verhandelt.« »Er ist krank«, log ich. »Er kommt später«, log Roman gleichzeitig. »Hm«, log Edik und wurde rot. »Er wird schon kommen«, sagte ich. »Was bleibt ihm anderes übrig? Sagen Sie mir lieber, was ich jetzt tun soll, Kollege Subo.« Wie sich herausstellte, war alles gar nicht so schlimm. Den guten alten Edelweiß hätte ich nun natürlich bis an mein Lebensende am Halse, da wäre nichts zu machen. Aber das mit meinem Antrag ginge schon in Ordnung. Wenn ich die Black box haben wollte, würde ich sie eines Tages auch bekommen, ich müßte nur einen neuen, zurückdatierten Antrag schreiben. Andere Anträge lägen für den Vorgang Nummer siebenundneunzig nicht vor und würden voraussichtlich auch nicht eingehen, obwohl natürlich alles in Gottes Hand liege: Der Kollege Wunjukow oder möglicherweise auch der Kollege Chlebowwodow könnten den Kasten kurzerhand irgendeinem Klub oder einer Kantine zusprechen oder ihn gar pulverisieren lassen. In diesem Augenblick schlug es neun, die Troika erschien, und wir nahmen unsere Plätze ein. Ein wenig beruhigt, ließ ich mich hinter Roman nieder und schrieb einen neuen Antrag. Edik organisierte mir in aller Stille einen viereckigen Stempel für den Antrag, und Roman beschaffte mir einen runden. Janus Poluektowitschs Unterschrift fabrizierte ich selbst. Als das geschafft war, beruhigte ich mich endgültig und machte mich ans Zuhören. Chlebowwodow wedelte mit einem Zeitungsausschnitt. »Hier ist Material über diesen Isaac. Die zentrale Presse hat ein Signal erhalten, daß der Delphin überhaupt kein Eisch ist. Das versteh ich
nicht. Er schwimmt im Wasser, hat einen Schwanz und ist kein Fisch. Ist er vielleicht ein Vogel? Oder... tjä... ein Gockel?« »Gibt es Vorschläge?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch friedfertig. »Ja«, sagte Chlebowwodow. »Den Vorgang bis zur endgültigen Klärung zurückzustellen. Der Verstorbene — die Erde möge ihm leicht sein - war keine Geistesleuchte. Außer diesem Kabeljau hält er bestimmt noch ein paar Überraschungen für uns bereit, da bin ich mir ganz sicher.« »Aber er ist doch tot«, nölte der Kommandant hoffnungslos. »Sollten wir ihn nicht einfach abschreiben? Mag die Schule für ihn geradestehen.« »Kollege Subo«, sagte Farfurkis schulmeisterhaft. »Stellen Sie unsere Geduld nicht auf die Probe. Wir haben Ihnen schon hundertmal erklärt, daß auch Homer, Shakespeare und viele andere Persönlichkeiten tot sind, dem Forscher aber nach wie vor Rätsel aufgeben. Der Tod ist für die Forschungsarbeit kein Hindernis, schon gar nicht für die administrative. Für die Troika ist's völlig unwichtig, ob das Objekt noch lebt oder nicht. Für die Troika ist nur wichtig, ob es eine unerklärte Erscheinung ist oder war.« »Alles gut und schön, soweit's den Delphin betrifft«, sagte der Kommandant. »Aber was mach ich mit dem Kabeljau?« »Wir erklären Ihnen noch einmal, daß vorliegendes Produkt, da es als Verpflegung für den Vorgang Nummer sechzehn geführt wird, auch nur nach seinem Verzehr durch diesen Vorgang beziehungsweise nach dem Abschreiben dieses Vorgangs abgeschrieben werden kann.« »Aber mir steht eine Revision ins Haus!« winselte der Kommandant. »Dabei werden sie doch auf die zwei überzähligen Tonnen vergammelten Fisch stoßen.« »Tja«, meinte Farfurkis mitfühlend, »da müssen Sie sich was einfallen lassen.« »Soll ich vielleicht einen neuen Delphin kaufen? Für mein eigenes Selbstverdientes? Mein Gevatter sagt, in Moskau gibt's so einen Laden.« »Das steht Ihnen frei«, sagte Farfurkis. »Aber es dürfte kaum zulässig sein, ein für den Vorgang Nummer sechzehn bezogenes
Produkt an einen anderen Delphin zu verfüttern, für den die Troika nicht zuständig ist.« »Und was mach ich mit dem Fisch?« »Verfüttern Sie ihn an den Vorgang Nummer sechzehn«, antwortete Farfurkis. Ich schielte zu Edik hinüber. Den schien das Ganze nicht zu berühren. Offenbar war er schon immun. »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Ich spreche im Namen aller, wenn ich vorschlage, den Kabeljau bis zur endgültigen Klärung zurückzustellen. Kommen wir zum nächsten Vorgang, Kollege Subo.« Der Kommandant putzte sich die Nase, wischte sich die Tränen ab und beugte sich über seine Akten. Der nächste Vorgang war der des Kraken Spiridon, und der verschlafene Roman wurde hellwach. An irgendeinem Punkt der unabsehbaren Zukunft mußte ihm die Troika den Kraken Spiridon überlassen, es sei denn, irgendeine Kantine oder ein Modeatelier lief ihm den Rang ab. Viel Neues erwartete er an diesem Tag nicht zu hören, wollte aber auf dem laufenden bleiben. Der Vorgang Spiridon zog sich schon über ein Jahr hin und wurde wöchentlich einmal verhandelt. Der arrogante urtümliche Kopffüßer geruhte zu den Sitzungen der Troika einfach nicht zu erscheinen und verlangte, die Troika solle zu ihm kommen. Der Hochmut beider Seiten verhinderte eine Lösung des Konflikts, denn nun ging es darum, wer den längeren Atem hatte. »Der alte Intrigant hat's mal wieder nicht nötig«, sagte Chlebowwodow mit Genugtuung. »Nein«, bestätigte der Kommandant verzagt. »Das ist vielleicht ein Mistkerl«, fuhr Chlebowwodow fort. »Da hat der Gauner schon sieben Beine, aber herkommen kann er nicht!« »Acht«, berichtigte Farfurkis. »Wieso acht?« fragte Chlebowwodow beleidigt. »Das ist doch eine Sepia. Was wollen Sie mir da ... »Spiridon ist ein Oktopus, und ein Oktopus hat nun mal acht Beine«, erklärte Farfurkis sanft. »Jetzt hört sich aber alles auf«, murrte Chlebowwodow. »Was will er mir da weismachen? Schnickschnack! Geben Sie doch zu, daß Sie keine Ahnung haben ! Lassen Sie sich's vom wissenschaftli-
chen Berater erklären. Kollege Berater, wie viele Beine hat Spiridon? Sieben oder acht?« Wybegallo war überfragt. Er grinste, zupfte an seinem Bart und sagte: »Tjä... wie viele Beine? Ergo: C'est charmant, il y a quelque chose de si mélodieux.1 « »Was?« fragte Chlebowwodow. »Tout comprendre c'est tout pardonner«1, erläuterte Wybegallo, der sich auf dem rechten Weg wußte. »Aha«, murmelte Chlebowwodow unsicher. »Das verstehen wir natürlich, egal ob's nun Latein ist oder Deutsch. Trotzdem würd ich gern mal wissen, wie viele Beine so ein Oktopus hat. Sind's nun sieben, oder sind's acht?« »Zehn«, sagte Roman. Chlebowwodow starrte ihn verdattert an. »Sie machen wohl Spaß?« fragte er. »Ich darf Sie daran erinnern, Kollege Vertreter, daß Sie sich im Dienst befinden. Spaß können Sie nachher zu Hause mit Ihrer Frau machen.« »Ich wüßte nicht, was ich mir für einen Spaß mit Ihnen machen sollte, Kollege Chlebowwodow«, sagte Roman kühl. »Sie haben den Berater was gefragt, und da dieser in Verlegenheit ist, hab ich für ihn geantwortet. Der Krake Spiridon hat zehn Beine.« 1 Das ist charmant und hat was Melodiöses. 2 Alles verstehen heißt alles verzeihen. »II faut faire des restrictions«1 sagte Wybegallo wichtigtuerisch. »Was denn noch für restrictions?« fuhr Roman ihn grob an. »C'est ridicule2, Professor. Spiridon hat zehn Beine, genauer gesagt, nicht Beine, sondern Arme, da Kraken auf ihren Tentakeln nicht laufen, sondern sie wie Hände gebrauchen.« »Aber er braucht doch auch Beine«, sagte Chlebowwodow. »Wenigstens eins!« »Ich hab dem nichts hinzuzufügen«, erklärte Roman. »Einen Augenblick«, warf Farfurkis ein. »Warum nennt er sich dann Oktopus?« »Spiridon ist kein Oktopus. Er ist ein Kalmar, ein Architeuthis.« »Aha«, sagte Farfurkis. »Ich danke Ihnen.« »Uns ist's piepegal, ob er Arme hat oder sonstwas«, knurrte Chlebowwodow haßerfüllt. »Notfalls hätte er auch auf den Händen
herlaufen können. Schließlich geht's nicht um einen Kinobesuch, sondern um eine Sitzung. Aber was kümmert's uns? Wir bestellen ihn her, er kommt nicht. Wir haben's nicht eilig. Wir haben genug anderes zu tun. Wer ist der nächste?« »Spiridon hat eine Eingabe gemacht«, meldete der Kommandant. »Ablehnen!« forderte Chlebowwodow. »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Kollege Chlebowwodow, haben Sie eine Frage?« »Nein«, erwiderte Chlebowwodow. »Entschuldigung.« »Das Volk will alle Einzelheiten kennen«, fuhr Lawr Fedotowitsch fort und musterte Chlebowwodow durch sein Theaterglas. »Einzelne Mitglieder der Troika versuchen offenbar, die Meinung der Troika durch ihre eigene zu ersetzen. Das Volk sagt diesen Kollegen jedoch: Daraus wird nichts, Kollegen!« Ehrfürchtiges Schweigen setzte ein. Man hörte, wie Chlebowwodow von Gewissensbissen gepeinigt wurde. Lawr Fedotowitsch ließ das Theaterglas sinken und befahl: »Tragen Sie vor, Kollege Subo!« »Memorandum Nummer zwölf«, las der Kommandant. »Hiermit bezeigt der Bevollmächtigte Botschafter der Generalfreundschaft Gigantischer urtümlicher Kopffüßer dem Vorsitzenden der Troika für Rationalisierung und Utilisierung unerklärter ErscheiI Man muß Einschränkungen machen. i Das ist lächerlich. nungen (Sensationen), Seiner Exzellenz Kollegen Lawr Fedotowitsch Wunjukow, seine aufrichtige Hochachtung und setzt ihn von folgendem in Kenntnis: § 1. Vorliegendes Memorandum ist das letzte von zwölf Dokumenten gleichen Inhalts, die der Bevollmächtigte Botschafter an Seine Exzellenz gerichtet hat. § 2. Der Bevollmächtigte Botschafter erhielt bis zum heutigen Tage weder eine Empfangsbestätigung noch eine angemessene Antwort auf wenigstens eins der erwähnten Dokumente. § 3. Der Bevollmächtigte Botschafter sieht sich mit Bedauern veranlaßt, das Festhalten an einer unrühmlichen Tradition zu konstatieren, das im weiteren kaum zu normalen Beziehungen zwischen den Hohen vertragschließenden Seiten führen dürfte.
Da im Zusammenhang mit obigen Darlegungen die vorangegangenen elf Dokumente aus diesen oder jenen Gründen der Aufmerksamkeit Seiner Exzellenz entgangen sein können, hält es der Bevollmächtigte Botschafter für erforderlich, Seine Exzellenz erneut über seine Absichten zu unterrichten, die sich aus seinen, des Bevollmächtigten Botschafters, Verpflichtungen gegenüber der Generalfreundschaft, die zu vertreten er die Ehre hat, ergeben: § 1. Der Bevollmächtigte Botschafter beabsichtigt, mit Vertretern des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Hohen vertragschließenden Seite zusammenzutreffen, um sich mit ihnen über das Zeremoniell für die Übergabe seiner Beglaubigungsurkunde an den Minister für Auswärtige Angelegenheiten zu verständigen. § 2. Nach erwähnter Verständigung beabsichtigt der Bevollmächtigte Botschafter, dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Hohen vertragschließenden Seite seine Beglaubigungsurkunde zu überreichen. Im Interesse der Hohen vertragschließenden Seiten und in der Annahme, daß die vorangegangenen elf Dokumente aus diesen oder jenen Gründen der Aufmerksamkeit Seiner Exzellenz entgangen sind, hält sich der Bevollmächtigte Botschafter für verpflichtet, die an Seine Exzellenz gerichteten Vorschläge zu wiederholen: § 1. Der Bevollmächtigte Botschafter wünscht mit Seiner Exzellenz zusammenzutreffen, um sich mit ihm über die Mittel und Wege seiner, des Bevollmächtigten Botschafters, Beförderung an den Ort der Begegnung mit den Vertretern des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Hohen vertragschließenden Seite ins Einvernehmen zu setzen. § 2. Der Bevollmächtigte Botschafter der Generalfreundschaft überläßt es Seiner Exzellenz, den Termin für das Zusammentreffen festzulegen. § 3. Was den Ort des Zusammentreffens angeht, so wäre es unter Berücksichtigung der physischen und physiologischen Besonderheiten des Organismus des Bevollmächtigten Botschafters wünschenswert, es in der jetzigen Residenz des Bevollmächtigten Botschafters stattfinden zu lassen.
Mit vorzüglicher Hochachtung und in Erwartung der Entscheidung Euer Exzellenz verbleibe ich als Ihr gehorsamer Diener SPIRIDON Bevollmächtigter Botschafter der Generalfreundschaft Gigantischer urtümlicher Kopffüßer - Das ist alles«, sagte der Kommandant. »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Gibt es hierzu Vorschläge?« »Ich hab einen Vorschlag«, erklärte Chlebowwodow. »Dem Scheusal die Futterration zu streichen. Soll er ruhig mal Kohldampf schieben. Man sieht doch auf den ersten Blick, daß der sich über uns lustig macht. Wie oft hat man ihm schon gesagt, komm zur Sitzung, er aber hat nichts Besseres zu tun, als uns mit seinen Ergüssen zu beglücken. Und darum schlage ich vor: Soll er mal eine Weile den Riemen enger schnallen, vielleicht kommt er dann zur Vernunft.« Dies war der Moment, da Edik nach einer kurzen Beratung mit Roman beschloß, sein utopisches Programm einer moralischen Erneuerung der Mitglieder der Troika an Chlebowwodow zu erproben und aus den Tiefen des Chlebowwodowschen Bewußtseins all das an die Oberfläche zu heben, was dort an Vernünftigem, Gutem und Ewigem schlummerte, bekam aber nur das verschwommene Bild eines Herings in Senftunke und eine professionell unverständliche Stimme zu fassen: »Gehen Sie von den Türen weg. Nächste Station: Kropotkinskaja!« »Nein, nein, Kollege Chlebowwodow«, widersprach Farfurkis. »So geht's ja nun auch nicht. Was heißt hier: Gehen Sie von den Türen weg? Die Türen müssen für Verhandlungen offenbleiben. Vielleicht ist er tatsächlich ein Botschafter? Wir müssen diplomatische Vorsicht walten lassen. Was anderes ist natürlich, daß er sich nicht seinem Rang entsprechend verhält und von der Troika Dinge verlangt, die unser Prestige untergraben. Natürlich müssen wir ihn in die Schranken weisen. Wir müssen ihm schreiben, daß die Troika nicht bevollmächtigt ist, Beziehungen irgendwelcher Art zum Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten aufzunehmen, daß die Troika die Aufgabe hat, unerklärte Erscheinungen zu rationalisieren und zu utilisieren, und daß Spiridon darum für die Troika nichts anderes darstellt als den
Vorgang Nummer sechs, der verpflichtet ist, zu seiner Verhandlung zu erscheinen und sich der Entscheidung der Troika zu beugen. Deshalb schlägt die Troika ihm vor, Montag hier zu erscheinen. Seine diplomatischen Funktionen aber interessieren die Troika überhaupt nicht.« »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Das Volk ist nicht im Besitz überschüssigen Papiers, um mit den unerklärten Erscheinungen auch noch in Briefwechsel zu treten. Andererseits ist das Volk gastfreundlich und freigebig. Ich spreche im Namen aller, wenn ich dem Kollegen Subo vorschlage, dem Vorgang Nummer sechs noch einmal mündlich auseinanderzusetzen, wie unangemessen sein Verhalten ist. Die Futterration für den Vorgang ist nach wie vor bereitzustellen. Andere Vorschläge gibt es nicht? Keine Fragen an den Vortragenden?« »Welches Kaliber?« bellte der Oberst. Lawr Fedotowitsch nahm das Theaterglas und richtete es auf den Witzbold. Der Oberst aber schlief friedlich, und Lawr Fedotowitsch zeigte Verständnis für seine Schwäche, überhörte seine Worte und beruhigte sich. »Die Tagessitzung der Troika geht weiter«, sagte er. »Der nächste. Tragen Sie vor, Kollege Subo.« Roman, der nun die Gewißheit hatte, daß Spiridon vor Montag nicht die Gefahr.drohte, dem Zirkel junger Segelflieger übergeben oder gar pulverisiert zu werden, flüsterte Edik etwas zu und schlich auf. Zehenspitzen hinaus. Der Kommandant schlug die nächste Akte auf und trug vor: »Vorgang Nummer vierundsech- zig. Familienname: nicht ermittelt. Vorname: nicht ermittelt. Vatersname: nicht ermittelt.« »Ich protestiere«, sagte Farfurkis. »Was heißt hier »nicht ermittelt«? Das muß ermittelt werden! Notfalls müssen Sie sich an die Miliz wenden.« »Der Schweinehund stellt sich stur«, sagte Chlebowwodow. »Das ist einer von den Außerirdischen«, erklärte der Kommandant mit matter Stimme. »Die haben so was nicht immer.« »Ich protestiere kategorisch!« schrie Farfurkis wutentbrannt und blätterte hektisch in seinem Büchlein. »In der Instruktion gibt's dazu absolut eindeutige Festlegungen! Paragraph sechs, Kapitel
vier, Teil zwo... Hier! >Für den Fall, daß eine unerklärte Erscheinung ein Lebewesen darstellt, ihr Name aber aus irgendwelchen Gründen nicht ermittelt werden kann, ist ihr zwecks Registrierung und Identifizierung ein von der Troika gewählter und bestätigter Familien-, Vor- und Vatersname zu geben. Anmerkung: Um Verwechslungen, Mißbrauch und Diffamierungen auszuschließen, ist es untersagt, genannten Lebewesen den Namen bekannter Persönlichkeiten der Geschichte, der Literatur oder der Kunst zu geben. Anlage Nummer neunzehn enthält eine Liste mit Beispielen.« Haben Sie die Instruktion etwa nicht gelesen?« »Nein! Hab ich nicht!« sagte der Kommandant aufbrausend. »Diese Instruktion ist auch nicht für mich bestimmt, sondern für Sie! Die krieg ich überhaupt nicht in die Hand! Sie aber lassen einen nie ausreden. Ich hab hier noch eine Anlage zum Fragebogen: >Kurze Beschreibung des Vorgangs Nummer vierundsechzig«.« »Was denn noch für eine Beschreibung?« fragte Farfurkis verlegen und blätterte von neuem in seinem Notizbuch. »Auf der letzten Anleitung haben Sie's doch selbst angeordnet: Wenn ein Mensch keinen Namen hat, soll er wenigstens eine Beschreibung kriegen. Darum hat Kollege Wybegallo eine angefertigt. Da reden sie und reden und wissen überhaupt nicht, wovon.« »Tjä...«, entschloß sich Wybegallo einzuwerfen. »Fait ce que doit advienne ce qui pourra', ergo...« »Ein Hindernis?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch mit monotoner Stimme. »Kollege Farfurkis, räumen Sie's aus dem Weg.« »Ja wirklich, mein Protest war ein wenig verfrüht«, gestand Farfurkis ein. »Ich hab mich dabei auf den Paragraphen sechs gestützt, dabei fällt der zur Verhandlung stehende Vorgang unter den Paragraphen sieben desselben Kapitels, in dem es heißt: >Falls eine unerklärte Erscheinung eine Substanz darstellt, die nicht mit Bestimmtheit als ein Lebewesen definiert werden kann, das heißt, daß die Identifizierung der unerklärten Erscheinung als ein Lebei Komme, was wolle. wesen der Troika gewisse Schwierigkeiten bereitet...« Tja, dann, Kollegen, ist diese Erscheinung tatsächlich nur mit einer Nummer
zu versehen und dem Fragebogen ist eine kurze Beschreibung beizufügen. Ich ziehe meinen Protest zurück.« »Haben Sie's aus dem Weg geräumt?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch. »Fahren Sie fort, Kollege Subo.« »Womit denn nun?« fragte der Kommandant. »Mit Punkt vier oder mit der Beschreibung?« »Ist doch schnurz«, rutschte es Chlebowwodow heraus, worauf er erschrak und aus unerfindlichem Grund unter den Tisch kroch. Farfurkis suchte in seinem Notizbuch nach Anweisungen, konnte aber keine finden. Der Oberst erwachte und geriet ins Grübeln. Auch Wybegallo grübelte, bekam vor Anstrengung jedoch Nasenbluten und war nicht mehr ansprechbar. Ein Blick auf Lawr Fedotowitsch erschütterte mich. Lawr Fedotowitsch überragte uns alle wie eine Bastion. Schrecklich, sich vorzustellen, welch rasende Gedankenarbeit jetzt hinter der granitenen Fassade seiner Ruhe und Unerschütterlichkeit tobte. Punkt vier oder die Beschreibung? Die Beschreibung oder Punkt vier? »Die Instruktion enthält keine entsprechenden Anweisungen«, sagte Farfurkis verzweifelt. Eine Tragödie bahnte sich an, ein furchtbarer, beispielloser Konflikt, den nur ein Wunder aus der Welt schaffen konnte. Und dieses Wunder geschah. »Tragen Sie die Beschreibung vor«, sagte Lawr Fedotowitsch. Alle lebten auf. Farfurkis trug mit strahlender Miene etwas ins Protokoll ein. Chlebowwodow kam unter dem Tisch hervor und himmelte Lawr Fedotowitsch an. Der Oberst lächelte beruhigt und schlief wieder ein. Was Wybegallo angeht, so geruhte er, sich zweimal zu schneuzen, und zwar in einer Weise, daß man die von ihm hervorgebrachten Töne ohne weiteres als Worte hemmungslosen Entzückens in einem französischen Dialekt auffassen konnte. Edik und ich tauschten einen kräftigen Händedruck. »Beschreibung des Vorgangs Nummer vierundsechzig«, las der Kommandant. »Der Vorgang Nummer vierundsechzig verkörpert eine braune, halbflüssige Substanz mit einem Volumen von etwa zehn Litern und einem Gewicht von sechzehn Kilogramm. Er ist
geruchlos. Der Geschmack ist nicht bekannt. Der Vorgang paßt sich der Form des Gefäßes an, in das er gegossen wird. Auf einer glatten Oberfläche bildet er einen runden Fladen von maximal zwei Zentimetern Dicke. Bestreut man ihn mit Salz, so krümmt er sich. Er ernährt sich von Puderzucker und fault auch bei längerem Stehen nicht. Er ist imstande, ihm entnommene Massen zu regenerieren.« Der Kommandant legte die Beschreibung beiseite und kehrte zum Fragebogen zurück. »Punkt vier. Geburtsjahr und -ort: nicht ermittelt, aber wahrscheinlich nicht auf unserem Planeten.« »Wahrscheinlich!« rief Farfurkis sarkastisch. »Das müssen Sie uns alles noch begründen«, sagte er zu Wybegallo und drohte ihm mit dem Finger. »Selbstredend!« erwiderte Professor Wybegallo forsch. »Das Volk wird zufrieden sein!« »Nationalität«, fuhr der Kommandant mit erhobener Stimme fort. »Wahrscheinlich außerirdisch. Schulbildung: wahrscheinlich Hochschulbildung. Fremdsprachenkenntnisse: wahrscheinlich vorhanden. Gegenwärtige Arbeitsstelle und Beruf: wahrscheinlich Raumschiffpilot. Aufenthalte im Ausland: wahrscheinlich...« »Was soll das heißen?« Chlebowwodow fuhr auf. »Was heißt hier wahrscheinlich?« »Das heißt nun mal so!« antwortete der Kommandant bissig. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht kommt er aus Schweden, er erzählt's uns doch nicht.« »Ich glaube, bei uns hapert's mit der Wachsamkeit«, sagte Chlebowwodow. »Farfurkis, Bruderherz, trag für alle Fälle ins Protokoll ein: Chlebowwodow erinnert den Kommandanten an die nötige Wachsamkeit!« Der Kommandant blickte ihn haßerfüllt an und fuhr fort: »Kurz umrissenes Wesen des Unerklärten: Ein unbekanntes Geschöpf (möglicherweise ein Stoff) von einem unbekannten Planeten (möglicherweise nicht von einem Planeten) ungeklärter chemischer Zusammensetzung und prinzipiell unbestimmbarer Intelligenz. Angaben über die nächsten Angehörigen liegen nicht vor, die ständige Wohnanschrift ist unbekannt. Das ist alles.«
»Von wegen alles!« sagte Chlebowwodow und lachte hämisch. »Als ich 1952 Direktor des Pferdestalls Nummer zwei beim Beund Entladekontor Nummer neun war, kam mal ein Wallach zu mir. >lch«, sagte er, >bin ein Wallach.« Papiere hatte er keine, Sprachen beherrschte er nicht, und auch sein Name war unbekannt. Ich hätt ihn zum Teufel jagen oder der Miliz übergeben sollen, aber aus Unerfahrenheit hab ich ihn eingestellt. Warum nicht, dachte ich mir, schließlich ist's ein Wallach. Eine Woche später aber bringt er mir ein Fohlen an - das war der erste Streich! Und dann machte ersieh aus dem Staube - das war der zweite Streich! Obendrein hat er noch fünf Sack Hafer aufgeleckt, wie eine Kuh. Ein schöner Wallach. Er aber will mir hier was weismachen — von wegen unbekannt und ungeklärt. Wie die Kinder, weiß Gott!« »Ja, ja!« sagte Farfurkis in entschiedenem Ton. »Mir gefällt das auch nicht. So kann man nicht arbeiten, wissen Sie. Dem Kommandanten kann man's nicht verübeln, aber über Sie, Kollege Wybegallo, muß ich mich doch wundern.« Wybegallo nahm den Fehdehandschuh auf. »Wieso? Worüber müssen Sie sich wundern, Kollege Farfurkis?« fragte er. »Über Ihre alles andere als überzeugende Beschreibung, Kollege Wybegallo, darüber!« sagte Farfurkis. »Ja, das spottet wirklich jeder Beschreibung«, fügte Chlebowwodow hinzu. »So eine Räuberpistole schmiere ich Ihnen auch zusammen.« Da reckte Wybegallo seinen Bart in die Höhe, musterte die über die Stränge schlagenden Kritikaster mordlüstern, streifte die Manschetten hoch und fiel über seine Widersacher her. Wie sich herausstelle, müsse die Wissenschaft, die zu vertreten er hier die Ehre habe, nicht zum erstenmal die Interessen des Volkes gegen die Angriffe von Laien und Dilettanten schützen. C'est pénible, mais cela fait du bien.1 Er, Professor Wybegallo, der durch die Nabelschnur gemeinsamer Abstammung mit dem Volk verbunden sei, wäre sich nie zu gut dafür gewesen, persönlich alle möglichen Umtriebe aufzudecken und Übergriffe abzuwehren. Er, Professor Wybegallo, halte es für seine Pflicht, gewisse Kollegen daran zu erinnern, daß unsere Wissenschaft keinerlei
Schönfärberei, Tatsachenverdrehung und Ammenmärchen dulde. Rein menschlich könne er, Professor Wybegallo, den Wunsch des Kollegen Chlebowwodow verstehen, daß der Vorgang Nummer vierundsechzig beispielsweise aus der Bundesrepublik zu uns gekommen sein möge. Je prévois, j'ai la chair de poule.1 Wäre dem so, könnte der Kollege Chlebowwodow leicht politisches Kapital aus der Sache schlagen, indem er die Übergabe dieses Vorgangs an ganz andere Instanzen initiiere. Verständlich sei ihm, Professor 1 Es ist nicht einfach, tut aber gut. 2 Ich sehe voraus, dais ich eine Gänsehaut kriege. Wybegallo, auch der Wunsch des Kollegen Farfurkis, daß der Vorgang eindeutig als ein Stoff definiert werde. Dann bekäme der Kollege Farfurkis Gelegenheit, den Vorgang ans Institut für geologische Forschung abzuschieben und so einen Teil der kostbaren Zeit des Volkes für seine zweifelhaften Abenteuer abzuzweigen, die nicht gerade von einem hohen moralischen Niveau zeugten. Aber die Wissenschaft in seiner, Professor Wybegallos, Person weise eine so verantwortungslose Haltung gegenüber unerklärten Erscheinungen zornig zurück. Wenn die Wissenschaft nicht über ausreichende Daten für die Behauptung verfüge, der Vorgang Nummer vierundsechzig komme beispielsweise aus der Bundesrepublik, dann beantworte sie, die Wissenschaft, die Frage nach den Auslandsaufenthalten des Vorgangs mit einem prompten und eindeutigen Wahrscheinlich. Wenn der Wissenschaft zur Bestimmung der Stofflichkeit beziehungsweise Dinglichkeit eines Vorgangs nicht genügend Fakten vorlägen, identifiziere sie, die Wissenschaft, den Vorgang ohne viel Brimborium klipp und klar als ein »unbekanntes Geschöpf, in Klammern: möglicherweise einen Stoff«. Der hier anwesende Lawr Fedotowitsch werde bestätigen, daß die Zeiten der Schönfärberei, der Tatsachenverdrehung und der Ammenmärchen längst vorbei und die Versuche einzelner Mitglieder der Troika, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, zum Scheitern verurteilt seien. Unter dem Einfluß des Korpsgeistes klatschten Edik und ich lebhaft Beifall. Wybegallo setzte sich mit einer Verbeugung.
Unter diesen Umständen hielt es der von Wybegallo runtergeputzte Chlebowwodow für angebracht, sich auf seine Ausgangsposition zurückzuziehen, von der er Lawr Fedotowitsch wie eh und je anhimmelte. Der schlaue Farfurkis dagegen gab nicht so schnell auf. Er war zwar ebenfalls schwer angeschlagen, fand aber noch die Kraft in sich, Wybegallo in die Flanke zu fallen. »Ich möchte nur betonen«, sagte er mit Nachdruck, »daß wir keine jungen Naturforscher sind, wir tragen Verantwortung, und unsere Aufgabe ist es, unerklärte Objekte zu untersuchen. Hier haben wir es faktisch mit einem unbekannten Objekt zu tun. Der Instruktion nach«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »muß unsere Haltung gegenüber einem unbekannten Objekt prinzipiell anders sein, ist es doch durchaus möglich, daß das unbekannte Objekt selbstzündend, explosiv, giftig oder gar anthropophagisch ist. Darum bin ich kategorisch dagegen, den Vorgang jetzt zu verhan dein, da Lawr Fedotowitsch unter uns weilt, dessen Leben viel zu kostbar ist, um von uns leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu werden.« Aller Blicke richteten sich auf Lawr Fedotowitsch. Lawr Fedotowitsch hielt längere Zeit schweigend die Lider gesenkt und paffte eine Herzegowina. Dann stieß er hervor: »Das Volk...« »Ja! Ja!« fiel Farfurkis ein. »Genau!« Lawr Fedotowitsch aber schien den Ausruf gar nicht gehört zu haben. Er hob das Theaterglas an die Augen und betrachtete erst den Kommandanten und dann Wybegallo. Die Ruhe, mit der beide die obrigkeitliche Entscheidung abwarteten, stellte ihn offensichtlich zufrieden. »Das Volk erwartet von uns Heldentaten«, sagte er schließlich und ließ das Theaterglas sinken. »Der Vorgang soll eintreten, Kollege Subo.« Der Kommandant trippelte ins Vorzimmer, während Lawr Fedotowitsch seiner Aktentasche eine Gasmaske entnahm und sie vor sich auf den Tisch legte. Gleich darauf trug der Kommandant ein großes Glas mit dem Vorgang Nummer vierundsechzig herein. Seine Miene war verzweifelt, und Edik und ich konnten ihn gut verstehen. Erstens war das ein Gurkenglas, das maximal fünf Liter faßte, und man fragte sich, wo die restlichen fünf Liter des Außerirdischen geblieben
waren. Zweitens war der Vorgang Nummer vierundsechzig unverkennbar blau und keineswegs, wie es in der Beschreibung geheißen hatte, braun. Na, jetzt geht's los, dachte ich. Der Kommandant hatte das Glas noch nicht auf dem Demonstrationstisch abgesetzt, als Farfurkis entsetzt aufschrie, die Beschreibung aus der Mappe riß und sich mit den Blicken daran festsaugte. »Braun soll er sein!« schrie er. »Braun! Was bringen Sie uns da, Kollege Subo? Wieso ist er blau, wo er doch braun sein soll? Lawr Fedotowitsch! Er ist blau und nicht braun! Dabei ist er laut Beschreibung braun und nicht blau!« Die Versammelten gerieten aus dem Häuschen. Der Kommandant trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust und schwor, morgens sei er noch braun gewesen, er wisse nicht, wieso er jetzt blau sei, er sei von selbst blau geworden, er habe ihn weder umgefärbt noch vertauscht. Chlebowwodow forderte ein Protokoll und kam immer wieder auf den hochstaplerischen Wallach zurück; Farfurkis rief nach dem Staatsanwalt und unterstellte dem Kommandanten eine Fälschung und den Versuch, ein maßgebliches Organ in die Irre zu führen; Lawr Fedotowitsch saß stumm unter seiner Gasmaske und schob nur von Zeit zu Zeit einen Finger unter ihren Rand, um atmen zu können; der Oberst erwachte und krähte wie ein Hahn auf der Hühnerleiter, wobei er wie von Sinnen den Kopf hin und her drehte und mit einem unsichtbaren Säbel auf einen unsichtbaren Feind einhieb. Schließlich verstummten alle erschöpft, und nur der Kommandant krächzte: »Bei unserem Jesus Christus, dem Sohn Gottes, und seiner Mutter, der Heiligen Jungfrau Maria, ich hab ihn nicht gefärbt!« Dann wurde auch er still. In der eingetretenen Pause ertönte dumpf wie aus einer Mammuthöhle Lawr Fedotowitschs Stimme: »Ein Hindernis? Kollege Farfurkis, räumen Sie's aus dem Weg.« Farfurkis rückte seine Krawatte zurecht und hielt eine Rede, aus der hervorging, daß solche Fälle in der Instruktion vorgesehen seien, und zwar im Paragraphen zwölf, Kapitel fünf, Teil vier, wo man schwarz auf weiß nachlesen könne, daß im Falle einer Veränderung des Aussehens oder gar der inneren Struktur einer unerklärten Erscheinung ein Protokoll auf Formblatt Nummer einhundertzehn Schrägstrich zwo aufzusetzen sei. Er wies Lawr
Fedotowitsch das Formblatt vor und wollte sich mit dessen Einverständnis schon daranmachen, das Protokoll aufzusetzen, als sich herausstellte, daß dabei als Ausgangsmaterial vorhanden sein mußte: a) die unerklärte Erscheinung in ihrer jetzigen Gestalt, b) ein Farbfoto (Farbfilm) ihrer ursprünglichen Gestalt. Da der verschüchterte Kommandant einer Ohnmacht nahe war, kramte Farfurkis die Akte eigenhändig nach einem Foto (Film) durch und entdeckte sofort, daß kein Foto (Film) vorhanden war. »Wo ist das Foto?« fragte er drohend, so drohend, daß der Kommandant wieder zu sich kam. »Wo sind die beiden Farbfotos des Vorgangs Nummer vierundsechzig im Format neun mal zwölf?« Der Kommandant bewegte schwach die Lippen. »Das ist ja ein Verbrecher«, sagte Farfurkis grenzenlos erstaunt. »Nein«, sagte der Kommandant. »Ein pflichtvergessener Saboteur!« sagte Farfurkis und musterte ihn angewidert. »Nein!« Der Kommandant stöhnte. »Bei Jesus Christus und den heiligen zwölf Aposteln...« »Ein Eiterpickel auf dem Antlitz der städtischen Administration!« sagte Farfurkis. »Aber nein!« brüllte der Kommandant. »Was hab ich damit zu tun? Das war Naismork! Er, nicht ich. Er hat sich doch geweigert!« »Was heißt, er hat sich geweigert?« »Ich sag zu ihm: Fotografiere ihn. Er aber denkt nicht dran! Fotografiere ihn, sag ich. Nein, er fotografiert ihn nicht! Schließlich untersteht er nicht mir, sondern Ihnen! Ich hab überhaupt keinen Zutritt...« »Naismork zu mir!« Lawr Fedotowitschs Stimme dröhnte dumpf, und der Kommandant stürzte Hals über Kopf aus dem Raum. »Dieser Subo gefällt mir nicht«, sagte Farfurkis augenblicklich. »Ein windiger Bursche.« »Er züchtet Schweine«, teilte Professor Wybegallo lebhaft mit. »Das ist uns bekannt«, sagte Farfurkis. »Seine Tochter... tjä... ist geschieden.« »Auch das ist uns bekannt.«
»Er braut Bier.« »Ja«, stimmte Farfurkis zu. »Und treibt Handel damit.« »Er hat zu Hause Ikonen hängen«, sagte Wybegallo. »Altgläubige. Außerdem liest er in der Bibel und konspektiert sie.« »So?« fragte Farfurkis. »Das ist ja interessant.« »Nous en savons quelque cbose aussi«1 erklärte Wybegallo wichtigtuerisch. Da stand Chlebowwodow, der schon lange mit abwesender Miene auf das Glas mit dem blau gewordenen Vorgang starrte, plötzlich auf, ging auf den Demonstrationstisch zu und umkreiste ihn. Jetzt geht's dem Kommandanten an den Kragen, dachte ich. Und tatsächlich: Chlebowwodow nahm das Glas auf und wog es auf seiner Handfläche. »Das ist doch hier kein Pud«, sagte er. »Wenn Sie's genau wissen wollen, ist das nicht mal mehr ein halbes Pud. Ich gucke schon immerzu, weil in der Beschreibung doch was von zehn Litern steht, diese Gläser aber kenne ich, da passen bloß fünf Liter rein. Hier auf dem Etikett steht's: >Saure Gurken, Inhalt fünf Liter«. Was will ich wohl damit sagen? Na, was wohl?« Lawr Fedotowitsch riß sich die Maske vom Gesicht und richtete das Theaterglas auf den Vorgang. Wybegallo sperrte den Mund auf. Farfurkis blätterte hingebungsvoll in seinem Notizbuch, ich i Wir wissen darüber auch etwas. aber fragte mich, was sie nun mit dem Kommandanten machen würden: ihn einfach auf eine schlechter bezahlte Stelle versetzen oder ihm was anhängen? Der Kommandant tat mir leid. Ich mochte ihn, obwohl er keine Leuchte war. »Noch wissen wir nichts Genaues«, sagte Chlebowwodow, während er konzentriert an dem Vorgang schnupperte. »Vielleicht hat er was davon abgegossen und Wasser nachgefüllt. Vielleicht ist das auch nur noch Wasser. Damit's nach was aussieht, hat er Waschblau reingekippt und bildet sich nun ein, er kommt damit durch.« Da flog die Tür auf, und der lange, dürre Naismork stürmte mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen, in den Raum. Schon an der Schwelle fing er, den Blick in die entfernteste untere Zimmerecke gerichtet, an zu nörgeln: »Was ist denn nun wieder los? Haben Sie wieder was an mir auszusetzen? Was paßt Ihnen
denn jetzt nicht?« Aber niemand achtete auf ihn. Aller Blicke waren drohend auf den bleichen Kommandanten gerichtet, der hinter Naismorks Rücken hervorlugte und lamentierte: »Soll er's verantworten, was hab ich damit... Ich hab überhaupt keinen Zutritt...« »Kollege Subo«, verkündete Lawr Fedotowitsch mit monotoner Stimme, und alles erstarrte. »Schaffen Sie die fehlenden fünf Liter des Vorgangs herbei. Wir geben Ihnen vier Minuten Zeit.« Mit einem Satz war ich beim Kommandanten, griff ihm unter die Achseln und schleifte ihn ins Vorzimmer, wo ich ihn auf die neumodische hölzerne Besucherbank legte. Der Kommandant war totenblaß, verdrehte die Augen, und sein Puls war nicht zu spüren. Ich stopfte ihm meine Jacke unter den Kopf, knöpfte seinen Kragen auf, klopfte ihm auf die Wangen und blies ihm ins Gesicht. Das machte auf den Ärmsten keinerlei Eindruck, aber ich sah, daß er außer Lebensgefahr war. Und so ließ ich den Kommandanten auf der Bank liegen und warf einen Blick in den Sitzungssaal. Mich interessierte brennend, wie Naismork sich aus der Affäre ziehen würde. Er tat es mit Bravour. Er trieb Chlebowwodow und Farfurkis, die er mit seiner Basketballergröße von zwei Komma zehn Metern weit überragte, in eine Ecke und brüllte, als stünde er auf einer Tribüne: »Den Paragraphen zwölf kenne ich besser als Sie! An dem hab ich mir schon die Zähne ausgebissen und den Magen verrenkt! Da heißt's nämlich: en face! Verstehen Sie Russisch? En face! Und jetzt zeigen Sie mir mal, was bei dieser Pampe en face ist, dann knipse ich sie Ihnen auch, wenn's sein muß, von morgens bis abends! Was ist hier en face? Was? Na, was wohl? Warum sagen Sie nichts? Ich hab den Wiehießerdochgleich persönlich fotografiert! Und auch den... na, den, der immer mit Hut ging! Den Paragraphen zwölf kenne ich in- und auswendig! Wenn sich's aber en face nicht machen läßt? Der Wiehießerdochgleich sah en face ganz normal aus! Und auch der Nasiewissenschon war en face nicht zu verachten. Das war ein Porträt, sag ich Ihnen — drei Tage hätte man gebraucht, ura's vollzuklacksen. Aber was ist hier en face?«
Chlebowwodow und Farfurkis war jede Angriffslust vergangen. Sie sahen sich hilfesuchend nach allen Seiten um und versuchten stumm, aus der Ecke auszubrechen, wobei sie sich wie verschreckte Pferde auf der Koppel zusammendrängten und mit den Hufen stampften. Bei dem Lärm wurde der Oberst wieder wach, und auch ihm schienen, schlaftrunken, wie er war, Pferde in den Sinn zu kommen. Er rutschte auf seinem Sessel hin und her, biß sich auf die Lippen und schrie gellend: »Aufzäumen! Aufzäumen!« Lawr Fedotowitsch hatte sich bequem in seinem Sessel zurückgelehnt und betrachtete die Szene durch sein Theaterglas. Ich kehrte zum Kommandanten zurück und ließ ihn an dem Wasser aus der Besucherkaraffe schnuppern. Das brachte ihn sofort wieder zu sich. Er zog es jedoch vor, sich bis zur Klärung der Angelegenheit totzustellen. »Kollege Subo«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Bleiben Sic einstweilen ohnmächtig. In fünf bis zehn Minuten kommen Sie dann rein und sagen immer nur das eine: Ich weiß nichts, ich hab nichts gemacht. Inzwischen versuche ich die Sache in Ordnung zu bringen. Einverstanden?« Der Kommandant stieß zum Zeichen seiner Zustimmung einen schwachen Seufzer aus. Er wollte sogar etwas sagen, aber im selben Moment flog krachend die Tür auf, und schon stellte er sich wieder tot. Übrigens war das bloß Naismork. Er knallte die Tür zu, daß es hinter den Tapeten raschelte, und teilte uns mit: »Die Wachposten sind mir auf die Füße getreten, als ich den Wiehießerdochgleich fotografierte, trotzdem ist was draus geworden! Da sind sie bei mir an den Falschen geraten! Was ist denn hier en face? En face ist hier gar nichts zu machen! Und wenn en face nichts zu machen ist, gibt's auch kein Foto! lst en face was zu machen, gibt's auch ein Foto!« Er warf dem auf der Bank ausgestreckten Kommandanten einen verächtlichen Blick zu und sagte: »Schwächling! Angsthase! Typen wie den hab ich zu Dutzenden geknipst. Haben Sie eine Zigarette für mich?« Ich gab ihm eine Zigarette, und er ging, alle Türen hinter sich zuschlagend. Auch ich steckte mir eine an und kehrte in den Sitzungssaal zurück. Der Oberst schlief schon wieder. Farfurkis
blätterte schwer atmend in seinem Notizbuch, und Chlebowwodow flüsterte Lawr Fedotowitsch etwas ins Ohr. Bei meinem Anblick hörte er auf zu flüstern und fragte ängstlich: »Ist der... Fotograf weg?« »Ja«, sagte ich trocken. »Und wo ist der Kommandant?« fragte Chlebowwodow drohend. »Er hatte eine Leberkolik«, erwiderte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ist er im Krankenhaus?« fragte Farfurkis rasch. »Nein«, sagte ich. »Dann soll er reinkommen und uns Rede und Antwort stehen. Das ist ein Fall fürs Gericht!« Ich holte tief Luft und legte los: »Kollegen, ich begreife nicht, was hier vor sich geht. Ich begreife nicht, wo ich mich befinde. Ist das hier eine maßgebliche Kommission oder ich weiß nicht was? Wir beobachten hier eine interessante wissenschaftliche Erscheinung, die sich nach den ihr immanenten Gesetzen entwickelt und von enormer wissenschaftlicher Bedeutung ist. Ich muß mich über Sie wundern, Kollege Wybegallo, an Ihrer Stelle hätte ich längst gefordert, ins Protokoll aufzunehmen, daß hier eine unbestreitbare Korrelation zwischen den kalorimetrischen Eigenschaften und der Kontraktilität des Objekts entdeckt wurde. Wie ist das zu verstehen?« fragte ich, an Edik gewandt. »Das ist so zu verstehen«, fiel Edik sofort ein, »daß die starke Veränderung im Volumen und in der Masse des Objekts, die sogenannte Kontraktion, zu einer Veränderung der Farbe und möglicherweise auch der chemischen Zusammensetzung geführt hat.« »Ich bitte die Kollegen, sich diese Tatsache vor Augen zu halten!« sagte ich. »Besonders Sie, Kollege Wybegallo. Zumal wir diese farbliche Veränderung wahrnehmen, ohne daß uns ein Kalorimeter oder ein Spektrograph beziehungsweise ein... äh...« »Ja, selbst ohne daß uns ein simpler Thermobaroheliopter zur Verfügung stünde«, fiel Edik emphatisch ein. »So was ist noch nie dagewesen! Ein ganz erstaunlicher Effekt, mit bloßem Auge beobachtet! Und wenn man bedenkt, daß dieser Effekt bei Zimmertemperatur und normalem Luftdruck in Erscheinung tritt,
kann man kühn behaupten, daß wir's hier mit einer unerklärten Erscheinung phänomenalen Ranges zu tun haben. Dazu muß gesagt werden, daß viele Aspekte des Problems völlig unerforscht geblieben sind. So wäre es außerordentlich interessant, den Einfluß der Kontraktion auf die geschmacklichen und magischen Eigenschaften vorliegender Substanz zu untersuchen. Der Wissenschaft sind Fälle bekannt, in denen die Jerusalimski-Magodeterminante unter dem Einfluß der Kontraktion ihr Vorzeichen geändert hat. So stellte Roger de Pontreval beispielsweise fest...« Während Edik mit wachsender Begeisterung die Pontrevalsche Theorie darlegte, suchte ich die Stimmung der Anwesenden zu ergründen. Die Reaktion der Troika schien mir günstig zu sein: Lawr Fedotowitsch griff nicht nach dem Theaterglas, Farfurkis blätterte nicht in seinem Notizbuch, Chlebowwodow hörte mit offenem Mund zu, und der Oberst schlief. Anlaß zu Befürchtungen bot nur Wybegallo, dem offensichtlich noch nicht ganz klar war, welchen Vorteil er aus der Situation ziehen konnte. Dem Manne mußte geholfen werden, und sobald Edik verstummte, fuhr ich mein letztes Geschütz auf. »Übrigens bin ich mir noch nicht im klaren«, sagte ich, »ob wir's bei der häßlichen Szene, die sich soeben hier abgespielt hat, mit einem dem Leichtsinn einzelner Mitglieder der Troika entspringenden Mißverständnis oder mit dem bewußten Versuch einzelner Mitglieder der Troika zu tun haben, den hier entdeckten Effekt zu vertuschen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorzuenthalten. So was soll schon vorgekommen sein«, schloß ich mit Grabesstimme, setzte mich, zog mein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte ein paar Superman-Profile hinein. Man hörte, wie sich auf dem Tisch vor dem Vorsitzenden eine Fliege putzte. »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Gibt es Fragen an den Vortragenden? Nein? Gibt es Vorschläge?« Wybegallo schien endlich gemerkt zu haben, wie der Hase lief. Er übereilte jedoch nichts. Er stand auf, strich seinen Bart glatt, stützte sich mit gespreizten Fingern auf die Bände der »Kleinen Enzyklopädie« und sah eine Zeitlang über die Köpfe hinweg.
