Weit draußen, nahe dem Rande der Galaxis, liegt der Sternhaufen Alastor, ein Wirbel von dreißigtausend lebendigen Sonne...
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Weit draußen, nahe dem Rande der Galaxis, liegt der Sternhaufen Alastor, ein Wirbel von dreißigtausend lebendigen Sonnen. Er ist von unregelmäßiger Form und hat einen Durchmesser von zwanzig bis dreißig Lichtjahren. Die Umgebung ist dunkel, der Weltraum leer bis auf wenige Einsiedlersterne. Von außen sieht Alastor wie ein funkelndes Lichtergewebe aus, mit breiten Sternenbändern, flammenden Zusammenballungen, glitzernden Knoten. Staubwolken ziehen sich wie Schatten darüber, und die Sterne darin glimmen rötlich oder stumpfgelb wie rauchiger Bernstein. Unsichtbar schweben dunkle Sterne durch Millionen von Bruchstücken aus Eisen, Schlacke und Eis: das sind die »Starments«, tote Sonnen, die den berüchtigten »Starmentern« als Schlupfwinkel dienen. Verstreut über den Sternhaufen finden sich etwa dreitausend besiedelte Planeten mit einer menschlichen Bevölkerung von insgesamt vielleicht fünf Billionen. Die Welten sind vielfältig, ihre Bewohner sind es ebenso, obwohl sie eine gemeinsame Sprache haben und alle sich der Oberherrschaft des Connat in Lusz auf der Welt Numenes beugen. Auf Trullion, einer dieser exotischen Welten, einem Planeten, der fast ganz von Wasser bedeckt und nur in Äquatornähe von einem schmalen Kontinent umspannt und zahllosen Inseln bekränzt ist, lebt Glinnes Hulden mit seiner Mutter und seinen Brüdern. Er verteidigt die kleine fruchtbare Insel, die er sein eigen nennt, gegen Neider, Sektierer und Gesindel, und er verteidigt sein Leben und das seiner Angehörigen und Freunde, wenn nachts die halbintelligenten Merlinge aus dem Wasser steigen, um unachtsame Menschen in die dunklen Tiefen des Meeres zu ziehen.
Vom gleichen Autor erschienen außerdem als Heyne-Taschenbücher Start ins Unendliche · Band 3111 Jäger im Weltall · Band 3139 Die Mordmaschine · Band 3141 Der Dämonenprinz · Band 3143 Emphyrio · Band 3261 Der Mann ohne Gesicht · Band 3448 Der Kampf um Durdane · Band 3463 Die Asutra · Band 3480
JACK VANCE
TRULLION: ALASTOR 2262 Fantasy-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 3563 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe TRULLION: ALASTOR 2262 Deutsche Übersetzung von Yoma Cap
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1973 by Jack Vance Copyright © 1977 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1977 Umschlag: Johann Peter Reuter, Gummersbach-Strombach Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 3-453-30457-8
Weit draußen, nahe dem Rande der Galaxis, liegt der Sternhaufen Alastor, ein Wirbel von dreißigtausend lebendigen Sonnen. Er ist von unregelmäßiger Form und hat einen Durchmesser von zwanzig bis dreißig Lichtjahren. Die Umgebung ist dunkel, der Weltraum leer bis auf wenige Einsiedlersterne. Von außen sieht Alastor wie ein funkelndes Lichtergewebe aus, mit breiten Sternenbändern, flammenden Zusammenballungen, glitzernden Knoten. Staubwolken ziehen sich wie Schatten darüber, und die Sterne darin glimmen rötlich oder stumpfgelb wie rauchiger Bernstein. Unsichtbar schweben dunkle Sterne durch Millionen von Bruchstücken aus Eisen, Schlacke und Eis: das sind die ›Starments‹, tote Sonnen. Verstreut über den Sternhaufen finden sich etwa dreitausend besiedelte Planeten mit einer menschlichen Bevölkerung von insgesamt vielleicht fünf Billionen. Die Welten sind vielfältig, ihre Bewohner sind es ebenso, obwohl sie eine gemeinsame Sprache haben und alle sich der Oberherrschaft des Connat in Lusz auf der Welt Numenes beugen. Der augenblickliche Connat heißt Oman Ursht, der sechzehnte in der Linie der Iditen, und ist ein Mann von alltäglichem Aussehen und unauffälligem Auftreten. Auf Porträts und bei offiziellen Anlässen trägt er eine strenge schwarze Uniform mit schwerem Helm, um den Eindruck unnachgiebiger Autorität zu erwecken. Nur so kennen ihn die Menschen von Alastor. Privat ist Oman Ursht ein ruhiger und besonnener Mann, der lieber etwas zu wenig als zu viel regiert. Er ist es gewohnt, jede seiner Handlungen genau zu überdenken, denn er weiß recht gut, daß alles, was er tut, jede Geste, jedes Wort, jede unwillkürliche
Betonung, eine Lawine unvorhersehbarer Folgen auslösen könnte. Aus diesem Grund bemüht er sich, streng, nüchtern und sachlich zu wirken. Dem flüchtigen Beobachter erscheint der AlastorSternhaufen als eine friedliche, ja beschauliche Ansammlung von Welten. Der Connat weiß, daß es anders ist. Er weiß, daß überall, wo Menschen nach Vorteilen streben, nur ein labiles Gleichgewicht herrschen kann; wird kein Ausgleich für diese Kräfte geschaffen, entstehen Spannungen im sozialen Gewebe, so daß es manchmal zerreißt. Der Connat sieht seine Funktion darin, solche sozialen Spannungen zu erkennen und zu beheben. Manchmal verbessert er die Zustände, manchmal setzt er Ablenkungstaktiken ein. Wird eine harte Vorgangsweise unvermeidlich, so schickt er seine Streitmacht aus, den Whelm, der Polizei und Militär in einem ist. Oman Ursht scheut davor zurück, einem Insekt etwas zuleide zu tun; der Connat kann aber auch ohne Gewissensbisse den Untergang einer Million Menschen befehlen. In vielen Fällen allerdings enthält er sich jeder Einmischung, da er der Ansicht ist, jeder Zustand schaffe selbst einen Gegen-Zustand, und er danach trachtet, nicht einen dritten, komplizierenden Faktor herbeizuführen. Im Zweifel tue – gar nichts: eine der Lieblingsmaximen des Connat. Nach alter Tradition durchwandert er inkognito die Welten von Alastor. Hin und wieder, etwa um einem Unrecht abzuhelfen, gibt er sich als mächtiger Beamter zu erkennen; oft belohnt er Güte und Selbstlosigkeit. Immer wieder fasziniert ihn das Alltagsleben seiner Untertanen aufs neue, und Gespräche wie die folgenden hört er sich stets interessiert an:
ALTER MANN (zu einem trägen Burschen): Wenn jeder hätte, was er sich wünscht, wer würde dann noch arbeiten? Niemand. BURSCHE: Ich nicht, darauf kannst du dich verlassen. ALTER MANN: Und du wärst der erste, der empört aufschreit, denn nur die Arbeit hält alles in Ordnung. Aber jetzt mach weiter; spuck in die Hände. Ich kann Trägheit nicht leiden. BURSCHE (knurrend): Wenn ich der Connat wäre, wurde ich dafür sorgen, daß jedem seine Wünsche erfüllt werden. Keine Schufterei mehr! Freier Eintritt bei den Hussade-Spielen! Eine tolle Raumjacht! Jeden Tag neue Kleider! Diener, die einem das herrlichste Essen servieren! ALTER MANN: Der Connat müßte ein Zauberer sein, um dich und die Diener zufriedenzustellen. Die würden nämlich nichts lieber tun, als dir zu geben, was du verdienst – täglich mindestens einen Arschtritt. Und jetzt geh wieder an die Arbeit. Oder: JUNGER MANN: Geh niemals in die Nähe von Lusz, ich flehe dich an! Der Connat würde dich für sich beanspruchen! MÄDCHEN (schelmisch): Was würdest du dann tun? JUNGER MANN: Ich würde ein Rebell! Ich würde der glorreichste Starmenter1 sein, der je die Himmel unsicher gemacht hat! Und endlich würde ich die Macht von Alastor erringen, 1
Siehe Glossar am Schluß des Bandes.
Whelm, Connat und alles andere überwinden und dich zurückerobern. MÄDCHEN: Du bist mutig, aber der Connat würde doch nie jemand so Gewöhnlichen wie mich erwählen; dienen ihm in Lusz doch schon die schönsten Frauen von Alastor. JUNGER MANN: Welch herrliches Leben er führen muß! Connat zu sein – das wäre mein Traum! MÄDCHEN stößt einen ärgerlichen Seufzer aus und wird unnahbar. JUNGER MANN ist verwirrt. Oman Ursht entfernt sich. Lusz, der Palast des Connat, ist wirklich ein bemerkenswertes Bauwerk. Auf fünf gewaltigen Säulen ruhend, erhebt es sich dreitausend Meter über das Meer. Zahllose Besucher durchstreifen die unteren Regionen; von allen Welten Alastors kommen sie und von noch ferneren Gegenden – aus den Dunkelzonen, dem Primarchat, dem Erdischen Sektor, dem Rubrimar-Haufen und aus den vielen anderen Teilen der Galaxis, die der Mensch für sich erobert und erschlossen hat. Über den öffentlichen Räumen und Wandelgängen befinden sich Regierungsbüros, Zeremoniensäle, und darüber die Privatgemächer des Connat. Sie berühren die Wolken und ragen oftmals sogar darüber hinaus. Wenn das Sonnenlicht auf seinen schimmernden Mauern spielt, ist Lusz, der Palast des Connat, ein über alle Maßen prächtiger Anblick und wird oft zu den erhabensten Werken der Menschheit gezählt.
KAPITEL 1 Raum 2262 im Ring der Welten gehört Trullion, dem einzigen Planeten einer kleinen, weißen Sonne, die nur ein Lichtfunken in einer breiten Sternspirale am Rande des Haufens ist. Trullion ist eine kleine Welt, die zum Großteil aus Wasser besteht und nur einen schmalen Kontinent, Merlank2, in Äquatornähe besitzt. Dicke Wolkenbänke treiben vom Meer herein und fangen sich in den Zentralbergen; Hunderte von Flüssen bringen das Wasser durch breite Täler ins Meer zurück, fruchtbare Täler, in denen Obst und Getreide so reichlich gedeihen, daß sie kaum Marktwert haben. Die ersten Siedler auf Trullion brachten Arbeitseifer und Sparsamkeit mit, Lebensgewohnheiten, die ihnen in ihrer früheren, harten Umwelt zustatten gekommen waren; das erste Zeitalter der TrillGeschichte wies Dutzende Kriege auf, tausende Abenteuer, das Entstehen eines Erbadels und ein Nachlassen der anfänglichen Betriebsamkeit. Die Trill fragten sich – wozu arbeiten, wozu Waffen tragen und sich plagen, wenn ein Leben voller Feste, mit Singen, Feiern und Muße ebenso möglich ist? Nach drei Generationen bestand das alte Trullion nur mehr in der Erinnerung. Die meisten Trill arbeiteten jetzt nur noch, soweit die Umstände sie dazu zwangen: um ein Fest vorzubereiten, ihrer Vorliebe für Hussade zu frönen, um einen Pulsor für ihr Boot zu verdienen oder einen Topf für die Küche oder ein Stück Stoff für 2
Siehe Glossar
den Paray, das leichte Hüfttuch, das von Männern wie Frauen getragen wurde. Wenn es sich ergab, arbeiteten sie auch auf den fruchtbaren Feldern, fischten im Meer, angelten in den Flüssen, ernteten wilde Früchte – und wenn einem Trill danach war, schürfte er wohl auch in den Bergen nach Smaragden und Opalen oder sammelte Cauch3. Er arbeitete vielleicht eine Stunde am Tag, manchmal auch zwei oder drei; viel mehr Zeit verbrachte der durchschnittliche Trill aber damit, auf der Veranda seines gemütlich verwahrlosten Hauses zu dösen. Er hegte eine Abneigung gegen die meisten technischen Einrichtungen, weil er sie kalt, verwirrend und – wichtiger – teuer fand, wiewohl er sich – mit einem gewissen Mißtrauen zwar – des Telefons bediente, um seine gesellschaftlichen Unternehmungen praktischer ordnen zu können; einen Pulsormotor für sein Boot hielt er dagegen für selbstverständlich. Wie in den meisten ländlichen Kulturen kannte auch jeder Trill seinen genauen Platz in der Gesellschaftsordnung. Ganz oben, fast als Klasse für sich, war die Aristokratie; die unterste Schicht bildeten die nomadischen Trevanyi eine ebenso in sich geschlossene Klasse. Die meisten Trill lehnten neuartige oder exotische Ideen ab. Obwohl sie üblicherweise ruhig und friedfertig waren, konnten sie bei entsprechendem Anlaß in jähzorniges Wüten verfallen, und auch sonst zeigte ihre Kultur einige fast barbarische Züge – insbesondere das makabre Ritual der Prutanschyr. Die Regierung von Trullion beschränkte sich auf wesentliche Verwaltungseinrichtungen, für die die 3
Siehe Glossar
meisten Trill herzlich wenig Interesse aufbrachten. Merlank war in zwanzig Präfekturen aufgeteilt, die ihre eigenen Behörden hatten und von einer kleinen Zahl Beamten verwaltet wurden, die eine Stufe höher standen als die gewöhnlichen Trill, aber immer noch beträchtlich tiefer als die Aristokraten. Der Handel mit anderen Planeten des Sternhaufens war unerheblich, und auf ganz Trullion gab es auch nur vier Raumhäfen: Port Maheul an der Südküste, und Vayamenda im Osten. Hundert Meilen östlich von Port Maheul lag die Markstadt Welgen, berühmt für ihr prächtiges Hussade-Stadion. Hinter Welgen begannen die Fens, ein Landstrich von außergewöhnlicher Schönheit. Tausende Wasserstraßen teilten das Festland in unzählige Inseln und Inselchen, einige davon so klein, daß gerade die Hütte eines Fischers darauf Platz fand, und ein Baum, an dem er sein Boot festmachen konnte. Wohin man auch kam, ein prächtiger Ausblick nach dem anderen erfreute das Auge: graugrüne Menas, silbrig-rote Pomanderbäume, schwarze Jerdinen säumten die Wasserwege und verliehen jeder Insel ihre charakteristische Silhouette. Draußen auf ihren verfallenen Veranden saßen die Landleute, Krüge mit selbstgekeltertem Wein bei der Hand. Manche musizierten – mit Ziehharmonikas, kleinen, rundbäuchigen Gitarren oder Maultrommeln, deren munteres Trillern und Pfeifen weit übers Wasser schallte. Das Licht in den Fens war niemals grell, sondern immer weich und gedämpft, und es schimmerte in zarten, kaum wahrnehmbaren Farbtönen, als spiegelte es das Glitzern des Wasser wider. Den Morgen über verhüllte sanfter Nebel die Ferne; die Sonnenuntergänge
waren zauberische Schauspiele in Apfelgrün und Lavendel. Die verschiedensten Boote glitten über die Wasserwege, manchmal kam eine Segeljacht eines Aristokraten vorbei, oder die Fähre, die Welgen mit den Dörfern der Fens verband. Mitten in den Fens, ein paar Meilen vom Dorf Saurkash entfernt, lag die Insel Rabendary, auf der Jut Hulden mit seiner Frau Marucha und seinen drei Söhnen lebte. Rabendary war vielleicht vierzig Hektar groß, wovon gut ein Hektar waldbestanden war, mit Menas, Schwarzholzbäumen, Semprissimas, Kerzennußbäumen. Nach Süden hin breitete sich die weite Ambal-Bucht aus. Das Farwan-Gewässer säumte Rabendary im Westen, die Gilweg-Straße im Osten, und entlang seiner Nordküste strömte der breite, ruhige Saur-Fluß. Auf der Westspitze der Insel stand das etwas verfallene alte Haus der Huldens zwischen zwei mächtigen Mimosenbäumen. An den Verandapfosten rankte sich Rosalia-Rebe hoch und hing über das Dach herunter, ein duftiger schattiger Vorhang für alle, die in den alten Flechtstühlen ausruhten. Nach Süden hin hatte man einen wundervollen Ausblick über die Ambal-Bucht und die Insel Ambal, ein Idyll von über hundert Ar, mit einer Anzahl herrlicher Pomanderbäume, deren Laubwerk ein rotsilbernes Muster vor dem Hintergrund der mattgrünen Menas bildete, und drei riesige Fanzaneelbäumen, die ihre großen, zottigen Blattwedel hoch in die Luft reckten. Durch die Bäume schimmerte das weiße Mauerwerk des Landhauses, in dem Lord Ambal vor langer Zeit seine diversen Geliebten untergebracht hatte. Der Besitz gehörte jetzt Jut Hulden, aber er hatte nicht die geringste Absicht, in das Schlößchen
zu übersiedeln; seine Freunde hätten ihn für verrückt gehalten. In seiner Jugend hatte Jut Hulden mit den Saurkash-Schlangen Hussade gespielt. Marucha war die Sheirl4 der Welgen-Wölfe gewesen; so hatten sie sich kennengelernt, hatten geheiratet und drei Söhne in die Welt gesetzt, Shira und die Zwillinge Glinnes und Glay, und eine Tochter, Sharue, die von den Merlingen5 geraubt worden war.
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Siehe Glossar Siehe Glossar
KAPITEL 2 Glinnes Hulden kam brüllend und strampelnd zur Welt; Glay folgte ihm eine Stunde später in mißtrauischem Schweigen. Vom ersten Tag ihres Lebens an unterschieden sich die beiden – in Aussehen, Temperament, in allen Lebensumständen. Glinnes war, wie Jut und Shira, freundlich, vertrauensvoll und heiter; er wuchs zu einem hübschen Burschen mit gesunder Haut heran, mit sandfarbenen Haaren und einem breiten, lebensfrohen Mund. Glinnes genoß alle Vergnügungen der Fens voll und ganz: Feste, Liebesabenteuer, die Sternenschau6, Segeln, Hussade, nächtliche Merlingjagden, einfaches Nichtstun. Glay hatte anfangs nicht die robuste Gesundheit seines Bruders; die ersten sechs Lebensjahre war er kränklich, unruhig und still. Dann besserte sich sein Zustand, und bald überholte er Glinnes im Wachsen und blieb auch weiterhin der größere von beiden. Sein Haar war schwarz, seine Züge angespannt, scharf geschnitten, seine Augen blickten eindringlich. Glinnes akzeptierte Ereignisse und Ideen mit heiterer Unvoreingenommenheit, Glay dagegen blieb abweisend und in sich gekehrt. Glinnes zeigte eine natürliche Begabung für Hussade; Glay weigerte sich, auch nur ein Spielfeld zu betreten. Obwohl Jut ein gerechter Vater war, fiel es ihm schwer, seine Vorliebe für Glinnes nicht zu zeigen. Marucha, die selbst groß und dunkelhaarig war und zu romantischen Träumereien neigte, bevorzugte Glay, in dem sie künstlerische 6
Siehe Glossar
Anlagen zu entdecken glaubte. Sie versuchte, Glay für Musik zu interessieren, und erklärte ihm, wie er durch Musik seine Gefühle ausdrücken und anderen verständlich machen könne. Glay konnte sich jedoch nicht dafür begeistern und brachte auf ihrer Gitarre nur einige gleichgültige Mißtöne hervor. Glay war auch sich selbst ein Rätsel. Selbstanalyse führte zu nichts; er fand sich ebenso unverständlich wie der Rest der Familie. In seiner Jugend brachten ihm sein ernsthaftes Benehmen und seine recht hochmütige Verschlossenheit den Spitznamen ›Lord Glay‹ ein; dazu paßte wohl auch, daß Glay das einzige Mitglied der Familie war, das in das Herrschaftshaus auf der Insel Ambal übersiedeln wollte. Selbst Marucha hatte den Gedanken als närrischen, wenn auch amüsanten Tagtraum fallenlassen. Glays einziger Vertrauter war Akadie der Mentor, der in einem bemerkenswerten Haus auf der Sarpassante-Insel lebte, ein paar Meilen nördlich von Rabendary. Akadie, ein dünner, langarmiger Mann von seltsam zusammengewürfeltem Aussehen – er hatte eine große Nase, schüttere, tabakbraune Locken, glasige Augen und einen schmalen Mund, um den immer ein Lächeln zu zucken schien – war wie Glay in gewisser Weise ein Außenseiter. Im Gegensatz zu Glay aber schlug er Kapital aus seinen Eigenschaften und zählte Aristokraten zu seinen Klienten. Akadies Beruf umfaßte die Aufgaben eines Epigrammverfassers, Dichters, Kalligraphen, Weisen, Schiedsrichter in Geschmacksfragen, professionellen Gastes (es galt als höchster Luxus, Akadie zur Zierde einer gesellschaftlichen Veranstaltung anzuheuern), sowie eines Heiratsvermittlers, Rechtsberaters, Tra-
ditionsbewahrers und Verbreiters von Skandalgeschichten. Akadies ungewöhnliches Gesicht, seine sanfte Stimme und geschliffene Sprache verliehen dem Tratsch nur zusätzliche Würze. Jut mißbrauchte Akadie und wollte nichts mit ihm zu tun haben, zum Bedauern von Marucha, die nie ihre gesellschaftlichen Ambitionen aufgegeben hatte und im Innersten ihres Herzens überzeugt war, unter ihrem Stand geheiratet zu haben. Hussade-Sheirls heirateten schließlich oft Lords! Akadie hatte auch andere Welten gesehen. Abends, während einer Sternenschau, pflegte er die Sterne zu suchen, die er besucht hatte, und beschrieb dann die Pracht ihrer Welten und die sonderbaren Bräuche ihrer Bewohner. Jut Hulden hatte für Reisen nichts übrig; sein einziges Interesse an anderen Welten beschränkte sich auf die Güte ihrer Hussade-Mannschaften und die Heimat der Alastor-Champions. Als Glinnes sechzehn war, sah er ein StarmenterSchiff. Es stieß über der Ambal-Bucht aus dem Himmel herunter und schoß mit unglaublicher Geschwindigkeit in Richtung Welgen. Das Radio brachte eine Live-Übertragung des Überfalls. Die Starmenter landeten auf dem Hauptplatz und stürmten aus ihrem Schiff, um Banken, Edelsteinlager und Cauch-Depots auszurauben, wobei Cauch das wertvollste aller Produkte von Trullion war. Sie nahmen auch eine Anzahl wichtiger Persönlichkeiten gefangen, um sie gegen Lösegeld einzutauschen. Der Überfall war gut organisiert und rasch vorbei; binnen zehn Minuten hatten die Starmenter Beute und Gefangene in ihr Schiff gebracht. Zu ihrem Pech lief ge-
rade ein Kreuzer des Whelm Port Maheul an, als über Funk Alarm gegeben wurde. Das Kriegsschiff brauchte nur den Kurs zu ändern und statt dessen in Welgen zu landen. Glinnes rannte auf die Veranda hinaus, um das Whelm-Schiff niedergehen zu sehen – ein mächtiges, in Beige, Scharlach und Schwarz gehaltenes Raumschiff. Wie ein Adler schoß es auf Welgen herunter und verschwand aus Glinnes' Sicht. Der Radiosprecher rief aufgeregt: »... sie steigen auf, aber da ist schon das Whelm-Schiff! Bei den Neun Glorien, das Whelm-Schiff ist da! Die Starmenter können nicht in den Whisk* übergehen; sie würden durch die Reibung verglühen! Sie müssen kämpfen!« Der Reporter konnte seine Aufregung kaum mehr bezähmen: »Das Whelm-Schiff greift an; der Starmenter ist nicht mehr manövrierfähig! Hurrah! Er fällt auf den Platz zurück! Nein, nein! Schrecklich! Furchtbar! Auf den Markt ist das Schiff gestürzt! Hunderte von Menschen zerschmettert! Achtung! Alle Ambulanzen, alle Ärzte und Sanitäter nach Welgen! Notstand! Bis hierher höre ich die entsetzlichen Schreie... Das Starmenterschiff ist zerborsten, aber es kämpft noch... ein blauer Strahl... wieder einer... Das Whelm-Schiff feuert zurück. Jetzt rührt sich nichts mehr bei den Starmentern. Ihr Schiff ist zerstört.« Der Ansager schwieg einen Moment lang, dann übermannte ihn wieder die Aufregung. »Welch ein Anblick! Die Menschen brüllen vor Zorn; sie umringen die Starmenter, zerren sie heraus...« Er begann zu stammeln, unterbrach sich und sprach dann ruhiger weiter. »Die Gendarmen haben eingegriffen. Sie *
Interstellarantrieb
drängen die Menge zurück, und die Starmenter sind in Haft, aber sie wehren sich verzweifelt. Wie sie zappeln und um sich treten! Der Prutanschyr erwartet sie! Sie würden die Rache der Menge vorziehen...! Wie furchtbar sie der armen Stadt Welgen mitgespielt haben...« Jut und Shira arbeiteten im äußeren Obstgarten, wo sie den Apfelbäumen Edelreiser aufpfropften. Glinnes rannte hinüber, um ihnen die Neuigkeiten zu berichten. »... und zum Schluß wurden die Starmenter gefangengenommen und fortgebracht!« »Ihr Pech«, sagte Jut schroff und fuhr in seiner Arbeit fort. Für einen Trill war er ein ungewöhnlich verschlossener und schweigsamer Mann – Wesenszüge, die sich nach dem Tod Sharues durch die Merlinge noch vertieft hatten. Shira sagte: »Na, dann werden sie wohl den Prutanschyr abstauben. Vielleicht sollten wir die Nachrichten anhören.« Jut grunzte nur. »Eine Folterung ist wie die andere. Das Feuer sengt, die Räder brechen, das Seil zerrt. Manchen Leuten gefällt das. Ich unterhalte mich besser bei Hussade.« Shira blinzelte Glinnes zu. »Ein Spiel ist wie das andere. Die Stürmer springen, das Wasser spritzt, die Sheirl verliert ihr Gewand, und die Bäuche hübscher Mädels sind alle gleich.« »Hier spricht die Stimme der Erfahrung«, bemerkte Glinnes, und Shira, der berüchtigste Schürzenjäger des Distrikts, brach in Gelächter aus. Shira sah sich mit seiner Mutter Marucha tatsächlich die grausamen Hinrichtungen an, während Glinnes und Glay von Jut zu Hause behalten wurden.
Shira und Marucha kehrten mit der Abendfähre zurück. Marucha war müde und ging gleich ins Bett; Shira jedoch kam zu Jut, Glinnes und Glay auf die Veranda heraus und berichtete ihnen, was er gesehen hatte. »Dreiunddreißig hatten sie gefangen, und alle waren in Käfigen auf dem Platz zur Schau gestellt. Die ganzen Vorbereitungen mußten sie mitansehen. Eine hartgesottene Schar, das muß ich sagen – ihre Rasse konnte ich nicht feststellen. Einige mögen Echaliten gewesen sein, andere Satagonen, und ein weißhäutiger Kerl soll ein echter Blaweg gewesen sein. Arme Hunde, wenn man sich's recht überlegt. Sie waren nackt und in den Farben der Schande angemalt: Köpfe grün, ein Bein blau, das andere rot. Alle verschnitten natürlich. Ja, der Prutanschyr ist ein entsetzlicher Ort! Und dann die Musik! Süß wie Blütenduft und doch fremd und schrill, daß einem die Töne an den Nerven zerrten... Naja, jedenfalls war ein großer Kessel mit siedendem Öl vorbereitet worden, und ein kleiner Fahrkran stand dabei. Die Musik begann – acht Trevanyi mit ihren Hörnern und Fiedeln. Wie kann nur ein so ernstes Volk so liebliche Musik machen? Bis in die Knochen kalt wird einem bei diesen süßen Tönen, die Eingeweide verkrampfen sich, und man glaubt, den Geschmack von Blut im Mund zu spüren! Gendarmeriechef Filidice war anwesend, aber die Hinrichtung nahm der Oberverwalter Gerence vor. Die Starmenter wurden einer nach dem anderen auf Haken gehängt, aufgehoben und langsam in das Öl getaucht; dann wurden sie auf ein großes Gerüst gebunden. Ich weiß nicht, was entsetzlicher war, ihr Geheul oder die wunderbare, traurige Musik. Die Menschen fielen auf die Knie; manche be-
kamen Weinkrämpfe – ich weiß nicht, ob aus Furcht oder Freude. Ich weiß überhaupt nicht, was ich davon halten soll... Jedenfalls, nach ungefähr zwei Stunden waren sie endlich alle tot.« »Hmmm«, meinte Jut Hulden. »Eins zumindest ist sicher – es werden sobald nicht wieder welche kommen.« Glinnes hatte erschrocken und fasziniert zugehört. »Das ist eine furchtbare Strafe, selbst für einen Starmenter.« »Das ist es tatsächlich«, sagte Jut. »Kannst du dir den Grund dafür nicht denken?« Glinnes schluckte hart und konnte sich unter mehreren Theorien nicht entscheiden. Jut fragte: »Würdest du jetzt noch Starmenter werden wollen und ein solches Ende riskieren?« »Niemals«, erklärte Glinnes aus tiefstem Herzen. Jut wandte sich an den grübelnd dasitzenden Glay. »Und du?« »Ich hatte sowieso nie vor, zum Räuber und Mörder zu werden.« Jut lachte rauh. »Nun, wenigstens einer von euch beiden ist bekehrt worden.« Glinnes sagte: »Ich würde nicht Musik hören wollen, die zu einer Folterung gespielt wird.« »Und weshalb nicht?« erkundigte sich Shira. »Bei der Hussade, wenn die Sheirl entehrt wird, ist die Musik süß und wild. Musik gibt dem Ereignis Würze, wie Salz dem Essen.« Glay raffte sich zu der Bemerkung auf: »Akadie behauptet, daß jeder Mensch eine Katharsis braucht, selbst wenn sie die Form eines Alptraumes hat.« »Das mag sein«, sagte Jut. »Ich brauche keine Alp-
träume; ich werde zeit meines Lebens einen vor Augen haben.« Jut meinte, wie alle wußten, den Raub von Sharue. Seit damals waren seine nächtlichen Merlingsjagden fast zur Besessenheit geworden. »Also, wenn ihr zwei Burschen nicht Starmenter werden wollt, was dann?« fragte Shira. »Ich nehme an, daß ihr keinen Wert darauf legt, zu Hause zu bleiben.« »Ich bin für Hussade«, sagte Glinnes. »Am Fischen oder Cauch-Sammeln liegt mir nichts.« Er dachte an das beige-schwarz-scharlachfarbene Schiff, das sich mutig auf die Starmenter gestürzt hatte. »Oder ich trete in den Whelm ein und führe ein Abenteuerleben.« »Über den Whelm kann ich nichts sagen«, meinte Jut bedächtig, »aber wenn du dich für Hussade entscheidest, kann ich dir ein oder zwei nützliche Ratschläge geben. Lauf jeden Tag fünf Meilen, um deine Ausdauer zu stärken. Spring über die Trainingsgräben, bis du selbst mit einer Binde um die Augen sicher landen könntest. Laß die Mädchen in Ruhe, oder es werden in der Präfektur bald keine Jungfrauen mehr übrig sein, die eure Sheirl sein könnten.« »Also das riskiere ich«, sagte Glinnes. Jut spähte unter seinen schwarzen Augenbrauen hervor zu Glay hin. »Und was ist mit dir? Wirst du daheim bleiben?« Glay zuckte die Achseln. »Wenn es möglich wäre, würde ich reisen und die Welten Alastors kennenlernen.« Jut hob die buschigen Brauen. »Wie willst du reisen, wenn du kein Geld hast?« »Laut Akadie gibt es die verschiedensten Möglich-
keiten. Er hat zweiundzwanzig Welten besucht, sich von einem Raumhafen zum anderen gearbeitet.« »Hmmm. Das mag sein. Aber nimm dir nur nicht Akadie zum Vorbild. Seine Reisen haben ihm nichts eingebracht als nutzloses Wissen.« Glay überlegte kurz. »Wenn das stimmt«, sagte er, »und das muß es ja, da du es behauptest, dann hat Akadie seine Menschenkenntnis und Weisheit hier auf Trullion erworben, was ihm noch mehr anzurechnen wäre.« Jut, der eine ehrliche Niederlage nie übelnahm, schlug Glay auf die Schulter. »In dir hat er einen treuen Freund.« »Ich bin Akadie dankbar«, sagte Glay. »Er hat mir viele Dinge klargemacht.« Shira, dessen Gedanken meist lüsterne Wege gingen, stieß Glay verschmitzt in die Rippen. »Begleite Glinnes auf seinen heimlichen Ausflügen, dann brauchst du Akadies Erklärungen nicht mehr.« »Ich habe nicht von solchen Dingen gesprochen.« »Wovon denn dann?« »Wozu sollte ich das erklären? Ihr würdet mich nur verspotten, und das ist so sinnlos.« »Kein Spott!« erklärte Shira. »Wir werden dich ruhig anhören! Rede nur.« »Also gut. Es ist mir eigentlich gleichgültig, ob ihr spottet oder nicht. Lange schon empfinde ich eine Leere, spüre, daß mir irgend etwas fehlt. Ich brauche eine Last, gegen die ich meine Schulter stemmen kann; ich brauche eine Herausforderung, der ich mich stellen und die ich überwinden kann.« »Beherzte Worte«, meinte Shira zweifelnd. »Aber...«
»Aber warum sollte ich mir überhaupt die Mühe machen? Weil ich nur einmal lebe, nur einmal auf dieser Welt existiere. Ich möchte meine Spur hinterlassen, irgendwo, irgendwie. Der Gedanke läßt mich einfach nicht zur Ruhe kommen! Das Universum ist mein Widersacher; es fordert mich heraus, etwas Bemerkenswertes zu tun, so daß die Menschen sich immer an mich erinnern! Warum sollte der Name ›Glay Hulden‹ nicht so weithin bekannt werden wie ›Paro‹ und ›Slabar Velche‹7 ? Ich werde es soweit bringen; es ist das mindeste, was ich mir schuldig bin!« Jut bemerkte düster: »Dann solltest du am besten entweder ein großer Hussadespieler oder ein berühmter Starmenter werden.« »Ich habe mich vielleicht übertrieben ausgedrückt«, sagte Glay. »In Wahrheit suche ich weder Ruhm noch einen gefährlichen Ruf. Es liegt mir nichts daran, daß auch nur ein einziger Mensch mich bestaunt. Ich möchte einfach nur die Chance haben, mein Bestes zu tun.« Eine Weile herrschte Schweigen auf der Veranda. Vom Schiff drang das Summen nächtlicher Insekten herüber, und das Wasser schlug leise platschend gegen den Bootssteg. Vielleicht war ein Merling an die Oberfläche gekommen, um nach interessanten Lauten zu horchen. Jut sagte schwerfällig: »Dein Ehrgeiz spricht für dich. Und doch frage ich mich, wie die Welt aussähe, wenn alle Menschen solch heftiges Streben zeigten. Wo gäbe es noch Ruhe und Frieden?« 7
Siehe Glossar
»Das ist wirklich ein schwieriges Problem«, stellte Glinnes fest. »Ich habe mir darüber wirklich noch nie Gedanken gemacht. Glay, du erstaunst mich. Du bist einzigartig!« Glay grunzte abweisend. »Dessen bin ich mir gar nicht so sicher. Es muß viele, sehr viele Menschen geben, die verzweifelt nach Selbsterfüllung streben.« »Vielleicht ist das ein Grund, warum einer Starmenter wird«, vermutete Glinnes. »Man langweilt sich zu Hause, bei der Hussade leistet man nicht viel, mit den Mädchen hat man keinen Erfolg – also macht man aus purer rachsüchtiger Enttäuschung in seinem schwarzen Schiff den Weltraum unsicher!« »Diese Theorie hat etwas für sich«, meinte Jut Hulden. »Aber Rachsucht ist eine zweischneidige Sache, wie dreiunddreißig Leute heute feststellen mußten.« »Etwas verstehe ich dabei nicht«, sagte Glinnes. »Der Connat weiß von ihren Verbrechen. Warum schickt er nicht den Whelm aus und läßt sie ein für allemal ausrotten?« Shira lachte nachsichtig. »Glaubst du denn, der Whelm unternimmt nichts? Seine Schiffe sind dauernd unterwegs. Aber für jede bewohnte Welt gibt es hundert unbewohnte, gar nicht zu reden von den Monden, Asteroiden, Starments und sonstigen toten Brocken. Es gibt unzählige Schlupfwinkel im Weltraum. Der Whelm tut sein möglichstes.« Glinnes wandte sich an Glay. »Da hast du's: tritt in den Whelm ein und sieh dir die Welten des Sternhaufens an. Laß dich fürs Reisen bezahlen!« »Das wäre ein Gedanke«, sagte Glay.
KAPITEL 3 Schließlich war es dann Glinnes, der nach Port Maheul fuhr und sich in den Whelm aufnehmen ließ. Er war damals gerade siebzehn geworden. Glay trat weder in den Whelm ein, noch spielte er Hussade oder wurde ein Starmenter. Kurz nachdem Glinnes zum Whelm ging, verließ auch Glay sein Zuhause. Er durchwanderte Merlank kreuz und quer, arbeitete hin und wieder, um ein paar Ozols zu verdienen, lebte aber auch oft nur von dem, was das Land bot. Mehrmals versuchte er es mit den Tricks, die Akadie ihm empfohlen hatte, um zu anderen Welten zu kommen, aber aus dem einen oder anderen Grund hatte er nie Erfolg, und er brachte auch nie genug Geld zusammen, um sich eine Passage leisten zu können. Eine Weile zog er mit einer Truppe Trevanyi8 umher, da ihn die strengen Lebensregeln dieser Menschen, die sich so sehr von der Leichtfertigkeit der meisten Trills unterschieden, irgendwie anzogen. Nach acht Wanderjahren kehrte er auf die Insel Rabendary heim, wo sich eigentlich nichts geändert hatte, außer daß Shira sich schließlich vom aktiven Hussadespiel zurückgezogen hatte. Jut unternahm immer noch seine nächtlichen Rachefeldzüge gegen die Merlinge; Marucha hoffte immer noch, vom Landadel der Umgebung gesellschaftlich anerkannt zu werden, obwohl diese Kreise nicht die geringsten Absichten in dieser Richtung zu erkennen gaben. Jut, 8
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der sich auf Maruchas Wunsch jetzt Squire Hulden von Rabendary nannte, weigerte sich nach wie vor, in den Herrensitz von Ambal zu übersiedeln, weil dieser – so schön seine Proportionen, so grandios seine Räume und getäfelten Decken auch sein mochten – keine gemütliche Veranda mit Blick übers Wasser besaß. Die Familie erhielt regelmäßig Nachricht von Glinnes, der sich im Whelm recht gut hielt. Im Ausbildungslager hatte er sich eine Empfehlung für den Offizierslehrgang verdient, nach dessen Abschluß er dem taktischen Korps der Hunderteinundneunzigsten Schwadron zugeteilt wurde und das Kommando über das Landeboot Nr. 191–539 und seine zwanzigköpfige Besatzung erhielt. Nun hatte Glinnes eine vorteilhafte Karriere mit den verschiedensten Ruhestandsvergünstigungen vor sich. Trotzdem war er nicht recht zufrieden. Er hatte sich das Leben in der Streitkraft romantischer, abenteuerlicher vorgestellt; er hatte davon geträumt, den Sternhaufen in einem Patrouillenboot zu durchstreifen, die Schlupfwinkel von Starmentern aufzuspüren und dann auf fernen, malerischen Welten ein paar Tage Landurlaub verbringen zu können. Kurzum, in seiner Vorstellung hatte alles viel aufregender und gefährlicher ausgesehen als die perfekt durchorganisierte Routine, in die er geraten war. Um sich die Eintönigkeit zu erleichtern, spielte er Hussade; seine Mannschaft rangierte bei den Flottenwettkämpfen immer ziemlich weit vorne und gewann zwei Meisterschaften. Glinnes suchte schließlich um Versetzung auf ein Patrouillenboot an, was jedoch abgelehnt wurde.
Darauf ging er zum Schwadronskommandanten, der sich Glinnes' Beschwerde mit gelassener Gleichgültigkeit anhörte. »Die Versetzung wurde aus gutem Grund abgelehnt.« »Aus welchem Grund?« wollte Glinnes wissen. »Ich bin doch gewiß nicht unersetzlich für den Bestand der Schwadron?« »Durchaus nicht. Wir wünschen jedoch nicht, eine glatt funktionierende Organisation durcheinanderzubringen.« Er rückte einige Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. »Unter uns – es heißt, daß wir bald ein größeres Unternehmen starten.« »Wirklich? Und gegen wen?« »Was das betrifft, so kann ich auch nur raten. Haben Sie schon einmal von den Tamarcho gehört?« »Ja, natürlich. Ich habe in einer Zeitschrift etwas über sie gelesen: ein Kult fanatischer Krieger auf einer Welt, deren Namen mir im Augenblick nicht einfällt. Anscheinend morden und zerstören sie aus reinem Vernichtungswillen, oder so ähnlich.« »Nun, dann wissen Sie soviel wie ich«, sagte der Kommandant, »außer, daß die Welt Rhamnotis heißt, und daß die Tamarcho bereits einen ganzen Distrikt dem Erdboden gleichgemacht haben. Ich nehme deshalb an, daß wir als nächstes auf Rhamnotis eingesetzt werden.« »Das wäre eine Erklärung«, meinte Glinnes. »Und was wissen wir über Rhamnotis? Eine finstere Wüstenwelt oder so?« »Ganz im Gegenteil.« Der Kommandant schwang auf seinem Sessel herum und drückte einige Schaltknöpfe; ein Bildschirm leuchtete auf, und eine Stim-
me sagte: »Alastor 965, Rhamnotis. Die physischen Daten...« Der Sprecher las eine Reihe von Zahlen herunter, die die Masse, Größe, Schwerkraft, atmosphärischen und klimatischen Bedingungen des Planeten angaben, während auf dem Schirm eine MerkatorProjektion seiner Oberfläche gezeigt wurde. Der Kommandant berührte wieder eine Taste, so daß die historischen und anthropologischen Angaben übersprungen wurden, und ließ die sogenannten inoffiziellen Informationen ablaufen: »Rhamnotis ist eine Welt, auf der jede Handlung, jeder Gegenstand, jede Institution zur Gesundheit und zum Wohlbefinden ihrer Bewohner beitragen. Die ursprünglichen Siedler, die von der Welt Triskelion kamen, beschlossen, nie wieder solche häßlichen und lebensfeindlichen Umstände zu dulden, wie sie sie hinter sich gelassen hatten, und schlossen zu diesem Zweck einen feierlichen Vertrag, der jetzt das wichtigste Dokument auf Rhamnotis darstellt und Gegenstand fast kultischer Verehrung geworden ist. Heute sind die üblichen Nachteile und Mißstände einer Zivilisation – Zwist, Schmutz, Müll, Verstädterung – nahezu aus dem Gedächtnis der Bevölkerung verschwunden. Rhamnotis ist gegenwärtig eine Welt, die sich ausgezeichneter Verwaltung erfreut, und auf der das Beste schon zur Norm geworden ist. Soziale Mißstände sind unbekannt; Armut ist nicht mehr als ein exotisches Wort. Die Arbeitswoche hat zehn Stunden, und jedes Mitglied der Bevölkerung leistet seinen Teil; seine überschüssige Energie widmet der Rhamnoter Karnevalsumzügen und Märchenspielen, die Touristen von den entferntesten Welten anziehen. Die Küche ist zu den besten des Sternhaufens zu
zählen. Strände, Wälder, Seen und Berge bieten eine unvergleichliche Erholungslandschaft. Hussade ist ein Publikumssport, obwohl die einheimischen Mannschaften in den Alastor-Ausscheidungen nie besonders hervorgetreten sind.« Der Kommandant drückte auf eine weitere Taste; der Sprecher sagte: »In den letzten Jahren hat ein Kult namens Tamarcho von sich reden gemacht. Die Prinzipien der Tamarcho sind unklar und scheinen von Person zu Person verschieden zu sein. Ganz allgemein befassen sich die Tamarchisten mit sinnloser Gewalt, Zerstörung und Verschmutzung. Sie haben hunderte Hektar unberührten Waldes verbrannt; sie verschmutzen Seen, Reservoirs und Brunnen mit Kadavern, Müll und Rohöl; sie haben Wildtränken in Naturparks vergiftet und Giftköder für Vögel und Haustiere ausgelegt. Sie werfen Exkremente in festliche Menschenmengen und urinieren von Türmen auf die Leute unten. Sie verehren das Abstoßende und nennen sich auch selbst die ›Häßlichen‹.« Der Kommandant schaltete den Bildschirm ab. »So steht die Sache also. Die Tamarchisten haben ein Stück Land besetzt und wollen nicht abziehen; anscheinend haben die Rhamnoter den Whelm zu Hilfe gerufen. Trotzdem, Genaueres wissen wir noch nicht; wir könnten ebensogut auf die Breakneck-Insel geschickt werden, um die Prostituierten zu vertreiben...« Die übliche Strategie des Whelm, die sich in zehntausenden Unternehmungen bewährt hatte, bestand darin, mit einer so übermächtigen Streitmacht anzurücken, daß der Gegner von vornherein einge-
schüchtert war und die sichere Niederlage vor sich sah. In den meisten Fällen verflüchtigte sich jeder Widerstand, so daß es gar nicht erst zu Kampfhandlungen kam. Um den Verrückten König Zag von der Grauen Welt, Alastor 1740, zu unterwerfen, postierte der Whelm tausend Tyrant-Schlachtschiffe über der Schwarzen Metropole, die fast die Sonne verdunkelten. Schwadronen von Vavarangi- und StingerBooten schwebten darunter in konzentrischen Mustern, und in noch geringerer Höhe schossen Kampfboote hin und her wie Hornissen. Am fünften Tag landete eine schwerbewaffnete Streitmacht von zwanzig Millionen Mann und stellte König Zags entsetzte Miliz kalt, die schon lange vorher jeden Gedanken an Widerstand aufgegeben hatte. Mit derselben Taktik hoffte man das Problem der Tamarchisten möglichst rasch zu bereinigen. Vier Flottillen von Tyrant-Schiffen und Zerstörern tauchten blitzartig aus vier verschiedenen Richtungen über den Silbernen Bergen auf, wo die Häßlichen sich eingenistet hatten. Bodenbeobachter meldeten keinerlei nennenswerte Reaktion der Tamarchisten. Die Tyrant-Schlachtschiffe sanken tiefer herunter, und die ganze Nacht lang war der Himmel von dem Netz ihrer bösartig knisternden, blauen Feuerstrahlen überzogen. Als der Morgen anbrach, hatten die Tamarchisten ihre Lager abgebrochen und waren nicht mehr zu sehen. Die Bodenbeobachter meldeten, daß sie sich in die Wälder zurückgezogen hätten. Monitorkapseln überflogen das Gebiet, und dröhnende Lautsprecherstimmen befahlen den Häßlichen, Gruppen zu bilden, in einen nahegelegenen Kurort zu marschieren und sich dort zu ergeben. Die einzige
Antwort war, daß einige Heckenschützen das Feuer auf die Kapseln eröffneten. Mit bedrohlicher Unaufhaltsamkeit gingen die Tyrants tiefer. Die Monitorkapseln gaben ein neues Ultimatum bekannt: Ergebt euch, oder wir greifen an. Die Tamarchisten reagierten nicht darauf. Sechzehn gepanzerte Himmelsforts landeten auf einer Bergwiese, um die Umgebung für eine Truppenlandung abzusichern. Sie zogen nicht nur das Feuer von kleineren Waffen auf sich, sondern auch die Energiestöße von etlichen veralteten blauen Strahlern. Um nicht eine unbekannte Anzahl von Verrückten einfach niedermachen zu müssen, stiegen die Himmelforts wieder auf. Der Kommandeur des Unternehmens war mehr verblüfft als wütend und beschloß, die Silbernen Berge durch Fußtruppen abzuriegeln, um die Häßlichen auszuhungern. Zweitausendzweihundert Landeboote, darunter Nr. 191–539 unter dem Kommando von Glinnes Hulden, kamen herunter und schlossen die Tamarchisten in ihren gebirgigen Schlupfwinkeln ein. Wo es das Gelände erlaubte, stießen die Truppen vorsichtig die Täler aufwärts vor, nachdem Kampfboote vorausgeflogen waren, um etwaige Heckenschützen zu erledigen. Es gab einige Verluste, deshalb zog der Kommandeur seine Leute aus allen Beschußzonen wieder zurück, da die Tamarcho schließlich keine unmittelbare Gefahr darstellten. Die Belagerung dauerte einen Monat. Beobachter meldeten, daß den Tamarchisten der Proviant ausging, daß sie Rinde, Insekten, Blätter oder was sie sonst finden konnten, aßen.
Der Kommandeur ließ nochmals Monitorkapseln über das Gebiet ausschwärmen und eine ordentliche Kapitulation verlangen. Die Tamarchisten antworteten mit einer Reihe von Ausbruchversuchen, die jedoch zurückgeschlagen wurden und ihnen beträchtliche Verluste zufügten. Der Kommandeur schickte nun noch einmal die Monitoren aus und drohte mit dem Einsatz von Schmerzgas, falls die Kapitulation nicht binnen sechs Stunden erfolgte. Die gestellte Frist lief ergebnislos aus. Vavarangi-Boote schossen herunter und bombardierten die Schlupfwinkel mit SchmerzgasKanistern. Würgend, zuckend und zusammengekrümmt wälzten sich die Tamarchisten aus ihren Verstecken. Der Kommandeur ließ einen ›Truppenregen‹ von hunderttausend Mann niedergehen, und nach einigen kurzen, heftigen Schußwechseln war die Gegend gesäubert. Die gefangenen Tamarchisten zählten weniger als zweitausend Personen beiderlei Geschlechts. Glinnes stellte erstaunt fest, daß manche kaum mehr als Kinder waren und wenige älter als er. Sie hatten keine Munition mehr, keine Energieversorgung, keine Lebensmittel und medizinischen Vorräte. Sie schnitten Grimassen und spuckten die WhelmSoldaten an – ›Häßliche‹ waren sie wirklich. Glinnes Erstaunen wuchs. Was hatte diese jungen Leute dazu bewegt, für eine so offensichtlich verlorene Sache so fanatisch zu kämpfen? Was hatte sie überhaupt erst dazu gebracht, ›Häßliche‹ zu werden? Warum hatten sie soviel Schönes zerstört und beschmutzt, ruiniert und vergiftet? Glinnes versuchte, einen Gefangenen auszufragen, doch der gab vor, seinen Dialekt nicht zu verstehen.
Kurz darauf erhielt Glinnes Befehl, mit seinem Boot wieder zu starten. Glinnes kehrte zum Stützpunkt zurück. Als er seine angesammelte Post abholte, fand er einen Brief von Shira, der traurige Nachricht enthielt. Jut Hulden war einmal zu oft Merlinge jagen gegangen und war in eine schlau angelegte Falle geraten. Bevor Shira ihm zu Hilfe kommen konnte, war Jut ins FarwanGewässer gezerrt worden. Die Nachricht rief in Glinnes eine seltsame Bestürzung hervor. Er konnte sich kaum vorstellen, daß es in den umwandelbaren, zeitlosen Fens Veränderungen gab, so einschneidende noch dazu. Shira war jetzt Squire von Rabendary. Glinnes fragte sich, welche weiteren Veränderungen die Zukunft bringen mochte. Vermutlich keine – Shira hatte für Neuerungen nicht viel übrig. Er würde eine Frau heimbringen und eine Familie gründen; das zumindest stand ziemlich fest – früher oder später kam es dazu. Glinnes überlegte, wer wohl den untersetzten, kahl werdenden Shira mit den roten Backen und der plumpen Nase heiraten würde. Selbst als Hussadespieler hatte Shira es schwer gehabt, die Mädchen in schattige Eckchen zu locken, denn während Shira sich selbst für einen netten, einfachen Kerl hielt, fanden die anderen ihn derb, lüstern und wichtigtuerisch. Glinnes begann immer öfter an seine Kindheit zurückzudenken. Er erinnerte sich an die dunstigen Morgen, die festlichen Abende, die Sternenschau. Er erinnerte sich an gute Freunde und ihre verrückten Gewohnheiten; er dachte an den Rabendary-Wald – die dunklen Menas, die emporragten über die rötli-
chen Pomanderbäume, die silbriggrünen Birken, die dunkelgrünen Stachelnußbäume. Er erinnerte sich an den Schimmer, der über dem Wasser hing und die Umrisse ferner Küsten verwischte; er dachte an das heruntergekommene alte Heim seiner Familie und merkte schließlich, daß er fürchterlich Heimweh hatte. Zwei Monate später, nach vollen zehn Jahren in Whelm, quittierte er den Dienst und kehrte nach Trullion zurück.
KAPITEL 4 Glinnes hatte durch einen Brief seine Ankunft angekündigt, aber als er in Port Maheul in der Präfektur Staveny an Land ging, war niemand von seiner Familie da, um ihn willkommen zu heißen, was er ziemlich seltsam fand. Er brachte sein Gepäck auf die Fähre und suchte sich einen Platz auf dem Oberdeck, um die vorbeiziehende Landschaft zu beobachten. Wie ungebunden und fröhlich die Menschen in ihren Parays aussahen, scharlachfarbene, blaue und ockergelbe bewegte Flecken! Glinnes fühlte sich in seiner halbmilitärischen Kleidung – schwarzer Jacke und beigefarbenen Hosen, die in schwarze Stiefel gesteckt waren – beengt und unzufrieden. Hoffentlich würde er das Zeug nie wieder anziehen müssen! Endlich legte das Fährboot am Landesteg in Welgen an. Ein verführerischer Duft streifte Glinnes' Nase, und er folgte ihm zu einem nahegelegenen Fischbratstand, wo er sich eine Portion gedämpfte Schilffrüchte und ein Stück gegrillten Aal kaufte. Schon beim Anlandgehen hatte er Ausschau nach Shira oder Glay oder Marucha gehalten, aber er erwartete nicht mehr, sie tatsächlich hier zu finden. Eine Gruppe Fremdweltler erregte seine Aufmerksamkeit: drei junge Männer, die uniformähnlich gekleidet waren – ordentliche graue Overalls mit einem Gürtel, hochglanzgewichste schwarze Schuhe – und drei junge Frauen, die ziemlich streng wirkende Kleider aus grobem weißen Stoff trugen. Männer wie Frauen hatten sehr kurz geschnittenes Haar, was recht apart
wirkte, und trugen kleine Plaketten an der linken Schulter. Sie kamen dicht an Glinnes vorbei, und er erkannte, daß es gar keine Fremdweltler waren, sondern Trills... Zöglinge eines spartanischen Internats? Angehörige eines religiösen Ordens? Beides war möglich, denn sie hatten Bücher und Handrechner bei sich und schienen in eine ernsthafte Unterhaltung vertieft zu sein. Glinnes musterte die Mädchen genauer. Irgend etwas, überlegte er, machte sie seltsam unattraktiv, aber er kam nicht gleich darauf, was es war. Das durchschnittliche Trillmädchen zog an, was gerade bei der Hand war, ohne sich sonderlich Gedanken darüber zu machen, ob es zerknittert oder fadenscheinig oder schmutzig war, und schmückte sich dann mit Blumen. Diese Mädchen aber wirkten nicht nur sauber und ordentlich, sondern richtiggehend penibel. Zu sauber, zu ordentlich... Glinnes zuckte die Achseln und kehrte auf die Fähre zurück. Das Boot tuckerte weiter ins Herz der Fens hinein, Wasserstraßen entlang, in denen der dumpfe Geruch stehender Gewässer, verrottender Schilfstengel und nasser Moorerde Glinnes heimatlich um die Nase strich. Hin und wieder machte sich auch die Andeutung eines stechenden Gestanks bemerkbar, der die Nähe eines Merlings verriet. Vorne tauchte nun die Ripil-Bucht auf, und eine Ansammlung von Hütten, Saurkash, wurde sichtbar. Das war für Glinnes die Endstation; von hier bog die Fähre nach Norden zu den Dörfern auf der Großen Ratteninsel ab. Glinnes brachte seine Koffer auf den Landesteg und schaute sich im Dorf um. Das auffallendste Merkmal war das Hussade-Feld mit der alten, verwitterten Zuschauertribüne, einst
das Heimstadion der Saurkash-Schlangen. Gleich daneben lag der Magische Fisch, die gemütlichste der drei Kneipen von Saurkash. Er ging am Pier entlang zu der Bude, wo zehn Jahre zuvor Milo Harrad Boote vermietet und einen Wassertaxidienst betrieben hatte. Harrad war nicht zu sehen. Ein junger Mann, den Glinnes nicht kannte, hielt im Schatten ein Nickerchen. »Guten Tag, mein Freund«, sagte Glinnes, worauf der junge Mann aufwachte und sich mit einem Blick milden Vorwurfs Glinnes zuwandte. »Können Sie mich zur Rabendary-Insel bringen?« »Wann immer Sie wollen.« Der junge Mann musterte Glinnes von oben bis unten und erhob sich träge. »Sie müssen Glinnes Hulden sein, wenn ich mich nicht irre.« »Stimmt. Aber ich erinnere mich nicht an Sie.« »Wie könnten Sie auch? Ich bin der Neffe des alten Harrad von Voulash. Die Leute nennen mich hier Jung Harrad, und ich vermute, diesen Namen werde ich für den Rest meines Lebens behalten. Ich weiß noch recht gut, wie Sie für die Schlangen spielten.« »Das ist etliche Zeit her. Sie müssen ein gutes Gedächtnis haben!« »So gut auch wieder nicht. Die Huldens hatten immer etwas für Hussade übrig. Der alte Harrad hat sehr oft von Jut erzählt, dem besten Stürmer, den es in Saurkash je zu sehen gab – das behauptete der alte Milo wenigstens. Shira war wohl ein ganz guter Verteidiger, aber langsam beim Springen. Ich glaube nicht, daß ich je einen guten Überschwung von ihm gesehen habe.« »Eine recht zutreffende Beurteilung.« Glinnes
blickte die Wasserstraße entlang. »Ich hatte eigentlich erwartet, daß er oder mein Bruder Glay mich hier abholt. Aber vermutlich hatten sie Besseres zu tun.« Jung Harrad warf ihm einen zögernden Blick zu, zuckte dann die Achseln und holte eines seiner schlanken, grünweißen Boote an den Steg. Glinnes lud sein Gepäck ein, und sie fuhren los, die MellishStraße nach Osten. Nach einer Weile räusperte sich Jung Harrad. »Sie dachten also, daß Shira Sie abholen würde?« »Ja, eigentlich schon.« »Dann haben Sie also das von Shira nicht gehört?« »Was ist ihm denn zugestoßen?« »Er ist verschwunden.« »Verschwunden?« Glinnes schaute sich mit offenem Mund um. »Wohin?« »Das weiß keiner. Höchstwahrscheinlich in die Speisekammer der Merlinge. Die meisten Leute, die verschwinden, landen ja dort.« »Wenn sie nicht auf Besuch bei Freunden sind.«* »Zwei Monate lang? Shira war ein berüchtigter Bock, hab ich gehört, aber ein Cauch-Trip von zwei Monaten wäre wohl sehr ungewöhnlich.« Glinnes gab einen niedergeschlagenen Knurrlaut von sich und wandte sich ab, da ihm jede Lust zur Unterhaltung vergangen war. Jut fort, Shira fort – seine Heimkehr würde ziemlich trübselig werden. Die Landschaft, die immer vertrauter wurde, immer mehr Erinnerungen weckte, verstärkte jetzt nur noch seine Bedrückung. Rechts und links glitten Inseln *
Auf Besuch bei Freunden: ein Euphemismus für cauch-trunkene Liebende, die sich in der Wildnis herumtreiben.
vorüber, die er gut kannte: die Jurzy-Insel, wo die Jurzy-Blitze, seine erste Mannschaft, immer trainiert hatten; Calceon-Eiland, wo die süße Loel Issam sich für seine heißesten Liebesbeteuerungen taub gezeigt hatte... Später war sie Sheirl der Gaspar-Triptanen geworden und hatte dann, nach ihrer Entehrung, Lord Clois von Graven Table geheiratet, einem Hochland im Norden der Fens... Erinnerungen wirbelten in seinen Gedanken auf, und er fragte sich, warum er die Fens jemals verlassen hatte. Die zehn Jahre im Whelm erschienen ihm jetzt nur mehr wie ein Traum. Das Boot glitt hinaus in die See-Bucht. Im Süden, rund eine Meile entfernt, lag die Nahe Insel, dahinter, etwas breiter und höher, die Mittelinsel, und noch weiter dahinter die Ferne Insel, drei durch den Wasserdunst zunehmend stärker verwischte Silhouetten hintereinander, deren letzte, die Ferne Insel, sich kaum mehr vom blassen südlichen Horizont abhob. Das Boot bog nun in das schmale AthenryGewässer ein, einen ruhigen Wasserweg, über dem Stillbeerenbäume zu einem Tunneldach zusammenwuchsen. Der Geruch von Merlingen lag spürbar über den dunklen Buchten, und Harrad und Glinnes hielten beide Ausschau nach einem verdächtigen Kräuseln der Oberfläche. Aus Gründen, die ihnen selbst wohl am besten bekannt waren, hielten sich die Merlinge gern im Athenry-Gewässer auf – vielleicht wegen der Stillbeeren, die für Menschen giftig waren, vielleicht wegen des Schattens, oder vielleicht behagte ihnen das Aroma der Stillbeerwurzeln im Wasser. Die Wasserfläche blieb jedoch glatt und ruhig; wenn Merlinge in der Nähe waren, blieben sie in ih-
ren Höhlen. Das Boot erreichte nun die Mündung zur Fleharish-Bucht. Auf den Fünf Inseln im Süden befand sich der alte Herrensitz von Thammas Lord Gensifer. Nicht weit davon entfernt schoß ein Segelboot auf Tragflächen quer über die Bucht; Lord Gensifer selbst saß an der Ruderpinne: ein jovialer, rundgesichtiger Mann, der zehn Jahre älter als Glinnes war, breite Schultern und eine stämmige Brust, doch ziemlich dünne Beine besaß. Er machte eine geschickte Wende, brauste heran, bis er sich neben Harrads Boot befand, und ließ das Segel in den Wind drehen. Das Boot tauchte die Tragflügel ein und schaukelte flach auf dem Wasser. »Also das ist doch bestimmt der junge Glinnes Hulden, zurück von seinen Sternenfahrten!« rief Lord Gensifer. »Willkommen daheim in den Fens!« Glinnes und Harrad standen beide auf und grüßten, wie es einem Lord von Gensifers Stellung gebührte. »Danke«, sagte Glinnes. »Ich bin wirklich froh, wieder daheim zu sein.« »Es geht doch nichts über die Fens! Nun, und was haben Sie für Pläne für zu Hause?« Die Frage verwirrte Glinnes. »Pläne? Nichts Bestimmtes eigentlich... Sollte ich Pläne haben?« »Ich dächte schon. Schließlich sind Sie jetzt Squire von Rabendary.« Glinnes blinzelte über das Wasser in Richtung der Insel Rabendary. »Das bin ich wohl, wenn Shira wirklich tot ist. Ich bin um eine Stunde älter als Glay.« »Ist nur begrüßenswert, wenn Sie meine Meinung hören wollen... A – hm. Na, Sie werden schon selbst
noch sehen.« Lord Gensifer holte die Schot ein. »Wie steht's mit Hussade? Was halten Sie von dem neuen Verein? Wir hätten natürlich gern einen Hulden in der Mannschaft.« »Ich weiß noch nichts davon, Lord Gensifer. All die Veränderungen daheim haben mich noch gar nicht zur Besinnung kommen lassen.« »Nun, kommt Zeit, kommt Rat.« Lord Gensifer luvte an; der Bootsrumpf schnellte vorwärts, hob sich auf die Tragflächen und zischte atemberaubend schnell über die Fleharish-Bucht davon. »Das ist ein Sport«, bemerkte Jung Harrad voll Neid. »Er hat sich das Ding von Illucante liefern lassen, von der Inter-Welt. Man denke bloß, wieviele Ozols ihn das gekostet haben muß!« »Kommt mir ziemlich gefährlich vor«, sagte Glinnes. »Wenn er kentert, ist er mit den Merlingen hier draußen alleine.« »Lord Gensifer ist eben ein tollkühner Bursche«, sagte Harrad. »Übrigens heißt es, daß das Boot durchaus sicher ist. Es kann vor allem nicht sinken, auch wenn es mal umschlägt. Er könnte auf dem Rumpf sitzen bleiben, bis ihn jemand auffischt.« Sie querten die Fleharish-Bucht und bogen in das Ilfisch-Gewässer ein, an dessen linkem Ufer das Präfektur-Freiland lag – eine zweihundert Hektar große Insel, die allen Wanderern und Fremden offenstand, den Trevanyi, Wrye, oder Leuten, die ›auf Besuch bei Freunden‹ waren. Nun fuhr das Boot in die AmbalBucht ein, und gleich darauf tauchte vor ihnen der vertraute Umriß der Insel Rabendary auf: Daheim! Glinnes mußte blinzeln, weil ihm jetzt doch die Augen feucht wurden. Eine traurige Heimkehr war es
schon. Die Insel Ambal war noch schöner als in der Erinnerung. Als er zu dem alten Herrenhaus hinüberblickte, glaubte Glinnes, dünnen Rauch aus einem der Kamine aufsteigen zu sehen. Ein verrückter Gedanke kam ihm, der jedoch Lord Gensifers seltsame Bemerkung erklären würde. War Glay ins Herrenhaus übergesiedelt? Lord Gensifer würde ein solches Verhalten lächerlich und verurteilenswert finden – ein vulgärer Versuch, Höherstehende nachzuäffen. Das Boot legte am Steg von Rabendary an; Glinnes hievte sein Gepäck heraus und bezahlte Jung Harrad. Betroffen starrte er zum Haus hinüber. War es immer so stark verfallen gewesen? Hatte das Unkraut immer so dicht gestanden? Ein gewisses Maß an Verwahrlosung schätzten die Trills als gemütlich, aber das alte Haus war über diesen Zustand längst hinaus. Als er die Stufen zur Veranda hinaufstieg, knarrten und ächzten sie unter seinem Gewicht. Ein paar Flecken Farbe erregten seine Aufmerksamkeit, drüben auf der Wiese nahe am Waldrand. Glinnes blinzelte und spähte scharf hinüber. Drei Zelte: rot, schwarz, dumpf orangefarben. TrevanyiZelte. Glinnes schüttelte verärgert den Kopf. Er war anscheinend nicht zu früh heimgekehrt. »Hallo, im Haus da! Ist niemand hier?« Die schlanke, hochgewachsene Gestalt seiner Mutter erschien in der Türöffnung. Sie starrte ihn ungläubig an, lief dann ein paar Schritte auf ihn zu. »Glinnes! Wie seltsam, dich wieder hier zu sehen!« Glinnes umarmte und küßte sie, ohne sich über ihre Bemerkung zu wundern. »Ja, ich bin wieder daheim, und mir kommt's auch seltsam vor. Wo ist denn Glay?«
»Er ist mit einigen Kameraden unterwegs. Aber wie gut du aussiehst! Du bist zu einem prächtigen Mann herangewachsen!« »Und du hast dich nicht um ein Haar verändert; du bist immer noch meine bildschöne Mutter.« »Ach Glinnes, du Schmeichler, ich fühle mich alt wie die Berge und sehe bestimmt auch so aus... Ich nehme an, du hast die traurige Nachricht bekommen?« »Wegen Shira? Ja. Es betrübt mich schrecklich. Weiß denn keiner, was wirklich passiert ist?« »Man weiß überhaupt nichts«, sagte Marucha ziemlich steif. »Aber setz dich doch, Glinnes; zieh diese hübschen Stiefel aus und laß deine Füße ausruhen. Möchtest du einen Becher Apfelwein?« »Sehr gerne, und etwas zu essen, was gerade bei der Hand ist. Ich bin halb verhungert.« Marucha brachte Wein, Brot, ein kaltes Hackfleischgericht, Obst und Meerpudding. Sie setzte sich und schaute ihm beim Essen zu. »Es freut mich, dich wiederzusehen. Was für Pläne hast du nun?« Glinnes fand, daß ihre Stimme einen kaum wahrnehmbaren, kühlen Unterton hatte. Aber Marucha war eigentlich nie besonders herzlich gewesen. Er antwortete: »Ich habe überhaupt keine Pläne; ich habe von Shiras Schicksal erst von Jung Harrad gehört. Er hat also nie geheiratet?« Marucha preßte mißbilligend die Lippen zusammen. »Er konnte sich nie recht entschließen... Er hatte natürlich da und dort Freundinnen.« Wieder fühlte Glinnes, daß manches unausgesprochen blieb, Dinge, über die seine Mutter anscheinend nicht zu sprechen wünschte. Eine leichte Verstim-
mung begann sich in ihm bemerkbar zu machen, aber er unterdrückte sie sofort. Es war nicht gut, einen neuen Lebensabschnitt mit Groll im Herzen zu beginnen. Marucha fragte ihn unvermittelt in munterem, etwas sprödem Ton: »Aber wo ist deine Uniform? Ich hätte dich so gern als Offizier des Whelm gesehen.« »Ich habe den Dienst quittiert. Ich will jetzt zu Hause bleiben.« »Oh.« Maruchas Stimme war tonlos. »Natürlich freuen wir uns, dich wieder daheim zu haben, aber hältst du es für klug, deine Karriere aufzugeben?« »Ich habe sie schon aufgegeben.« Trotz seiner guten Vorsätze war Glinnes' Stimme jetzt ein wenig schärfer geworden. »Ich werde hier nötiger gebraucht als im Whelm. Unser altes Heim verfällt ja völlig. Unternimmt Glay denn überhaupt nichts dagegen?« »Er war so beschäftigt mit... nun, mit seinen Angelegenheiten. In gewisser Weise ist er jetzt eine wichtige Persönlichkeit geworden.« »Das sollte ihn nicht davon abhalten, die Stufen zu reparieren. Sie faulen einem ja unter den Füßen weg... Oder – ich habe auf Ambal Rauch bemerkt. Lebt Glay jetzt am Ende drüben?« »Nein. Wir haben die Ambal-Insel verkauft, an einen von Glays Freunden.« Glinnes fuhr betroffen auf. »Ihr habt die AmbalInsel verkauft? Aus welchem Grund nur...« Er suchte sich zu fassen. »Shira hat die Insel verkauft?« »Nein«, sagte Marucha kühl. »Glay und ich haben beschlossen, uns davon zu trennen.«
»Aber...« Glinnes unterbrach sich und wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich habe bestimmt nicht die Absicht, mich von der Ambal-Insel zu trennen – oder von sonst einem Teil unseres Landes.« »Leider ist der Verkauf nun schon durchgeführt worden. Wir nahmen an, daß du deine Laufbahn im Whelm verfolgen und nicht so bald heimkommen würdest. Natürlich hätten wir deine Einstellung berücksichtigt, hätten wir davon gewußt.« Glinnes bemühte sich, höflich zu bleiben. »Ich bin entschieden dafür, daß wir den Vertrag annullieren.* Wir wollen doch Ambal nicht verlieren.« »Aber mein lieber Glinnes, wir haben es bereits aufgegeben.« »Nicht, wenn wir das Geld zurückgeben. Wo ist es?« »Danach wirst du Glay fragen müssen.« Glinnes dachte an den sardonischen Glay von vor zehn Jahren, der nie Interesse für die Angelegenheit von Rabendary gezeigt hatte. Daß Glay nun auf einmal solche schwerwiegenden Entscheidungen traf, erschien Glinnes unverständlich und seinem Vater Jut gegenüber pietätlos, denn dieser hatte jeden Quadratmeter seines Bodens geliebt. Glinnes fragte: »Wieviel habt ihr für Ambal bekommen?« »Zwölftausend Ozols.« Mit vor Ärger heiserer Stimme rief Glinnes: »Das ist verschenkt! Ein so herrliches Fleckchen wie die *
Nach Trill-Gesetz gilt der Kaufvertrag für ein Grundstück ein Jahr lang nur provisorisch, und beide Parteien können ihn widerrufen.
