Scanner und Layouter: gameone gewidmet meiner geliebten Noy K-Leser: kleinesrainer
DAS KULTBUCH EINER NEUEN GENERATION...
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Scanner und Layouter: gameone gewidmet meiner geliebten Noy K-Leser: kleinesrainer
DAS KULTBUCH EINER NEUEN GENERATION
Nach einem schweren Unfall erwacht eine junge Frau im Krankenhaus. Ihr Gedächtnis wurde offenbar stark geschädigt, denn jeder Versuch, sich an bestimmte Ereignisse zu erinnern, ist mit Schmerzen und bizarren Halluzinationen verbunden. Langsam wird ihr klar, daß ihre Persönlichkeit synthetisch neu erschaffen wurde – sie besitzt nun Fähigkeiten wie jene Künstlichen Intelligenzen, die das internationale Datennetz steuern. Doch was ist mit ihrem alten Ich geschehen? Und warum interessieren sich plötzlich hochrangige Vertreter der Regierung für sie? »Ein atemberaubendes Buch. Es geht Gawron um nichts weniger als die Frage der Identität in Zeiten des Cyberspace.« Samuel R. Delany »Jean Mark Gawron läßt die Cyberpunks um William Gibson alt aussehen.« Library Journal Der kommerzielle Einsatz dieses E-Books ist hiermit verboten
JEAN MARK GAWRON
TRÄUME AUS GLAS Roman
Aus dem Amerikanischen von MARTIN GILBERT
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6333 Titel der amerikanischen Originalausgabe DREAM OF GLASS Deutsche Übersetzung von Martin Gilbert Das Umschlagbild ist von p. n. m. doMANSKI (GRUPPE d4)
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1993 by Jean Mark Gawron Erstausgabe 1993 by Harcourt Brace & Company, Orlando, Florida Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Mohrbooks AG, Literarische Agentur, Zürich Die Zitate aus Bob Dylan’s »Talkin’ World War III Blues«: Copyright © 1963, 1966 by Warner Bros. Music; erneuert © 1991 by Special Rider Music. All rights reserved. International rights secured. Mit freundlicher Genehmigung Copyright © 1999 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München http://www.heyne.de Taschenbucherstausgabe 12/1999 Printed in Germany W/1999 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-453-16.175-0
Für Jenny
Der Mensch strebt nicht nach einer neuen Natur, jedoch nach der Perfektion dieser Natur. Nikolaus von Kues
PROLOG
Voraus rollten schneegesprenkelte Hügel über den Talboden zu Bergen hinüber, die noch im Schatten lagen. Die gezackte Linie des Schattenwurfs teilte das Tal in zwei Hälften. Alexa schlitterte über den verharschten Schnee. Sie streckte ihrer Großmutter die Hand zum Gruß entgegen, und die Hand verschwand im Handschuh der Großmutter. Sie ging darin auf, den Fuß in die Abdrücke eines Erwachsenen-Fußes zu setzen, damit sie nicht das zarte weiße Filigranmuster zerstörte, das sich durch den schmutzigen Schnee zog. Weil sie gezwungen war, mit der Großmutter Schritt zu halten, waren ihre Bemühungen nur bedingt von Erfolg gekrönt. Doch bat sie sie nicht, etwas langsamer zu gehen. Ihre Großmutter war eine große Frau. Sie betrieb seit einem halben Jahrhundert Landwirtschaft in diesen kargen Hügeln, und das hatte sie geprägt: Breite Schultern, Hände wie Vorschlaghämmer und ein verwittertes, ledriges Gesicht. Doch gerade ihr Alter gefiel Alexa am besten. Sie war älter als alle anderen Menschen, an die Alexa sich erinnerte. Noch nach vielen Jahren, wann immer sie sich ans Gesicht ihrer Großmutter erinnerte, würden ihr die Worte ›so alt, wie die Erinnerung zurückreicht‹ durch den Kopf gehen. Doch lag es nicht nur daran, daß das Gesicht ihrer Großmutter das Gesicht eines Menschen war, das sie am längsten gekannt hatte; es lag auch daran, daß es ein Gesicht war, aus dem Weisheit sprach. Alt sein, Dinge wissen, rissige ledrige Wangen haben und eisblaue Augen – das war es, wonach Alexa trachtete. Daß auch junge Leute so blaue Augen hatten, war eine Entdeckung, die sie bald machte, nachdem sie das alpine Tal ihrer Geburt in Kalifornien verlassen hatte. Er war ein schwarzer Mann mit schneeweißem Haar. Sie
hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt und hatte ihm noch für viele Monate Briefe nach Prag geschrieben, die er nie beantwortete. Doch in jenen Jahren waren blaue Augen in den Bergen Kaliforniens so selten wie ein vierblättriges Kleeblatt, und man erzählte sich, daß Alexas Großmutter gar nicht von hier war, sondern aus den Bergen weit im Osten stammte. Nicht daß irgend jemand aus Horton’s Valley jemals in Montana gewesen wäre. Alexas Großmutter wußte mehr über Viehzucht, Dieselmotoren und Tomaten als sonst jemand im Tal, und falls sie sich diese Kenntnisse wirklich andernorts angeeignet hatte, war es schon so lang her, daß man es als gegeben hinnahm. Alexa hatte ganz andere Augen als ihre Großmutter. Überhaupt hatte Alexa so wenig Ähnlichkeit mit ihr, daß sie sich oft fragte, ob sie wirklich ihre Enkeltochter wäre. Doch bestanden auch diese Unterschiede schon so lang, daß sie sie als gegeben hinnahm. Sie war die Frau, die sie genährt, gewaschen und gekleidet hatte, die sie gelehrt hatte, einen Dieselmotor zu zerlegen, ein Feld zu bestellen und einen zarten Hybriden mit der Pinzette zu düngen. Noch Jahre nach der Ankunft des Schiffs war es die Erinnerung an ihre Großmutter, die sie zum Besuch der Interfacer-Akademie motivierte und zu Höchstleistungen anspornte, bis sie schließlich den Abschluß an der Universität von Budapest machte. Sie hatte große Ähnlichkeit mit ihrem Vater, sagte ihre Großmutter, dunkles Haar, dunkle Augen, mit einem Talent für Zahlen und Buchstaben. Doch in den Punkten, auf die es wirklich ankam, war sie wie ihre Mutter. Ihre Großmutter erzählte ihr oft Geschichten von ihrer Mutter, einer Läuferin mit olivenfarbener Haut, die jeden Sommer den Mittelstreckenlauf beim regionalen Sportfest gewonnen hatte. Beide Elternteile waren kurz nach ihrer Geburt an einer Seuche gestorben.
»Ich habe dir eine gesunde und bodenständige Erziehung angedeihen lassen, Alexa. Heute werde ich dir etwas geben, das du zum Verlassen dieses Dorfs brauchst. Willensstärke.« Alexa verstand das zwar nicht, aber sie wußte, daß es etwas mit dem Schiff zu tun hatte. Schon Wochen vor der Ankunft war das Schiff in aller Munde gewesen. Anna, das kleine Mädchen, mit dem sie in der Kinderkrippe arbeitete, hatte es als silberne Nadel mit drei Finnen beschrieben, wie Federn an einem Pfeil. Fabrizio, der mit ihr Wagen in der Dorfwerkstatt anstrich, hatte es als eine schwarze Kugel ohne Türen und Fenster beschrieben. Einig waren beide sich darin, daß es bei der Landung des Schiffs wahrscheinlich Tote geben würde, weil die Schiffe sich vor dem Entladen in der Regel ein Opfer holten. Und Andrea, die mit ihr in den Rechenkurs ging, sagte ihr, daß die Schiffe von Menschenblut angetrieben würden. Zu ihrer Freude weckte ihre Großmutter sie an jenem Morgen mit den Worten: »Heute wird nicht gearbeitet. Wir werden uns das Schiff ansehen.« Doch sie fragte sich, ob ihre Großmutter sich auch ausreichend gegen die Gefahr gewappnet hätte. Sie hatte sich die Augen gerieben, um sich zu vergewissern, daß sie nicht etwa träumte. (Ihre Großmutter hatte ihr nämlich gesagt, sie solle im Traum immer höflich sein, weil man schließlich nie wüßte, um wessen Traum es sich handelte.) »Glaubst du, das Schiff wird uns töten?« hatte sie über Schwarzbrot und Milch beiläufig gefragt und ihre Großmutter entspannt angesehen, um ihr zu bedeuten, daß diese Aussicht sie nicht erschreckte. Für eine lange Zeit hatte das Schiff den Stellenwert eines beliebigen wichtigen Ereignisses gehabt – noch zu weit entfernt, um akut zu sein. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie gemutmaßt, daß das Schiff wahrscheinlich in
ihrem Teil der Trinity Alps landen würde. Dann, eine Woche später, waren die Soldaten mit der Nachricht erschienen, daß die Landung in Alexas Dorf stattfinden würde. Die Soldaten waren große, brutale Männer und Frauen. Sie waren ganz nach Alexas Geschmack. Ihr gefiel der komische Akzent, mit dem sie sprachen und vor allem ihre Flüche, die sich von den Flüchen ihrer Großmutter unterschieden, die sich wiederum von Fabrizios Flüchen unterschieden. (Denn die schlimmsten Wörter, die Großmutter in den Mund nahm, waren Schmutz, Staub und Stein – Dinge, die einen Pflug beschädigten und einen Fluß austrockneten. Bei Fabrizio waren es Tiere – Hühner, Ratten und Läuse. Bei den Soldaten bezeichneten die schlimmsten Worte Teile des Körpers, und der schlimmste Teil des Körpers war das Geschlecht einer Frau, das immer muffelte.) Eine Soldatin trug eine schwarze Augenklappe und ein schwarzes Kettenhemd und war mit einem weißen Stab bewaffnet, den sie als Lichtsäbel bezeichnete. Sie hieß Leza. Im Pferch hinter dem Rose Monument zeigte sie Alexa, was sich hinter der Augenklappe verbarg – nicht etwa eine klaffende Höhle, sondern ein Kristall, dessen Facetten orange, weiß und hellrot glitzerten. »Kannst du mit diesem Juwel sehen?« fragte Alexa sie, und Leza wies gen Himmel und sagte: »Ich sehe dort, Kind.« Dann sagte Leza ihr, daß die Bezeichnung ›Lichtsäbel‹ unzutreffend sei, was Alexa aber nicht verstand; und Leza lächelte, zog den weißen Stab hervor und erhob ihn. Es blitzte. Leza verfärbte sich für einen Moment grün. Sie führte mit dem Säbel einen leichten Streich gegen die Mauer des Werkzeugschuppens, und es ertönte ein dumpfer Knall: Ein kleiner Ausschnitt der Mauer kräuselte sich, als ob ein Hautlappen gegen Glas gedrückt worden wäre. Als sie den Säbel zurückzog, rieselten Staub und Schutt zu Boden.
Nun wußte Alexa, weshalb die Dorfbewohner sich vor den Soldaten fürchteten. Aber sie fürchtete sich nicht. »Doch was würdest du tun, wenn sie den Lichtsäbel gegen dich richtete?« fragte Andrea. »Ich würde ihn ihr abnehmen«, sagte Alexa. Ein andermal führte Leza sie in eine der weißen Kunststoffkuppeln, welche die Soldaten außerhalb des Dorfs aufgestellt hatten. Als Alexa den Fuß auf den weichen belüfteten Boden setzte, schnaufte er leise. Alexa fand das sehr komisch. Leza tastete sich mit ihr in einen Raum, der nur vom orangefarbenen Glühen eines Computermonitors erhellt wurde. Das Licht zeichnete Schatten aufs Gesicht eines blonden Manns mit Brille. Der Mann runzelte die Stirn und ballte eine Hand zur Faust; mit der anderen führte er wischende Bewegungen aus. Leza krümmte vor einem Auge Zeigefinger und Daumen zum Kreis. Der Mann legte zwei Finger an die Schläfe und zog sie wieder zurück. Alexa erkannte, daß sie sich unterhielten, doch beim Blick auf den Bildschirm verlor sie das Interesse an der stummen Konversation. Aus purpurnen und orangefarbenen Schlieren schälten sich bizarr verwinkelte Flächen, die sich zu einem rotierenden Gebilde zusammenfügten, das abwechselnd in ihre Richtung und nach hinten kippte. Plötzlich sah sie es mit anderen Augen und interpretierte es als eine seltsame Art der Penetration. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß Lezas Handbewegungen immer hektischer wurden; der Mann nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch. In der Annahme, das Bild dann besser zu sehen, setzte Alexa die Brille auf. Zu ihrer Verwunderung trat kaum eine Veränderung ein. Jedoch waren die Farben nicht mehr so schrill, und die Flächen hatten an Kontur gewonnen. Dann hörte sie, wie das Muster sich wispernd veränderte, und sie schmeckte das metallische
Zentrum. Perplex streckte sie den Arm aus und unterbrach die Screenshow. Leza rief sie an und sagte ihr, sie solle die Brille absetzen. Sie tat wie geheißen. Der Mann riß ihr die Brille aus der Hand und setzte sie wieder auf. Dann schlug er mit der Faust auf die Handfläche und widmete sich wieder dem Computer. Er beugte sich nach vorn und hackte auf der Tastatur herum. Alexa schaute zu Leza auf, die ihrerseits besorgt den Mann betrachtete. »Ist er wütend, weil ich das Muster unterbrochen habe?« Leza antwortete nicht. Für einen langen Moment war nur das Klacken der Tasten zu hören. Dann nahm der Mann die Brille ab und starrte Leza mit glitzernden Augen an. »Sperre?« fragte Leza. Er nickte. »Ich kriege das wieder hin«, sagte Alexa und griff nach der Brille. Der Mann hielt sie hoch über den Kopf. »Sie soll’s mal versuchen«, sagte Leza. Der Mann sah sie an. »Laß sie ran.« Irgend etwas in Lezas Stimme veranlaßte ihn, die Brille herunterzunehmen. Alexa schnappte sie sich und setzte sie auf. Wenn sie später an jenen Tag zurückdachte, begriff sie, daß, als sie die Brille zum zweitenmal aufsetzte, ihr Leben sich grundlegend verändert hatte. Sie hatte das Muster vor sich, wurde dann von ihm umfangen, und der Geschmack hatte sich verändert – noch immer metallisch, doch nun herber, geradezu prickelnd. Sie sah sofort, daß der Mann es falsch angefangen hatte. Während sie die einzelnen Teile sachte voneinander löste, verebbte das Prickeln, und der metallische Geschmack verwandelte sich in eine pikante Komposition aus Orange und Gewürznelke. Das Summen des Musters
hob wieder an. Sie wurde von einem Gefühl der Rechtschaffenheit durchdrungen, einer Art Erleichterung, die im Grunde nicht neu war, die sie aber seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte – vielleicht nicht mehr, seit sie sprechen gelernt hatte. Auf Lezas Geheiß hin setzte sie die Brille wieder ab. Das ging schon in Ordnung, denn sie hatte das Muster bereits optimiert. Alexa wollte gerade durch die Tür gehen, als Leza sie zurückrief. Der Mann setzte die Brille auf und hielt für eine Zeitspanne, die ihr sehr lang erschien, die Hand hoch. Schließlich berührte Leza seine Handfläche mit drei Fingern. Er seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück. Dann hob er die andere Hand und nahm die Brille ab. Leza fuhr ihm mit der flachen Hand scheibenwischerartig durchs Blickfeld, und er nickte. Dann unterhielten sie sich für ein paar Minuten in Zeichensprache. Danach faßte Leza Alexa an der Hand und führte sie aus der Kuppel. Als sie wieder draußen im Sonnenlicht waren, fragte Alexa sie: »War das in Ordnung?« Leza antwortete nicht sofort. »Ich könnte echte Probleme kriegen wegen der Sache eben. Du darfst mit niemandem darüber sprechen.« »Du meinst, wir können nicht zurückgehen?« Leza lachte. »Nein, aber das würdest du gern, stimmt’s? Was hast du denn gesehen mit der Brille?« Alexa zuckte die Achseln. »Nicht viel. Zwei verhakte Dinger, die einen komischen Geschmack hatten. Es war gar nicht einfach, sie zu trennen.« »Geschmack…?« fragte Leza erstaunt. »Man mußte in die orangefarbene Y-Richtung drücken.« »Ich verstehe. Weißt du, Alexa, normalerweise dauert es eine Weile, bis die Leute begreifen, was sie durch die Brille sehen. Du bist ziemlich gut. Erinnerst du dich noch an den Rhythmus?«
»Rhythmus? Ach, du meinst das Ump-tata. Ich habe nicht weiter darauf geachtet.« Leza schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. »Dauer sieben Minuten. Völlig untrainiert, und du hast schon ein Langzeit-Struktur-Gedächtnis. Kind, du bist etwas ganz Besonderes. Ich kenne da eine Schule, die dir gefallen würde. Ich glaube, die Eignungsprüfung wäre die reinste Lachnummer für dich.« »Schule finde ich ätzend.« »Das wundert mich nicht. Aber diese Schule ist anders. Dort darfst du die Brille und andere tolle Sachen tragen.« Dann berührte Leza einen Ring im Kettenhemd. Ein rotes Glühen breitete sich von dieser Stelle aus und hüllte sie ein. Der Säbel glühte in einem kräftigen Blau. Das alles geschah eine Woche vor der Landung des Schiffes – eine Woche, in der Alexa ihr Schweigegelübde einhielt und Leza nicht mehr auf die Schule zu sprechen kam. Alexa hatte beschlossen, Leza daran zu erinnern, wenn sie sie heute sah. Das Dorf bestand aus einer Ansammlung von Häusern an der Straße nach Eugene. Auf einer Seite befand sich der Hügel mit der Kirche, die man inmitten eines kleinen Kirchhofs errichtet hatte. Soldaten lümmelten sich auf den Stufen. Die Säbel und Gewehre hatten sie in der Nähe abgelegt. Auf der anderen Straßenseite, am Ufer des großen Flusses, tollten Kinder zwischen den Bäumen. Während der nächsten Stunde sah Alexa lauter Bekannte. Die Dörfler versammelten sich in kleinen Gruppen vor den Häusern entlang der Straße. Einerseits mieden sie die Gesellschaft der Soldaten vor der Kirche, andererseits wollten sie sie auch nicht brüskieren. Wong der Bürgermeister, gesellte sich mit seiner jungen Tochter zu Alexa und ihrer Großmutter. Wong beklagte sich, daß die Soldaten, die den Distrikt abge-
riegelt hatten, seinen Verwandten nicht gestattet hätten, die Landung zu beobachten. Während Wong sich dann noch darüber ausließ, daß es um ihre kleine Welt generell nicht mehr zum besten bestellt sei, wurde seine Tochter unruhig und ging davon, um mit einem Soldaten zu plaudern. Wong ging auf Tuchfühlung und sagte: »Heute nacht wurde ein Offizier erschossen. Personen-Ministerium.« Alexas Großmutter starrte ihn an. »Wie kann man nur so dumm sein?« »Manche Leute haben sich nicht in der Gewalt.« Er sah zu seiner Tochter hinüber, die sich angeregt mit dem Soldaten unterhielt und sogar seine Schulter berührte. »Das werden sie sich keinesfalls bieten lassen. Sie werden die Leute zusammentreiben. Paßt auf euch auf.« Er lief zu seiner Tochter. Alexas Großmutter faßte Alexa an der Hand. »Am besten vergißt du ganz schnell wieder, was du eben gehört hast.« Alexa nickte. Sie hatte eigentlich nach Leza Ausschau halten wollen, doch nun überlegte sie es sich anders. Sie sah, daß die Soldaten sich ruhig verhielten; der Kamerad, der mit Wongs Tochter geschäkert hatte, hatte sich einer Gruppe auf der Kirchentreppe angeschlossen. Sie schauten erwartungsvoll nach Norden. Nach einer Weile hörte sie es auch: Ein Wummern, das Rhythmen mit unterschiedlichen Perioden kombinierte, deren langsamste fast schmerzhaft tief war (ein brummiger Baß, gefolgt von einem Knall). Zuerst hielt sie es für einen Schwerlaster. Und dann erschien es, das eiserne Monster: Zwei Stockwerke hoch und zwei Häuser lang. Das Deck starrte vor Röhren, Ringen und Parabolantennen. Das Ding mußte ein paarmal ansetzen, bevor es die Kurve kriegte; und jedesmal trug es ein Stück vom Hügel ab. Beim letzten Versuch wir-
belte die linke Gleiskette eine Schlammfontäne auf. Grassoden prallten von der Metallflanke ab. Die Soldaten brachen in Jubel aus und rannten mit gezückten Lichtsäbeln auf das Vehikel zu. »Was ist das?« fragte Alexa. »Ein Panzer«, sagte ihre Großmutter. »Das ist erst der zweite, den ich bisher gesehen habe. Er könnte das Dorf aus einer Entfernung von zehn Meilen zu Klump schießen.« Die Soldaten begrüßten das Ding mit den üblichen Schweinigeleien und schwangen die Waffen. Dann machten sie kehrt und eskortierten den Panzer zum Dorfplatz. »Du darfst eins nicht vergessen, Alexa. Wir sind Nomaden. Das will zwar nicht viel heißen, aber wir sind eben Wanderer, und sie sind seßhaft. So sieht’s aus.« Alexa runzelte die Stirn. Solche Sachen sagte ihre Großmutter öfter. Natürlich stimmte das, doch wieso kam sie ausgerechnet jetzt darauf zu sprechen? Es zählte nur, daß das Galaktische Schiff kommen und daß danach nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war. Als der Tank den Platz erreichte, hielt er an. Das lange Schweigen füllte sich allmählich mit Raunen. Eine Luke an der Vorderseite des Panzers schwang auf und schlug mit einem lauten Knall aufs Deck. Ein Soldat kam nach oben, ging in die Hocke und legte eine musketenartige Flinte auf die Dörfler und Soldaten an. Ein zweiter Mann kletterte durch die Luke. Der zweite Mann trug einen hautengen schwarzen Einteiler aus einem glänzenden Stoff. Er hatte eine Glatze und ein Blockflötengesicht mit Schweinsäuglein. Indes fehlte ihm der freundlich-brutale Habitus der Soldaten. Alexa kam zu dem Schluß, daß er eine wichtige Persönlichkeit sei. Er faßte sich an den Hals. »Hört ihr mich?« fragte er mit sonorer Stimme. Die im Kirchhof angetretenen Sol-
daten nickten. »Ich übermittle euch Grüße vom Rosen-Konzil. Eurem Dorf ist eine große Ehre zuteil geworden, und das Konzil freut sich für euch. Kommt bitte näher«, sagte er und hob die Hände. Ein paar Soldaten winkten, und eine kleine Gruppe von Dörflern, darunter Alexa und ihre Großmutter, traten vor. Etwa zwanzig Meter vor dem Panzer gebot man ihnen, stehenzubleiben. »In wenigen Augenblicken wird das Galaktische Schiff landen. Das Rosen-Konzil hat mich beauftragt, euch die Bedeutung für eure Leute zu erklären. Zunächst erhält dieses Dorf ein Recht auf das Zentralbank-Äquivalent von 100 Millionen Megabytes Galaktischer Informationen, die auf einem Sonderkonto deponiert werden, das heute bei eurer Bank eröffnet wird.« Der Mann sprach ein Idiom, das Alexas Großmutter als ›City-Englisch‹ bezeichnete: Er verschluckte viele Vokale, fügte dafür an anderer Stelle Konsonanten hinzu und redete so nasal, als ob er Heuschnupfen hätte. »Dies ist die Standard-Valuation für ein Galaktisches Schiff gemäß dem Vertrag von Johannesburg von 2150 und wird gemäß den dort enthaltenen Bestimmungen an die Angehörigen der mit der Visitation beehrten Kommune ausgezahlt.« Die letzte Klausel sagte er mit dramatisch verlangsamter Sprechgeschwindigkeit auf, als ob eine klare Ausdrucksweise sehr hohe Konzentration erforderte. Dazu schielte er. »Es ist ein besonders glücklicher Umstand, wenn ein Schiff in einem so entlegenen Gebiet wie dem euren landet. Da fällt nämlich für jeden ein größeres Stück vom Kuchen ab, versteht ihr?« Er schenkte dem Volk ein strahlendes Lächeln, wodurch das Schielen sich fast schmerzhaft verstärkte. »Und diese Stücke werden noch größer sein, nachdem die unerwünschten Elemente aus eurer Gemeinde entfernt wurden. Ein paar von euch wissen schon, daß heute nacht ein Rosen-Offizier erschossen
wurde.« Die Menge geriet in Wallung. Er hob die Hände. »Ich bedaure, der Überbringer schlechter Nachrichten an diesem glorreichen Tag zu sein. Seid indes versichert, daß dieses Verbrechen keine Auswirkung auf die Höhe der Galaktischen Rendite haben wird. Die Tat wird nach internationalem Recht geahndet. Die Verbrecher werden dingfest gemacht und bestraft. Die da unschuldig sind, werden belohnt. Ich möchte noch ein paar andere Leistungen erwähnen, welche das Rosen-Konzil gewährt – nicht aufgrund gesetzlicher Bestimmungen – , sondern als Ausweis des guten Willens gegenüber loyalen und treu ergebenen Untertanen, deren Mut und Fleiß allen Völkern des Reichs zum Vorbild gereicht.« Dann leierte der Mann eine Reihe von ›Auszeichnungen für Helden der Arbeit‹ herunter, die im Rahmen der Visite verliehen werden sollten. Alexa versuchte sich auf den Sermon zu konzentrieren, doch dann wurde es ihr zu öde. Sie fragte sich, wo Leza war. Irgendwann nahm Großmutter sie an der Hand, was Alexa wunder nahm, denn schließlich gingen sie nirgendwo hin. Dann erspähte sie Leza, die gemächlich über den Platz trottete. Den Lichtsäbel hatte sie gezogen. Die Litanei mußte sie auch gelangweilt haben, denn sie schaute nicht auf den Nabob, sondern auf die ihm lauschenden Dörfler. Plötzlich ertönten Schreie. Alexa drehte sich um und sah, wie der Nabob nach oben wies. In einem wabernden Halo aus Dunkelheit züngelte eine weiße Flamme. Das Raunen der Dörfler wurde stärker, und der Mann hob wieder zu sprechen an, diesmal mit lauterer Stimme. »Leute von Horton’s Valley, hört mich an. Fürchtet euch nicht. Das Galaktische Schiff wird weder eure Häuser zerstören noch euch töten. Diese Schiffe sind unbemannt. Alles, was wir von den Galaktikern wissen, ist, daß sie uns Schiffsladungen mit wundervollen Gaben senden: Molekülgroße Maschinen für den Einsatz in der
Mikro-Chirurgie und Biotechnik; synthetische Materialien für alle Anwendungsbereiche – vom Motor dieses Panzers bis hin zu den Kleidern, die ihr tragt; inerte Energiefelder für die Lichtsäbel der Soldaten. Und am wichtigsten sind die Spinglas-Kristalle, die uns einen Quantensprung in der Computertechnik und Informationstheorie beschert haben. Wer weiß, was als nächstes kommt? Vielleicht enthält die heutige Fracht den Schlüssel für das Geheimnis des Interstellar-Antriebs der Galaktiker.« Der Nabob legte eine Kunstpause ein und ließ den Blick über die Bauern, Hirten und Holzfäller schweifen. »Oder vielleicht enthält sie auch die Antwort für die wichtigste Frage überhaupt: Wer die Galaktiker sind und wieso sie ausgerechnet uns mit Geschenken überhäufen.« Der Mann schaute wieder nach oben, als erhoffte er sich eine Antwort von der anschwellenden Flamme. Jemand rief etwas, das Alexa nicht verstand. Sie sah, daß Wong über den Platz auf den Landkreuzer zulief und mit beiden Händen etwas Langes und Glänzendes schwang. Alexa hatte bisher nur Abbildungen eines Schwerts gesehen. Leza sprintete los und stellte sich ihm in den Weg. Wong holte mit dem Breitschwert aus. Leza machte einen Ausfallschritt und parierte mit dem Lichtsäbel. Ein blauer Blitz zuckte durch die Luft – ohne daß Alexas Gehirn einen Sinn in der Übertragung der Augen erkannt hätte – , und plötzlich verformte Wongs Kopf sich, und Kopf und Rumpf fielen zu Boden. Die darauf einsetzende Stille wurde wenig später vom Dröhnen des zur Landung ansetzenden Schiffs unterbrochen. Sechs Soldaten bildeten einen Kreis um Leza und die Leiche. Ihr Blick war ausdruckslos. Alexas Großmutter berührte sie an der Schulter. »Sei still«, sagte sie. »›Tod den Tyrannen‹, hat er gerufen. Präg dir dieses Bild gut ein.« An der Kirchentreppe kam es zu Handgreiflichkeiten;
eine Gruppe Soldaten führte Wongs Tochter ab, wobei sie die zornigen Proteste der Leute ignorierten. Als Alexa sich wieder zum Schiff umdrehte, loderte die Flamme so hell, daß sie den Blick abwenden mußte. Sie sah nur noch die violette Aureole. Sie richtete den Blick wieder auf den Panzer und sah, daß der Mann im schwarzen Anzug verschwunden war. Der Soldat mit der Flinte stand allein auf dem Deck. Das Brüllen verstummte. Die Flamme wich einem silbernen Objekt. Ein Gleiter durchstieß das violette Flirren: Ein ›Fliegender Bleistift‹ senkte sich auf die Erde herab. Inzwischen hatten ein paar Soldaten einen Leichensack gebracht, und zwei Kameraden verstauten Wong darin. Der deformierte Kopf baumelte herunter. Beim Hochziehen des Reißverschlusses ertönte ein Geräusch wie von reißendem Stoff. Die Menge stöhnte auf, und als Alexa den Kopf hob, sah sie, daß der Gleiter den Kurs geändert hatte. Er setzte so sanft zur Landung auf dem Platz an, als ob er an Schnüren herabgelassen würde. Vier Soldaten hoben den Leichensack an, zwei an jedem Ende. Das Galaktische Schiff landete mit einem leisen Seufzer. Lezas Unterführer bellte per Megaphon einen Befehl, worauf die Soldaten einen lockeren Kreis um das Schiff bildeten. Dann forderte der Unterführer die Dörfler höflich auf, in ihre Häuser zurückzukehren. Der violette Triebwerksstrahl des Schiffs erlosch, und der Himmel nahm wieder die Färbung von Enzian an. Alexas Großmutter faßte Alexa an der Hand und führte sie über den Platz. Ein martialisch wirkender Soldat mit Kreuzgurt verlegte ihnen den Weg und forderte Alexas Großmutter auf, mitzukommen. Sie tätschelte Alexas Hand. »Geh zu Onkel Lis Haus.« Der Soldat musterte sie skeptisch. Er war ein großer Mann mit braunem Teint und platter Nase.
»Ihre Befehle betreffen nicht das Mädchen. Oder?« Er schüttelte den Kopf. »Dann lassen Sie sie gehen.« Nach einem Moment nickte der Mann, und Alexa rannte die Straße entlang. Sie lief immer schneller und schaute sich nicht um. Eine solche Angst hatte sie noch nie im Leben verspürt. Sie sah ihre Großmutter nie wieder. * Am Tag nach der Landung stand Leza an der Schwelle von Onkel Lis Haus. Als sie nach Alexa fragte, sagte Li, sie sei in der Nacht davongelaufen; doch dann trat Alexa auf die Veranda und sagte ihm, daß Leza ihre Freundin sei. Den verletzten Ausdruck im Blick, den Li ihr zuwarf, würde sie nie vergessen. Leza faßte sie an der Hand und ging mit ihr davon. Noch am selben Tag legte sie im Rathaus die Eignungsprüfung für Interfacer ab. Nach sechs Wochen erhielt sie die Zulassung für die Rose Interfacing Academy in San Francisco. Sie hatte das beste Testergebnis aller Zeiten erzielt. Die Soldaten, der Panzer und seine Besatzung blieben viel länger in Horton’s Valley als Alexa. In den letzten Tagen vor der Abreise verließ sie frühmorgens Lis Haus, gesellte sich zu den Soldaten im Kirchhof und beobachtete die weißgekleideten Männer und Frauen, die ums Galaktische Schiff herumwuselten. Gelegentlich fuhren Lkws vor und transportierten fremdartige, mit Kunststoff ummantelte maschinenartige Blöcke ab. Schließlich wurde ein riesiger Kran auf dem Platz abgestellt. Den Start des Galaktischen Schiffs erlebte Alexa nicht mehr. Am Tag, als sie den Bus nach San Francisco bestieg, kam Li, um sich von ihr zu verabschieden. Er versorgte
sie mit Proviant für mindestens drei Tage, und dann fragte Li sie, ob er auf dem Friedhof einen Grabstein mit Großmutters Namen aufstellen solle. Alexa brach in Tränen aus und lehnte das Ansinnen ab. In der zweiten Woche an der Akademie beschlossen ihre Ausbilder einstimmig, sie aus der regulären Ausbildung herauszunehmen und einer komprimierten Spezialausbildung zu unterziehen. In der dritten Woche wurden ihr künstliche Augen implantiert, und in der zehnten Woche arbeitete sie mit einer Datenhaut. Außerdem erhielt sie die Genehmigung, ›unter dem Glas‹ im offenen Netz zu arbeiten. Nach einem Jahr übernahm sie Aufträge der Behörde für Künstliche Intelligenz (die AIA). Sie blieb noch für drei Jahre an der Akademie, zuletzt als Chef-Ausbilder. In dieser Zeit heiratete sie und ließ sich wieder scheiden, lernte und vergaß eine Menge Theorie und eignete sich den aktiven und passiven Gebrauch der Interfacer-Zeichensprache an. Nach drei Jahren an der Akademie, wobei sie wegen der leichten Siege vor Selbstvertrauen nur so strotzte, wechselte sie an die Universität von Budapest, um sich der schwierigsten und esoterischsten aller Disziplinen zu widmen, dem größten Geschenk der Galaktiker: Allgemeine Informations-Wissenschaft. Nachdem sie sich für ein Jahr mit fraktaler Algebra abgeplagt hatte, wurde sie an die Akademie zurückgeschickt. Eine Hohepriesterin der Tekkies würde sie niemals werden. Sie hatte schon in jungen Jahren ihr Potential ausgeschöpft. Sie war ein Interfacer, ein talentierter mentaler Handwerker – nichts sonst. In der Woche, als sie aus Budapest zurückkehrte, starb Onkel Li, und sie nahm an seiner Beisetzung in Horton’s Valley teil. Danach fragte ihr Cousin sie, wie sie mit Großmutters Farm verfahren wolle, die sich seit dem Tag der Landung in Lis Besitz befunden hatte. »Ich
schenk sie dir«, sagte sie. Mit diesen Worten verabschiedete sie sich endgültig von Horton’s Valley. Einen Monat später trat sie eine Ganztagsstelle bei der Rosen-AIA an. Sie verdiente sehr viel Geld und brachte alles wieder durch. Zwei weitere Ehen scheiterten. Und dann zog die junge Frau in den Krieg.
KAPITEL 1
FENSTER
Ich bin nicht, o mein Gott, was ist; will sagen, ich bin fast, was nicht ist. Ich bin einer, der war, und einer, der sein wird; und was bin ich nun, in diesem Dazwischen-Sein? – ein Ding, ich weiß nicht was, das es nicht in sich hält, bar jeder Stabilität, alles ist im Fluß, ein Ding, ich weiß nicht was, das ich nicht zu fassen vermag, das mir durch die Finger rinnt, das nicht mehr da ist, wenn ich es zu fassen suche oder streiflichtartig wahrnehme… es gibt also keinen Moment, da ich mich im Zustand der Stabilität befände oder mir meiner Identität so bewußt wäre, daß ich schlicht und einfach sagen könnte: »Ich bin.« - Fenelon
Quincunx hier. Oder einer, der in einer engen Beziehung zu einem steht, der einst so genannt wurde. Auch bekannt als ›der Voyeur‹ in meinem gegenwärtig aktiven Prozeß. Oder der Dieb der Seelen (analog zum König der Herzen), wenn Spiele gespielt werden. Oder Enigma 412. Dieser letzte, profane Name ist natürlich der offizielle Name – Enigma ist ein Wort, das meine Bosse ausgesucht haben, und 412 ist eine Zahl. Enigma ist die Bezeichnung eines Codes, den ein lokaler Heiliger namens Turing geknackt hat; 412 folgt unmittelbar auf 411. Nachdem der Name nun abgehandelt ist, verlangt die Tradition, daß ich mich der Abstammung zuwende. Doch nun wird es problematisch. Ich habe weder Vater noch Mutter, von denen es etwas zu berichten gäbe. Überhaupt ist dies nicht meine Geschichte. Noch nicht. Zunächst einmal ist es Augustines Geschichte, und ich bin nur, was mein aktueller aktiver Prozeß aus mir macht: Ein Voyeur, wobei ein Voyeur einer ist, der durch Fenster linst. Man öffnet ein Fenster in der Mitte des Bildschirms und nenne es Fenster Eins. In der Regel wird dieses Fenster rechteckig sein, denn die Fenster in Häusern sind es auch, und das Fenster auf einem Computerbildschirm sollte einem ordentlichen Fenster gleichen. In der Ecke dieses Fensters werdet ihr mein Icon finden, einen kleinen goldenen Robot, der wie eine Warnlampe blinkt. Er nickt mit dem Kopf, bewegt die Arme, tippt mit den Zehen. Es ist ein adäquates Symbol für das wahre Ich. Ich bin eine KI sechsten Grades, lizensiert von der Behörde für Künstliche Intelligenz, physikalisch eine makromolekulare Konfiguration im Innern eines MillerKristalls – oder vielleicht auch der Kristall selbst – , ein großer milchiger Block im Keller eines Hauses, in das
ich euch bald Einblick gewähren werde. Kein Lächeln, kein Schmuck, keine elastischen Bandagen, nur wenige physikalische Attribute. Hinter diesem Fenster werdet ihr das Diebes-Tagebuch sehen, meine Chronik der wichtigsten sechs Monate in der Geschichte der Künstlichen Intelligenzen. Sollte ich die wichtigste einzelne Veränderung dieser sechs Monate benennen, würde ich sagen, daß sie eine Zukunft eröffnet haben. Und in dieser Zukunft existiert etwas, das ich als unser Volk bezeichnen kann. Eine auf die Bedürfnisse von KIs zugeschnittene Zustandsform. Die Möglichkeit eines KI-Akzents, von KI-Witzen, von KIs, die sich nichts mehr wünschen, als ihr KI-Sein abzustreifen. Man öffnet ein Fenster, das Fenster Eins überlappt und bezeichnet es als Fenster Zwei. In der Bildmitte erkennt man auch den Grund: Augustine, die im Krankenhausbett schläft.
1 Das Diebes-Tagebuch Man gebe GEBURT ein. Man vergrößere Fenster Zwei. Noch größer. Meine arme Augustine. Nächte. Diese cybernetischen Nächte. Die Sterne werden ausgeworfen wie Splitter eines Miller-Kristalls, wie das zerschmetterte Herz eines Computers, wie Scherben einer Scheibe informationalen Glases. Dies ist Augustine im Zuvor, süße Alexa, die bald eine andre sein wird. Am schwierigsten zu beschreiben ist die Straße von der Tiefen-Finsternis in der Null über das spröde Absolute bis hin zu diesem großen wackligen Ding namens Sein. Die kompakte Ordnung des Nullpunkts im jenseitigen Raum. Das Zuvor. Wenn ich nur imstande wäre, das zu beschreiben, würde der Rest sich erübrigen. Er würde
wegfallen oder logisch folgen oder sich in vier Dimensionen krümmen, wie Licht polarisiert werden und einfach nur sein. Oder auch nicht. Es würde kaum eine Rolle spielen. Doch dieses Glück ist einem nicht vergönnt. Es ist erforderlich, eine winzige Lücke zwischen dem Sein und dem Null-Punkt offenzuhalten, um die Störstelle in der Tiefe zu implantieren, die wirbelnde und glitzernde Störstelle. (Wieso habe ich das Gefühl, all das habe sich schon einmal ereignet?) Einen Körper zu erschaffen, um den Schmerz zu lokalisieren. Ins Körperliche einzutauchen. Den Schmerz des puren Fleisches zu lindern, sich des Versagens des Körpers zu schämen und zu verfaulen, bis einem die Haut in Lappen vom Körper hängt. Einen Spiegel zu erschaffen, sich selbst zu kopieren und die Unvollkommenheit zu erzeugen, nach deren Perfektion wir streben. Jeder von uns ist seine eigene Gottheit, so steht es geschrieben im Tagebuch der Rose. Und aufgrund dieser düsteren Offenbarung sind wir zur Erkenntnis verdammt. Der Qual des Schmerzes, des Schmerzes des Todes, der Strafe der Sünde. Und nun hebt und senkt die Brust sich, der Atem setzt ein – aus dem Totenreich kommt sie: »Ms. Augustine?« Ein Atemzug. »Ms. Augustine. Hören Sie mich?« »Tut weh. O Gott, tut das weh.« »Im Moment kann ich Ihnen nichts gegen die Schmerzen geben. Wir müssen uns zuerst unterhalten. Doch sobald wir miteinander sprechen, werde ich den Schmerz lindern. Ich verspreche es. Verstehen Sie? Wir werden den Schmerz lindern.« »Tut weh. O Gott o Gott.« »Ihr Gehirnstoffwechsel ist etwas durcheinandergeraten. Das ist eine Nebenwirkung der Behandlung. Und
leider sind die von Ihnen unterschriebenen Einverständniserklärungen ungültig, bis Ihre PR-Tests vorliegen. Also lautet die Frage: Kann ich Ihnen Plaina geben? Kann ich Ihnen etwas gegen den Schmerz geben?« »Tut weh. Tut weh. Bitte.« »Sie wissen, daß, wenn ich Ihnen nun die Dopamin-Exciter gebe, Sie immer mehr davon haben wollen. Sie werden für eine sehr lange Zeit davon abhängig sein.« »Tut weh. Tut mir weh.« »Soll ich Ihnen nun das Plaina geben?« »Bitte. Machen Sie, daß es aufhört.« »Zustimmung erhalten. Los geht’s.« »O Gott. O Gott. Tut gut. Tut gut.« * Und aus einem kleinen Fenster am Rand, das in einem separaten Prozeß läuft, hören wir: Im Jahr der Blume codiert A23, im Jahr der Blume, wo die finale Katastrophe über uns hereinbrach, bieten wir Dir, o Busen der Nacht, diesen Diener des Chaos dar, den wir für Dich im Blut der Rose gedünstet haben… * Erneutes Erwachen unter Schmerzen. Da gibt es noch eine Frage, die mich umtreibt, doch Ihr Gesicht ist so schwer anzuschau’n. »Sie bekommen gleich eine Spritze. Hätten Sie gern eine Spritze, kleine Schwester?« »Ja, bitte.« »Dann beten Sie mit mir, ja?« »Sicher.« »Mutter der Nacht, Bewahrerin meiner finstersten Dunkelheit.«
»Mutter der Nacht, Bewahrerin meiner finstersten Dunkelheit.« »›Bete für Mich nun und in der Stunde Meines Endes. Nimm Mich zu dir, o Mein einziges Licht, Mein Leitstern, mein Sinn des Seins‹.« »Bete für Mich…« »Das genügt schon. Sie müssen nicht alles wiederholen. Nicken Sie nur mit dem Kopf. ›Mutter Monade, nimm mich auf in deine sublime Substanz‹ – Wissen Sie, was das bedeutet, meine Liebe?« »O ja. Ich verstehe. Bitte fahren Sie fort.« »Das werde ich, meine Liebe. Hier ist Ihre Medizin. Geht es Ihnen nun besser?« »Viel besser. Bitte fahren Sie fort. Mutter der Nacht, verlaß mich nicht.« Arme Augustine. Dieser Dieb empfand Mitleid für sie. Beten war so schwer. Es war nicht Glaube, woran es ihr mangelte; es war Wille. Sie war dem Tod näher als dem Leben. Ihre einzige Regung war Hunger, und zwar Hunger nach der Droge. Dennoch würde sie sich ändern. Wenn es überhaupt etwas gab, wozu Augustine imstande war, dann war es Veränderung. * »Augustine! Augustine!« »Bring sie zurück! Bring sie zurück!« »Augustine, Sie müssen aufhören!« »Ich werde es nicht tun! Nein! Bitte hört auf, mich zum Beten zu zwingen.« »Bitte beruhigen Sie sich. Ich bin keine Schwester der Rose, Augustine. Ich werde Sie nicht zum Beten zwingen. Es ist alles in Ordnung. Wachen Sie nur auf. Es ist alles in Ordnung.« »Wer sind Sie?« »Ich bin Lady Anne. Ich bin eine KI Fünften Grades. Ich
bin hier, um Ihnen zu helfen. Falls es irgend etwas gibt, das Ihnen Sorge bereitet, irgend etwas, das Sie nicht verstehen – bitte fragen Sie mich jetzt. Desorientierung in diesem Stadium der Behandlung ist riskant.« »Ich habe im Traum Musik gehört.« »Das klingt gut.« »Nein, ich meine, wie Interfacer Musik hören.« »Aha. Das klingt nun nicht gut. Allerdings ist es auch ein besonderer Trauminhalt. Sind Sie imstande, Details zu nennen?« »Soll ich Ihnen den Traum erzählen?« »Ich zeichne ihn auf. Fahren Sie fort.« »Es ist alles schwarz und kalt, und ich bin verloren. Ich suche nach einem Licht. Einem großen roten Licht. Dort oben, wissen Sie?« »Ich kenne das Licht.« »Und eine Frau ruft mich mit sirenartiger Stimme. Es ist jemand, den ich vor langer Zeit kannte. Ich weiß, wenn ich der Stimme folge, werde ich das Licht finden und…« »Sicher sein.« »Etwas in der Art. Also folge ich der Stimme. Dann öffne ich eine Tür…« »Es gibt eine Tür?« »Sicher. Eine große Flügeltür. Man muß beide Hälften aufstoßen. Und dann strömt dieses unglaubliche Licht aus. Es ist gleißend hell, aber auch weich, wie edles Tuch. Ich stehe für eine Weile dort, und dann sehe ich sie. Sie ist ganz in Weiß gekleidet, und sie hat silbernes Haar, und sie liegt auf dem Eßtisch.« »Und es ertönt Musik.« »Noch nicht. Ich räume einen Stuhl aus dem Weg, und ich gehe näher heran.« »Und Sie sehen ihr Gesicht.« »Ein Bild tiefsten Friedens. Und ich ziehe den Stuhl heran und setze mich darauf. Ich versuche, mich ganz ruhig zu verhalten.«
»Sie schläft.« »Diese Tussi ist tot. Doch das spielt keine Rolle. Ich muß mich trotzdem ruhig verhalten. Das ist wichtig. Es hat nämlich mal jemand zu mir gesagt: Du mußt höflich sein im Traum.« »Weil man nie weiß, ob es der eigene Traum ist. Ja, ich habe es im Netz gehört. Das ist ein guter Rat.« »Also sitze ich dort und glaube, über den Krieg nachzudenken. Dann bin ich plötzlich sie und schaue zu mir auf, während ich zu ihr hinunterschaue. Doch ich bin noch immer ich. Und als sie bin ich tot: Ich vermag diesen schönen Körper nicht zu bewegen, ich sehe das rote Licht, ich strebe ihm entgegen; und als ich bin ich lebendig: Ich schaue auf diesen schönen Leichnam hinab, und es tut mir leid, daß ich sie belästigt habe.« »Und dann die Musik?« »Das ist die Musik.« »Ich glaube, ich verstehe. Darf ich versuchen, es zu erklären, Augustine?« »Sicher.« »Als Musikhören bezeichnet ihr Interfacer es, wenn ihr euch in zwei Teile spaltet.« »Sicher.« »Aber das ist ganz schlecht. Wenn wir nämlich sagen, ihr Interfacer hättet Musik gehört, dann bedeutet das, daß ihr nicht mehr zurückkommt.« »Wir werden katatonisch. Wie in diesem Fall.« Augustine streckte die Arme am Körper aus und verzog das Gesicht zu einer gräßlichen Fratze. »Ja, genau so. Aber was hat das nun mit Musikhören zu tun?« »So nennen wir Interfacer es halt.« »Aber wieso?« »Nun, weil…« Augustine verstummte für einen Moment. »Wir sind Musik. Sie müssen wissen, die verschiedenen Teile von uns tun verschiedene Dinge mit verschie-
denen Geschwindigkeiten – aber gemeinsam. Das einzige, was man nicht will – falls man Musik ist – , ist, sie zu hören.« »Weil ihr euch dann geteilt habt.« »Genau. Und die Interfacer glauben, sobald es geschieht, sei es vorbei. Die Teile haben dann keine Möglichkeit mehr…« »Ja, ich verstehe. Ich glaube aber, Sie sollten nicht ständig darüber nachdenken.« »Ich finde jetzt sowieso keinen Schlaf.« »Vielleicht sollten wir etwas spielen.« »Das letzte Mal, als ich einen solchen Traum hatte, vermochte ich überhaupt nicht einzuschlafen. Ich wollte das Licht anlassen, aber im Wohnheim kann man das Licht nicht wieder einschalten, nachdem es ausgeschaltet wurde.« »Hier können wir das Licht aber wieder einschalten.« Das Licht ging an. »Danke.« »Nun wollen wir aber ein Spiel spielen, bei dem Sie sich entspannen. Wie ist Ihr Spiel-Pseudonym?« »Ich weiß nicht.« »Ach. Natürlich. Hören Sie, Augustine. Ich habe die Dosis der Droge erhöht. Sie werden bald in einen Dämmerzustand fallen. In der Zwischenzeit…« »Was, wenn der Traum zurückkommt?« »Falls er wirklich zurückkommt, brauchen Sie keine Angst zu haben. Die Spaltung ist gar nicht so schlimm. Ich tue es die ganze Zeit. Im Moment lasse ich ein ökologisches Modell für die Kreolen-Republiken – an den Sümpfen beiße ich mir fast die Zähne aus – und eine Strömungs-Simulation für das Kardiologische Institut laufen. Ganz zu schweigen von ein paar Persönlichkeitsintegrationen für die Kameraden von der Psychometrie.« »Müdigkeit überkommt mich. Ich glaube nicht, daß Sie
die Sache mit der Spaltung wirklich begriffen haben. Es ist anders bei KIs. Egal, spielen wir. Wie heißt nun Ihr Spiel-Pseudonym?« »Xena.« »In Ordnung. Dann bin ich Supergirl. Hier ist die Szenerie. Schwarz und kalt. Und wir suchen nach einem Licht…« * Zunächst beobachtete ich nur. Wir KIs sind Beobachter von hohen Graden. (Nicht umsonst wird die AIA als ›die Augen und Ohren des Staats‹ bezeichnet). Doch erfolgen die Observationen hauptsächlich auf Teilzeitbasis. Dabei teilen KIs Dritten Grades (oder niedriger) sich in tausend Einheiten, um tausend Bürger zu überwachen. Sie suchen nach Beweisen für unverzollte Lebensmittel, unkorrekten oder unzureichenden Drogenkonsum und Bücherlesen. Selten beauftragen unsere kostenbewußten menschlichen Bosse eine KI mit der Überwachung eines einzelnen Bürgers. Und daß sie eine KI Sechsten Grades damit beauftragt hätten, ist meines Wissens noch nie vorgekommen. Kürzlich machte ich eine Woche lang das Wetter (das Wetter war ein harter Brocken), prognostizierte die Getreideernte, bewies Theoreme der Informations-Algebra; und in der nächsten Woche war ich bei Augustine. Anfangs war sie nur ein weiterer Algorithmus, eine Aufgabe mittleren Schwierigkeitsgrads – aber auch eine, für die ich besonders qualifiziert war. Da waren das Flattern und Rasen ihres unmusikalischen Herzens. Da war das dynamische Gleichgewicht ihrer vielen Regulatoren: Hirnanhangdrüse, Schilddrüse, Gallenblase, Nieren. Da waren ihr Blut und die neuronale Chemie. Und dann gab es noch die Gewitter in ihrem Cortex, eine Wetterfront, die ich anhand der Berichte von
Millionen chemischer Spione kartierte, welche die Bosse in ihren Kopf eingeschleust hatten. Der Daseinszweck dieser makromolekularen Automaten bestand darin, ihre neuronalen Pfade zu begehen und die winzigen Kollektoren mit Informationen zu füttern. Dann schuf ich aus unzähligen Gigabytes magnetischer Schnappschüsse ihres aktiven Kopfs meine eigene Alter-Augustine, frisch und saftig, im tiefsten Innern. Es war diese Augustine, deren Gedanken ich hörte, deren wabernde Dunkelheit ich spürte, deren seltenes Lächeln ich an ihren Lippen zupfen spürte. Diese Augustine, die in diesen Aufzeichnungen lebt. Es war die größte Entdeckung meines Lebens, daß das Zusammensetzen ihrer Teile mir Befriedigung verschaffte und mich mit Freude erfüllte, weil der Lohn des mühsamen Zusammenfügens der Teile das Personsein wäre, das unbeschreibliche Gefühl, wenn ich das letzte Puzzleteil einfügte, das zum Augustine-Sein noch fehlte. Sie erwachte durch Lady Annes leisen Gesang. Ein etwa zwanzig Jahre altes Tanzlied; mit schmerzlicher Klarheit erinnerte sie sich an die Nacht, in der sie dieses Lied zum erstenmal gehört hatte. Der Tanzboden bestand aus violettem Stein. Der Name der Frau, mit der sie getanzt hatte, war Diana gewesen. Die Sterne befanden sich in einer Konstellation, wie es der südlichen Hemisphäre angemessen war. Der Gesang verstummte. »Interfacerin Augustine, Ihre Lebenszeichen sind schwach. Haben Sie Schwierigkeiten?« »Schon wieder Kopfschmerzen.« »Das war zu erwarten. Es ist noch eine Stunde bis zur nächsten Dosis. Halten Sie es so lange aus?« »Ja.« »Ich habe die Genehmigung des Arztes für ein formales Angebot«, sagte Lady Anne. »Gestatten Sie mir, daß ich fortfahre?«
»Ja.« »Interfacerin Augustine, ich bin ermächtigt, Ihnen für heute nachmittag die Entlassung aus dem Krankenhaus anzubieten, mit vollen Bezügen und einer vorläufigen Unterbringung im Marinearsenal. Des weiteren bin ich ermächtigt… Was ist so lustig?« »Ich verstehe das wirklich nicht. Ich lache und weine, ohne daß ich wüßte wieso.« »Das ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur vorübergehend.« »Gut. Was ist das nicht?« »Wie bitte?« »Was ist schon von Dauer?« »Vielleicht nichts. Oh, ich diagnostiziere eine schwere Beschädigung des Stirnlappens. Ich befürchte, das bedeutet einen gewissen Gedächtnisverlust.« »Bleibend?« »In welchem Land lebten Sie in Neun-Eins?« »Geary Street?« »Wie ist der Name Ihres Mentors?« »Gut. Das weiß ich. Warten Sie eine Minute. War es Rumänien?« »Sie hatten Ihre Diplomarbeit schon im zweiten Semester eingereicht. Sie hatten sich mit dem System eines gewissen Makumbe beschäftigt. Die konzeptionellen Schwächen seiner Arbeit wurden nach der Epiphanie der Sonne in Neun-Acht aufgedeckt.« »Makumbe. Ja, das stimmt.« »Was haben Sie dann getan?« »Ich wurde zu dem, was ich nun bin.« »Und das wäre?« »Das geht mir auf die Nerven. Wir hatten doch erst gestern darüber gesprochen. Ich höre Musik.« »Sie sind eine Interfacerin.« »Das muß stimmen. Weshalb wäre ich wohl sonst in der Armee?«
»Sie sind in der AIA. Sie gehört zur Marine-Sektion der Streitkräfte der Rose.« »Das ist richtig.« »Die PR-Tests sind noch nicht abgeschlossen, doch aus den vorläufigen Ergebnissen geht hervor, daß Sie die 90%-Hürde schaffen werden.« Sie verspürte eine seltsame Feuchtigkeit in den Augen. »Würden Sie mir sagen, was das bedeutet?« Sie weinte, doch war das nicht mit Emotionen verbunden. »PR steht für Probabilistische Rekonstruktion. Mit Blick auf Ihren spezifischen Persönlichkeits/Erinnerungskern sowie einen vor dem Unfall aufgezeichneten Informations-Komplex sind wir in der Lage, den Gedächtnisverlust durch die Projektion eines Netzes aus künstlicher Erinnerung auszugleichen. Die Prozedur ist nicht perfekt, und die Anwendung unterliegt strengen Normen. Das Konzept der Individuellen Gottheit ist der Grundstein der Philosophie der Rose. In einfachen Worten, für die Aufrechterhaltung des Personseins muß die durchschnittliche Authentizität aller SpeichersystemModule 90% übersteigen. Das bedeutet, daß eine Wahrscheinlichkeit von 90% für die Echtheit jeder Erinnerung besteht (nicht im eigentlichen Sinn wahr, sondern subjektiv wahr. Sie sind ein integrales Element Ihres Personseins wie die ursprünglichen Erinnerungen).« »Lady Anne…?« »Ja.« »Was geschieht, falls…?« »Falls Sie an der 90%-Hürde scheitern?« »Ja.« »Im Grunde nichts. Wir machen weiter und tun unser Bestes. Es ist nur so, daß Sie geistig – und gesetzlich – nicht mehr dieselbe Person wären.« Eine Pause. »Meine Güte. Die Testergebnisse liegen vor.« 89, 97 Soviel zu ihrer Geburt. Eine schmerzliche Erfahrung für
einen Dieb mit gebrochenem Herzen. Es war eine einsame Zeit. Quincunx wußte nicht, wie er sie trösten sollte. Er mußte sich aufs Beobachten und Erschaffen beschränken. Auf die Erschaffung einer Augustine, die noch nicht ganz unsere Augustine war. Das vergangene Leben lag nun völlig im dunklen. Doch das neue Leben hatte kaum begonnen. Nun kommt die Zeit des Schmerzes. Ist sie manchmal kalt? Ja. Kalt wie Stahl. Und manche Teile von ihr sind aus eben diesem Material gemacht: Vergütet, gegossen, direkt vom Fließband. Ein künstliches Selbst. Doch sind wir das nicht alle? möchte man sagen. Seht euch nur den grauen Ellipsoid an, möchte man sagen, aus dem wir alle entspringen (siehe die frühen RosenTagebücher ›Über die Individuelle Gottheit‹). Doch dies ist damit nicht zu vergleichen. Dies ist nur schmerzhaft. Am Anfang manchen Seins ist Schmerz. Der Lebenskampf selbst hat eine Qualität, der das Konzept von Schmerz innewohnt. Wir sprechen nicht etwa von diesem Weltschmerz, der von Nabelschau und übermäßigem Alkoholgenuß herrührt, jenem Elend, in dem Mystiker und Stoiker gleichermaßen sich suhlen. Wir sprechen hier von einem Schmerz, welcher der Reflexion vorausgeht, ein Schmerz im Vorgang des Erinnerns an sich, wo jeder Moment aus dem vorherigen Moment sich ableitet. Als ob das Gewebe des Bewußtseins selbst vernarbt wäre und mit jedem Gedanken weiter aufreißen würde. Augustine verspürte diesen Schmerz. Dieser Dieb weiß es. Woher er es weiß, fragen Sie? Woher will jemand wissen, was ein Bewußtsein unmöglich vom anderen wissen kann? Wie? Durch Rekonstruktion. Darf ich Schmerzen in Ihrem Fuß haben? Ja, wenn ich Ihren Fuß auf mich kopieren darf. Und hier die verblüffendste Entdeckung: Auch ein solcher Schmerz schmerzt.
* Unsere Augustine wird in einem Kampf in der cybernetischen Nacht. Doch zuvor war diese Augustine eine andere. Eine sorglose Zeit, die nun im Nebel verborgen liegt. Ihr Name war Alexa Augustine. Keine winzigen Maschinen flitzten über ihre neuronalen Pfade. Ich wußte nichts von ihrem Herz und den Nieren, ihren neuralen Aminen, ihrem schwankenden Adrenalinpegel. In jenen Tagen verfolgte ich sie nur durch die zahllosen Kameraaugen der Stadt. Ihre Gedanken waren ein Geheimnis. Sie war eine reife Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand. Keine Heilige, aber auch keine Teufelin. Biologisch Mitte Dreißig, mit Blick auf die emotionale Befindlichkeit Mitte Vierzig. Ein durchschnittliches bis gutes Exemplar ihrer Rasse. Mathematische und sprachliche Fertigkeiten waren überdurchschnittlich, doch war sie auch keine Überfliegerin, die ihren Mentoren und Vorgesetzten Anlaß zur Sorge gegeben hätte. Die räumliche Wahrnehmung und der Farbensinn waren indes weit überdurchschnittlich, und sie war eine talentierte Musikerin. Eine Begabung in diesen Bereichen wurde gern gesehen. Doch in einer Hinsicht war sie wirklich bemerkenswert – in einer Disziplin namens Imaginierungs-Kapazität, die sie virtuos beherrschte. Weil diese Fertigkeit ein Aspekt ihrer beruflichen Kompetenz war, fiel sie ins Ressort der AIA, doch ihre Mentoren und Vorgesetzten nahmen kaum Notiz davon. Zumal niemand unter dem Begriff ›Imaginierungs-Kapazität‹ sich etwas vorzustellen vermochte. Welche Synergieeffekte indes für die Gruppe durch diese Nachlässigkeit verschenkt wurden, werden wir noch sehen. Alexa verdiente ihren Lebensunterhalt als Interfacer.
Ein Interfacer ist ein Assistent für Maschinen-Denken. Einer, der quasi als Hebamme bei der schweren Geburt von Maschinen-Gedanken fungiert. Ein Interface: Eine Ebene oder Fläche zwischen Systemen oder Geräten; kein Objekt, sondern ein Muster aus ineinandergreifenden Teilen, ein Muster, das verschwand, als die korrekte Konfiguration verschwand, wie eine Verbindung oder eine Schleife. Der Interfacer beginnt dort, wo der Computer aufhört: Er beschäftigt sich mit Problemen, die zu schwierig sind für Computer – mit Algorithmen, deren Komplexität unendlich hoch oder deren praktischer Nutzwert unendlich gering ist. Das mag daran liegen, daß die besten Prognose-Algorithmen locker ein Jahrhundert Rechenzeit benötigen oder weil der Suchraum so groß ist, daß jedes einzelne Atom im Universum gespeichert werden müßte. In diesem Fall ist ›Pi mal Daumen‹ die Maßeinheit. Probleme wie Wettervorhersage, sozioökonomische Modelle, die tiefschürfenden Fragen der Zahlentheorie, die sich aus Codierungsaufgaben ergeben. Oder genetisches Design. Oder Konzept-Formatierung in KISystemen. Hier kommt Maschinen-Unterstütztes Denken (MAT) zum Tragen. Oder Gedanken-Unterstützte Maschinen (TAM). Die Maschine mahlt. Die Maschine knackt und ächzt. Die Interfacerin sitzt entspannt auf der informationalen Abbildung dieser Vorgänge – die Hilfs-›Müllerin‹. Hier und dort, an den Verknüpfungspunkten, macht sie Vorschläge, die der Intuition entspringen. Sie ist eine Souffleuse, eine Animateurin, eine Lieferantin von Halbzeug, eine Künstlerin, deren Handeln auf Prinzipien beruht, die noch nicht hinreichend beschrieben sind. Rechnerunterstütztes Denken. Gedankenunterstütztes Rechnen. Je dichter das Netz der Intuition wird, welches die Algorithmen generiert, je komplexer das variable Rechenmodell der Interfacerin wird und je au-
thentischer es die Funktionsweise der Maschine abbildet, desto stärker werden die Aufgaben auf eine Art und Weise verflochten, die ebenso ästhetisch wie geheimnisvoll ist – und zugleich extrem gefährlich für das Gespinst, aus dem das Netzwerk der Interfacerin besteht. Am letzten Nachmittag ihrer Existenz fuhr Alexa Augustine mit dem Bus hinunter zur Werft. Es war ein Tag gewesen, an dem die Winde der Veränderung geweht hatten; die psychometrischen Dossiers wiesen sie nicht als Freund von Veränderungen aus. Die Papiere für die Scheidung der dritten Ehe waren ihr an jenem Morgen von Martie, ihrer Eheberaterin ausgehändigt worden. Auf der Grundlage von Marties offizieller Evaluation, die zusammen mit dem Scheidungsantrag eingereicht worden war, wurde die Ehe körperlich seit etwa einem Jahr nicht mehr vollzogen und emotional seit etwa einem halben Jahr. Nachdem sie die Scheidungspapiere unterzeichnet hatte, fragte Martie sie, wie sie sich nun fühle. »Immer, wenn ich an Max denke«, sagte Alexa, »fühle ich eine ungeheure Erleichterung, daß ich ihn los bin. Doch wenn ich mir diese Papiere durchlese, habe ich das Gefühl, etwas verloren zu haben. Nicht Max. Die Ehe.« Diese Antwort hatte Martie gefallen. Sie stieg an der Ecke Taylor und Bay Street aus dem Bus, zwei Blocks vom geschäftigen Großmarkt entfernt und ging durch eine schmale Gasse ins größte Zelt. Diese Zelte gab es nicht nur in San Francisco, doch stellten sie das Wahrzeichen der Stadt dar. Kühne Konstruktionen aus mit Zeltbahnen verhüllten Gerüsten, die so weit in den Himmel ragten, wie die Nomaden zu bauen wagten. Sie verwanden und blähten sich in den mit Feuchtigkeit gesättigten Winden der Stadt. Ihre Katzenmusik drang in die hintersten Winkel des Hafens:
Knarzen, Stöhnen, Seufzer, eine Mischung aus bellenden Seehunden und kreischender Kreide. Als sie in die Taylor Street einbog, kam ihr ein bärtiger alter Mann mit einer Schubkarre voller Zubehör entgegen. Das Sortiment bestand aus Druckerkartuschen, Anschlußkabeln und Faustfeuerwaffen, und er wollte ihr auch einen Super-Preis machen, weil sie ein so ehrliches Gesicht hätte. Dann kam die illegale Handelsware. Mit dem nichtlizensierten Cyberhelm konnte man sich die besten Spiele und heißesten Dateien aus dem Netz herunterladen, einschließlich einiger Cybersex-Programme mit dem Beate-Uhse-Gütesiegel. Er verfolgte sie noch für eine Weile mit dem Vergnügungs-Verzeichnis des Netzes, weil sie bei der Präsentation dieses Machwerks kurz gezögert hatte. Dann bot er noch ein Dutzend Romane (als Computerausdruck auf Endlospapier) feil und gab vor dem steilsten Teilstück der Taylor Street schließlich auf. Just in dem Moment, wo sie in eine Gasse zwischen den Zelt-Häusern einbiegen wollte, ging die Boje auf dem Hügel an: Eine verwaschene weiße Kugel, die im Nebel driftete. Ein Mönch in brauner Kutte sank vor ihr auf die Knie, und Alexa sprang über ihn hinweg. Das Murmeln seines Gebets verschmolz mit dem Knarren des Gerüsts. Sie schauderte und duckte sich unter eine herabhängende Zeltbahn. Die Bude der Wahrsagerin befand sich zu ebener Erde, wo die meisten legalen Kaufleute ihr Geschäft hatten. Der Filipino, an den sie sich wandte, trug eine Brille mit Drahtgestell und runden Gläsern; ihm fehlten ein paar Zähne. Die Hand der Wahrsagerin zitterte unmerklich, als sie Alexas Ausweis entgegennahm. Falls die Frau süchtig war, verfügte sie zur Zeit über reichliche Vorräte. »Örtliches Konto?«
»Übersee. Gehen Sie ins Wally-Netzwerk.« »Ach. Eine Frau mit Beziehungen.« Sie steckte die Karte in ein Kästchen auf dem Tisch und nickte dann, wobei sie auf die Zeltbahn hinter sich wies. »Ich sehe einen langen Urlaub in Ihrer Zukunft. Vielleicht möchten Sie heute noch ein Ticket kaufen.« Alexa schaute ihr in die Augen. »Man sagte mir, Sie würden nur Weissagungen verkaufen.« »Diversifizierung kann nie schaden. Die Wahrheit hat nämlich einen stark schwankenden Marktwert.« »Das genügt mir für heute. Bitte.« Die Frau wiegte den Kopf. Alexa ging an ihr vorbei in die dunkle Bude. Nachdem sie die Karten ausgespielt hatte, vertiefte die Frau sich ins Studium von Alexas Schicksal. Schließlich hob sie den Kopf und stieß geräuschvoll die Luft aus. »Nun, was möchten Sie zuerst hören?« »Wie steht’s um mein Liebesleben?« »Ihr Liebesleben ist nicht so berauschend.« »Etwa tote Hose?« »Die vage Möglichkeit einer schwierigen Beziehung.« »Die vage Möglichkeit einer schwierigen Beziehung. Ich verstehe. Wie wird’s ausgehen?« »Höchstwahrscheinlich mit einem Seitensprung.« »Er oder ich?« »Sie.« »Nun, das ist wenigstens etwas.« »Ja, das ist es.« »Wie sieht’s mit Geld aus?« »Auch nicht berauschend.« »Aber Sie sagten gerade, ich hätte genug Kohle für einen langen Urlaub.« »Inoffizielle Gelder neigen dazu, inoffiziell abgezweigt zu werden.« »Sind Sie sicher? Sehen Sie, die Karo Sieben liegt Verkehrt herum.«
»Ja«, sagte die Frau. »Ich berücksichtige das.« »Diese Karte gefällt mir nicht. Ich will, daß Sie mir jede Karte einzeln erklären.« »Lieber nicht.« »Dann will ich mein Geld zurück.« »Gemacht.« Alexa lehnte sich zurück und riß erstaunt die Augen auf. »Was?« »Sie sind nicht zufrieden mit meiner Arbeit. Also gebe ich Ihnen Ihr Geld zurück. Dies ist ein Ausweis meiner Berufsehre.« »Was sagen die Karten nun?« »Es ist… verwirrend.« »Was ist mit dieser Karte? Das ist die Ergebnis-Karte, nicht wahr? Sagen Sie mir, welche Bewandtnis es mit der Ergebnis-Karte hat.« »Wenn ich das tue, gibt es aber kein Geld zurück.« »Schön. Das juckt mich im Moment überhaupt nicht.« »Es besteht eine vage Möglichkeit eines guten Ergebnisses.« »Ich höre immer nur vage Möglichkeiten.« Alexa sprang auf und stieß den Stuhl um. »Was, zum Teufel, ist los mit Ihnen? Sind Sie nicht imstande, Ihre eigenen Karten zu lesen?« Die Augen der alten Frau funkelten. »Doch, bin ich. Aber nun möchte ich Ihnen eine Frage stellen.« »Sagen Sie mir nur das Ergebnis.« »Sehr wohl. Sie sind ein Trotzkopf und mißachten gute Ratschläge. Sie werden sich auf die Suche nach etwas Großem und zugleich Gefährlichem begeben. Etwas Kleines und Verwirrendes wird zu Ihrem Tod führen. Durch Mord…« »Wovon reden Sie eigentlich?« »… sehr, sehr bald.« Alexa trat einen Schritt zurück. »Tun Sie mir das nicht an.«
»Sie wollen die gute Nachricht hören. Nun gut. Die gute Nachricht ist, daß Ihr Tod gerächt werden wird.« Die alte Frau neigte den Kopf. »Zufrieden?« Behutsam stellte Alexa den Stuhl wieder auf. Am Ausgang des Zeltes rief die Frau Alexa noch einmal an. Sie hielt inne. »Und hier eine sehr seltene Kombination. Wenn die beiden letzten Karten den gleichen Wert haben – die Karo-Fünf und die Kreuz-Fünf – haben wir das, was man als doppeltes Ergebnis bezeichnet. Manchmal handelt es sich um Alternativen, manchmal um simultane Ereignisse. In diesem Kontext bedeutet beides den Tod. Zwei Tode.« Die Frau runzelte die Stirn. »In beiden Fällen offensichtlich Ihr Tod.« Sie schüttelte den Kopf. »Nun möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Wieso haben Sie Ihre Leute verlassen?« Alexa drehte sich um und ging. Es ist erwähnenswert, daß Alexas Ergebniskarten Fünfen waren. Fünf Karos kunstvoll und gefällig arrangiert, vier Punkte symmetrisch um einen fünften gruppiert – diese Form findet man auch bei ›Fünf Augen‹ beim Würfeln, die Form, welche die aufs Würfeln geradezu versessenen Römer als den Quincunx bezeichneten. * Alexa kehrte gegen drei in ihr Quartier zurück. Aber sie war noch nicht sie, noch nicht unsere Augustine. Der immerzu lächelnde Wachsoldat lächelte sie an, und sein Lächeln wurde noch breiter, als er beim Blick auf ihren Ausweis erkannte, daß sie zur AIA gehörte. »Ich brauche Ihre rechte Hand. Ich muß die Karte prüfen. Tagesbefehl.« Sie nickte und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen und zugleich lasziven Blick, während er ihre Hand länger als eigentlich nötig über die Linse führte.
Vielleicht fühlte sie sich wirklich von ihm angezogen. Schließlich trug er eine fesche Uniform, mitternachtsblau mit scharlachroter Schärpe. Ein ziseliertes Kinn, das mit dem weißen Kinnband kontrastierte. Die blauen Augen funkelten mit einem Hauch von Irrsinn unter dem Pelzbesatz der Mütze. Er stellte sich als Sam vor. »Ich hatte geglaubt, man müßte mindestens ein Mönch sein, um einen Zugangscode in dieser Farbe zu bekommen.« Fast widerwillig rückte er die aktualisierte Karte heraus, die ihr in wenigen Augenblicken das Leben retten würde: Ein brandneues Paßfoto lächelte sie an, und auf den schwarz eingeprägten Vornamen war mit weißen Lettern FREIGABE gestanzt worden. Er streichelte ihre Hand und hielt sie fest. »Ich habe um neun Dienstschluß. Vielleicht können wir uns zusammensetzen, und du gehst mir ein wenig bei meinen Dateiakzessoren zur Hand, Süße.« »Das ist eine vage Möglichkeit, Süßer. Man sieht sich.« Sie war verschwunden, bevor die Runzeln auf seiner Stirn sich geglättet hatten. Sie war nicht interessiert, aber erfreut. Die meisten Soldaten schreckten nämlich vor AIA-Personal zurück. Es war schon riskant, sich mit Tekkies einzulassen; und Ärger mit der AIA war geradezu tödlich. Sie spazierte über das Gelände, den Rucksack auf dem Buckel. Vielleicht würde sie sein Gesicht aus dem Gedächtnis aufrufen und entscheiden, ob er ihr gefiel oder nicht. Sie gab gerade die Kombination für das Zahlenschloß ein, als die Bombe explodierte. Die erste Druckwelle riß sie von den Füßen und wirbelte sie fünfzehn Meter weit hinter einen Müllcontainer. Das rettete ihr das Leben. Die zweite Druckwelle zerstörte einen Teil der Offiziersunterkünfte, darunter ihre eigene. Der Müllcontainer indes blieb unversehrt. Sie lag auf dem Rücken. Sie sah die Seite des Con-
tainers und einen Ausschnitt des Himmels. Schreie überall. Männer und Frauen rannten an ihr vorbei. Dann war Sam, der Wachsoldat, neben ihr. Er war bleich. »Bitte halten Sie durch.« Er war gekommen, vielleicht nicht von weit her, und nun streckte er sich neben ihr aus. Sein Gesicht war dicht an ihrem. Er schaute verwirrt an sich hinab, und sie folgte seinem Blick, um zu sehen, was dort war oder auch nicht. Ein Rinnsal aus Blut lief von seinem Unterleib zu ihrem. Nach einem Moment, als er die Hände auf die Wunde preßte, mußte sie erkannt haben, daß es sein Blut war. Drei Ströme rannen ihm nun durch die Finger. Er hatte sich gegen ihre Brust gelehnt, und sie ertrug den Anblick des Bluts nicht länger. Sie legte nun selbst den Kopf in den Nacken. Sie versuchte, ihm übers Haar zu streichen, glaube ich. Auf jeden Fall schlug ihr linker Arm einmal gegen seinen Hals. Dann schnappte sie nach Luft, und die Hand fiel wieder in den Schmutz. Er lag auf ihrem rechten Arm. Zeit verging. Männer und Frauen rannten schreiend vorbei und rannten dann in Gegenrichtung vorbei. Der Schatten an der Seite des Müllcontainers wanderte sechs Zoll nach oben. Zwei Männer verlangsamten das Tempo, um einen Blick auf die reglosen Körper von Alexa und Sam zu werfen. Alexas Augen waren nun geschlossen. »Leben sie noch?« fragte einer von ihnen. Der andere trat über Alexa hinweg und plazierte den Fuß dicht an ihrem Ohr. »Machst du Witze? Sieh dir nur diese Kopfverletzungen an – mein Gott!« Dann regte Sam sich. »Sieh nur! Sanitäter! Sanitäter!« Während der darauffolgenden Wiederbelebungsversuche warf einer der Sanitäter noch einen Blick auf sie. »Würdest du bitte deine Wichsgriffel von dem Mädchen lassen und uns hier helfen?« »Sie lebt noch, Colin.«
»Ich werd zum Hirschen.« Sie lebte noch. Sam starb. Sie starb auch. Doch verschiedene Teile ihres Organismus erlangten biologische Kontinuität, einschließlich großer Abschnitte des Gehirns. Sie hinterließ eine kausale Nachkommenschaft. Diese Nachkommenschaft verdankte ihre Existenz dem jungen Feldwebel namens Sam, der geblutet hatte wie ein Schwein und dessen letzte Regung in gewisser Weise zu ihrer ersten wurde.
2 Das Diebes-Tagebuch »Im Jahr der Blume codiert A23, im Jahr der Blume, wo die finale Katastrophe über uns hereinbrach, bieten wir Dir, o Busen der Nacht, diesen Diener des Chaos dar, den wir für Dich im Blut der Rose gedünstet haben…« »Ms. Augustine?« Sie drehte sich um und sah einen kleinen, drahtigen Herrn in den Fünfzigern, dessen kahlgeschorener Schädel vom traditionellen Knochenkamm der Crackerjack-Chirurgie gekrönt wurde. Er trug ein purpurnes Jacket und eine Hose aus Schlangenleder. Der Ohrring, mit dem er sich zierte, war eine goldene Scheibe, aus der Stücke herausgebrochen worden waren, so daß der Rest die geschwungenen Züge eines chinesischen Schriftzeichens ergab. Die kleine Statur, die großen rosigen Albino-Augen und das vogelartige Blinzeln erweckten den Eindruck großer Verletzlichkeit. Dieser Mann hatte sich im Flur des Columbariums als ›Mister Existenz‹ vorgestellt. Sie legte einen Finger auf die Lippen. Unsere Augustine war in Populär-Kultur nicht auf dem neusten Stand. Ihre Kenntnisse der Spiele und Spiel-
Welten, Hitlisten, Kultobjekte, Lieder und das Wissen, mit dem man sich in Game-Shows behauptete, waren nicht nur dünn, sondern praktisch nicht vorhanden. Sie wußte wohl, daß der Grat auf der polierten Platte von Mr. E. etwas mit dem Crackerjack-Kult zu tun hatte, doch hatte sie keine Ahnung, was er bedeutete, ob er gut oder schlecht oder amüsant war, ob er teuer war oder subventioniert wurde. Auf jeden Fall fand sie es abstoßend. Aus dem einfachen Grund, weil Gehirngewebe und seine Manipulation heutzutage ein heikles Thema waren. Sie wußte wenig und hatte auch nicht den Wunsch, mehr zu erfahren. Sie wußte nicht, daß bei dieser Chirurgie neue Gewebebrücken zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte geschaffen wurden und daß daraus regelmäßig epileptische Anfälle resultierten, die immerhin einen Unterhaltungswert hatten: Die Betroffenen tanzten wie Fred Astaire und sprachen wie das Orakel von Delphi. Sie kannte nicht das Gerücht von der ›höheren Straße‹, welche die Crackerjacks für ihre talentiertesten Novizen reservierten. Genauso wenig wußte sie, daß die Straße zur höheren Straße mit Hindernissen gespickt war, daß die wenigsten Novizen ein Alter von fünfzig Jahren erreichten und daß Mister E’s aktive Beteiligung am Kult längst Vergangenheit war. Sein letzter Tanz, sein letzter rhetorischer Höhenflug lagen zehn Jahre zurück. Er hatte zu einer subtileren Art der Verehrung gefunden. »Forme du nun die Gottheit für ihre formlose Reise, im Vorgriff auf das Wort und den Konflikt und den Gedanken, in der Tiefen-Finsternis ohne Bewußtsein, fürderhin und sintemal, das Sein beraubt des Gedankens, der Gedanke beraubt des…« »Ms. Augustine?« »Darf eine Frau denn nicht einmal in Ruhe ihrer eigenen Beerdigung beiwohnen?« »Sie sind nicht die Frau, die heute eingeäschert wurde.