»Tjä...«, setzte er an. »Ich hab mich ja nun schon mehrfach zu Wort gemeldet, weiß aber nicht, ob's im Protokoll vermerkt worden ist oder nicht, es ging ja ziemlich hoch her. Ich sagte also bereits, daß der Effekt einer kalorimetrischen Kontraktion bisher noch nie beobachtet wurde, daß wir ihn hier jedoch... tjä... beobachtet und alles auf den Kommandanten geschoben haben, auf le pauvre1 Subo. Natürlich nicht wir alle, sondern einzelne... tjä... der Wissenschaft fernstehende Personen. Ich, Kollegen, sagte also bereits, daß es verfrüht wäre, den Vorgang Nummer vierundsechzig zu rationalisieren oder gar, gottbehüte, zu utilisieren. Wir müssen die Sache aufschieben, und zwar solange wie nötig. Was wir aber nicht aufschieben dürfen, was wir auf keinen Fall aufschieben dürfen, Kollegen, ist die Frage der Priorität. Dans notre Position1 ist es unsere Pflicht, diesen Effekt zu benennen und... tjä... dafür zu sorgen, daß er in die Geschichte eingeht. Deshalb schlage ich klipp und klar vor, bei den zuständigen Organen zu beantragen, diesem Effekt den Namen des Kollegen Wunjukow zu geben. C'est tout ce que je vous dis.3« Alles lief wie am Schnürchen. Der Kommandant, der zweifellos an der Tür gelauscht hatte, kam herein. Er wurde wohlwollend aufgenommen, behauptete, nichts zu wissen, dies sei eine wissenschaftliche Angelegenheit, er aber habe knapp acht Klassen. Man versicherte ihm, alles habe sich geklärt, so gehe es nun auch nicht, Dienst sei Dienst, und Mißerfolge und einzelne Irrtümer könnten schon mal vorkommen. Farfurkis drückte ihm, eine Entschuldigung murmelnd, die Hand, Chlebowwodow nannte ihn Bruderherz, und Lawr Fedotowitsch beliebte sogar zu scherzen: »Heute haben wir Sie tüchtig ins Schwitzen gebracht, Kollege Subo, also nehmen Sie nachher am besten gleich noch mal ein Schwitzbad!« Als das Gelächter abgeebbt war, stieß Lawr Fedotowitsch mit ernster Miene hervor: »Weitere Punkte enthält die Tagesordnung nicht. Ich konstatiere, daß die heutige Sitzung ebenso wie alle vorangegangenen in einer sachlichen und der Arbeit dienlichen Atmosphäre verlaufen ist. Gibt es andere Vorschläge? Nein? Dann erkläre ich die Tagessitzung der Troika hiermit für beendet und schlage vor, in die Mittagspause einzutreten.«
Er verstaute seine Vorsitzendenutensilien in der Aktentasche, stand auf und ging gemessenen Schritts auf den Ausgang zu. Chle1 den armen 2 in unserer Position 3 Das war's, was ich Ihnen sagen wollte. bowwodow und Wybegallo rannten Farfurkis um, der nicht schnell genug geschaltet hatte, und rissen sich, einander beiseite stoßend, darum, Lawr Fedotowitsch die Tür zu öffnen. »Ein Beefsteak ist ein Stück Fleisch«, teilte Lawr Fedotowitsch ihnen gönnerhaft mit. »Ein blutiges!« rief Chlebowwodow zustimmend. »Wieso denn ein blutiges?« Lawr Fedotowitschs Stimme drang bereits aus dem Vorzimmer. Edik und ich rissen alle Fenster auf. Von der Treppe her schallten die Worte zu uns herein: »Aber erlauben Sie mal, Lawr Fedotowitsch, ein Beefsteak, das nicht blutig ist, ist schlimmer als ein Glas Wodka ohne was dazu.« — »Die Wissenschaft meint... tjä... mit Zwiebeln... Ergo...« — »Das Volk ißt gern mal ein schönes Stück Fleisch, beispielsweise Beefsteak...« »Die bringen mich noch ins Grab«, sagte der Kommandant besorgt. »Die sind ja schlimmer als Pest, Hungersnot und alle sieben ägyptischen Plagen zusammen.« »Kollege Subo«, sagte ich streng. »Würden Sie uns bitte erklären, was hier vorgefallen ist. Wieso hat der Außerirdische so abgenommen? Warum befindet er sich in diesem Glas?« »Ich weiß nichts, ich hab nichts gemacht, das ist ein wissenschaftlicher Effekt«, leierte der Kommandant. Ich unterbrach ihn. » Kollege Subo, hören Sie auf damit. Für solche Mätzchen zieht Ihnen Kornejew die Hammelbeine lang. Sie kennen doch Kornejew.« Der Kommandant kannte Kornejew. Er war drauf und dran, wieder in Ohnmacht zu fallen, als Farfurkis noch einmal zurückkehrte. Wie immer hatte die Troika den Oberst auf seinem Platz hinter dem Tisch vergessen. Farfurkis weckte ihn und führte ihn mit den Worten hinaus: »Können Sie nicht einmal rechtzeitig auf-
wachen, Sie alte Schlafmütze? Also wirklich, man kann sich nur wundern!« »Na?« sagte ich, als sie draußen waren. »Erzählen Sie bitte, Kollege Subo«, bat der höfliche Edik. »Vielleicht ist noch was zu retten.« Der Kommandant ließ den Kopf hängen. »Nein«, sagte er. »Da ist nichts zu retten. Wer den Topf zerschlagen hat, weiß ich nicht, aber als ich ihn heute früh für die Sitzung bereitstellen wollte, war der Tontopf, in dem er zu uns gekommen ist, kaputt und die Hälfte schon ausgelaufen. Die Pfütze auf dem Fußboden wurde immer größer. Was sollte ich machen? Ach, dachte ich mir, alles wird sich finden, und füllte das, was von ihm übrig war, in dieses Glas. Mir wird schon was einfallen, dachte ich, und vielleicht merkt's gar keiner. Aber dann auch noch das!« In seinen Augen malte sich Entsetzen. »Er war doch braun, Jungs, beim Umfüllen hab ich's genau gesehen. Und jetzt gehe ich das Glas holen, Mama mia — da ist er blau! Nein, die bringen mich noch ins Grab. Ohne euch, meine Wohltäter, wär's heute schon passiert.« Edik und ich wechselten einen Blick. »Hm?« fragte ich. »Nicht doch«, meinte Edik unsicher. »Das kann nicht sein. Kaum. Zu unwahrscheinlich... Obwohl...« Als wir die Treppe hinunterstiegen, sagte er: »Dummerweise hatte Vitjka seine Hände im Spiel. Und bei dem weiß man nie...« Die Abendsitzung fiel aus. Offiziell wurde uns mitgeteilt, Lawr Fedotowitsch sowie die Kollegen Chlebowwodow und Wybe- gallo hätten sich beim Mittagessen mit Pilzen vergiftet und der Arzt habe ihnen bis zum nächsten Morgen Bettruhe verordnet. Der mißtrauische Kommandant glaubte der offiziellen Version jedoch nicht. Er rief in unserem Beisein im Hotelrestaurant an und sprach mit seinem Gevatter, dem Oberkellner. Und was stellte sich heraus? Beim Mittagessen hatte Lawr Fedotowitsch mit dem Kollegen Chlebowwodow darüber gefachsimpelt, ob ein durchgebratenes Beefsteak einem blutigen vorzuziehen sei, und, um herauszufinden, welche dieser Zubereitungsarten beim Volk am beliebtesten und demzufolge zukunftsträchtig sei, mit seinem Opponenten zu Kognak und gepflegtem Pilsner je vier Probepor-
tionen aus der Reserve des Chefkochs vertilgt. Und nun war ihnen übel, nun lagen sie flach, zumindest hatten sie bis zum nächsten Morgen Ausgehverbot. Der Kommandant jubelte wie ein Schuljunge, dessen Lieblingslehrer plötzlich erkrankt ist. Und ich stand nicht hinter ihm zurück. Nur Edik war unzufrieden. Er hatte auf der Abendsitzung der Troika einen neuerlichen Versuch der positiven Remoralisa- tion starten wollen. Wir holten uns ein Eis, verabschiedeten uns vom Kommandanten und gingen zu unserem Hotel. Unterwegs lauerte mir der gute alte Edelweiß auf. Ich gab ihm einen Rubel, ohne die gewohnte Reaktion zu erzielen. Ich trat ihm mein Eis ab, aber er bedrängte mich weiter. Materielle Werte interessierten ihn nicht mehr. Er lechzte nach geistiger Nahrung. Ich sollte mich sofort leitend in die Vervollkommnung und Modernisierung seines heuristischen Aggregats einschalten und für den Anfang einen auf drei Jahre (für die Dauer seiner Aspirantur) befristeten detaillierten Plan aufstellen. Nachdem ich ihm fünf Minuten lang zugehört hatte, sah ich rot, häßliche Worte lagen mir auf der Zunge, und ruchlose Taten kündigten sich an. Edik rettete den alten Mann. »Eine solche Arbeit«, sagte er höflich, aber entschieden, »muß mit einem gründlichen Studium der Fachliteratur beginnen. Haben Sie Kins >Einmaleins der Radiotechnik« gelesen?« Der alte Mann hatte überhaupt nichts gelesen und machte auch kein Hehl daraus. »Großartig«, sagte ich und kam wieder zu mir. »Sie melden sich sofort in der Bibliothek an und holen sich das »Einmaleins«, Kissel- jows »Geometrie« und irgendwas über Algebra für die achte Klasse. Das alles lesen Sie und fertigen sich Konspekte an. Und mich behelligen Sie nicht wieder, ehe Sie damit fertig sind.« Der alte Mann fragte mich noch, was Algebra sei, und entfernte sich dann, von seinem Aggregat gezogen, das offenbar nicht länger stillstehen konnte. Im Hotelzimmer bot sich uns folgendes Bild: Vitjka Kornejew sielte sich quietschvergnügt in Schuhen auf meinem Bett und schwadronierte über Willensfreiheit. Roman saß mit bloßem Oberkörper am Fenster, und Fedja rieb ihm den roten, geschwollenen Rücken vorsichtig mit irgendeinem gelben, nach Apotheke
stinkenden Zeug ein. Die Wanze Quasselstrippe war die Wand hochgekrabbelt, hielt sich die Nase zu, schielte mißbilligend zu den beiden hinüber und wartete auf eine passende Gelegenheit, ihren Senf dazugeben zu können. »Ah, unsere Werktätigen!« rief Vitjka, als er uns erblickte, und strampelte vor Vergnügen. »Die auf Sitzungen Versessenen! Wiegeht's dem hochverehrten Kollegen Wunjukow gesundheitlich? Wie habt ihr den Vorgang Nummer vierundsechzig utilisiert? Habt ihr ihn zu viert ausgetrunken oder in den Ausguß gekippt?« »Du warst das also?« sagte Edik. »Man muß zuschnappen und abhauen«, antwortete Vitjka. »Das hab ich euch schon hundertmal gesagt.« »Runter von meinem Bett«, fuhr ich ihn an. »Tausendmal hab ich euch Trotteln das schon gesagt«, erklärte Vitjka, während er mein Bett gegen seins vertauschte. »Von der Natur und von der Bürokratie darf man keine Almosen erwarten. Ich zum Beispiel tu das nie. Ich schnappe zu und schwirre rechtzeitig ab. Aber ich weiß, ihr seid feine Pinkel und Moralisten. Ohne mich würdet ihr elendiglich zugrunde gehen. Aber ich bin ja da! Noch heute bringe ich alles in Ordnung. Den Edelweiß ersäufe ich in der Kanalisation. Was brauchst du noch, Sascha? Die Black box? Du sollst sie haben, ich weiß, wo sie ist. Und jetzt zu Edik. Was fehlt dir, Edik? Ach, die Wanze? Reich mir mal 'ne Schachtel rüber.« Er packte die Quasselstrippe an einem Bein und zerrte sie von der Wand, sie aber fing so gräßlich an zu zetern, daß die Bewohner des Nebenzimmers an die Wand pochten und uns in rüden Ausdrücken aufforderten, mit dem Unfug aufzuhören. Vitjka gab die Wanze frei. Sie rückte beleidigt ein Stück von uns ab und massierte sich das in Mitleidenschaft gezogene Bein. Nun erzählte Vitjka uns mit gesenkter Stimme, wie er in der Nacht durch ein Wasserrohr in den Pavillon mit dem in seinem Keramiktopf schmachtenden flüssigen Außerirdischen eingestiegen sei; wie er lange Zeit vergeblich versucht habe, den Topf aufzukriegen, und es ihm endlich trotz der ägyptischen Finsternis gelungen sei, ihn über einer Blechkanne aus dem Abstellraum des
Kommandanten (»Eine ganze Käsefabrik hat dieser Kulak, sogar eine Zentrifuge steht da«) mit den Blicken zu durchbohren; wie er dann lange überlegt habe, was er in das leere Gefäß kippen könnte, bis er schließlich im Keller auf einen mit irgendeiner Pampe gefüllten Eimer gestoßen sei. Nachts um zwei habe er sich ins Institut transgrediert, dort bis Mittag wie ein Pferd geackert, einen Riesenspaß dabei gehabt und ein paar fürs erste ziemlich bescheidene Ergebnisse erzielt, jetzt aber sei er wieder da, frisch und munter wie d'Artagnan, dessen Degen seinen Freunden stets zur Verfügung stehe. Der Außerirdische lasse alle grüßen und behaupte, sich auf der Erde nur in Vitjkas Labor wie zu Hause zu fühlen, die Blechkanne aber habe er, Vitjka, wieder mitgebracht, denn er, Vitjka, sei Wissenschaftler und kein lausiger Einbrecher, und er wolle die Blechkanne ihrem Besitzer so bald wie möglich zurückbringen, wenn also jemand was aus der Kolonie brauche, solle er sich um Gottes willen nicht genieren, er, Vitjka, sei zu jeder Schandtat bereit. Roman nahm diesen Bericht im großen und ganzen wohlwollend auf, obwohl er ihn nun schon zum zweitenmal hörte und sich dieses zweite Mal, wie er sagte, durch nichts vom ersten unterschied: die gleiche Großschnäuzigkeit, der gleiche maßlose Ehrlichkeitsanspruch. Ich nannte Vitjka nicht ohne Genuß einen Spitzbuben und Kriminellen. Edik aber war sichtlich verstimmt und sagte, daß das nicht anständig, ja daß es eine Schweinerei sei, daß der Kommandant heute Vitjkas wegen fast einen Herzinfarkt gekriegt habe, daß das keine Art sei, daß es mit Vitjka noch mal ein schlimmes Ende nehme, daß ordentliche Leute so was nicht täten und dergleichen mehr. Vitjka setzte ein unangenehmes Grinsen auf und fragte, was ordentliche Leute denn in so einem Fall täten. Er, Vitjka, wüßte für sein Leben gern, was ordentliche Leute in so einem Fall täten. Er, Vitjka, warte schon einen halben Monat lang auf die ordentlichen Ergebnisse dessen, was ordentliche Leute täten. Vielleicht ließen sich die ordentlichen Leute mal dazu herbei, ihn, den unbedarften, kriminellen Vitjka, darüber aufzuklären, was sie, die ordentlichen Leute, denn nun zu tun gedächten. Vielleicht täten sie ja tatsächlich mal irgendwas?
Edik antwortete, daß ordentliche Leute es viel schwerer hätten als unbedarfte und kriminelle. Das Tun ordentlicher Leute ziele immer auf eine Verbesserung ihrer Umwelt ab. Ordentliche Leute könnten nicht davon ausgehen, daß der Zweck die Mittel heilige. Und darum habe es ein ordentlicher Mensch viel schwerer als ein unbedarfter und krimineller, ein ordentlicher Mensch müsse nun mal in jedem konkreten Fall genau überlegen, mit welchen Mitteln er sein Ziel erreichen wolle. Vitjka antwortete, daß seinen Beobachtungen nach die sogenannten ordentlichen Leute in der Theorie immer außerordentlich gut bewandert seien. Ihn, Vitjka, interessiere die Theorie im Moment jedoch am allerwenigsten, ihn interessiere viel mehr das praktische Tun der ordentlichen Leute. Man wolle ihn, Vitjka, doch wohl nicht zwingen, das klägliche Wohltätigkeitsspektakel, das der Kollege Amperjan auf der gestrigen Abendsitzung veranstaltet habe, als Musterbeispiel für ein solches Tun anzusehen? (»Wenn du schon damit anfängst, dann bring's auch zu Ende, du feiner Pinkel; wenn die gewaltsam gebesserten Aasgeier den gewaltsam gebesserten vertrottelten Edelweiß abgemurkst hätten, hätte sich die Sache wenigstens gelohnt, so aber ist außer Spesen mal wieder nichts gewesen.«) Edik lief rot an und erklärte, Vitjka habe keinen Schimmer von der positiven Remoralisation, weshalb er, Edik, sich durch dieses platte, dümmliche Urteil keineswegs getroffen fühle. Er, Edik, werde weiterhin versuchen, die Troika auf ein höheres menschliches Niveau zu heben, und obwohl er, Edik, durchaus nicht für einen hundertprozentigen Erfolg garantieren könne, sehe er vorläufig keinen anderen Weg, diesen Teil der Welt wesentlich zu bessern. Er, Edik, sehe es jedoch kommen, daß eine in diesem Ton weitergeführte Diskussion unweigerlich zu einem ordinären Gezänk ausarten müsse, in dem Kornejew ein Meister sei, und deshalb bitte er, Edik, sowohl den hier anwesenden und für seine Güte und Objektivität bekannten Alexander Priwalow als auch den ebenfalls hier anwesenden Roman Oira-Oira, den obersten der Magister, sich zur Sache zu äußern. Der für seine Güte und Objektivität bekannte Alexander Priwalow in meiner Person erklärte frank und frei, das ganze Problem
sei — abgesehen von der gar nicht uninteressanten Idee bezüglich des alten Edelweiß und der Kanalisation - an den Haaren herbeigezogen. Er, der gütige und objektive Priwalow, warte nur noch auf den Sonnabend, an dem die Troika den Vorgang Nummer siebenundneunzig verhandeln werde, und hoffe, anerkannt zu werden und Kiteshgrad, die Black box im Schnabel, für immer verlassen zu können. Bis dahin aber gedenke er, sein brennendes Interesse am Tun der Troika mit allen vernünftigen Mitteln kundzutun und keine Sitzung auszulassen, um auch nicht die geringste Chance zu verpassen. Bis dem obersten der Magister das Wort erteilt wurde, hatte er sich die Nägel manikürt, die vom Rasieren entzündeten Wangen dick gepudert und seine aus dreizehn verschiedenen Ländern der Welt stammenden achtzehn Krawatten über den dreiteiligen Spiegel gehängt und machte sich nun daran, die Aufgabe optimal zu lösen. Er begann mit der Behauptung, daß jeder auf seine Weise recht habe und somit alle im Unrecht seien. Er, der oberste der Magister, begrüße ausdrücklich Edik Amperjans Absicht, den Mitgliedern der Troika die Augen über sich selbst zu öffnen und ihnen vorzuführen, wie sie sein könnten. Er, Roman, habe die positive Remoralisation schon immer für die höchste Form der Einwirkung des Menschen auf den Menschen gehalten, aber zugleich müsse er, Roman, daran erinnern, daß die höchste Form der Einwirkung keineswegs auch immer die effektivste sei. Er, Roman, begrüße ausdrücklich Alexander Priwalows positiven Fatalismus und sein, Alexander Priwalows, unverdrossenes Hoffen auf einen glücklichen Zufall, denn man könne sagen, was man wolle, aber der glückliche Zufall sei eine notwendige Komponente jeden Unterfangens. Er, Roman, erinnere jedoch daran, daß in unserer realen Welt die Wahrscheinlichkeit eines glücklichen Zufalls bedeutend geringer sei als die jedes anderen. Und schließlich hätten Vitjka Kornejews Aktionen in ihm, Roman, ein unwillkürliches Entzücken geweckt, welches nur durch das Bewußtsein getrübt werde, daß genannte Aktionen eindeutig jenseits aller Moral liegen. Nein, er, der oberste der Magister, habe auch keine Patentlösung für das hier aufgeworfene Problem parat. Er finde es ganz natürlich, daß jeder der Anwesenden nach einer
Lösung suche, die seiner geistigen Verfassung entspricht. Er, Roman, schaue bei spielsweise gerade in den Spiegel und sehe darin ein schmales, brünettes Zigeunergesicht, brennende schwarze Augen und eine Gas- cogner Hakennase von Seltenheitswert in diesen Breiten. Andererseits besitze der Kollege Goly, ein höchst einflußreicher Administrator, der mit dem in diesen Kreisen nicht ganz unbekannten Kollegen Wunjukow privat bekannt sei, neben anderen Kindern eine Lieblingstochter namens Irina im heiratsfähigen Alter. Damit habe er, Roman, schon mehr als genug gesagt, und er wolle dem nur hinzufügen, daß der Kollege Goly, wie man sich erzähle, der Kollegin Irina nie etwas abschlage, daß der Kollege Wunjukow laut vorliegenden Informationen praktisch jede Bitte des Kollegen Goly erfülle und somit die Aufgabe lediglich darin bestehe, eine Situation herbeizuführen, in der die Kollegin Irina bereit sei, jede wesentliche Bitte des Kollegen Roman, des obersten der Magister, zu erfüllen. Als Aktiva habe er, Roman, bisher zu verzeichnen: drei schlaflose, mit dem Aufsagen der Verse Gumiljows ausgefüllte Nächte; zwei mit dem Kollegen Goly in Gesprächen über das Quarren der Waldschnepfen und das Kollern der Birkhähne verbrachte gräßliche Abende; das tagtägliche qualvolle Rasieren mit einer scharfen Klinge; einen heutigentags am Strand verbrannten Rücken und chronische Schmerzen in wertvollen Muskeln - eine Folge unentwegten tapferen Lächelns. Mit den Worten »Der Sieg wird mein sein« zog Roman sich das Jackett über. »Wenn's soweit ist, vergesse ich euch nicht, meine teuren Fatalisten, Moralisten und Kriminellen!« Er warf uns eine Kußhand zu, setzte ein tapferes Lächeln auf und entfernte sich pfeifend. Die Wanze hatte die Hoffnung aufgegeben, heute noch einmal zu Wort zu kommen, und schlüpfte nach ihm mit Unschuldsmiene zur Tür hinaus. Erst jetzt fiel mir auf, daß auch Fedja nicht mehr da war. Fedja vertrug keine gespannten Beziehungen und hatte es wahrscheinlich vorgezogen, das Zimmer zu verlassen, als Vitjka Edik anzuschreien begann. »Hören wir lieber auf mit dem Palaver«, sagte ich erschöpft. »Gehen wir ein bißchen spazieren?«
»Ich weiß bloß eins, Vitjka«, sagte Edik, ohne auf mich zu hören. »All das, was du hier von dir gegeben hast, würdest du weder in Gian Giacomos noch in Fjodor Simeonowitschs Gegenwart wiederholen. Und wie du zu dem Außerirdischen gekommen bist, werden sie wohl auch nie erfahren.« Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich konnte es gar nicht fassen, daß der höfliche Edik so etwas fertigbrachte. Gian Giacomo und Fjodor Simeonowitsch, Vitjkas Lehrer, gehörten zu dem verschwindend kleinen Kreis von Menschen, die Vitjka achtete und liebte und überhaupt zur Kenntnis nahm. Der ungehobelte Vitjka, der Edik eben noch dreist ins Gesicht gegrient hatte, verfärbte sich wie ein Erhängter. Er suchte nach groben, ausfallenden Worten, fand aber keine. Da suchte er nach groben Gesten. Er sprang auf und ging die Wände hoch. Dann verwandelte er sich in einen Stein, lag eine Weile nachdenklich da und nahm erst, als er die gesuchte Geste gefunden hatte, wieder sein früheres Aussehen an. Er holte die Blechkanne des Kommandanten unter dem Bett hervor, stellte sie mitten im Zimmer auf, zog sich in eine Ecke zurück, nahm Anlauf und verpaßte der Blechkanne einen solchen Tritt, daß sie unseren Blicken entschwand; darauf starrte er uns aus gelben Augen an, schrie: »Na, dann geht doch meinetwegen vor die Hunde, ihr Vegetarier!« und entschwand ebenfalls unseren Blicken. Line Weile saßen Edik und ich stumm da. Zu sagen gab es nichts mehr. Dann meinte Edik leise: »Ich würd mir gern mal die Kolonie ansehen, Sascha. Kommst du mit?« »Gehen wir«, sagte ich. »Allerdings werd ich nicht mit dir herumlaufen, umsehen kannst du dich allein. Ich hab Spiridon nämlich versprochen, ihm was vorzulesen.« Edik war einverstanden. Ich griff mir die Mappe mit den japanischen Materialien, und wir gingen los. Im Korridor trafen wir die Wanze Quasselstrippe, die, die Hände auf dem Rücken, auf und ab spazierte und angestrengt in sich hineinhorchte. Ich teilte ihr mit, daß ich zu Spiridon wolle. »Ja, ja«, antwortete sie zerstreut. »Unbedingt.« »Also gehen wir?« fragte ich.