Ambal-Insel, und das Herrenhaus ist überdies in gutem Zustand! Irgend jemand hat hier den Verstand verloren!« Maruchas schwarze Augen blitzten. »Du hast gar kein Recht, dich zu beschweren. Du warst nicht hier, als wir dich brauchten, also gehört es sich nicht, daß du jetzt zu nörgeln anfängst.« »Ich werde mehr tun als nörgeln; ich werde den Vertrag annullieren. Wenn Shira tot ist, bin ich Squire von Rabendary, und niemand sonst ist berechtigt, Grund zu verkaufen.« »Aber wir wissen nicht, ob Shira tot ist«, stellte Marucha mit freundlicher Überlegenheit fest. »Er könnte nur auf Besuch bei Freunden sein.« Glinnes fragte höflich: »Kennst du jemand von diesen ›Freunden‹?« Marucha hob verächtlich die Schultern. »Kaum. Aber du weißt ja, wie Shira immer war. Er hat sich nicht verändert.« »Nach zwei Monaten sollte er von seinem Besuch wohl zurück sein.« »Wir hoffen natürlich, daß er noch lebt. Tatsächlich können wir ihn erst nach vier Jahren für tot ansehen, wie es das Gesetz bestimmt.« »Aber dann ist der Vertrag längst gültig geworden! Warum sollten wir irgendeinen Teil unseres Landes hergeben?« »Wir haben das Geld gebraucht. Ist das nicht Grund genug?« »Ihr habt Geld wofür gebraucht?« »Diese Frage mußt du Glay stellen.« »Das werde ich tun. Wo ist er?« »Ich weiß es wirklich nicht. Vermutlich wird er
bald heimkommen.« »Etwas anderes: sind das Trevanyi-Zelte drüben beim Wald?« Marucha nickte. Mittlerweile versuchte keiner von beiden mehr, sich um Freundlichkeit zu bemühen. »Bitte kritisiere nicht mich oder Glay. Shira hat sie herkommen lassen, und sie haben auch keinen Schaden angerichtet.« »Vielleicht nicht, aber das wird schon noch kommen. Du weißt recht gut, wie es uns das letztemal mit Trevanyi erging. Sie haben das Küchenbesteck gestohlen.« »Die Drossets sind nicht so«, sagte Marucha. »Für Trevanyi scheinen sie ganz anständig zu sein. Gewiß sind sie so ehrlich, wie sie es sich leisten können.« Glinnes hob erbittert die Hände. »Es hat keinen Sinn, sich zu streiten. Aber wegen Ambal möchte ich noch etwas sagen. Shira hätte bestimmt nie gewollt, daß die Insel verkauft wird. Wenn er noch lebt, so habt ihr ohne seine Zustimmung gehandelt. Ist er tot, dann habt ihr ohne meine verkauft, und ich bestehe darauf, daß wir den Vertrag annullieren.« Marucha hob kühl die zarten, weißen Schultern. »Das ist eine Angelegenheit, die du mit Glay regeln mußt. Ich möchte wirklich nichts damit zu schaffen haben.« »Wer hat die Insel Ambal gekauft?« »Ein Mann namens Lute Casagave, ein ruhiger und vornehmer Mensch. Ich glaube, er ist ein Fremdweltler; für einen Trill ist er viel zu weltgewandt.« Glinnes beendete seine Mahlzeit und ging dann zu seinem Gepäck. »Ich habe ein paar Kleinigkeiten mitgebracht.« Er reichte seiner Mutter ein Päckchen; sie
nahm es wortlos. »Mach es auf«, sagte Glinnes. »Es ist für dich.« Sie löste die Schnur und zog ein Stück purpurnen Stoff aus der Umhüllung, der mit grünen, silbernen und goldenen Stickereien, phantastischen Vögeln, geschmückt war. »Wie herrlich!« Sie seufzte tief. »Also Glinnes, das ist ein wundervolles Geschenk!« »Das ist nicht alles«, sagte Glinnes. Er holte weitere Päckchen hervor, die Marucha begeistert öffnete. Im Gegensatz zu den meisten Trills fand sie Gefallen am Besitz schöner Dinge. »Das sind Sternkristalle«, sagte Glinnes. »Sie haben keinen anderen Namen, soviel ich weiß; sie werden genauso, mit Facetten und allem, im Staub toter Sterne gefunden. Nichts kann sie ritzen, nicht einmal ein Diamant, und sie haben sonderbare optische Eigenschaften.« »Oh, wie schwer sie sind!« »Das hier ist eine antike Vase, keiner weiß, wie alt sie wirklich ist. Die Schrift auf dem Boden soll erdisch sein.« »Sie ist bezaubernd!« »Nun, dies hier ist nichts Besonderes, es hat mir einfach gefallen – ein Nußknacker in Form eines Urtland-Gabelkäfers. Ehrlich gestanden, ich hab's bei einem Trödler gefunden.« »Aber wirklich hübsch. Zum Nüsseknacken, sagst du?« »Ja. Man legt die Nuß zwischen diese Klauen und drückt den Gabelschwanz zusammen... Die hier waren für Glay und Shira gedacht – Messer aus Proteum. Die Schneide besteht aus einer einzelnen Molekülkette – absolut unzerstörbar. Man kann damit auf
Stahl herumhacken, trotzdem werden sie nie stumpf.« »Glay wird sich freuen«, sagte Marucha etwas kühler als zuvor. »Und Shira gewiß ebenfalls.« Glinnes schnaubte voll Skepsis, was Marucha geflissentlich überhörte. »Vielen Dank für die Geschenke. Ich finde sie alle sehr schön.« Sie blickte durch die offene Tür über die Veranda zum Bootssteg hinaus. »Jetzt ist Glay gekommen.« Glinnes trat auf die Veranda hinaus. Glay, der eben den Pfad von der Anlegestelle heraufkam, blieb stehen, zeigte aber sonst keinerlei Überraschung. Schließlich ging er langsam weiter. Glinnes sprang die Stufen hinunter, und die Brüder umarmten einander. Glay trug, wie Glinnes auffiel, nicht den üblichen Paray der Trill, sondern graue Hosen und eine dunkle Jacke. »Willkommen zu Hause«, sagte Glay. »Ich traf Jung Harrad; er sagte mir, daß du hier bist.« »Ich bin froh, wieder daheim zu sein«, sagte Glinnes. »Nur du und Marucha, das muß ziemlich trübselig gewesen sein. Jetzt, wo ich wieder da bin, hoffe ich, daß unser Heim wieder wie früher werden kann.« Glay nickte gleichgültig. »Ja. Das Leben war ziemlich ruhig hier. Und alle Dinge ändern sich, gewiß – wie ich hoffe, zum Besseren.« Glinnes war nicht ganz klar, was Glay eigentlich meinte. »Wir müssen über vieles sprechen. Aber vor allem – ich bin froh, dich wiederzusehen. Du schaust so erstaunlich weise und abgeklärt aus – irgendwie, wie soll ich sagen, selbstsicher.«
Glay lachte. »Wenn ich zurückdenke, wird mir klar, daß ich immer zuviel gegrübelt habe, immer versucht habe, zuviele unlösbare Probleme zu bewältigen. Das habe ich aufgegeben. Ich habe sozusagen den gordischen Knoten zerschnitten.« »Wie das?« Glay machte eine wegwerfende Geste. »Es wäre zu umständlich, auf das alles jetzt einzugehen... Du siehst gut aus. Der Dienst im Whelm hat dir anscheinend getaugt. Wann mußt du wieder zurück?« »Zum Whelm? Gar nicht. Das ist ein abgeschlossenes Kapitel, vor allem, da ich jetzt Squire von Rabendary bin, wie es scheint.« »Ja«, sagte Glay tonlos. »Du bist mir eine Stunde voraus.« »Komm doch rein«, sagte Glinnes. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Für Shira auch. Glaubst du, daß er tot ist?« Glay nickte düster. »Es gibt keine andere Erklärung.« »Das meine ich auch. Mutter glaubt, daß er ›auf Besuch‹ ist.« »Zwei Monate lang? Wohl kaum.« Die beiden traten ins Haus, und Glinnes holte das Messer hervor, das er im Bazar des Technischen Labors von Boreal City auf Maranian erstanden hatte. »Paß mit der Schneide auf. Wenn du sie nur berührst, hast du dich schon geschnitten. Aber man kann damit auch ein Stahlseil durchhacken, ohne daß sie beschädigt wird.« Glay nahm das Messer vorsichtig in die Hand und blinzelte die unsichtbare Schneide entlang. »Es macht mir Angst.« »Ja, es ist schon ein bißchen unheimlich. Jetzt, wo Shira tot ist, werde ich das zweite selbst behalten.«
Marucha sagte kühl quer durch den Raum: »Wir wissen nicht, ob Shira tot ist.« Weder Glay noch Glinnes erwiderten etwas darauf. Glay legte sein Messer auf den Kaminsims aus rauchgeschwärztem alten Kaban-Holz. Glinnes setzte sich. »Wir sollten lieber wegen der Ambal-Insel reinen Tisch machen.« Glay lehnte sich an die Wand und musterte Glinnes mit düsterem Blick. »Darüber gibt es nichts zu sagen. Ich habe die Insel an Lute Casagave verkauft.« »Dieser Verkauf war nicht nur unklug, sondern auch ungesetzlich. Ich habe die Absicht, den Vertrag zu annullieren.« »Tatsächlich – und wie willst du das anfangen?« »Wir werden das Geld zurückgeben und Casagave ersuchen, das Land zu verlassen. Die Sache ist ganz einfach.« »Wenn du zwölftausend Ozols hast.« »Ich habe sie nicht – aber du.« Glay schüttelte langsam den Kopf. »Nicht mehr.« »Wo ist das Geld?« »Ich habe es jemandem gegeben.« »Wem?« »Einem Mann namens Junius Farfan. Ich gab es ihm, er nahm es an – ich kann es nicht wieder zurückverlangen.« »Ich glaube, wir sollten Junius Farfan aufsuchen – jetzt gleich.« Glay schüttelte den Kopf. »Mißgönne mir doch nicht dieses Geld. Du hast deinen Teil bekommen – du bist Squire von Rabendary. Laß mich Ambal als meinen Anteil haben.« »Es geht überhaupt nicht um Anteile, oder wem
was gehört«, sagte Glinnes mühsam beherrscht. »Rabendary gehört uns beiden. Es ist unsere Heimat.« »So kann man die Sache gewiß auch sehen«, sagte Glay. »Aber ich war nun einmal anderer Ansicht. Wie ich dir schon gesagt habe, vieles hat sich geändert.« Glinnes lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sprachlos vor Entrüstung. »Laß es doch auf sich beruhen«, sagte Glay müde. »Ich habe mir Ambal genommen; du hast dafür Rabendary. Das ist schließlich nur gerecht. Ich werde sofort ausziehen und dir deinen Besitz überlassen.« Glinnes versuchte herauszuschreien, daß er das nicht wollte, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Er konnte nur sagen: »Wie du willst. Ich hoffe nur, du wirst es dir noch anders überlegen.« Glays einzige Antwort war ein geheimnisvolles Lächeln, das für Glinnes überhaupt keine Antwort war. »Etwas anderes«, sagte Glinnes. »Was ist mit diesen Trevanyi da drüben?« »Es sind Leute, mit denen ich eine Zeitlang unterwegs war – die Drossets. Hast du etwas gegen ihr Hiersein einzuwenden?« »Sie sind deine Freunde. Wenn du schon darauf bestehst, dich anderswo niederzulassen, warum nimmst du dann nicht deine Freunde mit?« »Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen werde«, sagte Glay. »Wenn du sie loswerden willst, dann sag ihnen doch einfach, daß sie gehen sollen. Du bist Squire von Rabendary, nicht ich.« »Er ist nicht Squire, bevor wir über Shiras Schicksal Gewißheit haben!« warf Marucha ein. »Shira ist tot«, sagte Glay. »Trotzdem hat Glinnes einfach kein Recht, heim-
zukommen und sofort Schwierigkeiten zu machen. Er ist wirklich genauso ein Dickkopf wie Shira und sein Vater.« »Ich mache keine Schwierigkeiten. Ihr macht sie«, sagte Glinnes. »Ich muß jetzt von irgendwo zwölftausend Ozols auftreiben, um die Ambal-Insel zu retten, und eine Bande Trevanyi verjagen, bevor sie ihren ganzen Stamm herholen. Es ist ein Glück, daß ich jetzt heimgekommen bin, wo wir überhaupt noch ein Heim haben.« Glay schenkte sich mit steinerner Miene Apfelwein in einen Becher. Die ganze Angelegenheit schien ihn nur zu langweilen... Von draußen jenseits der Wiese kam ein ächzendes, knirschendes Geräusch, gefolgt von einem gewaltigen Krachen. Glinnes ging auf die Veranda nachsehen. Er kam rasch zu Glay zurück. »Deine Freunde haben eben einen unserer ältesten Borkennußbäume gefällt.« »Einen von deinen Bäumen«, sagte Glay mit feinem Lächeln. »Du wirst sie nicht fortschicken?« »Sie würden nicht auf mich hören. Ich stehe in ihrer Schuld.« »Haben sie auch Namen?« »Der Häuptling ist Vang Drosset. Sein Weib heißt Tingo. Die Söhne heißen Ashmor und Harving. Die Tochter heißt Duissane. Die Alte heißt Immifalda.« Glinnes ging zu seinem Gepäck und holte seine Dienstpistole heraus, die er in die Tasche schob. Glay sah es und verzog sardonisch den Mund, murmelte dann Marucha einige Worte zu, während Glinnes wütend hinausmarschierte.
Das sanfte Licht des Nachmittages ließ alles in der Nähe mit ungewöhnlicher Farbkraft leuchten, während es die Ferne in einen schimmernden Schleier hüllte. Glinnes war erfüllt von einem Widerstreit der verschiedensten Gefühle: Kummer, Sehnsucht nach den goldenen Zeiten von früher, Bitterkeit, Zorn auf Glay, den er nicht zu unterdrücken vermochte, obwohl er es versuchte. Er näherte sich dem Lager, und sechs Augenpaare beobachteten jeden seiner Schritte, schätzten ihn aufmerksam ab. Das Lager war nicht besonders sauber, allerdings auch nicht zu sehr verschmutzt; Glinnes hatte schon weit Ärgeres gesehen. Zwei Feuer brannten. An dem einen hockte ein Bursche und drehte einen Spieß voll fetter junger Waldhühner. Ein Kessel über dem anderen Feuer verströmte einen stechenden Kräutergeruch: die Drossets bereiteten offenbar eine Portion Trevanyi-Bier zu, das nach längerem Genuß die Augäpfel auffallend goldgelb färbte. Die Frau, die in der Brühe rührte, hatte strenge, scharfgeschnittene Züge. Ihr Haar war grellrot gefärbt und hing ihr in zwei Zöpfen über den Rücken. Glinnes machte einen Bogen, um dem säuerlichen Gestank auszuweichen. Von dem umgestürzten Baum kam jetzt ein Mann heran, der die abgefallenen Borkennüsse gesammelt hatte. Zwei ungeschlachte junge Männer schlenderten hinterher. Alle drei trugen schwarze Hosen, die in weiche schwarze Stiefel gestopft waren, weite Hemden aus gelblicher Seide, bunte Halstücher – das typische Trevanyi-Kostüm. Vang Drosset hatte einen flachen, schwarzen Hut ins Genick geschoben, so daß sein hellbraunes, dichtgelocktes Haar sichtbar wurde.
Seine Haut hatte die Farbe von trockenem Biskuit, und seine Augen glommen gelb, als würden sie von innen erleuchtet. Alles in allem ein eindrucksvoller Typ, mit dem bestimmt nicht gut Kirschen essen war, dachte Glinnes. Er sagte: »Du bist Vang Drosset? Ich bin Glinnes Hulden, Squire von Rabendary. Ich muß dich ersuchen, dein Lager hier abzubrechen.« Vang Drosset winkte seinen Söhnen, zwei Korbsessel zu bringen. »Oh. Setzt Euch und nehmt eine Erfrischung an«, sagte Vang Drosset. »Dann wollen wir über unser Weggehen reden.« Glinnes lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich stehe lieber.« Wenn er sich setzte und ihren Tee trank, verpflichtete er sich ihnen, und sie konnten eine Gunst von ihm fordern. Er blickte an Vang Drosset vorbei zu dem Jungen, der den Bratspieß drehte, und stellte fest, daß es gar kein Junge war, sondern ein schlankes, hübsches Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren. Vang Drosset rief ihr über die Schulter ein Wort zu; das Mädchen stand auf und ging in das schmutzigrote Zelt. Bevor es verschwand, warf es einen Blick über die Achsel zurück. Glinnes sah ein zartes Gesicht mit von Natur aus goldenen Augen und rotgoldene Locken, die ihm wirr über die Ohren und in den Nacken hingen. Vang Drosset grinste, daß seine prächtigen weißen Zähne aufblitzten. »Was nun das Abbrechen unseres Lagers angeht, so ersuche ich Euch um die Erlaubnis, bleiben zu können. Wir machen ja keinen Schaden.« »Da bin ich nicht so sicher. Trevanyi sind ungemütliche Nachbarn. Wild und Geflügel verschwinden, und unsere Sachen auch.« »Wir haben weder Wild noch Geflügel gestohlen«,
sagte Vang Drosset sanft. »Ihr habt einen prächtigen Baum vernichtet, nur um leichter an die Nüsse zu kommen.« »Der Wald ist voller Bäume. Wir brauchten Feuerholz. Die Sache ist doch belanglos.« »Für euch vielleicht. Weißt du, daß ich als Junge auf diesem Baum gespielt habe? Schau! Dort habe ich mein Zeichen eingeschnitten! In dieser Astgabel habe ich mir ein Baumhaus gebaut, in dem ich manchmal auch übernachtete. Ich habe diesen Baum geliebt!« Vang Drosset verzog das Gesicht bei dem Gedanken, ein Mann könne einen Baum lieben. Seine beiden Söhne lachten verächtlich, wandten sich ab und begannen, Messerwerfen zu üben. Glinnes ließ sich nicht beirren. »Und wieso Brennholz? Der Wald ist voll von dürrem Holz. Ihr braucht es nur zu holen.« »Ein weiter Weg für Leute mit müdem Rücken.« Glinnes wies auf den Bratspieß. »Diese Vögel – die sind noch nicht ausgewachsen, keiner hat eine Brut aufgezogen. Wir jagen nur die dreijährigen Vögel, die ihr zweifellos alle schon aufgefressen habt, und vermutlich die zweijährigen auch schon. Wenn ihr jetzt noch über die Jährlinge herfallt, wird es hier bald keine Waldhühner mehr geben. Und dort, in dem Korb – die Bodenfrüchte. Ihr habt die ganzen Pflanzen ausgerissen, mitsamt der Wurzel; ihr habt unsere zukünftige Ernte zerstört! Du sagst, ihr macht keinen Schaden? Ihr verwüstet das Land – der Schaden wird in zehn Jahren noch zu spüren sein! Packt eure Zelte zusammen, beladet eure Wagen* und verschwindet.« *
Die Wagen der Trevanyi sind breite schwere Boote mit Rädern, Land- und Wasserfahrzeuge gleichzeitig.
»Das ist keine freundliche Sprache, Squire Hulden«, sagte Vang tonlos. »Wie soll man jemanden freundlich vom eigenen Grund und Boden weisen?« fragte Glinnes. »Das ist nicht gut möglich. Du verlangst zu viel.« Vang Drosset wandte sich mit einem ärgerlichen Zischlaut ab und starrte über die Wiese. Ashmor und Harving beschäftigten sich gerade mit einem erstaunlichen Trevanyi-Kunststück, das Glinnes noch nie zuvor gesehen hatte. Sie standen etwa zehn Meter voneinander entfernt, und jeder schleuderte abwechselnd ein Messer nach dem Kopf des anderen. Der, auf den gezielt wurde, riß seinen eigenen Dolch hoch und fing damit irgendwie die heranwirbelnde Waffe auf, so daß sie wegprallte. »Trevanyi hat man besser zum Freund als zum Feind«, sagte Vang Drosset leise. »Du kennst vielleicht das Sprichwort: ›Östlich von Zanzamar9 leben die freundlichen Trevanyi‹«, erwiderte Glinnes. Vang Drosset bekam einen Unterton von falscher Unterwürfigkeit. »Aber wir sind nicht so schlimm, wie man uns nachsagt! Wir tragen zu den Freuden von Rabendary bei! Wir werden bei Euren Festen Musik machen; wir sind in allen Messertänzen bewandert...« Er schnippte mit den Fingern, und seine beiden Söhne begannen zuckend im Kreis zu springen und ließen ihre Messer blitzend hochwirbeln. Zufall, Scherz oder Mordabsicht – plötzlich sauste ein Messer auf Glinnes' Kopf zu. Vang Drosset schrie 9
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auf, was genauso ein Ausdruck von Freude wie eine Warnung sein konnte. Glinnes hatte jedoch etwas derartiges erwartet. Er duckte sich, und das Messer fuhr ein Stück hinter ihm in den Boden. Glinnes riß seine Waffe heraus; die Mündung spie blaues Feuer, und das eine Ende des Bratspießes flammte auf. Die brutzelnden Vögel plumpsten in die Glut. Das Mädchen Duissane kam aus dem Zelt gestürzt, und das Feuer in seinen Augen war nicht weniger gefährlich als der Strahl der Waffe. Sie griff nach dem Spieß und verbrannte sich die Hand; endlich gelang es ihr, die Vögel mit einem Stock aus der Glut zu stoßen. Sie fluchte und schimpfte dabei, ohne auch nur Atem zu schöpfen: »Du abscheulicher Urush10, jetzt hast du unser Essen ruiniert! Haare sollen dir auf der Zunge wachsen! Du mit deinem abstoßenden Wanst voller Hundegedärme, scher dich weg, bevor wir dich Fanscher heißen, du hinterhältiger Spießbürger! Wir kennen dich, keine Sorge! Du bist ein schlimmerer Spageen11 als dein Bock von Bruder; übel wie er war sonst nicht so bald einer...« Vang Drosset hob die geballte Faust. Das Mädchen verstummte und begann wütend die Asche von den Vögeln zu kratzen. Vang Drosset wandte sich zu Glinnes zurück, ein ungutes Lächeln um den Mund. »Das war nicht sehr freundlich«, sagte er. »Haben Euch die Messerspiele nicht gefallen?« »Nicht besonders«, sagte Glinnes. Er zog sein eigenes, neues Messer und hob den Trevanyi-Dolch auf. Er schnitt ein Stück von der Klinge weg, als schälte er 10 11
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einen Zweig. Die Drossets schauten gebannt zu. Glinnes steckte sein Messer weg und sagte: »Das Freiland liegt nur eine Meile entfernt am IlfischGewässer. Dort könnt ihr lagern, ohne jemandem zu schaden.« »Wir waren vorher auf dem Freiland«, schrie Duissane. »Der Spageen Shira hat uns eingeladen; genügt dir das nicht?« Glinnes konnte sich nicht vorstellen, was die Ursache für Shiras Großzügigkeit gewesen sein mochte. »Ich dachte, es war Glay, der mit euch gezogen ist.« Vang Drosset gab dem Mädchen wieder einen Wink. Duissane wandte sich ab und brachte die Vögel zu einem wackeligen Tisch. »Morgen brechen wir auf«, sagte Vang Drosset mit singender, schicksalsschwerer Stimme. »Forlostwenna12 ist über uns gekommen; so sind wir bereit zum Weiterziehen.« »Ihr könnt Glay begleiten«, sagte Glinnes. »Forlostwenna ist auch über ihn gekommen.« Vang Drosset spuckte auf die Erde. »Fanscherade ist über ihm, das ist es. Er ist jetzt zu gut für uns.« »Und zu gut für dich«, murmelte Harving. Fanscherade? Das Wort war ihm unbekannt, aber er würde die Drossets um keine Erläuterung bitten. Er grüßte kühl und wandte sich um. Als er über die Wiese ging, bohrten sich sechs Paar Augen in seinen Rücken. Er war froh, als er außer Sichtweite eines geschleuderten Messers war.
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KAPITEL 5 Avness nannte man jene blaßdämmrige Stunde kurz vor Sonnenuntergang – eine trübsinnige, stille Tageszeit, in der alle Farben verblaßten und die Landschaft seltsam dimensionslos wurde, dunstige Silhouetten, die sich ohne räumliche Tiefe hintereinander reihten. Avness war die Morgendämmerung, eine Zeit, die dem Gemüt der Trill wenig behagte. Die Trill hatten keine Ader für melancholische Besinnlichkeit. Als Glinnes ins Haus zurückkam, war es leer: sowohl Glay wie Marucha waren fortgegangen. Glinnes' Stimmung verdüsterte sich noch um einige Grade. Er ging auf die Veranda hinaus und blickte zu den Zelten der Drossets hinüber, schon halb entschlossen, sie zu einem Abschiedsfest herüberzuholen – eigentlich vor allem Duissane, die zweifelsohne ein faszinierendes Geschöpf war, trotz hitzigem Gemüt und übler Laune. Glinnes versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussehen mochte, wenn sie freundlich gestimmt war... Duissane würde jedem Fest Glanz verleihen... Absurder Einfall. Vang Drosset würde ihm beim geringsten Verdacht das Herz herausschneiden. Glinnes kehrte ins Haus zurück und schenkte sich frischen Wein ein. Er öffnete die Speisekammer und musterte den spärlichen Inhalt. Welch ein Kontrast zu der Üppigkeit vergangener, glücklicherer Zeit! – Er vernahm das Plätschern und Rauschen eines durchs Wasser schneidenden Bugs. Glinnes trat auf die Veranda und sah dem herangleitenden Boot entgegen. Nicht Marucha war es, wie er erwartet hatte, sondern
ein hagerer, langarmiger Mann mit schmalen Schultern und spitzen Ellbogen, der einen Anzug aus dunkelbraunem und blauem Samt des Schnittes trug, wie ihn der Adel bevorzugte. Schütteres, braunes Haar hing ihm fast bis auf die Schultern; seine Miene war sanft und freundlich, aber seine Augen und ein gewisser Zug um seinen Mund verrieten einen Hang zu koboldhafter Bosheit. Glinnes erkannte Janno Akadie, den Mentor, den er als wortgewandten, witzigen, manchmal sarkastischen oder auch ätzend spöttischen Partylöwen in Erinnerung hatte, einen Mann, der nie um ein Epigramm, eine Anspielung oder einen tiefgründigen Spott verlegen war. Akadie beeindruckte viele, doch Jut Hulden hatte sich in seiner Gegenwart nie recht wohlgefühlt. Glinnes ging zum Bootssteg hinunter, fing die Anlegeleine auf und machte sie am Poller fest. Akadie sprang geschickt an Land und begrüßte Glinnes überschwenglich. »Ich habe vernommen, daß du wieder hier bist, und konnte es einfach nicht erwarten, dich aufzusuchen. Es ist eine Freude, dich wieder unter uns zu haben!« Glinnes gab die notwendigen höflichen Antworten, und Akadie nickte mit etwas ungewohnter Herzlichkeit. »Ja, ja, es hat viele Veränderungen gegeben seit deiner Abreise – und ich nehme an, daß nicht alle nach deinem Geschmack sein dürften.« »Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber«, sagte Glinnes vorsichtig, aber Akadie ging darüber hinweg und blickte zu dem dunklen Haus hinauf. »Deine liebe Mutter ist nicht daheim?« »Ich weiß nicht, wo sie ist, aber komm doch mit herauf und trink einen Becher Wein mit mir.«
Akadie nickte zustimmend. Die beiden wanderten vom Bootssteg zum Haus hinauf. Akadie warf einen Blick zum Waldrand, wo das Lagerfeuer der Drossets als flackernder, orangeroter Schein zu sehen war. »Die Trevanyi sind noch hier, wie ich feststelle.« »Sie brechen morgen auf.« Akadie nickte weise. »Das Mädchen ist bezaubernd, aber ein bißchen unheimlich – es kommt einem vor, als habe ihr das Schicksal eine besondere Rolle zugedacht. Ich frage mich, wem sie zum Schicksal werden wird.« Glinnes zog die Brauen hoch; es war ihm nicht eingefallen, Duissane in diesem geheimnisvollen Licht zu betrachten, aber Akadies Bemerkung berührte ihn doch seltsam. »Da hast du recht, sie ist ein bemerkenswertes Mädchen.« Akadie machte es sich in einem der alten Flechtstühle auf der Veranda gemütlich. Glinnes brachte Wein, Käse und Nüsse heraus, und eine Weile betrachteten die beiden Männer schweigend das Schauspiel des Sonnenuntergangs mit seinen blassen, verwischten Farben. »Ich nehme an, du hast Urlaub bekommen?« sagte Akadie schließlich. »Nein. Ich habe den Whelm endgültig verlassen. Ich bin ja jetzt anscheinend Squire von Rabendary – falls Shira nicht wieder auftaucht, was niemand für wahrscheinlich hält.« »Zwei Monate lassen allerdings das Schlimmste befürchten«, bemerkte Akadie etwas salbungsvoll. »Was, glaubst du, ist ihm zugestoßen?« Akadie nippte an seinem Wein. »Ich weiß nicht mehr als du, trotz meines Rufes.«
»Offen gesagt, mir ist die Situation unverständlich«, sagte Glinnes. »Warum hat Glay Ambal verkauft? Ich verstehe es einfach nicht; er gibt mir weder eine Erklärung noch das Geld zurück, so daß ich den Vertrag annullieren könnte. Ich hätte mir nie gedacht, daß ich daheim auf so viele Schwierigkeiten stoße. Was hältst denn du von der Angelegenheit?« Akadie stellte bedächtig seinen Becher auf den Tisch zurück. »Wünschst du mich beruflich zu konsultieren? Du verschwendest höchstwahrscheinlich dein Geld, denn offengestanden, ich sehe keinen Ausweg aus deinen Schwierigkeiten.« Glinnes seufzte geduldig. Das war wieder der Akadie, bei dem er nie recht wußte, wie er ihn behandeln sollte. Er sagte: »Wenn du mir von Nutzen bist, honoriere ich das natürlich.« Mit einiger Genugtuung bemerkte er, daß Akadie leicht verdrießlich den Mund spitzte. Akadie überlegte. »Hmmm. Natürlich kann ich mich nicht für beiläufige Gerüchte bezahlen lassen. Ich muß dir nützen, wie du es ausgedrückt hast. Manchmal ist die Trennungslinie zwischen einem freundschaftlichen Gefallen und professioneller Hilfe sehr schwer zu ziehen. Ich schlage vor, daß wir uns auf das eine oder andere einigen.« »Du kannst es als Konsultation ansehen«, sagte Glinnes, »denn es sieht so aus, als ob ich wirklich handfesten Rat brauchte.« »Sehr gut. Worüber willst du mich um Rat fragen?« »Über die allgemeine Lage. Ich möchte mir über die Situation klarwerden, denn ich tappe im Dunkeln. Zunächst – die Insel Ambal, die zu verkaufen Glay keinerlei Recht hatte.«
»Dabei gibt es kein Problem. Gib das Geld zurück und annulliere den Vertrag.« »Glay will mir das Geld nicht geben, und ich habe natürlich nicht zwölftausend Ozols an eigenen Mitteln.« »Eine schwierige Situation«, mußte Akadie zugeben. »Shira hat sich natürlich geweigert zu verkaufen. Der Handel wurde erst nach seinem Verschwinden abgeschlossen.« »Hmmm. Worauf willst du hinaus?« »Auf gar nichts. Ich gebe dir Tatsachen bekannt, aus denen du deine Schlüsse ziehen magst, wie es dir beliebt.« »Wer ist Lute Casagave?« »Ich weiß es nicht. Dem Anschein nach ist er ein kultivierter Mann mit gesetzten Gewohnheiten, der sich für Genealogie interessiert. Er stellte einen Überblick über den hiesigen Adel zusammen, behauptet er jedenfalls. Selbstverständlich können seine Motive eine ganz andere Grundlage haben als nur das Interesse eines Amateurs. Vielleicht versucht er, einen Anspruch auf einen der hiesigen Titel geltend zu machen? Wenn dem so ist, dann haben wir recht interessante Ereignisse vor uns... Hmmm. Was weiß ich noch über den geheimnisvollen Lute Casagave? Er behauptet, ein Bole von Ellent zu sein. Alastor 485, wie dir gewiß bekannt ist. In dieser Hinsicht habe ich meine Zweifel.« »Wieso?« »Ich bin ein aufmerksamer Beobachter, wie du weißt. Nach einem kleinen Essen in seinem Herren-
haus zog ich meine Bibliothek zu Rate. Ich stellte fest, daß sonderbarerweise ein sehr großer Prozentsatz der Bolen Linkshänder sind. Casagave ist Rechtshänder. Die meisten Bolen sind tief religiös; ihr Ort der Verdammnis ist der Schwarze Ozean um den Südpol von Ellent; gräßliche Meereswesen bewachen die Seelen der Verdammten. Auf Ellent bedeutet es, sich in den Einfluß des Bösen zu begeben, wenn man irgend etwas aus dem Meer ißt. Kein Bole ißt Fisch. Und doch hat Lute Casavage in aller Gemütsruhe ein Seespinnenragout verspeist, und danach einen prächtigen, gegrillten Entenfisch, der ihm nicht weniger geschmeckt hat als mir. Ist Lute Casagave ein Bole?« Akadie breitete die Hände aus. »Ich weiß es nicht.« »Aber warum sollte er eine falsche Herkunft vortäuschen? Außer...« »Genau. Trotzdem kann es eine ganz harmlose Erklärung dafür geben. Vielleicht ist er ein Bole, der sich angepaßt hat. Übermäßiges Mißtrauen ist genauso von Nachteil wie Naivität.« »Zweifellos. Nun, aber das ist nebensächlich. Ich kann ihm so oder so sein Geld nicht geben, weil Glay es nicht herausrückt. Weißt du, wo es hin ist?« »Das weiß ich.« Akadie warf Glinnes einen schrägen Blick zu. »Ich muß dich darauf hinweisen, daß dies eine Information der Klasse Zwei ist, und ich mein Honorar danach berechnen muß.« »Geht in Ordnung«, sagte Glinnes. »Wenn es mir übertrieben scheint, kannst du es ja nochmals berechnen. Wo ist das Geld?« »Glay gab es einem Mann namens Junius Farfan, der in Welgen lebt.«
Glinnes runzelte die Stirn und starrte auf die Ambal-Bucht hinaus. »Diesen Namen habe ich schon gehört.« »Sehr wahrscheinlich. Er ist der Leiter der hiesigen Fanscher.« »Oh? Und warum sollte Glay ihm Geld geben? Ist Glay auch ein Fanscher?« »Wenn er's noch nicht ist, so fehlt jedenfalls nicht mehr viel. Bis jetzt hat er allerdings noch nicht ihre sonderbaren Bräuche angenommen.« Plötzlich fiel Glinnes etwas ein. »Diese trübsinnigen grauen Kleider? Das kurzgeschorene Haar?« »Das sind nur äußere Symbole. Die Bewegung hat natürlich ziemlich erbitterte Reaktionen hervorgerufen, und das mit Recht. Die Grundsätze der Fanscherade stehen in so krassem Gegensatz zum konventionellen Verhalten, daß sie beinahe als asozial zu bezeichnen sind.« »Das sagt mir alles nichts«, knurrte Glinnes. »Ich habe bis heute nichts von der Fanscherade gehört.« Akadie sprach in seinem belehrenden Tonfall: »Der Name leitet sich aus dem alten Glottischen her: Fan bedeutet eine uneingeschränkte Verehrung und Bewunderung von Ruhm. Im Grunde genommen ist die ganze These nicht viel mehr als eine Binsenwahrheit: das Leben ist etwas so Kostbares, daß es möglichst vorteilhaft genutzt werden sollte. Wer könnte dagegen etwas einwenden? Die Fanscher aber setzen die Idee in einer Weise in die Tat um, daß sie überall feindselige Reaktionen hervorrufen. Sie glauben, daß jeder Mensch sich irgendwelche hehren Ziele setzen und nach ihrer Verwirklichung streben muß. Wenn er versagt, so hat er wenigstens ehrenhaft versagt und
hat die Genugtuung, sein Leben richtig genutzt zu haben. Erreicht er sein Ziel...« Akadie verzog das Gesicht. »Wer kommt in diesem Leben schon je zum Ziel? Der Tod ist das Ziel. Trotzdem – die Fanscherade ist im Grunde ein bewundernswertes Ideal.« Glinnes gab einen skeptischen Knurrlaut von sich. »Die fünf Billionen Menschen von Alastor – alle sich nach hehren Zielen abmühend? Es gäbe keinen Frieden und keine Ruhe mehr.« Akadie nickte lächelnd. »Du mußt verstehen, Fanscherade ist keine Weltanschauung für fünf Billionen. Fanscherade ist der verzweifelte Aufschrei von einzelnen, die Einsamkeit eines einzigen Menschen, der sich in der Unendlichkeit verloren glaubt. Durch die Fanscherade lehnt sich dieser Einzelne gegen die Anonymität auf, er will seine persönliche Größe beweisen, sich von der Masse abheben.« Akadie schwieg einen Augenblick und zuckte dann die Achseln. »Man könnte sagen, daß der einzige wahrhaft erfolgreiche Fanscher der Connat wäre.« Er trank seinen Wein aus. Die Sonne war nun untergegangen. Eine Schicht eisgrüner Zirren zog sich über den Himmel und lief im Süden und Norden in rosafarbene, violette und zitronengelbe Fasern und Streifen aus. Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend da. Schließlich sagte Akadie leise: »Also – dieses ist die Fanscherade. Die wenigsten Fanscher begreifen ihre neue Weltanschauung überhaupt richtig; schließlich sind die meisten nicht viel mehr als Kinder, denen die Trägheit, die erotischen Ausschweifungen, die Verantwortungslosigkeit und die schlampige Erscheinung ihrer Eltern ein Greuel geworden sind. Sie leh-
nen Cauch, Wein und die üppigen Feste ab – alles Dinge, die dem momentanen Lebensgenuß dienen. Vielleicht liegt ihr eigentliches Ziel darin, ein neues und anderes Bild von sich selbst zu gewinnen. Sie kultivieren eine unauffällige äußere Erscheinung, weil sie der Ansicht sind, daß ein Mensch nach seinem Verhalten beurteilt werden sollte und nicht nach irgendwelchen äußeren Symbolen, die ihm seine Laune gerade eingibt.« »Eine Schar lästiger und unreifer Unzufriedener!« brummte Glinnes. »Wie können sie sich das Recht herausnehmen, die Lebensweise so vieler anderer, erfahrenerer und vernünftigerer Menschen zu kritisieren?« »Ah ja!« seufzte Akadie. »Das zumindest ist nichts Neues.« Glinnes schenkte Wein in die Becher nach. »Das alles kommt mir so närrisch, unsinnig und nutzlos vor. Was wünschen sich die Menschen vom Leben? Wir Trills haben alles, was unser Dasein lebenswert macht: Essen, Musik, Feste. Was ist schlecht daran? Wofür sollte man sonst leben? Diese Fanscher sind wie griesgrämige Hunde, die mürrisch die Sonne ankläffen.« »Oberflächlich gesehen ist die Sache wirklich absurd«, sagte Akadie. »Andererseits...« Er zuckte die Achseln. »Ihr Standpunkt hat eine gewisse Größe. Unzufriedene – ja, aber weshalb sind sie unzufrieden? Weil sie der uralten Sinnlosigkeit des Lebens einen Sinn abgewinnen wollen; weil sie dem elementaren Chaos den Stempel menschlichen Willens aufdrücken wollen; weil sie sich danach sehnen, den Glanz und die Einzigartigkeit eines Individuums zu
beweisen, eines Individuums, das nur eines von fünf Billionen gesichtslosen anderen ist. Darin steckt ein verzweifelter, wilder Mut.« »Das hört sich an, als wärst du selbst ein Fanscher«, schnaubte Glinnes. Akadie schüttelte den Kopf. »Es gibt schlechtere Anschauungen, aber nein – ich bin nicht dafür. Fanscherade ist ein Zeitvertreib für Jüngere. Ich bin zu alt dazu.« »Was halten sie von der Hussade?« »Sie bezeichnen das Spiel als sinnlose Ersatzhandlung, die die Menschen von den wahren Qualitäten des Lebens ablenkt.« Glinnes schüttelte erstaunt den Kopf. »Wenn ich denke, daß das Trevanyi-Mädchen mich einen Fanscher nannte!« »Fürwahr eine seltsame Vorstellung!« sagte Akadie. Glinnes warf Akadie einen mißtrauischen Blick zu, begegnete aber nur einer Miene unschuldiger Gleichgültigkeit. »Wie ist die Fanscherade entstanden? Ich erinnere mich an keinen derartigen Trend.« »Das Rohmaterial lag schon lange bereit, würde ich annehmen. Es hat nur noch eines ideologischen Funkens bedurft.« »Und wer ist dieser Funkenschläger der Fanscherade?« »Junius Farfan. Er lebt in Welgen.« »Junius Farfan hat mein Geld!« Akadie erhob sich. »Ich glaube, ich höre ein Boot. Das muß endlich Marucha sein.« Er ging zur Anlegestelle, und Glinnes folgte langsam. Hinter einem weißen Schaumkeil schoß das Boot über das Ilfisch-
Gewässer in die Ambal-Bucht herein und schwenkte zur Anlegestelle. Glinnes nahm Glay die Leine ab und machte sie fest. Marucha sprang munter auf den Steg herüber. Glinnes starrte verblüfft ihre Kleidung an: ein strenges, weißes Leinenkleid, knöchelhohe schwarze Stiefel und eine schwarze Glockenhaube, die ihr Haar verdeckte und so ihre Ähnlichkeit mit Glay betonte. Akadie trat vor. »Ich bedaure, daß ihr nicht hier wart. Aber Glinnes und ich haben eine recht angenehme Unterhaltung gehabt. Wir haben über die Fanscherade gesprochen.« »Wie schön!« sagte Marucha. »Hast du ihn bekehrt?« »Das würde ich kaum annehmen«, meinte Akadie grinsend. »Der Same muß ruhen, bevor er keimt.« Glay war etwas abseits stehengeblieben und gab sich sardonischer denn je. Akadie fuhr fort: »Ich habe dir einige Dinge mitgebracht. Dies« – er gab Marucha ein kleines Fläschchen – »ist ein Sensitivierungsmittel; es macht den Geist in höchstem Maße aufnahmefähig und steigert das Lernpotential. Gib aber acht, daß du nicht mehr als eine Kapsel auf einmal nimmst, sonst wirst du hypersensitiv.« Er überreichte Marucha einige Bücher. »Hier ist ein Handbuch der mathematischen Logik, eine Abhandlung über Minichronik, und eine Einführung in die Kosmologie. Alles ist für dein Projekt wichtig.« »Sehr gut«, sagte Marucha etwas steif. »Ich frage mich, wie ich mich erkenntlich zeigen könnte?«* *
Die Frage »Was schulde ich dir?« gilt auf Trullion als unhöflich, denn Großzügigkeit in allen materiellen Dingen ist die Norm.
»Nun, ein Betrag in der Größenordnung von fünfzehn Ozols wäre mehr als genug«, sagte Akadie. »Aber das hat natürlich keine Eile. Ich muß jetzt wohl doch aufbrechen. Es ist schon ziemlich dunkel geworden.« Trotzdem zögerte Akadie seine Abfahrt hinaus, bis Marucha fünfzehn Ozols in seine schlaffe Hand gezählt hatte. »Gute Nacht, mein Freund.« Sie und Glay gingen zum Haus hinauf. Glinnes fragte: »Und was werde ich dir für die Konsultation aufdrängen dürfen?« »Ach ja, laß mich überlegen. Zwanzig Ozols wären mehr als großzügig, wenn meine Informationen dir von Nutzen waren.« Glinnes gab ihm den Betrag und dachte sich, daß Akadie seine Kenntnisse ziemlich hoch einschätzte. Akadie startete sein Boot und fuhr über das FarwanGewässer in Richtung Saur-Fluß davon, von dem er dann über die Tethryn-Bucht und die Vernice-Straße zu seinem seltsamen alten Herrenhaus auf der Insel Sarpassante gelangte. Im Haus auf der Insel Rabendary leuchtete das Licht auf. Glinnes ging langsam zur Veranda hinauf, wo Glay stand und ihm entgegenblickte. »Ich habe erfahren, was du mit dem Geld getan hast«, sagte Glinnes. »Du hast Ambal für einen absurden Unfug verschleudert.« »Wir haben über die Angelegenheit mehr als genug geredet. Morgen früh verlasse ich dein Haus. Marucha möchte, daß ich bleibe, aber ich glaube, ich werde mich woanders wohler fühlen.« »Erst ein verdammtes Durcheinander stiften, und sich dann verdrücken, ja?« Die Brüder funkelten ein-
ander an, bis Glinnes sich schroff abwandte und ins Haus ging. Marucha saß über den Fachbüchern, die Akadie ihr besorgt hatte. Glinnes machte den Mund auf, überlegte es sich anders und ging wieder auf die Veranda hinaus, um dort vor sich hinzubrüten. Drinnen unterhielten sich Glay und Marucha mit gedämpfter Stimme.
KAPITEL 6 Am nächsten Morgen packte Glay seine Besitztümer zusammen, und Glinnes brachte ihn nach Saurkash. Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Als er vom Boot auf den Pier von Saurkash stieg, sagte Glay: »Ich werde nicht weit weg sein, zumindest in der nächsten Zeit nicht. Vielleicht werde ich mich auf dem Freiland niederlassen. Akadie weiß, wo ich zu finden bin, falls ich gebraucht werde. Versuch ein wenig freundlich zu Marucha zu sein. Ihr Leben war nicht glücklich, und wenn sie jetzt noch einmal von vorn anfangen will, was schadet es?« »Bring diese zwölftausend Ozols zurück, dann würde ich vielleicht mehr auf deine Ratschläge geben«, sagte Glinnes. »Im Augenblick erwarte ich von dir nichts als Unsinn.« »Du bist ein Narr«, sagte Glay brüsk, wandte sich um und ging über den Pier davon. Glinnes sah ihm nach. Schließlich fuhr er wieder los, aber nicht nach Rabendary zurück, sondern nach Westen in Richtung Welgen. Nach einer Fahrt von weniger als einer Stunde über friedliche Wasserwege erreichte er die BlacklynBucht, in der der breite Fluß Karbashe von Norden her einmündete, während sie sich im Süden nach ein paar Meilen zum Südmeer öffnete. Glinnes machte sein Boot an der öffentlichen Anlegestelle fest, die unmittelbar beim Hussade-Stadion lag, einem mächtigen Gerüstbau aus graugrünen Menaholzpfeilern und schwarzen Eisenverstrebungen. Er entdeckte ein großes, pergamentfarbenes Pla-
kat, das mit roten und blauen Lettern verkündete: DER HUSSADE-VEREIN FLEHARISH-BUCHT STELLT EINE MANNSCHAFT FÜR AUSSCHEIDUNGSKÄMPFE ZUSAMMEN!!! Entsprechend qualifizierte Bewerber mögen sich an den Vereinssekretär Jeral Estang oder an den ehrenwerten Gründer und Sponsor, Thammas, Lord Gensifer wenden. Glinnes las das Plakat ein zweitesmal und fragte sich, woher Lord Gensifer die Leute für eine Mannschaft von Ausscheidungskampfniveau bekommen wollte. Vor zehn Jahren noch hatte ein gutes Dutzend Mannschaften in den Fens gespielt: die Welgener Sturmteufel, die Unschlagbaren vom Hussadeverein Altramar, die Voulsh-Gialospans13 von der Großen Ratteninsel, die Gaspar-Magier, die Saurkash-Schlangen – der nicht besonders organisierte und leichtfertige Verein, für den er und Jut und Shira gespielt hatten – dann die Gorgets vom Loressamy-Hussadeverein, und noch einige andere von verschiedenster Qualität und andauernd wechselnder Besetzung. Der Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Vereinen war hart gewesen; tüchtige Spieler waren gesucht und wurden verhätschelt und verwöhnt. Glinnes hatte keinen Anlaß zu zweifeln, daß die Situation jetzt ähnlich war. Als er sich vom Stadion entfernte, begann ein neuer Gedanke in seinem Gehirn herumzuspuken. Eine ar13
Siehe Glossar
me Hussade-Mannschaft verlor Geld, und wenn sie nicht subventioniert wurde, verstreuten sich die Spieler bald in alle Winde. Eine mittelmäßige Mannschaft konnte gewinnen oder verlieren, je nachdem, ob sie sich auf Spiele über oder unter dem eigenen Niveau einließ. Eine erfolgreiche, ehrgeizige Mannschaft jedoch verdiente oft im Lauf eines Jahres beträchtliche Summen, die bei der Aufteilung sehr wohl zwölftausend Ozols pro Mann ergeben konnten. Glinnes wanderte nachdenklich zum Hauptplatz hinüber. Die Gebäude wirkten etwas verwitterter als damals, die Kalepsis-Ranke, die die Gaststube vor der Taverne Aude de Lys überwucherte, war dichter und üppiger geworden, und – jetzt, da Glinnes darauf achtete, fiel es ihm erst auf – überraschend viele Fanscher-Trachten und die Fanscher imitierende Gewänder waren zu sehen. Glinnes verzog angewidert das Gesicht. In der Mitte des Platzes stand wie eh und je der Prutanschyr: eine Plattform von gut zehn Meter Seitenlänge mit einem Gerüst und einer Art Podium daneben, das den Musikern diente, die das Ritual der Buße mit ihren Melodien untermalten. In den zehn Jahren waren wohl auch ein oder zwei neue Gebäude entstanden, von denen das auffälligste die neue Schenke Zum Ehrwürdigen St. Gambrinus war. Über dem ebenerdigen Biergarten, in dem vier Trevanyi den Gästen aufspielten, die schon so früh am Tag einer Erfrischung bedurften, erhob sich auf Menapfosten das eigentliche Wirtshaus. Heute war Markttag. Grünzeughändler hatten ihre Karren am Rande des Platzes aufgestellt; sie gehörten ausnahmslos dem Volk der Wrye an, einer ebenso eigenständigen Rasse wie die Trevanyi. Trills aus Wel-
gen und von den Landbezirken schlenderten an den Ständen vorbei, prüften und suchten aus, handelten und kauften hin und wieder etwas. Die Leute vom Land waren an ihrer Kleidung erkennbar: der unvermeidliche Paray wurde ergänzt von den verschiedensten bunten Schals, gestrickten Westen, verrückt bedruckten Hemden, Ketten, Armbändern, Kopftüchern und Bändern, je nachdem, was Laune, Bequemlichkeit oder Geschmack des Betreffenden diktierte. Die Stadtbewohner begnügten sich mit weniger eigenwilliger Gewandung, und Glinnes bemerkte auch eine beträchtliche Anzahl von Fanscher-Anzügen aus gutem, grauem Tuch, mit dezentem Schnitt, die zu glänzend polierten schwarzen Halbstiefeln getragen wurden. Hin und wieder waren auch schwarze Filzkappen zu sehen, die das Haar verbargen. Einige der Leute, die sich in dieser Tracht zeigten, waren älteren Jahrgangs und schienen sich in ihrem streng eleganten Aufzug nicht recht wohl zu fühlen. Gewiß, überlegte Glinnes, waren nicht alle diese Menschen Fanscher. Ein hagerer, langarmiger Mann kam auf Glinnes zu, der ihn erstaunt und mit mißbilligender Belustigung anstarrte. »Du auch? Das ist doch nicht möglich!« Akadie zeigte sich nicht im geringsten verlegen. »Warum nicht? Was schadet es, wenn man einer Laune nachgibt? Es macht mir Spaß, so zu tun, als wäre ich wieder jung.« »Mußt du dabei auch so tun, als wärst du ein Fanscher?« Akadie zuckte die Achseln. »Nochmals: warum nicht? Es mag sein, daß sie zu hochgesteckte Ideale
haben; auch, daß sie vielleicht die Leichtfertigkeit und Sinnlichkeit von uns anderen allzu stur verurteilen. Trotzdem« – er machte eine wegwerfende Geste – »sehe ich nicht ein, warum ich deshalb nicht tun soll, was mir gefällt.« Glinnes schüttelte mißbilligend den Kopf. »Auf einmal scheinen diese Fanscher alle Weisheit dieser Welt gepachtet zu haben, und ihre Eltern, denen sie ihr Leben verdanken, sind leichtfertig, träge und schlampig.« Akadie lachte. »Kein solch launischer Trend dauert lange. Aber sie hellen die Eintönigkeit des Alltags auf; warum sollte man also nicht mitmachen?« Bevor Glinnes antworten konnte, wechselte Akadie das Thema. »Ich habe erwartet, dich hier zu treffen. Du bist natürlich auf der Suche nach Junius Farfan, und zufälligerweise kann ich ihn dir zeigen. Sieh dort hinüber, jenseits dieses Schreckensgerüstes: im Garten des Ehrwürdigen St. Gambrinus sitzt links im Schatten ein Fanscher und schreibt in ein Kontobuch. Dieser Mann ist Junius Farfan.« »Ich werde gleich hinübergehen und mit ihm reden.« »Viel Glück«, sagte Akadie. Glinnes überquerte den Platz, betrat den Biergarten und ging zu dem Tisch, den Akadie ihm gezeigt hatte. »Sie sind Junius Farfan?« Der Mann blickte auf. Glinnes sah ein klassisches regelmäßiges, wenn auch etwas blutarmes und durchgeistigtes Gesicht. Der graue Anzug umgab die hagere Gestalt des Mannes, die nur aus Knochen, Sehnen und Nerven zu bestehen schien, mit strenger, düsterer Eleganz. Eine schwarze Kappe bedeckte sein Haar und betonte eine blasse, hohe Stirn über grüble-
rischen, grauen Augen. Er war vermutlich nicht einmal so alt wie Glinnes selbst. »Ich bin Junius Farfan.« »Mein Name ist Glinnes Hulden. Glay Hulden ist mein Bruder. Vor kurzem hat er Ihnen eine größere Summe übergeben, zwölftausend Ozols, wenn ich recht informiert bin.« Farfan nickte. »Stimmt.« »Dann habe ich schlechte Nachrichten für Sie. Glay hat dieses Geld auf ungesetzlichem Wege erworben. Er hat einen Besitz verkauft, der nicht ihm, sondern mir gehörte. Um es kurz zu machen – ich möchte dieses Geld zurückhaben.« Farfan schien weder überrascht noch sonderlich beunruhigt zu sein. Er wies auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?« Glinnes nahm Platz und akzeptierte ein Glas Bier. »Danke. Wo ist also das Geld?« Farfan musterte ihn ruhig. »Sie haben natürlich nicht erwartet, daß ich so ohne weiteres zwölftausend Ozols hergebe.« »Und ob ich das erwartet habe. Ich brauche das Geld, um den Besitz auszulösen.« Farfan lächelte höflich entschuldigend. »Ihre Erwartung kann ich nicht erfüllen, weil ich nicht in der Lage bin, das Geld zurückzugeben.« Glinnes stellte sein Glas hart auf den Tisch zurück. »Und warum nicht?« »Die Summe wurde investiert; wir haben die Maschinen für eine Fabrik bestellt. Wir beabsichtigen, jene Güter herzustellen, die zur Zeit noch nach Trullion importiert werden müssen.« Glinnes' Stimme war heiser vor Empörung. »Dann sollten Sie sich lieber anderswo Geld für Ihre Investi-
tionen besorgen und mir meine zwölftausend Ozols auszahlen.« Farfan nickte bedächtig. »Wenn das Geld tatsächlich aus Ihrem Besitz stammt, dann bin ich durchaus bereit, unsere Schuld anzuerkennen und werde beantragen, daß die Summe einschließlich Zinsen aus dem ersten Gewinn unserer Unternehmungen zurückgezahlt wird.« »Und wann wird das sein?« »Das weiß ich nicht. Wir hoffen, irgendwie zu Land zu kommen, durch Pacht oder als Schenkung oder durch Beanspruchung unbesiedelten Landes.« Farfan grinste, was sein Gesicht auf einmal sehr jungenhaft wirken ließ. »Dann müssen wir das Fabrikgebäude errichten, für Rohstoffe sorgen, die entsprechenden Fertigungstechniken lernen, mit der Produktion beginnen und unsere Werke verkaufen, die erste Lieferung von Rohstoffen bezahlen, neue bestellen und so weiter.« »Das alles wird aber verdammt lange dauern«, sagte Glinnes wütend. Junius Farfan runzelte überlegen die hohe Stirn. »Sagen wir einmal, fünf Jahre. Wenn Sie nach dieser Zeitspanne Ihren Anspruch noch einmal vorbringen wollen, können wir die Sache, wie ich hoffe, zur beiderseitigen Zufriedenheit regeln. Als Privatperson habe ich jedes Verständnis für Ihre mißliche Lage«, sagte Junius Farfan. »Als Leiter einer Organisation, die dringend Kapital braucht, bin ich jedoch nur zu froh, Ihr Geld zur Verfügung zu haben; wie ich es sehe, haben wir die Summe nötiger als Sie.« Er schloß das Kontobuch, in dem er geschrieben hatte, und erhob sich. »Guten Tag, Squire Hulden.«
KAPITEL 7 Glinnes sah Junius Farfan nach, wie er den Platz überquerte und jenseits des Prutanschyr verschwand. Er hatte ungefähr so viel erreicht, wie er erwartet hatte – nichts. Trotzdem galt seine Empörung nun dem aalglatten Junius Farfan ebenso wie Glay. Auf jeden Fall wurde es jetzt Zeit, das verlorene Geld zu vergessen und irgendwie neues zu beschaffen. Er schaute in seiner Brieftasche nach, obwohl er ihren Inhalt recht gut kannte: drei Tausend-OzolBanknoten, vier Hundert-Ozol-Noten, und noch hundert Ozols in kleineren Scheinen. Er brauchte also neuntausend Ozols. Seine Pension betrug hundert Ozols im Monat, was für seine Verhältnisse mehr als genug war. Er verließ den Ehrenwerten St. Gambrinus und ging über den Platz zur Welgener Bank, wo er sich beim Filialdirektor vorstellte. »Kurz gesagt«, erklärte Glinnes, »habe ich folgendes Problem: ich brauche neuntausend Ozols, um die Insel Ambal auszulösen, die mein Bruder unberechtigterweise an einen gewissen Lute Casagave verkauft hat.« »Ja, Lute Casagave; ich erinnere mich an die Transaktion.« »Ich möchte einen Kredit von neuntausend Ozols aufnehmen, den ich in Raten von hundert Ozols im Monat zurückzahlen könnte. Das ist die Summe, die ich von der Pensionskasse des Whelm ausbezahlt bekomme. Die Rückzahlung wäre also auf jeden Fall gesichert.« »Falls Sie nicht sterben. Was dann?«
Diese Möglichkeit hatte Glinnes natürlich nicht in Betracht gezogen. »Da wäre noch die Insel Rabendary, die ich als Sicherheit anbieten könnte.« »Die Insel Rabendary. Sie sind der Eigentümer?« »Ich bin der derzeitige Squire«, sagte Glinnes, den plötzlich das bedrückende Gefühl überkam, daß er wieder einmal nichts ausrichten würde. »Mein Bruder Shira ist vor zwei Monaten verschwunden. Er ist fast sicher tot.« »Sehr wahrscheinlich stimmt das. Aber leider können wir mit ›fast sicher‹ und ›sehr wahrscheinlich‹ nichts anfangen. Shira Hulden kann erst nach Ablauf von vier Jahren für tot erklärt werden. Bis dahin haben Sie kein Verfügungsrecht über die Insel Rabendary. Es sei denn, natürlich, Sie könnten seinen Tod beweisen.« Glinnes schüttelte fassungslos den Kopf. »Soll ich zu den Merlingen hinuntertauchen und sie fragen? Das ist einfach absurd!« »Ich habe Verständnis für Ihre Lage, doch was Ihnen absurd scheinen mag, ist für uns eine alltägliche Situation, für die es eben leider Vorschriften gibt.« Glinnes gab sich geschlagen. Er verließ die Bank und ging zu seinem Boot zurück; nur einmal blieb er stehen, um das Plakat nochmals zu lesen, auf dem die Gründung eines Hussade-Vereins Fleharish-Bucht verkündet wurde. Während sein Boot in Richtung Rabendary tuckerte, stellte Glinnes immer wieder die gleichen Berechnungen an, immer mit demselben Ergebnis: neuntausend Ozols waren eine Menge Geld. Das äußerste, was ihm die Insel Rabendary eintragen konnte, waren vielleicht zweitausend Ozols pro Jahr, was nur etwa
ein Fünftel der benötigten Summe war. Schließlich wandten sich Glinnes' Gedanken der Hussade zu. Ein Mitglied einer bedeutenden Mannschaft konnte sehr wohl zehntausend oder zwanzigtausend Ozols im Jahr verdienen, wenn sein Team oft spielte und regelmäßig gewann. Lord Gensifer plante anscheinend die Aufstellung einer solchen Mannschaft. Was alles gut und schön war, nur hatten die anderen Mannschaften der Gegend dasselbe Ziel vor Augen: sich durch Listen, Intrigen, große Versprechungen und mit Ruhm und Reichtum als Köder die wirklich guten und daher nicht sehr zahlreichen Spieler zu sichern. Ein kämpferischer Typ war vielleicht langsam und ungeschickt; ein flinker Mann besaß vielleicht schlechtes Urteilsvermögen oder ein unzuverlässiges Gedächtnis oder nicht genug Kraft, um seinen Gegner ins Wasser zu befördern. In jeder Spielposition waren bestimmte Eigenschaften wichtig. Der ideale Stürmer war schnell, wendig, wagemutig, aber auch stark genug, um mit den gegnerischen Springern und Wächtern fertigzuwerden. Auch ein Springer mußte schnell und geschickt sein; vor allem mußte er geschickt mit dem Pad sein – dem gepolsterten, keulenähnlichen Schläger, mit dem die Gegner von den Wegen und Brücken in die Tanks gestoßen werden. Die Springer waren die erste Verteidigungslinie gegen die Angriffe der Stürmer, die Wächter waren die letzte. Die Wächter sollten schwere, muskulöse Männer sein, die mit ihren Pads gut umgehen konnten. Da sie nicht oft querschwingen oder über die Tanks springen mußten, war Wendigkeit für einen Wächter nicht unbedingt nötig. Der ideale Hussadespieler besaß allerdings alle diese Eigenschaften; er war kräftig, intelli-
gent, gewitzt, wendig und unaufhaltbar. Solche Männer waren selten. Wie also glaubte Lord Gensifer ein wettkampffähiges Team zusammenzubekommen? Als er in der Fleharish-Bucht angekommen war, beschloß Glinnes unvermittelt, diese Frage zu klären, und bog nach Süden in Richtung der Fünf Inseln ab. Glinnes machte sein Boot neben der schlanken Ozeanjacht Lord Gensifers fest und sprang an Land. Ein Weg führte durch den Park zum Herrenhaus hinauf. Als er die Freitreppe hinaufstieg, schwang die Tür auf. Ein Dienstbote in lavendelfarbener und grauer Livree musterte ihn kühl. Eine nicht sehr tiefe Verbeugung gab seiner Meinung über Glinnes' Stellung Ausdruck. »Sie wünschen, Sir?« »Seien Sie so freundlich und teilen Sie Lord Gensifer mit, daß Glinnes Hulden ihn sprechen möchte.« »Wollen Sie bitte hereinkommen, Sir?« Glinnes trat in die hohe, sechseckige Halle, deren Boden aus glänzendem grauen und weißen Stelt14 bestand. An der Decke hing ein Kristallüster mit hundert Leuchten und tausend Diamantprismen. Jede der Wände war mit einem Paneel von weißem Atica-Holz geschmückt, das hohe, schmale Spiegel umrahmte, die das Glitzern des Lüsters vielfach spiegelten. Der Lakai kam zurück und führte Glinnes in die Bibliothek, wo Thammas Lord Gensifer, gekleidet in einen maronenfarbenen Hausanzug, gemütlich vor einem Bildschirm saß und sich ein Hussade-Spiel ansah.15 »Setzen Sie sich, Glinnes, setzen Sie sich«, sagte 14 15
Siehe Glossar Siehe Glossar
Lord Gensifer. »Möchten Sie Tee oder vielleicht einen Rumpunsch?« »Einen Rumpunsch, bitte.« Lord Gensifer deutete auf den Schirm. »Die Ausscheidungskämpfe von vorigem Jahr im AlastorStadion. Die Schwarzroten sind die Hextar-Zulanen von Sigre. Die Grünen sind die Falifoniken vom Grünen Stern. Ein phantastisches Spiel. Ich habe es mir jetzt schon viermal angesehen, und jedesmal bin ich begeisterter.« »Ich habe die Falifoniken vor zwei oder drei Jahren gesehen«, sagte Glinnes. »Sie kamen mir äußerst geschickt und wendig vor, und schnell wie der Blitz.« »Das sind sie noch immer. Auf den ersten Blick wirken sie nicht so eindrucksvoll, aber sie scheinen überall zugleich zu sein. Ihre Verteidigung ist nicht besonders, aber sie brauchen gar keine mit diesen Attacken, die sie durchziehen.« Der Diener brachte Rumpunsch in feucht angelaufenen Silberkelchen. Eine Weile sahen Lord Gensifer und Glinnes schweigend dem Spiel zu: Vorstößen und Positionsänderungen, Finten und Tricks, scheinbar leichtsinnigen akrobatischen Meisterleistungen, verblüffend exakter zeitlicher Abstimmung, die wie glücklicher Zufall wirkten. Zurufe des Kapitäns bewirkten blitzschnelle Manöver, Angriffe und Abwehrmaßnahmen. Nach und nach wurde die Überlegenheit der Falifoniken offenbar. Ihre Mittelstürmer schwangen sich seitwärts, um einen Zulaner-Springer in die Zange zu nehmen, und die Wächter der Zulaner stürmten vorwärts, um ihn zu schützen; in diesem Augenblick warfen sich die Rechtsaußenstürmer der Falifoniken in die so geöffnete Lücke, erreichten
die Plattform und ergriffen den Goldring auf der Brust der Sheirl. Das Spiel wurde unterbrochen, damit das Lösegeld übergeben werden konnte. Lord Gensifer schaltete den Bildschirm ab. »Die Falifoniken haben haushoch gewonnen, wie Sie vermutlich wissen. Die Prämie brachte jedem Mann rund viertausend Ozols ein... Aber Sie sind wohl nicht gekommen, um über Hussade zu plaudern. Oder doch?« »Eigentlich ja. Ich habe heute zufällig in Welgen die Ankündigung des Vereins Fleharish-Bucht gesehen.« Lord Gensifer stürzte sich begeistert auf das Thema. »Ich bin der Sponsor. Schon lange habe ich davon geträumt, und jetzt habe ich mich endlich dazu aufgerafft. Das Welgen-Stadion wird unser Heimplatz sein, wir brauchen jetzt nur noch eine Mannschaft aufzustellen. Wie steht's mit Ihnen? Spielen Sie noch?« »Ich habe für meine Division gespielt«, sagte Glinnes. »Wir haben die Sektormeisterschaften gewonnen.« »Klingt interessant. Wollen Sie's nicht mit uns versuchen?« »Unter Umständen, aber zunächst müßte ich ein Problem lösen, bei dem Sie mir vielleicht helfen können.« Lord Gensifer kniff mißtrauisch die Augen zusammen. »Gerne, wenn es in meiner Macht steht. Um was für ein Problem handelt es sich denn?« »Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat mein Bruder Glay die Insel Ambal ohne meine Zustimmung verkauft. Er will das Geld nicht zurückgeben; es ist futsch, um's genau zu sagen.«
Lord Gensifer hob die Brauen. »Fanscherade?« »Genau.« Lord Gensifer schüttelte den Kopf. »Der verrückte junge Narr.« »Mein Problem ist folgendes: ich besitze selbst dreitausend Ozols. Ich brauche jedoch noch weitere neuntausend, um Lute Casagave auszahlen und den Vertrag annullieren zu können.« Lord Gensifer spitzte die Lippen und legte nachdenklich die Finger aneinander. »Wenn Glay nicht berechtigt war zu verkaufen, dann hatte Casagave kein Recht zu kaufen. Mir käme also vor, daß Glay und Casagave diese Angelegenheit unter sich ausmachen müßten, während Sie der gesetzliche Eigentümer sind.« »Unglücklicherweise habe ich kein gesetzliches Eigentumsrecht, solange ich nicht nachweisen kann, daß Shira tot ist, und das kann ich nicht. Ich brauche also bares Geld.« »Das ist schon eine ziemlich vertrackte Zwickmühle«, räumte Lord Gensifer ein. »Mein Vorschlag wäre nun der – wenn ich bei Ihnen spielte, könnten Sie mir dann neuntausend Ozols als Prämienanteil vorschießen?« Lord Gensifer lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das wäre eine sehr unsichere Investition.« »Nicht, wenn Sie eine gute Mannschaft zusammenbekommen. Obwohl ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen kann, woher Sie die Leute nehmen wollen.« »Es gibt genug.« Lord Gensifer richtete sich auf, und die Erregung machte sein rosiges Gesicht noch rosiger. »Ich habe mir eine Mannschaft zusammenge-
stellt, die aus den stärksten Spielern der Gegend besteht. Hören Sie zu.« Er las von einem Blatt Papier ab: »Außenstürmer: Tyran Lucho, ›Blitz‹ Latken. Mittelstürmer: Yalden Wirp, ›Goldring‹ Gonniksen. Springer: Nilo Basgard, Der Wilde Wilmer Guff. Wächter: ›Eintunker‹ Maveldip, ›Käferkopf‹ Holub, Carbo Gilweg, Holbert Hanigatz.« Lord Gensifer legte das Blatt weg und warf Glinnes einen triumphierenden Blick zu. »Was halten Sie von diesem Team?« »Ich bin zu lange fort gewesen«, gestand Glinnes. »Mir sind nur etwa die Hälfte der Namen bekannt. Mit Gonniksen und Carbo Gilweg habe ich gespielt, und Guff und ein oder zwei andere kenne ich als Gegner. Sie waren vor zehn Jahren gut, und heute sind sie vielleicht noch besser. Haben Sie alle diese Männer für Ihre Mannschaft verpflichtet?« »Nun – noch nicht offiziell. Ich habe es mir so gedacht: ich rede mit jedem einzelnen. Ich zeige die Aufstellung und frage ihn, ob er nicht in einer solchen Mannschaft spielen will. Wer könnte da nein sagen? Jeder will doch mal ein paar dicke Prämien verdienen. Es wird ganz bestimmt keiner ablehnen. Ich habe übrigens schon mit ein oder zwei der Burschen Kontakt aufgenommen, und sie zeigten sich alle sehr interessiert.« »Welchen Platz gäbe es dabei für mich? Und wie steht es mit den neuntausend Ozols?« Lord Gensifer meinte vorsichtig: »Was Ihre erste Frage angeht, so müssen Sie bedenken, daß ich Sie in letzter Zeit nicht habe spielen sehen. Sie könnten schließlich langsam und träge geworden sein, nicht wahr... Wohin gehen Sie?« »Danke für den Rumpunsch«, sagte Glinnes.