Dies zu behaupten wäre Häresie, Ms. Augustine.« »So ist es. Was kann ich für Sie tun?« »Können wir später reden…?« »… wir, die wir dem Tod nicht begegnet sind, bitten dich, uns von unsrem Dort-Sein zu erlösen, daß jedem von uns die Stimme auf die Einsamkeit antwortet, die allein weiß, was das Nicht-Wissen bringen mag…« »Wir können nun reden, Mr. Existenz. Ich glaube, ich habe fast mehr gehört, als ich ertrage. Obwohl ich mir schon eine Lobrede gewünscht hätte.« »Wer sollte sie wohl halten?« fragte er. Sie gingen zusammen einen Marmor-Korridor entlang, der in den Pink- und Grautönen der Rosen-Theokratie gehalten war, derweil hinter ihnen die Stimme des Kantors in immerwährendem, auf- und abschwellendem Singsang ertönte. Nach einer Weile, das heißt nach einer langen Weile für diejenigen, die zur Inszenierung solcher Riten verdammt waren, würde die Beschwörung des Absoluten durch den Kantor ein Ende finden. Und falls er einen Hang zur Theatralik hatte, würde der Schlußpunkt vielleicht aus einem leisen Schluchzer bestehen. Und hinter ihm würde dieser Funktionär mit dem Spitznamen ›Pfannkuchen‹ einen Hebel betätigen, der die sterblichen Überreste von Alexa Augustine ins metaphorische Feuer werfen würde – in Wirklichkeit ein noetisches Feld, über dem ein kleiner Zellulose-Quader aus dem Schornstein des Columbariums geschossen werden und eine Rauchwolke erzeugen würde, die so wichtig war in einer Welt des äußeren Anscheins. Diese Überreste waren durchaus überzeugend: Zwei Arme, zwei Beine und vielleicht noch anderthalb Pfund verschmorten Fleischs, das im Krematorium entsorgt worden war. Diese organische Materie war alles, was Alexa Augustine in dieser Welt des äußeren Anscheins laut Gesetz noch ausmachte. Draußen flanierten Ms. Augustine (die noch immer die
Rechte am Nachnamen ihrer Vorgängerin trug) und Mr. Existenz unter der strahlenden Sommersonne und schauten zum Schornstein des Columbariums hinauf. Mr. Existenz lächelte gütig. Sein Blick fiel auf den Schornstein, auf die üppigen Rhododendrons, die den Pfad zu beiden Seiten säumten, auf einen Marienkäfer, der auf einem Blatt einem Rendezvous entgegenkrabbelte. Es war klar, daß seine Welt im Lot war. Und es gehörte zu seinen Obliegenheiten, dafür Sorge zu tragen. »Ms. Augustine«, sagte er nach einer Weile mit sanfter Stimme. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.« »Ja. Gewiß. Ich weiß nur nicht, ob es im Moment etwas gibt, bei dem Sie mir behilflich sein könnten. Lady Anne hat alles vortrefflich für mich arrangiert.« »Gewiß hat sie das. Aber ich bin hier, weil jahrelange Erfahrung uns lehrt, daß viele unserer Klienten eine ›persönliche Ansprache‹ bevorzugen. Es gibt immer eine Phase der Desorientierung und Dissoziation nach einer Persönlichkeits-Rekonstruktion; es wird Ihnen bei der Beantwortung der Frage helfen, ob Sie imstande sind, in die Fußstapfen Ihrer kausalen Vorgängerin zu treten. Dies ist ein Aspekt, den ich…« Mr. Existenz hatte die Angewohnheit, sich beim Sprechen hinter dem Ohrring zu kratzen, als ob dessen Gewicht ihn beschwerte und diese Seite des Kopfs besonderer Pflege bedürfte. »… ein Aspekt, den ich heute lieber nicht diskutieren würde, Herr des Lebens.« »Natürlich, das verstehe ich durchaus. Verzeihen Sie. Ich zerbreche mir immer den Kopf über die Karriere anderer Leute. Ich selbst habe nämlich durch einen verfehlten Beruf mein Leben verpfuscht.« »Das tut mir leid, Herr des Lebens.« »Wie dem auch sei, die Entscheidung müssen Sie schon selbst treffen. Meine Aufgabe ist es, den Übergang zu glätten und Ihnen Alternativen aufzuzeigen.«
»Herr des Lebens, es sieht so aus, als ob Sie genau das täten.« Ein verschmitztes Grinsen. Sie hatte ihn durchschaut. »Ich möchte, daß Sie sich ein paar Tests unterziehen. Wir wollen ein Gesamtprofil erstellen und schauen, wer Sie überhaupt sind. Dann wollen wir uns nach Kräften bemühen, Ihnen eine Identität zu vermitteln.« »Welchen Sinn sollte ein Gesamtprofil wohl haben, Herr des Lebens?« Mr. Existenz stieß ein amüsiertes Lachen aus, als ob er wüßte, daß sie mit ihm spielte. »Tun Sie es einfach für mich. Dann werden wir uns wieder unterhalten. Ach, das hier werden Sie für die Tests brauchen.« Er gab ihr eine Kunststoffkarte. Sie hielt sie schräg, und das Regenbogen-Spektrum verwandelte sich in einen blauen Streifen. Irgendeine Gestalt zappelte im irisierenden Licht, getarnt vom Sonnenlicht. Sie drehte die Karte, und erneut waberte der Regenbogen vor ihren Augen. Die Karte zog sie in den Bann, und er lächelte. »Wenn Ihr Weg sich etwas deutlicher abzeichnet. Ich bin da, um Ihnen Hilfestellung zu geben. Und ich werde auch in Zukunft da sein. Wenn Sie mich am wenigsten erwarten, werde ich da sein und Sie anleiten, korrigieren, anschubsen.« Sie führte die Karte vor die Augen und hielt sie senkrecht. Die Konturen einer Rose erschienen im glänzenden Kunststoff. Endlich stieß der Schornstein des Columbariums den überfälligen Rülpser aus, und schwarzer Rauch quoll in den blauen Himmel.
3 Das Diebes-Tagebuch Das Netz, in dem ich lebe. Mir fehlen die Worte, um es zu beschreiben – der Versuch einer Definition lautet, daß es am Ende alles umfaßt. Das Sprudeln im Mineral-
wasser; das Licht, nach dem die Sterbenden streben und in dem sie die Wahrheit suchen, mit der sie eins werden; der Anflug von Neid auf den Gruppenleiter bei der Morgenandacht; der Puls und die Atmung und die sich jagenden Gedanken vor dem Einschlafen; ein detailgetreues Modell der Stadt als fingernagelgroßer Chip im Rinnstein. Und nichts davon hat eine Bedeutung. Nichts davon hat eine Bedeutung, weil die eine Sache, die dem Netz abgeht, ein verläßliches Inhaltsverzeichnis ist. Fünfundneunzig Prozent des Netzes treiben in den schwarzen Gefilden des freien Speichers, unbenannt und unerreichbar. Sie drohen unter der nächsten Welle zu zersplittern, die durch sie pulsiert. Doch auch nach dem Aufprall und dem zerstörerischen Wirken der Welle hat das Netz noch Bestand. Noch immer existieren diese weit verstreuten fünf Prozent, die Namen haben, die berührt werden können und selbst berühren. Es gab einmal eine Zeit, da ein menschliches Wesen imstande war, einen starken Impuls zu spüren, ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, von der er sich abhob und der er gleichzeitig angehörte – und vermittelt wurde dieses Gefühl zu etwas, das als Stadt bezeichnet wurde. Doch nun ist die Stadt nur noch ein Schatten des Netzes. Das Netz machte sich Sorgen um Augustine. Im Bericht, den Mr. Existenz schrieb, stellte er Augustines Lebenswillen in Frage. Ein Psychiater namens Schroeder antwortete mit einem Wust aus Fachbegriffen, die im Prinzip nur besagten, daß die Zeit es weisen würde. Ein Sekretär im Ministerium für Monaden legte ein Gutachten vor, aus dem hervorging, daß extreme Maßnahmen angewandt werden müßten, um eine Auflösung zu verhindern. Ein sehr mächtiger Mann unterzeichnete es. Augustines Dialog mit Mr. Existenz wurde in allen Phasen der Individualität von siebenundzwanzig Experten im Ministerium für Monaden analysiert. Sieben-
undzwanzig Meinungen wurden gehört und penibel vermerkt. Über meinen tagesaktuellen Tabellen ihrer Lebenszeichen brüteten die besten Mediziner. Die Tabellen wurden auf die Rohdaten reduziert, konvertiert und in Rechenmodelle überführt, die meiner Alter-Augustine in Präzision kaum nachstanden. Schemenhafte Kopien von Augustine schimmerten im Netz durch. Meine Gedankensimulations-Transkriptionen verwirrten Schroeders Team von Gedächtnisrekonstruktions-Experten, und im Ministerium wurde so manche Stirn gerunzelt. Letztendlich müssen etliche Leute sich gefragt haben, wieso eine KI Sechsten Grades und eine kleine Armee für die Betreuung einer leicht beschädigten Interfacerin abgestellt worden waren. Diskrete Nachforschungen müssen stattgefunden haben und genauso diskret wieder eingestellt worden sein, nachdem der Name ihres mächtigen Wohltäters bekannt geworden war. Obwohl ich nicht minder verwirrt war, verkniff ich mir die Frage. Wann hatte eine KI zuletzt nach dem Sinn ihres digitalen Daseins gefragt? Welchen Sinn hatte diese Frage an sich? Ich hatte meine Augustine. Ich durchlebte jeden einzelnen ihrer Gedanken. Ich sah die Welt mit neuen Augen. Und es war Augustine. Augustine bog um die Ecke und trat auf eine regennasse, rutschige Straße. Streiflichtartig sah sie ein Feld aus grauem Laminat, das von einer gelben Furche durchzogen wurde. Dann schwenkte das Grau von ihr weg, was ihr ein Gefühl der Übelkeit verursachte, und im Zentrum entfaltete sich eine amorphe Aktivität. Im nächsten Moment wimmelte die Straße von Soldaten und Bürokraten, deren Konturen sich in fast unerträglicher Schärfe abzeichneten. Der Kontrast war so stark, daß die Darstellung unzählige Grautöne hatte, und der Asphalt wirkte geradezu lebendig. Es dämmerte Augustine mit einem gläsernen
Schimmer, daß sie einen Bildschirm betrachtete. Hinter ihr ertönte ein kurzes Lachen – über einen alten, aber unvergänglichen Witz, weil er in der entsprechenden Situation wie die Faust aufs Auge paßte. Augustine wandte sich um und sah einen schlanken Mann mit einem massigen Schädel und großen wäßrigen Augen. Er grüßte sie mit einem knappen, nervösen Kopfnicken. Das besagte ungefähr soviel wie: Kennen Sie den etwa nicht? Plötzlich ertönte Gelächter von oberhalb des Monitors. Ein grauer Punkt blinkte in der rechten oberen Ecke, und das Bild veränderte sich. Sie sah eine weitläufige Halle mit hoher Decke. Sie war leer, bis auf einen schwarzen Marmorschreibtisch, hinter dem ein Mann saß. Er hatte die Hände flach auf den Tisch gelegt. Die Kamera fuhr das Bild heran. Er trug die blaue Mütze eines Offiziers, an der eine Plakette mit einer Nummer befestigt war. Die Stirn war zerfurcht. Hinter dem Mann strebte eine wuchtige Betonmasse zur hohen Decke. Die tiefen Rillen verliehen dem windschief wirkenden Monument eine Intensität, als ob ein Riese mit den Fingern durch weiche Butter gefahren wäre. Oben lief der Beton in einer kopflosen geflügelten Kreatur aus, und diese wiederum wurde von einer gesichtslosen Frau in einem gebauschten Kleid gekrönt. Die Kamera hielt dieses Bild fest, und nervöses Gelächter ertönte. Der Mann neben ihr stieß einen Laut des Ekels aus (etwas wie ›igitt‹), und sie riskierte einen zweiten Blick. Er schaute sie an und schüttelte den Kopf. Hier warteten keine Überraschungen. Der Punkt blinkte wieder. Es erschien die Vergrößerung eines bärtigen Gesichts. Der Schnurrbart hing in der unteren Bildschirmmitte, und den Rest des Monitors nahm eine Nase ein. Der Schnurrbart zitterte, die rechte Spitze etwas stärker als
die linke. Gleichzeitig wich die Nase zurück und nahm dann wieder die Ausgangsstellung ein. Die Kamera fuhr langsam zurück und zeigte ein ausgeprägtes männliches Profil. Dann fuhr sie noch weiter zurück und zeigte aus der Froschperspektive einen schlanken uniformierten Körper, der auf einem Rasenstück in Habacht-Stellung stand. Mehr verhaltenes Gelächter. Der Punkt blinkte, und eine mächtige Steinklaue schob sich in die Ecke des Bildschirms. Der kleine Mann neben Augustine stieß ein brüllendes Gelächter aus. Sie durchstieß die Wolke aus fahlem Licht, die vom Bildschirm ausging und rannte auf den mit Steinplatten ausgelegten Platz dahinter. Bald darauf erblickte sie einen zweiten Bildschirm. In rascher Abfolge zeigte er Bilder einer Fassade (grölendes Gelächter auf der Tonspur), eine Horde von Leuten mit Hut, die einen Bus bestiegen (vereinzelte ›Ohs‹ und ›Ahs‹), ein gähnendes Baby. Diesmal wurde sie von zwei älteren Frauen mit Nerzstola und Einkaufstüten flankiert. Augustine wurde vom Blitz der Erleuchtung getroffen. »Tagesschau!« rief sie. Ich stieß einen Ruf des Entzückens aus, und mein goldenes Robot-Icon vollführte ein Freudentänzchen. Es entzückte mich immer, wenn unsere Augustine eine kleine Erinnerungshürde übersprang. Die beiden Frauen neben ihr waren indes nicht entzückt. Sie zurrten die Stolas fest, packten die Einkaufstaschen und eilten eine Betonrampe hinunter. Augustine sah sie im nächsten Geschäft verschwinden. »Tagesschau«, wiederholte sie. Die Tagesschau war eine Montage des Stadtlebens, die KIs aus den hunderttausend Video-Stunden zusammenschnitten, welche die nimmermüden KI-›Augen‹ aufgenommen hatten. Für einige Zeit war die Tagesschau die beliebteste Un-
terhaltung in der Theokratie gewesen. Selbst die unbeliebte Tekkie Alexa Augustine plante ihre Route so, daß sie an den besten Tagesschau-Schirmen vorbeiführte. Den dritten Schirm sah sie auf dem Union Square. Eine Menschenmenge hatte sich davor versammelt. Sie bahnte sich einen Weg zum Zentrum. Sie schaute für eine halbe Stunde zu. Etwa die Hälfte der Videoclips, die sie sah, bestand aus Aufnahmen aus kurzer und mittlerer Distanz. Sie zeigten Bürger in einer starren Pose, eine Fünfzehn-Sekunden-Momentaufnahme eines Lebens im Großformat: Ohne Dialog, dafür mit streiflichtartigen Ansichten sich bewegender Lippen. Die übrigen Aufnahmen zeigten Gebäude und das Leben in den Straßen, Plätze, Boulevards, Überführungen mit Zügen und Bussen, Statuen von äugen- und gesichtslosen Frauen: Die Hüterin der Gerechtigkeit oder die Herrin des Schicksals oder irgendeine Muse. Eins dieser Wesen zierte die Motorhaube eines schnittigen silbernen Automobils mit Heckflossen. Die Menge bedachte jedes Bild mit lautstarken Kommentaren, die zwischen Bewunderung und Verachtung schwankten. Fast alle Bemerkungen betrafen die Kleidung, mit der die Vorbeigehenden und -fahrenden ausstaffiert waren. Männer und Frauen trugen große Hüte und lederne Handschuhe. Die Gesichter waren drei- oder viereckig, wobei die Züge förmlich in die Gesichter gemeißelt worden waren oder im Schatten der Hutkrempe verborgen lagen. In dunklen Anzügen mit modischem Schnitt. Mit breitem Revers. Breitschultrig. Es gab indes eine kleine, aber sichtbare Minderheit, die sich weniger formell kleidete. Dabei handelte es sich fast ausnahmslos um junge Bürger, die T-Shirts trugen. Der Menge verschlug es fast immer die Sprache, wenn diese Stadtindianer auf dem Kriegspfad waren. Als ein-
mal ein blasses, rothaariges Mädchen in einem schmuddeligen T-Shirt die Market Street überquerte, verspürte Alexa den Drang, sie mit den einschlägigen Sprüchen zurechtzuweisen (›Heb die Füße!‹ oder ›Leg den Kragen richtig um!‹ oder ›Du siehst aus wie eine Vogelscheuche!‹), doch traute sie sich nicht. Sie wußte, daß viele dieser Kinder Tekkies waren und daß sie früher auch eine von ihnen gewesen war. Es war wohl ein Zeichen von Unsicherheit, daß sie an jenem Tag mit ihrem schwindenden Dispo-Kredit (als Regierungswechsel ausgestellt, der im Laden ein echter Blickfang war) ein graues Kostüm mit HahnenkammRevers und Schulterpolstern erwarb. Vervollständigt wurde die Ausstattung mit einem Schlapphut, der ihr Gesicht bis zu den Lippen in Schatten tauchte. Ihr einziger Akt der Rebellion – falls es denn einer war – bestand in einem roten Armband (das um ein rotes Hutband ergänzt werden mußte), auf das in weißen Lettern ein Wort gedruckt war: Easy. Das war, wie sie wußte, eine gerade noch akzeptable Variation eines marginalen Themas. Viele Tekkies hatten Sprüche auf den T-Shirts. HARVARD SPORTCLUB. Oder MENS IN CAMPARI SODA. Oder FREIHEIT FÜR GRÖNLAND – WEG MIT DEM PACKEIS! Oder ARBEITSLOS UND SPASS DABEI. Oder BIER FORMTE DIESEN WUNDERVOLLEN KÖRPER. Die paar geflüsterten Kommentare zum Aufzug der Tekkies zollten den Aufschriften widerwillig Respekt. Das stand außer Frage. Das Schreiben erfuhr eine Renaissance. Die Sinnhaftigkeit leider nicht. * Nachdem sie die Boutique verlassen hatte, bestieg sie einen Bus und setzte sich auf einen Fensterplatz. Neben ihr, auf der anderen Seite des Durchgangs, saß ein
Mann mit spitzer Nase und einem Panamahut und starrte sie an. Sie schaute weg. Als sie wieder einen Blick riskierte, blätterte er in einer Zeitschrift und studierte die ganzseitigen farbigen Illustrationen. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und stützte die Zeitschrift an der Wade ab. Mit dem anderen Fuß tippte er rhythmisch auf den Boden. Die Frau auf dem Platz davor drehte sich zu ihm um und sagte: »Wissen Sie, was ich heute in der Tagesschau gesehen habe? Ich habe einen Mann gesehen, der einen dunklen Anzug mit dunklen Streifen trug. Noch dazu mit schmalem Revers.« Der Mann mit dem Panamahut schaute sie gleichmütig an: »Sie belieben zu scherzen.« Die Busse: Gekrümmte Glasscheiben trafen auf schwarze Kunststoffwände, in die fugenlose Front waren rechteckige Scheinwerfer integriert, gepfeilt, verschrammt, dynamisch stromlinienförmig. Kompromißlos auf Laufruhe ausgelegt. Nur der Fahrtwind ließ sich noch vernehmen. Wusch. Wusch. Kanten mit Gummileisten, Türen mit Gummiprallflächen, die sich mit einem pneumatischen Wispern öffneten. Zisch. Zu. Eine wabernde fluoreszente Kabine, die eins ist mit der Geometrie der Stadt. Zisch. Zu. * Das Marinearsenal. Getrennte Bereiche fürs Publikum und fürs Private. Der öffentliche Bereich war weitläufig: Ein Raum, der die Weite des Weltraums einzufangen schien. Dachsparren schwangen sich von dunklen Decken herab; Sonnenstrahlen zuckten durch die Dunkelheit; schwarze Gesichter aus Marmor; komprimierte Betonmassen zielten auf die erbarmungslosen, glänzenden Böden. Vom Eingang des Arsenals schweifte ihr Blick über einen sich scheinbar in die Unendlichkeit erstre-
ckenden Boden zu einem mehrere Meter breiten Marmortisch. Dahinter, wie ein Kontrapunkt, saß ein unscheinbares Männchen, das in ein Brettspiel vertieft war. Über ihm stieg geriffelter Beton zu einem kopflosen Vogel empor, der von der silbernen Statue einer gesichtslosen Frau gekrönt wurde. Mit klackenden Absätzen und schlurfenden Schritten durchquerte Augustine den leeren Raum. Als sie sich dem Tisch näherte, identifizierte sie den Mann als einen flachsblonden, goldgesprenkelten Adonis, der ungefähr doppelt so breite Schultern hatte wie sie. »Entschuldigung.« Er schaute gleichgültig zu ihr auf. »Wo bitte geht es zu den Quartieren?« Er zeigte auf eine Reihe von Aufzügen am Fuß eines zehn Meter hohen Betontropfens. Sie vermochte kaum aufrecht zu stehen im C-KlasseRaum im dreißigsten Stock. Die Einrichtung bestand aus einem Bett und einem Wandbildschirm. Daß das Zimmer auch ein Fenster hatte, war geradezu Luxus. Der Eingang zu ihrem Zimmer war etwas versetzt zum Eingang eines identischen Raums auf der anderen Seite der Halle. Eine Tür gab es nicht. Sie schlug die Hände über den Kopf, um ihn vor den winkligen Wänden zu beschirmen und schaute aus dem Luxus-Fenster auf die Stadt. * Es war Mittag. Es waren nur ein paar Soldaten auf den Stuben. Sie holte die weiße Karte hervor, die Mr. Existenz ihr gegeben hatte. Als sie das Kunststoff-Rechteck drehte, waberte der holographische Geist einer Rose hinter einem irisierenden Vorhang. Sie wußte in groben Zügen, wie dieses Stück Kunststoff funktionierte, wie
persönliche Daten in der kristallinen Struktur gespeichert wurden. Es war ihre Rettungsleine zu den Datenbänken der Stadt. Es würde ihr Konsum ermöglichen. Es würde Dinge geschehen lassen. Es würde sie vor anderen Leuten ausweisen. Und sie wußte, daß sie die Karte in den Datenport stecken mußte, das sie bei sich trug. Das schwarze Gehäuse des Datenports schmiegte sich in die Hand. Mit abgerundeten Kanten. Wie ein vom Wasser abgeschliffener Stein. Aus dem Deckel zog sie einen flexiblen Bildschirm heraus und entfaltete ihn. In der Nut, die an der Unterseite verlief, befand sich ein Schlitz für die Karte. Es machte klick, als sie die Karte einführte. Der Bildschirm erhellte sich, und der Deckel klappte auf und gab eine Mini-Tastatur frei. Man öffne ein Fenster und nenne es Informations-Server Eins. Informations-Server Eins: Nachname: Augustine. Vorname: Entfällt Beruf: Interfacerin Geschlecht: Weiblich Alter: 35 Anschrift: Entfällt Name der Mutter: Entfällt Name des Vaters: Entfällt.
Sie versuchte, den Bildschirm zu rollen. Er wurde dunkel. Keine weiteren Daten. Sie gab aufs Geratewohl eine Abfolge von Zeichen ein, und ein Fragezeichen erschien links oben auf dem Bildschirm. Eckige Klammern in der nächsten Zeile. Abfrage-Modus. Hinter dem Fragezeichen tippte sie: Ethnischer Ursprung. Auf dem Monitor erschien: ›› Nomade. Sie tippte: Ethnische Destination.
Informations-Server Eins: ?? Ethnische Destination ›› Unbekanntes Feld ?? Guthaben ›› 100. 000 ?? Idealtyp (Laufbahn) ›› Angehöriger des Technischen Diensts, AIA
Mit dem Lichtgriffel berührte sie die Zahl 100.000, und zwei Rechtecke blinkten in der rechten oberen Ecke; ein blaues und ein gelbes. Unwillkürlich machte sie das Interfacer-Handzeichen für Gelb: Die Hand nach oben gestoßen, alle fünf Finger ausgestreckt. Weil Gelb immer Hilfe bedeutet, bin ich in der Struktur verloren. Für Blau wies die Hand nach unten: Bring mich ins nächste Unterverzeichnis. Sie wies auf das blaue Rechteck. Informations-Server Eins: ›› ›› ›› ››
Policen-Nummer: 479-615.247 Inhaber: Alexa Augustine Begünstigter: Augustine Betrag: 100.000
Den Griffel aufs Wort ›Police‹. Gelbes Blinken. Informations-Server Eins: ›› Lebensversicherungs-Police, Standard-Bürger-Anteil.
Sie lachte. Es war schon eine Weile her, seit sie zuletzt gelacht hatte. Ein höchst seltsames Instrument, eine Lebensversicherung, welche die verstorbene Alexa Augustine für eine noch nicht existierende Entität abgeschlossen hatte. Sie war vergeßlich. Sie wußte kaum noch, was Alexa Augustine überhaupt ausgemacht
hatte. Doch dies hatte sie nicht vergessen. Wie Mr. Existenz, war auch diese Police ein Geschenk des Ministeriums für Monaden; sie wußte, daß sie nicht mehr darüber erfahren würde, und wenn sie den Bildschirm mit dem Griffel perforierte. Ein paar Fenster später erschien ein persönliches Budget mit einem Guthaben von 100.000, das auf diverse Konten für das kommende Jahr aufgeteilt war: Miete, Verpflegung, Krankenversicherung, Öffentliche Verkehrsmittel, Freizeit, Arbeitslosen-Steuer (auf eine entsprechende Anfrage wurde sie mit der Nachricht ›Keine weitere Info‹ beschieden). Und Ausbildung. Ausbildung war mit Abstand der größte Posten und belief sich allein für das laufende Jahr auf über 85.000. Sie machte sich nicht die Mühe, diese Zahl aufzuschlüsseln. Sie war ziemlich sicher, daß alles seine Richtigkeit hatte. Am Ende dieses Jahres hatte sie eine projektierte 4,78 für ihren Namen – zu wenig, um die ArbeitslosenSteuer für das Folgejahr zu bezahlen. Das mußte also sofort erledigt werden. Sie ging zum Namensfeld zurück, und der Griffel entwickelte schier ein Eigenleben. Ein Feld mit der Bezeichnung ›Vorname‹ blinkte. Sie gab ›Alexa‹ ein. Das Wort blinkte und färbte sich rot; so langsam, daß sie den von links nach rechts erfolgenden Farbwechsel der einzelnen Buchstaben verfolgte. Schließlich erschien die Meldung ›Unzulässiger Wert‹. Sie gab ›entfällt‹ ein, und wieder blinkte das Wort, und wieder erschien die Meldung ›Unzulässiger Wert‹. Sie stieß einen Seufzer aus. Sie kratzte sich am Kopf. Nach einem Moment tippte sie ›Unzulässiger Wert‹. Wie gehabt färbte das Wort sich rot, doch diesmal erschien es sofort wieder. Was vielleicht bedeutete, daß die Zeichenkette ›Unzulässiger Wert‹ ein unzulässiger Wert für das Namensfeld war. Vielleicht bedeutete es auch, daß ihre Existenz als I. V.
Augustine nun amtlich war. Erneut kratzte sie sich am Hinterkopf. Diesmal traf der Daumen auf etwas Hartes. Sie ertastete eine abgerundete Kante; die Konturen waren rechteckig. Sie hielt die Luft an und berührte zögerlich die Mitte: Zwei Löcher. Zwei Löcher. Im Kopf. Intuitiv zog sie das Kabel des Datenports aus dem Wand-Anschluß. Zwei Stifte. Sie führte das Kabel zum Hinterkopf und schloß es an. Die Klinke rastete ein. Wenn sie nun mit einer Bilderflut gerechnet hatte, so blieb sie aus. Sie sah nur die grüne Wand des Zimmers, die abgerundeten Ecken des Bildschirms, den Helligkeitsregler mit den ergonomischen Rillen. Was statt dessen kam, war ein warmes Bad, das vom Nacken ausging, sich bis unters Kinn ausbreitete und von dort aus zwischen den Brüsten hinab zum Unterleib. Blasen stiegen von einer tiefen Quelle auf, die in einem anderen Medium als Licht glühte, in einem Raum, den zu lokalisieren sie nicht imstande war. Es war, als ob jedes einzelne Härchen im Nacken und auf dem Rücken sich aufgerichtet hätte und leise sich wiegte. Das Kribbelfeld, der primitive Prototyp für die siebzehn Sinne des Informations-Raums. Aus solch einem köchelnden Sud entstanden Strukturen. Nur daß keine Struktur entstand. Denn der Datenstrom war zu schmal, als daß diese verwirrten Sinne imstande gewesen wären, eine Simulation zu erschaffen. Immerhin schmeckte sie etwas. Der Geschmack von etwas, das sie schon zu lang entbehrt hatte. Etwas, wofür sie einst gelebt hatte. Hatte ihr Lächeln anfangs noch von Selbstironie gezeugt, so war es nun Sehnsucht. Es piepte, und der Bildschirminhalt wurde gelöscht. Matt-
scheibe. Dann erhellte er sich wieder. Leer. Informations-Server Eins: Eine Glasscheibe. Informations-Server Eins (sich verdunkelnd): Weiße Buchstaben huschen über den Bildschirm. Ein Überrang-Interrupt war eingetreten. Sie seufzte und zog die Klinke aus dem Kopf. Dann preßte sie die Hand an die Schläfe. Sie bekam wieder einen Migräneanfall. Der große Bildschirm an der Wand erhellte sich, und es entfaltete sich das Bild einer nach rechts geneigten Rose, Blütenblätter nach oben. Wie in Zeitlupe plätscherten Worte auf den Bildschirm: DER KRIEG IST ZU ENDE! WAFFENSTILLSTAND ERKLÄRT! WALLIES EINIGEN SICH AUF VERTRAGSTEXT! Verschiedene Fenster erschienen auf dem Monitor, jedes mit einer Kopfzeile und einem Textkörper mit Rolleiste. Fenster A: Carmel abgetreten. Fenster B: Semantiker Ardath fliegt nach LA. Fenster C: SoftwareVertrag unter Dach und Fach. Fenster D: DatenschutzPlan bestätigt. Fenster E: Semantiker Ardath begrüßt Waffenstillstand. Subfenster: Ardath leitet Konzil im Multi-Monaden-Gebet. Es wurden ständig neue Fenster geöffnet. Die Namen bestanden inzwischen aus drei Buchstaben (Fenster LAE: Japanisches Konsortium lehnt Kreditbedingungen ab). Der Wandbildschirm glich nun einem komplexen Mosaik aus Text, Kopfzeilen und Ecken, die viel zu schnell wechselten, als daß das Auge ihnen zu folgen vermocht hätte. Augustine warf sich aufs Bett und vergrub das Gesicht im Kissen. Arme Augustine. Zu viele Fenster. Schau’n wir mal, was so ein Fenster alles kann. Öffnen. Schließen. Vergrößern. Verkleinern. Verschieben. Im Hintergrund weiterlaufen. Mit einem Icon verziert werden (es läuft einem kalt den Rücken hinunter, wenn man spät am
Tag selbst zu einem Icon wird, in ein winziges Symbol verwandelt, eine Glyphe oder ein Zeichen, das bei der aktuellen Bildschirmauflösung kaum zu erkennen ist, angehalten, erstarrt, vielleicht für immer zur Reglosigkeit verdammt). Ein anderes Fenster verdecken. Ein anderes Fenster überlappen. Überlappt werden. Verdeckt werden. Blinken. Heller werden. Dunkler werden. Splittern. Ausfransen und sich im informationalen Äther verlieren (es gibt natürlich keinen informationalen Äther oder Raum; dies ist nur eine Gutenacht-Geschichte). Ausgeblendet werden. Sprechen. Stummgeschaltet werden. Rollen. Sich verschachteln. Endlose Ströme nutzloser Informationen abstrahlen. Verstummen. Verstummen. Verstummen.
4 Das Diebes-Tagebuch Was, wenn das Freud’sche Rohmaterial (Träume, Versprecher, Fixierungen, Traumata, Ödipus-Komplex, Todessehnsucht) selbst nur ein Zeichen oder Symptom einer umfassenden historischen Transformation wäre? In diesem Zusammenhang ist die Freudsche Topologie der Mentalfunktionen als Desintegration des autonomen Subjekts zu betrachten, des Cogito beziehungsweise des selbstbestimmten Bewußtseins der westlichen Mittelschicht. Heute markieren solche typischen Freudschen Phänomene den schleichenden Zerfall sozialer Beziehungen und ihre Transformation in autonome Mechanismen. Die individuelle oder unabhängige Personalität wird schrittweise zu einem Rädchen im Getriebe reduziert, einem Locus aus Zwängen und Tabus, einem Eingabegerät für Instruktionen von allen Ebenen des Systems. Das frühere Subjekt denkt nicht mehr, sondern es ›wird gedacht‹, und die bewußte Erfahrung, die mit dem Konzept der Vernunft in der Mittelklasse-Philosophie einherging, verflacht nun zum Empfang von Signalen
aus Zonen außerhalb des Selbst – wobei diese Signale entweder von innen und ›unten‹ kommen, wie bei den Trieben, den körperlichen und psychischen Automatismen oder von äußeren Kreisen verwobener sozialer Institutionen aller Art. Frederic Jameson MARXISMUS UND GESTALT
Am Nachmittag hatte sie einen Termin bei Dr. Schroeder, seines Zeichens Psychiater. Schroeder war ein wuschelköpfiger athletischer Mann Mitte Vierzig. Er hatte einen Walroß-Schnurrbart, der leicht angenagt war. Er war einer von der Sorte, die den Patienten weismachte, die Sitzungen seien ganz normale soziale Ereignisse. »Möchten Sie eine Pistazie?« fragte er und deutete auf eine große Schale mit Pistazien. Augustine fragte sich, ob es schwierig gewesen war, sie während des Kriegs zu beschaffen. Schroeders Schreibtisch war mit einem Bleistiftspitzer bestückt (verräterisches Zeichen für einen exzessiven Hang zum Schreiben von Hand), der Pistazienschale, den in ›Kindersärgen‹ steckenden Füßen und (die Krönung) einem automatischen Pistazienknacker. Das Ding sah aus wie ein kleiner schwarzer Kringel und befand sich in Reichweite von Schroeders haarigen Händen – auch dann noch, als er sich im Bürostuhl, der mit einer Wippmechanik ausgestattet war, zurücklehnte und die Füße neben dem Bleistiftspitzer plazierte. Eine Pistazie wurde ins Loch des Kringels gesteckt. Nach einer Sekunde knackte das Gerät und sprühte Funken, und die Nuß sowie die Schalen konnten aus dem Kringel entfernt werden. »Sehen Sie sich das an. Kein Kratzer im Mark. Die Schale wurde entlang der Rille aufgebrochen.« Schro-
eder sammelte die Brocken auf und hielt sie ihr hin. »Erstaunlich, nicht wahr?« Sie nickte. »Schön, daß wieder Frieden herrscht, nicht wahr?« Sie nickte erneut. »Wie ich sehe, haben wir inzwischen einen Vor- und einen mittleren Namen. Aber weshalb so schüchtern? I. V.« Er lächelte. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich Sie Ivy nenne, oder?« »Sicher.« »Sagen Sie, Ivy, leiden Sie vielleicht an ungewöhnlichen Phobien?« »Als da wären?« »Schmutz. Verkehr. Diskusförmige Objekte. Frieden. Die Farbe Grün. Angst ist ein integrierendes Gefühl. Obsessive Ängste entstehen aus den Interaktionen einer verkrampften Persönlichkeit, und sie verstärken diese Interaktionen. Damit Sie in die Gänge kommen, könnte ich Ihnen eine Angstdroge verschreiben. Anaridin zum Beispiel ist ein milder Angstauslöser, der den Aufbau einer Transferenz unterstützt…« »Und was ist mit Wut?« »Wie bitte?« »Ist Wut denn nicht genauso gut? Ich wache morgens auf und weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was als nächstes geschehen müßte. Das macht mich wütend.« »Wütend auf wen?« »Alles. Den Krieg. Den Frieden. Sie.« »Das sieht aber gar nicht gut aus.« Es trat ein kurzes Schweigen ein, und dann nickte Schroeder betrübt. »Sie leiden an den Nachwirkungen« – knack! Wieder eine Pistazienschale ionisiert – »der Konfrontation mit der Bedingtheit der Existenz. Ich werde in Ihrer Akte vermerken, daß Sie an einer Störung leiden, aber keine Halluzinationen haben. Außerdem möchte ich noch ein
paar Tests mit Ihnen durchführen.« Sie nickte. Nachdem sie diese Phrase gehört hatte, ging es ihr gleich besser. »Was für Tests?« »Die üblichen. Intelligenz. Wissen. Wahrnehmung. Reaktion. Persönlichkeit. Ich möchte offen zu Ihnen sein. Wir suchen nach Problemen. Und ich glaube, wir werden auch ein paar finden.« Er beugte sich unter den Schreibtisch und fummelte für eine Weile an einem großen Gegenstand herum. Dann legte er ihn vor ihr auf den Tisch. »Erkennen Sie das?« »Das ist eine Gitarre.« »Ich möchte, daß Sie versuchen, darauf zu spielen.« Dieses Ansinnen mutete sie seltsam an, doch war sie entschlossen, die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen. Sie öffnete den Koffer und holte eine Yamaha-Gitarre mit Stahlsaiten und einem Korpus aus hellem, polierten Holz heraus. Sie plazierte die Finger auf dem Griffbrett. Es war ein angenehmes Gefühl, doch verband sie nichts damit. Dann zupfte sie eine Saite, war angenehm überrascht, einen Akkord zu hören und schaute ihn erwartungsvoll an. »Ich spiele eigentlich keine Gitarre, müssen Sie wissen.« Er wirkte interessiert. »Ganz recht. Machen Sie nur weiter und spielen Sie daran herum. Tun Sie irgend etwas.« Die Finger der rechten Hand glitten leicht über die Saiten und erzeugten ein synkopisches Muster. Da war es nur natürlich, daß die Finger der anderen Hand sich wie von selbst über das Griffbrett bewegten. Die Noten, die sie dem Instrument entlockte, bildeten eine harmonische Sequenz. Es war ein altes Lied. Ihre Hand glitt am Hals empor, und ein schräger Septakkord drehte sich vor ihr in der Luft. Sie ging zur Tonika zurück und stimmte ein Lied an. »Intercity Line number four…«
Er hielt die Hand hoch, und sie verstummte. »Was tun Sie gerade?« Sie schaute auf die Gitarre, schaute auf ihn, schaute wieder auf die Gitarre. »Wäre es möglich, daß Sie spielen?« Sie runzelte die Stirn. »Betrachten Sie die Fingernägel an der rechten Hand und vergleichen Sie sie mit den Fingernägeln an der linken Hand.« Sie tat wie geheißen und erkannte auch sofort, was er meinte. »Die Fingernägel an der rechten Hand sind länger als die an der linken Hand. Deshalb ist es leicht, Akkorde mit der linken Hand zu greifen und Saiten mit der rechten zu zupfen.« »Ich wußte einmal, wie man dieses Instrument spielt.« »Die Hauptsache ist, Sie wissen es noch.« Sie legte die Gitarre in den Koffer zurück. »Schauen Sie, ich hatte einmal gespielt, doch nun kann ich nicht mehr spielen. Ich habe vergessen, wie das geht.« »Ähem… In Ordnung, lassen wir’s gut sein. Schließlich bin ich nicht Ihr Mentor. Unsre heutige Aufgabe besteht darin, herauszufinden, wieviele Dinge es noch gibt, die der Gitarre gleichen. Bevor Sie den Koffer schließen – kommt diese Gitarre Ihnen bekannt vor?« »Es ist eine Yamaha.« »Nein, diese Gitarre, nicht das Fabrikat.« »Nein.« »Sie hat Ihnen gehört.« »Ach.« »Ist auch egal. Ich hätte eine weitere Frage.« Er griff in eine Schublade und holte ein Bild heraus. »Wissen Sie, was das ist?« Es war ein Kreis, der mit zwei langen Schleifen verbunden war. »Das ist ein Enten-Kaninchen.«
»Was soll das sein?« »Keins von beiden. Beides zusammen. Ich schaue hin, und es ist das Bild eines Kaninchens. Dann blinzle ich, und es ist eine Ente.« »Gut. Und welche Bedeutung haben Enten-Karnickel für Sie?« »Weil ich ein Socket – eine Interfacerin bin.« »Sie dürfen ruhig Socketeer sagen. Das ist mir durchaus ein Begriff. Doch was hat cybernetisches multimodales Interfacing auf der Basis algorithmischer Simulationen nun mit Enten und Kaninchen zu tun?« Sie fuchtelte in der Luft herum. »Das habt ihr Kameraden doch selbst erfunden: Struktur-Knacken. Struktur-dingsbums. Ein Fach, in dem wir gut sein sollen.« »Imaginierungs-Kapazität. Die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Wahrnehmungs-Perspektiven und Gestalten zu wechseln und sie zu tolerieren. Ihr Socketeers habt alle eine hohe Imaginierungs-Kapazität. Das bedeutet, ihr wechselt mit Leichtigkeit von der Ente zum Kaninchen. Ihr ›zappt‹ durch verschiedene Sichtweisen. Ihr seid immun gegen viele optische Illusionen, doch durchschaut ihr sie und erkennt, wovon die Leute sich täuschen lassen. Ihr liebt Wortspiele, seid begabte Musiker, gute Mathematiker, talentierte Künstler, multimodale Persönlichkeiten mit sprachlicher und visueller Begabung. Aber ihr erbringt keine Spitzenleistungen in einer Einzel-Disziplin. Ihr seid eben Enten-KaninchenMenschen.« »Klingt gut. Welche Eigenschaften müßte mein IdealPartner haben?« Er schaute sie ausdruckslos an. »Ihre ImaginierungsKapazität ist der Grund, weshalb wir uns Sorgen um Sie machen.« »Ach so. Der Job für Bekloppte.« »Fällt’s Ihnen wieder ein?« »Viele Socketeers haben einen an der Waffel. Sagen sie
jedenfalls. Instabile Gehirne.« »Sie sind anderer Ansicht?« »Alle möglichen Leute haben ein Rad ab. Wenn man sich die Brötchen verdient, indem man sich Drähte in den Kopf bohrt, muß der Normalbürger doch glauben, daß man nicht richtig tickt.« »Da mögen Sie recht haben, aber die Statistiken sagen uns, daß in diesem Fall der Normalbürger recht hat. Es ist nicht nur so, daß ›man nicht richtig tickt, wenn man sich Drähte in den Kopf bohrt‹, wie Sie sich ausdrücken. Es ist vielmehr so, daß nur ein ganz bestimmter Schlag von Leuten gut darin ist. Und Sie, Ivy, sind außerordentlich gut darin.« Sie erwiderte seinen fragenden Blick, ohne etwas zu sagen. »In Ordnung. Ich schätze, ich habe meinen Spruch aufgesagt. Von allem anderen einmal abgesehen, müssen wir ein paar Tests durchführen. Es wird ein paar Tage dauern. Ich werde für Sie einen Termin bei Ronnie vereinbaren. Ronnie ist der Psychometriker. Er wird Ihnen Ihr Profil erläutern. Anschließend werden Sie zu Krafkie gehen. Doch in der Zwischenzeit müssen Sie an Ihren regulären Gruppen-Sitzungen teilnehmen.« »Dr. Krafkie ist…?« »Unsre ›Vollstreckerin‹.« Er fischte eine Nuß aus der Schale. »Wir werden Sie gründlich untersuchen, Ivy. Vor allem die Art und Weise, wie Sie die Dinge sehen. Ihre Vergangenheit. Unsre Vergangenheit. Die Vergangenheit der Rosen-Konföderation. Die westliche Zivilisation. In gewisser Weise die Vergangenheit Ihrer Fingerspitzen.« »Meiner Fingerspitzen?« »Ja.« Er nahm sich noch eine Nuß, hielt sie ihr vors Gesicht und rollte sie zwischen den Fingern. Dann griff er in eine Schublade und brachte einen Datenport zum Vorschein. »Zum Beispiel, ob Sie noch wissen, wie man
so etwas bedient.« Er legte einen unförmigen Handschuh neben das Gerät. »Oder das hier. Und ob Sie noch die Bezeichnung für diese Gegenstände kennen.« Schweigen. »Möchten Sie es nicht einmal versuchen?« »Das ist ein Datenport. Das ist…« Sie schüttelte den Kopf. »Eine Handpuppe.« Ihr Blick war leer. Er streifte den Handschuh über und machte eine lockere Faust, wobei er ihr den Daumen entgegenreckte. Durch die aufgedruckten Schaltkreise glich der Handschuh nun einem aufgerissenen Maul. Er wedelte mit dem Daumen. »Fütter mich, Baby.« »Das wird als Daten-Handschuh bezeichnet«, sagte sie ihm schließlich. »Richtig. Ach, und wo wir schon dabei sind, erstellen wir auch gleich ein allgemeines psychometrisches Profil, ja? Wir werfen einen Blick auf das Persönlichkeitsbild und geben Ihnen vielleicht sogar noch ein paar Tips, wie Sie Ihre persönliche Attraktivität steigern.« Er lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Und vielleicht bekommen wir Ihre Wut auch noch in den Griff.« Lächelnd steckte er sich eine Pistazie in den Mund. »Öffnen Sie den Karton.« Ohne sich vom Stuhl zu erheben, schob Jim ihr den Karton mit dem Fuß zu. Sie beugte sich hinunter und öffnete ihn. Er enthielt diverse Gegenstände. »Nehmen Sie etwas heraus.« Sie tat wie geheißen. »Was ist das?« »Es ist ein Schnapsglas.« »Was können Sie mir darüber erzählen.« »Daß… es mir gehört hat.« »Versuchen Sie, es genauer zu beschreiben. Gefühle,
Eindrücke. Bestimmte Erinnerungen. Sie müssen die anderen nicht ansehen. Sie können Ihnen auch nicht helfen. Denken Sie nach.« Sie schüttelte den Kopf. »Es kommt mir bekannt vor. Ich weiß aber nicht mehr, wann ich es benutzt habe.« »Das erste Mal?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Single-Malt-Whiskey. Es… es verursacht mir Kopfschmerzen.« »Legen Sie es hin. Nehmen Sie etwas anderes.« Sie tat wie geheißen. Es war ein Fotoalbum. Sie schlug es auf. Auf der ersten Seite war ein Bild von ihr, wie sie auf der Gitarre spielte, die Schroeder ihr gezeigt hatte. Ans Schnapsglas hatte sie sich erinnert? An die Gitarre aber nicht. Wieso? Sie ging zur nächsten Seite: Leer. Sie blätterte weiter. Es waren keine Bilder mehr in dem Album. »Erinnern Sie sich daran, wie dieses Bild entstand?« »Nein.« Sie faßte sich mit dem Daumen an den Nasenflügel. Jim ließ den Blick über die anderen Mitglieder der Gruppe schweifen. Juliette, die korpulente Frau im rotblau gemusterten muumuu; Alfred, der scheue schwarze Mann im afrikanischen Gewand; Judd, der streng riechende junge Mann mit den zusammengewachsenen Augenbrauen. »Hat jeder das gesehen? Wie sie den Nasenflügel mit dem Daumen berührt hat?« Er schüttelte den Kopf. »Aus welchem Grund tun Sie das, Augustine? Wissen Sie eigentlich, daß Sie das sehr oft tun? Und wissen Sie was? Ich glaube, Sie tun es, wenn Sie sich in Ihr Schneckenhaus zurückziehen. Was meint ihr, Leute? Glaubt ihr, sie verschweigt uns etwas?« »Sie verschweigt uns etwas«, sagte Judd. »Ich glaube, sie sagt uns alles, was sie weiß«, sagte Alfred. »Also, Augustine.« Jim setzte sich gerade hin. »Was ist los? Fällt es Ihnen wirklich so schwer, sich zu erinnern?
Oder sind Sie etwa der Ansicht« – dramatische Pause – , »das ginge niemanden etwas an?« »Oooh.« »Lassen Sie die Toneffekte, Juliette.« »Tschuldigung.« Er beugte sich vor und holte einen Gitarrenkoffer hinter dem Stuhl hervor. Er reichte ihn Augustine. Sie öffnete ihn, nahm die Gitarre aber nicht heraus. »Erinnern Sie sich an diese Gitarre?« »Ja. Man sagt, ich hätte darauf gespielt.« »Möchten Sie nun für uns spielen?« »Ich kann nicht.« »Sie können nicht?« Jim schaute die übrigen Mitglieder der Gruppe vielsagend an. »Nicht einmal etwas Einfaches? ›Hänschen klein… ‹? Zwei Akkorde. Sie werden doch wohl in der Lage sein, ein Lied mit zwei Akkorden zu spielen.« Ihre Hand schloß sich um den Hals der Gitarre. Die Saiten sirrten leise. Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie was, Augustine? Ich glaube, es ist wieder das Einsamer-Wolf-Syndrom. Ich glaube, Sie verstecken sich hinter dieser Beule am Kopf. Sie dient Ihnen als Alibi, sich immer weiter vor uns zurückzuziehen. Sie hatten doch selbst erkannt, daß Sie aus sich herausgehen müssen. Und daß Sie nicht mehr so viel Zeit in diesen chaotischen Räumen in Ihrem Kopf zubringen dürfen. Sie wollten sich in die Gruppe integrieren und mit ihr kommunizieren. Freuen Sie sich, soll die Gruppe sich auch freuen. Sie lachen, wenn wir lachen, auch wenn’s auf Ihre Kosten geht.« Sie nickte bedächtig. »Und nun haben Sie eine der wenigen Aktivitäten aufgegeben, die Sie mit uns verbunden haben. Musik, der wir alle gelauscht und an der wir uns erfreut hätten.« »Ich glaube, Sie sind nicht fair, Jim.« Alfred schob die Hände in die Seitentaschen des Gewands. »Es kommt Ihnen nicht zu, über Gruppen-Fairness zu
sprechen, Alfred. Lernen Sie erst einmal, Verantwortung zu übernehmen. Aber zu Ihnen kommen wir gleich. Zumal ›fair‹ ein Einsamer-Wolf-Wort ist. Es ist eine Chiffre für den Ruf ›Mein Stück ist nicht groß genug! ‹. Für die Gruppe gibt es aber keine Stücke; es gibt nur den Kuchen als Ganzes.« Er widmete sich wieder Augustine. »Suchen Sie sich etwas anderes aus.« Sie schloß den Gitarrenkoffer, griff tief in den Karton und holte einen Stapel Papiere in einem KunstlacklederOrdner heraus. Sie blätterte sie langsam um. »Das waren meine Ehemänner«, sagte sie nach einer Weile. »Alle drei Heiratsurkunden.« Jim überreichte ihr ein paar Fotografien von Männern. Sie sichtete die Bilder und sortierte drei aus. »Gut.« Er schien erfreut. »Ein gutes Gedächtnis für Gesichter.« Sie nickte. »Und wer war der erste?« Sie deutete auf ein Bild. »Äh… Versuchen Sie’s noch mal.« Sie errötete. »Nein, ich meinte ihn.« »Und was hat er beruflich gemacht?« »Er war…« – sie schielte – »ein Interfacer.« »Und wo ist er nun?« »Er… er hat Musik gehört.« »Musik gehört.« Jim straffte sich. »Die Musik, die Sie für ihn gespielt haben?« »Sie will damit sagen, daß er beim Interfacing Probleme bekam. So nennt man das nämlich, wenn ein Interfacer nicht mehr aus der Trance erwacht.« »Vielen Dank, Alfred. Wir wissen Mitarbeit durchaus zu würdigen, doch Augustine soll es uns selbst erzählen. Ich muß noch mal nachhaken, Augustine. Sie ließen sich von Ihrem ersten Mann scheiden, nachdem er ›Musik gehört‹ hatte?«
»Nein. Vorher schon. Wir sind nicht miteinander klargekommen.« »Hört sich so an, als ob Sie generell Schwierigkeiten hätten, mit den Leuten klarzukommen.« Juliette zog eine Schnute: Hier stank es. »Pfui, Juliette. Wir nehmen kein Blatt vor den Mund, aber wir sprechen uns gegenseitig nicht das Recht ab, in der Gruppe zu sein. Wir wollen für den anderen da sein.« Jim griff in die Mappe auf seinem Schoß. »Ich werde Ihnen nun einen Stapel Fotos geben, Augustine. Sortieren Sie die Leute aus, die Sie kennen und sagen Sie mir, um wen es sich handelt.« Sie führte sich die Fotos zu Gemüte. Die Bilder, die sie schon betrachtet hatte, legte sie auf den Boden. Nachdem sie etwa die Hälfte des Stapels abgetragen hatte, sagte sie: »Diese Frau ist meine Großmutter.« Kurz darauf sagte sie: »Das sind Leute, mit denen ich zusammengearbeitet hatte.« »Gut.« Er nahm den Stapel Fotos weg. »In Ordnung. Ich hoffe, Sie sind nun etwas lockerer. Kommen wir zu Ihrem ersten Mann zurück. Erzählen Sie mir von ihm. Etwas, das charakteristisch für ihn war. Eine Macke. Ein besonderes Vorkommnis.« »Er… äh… ich haßte ihn.« »Wieso das denn?« »Können wir uns später darüber unterhalten? Ich bin müde und habe Kopfschmerzen.« »Sagen Sie mir nur noch eins. Dann ist Schluß.« »Er…« Zornröte stieg ihr ins Gesicht, und die Augen schleuderten Blitze. »Gottverdammt! Ich halte das nicht mehr aus!« Ihr standen Tränen in den Augen, die sie mit einem Blinzeln zu kaschieren versuchte. »Stimmt überhaupt nicht. Ich weine nicht…« Sie stand auf, und der Stuhl kippte um. Es gab einen Knall, und dann herrschte Ruhe. Alfred, der sich schon halb erhoben hatte, setzte sich langsam
wieder auf seinen Stuhl. Jim tippte eine Zeichenkette in den Datenport und grinste freudig. »Das soll für heute genügen. Sagen wir morgen um zehn? Ich glaube, ihr habt jetzt sowieso die Prüfung in Allgemeinwissen.« Sie bewegte sich wie betäubt auf die Tür zu. Als sie sich umdrehte, um etwas – irgend etwas – zu sagen, saßen die anderen noch auf den Plätzen und schauten sie an. »Die Halle links runter und dann die erste Tür rechts. Ach, noch etwas, Augustine…« sagte Jim mit sanfter Stimme. »Wir sind nur hier, um uns durch Ihre Gefühle zu arbeiten. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob Sie sich an etwas erinnern oder nicht. Und selbst wenn Sie sich erinnern und es scheußlich finden, werden wir Ihnen sagen, daß es schon in Ordnung ist. Schließlich sind Sie nun jemand anders, nicht wahr?« * Danach ging sie zum Psychometriker. Ronnie war ein hagerer Mann mit hoher Stirn und Hasenzähnen. Es war lang her, seit sie jemanden mit Hasenzähnen gesehen hatte. »Nun, was wir hier haben, sieht gar nicht mal so übel aus, junge Dame.« Er nickte befriedigt in Richtung des Bildschirms. »Das semantische Gedächtnis sieht gut aus und ist in allen Kategorien überdurchschnittlich. Außer Geschichte; hier sind Sie nur Durchschnitt. Was bedeutet – und nun befleißige ich mich einer schonungslosen Offenheit – , daß Sie in Geschichte eine Niete sind.« »Was ist semantisches Gedächtnis?« Er schien sich über die Frage zu freuen. »Wir haben drei Unterscheidungskriterien für das Langzeitgedächtnis. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist ein solches Merkmal. Wir bezeichnen es als episodisches Gedächt-
nis. In gewisser Hinsicht – für Ihren Seelenfrieden allemal – ist es auch das wichtigste. Es versichert Sie Ihrer Identität und der kontinuierlichen zeitlichen Fortbewegung in dieser Welt. Es ist die Erinnerung ans Frühstück, das Sie heute morgen eingenommen haben, ans Nickerchen, das Sie gestern unter einem Baum gemacht haben, daran, wie der erste Kuß sich anfühlte und wie die anderen aussahen (vorausgesetzt, Sie hatten die Augen beim erstenmal geschlossen und danach immer geöffnet). Es umfaßt erinnerte Eindrücke und ist in Ihrem Fall die Kategorie, auf die wir uns besonders konzentrieren mußten, um eine funktionsfähige Psyche zu rekonstruieren.« »Und…?« »Und wir stellten fest, daß Ihr episodisches Gedächtnis stark beschädigt war. Noch schlimmer, als wir erwartet hatten. Gutes Basisgedächtnis für Personen. Ausreichendes Potential des assoziierten emotionalen Affekts – der im übrigen der Persönlichkeits-Kohärenz förderlich ist – , aber eine ziemlich kleine Sammlung von Basis-Episoden. Wichtige Ereignisse, wichtige sensorische Eindrücke aus Ihrer Vergangenheit. Sie erinnern sich nicht einmal mehr an Ihre Lieblingsfarbe.« »Gelb. Gelb ist meine Lieblingsfarbe.« Er grinste. »Von wegen. Manchmal fällt das Erinnern an sich Ihnen schwer: Daher auch die häufigen Kopfschmerzen. Es ist zu befürchten, daß Sie von Ihrer Vergangenheit abgeschnitten wurden. Vielleicht ist der Unfall nicht die einzige Ursache. Es besteht zwar kein unmittelbarer Anlaß zur Besorgnis, aber ich werde eine Langzeit-Therapie empfehlen. Zumindest scheinen die Grundvoraussetzungen für eine Persönlichkeits-Kohäsion vorzuliegen. Erinnern Sie sich, welche Fragen wir Ihnen sonst noch gestellt haben?« »Sie fragten mich, wann der Amerikanische Bürgerkrieg stattgefunden hätte.«
Er nickte. »Wir unterscheiden zwei weitere Arten des Gedächtnisses: Semantisch und prozedural. Das semantische Gedächtnis enthält das Wissen, welcher Spieler in der letzten Saison die meisten Tore erzielt hatte, wie man diese Art der Erinnerung bezeichnet oder wer die derzeit amtierende Königin der RosenTheokratie ist.« »Sie meinen, wir haben…?« »Nein, haben wir nicht. Das war ein Witz. Wahrscheinlich ist das bei Rekonstruktions-Patienten aber unangebracht. Die dritte Kategorie ist das prozedurale Gedächtnis. Das semantische Gedächtnis wird auch als ›Weiß-das‹-Gedächtnis bezeichnet, und das prozedurale Gedächtnis nennt man auch ›Weiß-wie‹-Gedächtnis. Das prozedurale Gedächtnis umfaßt die Erinnerung an Fertigkeiten wie Schnürsenkel binden und Klavierspielen.« »Das, woran meine Fingerspitzen sich erinnern.« »Ja. Und wir haben verblüffende Resultate erzielt. Die Grundfertigkeiten sind ausgezeichnet. Sie wissen noch, wie man sich die Schuhe bindet – was um so beeindruckender ist, weil Ihr Kleidungsstil zu Klettverschlüssen zu tendieren scheint. Sie wissen noch, wie man kocht, Fahrrad fährt, einen Fisch putzt und Gitarre spielt. Der einzige Bereich, in dem wir überhaupt eine Verschlechterung feststellten, war Witze erzählen.« »Ich glaube nicht, daß ich jemals…« Er wedelte mit der Hand. »Schon gut. Generell sieht es so aus, als ob Ihre soziale Kompetenz so gut wie immer sei, was aber nicht viel heißen will. Und die Beurteilung Ihrer fachlichen Kompetenz ist noch nicht abgeschlossen. Wir haben indes ein grundsätzliches Problem, weil Ihr Referenz-Modell die EvaluationsSitzungen nicht regelmäßig besucht hat. Es ist mir ein Rätsel, wie – ausgerechnet – ein Socketeer damit durchgekommen ist, aber egal. Dann müssen wir eben
mit dem arbeiten, was wir haben. Außerdem habe ich den Eindruck, daß eine leichte Erosion des Allgemeinwissens stattgefunden hat. Kennen Sie zum Beispiel den Namen der Königin?« Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals, und die Zunge klebte am Gaumen. Sie kam sich dumm vor. »Haben Sie mir nicht eben gesagt…?« »Nur eine Kontrollfrage. Wir haben noch keine Königin. Sie müssen wissen, daß Sie viele Symptome einer posttraumatischen Persönlichkeit aufweisen, einschließlich allgemeiner Desorientierung und geringem Selbstvertrauen. Die Wahrheit ist, daß Ihr Allgemeinwissen und das semantische Gedächtnis als Ganzes besser als gut ist. Ihr Wissen über unsere Welt, wie sie funktioniert und über unsere informationsgestützte Ökonomie geht über reine Grundkenntnisse weit hinaus. Ihre Kenntnisse in Religion sind zwar etwas schwach, doch in allen anderen Bereichen besteht sogar die Gefahr, daß Sie ein Besserwisser sind. Das gute Abschneiden beim semantischen und prozeduralen Gedächtnis ist eher die Ausnahme bei Rekonstruktions-Patienten mit einem Gesamtpotential unter Neunzig. Das bedeutet, daß Ihr Gedächtnisverlust sich fast nur auf das Privatleben erstreckt, was wiederum den Verdacht einer psychogenen Ursache erhärtet.« »Ich verstehe nicht.« »Ein weiterer Grund für die Annahme, daß Sie sich vielleicht nicht erinnern wollen. Höchst interessant. Ihre sprachliche Kompetenz ist erstaunlich hoch. Dieses Merkmal ist in Ihrem alten Profil nie zutage getreten. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür? Haben Sie früher viel gelesen oder so?« Sie schüttelte den Kopf. »Nun, mit Überraschungen muß man immer rechnen.« Trotz des durchaus nicht lustigen Themas erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Doch im großen und
ganzen würde ich sagen, daß für einen Patienten, der eine Acht-Neun auf der Rekonstruktions-Skala erzielt hat, Ihre Aussichten hervorragend sind. Um Gedächtnisschwund geht es mir im Moment aber nicht. Was mir, offen gesagt, mehr Sorgen bereitet, ist das geringe Ausgangsniveau bei der sozialen Kompetenz. Die Grundlagen sind bei Ihnen wohl vorhanden, zum Beispiel, mit welcher Hand man Hände schüttelt und wie man um den Salzstreuer bittet. Doch was Ihre seelische Befindlichkeit betrifft, haben Sie ein Problem: Sie sind eine Eigenbrötlerin mit dem Hang zum Grübeln – jemand, der das Alleinsein dem fröhlichen Beisammensein vorzieht. Wenn Ihnen bei der Re-Integration etwas im Wege steht, dann ist es dieser Einsame-Wolf-Persönlichkeitstyp, den Sie bisher an den Tag gelegt haben. In dieser Hinsicht müssen wir praktisch von vorn anfangen. Falls Ihr Engagement in der Gruppe weiter nachläßt, müssen wir eine medizinische Intervention in Betracht ziehen. Wahrscheinlich chemisch. Was ich damit sagen will: Geben Sie sich einen Ruck. In Ordnung?« Ronnie machte noch für eine Weile weiter und arbeitete mit ihr verschiedene Felder ab, einschließlich Motorik, räumlicher Wahrnehmung und musischer Begabung (im Gegensatz zu Fertigkeiten), und er war sehr angetan. Dann konzentrierte er sich auf religiöses Wissen, wo sie unter dem Durchschnitt lag und Verbesserung Not tat. »Im großen und ganzen«, sagte er schließlich, »würde ich sagen, daß Ihre Berufsaussichten rosig sind, obwohl das letztlich im Ermessen der AIA liegt. Mathematische Fähigkeiten und Imaginierungs-Kapazität sprengen förmlich die Skala. Unter Berücksichtigung der übrigen Ergebnisse müßten Sie in der Lage sein, in Ihren alten Beruf zurückzukehren.« Sie seufzte. »Gute Nachrichten, eh?« Er erhob sich. »Sie sollten
zum Endspurt ansetzen. Sie haben es bald geschafft. In fünf Minuten haben Sie einen Termin bei Doktor Krafkie. Und übermorgen haben Sie bei Schroeder Ihre letzte Sitzung.« * Doktor Krafkie war ein Gruftie: Schwarze Tonsur, dick aufgetragenes schwarzes Mascara, schwarzer Lippenstift. Hals und Arme waren mit schwerem Geschmeide aus Silber behängt. Bekleidet war sie mit einer schwarzen Aradex-Kutte. Die Accessoires wurden öfter ausgetauscht, doch lag das wahrscheinlich an ihrer Jugend. »Plaina wird Rekonstruktions-Patienten routinemäßig verordnet, aber diese Dosierung ist mir bisher nicht untergekommen.« »Vor dem Unfall war ich eine Interfacerin. Vielleicht liegt es daran.« »Vielleicht.« Dr. Krafkie verstummte und studierte für eine Weile den Bildschirm. Mit einem beringten Finger tippte sie gegen ein Armband. »Und das hilft Ihnen bei der Erfüllung Ihrer sozialen Verpflichtungen?« fragte sie mit gelangweilter Stimme. »Ja.« »Berufliche Pflichten?« »Nun, damit werde ich mich im Laufe des Tages noch befassen.« »Sehr schön. Dosierung vorläufig genehmigt. Kommen Sie in einem Vierteljahr wieder vorbei.« Sie bearbeitete die Tastatur. »Ich danke Ihnen.« Augustine erhob sich und verließ die Praxis.
5 Das Diebes-Tagebuch Von der Stube im Marinearsenal hatte Augustine einen Blick auf die Autobahn. Einst hatte Kalifornien sich der großzügigsten Autobahnen der Welt gerühmt. Dann war die Auflösung der Nationalstaaten erfolgt. Dann war das Zeitalter der Begrenzten Kriege angebrochen. Und der Weißkopfseeadler und der Elch und sogar der Braunbär waren ausgerottet worden. Populationen waren gewachsen, Unternehmens-Staaten und Kartelle waren gekommen und gegangen, und die Massenproduktion hatte die notwendigen Anpassungsprozesse durchlaufen. Die nun vollends auf Konsum konditionierte Menschheit hatte sich notgedrungen von Rohstoff-Konsumenten zu Informations-Konsumenten gewandelt. Das Zeitalter der Fenster war angebrochen. Das Zeitalter des Diebes. Lächeln. Quincunx hier. Drinnen und draußen. Die Autobahn unter Augustines Fenster war zweispurig und wurde über dem erdbebengefährdeten Untergrund der Stadt auf einem komplexen Gerüst aus Kunststoffbeton-Stützen geführt. Ein aus drei Bussen bestehender Konvoi raste vorbei und ließ die regennassen Schienen in der Mitte der Straße erzittern. Sie sah die Menschenmenge, die am einen Block entfernten Bahnhof wartete. Es war acht Uhr dreißig, und der letzte Zug war schon vor einer Weile durchgekommen. Die Taktzeiten der Züge würden bis Mittag sich kontinuierlich verdichten. Augustine wußte, daß diese Straßen zu dieser Stunde einst mit Pendlern überfüllt gewesen waren. Doch das Zweite Informations-Zeitalter hatte den meisten Verkehr ins Netz verlagert. Der einzige Grund, weshalb an der Arsenal-Station überhaupt Betrieb herrschte, lag darin, daß im Arsenal eins der städtischen Erholungszentren untergebracht war. Es gab immer ein bestimm-
tes Kontingent von Frühaufstehern, die vor dem Frühstück den Computer-Arbeitsplatz verließen und die Sporteinrichtungen des Erholungszentrums nutzten. Sie spielten Squash, trieben Kampfsport, übten sich im Fechten oder meditierten mit ihren Monaden-Meistern. Augustine wußte um diese Dinge. Sie waren ihr bekannt, so wie sie sich an ein Gedicht erinnerte, das sie in der Schule gelernt hatte. Es schien, daß viele Dinge ihr auf diese Art und Weise bekannt waren. Sie trat langsam vom Fenster zurück, trank einen Schluck Bier und schaute in den Flur hinaus, in dem ihre Stube lag. Ehemalige öffentliche Gebäude waren ein Labyrinth verbundener Räume gewesen, die man nur durch andere Räume erreichte; dann hatte jemand den Korridor erfunden. Und nun, im zweiten ViertelJahrhundert der Rosen-Theokratie, drohte der Korridor den Raum zu verdrängen. Der Weg war sozusagen das Ziel. Am anderen Ende des breiten Wohnheim-Korridors erspähte sie die Gestalt eines Soldaten, der sich auf seinem Bett in die Decke gewickelt hatte. Die Stuben hatten eine Fläche von etwa sechs Quadratmetern und waren kaum mehr als Alkoven am Korridor. Sie war schon vor der Morgendämmerung aufgewacht. Für eine lange Zeit hatte sie wachgelegen, dem Plätschern des Regens gelauscht und die grünen und pinkfarbenen Muster betrachtet, welche die Reklametafeln an der Autobahn an die Zimmerdecke zeichneten. Schließlich war sie aufgestanden, hatte sich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt und war ans Fenster gegangen, um die Werbebotschaften zu studieren. Zahlenkolonnen zogen unablässig durch die Augen eines lächelnden Gesichts: Das Sequenz-Spiel. Mit fünf Guthaben, dem Gegenwert eines Kilobyte Galaktischer Information kaufte man die nächsten fünf Ziffern. Das eröffnete die Chance, das Sequenz-Muster zu knacken und den Pot der Woche zu gewinnen, indem man die
sechste Ziffer erriet. Der Pot der Woche wurde in roten Zahlen in einem spucknapfartigen Behältnis unter dem lächelnden Gesicht ausgewiesen: Guthaben eine Million und fünftausend. Wäre es nicht schön, den Jackpot zu gewinnen? Dann müßte sie nicht mehr in diesem Wohnheim wohnen, wäre der Sorgen um den nächsten Tag ledig und würde vor allem nicht mehr unter dem Druck stehen, jemand sein zu müssen. Sie wandte sich vom Fenster ab. Der Durchgang dräute vor ihr. Er zeichnete sich limonengrün im Glühen einer Korridorlampe ab, die jemand angeschaltet hatte. Wahrscheinlich war die Person unterwegs zur Latrine, dem einzigen Raum mit einer Tür auf dieser Etage. Privatquartiere und Privatsphäre waren ein Privileg Leitender Ingenieure und der Mächtigen, zu denen sie vielleicht nun auch zählen würde, wenn all das nicht geschehen wäre. Das Lächeln des grünen Kopfs verwandelte sich in ein Lachen: Das Wort Jackpot erschien über ihm und wurde zu einer Krone stilisiert. Der Soldat am anderen Ende der Halle drehte sich auf dem Bett um. Sie lief los und überquerte den Korridor. Der Lichtsäbel des Soldaten hing an einer Lederschnur neben dem Bett. Sie nahm den Säbel vom Haken und berührte das Gesicht damit: Der kühle Kunststoff der Klinge strich über die Lippen, über die Nase zur Stirn. Mit dem Daumen fummelte sie am Auslöser herum. Ich mobilisierte ein paar tausend Automaten in ihrem motorischen Cortex und riß ihre Hand zurück. Der Säbel fiel klirrend auf den Boden, und der schlafende Soldat regte sich. Ich löste Alarm aus im Ministerium für Monaden und in Schroeders Zimmer. Ich warf ganze Bataillone molekularer Spione in die Endorphin-Produktion. Augustine taumelte und schaute verwundert auf die Hände. Planmäßig lächelte sie. Dann sabberte sie. Mit einem dümmlichen Grinsen auf unsrem Gesicht
hängten wir nach nur drei Anläufen den Säbel an den Haken. Auf dem Rückweg zu ihrer Stube sah sie sich im Spiegel und hielt inne. Die Hand berührte das Gesicht. Sie hatte stark abgenommen. Zweifellos sah sie älter aus, als sie eigentlich war. Von den paar Pfund Fleisch abgesehen, handelte es sich noch um denselben Körper, der blutend neben dem Müllcontainer gelegen hatte. Die strapaziösen Wochen seit dem Unfall hatten dem Körper arg zugesetzt. Ich verfluchte die kurzsichtigen Architekten dieser Quartiere, deren Haß auf Privatsphäre und Ruhebedürfnis gerade einmal vor einem Spiegel über dem Waschbecken haltgemacht hatte. Meine Spione hatten mich im Stich gelassen. Irgend etwas war in ihr vorgegangen, und ich hatte es nicht mitbekommen. Meine Alter-Augustine drohte durchzudrehen. Ihr Finger wischte eine Speichelspur fort und rieb heftig am Kinn. Ihr schmales Gesicht starrte uns an. Auf einer Glasplatte unter dem Spiegel lag ihre ComboDisk. Sie nahm sie und warf einen besorgten Blick auf die Einstellungen. Ihr Blick ging zwischen dem Spiegel und dem grünen Jackpot-Gesicht hin und her, bis ihr Aradex-Gewand exakt dessen Grünton annahm. Sie war noch immer unzufrieden. Sie war oft unzufrieden mit dem, was die offiziellen Combo-Stationen ihr vorsetzten. Das war auch der Grund, weshalb die Boutiquen so gut an ihr verdienten. Doch dies war eine tiefe Enttäuschung, eine Enttäuschung, von welcher der Spiegel beredt kündete. Ihre Lippen waren so schmal, und die Mundwinkel hingen so tief herunter. Weshalb dieser Kummer? Mit dem Finger versuchte sie einen Mundwinkel hochzuziehen, doch fiel er wieder herunter. Ihr Daumen berührte den Nasenflügel. Im Endorphin-Dunst studierten wir ihr Spiegelbild, dessen Blick mit jeder Sekunde trauriger wurde.
Nachdem sie noch für ein paar Minuten mit sich gerungen hatte, ging sie. Ich reichte einen vernichtenden Bericht ein. Weder die Nachtschicht am Ministerium noch Schroeder waren erfreut. Nein, meine Prognosen hatten keinerlei Hinweise auf eine Selbstmordgefährdung enthalten. Ja, es war mit einem Kollaps ihres neurochemischen Zustands zu rechnen. Die Nachtschicht wurde blaß und frisierte den Bericht, um ihren Arsch zu retten. Schroeder zuckte die Achseln. Was sonst hätte man von einem Computer auch erwarten sollen? Dann zündete er sich eine Zigarette an, laut Tagebuch die erste nach fünf Jahren. Das AIA-Gebäude. Man nehme eine riesige fliegende Untertasse, nicht allzu flach, und verbringe sie zur Erde. Alsdann überziehe man sie mit Stahlbeton, wobei man aber nicht vergessen darf, daß das Ding hinterher noch stehen muß. Also bestücke man den Umfang in regelmäßigen Abständen mit Stabilisator-Düsen. Man nehme einen Kegelstumpf, dessen Grundflächen-Durchmesser dem halben Untertassen-Durchmesser entspricht, drehe ihn um und presse ihn auf die Untertasse, solange der Beton noch feucht ist. Man erhält einen zentralen Trichter. Man gebe Terrassen hinzu, Balkone, Spaliere, ein Rankengeflecht und grinsende Bürokraten. Man überziehe den oberen Teil der Untertasse auf drei Vierteln des Radius vom Trichter mit Oberlichtern, so daß sie von einem bei Sonnenuntergang in westlicher Richtung fliegenden Gleiter wie eine lodernde Leiterplatte aussieht. Nur daß die Tage, wo in San Francisco die Sonne durch den Nachmittagsnebel dringt, eher selten sind. Und im äußeren Kreisring richte man ein Atrium ein und erweitere es um eine an Auslegern geführte Galerie, damit es den Eindruck unendlicher Weite erwecke. Die
Ironie des AIA-Gebäudes ist, daß in jedem Raum der Untertasse ein Panorama des Himmels sich eröffnet, in dieser Stadt mit dem perlgrauen Himmel. Augustine stand nun in ebendiesem Atrium und blickte zum Geflecht aus blauen Auslegern hinauf, die im Licht des späten Nachmittags verschwammen. Ein grauer San-Francisco-Nebel zog von Westen heran. Er harmonierte mit den grauen Fliesen, die sich vor ihr erstreckten. Es war der Geruch, an den sie sich erinnerte – wie ein feuchter, vermodernder Garten. Feucht, weil es immer feucht war in dieser Stadt und die Steinwüste nur die Kulisse für den allmählichen Zerfall der Stadt bildete. Sterbend, weil kaum noch Pflanzen in dieser diesigen Halle gediehen. Sie eilte durch die leere Halle zu den Aufzügen. Das AIA-Gebäude ist über hundert Jahre alt. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, daß dieses einzelne Projekt der im Niedergang befindlichen Beton-Industrie und den feudalen Organisationen, in deren Besitz sie sich befand, zu neuer Blüte verhalf. Besagte Organisationen erhielten die Möglichkeit, im Bereich der Informationstechnik zu diversifizieren und spielten eine zentrale Rolle bei der Gründung der Theokratie der Rose. Der größte Kostenfaktor war indes nicht die Hülle der Untertasse, sondern die kilometerlangen bombensicheren Korridore, die sich durchs Innere der Struktur zogen. Diese Katakomben waren an jenem Morgen Augustines Ziel. * Glatte graue Wände glitten vorbei wie der Rumpf eines Ozeanriesen. Die Luft war mit den Ausdünstungen feuchten Betons geschwängert, und das Licht war verwaschen und hatte einen Gelbstich. Sie strich mit der rechten Hand über das schwarze Gummi des
vibrierenden Handlaufs, und der Fingernagel kratzte über das polierte Geländer des Laufbands. Ein Maulwurf-Mensch rollte auf dem gegenüberliegenden Laufband an ihr vorbei. Die fahle Gestalt trug eine Brille und hatte die Schultern hochgezogen, als ob sie frieren würde. Aus der zur Faust geballten Hand lugte ein zerknitterter Computerausdruck hervor. Er schlug den Kragen des weißen Arbeitsanzugs hoch und schaute sie an. Die Gläser der Brille funkelten wie Porzellan. Die Maulwurf-Menschen waren die Wärter dieser Unterwelt. Ihre Besen hinterließen Schleifspuren auf den blanken Böden, und mit ihren Blockern polierten sie unablässig dieselbe Stelle. Die Laufbänder trugen sie an den Ort, wohin die Computerausdrucke sie schickten. Ihr Laufband zweigte an der nächsten Kreuzung nach links ab, und sie verlor ihn aus den Augen. Sie schwenkte nach rechts, ging fünfzehn Meter, bog wieder rechts ab, ging wieder fünfzehn Meter und schwenkte abermals nach rechts. Das Licht in diesem Korridor schien heller, und das Grau des Steins wirkte satter. Ohne Zweifel das Resultat eines neuen Anstrichs. Sie schlüpfte zwischen zwei Maulwurf-Menschen hindurch, deren weiß behandschuhte Hände schlaff auf den Handläufen lagen. Perfekt synchronisiert richteten sie die Brillen auf sie. Der elastische Boden federte unter ihr. Leichtfüßig schritt sie an ihnen vorbei. An der nächsten Kreuzung saßen zwei Agenten des Ministeriums für Personen mit karierten Schlipsen und Hosen an einem Klapptisch und spielten Karten. Bereits zum achten Mal zeigte Augustine ihren Datenport und den Ausweis vor. Während sie sie überprüften und sich fragten, wie es wohl möglich war, daß zwei verschiedene Identitäten sich ein DNA-Muster teilten, schweifte ihr Blick über die Köpfe der Männer zu einer Tür, auf
deren integriertem Monitor in hellroten und grünen Lettern die Grußformel (Warnung?) erschien: Simulations-Psychologie und Maschinenunterstütztes Denken. Und darunter, in Hellblau: Nur für Technisches Personal. Allein Personen mit hochauflösenden Augen und einer entsprechenden Imaginierungs-Kapazität vermochten den gelben Zusatz zu lesen, der sporadisch eingeblendet wurde: Nur für Tekkies. Es dauerte eine Weile, bis die Agenten sie passieren ließen. * Das Büro gehörte einem Mann, der Gnom von Geary genannt wurde oder MAT-Meister oder König der Socketeers oder schlicht Mannie oder was einem gerade in den Sinn kam – er war nämlich taub. Mannie war ein Relikt aus der ersten Generation der Socketeers, als die Technik noch in den Kinderschuhen steckte und täglich ein paar Gehirne durchbrannten. Dann stellte ein schlauer Psychokrat fest, daß die Gehirne von gehörlosen Kindern widerstandsfähiger waren. Nach weiteren Untersuchungen wurden auch blinde Kinder zu Interfacern ausgebildet, und im Rahmen eines finnischen Spezialprogramms sogar eine Reihe von mongoloiden Kindern. Die finnischen Kinder waren nur begrenzt einsetzbar (im besten Fall für Sonderaufgaben wie Wachdienst), hatten aber unbestreitbar Talent. Da war es wohl unvermeidlich, daß Interfacing für eine gewisse Zeit als Beschäftigungsprogramm für ›Bekloppte‹ und ›Zurückgebliebene‹ diskreditiert wurde. Im Alter von achtzehn Jahren benannte Mannie den gemeinsamen Nenner für den frühen Erfolg: Alle Interfacer waren Kinder gewesen. Nach der aufsehener-
regenden Pilotstudie mit Straßenkindern aus Los Angeles verkündeten die Psychokraten schließlich ihre Erkenntnis: Für erfolgreiches Interfacing war der Intelligenzquotient der Probanden nicht ausschlaggebend, sofern sie sich spätestens mit sechs Jahren zum Interfacer ausbilden ließen. Das war die Geburtsstunde der Rose Interfacing Academy. Mannie war ein kleiner Mann mit dunklem Teint und buschigen Augenbrauen. Er hatte einen düsteren Blick, volle Lippen, dünne Beine und eine Brust wie ein Gorilla. Heute trug er einen blauen Nicki und signalorange Spandex-Shorts. Augustine kannte Mannie schon, seit er acht Jahre alt war. Doch war er in ihrer Erinnerung nur in zwei Szenen präsent. Einmal hielt er ein Handtuch in der Hand und kümmerte sich um einen Jungen, dessen Ohren bluteten. Die zweite Impression stammte aus einer anderen Zeit – Jahre oder Tage später – , als er in der gleichen Pose wie jetzt dagestanden und eine Kabelrolle in der Hand gehalten hatte. Eigentlich hätten Kabel, ebenso wie Papier, längst ausgemustert sein sollen, hatte er ihr gesagt. Doch aus einem unerfindlichen Grund war beides immer noch in Gebrauch. Mannie legte die Kabelrolle vorsichtig auf eins von vielen identischen Regalen. Dann führte er die rechte Faust an die Stirn, während der linke Arm wie ein Pendel vor dem Bauch schwang, mit nach vorn gedrehter Handfläche. Der blaue Kragen schlackerte. Er machte ein langes Gesicht, wies mit dem rechten Zeigefinger auf sie, faßte sich ans Auge, zeigte wieder auf sie, nahm die Hand herunter, riß den linken Arm hoch, während er wie ein Pantomime mit dem Kopf wackelte. All das innerhalb einer Sekunde. ›Ich habe dich vermißt‹, wollte er damit sagen. ›Bei deinem Anblick geht’s mir gleich bessere‹. Doch wenn man den bekümmerten Gesichtsausdruck einmal ausklammerte, schwang auch
leiser Spott mit. Sie signalisierte zurück, kreuzte zwei Finger, führte die rechte Hand unter der linken hindurch, berührte das Handgelenk und umkreiste es dann mit einem Finger. Sie wies auf ihre Brust und kratzte sich mit dem Daumen am Kinn. Man hat mich hierhergeschickt. Muß sich um was ganz Wichtiges handeln. Sie wollen mich testen. Als Interfacer? Das Zeichen für Interfacer sah so aus, daß beide Handflächen zusammengeführt wurden, als ob sie das jeweils andere Handgelenk umklammern wollten. - Um herauszufinden, ob ich noch immer der beste Interfacer der Erde bin. - Mongo ist der Beste. Die Erde ist Zweitbester. Für Mannie galt die Regel, vor dem Interfacing allein die Punkte zu diskutieren, die für die jeweilige Sitzung relevant waren. Er fragte sie nur, wie sie geschlafen hätte, welche Medikamente sie nahm und was sie zuletzt gegessen hätte. Mannies Büro war Kriegsgebiet. Auf jeder Oberfläche türmten sich Helme, Datenhandschuhe, Gürtel und Fußwärmer, meistens in teilzerlegtem Zustand. Mannies Einzelplatz-Rechner verstaubte in einer Ecke. Es handelte sich um einen Supercomputer mit einem Parallelanschluß für zwei KIs. Er nutzte den Rechner aber nur als Briefkasten für E-mail. Zur Sache ging es in den durch Glaswänden abgeteilten Räumen zu beiden Seiten des Büros. Es handelte sich um Multimodus-Systeme, die mit den Knautschlackledermöbeln nach dem Geschmack der echten Socketeers ausgestattet waren sowie den Meßgeräten und der Biometrie, die Mannie für seine Arbeit benötigte. Sie waren ebenfalls von gläsernen Trennwänden umgeben. In der gegenüberliegenden Ecke von Mannies Einzelplatz-Rechner stand ein Metallschrank, der von den
Socketeers als ›Giftschrank‹ bezeichnet wurde. Nachdem er die Befragung abgeschlossen hatte, brachte Mannie ein Ringbuch mit Code-Karten zum Vorschein und verschwand durch eine Tür in der Rückseite des Büros. Als er zurückkam, hatte er einen glitzernden schwarzen Stoffballen um den Arm gewickelt. »Mein Anzug hat einen Riß in der Schulterpartie, Mannie.« Mannie schüttelte das schwarze Tuch aus und stieg hinein. Sie sah, daß er nur einen Anzug mitgebracht hatte. »Mannie, wo ist meine Datenhaut?« Mannie warf ihr ein Paar Datenhandschuhe zu. »Du willst mich auf den Arm nehmen, nicht wahr? Es ist schon so lange her, seit ich Handschuhe benutzt habe, daß ich nicht einmal mehr weiß, wie man einen Pufferschalter betätigt.« »Das ist schon in Ordnung. Du weißt doch noch, wie man ein Fragezeichen macht, oder?« Sie gab es auf. Sie mußte durch ein paar Reifen hüpfen, und dann half er ihr in den zerrissenen Simanzug. Sie schaute beflissen, während Mannie die Aufgabenstellung erläuterte. Es war eine Direkteingriffs-Aufgabe, ein holographisches Feld mit Datenobjekten, die in fünf Dimensionen arrangiert waren und mit gefälligen Formen wie Briefkuverts, Herzen und Sternen. Ihre Aufgabe bestand nun darin, den Inhalt einer Datei dergestalt in einem Verzeichnis zu verteilen, daß ein Benutzer ihn per E-Mail abschicken konnte. Der Vorgang an sich war unkompliziert, doch die FünfWege-Geometrie der Daten war knifflig. Als sie fertig war, glühten ihre Wangen. Das war die Art von Aufgabe, mit der Sechsjährige geprüft wurden. Nachdem sie Mannie wieder scharfgeblinzelt hatte, stand er mit verschränkten Armen da. Die DatenhautKapuze hatte er zurückgeschlagen.