»Ich bin beschäftigt!« sagte die Wanze gereizt. »Sehen Sie das nicht? Gehen Sie nur zu Ihrem Spiridon, ich komme nach. Wie taktlos manche Leute sind«, sagte sie mit liebenswürdigem Lächeln zu Edik. Edik mußte offenbar an das denken, was er zu Vitjka gesagt hatte, und fühlte sich hundeelend. Den Weg zur Kolonie legten wir schweigend zurück und trennten uns in der Nähe des Pavillons, in dem Spiridon hauste. Edik sagte, er wolle sich ein bißchen umsehen und dann hierher zurückkehren. Die Residenz, die man Spiridon zugewiesen hatte, war eine ehemalige Schwimmhalle. Das flache Gebäude war hell erleuchtet, und das Wasser plätscherte leise. Der abgestandene Geruch in der Halle haute einen um - er war so kalt und schneidend, daß man eine.Gänsehaut bekam, und weckte unangenehme Assoziationen: Man fühlte sich an die Hölle, an Folterkammern und an das knöcherne Bein unserer Baba-Jaga erinnert. Aber da war nichts zu machen. Es kam nur darauf an, den ersten Schock zu überwinden und abzuwarten, bis man sich an den Geruch gewöhnt hatte. Ich setzte mich auf den Beckenrand, ließ die Beine baumeln und legte die Mappe neben mich. Spiridon ließ sich nicht blicken - das Wasser schlug Wellen, auf ihm tanzten Lichtreflexe, und Ölflecke wirbelten herum. »Spiridon«, rief ich und klopfte mit dem Absatz gegen die Bekkenwand. Das war es, was mich an Spiridon am meisten aufregte: Er sah, daß er Besuch hatte, daß man ihm die Mappe brachte, um die er gebeten hatte, und daß sein Besucher nicht irgendein Wybegallo war, sondern ein alter Freund, der diese Mätzchen längst auswendig kannte. Aber nein! Er mußte mir unbedingt noch einmal beweisen, wie einzigartig und unnachahmlich er war und wie gut er es verstand, sich in dem klaren Wasser zu verstecken. Natürlich hockte er direkt unter mir. Sein tellergroßes Auge blinzelte mir zu. »Schon gut, schon gut«, sagte ich. »Bist ja unser Schönster. Von dir ist außer dem Auge nichts zu sehen. Sehr wirkungsvoll, wie im Zirkus.«
Da tauchte Spiridon auf. Das heißt, er tauchte nicht auf, denn eigentlich war er gar nicht untergetaucht, sondern die ganze Zeit an der Oberfläche gewesen, nur daß er jetzt geruhte, sich zu erkennen zu geben. Seine platten, welken Lider klappten ruckartig auf, seine dunklen riesigen runden Augen starrten mich mit einem Ausdruck abgründigen Humors an, und eine schwache, heisere Stimme fragte: »Wie findest du mich heute?« »Sehr, sehr«, sagte ich. »Der Schrecken der Meere?« »Ein Seeräuber! Der Tod der Pottwale!« »Beschreib mich«, forderte Spiridon. »Bitte«, sagte ich. »Aber ich bin kein Alfred Tennyson, ich werd die Wahrheit über dich sagen, und die ist schlimmer als jede Lüge. Du siehst aus wie ein Haufen schmutziger Unterwäsche, den man vor dem Waschen eingeweicht hat.« Mit einer kaum merklichen geschmeidigen Bewegung glitt Spiridon in die Mitte des Beckens. Das Häutchen, das den Ansatz seiner Arme verdeckte, stülpte sich schamlos nach außen und entblößte einen bläßlichblauen, über und über mit runzligen Warzen bedeckten Körper, aus dem sich ein riesiger schwarzer, von fleischigen, beweglichen Auswüchsen umgebener Schnabel schob. Dieser Schnabel ging zynisch auf, und man hörte ein durchdringendes Knarren: Spiridon lachte. »Du bist ja bloß neidisch«, sagte er. »Das sehe ich doch. Ach, wie neidisch ihr Festlandbewohner sein könnt. Dabei gibt's dafür gar keinen Grund. Auch ihr habt eure Vorzüge. Gehen wir heute spazieren?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wie die anderen meinen. Ich hab dir die Mappe mitgebracht. Du hattest mich darum gebeten, erinnerst du dich?« »Aber ja«, sagte Spiridon. »Natürlich.« Er legte sich aufs Wasser, breitete seine ungeheuren Tentakel fächerförmig aus und begann zu glitzern und zu schillern wie Perlmutt. Vor meinen Augen flimmerte es, und ich wurde schläfrig. Mir war, als sitze ich an einem klaren Morgen beim Angeln, die Sonne scheint hell, das warme Wasser funkelt, und den ganzen Körper erfaßt eine woh-
lige Mattigkeit. Spiridon spritzte mir einen kalten Wasserstrahl ins Gesicht, und ich kam wieder zu mir. »Pfui Deibel«, sagte ich. »Mit dieser Jauche, pfui!« »Wieso Jauche?« fragte Spiridon erstaunt. »Das ist glasklares Wasser, sonst wäre ich längst gestorben.« »Du und sterben«, sagte ich seufzend. »Ich kenne dich doch.« »Du meinst, ich bin unsterblich?« fragte Spiridon voller Genugtuung. »So ungefähr«, stimmte ich zu. »Hör endlich auf zu schillern. Du schläferst mich ein. Machst du das absichtlich?« »Ich mache das nicht absichtlich, aber ich kann damit aufhören.« Plötzlich befand er sich direkt unter mir. »Wo ist denn heute unser schwatzhaftes Dummchen?« fragte er. »Und wo steckt dein behaarter Freund?« »Fedja ist nicht nur mein Freund«, widersprach ich, »sondern auch deiner. Was ist das für eine Art, seine Freunde zu beleidigen?« »Freunde?« fragte Spiridon. »Ich hab keine Freunde. Ich weiß überhaupt nicht, was das ist.« »Und was ist mit der Generalfreundschaft?« fragte ich. »Bist du nicht ihr Bevollmächtigter Botschafter?« Spiridon musterte mich kühl. »Hast du auch nur den leisesten Schimmer von Diplomatie?« erkundigte er sich. »Du brauchst mir nicht zu antworten. Ich sehe schon, daß du nur sehr verschwommene Vorstellungen davon hast. Die Diplomatie ist die Kunst, neue Erscheinungen mit alten Begriffen zu versehen. Und in diesem Fall versehe ich eine euch Menschen völlig neue Erscheinung — meine aufrichtige, unerschütterliche Freundschaft desjenigen, der ich heute bin, mit demjenigen, der ich morgen sein werde - mit dem alten Begriff Generalfreundschaft.« »Aha«, sagte ich. »Die Generalfreundschaft ist also nichts als Lug und Trug.« »Überhaupt nicht«, protestierte Spiridon. »Ich wiederhole: Das ist meine Freundschaft mit mir selbst.« »Na, sag ich doch: Lug und Trug«, wiederholte ich. »Außer mit dir selbst kannst du wohl mit niemand Freundschaft schließen, nicht mal mit mir.«
»Die gigantischen urtümlichen Kopffüßer«, sagte Spiridon in belehrendem Ton, »sind immer einsam. Und immer froh darüber.« »Verstehe. Aber was sind dann wir - Fedja, die Quasselstrippe und ich — für dich?« »Ihr? Gesprächspartner. Unterhalter.« Er überlegte eine Weile und fügte hinzu: »Nahrung.« »Du bist ein Mistkerl«, sagte ich gekränkt, »eine schmutzige alte Unterhose.« Das klang ein bißchen nach Chlebowwodow, aber ich war auch ausgesprochen wütend. »Dann weiche hier in stolzer Einsamkeit weiter, ich gehe.« Ich tat so, als wollte ich aufstehen, er aber klammerte sich geschickt mit den Widerhaken seiner Saugnäpfe an meinem Hosenbein fest. »So warte doch«, sagte er. »Nun ist er auch noch beleidigt! Daß ihr Festlandbewohner die Wahrheit nicht vertragen könnt! Man kann euch erzählen, was man will, bloß nicht die Wahrheit. Wir gigantischen urtümlichen Kopffüßer aber sagen immer die Wahrheit. Wir sind weise, aber ohne Arg. Wenn ich einen Pottwal überfallen will, gehe ich auch völlig arglos vor. Ich sage nicht zu ihm: »Laß dich umarmen, alter Freund, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen!« Nein, ich nähere mich ihm in eindeutiger Absicht. Und weißt du, was«, sagte er, als komme ihm dieser Gedanke erst jetzt, »die Pottwale mögen das auch nicht! Die Welt ist erstaunlich irrational eingerichtet. Dabei kann man nur leben, wenn man die Realität so nimmt, wie sie ist, wenn man schwarz schwarz nennt und weiß weiß. Aber ihr alle wollt schwarz partout nicht schwarz nennen! Ich begreife nicht, wie man die Wahrheit übelnehmen kann. Übrigens begreife ich auch nicht, wie man überhaupt etwas übelnehmen kann. Wenn ich etwas Unwahres höre, wenn die Wanze mich glibbrig nennt und du mich mit einer schmutzigen Unterhose vergleichst, kann ich nur lachen. Das ist einfach nicht wahr und darum ausgesprochen komisch. Höre ich dagegen die Wahrheit, so empfinde ich Dankbarkeit soweit gigantische urtümliche Kopffüßer eines solchen Gefühls fähig sind -, denn nur die Kenntnis der Wahrheit läßt mich leben.« »Na schön«, sagte ich. »Und wenn ich dich nun einen funkelnden Brillanten, eine Perle des Meeres nennen würde?«
»Dann würde ich dich nicht verstehen«, sagte Spiridon. »Und ich würde meinen, daß du dich selbst nicht verstehst.« »Und wenn ich dich den Herrscher der Welt nenne?« »Dann würde ich sagen, daß ich ein vernünftiges Geschöpf vor mir habe, das es gewohnt ist, den Herrschern die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.« »Aber das ist doch gar nicht die Wahrheit. Du bist doch nicht der Herrscher der Welt.« »Also bist du doch nicht so klug, wie ich dachte.« »Noch ein Prätendent auf die Weltherrschaft«, sagte ich. »Wieso noch einer?« fragte Spiridon beunruhigt. »Gibt's noch andere?« »Bösartige Dummköpfe hat's immer mehr als genug gegeben«, sagte ich bitter. »Das stimmt«, murmelte Spiridon nachdenklich. »Nimm bloß mal meinen alten persönlichen Feind, den Pottwal. Er war ein Albino, und diese Mißbildung wirkte sich stark auf seine geistigen Fähigkeiten aus. Erst erklärte er sich zum Herrscher über alle Pottwale. Nun, das war ihre innere Angelegenheit und ging mich nichts an. Dann aber erklärte er sich zum Herrscher über die Meere, und man munkelte, er wolle sich zum Herrn des Universums ausrufen lassen. Deine Landsleute - ich meine die Menschen - glaubten übrigens auch daran und sahen in ihm sogar eine Inkarnation des Bösen. Im Ozean gingen die schlimmsten Gerüchte um, barbarische Stämme entschlossen sich angesichts des bevorstehenden Chaos zu dreisten Überfällen, die Pottwale trumpften auf, und mir wurde klar, daß ich eingreifen mußte. Ich forderte den Albino zum Disput heraus.« Der Krake verstummte, und seine Augen schlossen sich halb. »Er hatte sehr kräftige Kiefer«, sagte er schließlich. »Dafür war sein Fleisch zart und süß und bedurfte keiner würzenden Zutaten. Tja.« »Dispute!« rief der Panurg plötzlich und schlug seine Narrenkappe gegen den Fußboden. »Gibt's was Edleres als Dispute? Die Meinungsfreiheit! Die Freiheit des Wortes! Die Freiheit, seine Ansichten zu äußern! Was Archimedes betrifft, so verschweigt die Geschichte jedoch verschämt und schamlos wie immer ein winziges Detail. Als Archimedes sein Gesetz entdeckt hatte und splitter-
nackt und klatschnaß mit dem Ruf »Heureka!« die belebte Straße entlangeilte, klatschten alle Einwohner von Syrakus in die Hände und freuten sich unbändig über die neue Errungenschaft der vaterländischen Wissenschaft, von der sie bisher nichts gewußt hatten und die sie, als sie davon wußten, ohnehin nicht kapierten. Und nur ein kesser Dreikäsehoch wies mit dem Finger auf das vorbeistürmende Genie und rief lachend: »Kinder! He, Jungs! Der Archimedes ist ja nackt!« Und obwohl das die reine Wahrheit war, packte ihn sein wissenschaftsliebender Vater am Ohr und verprügelte ihn auf der Stelle mit einem Soldatenkoppel.« »Möglich«, sagte Spiridon. »Möglich. Laß uns was lesen, Sascha. Ich muß dir sagen, daß mich brennend interessiert, was die Menschen von uns wissen und ihren Nachkommen überliefern.« Ich nahm die Mappe, legte sie auf meine Knie und löste die Bänder. Auch mich interessierte das. Ich kannte diese Materialien seit meiner Kindheit. Mein Onkel, ein wenig bekannter Japanologe, war eines Tages auf die Idee gekommen, ein Buch mit dem seltsamen Titel »Kraken und Menschen« zu schreiben. Ihn ließ der Gedanke nicht los, daß Kopffüßer und Menschen seit unvordenklichen Zeiten sehr enge Kontakte zueinander pflegen. Um diesen Gedanken bestätigt zu finden, wälzte er Berge von Büchern, wühlte in Archiven, schrieb eine Unmenge japanischer Legenden auf, übersetzte das seiner Ansicht nach Interessanteste von all dem und sammelte es in dieser Mappe. Das geplante Buch kam allerdings nie zustande: Statt dessen stürzte sich der Onkel in eine Dissertation mit dem Thema: »Der Verrat der japanischen liberalen Bourgeoisie an den Interessen der japanischen Arbeiterklasse«. Die Mappe landete in einer Ecke, große Teile des Materials gingen verloren, einiges blieb jedoch erhalten — ein Stapel vergilbten Papiers, mit der ebenmäßigen Handschrift meines Onkels bedeckt. Auf jedem Blatt stand ein Zitat aus einem Buch oder einem Manuskript, und nie fehlte die Quellenangabe. »Soll ich der Reihe nach vorlesen?« fragte ich. »Ja, ja, der Reihe nach«, sagte Spiridon. »Gut.« Ich nahm das erste Blatt zur Hand. »Der Tintenfisch hat acht Beine und einen kurzen Rumpf, die Beine sind rings um den
Mund angeordnet, und an den Bauch schmiegt sich ein Schnabel. In seinem Leib befindet sich ein Täfelchen, das Tusche enthält. Wenn er einem großen Fisch begegnet, stößt er die Tusche in Wellen aus, um seinen Körper darin zu verbergen. Wenn er kleinen Fischen und Wassernüssen begegnet, sondert er tuschehaltigen Speichel ab, um sie anzulocken.« (»Buch der Weisheit«) »Was ist tuschehaltiger Speichel?« fragte Spiridon. »Das fragst du mich? Erklär du mir lieber mal, was tuschehaltiger Speichel ist«, entgegnete ich. »Und auch, wie ein Täfelchen Tusche enthalten kann.« »Sehr drollig«, sagte Spiridon nachdenklich. »Offenbar haben wir's hier mit der naiven Beschreibung einer kleinen Tintenschnecke zu tun. Obwohl die Tintenschnecken noch nie wußten, was Anstand ist. Ein unanständigeres Geschöpf kann man sich kaum vorstellen. Ich jedenfalls wüßte keins. Höchstens noch die Wanze. Na schön, lies weiter.« »Nach Bizens Ansicht«, las ich, »ist der Tintenfisch nichts anderes als die Metamorphose einer Krähe, denn auch heute hat der Tintenfisch noch einen Krähenschnabel am Bauch, weshalb das Wort >Tintenfisch« aus dem Zeichen für »Krähe« und dem Zeichen für >Tintenschnecke< gebildet wird.« (»Wissenswertes über Himmel, Erde und Menschen«) »Welch vulgäre Phantasie«, murmelte Spiridon. »Weiter.« »Nördlich vom Berg Dotoko liegt ein großer, tiefer See. Die Leute erzählen sich, daß er mit dem Meer in Verbindung steht. In den Jahren der Ära Encho fing man in ihm oft Tintenfische und verzehrte sie in gekochtem Zustand. Der Tintenfisch kommt an die Oberfläche und liegt flach auf dem Wasser. Wenn die Krähen ihn so erblicken, halten sie ihn für tot und stoßen zu ihm herab. Dann rollt sich der Tintenfisch zusammen und schnappt zu. Darum wird das Wort »Tintenfisch« aus dem Zeichen für »Krähe« und dem Zeichen für >Tintenschnecke< gebildet. Was die Tusche angeht, die im Körper des Tintenfischs enthalten ist, so kann man mit ihr schreiben, aber mit der Zeit verblaßt das Geschriebene, und das Papier wird wieder weiß. Das nutzt man zum Schreiben falscher Eide aus.« (»Buch über Berge und Meere«)
Wahrend ich las, betrat Fedja den Pavillon. Er begrüßte Spiridon mit einer Verbeugung, setzte sich neben mich und hörte zu. Als ich verstummte, brummte Spiridon: »Das kommt der Wahrheit schon näher. Ich muß gestehen, daß ich in jungen Jahren auf diese Weise Albatrosse gefangen hab. Ich begreife nur nicht, warum die Leute sich so brennend für Krähen und für Tusche interessieren. « »Mit Tusche haben sie früher geschrieben«, sagte ich. »Und mit den Krähen verbindet man euch eures Schnabels wegen. Ist doch sonnenklar.« »Nehmen wir's mal an«, erklärte Spiridon kühl. »Guten Tag, Fedja. Wie geht's Ihnen?« »Danke, gut«, sagte Fedja leise. »Störe ich auch nicht?« »Nicht im geringsten«, sagte Spiridon. »Lies weiter, Sascha.« »Einer alten Überlieferung zufolge gehören die Tintenfische zum Gesinde des Fürsten des Seto-Inlandsees. Bei der Begegnung mit einem großen Fisch sondern sie ein paar Schritt weit schwarze Tusche ab, um ihren Körper darin zu verbergen.« (»Buch über Berge und Meere«) »Schon wieder diese Tusche«, murrte Spiridon. »Weiter.« »Bei einem alten Dichter heißt es in der "Ode an die Hauptstadt" >Der Tintenfisch hält das Schwerte Das rührt daher, daß im Körper des Tintenfischs ein heilsames Schwert steckt, der Tintenfisch selbst aber gehört zur Gattung der Krabben.« (»Buch der Gewässer«) »Nein, das rührt durchaus nicht daher«, sagte Spiridon, »sondern daher, daß dieser alte Dichter an Dummheit selbst den obenerwähnten Bizen noch übertrifft. Weiter.« »Im Meer lebt der Tintenfisch, sein Rücken gleicht einem Spielknochen, er hat einen kurzen Körper und acht Füße. Seine Gestalt erinnert an einen großen, nackten Menschen mit rundem Kopf.« (»Aufzeichnungen über die Bewohner des Meeres«) »Na, hier geht's um Oktopoden. Deren Rücken gleicht noch ganz anderen Dingen. Anstelle eines Oktopus wäre ich beleidigt, aber Gott sei Dank bin ich nicht an seiner Stelle. Lies weiter.« »In der Sugoroku-Bucht sahen wir einen großen Polypen. Sein Kopf war rund, seine Augen glichen Monden, und er erreichte eine
Länge von dreißig Schritt. Er hatte die Farbe einer Perle, als er fraß, wurde er jedoch violett. Bei der Paarung verschlang er das Weihchen. Durch seinen Geruch lockte er viele Vögel an und zog sie ins Wasser.« (»Erinnerungen an die Tiger der Meere«) »Hm«, sagte Spiridon. »Vielleicht war ich das. Aus welchem Jahrhundert stammt das Material?« »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Das steht nicht dabei.« »Hm, die Farbe einer Perle... Wo befindet sich denn dieses Japan? Sind das solche kleinen Inseln am Rande des Stillen Ozeans? Durchaus möglich, durchaus... Na, mach weiter!« »Der Landmensch sagt Tintenfisch oder Polyp, macht aber keinen Unterschied. Beide besitzen sie Zauberkräfte, beide haben rings um den Mund herum Arme und Tusche in ihrem Körper. Der Seemensch aber unterscheidet sie leicht, denn der Tintenfisch hat einen langgestreckten Bauch und Flügel, acht eingezogene und zwei ausgestreckte Arme, während beim Polypen der Bauch rund und weich ist und die acht Arme in verschiedene Richtungen weisen. Dem Tintenfisch wachsen mitunter eiserne Haken an den Armen, weshalb ihn die Taucherinnen fürchten.« (»Erinnerungen an die Tiger der Meere«) »Irgendwie hört sich das unlogisch an«, sagte Spiridon nachdenklich. »Früher haben die Verfasser solcher Notizen den Kalmar immer mit dem Oktopus verwechselt. Und überhaupt haben all diese Menschen — sowohl die Landmenschen als auch die Seemenschen — offenbar eine panische Angst vor uns. Vermutet hab ich das schon immer. Es ist angenehm, diese Vermutung hier bestätigt zu finden. Na, was hast du noch?« »Im Dorf Hokkezuka auf der Insel Kuzumori lebte ein Fischer namens Gengobei. Einmal fuhr er mit seinem Boot hinaus und kehrte nicht wieder zurück. Nachdem seine Frau geziemend lange auf ihn gewartet hatte, heiratete sie einen anderen. Zehn Jahre später, erschien Gengobei in Murotsu und erzählte, ein Tintenfisch von der Größe eines Riesenfischs habe sein Boot zum Kentern gebracht, so daß er ins Wasser gestürzt und von dem Piraten Nadaemon aufgefischt worden sei.« (»Sagen des Südens«)
»Erlogen und erstunken«, sagte Spiridon. »Wahrscheinlich ist dieser Gengobei zu den Piraten übergelaufen, um sich was dazuzuverdienen. Das sieht den Menschen ähnlich. Aber das nur nebenbei. Weiter.« »Polypen sind boshafte Wesen, die keine Großmut kennen. Wenn ihrer viele sind, fallen sie dreist übereinander her und zerreißen sich. In alten Zeiten gab es im Tsukushi einen Platz, an dem sich die Polypen versammelten, 11111 ihre Fehden auszutragen. Taucher finden dort eine Vielzahl großer und kleiner Schnäbel und verkaufen sie an Liebhaber aus der Hauptstadt. Darum spricht man vom tako-no tomogui — dem gegenseitigen Auffressen der Polypen.« (»Aufzeichnungen über die Bewohner des Meeres«) »Gegenseitiges Auffressen!« sagte Spiridon gereizt. »Das war eine Bestattung und kein gegenseitiges Auffressen.« »Seid gegrüßt, Freunde!« ertönte hinter uns eine bekannte Stimme. »Ihr lest schon? Natürlich habt ihr nicht auf die Wanze gewartet. Wozu auch? Eine niedere Kreatur, ein Insekt sozusagen, >und Parasiten werden sowieso nie...«« »Sei still, Quasselstrippe«, sagte Spiridon. »Setz dich hin und hör zu. Lies weiter, Sascha.« Murrend drängte sich die Wanze zwischen Fedja und mich, und ich fuhr fort: »Man erzählt sich, daß auf den Besitzungen des erlauchten Heerführers Yamauchi Kazutoyo eine in Tosu berühmte Taucherin namens O-Gin mit Schwämmen handelte. Sie hatte ein angenehmes Gesicht, einen kräftigen Körper und ein heiteres Wesen. In jenen Gegenden lebte seit langer Zeit ein alter Tintenfisch, der zwanzig Schritt maß. Den Menschen grauste vor ihm, sie aber spielte mit ihm und streichelte ihn, und er brachte ihr herrliche Schwämme, die sie für hundert Mon verkaufte. Als man sie verheiraten wollte, verfiel er jedoch in Trübsinn und fraß sie auf. Danach ward er nicht mehr gesehen. Das geschah in jenem Jahr, in dem der erlauchte Heerführer Yamauchi seiner Gattin zuliebe für zehn Goldryo glücklich einen Vollbluthengst erstand.« (»Sagen des Südens«) Da Spiridon sich nicht muckste, rief ich ihn an. »Ja, ja«, antwortete er. »Ich höre zu.«
Seine Stimme kam mir merkwürdig vor, und ich fragte ihn, warum kein Kommentar zu hören sei. »Weil es keinen Kommentar gibt«, sagte Spiridon streng. »Überhaupt keinen mehr?« fragte ich. »Wieso überhaupt keinen? Wir werden sehen.« Ich las weiter: »Paragraph siebenundachtzig. Außerdem behauptet Herr Tsugami folgendes. In den Östlichen Meeren begegnet man einem purpurroten Schneckentier, das eine Vielzahl dünner Arme hat und sich dreißig Schritt weit, mit spitzen Zacken besetzt, aus einer runden Muschel schiebt. Es hat schlimme Augen und ist über und über mit Polypen bedeckt. Wenn es an die Oberfläche kommt, liegt es wie eine Insel auf dem Wasser, verbreitet einen üblen Gestank und färbt sich weiß, um Fische und Vögel anzulocken. Sobald sie sich ringsum versammelt haben, greift es wahllos mit seinen Armen nach ihnen und verschlingt sie. Wenn man sich heranschleicht, in die Hände klatscht und schreit, sondert es vor Schreck einen giftigen Saft ab und läßt sich schräg in unergründliche Tiefen hinabsinken, worauf es lange Zeit nicht mehr zum Vorschein kommt. Erfahrene Seeleute wissen, daß es abstoßend ist und auf dem Körper einen eitrigen Ausschlag hervorruft.« (»Bericht des Herrn Tsugami Yasumitsu über den Östlichen Meeresgiirtel«) »Interessant«, sagte Spiridon. »Ich möchte euch gratulieren. Das Schrifttum ist eine nützliche Erfindung. Mit dem Gedächtnis des gigantischen urtümlichen Kopffüßers kann es sich zwar nicht vergleichen, aber es ersetzt euch Menschen, was die Natur euch vorenthalten hat.« »Willst du damit sagen, daß all das, was ich dir hier vorgelesen hab, wirklich passiert ist?« fragte ich. »Darüber sprechen wir, wenn du fertig bist«, sagte Spiridon. »Gehen wir lieber ins Kino«, schlug die Quasselstrippe vor. »Das ist ja hier die reinste Lesestube. Gedächtnis, Schrifttum... Man kommt dabei ja überhaupt nicht mehr zu Worte.« »Weiter, Sascha, weiter«, drängte Spiridon. »Paragraph hundertdreizehn. Weitere Aussagen des Herrn Tsugami: Auf der Insel Yokomejima lebt ein alter Mann, der mit riesigen Tintenfischen befreundet ist. Mit Fisch und gesäuertem Seetang zieht er viele Schweine auf. Wenn er bei
Vollmond auf seiner Flöte spielt, kommen die Tintenfische ans Ufer, und er gibt ihnen seine besten Schweine. Dafür bringen sie ihm aus den Quellen vom Meeresgrund das Elixier der Langlebigkeit.« (»Bericht des Herrn Tsugami über den Östlichen Meeresgürtel«) »Ja, ich erinnere mich«, sagte Spiridon. »Wir haben ihnen deshalb später den Prozeß gemacht. Ich muß sagen, daß Herr Tsugami Yasumitsu eine erfahrene Kraft ist. Hat er noch mehr Aussagen gemacht?« Ich sah die restlichen Blätter durch. »Nein, mehr hab ich nicht. Vielleicht war's mal mehr, aber der Rest ist verlorengegangen.« »Das ist gut«, sagte der Krake. Ich las weiter: »Der Pirat und Halsabschneider Ryugo sagte unter der Folter folgendes aus: Im Frühling des siebenten Jahres der Ära Keicho plünderte und versenkte er an der Küste von Osumi mit Gold beladene Schiffe, welche aus Kagoshima kamen und dem Shimazu Yoshihiro gehörten. Sein erster Ratgeber namens Zenchi lockte durch Zaubersprüche eine Herde riesiger Tintenfische aus der Tiefe hervor, welche durch ihr schreckliches Aussehen und ihre Widerhaken die Wachen auf den Schiffen außer Gefecht setzten. Der Pirat und Halsabschneider Ryugo aber schwamm unbemerkt herbei, schnitt dem tapferen Matsunaga Tsunesaku die Kehle durch und tötete all seine Getreuen. Unterschrift: Mino- kawa Soetsu. Unterschrift: Soga Masamaro.« (»Tsukushi-Chro- niken«) »Ja«, bestätigte Spiridon, »solche Allianzen waren seinerzeit erlaubt. Schließlich ging's da nicht um irgendwelche Schweine.« »Pardon«, sagte die Quasselstrippe und verschaffte sich mit den Ellbogen Platz. »Und Wanzen? Gab's auf diesen Schiffen keine Wanzen?« Spiridon zuckte die Achseln. »Durchaus möglich«, sagte er. »Das hat uns nicht interessiert.« »Verstehe«, erwiderte die Wanze finster. »Wie immer.« Ich griff mir das nächste Blatt. »Im Dorf Higashimiraha auf der Insel Tsuzukijima beten die Leute bis zum heutigen Tage einen großen Polypen an, den sie >Nushi< - den >Hausherrn< - nennen. Einem alten Brauch zufolge
entkleiden sich beim dritten Neumond alle Mädchen und kinder: losen Frauen nach Sonnenuntergang, verlassen das Dorf und tanzen mit geschlossenen Augen auf einer Sandbank. Der Polyp sieht ihnen von weitem zu, sucht sich eine aus und ruft sie zu sich. Weinend und widerstrebend folgt sie dem Ruf und versinkt traurig im dunklen Wasser. Die übrigen kehren nach Hause zurück.« (»Aufzeichnungen des Geschäftigen Falters Ansina Enko«) »So ein Unsinn«, sagte die Wanze. »Wenn sie mit geschlossenen Augen tanzen, noch dazu bei Neumond, woher wissen sie dann, welche er meint?« Spiridon schwieg. »Lesen Sie, Sascha«, bat Fedja leise. »Bei dem großen Taifun im zweiten Jahr der Ära Shotoku verloren siebzehn Fischer aus dem Dorf Gumihara in Izumo ihre Boote und retteten sich auf einen einsamen Felsen mitten im Meer. Dort glaubten sie, sorglos leben zu können, indem sie sich von eßbaren Muscheln ernährten, aber wie sich herausstellte, hausten unter dem Felsen Dämonen in der Gestalt riesiger Polypen. Bei Tage lugten sie gierig aus dem Wasser, des Nachts aber erschienen sie den Fischern im Traum, saugten ihr Hirn und forderten: »Gebt uns auf der Stelle einen von euch.< Da die Fischer nicht aus noch ein wußten, siegte ihre Angst. Sie ließen das Los entscheiden und opferten einen Fischer namens Binsuke. Hocherfreut strichen sich die Dämonen über die kahlen Schädel, als wollten sie sagen: Recht so! Das wiederholte sich tagaus, tagein, und die nächtlichen Qualen waren so fürchterlich, daß die Fischer manchmal, ohne erst lange das Los zu befragen, den ersten besten packten und ins Wasser warfen. Es gab auch einige, die freiwillig hineinsprangen. Als nur noch fünf von ihnen übrig waren, nahm ein Schiff, das von Niigata nach Sakai unterwegs war, die Fischer an Bord. Eine Weile folgten die Dämonen noch dem Schiff, bis ihre Zauberkräfte versiegten und sie verschwanden.« (»Aufzeichnungen ungewöhnlicher Ereignisse auf den Besitzungen des Fürsten Matsudaira«) »Wissen Sie was?« sagte Fedja. »So eine Legende gibt's bei uns auch. In manchen Felsspalten sollen früher wilde Fruchs gehaust haben...«
»Wie?« fragte die Wanze. »Das ist ein Wort aus unserer Sprache«, erklärte Fedja, als müsse er sich entschuldigen. »Fruch, das heißt soviel wie unsichtbar. Niemand hat sie je gesehen, aber alle haben gehört, wie sie in der Tiefe rumkrochen. Und in den Nächten quälten sich die Menschen, und viele von ihnen stürzten sich freiwillig in die Felsspalten. Erst dann hörte der Spuk auf.« Fedja machte eine Pause, dann sagte er verschämt: »Ich weiß natürlich, daß das nur ein Märchen ist, aber wenn es wahr wäre, wüßten wir, warum wir in unserer Entwicklung so zurückgeblieben sind. Es waren doch immer die Intelligentesten, die umkamen — Sänger oder Leute, die sich mit Wurzeln auskannten, oder Künstler oder die, die nicht mit ansehen konnten, wie andere sich quälten.« Mir fiel auf, daß Spiridon sich gar nicht mehr muckste. Es wäre lächerlich gewesen anzunehmen, daß dieser eingefleischte Egozentriker sich der Taten seiner Zeitgenossen schämte, und deshalb ging mir sein Schweigen irgendwie auf die Nerven. »Spiridon«, sagte ich. »Wo bleibt dein Kommentar?« »Später, später«, murmelte er. »Lies weiter.« »Ich hab nur noch ein Blatt«, kündigte ich an. »Na, um so besser«, sagte Spiridon. »Lies vor.« Ich las das letzte Blatt: »Da stürmten die Meuterer mit lautem Geschrei vor. Seine Durchlaucht geruhte jedoch, das Zeichen geben zu lassen. Die Reiterei setzte sich in Bewegung, und von den Hügeln kamen die Truppen der Ashikaga herab. Da hielten die Meuterer verwirrt inne. Die Ashikaga feuerten aus ihren Musketen. Da warfen die Meuterer ihre Waffen — Spieße und Schilde - fort und hasteten zurück zu den Schiffen. Der treue Nabeshima Toshikane hätte sie trotz seiner Tapferkeit nicht mehr einzuholen und zu ergreifen vermocht. Da geruhte Seine Durchlaucht, das Zeichen geben zu lassen, und schon sandte der Flottenführer Yusho die Kampfpolypen aus. Wie ein Wirbelwind fielen diese über die feindlichen Schiffe her, rüttelten und schüttelten sie, daß sie wankten und zerbrachen. Bei diesem Anblick erschraken die Meuterer und gaben klein bei. Sie wurden allesamt gefesselt und gleich gedörrten Dattelpflaumen an einem Strick aufgereiht, wor-
auf Seine Durchlaucht Befehl zu geben geruhte, die Anführer ausfindig zu machen und an Ort und Stelle zu kreuzigen. Insgesamt wurden achtzig Banditen gekreuzigt, und dem Flottenführer Yusho wurde höchstes Lob zuteil.« (»Tsukusi-Chronik«) Ich legte die Blätter zusammen und schnürte die Mappe zu. Wir alle warteten nun auf das, was Spiridon sagen würde. Spiridon glättete die Wogen in seinem Becken, verfärbte sich dunkelrot und breitete sich wie eine Öllache auf dem Wasser aus. »Die meisten dieser Dokumente«, erklärte er, »stammen, soweit ich das beurteilen kann, aus der Mitte unseres Jahrtausends, einer Zeit, da viele von uns, die wir die Seuche überstanden hatten, noch sehr jung waren und nicht wußten, daß Kompliziertes kompliziert ist. Daher die Versuche, Allianzen zu schließen, daher die Botmäßigkeit. Verflixt noch mal, wir aßen alle gern süßes Fleisch! Ich muß zugeben, daß es mir unangenehm war, diese Chroniken anzuhören, so wie's jedem intelligenten Geschöpf unangenehm ist, Erinnerungen Unbeteiligter an seine Kindheit zu hören. Trotzdem würde es einigen von uns nicht schaden, das zu lesen — zur Mahnung. Ich werd's ihnen vorlesen. Sie aber möchten natürlich wissen, ob an diesen Aufzeichnungen etwas Wahres ist, wieviel davon wahr ist und ob's die ganze Wahrheit ist. Wahr daran ist, daß wir immer bestrebt waren, alles, was ins Meer fiel, zu vernichten, daß manche von uns für süßes Schweinefleisch auf das Recht der Erstgeburt verzichteten und es einigen unserer Jüngsten gefiel, von ungebildeten Fischern vergöttert zu werden. Das ist das Wahre daran. Der Rest ist blanker Unsinn. Die ganze Wahrheit über die gigantischen urtümlichen Kopffüßer fände in keinen Aufzeichnungen Platz.« »Mir hat der Ausdruck gefallen: >saugten ihr Hirn<«, sagte die Quasselstrippe nachdenklich. »Was mag das wohl bedeuten?« »Das ist nur eine Metapher«, erwiderte Spiridon kühl. »Warum fragst du nicht, was der Ausdruck >schlimme Augen< bedeutet?« »Weil mich das nicht interessiert«, erwiderte die Quasselstrippe von oben herab. Mir fiel auf, daß Fedja zweifelnd den Kopf schüttelte.
»Nein, dahinter steckt was anderes«, murmelte er. »Und nichts Gutes. Spiridon will's uns nur nicht erzählen.« Das Gefühl hatte ich auch, mochte aber nicht näher darauf eingehen. Es war mir irgendwie unangenehm und letzten Endes auch nicht so wichtig. Warum sollte ich mir aus purer Neugier die Hände schmutzig machen? Zumal der Fotograf Naismork plötzlich in unsere Runde einbrach. Zusammengeklappt wie ein Taschenmesser, zwängte er sich in den Pavillon, sah uns mit wilden Augen an und erkundigte sich heiser, wer von uns Spiridon, der Krake und urtümliche Kopffüßer sei. Ohne eine Antwort abzuwarten, umkreiste er das Becken, sah sich nach allen Seiten um und murmelte, das Licht sei gut, das habe einer aufgebaut, der was davon verstehe, bloß der Gestank erinnere ihn an die Abfallgrube neben der Kantine. Als Naismork dahinterkam, wer von uns Spiridon war, geriet er in professionelle Begeisterung. Flr klopfte sich auf die Schenkel, blickte durch den Sucher, stieß Freudenschreie aus und fing von neuem mit dem Schenkelklopfen an. Jawohl, rief er, so was lasse sich en face aufnehmen, so was könne sich sehen lassen, so was Tolles habe er überhaupt nur ein einziges Mal gesehen - bei diesem Wiehießerdochgleich, na, bei Ihnen, Bürger, letztes Jahr, kurz nach Ihrer Ankunft. Für Spiridons Vorderansicht verbrauchte er den halben Film, aber vom Profil war er enttäuscht. Verbittert teilte er uns mit, daß überhaupt kein Profil da sei, das heißt, irgendwas sei natürlich da, aber das lange nicht hin und nicht her, und man müsse glatt annehmen, daß nach dem Gesetz von der Erhaltung der Summe der Ansichten alles für die Vorderansicht draufgegangen sei. Als er das, was man für Spiridons Profil halten konnte, im Sucher hatte, bat er den Kraken, ernst zu bleiben, sich zu entspannen und nicht zu lächeln, machte zwei Aufnahmen, ließ sich von mir eine Zigarette geben und verschwand ebenso plötzlich, wie er gekommen war. »Mich hat er neulich auch geknipst«, teilte die Wanze uns eifersüchtig mit. »Mit Hilfe eines Mikroskops. Ich glaube, das hängt mit meiner Eingabe zusammen.« »Kaum«, meinte Fedja. »Das hängt damit zusammen, daß sich der Kommandant ins Bockshorn hat jagen lassen und Naismork
beauftragt hat, die ganze Kolonie noch einmal aufzunehmen. Bloß so, für alle Fälle.« »Dummes Gerede!« sagte die Wanze. »Ich hab die Troika nämlich ersucht, mich morgen außer der Reihe dranzunehmen und meinen Vorschlag zu erörtern.« »Was für einen Vorschlag?« fragte ich. »Das geht niemand was an«, verkündete die Wanze hochnäsig. »Sie werden's schon noch früh genug erfahren. Ich hoffe, der Kollege Amperjan nimmt an der morgigen Vormittagssitzung teil?« »Bestimmt«, sagte ich. »Das freut mich«, meinte die Wanze. »Den Kollegen Amperjan schätze ich nämlich sehr, und die morgige Sitzung verspricht ein historisches Ereignis zu werden.« »Das bezweifle ich«, erklärte Spiridon gelangweilt. »Ich bezweifle, daß irgendwas im Zusammenhang mit der Quasselstrippe historisch sein könnte. Du hast dich doch voriges Jahr schon mal auf einer Sitzung produziert, ohne daß man was Historisches an dir entdeckt hätte, und der Entscheid lautete, wenn ich mich recht erinnere: Eine sprechende Wanze, die keine unerklärte Erscheinung darstellt und nicht in die Kompetenz der Troika fällt, hat keinen Anspruch auf eine Futterration und ein Bett im Wohnheim...« »Das ist nicht wahr!« rief die Quasselstrippe. »Das hat nur Chlebowwodow, dieser Esel, vorgeschlagen. Lawr Fedotowitsch hat's nicht bestätigt! Ich war, ich bin und ich bleibe eine unerklärte Erscheinung! Was verstehst du schon davon? Oder bist du vielleicht imstande, meine erhabenen Gedankengänge, meine Eingebungen, meine Trauer beim Aufgang der verhaßten Sonne zu erklären? Wenn du's genau wissen willst: Wäre ich eine gewöhnliche Wanze...« »Dann hätte dich längst jemand zerquetscht!« sagte Spiridon spöttisch. »Halt's Maul, du Menschenfresser!« kreischte die Wanze und griff sich ans Herz. »Du kaltes, gewissenloses Stück Glibber! Alt und grau und immer noch nicht schlau! Wird Zeit, daß du mal eins auf die Schnauze kriegst!«
»Kollegen, Kollegen«, sagte Fedja und nahm die Wanze, die ihre Fäuste schüttelte und drauf und dran war, sich ins Becken zu stürzen, um die Taille. »Quasselstrippe, dort ertrinken Sie doch! Spiridon, ich bitte Sie, entschuldigen Sie sich! Das war wirklich taktlos! Sie wissen doch, wie allergisch die Quasselstrippe auf solche Anspielungen reagiert.« Spiridon entgegnete, er habe nur einen ganz offensichtlichen Fakt konstatiert und sei bereit, jedem, der behaupte, er sage die Unwahrheit, Satisfaktion zu geben. Die Quasselstrippe schlug wild um sich und spuckte Gift und Galle. Da platzte mir der Kragen. Ich forderte die beiden auf, dieses Affentheater sofort zu beenden, andernfalls drohte ich, die Quasselstrippe für zwei Tage in eine Streichholzschachtel zu sperren und Spiridon Kaliumpermanganat ins Becken zu schütten. Das wirkte. Natürlich gaben die beiden Krakeeler nicht gleich Ruhe und warfen einander noch ein paar Kraftausdrücke an den Kopf, zu guter Letzt aber murmelte Spiridon etwas, was sich anhörte wie »Entschuldigung, hab's nicht so gemeint«, und die Quasselstrippe brach in Tränen aus und sagte, sie sei in letzter Zeit so furchtbar nervös, und die beiden reichten einander zum Zeichen der Versöhnung die Hände. »Na, Gott sei Dank«, sagte Fedja strahlend. »Und jetzt könnten wir, glaub ich, einen kleinen Spaziergang machen.« Wir beschlossen, ein wenig frische Luft zu schnappen, zumal es ein sehr schöner und warmer Abend war. Fedja besorgte eine Schubkarre und stopfte feuchtes Heu hinein. Die Quasselstrippe und ich zogen Spiridon mit vereinten Kräften aus dem Becken, kippten ihn ins Heu und deckten ihn mit einem nassen Sack zu. Spiridon hüstelte verlegen und entschuldigte sich, wenn wir ihm auf die Greifer traten. Er setzte sich in der Schubkarre bequem zurecht, machte sich bereit, die Umgebung in Augenschein zu nehmen, und erklärte schließlich, er sei soweit. In der Tür stießen wir mit dem Wächter, einem Schwager des Kollegen Subo, zusammen. Er zerrte einen krepierten Hund hinter sich her und steuerte damit auf das Becken zu. Sein Gesicht war blaurot angelaufen, er schwankte, roch nach Wodka und nach Zwiebeln.
»Spiridon Spiridonowitsch!« krächzte er. »Wo wollen Sie jetzt vor dem Essen noch hin? Der Kommandant wird schimpfen!« Spiridon steckte ihm eine kleine Perle zu. »Hier, für deine Mühe, mein Guter«, sagte er. »Bring das Abendbrot rein und leg's irgendwohin. Ich esse nachher, wenn ich zurückkomme.« »Na schön«, krächzte der Wächter und begutachtete die Perle, wobei er wankte und unwillkürlich in die Hocke ging, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Ist geritzt. Vie-vielen Dank, Spiridon Spiridonowitsch.« Auf dem Weg zur Uferstraße begegneten wir Edik, und ich stellte ihn Spiridon vor. Der höfliche Edik machte dem Kraken ein paar Komplimente, und die beiden wollten sich gerade über die ungewöhnlichen Körpermaße der Riesenkraken und ihren angeborenen majestätischen Blick austauschen, als die eifersüchtige Quasselstrippe Edik unterfaßte und ihn mit den Worten vorwärts zog: »Pardon, Kollege Amperjan! Einen Augenblick, nur eine kleine Konsultation...« Trotzdem war Spiridon obenauf, führte das große Wort und gab ein paar drollige Geschichten aus dem Leben der Kraken zum besten. Einen Heiterkeitserfolg konnte er mit der Geschichte von einigen jungen, unerfahrenen Riesenkraken verbuchen, die ein U-Boot aufspürten und beschlossen, es zu überfallen, da sie es für einen großen Pottwal hielten. Sie krabbelten lange auf dem stählernen Deck umher und feuerten einander mit dem Ruf an: »Drückt ihm das Atemloch zu, Jungs! Das Atemloch!« Über diese meisterhaft erzählte Geschichte mußten wir herzlich lachen, bis sich herausstellte, daß jeder aus einem anderen Grund lachte. Edik und ich lachten über die dummen Kraken; Spiridon amüsierte sich köstlich bei der Vorstellung, welchen Schreck die U-Boot-Besatzung ausgestanden haben mußte; Fedja lachte vor Freude darüber, daß alle so fröhlich und friedfertig waren (er hatte die Geschichte überhaupt nicht verstanden, für ihn war ein U-Boot einfach ein gesunkenes Fischerboot); die Quasselstrippe dagegen lachte, weil ihr eine geniale Idee gekommen war, die überhaupt nichts mit der Erzählung zu tun hatte. Sie weigerte sich, uns diese Idee mitzuteilen, trotzdem merkte ich bald, worum es ging: Als wir eine halbe Stunde später auf der Hauptstraße vor unserem
Hotel haltmachten, um uns von dem ermüdeten Edik zu verabschieden und Spiridon mit einem Schlauch zu bespritzen, bat mich die Quasselstrippe, ihr noch einmal zu sagen, in welchem Zimmer Chlebowwodow, dieser Esel, wohne. Ich sagte es ihr, und gleich darauf verabschiedete sie sich mit der Bemerkung, sie habe noch eine Verabredung. Nun spazierten wir zu dritt durch die Kolonie, und ich erklärte Fedja und Spiridon den Aufbau des Universums. Bei der Gelegenheit stellte sich heraus, daß Spiridon den Großen Roten Fleck auf dem Jupiter und die Ringe des Saturns mit bloßem Auge sehen konnte. Der schüchterne Kusma raschelte bald rechts, bald links von uns im Gebüsch und machte mit leisem Quaken auf sich aufmerksam; wir riefen und lockten ihn, aber nicht einmal die Aussicht auf Leckerbissen und auf unsere Freundschaft konnte ihn dazu bewegen, näher zu kommen. Hinter dem Lager mit den zerschlagenen fliegenden Untertassen stießen wir überraschend auf Roman und die Kollegin Irina. Mit der Linken hielt Roman die üppigen Schultern der Lieblingstochter des Kollegen Goly umfaßt, mit der Rechten deutete er emphatisch in den Sternenabgrund — anscheinend war auch er gerade dabei, den Aufbau des Universums zu erklären. Wir bogen hastig in einen Seitenweg ab und brachten Spiridon in sein Becken zurück. Es war spät geworden, in der Stadt erloschen die Lichter, und nur in weiter, weiter Ferne erklang eine Harmonika, und helle Mädchenstimmen sangen: H »Dir dreiäugig' Kreatur sag ich heute mit Bravour: Die Küsserei ist mir zu stur, Verstandesbrüder sind wir nur!« Als die Quasselstrippe aufgerufen wurde, kam sie nicht etwa gleich in den Saal. Wir hörten, wie sie sich im Vorzimmer mit dem Kommandanten zankte und irgendein Zeremoniell, mehr Respekt und eine Ehrenwache forderte. Edik geriet ins Schwitzen, und mir blieb nichts anderes übrig, als hinauszugehen und der Wanze zu sagen, sie solle sich nicht so anstellen, sonst werde es ihr schlecht ergehen. »Aber ich verlange, daß er mir drei Schritte entgegenkommt!« keifte die Quasselstrippe. »Eine Wache muß nicht unbedingt sein, aber die elementarsten Regeln sollte man schon einhalten! Ich
verlange ja nicht, daß er mich an der Tür empfängt, aber ich bestehe darauf, daß er mir drei Schritte entgegenkommt!« »Von wem sprichst du?« fragte ich, wie vor den Kopf geschlagen. »Na, von wem wohl? Von diesem eurem... Wie heißt doch gleich euer Oberhaupt? Wunjukow?« »Dumme Gans!« zischte ich. »Willst du, daß sie dich anhören? Dann geh sofort rein! Dir bleiben dreißig Sekunden!« Die Quasselstrippe gab sich geschlagen. Über die Verletzung sämtlicher Anstandsregeln murrend, betrat sie den Sitzungssaal und lümmelte sich dreist und ohne guten Tag zu sagen auf den Demonstrationstisch. Lawr Eedotowitsch, dessen Augen nach den gestrigen Strapazen noch gelb und trübe waren, griff nach seinem Theaterglas und begutachtete die Wanze. Chlebowwodow, der unter saurem Aufstoßen litt, nörgelte: »Was geben wir uns mit der ab? Es ist längst alles gesagt worden. Die führt uns bloß an der Nase rum.« »Einen Augenblick«, bat Earfurkis, munter und rosig wie immer. »Bürgerin Quasselstrippe«, sagte er zur Wanze. »Die Troika ist bereit, Sie außer der Reihe zu empfangen und Ihre, wie Sie schreiben, außerordentlich wichtige Erklärung anzuhören. Die Troika schlägt Ihnen vor, sich kurz zu fassen und ihr keine kostbare Arbeitszeit zu stehlen. Was haben Sie uns mitzuteilen?« Die Quasselstrippe schaltete eine wohlberechnete Kunstpause ein. Dann zog sie geräuschvoll die Beine unter sich, setzte sich in Positur, blies die Backen auf und legte los. »Die Geschichte des Menschengeschlechts«, sagte sie einlei tend, »verzeichnet nicht wenige schmachvolle Beweise der Barbarei und des Unverstands. Archimedes wurde von einem ungebildeten Soldaten brutal erstochen, Giordano Bruno von verlausten Popen verbrannt. Zügellose Fanatiker verfolgten Charles Darwin, Galileo Galilei und Nikolai Wawilow. Auch die Geschichte der Wanzen verzeichnet Opfer der Unwissenheit und des Obskuran- tentums. Unvergessen sind die unerhörten Leiden des großen Enzyklopädisten Sapukl, der unseren Vorfahren, den Gras- und Baumwanzen, den Weg zu wahrem Fortschritt und Wohlergehen wies. In Armut und Vergessenheit starben
Imperutor, der Schöpfer der Blutgruppentheorie, Rexophob, der das Problem der Fruchtbarkeit löste, und Pulp, der die Anabiose entdeckte. Barbarei und Unvernunft unsrer beider Stämme drückten unseren Beziehungen einen verhängnisvollen Stempel auf. Ungehört verhallte der Ruf unseres großen Utopisten Piatun, der eine Symbiose zwischen Wanze und Mensch propagierte und die Zukunft des Wanzengeschlechts nicht auf den ausgetretenen Pfaden des Parasitismus sah, sondern in den elysischen Gefilden der Freundschaft und gegenseitigen Hilfe. Wir kennen Fälle, da der Mensch den Wanzen unter der Losung >Ihr und ich, wir sind eines Bluts< Frieden, Schutz und Beistand bot, aber die gierigen, ewig hungrigen Wanzenmassen ignorierten dieses Angebot unter dem absurden Motto: >Wir haben getrunken, wir trinken, und wir werden trinken.«« Die Quasselstrippe kippte ein Glas Wasser hinunter, leckte sich die Lippen ab und fuhr wie auf einem Meeting mit sich überschlagender Stimme fort: »Heute nun stehen wir zum erstenmal in der Geschichte unserer Stämme vor einer Situation, da eine Wanze der Menschheit Frieden, Schutz und Beistand bietet und als Gegenleistung nur eins verlangt: Anerkennung. Zum erstenmal findet eine Wanze eine gemeinsame Sprache mit dem Menschen. Zum erstenmal verkehrt eine Wanze mit dem Menschen nicht im Bett, sondern am Verhandlungstisch. Zum erstenmal ist eine Wanze nicht auf materielle Güter aus, sondern auf geistigen Austausch. Werden wir an diesem Kreuzweg der Geschichte, an dieser Weggabelung, die unser beider Stämme zu unerreichten Höhen zu führen vermag, etwa unschlüssig innehalten und uns, wie schon so oft, von Ignoranz und Entfremdung leiten lassen, Offenkundiges leugnen und uns weigern, das Wunder zu sehen, das hier geschieht? Ich, die Wanze Quasselstrippe, die einzige sprechende Wanze des Universums, das einzige Verbindungsglied zwischen unseren bei den Stämmen, fordere im Namen von Millionen: Besinnt euch! Werft eure Vorurteile über Bord, löst euch aus der Verknöcherung, erinnert euch all des Guten und Vernünftigen in euch und seht der großen Wahrheit unerschrocken ins Auge: Die Wanze Quasselstrippe ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit, eine unerklärte, ja vielleicht sogar unerklärbare Erscheinung!«
Ja, die Eitelkeit dieses Insekts überstieg jede Vorstellungskraft. Ich ahnte, daß das kein gutes Ende nehmen würde, und stieß Edik mit dem Ellbogen an, damit er sich bereit hielt. Noch bestand zwar die Hoffnung, daß die Magenverstimmung, unter der der größte und beste Teil der Troika litt, ein Ausbrechen der Leidenschaften verhinderte. Ein günstiger Faktor war auch die Abwesenheit Wybegallos, den die Freßsucht ans Bett gefesselt hatte. Lawr Fedotowisch fühlte sich unwohl, er war blaß und schwitzte. Farfurkis konnte sich zu nichts aufraffen und warf ihm besorgte Blicke zu. Schon glaubte ich, alles würde noch einmal glimpflich abgehen, als Chlebowwodow plötzlich sagte: » >Wir haben getrunken, wir trinken, und wir werden trinken!< Auf wen ist das gemünzt? Das ist doch auf uns gemünzt! Auf unser Blut! Unser kostbares Blut! Hä?« Er sah sich wild nach allen Seiten um. »Das Biest zerquetsche ich mit meinem Fingernagel! Nachts kann man sich vor ihnen nicht retten, und jetzt rücken sie einem auch schon am hellichten Tage auf die Pelle. Diese Quälgeister!« Und er begann sich erbittert zu kratzen. Die Quasselstrippe war blaß geworden, hielt sich aber wacker. Allerdings sah sie sich schon mal unauffällig nach einer passenden Ritze um. Im Saal verbreitete sich ein durchdringender Geruch nach teurem Kognak. »Diese Blutsauger!« krächzte Chlebowwodow, sprang auf und stürzte nach vorn. Mir stockte der Atem, und Edik griff nach meinem Arm — auch er war erschrocken. Die Quasselstrippe duckte sich ängstlich. Chlebowwodow aber stürmte, die Hände an den Leib gepreßt, am Demonstrationstisch vorbei, riß die Tür auf und verschwand. Man hörte seine Absätze gegen die Treppenstufen knallen. Die Quasselstrippe wischte sich den Angstschweiß von der Stirn und ließ kraftlos die Fühler hängen. »Chrrm«, murmelte Lawr Fedotowitsch irgendwie kläglich. »Gibt es weitere Wortmeldungen?« »Ja, ich bitte ums Wort«, sagte Farfurkis, und ich wußte, nun geht's los. »Die Erklärung der Bürgerin Quasselstrippe hat mich zutiefst beeindruckt. Genauer gesagt, ich bin empört. Und das nicht nur, weil die Bürgerin Quasselstrippe die Geschichte der
Menschheit fälschlicherweise als die Leidensgeschichte einzelner hervorragender Persönlichkeiten interpretiert. Auch ihre absolut unkritischen Äußerungen über die eigene Person mag die Rednerin mit ihrem Gewissen abmachen. Aber ihr Vorschlag, ihre Idee eines Bündnisses... Allein der Gedanke hat für mich etwas Beleidigendes und Anstößiges. Wofür halten Sie uns, Bürgerin Quasselstrippe? Oder ist das eine vorsätzliche Beleidigung? Ich für meine Person neige dazu, sie als eine solche zu qualifizieren! Mehr noch, soeben habe ich die Materialien der vorangegangenen Sitzung zum Vorgang der Bürgerin Quasselstrippe durchgesehen und mich zu meinem Leidwesen davon überzeugen müssen, daß dort der meiner Ansicht nach unbedingt erforderliche Schiedsspruch fehlt. Das, Kollegen, ist unser Fehler, unser Versäumnis, das wir so schnell wie möglich wiedergutmachen sollten. Woran denke ich dabei? Ich denke dabei an jenen simplen und unbestreitbaren Fakt, daß wir in der Person der Bürgerin Quasselstrippe einen typischen sprechenden Parasiten vor uns haben, das heißt einen notorischen Faulpelz, der keiner geregelten Arbeit nachgeht und sich seinen Lebensunterhalt auf eine verabscheuungswürdige Art beschafft, die man schlankweg als verbrecherisch bezeichnen kann.« In diesem Augenblick kehrte der ziemlich mitgenommene Chlebowwodow zurück. Als er an der Quasselstrippe vorbeiging, drohte er ihr mit der Faust und murmelte: »Ach, du schwanzloser, sechsbeiniger Köter!« Die Quasselstrippe zog nur den Kopf ein. Sie hatte endlich mitgekriegt, daß ihre Chancen gleich Null waren. »Sascha«, flüsterte Edik mir in panischer Angst zu, »Sascha, laß dir was einfallen.« Ich suchte fieberhaft nach einem Ausweg, Farfurkis aber fuhr fort: »Beleidigung der Menschheit, Beleidigungeines maßgeblichen Organs, typische Arbeitsscheu, die hinter Gitter gehört - ist das nicht ein bißchen viel, Kollegen? Legen wir hier nicht Schlappschwänzigkeit, Willenlosigkeit, bürgerlichen Liberalismus und abstrakten Humanismus an den Tag? Ich weiß nicht, wie meine verehrten Kollegen darüber denken und welchen Entscheid wir zu diesem Vorgang fällen werden, aber als von Natur aus gutmütiger, wenn auch prinzipientreuer Mensch gestatte ich
mir, Sie, Bürgerin Quasselstrippe, zu warnen. Die Tatsache, daß Sie, Bürgerin Quasselstrippe, sprechen, genauer gesagt, sich ver ständlich machen können, mag sich eine Zeitlang hemmend auf unsere Beziehungen auswirken. Aber nehmen Sie sich in acht! Uberspannen Sie den Bogen nicht!« »Da fackeln wir gar nicht lange!« krächzte Chlebowwodow. »Ich werd dem Parasiten gleich mit einem Streichholz...« Und er klopfte seine Taschen ab. Die Quasselstrippe war völlig verstört. Und Edik nicht minder. Mir aber wollte und wollte kein Ausweg einfallen. »Nein, nein, Kollege Chlebowwodow«, sagte Farfurkis mit angewiderter Miene. »Ich bin gegen ungesetzliche Maßnahmen. Was soll diese Lynchjustiz? Wir sind doch hier nicht in Texas. Man kann alles gesetzlich regeln. Vor allem sollten wir, falls Lawr Fedotowitsch nichts dagegen hat, die Bürgerin Quasselstrippe als unerklärte und demzufolge in unsere Kompetenz fallende Erscheinung rationalisieren...« Bei diesen Worten strahlte die dumme Quasselstrippe übers ganze Gesicht. O Eitelkeit! »Anschließend«, fuhr Farfurkis fort, »sollten wir die rationalisierte unerklärte Erscheinung als schädlich einstufen und im Prozeß der Utilisierung abschreiben. Das Verfahren ist denkbar einfach. Wir fertigen ein Protokoll etwa folgenden Inhalts an: Protokoll über die Abschreibung der sprechenden Wanze, im weiteren Quasselstrippe genannt...« »Richtig!« krächzte Chlebowwodow. »Drücken wir ihr einen Stempel auf!« »Das ist Willkür!« piepste die Quasselstrippe. »Erlauben Sie mal!« brüllte Farfurkis. »Was heißt hier Willkür? Wir schreiben Sie laut Paragraph vierundsiebzig der Anlage über die Abschreibung von Abfällen ab, wo es klipp und klar heißt...« »Trotzdem ist das Willkür!« schrie die Wanze. »Henker! Gendarmen!« Und da kam mir endlich eine Idee. »Gestatten Sie«, sagte ich. »Lawr Fedotowitsch! Ich bitte Sie, schreiten Sie ein! Wir können's uns nicht erlauben, so mit unseren Kadern zu aasen!«
»Chrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch kaum hörbar hervor. Ihm war so übel, daß ihm schon alles egal war. »Haben Sie gehört?« sagte ich zu Farfurkis. »Und Lawr Fedotowitsch hat völlig recht! Man sollte weniger auf die Form achten als auf den Inhalt. Unsere beleidigten Gefühle kollidieren hier mit den Interessen der Volkswirtschaft. Was sollen diese sentimentalen administrativen Anwandlungen? Sind wir vielleicht ein adliges Mädchenpensionat? Oder ein Qualifizierungslehrgang? Jawohl, die Bürgerin Quasselstrippe hat sich Frechheiten herausgenommen und zweifelhafte Parallelen gezogen. Jawohl, die Bürgerin Quasselstrippe ist noch sehr weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Aber muß sie deshalb gleich als unbrauchbar abgeschrieben werden? Was fällt Ihnen ein, Kollege Farfurkis? Können Sie vielleicht eine zweite sprechende Wanze aus dem Ärmel schütteln? Gibt es in Ihrem Bekanntenkreis etwa noch mehr sprechende Wanzen? Woher diese Allüren, woher diese Animosität? >Mir gefällt die sprechende Wanze nicht, also schreiben wir sie ab... < Und Sie, Kollege Chlebowwodow? Ich sehe schon, Sie sind ein Mensch, der viel unter Wanzen gelitten hat. Ich fühle aus tiefstem Herzen mit Ihnen, dennoch muß ich Sie fragen: Haben Sie schon ein Mittel gegen diese blutsaugenden Schmarotzer gefunden? Gegen diese Piraten der Nachtlager, diesen Alptraum des schlafenden Volkes, diese Vampire verlotterter Hotels?« »Na, sag ich doch!« erklärte Chlebowwodow. »Da fackeln wir gar nicht lange. Zerquetschen kann man sie auch ohne Protokoll...« »Nein, Kollege Chlebowwodow! Das lassen wir nicht zu! Wir lassen nicht zu, daß man die Erkrankung des wissenschaftlichen Beraters ausnutzt, um statt administrativ-wissenschaftlicher plötzlich rein administrative Methoden einzuführen und in Anwendung zu bringen. Wir lassen nicht zu, daß Voluntarismus und Subjektivismus neue Triumphe feiern! Begreifen Sie wirklich nicht, daß uns die hier anwesende Bürgerin Quasselstrippe die bisher einzigartige Möglichkeit bietet, erzieherisch auf diese notorischen Faulpelze einzuwirken? Irgendwann einmal hat ein hausbackenes Wanzentalent die vegetarisch lebenden Wanzen zu ihrem jetzigen
abstoßenden Modus vivendi angestiftet. Sollte unsere heutige gebildete, mit dem ganzen Potential von Theorie und Praxis ausgerüstete Wanze nicht imstande sein, hier eine Kehrtwende zu bewirken? Könnte sie, versehen mit sorgsam ausgearbeiteten Instruktionen, ausgestattet mit den neuesten Errungenschaften der Pädagogik und der ganzen progressiven Menschheit hinter sich, nicht zu einem archimedischen Hebel werden, der es uns gestattet, das Rad der Geschichte des Wanzengeschlechts zurückzudrehen, zurück zu Wäldern und Wiesen, zurück zur Natur, zu einem Dasein in Einfachheit und Unschuld? Ich bitte die Kommission, diese Erwägungen zur Kenntnis zu nehmen und sorgfältig zu prüfen.« Ich setzte mich. Edik zeigte mir, blaß vor Begeisterung, seinen Daumen. Die Quasselstrippe lag auf den Knien und schien inbrünstig zu beten. Was die Troika angeht, so hüllte sie sich, durch meine Redekunst verblüfft, in Schweigen. Farfurkis starrte mich angenehm überrascht an. Ich merkte, daß er meine Idee genial fand und bereits fieberhaft überlegte, wie er es anstellen könnte, bei diesem neuen, einzigartigen Vorhaben höchste Kommandostellen zu besetzen. Schon sah er sich damit beschäftigt, umfangreiche, detaillierte Instruktionen auszuarbeiten, schon zogen vor seinem inneren Auge zahllose Kapitel, Paragraphen und Anlagen vorbei, schon erteilte er im Geist der Quasselstrippe Konsultationen, organisierte Sprachkurse für besonders begabte Wanzen und wähnte sich zum Oberhaupt eines Staatlichen Komitees für Propagierung des Vegetarismus unter den Blutsaugern ernannt, das sich zunehmend auch mit Mücken und Schnaken, Asseln und Bremsen, Pferde- und Stechfliegen befaßte. »Ich kann Ihnen sagen, mit Graswanzen ist auch nicht zu spaßen«, brummte der konservative Chlebowwodow. Er hatte längst kapituliert, wollte es nur nicht zugeben. Ich zuckte beredt die Achseln. »Kollege Chlebowwodow denkt in engbegrenzten Kategorien«, entgegnete Farfurkis und schob sich um eine halbe Körperlänge vor.