»Nicht doch, einen Augenblick. Es ist nicht nötig, sich beleidigt zu fühlen. Schließlich ist es ja nur wahr, was ich sagte. Ich habe Sie zehn Jahre lang nicht gesehen. Allerdings – wenn Sie mit den Sektorenmeistern gespielt haben, sind Sie zweifellos gut in Form. Welche Position bevorzugen Sie?« »Ich spiele alles außer Sheirl. In der Dreiundneunzigsten habe ich als Stürmer und Springer gespielt.« Lord Gensifer schenkte Glinnes Punsch nach. »Nun, da wird bestimmt etwas zu arrangieren sein. Sie müssen aber meine Lage verstehen. Ich will die Besten haben. Wenn Sie dazu gehören, sollen Sie für die Gorgonen spielen. Wenn nicht – nun, dann müssen wir uns einen Ersatzmann suchen. Das ist einfach eine Frage der Vernunft – nichts, worüber man sich aufregen müßte.« »Also gut – und wie ist es mit den neuntausend Ozols?« Lord Gensifer nahm einen Schluck Punsch. »Ich glaube, wenn alles gut geht, und Sie für unseren Verein spielen, dann müßten Sie in sehr kurzer Zeit neuntausend Ozols an Prämien hereinbekommen.« »Mit anderen Worten – Sie wollen mir das Geld nicht vorschießen?« Lord Gensifer hob die Hände. »Glauben Sie, Ozols wachsen auf Bäumen? Ich brauche genauso dringend Geld wie irgendein anderer. Tatsächlich ist – aber ich will nicht auf Einzelheiten eingehen.« »Wenn Sie so knapp mit den Finanzen sind, wie können Sie dann eine Lösegeldkasse finanzieren?« Lord Gensifer schnippte wegwerfend mit den Fingern. »Kein Problem. Wir werden das gesamte Kapital, das dem Verein zur Verfügung steht, einsetzen –
Ihre dreitausend Ozols eingeschlossen. Es ist ja schließlich zu unser aller Vorteil, eine möglichst appetitanregende Kasse bieten zu können.« Glinnes glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. »Meine dreitausend Ozols? Ich soll zum Vereinsfond beitragen? Während Sie den Eigentümeranteil an den Prämien einstecken wollen?« Lord Gensifer lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück. »Warum nicht? Jeder trägt nach besten Vermögen bei, und jeder profitiert. Nur so kommen wir zu etwas. Kein Grund, empört zu sein.« Glinnes stellte seinen Becher auf das Tablett zurück. »Das ist nirgendwo üblich. Die Spieler stellen ihre Fähigkeiten zur Verfügung, der Verein finanziert die Lösegeldkasse. Ich würde nicht einen Ozol hergeben; lieber würde ich eine eigene Mannschaft aufstellen.« »Augenblick, Augenblick. Vielleicht finden wir einen Weg, der uns beide zufriedenstellt. Ehrlich gesagt, ich bin zur Zeit gerade etwas knapp bei Kasse. Sie brauchen zwölftausend Ozols binnen dieses Jahres; Ihre dreitausend sind wertlos ohne die übrigen neuntausend.« »Wertlos würde ich nicht sagen. Sie sind das Ergebnis von zehn Jahren Dienst im Whelm.« Lord Gensifer wedelte wegwerfend mit der Hand. »Nehmen wir mal an, Sie würden die dreitausend Ozols für den Fond vorstrecken. Die ersten dreitausend Ozols, die wir einnehmen, bekämen dann Sie; Sie hätten Ihr Geld wieder, und von da an...« »Die anderen Spieler würden nie mit einer solchen Regelung einverstanden sein.« Lord Gensifer zupfte an seiner Unterlippe. »Nun,
wir würden die Summe eben aus dem Vereinsanteil der Prämie nehmen – mit anderen Worten, aus meiner Tasche.« »Angenommen, es gibt gar keine Prämie; angenommen, wir verlieren meine dreitausend Ozols? Was dann? Nichts!« »Wir haben aber nicht die Absicht zu verlieren! Man muß positiv denken, mein lieber Glinnes!« »Ich denke positiv, was mein Geld anbelangt.« Lord Gensifer seufzte tief. »Wie gesagt, meine persönliche finanzielle Lage ist im Augenblick etwas prekär... Aber wir könnten folgende Vereinbarung treffen. Wir werden uns zunächst Fünftausend-OzolGegner suchen, die wir mit Leichtigkeit überrennen müßten, und lassen unsere Kasse auf zehntausend Ozols anwachsen. Dann nehmen wir ZehntausendOzol-Gegner an. Zu diesem Zeitpunkt wird mit der Verteilung der Prämie begonnen, und Sie bekommen Ihre dreitausend, die Sie vorgestreckt haben, aus dem Vereinsanteil zurück. Nach ein oder zwei Begegnungen haben wir das leicht eingespielt. Danach leihe ich Ihnen den Vereinsanteil, bis Sie auf Ihre neuntausend Ozols kommen. Die können Sie dann in der Folge von Ihrem normalen Anteil zurückzahlen.« Glinnes rechnete mit einiger Verwirrung im Kopf nach. »Das verstehe ich nicht. Sie sind mir weit voraus mit diesem Finanzplan.« »Es ist ganz einfach. Wenn wir fünf ZehntausendOzol-Spiele gewinnen, haben Sie Ihr Geld.« »Wenn wir gewinnen. Wenn wir verlieren, habe ich gar nichts. Nicht einmal die dreitausend Ozols, die ich jetzt habe.« Lord Gensifer wedelte mit seiner Namensliste.
»Diese Mannschaft wird keine Spiele verlieren, das garantiere ich Ihnen!« »Sie haben diese Mannschaft noch nicht! Sie haben keine Lösegeldkasse. Sie haben nicht einmal eine Sheirl.« »Kein Mangel an Bewerberinnen, mein Junge! Nicht für die Fleharish-Gorgonen! Ich habe bereits mit Dutzenden prächtiger Geschöpfe gesprochen.« »Alle mit der nötigen Qualifikation, zweifellos.« »Wir werden uns schon um ihre Qualifikation kümmern, keine Sorge! Wie lächerlich das doch ist! Eine nackte Jungfrau sieht doch genauso aus wie jedes nackte Mädchen. Wer kennt da schon einen Unterschied?« »Die Mannschaft. Es klingt unvernünftig, das gebe ich zu, aber Hussade ist irgendwie ein unvernünftiges Spiel.« »Darauf will ich trinken«, erklärte Lord Gensifer etwas großspurig. »Wer schert sich um Vernunft? Nur die Fanscher und vielleicht die Trevanyil.« Glinnes leerte seinen Punschbecher und erhob sich. »Ich muß jetzt nach Hause und mich um meine privaten Trevanyi kümmern. Glay hat ihnen Rabendary geöffnet, und sie haben die Insel nach Strich und Faden ausgeplündert.« Lord Gensifer nickte weise. »Man kann einem Trevanyi nichts geben, ohne daß er sich aus purer Verachtung das Doppelte selber nimmt... Nun, um auf diese dreitausend Ozols zurückzukommen, wie haben Sie sich entschieden?« »Ich werde mir die Sache noch sehr genau überlegen, bevor ich zu einer Entscheidung komme. Was diese Spielerliste angeht – wie viele haben Sie tat-
sächlich verpflichtet?« »Nun ja – etliche.« »Ich werde mit allen reden und mich überzeugen, ob sie es wirklich ernst meinen.« Lord Gensifer runzelte die Stirn. »Hmmm. Wir können ja noch ein wenig darüber reden. Wie wär's, möchten Sie zum Nachtmahl bleiben? Ich bin heute abend allein, und ich hasse es, nur in meiner eigenen Gesellschaft zu essen.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Lord Gensifer, aber ich bin wohl kaum zu einem Dinner in einem Herrschaftshaus angezogen.« Lord Gensifer machte eine wegwerfende Geste. »Heute dinieren wir ganz formlos – obwohl ich Ihnen einen Gesellschaftsanzug leihen könnte, wenn Sie darauf bestehen.« »Nun, das ist nicht nötig. Ich bin nicht so pedantisch, und wenn es Ihnen nichts ausmacht...« »Ach, ich ziehe mich heute auch nicht um. Vielleicht möchten Sie dann noch den Rest des Meisterschaftsspieles sehen.« »Das würde ich gerne.« »Fein. Rallo! Frischen Punsch! Der hier ist schon recht schal.« Der große, ovale Tisch im Speisezimmer war für zwei Personen gedeckt. Lord Gensifer und Glinnes saßen einander gegenüber, eine weite Fläche weißen Damasts zwischen sich; Silber und Kristallglas glitzerten im strahlenden Licht eines vielflammigen Kronleuchters. »Es mag Ihnen seltsam erscheinen«, sagte Lord Gensifer, »daß ich in diesem scheinbar extravaganten
Stil lebe und doch knapp bei Kasse bin. Der Grund ist ganz einfach. Ich beziehe mein Einkommen aus verschiedenen Investitionen, und in letzter Zeit habe ich einige Rückschläge erlitten. Starmenter haben einige Lagerhäuser ausgeraubt und meine Firma ein bißchen in eine Zwangslage gebracht. Das ist natürlich nur temporär, versteht sich, aber im Augenblick deckt mein Einkommen gerade meine Ausgaben. Haben Sie von Bela Gazzardo gehört?« »Der Name ist mir untergekommen. Ein Starmenter?« »Der Schurke, der mir meine Einkünfte um die Hälfte beschnitten hat. Der Whelm bekommt ihn anscheinend nicht zu fassen.« »Früher oder später wird er geschnappt. Nur die kleinen Starmenter überleben. Sobald sie in großem Stil operieren und einen gewissen Ruf erlangen, sind sie dran.« »Bela Gazzardo betreibt sein Geschäft seit vielen Jahren«, sagte Lord Gensifer. »Der Whelm sucht immer im falschen Sektor nach ihm.« »Früher oder später erwischt man ihn.« Die Mahlzeit nahm ihren Lauf – ein Dutzend erlesene Gänge, begleitet von verschiedenen ausgezeichneten Weinen. Glinnes überlegte, daß das Leben in einem Herrenhaus doch gewisse Annehmlichkeiten zu bieten hatte, und seine Gedanken begannen in die Zukunft zu schweifen – zu Zeiten, wo er zwanzigoder dreißigtausend Ozols verdient haben würde, oder vielleicht auch hunderttausend, und wo Lute Casavage die Ambal-Insel aufgegeben haben und das Herrenhaus leerstehen würde. Welches Abenteuer
wäre es dann, umzubauen, alles herzurichten und neu zu möblieren! Glinnes sah sich schon in prächtigen Gewändern als Gastgeber einer Schar hervorragender Persönlichkeiten an einem Tisch wie diesem speisen... Die Vorstellung ließ Glinnes innerlich lächeln. Wen würde er zu seinen Dinnergesellschaften einladen? Akadie? Jung Harrad? Carbo Gilweg? Die Drossets? Dussiane allerdings würde in einer solchen Umgebung herrlich zur Geltung kommen. Glinnes Phantasie setzte den Rest der Familie dazu, was die liebliche Vision zum Platzen brachte. Es war längst dunkel geworden, als Glinnes endlich in sein Boot stieg. Die Nacht war klar, der Himmel mit Myriaden Sternen übersät, die in dieser reinen Luft groß wie Laternen strahlten. Beschwingt vom Wein, von den großartigen Zukunftsaussichten, die Lord Gensifer ausgemalt hatte, und von der zauberisch ruhigen Schönheit der schwarzen Wasserfläche, in der sich die Sterne spiegelten, ließ Glinnes sein Boot hinaus in die Fleharish-Bucht und die SelmaStraße entlang brausen. Unter dem prachtvollen Nachthimmel Trullions verblaßten seine Probleme zu gar nicht beachtenswerten Kleinigkeiten. Glay und die Fanscherade? Eine Laune, eine Verrücktheit, eine Belanglosigkeit. Marucha und ihr sonderbares Verhalten? Sollte sie doch tun, was ihr gefiel; welche bessere Beschäftigung bot sich ihr denn? Lord Gensifer und seine gerissenen Vorschläge? Nun, vielleicht lief wirklich alles so, wie Lord Gensifer glaubte! Aber es war schon verrückt! Anstatt neuntausend Ozols geliehen zu bekommen, hatte er nur mit knapper Not seine dreitausend gerettet! Lord Gensifers unternehmungslustige Pläne beruhten zweifellos auf einem
verzweifelten Geldbedarf, sagte sich Glinnes. Gleichgültig, wie leutselig und ehrlich er sich gab, Lord Gensifer war ein Mann, vor dem man sich in acht nehmen mußte. Das Boot glitt die schmale Selma-Straße aufwärts, an Stillbeerdickichten und weißschimmernden Hainen von Lanting-Bäumen vorbei und schließlich hinaus in die Ambal-Bucht, wo ein leichter Windhauch die Sternspiegelungen in einen glitzernd verwobenen Teppich verwandelte. Rechter Hand lag die AmbalInsel, gekrönt von den Blattbüscheln der FanzaneelBäume, die sich wie rabenschwarze Federschöpfe vom Nachthimmel abhoben. Und dort vorne – die Insel Rabendary, sein Heim Rabendary. Das Haus war dunkel. War niemand da? Wo war Marucha? Nun, vermutlich wohl bei Bekannten. Das Boot trieb die letzten Meter an den Steg heran. Glinnes kletterte auf die knarrenden alten Planken hinaus, machte das Boot fest und machte sich auf den Weg zum Haus. Leises Ächzen von Leder, Tappen von Schritten. Schatten huschten heran; dunkle Gestalten verdeckten die Sterne. Etwas Schweres prallte auf seinen Kopf, seine Schultern, seinen Nacken, böse, dumpfe Schläge, die sein Rückgrat trafen, seine Zähne zusammenschlagen ließen, seinen Mund mit einem metallischen Geschmack erfüllten. Er fiel zu Boden. Schwere Schläge krachten auf seine Rippen, seinen Schädel; der knirschende Aufprall jedes Schlags wuchs zu einem Donner an, der die ganze Welt ausfüllte. Er versuchte sich wegzurollen, sich zusammenzukrümmen, aber dann ging sein Bewußtsein in dem Donnerrollen unter.
Die Tritte hörten auf; Glinnes kam sich seltsam körperlos und schwebend vor. Er spürte wie aus weiter Ferne, daß jemand seine Kleider abtastete. Ein heiseres Flüstern vibrierte durch sein Hirn: »Das Messer, nimm das Messer.« Wieder eine Berührung, dann neuerliche Tritte. Ganz von weitem glaubte Glinnes den Glockenton eines unbekümmerten Lachens zu hören. Dann zersplitterte sein Bewußtsein wie ein aufprallender Tropfen Quecksilber, und er rührte sich nicht mehr. Die Zeit verging; der Teppich der Sterne rutschte über das Firmament. Langsam, ganz langsam begannen sich die Splitter des Bewußtseins wieder zu vereinigen. Ein kräftiger, kalter Griff umklammerte Glinnes' Fußgelenk, zerrte ihn auf dem Pfad hinunter zum Wasser. Glinnes stöhnte und versuchte vergeblich, seine Finger in die Erde zu krallen. Mit aller verbliebenen Kraft stieß er mit dem freien Fuß nach unten und traf etwas Schwammiges. Der Griff um seinen Knöchel lockerte sich. Glinnes richtete sich mühsam und ächzend auf Hände und Knie auf und kroch den Pfad zurück. Der Merling folgte ihm und packte ihn erneut beim Fuß. Glinnes trat wieder nach ihm, und der Merling ächzte zornig. Schwach wälzte Glinnes sich herum. Unter den flammenden Sternen von Trullion maßen sich Mensch und Merling. Glinnes begann auf seinen Hinterbacken rückwärts zu rutschen, immer nur ein paar Handbreit. Der Merling hopste vor. Dann stieß Glinnes mit dem Rücken an die Verandastufen. Darunter lagen Fechtstöcke aus Dornholz verwahrt.
Glinnes drehte sich um und tastete danach; seine Finger berührten einen der Stöcke. Der Merling machte einen Satz vorwärts, packte und zog ihn wieder auf das Wasser zu. Glinnes zappelte wie ein gestrandeter Fisch und schlug wild um sich. Er konnte sich schließlich losreißen und zurück zur Veranda schleppen. Der Merling stieß ein enttäuschtes Krächzen aus und sprang vorwärts; Glinnes packte einen Stock und stieß damit in die Leistengegend des Wesens. Der Merling sackte zusammen, und Glinnes zog sich die Stufen hinauf, den Stock erhoben, aber der Merling wagte sich nicht mehr vor. Glinnes kroch ins Haus und zwang sich zum Aufstehen. Er taumelte zum Lichtschalter und seufzte erleichtert, als die Lampe aufleuchtete. Er stand sehr unsicher auf den Füßen, sein Schädel pochte, der Raum verschwamm ihm vor den Augen. Das Atmen zerrte schmerzhaft an seinen Rippen; vermutlich waren etliche gebrochen. Seine Schenkel schmerzten – die Angreifer hatten versucht, ihn in die Leisten zu treten, hatten aber dank der Dunkelheit nicht getroffen. Da durchzuckte ihn ein neues, schärferes Unbehagen; er tastete nach seiner Brieftasche. Nichts. Er warf einen Blick auf die Scheide an seinem Stiefel; sein kostbares Proteummesser war weg. Glinnes seufzte wütend. Wer hatte das auf dem Gewissen? Er hatte die Drossets in Verdacht. Als ihm das glockenhelle Lachen einfiel, war er dessen sicher.
KAPITEL 8 In der Früh war Marucha immer noch nicht nach Hause gekommen; Glinnes nahm an, daß sie die Nacht mit einem Liebhaber verbracht hatte. Er war froh, daß sie nicht da war – sie hätte nur sein mißliches Erlebnis nach allen Seiten hin durchleuchtet, und danach war ihm durchaus nicht zumute. Glinnes hatte auf der Couch geschlafen. Jeder Knochen tat ihm weh, und seine Wut auf die Drossets ließ ihn in Schweiß ausbrechen. Er schleppte sich ins Badezimmer und besah sich sein purpurn verschwollenes Gesicht. Im Toilettenschrank fand er einen schmerzlindernden Trank, von dem er sich eine gehörige Dosis genehmigte und zur Couch zurückwankte. Den Vormittag über fiel er immer wieder in unruhigen Schlaf. Am Mittag schlug das Glockensignal des Bildtelefons an. Glinnes taumelte quer durch den Raum und sprach ins Mikrofongitter, ohne sich vor dem Bildschirm zu zeigen. »Wer ist da?« »Hier ist Marucha«, ertönte die klare Stimme seiner Mutter. »Glinnes – bist du das?« »Ja.« »Nun, dann laß dich sehen; ich spreche ungern mit jemandem, den ich nicht sehen kann.« Glinnes tastete an dem Aufnahmeschalter herum. »Die Bildtaste scheint sich verklemmt zu haben. Kannst du mich jetzt sehen?« »Nein. Nun, es ist weiter nicht wichtig. Glinnes, ich bin zu einer Entscheidung gekommen. Akadie hat mich vor langer Zeit gebeten, sein Heim mit ihm zu
teilen, und jetzt, da du wieder zurück bist und irgendwann doch eine Frau ins Haus bringen wirst, habe ich zugestimmt.« Glinnes konnte ein betroffenes Auflachen nicht ganz unterdrücken. Wie zornig sein Vater Jut gewesen wäre! »Ich wünsche dir alles Gute, Mutter, und bitte richte Akadie meine Grüße aus.« Marucha zog die Brauen zusammen. »Glinnes, deine Stimme klingt so seltsam. Geht es dir gut?« »Ja, doch – ich bin nur ein bißchen heiser. Sobald du dich eingerichtet hast, werde ich euch besuchen kommen.« »Tu das, Glinnes. Bitte achte auf dich, und sei nicht zu streng mit den Drossets. Was schadet es schon, wenn sie auf Rabendary bleiben möchten?« »Ich werde mir deinen Rat sicher gut überlegen, Mutter.« »Auf Wiedersehn, Glinnes.« Glinnes seufzte tief und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz seine Rippen durchfuhr. Waren doch welche gebrochen? Er tastete vorsichtig mit den Fingern die empfindlichsten Stellen ab, konnte jedoch nichts finden. Er nahm sich eine Schüssel Haferbrei mit auf die Veranda und hielt eine ziemlich triste Mahlzeit. Die Drossets waren natürlich fort. Verstreute Abfälle, ein Haufen dürrer Blätter und eine häßliche Latrine aus Ästen und welkem Laub waren als sichtbare Spuren ihrer Anwesenheit zurückgeblieben. Ihre nächtliche Arbeit hatte ihnen dreitausendvierhundert Ozols eingebracht, außerdem die Genugtuung, ihren Widersacher bestraft zu haben. Die Drossets konnten heute sehr zufrieden mit sich sein.
Glinnes ging zum Telefon und rief Egon Rimbold, den praktischen Arzt aus Saurkash, an. Er erklärte andeutungsweise, was ihm widerfahren war, und Rimbold versprach, vorbeizuschauen. Glinnes hinkte wieder auf die Veranda hinaus und ließ sich vorsichtig in einen der alten Flechtstühle sinken. Die Aussicht tröstete ihn ein wenig mit ihrer gewohnten, beschaulichen Schönheit. Perlmuttfarbener Dunst lag wie ein Schleier über der Ferne; Ambal schaute aus wie eine schwebende Feeninsel. Seine Gedanken begannen zu wandern... Marucha war in Mißachtung aller aristokratischen Verhaltensregeln eine Hussade-Prinzessin geworden und hatte die schmerzliche Entwürdigung – oder vielleicht eher Genugtuung – einer öffentlichen Entblößung riskiert, weil sie sich einen adeligen Ehemann erhoffte. Sie hatte sich schließlich mit dem Squire von Rabendary, Jut Hulden, begnügt. Vielleicht hatte sie immer das Bild des Herrenhauses von Ambal vor Augen gehabt, auch wenn nichts Jut dazu hätte bewegen können, darin zu wohnen... Nun war Jut tot, Ambal war verkauft, und Marucha wurde durch nichts mehr auf Rabendary gehalten... Um die Ambal-Insel wiederzubekommen, konnte er Casavage die zwölftausend Ozols zurückzahlen und den Vertrag zerreißen. Oder er konnte nachweisen, daß Shira tot war, worauf die Transaktion ungesetzlich geworden wäre. Aber zwölftausend Ozols waren nicht so leicht aufzutreiben, und ein Mann, den sich die Merlinge für eine Mahlzeit geholt hatten, hinterließ wenig Spuren... Glinnes beugte sich vor, um den Pfad zu mustern. Ja, da war die Stelle, wo die Drossets hinter der Dornbeerenhecke gewartet hatten. Und da hatten sie ihn
niedergeschlagen. Dort waren die Spuren, wo er sich in die Erde gekrallt hatte... gar nicht weit von der täuschend ruhigen Oberfläche des Farwan-Gewässers. Egon Rimbolds wendiges schwarzes Motorboot erschien. »Sie sind anscheinend nicht aus dem Krieg zurückgekehrt«, sagte Rimbold beim Aussteigen, »sondern in einen hineingeraten.« Glinnes berichtete, was ihm passiert war. »Ich wurde zusammengeschlagen und ausgeraubt.« Rimbold blickte über die Wiese. »Wie ich sehe, sind die Drossets fort.« »Fort, aber nicht vergessen.« »Nun, dann wollen wir mal sehen, was wir für Sie tun können.« Mit den hochentwickelten pharmazeutischen Produkten Alastors und Kunsthaut-Schnellverbänden fiel es Rimbold nicht schwer, Glinnes so zu verarzten, daß er sich wieder einigermaßen normal zu fühlen begann. Während er seine Instrumente einpackte, erkundigte sich Rimbold: »Ich nehme an, daß Sie den Überfall der Gendarmerie gemeldet haben?« Glinnes riß die Augen auf. »Um die Wahrheit zu sagen, der Gedanke ist mir überhaupt nicht gekommen.« »Es wäre aber klug. Die Drossets sind eine gefährliche Bande. Das Mädchen ist genauso schlimm wie die anderen.« »Ich werde sie mir schon noch vorknöpfen«, sagte Glinnes. »Ich weiß noch nicht, wie oder wann, aber es wird keiner ungeschoren davonkommen.« Rimbold hob die Hand in einer zu Vorsicht mahnenden Geste und verabschiedete sich.
Glinnes ging sich wieder im Spiegel begutachten und empfand etwas wie mürrische Genugtuung über sein verbessertes Aussehen. Er kehrte auf die Veranda zurück, ließ sich vorsichtig in einem Sessel nieder und begann darüber nachzudenken, wie er sich an den Drossets rächen konnte. Bloße Drohung mit den Behörden würde wenig fruchten und bei genauerer Überlegung ihm auch keinerlei Befriedigung verschaffen. Nach einer Weile packte ihn Ruhelosigkeit. Er humpelte auf dem Besitz umher, schaute sich um und war entsetzt über die Vernachlässigung und den Verfall überall. Selbst für Trill-Begriffe war der Zustand Rabendarys eine Schande, und Glinnes wurde neuerlich wütend auf Glay und Marucha. Empfanden sie denn gar nichts für ihr altes Heim? Egal – jetzt würde er sich um die Dinge kümmern, und Rabendary würde wieder so werden, wie er es aus der Kindheit in Erinnerung hatte. Heute war er allerdings zu zerschlagen zum Arbeiten. Da er nichts Besseres zu tun wußte, kletterte er vorsichtig in sein Boot und fuhr das FarwanGewässer hinauf bis zum Fluß und dann um die Nordspitze von Rabendary herum zur Insel Gilweg, wo seine Freunde, die Gilwegs, ihr weitläufiges altes Haus hatten. Der Rest des Tages verging mit einem jener typischen Trill-Feste, die die Fanscher als leichtsinnig, unmoralisch und hedonistisch verurteilten. Glinnes trank sich einen kleinen Schwips an, sang alte Lieder zu der Musik von Ziehharmonikas und Gitarren, vergnügte sich mit den Gilweg-Mädchen und war alles in allem ein so guter Gesellschafter, daß die Gilwegs sich spontan erbötig machten, gleich am
nächsten Tag nach Rabendary zu kommen und bei der Säuberung des Drosset-Lagerplatzes zu helfen. Schließlich kam man auch auf Hussade zu sprechen. Glinnes erwähnte Lord Gensifer und die Fleharish-Gorgonen. »Vorläufig ist die Mannschaft nur eine Liste von glänzenden Namen. Was ist aber, wenn die Leute wirklich alle Gorgonen werden? Es hat schon seltsamere Dinge gegeben. Er möchte, daß ich im Sturm spiele, und ich bin fast versucht mitzumachen, und wenn's nur wegen des Geldes ist.« »Pah«, sagte Carbo Gilweg. »Lord Gensifer kennt nicht mal naß und trocken auseinander, soweit es um Hussade geht. Und woher will er die nötigen Ozols kriegen? Es weiß doch jeder, daß er von der Hand in den Mund lebt.« »Stimmt nicht!« erklärte Glinnes. »Ich habe mit ihm gegessen, und kann mich dafür verbürgen, daß er sich's sehr gut gehen läßt.« »Das mag schon sein, aber eine tüchtige Mannschaft zu managen ist etwas ganz anderes. Er muß Uniformen und Helme besorgen und eine anständige Prämienkasse bieten können – das alles kostet mindestens fünftausend Ozols, wenn nicht mehr. Ich bezweifle, daß seine Pläne Zukunft haben werden. Wen will er denn als Kapitän nehmen?« Glinnes dachte nach. »Ich glaube nicht, daß er jemand Bestimmten erwähnt hat.« »Das ist aber der ausschlaggebende Punkt. Wenn er einen tüchtigen Kapitän verpflichtet, würde er auch Spieler gewinnen können, die ein bißchen skeptischer sind als du.« »Du brauchst mich nicht für dumm zu halten! Ich habe nur ein gewisses Interesse bekundet, weiter nichts.«
»Du würdest mit unseren guten alten Tanchinaros von Saurkash besser fahren«, erklärte Ao Gilweg. »Wir könnten wirklich ein Paar von guten Stürmern brauchen«, sagte Carbo. »Unsere Verteidigung, das kannst du mir glauben, ist besser als die meisten, aber unsere Leute schaffen es nur selten bis über den Graben. Komm zu den Tanchinaros! Wir werden die Präfektur Jolany niederrennen.« »Wie hoch beläuft sich eure Kasse?« »Also, wir kommen einfach nicht über tausend Ozols hinaus«, gab Carbo zu. »Mal gewinnen wir, dann verlieren wir wieder. Ehrlich gesagt, die Mannschaft ist zu ungleich zusammengesetzt. Der alte Neronavy ist auch nicht der Kapitän, der einen anfeuern könnte; er rührt sich nie von seiner Hange weg und kennt genau drei Spielvarianten. Wir könnten die Aufstellung ändern, aber das würde auch nicht viel ausmachen.« »Du hast mich eben an die Gorgonen verloren«, sagte Glinnes. »Ich erinnere mich nämlich von vor zehn Jahren an Neronavy. Ich hätte lieber Akadie als Kapitän.« »Gleichgültigkeit, Faulheit«, seufzte Ao Gilweg. »Unser Team braucht jemanden zum Anfeuern.« »Wir haben seit zwei Jahren keine hübsche Sheirl mehr gehabt«, sagte Carbo. »Jenlis Wade – langweilig wie ein toter Cavout. Sie hat nur dumm geschaut, als sie ihr Gewand verlor. Barsilla Cloforeth – du liebe Güte, zu groß und verhungert. Als sie entblößt wurde, hat's keiner der Mühe wert befunden, auch nur hinzuschauen! Und die gute Barsilla ist empört hinausstolziert.«
»Wir hätten hier ganz appetitliche Sheirls« – Ao Gilweg deutete mit dem Daumen auf seine Töchter Rolanda und Berinda – »nur ziehen sie es vor, mit den Burschen etwas anderes als Hussade zu spielen. Jetzt sind sie – glaube ich – nicht mehr ganz... äh... qualifiziert.« Der Nachmittag ging in Avness über, Avness wurde zur Abenddämmerung, die Dämmerung zur Dunkelheit, und Glinnes wurde eingeladen, doch lieber über Nacht zu bleiben. In der Früh kehrte Glinnes nach Rabendary zurück und begann den Lagerplatz der Drossets zu säubern. Ein seltsamer Umstand ließ ihn innehalten. An der Stelle, wo das Feuer gewesen war, hatte jemand ein gut sechzig Zentimeter tiefes Loch in die Erde gegraben. Es war jetzt leer. Glinnes konnte sich keine vernünftige Erklärung für ein solches Loch genau in der Mitte der alten Feuerstelle denken. Mittags erschienen die Gilwegs, und zwei Stunden später war jede Spur von der Anwesenheit der Drossets beseitigt worden. Inzwischen hatten die weiblichen Mitglieder der Familie eine Mahlzeit bereitet, so gut es sich nach Plünderung von Maruchas Speisekammer – die ihnen ziemlich schäbig vorkam – bewerkstelligen ließ. Im übrigen hatten die Frauen nie viel von Marucha gehalten; sie trug ihnen die Nase zu hoch. Die Gilwegs kannten nun Glinnes' Schwierigkeiten in allen Einzelheiten. Sie überschütteten ihn mit Sympathiekundgebungen und recht widersprüchlichen Ratschlägen. Ao Gilweg, das Oberhaupt der Familie, hatte bei mehreren Gelegenheiten mit Lute Casavage gesprochen. »Ein abgefeimter Bursche, der
was weiß ich für Pläne ausheckt! Er ist ganz bestimmt nicht seiner Gesundheit zuliebe auf die Ambal-Insel gezogen!« »Diese Fremdweltler sind doch immer irgendwie komisch«, erklärte Clara, seine Frau. »Ich habe schon viele getroffen, und alle sind sie überspannt und nervös und wissen nicht, wie man sein Leben genießt.« »Casavage ist entweder schüchtern oder blind«, sagte Carbo. »Wenn man seinem Boot begegnet, schaut er nicht einmal auf.« »Er hält sich für einen große Adeligen«, sagte Clara mit gerümpfter Nase. »Er ist sich viel zu gut für uns gewöhnliche Leute. Jedenfalls haben wir noch keinen Tropfen von seinem Wein zu kosten bekommen.« Claras Schwester Currance fragte: »Habt ihr seinen Diener gesehen? Der ist ein Anblick! Ich glaube, er ist ein halber Polgon-Affe oder so was. Der jedenfalls wird keinen Fuß in mein Haus setzen, das schwöre ich euch.« »Ja, das stimmt«, stellte Clara fest. »Er sieht aus wie ein übler Schurke. Und vergeßt nicht: wie der Knecht, so der Herr! Lute Casagave wird nicht besser sein als sein Diener!« Ao Gilweg hob beschwichtigend die Hände. »Ach, hört doch auf. Wir wollen vernünftig sein. Keiner dieser beiden Männer ist irgendeiner Schuld überführt worden; niemand hat sie auch nur beschuldigt!« »Er hat sich die Ambal-Insel unter den Nagel gerissen! Reicht das nicht?« »Moment – vielleicht wurde er irregeführt, wer weiß? Er kann sehr wohl ein gerechter und schuldloser Mann sein.« »Ein gerechter und schuldloser Mann würde einen
zu Unrecht erworbenen Besitz zurückgeben!« »Genau! Vielleicht ist Lute Casagave ein solcher Mann!« Ao wandte sich an Glinnes. »Hast du schon versucht, die Angelegenheit mit Lute Casagave selbst zu besprechen? Ich glaube nicht.« Glinnes blickte zweifelnd hinüber zur Ambal-Insel. »Ich könnte wohl mit ihm reden, das stimmt schon. Was aber nicht die eine unangenehme Tatsache beseitigt, daß selbst ein gerechter Mann seine zwölftausend Ozols würde wiederhaben wollen, und die kann ich ihm nicht geben.« »Verweise ihn doch an Glay, dem er den Betrag auszahlte«, riet Carbo. »Er hätte sich über die Besitzrechte informieren sollen, bevor er den Kauf abschloß.« »Das ist wirklich seltsam, sehr seltsam... Wenn er nicht sicher wußte, daß Shira tot ist – was zu recht makabren Vermutungen Anlaß geben würde.« »Ach was!« rief Ao Gilweg. »Pack den Stier bei den Hörnern und rede mit dem Mann selber. Sag ihm, er solle deinen Besitz räumen und sich sein Geld bei Glay zurückholen, dem Mann, dem er es zu Unrecht bezahlt hat.« »Bei den fünfzehn Teufeln, du hast recht!« rief Glinnes. »Es ist ganz klar und eindeutig – rechtlich ist seine Position unhaltbar! Ich werde ihm das gleich morgen klarmachen.« »Denk an Shira!« meinte Carbo Gilweg. »Vielleicht ist er ein Mann, der vor nichts zurückschreckt!« »Nimm am besten eine Waffe mit«, rief Ao Gilweg. »Nichts bringt die Leute so schnell zur Vernunft wie ein Strahler.« »Im Augenblick habe ich keine Waffe«, sagte Glin-
nes. »Diese Schurken von Trevanyi haben meine Taschen geleert wie ein Schnauzrüßler, der Käfer aus dem Holz saugt. Aber ich glaube eigentlich nicht, daß ich eine Waffe brauchen werde; wenn Casagave so vernünftig ist, wie ich hoffe, werden wir uns wohl schnell einigen.« Zwischen dem Bootssteg von Rabendary und der Insel Ambal lagen nur ein paar hundert Meter ruhiges Wasser, und Glinnes hatte die Überfahrt unzählige Male gemacht. Noch nie aber war sie ihm so lang vorgekommen. Auf der Insel rührte sich nichts; nur Casagaves graues Motorboot verriet, daß er da sein mußte. Glinnes machte sein Boot fest und sprang zielstrebig an Land, was ihm aber nur seine angeknacksten Rippen schmerzhaft in Erinnerung brachte. Wie es die Etikette verlangte, betätigte er die Glocke, bevor er den Weg hinaufging. Das Herrenhaus von Ambal war dem GensiferLandsitz sehr ähnlich: ein hohes, weißes Bauwerk von extravaganter Vielfalt. Aus jeder Mauer ragten Erker hervor, das Dach ruhte auf kannelierten Säulen: vier Kuppeln aus Milchglas und ein goldenes Türmchen in der Mitte. Aus dem Kamin kam diesmal kein Rauch; aus dem Innern war kein Ton zu hören. Glinnes drückte auf die Türglocke. Eine Minute verging. Hinter einem Erkerfenster regte sich etwas; dann ging die Tür auf, und Lute Casagave spähte heraus – ein weitaus älterer Mann als Glinnes, mit dünnen Beinen und hängenden Schultern, der einen Fremdweltler-Anzug aus grauem Tuch trug. Silberweiße Haarsträhnen hingen ihm in
das hagere Gesicht. Er hatte eine lange, knochige Nase, hohle Wangen und Augen, die wie kalte Steinsplitter aussahen. Casagaves Züge verrieten einen wachen und disziplinierten Verstand, aber er hatte ganz bestimmt nicht das Gesicht eines Mannes, der zugunsten abstrakter Gerechtigkeit zwölftausend Ozols opfern würde. Casagave äußerte weder einen Gruß noch eine Frage, sondern starrte seinen Besucher nur schweigend an, als erwarte er, daß Glinnes sofort den Grund seines Herkommens nenne. Glinnes sagte höflich: »Ich bedaure, daß ich schlechte Nachrichten für Sie habe, Lute Casagave.« »Sie können mich Lord Ambal nennen.« Glinnes blieb der Mund offen. »Lord Ambal?« »So wünsche ich hier betitelt zu werden.« Glinnes schüttelte zweifelnd den Kopf. »Alles schön und gut; Ihr Blut mag das edelste von Trullion sein, trotzdem können Sie nicht Lord Ambal sein, weil die Insel Ambal nicht Ihr Eigentum ist. Das ist die schlechte Nachricht, die ich erwähnte.« »Wer sind Sie?« »Ich bin Glinnes Hulden, Squire von Rabendary, und die Ambal-Insel gehört mir. Sie haben meinem Bruder Glay Geld gegeben für einen Besitz, der ihm gar nicht gehörte. Die Situation ist für uns beide nicht sehr angenehm. Ich habe selbstverständlich nicht die Absicht, Pacht von Ihnen zu verlangen für die Zeit, die Sie hier gelebt haben, aber ich fürchte, Sie werden sich einen anderen Wohnsitz suchen müssen.« Casagaves Brauen zogen sich zusammen; seine Augen wurden zu grauen Schlitzen. »Das ist Unsinn. Ich bin Lord Ambal, der direkte Nachkomme jenes
Lord Ambal, der den Besitz seiner Vorfahren illegal zu veräußern versuchte. Der ursprüngliche Kaufvertrag war ungültig; das Eigentumsrecht der Huldens hatte von Anfang an keine legale Grundlage. Seien Sie dankbar für die zwölftausend Ozols; ich war nicht verpflichtet, irgend etwas zu zahlen.« »Also hören Sie!« schrie Glinnes. »Die Insel wurde an meinen Urgroßvater verkauft. Der Verkauf wurde im Grundbuch von Welgen eingetragen und kann nicht so einfach abgetan werden!« »Da bin ich nicht so sicher«, sagte Lute Casagave. »Sie sind Glinnes Hulden? Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen. Shira Hulden ist der Mann, von dem ich den Besitz kaufte, wobei Ihr Bruder Glay als sein Agent auftrat.« »Shira ist tot«, sagte Glinnes. »Der Verkauf war ein Schwindel. Ich schlage vor, daß Sie von Glay Ihr Geld zurückfordern.« »Shira ist tot? Woher wollen Sie das wissen?« »Er ist tot, wahrscheinlich ermordet und von den Merlingen verschleppt worden.« »›Wahrscheinlich‹? Wahrscheinlichkeit hat juristisch keinerlei Bedeutung. Mein Kaufvertrag ist gültig, falls Sie nicht das Gegenteil beweisen können oder falls Sie sterben. Dann wäre die Frage ja sowieso hinfällig.« »Ich habe nicht die Absicht zu sterben«, sagte Glinnes. »Wer hat das schon? Es passiert doch fast immer gegen unseren Willen.« »Sagen Sie mal, soll das eine Drohung sein?« Casagave lachte trocken. »Sie haben die Insel Ambal unberechtigt betreten; es bleiben Ihnen zehn Se-
kunden, sich zu entfernen.« Glinnes' Stimme zitterte vor Wut. »Da sitzen Sie aber im falschen Boot. Ich gebe im Gegenteil Ihnen drei Tage und nicht eine Minute mehr, um meinen Besitz zu räumen.« »Was dann?« fragte Lute Casagave spöttisch. »Das werden Sie schon sehen, wenn Sie die AmbalInsel nicht verlassen!« Casagave stieß einen schrillen Pfiff aus. Schwere Schritte dröhnten, und hinter Glinnes tauchte ein gut zwei Meter großer Mann auf, der mindestens seine dreihundert Pfund wog. Seine Haut hatte die Farbe von Teakholz; schwarzes Haar bedeckte seinen Schädel wie dichter Pelz. Casagave wies mit dem Daumen zur Anlegestelle. »Entweder ins Boot oder ins Wasser.« Glinnes, dem vom letzten Mal Verprügeltwerden noch allerhand wehtat, wollte nicht eine zweite solche Erfahrung riskieren. Er machte kehrt und marschierte den Weg hinunter. Lord Ambal? Welcher Betrug! Das war also der Grund für Casagaves genealogische Forschungen gewesen. Glinnes stieß sein Boot hinaus aufs Meer. Langsam umkreiste er die Insel Ambal; noch nie war sie ihm so schön vorgekommen. Was sollte er tun, wenn Casagave das dreitägige Ultimatum einfach nicht beachtete – was er ziemlich sicher tat? Glinnes schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Gewaltanwendung würde ihn nur in Konflikt mit den Behörden bringen – wenn er nicht Shiras Tod beweisen konnte.
KAPITEL 9 Akadie lebte in einem bizarren alten Schlößchen auf einer Klippe oberhalb der Clinkhammer-Bucht, einige Meilen nordöstlich von Rabendary. Die Landspitze wurde Rorquins Zahn genannt, ein schwarzer verwitterter Felsbuckel, vielleicht der Rest eines alten Vulkans, und war jetzt mit Jardbüschen, Feuerblüten und Zwergpomandern bewachsen; auf der Landseite drängte sich eine Gruppe von Sentinellobäumen. Akadies Schloß, das Hirngespinst eines längst vergessenen Lords, reckte fünf Türme gegen den Himmel, alle von anderer Höhe und verschiedenem Stil. Einer war mit Schieferplatten gedeckt, einer mit Ziegeln, ein dritter mit grünen Glaskacheln, der vierte mit Blei und der fünfte mit dem Spandex genannten Kunststoff. In jedem war unmittelbar unter dem Dach ein Studierraum eingerichtet, die den verschiedensten Stimmungen Akadies entsprechend ausgestattet waren. Akadie schätzte und pflegte seine Launen und fand, daß die widersprüchliche Persönlichkeit eine Tugend war. Früh am Morgen, als der Dunst noch in dünnen Schwaden über dem Wasser lag, steuerte Glinnes sein Boot nach Norden durchs Farwan-Gewässer und den Saur, dann in westlicher Richtung durch die schmale, schlingpflanzenverseuchte Vernice-Straße in die Clinkhammer-Bucht. Das ruhige Wasser spiegelte Akadies fünftürmiges Schlößchen mit allen seinen bizarren Einzelheiten. Akadie war gerade erst aufgestanden. Zerzauste Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, und die Augen
hatte er bestenfalls halb offen. Trotzdem begrüßte er Glinnes einigermaßen freundlich. »Bitte komme nicht vor dem Frühstück auf dein Anliegen zu sprechen; ich bin noch nicht in einem sehr ansprechbaren Zustand.« »Ich will nur Marucha besuchen«, sagte Glinnes. »Diesmal bedarf ich nicht deiner Dienste.« »Dann ist's ja gut.« Marucha, die immer schon eine Frühaufsteherin gewesen war, wirkte angespannt und verdrossen; sie begrüßte Glinnes nicht gerade herzlich und setzte Akadie ein Frühstück vor, das aus Obst, Tee und Brötchen bestand. Glinnes bot sie eine Tasse Tee an. »Ah!« seufzte Akadie, »der Tag beginnt, und langsam bin ich wieder imstande, mich der Welt zu widmen.« Er trank seinen Tee. »Und wie stehen deine Angelegenheiten?« »Wie zu erwarten. Meine Probleme sind nicht durch ein einfaches Fingerschnippen zu bereinigen.« »Manchmal«, philosophierte Akadie, »hat man keine anderen Probleme als jene, die man sich selbst bereitet.« »Das trifft für meinen Fall gewiß zu«, sagte Glinnes. »Ich bemühe mich, meinen Besitz zurückzuerhalten und das, was ich noch habe, zu schützen – und das provoziert natürlich meine Feinde.« Marucha, die in der Küche herumhantierte, zeigte betontes Desinteresse für die Unterhaltung. »Der eigentliche Schuldige ist natürlich Glay«, fuhr Glinnes fort. »Er hat nichts als Schwierigkeiten gestiftet und sich dann empfohlen. Ich finde, für einen Hulden – und für einen Bruder – ist das eine ausgesprochen miese Handlungsweise.«
Marucha konnte sich nicht länger bezähmen. »Ich glaube nicht, daß er sich viel darum schert, ob er ein Hulden ist oder nicht. Und was brüderliches Verhalten angeht – das sollte auf Gegenseitigkeit beruhen. Du hilfst ihm bei seinen Vorhaben ja auch nicht.« »Das kostet zu viel«, sagte Glinnes. »Glay kann es sich leisten, zwölftausend Ozols zu verschenken, weil das Geld nie ihm gehört hat. Ich habe nur dreitausendvierhundert Ozols ersparen können, und die haben mir Glays Kumpane, die Drossets, gestohlen. Jetzt habe ich nichts mehr.« »Du hast die Insel Rabendary. Das ist viel.« »Endlich scheinst du einzusehen, daß Shira tot ist.« Akadie hob die Hand. »Also bitte! Komm, nehmen wir uns den Tee mit in den Südturm. Hier hinauf, aber gib acht, die Stufen sind schmal.« Sie stiegen in den niedrigsten und geräumigsten Turm hinauf, von dem man über die ganze Clinkhammer-Bucht sehen konnte. Akadie hatte die dunkle Wandtäfelung mit uralten Bannern und Wimpeln behängt; eine Ecke des Raums wurde von einer Sammlung ausgefallener roter Steinguttöpfe eingenommen. Akadie stellte Teekanne und Tasse auf dem niedrigen Tischchen ab und bedeutete Glinnes, sich einen der alten Korbstühle heranzuholen. »Als ich Marucha bat, mein Haus mit mir zu teilen, habe ich nicht erwartet, auch die Familienzwistigkeiten mitgeliefert zu bekommen.« »Ich bin heute morgen wohl ein bißchen unleidlich«, gab Glinnes zu. »Aber ich habe guten Grund dazu: die Drossets haben mir im Finstern aufgelauert, mich zusammengeschlagen und mir mein ganzes Geld abgenommen. Ich kann seitdem nachts kaum
mehr schlafen. In mir brodelt und kocht es vor Wut.« »So was kann einen schon erbittern«, räumte Akadie ein. »Denkst du vielleicht an Vergeltungsmaßnahmen?« Glinnes warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Ich denke kaum mehr an etwas anderes! Aber mir fällt nichts Vernünftiges ein. Ich könnte ein oder zwei Drossets umbringen und auf dem Prutanschyr enden, aber dadurch bekäme ich kaum mein Geld wieder. Ich könnte ihren Wein mit einer Droge versetzen und ihr Lager durchsuchen, während sie schlafen, aber ich habe kein solches Mittel, und selbst wenn ich es hätte, wie könnte ich sicher sein, daß sie alle von dem Wein getrunken haben?« »Solche Dinge planen sind leichter, als sie sich durchführen lassen«, bemerkte Akadie weise. »Aber gestatte mir einen vielleicht nützlichen Hinweis. Hast du schon vom Xian-Moor gehört?« »Ich war noch nie dort«, sagte Glinnes. »Aber soviel ich weiß, ist dort die Begräbnisstätte der Trevanyi.« »Es ist sehr viel mehr als das. Der Todesvogel kommt aus dem Tal von Xian, und der Sterbende vernimmt seinen Gesang. In den Schatten der großen Ombrils, die sonst nirgendwo in Merlank wachsen, wandeln die Geister der Trevanyi. Höre – das ist der wichtigste Punkt: wenn du die Krypta der Drossets fändest und dir eine der Totenurnen holtest, würde Vang Drosset selbst die Reinheit seiner Tochter opfern, um sie zurückzubekommen.« »Ich bin nicht interessiert – oder sagen wir, sehr wenig interessiert an der Reinheit seiner Tochter. Ich will nur mein Geld zurück. Aber deine Idee ist nicht schlecht.«
Akadie machte eine wegwerfende Geste. »Freundlich von dir. Aber der Vorschlag ist so undurchführbar und phantastisch wie alle anderen. Es gibt zu viele unüberwindbare Schwierigkeiten dabei. Wie zum Beispiel wolltest du die Lage der Krypta erfahren, außer von Vang Drosset selbst? Wenn er dich wirklich so ins Herz geschlossen hätte, daß er dir dieses tiefste Geheimnis seines Lebens anvertraute, so würde er dir wohl kaum deine Ozols vorenthalten, oder seine Tochter? Aber nehmen wir an, du hättest Vang Drosset herumgekriegt, dir das Geheimnis zu verraten, und wärst im Tal von Xian. Wie würdest du den Drei Alten entgehen, ganz zu schweigen von den Geistern?« »Ich weiß es nicht«, sagte Glinnes. Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend da und tranken ihren Tee. Schließlich fragte Akadie: »Hast du die Bekanntschaft von Lute Casagave gemacht?« »Ja. Er weigert sich, die Insel Ambal zu verlassen.« »Das war vorauszusehen. Er wird zumindest seine zwölftausend Ozols zurückhaben wollen.« »Er behauptet, Lord Ambal zu sein.« Akadie richtete sich abrupt in seinem Sessel auf; seine Augen blitzten angesichts dieser faszinierenden Entwicklung. Aber dann schüttelte er fast bedauernd den Kopf und ließ sich zurücksinken. »Unwahrscheinlich. Sehr unwahrscheinlich. Und in jedem Fall irrelevant. Ich fürchte, du wirst dich mit dem Verlust der Insel Ambal abfinden müssen.« »Ich finde mich mit keinerlei Verlusten ab!« rief Glinnes erregt. »Ob es nun um die Hussade-Spiele oder um die Ambal-Insel geht: das ist das gleiche. Ich
gebe niemals auf – ich will nur das bekommen, was mir gehört!« Akadie hob beschwichtigend die Hand. »Beruhige dich. Ich werde in Muße darüber nachdenken. Wer weiß, was sich noch ergibt? Mein Honorar beträgt fünfzehn Ozols.« »Fünfzehn Ozols!« fuhr Glinnes auf. »Wofür? Du hast mir nur gesagt, daß ich mich beruhigen soll!« »Oh«, entgegnete Akadie mit einer verbindlichen Geste, »ich habe dir einen jener negativen Ratschläge gegeben, die oft genauso wertvoll sind wie ein positives Programm. Wenn du mich zum Beispiel fragtest: ›Wie kann ich mit einem einzigen Sprung von hier nach Welgen springen?‹ könnte ich dir nur ›Unmöglich‹ antworten, wodurch ich dir viel nutzlose Mühe und Plage ersparen würde; damit wäre ein Honorar von zwanzig oder dreißig Ozols gerechtfertigt.« Glinnes lächelte grimmig. »Im vorliegenden Fall hast du mir keine Mühe erspart; du hast mir nichts gesagt, was ich nicht auch selbst wußte. Du mußt dies als reinen Freundschaftsdienst ansehen.« Akadie zuckte die Achseln. »Wie du meinst.« Die beiden Männer kehrten ins Erdgeschoß zurück, wo Marucha über ein Magazin gebeugt saß, das in Port Maheul erschien: Das interessante Leben der Oberklasse. »Auf Wiedersehn, Mutter«, sagte Glinnes. »Danke für den Tee.« Marucha blickte von der Zeitschrift auf. »Du bist mir natürlich immer willkommen.« Und sie las weiter. Als Glinnes wieder über die Clinkhammer-Bucht hinausfuhr, überlegte er, warum Marucha ihn eigent-
lich nicht mochte, obwohl er im Grunde seines Herzens die Antwort recht gut kannte. Marucha hatte nichts gegen Glinnes; sie hatte etwas gegen Jut und sein ›rüpelhaftes Benehmen‹ – seine Sauftouren, seine gegrölten Lieder, seine grobe Sinnlichkeit, überhaupt seinen Mangel an Schliff. Kurzum, sie hielt ihren Mann für einen groben Klotz. Obwohl Glinnes weit weltgewandter war als sein Vater, erinnerte er sie doch an Jut. So konnte nie richtige Wärme zwischen ihnen entstehen. Glinnes war das ganz recht; er hatte selbst auch nicht sonderlich viel für Marucha übrig... Glinnes steuerte das Boot in das Zeur-Gewässer, das die Freiland-Insel der Präfektur im Nordosten begrenzte. Ein plötzlicher Impuls ließ ihn langsamer werden und zum Ufer schwenken. Er ließ das Boot ins Schilf gleiten und machte es an einem Ast eines Casammonbaumes fest. Vorsichtig kletterte er die Böschung hinauf, von wo er die Insel übersehen konnte. Dreihundert Meter entfernt, am Rande einer Gruppe schwarzer Kerzennußbäume, hatten die Drossets ihre drei Zelte aufgebaut – dieselben Rechtecke in Rot, Schmutzigbraun und Schwarz, die Glinnes schon auf Rabendary ein Dorn im Auge gewesen waren. Auf einer Bank saß Vang Drosset über irgendeine Frucht gebeugt, eine Melone vielleicht, oder auch eine Cazaldo. Tingo, die heute ein lila Kopftuch trug, hockte neben dem Feuer, schnitt Wurzelknollen klein und warf sie in den Kessel. Die Söhne Ashmor und Harving waren ebensowenig zu sehen wie Duissane. Glinnes beobachtete das Lager noch fünf Minuten. Vang Drosset verschlang das letzte Stück Cazaldo und warf das Kerngehäuse ins Feuer. Dann drehte er
sich um und redete mit Tingo, die Hände auf die Knie gestützt. Die Frau setzte ihre Arbeit fort. Glinnes sprang die Böschung hinunter zu seinem Boot und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit nach Hause. Eine Stunde später war er wieder zurück. Glay hatte während seiner Wanderungen mit den Trevanyi ihre Tracht angenommen; diese Kleidung trug Glinnes jetzt, außerdem einen tief ins Gesicht reichenden Trevanyi-Turban. Im Boot lag ein junger Cavout, mit verbundenem Maul und gefesselten Beinen. Außerdem waren drei leere Schachteln, mehrere gute Eisentöpfe und eine Schaufel in dem Boot. Glinnes landete an der gleichen Stelle wie zuvor. Er kroch die Böschung hoch und studierte das Lager der Drossets durch sein Fernglas. Der Kessel hing blubbernd über dem Feuer. Tingo war nirgendwo zu sehen. Vang Drosset saß auf der Bank und schnitzte einen Zierknopf aus Dakohorn. Glinnes starrte angestrengt hinüber. Ob Vang Drosset am Ende sein Messer benutzte? Späne und Splitter flogen nur so vom Dako weg, und Vang Drosset prüfte immer wieder zufrieden die Klinge. Glinnes holte den Cavout aus dem Boot und fesselte das Tier so an den Hinterbeinen, daß es ein paar Meter weit in die Wiese hinaushoppeln konnte. Den Knebel entfernte er. Nun versteckte sich Glinnes hinter einem Stillbeerdickicht und vermummte den unteren Teil seines Gesichtes mit dem Ende des Turbantuches. Vang Drosset schnitzte weiter am Dako herum. Schließlich hielt er inne, streckte sich und bemerkte den Cavout. Er beobachtete ihn einige Augenblicke
lang, stand dann auf und ließ den Blick über das Freiland streifen. Niemand zu sehen. Er wischte das Messer ab und steckte es in den Stiefel. Tingo Drosset schaute zu dem einen Zelt heraus; Vang Drosset rief ihr etwas zu. Daraufhin kam sie ganz hervor und schaute unsicher zu dem Cavout herüber. Vang Drosset setzte sich in Bewegung und kam zielbewußt, aber vorsichtig über die Wiese marschiert. Zehn Meter vor dem Cavout tat er, als bemerke er das Tier zum ersten Mal, und blieb wie überrascht stehen. Er entdeckte den Strick und verfolgte ihn bis zum Casammonbaum. Er machte vier rasche Schritte vorwärts und reckte den Hals. Er sah das Boot und blieb wie angewurzelt stehen, während seine Augen Inventur machten. Eine Schaufel, mehrere brauchbare Töpfe, und was enthielten wohl diese Schachteln? Er leckte sich die Lippen, blickte mißtrauisch nach rechts und links. Sonderbar. Vermutlich irgendein Kinderstreich. Trotzdem, warum sollte er nicht einen Blick in die Schachteln riskieren? Nachschauen konnte auf keinen Fall schaden. Vang Drosset stieg vorsichtig die Böschung hinunter und wußte nachher nicht mehr, was ihm eigentlich passiert war. Glinnes, beflügelt von seiner gerechten Empörung, sprang vor und riß Vang Drosset mit zwei fürchterlichen Hieben rechts und links übers Ohr fast den Kopf ab. Vang Drosset kippte um. Glinnes stieß ihm das Gesicht in den Schlamm, fesselte ihm die Hände auf dem Rücken und band die Knie und Fußgelenke mit einem Strick zusammen, den er für diesen Zweck mitgebracht hatte. Dann knebelte er Vang Drosset, der mittlerweile stöhnende Schnarchlaute von sich gab, und verband ihm die Augen.
Er zog das Messer aus Vang Drossets schwarzem Stiefel: es war sein eigenes. Gut, die wunderbare Klinge wiederzuhaben! Er durchsuchte Vang Drossets Kleider, schlitzte mit dem Messer den Stoff auf, um es leichter zu haben. Vang Drossets Beutel enthielt nur zwanzig Ozols, die Glinnes einsteckte. Dann zog er dem Trevanyi die Stiefel aus und schnitt die Sohlen auf. Er fand nichts und warf die Stiefel weg. Vang Drosset hatte also keine größere Summe Geldes bei sich. Glinnes versetzte ihm aus Enttäuschung einen Tritt in die Rippen. Als er über die Wiese blickte, sah er, wie Tingo Drosset gerade zur Latrine ging. Er nahm den Cavout auf die Schulter, so daß sein Gesicht verdeckt war, und marschierte zum Lager hinüber. Er erreichte das braune Zelt, als Tingo Drosset eben ihr Geschäft beendet hatte. Er blickte in das braune Zelt. Er ging zu dem roten hinüber. Ebenfalls leer. Er ging hinein. Tingo Drosset sagte zu seinem Rücken: »Scheint mir ein saftiges Vieh zu sein. Aber laß es doch draußen! Was ist nur in dich gefahren? Schlachte es doch unten beim Wasser.« Glinnes legte das Tier hin und wartete. Tingo Drosset kam keifend über das seltsame Benehmen ihres Mannes ins Zelt. Glinnes warf ihr seinen Turban über den Kopf und drückte sie zu Boden. Tingo Drosset kreischte und fluchte über dieses unerwartete Verhalten ihres Mannes. »Noch ein Laut von dir«, knurrte Glinnes, »und ich schneid dir den Hals von einem Ohr zum anderen durch! Lieg still, wenn du weißt, was für dich gut ist!« »Vang! Vang!« kreischte Tingo Drosset. Glinnes stopfte ihr ein Stück Turbantuch in den Mund.
Tingo war untersetzt und stämmig und machte Glinnes erheblich zu schaffen, bevor sie verschnürt wie ein Paket dalag, geknebelt und eine Binde um die Augen. Glinnes rieb sich eine gebissene Stelle an der Hand. Tingo Drosset brummte der Kopf von dem Schlag, den ihr der Biß eingebracht hatte. Es war zwar nicht wahrscheinlich, daß Tingo Drosset das Geld der Familie bei sich hatte, aber es hatte schon seltsamere Dinge gegeben. Glinnes untersuchte mit gerümpfter Nase ihre Kleider, während sie grunzte und stöhnte und entsetzt in Erwartung von Schlimmerem zappelte. Er durchsuchte das schwarze Zelt, dann das rote, in dem Duissane in einer Ecke ein paar hübsche Kleinigkeiten und Andenken verwahrte, und zuletzt das braune Zelt. Er fand kein Geld, hatte es auch nicht erwartet; bei den Trevanyi war es üblich, ihre Wertsachen zu vergraben. Glinnes setzte sich auf Vang Drossets Bank. Wo würde er Geld vergraben, wäre er Vang Drosset? Die Stelle mußte leicht zugänglich sein und durch irgendein Zeichen gut auffindbar: einen Pfosten, einen Stein, einen Busch oder Baum. Die Stelle würde außerdem im unmittelbaren Sichtbereich des Lagers liegen, denn Vang Drosset würde das Versteck kaum gern aus den Augen lassen. Glinnes schaute sich nachdenklich um. Ein paar Schritte vor ihm hing der Kessel über dem Feuer, daneben war ein grob gezimmerter Tisch mit zwei Bänken aufgestellt. Nur wenige Meter weiter war der Boden von der Hitze eines weiteren Feuers versengt. Diese alte Feuerstelle lag, wie ihm vorkam, etwas bequemer als der neue Kochplatz. Aber manche Gewohnheiten der Trevanyi wa-
ren eben sonderbar und unerklärlich, überlegte Glinnes. In dem Lager auf Rabendary... Auf einmal sah Glinnes den ehemaligen Lagerplatz auf der Insel Rabendary deutlich vor sich – und die frisch aufgegrabene Erde an der Feuerstelle. Glinnes nickte zufrieden. Das war es. Er stand auf und ging zum Feuer. Er zog den Dreifuß, an dem der Kessel hing, beiseite und kratzte mit einem alten Spaten, dessen Stiel abgebrochen war, die Glutstücke weg. Die ausgedörrte Erde darunter gab leicht nach. Zwanzig Zentimeter unter der Oberfläche stieß der Spaten an eine geschwärzte Eisenplatte. Glinnes kippte sie auf die Seite, so daß ein Tonziegel darunter sichtbar wurde, den er ebenfalls entfernte. Die Höhlung darunter enthielt einen Steingutkrug. Glinnes zog ihn heraus. Ein dickes Bündel rot-schwarzer Hundert-Ozol-Noten war darin. Glinnes nickte erfreut und verstaute alles in seiner Tasche. Der Cavout, der jetzt friedlich graste, hatte Dung abgesetzt. Glinnes kratzte die Häufchen in den Krug, stellte ihn in das Loch zurück und richtete alles wieder so her, wie es vorher gewesen war, mit Feuer und Kessel über dem Versteck. Bei flüchtigem Hinsehen war nicht zu erkennen, daß es geöffnet worden war. Nun nahm Glinnes den Cavout wieder auf die Schulter und marschierte zurück über die Wiese zu der Stelle, wo er sein Boot angebunden hatte. Vang Drosset hatte verzweifelt versucht, sich zu befreien, aber es war ihm nur gelungen, die Böschung hinunterzukollern, so daß er jetzt im Uferschlamm lag. Glinnes lächelte nachsichtig und verzichtete angesichts der Tatsache, daß er Vang Drossets gesamtes Geld in der Tasche hatte, darauf, der zusammenge-
krümmten Gestalt noch einen Tritt zu versetzen. Er band den Cavout im Heck des Bootes an und legte ab. Vielleicht hundert Meter weiter neigte ein riesiger Casammonbaum seine dichtbelaubten Äste tief übers Wasser. Glinnes trieb das Boot durch das Schilf bis zu einer der dicken, gebogenen Wurzel, machte es daran fest und kletterte über die Wurzel hinauf ins Geäst. Durch eine Lücke im Blattwerk konnte er das Lager der Drossets sehen, in dem sich aber noch nichts rührte. Glinnes machte es sich in einer Astgabel bequem und zählte das Geld. Im ersten Bündel fand er drei Tausend-Ozol-Noten, vier Hunderter und sechs Zehner. Glinnes schmunzelte zufrieden. Er entfernte den Gummiring vom zweiten Bündel, das um einen goldenen Uhranhänger gefaltet war: vierzehn HundertOzol-Noten. Glinnes beachtete sie nicht und starrte nur den goldenen Anhänger an, während ihm ein eisiges Frösteln über den Rücken lief. Diesen Anhänger kannte er gut; er hatte seinem Vater gehört. Da – die Initialen für Jut Hulden. Und darunter ein zweites Monogramm: Shira Hulden. Es gab zwei Möglichkeiten: die Drossets hatten entweder den lebenden Shira ausgeraubt oder den toten. Und das waren die Kameraden und Reisegenossen seines Bruders Glay! Glinnes spuckte auf den Boden. Er saß reglos in seiner Astgabel, aber in seinem Kopf brodelte es vor Aufregung und entsetzter Empörung. Shira war tot. Die Drossets hätten ihm sonst nie sein Geld abnehmen können. Davon war Glinnes jetzt überzeugt. Er wartete und beobachtete weiter. Genugtuung,
Wut und Entsetzen schwanden mit der Zeit. Gleichmütig und geduldig saß er auf dem Ast. Eine Stunde verging, dann noch eine halbe. Schließlich kamen von der Anlegestelle am Ilfisch-Gewässer drei Personen herüber: Ashmor, Harving und Duissane. Ashmor und Harving gingen sofort in das rote Zelt; Duissane blieb stehen – anscheinend hatte sie irgendeinen Laut von Tingo vernommen. Sie stürzte in das braune Zelt und steckte einen Moment später den Kopf heraus, um nach ihren Brüdern zu rufen. Dann verschwand sie wieder im Zelt. Ashmor und Harving rannten auch hinein. Fünf Minuten später tauchten sie alle wieder auf, in ein heftiges Gespräch verstrickt. Tingo, der das Erlebnis offensichtlich nicht geschadet hatte, fuchtelte wild herum und zeigte über die Wiese. Ashmor und Harving machten sich auf und fanden nach einer Weile Vang Drosset. Sie banden ihn los und kehrten mit ihm zum Lager zurück. Die Söhne redeten mit heftigen Gesten auf ihn ein. Vang Drosset humpelte barfuß übers Gras und hielt sich die zerschlissenen Kleider an den Leib. Im Lager angekommen, schaute er sich genau um und inspizierte vor allem die Feuerstelle. Allem Anschein nach war nichts verändert. Er ging in das braune Zelt. Die Söhne schimpften mit Tingo, die jetzt fast hysterisch Erklärungen hervorsprudelte und immer wieder zum Ufer zeigte. Dann kam Vang Drosset wieder aus dem braunen Zelt, nun neu gekleidet. Er trat zu Tingo und knuffte sie; sie kreischte verärgert und zog sich zurück. Er holte wieder aus, worauf sie einen kräftigen Ast packte und sich zur Gegenwehr bereitmachte. Vang Drosset wandte sich mürrisch ab; er ging zum Feuer,
um den Platz genauer zu untersuchen. Plötzlich stutzte er – er hatte die Stelle entdeckt, auf die Glinnes Asche und Glut geschoben hatte. Er stieß einen heiseren Schrei aus, den Glinnes bis in seinen Baum hören konnte. Wild stieß er den Dreifuß beiseite, räumte mit ein paar Tritten die Glut weg und wühlte mit bloßen Händen die Eisenplatte heraus. Dann den Ziegel. Und dann den Krug. Er schaute hinein. Er blickte Ashmor und Harving an, die neugierig daneben standen. Vang Drosset warf mit einer großartigen Geste der Verzweiflung die Arme hoch. Er schleuderte den Krug auf den Boden und trampelte auf den Splittern herum, er stieß nach dem Feuer, daß die Funken stoben, er schüttelte die sehnigen Fäuste und fluchte in alle Himmelsrichtungen, wie es nur Angehörige eines Volkes können, bei dem Flüche noch eine Bedeutung haben. Jetzt war es an der Zeit zu verschwinden, fand Glinnes. Er rutschte von dem Baum, schwang sich in sein Boot und fuhr zur Insel Rabendary zurück. Ein sehr befriedigender Tag war das gewesen. Die Trevanyi-Tracht hatte seine Identität getarnt; die Drossets mochten ihn in Verdacht haben, aber sicher konnten sie es nicht wissen. Im Augenblick waren alle Trevanyi, die sich in der Gegend aufhielten, verdächtig, und die Drossets würden diese Nacht über der Diskussion, wer der Schuldige sein könnte, kaum zum Schlafen kommen. Glinnes richtete sich eine Mahlzeit her und aß draußen auf der Veranda. Der Nachmittag ging in Avness über, jene melancholische Tageszeit, in der das Licht starb und Himmel und Wasser eine blasse,
milchige Tönung annahmen. Das unerwartete Läuten des Telefons zerriß die Stimmung. Glinnes ging hinein und sah das Gesicht von Thammas Lord Gensifer vor sich auf dem Bildschirm. Er drückte die Bildaufnahmetaste. »Guten Abend, Lord Gensifer.« »Ebenfalls einen schönen guten Abend, Glinnes Hulden! Sind Sie bereit, Hussade zu spielen? Ich meine natürlich nicht, in diesem Augenblick.« Glinnes antwortete mit einer vorsichtigen Gegenfrage. »Ich vermute, Ihre Pläne haben Gestalt angenommen?« »Richtig. Die Fleharish-Gorgonen sind eine fertige Mannschaft und bereit, mit dem Training zu beginnen. Ich habe Sie als rechten Mittelstürmer eingetragen.« »Und wer spielt links?« Lord Gensifer blickte auf seine Liste. »Ein sehr vielversprechender junger Mann namens Savat. Ihr beide müßtet eine ausgezeichnete Kombination sein.« »Savat? Noch nie von ihm gehört. Wer sind die Außenstürmer?« »Lucho und Helsing.« »Hmm. Mir ist keiner dieser Namen bekannt. Sind das die Spieler, die Sie von Anfang an im Auge hatten?« »Lucho selbstverständlich. Was die anderen betrifft – nun, diese Liste war immer nur ein Provisorium, das abgeändert werden sollte, sobald sich etwas Besseres ergab. Sie wissen ja recht gut, Glinnes, daß einige dieser alteingesessenen Spieler viel zu wenig flexibel sind. Eine junge Mannschaft fährt besser mit Leuten, die fähig und willens sind, noch etwas zu
lernen. Begeisterung, Elan, Hingabe! Das sind die Eigenschaften, die zum Sieg führen!« »Ich verstehe. Wer hat sich sonst verpflichtet?« »Iskelatz und Wilmer Guff sind die Springer – wie gefällt Ihnen das? Sie werden kaum zwei bessere Springer in der ganzen Präfektur finden. Die Wächter – also Ramos ist ein wahrer Panzerwagen, und Pylan ist auch sehr gut. Sinforetta und ›Pflock‹ Candolf sind nicht ganz so behende, aber dafür massiv und nicht von der Stelle zu bringen. Ich spiele als Kapitän und...« »Eh? Wie war das? Hab ich Sie recht verstanden?« Lord Gensifer runzelte die Stirn. »Ich spiele als Kapitän«, erklärte er gemessen. »Ja, das wäre also unsere Mannschaft, bis auf die Ersatzleute natürlich.« Glinnes schwieg einige Augenblicke. Dann fragte er: »Wie steht es mit der Kasse?« »Die Kasse beläuft sich auf dreitausend Ozols«, sagte Lord Gensifer steif. »Die ersten paar Spiele machen wir mit fünfzehnhundert Ozols, zumindest bis die Mannschaft darauf drängt, mehr zu riskieren.« »Ich verstehe. Wann und wo soll trainiert werden?« »Auf dem Platz von Saurkash, morgen vormittag. Ich nehme also an, Sie sind entschlossen, mit den Gorgonen zu spielen?« »Ich werde gewiß morgen kommen, und dann werden wir ja sehen, wie die Dinge laufen. Aber lassen Sie mich offen sein, Lord Gensifer. Der Kapitän ist der wichtigste Mann des Teams. Was aus einer Mannschaft wird, hängt fast ausschließlich vom Kapitän ab. Wir brauchen einen erfahrenen Kapitän. Ich bezweifle, daß Sie diese Erfahrung besitzen.« Lord Gensifers Miene wurde hochmütig. »Ich habe
das Spiel seit langem gründlichst studiert. Ich habe Kalenschenkos Hussade-Taktik dreimal durchgearbeitet; ich habe das Handbuch der Hussade von Grund auf meinem Gedächtnis einverleibt; ich habe alle die neuesten Varianten studiert, das Gegenströmungsprinzip, das Doppelpyramidensystem, Wogenformation...« »Das mag schon sein, Lord Gensifer. Viele Leute haben sich theoretisch mit dem Spiel beschäftigt, aber letzten Endes sind die Reflexe ausschlaggebend, und wenn man nicht wirklich selbst viel gespielt hat...« »Wenn Sie Ihr Bestes tun, werden alle anderen es auch tun«, sagte Lord Gensifer kühl. »Sonst noch was?... Beim vierten Gongschlag also.« Der Bildschirm erlosch. Glinnes brummte entrüstet. Für einen verbogenen halben Ozol würde er Lord Gensifer sagen, er möge Kapitän, Stürmer, Springer, Wächter und Sheirl zugleich spielen. Lord Gensifer als Kapitän! Das war doch das letzte. Aber wenigstens hatte er sein Geld wieder, und eine Entschädigung für die bezogenen Prügel obendrein. Fast fünftausend Ozols: eine hübsche Summe, die er aber besser an einem sicheren Ort verwahrte. Glinnes steckte das Geld in einen Krug, wie die Drossets ihn verwendet hatten. Dann vergrub er ihn hinter dem Haus. Eine Stunde später kam ein Boot aus dem IlfischGewässer heraus in die Bucht von Ambal. Vang Drosset und seine zwei Söhne saßen darin. Als sie an der Anlegestelle von Rabendary vorüberkamen, stand Vang Drosset auf und musterte das Boot der Huldens mit dem Blick eines hungrigen Geiers. Glin-
nes hatte die Sachen, mit denen er Vang Drosset angelockt hatte, natürlich entfernt. Das Boot war von Hunderten anderer nicht zu unterscheiden. Glinnes blieb ruhig auf seiner Veranda sitzen, die Füße aufs Geländer gelegt. Vang Drosset und seine Söhne schossen mißtrauische Blicke zu ihm herüber; Glinnes schaute gleichmütig zurück. Das Boot strebte das Farwan-Gewässer aufwärts, während die Drossets sich mürrisch unterhielten und immer wieder nach Glinnes umschauten. Dort fährt der Mann, der meinen Bruder getötet hat, dachte Glinnes.