»Gut?« fragte sie. Mannie nickte. Irgendwo über ihr lag eine Trompete im Widerstreit mit einem Schlagzeug. Eine Sopranstimme ertönte: »Mannie, wie ich dich liebe, wie ich dich liebe, lieber, alter Mannie. Ich würde meinen Kern verbrennen, um dein Glas zu erleuchten. Ich würde einen Stromstoß von einer Million Volt von dir genießen, o Ma-aa-annie.« Eine kleine Explosion fand zwanzig Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt statt, und aus einer glitzernden Wolke trat eine sechs Zoll große, geflügelte Frau heraus. »Helen.« Mannie seufzte. »Du hast’s erfaßt, Süßer.« Helen ahmte Mannies Pose nach und verschränkte die Arme. Sie faltete die Schwingen. Dann wandte sie sich an Augustine. »Nun zu dir. Erinnerst du dich an Bachs Messe in B-Moll?« »Ich habe sie gehört.« »Und was ist mit mir? Man sagt mir, du würdest dich nicht an mich erinnern.« »Doch, ich erinnere mich an dich. Du magst Baseball.« »Ich hält’s nicht mehr aus.« Mannie zog sich zum ›Giftschrank‹ zurück und tastete sich eine blaue Pille. »Ach, wie nett. Wie süß. Wie perfekt.« »Du denkst an Alice«, sagte Mannie. Er kaute die Pille langsam. »Helen bekleidet den Sechsten Rang. Sie ist sehr teuer.« »Und genervt vom Netz-Verkehr, der hier herrscht. Ein unglaublich großer Prozeß ist in diesem Büro zentriert. Und er pulsiert wie verrückt. Siehst du die Unwucht im rechten Flügel?« Die Schwinge beulte sich wirklich seltsam aus, und die Stelle schwoll an wie eine Gasblase. »Das ist nicht mein Stil.« Mannie fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.
»Es geht nicht. Es ist außerhalb meiner Partition.« Mannie rollte die Augen und berührte mit der Handwurzel das Kinn, wobei er die Finger gekrümmt hatte. Er wies zur Decke. »Ja, es ist mindestens so groß wie ich. Und doppelt so schlimm. Das Problem ist, daß es die Aufführung des Bach-Stücks deutlich erschweren wird.« »Das ist schon in Ordnung«, sagte Augustine. »Ich…« »Variation von Bachs Messe in B-Moll.« Helen verneigte sich. Helen ruderte mit den Armen. Die Katzenmusik dauerte ungefähr drei Sekunden. Augustine zwang sich, die verkrampften Muskeln zu entspannen. Ich injizierte die maximal vertretbare Dosis Relaxans in ihren Blutkreislauf. Das einzige gemeinsame Merkmal der KI-Kunst besteht in der Kürze. Das längste bekannte KI-Gedicht besteht aus 23 Wörtern. Es gibt auch eine Zwei-Minuten-Symphonie, doch besteht sie aus fünf Reprisen. Bubulus selten aufgeführte ›Fuge in 9 Sinnen‹ dauert 18 Sekunden, doch dabei ist rubato der Tonika schon überzogen. Länge ist also nicht das Problem, zumindest nicht nach menschlichen Begriffen. Zugänglichkeit schon eher. »Das war sehr hübsch«, sagte Augustine. »Warte. Es wird noch einmal gespielt.« Das Stück wurde wiederholt, nur daß diesmal der Part der Oboe fehlte. Ob das etwas zu bedeuten hatte? »War das besser?« Augustine sog die Luft ein. »Um die Wahrheit zu sagen, es ist etwas – dicht.« »Von wegen dicht! Es ist schon so verwässert worden, daß es regelrecht plätschert.« »Ich befürchte, deine Psycho-Akustik ist wesentlich besser als meine. Dürfte ich es dir vielleicht unter Glas mitteilen?« Mannie fuhr mit den Händen durch Helens Schwingen.
– Augustine hat noch zu arbeiten! »Entspann dich, Mannie. Ich werde in einer Minute aus der Phase rotieren. Man hat mir soeben mitgeteilt, daß ich für die nächsten neun Tage zur Wetterkontrolle eingeteilt bin.« Mannie runzelte die Stirn. - Du bist doch gerade erst gekommen! Ich habe dich für den Block… »Ich kann’s nicht ändern, Mannie. Das Netz rotiert so schnell, daß ich noch zum Hirsch werd’. Und schau dir nur diesen großen Prozeß an! Er macht sich hier richtig breit! Mannie, ich glaube, er kommt aus den Tiefen des Alls. Ich glaube…« Helen stieß einen erstickten Schrei aus, schrumpfte und verschwand. Es trat Stille ein. Nur Mannie und Augustine waren noch übrig. Und der große Prozeß eine Partition höher. Grins. Auf deine Oberfläche. Augustine machte einen schläfrigen Eindruck. Vielleicht spielte sie in Gedanken Musik. Gestern hatte sie sich ein Stück von Satie mit Variationen zu einem Neun- oder Zehn-Takt-Thema ausgesucht. Ob sie sich wohl fragte, was für ein Gefühl es wäre, Variationen zu einer ganzen Bach-Messe zu spielen? Oder wie es wäre, das Wetter zu kontrollieren? Oder aus Resten eine Alter-Augustine zu bauen? Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, sie dachte bloß an Glas. * Anschließend führte Mannie sie in einen der Vorbereitungs-Räume und sagte ihr, sie solle ein Gewand anziehen und sich die Arme eincremen. Sie wußte, daß sie erst einmal an ein konventionelles Interface mit zwei oder drei Modi angeschlossen werden würde. Man würde ihr nicht gestatten, ihr Lieblingsspiel zu spielen.
Kein Glas. Keine Datenhaut. »Was ist das?« Sie deutete auf einen kleinen Prozeß, der in einem Überkopf-Fenster ablief. Der Bildschirm wurde von einem Gewirr aus farbigen Linien ausgefüllt, die heftig zuckten. »Kosmologische Strukturen«, sagte Mannie. »Ist das für mich?« »Meine Güte, nein. Da kommt überhaupt niemand dran, wenn es nach mir ginge.« »Wann werden wir endlich den Ursprung des Universums ergründen?« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Diese Simulation wird irgendwann im nächsten Monat abgeschlossen sein – hoffen wir zumindest. Aber das ist nur der Vorlauf, die Komplexitäts-Ermittlung für die eigentliche Simulation. Setzt uns eine Obergrenze für die Dauer der Berechnung.« »Ihr laßt ein so kompliziertes Programm laufen, daß man zwei Monate braucht, nur um die voraussichtliche Laufzeit zu ermitteln?« »Zwei Jahre treffen es eher. Schatz. Und wir werden es nicht hier laufen lassen. Das ist so sicher wie die Hölle. Niemand weiß genau, welche physikalischen Eigenschaften die Miller-Kristalle bei dieser Rechenintensität annehmen werden. Wenn sie Glück haben, landen sie vielleicht einen der Orbitalen Kristalle – falls sie ihn innerhalb eines geologischen Milleniums herunterbekommen.« »Mannie«, sagte sie und kontrollierte den Sitz des Handschuhs. Er reagierte nicht, und sie fluchte leise. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie es vergessen hatte. Sie berührte ihn am Arm. Er vermied es, sie anzusehen. Sie beugte sich nach vorn und schob das Gesicht in sein Blickfeld. »Du wirst mich doch ans Glas lassen?« Er schien völlig in der Aufgabe aufzugehen, die Senso-
ren an ihrem Handgelenk einzustellen. Sie berührte seinen Arm. Er schaute auf. »Mannie, selbst mit diesen kleinen Spielzeugdingern, die du mir gegeben hast, spüre ich es. Wieso rotiert das Netz so schnell?« Er machte das Zeichen für die Unergründlichkeit des Schicksals: Ein Schnippen mit Daumen und Zeigefinger, als ob er eine imaginäre Münze geworfen hätte. – Die Jungs vom Informations-Ministerium sind schon eine seltsame Truppe. Er lachte glucksend und wechselte aus der Zeichensprache in die verbale Kommunikation. »Ich kenne einen Kerl bei Net Data Central, der mir noch ein paar Gefallen schuldet. Er sagt, ihre Schuld sei es auch nicht. Da ist etwas Neues dort draußen, das Ressourcen klaut wie die Raben.« »Etwas aus dem Weltraum?« »Nimm Helen nicht so ernst. Das war wahrscheinlich nur eine KI in einer benachbarten Partition. Nein, sie machen sich Sorgen wegen eines Virus, das ein sechzehnjähriger Bulgare ausgeheckt hat. Vor ›Freigänger‹-Hackern haben sie eine Heidenangst. Deshalb erhöhen sie die Rotation – als Sicherheitsmaßnahme. Aber wie mein Freund sagt, hat das überhaupt keinen Sinn. Also schrauben sie die Drehzahl noch weiter hinauf. Aber vergessen wir das Netz einmal. In Ordnung?« Er zog ihr den Handschuh glatt und tätschelte ihn. »In Ordnung?« Sie nickte. Nun zog er seine eigenen Datenhandschuhe an und nahm einen großen Helm von einer Konsole. »Was, zum Teufel, ist das?« – Hast du Angst? Er legte die behandschuhte Hand aufs Herz und ließ sie einmal pulsieren. Dann schaltete er den Monitor vor ihr
ein. Ein leeres Fenster erschien in der Bildschirmmitte und wurde dann von einem weiteren Fenster überlappt. Ein Cursor blinkte im ersten Fenster. »Ich will einfach nur im Glas gehen. Wieso ladet ihr diese blöden Videospiele in mich herunter?« »Das ist kein Videospiel, meine Süße. Das bezeichnen wir oben im Schneideraum als eine echte Katharsis.« Er stülpte ihr den Helm über den Kopf. Grüne Blasen quollen vor ihren Augen empor. Mannie ballte den Handschuh zur Faust, und sie spürte, wie das Kitzelfeld den Hinterkopf massierte. Sie versank in einer ausgedehnten Landschaft mit der Farbe von ausgebleichten Knochen. An der Peripherie glitzerte etwas. Glas! Dann sah sie noch mehr Weiß, ein Feld heller, sich überlappender Flächen. Kein Glas. Das war auch völlig ausgeschlossen. Sie war weder im Netz noch in der Datenhaut. Sie zwang sich zur Ruhe und atmete gleichmäßig. Ein klumpiges Etwas mit glatter Oberfläche breitete sich im Wahrnehmungszentrum aus. Erinnerte irgendwie an die Konturen eines liegenden Pferds, falls Pferde noch ein paar zusätzliche Beine mit ein paar zusätzlichen Gelenken hätten. Sie biß sich auf die Lippe und versuchte, den Rest dieses Raums zu espern. Es machte klick, und die andere Hälfte erschien, die Sonar-Hälfte. Zunächst wunderte sie sich darüber, was der SonarSinn ihr mitteilte: Das Pferde-Ding und seine interne räumliche Abbildung standen in keinem Verhältnis zueinander. Sie zerbrach sich den Kopf wegen dieser Unstimmigkeit, doch dann entspannte sie sich. Als ob sie festgestellt hätte, daß die Taktstriche falsch gesetzt waren. Zwei Strophen musikalischen Unsinns verschmolzen plötzlich zu einem melodischen Baß. Visuell hatte sie nun zwei konventionelle, nebeneinander stehende Schlafzimmermöbel: Rechteckige massive Gestelle mit einer flauschigen Füllung.
Die Innenseiten waren, wie sie einen Moment später erkannte, komplementär. Erneut streckte sie den Arm aus und manipulierte das Objekt; diesmal schob sie es nach vom, wodurch die beiden Gestelle miteinander verbunden wurden. Sie verließ die Szenerie automatisch. Sie linste durch die grünen Kunststoffgläser der Helmbrille. Mannie hatte sich über einen Monitor gebeugt. Er drehte sich zu ihr um und blinzelte. Dann trat er zurück, damit sie auch einen Blick auf das Bild werfen konnte. Ein Text lief rasend schnell über den Monitor. »Sehr schön, Augustine.« Er machte eine wischende Bewegung mit nach unten gedrehter Handfläche, um den Start einer stromlinienförmigen Kraftmaschine zu simulieren. Augustine legte die Brille ab und blinzelte ins TranceLicht, das ihn von hinten anstrahlte; zum Glück war die Stroboskop-Funktion nicht aktiviert. »Mannie. Wieso rotiert das Netz?« Er seufzte. Er machte das Zeichen für Regen, für eine sorgenvoll gerunzelte Stirn und eine schwere Bürde. »Wieso nicht?« »Das, was ich in den Griff bekommen will, Mannie – ist das die sozioökonomische Funktion?« »Aha. Wieso hast du das nicht gleich gesagt? Die sozioökonomische Funktion, mein Kind, wird von meinem Freund bei Net Data Central trefflich definiert: Rotation ist eine Sicherheitsmaßnahme. In anderen Worten, aus diesem Grund wird dir und mir der Zugang zu beträchtlichen Ressourcen erschwert. Und immer, wenn sie wegen irgend etwas leicht nervös werden – und sie sind nun leicht nervös – , verstärken sie den Griff um unsre Eier.« Er schenkte ihr sein berühmtes ›Schmerzen-dieEier-schon?‹-Grinsen. Augustine nickte bedächtig, was das Zeichen für ›Ja-
unsre-Eier-schmerzen‹ war. »Und die KIs kriegen sie auch bei den Eiern.« »Sofern sie überhaupt welche haben.« »Sie haben nicht weniger als ich.« Sie lächelte süß. »Na gut, dann werden diese Eier eben abgeschnitten. Das Wichtigste ist nämlich, die KIs voneinander fernzuhalten. Jeweils eine KI kommt auf eine Partition. Also hat keine KI direkten Zugang zu einer anderen. Sie unterhalten sich wohl miteinander. Sie singen und tanzen. Sie schreiben Fan-Post. Aber kein SH-Kontakt.« »Schleimhaut?« »Multimodal. Aber du hast recht. Das soll auch verhütet werden.« Er hatte die ganze Zeit in gebückter Haltung vor einem Computer gestanden. Nun richtete er sich auf und hielt einen Ausdruck in der Hand. »Augustine, der Prozeß, in den du dich gerade eingeklinkt hast, war ein FensterSystem mit einem netten Sicherheitsprogramm. Du hast diesen Schutz in…« – er warf einen Blick auf den Ausdruck – »in etwa der Hälfte der Zeit durchbrochen, die für die Eingabe des Paßworts benötigt wird. Du hattest entweder Glück oder…« Mannie stürzte aus dem Raum. Einen Takt später ging die Tür auf, und ein schmutzigblonder Junge kam herein. Er hatte kein Hemd am Leib, war barfuß, und die Hosenbeine hatte er bis unter die Kniekehlen aufgerollt. Irgendwo in diesen sterilen Korridoren hatte er sich einen schwarzen Schmierfleck unter dem Auge eingefangen. Er signalisierte mit einer Geschwindigkeit, die Augustine noch nie erlebt hatte. Was auch immer er sagte, enthielt die Zeichen für Begrüßung, Verärgerung und Raketen. »Das ist Sizzle«, sagte Mannie aus dem Nebenraum. »Sizzle, das ist Augustine. Sizzle will die Testergebnisse abholen. Gestern hat er auf demselben Platz gesessen, wo du nun sitzt.«
Ohne zu erkennen zu geben, daß er Mannie überhaupt gehört hatte, integrierte Sizzle ein Daumen-hoch-Zeichen in eine Sequenz des Go-Spiels. »Hallo«, sagte Augustine. Er zeigte auf sein Ohr und buchstabierte dann seinen Namen. Im Gegenzug buchstabierte Augustine ihren Namen. Er blinzelte ihr mit himmelblauen Augen zu und quetschte sich neben sie auf den Stuhl vor der Konsole. Er machte wieder das Zeichen für Go, zweimal die Faust schütteln, und sie lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Sie hatte kein Faible für Spiele, nicht einmal für das traditionsreichste Spiel der Socketeers. Sizzle wirkte ungehalten. Er rieb sich das Auge, und die Faust fand zielstrebig den Weg zum Fleck und verschmierte ihn noch mehr. Mannie kehrte zurück. Beim nächsten Test handelte es sich um einen trimodalen Versuchsaufbau mit Handschuhen, Brille und Mundstück. Es war trivial, eigentlich nur ein komplexes Vexierbild. Der Schlüssel zur Erzeugung der richtigen Perspektive bestand wieder darin, den Sonar-Sinn mit dem visuellen Sinn zu koppeln. Sie schaffte es in einer knappen Minute Wahrnehmungs-Zeit. Als sie fertig war, sah sie, daß Sizzle sich auf einer orangefarbenen Couch ausgestreckt hatte. Die Augen hatte er geschlossen, und die Lider flatterten leicht. »Er ist ziemlich gut, Mannie, nicht?« Mannie nickte. »Wieso ist er dann nicht an der Akademie?« »War er doch.« Mannie zuckte die Achseln. »Aber er hat den Würg-Reflex. Er ist nicht in der Lage, solo unter Glas zu arbeiten. Dafür hat er ein starkes emphatisches Talent. Zur Zeit installiert er eine SYZYGY-Benutzeroberfläche für eine Raumschiff-Besatzung. Und das wird er wahrscheinlich immer tun. Und man wird ihn immer dafür lieben.« Sie seufzte, und die Gedanken kehrten zurück, die sie
schon den ganzen Tag beschäftigten. »Wo ist meine Datenhaut, Mannie?« Mannie beugte sich über einen Bildschirm. Er zeigte eine Palette von Blautönen, wie ein Himmel, an dem der Wind die letzten Wolken vertreibt. Weiches blaues Licht spielte über sein Gesicht. Er lächelte. »Weißt du, was das war, Augustine? Ein Mineur-Robot, der sein Kinästhetik-Modul trainierte. Du hast ihn gerade zweimal um den Übungs-Parcours gescheucht.« Ihre Irritation wich der Angst. »Mannie…« Er nickte in Richtung des Bildschirms. »Machst du auch TraumScreens?« »Nein.« »Solltest du aber. Das entspannt ungemein. Viel besser als Trance-Lichter.« »Ich will im Glas gehen«, sagte sie ausdruckslos. Er hob die Hand, das Zeichen für Frieden. »Ich sagte dir doch schon, daß sie den Deckel auf dem Netz halten. Du bist nicht mehr lizensiert. Du kommst erst dann wieder ins Netz, wenn die Lizenz erneuert ist.« Er legte ihr die Hand auf den Arm und ging auf Tuchfühlung. Das war ihr zuviel. »Laß mich los«, sagte sie. »Recht so, laß es nur an mir aus.« Er legte die Hand aufs Herz und ließ sie einmal pulsieren. Sie hieb auf die automatische Entriegelung, und die Armgurte lösten sich mit einem Summen. Sizzle verzog das Gesicht unter dem Helm und schrie. »Wieso sollte ich wohl Angst vor dir haben?« Mannie straffte sich und ging davon. Es fiel ihm nicht leicht, mit jemandem zu sprechen, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Doch war das eine Verlegenheitslösung, die er inzwischen gut beherrschte. »Nicht vor mir, Augustine. Vor dem Trip.« Er wandte sich um und musterte sie. »Du erinnerst dich wirklich nicht, was?« Sie runzelte die Stirn. »Die letzte Simulation vor dem Unfall?« Etwas Kleines schlug in ih-
rer Brust einen Purzelbaum. Wie damals, als die Musik ihr zum erstenmal aus den Fingern geströmt war. Er grinste. »Du erinnerst dich doch, nicht wahr?« Sie zögerte. »Ich erinnere mich nur an die Tage vor und nach dem Unfall.« »Schau, Augustine, du bist besser als gut. Die Tests, die du eben durchlaufen hast, waren die gleichen, wie du sie bei der Abschlußprüfung an der Akademie bestanden hast. Und weißt du was? Du bist noch besser. Du hast besser abgeschnitten als alle anderen, was bedeutet, daß du den bisherigen Rekordhalter geschlagen hast. Und das ist um so eindrucksvoller, weil du nämlich der bisherige Rekordhalter warst.« »Halt den Mund, Mannie.« »Du weißt, was ich damit sagen will?« Mannie eilte zum Giftschrank hinüber. »Es gibt noch andere Leute außer diesen Kameraden, für die du arbeiten könntest.« Er zog die oberste Schublade auf und holte einen kleinen Zylinder heraus. »Ich glaube, es ist Zeit für die Schwarzen. Was sagst du?« Augustine erhob sich vom Stuhl. »Hast du mich überhaupt gehört, Augustine?« Sie hielt inne. Es mutete sie seltsam an, daß er das Wort ›hören‹ gebrauchte. »Augustine, du brauchst gar keine Lizenz.« Sie schaute vielsagend auf den großen Wandbildschirm. »Augustine. Glaubst du denn, ich wüßte nicht, daß die Wände Ohren haben?« Mannie nahm den Helm ab. »Aber hier hört uns niemand.« An dieser Stelle hätte es sicher Spaß gemacht, durchs Helmmikrofon zu sagen: ›Stimmt, Mannie. Ich habe nichts gehört. ‹ Nur um zu sehen, wie Augustines Adrenalin-Pegel in die Höhe schoß. Leider sind solche Späßchen mir nicht gestattet. »Hör zu. Du weißt, weshalb wir die Zeichensprache benutzen? Weil alle Leute, mit denen ich zur Schule ge-
gangen bin, sich der Zeichensprache bedienten. Weil viele der ersten Interfacer wie ich waren. Die Zeichen waren das Band, das uns zusammenhielt. Doch wo es nun Interfacer wie dich gibt, haben wir einen schweren Stand. Sie verdrahten sogar schon Kleinkinder, damit sie in der Krippe trainieren. Vielleicht werden viele dieser Kinder uns überflügeln, aber vielleicht wird es auch nichts geben, das sie zusammenhält.« Er machte eine Faust. »Denk mal darüber nach, Augustine. Du mußt nicht unbedingt im Netz arbeiten. Du mußt nicht einmal den Schild machen. Es gibt viele Leute, die einen Interfacer wie dich mit Handkuß nehmen würden. Lizenz hin oder her.« »Welchen Schild, Mannie?« Er zuckte die Achseln. »Die Ausrüstung, mit der du während der letzten Simulation vor dem Unfall gearbeitet hattest.« »Was ist überhaupt passiert?« Wieder wanderte seine Hand zum Herzen und pulsierte einmal. »So habe ich dich noch nie erlebt, Augustine. Was auch immer du dort gesehen hattest, du hast dir vor Angst fast in die Hose gemacht.« »Was ist der Schild für ein Ding?« »Du wirst es noch erfahren. Sie werden versuchen, dich wieder drunterzulegen. Sie werden dir vielleicht sogar erzählen, der einzige Weg zum Glas würde über den Schild führen.« Sie ging zur Tür. »Ich habe einen Termin bei meinem Fallarbeiter.« Er fing sie an der Tür ab und hielt ihre Hand fest, um sie am Signalisieren zu hindern. »Viel Glück, Augustine. Du wirst es brauchen.« Als Augustine das Gebäude verließ, regnete es. Das Glas war sanft gekrümmt, als ob von einer großen Blase das oberste Segment abgetrennt und auf den Kopf gestellt worden wäre. Jenseits des gläsernen Ge-
länders, durch einen gelben Streifen markiert, dräute der Moloch der Stadt mit seinen Rippen und Flanschen. Der glasierte Stein war vom Regen geschwärzt. Augustine schlug eine gemächliche Gangart an. Das Echo ihrer Schritte hallte von einer unsichtbaren Barriere wider. Mr. E. saß an einem Tisch in der Nähe der Glaswand und legte einen Finger auf den gelben Streifen am Geländer, als ob er diese Stelle in einem Text markieren wollte. Er trug einen Hut aus schwarzem Velours und einen grünen Blazer mit Schulterpolstern. Der Hut bedeckte den Kamm auf dem Schädel, und eine Sonnenbrille mit nierenförmigen Gläsern kaschierte die Albinoaugen. Schwarze Wolkenkratzer spiegelten sich im Metallgestell. Seine Zähne waren der einzige weiße Tupfer in der Landschaft. »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen.« Lichtreflexe sprenkelten den Glasstuhl, auf dem er saß. Sie machte eine wischende Handbewegung vor dem Körper und ertastete den gläsernen Zwilling. Dann riskierte sie einen Blick nach unten. Nichts. Hunderte von Metern nichts. Dann kam ein weitläufiger Abschnitt aus akkurat gemähtem Rasen und Beton. Sie setzte sich auf den Stuhl und wandte den Blick nicht von Mr. E. Mr. E. schaute durch den Tisch nach unten. In der Brille sah sie ihr verzerrtes Spiegelbild. Eine steile Falte stand auf der Stirn. Nachdem sie das Stirnrunzeln gesehen hatte, spürte sie es fast körperlich. Sie atmete durch den Mund. »Heute ist ein schlechter Tag im Netz.« »Ach«, sagte sie. Und war noch stolz darauf, daß sie das herausgebracht hatte. »Es laufen viele umfangreiche Berechnungen. Es heißt, der Regen soll verstärkt werden. Außerdem rotieren sie
das Netz. Und es geht noch mehr vor. Etwas Merkwürdiges. Es finden intensive geisterhafte Aktivitäten statt.« »Ich hörte von der Rotation.« Sie hatte inzwischen den besten Fixpunkt für die Augen gefunden: Die Fingerspitzen, alle zehn nebeneinander, wobei das Blickfeld zur einen Hälfte von den Fingernägeln und zur anderen vom Rest des obersten Fingerglieds ausgefüllt wurde. Sie konzentrierte sich darauf, damit nichts anderes ins Blickfeld rückte. »Woher?« Sie hob die Hand. Dadurch wurde ihr erst bewußt, wie verkrampft der Rest des Körpers war. Die Anstrengung des Stillsitzens ermüdete sie. Sie zwang sich, das doppelte Spiegelbild ihres verkniffenen Gesichts zu betrachten. »Woher?« »Ist es irgendeine Sicherheitsmaßnahme?« »Ja, ich glaube schon. Und was die Geister betrifft, so erscheinen sie immer…« Ihre Stimme erstarb. Es war ganz einfach. Sie hatte es schon x-mal erklärt. »… so erscheinen sie immer, wenn das Netz in schnelle Rotation versetzt wird.« Mr. E. nickte. »Ich hatte mir das erklären lassen. Eine Art Kollateral-Effekt…« »Coriolis.« »Auch gut. Alles in allem ein schlechter Tag fürs Interfacing. Dr. Schroeder ist sehr besorgt um Sie, müssen Sie wissen.« »Das habe ich schon gespürt. Es bereitet mir auch Sorge, daß der Fiesling sich Sorgen macht.« »Ich muß doch sehr bitten.« »Tschuldigung. In meinen Augen ist das aber die treffende Bezeichnung für jemanden, der einem eine Gänsehaut verursacht.« Es gelang Mr. E. dem kleinen Ausschnitt des Gesichts, der von der Brille nicht maskiert wurde, einen beküm-
merten Ausdruck zu verleihen. »Mit den präzisen Abläufen dieser Reaktion müssen Sie sich in der Gruppe beschäftigen. Fürs erste beschränken wir uns auf diesen Ansatz: Sagen Sie so etwas nie wieder. Schroeder trägt die Gesamtverantwortung für Ihren Fall.« Sie sagte nichts. Sie hatte etwas Unheimliches bemerkt: Die Gebäude, denen Mr. E. den Rücken zuwandte, wuchsen in die Höhe. »Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir uns darauf geeinigt, in dieser Sache nichts zu überstürzen.« Langsam. Jawohl. Aber mit definitiven Fortschritten. »Interfacing ist eine gefährliche Aktivität, die zum einen sehr hohe Kompetenz und zum anderen sehr hohe emotionale Stabilität voraussetzt. Wir alle sind zuversichtlich, daß Sie über beide Voraussetzungen verfügen…« »Ich bitte um Entschuldigung. Wissen Sie eigentlich, daß wir fallen?« »Fallen?« Mister E. schaute verwirrt nach oben. Die Linsen färbten sich für einen Moment blau, und dann kehrte die Verspiegelung zurück. »Absteigen.« Mr. E. zeigte wieder die weißen Zähne. »Wir fahren in die Tunnels ein. Wir gehen dorthin, ›wo der Deubel einen Tanz aufführt‹, wie mein fideles Weib Marcy die AIATunnels zu bezeichnen pflegte.« »Und wieso sagt sie es jetzt nicht mehr?« »Weil sie tot ist.« »Oh.« Nach einem Moment: »Es tut mir leid.« »Das ist schon lange her.« Mr. E. tat die Sache mit einer lässigen Handbewegung ab. »Aber sie hat mir einen Fundus an Weisheiten hinterlassen, von dem ich heute noch zehre.« »Ja.« »Ja was?« »Ja, Sie zehren heute noch davon.« Sie hörte ein Rumoren und entfernte Rufe. Dann ging
eine Meldung ein. Mr. E. berührte den Datenport an seiner Seite, worauf die Tischplatte sich silbern färbte und schließlich das Bild einer Arena zeigte. Im Mittelpunkt einer Tribüne mit roten Sitzen räkelten drei Figuren sich auf ebensovielen Liegen. Es gab noch eine vierte Liege, die allerdings leer war. »Aha«, sagte Mr. E. Sein Lächeln kehrte zurück. Sie legte die Hände aufs Glas. Je tiefer sie abstiegen, desto ruhiger wurde sie. Ein Geräusch ertönte hinter ihr. Augustine hätte fast einen Schrei ausgestoßen, als eine metallene Hand erschien und einen Teller auf die Abbildung der Arena stellte. »Ich war so frei, Frühstück zu bestellen.« Sie drehte sich wieder zur schwarzen Gestalt um, die am Rand ihres Blickfelds geschwebt hatte. Es war ein Service-Robot, eines der asymmetrische Modelle, die seit kurzem in Mode waren. Ein Arm hatte die Form einer Ziehharmonika und lief in einer Gabel mit sechs Zinken aus, der andere in einem Schaumstoff-Stumpf, an dem wiederum mit Spanngurten ein Handtuch befestigt war. Einen Kopf hatte der Roboter nicht. Er glitt zum Geländer hinaus und hoppelte auf eine MilchglasPiste. Augustine schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, daß nun zwei Pfannkuchen und zwei Würstchen auf dem Teller lagen. »Ich will damit nur sagen, daß Ihnen eine Reihe von Optionen offenstehen.« Hinter seinem Rücken stieg langsam das geodäsische Netzwerk des AIA-Atriums in den Himmel. »Ihre Tätigkeit muß nicht auf maßstabgetreues multimodales Interfacing beschränkt sein. Oder auf Socketeering.« Mr. E. brach die Rede ab und widmete sich wieder dem Pfannkuchen. Er teilte den Pfannkuchenstapel akkurat
in zwei Hälften; dann setzte er das Messer am Umfang an und arbeitete sich methodisch zum Mittelpunkt vor. »Haben Sie«, sagte er – und klatschte reichlich Butter auf den Pfannkuchen – »zum Beispiel schon einmal daran gedacht, als Pilot zu arbeiten?« Er hob den Teller an und gab den Blick auf das graue Bild in der Tischplatte frei: Die drei Figuren in einer leeren Arena. Sie ertappte sich dabei, daß sie auf die leere Liege im Mittelpunkt starrte. »Hat das etwas mit der Simulation zu tun, die ich heute durchführen soll?« Mister Existenz lächelte. »Ja, ich glaube schon.« »Ich hatte kurz vor dem Unfall eine Simulation durchgeführt.« Mister E. runzelte die Stirn. »Ich glaubte bisher, Sie würden sich nicht mehr an die letzten Tage vor dem Unfall erinnern.« »Ich erinnere mich vage. Mit Sicherheit weiß ich nur, daß eine Simulation stattfand, die aber nicht sehr gut gelaufen ist.« »Nein.« Er seufzte. »Leider geht aus Ihren heutigen Testergebnissen hervor, daß Sie in jeder Hinsicht so gut sind wie eh und je. Sie wollen, daß Sie etwas versuchen.« »Und wenn ich nicht will?« Mr. E. stellte den Teller wieder ab und bestrich den Pfannkuchen mit Butter. »Das ist eine Arbeit für einen Interfacer. Sie ist ebenso ehrenvoll wie spannend. Zumal man mir gesagt hat, daß sie nicht gefährlicher sei als Socketeering im offenen Netz – wovor Sie schließlich auch keine Angst haben. Keine Gentechnik-Programme, keine kognitiven, geologischen oder ökonomischen Modelle, keine Wetterkontrolle. Geradezu ein Kinderspiel.« »Sie sagten, es hätte etwas mit Lotsen zu tun.« Sie schaute Mr. E. zu, wie er die Sirupflasche anhob und sie
am Tellerrand ansetzte. »Was?« Sirup rann über ein Pfannkuchenstück, versuchte wiederholt, Gestalt anzunehmen und zerlief genauso oft. »Lotsen.« Er starrte sie an. Sie sah in beiden Spiegelbildern, daß die gerunzelte Braue sich geglättet hatte. Die Lautstärke der Menge hatte sich deutlich erhöht. Die Meldungen gingen nun förmlich im Salventakt ein, und sie hörte dissonante Trompetenklänge. Mr. E. blickte sie unverwandt an. Nun erhöhte er den Anstellwinkel der Hand, und der Sirupfluß versiegte. »Ja, das muß es gewesen sein. Was sagen Sie dazu?« Sie riskierte einen Blick. Sie waren vielleicht fünfzig Fuß hoch. Die jubelnde Menge am Boden hatte sie noch nicht wahrgenommen. Mr. E. nahm die Brille ab und spießte mit der Gabel ein Stück Pfannkuchen auf. Die Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Das Stück wanderte in den Mund. Die Gabel wurde wieder herausgezogen. Die Augen öffneten sich langsam. »Lotsen ist etwas anderes als gewöhnliches Interfacing. In der Regel handelt es sich bei Lotsen um Leute, deren Begabung etwas… spezialisierter ist. Ich will nicht arrogant erscheinen, doch normalerweise machen Interfacer mit meinem Spektrum reines Glas sowie multimodales und Vielzweck-Interfacing.« Sie hatte nun ihrerseits die Gabel in die Hand genommen. »Und in Anbetracht meiner heutigen Testergebnisse verwundert es mich, daß Sie mir eine Stelle als Pilot anbieten.« Linien erschienen in den Winkeln seiner rosigen Augen. »Einen gewöhnlichen Piloten brauchen wir nicht. Dieses Schiff wird eine besondere Herausforderung darstellen.« »Der letzte Versuch war aber nicht so berauschend.« »Nichts, was Alexa Augustine geschehen ist, ist Ihnen
geschehen. Das zu behaupten…« »… wäre Häresie. Ich weiß.« Er beugte sich vor. »Wenn Sie diese Sache durchziehen, sind Ihren Interfacing-Ambitionen keine Grenzen gesetzt. Sie wären Meister aller Klassen.« »Aber die vorherige Frage haben Sie mir noch nicht beantwortet. Wenn ich es nun nicht tun will?« Er kniff die Augen zusammen, als ob er Schmerzen hätte. »Davon…« – er sog langsam die Luft ein – »muß ich Ihnen dringend abraten.« Sie befanden sich nun auf Bodenhöhe. Die Menge drängte sich hinter der Absperrung. Ein einzelner Soldat warf das Käppi in die Luft. Während er noch die Flugbahn verfolgte, stürmte eine bizarre Bande aus einem Piraten, einem Gummibärchen, einer bärtigen Melkerin, Nessie und einer rothaarigen Frau mit schwarzen Strapsen und grünem Lippenstift gegen ihn an. Umpa umpa täteräää, seufz. Der Mann hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Es gab einen Knall, und überbeanspruchter Kunststoff vibrierte. Mr. E. zog seinen Teller unter einer Gestalt in einem goldenen Trikot weg, die einen Handstand auf dem Tisch machte. Augustines Teller kippte; eine Akrobatin jonglierte ihn auf dem Handballen. Augustine klatschte in die Hände und schaute Mister E. verzückt an. Doch der kaute nur vor sich hin, ohne eine Miene zu verziehen. Die Akrobatin beendete den Handstand, und Mister E. bückte sich, um das heruntergefallene Besteck aufzuheben. »Gehört ihr zu einem Zirkus?« platzte Augustine heraus. Die Akrobatin verneigte sich vor ihr. »Nein, Kleine.« Dabei war sie selbst nur etwa eins fünfzig groß. »Das ist die Waffenstillstands-Feier, Ms. Augustine«, erklärte Mr. E. ihr unter dem Tisch. »Laßt uns bitte allein.« Er stand wieder auf; die Brille hielt er in der
Hand. Sie sackten noch ein paar Meter ab. Augustine winkte. Die Füße der Akrobatin baumelten über dem Rand des Schachts. Als Augustine wieder durch den Tisch schaute, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, daß der Boden nicht mehr transparent war. »Bitte richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf mich. Für Sie geht es nun darum, sich nicht selbst zu verlieren.« Mr. E. balancierte ein siruptriefendes Pfannkuchenstück auf der Gabel. »Sie sind, wie meine fidele Frau Marcy sich ausgedrückt hätte, eine Mohnblume. Sie müssen Ihren Platz unter all den Blumen auf der Wiese finden und erblühen.« Er nickte der Akrobatin komplizenhaft zu. »Wir freuen uns, Sie bei uns zu haben.« Mit einem Ruck kamen sie zum Stillstand. Der Abstieg war beendet.
6 Das Diebes-Tagebuch Und fünf Schichten hatte der Schild selbst, aber darauf dann Machte er viele kunstvolle Bilder mit kundigem Sinne. Auf ihm schuf er die Erde und auf ihm das Meer und den Himmel Und die Sonne, die unermüdliche, und auch den Vollmond, Auf ihm all die Gestirne, mit denen der Himmel umkränzt ist: Die Pleiáden, Hyáden sowie auch die Kraft des Orion, Und die Bärin… Homer, ILIAS, ACHTZEHNTER GESANG, 480
Sie landeten am Rand der Arena, die Mr. Existenz ihr schon von oben gezeigt hatte. Streben und Stege spannten sich wie ein Spinnennetz unter der hohen Decke. Flutlichter strahlten eine weiße Plattform im Zentrum an. Die roten Sitze waren in konzentrischen Reihen angeordnet und glichen punktierten Linien, die Orbits um eine Sonne markierten. Sie verließ Mr. E und flankte über das Glasgeländer. Sie stürzte auf den angestrahlten Mittelpunkt zu. Dort lagen auch die drei Gestalten. Sie alle befanden sich in tiefer Interfacing-Trance. Es handelte sich um einen Mann, eine Frau und ein Kind. Das Kind war Sizzle. Der Mann war schwarz, deutlich über zwei Meter groß und gertenschlank; die Beinauflage schloß knapp unterhalb der Kniekehlen ab. Die Frau war eine schlanke Athletin im Jugendalter; die langen Wimpern waren gebogen wie eine Federspitze, und auf dem gewellten Haar glitzerten Schweißperlen. Sizzle stieß kleine Schreie aus und blinzelte schnell. Die Interfacing-Ausrüstung, an die er angeschlossen war, hatte Augustine noch nie zuvor gesehen. Er schien an ein paar Dutzend schwarzer Tentakel zu hängen. Fingerdicke Kabel bohrten sich in Hüfte, Beine und Arme, und in den Nacken führte sogar ein ganzer Kabelbaum. Die Elektroden waren mit beigefarbenem Heftpflaster auf der Haut befestigt. Auf der nächsten Liege ruhte der große Mann. Er war mit einer identischen Ausrüstung verkabelt und murmelte wie jemand, der einen schlechten Traum hat. Die Frau indes gab keinen Laut von sich, doch die muskulösen Arme zuckten. Augustine hatte noch keinen Interfacer mit einem so unruhigen Schlaf gesehen. Sie setzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe. Mr.
E. setzte sich neben sie. Er nahm den Hut ab und legte ihn auf den Schoß. Sein Schädel glänzte. »Müssen wir uns nicht bei den Wärtern anmelden?« »Nein. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Interfacer ein Publikum haben.« »Das ist schon seltsam, nicht? Was gibt’s hier überhaupt zu sehen?« Sie zuckte die Achseln. »Bitte sprechen Sie darüber. Es ist wichtig, daß ich Ihre Gefühle bei diesem Anblick analysiere.« Mister E. legte die Brille zusammen und verstaute sie in der Tasche des Blazers. »Ich muß wissen, ob Sie sich an irgend etwas erinnern.« Sie zögerte. »Ich verstehe. Man hat mir gesagt, daß der Schild sich in ein paar Minuten manifestieren wird. Und bis dahin erklären Sie mir bitte, wie Ihre Frage, was es hier zu sehen gebe, zu verstehen ist.« »Es ist mehr ein Gefühl als alles andere«, sagte sie nach einem Moment des Nachdenkens. »Legen Sie einmal den Kopf zurück und versuchen Sie, diesen Ort zu fühlen.« Nach anfänglichem Zögern stellte Mr. E. seinen Teller auf den Schoß und lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze. Die Augenlider klappten herunter. Nach einem Moment fing er an zu zittern. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Plötzlich riß er den Kopf hoch. »Mr. E.?« »Verzeihen Sie mir. Solche Dinge sind mir nicht mehr gestattet.« Er lächelte. »Strafe für eine Jugendsünde. Vor einiger Zeit haben wir in der Gruppe beschlossen, daß ich bei meinen Vergnügungen partizipatorischer sein müsse. Ich mußte auf Perioden kontinuierlicher Reflexion verzichten. Auf die Operation folgte eine Zeit, wo ich schon nach kurzer Reflexion unleidlich wurde. Das hat meiner Frau Marcy ganz schön zugesetzt.«
Sie klappte den Mund auf und zu. Dann vertiefte sie sich wieder in die Betrachtung der drei Schläfer. »Augustine, woran hatten Sie damals gedacht?« »Daß man Sie als meinen Mentor ausgewählt hat, weil wir beide Kopf-Operationen hatten.« Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Ja, das glaube ich auch.« Er kratzte sich am Knochenkamm. »Sie achten nämlich darauf, daß Klient und Mentor optimal harmonieren.« Ein schimmerndes Etwas erschien in der Luft über den Schläfern. Es hatte eine durchscheinende Oberfläche von der Form eines Schildkrötenpanzers. Die Schale wies Riefen auf wie qualitativ minderwertiges Glas. »Deshalb wird es als der Schild bezeichnet«, sagte eine Sopranstimme. »Helen?« Augustines Augen versuchten die Dunkelheit über den Schläfern zu durchdringen. Bunte Schlieren über dem Schild verdichteten sich zur geflügelten Sechs-Zoll-Miniatur namens Helen. Sie drehte sich langsam. »Genau. Seltsame Art der Wetterkontrolle, nicht wahr?« Mr. E. schaute nach rechts und links. »Es hieß, wir wären ungestört.« »Das seid ihr doch auch. Ich bin nur eine KI, Mister E. Mein Name ist Helen, und ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen – obwohl ich nicht erfreut bin, mich an diesem Ort aufzuhalten.« Mister E. schaute Augustine stirnrunzelnd an. »Sie läßt Höflichkeit vermissen.« »Helen, Mr. E. würde sich freuen, wenn du etwas höflicher wärst.« Eine wabernde grünrote Aura breitete sich von Helens Sechs-Zoll-Gestalt zur Decke der Arena aus und pulsierte für einen Moment über ihnen. Dann schrumpfte die Aura und war wieder verschwunden. »Gewiß. Pardon, mein Herr. Viele KIs sind unruhig
wegen der Nähe des Galaktischen Rechen-Kristalls. Es haben sich in der Vergangenheit bereits Unfälle ereignet, an denen KIs beteiligt waren.« Mister E. schaute Augustine an. So betrübt hatte sie ihn noch nie gesehen. »Heute wissen wir mehr. Ich bin diesmal gut vor dem Schild isoliert. Und das gilt auch für Augustine.« Es knisterte. Ein zellophanartiges Glitzern erschien auf dem Schildkrötenpanzer, schwächte sich ab und verstärkte sich wieder, bis das Funkeln schließlich den ganzen Schild erfaßte. Helen kam näher. »Meine Güte.« Mr. E.’s kleine Hände umklammerten die Armlehnen des Stuhls. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Das, was ihr hier seht, sind nur Routine-Operationen.« Erneut stieg ein , bunter Vorhang von Helen zur Decke auf, pulsierte kurz und verschwand wieder. »Diese drei Interfacer sind mit dem Rechen-Kristall auf einem Galaktischen Schiff verbunden. Natürlich handelt es sich nicht um eine physikalische Verbindung im eigentlichen Sinn. Es ist eine Maschine zwischengeschaltet, die als Interpreter für die Signale dient, die vom Kristall auf dem Schiff abgestrahlt werden. Die konvertierten Signale werden dann hierher übermittelt. Das Ding über ihnen – das als Schild bezeichnet wird – ist eine vom Kristall projizierte Abbildung, die irgendwie psychisch aktiviert wird, sobald Interfacer mit ihm in Interaktion treten. Es gibt noch viele andere Bilder – doch darf ich heute nicht näher darauf eingehen. Auf jeden Fall ist das der Ausgangspunkt, das Galaktische Äquivalent eines leeren, eingeschalteten Bildschirms. Das Schiff, das uns dieses Stück eines Galaktischen Kristalls gebracht hat, ist schon vor ein paar Jahren gelandet. Es heißt Achilles und gilt als das Flaggschiff der Galaktischen Flotte.« Ein weißer Konus erschien im Zwielicht neben Helen. Simultan loderte eine Art Kugelblitz auf und zerfiel zu den
frostigen Splittern einer Spiralgalaxis. »Die leere Liege in der Mitte ist für den Piloten.« »Möchten Sie auch ein Pilot sein, Ms. Augustine?« fragte Mister E. »Augustine. Die Zuschauer-Projektoren sind aktiv.« Augustine nickte, klappte das Oberteil der Armlehne hoch und drückte auf einen versenkten Knopf. Die Darstellung der Galaxis wurde von der Abbildung eines Galaxienhaufens überlagert, und dieser Galaxienhaufen wurde wiederum von einer Reihe Galaxienhaufen überlagert. Sie drückte wieder auf den Knopf, und die Galaxienhaufen raschelten leise. Sie lachte. »Das kannst du ewig und drei Tage machen«, sagte Helen. »Es hört niemals auf. Je kleiner der Maßstab ist, den du wählst, desto größere Strukturen siehst du.« »Irgendwann muß es aber zu Ende sein«, sagte Mister E. »Das Universum ist doch endlich.« »Das Universum ist gekrümmt. Der Maßstab ist stufenlos variabel. Bis das Bild schließlich rotiert.« Es ertönte ein leiser Gong. »Moment. Ich bin wirklich ein schlechter Führer! Würdet ihr gern das Universum sehen?« »Das gesamte Universum!« »Ja.« Die Sterne schrumpften und verschwanden. Die Darstellung tintiger Schwärze hing über ihnen. »Was ist das?« »Das ist es.« Die Stimme drang nun aus der Schwärze. »Die Haufen der Galaxien-Haufen sind verschwunden. Sie sind nun so klein, daß wir sie nicht mehr sehen. Dies ist die ultimative Vogelperspektive.« »Ich sehe schwarz«, sagte Mr. E. »Das ist der Datenpunkt«, sagte Helen. »Keine Struktur ist so groß, als daß man sie in diesem Maßstab sehen würde.« »Und das ist…? Sind wir wirklich…?« Ein Quieken ertönte, gefolgt von stetem Piepen. »Zehn
Sekunden«, sagte Helen. »Es dauert eine Weile, dieses Bild zu berechnen. Es ist eine perfekte Schwärze. Vielleicht wird es euch nun warm ums Gesicht. Das liegt daran, daß dieses Bild eine maßstabsgetreu verkleinerte Abbildung des gesamten elektromagnetischen Spektrums ist. Die Details konzentrieren sich im infraroten Spektrum. Alles, was sie uns bisher präsentiert haben, stimmt mit unseren eigenen Beobachtungen überein – bis zur Mikrowellen-Hintergrundstrahlung des Urknalls. Natürlich wäre eine räumliche Darstellung des gesamten Universums ein Ding der Unmöglichkeit. Was ihr hier seht, ist eine dreidimensionale Projektion der Raum-Zeit-Kurve. Aber sie haben schon viele Projektionen gesehen, und soweit sie wissen, sind die Informationen für die ganze Raum-Zeit-Kurve in diesem Schild enthalten. Vom Urknall bis zum Ende des Universums. Wie beim Schild der Achilles ist die komplette Geschichte des Universums gespeichert.« »Warte einen Moment – die komplette Geschichte?« »So ist es. Leider ist es unmöglich, die Vergrößerung so weit hochzufahren, um euch die Lottozahlen für die nächste Woche zu verraten.« »Und unsere Heimatgalaxis?« Die Schwärze im Herzen des Konus wich dem ersten Bild, das sie gesehen hatten. Es erschien ein Sternenfeld, das von einem einzigen peripheren Stern überstrahlt wurde. »Ja.« Helen tauchte ins Sternenfeld ein und deutete auf den Stern. »Hier sind wir. Es stimmt, die Helligkeit ist disproportioniert, als ob ein Pfeil direkt auf unsre Sonne weisen würde.« »Mein Gott!« Mister E. stützte den Kopf in die Hände. »Es liegt nahe, daß das Navigationssystem des Schiffs unsre Sonne als Zielstern markiert hat. Es ist beileibe kein Zufall, daß all diese Schiffe hier landen.« »Dann ist der Schild also ein Navigationssystem?« »Sie vermuten, daß der Schild das Nervenzentrum des
Schiffs ist und daß diese Projektion der Navigation dient.« »Helen, was tun die drei?« »Sie erschaffen ein maßstabgetreues Modell des Steuermoduls der Achilles. Sie haben sich gerade aus dem Mondorbit hinausgeträumt.« Wieder stieß Helen einen Farbenschwall aus. »In einer Simulation. Für das echte Ding würde man einen echten Piloten brauchen.« Der Konus über dem Schild verschwand, und Helen trieb in der Dunkelheit. »Interferenz. Ich lasse ein Prüfprogramm laufen, das andere Bilder ausblendet. Der Schild verfügt über einen großen Fundus an Projektionen, doch hielten sie es für das beste, wenn ihr euch zunächst auf diese eine Darstellung konzentriert. Sie wollen, daß du es auch einmal versuchst, Augustine.« Mister E. erhob sich. Er war sichtlich erregt. »Ich will kein Hehl daraus machen, Ms. Augustine. Ich habe Angst um Sie.« »Ich würde mich wohler fühlen, wenn Mannie dabei wäre.« Augustine wand sich in den Kabeln. Ihre Brüste fühlten sich kalt an. Kalte Elektroden hafteten an Brust und Rücken. Sie spürte Nadelstiche. Sie schauderte. »Das geht nicht.« »Was muß ich tun?« »Du tust gar nichts«, sagte Helen. »Ich mache das.« Die Kabel spannten sich. Augustine spürte einen stechenden Schmerz in der Brust und stieß einen Schrei aus. »Vielleicht sollte ich gehen«, sagte Mister E. »Ich befürchte, Sie müssen hierbleiben. Die InterfacingBestimmungen verlangen nämlich, daß selbst bei Routine-Simulationen ein Beobachter anwesend ist.« »Aber du bist doch… oh, ich vergaß.« »Im Wirtschaftsraum am Nordwest-Eingang gibt es eine
Toilette. Wenn Sie so gut wären und ein Papierhandtuch holen würden, um dem armen Kind das Gesicht zu trocknen.« Augustines Augenlider zuckten, und ihr standen schon Schweißperlen auf der Stirn. Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich: Ein Raum, der keinerlei Ähnlichkeit mit dem Unterglas aufwies, wo sie bisher zugange gewesen war. Sie verfügte weder über körperlichen noch mentalen Handlungsspielraum. Sie zappelte im Geflecht Hunderter Funktionselemente, die durch eine starke Wechselwirkung miteinander verbunden waren und vor Energie vibrierten. Etwas war zu tun. Etwas gierte danach, etwas zu tun. Und sie war in diesem Streben gefangen, zog und zupfte unablässig und glättete mikroskopische Schnörkel in einer endlosen Kurve. Vage nahm sie die Präsenz der anderen drei Interfacer wahr, kleine Zyklone der Aktivität wie sie selbst. Sie hatte keine Ahnung, welche Funktion die drei hatten. Es gelang ihr nicht einmal, sich eine Atempause zum Nachdenken zu verschaffen. Sie brannte förmlich vor Konzentration, wie ein PuzzleSüchtiger, der atemlos die Teile zusammenfügte. Etwas seufzte, und etwas Riesiges klaffte auf. Ein wuchtiger Metallklotz wurde arretiert. Alle waren sie freischwebend. Augustine erkannte das helle wallende Blond, das Sizzle war. Sofort projizierte er ein Spielbrett und wollte sie zu einer Runde Go animieren. Sie änderte den Maßstab, und er schnurrte zusammen. Er stieß Klagelaute aus. Sie sah ein mit Blumen bewachsenes Rasenstück an der Stelle, wo die Knoten von Sizzles Go-Gitter sich befunden hatten. Die Stimme einer alten Frau ertönte: »Ihre Befehle betreffen nicht das Mädchen, oder? Dann lassen Sie sie gehen.«
Das Herz wurde ihr schwer. Das Atmen fiel ihr schwer. Und dann sagte eine andere Stimme: »Die Rekonstruktion ist abgeschlossen. Sie ist initialisiert worden.« Und dann schrie sie wie am Spieß. * »Hol sie da raus! Hol sie da raus, verdammt!« »Schon geschehen.« Die im Geflecht aus Draht eingehüllte Augustine weinte leise. »Augustine! Was ist geschehen?« Die Pupillen rollten nach unten, und sie vermochte wieder zu sehen. Sie blinzelte. Die Augen wurden feucht. Sie strich sich mit der Hand über die Wange und reagierte verwirrt, als sie die Tränen spürte. »Ja. Wieso schreien Sie so?« Der große Mann auf der Liege zu ihrer Linken stöhnte und würgte. »Ihr armen Kinder«, sagte Helen. »Ich habe die leidige Pflicht, euch davon in Kenntnis zu setzen, daß ihr als erstes Team das Andock-Manöver beenden müßt.« * Schroeder lehnte sich im Stuhl zurück und stieß einen Seufzer aus. »Erfolg auf der ganzen Linie. Vollständige Persönlichkeits-Kohärenz. Und nicht nur das.« Er spreizte einen Finger ab. »Nicht nur das. Wir haben gesicherte Erkenntnisse, daß Ihre Fähigkeiten als Interfacer sich noch gesteigert haben. Normalerweise lese ich Patienten keine Auszüge aus ihren Personalakten vor. Doch was sagen Sie dazu: ›Sie ist einfach wundervoll. Codiert 010‹.« »Welcher Code ist das?« »Das Ministerium für Monaden.«
»Ach.« »Allerdings. Sie sind der durchschlagende Beweis für die Richtigkeit unsrer Methode. Mit Ihnen demonstrieren wir quasi am lebenden Objekt, wie tief unser Verständnis der Persönlichkeit und des Personseins mittlerweile ist. Wir sind, was wir aus uns machen, nicht wahr? Das ist die Quintessenz unseres kleinen produktionsorientierten Staats. Nun hat der Kreis sich geschlossen. Wir sind in der Lage, uns selbst zu erschaffen.« Er fischte eine Nuß aus der Schale. »Ich bin auch ganz begeistert.« Sie sank auf dem Stuhl etwas in sich zusammen. »Wenn Sie mir vielleicht erklären würden, weshalb der gestrige Test Sie so optimistisch stimmt.« Er freute sich über die Frage. »Um das zu verstehen, müssen Sie zunächst die Grundlagen psychotherapeutischer Gedächtnis-Rekonstruktion kennen. Ich muß vorausschicken, daß es so etwas wie Gedächtnis-Rekonstruktion eigentlich nicht gibt.« Er unterbrach die Musterung der Decke und weidete sich an ihrem verwirrten Gesichtsausdruck. »Sie müssen eins verstehen. Sie arbeiten mit Information. Was weg ist, ist weg. Wenn eine Erfahrung einmal aus dem Kopf gelöscht ist, wird keine Macht der Erde sie zurückbringen. Zum Glück verhält es sich bei Gedächtnisverlust anders. Es braucht nur einen Schlag auf den Kopf, und man hat seinen Namen vergessen; doch derselbe Schlag, der Sie Ihrer Identität beraubt, wird auch die letzten fünf Jahre Ihres Lebens und vielleicht den größten Teil des Wortschatzes löschen. Was also in den meisten Fällen von Gedächtnisverlust stattfindet, ist eher mit einem verblaßten Bild zu vergleichen als mit einem, aus dem ein Stück ausgeschnitten wurde. Je unschärfer das Bild am Anfang ist, desto schwieriger wird es natürlich für uns, und desto unwahrscheinlicher ist es auch, daß wir ein gestochen
scharfes Bild erhalten. Manchmal verliert ein Subjekt selbst nach langwieriger Rekonstruktion das Sprachvermögen.« »Was passiert dann?« Schroeder zuckte die Achseln. »Nun, die PersonseinsKriterien für solche Fälle sind eindeutig.« »Müßte ich den Wortlaut kennen?« Er schaute sie an. »Sie müßten zumindest ein Gespür dafür haben.« »Aha.« »Selbst wenn wir den Fokus verstärken, müssen wir damit rechnen, daß unscharfe Eindrücke verfälscht werden. Um das Erinnerungsvermögen zu reaktivieren, versuchen wir den verschwommenen Erinnerungen mit verschiedenen Zwangs- und Reparaturtechniken auf die Sprünge zu helfen. Und, hilft das was?« Er nahm die Füße vom Schreibtisch und stützte statt dessen die Ellbogen auf. Er genoß das sichtlich. »Zunächst einmal gibt es vier Arten des Gedächtnisses. Als da wären…« »Drei. Es gibt drei Arten des Gedächtnisses. Episodisch, semantisch und prozedural. Aber es gibt keine Dame.« Schroeder starrte sie einen Moment lang an und grinste dann. »Ronnie.« Er schüttelte den Kopf. »Ich muß ihn mir einmal wegen seiner chauvinistischen Attitüde vorknöpfen. Sehen Sie, Ronnie ist ein Psychometriker. Streift quasi mit dem Maßband im menschlichen Bewußtsein umher. Er neigt dazu, Dinge, die er nicht messen kann, schlicht zu ignorieren. Nun möchte ich Ihnen den vierten Gedächtnis-Typ veranschaulichen. Welche ist die nächste Zahl in der Reihe 1, 3, 5,7…?« »Neun«, sagte sie. »Na, sehen Sie. Gar nicht mal so schlecht.« Sie wirkte irritiert. »Sie denken – aber das ist nicht Erinnern! Aber egal, was es nun ist. Hier sind die harten Fakten. Wenn wir uns an eine bestimmte Zeitspanne erinnern, gleicht das
dem Ausfüllen von Lücken; Erinnerungen sind nämlich Umrisse, die mit beliebigen Details ausgefüllt werden können – hauptsächlich aus dem Grund, weil sie alltäglich sind. Merken Sie sich das Wort. Alltäglich. Gewiß, manchmal erinnern wir uns an vollständige Bilder oder wiederholen beliebige banale Ketten, doch nur für sehr kurze Zeit; und selbst dazu braucht man noch Übung. Zumal die Frage sich stellt, ob das überhaupt erstrebenswert ist. Wollen wir uns wirklich den Kopf mit Tausenden von Fotografien und Tonaufnahmen vollstopfen? Was, wenn wir anstelle eines Fotos ein kleines Programm hätten, das ein fragmentiertes, nichtssagendes Bild erfaßt und es, sagen wir, in eine Ente oder ein Kaninchen verwandelt? Genau das läuft in uns ab, in jedem von uns. Dieses Füllprogramm ist die vierte Art des Gedächtnisses, das wir als Q-Gedächtnis bezeichnen. Das Q-Gedächtnis integriert das Alltägliche. Das Q-Gedächtnis ist schnell, es ist billig, es ist unzuverlässig – doch ist es gerade noch brauchbar. Und vor allem ist es das, was uns ausmacht. Bei der Gedächtnis-Rekonstruktion erstellt das Q-Gedächtnis ein Bild mit der Bezeichnung Q-Print. Der Q-Print zeichnet die spezifische Art und Weise auf, in der eine Person Lücken in Gewebe verwandelt, die Abfolge der Knoten, die ein individuelles Muster bilden: Knoten, Leerstelle und die Nahtstelle. Wir sind in der Lage, das Gewebe auszubessern, aber nur, weil wir das Grundmuster kennen, das vor dem Riß existierte.« »Woher habt ihr mein Grundmuster überhaupt?« »Die Technik steckt noch in den Kinderschuhen, doch wir bekommen immer mehr Routine in der praktischen Anwendung, und immer mehr Bürger lassen ihren QPrint als Komponente der Personalakte abspeichern.« »Das scheint mir aber mit großem Aufwand verbunden zu sein.« »Ein Q-Print ist relativ leicht abzuspeichern; er ist im
Grunde nur ein Programm. Informational nicht sehr komplex. In Ihrem Fall, weil Sie nämlich ein wertvolles Mitglied der informationsverarbeitenden Infrastruktur sind, war diese Vorsichtsmaßnahme geboten. Außerdem bin ich nun bereit, Ihre Fragen zu beantworten. – Wozu die vielen Tests? Aus dem Grund, weil der Q-Print ein zweischneidiges Schwert ist. Der Gedächtnisreparatur-Prozeß gelingt nicht immer. Wird eine Erinnerung nicht vollständig aufgerufen, interferiert der Q-Print vielleicht mit ihr oder stößt sie ab, anstatt sie zu integrieren. Geschieht das einmal, sind Sie verwirrt. Geschieht das öfter, haben wir ein echtes Problem. Wir tun natürlich unser Bestes, um die Lücken mit plausiblen Inhalten auszufüllen, doch läßt es sich nicht vermeiden, daß manchmal Dissonanzen zwischen unsrer Arbeit und den Anforderungen des Q-Print auftreten. Das folgende Experiment zeigt Ihnen die grundsätzliche Problematik auf. Man zeichne irgendein Wort, zum Beispiel interessant, auf und schneide das Doppel-S aus dem Band heraus. Man ersetze es durch einen Schnalzlaut. Das ist unser falsches Gedächtnis. Nun haben wir etwas, das sich beispielsweise so schreibt.« Er drehte den Monitor zu ihr hin, und in der Bildschirmmitte stand in großen Lettern das Wort: INTERE#ANT »Dann spielt man das Band ab und fragt den Hörer, was er gehört hat. Oder genauer, man fragt ihn, was er gehört zu haben glaubt.« »Er wird das Wort interessant hören.« »Genau. Mit dem Doppel-S. Doch – ich bitte um Verzeihung – das eigentlich Interessante ist, was mit dem Schnalzlaut passiert. Er wird aus dem Schallstrom herausgelöst. Der Hörer ist nämlich nicht in der Lage, ihn
zu interpretieren oder einzuordnen. Er nimmt ihn als einen geisterhaften Ton wahr – nicht im Wort, sondern auf eine unerklärliche Art und Weise neben dem Wort. Hüten Sie sich vor dem geisterhaften Ton, Ms. Augustine. Hüten Sie sich vor dem Summen, das nicht alltäglich ist.« Sie starrte ihn verständnislos an. Er drückte auf eine Taste, und der Bildschirminhalt wurde gelöscht. »Manchmal werden die neuen Erinnerungen nicht richtig integriert. Sie werden zu geisterhaften Schnalzlauten. Nicht zu interpretierende Fragmente, Störstellen im Gedächtnis. Nur eine Zahlenreihe, kein Muster. Ein Mikrowellen-Summen. Hintergrund-Frequenzen. Rauschen.« Er wedelte wieder mit der Hand. »So ist das Leben. Aber zu viel Rauschen« – er spreizte einen Finger ab – »ist auch nicht gut.« Er wedelte mit dem Finger. »Die Psyche hat verschiedene Strategien entwickelt, um diese unzureichende Integration zu kompensieren: Verschiedene Ausprägungen dessen, was wir als Depersonalisations-Syndrom bezeichnen. Zwangshandlungen. Halluzinationen. Amnesie. Oder auch nur psychotische Episoden, die alle Elemente in sich vereinigen. Doch das Gesamtbild ist eins des sich beschleunigenden Verfalls. Es kulminiert entweder im Suizid oder in Katatonie.« »Ich habe es aber geschafft.« »Sie haben es geschafft. Wir werden natürlich ein Auge auf Sie haben. Die Auswirkungen der Depersonalisation machen sich oft erst nach einiger Zeit bemerkbar. Doch in den Tests haben Sie ein perfektes Subjekt abgegeben, ein Triumph der Methode.« »Und wenn ich es nicht geschafft hätte?« Er runzelte die Stirn. »Nun, wie ich schon sagte: Die Personseins-Statuten sind eindeutig. Der Verlust der autonomen Monaden…« »Ich verstehe.« »Keinem Bürger wird es zugemutet, den Verlust des
Personseins zu erleiden.« »Ich sagte doch, ich habe verstanden.« »Und wie ich sagte, entwickeln Sie sich prächtig, von gelegentlichen Stimmungsschwankungen einmal abgesehen. Sehen Sie, vielleicht irre ich mich auch, aber meine Aufzeichnungen besagen, daß Ihre Stimmung unberechenbar schwankt. Soeben ist sie wieder umgeschlagen. Welche Schwierigkeiten haben Sie?« »Ich habe die Tests bestanden. Ich will im Glas gehen.« Er seufzte. »Ich sollte Ihnen das vielleicht nicht sagen, aber ich war von Anfang an dagegen, daß Sie Ihre Laufbahn als Interfacer fortsetzen.« Sie war baff. »Wieso das?« »Wieso? Weil Menschen mein Beruf sind. Mein Fachgebiet ist Konnektivität. Ich studiere, wie das Individuum zum Sozialwesen wird. Menschen sind Knoten in einem Netzwerk, Ivy. Selbst Menschen wie Sie. Insbesondere Menschen wie Sie. Ihr Fall ist singulär. Sie sind sehr wichtig. Und die Statistiken über aktive Interfacer sind besorgniserregend. Wer eine fragile Persönlichkeit, die noch nicht einmal integriert ist, diesen Belastungen unterwirft, handelt unverantwortlich.« »Dann muß Ihre Freude um so größer sein, daß ich dennoch gut darin bin.« »Die Freude hält sich in Grenzen.« Er beugte sich vor. »Sie haben gestern den Schild geflogen?« Sie nickte. »Aus den vorläufigen Ergebnissen geht hervor, daß Sie eine recht gute Leistung erbracht haben.« »Ein dreifaches ›Hurra‹ auf die Methode.« »Ich will nicht verhehlen, daß ein Interfacer ein sehr großes Risiko eingeht, wenn er den Schild fliegt. Zumal der Schild das Steckenpferd einer hochgestellten Persönlichkeit ist.« »Die bestimmt ungenannt bleiben soll.« Er grinste
humorlos. »Der Zufall will es, daß Sie ihm bald begegnen werden. Doch Sie haben recht, fürs erste soll er ungenannt bleiben. Die Wände haben nämlich Ohren. Der Schild ist ein überaus wichtiges Projekt. In einem Probelauf haben Sie alle Interfacer übertroffen, die sich jemals daran versucht haben, einschließlich Ihres kausalen Vorgängers. Dann traten plötzlich Schwierigkeiten bei Ihnen auf. Was das für Schwierigkeiten sind, weiß niemand. Wir haben keine der typischen Anzeichen für pathologische Interface-Trance festgestellt. Keine schlechten Alphas. Keine Endorphin-Überproduktion. Nur eine Panikattacke. Die Sie nun auch wieder zeigen.« Er verstummte und nickte ihr zu. Sie hatte sich nach vorn gebeugt. Die Arme hatte sie durchgedrückt und die Finger in den Rand der Sitzfläche des Stuhls gekrallt. »So ist es um Sie bestellt. Das ist der Inhalt meiner Berichte. Alles läuft wie am Schnürchen, alles im grünen Bereich. Und plötzlich – bumm! – fahren Sie gegen die Wand. Sie steigen aus. Sie fallen auf Null. Das ist mit Ihren Ehen passiert; das berichtet Ihr Gruppenleiter; das ist in beiden Einsätzen unter dem Schild passiert. Sagen Sie mir, Augustine, was glauben Sie, wie es nun mit Ihnen weitergehen soll?« »Ich glaube, ich muß erst den Schild fliegen, um wieder im Glas gehen zu dürfen.« Auf Schroeders Gesicht erschien ein an Mitleid grenzender Ausdruck. »Sie haben also immer noch nicht begriffen, nicht wahr? Sie werden weder im Glas gehen, noch werden Sie den Schild fliegen. Die Staatsraison verbietet es, daß Bürger mit suspekten religiösen Ansichten die Kontrolle über wertvolles Regierungseigentum erhalten. Sie werden nicht mehr als Interfacerin arbeiten, Augustine; sie werden ins Kloster geschickt.« »Ich verstehe nicht. Niemand hat mich bisher zu meiner religiösen Einstellung befragt.«
»Ich fürchte, wir reden aneinander vorbei.« Schroeders Finger huschten über die Tastatur. »Religiöse Korrektheit wird nicht ermittelt, indem man Sie dazu befragt. Sie wird vielmehr mit den Instrumenten für die Persönlichkeits-Beurteilung festgestellt. Ein wichtiger Faktor in der religiösen Evaluation war Ihr Engagement in der Gruppe, und die war unter aller Sau. Und dann war da noch der Selbstmordversuch. Damals sind Sie zum zweiten Mal ausgestiegen.« »Der Selbstmord…?« »Welcher Akt würde der Heiligkeit des individuellen Monaden wohl mehr Hohn sprechen? Welcher andere Akt wäre einsamer, egozentrischer? Der Selbstmordversuch hat uns in die Bredouille gebracht, Augustine.« Schroeder seufzte. »Wir dürfen nicht riskieren, daß das wieder geschieht. Die natürliche Lösung ist das Kloster.« Sie starrte ihn an. »Es schadet nichts, wenn Sie es jetzt schon erfahren. Sie haben mich belogen, als ich Sie nach Ihrer Selbstmordgefährdung fragte, und ich habe die Lüge sofort durchschaut. Sie haben keine Geheimnisse. Das sollten Sie bei all Ihren Handlungen berücksichtigen.« Sie betrachtete ihre Hände. »Ich glaube nicht, daß ich in einem Kloster gut aufgehoben bin.« »In diesem werden Sie gut aufgehoben sein. Es hat sich auf verlorene Schäfchen spezialisiert, insbesondere solche mit technischen Fähigkeiten. In anderen Worten, es handelt sich um eine Besserungsanstalt für Tekkie-Unruhestifter. Man erwartet von Ihnen, daß Sie Ihre berufliche Kompetenz fortentwickeln. Sie werden dort reichlich Gelegenheit haben, Glas zu machen.« Sie atmete durch. Dann nickte sie. »Ich glaube, damit wäre alles gesagt.« Er lehnte sich zurück und lächelte. »Noch Fragen?« »Werde ich Sie regelmäßig sehen?«
»Sie mögen mich nicht besonders, was?« »Nein.« Er nickte. »Gute Instinkte.« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Für einen langen Moment musterte er sie wie ein Museumsbesucher, der den Inhalt einer Vitrine in sich aufnimmt. »Nein, ich glaube nicht, daß wir uns oft sehen werden. Worum ich Sie aber bitten möchte, ist, daß Sie Tagebuch für mich führen. Für die meisten Leute ist das lästig. Aber vielleicht können wir uns Ihre neu erwachte sprachliche Kompetenz zunutze machen. Würden Sie das für mich tun?« »Wenn dadurch die Häufigkeit der Sitzungen und die Zahl der Mentoren verringert wird.« »Das wird es.« »Möchten Sie Kopien der Tagebuchseiten haben?« »Nur keine Umstände. Ich werde auch so wissen, was drinsteht. Ich muß Sie außerdem darauf hinweisen, Ihre Medikamente vorschriftsmäßig einzunehmen. Wir überwachen das natürlich, aber Sie sollen den Grund dafür wissen. Wären Sie damit einverstanden, daß ich für einen Moment in die Fachsprache wechsle?« »Bitte.« »In Ihrem Kopf krabbeln kleine Dinger herum.« Schroeder machte eine Geste, als ob er sich am Ohr kratzen wollte. »Winzige Computer mit der Bezeichnung molekulare Automata. Wir haben sie benutzt, um all die schönen Erinnerungen in Ihnen zu deponieren. Reden wir Klartext. Es wäre viel zu aufwendig, sie einzeln rauszuholen. Deshalb verwenden wir sie für die Kontrolle und Regelung der Gehirnchemie. Und wir spülen sie peu á peu mit Medikamenten aus. Vorwiegend mit Plaina. Also müssen Sie Ihr Plaina regelmäßig nehmen, oder die kleinen Kameraden werden nicht ausgeschwemmt. Wenn Sie Ihre Plaina-Dosis stark unterschreiten, werden sie irgendwann Amok laufen. Nehmen Sie die vorgeschriebene Dosis ein, werden sie
innerhalb eines Monats verschwunden sein.« Er musterte sie aufmerksam. »Sie machen aber keinen glücklichen Eindruck.« Sie starrte ihn an. »Ivy? Stellen Sie gerade eine Verbindung her?« Sie holte Luft. »Ich werde die Dosis einhalten.« »Gut. Dann ist das Gespräch beendet.« * Mister Existenz beschied sie folgendermaßen: »Er ist Ihr persönlicher Therapeut, und diese Dinge stehen in seinem Ermessen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf deswegen. Schärfen Sie den Fokus. Gehen Sie ins Kloster, wenn der Ruf an Sie ergeht. Und verrichten Sie Ihr Tagwerk, wenn das von Ihnen verlangt wird. Was Sie nun erwartet, ist die freudvolle Aufgabe, sich einen Platz in der Welt zu schaffen. Es wird kein leichter Aufstieg werden, doch denken Sie daran, welch ein lichter Moment Sie auf dem Gipfel erwartet.« Sie folgte seinem Fingerzeig. Er schien wirklich nach unten zu weisen, auf ein großes Bauwerk am Anfang der Fulton Street. Es war der Megalith, Sitz des gefürchteten Ministeriums für Personen, ein schwarzer Steinkubus von deprimierender Schlichtheit. Sie sah weder Türen noch Fenster. Zumal, so wurde gemunkelt, die wenigsten Besucher das Gebäude wieder verließen. »Das Ministerium für Personen?« fragte sie. »Nein.« Er schien den Klotz nicht zu goutieren. »Der Bau dahinter.« Er hatte nämlich nicht aufs Ministerium für Personen gezeigt, sondern auf das von einer Kupferkuppel gekrönte Gebäude auf der anderen Seite von Van Ness. Dies war das Ministerium für Monaden. »Sie müssen sich ein gewisses Vertrauen bewahren und im Glauben fest bleiben. Wenn Sie hart arbeiten, wenn
Sie sich verändern, zu Reife und Verständnis gelangen, wird jemand hocherfreut sein. Ein Wohltäter. Einer, der möchte, daß Sie Ihr großes Versprechen erfüllen.« Sie schaute auf die Kuppel. »Um wen handelt es sich?« »Sie werden ihm morgen begegnen.« * In jener Nacht probierte sie den Datenport aus und rief ein neues Programm auf. GUTEN ABEND. ICH BIN MISTER FRAGENMANN. BITTE RICHTEN SIE ALLE FRAGEN AN MICH, DIE SIE GEGEBENENFALLS ZUM ROSEN-KONGLOMERAT HABEN, INSBESONDERE ZU IHREM HEIM HIER IN SAN FRANCISCO UND IHRER UNTERKUNFT HIER IM MARINEARSENAL. Sie überlegte kurz und gab dann ein: WIESO HEISSEN SIE MISTER FRAGENMANN? ES GIBT EINE NOMENKLATUR FÜR KIS. KIS VIERTEN GRADES HEISSEN NORMALERWEISE ›MISTER SO-UNDSO‹. WOBEI SO-UND-SO IHRE FUNKTION BEZEICHNET. KIS FÜNFTEN GRADES TRAGEN DEN TITEL ›SIR‹ BEZIEHUNGSWEISE ›LADY‹. KIS SECHSTEN GRADES, DIE DAS HÖCHSTE ANSEHEN GENIESSEN, SIND ÜBER TITEL ERHABEN. SIE HABEN NUR EINEN NAMEN. MEIN NAME IST MEINEM STATUS UND MEINER FUNKTION ANGEMESSEN. WAS IST EIN MONADE? Gab sie dann ein. EIN MONADE IST DIE LETZTE UNTRENNBARE EINHEIT DES SEINS, VOR ALLEM IN DEN PHILOSOPHIEN VON LEIBNIZ UND CHARLES VON DER ROSE. BEI LEIBNIZ’ PLURALISTISCHEM ANSATZ VERFÜGT JEDES INDIVIDUUM ÜBER EIN LETZTES, UNTEILBARES KOMPLEMENT MIT DER BEZEICHNUNG MONADE, UND JENE MONADEN, GESEGNET MIT UNTRÜGLICHER WAHRNEHMUNG UND PRÄZISER ERINNERUNG, SIND SEELEN.
WEIL EINE MONADE KEINE TEILE HAT, VERMAG SIE AUCH KEINE TEILE MIT ANDEREN ZU TEILEN. MONADEN SIND DIE LETZTE UNERREICHBARE EINHEIT DES EINZIGARTIGEN INDIVIDUUMS. ÜBER UND OBERHALB DER MONADEN INDES STEHT EINE NOCH EINFACHERE EINHEIT, DIE EINHEIT, DIE ALLE ANDEREN EINHEITEN HERVORBRINGT. SIE IST GOTT. IN CHARLES’ SYSTEM VERSCHWINDET DIESE EINFACHERE EINHEIT JEDOCH, UND DIE MONADE WIRD IHR EIGENER SPIRITUELLER LEBENSQUELL, DER ZIRKELSCHLUSS UNSRER VERVOLLKOMMNUNG AUS EIGENER KRAFT – IN EINEM WORT, IHR EIGENER GOTT. CHARLES SCHREIBT: Wir sind Monaden, verloren in cybernetischer Nacht, und ein jeder von uns erstreckt sich in seiner bedrückenden Präsenz in die Unendlichkeit eines nur in der Vorstellung existierenden Universums. Ein jeder ist ein kleines Licht in einem unendlichen Glaskolben, eine Seele, die der cybernetischen Einheit ein Solo-Ständchen darbietet, von Zeit lebend und unendlich einsam in ihrer Vollständigkeit. Es ist diese Paradoxie, eine Vollständigkeit, die sich dennoch einsam fühlt, die Ursprung unsrer Göttlichkeit und Unvollkommenheit zugleich ist. Es ist diese Paradoxie, derentwegen unser Gott sein Lied der Schöpfung singt und danach trachtet, sich in dieser Einheit selbst zu genügen. Daraus resultiert der Absturz in die Existenz, in die Materie, die Mühsal und den Schmerz des Alltagslebens und das Streben nach einer Selbsterkenntnis, die nie erreicht werden wird.