»Überhaupt nicht«, protestierte Chlebowwodow. »Im Gegenteil, ich denke in sehr weitreichenden... wie heißt das gleich? Aber die stinken doch! Natürlich ist mir klar, daß man das bei der laufenden Arbeit mit erledigen kann. Ich frag mich bloß, ob auf so ein... Filou Verlaß ist. Die Wanze wirkt nicht gerade vertrauenerweckend, und irgendwelche Verdienste hat sie auch nicht aufzuweisen.« »Ich hätte einen Vorschlag«, sagte Edik. »Vielleicht sollte man eine Unterkommission zwecks Erforschung dieser Frage mit dem Kollegen Farfurkis an der Spitze gründen. Als amtierenden Stellvertreter des Kollegen Farfurkis würde ich Priwalow vorschlagen, der unbefangen ist.« Da stand l.awr Fedotowitsch plötzlich auf. Man sah mit bloßem Auge, daß die gestrigen Strapazen nicht spurlos an ihm vorbeige gangen waren. Hinter seinen gewohnt steinernen Gesichtszügen verbarg sich eine ganz gewöhnliche menschliche Schwäche. Ja, der Granit hatte einen Sprung, die Bastion wankte, hielt sich aber, jeder Gefahr trotzend, unerschrocken senkrecht. »Das Volk...«, stieß die Bastion hervor und verdrehte leidend die Augen. »Das Volk hockt nicht gern in seinen vier Wänden. Das Volk braucht Raum! Das Volk braucht Felder und Flüsse. Das Volk braucht den Wind und die Sonne.« »Und den Mond!« fügte Chlebowwodow hinzu und blickte anhimmelnd zu der Bastion auf. »Und den Mond«, bestätigte Lawr Fedotowitsch. »Mit der Gesundheit des Volkes muß man haushalten, denn sie gehört dem Volke. Das Volk braucht Arbeit an der frischen Luft. Ohne Luft erstickt das Volk.« Der Kommandant erkundigte sich in ehrerbietig-sachlichem Ton: »Geht das Volk zu Fuß, oder zieht es eine Fahrt im Wagen vor?« »Das Volk...«, verkündete Lawr Fedotowitsch. »Das Volk zieht eine Fahrt im offenen Wagen vor. Ich spreche im Namen aller, wenn ich vorschlage, die gegenwärtige Sitzung zu vertagen und die für den Abend anberaumte auswärtige Sitzung gleich anschließend durchzuführen. Kollege Subo, bereiten Sie alles Nötige vor.« Mit diesen Worten ließ sich Lawr Fedotowitsch schwer in seinen Sessel plumpsen.
Eine allgemeine Hektik brach aus. Der Kommandant eilte hinaus, um einen Wagen zu bestellen, Chlebowwodow versorgte Lawr Fedotowitsch mit Borshomi, während Farfurkis die entsprechenden Vorgänge aus dem Panzerschrank nahm. Ich nutzte das Tohuwabohu, um die Quasselstrippe beim Schlafittchen zu pakken und mit dem Knie hinauszustoßen. Die Quasselstrippe wehrte sich nicht: Das soeben Erlebte hatte sie bis ins Mark erschüttert und für lange Zeit aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie konnte nicht einmal mehr sprechen und versuchte, mir unter wirrem Gestammel die Hände zu küssen. Unterdessen fuhr der Wagen vor. Lawr Fedotowitsch wurde, von zwei Seiten gestützt, hinausgeführt und vorsichtig auf den Vordersitz verfrachtet. Chlebowwodow, Farfurkis und der Kommandant belegten, einander schubsend und anknurrend, den Wagenfond. Im Wagen ist nur für fünf Mann Platz, sagte Edik besorgt. Da nehmen sie uns bestimmt nicht mit. Ich sagte, ich fände das gar nicht so schlecht. Auf der auswärtigen Sitzung stünden Vorgänge zur Verhandlung, die uns nicht interessierten, so daß wir in Ruhe baden gehen könnten. Edik erklärte, er wolle nicht baden gehen, sondern unsichtbar dem Wagen folgen, um heute noch einen Versuch der positiven Remoralisation zu starten. »Solange es um Menschen geht, darf man nie die Hoffnung verlieren«, sagte er. Da wurde es im Wagen plötzlich laut. Farfurkis und Chlebowwodow gerieten aneinander. Chlebowwodow, dem der Benzingeruch auf den Magen schlug, bestand darauf, sofort loszufahren. Er rief, das Volk liebe eine rasche Fahrt. Farfurkis dagegen, der sich als der einzige Sachkundige im Wagen für alles verantwortlich fühlte, behauptete, daß die Anwesenheit eines fremden, nicht überprüften Chauffeurs die geschlossene Sitzung in eine offene verwandle, daß außerdem laut Instruktion in Abwesenheit des wissenschaftlichen Beraters überhaupt keine Sitzungen stattfinden dürften und man diese, falls sie doch stattfänden, später für ungültig erklären würde. »Ein Hindernis?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch mit leicht gefestigter Stimme. »Kollege Farfurkis, räumen Sie's aus dem Weg.«
Farfurkis kam diesem Wunsch mit Feuereifer nach, und ehe ich's mich versah, hatten sie mich als kommissarischen Geschäftsführenden des wissenschaftlichen Beraters kooptiert, den Fahrer entlassen und mich auf seinen Platz gesetzt. »Sträub dich nicht«, flüsterte der unsichtbare Edik mir ins Ohr. »Vielleicht brauche ich dich noch.« Gehetzt sah ich mich nach allen Seiten um. Unseren Wagen umringte eine Kinderschar. Mit diesen Typen in einem geschlossenen Raum zu sitzen ging ja noch an, aber hier fühlte ich mich wie auf dem Präsentierteller. Unterdessen fiel dem unermüdlichen Farfurkis ein, daß der Oberst vergessen worden war, und wieder gerieten Farfurkis und Chlebowwodow aneinander. »Was sollen wir mit dem alten Zausel?« fragte Chlebowwodow stöhnend. »Wir können ihn doch nicht da oben sitzenlassen«, sagte Farfurkis. »Kommandant, holen Sie ihn!« »Wo sollen wir ihn denn unterbringen?« schrie Chlebowwodow hysterisch. »Wollen Sie ihn vielleicht in den Kofferraum stekken?« »Keine Sorge, den kriegen wir schon unter.« Ich beschloß, der peinlichen Szene ein Ende zu machen., »Ich gebe zu bedenken«, sagte ich streng, »daß der Wagen für fünf Personen zugelassen ist. Eine Verletzung der Vorschriften kann ich nicht dulden. Ich hab nicht die Absicht, mir wegen Ihres Obersts ein Strafmandat einzuhandeln.« Der Kommandant, der schon drauf und dran gewesen war, auszusteigen, zog das Bein wieder zurück. »So fahren Sie doch endlich«, flehte Chlebowwodow, »daß Luft reinkommt.« »Chrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Es gibt den Vorschlag loszufahren, ohne auf Nachzügler zu warten. Gibt es andere Vorschläge? Chauffeur, fahren Sie.« Anfangs nervte mich Farfurkis mit seinen Ratschlägen. Bald riet er mir, im Halteverbot zu halten, bald, nicht so zu rasen und an Lawr Fedotowitschs kostbares Leben zu denken, bald wollte er, daß ich schneller fuhr, weil der Fahrtwind Lawr Fedotowitschs Stirn nicht heftig genug umwedelte, bald, daß ich mich nicht um die Ampeln scheren sollte, weil das seiner Meinung nach die Autorität
der Troika untergrub. Kaum hatten wir jedoch die Kiteshgra- der Neubauviertel am Stadtrand hinter uns gebracht und die Stadt verlassen, kaum breiteten sich grüne Wiesen vor uns aus, kaum blaute in der Ferne ein See, kaum rumpelte der Wagen über ausgefahrene Schotterwege, da setzte endlich wohltuende Stille ein. Alle hielten ihr Gesicht in den Fahrtwind, alle blinzelten in die Sonne, alle fühlten sich wohl. Lawr Fedotowitsch rauchte die erste Herzegowina an diesem Tag, Chlebowwodow stimmte ein Kutscherlied an, der Kommandant döste, die Akten mit den Vorgängen an die Brust gepreßt, vor sich hin, und nur Farfurkis fand nach kurzem Kampf die Kraft in sich, die wohlige Mattigkeit abzuschütteln. Er entfaltete eine Karte von Kiteshgrad und Umgebung und malte beflissen die Fahrstrecke hinein, mit der allerdings nicht viel anzufangen war, weil er vergessen hatte, daß wir nicht mit dem Hubschrauber unterwegs waren, sondern mit dem Auto. Ich schlug ihm meine Variante vor: See — Sumpf — Hügel. Am See stand der Vorgang eines Plesiosauriers zur Debatte, im Sumpf galt es, das dort ertönende Ächzen zu rationalisieren und zu utilisieren, und am Hügel wollten wir einen sogenannten Verwunschenen Ort in Augenschein nehmen. Erstaunlicherweise hatte Farfurkis nichts einzuwenden. Wie sich herausstellte, vertraute er meiner Intuition als Kraftfahrer völlig, mehr noch, es war ihm angenehm, in der Unterkommission zur Wanzenfrage mit mir zusammenzuarbeiten, er hielt schon lange große Stücke auf mich, wie überhaupt auf unsere wunderbare, begabte Jugend. Mit dem Herzen war er immer bei der Jugend, verschloß jedoch auch vor ihren Mängeln nicht die Augen. Die heutige Jugend kämpfte zuwenig und widmete dem Kampf zuwenig Aufmerksamkeit, sie strebte nicht danach, dafür zu kämpfen, daß der Kampf zu einer wahrhaft wichtigen, vordringlichen Aufgabe des gesamten Kampfes wurde, und wenn sie, unsere wunderbare, begabte Jugend, auch weiterhin so wenig kämpfte, hatte sie kaum eine Chance, in diesem Kampf zu einer wahrhaft kämpferischen Jugend zu werden, die unbeirrt dafür kämpfte, zu einem wahren Kämpfer zu werden, der dafür kämpfte, daß der Kampf...
Den Plesiosaurier sichteten wir schon von weitem — etwa zwei Kilometer vom Ufer entfernt ragte etwas aus dem Wasser, das wie der Griff eines Regenschirms aussah. Ich steuerte den Strand an und bremste. Während Farfurkis im Namen des Kampfes um die kämpfende Jugend noch immer mit der Grammatik kämpfte, sprang Chlebowwodow aus dem Wagen und riß die Tür an Lawr Fedotowitschs Seite auf. Lawr Fedotowitsch wollte jedoch nicht aussteigen. Er blickte Chlebowwodow wohlwollend an und teilte uns mit, daß im See Wasser sei, daß er die auswärtige Sitzung der Troika für eröffnet erkläre und dem Kollegen Subo das Wort erteile. Die Kommission ließ sich neben dem Wagen im Gras nieder, niemand war in Arbeitsstimmung. Farfurkis knöpfte sich den Kragen auf, während ich mein Hemd auszog, um mich bei der Gelegenheit ein bißchen zu sonnen. Der Kommandant leierte, ständig gegen die Instruktion verstoßend, den Fragebogen des Plesiosauriers namens Lisaweta herunter, aber niemand hörte ihm zu. Lawr Fedotowitsch betrachtete nachdenklich den vor ihm liegenden See, als überlegte er, ob das Volk ihn brauche oder nicht, und Chlebowwodow erzählte Farfurkis halblaut, wie er seinerzeit als Vorsitzender im Kolchos »Theater der Musikalischen Komödie« je Muttersau fünfzehn Ferkel aufgezogen hatte. Keine zwanzig Schritt von uns entfernt raschelte der Hafer, und über die weiten Wiesen stapften Kühe, so daß der Abstecher zum Thema Landwirtschaft nahelag. Als der Kommandant die kurze Charakteristik des Plesiosauriers vorlas, gab Chlebowwodow den wertvollen Hinweis, daß die Maul- und Klauenseuche eine gefährliche Erkrankung des Viehs sei und man sich nur wundern müsse, daß man es hier frei umherschwimmen lasse. Eine Zeitlang setzten Farfurkis und ich ihm träge auseinander, daß Schuppentiere von der Maul- und Klauenseuche nicht befallen werden. Chlebowwodow aber glaubte uns nicht und berief sich auf die Zeitschrift »Ogonjok«, in der wiederholt ausführlich von einem ausgegrabenen Schuppentier berichtet worden sei. »Ich lasse mir doch von Ihnen nichts weismachen«, sagte er. »Ich bin ein belesener Mensch, wenn ich auch keine Hochschulbildung hab.« Farfurkis, der sich
nicht kompetent genug fühlte, trat den Rückzug an, ich aber diskutierte weiter, bis Chlebowwodow vorschlug, den Plesiosaurier zu rufen und ihn selbst zu fragen. »Er kann nicht sprechen«, teilte der Kommandant mit, der neben uns hockte. »Macht nichts, wir werden uns schon verständigen«, entgegnete Chlebowwodow. »Aufrufen müssen wir ihn sowieso, dann lohnt sich die Sache wenigstens.« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Gibt es Fragen an den Vortragenden? Keine Fragen? Rufen Sie den Vorgang auf, Kollege Subo.« Der Kommandant sprang auf und hastete am Ufer hin und her. Zunächst rief er mit überkippender Stimme: »Lisaweta! Lisaweta!« Aber da ihn der Plesiosaurier offensichtlich nicht hörte, riß er sich die Jacke vom Leib und schwenkte sie wie ein Schiffbrüchiger, der am Horizont ein Segel erblickt hat. Lisaweta gab kein Lebenszeichen von sich. »Sie schläft«, sagte der Kommandant verzweifelt. »Sie hat sich an Barschen satt gefressen, und jetzt schläft sie.« Eine Weile lief er noch winkend hin und her, dann bat er mich zu hupen. Ich drückte auf die Hupe. Lawr Fedotowitsch lehnte sich aus dem Wagen und betrachtete den Plesiosaurier durch sein Theaterglas. Ich hupte etwa zwei Minuten lang, dann erklärte ich, daß es nun reiche und ich die Batterie nicht restlos entladen wolle — die Sache kam mir hoffnungslos vor. »Kollege Subo«, sagte Lawr Fedotowitsch, ohne das Glas von den Augen zu nehmen, »warum reagiert der Aufgerufene nicht?« Der Kommandant wurde blaß und wußte nicht, was er sagen sollte. »Bei Ihnen hapert's mit der Disziplin«, ließ Chlebowwodow verlauten. »Sie haben Ihre Untergebenen nicht fest im Griff.« Der Kommandant riß sich das Hemd auf und japste. »Eine Situation, die unsere Autorität zu untergraben droht«, stellte Farfurkis erschüttert fest. »Zum Schlafen ist die Nacht da, am Tag wird gearbeitet.« Der Kommandant z0g sich verzweifelt weiter aus. Ihm blieb gar nichts anderes übrig: Chlebowwodow und Farfurkis fletschten schon die Zahne, und auch Lawr Fedotowitsch drehte seit einer ganzen Weile langsam den Kopf in seine Richtung. Ich fragte den
Kommandanten, ob er überhaupt schwimmen könne. Wie sich herausstellte, konnte er es nicht, aber das machte ihm nichts. »Keine Sorge«, sagte Chlebowwodow blutrünstig, »so eine Blase kann gar nicht untergehen.« Ich äußerte vorsichtige Zweifel an der Zweckmäßigkeit des Vorhabens. Der Kommandant wird ertrinken, sagte ich und gab zu bedenken, daß die Troika es doch wohl nicht nötig habe, ihm nicht zukommende Funktionen zu übernehmen und dem Wasserrettungsdienst ins Handwerk zu pfuschen. Außerdem erinnerte ich daran, daß die Aufgabe, falls der Kommandant ertrank, ohnehin ungelöst blieb und dann logischerweise entweder Farfurkis oder Chlebowwodow schwimmen müßte. Farfurkis erwiderte, das Aufrufen der Vorgänge obliege einzig und allein einem Vertreter der städtischen Administration und, falls ein solcher nicht zugegen sei, dem wissenschaftlichen Berater, so daß er meine Worte als Provokation und als den Versuch auffasse, meine Arbeit auf andere abzuwälzen. Ich erklärte, in vorliegendem Fall weniger wissenschaftlicher Berater zu sein als vielmehr Fahrer eines Dienstwagens, von dem ich mich höchstens zwanzig Schritt weit entfernen dürfe. »Bei Gott dem Allmächtigen«, jammerte der Kommandant, der in Unterwäsche im Gras kniete. »Ich hab keine Angst zu schwimmen oder zu ertrinken! Aber die Lisaweta... Die hat ein Maul wie ein Scheunentor! Einen Schlund wie ein Metroeingang! Die verschlingt nicht nur mich, sondern eine ausgewachsene Kuh, als wär's ein Samenkorn! Schlaftrunken, wie sie ist...« »Schließlich und endlich«, erklärte Farfurkis leicht nervös, »wozu müssen wir sie überhaupt aufrufen? Schließlich und endlich erkennt man schon von weitem, daß an ihr überhaupt nichts dran ist. Ich schlage vor, sie zu rationalisieren und als unbrauchbar abzuschreiben.« »Jawohl, schreiben wir das Miststück ab!« stimmte Chlebowwodow freudig zu. »Eine Kuh verschlingt sie? Na und? Das ist doch keine Sensation! Eine Kuh kann ich auch verschlingen, aber versuch erst mal einer, pro Kuh fünfzehn Ferkel aufzuziehen. Verstehst du? Das soll mir erst mal einer nachmachen!« Das schwerste Geschütz fuhr Lawr Fedotowitsch auf.
»Das Volk...«, tönte es aus dem Kommandoturm. »Das Volk sieht weiter. Diese Plesiosaurier braucht das Volk...« »Überhaupt nicht!« Chlebowwodow feuerte nur ein kleines Kaliber ab, verfehlte aber sein Ziel. Wie sich herausstellte, brauchte das Volk diese Plesiosaurier dringend, einzelne Mitglieder der Troika dagegen hatten jegliches Gefühl für die Perspektive verloren, während einzelne Kommandanten offenbar vergaßen, wessen Brot sie aßen, einzelne Vertreter unserer ruhmreichen wissenschaftlichen Intelligenz dazu neigten, die Welt durch eine schwarze Brille zu betrachten, und die Verhandlung des Vorgangs Nummer acht demzufolge auf den Winter verschoben werden mußte, wo das Eis betreten werden konnte. Andere Vorschläge gab es nicht und Fragen an den Vortragenden schon gar nicht. Und dabei blieb es. »Kommen wir zur nächsten Frage«, erklärte Lawr Fedotowitsch, und die Ordentlichen Mitglieder der Troika eilten, einander schubsend, in den Wagenfond. Der Kommandant zog sich hastig an und murmelte: »Na warte, das sollst du mir büßen. Hast immer die besten Stücke von mir gekriegt. Wie meine eigene Tochter hab ich dich... Du schwimmendes Mistvieh!« Wir folgten weiter dem Feldweg am Seeufer entlang. Der Weg war miserabel, und ich dankte dem Himmel, daß wir einen trokkenen Sommer hatten, sonst wären wir rettungslos verloren gewesen. Aber ich hatte dem Himmel zu früh gedankt, denn je näher wir dem Sumpf kamen, um so deutlicher ließ der Weg die Tendenz erkennen, zu verschwinden und sich in zwei mit Riedgras bewachsene glitschige Rinnen zu verwandeln. Ich schaltete den ersten Gang ein und schätzte die physischen Möglichkeiten meiner Mitfahrer ab. Von dem dicklichen, schlaffen Farfurkis hatte ich natürlich keine Hilfe zu erwarten. Chlebowwodow wirkte zwar ganz kräftig, aber,ich wußte nicht, ob er sich nach der Magenattacke schon genügend erholt hatte. Lawr Fedotowitsch würde wahrscheinlich nicht einmal aussteigen. Also konnte ich im Notfall nur mit dem Kommandanten rechnen, denn Edik würde sein Inkognito wohl kaum lüften, um eine neunhundert Kilo schwere Karre aus dem Dreck zu ziehen. Meine pessimistischen Gedankengänge wurden durch eine rie-
sige schwarze Pfütze auf dem Weg vor uns unterbrochen. Ich bremste scharf und sagte: »Wir sind da.« »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Kollege Subo, tragen Sie vor.« In der eintretenden Stille hörte man den Kommandanten schwanken. Bis zum Sumpf war es noch ziemlich weit, aber auch er sah die Pfütze, und auch er wußte sich keinen Rat. Er seufzte schicksalsergeben und raschelte mit seinen Papieren. »Vorgang Nummer achtunddreißig«, las er. »Familienname: Strich. Vorname: Strich. Vatersname: Strich. Genannt: Kuhschlick...« »Einen Augenblick!« unterbrach ihn Farfurkis aufgeregt. »Hören Sie mal!« Er hob einen Finger und saß stocksteif da. Wir horchten, und da hörten auch wir es. In weiter, weiter Ferne erklangen silberhelle Siegesfanfaren. Der vielstimmige Klang pulsierte, schwoll an und schien näher zu kommen. Uns erstarrte das Blut in den Adern. Das waren Mücken. »Lawr Fedotowitsch!« stammelte Chlebowwodow. »Miik- ken.« »Es gibt einen Vorschlag«, rief Farfurkis nervös. »Die Verhandlung des Vorgangs auf den Oktober, nein, besser, auf den Dezember zu verschieben!« »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch überrascht hervor. »Das Volk versteht nicht...« Plötzlich vibrierte die Luft um uns herum. Chlebowwodow kreischte auf und gab sich eine Maulschelle. Farfurkis tat es ihm nach. Lawr Fedotowitsch drehte sich erstaunt um, und da geschah das Unerhörte: Ein riesiger rötlicher Pirat prallte so treffsicher wie bei einem Leistungsvergleich gegen Lawr Fedotowitschs Stirn und stieß ihm seinen Degen, ohne lange zu fackeln, bis an die Augen hinein. Lawr Fedotowitsch fuhr zurück. Er war erschüttert, konnte es nicht fassen. Und dann ging es los. Wie ein Pferd den Kopf schüttelnd und mit den FLIlbogen rudernd, machte ich mich daran, auf dem schmalen Pfad zwischen dem Espengestrüpp zu wenden. Zu meiner Rechten warf sich Lawr Fedotowitsch empört knurrend hin und her, und im Wagenfond erhob sich ein so stürmisches Klatschen, als wären ganze Kompanien aufgebrachter Ulanen und Leibhusaren dabei, sich gegenseitig tätlich zu beleidigen. Iiis mir das Wendemanöver glückte,
war ich total verquollen. Meine Ohren hatten sich in heiße Fladen verwandelt, meine Wangen waren glühende Brotlaibe, und aus meiner Stirn sprossen Hörner. »Vorwärts!« schrie es von allen Seiten auf mich ein. »Zurück! Geben Sie doch endlich Gas! Ich bring Sie vors Gericht, Kollege Priwalow!« Der Motor jaulte, der Schlamm spritzte nach allen Seiten, und der Wagen hüpfte wie ein Känguruh, kam aber nur langsam, unerträglich langsam voran. Von zahllosen Flugplätzen starteten unterdessen immer neue Staffeln, Geschwader und Armadas. In der Luft hatte der Gegner die absolute Übermacht. Alle außer mir betrieben verbissene, in Selbstzerfleischung übergehende Selbstkritik. Ich konnte die Hände nicht vom Lenkrad nehmen, ich konnte nicht einmal strampeln, nur hin und wieder bekam ich einen Fuß frei, mit dem ich mich, wo ich hinlangte, aus Leibeskräften kratzte. Endlich gelangten wir aus dem Espengestrüpp wieder ans Seeufer. Der Weg wurde besser und führte stetig bergauf. Ein heftiger Wind blies mir ins Gesicht. Ich hielt an, um zu verschnaufen und mich zu kratzen. Ich kratzte mich hingebungsvoll und konnte überhaupt nicht mehr aufhören. Als ich schließlich doch aufhörte, sah ich, daß die Troika dabei war, den Kommandanten fertigzumachen. Ihm wurde vorgeworfen, einen terroristischen Anschlag vorbereitet und inszeniert zu haben, ihm wurde für jeden Blutstropfen, den die Mitglieder der Troika geopfert hatten, die Rechnung präsentiert, und er beglich die Rechnung auf Heller und Pfennig. Was vom Kommandanten übrig war, als ich wieder sehen, hören und denken konnte, verdiente kaum noch diesen Namen: ein Häufchen Unglück, ein leerer Blick und ein schwaches Murmeln: »Bei Gott dem Allmächtigen...« Das war alles. »Kollege Subo«, stieß Lawr Fedotowitsch schließlich hervor. »Warum haben Sie aufgehört zu lesen? Tragen Sie weiter vor!« Mit zitternden Händen sammelte der Kommandant die im Wagen verstreuten Papiere ein. »Lesen Sie gleich die kurze Charakteristik des Unerklärten vor«, befahl Lawr Fedotowitsch. Der Kommandant schluchzte noch ein letztes Mal und las mit gebrochener Stimme: »Ein großes Sumpfgebiet, aus dem von Zeit zu Zeit ein Ächzen und Stöhnen steigt.«
»Na?« sagte Chlebowwodow. »Und was weiter?« »Nichts weiter. Das ist alles.« »Alles?« Chlebowwodow heulte auf. »Zugrunde gerichtet haben sie mich! Abgestochen! Und warum das Ganze? Wegen ein paar Ächzern! Wozu hat er uns hergeschleppt, dieser Terrorist? Damit wir uns die Ächzer anhören? Wofür haben wir unser Blut vergossen? Sehen Sie mich doch mal an - so kann ich mich ja nicht mehr ins Hotel wagen! Meine Autorität ist für alle Zeiten untergraben! Den Kerl lasse ich schmoren, bis ihm Ächzen und Stöhnen vergeht!« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch, und Chlebowwodow verstummte. Seine Augen waren aus den Höhlen getreten, und er befühlte mit dem Ausdruck eines harmlosen Idioten die riesige rote Beule an seiner Stirn. »Es gibt einen Vorschlag«, fuhr Lawr Fedotowitsch fort. »Den Vorgang Nummer achtunddreißig, genannt >Kuhschlick<, wegen außerordentlicher Gefährlichkeit für das Volk einer verschärften Rationalisierung zu unterwerfen, genannte unerklärte Erscheinung als irrational, transzendent und demzufolge real nicht existierend zu betrachten und als solche für immer aus dem Gedächtnis des Volkes, das heißt aus allen geographischen und topographischen Karten zu tilgen.« Chlebowwodow und Farfurkis klatschten wie rasend in die Hände. Lawr Fedotowitsch holte seine Aktentasche unter dem Sitz hervor und legte sie flach auf seine Knie. »Das Protokoll!« forderte er. Und schon lag das Protokoll über die verschärfte Rationalisierung auf seiner Aktentasche. »Die Unterschriften!« Und schon trug das Protokoll die nötigen Unterschriften. »Den STEMPEL!« Die Tür des Panzerschranks knarrte, ein Schwall Aktenmief schwappte heraus, und vor Lawr Fedotowitsch hing der GROSSE RUNDE STEMPEL. Lawr Fedotowitsch griff mit beiden Händen danach, hielt ihn übers Protokoll und drückte aus Leibeskräften dagegen. Ein Schatten verdunkelte den Himmel, die Wagenfederung gab nach. Lawr Fedotowitsch verstaute die Aktentasche
wieder unter dem Sitz und fuhr fort: »Dem Kommandanten der Kolonie, Kollegen Subo, wird wegen unverantwortlicher Duldung eines irrationalen, transzendenten und demzufolge nicht real existierenden Kuhschlicks in der Kolonie sowie wegen ungenügender Absicherung der Arbeit der Troika ein strenger mündlicher Verweis erteilt. Gibt es weitere Vorschläge?« Chlebowwodow, den die Aufregungen ziemlich mitgenommen hatte, schlug vor, den Kommandanten zum Tode durch Erschießen, zur Konfiskation seines Vermögens und zur Aberkennung der Ehrenrechte für seine ganze Sippe auf zwölf Jahre zu verurteilen. Farfurkis wandte jedoch mit schwacher Stimme ein, daß die Troika nicht berechtigt sei, solche Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft zu ergreifen, daß er, Farfurkis, einen starken Drang verspüre, den Kommandanten zu verklagen, daß er, Farfurkis, letzten Endes jedoch voll und ganz hinter Lawr Fedotowitsch stehe. »Der nächste«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Was liegt heute noch an, Kollege Subo?« »Der Verwunschene Ort«, antwortete der Kommandant niedergeschlagen. »Das ist nicht weit von hier, etwa fünf Kilometer.« »Mücken?« vergewisserte sich Lawr Fedotowitsch. »Bei Jesus Christus, unserem Heiland...«, sagte der Kommandant. »Mücken gibt's da nicht. Höchstens Ameisen.« »Gut«, konstatierte Lawr Fedotowitsch. »Wespen? Bienen?« fuhr er, erstaunlichen Scharfsinn und eine nimmermüde Sorge um das Volk offenbarend, fort. »Nicht die Spur«, beteuerte der Kommandant. Lawr Fedotowitsch schwieg längere Zeit. »Wilde Stiere?« fragte er schließlich. Der Kommandant versicherte ihm, daß in dieser Gegend von Stieren nicht die Rede sein könne. »Wölfe?« fragte Chlebowwodow mißtrauisch. Aber auch Wölfe und Bären, an die Farfurkis sich noch rechtzeitig erinnerte, gab es nicht. Während dieser zoologischen Übung suchte ich auf der Karte nach dem kürzesten Weg zu dem Verwunschenen Ort. Die verschärfte Rationalisierung hatte sich schon ausgewirkt. Auf der Karte gab es die Stadt Kiteshgrad, den
Fluß Kitesha, den Viehsee und irgendwelche Kletten. Das Sumpfgebiet Kuhschlick, das sich früher vom Viehsee bis zu den Kletten erstreckt hatte, aber war nicht mehr da. An seine Stelle war ein anonymer weißer Fleck getreten, wie man ihn auf alten Karten anstelle der Antarktis bewundern kann. Mir wurde befohlen weiterzufahren, und ich ließ den Motor an. Wir kamen an Haferfeldern vorbei, bahnten uns einen Weg durch eine Kuhherde, umfuhren den Runden Hain, überquerten den Frostigen Bach und sahen eine halbe Stunde später den Verwunschenen Ort vor uns. Dies war ein Hügel, der auf einer Seite mit Wald bewachsen war. Wahrscheinlich hatten früher von hier bis Kiteshgrad dichte Wälder gestanden, die später abgeholzt wurden und von denen nur das Stück Wald auf dem Hügel übriggeblieben war. Hoch oben auf dem Gipfel stand eine verwitterte Hütte; über den Hang stapften zwei von einem großen mürrischen Hund bewachte Kühe mit einem Kälbchen. Vor der Außentreppe scharrten Hühner im Erdreich, und auf dem Dach stand eine Ziege. »Warum halten Sie?« fragte Farfurkis. »Wir müssen näher ran, wir können doch nicht zu Fuß...« »Wie's aussieht, gibt's bei den Leuten auch Milch«, fügte Chlebowwodow hinzu. »Ein Glas Milch wäre jetzt genau das Richtige. Verstehst du? Nach einer Pilzvergiftung soll man unbedingt Milch trinken. Na, fahr doch endlich, worauf warten wir noch?« Ich versuchte ihnen klarzumachen, daß man nicht näher an den Hügel herankam, aber meine Erklärungen stießen bei Lawr Fedotowitsch, den der Gedanke an die heilsame Kraft kuhwarmer Milch beflügelte, auf ein so eisiges Staunen und bei Farfurkis auf ein so verzücktes Gestammel - »Saure Sahne! Frisch aus dem kühlen Keller!« —, daß ich es aufgab. Ich startete, und der Wagen rollte flott auf den Hügel zu. Das Tachometer zählte die Kilometer, die Autoreifen glitten raschelnd über das stachlige Gras, Lawr Fedotowitsch blickte unverwandt geradeaus, und im Wagenfond brach im Vorgeschmack von Milch und saurer Sahne ein Streit darüber aus, wovon die Mücken in den Sümpfen lebten. Chlebowwodow steuerte aus persönlicher Erfahrung die Ansicht bei, die Mücken lebten ausschließlich von leitenden Mitarbeitern, die sich auf Inspektionsreise befänden. Farfurkis
versicherte, die Mücken fräßen sich gegenseitig - dabei war der Wunsch der Vater des Gedankens. Der Kommandant dagegen sprach sanft, aber beharrlich von göttlicher Fügung, von Gottestau und von gebratenen Heuschrecken. So vergingen etwa zwanzig Minuten. Als das Tachometer fünfzehn zurückgelegte Kilometer anzeigte, wurde Chlebowwodow stutzig. »Was ist denn los?« fragte er. »Wir fahren und fahren, und der Hügel ist immer noch genausoweit weg. Legen Sie mal einen Zahn zu, Kollege Fahrer. Was soll das, Bruderherz?« »Der Hügel ist unerreichbar«, sagte der Kommandant sanft. »Das ist nun mal ein verwunschener Ort — weder mit dem Wagen noch zu Fuß kommen wir da hin. Wir verbrauchen bloß unnötig Benzin.« Schweigen trat ein, und das Tachometer zeigte die nächsten sieben Kilometer an. Dem Hügel aber waren wir nach wie vor keinen Meter näher gekommen. Anfangs äugten die Kühe, durch den Motorenlärm aufgeschreckt, zu uns herüber, dann aber verloren sie das Interesse an uns und steckten den Kopf wieder ins Gras. Im Wagenfond machte sich Empörung breit. Chlebowwodow und Farfurkis tauschten leise Bemerkungen aus. »Schädlingsarbeit«, sagte Chlebowwodow. »Sabotage«, widersprach Farfurkis. »Und zwar böswillige.« Dann begannen sie zu tuscheln, und mich erreichten nur noch Gesprächsfetzen: ».. .Bremsklötze... Na ja, die Räder drehen sich, aber der Wagen kommt nicht vom Fleck... Der Kommandant? Vielleicht auch der kommissarische Geschäftsführende... das Benzin... eine Untergrabung der Wirtschaftlichkeit ...dann wird der Wagen mit einer hohen Laufzeit abgeschrieben, dabei ist er noch nagelneu...« Ich achtete nicht weiter auf dieses unheilverkündende Papageiengekrächz, bis plötzlich eine Wagentür klappte und wir Chlebowwodow mit schrecklicher, sich rasch entfernender Stimme brüllen hörten. Ich trat voll auf die Bremse. Lawr Fedotowitsch krachte, der bisherigen Fahrtrichtung folgend, wie ein Stück Holz und ohne seine Haltung zu ändern, gegen die Frontscheibe. Mir wurde ganz schwarz vor Augen. Der Wagen geriet ins Schleudern. Als sich die Staubwolke gelegt
hatte, erblickte ich weit hinter uns Chlebowwodow, der, mit den Extremitäten rudernd, hinter uns herstrebte. »Ein Hindernis?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch mit alltäglicher Stimme. Den Aufprall schien er gar nicht bemerkt zu haben. »Kollege Chlebowwodow, räumen Sie's aus dem Weg.« Das Hindernis hielt uns ziemlich lange auf. Erst mußten wir Chlebowwodow auflesen, der zerschunden, mit geplatzten Hosen und höchst erstaunt etwa dreißig Meter hinter dem Wagen lag. Wie sich herausstellte, hielt er den Kommandanten und mich für Verschwörer. Er glaubte, wir hätten den Wagen heimlich auf Klötze gestellt, um, in eigennütziger Absicht Kilometer zu schinden. Vom Pflichtgefühl getrieben, hatte er beschlossen, auszusteigen und einen Blick unter den Wagen zu werfen, um uns auf die Schliche zu kommen. Und nun war er platt, weil ihm das nicht gelungen war. Zusammen mit dem Kommandanten schleppte ich ihn zum Wagen und legte ihn so auf die Erde, daß er sich mit eigenen Augen von seinem Irrtum überzeugen konnte, während wir Farfurkis behilflich waren, seine Brille und seinen Oberkiefer wiederzufinden. Farfurkis suchte im Wagen danach, der Komman dant aber entdeckte beides weit davor. Das Mißverständnis wurde restlos aufgeklärt, Chlebowwo- dows Verletzungen erwiesen sich als belanglos, und Lawr Fedotowitsch, der erst jetzt merkte, daß es mit der kuhwarmen Milch nichts war, nichts werden würde und nichts werden konnte, schlug vor, nicht länger das kostbare, dem Volk gehörende Benzin zu vergeuden, sondern sich wieder der Pflicht zuzuwenden. »Kollege Subo«, sagte er, »tragen Sie vor.« Familien-, Vor- und Vatersnamen besaß der Vorgang Nummer neunundzwanzig, wie zu erwarten gewesen war, nicht. Er hatte nur bedingt die Bezeichnung »Verwunschener Ort« erhalten. Sein Geburtsjahr verlor sich in der Tiefe der Jahrhunderte, und seinen Geburtsort bestimmten Koordinaten mit einer Genauigkeit bis zu einer Bogenminute. Der Nationalität nach war der Verwunschene Ort Russe, eine Schulbildung besaß er nicht, Fremdsprachenkenntnisse gingen ihm ab, von Beruf war er Hügel, und seine gegenwärtige Arbeitsstelle bestimmten die bereits erwähnten Koor-
dinaten. Im Ausland war der Verwunschene Ort nie gewesen, seine nächste Angehörige war Mutter Erde, und seine ständige Wohnanschrift bezeichneten die gleichen Koordinaten mit der gleichen Genauigkeit. Auf Chlebowwodow machte dieser Fragebogen den denkbar günstigsten Eindruck. Er sagte, einem solchen Kollegen würde er, wäre er noch wie einst Vorsitzender der Allrussischen Chorgesellschaft, mit geschlossenen Augen jeden beliebigen Posten anvertrauen. Was das kurz umrissene Wesen des Unerklärten angeht, so hatte Wybegallo ohne viel Federlesen kurz und bündig notiert: »Man kommt nicht hin — weder mit einem Fahrzeug noch zu Fuß.« Der Kommandant strahlte. Der Vorgang sah seiner sicheren Rationalisierung entgegen. Chlebowwodow gefiel der Fragebogen, Farfurkis entzückte das offensichtlich Unerklärte, das für das Volk keinerlei Gefahr darstellte, und Lawr Fedotowitsch schien auch nichts dagegen zu haben. Jedenfalls teilte er uns vertraulich mit, daß das Volk sowohl Hügel als auch Ebenen, Schluchten und Niederungen, sowohl einen Elbrus als auch einen Kasbek brauche. In diesem Augenblick ging die Tür der Hütte auf, und auf der Außentreppe erschien, auf seinen Stock gestützt, ein alter Mann in Filzstiefeln, mit einem knielangen, gegürteten Hemd angetan. Er stand eine Weile unschlüssig auf der Schwelle, blickte unter vorgehaltener Hand zur Sonne, bedeutete der Ziege, vom Dach zu kommen, und setzte sich auf eine Stufe. »Ein Zeuge!« sagte Farfurkis. »Vielleicht sollten wir ihn aufrufen?« »Wozu denn noch ein Zeuge?« fragte der Kommandant gequält. »Ist denn was unklar? Wenn's Fragen gibt, kann ich doch...« »Nein!« sagte Farfurkis und musterte den Kommandanten argwöhnisch. »Nein, warum Sie? Sie wohnen doch ganz woanders, das aber ist ein Hiesiger.« »Rufen wir ihn auf!« sagte Chlebowwodow. »Er könnte uns Milch rausbringen.« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Kollege Subo, rufen Sie den Zeugen zum Vorgang Nummer neunundzwanzig auf.«
»Ach!« rief der Kommandant und schmiß seinen Strohhut auf die Flrde. Die Sache ging zusehends daneben. »Glauben Sie, er würde noch dort sitzen, wenn er herkommen könnte? Er ist sozusagen eingesperrt! Er kann nicht mehr raus! Da, wo's ihn damals erwischt hat, ist er hängengeblieben.« Völlig verzweifelt gab der Kommandant unter den bohrenden, mißtrauischen Blicken der Troika, neue Unannehmlichkeiten auf sich zukommen sehend und daher ungewöhnlich wortreich, die Kiteshgrader Sage von dem verwunschenen Waldhüter Feofil zum besten, der einst, noch jung und bei Kräften, mit seiner Frau glücklich und froh in seiner Hütte lebte, bis eines Tages ein grüner Blitz in den Hügel einschlug, der schreckliche Folgen zeitigte. Feofils Frau war gerade in der Stadt; als sie zurückkam, konnte sie nicht mehr nach Hause auf den Hügel. Da lief sie unter Tränen in die Stadt zurück, zum Popen. Der Pope nahm einen Eimer mit geweihtem Wasser und machte sich auf den Weg, um den Hügel zu beträufeln. Er ging und ging, kam aber nicht an den Hügel heran. Da verspritzte er das geweihte Wasser nach links und nach rechts und sprach Gebete dazu, aber alles vergebens. Der Pope war, wie sich herausstellte, schwach im Glauben und wurde abtrünnig. Er legte sein Amt nieder, der Renegat, und lief zu den Atheisten über. Das war glatter Aufruhr. Da mußte der Polizeihauptmann her. Der kam und sah Feofil auf dem Hügel stehen. Zunächst drohte er ihm, rief, schimpfte und fluchte und versuchte dann, Feofil mit einem Fläschchen Wodka zu ködern. Wenn Feofil die Flasche sieht, sagte er sich, schlägt er sich bestimmt zu mir durch, und ich kann ihn ergreifen und fesseln. Feofil gab sich wirklich redliche Mühe. Zwei Tage lang eilte er, ohne einmal zu verschnaufen, den Hügel hinab, kam aber nicht bis zu der Flasche. Also blieb er, wo er war. Er dort, seine Frau hier. Anfangs besuchte sie ihn noch, und die beiden verständigten sich schreiend, bald aber hatte sie das satt und stellte ihre Besuche ein. Auch Feofil wollte anfangs unbedingt weg. Man erzählt sich, daß er ein Schwein schlachtete, sich mit Pökelfleisch eindeckte, saubere Unterwäsche einpackte und auf Wanderschaft ging. Als Wegzehrung soll er sich noch zwei Brotlaibe und etwas Zwieback eingesteckt haben. Lange stapfte er