KAPITEL 10 Lord Gensifer, ausstaffiert mit einer neuen, gelbschwarzen Uniform, stieg auf eine Bank und hielt eine Ansprache an seine Mannschaft. »Dies ist ein bedeutender Tag für uns wie für die Geschichte der Hussade in der Präfektur Jolany! Heute beginnen wir, die kampfstärkste, tüchtigste und unüberwindbarste Mannschaft zu schmieden, die je die Hussade-Plätze von Merlank gestürmt hat. Einige von euch sind bereits geübte Spieler von Ruf; andere sind noch unbekannt...« Glinnes, der die fünfzehn Mann um sich herum musterte, dachte sich, daß diese beiden Kategorien etwa im Verhältnis eins zu acht vertreten waren. »... aber durch Ausdauer, Disziplin und vor allen Dingen« – hier brauchte Lord Gensifer das Wort Kercha'an: Willenskonzentration, die zu übermenschlichen Kraftleistungen befähigt – »werden wir unsere Gegner niedermähen! Wir werden jede Jungfrau zwischen hier und Port Jaime zeigen lassen, was an ihr dran ist! Wir werden die Prämien scheffelweise einheimsen; wir werden alle reich und berühmt werden, jeder einzelne von uns! Zunächst aber stehen uns Mühe und Schweiß des Trainings bevor. Ich habe mich eingehendst mit der Theorie der Hussade befaßt; ich kenne Kalenschenko Wort für Wort auswendig. Alle Fachleute sind sich darin einig: überwinde die stärkste Stelle des Gegners, und du hast den Goldring in den Fingern. Das heißt, daß wir besser springen und besser schwingen müssen als die besten Stürmer des Landes, daß wir
die gefährlichsten Wächter von Jolany eintunken müssen, daß wir die gewitztesten Spielstrategen von Trullion austricksen müssen! Aber nun an die Arbeit. Ich möchte, daß die Stürmer sich über das ganze Feld vorarbeiten, abwechselnd springend und schwingend, und an jeder Kreuzung drei Padding-Übungen16 machen. Ihr müßt zu einem einheitlichen Rhythmus finden, ihr Stürmer! Die Springer werden die üblichen Trainingsmanöver ausführen, und die Wächter ebenso. Wir müssen die Grundlagen meistern! Wir sollten darauf hinarbeiten, daß wir statt zwei Springern und vier Wächtern sechs behende, starke Springer im Hinterfeld haben, die jederzeit imstande sind, den Pflug vorwärtszutreiben.« Lord Gensifer spielte auf die Taktik einer starken Mannschaft an, das gegnerische Team von hinten aufzurollen. »Ans Werk! Der Gedanke an den Sieg wird unsere Arbeit beflügeln!« So begann das Training, und Lord Gensifer rannte herum, lobte, kritisierte, tadelte und feuerte seine Mannschaft mit schrillen Ki-yik-yik-yik-Rufen an. Zwanzig Minuten später war sich Glinnes über die Qualität der Mannschaft im klaren. Linksaußen Lucho und der rechte Springer Wilmer Guff hatten zu jenem hypothetischen Team gehört, mit dem Lord Gensifer Glinnes zu ködern versucht hatte, und waren beide ausgezeichnete Spieler – gewandt, sicher, angriffslustig. Der linke Springer Iskelatz schien auch ganz brauchbar zu sein, nur war er etwas mürrisch, ja eigensinnig veranlagt und hatte offensichtlich etwas dagegen, sich beim Training zu verausgaben. Iskelatz 16
Siehe Glossar
zog es vor, seine Kräfte für das richtige Spiel aufzusparen, eine Eigenschaft, die Lord Gensifer augenblicklich auf die Palme brachte. Der linke Mittelstürmer Savat und der Rechtsaußenstürmer Helsing waren jung, wachsam und eifrig, wenn auch ziemlich unerfahren, und bei den PadÜbungen brachte Glinnes sie immer wieder durch Finten aus dem Gleichgewicht. Die Wächter Ramos, Pylan und Sinforetta waren – der Reihe nach – langsam, begriffsstutzig und übergewichtig. Nur der linke Mittelwächter, ›Pflock‹ Gandolf, wies die für einen brauchbaren Spieler erforderlichen Kombinationen von Masse, Kraft, Schlauheit und Wendigkeit auf. Eine Redensart der Hussade besagt, daß ein schlechter Stürmer einen schlechten Wächter überwältigen könnte, daß ein guter Wächter aber einen guten Stürmer mit Sicherheit aufhielt. Eine Mannschaft lebte durch ihre Stürmer und starb durch ihre Wächter, behauptet ein weiteres Sprichwort. Glinnes sah eine Reihe von endlosen Trainingsnachmittagen vor sich, falls Lord Gensifer nicht eine stärkere Besetzung für das Hinterfeld fand. In ihrer augenblicklichen Zusammensetzung brachten die Gorgonen also ein recht gutes Vorderfeld, ein brauchbares Mittelfeld und ein schwaches Hinterfeld ins Spiel. Lord Gensifers Fähigkeiten als Kapitän waren schwer zu beurteilen. Der ideale Kapitän mußte wie der ideale Springer überall im Feld wirkungsvoll spielen können, obwohl einige Kapitäne – wie der alte Neronavy von den Tanchinaros – sich niemals aus dem Schutz ihrer Hange wagten. In bezug auf Lord Gensifer behielt sich Glinnes sein Urteil noch vor. Er schien zwar schnell und stark ge-
nug zu sein, war allerdings etwas übergewichtig und beim Schwingen nicht gerade behende. Lord Gensifer stieß eines seiner Ki-yik-yik-yiks aus. »He, ihr Stürmer! Ein bißchen mehr Eifer, nehmt die Beine unter die Arme! Seid ihr vollgefressene Bären oder was? Glinnes, mußt du Savat mit dem Pad so zärtlich streicheln? Wenn er dich nicht blockieren kann, dann laß es ihn spüren! Und die Wächter – stellt euch doch richtig hin! Die Knie etwas gebeugt, wie ein Raubtier vor dem Sprung! Denkt daran, jedesmal, wenn einer unseren Goldring in die Finger kriegt, kostet es uns Geld... Schon besser... Wir wollen nun ein paar Varianten durchspielen. Zuerst die ›Mittelramme‹ aus dem Lantoun-System...« Die Mannschaft trainierte zwei Stunden lang mit etlichem Eifer, dann zog man sich in den Magischen Fisch zum Mittagessen zurück. Nachmittags führte Lord Gensifer eine Reihe von Varianten vor, die er selbst erdacht hatte, Abwandlungen der komplizierten Diagonal-Manöver. »Wenn wir diese Formationen meistern, können wir Außenstürmer und Springer des Gegners gleichzeitig bedrängen; wenn sie dann nach innen ausweichen, können wir entweder rechts oder links über einen Außenzug vorstoßen.« »Gut und schön«, sagte Lucho, »aber sehen Sie nicht, daß dabei unsere eigenen Flanken ungedeckt sind, so daß wir bei einem Gegenstoß über unsere eigenen Außenzüge nichts unternehmen könnten?« Lord Gensifer runzelte die Stirn. »In diesem Fall müßten die Springer eben nach außen schwingen. Es kommt nur auf das gute Zusammenspiel an.« Die Mannschaft spielte ziemlich träge Lord Gensifers Formation durch, denn mittlerweile war die
wärmste Zeit des Tages angebrochen, und alle waren nach den Anstrengungen des Vormittags ziemlich müde. Schließlich mußte Lord Gensifer teils entrüstet, teils bedauernd die Mannschaft entlassen. »Morgen um dieselbe Zeit; aber macht euch auf einiges Schwitzen gefaßt. Das heute war ja eine Erholung. Es gibt nur eine brauchbare Methode, eine Mannschaft hochzubringen, und das ist, sie zu drillen!« Drei Wochen lang trainierten die Gorgonen – mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Manche Spieler begannen sich zu langweilen, andere wieder knurrten und beschwerten sich über die Schinderei die Lord Gensifer ihnen zumutete. Glinnes beurteilte Lord Gensifers Repertoire an Spielvarianten als viel zu kompliziert und riskant; er fand, daß das Hinterfeld viel zu schwach war, um eine wirkungsvolle Attacke zu erlauben. Die Springer waren gezwungen, die Wächter zu schützen, was wiederum den Aktionsradius der Stürmer einschränkte. Das zermürbende Training forderte einen Tribut. Der linke Springer Iskelatz, der zwar tüchtig war, aber für Lord Gensifers Geschmack zu wenig Einsatzeifer zeigte, trat aus der Mannschaft aus, ebenso Rechtsaußenstürmer Helsing, in dem Glinnes die Grundlagen für einen ausgezeichneten Spieler erkannt hatte. Die Ersatzmänner waren beide schwächere Spieler. Lord Gensifer entließ Pylan und Sinforetta, die beiden trägsten Wächter, und warb ein nur unmerklich besseres Paar an; beide, so erfuhr Glinnes von Carbo Gilweg, hatten sich erfolglos um Aufnahme bei den SaurkashTanchinaros beworben. Lord Gensifer lud schließlich die Mannschaft in seinen Herrensitz ein und stellte die Sheirl der Gor-
gonen vor, Zuranie Delcargo aus dem Dorf Stinkenbrunn, das diesen Namen wegen der in der Nähe gelegenen heißen Schwefelquellen erhalten hatte. Zuranie war eine ziemlich blutarme Schönheit, recht mager und so schüchtern, daß sie kaum den Mund auftat. Glinnes wunderte sich ein wenig – was konnte ein Mädchen dieses Wesens dazu bewegen, eine öffentliche Entblößung zu riskieren? Wann immer man sie ansprach, warf sie den Kopf zurück, so daß ihr das lange, blaßblonde Haar übers Gesicht fiel, und sie sprach den ganzen Abend über nicht mehr als drei Worte. Sie hatte nicht die Spur von Saschei, jenem feurigen, kämpferischen Elan, der eine Mannschaft befähigt, weit mehr zu leisten, als sie theoretisch fähig ist. Lord Gensifer benutzte die Gelegenheit dazu, den kommenden Spielplan zu verkünden. Das erste Match würde in zwei Wochen im Stadion von Saurkash gegen die Seeraben von Voulash stattfinden. Einige Tage darauf erschien Zuranie auf dem Spielplatz, um beim Training zuzusehen. Es hatte in der Früh geregnet, und ein scharfer Wind blies von Süden. Die Spieler waren verdrossen und unwillig. Lord Gensifer sauste wie ein großes, eifriges Insekt auf dem Spielfeld herum, schimpfte, beschwor und schrie immer wieder »Ki-yik-yik-yik!«, aber seine Anstrengungen fruchteten nicht viel. Zuranie, die an der Hütte des Pumpenwärters vor dem Wind Zuflucht gesucht hatte, beobachtete bedrückt und voll böser Ahnungen die trägen Manöver der Spieler. Endlich winkte sie schüchtern zu Lord Gensifer hinüber. Er kam herangetrabt. »Ja, Sheirl?« »Nennen Sie mich nicht Sheirl«, sagte Zuranie schmollend. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich
mich auf so was eingelassen habe. Wirklich, ich könnte nicht da oben stehen und mich von den vielen Leuten anstarren lassen. Ich glaube, ich würde ganz bestimmt sterben. Bitte, Lord Gensifer, seien Sie nicht böse, aber ich kann einfach nicht.« Lord Gensifer sandte einen verzweifelten Blick zu den tiefhängenden grauen Wolkenfetzen empor. »Meine liebe Zuranie! Natürlich wirst du bei uns sein, wenn wir gegen die Seeraben von Voulash spielen! In nur zwei Tagen wirst du berühmt sein!« Zuranie rang hilflos die Hände. »Ich will aber gar nicht eine berühmte Sheirl werden; ich will nicht, daß man mir das Kleid herunterreißt...« »Das geschieht doch nur mit der Sheirl der Verlierer«, erklärte Lord Gensifer geduldig. »Du glaubst doch nicht, daß die Seeraben uns schlagen können, wo wir Tyran Lucho und Glinnes Hulden und mich und ›Pflock‹ Candolf in der Mannschaft haben? Wir werden sie niederwalzen wie Schilfhalme; sie werden sie so oft eintunken, daß sie Kiemen kriegen!« Zuranie war nur teilweise beruhigt. Sie gab einen trübseligen Seufzer von sich und sagte nichts mehr. Lord Gensifer, dem endlich klar wurde, daß eine Fortsetzung des Trainings heute wenig Zweck hatte, rief das Team ab. »Morgen um dieselbe Zeit«, befahl er. »Wir müssen noch mehr Schwung in unsere Quermanöver bringen, vor allem im Hinterfeld. Ihr Wächter müßt euch von der Stelle rühren! Wir spielen Hussade – das ist keine Stehparty! Morgen beim vierten Gongschlag.« Die Seeraben von Voulash waren eine junge, noch ziemlich unbekannte Mannschaft; die Spieler wirkten
wie Schulbuben. Der Kapitän der Raben war Denzel Warhound, ein sehniger, krausköpfiger Bursche mit den weisen, schlauen Augen eines Fauns. Die Sheirl war ein kurvenreiches, rundgesichtiges Mädchen mit einem wilden Schopf dunkler Locken; beim Einzug und der üblichen Platzrunde vor dem Spiel bewies sie Feuer und Begeisterung, marschierte stolz mit den Spielern mit, die sichtlich nervös waren. Verglichen mit ihnen wirkten die Gorgonen behäbig und gelangweilt, und die Sheirl Zuranie, ein zartes, blasses Pflänzchen, war auch keine Augenweide. Ihre Mutlosigkeit und kaum verhehlte Verzweiflung brachten Lord Gensifer ziemlich in Harnisch, aber er wagte es ihr nicht zu zeigen, um sie nicht völlig zu demoralisieren. »Tapferes Mädchen, wird schon gut gehen!« murmelte er, als müsse er ein krankes Tier beruhigen. »Es wird schon nicht so schlimm, wirst sehen!« Aber Zuranies Ängste waren nicht so leicht zu beschwichtigen. Die Gorgonen trugen heute zum ersten Mal ihren gelbschwarzen Dreß. Die Helme waren besonders aufsehenerregend: aus einem blaßlila Metalloid gefertigt, mit schwarzen Blattlanzetten am Wangenschutz und einem schwarzen Zackenkamm entlang des Scheitels. Die Augenlöcher erweckten den Eindruck großer, glotzender Augen, die Nase ging in ein schwarzes Plüschmaul über, aus dem eine schmale rote Zunge hing. Ein Teil der Mannschaft fand das Kostüm prächtig; einige hatten Einwände gegen die baumelnden Zungen; den meisten war es egal. Die Seeraben trugen einen braunen Dreß mit orangefarbenen Helmen, die lediglich mit einem grünen Federbusch geschmückt waren. Als er die tempera-
mentvollen Seeraben mit den prächtig ausstaffierten, aber stumpfen Gorgonen verglich, fühlte sich Glinnes genötigt, Lord Gensifer ein paar taktische Hinweise zu geben. »Schauen Sie sich die Seeraben gut an – sie sind wie Keval-Fohlen, voll Übermut und Kraft. Ich habe schon solche Mannschaften gesehen, und wir können von ihnen ein aggressives, ja wagemutiges Spiel erwarten. Unsere Aufgabe ist es, sie soweit zu bringen, daß sie sich selber schlagen. Wir locken am besten ihre Stürmer durch Bluffs zu weit vor, damit unsere Wächter und Springer sie in die Zange nehmen können. Wenn wir unsere Überlegenheit richtig einsetzen, haben wir eine Chance, sie zu besiegen.« Lord Gensifer hob unmutig die Brauen. »Eine Chance, sie zu besiegen? Was für ein Unsinn ist das? Wir werden sie den Platz hinauf- und hinunterscheuchen wie Hunde, die Hühner jagen! Wir sollten uns gar nicht mit einer solchen Mannschaft einlassen, aber die Übung tut uns gut.« »Trotzdem rate ich zu einem vorsichtigen Spiel. Sollen sie doch die Fehler machen – sonst schlagen sie nämlich Kapital aus unseren.« »Ach was, Glinnes; ich glaube allmählich, Sie sind über Ihre beste Zeit hinaus.« »Das stimmt insoweit, als ich nicht mehr zum Spaß spiele. Ich will Geld verdienen – zehntausend Ozols, um es genau zu sagen, und ich will gewinnen.« »Was denken Sie denn – daß Sie allein in dieser Lage sind?« erkundigte sich Lord Gensifer mit vor Zorn heiserer Stimme. »Wie, glauben Sie, habe ich die Prämienkasse finanziert? Die Anzüge gekauft? Die Auslagen der Spieler bestritten? Ich habe mich in
unmäßige Schulden gestürzt!« »Nun gut«, sagte Glinnes. »Sie brauchen Geld; ich brauche Geld. Also wollen wir zusehen, daß wir gewinnen – durch die Strategie, die uns am besten liegt.« »Wir gewinnen, keine Sorge!« erklärte Lord Gensifer, nun wieder munter und leutselig. »Halten Sie mich für einen Anfänger? Ich kenne das Spiel von hinten nach vorne und wieder zurück. Aber Schluß jetzt mit der Schwarzmalerei; Sie sind ja schlimmer als Zuranie. Sehen Sie nur das Publikum – mindestens zehntausend Leute. Das bringt uns zusätzliche Ozols!«* Glinnes nickte düster. »Wenn wir gewinnen.« Er bemerkte einen Mann, der allein in einer Loge der untersten Reihe der Vorzugstribüne saß: Lute Casagave, mit Fernglas und Kamera. Diese Ausrüstung war nicht ungewöhnlich; viele Liebhaber des Spiels zeichneten die Entblößung der Sheirl in Bild und Ton auf. Es gab bemerkenswerte Sammlungen solcher Filme. Trotzdem erstaunte es Glinnes etwas, daß Lute Casagave sich so lebhaft für Hussade interessierte. Er war ihm nicht als der Typ für frivolen Kampfsport erschienen. Nun trat der Schiedsrichter ans Mikrofon; die Musik verstummte, und Schweigen breitete sich in der Menge aus. »Sportsfreunde von Saurkash und Jolany! Sie sehen heute ein Match zwischen den kampfesmutigen Seeraben von Voulash mit ihrer Sheirl Barola *
Die Hälfte der Einnahmen aus dem Kartenverkauf wurde üblicherweise zwischen den beiden Mannschaften aufgeteilt, und zwar im Verhältnis drei Teile für den Sieger, ein Teil für den Verlierer.
Felice und den unbezähmbaren Gorgonen von Thammas Lord Gensifer mit der lieblichen Sheirl Zuranie Delcargo! Die Mannschaften werden sich mit all ihrem Mut und Können sowie einem Lösegeld von je fünfzehnhundert Ozols für die unverletzliche Würde ihrer Sheirl einsetzen. Mögen die Sieger sich aller Ehren erfreuen, und die Verlierer stolz auf ihren Einsatz und die Reinheit ihrer Sheirl vom Platz gehen! Die Kapitäne mögen vortreten!« Lord Gensifer und Denzel Warhound kamen heran. Eine Münze wurde aufgeworfen; die erste Aktivphase fiel den Gorgonen zu; ein grünes Licht würde anzeigen, wenn die Gorgonen ›frei‹ waren, während ein rotes Licht für die Seeraben galt. »Strafen werden ohne Nachsicht verhängt«, erklärte der Schiedsrichter. »Es darf weder Treten noch Ziehen geben, und keinerlei mündliche Verständigung zwischen den Spielern, Festhalten an den Pads des Gegners werde ich nicht dulden. Ein Schlag muß sauber ausgeführt werden. In der Passivphase darf keine Mannschaft störende Geräusche verursachen. Ich habe genügend Erfahrung mit solchen Tricks, und die Beobachter ebenso. Wir werden wachsam sein. Ein Spieler im FoulBecken muß die Hand seines Retters drücken; ein flüchtiges Winken oder ähnliche Gesten sind nicht ausreichend. Hat noch jemand Fragen? Also meine Herren – lassen Sie Ihre Mannschaft Aufstellung nehmen! Möge die Schönheit eurer Sheirls euer Spiel anfeuern. Das grüne Licht für die Gorgonen, das rote für die Seeraben!« Die Spieler nahmen Aufstellung; die TrevanyiMusiker spielten die traditionelle Melodie, als die
beiden Kapitäne die Sheirls auf ihr Podest geleiteten. Die Musik brach ab. Die Kapitäne gingen zu ihren Hangen, und nun trat jener elektrisierende Augenblick vor dem ersten Aufblitzen der Lichter ein. Die Zuschauer waren stumm, die Spieler angespannt; die Sheirls standen erwartungsvoll und aufgeregt auf ihren Podesten, und jede wünschte sich aus tiefstem Herzen, daß dieses gräßliche Mädchen am anderen Ende des Feldes jenes sein möge, das entblößt und gedemütigt wurde. Der Gong! Die Signallichter flammten grün auf. Zwanzig Sekunden lang durfte nun der Kapitän der Gorgonen Manöver ausrufen und Anweisungen geben, während die Seeraben stumm spielen mußten. Lord Gensifer leitete die erste Phase der sogenannten Strahlstrom-Attacke ein: eine Keilformation von Mittel- und Außenstürmern, die in der Mitte vorstieß; während die Springer die Außenzüge deckten. Lord Gensifer hatte offensichtlich nicht die Absicht, Glinnes Rat zu beherzigen. In sich hineinfluchend, rannte Glinnes vorwärts und setzte über den Mittelgraben, ohne auf Widerstand zu stoßen, ebenso der linke Mittelstürmer Savat. Die Seeraben-Stürmer waren alle zur Seite ausgewichen und übersprangen jetzt den Mittelgraben, um Sarkado, den linken Springer der Gorgonen, anzugreifen. Glinnes stieß auf den linken Springer der Seeraben – die beiden Spieler fintierten mit den Pads, stießen und schlugen nacheinander; plötzlich wich der Seeraben-Springer zurück. Glinnes spürte instinktiv, wann er sich umdrehen mußte, um den herüberschwingenden rechten Springer der Seeraben zu erwischen. Glinnes traf ihn am Genick, während der Mann noch um sein Gleichgewicht kämpfte,
und beförderte ihn in das Becken. Der Seerabe klatschte mit einem höchst befriedigenden Platscher ins Wasser. Noch ein Platschen: ein Wächter der Seeraben hatte Chust, den Rechtsaußenstürmer, eingetunkt. Lord Gensifers Stimme schrillte über den Platz: »Ki-yik-yik-yik! Dreizehn-dreißig! Los, Glinnes! Lucho, paß auf den Springer auf! Yik-ki-yik!« Das grüne Licht wechselte auf rot; nun rief Denzel Warhound Spielcodes aus und brachte seine Hange bis vor den Mittelgraben. Die Mittelstürmer sprangen vor und stürzten sich zu zweit auf Glinnes; er stellte sich und heizte ihnen so geschickt mit dem Pad ein, daß sie sich gegenseitig behinderten. Glinnes schwang hinüber auf Zug 3, der bis zum Podest ungeschützt war, aber die Wächter begriffen es rechtzeitig; einer rannte hinüber, um das Ende von Zug 3 zu decken. Die beiden Innenwächter schwangen sich gleichzeitig hinter Glinnes. Er tunkte einen ein, den anderen erwischte Savat. Nun stürmten beide auf das Podest der Seeraben zu – nur mehr zwei gegnerische Wächter standen ihnen im Weg. Das Licht wurde grün; Lord Gensifer sah, daß ein Seerabenstürmer auf dem Podest stand und Zuranies Goldring gepackt hatte. Das Spiel wurde unterbrochen, und Lord Gensifer zahlte Denzel Warhound mißmutig die Lösegeldprämie. Die beiden Mannschaften kehrten auf ihre Platzhälften zurück. Lord Gensifer brach empört los: »Mehr Einsatz! Das ist es, was uns fehlt. Euch schlafen ja die Füße ein! Diese Burschen sind doch keine Gegner für uns; sie haben uns nur durch glücklichen Zufall erwischt.«
Glinnes hielt den Mund, obwohl ihm die alte Regel sehr gut bekannt war: in der Hussade gibt es keine glücklichen Zufälle. Er sagte nur: »Wir sollten sie Brücke um Brücke über das Feld zurückdrängen. Wir dürfen sie nicht bis zu unseren Wächtern durchlassen!« Die Seeraben hatten nämlich den schwerfälligen Ramos geblufft und waren an ihm vorbei aufs Podest gestürmt. Lord Gensifer ignorierte Glinnes. »Nochmals den Strahlstrom, und dieses Mal bitte ich mir ordentliches Spiel aus! Die Springer müssen die Außenwege dekken. Die Außenstürmer stoßen dafür im Zentrum hinter den Mittelstürmern vor. Wir werden uns von diesen Muttersöhnchen nicht noch einmal eintunken lassen!« Die Mannschaften nahmen ihre Plätze ein, der Gong ertönte, und das grüne Licht signalisierte die Freiphase für die Gorgonen. »Dreizehn-dreißig, kiyik!« schrie Lord Gensifer. »Drauf auf sie! Putzt sie weg! Der Goldring winkt!« Wiederum wichen die Seerabenstürmer zur Seite, um Savat und Glinnes über den Mittelgraben zu lassen. Diesmal aber schwangen sie hinter Glinnes zurück und brachten ihn zu seiner tiefsten Erbitterung aus dem Gleichgewicht. Er hätte sich trotzdem wieder gefangen, wäre nicht noch ein Springer auf dem Trapez herübergeschwungen und hätte ihn ins Wasser gestoßen. Mehr als alles andere haßte es Glinnes, eingetunkt zu werden. Es war eine kalte, nasse Erfahrung, die seinen Stolz verletzte. Mißmutig watete er unter den Brücken und Wegen nach hinten und zog sich tropfnaß die Leiter im Heimtank der Gorgonen hoch. Er
tauchte gerade zur rechten Zeit auf, um einen Seeraben-Außenstürmer vom Podest abzudrücken. Triefend und zornig deckte Glinnes den Mann mit Stößen, Schlägen und Finten ein, bis er Hals über Kopf ins Becken purzelte. Grünes Licht. »Vierzig-fünf-zwölf!« rief Lord Gensifer. Glinnes stöhnte – Lord Gensifers allerkomplizierteste Spielvariante, die Granate oder Doppeldiagonale. Es blieb keine Wahl, als das Manöver mitzumachen; er würde jedenfalls sein Bestes tun. Die Stürmer sammelten sich am Mittelgraben; niemand stellte sich ihnen auf dem Zentralsteg entgegen; sie rannten hinüber und schwärmten aus, gefolgt von den Springern. Die einzige schwache Hoffnung auf Erfolg hatten sie, dachte Glinnes, wenn sie die Sheirl der Seeraben erreichten, bevor die verblüfften Seeraben ihrerseits bis zu der Sheirl Zuranie vordringen konnten. Zwei Seeraben-Wächter schwenkten zum Ende des meistbedrohten Zuges; zwei Springer mußten ins Wasser, ein Seerabe und ein Gorgone; nun schickte Lord Gensifer auch zwei Wächter über den Graben, gerade als das Licht auf Rot wechselte. Denzel Warhound hatte sich im Schutz seiner Hange postiert und grinste zuversichtlich. Er rief seine Spielcodes aus. Beide Gorgonenwächter wurden gestellt und ins Wasser befördert. Glinnes, Savat und die Außenstürmer, die eine Katastrophe ahnten, hasteten zurück, um das Podest zu schützen. Glinnes erreichte die Heimzone gerade rechtzeitig, um einen Seerabenstürmer vom Podest wegzutreiben und in den Heimtank zu befördern. Lucho tunkte einen zweiten ein, aber jetzt stürmte fast die gesamte Seerabenmannschaft die Heimzone der Gorgonen. Die
beiden eingetunkten Wächter stiegen naß und wütend heraus; beflügelt von ihrer Wut und dank ihres überlegenen Gewichts gelang es ihnen, die Seeraben zurückzutreiben. Grünes Licht. Lord Gensifer rief: »Vierzig-fünfzwölf; jetzt haben wir sie, Jungs! Der Weg ist frei! Angriff!« Glinnes, zornig, daß schon wieder diese verrückte Variante aufgerufen wurde, löste sich aus dem Getümmel und bewegte sich mit den anderen Stürmern entsprechend Lord Gensifers Anweisung vorwärts. Die leichten, aber wendigen Wächter der Seeraben verließen ihre Posten und flankierten sie... Ein Gongsignal. Durch irgendein Wunder von Behendigkeit und Schlauheit (wahrscheinlicher aber durch irgend jemandes krasse Unfähigkeit, fand Glinnes) war es einem der Seeraben-Springer gelungen, bis zum Podest vorzustoßen und Zuranies Goldring zu ergreifen. Mit zitternden Händen zahlte Lord Gensifer neuerdings Lösegeld. Bei der folgenden Besprechung war seine Stimme heiser vor Entrüstung. »Ihr Männer setzt euch nicht richtig ein! Wir können ja nicht siegen, wenn alle wie die Schlafwandler herumstolpern! Wir müssen diesen Burschen unser Spiel aufzwingen! Schaut sie euch doch an, das sind ja kaum mehr als kleine Jungens! Diesmal müssen wir es schaffen. Wieder die Doppeldiagonale, und daß mir jeder tut, was seine Aufgabe ist!« Gong, grünes Licht, Lord Gensifers Schlachtruf »Kiyik« – und die Gorgonen formierten sich zu Lord Gensifers Doppeldiagonale. Ein doppelter Gongschlag zeigte ein Foul an. Lord Gensifer selber hatte das Pad eines Seeraben-
Springers gepackt und wurde in das Foul-Becken in der Heimregion der Seeraben verbannt, wo er griesgrämig und zornschnaubend ausharren mußte, bis ihn jemand rettete. Glinnes als rechter Mittelstürmer wurde amtierender Kapitän. Der Gong ertönte, und das Licht war noch immer grün. Glinnes brauchte gar nicht erst eine Variante aufzurufen. Er winkte nach rechts und links; die Stürmer drangen bis zum Graben vor. Das Licht wurde rot. Die Seeraben, aufgemuntert durch ihren Zwei-Ring-Vorsprung, fintierten erst links und schickten dann auf dem rechten Außenzug zwei Stürmer vor, und ein Springer kam bis über den Mittelgraben. Der Springer und einer der Stürmer mußten ins Wasser, der zweite Stürmer zog sich zurück, und Denzel Warhound blies die Attacke ab, bis die eingetunkten Spieler wieder einsatzfähig waren. Grünes Licht. Lord Gensifer, noch immer im FoulBecken, bat wild gestikulierend um Rettung; Glinnes schaute geflissentlich woanders hin. Er schickte die Springer auf die Außenzüge und rief die beiden Innenwächter vor. Rotes Licht. Die Seeraben drangen massiert auf der linken Seite vor, machten aber am Graben halt. Denzel Warhound war gewitzt und wartete lieber ab, bis er die Gorgonen in einem schwachen Augenblick überrumpeln konnte. Grünes Licht. Glinnes schickte die GorgonenStürmer über den Graben vor und ließ die Innenwächter bis an den Zentralsteg vorrücken: langsam wurde das schnellere, aber leichtere Team unter Druck gesetzt. Die zwei Gorgonen-Außenstürmer wurden eingetunkt ebenso die zwei Mittelstürmer der Seeraben. Die Gorgonen hatten nun eine stabile
Front auf der Platzhälfte der Seeraben zustandegebracht, und immer noch winkte Lord Gensifer wütend und vergeblich um Rettung. Langsam drangen die Gorgonen die Züge entlang weiter vor, wobei ihnen ihre Erfahrung und ihr größeres Gewicht sehr zustatten kam. Die Seeraben wurden zusehends in ihre Heimzone zurückgedrängt. Drei von ihnen mußten ins Wasser, einer nach dem anderen, dann noch zwei. Dann ertönte der Gong. Tyran Lucho hatte das Podest erreicht und hielt den Goldring in der Hand. Ergrimmt und mißmutig kletterte Lord Gensifer aus dem Foul-Becken und nahm von dem Kapitän der Seeraben das Lösegeld entgegen. Die Spieler gingen wieder in Ausgangsposition. Lord Gensifer, den der lange Aufenthalt im FoulBecken in höchst üble Laune versetzt hatte, tadelte: »Viel zu unvorsichtig, diese Taktik! Wenn ein Team zwei Ringe im Rückstand ist, dürfen die Wächter nie so weit über den Graben vordringen – das ist eine der Grundregeln von Kalenschenko!« »Wir haben ihren Ring erwischt«, wandte Lucho ein, der freimütigste Spieler der Mannschaft. »Das ist doch wohl das Wichtigste.« »Nichtsdestotrotz«, sagte Lord Gensifer eisig, »werden wir uns weiterhin an eine solide Taktik halten. Die anderen haben das Freilicht. Wir werden Fintenmanöver Nummer 4 verwenden.« Lucho war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. »Wir sollten einfach alle am Graben aufmarschieren. Wir brauchen keine Fallen und Finten oder irgendeine komplizierte Taktik – nur das einfache Grundspiel!«
»Dies ist ein Hussade-Match«, erklärte Lord Gensifer, »und keine Wirtshausrauferei. Wir werden sie durch unsere Taktik völlig durcheinanderbringen, wartet nur!« Die Seeraben stürmten mit unbekümmertem Elan gegen den Graben vor. Denzel Warhound beabsichtigte anscheinend, ein Manöver wie im vorigen Spielabschnitt zu vereiteln. Rechts und links sprangen Seeraben über den Graben, während Denzel Warhound seine Hange auf dem Mittelsteg aufpflanzte, von wo er nur durch Lord Gensifer vertrieben werden konnte. Rechtsaußenstürmer Cherst tunkte den Springer der Seeraben ein und wurde gleich darauf selbst ins Wasser befördert; Glinnes mußte nun hinüber, den rechten Außenzug decken. Grünes Licht. »Vierzig-fünf-zwölf!« schrie Lord Gensifer schon wieder. »Diesmal klappt's, Männer! Zeigt ihnen, was wir wert sind!« »Ich glaube, wir werden ihnen gleich was anderes zeigen«, bemerkte Glinnes zu Wilmer Guff. »Zuranie nämlich.« »Er ist Kapitän.« »Leider – also los!« Denzel Warhound hatte vermutlich genau diese Variante erwartet. Seine Stürmer machten kehrt und stellten Glinnes, der wieder von einem heranschwingenden Springer eingetunkt wurde. Lucho erging es auf der anderen Seite nicht besser. Die beiden wateten so schnell wie möglich zur Leiter zurück, nur um beim Heraussteigen die Trevanyi-Kapelle die Ode an die triumphierende Schönheit anstimmen zu hören. »Jetzt haben wir's«, sagte Glinnes. Sie kletterten heraus und sahen Denzel Warhound
auf ihrem Podest, die Hand am Goldring. Zuranie blickte verdattert gen Himmel. »Wo ist euer Geld? Fünfhundert Ozols retten eure Sheirl; fünfhundert Ozols für ihren Stolz – ist das so viel?« »Ich würde ja zahlen«, sagte Glinnes zu Wilmer Guff, »nur wäre es hinausgeworfenes Geld. Lord Gensifer würde uns nur weiter mit seiner Doppeldiagonale traktieren; bis wir ersaufen.« Die Musik wurde lauter, stürmischer, untermalt von einem gemessenen, ernsten Rhythmus, der einem ein Frösteln über den Rücken jagte und den Mund trocken werden ließ. Ein leises Stöhnen erregter Erwartung kam von der Menge. Zuranies Gesicht war zu einer weißen Maske erstarrt – es war unmöglich, ihre Gefühle zu erraten. Die Musik brach ab. Ein tiefer Gong ertönte – ein, zwei, drei Schläge, dann zog der siegreiche Kapitän am Ring. Zuranies Gewand flatterte zu Boden; splitternackt und zitternd stand sie auf dem Podest. Auf der anderen Seite des Spielfeldes vollführte die Sheirl Barola Felice aus dem Stegreif einen Freudentanz und sprang hinunter in die Arme der Seeraben, die nun den Platz verließen. Lord Gensifer holte schweigend einen schwarzen Samtmantel, um Zuranies Blöße zu bedecken; die Gorgonen gingen dann ebenfalls vom Feld. In den Umkleidekabinen brach Lord Gensifer kühn das eisige Schweigen. »Also Männer, wir hatten heute keinen guten Tag – das ist klar. Die Seeraben sind eine viel bessere Mannschaft, als man vermuten würde; sie waren doch ein bißchen zu flink für uns. Aber nun wollen wir alle hinaus auf meinen Landsitz – eine Siegesfeier
wird es nicht werden, aber es erwartet uns wenigstens ein recht passabler Sokal-Wein...« Auf dem Landsitz derer von Gensifer gewann der Lord seine gewohnt leutselige Stimmung zurück. Er mischte sich heiter unter diejenigen seiner aristokratischen Freunde, die ins Saurkash-Stadion gekommen waren, um ihm bei seiner neuesten Laune zuzusehen. Rund um die reichhaltigen Buffettische, im funkelnden Licht der antiken Kronleuchter, neben der prachtvollen Sammlung alter Wimpel vom RolSternensystem wurde geplaudert, gelästert, geklatscht. »Hätte dir nie eine solche Behendigkeit zugetraut, Thammas, bis ich dich im Sturm auf diese üppige Seeraben-Sheirl sah!« »Haha! Ja, wenn es um die Damen geht, bin ich nicht der langsamste!« »Wir wußten ja schon lange, daß unser Thammas ein großer Sportsmann ist, aber warum nur haben die Gorgonen ihren einzigen Ring gewonnen, während er im Strafbecken saß?« »Habe mich nur ein wenig ausgeruht, mein lieber Jonas. Warum sich abhetzen, wenn man im schönen kühlen Wasser rasten kann?« »Eine gute Mannschaft, Thammas, wirklich gut. Ihre Burschen gereichen Ihnen zur Ehre. Halten Sie sie nur ordentlich in Form.« »Oh, das tue ich gewiß, mein Lieber. Keine Sorge.« Die Gorgonen selbst standen etwas unbeholfen daneben oder balancierten auf den filigranen Jadeholzstühlen und nippten an Weinen, die sie noch nie zuvor gekostet hatten. Wenn Lord Gensifers Freunde
Fragen an sie richteten, gaben sie recht einsilbige Antworten. Lord Gensifer kam schließlich zu ihnen und unterhielt sich mit den Männern; seine Laune hatte sich mittlerweile erheblich gebessert. »Nun ja, Vorwürfe haben wohl keinen Sinn. Ich möchte nur das eine sagen: ich sehe die Möglichkeit zur Verbesserung, und bei den Sternen« – Lord Gensifer reckte die Arme zur Decke wie ein zorniger Zeus – »wir werden eine Verbesserung erreichen. Von den Stürmern erwarte ich in Zukunft mehr Elan, mehr Einsatzwillen. Von den Springern entschlossenes Padding, schnellere Reaktion! Hattet ihr heute müde Füße, Springer? Es kam einem jedenfalls so vor. Die Wächter müssen zuverlässiger, ehrgeiziger, aggressiver werden. Wenn der Gegner auf unsere Wächter stößt, sollte er sich nur mehr nach seiner Mutti zu Hause sehnen. Klar? Noch irgendwelche Bemerkungen?« Glinnes wandte den Blick ab, starrte in die Luft und nahm nachdenklich einen Schluck von dem blaßgrünen Sokal-Wein in seinem Glas. Lord Gensifer fuhr fort: »Unsere nächsten Gegner sind die Tanchinaros; wir spielen in zwei Wochen im Stadion von Saurkash gegen sie. Ich bin überzeugt, daß das Ergebnis diesmal ganz anders aussehen wird. Ich habe sie mir angesehen; sie sind langsam wie Didos einbeinige Großmutter. Wir werden einfach an ihnen vorbei zum Podest schlendern. Wir werden ihnen ihr Geld abnehmen, ihre Sheirl ausziehen und uns empfehlen.« »Da Sie schon von Geld reden«, brummte Candolf. »Wie sieht unsere Kasse nach dem heutigen Fiasko aus? Und wer wird unsere Sheirl sein?«
»Die Kasse beläuft sich auf zweitausend Ozols«, sagte Lord Gensifer kühl. »Die Sheirl wird eines von etlichen aparten Geschöpfen sein, die danach lechzen, an unserem ruhmreichen Aufstieg teilzuhaben.« »Die Tanchinaros sind im Vorderfeld gewiß langsam«, sagte Lucho, »aber mit Wächtern wie Gilweg, Etzing, Barreu und Shamoran könnten die Stürmer in Rollstühlen spielen.« Lord Gensifer wischte die Bemerkung beiseite. »Eine gute Mannschaft spielt nach ihrer eigenen Taktik und zwingt den Gegner, darauf einzugehen. Die Tanchinaro-Wächter sind auch nur Männer aus Fleisch und Blut. Wir werden sie so oft ins Wasser befördern, daß sie glauben, wirklich Tanchinaros17 zu sein!« »Darauf wollen wir trinken!« rief Chaim Lord Shadrak. »Auf elf tropfnasse Tanchinaros und ihre gerupfte Sheirl!«
17
Siehe Glossar
KAPITEL 11 Nach Lord Gensifers Party verbrachte Glinnes die Nacht bei Tyran Lucho, der auf der Insel Altramar zu Hause war, ein paar Meilen östlich der fünf Inseln. Das Südmeer begann eine Viertelmeile weiter im Süden, jenseits einer Lagune und einigen Sandbänken. Der Vorgarten der Luchos war ein weißer Sandstrand. Glinnes und Tyran kamen gerade rechtzeitig zu einer Sternenschau. Über einigen rotglimmenden Feuern wurden Krabben, Krebse, Seegurken, Pentabrachen, Sauertang und verschiedene kleinere Meeresfrüchte geröstet und gedünstet. Etliche Bierfässer waren angestochen worden; ein Tisch bog sich unter groben, knusprigen Brotlaiben, Früchten und Eingemachtem. Dreißig Leute aller Altersstufen aßen, tranken, sangen, spielten Gitarren und Maultrommeln, vergnügten sich im Sand und knüpften vielleicht auch engere Beziehungen zu jemandem an, den sie später am Abend an eine einsamere Stelle des Strandes locken wollten. Glinnes fühlte sich sofort wohl, im Gegensatz zu der Gezwungenheit, die er auf Lord Gensifers Party empfunden hatte, wo der Umgangston sehr viel förmlicher gewesen war. Dies waren die Trills, die die Fanscherade verachtete und mißbilligte – eigenwillig, frivol, verfressen, mit einem gesunden sexuellen Appetit, manche ungepflegt und dreckig, einige nur ungepflegt. Kinder wie Erwachsene vergnügten sich mit erotischen Spielen; Glinnes beobachtete mehrere Leute, die deutlich unter dem Einfluß von Cauch standen. Jeder trug die Kleidung, die ihm gerade behagte; ein Fremder hätte denken
können, in ein Kostümfest geraten zu sein. Tyran Lucho, von der Disziplin des professionellen Hussade-Sportlers geprägt, huldigte in Kleidung und Verhalten einem weniger ausgefallenen Geschmack; trotzdem machte er es sich wie Glinnes erleichtert auf dem Sand bequem, versorgt mit einem Krug Bier und einem Chino-Blatt voll gegrillter Meerestiere. Das Fest war nur dem Namen nach eine Sternenschau; die Luft war klar und lau, und die Sterne wirkten wie große Lampions. Die Ausgelassenheit der kleinen Gesellschaft ließ jedoch nicht vermuten, daß man sich in dieser Nacht viel den Sternen widmen würde. Tyran Lucho hatte in berühmten Mannschaften gespielt. Er war als schweigsamer Mann von großartigen Fähigkeiten bekannt, der fast als einziger die Kunst beherrschte, in eine scheinbar undurchdringliche Front von Gegnern eine Bresche zu schlagen; er umlief, fintierte, schwang sich von Zug zu Zug oder ließ sich auch hinausschwingen und schnellte im geeigneten Augenblick wieder zurück – ein Trick, der manchesmal die Gegner dazu brachte, daß sie von selbst ins Wasser plumpsten. Zusammen mit dem ›Wilden‹ Wilmer Guff war Lucho in Lord Gensifers Traum-Mannschaft vertreten gewesen. Glinnes ließ sich neben Lucho nieder, und die beiden besprachen das Match dieses Tages. »Im wesentlichen«, sagte Glinnes, »sind wir im Vorderfeld ganz passabel – mit Ausnahme von Klumpfuß Chust – und erbärmlich schwach im Hinterfeld.« »Stimmt. Savat hat alle Qualitäten eines guten Spielers. Leider bringt Tammi ihn durcheinander, so daß er nicht weiß, ob er nach vorn oder zurück soll.« ›Tammi‹ war der Spitzname, mit dem die Mann-
schaft Thammas Lord Gensifer bedacht hatte. »Bin ganz deiner Meinung«, sagte Glinnes. »Selbst Sarkado ist ganz brauchbar, obwohl er eigentlich zu unentschlossen ist, um in einer wirklich guten Mannschaft zu spielen.« »Um zu siegen«, sagte Lucho, »bräuchten wir ein neues Hinterfeld, aber viel nötiger noch einen anderen Kapitän. Tammi weiß ja nicht, was er will.« »Bedauerlicherweise ist es seine Mannschaft.« »Aber es geht um unsere Zeit und unsere Prämien!« erklärte Lucho mit einer Heftigkeit, die Glinnes überraschte. »Auch um unseren Ruf. Es tut keinem Mann gut, mit einer Schar Tölpel zu spielen.« »Das stimmt«, sagte Glinnes. »Man neigt dann dazu, selber nachzulassen.« »Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Ich bin bei den Rächern von Poldan ausgestiegen, damit ich zu Hause wohnen könnte, und ich dachte, daß Lord Gensifer unter Umständen ein brauchbares Team zusammenbekommen dürfte. Aber er wird es nie zu etwas bringen, wenn er darauf beharrt, die Mannschaft so zu führen, als wäre das Spiel nur ein Privatvergnügen.« »Trotzdem, er ist der Kapitän – wer würde in seiner Position spielen? Denkst du daran?« Lucho schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Geduld dazu. Wie steht's mit dir?« »Ich spiele lieber als Mittelstürmer. Candolf wäre ganz brauchbar.« »Er wäre eine Möglichkeit, wenn uns nichts anderes übrig bleibt. Aber ich habe an einen besseren Mann gedacht – Denzel Warhound.« Glinnes überlegte. »Er ist gerissen und schnell, und
er scheut sich auch nicht, selbst mitzumischen. Er ist gut, ja. Aber wie stark ist er mit den Seeraben verbunden?« »Er will vor allem spielen. Die Seeraben haben keinen Heimplatz – sie sind ein ziemlich loser Verein. Warhound würde sich sofort verändern, wenn er eine gute Gelegenheit geboten bekommt.« Glinnes leerte seinen Bierkrug. »Tammi würde aus der Haut fahren, wenn er wüßte, worüber wir jetzt sprechen... Wer ist das hübsche Mädel in der weißen Tunika? Es betrübt mich, sie so allein zu sehen.« »Sie ist die Kusine zweiten Grades der Frau meines Bruders, wenn du's genau wissen willst. Sie heißt Thaio und hat ein sehr anschmiegsames Wesen.« »Ich gehe mal schnell rüber und frage sie, ob sie Sheirl werden möchte.« »Sie wird dir sagen, daß sie sich bis zum Alter von neun Jahren nichts sehnlicher gewünscht hat, aber daß es nun längst zu spät sei.« Das Spiel zwischen den Gorgonen und den Tanchinaros wurde an einem herrlichen, warmen Tag ausgetragen. Der Himmel spannte sich wie eine Kuppel aus Milchglas über dem Stadion. Die Tanchinaros waren in Saurkash sehr beliebt, so daß die Tribünen fast über ihr Fassungsvermögen hinaus besetzt waren. Aus beiläufiger Neugier musterte Glinnes die Reihe der Ligen: wie das letzte Mal saß in einer Lute Casagave, wieder mit Kamera ausgerüstet. Seltsam, dachte Glinnes. Die Spieler stellten sich für die Parade in Reihen auf, die Sheirls traten vor: für die Tanchinaros Filene Sadjo, eine frischgesichtige Fischerstochter von der
Äußeren Buschinsel; für die Gorgonen Karue Liriant, ein hochgewachsenes, dunkelhaariges Mädchen mit einer reifen, beinahe üppigen Figur, die selbst der klassische Faltenwurf des weißen Gewandes nicht verbergen konnte. Lord Gensifer hatte die Identität der Sheirl bis drei Tage vor dem Spiel für sich behalten. Bei diesem Mannschaftstreffen hatte Karue Liriant sich nicht im mindesten bemüht, die Wertschätzung der Spieler zu gewinnen – was an sich bereits ein schlechtes Vorzeichen war. Dennoch war Karue Liriant nur der geringste Anlaß für den Tiefstand der Kampfmoral. Der linke Außenwächter Ramos war, verärgert durch Lord Gensifers ständige Nörgelei, aus der Mannschaft ausgetreten. »Es ist ja nicht so, daß ich so gut wäre«, erklärte er Lord Gensifer, »sondern daß Sie soviel schlechter sind. Ich sollte Sie mit Ki-Yiks antreiben, nicht Sie mich.« »Sie verlassen sofort den Platz!« brüllte Lord Gensifer. »Wenn Sie nicht ausgetreten wären, hätte ich Sie auf jeden Fall gefeuert.« »Pah«, sagte Ramos. »Wenn Sie jeden rausschmeißen, der sich beklagt, dann können Sie bald allein spielen.« Bei dem Imbiß nach dem Training stellte sich die Frage nach einem Ersatzmann. »Ich hätte eine Idee, die für die Mannschaft recht nützlich sein könnte«, erklärte Lucho Lord Gensifer. »Wie wär's, wenn Sie als Wächter spielten, was Ihnen bestimmt liegt; Sie haben die Figur dafür und sind beharrlich genug. Und dann wüßte ich einen Mann, der einen sehr tüchtigen Kapitän für uns abgeben würde.« »Tatsächlich?« sagte Lord Gensifer eisig. »Und wer ist dieser Wunderknabe?«
»Denzel Warhound von den Seeraben.« Lord Gensifer bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Es dürfte einfacher und für das Training weniger schädlich sein, wenn lediglich ein neuer Wächter eingestellt wird.« Darauf hatte Lucho nichts mehr zu sagen. Der neue Wächter erschien zum nächsten Training – ein noch unfähigerer Mann als Ramos. Die Gorgonen stellten sich den Tanchinaros somit in einer keineswegs idealen Gemütsverfassung. Nachdem sie den Platz umrundet hatten, setzten beide Mannschaften die Helme auf: dies war der Moment jener erregenden Metamorphose, durch die sich gewöhnliche Männer in Heroen und Fabelwesen verwandelten und in gewissem Grade etwas von der Natur ihrer Maske übernahmen. Glinnes sah nun zum erstenmal die Helmmasken der Tanchinaros – phantastische Gebilde in Silber und Schwarz, mit roten und violetten Federbüschen geschmückt. Die Tanchinaros waren wirklich ein großartiger Anblick, als sie aufs Feld stürmten, und, wie erwartet, waren sie kraftvoll und massiv. »Ein Team von zehn Wächtern und einem fetten alten Mann«, wie Carbo Gilweg es formuliert hatte. Der ›fette alte Mann‹ war der Kapitän Nilo Neronavy, der niemals den schützenden Bannkreis seiner Hange verließ, und dessen Taktik ebenso durchsichtig und geradlinig war, wie die von Lord Gensifer kompliziert und verwirrend war. Glinnes rechnete in punkto Verteidigung mit keinerlei Schwierigkeiten; die Stürmer der Tanchinaros waren auf dem Trapez recht unbeholfen, so daß die schnelle Frontlinie der Gorgonen sie einen nach dem anderen erledigen konnte. Bei der Offensive lagen die Dinge
leider anders. Wäre Glinnes der Kapitän gewesen, so hätte er die Gegner immer wieder vorgelockt, auf die eine Seite, dann auf die andere – bis sich für den blitzschnellen Vorstoß eines Stürmers eine Lücke bot. Er bezweifelte, daß Lord Gensifer etwas für eine solche Strategie übrig hatte, oder daß er überhaupt die Mannschaft so geschickt steuern konnte, daß die nötigen schnellen Finten und Bluffs möglich wurden. Den Gorgonen fiel wieder das grüne Licht zu. Der Gong ertönte, die Signallampen leuchteten grün auf; das Spiel hatte begonnen. »Zwölf-zehn, Ki-yik!« schrie Lord Gensifer und schickte damit die Stürmer und Springer bis zum Graben vor, während die Wächter jeweils um zwei Kreuzungen vorrückten. »Dreizehnacht!« – ein Vorstoß von Springern und Außenstürmern über die Randstege, die Mittelstürmer sprungbereit am Graben. Soweit war alles gut verlaufen. Der nächste Ruf mußte sofort lauten: »Acht-dreizehn«, was bedeutete, daß die Springer weiter vordringen und die Stürmer nach links fintieren sollten. Die Springer waren über den Graben, die TanchinaroStürmer zögerten, wodurch sich die Gelegenheit zu einem blitzschnellen Angriff auf die rechte Flanke der Tanchinaros bot. Aber Lord Gensifer war unschlüssig; die gegnerischen Stürmer fingen sich, drängten die Springer wieder über den Graben zurück, und das Licht wechselte auf rot. So ging es fünfzehn Minuten lang. Zwei Tanchinaro-Stürmer wurden ins Strafbecken geschickt, konnten aber aufs Spielfeld zurückkehren, bevor die Gorgonen den Vorteil zu nutzen vermochten. Lord Gensifer wurde ungeduldig und versuchte eine neue Taktik – genau die Spielvariante, mit der Glinnes ei-
nen Punkt gegen die Seeraben errungen hatte und die gegen eine Mannschaft wie die Tanchinaros vollkommen ungeeignet war. Das Ergebnis war, daß alle vier Stürmer, ein Springer und Lord Gensifer selber eingetunkt wurden und die Tanchinaros nur noch einen einfachen Spaziergang vor sich hatten, um den Goldring zu ergreifen. Lord Gensifer zahlte widerstrebend eintausend Ozols Löseprämie. Die Mannschaften stellten sich neu auf. »Ich weiß, wie wir das Spiel gewinnen«, meinte Lucho zu Glinnes. »Wir sorgen dafür, daß Tammi im Foul-Becken bleibt.« »In Ordnung«, sagte Glinnes. »Wir brauchen nur möglichst blöd zu tun. Sag's Savat; ich bring' es Chust bei.« Grünes Licht. Lord Gensifer setzte seine Mannschaft in Bewegung. Zwei Sekunden, bevor das Licht wechselte, schwärmte die gesamte Frontlinie der Gorgonen in einem scheinbar sinnlosen Manöver aus. Völlig verdattert schrie Lord Gensifer noch Gegenanweisungen, nachdem das Licht schon rot aufgeleuchtet war. Das Spiel wurde unterbrochen, während Lord Gensifer, dem aufzugehen begann, was da eben passiert war, sich mürrisch ins Strafbecken verfügte. Glinnes als rechter Mittelstürmer übernahm die Führung. Die Tanchinaros versuchten den Graben zu stürmen, solange sie rotes Freilicht hatten. Dank exaktem Zusammenspiel konnten die GorgonenStürmer beide Mittelstürmer der Tanchinaros eintunken, worauf sich die Außenstürmer zurückzogen. Grünes Licht. Jetzt konnte Glinnes seine Pläne verwirklichen. Er rief der Reihe nach einige Spielcodes
auf. Die Frontlinie wich zurück und stieß dann wie ein Mann vor; plötzlich waren die Stürmer und Springer der Gorgonen drüben. Die TanchinaroSpringer wurden ins Wasser gestoßen, aber noch standen die Tanchinaro-Wächter im Wege – ein unüberwindliches Bollwerk. Glinnes rief seine eigenen zwei Innenwächter nach vorne, so daß acht Mann wie ein Keil auf die Wächter zustürmten – die dadurch gezwungen waren, sich in der Mitte zu konzentrieren. Glinnes drückte sich dahinter vorbei schubste als freundschaftliche Geste Carbo Gilweg in den Tank und ergriff den Goldring. Lord Gensifer kletterte gekränkt aus dem Strafbekken, würdigte niemanden eines Wortes und kassierte tausend Ozols von Nilo Neronavy. Die Mannschaften nahmen neuerlich Aufstellung. Rotes Licht. Die Tanchinaros konzentrierten sich auf ihrer linken Seite in der Hoffnung, einen unvorsichtigen Gorgonen über den Graben zu locken. Glinnes fing einen Blick von Lucho auf; beide wußten sofort, was der andere beabsichtigte; beide überquerten den Graben und stürmten die Mittelwege vor, so schnell, daß die eigentlich angreifende Mannschaft völlig überrascht wurde. Die Außenstürmer und Springer schlossen so schnell wie möglich auf. Nach einigen raschen Schwüngen, Finten und Ausweichmanövern waren sie in der gegnerischen Heimzone und beschäftigten die Wächter. Der ›Wilde‹ Wilmer Guff, ein Springer, schwenkte um das Durcheinander herum und packte den Ring. »Auch ein Weg zum Sieg«, rief Lucho Glinnes zu. »Wir greifen an, wenn das Licht gegen uns ist, und Tammi nicht dreinreden kann.«
Die Spieler stellten sich neu auf. Wieder rotes Licht. Nilo Neronavy hielt sich an die Strategie, die auf die Fähigkeiten der Tanchinaros am besten zugeschnitten war: ein zermalmender, breiter Vorstoß über das gesamte Feld. Lucho und Chust landeten bald im Wasser; Savat und Glinnes wurden zurückgetrieben. Die Tanchinaros standen jetzt mit allen Wächtern am Graben. Grünes Licht. Lord Gensifer rief: »Zwanzigzwei!«, ein einfaches Manöver, das so gut war wie irgendein anderes – die Stürmer sollten sich irgendwie bis in die Heimregion der Tanchinaros durchschlagen. Die Tanchinaro-Wächter zogen sich sofort zurück, die Gorgonen kamen nicht an ihnen vorbei. Carbo Gilweg stellte Glinnes; die beiden fochten wild mit ihren Pads – rechts, links, Finte, Haken, Parade. Gilweg senkte den Kopf und sprang vor wie ein Stier; Glinnes versuchte auszuweichen, wurde aber von Gilwegs Pad erwischt. Er plumpste in den Tank. Gilweg schaute zu ihm hinunter. »Wie ist das Wasser?« Glinnes antwortete nicht. Der Gong war ertönt. Irgendeiner der Tanchinaros hatte den Ring erobert. Da nach vier Spielen der Punktestand gleich war, wurde eine Pause von fünf Minuten eingelegt. Lord Gensifer hielt sich mit eisiger Miene abseits. Lucho ging dennoch zu ihm hin, um vielleicht doch einen guten Rat anzubringen. »Sie werden's bestimmt wieder mit der Dampfwalze probieren. Ich glaube nicht, daß sie unseren Angriff abwarten – sie werden schon bei grünem Licht vorstoßen. Wir müssen ihr Zentrum demolieren, bevor sie mit der ganzen Front über den Graben sind.« Lord Gensifer sagte nichts. Die Spieler stellten sich noch einmal auf. Grünes
Licht! Lord Gensifer ließ seine Männer an den Graben vorrücken. Die Tanchinaros hatten sich in Igelformation gruppiert, um einen Angriff der Gorgonen herauszufordern. In dieser Situation war es durchaus möglich, daß die behenderen Gorgonenstürmer, auf den Trapezen hereinschwingend, den einen oder anderen Tanchinaro eintunkten – oder selbst eingetunkt wurden. Lord Gensifer wollte jedoch nicht angreifen. Rotes Licht. Die Tanchinaros behielten ihre Defensivaufstellung bei. Lord Gensifer hielt seine Spieler immer noch zurück, eine Vorgangsweise, die nur insofern unklug war, als sie Unsicherheit verriet. »Gehen wir doch rüber«, rief Glinnes ihm zu, »wir können ja immer noch zurück.« Lord Gensifer zeigte nichts als steinernes Schweigen. Rotes Licht. Die Tanchinaros stürmten vor, alle elf Mann – ›nur die Sheirl als Wächter des Podests‹, wie man sagte. Wiederum setzten sie über den Graben, nur die Wächter blieben auf der Feldhälfte der Tanchinaros zurück. Grünes Licht. Lord Gensifer befahl eine Finte nach rechts und einen Angriff auf die Tanchinaros, die sich links eine Ausgangsposition erobert hatten. Bei dem Gedränge wurden zwei Mann von jedem Team ins Wasser befördert, aber mittlerweile waren die Tanchinaros an der rechten Flanke der Gorgonen weit vorgestoßen, und der ungeschickte neue Wächter wurde eingetunkt. Das Licht wechselte auf Rot. Die Tanchinaros kämpften sich Meter um Meter an das Podest der Gorgonen heran, auf dem Karue Liriant ohne erkennbare Besorgnis wartete.
Grünes Licht. Lord Gensifer sah sich mit einer unangenehmen Situation konfrontiert. Seine Stürmer beherrschten das Zentrum, aber die gegnerischen Wächter und Stürmer, die entlang der Mittelwege vordrängten, machten ihnen mehr als genug zu schaffen. Glinnes griff einen Tanchinaro-Mittelstürmer an; er glaubte aus dem Augenwinkel eine freie Route nach vorne zu entdecken – er brauchte nur einen der Wächter aus der Position zu locken. Rotes Licht. Glinnes ließ den Tanchinaro-Stürmer stehen, rannte vor zum Graben und setzte darüber. Er war frei, ungedeckt! Mit einem verzweifelten Sprung warf sich Carbo Gilweg ihm entgegen und versuchte, Glinnes mit dem Pad die Beine unter dem Körper wegzuschlagen; beide fielen Hals über Kopf in den Mittelgraben. Der Gong – drei Schläge. Das Spiel war entschieden. Der Schiedsrichter rief Lord Gensifer und verkündete die Lösegeldforderung der Sieger. Die Forderung wurde abgelehnt. Die Musik wurde feierlich und traurig – die goldene Musik eines Sonnenuntergangs, deren Rhythmus den Herzschlag begleitete und deren Töne die Süße aller menschlichen Leidenschaften verkündeten. Zum dritten Mal rief der Schiedsrichter die Lösegeldforderung aus; zum dritten Mal ignorierte Lord Gensifer die Forderung. Der Tanchinaro-Stürmer zog am Goldring, das weiße Gewand fiel vom Körper Karue Liriants. Nackt und selbstsicher stand sie vor dem Publikum, ja, sie lächelte sogar ein wenig. Gleichmütig strich sie sich die Haare zurecht, stellte sich auf die Zehen, hob grüßend die Hände, blickte über die eine, dann über die
andere Schulter, während die Menge erstaunt dieses seltsame Verhalten beglotzte. Ein ausgefallener Gedanke kam Glinnes in den Sinn. Er musterte sie scharf. War Karue Liriant schwanger? Auch andere merkten auf; unter den Zuschauern erhob sich ein Gemurmel. Lord Gensifer holte eilig einen Mantel und führte seine noch immer lächelnde Sheirl vom Podest. Dann wandte er sich an die Mannschaft. »Heute abend gibt es keine Party. Ich habe nun die unangenehme Pflicht, undisziplinierte Teammitglieder zu bestrafen. Tyran Lucho, betrachten Sie sich als entlassen. Glinnes Hulden, Ihr Verhalten...« »Lord Gensifer«, sagte Glinnes, »ersparen Sie mir Ihre Kritik. Ich trete aus der Mannschaft freiwillig aus. Die Spielbedingungen sind einfach unmöglich.« Ervil Savat, der linke Mittelstürmer, sagte: »Ich trete ebenfalls aus.« »Ich auch«, verkündete Wilmer Guff, der rechte Springer, der als einer der starken Spieler am meisten zu tun gehabt hatte. Der Rest der Mannschaft zögerte. Wenn sie alle austraten, fanden sie vielleicht kein anderes Team, das Verwendung für sie hatte. In der betroffenen Stille wagte keiner mehr etwas zu sagen. »Nun gut«, meinte Lord Gensifer. »Wir können nur froh sein, euch loszuwerden. Ihr wart alle eigenwillig und unbotmäßig – und Sie, Glinnes Hulden und Tyran Lucho, Sie haben fortgesetzt versucht, meine Autorität zu untergraben.« »Nur um einen oder zwei Ringe zu gewinnen«, sagte Lucho. »Aber das ist ja jetzt gleichgültig – auf jeden Fall alles Gute Ihnen und den Gorgonen.« Er nahm seine Maske ab und übergab sie Lord Gensifer.