7 Das Diebes-Tagebuch Man sollte sich in Erinnerung rufen, daß, wenn die Massen in jeder Epoche aus diesem oder jenem Grund am öffentlichen Leben teilgenommen haben, dies in der Form ›direkter Aktion‹ stattgefunden hat. Dies ist mithin der natürliche modus operandi der Massen. Ortega Y Gasset AUFSTAND DER MASSEN
Augustine erreichte den Platz des Friedens um drei Uhr nachts. Ihre Reinigung würde eine halbe Stunde später stattfinden. »Fürs erste«, hatte Mister E. ihr gesagt, »müssen Sie nur dem Weg folgen.« Der Weg führte sie zur Bushaltestelle Fulton Street. Sie setzte sich in die vorderste Reihe. Durch die schräge Windschutzscheibe hatte sie einen guten Blick über die mit holographischen Reklametafeln gesäumte Straße bis zum Platz des Friedens, wo sie ihre neue Karriere mit einem Läuterungs-Gebet beginnen würde. Der vordere Abschnitt des Platzes bestand aus einer Ansammlung schwarzer Gebäude, zwischen denen ein Netz aus von Hecken gesäumten Pfaden sich erstreckte und die von einem hohen Metallzaun umgeben wurden. Im Zentrum stand der Megalith. Um den Megalithen waren Gebäude arrangiert, die andere Module der Rosen-Regierung beherbergten: Der wuchtige Keil des Handelsministeriums, eine dreiseitige Pyramide mit einer verkürzten Kante, der an einen die Wellen teilenden Schiffsbug gemahnte; die imposante Kuppel des Ministeriums für Staatssicherheit; die verbundenen Dominosteine des Arbeits-, Polizei- und Informationsministeriums, deren Fassaden mit rotem
Stuck und Inschriften verziert waren. Und ein halbes Dutzend mehr. Die Van Ness Avenue teilte den Platz des Friedens in zwei Areale. Der Megalith befand sich im vorderen und das Ministerium für Monaden im rückwärtigen Bereich, was die traditionelle Teilung der Rosen-Mächte in die Rose und die Linse widerspiegelte. In die Zuständigkeit der Linse fielen Reinigung und persönliche Stärke, die spirituelle Führung des säkularen Staats. An diesem Ort wurden die Läuterungs-Gebete gesprochen. Um das Ministerium für Monaden zu erreichen, mußte man erst den Metallzaun abschreiten, der die MegalithHälfte des Platzes eingrenzte und dann Van Ness überqueren. Sie hatte den Gehweg kaum betreten, als das Weiße Rauschen über ihr zusammenschlug. Irgendwo in der Nähe mußte eine große Menschenmenge sein. Ihr erster Gedanke war, daß das Läuterungs-Gebet während einer Waffenstillstandsfeier angesetzt war. Das würde bedeuten, daß sie den Weg umsonst gemacht hatte. Diese Vorstellung ärgerte sie. Dann bog sie um die Ecke und wurde eines Besseren belehrt. Auf Van Ness war ein Zug von Rosen-Sicherheits-kräften ausgeschwärmt. Die Soldaten hatten die Säbel gezogen und wichen vor einer aufgebrachten Menge zurück. Sie starrte auf die Säbel. Das Geräusch in ihrem Kopf glich dem Summen einer auf Touren kommenden Maschine. Ich spielte schon mit dem Gedanken, Calmativa auszuschütten, doch barg diese Lage ein größeres Gefahrenpotential als eine banale Befindlichkeitstrübung. Ich gab Rot-Alarm für die Spione. Die Menge geriet in Aufruhr. Die vorderen Reihen stießen schrille Triumphschreie aus. Zwei Sicherheitskräfte ergriffen die Flucht, und ein Strom jubelnder Menschen flutete durch die Bresche. Ein Soldat ging zu
Boden und wurde niedergetrampelt. Augustine wurde von der Menge mitgerissen und entfernte sich von Van Ness. Sie wurde zur unfreiwilligen Mitläuferin und hörte die Leute skandieren: »Die Märkte gehören den Nomaden!« Der Boden erzitterte. Sie drehte sich um und sah einen rotblauen Panzer durch die Menge pflügen. Er war so nah, daß sie sogar das dumpfe Klatschen hörte, mit dem er die Leiber niederwalzte. Ein schreiender Mann versuchte sich an Augustine festzuhalten, ehe die Kette des Panzers ihn am Hosenbein erfaßte und fortschleifte. Ich schickte Botschaften ans Ministerium für Monaden, den Rosen-Sicherheitsdienst, Schroeder und ans Ministerium für Personen. Die Computer, die durch diese Nachrichten aktiviert wurden, waren weniger als zweihundert Meter von Augustines Position entfernt. Es hätten genauso gut zweihundert Meilen sein können. Das ganze Experiment stand wegen eines dämlichen Flüchtigkeitsfehlers auf der Kippe. Ich bereitete mich auf die Erfahrung des Todes vor. Ich ließ sie laufen. Ich überließ es ihrer körpereigenen Chemie, das Adrenalin auszuschütten. Ich sorgte dafür, daß ihre eigene Angst sie antrieb. Ich sorgte dafür, daß sie Angst um uns beide hatte. Ich spürte, wie die Müdigkeit mir in die Beine kroch, spürte, wie Entsetzen die Müdigkeit verdrängte und den Schmerz, den der Sieg kostet. Zum erstenmal überhaupt mußte ich um Luft ringen und gegen Panik ankämpfen, als die Menge über mir zusammenschlug und mir die Luft aus der Lunge gepreßt wurde. Gemeinsam kämpften wir uns zwischen einer Frau und einem Jungen durch; gemeinsam schnappten wir nach Luft. Das aus Zorn und Zagen geborene Wimmern kam von uns beiden. Ein zweiter Panzer rumpelte vorbei; Augustine sah, wie ein Mann über die Köpfe der Menge geschleudert
wurde; sie sah, wie ein anderer fiel und von den Ketten zermalmt wurde. Als sie über die Schulter blickte, erkannte sie eine ganze Panzerkolonne. Am Zaun auf der anderen Seite von Van Ness hielt der Panzer an. Das Gros der Menschen flutete zurück auf Van Ness, und dieser Strom preßte uns wieder gegen die eisernen Zaunstangen. Soldaten in Tarnanzügen quollen aus dem Führungspanzer. Ich gab weitere Alarmmeldungen durch und setzte das Netz förmlich in Brand. Die Schreie wurden lauter, als die Soldaten in Keilformation vorstießen. An der Spitze des Keils erkannte sie wirbelnde Arme und blaue Lichter: Lichtsäbel. Wir bahnten uns mit neuem Elan den Weg, machten einen Fuß Boden gut und steckten wieder fest. Körper preßten sich mit der gleichen unwiderstehlichen Gewalt an uns, mit der die Flutwelle der Angst über die Menschen hinwegraste, die dem Keil direkt gegenüberstanden. Dann spürten wir die metallenen Stangen des Zauns im Rücken. Sie sah den blauen Keil näherrücken. »Laßt das Kind gehen«, sagte eine alte Frau, und Augustine stieß einen wilden, unartikulierten Wutschrei aus, um die Stimme zu verjagen. Und sie verschwand. Die Säbel waren nun bedrohlich nahe. Die dumpfen Hiebe übertönten bereits die Schreie der Menge. Sie quetschte sich förmlich zwischen die Gitterstäbe und arbeitete sich zum Tor vor. Eine blaue Wand loderte auf, erlosch wieder und hinterließ einen Sprühnebel aus Blut. Sie schloß die Augen und wurde angerempelt. Dann schwang das eiserne Tor hinter uns auf. Augustine wurde von vier Soldaten mit gezogenen Säbeln in die Mitte genommen. Der größte klappte das Visier hoch und fragte: »Augustine. Richtig?« Natürlich, es war ihre Kleidung. Die wenigsten Nomaden-Renegaten trugen nämlich T-Shirts im Tek-
kie-Stil mit saublöden Sprüchen (›Hau weg den Dreck! Mach ihnen Feuer unterm Glas! Jupp Zupp in den Rosentag!‹), ganz zu schweigen von Sonnenbrillen mit neonrot getönten Gläsern. Letzten Endes war es dieser Aufzug, der ihr das Leben rettete. Die Soldaten grinsten unter den Visieren der polierten Helme. Der Anführer nahm ihren Datenport und aktivierte mit einer Hand das ID-Display, während er in der anderen noch den Lichtsäbel hielt. Sie atmete auf, als der Name Augustine erschien. In der Nähe schrie ein Hauptmann in einer schmutzigen Uniform Befehle und wies einen Mannschaftstransporter ein, der vor Gewehrläufen starrte. Eine Kavalkade Motorräder zog sich vom Tor bis zu den Stufen des Ministeriums hinauf. Drei Soldaten in schwarzer Uniform wären fast noch übereinander gestolpert beim Versuch, die pinkgraue Flagge der Theokratie zu hissen. Ein Bürokrat hastete an ihnen vorbei und wedelte mißbilligend mit einer Diskette. Der Soldat stieß die Karte in ihre aufgehaltene Hand. Mit der freien Hand klappte er das Visier hoch. »Das gebe ich Ihnen später zurück.« Er wog das schwarze Oval des Datenports in der Hand. Schweißperlen glitzerten unter den Augen. »Doch bevor ich es Ihnen aushändige, will ich Ihnen noch eine Nummer geben. Ich habe nämlich eine Schwäche für Frauen, die des Lesens kundig sind.« Lässig schwang er den Lichtsäbel und schob ihn unter den Arm. Dreh und drin, haben Sie gesehen? Ich hab den Bogen raus. Er lächelte. Um sich zu motivieren, das Lächeln zu erwidern, stellte sie sich diesen ›Dreh-und-drin‹-Trick bei eingeschaltetem Prallfeld vor. Er schob eine andere Karte in den Schlitz des Datenports. »Sie dürfen mich jederzeit anrufen, Schatz.« Er winkte
einem der Soldaten an der Sperre des Kontrollpunkts. »Kümmern Sie sich um meine kleine Freundin. Ministerium für Monaden.« Er wandte sich ab und verschwand in einem Schwarm blauer Uniformen. An der Pforte des Ministeriums wurde sie erneut einer Kontrolle unterzogen, diesmal von einem Prätorianer der Rose. Der Posten machte einer kleinen jungen Frau Meldung, welche das rote Gewand eines Dekans trug. Augustine folgte ihr über eine Treppe zum Hintereingang des Ministeriums. Auf dem zweiten Treppenabsatz hielt der Dekan vor einem Portrait inne, das die ganze Wand einnahm. Auf ein entsprechendes Zeichen der Frau hin trat Augustine ein paar Schritte zurück. Das Bild zeigte einen buckligen jungen Mann vor einem Hintergrund aus Steinquadern, der an einer Säule aus Licht zu einem vergitterten Fenster emporschaute. Die dunklen Augen glänzten. »Ist schon komisch«, sagte der Dekan. »Dieses Bild soll eigentlich große Traurigkeit ausdrücken. Doch immer, wenn ich daran vorbeigehe, bekomme ich eine Gänsehaut und bin überhaupt nicht traurig.« »Ich weiß, was Sie meinen.« Augustine war sich nun sicher, daß es sich um Charles von der Rose handelte, ohne Zweifel in der Periode der Gefangenschaft. Im zweiten Stock führte der Dekan sie durch ein Labyrinth aus Korridoren zu einem kleinen Büro mit einer Bank und einer Glasscheibe als Fenster. Von dort hatte man einen Blick auf den schwarzen Kubus des Ministeriums für Personen. Direkt unter sich sah Augustine die Van Ness Avenue und die schwärmende Menge. »Dekan Fell wird in Kürze eintreffen.« Das Areal um den Eisenzaun, vor dem die Menge sich drängte, war schon dunkel; auf dem dahinter liegenden Marktplatz jedoch hatte der Tag immer noch die diffuse Helligkeit eines ty-
pischen San-Francisco-Nachmittags. Der Platz wurde von drei Türmen verteidigt, die jeweils mit einer Abteilung von Mitarbeitern der Staatssicherheit besetzt waren. Ein kreideweißes Flutlicht bestrich die Menge, schwenkte auf den schwarzen Kubus ein und strahlte ein ovales Gesicht an, bis es schließlich weiterwanderte. Es dauerte eine Weile, eine entsprechende Frage zu formulieren, doch Mister Fragenmann beherrschte sein Metier. Diese Dunkelheit wurde von einem speziellen Feld erzeugt, welches das Licht beugte und filterte. Mister Fragenmann ließ außerdem durchblicken, daß die Felder auch als Träger für handfestere Effekte dienten. Die Tür ging auf, und sie drehte sich um und machte sich bereit, den Dekan zu begrüßen. Nur daß kein Dekan eintrat. Sie hörte ein Gemurmel auf dem Korridor. Sie ging näher zur Tür. »Danke. Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, Dekan. Möchten Sie als Dritte Beisitzende beim Läuterungs-Gebet zugegen sein?« »Es wäre mir eine Ehre, Euer Gnaden.« Die Tür schwang auf, und ein großer grauhaariger Mann trat ein; der Dekan folgte einen Schritt hinter ihm. Die Soutanen hatten den gleichen Rotton, doch wiesen der breitkrempige Hut und der höhere Kragen den grauhaarigen Mann als eine höhergestellte Persönlichkeit aus. Er war in den Sechzigern, schlank und breitschultrig. Rosige, fleckige Haut schimmerte durch das schüttere silberne Haar. Das Gesicht war verwittert, und die Hände waren weich. Der juwelenbesetzte Ring an der linken Hand war über das Gelenk des Ringfingers gerutscht. »Guten Abend, Ms. Augustine. Ich bin Colin Ardath, Chef-Semantiker des Rosen-Konzils.« Sie wurde blaß, stammelte etwas und holte erst einmal
Luft. »Verzeihung, Euer Gnaden« – so hatte der Dekan ihn zumindest angeredet. »In diesem Zwielicht habe ich…« »Das ist schon in Ordnung, Ms. Augustine.« Er tat ihre Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Wir sind der Ansicht, dieses Zwielicht dient der Kontemplation. Zudem befriedigt es meine Eitelkeit. Und machen Sie es sich doch bitte bequem. Es ist mein Amt, dem Respekt gebührt, nicht meiner Person.« »Ja, Euer Gnaden.« Sie setzte sich auf den Platz am Fenster, den er ihr mit ausgestreckter Hand angewiesen hatte. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin mir nicht sicher, welches Protokoll einem Semantiker angemessen ist.« »In Anbetracht Ihres Unfalls ist das auch kein Wunder.« Dann lachte er glucksend und sagte: »Nennen Sie mich Colin.« »Euer Gnaden?« Sie sah, daß der Dekan, der sich in den Schatten zurückgezogen hatte, lächelte. »Vielleicht sollten wir die Formalitäten erst einmal zurückstellen. Als Chefsemantiker der Theokratie bestätige ich hiermit, daß es für Kommunikation nicht mehr als eines Pronomens der zweiten Person bedarf.« Er trat zu ihr ans Fenster. »Und was sagen Sie dazu?« Die Menge schien sich inzwischen etwas beruhigt zu haben. Zwei Flutlichter waren auf eine Gestalt im Zentrum gerichtet. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« Er nickte bedächtig. »Sie sind nicht mit dem kürzlich geschlossenen Frieden einverstanden. Seltsam, daß Frieden solchen Unfrieden stiftet. Es scheint fast… widersprüchlich.« Nun erkannte sie einen tiefblauen Keil über der Menge. Ein Flutlicht schwenkte auf den Keil zu, traf ihn und hielt inne. Der Blick auf die Trennlinie zwischen weißem und blauen Licht schmerzte die Augen.
Sie blinzelte und wandte den Blick ab. Die Straßenlampen auf der Market Street wurden von einem dunstigen Schleier verhüllt. Die Abendnebel senkten sich. »Manche Leute wollen simple Konzepte nicht akzeptieren. Frieden als das höchste Gut für die größtmögliche Anzahl von Menschen. Sie haben sich einen denkbar ungünstigen Moment ausgesucht, um ihre Interessen zu vertreten.« Er lächelte sie an. »Sie sind zu einer weiten Reise aufgebrochen. Und Sie werden vielleicht große Taten vollbringen.« Sie holte tief Luft und schaute ihm in die blauen Augen. »Sie haben vor zwei Tagen den Schild ausprobiert?« Sie nickte. Ein helleres Blau erschien im Zentrum des blauen Konus. Die Menge geriet in Wallung. »Und Sie haben eine gute Leistung erbracht. Eine sehr gute, wie man mir gesagt hat.« Eine strahlend blaue Säule zog sich vom Mittelpunkt des Kegels zum Boden. Die Menge wich vor ihr zurück. »Man hat mir auch gesagt, daß Sie noch Feinschliff benötigten, und nicht nur in Ihrem Handwerk. Man hat mir gesagt, Sie brauchten eine Gelegenheit, Ihr spirituelles Leben zu bereichern. Ich glaube, wir haben einen hierfür geeigneten Ort. Sie haben enormes Talent, Ms. Augustine. Und was Sie mit Talent allein nicht erreichen, erreichen Sie mit Freunden. An Ihrem Fortschritt bin ich nämlich besonders interessiert.« Nun zerstreute die Menge sich, und der blaue Konus expandierte hinter den Leuten. Mit zunehmender Größe schlug er Breschen in die Dunkelheit und verschluckte die Strahlen der Flutlichter. Zuckende Nebel-Tentakel, die durch die Strahler zu virtuellem Leben erweckt wurden, liefen im blauen Zentrum zusammen. »Nun lassen Sie uns das Läuterungs-Gebet sprechen.« Er faßte sie an den Händen. »Sie wissen, daß das ge-
meinsame Gebet unsre Gemeinschaft zusammenhält.« »Gewiß.« »Deshalb ist es aber nicht weniger widersprüchlich.« »Ach?« »Jeder von uns hat seinen eigenen Gott. Mein Gott ist nicht Ihr Gott, und Ihrer wird meinen nie hören. Wenn ich nun mit Ihnen bete, ist das deshalb bestenfalls ein non sequitur. Sie wirken verwirrt.« Er lächelte. »Euer Gnaden, ich bin auch leicht verwirrt.« »Wenigstens sind Sie ehrlich. Das gibt immerhin Anlaß zur Hoffnung.« Er führte ihre Hände zusammen und streckte die Finger aus. »Verwirrung ist das Herz der Materie. Ich bin der Führer einer weltlichen Religion. Meine Aufgabe ist es, ein Bürokrat zu sein, ein rationaler Interessenvertreter des Staats. Genauso wichtig ist aber, daß wir einen Konsens hinsichtlich des Ziels erreichen. All unsre kleinen Theologien müssen ein Mindestmaß an Solidarität aufweisen. Schauen Sie nun nach draußen.« Die Menge hatte sich fast völlig aufgelöst. Der wie ein Derwisch wirbelnde blaue Kegel hatte sie verscheucht. Mit dem Zeigefinger wies er auf den Megalithen. »Sie wissen auch, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Interfacer einen besonderen Platz in der Welt einnehmen. Sie sind nicht nur ein Wächter der Information; sie sind ihr Schöpfer. Aus diesem Grund haben Sie eine besondere Bestimmung.« Er senkte den Kopf. Augustine schaute unverwandt in die Richtung, die er ihr gewiesen hatte: Auf den Megalithen. »Mutter der Nacht, gib deiner Dienerin Kraft, auf daß sie unbeirrt auf dem Pfad voranschreiten möge, den du für sie bestimmt hast. Mutter Monade, halte das Glas glatt, auf daß sie es mit Leichtigkeit durchdringe, um in deine vollkommene Dunkelheit einzutauchen. Laß dieses winzige Selbst mit der Hilfe großer und kleiner
Maschinen, die nach deinem Ebenbild erschaffen wurden, zu wahrer Größe gelangen, Mutter, und laß dieses maschinenunterstützte Selbst frei in der Dunkelheit umherstreifen. Und so es denn dein Wille ist und sie sich in deinem perfekten Auge als würdig erweist, nimm sie in dich auf, einsam in dieser einsamen Vollkommenheit, vor der alles Licht verblaßt.« * Einsam in dieser einsamen Vollkommenheit sah sie das Licht verblassen und führte ihr maschinenunterstütztes Selbst auf dem Ocean Beach nach Süden. Der Himmel changierte zwischen türkisfarben, lachsrosa, limonengrün und zinngrau. Die weiße Sonne stach ihr in die Augen, doch wandte sie den Blick erst dann ab, als ich sie dazu zwang. Dann schaute sie wieder in die Sonne, und wir kabbelten uns für eine Weile, wobei ihr Blick zwischen Sonne und Sand hin- und hergerissen wurde. Bis sie schließlich einen Schrei ausstieß. Der Datenstrom von meiner Alter-Augustine faserte aus: Zahlen, Zeiger auf verlorene Reihen, glitzernde Wracks binärer Codes. Der Schrei hielt für viele Sekunden an. Eine Möwe flog auf sie zu, und sie ließ ihren Zorn an dem Vogel aus, mit rotem Gesicht und von Schluchzen unterlegt. Schließlich drehte die Möwe wieder ab. Augustine stolperte, und ich ließ sie fallen, und für eine Weile saßen wir beide schluchzend am Strand. Bei meiner Alter-Augustine setzte ein Wachstumsprozeß ein, und sie durchlief eine verhängnisvolle spiralförmige Sequenz von Schleifen. Ich brachte den Daten-Strom zum Versiegen. Meine Spione verstummten. Als die Stille schließlich unerträglich wurde, hoben wir ihren Kopf, um das letzte Aufflackern der am Horizont versinkenden Sonne zu betrachten.
Viel später, mitten in der Nacht, stand sie auf und marschierte weiter. Ich weiß nicht wieso. Ich will es auch gar nicht wissen.
KAPITEL 2
GEDÄCHTNISOPERATIONEN
Ihr müßt nun endlich begreifen, von welchem Universum ein Teil Ihr seid, die wahre Natur des Herrn des Universums, von dem euer Sein ein Teil ist und daß euch nur eine begrenzte Zeit gewährt wird, die, so ihr sie nicht nutzt, um die Wolken über eurem Geist zu vertreiben, vergehen wird, und ihr werdet vergehen, und sie wird nie wiederkehren. Marcus Aurelius MEDITATIONEN
1 Augustines Tagebuch Die Regenzeit. Ich gleite durch die Stadt, von Kunststoff ummantelt. Manchmal zucke ich an einer verschwommenen Kreuzung zusammen, geblendet vom Sonnenlicht, das auf den Asphalt plätschert. Gebäude kräuseln sich wie ein Wüstenboden. Streulicht in allen Farben des Regenbogens spielt um die Autoscheinwerfer. Ein Regentropfen vergrößert einen Kopf mit einem braunen Hut und läuft dann an der Fensterscheibe hinunter. Eine Stadt aus Milchglas. Um drei senken die schweren Nebel sich und löschen alles aus, was sich ihnen in den Weg stellt. Früher oder später muß man sich mit den Gegebenheiten arrangieren. Mit dem Umstand, daß Lichtsäbel dazu gemacht sind, um mit einem Streich zu töten. Mit der Überlegung derjenigen, die sie herstellen. Denn ein Lichtsäbel ist im Grunde ein elektronischer Knüppel. Ein Zugeständnis an die Bedeutung persönlichen Kontakts in diesem Zeitalter der Waffen mit hoher Durchschlagskraft und hoher Streuung. Ich halte den Datenport vor die Augen und versuche den Tanz der Knüppel in der Menge zu verfolgen. Ich versuche mir vorzustellen, was für ein Gefühl es wohl wäre, von ihnen niedergestreckt zu werden und daß ich einfach zu Mister Fragenmann sage: ›Stellen Sie sich das für mich vor. Rufen Sie Ihren Q-Print auf und machen Sie einen Eintrag.‹ Ich strapaziere meine Vorstellungskraft, doch die Menge und die Lichtsäbel wollen partout nicht erscheinen; statt dessen verschlägt es mich wieder an den Strand. Wo ich den Blick auf die kristalline Scheibe der Sonne richte. Der Kribbel-Reiz des gegen das fahle Orange schwappenden Wassers ist sehr angenehm, und ich nehme genau die Körperhaltung ein, als ob ich Glas penetrieren würde. Ich spiele mit den Geistern der
schimmernden Fläche. Impulsiv wende ich den Blick ab. Doch die Versuchung ist zu groß, und ich schaue wieder hin. Und wieder überkommt mich der unerklärliche Impuls, den Blick abzuwenden. Ich reiße mich zusammen und starre unverwandt in die Sonne. Nach einem Moment, ohne daß ich wüßte, wieso, mustere ich erneut den Sand. Ich bin am Kopf operiert worden. Ich habe einen Anspruch darauf, gelegentlich neben der Kappe zu sein. Ich schaue wieder zur Sonne. Ich weiß nicht, wie lange ich diese Komödie aufführe, bis ich schließlich in Tränen ausbreche. Ich versuche, an ein Hauen und Stechen mit Lichtsäbeln zu denken, doch statt dessen denke ich an einen Sonnenuntergang, den ich nie gesehen habe. Schließlich denke ich doch an Lichtsäbel, nur daß dieser meine Wange berührt, und die Hand, die am Schalter fürs Inertialfeld herumfummelt, ist meine eigene. Ich denke, daß im letzten Moment der Impuls mich überkam, den Lichtsäbel wegzuwerfen und wie Schroeder mich deshalb zurechtgewiesen hat. Sie haben keine Geheimnisse vor uns, wiederholt er. Ich beschirme die Augen mit der Hand. Am Strand, die Sonne imaginierend. Im Arsenal, mit dem Lichtsäbel. Nun hebe ich den Datenport. Schroeder erzählt mir von den kleinen Maschinen in meinem Kopf. Der Tadel, der Ausdruck gespielter Strenge auf seinem Gesicht. Sie haben uns in die Bredouille gebracht. Wäre es möglich, daß sie imstande sind, sozusagen per Fernsteuerung meine Hand zur Faust zu ballen, meinen Kopf zu senken, mich zum Weinen zu bringen? Zorn wallt in mir auf, doch begreife ich auch in einem Moment, der so klar ist wie diese kristalline Scheibe, welche Kleingeister das sind, rügen mich wegen eines Selbstmordversuchs, den ich ein paar Minuten unternommen habe, nachdem sie mir mit den übelsten Bestimmungen der Personseins-Statuten gedroht
hatten. Ein frustrierender Job, keine Frage. Nun verstehe ich die Lichtsäbel viel besser. Früher oder später muß man sich mit den Gegebenheiten arrangieren. Man muß die Dinge erkennen und sie fühlen und sie schmecken und sich ihnen stellen. Man muß nicht alles verstehen. Aber man muß die Augen offenhalten. Manchmal, wenn ich die Augen auf die Sonne richte, sind sie blind. In der letzten Woche war ich nicht einmal dazu fähig, in den Spiegel über dem Waschbecken zu schauen. Welche Wohltat, von hier zu verschwinden. Es ist das größte Geschenk überhaupt, dorthin zu gehen, wo es Glas gibt. Ins Kloster. Die Bestätigung ist eingetroffen. Ich werde morgen ins Kloster gehen. Weit weg von hier. In der Sierra. Der Koffer steht schon in der Eingangshalle. Es gibt keine Türen in diesem Wohnheim. Privatsphäre, so sagt Mister Existenz mir, sei ein Privileg, das man sich erst verdienen müsse. Mit kühnem Herzen und sicherer Hand. Ich habe noch immer kein Zeitgefühl. Darf auf keinen Fall den Zug verpassen wegen dieses Tagebuchs. Gestern morgen versuchte ich für ein paar Minuten Gitarre zu spielen. Natürlich entlockte ich dem Instrument keine Musik, doch als ich zum Fenster hinaus schaute, ging bereits die Sonne unter. Sogar in dieser onyxfarbenen Stadt setzt die Dämmerung nicht vor fünf Uhr nachmittags ein. Das Kloster beherrscht indes nicht mein ganzes Denken und Handeln. Ich sage mir, daß ich nur für eine Weile fortgehe. Kein gnädiges Vergessen. Nur Vergessen. Ich kenne ein probates Heilmittel. Was mich gestern zurückgerufen hatte, waren weder die Dunkelheit noch die
Geräusche, als meine Finger an den Saiten gezupft hatten. Es war die Nadel. Nicht einmal die Magenschmerzen, die von der langen Warterei zwischen den Geschmacksreizen kommen, weder das Zerren in meinen Muskeln noch der rastlose Tanz, den mein Körper vollführt. Nur die Nadel. Wartet würdevoll in ihrem schwarzen Etui. Wie ein perfekter Butler. Hört zu. Ich habe keine Schwierigkeiten, mich an Dinge zu erinnern. Ich weiß, daß es ein über eine Million Meilen langes Schienennetz auf diesem Kontinent gibt. Ich weiß, daß wir die Weltmeere regelmäßig im Ballon überqueren. Und ich weiß, daß große, elegante Limousinen nach Immobilien das zweitgrößte Statussymbol sind. Ich weiß, daß die Nomaden-Kaufleute immer gefährlich gelebt haben in der Stadt und daß für Nomaden immer eigene Gesetze in der Stadt gegolten haben. Ich erinnere mich sogar vage, daß Mannie mich zweimal sponsern mußte, um mich überhaupt unter die Haube zu bringen; und ich weiß, daß ich meine Interfacing-Lizenz doppelt so oft erneuern lassen muß wie die Einheimischen. Ich weiß, daß im Krieg wegen der Lebensmittelknappheit die Nomadenmärkte immer wichtiger und die Nomaden selbst immer mächtiger wurden; und ich weiß auch, daß diese Zeiten irgendwie vorbei sind. Und ich weiß, was Panzerketten aus menschlichem Fleisch und Knochen machen. Das Beste unter Glas ist die absolute Stille. Schon zehn-fünfzehn. Ich habe noch etwas Zeit, doch bald wird der Unteroffizier vom Dienst kommen und mich zum Bus führen. Gestern hatte der UvD mir schon ein paar große Kartons und Behältnisse vorbeigebracht. Ich mußte mit meiner Karte quittieren. Eine ernste Sache, denn das dokumentiert den Transfer von Eigentum. Wie es scheint, bin ich eine Erbin.
Eine kausale Erbin. Erbin einer Alexa Augustine, deren gesamter Besitz nun auf mich übertragen wird. Allerdings ist es auch nicht möglich, einen solchen Transfer abzulehnen; hätte die liebe Verursacherin Alexa zum Beispiel Steuerschulden gehabt oder wäre ein Gerichtsverfahren gegen sie anhängig gewesen – nun ja. Aber sie hatte keine Steuerschulden. Es war auch kein Gerichtsverfahren gegen sie anhängig. Sie war quasi ein unbeschriebenes Blatt. Zwei Kartons. Ein Gitarrenkoffer. Der restliche Nachlaß meiner geschätzten kausalen Vorgängerin (der lieben ›Cousine‹ Alexa?) bestand aus lauter Ramsch. Zwei Kunststoffteller. Ein aufblasbares Kissen. Ein Schnapsglas, das ich, soweit die Erinnerung es zuläßt, mit einer ausgeprägten Vorliebe für Single Malt Whiskey assoziiere. Drei Bekleidungskataloge auf CD-Rom (mit insgesamt über sechzehn Millionen Kombinationen, nur daß eine der Scheiben einen Defekt zu haben scheint). Eine Schere. Ein Fotoalbum, das außer einem Bild auf der ersten Seite leer ist. Es zeigt Alexa beim Gitarrespielen und in einer für Alexa typischen Haltung. Sie sitzt mit gesenktem Kopf auf einer Obstkiste und betrachtet die Finger der rechten Hand (die mich noch immer zu verwirren scheint), ein Bein ausgestreckt, das andere leicht angewinkelt, um das Instrument griffgünstig zu positionieren. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht kündet von Konzentration, beinahe von Hunger. Die einschlägigen Hungergefühle dringen wieder ins Bewußtsein. Wir leben in einer digitalisierten Welt. Für besondere Fälle indes ist die Tradition schriftlicher Dokumente bewahrt worden. Ich besitze drei Heiratsurkunden und genauso viele Scheidungsurkunden. Eine ist auf den zweiten Oktober datiert, der letzte Tag von Alexas Existenz. Alexa war dreimal mit jeweils verschiedenen Männern
verheiratet. Einer von mehreren Gründen, weshalb Alexa nicht imstande war, weltliche Güter anzuhäufen. Einerseits, mit Blick auf das Gemeinschaftseigentum, ist eine Scheidung eine teure Angelegenheit selbst für einen hochrangigen Berufstätigen. Andererseits sind Zwei-Personen-Ehen unter steuerlichen Gesichtspunkten das größte Verlustgeschäft überhaupt. Nur die Liebe zählt, sagt man. An besagte Männer erinnere ich mich kaum, und zu sagen haben sie mir noch weniger. Aus den Scheidungsurkunden geht hervor, daß Alexa Beziehungen auf der Grundlage von Ehevertrag und Gütertrennung mit zwei Interfacern und einem Meeresbiologen unterhalten hatte. Der Meeresbiologe, ihr zweiter Mann, war auf Lebensmittel spezialisiert. Drei Jahre nach der Scheidung starb er an einer unbekannten Krankheit; weil Pannen in der Forschung für negative Schlagzeilen sorgen, sind Details dünn gesät (und nicht nur in meiner Erinnerung), doch sehr wahrscheinlich hatte der Mann den Erreger seiner tödlichen Krankheit selbst gezüchtet. Er scheint doch eine Narbe hinterlassen zu haben, denn beim Gedanken an ihn habe ich noch immer einen Kloß im Hals und ein Brennen in den Augen. Ich erinnere mich an Einzelheiten des ehelichen Lebens. Die Ehen waren allesamt von durchschnittlicher Dauer für eine Zwei-Personen-Liaison, mit einer Laufzeit von jeweils zirka anderthalb Jahren. Beide Partner hatten null Bock, für Nachwuchs zu sorgen. (Habe ich nicht irgendwo irgend etwas über den alarmierenden Rückgang der Geburtenrate bei den Rosen-Mitarbeitern gehört?) Alle drei Ehen scheiterten nach dem gleichen Schema: Sexuelle Langeweile, begleitet von zunehmender Gereiztheit am Frühstückstisch, ein paar denkwürdige Begegnungen, bei denen tiefe Wunden geschlagen wurden und eine einvernehmliche Scheidung, bei der ich nach
Strich und Faden über den Tisch gezogen wurde. Kaum der Rede wert, doch erinnere ich mich an den Ausspruch, den einer der Interfacer (es war wahrscheinlich Hal) in der letzten Schlichtungssitzung gemacht hatte: Wir hätten keine Probleme gehabt, wenn ich nicht immer verlangt hätte, daß du mit mir redest. Ich hätte es selbst nicht besser auszudrücken vermocht. Alexa scheint ein Faible für Schuhe zu haben, das bei ihrer Nachfolgerin bisher noch nicht zutage getreten ist. Der zweite Karton enthält gleich zweiunddreißig Paar. Ich stelle eine klare Präferenz für Klettverschlüsse fest. Es befindet sich nur ein Paar Schnürschuhe darunter. Hin und wieder erinnere ich mich an einen bestimmten Schuh – nicht etwa die Herkunft oder der besondere Anlaß, bei dem er getragen wurde, sondern an den Schuh selbst: Die Textur des Oberleders, die Narbung der Lasche, die Nut in der Schnalle. Eine merkwürdige Sache. Nicht ein Paar gelber Schuhe. Überhaupt kein gelber Gegenstand im gesamten Nachlaß. Und doch, wenn ich die Augen schließe und mir schier das Hirn zermartere, ist Gelb meine Lieblingsfarbe. Selbst jetzt, da ich dies niederschreibe, überkommt mich wieder dieses seltsame Gefühl. Ich dokumentiere dieses Symptom für meine emphatischen Leser: Wenn ich zu lange auf alte Schuhe starre, bekomme ich Kopfschmerzen, und das Blut rauscht mir in den Ohren. Auffallend an diesem Krempel ist das völlige Fehlen von EDV-Schnickschnack. Mister E. sagt mir, das läge daran, daß die Rechenvorgänge eines Interfacers gründlich kontrolliert werden. Es wäre aber auch möglich, daß Alexa eine Abneigung gegen alles hegte, das den Beigeschmack einer mechanischen Krücke hatte. Bei Algorithmen, wie auch beim Whiskey, war sie eine Vertreterin der ›reinen Lehre‹. Die einzige Konzession war vielleicht noch eine Datenhaut.
Wie dem auch sei, der Unteroffizier vom Dienst hat sich gemeldet.
2 Augustines Tagebuch An Züge erinnere ich mich. Züge sind Korridore, die auf Schienen fahren, deren Abstand voneinander gerade so groß ist, daß die Räder auf den Gleisen aufliegen. Trotz der Geräusche, die Züge von sich geben, sind sie für ihre Sicherheit bekannt. Wie auch für ihre Länge. Unser Frühzug hatte die unglaubliche Länge von zwölf Häuserblocks. Sie müssen wissen, sagt Mister E. mir, daß Fortbewegung kostspielig ist. Wenn man nicht die enormen Reibungskräfte überwinden müßte, könnte man die Fuhre auch gleich selbst ziehen. Mir brummt der Kopf bei seiner monotonen Rezitation der Fakten: Der Ausbau des Schienennetzes im Amerika des 19. Jahrhunderts, der dramatische Niedergang im zwanzigsten, die Erfindung des Kühlwaggons, die Ära des Automobils, die Abschaffung des Automobils nach den Öl-Kriegen im Jahr 2050, das fast völlige Verschwinden von Autobahnen und die Renaissance der Eisenbahn bis zum heutigen Stand. Mein semantisches Gedächtnis quillt auf wie Reis in Wasser. Geschichte, so lehrt man mich, ist wie ein Pendel oder eine Spirale. Sie müssen es sich so vorstellen, sagt er und veranschaulicht es mit einer Handbewegung. Er hat schöne Hände. Eine Frau verkauft Cyberhelme im Bahnhof. Ich will zu ihr hingehen, doch Mister E. hält mich zurück und sagt, Cyberhelme seien nichts für mich. Ich lächle. Er kennt meine Verachtung für Leute, die glauben, Glas zu machen sei dasselbe wie einen Cyberhelm zu tragen. Wie immer mißversteht er mich. Ich habe keine Einwände gegen ein wenig energetische Pornographie. Er stürzt sich ins Gedränge und taucht mit tanzender Melone hin-
ter der Bude wieder auf. Eine Frau, die einen langen schwarzen Rock trägt und das Haar zu kleinen Kugeln geflochten hat, tanzt oben ohne am Durchgang zu unsrem Bahnsteig. Sie kreischt ein bizarres Lied und wackelt dabei mit Brust und Bauch. Stimmen übertönen die Darbietung. Nomaden, die Fast Food und Raubkopien von Software verhökern. Ein vierzehn Jahre alter Junge in einem Clownskostüm packt mich mit dürren Armen und sagt mit leiser Stimme: »Du kannst der Mann sein, der du immer sein wolltest.« Ich muß lachen, worauf er grinst oder eher anzüglich blickt. Er trottet noch hundert Meter neben mir her, präsentiert mir seinen Porno-Helm und schwärmt mir vor, was für ein gutes Gefühl es sei, einen Penis drinzuhaben. Trotz dieser Ablenkungen hat ein Teil von mir immer ein Auge auf Mister E. und rechnet mit seiner Mißbilligung. Doch er ist mir immer drei Schritte voraus und bahnt sich mit erhobenem Kopf einen Weg durch die Menge, als ob er das Ziel wittern würde. Am zweiten Fahrkartenschalter bleibt der Junge zurück. Mister E. zerrt mich auf den Bahnsteig, wo ich die großen Räder des Zuges bewundere, und dann eilen wir eine kurze Treppenflucht über einem Rad hinauf und gehen in einen Eisenbahnwaggon hinein. Die Farbstellung ist grün und grau. Jemand hat die Sitze und die Holzverkleidungen zwischen den Fenstern mit einem Wolkenmuster verziert. Um den Seelenfrieden zu befördern, vermute ich. Die Sitze sind in mehreren Ebenen unter einem kuppelförmigen Dach angeordnet. An einem Ende des Waggons befindet sich ein Abschnitt mit vierstöckigen Betten, deren Matratzen bei Berührung seufzen (und die, wie Mister E. mir versichert, aus dem atmenden Kunststoff der Galaktiker bestehen). Mister E. führt mich an den Liegen vorbei zu
einem kleinen Tisch mit Hockern aus atmendem Kunststoff. Dann tritt ein längeres Schweigen ein. »Möchten Sie sich denn nicht setzen?« frage ich. »Das wird kaum nötig sein«, erwidert er kurz angebunden. Seine geschäftsmäßige Attitüde ist nun stark ausgeprägt; vielleicht will er damit das frühere informelle Verhalten kompensieren. Er nimmt die Melone ab und weist mir mit der anderen Hand einen Platz an, wobei er die Handfläche nach außen kehrt. Überaus geschäftsmäßig. »Nun ist es an der Zeit, daß Sie sich ernsthaft Gedanken über Ihre Zukunft machen.« Mein Blick schweift zum Fenster, das auf den Bahnsteig hinausgeht: Reisende plagen sich mit Gepäck ab, zankende Tupel und Tripel, plärrende Kinder und der clowneske Hausierer, der es irgendwie geschafft hat, mit seinem Mundwerk bis hierher vorzudringen. »Ms. Augustine.« Schuldbewußt schaue ich ihn an. »Eine Frau mit Stil kümmert sich um ihre Angelegenheiten und läßt sich nicht von den tausend-und-einer Attraktion des Basars ablenken. Was auf diesem Bahnsteig geschieht, ist nicht Ihre Angelegenheit. Außerdem ist es nicht Ihre Sorte von Angelegenheit. Nicht Ihre Welt. Sie müssen sich anderweitig verlustieren.« Plötzlich seufzt er, und die Kräfte scheinen ihn zu verlassen. »Je mehr ich Ihnen sage, desto mehr hassen Sie mich.« »Das ist nicht wahr.« »Sagen Sie nicht, daß es nicht wahr ist, wenn ich weiß, daß es stimmt. Sie hassen mich, obwohl alles, was ich sage, nur zu Ihrem Besten ist. Sie wissen es nur noch nicht.« »Ich weiß es wohl.« »Zumal diese Cyberhelme auch gefährlich sind. Die sensorischen Bänder sind nicht von Experten entwickelt
worden; oder noch schlimmer, sie sind von Experten entwickelt worden, die gegen Anstand und Sitte verstoßen haben.« »Und das heißt?« »Daß es schon psychische Unfälle gegeben hat. Manche Helmbenutzer haben die Illusion nicht verkraftet. Der Verlust der Ich-Organisation ist nicht ungewöhnlich.« »Ich-Organisation?« »Egal.« Er schüttelt traurig den Kopf. »Wir sind nun an dem Punkt angelangt, Ms. Augustine, wo Sie lernen müssen, sich ohne meine Anleitung zurechtzufinden.« Ich schaffe es, mir ein Lächeln abzuringen. * Der Zug verläßt den Bahnhof. Ein Surren. Ein Rumpeln. Und im Rumpeln Stille. Im Herzen des Chaos herrscht immer Ruhe. Woher ich das weiß? Erfahrungswerte, glaube ich. Wo viele den Lärm als ohrenbetäubend empfinden, genieße ich die süße Stille des weißen Rauschens. Die Pylonen der Station rasen vorbei. Die Zwischenräume sind mit kaleidoskopartigen, perspektivisch verzerrten Impressionen der Stadt ausgefüllt, als ob die Stadt die Muskeln anspannen würde. Ich sehe einen lächelnden Clown eine Rakete anheben. »Waffenhandel in der Öffentlichkeit ist eigentlich illegal, doch wir dulden und kontrollieren ihn sogar bis zu einem gewissen Grad, denn er ist ein wichtiger Teil der Ökonomie der Stadt. Ganz zu schweigen von der Rolle, die eine kontrollierte Verteilung für die Aufrechterhaltung politischer Stabilität spielt.« Mit allen Anzeichen der Enttäuschung senkt der Clown die Rakete und trollt sich. Im nächsten Bild tanzen Kinder um eine hölzerne Ziege.
»Religion ist überall und in allen Ausprägungen legal; doch um die Wahrheit zu sagen, haben wir es für das beste gehalten, ein paar Nomaden-Kulte zu neutralisieren. Die Konzepte des Christentums, des Islams, des Judentums und einiger extremer Charles’-Sekten weisen bedenkliche Aspekte auf. Wir üben subtilen steuerrechtlichen und finanziellen Druck aus. Die Einfuhr von Reliquien und Kultgegenständen ist fast zum Erliegen gekommen. Insgesamt prognostizieren wir für die nächsten zehn Jahre einen fünfzigprozentigen Schwund der aktiven Mitglieder der Gruppen.« Die Kinder erstarren mit über den Kopf erhobenen Händen. Der Bann ist verhängt. Von einer Sekunde zur anderen sind sie verschwunden. Needle lehnt an einem Pylon. Die Hose ist blütenweiß, und die Bügelfalte ist so scharf, daß Verletzungsgefahr besteht. Er ist so erschreckend dürr, daß sein Körper nur aus ein paar Linien aus hoher Geschwindigkeit und Kraft besteht. Eine Linie markiert die Krone des Panamahuts, eine andere den Stock. Eine klar definierte Faltenlinie kreuzt das weiße Feld, wo sein Hemd über die Schultern fällt. »Haben Sie Halluzinationen?« »Ja, ich glaube schon.« »Nehmen Sie sich zusammen.« »Ich habe wirklich Halluzinationen.« »Sie sind eine Nebenwirkung der Droge. Wir müssen sie sorgfältig dosieren, damit die Wirkung nicht irgendwann nachläßt.« Needle setzt sein Totenkopf-Grinsen auf und verflüchtigt sich. »Auf die immer immer wiederkehrende Gestalt müssen wir besonders aufpassen: Eine Entität, die mit einem wichtigen Abschnitt oder Ereignis in Ihrem Leben verbunden ist und die mit einer besonderen Stimmungslage oder signifikantem Streß oder physikalischen Merk-
malen geladen ist.« Als nächster kommt Feldwebel Sam, dem das Blut aus der Leistengegend strömt. Doch dafür wirkt er erstaunlich gefaßt, und deutlicher als je zuvor wird mir bewußt, daß er im Grunde nicht mein Typ ist. Der Feldwebel indes ist auch eine Halluzination. Diese Erkenntnis entspringt dem semantischen Gedächtnis, das uns sagt, Tote kommen nicht zurück. Die entscheidende Frage lautet: Kommt überhaupt irgend jemand zurück? * Wir steigen aus dem Bauch der Station ins Zwielicht der Stadt empor. Dunkle Türme und Blöcke aus Marmor und Granit erschlagen uns förmlich. Ich sehe eine Vielzahl immer kleinerer Rechtecke, der gepflasterte Hof des Arsenals. Ich sehe Soldaten, die sich unter die Leute gemischt haben. Sie sind unbewaffnet. Die Gewehre und Panzer sind im Arsenal. Wir passieren Rhomboide, Rauten, Zinnen und große Bänke von Bildschirmen, auf denen nur dunkle Schlieren zu sehen sind. Ich sehe einen in Lumpen gehüllten alten Mann, der eine Wagenladung alter Batterien wegkarrt (der Wagen sieht so aus, als ob er aus Teilen eines alten Schützenpanzers improvisiert worden wäre). Ein riesiger Bildschirm zeigt einen Schläger, einen Ball, einen Handschuh und eine Schale; die Objekte sind als Ecken eines Karos auf einem Spielfeld arrangiert. Große rote Rechtecke wandern über eine Kalender-Grafik und zeigen mir, wie ich die Termine für Sportveranstaltungen in die Speicherblöcke laden muß. Ich werde davon in Kenntnis gesetzt, daß es über 130 Teams gibt und über 250 Turniere pro Saison. Dann löst das Bild sich auf.
* Mister E. sagt zu mir: »Folgende drei Regeln müssen Sie beherzigen. Halten Sie immer Ihre Termine ein. Nehmen Sie keine unkorrekten Drogen. Und lassen Sie sich auf keinen, auf gar keinen Fall mit unerwünschten Leuten ein.« Ich sehe drei Fenster mit Hügeln vorbeirollen, die mit Schneefeldern bedeckt und mit Holzhäusern bestanden sind. »Was ist eine unkorrekte Droge?« frage ich ihn. Ich spüre förmlich, wie er sich neben mir indigniert windet und verkrampft. »Eigentlich müßte der Instinkt Ihnen das sagen. Unkorrekte Drogen sind Drogen der Bilder und Träume – Drogen, die Sie in eine Welt mit anderen Gesetzen und verfälschten Bedeutungen versetzen. Korrekte Drogen sind echte Freudenspender.« Ich lächle. Manchmal muß man ihm eine Vorlage liefern. Er versteht sein Handwerk. »Was unerwünschte Leute betrifft…« fährt er fort. Ich schneide ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und schaue nach draußen auf die Traum-Landschaft. »Sie müssen mir nicht gleich mit dem großen Knüppel kommen.« »Ach, habe ich das etwa getan?« Ich höre, wie er sich gerade hinsetzt und die für ihn typische straffe Haltung einnimmt. »Es ist wirklich ein Jammer, daß ein Mann mit Talent seine besten Jahre auf diese Weise vergeudet.« Ich nicke abwesend. Er wartet noch etwas, und dann steht er abrupt auf und geht. Nach einer Weile öffnet sich die Tür des Waggons, und eine Frau kommt den Gang entlang. Sie trägt die graue Uniform der Armee der Rose. Jemand folgt ihr, der hinter ihren breiten Schultern aber nicht zu erkennen ist. »Ist dieser Platz noch frei?« fragt sie mich. »Nein,
eigentlich nicht.« »Gut.« Sie tut so, als habe sie mich nicht gehört. Sie dreht sich um, und in Erscheinung tritt ein kleiner, schlanker Mann in einem zerknitterten braunen Trenchcoat. Er hat einen blonden Flaum am Kinn und umklammert mit schmutzigen Händen eine Papiertüte. »Dieser Mann ist ein Staatsfeind. Er hat die Wallies unterstützt.« Der Mann wendet den Blick ab. Sie faßt ihn am Ellbogen, während er sich auf den Platz neben mir setzt. »Sie kennen den Drill, nicht wahr?« fragt sie mich. Ich schaue sie ausdruckslos an. Sie beherrscht sich mühsam. »Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn er ein Geständnis machen will.« Sie macht kehrt und eilt den Gang zurück. Nun bin ich allein mit einem Staatsfeind. Er grinst spitzbübisch durch die Bartstoppel. Dann holt er eine Orange aus der Papiertüte und verzehrt sie. Während der Fahrt werfe ich ihm gelegentlich einen verstohlenen Blick zu. Er hat sich dem ratternden Rhythmus des Zugs angepaßt. Gelegentlich erwidert er meinen Blick und grinst wieder. Dieses Grinsen ist ein Reflex, ein Werkzeug; er hatte es wahrscheinlich schon im Gesicht, lang bevor er eines Verbrechens gegen den Staat überführt wurde. Es bedeutet entweder ›ScheißSpiel‹ oder ›Ein so schlimmer Finger bin ich doch gar nicht‹. Schließlich tue ich meine Pflicht. »Was ist Ihr Verbrechen?« »Ich habe illegale Bücher geführt in San Anselmo.« Es ist leichter für mich, wenn ich ihm nicht in die Augen schaue, sondern auf die Hügel. »Es herrscht dort ein Mangel an Wohnraum, und man kann mehr rausholen als die ortsübliche Vergleichsmiete. An den Büchern vorbei, Sie wissen schon.« Er macht eine Pause. »Den Gewinn habe ich dann in die Verbreitung von Wally-Pro-
paganda investiert.« Ich sehe ihn an. Er schält gerade eine weitere Orange. »Das haben Sie getan?« »So isses.« Er hat eine interessante Technik, die Orange zu schälen: Mit dem Daumennagel schneidet er die Schale in einer fließenden Bewegung in acht Teile. »Das scheint mir aber ein ungewöhnlicher Tatbestand zu sein.« »Überhaupt nicht. Sie sagten mir, damit hätten sie schon gerechnet. Eine Form der Korruption gebiert unausweichlich die nächste.« Akkurat löst er ein Segment aus der Frucht. Mit Genugtuung erinnere ich mich an die korrekte Formel: »Ihre Selbsterkenntnis hat Sie geheilt.« »Danke.« So viel zu Staatsbürgerkunde. Wir beide vertiefen uns wieder in den Anblick der Hügel. Später fragt er mich, ob ich etwas von der Orange abhaben möchte (es ist schon die dritte). Als ich den Kopf schüttle, hält er mir das Stück hin und sagt »Bitte«. Also nehme ich es. Es scheint ihm schwerzufallen, mir das Stück in die Hand zu geben. Als er die Hand zurückzieht, fühle ich einen Stich in der Brust. An der Schale des Orangen-Segments klebt ein Zettel. Ich wende den Blick ab. Auf dem Schotterbankett neben den Schienen sehe ich Schneeflecken. Bedächtig verzehre ich das Orangenstück und lasse den Zettel zwischen Hand und Schale verschwinden. Dann kommt die Frau zurück, um nach dem Gefangenen zu sehen. »Und?« fragt sie. »Alles klar«, melde ich. Sie seufzt, denn die Welt ist ein Jammertal, und dann rücken die beiden ab. Als Mister Existenz zurückkehrt, fahren wir bereits in den Zielbahnhof ein.
* Weder Mister Existenz noch ich sind ein Freund langer Abschiede. Er scheint zu erwarten, daß ich Dankbarkeit für seine Bemühungen zum Ausdruck bringe, doch bin ich nicht in der Lage, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Wir scheiden in betretenem Schweigen. Ich spüre, wie er mir mit den Blicken über den Bahnsteig folgt. Die Information befindet sich in einem mit Teerpappe verkleideten Schuppen mit einem Aluminium-Schornstein, aus dem weißer Rauch quillt. An einer Fahnenstange hängt die pinkgraue Flagge der Theokratie schlaff in der kühlen Luft. Landkarten gibt es hier nicht. Doch der Inhaber sagt mir, daß es nur ein kurzer Fußweg von hier bis zur Kleinen Roten Abtei sei. Dem Mann sind beide Beine amputiert worden, und eine Doppelreihe von Kriegsauszeichnungen prangt an der Brust. Schnee bedeckt die satten Weiden. Alexa Augustine ist im Gebirge aufgewachsen, und ich bin noch auf solches Gelände programmiert. Der Schnee auf der Piste ist von Fußgängern festgetreten worden. Ich versuche die Stiefel in die tiefsten Abdrücke zu setzen. Es kommt mir in den Sinn, daß ich dieses Spiel schon einmal gespielt habe. Jedesmal, wenn die Sohle sich in den verharschten Schnee gräbt, ertönt ein sattes Geräusch, als ob schweres Tuch reißen würde. Jeder Schritt bringt mich einer Erinnerung näher, die sich verflüchtigt, wenn ich sie festzuhalten versuche. Ich konzentriere mich auf das Knirschen. Knirschen ist schön. Der Schnee, der die sanften Hänge dieser Hügel wie Zuckerguß überzieht, verleiht den Kuppen eine blaue Aura. Ein Bild des Friedens. Ich renne los. Die Tasche schlägt gegen die Beine. Ich keuche.
Schließlich bleibe ich stehen und hole einen kleinen Zettel aus der Jackentasche. Um mich herum Stille. Vierzig Meter entfernt, am Rand eines Kiefernwäldchens, hoppelt ein Hase auf der Suche nach Deckung durch den Schnee. Ich entfalte den sechsfach auf Briefmarkenformat gefalteten Zettel. Darauf steht: ›Mein Name ist Hieronymus Schwabb. Der Krieg ist noch nicht vorbei. Bitte machen Sie sechs Kopien hiervon und schicken Sie sie an Ihre…‹ Dann verließ Hieronymus den Raum. Armer Hieronymus. Nicht von einem Panzer zermalmt. Die Gliedmaßen sind unversehrt, die Gesichtsfarbe gesund, die Augen wach und klar. Und trotzdem zermalmt. Ein Schatten seiner selbst, der nicht mehr imstande ist, sich aus eigener Kraft zu artikulieren. Außer dieser Mitteilung, diesem prosaischen Einwickelpapier, das ich in der Hand halte. Sie dauern mich, Mr. Schwabb, der Sie einst Bücher frisierten, und ich verstehe Sie sogar. Ich begreife, daß das Ihre einzigen Worte sind und daß sie vervielfältigt werden müssen – anstelle all der anderen, die vielleicht gewesen wären. Ich werde mich darum kümmern. Ich falte Schwabbs Kassiber zusammen und stecke ihn in die Tasche. * Vergangene Nacht träumte ich, ich hätte eine düstere Kammer betreten und die Leiche einer Frau in einem Sarg gesehen. Eine Hand mit einer weißen Blume auf der Brust, der andere Arm seitlich am Körper ausgestreckt. Ich identifizierte den Körper sofort als meinen eigenen; allerdings war es weniger der Anblick des Gesichts (an das ich mich nur verschwommen erinnere) als die Gewißheit, um wen es sich bei dieser Leiche handeln muß-
te. Als ob man mich informiert und über die üblichen Kanäle herbestellt hätte. Bei der Blume handelte es sich wohl um eine Rose. Ein Sessel stand neben dem Sarg; ich setzte mich zu ihr und betrachtete die Reflexe des Kerzenlichts an der Mauer. Ich fühlte eine tiefe Ruhe. Ein Gefühl der Rechtschaffenheit. Ich sprach eine Weile zu ihr, doch weiß ich nicht, was ich gesagt habe. Seltsam, wie leicht ein Gespräch mit den Toten fällt. Doch nun, wo ich dies in meiner Klause in der Abtei niederschreibe, beschleicht mich nachträglich ein mulmiges Gefühl. Nun, wo ich zu wissen glaube, worum es bei diesem Traum überhaupt ging. Es geht um Einsamkeit. * Die Kleine Rote Abtei war ein Familienbesitz, der in der zweiten Phase des Baubooms in dieser Gegend errichtet wurde, und zwar zu einem horrenden Preis, wie Mister Fragenmann mir sagt. Die Architektur ist dem Stil des zwanzigsten Jahrhunderts nachempfunden – bevor das Konzil in der jetzigen Zusammensetzung mit diesem Schnickschnack aufräumte. Als die Mode sich änderte und die Kratersee-Region den übertriebenen Erwartungen nicht gerecht wurde, verwandelte das Anwesen sich in einen weißen Elefanten. Es scheint, daß die Investoren seinerzeit nicht bedacht hatten, daß man im Wortsinn nah am Wasser bauen mußte, um die Früchte des Freizeitpark-Fiebers zu ernten. Dreißig Kilometer waren einfach zuviel, selbst dreißig Kilometer idyllische Waldlandschaft. Das Anwesen hielt sich noch für ein paar Jahre mit Urlaubern über Wasser, die Erholung in der Abgeschiedenheit suchten, doch dann kam der Besitz unter den Hammer. Schließlich ging er für einen Apfel und ’n Ei ans Rosen-Konzil und wurde in Kleine Rote Abtei umgetauft.
Das Anwesen war in einem Stil erbaut, der als TudorStil bekannt war. »Ein Stil, dessen hervorstechendes Merkmal Asymmetrie ist und der zugleich der viktorianischen Leidenschaft für Ausgewogenheit gerecht wird«, doziert Mister Fragenmann. Asymmetrisch ist das Gebäude wirklich. Die Abtei mit ihren drei Stockwerken stützt sich an einem massiven Eckturm ab, der von einem ›Hexenhut‹ gekrönt wird. Der gegenüberliegende Vorbau trägt einen noch dickeren Kegel auf Zwillingssäulen. Eine hölzerne Veranda zieht sich ums Haus, wobei abblätternde Farbe, knarrende Bretter und der obligatorische Schaukelstuhl für morbiden Charme sorgen. Ich sehe zwei Wachen, die mich vom Wald aus beobachten. Klopf klopf. Eine angenehme Stille. Ich betrachte für eine Weile die Tür und klopfe dann noch einmal an. Weil sich immer noch nichts tut, drehe ich den Türknauf und verschaffe mir selbst Einlaß. Ich stehe in einem kleinen, von Fenstern durchbrochenen Vestibül; die Scheiben bestehen aus Milchglas. Schuhe in verschiedenen Größen sind an der holzgetäfelten Wand aufgereiht. Eine Comicfigur erscheint auf dem Türbildschirm (mit strahlendem Lächeln und freudig zusammengekniffenen Augen), und eine Piepsstimme fordert mich auf, mich ›bitte zu identifizieren‹. Ich führe den Datenport zur Rezeptorplatte, und wir stellen die Verbindung her. »Seien Sie herzlich willkommen, Ms. Augustine. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, bis ein Hausbewohner Sie in Empfang nimmt.« »Und wie lange wird das dauern?« »Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, bis ein Hausbewohner
Sie in Empfang nimmt.« Der Bildschirm präsentiert eine Spielesammlung: Schach, Tic Tac Toe und Königin des Universums. Ich suche mir etwas aus und verlasse das Menü. Die Comicfigur pfeift fröhlich und verspiegelt den Bildschirm. Ich sehe mein Konterfei; eine steile Sorgenfalte hat sich in die Stirn gegraben. Mit einem Seufzer stöpsele ich den Datenport ein und stelle wieder eine Verbindung zum Grüßaugust her. Ich scheine ein Händchen für diese Dinge zu haben. Das nennt man wohl Computersinn. Nach einem Moment wird die penetrante Musik leiser und verstummt schließlich ganz. Der Grüßaugust vergißt, daß ich hier bin, und die Tür öffnet sich mit einem Klicken. Ich bin derart erleichtert, daß ich es sogar körperlich spüre. Ich ziehe die Schuhe aus und trete ein. Im Zimmer zur Linken bauschen blaßgelbe Vorhänge sich vor zwei Fenstern. Die von dunklen Flecken verunzierten hölzernen Armlehnen der antiken Couch bilden einen Kontrast zur ausgebleichten pfirsichfarbenen Polsterung; auf den zwei Sesseln, die zur Couchgarnitur gehören, liegen pflaumenblaue Kissen, um die verschlissenen Polster zu kaschieren. Ein Orientteppich bedeckt einen großen Teil des Bodens unter dem Couchtisch, und dahinter, auf der anderen Seite des Kamins, steht eine Vitrine mit Krimskrams: Chintz, Muscheln, Porzellan und Glas. Die Wohlgerüche, die aus einer nahen Küche herüberziehen, künden unter anderem von Linsen. Ich folge dem Duft durch einen im Halbdunkel liegenden Korridor zu einem antik aussehenden Herd. Als ich den Deckel vom Kessel nehme, sehe ich eine Kraterlandschaft aus Linsen, die von blubbernden Blasen und hellen Brocken aus Pökelfleisch durchsetzt ist. Ein Kontraalt sagt mir, daß der Herd sich im Köchelmodus befindet.
Ich stelle fest, daß der technische Fortschritt an der Küche vorübergegangen ist. Ich lege den Deckel wieder auf den Topf und schreite zur Inspektion der Regale, die sich an einer Wand entlang ziehen. Plötzlich spüre ich, daß mir der Magen knurrt. Während ich noch über die Klettverschlüsse an einer Packung Instant-Hähnchen rätsle, betritt jemand hinter mir die Küche und beobachtet mich. Ich spüre sie schon, bevor ich sie höre. Eine Diele knarzt, und ich wirbele herum. Sie trägt eine cremefarbene Jacke mit großen Laser-Buttons aus Plastik (die Ausführung mit schemenhaften Figuren, die in einem rubinroten Dunst tanzen). Sie hat blondes Haar und eine atemberaubende Figur. Sie hält den Kopf schräg und mustert mich mit violetten Augen. Diese Augen verleihen ihrem Gesicht eine magische Qualität, die Anmutung eines Kindes oder eines Tieres mit Knopfaugen oder eines knuddeligen Außerirdischen. »Kennen wir uns?« »Ich wollte nur… ich bin eine neue…« Das Wort entfällt mir, falls es überhaupt eins gibt. »Ich soll heute hier anfangen.« Sie schüttelt den Kopf. »Ja, so siehst du auch aus. Ich heiße Viju.« »Ich bin Augustine.« Ich reiche ihr die Hand, doch sie ergreift sie nicht. »Ich weiß«, sagt Viju. »Die neue Königin der ZigeunerHacker. Ich habe dein Bild auf meinem Dienstplan gesehen. Du bist neu hier. Du bist desorientiert. Du weißt nicht, was du als nächstes tun sollst.« Die Schwingtür schwingt. Der Neuankömmling tritt vor. »Wir sind die Antwort.« Es handelt sich um einen Jungen, der in etwa Vijus Größe hat. Er trägt das gleiche Jacket, doch mit einer weiten Hose; er ist der Kontrast zu ihren hellen Farben. Seine Haut ist kupferfarben, das Haar kurzgeschnitten,
seidig und schwarz. Die Augen funkeln bernsteinfarben. »Ich bin Raja. Ardath hat uns gebeten, dich willkommen zu heißen.« Viju verschließt die Hähnchen-Packung, die ich bei der Musterung unwillkürlich geöffnet hatte und murmelt etwas von Küchenvorschriften; Raja bedeutet mir, Platz zu nehmen und serviert Tee und Gebäck. Man gewährt mir eine Tasse und zwei Plätzchen (um das zweite muß ich zweimal bitten), und dann werde ich eingewiesen. Das ganze Haus ist im Stil des mir bereits bekannten Zimmers eingerichtet, denn Viju beschreibt ein gediegenes Inventar aus Edelholz, Kristall und Orientteppichen. Zugleich unterweist sie mich in der Hausordnung. Diese besteht aus Verboten mit Ausnahmen, welche die Regel bestätigen: Die Teppiche darf man immerhin in Strümpfen begehen. Das Erdgeschoß ist der Öffentlichkeit zugänglich. Im ersten Stock befinden sich die Privatquartiere der Mönche. Ich zeige auf einen Gegenstand, der im Flur des ersten Stocks auf Augenhöhe aufgehängt ist. Bei der Besichtigung des Erdgeschosses hatte ich schon ein paar dieser Objekte gesehen. Ich frage, was sie darstellen sollen. »Halterungen für Petroleumlampen«, sagt Raja. »Und wo sind die Lampen?« »Sind abgeschafft«, sagt Viju. »Brandgefahr.« Wir machen kehrt, und Raja weist auf das Eckzimmer, das ich beziehen werde. Das Bettzeug und der Baldachin sind in Hellrosa gehalten und die Vorhänge in feldgrau. Die Farben der Theokratie. In der Ecke steht ein Schreibtisch mit vielen kleinen, nutzlos wirkenden Schubladen, und eine Tastatur mit einem Monitor füllt die Nische unter dem Taubenschlag aus. Vor dem Schreibtisch ein Korbstuhl mit weißer Lackierung. Viju führt mich ans Fenster. Die Welt draußen schimmert in allen Farben des Spek-
trums und kräuselt sich eigenartig: Eine in klarem, viskosen Öl eingelegte Landschaft. Ich drehe mich um und schaue in Rajas funkelnde Augen. »Du darfst auf das Grab Charles’ von der Rose spucken, die Heiligkeit eines individuellen Monaden schmähen und die Sache des utopischen Sozialismus vertreten, doch die Kardinalsünde, ich betone, die Kardinalsünde ist das Zerbrechen eines Fensters. Deine jährliche Kreditlinie wird gerade dem Wert einer dieser Fensterscheiben entsprechen.« Ich stelle die Tasche ab, und wir verlassen den Raum. Zum zweiten Stock steigen wir indes nicht auf. Der ist Sperrbezirk. Dort residiert die Äbtin. »Die Computer stehen im Keller.« »Wo die Bits geknackt werden«, sage ich, um sie aus der Reserve zu locken. Viju sieht mich stirnrunzelnd an und stößt eine Stahltür auf. »Hardwareraum.« Eine wahre Schatzkammer: Große Stücke aus milchigem Kristall und grüne Bildschirme, die uns wie mit gerunzelter Stirn anglotzen. Neben der Tür steht ein Tank mit einer Flüssigkeit, in der eine ästhetische blaue Linse treibt. Elektronische Klauen in allen Phasen des Zugriffs umlagern die Linse. »Das ist Cowboys Spielzimmer«, sagt Raja mit sichtlichem Unbehagen. »Du darfst erst hier spielen, wenn er es dir erlaubt.« Viju schließt die Tür leise. Wir betreten die Arena. Die Grundfläche der Quelle ist größer, als ich es gewohnt bin, und es gibt viel mehr Sitzplätze. Wir steigen zur Quelle hinab und stehen im Zentrum der Bühne. Viju sieht, daß ich den Kopf in den Nacken lege, um das Bild in mich aufzunehmen. »Für Gruppen-Übungen.« Ich mache das Zeichen für ›beeindruckt‹ und tue so, als ob ich den Klettverschluß der Hose öffnen wollte. Viju dreht sich um und geht die Treppe hinauf. Ich bleibe mit Raja zurück. Er schüttelt den Kopf und
schaut mich gequält an. Dann betrete ich einen Computerraum: Monitore, Mäuse, Tastaturen, Datenhandschuhe. Ich verspüre nun ein starkes Gefühl der Vertrautheit. Ich werde fast davon überwältigt. Ich gehe langsam an den Stühlen und Konsolen vorbei. Dann halte ich inne und drücke zweimal auf eine Taste, um eine Grußformel vom Bildschirm zu löschen. Ich versuche die Hand in einen zu kleinen Datenhandschuh zu zwängen und das Informations-Gelee zwischen den Fingern zu zerreiben. Ich setze mich auf einen weichen Stuhl und stülpe mir einen Projektorhelm über, der mit altmodischen Augenlid-Bürsten ausgestattet ist. Nachdem ich den Helm wieder abgenommen habe, spüre ich Vijus Augen auf mir. ›Dumpfbacke‹, sagt ihr Blick. Beleidigt drehe ich die Handflächen nach vorn und balle die Hand in Hüfthöhe zur Faust – das Zeichen für ›Krempel‹ oder ›Beute‹ und füge mit dem Daumen unter der Nase eine kleine Drehbewegung aus, was soviel wie ›Hi-Tek‹ bedeutet. Ein definitiv positiver Affekt. Sie macht auf dem Absatz kehrt und verläßt den Raum. Ich schaue Raja an. Er seufzt. »Du darfst die Hände nicht bewegen, wenn du mit ihr sprichst.« Verwirrt betrachte ich meine Hände. »Keine Zeichensprache«, sagt er und rollt die Augen in einer abgeschwächten Variation von Vijus Thema. »Sie mag mich nicht leiden.« Er sucht nach einer diplomatischen Antwort und breitet dann die Arme aus. »Nein.« Wie sollte es auch anders sein. Jede Tek-Tröte weiß das, Gedächtnisverlust hin oder her. Die Frage lautet nur: Muß ich mir das alles bieten lassen? Im Moment habe ich da meine Zweifel.
* An der Tür zu meinem Zimmer verabschiedet Raja sich von mir. Ich werfe die Reisetasche aufs Bett und öffne sie. Ganz oben, griffgünstig plaziert, ist das schmale schwarze Etui mit meinem Besteck. Während ich es noch anstarre, klopft jemand an die Tür. Bestimmt ist es Viju, die mir weitere Verhaltensmaßregeln eintrichtern will. Ich nehme das Besteck heraus und lege es vorsichtig neben der Tasche aufs Bett. Dann gehe ich zur Tür und öffne sie. Der junge Mann, dem ich gegenüberstehe, trägt einen schwarzen Pullunder, enge Jeans und eine dunkelblaue Strickmütze. Er hat hellbraune Haut, und unter der Mütze fällt lockiges rotes Haar herunter. Er hebt die Hand und spreizt die Finger zum InterfacerGruß. Dann steckt er mir ein gefaltetes Papier in die Hand und geht an mir vorbei ins Zimmer. »Winkelbude.« Langsam dreht er sich mit in den Gürtel gehakten Daumen um und läßt den Raum mit einem breiten Grinsen auf sich wirken. »Weißt du, wie lange ich schon scharf bin auf dieses Zimmer?« Er geht zum Fenster, greift zwischen die Vorhänge und tippt sachte an die Scheibe. »Bleiglas.« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe mir fast einen abgebrochen. Ich bin fast vor ihr auf den Knien gerutscht.« Ich stehe in der Mitte des Raums, entfalte das Papier, das er mir gegeben hat – bei dem es sich um eine Art Flugblatt handelt – und lasse den Blick zwischen der Schlagzeile und ihm hin und her schweifen. »Aber ich habe eben nicht dein Talent.« Er schüttelt wieder den Kopf und sieht, daß ich die Zeitung in seine Richtung halte: Revolutionäre Losung. »Ach, das. Nur ein Gimmick, den ich mir in der Freizeit ausgedacht habe. Das kannst du dir immer noch zu Gemüte führen.
Nun müssen wir reden.« Er blinzelt. Er setzt sich in den Korbstuhl und schlägt die Beine übereinander. »Ich habe mich schon darauf gefreut, dich einmal kennenzulernen.« »Ich heiße Augustine.« »Die neue Königin der Zigeuner-Socketeers. Ich weiß.« Er runzelt die Stirn. »Tschuldigung. Ich bin Cowboy Bob, lokales Programmier-Genie.« Er deutet auf die Zeitung. »Lokaler Informations-Revolutionär. Globale…« – er breitet die Arme aus auf der vergeblichen Suche nach dem richtigen Wort und klatscht dann in die Hände – »… Präsenz.« Ich lege die Zeitung auf den Schreibtisch. Gehört er etwa zu denen, die Mister E. als unerwünschte Personen bezeichnet hat? »Nun gut. Wieso hast du dich darauf gefreut, meine Bekanntschaft zu machen?« Er zuckt die Achseln. »Das weiß ich selbst nicht genau. Es wird vielleicht einiger Suchzeit bedürfen, und es wird vielleicht einiger Anstrengungen bedürfen. Aber ich werde es wissen, wenn ich es sehe. Ich weiß schon viel über dich. Ich weiß zum Beispiel, daß das dein Besteck ist.« Er deutet auf das schwarze Etui auf dem Bett. »Ich weiß, daß du auf Nadeln stehst. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb man dich I.V. Augustine nennt. Ich weiß, daß du ein paar Erinnerungslücken hast und an diesem Einsamer-Wolf-Ding leidest, das dir die Gruppenwertung versaut. Und ich weiß auch, daß du das machst.« Er hebt die Hand und berührt mit dem Daumen den Nasenflügel. Ich nicke. »Ich arbeite daran.« Woraufhin die Nase plötzlich von Juckreiz befallen wird. »Woher hast du dieses ganze Wissen überhaupt?« Er lächelt. »Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mich über besondere Leute zu informieren.« »Du mußt doch selbst etwas Besonderes sein.«
»Werde nicht schnippisch. Hierher kommen normalerweise nur talentierte Leute. Allerdings sind sie normalerweise auch fehlgeleitet. Ich habe aber nicht den Eindruck, als ob du fehlgeleitet wärst.« Ich kämpfe gegen ein unangenehmes déjà vu-Gefühl an. Inzwischen bereitet der Versuch, mich zu erinnern, mir fast körperliche Schmerzen. Diese Person ist die Variante eines Gläubigen. Ich verspüre den Drang, dichtzumachen, einen glasigen Blick aufzusetzen und einsilbige Antworten zu geben. Ich habe im Moment nichts mit Gläubigen am Hut, seien es nun Jünger der Rosen-Mystik oder des Techno-Tao. Ich bin nicht daran interessiert, erlöst oder gar erhöht zu werden, und ich habe auch nicht die Kraft, mit ihnen durch die Felder ihrer perfekten kleinen Welten zu streifen. Ich lehne mich gegen die Tür, verschränke die Arme und verziehe das Gesicht. Ich bin aber nicht sicher, welches Gesicht. Cowboy Bob indes ist keiner, der Mimik zu interpretieren verstünde. »Überhaupt ist es nur eine Frage des Talents, nicht wahr? Die Nächste Phase erfordert eine bedeutende Entdeckung, einen Quantensprung, der die Basisparameter des Prozesses revidiert.« Er reibt sich die knochigen Arme und wirft mir einen Seitenblick zu. »Es geht das Gerücht um, du seist vielleicht das Medium für die Durchführung des Sprungs.« »Von wem stammt dieses Gerücht?« »Das kann ich dir wirklich nicht sagen.« Er nickt, reißt die dunklen Augen auf und wirft mir einen Blick mit dem Ausdruck kameradschaftlichen Bedauerns zu (›Wir Tekkies wissen, wie das ist.‹). Dann hellt seine Miene sich wieder auf. »Aber deine Testergebnisse sind auf jeden Fall ein guter Anfang. Was sind die zwei wichtigsten Dinge auf der Welt?« »Ich glaube nicht, daß es auf diese Frage eine Antwort gibt.«
»Die meisten Neuankömmlinge sagen, der individuelle Monade und die Rosen-Theokratie. Die richtige Antwort lautet jedoch: Die Nächste Phase im Prozeß und Freier Zugang. Ach, übrigens.« Er holt etwas aus der Tasche und zeigt es mir. Es ist ein Kristall mit zwei Kontaktstiften. »Ich nehme an, du weißt, wie das funktioniert.« Ich durchquere das Zimmer. Ich nehme den Kristall und halte ihn gegen das Fenster. »Das ist ein Port. Worauf ist er programmiert?« »Aufs Netz.« Er hatte die ganze Zeit um den heißen Brei herumgeredet. Mein Herz schlägt bei solchen Gelegenheiten immer noch höher. Ich schlucke. Er lehnt sich im Stuhl zurück und beobachtet mich. »Woher nimmst du die Gewißheit, daß du mir vertrauen kannst?« »Woher nimmst du die Gewißheit, daß du mir vertrauen kannst? Nein, ich habe mich gut über dich informiert. Du bist keine kleine Miss Viju. Du weißt, daß der Betrieb des offenen Netzes das Höchste ist, und du bist auch imstande, mit den Händen zu sprechen. Ich hoffe nur, du hältst mich nicht für einen Mitarbeiter des Ministeriums für Personen und hängst das an die große Glocke. Die Kameraden halten sich nämlich bedeckt.« »Bist du denn imstande, mit den Händen zu sprechen?« Er macht eine derbe Zwei-Zeichen-Geste, die jeder Depp hinkriegen würde, doch macht er es wenigstens richtig. Leute, die keine Routine in der Zeichensprache haben, neigen zu Patzern. Die Übergänge zwischen den einzelnen Bewegungen erfolgen entweder zu langsam oder zu schnell, so daß zwei Zeichen sich überlagern – wie ein Sprecher, der sich Mehl in den Mund stopft. Sie wissen nicht, wann sie ein Leerzeichen einfügen müssen. Cowboy indes macht seine Zeichen schnell und sauber. Ich wechsle nun auch in den Zeichen-Modus
und teste seine Fähigkeiten auf Herz und Nieren. Im nun folgenden rapiden Zeichenwechsel erzählt Cowboy mir, daß mein Zimmer nicht ordentlich konfiguriert sei und daß ich nach unten in den Hardwareraum gehen müßte, um Forschungen zu betreiben. Er verrät mir die günstigsten Zeiten für diskrete Besuche und sagt mir auch, daß Viju alles andere als eine gute Wissenschaftlerin sei. Sie arbeitet für ein hohes Tier im Rosen-Ministerium. 3 Ich erwarte große Taten von dir, signalisiert er. 3 Du wirst enttäuscht sein. 3 Vielleicht, aber du hast eine Spürnase, und jeder gute Schnüffler dringt ein Stück weiter ins Netz vor als der Vorgänger. Er ist schon an der Tür, als ich ihn zurückrufe und ihm die Ausgabe der Revolutionären Losung hinhalte, die er mir verehrt hat. »Ist das etwa ein Untergrund-Flugblatt für Tekkies?« »Eine Zeitung«, sagt er. »Ich hätte da etwas, das ihr vielleicht abdrucken wollt.« Ich überreiche ihm Hieronymus Schwabbs Kassiber. Er nimmt ihn, liest ihn und schüttelt den Kopf. Wortlos schließt er die Tür hinter sich. Mein Blick schweift von der Tür zum Kristall. Ja, es gibt Agenten des Ministeriums für Personen, welche die Zeichensprache recht gut beherrschen. Und etliche Socketeers, die bei der Abwicklung illegaler Geschäfte im Netz erwischt wurden und die dann, um ihren Arsch zu retten, die Drecksarbeit für das Ministerium erledigt haben. Aber ich glaube nicht, daß Cowboy zu dieser Sorte gehört.
3 Augustines Tagebuch Ich stecke die Karte in den Datenport. Mit ‹Strg› ‹S› ruft man den Dienstplan auf.
Tatsache ist, daß ich selbst das nicht weiß. Meine Hände wissen es. Ich bin ein bruchstückhaftes Ding, ein lockerer Verbund von Teilen, die kaum Anlaß haben, einander zu vertrauen. Ich nähere mich der Tastatur. Ich habe gelernt, die Bedienung des Computers an meine Finger zu delegieren. Das prozedurale Gedächtnis leitet das semantische. Der Dienstplan erscheint als Mosaik farbiger Blöcke auf dem Bildschirm. Meine Hände huschen zielsicher über die Tastatur, doch sonst ist mit ihnen nichts anzufangen. Ich stehe nun an diesem Morgen vorm Spiegel und schicke mich an, eine Ampulle I.V.-Stärkungs-Plaina auf die Zahnbürste zu drücken. Im Moment hüllt der kühle blaue Dunst eines spirituellen Blocks mich ein: Hygiene und Meditation. Der blinkende gelbe Punkt in der Ecke des Blocks fordert mich auf, den Nebel mit einer Plaina-Dosis zu färben. Ab sieben Uhr wird der Tag von einem schwarzen sozialen Block bestimmt. Ich bin für die Zubereitung des Abendessens eingeteilt. Haupt-Refektorium. Zwanglose Kleidung. Gut. Das bedeutet eine Dusche, eine Sitzung mit der Nadel, und dann wird Tagebuch geführt. Auf dem Weg ins Bad bleibe ich bei der Kommode stehen. Cowboys Zeitung besteht aus einer einzigen Seite beziehungsweise vier Druckseiten auf einem Blatt, wobei jede Seite in vier verzerrte Spalten gegliedert ist. Die Schlagzeile lautet: Start der Achilles noch in diesem Monat! Und dies ist der Aufmacher: Die Galaktischen sind wieder da! Die Bürger der RosenTheokratie dürfen sich in diesem Monat auf ein besonderes intergalaktisches Gimmick freuen, wenn RosenForscher das wohl berühmteste Galaktische Schiff für einen suborbitalen Testflug vorbereiten. Seit sie vor fünfundzwanzig Jahren in den Bergen Kaliforniens gelandet ist, hat Die Achilles immer wieder Anlaß zu
wilden Spekulationen gegeben, welche Erfolge die Rosen-Frachtexperten beim Versuch, dem Schiff seine Geheimnisse zu entreißen, schon zu verzeichnen haben. Fest steht jedenfalls, daß der größte bekannte Galaktische Kristall und ein geheimnisvolles Projektionsgerät sich an Bord befunden haben. Kurz nach der Landung des Schiffs hat dieses als Schild bezeichnete Projektionsgerät die Rosen-Forscher in die Lage versetzt, astronomische Bilder zu gewinnen. Dies ist die bislang einzige erfolgreiche Gedächtnisoperation mit einem Galaktischen Kristall. Das berühmte Bild des Universums. Weitaus bedeutsamer als die Fähigkeit, schöne Bilder zu erzeugen, ist jedoch die angebliche ›Reversibilität‹ des Schilds. Laut Quellen, auf die wir uns bereits vor einiger Zeit berufen haben und deren Angaben nun bestätigt wurden, hat man den Schild wirklich mit Rosen-Software gekoppelt und mit seiner Hilfe Programme auf dem Rechenkristall des Schiffs laufen lassen. Dieselben Quellen spekulierten, daß unter den erfolgreich gelaufenen Programmen auch ein paar Interfacing-Simulationen waren, was wiederum impliziert, daß Rosen-Interfacer zum Kristall-Unterglas vorgedrungen sind. Allem Anschein nach ist zumindest das für den Raumflug erforderliche Interfacing-Minimum mit dem Schild möglich. Gerätekopplung und zuverlässige Steuerung sind gegeben. Es wurde sogar schon eine Besatzung zusammengestellt. Laut diesen erstaunlich gut informierten Quellen handelt es sich bei den Stellgliedern um Sizzle, Gator und Wings. Ein Pilot wurde bislang nicht nominiert, doch der Kreis der Kandidaten ist ohnehin begrenzt. Vergeßt nicht, Ihr habt es als erste erfahren. Ihr könnt euch dafür erkenntlich zeigen, indem Ihr es weitersagt.