den Hügel hinab, die halbe Stadt lief zusammen, um ihm dabei zuzusehen. Er ging und ging bergab, immer bergab. Die Leute wußten nicht, ob sie lachen oder weinen sollten. Na, mit der Zeit kam er darüber hinweg - das Leben geht weiter. So fand er sich mit seinem Los ab und lebt seitdem auf dem Hügel. Beim Anhören dieser furchtbaren Geschichte hatte Chlebowwodow plötzlich eine Erleuchtung: Feofil besaß keine sowjetischen Papiere, er war von keiner Volkszählung erfaßt worden, machte nicht von seinem Wahlrecht Gebrauch, hatte sich jeder erzieherischen Einwirkung entzogen und war möglicherweise noch immer ein Kulak und Ausbeuter. »Zwei Kühe besitzt er«, sagte Chlebowwodow. »Und das Kälbchen dort. Außerdem eine Ziege. Zahlt aber keine Steuern.« Und plötzlich bekam er ganz große Augen. »Wenn er ein Kälbchen hat, ist also auch irgendwo ein Bulle versteckt!« »Ja, stimmt, er hat einen Bullen«, gestand der Kommandant verzagt. »Wahrscheinlich grast er auf der anderen Seite.« »Also, Freundchen, das sind ja Zustände bei dir«, sagte Chlebowwodow drohend. »Daß du ein Gauner und Blender bist, hab ich gewußt, hab's schon immer geahnt, aber das hätte ich nicht mal dir zugetraut. Daß du ein Kulakenknecht bist, der einen Kulaken, einen Ausbeuter, deckt...« Der Kommandant holte tief Luft und fing an zu lamentieren: »Ich schwöre bei der Heiligen Jungfrau Maria und bei den ersten zwölf Aposteln...« Plötzlich hob der Waldhüter Feofil den Kopf, schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und blickte zu uns herüber. »Ganz normale Leute«, sagte er. »Erstaunlich...« Die Ziege warf ihren schweren goldenen Zopf auf den Rücken, musterte jeden einzelnen von uns und entschied sich für Chlebowwodow. »Das da ist Chlebowwodow«, sagte sie. »Rudolf Archipowitsch. Geboren 1910 in Chochloma. Den Vornamen entlehnten seine Eltern einem Roman aus dem Aristokratenmilieu, er hat den Bildungsstand eines Siebenklassenschülers und geniert sich seiner Herkunft, er hat viele Fremdsprachen gelernt, beherrscht aber keine einwandfrei...«
»Yes«, bestätigte Chlebowwodow, verschämt kichernd. »Jawohl!« »Einen richtigen Beruf hat er nicht — er ist einfach Leiter. Zur Zeit in leitenden Funktionen tätig. War wiederholt im Ausland: in Italien und Frankreich, in beiden Deutschlands, in Ungarn, England und so weiter — insgesamt in zweiundvierzig Ländern. Hat überall geprahlt und gerafft, soviel er konnte. Hervorstechender Charakterzug: hochgradige soziale Zählebigkeit und Anpassungsfähigkeit, die auf prinzipieller Dummheit und dem unwandelbaren Bestreben beruhen, stets päpstlicher zu sein als der Papst.« »So«, sagte Feofil. »Haben Sie dem etwas hinzuzufügen, Rudolf Archipowitsch?« »Ganz und gar nicht!« sagte Chlebowwodow. »Da war' höchstens die Sache mit dem Papst — das verstehe ich nicht ganz.« »Päpstlicher zu sein als der Papst heißt ungefähr folgendes«, sagte die Ziege. »Wenn die Obrigkeit an einem Wissenschaftler etwas auszusetzen hat, erklären Sie sich zum Feind der Wissenschaft überhaupt. Wenn die Obrigkeit an einem Ausländer etwas auszusetzen hat, sind Sie bereit, allem, was sich jenseits der Grenze befindet, den Krieg zu erklären. Verstehen Sie?« »Jawohl«, sagte Chlebowwodow. »Anders kann's auch gar nicht sein. Unsereins ist eben nicht gebildet genug. Da haut man leicht daneben.« »Stiehlt er?« fragte Feofil in verächtlichem Ton. »Nein«, antwortete die Ziege. »Er liest nur auf, was abfällt.« »Mordet er?« »Aber nein!« erwiderte die Ziege lachend. »Eigenhändig nie.« »Erzählen Sie«, forderte Feofil Chlebowwodow auf. »Wir haben Fehler gemacht«, sagte Chlebowwodow rasch. »Die Menschen sind keine Engel. Alter schützt vor Torheit nicht. Auch der Klügste kann fehlen. Nur wer nichts tut, macht keine Fehler.« »Verstehe«, sagte Feofil. »Werden Sie in Zukunft auch Fehler machen?« »Niemals!« sagte Chlebowwodow resolut. Feofil nickte.
»Hinterlässt er etwas Bleibendes?« fragte er die Ziege. »Kinder«, antwortete die Ziege. »Zwei eheliche und drei außereheliche. Und seinen Namen im Telefonbuch.« Ihr schönes Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an, als versuche sie, in die Ferne zu schauen. »Nein, sonst nichts.« »Was braucht unsereins schon groß?« meinte Chlebowwodow kichernd. »Und was die außerehelichen Kinder angeht, na, das ergibt sich halt. Da macht man mal eine Dienstreise...« »Ich danke Ihnen«, sagte Feofil und richtete seinen Blick auf Farfurkis. »Und dieser sympathische Mann?« »Das ist Farfurkis«, sagte die Ziege. »Niemand hat ihn je mit Vor- und Vatersnamen angeredet. Geboren 1916 in Taganrog, Hochschulbildung, Jurist, liest Englisch mit Hilfe eines Wörterbuchs. Von Beruf I.ektor. Doktor der historischen Wissenschaften, Thema der Dissertation: >Die Gewerkschaftsorganisation der Semjonow-Seifensiederei in der Zeit von 1934 bis 1941«. Er war noch nie im Ausland und reißt sich auch nicht danach. Hervorstechender Charakterzug: Vorsicht und Beflissenheit, die mitunter das Risiko in sich bergen, bei der Obrigkeit anzuecken, aber darauf abzielen, den späteren Dank der Obrigkeit einzuheimsen.« »Das stimmt nicht ganz«, widersprach Farfurkis sanft. »Sie verwechseln die Begriffe. Vorsicht und Beflissenheit liegen unabhängig von der Obrigkeit in meinem Charakter. Ich bin von Natur aus so, das steckt in meinen Chromosomen. Und was die Obrigkeit angeht, so ist's nun mal meine Aufgabe, die Vorgesetzten auf die juristischen Grenzen ihrer Kompetenz hinzuweisen.« »Und wenn diese Grenzen überschritten werden?« fragte Feofil. »Man merkt, daß Sie kein Jurist sind«, sagte Farfurkis. »Es gibt nichts Elastischeres und Dehnbareres als juristische Grenzen. Man kann auf sie hinweisen, darf sie aber nicht überschreiten.« »Wie stehen Sie zum Meineid?« fragte Feofil. »Ich fürchte, dieser Begriff ist ein wenig veraltet«, sagte Farfurkis. »Wir verwenden ihn nicht.« »Wie steht er zum Meineid?« fragte Feofil die Ziege. »Er glaubt immer felsenfest an das, was er sagt«, erklärte die Ziege.
»In der Tat, was ist eine Lüge?« fragte Farfurkis. »Eine Lüge ist die Leugnung oder Verdrehung eines Fakts. Was aber ist ein Fakt? Kann man unter den Bedingungen unserer unglaublich komplizierten Wirklichkeit überhaupt noch vom Fakt sprechen? Der Fakt ist eine von Augenzeugen bestätigte Erscheinung oder Handlung. Augenzeugen aber können voreingenommen, eigennützig oder auch einfältig sein. Der Fakt ist eine dokumentierte Handlung oder Erscheinung. Dokumente aber können gefälscht oder nachgemacht sein. Und schließlich ist der Fakt eine von mir persönlich fixierte Handlung oder Erscheinung. Meine Sinne aber können abgestumpft oder durch eingetretene Umstände irregeleitet sein. Daraus ergibt sich, daß der Fakt als solcher etwas äußerst Vergängliches, Verschwommenes und Unglaubwürdiges ist und das natürliche Bedürfnis entsteht, auf diesen Begriff generell zu verzichten. Damit aber werden Lüge und Wahrheit automatisch zu primären Begriffen, die durch keine allgemeineren Kategorien bestimmt werden können. Es gibt die Große Wahrheit und ihr Gegenstück, die Große Lüge. Die Große Wahrheit ist so erhaben und für jeden normalen Menschen, wie auch ich einer bin, so offensichtlich, daß es völlig sinnlos wäre, sie widerlegen oder verdrehen, das heißt lügen zu wollen. Darum lüge ich niemals und leiste natürlich auch niemals einen Meineid.« »Raffiniert«, sagte Feofil. »Sehr raffiniert. Diese Farfurkissche Philosophie des Fakts ist doch wohl etwas Bleibendes?« »Nein«, sagte die Ziege und griente spöttisch. »Diese Philosophie ist zwar etwas Bleibendes, aber sie hat nichts mit Farfurkis zu tun. Sie ist nämlich nicht sein Werk. Überhaupt hat er außer seiner Dissertation keine eigenen Werke verfaßt, so daß er der Menschheit nur diese Dissertation als ein Musterbeispiel für derartige Arbeiten hinterläßt.« Feofil versank in Gedanken. Die Ziege saß auf einer Bank zu seinen Füßen und kämmte sich wie Lorelei das Haar. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie mir kokett zu. Eine reizende kleine Ziege. Sie hatte etwas von meiner Stella, und ich bekam plötzlich schreckliches Heimweh.
»Habe ich Sie richtig verstanden«, fragte Farfurkis, an Feofil gewandt, »daß damit alles ausgestanden ist und wir unsere Arbeit fortsetzen können?« »Noch nicht«, erwiderte Feofil, aus seinen Gedanken fahrend. »Ich hätte noch ein paar Fragen an den Bürger da.« »Was?« rief Farfurkis erschüttert. »An Lawr Fedotowitsch?« »Das Volk...«, murmelte Lawr Fedotowitsch, der irgendwas durch sein Theaterglas betrachtete. »Ja«, sagte die Ziege. »An Lawr Fedotowitsch Wunjukow, geboren ...« »Was fällt Ihnen ein?« kreischte Farfurkis verzweifelt. »Kollegen! Haben wir uns da nicht ein bißchen verrannt? Was ist nur in uns gefahren? Das gehört sich doch nicht!« »Richtig«, sagte Chlebowwodow. »Das ist gar nicht unser Bier. Soll sich die Miliz damit befassen.« »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Gibt es andere Vorschläge? Oder Fragen an den Vortragenden? Ich spreche im Namen aller, wenn ich vorschlage, den Vorgang Nummer neunundzwanzig als unerklärte Erscheinung, für die sich das Ministerium für Nahrungsmittelindustrie, das Ministerium der Finanzen und das Ministerium für den Schutz der öffentlichen Ordnung interessieren könnten, zu rationalisieren. Zwecks primärer Utilisierung schlage ich vor, den Vorgang Nummer neunundzwanzig, genannt >Verwunschener Ort<, der Staatsanwaltschaft des Kreises Kiteshgrad zu übergeben.« Ich warf einen Blick zum Hügel hinüber. Der Waldhüter Feofil stand, schwer auf seinen Wanderstock gestützt, auf der Außentreppe und sah sich hinter vorgehaltener Hand um. Die Ziege spazierte im Gemüsegarten auf und ab. Ich winkte den beiden zum Abschied mit meiner Mütze zu. Als der GROSSE RUNDE STEMPEL knallend niederging, hörte ich den unsichtbaren Edik seufzen. Auf dem Rückweg von der Garage des Exekutivkomitees zum Hotel war ich nicht auf Draht und lief dem alten Edelweiß in die Arme. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich kühl zu erkundigen, ob er meinen Auftrag ausgeführt habe. Zu meinem Erstaunen war das der Fall. Wie ich merkte, hatte er alle fünf empfohlenen Bücher
vom ersten bis zum letzten Buchstaben gelesen und auswendig gelernt: Es gibt solche übereifrigen alten Leutchen. Ich wollte es nicht glauben, aber er rasselte mir aus dem Gedächtnis ganze Seiten aus beliebigen Kapiteln von links nach rechts, von rechts nach links, ja sogar von unten nach oben herunter. Dabei erkannte ich sofort, daß er kein Wort von alldem verstanden hatte und auch nie verstehen würde. Er nutzte meine ganz natürliche Verwirrung, um mir zu erklären, daß er die Theorie damit bewältigt habe und nicht mehr zu ihr zurückzukehren gedenke, sondern sich nun wieder der Praxis zuwenden wolle. Enttäuscht faselte ich etwas von lernenden Maschinen. Der alte Edelweiß hörte mir mit offenem Mund zu und nahm jedes Wort für bare Münze - ich glaube, auch diesen Unsinn prägte er sich wortwörtlich ein. Da kam mir eine Idee. Ich fragte ihn, ob sein Aggregat auch kompliziert genug sei. Und sofort versicherte er mir emphatisch, daß sein Aggregat unvorstellbar kompliziert sei, so kompliziert, daß er, Edelweiß, mitunter selbst nicht wisse, was an ihm wozu da sei. Na, wunderbar, sagte ich. Bekanntlich besitzt jede genügend komplizierte elektronische Maschine die Fähigkeit, zu lernen und sich zu reproduzieren. Letzteres ist vorläufig noch nicht erforderlich, ansonsten aber sind wir geradezu verpflichtet, Babkins... äh... Maschkins heuristischem Aggregat so schnell wie möglich beizubringen, selbständig, ohne menschliche Vermittlung, Texte zu tippen. Wie das zu bewerkstelligen ist? Mit der allgemein bekannten, vielfach erprobten Methode unentwegten Trainings. Der Vorteil dieser Methode liegt in ihrer Einfachheit. Man nehme einen genügend langen Text, beispielsweise Brehms »Tierleben« in fünf Bänden, setze Maschkin an sein Aggregat und lasse ihn den Text Wort für Wort, Zeile für Zeile, Seite für Seite abtippen. Damit veranlasse man den Analysator, zu analysieren, den Denker - einen Denker hat's doch wohl dadrinne? —, zu denken, und das Aggregat, auf diese Weise von Maschkin zu lernen. Und stante pede fängt's von ganz allein zu tippen an. Hier haben Sie einen Rubel Wegegeld, und jetzt gehen Sie in die Bibliothek und holen sich den Brehm. Ich verabschiedete mich von Edelweiß und ging in unser Zimmer hinauf. Hier herrschte Trübsal. Auf meinem Bett hockte, das
Kinn gegen die Fäuste gestemmt, der unrasierte, struppige Vitjka Kornejew. Sein Gesicht spiegelte hochgradige Unzufriedenheit mit der Welt im allgemeinen und seiner Stellung in dieser Welt im besonderen. Edik saß, die Arme ums Knie geschlungen, auf dem Fensterbrett und blickte traurig auf die Straße hinaus. Roman spazierte in Turnhemd, cremefarbener Hose und Ausgehstiefeletten gleichen Farbtons im Zimmer auf und ab und sagte mit verschämter Bitterkeit, wie gut es doch sei, moralisch und sittlich zu sein, wie schlecht dagegen, amoralisch und unsittlich. In unserer Gesellschaft habe sich eine strenge Monogamie eingebürgert, und jeder Versuch, gegen den Strom zu schwimmen, werde mit öffentlicher Verachtung oder gar gerichtlich geahndet; die Liebe habe absolut nichts mit Seufzern auf einer Parkbank und schon gar nichts mit Spaziergängen bei Mondschein zu tun. Ich setzte mich an den Tisch, öffnete eine Flasche Narsan und fragte, worum es gehe. Wie ich erfuhr, hatte der Kollege Goly, ein erfahrener Administrator, nach dem Prinzip »Vertrauen ist gut, Kontrolle besser« Erkundigungen über den Bürger Oira-Oira, R. P., eingezogen, und die Auskünfte waren so unerfreulich gewesen, daß der Kollege Goly beschlossen hatte, den Bürger OiraOira, R. P., zukünftig nicht mehr über seine Schwelle zu lassen und ihm seine verführerischen und sonstigen Absichten gegenüber der Kollegin Irina zu verleiden, der Kollegin Irina aber hatte er einen Verweis erteilt und ihr unter Androhung disziplinarischer Maßnahmen empfohlen, keinen Gedanken mehr an den erwähnten Bürger zu verschwenden. Außerdem erfuhr ich, daß der oberste der Magister die Verleidung seiner Absichten auf die leichte Schulter nahm, daß ihn dafür aber eine durchaus begründete Angst befallen hatte, die gegen ihn ergriffenen Maßnahmen könnten sich nicht auf besagte Verleidung beschränken, sondern es könnte zu einer inoffiziellen Absprache zwischen der hiesigen Administration in Gestalt des Kollegen Goly und der Troika in Gestalt des Kollegen Wunjukow dahingehend kommen, daß der Kollege Oira-Oira, R. P., den Kraken Spiridon ebensowenig zu
Gesicht kriegen würde wie seine eigenen Ohren. Mit einem Wort, der oberste der Magister hatte eine empfindliche; Schlappe erlitten und war auf seine Ausgangsposition zurückgeworfen worden. Eine nicht weniger schwere Schlappe hatte auch der ungehobelte, unbedarfte und kriminelle Vitjka Kornejew einstecken müssen. Zwar war außer mehr oder weniger unflätigen Flüchen nichts aus ihm herauszukriegen, aber die bekannte Blechkanne mit dem flüssigen Außerirdischen, die in der Ecke daraufwartete, ins Reich des Kommandanten zurückgebracht zu werden, und Vitjkas völlig zerknirschte Gemütsverfassung sprachen eine beredte Sprache. Was geschehen war, konnte ich nur ahnen, und ich stellte mir vor, wie unsere Koryphäen — der traurige Gian Giacomo, der vorwurfsvolle Fjodor Simeonowitsch Kiwrin und der gnadenlose Christobal Junta — den geknickten Vitjka mit Wunder wirkenden Worten bedachten, die zu hören uns —Gott sei Dank! —nicht gegeben war. Im Gegensatz zu seinen beiden Magisterkollegen hatte Edik Amperjan nicht den Eindruck, eine endgültige Schlappe erlitten zu haben. Aber das, was er heute hatte mit ansehen müssen — die brutale Abfertigung der Wanze Quasselstrippe, die täppische Behandlung des »Miststücks« Lisaweta und die erbarmungslose Abrechnung mit dem unglückseligen Kuhschlick —, dämpfte seinen Optimismus doch erheblich. Und der unmittelbar nach einer von Ediks besten psychologischen Etüden gefällte Entscheid über den Verwunschenen Ort versetzte ihn in Panik. Nun galt es, sich ernste Gedanken darüber zu machen, ob die gegenüber der unverwundbaren Troika angewandten Methoden der positiven Remoralisa- tion überhaupt zweckmäßig waren. Ich rauchte eine Zigarette und ließ mich widerstandslos von den Wogen der Melancholie davontragen, die das Hotelzimmer überfluteten. Mir war völlig klar, daß Fortuna uns den Rücken gekehrt hatte. »Weh mir!« rief da plötzlich der Panurg und läutete traurig mit seinen Schellen. »Hier herrscht ja eine Stimmung wie in einem Trauerhaus; hier ist's ja trostlos wie auf einem Friedhof; dabei kennt ihr die Geschichte des seligen Akaki noch nicht! Ihr wißt nicht, daß Akaki Novize bei einem äußerst strengen Mönch war.
Dieser Klosterbruder quälte Akaki mit Worten und Stockhieben, um seinen Geist zu zähmen und sein Fleisch abzutöten. Da Akaki, ein äußerst gutmütiges Geschöpf, Schimpfworte und Schläge jedoch ohne zu stöhnen über sich ergehen ließ, geriet dieser Mönch, wie man das bei sadistischen Naturen oft hat, immer mehr in Rage und vergaß das ursprüngliche Ziel der grausamen Übung. Jetzt peinigte er Akaki nur noch aus dem leidenschaftlichen Wunsch heraus, den Ärmsten zur Rebellion oder wenigstens dazu zu treiben, daß er um Gnade bat. Das gelang ihm aber nicht. Das Fleisch war schwächer als der Geist, und Akaki segnete das Zeitliche. Als der enttäuschte Mönch dann vor dem offenen Sarg stand und in das Gesicht des Toten sah, dachte er wütend: Nun ist er mir doch entwischt! So ein Pech! Was mußte der Halunke auch so halsstarrig sein! Da machte Akaki plötzlich ein Auge auf und zeigte dem Mönch triumphierend die Zunge.« »Was wollen Sie?« fragte der ungehobelte Vitjka den Panurg finster. »Was haben Sie hier zu suchen?« »Vitjka«, sagte ich, »das ist doch der Panurg.« »Na und? Hier schleichen alle möglichen Possenreißer rum und horchen an fremden Türen.« Und er ergriff die vom Panurg liegengelassene Narrenkappe und warf sie zum Fenster hinaus. »Auch der Kollege Kolun hat eine erwachsene Tochter«, sagte Roman nachdenklich, aber Vitjka bedachte ihn mit einem so verächtlichen Blick, daß der oberste der Magister abwinkte, sich hinsetzte und die cremefarbene Verführerhose auszog. Da erklärte Edik mit fester Stimme, uns bleibe nur eins: uns an höhere Instanzen zu wenden. Er, Edik, halte die Troika zwar nicht für völlig unwandelbar und werde seine Versuche einer Remoralisation fortsetzen, aber auch ein gekonnt formulierter, vernünftig begründeter, die Tätigkeit der Troika sachlich kritisierender Bericht könne, an die richtige Adresse gerichtet, wunschgemäße Folgen nach sich ziehen. Roman, der seine Erfahrungen mit derartigen Operationen hatte, widersprach. Er sagte, kein »Wink« sei imstande, wunschgemäße Folgen nach sich zu ziehen, denn er lande entweder beim Kollegen Goly, dessen geistige Verwandtschaft mit dem Kollegen Wunjukow nicht zu übersehen sei, oder beim Kollegen Kolun, für den Professor Wybegallo keine geringere
Autorität sei als der Magister Amperjan und der sich als gewissenhafter Mensch nicht dazu bereit finden werde, in einem wissenschaftlichen Disput den Schiedsrichter zu spielen, so daß ein »Wink« im besten Falle gar nichts ändere, im schlimmsten aber die Troika in rachsüchtige Stimmung versetze. Das kam der Wahrheit sehr nahe, und Vitjka schlug vor, Wybegallo in der Hoffnung zu neutralisieren, daß der neue wissenschaftliche Berater ein ordentlicher Mensch sei. Uns war nicht ganz klar, was Vitjka damit meinte. So wußten wir nicht, was Vitjka unter dem Begriff »neutralisieren« verstand und wieso dieser Vorgang zur Ernennung eines neuen Beraters führen würde. Übrigens wies Vitjka unsere Verdächtigungen empört zurück und sagte, er habe nur an eine Kampagne gedacht, den Professor systematisch zum Trinken zu verführen, die einer von uns in Angriff nehmen könnte. Wenn er ein-, zweimal mit Schlagseite zur Sitzung käme, sagte Vitjka, würde man ihm einen Fußtritt verpassen. Wir waren enttäuscht. Es kam uns höchst zweifelhaft vor, daß einer von uns oder sogar wir alle zusammen imstande sein könnten, Wy- begallo unter den Tisch zu trinken. Ich schlug vor, von allen uns interessierenden Exponaten Kopien anzufertigen und sie der Troika anstelle der Originale unterzuschieben. Ich hoffte, so würden wir Zeit gewinnen, bis uns etwas Besseres einfiel. Mein Vorschlag wurde als palliativ, opportunistisch, übelriechend und die Sache nicht vom toten Punkt bringend abgelehnt. Da schlug ich aus Verzweiflung vor, Kopien von den Mitgliedern der Troika anzufertigen. Die Magister wunderten sich. Fragen tauchten auf. Warum ich das vorgeschlagen hatte, wußte ich selbst nicht. Es gab keinen Grund zu der Annahme, daß ein Sextumvirat besser wäre als eine Troika. Mir war das nur aus purer Verzweiflung in den Sinn gekommen, und Vitjka preßte mir das Geständnis ab, daß mir zwar manchmal zufällig ein Licht aufgehe, ich ansonsten aber dumm geboren sei und nichts dazugelernt habe. Da mischte sich wieder der Panurg ins Gespräch und steuerte einen Vorschlag bei, den er in die Form einer Parabel darüber kleidete, wie ein gewisser Taurius Jubellius den Konsul Fulvius, der zweihundertfünfundzwanzig Senatoren ermordet hatte, auf der
Straße anhielt, ihm die Meinung sagte und sich zum Zeichen seines Protests gegen ein so schändliches Gemetzel selbst den Dolch in die Brust stieß. Gewisse Leute glaubten nun, Taurius Jubellius sei ein Held, schloß der Panurg, in Wirklichkeit aber sei auch er ein Dummkopf: Wozu sich selbst, einen ehrlichen Menschen, umbringen, wenn die reale Möglichkeit besteht, den Mörder von zweihundertfünfundzwanzig Freunden und Bekannten zu erdolchen? Wir durchdachten die in dieser Parabel enthaltene Idee und wiesen sie weit von uns, und Vitjka erklärte obendrein, daß wir von jeglichen Rechtswidrigkeiten endgültig die Nase voll hätten. Unsere Ideen versiegten zusehends. Einen letzten Versuch unternahm Edik mit seinem Vorschlag, zum Zeichen des Protests vor den Augen der Troika eine Kopie seiner Gestalt mit Benzin zu übergießen und zu verbrennen. Roman bezweifelte die Wirksamkeit dieser Geste, und wir spielten die Idee rasch an ein paar Modellen durch. Natürlich behielt Roman recht. Als das Modell der Kopie in Flammen aufging, reagierte Lawr Fedotowitschs Modell auf das Vorkommnis nach Schema F: »Ein Hindernis? Kollege Chlebowwodow, räumen Sie's aus dem Weg.« Und schon riß Chlebowwodows Modell das brennende Modell der Kopie zu Boden und zerstampfte es mitsamt dem Feuer. Andere Ideen hatten wir nicht, dafür läutete das Telefon. »Könnten Sie Professor Alexander Iwanowitsch Priwalow an den Apparat holen?« fragte eine zum Erbrechen bekannte zittrige Stimme. »Ja, Kollege Maschkin«, sagte ich. »Ich höre.« »Ich gestatte mir zu melden«, sagte Edelweiß, »daß ich Ihre Anweisungen gewissenhaft ausgeführt hab. Zwei Seiten hab ich schon getippt. Aber jetzt weiß ich nicht weiter. Was nun kommt, ist nicht mehr Russisch. Solche Buchstaben hat's auf meinem Aggregat gar nicht. Die sehen irgendwie fremdländisch aus. Soll ich sie nun mit abtippen, oder was?« »Ah!« sagte ich. Anscheinend handelte es sich um lateinische Bezeichnungen. »Die müssen Sie unbedingt mit abtippen!« »Und wenn's solche Buchstaben nicht hat?«
»Dann zeichnen Sie sie per Hand ein. Das ist sogar sehr gut. Auf diese Weise lernt das Aggregat gleich zeichnen. Viel Erfolg!« Ich legte auf, und mir wurde richtig warm ums Herz, als ich mir vorstellte, wie mein Quälgeist, statt mir den Nerv zu töten, friedlich vor seiner Remington sitzt, auf die Tasten haut und, die Zungenspitze zwischen den Lippen, lateinische Buchstaben pinselt. Und er würde noch lange auf die Tasten hauen und Buchstaben pinseln, und wenn wir mit dem Brehm fertig wären, würden wir uns die dreißig Bände von Charles Dickens und später, so Gott wollte, die neunzigbändige Ausgabe der gesammelten Werke von Lew Nikolajewitsch vornehmen. Nein, Vitjka mußte sich irren, so dumm war ich gar nicht; wenn ich mich erst mal aufraffte, dann... Triumphierend betrachtete ich die sauren Mienen meiner Freunde und wollte ihnen zur Aufmunterung gerade erzählen, wie kluge Leute die Hindernisse überwinden, die Stumpfsinn und Ignoranz ihnen in den Weg legen, als meinem Kleinhirn plötzlich eine überraschende Lösung unseres Problems entsprang und im Nu von meinen grauen Zellen Besitz ergriff. Sekundenlang suchte ich fieberhaft nach einer praktischen Anwendung für meine plötzliche Eingebung, fand aber keine und erzählte, da ich keine Lust verspürte, mutterseelenallein weiterzusuchen, rasch und unzusammenhängend, wie ich den guten alten Edelweiß ausgetrickst hatte. Kaum war das Wort Brehm gefallen, da verstanden sie mich. Sie sagten, ich solle still sein. Sie sagten, ich solle den Mund halten und nicht stören. Sie sagten, ich sei ein fixes Kerlchen und ein heller Kopf, und im selben Atemzug sagten sie, es wäre besser, wenn ich ginge und ihnen nicht länger den Nerv tötete. »Das Perpetuum mobile!« rief Roman. »Zehn Anträge. Nein, besser zwanzig.« »Zwanzig für das Perpetuum mobile der ersten Art«, warf Edik ein, »und genauso viele für das der zweiten Art.« »Der vernunftbegabte Selenit!« sagte Vitjka. »Zur Ausstattung eines spiritistischen Kabinetts.« »Der Geist Napoleons!« rief Edik. »Ich weiß, davon gibt's in der Kolonie zwei Stück!« »Je fünf Anträge.«
»Geister sind was Herrliches. Da ist der Geist Alexanders des Großen, der Geist Bismarcks, der Geist Tschingis-Khans...« »Der Geist Amperjans!« »Wo willst du den hernehmen?« »Wir basteln einen!« »Richtig! Was könnten wir noch basteln?« »Wartet mal«, sagte Roman. »Basteln können wir alles, das ist nicht das Problem. Aber wir brauchen zehntausend Anträge, und das bedeutet zehntausend prominente Unterschriften, zehntausend Formulare, zehntausend Briefumschläge. Damit ist unsere Post überfordert, da müssen wir ihr unter die Arme greifen.« »Na klar«, sagte Vitjka. »Ich übernehme die Anträge mit allem Drum und Dran. Du, Roman, kümmerst dich als alter Philatelist um die Post. Edik, du bist der Gebildetste von uns, du setzt dich hin und stellst eine Liste der Kuriositäten zusammen. Und Sascha — verflixt, der Stümper ist wirklich zu nichts zu gebrauchen. Na schön, ich übernehme auch noch die Formulare. Du schnappst dir das Zelt und trollst dich in die Stille Bucht, weil in diesem Zimmer heute niemand schlafen kann. Sieh zu, daß du die Fischsuppe, die Krebse, das Lagerfeuer und alles übrige bis um zehn fertig hast. Und jetzt mach, daß du rauskommst!« Er holte seinen Zauberstab hervor, und ich machte, daß ich rauskam. Als der erste Blitz in den Tisch fuhr, schloß ich gerade die Tür hinter mir. Ich wankte. Vitjka rief etwas, und die Tür verschwand. Ich hatte eine geschlossene Wand vor mir. Ich seufzte neidisch, murmelte: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen« und machte mich auf den Weg in die Kolonie, zu Spiridon. In Spiridons Pavillon bewahrten wir unsere touristische Ausrüstung auf. Ich schickte die Quasselstrippe und Fedja nach Brot und Gewürzen und sah inzwischen das Angelgerät durch. In einer Stunde war alles fertig, und wir brachen auf. Ich schleppte das Zelt, den Wasserkessel, die Angeln und alles, was wir für die Fischsuppe brauchten. Fedja schob die Karre mit Spiridon und trug die Decken. Die Wanze trug nichts — sie bewegte sich, die Hände in den Taschen, mit einigem Abstand zu uns und ließ sich in beleidigendem Ton über die sogenannten
vernunftbegabten Wesen aus, die trotz ihres vielgepriesenen Verstandes keinen Schritt tun können, ohne Verpflegung mit sich herumzuschleppen. »Ich dagegen trag alles, was ich brauche, am Leibe«, prahlte sie. Spiridon hockte stumm unter der feuchten Sackleinwand und verdrehte nur die Augen. Bis zur Stillen Bucht, einem herrlichen Winkel am Ufer der Kitesha, wo wir gewöhnlich unser Zelt aufschlugen, Feuer machten, Fischsuppe kochten und Federball spielten, waren es etwa zehn Kilometer. In zwei Stunden würde die Sonne untergehen, und wir mußten uns beeilen, hielten uns aber trotzdem noch eine Weile in der Kolonie auf, um ein bißchen mit dem Außerirdischen Konstantin zu schwatzen. Konstantin war ein ausgesprochener Unglücksrabe. Seine fliegende Untertasse war vor etwa einem Jahr bei uns notgelandet. Bei der Landung ging sie endgültig in die Brüche, und es gelang Konstantin nicht, das schützende Kraftfeld auszuschalten, das dabei entstand. Dieses Kraftfeld war für jeden Fremdkör- per undurchlässig. Konstantin selbst konnte die fliederfarbene Schutzglocke mit seiner Kleidung und sämtlichen Ersatzteilen ungehindert in beiden Richtungen passieren. Aber die Feldmausfamilie, die sich zufällig am Ort der Landung aufgehalten hatte, kam nicht mehr raus, und Konstantin war gezwungen, seine spärlichen Vorräte an sie zu verfüttern, weil er irdische Nahrung nicht einmal in seinem Magen unter die Schutzglocke bringen konnte. Außerdem war ein von irgendwem in der Parkallee vergessenes Paar Turnschuhe unter die Glocke geraten, und das waren die einzigen irdischen Güter, die Konstantin wenigstens etwas nutzten. Außer den Turnschuhen und den Mäusen umschloß das Kraftfeld zwei Wolfsbeerbüsche, das Ende einer riesigen Parkbank, die alle möglichen Einkerbungen aufwies, und ein nicht einmal zehn Ar großes Stück nassen, nie trocknenden Erdreichs. Der arme Konstantin war übel dran. Er kriegte seinen Flugkörper nicht wieder flott. Das Kiteshgrader Werk konnte ihm natürlich weder mit passenden Ersatzteilen noch mit den nötigen Spezialausrüstungen dienen. Einiges hätte man zwar in den größten wissenschaftlichen Zentren der Welt auftreiben können, aber dazu bedurfte es der Fürsprache der Troika. So kam es, daß Konstantin
nun schon seit Monaten darauf wartete, vor die Troika geladen zu werden. Er hoffte auf die Hilfe der Erdenbürger und rechnete damit, wenigstens die verfluchte Schutzglocke entfernen und irgendeinen Experten auf sein Schiff holen zu können, doch im Grunde genommen war er pessimistisch und darauf eingestellt, daß die irdische Technik ihm frühestens in zweihundert Jahren würde helfen können. Konstantins fliegende Untertasse stand nicht weit vom Wegrand. Wir sahen nur seine Füße in Sprinterschuhen Größe 44. Diese Füße wehrten strampelnd eine Mäusefamilie ab, die hartnäckig ihr Abendbrot forderte. Fedja klopfte gegen die Schutzglocke, und Konstantin kroch unter der Untertasse hervor. Er schrie die Mäuse an und kam zu uns heraus. Die bewußten Turnschuhe blieben natürlich unter der Glocke, und die Mäusefamilie nistete sich vorübergehend in ihnen ein. Wir fragten Konstantin, wie er vorankomme. Konstantin teilte uns wacker mit, daß es nun anscheinend vorwärts gehe, und zählte zwei Dutzend uns völlig unbekannter Geräte auf, die er unbedingt brauchte. Wir machten ihn darauf aufmerksam, daß es ungesund sei, so viel zu arbeiten, und forderten ihn auf mitzukommen, um einmal auszuspannen und mit uns Fischsuppe zu essen. Etwa zehn Minuten lang suchten wir ihm vergeblich klarzumachen, was eine Fischsuppe ist, worauf er eingestand, dafür absolut kein Interesse zu haben und lieber weiterarbeiten zu wollen. Außerdem werde es Zeit, die Mäuse zu füttern. Er schüttelte jedem von uns die Hand, kroch wieder unter seine Untertasse, und wir gingen weiter. An der Kitesha zog sich ein angenehmer, mit weichem, warmem Staub bedeckter und nicht von Autos zerfahrener ebener Wanderweg entlang. Rechts des Weges lagen die Gemüsebeete der städtischen Pflanzenzuchtstation, während zu unserer Linken an einem niedrigen Steilufer der dunkle, kühle Fluß dahinplätscherte, der hier, weitab von den Abflußrohren des Kiteshgrader Werkes, einen ganz erfreulichen Anblick bot. Wir gingen rasch. Ich kam ins Schwitzen, und auch Fedja plagte sich redlich, so daß an eine Unterhaltung nicht zu denken war: Wir mußten zusehen, daß wir nicht aus der Puste kamen. Spiridon und
die Quasselstrippe aber begannen ein Gespräch über moralische Themen. Ihnen zuzuhören war äußerst lehrreich, weil keiner der beiden eine Vorstellung von Humanismus oder Nächstenliebe hatte. Spiridon behauptete, das Gewissen sei ein leeres Wort, das man nur erfunden habe, um den inneren Zustand eines Menschen zu beschreiben, der nicht tut, was er soll. Jawohl, meinte die Wanze zustimmend, Gewissensbisse sind eine Folge begangener Fehler. Im Gegensatz zu uns Wanzen haben diese Warmblüter unzählige Möglichkeiten, Fehler zu machen. Bei uns überlebt nur, wer keine Fehler macht und demzufolge auch keine Gewissensbisse kennt. Denn Wanzen haben kein Gewissen. Und das war die reine Wahrheit: Wäre diese Wanze auch nur mit der Spur eines Gewissens belastet gewesen, hätte sie wenigstens die Tüte mit den Zwiebeln getragen. Nachdem sie auf diese Weise das Gewissen abgehandelt hatten, brachte Spiridon das Problem von Gut und Böse aufs Tapet, und auch damit wurden sie rasch fertig, weil sich beide jenseits von Gut und Böse wußten. Dann kamen die Fragen der sogenannten Gemeinheit, des Rechts auf Mord und der Liebe dran. Die Gemeinheit taten sie als einen vom Gewissen hergeleiteten und darum zweitrangigen Begriff ab. Beim Recht auf Mord gingen ihre Ansichten allerdings kraß auseinander. Spiridon vertrat das Prinzip: Ich lebe, weil ich morde und nicht anders kann. Die Wanze dagegen verfocht in dieser Frage einen christlichen Standpunkt: Sauge, aber in Maßen. Sie ereiferten sich so, daß sie einander beinahe wieder in die Haare gerieten, weil die Wanze Spiridon einen Faschisten nannte. Wir brachten die beiden nur auseinander, indem Fedja Spiridon in Aussicht stellte, ihn auf den Weg zu kippen, und ich der Wanze androhte, sie in den Fluß zu stoßen. Da wechselten sie das Thema und kamen zur Liebe. Spiridon schwärmte von der platonischen, die Quasselstrippe dagegen von der sinnlichen Liebe. Spiridon verdrehte seufzend die Augen und sang mit abscheulicher Stimme Balladen von der korallenroten Blüte seiner Zärtlichkeit, die im stürmischen Ozean dem Gegenstand seiner Liebe entgegentreibt, den er, der unglücklich Ver-
liebte, noch nie gesehen hat und auch nie zu sehen bekommen wird. Er stöhnte und zitierte Block: » >Schwarz war die Rose, ich ließ im Pokal sie dir bringen, Golden wie Himmel glomm darin der Wein.< Wie tief und fein empfunden!« sagte er seufzend. »Das könnte einer von uns geschrieben haben!« Anfangs strich sich die Quasselstrippe nur kichernd mit der Rückseite ihrer Hand über die Fühler, dann aber packte es auch sie. Sie begann uns eigene Werke vorzutragen, denen sie die bekannten Zeilen voranschickte: »Möchte keck sein! Möcht es wagen!...«, die sie für den Gipfel menschlicher Poesie hielt. Fedja und ich aber empfanden ihre Gedichte als unanständig und geboten ihr zu schweigen. Besonders empört war Fedja. Er erklärte, so was nicht einmal bei den Affen im Zoo gehört zu haben, wo er auf Grund eines Mißverständnisses ein paar Monate lang eingesessen hatte. In solche Gespräche vertieft, erreichten wir noch im Hellen die Bucht. Fedja schob die Karre dicht ans Wasser und kippte Spiridon genüßlich in den dunklen, mit Seerosen bewachsenen Pfuhl. Dann ging jeder seiner Arbeit nach. Spiridon tauchte in den Wellen unter und kam kurz darauf wieder hoch, um uns mitzuteilen, daß sich im Wasser Barsche und zwei große Brassen tummelten und es heute von Krebsen nur so wimmle. Ich trug ihm auf, ein paar Krebse zu fangen, auf keinen Fall aber die künftige Fischsuppe zu verscheuchen oder gar anzurühren. Während Fedja das Zelt aufbaute, entfachte ich ein Feuer. Die Quasselstrippe machte sich wie immer aus dem Staube. Sie berief sich auf plötzliche Depressionen und auf ihre schwachen Muskeln und verschwand in einem Gebüsch, in dem ein paar mit ihr bekannte Graswanzen hausten, und im nächsten Augenblick drangen von dort Lachsalven und kreischend ausgestoßene Bruchstücke von Witzen zweifelhafter Art zu uns herüber. Als die Sonne unterging, war unser Lager fertig. Das straffgespannte Zelt wartete mit einladend ausgebreiteten Decken auf seine Schlafgäste. Das Feuer knisterte fröhlich, und die im Kessel kochenden Krebse wurden rot und röter. Fedja hatte drei Angeln ausgelegt und ließ die Schwimmer nicht aus den Augen, obwohl es schon dunkel war und kaum noch ein Fisch anbeißen würde. Die Augen Spiridons, der es sich im Wasser gemütlich gemacht