Glinnes tat dasselbe, dann Ervil Savat und Wilmer Guff. ›Pflock‹ Candolf, der einzige brauchbare Wächter, fand es sinnlos, weiter in der Mannschaft zu spielen, wenn nur die schlechten Spieler übrigblieben, und gab seine Maske ebenfalls Lord Gensifer ab. Draußen vor den Umkleidekabinen meinte Glinnes zu seinen vier Kameraden: »Heute abend kommt ihr alle zu mir – letzten Endes haben wir einen Sieg zu feiern. Wir sind das Mondkalb Tammi los.« »Ein im wesentlichen annehmbarer Vorschlag«, sagte Lucho. »Mir ist auch nach ein oder zwei kühlen Krügen zumute, aber am Strand von Atramar wird mehr los sein; zumindest finden wir verständnisvolle Zuhörer.« »Wie ihr wollt. Auf meiner Veranda war es wirklich in letzter Zeit ziemlich still. Außer mir sitzt keiner dort, nur vielleicht manchmal ein Merling, wenn ich nicht da bin.« Auf dem Weg zum Pier trafen die fünf Carbo Gilweg und zwei weitere Tanchinaro-Wächter, die alle bestens gelaunt waren. »Gut gespielt, Gorgonen – aber heute hattet ihr es mit den todesmutigen Tanchinaros zu tun.« »Danke für das tröstliche Kompliment«, sagte Glinnes, »aber nenne uns nicht Gorgonen. Wir erfreuen uns nicht länger dieser Auszeichnung.« »Was soll das heißen? Hat Lord Gensifer am Ende seinen phantastischen Plan aufgegeben, ein HussadeTeam zu führen?« »Er hat uns aufgegeben, und wir ihn. Die Gorgonen gibt's noch, vermute ich jedenfalls. Tammi braucht nur eine neue Frontlinie.« »Durch einen seltsamen Zufall«, sagte Carbo Gil-
weg, »ist das alles, was die Tanchinaros ebenfalls brauchen... Wohin seid ihr unterwegs?« »Raus zu Lucho auf Altramar, um unseren privaten Sieg zu feiern.« »Dann kommt lieber zu den Gilwegs zu einer richtigen Siegesfeier.« »Besser nicht«, meinte Glinnes. »Ihr werdet unsere langen Gesichter bei dem Fest nicht brauchen können.« »Im Gegenteil! Ich habe einen besonderen Grund, euch einzuladen. Hört zu, gehen wir vorher in den Magischen Fisch auf ein Bier.« Die acht Männer setzten sich um einen runden Tisch, und die Kellnerin brachte acht großzügig bemessene Krüge mit Bier. Gilweg musterte mit gerunzelter Stirn den Schaum auf seinem Krug. »Ich möchte euch einen Vorschlag unterbreiten – einen naheliegenden und interessanten Vorschlag. Die Tanchinaros brauchen wie Lord Gensifer eine Frontlinie. Das ist kein Geheimnis; jeder wird das zugeben. Wir sind eine Mannschaft von zehn Wächtern und einem Bierfaß.« »Das ist alles recht schön, und ich verstehe auch, worauf du hinauswillst«, sagte Glinnes, »aber schließlich werden eure Stürmer, ob sie nun eigentlich Wächter sind oder nicht, bestimmt etwas dagegen einzuwenden haben.« »Sie haben gar kein Recht dazu. Die Tanchinaros sind ein offener Verein; jeder kann beitreten, und wenn er sich bewährt, dann spielt er. Denkt doch bloß! Zum ersten Mal seit Menschengedenken wären die kümmerlichen Saurkash-Tanchinaros eine wirkliche Mannschaft!«
»Der Vorschlag ist vielversprechend.« Glinnes schaute seine Kameraden an. »Was meint ihr?« »Ich möchte Hussade spielen«, sagte Wilmer Guff. »Und ich gewinne gern. Ich bin dafür.« »Auf mich könnt ihr auch zählen«, sagte Lucho. »Vielleicht können wir eines Tages gegen die Gorgonen antreten.« Savat stimmte dem Vorschlag ebenfalls zu, nur Candolf zögerte. »Ich bin ein Wächter. Bei den Tanchinaros ist kein Platz für mich.« »Sag das nicht«, meinte Gilweg. »Unser linker Außenwächter ist Pedro Shamoran, und er hat einen schlimmen Fuß. Es wird etliche Umbesetzungen geben, und vielleicht kannst du auch als linker Springer spielen; du wärst auf jeden Fall schnell genug. Warum versuchst du's nicht wenigstens?« »Na schön, warum nicht?« Gilweg leerte seinen Krug. »Also, dann wäre ja alles geregelt! Nun können wir alle miteinander den Sieg der Tanchinaros feiern!«
KAPITEL 12 Als Glinnes spät am nächsten Vormittag heimkam, fand er ein fremdes Boot an seiner Anlegestelle. Auf der Veranda saß jedoch niemand, und das Haus war leer. Glinnes ging hinaus, um sich umzuschauen, und entdeckte drei Männer, die über die Wiese schlenderten. Glay, Akadie und Junius Farfan. Alle drei trugen nüchterne, graue und schwarze Kleidung, die Tracht der Fanscherade. Glay und Farfan sprachen ernst miteinander; Akadie hielt sich etwas abseits. Glinnes ging zu ihnen hinüber. Akadie setzte ein etwas schafsmäßiges Grinsen auf, als Glinnes ihn erstaunt und spöttisch musterte. »Ich hätte nie gedacht, daß du bei diesem Blödsinn mitmachen würdest«, schnaubte Glinnes. »Man muß mit der Zeit gehen«, sagte Akadie. »Weißt du, ich finde diese Tracht eigentlich ganz amüsant.« Glay warf ihm einen kühnen Blick zu; Junius Farfan lachte nur. Glinnes winkte zur Veranda hinüber. »Setzt euch doch! Möchte jemand Wein?« Farfan und Akadie nahmen einen Becher Wein an; Glay lehnte ziemlich schroff ab. Er folgte Glinnes ins Haus, in dem er seine Jugend verbracht hatte, und sah sich in dem Raum um wie ein Fremder. Er drehte sich schließlich um und ging Glinnes voran wieder hinaus. »Ich habe dir einen Vorschlag zu machen«, sagte Glay. »Du willst die Insel Ambal.« Er warf Junius Farfan einen Blick zu; dieser legte ein Kuvert auf den Tisch. »Du sollst sie haben. Hier ist das Geld, um Ca-
sagave auszuzahlen.« Glinnes griff nach dem Umschlag, aber Glay zog ihn weg. »Nicht so eilig. Wenn Ambal wieder dir gehört, kannst du dort leben, wenn du willst. Und ich bekomme das Nutzungsrecht für Rabendary.« Glinnes starrte ihn verblüfft an. »Jetzt willst du Rabendary! Warum können wir nicht beide hier leben und uns brüderlich den Besitz teilen?« Glay schüttelte den Kopf. »Es würde nur Streit geben, wenn du deine Einstellung nicht ändertest. Ich will keine Energie darauf verschwenden. Nimm du Ambal, ich nehme Rabendary.« »Das ist der sonderbarste Vorschlag, den ich je gehört habe«, sagte Glinnes, »angesichts der Tatsache, daß beides mir gehört.« Glay wiegte den Kopf. »Nicht, wenn Shira lebt.« »Shira ist tot.« Glinnes ging zu seinem Versteck, grub den Krug aus und holte den goldenen Uhranhänger heraus. Er nahm ihn mit auf die Veranda und warf ihn auf den Tisch. »Erinnerst du dich an das? Ich habe es deinen Freunden, den Drossets, abgenommen. Sie haben Shira getötet und ausgeraubt und den Merlingen überlassen.« Glay warf einen Blick auf den Anhänger. »Haben sie es zugegeben?« »Nein.« »Kannst du beweisen, daß du das von den Drossets hast?« »Du hast gehört, was ich gesagt habe.« »Das genügt nicht«, sagte Glay schroff. Glinnes hob den Kopf und starrte Glay ins Gesicht. Langsam stand er auf. Glay saß steif wie ein Zaunpflock da. Akadie sagte hastig: »Aber selbstverständ-
lich genügt uns dein Wort, Glinnes. Setz dich wieder.« »Glay soll seine Bemerkung zurückziehen und dann sich selber!« »Glay hat nur gemeint, daß dein Wort vor dem Gesetz nicht genügt«, sagte Akadie. »Das stimmt doch, Glay?« »Ja, natürlich«, sagte Glay gelangweilt. »Was mich betrifft, so genügt mir dein Wort. Mein Vorschlag bleibt trotzdem der gleiche.« »Woher stammt die plötzliche Sehnsucht, nach Rabendary heimzukehren?« fragte Glinnes. »Gebt ihr eure verrückte Kostümparade auf?« »Im Gegenteil. Wir werden auf Rabendary eine Fanscherade-Gemeinschaft begründen, ein Kollegium der dynamischen Formulierungen.« »Bei den Sternen«, verwunderte sich Glinnes. »Formulierungen. Zu welchem Zweck nur?« Junius Farfan sagte sanft: »Wir beabsichtigen, eine Akademie der Leistungen zu gründen.« Glinnes blickte kopfschüttelnd auf die AmbalBucht hinaus. »Ich muß zugeben, daß ich mich nicht mehr auskenne. Der Alastor-Sternhaufen ist unzählige Jahrtausende alt; Milliarden Menschen haben die Galaxis besiedelt. Hier und dort, überall auf der weiten Bühne des Lebens, haben große Denker Probleme formuliert und gelöst. Alles, was dem Menschen möglich ist, wurde schon erreicht, alle menschlichen Daseinsziele – und nicht nur einmal, sondern viele tausende Male. Wir alle wissen, daß wir in unserem Zeitalter den goldenen Nachmittag der Menschheit erleben. Woher glaubt ihr also, im Namen der Dreißigtausend Sterne, ein neues Gebiet der Erkenntnis
finden zu können, das so dringend von der Rabendary-Wiese aus verbreitet werden müßte?« Glay machte eine ungeduldige Geste, als ob ihn Glinnes' Begriffsstutzigkeit peinlich berührte. Junius Farfan gab jedoch höflich Antwort. »Diese Einstellung kennen wir natürlich sehr gut. Es kann jedoch leicht gezeigt werden, daß der Umfang menschlicher Erkenntnis und damit menschlicher Leistungen unbegrenzt ist. Zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten wird es immer eine Grenze geben, an der sich die Menschen bewähren können. Wir behaupten nicht, hoffen nicht einmal, neue Grenzen für das menschliche Wissen setzen zu können. Unsere Akademie soll nur der Vorbereitung dienen: bevor wir auf Neuland vorstoßen, müssen wir das Alte kennen, müssen festlegen, auf welchen Gebieten wir uns noch neue Ziele setzen können. Das allein ist ein großes Vorhaben. Ich erwarte, mein ganzes Leben lang an dieser Vorbereitung zu arbeiten. Auch damit werde ich meinem Leben einen Sinn gegeben haben. Ich möchte Sie einladen, Glinnes Hulden, in die Fanscherade einzutreten und gemeinsam mit uns dieses große Ziel zu verfolgen.« »Und eine graue Uniform zu tragen und Hussade und Sternenschau aufzugeben? Nein, danke. Es ist mir gleichgültig, ob ich im Leben irgendwelche hehren Ziele erreiche oder nicht. Was eure Akademie betrifft, so würdet ihr mir die Aussicht verderben, wenn ihr sie unten auf der Wiese baut. Seht doch, wie das Licht drüben auf dem Wasser spielt, seht die wunderbaren Farbschattierungen der Bäume! Mir kommt es vor, als ob euer Gerede von ›Lebenszielen‹, von ›Sinn‹ und ›Leistung‹ einfach Aufschneiderei ist
– das große Gerede von kleinen Jungen.« Junius Farfan lachte. »Ich nehme gern die ›Aufschneiderei‹ in Kauf – und Überheblichkeit, Eigensinnigkeit, Elite-Denken, was immer Sie uns noch vorwerfen wollen. Niemand hat je das Gegenteil behauptet, ebensowenig, wie Jan Dublays behauptete, sich fleischlichen Kasteiungen verschrieben zu haben, als er Die Rose in den Zähnen des Fauns schrieb.« »Mit anderen Worten«, sagte Akadie sanft, »die Fanscherade lenkt geschickt die Kräfte, die der menschlichen Lasterhaftigkeit innewohnen, auf wahrscheinlich sinnvollere Ziele.« »Abstrakte Diskussionen sind wohl interessant«, bemerkte Junius Farfan, »aber wir sollten uns auf dynamische und nicht statische Prozesse konzentrieren. Sind Sie mit Glays Vorschlag einverstanden?« »Daß Rabendary in ein Irrenhaus der Fanscherade verwandelt wird? Natürlich nicht! Habt ihr Leute denn keine Seele? Schaut euch doch diese Landschaft an! Es gibt genug menschliche Errungenschaften im Universum, aber nicht annähernd genug Schönheit. Errichtet eure Akademie doch irgendwo auf den Lavafeldern oder draußen in den Geborstenen Hügeln. Nicht hier.« Junius Farfan erhob sich. »Dann werden wir uns jetzt verabschieden.« Er hob den Umschlag auf. Glinnes langte danach, aber Glay hielt ihn am Handgelenk fest. Farfan steckte ruhig das Kuvert in seine Rocktasche. Glay ließ los, ein wölfisches Grinsen im Gesicht. Glinnes spannte die Muskeln an und beugte sich vor. Junius Farfan beobachtete ihn ernst. Glinnes beruhigte sich. Farfans Blick war ruhig und sicher und
brachte Glinnes ein wenig aus der Fassung. »Ich werde noch hierbleiben; Glinnes wird mich später dann heimfahren«, sagte Akadie. »Wie Sie wollen«, sagte Farfan. Er ging mit Glay zu ihrem Boot, und nachdem sie die Rabendary-Wiese noch einmal gemustert hatten, legten sie ab. »In gewisser Weise war dieser Vorschlag einfach unverschämt«, erklärte Glinnes zähneknirschend. »Halten die mich für einen Tölpel, den man so leicht übers Ohr hauen kann?« »Sie sind sich ihrer Ziele vollkommen sicher«, sagte Akadie. »Vielleicht erscheint dir diese Sicherheit als Unverschämtheit... Zugegeben, manchmal ist da recht schwer eine Grenze zu ziehen. Dennoch ist weder Glay noch Junius Farfan ein unverschämter Mensch. Farfan ist im Gegenteil ein außerordentlich sanfter, höflicher Typ. Glay kommt einem manchmal vielleicht ein wenig zurückhaltend vor, aber alles in allem ist er doch ein guter Bursche.« Glinnes konnte kaum seine Entrüstung unterdrükken. »Wenn sie mich hinten und vorne betrügen und mir mein Eigentum nehmen wollen? Dein Urteilsvermögen ist anscheinend völlig umgekrempelt worden!« Akadie wechselte mit einer wegwerfenden Geste das Thema. »Ich habe mir gestern das Hussade-Spiel angeschaut. Ich muß sagen, ich habe mich recht gut unterhalten, obwohl nicht eben glänzende Leistungen geboten wurden. Hussade ist letzten Endes ein Wechselspiel der Persönlichkeiten; kein Match gleicht einem anderen. Ich würde sogar behaupten, daß die Masken ein unbewußtes Bedürfnis sind, daß sie verhindern sollen, daß Persönlichkeiten das Spiel zu sehr dominieren.«
»Es gibt die verschiedensten Theorien über Hussade. Ich jedenfalls weiß, daß mir Lord Gensifers Persönlichkeit so wenig paßt, daß ich ab jetzt mit den Tanchinaros spiele.« Akadie nickte weise. »Ich habe Lord Gensifer zufällig heute morgen getroffen, ausgerechnet in Voulash, im Gasthaus zum Grünen Tal. Bei einer Tasse Tee erwähnte er, daß er einige Spieler wegen Insubordination entlassen hat.« »Insubordination?« schnaubte Glinnes. »Wegen gerechter Empörung wäre zutreffender. Was wollte er denn in Voulash? Bitte berücksichtige, daß das eine ganz beiläufige Frage ist. Ich habe keine Lust, ein Honorar zu zahlen.« Akadie antwortete mit leicht gekränkter Würde. »Lord Gensifer unterhielt sich mit etlichen Mitgliedern der Voulash-Seeraben über Hussade. Ich glaube, daß er mehrere überreden konnte, zu den Gorgonen zu kommen.« »Also wirklich! Lord Gensifer will demnach nicht aufgeben?« »Im Gegenteil. Er kocht über vor Begeisterung. Er behauptet, daß er nur durch unglückselige Zufälle und die Trägheit seiner Spieler geschlagen wurde, und nicht durch das Können der Gegner.« Glinnes lachte verächtlich. »Immer, wenn Lord Gensifer im Strafbecken saß, haben wir einen Ring gewonnen. Wenn er Anweisungen gab, wurden wir über das ganze Feld gejagt.« »Wird es dir mit dem alten Neronavy besser ergehen? Er ist nicht gerade für ein phantasievolles Spiel bekannt.« »Das ist richtig. Vielleicht finden wir eine bessere
Lösung.« Glinnes überlegte einen Augenblick. »Möchtest du mit nach Voulash kommen?« »Ich habe zur Zeit nichts anderes vor«, sagte Akadie. Denzel Warhound wohnte in einem Blockhaus zwischen zwei riesigen Myrsil-Bäumen am Ende des Grünen Tales. Er hatte noch nichts von Lord Gensifers Besuch in Voulash gehört, zeigte aber weder Überraschung noch Entrüstung. »Die Seeraben waren nur ein temporäres Unternehmen; es erstaunt mich, daß die Mannschaft überhaupt so gut zusammengehalten hat. Einen Augenblick, bitte.« Er ging zum Telefon und sprach einige Minuten lang mit jemandem, dessen Gesicht Glinnes nicht sehen konnte, und kam dann wieder heraus auf die Veranda. »Beide Mittelstürmer, beide Außenstürmer, und ein Springer – alle sind jetzt Gorgonen. Die Seeraben sind dieses Jahr zum letzten Male geflogen, soviel steht fest.« »Es wäre vielleicht ganz interessant für Sie«, sagte Glinnes, »wenn ich Ihnen verrate, daß die Tanchinaros einen kampflustigen Kapitän gut brauchen könnten. Neronvay ist wirklich nicht mehr ganz auf der Höhe. Mit einem tüchtigen Kapitän aber könnten die Tanchinaros ganz schön zu Geld kommen.« Denzel Warhound massierte sein Kinn. »Die Tanchinaros sind ein offener Verein, glaube ich?« »So offen wie das Meer.« »Nun, das ist wirklich ein interessanter Vorschlag, denke ich.«
KAPITEL 13 Die Verwandlung der Tanchinaros von ›zehn Wächtern und einem Bierfaß‹ zu einem gut ausgewogenen und wendigen Team ging nicht ganz ohne Verstimmung vonstatten. Der erzürnte Nilo Neronavy weigerte sich, die überlegenen Fähigkeiten von Denzel Warhound anzuerkennen. Als man ihm das Gegenteil nachwies, stürmte er vom Platz und nahm die Sheirl, seine Nichte, sowie die verdrängten Stürmer mit. Eine Stunde später, im Gastgarten des Magischen Fisches, konstituierten sich Neronavy und sein Anhang zu einer neuen Mannschaft, die den Namen ›Fischtöter von Saurkash‹ erhalten sollte; dieser zuversichtliche Kern eines neuen Teams verstieg sich sogar dazu, Lord Gensifer, der zufällig vorbeikam, mit seinen Gorgonen zu einem Spiel herauszufordern. Lord Gensifer erklärte sich bereit, das Angebot in Erwägung zu ziehen. Die Tanchinaros, denen auf einmal ihre neuen Möglichkeiten bewußt wurden, trainierten eifrig und entwickelten Präzision, Koordination und ein Repertoire an Grundmanövern. Ihre ersten Gegner würden die Raparees aus Galgade in den Ost-Fens sein. Die Raparees wollten um nicht mehr als fünfzehnhundert Ozols spielen, ein Betrag, der ohnehin gerade den finanziellen Möglichkeiten der Tanchinaros entsprach. Wer aber sollte die Sheirl sein? Perinda, der Manager des Vereins, führte mehrere ziemlich unscheinbare Kandidatinnen vor, die die Mannschaft allesamt ungeeignet fand. »Wir sind ein erstklassiges Team«, erklärte Denzel
Warhound. »Also besorgen Sie uns auch eine erstklassige Sheirl. Wir werden uns nicht mit irgendeinem schäbigen Stück Merlingköder zufriedengeben.« »Es gäbe da schon ein Mädchen«, sagte Perinda. »Absolut erste Klasse – Sashei, Schönheit, Begeisterungsfähigkeit, alles da –, nur gibt's dabei den einen oder anderen kleinen Haken.« »So? Ist sie die Mutter von neun Kindern?« »Nein. Ich bin überzeugt, daß sie Jungfrau ist. Schließlich ist sie eine Trevanyi – und das ist eines von den kleinen Problemen, die ich erwähnte.« »Aha«, sagte Glinnes. »Welche gibt es noch?« »Nun – sie ist recht gefühlsbetont und ein bißchen heftig. Ihre Zunge geht ihr manchmal durch. Ein feuriges Wesen – alles in allem die ideale Sheirl.« »Aha. Ist ihr Name vielleicht Duissane Drosset?« »Stimmt genau. Haben Sie irgendwelche Einwände?« Glinnes spitzte die Lippen und versuchte, sich über seine Einstellung Duissane Drosset gegenüber klarzuwerden. Zweifelsohne besaß sie Feuer und Sashei – sie würde der Mannschaft bestimmt Schwung geben. Er sagte: »Ich habe keinerlei Einwände.« Wenn Duissane betroffen darüber war, Glinnes in der Mannschaft zu finden, so zeigte sie es nicht. Sie kam allein auf den Trainingsplatz, was für ein TrevanyiMädchen schon ein sehr freizügiges Benehmen darstellte. Sie trug einen dunkelbraunen Umhang, den der Südwind an ihre schlanke Gestalt preßte, und wirkte sehr schutzbedürftig und unschuldig. Sie sagte wenig und schaute den Tanchinaros mit anscheinend sachverständiger Aufmerksamkeit beim Training zu,
und die Mannschaft spielte mit erheblich mehr Schwung als sonst. Duissane begleitete die Spieler nachher in den Gastgarten des Magischen Fisches, wo die Tanchinaros sich üblicherweise nach dem Training labten. Perinda benahm sich etwas fahrig, und als er Duissane formell vorstellte, bezeichnete er sie betont als ›eine unserer Kandidatinnen‹. Savat rief: »Also soweit's mich angeht, ist sie unsere Sheirl. Lassen wir doch das Gerede von ›Kandidatinnen‹.« Perinda räusperte sich. »Ja, ja, gewiß. Aber es gibt da noch ein oder zwei Punkte zu regeln, und die Sheirl wird traditionsgemäß erst nach einer eingehenden Beratung gewählt.« »Was gibt's da noch zu beraten?« wollte der Wächter Etzing wissen. Er fragte Duissane: »Bist du bereit, treu zu uns zu halten als unsere Sheirl in guten wie in schlechten Zeiten?« Duissanes schillernder Blick streifte über die Gruppe und schien einen Augenblick auf Glinnes zu verweilen. Sie sagte jedoch ruhig: »Ja, natürlich.« »Na also!« schrie Etzing. »Sollen wir sie zur Sheirl weihen oder nicht?« »Einen Augenblick, nur einen Augenblick!« sagte Perinda, etwas rot im Gesicht. »Wie erwähnt, sind noch ein oder zwei Fragen zu klären.« »Wie zum Beispiel?« knurrte Etzing. »Rücken Sie schon raus damit!« Perinda blies die Backen auf, rot vor Verlegenheit. »Wir können ein andermal darüber sprechen.« »Was sind das für Fragen?« erkundigte sich Duissane. »Sprechen Sie jetzt darüber, vor allen. Vielleicht
kann ich klären, was immer noch fraglich sein sollte. Nur los«, befahl sie, als Perinda noch immer zögerte. »Wenn irgendwelche Behauptungen über mich vorgebracht wurden, so möchte ich sie hören.« Wieder schien es, als ob ihr Blick einen Moment auf Glinnes ruhte. »›Behauptungen‹ wäre zuviel gesagt«, stammelte Perinda. »Nur Andeutungen und Gerüchte bezüglich – nun, hinsichtlich Ihrer... Ihrer Jungfräulichkeit. Obwohl Sie eine Trevanyi sind, scheint es Zweifel daran zu geben.« Duissanes Augen blitzten. »Wie kann jemand wagen, so etwas über mich zu behaupten? Das ist so feige und gemein! Glücklicherweise kenne ich meinen Feind, und ich werde nie vergessen, was er mir angetan hat!« »Nein, nein!« rief Perinda. »Ich kann nicht sagen, woher das Gerücht stammt. Es ist nur, daß...« »Wartet hier!« befahl Duissane. »Geht nicht, bevor ich wieder da bin. Ich will mich gegen Mißtrauen und Demütigungen wenigstens verteidigen dürfen.« Zornig stürmte sie aus dem Garten und stieß fast mit Lord Gensifer und einem seiner Kumpane, Lord Alandrix, zusammen, die eben die Laube betreten wollten. »Bei allen Sternen!« rief Lord Gensifer aus. »Wer ist denn das gewesen? Und auf wen ist sie so wütend?« »Mylord, sie ist eine Bewerberin um die Würde der Tanchinaro-Sheirl«, erklärte Perinda unbehaglich. Lord Gensifer lachte voll Genugtuung. »Dann hat sie eben die weiseste Entscheidung ihres Lebens getroffen, als sie vor dieser Verpflichtung davonlief. Um die Wahrheit zu sagen, sie ist wirklich ein entzücken-
des Geschöpf. Ich hätte nichts dagegen, selbst an ihrem Ring zu ziehen.« »Dazu werden Sie mit großer Sicherheit nie die Gelegenheit haben«, sagte Glinnes. »Seien Sie nur nicht zu sicher! Nach den jüngsten Umbesetzungen sind die Gorgonen eine ganz andere Mannschaft.« »Ich denke, Sie könnten ein Match mit uns bekommen, wenn die Prämie angemessen ist.« »Tatsächlich – und was halten Sie für angemessen?« »Dreitausend, fünftausend, zehntausend – soviel Sie wollen.« »Pah. Die Tanchinaros können keine zweitausend Ozols aufbringen, geschweige denn zehntausend.« »Was immer die Gorgonen an Prämie bieten, wir werden das gleiche bieten.« Lord Gensifer nickte überlegend. »Vielleicht schaut wirklich etwas dabei heraus. Zehntausend Ozols, sagten Sie.« »Warum nicht?« Glinnes schaute sich um. Alle anwesenden Tanchinaros wußten ebensogut wie er selbst, daß die Kasse bestenfalls dreitausend Ozols enthielt, aber nur Perinda ließ Besorgnis erkennen. »Also gut«, sagte Lord Gensifer forsch. »Die Gorgonen nehmen die Herausforderung an. Zu gegebener Zeit werden wir die notwendigen Vereinbarungen treffen.« Er wandte sich zum Gehen, eben als Duissane Drosset wieder in den Gastgarten marschiert kam. Ihre rotgoldenen Locken waren etwas in Unordnung geraten; in ihren Augen glomm eine Mischung von Triumph und Zorn. Sie funkelte Glinnes an und warf ein Papier vor Perinda hin. »Da! Nur um
Schlangenzungen zum Schweigen zu bringen, muß ich mich solchen Unannehmlichkeiten unterziehen. Lesen Sie! Sind Sie nun zufrieden?« Perinda studierte das Dokument. »Wir haben hier eine Bestätigung der Unberührtheit von Duissane Drosset. Der unterzeichnende Arzt ist kein geringerer als Doktor Niameth. Also, dann ist diese unglückselige Sache ja geklärt.« »Nicht so hastig«, rief Glinnes. »Welches Datum steht auf dem Dokument?« »Was sind Sie doch für ein Scheusal!« brauste Duissane auf. »Die Bestätigung trägt das heutige Datum!« Perinda erklärte das für zutreffend und fügte trokken hinzu: »Doktor Niameth hat allerdings nicht die genaue Stunde und Minute seiner Untersuchung angeführt, aber ich würde meinen, daß dies wohl zuviel der Pedanterie wäre.« »Meine liebe junge Dame, glauben Sie nicht, daß Sie mit den Gorgonen besser fahren würden?« sagte Lord Gensifer. »Wir sind eine höfliche Schar, das genaue Gegenteil von diesen rüden Tanchinaros.« »Mit Höflichkeit gewinnt man keine Spiele«, stellte Perinda fest. »Wenn Sie bei Ihrem ersten Match bereits nackt dastehen wollen, dann gehen Sie zu den Gorgonen.« Duissane warf Lord Gensifer einen abschätzenden Blick zu. Halb bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Ich habe nur die Erlaubnis für die Tanchinaros. Sie müßten meinen Vater darum ersuchen.« Lord Gensifer hob den Blick zur Decke, als rufe er die eine oder andere Gottheit zum Zeugen auf, was doch für unzumutbare Ansinnen an ihn gestellt wür-
den. Er verbeugte sich tief. »Meine besten Wünsche.« Er grüßte die Tanchinaros und verließ den Gastgarten. Perinda sah Glinnes an. »Es mag ja ein guter Scherz gewesen sein, aber woher sollen wir zehntausend Ozols auftreiben?« »Woher will Lord Gensifer zehntausend Ozols auftreiben? Er hat versucht, von mir Geld zu leihen. Wer weiß, wie wir in ein oder zwei Monaten dastehen? Zehntausend Ozols kommen uns dann vielleicht als belanglose Summe vor.« »Wer weiß, wer weiß?« knurrte Perinda. »Aber kommen wir wieder zu Duissane Drosset. Soll sie nun unsere Sheirl sein oder nicht?« Niemand erhob Einwände; vielleicht wagte es niemand, nachdem Duissane einen nach dem anderen mit ihrem Blick fixiert hatte. Und so wurde sie zur Sheirl geweiht. Das Match gegen die Raparees von Galgade gewannen sie mit fast beschämender Leichtigkeit. Die Tanchinaros waren überrascht, daß ihre taktischen Manöver einen so durchschlagenden Erfolg hatten. Entweder waren sie mindestens sechsmal so stark, wie sie angenommen hatten, oder die Reparees waren die schwächste Mannschaft der Präfektur Jolany. Dreimal stießen die Tanchinaros über die gesamte Länge des Feldes vor, mit geschmeidigen und entschlossenen Manövern, und die Reparees sahen sich immer von mindestens je zwei Tanchinaros bedrängt, ihre Sheirl war dauernd in Gefahr, und sie kamen nicht einmal in die Nähe von Duissane, die ruhig und kühl und ernst auf ihrem Podest stand, in dem weißen Gewand
anziehender denn je. Die Raparees, entmutigt durch ihre hoffnungslose Unterlegenheit, zahlten dreimal die Löseprämie und gingen vom Platz, ohne daß ihre Sheirl entblößt wurde – zur großen Enttäuschung des Publikums. Nach dem Spiel versammelten sich die Tanchinaros im Magischen Fisch. Duissane gab sich bei der ausgelassenen Geselligkeit ziemlich unnahbar, und als Glinnes einmal zufällig nach draußen schaute, begegnete er dem dräuenden Blick von Vang Drosset. Daraufhin führte er Duissane sofort aus der Gaststätte. Eine Woche später fuhren die Tanchinaros den Scurge-Fluß hinauf bis Erch auf der Kleinen Ratteninsel, wo sie mit ähnlichem Ergebnis gegen die ›Naturgewalten von Erch‹ spielten. Lucho war jetzt als linker Mittelstürmer aufgestellt, um besser mit Glinnes Hulden zusammenspielen zu können, und Savat gab einen recht tüchtigen rechten Außenstürmer ab. Die Aufstellung hatte jedoch immer noch ihre schwachen Stellen, die ein geschickter Gegner ausnützen würde. Gajowan, der linke Außenstürmer, war etwas zu leicht und recht unsicher, und Rolo, der linke Springer, war zu langsam. Bei dem Match gegen die Naturgewalten bemerkte Glinnes Lord Gensifer in einer der mittleren Logen. Er stellte außerdem fest, daß sich Lord Gensifers Blicke recht oft auf Duissane richteten, obwohl er darin nicht allein dastand, denn Duissane war eine unwiderstehliche, faszinierende Sheirl. In dem weißen Gewand ließ sie ihre Trevanyi-Herkunft vergessen und war nichts als ein bezauberndes Geschöpf: sehnsüchtig, kühn, fröhlich, traurig, mutig, vorsichtig, weise, töricht. Glinnes glaubte noch ande-
re Eigenschaften an ihr zu erkennen; er konnte sie nie ansehen, ohne ein glockenhelles Gelächter in einer sternklaren Nacht zu hören. Das nächste Spiel gegen die Hansard-Drachen ließ die weiche Stelle in der linken Flanke der Tanchinaros offenkundig werden, als die Drachen zweimal auf dieser Seite weit vordrangen. Beide Male wurden sie von den Wächtern aufgehalten und gleich darauf durch einen Vorstoß auf ihre Sheirl von der rechten Flanke her besiegt. Die Tanchinaros gewannen das Spiel in drei aufeinanderfolgenden Partien. Wieder saß Lord Gensifer in einer der Mittellogen, in Gesellschaft von einigen Männern, die Glinnes nicht kannte. Nach dem Spiel tauchte er im Magischen Fisch auf und erneuerte seine Herausforderung an die Tanchinaros. Jeder Verein sollte ein Prämiengeld von zehntausend Ozols beibringen, schlug Lord Gensifer vor, und das Match sollte in vier Wochen stattfinden. Ein wenig zögernd nahm Perinda die Herausforderung an. Sobald Lord Gensifer sich empfohlen hatte, begannen die Tanchinaros sich die Köpfe zu zerbrechen, was für einen hinterhältigen Plan Lord Gensifer wohl aushecken mochte. Gilweg sagte: »Nicht einmal Tammi würde mit seinem augenblicklichen Team auf einen Sieg hoffen.« »Er glaubt, er kann unsere linke Flanke aufrollen«, meinte Etzing mißmutig. »Das ist uns heute ja fast passiert.« »Er würde nicht zehntausend Ozols auf diese Möglichkeit setzen«, sagte Glinnes. »Mir schwant, daß er ein paar ganz ausgefallene Tricks auf Lager hat – so zum Beispiel eine völlig neue Mannschaft – die Karpouns von Vertrice oder die Skorpione von Port
Angel – die für den einen Tag den Dreß der Gorgonen trägt.« »Wahrscheinlich ist es das, was er vorhat«, stimmte Lucho zu. »Tammi würde es mächtig Spaß machen, uns mit so einem Strohmann-Team zu schlagen.« »Die zehntausend Ozols würden seiner Stimmung auch nicht abträglich sein.« »Eine solche Mannschaft würde unsere linke Seite zermalmen wie eine Melone«, prophezeite Etzing und warf einen Blick auf die andere Seite der Laube, wo Gajowan und Rolo mit düsterer Miene zuhörten. Für die beiden konnte das Gespräch nur die eine Bedeutung haben: nach der unbarmherzigen Logik des Professionalsports war für Zweitausend-Ozol-Spieler in einer Zehntausend-Ozol-Mannschaft einfach kein Platz mehr. Zwei Tage darauf stießen zwei neue Spieler zu den Tanchinaros. Der eine, Yalden Wirp, war in Lord Gensifers ursprünglicher Traum-Mannschaft vertreten gewesen; der zweite, Dion Sladine, hatte als Mitglied einer unbedeutenden Mannschaft von den Äußeren Hügeln Denzel Warhounds respektvolle Aufmerksamkeit gewonnen. Die schwache linke Flanke der Tanchinaros war nun nicht nur verstärkt, sondern mit potentieller Dynamik versehen worden.
KAPITEL 14 Rolo und Gajowan wurden überredet, als Ersatzleute und Gelegenheitsspieler beim Verein zu bleiben; in einem Match gegen die Schlaufüchse von Wigtown, zwei Wochen vor dem Treffen mit den Gorgonen, spielten sie in ihren ehemaligen Positionen. Die Schlaufüchse, eine Mannschaft von recht gutem Rufs verloren eine hart erkämpfte Prämie, bevor sie die schwache linke Flanke ihres Gegners entdeckten. Darauf begannen sie die empfindliche Stelle hartnäkkig zu attackieren und stießen mehrmals bis ins Hinterfeld vor, wo sie jedoch an den ebenso flinken wie massigen Tanchinaro-Wächtern scheiterten. Fast zehn Minuten lang verteidigten die Tanchinaros lediglich ihre Heimregion, als fehle ihnen der Schwung für einen Angriff, während Lord Gensifer von seiner Loge aus zuschaute und hin und wieder seinen Freunden eine Bemerkung zumurmelte. Die Tanchinaros siegten schließlich doch mit einiger Mühe – wie üblich durch drei gewonnene Partien hintereinander. Bis jetzt hatte noch nie jemand Hand an Duissanes Ring gelegt. Die Prämienkasse der Tanchinaros belief sich nun auf weit über zehntausend Ozols. Die Spieler begannen sich mit der Aussicht auf Reichtum zu beschäftigen. Mehrere Möglichkeiten standen ihnen offen. Sie konnten sich als Zweitausend-Ozol-Mannschaft ansehen und versuchen, nur Gegner dieser Klasse zu bekommen. Das würde allerdings ziemlich schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Sie konnten sich als Fünftausend-Ozol-Team betrachten und in dieser
Kategorie spielen, wobei sie nicht viel riskieren, aber auch nur wenig gewinnen würden. Oder sie konnten sich als Mannschaft der ersten Kategorie einstufen und gegen Zehntausend-Ozol-Mannschaften spielen – wodurch sich sowohl Reichtum als auch jene undefinierbare Eigenschaft erwerben ließen, die man Isthoune nannte. Mit einem gewissen Maß an Isthoune18 durften sie sich als Team von Meisterschaftsrang ansehen und beschließen, sich jeder Mannschaft von Trullion oder anderen Welten zu stellen, wobei um beliebig hohe Prämien gekämpft werden konnte. Der Tag des Herausforderungsspiels begann mit einem heftigen Gewitter. Grelle lila Blitze zuckten von Wolke zu Wolke und schlugen immer wieder irgendwo in den Hügeln ein, so daß der eine oder andere hohe Mena in waberndem elektrischen Feuer zerbarst. Gegen Mittag zog sich das Gewitter in die Hügel zurück und blieb dort grollend hängen. Die Tanchinaros kamen als erste aufs Feld und wurden einer begeisterten Menge von sechzehntausend Zuschauern vorgestellt: »Die streitbaren und unbarmherzigen Tanchinaros vom Hussade-Verein Saurkash, der Verteidigung der Ehre ihrer Sheirl verschworen, der der lieblichen Duissane! In der Mannschaft kämpfen Spieler wie der Kapitän Denzel Warhound, die Stürmer Tyran Lucho und Glinnes Hulden, die Außenstürmer Yalden Wirp und Ervil Sarvat, die Wächter...« Und so weiter die Aufstellungsliste herunter. »Und jetzt erscheinen auf dem Platz die jungen, zu allem entschlossenen Gorgonen in ihren 18
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prachtvollen Dressen in Schwarz und Gold, unter der geschickten Führung des Kapitäns Thammas Lord Gensifer, die die Würde ihrer entzückenden Sheirl Arelmra mit allen Kräften verteidigen werden. Die Mittelstürmer sind...« Genau wie Glinnes erwartet hatte, brachte Lord Gensifer eine gänzlich andere Mannschaft ins Spiel, die mit den von den Tanchinaros bereits besiegten Gorgonen nichts gemein hatte. Diese neuen Gorgonen verrieten Sicherheit und Erfahrung und waren sichtlich an Siege gewohnt. Soweit Glinnes sah, war nur ein Mann ein Einheimischer: der Kapitän Lord Gensifer. Sein Plan war natürlich klar – er beabsichtigte, relativ einfach und schnell zehntausend Ozols zu verdienen. Die Praktiken in der Hussade waren allgemein ziemlich freizügig; das Spiel basierte ja im wesentlichen auf Finten, Tricks, Einschüchterung, jeder Art von Bluffs und roher Kraft. Lord Gensifers kleiner Schwindel stellte also keine Verletzung des Sportsgeistes dar, obwohl er dazu führen mochte, daß der düpierte Gegner auf gewisse Anstandsregeln vergaß. Das Orchester stimmte eine Melodie an, das traditionelle Lied von Schönheit und Ruhm, als die Sheirls auf ihre Podeste geführt wurden. Arelmra, die Sheirl der Gorgonen, ein stolzes, dunkelhaariges Mädchen, besaß kaum etwas von jener warmen, mitreißenden Begeisterungsfähigkeit, die man Emblance nannte. Lord Gensifer wirkte, wie Glinnes feststellte, ruhig und zuversichtlich. Seine Siegessicherheit bekam einen ziemlichen Riß, als er die geänderte Besetzung bei Stürmer und Springer bemerkte; dann zuckte er die Achseln und lächelte in sich hinein.
Die Mannschaften stellten sich auf. Hörner, Trommeln und Flöten ließen das mitreißende Siegt für die Sheirls erschallen. Die Kapitäne trafen sich auf dem Mittelsteg mit dem Schiedsrichter. Denzel Warhound benutzte die Gelegenheit, um festzustellen: »Lord Gensifer, Ihr Team strotzt von fremden Gesichtern. Sind das alles Einheimische?« »Wir sind alle Bürger von Alastor. Wir sind doch alle Einheimische, alle fünf Milliarden«, entgegnete Lord Gensifer großzügig. »Und Ihre Mannschaft? Stammen alle aus Saurkash?« »Aus Saurkash und der Umgebung.« Der Schiedsrichter warf den Stab. Die Gorgonen gewannen das grüne Licht, und das Spiel begann. Lord Gensifer rief ein Manöver auf, und die Gorgonen setzten sich gewandt, selbstsicher und angriffslustig in Bewegung. Die Tanchinaros wußten sofort, daß sie einer Mannschaft von sehr hohem Können gegenüberstanden. Die Gorgonen fintierten auf die rechte Seite der Tanchinaros und schwenkten dann zu einem brutalen Vorstoß nach links. Massige Gestalten in Schwarz und Gelb mit schauerlich grinsenden Masken stürmten gegen Silber und Schwarz an. Die linke Seite der Tanchinaros gab nur soweit nach, daß eine Gruppe von Gorgonen umzingelt und gegen den Graben abgedrängt werden konnte. Das Licht wechselte auf Rot. Warhound versuchte, zwei weit vorgestoßene Gorgonen in die Zange zu nehmen, aber die Springer der Gorgonen schwangen heran und schlugen eine Bresche zum Rückzug. Rasch und flüssig wechselten die Formationen, Angriffsmuster bildeten sich und
lösten sich auf, setzten erst den einen, dann den anderen Spieler unter Druck. Nach etwa zehn Minuten, in denen keinerlei Entscheidungen gefallen waren, wagte sich Lord Gensifer unvorsichtigerweise aus dem Schutz seiner Hange. Glinnes setzte über den Graben, attackierte Lord Gensifer und warf ihn ins Wasser. Lord Gensifer tauchte naß und wütend wieder auf, und genau darauf hatte es Glinnes angelegt: die Gorgonen gerieten nun durch seine hitzigen Anweisungen ins Hintertreffen. Die Tanchinaros ließen unvermutet einen blitzschnellen Zentrumsangriff vom Stapel – ein Vorstoß von klassischer Einfachheit, und Ervil Savat schwang sich aufs Podest und ergriff Arelmras Ring. Ihre edlen Züge verzerrten sich entrüstet; sie hatte offensichtlich nicht im mindesten mit einer so leichten Eroberung ihrer Festung gerechnet. Lord Gensifer bezahlte mit steinerner Miene fünftausend Ozols, und der Schiedsrichter setzte eine Pause von fünf Minuten an. Die Tanchinaros berieten sich. »Tammi kocht vor Wut«, sagte Lucho. »So hat er sich die Sache nicht vorgestellt.« »Tunken wir ihn doch nochmal ein«, schlug Warhound vor. »Genau daran dachte ich auch. Die Mannschaft ist ausgezeichnet, aber durch Tammi können wir den Burschen beikommen.« »Aber unauffällig!« warnte Glinnes. »Sie dürfen nicht merken, was wir vorhaben! Laßt Tammi auf jeden Fall baden gehn, aber so, daß es ganz zufällig wirkt.« Das Spiel wurde fortgesetzt. Lord Gensifer begab
sich zorndräuend auf seinen Platz, und die Gorgonen wurden anscheinend von seiner Wut angesteckt. Hin und her liefen die Wellen von Angriff und Gegenangriff, behende, rasche Manöver. Beim roten Licht ließ Warhound seinen rechten Flügel vorstürmen – aber plötzlich schwenkten die Spieler nach innen und gerieten an Lord Gensifer, der vergeblich versuchte, zu seiner Hange zurückzukommen: er wurde abgefangen und in den Tank befördert. Einen Augenblick lang hatten die Tanchinaro-Stürmer freie Bahn nach vorne, und Warhound rief zum Generalangriff. Lord Gensifer kletterte wutschillernden Blicks die Leiter herauf, gerade rechtzeitig, um eine zweite Prämie zu zahlen, womit seine zehntausend Ozols dahin waren. Die Tanchinaros versammelten sich und berieten nachdenklich. Warhound rief zum Schiedsrichter hinüber: »Wie nennt sich diese andere Mannschaft normalerweise?« »Wußtet ihr das nicht? Das sind die Stilette vom Planeten Rufus, die auf Meisterschaftstournee sind. Ihr spielt heute gegen eine gute Mannschaft. Sie haben bereits die Skorpione von Port Angel geschlagen und die Ungläubigen von Jonus – unter ihrem eigenen Kapitän, selbstredend.« »Na schön«, meinte Lucho großmütig, »dann wollen wir ihnen ein ausgiebiges Bad verschaffen, damit sie nicht übermütig werden. Warum sollte nur der arme Tammi allein baden gehen?« »Bravo! Wir werden sie gründlich gewaschen nach Rufus heimschicken!« Rotes Licht. Die Tanchinaros setzten über den Graben und stießen auf die zur Großen Barrikade formierten Gorgonen. Mit zwei gewonnenen Partien
konnten die Tanchinaro-Wächter es sich leisten, etwas kühner als sonst zu spielen. Sie rückten ebenfalls bis zum Graben vor, setzten über – ein Manöver, das eine fast beleidigende Mißachtung für die Angriffsqualitäten des Gegners bewies. Eine plötzliche Konzentration der Kräfte, ein blitzartiger Schlagabtausch, und Gorgonen wie Tachinaros platschten in das Bekken. Auf den Zügen und Brücken focht Gelb-Schwarz gegen Silber-Blau-Schwarz; Metallfänge blitzten, monströse schwarze Rachen ließen rote Zungen baumeln. Spieler schwankten, stürzten; die heiseren Schreie der Kapitäne gingen fast im Lärm der Menge und in der aufbrausenden Musik unter. Arelmra preßte die Hände gegen die Brust. Ihre hoheitsvolle Selbstsicherheit war verschwunden; es schien, als ob sie weinte und stöhnte, obwohl ihre Stimme in dem Getöse nicht zu hören war. Die Tanchinaro-Wächter drangen wie ein Panzerkeil durch die Barrikade der Gorgonen, Warhound ließ seine Hange stehen, sprang an dem Getümmel vorbei und ergriff den Goldring. Das weiße Gewand flatterte zu Boden; Arelmra stand nackt da, während leidenschaftliche Musik die Niederlage der Gorgonen und die tragische Demütigung ihrer Sheirl feierte. Lord Gensifer brachte ihr einen Umhang und geleitete sie vom Platz, gefolgt von den niedergeschlagenen Gorgonen. Duissane wurde von jubelnden Tanchinaros aufgehoben und zum Podest der Gorgonen getragen, während die Kapelle Glänzende Triumphe spielte. Von Freude überwältigt, warf Duissane die Arme hoch und lachte und weinte in einem Atem, umarmte und küßte die Tanchinaros, bis sie zu Glinnes kam – und da wich sie zurück und
verließ fluchtartig den Platz. Die Tanchinaros versammelten sich schließlich im Magischen Fisch, um die Glückwünsche ihrer Freunde und Anhänger entgegenzunehmen. »Noch nie gab's eine Mannschaft mit so viel Einsatz und Schlagkraft und Finesse!« »Die Tanchinaros werden Saurkash berühmt machen! Denkt bloß daran!« »Was wohl Lord Gensifer jetzt mit seinen Gorgonen anfangen wird?« »Vielleicht wird er die Tanchinaros mit den Solelamut-Satansbraten oder den Falifoniken vom Grünen Stern herausfordern.« »Ich würde jedenfalls auf die Tanchinaros setzen.« »Tanchinaros!« rief Perinda. »Ich komme eben vom Telefon. Wir könnten in vierzehn Tagen ein Fünfzehntausend-Ozol-Match bekommen – wenn wir nur wollen.« »Natürlich wollen wir! Gegen wen?« »Die Karpouns von Vertrice.« Im Gastgarten wurde es still. Die Karpouns wurden zu den fünf besten Teams von Trullion gezählt. »Sie wissen nichts von den Tanchinaros, außer, daß wir ein paar Spiele gewonnen haben«, sagte Perinda. »Ich glaube, sie rechnen mit leichtverdienten fünfzehntausend Ozols.« »Gierige Hunde.« »Wir sind genauso gierig – vielleicht mehr.« »Wir würden in Welgen spielen«, fuhr Perinda fort. »Zusätzlich zur Prämie würden wir – falls wir gewinnen – ein Fünftel vom Kartenverkauf bekommen. Es ist durchaus möglich, daß wir nahezu vierzigtau-
send Ozols mit nach Hause nehmen – rund dreitausend pro Mann.« »Wirklich nicht schlecht für einen Nachmittagsverdienst!« »Soviel kriegen wir nur, wenn wir gewinnen.« »Für dreitausend Ozols spiele ich allein und gewinne.« »Die Karpouns«, sagte Perinde, »sind eine unbezweifelbar erstklassige Mannschaft. Sie haben achtundzwanzig Spiele hintereinander in allen Partien gewonnen, und ihre Sheirl ist nie berührt worden. Was die Tanchinaros betrifft – nun, ich glaube nicht, daß jemand weiß, wie gut wir wirklich sind. Die heutigen Gorgonen waren ein sehr gutes Team, das durch einen ungeschickten Kapitän behindert wurde. Die Karpouns sind ebensogut oder besser, deshalb ist es durchaus möglich, daß wir unser Geld verlieren. Also – was meint ihr? Sollen wir gegen sie antreten?« »Wenn ich Aussicht auf dreitausend Ozols habe, trete ich gegen eine Mannschaft von wirklichen Karpouns19 an.«
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KAPITEL 15 Das Stadion von Welgen, das größte der Präfektur Jolany, war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Adel aus den Präfekturen Jolany, Minch, Straveny und Gulkin hatte sich die Sitze in den vier Logenpavillons gesichert. Dreißigtausend gewöhnliche Leute füllten die Bänke der unüberdachten Tribünen. Von Vertrice, dreihundert Meilen im Westen gelegen, war eine beträchtliche Schar Schlachtenbummler erschienen. Sie hatten sich in einem mit Grün und Orange geschmückten Tribünenabschnitt versammelt. Über ihnen hingen achtundzwanzig orangefarbene und grüne Wimpel, die in den Farben der Mannschaft ihre achtundzwanzig aufeinanderfolgenden Siege verkündeten. Eine Stunde lang spielte die Kapelle schon traditionelle Hussade-Musik; die Siegeshymnen von einem Dutzend berühmter Teams, alte Klage- und Triumphlieder; den Schlachtgesang der Miraksier, bei dem es einen kalt überlief; die zauberhafte, traurig-süße Melodie Stimmungen der Sheirl Hralce; und dann, fünf Minuten vor Spielbeginn, das Ruhmeslied Vergessener Helden. Die Tanchinaros zogen auf dem Platz ein und stellten sich beim östlichen Podest auf, die Helme mit den silbernen Masken noch zurückgeschoben. Einen Augenblick später erschienen die Karpouns beim westlichen Podest. Sie trugen dunkelgrüne Leibchen und grün und orange gestreifte Hosen; wie die Tanchinaros hatten sie die Masken noch nach hinten gerückt. Über den Platz hinweg musterten sich die
Spieler gespannt. Jehan Aud, der Kapitän der Karpouns, Veteran von tausend Spielen, war als genialer Taktiker bekannt; kein Detail entging ihm; für jede Variation wußte er instinktiv das beste Gegenmanöver. Denzel Warhound war dagegen jung, erfinderisch und schnell. Aud besaß die Sicherheit des erfahrenen Spielers; Warhound sprudelte über vor vielfältigen Tricks und Listen. Beide Männer waren zuversichtlich. Die Karpouns hatten den Vorteil eines langen Bestehens. Die Tanchinaros waren ein junges Team, brachten aber dafür Schwung, Vitalität und Kraft mit, Eigenschaften, die gerade in diesem Spiel sehr viel wert waren. Die Karpouns wußten, daß sie gewinnen würden. Die Tanchinaros wußten, daß die Karpouns verlieren würden. Die Mannschaften warteten, während die Kapelle Thresildama spielte, die traditionelle Begrüßung der Wettkämpfer. Nun erschienen die Kapitäne mit den Sheirls, und die Musiker spielten das Lied von Schönheit und Ruhm. Die Sheirl der Karpouns war ein zauberhaftes Wesen namens Farero, eine Blondine mit blitzenden Augen, erfüllt von Sashei. Durch irgendeinen geheimnisvollen Vorgang wurde sie, als sie das Podest bestieg, zu einer goldenen, jungfräulichen Göttin, zum Archetyp der Sheirl. Auch Duissane schien ihr Alltagswesen abzustreifen; ihre wilde und doch zarte Schönheit, ihr unbezähmbarer Mut, ihre unbestimmte Sehnsucht verliehen ihr charakteristisches Sashei von nicht geringerem Feuer als das der göttlichen Farero. Die Spieler zogen ihre Masken übers Gesicht; die silberglitzernden Tanchinaros konfrontierten die Karpouns mit ihren grausamen Raubtiergesichtern.
Die Karpouns gewannen das grüne Licht und damit die erste Aktivphase. Die Spieler gingen an ihre Plätze. Die Musik veränderte sich, sämtliche Instrumente vereinigten sich zu einer letzten Harmonie, einem goldenen Klanggewebe, das unvermittelt abriß. Totenstille. Vierzigtausend Zuschauer hielten den Atem an. Grünes Licht. Die Karpouns stürmten mit ihrer berühmten ›Flutwelle‹ vor, die darauf ausgelegt war, die Tanchinaros zu überrennen und zu erdrücken, bevor sie Zeit zur Gegenwehr fanden. Die Stürmer setzten über den Graben, die Springer folgten, und gleich hinter ihnen kamen die Wächter mit der Gewalt von Rammböcken, um jeden Widerstand hinwegzufegen. Die Tanchinaros waren auf eine solche Taktik vorbereitet. Anstatt zurückzuweichen, stürmten die vier Wächter vor, und die Mannschaften prallten aufeinander wie zwei wildgewordene Büffelherden. Das darauffolgende Kampfgetümmel brachte keiner Seite Vorteile. Ein paar Minuten später brach Glinnes aus dem Durcheinander aus und schaffte es auf das Podest. Er blickte der Sheirl der Karpouns voll ins Gesicht und ergriff ihren Ring. Sie war blaß vor Aufregung und Bestürzung; noch nie zuvor hatte ein Gegner ihren Ring berührt. Der Gong ertönte; Jehan Aud trennte sich etwas widerstrebend von acht Tausend-Ozol-Scheinen. Nun wurde eine kurze Pause eingelegt. Fünf Tanchinaros waren eingetunkt worden und ebensoviele Karpouns; in dieser Beziehung standen die Mannschaften gleich. Warhound triumphierte. »Sie sind gut, keine Frage! Aber unsere Wächter sind unüberwindbar, und unse-
re Stürmer sind schneller! Nur bei den Springern sind sie uns überlegen, und auch da nicht sehr!« »Womit werden sie es jetzt versuchen?« fragte Glinnes. »Ich glaube, es kommt nochmals das gleiche«, sagte Warhound. »Nur mit mehr Methode. Sie wollen unsere Stürmer festnageln und danach den Rest der Mannschaft niederrennen.« Das Spiel wurde fortgesetzt. Aud ließ seine Männer immer wieder vorstoßen und fintieren, eine alte Zermürbungstaktik, mit der der Gegner aus der Reserve gelockt werden sollte – er hoffte, auf diese Weise den einen oder anderen Stürmer zu erwischen. Warhound war jedoch zu gerissen, um diesen Plan nicht zu durchschauen, hielt sich bewußt zurück und gewann schließlich die Geduldsprobe gegen Aud. Unvermittelt versuchten die Karpouns einen Vorstoß in der Mitte; die Tanchinaro-Stürmer wichen jedoch seitwärts aus und setzten über den Graben. Lucho erreichte das Podest und ergriff Fareros Ring. Siebentausend Ozols waren diesmal die Löseprämie. Warhound hämmerte seinen Leuten ein: »Nur jetzt nicht nachlassen! Jetzt sind sie am gefährlichsten! Sie haben ihre achtundzwanzig Spiele ja nicht durch Glück gewonnen. Ich rechne mit einer ›Flutwelle‹, und zwar einer gewaltigen.« Warhound hatte recht. Die Karpouns bestürmten die Verteidigungslinien der Tanchinaros mit allen Kräften. Glinnes mußte ins Wasser; Sladine und Wilmer Guff gingen ebenfalls baden. Glinnes kam gerade rechtzeitig die Leiter herauf, um einen KarpounAußenstürmer keine drei Meter vom Podest entfernt
ins Wasser zu befördern; dann wurde er zum zweitenmal eingetunkt, und bevor er aufs Spielfeld zurückkehren konnte, ertönte der Gong. Zum erstenmal hatte Duissane die Hand eines Gegners an ihrem goldenen Ring gefühlt. Wütend zahlte Warhound achttausend Ozols zurück. Glinnes hatte nie ein anstrengenderes Match erlebt. Die Karpouns schienen unerschöpfliche Kräfte zu besitzen; sie sprangen über die Gräben, schwangen hin und her und rasten das Feld entlang, als hätte das Spiel eben erst begonnen. Er konnte nicht wissen, daß den Karpouns ihrerseits die Tanchinaro-Stürmer längst als schwarz-silberne, unnatürlich behende Teufel vorkamen, die wie ein Sturmwind dahinbrausten, während die Tanchinaro-Wächter wie bedrohliche Ungeheuer vor ihrem Podest patrouillierten – eine scheinbar unüberwindliche Barriere. Hin und her wogte der Kampf; Meter um Meter arbeiteten sich die Tanchinaros zum Podest der Karpouns vor, unbarmherzig, tückisch, jede Chance nutzend. Das Gebrüll der Menge wurde in den Hintergrund des Bewußtseins verdrängt; die Realität bestand nur mehr aus dem Feld, den Wegen und Brükken, den glitzernden Wasserbecken. Einen Augenblick schob sich eine dunkle Wolke vor die Sonne. Fast im gleichen Moment entdeckte Glinnes eine Lücke in der Barriere von Orange und Grün. Eine Falle? Mit der letzten Energie, die er noch in den Beinen hatte, stürmte er vorwärts, vorbei, hindurch. Orange-grüne Schemen brüllten heiser auf; die Masken der Karpouns, anfangs so einschüchternd, wirkten wie schmerzlich verzerrt. Glinnes schwang sich auf das Podest und griff nach dem Goldring auf Fa-
reros Brust – jetzt mußte er daran ziehen, mußte das blauäugige Mädchen den Blicken vierzigtausend tobender Menschen preisgeben. Die Musik dröhnte trauervoll und gemessen; Glinnes' Hand zuckte zurück, zögerte; er wagte es nicht, diese goldene Göttin zu erniedrigen. Die dunkle Wolke war keine Wolke. Drei schwarze Schiffe senkten sich auf den Platz herunter, verdunkelten das Licht des Nachmittags. Die Musik brach ab; aus den Lautsprechern kam ein entsetzter Schrei: »Starmenter! Nehmt...« Die Stimme ging in ein unverständliches Gurgeln über, und eine andere, harte Stimme rief: »Bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Keiner bewegt sich vom Fleck!« Glinnes kümmerte sich nicht darum, sondern packte Farero am Arm und zerrte sie vom Podest und die Leiter hinunter, die in das Becken unter dem Spielfeld führte. »Was machst du da?« keuchte sie, vor ihm zurückschreckend. »Ich versuche, dir das Leben zu retten«, sagte Glinnes schroff. »Die Starmenter würden dich gewiß nicht zurücklassen, und du würdest deine Heimat nie wiedersehen.« Mit zitternder Stimme fragte sie: »Sind wir hier unten sicher?« »Das glaube ich nicht. Wir fliehen durch den Abflußgraben. Schnell – er ist auf der anderen Seite.« So rasch es möglich war, platschten sie durch das Wasser, unter den Brücken durch, über den Mittelgraben, und weiter. Jetzt kam Duissane die andere Leiter heruntergeklettert, mit weißem, angstverzerrtem Gesicht. Glinnes rief ihr zu: »Komm mit – wir wollen
durch den Abfluß hinaus; vielleicht bewachen sie den nicht.« An der Ecke des großen Beckens floß das Wasser über eine steile Rinne in einen kleinen Bach ab. Glinnes rutschte die Rinne hinunter und sprang auf eine stinkende, schmale Schlammbank. Als nächstes kam Duissane herunter, das weiße Gewand fest an sich gepreßt. Glinnes zog sie herüber auf den Schlammstreifen; sie rutschte aus und setzte sich mit einem Platsch in den Morast. Glinnes konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Das hast du absichtlich getan«, rief sie mit schwankender Stimme. »Hab ich nicht!« »Hast du!« »Wie du meinst.« Farero kam die Rinne heruntergeschlittert; Glinnes fing sie auf und half ihr auf die Schlammbank herüber. Duissane kam mühsam auf die Füße. Zögernd besahen sich die drei den Kanal, der unter einem dichten Blätterdach von Stillbeerbüschen und Kernweiden träge dahinfloß. Das Wasser war dunkel und schien tief zu sein; ein leichter Merling-Geruch hing in der Luft. Schwimmen oder auch nur Waten war unmöglich. Auf der anderen Seite des Abflusses war jedoch ein primitives kleines Boot angebunden, vermutlich Eigentum von ein paar Jungen, die sich durch den Abfluß Zutritt ins Stadion verschafft hatten, ohne zu zahlen. Glinnes kletterte über die Rinne zu dem Boot; es war halb vollgelaufen und schwankte bedenklich unter seinem Gewicht. Er schöpfte etliche Liter aus, wagte dann aber nicht, sich noch länger damit aufzuhalten. Er stieß das Boot über den Graben, Duissane
stieg ein, dann Farero, worauf das Wasser fast bis zum Dollbord stieg. Glinnes reichte Duissane den Schöpfeimer; mürrisch machte sie sich an die Arbeit. Glinnes paddelte vorsichtig den Kanal hinaus. Hinter ihnen, oben im Stadion, dröhnten die Lautsprecher: »Alle Personen in den Pavillons A, B, C und D begeben sich zu den Südausgängen. Nicht jeder wird mitgenommen; wir haben eine genaue Liste jener Personen, die wir haben wollen. Beeilen Sie sich und machen Sie keine Schwierigkeiten! Wir werden jeden töten, der uns behindert.« Es ist so unwirklich! dachte Glinnes. Eine phantastische Lawine von Ereignissen – Farben, Musik, Spannung, Kampf, Leidenschaft, Sieg – und jetzt Schrecken und Flucht mit zwei Sheirls. Die eine haßte ihn. Die andere, Farero, musterte ihn von der Seite her aus ihren meerblauen Augen. Nun nahm sie Duissane, die sich verdrossen den Schlamm von ihrem Kleid zu kratzen begann, den Schöpfeimer ab. Wie verschieden die beiden waren, überlegte Glinnes: Farero hatte sich bedrückt, aber einigermaßen ruhig in ihr Schicksal ergeben – vermutlich war ihr die Flucht durch den Abflußkanal immer noch lieber als die Entblößung auf dem Podest. Duissane dagegen grollte offensichtlich über die kleinste Unannehmlichkeit und schien Glinnes persönlich für alle Widrigkeiten verantwortlich zu machen. Der Kanal machte einen hohen Bogen. Hundert Meter voraus glänzte der Sund von Welgen; jenseits davon begann der südliche Ozean. Glinnes paddelte jetzt zuversichtlicher – den Starmentern waren sie entkommen. Ein großangelegter Überfall! Und zweifellos seit langem für genau den Tag geplant, an dem
alle reichen Leute der Präfektur an einem Ort versammelt waren. Sie würden eine Menge Gefangene machen, um Lösegeld zu erpressen, und hübsche Mädchen zur Kurzweil mitnehmen. Die Ausgelösten würden bedrückt und bankrott heimkehren, die Mädchen würde man nie wieder sehen. Der Tresor des Stadions würde eine Beute von mindestens hunderttausend Ozols liefern, die Prämienkassen der beiden Mannschaften waren für weitere dreißigtausend Ozols gut, und vielleicht würden auch die Banken von Welgen ausgeraubt werden. Der Kanal weitete sich und lief in vielen Windungen über ein breites Schlammfeld, das übersät war von den Pockennarben vieler kleiner Gaskrater. Im Osten wurde es von der Welgener Landzunge begrenzt, an deren anderer Seite sich der Hafen des Ortes anschloß. Nach Westen hin erstreckte sich die Küste flach in den Dunst des späten Nachmittags. Glinnes fühlte sich hier unter dem freien Himmel bedroht – was ganz unvernünftig war, wie er sich sagte: die Starmenter hatten jetzt gar nicht die Zeit, sie zu verfolgen, wenn sie das gebrechliche kleine Boot überhaupt bemerkten. Farero mußte unablässig Wasser schöpfen. Es drang durch mehrere Lecks ein, und Glinnes fragte sich, wie lange das Boot noch flott bleiben würde. Der schwammige, schwarze Morast rundum war jedenfalls nicht sehr einladend. Glinnes hielt auf die erste der kleinen, bewaldeten Inseln zu, die es im Sund gab, ein vielleicht fünfzig Meter von der Küste entferntes Landhügelchen. Die erste Ozeanwelle ließ das Boot schwanken und Wasser hereinschwappen. Farero schöpfte, so schnell sie konnte. Duissane half ängstlich mit den Händen.
Sie erreichten die Insel in dem Augenblick, als das Boot unter ihnen wegsank. Sehr erleichtert zerrte Glinnes es auf den schmalen Strand hinauf. Gerade als sie an Land wateten, stiegen die drei StarmenterSchiffe auf, zogen nach Süden hoch und verschwanden mit all ihrer kostbaren Ladung. Farero seufzte tief. »Ohne deine Hilfe«, sagte sie zu Glinnes, »wäre ich jetzt in einem dieser Schiffe.« »Ich wäre auch da oben – ohne meine eigene Hilfe«, giftete Duissane. Aha, dachte Glinnes, da haben wir einen Grund für ihre miserable Laune: sie fühlte sich vernachlässigt. Duissane kletterte den Strand hinauf: »Und was fangen wir hier draußen an?« »Früher oder später kommt sicher jemand vorbei. Bis dahin müssen wir warten.« »Ich will aber nicht warten«, erklärte Duissane. »Wenn das Boot ausgeschöpft ist, können wir doch zur Küste zurückrudern. Müssen wir hier frierend auf diesem elenden Fleckchen Land hocken?« »Was schlägst du statt dessen vor? Das Boot leckt, und das Wasser hier wimmelt von Merlingen. Aber vielleicht kann ich die Lecks flicken.« Duissane setzte sich verdrossen auf einen angeschwemmten Baumstumpf. Von Westen schossen jetzt Whelm-Schiffe heran, kreisten über der Gegend, und eines landete in Welgen. »Zu spät, viel zu spät«, sagte Glinnes. Er schöpfte das Boot aus und stopfte Moos in alle Risse, die er finden konnte. Farero kam herüber und sah ihm zu. Sie sagte: »Du warst freundlich zu mir.« Glinnes schaute zu ihr hoch. »Als du am Ring ziehen solltest, hast du gezögert.
Du wolltest mich nicht demütigen.« Glinnes nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Das ist vielleicht der Grund, warum deine Sheirl böse ist.« Glinnes warf einen Blick zu Duissane hinüber, die finster aufs Wasser hinausstarrte. »Sie ist selten gut gelaunt.« Farero sagte nachdenklich: »Sheirl zu sein ist ein eigenartiges Erlebnis; man empfindet die seltsamsten Dinge... Ich habe heute verloren, aber die Starmenter retteten mich vor der Schande. Vielleicht fühlt sie sich betrogen.« »Sie kann froh sein, hier und nicht in einem der Schiffe zu sein.« »Ich glaube, sie ist verliebt in dich und eifersüchtig auf mich.« Glinnes blickte erstaunt auf. »Verliebt in mich?« Er warf wieder einen unauffälligen Blick zu Duissane hinüber. »Du irrst dich. Sie haßt mich, dafür habe ich genug Beweise.« »Das mag sein. Ich kenne mich in diesen Dingen nicht so aus.« Glinnes erhob sich vor seinem Werk und musterte das Boot recht unzufrieden. »Ich traue diesem Moos nicht – besonders, wo jetzt der Avness-Wind von Land her aufkommt.« »Nun, wir haben doch wenigstens trockenen Boden unter den Füßen. Eine Weile können wir es schon so aushalten – obwohl meine Familie sich Sorgen machen wird. Ich habe auch Hunger.« »Wir können am Strand allerhand Eßbares finden«, sagte Glinnes. »Wir könnten uns ein prima Nacht-
mahl zubereiten, nur haben wir kein Feuer. Aber wenigstens wächst dort drüben ein Pisangbaum.« Glinnes kletterte auf den Baum und warf Farero etliche reife Früchte hinunter. Als sie an den Strand zurückkamen, waren Duissane und das Boot fort. Sie war bereits fünfzig Meter weit draußen und paddelte auf den Kanal zu, durch den sie das Stadion verlassen hatten. Glinnes lachte sarkastisch auf. »Sie ist so verliebt in mich und so eifersüchtig auf dich, daß sie uns beide hier allein zurückläßt.« Farero errötete und meinte: »Auch das ist möglich.« Eine Zeitlang beobachteten sie das Boot. Der Landwind machte Duissane ziemlich zu schaffen. Sie hörte immer wieder zu rudern auf und schöpfte Wasser; das Moos dichtete offenbar die lecken Stellen nicht ab. Als sie wieder zu paddeln anfangen wollte, geriet das Boot ins Schwanken, und als sie sich am Dollbord festhielt, verlor sie das Paddel. Der vom Land kommende Wind trieb sie wieder hinaus, an der Insel vorbei von der aus Glinnes und Farero ihr nachschauten. Duissane würdigte sie keines Blickes. Glinnes und Farero kletterten auf die Kuppe der Insel und sahen dem sich immer weiter entfernenden Boot nach. Es war zu befürchten, daß Duissane aufs offene Meer hinausgetrieben würde. Nach einer Weile kam das Boot zwischen den Inseln außer Sicht. Die beiden kehrten zum Strand zurück. Glinnes sagte: »Wenn wir nun ein Feuer hätten, könnten wir es uns ganz gemütlich machen, zumindest für einen Tag oder so. Aber ich habe nicht viel übrig für rohe Meeresfrüchte.« »Ich auch nicht«, sagte Farero.