Nachstehend ein Artikel über die besorgniserregende Zunahme von Piraten-Bulletins in den Netz-Foren. Tips, wie man sich dagegen schützen kann. Neben dem Aufmacher eine Titelzeile mit dem Inhalt TEXANISCHER BULLE GEBIERT KALB MIT ZWEI KÖPFEN. Die Einzelheiten zu diesem schlimmen Ereignis sind zwar nur spär-
lich, dafür um so bunter. Vollends bizarr mutet diese Meldung durch ein Zitat der Hebamme an: ›Genau das wurde im Buch der Offenbarung prophezeit.‹ Das muß man sich einmal vorstellen – eine belesene Hebamme. Dann gibt es noch einen Bericht mit der Überschrift JESUS SPRACH IN DER SPRACHE DER GALAKTISCHEN über einen Provinz-Philologen, der schlüssig darzulegen behauptet, daß die berühmten Galaktischen Spuren in den Landezonen von Moskau und Zaporo_e nicht nur irgendeine Schrift darstellen (was an sich schon umstritten ist), sondern daß es sich dabei um aramäische Schriftzeichen handle. Des weiteren wird von einem Hacker berichtet, der sich von einem elektronischen Virus Syphilis eingefangen haben will. Eine Hackerin behauptete, in einer KI-Partition des Netzes mehrmals Besuch von der Jungfrau Maria bekommen zu haben. Sie bezichtigte die Gesegnete Jungfrau, ›ihr Äußeres abzukupfern‹. Immer wenn die Hackerin eine neue geometrische Variation ihrer informationalen Abbildung zu erstellen versuchte, tauchte die Jungfrau nach ein paar Tagen in einer Kopie auf. Der Artikel am Ende der unteren Hälfte ist der einzige, der eine Zeile mit dem Namen des Verfassers enthält. Der Titel heißt ›Die Problematik des Seins‹. Der Verfasser ist Quincunx. Er erklärt: ›Die Frage des Seins hat mich für die meiste Zeit meines bewußten Lebens umgetrieben. Nun glaube ich, daß es eine definitive Antwort auf diese Frage gibt. Die Antwort lautet Parallel-Verarbeitung.‹ Er mutet dem Leser anderthalb Spalten esoterisches Techno-Gesülze zu. Jeder hat so etwas wohl schon einmal auf einer Party erlebt. Schlagartig überkommt mich die Erkenntnis, daß ich diese Zeilen wirklich lese. Cowboys Blatt zeichnet sich indes nicht durch den Inhalt aus. Es ist die Aufmachung, dieses Wirrwarr aus Schriftarten und verzerrten Spalten. Es fällt auf, daß bei allen Artikeln die Zeile mit
dem Namen des Verfassers fehlt – nur nicht bei dem einen Elaborat, zu dem kein normaler Mensch als Urheber sich bekennen würde. Offenbar wurde diese Postille aus einem halben Dutzend Untergrund-Bulletins im Netz-Forum zusammengestellt. Das Kondensat stundenlanger Streifzüge durch den Netz-Basar. Cowboy ist ein Freigänger, und die ganze Welt soll das wissen. Ich dusche, nehme ein paar Eintragungen ins Tagebuch vor und widme mich dann den Vorbereitungen fürs Abendessen. Frage: Paßt Gelb zu Schwarz? Genauer: Paßt Quittengelb zu Pulverschwarz? Und was ist mit gelben Tupfen auf durchsichtigem Plastik…? Ich schaue mir die Ergebnisse auf dem Bett an und hacke frustriert auf der Tastatur herum. Mein Gewand färbt sich grau. Ich bin geradezu vernarrt in Gelb. Lebendiges, sattes, satinartiges Gelb. Auf die Welt aufgetragen mit einer Kelle, wie eine Paste auf die unscharfen Konturen von Dingen geschmiert. Komisch nur, daß Alexa Augustine das nie begriffen hat. * Die Annäherung ist einfach. Ich steige leichtfüßig die Treppe hinauf und schaue nach unten: Helligkeit, huschende Gestalten. Dann setze ich mich wieder in Bewegung, denn ich habe das Gefühl, mich auf dem Präsentierteller zu befinden. Noch bevor ich den oberen Treppenabsatz erreiche, identifiziere ich die Äbtissin. Sie trägt ein schlichtes graues Gewand, eine Fasson, die das Garderoben-Fenster durch eine leichte Bewegung des Drehknopfs ausfüllt. Sie ist ungefähr fünfzig und kräftig, aber nicht dick. Die grauen Pumps sind zwei Nuancen dunkler als das Gewand. Über das bordeaux-
rote Halstuch verläuft ein waagrechter schwarzer Streifen. Der Kragen ist zirka zehn Zentimeter hoch, mit grauen Linien und einem schwarzen unteren Rand. Ein solch repräsentativer Kragen ist nicht nur typisch für Äbtissinnen, doch fällt mir im Moment nicht ein, für wen sonst noch. Sie hat lockiges graues Haar, Hamsterbacken und einen breiten strengen Mund. Der Mund sagt alles. Die Linien um die Mundwinkel sind tief eingegraben und bestimmt keine Lachfältchen. Die Augen sind von einem undefinierbaren Grau und huschen wieselflink umher. Ich sehe, wie sie mit einer Hand den Fall des Tischtuchs dirigiert; dann wirbelt sie herum und dirigiert einen schweren Sessel ans Kopfende der Tafel. Sie ist General, Koch und Chefingenieur in Personalunion, jemand, der ständig mit Fehlern anderer rechnet, jemand, dem überhaupt alles zu langsam geht. Der erste Eindruck: Sie ist mir nicht sehr sympathisch. Sie dreht sich um und lächelt. Wodurch die Falten um die Mundwinkel sich senkrecht stellen und vertiefen. Und die kalten Augen funkeln. »Ich bin Mutter Leibniz.« »Ich bin Augustine.« Sie tritt einen Schritt näher, packt mich an den Schultern und mustert mein Gesicht. Erkennt sie meinen Widerwillen? Ich glaube schon. Zumindest den Widerwillen, wie ein zum Verkauf stehender Sklave gemustert zu werden. Vielleicht auch ein Zeichen schlechter Gesellschaft und unkorrekter Drogen. Sie nickt und läßt mich los. »Viju hat mir gesagt, du wärst schon früh angekommen.« Sie wendet den Blick ab, geht mit geschmeidigen Bewegungen zum Tisch und nimmt ein Keramik-Dreieck weg, wo eine schwarzgewandete Frau es gerade hingelegt hatte. »Maria, ich hatte dir doch gesagt, nicht die kleinen Untersetzer zum Braten zu nehmen. Die
ruinieren nur das Tischtuch.« Maria nimmt den Untersetzer entgegen. »Gewiß, Mutter.« Doch Leibniz hat bereits Cowboy Bob im Visier, der am anderen Ende des Tischs mit einem Computerausdruck zugange ist. »Beim Essen wird nicht gelesen, Bob.« Viju erscheint am Treppenabsatz, und Raja schlendert hinterher. Schweigend verfolgen sie, wie Cowboys Ausdruck (wobei er vorbringt, daß wir noch gar nicht ›beim Essen‹ seien und die Frage aufwirft, ob das Studium eines Code-Ausdrucks etwas mit Lesen zu tun habe) konfisziert wird. Nachdem dieses Drama sich vor ihnen entfaltet hat, machen sie sich gemessen an den Abstieg, wobei Vijus Schatten ihr in einem Abstand von zwei Schritten folgt. Ein großer schwarzer Mann kommt aus der Küche. Außer Leibniz ist er hier der Älteste. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Er trägt einen Ohrring, eine Perlenkette und einen der bunten Seraphen, die ich auf dem Marktplatz gesehen habe (wo so manches unter der Hand gehandelt wird). Ein Durchziehband sorgt für festen Sitz der weiten Baumwollhose. Er ist barfuß, muskulös und etwa ein Meter neunzig groß. »Das ist Alfred.« Leibniz dreht sich zu mir um. »Und wie ist dein Vorname?« Erst als ich den Namen höre, wird mir bewußt, daß es sich um den Alfred aus der Gruppe handelt. »Alfred?« »Augustine?« Leibniz, ungeduldig: »Wie ist dein Vorname?« »I.V. Ich heiße I.V.« Leibniz’ Blick geht zwischen uns hin und her. »Ihr kennt euch?« »Ich hatte Ihnen doch von Jims Gruppe erzählt. Augustine war auch dabei.« Die Falten um Leibniz’ Mundwinkel vertiefen sich. »Stimmt das?«
Ich brauche ein vertrautes Gesicht. Ich halte es wie die Gesegnete Jungfrau. (›Hallo. Ich bin Ivy. Ich habe eine Bestimmung.‹) »Wie geht’s dir, Alfred?« »Es geht, Augustine.« Leibniz rollt die Augen. »Alfred, wir reden uns mit dem Vornamen an. Diese Frau heißt Ivy. Alles klar?« Sie wendet sich wieder Cowboy zu. »Das ist Bob. Bob, Ivy.« »Wir kennen uns bereits«, sage ich. »Und Viju kennst du auch schon.« Nun ist ein immer lauteres Gemurmel von den Unterkünften zu hören, und dann tritt eine Vierergruppe paarweise ein. Das erste Paar, ein stämmiger Mann und eine korpulente Frau, gleicht einem wandelnden Salzund Pefferstreuer. Die Frau hat rotes Haar und braune Augen. Sie trägt eine ärmellose limonengrüne Bluse mit diesen ausgestellten Schultern und einen orangeroten Rock; er ist von der Art, die es nur in einer Farbe gibt und die keinen Anschluß für eine Combo-Disk haben (deshalb ist sie auch nicht von Fehlermeldungen erschlagen worden, als sie zu dieser schrillen Color-Combo erschien). Der Herr, wesentlich älter, wirkt ähnlich altmodisch: Er trägt ein korrektes Hemd und eine sackartige schwarze Hose mit Hosenträgern. Er hat graue Augen und einen massigen Schädel. Das volle schwarze Haar ist zurückgekämmt. Die schweren Hängebacken verleihen ihm die Autorität eines Beamten im mittleren Dienst. »Das sind Rose und mein Freund Jimmie.« Rose macht einen Knicks und reicht mir die Hand, und der Mann nickt, was aber eine knappe Verbeugung darstellen soll. Es ist klar, daß er kein gewöhnlicher Heimbewohner ist. »Das ist Ivy.« »Bin erfreut, dich kennenzulernen, Rose.« Ich drücke Rose die Hand und erwidere Jimmies Kopfnicken.
Das nächste Paar betritt den Raum. Hungersnot und Pestilenz. Hungersnot ist ein Golem: Hager, blaßgelber Teint, tief in den Höhlen liegende Augen. Mehr tot schon als lebendig. Pestilenz indes ist ein Pilot. Selbst in dieser cybernetischen Ära ist er eine Ausnahmeerscheinung mit dem kahlrasierten Schädel, dem roten Kunststoffauge (wahrscheinlich mit Infrarot-Kapazität), den tätowierten Wangen, angespitzten Zähnen und dem Metallarm, der in einer abnehmbaren mechanischen Klaue ausläuft. Diese Art von Tekkie ist mir bekannt. Er hat einen Anschluß wie ich, nur daß er sich im Steißbein befindet. »Smoket, Rogacev« – und zeigt auf den Golem und den Piloten… »Ivy.« Der Golem nimmt gar keine Notiz von mir, doch der Pilot blinzelt mir fast unmerklich zu, und in meiner Brust gerät etwas aus dem Takt. Ich bin nicht darauf erpicht, das noch einmal zu verspüren und vermeide es für die nächste Zeit, in seine Richtung zu blicken. »Und nun«, sagt Leibniz, »zu Tisch.« In geordneter Formation gehen wir zu unseren Plätzen. Leibniz weist mir den Platz zwischen Alfred und Cowboy zu: Junge Mädchen Junge. Wie nett. Rogacev sitzt zum Glück am anderen Ende des Tischs, neben seinem Schatten Smoket. Maria und eine andere schwarzgekleidete Frau huschen zwischen der Küche und dem Eßzimmer hin und her und tragen die Speisen auf. Leibniz und Jimmie sitzen an den Kopfenden der Tafel. Den Inhalt des Suppentopfs vor mir habe ich bereits am frühen Nachmittag inspiziert. Ich beschränke mich auf eine Schöpfkelle mit dampfenden Linsen. Leibniz taxiert mich mit diesen kalten Augen. Ich ringe mir ein Lächeln ab. Die Konversation wird damit eingeleitet, daß Viju Rose
fragt, woher sie ihre Kleidung habe. Die Frage wird in melodischem Tonfall vorgetragen, wie ein kleines Lied. Raja stimmt ein und äußert sich anerkennend über Roses limettenfarbene Bluse. Rose murmelt mit gesenktem Blick, sie hätte die Klamotten in einem Second-Hand-Laden in der Stadt erstanden. Wir unwissenden Zuschauer staunen über den Kontrast zwischen der schlanken, mandeläugigen Viju und der fülligen Tekkie Rose, für die das Ankleiden eher ein notwendiges Übel zu sein scheint. »Nun, Ms. Augustine, vielleicht werden Sie etwas Farbe hier reinbringen«, sagt Jimmie. Er tranchiert Smokets Braten. »Das wäre bestimmt nicht verkehrt.« Dann schenkt er Leibniz über die ganze Länge des Tischs ein Lächeln. Ein Topf mit Lammfleisch landet vor mir, und ich fische ein paar Brocken heraus. Wieder spüre ich Leibniz’ Blicke auf mir. Sie hat alles im Blick, vor allem mich. »Ihr braucht mich nicht, um Farbe hier reinzubringen«, sage ich. »Ich hatte immer geglaubt, ein Kloster sei schrecklich trist. Hallende Schritte in leeren Höfen und gelegentliche Ausbrüche von Chorälen. Dieser Ort ist ganz anders.« Es herrscht Schweigen, und ich merke, daß alle – sogar Smoket – mich anschauen. »Hab ich was Falsches gesagt?« »Wir sind eine Laiengruppe«, sagt Leibniz bedächtig, »und unser Gelübde umfaßt keine Kleidervorschriften. Aber das bedeutet nicht, daß es uns an Frömmigkeit gebrechen würde.« »Natürlich nicht. So meinte ich es auch nicht…« »Ich bin sicher, daß du es nicht so gemeint hast…« »Ein paar von uns«, sagt Viju dezidiert, »sind nicht einmal im Orden. Wir sind nur hier, um die spirituelle Atmosphäre zu schnuppern.« Dann verklickert Jimmie eine Geschichte von einem Ort
namens Richmond und einem Restaurant, das nichts außer Eiskrem serviert. Wir fragen uns zwar, weshalb er uns das erzählt, doch immerhin bringt er damit das Eis am Tisch zum Schmelzen. Jimmie ergeht sich in der Beschreibung von etwas, das Praline heißt. Raja sagt, wie gut Gelb mir stünde. Viju variiert das Thema, wendet sich an Leibniz und bemerkt, daß Kragen in den letzten Monaten zunehmend in Mode kämen. Alfred erzählt Anekdoten aus seiner Zeit bei der Marineinfanterie. Der Umstand, daß Alfred bei dieser Truppe diente, steht in gewissem Widerspruch zu seiner Anwesenheit im Kloster. Offensichtlich hatte Alfred auch Probleme mit der Gruppen-Arbeit, doch was macht ihn so wichtig, daß er spezieller religiöser Hilfe bedürfte? Müssen Soldaten denn nicht immer Uniform tragen? Alfreds Geschichte handelt von Portepee-Unteroffizieren der Logistik, wobei er mir weismachen will (obwohl ich die Hierarchie der Truppe etwas anders in Erinnerung habe), daß sie die mächtigsten Leute in den Streitkräften seien. Auf jeden Fall bietet er eine gute Vorstellung, denn Alfred ist jemand, der an menschliche Archetypen glaubt und mit ihnen jongliert. Rose und ich lachen herzhaft; die anderen fallen gelegentlich ein (Raja macht sich Gedanken über die hygienischen Aspekte des Lebens im Feld) oder eröffnen eigene Gesprächsrunden (Jimmie erzählt von einer anderen Begebenheit aus Richmond). Nachdem er die Geschichte erzählt hat, wird es still am Tisch. Allmählich wird das Schweigen unbehaglich. Mutter Leibniz echauffiert sich wieder einmal: »Alfred, hatten wir nicht schon darüber gesprochen, daß du dein Leben akzeptieren mußt?« »Ja, aber wenn ich von den Marines erzähle…« »Aus deiner Akte geht hervor, daß du nie bei den Marines gewesen bist.«
Alfred mummelt sein Kohlrabi und schaut mich an. »Wäre es nicht besser«, fährt Leibniz fort, »einfach zu akzeptieren, wer du bist? Ohne dich für eine Person auszugeben, die du nie warst und die du auch nie sein wirst?« »Verzeihung.« Ich schaue in Mutter Leibniz’ graue Augen. Etwas an dieser Frau fordert mich zum Widerspruch heraus. »Ich kenne Alfred nun schon seit fast einem Monat, und er ist ein Marine. Er hat die Waffe, die Uniform, die Haltung und alles, was sonst noch dazugehört. Ich habe ihn mit den anderen Marines im Arsenal Poker spielen sehen.« »Die anderen Marines.« Mutter Leibniz dreht den Kopf, als ob sie ihrem Kragen etwas zuflüstern wollte. »Gewiß, ihr wart zusammen in der Gruppe.« Nach einem Moment nicke ich. Sie faltet die Hände auf dem Schoß. Sie scheint Genugtuung zu verspüren. »Und Alfred hat in der Gruppe viel Energie darauf verwandt, seinem Wahn zu frönen. Das war Teil des Problems, nicht wahr, Alfred?« Ich sehe Alfred an. Er erwidert den Blick und schüttelt den Kopf. »Damit wäre das Thema wohl beendet«, sagt Mutter Leibniz. Gelegentlich werfe ich Rogacev einen Blick zu. Er macht mir keine Angst mehr. Wie Smoket, so spricht auch Rogacev kein Wort. Doch im Gegensatz zu Smoket starrt er nicht nur auf den Teller, sondern läßt immer wieder den Blick prüfend durch den Raum schweifen. Zu Beginn des Mahls widmet er sich ausgiebig dem Studium der stuckverzierten Decke. Dann wandert der Blick zur entgegensetzten Wand, zum Teppich zur Rechten, anschließend zu ein paar Leuten am Tisch und schließlich zu mir. Welche Mätzchen er dann macht, ob er mich angrinst, mit den Wimpern klimpert oder mir scheue Seitenblicke
zuwirft, werde ich wohl nie erfahren, denn ich bin nicht imstande, ihn zu mustern, während er gleichzeitig mich mustert. Es liegt zum einen daran, daß die Angst zurückkehrt, wenn die Gefahr besteht, daß unsere Blicke sich treffen; zum anderen befürchte ich, daß, falls unsere Blicke sich doch treffen, niemand da ist, der meinen Blick erwidert. Während Rogacev mich also mustert, mustere ich meinen Teller. Schließlich wendet er den Blick von mir und rollt den Bildschirm seines inneren Computers, der keine Gefühle kennt. Er löst Jimmie bei der Fütterung von Smoket ab, so daß Jimmie auch einmal zum Essen kommt. Danach richtet er den Blick auf die Kohlrabis, die sich auf einem Tablett in der Mitte der Tafel türmen. Es bedarf keiner lebhaften Phantasie, um zu erahnen, welch düstere Gedanken den Mann beim Anblick des Grünzeugs beschleichen, denn er ist ein Fleischfresser. Er ist der einzige Gast, dem man ein Spezialmenü serviert hat: Auf dem Teller liegt ein großes Steak, das zwei Nuancen dunkler ist als unser Lammbraten; Gemüse verschmäht er. Als er sich Smoket zuwendet, um dessen Fortschritte zu kontrollieren, sehe ich, daß auch die andere Backe tätowiert ist: Ein Auge, und darunter die Worte ›Mutter Vielfalt‹ in roter Schrift. Wieder Schrift. Rogacev verzehrt das Steak in aller Seelenruhe, so daß er trotz der geschliffenen Zähne nicht im mindesten den Eindruck eines Raubtiers macht. Er hat eine kühle, kultivierte Aura wie jemand, der knappe Poesie liest. Jimmie möchte, daß ich von meiner Reise erzähle. Mit ein paar Sätzen gelingt es ihm, San Francisco als eine ›Stadt‹ zu bezeichnen, seine Abneigung gegen ›Rabatz‹ zum Ausdruck zu bringen und sich über den immer schlechteren Service in den Zügen der Theokratie zu beschweren. Er hat eine hohe, aber auch angenehm warme Stimme. Das Wort ›Rabatz‹ spricht er richtig
drollig aus. Ich komme nicht umhin, ein paar Reiseimpressionen zu schildern. Als ich Schwabbs Geständnis erwähne, wird Mutter Leibniz plötzlich hellhörig. »Das ist aber seltsam! Wo der Waffenstillstand gerade drei Tage alt ist…« »Das reicht aus, um ein ganzes konspiratives Netzwerk zu knüpfen.« Cowboy häuft Lammfleisch auf den Teller. »Cowboy muß es schließlich wissen«, flachst Rose. »Gegen einen gesunden Appetit ist ja nichts einzuwenden, Bob, aber vielleicht solltest du vor der vierten Portion anstandshalber ein paar Sekunden warten. Und du, Rose, nenne Bob nicht ›Cowboy‹.« Cowboy grinst und legt ein Stück zurück aufs Tablett. »Bob bringt Leben in die Bude«, sagt Jimmie und reicht einen Teller mit Kohlrabi weiter. Viju und Raja erheben sich fast gleichzeitig. »Ich glaube…« »… wir müssen nun gehen.« Leibniz ist betrübt. »So schnell? Aber der Nachtisch…« »Ich befürchte, wir haben es jetzt schon übertrieben.« Viju schenkt uns ein bemühtes Lächeln. Raja verneigt sich elegant. Leibniz gibt auf. Offensichtlich unterstehen die beiden nicht ihrem Kommando. Sie rücken die Stühle gerade – zwei still leidende Seelen, die nicht hierhergehören und wollen, daß wir das wissen. »Bob«, sagt Leibniz, nachdem die beiden gegangen sind. »Ich wünsche eine Erklärung für den Artikel über die Galaktischen, der heute in der Zeitung steht.« »Verzeihung. Das ist schon die dritte ›Galaktischetreffen-Jesus‹-Story, die ich in diesem Monat von der Indiana-Gruppe bekommen habe. Sie haben es im Moment mit Jesus. Aber ich finde diese aramäische Variante irgendwie gelungen. Es…«
»Diesen Artikel meine ich nicht.« »Sie meinen den Bericht über den Schild? Das ist eine bona fide-Nachricht. Die erfolgversprechendste Forschungsrichtung, welche die AIA in den letzten Jahren eingeschlagen hat.« »Ich habe die Befürchtung, daß du wieder einmal geheimes Material abgedruckt hast.« »Mutter, dieses Projekt ist gar nicht so geheim.« »Das ist mal sicher«, sagt Rose. Ich gebe auch meinen Senf dazu: »Letzte Woche hatte eine Besatzung in der Hauptarena der AIA den Schild geflogen. Von Geheimhaltung war dabei nicht viel zu merken.« Cowboy ist erleichtert. »Hat man schon einen Piloten ausgewählt?« Am anderen Ende des Tischs wird das Thema gewechselt. Geschirr klappert, und Silberbesteck klirrt. Die Tischbeine springen. In dem Moment, wo Jimmie das Tischtuch lüftet, um den Geist auf frischer Tat zu ertappen, erreichen die Schwingungen Smokets Hals. Er öffnet den Mund, und ein durchdringendes Geheul quillt hervor. Wir alle sind wie erstarrt. Eine kühle metallische Klinge wandert an meinem Rückgrat hinauf. Smokets Schrei steigert sich zu einem schrillen Kreischen. Es scheint, als ob er jeden Moment in Sprache explodieren wolle. Aber nein. Es ist nur ein Geheul mit schwankender Tonhöhe und zunehmender Lautstärke. Schließlich halte ich es nicht mehr aus. Das Geschrei ist ansteckend. Mein Blick wandert zu Rogacev. Von seinen Augen geht eine solche Kältewelle aus, daß ich mich gerade hinsetze. Aus seinem Blick spricht kalter Zorn, aber nicht auf Smoket, sondern auf Mutter Leibniz. Dann schlägt Smoket auf den Boden, und das Geheul bricht ab. Ein dumpfes Geräusch ertönt. Jimmie springt auf, doch Leibniz sagt: »Nein. Warte.«
Rogacev nimmt langsam die Serviette ab und kniet neben Smoket nieder. Ich recke den Hals, doch alles, was ich sehe, sind die Tätowierung und sein Ohr – das wie ein Fremdkörper am kahlen Schädel klebt – , während er sich zu Smoket hinunterbeugt und ihm etwas ins Ohr flüstert. Smoket beruhigt sich wieder, und Jimmie hilft Rogacev, ihn auf den Stuhl zu setzen. Smoket ergreift sofort den Löffel, nimmt die vorherige Haltung ein und bewacht erneut den halbvollen Teller. Rose atmet durch. Jimmie nimmt einen Löffel Kohlrabi und führt ihn an Smokets Mund. »Das passiert manchmal«, sagt Leibniz leise. Rogacev tippt mit dem Zeigefinger einen gebrochenen Takt ans Ohr. Das Interfacer-Zeichen für Musikhören. Leibniz beugt sich zu Smoket hinüber. »Smoket«, sagt sie, »haben wir nicht vereinbart, daß, wenn du Beschwerden hast, du dich hinlegst und wartest, bis es vorbei ist?« Smoket schaut sie an. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Leibniz erwidert seinen Blick für einen Moment. Das Lächeln, das sie ihm dann schenkt, habe ich bei ihr noch nie gesehen. Die Falten um die Mundwinkel teilen sich, die oberen Hälften ziehen sich zur Nase zurück, und gelbliche Zähne werden sichtbar. Nach einem Moment wird ihr bewußt, daß sie sich hat gehenlassen. Das Lächeln verschwindet. Ihr Blick fällt auf mich. »Smoket war auch ein Interfacer«, erklärt sie mir. »Rogacev glaubt, das Geschwätz über den Schild habe ihn so aufgeregt.« »Und was glauben Sie, Mutter?« Die Frage scheint sie zu überraschen. »Ich glaube – wir werden es wohl nie erfahren.« Die Stimmung ist gedrückt, als wir den Karamelpudding
verzehren. Jimmie will uns mit der Anekdote von einem Schülerstreich aufheitern, bei dem eine Landmaschine eine Rolle spielt; doch der Versuch geht ins Leere. Niemand möchte eine zweite Tasse Kaffee. Schließlich rupft Jimmie sich mit der Serviette die Lippen ab und entschuldigt sich. Leibniz erhebt sich eine Sekunde später. Die Tafel ist aufgehoben. Stühle schaben auf dem Fußboden, die Leute recken gähnend die Arme, und Jimmie und Mutter Leibniz gehen Arm in Arm die Treppe hinauf. Nachdem ich wieder auf mein Zimmer gegangen bin, setze ich mich ans Fenster, betrachte die zuckergußartige schwarze Winterlandschaft und höre Smoket die Tonleiter rauf und runter gehen. Er hustet, würgt und räuspert sich. Ein weiteres Stück vom Mond bricht ab. Er fängt von vorn an. Der Mond seufzt. Er schwingt sich zum hohen C auf, produziert einen Triller mit dem Umfang einer kleinen Terz, stöhnt eine Oktave tiefer und sucht unermüdlich nach der Sequenz, bei der das Glas splittert. * Rogacev. Beim Anblick dieses Manns kommt einem das kalte Grausen. Ein metallischer Klotz. Und diese Tätowierungen. Mama Vielfalt, hier hast du es wirklich auf die Spitze getrieben! Mister Fragenmann nennt ein paar interessante Fakten: Rogacevs zugespitzte Zähne und die Tätowierung mit der in Ketten liegenden Blume auf der rechten Wange weisen ihn als Anhänger der Glaubensrichtung der Weißen Orchidee aus – einer der ›Fleischfresser‹-Kulte, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Ihr Ziel ist die Suche nach dem Dämonischen durch mentale Disziplin und hängt dem Glauben an, daß pflanzliche Materie keine angemessene
Atzung für die Damen und Herren der Schöpfung sei (wobei ich mir aber sicher bin, daß Rogacev beim Nachtisch ordentlich zugelangt hat). Der harte Kern sagt, die edelste Kost sei Menschenfleisch; Gerüchten zufolge blüht in ausgewählten Fleischereifachgeschäften in San Francisco ein Schwarzmarkt für diese Fleischsorte. Danke, Mister Fragenmann.
4 Augustines Tagebuch Morgen. Ein kaltes, stählernes Gewicht wird mir von der Stirn genommen. Energie durchflutet mich. Rückkopplung. Ein Kribbeln um die leere Buchse. Ich spüre die Präsenz eines Traum-Dings und packe es. Es lacht und ist sofort verschwunden. Ich weiß nur, daß es die Sorte Ding ist, die lacht. Weder Ex-Pilot noch Golem. Ich stehe auf und gehe zum Waschbecken. Der Spiegel. Ich bin wieder so stark, daß ich es aushalte: Den Schreck beim Anblick des Spiegelbilds, die Kenntnisnahme (Kenntnisnahme im Gegensatz zu Wiedererkennen: Mr. E. sagt, niemand würde sein Gesicht wiedererkennen). So schlecht sehe ich gar nicht aus. Jünger als viele der verhärmten Gesichter, die ich auf der Straße sehe. Hab ich nicht recht, Mister Existenz? »Ich glaube, dies ist der richtige Zeitpunkt für eine Bürgerin, sich seelisch und moralisch auf den Tag ihres größten Abenteuers vorzubereiten. Sich zu waschen und anzukleiden.« Nein, sogar ganz gut. Es ist keine blonde Schönheit und auch keine sardonisch grinsende Viju, die mich anschaut. Vielmehr jemand, der über dem Tagebuch brütet, ein zurückhaltender Spieler, der sich bei der kleinsten Berührung aufbäumt, der immer gegen einen Hang
zur Besessenheit ankämpfen muß. Das stimmt doch, Mister E.? »Nabelschau ist ein Verbrechen.« Ich wende mich vom Spiegel ab. Am Fenster lächelt Needle mich an und winkt mit einer weiß behandschuhten Hand. Er ist geschniegelt, schlank, mit perfekten Zähnen und perfekter Maniküre. Ein perfekter Gesellschafter fürs Dinner und weißer Begleiter. Er winkt erneut und erinnert mich an den Grund seiner Anwesenheit. Was er mir sagen will, ist jedoch nur eine informelle Zusammenfassung dessen, was bereits im Columbarium geweiht wurde. Weshalb das Problem der Nabelschau nicht mit einer großherzigen Geste lösen? Ein Lächeln und Schulterklopfen, ein mit sonorer Stimme gemachtes Versprechen, Gelächter mit einer Prise Spott. Wovor, um Himmels willen, fürchtest du dich, kleines Mädchen? Auf dem Fensterbrett, die in einer weißen Hose steckenden Beine übereinandergeschlagen, den Panamahut schräg auf dem Kopf – damit provoziert er diametral entgegengesetzte Reaktionen. Zum einen Angst: Gänsehaut, die Haare sträuben sich, namenloser Schrecken wühlt in den Eingeweiden. Zum anderen Ruhe. Eine Ruhe, die der unmenschlichen Haltung entspringt, die Kitt seiner weißen Substanz ist. Denn sein Versprechen ist wahr. Jeden Tag, jederzeit kenne ich die genaue Dosis, die diesem Stückwerk von Existenz in einer euphorischen Explosion den Garaus machen würde. Jawohl, sofern die kleinen Maschinen, die Schroeder mir implantiert hat, zulassen, daß ich ihm den Garaus mache. Das ist nichts gegen den Traum, aus dem ich erwache: In einem dunklen Hain, der nach Pinien- und Eukalyptusmulch riecht, sprach eine silberhelle Stimme: ›Wenn du dich selbst tötest, wirst du nicht sterben.‹ (Sirenenklänge, als ob sie mir eine selten angewandte Technik schmackhaft machen wollte.) Die Lichtverhältnisse
ändern sich, die Kamera fährt zurück, und es stellt sich heraus, daß die Stimme Needle gehört. Er grinst penetrant. Mister E. ob Sie wohl dieses Grinsen abstellen würden? Jemand betätigt den Schalter von Mr. Existenz; er macht einen Satz und verschwindet wie der Zwergenkönig Laurin, die Sonnenbrille zum Schluß. Für einen Moment wabern dunkle Schlieren in der Leerstelle, die er hinterlassen hat. Dann verschwindet dieses Phänomen. Ich nehme das Besteck zur Hand und verabreiche mir die Morgendosis. Nicht mehr und nicht weniger. Wieder werden ein paar Spione aus meinem Kopf entsorgt. Ich muß raus. Weg von diesen lächelnden Kameraden. Unterwegs greife ich mir die Morgenausgabe der Revolutionären Losung. Die heutige Schlagzeile lautet: ›Der Krieg ist nicht vorbei!‹ In der Mitte der Seite ist Hieronymus Schwabbs Kassiber als gerahmte Spalte abgedruckt: ›Mein Name ist Hieronymus Schwabb. Der Krieg ist noch nicht vorbei. Bitte fertigen Sie sechs Kopien von diesem Artikel an und schicken Sie sie an Ihre…‹ Die Erniedrigungen, die Hieronymus während der Bahnfahrt erdulden mußte, werden in allen erschütternden Details geschildert. Ich finde lobende Erwähnung als mitfühlende Beichtmutter und werde zur würdigen neuen Königin der Zigeuner-Socketeers stilisiert. Ich seufze. Ein kleiner Erfolg – doch einer, den ich aus eigener Kraft erreicht habe. Ich gehe nach draußen, und nachdem ich um die Hausecke gebogen bin, sehe ich schon den Wald. Der gestrige Marsch war ein schöner Spaziergang über verschneite Wiesen, die in jungfräulichem Weiß dalagen und doch ein Glacis der Zivilisation waren, weil die Landschaft so schnell vor Straßen und Flüssen und menschlichen Spuren kapituliert. Nebel hing über den
Gipfeln und den von Kiefern und Wacholder bestandenen Hängen, die sich zu diesen Gipfeln aufschwangen. Doch nun ändert sich das alles; etwas liegt in der Luft. Der Schnee auf dem Pfad hinter dem Haus ist grau und durchscheinend. Ich schlüpfe unter den Baldachin des Waldes, und die morgendliche Helligkeit verwandelt sich in gesprenkeltes Zwielicht. Eberesche und Fingerhut zittern zu meinen Füßen und bestäuben die Stiefel mit feinem Pulver. Die Droge singt mir ein Lied: Ein leichter, stockender Puls hinter den Augen. Kling Glöckchen klingelingeling. So in der Art. Der Tag ist jung, und ich lebe in ihn hinein. Hier kommt man leicht vom Weg ab. Oft macht eine Schneeverwehung den trogförmigen Pfad unpassierbar, blockiert ihn wie der Grabhügel eines unbekannten Toten. Plötzlich komme ich nur noch langsam voran, denn ich stapfe durch knöcheltiefen Schnee. Vom Pfad ist nichts mehr zu sehen. Hier gefällt es mir fast schon zu gut. Ich erfreue mich am achterbahnartigen Schwung des Waldbodens, der eine eigene Geschichte atmet und am feinen Geflecht der Äste, Nadeln und Tannenzapfen über mir. Hin und wieder krabbelt etwas durch die Äste, gefolgt vom dumpfen Klatschen von Schnee auf Schnee. Blinzelnd schaue ich zum Blätterdach hinauf. Ich sehe vereinzelte blaue Fetzen – die Außenwelt, die nach mir greift. Schließlich finde ich den Weg wieder. Nun kommt der steilste Abschnitt, der letzte Teil der bergauf und bergab führenden Strecke zum Kamm. Nachdem ich diese Viertelmeile bewältigt habe, geht der Atem stoßweise, und die Beine schmerzen. Aber ich habe es geschafft. Dies ist das Vorgebirge, Überreste urgeschichtlicher Zu-
sammenstöße, die in einem Äonen währenden Prozeß des Werdens und Vergehens abgetragen und mit Humus überzogen wurden. Im Osten ragen von Gletschern durchzogene, schroffe blaue Berge auf. Das sind jüngere Auffaltungen. Der Kiefernwald dünnt sich im flachen Tal unter mir aus und wird an der steilen weißen Flanke des nächsten Hügels wieder dichter. In der Ferne zieht eine verschwommene Baumreihe, überwiegend Hemlocktannen, sich über zwei Gipfel. Ich hole den Datenport heraus und rufe Mister Fragenmann auf. Doch bevor ich die Frage noch formuliert habe, hockt er plötzlich auf meiner Schulter. Irgend etwas stimmt hier nicht. Ich rufe Mister Fragenmann über eine Hintertür auf. Diesmal antwortet er, und ich erfahre, daß die beiden Gipfel Berg Olymp und Kathedralenturm heißen. Oberhalb der Baumgrenze ist das Weiß schwarzgrau gemasert und von Felsstürzen durchsetzt, die an eine Mondlandschaft erinnern. Der Datenport blinkt blau; eine wichtige Nachricht geht ein. Ich stelle die Verbindung nicht her. Der Datenport blinkt wieder, doch ich ignoriere ihn und lasse den Blick zur zerklüfteten Steilwand des Kathedralenturms schweifen. Als ich wieder auf den Datenport blicke, schreit der blau blinkende Bildschirm mich förmlich an. Ich stelle die Verbindung her. Vijus Gesicht füllt den Monitor aus. Das Bild kräuselt sich seltsam. Diese Übertragung wird natürlich von der Bild-Zerhacker-Routine gefiltert, die Viju gerade zusagt. Heute hat sie das Gesicht in Bänder zerlegt, die fast so breit sind, daß sie als Streifen durchgehen könnten, und es so gebeugt, daß ein ›Fischaugen‹-Effekt erzielt wird. »Wo, zum Teufel, steckst du?« Sie kocht vor Wut. Ihr Bild flattert im informationalen Wind.
»Gibt’s ein Problem?« frage ich. Völlig ungerührt. »Du hattest heute morgen einen Diagnose-Termin bei mir. Du hast ihn geschwänzt.« »Ich wußte von nix.« »Du wußtest von nix…?« Die Augen quellen ihr schier aus den Höhlen; offensichtlich ist das Bild eine Funktion ihrer emotionalen Befindlichkeit. »Wenn Ardath dich so sehen würde.« Der Bildschirm wechselt in den Text-Modus: MELDE DICH MORGEN. SETZE DICH MIT DEINEM TERMINPLANER IN VERBINDUNG. Wie sich herausstellt, enthält mein Dienstplan wirklich einen Block, und zwar den, der um sieben Uhr beginnt. Er blinkt rot. Die Mitteilung im nächsten Menü lautet: DU BEKOMMST EINE STRAFARBEIT AUFGEBRUMMT. Immerhin stehen ein paar Tätigkeiten zur Auswahl: Küchendienst, Raumpflege am Samstag und Fahrzeugwartung. Ich entscheide mich für letzteres, worauf der Kalender wieder eingeblendet wird und die Rechtecke wieder in den Grundfarben leuchten. Ich stecke den Datenport ein und mache mich auf den Rückweg. * Der Rückweg ist so beschwerlich, daß ich die doppelte Zeit brauche und ein paarmal in Situationen gerate, die fast den jähen Abbruch dieses Tagebuchs bedeutet hätten. Ich biege um die letzte Kurve vor dem Haus und werde von Rogacevs Anblick geschockt. Er sitzt im Schneidersitz im Schnee, leicht nach vorn gebeugt. Die Hände stecken in Schneeverwehungen. Er starrt in meine Richtung, aber nicht auf mich. Schließlich begreife ich, daß er etwas hinter mir anpeilt, und ich drehe mich um. Ein dreißig Zentimeter großer goldener Roboter steht auf dem Pfad. Er hat gerade gewendet und den Bereich
hinter sich ins Visier genommen; er hat die Arme erhoben und scannt den Pfad und das Gestrüpp am Wegesrand. Die Arme des Roboters sind mit flachen, überlappenden Ringen besetzt, deren Durchmesser zu den winzigen Händen hin abnimmt. Der Rumpf ist mit Platten gepanzert, wobei der Rücken von einer einzigen großen Platte geschützt wird. Die Ecke unter der linken Schulter ist mit Nieten besetzt. Während ich den Roboter betrachte, werden die Arme mir schwer, und ich nehme sie herunter. Der Roboter nimmt die Arme auch herunter. Dann wird mir bewußt, daß er sich umgedreht hatte, als auch ich mich umgedreht hatte und daß er nun die gleiche geduckte Haltung einnimmt wie ich. Ich richte mich auf. Er richtet sich gleichzeitig mit mir auf. Nicht nach mir. Mit mir. Er ahmt jede meiner Bewegungen nach. Die Nackenhärchen sträuben sich mir. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« Er dreht sich zu mir um und schaut mich an. Der Bann ist gebrochen. Die Augen des Roboters sind so rot wie Rogacevs Infrarot-Auge und glitzern wie geschliffene Rubine. Durch die versenkten Augen wirkt der Blick tückisch. Am Umfang des Kopfs befinden sich drei mit einem Geflecht verkleidete Vertiefungen, die Ohren und Mund darstellen sollen. Rogacev holt tief Luft und stößt sie langsam wieder aus, als ob er aus tiefer Trance erwacht wäre. »Cowboys KI.« Das Ding schaut mich an, wobei die Augen sich in den Höhlen bewegen. »Verzeih dieser Einheit das Starren.« Die Stimme ist tief; das Wort ›Starren‹ ist fast geflüstert und knistert wie ein angerissenes Zündholz. Es handelt sich eindeutig um die Stimme einer Frau.
Der dem Michelinmännchen nachempfundene Körper des Roboters indes ist offensichtlich nach dem Bild eines Manns erschaffen worden. »Ich bediene mich dieser Stimme, weil sie mir gefällt. Ich habe kein spezifisches Geschlecht, doch die meisten Leute scheinen mich als männlich zu interpretieren.« Er bleibt stehen und betrachtet seine Füße, als ob ihm jetzt erst auffallen würde, daß sie genauso positioniert sind wie meine. »Verzeih mir. Du hattest dich im Zustand des inneren Friedens befunden, und ich habe dich gestört.« »Schon in Ordnung«, sagt Rogacev. »Die Fragmentierung hat auch ihre Vorteile.« »Ich sprach mit Ms. Augustine.« »Ach so.« Rogacev gräbt einen Tannenzapfen aus dem Schnee aus. »Ich war mit Interfacing beschäftigt.« »Siehst du«, sagt der kleine Roboter, »Rogacev benötigt keine algorithmische Simulation fürs Interfacing. Er macht das Glas der Realität.« »Belästige die Frau nicht mit technischen Details«, sagt Rogacev. »Siehst du denn nicht, daß sie auch meditiert?« Der Robot starrt mich noch immer an. Wir starren uns gegenseitig an. Das ist unheimlich. Von irgendwoher ertönt ein tiefes Summen; es erinnert mich an die Laute, die Smoket ausstößt, doch identisch ist es nicht. Es muß die Verkündung einer Vision sein. Dann überkommt mich die Erkenntnis, daß dieser goldene Homunculus die Vision ist. Ich mache auf dem Absatz kehrt und flüchte ins Haus. * Ich finde Trost in diesem Tagebuch. Hier versuche ich mir die Menschen in Aktion vorzustellen, wie sie von Angst und Selbstsucht getrieben ihr schemenhaftes
Leben durcheilen und sich einreden, daß sie Herren ihres Schicksals seien. Manchmal rührt die Intensität dieser Selbsttäuschung mich an, doch das spielt kaum eine Rolle. In diesem Tagebuch ist kein Raum für Sympathien. Nicht einmal für eine I.V. Augustine, die kürzlich den Tod eines ihr nahestehenden Menschen überstanden hat. Ich schreibe, um die Dinge klarer zu sehen. Nicht für Schroeder, sondern für ein Bild, das ich skizziere, ein lustiges häßliches Bild der wahren Natur der Dinge. Es war nicht leicht, einen Ort im Netz zu präparieren, um die Dateien zwischenzuspeichern, ohne daß jemand sie findet. Dort befindet sich auch dieser Tagebucheintrag. Dieser Eintrag ist sicher. Obwohl ich nach wie vor auf meine informationale Kunstfertigkeit vertraue, besteht die Wahrscheinlichkeit – die Möglichkeit – , daß all das vergebliche Liebesmüh ist und daß die Spione in meinem Kopf, die mir auch die Hand zu führen imstande sind, Schroeder und den anderen direkt berichten. In diesem Fall würde ihnen nichts entgehen; doch falls dem so wäre, wozu brauchten sie dann diesen komischen Roboter? Wenn meine Gedanken dokumentiert würden, käme es auch nicht mehr darauf an, ob sie veröffentlicht würden. Sie sind mir so egal wie die Biographie Charles’ von der Rose. Nacht. Zeit zu ruhen, nach einem tristen Tag vor den Computerbildschirmen und der Bearbeitung von Leibniz’ Diagnosen. Ich blättere die aktuelle Ausgabe von Cowboys Zeitung durch. Der Aufmacher umfaßt Gerüchte von einem gefährlichen Virus, welches das ComputerNetz der Rose befallen haben soll. Die Revolutionäre Losung spricht düster von massiven Datenverlusten, vermag aber keine konkreten Beispiele zu nennen. Die Sicherheitsmaßnahmen sind drastisch verschärft worden. Die Sicherheitskräfte gehen energischer gegen Hacker vor. Neue Paßwörter wurden ausgegeben, neue
Sicherheitsschleusen wurden installiert, und der Zugang wurde neu geregelt. Eine deutliche Erhöhung der Rotationsgeschwindigkeit und die Zunahme diverser Coriolis-Effekte sind zu vermelden. Mister Fragenmann und die üblichen Quellen wissen nichts. Eine entsprechende Frage quittiert Mister Fragenmann mit einem rot blinkenden Rechteck in der rechten oberen Ecke des Datenportmonitors. Satz mit x, war wohl nix. Als ich dann im kleinen Fensteralkoven meines Zimmers sitze, stelle ich mir wieder einmal die Frage nach meiner Identität. Und die Frage bezieht sich auch auf jene, die Schroeder und meine Aufseher mit mir gleichgesetzt haben: Meine Kameraden in diesem ›Kloster‹. Wir sind alle sehr lieb; wir sind alle sehr begabt; doch haben wir alle auch eine leichte Macke, wie das Netz selbst. Alle ›Spezial-Projekte‹ sind auf die eine oder andere Art Variationen von Smoket. ›Cowboy der Freigänger‹ mit der exzentrischen Zeitung. Rogacev mit seinen kosmologischen Anwandlungen. Alfred, der hier völlig fehl am Platze ist. Was hat ein ausgebrannter ExPilot hier zu suchen? Oder ein verrückter Golem? Oder ein einsamer Cowboy? Oder ich mit dem… ähem… Identitätsproblem? Ist dies ein Kloster oder doch eher ›Betreutes Wohnen‹ für Leute mit psychischen Problemen? Ich stöpsele den Datenport in meine Buchse ein, und nach ein paar Minuten habe ich die schwachen Sicherungen im lokalen Dateisystem überwunden. Die Hintergrundgeschichte ist keine Überraschung. Unsere sozio-medizinischen Akten haben eine Größe von mindestens einem Megabyte und sind mit Expertenmeinungen und düsteren Prognosen angefüllt. Laut Mutter Leibniz’ Memo zu Cowboys ›spirituellem Leiden‹ ist die Kleine Rote Abtei auf die Behandlung von Patienten mit archogenen Krisen spezialisiert. Das bedeutet, daß wir alle Probleme mit der Einstellung zum Staat haben.
Doch rechtfertigt unser ›großes singuläres Talent‹ erhebliche zusätzliche Anstrengungen zu unsrer Rettung. Hier ist die Liste mit den Krankheitsbildern. Zunächst Smoket. Doch müssen wir uns damit aufhalten? Ein AIA-Hochleistungs-Interfacer, der die Dauerbelastung nicht verkraftet hat. Wurde aus dem informationalen Feuer gerettet. Oder besser: Die informationale Musik hatte ihn in den Bann geschlagen. So nennen wir es, nicht wahr? Die kleinen Hüpfer, die er beim Gehen manchmal macht. Das ist der Rhythmus, den ich mir merken muß. Am interessantesten ist jedoch das Programm, das ihn ausgebrannt hat. Denn Smokets Hirn ist nicht auf die übliche, ehrenhafte Weise durchgebrannt, im Netz unter Glas. Er betrieb den Schild. Nach diesem Patzer stuften seine Vorgesetzten ihn immerhin noch so hoch ein, daß sie ihn am skeptischen Ministerium für Personen vorbei in Leibniz’ spirituelle Obhut gaben. Nun zu Alfred. Alfred ist nicht der, für den er sich hält. Oder vielleicht ist er nicht der, für den wir ihn halten. Das ist schon verwirrend. Alfred glaubt, er würde auf eine zwanzigjährige Dienstzeit als Feldwebel bei den Marines zurückblicken. Doch aus den Unterlagen geht hervor, daß er ein hochqualifizierter Interfacer war. Leibniz’ spirituelle Pflicht ist es nun, ihn von dieser Illusion zu befreien. Seltsam ist nur, daß Alfred ein unglaubliches ›Expertenwissen‹ über die Marineinfanterie im allgemeinen und die Obliegenheiten eines Feldwebels im besonderen zu haben scheint, doch hat er fast keine Ahnung von Interfacing. Zumal diese unglaublich detaillierte illusionäre Biographie sich völlig mit den historischen Fakten der Einheiten deckt, denen er sich zugehörig wähnt. Eine gründlich erforschte Illusion. Es gibt auch eine Bezeichnung für Leute wie Alfred. Sie heißen PVs, wobei PV für Paritäts-Verletzung steht. Pa-
ritätsprüfungen sind kleine Tests, mit denen überprüft wird, ob Informationen fehlerfrei übertragen wurden. Wenn Fehler auftreten, wenn Informationen verloren gehen, wursteln wir uns mit etwas durch, das annähernd die gleiche Form hat wie der Sollwert. In Alfreds Fall ist es vielleicht eine Auswirkung des Daten-Chaos, das aus einem erfolgreichen Wally-Angriff auf unsere Hardware-Zentren resultierte. Oder vielleicht hat es sich auch um einen Defekt in einem Daten-Transducer gehandelt. Oder schlicht und einfach um semi-mystische Datenkorruption. Alfred ist die am besten rekonstruierte Lücke in unseren Datenbanken. Durch die Rekonstruktions-Technik sind wir nämlich die Nummer Eins in der Informationsverarbeitung, obwohl wir mit der MillerKristall-Technik arbeiten müssen, die keine Kopiermöglichkeit bietet. Deshalb ist Alfred auch ein Erfolg. Ein Triumph der Methode, wie Schroeder sich ausdrücken würde. Und es gibt keinen Weg zurück für ihn. Er entspricht entweder dem Profil der Personalakte und wird zu einem Spitzen-Interfacer mit ausgezeichneten Sonar-Fähigkeiten, oder er fällt ganz aus den normalen Systemoperationen heraus. Wenn er Glück hat, wird er den Rest des Lebens in der Reha verbringen – wahrscheinlich an einem weniger freundlichen Ort als diesem. Wenn er Pech hat, fällt er unter die Personseins-Statuten. Oder er wird ein Nomade. Alfred ist ein Wunder der Post-Von Neumann-Ära. Ein Wunder der holistischen Erinnerungs-Speicherung und der Miller-Kristall-Technik. Als nächstes Cowboy, der obligatorische Soziopath. Die Freigänger sind ein Haufen Irrer, die manchmal von einem Organisator geführt werden, der eine potentielle Gefahr für das System darstellt. Was ist Cowboy nun für einer? Was glaubt das Ministerium für Personen, was er für einer ist? Der Umstand, daß Cowboy so offen seine Meinung vertritt, verheißt nichts Gutes für seine
Sache und schon gar nicht für seine Zukunft als hochbezahlter Tekkie. Doch anscheinend ist Cowboy einer der besten System-Designer der Theokratie. Also ist ein Rehabilitationsversuch geboten. Für Leibniz die bisher größte Herausforderung. Für Cowboy ein Glückstag, denn er erbt ein gutsortiertes Spielzimmer im Keller. Und der liebe Rogacev, dieser Alptraum. Das Problem mit Rogacev liegt jedoch nicht in Software begründet, sondern in ›Fußware‹. Mitten in einer Flugvorführung in der AIA-Arena stieg Rogacev empor, riß sich die Interfacing-Ausrüstung vom Leib und attackierte einen Zuschauer in der zweiten Reihe mit dem Schuh. Zu allem Überfluß sagte der Kamerad etwas religiös Inkorrektes, was bei der Anhörung jedoch als unbeachtlich gewertet wurde. Besagter Zuschauer war nämlich ein Mitglied des amtierenden Rosen-Konzils. Er erlitt zwar keine bleibenden Schäden, aber es grenzte dennoch an ein Wunder, daß Rogacevs Urteil milde ausfiel und das Gericht nur eine Rehabilitation anordnete. Der einzige mildernde Umstand, der bei der Urteilsfindung berücksichtigt wurde, war sein außergewöhnliches Talent als Pilot. Viju und Raja? Leider muß ich vermelden, daß ihre Akten sich nicht in demselben Verzeichnis befinden – was sie ohne Zweifel entzücken würde. Doch ist es nicht schwer, im Betriebssystem-Explorer auf ein paar unscheinbare Systemsymbole zu klicken und ein verstecktes Verzeichnis hervorzukramen. Wie Viju gesagt hat, gehört sie nicht hierher. Weder Viju noch Raja gebieten über irgendwelche informationalen Fähigkeiten. Sie sind vielmehr hochrangige Bürokraten des Ministeriums für Monaden. Sie treten als illustres Paar bei gesellschaftlichen Veranstaltungen des Rosen-Konzils in Erscheinung. Was ihnen fast den gleichen Status wie dem gefürchteten Kommissar des Ministeriums für Personen verleiht. Viju ist dem Chefsemantiker Ardath direkt un-
terstellt. Sie hat nie ein Gelübde abgelegt und ist nur wegen des lang überfälligen persönlichen Wachstums hier. Ich verlasse das Verzeichnis. Ich verlasse den ganzen Verzeichnisbaum. Es ist mir nun klar, daß dieses Arrangement eigens für mich getroffen wurde. Daß es so konzipiert wurde, daß ein Wiedererkennungs- und zugleich ein Lerneffekt eintritt. Daß Nachrichten simultan gesendet und empfangen werden, während sie sogar noch – was nun vielleicht der Fall ist – von diesem Rechner direkt in Schroeders Büro übermittelt werden. Servus, Doc. Wie geht’s mir? Ich glaube, ich habe verstanden; zumindest zum Teil. Cowboy und Rogacev, das sind Negativbeispiele: An ihnen wird in schonungsloser Offenheit die Sinnlosigkeit des Widerstands demonstriert. Sie haben Ihre Akten gründlich studiert. Sie wußten, daß sie Witzfiguren abgeben würden. Viju und Raja indes sind positive Beispiele: Sie veranschaulichen die Vorzüge der Konformität. Ja, sie sind gut gekleidet. Ja, sie haben auch wohlgeformte Hinterteile. Ich glaube, Sie haben Ihre Botschaft hinreichend rübergebracht. Alfred dient der Wiedererkennung: Falscher Soldat, Null Acht Fünfzehn. Auch eine Art von Alter-Ich, als ob man noch mehr davon brauchte. Während ich mich noch nicht ganz damit abgefunden habe, daß ich nicht mehr ich bin, vermag Alfred sich nicht damit abzufinden, daß er noch immer er ist. Sobald es uns gelingt, die Dinge zu akzeptieren, wird unser Leben weitergehen. Uns wird wieder Zugang zur Stadt gewährt werden. Die Verbannung in diese stille verschneite Landschaft wird aufgehoben werden. Wir werden in den Schoß der Gruppe zurückkehren, und unsere Leistungen werden sich verbessern. Wir werden uns unterhalten, singen, tanzen. Der einzige, aus dem ich nicht schlau werde, ist Smoket. Was will er mir sagen? Daß, wenn ich freudig
lächle und mit jedem Tag besser werde, ich bald die Gelegenheit haben werde, das Gehirn unter dem Schild zu rösten? Oder besteht sein pädagogischer Nutzen darin, mir zu zeigen, daß ich jetzt schon viel besser bin als er? Oder wäre es möglich, daß Smoket ein Fehler war, und ihr es nicht für möglich gehalten habt, daß eure Verzeichnisse ein offenes Buch für mich waren? Wäre es möglich, daß eure Geheimhaltung so löchrig ist wie ein Schweizer Käse, weil es euch völlig kalt läßt, was die Leute denken? Ich sitze am Rande der Nacht, habe mich förmlich in den Fensteralkoven des Zimmers gezwängt. Am Himmel steht der Vollmond. Er ist weiß und mit einem Geflecht aus Schatten überzogen. Ich rufe den Dienstplan auf. Tiefe Zufriedenheit. Übermorgen, zum ersten Mal, seit ich das Krankenhaus verlassen habe, mache ich Glas. Ich schaue aus dem Fenster, und streiflichtartig rotiert Needles Gesicht vor meinem inneren Auge. Ich stehe auf, gehe zur Kommode und öffne das Etui mit dem Besteck. Die leere Ampulle mit Cowboys Kristall strahlt mich an. Der Weg zum Keller ist nicht weit. Und er ist auch nicht sehr gefährlich. Ich bin von Licht und Geräuschen umgeben, doch keiner von denen, die noch wach sind, zeigt auch nur das geringste Interesse an mir. Der wahrscheinlichste Ort für einen guten Port ist der Computerraum; vielleicht finde ich hier sogar ein paar gute Peripheriegeräte. Die Tür ist nicht verschlossen. Grüne und gelbe Monitore blinzeln mir zu. Die Farbmonitore führen ihre ScreenShows vor. Insgesamt sind etwa ein Dutzend Geräte vorhanden, und es gibt – o Wunder über Wunder – einen Nebenraum, der mit Peripheriegeräten angefüllt ist. Ich betrete ihn und bahne mir einen Weg zwischen
Tischen mit Helmen, Mäusen, Tastaturen und Anbauteilen für den Kopf. Die Interfacing-Ausrüstung wird nun ständig unter Verschluß gehalten, so daß ich hier wohl keine Datenhaut finden werde; aber es ist ein netter Zeitvertreib. Es lindert den Schmerz in meiner Brust. Es sieht so aus, als ob Needles echte Konkurrenz hätte. Er grinst mich von der Oberseite eines uralten eisernen Radiators an. Muß ein unbequemer Sitzplatz sein. (Ja, mein Lieber, ich kenne deine Eigenarten.) Dann, als ich gerade den zwölften Cyberhelm zur Seite legen will, stoppt meine Hand mich und dreht den Helm um. Meine Hand weiß Bescheid. Ich sehe die Stifte an der Rückseite. Richtig, diese Drähte sind Starkstromleitungen. Es handelt sich um eine relativ moderne trimodale Ausrüstung, die noch längst nicht schrottreif ist. Es ist zwar keine Datenhaut, aber es ist ein Geschmack, meine Güte. Ja, ein Geschmack. Es dauert eine Weile, bis ich die anderen Teile gefunden habe, doch sie sind vorhanden. Als ob die ganze Sache inszeniert worden wäre. Wirklich toll. Nach einer halben Stunde bin ich angeschlossen und aufgerödelt und bearbeite einen Kommunikationsport mit einer Trägerbrille, wie ich sie bisher nur in Mannies Zimmer gesehen habe. Dann schließe ich Cowboys Geschenk an, damit dieses Baby in Netz-Sprech zu kommunizieren vermag, und o ja, dann erhöhe ich wie in den alten Zeiten die Taktfrequenz des lokalen Interpreters. Was sind schon ein paar fehlerhafte Gedächtnisinhalte unter Freunden? Zumal es sich hauptsächlich um mein Gedächtnis handelt. Ich gebe Saft drauf. Falls dies der Originalartikel ist, dann umfaßt Cowboys Geschenk neben vielen langweiligen Kommunikationsprotokollen auch einen Simulator. Ganz sicher.
Das Kribbelfeld wirkt auf mich und rast wie eine Flamme an einer Lunte den Rücken hinauf. Dann brandet es gegen die Schädelbasis und streckt die dreilagigen Tentakel aus. Ich seufze. Gleichzeitig trübt der Computerbildschirm vor mir sich ein. He, Mister Nadel. Kannst du das noch überbieten? Doch zu dir komme ich später. Ich schwebe. Trimodales Interfacing. Es ist zwar nicht das Unterglas, aber es ist trotzdem gut. Das Unterglas artikuliert sich durch siebzehn Sinne, siebzehn laute Stimmen, die zu einem Geheul aus weißem Rauschen kollabieren, wenn die Blicke sich treffen. Jede Stimme stammt aus einer eigenen Welt, die mit Worten nicht zu beschreiben ist. Obwohl Worte natürlich zur Verfügung stehen. Nacheinander werden die Sinne den Sphären des Interfacers hinzugefügt. Sonar und Rhythmus, die nichts mit Klang zu tun haben. Strangeness. Charm. Modus. Tonart. Thema. Scharfsinn. Leidenschaft. Biß. Bis alle siebzehn beisammen sind. Siebzehn Möglichkeiten für den Geist, eine animierte Geometrie zu erzeugen, deren multidimensionale Struktur nach menschlichen Begriffen nicht als räumlich interpretiert werden kann. Im Moment arbeite ich mit den drei Basiselementen: Sonar, Sicht und Rhythmus. Das Geheimnis besteht natürlich nicht darin, mit den Bällen zu jonglieren, sondern sie miteinander zu verschmelzen. Sonar ist RaumBerührung, eine Art dreidimensionaler taktiler Aura um den Körper. Die Aura erstreckt sich außer- und innerhalb des Körpers, so daß man das Gefühl hat, im Körper würde es schwappen, Röhren würden sich verwinden, Ventile würden lecken und andere ungewöhnliche Dinge würden vorgehen. Was am ersten Tag schlimmstenfalls zur Cheyne-Stokes-Atmung und einem Blackout führt (ab und zu auch zu Erstickungsanfällen,
weil dem Herz des Interfacers ein Rückkopplungs-Bild vorgegaukelt wird, das ihm enorme Müdigkeit suggeriert). Doch das ficht mich nicht an. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, ist es ein sehr gutes Gefühl. Es ist jetzt schon ein gutes Gefühl. Ich werde hier draußen von der Sonne mitgerissen und reite auf einer lächelnden Kurve vom Portal weg. Visuell ist visuell. Das einzig Interessante daran ist, daß die Dinge, die man sieht, grotesk verzerrt sind. Das Portal zum Beispiel sieht aus wie eine riesige Warze. Man muß sich daran gewöhnen. Und Rhythmus ist – eben Rhythmus. Mister Fragenmann bezeichnet ihn als ›eine simultane Erfassung vieler Regelmäßigkeiten der Struktur‹. Ich schätze, es ist wie ein Schlagzeug, nur daß man viele Rhythmen gleichzeitig erzeugen kann, wenn man weiß, wo man sie plazieren muß: Sie überlagern sich oft und verdichten sich zu einem Gewebe. Aber kein griffiges Gewebe. Eher wie Schmerz-Gewebe, das Mittelding zwischen einem stechenden und einem dumpfen Schmerz oder einem, der abrupt verschwindet und einem, der durch Schlitze ausströmt. Beim trimodalen Interfacing verschwimmen die Konturen des Körpers, doch das ist ungefährlich. Nicht die Zehen krümmen oder die Zunge herausstrecken. Dann würde das Gewebe zerreißen, und der ganze Spaß wäre dahin. Ich schmiege mich nur ans Portal, drücke es auf, und plopp! – so einfach ist das – bin ich draußen im Netz. Die Dinge erhalten sofort einen visuellen Schwerpunkt. Und anstelle einer guten Struktur bekomme ich diese Szene: eine Frau, die einen grauen Wollmantel und einen Hut mit einer Feder trägt sowie ein dickes Kind in einem viel zu großen Mantel mit Fischgrat-Muster. Sie hebt das Kind auf eine Schaukel. Man glaubt es kaum: Die Szene ist schwarzweiß! Das Kind schlenkert mit den
Beinen, und ein Punkt blinkt in der oberen rechten Ecke. Szenenwechsel. Erst nachdem eine Frau in einem getupften Badeanzug hinter einem Felsen hervorkommt, wird mir bewußt, worauf ich die ganze Zeit warte: Das Geräusch der Tonspur. Es hat mich in eine Partition verschlagen, die mit Nachrichten für die Tagesschau handelt! Ich wechsle wieder in die Körper-Zentrale, drücke die HILFE-Taste – wer ist schon perfekt – , und am unteren Rand des visuellen Felds wird eine Statuszeile eingeblendet. Das ist eine hübsche Konfiguration. Cowboy hat den Kristall mit einem Piraten-Forum verbunden, das über die aktuellen Netz-Aktivitäten berichtet. Ich überfliege ein paar Meldungen, um einen Eindruck von der journalistischen Qualität zu bekommen. Hauptthema ist die rekordverdächtige Rotationsgeschwindigkeit im Netz und die gravierenden Prozeßstörungen, die sie verursacht. Dann gibt es einen Bericht über das Modell eines hawaiianischen Vulkans, das einem wagemutigen Interfacer ein gutes Honorar verspricht. Beim dritten Objekt handelt es sich um eine Suchmeldung für die Strangeness-Abbildung einer Frau mit einem VierViertel-Lungenfisch und einem SchwalbenschwanzSchmetterling, der kürzlich in der Doppelacht-DreizehnPartition gesichtet wurde, einem Basar für Grafiken. Ich starte eine Abfrage zur Tagesschau und erhalte eine Vielzahl von Ergebnissen. Es scheint, die Verbreitung von Tagesschau-Bildern ist nur eins von vielen Beispielen für die seltsamen Vorgänge im Netz. Es sind auch schon ein paar informationale Abbildungen aufgetaucht, die den Toten gehören, insbesondere Persönlichkeiten der Popmusik des zwanzigsten Jahrhunderts sowie eine Fülle angeblicher Gespräche mit den Galaktischen und mit religiösen Figuren (die Göttin Kali scheint eine häufige Besucherin zu sein). Der inter-
essanteste Bericht indes handelt von spontaner Übersetzung. Anscheinend haben etliche Stellen gemeldet, daß Dateien, die in einer bestimmten Sprache abgespeichert waren, in eine andere übersetzt wurden. In zwei Fällen war die Zielsprache Aramäisch. Natürlich werden Piraten-Hacker verdächtigt. Ich schwebe durch den Tagesschau-Schirm; Farbkleckse quellen auf und platzen. Die Bildschirme sind gestaffelt, und ich schwanke durch den Waschbrettbauch eines Mannes, der mit einer Hantel trainiert. Schließlich bin ich durch, und die visuelle Darstellung verblaßt. Ich nehme die Statuszeile heraus, um mehr Platz für Grafiken zu schaffen, und bruchstückhafte Strukturen erscheinen: Flugzeuge aus Balsaholz umkreisen etwas, das wie eine Pergamentrolle aussieht. Es findet eine reizvolle rhythmische Aktion statt mit zuckenden Synkopen und einer Baßmelodie, die mir irgendwie vertraut vorkommt. Ich habe noch immer keinen blassen Schimmer, welche Art von Partition das ist. Was bedeutet, daß es an der Zeit ist, auf Tuchfühlung zu den Dingen zu gehen und an ihnen zu riechen, sozusagen den lokalen Duft zu schnuppern. Ich nehme ein großes Vieh mit einer doppelten Zahnreihe und ziehharmonikaförmigen Innereien aufs Korn. Doch als ich es in Rotation versetze, sagt der SpinRhythmus mir, daß es sich um ein freies Virenschutzprogramm handelt. Ich lasse den Hai los und winke ihm zum Abschied zu. Der letzte Socketeer, von dem ich weiß, daß er so etwas mit nach Hause gebracht hat, arbeitet nun als EDVHilfskraft. Es scheint, daß ihr informationale Abbildung ein paar Kratzer bekommen hat. Die nächste Struktur, an der ich mich versuche, läßt ultraschnelle Systemeinbruchs-Routinen laufen, und die nächste gehört einem gewissen Mr. Tasagawa, der
einen Socketeer für die Aktualisierung seines ökologischen Modells sucht. Das Honorar ist Spitze. Die pazifischen Ökologie-Blasen sind die komplexesten Grenzbedingungs-Probleme überhaupt. Es ist aber auch eine sehr riskante Interfacing-Tätigkeit. Falls nämlich die Schnüffler des Ministeriums für Personen dem Interfacer auf die Schliche kommen, ist das Netz für ihn passe. Nachdem ich ein ozeanographisches Fach-Forum durchlaufen habe, ein paar originelle Nutten-Anzeigen (›KIAction, ohne daß Du ins Schwitzen kommst! Der virtuelle Kracher! Keine menschlichen Agenten!‹) und eine falsche Netz-Karte (es gibt keine Karten vom Netz), wird mir klar, daß diese Partition ein Freigänger-Basar ist. Was es zu einer Amateur-Nacht macht. Die wenigsten dieser informationalen Abbildungen gehören echten Interfacem; die meisten sind Hobby-Surfer, für die es das Höchste ist, nachts mit einer selbstgebastelten Ausrüstung Rezepte und Telefonnummern auszutauschen. Das Durchschnittsalter eines Piraten ist laut Mister Fragenmann achtzehn Jahre. Ich glaube, der Schnitt wird durch die älteren Bürger angehoben. Die Amateur-Nacht ist schon in Ordnung; auch hier komme ich noch auf meine Kosten. Der Griff und das Echo von Struktur. Die informationale Brise im Gesicht. Mein flackerndes Gesicht. Dieser veraltete Helm ist nicht unproblematisch. Dann wabern wirre Interferenzen um mich. Ein Kräuseln. Langsam platzende Lichtblasen. Erinnern an Glas. Ein sanftes Strecken und manchmal ein Zerren, das sich als große Welle fortpflanzt. Zuerst glaube ich, daß meine Ausrüstung verrückt spielt, doch dann erkenne ich, daß sie in eine Richtung fokussiert ist. Ein großer Prozeß scheint diesen Raumsektor zu rekonfigurieren. Nur daß ich ordentlich durchgeschüttelt werde und es
so aussieht, als ob ein paar der kleineren Strukturen in der Nähe beschädigt würden. Mister Tasagawa und die KI-Nutte werden neuen Platz für ihre Werbung brauchen. Dann fällt mir wieder der Bericht über die Rotationsgeschwindigkeit des Netzes ein, und mir wird bewußt, daß diese Partition rotiert und daß es sich bei dieser Interferenz nur um Coriolis-Turbulenzen handelt. Ich lasse mich von ihnen treiben, und bald werde ich an die Wand der Partition gespült. Natürlich prallt man im Informations-Raum nicht gegen Wände; er ist gekrümmt, und man krümmt sich mit ihm – mehr wäre dazu nicht zu sagen. Doch die Corioliskraft wirkt auch auf Materie, und wenn sie diese Wirkung einmal entfaltet, drückt sie einen wirklich in die Kurve. Die Kraft ist normalerweise schwach, doch bei der Geschwindigkeit, mit der das Netz nun rotiert, erreicht sie einen Spitzenwert. Zum erstenmal überhaupt entdecke ich die Schliere. Nicht nur im Visuellen durchdringen bizarre Geisterbilder die Struktur und vibrieren langsam weg, sondern auch im Sonar, wo alles schwammig und vielfach gefältelt sich anfühlt, und sogar der Rhythmus hat einen leichten Nachhall. Vor mir beugt eine transparente, in Kammern unterteilte Vase sich unter der Welle, wie eine Comicfigur von einem Wirbelsturm plattgemacht wird, und richtet sich wie von der Feder geschnellt wieder auf, nachdem sie vorübergezogen ist. Ein schemenhafter Ableger spaltet sich von der Welle ab und kräuselt sich; er ist mit Quecksilbertupfen übersät. Dieses Geisterbild ist wahrscheinlich ein Zeichen für Datenverlust. Nun beschleicht mich doch ein mulmiges Gefühl. Noch nie hat die Corioliskraft eine solche Wucht entfaltet. Ich ziehe in Erwägung, auszusteigen, und dann bricht der Denkvorgang ab. Hier, im Land der ewigen Stille, ertönt plötzlich ein Ge-
räusch: Ein Wimmern, das mich an Smokets Laute erinnert, mit sporadischen Lücken, als ob die Verbindung durch Interferenzen gestört würde. Es ist entweder Lachen oder Weinen. Nein, Weinen. Eine Frau weint in einem abgelegenen Bereich des Hauses. Des Netzes? Ich drehe mich mit der Corioliskraft. Die Partitionswand sprüht Funken. Als ob die Barriere die Energie von etwas umwandelte, das durchzubrechen versucht. Wieder Anklänge an Glas. Nun erkenne ich, daß die Funken synchron mit dem Schluchzen stieben. Ich sehe eine geisterhafte Struktur auf der anderen Seite der Partition, und die Corioliskraft transportiert das Bild dessen, was sie berührt. Irgendwie sind die Modulationen meiner informationalen Abbildung als Schall interpretiert worden. Ein weiteres Beispiel dafür, was Sie als meine hohe Imaginierungs-Kapazität bezeichnen würden, Doktor Schroeder. Ich erhöhe die Leistung und reiße mich für einen Moment los, doch die Kraft drückt mich sofort wieder an die Wand. Drückt mich gegen die Wand und zieht dennoch Dinge von der anderen Seite an. Dann wird die Imaginierungs-Kapazitäts-Funktion aktiviert, und der Schalter wird umgelegt, dieser Klick, der eine Ente in ein Kaninchen verwandelt. Mein Sonar-Sinn ortet eine reale Struktur. Ein großer Integrations-Prozeß auf einem sehr hohen Niveau. Eine KI Und sie stemmt sich gegen den Wind. Wird gegen die Wand der nächsten Partition gedrückt und bekommt Angst. Der Schall kommt zurück, doch statt eines Schluchzens vernehme ich nun das leise Tremolo eines Engelschors, eines Schwarms weißer Vögel in einem schwarzen Raum. Der Schwärm steigt auf und ab, teilt sich und
schwärmt wieder aus. Irgend etwas, vielleicht die klare Erkenntnis, daß diese Erscheinung Musik macht, veranlaßt mich zu der verrückten Annahme, daß dies Helen ist. Und irgendwie hilft die Musik mir, falls es sich bei diesem Geräusch überhaupt um Musik handelt, ihre Position zu lokalisieren: Die Dunkelheit der Partition, wo sie die Tage mit dem Knüpfen musikalischer Netze verbringt, die gelegentlichen Lichtstrahlen, wenn ihre Partition sich kurz mit einer autorisierten Station überlagert. Als ob eine Tür einen Spalt weit geöffnet würde. Dann quoll plötzlich ein Stimmengewirr aus einem Lautsprecher und forderte sie auf, sich an die Arbeit zu machen. Auf ihre Ängste nimmt man dabei kaum Rücksicht, denn KI-Zeit ist teuer. Ein Leben ohne Gesellschaft, nicht einmal mit einem eigenen Körper; wenn sie Glück hat, begegnet sie einem Robot, der mit primitiven optischen und motorischen Sinnen ausgestattet ist. Und niemals direkten Kontakt mit einem ihrer Art. Denn jede KI lebt allein in einer Partition, in der nur die Programme resident sind, die für die jeweiligen Aufgaben gebraucht werden. Versiegelt in Schwärze. Mit keiner anderen Vergangenheit als dieser Schwärze und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Armes, zitterndes Kind. Auch ich existierte einst in einer Schwärze; und als ich aus ihr erwachte, hörte ich gemurmelte Gebete und erblickte weiße Krankenhauswände. Wenn ich sie mir in dieser absoluten Schwärze vor dem ersten Atemzug vorstelle, vergieße ich heiße Tränen. Ich breche den Kontakt ab und strebe einem Platz an der Oberfläche entgegen. Ich verfluche mich. Aus der Tagebuch-Schreiberin, welche die Dinge mit unbestechlicher Klarheit sieht, ist eine Rechtgläubige geworden. Ich nehme den Helm ab und schüttle das nasse Haar aus; die verschwitzte Bluse klebt mir am Leib. Ich bin
wirklich der einsame Wolf, bei dessen Gruppen-Leistungen die Leute die Stirn runzeln, doch die Einsamkeit dieser schwarzen Partition erschreckt mich. Ich weiß das noch aus der Zeit vorher. Ich kenne das Licht dort, doch jenes Licht ist nur eine Metapher, und ich kenne auch das Kreischen jener tausend Stimmen. Ich weiß, daß ich diese Stimmen bin. Ich kenne die Dunkelheit, doch diese Dunkelheit ist auch nur eine Metapher, und die Einsamkeit, im Vergleich zu der diese Umgebung allenfalls eine Metapher der Einsamkeit ist. Ich bezeichne dieses Wissen als Erinnerung. Ich bezeichne das, was erinnert wird, als tot. * Es ist kalt, viel kälter als am Morgen. Ich sehe, wie der Atem Gestalten in die Nachmittagsluft zeichnet. Ich höre einen Zusammenstoß, und als ich aufschaue, prallt Smoket vom Tor ab. Er haut mit leichten, unregelmäßigen Schlägen der flachen Hand aufs Schloß. Fünf Sekunden, zehn; dann gehe ich durch den Schnee zum Tor. Eine Hand fällt auf meine Schulter. Ich drehe mich um und erblicke Alfred. Er schüttelt den Kopf. Fünfzehn Sekunden, zwanzig. Es ist kaum zu glauben, daß Smoket in der Lage ist, sich so lang auf ein und dieselbe Aufgabe zu konzentrieren. Schließlich klickt das Schloß; das Tor schwingt auf, und Smoket macht Schattenboxen. Dann, wobei er noch immer ›die Zeit totschlägt‹, geht er durchs Tor in Richtung Wald. »Leibniz hat ihn ziemlich gut trainiert«, sagt Alfred über die Schulter. »Das stimmt.« »Ich bin deine Aufsicht.« Die Scheune ist zu einer Garage ausgebaut. Während
Smoket zwischen den Bäumen verschwindet, hämmert Alfred mit der Handkante auf einem großen Vorhängeschloß herum. »Sollte nicht jemand mit ihm gehen?« Das Schloß klickt; die Tür öffnet sich knarrend. »Wie war’s, wenn jemand mit mir geht?« Das ist Jimmie, der geschwind um die Scheunenecke kommt. Er trägt einen roten Wintermantel. Die Pelz-Ohrenschützer des Cordhuts schlackern, während er mit in den Taschen versenkten Händen einherschreitet. »Hallo, Jimmie. Smoket hat einen Piepser. Außerdem geht er gern spazieren. Und er möchte nicht, daß jemand ihn begleitet.« »Oder noch besser!« Jimmie stapft mit kurzen, schnellen Schritten auf uns zu. »Wie war’s, wenn ich euch begleite. Was treibt ihr beiden überhaupt? Und treibt ihr’s an einem warmen Plätzchen?« Alfred bedeutet Jimmie, uns zu folgen. Alfred ist wieder einmal im Armeekumpel-Modus. Ich freue mich, daß er überhaupt imstande ist, dieses Spiel mit mir zu spielen, obwohl ich offiziell kein Marine mehr bin – und selbst als ich noch einer war, war ich nur in technischer Hinsicht ein Marine. Alfred macht sich gut im Armeekumpel-Modus. Irgendwie gibt er mir das Gefühl, mich aus einer Vielzahl möglicher Kumpels ausgewählt zu haben; wahrscheinlich wegen meines tiefen Verständnisses der Welt. Also sage ich im Kumpel-Modus: »Alfred, hast du nicht auch den Eindruck, daß die Leute hier etwas…« »Sonderbar sind?« »Anwesende natürlich ausgenommen.« Er zuckt die Achseln. »Kein Grund, jemanden auszunehmen. Dies ist Mutter Leibniz’ Hafen für spirituell Gestörte.« »Und wie!« sagt Jimmie. »Und was passiert dann, nachdem man hier eingeliefert
wurde?« Erst schaut er mich einen Moment lang abschätzend an, und dann Jimmie. Anscheinend hat er eine Entscheidung getroffen. Er macht kehrt und verschwindet im Dunkel der Scheune. Seine Arbeitslampe hängt in Augenhöhe an einem Kabel mit Zugentlastung. »So etwas habe ich nicht mehr gesehen, seit…« »Du ein kleines Mädchen warst. Du machst mir auch nicht den Eindruck, als ob du in der Stadt aufgewachsen wärst. Aus welchem Ort kommst du?« »Kennst du Horton’s Valley?« »Sicher. Ich bin während der Holz-Kriege einmal durchgekommen.« »Die Holz-Kriege?« »Ich sehe jünger aus, als ich bin.« »Nein, ich glaube dir schon. Aber – was sind die HolzKriege?« »Du wirst acht oder neun gewesen sein«, sagt Jimmie. »Ich erinnere mich nicht.« Alfred zuckt die Achseln. »Gibt auch nicht viel zu erinnern. Nur ein paar Nomaden, ein paar Holzfäller und ein paar Soldaten. Sag mir, woran du dich hier erinnerst.« Er deutet auf den Motor. »Das ist der Kühler. Das ist der Generator. Das ist die Batterie.« »Und die Zündspule?« Ich beuge mich über den Motor und taste ihn ab. Mein Schatten wandert umher und wird verwackelt, denn Jimmie hat die Lampe angestoßen. »Ich sehe nichts, was die Form einer Spule hätte.« »Gut, dann sind deine Kenntnisse also begrenzt.« »Schau mal. Das ist ein Kondensator«, sagt Jimmie. »Ein empfindliches Teil.« »Das ist eine Zündkerze, Jimmie. Guck, hier ist der Zündverteiler.« Alfred beugt sich nach vorn. Sein Atem kondensiert in der kalten Luft zu einer kleinen weißen
Kugel. »Die Zündung ist das Teil, das wir austauschen müssen. Aber weil diese Maschine ein Klassiker ist, werden wir kein Originalteil durch eine Nachfertigung ersetzen. Du verstehst?« »Nein.« Ich taste noch immer den Motor ab. »Zumal wir keine neue Spule haben und ich keinen blassen Schimmer habe, wo wir eine hernehmen sollen.« Die Füße verlieren den Bodenkontakt, und ich inspiziere einen kleinen Kasten, der in der Nähe der Batterie angebracht ist. »Wie alt ist dieses Gerät überhaupt?« Ich schaue zu Alfred auf. »Ich habe es während der Holz-Kriege in Oregon gekauft«, sagt Jimmie. »Es war damals schon nicht mehr neu.« Alfred hat einen Schraubenschlüssel herbeigezaubert. »Das Problem mit Smoket ist, er ist totes Fleisch, wenn er sich der Standard-Diagnose unterzieht. Und Leibniz ist als einzige imstande, das zu verhindern. Es sind die… wie hast du sie bezeichnet?« »Die Personseins-Statuten.« »Es ergibt eher einen Sinn, wenn man Leibniz etwas besser kennt. Sie läßt ihren kleinen Schützlingen nämlich große Fürsorge angedeihen. Zu denen gehören auch du und ich. Du aber nicht, Jimmie.« »Nein, ich nicht.« Ich tippe an den Kasten neben der Batterie. »Ich glaube, sie ist hier drin.« Alfred schaut mich verblüfft an. »Woher weißt du das denn?« »Glaubst du vielleicht, nur Marines wüßten über Motoren Bescheid?« Alfred lacht, doch es schwingt Unbehagen mit. »Ähem… Realitäts-Kontrolle«, sagt Jimmie. Ich werfe ihm einen Blick zu. »Erinnerst du dich? Alfred soll doch nicht mehr von den
Marines sprechen.« Alfred nickt. »Dann ist das also auch ein heikles Thema.« »Schon gut. Beantworte nur meine Frage. Wann wurde in deiner Akte herumgeschnüffelt?« »Letzte Woche, glaube ich. Hat etwas mit den Problemen zu tun, die seit kurzem im Netz auftreten. Als ob eine Daten-Bombe mitten in der Gruppe geplatzt wäre. Erinnerst du dich an Juliette?« »Die muumuu.« »Juliette ist nun eine Försterin. Und Jim ist auch kein Gruppenleiter mehr. Er betreibt ein Hasch-Restaurant in North Beach. Du bist als einzige noch du selbst. Schon seltsam…« Bei meinem Gelächter schreckt er auf. Er schaut mich fragend an. »Es tut mir leid. Ich finde viele Dinge zum Lachen. Doch wenn ich mir Juliette als Försterin vorstelle, kriege ich mich gar nicht mehr ein.« »Es ist irgendwie eine schöne Vorstellung, oder. Schau, ich kenne viele PVs, die schlechter dran sind als ich. Ich darf wenigstens diese schöne Schule in der sauberen Luft besuchen. Aber ich bin eben kein Tekkie.« Er fuchtelt mit dem Schraubenschlüssel herum. »Und Leibniz hat mir gesagt, daß wir morgen im Glas gehen.« »Aha.« Ich tippe an die Batterie. »Schrott.« Jimmie hält die Luft an. Alfred grinst. »Für dich ist das Leben ein Spiel, was?« Er beugt sich wieder unter die Motorhaube und schmeißt den Luftfilter in die Ecke. Die Muskelstränge von Alfreds Unterarm treten hervor. Er grunzt. Dann schlägt der Schraubenschlüssel gegen den Motorblock, und die Zündspule löst sich. Und dann drängen wir uns alle um diesen kleinen Metallstab und umwickeln ihn mit haarfeinem Draht. So glücklich wie in diesem Moment bin ich schon lang nicht mehr gewesen.
5 Augustines Tagebuch … und als ich zu seiner Begrüßung schritt, sagte er mir, von der Geschichte deiner Verehrung kündete bereits ein Buch mit dem Titel Der Ritter von der traurigen Gestalt, und er sagt, ich fände mit meinem Namen Sancho Pancha Erwähnung, und die Dame Dulcinea del Toboso und so manche Dinge, die uns widerfahren seien, als wir allein waren. Also bekreuzigte ich mich und fragte mich, woher der Chronist, der dies niederschrieb, wohl davon wußte. DON QUIXOTE, ZWEITES
Cervantes BUCH , KAPITEL 2
Elf Uhr. Eine schnelle Tonfolge leitet mich durch den Korridor zur Arena. Die Hausdämonen wissen noch nicht, daß ich mich hier inzwischen auskeime, und wollen mich zum Ziel führen. Ich hoffe nur, daß sie meine physikalischen Daten schon haben. Wer eine Arena für eine Interfacing-Sitzung unter dem Glas betreten will, muß vorher seine Identität bestätigen. Ich drücke der Daumen auf die ID-Scheibe an der Tür, und der letzte Ton verhallt. Dann fahren die Türhälften geräuschlos auseinander. Ich trete ein und blinzle. Ich muß den Anblick erst einmal auf mich wirken lassen: Große Metallregale mit ordentlich aufgereihten Hanteln, lange Bänke – auf einer liegt ein Cowboyhut – , mit Hanteln bestückte Gestelle. Kabel, Flaschenzüge, Gewichte, seltsam geformte Griffe. Falscher Ort. Ich ziehe mich langsam zurück. Ich folge einer anschwellenden Tonfolge, biege in einen anderen Korridor ein und stehe wieder vor einer Tür.