hatte, funkelten unheimlich. Wie ein leises Plätschern verriet, fing er sich trotz meines strengen Verbots ab und zu unauffällig einen der Edelfische und fraß ihn auf der Stelle auf, es gab jedoch keine Möglichkeit, ihn dabei zu ertappen. Ich griff mir einen Zeltpflock, schlug mich in die Büsche und jagte die dort inzwischen völlig außer Rand und Band geratene Gesellschaft auseinander. Als die Quasselstrippe die beleidigte Leberwurst spielen wollte, drohte ich ihr mit dem Finger und stellte sie zum Zwiebelschälen an. Das Abendrot war längst verglüht, die ersten Sterne leuchteten auf, die Krebse waren gar und die erste Portion Fischsuppe durchgezogen. Ich rieb mich mit Dimethylphtha- lat ein und bat alle Anwesenden zu Tisch. Fedja und ich löffelten genüßlich Fischsuppe und lutschten Krebse aus. Die Quasselstrippe saß auf einem Baumstumpf in sicherer Entfernung, lugte zu uns herüber und beklagte lauthals das Fehlen eines anständigen Hotels oder wenigstens eines Hauses des Kolchosbauern. Spiridon plätscherte und knabberte in seinem Pfuhl auf irgend etwas herum. Später, als die Fischsuppe aufgegessen und die Krebse bis auf die letzte Schere ausgelutscht waren, verschwand Fedja in der Dunkelheit, um das Geschirr abzuspülen und nach dem Lebendfisch im Wasserbehälter zu sehen. Für die zweite Portion Fischsuppe stand alles bereit, nur die Jungs fehlten noch. Ich streckte mich, wohlig ermattet, am Feuer aus, freute mich auf meine Decke im Zelt, auf das morgendliche Bad mit Spiridon, darauf, wie wir die Quasselstrippe mit vereinten Kräften an Händen und Füßen packen und zum Wasser zerren würden, um sie unterzutauchen, und wie sie zetern und einen durchdringenden Kognakgeruch verbreiten würde... Apropos Wanze: Wo brachte ich sie nachts am besten unter, um sie nicht in Versuchung zu führen? Ich konnte sie in eine Streichholzschachtel sperren oder sie mit einem Bindfaden an einen Baum binden. Über das Dimethylphtalat empört, summten mir die Mücken die Ohren voll. Die Quasselstrippe hockte, die Beine unter sich gezogen, auf einem Baumstumpf und sah mich mit einem seltsamen Ausdruck an. Fedja erzählte Spiridon, wie wun-
derschön die verschneiten Berge waren und wie man von hier dorthin gelangte. Ich war gerade dabei, die Wanzenfrage zu lösen, indem ich beschloß, die Quasselstrippe einfach ans andere Ufer hinüberzuschaffen. Ich überlegte nur noch, wie ich ihr das am schonendsten beibringen konnte. Da hörte ich plötzlich das Bruchholz knacken, gedämpfte Stimmen ertönten, und aus dem Wald traten nacheinander ein paar Leute in den Feuerschein, die ich zwar gut kannte, mit denen ich hier aber absolut nicht gerechnet hatte. Als erster trat, den im Gehen schlafenden Oberst untergefaßt, Lawr Fedotowitsch ans Feuer und ließ sich so unversehens auf die Erde fallen, als wären ihm die Beine weggeknickt. Der Oberst wäre um ein Haar ins Feuer geplumpst, schien es sich aber anders überlegt zu haben und plumpste ins Gebüsch — direkt auf die empört loszeternden Graswanzen. Chlebowwodow stieß Fedja mit dem Ellbogen beiseite und ließ sich auf dessen Platz nieder. Farfurkis dagegen stellte zunächst sorgsam Lawr Fedotowitschs riesige Aktentasche ab, setzte sich dann neben mich und hielt seine Patschhände ans Feuer. Ich verstand die Welt nicht mehr und blickte verdutzt auf die Uhr. Es war Punkt zehn. Die Troika saß völlig reglos da, und es kam mir so vor, als wären diese Leute, von dem schlafenden Oberst abgesehen, nicht weniger verblüfft als ich. »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch in einem ganz neuen Ton hervor. »Hier ist anscheinend ein Hindernis aufgetaucht. Kollege Farfurkis, räumen Sie's aus dem Weg.« Es war nicht zu übersehen, daß tatsächlich ein Hindernis aufgetaucht war und daß Farfurkis vorerst nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er es aus dem Weg räumen sollte. »Äh«, sagte er. »Äh... Die Natur, äh... Der Wald, der Fluß, äh... die Erholung...« Plötzlich lebte er auf. »Ich, Lawr Fedotowitsch, meine, daß die Troika in den letzten Tagen genug gearbeitet hat, um sich jetzt ein wenig Erholung zu gönnen.« »In der Natur«, fiel Chlebowwodow einfallsreich ein. »Ja, genau, in der Natur. Was wollen Sic, hier ist's doch wunderbar! Ein Zelt, ein Feuer...«
»Ein Feuer - das sind Flammen«, stieß Lawr Fedotowitsch unsicher hervor. »Ganz richtig«, stimmte Farfurkis zu. »Wunderbar frische Luft, ein fließendes Gewässer... Hier kann man sich prächtig erholen. Wir werden uns hier prächtig erholen, Lawr Fedotowitsch!« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Kollege Chlebowwodow, veranlassen Sie alles Nötige.« Chlebowwodow sprang augenblicklich auf, stolperte über eine Zeltleine und kroch in Stiefeln ins Zelt. »Hier ist alles bereit, Lawr Fedotowitsch!« meldete er von dort mit munterer Stimme. »Ich hab alles veranlaßt! Es gibt fünf Kamelhaardecken und drei Luftkissen. Die blase ich gleich auf, und dann kann's losgehen mit der Erholung.« »Das Volk...«, sagte Lawr Fedotowitsch und erhob sich majestätisch. »Das Volk hat ein Recht auf Erholung. Kollege Farfurkis, Sie sind für die Erholung verantwortlich. Sorgen Sie dafür, daß sich das Volk gut erholt. Gute Nacht, Kollegen!« Mit diesen Worten marschierte er, die weiße Hand zum Gruß erhoben, ins Zelt und begann sich dort wie ein Brontosaurus zu wälzen, wobei er den leise aufjaulenden Chlebowwodow offenbar an die Wand drückte. »Kollege kommissarischer Geschäftsführender des wissenschaftlichen Beraters«, sagte Farfurkis, an mich gewandt. »Ich ernenne Sie hiermit zum Wachhabenden. Da ist erstens das Feuer. Das Feuer darf die ganze Nacht nicht ausgehen. Zweitens: Lawr Fedotowitsch bevorzugt zum Frühstück frischen Fisch, Milch und... äh... Waldbeeren. Zum Beispiel Erdbeeren oder Himbeeren. Das bleibt Ihnen überlassen. Falls Alarm kommt, wecken Sie mich.« Er ließ sich auf alle viere nieder und kroch ins Zelt, wobei er die Aktentasche des Vorsitzenden hinter sich her zerrte. Eine Sekunde später vertrieb ein gut aufeinander abgestimmter Schnarchchor die Stille: Lawr Fedotowitsch hatte die Bässe übernommen, während Chlebowwodow einen klangvollen Tenor ertönen ließ und Farfurkis die Pausen mit hastigen Diskantlauten füllte. »Was denn nun — Erdbeeren oder Himbeeren?« fragte Fedja.
»Feigen in Butter«, sagte ich. »Wie kommen die dazu? Ich begreife überhaupt nichts mehr. Wo kommen die so plötzlich her? Und wo bleiben die Jungs?« Fedja zuckte ratlos lächelnd die Achseln. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Das ist wirklich merkwürdig.« Er verstummte. »Na, ich geh dann Himbeeren pflücken«, sagte er und verschwand im Dunkeln. »Vielleicht kann mir wer erklären, was das zu bedeuten hat?« fragte ich laut. Aber die Quasselstrippe hockte längst nicht mehr auf ihrem Baumstumpf. Durch den Chor der Schnarcher hindurch hörte ich sie im Zelt vorsichtig auf den Schlafenden umhertappen und leise vor sich hin murmeln: »Möchte keck sein! Möcht es wagen!...« Eine Antwort auf meine Frage erhielt ich nicht. Nur Spiridons knarrendes Lachen drang aus dem Wasser zu mir herauf. Die Morgensonne kam hinter dem Schulgebäude hervor und warf ihre warmen Strahlen durch die weit geöffneten Fenster des Sitzungssaals, als Lawr Fedotowitsch mit steinerner Miene über die Schwelle trat und augenblicklich empfahl, die Vorhänge zuzuziehen. Das Volk brauche das nicht, erklärte er. Nach ihm kam Chlebowwodow, der den Oberst vor sich her stieß. Der Oberst brüllte mit brüchiger Stimme Kommandos und kommentierte sie, während Chlebowwodow murmelte: »Schon gut, schon gut, genug krakeelt.« Als der Kommandant und ich die Vorhänge zugezogen hatten, kam Farfurkis herein. Noch kauend, wischte er sich den Mund ab. Er nuschelte überstürzt eine unverständliche Entschuldigung, würgte den Brocken, den er noch im Mund hatte, unzerkaut hinunter und lamentierte: »Ich protestiere! Sie sind wohl verrückt geworden, Kollege Subo! Ziehen Sie sofort die Vorhänge auf! Was ist das für eine Art, sich abzuschirmen und uns im Dunkeln zu lassen?« Gleich darauf kam es zu einem äußerst unangenehmen Zwischenfall, und die ganze Zeit über, in der die Mitglieder der Troika Farfurkis erniedrigten, kleinzukriegen suchten, sich an ihm die Füße abtraten und ihn durchbleuten, schüttelte Wybegallo vorwurfsvoll den Kopf und warf beredte Blicke zu mir herüber, als wollte er sagen: Das ist der Fluch der bösen Tat! Dann überließen
sie den zerstampften, zerflederten, durch die Mangel gedrehten und völlig ausgefransten Farfurkis endlich seinem Schicksal, setzten sich schnaufend an den Tisch, krempelten die Ärmel wieder herunter, polkten sich die Hautfetzen aus den Krallen, beleckten sich die blutigen Hauer und erklärten, unwillkürlich wie die Löwen brüllend, für die morgendliche Sitzung bereit zu sein. »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch mit einem letzten Blick auf das Häufchen Elend hervor, das einmal Farfurkis gewesen war. »Der nächste! Tragen Sie vor, Kollege Subo.« Der Kommandant verkrallte sich in die aufgeschlagene Mappe, blickte über die Papiere hinweg ein letztes Mal aus blutunterlaufenen Augen auf den niedergestreckten Feind, schlug noch einmal nachträglich aus und beruhigte sich endgültig, als seine gierig geweiteten Nasenflügel den süßlichen Verwesungsgeruch wahrnahmen. »Vorgang Nummer zweiundsiebzig«, leierte er. »Konstantin Konstantinowitsch Konstantinow zweihundertdreizehn vor unserer Zeitrechnung Stadt Konstantinow Planet Konstantina Stern Antares...« »Ich muß doch sehr bitten!« fuhr Chlebowwodow dazwischen. »Was liest er denn da? Vielleicht einen Roman? Oder eine Oper? Bruderherz! Er liest einen Fragebogen vor, aber heraus kommt eine Oper.« Lawr Fedotowitsch nahm das Theaterglas und richtete es auf den Kommandanten. Der Kommandant wurde ganz klein. »In Sysran«, fuhr Chlebowwodow fort, »mußte ich mal einen Lehrgang fürs mittlere Personal organisieren. Da hatten wir auch so einen, der wollte nicht die Straße fegen. Ach nein, das war nicht in Sysran, sondern in Saratow. Ja, ja, genau, in Saratow! Erst hab ich da eine Schule für Grützespezialisten aufgebaut, und dann mußte ich mich um den Lehrgang kümmern. Ja, in Saratow, im Winter zweiundfünfzig. Da herrschte ein Frost — wie in Sibirien. Ach nein«, sagte er bedauernd, »das war doch nicht in Saratow. Das war in Sibirien, aber in welcher Stadt, das hab ich vergessen. Gestern hab ich's noch gewußt. Ach, schön war's da.« Er verstummte mit krampfhaft aufgerissenem Mund.
Lawr Fedotowitsch wartete eine Weile, erkundigte sich, ob es Fragen an den Vortragenden gebe, überzeugte sich davon, daß es keine gab, und empfahl Chlebowwodow fortzufahren. »Lawr Fedotowitsch«, sagte Chlebowwodow mit Gefühl. »Ich hab vergessen, welche Stadt es war. Nichts zu machen — wie weggeblasen. Soll er erst mal weiterlesen, inzwischen wird's mir schon einfallen. Aber er soll lesen, wie sich's gehört, die Punkte benennen und nicht so leiern, sonst kommt nur Blödsinn dabei raus.« »Tragen Sie weiter vor, Kollege Subo«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Punkt fünf«, las der Kommandant schüchtern. »Nationalität...« Farfurkis gestattete sich ein schwaches Zucken, hielt jedoch sofort erschrocken inne. Chlebowwodow aber entging dieses Zukken nicht, und er befahl dem Kommandanten: »Von vorn. Von vorn! Fangen Sie noch mal neu an!« »Punkt eins«, las der Kommandant. »Familienname...« Während er noch mal neu anfing, fragte ich mich besorgt, wo die Jungs blieben und warum sie gestern nicht in die Stille Bucht gekommen waren. Sollte es wirklich so viel zu tun geben? »Cherson!« brüllte Chlebowwodow plötzlich. »In Cherson war's, jetzt hab ich's. Aber er kann weiterlesen«, sagte er zu dem verschreckten Kommandanten. »Das ist mir bloß gerade eingefallen.« Er neigte sich zu Lawr Fedotowitschs Ohr und flüsterte ihm kichernd etwas zu, woraufhin die Züge des Kollegen Wunjukow eine Tendenz zur Lockerung erkennen ließen und er sich gezwungen sah, diese demokratische Regung hinter seiner riesigen Pranke zu verstecken. »Punkt sechs«, las der Kommandant unsicher. »Schulbildung: höhere syn... kri... kre... kretische.« Farfurkis zuckte zusammen und quiekte leise, wagte sich aber noch immer nicht zu mucksen. Chlebowwodow fuhr wie von der Tarantel gestochen auf. »Was? Was für eine Bildung?« »Eine synkretische«, wiederholte der Kommandant, diesmal in einem Atemzug. »Aha«, sagte Chlebowwodow und sah Lawr Fedotowitsch an.
»Das ist gut«, stieß Lawr Fedotowitsch in wichtigem Ton hervor. »Das Volk liebt Selbstkritik. Fahren Sie fort, Kollege Subo.« »Punkt sieben. Fremdsprachenkenntnisse: Alle ohne Wörterbuch.« »Wie? Was?« fragte Chlebowwodow. »Alle«, wiederholte der Kommandant, »ohne Wörterbuch.« »Eine selbstkritische also«, sagte Chlebowwodow. »Na schön, das prüfen wir nach.« »Punkt acht. Beruf und gegenwärtige Arbeitsstelle: Leser von Gedichten, Amphibrachist, zur Zeit in Kurzurlaub. Punkt neun...« »Warten Sie«, sagte Chlebowwodow. »Wo arbeitet er?« »Zur Zeit hat er Urlaub«, erläuterte der Kommandant. »Kurzurlaub.« »Soviel hab ich auch verstanden«, entgegnete Chlebowwodow. »Ich frage nach seinem Beruf.« Der Kommandant hob die Mappe an seine Augen. »Leser«, sagte er. »Offenbar liest er Gedichte.« Chlebowwodow schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich sage nicht, daß ich taub bin«, erklärte er. »Daß er Gedichte liest, hab ich gehört. Na schön, dann liest er eben Gedichte, in seiner Freizeit kann er tun und lassen, was er will. Ich rede von seinem Beruf! Wo und als was arbeitet er?« Wybegallo schwieg. Ich konnte mich nicht länger beherrschen. »Es ist sein Beruf, Gedichte zu lesen«, rief ich. »Er hat sich auf den Amphibrachus spezialisiert.« Chlebowwodow musterte mich argwöhnisch. »Nein«, sagte er. »Amphibrachus, ja, das verstehe ich. Das ist nicht das Problem. Was ich wissen will, ist: Wofür bezieht er sein Gehalt?« »Ein Gehalt als solches gibt's bei ihnen nicht«, erläuterte ich. »Ah!« sagte Chlebowwodow erfreut, »ein Arbeitsloser!« Er blickte jedoch gleich wieder mißtrauisch drein. »Nein, da stimmt was nicht! Er bezieht kein Gehalt, hat aber Urlaub. Sie bringen da was durcheinander — das ist ja der reinste Eiertanz.« »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Es gibt eine Frage an den Vortragenden sowie an den wissenschaftlichen Berater. Der Beruf des Vorgangs Nummer zweiundsiebzig.«
»Leser von Gedichten«, sagte Wybegallo. »Tjä... Amphibrachist.« »Gegenwärtige Arbeitsstelle«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Er ist in Kurzurlaub, erholt sich also kurzfristig.« Ohne den Kopf zu wenden, blickte Lawr Fedotowitsch zu Chlebowwodow hinüber. »Gibt es noch Fragen?« erkundigte er sich. Chlebowwodow rutschte beklommen auf seinem Stuhl hin und her. Man brauchte keine Brille, um zu erkennen, daß in ihm Solidarität mit der Meinung der Obrigkeit gegen sein nicht weniger ausgeprägtes staatsbürgerliches Pflichtgefühl ankämpfte. Den Sieg trug, wenn auch mit merklichen Abstrichen, das staatsbürgerliche Pflichtgefühl davon. »Was ich sagen wollte, Lawr Fedotowitsch, ist folgendes«, säuselte Chlebowwodow. »Was ein Amphibrachist ist, ist sonnenklar. Das ist nicht das Problem. Und auch was die Gedichte angeht, stimmt alles. Da gibt's einen Puschkin, einen Michalkow, einen Kornejtschuk... Aber ein Leser... So einen Beruf gibt's in keinem Stellenplan! Kann's ja auch gar nicht! Ich les mir ein paar Verse durch und kriege dafür Gehalt und Urlaub? Das ist's, was wir klären müssen.« Lawr Fedotowitsch nahm das Theaterglas und richtete die Blicke auf Wybegallo. »Hören wir uns an, was der Berater zu sagen hat«, erklärte er. Wybegallo erhob sich. »Tjä...«, sagte er und strich sich über den Bart. »Kollege Chlebowwodow hat die Frage mit Fug und Recht so zugespitzt und die Akzente richtig gesetzt. Das Volk liebt Gedichte — c'est la main sur le cœur que je vous le dis.' Aber braucht das Volk x-beliebige Gedichte? Wir, Kollegen, wissen, daß es durchaus keine x-beliebigen Gedichte braucht. Darum müssen wir uns... tjä... streng an den vorgeschriebenen Kurs halten, dürfen die Leuchtzeichen nicht aus den Augen verlieren und... tjä... le vin est tiré il faut le boire.2 Meine persönliche Meinung lautet: Aide-toi et Dieu t'aidera,3 Aber ich würde noch empfehlen, den hier anwesenden Vertreter, Kollegen Priwalow, sozusagen als Zeugen anzuhören.« Lawr Fedotowitsch richtete sein Theaterglas auf mich. Chlebowwodow sagte: »Warum nicht? Der drängt sich sowieso
immerzu in den Vordergrund, er kann's nun mal nicht lassen, also soll er's uns erklären, wenn er schon so neunmalklug ist.« »Voilà«, sagte Wybegallo bitter, »l'éducation qu'on donne aux jeunes au présent!«4 »Na, darum sag ich doch, er soll's uns erklären«, wiederholte Chlebowwodow. »Das Wort hat der Zeuge Priwalow«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor und ließ das Theaterglas sinken. Ich sagte: »Dort bei ihnen gibt's sehr viele Dichter. Alle schreiben Gedichte, und jeder Dichter möchte natürlich seinen Leser haben. Der Leser, ein unorganisiertes Geschöpf, aber versteht diese simple Rechnung nicht. Gute Gedichte liest er gern und lernt sie sogar auswendig, von schlechten aber will er nichts wissen. Das bringt Ungerechtigkeiten und Ungleichheit mit sich. Da die dortige Bevölkerung jedoch sehr feinfühlig ist und will, daß alle sich wohl fühlen, wurde ein besonderer Beruf eingeführt - der des Lesers. Die einen spezialisieren sich auf den Jambus, die anderen auf den Choreus, und Konstantin Konstantinowitsch, eine Koryphäe auf dem Gebiet des Amphibrachus, macht sich zur Zeit den Alexandriner zu eigen und erwirbt damit einen zweiten Beruf. Da das eine sehr ungesunde Arbeit ist, steht den Lesern nicht nur eine bessere Verpflegung zu, sondern auch wiederholter Kurzurlaub.« »Das ist mir ja alles klar!« rief Chlebowwodow eindringlich. »Das mit diesen Jamben und Alexandriten. Nur eins verstehe ich 1 Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. 2 Wer A sagt, muß auch B sagen. 3 Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. 4 Sieh mal an, das ist die Erziehung, die man heutzutage der Jugend zuteil werden läßt. nicht: Wofür wird er bezahlt? Na schön, er sitzt da und liest. Daß das ungesund ist, weiß ich! Aber das Lesen ist eine stille innere Angelegenheit— wie will man da kontrollieren, ob der Faulpelz liest oder pennt? Als ich noch Abteilungsleiter in der Inspektion für Pflanzenschutz und -quarantäne war, ist mir auch mal so einer untergekommen. Der sitzt in der Versammlung, und alle denken, er hört zu, ja, er schreibt sogar was ins Notizbuch, aber in Wirklichkeit schläft er, der Spitzbube! In den Büros haben heute viele den
Bogen raus, mit offenen Augen zu schlafen. Und darum frage ich mich: Wie ist das mit dem hier? Vielleicht lügt er uns die Hucke voll? Es kann doch keinen Beruf geben, bei dem sich nicht kontrollieren läßt, ob der Mensch arbeitet oder schläft?« »Das ist alles nicht so einfach«, widersprach ich. »Schließlich liest er nicht nur, sondern man schickt ihm auch alle Verse, die sich des Amphibrachus bedienen. Die muß er lesen und begreifen, er muß in ihnen eine Quelle höchsten Genusses entdecken, muß sie liebgewinnen und natürlich auch einige Mängel feststellen. Er muß seine Gefühle und Überlegungen den Autoren regelmäßig mitteilen und auf Leserkonferenzen auftreten, und zwar so, daß die Autoren zufrieden sind und merken, daß sie gebraucht werden. Das ist ein sehr schwerer Beruf«, erklärte ich abschließend. »Konstantin Konstantinowitsch ist ein echter Held der Arbeit.« »Ja«, sagte Chlebowwodow, »jetzt weiß ich Bescheid. Das ist ein nützlicher Beruf. Auch das System gefällt mir. Ein gutes, gerechtes System.« »Tragen Sie weiter vor, Kollege Subo«, sagte Lawr Fedotowitsch. Wieder hob der Kommandant die Akte an die Augen. »Punkt neun. Aufenthalte im Ausland: ja. Wegen eines Motorschadens verbrachte er vier Stunden auf der Insel Rapa Nui.« Farfurkis stieß ein undeutliches Quieken aus, und sofort schaltete Chlebowwodow sich ein. »Zu wessen Territorium gehört das heute?« fragte er Wybegallo. Professor Wybegallo verwies ihn mit einem gütigen Lächeln und einer herablassenden Geste an mich. »Erteilen wir der Jugend das Wort«, meinte er. »Chilenisches Territorium«, erläuterte ich. »Chilenisches«, murmelte Chlebowwodow und warf Lawr Fedotowitsch beunruhigte Blicke zu. Lawr Fedotowitsch rauchte jedoch ungerührt. »Na ja, chilenisches, das mag noch angehen«, entschied Chlebowwodow. »Und bloß vier Stunden. Gut. Was haben Sie noch?« »Ich protestiere!« flüsterte Farfurkis tollkühn, aber der Kommandant las bereits weiter.
»Punkt zehn. Kurz umrissenes Wesen des Unerklärten: ein vernunftbegabtes Wesen vom Stern Antares. Pilot eines Raumschiffs namens Fliegende Untertasse.« Lawr Fedotowitsch hatte nichts einzuwenden. Chlebowwodow, der kein Auge von ihm ließ, nickte zustimmend, und der Kommandant fuhr fort: »Punkt elf. Angaben über die nächsten Angehörigen... Das ist eine lange Liste.« »Lesen Sie, lesen Sie«, sagte Chlebowwodow. »Hier sind siebenhundertdreiundneunzig Personen aufgeführt«, warnte der Kommandant. »Also sollte.er keine Zeit verlieren«, riet Chlebowwodow. »Er ist hier, um zu lesen, also bitte. Und zwar klar und deutlich.« Der Kommandant seufzte und legte los: »Eltern: A, B, C, D, E, F, G, H...« »Was soll das? Aufhören«, sagte Chlebowwodow, der vor Verblüffung jede Höflichkeit vergaß. »Sind wir hier in der Schule? Hältst du uns für kleine Kinder?« »Ich lese nur vor, was hier steht«, gab der Kommandant bissig zurück und fuhr fort: »I, J, K, L, M, N...« »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Es gibt eine Frage an den Vortragenden. Der Vater des Vorgangs Nummer zweiundsiebzig: Familienname, Vorname, Vatersname.« »Einen Augenblick«, schaltete ich mich ein. »Konstantin Konstantinowitsch hat vierundneunzig Erzeuger fünffachen Geschlechts, sechsundneunzig Ehepartner vierfachen Geschlechts, zweihundertsieben Kinder fünffachen Geschlechts und dreihundertsechsundneunzig Mitembryonen fünffachen Geschlechts.« Die Wirkung meiner Mitteilung übertraf alle Erwartungen. Lawr Fedotowitsch griff verwirrt nach dem Theaterglas und hielt es sich vor den Mund. Chlebowwodow beleckte sich pausenlos die Lippen. Farfurkis blätterte verbissen in seinem Notizbuch. Mit Wybegallo brauchte ich nicht zu rechnen, und so bereitete ich mich auf die Generalschlacht vor: ich vertiefte die Grabenprofile, verminte die durch Panzer gefährdeten Richtungen und baute die Riegelstellungen aus. Die Bunker barsten vor Munition, die Artilleristen standen an den Geschützen, den Infanteristen war je
ein Glas Wodka ausgegeben worden. Ach, die Jungs fehlten mir! Ohne die Reserve des Oberkommandos fühlte ich mich allein gelassen. Stille breitete sich aus, ein Gewitter zog auf, und die Luft knisterte vor Spannung, aber das erwartete Brüllen, Donnern und Rasseln blieb aus. Chlebowwodow fletschte plötzlich die Zähne, neigte sich zu Lawr Fedotowitschs Ohr und flüsterte ihm, mit ölig glänzenden Augen die Zimmerecken abtastend, etwas zu. Lawr Fedotowitsch ließ das besabberte Theaterglas sinken und stieß mit bebender Stimme hervor: »Tragen Sie weiter vor, Kollege Subo.« Der Kommandant legte bereitwillig die Liste der Angehörigen beiseite und las: »Punkt zwölf. Ständige Wohnanschrift: Galaxis, Stern Antares, Planet Konstantina, Staat Konstantinien, Stadt Konstantinow, Ruf vierhundertsiebenundfünfzig Strich vierzehn Strich neun. Das ist alles.« »Ich protestiere«, sagte Farfurkis mit bereits gefestigter Stimme. Lawr Fedotowitsch blickte ihn wohlwollend an. Farfurkis war wieder in Gnaden aufgenommen, und mit Tränen des Glücks in den Augen polterte er los: »Ich protestiere! In die Altersangabe hat sich ganz offensichtlich ein Fehler eingeschlichen. Im Fragebogen ist als Geburtsdatum das Jahr zweihundertdreizehn vor unserer Zeitrechnung angegeben. Wenn das stimmte, wäre der Vorgang Nummer zweiundsiebzig schon über zweitausend Jahre alt und damit das der Wissenschaft bekannte Höchstalter um zweitausend Jahre überschritten. Ich verlange, daß das Datum präzisiert und der Schuldige bestraft wird.« »Er ist wirklich zweitausend Jahre alt«, sagte ich. »Das ist unwissenschaftlich«, widersprach Farfurkis. »Sie, Kollege Zeuge, befinden sich in dem irrigen Glauben, daß man Ihnen erlauben wird, hier mit unwissenschaftlichen Erklärungen zu operieren. Wir sind auch nicht von gestern. Dabei spreche ich jetzt nicht einmal von den gigantischen Erfahrungen unserer Führung, sondern einfach von unserer Kenntnis der Fachliteratur. In der letzten Nummer der Zeitschrift >Sdorowje<...« Und er gab ausführlich den Inhalt eines Artikels über Gerontologie aus der letzten Nummer der Zeitschrift »Sdorowje« wieder. Als er damit fertig war,
fragte Chlebowwodow eifersüchtig: »Vielleicht ist er ein Bergbewohner, wie wollen Sie das wissen?« »Erlauben Sie mal!« rief Farfurkis. »Selbst bei Bergbewohnern beträgt das mögliche Höchstalter...« »Ich erlaube gar nichts«, sagte Chlebowwodow. »Ich erlaube Ihnen nicht, die Leistungen unserer prächtigen Bergbewohner zu schmälern! Wenn Sie's genau wissen wollen, sind dem möglichen Höchstalter unserer Bergbewohner keine Grenzen gesetzt!« Und er blickte Lawr Fedotowitsch siegesbewußt an. »Das Volk...«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Das Volk ist ewig. Die Außerirdischen kommen und gehen, unser Volk, unser großes Volk aber ist unvergänglich.« Farfurkis und Chlebowwodow fingen an zu grübeln, zu wessen Gunsten sich der Vorsitzende ausgesprochen haben mochte. Keiner der beiden wollte ein Risiko eingehen. Der eine war hoch oben und wollte nicht irgendeines lausigen Außerirdischen wegen vom Gipfel rutschen. Der andere war tief unten am Rande eines Abgrunds angelangt, aber man hatte ihm gerade ein rettendes Seil zugeworfen. Unterdessen stieß Lawr Fedotowitsch hervor: »Ist das alles, Kollege Subo? Gibt es Fragen? Es gibt den Vorschlag, den Vorgang namens Konstantin Konstantinow aufzurufen. Andere Vorschläge gibt es nicht? Dann mag der Vorgang reinkommen.« Der Kommandant wurde blaß, biß sich auf die Lippen und holte ein Perlmuttschächtelchen aus der Tasche. »Der Vorgang mag reinkommen«, wiederholte Lawr Fedotowitsch mit leicht erhobener Stimme. »Sofort«, murmelte der Kommandant. Er hatte schreckliche Angst. »Na, worauf wartet er noch?« fragte Chlebowwodow empört. »Soll ich ihn vielleicht persönlich reinholen?« Da faßte sich der Kommandant ein Herz. Er kniff die Augen zu und drückte auf den Perlmuttdeckel. Es gab einen Knall, als hätte jemand eine Sektflasche entkorkt, und Konstantin stand neben dem Demonstrationstisch. Anscheinend hatten wir ihn mitten aus der Arbeit gerissen: Er trug einen mit fluoreszierendem Öl beschmierten Arbeitsanzug, seine vorderen Hände steckten in
metallischen Arbeitshandschuhen, die hinteren wischte er sich hastig am Rücken ab. Seine vier Augen blickten sachlich-besorgt. Im Saal breitete sich ein starker Geruch nach Großer Chemie aus. »Guten Tag«, sagte Konstantin erfreut, als ihm klar wurde, wo er sich befand. »Endlich haben Sie mich aufgerufen. Mein Fall ist zwar nicht von Belang, ja, es ist mir direkt peinlich, Sie damit zu behelligen, aber ich befinde mich in einer ausweglosen Situation, und mir bleibt nichts anderes übrig, als Sie um Hilfe zu bitten. Ich will Sie nicht lange aufhalten. Was brauche ich?« Er bog einen Finger seiner rechten Vorderhand nach dem anderen um. »Ein Hochleistungslaserbohrgerät. Einen Plasmabrenner — ich weiß, so was gibt's bei Ihnen schon. Zwei Brutschränke für je tausend Eier. Das würde mir für den Anfang genügen. Außerdem wäre es gut, noch einen qualifizierten Ingenieur zur Seite zu haben und in den Laboratorien des Physikalischen Instituts der Akademie der Wissenschaften arbeiten zu dürfen.« »Das soll ein Außerirdischer sein?« fragte Chlebowwodow empört. »Was ist das, frage ich Sie, für ein Außerirdischer, wenn ich ihn jeden Tag im Restaurant treffe. Wer sind Sie überhaupt, Bürger, und wie kommen Sie hierher?« »Ich bin Konstantin aus dem Antaressystem.« Konstantin wurde verlegen. »Ich dachte, das wüßten Sie längst. Man hat mich nämlich schon befragt, und außerdem hab ich einen Fragebogen ausgefüllt.« In diesem Moment erblickte er Wybegallo und lächelte ihm freundlich zu. »Sie waren's doch, der mich befragt hat, nicht wahr?« Auch Chlebowwodow wandte sich zu Wybegallo um. »Ihrer Ansicht nach ist das also ein Außerirdischer?« fragte er höhnisch. »Tjä...«, äußerte Wybegallo würdevoll. »Die moderne Wissenschaft schließt die Möglichkeit, daß Außerirdische bei uns landen, nicht aus, Kollege Chlebowwodow — das muß man wissen. Und zwar ist das die offizielle Meinung, nicht meine persönliche, sondern die weitaus maßgeblicherer Wissenschaftler. Schon Giordano Bruno hat zu dieser Frage offiziell Stellung genommen. Und Akademiemitglied Lewon Alfredowitsch Wolosjanis und... tjä... die Schriftsteller Wells und... Tmutarakanow.«
»Komische Sache«, sagte Chlebowwodow mißtrauisch. »Komische Außerirdische sind das heutzutage.« »Ich seh mir gerade das Foto in der Akte an«, ließ sich Farfurkis vernehmen, »und stelle fest, daß zwar eine Ähnlichkeit vorhanden ist, der Kollege auf dem Foto aber zwei Arme besitzt, während dieser unbekannte Bürger vier davon hat. Gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung?« Wybegallo ließ ein ellenlanges französisches Zitat vom Stapel, dem zu entnehmen war, daß ein gewisser Arthur morgens, nachdem er eine Tasse Kakao zu sich genommen hatte, gern ans Meeresufer trat. Ich fiel ihm ins Wort und sagte: »Konstantin, drehen Sic sich mit dem Gesicht bitte zum Kollegen Farfurkis um.« Konstantin gehorchte. »Aha, aha«, sagte Farfurkis. »Das hätten wir also geklärt. Lawr Fedotowitsch, ich muß Ihnen sagen, daß zwischen dem Foto und diesem Kollegen eine unverkennbare Ähnlichkeit besteht. Ich sehe da vier Augen, ja, es sind vier. Eine Nase hat er nicht. Ja. Dann ist da ein hakenförmiger Mund. Stimmt alles.« »Na, ich weiß nicht«, meinte Chlebowwodow. »Von den Außerirdischen hat in der Presse doch genug gestanden, und zwar hieß es dort, daß sie, wenn es sie gäbe, sich längst zu erkennen gegeben hätten. Und da sie das nicht tun, sind sie eine Erfindung gewissenloser Leute. Sind Sie ein Außerirdischer?« krähte er Konstantin plötzlich an. »Ja«, sagte Konstantin und wich ein Stück zurück. »Haben Sie sich zu erkennen gegeben?« »Nein«, erwiderte Konstantin. »Ich hatte ja überhaupt nicht die Absicht, bei Ihnen zu landen. Und darum geht's ja auch gar nicht. Meiner Ansicht nach...« »Nein, guter Mann, das kann er sich abschminken. Es geht sehr wohl darum. Wer sich zu erkennen gibt, ist uns herzlich willkommen, den empfangen wir mit Brot und Salz, und alles ist in Butter. Wer sich nicht zu erkennen gibt, braucht sich nachher nicht zu wundern. Amphibrachus hin, Amphibrachus her, aber wir verdienen unser Geld auch nicht im Schlaf. Wir tun hier unsere Pflicht und können uns nicht um jeden hergelaufenen Fremdling kümmern. Und damit spreche ich im Namen aller.«
»Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Wer möchte noch etwas sagen?« »Ich, wenn's gestattet ist«, bat Farfurkis. »Der Kollege Chlebowwodow hat die Dinge im großen und ganzen richtig dargestellt. Ich meine jedoch, daß wir trotz unserer Überlastung den Kollegen nicht einfach fallenlassen dürfen. Wir sollten an diesen konkreten Fall individuell herangehen. Ich bin für eine sorgfältige Prüfung. Niemand soll Anlaß haben, uns einerseits Voreiligkeit, Bürokratismus oder Herzlosigkeit und andererseits Schlamperei, Schönfärberei oder mangelnde Wachsamkeit vorzuwerfen. Mit Lawr Fedotowitschs Erlaubnis schlage ich eine zusätzliche Befragung des Bürgers Konstantinow zwecks Klärung seiner Person vor.« »Warum sollen wir der Miliz ins Handwerk pfuschen?« fragte Chlebowwodow, den es wurmte, daß der niedergestreckte Wider sacher sich wieder hochrappelte. »Erlauben Sie mal!« antwortete Farfurkis. »Wir wollen nicht der Miliz ins Handwerk pfuschen, sondern dafür sorgen, daß der Instruktion Genüge getan wird, wo es in Paragraph neun, Kapitel eins, Teil sechs heißt:« — seine Stimme nahm einen triumphierenden Klang an — »»Falls die vom wissenschaftlichen Berater in Zusammenarbeit mit den örtlichen Vertretern der Administration vorgenommene Identifikation bei der Troika Zweifel weckt, ist eine zusätzliche Untersuchung des Vorgangs zwecks Präzisierung der Identifikation in Zusammenarbeit mit einem Bevollmächtigten der Troika oder auf einer Sitzung der Troika vorzunehmen.< Also genau das, was ich vorgeschlagen habe.« »Die Instruktion, die Instruktion«, näselte Chlebowwodow. »Wir halten uns an die Instruktion, inzwischen aber führt uns dieser vieräugige Gauner an der Nase rum. Solche wie der stehlen uns bloß die Zeit. Die kostbare Zeit des Volkes!« rief er mit Märtyrerstimme und schielte zu Lawr Fedotowitsch hinüber. »Warum nennen Sie mich Gauner?« fragte Konstantin empört. »Sie beleidigen mich, Bürger Chlebowwodow. Überhaupt sehe ich, daß es Ihnen völlig egal ist, ob ich ein Außerirdischer bin oder nicht. Sie wollen nur dem Bürger Farfurkis eins auswischen und sich beim Bürger Wunjukow einkratzen. Das ist unehrenhaft.«
»Verleumdung!« brüllte Chlebowwodow und lief krebsrot an. »Üble Nachrede! Was hat das zu bedeuten, Kollegen? Seit fünfundzwanzig Jahren gehe ich, wohin man mich schickt. Niemals gemaßregelt, immer nur befördert...« »Sie lügen ja schon wieder«, sagte Konstantin ungerührt. »Zweimal hat man Sie ohne jede Beförderung davongejagt.« »Das ist eine Diffamierung! Eine politische Denunziation! So was zieht heute nicht mehr, Kollege Konstantinow! Wir werden noch sehen, was Ihre hundert Erzeuger getrieben haben, was für Erzeuger das überhaupt waren. Da hat er sich wohl mit einer ganzen Dienststelle versippt und verschwägert...« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch. »Es wird empfohlen, die Debatte abzubrechen und hier einen Schlußstrich zu ziehen. Gibt es andere Vorschläge?« Stille trat ein. Farfurkis triumphierte ziemlich ungeniert. Chlebowwodow wischte sich den Schweiß von der Stirn, und Konstantin sah Lawr Fedotowitsch durchdringend an, sichtlich bemüht, seine Gedanken zu lesen, doch in seinem vieräugigen, nasenlosen Gesicht malte sich immer deutlicher die Enttäuschung des erfahrenen Schatzsuchers, der den letzten Stein vom Versteck aus grauer Vorzeit gewälzt und den Arm bis zur Schulter hineingesteckt hat, dort aber außer einer feinen Staubschicht, klebrigen Spinnweben und irgendwelchen undefinierbaren Krümeln nichts finden kann. »Wenn es keine anderen Vorschläge gibt«, verkündete Lawr Fedotowitsch, »gehen wir zur Nachuntersuchung über. Das Wort erhält. ..« — er legte eine nervenzehrende Pause ein, in der Chlebowwodow fast umgekommen wäre — »...der Kollege Farfurkis.« Chlebowwodow, der sich in einem stinkenden Abgrund wiederfand, folgte mit wilden Blicken dem Flug des Aasgeiers, der in nun unerreichbarer amtlicher Bläue seine Kreise zog. Farfurkis aber hatte es nicht eilig. Er beschrieb noch ein paar Kreise, ließ ein paar Klackse auf Chlebowwodow fallen, landete dann hoch oben auf dem Grat, putzte, kokett mit Lawr Fedotowitsch liebäugelnd, sein Gefieder und wandte sich schließlich mit den Worten an Konstan-
tin: »Bürger Konstantinow, Sie behaupten, ein Außerirdischer zu sein und von einem anderen Planeten zu stammen. Mit welchen Dokumenten können Sie diese Behauptung belegen?« »Ich könnte Ihnen mein Bordbuch zeigen«, sagte Konstantin. »Aber erstens ist es nicht transportabel, und zweitens möchte ich weder Sie noch mich mit irgendwelchem Beweismaterial belasten. Ich bin hier, um Sie um Hilfe zu bitten. Jeder Planet, der die kosmische Konvention unterzeichnet hat, ist verpflichtet, Verunglückten zu helfen. Ich habe Ihnen gesagt, was ich brauche, und warte jetzt nur noch auf Ihre Antwort. Vielleicht sind Sie nicht imstande, mir zu helfen, dann sagen Sie's lieber gleich. Das ist schließlich keine Schande.« »Einen Augenblick«, unterbrach ihn Farfurkis. »Die Frage, ob diese Kommission kompetent ist, Vertretern anderer Planeten zu helfen, wollen wir vorläufig beiseite lassen. Unsere Aufgabe ist es, Sie, Kollege Konstantinow, als einen solchen Vertreter zu identifizieren. Einen Augenblick, ich bin noch nicht fertig. Sie haben das Bordbuch erwähnt und erklärt, es sei leider nicht transportabel. Aber vielleicht erhält die Troika die Möglichkeit, dieses Buch an Bord Ihres Raumschiffs in Augenschein zu nehmen?« »Nein, das ist unmöglich«, sagte Konstantin seufzend und sah Farfurkis aufmerksam an. »Na schön, das steht Ihnen frei«, erklärte Farfurkis. »Aber wenn's so ist, legen Sie uns vielleicht irgendein anderes Dokument vor, das imstande ist, Ihre Herkunft zu beweisen?« »Wie ich sehe«, sagte Konstantin erstaunt, »wollen Sie sich tatsächlich davon überzeugen, daß ich ein Außerirdischer bin. Ihre Motive sind mir allerdings nicht ganz klar. Aber lassen wir das. Was die Beweise angeht: Ist mein Aussehen nicht Beweis genug?« Farfurkis schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nicht«, sagte er. »Das ist alles nicht so einfach. Die Wissenschaft gibt uns keine eindeutige Vorstellung von dem, was ein Mensch ist. Das ist auch ganz natürlich. Definierte die Wissenschaft den Menschen beispielsweise als ein Geschöpf mit zwei Augen und zwei Armen, so gerieten ganze Bevölkerungsschichten, die nur einen Arm besitzen oder völlig armlos sind, in eine dumme Lage.