Glinnes fand zwei trockene Hölzchen und versuchte damit Feuer zu reiben, allerdings ohne Erfolg. Ärgerlich warf er sie weg. »Die Nächte sind zwar warm, aber ein Feuer ist doch angenehm.« Farero schaute hierhin und dorthin, nur nicht Glinnes ins Gesicht. »Glaubst du denn, daß wir so lange hier sein werden?« »Wir können erst fort, wenn ein anderes Boot vorbeikommt. Das kann in einer Stunde sein, aber auch in einer Woche.« Leise und stockend fragte Farero: »Und wirst du mich lieben wollen?« Glinnes studierte sie einige Augenblicke lang, dann streckte er die Hand aus und berührte sachte ihr Haar. »Du bist schöner, als Worte es beschreiben könnten. Ich würde mich freuen, dein erster Liebhaber zu werden.« Farero wandte den Blick ab. »Wir sind allein... Meine Mannschaft wurde heute besiegt, und ich werde nie mehr Sheirl sein. Aber...« Sie brach ab und zeigte hinaus und sagte leise und tonlos: »Dort fährt ein Boot.« Glinnes zögerte. Farero rührte sich nicht. Glinnes sagte widerstrebend: »Wir müssen etwas unternehmen wegen dieser närrischen Duissane und ihrem Boot.« Er trat ans Ufer und rief laut. Das Boot, eine Motorzille, in der ein einzelner Fischer saß, änderte den Kurs, und wenige Minuten später waren Glinnes und Farero an Bord. Der Fischer war vom Meer hereingekommen und hatte kein treibendes Paddelboot gesehen; höchstwahrscheinlich war Duissane auf einer der kleinen Inseln an Land gegangen. Der Fischer steuerte sein Boot um die Landspitze
herum und in den Hafen von Welgen. Farero und Glinnes fuhren mit einem Taxi zum Stadion. Der Fahrer hatte eine Menge über den Überfall der Starmenter zu berichten. »... noch nie so etwas gegeben! Sie nahmen dreihundert der reichsten Leute der Gegend mit und mindestens hundert Mädchen, arme Dinger – die werden nicht für Lösegeld freigelassen. Der Whelm kam wieder einmal zu spät. Die Starmenter wußten genau, wen sie mitnehmen mußten und wer uninteressant für sie war. Die Aktion war auf die Sekunde genau geplant: nach kaum einer Viertelstunde waren sie wieder weg. Sie werden ein Vermögen an Lösegeldern einnehmen!« Im Stadion verabschiedete sich Glinnes mit einigem Bedauern von Farero. Er rannte zur Umkleidekabine, zog seinen Tanchinaro-Dreß aus und seine Alltagskleider wieder an. Das Taxi brachte ihn zurück zum Hafen, wo Glinnes ein kleines, wendiges Motorboot mietete. Er fuhr um die Landspitze herum und in den Welgener Sund. Das blasse Avness-Licht überzog Himmel, Meer, Inseln und Küste mit einem milchigen Schleier, der die Farben dämpfte und undefinierbar machte. Es herrschte eine beinahe übernatürliche Stille; das Gurgeln des Wassers unter dem Kiel wirkte fast störend. Er fuhr an der Insel vorbei, auf der er zuvor mit Farero und Duissane gelandet war, und noch weiter hinaus in die Richtung, in die das Boot getrieben war. Er umkreiste die ersten paar Inselchen, fand aber weder eine Spur von Duissane noch vom Boot. Die nächsten drei Inseln waren ebenfalls leer. Hinter den letzten drei Inseln, die er noch absuchen wollte, begann das Meer, eine ruhige, weite, leere Fläche. Auf
der zweiten dieser Inseln erspähte er jedoch eine schlanke Gestalt in einem weißen Gewand, die heftig winkte. Als Duissane den Mann im Boot erkennen konnte, hörte sie abrupt mit dem Winken auf. Glinnes sprang an Land und zog das Boot ein Stück aufs Ufer hinauf. Er machte die Bugleine an einer dicken, krummen Luftwurzel fest und schaute sich um. Der flache Streifen des Festlandes war in dem unsicheren Licht kaum mehr zu erkennen. Eine langsame, träge Dünung wellte das Wasser – es sah aus, als wäre das Meer von einem schweren, schimmernden Seidentuch bedeckt. Glinnes warf Duissane einen Blick zu. Sie hatte noch kein Wort gesagt. »Welch friedlicher Ort. Ich glaube nicht, daß selbst die Merlinge soweit herausschwimmen.« Duissane schaute zum Boot. »Wenn du gekommen bist, um mich abzuholen: ich bin fertig.« »Wir haben keine Eile«, meinte Glinnes. »Überhaupt keine. Ich habe Brot und Wein und Fleisch mitgebracht. Wir können Pisangs dünsten und Quorls20 und vielleicht erwischen wir auch einen Curset21. Wir wollen ein Picknick veranstalten, bis die Sterne herauskommen.« Duissane preßte störrisch die Lippen zusammen und blickte hinüber zur Küste. Glinnes trat zu ihr. Er stand jetzt nur noch eine halbe Armlänge von ihr entfernt – näher war er ihr noch nie gewesen. In ihren graugoldenen Augen glaubte Glinnes eine Vielfalt von Stimmungen und Gefühlen zu lesen. Er beugte 20 21
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den Kopf zu ihr hinunter, legte einen Arm um ihre Schultern und küßte sie auf die Lippen, die jedoch teilnahmslos und kalt blieben. Sie stieß ihn weg und schien plötzlich wieder Gewalt über ihre Stimme zu erlangen. »Ihr seid doch alle gleich, ihr Trills! Ihr stinkt nach Cauch, und euer Hirn ist eine einzige geile Drüse. Kennt ihr nur Zügellosigkeit? Habt ihr keine Würde, keine Selbstachtung?« Glinnes lachte. »Hast du Hunger?« »Nein. Ich habe eine Verabredung zum Abendessen und werde zu spät kommen, wenn wir nicht sofort aufbrechen.« »Tatsächlich – hast du deshalb das Boot gestohlen?« »Ich habe gar nichts gestohlen. Das Boot war genauso meins wie eures. Du schienst ohnehin für nichts Interesse zu haben als für dieses langweilige Karpoun-Mädchen. Es wundert mich, daß du sie nicht noch immer anglotzt.« »Sie hatte Sorge, daß du gekränkt sein könntest.« Duissane zog die Brauen hoch. »Warum sollte ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden, was du tust? Ihre Besorgnis beleidigt mich.« »Es ist wohl nicht weiter wichtig«, sagte Glinnes. »Wie wäre es, wenn du etwas Brennholz sammelst, während ich einige Pisangs hole?« Duissane machte schon den Mund auf, um sich zu weigern, fand aber dann, daß sie sich damit nur ins eigene Fleisch schnitte. Sie suchte ein paar dürre Zweige zusammen, die sie hochmütig auf den Sand warf. Sie musterte immer wieder das Boot, aber es war sehr weit auf den Strand heraufgezogen, so daß
sie es kaum ins Wasser gebracht hätte. Außerdem war der Zündschlüssel vom Motor abgezogen. Glinnes brachte die Pisangfrüchte, zündete ein Feuer an, grub vier prächtige Quorls aus, putzte und wusch sie im Meer und legte sie zu den Pisangs zum Rösten. Er holte Brot und Fleisch aus dem Boot und breitete ein Tuch auf dem Sand aus. Duissane beobachtete ihn aus einiger Entfernung. Glinnes öffnete die Weinflasche und hielt sie Duissane hin. »Ich mag keinen Wein trinken.« »Hast du die Absicht, etwas zu essen?« Duissane fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Und was hast du dann vor?« »Wir werden es uns auf dem Strand gemütlich machen und die Sterne ansehen, und vielleicht finden wir sonst noch etwas zu tun?« »Oh – du bist doch ein gemeiner Schuft! Ich will nichts mit dir zu tun haben! Lüstern und zügellos, wie alle Trills!« »Na, jedenfalls bin ich nicht schlimmer als alle anderen. Setz dich. Wir wollen essen und dem Sonnenuntergang zuschauen.« »Ich bin hungrig, deshalb werde ich mit dir essen«, sagte Duissane. »Dann müssen wir zurückfahren. Du weißt, was die Trevanyi von wahlloser Liebelei halten. Außerdem darfst du nicht vergessen, daß ich die Sheirl der Tanchinaros und eine Jungfrau bin!« Glinnes deutete durch eine Geste an, daß ihn diese Erwägungen kalt ließen. »Es gibt immer Veränderungen im Leben, bei uns allen.« Duissane erstarrte vor Empörung. »So willst du also die Sheirl deiner Mannschaft entehren? Was bist
du doch für ein schmutziger Schuft – erst solche elenden Lügen über mich verbreiten, und dann scheinheilig auf einem Beweis meiner Unberührtheit bestehen!« »Ich habe keine Lügen verbreitet«, erklärte Glinnes. »Ich habe nicht einmal die Wahrheit verbreitet – daß du und deine Familie mich ausgeraubt habt, und wie du nur gelacht hast, als ihr mich halbtot für die Merlinge liegen ließet.« Duissane entgegnete etwas unsicher: »Du hast nur bekommen, was du verdientest.« »Deinem Vater und deinen Brüdern schulde ich noch ein paar Tritte«, sagte Glinnes. »Was dich betrifft, so habe ich mich noch nicht entschieden. Iß, trink Wein, stärke dich.« »Ich habe keinen Appetit. Nicht den geringsten. Es ist einfach nicht gerecht, wie du mich behandelst.« Glinnes antwortete nicht und begann zu essen. Nach einer Weile gewann bei Duissane der Hunger die Oberhand. »Denke daran«, ermahnte sie ihn noch, »wenn du deine Drohung ausführst, hast du nicht nur mich, sondern auch alle Tanchinaros entehrt, und dich selber ebenso. Und meine Familie wird dich zur Rechenschaft ziehen, wird dich jagen bis zum Ende aller Zeiten; du wirst keinen ruhigen Augenblick mehr haben, solange du lebst. Außerdem ziehst du nur meine Verachtung auf dich. Wozu das alles? Nur um deine Lust zu befriedigen. Du kannst nicht das Wort ›Liebe‹ verwenden, wenn du doch nur auf Rache ausgehst. Die allerschäbigste Art von Rache noch dazu – als ob ich ein Tier wäre oder ein Ding ohne Gefühle. Gewiß – du kannst mich mißbrauchen oder töten, wenn du willst, aber vergiß nicht, wie sehr
mich dein Verhalten anwidert. Außerdem...« »Weib«, brüllte Glinnes, »sei so gut und halte endlich den Mund. Du hast mir den Tag verdorben und nun auch den Abend. Iß und schweig, dann fahren wir nach Welgen zurück.« Mit finsterer Miene saß Glinnes im Sand, aß Pisangs, Quorls, Fleisch und Brot, trank zwei Flaschen Wein, während Duissane ihn aus dem Augenwinkel beobachtete, einen seltsamen Ausdruck im Gesicht – halb verächtlich, halb spöttisch-nachdenklich. Als er seine Mahlzeit beendet hatte, lehnte sich Glinnes gegen eine Düne und betrachtete eine Weile den Sonnenuntergang. Jeder Farbton wiederholte sich getreu auf der Wasserfläche, nur hie und da zitterte im Schatten einer Welle eine schwarze, langgezogene Sichel. Duissane saß schweigend da, die Arme um die Knie geschlungen. Schließlich stand Glinnes auf und schob das Boot ins Wasser. Er winkte Duissane. »Steig ein.« Sie gehorchte stumm. Langsam tuckerte das Boot in den Sund hinein, um die Landspitze herum und in den Hafen von Welgen. Eine große, weiße Jacht lag am Pier; Glinnes erkannte sie als die von Lord Gensifer. Licht schimmerte aus allen Bullaugen, was auf irgendeine Gesellschaft an Bord schließen ließ. Glinnes musterte das Schiff stirnrunzelnd. Ob Lord Gensifer wirklich heute, unmittelbar nach dem Überfall der Starmenter, eine Party veranstaltete? Sonderbar. Aber das Verhalten der Aristokraten war schon immer über seine Begriffe gegangen. Zu seiner Überraschung sprang Duissane aus dem Boot und lief zur
Jacht hinüber. Sie eilte die Gangway hinauf und verschwand im Salon. Glinnes vernahm Lord Gensifers Stimme: »Duissane, meine Liebe, was in aller Welt...« Der Rest des Satzes war nicht zu verstehen. Glinnes zuckte die Achseln und brachte das Boot zum Vermieter zurück. Als er über den Pier ging, rief ihn Lord Gensifer von der Jacht an. »Glinnes! Kommen Sie doch einen kurzen Augenblick an Bord, seien Sie so nett!« Glinnes schlenderte gleichmütig über die Gangway an Deck. Lord Gensifer klopfte ihm auf die Schulter und führte ihn in den Salon. Ein gutes Dutzend modisch gekleideter Leute hatte sich versammelt, anscheinend adelige Freunde Lord Gensifers. Außerdem entdeckte Glinnes Akadie, Marucha und natürlich Duissane, die jetzt über ihrem weißen Schleiergewand einen roten Umhang trug, den ihr vermutlich eine der anwesenden Damen geliehen hatte. »Da ist unser Held!« verkündete Lord Gensifer. »Mit kühner Entschlossenheit hat er gleich zwei liebliche Sheirls vor den Starmentern gerettet. Für diesen Trost müssen wir in unserem großen Kummer dankbar sein.« Glinnes sah sich erstaunt im Salon um. Es kam ihm vor, als erlebe er einen besonders absurden Traum, Akadie, Lord Gensifer, Marucha, Duissane, er selber – eine wirklich seltsame Mischung! »Ich weiß eigentlich kaum, was alles genau passierte«, sagte Glinnes, »einmal abgesehen vom Überfall natürlich.« »Genaues weiß niemand«, sagte Akadie. Er wirkte ungewohnt still und nachdenklich und schien seine Worte mit Bedacht zu wählen. »Die Starmenter waren sich sehr sicher, wer mitnehmenswert war. Sie holten
sich genau dreihundert begüterte Leute und etwa zweihundert hübsche Mädchen außerdem. Die dreihundert sollen gegen ein Lösegeld von mindestens hunderttausend Ozols pro Kopf freigelassen werden. Für die Mädchen wurde kein Lösegeld festgesetzt, aber wir werden trotzdem versuchen, sie freizukaufen.« »Dann haben die Banditen sich bereits gemeldet?« »Ja gewiß. Sie hatten alles sehr genau geplant und kannten die finanzielle Lage jedes einzelnen.« Lord Gensifer bemerkte mit ironischer Gebärde: »Für die Zurückgelassenen bedeutet das natürlich einen schrecklichen Prestigeverlust, der uns sehr zu schaffen macht.« »Aus anscheinend gutem Grund wurde ich bestimmt, das Lösegeld einzusammeln«, fuhr Akadie fort, »wofür ich auch ein Honorar erhalten soll. Ein unerheblicher Betrag, versichere ich dir – mit fünftausend Ozols sollen meine Mühen und Unannehmlichkeiten abgegolten werden.« Glinnes hatte betroffen zugehört. »Der Gesamtbetrag des Lösegeldes wird dann also dreihundertmal hunderttausend Ozols ausmachen, und das sind...« »Dreißig Millionen Ozols – kein schlechter Verdienst für einen Nachmittag.« »Wenn sie nicht auf dem Prutanschyr enden.« Akadie verzog angewidert das Gesicht. »Ach, dieses barbarische Überbleibsel – was in aller Welt haben wir von der Folterung Verurteilter? Die Starmenter überfallen uns trotzdem immer wieder.« »Zumindest ist es eine Unterhaltung für das Volk«, sagte Lord Gensifer. »Denkt doch nur an die armen, geraubten Mädchen – zu denen beinahe meine liebe
Freundin Duissane gehört hätte!« Er legte einen Arm um Duissanes Schultern und drückte sie väterlich an sich. »Ist dafür die Sühne wirklich zu hart? Ich finde nicht.« Glinnes' Blick irrte betroffen von Lord Gensifer zu Duissane und zurück; das Mädchen schien über irgendeinen geheimen Scherz zu lächeln. War die ganze Welt übergeschnappt? Oder erlebte er wirklich einen verrückten Traum? Akadie zog gleichmütig die Brauen hoch. »Die Untaten der Starmenter sind natürlich arg. Mögen sie also dafür büßen.« Einer von Lord Gensifers Freunden erkundigte sich lächelnd: »Weiß man übrigens, welche spezielle Gruppe von Starmentern uns beehrt hat?« »Sie haben nicht versucht, anonym zu bleiben«, sagte Akadie. »Wir haben es mit Sagmondo Bandolio – Sagmondo dem Gnadenlosen – zu tun. Einem der schlimmsten dieser Banditen.« Glinnes kannte den Namen; seit langem jagte der Whelm hinter Sagmondo Bandolio her. »Bandolio ist ein übler Verbrecher«, sagte Glinnes. »Er trägt den Namen ›der Gnadenlose‹ zu Recht.« »Es wird behauptet, daß er nur zum Vergnügen Starmenter ist«, bemerkte Akadie. »Man sagt, er habe sich ein Dutzend Identitäten überall im Sternhaufen zugelegt und könne von den zusammengeraubten Reichtümern beliebig lange im Luxus leben.« Die kleine Gesellschaft schwieg betroffen. Verbrechen in solchem Maßstab war schon fast beeindrukkend. »Er muß irgendwo in der Präfektur einen Spitzel haben«, sagte Glinnes, »jemanden, der all die Aristo-
kraten gut kennt und mit ihren Vermögensverhältnissen vertraut ist.« »Es sieht ganz danach aus«, bestätigte Akadie. »Wer könnte das wohl sein?« rätselte Lord Gensifer. »Wer nur?« Und alle Anwesenden begannen über diese Frage nachzudenken, wobei jeder seine geheimen Vermutungen hatte.
KAPITEL 16 Als die Tanchinaros die Karpouns besiegten, hatten sie sich keinen guten Dienst geleistet. Da Sagmondo Bandolio und seine Starmenter das gesamte Prämiengeld geraubt hatten, war die Mannschaft bankrott, und angesichts ihrer bewiesenen Fähigkeiten fiel es Perinda sehr schwer, auch nur Tausend- oder Zweitausend-Ozol-Spiele zu arrangieren. Um ein Team der Zehntausend-Ozol-Klasse herauszufordern, fehlte einfach das Geld. Eine Woche nach dem Match gegen die Karpouns versammelten sich die Tanchinaros auf der Insel Rabendary, und Perinda erläuterte ihnen die mißliche Situation. »Ich habe nur drei Mannschaften aufgetrieben, die bereit wären, gegen uns zu spielen, und keine will ihre Sheirl um weniger als zehntausend Ozols riskieren. Noch etwas: wir haben keine Sheirl mehr. Duissane scheint das Interesse eines gewissen Lords erweckt zu haben, was natürlich von Anfang an ihr Ziel war. Jetzt legt weder sie noch Tammi Wert darauf, daß sie weiter ihre kostbare Haut der Entblößung aussetzt.« »Pah!« sagte Lucho. »Duissane hatte sowieso nie viel für Hussade übrig.« »Natürlich nicht«, meinte Warhound. »Sie ist eine Trevanyi. Habt ihr je einen Trevanyi Hussade spielen gesehen? Sie ist die erste Sheirl dieses Volkes, von der ich je gehört habe.« »Die Travanyi haben ihre eigenen speziellen Spiele«, sagte Gilweg. »Wie ›Jedem Hals seinen Dolch‹«, sagte Glinnes.
»Oder ›Räuber und Trills‹.« »Oder ›Merling, Merling, hol den Kadaver‹.« »Oder ›Fangt den Geldsack‹.« »Also, eine Sheirl finden wir immer«, sagte Perinda. »Viel mehr Sorgen bereitet uns das Geldproblem.« Glinnes erbot sich widerwillig. »Ich würde meine fünftausend Ozols rausrücken, wenn ich wüßte, daß ich sie wiederkriege.« »Ich könnte auf die eine oder andere Art etwa tausend zusammenkratzen«, sagte Warhound. »Das wären schon sechstausend«, stellte Perinda fest. »Ich würde tausend beitragen – genauer gesagt, ich kann mir tausend von meinem Vater borgen... Wer noch? Wer noch? Kommt schon, rückt mit euren Reichtümern heraus, ihr geizigen Schlammkratzer.« Zwei Wochen später spielten die Tanchinaros gegen die Kanchedonen von der Meerinsel. Das Match fand im großen Stadion der Meerinsel statt; es ging um eine Gewinnsumme von fünfundzwanzigtausend Ozols, wobei jede Mannschaft fünfzehntausend setzte und zehntausend der Beitrag des Stadions waren. Die neue Sheirl der Tanchinaros war Sacharissa Simone, ein Mädchen aus den Fal-Lal-Bergen – ein nettes, naives und hübsches Wesen, dem es aber an jener undefinierbaren Eigenschaft mangelt, die Sashei genannt wurde. Außerdem bestanden gewisse Zweifel über ihre Jungfräulichkeit, aber keiner wollte der Sache allzu genau auf den Grund gehen. »Verbringen wir doch jeder eine Nacht mit ihr«, schlug Warhound bissig vor, »dann ist die Frage zu jedermanns Zufriedenheit geklärt.« Was auch der Grund war, die Tanchinaros spielten
jedenfalls so schlecht wie noch nie und leisteten sich eine Reihe erstaunlicher Fehler. Die Kanchedonen sicherten sich einen leichten Drei-Ring-Sieg. Sacharissas möglicherweise unschuldiger Körper wurde fünfunddreißigtausend Zuschauern in allen Einzelheiten vorgeführt, und Glinnes mußte feststellen, daß er nur noch drei- oder vierhundert Ozols in der Tasche hatte. Deprimiert und ziemlich durcheinander kehrte er nach Rabendary zurück, wo er sich in einen der alten Flechtstühle auf der Veranda warf und den Abend damit verbrachte, zur Insel Ambal hinüberzustarren. Welch einen Wirrwarr hatte er doch aus seinem Leben gemacht! Die Tanchinaros waren abgebrannt, gedemütigt und standen kurz vor dem Zerfall. Die Insel Ambal war unerreichbarer denn je geworden. Duissane, ein Mädchen, das seine Gefühle seltsam aufgerührt hatte, wendete nun ihren ganzen Ehrgeiz dem Adel zu, und Glinnes, dessen Empfindungen ihr gegenüber bisher höchstens lauwarm gewesen waren, geriet jetzt außer Fassung bei dem Gedanken, daß Duissane das Bett mit einem anderen teilte. Zwei Tage nach dem katastrophalen Match gegen die Kanchedonen fuhr Glinnes mit der Fähre nach Welgen, um einen Käufer für zwanzig Säcke der ausgezeichneten Rabendary-Moschusäpfel zu finden, was ihm bald gelang. Da ihm noch eine Stunde bis zur Rückfahrt blieb, kehrte Glinnes zu einem Mittagsimbiß in einem kleinen Restaurant ein, das halb unter Dach, halb im Schatten eines Fulgeria-Hains eingerichtet war. Er trank einen Krug Bier und aß etwas Brot und Käse, während er den Leuten von Welgen bei ihrem Treiben zusah... Dort kam eine Gruppe
echter Fanscher vorüber – nüchterne junge Menschen, aufrecht, energisch, den Blick in die Ferne gerichtet, als beschäftigten sie Probleme größter Wichtigkeit... Und da kam Akadie mit gesenktem Kopf herangeeilt, daß die Rockschöße seines fanscherartigen Anzugs flatterten. Glinnes rief ihn an: »He, Akadie! Setz dich doch zu mir und trink ein Bier!« Akadie blieb stehen, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Er spähte in die schattige Laube, um den Besitzer der Stimme zu entdecken, schaute sich ein paarmal nervös um und drückte sich dann hastig in einen Stuhl neben Glinnes. Sein Gesicht war angespannt, und seiner Stimme waren Besorgnis und Unruhe anzuhören. »Ich glaube, ich habe sie abgeschüttelt; ich hoffe es wenigstens.« »So?« Glinnes blickte in die Richtung, aus der Akadie gekommen war. »Wen hast du abgeschüttelt?« Akadies Antwort war wie üblich ausweichend. »Ich hätte den Auftrag ablehnen sollen; ich habe nichts als Sorgen damit. Fünftausend Ozols! Dafür muß ich mich von raubgierigen Trevanyi verfolgen lassen, die nur auf einen Augenblick der Unvorsichtigkeit warten. Welch ein Irrsinn. Sie können mir die dreißig Millionen samt meinen lächerlichen fünftausend Ozols wegnehmen und damit größer absahnen, als es wohl je in der Geschichte dieses verrückten menschlichen Universums vorgekommen ist.« »Mit anderen Worten«, sagte Glinnes, »du hast also die dreißig Millionen Ozols Lösegeld tatsächlich beisammen?« Akadie nickte erbittert. »Es ist irgendwie unwirklich – ich meine, die fünftausend, die ich als Honorar bekommen soll, sind ein ganz reales Geld, aber – ich
habe dreißig Millionen Ozols in dieser Tasche« – er klopfte auf einen kleinen, schwarzen Aktenkoffer mit silberner Schließe – »aber es könnten genausogut alte Zeitungen sein.« »Für dich.« »Richtig.« Akadie blickte wieder über die Schulter. »Andere Leute lassen sich durch abstrakte Symbole weniger beeinflussen, oder, genauer gesagt, sie sehen andere Symbole. Für mich stellen diese Papierstücke nichts als Schrecken und Schmerzen, Raub und Brand dar. Andere Menschen haben ganz andere Bezugswerte: sie sehen darin Paläste, Raumjachten, Luxus und Vergnügen.« »Kurzum, du hast also Angst, daß man dir das Geld raubt?« Akadies wendiger Geist war einer nüchternen Antwort bereits weit vorausgeeilt. »Kannst du dir die Unannehmlichkeiten vorstellen, die jemand auf sich lädt, der Sagmondo Bandolio dreißig Millionen Ozols vorenthält? Das Gespräch würde dann vielleicht so verlaufen: Bandolio: ›Sie werden mir jetzt die dreißig Millionen Ozols übergeben, Janno Akadie, die Ihnen anvertraut wurden.‹ Akadie: ›Sie dürfen nicht zu enttäuscht sein, aber ich habe bedauerlicherweise das Geld nicht mehr.‹ Bandolio:... Nein. Hier setzt mein Vorstellungsvermögen glücklicherweise aus. Ich will lieber nicht daran denken. Würde er eiskalt reagieren? Würde er toben? Würde er gleichgültig lachen?« »Wenn du wirklich beraubt werden solltest«, sagte Glinnes, »dann kannst du dich wenigstens damit trösten, daß deine Neugier in dieser Hinsicht befriedigt werden wird.« Akadie reagierte auf die Bemerkung mit einem
säuerlichen Seitenblick. »Wenn ich nur wüßte, wer mir nachstellt oder wie – wenn ich nur irgend etwas wüßte – genau wüßte, wem ich ausweichen muß, wovor ich mich hüten muß...« Er verstummte bedrückt. »Hast du wirklich eine konkrete Bedrohung feststellen können? Oder bist du nur nervös?« »Natürlich bin ich nervös, aber das ist bei mir ein Dauerzustand. Ich verabscheue Unbequemlichkeiten, ich fürchte Schmerzen, ich weigere mich sogar, die Möglichkeit eines plötzlichen Todes anzuerkennen. Aber alle diese Dinge drohen mir jetzt ziemlich unmittelbar.« »Dreißig Millionen Ozols sind natürlich schon eine eindrucksvolle Summe«, sagte Glinnes begehrlich. »Ich persönlich würde allerdings nur etwa zwölftausend davon brauchen.« Akadie schob Glinnes den Koffer hin. »Bitte sehr; nimm dir, soviel du willst, und erkläre den Fehlbetrag Bandolio... Nein.« Er zog die Tasche wieder an sich. »Dieser Ausweg ist mir leider verboten.« »Eine Sache verstehe ich nicht«, sagte Glinnes. »Wenn du so besorgt bist, warum bringst du das Geld dann nicht einfach auf die Bank? Dort drüben zum Beispiel wäre die Bank von Welgen, keine zwanzig Sekunden von unserem Tisch entfernt.« Akadie seufzte. »Wenn es nur so einfach wäre... Ich habe Anweisung, das Geld jederzeit griffbereit zu haben, um es an Bandolios Boten auszuliefern.« »Und wann soll der kommen?« Akadie verdrehte die Augen zum Blätterdach der Fulgeria. »In fünf Minuten? Fünf Tagen? Fünf Wochen? Ich wollte, ich wüßte das.«
»Dieses Arrangement kommt mir schon sonderbar vor«, sagte Glinnes. »Aber die Starmenter wissen wohl, was sie tun. Denk doch nur – heute in einem Jahr wird dir dieses Abenteuer nur mehr wie eine spannende Anekdote vorkommen.« »Ich kann nur an die Gegenwart denken«, grollte Akadie. »Und die ist ein Fegefeuer für mich.« »Was eigentlich befürchtest du?« Trotz all seiner Ängste konnte sich Akadie eine ausführliche, belehrende Erklärung nicht verkneifen. »Drei Gruppen sind es, die nach dem Geld lechzen: die Fanscher, um Land, Geräte, Informationen, Energie kaufen zu können; der Adel, um seine prekären Verhältnisse aufzubessern; und die Trevanyi, die schlechterdings von Natur aus geldgierig sind. Erst vor wenigen Augenblicken habe ich zwei Trevanyi entdeckt, die mir unauffällig nachgingen.« »Das braucht überhaupt keine Bedeutung zu haben«, sagte Glinnes. »Du kannst das gut auf die leichte Schulter nehmen.« Akadie stand auf. »Willst du nach Rabendary zurück? Du könntest mit mir fahren.« Sie gingen zusammen zum Pier und fuhren mit Akadies weißem Motorboot los, nach Osten aus der Inneren Bucht hinaus. Sie brausten zwischen den Lace-Inseln hindurch, über die Ripil-Bucht an Saurkash vorbei dann durch das schmale AthenryGewässer hinaus in die Fleharish-Bucht, in der sie einem schwarz-purpurnen Rennboot begegneten, das auf einem Gischtkeil dahinfegte. »Da wir von Trevanyi sprachen«, sagte Glinnes, »sieh dir an, wer da mit Lord Gensifer auf Vergnügungsfahrt ist.«
»Ich habe sie gesehen.« Akadie verstaute stirnrunzelnd den schwarzen Koffer unter dem Hecksitz. Lord Gensifer steuerte sein Boot in kühnem Bogen herum, eine breite Gischtfahne in die Luft schleudernd, und überholte Akadie und Glinnes mit Gedröhn. Akadie murmelte eine Verwünschung und brachte sein Boot zum Stillstand; Lord Gensifer kam längsseits. Duissane, die ein bezauberndes hellblaues Kleid trug, schaute gelangweilt schmollend herüber, verriet aber sonst keinerlei Interesse für das andere Boot. Lord Gensifer dagegen war sonnigster Laune. »Hallo – und wohin seid ihr an diesem herrlichen Nachmittag unterwegs, mit solchen sauertöpfischen Mienen? Lord Milfreds Entenrevier plündern, möchte ich wetten.« Das sollte eine schalkhafte Anspielung auf einen uralten Scherz der Region sein. »Ihr seid mir aber zwei Spitzbuben.« Akadie antwortete in seinem hochmütigen Tonfall: »Bedauerlicherweise sind wir in ernsteren Geschäften unterwegs, mag der Nachmittag auch noch so herrlich sein.« Lord Gensifer deutete mit einer wegwerfenden Geste an, daß sein kleiner Spaß schon vergessen war, und erkundigte sich: »Wie geht es mit der Kollekte voran, mein Freund?« »Ich habe heute morgen die letzten Teilbeträge erhalten«, sagte Akadie ablehnend. Es war offensichtlich, daß er das Thema nicht weiter zu verfolgen wünschte, aber Lord Gensifer ritt taktlos darauf herum. »Na, dann rücken Sie mal ein oder zwei Milliönchen heraus. Bandolio wird sie kaum vermissen.« »Ich würde Ihnen nur zu gerne die ganzen dreißig Millionen übergeben«, sagte Akadie, »und Sie könn-
ten sich dann mit Sagmondo Bandolio einigen.« »Danke«, sagte Lord Gensifer, »aber das möchte ich lieber nicht.« Er spähte in Akadies Boot. »Sie haben das Geld also wirklich bei sich? Ah ja, da hinten auf dem Boden. Sie sind ziemlich leichtsinnig, wissen Sie. Ist Ihnen klar, daß Boote manchmal sinken? Was würden Sie dann Sagmondo dem Gnadenlosen erzählen?« Akadies Stimme verriet seinen Ärger. »Diese Wahrscheinlichkeit ist verschwindend gering.« »Sicher, sicher. Aber wir langweilen Duissane, glaube ich, die sich für solche Dinge wenig interessiert. Stellt euch vor – sie weigert sich, mich zu besuchen! Ich habe ihr den Luxus und die Eleganz meines Landsitzes vor Augen geführt, aber sie will nichts davon wissen. Durch und durch eine Trevanyi. Wild und ungebunden wie ein Seevogel. Sind Sie sicher, daß Sie nicht wenigstens eine Million Ozols entbehren könnten? Wir wär's mit einer halben Million? Oder armselige Hunderttausend, ja?« Akadie lächelte mit eiserner Geduld und schüttelte den Kopf. Schließlich zog Lord Gensifer mit einer Handbewegung den Gashebel zurück; das schwarzpurpurne Boot bäumte sich auf, schoß in einem schnittigen Bogen vorbei und hielt nach Norden auf das Präfektur-Freiland zu, das die Fleharish-Bucht im oberen Ende abschloß. Akadie und Glinnes setzten ihre Fahrt in gemächlicherem Tempo fort. Auf Rabendary angekommen, erklärte sich Akadie bereit, auf eine Tasse Tee an Land zu kommen, saß aber dann nervös auf der Kante seines Stuhls und spähte immer wieder hinaus zum Ilfisch-Gewässer, über die Ambal-Bucht und
durch die Reihe von Pomanderbäumen, die die Insel auf der Seite des Farwan-Gewässers säumten. Die in der leichten Brise schwankenden großen Blätter erweckten immer wieder den Eindruck, als bewege sich etwas hinter den Bäumen, und das ließ Akadie zusehends unruhiger werden. Glinnes holte eine Flasche alten Wein hervor, um Akadies Sorgen durch Alkohol zu lindern, und es gelang ihm so gut, daß der Nachmittag bereits in die blasse Avness überging, als Akadie feststellte, er müsse nun doch nach Hause. »Wenn du magst, kannst du mich begleiten. Ehrlich gesagt, ich hätte ganz gern jemanden in der Nähe.« Glinnes erklärte sich einverstanden, Akadie in seinem eigenen Boot zu folgen, aber Akadie rieb sich unschlüssig das Kinn, als wollte er nicht recht aufbrechen. »Du solltest vielleicht Marucha anrufen und sie wissen lassen, daß wir unterwegs sind. Erkundige dich auch, ob sie irgend etwas Ungewöhnliches beobachtet hat.« »Ist recht.« Glinnes ging ins Haus, um den Anruf zu erledigen. Marucha war tatsächlich froh zu hören, daß Akadie auf dem Heimweg war. Etwas Ungewöhnliches? Nein, sie hatte nichts Auffallendes beobachtet. Vielleicht waren ein paar Boote mehr als üblich in der Gegend, oder vielleicht war es auch dasselbe Boot gewesen, das mehrmals vorbeigekommen war. Sie hatte nicht so sehr darauf geachtet. Als Glinnes hinauskam, wartete Akadie bereits am Ende des Bootssteges und starrte stirnrunzelnd auf das Farwan-Gewässer hinaus. Er fuhr mit seinem weißen Motorboot los, und Glinnes folgte ihm in seinem Kielwasser bis in die Clinkhammer-Bucht, die
ruhig und verlassen im blaugrauen Licht des Abends dalag. Glinnes wartete ab, bis Akadie sicher den Pier erreicht hatte und machte dann kehrt, um nach Rabendary zurückzufahren. Er war kaum daheim angekommen, als der Gong des Telefons ertönte. Akadies Gesicht erschien auf dem Bildschirm – mit einem Ausdruck düsteren Triumphs. »Es kam genauso, wie ich erwartet hatte«, sagte Akadie. »Sie waren da, erwarteten mich hinter dem Bootshaus vier waren es, und ganz bestimmt Trevanyi, obwohl sie natürlich alle Masken trugen.« »Was ist passiert?« drängte Glinnes, denn Akadie schien auf bestem Wege, den Vorfall zu einem dramatischen Epos auszuschmücken. »Was ich erwartet habe, das ist passiert«, schnaubte Akadie. »Sie überwältigten mich und entrissen mir die schwarze Tasche; dann verschwanden sie mit ihren Booten.« »So – dreißig Millionen Ozols im Eimer!« »Haha! Nichts dergleichen. Nur eine verschlossene, schwarze Tasche, vollgepackt mit Gras und Erde. Wenn sie das Schloß aufbrechen, wird es einige schwer enttäuschte Drossets geben. Ich spreche aus gutem Grund von den Drossets – ich habe nämlich die sonderbare Haltung des älteren Sohnes wiedererkannt, und Vang Drossets Gestalt ist auch recht charakteristisch.« »Du sagtest – vier?« Akadie leistete sich ein grimmiges Lächeln. »Einer der Banditen war ziemlich schmächtig. Diese Person hielt sich abseits und stand Wache.« »So. Und wo ist dann das Geld?« »Deshalb rufe ich an. Ich habe es in der Köderkiste
an deinem Bootssteg gelassen, und diese Vorsichtsmaßnahme war mehr als gerechtfertigt. Ich bitte dich nun um folgendes: geh zum Steg hinaus und vergewissere dich, daß du nicht beobachtet wirst. Dann nimm das folienumwickelte Päckchen heraus und mit ins Haus. Ich werde es morgen abholen.« Glinnes funkelte Akadie empört an. »Jetzt habe ich also die Sorge um dein verdammtes Geld auf dem Hals. Ich möchte genausowenig wie du die Kehle durchgeschnitten bekommen. Ich fürchte, daß ich dir für diesen gefährlichen Dienst ein Honorar berechnen muß.« Akadie vergaß sofort seine Sorgen. »Welcher Unsinn! Du bist nicht in Gefahr. Niemand weiß, wo das Geld ist...« »Irgend jemand könnte die Dreißig-MillionenOzol-Frage richtig erraten. Vergiß nicht, wer uns heute nachmittag zusammen gesehen hat.« Akadie lachte etwas unsicher. »Deine Befürchtungen sind übertrieben. Trotzdem kannst du ja, wenn dich das beruhigt, mit deiner Pistole Wache halten, ob jemand die Insel betritt. Das wäre ohnehin das Klügste. Wir werden beide eine ruhigere Nacht verbringen, wenn jemand das Geld bewacht.« Glinnes brachte vor Entrüstung kein Wort heraus. Bevor er noch etwas sagen konnte, verabschiedete sich Akadie mit einer beschwichtigenden Geste, und der Schirm erlosch. Glinnes sprang auf und marschierte erregt im Zimmer hin und her. Dann holte er seine Waffe, wie Akadie vorgeschlagen hatte, und ging zum Bootssteg. Die Wasserfläche ringsum war leer und ruhig. Nun machte er noch einen Erkundungsgang um das Haus
herum, wobei er einen weiten Bogen um das Dornbeergebüsch schlug. So weit er feststellen konnte, war er auf der Insel Rabendary allein. Die Köderkiste übte eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn aus. Er ging zum Steg zurück und hob den Deckel. Tatsächlich – ein in Metallfolie gewikkeltes Päckchen. Glinnes holte es heraus und nahm es nach kurzer Überlegung mit ins Haus. Wie sahen dreißig Millionen Ozols aus? Es machte ja wohl nichts aus, wenn er seine Neugier befriedigte. Vorsichtig schlug er die Umhüllung auf und fand – einen Stoß alte Zeitschriften. Glinnes starrte sie erschrocken an. Er wollte schon zum Telefon gehen, aber dann überlegte er es sich anders. Wenn Akadie mit dem Sachverhalt vertraut war, würde er Glinnes nur mit seinem unerträglichen Spott und Sarkasmus auf die Nerven gehen. Wenn Akadie andererseits von dem Austausch nichts wußte, dann würde ihn die Nachricht niederschmettern, und dafür war der nächste Morgen noch früh genug. Glinnes wickelte das Paket wieder zu und brachte es in die Köderkiste zurück. Dann braute er sich eine Tasse Tee und nahm sie mit auf die Veranda, wo er sich niederließ und grübelnd über das Wasser starrte. Die Nacht war über die Fens heraufgezogen, und der Himmel war mit Sternen gespickt. Glinnes kam zu dem Schluß, daß Akadie wohl selbst das Geld herausgeholt und das Päckchen als Köder zurückgelassen hatte. Ein solch gerissener Bluff war typisch für ihn... Ein Plätschern ließ Glinnes herumfahren. Ein Merling? Nein – ein Boot, das langsam und leise vom Ilfisch-Gewässer herüberkam. Er huschte lautlos von
der Veranda und zog sich in den tiefen Schatten unter dem Sombarillabaum zurück. Die Luft war vollkommen ruhig. Das Wasser glich poliertem Mondstein. Glinnes spähte in das milchige Licht der Sterne hinaus und konnte schließlich ein einfaches, kleines Boot erkennen, in dem eine irgendwie schmächtige Gestalt kauerte. Akadie, der seine Ozols abholen wollte? Nein. Glinnes' Herz machte einen seltsamen, heftigen Sprung. Er wollte schon aus dem Schatten hervorkommen, aber dann stockte er und zog sich wieder zurück. Das Boot trieb die letzten paar Meter an den Steg. Die schmale Gestalt sprang an Land und warf die Leine um einen Pfosten. Lautlos wanderte sie durch das Sternenlicht herauf und blieb vor der Veranda stehen. »Glinnes! Glinnes!« Ihre Stimme klang geheimnisvoll und gedämpft wie der Ruf eines Nachtvogels. Glinnes beobachtete sie. Duissane stand unschlüssig da, ließ ratlos die Schultern sinken. Nach einigen Augenblicken kam sie auf die Veranda herauf und spähte in das dunkle Haus. »Glinnes!« Zögernd trat Glinnes vor. »Ich bin hier drüben.« Duissane blickte ihm entgegen, während er über die Veranda zu ihr ging. »Hast du mich erwartet?« »Nein«, sagte Glinnes. »Eigentlich nicht.« »Weißt du, weshalb ich gekommen bin?« Glinnes schüttelte langsam den Kopf. »Nein, aber ich habe Angst.« Duissane lachte leise. »Warum solltest du Angst haben?« »Weil du mich einmal den Merlingen überlassen hättest.«
»Hast du Angst vor dem Tod?« Duissane kam noch einen Schritt näher. »Was gibt es daran zu fürchten? Ich habe keine Angst. Ein schwarzer Vogel mit sanften Schwingen trägt unseren Geist in das Tal von Xian, wo wir in Frieden wandeln für alle Zeiten.« »Wer von den Merlingen gefressen wird, von dem bleibt kein Geist übrig. Und in diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wo dein Vater und deine Brüder sind? Sie kommen durch den Wald, ja?« »Nein. Sie würden sich die Haare raufen und mit den Zähnen knirschen, wüßten sie, daß ich hier bin.« »Geh mit mir rund ums Haus«, sagte Glinnes. Widerspruchslos kam sie mit ihm. Soweit Glinnes seinen Sinnen trauen konnte, war die Insel bis auf sie beide verlassen. »Horch«, sagte Duissane. »Hörst du die Baumfrösche...« Glinnes nickte schroff. »Ich höre sie. Im Wald ist keiner.« »Dann glaubst du mir?« »Du hast mir nur gesagt, daß dein Vater und deine Brüder nicht hier sind. Das glaube ich dir, weil ich sie nicht sehe oder höre.« »Gehen wir doch ins Haus.« Drinnen schaltete Glinnes als erstes das Licht ein. Duissane ließ ihren Umhang von den Schultern gleiten. Sie trug nur ihre Sandalen und ein dünnes Kleid. Sie hatte keine Waffen bei sich. »Heute«, sagte sie, »bin ich mit Lord Gensifer Motorboot gefahren, und dabei sah ich dich. Ich beschloß, daß ich heute nacht herkommen würde.« »Warum?« fragte Glinnes, der zwar nicht ganz ahnungslos, aber auch nicht sicher war.
Duissane legte die Hände auf seine Schultern. »Erinnerst du dich an die kleine Insel – wie ich dich verhöhnte?« »Nur zu gut.« »Du warst zu empfindlich. Ich sehnte mich nach deiner Härte, wollte, daß du über meine Worte lachst und mich fest in die Arme nimmst. In dem Augenblick hätte ich dir alles gegeben.« »Du hast dich aber sehr gut verstellt«, sagte Glinnes. »Ich erinnere mich, daß du mich lüstern, zügellos und gemein nanntest. Ich war überzeugt, daß du mich verabscheust.« Duissane verzog betrübt das Gesicht. »Ich habe dich nie verabscheut – nie. Aber du mußt wissen, daß ich einsam und eigensinnig bin und nur langsam zur Liebe finde. Schau mich an.« Sie hob das Gesicht. »Findest du mich schön?« »Aber gewiß. Ich habe nie etwas anderes gedacht.« »Dann nimm mich in die Arme und küß mich.« Glinnes wandte den Kopf und horchte. Das Krächzen der Baumfrösche im Wald von Rabendary war nicht einen Augenblick abgebrochen. Er blickte wieder in das Gesicht, das jetzt seinem so nahe war. Ungeahnte, undefinierbare Gefühle waren darin zu lesen, die er nicht verstand und die ihn deshalb beunruhigten. Noch nie hatte er in den Augen eines Mädchens einen solchen Ausdruck gesehen; wie schwer war es doch, jemanden zu lieben, wenn man ihm so wenig trauen konnte! Und um wieviel schwerer war es, in einer solchen Situation nicht zu lieben! Glinnes beugte den Kopf und küßte Duissane. Es war, als hätte er noch nie zuvor geküßt. Sie roch nach duftenden Kräutern, nach Zitronenblüten und kaum merk-
lich nach Holzrauch. Sein Puls raste, und er wußte, daß es jetzt kein Zurück mehr für ihn gab. Wenn es ihre Absicht gewesen war, ihn hörig zu machen, so war ihr das vollkommen gelungen; er fühlte, daß er ihrer nie überdrüssig werden könnte. Wie aber stand es mit Duissane? Sie holte nun eine herzförmige Tablette hervor, die sie um den Hals gehängt trug. Glinnes erkannte die Liebesdroge Cauch. Mit fliegenden Fingern brach Duissane die Tablette entzwei und gab Glinnes die eine Hälfte. »Noch niemals habe ich Cauch angerührt«, sagte sie. »Ich habe noch nie jemanden lieben wollen. Schenk uns einen Becher Wein ein.« Glinnes holte eine Flasche grünen Weins aus dem Vorratsschrank und füllte ein Glas. Dann ging er auf die Veranda und musterte die Wasseroberfläche. Glatt und verträumt lag die Bucht da, nur an einer Stelle kräuselte sich das Wasser, wo vielleicht ein Merling oder ein Fisch kurz aufgetaucht war. »Was dachtest du draußen zu sehen?« fragte Duissane leise. »Ein halbes Dutzend Drossets«, gestand Glinnes, »mit Mord in den Augen und Messern zwischen den Zähnen.« »Glinnes«, sagte Duissane ernst, »ich schwöre dir, daß außer dir und mir niemand weiß, daß ich hier bin. Weißt du nicht, wie mein Volk die Jungfräulichkeit einschätzt? Man würde mich genausowenig schonen wie dich.« Glinnes brachte das Weinglas herüber; Duissane öffnete die Lippen. »Tu, was zwischen Liebenden Brauch ist.« Glinnes legte ihr die Cauchtablette auf die Zunge;
sie spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter. »Nun du.« Glinnes öffnete den Mund. Duissane legte ihre Hälfte der Liebesdroge auf seine Zunge. Wahrscheinlich war es Cauch, dachte Glinnes, aber sie konnte die Tablette auch durch ein Schlafmittel oder ein Gift ersetzt haben. Er schob die Tablette vor die Zähne, nahm das Glas, trank einen Schluck Wein, und dabei gelang es ihm, die Tablette unauffällig in das Glas fallen zu lassen. Er stellte den Becher auf die Anrichte hinüber und drehte sich nach Duissane um. Sie hatte ihr Kleid abgestreift und stand nackt und anmutig vor ihm, und Glinnes glaubte, noch nie etwas so Bezauberndes gesehen zu haben. Er war jetzt endlich überzeugt, daß die männlichen Drossets nicht heimlich durch die Dunkelheit angeschlichen kamen, Rache im Herzen. Er trat zu Duissane und küßte sie wieder, und sie löste den Verschluß seines Hemdes. Er streifte die Kleider ab und führte sie zur Couch, um sie endlich in die Arme zu nehmen, aber Dussiane richtete sich auf die Knie auf und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Er hörte, wie ihr Herz hämmerte, und war sicher, daß ihre Gefühle echt waren. Sie flüsterte: »Ich war grausam zu dir, aber das ist jetzt alles vorbei. Von nun an lebe ich nur, um dich zu erfreuen, um dich glücklich zu machen. Du wirst es nie bereuen...« »So willst du hier mit mir auf Rabendary leben?« fragte Glinnes vorsichtig und etwas verwirrt. »Mein Vater würde mich eher töten«, seufzte Duissane. »Du kannst dir seinen Haß nicht vorstellen... Wir müssen auf irgendeine ferne Welt fliehen, wo wir wie Edelleute leben wollen. Vielleicht kaufen wir
auch eine Raumjacht und kreuzen zwischen den bunten Sternen umher.« Glinnes lachte. »Das wäre ja schön, aber dazu braucht man eine Menge Geld.« »Das ist kein Problem; wir haben doch die dreißig Millionen Ozols.« Glinnes schüttelte düster den Kopf. »Ich bin überzeugt, daß Akadie dagegen etwas hätte.« »Was kann Akadie schon tun? Mein Vater und meine Brüder haben ihn heute abend überfallen. In der Tasche war nur wertloses Zeug. Er hatte das Geld heute nachmittag bei sich im Boot, und er ist nirgends gewesen, nur hier. Er hat das Geld hiergelassen, nicht wahr?« Glinnes lächelte. »Akadie hat wirklich ein Päckchen in meiner Köderkiste zurückgelassen.« Und dann mochte er nicht mehr warten und zog sie zu sich auf die Couch, denn seine Erregung war ins Unerträgliche gewachsen. Als er schließlich erschöpft und befriedigt in ihren Armen ruhte, blickte Duissane träumerisch zu ihm auf. »Du wirst mich von Trullion fortbringen, weit weg, ja? Ich möchte so gern in Reichtum leben.« Glinnes küßte sie auf die Nase. »Scht!« flüsterte er. »Sei glücklich mit dem, was wir jetzt und hier haben...« Aber sie drängte: »Sag mir, sag mir doch, daß du tun willst, worum ich dich bitte.« »Das kann ich nicht«, antwortete Glinnes. »Ich kann dir nur mich selbst und Rabendary geben.« Duissanes Stimme bekam einen ängstlichen Klang. »Aber was ist mit dem Paket in der Köderkiste?« »Das ist auch nur wertloses Zeug. Akadie hat uns
alle zum Narren gehalten. Oder es hat ihn irgend jemand hereingelegt, bevor er Welgen verließ.« Duissane erstarrte. »Willst du damit sagen, daß das Geld nicht hier ist?« »Soviel ich weiß, nicht ein Ozol.« Duissane stöhnte auf, und der Laut wuchs in ihrer Kehle zu einem Klageschrei an, einer Klage um ihre verlorene Unberührtheit. Sie riß sich von ihm los und lief durch das dunkle Zimmer hinaus zum Bootssteg. Sie klappte die Köderkiste auf, holte hastig das folienumwickelte Päckchen heraus und riß es auf. Beim Anblick der alten Zeitungen schrie sie verzweifelt auf. Glinnes beobachtete sie von der Tür her, bedauernd, ernst und traurig, aber überhaupt nicht erstaunt. Duissane hatte für ihn wirklich Liebe empfunden, so weit es ihr möglich war. Sie kümmerte sich nicht um ihre Nacktheit, rannte blindlings den Steg entlang und sprang in ihr Boot – verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Aufschrei ins Wasser. Es platschte, und ihr Schrei ging in ein Gurgeln über. Glinnes rannte zum Steg hinunter und sprang in ihr Boot. Ihre blasse Gestalt trieb zwei Meter außerhalb seiner Reichweite. Im Sternenlicht sah er ihr entsetztes Gesicht – sie konnte nicht schwimmen. Plötzlich tauchte ein paar Meter hinter ihr der öligschwarze Schädel eines Merlings auf, mit großen, silbrig glimmenden Glotzaugen. Glinnes stieß einen heiseren Schrei der Verzweiflung aus und griff wieder nach Duissane. Der Merling schob sich näher und packte sie am Fuß. Glinnes sprang auf seinen Kopf los und vermochte das Wesen mit der Faust zwischen die Augen zu treffen. Der Schlag riß ihm die Knöchel auf
und verblüffte den Merling zumindest. Duissane packte Glinnes mit dem verzweifelten Griff des Ertrinkenden und schlang ihm die Beine um den Hals. Glinnes schluckte ziemlich Wasser, bevor er das Mädchen von sich lösen und zum Boot stoßen konnte. Die Saugfinger eines Merlings schlossen sich um sein Fußgelenk – das war der Alptraum, der jeden Menschen auf Trullion verfolgte: lebend von einem hungrigen Merling unter Wasser gezogen zu werden. Glinnes stieß und strampelte wie ein Wahnsinniger; seine Ferse traf den Merling am Maul. Mit einer letzten, verzweifelten Windung konnte er sich endlich losreißen. Duissane klammerte sich wimmernd an die Pfähle des Stegs. Glinnes schwamm zur Leiter, zog sich ins Boot und zerrte Duissane über das Dollbord herein. Erschöpft und nach Luft schnappend wie gestrandete Fische lagen sie nebeneinander. Etwas polterte gegen den Rumpf des Bootes – ein enttäuschter Merling. Wenn das Wesen wirklich hungrig war, konnte es versuchen, das Boot umzukippen. Glinnes zog sich wankend auf den Steg, hob Duissane herauf und half ihr über den sternenerleuchteten Pfad zum Haus zurück. Benommen und reglos stand sie mitten im Zimmer, während Glinnes zwei Becher mit Olanche-Rum vollschenkte. Duissane trank apathisch, in trübsinnige Gedanken versunken. Glinnes rieb sie mit einem Handtuch trocken, dann sich selber. Er führte Duissane zur Couch, und nach einer Weile begann sie zu weinen. Er streichelte sie und küßte sie auf die Wangen und auf die Stirn. Langsam begann sie sich zu erwärmen, zu entspannen. Die Wirkung der CauchDroge setzte ein; der Gedanke an dunkles, stilles
Wasser erregte sie, und Zärtlichkeit regte sich erneut, so daß sie nochmals zueinander fanden. Früh am nächsten Morgen erhob sich Duissane vom Lager und legte wortlos Kleid und Sandalen an. Glinnes sah ihr zu, seltsam gleichmütig und unbeteiligt, als sähe er sie aus weiter Ferne. Als sie sich den Umhang um die Schultern legte, setzte er sich auf. »Wohin gehst du?« Duissane warf ihm nur einen sehr flüchtigen Seitenblick zu; ihr Gesichtsausdruck zwang ihn zum Schweigen. Er stand auf und schlang sich einen Paray um die Hüften. Duissane war bereits aus dem Haus gegangen. Glinnes folgte ihr den Pfad hinunter und auf den Steg hinaus und überlegte krampfhaft, was er sagen konnte, ohne daß es unaufrichtig oder verdrossen klang. Duissane stieg in ihr Boot. Sie warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu und legte ab. Glinnes schaute ihr noch eine Weile nach, während in seinem Kopf die unsinnigsten Gedanken durcheinanderwirbelten. Warum benahm sie sich so? Sie war zu ihm gekommen; er hatte nichts von ihr gefordert, nichts versprochen... Schließlich begriff er, wo sein Irrtum lag. Er mußte das Geschehene vom Standpunkt der Trevanyi sehen, sagte er sich. Er hatte ihren übermäßigen Trevanyi-Stolz schwer verletzt. Er hatte von ihr etwas von ungeheurem Wert angenommen und hatte ihr nichts dafür gegeben, schon gar nicht das, worauf sie gehofft hatte. Er war geizig, gefühllos und seicht; er hatte sie zum Narren gemacht. Es gab dabei noch andere, dunklere Gesichtspunkte, die von der Weltanschauung der Trevanyi herrührten. Er war nicht nur Glinnes Hulden, nicht ein-
fach ein lüsterner Trill; er verkörperte das dunkle Geschick, das antagonistische Wesen des Kosmos, gegen das sich die Trevanyi nach ihrem Glauben ständig bewähren mußten. Die Trills sahen das Leben leichtfertiger und heiterer – was heute nicht geschah, konnte morgen eintreffen, und inzwischen brauchte man sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Das Leben mochte mehr oder weniger angenehm sein – es war jedenfalls schön zu leben. Für den Trevanyi hatte jedes Geschehnis seine schicksalshafte Bedeutung, die in allen Einzelheiten erforscht werden mußte, um die zukünftigen Folgen abschätzen zu können. Das Universum bestand aus einer Kette von Ereignissen. Jeder formte sich sein Leben selbst, Stück um Stück. Jeder Vorteil oder Glücksfall war ein persönlicher Sieg, über den er sich freute; jede Widrigkeit, jedes Mißlingen – wie geringfügig auch immer – war eine Niederlage und eine Beleidigung für sein Selbstbewußtsein. Duissane hatte somit einen schweren psychischen Schlag erlitten, und er, Glinnes, war die Ursache, obwohl er vom Standpunkt des Trill nur genommen hatte, was ihm freiwillig angeboten wurde. Schweren Herzens wandte sich Glinnes um, um zum Haus zurückzugehen. Als sein Blick auf die Köderkiste fiel, kam ihm eine verrückte Idee. Er hob den Deckel und schaute hinein. Da lag das folienverpackte Bündel Altpapier. Er holte es heraus und kämmte mit den Fingern durch die dicke Schicht Sägespäne und Spreu am Boden; dabei stieß er auf einen Gegenstand, ein in Plastik gewickeltes Päckchen. Glinnes erspähte das Rosa und Schwarz der Banknoten von Alastor. Akadie hatte sich fürwahr einen schlauen Trick ausgedacht, um sein Geld sicher zu
verstecken. Glinnes überlegte einen Augenblick, nahm dann das folienverpackte Bündel und warf die Zeitschriften weg. Statt dessen wickelte er das Geld in die Metallfolie und legte das Päckchen wieder in die Köderkiste. Er hatte kaum alle Spuren des Austausches beseitigt, als er ein Boot näherkommen hörte. Akadies weißes Boot war es, das vom FarwanGewässer in die Bucht einbog. Zwei Personen waren an Bord: Akadie und Glay. Das Boot legte an; Glinnes fing die Leine auf und warf die Schlinge über den Poller. Akadie und Glay sprangen auf den Steg heraus. »Guten Morgen«, sagte Akadie mit unterdrückter Fröhlichkeit. Er musterte Glinnes scharf. »Du siehst blaß aus.« »Ich habe kaum geschlafen«, sagte Glinnes, »aus Sorge um dein Geld.« »Es ist in Sicherheit, hoffe ich?« erkundigte sich Akadie munter. »Duissane Drosset hat es sich angesehen«, sagte Glinnes boshaft. »Aus irgendeinem Grund hat sie es liegengelassen.« »Duissane. Woher wußte sie, daß es hier war?« »Sie fragte, wo es sei; ich sagte ihr, daß du ein Päckchen in der Köderkiste zurückgelassen hättest. Sie behauptet, daß es nur Altpapier enthält.« Akadie lachte. »Ein kleiner Scherz von mir. Ich habe das Geld recht schlau versteckt, glaube ich.« Akadie ging zur Köderkiste, warf das Folienpäckchen gleichgültig auf den Steg und griff in die feuchte Spreu darunter. Sein Gesicht erstarrte. »Das Geld ist weg!« »Man stelle sich das vor!« meinte Glinnes. »Ich
kann nicht glauben, daß Duissane Drosset eine Diebin ist.« Akadie hörte ihm kaum zu. In seiner Stimme zitterte die nackte Angst, als er entsetzt rief: »Sag doch, wo ist das Geld? Bandolio wird mir das nicht verzeihen; er wird Mörder ausschicken...! Wo... wo ist es nur? Hat Duissane das Geld genommen?« Glinnes brachte es nicht fertig, Akadie noch länger zu quälen. Er stieß das in Folie gewickelte Päckchen mit den Zehen an. »Was ist denn das?« Akadie stürzte sich auf das Paket und riß es auf. Dann blickte er teils dankbar, teils empört zu Glinnes hoch. »Wie gemein, einen Mann auf die Folter zu spannen, der schon soviel Sorgen hat wie ich!« Glinnes grinste. »Was wirst du jetzt mit dem Geld machen?« »Ich muß weiter auf Instruktionen warten.« Glinnes musterte Glay. »Und was ist mit dir? Immer noch ein Fanscher, wie ich sehe.« »Natürlich.« »Wie steht es mit eurem Stützpunkt, eurem Institut, oder wie ihr es nennt?« »Wir haben nicht weit von hier einen unbesiedelten Landstrich beansprucht, am Ende des KarbaschTals.« »An den Quellen des Karbasch? Liegt dort nicht das Moor von Xian?« »Das Xian-Moor ist ganz in der Nähe.« »Eine seltsame Wahl«, kommentierte Glinnes. »Wieso seltsam?« fragte Glay. »Das Land ist frei und unbesiedelt.« »Wenn man vom Todesvogel der Trevanyi und ungezählten Trevanyi-Seelen absieht.«
»Die werden wir nicht stören, und ich bezweifle, daß sie uns stören. Wir werden das Land gewissermaßen gemeinsam benutzen.« »Was ist mit meinen zwölftausend Ozols. Wenn ihr so billig zu Land kommt?« »Hör auf mit den zwölftausend Ozols. Darüber haben wir schon genug geredet.« Akadie war bereits ins Boot gestiegen. »Komm, mein Freund, wir wollen zusehen, daß wir Rorquin erreichen, bevor sich wieder Diebe und Räuber auf den Gewässern herumtreiben.«
KAPITEL 17 Glinnes sah dem weißen Boot nach, bis es hinter einer Biegung verschwand. Prüfend musterte er den Himmel. Über den Bergen waren schwere Wolken aufgezogen und rückten bedrohlich der Sonne näher. Das Wasser der Ambal-Bucht wirkte ölig-träge. Die Insel Ambal sah aus wie eine Kohlezeichnung auf graublauem Hintergrund. Glinnes ging zur Veranda hinauf und ließ sich in einen der alten morschen Flechtstühle sinken. Die Ereignisse der letzten Nacht kamen ihm jetzt wie ein Traum vor, der sich in Dunst auflöste. Glinnes dachte ohne Vergnügen daran. Duissanes Beweggründe hatten wohl ein gewisses Maß an Berechnung an sich gehabt, aber ihre Gefühle waren echt gewesen. Er hätte sie zurückweisen und zornig, aber nicht beschämt heimschicken können. Wie anders doch alles aussah, jetzt im nüchternen Tageslicht! Er sprang auf, ärgerlich über die unangenehme Richtung, die alle seine Gedanken einschlugen. Er würde etwas tun. Es gab mehr als genug Arbeit. Er konnte Moschusäpfel pflücken. Er konnte in den Wald gehen und Pfefferwurz zum Trocknen sammeln. Er konnte den Küchengarten umgraben. Er konnte den Schuppen reparieren, der am Zusammenbrechen war. Die Aussicht auf soviel Mühsal machte ihn schläfrig; er verfügte sich hinein zu seiner Couch und legte sich zu einem Schläfchen hin. Um Mittag erwachte er vom leisen Trommeln des Regens auf dem Dach. Glinnes deckte sich mit einem Mantel zu und starrte grübelnd in die Luft. Irgendwo
im Hintergrund seines Bewußtseins lauerte etwas Dringendes, Wichtiges, um das er sich kümmern mußte. Hussade-Training? Lute Casagave? Akadie? Glay? Duissane? Was war mit Duissane? Sie war gekommen, sie war gegangen, und sie würde keine gelbe Blume mehr im Haar tragen. Vielleicht tat sie es doch, um Vang Drosset das Geschehene zu verbergen. Andererseits mochte sie auch seinen Zorn riskieren und ihm alles beichten. Wahrscheinlicher war allerdings, daß sie ihm eine etwas abgeänderte Version ihres nächtlichen Abenteuers auftischte. Diese Möglichkeit, die sein Unterbewußtsein längst erkannt hatte, begann Glinnes nun wirklich zu beunruhigen. Er stand auf und ging zur Tür. Silbriger Nieselregen zog sich wie ein Schleier über einen Teil der AmbalBucht, aber so weit Glinnes sehen konnte, waren keine Boote unterwegs. Die Trevanyi als echte Nomaden sahen Regen als ein schlechtes Vorzeichen an; nicht einmal um Rache zu üben würde ein Trevanyi bei Regen aufbrechen. Glinnes stöberte in der Speisekammer herum und fand einen Teller mit kaltem gekochten Schlammegel; ohne viel Appetit aß er die Portion auf. Dann hörte der Regen plötzlich auf; Sonnenschein überzog die Ambal-Bucht. Glinnes ging auf die Veranda hinaus. Die ganze Natur war wie frischgewaschen, die Farben leuchteten wieder, das Wasser glitzerte, der Himmel klarte auf. Glinnes' Stimmung besserte sich um Größenordnungen. Es gab eine Menge Arbeit zu erledigen. Er ließ sich in einem der Flechtstühle nieder, um zu überlegen, was er als erstes tun sollte. Da fuhr ein Boot aus dem Ilfisch-Gewässer in die Ambal-Bucht ein. Glinnes
sprang sofort mißtrauisch auf. Es war jedoch nur eines von Harrads Mietbooten. Der Insasse, ein junger Mann in halbamtlicher Uniform, hatte sich anscheinend verirrt. Er steuerte zum Bootssteg von Rabendary herüber und stellte sich auf die Sitzbank. »Hallo da drüben«, rief er Glinnes an. »Ich weiß nicht mehr weiter. Ich will in die ClinkhammerBucht, bei der Insel Sarpassante!« »Sie sind zu weit im Süden. Wen suchen Sie denn?« Der junge Mann zog ein Papier zu Rate. »Einen gewissen Janno Akadie.« »Da fahren Sie das Farwan-Gewässer rauf bis zum Saur, biegen dann in die zweite Wasserstraße auf der linken Seite ein und fahren geradeaus weiter bis in die Clinkhammer-Bucht. Akadies Haus steht auf einer nicht zu übersehenden Klippe.« »Wunderbar; das ist leicht zu merken. Sind Sie nicht Glinnes Hulden, der Tanchinaro?« »Stimmt, ich bin Glinnes Hulden.« »Ich hab' Sie gegen die Naturgewalten spielen sehen. Es war kein besonders aufregendes Match, soweit ich mich erinnere.« »Wir hatten es mit einer jungen und etwas leichtsinnigen Mannschaft zu tun, aber an und für sich sind sie recht gut.« »Ja, das ist auch meine Meinung. Also dann – alles Gute für die Tanchinaros und vielen Dank für Ihre Hilfe.« Das Boot hielt auf das Farwan-Gewässer zu und kam bald hinter den hohen, rotsilbernen Pomandern außer Sicht. Glinnes mußte wieder an die Tanchinaros denken. Sie hatten seit dem Spiel gegen die Kanchedonen nicht mehr trainiert; sie hatten kein
Geld; sie hatten keine Sheirl... Glinnes' Gedanken schweiften zu Duissane ab, die nie wieder Sheirl sein konnte, dann zu Vang Drosset, der vielleicht oder vielleicht auch nicht über die Ereignisse der letzten Nacht Bescheid wußte. Glinnes schaute noch einmal über die Ambal-Bucht. Keine Boote waren zu sehen. Er ging hinein zum Telefon und rief Akadie an. Der Bildschirm leuchtete auf: Akadies Miene war ungewohnt mürrisch, und in seiner Stimme schwang Ungeduld. »Gong, gong, gong, das ist alles, was ich höre. Das Telefon ist schon eine zweifelhafte Einrichtung. Ich erwarte einen wichtigen Besuch und möchte nicht dauernd gestört werden.« »Ach wirklich?« sagte Glinnes. »Handelt es sich vielleicht um einen jungen Mann in einer hellblauen Uniform mit einer Botenkappe?« »Natürlich nicht!« erklärte Akadie. Plötzlich hielt er inne. »Weshalb fragst du das?« »Weil vor ein paar Minuten ein solcher Mann mich nach dem Weg zu deinem Haus gefragt hat.« »Ich werde nach ihm Ausschau halten. Ist das alles?« »Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas später vorbeikommen und mir zwanzigtausend Ozols ausborgen.« »Bah – woher sollte ich zwanzigtausend Ozols nehmen?« »Ich wüßte schon eine Quelle.« Akadie lachte säuerlich. »Du mußt schon jemanden anpumpen, der mehr auf Selbstmord erpicht ist als ich.« Der Bildschirm erlosch. Glinnes überlegte ein Weilchen, aber es fiel ihm kein Grund ein, der weiteres Nichtstun entschuldigt
hätte. Er trug einen Stapel Obststeigen hinaus in den Garten und begann Äpfel zu pflücken. Er arbeitete mit dem verbissenen Eifer eines Trill, der sich wohl oder übel mit einer Sache beschäftigt, die er als nicht sehr notwendiges Übel ansieht. Zweimal vernahm er den Gong seines Telefons, kümmerte sich aber nicht darum. So erfuhr er nichts von dem folgenschweren Ereignis, das früher am Tag stattgefunden hatte. Er pflückte ein Dutzend Kisten Äpfel voll, lud sie auf einen Schubkarren und brachte sie in den Schuppen; dann kehrte er in den Obstgarten zurück, um weiterzupflücken und die Arbeit zu Ende zu bringen. Der Nachmittag verstrich; das trübselige Licht der Avness ging in die metallgrauen, altrosa und lila Farbtöne des Abends über. Verbissen arbeitete Glinnes weiter. Ein kalter Wind kam von den Bergen herunter und drang durch sein Hemd. War wieder Regen im Anzug? Nein – die Sterne waren bereits zu sehen. Heute nacht würde es nicht mehr regnen. Er lud die letzten Äpfel auf den Schubkarren und fuhr sie zum Vorratsschuppen. Plötzlich blieb Glinnes stehen. Die Tür des Schuppens stand halb offen. Nur halb. Sonderbar, wo er sie doch mit Absicht ganz offen gelassen hatte. Glinnes setzte den Schubkarren ab und kehrte in den Obstgarten zurück, um die Sache zu überdenken. Er war eigentlich nicht überrascht; er hatte sogar die ungewohnte Vorsichtsmaßnahme ergriffen, seine Handwaffe mitzunehmen. Er musterte den Schuppen aus dem Augenwinkel. Einer würde drinnen sein, einer dahinter, und einer würde hinter der Hausecke lauern, nahm er an. Im Obstgarten war er nicht in Reichweite eines Messerwurfs gewesen, und außer-
dem würden sie ihn wohl kaum einfach umbringen wollen. Erst würde es Beschimpfungen geben, dann Schneiden und Brennen und Verdrehen, um sicherzugehen, daß er für seine Missetat auch ausreichend büßte. Glinnes fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen. Im Magen hatte er ein komisch hohles Gefühl... Was sollte er tun? Er konnte nicht länger im dämmrigen Garten stehen und seine Apfelernte bewundern. Ohne Eile ging er seitlich ums Haus herum; dann packte er einen Fechtstock, rannte zurück und wartete an der Ecke. Er hörte jemand laufen, ein hastiges Gemurmel. Eine dunkle Gestalt fegte um die Ecke. Glinnes schwang den Stock; der Mann warf den Arm hoch, so daß der Prügel ihn nur am Handgelenk traf; er stieß ein schmerzliches Geheul aus. Glinnes holte wieder mit dem Stock aus; der Mann fing den Schlag auf und klemmte den Stock unter dem Arm ein. Glinnes zerrte daran; die beiden wankten hin und her. Plötzlich stürzte sich noch einer auf ihn, ein schwerer, nach Schweiß stinkender Mann, der zornig aufbrüllte – Vang Drosset. Glinnes sprang zurück und drückte ab. Er verfehlte Vang Drosset, traf dafür aber Harving, den ersten Angreifer, der stöhnend davonwankte. Eine dritte Gestalt sprang aus dem Dunkel und packte Glinnes; die zwei Männer rangen miteinander, während Vang Drosset um sie herumtanzte und immer noch sein heiseres Wutgebrüll ausstieß. Glinnes feuerte wieder seine Strahlerpistole ab, aber da Zielen unmöglich war, verbrannte er nur den Boden zu Vang Drossets Füßen. Vang Drosset machte einen plumpen Luftsprung. Glinnes trat und hieb um sich und vermochte sich von Ashmor loszureißen,
aber zuvor noch schlug Vang Drosset ihm über den Schädel, daß alles vor seinen Augen verschwamm. Dafür gelang es Glinnes, Ashmor in die Leisten zu treten, womit der für einige Minuten außer Gefecht gesetzt war. Harving, der schlaff auf dem Boden gelegen war, bäumte sich plötzlich in einer heftigen Bewegung auf; Metall blitzte auf und grub sich in Glinnes' Schulter. Glinnes drückte wieder ab; Harving fiel in sich zusammen und rührte sich nicht mehr. »Merlingfutter«, keuchte Glinnes. »Wer noch? Du, Vang Drosset? Du? Beweg dich nicht, nicht einmal den kleinen Finger, sonst brenne ich dir ein Loch in die Eingeweide.« Vang Drosset erstarrte; Ashmor lehnte kraftlos an der Hauswand. »Geht vor mir her«, befahl Glinnes. »Hinaus auf den Bootssteg.« Als Vang Drosset zauderte, hob Glinnes den Knüttel auf und hieb ihm über den Kopf. »Ich werde es euch zeigen, ihr elenden Trevanyi-Mörder. Mich umbringen, was? Es wird euch noch leid tun, daß ihr hergekommen seid, das versichere ich euch...! Los! Raus auf den Steg. Na los, lauft weg, wenn ihr es wagt. Vielleicht treffe ich euch im Dunklen nicht.« Glinnes schwang den Stock. »Bewegt euch!« Die beiden Drossets wankten auf den Steg hinaus, fassungslos über das Mißlingen ihres scheinbar so einfachen Vorhabens. Glinnes verprügelte sie, bis sie sich auf die Bretter warfen, und dann noch ein Weilchen, bis ihnen jede Lust zum Widerstand vergangen war; dann verschnürte er sie gut mit ein paar Stücken Angelleine. »So, jetzt habe ich euch, ihr miserablen Schurken.