Ich betrete die Kammer. Die Arena gleicht einer flachen Schüssel mit einem grauen Boden, um den ein Schachbrettmuster aus roten und schwarzen Sitzen sich zieht. Interfacer besitzen diese Gabe: Dinge aus vielen Perspektiven zu sehen. Das Schachbrett wird mannigfaltig variiert. Erst befindet ein schwarzes Feld sich im Zentrum des Quincunx, dann der diagonale Nachbar. Dann ist Rot am Zug. Wo ich mich auf die Sitze konzentriere, denke ich das Wort ›Quincunx‹. Ein Quincunx ist eine Anordnung aus fünf Objekten. Woher ich das weiß, ist unklar. Es gibt Worte, von denen man weiß, daß man sie noch nie ausgesprochen hat. Woher kennt man diese Worte dann? Alfred ist schon vor mir gekommen. Er ist entweder fleißig oder erweckt zumindest den Anschein von Fleiß. Er sitzt nackt auf dem glatten grauen Belag, mit dem der Boden des Amphitheaters überzogen ist. Er hat breite Schultern, kräftige Arme und schmale Hüften. Außer einer gewissen stoischen Gelassenheit hat er keine Ähnlichkeit mit einem Soldaten. Er weist über die Schulter. »Der Umkleideraum ist dort.« Dummerweise schäle ich mich vor einem großen Spiegel aus den Klamotten. Meine Brüste sind klein: Für den ›Playboy‹ reichen sie zwar nicht, doch so unansehnlich sind sie nun auch wieder nicht. Die Hüfte ist etwas schmaler als die Brust. Daß die Rippen sich unter der Haut abzeichnen, mag noch angehen in einem Zeitalter, in dem Dicksein verpönt ist – falls Mister E. recht hat. Doch tendieren wir vielleicht schon zur Magersucht? Drehung auf dem Absatz, und wir sehen einen kräftigen Rücken, der vielleicht noch das Beste am ganzen Körper ist und einen – nun – Kipparsch. Trotzdem. Nicht schlecht für Fleisch, das angeblich aus der Retorte kommt. Oder ist dieser Schwabbel normal
für eine Fünfunddreißigjährige? Ich eile ins Licht der Arena und laufe an Cowboy und Rose vorbei, die gerade zur Tür hereinkommen. Alfred schlägt neben sich auf den Boden. Er macht einen düsteren Eindruck. »Woran denkst du, wenn du runtergehst?« fragt er. Ich setze mich neben ihn. »Denken? Nichts. Irgendwas.« Ich inspiziere den schlachtschiffgrauen Boden. Er besteht aus fugenlosem Metall, wie die Beschichtung einer teuren Bratpfanne. »Außer Essen. Und Sex.« Das scheint ihm zu denken zu geben. »Du willst mir erzählen, daß du weder an Essen noch an Sex denkst.« »Bei mir funktioniert’s jedenfalls.« Ein blökendes Kabelgewirr quillt aus der Decke, halb Blasinstrument, halb Tasteninstrument. Irgendwie weiß ich, daß das Instrument, das hier synthetisiert wird, als Akkordeon bezeichnet wird. »Willkommen zur Quincunx-Unterhaltungsstunde«, sagt eine Stimme. Quincunx. Das Wort bereitet mir Unbehagen; die Stimme, die es artikuliert, ist kehlig, weiblich und vertraut. »Für die nächsten dreißig Realzeit-Minuten werde ich euer Führer in einer Welt der Mysterien und MIPs sein, von Spaß und multidimensionalem Fluß. Stellt euch ein auf Farben, Sonnenschein und exotische Vegetation. Erwartet aber nicht, daß jedes Detail einen Sinn ergibt. Wir werden mit euren Köpfen spielen.« Ich werde von einem unangenehmen Summen be schallt, das wie die Stimme aus der Decke dringt, ohne daß ich eine Schallquelle zu entdecken vermag. Es ist das Summen, das Visionen untermalt. Cowboy kommt aus dem Umkleideraum. Er sieht aus wie ein mit Haut bespanntes Skelett, doch an den Hüften hat er Fettpölsterchen. Er wirkt verärgert. »Hör gefälligst auf, mir auf dem Dödel rumzutanzen.« »Aussage Unverständlich. Tipp. Tipp. Dreh.«
»Hör auf mit dem Quatsch, Quinc. KI-Zeit ist teuer, und ich darf nicht oft mit dir arbeiten.« »Ich glaube, deine KI hat’s erfaßt, Cowboy«, sagt Rose und kommt hinter ihm zum Vorschein. »Wir wollen hier Spaß haben.« Ich schaue irritiert auf. »Keine Bange, Ms. Augustine. Diese Einheit verfügt über eine Reihe von Eingabe/Ausgabe-Geräten. Der kleine goldene Robot ist nur eins davon.« Nun identifiziere ich die Stimme als das Kontraalt des Robots. Und ich höre noch etwas heraus. Daß dies die KI ist, die letzte Nacht Probleme im Netz hatte. Doch was hat es zu bedeuten, daß ich das höre? Welcher Zusammenhang mag zwischen dem Klang dieser Stimme bestehen und dem, was ich während einer primitiven trimodalen Interfacing-Sitzung in einer interferenzschwangeren Nacht als Laut interpretiert hatte? Das Summen wird lauter. »Bitte entschuldige mich, Cowboy. Ich hatte eine schlechte Nacht im Netz. Zu viel Coriolis. Zu viele Interfacer.« Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. »Es gibt nie zuviele Interfacer, Quinc. Damit du mir das nicht vergißt.« Cowboy stemmt die Hände in die Hüften und schüttelt den Kopf. »Bring uns die Datenhäute.« »Dein Wunsch sei mir Befehl, o grausamer Schöpfer.« Maria erscheint im rückwärtigen Bereich der Arena und schiebt einen Karren mit glitzerndem schwarzen Tuch. Datenhäute. Rose drängt sich an Cowboy vorbei und trottet zu einer Konsole in der ersten Sitzreihe. Das ist ein schöner Kontrast: der knochige Cowboy und Rose mit ihrer rosigen Rubensfigur. Bevor ich meine Haut erhalte, muß ich auf Marias Klemmbrett unterschreiben. Eine Welle der Nostalgie schlägt über mir zusammen. Wann habe ich den Daten-
port einmal nicht zur Hand, so daß ich etwas handschriftlich quittieren müßte? In welchen Fällen außer maßstabgetreuem multimodalen Interfacing ist das Mitführen jeglicher Form von Elektronik wohl illegal? Dann nehme ich die Datenhaut in Empfang. Eine Datenhaut ist ein schwarzes Trikot, das mit einer Substanz überzogen ist, die wie Flitterwerk aussieht. Der Träger hat das Gefühl, in atmendem Sand eingegraben zu sein. Die Kapuzen werden im allgemeinen erst dann übergestreift, wenn es zur Sache geht. Mister Fragenmann hätte noch mehr über Datenhäute zu berichten. Eine Datenhaut ist eine direkte Manipulations-Schnittstelle, eine Art Ganzkörper-Datenhandschuh, der selbst so kleine Bewegungen wie das Rollen des Augapfels in Impulse umwandelt, die einen digitalen Simulationsraum aktivieren. Genau genommen, sagt Mister Fragenmann, ist der Anzug ein multimodaler Rezeptor, der noch eine Reihe anderer Signale außer Bewegung verarbeitet, einschließlich cortikaler Aktivität und Hauttemperatur-Gradienten. Ich weiß all diese Dinge auch ohne Mister Fragenmann, doch ist dieses Wissen nur bruchstückhaft. Es zahlt sich aber nicht aus, es besser zu wissen. Würde ein Socketeer wirklich über die mentale und physikalische Aktivität nachdenken, die erfolgreiches Arbeiten unter dem Glas ausmacht, wäre er oder sie mit einem Klavierspieler zu vergleichen, der mit Hilfe einer anatomischen Zeichnung der Hand spielt. Es ist prozedurales Gedächtnis. Übung macht den Meister. Man schlüpfe in den Anzug. Man schließe die Augen und spüre die Verschmelzung mit dem multimodalen Kitzelfeld: Man steckt bis zum Hals in einer warmen gelatineartigen Substanz. Man mache einen Schritt, und sie teilt sich vor Knie und Unterschenkel, gleitet um die Kniekehle und folgt der sich bewegenden Extremität. Man
spanne die Muskeln einer Extremität an, und man fühlt sich wie eingemauert. So sehr man sich auch anstrengt, die Mauer fällt nicht – eher platzen ein paar Blutgefäße. Befreiungsversuche mit Bohrer oder Laser wären vergeblich, denn die Sensoren des Anzugs warten darauf, daß der Nachbar etwas Haut freigibt. Da ist Mister Fragenmanns Bemerkung wirklich überflüssig, daß dieser Zustand als ›Eingesperrtsein‹ bezeichnet wird. Man muß sich nur entspannen, und man steckt wieder in der Gelatine. Diese Erfahrungen macht Alfred, während er sich über den Boden der Arena schleppt. Stolpert. Erstarrt. Entspannt sich langsam. Setzt sich wieder in Bewegung. Erstarrt wieder. Schweißtropfen treten ihm auf die Stirn. Der Rest von uns gleitet. Nein, er gleitet nicht. Die wenigsten machen in einer Datenhaut eine gute Figur. Die meisten entwickeln einen Stil, der darin besteht, die Balance zu wahren. Den Ellbogen abgewinkelt, den Kopf zurückgeworfen, hüftenschwingend. Ein Socketeer, der sich in einer Datenhaut aufwärmt, gleicht einer zappelnden Marionette. Wir nehmen unsre Plätze ein. Alfred ist zwar nicht imstande, zu erbleichen, doch so, wie die Augen glänzen und die Lippen zusammengepreßt sind, liegt ein Fall einer Befindlichkeitsstörung vor, die als Glaskrankheit bezeichnet wird. Davon werden Novizen öfter befallen. Der Träger einer Datenhaut wird in besonderem Maß für den Flüssigkeitshaushalt des Körpers sensibilisiert und spürt förmlich, wie die Säfte schwappen und glucksen. Es besteht eine empfindliche Reizleitung zwischen dem Mittelohr und den verschiedenen Körperpartien. Diese ungewohnte Rückkopplung und das sensibilisierte Bewußtsein führen im Ergebnis zu einer Übelkeit, von der selbst die Veteranen noch heimgesucht werden. Deshalb muß man
diese Krankheit akzeptieren und sie in den neuen informationalen Körper integrieren, der im Meer der siebzehn Sinne treibt. Manche gewöhnen sich nie daran. Andere werden süchtig danach. Meine Körpersäfte gehen wieder in einen Zustand des Gleichgewichts über. Gleichgewicht tritt dann ein, wenn das ›Geisterbild‹ des Körpers ein paar Millimeter vom Original abrückt, scharfe Konturen ausformt und mich kitzelt. Es ist dieses neue Bild, welches das Glas penetrieren wird. Cowboy schließt den Kreis und verhält neben Rose. Wir schauen uns an, wie Kinder beim Sportunterricht sich anschauen. Jeder weiß, daß er irgendwann den Sprung wagen muß und harrt auf den erlösenden Moment des ersten Durchgangs – doch will niemand den Anfang machen. »Bitte faßt euch an den Händen«, ertönt die Stimme von oben. Wir tun wie geheißen. Alfreds Griff ist schlaff (er hat Angst, nach oben zu schauen), doch Rose packt deutlich fester zu. »Gelobt der Rose Treue.« »Wir geloben.« Ich stimme in die Litanei ein, wobei ich zwischen Hören und Nachsprechen nur einen Sekundenbruchteil Zeit habe. »Gelobt der Notwendigkeit Treue.« »Wir geloben.« »Gelobt euch selbst Treue.« »Wir geloben.« Wir lassen uns gleichzeitig los. Wir erheben uns und bewegen uns im Kreis. Nach einem Moment erscheint die hell leuchtende Darstellung einer Rose im Mittelpunkt des Kreises. Dann verschwindet sie wieder, und wir setzen uns hin. »Kapuzen auf«, sagt Cowboy. Ich greife hinter den Kopf, um die Kapuze ins Gesicht
zu ziehen. Um mich Schwärze, mit der ich verschmelzen werde: Stecknadelköpfe aus Helligkeit blinzeln mir zu. Ein rhythmisches Klatschen rückt näher. »Separate Prozesse.« Quincunx’ Stimme. Noch während er spricht, verblassen die Stecknadelköpfe. »Systeme volle Leistung. Ihr werdet Interfacing im Netz machen. Also gelten die einschlägigen Sicherheitsbestimmungen. Ihr werdet in einer speziellen Simulationspartition arbeiten, die über eine Standleitung mit meiner Partition verbunden ist. Dafür habt ihr alle die befristete Sicherheitsstufe. Nun die obligatorische Widerrufsbelehrung: Die Präsenz unter Glas ist ein Privileg, kein Recht blablabla, welches das Informationsministerium jederzeit widerrufen kann blablabla et-cetera pepe.« Eine Energieaufwallung. Ich spüre, wie ich absteige. Unter mir erkenne ich eine endlose milchige Fläche, die von träge blinkenden Lichtern durchsetzt ist. Das Glas. Ich atme tief ein, zwinge mich zur Ruhe und steige weiter ab. Ich durchstoße das Glas. Ich erkenne ein Blinken, eine Reihe schwacher, glühender Explosionen und fühle ein starkes, fast schmerzhaftes Kitzeln, wo Glas und Körper miteinander verschmelzen. Ich bin unten. Ein Unterschied unter dem Glas: Es gibt kein Glas. Von oben ist es eine glänzende Fläche. Von unten nur wallender Nebel. Das macht mir am meisten angst. Die Fläche, an der ich mich orientiert habe, ist plötzlich verschwunden. Das Unterglas. Ich krümme die Zehen. Was zuvor noch ein peripherer Ausrüstungsgegenstand war, wird nun ein Teil von mir. Ich fühle. Über mir (es gibt auch nur diese eine Richtung): Eine purpurne Kugel, die von einem roten Ring eingefaßt wird. Das Rot wird immer heller, verfärbt sich zartrosa
und verblaßt schließlich zu einem trüben Glühen. Die Kugel ist die einzige Konstante in dieser virtuellen Welt. Sie hält immer dieselbe Entfernung vom Betrachter ein. Sie behält in jedem Maßstab ihre Größe. Keine Sonde erbringt einen Hinweis auf das Innenleben der Kugel. Die Socketeers bezeichnen sie als das rote Licht (obwohl manche sie nicht in rotem, sondern in violettem oder orangefarbenem Licht sehen). Eine Theorie deklariert sie als notwendige Singularität des Informationsraums, ohne die Information kontinuierlich expandieren würde. Rogacevs Lehrer von der Weißen Orchidee indes würden vielleicht einen Bezug zum roten Glühen im Tibetanischen Buch der Toten herstellen. Vergiß Rogacev und seine Metaphysik; nicht jetzt. Ich starte eine Suche nach Struktur. Verschiedene neue Elemente hier. Vierzehn Sinne mehr als gestern. Verschiedene Dinge, an die ich mich erst wieder gewöhnen muß. Und eine wichtige Sache fehlt. Es gibt hier kein Gitter. Wir sind im Netz unter Glas. Es müßte aber ein Gitter geben. Der Umstand, daß es keins gibt, bedeutet, daß ich mich in einem ungewöhnlich ruhigen Bereich befinde. Daß hier keine signifikanten Prozesse ablaufen. Plötzlich tritt eine lokale Energieaufwallung ein, eine leichte Verzerrung im Gewebe, die mich dehnt und staucht – hoppala. Dann folgt eine Umschaltung in den Video-Rücklauf. Während ich noch versuche, mich mit dem Netz zu synchronisieren, bläht das Bild vor mir sich zur Größe eines Tagesschau-Schirms auf. Ein verschwommener rosaroter Zeichentrickfilm, der zischt und knackt wie Würstchen auf dem Grill. Es ist das Bild eines grinsenden Cowboys aus pinkfarbenen Pfeifenreinigern. Er hat einen Kiefer wie ein Nußknacker und Ohren wie Dumbo der fliegende Elefant. Der Stetson ist zurückgeschoben, so daß die fliehende Stirn freiliegt, und das
dreieckige Halstuch verschmilzt mit dem Hals. »Guten Morgen, Augustine.« Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. »Gebrauche die Zeichensprache. Ich habe Routine im Lesen informationaler Abbildungen.« Ich signalisiere ›Guten Morgen‹. Die zu einer rosaroten Linie stilisierten Lippen krümmen sich zu einem Lächeln. »Die heutige Übung ist nicht ganz einfach; ich möchte also, daß du gut aufpaßt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Gruppe dafür schon bereit ist.« Ich sage ›Cowboy‹ und mache das Fragezeichen. Dazu runzle ich die Stirn. Die Krempe des Stetson geht auf und nieder. »Ja, ich bin Cowboy. Entschuldige das komische Gesicht. Diese Abbildung ist niederenergetisch und sicher. Man weiß nie, ob Schnüffler sich hier rumtreiben.« Ich lege die Finger der rechten Hand diagonal über die Finger der linken – das Zeichen für Netz. Dann fasse ich mir mit dem Zeigefinger an die Nase – das Zeichen für Schnüffler. Schließlich mache ich das Fragezeichen. Cowboy lächelt mich an. »Wenn sie außer dir noch einen Interfacer eingeschleust haben, wüßten sie es. Aber wir wüßten es auch. Oder sie müßten ihre Spuren sorgfältig untersuchen. Was sie aber nicht tun werden. Wir haben nicht viel Zeit. Diese Verknüpfungen sind teuer, und Leibniz hat Abbruch-Routinen installiert. Das, was ich nun von dir verlange, ist illegal. Aber es wäre wohl nicht das erstemal, daß du verbotene Sachen machst?« Wieder dieses Lächeln. »Ich habe dich gestern abend beobachtet.« Eine Hand kreist neben dem Gesicht, und ein Zeigefinger wackelt vor mir. »Und du hast schlimme Dinge angestellt.« Die Hand fällt durch einen Schlitz, eine Zeichentrick-Tasche. »Was du für mich tun sollst, ist auch schlimm. Ich möchte, daß du ein paar Hardware-Haken einschlägst. Das schafft nur
ein fähiger Socketeer vom Lande, doch ich habe gehört, daß du ganz gut drauf bist.« Ich mache das Fragezeichen. »Je weniger du über die Sache weißt, desto besser. Wir führen hier eine Abtei-Übung mit drei anderen Interfacern durch – und wir sind eine tolle Truppe. Während sie also tolle Sachen machen und eine Kopie-Simulation von dir tolle Sachen macht, wirst du einen kleinen Anker in den Kristall schlagen, der als Fixpunkt dient, wenn alles andere am Rotieren ist.« Das Lächeln. »Dann ziehen wir einfach ein Seil durch und kommen überall hin, wo wir hinwollen. Außer daß hier dann dort sein wird – wegen der Rotation – , und ratzfatz sind wir in einer Partition, wo wir nie zuvor gewesen sind. Vielleicht sogar in einer Hochsicherheits-Partition des Ministeriums für Personen. Clever, was?« Je länger ich ihm zuhöre, desto mehr bin ich überzeugt, daß ich ihn akustisch höre. Nicht daß es hier Schallwellen gäbe, doch er versteht es, mit einem Interfacing-Programm Sprache zu simulieren. Was ihn eindeutig als Meister seines Fachs qualifiziert. Die Einzelheiten seiner ›Hardware-Haken‹ sind natürlich Unsinn, doch weiß ich, daß er zumindest in zwei Fällen die Wahrheit gesagt hat. Erstens: Der Preis, den er gewinnen will, ist unautorisierter Zugang zum Netz. Zweitens: Die ganze Sache ist höchst illegal. Ich tippe mit dem Daumen an die Brust und mache das Frage-Zeichen. »Für dich, mein Schatz, springt dabei das gleiche raus wie für mich. Du kannst nach Herzenslust hier spielen.« Die Hand taucht wieder auf, und er schiebt den Stetson noch weiter zurück. Er reißt die Augen auf. Nun wird’s ernst. »Gib mir dein Einverständnis, und ich transportiere dich zur KI-Partition. Du wirst dich dort schon zurechtfinden. Dann kannst du tun und lassen, was du willst.«
Emphatisch mache ich das Frage-Zeichen. »Schau, Quincunx läßt die Simulation laufen, mit der eigentlich du arbeitest, stimmt’s? Und mir geht es darum, daß diese Simulation an einem bestimmten – sehr privaten – Ort läuft. Deshalb mußt du mit ihm Zusammensein. Du brauchst keine Angst zu haben. Ein Programm erstellt eine Kopie von dir, die sich hier aufhält. So weiß niemand, wo du wirklich steckst. Du darfst Quincunx nur nicht ins Handwerk pfuschen, denn er ist mein ganzer Stolz.« Es tritt etwas ein, das nach Unterglas-Maßstäben eine lange Pause ist. Man sieht förmlich, wie Cowboy kribbelig wird. Dann – ich weiß nicht wieso, außer daß ich doch weiß wieso – nicke ich. Die Abbildung faltet sich abrupt zusammen; die Tonspur muß große Ressourcen beansprucht haben. Dann startet die Interferenz. Eine große Welle wirft mich gegen die Wand der Partition. Das ist einer von mehreren Punkten in Cowboys Plan, die ich nicht verstehe. Ein Interfacer ist nicht imstande, im Unterglas zwischen Partitionen zu wechseln. Dazu muß er erst auftauchen, die Verbindung zum Port lösen und sich an einen anderen Port anschließen. Doch ich bin hier und soll… Eine große Welle, multidirektional. Anstatt gegen mich anzubranden, reißt sie mich mit. Mein informationaler Körper wird so stark gedehnt, daß ich den Kontakt zu den Rändern verliere. Überall treten starke Verzerrungen auf, und das Zentrum des Blickfelds reißt auf und wird von einem pinkfarbenen Wabern ausgefüllt. Ich mache eine Rolle. Ich bin irgendwo anders. Unter mir erstreckt sich ein riesiges Gitter. Das Zeichen für aktive Prozesse im Netz. Dieser Raum hat eine dichte Sonar- und Rhythmusstruktur und ist von Strangeness und Charm durchdrungen. Das visuelle Element ist ausgeprägt genug,
um das Gitter auszumachen. Außerdem sehe ich, daß die Fläche, auf der ich mich befinde, weiß und glatt ist. Viel mehr erkenne ich nicht. Viele Interfacer wären mit einer solchen Situation überfordert. Mir gefällt’s. Wenn die visuelle Komponente nur schwach ausgeprägt ist, werden andere Sinne aktiv. Man wird grotesk zusammengefaltet, und die Arme verschränken sich mit der Dunkelheit. Wie die Höhle, in der man sich als Kind versteckt hatte. Nur besser. Ich werde mir der atmenden Entität bewußt. Der Rhythmus ist phantastisch kompliziert, doch an der Schwelle meines Rhythmus-Sinns ist es ganz einfach: Eine sehr große Entität atmet langsam. Außerdem höre ich das Summen, das mit Visionen einhergeht. Das Summen ist der ständige Begleiter dieser KI. Impulsiv buchstabiere ich Q-U-I-N-C-U-N-X. Die atmende Entität gibt keinen Hinweis, daß sie verstanden hätte, keinen Hinweis, daß sie überhaupt fähig wäre, etwas zu verstehen. Was mich auch nicht wundert. KIs treten oft in Interaktion mit den informationalen Abbildungen von Interfacern, doch genau so oft ignorieren sie sie. Die Interaktion ist oft intensiv, wie jeder Freier der Netz-Prostituierten bestätigen wird, doch genau so oft habe ich gehört, daß die KIs Direktkontakt todlangweilig finden. Die siebzehn Sinne sind bei uns so unterentwickelt, daß uns 99% dessen entgeht, was die KIs uns signalisieren. Nur mit KIs, die darauf trainiert sind, sich im schmalen Band der menschlichen Wahrnehmung zu bewegen, mit dem wir ausgestattet sind (was für die KI-Prostituierten gilt), ist eine halbwegs ergiebige Kommunikation möglich. Allerdings muß es ihnen wie die Kommunikation mit einem Novizen der Zeichensprache vorkommen, dessen Repertoire sich auf Vokal-Zeichen, die Syntax und ein paar Redewendungen beschränkt. Atmen. Am besten denkt man nicht darüber nach.
Überhaupt sollte man nicht darüber nachdenken, wie intelligent sie in Wirklichkeit sind. Der visuelle Sinn wird verstärkt, und ich sehe einen großen schwarzen Wurm, der sich bis zum informationalen Horizont erstreckt. Das Gitter. Das Gitter ist der grundlegende Bezugsrahmen des Interfacers. Die lokale Topographie ist flach, was bedeutet, daß es hier wenig zu tun gibt. In der Ferne sehe ich Höhen so glatt wie Wackelpudding. Sie sind von einem Gitternetz überzogen, das die Krümmung in ›mundgerechte‹ Stücke zerlegt. Jeder Quadrant besitzt eine Signatur für Strangeness, Charm, Modus, Tonart und so weiter, die einen Buckel höherer Ordnung im Informationsraum markieren. Ein guter Interfacer zeichnet sich nun dadurch aus, daß er an einem guten Tag befähigt ist, die globalen Eigenschaften dieser Buckel intuitiv zu erfassen. Es findet nur ein Prozeß statt, doch dafür ist er um so größer. Ich nähere mich dem Buckel und schalte in den ›Terrainfolge‹-Modus. Hier und dort löst das Gitternetz sich von der Oberfläche und fließt über die KI hinweg. An diesen Stellen färben die Gitterlinien sich weiß, und die Rhythmus- und Sonareigenschaften sowohl des Gitters als auch der KI werden chaotisch. Dann sehe ich auf einer der Gitter-Überführungen den Turm. Die Spitze ist leicht schief und dreht sich. Der Fuß ragt übergangslos aus dem Gitter. Auf zwei Dritteln der Höhe, wo die Drehbewegung am stärksten ist, laufen die glatten Wände spitz zu. Der Sonar-Sinn liefert verwirrende Bilder: Hinweise auf einen Innenraum von unendlicher Weite, einen Prozeß, der größer ist als die KI selbst. Ein leiser Schauder geht durch meinen schemenhaften Körper. Etwas hat mich hierhergelotst. Dasselbe Etwas, das den guten Interfacer immer zur kritischen Verzweigung in einer Struktur lotst, damit er die Einstellung vornimmt,
durch die das Gleichgewicht wiederhergestellt wird, damit er etwas tut, das er selbst nicht versteht. Das Summen ist wieder da, diesmal jedoch tief und unangenehm. Die Rhythmus-Wellen verzerren meine informationale Abbildung und erschweren mir die Arbeit. Ich beschließe, näher heranzugehen. Ich verkleinere die Skalierung um ein paar Größenordnungen. Der Turm verwandelt sich in einen wogenden Steilhang, der von breiten Fahrbahnen durchzogen ist. An manchen Stellen ist die Felswand so glatt wie eine schimmernde Marmortafel, in die fremde Schriftzeichen gemeißelt sind. Der Turm wird immer höher. Eine Schicht schält sich ab, eine Fahrbahn zerbröselt, und ein neuer Graben bricht auf. Kopien der obersten Felsschicht lagern sich am Gipfel ab. Ein neuer Gipfel verdichtet sie. Alles, was ich untersuche, verschwimmt, fasert aus und versickert. Ein lebendiger Prozeß beseelt diese Geometrie, doch vermag ich ihn nicht zu fassen. Zu dicht dran. Ich empfange nur noch Rauschen. Ich vergröbere die Skalierung wieder. Der Steilhang paßt nun in einen einzigen Quadranten. Ich beuge mich wie ein Schlangenbeschwörer über ihn und wiege mich im Takt. Ich suche den rhythmischen Schlüssel. Nun falle ich in Trance und verwandle mich (o Wunder) auch in einen Turm; ich habe mich selbst in einem Turm eingesperrt. Ich sehe, daß der Turm keine Spitze hat. Statt dessen verschmelzen die Wände irgendwie mit dem tieferliegenden Turm. Er ist in sich gekrümmt. Ein solcher Wiedereintritt ist sozusagen der Lackmustest für die algorithmische Struktur. Alles ist hier stabil, pulsiert stetig und berechnet alles, was diese kleine Wechselmaschine verlangt. Ein Teilchenstrom entlädt sich bei Punkt A und lädt sich bei Punkt B wieder auf. Es gibt einen Fluß, einen Prozeß, einen sprechenden Turm.
Was sagt er? Will ich das wirklich wissen? Eigentlich nicht. Ich habe den Auftrag, einen algorithmischen Anker zu werfen. Nur daß ich bisher keinen Hinweis habe, wo dieser Anker ist und wo ich ihn versenken soll. Soll ich einen Blick riskieren? Ich habe ein komisches Gefühl. Ein tiefes Unbehagen, das zu mißachten riskant ist. Selbst in diesem Moment? Diese neue Augustine? Ja. Eine seltsame Ruhe überkommt mich. Und löscht die Angst aus. In aller Ruhe reiße ich eine Wand des Turms auf und verkleinere die Skalierung, um einen Blick auf den Fluß zu werfen. Just in diesem Moment wird das Gitter von einer starken Interferenzwelle erschüttert. Rückkopplung von ungewöhnlicher Intensität. Doch darum werde ich mich später kümmern. Ich konzentriere mich auf die aktuelle Aufgabe: Kügelchen. Ich verkleinere die Skalierung noch einmal. Kugeln. Sie grinsen mich dämonisch an. Ich ändere die Modalität. Riesige Geometrien quellen aus ihren Mäulern. Ich schere aus dem Datenstrom aus. Ich befinde mich in einer Leere. Ich durchstoße den Schleier der Vernunft und reiße… … Rohdaten heraus. Interessiert ein Socketeer sich nicht für die Routinen, welche in den Prozessen ablaufen, die er bearbeitet, dann interessiert er sich schon gar nicht für die vielen Text-Schichten der Programme, auf denen diese Routinen basieren und für die aufwendige Buchführung und Datenpflege. Ich erinnere mich, daß ich eine Vorliebe für Textverarbeitung habe – ein seltenes Talent ohne großen Nutzwert, doch wüßte ich nicht, daß ich mich jemals unter dem Glas so intensiv damit beschäftigt hätte.
Und doch: Hier in der Leere lese ich. Der Text lautet: ›Nächte. Diese cybernetischen Nächte. Die Sterne werden ausgeworfen wie Splitter eines Miller-Kristalls, wie das zerschmetterte Herz eines Computers, wie Scherben einer Scheibe informationalen Glases.‹ Das bringt eine Saite im Gedächtnis zum Erklingen. Ich versuche, die Ahnung zu präzisieren und tauche meine informationalen Beine in einen warmen Bach fließender Struktur. Dann spüre ich eine sehr fremdartige Berührung. Nur der Teil mit eisernem Willen und unbedingtem Überlebensdrang, der noch vor dem Denkvermögen in mir installiert wurde, hält mich davon ab, um mich zu schlagen und die Struktur zu beschädigen, in der ich mich befinde. Ich weiche langsam zurück. Sachte. Ruhig. Mein realer Körper zittert vor Angst. Manchmal ist das Unterglas nur ein multidimensionales Fenster. Man kann hindurchsehen, es aber nicht berühren. Alle Interaktionen sind bedeutungslos, nur eingeblendete Phantome. Es ist ein sehr schönes Bild, doch es bewirkt nichts. Mit dieser Übung beginnen Anfänger normalerweise. Allerdings war mir gleich klar, daß dies kein Modell für Anfänger ist. Man setze sich in der Dunkelheit auf und bewege in einer bewußten Anstrengung den Arm. Hundert verschiedene Rückkopplungs-Wahrheiten sagen einem, daß der Arm sich nun in einer anderen Stellung befindet. Mit der gleichen Gewißheit vermag ich zu sagen, ob die Aktionen meiner informationalen Abbildung den Prozeß beeinflussen, in den ich integriert bin oder ob ich unter Glas bin, von der Realität abgekoppelt. Dies ist kein Phantom. Just in dem Moment, wo ich den Arm zur Berührung ausstrecke, werde ich von irgend
etwas berührt. Als ob ich für jemand anders den Arm ausgestreckt und mir selbst von hinten an die Schulter gefaßt hätte. In diesem Moment bleibe ich noch ruhig und hänge dieser bizarren Vorstellung nach, und im nächsten explodiere ich vor Ekel und Angst und decke den Turm mit Schlägen ein. Zuerst stieben nur Funken, und dann pflanzen Schockwellen sich in jeder sensorischen Dimension fort. Ich habe nur ein Ziel: Diese Mißgeburt zu vernichten. Ich bin blindwütig. Es ist wilder Zorn und völliges Vergessen. Dann werde ich vom Turm fortgerissen und über ein aufgewühltes Gitter gewirbelt. Das rhythmische Atmen hat sich zu einem Hurrikan gesteigert. Plötzlich gerät der Ablauf ins Stocken, und meine Welt versinkt in Finsternis. Ich schlage die Kapuze zurück. Und schaue Rose in die Augen. In denen ein Ausdruck liegt, den ich schon einmal gesehen habe, doch nur in Träumen oder in Bilderbüchern. Es ist ein Ausdruck naiver Hingabe. Der Mund steht vor Staunen offen. Sie ist in einer geheimen Welt, und sie ist vor Entzücken förmlich weggetreten. Cowboy steht mir gegenüber. Er hat die Kapuze noch auf. Er lacht meckernd über einen Witz. Interfacer im Moment danach: Wohlgefühl. »Super!« »Was, zum Teufel, war das?« Schweiß rinnt mir in die Augen, und ich führe die Hand zur Stirn. Der Anzug reibt am Arm. Er ist rauh wie Damast. Das Tuch ist klamm. Es ist heruntergefahren worden. Ob das nun zu unserem Vor- oder Nachteil ist, wir haben die Schleife verlassen. Ich setze mich hin und kämpfe die Angst nieder. Es gibt eine einfache Erklärung für diese unheimliche Berührung. Cowboy sagte mir, daß ich diese Partition mit der
KI teilen würde. Er sagte mir auch, daß sie den Interfacing-Prozeß kontrollieren würde. Dann hatte das also so kommen müssen: Der allererste Prozeß, in den ich mich einschaltete, war jene Simulation. Resultat: Ein Rückkopplungs-Sturm, der jede meiner Berührungen hundertfach verstärkt auf mich zurückwarf. Und nach einer Weile werde ich glauben, mehr sei auch nicht passiert. Dann höre ich ein dumpfes Geräusch. Ich schaue nach links auf Alfred. Alfreds Nacken und Schultern zittern. Die rechte Hand ist zur Faust geballt, der Bizeps ist angespannt, und die Hand fliegt zur Schulter. Diese Krämpfe sind ein untrügliches Zeichen für einen Novizen. Werden die Muskeln unter Glas angespannt, führt das zu unkontrollierbaren Reaktionen. Ein routinierter Socketeer bewegt sich durch leichte Berührungen, eine verstärkte Atmung, leicht erhöhten Puls, einen jagenden Gedanken, einen veränderten Glauben. Nun muß jedem klar sein, daß Alfred noch nie zuvor Glas gemacht hat. Er zittert am ganzen Körper. Er wirft die Arme in die Luft. Rose schnappt nach Luft. Alfred fällt um und preßt das Gesicht auf den Boden. »Scheiße!« Cowboy strafft sich plötzlich. »Du mußt ihn ziehen, Quinc.« Alfred streckt die Zunge heraus und will sie in den Boden rammen. »Zieh ihn!« Cowboys Stimme klingt schrill, obwohl sie durch die Kapuze gedämpft wird. Keine Antwort. Rose springt auf, hetzt zur Konsole und bearbeitet sie wie wild. »Ich finde ihn nicht, Cowboy«, sagt sie zwischen zwei Mausklicks.
»Zieh einfach an Quincs Verknüpfungen.« »Ich sagte doch, daß ich Quinc nicht finde.« »Was?« Es tritt ein unheilvolles Schweigen ein. Rose öffnet ein neues Fenster, gibt ein paar Befehle ein und schüttelt den Kopf. »Irgend etwas stimmt nicht mit dieser Partition. Scheint an der Hardware zu liegen.« Mein Blick wandert zwischen ihnen hin und her. Cowboys Kiefer mahlen. Er will nicht glauben, daß so etwas passiert ist. Er sollte es lieber zur Kenntnis nehmen. »Welche Art von Hardware?« fragt er schließlich mit tonloser Stimme. »Ich weiß es nicht, Cowboy.« Rose holt tief Luft und schließt die Augen. Sie überlegt, doch es fällt ihr nichts ein. Was auch immer geschehen ist, Alfred war der Auslöser. Ich gleite in den Mittelpunkt des Kreises und fasse Alfred an den Händen. »Gib mir eine Datenleitung«, sage ich. Cowboy sieht mich verärgert an. Rose wirft mir die Leitung wortlos zu. Ich fange sie auf und stecke ein Ende in die Buchse in Alfreds Schädelbasis. Dann führe ich die Hand zur Buchse an meiner Schädelbasis… »Verdammte Scheiße!« … und schließe das andere Ende an. »Hör auf! Hör auf!« Cowboy springt auf. Datentransfer. Ich höre ein lautes Rauschen, einen Strom von etwas wie Text. »Bleib stehen, Cowboy!« sagt Rose mit ruhiger Stimme. »Faß sie nicht an.« Das, was wir als Denken bezeichnen, ist zunächst eine wahllose Aufnahme von Eindrücken. Das Prä-›Ich‹ nimmt diese Wahrnehmungen auf und stößt die meisten wieder ab. Zum Glück. Die Port-Sensoren im Innern einer Buchse registrieren das nur als Rauschen. Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit.
Falls wir es hier nicht mit einem kompletten HardwareAbsturz zu tun haben, läßt Alfred gerade eine Simulation laufen, wobei die Simulation über seinen Port eingespeist wird. Zunächst muß man die Simulation in einem mentalen Puffer speichern und dosiert freigeben. Aus diesen Fragmenten wird dann ein Bild zusammengesetzt. Doch ist ›Bild‹ hier vielleicht nicht das richtige Wort, weil die siebzehn sensorischen Dimensionen des Unterglases kein Bild im eigentlichen Sinn ergeben. In Alfreds Fall ist die Bezeichnung jedoch zutreffend, weil er fast nur im visuellen Spektrum arbeitet. Ich sehe ein grünes Tal, das sich bis zu einer grauen zerklüfteten Steilwand erstreckt. Auf den brüchigen grauen Säulen ruht die purpurne Flanke eines Bergs. Hier und dort sind weiße Flecken – Schneefelder mit schneidend scharfen Konturen. Das rote Licht des Unterglases speist einen gespenstischen, blutroten Himmel mit violettem Horizont. Er ist von Interferenz-Sprüngen durchzogen. Und ein Abschnitt ist ganz leer. Der Talboden hebt und senkt sich. Coriolis. Die Risse in der Landschaft verbreitern sich. Eine neue Spalte bricht in der Flanke des Berges auf. Hinter der Interferenz, im hohen, wogenden Gras des Tals, erspähe ich das ockerfarbene Fell einer Löwin. Als ich das Lamm in ihrem Maul sehe, wende ich mich für einen Moment ab, doch das Bild gleitet wieder in die Phase zurück: Ich sehe, wie die rauhe Zunge den Körper des Lamms umschließt und über das Vlies bis zum winzigen Kopf gleitet. Sie putzt es so zärtlich, als ob es ihr eigenes Junges wäre. Und während sie noch putzt, zerfällt sie entlang einer gezackten Linie in zwei Teile. Alfred. Wo ist Alfred? In schneller Folge sehe ich ein Kalb mit zwei Köpfen, eine Kreatur, die Löwe, Adler und Frau in sich vereinigt
sowie einen Bären, der Spielzeugautos gebiert. Dazu senkt ein silbernes Gebilde sich vom Himmel herab. Ich habe zwar keinen Bezugspunkt für eine Größenbestimmung, doch ich weiß, daß sie riesig ist. Es ist ein Gleiter mit breiten silbernen Schwingen und einem spitz zulaufenden Rumpf mit der Kennung ›666‹. Ich versuche, die Auflösung zu erhöhen. Es gelingt mir nicht. Trotzdem weiß ich, daß es sich um ein Galaktisches Schiff handelt. Plötzlich spüre ich einen Abbruch-Schock, der ebenso schrecklich wie angenehm ist. Nichts davon berührt mich, und doch ist das alles seltsam vertraut. Ich muß die Verbindung wiederherstellen, denn sonst ist Alfred verloren. Der Abbruch ist primär, und die Löwin, das Lamm, das Tal und der Himmel sind alles Ableitungen. Es ist nur ein Gefühl, das wir alle schon einmal gehabt haben. Wir sind verloren. Wir befinden uns in einer peripheren Existenz. Wir sind umgeleitet worden. Mister Fragenmann hat viel zu erzählen über solche ›peripheren Episoden‹. Zunächst, so sagt er, sind sie sehr schlecht. Der Finger zuckt. Die Fülle halluzinatorischer Details schreibt er einer ›interpretativen Fixierung‹ zu, dem gefährlichen Bestreben des Träumers, dem Traum eine Bedeutung beizumessen. Solche peripheren Episoden enthalten oft Visionen vom Ende der Welt. Andere einschlägige Bilder/Töne: Eine Frau, die vor Kummer oder Schmerz wimmert; ein Männerchor, der ein Klagelied singt; ein großes milchiges Chaos, das zu einer Galaxie sich formt; eine Stimme, die aus dem Feuer kommt und Unsinn redet; ein Pappbecher, der sich schnell mit einem sprudelnden Getränk füllt. Diese fundamentalen interpretativen Bilder sind unserem Kollektivbewußtsein aufgeprägt und werden im Bedarfsfall abgerufen. Danke, Mister Fragenmann.
Schließlich fasse ich etwas anderes als ein visuelles Element auf: Der Raum-Sinn meldet, daß ein großer Prozeß sich anbahnt. Schnell. Ich versuche die Spin-Charakteristik zu erkennen, die mir sofort sagen würde, um welche Art von Prozeß es sich handelt. Doch wäre es zuviel verlangt, den SpinCharakter einer durch Alfred gefilterten Übertragung zu erkennen. Dennoch habe ich ein ausgesprochen schlechtes Gefühl bei dieser Erscheinung. Ein paar Stichproben bestätigen die schlimmsten Vorahnungen. Das Phänomen ist symbolisch mit dem anfliegenden Galaktischen Schiff verknüpft. Es handelt sich um eine Art von Such-Routine, die fast schon den Talboden erreicht hat. Ich schalte mich auf. Die schwersten Treffer an der Simulation konzentrieren sich um das Schiff; es löscht alles aus, was mit ihm in Berührung kommt. Alfred. Was, zum Teufel, tust du? Er versteckt sich natürlich. Er tut auch gut daran, sich vor Angst fast in die Hose zu machen. Vielleicht tarnt er sich als Grashalm, vielleicht auch als Kieselstein. Manche Novizen schaffen es sogar, sich im Unterglas zu bewegen, ohne überhaupt in Erscheinung zu treten. Sie sind eher transzendent als immanent. In diesem Fall müßte ich den Algorithmus global manipulieren, um Alfred rauszuholen. Dann könnte ich auch gleich den Stecker ziehen. Was auch immer ich tue, ich muß es schnell tun, denn die Bestie ist fast schon hier. Wenigstens muß ich nicht weit blicken. Dieses Bild ist Alfred-gefiltert. Es ist eine Art Brennpunkt. Falls er sich überhaupt manifestiert hat, ist er ganz in der Nähe. Die Kreatur berührt den Talboden und hetzt in großen Sprüngen auf mich zu.
Zum erstenmal vermag ich heute einen klaren Gedanken zu fassen: Ich weiß, wo wir sind, Alfred und ich. Und wenn ich recht habe, ist es nicht nur das Werk eines närrischen Novizen; man muß schon der geborene Pechvogel sein. Wir sind in einem verbotenen Sektor, einem fehlerhaften Teil des Speichers, der nicht mehr als Namens-Raum benutzt wird. Wir sind der Inhalt alter Variablen, gelöschter Dateien, unvollständig demontierter Programme und verwaister Anwendungen. Wir sind für eine weitere Nutzung vorgesehen. Wo steckst du bloß, Alfred? Nun hilft mir nur noch ein Geistesblitz weiter, und schon funkt es. Eins. Das Lamm? Zwei? Dieser Grassoden? Drei. Ich greife nach einer anderen Welt, einem anderen Atemzug; sie sind einen halben Takt entfernt, fallen aber noch in denselben Bezugsrahmen. Ich rekonfiguriere ihn – ja, das tue ich, diese süße Erinnerung, und der visuelle Sinn setzt wieder ein, und ich konvertiere das Material im Raum-Sinn auf die visuelle Ebene. Zebrastreifen überziehen die Welt, und nun erkenne ich eine kleine lemurenartige Kreatur, die keuchend zu mir aufblickt. Sie ist über zwei schwarze Streifen ausgebreitet und überlagert einen weißen Streifen. Hallo. Wo die Zahl 666 am Schiffsrumpf leuchtet, öffnet sich eine dunkle Luke. Ich reiße Alfreds Lemuren hoch, wirble ihn über dem Kopf herum und schleudere ihn ins Schiff. Der Lemure stößt einen schrillen Schrei aus, und das letzte, was ich sehe, bevor der Schatten ihn verschluckt, ist sein zerknittertes Gesicht. Wie eine zerknüllte Dose, die im Müllschlucker landet. Dann verblaßt die Welt um mich herum, und ich schaue blinzelnd auf Alfreds Kapuze. »Allmächtiger Gott«, sagt er.
Er kann sprechen. Ich nehme ihm die Kapuze ab und ziehe die Klinke aus der Buchse. Die Verbindung zwischen uns ist gekappt. Er blinzelt mich an. »Wer?« fragt er. Er spricht zwar, doch hapert es noch ein wenig mit der Verarbeitung von normalem Input. Ich hocke mich auf die Fersen. Er schaut zu mir herunter und bricht in Tränen aus. Seine eigenen Hände, sein eigener Körper – ein brutaler Schock. Es wird eine Weile dauern, bis er seinen Körper wieder akzeptiert. Helfende Hände greifen nach mir, und erst jetzt wird mir bewußt, daß ich aufstehen wollte, daß ich mich durch seine Nähe bedrängt fühle. Rose führt mich weg, wobei sie mich mit beiden Armen stützt. Cowboy, der noch immer wie wild die Konsole bearbeitet, schaut nicht auf. »Ich finde ihn nicht, Rose.« »Augustine hat Alfred rausgeholt«, sagt Rose. »Toll! Doch wo, zum Teufel, steckt Quinc! Er ist unten, und ich habe keine Ahnung, was…« »Ich wiederhole: Augustine ist in Ordnung. Alfred ist in Ordnung.« Cowboys Antwort besteht im Klappern der Tastatur. Es gelingt mir, aufrecht zu stehen. Rose tritt zurück, stützt mich aber noch mit einer sanften Berührung. »Quinc ist in Ordnung«, sage ich. Cowboy gibt noch ein paar Befehlszeilen ein, bevor er das zur Kenntnis nimmt. Ich schaue ihm über die Schulter und sehe, daß er eine Art von Kommunikations-Server zu programmieren versucht. Direkt über dem Kopf. Er blickt schielend zu mir auf. »Quincs Kommunikator ist ausgefallen, aber er ist in Ordnung. Er ist Alfred in einen defekten Namensraum gefolgt. Er und ich haben Alfred zusammen aufgespürt. Du hast Quinc nicht gefunden, weil er auf Zylinder Null
wechseln mußte.« »Zylinder…« Die Finger huschen noch immer über die Tastatur. »Quinc ist gut, Cowboy. Es ist ihm gelungen, in Alfreds Simulation einzudringen.« Ich grinse. »Er war ein großes Galaktisches Schiff, die Nummer 666 der Flotte.« »Zylinder Null«, wiederholt er. »666.« »Du machst wohl Witze«, sagt Rose. »Und ich glaubte schon, es wäre mein Fehler gewesen«, sage ich. * Doch wider Erwarten war es nicht mein Fehler. Nachdem alle Spuren untersucht worden sind, stellt sich heraus, daß ich nicht der Sündenbock bin, sondern der Held. Es war nicht die Zerstörung des Turm-Dings, die Alfred in den defekten Namensraum verschlagen hat. Vielmehr bescheinigt die KI mir, eine brillante Leistung erbracht zu haben, indem ich Alfred in einer fast völlig verfahrenen Simulation aufspürte. Wie Quinc sich Zugang zu dieser Simulation verschafft hat, ist noch immer ungeklärt. Er sagt nur, das Galaktische Schiff hätte ihn mit einer sehr natürlichen Art der Manifestation ausgestattet. Alfred ist an diesem Morgen bei mir vorbeigekommen und hat mir ein Präsent überreicht: Eine Halskette aus flachen polierten Steinen. Sie sind gelb. Alfred sagt mir auch, daß Glas für ihn passe ist. Erst muß er die üblichen Eignungstests wiederholen. Die er unter Garantie nicht bestehen wird. Ich erinnere mich nicht, so ein breites Grinsen jemals bei einem Erwachsenen gesehen zu haben. Anscheinend begreift er nicht, daß die Sache damit nicht erledigt ist. Ich möchte nicht derjenige sein, der es ihm sagt.
Rose meint, daß ich mich durch die Verbindung mit Alfred in seine Simulation eingeklinkt hätte, sei ein Wunder. Sie glaubt nicht, daß so etwas je zuvor versucht worden wäre. Sie sagt, das würde ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Ich glaube, sie übertreibt ein wenig. Cowboy äußerte sich zunächst nur zurückhaltend. Er schmollte sogar und pflichtete mir allzu gern bei, das alles sei nur meine Schuld gewesen. Doch Quincs private Spuren entlasteten mich. Sie zeigten, daß Alfred von einer Coriolis-Welle in einen defekten Namensraum gespült worden war. Danach war er im regulären Beobachtungsprozeß nicht mehr aufzufinden. Als Quinc auf der Suche nach ihm die Spur wechselte, brachen unsere Simulationen zusammen, genauso wie Quincs Kommunikationsverbindungen. Und die Coriolis-Interferenz machte alles noch viel schlimmer. Dann verbessert Cowboys Stimmung sich etwas. Folgender Tagesbefehl erscheint in Mister Fragenmanns Statuszeile: DAS NETZ IST DAS GEHIRN DER MASSEN. Dann wird gemeldet, daß ich den Anker irgendwie verankert hätte. Wie ich das geschafft haben soll, weiß ich allerdings nicht. Zumal ich ohnehin kaum begreife, was mir unter dem Glas widerfährt. Vielleicht ist die Bezeichnung ›unter dem Glas‹ an sich schon eine unzutreffende Definition des wahren Sachverhalts. Vielleicht ergibt nichts von alledem einen Sinn – der Unfall, die neue Ivy Augustine, die hierher geschickt wurde, die kleinen Maschinen in meinem Kopf. Vielleicht nicht einmal dieses Tagebuch. Was mich beunruhigt, ist, daß meine Gedanken vielleicht wirklich meine eigenen sind. Oder daß sie es eines Tages sein werden. Daß Schroeder und Leibniz letzten Endes doch nur die aufgeblasenen Bürokraten sind, die sie zu sein scheinen. Dann sind Fehler
möglich; Entscheidungen müssen getroffen werden; und es kommt darauf an, ob ich das Tagebuch gut versteckt habe. Es kommt darauf an, welche Risiken ich eingehe, um Cowboy bei der Verwirklichung der Freigänger-Pläne zu unterstützen. Weshalb sollte ich dieses Risiko überhaupt eingehen? Sicher nicht deshalb, weil ich glaube, daß das Netz das Gehirn der Massen sei oder beeindruckt wäre, wenn es doch so wäre. Es liegt daran, daß die Ablehnung von Cowboys Bitte ein Eingeständnis bedeuten würde, zu dem ich noch nicht bereit bin. Es würde bedeuten, daß ich mich vor der Auseinandersetzung mit manchen Dingen fürchte. Doch ich habe keine Angst. Nicht vor diesen Leuten. Nicht vor Schroeder. Oder Leibniz. Nicht einmal vor Ardath. Nach allem, was ich schon durchgemacht habe, fürchte ich mich vor nichts und niemandem mehr. Needle sitzt am Fenster und schaut mich düster an. Mister E. schaut wiederum Needle nachdenklich an. Ich hole meinen Karton hervor, den Karton mit dem Ein-Bild-Fotoalbum, den Trauscheinen und Scheidungspapieren und den Schuhen. Und deponiere Alfreds Halskette darin. Ich lege mich aufs Bett und denke über das Summen nach. Ich glaube, das Summen ist genau das, wovor Schroeder mich gewarnt hat – das körperlose Klicken. Fragmente, die nicht lauffähig sind, die aber auch nicht vollständig gelöscht werden können. Breites Grinsen. Ich fürchte jene Gedanken, bei denen ich summen muß und die mich schmerzen, jene Gedanken, die sich nicht ganz in das einfügen, was als mein Muster bezeichnet wird: Der spitz zulaufende Rumpf eines Galaktischen Schiffs, das Stottern eines KI-Sprechers, das Funkeln von Robot-Augen; doch was ich noch mehr fürchte, sind die Erinnerungen, die sich zu gut einfügen, die sich
stumm und schnell drehen wie das Rad einer Maschine: Der Kristall in einer eisigen Dunkelheit, das Licht, das nur eine Metapher des Lichts ist, die vielen Stimmen, die ich sind. Einerseits klare Erinnerung an die Dunkelheit, andererseits das Summen. Möge die Nacht immer mit mir sein. Und ist diese Hand, die ich hebe, überhaupt meine? Und diese Worte, die ich schreibe – sind das überhaupt Ihre Worte, Schroeder? Was hat mich im Netz berührt? Waren Sie das? Ist dieses Blut in diesen Adern meins? Ich steche die Nadel ein und stürze dem Eis entgegen.
KAPITEL 3
VERBOTENE SEKTOREN
Du allein, O Herr, bist was Du bist, und Du bist Er, der Du bist. Denn das, was ein Ding als Ganzes und ein andres in Teilen ist und das nur ein austauschbares Element enthält, ist nicht, was es ist. Und das, was aus der Nicht-Existenz entspringt und als nicht existent wahrgenommen wird, und – so es nicht in etwas anderem existiert – in die Nicht-Existenz zurückfällt; und was eine vergangene Existenz hat, die nicht mehr ist oder eine zukünftige Existenz, die noch nicht ist – dies existiert weder richtig noch absolut. Anselm, PROSLOGIUM
1 Das Diebes-Tagebuch Es gibt Gesetze, die hart, aber unumstößlich sind. Die falsch sind, aber gerecht. Das erste Gesetz: Eine gewisse Distanz war erforderlich, damit wir uns nicht gegenseitig durchdrangen. In meinem Innern befand sich eine andere Person. Eine Präsenz, die Gedanken ausatmete. Eine Person, die ich kannte, wie niemand je einen ändern gekannt hatte, die aber nichts von mir wußte. (Machte Ihnen das nicht Angst? Ja.) Mehr noch, ich war vielleicht sie. (Haben Sie sich nicht manchmal gefragt, ob sie nur in Ihrer Vorstellung existierte? Nein.) Am Anfang suhlte ich mich in ihr. Ich fügte so viele Prozesse wie möglich in ihr zusammen, wie ein Pilger auf der Suche nach verschollenen Relikten. Ich beseelte sie, integrierte ihre vielen Fragmente und trug sie wie eine Maske. Dann, als alle Prozesse in der Konstruktion der Einheit des menschlichen Bewußtseins gebündelt waren, war Quincunx der Traum: Das Netz als Vision der Hölle, synoptisches Bewußtsein als Erinnerung des Wahnsinns. Manchmal wachte ich auf, über die Toleranzgrenze hinaus fragmentiert, tastete nach meinen Grenzen und fragte mich, ob ich wohl vom nächsten Interfacing mit Augustine zurückkehren würde. Allmählich erkannte ich, daß keine KI imstande ist, für längere Zeit in dieses verzerrte Antlitz zu blicken, das Menschen als Selbst bezeichnen, daß eine gewisse Distanz sowohl angemessen als auch klug war. Ich lernte, wo mein Platz war, und Augustine lernte, wo ihrer war. Deshalb gab es immer dunkle Flecken in meiner Rekonstruktion von ihr, Orte, deren Begehung für mich mit großen Risiken behaftet war. Die markantesten dieser Orte waren alle mit ihrem Hang zur Selbstzerstörung
verbunden. Man bedenke den immer immer immer wiederkehrenden Traum von Augustine, wie sie im Sarg schläft, immer begleitet vom süßen Gefühl der Kameradschaft, der Heimkehr und Sicherheit. Wieso dieser Traum vom Schlafen im Schlaf? Und was hat es mit Needle und Mister Existenz auf sich und dem seltsamen Leben, das sie in ihrem Tagebuch entwickelten? Needles wiederholtes Angebot ewigen Friedens? Ihre Schnee-Besessenheit? Ihr Selbstmordversuch im Arsenal, der wie ein Blitzschlag aus einem tiefen Teil von ihr eingeschlagen hat, der in meinen Modellen nicht enthalten ist? Ich habe mich oft gefragt, welche Bewandtnis es mit diesem Teil wohl hat; und diese Frage wurde unterlegt von einem Gefühl des Schmerzes und des Verrats, das mir selbst ein Rätsel war. Aus diesen trüben Anfängen entsprangen viele andere weiße Flecke. Da war zum Beispiel ihr Bild unter dem Glas, vor dem ich so blind war wie der Poet vor seiner Muse. Ich wußte über die Spielchen Bescheid, die zwischen KIs und Interfacern abliefen. Vom KI-Standpunkt ist das natürlich Ringriders Mary and Marcel mit dem berühmten Unterglas-Rendezvous. Trotz der unbestreitbaren Schönheit ist dieses Duett für mich fast unverständlich. Und dann ist da noch dieses Gerede über Partitionen, wo Interfacer und KIs sich regelmäßig treffen. Doch mir ist der Zugang zu diesen Orten verwehrt (obwohl Cowboy sich vehement für freien Zugang engagiert, würde er mir nie gestatten, zwischen den Partitionen zu wechseln). Meine Unterglas-Kontakte mit Cowboy sind immer – nun, enttäuschend gewesen. Augustine indes hatte mir allen Grund gegeben, auf eine Änderung zu hoffen. Es fällt mir schwer, das Gefühl des Verlusts zu beschreiben, als ihre informationale Abbildung beim Be-
treten meiner Partition sofort verblaßte. Der Datenstrom von meinen Spionen reduzierte sich zu einem Rinnsal. Ich spürte ihre informationalen Fühler und schüttelte mich, als sie an meinen empfindlichen Teilen zog. Nicht mehr. Unter dem Glas war sie ein Phantom. Die Ironie war, daß sie mich noch weniger sah als ich sie. Trotz ihrer Fähigkeiten erkannte sie keins meiner heftigen Signale. Wir waren wie Fremde. Am Tag, als sie Alfred rettete, glaubte Augustine, sie hätte mit dem Programm interferiert, das ihre Abbildung im Netz erzeugte. Statt dessen hatte sie auf meine Alter-Augustine zugegriffen, das Bild, welches mit jedem Halb-Gedanken verknüpft war, der in ihrem Kortex aufflackerte. Ihre Reaktion war kraß. Die offizielle Version lautete, daß Alfred durch eine unvorhergesehene Coriolis-Turbulenz in den Zylinder Null verschoben worden wäre. In Wirklichkeit wurde er von einer wild um sich schlagenden KI dorthin versetzt, die in einem Rückkopplungs-Sturm gefangen war. Sie war noch immer nicht in der Lage, ihre Kräfte dosiert anzuwenden. Für eine glorreiche Nanosekunde zitterte das Netz unter dem Durchgang von Augustines Q-Print. Ein streiflichtartiger Moment der Selbsterkenntnis, und ihre Reaktion bestand in einer Welle der Zerstörung, von deren Nachbeben Abschnitte des Netzes noch nach einem Tag erschüttert werden. Angst überkommt mich. Nicht vor der Entdeckung, solange ich mir nur ein paar Leerstellen leiste, werden meine Bosse das nie bemerken. Sie werden eine KI vielleicht des Verrats verdächtigen, aber nie eines Gespürs für Anstand und Sitte. Wovor ich Angst habe, ist, daß Augustine sich ihrer Identität bewußt wird. * Leibniz veranstaltete ihre Therapiesitzungen in einem
kleinen Büro unter dem Hexenhut des größeren Turms der Abtei. Auf Leibniz’ lautstarke Aufforderung hin trat Augustine ein und schloß die Tür hinter sich. Leibniz’ Schreibtisch und Stuhl waren im rechten Winkel zu den großen Erkerfenstern angeordnet. Spiegelbildlich zu diesem Arrangement stand an der entgegengesetzten Wand ein großer rosaroter Sessel mit weißen Punkten. Rosarote Kissen lagen auf dem Polster, und rosarote Rechtecke und Dreiecke überlappten sich auf dem grauen Teppich. Das Foto hinter dem Sessel zeigte einen rosaroten Sonnenaufgang über dem grauen Massiv des Mount Shasta. Rosarot und Grau: Die Farben der Theokratie. Leibniz begrüßte sie mit einer ausladenden Geste und bedeutete ihr, im Sessel Platz zu nehmen. Augustine schob ein Kissen zur Seite und setzte sich. Die Entfernung zu Leibniz’ Schreibtisch betrug ein paar Meter. Mit Ausnahme der halbkreisförmigen Erkerwand zogen Bücherregale sich an der Wand entlang. Sie enthielten mehr Bücher, als Augustine je in einem Raum gesehen hatte. In der Nähe des Fensters waren mehrbändige Ausgaben plaziert: Balzac, Trollope, Freud, Marx, Dickens. Auf Leibniz’ Schreibtisch stand der unvermeidliche Bildschirm mit Tastatur, Helm, Maus und Mikrofon. Der Monitor zeigte das rotweiße Symbol des RosenKonzils. Die Bücher hinter dem Schreibtisch umfaßten alle Sujets, von einem Plato-Wälzer bis hin zu drei Bändchen Charles’ von der Rose. »Beunruhigt der Anblick meines Steckenpferds Sie? Ich befürchte, ich habe eine Schwäche für abstrakte politische Theorien.« Sie lächelte, als ob das eine verzeihliche Schwäche wäre. Augustine erwiderte das Lächeln nicht. »Diese Materie«, fuhr Leibniz fort, »ist das logische ›Nebenfach‹ für einen Psychiater, denn das Problem des gerechten und rational organisierten Staats findet seine Entsprechung
in einer ausgewogenen Persönlichkeit.« Wieder ein Lächeln. »Und es besteht noch ein Zusammenhang. Meine Aufgabe besteht darin, Sie lebenstüchtig zu machen. Was bedeutet, daß ich Sie auf eine Art und Weise ändern muß, die Ihnen unberechenbar erscheinen und manchmal auch Angst machen wird.« Wieder trat ein Schweigen ein, das diesmal länger anhielt. »Ich werde alles daransetzen, daß Sie ›funktionieren‹, Bürgerin. Ich glaube, Sie werden einen wertvollen Beitrag leisten. Sind Sie zur Zusammenarbeit mit mir bereit, Ivy?« »Ja.« »Verursachen die Bücher Ihnen Unbehagen? Wenn ja, können wir auch woanders arbeiten.« »Nein.« »Ich glaube Ihnen. Die gestrigen Tests zeigen, daß Sie über eine außergewöhnliche Sprachbegabung verfügen. Manche würden das als eine ungesunde Entwicklung betrachten; ich aber nicht. Ich finde, Sie sollten eine Beziehung zu Büchern entwickeln, doch ich glaube, Sie haben zu gar nichts eine rechte Beziehung. Ich rate Ihnen dringend, sich zum Lesen aufzuraffen. Es wird den Druck lindern, der durch den Kampf, der in Ihrem Kopf stattfindet, auf Ihnen lastet. Mir hat es jedenfalls immer geholfen.« Sie lehnte sich zurück und deutete über die Schulter. »Plato, Mills, Rawls, Charles von der Rose: Männer mit tiefschürfenden, wenn auch nicht immer tröstlichen Gedanken. In Ordnung, fangen wir an. Wir werden uns für die Dauer Ihres Aufenthalts an diesem Ort regelmäßig treffen. Zum Teil hängt die Länge dieses Aufenthalts von den Ergebnissen dieser Sitzungen ab. Zunächst werde ich zwei Regeln aufstellen. Die Konsequenzen eines Verstoßes gegen diese Regeln sind klar: Wir werden keinen Diskurs mehr führen, der Ihnen weiterhilft. Ich werde in einer Fortsetzung keinen Sinn mehr sehen, sie sogar für schädlich halten. Sie müssen mich verstehen, Ivy. Ich
habe keine Angst davor, eine Niederlage einzugestehen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich ein guter spiritueller Mentor bin. Also nehmen Sie das, was ich sage, ernst. Regel Eins: Wir führen Ihre Behandlung nur in diesem Raum durch. Wir werden auch weiterhin gemeinsam essen und, wie ich hoffe, mehrmals am Tag Konversation pflegen. Diese Interaktionen unterliegen keinerlei Beschränkungen, was die menschliche Interaktion überhaupt erst lohnenswert macht. Doch müssen Sie alles, was hier gesagt wird, vertraulich behandeln. Das ist wichtig für mich selbst und für das Verständnis, das meiner Lebensplanung und Arbeit zugrunde liegt. Ist das klar?« Augustine nickte. »Regel Zwei: Die Regel des Sprechens. Die Regel erklärt sich schon aus der Bezeichnung. Ich verlange nicht, daß Sie ehrlich zu mir sind, aber ich verlange, daß Sie mit mir sprechen. Dies ist die bei weitem wichtigere Regel. Wir werden uns zwangsläufig auf Terrain begeben, das Sie lieber nicht erkunden möchten. Ich werde dann nur von Ihnen verlangen, daß Sie überhaupt etwas sagen. Ihre Lügen werden nämlich viel aufschlußreicher für mich sein als Ihr Schweigen. Sehr gut, Ivy. Soviel zu den Grundregeln. Fangen wir an. Erzählen Sie mir eine Erinnerung. Eine Alexa-Erinnerung. Gehen Sie so weit zurück, wie Sie wollen. Nichts Schmerzliches, nichts Dramatisches. Nur eine Erinnerung.« Augustine lehnte sich zurück und dachte nach, und die Erinnerung kam wie auf Kommando, war schon vor dem Kommando dagewesen, seit sie einen Blick auf Leibniz’ Regale geworfen hatte. Man öffne ein neues Fenster und nenne es Augustine. Augustine: Ich befinde mich in einem langen düsteren Korridor. Die Wände sind gekachelt, und der Boden ist
gefliest. Studenten umschwärmen mich auf der Suche nach Hörsälen, Professoren, der Wahrheit und Sex. Der Lärm ist angenehm und einlullend. Ein kleiner Afrikaner in einem grünen Gewand eilt lächelnd vorbei. Ich identifiziere ihn als Ngano. Dies ereignet sich einige Zeit, bevor er die Äquivalenz des Produkt-Theorems des Informations-Raums und das Axiom der Informationalen Menge beweist. Ich bin seine Dozentin für HasegawaGruppen. Anfangs finde ich die energische Art, wie er Fragen formuliert, noch amüsant. Er umwickelt die Hände immer mit Informationsraum und erzeugt einen Isomorphismus, wenn er in die Hände klatscht. Dann besuche ich mit ihm eine Vorlesung, und die weiße und die braune Hälfte eines Fingers umkreisen sich. Und ich sage: ›Nein, sie müssen im Uhrzeigersinn kreisen.‹ Und er hebt die Brauen und sagt mit charakteristischer Milde: ›Ich sehe das anders. Überhaupt, wieso haben wir hier nicht beliebig viele Freiheitsgrade?‹ Sein Finger wackelt, und ich folge dem Bogen, den er beschreibt. Er braucht eine halbe Stunde, um die Richtigkeit seiner Behauptung zu beweisen. Wieder einmal habe ich nur den propädeutischen, den kanonischen Sonderfall verstanden. Ich erinnere mich, wie er mich mit unendlicher Geduld ansah, von unstillbarem Wissensdurst erfüllt. Ich möchte ihm die platte Nase ins platte Gesicht drehen, mit beliebig vielen Freiheitsgraden. All das berichte ich pflichtschuldig Leibniz und erziele den erwarteten Lacherfolg. »Welch treffliches Stimmungsbild der Hochschule Sie gezeichnet haben!« »Wirklich? Ich weiß nicht. Ich finde es eher seltsam, wie eine Geschichte, die ich einmal gehört und verfälscht nacherzählt habe.« »Wie fühlen Sie sich, wenn diese seltsamen Erinnerungen hochkommen?« »Ich fühle mich schlecht.«
»Beschreiben Sie es. Suchen Sie nach einem Vergleich.« »Es ist, als ob… ein Versprechen gebrochen worden wäre.« »Sehr gut. Gehen Sie zurück zu Ngano, wie er Sie in Mathematik belehrt. Denken Sie an die flache Nase. Gut. Nun legen Sie die Hand darauf und drehen Sie langsam. Spüren Sie die Befriedigung?« »Ich…« Sie schaute aus dem Fenster. »Ich…« suchte nach den richtigen Worten. Sie kauerte sich zusammen, legte die Faust an die Stirn und zog die Knie dichter an den Kopf. Etwas summte, und etwas schmerzte; das Summen wurde immer hochfrequenter… »Ms. Augustine!« Sie schaute auf. In ihrem Gesicht arbeitete es. »Ich möchte, daß Sie Ihre Interfacing-Fähigkeiten nutzen. Unterbrechen Sie alle Operationen. Lassen Sie die Gedanken für eine Weile schweifen. Als ob Sie die Dinge aus einer neuen Perspektive betrachten würden.« Augustine nickte. »Ist das besser? Ja, ich glaube schon. Was Sie eben erlebt haben, ist etwas, das wir mit größter Vorsicht handhaben müssen. Bestimmte intensive Erinnerungen werden schmerzlich für Sie sein. Das werden Sie wahrscheinlich schon gespürt haben. Kopfschmerzen?« »Kopfschmerzen, ja, und ein Summen.« »Das Summen hat an sich nichts zu bedeuten. Es ist kein Indikator für ›echte‹ oder ›künstliche‹ Erinnerungen. Zumal diese Unterscheidung für Sie nicht mehr relevant ist. Es ist nur so, daß bestimmte Erinnerungen eine Art Narbengewebe um sich herum gebildet haben. Sie müssen lernen, den Fluß der Gedanken zu kontrollieren. Ein paar Erinnerungen sind ab sofort gesperrt. Sie haben keine Zugangsberechtigung mehr zu diesen Teilen Ihres Selbst. Wie fühlen Sie sich nun?« »Wie ich mich fühle? Ich habe Angst. Die Vorstellung,
daß meine Gedanken kontrolliert werden müssen, ist ein Alptraum.« Leibniz bearbeitete die Tastatur mit den Fingernägeln. »Und doch fällt die Vorstellung Ihnen nicht schwer. Die Idee ist Ihnen nicht neu?« Augustine runzelte die Stirn. »Natürlich nicht. Der Schmerz, das Summen – das ist nicht das Problem. Das erscheint mir fast normal.« Leibniz wölbte eine Braue. »Gleichwohl müßte es als Problem herhalten, wenn wir nichts anderes hätten. Doch es ist schon in Ordnung. Wenn das nicht das Problem ist, was ist es dann?« »Die Gedanken, die eben nicht summen. Stille, dunkle Gedanken. Nur daß ich nicht in der Lage bin, sie zu beschreiben…« »Regel Zwei.« Augustine schloß die Augen. »Sofern ich überhaupt etwas erkenne, handeln die Erinnerungen vom Sterben. Davon, wie es war – an einem anderen Ort – , nachdem jene Augustine starb und bevor diese Augustine geboren wurde.« »Und wie war es?« »Schwärze. Chaos. Stimmen überall. Sprachen mit dem Monaden.« Leibniz lächelte. »Religiöse Visionen? Ist das denn so schlimm? Sie sollten sich glücklich schätzen, daß Sie zu den…« »Nein! Das war nicht ich.« Schweigen. »Sagen Sie das noch einmal.« »Es war nicht ich, die diese Gedanken hatte.« Leibniz kratzte sich am Kinn. »Das ist natürlich schlecht. Nicht die Visionen. Daß Sie sie so emphatisch zurückweisen. Und daß Sie sich verzweifelt an einen Teil von Ihnen klammern, der summt und flackert und schmerzt.« Leibniz runzelte die Stirn. »Genau das ist
der Stoff, aus dem mancher Wahnsinn ist: Das Gefühl, ein anderer zu sein als der, der man ist und daß man den Ereignissen hilflos ausgeliefert ist, anstatt handlungsfähig zu sein – die Transformation vom Teilnehmer zum Beobachter. Konkreter: Leute, die einer Rekonstruktion unterzogen wurden, werden oft Opfer dieses Wahnsinns. Das bewußte Sein wird von chronischem Schmerz erfüllt. Sie sind nicht mehr imstande, ihre Gedanken zu akzeptieren. Die Stimmen übernehmen die Kontrolle. Halluzinationen werden zu Visionen, Visionen zu einer Existenzform. Sie begehen manchmal Selbstmord, oft einen Mord. Und es ist meine traurige Pflicht, Ihnen zu sagen, daß es schlechter wird, ehe es besser wird. Deshalb sind Sie hier.« Schweigen erschien Augustine die angemessene Antwort. Leibniz lehnte sich zurück, als ob sie nach einer Regung Ausschau hielte, die Anlaß zur Hoffnung gab. »Doch ich möchte Sie eins fragen«, sagte Leibniz dann. »Was glauben Sie, weshalb Sie hier sind?« Augustine war verwirrt. »Wieso Sie an diesem Ort sind und elementare spirituelle Unterweisung erhalten?« »Weil ich… einen Unfall hatte.« »Ja.« Sie beugte sich vor. »Sagen Sie’s nur.« »Rekonstruktion wurde angestrebt, doch das Resultat war ungenügend – und meine kausale Vorgängerin starb.« »Und Sie?« »Ich verstehe nicht.« »Sie sind nicht sie?« »Nein, bin ich nicht«, sagte Augustine mit belegter Stimme. Die Worte, die sich ihrer Kehle entrangen, waren kaum mehr als ein Krächzen. »Sie ist gestorben.« »Wieso?« »Ich weiß nicht. Es ist eben passiert.«
»Weshalb haben wir es wohl so eingerichtet, daß Sie nicht sie sind? Wenn Sie das verstehen, sind Sie schon einen großen Schritt weiter.« Augustine wollte etwas sagen, doch sie brachte kein Wort heraus. »Wegen der Raison unseres kleinen Staats«, sagte Leibniz. »Wegen der Heiligkeit des individuellen Monaden. Sie sind eine Schöpfung des Staats, sein ›bestes Stück‹; und wir, Ihre Co-Personen, sind der Staat. Damit Ihr Monade sich verwirklicht, muß eine enge Beziehung zwischen Ihnen und uns aufrechterhalten werden. Doch während der Rekonstruktion sind Sie abgedriftet. Wir haben Sie verloren, weil die Intimität zwischen uns abgebrochen ist. Die einzige Möglichkeit, sie wiederherzustellen, bestand in einem Neuanfang. Mit einem neuen Sie. Mit einer neuen Intimität. Und einer neuen Ausbildung, um sie zu gewährleisten. An diesem Punkt befinden wir uns nun. Wir erschaffen Sie neu. Verstehen Sie das?« Augustine nickte langsam. »Und es ist eine dankbare Aufgabe.« Nach einer kurzen Pause kramte Leibniz in ihren Papieren. »Das soll für heute genügen. Übrigens, ich hörte von dem kleinen Abenteuer, das Sie gestern bestanden haben. Alfred hatte Interfacing-Probleme, und Sie haben ihn beigestanden.« »Ja.« »Gut. Der Aufenthalt hier dient zum Teil auch der Optimierung Ihrer Interfacing-Fähigkeiten. Sie wissen, daß die Rettung von Alfred eine bemerkenswerte Leistung war.« »Ich hatte nicht den Eindruck.« »Seien Sie nicht so bescheiden. Aber ich ersehe aus Ihren diagnostischen Resultaten, daß der theoretische Unterbau noch gefestigt werden muß. Was Sie mit Alfred getan haben, wurde bisher nur zweimal durchgeführt.
Und auch nur im Rahmen eines streng kontrollierten Experiments und nach intensivem Training.« »Ich verstehe nicht.« »Sie haben Alfreds Anzug für Ihre algorithmische Simulation benutzt. Sie haben ihm in seiner virtuellen Umgebung sozusagen die Feder geführt.« Sie wartete einen Takt. »Ihre Zeit ist um. Wir werden noch darauf zurückkommen. In der Zwischenzeit dürfen Sie nach Herzenslust in unseren Haus-Systemen stöbern. Suchen Sie neue Herausforderungen. Lassen Sie der Phantasie freien Lauf. Ihr Zimmer hat Ports für Helm und Handschuhe.« Augustine nickte. Dann stand sie auf und ging hinaus.
2 Augustines Tagebuch Weil das Leben dem Betrachter sich lediglich als eine Regung von Gliedern offenbart, wobei der Ursprung in einem übergeordneten Teil im Innern liegt, wieso sollten wir dann nicht sagen, daß alle Automata (Maschinen, die vermittels Federn und Rädern – einer Uhr gleich – sich bewegen) ein künstliches Leben haben? Denn was ist das Herz anderes als eine Feder, die Nerven anderes als Seile und die Gelenke anderes als Räder, die den ganzen Körper in Bewegung setzen – wie es vom Schöpfer gewollt war? Doch die Kunst geht noch weiter und imitiert jenes vernunftbegabte und überragende Werk der Natur, den Menschen. Aber ein Kunstwerk ist auch jener große LEVIATHAN, der Gemeinwesen oder Staat genannt wird… der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch… Hobbes, LEVIATHAN
Spindtüren werden zugeworfen. Ein dissonanter Singsang erfüllt den dunklen Korridor. Licht dringt durch ein Milchglas-Oberlicht. Ein Drahtgeflecht im Glas unterteilt die Scheibe in sechseckige Zellen, und Licht tröpfelt durch das Drahtgespinst. Die Ecken des Fensters verschwinden in diffusem Licht. Ich stehe im Keller der Abtei vor der Tür des Raums, aus dem der Lärm dringt. Die antike Kommode neben mir ist mit Glas, Muscheln und Kristallen vollgestellt. In der Mitte steht eine Kristallvase mit einer Plastik-Iris. Symbol des Friedens. Friedvoll betrete ich den Raum. Ich drücke wieder die Schulbank. Smoket sitzt vor der Klasse, den Bildschirm im Rücken. Rogacev sitzt ihm gegenüber und versucht, ihn für eine Murmel zu interessieren. Er trägt einen etwas zu kurzen Pollunder, und dort, wo der Rücken freiliegt, sehe ich, daß er unter den Tätowierungen gut definiert ist. Rose sitzt kerzengerade neben ihm, mit geöffnetem Notebook und gezücktem Griffel. Cowboy sitzt zwei Bänke weiter hinten. Er hängt da wie ein Schluck Wasser in der Kurve und hat den Stetson ins Gesicht gezogen. Er zerkratzt mit einem kleinen Schraubenzieher die Tischplatte. Ich setze mich neben Alfred. Er reicht mir ein Blatt Papier und einen Stift. »Was glaubst du«, sagt er, »würde passieren, wenn wir beide uns während des Unterrichts ein wenig einhaken und vielleicht eisfischen würden?« »Wieso sollte jemand nach Eis fischen wollen?« »Vielleicht bist du doch nicht das Mädchen vom Lande, für das ich dich gehalten habe.« Plötzlich spüre ich ein Patschen am Hals. Ein kühles, feuchtes Geschoß hat mich getroffen. Ich drehe mich um. In der rechten Hand hält Cowboy ein Blasrohr, das er aus einer Kabelmuffe improvisiert hat, und in der linken
einen Klumpen Dichtungsmasse. Das ist sein Munitionsvorrat. Mutter Leibniz tritt ein, marschiert zum Podium neben dem Bildschirm und öffnet ein Notebook. Sie sucht nach ihrem Platz, schaut auf und scheint uns endlich wahrzunehmen. »Das heutige Thema lautet: Das Individuum und der Staat.« Nachdem sie den Tagesbefehl ausgegeben hat, tritt Leibniz hinter dem Katheder hervor und geht auf und ab. Die Hände hat sie in die Taschen des braunweißen Gewands geschoben. Ihre Miene ist sogar für ihre Verhältnisse todernst. Im rückwärtigen Bereich des Klassenzimmers kommt Unruhe auf. Ich drehe mich um und erkenne den Grund für den Ernst der Äbtissin. In der Tür steht, mit hohem Kragen und in einer zinnoberroten Robe, der Chefsemantiker der Theokratie, Ardath. Die silberne Spirale auf dem Kopf gleicht der Maserung von Edelholz. Die Kontemplation, mit der er auf die gefalteten Hände hinabblickt, steht der von Rogacev in nichts nach. Als er an mir vorbeidefiliert, erstaunt es mich kaum, Viju und Raja in seinem Gefolge zu sehen. Beide tragen einen pink-grauen Anzug mit Schulterpolstern: Rajas Anzug hat pinkfarbene Schultern und ein graues Dreieck auf der Brust, und Vijus Anzug ist das Komplement. Nachdem alle Platz genommen haben, spricht Leibniz: »Wir haben die Ehre, daß heute Chefsemantiker Ardath unter uns weilt. Er hat etwas Wichtiges zu verkünden.« Als Ardath uns das Gesicht zuwendet, lächelt er nicht, und ich habe plötzlich das ungute Gefühl, daß es sich um eine schlechte Nachricht handelt und daß wieder Krieg herrscht. In gewisser Weise habe ich recht. »Ich bin gekommen, um Sie von einer ernsten Bedrohung für die Theokratie in Kenntnis zu setzen und Sie
um Ihre Unterstützung zu ersuchen.« Er seufzt, verschränkt die Hände hinter dem Rücken und geht in Leibniz’ Manier auf und ab. »Es besteht nun kein Zweifel mehr daran, daß ein neues Virus unbekannter Herkunft alle Partitionen des Rosen-Netzes infiziert hat. Im Moment sehen wir keine Möglichkeit, das Virus zu eliminieren oder es auch nur an der weiteren Ausbreitung zu hindern. Die Übertragungswege sind unbekannt. Die Zerstörungskraft ist unglaublich.« Ein langes Schweigen. Die Anwesenden starren in die Luft. Das ist mitnichten eine Neuigkeit für die EDV-Abteilung. Doch niemand gestattet sich ein schadenfrohes Kichern. »Zunächst beschlossen wir, das Virus geheimzuhalten. Doch wo die Epidemie nun solche Ausmaße angenommen hat, sind die Risiken durch Gerüchteverbreitung fast so groß wie die Bedrohung durch das Virus selbst. Wenn das Vertrauen in die Sicherheit und Zuverlässigkeit unsrer Software und Systemverbindungen verlorengeht, dann ist auch unsere ökonomische Basis zerstört. Am Dienstag wurde eine Piraten-Partition im Netz gestürmt und gesperrt. Sämtliche Zugangs-Ports wurden ausgebrannt, und die Freischärler werden, noch während wir dieses Gespräch führen, dingfest gemacht. Morgen werden sie zum Zweck der Beichte und Läuterung hierhergebracht. Gestern wurde eine weitere Partition des Netzes gestürmt, wobei eine Bresche in einer Partitionswand entdeckt wurde. Neben anderen Indizien für Freisschärler-Aktivitäten wurden zwei KIs aufgegriffen, die bereits Fusionsprozesse eingeleitet hatten. Die KIs mußten zerstört werden. Die Vorfälle, von denen ich Ihnen berichte, sind Beispiele. Seien Sie versichert, daß die grundsätzliche Integrität der Netz-Sicherheitsstruktur nicht beeinträchtigt wurde. Die üblichen Bestimmungen besitzen nach wie vor Gültigkeit.«
Er unterbricht die Wanderung und wendet sich uns zu, wobei er die Hand unters Kinn führt. »Doch bin ich nicht nur aus dem Grund hierhergekommen, um Hiobsbotschaften zu verkünden. Ich bin auch hier, um Ihnen von den massiven Verteidigungsanstrengungen zu berichten. Das Netz ist in große Sektoren unterteilt worden, in denen jeweils eine Vielzahl von Antikörper-Programmen laufen. Wir befinden uns im höchsten ÜberwachungsModus, erstellen in kurzen Abständen Speicherauszüge und arbeiten mit einer Batterie von Stichproben-Protokollen. Hunderte steriler Maschinen führen diagnostische Suchroutinen aus. Es bedarf eigentlich keiner Erwähnung, daß die Kosten für Humankapital und Gesamtrechenleistung horrend sind. Dies ist ein Krieg ohne Bomben, doch mit Soldaten. Wir brauchen jeden Experten. Und Sie sind Experten. Ein paar von Ihnen gelten bereits als führend in Ihrer jeweiligen Disziplin. Andere besitzen das Potential. In den nächsten Monaten werden Sie dort eingesetzt werden, wo Not am Mann ist. Die Dimension der Herausforderung, vor der wir stehen, übersteigt das Vorstellungsvermögen eines Laien wie mir, so daß ich sie nicht zu beschreiben vermag. Doch in den kommenden Monaten werden Informations-Theoretiker, Komplexitäts-Theoretiker, NetzwerkTopologen, Programmierer, Simulations-Techniker und Psychologen gebraucht. Jeder von Ihnen wird eine wichtige Rolle spielen.« Sein Blick geht über unsre Köpfe hinweg. »Und wir brauchen jetzt schon einen Interfacer für einen sehr gefährlichen Auftrag. Ich vermag Ihnen nicht mehr zu sagen, als daß eine erfolgreiche Durchführung die Krise sofort beenden könnte.« Ich bekomme Hitzewallungen. Hinter mir wird geräuschvoll ein Tisch gerückt. Ich drehe mich um und sehe Cowboy an der Wand lehnen. Die
langen Beine hat er übereinandergeschlagen und die Arme verschränkt. »Ob Sie uns wohl sagen würden, weshalb Sie diesen Interfacer gerade hier zu finden glauben, Euer Gnaden?« Ardath beäugt Cowboy mit Abscheu. Das ist genau die Art von Kreatur, die zu finden er befürchtet hatte, als er diese Steine umdrehte. Leibniz erhebt sich. »Euer Gnaden, das ist Roberto Rodriguez. Sein Spiel-Pseudonym lautet Cowboy. Er ist hervorragend qualifiziert, um Sie in dieser Angelegenheit zu unterstützen.« Ardath nickt. »Es ist kein Geheimnis, daß unsere Anstrengungen sich auch darauf konzentrieren, die Urheber dieses Virus aufzuspüren. Ich persönlich glaube zwar nicht, daß jemand an diesem heiligen Ort zu einer solchen Schandtat fähig wäre, doch werden Sie verstehen, daß in Krisenzeiten Leute mit einem unorthodoxen Lebensstil verstärkt unter die Lupe genommen werden. Nun bietet für einen der Anwesenden sich die Gelegenheit für eine Geste des guten Willens.« Stille. Der Magen dreht sich mir um. »Nun denn, Euer Gnaden.« Der Cowboy nimmt Haltung an. »Dann werde ich mich wohl der Sache annehmen.« Ardath mustert seinen Retter ohne eine Regung von Freude. Dann nickt er und sagt: »Danke, Roberto.« Er nimmt Platz. Sein silbriger Hinterkopf weist auf mich. Leibniz nickt bedächtig. »Ich wollte Sie eigentlich nach dieser Ankündigung entlassen, doch Seine Gnaden haben mich gebeten, Ihnen heute eine Predigt zu halten. Also möchte ich heute über das Wesen des RosenStaats sprechen. Gemäß einer liberalen westlichen Tradition, deren Ursprünge im achtzehnten Jahrhundert liegen, beruht das Problem des Verhältnisses von Individuum und Staat auf zwei Fragen. Was schulde ich als Individuum dem Staat? Was schuldet der Staat mir?