Andererseits vollbringt die Medizin heutzutage wahre Wunder. Ich hab selbst Hunde mit zwei Köpfen und sechs Pfoten im Fernsehen gesehen, und es gibt für mich keinen Grund...« »Dann vielleicht das Aussehen meines Raumschiffs... Ein für Ihre irdische Technik recht ungewöhnliches Aussehen...« Wieder schüttelte Farfurkis den Kopf. »Sie müssen verstehen«, sagte er sanft, »daß es im Atomzeitalter nicht so einfach ist, das Mitglied eines maßgeblichen Organs, das zu allen möglichen Dingen Zutritt hat, durch irgendeine technische Anlage in Erstaunen zu versetzen.« »Ich kann Gedanken lesen«, teilte Konstantin mit. »Die Telepathie ist unwissenschaftlich«, sagte Farfurkis sanft. »Wir glauben nicht an sie.« »So?« fragte Konstantin erstaunt. »Seltsam. Aber hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage. Sie beispielsweise wollen mir gleich etwas über den Zwischenfall mit der >Nautilus< erzählen, und der Bürger Chlebowwodow...« »Verleumdung!« krächzte Chlebowwodow, und Konstantin verstummte. »Verstehen Sie uns richtig«, sagte Farfurkis eindringlich und preßte die Hände gegen die feiste Brust. »Wir sagen ja nicht, daß es keine Telepathie gibt. Wir sagen nur, daß die Telepathie unwissenschaftlich ist und daß wir nicht an sie glauben. Sie erwähnten den Zwischenfall mit dem U-Boot >Nautilus<, dabei ist allgemein bekannt, daß das Ganze nur eine Ente ist, von der Bourgeoisie in die Welt gesetzt, um die Völker von den aktuellen Problemen ab zulenken. Ihre telepathischen Fähigkeiten sind also, egal, ob wirklich vorhanden oder eingebildet, nur ein Fakt Ihrer persönlichen Biographie, die im Moment das Objekt unserer Untersuchung darstellt. Merken Sie, wie sich der Kreis schließt?« »Ja, ich merke es«, erklärte Konstantin. »Aber was wäre, wenn ich mich jetzt in Ihrer Gegenwart ein wenig produzierte?« »Das wäre natürlich interessant. Aber leider sind wir hier im Dienst und können's uns nicht erlauben, uns irgendwelche Vorführungen anzusehen, und wenn sie noch so atemberaubend sind.«
Konstantin blickte mich fragend an. Mir kam die Lage hoffnungslos vor, und mir war nicht zum Lachen zumute: Konstantin ahnte nichts davon, aber der GROSSE RUNDE STEMPEL hing schon wie ein Damoklesschwert über ihm. Die Jungs waren noch immer nicht da, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich konnte nur versuchen, Zeit zu gewinnen, und so sagte ich: »Lassen Sie sich was einfallen, Konstantin.« Und Konstantin ließ sich was einfallen. Anfangs bewegte er sich nur träge und vorsichtig, als fürchte er, irgendwo anzuecken, aber allmählich kam er in Fahrt und zeigte uns ein paar außerordentlich wirkungsvolle Exerzitien, die das Raum-Zeit-Kontinuum, die verschiedenen Transformationen des vitalen Kolloids und kritische Zustände von Reflexionsorganen veranschaulichten. Als er innehielt, war mir schwindlig, mein Puls raste, in meinen Ohren rauschte es, und ich hörte kaum die müde Stimme des Außerirdischen: »Die Zeit vergeht. Wie haben Sie entschieden?« Und wieder bekam er keine Antwort. Lawr Fedotowitsch drehte nachdenklich die Schachtel mit dem Diktiergerät zwischen den Fingern. Sein kluges Gesicht wirkte ruhig und ein wenig traurig. Der Oberst achtete nicht auf seine Umgebung oder tat wenigstens so. Er kritzelte etwas auf einen Zettel und warf ihn Subo zu, der ihn aufmerksam durchlas und lautlos die Finger über die Tasten der Informationsmaschine gleiten ließ. Farfurkis blätterte in einem Handbuch und starrte abwesend auf die Seiten. Chlebowwodow aber litt. Er biß sich auf die Lippen, runzelte die Stirn und ächzte sogar leise. Die Maschine stieß mit einem trockenen Klicken ein weißes Kärtchen aus. Subo fing es auf und reichte es dem Oberst. »Ein Sprung von tausend Jahren«, sagte Chlebowwodow. »Ein Sprung zurück«, murmelte Farfurkis. Er blätterte noch immer in dem Handbuch. »Ich weiß nicht, wie wir jetzt weiterarbeiten wollen«, sagte Chlebowwodow. »Wir haben das Aufgabenbuch von hinten auf geschlagen, da, wo die Antworten stehen.« »Aber Sie haben die Antworten doch noch gar nicht gesehen«, widersprach Farfurkis. »Wollen Sie's?«
»Ist doch ganz unwichtig«, sagte Chlebowwodow. »Jetzt wissen wir, daß es Antworten gibt. Es ist doch langweilig, etwas zu suchen, was längst gefunden ist.« Der Außerirdische wartete mit gefalteten Händen. Der Sessel mit der niedrigen Rückenlehne war sehr unbequem für ihn, und er saß stocksteif da. Der Oberst schleuderte das Kärtchen beiseite, schrieb einen neuen Zettel, und Subo beugte sich über die Tasten. »Ich weiß, daß wir ablehnen müssen«, sagte Chlebowwodow. »Und ich weiß auch, daß wir uns dafür hundertfach verfluchen werden.« »Das ist nicht das Schlimmste, was uns passieren kann«, sagte Farfurkis. »Schlimmer ist's, von anderen hundertfach verflucht zu werden.« »Unsere Enkel, ja vielleicht sogar schon unsere Kinder werden das alles als gegeben hinnehmen.« »Die moralischen Kriterien des Humanismus...«, sagte Chlebowwodow mit schwachem Lächeln. »Andere Kriterien haben wir nicht«, entgegnete Farfurkis. »Leider«, sagte Chlebowwodow. »Zum Glück, Kollege, zum Glück. Immer wenn die Menschheit nach anderen Kriterien lebte, mußte sie grausam dafür büßen.« »Das weiß ich.« Chlebowwodow warf einen Blick auf Lawr Fedotowitsch. »Die Problemstellung, die uns hier zu schaffen macht, ist nicht korrekt. Sie beruht auf verworrenen Begriffen, auf unklaren Formulierungen und reiner Intuition. Als Wissenschaftler nehme ich die Lösung einer solchen Aufgabe gar nicht erst in Angriff. So was ist unseriös. Da hilft nur eins: Mensch zu bleiben. Mit allen sich daraus ergebenden Folgen. Ich bin gegen territoriale Kontakte. Die sind nicht von Dauer!« rief er aufgeregt und lehnte sich mit dem ganzen Körper zu dem reglos dasitzenden Außerirdischen hinüber. »Verstehen Sie uns richtig. Ich bin davon überzeugt, daß sie nicht von Dauer sind. Geben Sie uns Zeit, wir sind schließlich noch nicht lange raus aus dem Schlamassel.« Lawr Fedotowitsch blickte Farfurkis an. »Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe«, erklärte Farfurkis leise. »Niemand hat mich von meiner Überzeugung abbringen können. Ich bin gegen jeglichen Kontakt über
einen historisch längeren Zeitraum. Ich bin mir absolut sicher«, fügte er höflich hinzu, »daß die hohe vertragschließende Seite jede andere Entscheidung unsererseits als einen Beweis der Selbstüberschätzung und sozialen Unreife auffassen würde.« Er deutete dem Außerirdischen gegenüber eine knappe Verbeugung an. »Oberst?« fragte Lawr Fedotowitsch. »Ich bin entschieden gegen jeden Kontakt«, erwiderte der Oberst, ohne seine Schreiberei zu unterbrechen. »Entschieden und vorbehaltlos.« Er warf Subo das nächste Zettelchen zu. »Ich will das jetzt nicht näher begründen, erbitte mir aber das Recht, in zehn Minuten mehr dazu zu sagen.« Lawr Fedotowitsch legte vorsichtig das Diktiergerät auf den Tisch und erhob sich langsam. Auch der Außerirdische stand auf. So standen sie einander, nur durch den riesigen, mit Nachschlagewerken, Kassetten und Videobändern überhäuften Tisch getrennt, gegenüber. »Es fällt mir im Augenblick nicht leicht zu sprechen«, begann Lawr Fedotowitsch. »Nicht leicht allein schon deshalb, weil die Umstände vermutlich ein hohes Pathos und nicht nur korrekte, sondern auch feierliche Worte erfordern. Aber hier auf Flrden hat im letzten Jahrhundert alles Pathetische durch eine Reihe von Umständen eine krasse Entwertung erfahren. Darum will ich mich einfach darum bemühen, korrekt zu sein. Sie haben uns unter allen Aspekten der Zivilisation Freundschaft und Zusammenarbeit angeboten. Dieses Angebot ist in der Geschichte der Menschheit ebenso beispiellos wie die Landung eines Außerirdischen auf unserem Planeten und wie unsere Antwort auf Ihr Angebot. Wir weisen den von Ihnen vorgeschlagenen Pakt in allen Punkten zurück, lehnen es ab, Ihnen irgendein Gegenangebot zu unterbreiten, und bestehen kategorisch auf einem totalen Abbruch jeglicher Kontakte zwischen unseren Zivilisationen und einzelnen ihrer Vertreter. Andererseits wollen wir nicht, daß eine so kategorisch und unfreundlich klingende Absage die Kluft zwischen unseren Kulturen vertieft, die ohnehin kaum zu überbrücken ist. Hiermit erklären wir die Idee eines Kontakts zwischen verschiedenen Zivilisationen
im Kosmos für prinzipiell nützlich und vielversprechend. Hiermit betonen wir, daß die Idee eines Kontakts seit unvordenkli chen Zeiten eine der edelsten und langgehegtesten Intentionen der Menschheit ist. Hiermit versichern wir Ihnen, daß unsere Absage keinesfalls als ein feindlicher, auf verborgener Mißgunst oder physiologischen und sonstigen blinden Vorurteilen beruhender Akt anzusehen ist. Wir möchten, daß Sie die Gründe für unsere Absage kennen, verstehen und wenn schon nicht billigen, so wenigstens zur Kenntnis nehmen.« Chlebowwodow und Farfurkis starrten Lawr Fedotowitsch in gespannter Erwartung an. Der Oberst erhielt eine Antwort auf sein letztes Zettelchen, stapelte alle Kärtchen ordentlich übereinander und wandte sich ebenfalls Lawr Fedotowitsch zu. »Die Unterschiede zwischen unseren Zivilisationen sind gewaltig«, fuhr Lawr Fedotowitsch fort. »Ich spreche nicht von den biologischen Unterschieden — die Natur hat Sie reicher beschenkt als uns. Auch von den sozialen Unterschieden will ich gar nicht sprechen — Sie haben jenes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, in das wir gerade erst eintreten, längst hinter sich gelassen. Und natürlich spreche ich auch nicht von den Unterschieden im wissenschaftlich-technischen Bereich vorsichtigen Schätzungen nach sind Sie uns um mehrere Jahrhunderte voraus. Ich spreche von einer unmittelbaren Folge dieser drei Aspekte —von den enormen psychologischen Unterschieden, die die Hauptursache für das Scheitern unserer Verhandlungen darstellen. Uns trennt jene durchgreifende Revolution in der Psychologie der Massen, die wir gerade erst in Angriff genommen haben und die für Sie sicher längst Vergangenheit ist. Diese psychologische Kluft hindert uns daran, uns eine richtige Vorstellung von den Zielen Ihres Besuchs zu machen, wir begreifen nicht, wozu SIE die Freundschaft und Zusammenarbeit mit uns brauchen. Schließlich sind wir dem Zustand ständiger Kriege, der Welt des Blutvergießens und der Gewalt, der Welt der Lüge, der Gemeinheit und der Selbstsucht knapp entwachsen, .der Schmutz dieser Welt haftet noch an uns, und wenn wir auf Erscheinungen stoßen, die unseren Verstand übersteigen, wenn uns nur unsere enormen, aber noch
unbewältig- ten Erfahrungen zur Verfügung stehen, machen wir uns ein Modell dieser Erscheinungen nach unserem Ebenbild. Grob gesagt: Wir trauen Ihnen genausowenig wie uns selbst. Unsere Massenpsychologie beruht auf Egoismus, Utilitarismus und Mystizismus. Die Aufnahme und Vertiefung von Kontakten zu Ihnen birgt für uns vor allem die Gefahr einer unvorstellbaren Komplizierung der ohnehin komplizierten Situation auf unserem Planeten. Unser Egoismus und Anthropozentrismus, der uns jahrtausendelang von Religionen und naiven Philosophien eingeimpfte Glaube an unsere naturgegebene Überlegenheit, unsere Einmaligkeit und Auser- wähltheit - all das droht, einen ungeheuren psychologischen Schock in uns auszulösen, das Aufflackern eines irrationalen Hasses auf Sie, einer hysterischen Angst vor Ihren unvorstellbaren Möglichkeiten, das Gefühl einer unsagbaren Erniedrigung und plötzlichen Entthronung als Herrscher über die Natur. Unser Uti- litarismus würde in großen Bevölkerungsteilen das Bestreben wek- ken, sich gedankenlos der materiellen Güter eines mühelos, ja gratis erlangten Fortschritts zu bedienen, und die Menschen unwiederbringlich zu Nichtstuern und Konsumenten machen, dabei kämpfen wir doch weiß Gott schon jetzt verzweifelt gegen diese Folge unseres eigenen wissenschaftlich-technischen Fortschritts an. Was unseren hartnäckigen Mystizismus, unser eingewurzeltes Hoffen auf gute Götter, gute Herrscher und gute Helden, unser Hoffen auf eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die kommt und uns unsere Sorgen und unsere Verantwortung abnimmt, was diese Kehrseite unseres Egoismus angeht, so können Sie sich wahrscheinlich überhaupt nicht vorstellen, was Ihre ständige Anwesenheit auf unserem Planeten bedeuten würde. Wie ich hoffe, sehen Sie nun selbst, daß eine Vertiefung des Kontakts das wenige, das wir unter unsäglichen Mühen bei der Vorbereitung der psychologischen Revolution bisher vollbracht haben, zunichte zu machen droht. Sie müssen verstehen, daß unsere Ablehnung eines Kontakts nicht an Ihnen, an Ihren Vorzügen oder Mängeln liegt, sondern einzig und allein an uns, an unserer Unreife. Wir sehen das ganz deutlich, und wenn wir heute eine Vertiefung des Kontakts zu Ihnen kategorisch ablehnen, so
gedenken wir diesen Zustand keineswegs zu verewigen. Darum schlagen wir vor...« L.awr Fedo- towitsch hob die Stimme, und alle standen auf. »Wir schlagen vor, genau fünfzig Jahre nach Ihrem Abflug dieses Treffen bevollmächtigter Vertreter beider Zivilisationen am Nordpol des Planeten Pluto zu wiederholen. Wir hoffen, bis dahin besser auf eine sinnvolle und segensreiche Zusammenarbeit unserer Zivilisationen vorbereitet zu sein.« Mit diesen Worten beendete Lawr Fedotowitsch seine Rede und setzte sich, und alle folgten seinem Beispiel. Nur der Oberst und der Außerirdische blieben stehen. »Ich schließe mich in Inhalt und Form dem hier von unserem Vorsitzenden Dargelegten voll und ganz an«, sagte der Oberst in scharfem, trockenem Ton, »halte es jedoch für meine Pflicht, bei der hohen vertragschließenden Seite keinerlei Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß wir entschlossen sind, bis zur vereinbarten Zeit einen Kontakt mit allen Mitteln zu verhindern. Ich erkenne die gewaltige technische und demzufolge auch militärische Überlegenheit der hohen vertragschließenden Seite völlig an, halte es dessenungeachtet aber für meine Pflicht, in aller Deutlichkeit zu erklären, daß jeder Versuch einer gewaltsamen Kontaktaufnahme, in welcher Form auch immer, vom Augenblick Ihres Abflugs an als aggressive Handlung aufgefaßt und mit der ganzen Schlagkraft unserer Waffen abgewehrt werden wird. Jedes in die Reichweite unserer Kampfmittel kommende Raumschiff wird ohne vorherige Warnung abgeschossen.« »Aber Kollegen!« unterbrach ihn Farfurkis. »So kann man doch nicht arbeiten. Haben wir uns da nicht ein bißchen verrannt?« Der Oberst mümmelte vor sich hin, sah sich mit trüben Augen um, setzte sich und begann gleich darauf pfeifend zu schnarchen. »Ja, ja!« sagte Chlebowwodow. »Kommen wir zum Ende. Ich befinde mich hier in der Minderheit, aber wer bin ich denn? Was liegt schon an mir? Wenn Sie ihn nicht der Miliz übergeben wollen, dann lassen Sie's eben. Aber als unerklärte Erscheinung sollten wir diesen Gaukler auf keinen Fall rationalisieren. Was ist schon dabei, daß ihm noch zwei zusätzliche Arme gewachsen sind?« »Denen ist nicht beizukommen«, sagte der unsichtbare Edik bitter. »Mit nichts. War das Ganze etwa schlecht?«
»Es war hervorragend«, flüsterte ich hastig. »Aber bleib in der Nähe, jetzt wird's Ernst.« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch und ließ eine kurze Rede vom Stapel, der zu entnehmen war, daß das Volk keine unerklärten Erscheinungen brauche, die sich zwar ausweisen könnten, dies aus diesen oder jenen Gründen aber nicht täten. Andererseits fordere das Volk schon lange, Bürokratismus und Papierkrieg in allen Instanzen mit Stumpf und Stiel auszurotten. Auf der Grundlage dieser These empfahl Lawr Fedotowitsch im Namen aller, die Verhandlung des Vorgangs Nummer zweiundsiebzig auf den Dezember des laufenden Jahres zu verschieben, um dem Kollegen Kon- stantinow, K. K., die Möglichkeit zu geben, seinen ständigen Wohnort aufzusuchen und die entsprechend ausgefertigten Doku mente zu holen. Was die materielle Hilfe für den Kollegen Konstantinow, K. K., angehe, so sei die Troika nur dann berechtigt, Hilfe zu gewähren oder sich für deren Gewährung zu verwenden, wenn es sich bei dem Antragsteller um eine von ihr, der Troika, identifizierte unerklärte Erscheinung handle. Da der Kollege Konstantinow, K. K., jedoch noch nicht als eine solche Erscheinung identifiziert worden sei, werde die Frage der Hilfeleistung bis Dezember, genauer gesagt, bis zum Moment seiner Identifikation, aufgeschoben. Der GROSSE RUNDE STEMPEL trat nicht in Aktion, und ich seufzte erleichtert auf. Konstantin aber, der nicht mehr durchsah und dem die Sache allmählich zu dumm wurde, spuckte demonstrativ aus und verschwand. »Das ist eine Entgleisung!« schrie Chlebowwodow freudestrahlend. »Haben Sie das gesehen? Den ganzen Fußboden hat er vollgesabbert!« »Es ist empörend«, stimmte Farfurkis zu. »Ich qualifiziere das als eine Beleidigung.« »Sag ich doch: ein Gauner!« meinte Chlebowwodow. »Wir müssen die Miliz einschalten, sollen sie ihm ruhig mal fünfzehn Tage aufbrummen - da kann er mit seinen vier Armen die Straße fegen!«
»Nein, Kollege Chlebowwodow«, widersprach Farfurkis, »das ist schon kein Fall mehr für die Miliz, Sie unterschätzen die Sache. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Öffentlichkeit und der Administration. Der Mann gehört vors Gericht!« Lawr Fedotowitsch schwieg sich aus, aber seine kurzen sommersprossigen Finger glitten aufgeregt über den Tisch, als suchte er einen besonderen Knopf oder das Telefon. Das roch nach einem politischen Delikt. Wybegallo, dem Konstantins Schicksal schnurzpiepegal war, sagte weder muh noch mäh. Ich räusperte mich und bat um Gehör, das mir, wenn auch nicht allzu bereitwillig, gewährt wurde — schon funkelten die Augen, schon sträubten sich die Mähnen, schon waren die Hauer gefletscht. Bemüht, meinen Worten größtmögliches Gewicht zu geben, erinnerte ich die Troika daran, daß es angezeigt sei, galaktozentrische, keineswegs aber anthropozentrische Positionen zu vertreten. Ich wies darauf hin, daß Sitten und Gefühlsäußerungen bei Bewohnern anderer Planeten stark von den unseren abweichen können und müssen. Ich äußerte die Überzeugung, daß dem Kollegen Farfurkis das bei manchen Bewohnern des Nordens übliche Aneinanderreihen der Nasen bei der Begrüßung auch nicht gefallen dürfte, er sich dadurch aber kaum in seiner Ehre als Mitglied der Troika verletzt fühlen würde. Was den Kollegen Konstantinow angehe, so könne und müsse die Sitte, die in der Mundhöhle gebildete überschüssige Flüssigkeit einer bestimmten chemischen Zusammensetzung auszuspucken, eine Sitte, die bei einigen Völkern der Erde Unzufriedenheit, Gereiztheit oder das Bestreben bedeute, den Gesprächspartner zu beleidigen, bei Bewohnern anderer Planeten etwas ganz anderes, beispielsweise Dank fiir die erwiesene Aufmerksamkeit, ausdrücken. Das sogenannte Ausspucken des Kollegen Konstantinow könne außerdem eine ganz neutrale, physiologisch bedingte Funktion seines Organismus sein. (»Von wegen Funktion!« brüllte Chlebowwodow. »Spuckt hier den Fußboden voll wie ein Bandit, und dann türmt er.«) Schließlich dürfe man auch die Möglichkeit nicht ausschließen, erwähnte physiologische Absonderung des
Kollegen Konstantinow als eine mit seiner blitzartigen Fortbewegung im Raum verbundene Handlung zu interpretieren. Ich flötete wie eine Nachtigall und beobachtete erleichtert, wie Lawr Fedotowitschs Finger immer langsamer wurden und schließlich auf der Schreibmappe zur Ruhe kamen. Chlebowwodow knurrte noch eine Weile drohend, aber der hellhörige Farfurkis stellte sich rasch auf die veränderte Situation ein und holte in einer völlig überraschenden Richtung zum Schlage aus. Fr fiel unerwartet über den Kommandanten her, der sich in völliger Sicherheit wiegte und mit einfältiger Neugier verfolgte, wie sich die Dinge entwickelten. »Mir fällt schon seit längerer Zeit auf«, donnerte Farfurkis, »daß es um die erzieherische Arbeit in der Kolonie für unerklärte Erscheinungen katastrophal bestellt ist. Politisch-aufklärerische Vorträge gibt's so gut wie überhaupt nicht. Die Wandzeitung ist überholt, die kulturelle Abenduniversität praktisch eingeschlafen. Die Kulturarbeit in der Kolonie beschränkt sich auf Tanzereien, ausländische Spielfilme und geschmacklose Unterhaltungsprogramme. Die Sichtagitation wird völlig vernachlässigt. Die Kolonisten sind sich selbst überlassen und größtenteils moralisch haltlos, fast keiner kennt die internationale Lage, und die rückständigsten unter ihnen - beispielsweise der Geist eines gewissen Norbert Wiener — wissen nicht einmal, wo sie sich befinden. Das Ergebnis sind amoralische Handlungen, Rowdytum und eine Flut von Beschwerden seitens der Bevölkerung. So verließ vorgestern der Pte- rodaktylus Kusma das Territorium der Kolonie, flatterte in sichtlich betrunkenem Zustand über dem Klub der Arbeiterjugend herum und nagte die Glühbirnen ab, die das Transparent mit der Aufschrift »Herzlich willkommen< umrahmten. Ein gewisser Nikolai Dolgonossikow, der sich als Telepath und Spiritist ausgibt, verschaffte sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Einlaß ins Frauenwohnheim der Pädagogischen Fachschule und produzierte sich dort in Gesprächen und Handlungen, die die Administration als religiöse Propaganda qualifizierte. Und heute stoßen wir nun auf eine neue traurige Folge der verbrecherischen Nachlässigkeit des Kommandanten der Kolonie, des Kollegen Subo,
gegenüber den Fragen der Erziehung und Propaganda. Worum es sich bei dem Ausspucken überschüssiger Flüssigkeit aus der Mundhöhle des Kollegen Konstantinow auch handeln mag, so zeugt es doch davon, daß der Kollege Konstantinow nicht weiß, wo er sich befindet und wie er sich hier zu verhalten hat, und das wiederum ist ein Versäumnis des Kollegen Subo, der den Kolonisten den Sinn der Spruchweisheit »Andere Länder, andere Sitten« nicht erklärt hat. Und darum bin ich der Ansicht, daß wir dem Kollegen Subo einen Verweis erteilen und ihn verpflichten sollten, das Niveau der erzieherischen Arbeit in der ihm anvertrauten Kolonie zu erhöhen!« Als Farfurkis fertig war, nahm sich Chlebowwodow den Kommandanten vor. Seine Rede war wirr, aber mit so dunklen Anspielungen und so unheimlichen Drohungen gespickt, daß dem Kommandanten ganz flau im Magen wurde und er ungeniert Pillen in sich hineinstopfte, während Chlebowwodow brüllte: »Dir werd ich was husten! Verstehst du mich, oder bist du schon ganz und gar verblödet?« »Chrrrm«, sagte Lawr Fedotowitsch schließlich und versah die verschiedensten Buchstaben mit kräftigen I-Punkten. Der Kommandant erhielt einen Verweis wegen ungebührlichen Verhaltens in Gegenwart der Troika, das in der Spuckaktion des Kollegen Konstantinow zum Ausdruck gekommen war, sowie wegen administrativer Instinktlosigkeit. Dem Kollegen Konstantinow, K. K., wurde eine Verwarnung in die Akten eingetragen, weil er in Schuhen die Wände hochgegangen war. Farfurkis bekam eine mündliche Rüge wegen systematischen Überschreitens der Rede zeit, Chlebowwodow eine wegen Verletzung der administrativen Ethik, die sich in dem Versuch ausgedrückt hatte, den Kollegen Konstantinow, K. K., wider besseres Wissen anzuschwärzen. Wybegallo erhielt einen mündlichen Verweis, weil er unrasiert zum Dienst erschienen war. »Gibt es andere Vorschläge?« erkundigte sich Lawr Fedotowitsch. Chlebowwodow flüsterte ihm etwas ins Ohr. Lawr Fedotowitsch hörte ihn an und schloß mit den Worten: »Außerdem gibt es den Vorschlag, einige Mitglieder der Troika an die Notwendigkeit zu erinnern, aktiver mitzuarbeiten.«
Nun hatte jeder sein Fett weg, die Atmosphäre war gereinigt, und alle lebten auf. Der Oberst verkündete sogar laut und deutlich: »Jawohl, Genosse General! Jawohl, du alter Esel!« Während der Kommandant den nächsten Vorgang heraussuchte, betrachtete ich den Oberst, dessen Hände im Schlaf zuckten: Entweder versuchte er unentwegt, den dritten Gang einzulegen, oder er striegelte sein Streitroß. Ich betrachtete ihn und fragte mich, wie die militärische Laufbahn und der Personalbogen eines Mannes aussehen mochten, der mindestens achtzig Jahre alt war, sich bis zum Oberst hochgedient und den man in diesem astronomischen Zeitraum mit drei Jubiläumsmedaillen abgespeist hatte. Das konnte nur an seiner exotischen Waffengattung liegen. Allein die Idee einer motorisierten Kavallerie hatte für mich etwas Apokalyptisches. Bald schwebten mir gedrungene Schützenpanzerwagen vor, über deren vernietete Bordwände aufgerissene Pferdemäuler und stattliche, beschopfte Reiter im Filzüberwurf mit vorgestreckter Lanze ragten; bald wurde dieses Bild durch ein ganz und gar phantastisches Schauspiel verdrängt: Auf einem Schlachtfeld nahmen von Motorradfahrern auf Motorrädern gesattelte Pferde im Halbkreis Aufstellung, und alle Motorräder fuhren einträchtig im dritten Gang. Dann aber fiel mir ein, daß der Oberst ein Kind unserer Zeit war und vielleicht sogar Anteil an den ersten Erfolgen des Flugwesens und des Luftschiffbaus hatte, und schon sah ich riesige Ballons aufsteigen, aus deren Gondeln wild ausschlagende und wiehernde Kavallerieschwadronen an Fallschirmen auf die Köpfe des verblüfften Gegners niederprasselten... »Der nächste«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Tragen Sie vor, Kollege Subo.« »Vorgang Nummer zwei«, las der Kommandant. »Familien name: Strich. Vorname: Strich. Vatersname: Strich. Rufname: Kusma.« Ich erschrak. Nun war auch unser Kusma dran. »Edik«, flüsterte ich, »bist du hier?« »Ja«, antwortete Edik. »Geh nicht weg, Edik«, bat ich. »Wir müssen Kusma retten.«
»Geburtsjahr und -ort«, fuhr der Kommandant fort. »Nicht ermittelt. Wahrscheinlich Kongo.« »Ist er etwa stumm?« erkundigte sich Chlebowwodow wohlwollend. »Er kann nicht sprechen«, antwortete der Kommandant, »bloß quaken.« »Ist das angeboren?« »Höchstwahrscheinlich.« »Also schlechte Erbanlagen«, brummte Chlebowwodow. »Darum ist er auch unter die Banditen gegangen. Hat er viele Vorstrafen?« »Wer?« fragte der Kommandant. »Ich?« »Nein, warum denn du? Ich meine den... Banditen. Wie war doch gleich sein Rufname? Wassja?« »Ich protestiere«, sagte Farfurkis ungeduldig. »Kollege Chlebowwodow geht von der vorgefaßten Meinung aus, daß nur Banditen einen Rufnamen tragen. Dabei empfiehlt die Instruktion im Paragraphen acht, Kapitel vier, Teil zwei, einer unerklärten Erscheinung, die nicht als vernunftbegabtes Wesen identifiziert wird, einen Rufnamen zu geben.« »Ach so!« sagte Chlebowwodow enttäuscht. »Das ist bloß irgend so ein Hund. Ich dachte schon, es sei ein Bandit. Als ich noch bei der Allrussischen Theatergesellschaft die Kasse für gegenseitige Hilfe unter mir hatte, war da ein Kassierer...« »Ich protestiere!« rief Farfurkis weinerlich. »Der Kollege Chlebowwodow überschreitet die Redezeit! Wenn das so weitergeht, sitzen wir um Mitternacht noch hier.« Chlebowwodow blickte auf die Uhr. »Ja, wirklich«, sagte er. »Entschuldigung. Lies weiter, Bruderherz. Wo war er stehengeblieben?« »Punkt fünf«, las der Kommandant. »Nationalität: Pterodaktylus.« Alle zuckten zusammen, aber die Zeit drängte, und niemand sagte ein Wort. »Schulbildung: Strich«, fuhr der Kommandant fort. »Fremdsprachenkenntnisse: Strich. Beruf und gegenwärtige Arbeitsstelle: Strich. Aufenthalte im Ausland: wahrscheinlich.«
»Ach, das ist schlecht«, murmelte Chlebowwodow. »Ganz schlecht! Tja, die Wachsamkeit! Ein Pterodaktylus, sagen Sie? Ist er demnach ein Weißer oder ein Schwarzer?« »Ein Grauer, würde ich sagen«, erklärte der Kommandant. »Aha«, meinte Chlebowwodow. »Und sprechen kann er nicht, bloß quaken. Na schön, weiter.« »Kurz umrissenes Wesen des Unerklärten: gilt seit fünfzig Millionen Jahren als ausgestorben.« »Seit wann?« fragte Farfurkis. »Hier steht seit fünfzig Millionen Jahren«, antwortete der Kommandant unsicher. »Das kann man doch nicht ernst nehmen«, murmelte Farfurkis mit einem Blick auf die Uhr. »Na, lesen Sie schon«, sagte er stöhnend. »Lesen Sie weiter!« »Angaben über die nächsten Angehörigen: wahrscheinlich durchweg ausgestorben. Ständige Wohnanschrift: Kiteshgrad, Kolonie unerklärter Erscheinungen.« »Gemeldet?« fragte Chlebowwodow streng. »Ja, es scheint so«, antwortete der Kommandant. »Seit er bei uns aufgetaucht ist und ins Buch der Ehrengäste eingetragen wurde, hält er sich hier auf. Er fühlt sich hier wohl, der Kusma.« In der Stimme des Kommandanten schwangen zärtliche Töne mit: Er hatte Kusma ins Herz geschlossen. »Ist das alles?« vergewisserte sich Lawr Fedotowitsch. »Dann gibt es den Vorschlag, den Vorgang aufzurufen.« Da es keine anderen Vorschläge gab, zog der Kommandant die Vorhänge auf und rief lockend: »Kus, Kus, Kus! Der Schlingel hockt drüben auf dem Schornstein«, sagte er gerührt. »Er geniert sich. Er ist so furchtbar schüchtern. Kus! Kus, Kus! Jetzt kommt er angeflattert, der Gauner«, teilte er dann mit und trat vom Fenster zurück. Wir hörten ein ledernes Rascheln und Pfeifen, ein riesiger Schatten verdunkelte den Himmel, und schon landete Kusma, die vibrierende Flughaut ausgebreitet, auf dem Demonstrationstisch. Er klappte die Flügel zusammen, warf den Kopf zurück, sperrte den länglichen, zahnbewehrten Rachen auf und quakte leise. »Er begrüßt uns«, erläuterte der Kommandant. »Eine höfliche
Kanaille, er versteht jedes Wort.« Kusma beäugte die Troika, begegnete 1 awr Fedotowitschs starrem Blick und genierte sich plötzlich fürchterlich. Er hüllte sich in seine Flughaut, legte den Kopf an den Bauch und lugte mit einem riesigen grünen, anachronistischen Auge, das einer halbgeschlossenen Irisblende glich, verschämt aus einer Hautfalte. Kusma war ein reizendes Kerlchen. Auf den ersten Blick wirkte er allerdings abschreckend. Chlebowwodow ließ vorsichtshalber etwas fallen, kroch unter den Tisch und murmelte: »Und ich dachte, das wäre irgend so ein quakender Hund...« »Beißt er?« fragte Farfurkis ängstlich. »Wo denken Sie hin!« sagte der Kommandant. »Das ist ein ganz harmloses Geschöpf, an dem jeder sein Mütchen kühlt. Wenn er natürlich in Wut gerät... Aber er gerät nie in Wut.« Lawr Fedotowitsch betrachtete den Pterodaktylus durch sein Theaterglas und brachte ihn damit endgültig aus der Fassung. Kusma quakte leise und steckte den Kopf unter die Flügel. »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch zufrieden hervor und legte das Theaterglas beiseite. Die Sache ließ sich ganz gut an. »Und ich dachte, das wäre irgend so ein Pferd«, murmelte Chlebowwodow, der noch immer unter dem Tisch umherkroch. »Gestatten Sie mir ein paar Worte, Lawr Fedotowitsch«, bat Farfurkis. »Ich sehe bei diesem Vorgang gewisse Schwierigkeiten. Wäre es unsere Aufgabe, ungewöhnliche Erscheinungen zu untersuchen, so würde ich als erster für eine sofortige Rationalisierung plädieren. Ein Krokodil mit Flügeln ist in unseren Breiten ja wirklich eine ungewöhnliche Erscheinung. Wir haben jedoch unerklärte Erscheinungen zu untersuchen, und da kommen mir Zweifel. Enthält der Vorgang Nummer zwei ein Element des Unerklärten? Wenn nicht, warum sollen wir ihn dann untersuchen? Wenn ja, worin besteht es? Vielleicht kann uns der Kollege Berater etwas dazu mitteilen?« Der Kollege Berater konnte. In seinem franko-russischen Kauderwelsch teilte er der Troika mit, daß Marie Brions Frisur auf den abendlichen Empfängen des Barons de Vaudreille sämtliche Gäste entzückt habe, eine Tatsache, die er, der wissenschaftliche
Berater, nicht von der Hand weisen könne. Was die Unerklärbarkeit dieses ... tjä... le ptérodactyle angehe, so liege sie auf einer Ebene mit seiner Ungewöhnlichkeit, woran den Kollegen Farfurkis zu erin nern er, der wissenschaftliche Berater, für seine traurige, aber ehrenvolle Pflicht halte. Ergo: Plato sei schon immer sein, des wissenschaftlichen Beraters, Freund gewesen und werde es auch bleiben, aber der Wissenschaft in seiner, des wissenschaftlichen Beraters, Person gehe die Wahrheit über alles. Fliegende Krokodile oder, genauer gesagt, das Vorhandensein von zwei oder mehr Flügeln bei manchen Krokodilen habe die Wissenschaft bis heute noch nicht erklärt, weshalb er, der wissenschaftliche Berater, Ihren Gärtner bitte, ihm seine wunderschönen Tuberosen zu zeigen, von denen Sie vergangenen Freitag sprachen. Und schließlich sehe er, der wissenschaftliche Berater, keine besonderen Gründe dafür, die Rationalisierung dieses Vorgangs noch länger aufzuschieben, behalte sich andererseits jedoch das Recht vor, ganz energisch gegen diese zu protestieren. Während Wybegallo schwätzte und im Schweiße seines Angesichts sein ganz beachtliches Gehalt abarbeitete, entwarf ich in aller Eile einen Schlachtplan. Klar war mir vorläufig nur eins: Würde Kusma einem Bad- und Wäschereibetrieb oder auch nur einem zweitrangigen Forschungsinstitut zugesprochen, dann hätte er nichts mehr zu lachen. Es ging einfach nicht an, ihn, den in Kiteshgrad jeder Hund kannte, der freundlichen Großmüttern Weizenbrei aus der Hand schleckte und immer bereit war, einem Papirossy zu holen, aufs Baby aufzupassen, während man im Kino war, oder einem das schwere Einkaufsnetz zu tragen, ihn, der an Freiheit und gute Behandlung gewöhnt war, in fremde Hände zu geben. Nein, das ging beim besten Willen nicht an. Zumal unsere Zoopsychologen Kusma schon gut kannten, von ihm entzückt waren und gerade überlegten, wie sie ihn möglichst unauffällig und ohne ihm irgendwie zu nahe zu treten, untersuchen könnten - ohne ein gleichgültiges Abtasten, ohne Stücke aus ihm herauszuschneiden, ohne Röntgenaufnahmen und ähnliche Fisimatenten. Kusma und Wolodja Potschkin, die viel Gemeinsames hatten, waren ein Herz und eine Seele, und wenn
wir uns Kusma jetzt entgehen ließen, wäre Wolodja untröstlich und würde uns möglicherweise den Kopf abreißen... »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Gibt es Fragen an den Vortragenden?« »Fragen hab ich nicht«, erklärte Chlebowwodow, der gemerkt hatte, daß Kusma nicht biß, »aber ich finde, daß das ein ganz gewöhnliches Krokodil mit Flügeln ist und sonst gar nichts. Der Kol lege Berater will uns hier ein X für ein U vormachen. Außerdem fällt mir auf, daß der Kommandant Lieblinge in der Kolonie hat, die er auf Staatskosten päppelt. Damit will ich natürlich nicht behaupten, daß er Vetternwirtschaft betreibt oder vielleicht Bestechungsgelder annimmt, aber eins ist Fakt: Ein Krokodil mit Flügeln, die simpelste Sache der Welt, wird hier wie ein rohes Ei behandelt. Jagen wir's aus der Kolonie. Es soll gefälligst arbeiten gehen.« »Arbeiten?« fragte der Kommandant, sehr besorgt um Kusma. »Jawohl! Es soll arbeiten wie wir! Sehen Sie sich's doch mal an, es weiß ja gar nicht, wohin mit seiner Kraft. Es könnte im Sägewerk Baumstämme schleppen oder Steine verladen. Wollen Sie mir vielleicht weismachen, daß es dafür zu schwach ist? Ich kenne diese Krokodile, hab in meinem Leben schon genug gesehen - mit und ohne Flügel.« »Wie denn?« fragte der Kommandant mit Leidensmiene. »Kusma ist doch kein Mensch, sondern ein Tier, das besondere Diät braucht.« »Macht nichts, es gibt auch Tiere, die arbeiten, Pferde zum Beispiel. Soll's doch unter die Pferde gehen! Besondere Diät! Die brauche ich auch, trotzdem bleibe ich seinetwegen ohne Mittagessen.« Allmählich merkte Chlebowwodow jedoch, daß er ein wenig zu dick aufgetragen hatte. Farfurkis musterte ihn spöttisch, und auch Lawr Fedotowitschs Haltung gab zu denken. All diese Umstände in Betracht ziehend, schwenkte Chlebowwodow plötzlich um hundertachtzig Grad. »Warten Sie mal!« rief er. »Um welchen Kusma handelt sich's überhaupt? Ist das der, der die Glühbirnen vom Klub gefressen hat? Genau, das ist er! Was denn, wurden gegen ihn überhaupt keine Maßnahmen
ergriffen? Du, Kollege Subo, versuch dich jetzt nicht rauszuwinden. Wurden Maßnahmen ergriffen oder nicht?« »Jawohl«, antwortete der Kommandant heftig. »Und welche?« »Wir haben ihm ein Abführmittel gegeben«, sagte der Kommandant. Es war nicht zu übersehen, daß er eisern zu Kusma hielt. Chlebowwodow schlug mit der Faust auf den Tisch, und Kusma machte vor Schreck unter sich. Da packte auch mich die Wut, und ich schrie, direkt an Lawr Fedotowitsch gewandt, daß hier kostbare wissenschaftliche Exponate verhöhnt würden. Auch Farfurkis erklärte, daß er protestiere und der Kollege Chlebowwodow mal wieder versuche, der Troika Funktionen aufzuhalsen, die ihr gar nicht zukämen. Der Oberst wachte auf, brüllte mit ungewohnt tiefer Stimme: »Ein Krrrokodil mit Flügeln? Gut, sehr gut. Flammenwerfer!« und schlief wieder ein. Lawr Fedotowitsch aber beleckte sich den blassen Zeigefinger und warf heftig die Papiere in seiner Schreibmappe durcheinander, was bei ihm ein Zeichen äußerster Gereiztheit war. Ein Orkan kündigte sich an. In diesem Augenblick flog die Tür auf, und ein finsterer Bote krächzte, ohne jemand anzusehen: »Wer kriegt hier die Post?« Auf Lawr Fedotowitschs Bratpfannengesicht malte sich eisige Verwunderung. »Warum behindert man unsere Arbeit?« fragte er mit monotoner Stimme. »Kollege Farfurkis, was gibt's?« »Was gibt's, Kollege Subo?« brüllte Farfurkis wutentbrannt. »Was soll der Unfug?« Der Kommandant faßte den Boten um den Bauch, wälzte sich mit ihm ins Vorzimmer und stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. »So ein Unfug!« wütete Farfurkis. »Unerhört so was!« »Rausschmeißen, alle beide«, forderte Chlebowwodow. »Platzt hier, verstehst du, in eine Sitzung rein, als wär's 'ne Pinkelbude.« Der Kommandant kam zurück, trabte zu Lawr Fedotowitsch und säuselte ihm etwas ins Ohr. »Paß auf!« flüsterte Edik. »Jetzt geht's los!« Farfurkis und Chlebowwodow spitzten, vor Eifersucht und Neugier platzend, die Ohren.