Also, wer von euch hat meinen Bruder Shira getötet? – Ach, ihr wollt nicht reden? Nun, ich mag euch nicht mehr prügeln, aber ich erinnere mich sehr gut an eine frühere Gelegenheit, wo ihr mich für die Merlinge liegengelassen habt. Ich werde euch jetzt etwas erklären – Vang, hörst du mich? Rede, Vang Drosset, antworte mir.« »Ich höre dich sehr gut.« »Dann paß auf. Hast du meinen Bruder Shira getötet?« »Und wenn ich es tat? Es war mein Recht. Er gab meinem kleinen Mädchen Cauch; es war mein Recht, ihn zu töten. Und mein Recht, dich zu töten.« »Also Shira gab deiner Tochter Cauch.« »Das hat er, dieser warmose22 Trill-Bock.« »Was mache ich nun mit dir?« Vang Drosset schwieg einen Augenblick lang verbissen, dann platzte er heraus: »Du kannst mich umbringen oder in Stücke schneiden, aber das ist auch alles, was du davon hast.« »Ich schlage dir einen Handel vor«, sagte Glinnes. »Schreib mir ein Geständnis, daß du Shira umgebracht hast...« »Ich kann keine Buchstaben machen. Ich werde dir nichts schreiben.« »Dann mußt du vor Zeugen erklären, daß du Shira getötet hast...« »Damit ich auf dem Prutanschyr ende? O nein!« »Du kannst irgendwelche Entschuldigungen anführen; das ist jetzt ohnehin egal. Sag, daß er dich mit einer Keule niedergeschlagen hat oder deine Tochter 22
Siehe Glossar
belästigt hat oder deine Frau eine warmose alte Krähe genannt hat – mir ist es gleich. Bezeuge es, dann lasse ich euch gehen. Du mußt mir nur bei der Seele deines Vaters schwören, daß du mich in Frieden läßt. Sonst rolle ich dich und diesen mordlustigen Ashmor in den Schlamm und warte, bis euch die Merlinge holen.« Vang Drosset ächzte und stemmte sich gegen seine Fesseln. Sein Sohn tobte los: »Du kannst schwören, was du willst; mich betrifft es nicht! Ich werde ihn töten, und wenn ich bis in alle Ewigkeit darauf warte!« »Schweig«, krächzte Vang Drosset müde. »Wir sind geschlagen; wir müssen um unser Leben betteln.« Zu Glinnes sagte er: »Noch einmal – was sind deine Bedingungen?« Glinnes wiederholte sie. »Und du willst nicht lieber Anklage erheben? Ich sage dir, der fette, schwitzende Bock hat ihr Cauch gegeben und hätte sie dort in der Wiese genommen...« »Ich werde keine Anklage erheben.« »Wie wäre es mit Verschneiden oder Naseabhakken?« höhnte der Sohn. »Willst du uns unsere Glieder lassen?« »Ich brauche eure dreckigen Glieder nicht«, sagte Glinnes. »Behaltet sie.« Vang Drosset stöhnte plötzlich zornig auf. »Und was ist mit meiner Tochter, die du entehrt hast, der du Cauch gegeben hast, deren Wert du vermindert hast? Wirst du mir eine Entschädigung zahlen? Statt dessen tötest du meinen Sohn und bedrohst und erpreßt mich.«
»Deine Tochter ist aus freiem Willen hierher gekommen. Ich habe nichts von ihr verlangt. Sie brachte Cauch mit. Sie hat mich verführt.« Vang Drosset ächzte vor Wut. Sein Sohn brüllte wüste Beschimpfungen. Schließlich resignierte Vang Drosset und befahl seinem Sohn zu schweigen. Zu Glinnes sagte er: »Ich bin mit dem Handel einverstanden.« Glinnes befreite den Sohn. »Heb deinen Kadaver hinweg und laß dich nie wieder blicken.« »Geh!« schrie Vang Drosset. Glinnes zog sein eigenes Boot dicht an den Steg heran und wälzte Vang Drosset hinein. Dann ging er ins Haus und rief Akadie an, bekam aber keine Verbindung. Akadie hatte offenbar sein Telefon abgestellt. Glinnes kehrte zum Boot zurück und steuerte mit Höchstgeschwindigkeit in das Farwan-Gewässer. Ein breiter Gischtstreifen schäumte auf beiden Seiten auf. »Wohin bringst du mich?« ächzte Vang Drosset. »Zu Akadie dem Mentor.« Vang Drosset stöhnte wieder, sagte aber nichts mehr. Schließlich schwang das Boot herum zu der Anlegestelle unterhalb von Akadies verrücktem Haus. Glinnes schnitt die Fesseln an Vang Drossets Beinen durch und hievte ihn auf den Steg. Dann trieb er seinen schwankenden, stolpernden Gefangenen den Weg hinauf. Plötzlich flammten an den Türen Scheinwerfer auf und blendeten Glinnes. Akadies Stimme drang schroff aus einem Lautsprecher. »Wer ist da? Nennen Sie gefälligst Ihren Namen.« »Glinnes Hulden und Vang Drosset. Wir kommen
den Weg herauf!« brüllte Glinnes. »Ein ungewöhnliches Besucherpaar«, höhnte die Stimme. »Ich hatte, glaube ich, erwähnt, daß ich diesen Abend beschäftigt bin?« »Ich brauche dich in deiner amtlichen Eigenschaft!« »Dann kommt herauf.« Als sie das Schloß erreichten, stand das Tor bereits offen, und Licht fiel heraus. Glinnes stieß Vang Drosset vorwärts, in die Vorhalle hinein. Akadie erschien. »Worum geht es?« »Vang Drosset hat sich entschlossen, das Geheimnis um Shiras Tod aufzuklären«, sagte Glinnes. »Nun gut«, sagte Akadie. »Ich habe einen Gast und hoffe, daß ihr euch kurz fassen werdet.« »Die Angelegenheit ist wichtig«, erklärte Glinnes schroff. »Sie muß korrekt erledigt werden.« Akadie wies statt einer Antwort nur in seine Bibliothek. Glinnes schnitt Vang Drosset die Armfesseln los und stieß ihn vorwärts. In der Bibliothek war es dämmrig und ruhig. Ein rötliches Feuer aus Treibholz brannte im Kamin. Ein Mann erhob sich aus einem der Polstersessel davor und nickte höflich. Glinnes, der seine ganze Aufmerksamkeit auf Vang Drosset konzentrierte, hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig; er sah einen mittelgroßen Mann, der unauffällig gekleidet war, und dessen Gesicht keinerlei besondere oder bemerkenswerte Züge aufwies. Akadie, dem vielleicht die Ereignisse des vorigen Tages wieder in den Sinn kamen, erinnerte sich seiner gewohnten guten Umgangsformen. Er wandte sich an seinen Gast. »Darf ich Glinnes Hulden, meinen Nachbarn, vorstellen, und außerdem« – Akadie wies
mit einer verbindlichen Geste auf Glinnes' Begleiter – »Vang Drosset, einen Angehörigen des wanderlustigen Volkes der Trevanyi. Glinnes und Vang Drosset, ich möchte euch mit einem Mann von umfassender Bildung und Intelligenz bekanntmachen, der sich für unseren Winkel des Sternhaufens interessiert. Sein Name ist Ryl Shermatz. Angesichts seines Jademedaillons würde ich vermuten, daß seine Heimatwelt Balmath heißt. Habe ich recht?« »In gewisser Weise«, sagte Shermatz. »Es stimmt, daß mich einiges mit Balmath verbindet. Im übrigen aber schmeicheln Sie mir. Ich bin ein umherstreifender Journalist, mehr nicht. Bitte kümmern Sie sich nicht um mich und lassen Sie sich nur nicht von Ihren Geschäften abhalten. Wenn ein vertrauliches Gespräch gewünscht wird, will ich mich gerne entfernen.« »Das ist keineswegs nötig«, wehrte Glinnes ab. »Bitte setzen Sie sich doch wieder.« Er wandte sich an Akadie. »Vang Drosset will vor dir, einem amtlich zugelassenen Zeugen, eine eidesstattliche Erklärung abgeben, die letzten Endes die Besitzrechte um die Inseln Rabendary und Ambal klären wird.« Er nickte Vang Drosset zu. »Sprich jetzt.« Vang Drosset fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Shira Hulden, ein lüsterner Bock, hat meine Tochter belästigt. Er drängte ihr Cauch auf und versuchte, ihr Gewalt anzutun. Ich kam dazu, und als ich mein Eigentum schützen wollte, tötete ich ihn dabei ungewollt. Er ist tot; das wolltest du doch hören.« Den letzten Satz knurrte er Glinnes zu. »Stellt das einen gültigen Beweis für Shiras Tod dar?« fragte Glinnes Akadie. Akadie wandte sich an Vang Drosset.
»Schwören Sie bei der Seele Ihres Vaters, daß Sie die Wahrheit gesprochen haben?« »Ja«, brummte Vang Drosset. »Vergeßt nicht, es war Notwehr.« »Sehr gut«, sagte Akadie. »Das Geständnis wurde freiwillig vor einem Mentor und öffentlichen Ratgeber sowie weiteren Zeugen abgelegt. Es hat gesetzliche Gültigkeit.« »Wenn das so ist, dann ersuche ich dich noch, Lute Casagave anzurufen und ihn von meinem Grund und Boden zu weisen.« Akadie rieb sich das Kinn. »Hast du die Absicht, ihm den Kaufpreis zurückzuerstatten?« »Den soll er sich von dem Mann zurückholen, dem er ihn bezahlt hat – Glay Hulden.« Akadie zuckte die Achseln. »Ich muß das natürlich als einen offiziellen Auftrag ansehen und dementsprechend ein Honorar verlangen.« »Ich habe nichts anderes erwartet.« Akadie begab sich an sein Telefon. Vang Drosset sagte mürrisch: »Seid ihr fertig? In meinem Lager wird heute nacht große Trauer herrschen, und daran sind nur die Huldens schuld.« »Die Trauer habt ihr eurer eigenen Mordlust zuzuschreiben«, entgegnete Glinnes. »Muß ich dich an Einzelheiten erinnern? Vergiß nicht, daß du mich halbtot im Schlamm liegengelassen hast.« Vang Drosset marschierte finster zur Tür, wo er sich noch einmal umwandte und heftig rief: »Was dir auch geschehen ist, es ist nur der gerechte Ausgleich für all die Schande, die du über uns gebracht hast, du und alle anderen Trills mit ihrer Lüsternheit und Gier. Geile Böcke seid ihr alle! Nichts als euer Wanst
und euer Geschlecht ist euch wichtig! Und du, Glinnes Hulden, komme mir nicht mehr unter die Augen; das nächste Mal wirst du es nicht so leicht haben!« Er drehte sich um und stapfte hinaus. Akadie, der eben in die Bibliothek zurückkehrte, sah ihm mit mißbilligend gerümpfter Nase nach. »Du solltest lieber dein Boot im Auge behalten«, riet er Glinnes. »Sonst fährt er damit davon und läßt dich nach Hause schwimmen.« Glinnes trat in die Vorhalle und sah Vang Drossets stämmige Gestalt über die Landstraße davonmarschieren. »Er hat im Augenblick andere Sorgen als fremde Boote. Er kann über die Verleth Brücke heimkommen. Was ist mit Lute Casagave?« »Er meldet sich nicht am Telefon«, sagte Akadie. »Du wirst mit deinem Triumph warten müssen.« »Dann mußt du mit deinem Honorar warten«, entgegnete Glinnes. »Hat eigentlich dieser Bote hergefunden?« »Ja, das hat er«, sagte Akadie. »Ich kann wohl behaupten, daß er mich von einer großen Last befreit hat. Ich bin mehr als froh, die Angelegenheit endlich vom Hals zu haben.« »In diesem Fall könntest du mir eigentlich eine Tasse Tee anbieten. Oder ist deine Unterredung mit Ryl Shermatz zu vertraulich?« »Du kannst natürlich Tee haben«, sagte Akadie ungnädig. »Unsere Unterhaltung dreht sich um allgemeine Dinge. Ryl Shermatz interessiert sich für die Fanscherade. Er fragt sich, wie auf einer im allgemeinen so leichtlebigen und freisinnigen Welt eine so strenge, jedem Vergnügen abholde Sekte entstehen konnte.«
»Ich glaube, wir müssen Junius Farfan als Katalysator ansehen«, bemerkte Shermatz. »Oder stellen wir uns lieber eine übersättigte Lösung vor. Nach außen hin erscheint sie stabil und ausgewogen, aber wenn ein einziger, mikroskopisch kleiner Kristall hinzukommt, ist es sofort mit der Ausgewogenheit vorbei.« »Ein sehr treffendes Beispiel!« erklärte Akadie. »Aber erlauben Sie mir, etwas Kräftigeres als Tee zu unserer Stärkung zu besorgen.« »Warum nicht?« Shermatz streckte behaglich seine Beine vor dem Feuer aus. »Sie haben ein sehr gemütliches Heim.« »Ja, ich finde es ganz angenehm.« Akadie verschwand kurz, um eine Flasche Wein zu holen. »Ich hoffe, daß es Ihnen auf Trullion gefällt«, sagte Glinnes zu Shermatz. »Aber bestimmt. Jede Welt des Sternhaufens hat ihre charakteristische Note, und der aufmerksame Reisende lernt rasch, diese individuelle Ausstrahlung zu erkennen und zu genießen. Trullion zum Beispiel ist eine sanfte und friedliche Welt; seine weiten Wasserflächen spiegeln die Sterne wider, das Licht ist weich und angenehm, und Land und Wasser verschmelzen zu einer bezaubernden Vielfalt.« »Diese friedliche Atmosphäre mag einem als erstes auffallen«, räumte Akadie ein, »aber manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt eine reale Grundlage hat. So treiben sich in diesen sanften Gewässern zum Beispiel unzählige Merlinge herum, abscheuliche Kreaturen, wie man sie so bald nicht wieder findet, und die heiteren, gelassenen Züge der Trills verbergen eine im Grunde gewalttätige Natur.«
»Ach, hör auf«, sagte Glinnes. »Jetzt übertreibst du.« »Keineswegs! Hast du je erlebt, daß ein HussadePublikum um Schonung der unterlegenen Sheirl gebeten hätte? Niemals! Sie muß zu den Klängen einer barbarischen Musik entblößt werden, einer Musik, die Gefühle weckt, die ich nicht zu benennen weiß, die aber das Blut kochen macht und die Menschen in Tiere verwandelt.« »Bah«, sagte Glinnes. »Hussade wird doch überall gespielt.« Akadie beachtete den Einwurf nicht. »Und dann der Prutanschyr. Man braucht sich nur die verzückten Gesichter der Zuschauer anzusehen, wenn irgendein armseliger Verbrecher vorführt, wie entsetzlich der Vorgang des Sterbens sein kann.« »Der Prutanschyr hat vielleicht einen nützlichen Zweck«, meinte Shermatz. »Es ist allerdings schwierig, die Auswirkung solcher Dinge von allen Seiten her richtig zu beurteilen.« »Vom Standpunkt des Missetäters aus bestimmt nicht«, sagte Akadie. »Ist es nicht furchtbar, so zu sterben – inmitten einer begeisterten Menge, die sich an jeder Todeszuckung weidet?« »Gewiß ist das kein sehr erbaulicher oder sanftmütiger Vorgang«, sagte Shermatz mit einem betrübten Lächeln. »Doch die Menschen von Trullion scheinen den Prutanschyr als eine notwendige Einrichtung anzusehen, sonst würden sie ihn wohl abschaffen.« »Es ist eine Schande für Trullion, für ganz Alastor, daß es noch so etwas gibt«, sagte Akadie kalt. »Der Connat müßte alle diese barbarischen Einrichtungen im Namen der Menschlichkeit verbieten.«
Shermatz rieb sich das Kinn. »Nun, was Sie sagen, hat wohl etwas für sich. Trotzdem hält der Connat es sehr selten für ratsam, sich in lokale Bräuche einzumischen.« »Diese Zurückhaltung ist zweischneidig! Nun, wir sind jedenfalls auf die Weisheit seiner Entscheidungen angewiesen. Was immer man von den Fanschern halten mag, zumindest verabscheuen sie den Prutanschyr und möchten ihn abschaffen. Wenn sie je an die Macht kommen, werden sie es bestimmt sofort tun.« »Zweifellos würden sie auch die Hussade abschaffen wollen«, sagte Glinnes. »Aber keineswegs«, antwortete Akadie. »Die Fanscher stehen dem Spiel gleichgültig gegenüber; für sie hat es keinerlei Bedeutung.« »Fürwahr eine trübsinnige, penible Gesellschaft!« sagte Glinnes. »Verglichen mit ihren warmosen Erzeugern mögen sie einem wohl wirklich so erscheinen«, wandte Akadie ein. »Das stimmt zweifellos«, sagte Ryl Shermatz. »Aber man muß auch bedenken, daß jede extremistische Anschauung ihre Gegenströmung erzeugt.« »Das ist hier auf Trullion der Fall«, bestätigte Akadie. »Ich habe Sie ja gewarnt, daß diese idyllische Atmosphäre trügerisch ist.« Plötzlich wurde die Bibliothek von grellem Licht überflutet, das jedoch nur einige Augenblicke andauerte. Akadie stieß einen überraschten Ruf aus und eilte zum Fenster, gefolgt von Glinnes. Sie sahen einen großen, weißen Motorkreuzer langsam in die Clinkhammer-Bucht einlaufen; der Suchscheinwerfer auf dem Hauptmast strich über die Küste und hatte
dabei kurz Akadies Schlößchen gestreift und seine Bibliothek taghell erleuchtet. »Ich glaube, das ist die Scopoeia, Lord Rianles Jacht«, sagte Akadie verwundert. »Was in aller Welt sucht sie hier in der Clinkhammer-Bucht?« Ein Boot legte von der Jacht ab und hielt auf Akadies Bootssteg zu; gleichzeitig ließ das Nebelhorn ein dreimaliges, herrisches Tuten erschallen. Akadie murmelte eine Verwünschung und eilte aus dem Haus. Ryl Shermatz wanderte derweilen in der Bibliothek herum und inspizierte Akadies wirre Sammlung von Andenken, Nippes und Kuriositäten. In einer Vitrine war eine Anzahl kleiner Büsten aufgestellt – die Abbilder von Persönlichkeiten, die auf die eine oder andere Weise die Geschichte von Alastor beeinflußt hatten: Gelehrte, Wissenschaftler, Krieger, Philosophen, Dichter, Musiker. Auf dem untersten Bord war eine eindrucksvolle Sammlung an Anti-Helden zu sehen. »Interessant«, bemerkte Ryl Shermatz. »Wir haben eine reiche Geschichte, wie man sieht.« Glinnes zeigte ihm eine bestimmte Büste. »Hier sehen Sie Akadie selbst; er zählt sich offensichtlich jetzt schon zu den Unsterblichen.« Shermatz schmunzelte: »Da Akadie die Sammlung zusammengestellt hat, müssen wir es wohl ihm überlassen, wen er für würdig hält, darin vertreten zu sein.« Glinnes trat ans Fenster und sah, wie eben das Boot zur Jacht zurückkehrte. Einen Augenblick später kam Akadie herein, mit aschgrauem Gesicht und wirrem Haar. »Was hast du?« erkundigte sich Glinnes. »Du
schaust drein, als hättest du einen Geist gesehen.« »Das war Lord Rianle«, krächzte Akadie. »Der Vater von Lord Erzan-Rianle, der entführt wurde. Er will seine hunderttausend Ozols zurück.« Glinnes riß verblüfft die Augen auf. »Will er seinen Sohn in der Gefangenschaft verfaulen lassen?« Akadie ging in den Nebenraum, in dem sich sein Telefon befand, und schaltete das Gerät wieder ein. Er kam zu Shermatz und Glinnes zurück und sagte tonlos: »Der Whelm hat Bandolios Versteck ausgeräuchert. Man hat Bandolio und alle seine Männer und Schiffe erwischt. Die Gefangenen, die Bandolio in Welgen machte, und noch viele andere konnten befreit werden.« »Das ist doch eine wunderbare Nachricht!« rief Glinnes. »Warum läufst du also herum wie eine aufgewärmte Leiche?« »Heute nachmittag habe ich das Lösegeld abgeliefert. Die dreißig Millionen Ozols sind weg.«
KAPITEL 18 Glinnes führte Akadie zu einem bequemen Sessel. »Setz dich um Himmels willen hin und trink diesen Wein.« Er warf einen Blick zu Ryl Shermatz hinüber, der vor dem Kamin stand und interessiert ins Feuer starrte. »Sag doch, wie hast du das Geld abgeliefert?« »Durch den Boten, den du hergewiesen hast. Er hatte das richtige Erkennungszeichen bei sich, also gab ich ihm das Paket, und er ging wieder. Das war alles.« »Du kennst den Boten nicht?« »Ich habe ihn nie zuvor gesehen.« Akadie kam abrupt wieder zu sich. Er funkelte Glinnes an. »Du scheinst dich sehr für das alles zu interessieren!« »Wer würde sich nicht für dreißig Millionen Ozols interessieren?« »Wieso hattest du die Nachricht noch nicht gehört? Seit Mittag weiß jeder Bescheid! Alle haben versucht, mich anzurufen.« »Ich habe in meinem Obstgarten gearbeitet und mich nicht um das Telefon gekümmert.« »Das Geld gehört den Leuten, die die Lösegelder bezahlt haben«, erklärte Akadie streng. »Gewiß. Aber wer immer die Summe wiederbeschafft, könnte mit gutem Recht eine erhebliche Belohnung beanspruchen.« »Puh«, knurrte Akadie, »hast du gar kein Anstandsgefühl?« Der Gong schlug zu. Akadie zuckte nervös zusammen und eilte zum Telefon. Einige Augenblicke
später kam er niedergeschlagen zurück. »Lord Gygax will ebenfalls seine hunderttausend Ozols zurückhaben. Er wurde recht störrisch und sogar etwas beleidigend.« Der Gong ertönte schon wieder. »Ich glaube, du hast einen lebhaften Abend vor dir«, sagte Glinnes und stand auf. »Gehst du schon?« erkundigte sich Akadie kläglich. »Ja, und wenn ich du wäre, würde ich das Telefon wieder abstellen.« Er verbeugte sich vor Ryl Shermatz. »Es war mir eine Freude, Sie kennengelernt zu haben.« Glinnes ließ sein Boot mit Höchstgeschwindigkeit nach Westen brausen: quer über die ClinkhammerBucht, unter der Verleth-Brücke durch und die Mellish-Straße entlang. Bald tauchten voraus ein paar Dutzend unscheinbare Lichter auf – Saurkash. Glinnes steuerte zum Pier, machte sein Boot fest und sprang an Land. Es war still in Saurkash, bis auf ein paar gedämpfte Stimmen und Gelächter aus dem in der Nähe gelegenen Magischen Fisch. Glinnes ging den Pier entlang zu Harrads Bootsverleih. Eine einsame Lampe beleuchtete die Reihe der Mietboote. Er ging zum Büro und spähte durch die Tür. Jung Harrad war nirgends zu sehen, obwohl in dem Raum Licht brannte. Einer der Männer in der Schenke erhob sich und kam zum Pier geschlendert. Es war der junge Harrad. »Ja, Sir, was kann ich für Sie tun? Wenn es um eine Bootsreparatur geht, müßten Sie morgen... Oh, Squire Hulden, ich hab' Sie bei dem schlechten Licht nicht gleich erkannt.« »Macht nichts«, sagte Glinnes. »Hören Sie, ich habe
heute einen jungen Mann in einem Ihrer Boote gesehen, einen Hussade-Spieler, den ich gerne ausforschen würde. Erinnern Sie sich an seinen Namen?« »Heute, sagen Sie? Etwa am frühen Nachmittag oder etwas später?« »Zu dieser Zeit müßte er hier gewesen sein.« »Ich hab' drinnen im Buch alles notiert. Ein Hussade-Spieler, sagen Sie. Er hat mir zwar nicht danach ausgeschaut, aber man weiß ja nie. Was haben die Tanchinaros als nächstes vor?« »Wir werden bald wieder in Aktion treten. Das heißt, sobald wir zehntausend Ozols für die Prämienkasse zusammengekratzt haben. Die schwächeren Mannschaften wollen nicht gegen uns antreten.« »Mit gutem Grund! Nun, schauen wir uns mal die Liste an... Ja, das könnte sein Name sein.« Jung Harrad drehte das Geschäftsbuch hin und her. »Schill Sodergang, wenn ich das recht entziffere. Keine Adresse.« »Keine Adresse? Und Sie wissen auch nicht, wo er zu finden ist?« »Vielleicht sollte ich vorsichtiger sein«, meinte Jung Harrad entschuldigend. »Aber ich habe noch nie ein Boot verloren, außer, als der alte Zax sich mit Sourschnaps vollaufen ließ, bis er nichts mehr sehen konnte.« »Hat Sodergang mit Ihnen gesprochen? Über irgend etwas?« »Nicht viel. Er hat nur nach dem Weg zu Akadie gefragt.« »Und als er zurückkam?« »Da fragte er, wann das Fährboot nach Port Maheul vorbeikäme. Er mußte eine Stunde warten.«
»Hatte er eine schwarze Tasche bei sich?« »Stimmt, ja, das hatte er.« »Hat er sonst noch mit jemandem gesprochen?« »Nein, er machte auf der Bank dort drüben ein Nickerchen.« »Na ja, so wichtig ist es nun auch wieder nicht«, sagte Glinnes. »Ich werde ihn schon ein andermal treffen.« Glinnes fuhr wie der Teufel die dunklen Wasserstraßen entlang, an stillen, baumbestandenen Inseln vorüber, die sich als bizarre, schwarze Silhouetten vor dem silbrigen Licht der Sterne abhoben. Um Mitternacht erreichte er Welgen. Er übernachtete in einem Hafengasthaus und nahm früh am nächsten Morgen die Fähre nach Osten. Port Maheul, das seinen Namen eher durch den belebten Raumhafen erhalten hatte als durch seine Lage an der Küste des Südmeeres, war die größte Stadt der Präfektur Jolany und vielleicht die älteste von Trullion. Die wichtigsten Gebäude waren noch nach sehr altertümlichen Normen der Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit errichtet worden. Überall sah man glasierte Russet-Ziegel, Balken aus dem unverwüstlichen schwarzen Salpoonholz, und steile Dächer, die mit blauen Glaskacheln gedeckt waren. Der Hauptplatz war einer der malerischsten von Merlank mit seinem Saum ehrwürdiger Häuser, den dunklen Sulpicella-Bäumen und dem kunstvollen Fischgrätenpflaster aus rötlichen Ziegeln und heller Hornblende aus den Bergen. In der Mitte stand wie überall der Prutanschyr, nur gab es hier einen gläsernen Kessel, damit die faszinierte Menge zusehen konnte, wie
ein Verbrecher gesotten wurde. Jenseits des Platzes breitete sich ein unordentlicher Grünzeugmarkt aus, an den sich wiederum ein Wirrwarr kleiner, ziemlich heruntergekommener Häuschen anschloß. Dahinter begann der Raumstützpunkt, nüchterne Bauten aus Stahl und Glas. Das Landefeld selbst erstreckte sich nach Osten bis zu den Genglin-Marschen, wo, wie man sich erzählte, die Merlinge durch Sumpf und Schilf bis an den Rand der Piste krochen, um die landenden und startenden Raumschiffe zu bestaunen. Glinnes verbrachte auf der Suche nach Schill Sodergang drei anstrengende Tage in Port Maheul. Der Steward von der Fähre, die zwischen den Fens und Port Maheul verkehrte, erinnerte sich vage, daß Sodergang an Bord gewesen war, wußte aber sonst nichts, nicht einmal, wo Sodergang ausgestiegen war. Im Einwohnerregister gab es keine Sodergangs, und auch bei der Gendarmerie war der Name unbekannt. Glinnes forschte noch auf dem Raumhafen nach. Ein Schiff der Andrujukha-Linie war einen Tag nach Sodergangs Besuch in den Fens von Port Maheul gestartet, aber der Name Sodergang tauchte in der Passagierliste nicht auf. Am Nachmittag des dritten Tages kehrte Glinnes nach Welgen zurück und fuhr mit seinem eigenen Boot nochmals nach Saurkash. Dort traf er Jung Harrad, der vor sensationellen Neuigkeiten fast platzte, so daß Glinnes mit seinen eigenen Fragen warten mußte, bis Harrad seinen Klatsch losgeworden war. Einige der Nachrichten gaben Glinnes allerdings genug zu denken. Wie es schien, war sozusagen unter Jung Harrads Nase ein unverschämter Schurkenstreich verübt worden. Akadie, dem Jung Harrad nie
recht getraut hatte, war der eiskalte Verbrecher, der die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und dreißig Millionen Ozols unterschlagen hatte. Glinnes lachte ungläubig. »Das ist doch blanker Unsinn!« »Unsinn?« Jung Harrad blickte auf, um zu sehen, ob Glinnes das ernst meinte. »Die Lords sind alle davon überzeugt; wie können sich so viele bedeutende Männer irren? Sie weigern sich zu glauben, daß Akadie ausgerechnet an dem Tag, da die Nachricht von Bandolios Ergreifung kam, sein Telefon abgestellt hatte.« Glinnes schnaubte verächtlich. »Ich habe mich auch nicht gemeldet. Bin ich denn deshalb gleich ein Verbrecher?« Harrad zuckte die Achseln. »Irgend jemand ist um dreißig Millionen Ozols reicher. Wer? Die Beweise reichen noch nicht aus, aber es steht jedenfalls fest, daß Akadie sich durch sein Verhalten in ein sehr schlechtes Licht gesetzt hat.« »Ach, hören Sie doch auf. Was hat er denn noch angestellt?« »Er ist in die Fanscherade eingetreten! Er ist ein richtiger Fanscher geworden. Man glaubt allgemein, daß sie ihn nur wegen des Geldes aufgenommen haben.« Glinnes griff sich an den Kopf. »Akadie ein Fanscher? Das glaube ich einfach nicht. Er ist zu gescheit, um sich einer Schar von Verrückten anzuschließen!« Jung Harrad blieb bei seiner Überzeugung. »Warum ist er dann mitten in der Nacht aufgebrochen und ins Tal der Grünen Geister gefahren? Und denken Sie daran, daß er schon seit einer Ewigkeit Fanscher-
Tracht trägt und die Lebensweise der Fanscher nachäfft.« »Akadie ist einfach ein bißchen töricht. Er hat nur einer Laune nachgegeben.« Jung Harrad zog die Nase kraus. »Na, jetzt kann er allen Launen nachgeben, die ihm nur einfallen, das ist mal sicher. Irgendwie imponiert mir eine solche Frechheit, aber wenn es um dreißig Millionen Ozols geht, klingt ein abgeschaltetes Telefon doch ein bißchen dünn.« »Was sollte er denn sonst sagen, außer die Wahrheit? Ich habe selbst festgestellt, daß sein Telefon abgeschaltet war.« »Nun, ich bin überzeugt, daß die Wahrheit schon noch herauskommen wird. Haben Sie übrigens diesen Hussade-Spieler, wie hieß er doch, Jorcom, Jarcom? – auftreiben können?« »Jorcom? Jarcom?« Glinnes riß verblüfft die Augen auf. »Sodergang wollten Sie wohl sagen.« Jung Harrad grinste etwas belämmert. »Das war jemand anderer, ein Fischer von der Isley-Bucht unten. Ich habe den Namen an der falschen Stelle eingetragen.« Glinnes gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. »Der Mann hieß also Jorcom? Oder Jarcom?« »Schauen wir's uns an«, meinte Jung Harrad. Er brachte das Buch heraus. »Hier steht Sodergang, und da ist der andere Name; mir kommt's wie Jarcom vor. Er hat den Namen selber eingetragen.« »Es sieht wie Jarcom aus«, sagte Glinnes. »Oder soll es vielleicht Jarcony heißen?« »Jarcony! Sie haben recht! Das ist der Name, den er nannte. In welcher Position spielt er?«
»Position? Springer. Ich muß ihn mal besuchen. Nur leider weiß ich nicht, wo er wohnt.« Er warf einen Blick auf Jung Harrads Bürouhr. Wenn er auf Teufel komm raus nach Welgen zurückfuhr, konnte er gerade noch die Fähre nach Port Maheul erreichen. Er warf in einer Mischung von Verzweiflung und Zorn die Arme hoch, sprang in sein Boot und brauste nach Osten in Richtung Welgen davon. In Port Maheul mußte Glinnes feststellen, daß der Name ›Jarcony‹ ebenso unbekannt war wie ›Sodergang‹. Jetzt bekam er die Sache langsam über und verzog sich müde und enttäuscht in den Gästegarten des Fremdenrasthauses, wo er sich eine Flasche Wein bestellte. Jemand hatte eine Zeitung liegengelassen; Glinnes holte sie sich und überflog die Titelseite. Ein Artikel erregte seine Aufmerksamkeit: MISSGLÜCKTER ÜBERFALL AUF FANSCHER-KOMMUNE (Port Maheul) Gestern traf die Nachricht ein, daß das Fanscher-Lager im Tal der Grünen Geister – oder Tal von Xian, wie die Trevanyi es nennen – von einer Bande Trevanyi angegriffen wurde. Die Beweggründe des Überfalls sind noch nicht ganz geklärt. Es ist bekannt, daß die Trevanyi über die Besetzung ihres heiligen Tales durch die Fanscher erzürnt sind. Man darf aber auch nicht vergessen, daß der Mentor Janno Akadie, seit vielen Jahren in der Gegend von Saurkash ansässig, sich zum Fanscher erklärt hat und sich seit kurzem im Fanscher-Lager aufhält. Das Gerücht will wissen, daß Akadie über den Verbleib einer
Summe von dreißig Millionen Ozols Bescheid weiß, die Akadie an den Starmenter Sagmondo Bandolio abgeliefert haben will. Bandolio behauptet indessen, die Summe nicht erhalten zu haben. Es ist denkbar, daß der Anführer der Trevanyi-Bande, ein gewisser Vang Drosset, zu dem Schluß kam, daß Akadie das Geld mit ins Tal der Grünen Geister genommen hätte, und deshalb den Überfall organisiert hat. Geschehen ist folgendes: Sieben Trevanyi drangen des Nachts in Akadies Zelt ein, konnten aber seine Hilferufe nicht ersticken. Eine Anzahl von Fanschern wurde durch die Rufe alarmiert; bei dem darauffolgenden Handgemenge wurden zwei Trevanyi getötet und etliche verwundet. Diejenigen, die entkommen konnten, fanden Zuflucht bei einem in der Nähe stattfindenden Trevanyi-Treffen, bei dem es um gewisse religiöse Riten geht. Es ist wohl nicht nötig zu erwähnen, daß es den Trevanyi nicht gelang, sich in den Besitz der dreißig Millionen Ozols zu setzen, die augenscheinlich sehr sicher versteckt sind. Die Fanscher sind über den Angriff empört und bezeichnen ihn als feindseligen Akt gegen ihre Bewegung. »Wir haben wie Karpouns gekämpft«, erklärte ein Sprecher der Fanscher. »Wir greifen niemanden an, aber unsere Rechte werden wir mit allen Kräften verteidigen. Die Zukunft gehört der Fanscherade! Wir rufen die Jugend von Merlank und alle anderen auf, die sich durch die warmose alte Lebensweise abgestoßen fühlen: Kommt zu den Fanschern! Leiht uns eure Kraft und eure Kameradschaft!« Gendarmeriechef Filidice zeigt sich durch den Vorfall beunruhigt und hat eine Untersuchung angeordnet. »Wir werden keine weitere Störung der öffentli-
chen Ruhe und Ordnung mehr dulden«, erklärte er. Glinnes warf die Zeitung auf den Tisch. Verdrossen lehnte er sich zurück und schüttete sich ein halbes Glas Wein in die Kehle. Die Welt, die er kannte und liebte, schien endgültig in Trümmer zu gehen. Fanscher und Fanscherade! Lute Casagave, Lord Ambal! Jorcom, Jarcom, Jarcony, Sodergang! Er verabscheute jeden einzelnen dieser Namen! Er trank seinen Wein aus und ging hinunter zum Pier, um auf die Fähre nach Welgen zu warten.
KAPITEL 19 Die Insel Rabendary wirkte unnatürlich still und einsam. Eine Stunde nach Glinnes' Rückkehr schlug der Gong des Telefons an. Das Gesicht seiner Mutter erschien auf dem Bildschirm. »Ich dachte, du wärst auch zu den Fanschern gegangen«, sagte Glinnes dumpf. »Nein, nein, ich nicht.« Maruchas Stimme klang besorgt und unruhig. »Janno tat es, um das Durcheinander zu vermeiden. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Anschuldigungen, Beschimpfungen und Unterstellungen wir über uns ergehen lassen mußten! Wir hatten keine ruhige Minute mehr, und da dachte der arme Janno, es wäre besser, sich zu verziehen.« »Also ist er doch kein Fanscher geworden.« »Natürlich nicht! Du hast schon als Kind immer alles so wörtlich nehmen müssen! Kannst du nicht verstehen, daß jemand sich für eine Idee interessieren kann, ohne gleich zu ihrem überzeugten Befürworter zu werden?« Glinnes ging nicht auf diese kritische Bemerkung ein. »Wie lange will Akadie im Tal bleiben?« »Ich finde, er sollte sofort zurückkehren. Wie kann er dort ein normales Leben führen? Es ist mehr als gefährlich! Hast du gehört, wie er von den Trevanyi überfallen wurde?« »Ich habe erfahren, daß sie ihm das Lösegeld rauben wollten.« Maruchas Stimme wurde schrill. »Du solltest so etwas nicht einmal im Scherz sagen! Der arme Janno! Was er alles durchgemacht hat! Und er ist dir doch
immer ein so guter Freund gewesen.« »Ich habe nichts gegen ihn gesagt oder getan.« »Nein, aber jetzt mußt du etwas für ihn tun. Ich möchte, daß du ins Tal fährst und ihn heimholst.« »Was? Ich halte einen solchen Ausflug nicht für sehr sinnvoll. Wenn er heimkommen will, wird er schon von selber kommen.« »Das stimmt nicht! Du kannst dir nicht vorstellen, in welcher Verfassung er ist; er weiß sich einfach nicht mehr zu helfen! Ich habe ihn noch nie so erlebt!« »Vielleicht will er nur mal ein bißchen Urlaub machen – fern aller Geschäfte.« »Urlaub? Wo sein Leben ständig in Gefahr ist? Es ist allgemein bekannt, daß die Trevanyi ein Massaker planen.« »Hmm. Das kann ich mir nicht recht vorstellen.« »Nun gut. Wenn du mir nicht helfen willst, muß ich selbst gehen.« »Wohin gehen?« »In das Lager der Fanscher, um Janno heimzuholen.« »Verdammt. Na schön. Was ist, wenn er nicht mitkommen will?« »Du mußt es versuchen.« Glinnes flog mit dem Luftbus bis zu der Bergstadt Circanie, wo er ein uraltes Bodenauto mietete, das ihn ins Tal von Xian bringen sollte. Ein schwatzhafter Alter, der einen blauen Schal um den Kopf gebunden hatte, war im Mietpreis inbegriffen; er ging mit dem antiken Gefährt um, als müsse er ein widerspenstiges Tier zähmen. Manchmal streifte das Gleitauto den Boden, dann wieder machte es einen zehn Meter ho-
hen Luftsprung, wodurch Glinnes die Landschaft aus den ungewöhnlichsten Blickwinkeln zu sehen bekam. Zwei Energiestrahlergewehre auf dem Sitz neben dem Fahrer erregten seine Neugier, und er erkundigte sich nach ihrem Zweck. »Gefährliche Gegend hier«, sagte der Fahrer. »Wer hätte je gedacht, daß es einmal so weit kommt?« Glinnes betrachtete die Landschaft, die so friedlich wirkte wie Rabendary. Da und dort standen Bergpomander – wie rosa Dunstwölkchen, die sich in silbernen Fingern verfangen hatten, sahen sie aus. Blaugrüne Fialabäume in Reih und Glied betonten den Hügelkamm. Wenn das Auto einen seiner Luftsprünge machte, weitete sich der Horizont; man sah bis ins Vorland im Süden – ein blaßfarbenes Flickenmuster, das in der Ferne im Dunst unterging. »Ich sehe keinen besonderen Grund zu Besorgnis«, sagte Glinnes. »Wenn Sie kein Fanscher sind, haben Sie gewisse Aussichten. Keine besonders guten, möchte ich betonen, weil das Treffen der Trevanyi nur ein paar Meilen weiter drüben stattfindet und sie angriffslustig wie die Wespen sind. Sie trinken Racq, ein Gesöff, das die Nerven angreift und sie nicht gerade duldsamer macht.« Das Tal verengte sich, und die Berge zu beiden Seiten ragten immer steiler empor. Ein ruhiges Flüßchen strömte den flachen Talboden entlang; an seinen Ufern standen Haine von Sombarilla, Pomander, Deodar. »Ist das das Tal der Grünen Geister?« fragte Glinnes. »Manche nennen es so. Die Trevanyi begraben ihre weniger wichtigen Toten unter den Bäumen da. Das
eigentliche heilige Tal liegt weiter vorn, noch jenseits von den Fanschern. Dort – Sie können ihr Lager schon sehen. Eine fleißige Schar sind sie wohl, da besteht kein Zweifel... Ich frage mich nur, was sie eigentlich wollen. Ob sie es wohl selber wissen?« Das Auto erreichte das Lager – ein geordnetes Durcheinander voller Geschäftigkeit. Hunderte Zelte waren am Flußufer aufgestellt worden. Auf der großen Wiese war man dabei, feste Gebäude aus Schaumbeton zu errichten. Glinnes fand Akadie ohne Schwierigkeiten. Er saß im Schatten eines Glyptusbaums an einem Pult und beschäftigte sich mit verschiedenen Schreibarbeiten. Er begrüßte Glinnes weder erstaunt noch besonders freundlich. »Ich bin gekommen, um dich zur Vernunft zu bringen«, sagte Glinnes. »Marucha möchte, daß du heimkommst auf den Rorquin-Zahn.« »Ich werde zurückkehren, wann es mir beliebt«, erklärte Akadie gemessen. »Bis du kamst, war das Leben hier einigermaßen friedlich. Ich muß allerdings zugeben, daß meine Weisheit nicht auf großen Bedarf stößt. Ich hatte erwartet, als verehrungswürdiger Mentor empfangen zu werden; statt dessen sitze ich hier und erledige armselige Buchhaltungsarbeiten.« Er wies mit einer verächtlichen Geste auf das Pult. »Man sagte mir, daß ich für meinen Unterhalt arbeiten müßte, und das ist eine Aufgabe, für die sich keiner besonders begeistert.« Er warf einen säuerlichen Blick zu einer nahen Zeltgruppe hinüber. »Jeder will nur an den großartigen Plänen teilhaben. Verlautbarungen und Anweisungen fliegen wie Spreu durch die Luft.«
»Ich dächte«, sagte Glinnes, »daß du mit dreißig Millionen Ozols doch leicht deinen Lebensunterhalt bestreiten könntest.« Akadie bedachte ihn mit einem müde vorwurfsvollen Blick. »Ist dir klar, daß dieser Vorfall mein Leben ruiniert hat? Meine Integrität wurde in Frage gestellt – ich kann nie wieder als Mentor arbeiten.« »Du bist auch ohne die dreißig Millionen wohlhabend genug«, sagte Glinnes. »Was soll ich meiner Mutter sagen?« »Sag ihr, daß ich überarbeitet bin und mich langweile, daß mir aber zumindest die Anschuldigungen nicht bis hierher gefolgt sind. Willst du Glay besuchen?« »Nein. Wozu sind diese Betonbauten?« »Ich lasse es mir angelegen sein, nichts zu wissen«, sagte Akadie. »Hast du die Geister gesehen?« »Nein; ich habe allerdings auch nicht Ausschau nach ihnen gehalten. Du kannst auf der anderen Seite des Flusses Trevanyi-Gräber finden, aber die heilige Heimstatt des Todesvogels liegt eine Meile weiter oben im Tal, jenseits dieses Deodar-Wäldchens. Ich habe mich flüchtig umgesehen und war begeistert. Ein entzückendes Fleckchen, das steht fest – viel zu schön für die Trevanyi.« »Wie ist das Essen?« erkundigte sich Glinnes unschuldig. Akadie verzog das Gesicht. »Die Fanscher wollen die Geheimnisse des Universums ergründen, wissen aber noch nicht einmal, wie man ein Toast zubereitet. Jede Mahlzeit gleicht der anderen: Brei und ein Salat aus verschiedenem Grünzeug. Im Umkreis von Mei-
len gibt es keine Flasche Wein...« Akadie ließ sich noch etliche Minuten über dieses Thema aus. Er sprach vom Fanatismus der Fanscher, von ihrer Naivität, aber vor allem von ihrer Knickerigkeit, die er unverzeihlich fand. Bei der Erwähnung der dreißig Millionen Ozols bebte er vor Zorn, zeigte jedoch andererseits das Bedürfnis, immer wieder seine Schuldlosigkeit bestätigt zu bekommen. »Du hast den Boten doch selber gesehen; du hast ihn zu meinem Haus gewiesen. Hat das denn keine Beweiskraft?« »Bis jetzt hat noch niemand eine Aussage von mir haben wollen. Was ist mit deinem Bekannten, Ryl Shermatz? Wo war er, als der Bote kam?« »Er hat die Übergabe nicht mitangesehen. Ein sonderbarer Mann, dieser Shermatz! Sein Geist ist wie Quecksilber.« Glinnes stand auf. »Du solltest mitkommen. Hier erreichst du gar nichts. Wenn du all der Aufregung entgehen willst, dann bleib doch eine Woche oder so auf Rabendary.« Akadie zupfte sich am Kinn. »Nun ja, warum nicht?« Er schnippte die Papiere verächtlich weg. »Was wissen diese Fanscher schon von Weltgewandtheit, Geschmack, Klugheit? Sie lassen mich Zahlen addieren.« Er erhob sich. »Ich werde den Staub dieses Ortes von den Füßen schütteln. Die Fanscherade beginnt mich zu langweilen; diese Leute werden ganz bestimmt nicht das Universum erobern.« »Also komm«, sagte Glinnes. »Willst du irgend etwas mitnehmen? Dreißig Millionen Ozols zum Beispiel?« »Dieser Scherz ist recht abgeschmackt«, bemerkte
Akadie. »Ich werde gehen, wie ich bin, aber um meinem Abschied die rechte Würze zu verleihen, will ich meine Arbeit mit einer etwas unorthodoxen Rechnung abschließen.« Er kritzelte mit Schwung einige Zahlen auf das Papier und warf sich dann seinen Mantel über die Schulter. »Ich bin bereit.« Das Bodenauto glitt das Tal der Grünen Geister hinunter und erreichte Circanie zur Avness-Stunde. Akadie und Glinnes mieteten sich für die Nacht in einem kleinen Landgasthof ein. Etwa um Mitternacht erwachte Glinnes durch den Lärm aufgeregter Stimmen, und kurz darauf vernahm er draußen das Geräusch hastiger Schritte. Er schaute aus dem Fenster, doch die Straße lag verlassen im Sternenlicht da. Betrunkene, dachte Glinnes und kehrte zu seinem Lager zurück. In der Früh hörten sie, was die Ursache für den Vorfall gewesen war. Die halbe Nacht lang hatten sich die Trevanyi bei ihrem Treffen aufgeputscht; sie waren durch Feuer gegangen; sie hatten ihre eigenartigen hypnotisierenden Tänze aufgeführt; ihre ›Grotesken‹, wie sie ihre Seher nannten, hatten den Rauch von Baicha-Wurzeln eingeatmet und das Schicksal des Trevanyi-Volkes benommen und rülpsend geweissagt. Die Krieger begrüßten ihr Geschick mit fanatischen Schreien und makabrem Geheul und stürmten über die sternenlichten Hügel, um das Lager der Fanscher zu überfallen. Die Fanscher waren darauf nicht ganz unvorbereitet. Sie setzten ihre Strahlergewehre mit vernichtender Wirkung ein: die attackierenden Trevanyi erstarrten in dem blauen Feuer zu glosenden rauchen-
den Schemen. Chaos griff um sich. Der erste kampflustige Ansturm löste sich zu einem Durcheinander zuckender Körper auf, die schwelend den Talboden bedeckten, und endlich hörte jede Kampfhandlung auf; die Trevanyi waren entweder tot oder entsetzt geflohen. Die Fanscher sahen ihnen in bedrücktem Schweigen nach. Sie hatten gesiegt, aber sie wußten, daß sie doch verloren hatten. Die Fanscherade würde nie mehr dasselbe sein; Schwung und Begeisterung waren verschwunden, und am nächsten Morgen gab es eine traurige Arbeit zu tun. Sie hatten das Universum erlösen wollen, nun hatten sie Hunderte von verkohlten und verstümmelten Leichen zu beerdigen. Akadie und Glinnes kehrten ohne weitere Zwischenfälle nach Rabendary zurück, aber Glinnes' nachlässige Haushaltsführung irritierte Akadie dermaßen, daß er noch am selben Tag beschloß, auf den RorquinZahn heimzukehren. Glinnes rief Marucha an, deren Stimmung wieder umgeschlagen hatte: jetzt verlor sie die Nerven bei der Aussicht auf Akadies Heimkehr. »Es hat einen fürchterlichen und ganz unnötigen Aufruhr gegeben – ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht! Lord Gensifer verlangt, daß Janno sich sofort mit ihm in Verbindung setzt. Er war schrecklich lästig und ohne jedes Verständnis für meine Lage.« Akadies aufgestaute Entrüstung brach sich freie Bahn. »Wie kann er es wagen, mich so zu tyrannisieren? Ich werde ihm meine Meinung sagen, und das gleich jetzt. Ruf ihn an!« Glinnes stellte die Verbindung her. Lord Gensifers Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Man sagte mir,
daß Sie mit Janno Akadie zu sprechen wünschten«, sagte Glinnes. »Stimmt genau«, rief Lord Gensifer. »Wo ist er?« Akadie trat vor. »Ich bin hier, wenn Sie nichts dagegen haben! Ich wüßte nicht, was ich mit Ihnen so Dringendes zu besprechen hätte, daß Sie unaufhörlich bei mir zu Hause anrufen!« »Hören Sie auf«, sagte Lord Gensifer und schob energisch die Unterlippe vor. »Der Verbleib der dreißig Millionen Ozols ist noch immer nicht geklärt.« »So – und weshalb sollte ich überhaupt mit Ihnen darüber sprechen?« wollte Akadie wissen. »Sie sind ja gar nicht betroffen. Sie wurden nicht entführt, und Sie haben kein Lösegeld gezahlt.« »Ich bin der Vorsitzende des Adelsrates und bevollmächtigt, die Angelegenheit zu untersuchen.« »Trotzdem paßt mir Ihr Ton nicht«, sagte Akadie. »Ich habe meinen Standpunkt längst klargemacht. Ich wünsche, nicht mehr über die Angelegenheit zu sprechen.« Lord Gensifer schwieg einen Augenblick. »Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben«, sagte er schließlich. »Ich verstehe Sie nicht«, entgegnete Akadie eisig. »Die Sache ist ganz einfach. Der Whelm wird Sagmondo Bandolio an den Gendarmeriechef Filidice in Welgen ausliefern. Zweifellos wird man den Verbrecher zwingen, seine Komplizen zu nennen.« »Das geht mich nichts an. Er kann so viele Komplizen nennen, wie er will.« Lord Gensifer legte den Kopf schief. »Jemand mit profunder Kenntnis der hiesigen Verhältnisse hat Bandolio mit Informationen versorgt. Diese Person
wird Bandolios Schicksal teilen.« »Verdientermaßen.« »Dann möchte ich nur noch sagen, daß Sie mich, wenn Ihnen irgend etwas Nützliches einfallen sollte, und sei es noch so unbedeutend, jederzeit anrufen können – zu jeder Tages- und Nachtstunde, außer natürlich heute in einer Woche«, Lord Gensifer schmunzelte wohlwollend, »wenn ich mich mit der zukünftigen Lady Gensifer vermähle.« Akadies berufliches Interesse erwachte. »Wer wird denn die neue Lady Gensifer sein?« Lord Gensifer schloß halb die Augen, in seliger Vorfreude versunken. »Sie ist anmutig, schön und tugendhaft wie keine andere, eigentlich viel zu gut für jemanden wie mich. Ich spreche von der ehemaligen Sheirl der Tanchinaros, Duissane Drosset. Ihr Vater wurde bei dem Kampf heute nacht getötet, und sie hat sich meinem Trost und meiner Obhut anvertraut.« »Dann hat uns dieser Tag zumindest eine angenehme Überraschung beschert«, bemerkte Akadie trocken. Der Bildschirm verdunkelte sich. Lord Gensifer war trösten gegangen. Im Tal herrschte wieder Stille. Noch nie war die Schönheit der Landschaft so offenkundig gewesen. Das Wetter war außergewöhnlich klar; die Luft war eine kristallene Linse, die alle Farben vertiefte, verzauberte. Jeder Ton war klar und deutlich zu vernehmen, klang aber seltsam gedämpft; vielleicht sprachen auch die Menschen im Tal unwillkürlich leiser und vermieden jeden Lärm. Nachts brannten nur
wenige trübe Lichter, und die Gespräche wurden zu einem Flüstern im Dunklen. Der Überfall der Trevanyi hatte bestätigt, was viele vorausgesagt hatten – daß die Fanscherade, wenn sie sich durchsetzen wollte, erst eine Vielzahl negativer Kräfte überwinden mußte. Jetzt war die Zeit für Entschlossenheit und eine Festigung des Geistes gekommen. Eine Anzahl Leute verließ unvermittelt das Tal und ließ sich nicht mehr blicken. Bei dem Trevanyi-Treffen hatten sich die Gemüter nur weiter erhitzt. Wenn es noch Stimmen gab, die zur Mäßigung mahnten, so gingen sie jetzt in dem Dröhnen der Trommeln, Hörner und Narwouns unter, jenen gewundenen, tiefstimmigen Instrumenten, die nur die Trevanyi benützten. Abends sprangen die Männer durch Feuer und schnitten sich mit ihren Dolchen in Schenkel und Arme, um Blut für die heiligen Riten zu opfern. Clans aus dem fernen Bassway und aus den Ostländern trafen ein, und viele hatten Strahlergewehre. Fäßchen eines feurigen Gebräus, das sich Racq nannte, wurden angestochen und geleert, und die Krieger sangen zur wirbelnden Musik der Narwouns, Trommeln und Hörner kühne und todesmutige Gelübde in die Nacht hinaus. Am dritten Morgen nach dem nächtlichen Überfall erschien ein Trupp Gendarmerie am Versammlungsplatz. Der Gendarmeriechef Filidice war selbst gekommen, um die Trevanyi zur Vernunft zu mahnen und seinen Entschluß zu verkünden, die Ruhe um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Die Trevanyi machten ihrer Entrüstung lautstark Luft. Die Fanscher waren in heiliges Gebiet eingedrungen, in das Tal, in dem die Geister lebten!
Filidice hob die Stimme. »Ihr habt Grund zur Beschwerde. Ich habe die Absicht, euren Standpunkt den Fanschern klarzulegen. Aber was sich auch daraus ergibt, ihr müßt euch auf jeden Fall an meine Anweisung halten. Seid ihr dazu bereit?« Die Trevanyi schwiegen. Filidice wiederholte seine Forderung, erhielt aber wieder keine Antwort. »Wenn ihr euch weigert, meine Anweisungen zu befolgen und die Ruhe zu bewahren«, rief er, »werden wir Gehorsam erzwingen. Ihr seid gewarnt!« Die Gendarmen bestiegen wieder ihre Flugboote und setzten über den Hügel ins Tal der Grünen Geister. Junius Farfan empfing Gendarmeriechef Filidice. Farfan war abgemagert; seine Kleidung hing faltig um seine Gestalt, und neue, strenge Linien zeichneten sein Gesicht. Er hörte den Gendarmeriechef schweigend an. Seine Antwort war kühl. »Wir haben monatelang hier gearbeitet, ohne jemandem Ungelegenheiten zu bereiten. Wir respektieren die Gräber der Trevanyi; es sind keinerlei unehrerbietige Handlungen vorgekommen; niemals wurden die Trevanyi am freien Zutritt zum Moor von Xian gehindert. Die Trevanyi sind einfach unvernünftig; wir müssen uns bei allem Respekt vor dem Gesetz weigern, unser Land zu verlassen.« Gendarmeriechef Filidice, ein untersetzter, blasser Mann mit eisblauen Augen, der von der Würde und Wichtigkeit seines Amtes zutiefst überzeugt war, hatte für Widersetzlichkeit noch nie viel übrig gehabt. »Nun gut«, sagte er. »Ich habe die Trevanyi zur Mäßigung gemahnt; ich tue das Gleiche nun bei Ihnen.«
Junius Farfan neigte den Kopf. »Wir werden die Trevanyi keinesfalls angreifen. Wir sind jedoch bereit, uns mit allen Kräften zu verteidigen.« Filidice stieß ein sarkastisches Schnauben aus. »Die Trevanyi sind Krieger, jeder einzelne Mann. Sie würden euch mit Vergnügen die Kehle durchschneiden, wenn wir sie ließen. Ich rate Ihnen dringend, eine andere Lösung zu finden. Warum müssen Sie Ihr Ideologiezentrum ausgerechnet hier bauen?« »Das Land war unbesiedelt und frei. Wollen Sie uns anderswo Land zur Verfügung stellen?« »Natürlich nicht. Genaugenommen verstehe ich überhaupt nicht, wozu Sie ein großartiges Zentrum brauchen. Warum kehren Sie nicht alle nach Hause zurück und vermeiden diesen Hader und Streit?« Junius Farfan lächelte. »Jetzt spricht Ihr ideologisches Vorurteil aus Ihnen.« »Es ist kein Vorurteil, wenn man die erprobten und vernünftigen Richtlinien der Vergangenheit bevorzugt; das ist ganz gewöhnliche Vernunft.« Junius Farfan zuckte die Achseln und unternahm keinen Versuch, eine unwiderlegbare Ansicht zu widerlegen. Die Gendarmerie bezog jedenfalls auf dem Hügelkamm Posten. Der Tag verstrich. Am Avness brach ein Gewitter los. Eine Stunde lang zuckten violette Feuerstrahlen über die dunklen Flanken der Hügel. Die Fanscher traten vor ihre Zelte, um das Schauspiel zu bestaunen. Die Trevanyi erschauerten vor diesem üblen Vorzeichen; nach ihrem Glauben stand jetzt Urmank, der Geistertöter, auf den Wolken und speerte die Seelen von Trevanyi und Trills ohne Unterschied. Trotzdem sammelten sie sich, tranken Racq, umarm-
ten einander und brachen um Mitternacht zu ihrem Unternehmen auf, um in der stillen grauen Stunde vor der Morgendämmerung angreifen zu können. Im Schutz des Deodars schwärmten sie aus, schlichen die Hänge entlang und umgingen mit Leichtigkeit die Gendarmen und ihre elektronischen Spürgeräte. Trotz aller Vorsicht gerieten sie in einen Hinterhalt der Fanscher. Gebrüll und Schmerzensschreie zerrissen die Stille der letzten Nachtstunden. Strahlergewehre blitzten auf; zuckende, ineinander verkrallte Gestalten hoben sich als groteske Schemen vor dem grau werdenden Himmel ab, brennende Leichen überall. Die Trevanyi kämpften mit gutturalen Schreien, gezischten Flüchen – die Fanscher fochten in unheimlichem Schweigen. Die Gendarmen stießen in ihre Signalhörner und warfen sich zwischen die kämpfenden Parteien, die schwarz-graue Regierungsfahne schwingend. Die Trevanyi denen plötzlich bewußt wurde, daß sie gegen einen besessenen Feind kämpften, wichen zurück. Die Fanscher verfolgten sie wie Rachegötter. Die Gendarmen brüllten Befehle und bliesen die Hörner, aber keine Seite nahm Rücksicht auf sie. Die schwarzgraue Flagge wurde ihnen entrissen, und auch sonst wurden sie nicht gerade sanft behandelt. Daraufhin funkten sie um Hilfe nach Circanie; Gendarmeriechef Filidice, grob aus dem Schlaf gerissen und auch sonst kein Freund der Fanscher, ließ die Miliz ausrücken. Kurz nach Tagesanbruch traf die Miliz im Tal ein – eine Kompanie Trills, alles Leute vom Lande. Sie verachteten die Trevanyi, aber sie kannten sie und fanden sich mit ihrer Existenz ab. Die verrückten Fanscher dagegen waren ein fremdes Element in ihrer
Welt, und dafür hatten sie keinerlei Verständnis. Die Trevanyi, die sich mittlerweile von ihrer Panik erholt hatten, begleiteten den Einzug der Miliz ins Tal; Musikanten tanzten an den Soldaten vorbei und spielten aufmunternde Kampflieder und wüste Moritaten. Die Fanscher hatten sich in den Schutz des DeodarWaldes zurückgezogen; nur Junius Farfan und einige andere erwarteten die Miliz. Sie hatten jede Hoffnung auf Sieg aufgegeben; jetzt stand die Staatsgewalt gegen sie. Der Milizhauptmann trat vor und gab ihnen seine Befehle bekannt: die Fanscher mußten das Tal verlassen. »Mit welcher Begründung?« fragte Farfan. »Daß eure Anwesenheit Unruhe verursacht.« »Unsere Anwesenheit ist legal.« »Trotzdem verursacht sie Spannungen, die es zuvor nicht gab. Ausschlaggebender als Legalität sind praktische Erwägungen, und euer weiterer Aufenthalt im Tal der Grünen Geister ist aus praktischen Erwägungen abzulehnen. Ich muß darauf bestehen, daß ihr abzieht.« Junius Farfan beriet sich mit seinen Kameraden. Dann wandte er sich mit tränenüberströmten Wangen ab, um die übrigen Fanscher zu instruieren, die im Schatten der Deodars die weitere Entwicklung abgewartet hatten. Junius Farfan weinte über den Zusammenbruch seines großen Traums, aber das minderte den Haß der im Hinterhalt liegenden Trevanyi nicht. Von Racq aufgeputscht, konnten sie nicht länger an sich halten. Ein Dolch blitzte auf und bohrte sich in Farfans Genick. Die Fanscher stießen einen seltsamen, stöhnenden Schrei aus und fielen über Miliz und Trevanyi gleichermaßen her. In ihren Au-
gen flackerte verzweifeltes Entsetzen. Die Soldaten, die sich an diesem Zwist unbeteiligt fühlten, suchten ihr Heil in der Flucht. Trevanyi und Fanscher wälzten sich ineinander verkrallt auf der Erde, jeder nur mehr darauf bedacht, den Gegner umzubringen. Endlich, wie in stummem Einverständnis, lösten sich die Überlebenden voneinander und krochen fort. Die Trevanyi kehrten über die Hügel zu ihren wehklagenden Angehörigen zurück. Die Fanscher hielten sich nur noch kurz in ihrem Lager auf und zogen dann durch das Tal fort. Die Fanscherade war am Ende. Der große Traum war ausgeträumt. Monate später erwähnte der Connat in einem Gespräch mit einem seiner Minister die Schlacht im Tal der Grünen Geister. »Ich befand mich zufällig in der Nähe und wurde auf dem laufenden gehalten. Es war ein tragisches Aufeinandertreffen zweier verschiedener Weltanschauungen.« »Hättet Ihr die Konfrontation nicht verhindern können?« Der Connat zuckte die Achseln. »Ich hätte den Whelm hinbeordern können. Ich habe das in einem Fall getan, der diesem recht ähnlich war – die Affäre mit dem Tamarcho auf Rhamnotis –, und damals kam es zu keiner befriedigenden Lösung. Eine von solchen Unruhen geplagte Gesellschaft ist wie ein Mensch mit Bauchweh. Er wird sich erst besser fühlen, wenn sein Körper das Gift losgeworden ist.« »Und doch – viele Menschen haben dadurch ihr Leben verloren.« Der Connat machte eine undeutbare Geste. »Ich freue mich an der Kameradschaft in der Schenke, im
Landgasthaus, in der Hafentaverne. Ich bereise die Welten von Alastor, und überall finde ich Menschen, die mir klug und faszinierend erscheinen, Menschen, die ich liebe. Jedes Individuum der fünf Milliarden ist ein Kosmos für sich, ist einzigartig und unersetzlich... Manchmal begegne ich auch einem Mann oder einer Frau, die ich hassen muß. Ich blicke in ihre Gesichter und sehe Bosheit, Grausamkeit und Verderbtheit. Dann denke ich immer, daß diese Leute im Gesamtschema aller Dinge genauso ihren Platz haben; ohne sie gäbe es nichts, an dem die Tugend sich messen könnte. Leben ohne Gegensätze ist Essen ohne Salz... Als Connat muß ich nach den Richtlinien der Politik denken: dann kann ich den Menschen nur als eine verschwimmende Gesamtheit von fünf Milliarden verschwimmenden Gesichtern sehen. Diesem Menschen gegenüber empfinde ich keine Gefühle. So war es auch im Tal der Grünen Geister. Die Fanscherade war von ihrer Geburtsstunde an zum Untergang verurteilt – es hat wohl selten einen so sonderbaren Mann wie Junius Farfan gegeben. Einige haben überlebt, aber sie sind keine Fanscher mehr. Die meisten werden ihre Tracht ablegen und wieder zu normalen Trills werden. Einige werden auf andere Welten auswandern. Ein oder zwei werden vielleicht zu Starmentern. Und ein paar Hartnäckige werden in ihrem Privatleben die Ideale der Fanscher verfolgen. Aber alle, die daran teilhatten, werden sich immer an den großen Traum erinnern und wissen, daß sie den anderen etwas voraushaben, die nicht von dem Glanz und der Tragik dieser Idee berührt wurden.«
KAPITEL 20 Eines Tages kehrte Glay nach Rabendary heim, den Arm in einer Schlinge, mit zerrissenen, fleckigen Kleidern. »Ich muß ja irgendwo leben«, sagte er verdrossen. »Also kann ich genausogut hierbleiben.« »Es ist nicht schlechter als anderswo«, sagte Glinnes. »Ich vermute, du hast nicht daran gedacht, das Geld mitzubringen.« »Geld? Welches Geld?« »Die zwölftausend Ozols.« »Nein.« »Das ist schade. Casagave nennt sich jetzt Lord Ambal.« Glay zeigte nicht das mindeste Interesse. Seine Gefühle waren verbraucht, seine Welt war grau und leer geworden. »Wenn er wirklich Lord Ambal wäre – bekommt er dadurch ein Recht auf die Insel?« »Er scheint dieser Ansicht zu sein.« Der Gong rief Glinnes ans Telefon. Der Bildschirm zeigte Akadies Gesicht. »Ah, Glinnes! Ich bin wirklich froh, daß ich dich daheim antreffe. Ich brauche Hilfe. Kannst du sofort auf den Rorquin-Zahn herauskommen?« »Gewiß, wenn du mein übliches Honorar bezahlen willst.« Akadie hob ärgerlich die Hand. »Ich habe jetzt keinen Sinn für ironische Scherze. Kannst du sofort kommen?« »Also gut. Was hast du für Schwierigkeiten?« »Das erkläre ich dir, wenn du da bist.«
Akadie empfing Glinnes schon am Tor und führte ihn fast im Laufschritt in die Bibliothek. »Ich möchte dich mit zwei Beamten der Präfektur bekanntmachen, die irregeleitet genug sind, meine arme, gehetzte Person aller möglichen Untaten zu bezichtigen. Rechts unser ehrenwerter Gendarmeriechef Benko Filidice; links Inspektor Lucian Daul, öffentlicher Ankläger, Gefängnisverwalter und Aufseher der Prutanschyr. Dies, meine Herren, ist mein Freund und Nachbar Glinnes Hulden, der Ihnen vielleicht besser als der kühne rechte Mittelstürmer der Tanchinaros bekannt ist.« Man grüßte sich, und sowohl Filidice als auch Daul kommentierten höflich Glinnes' Leistungen auf dem Hussadefeld. Filidice, ein massiger Klotz von einem Mann mit bleichen, melancholischen Zügen und kalten, blauen Augen, trug einen gelblichen Anzug aus Gabardine mit schwarzen Paspeln. Daul war groß und hager, hatte lange dünne Arme, schmale Hände und lange, knochige Finger. Sein Gesicht unter dem Wust von stumpfschwarzen Krauslocken war ebenso blaß wie das seines Vorgesetzten, nur mit durch Hagerkeit betonteren Zügen. Daul gab sich übermäßig zuvorkommend und höflich, als sei ihm der Gedanke unangenehm, daß er jemanden kränken könnte. Akadie wandte sich in seinem pedantischsten Tonfall an Glinnes. »Diese beiden Herren, beides fähige und unvoreingenommene Beamte des öffentlichen Dienstes, erklären mir, daß ich mit dem Starmenter Sagmondo Bandolio konspiriert habe. Sie behaupten, daß das mir anvertraute Lösegeld sich noch in meinem Besitz befindet. Ich beginne langsam selbst an meiner Unschuld zu zweifeln.«
»Meiner Meinung nach«, sagte Glinnes, »würdest du für ein paar Ozols alles tun – außer ein Risiko einzugehen.« »Ich habe dich um deine Hilfe gebeten und nicht um spitzfindige Bemerkungen! Hast du nicht einen Boten zu meinem Haus dirigiert? Warst du nicht Zeuge meiner Unterredung mit einem gewissen Ryl Shermatz, und war an diesem Tag mein Telefon nicht abgeschaltet?« »Stimmt alles ganz genau«, sagte Glinnes. Gendarmeriechef Filidice sagte milde: »Ich versichere Ihnen, Janno Akadie, daß wir vor allem deshalb zu Ihnen gekommen sind, weil wir uns an niemand anderen wenden können. Das Geld kam bis zu Ihnen und verschwand. Bandolio hat es nicht erhalten. Wir haben seinen Geist sondiert; er belügt uns nicht. Er ist im Gegenteil sehr hilfsbereit und zuvorkommend.« »Wie wurde laut Bandolio die Sache eigentlich organisiert?« erkundigte Glinnes sich. »Dabei gab es einige merkwürdige Gesichtspunkte. Bandolio hat mit einem Mann zusammengearbeitet, der geradezu fanatisch vorsichtig war, mit jemandem, der – um Sie zu zitieren – ›für ein paar Ozols alles tun würde – außer ein Risiko einzugehen‹. Dieser Mann hat die Aktion angeregt. Er sandte Bandolio eine Botschaft durch Kanäle, die nur Starmentern bekannt sind, was darauf schließen läßt, daß dieser Mann – nennen wir ihn X entweder selbst ein Starmenter war oder einen zum Komplizen hatte.« »Es ist recht gut bekannt, daß ich kein Starmenter bin«, stellte Akadie fest. Filidice nickte gewichtig. »Natürlich – aber Sie haben, wenn man die Sache einmal ganz hypothetisch
betrachtet, eine Menge Bekannte, von denen einer ein Starmenter oder ein Ex-Starmenter sein könnte.« Akadie blickte etwas betroffen drein. »Das ist wohl möglich.« Filidice fuhr fort. »Nach Empfang der Botschaft traf Bandolio Vorkehrungen, mit X zusammenzutreffen. Diese Vorkehrungen waren ziemlich kompliziert: beide Männer waren mißtrauisch. Sie trafen sich an einem Ort in der Nähe von Welgen, bei Dunkelheit. X trug eine Hussade-Maske. Sein Plan war höchst einfach. Er wollte bei einem großen Hussade-Match dafür sorgen, daß die reichsten Leute der Präfektur alle in einem Tribünenabschnitt beisammen saßen; das wollte er durch das Verschicken von Freikarten bewerkstelligen. X sollte zwei Millionen Ozols erhalten. Den Rest würde Bandolio einstecken... Der Plan war gut; Bandolio stimmte zu, und die weiteren Ereignisse haben wir ja selbst miterlebt. Bandolio schickte schließlich einen Vertrauten, einen gewissen Lempel, hierher, um das Geld bei dem mit der Einsammlung Beauftragten abzuholen – und das sind Sie.« Akadie runzelte zweifelnd die Stirn. »Dieser Bote war Lempel?« »Nein. Lempel traf eine Woche nach dem Überfall in Port Maheul ein. Er reiste nicht wieder ab, weil er vergiftet wurde – wahrscheinlich von X. Er starb im Schlaf, im Touristengasthof von Welgen, einen Tag, bevor die Nachricht von der Gefangennahme Bandolios eintraf.« »Das muß der Tag gewesen sein, bevor ich das Geld ablieferte.« Gendarmeriechef Filidice lächelte nur vielsagend.