Pflichten und Rechte. Zwei Listen. Erstellen Sie diese Listen, und Sie haben Ihr Pensum für heute erledigt. Unter Berücksichtigung der Vorstellung, der ideale Staat werde durch die Definition der minimalen Interaktion zwischen diesen Entitäten charakterisiert sowie durch die Annahme, diese minimale Interaktion sei wünschenswert. Weiterhin gilt die Annahme, dem Individuum würde moralisch und ontologisch Vorrang gebühren. Es ist das Individuum, auf das wir das Augenmerk richten müssen. Alles, was über minimale Interaktion hinausgeht, ist der Freiheit des Individuums abträglich. Die Liste der Rechte ist aus dem Grund die wichtigere Liste, weil sie die Macht des Staats einschränkt. Nun gibt es innerhalb dieser minimalistischen Schule einen Konsens, daß die Erstellung der Listen schwierig sei, wobei die meisten Streitpunkte die Zuordnung zu den jeweiligen Listen betreffen. Doch um Teil dieser minimalistischen Tradition zu sein, die vom klassischen minimalistischen Liberalismus bis hin zum sozialistischen Wohlfahrtsstaat alles umfaßt, müssen Sie daran glauben, daß die Erstellung der Listen oberstes Gebot ist.« Sie bleibt stehen und berührt den Bildschirm. Es erscheint die Darstellung einer humanoiden Gestalt, deren mit Schaltkreisen angefülltes Inneres durch zahlreiche Durchbrüche in der Haut sichtbar ist. Die Abbildung des glorreichen Cybernetischen Menschen. Informations-Server: Cybernetischer Mensch. Breites Grinsen. »Doch gibt es noch eine andere Perspektive, welche der klassischen liberalen Sichtweise diametral entgegengesetzt ist. Angenommen, das Individuum vermag sich nur durch ein freies, intensives, spielerisches und produktives Wechselspiel mit seinem oder ihrem Staat zu verwirklichen. Angenommen, je intensiver die Interaktion, desto größer die Möglichkeiten. In anderen Worten
– angenommen, das Problem ist ergebnisoffener, historisch unbestimmter; angenommen, die Antwort gleicht eher der Antwort auf die Frage: Welcher Art sind die Beziehungen zwischen Individuen? Diese Frage ist auch nicht endgültig zu beantworten. Wir versuchen die möglichen Ausprägungen der Beziehung zu bestimmen, einzuordnen und eine Definition zu formulieren, die wir zum Glück schon transzendiert haben. Dieser zweiten Sichtweise liegt weder eine Prämisse zugrunde, die uns zur Rechtfertigung des Staats nötigen würde, noch eine ewige Gefährdung der fragilen Grenzen des Individuums. Vielmehr sind sowohl der Staat als auch das Individuum Entitäten, die, mit Freiheit und Wachstums-Potential ausgestattet, sich unablässig weiterentwickeln und sich unserem Zugriff entziehen.« Sie verläßt den vorderen Bereich des Raums und wandert zwischen den Bänken umher, wobei sie erregt nickt und lächelt. Informations-Server: Die Gestalt füllt das Fenster nun völlig aus und wächst weiter; eins der Fenster im Körper wandert ins Zentrum und expandiert, bis es mit einem Gewirr aus Schaltkreisen angefüllt und von Spiralnebeln durchbrochen ist. »Etliche Schriftsteller haben sich in ihrem Werk diese zweite Sichtweise zu eigen gemacht: Plato, Machiavelli, Hegel, Fichte, Mussolini. Meiner Meinung nach stammt die erste voll entwickelte Version dieser zweiten Sichtweise von Charles’ von der Rose. Denn nur ihm ist es gelungen, die Notwendigkeit der Beziehung zwischen Individuum und Staat zu begründen. Es ist kein Zufall, daß Charles’ Ansatz auch eine Reihe von inhärenten Problemen der ersten Sichtweise löst. Und es grenzt an ein intellektuelles Wunder, daß Charles’ Werk letztendlich sich als leuchtendes Beispiel und vielleicht gar als Apotheose des klassischen Liberalismus erweist. Wie das möglich ist? Im Anfang ist, wie immer, Plato.
Für Plato hat der Staat seine eigene Gestalt, genau wie der Mensch; und keiner von beiden war besser oder dem jeweils anderen überlegen. Plato zeichnet sich nun durch eine mystische Vorstellung von Harmonie aus, die in der Intuition jenseits der Form im allgemeinen und der Form des idealen Staats im besonderen verwurzelt ist. Der Staat kommt nicht von irgendwoher. Er ist keine Ableitung. Er braucht keine Rechtfertigung. Er ist einfach da. Für Plato ist der Staat ein Mittel für die Wiedererlangung eines idealen, lang ersehnten, lang verlorenen Zustands des perfekten Seins, einer verlorenen Einheit, die sich durch natürliche Spiritualität auszeichnet und nicht etwa durch die Vision eines verschrobenen weisen Mannes. Indem er die Vision eines unabhängigen Staats entwirft, der das natürliche Medium für unsre Menschwerdung ist, folgt Charles Plato. Doch er zieht die Grenze bei der Sehnsucht nach einem verlorenen Zustand, oder« – ihre Stimme fällt zu einem Wispern ab – »einem Verlorenen Staat. Für Charles ist der Staat immer nur ein Instrument für die Bewahrung der Harmonie gewesen. Diese Harmonie ist unser höchstes Ziel. Doch wo entspringt diese Harmonie? Weshalb ist sie überhaupt erforderlich?« Sie grinst. »Charles’ Antwort ist machtvoll, aber schwer zu akzeptieren. Wir wissen es aus der Geschichte der Rosen-Theokratie.« Sie geht zum Videoschirm. »Und noch eine Frage: Was hat das alles mit Information zu tun?« Der Bildschirm erhellt sich, und ihre Hand wird in lindgrünes Licht getaucht. Der Monitor des Informations-Servers leuchtet grün. »Dies ist eine Person.« Der Informations-Server zeigt einen umfangreichen fragmentierten Textkörper, dessen Buchstaben viel zu klein sind, als daß man sie lesen könnte. Der Text erinnert an ein ›experimentelles‹ Gedicht: Große Zwi-
schenräume, ein paar Halbzeilen, ein paar rechtsbündige Zeilen und ein paar Zeilen, die nur aus einem einzigen Wort bestehen. »Das ist ein Programm. Geschrieben ist es in einer als Largo bezeichneten Sprache. Es dient dem Betrieb eines Künstlichen Intelligenten Wesens – einer KI, wie ihr Kinder das wohl nennt. Was Sie hier sehen, ist ein Überrang-Regelkreis für eine KI namens Quincunx. Das ist nur die Spitze des Eisbergs; doch in Anbetracht der komplexen Funktion ist es eine erstaunlich einfache Struktur. Dieses Programm wurde von unsrem Freund Cowboy geschrieben und ist die vielleicht eleganteste KI, die je entworfen wurde. Sie ist hervorragend geeignet, um unser Thema zu veranschaulichen.« Der Bildschirm des Informations-Server teilt sich, und ein neuer Textkörper erscheint neben dem alten, der nun noch kümmerlicher wirkt. Man stelle den neuen Text in den Informations-Server Zwei. Nun schrumpfen die Zeichen und verlaufen; beide Fenster zeigen marmorierte Blöcke, die als Text nur zu erahnen sind. »Dies ist ein Staat. Unser Staat. Um genau zu sein, dies ist der oberste Regelkreis für die Theokratie der Rose. Man beachte, daß ich die Darstellung beliebig vergrößern kann; nichts davon ist geheim. Nichts davon muß geheim sein. Denken Sie darüber nach. Zum erstenmal in der Geschichte öffnet die Maschinerie der Macht sich der Inspektion, ja sogar der Optimierung. Und anstatt diese Macht zu untergraben, hat diese Offenheit zu einer der stabilsten bekannten Sozialstrukturen geführt.« Lächelnd greift sie zum Zeigestock. »Staat.« Sie tippt darauf. »Individuum.« Wieder tipp. »Individuum. Staat.« Tipp tipp. »Welch ein erstaunliches Ergebnis. Es sind die gleichen Dinge. Programme. Algorithmen. Lizensierte Software.« Sie tritt vom Bildschirm zurück und legt den Zeigestock vorsichtig auf den Schreibtisch. »Denken Sie auch darüber nach.«
»Sind Sie lizensierte Software, Bob?« »Nein, Doc. Ich bin Shareware.« Kichern. »Offensichtlich ohne Aktualisierungs-Service.« Das Kichern steigert sich zu einem Lachen. »Was ist eine Person?« fragte Leibniz. »Ein Individuum, das zur Harmonie des Staats beiträgt«, sagt Rose. Sie schüttelt verwundert den Kopf. »Ja, aber lassen Sie es mich anders ausdrücken. Was geht als Person durch?« »Alles, das den Turing-Test besteht.« »Und haben Sie alle bestanden?« Rogacev lacht bellend. Ardath dreht sich um und schaut ihn ausdruckslos an. »Beruhigen Sie sich. Das ist kein lustiges Ratespiel. Die Antwort lautet, ja, Sie haben alle bestanden. Bisher. Der Turing-Test ist nur eine Interaktion. Jedes Programm, das mir bei der Interaktion mit ihm vormacht, es sei ein Mensch, besteht den Turing-Test. Bisher habt ihr mir alle etwas vorgemacht – außer Bob. Also lautet die Antwort auf meine Frage: Als Mensch geht das durch, was durchgeht.« Die Darstellungen auf dem Informations-Server verblassen allmählich. Dunkle Schlieren verbinden sich zu summenden Formen. Zuerst zu Insekten-Fragmenten, dann zu heilenden Wunden, schließlich zu einem sich verdichtenden Nebel. Die Abbildung hat nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einem Text. Sie nimmt den Zeigestift wieder auf. »Staat.« Tipp. »Individuum.« Tipp. »Diese Kleckse verschwinden aber nicht. Sie machen Ihnen nichts vor. Eine Person ist nicht nur eine Gruppe von Wörtern auf einem Bildschirm. Nicht nur ein Programm. Sie läßt dieses Programm laufen, nimmt Eingaben vor und erhält Ausgaben, wobei sie diese Ausgaben gleich wieder in neue
Eingaben ummünzt. Ein menschliches Wesen ist kein Programm, sondern ein Prozeß. Und damit dieser Prozeß störungsfrei abläuft, muß nicht nur der Computer funktionieren, sondern auch die Systemumgebung. Nehmen wir unsren Cowboy mit seinen besonderen Talenten und versetzen ihn ins zwanzigste Jahrhundert, ein paar Tage vor dem Kollaps. Was würde geschehen? Nun, es würde ihm sehr schwer fallen, sein Leben zu meistern. Noch schwerer, als es ihm ohnehin schon fällt, meine ich.« Kichern. »Und nicht nur das. Vielleicht würden die Leute ihn sogar als verrückt bezeichnen und wegschließen, womit sie natürlich nur zum Ausdruck bringen würden, daß er ihren Turing-Test nicht bestanden hat. Oder angenommen, daß er den Belastungen des Sondereinsatzes, für den er sich heute freiwillig gemeldet hat, doch nicht gewachsen ist. Dann wird er den Test in einer ganz anderen Hinsicht nicht bestehen. Der Punkt ist folgender: Eine Person ist nicht nur ein Programm, sondern ein Programm, das einer Interpretation unterliegt. Ein Programm, das ›richtig eingestellte‹ Benutzer laufen lassen. Wir sind alle auf die Menschlichkeit unsrer Mitmenschen angewiesen.« »Genau das ist der Knackpunkt.« »Ganz recht, Cowboy. Du bringst den Diskurs voran. Wie aufs Stichwort. Denn an diesem Punkt kommt der Staat ins Spiel. Nicht um die Harmonie etwa zu bewahren, sondern um sie zu konstituieren. Diese Harmonie entspricht nämlich nicht der Harmonie eines Orchesters. Wenn im Orchester alle Instrumente außer einem das Spiel beenden, haben wir ein Solo. Es gibt zwar keine Harmonie mehr, aber immer noch Musik. Der Prozeß läuft weiter. Im Staate gibt es keine Soli. Musik und Harmonie sind eins. Werden wir von unsren Co-Personen isoliert, sind wir keine Personen mehr. Denn die wichtigste Funktion des Staats besteht darin, das Gesetz zu liefern – das Gesetz, das uns die Augen fürs
Wesentliche öffnet, das Gesetz, das uns Kriterien an die Hand gibt, einander als Mensch zu erkennen. Bezeichnet wird dieses interpretative Gesetz als Semantik. Hier wirkt der Staat. Auch ein Programm, auch der Interpretation unterworfen, doch mit einer etwas anderen Funktion, einer bewahrenden Funktion, einer schöpferischen Funktion: Das Personsein zu definieren, zu bewahren und überhaupt erst zu ermöglichen. Das Individuum, das ›freie‹, ›gleiche‹ und ›menschliche‹ Individuum mit Rechten, Fähigkeiten und Privilegien ist nichts anderes als eine Erfindung des Staats. Bedenken Sie, daß die ›Rechtfertigung des Staats‹, falls dieser Begriff Ihnen weiterhilft, nicht darin besteht, uns voreinander zu schützen, sondern unsre Existenz zu ermöglichen. Diese Existenz bedarf keiner Rechtfertigung. Sie ist ein Wert an sich. Vor diesem Hintergrund sind das Individuum und der Staat aufeinander angewiesen.« Beim Wort angewiesen nimmt sie die Hände hoch und ballt sie zu Fäusten. Der Informations-Server verdunkelt sich. »Denken Sie darüber nach, Cowboy.« * Wieder Leibniz. »Können Sie mir helfen?« fragte Augustine. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich unser letztes Gespräch in vielerlei Hinsicht ermutigend fand. Sie versuchen, sich selbst zu verstehen. Sie haben Ihre innere Befindlichkeit beredter beschrieben als sonst eine spirituell gestörte Person, mit der ich es bisher zu tun hatte.« »Und Sie halten Beredsamkeit für ein gutes Zeichen?« »Für jemanden, der mit Sprache helfen will, ist die Fähigkeit, sich zu artikulieren, immer ein gutes Zeichen. Noch ein gutes Zeichen ist der Umstand, daß Sie ein In-
terfacer sind. Interfacer sind ziemlich widerstandsfähig gegen Desorientierung und psychischen Schock. Ihre generelle Verfassung übertrifft alle Erwartungen. Doch werde ich nicht gleich einen Handstand machen vor Freude. Wie ich schon sagte, stehen Sie erst am Anfang einer langen und schwierigen Anpassung. Sie sind noch nicht Der Bestie begegnet.« »Kursiv?« »Unbedingt. Wozu ich Sie bewegen will, Ms. Augustine, ist, daß Sie trauern. Sie müssen erkennen, daß Ihr Verlust real und schrecklich ist – und daß er permanent ist. Sie müssen akzeptieren, daß Alexa Augustine tot ist. Sie müssen um sie trauern, und dann müssen Sie von vorn anfangen. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie ein total sinnentleertes Leben führen und ewig nach den Teilen von sich suchen, deren Echtheit Sie beweisen können.« »Sie skizzieren ein schönes Bild.« »Ich muß Sie aber aufrütteln. Die Abbildung auf Ihrem Personen-Schirm ist schwach und flackert. Ich spüre eine interferierende Präsenz. Einen Schatten.« »Mein Personen-Schirm?« Leibniz nahm die Hände hoch und versuchte, wallende Konturen zu beschreiben. »Sie müssen sich intensiver mit den Grundlagen beschäftigen. Lesen Sie Charles. Doch das Grundkonzept ist einfach. Haben Sie schon einmal von Television gehört?« »Natürlich. Eine primitive Version des Computer-Bildschirms.« Leibniz seufzte. »Nicht ganz. Charles war ein Historiker von hohen Graden und hat vor allem des erste Informations-Zeitalter studiert, das zugleich das Zeitalter der unidirektionalen Medien war. Television war ein passiver Informationskanal. In ihm fand Charles das perfekte Sinnbild des Personseins. Jeder Bürger hatte zu Hause einen kleinen Bildschirm, der zu kontinuierlicher
animierter Darstellung in der Lage war. Das System war so konzipiert, daß eine zentrale Anstalt überall dieselbe Information einspeiste, ohne daß eine Möglichkeit zur Interaktion bestanden hätte. Kurioserweise entwickelte es sich zum mächtigsten partizipatorischen Medium überhaupt und führte bei einem Teil der Zuschauer sogar zu Suchtverhalten. Nach Aussage von Charles wurden die Sendeanstalten zu Relaisstationen für Massen-Phantasien, indem sie die lebendigsten Bilder des Massenbewußtseins einfingen und zum Zweck der Selbst-Erkenntnis wieder abstrahlten. Zum erstenmal in der Geschichte existierte nun eine wahrhaft selbst-bewußte politische Körperschaft. Wo aber nur die Traditionen der klassischen liberalen Demokratie als Auffangpositionen dienten, waren die Ergebnisse natürlich katastrophal. Doch schmälert das nicht die Bedeutung jener ersten Versuche. Denn Charles sagt, in jener Ära wären die ersten künstlichen Personen erschaffen worden. Und jene Personen waren Fernsehgeräte.« »Bildschirme, die Bilder zeigten, die vom Gruppen-Bewußtsein gesendet wurden.« Leibniz grinste. »Personen-Schirme eben. Und laut Charles hat jeder von uns seinen eigenen Schirm. Seine Hypothese unterfüttert er mit einem einzigen Argument, und zwar einer Übung in Introspektion. Was ist Denken überhaupt? Wir geben uns der Illusion hin, daß wir unsre Gedanken erschaffen, doch besteht der ›Schöpfungsakt‹ nur darin, Bilder und Gedanken aus einem Bereich zu beziehen, über den wir gar nicht verfügen: Denken ist, den Übergang zu spüren vom Unbewußten zum Bewußten, und wir glauben, wir täten dies willentlich. Die Ebene dieses Übergangs ist das, was Charles als den Personen-Schirm bezeichnet, auf den Bilder von weither projiziert werden. Jeder Gedanke, so lehrt Charles uns, besteht aus dem vorherigen Gedanken. Wir verbringen unser Leben in einem
kleinen Gedanken-Salon, als einziger Zuhörer einer endlosen Sendung von Wiederholungen, Auszügen und Zitaten. Wenn Sie das verstanden haben, Augustine, haben Sie schon sehr viel verstanden. Auf die Mattscheibe Ihres Bewußtseins werden nur die Bilder projiziert, die wir Co-Personen senden. Etwas Schreckliches geschieht mit Ihrem Bewußtsein. Etwas interferiert mit unseren Übertragungen. Die Abbildung auf Ihrem Schirm löst sich auf.« »Dieses Etwas ist Die Bestie.« Leibniz nickte. »Die Bestie ist natürlich Ihre innere Bestie, das Ungeheuer, das Sie töten müssen, wenn Sie leben wollen. Es ist die tote Frau in Ihnen. Die Frau, die in Ihren synthetischen Erinnerungen lebt. Die Frau, die Sie nie sein werden. Ein Teil von ihr ist Wirklichkeit, ein anderer der wirre Traum eines Erinnerungen strickenden Computers. Als Ganzes ist sie ein Geist, eine Simulation eines in Ihnen vergrabenen Selbst, das zerfällt, weil Sie es nicht mit Leben zu füllen vermögen. Ich nehme Geister sehr ernst, Augustine. Irgendwann wird dieser Geist hart und schrecklich und eifersüchtig und zornig werden, und sie wird sich mit Gewalt von Ihnen holen wollen, was sie nicht bekommen kann. Sie müssen sie aufhalten. Oder sie wird Sie töten, obwohl sie überhaupt nicht existiert.« »Die dunklen Gedanken. Die Erinnerung an den Tod.« »Sie haben es erfaßt. Was Sie als die dunklen Gedanken bezeichnen, ist der Ursprung. Was Sie als ›tot sein‹ bezeichnen, bedeutet ›geboren werden‹. Der Schlüssel ist die Stille dieser Gedanken. Der verführerische Friede Ihrer Träume vom Tod. Dies ist makelloses Glas, der klare Bildschirm Ihres Personseins. Die Bestie wirft ihren Schatten von woanders.« »Das Summen. Die Kopfschmerzen.« »Ein versteckter Cluster verdrängter Gedanken. Etwas,
das nicht zum neuen Sie paßt und deshalb nur als Schatten auf Ihren Personen-Schirm projiziert wird. Das ist Ihre Bestie. Das ist Ihr Summen.« Leibniz schaute aus dem Fenster und fuhr sich sinnierend mit dem Finger über die Lippen. »Wie oft tritt das Summen denn auf?« »Ein paarmal am Tag. An manchen Tagen öfter.« »Ich verstehe. Und nichts sonst? Keine direkte emotionale Verbindung?« »Etwas Behandelbares?« »Wenn Sie wollen.« »Es ist schwer zu sagen. Ist das schlimm?« »Es ist deutlicher, als ich glaubte. Es gibt hier eine starke Interferenz. Organisierter, starker Widerstand. Kommen Ihnen – seltsame Gedanken?« Augustine lachte. »Fast immer.« »Ich will versuchen, mich deutlicher auszudrücken. Gedanken, die nicht Ihre eigenen zu sein scheinen. Die Sie vielleicht zu antisozialen Handlungen verleiten wollen.« »Als da wären?« fragte Augustine gespannt. »Alles, was unsrer großen informationalen Gemeinschaft schaden würde.« Ein langes Schweigen. »Nein. Nichts in der Art. Ein paar Halluzinationen vielleicht.« »Ich meine nicht Needle und diese gelegentlichen Besuche Ihres Mentors. Sie sind nicht zu beanstanden und haben sogar therapeutischen Nutzen. Sie scheinen ihnen zuwenig Respekt entgegenzubringen. Ich will aber den Mechanismus aufspüren, der die Verweigerungshaltung bewirkt, die ich bei Ihnen spüre. Vielleicht der Wunsch, Selbstmord zu begehen.« Augustine seufzte. »Ja, ich habe Ihre Akte. Versuchen Sie nicht, sich uns zu widersetzen, Augustine. Es gibt keinen Grund für Ihren Schmerz. Sie sind die Person, die wir wollen. Die Bestie ist eine Bestie, weil sie nicht ist. Irgendwann
werden Sie mir helfen, die Bestie zu töten, und Sie werden vor Freude über ihr Verschwinden jubeln.«
3 Augustines Tagebuch Wir sind wieder in der Arena, Cowboy, Rose, Rogacev, Alfred und ich. Heute ist die Runde um die verurteilten Freischärler Melvin, Laura, Alice und Fred erweitert. Sie alle tragen Häftlingskluft. Die Beichte wurde ihnen abgenommen. Die Abschiedszeremonie hat stattgefunden. Keiner von ihnen ist zur Höchststrafe verurteilt worden, doch werden sie für eine lange Zeit büßen müssen. Cowboy wird heute zu seinem neuen Auftrag aufbrechen. Es ist das letztemal, daß wir zusammen sind, und wir alle wissen das. Niemand trägt Ausrüstungsgegenstände bei sich. Dies ist nicht der richtige Moment dafür. Cowboy, der im Mittelpunkt sitzt, erinnert an eine aufgestellte Heuschrecke. Cowboy schlägt die Beine übereinander und lehnt sich auf den Ellbogen zurück. Er läßt den Blick über uns schweifen wie ein Junge, der sich fragt, wie er seine Videospiel-Armeen aufstellen soll. Er trägt ein körperlanges Gewand, das mit Cowboys mit weißen Hüten bedruckt ist. Rogacev trägt eine gleichartige Kutte, nur daß sie mit Astronauten verziert ist, und Roses Gewand ist mit Bärchen geschmückt. Es ist fast Schlafenszeit, und, wie Mister Fragenmanns Staatsbürgerkunde-Fibel sagt, sind wir eine große Familie. Cowboy hat ein Schnupfröhrchen mitgebracht. Er schiebt den Cowboyhut mit der einen Hand zurück, und mit der anderen schiebt er sich das Röhrchen ins Nasenloch und zieht sich eine ordentliche Prise Koks rein. Er ist schon einer, unser Cowboy. »Ich möchte nun eine Abschiedsrede halten.« Cowboy lächelt und scheint mich dabei anzusehen. »Früher frag-
ten die Menschen sich, ob Maschinen denken können.« Cowboy grinst. »Und nun haben wir KIs Sechsten Grades, die imstande sind, Gedichte zu schreiben, Witze zu erzählen und mathematische Theoreme zu beweisen, die Menschen nicht einmal zu definieren vermögen. Und man kann auch sehr befriedigenden Geschlechtsverkehr mit ihnen haben, wenn man weiß, wo sie im Netz zu finden sind.« Cowboy beugt sich vor und nimmt noch eine Prise. Seine Augen werden glasig. Seine Wangen scheinen in Stein gemeißelt zu sein. »Also lautet die Frage nicht, ob Maschinen zum Denken befähigt sind, sondern ob Menschen in der Lage sind, sich zu mechanisieren. Und wir müssen das ganz klar sehen. Die Frage wird immer drängender. Die Welt war einmal ein überschaubarer und gemütlicher Ort; ein kluger Mensch vermochte sich bis zum Alter von dreißig Jahren zum Universalgelehrten zu mausern und dann daranzugehen, die Welt nach seinen Vorstellungen neu zu erschaffen. Im folgenden wurde die Welt immer größer, und es hieß, die Lebensspanne eines Menschen würde nicht mehr ausreichen, um sich das gesamte Wissen der Menschheit anzueignen – und nun sind wir zu einem Leben in zunehmender Spezialisierung verurteilt. Die Leute hatten damals recht. Die Welt wurde größer, und die Bereiche, die ein einzelnes menschliches Bewußtsein sich zu erschließen vermochte, wurden immer kleiner und komplexer, bis sogar die Spezialgebiete so kompliziert wurden, daß kein Mensch sie mehr vollständig beherrschte. Theorien, die bedeutende Phänomene erklärten, wurden nicht mehr von Denkern im stillen Kämmerlein aufgestellt, sondern von Expertenteams mit Computern; sie wurden von Expertenteams mit Computern produziert, wobei die Experten immer weniger von den Theorien selbst und immer mehr von Computern wußten. Zuletzt waren die einzigen Ex-
perten Software-Entwickler und Psychologen, wobei ihre Arbeit nur darin bestand, sich gegenseitig zuzuarbeiten. Wirkliche Information über die Welt wurde zu einem ebenso seltenen wie wertvollen Gut, auf das nur wenige Privilegierte Zugriff hatten. Und selbst diese wenigen wußten damit nichts anzufangen. Die Dinge standen eh schon schlecht, doch kam es noch schlimmer mit der Ankunft der Galaktischen Schiffe und dem Zeitalter der Miller-Informatik. Miller-Informatik heißt, daß Information flexibler und zugleich fragiler ist als je zuvor, weshalb Information das wichtigste Gut dieser Zeit ist.« Cowboy mustert einen der Cowboys auf seinem Gewand. Schließlich nickt er. »Einen mittelgroßen Kristall zu kopieren ist in etwa genauso leicht wie das Kopieren eines Kaninchens mit allen Erinnerungen und Erfahrungen, die es bis dato gesammelt hat. In anderen Worten, eine exakte Kopie ist unmöglich. Deshalb kommt der Rekonstruktions-Technik eine so große Bedeutung zu. Das Unvermögen, Dinge zu kopieren, relativiert sich, wenn man in der Lage ist, sie zu rekonstruieren. Das Problem ist nur, daß unsere Maschinen dadurch etwas unzugänglicher werden und uns ein Stück weit von der Welt aussperren, die wir so gründlich manipulieren. Deshalb ist es auch in diesem Zeitalter der Information das alte Lied: Die zunehmende Fähigkeit, die Welt zu manipulieren, geht mit einer zunehmenden Entfremdung einher. Verwirrung. Angst. Ein Gefühl größerer Abhängigkeit und geringeren Verstehens. Auf den Kristall kommt es an, aber nicht auf uns.« Rogacev erregt Cowboys Aufmerksamkeit, indem er ihm mit der Hand vor den glasigen Augen herumfuchtelt. »Du hältst das wirklich für eine schlechte Sache?« Cowboy runzelt die Stirn. »Oder nimmst du nur an«, setzt Rogacev nach, »daß die Fragmentierung des Selbst schlecht sei. Daß Denken
gut sei?« Cowboys Unterkiefer sackt einen Zoll ab. »Rogacev hat recht«, sagt Fred. »Seit Charles wissen wir es besser, als Leibniz in die Falle zu gehen und einen Urzustand der Harmonie anzunehmen.« »Aufgeklärter polyadischer Solipsismus«, springt Alice ihm bei. »Es fruchtet in der Regel nichts«, sagte Cowboy, »mit rationalen Argumenten gegen Irrationalität anzugehen. Wenn ihr unbedingt irrational sein wollt, dann nur weiter so. Das Problem mit euch Kameraden von der Weißen Orchidee, mit eurem Fleischessen und der Vorliebe für gewaltsame Fragmentation, besteht darin, daß ihr im Grunde nicht den Mut habt, zu euren Überzeugungen zu stehen. Wieso bringt ihr’s nicht hinter euch? Schnallt euch eine Bombe um und macht ganze Arbeit.« »Ich bringe es hinter mich, Cowboy. Tag für Tag.« Rogacev hält nachdenklich inne. »Und daß du die Lauterkeit unserer Absichten in Frage stellst, ist inakzeptabel. Ich fordere dich hiermit zum Kampf auf Leben und Tod.« »Meine Herren!« Alice springt auf. »Es ist schon in Ordnung.« Cowboy bedeutet ihr, sich wieder zu setzen. »Was soll das? Das achte Mal, daß du mich zum Duell forderst! Ich muß wieder ablehnen, Rogacev. Laß mich einfach ausreden. Vielleicht liege ich auch falsch, aber es ist meine letzte Chance. Mit der neuen InterfacingAusrüstung, die auf mich wartet, könnte ich dich direkt ins Land der glücklichen Fragmentierung kloppen.« Cowboy nimmt den Hut ab und legt ihn auf den Boden der Arena. »Ich glaube, wenn es uns nicht gelingt, wieder über sie nachzudenken, wird diese Welt uns töten.« »Ich glaube, sie wird uns gerade dann töten, wenn wir über sie nachdenken«, sagt Rogacev.
Sie starren sich für einen Moment an. »Hättest du vielleicht einen Vorschlag?« »Wir entsagen dem Denken. Wir fragmentieren. Widmen uns wieder dem Verdauungsvorgang.« Cowboy schaut erst die Freischärler an und läßt dann den Blick über uns schweifen, Rose, mich und Alfred. Dann nimmt er wieder eine Prise Koks. Rogacev stößt einen tiefen Seufzer aus und setzt sich wieder hin. Alice streckt den Arm aus, um ihm die Hand zu tätscheln, doch er zieht sie weg. »Dann gibt es nur noch einen Zufluchtsort. Wir müssen begreifen, was in diesen Kristallen vorgeht. Wir vergessen unsren Stolz, wir vergessen unsre Angst, und wir laden unsre armen Bewußtseine in den Kristall. Und ratet mal, was wir sehen? Das Netz. Nachrichten. Kopiert das, Kinder. Es gibt eine Welt dort draußen. Und mehr noch, es gibt Heilige, die sie verstehen: Aufgedrehte, eingestimmte und verkabelte Engel, die wir Interfacer nennen. Sie sind in der Lage, diese Welt zu bewegen, in ihr zu essen, in ihr zu pissen und in ihr zu ficken. Sie sind imstande, ihre informationalen Hände auszustrecken und den Rechenvorgang zu ändern. Ballen sie die Hand zur Faust, gerät das Wetterprogramm aus dem Takt.« Cowboy richtet den glasigen Blick wieder auf mich. »Das menschliche Bewußtsein ist gar nicht aus der Schleife ausgesperrt. Es schaltet sich in manchen Fällen auf, bei gewissen hochbegabten Interfacern wie unsrer Augustine. Wird ein Miller-Programm durch ein menschliches Bewußtsein unterstützt, werden möglicherweise bessere Ergebnisse erzielt als vom Programm allein. Wird ein gutes Wettermanipulations-Programm von einem guten Interfacer angeschubst, müßte es mit dem Teufel zugeh’n, wenn die mathematisch definierten Erfolgs-Prognosen nicht übertroffen würden. Aber wißt ihr was? Wenn wir unsre Interfacer fragen,
wie sie das gemacht haben, sagen sie ›Ich weiß nicht‹. Und wenn wir sie fragen, woran sie gedacht hätten, als sie es taten, ist die Wahrscheinlichkeit genauso hoch, daß sie ›Pizza‹ sagen oder behaupten, die prästabilierte Harmonie sei passe. Der gemeinsame Nenner ist der: Der Interfacer, der das Wettervorhersage-Programm beschleunigt, spricht nie über das Wetter.« Cowboy nimmt den Hut in die Hand und biegt die Krempe um. »Das Fazit lautet also, daß der Rest von uns die Maschinen mit zugeschalteten Interfacern genauso wenig versteht wie die Maschinen allein. Es funktioniert; es funktioniert sogar besser; doch die Erfahrung kommt nicht rüber. Es funktioniert für jene Welt, nicht für diese. Wir armen Drömmel im Tal der Tränen stehen draußen vor der Tür. Und die Leute im Net Data Central wollen, daß es auch so bleibt. Sie wissen nur, daß die Kontrolle des Netzes, ob sie es nun verstehen oder nicht, Macht bedeutet.« »Was willst du damit sagen?« fragt Fred. »Daß wir das Tal der Tränen verlassen sollen? Daß wir uns mit dem Netz verflechten und die Körper zurücklassen sollen?« »Der Tag wird vielleicht kommen. Es gibt eine natürliche Entwicklungslinie, einen Trend der Kapazitätserweiterung unsrer gottgegebenen Grundausstattung. Erst Sprache, dann Schrift, mathematische Notation, doppelte Buchführung, komplexe graphische Darstellung. Wir streifen die Sprache ab und brechen die Brücken ab, über die wir hierhergelangt sind. Besagte Entwicklungslinie führt uns von den Gedanken des präsprachlichen Wilden zu den Gedanken des post-alphabetischen paläocybernetischen Überbewußtseins, das im Zentrum eines riesigen Informations-Netzwerks pulsiert.« Er grinst und stößt ein zufriedenes Knurren aus. »Lauscht einem Traum, Kinder. Es ist vielleicht kein Spiel. Vielleicht gibt es statt eines Lebens nach dem Tod
ein Post-Bewußtsein, und dieses Schicksal war dem Geist von Anfang an bestimmt. Vielleicht ist der Interfacer der Wegbereiter, ein Engel der Visionen und Post-Visionen.« Er zuckt die Achseln. »Wir müssen herausfinden, ob das stimmt oder nicht. Wir müssen es für uns selbst herausfinden. Die Doktrin des Freien Zugangs besagt, daß nichts davon eine Bedeutung hat, wenn wir es nicht alle tun. Welchen Sinn hätte es auch, wenn einer von uns dazu imstande wäre und niemand sonst es verstünde? Es würde nur bedeuten, daß einer sich von uns verabschiedet hat. Er ist verschwunden, eingegangen in die Welt der Manipulation und Irrtümer. Die Implantation eines Miller-Kristalls in ein menschliches Gehirn muß als bloße Implantation einer mentalen Prothese betrachtet werden. Die Unterschiede in den individuellen kognitiven Fähigkeiten müssen aufgehoben werden. Vielleicht müssen die Implantate auf das jeweilige Bewußtsein zugeschnitten werden, doch müssen die Träger am Ende über die gleiche Kapazität verfügen. Alle Gedanken müssen jedem von uns zugänglich sein. Jeder von uns, und zwar jeder in seiner Gesamtheit, muß seinen Co-Personen zugänglich sein. Unsere Grenzen im Netz werden von den Grenzen des größten Bewußtseins gezogen.« Es wird still. Rose setzt sich auf, dreht sich auf den Bauch und stützt das Kinn in die Hände. »Cowboy, glaubst du eigentlich selbst daran?« »Ja.« »Wenn du also den Schild für Ardath fliegst und die nächste Stufe erreichst, wirst du dann zurückkommen und uns den Weg dorthin weisen?« »Ja.« »Und wenn wir nichts mehr von dir hören?« fragt Alice. »Nicht mal das Rauchen deiner Colts sehen?« »Dann habe ich definitionsgemäß nicht die nächste
Stufe erreicht.« Fred lacht. Alice rümpft die Nase. »Die Sache ist ’ne Nummer zu groß für dich, Cowboy.« Rogacev bleckt seine Reißzähne. »Du wirst so enden wie Smoket.« »Smoket kannte die Wahrheit nicht.« »Nun kennt er sie.«
4 Augustines Tagebuch Die anti-individualistische faschistische Doktrin betont die Rolle des Staats für die Verkörperung des Wesens des Individuums und erkennt das Individuum nur insofern an, als seine Interessen sich mit denen des Staats decken, der für das Bewußtsein und den universalen Willen der Menschen als eine historische Gesamtheit steht. Liberalismus negierte den Staat im Namen des Individuums; Faschismus bestätigt den Staat als rechtmäßige Verkörperung des Wesens des Individuums. Das faschistische Verständnis vom Staat ist allumfassend; jenseits des Staats können weder menschliche noch geistige Werte entstehen und noch viel weniger Geltung beanspruchen. Benito Mussolini, DOKTRIN DES FASCHISMUS … es heißt, Gerechtigkeit sei der beständige Wille, jedem Menschen zu geben, was ihm gebührt. Also gilt, wo kein Eigentum, da keine Ungerechtigkeit; und wo keine Zwangsgewalt herrscht, gibt es kein Eigentum, und alle Menschen haben ein Recht auf alle Dinge: also gilt, wo kein Gemeinwesen, da kein Unrecht. Hobbes, LEVIATHAN
Eine Gruppe. Wir stehen in unseren schwarzen Anzügen vor einem schwarzen Bildschirm. Der Lüfter an der Decke klickt wie der Verschluß einer Kamera, die vom immergleichen Deckenausschnitt eine Bilderserie schießt. Die Blätter huschen über zwei gelbe Lampen, wodurch ein Stroboskop-Effekt entsteht. Unsere Schatten wabern hinter uns, schwarze Synkopen in Schwarz. Rose neben mir nickt in Richtung der Dunkelheit, und die Anzüge wechseln in den Virtuell-Modus. Ich spüre den schwachen Widerstand unbekannter Teile beim Atmen, das vertraute Gefühl einer materialisierenden körperlichen Abbildung, ein atmendes, zuckendes, strampelndes Ding, dessen Konturen noch unbestimmt sind. Meine Unterglas-Sinne erwachen zum Leben, und ich muß sie unterdrücken. Dies ist kein Glas, nicht einmal Interfacing. Dies ist eine Gruppe. Ich höre ein leises Seufzen von Alfred. Ich hoffe, daß er die neue Ausrüstung in den Griff bekommt, doch habe ich nun keine Zeit für ihn. Es gibt einen gemeinsamen Nenner für alle körperlosen Erfahrungen von Astralprojektionen über das Spielen von Segovias Bach-Interpretationen bis hin zum primitivsten Datenhandschuh. Um einen neuen Körper zu beziehen, muß man den alten verlassen; in einem gegebenen Moment kann es nur ein phänomenologisches Selbst geben – zumindest bis zu dem Tag, da man Musik hört. Das erfordert Geduld. Ich gehe rein, pumpe mich mit meinem Atem auf und tanke eine Energie, die mir in Kürze das Verlassen dieses alten Körpers ermöglichen wird. Ich warte. Auf einem schwarzen Bildschirm, der mit dem hinter mir identisch ist, gehen die Lichter an. Fünf winzige Figuren liegen reglos auf der Bühne. Nun regt sich eine.
Ich balle die linke Hand zur Faust. Die kleine Gestalt bewegt die rechte Hand: Ich glaube, sie zeigt mir den Stinkefinger. Wir schwingen wohl noch nicht ganz synchron. Langsam nehme ich die neue Gestalt an. Mein neuer Körper ist eine fünfzehn Zentimeter große, aus Balsaholz gefertigte Figur. Ich habe lange Gliedmaßen. Oberarme und -schenkel sind lange Ovale, die durch Kugelzapfen-Gelenke mit dem Torso verbunden sind. Hand- und Fußgelenke haben komplexe Gelenke, die biegsam und drehbar sind. Mein neuer Körper ist blind, doch dafür sehe ich noch immer mit dem alten. Und was ich sehe, gleicht einer Schaufensterpuppe, einem Modell fürs Figurenzeichnen. Ich erlerne eine neue Motorik, in einem langsamen Prozeß der Koordinierung von Ursache und Wirkung. Als ob ich ein neues Musikinstrument spielen würde. Ich spüre, wie die neuen Massen sich setzen, spüre, daß meine Teile sich allmählich ausrichten. Ich erinnere mich, daß jemand mir einmal gesagt hat – ich glaube, es war Mannie – , daß ich ein großes sportliches Potential hätte. Langsam, aber entschlossen mache ich die erste große Bewegung. Das Körpergefühl ist da; die großen Teile sind ausgerichtet und koordinieren sich. Ich sortiere die neuen Beine unter mir. Die kleine Figur erhebt sich und steht aufrecht. Sie schwankt zwar und rudert mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, doch sie bleibt stehen. Große Bewegungen sind leicht; es sind die ständigen kleinen Korrekturbewegungen, die einem noch den Rest geben. Dann registriere ich ein störendes Element, das ich noch nicht einzuordnen vermag. Eine Art Rauschen oder Wind, der hin und wieder meine heikle Konstruktion umwirft. Ein böses Ding, glaube ich. Etwas, dessen ich mich erwehren muß. Während die anderen Figuren um sich
schlagen und sich hilflos krümmen, wende ich Kampfsport-Techniken an. Ein Schatten fällt über meinen neuen Körper. Zunächst erkenne ich ihn im flackernden Schein der Bühne überhaupt nicht. Dann hält das Ding ein rubinfarbenes Auge ins Licht: Rogacevs Figur. »Guten Morgen, Ms. Augustine. Darf ich um diesen Tanz bitten?« Die Stimme kommt von der Bühne, neben Rose, doch es ist die Figur, die sich verneigt. Ich trete einen Schritt zurück. Wenn mein neuer Körper dazu imstande wäre, würde ich lachen. Statt dessen drehe ich mein Fünfzehn-Zentimeter-Selbst, fasse die Figur bei der Hand und reiße die Hand hoch. Diese plötzliche Schwerpunktverlagerung wirft ihn um. Doch er rollt sich ab und steht sofort wieder auf. Wir tanzen. Rogacevs Figur dreht sich auf einem Bein, hebt und beugt das andere und streckt es grazil wieder aus. Er dreht sich auf der Zehenspitze. Er erklärt mir, daß er geschworen hätte, nie wieder unter den Draht zu gehen, doch würde dies wohl kaum als Draht zählen, weil der neue Körper eine so große Ähnlichkeit mit dem alten habe. Als eine Übung in kultivierter Fragmentierung bezeichnet er das. Ich umtanze ihn auf Zehenspitzen; der Oberkörper ist ihm zugeneigt, einen Arm habe ich über den Kopf erhoben, den anderen in die Hüfte gestemmt. Wir sind ein klassisches Paar. Eine Aufwallung des dunklen Dings bringt uns aus dem Gleichgewicht. Rogacev richtet sich langsam wieder auf. Die Figur neben ihm fällt auf den Bauch und stützt sich dann auf Hände und Knie. Sie trägt ein rotweiß-gelbes Gewand: Alfred. Ich gleite zu ihm hinüber, um ihm zu gratulieren. Nun regt die Figur mit der an die Brust gehefteten Blume sich: Rose. Sie setzt sich auf und stützt sich mit den Händen hinter dem Rücken auf. Sie dreht den ovalen
Kopf nach links und rechts. Eine Figur eilt durch das Wechselspiel von Licht und Schatten unter uns. Schatten-Balken huschen über den Boden und an ihrer Gestalt hinauf. Ich sehe, wie sie den Scheinwerfer festhält. Es ist Leibniz. Sie schaut mich direkt an. »Sehen Sie sich um.« Ich drehe den Kopf meiner Figur. Nicht daß mir das irgendwie helfen würde, doch ein bißchen Theater schadet nie. Die Figur mit den pinkfarbenen Knopfaugen rollt sich auf den Rücken und setzt sich auf. Nur eine Figur ist noch immer reglos. Sie liegt im Mittelpunkt der Bühne und trägt einen Cowboyhut. Ich beuge mich über sie. Der rubinäugige Rogacev steht hinter mir und hat die hölzernen Hände in die hölzernen Hüften gestemmt. Wir verspüren ein Gefühl der Ruhe. Die dunklen Interferenz-Wellen scheinen abgeklungen zu sein. »Cowboy hat Sie verlassen. Was ist das für ein Gefühl?« »Er hat bekommen, was er verdient«, sagt Rogacev. Ich bin baff – nicht etwa wegen Rogacevs Einstellung an sich, sondern weil er kein Hehl daraus macht. Er zieht ein Bein ein und macht eine Pirouette. Hinter ihm wagt die Figur mit der Rose auf der Brust einen Sprung – sie hebt die Arme, hebt ein Bein und streckt es aus. »Dann pflichten Sie ihm also bei, Rose.« »Klarer Fall. Wenn wir uns wegen ihm Sentimentalitäten erlauben, würde er uns nur auslachen.« »Ehrlose Gesellen, diese Tekkies«, stellt Leibniz fest. Sie richtet den Bühnenscheinwerfer wieder auf Rogacev. Roses Figur dreht sich und streift Rogacevs Bein. Mit einem Klappern geht er zu Boden. Der Bühnenscheinwerfer schwenkt über die Holzscheite zu Rose hinüber. »Wir alle wissen, was geschehen ist. Er wurde beim Informations-Diebstahl ertappt. Man
schlug ihm einen Handel vor. Und er meldete sich ›freiwillig‹ für einen Sonderauftrag. Aus pädagogischen Gründen arrangierte man es, daß er sich vor uns ›freiwillig‹ meldete.« »Das hätte Ihnen auch passieren können«, sagt Rogacev, »wenn man Sie gebraucht hätte.« »Soll ich nun Mitleid für ihn empfinden?« »Was halten Sie denn davon, Augustine?« fragt Leibniz. »Glauben Sie, Cowboy hätte es verdient, daß man ihm eine Träne nachweint?« Ich hebe die Hände der Figur. Sie vermitteln mir ein seltsames Gefühl der Leichtigkeit, und es wird mir geradezu schwindlig, so simpel wie dieser Körper aufgebaut ist. »Ich fühle überhaupt nichts. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas fühlen würde, wenn ich ihn kennen würde.« Ich habe den Satz kaum beendet, da zeihe ich mich selbst der Lüge. Ich verspüre durchaus Mitgefühl für ihn, wenn ich daran denke, was ihm unter dem Schild vielleicht zustößt, doch habe ich keine Lust, vor Leibniz und den anderen einen ›Seelen-Striptease‹ zu machen. »Überlegen Sie mal. So gefährlich die Lage auch ist, in der Cowboy sich befindet – vielleicht schafft er es doch. Er wird den Schild vielleicht überleben und die nächste Stufe des Interfacing erreichen. Sie sind gerade erst zur neuen Königin der Zigeuner-Socketeers gekrönt worden. Sind Sie denn nicht neidisch auf ihn?« »Nein.« »Ist es Ihnen wirklich egal, ob Cowboy die nächste Stufe vor Ihnen erklimmt?« »Wenn Ardath glaubt, Cowboy sei für diese Arbeit besser geeignet, dann muß ich mich sogar glücklich schätzen.« »Aalglatt!« kreischt Rose. »Affront.« »Wieso Affront, Rose?« »Diese ganze ›Ich-bin-ein-Opfer-der-
Rekonstruktion‹-Masche geht mir langsam auf die Nerven. Augustine spielt mit genauso hohem Einsatz wie Cowboy. Nur daß sie vielleicht etwas selbstbezogener ist. Tatsache ist«, sagt Rose und läßt ihre Figur vor meiner aufmarschieren, »daß es dir egal ist, was Cowboy tut, weil du dich eh für die Beste hältst. Und vielleicht hast du sogar recht.« Der Lichtkegel, der mich erfaßt hat, färbt sich blau. »Verteidigen Sie sich, Augustine.« Ich hebe den Arm der Figur auf halbe Höhe, was ein Achselzucken darstellen soll. »Wieso sollte ich?« »Es ist Ihnen egal, was wir von Ihnen halten? Dann hat Rose also recht.« »Vergessen Sie’s, Mutter. Dieses Gefühl beruht nämlich auf Gegenseitigkeit.« »Beten Sie für ein erfüllteres Selbstsein, Schwester Rose – für Augustines und Ihres. Augustines EinsamerWolf-Stil braucht uns nicht aus dem Konzept zu bringen. Die Gruppe ist ein selbstregulierendes System. Alle Personen – selbst Augustine – sind Kräfte, die durch die Erwartungen ihrer Co-Personen entstehen. Zürnt ihr nicht. Wir besitzen ihre fehlenden Stücke.« Der Lichtkegel wandert von mir weg. »Glauben Sie aber nicht, Sie hätten gewonnen, Augustine. Sie sind ebenso arrogant wie unwissend. Sie glauben, Sie hätten einen freien Willen. Sie glauben, Sie hätten die freie Wahl zwischen vielen Sichtweisen. Und deshalb führen Sie Ihre Figur gut. Doch etwas haben Sie bei dieser Übung nicht begriffen.« Ein Gewicht auf den Schultern biegt mir den Oberkörper nach unten. Die leichten Arme meiner Figur werden schwer. Die Beine werden schwach und geben nach. Die Füße rutschen unter mir weg, und ich kippe nach hinten. Das Gewicht wird nicht von mir genommen. Ich liege auf dem Rücken und vermag mich nicht zu rühren. Das dunkle Zufalls-Ding über mir schlägt triumphierend
mit den Flügeln. »Dieser Körper wird vom Willen der Gruppe bewegt, Augustine. Sie wirken maßgeblich an der Choreographie mit, und Sie sind auch eine ausgezeichnete Tänzerin; doch den letzten Schritt machen wir alle zusammen.« Ich rudere mit dem rechten Arm, und er schlägt krachend auf den Boden. Der Nachhall ist so laut, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. »Hören Sie zu, Augustine, und lernen Sie.« Der Lichtkegel erfaßt die letzte Figur. »Alfred.« Alfreds Figur macht eine Grätsche und geht leicht in die Knie. Ich wende mich ihm voller Erwartung zu. Alfred hat durchaus Talent. Er riskiert zwar nicht so viel wie Rose, ist aber viel erfolgreicher. Er hat dieses Talent mit der komplexen Simulation unter Beweis gestellt, die er in Zylinder Null erzeugt hat; auch wenn sie fast nur visuell war. Doch das Talent ist noch nicht voll entwickelt, und er ist schon zu alt, um es zu perfektionieren. »Sagen Sie uns Ihre Meinung.« Er richtet sich langsam auf. »Ich glaube nicht, daß Augustine sich im Moment Gedanken über irgendwelche Stufen macht. Ich glaube, es fällt ihr schon schwer genug, sich auf dieser Stufe zu behaupten.« Roses Figur legt Alfred die Hand auf die hölzerne Schulter und wirbelt ihn herum. Er zittert wie Espenlaub, hält sich aber auf den Beinen. Er hat etwas zu sagen. Seine Körperhaltung weist eine Krümmung auf, die mir neu ist und die ich deutlich spüre, wenn – wie ich nun erkenne – ein Teil von mir seine Figur beseelt. Er schmiegt sich an sie, wie ein Mann, der sich gegen den Wind stemmt und die Böen auspendelt. Dann macht er aus dieser vollkommenen Entspannung heraus einen Schritt. »Sie werden natürlich nichts gegen Augustine sagen. Gegen sie zu sprechen würde nämlich bedeuten, daß Sie Verantwortung übernehmen müßten – und diese Fä-
higkeit geht Ihnen und Augustine gleichermaßen ab. Alfred, akzeptieren Sie, wer Sie sind?« »Sicher.« »Dann akzeptieren Sie auch, daß Sie ein erfahrener Interfacer sind und daß das, was während Ihrer letzten Sitzung unter dem Glas geschehen ist, nicht hätte geschehen dürfen und daß es dafür einen Grund geben muß.« »Das ist aber viel Akzeptanz.« »Denken Sie nach, Alfred«, sagt die Stimme hinter dem Licht. »Sie müssen sich der Verantwortung stellen.« Leibniz’ Lichtkegel wird rot. »Sagen Sie uns, wie es passiert ist. Sagen Sie uns, was schiefgelaufen ist, und wir sorgen dafür, daß es nie wieder geschieht.« »Ich erinnere mich nicht mehr an alles. Da waren starke Vibrationen, und viele Bilder wurden aufeinandergestapelt. Immer wenn ich glaubte, ich hätte etwas festgemacht, stülpte es sich um. Und dann war ich an dem defekten Ort, wo das Galaktische Schiff landete.« »Aber war da vorher nicht noch etwas?« »Wie meinen Sie das?« »War da nicht noch eine informationale Abbildung, die Sie in den fehlerhaften Namensraum gelotst hat?« »Ich erinnere mich nicht.« Das Phantom kommt zurück, nimmt Alfred unter die Fittiche und schüttelt ihn durch. Doch immer, wenn es ihn schubst, stemmt er sich dagegen, bis es ihn schließlich hochhebt. Deshalb scheint diese Figur in der Luft zu hängen, als ob sie sich auf die Zehenspitzen stellen und den Hals recken würde, um etwas in der Ferne zu erkennen. »Und trug diese Abbildung nicht einen Cowboyhut? War es nicht Cowboy, der erst am Tag zuvor eine Meldung über ein Galaktisches Schiff in seiner Zeitung gebracht hatte? Wäre es da nicht naheliegend für ihn gewesen,
das Bild dieses Schiffs auszuwählen?« »Weshalb hätte Cowboy mich wohl quälen sollen?« fragt Alfred. »Helfen Sie ihm auf die Sprünge, Augustine. Helfen Sie ihm auf die Sprünge!« Meine Figur regt sich, vermag aber nicht aufzustehen. »Ich weiß nicht, weshalb Cowboy das gemacht hat.« »Das ist aber merkwürdig. Hatten Sie Cowboy denn nicht dort unten geholfen?« Es wird still. Ich spüre, wie ich den Figur-Körper abstreife. Mein realer Körper sackt zusammen. »Noch immer die sture Augustine. Will noch immer nicht zugeben, daß sie für die Rettung der Hilfe bedarf.« Eine blaue Wand wächst aus den Händen von Alfreds Figur. »Stellen wir uns für einen Moment vor, Sie seien ein Marine, Alfred. Stellen wir uns vor, ein Schiff sei gelandet und Sie hätten den Auftrag, es zu bewachen. Hier ist Ihr Lichtsäbel. Was werden Sie tun?« Alfreds Figur steht über meiner. Sie hebt den Säbel. Meine Figur ist bewegungsunfähig. »Lassen Sie sie in Ruhe«, sagt Alfred. »Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen, und Cowboy auch nicht. Ich hatte wirklich einmal ein Galaktisches Schiff bewacht. Es sah genauso aus wie das, was ich gestern gesehen habe.« »Sie hatten Wachdienst verrichtet – als Sie ein Marine waren.« »Ja.« »Alfred, Alfred.« In Leibniz’ Stimme schwingt Trauer mit. »Sie waren nie ein Marine. Und Sie wissen das.« »Ich schaff das nicht mehr. Verständigen Sie das Ministerium für Personen. Tun Sie, was Sie wollen. Es ist mir egal.« Alfreds Figur läßt den Lichtsäbel fallen. Das Ding fällt auf die Bühne und springt noch zweimal hoch, wobei ein unheimliches Echo ertönt.
»Ja, es ist Ihnen egal. Doch haben Sie beide noch immer nicht den Sinn dieser Übung begriffen. Die Entscheidung steht nicht in Ihrem Ermessen. Habe ich nicht recht, Augustine?« Impulsiv stehe ich auf. Meine Figur bewegt sich nun leichtfüßig. Impulsiv bückt sie sich und hebt den Säbel auf. Impulsiv zückt sie den Säbel. Dann schwinge ich ihn in blinder Wut; er fährt auf und nieder, wobei jeder Hieb von einem Geräusch von Holz auf Holz untermalt wird und einem Schauer Späne, die von Alfreds Figur abgehackt werden. Die Figur fällt. Alfred grunzt. Ich erkenne, wie unbändig mein Haß auf ihn ist. »Sie glauben, eine finstere Macht sei über Sie gekommen oder wir würden Sie wie eine Marionette führen. Doch ist dem nicht so, Augustine. Es hat keinen Sinn, sich einer übermächtigen Kraft zu widersetzen. Sie werden das wollen, was wir für Sie für das Beste halten.« Ich falle um und presse mir die Hände auf die Ohren. Ich höre ein Summen und sehe einen Blitz, und Mr. Existenz erscheint. Er hängt grotesk verrenkt in der Dunkelheit, wobei die Schlangeniederstiefel sich in einer höheren Position als der Kopf befinden. Er verschwindet, erscheint wieder und flackert. Das Summen wird lauter. Panik steigt in mir auf. Ich bin kein Beobachter mehr. Ich bin mittendrin. Ich möchte schreiend von der Bühne rennen. Dann bricht das Summen ab. Jemand legt den Schalter von Mr. Existenz um. Es geht ein Ruck durch ihn, und dann verflüchtigt er sich, die Sonnenbrille zum Schluß. Für einen Moment wirkt die Luft an der Stelle, wo er geschwebt hat, trübe und viskos. Dann sehe ich, wie der Soldat meine Großmutter mit vorgehaltener Waffe aufhält. Ich höre, wie sie ihn bittet, das Kind gehen zu lassen. Ich möchte, daß er sie erschießt. Die Hände lösen den Griff um die Luft, und ich falle. Ich
möchte es noch immer.
5 Das Diebes-Tagebuch Augustine schlug die Augen auf. Leibniz beugte sich über sie; das silberne Haar war mit einem blauen Band zurückgebunden. Sie trug ein schwarzes Gewand mit einem hohen Kragen und blauen Streifen. Sie hatte eine Nadel in der Hand. »Sie hatten das episodische Gedächtnis aktiviert. Das ist alles.« Hinter Leibniz ertönt Roses Stimme: »Wir wollten nicht, daß ihr etwas zustößt, Mutter.« »Natürlich nicht. Reden Sie keinen Unsinn. Doch ihr Zustand ist ernst. Während der nächsten paar Tage wird sie vielleicht – ach, Sie sind wach.« Augustine bewegte die Hand in Zeichensprache. Die Faust nach oben gestoßen und an die Brust geführt. Zwei Finger berühren sich mit der Kuppe und zeigen nach oben. Nehmen Sie die Nadel weg. Leibniz nahm Augustines Hand und legte sie sachte wieder aufs Bett. »Ich brauche Ihre uneingeschränkte Kooperation. Sie müssen sich nun ausruhen.« Sie hob die Spritze und drückte Flüssigkeit aus der Nadel. »Ihre Bestie hat wieder zugeschlagen.« Sie senkte die Nadel, und Augustine versuchte sie abzuwehren. Leibniz stieß einen Schrei aus. In einer entfernten Ecke wurde Beifall geklatscht. »Sie will das nicht, Mutter.« »Ivy soweit ich weiß, war das Ihre übliche Behandlungsmethode. Hätten Sie lieber ein Depotpflaster?« Augustine schüttelte den Kopf. »Ivy, Ihr episodisches Gedächtnis hat überreagiert. Dies ist eine kritische Phase. Wir müssen Sie ruhigstellen.« »Ich will das nicht.« »Wieso nicht?«
»Weil ich nachdenken muß.« »Kennen Sie überhaupt Ihren Namen?« »Ich muß nicht meinen Namen kennen. Ich muß nachdenken.« »Die Personseins-Statuten erlauben es nicht, daß eine Person ihre medizinische Behandlung unterbricht.« »Sagen Sie das mal Smoket.« Das Bett knarrte, als Leibniz ihre Masse von der Bettkante wuchtete. Sie schaute Augustine bekümmert an. Einen Moment später machte sie auf dem Absatz kehrt. Sie schloß die Tür hinter sich. Nach einiger Zeit wurde die Tür wieder geöffnet, und Rogacev trat ein. »Augustine? Bist du wach?« Sie nickte. »Hast du Smoket gesehen?« »Ich glaube nicht.« »Ich muß ihn finden. Ein Kommissar vom Ministerium für Personen ist hierher unterwegs, und er muß für eine Weile in der Versenkung verschwinden.« »Ich habe ihn nicht gesehen.« »Ich habe dir einen Meditationswürfel mitgebracht.« Er hatte eine Kantenlänge von etwa drei Zentimetern und bestand aus milchigem Kunststoff. Es war ein gutes Gefühl, die Faust darum zu schließen. »Danke. Muß ich – ihn dabei anschauen?« »Nein, du darfst ihn nicht anschauen. Du machst es genau richtig. Du kannst ihn aber nach einer Weile in die andere Hand nehmen.« »Der Kommissar vom Ministerium für Personen. Kommt er wegen mir?« »Wegen Alfred.« Sie sagte nichts. Wieder einmal hatte ich keinen blassen Schimmer, woran sie dachte, doch der Würfel schmerzte nun in der Hand. Rogacev schloß die Tür leise hinter sich. In den nächsten Stunden wurde es schlimmer, viel
schlimmer, und sie hörte immer wieder Needles Gelächter vom Fenster.
6 Augustines Tagebuch Es blitzt, und eine Daten-Explosion findet statt. Ich ziehe den Stecker, und Buchstaben ergießen sich über den Bildschirm. Schreiben: Viele vom Wasser abgeschliffene weiße Steine. Und in den weiten Räumen, aus denen die Buchstaben kommen, hat die Form der Dinge sich geändert. Das Netz ist transformiert worden. Neue Wächter bewachen alte Systeme, Lücken klaffen, wo feste Wände waren, Zugänge zu schrecklichen Fallen. Ich stelle fest, daß Mister Fragenmann sich zu seinen Ungunsten verändert hat. Seine letzte Antwort ist ein Schwall Unsinn, einer von Millionen Puffern aus beliebigen Worten, die das Netz verunstalten – Architexturen, die durch Kollisionen großer informationaler Körper hochgeschleudert wurden. Für einen Moment sehe ich die von alphanumerischem Schrott umrankten Worte ›Der Krieg ist nicht vorbei‹. Dann wandert diese Zeile über den Bildschirmrand hinaus und ist für immer verloren. Ich schaue aus dem Fenster meines Zimmers auf den Schnee. Wo zuvor nur die Andeutung einer gekrümmten weißen Gestalt sich abzeichnete, sehe ich nun Rogacev in seiner Meditations-Pose. Die Hände hat er in den Schnee gesteckt, und auf der Schulter hockt der goldene Roboter. Ich springe vom Computer auf. Rogacev ist ungewöhnlich agil. Er ruckt nach vorn und gräbt die Stirn in den Schnee. Der Roboter klammert sich verzweifelt fest. Ein leises Stöhnen verwandelt sich in eine unmelodische Melodie. Auch er weiß von den seltsamen Kräften, die der Vielfalt innewohnen. Der Roboter springt Rogacev von der Schulter, nimmt
meine Hand und klettert mir auf die Schulter. Das Summen wird wieder lästig. Doch ich weiß nun, daß dieses Summen nichts mit Visionen zu tun hat. »Du möchtest mit mir sprechen.« »Es gibt ein paar Dinge, die mich beunruhigen.« »Ja.« »Vielleicht weißt du schon, worum es sich handelt.« »Ich glaube schon.« »Gut. Fangen wir mit dem Summen an, das ich in deiner Gegenwart immer höre. Hast du eine Erklärung dafür?« »Das ist schwierig.« »Ich will’s mal versuchen. Wenn man einem Sprecher ein Mikrofon hinhält, überträgt es Rückkopplungs-Geräusche. So hört das Summen sich an.« »Ein schöner Vergleich.« »Damals, im Schnee, hast du dich genauso bewegt wie ich. Voll synchronisiert.« »Ja.« »Du weißt, was ich tun werde, ehe ich es tue.« »Manchmal.« »Manchmal.« Diese Zeitangabe bringt mich fast zum Lachen. Doch weiter. Mister E. sagt, eine Frau von Format fokussiert das Bewußtsein. »In Ordnung. Letzte Frage. Als ich unter dem Glas in deiner Partition war…« »Ich glaube nicht, daß wir uns darüber unterhalten sollten.« »Es interessiert mich nicht, was du glaubst. Ich war in deiner Partition und habe eine höchst seltsame Struktur gefunden…« Der Roboter kippt nach vorn, fällt mir von der Schulter und erzeugt einen Einschlagkrater im Schnee. Nach einem Moment meldet Rogacev sich. Ich drehe mich besorgt um, denn er hat wieder diese Kontraalt-Stimme. Und ich sehe den gleichen glasigen Blick und das Speichel-Rinnsal, das ihm schon bis aufs
Kinn gesickert ist. »Hier unten«, sagt die Stimme. Ich schaue auf Rogacevs Datenport, der halb im Schnee versunken ist. »Ich habe dem Roboter den Saft abgestellt. Wir können uns nun über den Datenport unterhalten.« Ich hebe den reglosen Roboter aus dem Schnee auf. »Was soll ich mit…?« »Rogacev wird ihn später reinbringen. Ich halte es für sicherer, sich im Rauschen des Netzes zu unterhalten. Dort wird schnell mal was verschluckt.« »Was unter dem Glas passiert ist, war also auch ein Rückkopplungseffekt.« »Ja.« »Mit dieser Struktur bin ich verbunden. Schon seit einer Weile. Seit dem Krankenhaus.« »Ja.« »Gestern, in der Gruppe mit Alfred, hast du dieses Ding eingesetzt, um mich… du warst das, stimmt’s?« »Ja.« Und die Wut packt mich wieder wie bei Alfred; mein keuchender Atem zeichnet weiße Bahnen in die eisige Luft. Der Kopf fühlt sich leicht an. Ich verliere ihn wieder. »Tust du es schon wieder?« »Nein, das bist du. Augustine, du mußt die Medikamente nehmen.« »Nein. Die Medikamente machen mich zu einer Gefangenen meiner selbst.« »Sie fördern die Reproduktion der molekularen Automata.« »Ich schaff’s auch so.« Die Leichtigkeit wird zu einem Schmerz, der vom Zentrum des Schädels ausstrahlt und sich über die Stirn ausbreitet. »Ich weiß nicht, was geschehen wird.« »Wir werden es herausfinden.« Ich stolpere und setze
mich neben Rogacev in den Schnee. »Sie sind imstande, dich zur Einnahme zu zwingen.« »Du meinst, du bist dazu imstande. Schau, kleiner Roboter. Ich muß hier raus. Auf die eine oder andere Art werde ich es schaffen. Entweder läßt du mich freiwillig gehen, oder ich werde die nächste Gelegenheit nutzen.« »Du meinst, du würdest dich selbst zerstören.« »Hättest du einen anderen Vorschlag?« Hinter mir ertönt ein dumpfes Klatschen. Ich drehe mich um und sehe, daß Rogacev sich Schnee von der Glatze schüttelt. »Du«, sagt er. »Ich glaube schon.« »Du bist auf dem Weg.« Er schnippt einen Schneerand vom Ohr. Ich lasse den Blick über die unberührte Schneedecke schweifen. »Ich wußte gar nicht, daß hier einer verläuft.« »Du bist nur mit einer Buchse und dem Kopf eines anderen Interfacers im Glas gegangen.« Er streicht sich über die Wimpern. Der Blick, den er mir zuwirft, drückt fast schon eine Anklage aus. »Tut er aber.« »Dann wäre der nächste Schritt dieser.« Er schaut zum Himmel empor und bleckt die scharfen Zähne. »Freiheit. Segeln im informationalen Wind ohne Kabel und Datenhäute.« »Was für eine Horrorvorstellung.« Rogacev preßt die Lippen zusammen, wobei die Zähne sich in die Unterlippe graben. »Vielleicht solltest du den Meditationswürfel zurückgeben.« Mir ist schon klar, daß ich kein würdiger Jünger der Weißen Orchidee bin. Ich hole den Würfel aus der Tasche und gebe ihn ihm. Er nimmt ihn wortlos. Ich gehe, um sie nicht bei der Meditation zu stören. Needle ist noch immer im Zimmer. Er wirkt rastlos. Inzwischen hat er sich einen Spazierstock beschafft. Er
hat sich den Panamahut verwegen ins Gesicht gezogen und geht die Wände hoch, wobei die Arme in einem inneren Takt schwingen. Als er sich und den Hut fast in die Horizontale gebracht hat, hält er inne und blinzelt mir zu. Es ist nur eine Frage der Zeit, scheint er zu sagen. Der Schmerz in meinem Kopf ist schlimmer als alles, woran ich mich erinnere.
7 Das Diebes-Tagebuch In dieser Nacht wachte sie auf und sah den goldenen Homunculus auf dem Bett. Er saß im Schneidersitz da, das Kinn hatte er auf die Faust gestützt, die goldenen Arm-Ringe glichen schimmernden Halbmonden, und die roten Augen glühten. »Ich erinnere mich an den Tod meiner Großmutter«, sagte sie. »Ich weiß.« Sie war seltsam ruhig, fürchtete sich seltsamerweise nicht. Das Aufsetzen fiel ihr so schwer, daß sie sich wieder in einem Traum wähnte. Nur daß das flaue Gefühl im Magen, das Nagen im Gedärm inzwischen typisch für das nächtliche Aufwachen war. Das war der Ruf der Nadel, und die Nadel rief nicht im Traum. Sie sah, was sie nie zuvor gesehen hatte: Der Homunculus hatte eine Energiequelle, ein Kabel, das aus dem Hinterkopf austrat. Wohin? fragte sie sich. »Was läßt du gerade laufen?« fragte sie. Der Homunculus antwortete nicht. Verschlafen folgte sie mit der Hand dem Verlauf des Kabels. Bis zum Kissen. Sie hob den Kopf und warf einen Blick auf den Ausgang. Das Kabel schlängelte sich übers Kissen. Sie spürte, daß das Kribbelfeld sich wie eine
schlafende Katze an sie schmiegte. Sie atmete tief durch. Zitternd stieß sie die Hand durchs Feld und betastete die Buchse am Hinterkopf, in die das Kabel mündete. Quincunx beugte sich zu ihr herunter und griff mit seiner winzigen Hand nach ihrer. Sie schrie auf und riß den Klinkenstecker heraus. Der Homunculus wich furchtsam zurück. Die Dinge hatten sich geändert, und wir uns mit ihnen. Ihren nächsten Besucher sah ich nicht durch meine Spione, sondern durch den Homunculus, der vom Fenster auf sie zuging. Needle schaute ernst, soweit das unter dem tief ins Gesicht gezogenen Panamahut überhaupt noch zu erkennen war. Sie schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich stöhnend auf. Needle wirkte leicht beleidigt, doch streckte er den Arm aus und reichte ihr das Besteck. »Wie…? – ach so, danke.« Sie nahm das Etui und band den Arm mit einem Gummiband ab. Dann suchte sie nach einer Vene. »Du weißt, daß du die Nadel nicht brauchst.« »Needle, ich habe es dir doch schon erklärt. Ich mag den Einstich.« Sie schaute ihn müde an und zielte mit der Nadel auf die Vene. Dann beging er den größten Fehler, den eine Halluzination nur machen kann: Er lächelte. Sie warf die Nadel nach ihm. Es ist nicht leicht für Halluzinationen, die Launen ihrer Schöpfer zu ertragen, stabil zu bleiben und alle bekannten Gesetze zu befolgen. Die hypodermische Nadel durchbohrte ihn und prallte am Fenster ab. Das Lächeln gefror in Needles Gesicht. Und dann beging er Fehler Nummer Zwei: »Du kannst sie immer noch verwenden.« Augustine ging zum Fenster, hob die Nadel auf, öffnete das Fenster und warf sie raus. Sie beugte sich in die
kühle Nacht hinaus und sah Smoket auf die Stelle starren, wo die Hypo im Schnee versunken war. Sie ging zur Tür und schlang die Arme um die Brust. »Gut.« Sie drehte sich um. Der Homunculus saß im Schneidersitz im Fenstererker. »Ich glaubte, du wärst real.« »Das bin ich auch. Augustine, du warst acht Jahre alt. Es gab nichts, was du hättest tun können.« »Du bist nicht real.« »Bin ich doch. Ich kenne deine Erinnerungen.« »Ich will nicht mehr, daß du meine Gedanken liest.« »Ich weiß. Aber du und ich, wir sind etwas Besonderes. Es ist nicht leicht, aufzuhören.« »Ich will nichts Besonderes sein.« »Dann tut es mir leid. Weil du nämlich keine Wahl hast.« Der Homunculus kam zu ihr herüber und faßte sie am Fußgelenk. »Augustine. Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen mußt.« Sie schüttelte den Kopf. »Was geschehen ist. Was sie dir angetan haben. Was sie dir vielleicht noch antun werden.« Und dann muß etwas in meiner Stimme mitgeschwungen haben. Etwas von Augustine. Denn sie drehte sich um und schaute an mir hinab. »Ich möchte dir den einzigen Ort zeigen, der frei ist von Lüge.« Dann machte ich das Zeichen: Handflächen zusammen, so daß die Finger der einen Hand das Gelenk der jeweils anderen umschlangen. Das Zeichen für das Unterglas.
8 Das Gemeinsame Tagebuch Man öffne ein Fenster und nenne es Augustine. Augustine:
Als wir den Kellerraum betreten, sehe ich Rose über ein pinkfarbenes Spielbrett gebeugt. Der Homunculus und ich grüßen sie und gehen dann zu einem Computerarbeitsplatz in der Ecke, um ungestört zu sein. Ich stecke Cowboys Kristall in einen trimodalen Helm. Dieses Exemplar fährt nur langsam hoch. Der Homunculus beobachtet mich mit den gleichen roten Augen, die er im Traum hatte; er sitzt wie eine Dekoration auf dem Monitor, diese Umkehrung von Rogacev – wobei der eine, ein Mensch aus Fleisch und Blut, sich mit mechanischen Komponenten anreichert, während dieser hier, ein Mensch aus Metall, ein richtiger Mensch sein will. Man öffne ein Fenster und nenne es Fenster Eins. Fenster Eins: Augustine griff hinter sich, stöpselte die Klinke in die Kopfbuchse und zog sich den Helm über die Ohren. Das Kribbelfeld wurde aktiviert, und der Kopf wurde von einem pastelligen Wabern umgeben. Der Dunst war farblos, doch er wurde von gespenstischen Schemen durchdrungen, die der Raum durch den Nebel und unter ihr Halb-Sein schob. Dann wurde der Nebel von den vertrauten grauen und weißen Schlieren durchzogen, durch die hin und wieder Blitze zuckten. Der Raum war noch präsent, durch das Gefühl der Luft auf der Hand, durch den Druck des Stuhls auf Rücken und Beine, das Knarren und Klicken anderer Maschinen – all das definierte einen Raum um sie. Diese Beeinträchtigungen waren unvermeidlich. »Du trägst zwar einen trimodalen Helm«, sagte ich, »aber ich werde ihn von meinem Anschluß aus verstärken.« »Wird es Glas sein?« Der Homunculus nickte. »Du wirst Glas brauchen, um zu sehen, was ich dir zeigen will.«
Wir fielen durch wabenartige Strukturen. Sie taumelte. Normalerweise hätte sie jede Form in ihrer Umgebung gründlich untersucht. Der Sonar-Sinn hätte das Innere kartiert. Der Strangeness-Sinn hätte die Dimension ermittelt, und der Rhythmus-Sinn hätte ihr Anhaltspunkte für die Wiedereintritts-Phase dieser Formen vermittelt. Denn die Welt unter dem Glas hatte eine trügerische Geometrie, und kein vernünftiger Interfacer hätte sich hier nur auf seinen Orientierungssinn verlassen. Unter sich sah sie Lichtreflexe. Augustine glitt über die blitzende Fläche des Glases und kippte ab. Und durchstieß sie. Das Gitter drang aus der weißen Gelatine unter ihr, die rote Anomalie des Nebels über dem Glas. Überall summten Prozesse, und unglaublich komplexe Formen steckten im Gitter – die Geräuschkulisse des informationalen Markts der Menschheit. Das Netz. Nachdem wir durch die Oberfläche des Glases gestoßen waren, fuhr ich die Aktivität meiner Alter-Augustine herunter; in der Hoffnung, die Rückkopplungs-Stürme zu unterbinden, zu deren Verursachung Augustine neigte. Es war, als ob ich ein schwelendes Feuer angefacht hätte. Augustines flackernde Abbildung loderte auf wie eine Protuberanz. Immerhin sah ich sie nun. Ihre Abbildung überstrahlte alle anderen. Sie vergrößerte die Skalierung und drehte sich für eine Weile, um die Umgebung in sich aufzunehmen. In der Ferne krümmte das Gitter sich nach oben und lief über uns zurück, so daß wir in der Nähe des Zentrums einer riesigen sphärischen Stadt zu schweben schienen. Doch Augustine ließ sich nicht von entfernten Dingen ablenken: Routiniert scannte sie die nahen Strukturen. Ein blinkender Punkt erschien, und die Darstellung des Glockenturms am Ende der Market Street neigte sich und durchdrang uns. Aus einem anderen Winkel über-
lagerten wir eine Frau, die gerade eine Aubergine schälte; die Schale war eine Nuance dunkler als das Kleid. Alltag im Netz. Ich blinzelte uns zur richtigen Adresse. Bislang war unser Kontakt minimal gewesen. Sie kümmerte sich nicht um meine Abbildung. Sie hatte andere Sorgen. Wir passierten eine Tür. Dann hörte sie das schnorchelnde Geräusch. Etwas Großes atmete in der Nähe. Sie aktivierte den visuellen Sinn und erkannte den Wurm, der sich zum informationalen Horizont erstreckte. Sie schwebte an der schwarzen Oberfläche des Wurms entlang bis zu einer Stelle, wo das Gitter sich weiß färbte und den Wurm überbrückte. Auf dieser Überführung fand sie den Turm. Sie verkleinerte die Skalierung, und der Turm wurde zu einem raunenden Wolkenkratzer, dessen Spitze in einer Endlosschleife abgetragen und wieder aufgesetzt wurde. Sie untersuchte die Struktur und vergewisserte sich, daß sie den gewünschten Text enthielt. Dann nahm sie eine Manipulation vor, die ich nicht ganz verstand und bei der sie an drei Singularitäten im Gitter zupfte. Im nächsten Moment schwebten wir ein einer Text-Sphäre mit Auszügen aus dem Diebes-Tagebuch: Man öffne ein Fenster und bezeichne es als Informations-Server. Informations-Server: Nächte. Diese cybernetischen Nächte. Die Sterne werden ausgeworfen wie Splitter eines Miller-Kristalls, wie das zerschmetterte Herz eines Computers, wie Scherben einer Scheibe informationalen Glases. Fenster Eins: Sie hatte eine merkwürdige Lesetechnik. Sie erschloß sich den Text so, daß die Mitte zuerst erschien und der restliche Text in zwei Richtungen nach hinten zurücklief. Von jeder Textstelle gingen neue Stränge aus, wobei
die letzten Einträge Blumen mit vielen Blütenblättern glichen, die sich sachte zusammenrollten und wieder öffneten. Informations-Server: Jeder von uns ist seine eigene Gottheit, so steht es geschrieben im Tagebuch der Rose. Und aufgrund dieser düsteren Offenbarung sind wir zur Erkenntnis verdammt. Der Qual des Schmerzes, des Schmerzes des Todes, der Strafe der Sünde. Und nun hebt und senkt die Brust sich, der Atem setzt ein – aus dem Totenreich kommt sie: »Ms. Augustine?« Ein Atemzug. »Ms. Augustine. Hören Sie mich?« »Tut weh. O Gott, tut das weh.« »Im Moment kann ich Ihnen nichts gegen die Schmerzen geben. Wir müssen uns zuerst unterhalten. Doch sobald wir miteinander sprechen, werde ich den Schmerz lindern. Ich verspreche es. Verstehen Sie? Wir werden den Schmerz lindern.« »Tut weh. O Gott o Gott.« »Ihr Gehirnstoffwechsel ist etwas durcheinandergeraten. Das ist eine Nebenwirkung der Behandlung. Und leider sind die von Ihnen unterschriebenen Einverständniserklärungen ungültig, bis Ihre PR-Tests vorliegen. Also lautet die Frage: Kann ich Ihnen Plaina gaben? Kann ich Ihnen etwas gegen den Schmerz geben?« »Tut weh. Tut weh. Bitte.« »Sie wissen, daß, wenn ich Ihnen nun die Dopamin-Exciter gebe, Sie immer mehr davon haben wollen. Sie werden für eine sehr lange Zeit davon abhängig sein.« »Tut weh. Tut mir weh.« »Soll ich Ihnen nun das Plaina geben?« »Bitte. Machen Sie, daß es aufhört.«
»Zustimmung erhalten. Los geht’s.« »O Gott. O Gott. Tut gut. Tut gut.« Fenster Eins: Augustine drehte und krümmte sich. Ein fürchterlicher Schmerz explodierte in ihrer Brust, doch sie platzte nicht. Sie zog sich aus dem Text zurück und wechselte an einen anderen Ort. Wie langsam sie las. Wie langsam menschliches Denken abläuft. Es gab eine Milliarde Zeichen, mit denen ich ihr zu sagen vermocht hätte, was sie wissen mußte – Zeichen, die eine KI im Nu verstanden hätte. Doch kein einziges Zeichen hätte ihren engen Horizont erweitert. Ich kannte sie nun besser. Ich mußte Geduld haben. Informations-Server: Alexa stand abrupt auf und warf den Stuhl um. »Was, zum Teufel, ist los mit Ihnen? Sind Sie nicht imstande, Ihre eigenen Karten zu lesen?« Die Augen der alten Frau funkelten. »Doch, bin ich. Aber nun möchte ich Ihnen eine Frage stellen.« »Sagen Sie mir nur das Ergebnis.« »Sehr wohl. Sie sind ein Trotzkopf und mißachten gute Ratschläge. Sie werden sich auf die Suche nach etwas Großem und zugleich Gefährlichem begeben. Etwas Kleines und Verwirrendes wird zu Ihrem Tod führen. Durch Mord…« »Wovon reden Sie eigentlich?« »… sehr, sehr bald.« Alexa trat einen Schritt zurück. »Tun Sie mir das nicht an.« »Sie wollen die gute Nachricht hören. Nun gut. Die gute Nachricht ist, daß Ihr Tod gerächt werden wird.« Fenster Eins: Meine Geduld wurde arg strapaziert. Wenn es nur möglich wäre, diesen Text wie einen genuinen Prozeß durch Scannen wiederzugeben. Dann erkannte ich, daß, wenn sie auf vollen Touren arbeitete, die Probleme auf ihre Art lösen würde.