Lawr Fedotowitschs Gesichtszüge entspannten sich. »Ist das alles?« fragte er in völlig neuem Ton. »Jawohl, das ist alles«, bestätigte der Kommandant eifrig. Lawr Fedotowitsch hob mit einer stolzen Bewegung das Haupt. »Man bringe die Post herein«, befahl er. »Schaffs rein!« rief der Kommandant. Der kräftige Bote schleifte nacheinander drei voluminöse Säcke in den Saal. »Viel Spaß«, brummte er, ohne jemand anzusehen, und ging. »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch hervor. »Auf Grund des überraschenden Eingangs einer großen Zahl von Zuschriften aus wissenschaftlichen Einrichtungen wird vorgeschlagen, die Morgensitzung abzubrechen. Die Kollegen Farfurkis und Wybegallo werden beauftragt, die eingegangenen Schreiben unverzüglich auszuwerten und die vorläufigen Ergebnisse auf der Abendsitzung bekanntzugeben. Gibt es andere Vorschläge? Fragen?« »Das kommt alles aus wissenschaftlichen Einrichtungen?« fragte Chlebowwodow ehrfürchtig. »Ja«, antwortete Lawr Fedotowitsch. »Und das Volk weiß nicht, was Sie daran so erstaunlich finden, Kollege Chlebowwodow.« »Ich... ich...«, stotterte Chlebowwodow. »Ich frag ja nur, wenn das alles aus wissenschaftlichen... Dann sind das wohl alles Anträge und Bestellungen?« »Ja, es gibt die Meinung, daß das alles Anträge sind«, sagte Lawr Fedotowitsch und erhob sich. »Die Sitzung der Troika wird auf achtzehn Uhr vertagt.« Er schob sich hinter dem Tisch hervor und richtete, als er am Kommandanten vorbeikam, wohlwollend das Wort an ihn: »Also, Kollege Subo, Ihr Krokodil übergeben wir am besten dem Tiergarten. Was halten Sie davon?« »Ach!« sagte der tapfere Kommandant. »Lawr Fedotowitsch! Kollege Wunjukow! Bei Jesus Christus, unserem Heiland — in unserer Stadt gibt's doch gar keinen Tiergarten!« »Bald wird es einen geben!« versprach Lawr Fedotowitsch und scherzte auf echt demokratische Manier: »Wir haben einen Stadtgarten, wir haben einen Kindergarten, und nun werden wir auch bald einen Tiergarten haben. Aller guten Dinge sind drei.«
Das Krachen der vormittäglichen Lachsalve brachte Kusma dazu, sich ein zweites Mal danebenzubenehmen. Die Abendsitzung der Troika begann in einer nie dagewesenen Atmosphäre allgemeinen Wohlwollens und gegenseitigen Verständnisses. Ein freundlich und nachsichtig gestimmter Lawr Fedotowitsch verteilte großzügig Papirossy der Marke Herzegowina. Chlebowwodow und Farfurkis, die Lawr Fedotowitsch in den Sitzungssaal folgten, überließen einander eine volle Minute lang den Vortritt. Von den hochschlagenden Wogen der Renaissance mitgerissen, hatte Wybegallo sich zum erstenmal in diesem Sommer gewaschen und roch nun durchdringend nach Erdbeerseife. Der Oberst, der sich endlich einmal ausgeschlafen oder zuviel schwarzen Kaffee in sich hineingeschüttet hatte, war munter und lachte unentwegt. Nur der Kommandant war bedrückt. In der Pause hatte er sich im Gemüsegarten einen Zahn verkühlt, der ihn jetzt so peinigte, daß Lawr Fedotowitsch ihn mit dem wohlmeinenden Scherz glaubte aufheitern zu müssen: »Das kommt davon, Kollege Subo. Vorhin haben Sie uns die Zähne gezeigt, und jetzt haben Sie Zahnschmerzen.« Meine Magister waren vollzählig versammelt und erlebten ebenfalls eine Renaissance, obwohl Vitjka mit Brandwunden und Pflastern übersät und von Roman außer seiner Hakennase von Seltenheitswert und den feurigen schwarzen Augen, die er hin und wieder vor Müdigkeit verdrehte, nicht mehr viel übrig war. Ich zweifelte, ehrlich gesagt, noch immer am Erfolg unseres Unternehmens und sagte ihnen das auch, worauf Vitjka kurz und bündig entgegnete: »Wir haben einen prächtigen Vorsitzenden — er lebe hoch!« Und Edik erläuterte mir, daß unsere absehbare Zukunft dreimal an Modellen durchgespielt worden sei und sich mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens null Komma neunundneunzig zu eins auch so abspielen werde. »Ähem«, stieß Lawr Fedotowitsch schließlich hervor, indem er mit sämtlichen Traditionen brach und sich uns von einer völlig neuen Seite zeigte. »Hiermit erkläre ich die Abendsitzung der Troika für eröffnet. Das Wort erhält der Kollege Farfurkis.« Farfurkis stand auf, blickte in sein Notizbuch und legte los. Er teilte uns mit, daß laut bestätigter Tagesordnung auf der heutigen
Abendsitzung der Vorgang Nummer siebenundneunzig, die Black box, und der Vorgang Nummer fünfundsechzig des Bürgers N. P. Dolgonossikow, der sich als Telepath und Spiritist ausgebe, zur Verhandlung stünden. Außerdem sei vorgesehen gewesen, auf der Abendsitzung die Verhandlung des Vorgangs Nummer zwei des Pterodaktylus mit dem Rufnamen Kusma zum Abschluß zu bringen. Weiterhin hätten die wöchentliche Analyse der Beschwerden, Eingaben und Informationen seitens der Bevölkerung und die Vorschläge für die Auszeichnung der interessantesten rationalisierten unerklärten Erscheinungen des letzten Monats mit dem Titel »Sensation« und ihre Veröffentlichung in der Presse auf der Tagesordnung gestanden. In Zusammenhang mit den veränderten Umständen sehe sich die Troika jedoch gezwungen, eine neue Tagesordnung zu beschließen. Er, Farfurkis, schätze sich glücklich, mitteilen zu können, daß bei der Troika heute an die zehntausend Anträge und Bestellungen unerklärter Erscheinungen seitens einzelner wissenschaftlicher Mitarbeiter und ganzer Arbeitsgruppen aus hundertachtzig verschiedenen Forschungsinstituten und Werklabors eingegangen seien. Das zeuge davon, daß die Troika für die Rationalisierung und Utilisierung unerklärter Erscheinungen tatsächlich ein wichtiges Bindeglied zwischen der Welt unserer Wissenschaft und Technik und der Welt der unerklärten Erscheinungen sei. Das, Kollegen, erfordere jedoch eine grundlegende und prinzipielle Neugestaltung der erwähnten Tagesordnung. Er, Farfurkis, schlage folgendes vor: die Verhandlung der Vorgänge Nummer fünfundsechzig und siebenundneunzig sowie die abschließende Verhandlung des Vorgangs Nummer zwei zu verschieben (Beifall), die Briefe aus der Bevölkerung möglichst rasch und unbürokratisch zu analysieren, einen Vorschlag für den Titel »Sensation« zu unterbreiten (stürmischer Beifall) und anschließend sofort zur zentralen Frage der heutigen Abendsitzung zu kommen - zur Erörterung der im Zusammenhang mit den zahlreichen Anträgen seitens wissenschaftlicher Einrichtungen entstandenen Situation. (Stürmischer, in Ovationen übergehender Beifall. Alle erheben sich von ihren Plätzen.)
Lawr Fedotowitsch wartete das Ende der Ovationen ab, sprach im Namen aller, indem er die neue Tagesordnung bestätigte, und schlug vor, nun die Briefe aus der Bevölkerung zu verlesen. Es waren ihrer sieben. Die Schüler des Dorfes Wunjuschino berichteten von der dort ansässigen Großmutter Soja. Jedermann behaupte, sie sei eine Hexe, ihretwegen gebe es schlechte Ernten, und aus ihrem Enkel, dem ehemaligen Musterschüler Wassili Kormilizyn, habe sie einen Rowdy und Vierenschreiber gemacht. Die Schüler, die als Pioniere nicht an Hexen glaubten, baten die Troika um eine wissenschaftliche Erklärung, wie sie es anstelle, die Ernten zu verderben und aus Musterschülern Vierenschreiber zu machen. Die Brüder Andrej und Boris Dolgoruki aus dem Dorf Argunjok in der Ussuri-Region schrieben, sie hätten ein menschenfressendes Mädchen eingefangen, das aus Angst vor Verfolgung aus dem Ausland geflohen und außerdem eine berüchtigte Hühnerdiebin sei. Die dortigen Behörden hätten sie in ein Kinderheim eingewiesen. Die Brüder meinten, man müßte sie auf der Suche nach neuen Naturgesetzen obduzieren. Eine Gruppe von Touristen aus verschiedenen Städten wollte im Vorland des Werchojansker Bergrückens einen grünen Skorpion von der Größe einer Kuh beobachtet haben. Dieser Skorpion habe mit Hilfe geheimnisvoller Strahlen zwei Wachposten eingeschläfert und sei mit ihrem Monatsvorrat an Proviant in der Taiga verschwunden. Die Touristen boten ihre Mitwirkung bei der Ergreifung des Ungeheuers unter der Bedingung an, daß man ihnen wenigstens die Fahrtkosten in einer Richtung erstattete. Der Einwohner der Stadt Kiteshgrad Sajadly, P. P., beschwerte sich über seinen Nachbarn, der seit zwei Jahren sein Haus untergrabe. Der Brief kam aus der psychiatrischen Anstalt. Ein anderer Einwohner von Kiteshgrad, der Bürger Krassnodewko, S. T., äußerte seinen Unwillen darüber, daß der Stadtgarten von allen möglichen Monstern vollgeklackst werde und man nirgends mehr Spazierengehen könne. Die Schuld daran trage der Kommandant Subo, der mit den Küchenabfällen der Kolonie neben drei privaten Schweinen auch seinen Nichtsnutz von Schwiegersohn durchfüttere.
Ein Landarzt aus der Kreisstadt Bubnowo gab an, bei einer Bauchhöhlenoperation des hundertfünfzehnjährigen Bürgers Panzermanow in dessen Wurmfortsatz eine alte soghdische Münze gefunden zu haben. Er erlaube sich, die Troika darauf aufmerksam zu machen, daß der (mittlerweile verstorbene) Bürger Panzerma- now niemals in Mittelasien gewesen sei und die in ihm entdeckte Münze nie zuvorgesehen habe. Auf den restlichen zweiundvierzig Seiten des Briefes legte der junge Äskulap dar, was er von der Telepathie, der Telekinese und der vierten Dimension hielt. Dem Brief lagen Aufnahmen von Avers und Revers der geheimnisvollen Münze in natürlicher Größe bei. Und schließlich schickte der Grodnoer Bürger M. Ferbenks wieder mal einen Stapel Zeitungsausschnitte über das Auftauchen von UFOs und erkundigte sich nach seinem Honorar. Alle Briefe wurden verlesen und rasch diskutiert. Nach bewährtem Brauch wurden sie dem wissenschaftlichen Berater, Professor Wybegallo, zur Beantwortung übergeben. Wybegallo besaß auf diesem Gebiet enorme Erfahrungen. Er hatte sogar ein Antwortformular entworfen: Werter(e) Bürger(in)...! Haben Ihren interessanten Brief erhalten und gelesen. Die von Ihnen mitgeteilten Fakten sind der Wissenschaft bekannt und daher nicht von Interesse. Trotzdem danken wir Ihnen herzlich für Ihre Beobachtung und wünschen Ihnen Erfolg im beruflichen und persönlichen Leben. Punkt. Unterschrift. Das war meiner Meinung nach Wybegallos beste Erfindung. Es mußte das reinste Vergnügen sein, damit beispielsweise die Mitteilung zu beantworten, daß »... der Bürger Stschin eine Öffnung in meine Wand gebohrt hat und Giftgase hindurchleitet«. Anschließend nahm sich die Troika ohne Zeitverlust die Kandidaturen für den Titel »Sensation des Monats« vor. Jedes Mitglied der Troika benannte seinen Kandidaten. Chlebowwodow gefiel beispielsweise der Leiter des Kiteshgrader Viehhofs, der jede gewünschte Karte aus einem Kartenstapel ziehen und, einen Bleistift zwischen den Zähnen, die Unterschrift sämtlicher hoher Funktionäre des Kreises Kiteshgrad nachmachen konnte. »Solche Leute liegen nicht auf der Straße rum«, erklärte Chlebowwodow. »So
was muß man groß rausbringen.« Farfurkis war beeindruckt von einem jungen Mädchen, das sehr gekonnt mit den Ohren sah und mit den Augen hörte. Er gestand, schon einen privaten Korrespondentenbericht darüber an die Zeitschrift »Wissen ist Macht« geschickt zu haben. Dieser Bericht stand unter der Überschrift »Sehend hören und hörend sehen«. Auch der Oberst erhielt die Möglichkeit, sich zu äußern, und berichtete unter kindischem Gelächter von seiner Absicht, eine Überschalldüsenkavallerie aufzubauen. Zu guter Letzt sagte Lawr Fedotowitsch »Chrrrm« und schlug im Namen aller Troikamitglieder vor, Tolja Skworzow, einen Bohrer aus dem Kiteshgrader Werk für Magotechnik, zu nominieren, der den Plan regelmäßig um zweihundert bis zweihundertzehn Prozent übererfüllte. Die Magister und ich nahmen diesen Vorschlag beifällig auf, weil Tolja Skworzow ein feiner Kerl war, den wir gut kannten. Und dabei blieb es. Und dann kam die Hauptsache. Professor Wybegallo erhielt das Wort, um uns über die vorläufigen Ergebnisse der Analyse aller bei der Troika eingegangenen Zuschriften zu informieren. Der Professor teilte mit, daß etwa zehntausend Anträge aus mindestens hundertachtzig verschiedenen Einrichtungen eingegangen seien. Davon habe man bisher an die tausend analysiert, die alle gültig, auf Vordrucken geschrieben und mit Stempeln versehen seien und insgesamt siebenunddreißig unerklärte Erscheinungen beträfen, unter anderem fünfundvier- zigmal den Geist Napoleons, neununddreißigmal das Perpetuum mobile zweiter Art, einunddreißigmal Zauberzirkel und Zauberlineal für die Trisektion des Winkels und zweiundzwanzigmal Maschkins heuristische Maschine. Zu den Antragstellern gehörten sieben Ordentliche und neunzehn Korrespondierende Mitglieder der Akademie der Wissenschaften sowie fünfundsiebzig Doktoren, während der Rest durch die Bank Kandidaten, Magister und Bakkalaurei seien. Ergo hätten wir Tausende von der Sorte. Wenn man diese Zahlen nun extrapoliere, das heißt mit zehn multipliziere, so erhalte man das Zehnfache, nämlich siebzig Ordentliche Mitglieder, hundertneunzehn Korrespondierende Mitglieder et cetera. Davon
zeuge die Wissenschaft der Futurologie. Wovon zeuge sie noch? Mit all diesen Anträgen zeuge sie lautstark von der gestiegenen Autorität der Troika und ganz besonders von der hervorragenden Rolle »des Kollegen Wunjukow, unseres teuren, verehrten Vorsitzenden, c'est notre opinioni«, schloß er und machte Anstalten, Lawr Fedotowitsch abzuküssen, wovon ihn nur der mit der Enzyklopädie beladene Tisch abhielt. Chlebowwodow nutzte die Pause, um den Vortrag des wissenschaftlichen Beraters auf die Schnelle zu wiederholen, wobei er schamlos sämtliche Zahlen verdrehte und erklärte, all diese Akademiker kämen, sie mochten sich drehen und wenden, nicht ohne uns aus, weil sie auf Lawr Fedotowitschs überragenden staatsmännischen Verstand nun einmal nicht verzichten könnten. Der eine jage irgendwelchen Protonen und Elektronen nach oder halte Vorträge, der andere dagegen bringe die Wissenschaft voran und realisiere überhaupt erst eine Leitungstätigkeit, wie auch er, ChleI Das ist unsere Ansicht. bowwodow, das seinerzeit als Hauptbuchhalter des »WNITAGOR« getan habe. Ohne uns kommt die Wissenschaft nicht vom Fleck, das hab ich immer gesagt. Je älter die Geige, desto schöner ihr Klang. Auch der Oberst gab seinen Senf dazu, indem er einen Toast auf den frischgebackenen General ausbrachte. Farfurkis aber packte den Stier bei den Hörnern. Er teilte uns vertraulich mit, daß die Soziologie immer stärker ins wissenschaftliche wie auch ins administrative Leben eingreife. Heute könne man nicht mehr auf alte Art arbeiten und willkürlich Entscheidungen über Rationalisierungen treffen, ohne sich auf soziologische Beobachtungen zu stützen. Die Zeiten des Voluntarismus seien ein für allemal vorbei. Von nun an werde jede der weisen Entscheidungen unseres tief verehrten Leiters und Führers mit den nötigen soziologischen Daten, nämlich Ziffern, Diagrammen, Erhebungen und Berechnungen, untermauert. Dann ergriff Lawr Fedotowitsch das Wort. Er sprach von den neuen Aufgaben der ihm anvertrauten Troika, die sich aus ihrer gestiegenen Autorität und ihrer gewachsenen Verantwortung ergäben. Lawr Fedotowitsch empfahl den Anwesenden, noch
unversöhnlicher als bisher für eine höhere Arbeitsdisziplin, gegen den Bürokratismus, für ein allgemein höheres moralisches Niveau, für gesunde Kritik und gesunde Selbstkritik, gegen einen Mangel an persönlicher Verantwortung, für eine Verbesserung des Brandschutzes, gegen die Überheblichkeit, für die persönliche Verantwortung jedes einzelnen, für ein mustergültiges Berichtswesen und gegen eine Unterschätzung der eigenen Kräfte zu kämpfen. Das Volk werde es uns zu danken wissen, wenn wir diese Aufgaben noch aktiver erfüllten als früher. Das Volk werde es uns verübeln, wenn wir diese Aufgaben nicht noch aktiver erfüllten als früher. Welche konkreten Vorschläge gebe es für die Organisierung der Arbeit der Troika unter den veränderten Bedingungen? Nicht ohne Schadenfreude sah ich, wie spärlich die konkreten Vorschläge ausfielen. Wie üblich, holte als erster Chlebowwodow zum Schlage aus und empfahl, höhere Selbstverpflichtungen zu übernehmen, beispielsweise sollte der Kommandant, Kollege Subo, in Zusammenhang mit der gestiegenen Autorität der Troika für sich einen Vierzehnstundentag einführen, und der wissenschaftliche Berater, Kollege Wybegallo, sollte auf seine Mittagspause verzichten. Diese unorthodoxe Empfehlung stieß jedoch auf keine Gegenliebe. Im Gegenteil, sie wurde von den Genannten empört zurückgewiesen. Es kam zu einem kurzen Geplänkel, in dessen Verlauf sich unter anderem herausstellte, daß die Troika noch drei alte und höchstwahrscheinlich ebenso viele neue Vorgänge zu bearbeiten hatte. Erschwerend wirkte sich der Umstand aus, daß für jeden neuen Vorgang nicht nur ein oder zwei, sondern Dutzende von Anträgen vorlagen, und zwar durchweg auf Vordruk- ken und durchweg mit prominenten Unterschriften versehen, so daß zu den Sorgen um Rationalisierung und Utilisierung noch die Mühe der Schiedssprüche kam. Außerdem stellte sich rein zufällig heraus, daß die Troika den Plan für das vergangene Jahr nur zu zweiundsechzig und den Plan für das vergangene Halbjahr nur zu dreizehn Prozent erfüllt hatte. Erst jetzt schien der Troika aufzugehen, wie tief sie im Zusammenhang mit ihrer gestiegenen Autorität in der Patsche saß. Die
Troika hatte nur zwei erkennbare Auswege. Der erste bestand darin, die Mitgliederzahl um zehn zu erhöhen. Das war jedoch nur ein scheinbarer Ausweg. Selbst Chlebowwodow sah ein, daß eine Vergrößerung des ohnehin schon aufgeblähten Apparats wegen der unverhältnismäßig großen quantitativen Zunahme des Palavers und der Reibereien nur zu einer längeren Bearbeitungszeit der Vorgänge führen würde. Was den zweiten Ausweg angeht, so trat damit das Nervenbündel des Gremiums auf den Plan: Professor Wybegallo. Er schlug vor, einen Teil der Vorgänge einem aus fünf Personen bestehenden Duumvirat zu übergeben. Hätte Wybegallo doch lieber still auf seinem Platz gesessen und seinen Bart gekrault, hätte er sich lieber nicht mausig macht, sich lieber nicht kleinmütig gezeigt und nicht versucht, die gestiegene Autorität der Troika zu untergraben. Als sie von ihm abließen, machte er sich schon nicht mehr mausig. Er schluckte nur noch und murmelte unentwegt den Satz vor sich hin: »Mon eher, si vous conduisez comme bei sich zu Hause, vous finirez tres mal1.« Und dann erreichte die Krise ihren Höhepunkt, worauf meine Magister nur gewartet zu haben schienen. Roman Oira-Oira stand auf und teilte, den Blick bescheiden gesenkt, mit, daß die hier anwesenden Vertreter übereingekommen seien, der verehrten Troika eine ihren Kräften angemessene Hilfe anzubieten, nämlich die Schiedssprüche für die Vorgänge zu tiber1 Mein Lieber, wenn Sie sich hier so benehmen wie bei sich zu Hause, nimmt's mit Ihnen ein schlimmes Ende. nehmen, für die mehr als zehn Anträge vorlägen. Dieser aus ehrlichem Herzen kommende altruistische Vorschlag wurde mit Bajonetten und Kartätschen abgewehrt. Am ungeniertesten protestierte Chlebowwodow. Von eurer Sorte haben wir genug, brüllte er. Sieh mal an, auf die Schiedssprüche haben sie's abgesehen. Ihr seid noch zu grün hinter den Ohren, um mit Akademikern umzuspringen! Als unsere Autorität noch nicht so gestiegen war, haben sie im Winkel gehockt und sich ins Fäustchen gelacht, jetzt aber wollen sie sich ins gemachte Bett legen und die fettesten Bissen herauspicken. Auf die Schiedssprüche haben sie's abgesehen, verstehst du, die
Akademiker sollen vor ihnen Männchen machen! Nein, Bruderherz, daraus wird nichts. Vor euch werden sie nicht Männchen machen! »Chrrrm«, stieß Lawr Fedotowitsch im Namen aller hervor. »Gibt es andere Vorschläge?« Farfurkis empfahl, die Reihenfolge der Vorgänge je nach Anzahl der eingegangenen Anträge festzulegen. Das Volk könne sich mit einer zeitlichen Reihenfolge nicht mehr abfinden. Es wäre einfach lächerlich, einen Vorgang, für den nur ein Antrag vorliege, eher zu bearbeiten als einen, für den vierzig Anträge vorlägen. Offenbar verlief alles nach Plan, denn die Magister heulten einmütig auf. Und meine Wanze? jammerte Edik. Oh, mein Krake Spiridon, stöhnte Roman. Es ist keine Art, alte Kunden so vor den Kopf zu stoßen, knurrte Vitjka finster. So was ist gemein, lamentierte ich. Wie lange haben wir gewartet und gehofft, wofür haben wir gekämpft? Farfurkis klärte uns sofort auf. Er erinnerte erneut daran, daß die Zeiten willkürlicher Entscheidungen ein für allemal vorbei seien. Früher könne ein administratives Organ in Einzelfällen noch auf emotionaler Basis, ohne Berücksichtigung der realen Forderungen des Volkes, gearbeitet haben. Heute dagegen, in Zusammenhang mit der Einführung der Soziologie, seien wir jederzeit imstande, objektiv zu sagen, was wichtig sei und was nicht. Sie sind doch intelligente Menschen! Wenn für einen Vorgang vierzig Anträge vorliegen, muß er für die Wissenschaft doch wichtig, notwendig und besonders zukunftsträchtig sein. Ich hab mich schon immer gefragt, wozu Sie, Kollege Oira-Oira, einen wilden Kraken brauchen. Natürlich hab ich mich nicht eingemischt, ich bin ja kein Spezialist, aber das a priori vorhandene Gefühl, daß dieser Krake für die große Wissenschaft völlig wertlos ist, hat mich nie verlassen. Und jetzt sehe ich, daß ich recht hatte. Von all unseren zahllosen Wissenschaftlern sind Sie der einzige, der sich für diesen Kraken interessiert. Andererseits ist beispielsweise der Geist Napoleons, wie die Zahl der eingegangenen Anträge beweist, für die Wissenschaft wichtig und notwendig. Roman breitete ratlos die Arme aus, ließ den Kopf schuldbewußt auf die Brust sinken und ging in sich. Jeder von uns ging, so
gut er konnte, in sich, aber viel hatte die Troika außer der moralischen Genugtuung nicht davon. Farfurkis sortierte die Vorgänge der Reihe nach, aber an die fünfzig Vorgänge, für die nur ein einziger Antrag vorlag, hatte die Troika trotz allem am Halse, was die Planerfüllung gefährdete und beim Volk Unwillen erregen konnte. Da ging Wybegallo plötzlich ein Licht auf, er ließ von seiner französischen Beschwörungsformel ab und sagte, tjä... Natürlich seien sie noch zu grün hinter den Ohren, um an Schiedssprüche und ähnlich wichtige Dinge herangelassen zu werden, aber es müsse doch auch andere Möglichkeiten geben, sie zu befähigen, sich mit solchem Kleinkram wie Krokodilen, Wanzen und allen möglichen Außerirdischen zu befassen. Ergo: Sollen sie sich erproben und Erfahrungen sammeln. Stille trat ein. Wir saßen reglos da. Die Troika wechselte nachdenkliche Blicke. Farfurkis blätterte in seinem Notizbuch, und in Chlebowwodows Augen glomm — gleich einem schwachen Aufblinken des Verstandes - Hoffnung auf. Lawr Fedotowitsch harrte geduldig der Vorschläge, die da kommen würden. Minute um Minute verstrich. Dann rauschte etwas. Die Tür des Panzerschranks knarrte, eine Schreibmaschine ratterte kurz, es roch nach Aktenmief, und eine seltsam fleischlose Stimme flüsterte: »Man könnte eine Unterkommission...« »Chrrrm?« fragte Lawr Fedotowitsch. »Ja, ja!« Farfurkis sprang auf. »Richtig!« jubelte Chlebowwodow. Lawr Fedotowitsch erhob sich. »Ich spreche im Namen aller«, verkündete er, »wenn ich vorschlage, aus den hier anwesenden Vertretern eine vierköpfige Unterkommission für den Kleinkram zu bilden, die das Recht erhält, den Kleinkram provisorisch zu rationalisieren und zu utilisieren. Die Unterkommission untersteht unmittelbar dem Vorsitzenden der Troika. Zum Kurator der Unterkommission wird der Kollege Farfurkis ernannt und zum Vorsitzenden der Unterkommission der Kollege Priwalow als der erprobteste und aktivste unter den Vertretern. Ich empfehle dem Kollegen Priwalow, mir am Montag, Punkt neun, den Arbeitsplan der Unterkommission vorzulegen. Gibt es andere Vorschläge? Gibt es Fragen?«
Ich hatte Fragen, ich hatte eine Unmenge Fragen und Dutzende von Vorschlägen. Aber Edik und Roman lähmten mich mit der mächtigen Beschwörungsformel Pinskis des Jüngeren, und der ungehobelte Vitjka verschloß mir mit dem Eisman-Meshowschen Siegel des Schweigens kurzerhand den Mund. »Ich spreche im Namen aller«, fuhr Lawr Fedotowitsch fort, »wenn ich dem Kollegen Wybegallo empfehle, innerhalb von drei Tagen ein Verzeichnis der neu eingegangenen Anträge aufzustellen. Verantwortlich: Kollege Chlebowwodow. Dem Kommandanten der Kolonie, Kollegen Subo, empfehle ich, entsprechend den eingegangenen Anträgen neue Vorgänge anzulegen. Verantwortlich: Kollege... tjä... Oberst. Dem Kollegen Farfurkis wird empfohlen, die Vorgänge der Reihe nach zu ordnen und sich schon mal Gedanken zu den Schiedssprüchen zu machen. Gibt es andere Vorschläge? Nein. Damit erkläre ich die gemeinsame Sitzung der Troika und der Unterkommission für Kleinkram als beendet. Ich empfehle der Unterkommission, sich zu entfernen und an die Ausführung ihrer Aufgaben zu gehen.« Da ich unentwegt versuchte, mich durch die Disrael-Bukowsche Gegenbeschwörung vom Siegel des Schweigens zu befreien, hielten die Magister es für angebracht, mich in drei Fliedersträuße zu verwandeln und in unser Hotelzimmer zu transgredieren. Dort erhielt ich meine natürliche Gestalt und die Fähigkeit, mich zu bewegen und zu sprechen, zurück. Und ich sprach. Als mir die Luft ausging, sagte Vitjka: »Du bist vielleicht ein Bauer. Und ich hab dich immer für still und wohlerzogen gehalten.« »Peinlich, peinlich«, bestätigte Roman, »noch dazu vor Gästen.« Erst jetzt fiel mir auf, daß außer uns noch zwei junge wissenschaftliche Mitarbeiter im Zimmer waren. »Na, hat's geklappt?« fragte der eine von ihnen gespannt. »Und ob!« sagte Roman. »Gestatten Sie, Ihnen den Vorsitzenden der Unterkommission für Kleinkram, den Kollegen Alexander Iwanowitsch Priwalow, vorzustellen? Und das hier sind die Vertreter, die auf solch Kroppzeug wie Krokodile, Wanzen und so weiter scharf sind. Was halten Sie davon, die Sitzung zu eröffnen,
Alexander Iwanowitsch? Warum sollen wir die kostbare Zeit des Volkes vergeuden?« Und ich begriff, daß es wirklich nicht anging, die kostbare Zeit des Volkes zu vergeuden. Ich kletterte auf Vitjkas Bett, stemmte die Hände gegen die Knie und musterte die Versammelten mit starrem Blick. »Chrrrm«, sagte ich. »Ich spreche im Namen aller, wenn ich vorschlage, den Vorgang Nummer siebenundneunzig, genannt Black box, zu rationalisieren und dem hier anwesenden Priwalow, A. I., auszuhändigen. Gibt es andere Vorschläge? Nein. Angenommen. Das Protokoll!« Und schon lag das Protokoll vor mir. »Der nächste«, verkündete ich. »Kollege Kornejew, tragen Sie vor!« Unermüdlich gegen den Bürokratismus und die Unterschätzung der eigenen Kräfte ankämpfend, rationalisierten und verteilten wir innerhalb von fünf Minuten die Wanze Quasselstrippe, den flüssigen Außerirdischen und den Kraken Spiridon. Dann versetzten wir in dem Bestreben, eine gesunde Kritik einzuführen und den Brandschutz zu verstärken, den Schneemenschen Fedja als Laboranten in Edik Amperjans Abteilung. Glühender Haß auf Besserwisserei und leidenschaftliche Liebe zur Arbeitsdisziplin veranlaß- ten uns, den Pterodaktylus Kusma unter Wolodja Potschkins Schutz zu stellen. Dann verfaßten wir einfach so, ohne Kampf, aus reinem Altruismus, einen Brief an das Präsidium der Akademie der Wissenschaften, in dem wir um Unterstützung für den Außerirdischen Konstantinow baten. »Und jetzt«, sagte ich schadenfroh, »nieder mit dem Mangel an persönlicher Verantwortung! Es lebe das mustergültige Berichtswesen! Jetzt nehmen wir uns den guten alten Edelweiß vor.« »Zu spät«, sagte Roman. »Tut mir leid für dich, Sascha, aber Edelweiß ist dir durch die Lappen gegangen. Für ihn sind insgesamt zweihundertundein Antrag eingegangen, so daß der Unglücksrabe Christobal Junta zufallen wird.« »Wieso?« fragte ich. »Sind die Anträge etwa echt?« »Natürlich«, antwortete Edik erstaunt. »Wofür hältst du uns?«
»Wir sind doch keine Kriminellen«, sagte Vitjka. »Wir sind Werktätige. Wenn du's genau wissen willst, wir haben in dieser einen Nacht die ganze wissenschaftliche Öffentlichkeit mobilisiert. Hast du schon mal von der Solidarität der wissenschaftlichen Öf fentlichkeit gehört? Besonders wenn's um Kollegen Wunjukow geht?« »Oh!« sagte ich beeindruckt. »Das ist genial.« Die Gäste hüstelten ungeduldig. »Ja, natürlich«, sagte Roman. »Wir haben nicht viel Zeit.« »Nicht viel?« fragte ich. »Da irrst du dich. Wir haben überhaupt keine Zeit! Ich hab selbst genug zu tun und nicht die Absicht, hier mein Leben lang den Vorsitzenden zu spielen. Darum erkläre ich wiederum im Namen aller die erste und letzte Sitzung der Unterkommission in ihrer jetzigen Zusammensetzung für beendet. Ich empfehle, die beiden Typen auf dem Fensterbrett in die Untersuchungskommission zu kooptieren und das Gremium in seiner bisherigen Zusammensetzung in einen längeren schöpferischen Urlaub zu schicken.« »Eine richtige Entscheidung!« sagte einer der beiden Typen und rieb sich voller Vorfreude die Hände. »Eins aber müssen Sie beachten«, sagte ich. »Bis die nächsten Antragsteller eintreffen, die von Ihnen kooptiert werden können, werden Sie hierbleiben, mit dem Kollegen Wunjukow verkehren und auf den gemeinsamen Sitzungen der Troika und der Unterkommission Erfahrungen sammeln.« »Geht klar«, meinte der andere der beiden Typen zustimmend. »Und vernachlässigen Sie mir nicht das Berichtswesen«, erinnerte ich. »Das Berichtswesen ist das A und O.« Ich sammelte die Protokolle ein und stand auf. »Na schön. Wer will, mag bis Montag warten. Ich, der Vorsitzende, gehe jetzt zu Wunjukow und leiere ihm den GROSSEN RUNDEN STEMPEL aus den Rippen.« ■ .