»Die Lösegeldsumme befand sich jedenfalls nicht unter seinen Effekten. Das sind also die Fakten: Sie hatten das Geld. Lempel hatte es nicht. Wo ist es hin?« »Er hat vermutlich eine Vereinbarung mit dem Boten getroffen, bevor er vergiftet wurde. Der Bote muß das Geld haben.« »Aber wer ist dieser geheimnisvolle Bote? Einige der Lords sehen ihn als ein reines Phantasiegebilde an.« Akadie sagte langsam und deutlich: »Ich mache hiermit vor Ihnen meine offizielle Aussage. Ich habe das Geld gemäß meinen Anweisungen an einen Boten ausgeliefert. Ein gewisser Ryl Shermatz war zu dieser Zeit mein Gast und gewissermaßen Zeuge der Übergabe.« Daul meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Er hat tatsächlich gesehen, wie das Geld übergeben wurde?« »Er sah höchstwahrscheinlich, wie ich dem Boten einen schwarzen Aktenkoffer aushändigte.« Daul wedelte mit einer seiner knochigen Hände. »Ein mißtrauischer Mensch wird sich vermutlich fragen müssen, ob der Koffer wirklich das Geld enthielt.« Akadies Antwort klang eisig. »Ein kluger Mensch wird begreifen müssen, daß ich es nicht wagen würde, Sagmondo Bandolio auch nur einen Ozol zu unterschlagen, geschweige denn dreißig Millionen.« »Aber zu diesem Zeitpunkt war Bandolio bereits gefaßt.« »Das wußte ich nicht. Ryl Shermatz kann das bestätigen.« »Ah, wieder der mysteriöse Ryl Shermatz. Wer ist er?«
»Ein Reisejournalist.« »Tatsächlich. Und wo ist er jetzt?« »Ich habe ihn noch vor zwei Tagen gesehen. Er sagte, daß er Trullion bald verlassen würde. Vielleicht ist er schon fort – wohin, weiß ich nicht.« »Aber er ist Ihr einziger Entlastungszeuge.« »Keineswegs. Der Bote hatte sich verfahren und fragte Glinnes Hulden nach dem Weg. Das stimmt doch?« »Es stimmt«, bestätigte Glinnes. »Janno Akadies Beschreibung dieses ›Boten‹« – Daul gab dem Wort einen sarkastischen Klang – »ist unglücklicherweise zu allgemein, als daß sie uns bei unseren Nachforschungen helfen könnte.« »Was soll ich denn sagen?« begehrte Akadie auf. »Er war eben ein ganz gewöhnlich aussehender, mittelgroßer junger Mann ohne besondere Kennzeichen.« Filidice wandte sich an Glinnes. »Können Sie das bestätigen?« »Vollkommen.« »Und als er mit Ihnen sprach, hat er keinerlei Hinweise auf seine Identität gegeben?« Glinnes kramte in seinem Gedächtnis nach dem Tag vor wenigen Wochen. »Soweit ich mich erinnere, fragte er nach dem Weg zu Akadies Haus. Das war alles...« Glinnes brach ziemlich abrupt ab. Daul wurde sofort mißtrauisch und schob das Kinn vor. »Sonst nichts?« Glinnes schüttelte den Kopf und antwortete entschieden: »Sonst nichts.« Daul beruhigte sich. Einen Augenblick lang blieb es still in der Bibliothek. Dann sagte Filidice gemessen:
»Es ist bedauerlich, daß keine der von Ihnen erwähnten Personen bei der Hand ist, um Ihre Aussagen zu bestätigen.« Jetzt ließ Akadie endlich seine Entrüstung erkennen. »Ich sehe keine Notwendigkeit für Bestätigungen! Ich weigere mich zu glauben, daß man mehr von mir erwartet als eine einfache Darlegung der Fakten!« »Unter gewöhnlichen Umständen würde ich Ihnen zustimmen«, sagte Filidice. »Wenn dreißig Millionen Ozols verschwinden, kann ich das nicht mehr.« »Sie wissen genausoviel wie ich«, stellte Akadie fest. »Ich hoffe, Ihre Nachforschungen sind von Erfolg gekrönt.« Gendarmeriechef Filidice grunzte unzufrieden. »Wir greifen nach Strohhalmen. Das Geld aber existiert – irgendwo.« »Hier ist es nicht, das versichere ich Ihnen«, sagte Akadie. Glinnes konnte sich nicht mehr länger im Zaum halten. Er ging zur Tür. »Allen ein schönes Wetter. Ich muß mich jetzt um meine Geschäfte kümmern.« Die Beamten verabschiedeten sich höflich von ihm; Akadie gönnte ihm nur einen verdrossenen Blick. Glinnes rannte fast zu seinem Boot. Er legte ab und fuhr nach Osten die Vernice-Straße entlang, bog dann statt nach Süden in nördlicher Richtung in den Sarpent-Kanal ein, durch den er die Zwickelbucht erreichte; hier floß der Scurge mit dem Saur zusammen. Glinnes fuhr den Scurge flußaufwärts, kurvte in wahnwitzigem Tempo durch die Windungen und verfluchte sich alle paar hundert Meter wegen seiner Dummheit. Am Zusammenfluß des Scurge mit dem
Karbasch lag Erch, ein verträumtes Dorf, das im Schatten ungeheurer Kerzennußbäume dahindämmerte. Hier hatten vor langer Zeit die Tanchinaros die ›Naturgewalten‹ besiegt. Glinnes machte sein Boot am Steg fest und sprach einen Mann an, der vor dem baufälligen Gasthaus döste. »Bitte, wo finde ich einen gewissen Jarcony? Oder gibt's hier vielleicht einen Jarcom?« »Jarcony? Welchen suchen Sie denn? Vater? Sohn? Oder den Cavouthändler?« »Ich suche einen jungen Mann, der eine blaue Uniform trägt.« »Das müßte Remo sein. Er ist Steward auf der Fähre nach Port Maheul. Er müßte jetzt zu Hause sein. Gehen Sie nur die Gasse da lang. Es ist das Haus unter dem Thrackelbeerbusch.« Glinnes ging in die angewiesene Richtung, bis er auf eine schilfgedeckte Blockhütte stieß, die von einem ungeheuren Busch fast erdrückt wurde. Er zog an einer Schnur, die den Klöppel einer kleinen Glocke in Bewegung setzte. Ein verschlafenes Gesicht wurde im Fenster sichtbar. »Wer ist da? Was gibt's?« »Oh, ich hab Sie anscheinend bei einer wohlverdienten Ruhepause gestört«, sagte Glinnes. »Erinnern Sie sich an mich?« »Aber – ja, natürlich. Sie sind Glinnes Hulden. Schau an, was es alles gibt. Einen Moment bitte.« Jarcony wickelte sich einen Paray um und stieß die knarrende Tür auf. Er zeigte auf eine Laube, die aus dem Trackelbeerdickicht herausgeschnitten worden war. »Setzen wir uns doch hier hin. Möchten Sie einen
Becher kühlen Wein?« »Das wäre eine gute Idee«, meinte Glinnes. Remo Jarcony brachte einen Steingutkrug und zwei Becher heraus. »Und was führt Sie zu mir?« »Eine etwas verzwickte Angelegenheit«, sagte Glinnes. »Sie werden sich erinnern, daß wir uns trafen, als Sie nach dem Wohnsitz von Janno Akadie suchten.« »Stimmt genau. Ich hatte einen kleinen Auftrag für einen Herrn aus Port Maheul übernommen. Es hat doch hoffentlich keine Ungelegenheiten gegeben?« »Ich glaube, Sie sollten ein Päckchen abholen, oder etwas ähnliches?« »Richtig. Noch einen Becher?« »Mit dem größten Vergnügen. Und Sie haben dann das Paket abgeliefert?« »Ich habe mich genau an die Anweisungen gehalten. Der Herr war anscheinend zufrieden, da ich seitdem nichts mehr von ihm gehört habe.« »Dürfte ich fragen, wie diese Anweisungen lauteten?« »Aber gewiß. Der Herr ersuchte mich, das Paket zum Raumhafen von Port Maheul zu bringen und es dort im Schließfach 42 zu hinterlegen, zu dem er mir den Schlüssel mitgab. Ich tat, was er verlangte, und verdiente mir damit zwanzig Ozols – Geld für nichts eigentlich.« »Erinnern Sie sich, wie der Herr aussah, der Ihnen den Auftrag gab?« Jarcony blinzelte in das dichte Blätterdach hinauf. »Nicht sehr gut, fürchte ich. Ich glaube, er war ein Fremdweltler – ein kleiner, untersetzter Mann mit
flinken Bewegungen. Ich weiß noch, daß er eine Glatze hatte und in einem Ohr einen prächtigen Smaragd trug, der mir sehr auffiel. Aber vielleicht würden Sie mich jetzt aufklären: warum stellen Sie mir alle diese Fragen?« »Das ist ganz einfach«, sagte Glinnes. »Der Herr ist ein Verleger von Gethryn; Akadie möchte der Abhandlung, die er dem Herrn zukommen ließ, noch einen Anhang anfügen.« »Ich verstehe...« »Nun, die Sache wird jetzt etwas umständlicher, aber es ist auch nicht weiter schlimm. Ich werde Akadie benachrichtigen, daß seine Arbeit bereits in Gethryn sein muß.« Glinnes stand auf. »Schönen Dank für den Wein und Ihre Hilfe, aber jetzt muß ich nach Saurkash zurück... Nur der Neugier halber – was haben Sie mit dem Schlüssel zum Schließfach gemacht?« »Den habe ich laut Anweisung am Gepäckschalter abgegeben.« Glinnes brauste mit solcher Geschwindigkeit nach Westen, daß sein Kielwasser gegen die Ufer des schmalen Jade-Kanals gischtete. In kühnem Bogen fegte er in den Barabas-Fluß hinaus, wobei noch die Jerdinen am Ufer eine kräftige Dusche abbekamen. Weiter ging es in einem Höllentempo nach Westen. Erst als er in die Nähe von Port Maheul kam, ließ er das Boot langsamer werden. Er machte es am Hauptpier fest und legte halb im Laufschritt die gute Meile bis zum Raumhafengebäude zurück. Es war ein riesiges Bauwerk aus schwarzem Eisen und vor Alter blaßgrün und blau angelaufenem Glas. Auf dem
Landefeld dahinter waren im Augenblick weder Raumschiffe noch lokale Luftfahrzeuge zu sehen. Glinnes betrat die Halle und sah sich in dem unterseeisch wirkenden Dämmerlicht um. Auf den Bänken saßen einige Reisende, die auf den einen oder anderen der fahrplanmäßigen Luftbusse warteten. In der Wand neben der Gepäckaufbewahrungsstelle waren etliche Reihen Schließfächer untergebracht. Hinter dem niedrigen Gepäckschalter saß ein Beamter. Glinnes ging hinüber und inspizierte die Schließfächer. Die unbenutzten standen offen, der Magnetschlüssel steckte im Schloß. Das Türchen von Fach 42 war geschlossen. Glinnes warf einen Blick zu dem Schalterbeamten hinüber und prüfte dann die Festigkeit der Tür. Sie rührte sich nicht um einen Millimeter. Das Fach bestand aus dickem Stahlblech, und die Türen waren genau eingepaßt. Nichts zu machen. Glinnes ließ sich auf einer Bank in der Nähe nieder. Verschiedene Möglichkeiten boten sich an. Nur wenige der Schließfächer standen in Gebrauch. Glinnes zählte nur vier verschlossene Türen bei fünfzehn Schließfächern. War es übertrieben zu hoffen, daß Fach 42 immer noch die schwarze Tasche enthielt? Durchaus nicht, fand Glinnes. Es sah so aus, als wären Lempel und der kahle, untersetzte Fremdweltler, der Jarcony als Boten angestellt hatte, ein und dieselbe Person. Nur hatte Lempel sterben müssen, bevor er die Tasche aus Fach 42 hatte abholen können... So war es wahrscheinlich gewesen. Was jetzt viel wichtiger war – wie kam man in Fach 42? Glinnes musterte den Schalterbeamten. Er war
klein, hatte strähniges, rötlichgraues Haar, eine lange, vibrierende Nase und eine Miene, die pedantische Beharrlichkeit verriet. Hoffnungslos, von so einem Mann irgendeine Form von Kooperation zu erwarten: er war das Musterbeispiel eines kleinlichen Paragraphenreiters. Glinnes dachte noch fünf Minuten angestrengt nach. Dann stand er auf und trat zu der Schließwand. Er schob eine Münze in den Zahlschlitz von Fach 30, schloß die Tür auf und zog den Schlüssel ab. Er ging zum Gepäckschalter und legte den Schlüssel auf die Platte. Der Beamte kam heran. »Ja, Sir?« »Seien Sie so freundlich und bewahren Sie diesen Schlüssel für mich auf«, sagte Glinnes. »Ich mag ihn nicht bei mir haben.« Der Beamte nahm den Schlüssel und verzog mürrisch das Gesicht. »Wie lange wollen Sie ausbleiben, Sir? Manche Leute lassen ihre Schlüssel unmöglich lange hier.« »Es ist nur für einen Tag oder so.« Glinnes legte eine Münze auf das Schalterpult. »Für Ihre Mühe.« »Danke.« Der Beamte zog eine Lade auf und warf den Schlüssel in ein Seitenfach. Glinnes zog sich zurück und machte es sich auf einer Bank bequem, von der aus er den Gepäckschalter im Auge behalten konnte. Eine Stunde verstrich. Ein Luftbus von Kap Flory landete draußen auf dem Platz, spie Passagiere aus, schluckte eine Ladung neue. An der Gepäckaufbewahrung ging es eine Weile lebhaft zu; der Beamte hastete zwischen den Stellagen und Ablagen hin und her. Glinnes beobachtete ihn gespannt. Man hätte erwarten können, daß der Mann nach diesen Anstren-
gungen eine Ruhepause oder einen Besuch auf der Toilette eingelegt hätte – indessen schenkte er sich nur, als der letzte Reisende verschwunden war, einen Becher kalten Tee ein, den er in einem Zug leertrank, dann einen zweiten, über dem er ein paar Minuten saß. Darauf kehrte er an seine Arbeit zurück, und Glinnes wappnete sich mit Geduld. Nach einer Weile begann er sich zu langweilen. Er beobachtete die Menschen, die kamen und gingen, und amüsierte sich eine Zeitlang damit, Vermutungen über ihren Beruf und ihr geheimstes Privatleben anzustellen, aber dann verlor das auch jeden Reiz. Was interessierten ihn diese Vertreter, diese Großmütter und Großväter, die von Verwandtenbesuchen heimkehrten, die Funktionäre und Kleinkrämer? Was war mit dem Schalterbeamten? Und mit seiner Blase? Eben, als Glinnes wieder hinüberschaute, trank der Beamte schon wieder Tee. Welches Organ seines schmächtigen Körpers speicherte wohl all diese Flüssigkeit? Der Gedanke ließ Glinnes selbst ein leichtes menschliches Rühren verspüren. Er warf einen Blick zu den Toiletten auf der anderen Seite der Halle. Wenn er auch nur einen Augenblick verschwand, brauchte sich der Beamte nur den gleichen Moment aussuchen, dann war die ganze Warterei umsonst gewesen... Glinnes setzte sich bequemer hin. Er mußte es wohl genauso lange aushalten können wie der Beamte. Seine Ausdauer hatte ihm auf dem Hussadeplatz gute Dienste geleistet; bei einem Wettstreit mit diesem Gepäckaufbewahrungsbeamten würde Ausdauer wiederum der ausschlaggebende Faktor sein. Menschen kamen und gingen – ein Mann, der ei-
nen Hut mit einer lächerlichen gelben Kokarde trug; eine ältliche Frau, die einen betäubenden Moschusduft ausströmte; zwei junge Männer, die ihre Fanscher-Tracht zur Schau stellten und sich nach allen Seiten umsahen, als ob sie sich überzeugen wollten, daß auch alle die trotzige Herausforderung bemerkten... Glinnes schlug die Beine übereinander und rutschte auf seiner Bank hin und her. Der Schalterbeamte ließ sich auf einem Hocker nieder und begann Eintragungen in ein Register zu machen. Glinnes stand auf und marschierte die Halle hinauf und wieder herunter. Der Beamte war jetzt an den Schalter getreten und blickte hinaus in die Halle. Dann drehte er sich um und langte – nein! dachte Glinnes, nicht schon wieder! – nach dem Teebehälter. Der Mann war einfach nicht menschlich! Der Beamte setzte jedoch nur die Verschlußkappe auf den Behälter. Dann rieb er sich das Kinn und schien zu überlegen, während Glinnes von einem Bein aufs andere trat. Der Beamte kam endlich zu einem Entschluß. Er ging um den Schalter herum und auf die Herrentoilette zu. Glinnes stöhnte erleichtert auf und schob sich langsam näher an den Schalter. Niemand schien auf ihn zu achten. Er duckte sich blitzschnell hinter der Barriere, zog die Lade auf und schaute in das Fach. Zwei Schlüssel! Er nahm beide, schob die Lade zu und sprang wieder hinaus in den Wartesaal. Soweit er feststellen konnte, hatte niemand sein Tun bemerkt. Glinnes ging geradewegs zum Schließfach 42. Der eine Schlüssel in seiner Hand trug einen braunen Anhänger mit den schwarz aufgedruckten Ziffern 30. Der Anhänger des zweiten Schlüssels zeigte die Zahl
42. Glinnes schloß das Fach auf. Er nahm den schwarzen Aktenkoffer heraus und verschloß das Fach wieder. Hatte er noch Zeit, die Schlüssel zurückzubringen? Glinnes entschloß sich, es doch lieber nicht zu riskieren. Er trat aus dem Wartesaal hinaus in das rauchige Licht der Avness und machte sich auf den Weg zurück zum Hafen. Bei der ersten Gelegenheit trat er hinter eine Mauer, um sich zu erleichtern. Er fand sein Boot genauso vor, wie er es zurückgelassen hatte, legte ab und nahm Kurs nach Osten. Mit dem Knie steuernd, versuchte er die Tasche zu öffnen. Das Schloß widerstand seinen Fingern, worauf er es mit einer Metallstange bearbeitete. Plötzlich schnappte die Verschlußzunge zurück. Der Deckel klappte auf. Glinnes strich über die dicken Geldbündel: ein Stoß Alastor-Banknoten neben dem anderen. Dreißig Millionen Ozols.
KAPITEL 21 Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, als Glinnes am Steg von Rabendary anlegte. Das Haus war dunkel; Glay war nicht daheim. Glinnes brachte den Aktenkoffer hinein, legte ihn auf den Tisch und starrte ihn einige Minuten lang an. Dann machte er ihn auf und nahm Banknoten im Wert von dreißigtausend Ozols heraus, die er in einen Krug stopfte und neben der Veranda vergrub. Dann ging er ins Haus zurück und rief Akadie an, erntete aber nur ein Summen und expandierende rote Kreise auf dem Bildschirm, was darauf hindeutete, daß das Gerät außer Betrieb gesetzt war. Glinnes setzte sich auf die Bettcouch, müde, aber nicht zum Schlafen aufgelegt. Er versuchte noch einmal, mit Akadies Haus Verbindung zu bekommen, wieder ohne Erfolg; darauf nahm er den schwarzen Aktenkoffer mit ins Boot und nahm Kurs nach Norden. Von der Bucht aus schien Akadies Haus dunkel zu sein. Es war jedoch nicht wahrscheinlich, daß Akadie, der erst bei Nacht richtig aktiv wurde, um diese Zeit schon schlief... Dann entdeckte Glinnes auf dem Pier einen Mann, der sich unauffällig im Schatten hielt. Er drehte ab und hielt ein paar Meter vor der Küste an. Die dunkle Gestalt rührte sich nicht. Glinnes rief hinüber: »Wer ist da auf dem Pier?« Nach einer kurzen Pause kam gedämpft die Antwort über das Wasser: »Ein Gendarmeriekonstabler der Präfektur auf Wachdienst.« »Ist Janno Akadie zu Hause?«
Wieder das Zögern, dann die tiefe Stimme: »Nein.« »Wo ist er?« Pause, dann die gleichmütige Stimme: »Er ist in Welgen.« Glinnes riß das Boot herum und brauste über die Clinkhammer-Bucht davon, den Saur hinunter, zurück ins Farwan-Gewässer. Als er auf Rabendary eintraf, war das Haus noch immer dunkel; Glay schien anderswo zu übernachten. Glinnes machte das Boot fest und trug die schwarze Tasche ins Haus. Er rief den Gilweg-Wohnsitz an, aber der Bildschirm zeigte nur das Gesicht von Varella, einem der jüngeren Mädchen. Außer den Kindern war niemand zu Hause; alle anderen waren fort, Freunde besuchen, an einer Sternenschau teilnehmen oder Wein trinken, oder vielleicht waren sie in Welgen, um sich die Hinrichtungen anzusehen – das Mädchen wußte es nicht genau. Glinnes unterbrach die Verbindung, versteckte den schwarzen Koffer zwischen den Schilflagen des Daches, warf sich auf sein Bett und war in wenigen Augenblicken eingeschlafen. Der Morgen war kristallklar und sonnig. Eine warme Brise pustete weiße Schaumkrönchen über die Ambal-Bucht; der Himmel glich fliederfarbenem Glas. So unwahrscheinlich klare Tage waren in den Fens selten. Glinnes aß eine Kleinigkeit zum Frühstück und versuchte dann wieder, Akadie anzurufen. Wenige Minuten später legte ein Boot am Steg an, und Glay sprang an Land. Glinnes ging ihm entgegen. Glay blieb plötzlich stehen und inspizierte Glinnes von
oben bis unten. »Du bist so aufgekratzt, scheint mir.« »Ich habe genug Geld, um Casagave auszuzahlen. Und das werden wir noch in dieser Stunde tun.« Glay blickte über die Bucht hinüber zur Insel Ambal, die im frischen Morgenlicht so herrlich aussah wie selten zuvor. »Wie du meinst. Aber du solltest ihn lieber vorher anrufen.« »Wozu?« »Um ihn vorzuwarnen.« »Ich sehe nicht ein, warum ich das sollte«, sagte Glinnes, ging aber doch zum Telefon. Lute Casagaves Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Er erkundigte sich scharf: »Was wollen Sie?« »Ich habe zwölftausend Ozols für Sie«, sagte Glinnes. »Ich wünsche den Kaufvertrag zu annullieren. Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich gleich jetzt das Geld hinüber.« »Schicken Sie das Geld mit dem Eigentümer herüber«, sagte Casagave. »Ich bin der Eigentümer.« »Shira Hulden ist der Eigentümer. Er wird wohl selbst imstande sein, diesen Vertrag zu annullieren, wenn es ihm beliebt.« »Ich werde Ihnen heute noch eine amtliche Bestätigung über den Tod von Shira bringen.« »Ach nein. Und woher wollen Sie die bekommen?« »Von Janno Akadie, einem beamteten Mentor der Präfektur, der das Geständnis des Mörders bezeugen wird.« »Ach nein«, sagte Casagave mit einem höhnischen Auflachen. Der Bildschirm erlosch. Glinnes wandte sich verwirrt an Glay. »Das ist gar nicht die Reaktion, die ich erwartet hätte. Er war nicht im geringsten be-
stürzt.« Glay zuckte die Achseln. »Warum sollte er das sein? Akadie sitzt im Gefängnis. Wenn es nach dem Willen der Lords geht, wir man ihn auf den Prutanschyr bringen. Ein Zeugnis von Akadie ist keinen krummen Ozol mehr wert.« Glinnes verdrehte die Augen zur Decke und warf die Arme hoch. »Wann ist je ein Mann schon so vom Pech verfolgt worden!« rief er aus. Glay wandte sich kommentarlos ab. Nach einer Weile ging er zu seiner Bettcouch und schlief ein. Glinnes marschierte auf der Veranda hin und her, tief in Gedanken versunken. Schließlich machte er sich mit einem unartikulierten Fluch Luft, sprang in sein Boot und fuhr nach Westen. Eine Stunde später traf er in Welgen ein und konnte nur mit Mühe am vollbesetzten Pier einen Platz für sein Boot finden. Ungewöhnlich viele Leute hatten sich diesen Tag ausgesucht, um nach Welgen zu fahren. Auf dem Hauptplatz herrschten Trubel und Geschäftigkeit. Menschen aus der Stadt und von den Fens strömten unruhig hierhin und dorthin, immer ein Auge auf dem Prutanschyr, wo Handwerker die Zahnräder einer umfangreichen Maschine einstellten, deren Funktion Glinnes ein Rätsel war. Glinnes blieb stehen, um sich bei einem alten Mann zu erkundigen, der auf seinen Stock gestützt den Arbeitern zusah. »Was ist das für ein Ding auf dem Prutanschyr?« »Wieder eine von Filidices Verrücktheiten.« Der Alte spuckte verächtlich aufs Pflaster. »Er bevorzugt diese neumodischen Mechanismen, die nur selten dazu zu bringen sind, daß sie ihre Funktion erfüllen.
Zweiundsechzig Banditen müssen erledigt werden, und gestern noch hat das Ding mit Mühe einen einzigen Mann zerstückelt. Heute muß es bereits repariert werden! Das sind Zustände! Zu meiner Zeit begnügte man sich mit einfacheren Vorrichtungen.« Glinnes begab sich zur Gendarmerie, erfuhr jedoch nur, daß Filidice nicht zu sprechen sei. Darauf ersuchte er um eine Unterredung von fünf Minuten mit Janno Akadie, aber auch das wurde ihm verweigert. Heute waren keine Besucher im Gefängnis zugelassen. Glinnes kehrte auf den Hauptplatz zurück und suchte sich einen Platz im Gastgarten des Ehrenwerten St. Gambrinus, wo er vor einer wahren Ewigkeit – so kam es ihm jedenfalls vor – mit Junius Farfan gesprochen hatte. Er bestellte sich eine Achtelpinte Aquavit, die er in einem Zug hinunterstürzte. Das Schicksal hatte sich wirklich gegen ihn verschworen! Er hatte den Nachweis für Shiras Tod in der Hand, verlor dann aber sein Geld. Jetzt hatte er Geld genug, konnte aber Shiras Tod nicht mehr beweisen. Sein Zeuge Akadie war wertlos geworden, und der Mörder, Vang Drosset, war tot! Also – was sollte er nun tun? Die dreißig Millionen Ozols waren ein bitterer Scherz. Er würde das Geld lieber den Merlingen vorwerfen, als es dem Gendarmeriechef Filidice abliefern. Glinnes winkte dem Kellner und ließ sich noch einen Aquavit bringen; er warf einen bitteren Blick auf das scheußliche Gerät auf dem Prutanschyr. Um Akadie zu retten, mochte es doch erforderlich werden, das Geld abzulieferen – obwohl, genauer betrachtet, die Anklage gegen Akadie auf sehr schwachen Füßen stand...
Ein Schatten fiel über den Eingang. Glinnes blinzelte ins Licht und sah eine mittelgroße Gestalt eintreten, einen unauffälligen Mann, der ihm bekannt vorkam. Er schaute genauer hin und sprang dann mit wiedererwachter Energie auf die Füße. Auf seine einladende Geste trat der Mann näher. »Wenn ich mich nicht täusche«, sagte Glinnes, »dann sind Sie Ryl Shermatz. Ich bin Glinnes Hulden, ein Freund des Mentors Janno Akadie.« »Aber natürlich! Ich erinnere mich gut an Sie«, sagte Shermatz. »Und wie geht es unserem Freund Akadie?« Der Kellner brachte den Aquavit, und Glinnes schob Shermatz das Glas hin. »Den werden Sie bald brauchen, glaube ich... Ich nehme an, daß Sie die Neuigkeiten noch nicht vernommen haben?« »Ich bin gerade erst von Morilia zurückgekommen. Warum fragen Sie?« Aufgemuntert durch den günstigen Zufall und den Aquavit holte Glinnes zu einer dramatisierten Antwort aus. »Unser gemeinsamer Freund Akadie ist unschuldig in den Kerker geworfen worden. Er wird einer phantastischen Unterschlagung beschuldigt, und wenn es nach dem Willen der betroffenen Lords geht, wird man ihn wohl zwischen die Räder dieser Fleischmaschine da drüben werfen.« »Fürwahr eine schlechte Nachricht!« sagte Shermatz. Er hob das Glas mit einer ironisch-dankenden Geste und leerte es. »Akadie hätte nie vom Pfad der Rechtschaffenheit abweichen sollen; ihm fehlt die kalte Entschlossenheit, die einen erfolgreichen Verbrecher auszeichnet.« »Sie mißverstehen mich«, sagte Glinnes etwas är-
gerlich. »Die Beschuldigung ist absolut haltlos.« »Es erstaunt mich, daß Sie das mit solcher Sicherheit behaupten können«, sagte Shermatz. »Wenn es erforderlich wird, könnte Akadies Unschuld über jeden Zweifel hinaus bewiesen werden. Aber darum geht es mir im Moment nicht. Ich frage mich vielmehr, warum Filidice Akadie anscheinend auf bloßen Verdacht hin eingekerkert hat, während der wahre Schuldige noch frei herumläuft.« »Eine interessante Behauptung. Kennen Sie den Schuldigen?« Glinnes schüttelte den Kopf. »Ich wünschte es mir – besonders, wenn ein bestimmter Mann der Schuldige sein sollte.« »Und warum vertrauen Sie mir das alles an?« »Sie haben gesehen, wie Akadie das Geld dem Boten übergab. Ihre Aussage wird ihn entlasten.« »Ich sah, wie eine schwarze Tasche übergeben wurde. Es kann natürlich irgend etwas anderes darin gewesen sein.« Glinnes wählte seine Worte mit Vorsicht. »Sie fragen sich vermutlich, warum ich von Akadies Unschuld so überzeugt bin. Der Grund ist ganz einfach. Ich weiß, daß er tatsächlich mit dem Geld genau das tat, was er behauptet hat. Bandolio wurde gefaßt; sein Vertrauter Lempel wurde ermordet. Das Geld – nun, es war niemand mehr da, der es beanspruchen konnte. Meiner Meinung nach verdienen es diese rachsüchtigen Lords ebensowenig wie Bandolio. Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, irgendeiner Seite dazu zu verhelfen.« Shermatz nickte verständnisvoll. »Ich kann Sie sehr gut begreifen«, sagte er ernst.
»Wenn Akadie tatsächlich unschuldig ist, wer war dann wirklich Bandolios Komplize?« »Es erstaunt mich, daß Bandolio diesen Punkt nicht geklärt haben soll, aber Gendarmeriechef Filidice gestattet mir nicht einmal, mit Akadie zu sprechen, geschweige denn mit Bandolio.« »Da bin ich nicht so sicher.« Shermatz erhob sich. »Ein paar Worte mit dem Gendarmeriechef Filidice dürften ganz aufschlußreich sein.« »Setzen Sie sich wieder«, sagte Glinnes. »Er wird uns nicht vorlassen.« »Ich denke doch. Ich bin nämlich ein bißchen mehr als ein umherreisender Journalist – ich habe den Rang eines Generalinspektors des Whelm. Gendarmeriechef Filidice wird uns mit Freuden empfangen. Wir wollen der Sache sofort auf den Grund gehen. Wo ist er zu finden?« »Dort drüben ist sein Amtssitz«, sagte Glinnes. »Das Gebäude ist ziemlich verwahrlost, repräsentiert aber dennoch hier in Welgen die Majestät des Gesetzes von Trullion.« Glinnes und Ryl Shermatz mußten nur kurz in einem Vorraum warten, bis der Gendarmeriechef mit beunruhigter Miene zu ihnen herauskam. »Was ist denn schon wieder? Wer sind Sie, Sir?« Shermatz legte eine Metallplakette auf den Tisch. »Hier ist meine Legitimation.« Filidice besah sich etwas erschrocken die Plakette. »Ich stehe natürlich zu Ihren Diensten.« »Ich bin in der Sache des Starmenters Bandolio hier«, erklärte Shermatz. »Sie haben ihn verhört?« »Soweit es nötig war. Es lag kein Grund vor, eine
umfassende Untersuchung durchzuführen.« »Haben Sie seinen hiesigen Komplizen entlarvt?« Filidice nickte schroff. »Ein gewisser Janno Akadie hat mit ihm zusammengearbeitet. Er ist bereits verhaftet.« »Sie sind also von Akadies Schuld überzeugt?« »Das Beweismaterial spricht sehr deutlich dafür.« »Hat er gestanden?« »Nein.« »Haben Sie ihn einer Psychosondierung unterzogen?« »Dafür haben wir hier in Welgen keine Einrichtung.« »Ich möchte mit Bandolio und mit Akadie sprechen; Akadie zuerst, bitte.« Filidice wandte sich an einen Untergebenen und erteilte die nötigen Anweisungen. Zu Shermatz und Glinnes sagte er: »Bitte kommen Sie mit in mein Büro.« Fünf Minuten später wurde der jammernde und protestierende Akadie in das Zimmer geschoben. Beim Anblick von Glinnes und Shermatz verstummte er abrupt. Shermatz sagte höflich: »Guten Morgen, Janno Akadie; ich freue mich, Sie noch einmal zu sehen.« »Doch wohl nicht unter diesen Umständen! Können Sie sich das vorstellen – man hat mich in eine Zelle gesteckt wie einen Verbrecher! Ich dachte schon, jetzt bringen sie mich auf den Prutanschyr! Haben Sie so etwas schon erlebt?« »Ich hoffe, daß wir imstande sein werden, die Angelegenheit aufzuklären.« Shermatz wandte sich an Filidice. »Was genau wird Akadie vorgeworfen?«
»Daß er mit Sagmondo Bandolio konspiriert hat, und daß er dreißig Millionen Ozols Lösegeld unterschlagen hat.« »Beide Anschuldigungen sind falsch!« schrie Akadie. »Ich bin das Opfer eines Komplotts!« »Wir werden der Wahrheit schon noch auf die Spur kommen«, beruhigte ihn Shermatz. »Wollen wir uns nun anhören, was der Starmenter Bondolio zu sagen hat?« Filidice gab seinem Untergebenen einen Wink, und bald darauf betrat Sagmondo Bandolio den Raum – ein großer, schwarzbärtiger Mann mit einer Glatze inmitten schwarzer Stoppeln, funkelnden blauen Augen und ruhiger Miene. Das war der Mann, der fünf gefürchtete Schiffe und vierhundert Mann befehligt hatte, der zehntausendemale der Urheber von Tragödien gewesen war, aus Gründen, die nur er allein kannte. Shermatz winkte ihn heran. »Befriedigen Sie meine Neugier, Sagmondo Bandolio – bereuen Sie das Leben, das Sie geführt haben?« Bandolio lächelte höflich. »Die letzten zwei Wochen bereue ich gewiß. Was die Zeit vorher angeht, so ist das nicht so leicht zu entscheiden. Ich könnte Ihre Frage in keinem Fall zufriedenstellend beantworten. Im nachhinein behauptet man nur zu leicht etwas, das einem vorher nie in den Sinn gekommen wäre.« »Wir untersuchen den Überfall auf Welgen. Können Sie Ihren hiesigen Komplizen genauer identifizieren?« Bandolio zupfte an seinem Bart. »Ich habe ihn überhaupt noch nicht identifiziert, wenn ich mich
nicht irre.« »Er wurde vom Whelm einer Psychosondierung unterzogen«, erklärte Gendarmeriechef Filidice. »Er kann keinerlei Informationen zurückgehalten haben.« »Welche Aussagen hat er vor Ihnen gemacht?« »Die Initiative ging von Trullion aus. Bandolio erhielt durch geheime Starmenter-Kanäle einen Vorschlag zugespielt, der ihn immerhin soweit interessierte, daß er einen Untergebenen namens Lempel herschickte, der die näheren Umstände erkunden sollte. Lempels Bericht war positiv, also kam Bandolio selbst nach Trullion. Auf dem Strand in der Nähe von Welgen traf er mit einem Trill zusammen, der sein Komplize wurde. Das Treffen fand um Mitternacht statt. Der Trill trug eine Hussade-Maske und hatte eine kultivierte Stimme, die Bandolio jedoch nicht identifizieren könnte, wie er sagt. Es wurden die nötigen Vereinbarungen getroffen, und Bandolio sah den Mann nie wieder. Er beauftragte Lempel mit der Durchführung, und Lempel ist jetzt tot. Bandolio behauptet, keine weiteren Informationen zu besitzen, und die Psychosondierung bestätigt diese Aussage.« Shermatz wandte sich an Bandolio: »Ist diese Zusammenfassung korrekt?« »Das ist sie, außer, daß noch der Verdacht zu erwähnen wäre, daß mein hiesiger Bundesgenosse Lempel überredete, den Whelm zu verständigen, damit die beiden das gesamte Lösegeld für sich hätten. Als der Whelm informiert war, gab es keinen Grund mehr, Lempel am Leben zu lassen.« »Sie haben also keinerlei Ursache, die Identität Ihres hiesigen Komplizen zu verschweigen?« »Ganz im Gegenteil. Mein sehnlichster Wunsch
wäre, ihn zur Musik des Prutanschyr tanzen zu sehen.« »Hier vor Ihnen steht Janno Akadie. Kennen Sie ihn?« »Nein.« »Ist es möglich, daß Akadie Ihr Verbündeter war?« »Nein. Der Mann war so groß wie ich.« Shermatz warf Filidice einen scharfen Blick zu. »Da hören Sie es: um ein Haar hätte der Falsche auf dem Prutanschyr gebüßt.« Filidices blasses Gesicht begann, vor Schweiß zu glänzen. »Ich schwöre Ihnen, ich wurde unerträglich unter Druck gesetzt! Der Adelsrat bestand darauf, daß ich etwas unternahm; Lord Gensifer, der Vorsitzende, erhielt alle Vollmachten, im Namen des Rates ein energisches Vorgehen gegen den Verräter zu fordern. Da ich das Geld nicht wiederbeschaffen konnte, blieb mir nichts übrig...« »Als Akadie einzusperren, um den Adelsrat zu besänftigen.« »Es erschien mir das Nächstliegende.« »Sie haben Ihren Verbündeten bei Sternenlicht getroffen?« fragte Glinnes Bandolio. »Das habe ich.« Bandolios Miene war fast heiter. »Was hatte er an?« »Den üblichen Paray der Trills mit Umhang. Letzterer war an den Schultern stark ausgepolstert oder mit Epauletten oder Schnüren geschmückt; nur ein Trill könnte ihren genauen Zweck angeben. Wie er da in seiner Hussademaske am Strand stand, glich er in den Umrissen einem großen, schwarzen Vogel.« »Sie standen nahe bei ihm?«
»Wir waren etwa zwei Meter voneinander entfernt.« »Was für eine Maske trug er?« Bandolio lachte. »Woher sollte ich eure hiesigen Masken kennen? An den Schläfen saßen jedenfalls Hörner, das Maul war mit mächtigen Zähnen besetzt, und eine lange Zunge hing heraus. Es war, als hätte ich ein Ungeheuer vor mir.« »Was ist mit seiner Stimme?« »Ich bekam nur ein heiseres Murmeln zu hören; er wollte offensichtlich nichts riskieren.« »Seine Haltung, Gesten, Eigentümlichkeiten der Bewegung?« »Nichts. Er rührte sich nicht.« »Sein Boot?« »Ein ganz gewöhnliches Motorboot.« »An welchem Tag fand dieses Treffen statt?« »Am vierten des Lyssum.« Glinnes überlegte kurz. »Jede weitere Verständigung fand über Lempel statt?« »Stimmt.« »Sie hatten keinen weiteren Kontakt mehr zu dem Mann in der Hussademaske?« »Keinen.« »Was genau war seine Aufgabe?« »Er übernahm es, die dreihundert reichsten Männer der Präfektur im Abschnitt D des Stadions zu versammeln. Das ist ihm auch bestens gelungen.« »Die Karten wurden anonym gekauft und durch Boten verteilt«, warf Filidice ein. »Dieser Punkt bringt uns nicht weiter.« Ryl Shermatz musterte Filidice stumm und nachdenklich. Filidice begann sich unbehaglich zu fühlen. Shermatz sagte: »Es würde mich interessieren, war-
um Sie Akadie aufgrund von Beweismaterial eingesperrt haben, das selbst auf den ersten Blick zweifelhaft erscheint.« »Ich habe aus einer absolut zuverlässigen Quelle eine vertrauliche Information erhalten«, entgegnete Filidice würdevoll. »Angesichts der allgemeinen Erregung entschloß ich mich, rasch zu handeln.« »Die Information war vertraulich, sagen Sie?« »Nun, ja.« »Und wer ist diese absolut zuverlässige Quelle?« Filidice zögerte, hob dann resignierend die Hände. »Der Vorsitzende des Adelsrats hat mich überzeugt, daß Akadie über den Verbleib des Lösegeldes Bescheid wissen müsse. Er empfahl, Akadie einzusperren und ihm mit dem Prutanschyr zu drohen, bis er bereit wäre, das Geld herauszurücken.« »Der Vorsitzende des Adelsrats... das ist Lord Gensifer, nicht wahr?« »Genau«, sagte Filidice. »Dieser Schurke!« zischte Akadie. »Ich werde ihm die Meinung sagen!« »Es wäre interessant zu erfahren, was hinter seiner Anschuldigung steckt«, überlegte Shermatz laut. »Ich schlage vor, daß wir Lord Gensifer aufsuchen und ihn nach seinen Beweggründen fragen.« Filidice hob die Hand. »Das würde Lord Gensifer heute sehr ungelegen kommen. Der Adel hat sich in Schloß Gensifer versammelt, um Lord Gensifers Hochzeit zu feiern.« »Ich nehme auf Lord Gensifer genausoviel Rücksicht wie er auf mich«, erklärte Akadie zornig. »Wir werden ihn jetzt aufsuchen!« »Ich stimme mit Janno Akadie völlig überein«,
sagte Glinnes, »um so mehr, als wir dort wahrscheinlich den wahren Schuldigen identifizieren und festnehmen könnten.« Ryl Shermatz musterte ihn verwundert. »Sie sagen das sehr überzeugt.« »Kann sein, daß ich mich irre«, sagte Glinnes. »Für diesen Fall würde ich vorschlagen, Sagmondo Bandolio mitzunehmen.« Filidice, der das Gefühl bekam, daß ihm der Fall mehr und mehr aus den Händen genommen wurde, versuchte sich zu behaupten. »Das ist kein guter Vorschlag. Erstens ist Bandolio ein wendiger und gerissener Bursche; er darf dem Prutanschyr nicht entkommen. Zweitens hat er selbst erklärt, daß er nicht imstande ist, den Verräter zu identifizieren, weil dieser eine Hussademaske trug. Drittens finde ich die Idee, daß wir den Schuldigen auf Lord Gensifers Hochzeitsfest finden sollen, höchst sonderbar, um nicht zu sagen – verrückt! Ich wünsche keinen Skandal hervorzurufen, und ich will mich auch nicht lächerlich machen.« Shermatz sagte streng: »Ein gewissenhafter Mann macht sich nie lächerlich, wenn er seine Pflicht tut. Ich schlage vor, daß wir unsere Untersuchung ohne Rücksicht auf solche Nebensächlichkeiten fortsetzen.« Filidice gab sich geschlagen. »Nun gut, fahren wir also zu Schloß Gensifer hinaus. Konstabler, fesseln Sie den Häftling! Die Hand- und Fußketten lassen Sie mit einem doppelten Schloß sichern, und um den Hals bekommt er einen Fangdraht.« Das schwarze und graue Gendarmerieboot strebte über die Fleharish-Bucht den Fünf Inseln zu. Am Pier
drängten sich unzählige elegante Boote, und der Weg zum Schloß war mit Girlanden aus scharlachroten, gelben und rosa Seidenbändern geschmückt. Durch die prachtvollen Parkanlagen schlenderten Lords und Ladies in den archaischen Festgewändern, die nur zu den formellsten Anlässen getragen wurden und die gewöhnliche Leute kaum je zu Gesicht bekamen. Die kleine Gruppe von offiziellen Besuchern wanderte den Pfad hinauf, sich peinlich bewußt, wie sehr sie aus dem Rahmen fiel. Gendarmeriechef Filidice insbesondere schwankte zwischen aufgestauter Wut und Verlegenheit. Ryl Shermatz war ziemlich unbekümmert, und Sagmondo Bandolio schien die Situation sogar zu genießen. Stolz aufgerichtet marschierte er dahin und sah sich munter überall um. Ein alter Haushofmeister entdeckte sie und eilte ihnen konsterniert entgegen. Filidice murmelte eine Erklärung; das Gesicht des Haushofmeisters verzog sich entrüstet: »Sie werden doch gewiß nicht die Feier stören wollen! Die Zeremonie findet in Kürze statt. Das ist eine ganz unerhörte Vorgangsweise!« Die Selbstbeherrschung des Gendarmeriechefs geriet ins Wanken. Seine Stimme wurde schrill. »Schweigen Sie! Das ist eine Amtshandlung! Verschwinden Sie – nein, Moment! Wir haben vielleicht Anweisungen für Sie.« Er warf Shermatz einen säuerlichen Blick zu. »Wie wünschen Sie vorzugehen?« Shermatz wandte sich an Glinnes. »Was würden Sie vorschlagen?« »Einen Augenblick«, sagte Glinnes. Er blickte suchend über den Park und die vielleicht zweihundert umherwandernden Gäste. Noch nie hatte er eine solch prächtige Parade kostbarster Gewänder gesehen – die
Samtumhänge der Lords, am Rücken bestickt mit ihren heraldischen Emblemen; die Kleider ihrer Damen, gegürtet und geschmückt mit schwarzen Korallen oder versilberten Merlingschuppen oder rechteckigen Turmalinen mit dazu passenden Tiaren. Glinnes ließ den Blick über die Gesichter streifen. Lute Casagave – Lord Ambal, wie er genannt werden wollte – würde gewiß auch hier sein. Er entdeckte Duissane in einem einfachen, weißen Gewand und einem zierlichen weißen Turban. Sie spürte seinen Blick, wandte sich um und sah ihn an. Glinnes empfand in diesem Augenblick etwas, das er nicht zu benennen wußte – das Gefühl, etwas Kostbares entschwinden zu sehen, es für immer zu verlieren. Lord Gensifer stand in der Nähe. Er bemerkte die ungeladenen Besucher und runzelte überrascht und entrüstet die Stirn. Jemand ganz in der Nähe drehte sich auf der Stelle um und begann sich hastig zu entfernen. Die Bewegung lenkte Glinnes' Aufmerksamkeit auf den Mann. Er sprang vor, packte ihn am Arm und riß ihn herum. »Aber Lute Casagave!« Casagaves Züge waren weiß vor Empörung. »Ich bin Lord Ambal. Wie können Sie es wagen, mich anzufassen?« »Kommen Sie bitte mit«, sagte Glinnes. »Die Angelegenheit ist wichtig.« »Ich werde nichts dergleichen tun!« »Dann bleiben Sie von mir aus hier stehen.« Glinnes winkte seine Begleiter herbei. Casagave versuchte nochmals, sich zu entfernen; Glinnes zerrte ihn brutal zurück. Casagaves Miene hatte sich zu einer gefährlichen Maske verzerrt. »Was zum Teufel wollen Sie von mir?«
»Hören Sie gut zu«, sagte Glinnes drohend. »Das ist Ryl Shermatz, Generalinspektor des Whelm. Daneben Janno Akadie, ehemals beamteter Mentor der Präfektur Jolany. Beide sind Zeugen von Vang Drossets Geständnis gewesen, daß er Shira Hulden getötet hat. Ich bin somit Squire von Rabendary, und ich verlange, daß Sie die Insel Ambal auf der Stelle räumen.« Lute Casagave antwortete nicht. Filidice erkundigte sich ärgerlich: »Haben Sie uns nur hierher geschleppt, um Lord Ambal diese Mitteilung zu machen?« Sagmondo Bandolios herzhaftes Gelächter schnitt ihm das Wort ab. »Lord Ambal! Also wirklich! Das ist neu, wirklich ganz neu!« Casagave wandte sich ab und wollte gehen, aber Shermatz' ruhige Stimme ließ ihn innehalten. »Noch einen Augenblick, bitte. Dies ist eine amtliche Untersuchung, und die Frage Ihrer Identität könnte wichtig werden. Bleiben Sie also, wo Sie sind!« »Ich bin Lord Ambal; das muß Ihnen wohl genügen.« Ryl Shermatz wandte sich mit milde fragendem Blick an Bandolio. »Sie kennen ihn unter anderem Namen?« »Unter anderem Namen – und bei einem ganz anderen Zeitvertreib. Seine Unternehmungen haben mir oft genug einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hat getan, was ich schon vor zehn Jahren hätte tun sollen – sich mit seinem Raub zur Ruhe gesetzt. Sie sehen hier Alonzo Dirrig vor sich, auch bekannt als der Eisteufel oder Dirrig, der Schädelmacher, einst Befehlshaber über vier Schiffe und einer der tüchtigsten Starmenter, die es je gegeben hat.«
»Sie irren sich, wer Sie auch sein mögen.« Casagave verneigte sich und wandte sich zum Gehen. »Moment! Nicht so hastig!« rief Filidice. »Vielleicht haben wir hier einen wichtigen Fang gemacht. Wenn das der Fall ist, dann wäre Janno Akadie gerechtfertigt. Lord Ambal, streiten Sie die Beschuldigung von Sagmondo Bandolio ab?« »Da gibt es nichts zu bestreiten. Der Mann täuscht sich.« Bandolio lachte lauthals los. »Seht euch doch seine linke Handfläche an; ihr werdet eine Narbe finden, die ich ihm selbst beigebracht habe.« Filidice fuhr fort: »Leugnen Sie ab, besagter Alonzo Dirrig zu sein; weiters, daß Sie die Entführung von dreihundert adeligen Persönlichkeiten der Präfektur geplant haben; weiters, daß Sie in der Folge einen gewissen Lempel getötet haben?« Casagave verzog die Lippen. »Natürlich leugne ich es. Beweisen Sie es doch, wenn Sie können!« Filidice wandte sich an Glinnes. »Wo ist Ihr Beweis?« »Einen Augenblick«, sagte Shermatz verwirrt. Er wandte sich an Bandolio: »Ist das der Mann, mit dem Sie am Strand bei Welgen verhandelten?« »Alonzo Dirrig sollte mich zur Durchführung seiner Pläne brauchen? Niemals – nicht Alonzo Dirrig.« Filidice warf Glinnes einen mißtrauischen Blick zu. »Dann haben Sie sich also doch geirrt!« »Nicht so hastig!« sagte Glinnes. »Ich habe nie Casagave oder Dirrig, wie er auch heißt, beschuldigt. Ich habe ihn nur festgehalten, um endlich eine mir am Herzen liegende Angelegenheit zu klären.« Casagave drehte sich um und marschierte davon.
Ryl Shermatz gab Filidice einen Wink, und der befahl seinen beiden Konstablern: »Ihm nach! Nehmt ihn fest.« Die Beamten eilten davon. Casagave warf einen Blick über die Schulter zurück; als er sah, daß er verfolgt wurde, rannte er auf den Pier hinaus und sprang in sein Boot. Der Motor brüllte auf und das Boot schoß auf einem Gischtkeil über die FleharishBucht davon. Filidice brüllte den Konstablern nach: »Folgt ihm im Kutter; verliert ihn nicht aus den Augen! Funkt um Verstärkung! Fordert Luftunterstützung! Verhaftet ihn!« Lord Gensifer stellte ihn entrüstet zur Rede: »Was soll das, hier einen solchen Aufruhr zu stiften? Sehen Sie nicht, daß wir ein festliches Ereignis feiern?« Gendarmeriechef Filidice besann sich auf die Würde seines Amtes. »Wir bedauern selbstverständlich die Störung, die unser Eindringen verursacht hat. Wir hatten Grund anzunehmen, daß Lord Ambal der Komplize von Sagmondo Bandolio gewesen sein könnte. Anscheinend trifft das nicht zu.« Lord Gensifers Gesicht lief rot an. Sein Blick durchbohrte erst Akadie, dann Filidice. »Selbstverständlich trifft das nicht zu! Habe ich Ihnen die Sache nicht deutlich genug auseinandergesetzt? Wir kennen Bandolios Komplizen!« »Wirklich?« erkundigte sich Akadie in einem Ton, der einen empfindsameren Mann als Lord Gensifer hätte erbleichen lassen. »Und wer ist es?« »Der treulose Mentor, der voll Hinterlist erst die dreißig Millionen Ozols eingesammelt und sie dann beiseite geschafft hat!« erklärte Lord Gensifer. »Sein Name ist Janno Akadie!«
Ryl Shermatz erklärte sanft: »Sagmondo Bandolio bestreitet diese Theorie aber. Er behauptet, daß Akadie keinesfalls der Mann war.« Lord Gensifer warf die Arme zornig hoch. »Nun gut, dann ist Akadie von mir aus unschuldig! Wen interessiert das schon? Ich habe die ganze Sache mehr als satt! Bitte gehen Sie endlich! Sie belästigen meine Gäste und stören eine feierliche Zeremonie.« »Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung entgegen«, sagte Filidice eingeschüchtert. »Ich versichere Ihnen, daß dies nicht meine Absicht war. Kommen Sie also, meine Herren, wir wollen...« »Einen Augenblick noch«, sagte Glinnes. »Wir haben den wichtigsten Punkt der Angelegenheit noch nicht geklärt. Sagmondo Bandolio kann den Mann nicht identifizieren, mit dem er sich auf dem Strand getroffen hat, aber er ist ganz bestimmt imstande, die Maske zu identifizieren. Lord Gensifer, würden Sie einen Helm der Fleharish-Gorgonen holen?« Lord Gensifer richtete sich entrüstet auf. »Ich werde gewiß nichts dergleichen tun. Was soll dieser Unsinn? Muß ich Sie noch einmal ersuchen, meinen Besitz zu verlassen?« Glinnes ignorierte ihn und erklärte Filidice: »Als Bandolio die Hörner und die heraushängende Zunge der Maske beschrieb, mußte ich sofort an die Fleharish-Gorgonen denken. Am vierten Tag des Lyssum, an dem das Treffen stattfand, hatten die Gorgonen noch nicht ihre Uniformen erhalten. Nur Lord Gensifer kann einen Gorgonen-Helm benutzt haben. Daher ist Lord Gensifer der Schuldige!« »Was reden Sie da?« keuchte Filidice erschrocken. »Aha!« schrie Akadie und warf sich auf Lord Gen-
sifer. Glinnes zerrte ihn zurück und hielt ihn fest. »Was ist das für eine wahnsinnige Verleumdung, die Sie da vorbringen?« brüllte Lord Gensifer. Sein Gesicht war plötzlich fleckig geworden. »Haben Sie den Verstand verloren?« »Es ist wirklich lächerlich«, stellte Filidice fest. »Ich will nichts mehr davon hören.« »Nur langsam«, sagte Ryl Shermatz mit einem leisen Lächeln. »Glinnes Huldens Theorie ist eine eingehendere Überprüfung wert. Und meiner Ansicht nach ist sie in jedem Hinblick befriedigend.« Filidice sagte mit unterdrückter Stimme: »Lord Gensifer ist eine bedeutende Persönlichkeit; er ist der Vorsitzende des Adelsrates...« »Und in dieser Stellung hat er Sie dazu gezwungen, Akadie einzusperren«, sagte Glinnes. Lord Gensifer fuchtelte wütend vor Glinnes' Gesicht herum; aber er brachte kein Wort mehr heraus. Gendarmeriechef Filidice stellte Lord Gensifer bedrückt die Frage: »Können Sie diese Anschuldigung widerlegen? Hat Ihnen vielleicht jemand einen Helm gestohlen?« Lord Gensifer nickte heftig. »Das ist es! Zweifellos hat jemand einen Helm der Gorgonen aus meinem Lager gestohlen – höchstwahrscheinlich Akadie!« »In diesem Fall«, stellte Glinnes fest, »müßte jetzt einer fehlen. Gehen wir doch die Helme zählen.« Lord Gensifer holte zu einem wilden Schlag gegen Glinnes aus, der jedoch mühelos auswich. Shermatz winkte Filidice. »Verhaften Sie diesen Mann und bringen Sie ihn ins Gefängnis. Wir werden ihn einer Psychosondierung unterziehen, dann wird sich die Wahrheit schon herausstellen.«
»Niemals«, keuchte Lord Gensifer. »Ich will nicht auf den Prutanschyr!« Wie Casagave drehte er sich um und rannte zum Pier, während seine Gäste ihm entgeistert nachsahen. Eine solche Hochzeit hatten sie noch nicht erlebt. »Ihm nach!« befahl Shermatz schroff. Der Gendarmeriechef stürmte schwerfällig los und polterte den Steg entlang, als Lord Gensifer gerade in sein Boot sprang. Jede Vorsicht außer acht lassend, warf er sich mit einem Satz auf ihn. Lord Gensifer versuchte, ihn zurückzustoßen, aber Filidice fiel auf ihn. Lord Gensifer wurde gegen das Dollbord geworfen, verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Verzweifelt schwamm Lord Gensifer unter den Steg. Filidice rief ihm nach: »Es hat doch keinen Sinn, Lord Gensifer; der Gerechtigkeit muß Genüge getan werden. Kommen Sie hervor, das rate ich Ihnen!« Nur ein Plätschern zeigte an, daß Lord Gensifer noch unter dem Pier war. Filidice rief ihn wieder an. »Lord Gensifer! Warum machen Sie uns allen unnötige Schwierigkeiten? Kommen Sie heraus – Sie können nicht mehr entkommen!« Unter dem Pier ertönte plötzlich ein heiserer Schrei, dann einen Augenblick lang verzweifeltes Platschen, und dann hörte man nichts mehr. Filidice richtete sich langsam aus seiner Hocke auf. Mit aschgrauem Gesicht starrte er ins Wasser hinunter. Nach einer Weile zog er sich auf den Steg hinauf und kehrte zu Ryl Shermatz, Glinnes und Akadie zurück. »Jetzt können wir diesen Fall wohl abschließen«, sagte er. »Die dreißig Millionen Ozols – ich glaube, wir werden nie erfahren, wo sie geblieben sind.« Ryl Shermatz warf Glinnes einen Blick zu, den die-
ser mit gerunzelter Stirn erwiderte. »Nun ja, so wichtig ist das auch wieder nicht«, sagte Shermatz. »Aber wo ist denn unser Gefangener, wo ist Bandolio? Ist es möglich, daß er sich das Durcheinander zunutze gemacht hat?« »Es sieht ganz so aus«, sagte Filidice niedergeschlagen. »Er ist fort! Welch ein unseliger Tag!« »Im Gegenteil«, sagte Akadie. »Für mich hat er die größte Genugtuung meines Lebens gebracht.« »Casagave ist vertrieben – dafür bin ich überaus dankbar«, bemerkte Glinnes. »Es war auch für mich ein glücklicher Tag!« Filidice rieb sich verwirrt die Stirn. »Ich kann es noch gar nicht fassen. Lord Gensifer erschien mir immer als ein Muster der Rechtschaffenheit!« »Lord Gensifer hat genau zum falschen Zeitpunkt eingegriffen«, erklärte Glinnes. »Er brachte Lempel um, nachdem Lempel den Boten instruiert hatte, aber bevor ihm das Geld abgeliefert worden war. Er hat vermutlich angenommen, daß Akadie genauso prinzipienlos war wie er und das Geld erst gar nicht übergeben hatte.« »Wirklich betrüblich«, sagte Akadie. »Und die dreißig Millionen Ozols – wo mögen sie jetzt wohl sein? Vielleicht auf irgendeiner fernen Welt, auf der der Bote jetzt seinen unerwarteten Reichtum genießt.« »So wird es höchstwahrscheinlich sein«, meinte Filidice. »Nun, ich vermute, ich werde den Gästen irgendeine Erklärung geben müssen.« »Entschuldigt mich«, sagte Glinnes. »Dort drüben ist jemand, mit dem ich sprechen möchte.« Er ging durch den Park zu der Stelle, an der er Duissane zu-
letzt gesehen hatte. Sie war nicht mehr da. Er schaute sich überall um, aber er konnte keine Duissane finden. Ob sie vielleicht ins Haus gegangen war? Er konnte es nicht recht glauben – das Haus hatte für Duissane jetzt keine Bedeutung mehr... Um das Haus herum führte ein Pfad zum Strand. Glinnes lief in plötzlicher Gewißheit zum Meer hinunter, und da war Duissane. Sie stand im Sand und blickte auf das Wasser hinaus, zu jener endlosen Linie, an der Himmel und Wasser verschmolzen. Glinnes trat zu ihr. Sie fuhr zusammen und schaute ihn an, als sähe sie ihn zum erstenmal. Dann wandte sie sich ab und ging langsam am Wasser entlang nach Osten. Glinnes holte sie ein, und im dunstigen Licht eines alten Nachmittags wanderten sie zusammen über den Strand.
GLOSSAR 1
Starmenter: Piraten und räuberische Rebellen, deren Schlupfwinkel die sogenannten ›Starments‹ sind.
2
Merlank: Eine Art Eidechse. Der Kontinent umfaßt den Äquator wie eine Eidechse, die sich an eine blaue Glaskugel klammert.
3
Cauch (gesprochen kauk): Ein Aphrodisiakum, das aus den Sporen eines Bergschimmels gewonnen wird und von den meisten Trills hin und wieder eingenommen wird. Manche verlieren sich so sehr in ihren erotischen Phantasien, daß sie als unzurechnungsfähig angesehen werden; diese Menschen sind Zielscheibe freundlichen Spotts. Unzurechnungsfähigkeit kann unter den auf Trullion herrschenden Bedingungen kaum als ernstzunehmendes soziologisches Problem betrachtet werden.
4
Sheirl (gesprochen Schirl): ein unübersetzbares Wort aus dem speziellen Vokabular der Hussade – eine zauberhafte Nymphe voller Lebensgeist und Feuer, die die Spieler ihrer Mannschaft zu ungewöhnlichen Leistungen anspornt. Die Sheirl ist eine Jungfrau, die vor der Schande der Niederlage beschützt werden muß.
5
Merlinge: amphibische, halbintelligente Eingeborene von Trullion, die in Uferhöhlungen unter Wasser leben. Zwischen Menschen und Merlingen herrscht ein sehr labiler Duldenspakt; beide Seiten
hassen und verfolgen die andere, doch unter gerade noch erträglichen Bedingungen. Die Merlinge streifen nachts über das Land auf der Suche nach Aas, kleinen Tieren und Kindern. Wenn sie Boote angreifen oder in Wohnstätten eindringen, werfen die Menschen zur Vergeltung Explosivstoffe ins Wasser. Fällt ein Mensch ins Wasser oder versucht jemand zu schwimmen, so ist er damit in das Revier der Merlinge eingedrungen und riskiert, unter Wasser gezogen zu werden. Andererseits kann ein Merling, der an Land erwischt wird, auch keine Gnade erwarten. 6
Sternenschau: Nachts ist der Himmel übersät mit den Sternen des Alastor-Haufens. Ihr Licht bricht sich in der Atmosphäre – die Luft ist erfüllt von vielfarbigem Glitzern und Funkeln. Die Trills lassen sich draußen in ihren Gärten nieder, Krüge mit Wein bei der Hand, und benennen die Sterne, diskutieren über ihre Welten. Für die Trills, wie für die meisten Menschen von Alastor, ist der Sternenhimmel kein abstraktes Lichtmuster, sondern ein Ausblick auf ferne Orte und Welten, ein belebtes Panorama. Meist kommt bei der Sternenschau auch die Sprache auf die Raumpiraten, die sogenannten ›Starmenter‹, und ihre schrecklichen Untaten. Wenn die Sonne von Numenes sichtbar ist, wendet sich das Gespräch dem Connat und dem herrlichen Lusz zu, und immer gibt es einen, der sagt: »Paßt auf, was ihr redet! Vielleicht sitzt er hier unter uns, trinkt unseren Wein und merkt sich alle Unzufriedenen!« – was zuerst ein unruhiges Gemurmel hervorruft, denn die Gewohnheit
des Connat, unerkannt die Welten von Alastor zu durchwandern, ist allen bekannt. Dann aber sagt sich einer beherzt: »Unsinn – wir sind zehn (oder zwölf oder sechzehn oder zwanzig, je nachdem) von fünf Billionen! Der Connat unter uns? Das will ich riskieren!« Bei einer solchen Sternenschau war Sharue Hulden allein ins Dunkle fortgeschlendert. Bevor ihre Abwesenheit bemerkt wurde, hatten die Merlinge sie gepackt und unter Wasser gezogen. 7
Paro: Ein berühmter Hussade-Spieler, der Liebling des ganzen Sternhaufens, gefeiert wegen seines kühnen und angriffslustigen Spiels. Slabar Velche: Ein berüchtigter Starmenter.
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Trevanyi: Ein Nomadenvolk von spezifischer rassischer Herkunft, dem Dieberei, Zauberkünste und ein gefährlicher Trickreichtum zugeschrieben werden; ein leicht erregbares, heißblütiges, rachelüsternes Volk. Sie betrachten Cauch als Gift und hüten die Ehre ihrer Frauen mit fanatischem Eifer.
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Zanzamar: eine Stadt am äußersten Ende des Sonnenaufgangskaps.
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Urush: Verächtlicher Ausdruck der Trevanyi für einen Trill.
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Spag: Zustand der Brunft, der sexuellen Erregung; daraus: Spageen: ein Individuum in diesem Zustand.
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Forlostwenna: Ein Wort der Trevanyi-Mundart –
ein Zwang, sich erneut auf die Wanderung zu machen; viel stärker als der allgemeine Ausdruck ›Wanderlust‹. 13
Gealospans: wörtlich, ›Mädchenentblößer‹ – Anspielung auf das erhoffte Schicksal der gegnerischen Sheirl.
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Stelt: Ein kostbares Mineral, das aus Vulkanschloten auf bestimmten Typen erloschener Sterne gewonnen wird; eine Mischung von Metallen und natürlichem Glas, die die vielfältigen Muster und Färbungen aufweisen kann.
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Hussade: Das Hussade-Spielfeld besteht aus einem Gitter von ›Zügen‹ oder ›Wegen‹ in Längsrichtung und sogenannten ›Brücken‹ in Querrichtung über einem großen, anderthalb Meter tiefen Wasserbecken. Die Züge sind drei Meter voneinander entfernt, die Brücke zur anderen. Der Mittelgraben ist zweieinhalb Meter breit und kann auf beiden Seiten passiert werden oder in der Mitte, aber ein geschickter Spieler kann ihn natürlich auch überall überspringen. In den ›Heimtanks‹ an den beiden Enden des Spielfeldes steht das Podium, auf dem die Sheirl der Mannschaft den Ausgang erwartet. Die Spieler befördern die Gegner durch Treffer mit den ›Pads‹ oder durch Bodycheck ins Wasser, dürfen dazu aber in keiner Weise die Hände gebrauchen. Der Kapitän jeder Mannschaft ist mit einer ›Hange‹ versehen, einem Licht auf einem ein Meter hohen Gestell. Solange das Licht brennt, darf
der Kapitän weder angegriffen werden noch selbst angreifen. Wenn er sich mehr als zwei Meter von der Hange entfernt oder das Gestell aufhebt, um seine Position zu ändern, erlischt das Licht; dann darf er angreifen und angegriffen werden. Ein wirklich tüchtiger Kapitän braucht sich um seine Hange kaum zu kümmern; ein weniger geschickter wird sich an einem wichtigen Kreuzungspunkt postieren, den er durch seine Unangreifbarkeit im Bereich der brennenden Hange schützen kann. Die Sheirl steht auf ihrer Plattform am Ende des Spielfeldes, umgeben vom Heimtank. Sie trägt ein weißes Gewand, das nur durch einen Goldring über der Brust zusammengehalten wird. Die gegnerischen Spieler versuchen, diesen Ring in die Hand zu bekommen; ein leichter Zug entblößt die Sheirl. Die Würde der Sheirl kann von ihrem Kapitän um eine bestimmte Summe ausgelöst werden, um fünfhundert Ozols, tausend, zweitausend oder auch viel mehr, je nachdem, welche Vereinbarungen vor dem Spiel getroffen wurden. 16
Pad: eine ein Meter lange, gepolsterte Keule, mit der die gegnerischen Spieler ins Wasser gestoßen werden können.
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Tanchinaros: schwarz-silbern gestreifter Fisch in dem fernen südlichen Ozean.
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Isthoune: Stolz und Selbstvertrauen; Mana: der emotionelle Zustand, der einen Mann zu den verrücktesten Heldentaten treiben kann; ein im wesentlichen unübersetzbares Wort.
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Karpoun: ein wildes, tigerähnliches Raubtier aus den Shamschin-Vulkanfeldern.
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Quorls: Eine Molluskenart, die im feuchten Sand des Strandes lebt.
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Curset: ein krabbenähnliches Meeresinsekt.
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Warmos: schmutzig, pervers, haltlos; ein oft auf die Trills angewendetes Eigenschaftswort.