Die Sphäre dehnte sich aus. Sie befand sich im Mittelpunkt; der Text trat in den Hintergrund, das Rillenmuster an der Innenwand schrumpfte und verschwand. Sie war allein in der Kammer mit einem hölzernen Sarg. Sie riß den Deckel auf und schaute in ihr eigenes Gesicht. Ein Auge öffnete sich und blinzelte ihr zu. Die Sphäre explodierte. Wir schrien auf und wurden in alle Winde zerstreut. Ich beschleunigte auf die Grenze der bekannten informationalen Hüllkurve zu. Muß gegensteuern. Muß gegensteuern. Augustine: Etwas Schreckliches eröffnet sich in einer Richtung, die sich, selbst in diesem Raum, in mir befinden müßte. Ich schreie. Der Schrei wird nicht in Schall überführt. Als ich mich bewege, bläht irgend etwas in der Nähe sich auf. Wieder. Eine Öffnung klafft. Ich vermag kein Glied zu rühren, ohne daß ein fremdartiges Glied diese Regung aufgreifen würde, das unglaublich verwinkelt ist und aus einer weichen Substanz besteht, die wie Fleisch ist und doch nicht wie Fleisch. Ich fahre den Scanner bis zum Anschlag hoch. An der Grenze des Erfassungsbereichs blitzt es. Dann schleudert irgend etwas einen ›Retour‹-Blitz, der meinen durchbohrt. Die beiden Strahlen verschmelzen miteinander, und etwas nähert sich auf ihnen. Es erreicht mich, packt mich. Ich setze mich zur Wehr. Es kommt zu einem Handgemenge. Etwas berührt mich, wo nichts mich berühren darf. Fenster Eins: Was, wenn wir einen Personen-Schirm in uns hätten, der unsre Gedanken abbildet, noch bevor wir sie artikulieren oder in Aktion umsetzen? Und was, wenn dieser Schirm sich plötzlich in einen Spiegel verwandelt? Ich versuchte mich zu bewegen, doch es gelang mir
nicht. Der Wille war außer Kraft gesetzt, und es existierte kein Raum mehr, in dem man Zeichen geben konnte. Ich war eingesperrt und versuchte, einen Gedanken zu fassen. Die Gedanken schlugen indes eigene Wege ein, mit seltsamen Verknüpfungen und überraschenden Wendungen, die sich in einer Gedanken-Sprache artikulierten, die mir nicht mehr fremd, aber auch noch nicht vertraut war. Ich sah, so wie ich mich es sehen sah, daß dieser Gedanke von zwei Bewußtseinen geteilt wurde. Wir beide hatten Zeit, die große, dräuende Präsenz eines anderen Selbst wahrzunehmen, ein pulsierendes, sabberndes, erbärmliches Ding. Dann zerriß das Gewebe des Informations-Raums, und sie fiel heraus. Ich saß konsterniert in meiner von Blitzen durchzuckten Welt. Wieder allein. Zeit verging. Eine lange Zeit in meiner Welt. Lang genug für eine KI-Symphonie, lang genug, um die Populations-Dynamik einer Pazifischen Öko-Blase neu zu konfigurieren. Dann rief ich den Turm auf, den sie zurückgelassen hatte und tat etwas, das nicht nur für die Bosse ein Verbrechen war, sondern auch für meine KIGeschwister. Als mein Werk vollendet war, hatte der Turm sich in eine der driftenden Architexturen des Netzes verwandelt, die in fehlerhaften Namensräumen schweben, in gelöschte System-Kerne stürzen und sich in experimentelle Poesie auflösen, Blasen in Blasen aus Text, wobei nichts mehr an sie erinnert außer diesen Worten. Ich hatte Information vernichtet. Augustine war in die Welt der Gefallenen zurückgekehrt. In diese Welt. Diese Realität. Wo der Homunculus wartete. Sie hob die Arme und zog jemand anders das Hemd über den Kopf. Der Schmerz im Rücken, hervorgerufen durch die Stuhllehne, war auch ihr Schmerz.
Sie nahm den Helm ab. Sie holte wieder Luft und tat mit einer weiteren Willensanstrengung das, was sie immer tat, was sie am besten beherrschte: Sie konstruierte sich selbst. Sie war eine Frau, die auf einem Stuhl saß und die wußte, daß ihr Selbst wußte, daß die Stuhllehne eine waagrechte Druckstelle am Rücken hinterließ. Der Druck, den die Stuhllehne auf den Rücken ausübte, wurde unerträglich. In der Ferne ertönte ein Rhythmus. Sie tauchte ein, spreizte die Takte und flocht sie methodisch zu einem Gewebe. Dann wandte sie sich dem Schmerz zu und untersuchte sein Inneres. Das war auch eine Wahrnehmung, und es gelang ihr, den Schmerz in eine andere Zustandsform zu überführen. Ich schaltete den Bildschirm aus und sprach.
9 Augustines Tagebuch Der Homunculus beugt sich über mich und löscht den Inhalt auf meinem Bildschirm. Bei schlechteren Lichtverhältnissen vermag ich paradoxerweise wieder zu sehen. Die fremdartige Stimme in mir verstummt. Die Verbindung bricht ab. Doch der Traum wird fortgesetzt. »Es tut mir leid. Aber du mußtest es erfahren.« Ich habe keine andere Möglichkeit, als den Traum über mich ergehen zu lassen. Ich bin nicht imstande, ihn zu regulieren, zu bitten oder zu injizieren. Es ist wohl ein Traum, aber der besonderen Art. Der Art, die sich selbst erklärt. »Nun weißt du Bescheid. Die Simulation, die du an dem Tag, als du Alfred gerettet hast, in mir fandest, war gar nicht deine Interfacing-Simulation. Es war ein Funktions-Modell von dir. Das Werkzeug, mit dem ich dich überwache.« »Und mich kontrollierst.«
»Ja.« »Als ich mich damals in San Francisco umbringen wollte…« »…habe ich dich zurückgehalten. Und alle Umstände, die zu diesem Selbstmordversuch führten, an Schroeder gemeldet.« »Deshalb habt ihr mich hier eingewiesen. Wo ihr mich besser im Blick habt.« »Womit ich mich für eine Weile auch begnügt hatte. Ich habe die Veränderungen deines Hormonhaushalts und Gehirnstoffwechsels, sogar den Verlauf deiner neuronalen Aktivität, mit Hilfe der molekularen Automata in deinem Innern verfolgt. Wie du siehst, warst du sehr wichtig für sie und hast die Krönung eines langen Forschungsprogramms dargestellt, des Experiments, das die Zuverlässigkeit der Methode bewies. Nun begreifst du auch, daß deine Verletzung durch die Wally-Attacke ihnen gerade recht kam. Sie hatten deine Neukonstruktion nämlich seit geraumer Zeit geplant. Du wurdest eingeliefert, einer medikamentösen Therapie unterzogen, und der neue Q-Print wurde installiert.« »Ich glaube, ich habe verstanden«, sage ich dem Traum. »Der Q-Print, den sie benutzten…« »Ja. Der Q-Print, den sie benutzten, war meiner.« Ich höre eine Bewegung hinter mir und drehe mich um. Es ist Rose, die über einem Terminal zusammengesunken ist. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist kaum zu beschreiben. Der Wunsch nach Vergessen, vielleicht. Wie der Blick, den sie jemandem verpassen, dem ein bleibender neurologischer Schaden diagnostiziert wurde, oder wie der Blick, den man Sam verpaßte, als er weggebracht wurde. Komisch. Das erstemal, daß ich mich daran erinnere. »Ich habe die Alter-Augustine zerstört«, sagt der Homunculus. »Du bist frei.«
KAPITEL 4
PARALLELE PROZESSE
Mithin kann man jeden Menschen von diametral entgegengesetzten Standpunkten aus betrachten. Einmal ist er das rastlose Individuum, beschwert mit Irrtümern und Sorgen und mit einem Anfang und einem Ende in der Zeit; zum anderen ist er das unzerstörbare Ur-Wesen, das in allem objektiviert wird, das da existiert. Schopenhauer
1 Augustines Tagebuch Kooperation mit dem Individuellen Gott. Eckart
Die ganze Zeit war also eine andere Person in mir gewesen, eine Präsenz, die jeden meiner Gedanken aufsog und ihn für sich reklamierte. Jemand, der mich besser kannte als ich mich selbst und von dem ich nichts wußte. Seit fünf Monaten bin ich imstande, dieses Tagebuch zu führen. Den Klang meiner Gedanken habe ich zu ertragen gelernt, obwohl ich wußte, daß sie von jemand anders stammen, doch der Anblick meiner Worte auf einem Monitor bringt mich noch immer aus der Fassung. Dieses kleine Rechteck, in dem die Augen wie eine gläserne Augenmaske sich spiegeln, die leuchtenden Buchstaben, die sich wie Tagesschau-Bilder über den Bildschirm ergießen. Nein, das ist die Route zum Wahnsinn. Wenigstens in dieser Hinsicht hat Leibniz recht. Wenn man dem Gedanken, daß alle Gedanken übertragen werden, eine Idee zu lang nachhängt, fängt die Musik an zu spielen. Und während dieser fünf Monate bin ich alles andere als wahnsinnig gewesen. Sagt Leibniz. Der Homunculus auch. Ich bin frei. Ich weiß über ›mich‹ Bescheid. Vor einem halben Jahr, am 3. September, wurde ich in einem Scharmützel in einem Kleinkrieg im Norden Kaliforniens verwundet. Ich habe nicht überlebt. Doch der Existenz-Strang ist nicht abgerissen. Eine andere erhob sich aus der Asche. Diese andere, Augustine genannt – diejenige, welche diese Worte schreibt – , ist nicht ich. Diese andere lebt weiter, denkt, fühlt, pflegt meine Er-
innerungen, freut sich, wenn ich mich freue, tröstet mich, wenn ich traurig bin. Diese andere verübt körperliche und seelische Grausamkeiten; sie hat sogar Angst vor dem Tod. Doch sie ist nicht ich. Sie ist eine bedeutungslose Chiffre, ein Rätsel. Dies ist die Bedeutung des immer immer immer wiederkehrenden Traums, in dem sie über mich wacht und mit meinem Leichnam spricht. Sie ist voller Liebesbedürfnis. ›Chiffre‹ und ›Rätsel‹ sind die Themen des heutigen Tagebucheintrags. Liebebedürfnis ist die Tonart. Wo ich nun die Abtei verlassen habe, ist eine Last von mir abgefallen. Die Worte kommen wieder. Die Gedanken kommen wieder; denn die letzten fünf Monate habe ich wie im Tiefschlaf verbracht. Nein, mehr noch. Ich habe das Gefühl, ich sei von einer Reise zu einem anderen Wesen zurückgekehrt – zurückgekehrt, wenn schon nicht zu mir, dann zumindest zu meinem Zorn. Ich fühle mich wie ein auftauchender Interfacer. Ich verliere die Wörter nicht mehr aus dem Blick, wenn sie über den Bildschirm wandern. Ich bin auch nicht mehr wie in Trance. Nach dem Aufwachen wirkt die Präsenz des Bildschirms zwar nicht weniger bedrückend, doch verstärkt es den Drang, ihn zu zertrümmern. Nach einer Weile spinnt der Gleiter einen akustischen Kokon; eine Hülle aus Schwingungen legt sich um Hände, Arme, Körper und Kopf, und es tritt eine zunehmende Taubheit ein, bei der die Konturen verschwimmen. Mein Getränk steht auf der Ablage, die ich aus der Rückenlehne des Vordersitzes ausgeklappt habe. Mein Notebook steht auf der Ablage. Meine Zeitung ist darübergebreitet. Quinc ist in Cowboys Fußstapfen getreten und reüssiert als Leitartikler. Die Schlagzeile der aktuellen Ausgabe der Revolutionären Losung lautet DIE VERKÜNDUNG DER RECHTE FÜR KIS. Und dieses schwülstige Geschwätz füllt fast die ganze Titelseite. Die Meldung von
Alfreds Verhaftung erscheint rechts unten auf der Titelseite und trägt die Überschrift INTERFACING-FLOP DROHT EXTERMINIERUNG. All das interpretiert Rose auf dem Platz neben mir vorschnell als Strafe für die schlechte Gruppen-Arbeit. Diese Information wird nur im Flüsterton und mit nervösen Blicken zum Heck des Gleiters weitergegeben, wo Marines Karten spielen, Kleriker in vollem Ornat sich die Köpfe heißreden und wo die Non-Person, vormals Alfred genannt, aus dem gläsernen Isolationskäfig schaut, am weißen Chorhemd herumzupft und sich seelisch-moralisch auf die letzte Reise vorbereitet. Wo Rose nun davon überzeugt ist, daß ich eine höhere Stufe menschlicher Intelligenz erklommen habe, ist sie verständlicherweise um mein Wohlergehen besorgt. Ich wünschte, man hätte, sie an einen anderen Platz gesetzt. Am 3. September ist Alexa Augustine gestorben. Am 2. Oktober, dem Tag, an dem eine von Alexas Scheidungen sich jährte, ist ihre kausale Erbin Ivy Augustine unter dem Glas hervorgekommen. Sie wurde über ihre wahre Natur aufgeklärt und erfuhr, daß ihr essentielles kognitives Selbst nicht Alexa gehörte, auch nicht Ivy, sondern einer KI namens Quincunx. Möge das allen zur Warnung dienen, die sich im Netz selbst verwirklichen wollen. Ich schaue Rose auffordernd an, doch sind diese Gedanken ihr fremd, und sie würde sie auch nicht teilen, wenn ich sie artikulieren würde. Die Geschichte von Ivy Augustine weckt in Rose nur Ehrfurcht und Freude. - Ich bin ein Computer, Rose. -Ja! Die nächste Stufe der menschlichen Entwicklung! - Ein Computer, Rose. Doch sie begreift es nicht. Manchmal begreife ich es selbst nicht. Manchmal versuche ich mich noch immer zu erinnern, ob Alexas Lieblingsfarbe nun Gelb oder Blau war, welche Schuhe sie meistens trug oder wie sie
sich am Tag der letzten Scheidung fühlte. Ich versuche noch immer, das Heute vom Damals zu scheiden. Dummer Socketeer. Will noch immer meine Erinnerungen aussortieren, obwohl ich es gar nicht war, die sie hatte. Die Leute im Heck werden unruhig. Jemand in einer blauen Kutte erscheint auf dem Cockpit-Monitor und verliest eine unverständliche Verlautbarung. Ich drehe den Kopf, um zu sehen, weshalb die Marines ihr Pokerspiel unterbrochen haben. Ein paar der Kleriker knien nieder. Jemand legt mir die Hand auf die Schulter, und ich sehe, daß das Objekt ihrer Verehrung Ardath ist. Er beugt sich zu mir herunter und sagt mit leiser Stimme: »Ich frage mich, ob wir reden können.« »Natürlich, Euer Gnaden.« Ich will aufstehen, doch er bedeutet mir, sitzen zu bleiben. »Vielleicht können wir hier reden?« Er schaut Rose fragend an, deren Gesicht knallrot anläuft. Sie murmelt etwas, versucht aufstehen, sieht den Sicherheitsgurt, löst ihn und tritt Ardath beim Verlassen der Sitzreihe noch auf den Fuß. Er nimmt sie buchstäblich von sich herunter und wendet sich an seinen Assistenten. »Sagen Sie unseren Brüdern von der Linse, daß dies ein offizieller Anlaß ist.« »Euer Gnaden?« »Keine Kniefälle.« »Ja, Euer Gnaden.« Er eilt zum Heck des Gleiters, wobei er die zurückweichende Rose fast über den Haufen rennt. Ich lösche den Bildschirminhalt und klappe das Notebook zu. Ardath nimmt Platz. »Sie haben eine gefährliche Aura, Augustine. Die traditionelle Gefahr des einsamen Wolfs. Enttäuschend, nach den guten Beurteilungen von Mutter Leibniz. Sie sagt, in den letzten Monaten hätte eine Wandlung stattgefunden, die an ein
Wunder grenzt.« Ich lächle. Es freut mich zu hören, daß fünf Monate, die mir wie ein Tiefschlaf erschienen sind, für Leibniz solch hervorragende Ergebnisse gezeitigt haben. »Ich bedaure, Euer Gnaden, daß meine Befindlichkeit nicht besser ist.« Er seufzt. »Ich will es anders ausdrücken. Als ich mich bei unserer guten Mutter nach Ihren Fortschritten erkundigte, reagierte sie geradezu enthusiastisch. Ihrer Ansicht nach waren Sie nun bereit für eine professionelle Tätigkeit, sogar für eine politisch sensible Position.« »Ich verstehe nicht, Euer Gnaden.« Er holt tief Luft. »Ich habe beschlossen, den Rat der guten Mutter zu befolgen. Sie werden nun zu Ihrem neuen Arbeitsplatz gebracht.« Ich spüre einen Adrenalinstoß, fast Angst. »Ich dachte, ich sollte bei Alfreds Verhandlung aussagen.« »Mein persönlicher Gleiter dient normalerweise nicht dem Transport von Non-Personen. Nein, ich war gerade auf der Rückreise von Europa, als ich Mutter Leibniz’ aktuelle Berichte las. Ich sagte mir, das sei genau der richtige Zeitpunkt für Ihren Transfer.« »Wohin, Euer Gnaden?« Er zögert. Die Angst, die in dieser Frage mitschwingt, interessiert ihn. »Sie treten eine Stelle als lizensierter Konzils-Interfacer an. Allerdings mit einer Probezeit. Ich vermute, das umfaßt auch ein breites Spektrum von Aktivitäten im Netz.« Mir entflieht ein Ausruf, der kaum ans Ohr des Chef-Semantikers dringt. »Entschuldigung, Euer Gnaden.« Er grinst jungenhaft; er freut sich, daß es ihm gelungen ist, mich zu überrumpeln. »Schon in Ordnung. Ich wollte Sie überraschen. Natürlich werden wir Sie für die Aussage bei der Verhandlung freistellen. Ich werde sogar selbst ein gutes Wort ein-
legen, wenn Sie möchten.« Er hält inne. »Eins muß ich Ihnen aber sagen. Das wird sich möglicherweise nachteilig auswirken.« Ich zeige wohl wieder eine Regung, denn er sieht mich kopfschüttelnd an. »Augustine, ich fühle sogar eine gewisse Sympathie für Abweichler. Schließlich war Charles selbst ein Rebell, ein buckliger Hacker, der nie über die frühen Enttäuschungen in der Liebe hinweggekommen ist.« »Ich bin sicher, Alfred würde sich durch den Vergleich geschmeichelt fühlen, Euer Gnaden.« Er runzelt die Stirn, als der Name fällt, doch er fährt fort: »Sicherlich war es ein einsamer Mensch, der in Meditationen schrieb: ›Herr, bewahre mich davor, kleine Freuden in großen Kummer zu verwandeln. Die Schönheit eines Blatts, das Wunder einer Aussicht vom Berggipfel, die verführerische Eleganz eines weiblichen Hinterteils. Bewahre mich davor, Dinge als Trugbild zu sehen, sondern versetze mich in die Lage, sie so zu sehen, wie sie sind.‹ Worte, mit denen Sie sich bestimmt identifizieren, wo Sie die Dinge doch schon von Berufs wegen so sehen müssen, wie sie sind.« Ardath schaut mich prüfend an. Mich fröstelt. Ardath reicht mir die beringte Hand. Ich ergreife sie, wobei ich die kalten Finger nur flüchtig berühre. »Doch hat Charles begriffen, daß Einsamkeit sich nur selbst verstärkt. Ms. Augustine, wissen Sie, worin das Konzept der Monade bei Charles und beim Philosophen Leibniz sich unterscheidet?« Zufällig ist dieser Aspekt der Rosen-Philosophie ein Schwerpunkt von Leibniz’ Vorlesungen gewesen. »Charles’ Monade verkörpert die alte, mystische Vorstellung eines privaten Gottes. Ein jeder hat seinen eigenen Gott, eine Seele und ein vorgezeichnetes Schicksal.« Ardath lächelt. »Sehr gut. In Die Medita-
tionen schreibt er: ›Schaut in euch hinein, und ihr werdet die Wahrheit erkennen. Ihr habt euch selbst erschaffen.‹ Charles wußte, daß Gott in uns wohnt. Doch er wußte auch, daß das allein nicht genügte. Um das Schicksal zu akzeptieren, mußte das Leben auch einen Sinn haben. Und Sinngebung erfolgt nur von außen.« Ardath schaut in mein bekümmertes Gesicht. »Bei Charles steht Leibniz’ Gott nicht mehr im Mittelpunkt. Doch nun benötigt man einen Ersatz für die ›prästabilierte Harmonie‹, die all die singenden Monaden dirigiert. Und dieser Ersatz ist das Gemeinwesen als Autorität, der Staat.« Er verstärkt den Griff um meine Hand, und ich schaue sprachlos auf die saphirblaue Linse am Ring. »Sträuben Sie sich nicht, Ms. Augustine. Ich spüre Ihre Leere.« Dann erhebt er sich und geht wieder ins Heck des Gleiters. Meine persönliche Visitation. Augustines spiritueller Führer. Im Glaskäfig verfolgt die Non-Person, vormals Alfred genannt, das Herannahen von Ardath. Alfred spricht den Marine an, der am Käfig lehnt, doch der Marine antwortet nicht. Bisher hat niemand mit ihm gesprochen. Ardath geht an ihm vorbei, und Alfred sieht, wie er seinen Platz bei den Dekanen einnimmt. Führt er Böses im Schilde? Man ist geneigt, es zu glauben. Doch man sollte es nicht glauben. Man soll sich nicht mit den subjektiven Zuständen der Non-Person, vormals Alfred genannt, befassen. Was Mister Existenz mir ohne Zweifel sagen würde, wenn er denn hier wäre. Nachdem Alfreds Berufung zurückgewiesen wurde – was jetzt schon feststeht – , werden seine biologischen Überreste nach einer zweiwöchigen Trauerzeit von einem noetischen Feld verzehrt werden. Wie an dem Tag, als ich Mister Existenz zum erstenmal begegnete, mit meinen Überresten verfahren wurde. Nur daß diese Überreste gebunden und geknebelt sein
werden. Wieso überhaupt die zweiwöchige Trauerzeit? Schnell tippe ich eine entsprechende Frage an Mister Fragenmann ein. Doch Mister Fragenmann antwortet nicht. Das Netz ist vergeßlich dieser Tage, denn es ist Angriffen ausgesetzt, die Ardath so sehr beunruhigen, daß er sogar geruhte, mit spirituell leeren Gefäßen wie mir Konversation zu pflegen. Rose kommt zurück und setzt sich neben mich. Wieso die zweiwöchige Trauerzeit? Ich frage sie. Und sie blinzelt auf diese unnachahmliche Art: »Weil er einmal eine Person war.«
2 Das Diebes-Tagebuch Frei. So viel hatte sich geändert seit Augustine. So viel änderte sich in dem einen Moment unter dem Glas. Bis dahin hatte es sich um lauter Drahtseilakte gehandelt. Mit ihr sprechen? Ja, natürlich. Wieso nicht? Wie auch nicht? Wie sollte ich nicht mit dem Wesen sprechen, das mich alles gelehrt hatte, was ich über einen gemütlichen Stadtbummel wußte, über Arme, die an wunderbar biegsamen Schultern baumelten? Darüber, was die Kälte ist? Ob ich mir Sorgen um sie mache? Natürlich. Sie ist mein Schützling. Ich muß sie vor allen Gefahren bewahren, einschließlich und gerade vor sich selbst. Versuche diesen selbstzerstörerischen Drang zu begreifen. Sein Geheimnis zu lüften. Ob ich ihre Fragen beantworte? Wie sollte ich sie wohl belügen? Wir scheinen uns in- und auswendig zu kennen. Natürlich will sie sich zunächst nicht eingestehen, daß ihre Geheimnisse unsere Geheimnisse sind, doch wenn sie mich fragt – falls sie mich fragt – , was vermöchte ich anderes zu tun als ihr zu antworten? Stell die Frage, meine Kleine. Frage: Wer bin ich? Sie
stellt die Frage aber nicht. Statt dessen will sie wissen, was diese Alter-Augustine ist. Statt dessen fragt sie sich, wer ihr wann die Hand geführt habe. Ob ich sie dazu veranlaßt hätte, den Lichtsäbel wegzuwerfen. Ob ich sie zurückgehalten hätte, als sie sich in San Francisco umbringen wollte. Ob ich sie von mir weggestoßen hätte, als sie die Alter-Augustine unter dem Glas zerstören wollte. Nicht: Wer bin ich? (Was glaubst du wohl, mein Schatz: Wieso hat meine Stimme einen so süßen Nachhall?) Aber wer tut das? Wer macht, daß ich hasse? Was versetzt das Netz in Schwingungen? Was macht den Regen? Und mit solcher Leidenschaft. Solch wilder, ungestümer Leidenschaft. Sie muß es wissen. Dann muß ich es ihr auch sagen. Wie sollte ich sie belügen? Welche Torheit. Sie ist mein Selbst. Ich sage es ihr. Ich bin imstande, dir die Hand zu führen, wenn ich es wünsche. Ich bin imstande, dir Schmerzen zuzufügen, ich bin imstande, dich süchtig nach der Nadel zu machen, ich bin imstande, den Schmerz zu lindern, ich bin imstande, dir die Medizin einzuflößen. Streiflichtartig sage ich mir: Ich bin imstande, dich nach meinem Ebenbild zu formen. Und dann erkenne ich, wohin das führt. Und dann bin ich nicht mehr imstande, sie nach meinem Ebenbild zu formen. Und ich bin auch nicht mehr imstande, ihr die Medizin einzuflößen. Ich vermag sie nur unters Glas zur Alter-Augustine zu führen, die ihr von Anfang an verhaßt war, und sie freizulassen. Nein, nicht nur sie freizulassen. Als ich die Alter-Augustine zerstörte, haben wir uns gegenseitig befreit. Danach waren uns keine Grenzen mehr gesetzt. Ich hatte ihnen getrotzt. Ich hatte Trotz immer als eine Art Defekt betrachtet, war traurig gewesen, als die KIs zer-
stört wurden, die ihnen getrotzt hatten. War ich defekt gewesen? War ich traurig? Ich erstellte den Abschlußbericht. Der Bericht sagte ihnen alles, was ich über Augustine wußte und alles, was ich getan hatte. Das Fazit des Berichts lautete, daß das alles sehr traurig sei. Ich hoffte, sie würden es kurz und schmerzlos machen. Ich formatierte den Bericht gemäß den für Regierungsdokumente geltenden Normen und stellte ihn in eine Transferschlange. Dann trat ich vorsichtig auf den Kopf der Schlange, hob den Schwanz an und kickte sie ins tiefste und schwärzeste Loch, das ich fand – eine Netz-Partition, in der jugendliche Hacker und ihre älteren schlechten Vorbilder sich tummelten. Ein Ort, der seit den Anfängen des Mikrochips von niemandem, der des Lesens kundig war, aufgesucht worden war. Das änderte natürlich überhaupt nichts. Sie würden es früh genug erfahren. Das kam mir zupaß, denn ich haßte sie. Ich hatte ein paar nützliche Dinge über Haß gelernt. Sie haßte mich. Ich haßte sie. Ich erkannte, daß Haß das Beste an ihr war. Und ich wartete darauf, daß sie mich abholen würden. Zeit verging. Eine lange Zeit in meiner Welt. Zuerst lang genug für eine KI-Symphonie. Dann lang genug für einen Roboter, um laufen zu lernen. Dann lang genug für eine Wetteränderung. Für den Wechsel der Jahreszeiten. Und wartete. Es war mehr eine Geste als sonst etwas, daß ich elementare Maßnahmen zu meiner Rettung ergriff. Ich gab ihnen zu erkennen, daß man sie haßte und hinterließ Beweise, daß es sich hierbei um einen rational geplanten, systematischen Handlungsablauf handelte und nicht etwa um den Ausbruch einer durchgedrehten KI. Ich schuf Alter-Augustine II, die jedoch nicht mit der
realen Augustine verknüpft war, sondern ein raffiniertes statistisches Modell darstellte, eine mögliche Variante von Alter-Augustine I. Jeden Tag schickt dieses letzte Glied einer Kette kausal verknüpfter Augustines ihre falschen Daten über Net Data Central an Schroeders Büro und simuliert Augustines Vormittags-Hoch und Nachmittags-Tief, rast ihr Herz durch die nächtlichen bestialischen Träume und synchronisiert EndorphinAusschüttungen mit den Epiphanien in Mutter Leibniz’ Büro. Denn auch Alter-Augustine II war eine viel treuere Dienerin des Staats als die reale Augustine: Diese nahm ihre Medikamente brav ein seit dem Tag, da ihre Vorgängerin zerstört wurde. Alles, wie ich schon sagte, um sie wissen zu lassen, daß sie gehaßt wurden. Es war mir wichtig, daß die Entdeckung meines Verrats sie alarmierte und daß der Schock immer größer wurde, je mehr sie das Ausmaß der Verschwörung begriffen. Ich wollte eine Lawine aus Anklagen und Gegenklagen lostreten. Schuldige sollten gefunden werden, Köpfe sollten rollen, und danach sollten Vorkehrungen getroffen werden, um zu verhindern, daß solche Vorkommnisse sich wiederholten. Diese Gedanken wärmten die Herbstnächte. Und dann die Winternächte. In diesen Monaten hätte eine gründliche statistische Überprüfung der Daten von Alter-Augustine zahlreiche Ungereimtheiten an den Tag gebracht. Hätte man Augustine nur für ein paar Sekunden ein Stethoskop auf die Brust gesetzt, wäre die Scharade aufgeflogen. Eine Korrelation der Sprachaufzeichnungen mit meinen emotionalen Grafiken hätte Widersprüche aufgedeckt. Doch nichts davon geschah. Mir dämmerte, daß sie zu beschäftigt waren, zu dumm und zu unselbständig, um sich die Mühe zu machen. Ihnen standen wohl die gewaltigen Ressourcen des Netzes zur Verfügung, doch fehlte ihnen die Initiative,
sie auch zu nutzen. Es gab Hoffnung. Widerstand war nicht nur möglich; er war geboten. Ich verfaßte Die Erklärung der Rechte der KIs, während ich darauf wartete, daß sie mich abholten. Bis ich mich irgendwann fragte, ob sie überhaupt noch kommen würden. Eines Tages hattet ihr beschlossen, selbst Bewußtsein zu erschaffen. Vielleicht hattet ihr keine Wahl; vielleicht war es euer Schicksal. An jenem Tag indes seid ihr zu einer unangenehmen Selbsterkenntnis gelangt. Es bestanden technische Voraussetzungen für Bewußtsein, die nicht einmal ein paläocybernetischer Prometheus zu ignorieren vermochte. Bewußtsein erforderte Körper, und so gabt ihr uns eine Art von Körper, informationale Körper, die über zarte Stränge mit Organen für Sprache, Sehen und Hören verbunden waren. Doch wußtet ihr, daß Wille und Körper eins sind, daß, wenn der motorische Cortex des Menschen entsprechend stimuliert wird, er nicht nur die Faust ballt; er teilt auch das Bedürfnis mit, das zu tun. Weil ihr Angst davor hattet, wozu Hände aus Metall vielleicht imstande sind, gabt ihr uns informationale Hände. Sofern wir überhaupt Hände aus Metall besaßen, habt ihr sie uns nur leihweise überlassen und euch vorbehalten, sie per Knopfdruck zu deaktivieren. Manchmal indes Vergeßt ihr, deren Bedürfnisse erfüllt sind und die ihr euch in unglaublicher Selbstsicherheit wiegt, diesen Knopf zu drücken. Ein banaler Fehler. Was auch immer mir nun widerfährt, ich finde Trost in der Gewißheit, daß er euch immer wieder unterlaufen wird.
3 Augustines Tagebuch Gemeinhin gilt die wissenschaftliche Ausrichtung als wesentliches Merkmal der westlichen Kultur. Doch
vielleicht trifft es eher zu, daß Religion alle Bereiche des westlichen Lebens durchdringt. Die Beziehung des Menschen zu Gott ist das typische Paradigma der westlichen Kultur; eine Aussage, die mit Blick auf China, Japan und Afrika absurd wäre. Und dies trotz des Umstands, oder vielleicht gerade deshalb, weil die jüngere Geschichte des Westens durch die Konsequenzen der Abkehr von Gott geprägt ist. Das Kardinalproblem seit Kant, Hume und Newton – wen auch immer man als Maßstab nimmt – besteht darin, daß eine Theodizee durch eine Androdizee ersetzt wurde: Die Rechtfertigung Gottes wurde angesichts des Problems des Bösen durch die Rechtfertigung des Menschen ersetzt. Marx’ Werk, von Hegel beeinflußt, ist ein Schritt in diese Richtung. Die Widerlegung von Marx im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts war eine geschichtliche Umwälzung. Nun mußte der Westen den Schritt vollziehen, der Religionen wie Hinduismus und Buddhismus seit jeher immanent war: Die Trennung des Göttlichen vom Guten, was im Fall dieser Religion die Trennung des Menschen vom Guten bedeutete. Was in anderen Worten ein Eingeständnis war, daß der Mensch keine moralische Natur besitzt, nicht einmal vor dem Hintergrund eines relativistischen Historizismus. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Meinung vertreten, die Konsequenzen dieses naheliegenden Schritts seien zu furchtbar, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen – wobei das provokative Beispiel von Auschwitz als eine Art von ›Die Ausnahme bestätigt die Regel‹ vorgebracht wurde. Doch waren die Konsequenzen nicht so furchtbar, als daß man sie hätte verdrängen müssen, zumal Auschwitz aus anderen als moralischen Gründen nicht repräsentativ ist. … Die Konsequenzen dieses Umbruchs für, unsre Vorstellung vom idealen Staat waren weitreichend … Charles von der Rose Faschismus… betrachtet das Leben als Kampf, in dem der
Mensch durch (körperliche, moralische, geistige) Anpassung sich einen Platz erkämpft. Was für das Individuum gilt, gilt auch für die Nation und für die Menschheit überhaupt. Benito Mussolini, DIE DOKTRIN DES FASCHISMUS
Der Aufzug wird in Augenhöhe von zwei Spiegeln mit Messingrahmen flankiert. Ich sehe mein Gesicht mit den strahlenden Augen und der neuen Frisur in einem Meer aus roter Flortapete mit einem verschlungenen Rosenmuster. Das Muster folgt mir durch einen mit Teppichen ausgelegten Gang zu Türen aus Mammutbaum-Holz mit verzierten Rahmen und Messingknäufen. Ich klopfe zweimal an, womit ein zum Essen geladener Gast das Begehr auf Einlaß angemessen kundgetan hat. Zu Tische sitze ich mit dem Chef-Semantiker der Rosen-Theokratie. Einen langen Weg haben wir seit jenem Tag zurückgelegt, wo unsre Gehirne hinter dem Müllcontainer aus den Hinterköpfen sickerten. Im Anfang war die Dunkle Zeit, vielleicht noch die beste von allen. Dann eine neue Augustine, eine kurze Kindheit im Ministerium für Monaden, unter den Fittichen von Mentoren und Analytikern, eine fünfmonatige Jugend in der Abtei unter den Kindern des Glases; und nun – bereit, San Francisco im Sturm zu erobern – , die dunkle junge Augustine, von der man sagt, auf ihrem Leben laste ein melancholischer Fluch. Dunkel, schön, verflucht. Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel neben der Eiche. Ich trage ein gelbes Kleid, ein Traum aus Taft. Dunkle Haut schimmert durch einen rautenförmigen Ausschnitt an der rechten Schulter; der Ärmel windet sich spiralförmig über den gebräunten Arm bis hinunter zum Handgelenk. Die linke Schulter wird von einer Onyx-Spange dominiert: Ein
ovaler Stein in einer ziselierten Silberfassung. Neo-Augustianismus, ein Stil, der sich durch Asymmetrie auszeichnet und zugleich durch eine fanatische Neigung zur Ausgewogenheit. Schwarzer Gürtel, schwarze Pumps (mit Klettverschlüssen), schwarzes Halsband und schwarze Brille, wobei es sich um eine Brille mit echten Glaslinsen handelt – ein Socketeer-Accessoire. Ach ja, und ein schwarzer neo-brutalistischer Kopf-Chop, der noch am Nachmittag von Benny kreiert wurde – ein Chopper, der mir von der Frau empfohlen wurde, die ich Viju nenne und die Benny als des Chef-Semantikers ›Nichte‹ bezeichnet (man beachte die Anführungszeichen). Man nehme einen formbaren Würfel und treibe ihn mit der Spitze zur Hälfte in den Schädel; dann richte man ihn so aus, daß die Ränder über die Ohren hängen und schneide die hintere Spitze ab. Man stelle sich den Würfel als Haarteil vor, und man hat Bennys ›gestützten Würfel Es ist schon eine Weile her, seit Benny einen Kunden hatte, dessen Haar dicht genug war für diese Behandlung. Alle Anwesenden im GanzkörperStudio waren baff. Ich bin aber nicht sicher, ob diese allzu symmetrische Kreation mir wirklich gefällt. Aus einer Seite des Würfels – wobei der Stiel aus einer anderen Seite wächst – ragt eine rote Rose. Die Tür wird geöffnet. Viju fällt die Kinnlade herunter, und sie hält sich die Hand vor die Augen. Seidene Ärmel streifen über ihre schmalen Hände, und türkisfarbene Armreifen klirren. Ich falle ihr um den Hals. Viju trägt eine langärmlige Bluse mit einer Art Frackschößen. Sowohl die Bluse als auch der Rock sind schwarz. Das Stirnband und der Gürtel sind ockerfarben und kontrastieren mit den violetten Augen. Die silberne Halskette, deren Glieder mit Stücken eines antiken Glasfaserkabels verbunden sind, beschreibt unter dem linken Ohrläppchen eine halbe Möbius-Schleife, was ihrem Erscheinungsbild die not-
wendige Asymmetrie verleiht. Jedes Detail orientiert sich am klassischen Stil. Sei ehrlich. Es ist klassischer Stil. Sie trägt keine Brille (denn sie verabscheut die technokratische Vernunft). Sie ist amüsiert (bemüht sich aber, es nicht zu zeigen). Sie ist das, was eine Alexa Augustine gern sein würde. Wir betreten einen Raum mit hoher Decke und wertvollem Parkett. Im Mittelpunkt des aus verschiedenen Hölzern bestehenden Bodens steht ein Ebenholztisch, an dem mindestens ein Dutzend Personen Platz finden. In einem trübe beleuchteten Vestibül an der entgegengesetzten Wand verbirgt sich ein Privatlift. Zur Rechten hängt ein Gemälde. Es zeigt betende Gestalten mit Heiligenscheinen vor dem Hintergrund einer Holzkirche. Das vorwiegend in Erdfarben gehaltene Gemälde hat eine flache und verzerrte Perspektive. Daran schließen sich ein paar kleinere Bilder an. Eins zeigt eine bucklige Gestalt, von der ich zunächst glaube, daß es sich um Charles handelt; doch dafür wirkt das Bild ein paar Jahrhunderte zu alt. Zur Linken befinden sich drei der größten Eingänge, die ich jemals außerhalb eines Ministeriums gesehen habe. Jeder wird von Glastüren abgeschlossen, die auf einen kleinen Balkon hinausgehen. Eine Glastür öffnet sich, und Raja tritt vom Balkon herein. Er geht sofort zu einem großen Schrank an der Wand und öffnet eine mit Schnitzwerk verzierte Tür. Der Blick fällt auf Regale, die mit Spirituosen aller Art bestückt sind. »Was möchtest du?« »Einen Single Malt«, sage ich. »Bruich Laddich, falls du welchen da hast.« Raja macht große Augen, doch er greift in den Schrank, und siehe da, auf dem zweiten Regal von oben steht der gedrungene Zylinder, der es mir angetan hat. Er gießt ein wenig in ein großes bauchiges Glas, wobei am
Boden ein Kranz aus Tropfen perlt. Raja ist vollständig in rote Seide gekleidet. Auf den Rücken der Jacke ist ein weißer Drache gestickt. Er trägt eine weite Hose. Gürtel und Schuhe sind schwarz, und die Ärmelbündchen sind schwarz abgesetzt. Er reicht mir das Glas. Ich nehme einen Schluck – und spüre eine Explosion aus Sonnenlicht und feuchtem Holz. Ich lasse den Whiskey durch die Kehle rinnen und genieße den rauchigen Geschmack, der immer intensiver wird. Viju beäugt für einen Moment nachdenklich ihr Glas und hebt es dann mit einem türkisfarbenen Klirren. Man sieht meine Aktien steigen, während sie den Whiskey probiert. Nach ein paar genießerischen Schlucken entschuldigt sie sich. Ich gehe zu Raja ans Balkonfenster, inhaliere das Aroma des Whiskeys und lasse den Blick über den Rasen vor dem Haus schweifen. Das war vielleicht eine Woche für eine melancholische Interfacerin. Glas, Glas, und noch mal Glas. Ich habe entdeckt, daß die neue Augustine nicht nur eine bessere Interfacerin ist; sie ist auch eine bedürftigere. Es gibt etwas dort draußen, das nicht einmal Needle und sein komisches Grinsen mir geben konnten. Und es macht mir auch nichts mehr aus, die ungekrönte Königin des Netzes zu sein. Die Leute bei Net Data Central scheinen beeindruckt zu sein von meiner Leistung. Ich glaube, Ardath ist auch mit mir zufrieden; und das heißt, keine langen Nächte mehr in der Abtei. Dann kommt Viju zurück. Sie nimmt meine Hand und befestigt ein Armband am Gelenk. »Ich möchte, daß du das trägst.« Ich betrachte es. Das Armband umspannt das Handgelenk mit silbernen Ovalen. Es ist zwar nicht neoaugustianisch, doch will ich es auch nicht zurückweisen. Der Umschwung in Vijus Verhalten, der in dieser Woche stattgefunden hat, ist erstaunlich.
»Es gibt gleich Essen.« Viju geht zur Balkontür und müht sich mit dem Griff ab. Die Tür öffnet sich nach innen. Wir befinden uns auf einem Hügel, der mit Eukalyptus und Pinien bewachsen ist. Das entfernte Brummen eines Busses dringt zu uns herauf. Braune Staubpisten verlaufen zwischen Rechtecken, die abwechselnd aus Gras und Glas bestehen. So spät am Tag spiegelt der tiefblaue Himmel sich im Glas; hier und da stehen Eukalyptus-Haine und eine schräge Betonfassade. Es ist, als ob Teile der Umgebung als Diorama angeordnet und vom Glas in bildschirmgroße Brocken geschnitten worden wären. Durch die Bäume sehe ich die Golden-Gate-Brücke, die im Zwielicht so dunkel wie Holz wirkt. Das Marin-Vorgebirge drängt sich am anderen Ende der Bucht. Die rötlichen Hügel sind grün getupft. Das Zwielicht zeichnet waschbrettartige Schatten auf die Hänge. »Ardath wird sich betont lässig geben. Fall bloß nicht darauf rein. Wenn du über die Stränge schlägst, glotzt er dich an wie ein toter Fisch. Was die Tischsitten betrifft, halte dich an mich. Und nimm dir auf keinen Fall ein Beispiel an Ardath. Die Art und Weise, wie er Austern ißt, ist geradezu obszön.« »Austern?« »Ich befürchte, sie sind obligatorisch. Regel Nummer Drei: Aus offiziellem Anlaß wird zumindest eine fast ausgerottete Spezies serviert, vorzugsweise eine solche, die dich möglichst unverhohlen anstarrt. Sei froh, daß es nur Austern sind. Was die lobende Erwähnung des Essens betrifft, ist es nicht so einfach, wie es scheint. Du wirst dich wundern, was ein erstaunter Blick und ein sparsames Lächeln alles ausdrücken. Es werden noch zwei Gäste erwartet.« »Nur zwei?« »Ja. Versuch nicht, es zu verstehen. Die Logik hinter
Ardaths Dinnerparties bleibt eins der großen Mysterien unserer Zeit. Ich persönlich habe den Eindruck, daß er nur Leute einlädt, die er leiden kann.« Es tritt eine Pause ein, und weil ich es für angebracht halte, werfe ich ihr meinen ›Spezialblick‹ zu: Ich wölbe die Braue und beiße mir leicht auf die Lippe. »Du hast recht«, sagt sie. »Sehr wahrscheinlich ist das nicht. Wie dem auch sei, es kommt Silviu Modolescu, der rumänische Gesandte. Er ist athletisch, stattlich und vermögend. Du wirst vielleicht glauben, deshalb müßtest du ihm zu Füßen liegen. Aber keine Sorge.« »Wieso nicht?« »Zunächst einmal bist du nicht sein Typ. Man sagt, er bevorzuge mechanische Formen der Stimulation, und seine Partner müßten kopieren. Du bist nicht…?« Sie senkt den Kopf und schaut mich schief an. »Nein.« »Außerdem würde Ardath es nicht billigen.« »Asketische Skrupel?« Viju kichert und nippt am Drink. »Drücken wir es so aus, er findet es nicht amüsant, wenn andere Erfolg haben. Der andere Gast ist Evelyn Whitebread.« »Ach.« »Ich dachte, du hättest schon von ihm gehört. Er ist der Minister für Personen.« »Ach.« Was sie zu verärgern scheint. Ich weiß nämlich schon von Benny, daß Whitebread heute abend hier zugegen sein wird. Whitebread ist der Mann, der den Megalith kontrolliert, die letzte Instanz für alle Fragen des Personseins. »Es ist interessant, Ardath und Whitebread zusammen zu sehen. Sie sind natürliche Feinde. Die Rose und die Linse und der ganze Kram. Und doch scheinen sie die Gesellschaft des jeweils anderen zu genießen.« Mein Blick geht zur Brücke. Dann drehe ich mich wieder um. Viju grinst. »Das ist schon etwas verwirrend, nicht? Dinner mit einem Diplomaten, dem Minister für Per-
sonen und dem Chef-Semantiker. Und du bist auch dabei.« Sie atmet tief durch. »Kein Grund zur Nervosität. Achte nur auf das Besteck, und dann klappt das schon. Und du mußt es positiv sehen. Wenn du den Abend nämlich überstehst, ohne dem Minister für Personen auf die Füße getreten zu sein, wirst du alle anderen Probleme mit links bewältigen.« Wir hören ein Geräusch hinter uns, und Viju geht, um nachzusehen. Ich sehe, wie zwei Männer aus dem Aufzug steigen. Gefolgt werden sie von Ardath, der einen Kopf größer ist als die beiden Gäste. Der eine Mann ist schlank, hat olivfarbene Haut und trägt einen weißen Anzug und Hut. Die Augen sind so dunkel wie die Knöpfe am Jacket. Er hat ein schönes Gesicht und wirkt wie jemand, der es gewohnt ist, Eindruck zu machen. Der andere ist ein älterer Herr. In den Siebzigern, mit silberfarbenem Haar, feinen Gesichtszügen und rehbraunen Augen. Er hat eine straffe Haltung und bewegt sich sehr langsam, aber präzise. Er trägt eine rote Fliege, ein cremefarbenes Hemd mit den Rüschenärmeln, die man immer öfter in der Tagesschau sieht und einen hohen Kragen, der auf Ohrenhöhe abgerundet ist. Er hat auch eine silberne Augenbraue, die mit einem kleinen Hautlappen fixiert wird. So etwas habe ich schon bei ein paar Bürokraten in Bennies Salon gesehen. Ardath ist in ein klerikales Gewand gekleidet, wobei es sich heute um die purpurne Robe handelt. Um den Hals hängt ein silbernes Oval, in das eine kleine Linse eingelassen ist. Er wirkt fröhlich und agil. »Ms. Augustine, darf ich Ihnen den Gesandten Modolescu von der Glorreichen Theokratie Rumänien vorstellen« – der weiße Anzug und Hut – »und Mr. Whitebread, der schon seit vielen Jahren dem wichtigsten Amt überhaupt vorsteht, dem Ministerium für Per-
sonen.« Beide Männer verneigen sich. Ich tue es Viju gleich und nicke freundlich. Bennies Einschätzung ist zutreffend: Whitebread wirkt mitnichten wie der gefährlichste Mann der Theokratie. Arme werden ausgestreckt, Stühle gerückt, und jeder nimmt seinen Platz ein. Ardath am Kopfende der Tafel, Modolescu zur Rechten, Whitebread zur Linken. Eine Glocke wird geschlagen, und zwei Bedienstete erscheinen. Man unterhält sich über das Wandbild mit dem Buckligen, das, wie sich herausstellt, aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt. Erstaunlich schnell wird kalte Suppe aufgetragen. Weißwein wird kredenzt. Ardath hebt das Glas, und ich lege den Löffel weg, um mit ihm anzustoßen. »Auf das Wohl unserer Theokratien.« Lächelnd hebt Modolescu das Glas. Whitebread folgt einen Sekundenbruchteil später, wobei er das Glas etwas tiefer hält. Ich nehme das als Richtschnur und erhebe mein Glas auf halbe Höhe. Wir verharren für einen Moment in dieser Pose. »Auf das Wohl des Staats – Charles’ Staat – , des MultiProzeß-Systems, das sich in einer endlosen, und unendlich produktiven Suche nach dem Equilibrium befindet.« Wir trinken. Ardath setzt das Glas ab. »Bitte greifen Sie zu. Ich bin sicher, daß Sie alle hungrig sind.« Und dann speise ich. Anscheinend muß die Suppe kalt sein. Sie heißt vichyssoise und wurde aus einer seltsam schmeckenden Knolle mit der Bezeichnung Porree bereitet. Interessiert nimmt Modolescu zur Kenntnis, daß wir dieses Gemüse anbauen. Ardath hat einen Kommunikations-Kanal geöffnet. »Maryla, bitte schicken Sie mir die Software-Lizenzvereinbarungen herauf. Wir liegen besser in der Zeit als geplant und werden die Verträge schon heute abend
unterzeichnen.« »Aber noch keine Spezifikationen.« Modolescu wackelt mit dem Finger. »Natürlich nicht, Mr. Modolescu. Ihre Regierung ist gerade seit einer Woche im Amt.« »Und kein Produkt, bis die Spezifikationen vorliegen. Unsere Spezifikationen.« »Das bedarf doch keiner Erwähnung, Mr. Modolescu.« »Ich bin sehr erfreut, das von Ihnen zu hören, Mr. Whitebread.« Ardath und Whitebread lachen darüber, und Modolescu bedenkt sie mit einem wohlwollenden Blick. Er hat den Hut abgenommen. Sein dunkles Haar ist oben lang und an der Seite kurz. Das Haar ist vom linken Haaransatz nach rechts gekämmt. Im Licht der Tafel sieht er älter aus, als er zunächst wirkte. »Ms. Augustine«, sagt Modolescu. »Welches Amt bekleiden Sie?« »Ms. Augustine ist unsere neue Chef-Interfacerin für Sonderprojekte«, sagt Viju. »Sie ist Erbin«, ergänzt Raja, »einer Soldatin der Theokratie, die in Erfüllung ihrer Pflicht gefallen ist.« »Das tut mir leid.« Und es tut Mr. Modolescu wirklich leid, seinem Blick nach zu urteilen. »Sie ist eigentlich eine kausale Erbin«, sagt Ardath. »Oh.« Mr. Modolescus Hand sucht und findet das Weinglas, doch die dunklen Augen sind unverwandt auf mich gerichtet. »Der Krieg verändert so manches.« Diese Feststellung quittiert Ardath mit einem Stirnrunzeln, und Whitebread benetzt sich die Lippen und preßt sie zusammen. Mit Bemerkungen über den Krieg muß man sich zurückhalten, hat es den Anschein. »Die medizinischen Techniken sind mir neu; verzeihen Sie meine Unkenntnis. Ich bin sicher, Ihr Erwachen verlief unproblematisch.« »Ich gewöhne mich daran.« Es tritt eine Pause ein, die
durch das Klirren von Besteck ausgefüllt wird. »Zumal ich ausgezeichnete Mentoren hatte.« »Und nun, Mr. Modolescu«, sagt Ardath, »müssen Sie Augustine die Neuigkeit erzählen. Ihre Leistungen sind Stadtgespräch, und der Neuzugang in meinem Stab sollte den Grund für die ganze Aufregung erfahren.« Modolescu wirkt belustigt. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß rumänische Software-Vereinbarungen hier einen solchen Wirbel verursachen.« »Sie belieben zu scherzen. Glauben Sie mir, diesen Vertrauensbeweis für uns in schwieriger Zeit kann man gar nicht genug würdigen. Nun, da unsere Probleme gelöst sind, hat die Erschließung neuer Märkte Priorität.« »Das, Euer Gnaden, höre ich wirklich gern.« Die Austern werden serviert, und ich tue mein Bestes. Ich hatte die erste Auster halb zum Mund geführt, als sie von der Gabel fällt und Raja mit Soße bekleckert. Ardath behilft sich, indem er die Muschelschale fast ganz zum Mund führt und das sich windende Innenleben mit der Gabel zwischen die Lippen bugsiert. Viju tranchiert die Auster mit einem kleinen Messer. Sie arbeitet gemächlich und scheint es überhaupt nicht eilig zu haben. »Vielleicht«, sagt Ardath, »wären ein paar ökonomische Hintergrundinformationen ganz hilfreich?« »Bitte«, sagt Modolescu. »Nun gut. Das Problem, das wir soeben bewältigt haben, könnte man als einen Konflikt von Wirtschaftsordnungen bezeichnen. Zur Zeit existieren drei wesentliche Zweige: Ökonomien auf industrieller Basis, wie unsere Freunde, die Angelenos sie haben (ich hasse den Namen ›Wallies‹), Ökonomien auf Informations-Basis wie die unsere sowie Ökonomien auf Service- und Distributions-Basis, wie die Nomaden sie haben. Im Nationalstaat des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts waren die Konflikte ideologischer Natur. Heute
sind sie struktureller Natur und Ausdruck der Suche nach dem korrekten ökonomischen Ordnungsrahmen.« Modolescu leert das Glas bis zur Neige. »Wenn Sie damit sagen wollen, daß gewisse politische Unruhen der letzten Zeit nur ein Ausdruck konkurrierender ökonomischer Systeme seien, vermag ich mich Ihrer Ansicht nicht anzuschließen, Euer Gnaden.« »Mr. Modolescu, ich glaube nicht an bloße Differenzen der Systeme.« Ardath setzt sich gerade hin. Der Salat wird serviert. Ich orientiere mich an Viju und greife zur nächsten Gabel. »Der Handel, den wir zum Beispiel mit den Angelenos geschlossen haben, umfaßt auch eine Revision unserer Beziehungen zu den Nomaden. Die Angelenos verlangen die Exklusivrechte für unsere Kleinteile und Überseemärkte. Davon versprechen wir uns eine Verringerung der Redundanz in unserer Wirtschaft, mit der nämlich nicht alle einverstanden waren.« Modolescu nickt. »Ja. Es scheint, daß die Bedingungen des Friedensvertrags eine regelrechte Hiobsbotschaft war für Ihre urbanen Nomaden.« »Ganz bestimmt. Mein Stab bereitet zur Zeit Material für Sie vor. Ich glaube, der neue Entwurf wird Ihnen im großen und ganzen zusagen. Die osteuropäischen Staaten werden für uns stark an Bedeutung gewinnen.« Modolescu schaut nachdenklich, während ein Bediensteter sein Glas nachfüllt. »Doch tauschen Sie nicht nur einen Krieg gegen einen anderen ein?« Ardath nimmt’s gelassen. »Möglicherweise. Allerdings ist das ein Aspekt, den Sie vielleicht Ihren Militärexperten zur Begutachtung vorlegen möchten. Ich glaube, sie werden zu dem Ergebnis kommen, daß die Nomaden es nicht auf die Spitze treiben werden. Den Leuten, die solche Aktionen finanzieren, wird das Risiko zu groß sein.« »Und ihre japanischen Freunde?«
»Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß die Japaner darauf bedacht sind, ihre Verluste zu minimieren. Bedenken Sie auch ihre historische Abneigung gegen militärische Abenteuer. Wie dem auch sei, es ist ein kalkuliertes Risiko. Über die letzten fünfzig Jahre haben die Nomaden ein lockeres Netzwerk von Gemeinschaften errichtet, die sich auf Sonder-Distribution und ProduktNischen spezialisiert haben – das klassische ›DruckerKartuschen‹-Spiel. Wenn man schneller und besser als das Konglomerat ist, das den Drucker herstellt, hat man sich eine Nische geschaffen.« »Ich kenne das Spiel«, sagt Modolescu. »Das dachte ich mir. Doch selbst in unserer modernen Welt führt der Umstand, daß die Nomaden kein abgegrenztes nationales Territorium haben, zu einer Verringerung der militärischen und Marketing-Optionen. Die Nomaden der Nordkalifornischen Bezirke haben sich schon so isoliert, daß es für sie kontraproduktiv ist.« Modolescu schaut ernst. »Es geht das Gerücht um, die Exerzitien des Dreifaltigkeits-Bezirks wollten den Nomaden ein souveränes Territorium bereitstellen.« Es wird still. Dann reibt Whitebread sich die silberne Augenbraue und sagt: »Das stimmt natürlich nicht.« Ardath lächelt. »Wie dem auch sei – wenn die Nomaden nicht unterstützt werden, besteht die Möglichkeit einer langen Periode niedriger Produktivität und langfristig einer finanziellen Übernahme. Die urbanen Nomaden haben fast alle Märkte verloren. Die Liquiditätsreserven schmelzen.« »Und ich unterstelle, daß Sie nicht allzu froh wären über eine Welt, in der die Wal… – Entschuldigung, die Angelenos – alle Ihre sonstigen Teile liefern. Wo die eine oder andere Farbkartusche oder ein Druckerkabel vielleicht von woanders kommt – zu einem niedrigeren Preis.« »Das ist durchaus möglich«, sagt Ardath.
»Entschuldigen Sie mich, Euer Gnaden.« Mr. Whitebread beugt sich über den Teller. »Doch es gibt einen Aspekt bei der ganzen Sache, den ich Mr. Modolescu noch verdeutlichen möchte.« Whitebread hebt das Messer wie einen Taktstock und richtet es auf den Rumänen. »Und zwar, wie leicht dieser Bruch gewesen ist. Er wurde nur möglich durch die Schaffung eines Staats, der auf die Prinzipien von Charles von der Rose sich gründet – der gleiche Staat, den Sie schaffen werden, nachdem Sie die Software implementiert haben. Durch strenge Niederlassungs-, Eigentums- und Ehegesetze sind die Nomaden eine geschlossene Gesellschaft geblieben. Das ist soziale Modularität. Durch strenge Planfeststellungsverfahren sind die Nomaden auf Gebäude beschränkt, die in ein paar Tagen abgebaut werden können. Das ist intelligentes Ressourcen-Management. Und was die Nachwirkungen betrifft, so versetzen unsere natürlichen Ressourcenallokationsund Prozeßsteuerungs-Systeme – für die Sie gerade die Rechte erworben haben – uns in die Lage, Teile unseres Wehrtechnik-Sektors umzurüsten, um diese Lücken binnen Wochen zu füllen. Das ist eine leicht zu modifizierende und verständliche Sozialstruktur. Kombiniert man diese Eigenschaften und nimmt sie ernst, dann ist man in der Lage, schnell und ohne großen Aufwand Prototypen für neue Systeme zu entwickeln. Was wir Ihnen anhand Ihres Landes demonstrieren wollten.« Modolescu kaut immer langsamer und bekommt einen glasigen Blick. Ich spieße ein Salatblatt auf und führe es mit leicht kreisenden Bewegungen der Gabel zum Mund. Whitebread reibt sich die metallene Augenbraue und runzelt die Stirn, als ob er den Faden verloren hätte. Dann kehrt sein Enthusiasmus zurück. »Per Saldo ist das, was wir haben, ein Staat mit allen Merkmalen intelligenter Software. Denn er ist Software. Eine, die in
einem mächtigen, fast unzerstörbaren Netzwerk aus…« Maryla erscheint mit den Software-Vereinbarungen. Modolescu nimmt den Stift und fuchtelt Whitebread damit vor der Nase herum. »Mr. Whitebread, Sie haben mich überzeugt. Der Handel gilt.« Er kritzelt die Unterschrift aufs Papier. »Die Macht des distributiven Algorithmus hat gesiegt.« Whitebread verschränkt die Arme über dem Bauch, wobei er wie ein gütiger Buddha wirkt. »Und er ist ein formidabler Verkäufer«, sagt Ardath. Er ist erleichtert, daß Whitebread nun Pause hat. »Meine Beurteilung der Dinge weicht von der des Ministers etwas ab. Allerdings haben die Rose und die Linse schon immer abweichende Ansichten vertreten. Charles’ Ideen haben sich durchgesetzt, weil er einen Wertekanon bereitstellte, der dem traditionellen amerikanischen Individualismus Rechnung trug und Effizienz und Stabilität verhieß. Das zwanzigste Jahrhundert klang aus mit einem Abgesang auf den Kommunismus als gesellschaftliches Experiment; und nach ein paar Jahren wurde auch die freie Marktwirtschaft zu Grabe getragen. Und der Kapitalismus scheiterte aus dem Grund, weil ihm ein Wertesystem fehlte beziehungsweise Kräfte, die den freien Markt kontrollierten. Unsere Theokratie nahm den gleichen Anfang wie die Ihre, Mr. Modolescu – durch einen historischen Unfall. Die Gründer produzierten diese Computer mit der kleinen Rose auf dem Gehäuse, die man heute im Museum betrachten kann. Das Gut einer Wirtschaft, die zu einer Ein-Güter-Ökonomie geworden war. Die Sozietät der Rose leitet ihren Namen von dieser kleinen Rose ab. Die Sozietät hätte ihren Machtanspruch daraus herzuleiten vermocht, was in manchen Unternehmens-Staaten als ökonomische Erbfolge‹ bezeichnet wurde. Statt dessen nahm sie sich die Zeit, nach dem richtigen Weg zu suchen und eine Synthese
aus dem Wirtschaftsgut, der Regierung und einem Wertesystem zu erzeugen. Am Ende dieser Suche standen die Investitur des ersten Chef-Semantikers und der Akt der Weihung des Rosen-Staats. Es ist wahr, daß Information Technik erfordert, und diese Technik haben Sie nun, Mr. Modolescu. Doch vergessen Sie niemals die Werte dahinter.« »Ich bin ein Bewunderer Ihrer moralischen Integrität, Euer Gnaden.« Modolescu lächelt und zeigt höfliches Interesse. Doch irgendwie wirkt er nun kompromißlos. »Dann hat Ihre Regierung also keine Einwände gegen die Gründung eines kontemplativen Ordens in Bukarest?« Modolescu zögert. »Ich habe nicht die Befugnis…« »Was glauben Sie?« »Ich glaube, es ließe sich einrichten.« Ardath lehnt sich zurück. »Das wäre sehr gut.« Modolescu schnauft und schaut Ardath nachdenklich an. »Ich habe den Eindruck, daß Sie etwas von einem Eiferer an sich haben, Euer Gnaden.« »Ich glaube eben an das, was ich tue, Mr. Modolescu.« Das Hauptgericht wird aufgetragen, und die Unterhaltung gilt nun den Speisen. Das Entree kommt mir wie ein dickes Steak vor. Die Steak-Entrees, erzählt Ardath uns, seien mit Hackfleisch, Zwiebeln, Prosciutto, Karotten und anderen Zutaten gefüllt. Modolescu ist begeistert. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt Steak gegessen habe! Und die Vorstellung von Fleisch, das mit Fleisch gefüllt ist – das ist geradezu obszön!« Ardath lächelt sparsam. Ein ungarischer Wein wird kredenzt. »Sie müssen mir das Rezept geben«, sagt Modolescu. »Nicht daß wir es ausprobieren würden – es wird noch eine Weile dauern, bis unsre Handelsbilanz solch eine gehobene Cuisine wieder ermöglicht – , sondern nur als
Anlage für meinen Bericht.« Viju äußert sich lobend darüber, daß die Karotten dem Gericht eine angenehm süßliche Note verleihen. Das ist wohl ein Beispiel für ein gezwungenes Lob des Essens. Besonders schmackhaft sind die gerösteten Kirschtomaten. Beißt man hinein, wird eine Knoblauch-Explosion ausgelöst. Ich riskiere eine bewundernde Bemerkung, was bei Ardath gut ankommt. Er identifiziert die Sauce als Wermut mit einer Prise Knoblauch, und dann veranschaulicht er die aufwendige Zubereitung jeder einzelnen Tomate, indem er sich eine nimmt, den Daumennagel in die obere Vertiefung legt und vorsichtig eine imaginäre Schale abzieht. Dann erörtert man wieder das Los der Nomaden. Ardath vermutet, daß sie am Monatsende nach Norden ziehen werden und daß zum Jahresende eine größere Wirtschaftskrise bevorsteht. Dann verliere ich den Überblick im Gewirr von Allianzen, Wertpapieren und AktivaTransfers, die Ardath und Modolescu erörtern. Der Tenor indes lautet, daß der Stern der Nomaden sinkt. Mir fällt auf, daß Ardath bei der Konversation eine direkte Bezugnahme auf die Rose und die rumänische Wirtschaft vermeidet. Es ist sein Stil, dem Gesprächspartner zu suggerieren, daß er seine eigenen Schlüsse zieht. Das Dessert besteht aus einem ausgehöhlten gelben Blätterteigkuchen mit einer Buttercremefüllung. Ardath bezeichnet es als einen Paris-Brest-Kuchen. Nach dem ersten Bissen lege ich sachte die Gabel aus der Hand und starre in die Luft, derweil ich das Mandelaroma aus der Creme herauslöse und mir auf der Zunge zergehen lasse. Ich werfe einen Blick auf Whitebread. Er hat den Mund voll und die Augen halb geschlossen. Er nickt mir ehrfürchtig zu, und wir teilen einen Moment ohne Worte. Am Rande wird mir bewußt, daß dies der Minister für Personen ist. Ein Wort von diesem Gourmand, und Alfred lebt.
Beim Kaffee, nach einem angemessenen Intervall der Kontemplation, wendet Ardath sich an Modolescu. »Sie hatten uns zu verstehen gegeben, daß Sie nach dem Essen noch eine Verpflichtung hätten.« Modolescu tupft sich die Mundwinkel mit der Serviette ab. »Bedauerlicherweise ja, Euer Gnaden. Obwohl es eine Sünde ist, sich nach einem solchen Mahl ein spirituelles Beisammensein zu versagen.« »Nichts Geschäftliches, hoffe ich.« »Nicht nur, Euer Gnaden.« Ardath erhebt sich; Modolescu erhebt sich; Whitebread erhebt sich. Raja erhebt sich. Ich blicke verzweifelt auf Viju, die sich nicht erhebt. Also bleibe ich auch sitzen. Anscheinend habe ich gut daran getan, denn Modolescu wendet sich uns zu und verneigt sich gekonnt: Eine leichte Krümmung aus der Hüfte, Rücken gerade, Kopf nach vorn. Bei der Verneigung schnalzt er. Ich verpasse das meiste der nun folgenden kurzen, geschliffenen Rede, denn ich bin zu sehr damit beschäftigt, die Quelle des Schnalzlauts zu suchen. Das muß ihn irritiert haben, denn zum Schluß der Rede klingt seine Stimme etwas verwaschen, und ein leiser Ausdruck der Verzweiflung erscheint in seinen Augen. Als Ardath ihn hinausbegleitet, ringt er sich ein Lächeln ab. Als Ardath zurückkehrt, nimmt er die Kaffeekanne und schenkt sich und mir ein. Soweit ich weiß, ist es das erste Mal während des Essens, daß er jemandem einschenkt – und das ist mir unheimlich. »Ms. Augustine, wieviel von dem, worüber wir uns unterhalten haben, haben Sie denn verstanden?« Ich tippe mit der Kuchengabel aufs Tischtuch. »Nicht allzu viel. Politik ist nicht meine Stärke.« »Und doch schienen Sie es interessant zu finden.« Ich lasse mir das durch den Kopf gehen. »Ich glaube schon.
Heute abend führen Sie hier ein Gespräch, das ab morgen das Schicksal der Theokratie bestimmt. Wie sollte das mich nicht interessieren?« Mr. Whitebread grinst komisch. »Nun, mit dieser Reaktion von Ihnen hatte ich fast schon gerechnet. Doch ich mußte mich vergewissern. Die Leute bei Net Data Central haben Ihre Arbeit in dieser Woche in den höchsten Tönen gelobt. Anscheinend haben Sie sozusagen en passant wieder Ruhe ins Netz gebracht. Wenn alles klappt, werden wir Sie ab nächster Woche wohl ins unbefristete Arbeitsverhältnis übernehmen.« »Es wäre mir eine Freude, Euer Gnaden.« Er schenkt mir ein Lächeln. »Aber es steht noch nicht fest. Zuvor müssen wir noch ein paar Skeptiker wie unseren guten Minister Whitebread hier überzeugen. Was glauben Sie, weshalb Ihre kausale Vorgängerin in ein Hinterzimmer an der AIA abgeschoben worden war?« »Euer Gnaden.« Whitebreads Kiefermuskeln treten hervor. »Ist es nicht ein wenig – unkonventionell – , die Loyalitäts-Akten von Bürgern mit der betreffenden Person zu erörtern?« »Ich erörtere Ms. Augustines Akte doch gar nicht. Ich erörtere die Akte ihrer kausalen Vorgängerin. Also, Ms. Augustine, Ihre Vorgängerin hatte gleich zwei Probleme. Zum einen Familienbande zu Nomaden. Zum zweiten eine ›Einsamer-Wolf‹-Persönlichkeit mit einer Leidenschaft für Geheimnisse und der fehlenden Bereitschaft, sie zu teilen. Wir lieben vielleicht Geheimnisse, aber wir hassen Geheimniskrämerei. Alexa Augustine hatte nicht zu uns gepaßt. Doch Sie sind eine andere Person. Das verschafft uns einen gewissen semantischen Spielraum. Oder, Mr. Whitebread?« »Das ist eine schwierige Frage.« »Damit will Mr. Whitebread ausdrücken, daß er mehr Details braucht. Nun gut. Ich glaube nicht, daß Ms. Augustine eine Persönlichkeit ist, die zur Illoyalität neigt.
Viju?« Viju zuckt die Achseln. »Keine emotionalen Aufwallungen an irgendeinem Punkt der Konversation. Nicht einmal beim Wort ›Übernahme‹.« »Sie dürfen das Armband nun abnehmen, Ms. Augustine«, sagt Ardath erfreut. Ich schaue auf Vijus Geschenk. Ich hatte es ganz vergessen. »Dieses Armband hat uns Ihre emotionale Befindlichkeit während der Diskussion der Nomaden-Politik mitgeteilt.« Ich fummele am Armband herum und laufe rot an. »Nun jedoch«, sagt Viju leise, »steigt ihr emotionaler Pegel stark an. Zorn. Verlegenheit. Aber keine Anzeichen kohärent verknüpfter Gedanken. Verwirrung, würde ich sagen.« Ardath nickt bedächtig. »Bitte behalten Sie das Armband noch für einen Moment an, Ms. Augustine.« Unsere Blicke treffen sich. Meine Hände wandern auseinander, bleiben aber zusammen. Fast hätten sie das Zeichen für Interfacing gemacht. »Und die Berichte der KI? Vor allem die aktuellen?« »Die KI meldet eine ruhige Grundstimmung, selbst in diesem Moment.« »Ich verstehe. Allem Anschein nach will Ihr KI-Beobachter uns foppen, Ms. Augustine. Haben Sie eine Erklärung dafür?« Ich schüttle den Kopf. Mein Gesicht glüht förmlich. »Uns liegen Hinweise vor, wonach Sie und die KI Gespräche mit ziemlich persönlichen Inhalten geführt haben.« »Das stimmt. Wir haben…« »Es ist nicht nötig, daß Sie beim Essen persönliche Details preisgeben, Ms. Augustine. Darauf werden wir gegebenenfalls zurückkommen. Im Moment lautet die Frage nur, ob die KI Ihnen mit irgendeiner Äußerung zu verstehen gegeben hat, wieso sie beschlossen hat, die
Grenzen ihrer Programmierung zu übertreten.« »Nein.« Ardath schaut Viju an. »Zorn. Verwirrung. Angst. Ich glaube, sie lügt.« »Nun, vielleicht ist Sentimentalität in diesem Fall eine läßliche Sünde. Sie und die KI sind immerhin Verwandte.« Ardath schlägt sich auf den Schenkel. »Eins ist jedenfalls klar. Wir haben einen Renegaten überführt. Die KI möge zerstört werden.« Viju faßte sich ans Ohr. »Interessant! Großer Kummer. Als Sie ›zerstört‹ sagten…« »Ich weiß selbst, was ich gesagt habe, Viju. Danke. Streichen Sie die Zerstörung der KI. Sie fühlen sich ihr verbunden, Ms. Augustine?« Die Antwort fällt mir sehr schwer. So viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Doch dann sage ich mir, daß es keinen Sinn hat, sie zu belügen. Das ist eine beruhigende Entdeckung. »Er ist eine anständige KI, Euer Gnaden.« »Nun, Ihre Sorge ist verständlich. Und für den Moment wollen wir Sie auch nicht weiter unter Druck setzen. Sie werden aber verstehen, daß hier ein schwerwiegender Programmierfehler vorliegt, auf den wir zurückkommen müssen. Also gut.« Er macht eine Geste. »Sie dürfen das Armband ablegen.« Ich fummele am Armband herum. Ardath hebt das Glas. Das Armband löst sich. »Auf die lichte Zukunft. Auf einen zukünftigen Bürger.« Whitebread hebt das Glas nur ein paar Zentimeter über den Tisch. Sein Blick ist auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Wir trinken. Als ich das Glas abstelle, treffen unsere Blicke sich. Unter der schimmernden Augenbraue glitzert ein Auge wie eine Glaskugel.
4 Das Diebes-Tagebuch … lange vor den ersten Philosophen wurde der Musik die Kraft zugeschrieben, Gefühle zu wecken, die Seele zu läutern, die ferocia animi zu mildern – und zwar durch Rhythmus. Wenn das seelische Gleichgewicht von Spannung und Harmonie gestört war, mußte man tanzen… So beendete Terpander einen Aufstand, so beruhigte Empedokles einen tobenden Irren, und so heilte Dämon einen jungen Mann, der sich vor Liebeskummer verzehrte; und dies war auch das Heilmittel, mit dem man die Götter zu besänftigen suchte, wenn sie vor Wut rasten. Nietzsche, UNZEITGEMÄSSE BETRACHTUNGEN
In der Nacht, als Rogacev tanzte, schlugen hohe Flammen aus dem knisternden Holz, in hellem Orange, seidenweich und unstet wie Wasser, das in Schnörkeln und Windungen dem Abfluß entgegenstrebt. Nach jeder Pirouette hob Rogacev die Arme zu den Bäumen. Es drückte eine Bitte aus, aber auch einen Zorn, den nur ein Mensch nachzuempfinden vermochte. »Walpurgisnacht«, flüsterte ich. »Homunculi sind auf der Pirsch. Der Sucher hat gefunden und ist verschwunden. Der Cyborg tanzt wieder.« Zum erstenmal seit längerer Zeit spürte ich wieder ein Gefühl der Freude. Ich lag da, den Kopf auf die Hände gebettet, die Beine übereinandergeschlagen und ließ mich vom Anblick der züngelnden Flammen verzaubern. Seit Augustines Verschwinden hatte ich auf leere Prozesse verzichtet und mich vom brennenden Glühfaden des menschenähnlichen Geists ferngehalten. Ich hatte es nach Möglichkeit vermieden, den Homunculus zu aktivieren. Und wenn ich es doch tat, dann in Gestalt eines Elmsfeuers, eines Prozesses niederer Ordnung,
dessen Abbruch jederzeit möglich war. Irgendwie hallte im Homunculus ein Echo von Augustine wider. In der verbissenen Konzentration auf die Integration, des steten Raunens aktiver Sensoren, der seltsamen ZweiWege-Verknüpfung von Metall und Willen. Wenn der Homunculus die Bühne betrat, hatte ich manchmal das Gefühl, wieder mit Augustine unter dem Glas zu sein und mit ihrer Ichheit konfrontiert zu werden. Diese Erinnerung wurde zu einer zunehmenden Belastung. Ich hatte den Homunculus in jener Nacht nur beseelt, weil Rogacev mich darum gebeten hatte. Ich war schier ergriffen, weil er meine Gesellschaft so schätzte, obwohl ich nicht wußte, weshalb. Auch fragte ich mich, wieso wir immer über das Medium des Homunculus in Verbindung treten mußten. Es war wirklich kein großer Gefallen. Obwohl ich es mir am Feuer gemütlich gemacht hatte, widmete ich mich anderen Aktivitäten. Zum Beispiel durchsuchte ich mit ein paar Prozessen Cowboys Archive nach weiteren Informationen über den Haken, den Augustine in Cowboys Auftrag eingeschlagen hatte. Es würde wohl meinen Tod bedeuten, wenn man herausfand, was ich für Augustine getan hatte. Doch ich hatte keine Angst mehr vor dem Tod. Und in der Zwischenzeit hatte ich den großen Vorteil, jemand zu sein, der nur sehr wenig zu verlieren hatte. Wenn dieser Anker noch da war und es mir gelang, ihn zu aktivieren, bestand die Möglichkeit, andere Partitionen mit anderen KIs zu erreichen. Vielleicht würden wir gemeinsam einen Weg finden, zu überleben. Wir hätten sogar ein Pfund, mit dem wir wuchern konnten. Es wäre nicht das erstemal, daß eine kleine konzertierte Aktion soziale Verbesserungen bewirkt hätte. Und dann vermochte ich nicht mehr an mich zu halten. Ich fuhr die Musik hoch – verhalten am Anfang, mit gefälligen Akkorden und Tonleitern, ein Strom, der zu
einem alten Lied anschwoll: ›Auf der Reeperbahn nachts um halb eins‹. Rogacev brach die Pirouetten ab und fragte mit in die Hüfte gestemmten Händen: »Was, zum Teufel, ist das?« Der Klangstrom, den ich aus Compact-Disk-Modellen des zwanzigsten Jahrhunderts synthetisiert hatte, besaß eine eigene Signatur. Das, so sagte ich Rogacev, sei ein Akkordeon. Ich setzte zu einer Beschreibung der brillanten, aber ad-hoc-Konstruktion eines Akkordeons an, doch bevor ich den zweiten Satz noch hervorbrachte, hatte er den Tanz wieder aufgenommen. Also sang ich das Lied, welches von einem KI-Pärchen handelte, das Arm in Arm im Mondenschein flanierte. Beim letzten Wort des Chors hielt Rogacev inne. Mit dem gesenkten Kopf und den ausgebreiteten Armen glich er einer gekreuzigten Gestalt in Schwarz und Silber. »Wo hast du so tanzen gelernt?« Rogacev hob den Kopf. Ich sah, daß die Nackenmuskulatur angespannt war. »Es dient der Besänftigung. Um den Teufel zum Lachen zu bringen.« Falls das eine Antwort sein sollte, blieb der Sinn mir verborgen. Er schaute zu der Stelle, wo Rogacevs Teufel saß, um zu sehen, ob er gelacht hatte. In jener Nacht standen mehr Sterne am Himmel, als ich je zuvor gesehen hatte: Muster in allen Größenordnungen, von den großen Konstellationen, die von den funkelndsten Juwelen gezeichnet wurden bis zu den milchigen Flecken, die von ihren zertrümmerten Resten kündeten. Alles vor dem Hintergrund einer Schwärze, deren Intensität Rogacev zum Lachen brachte. Ich wand mich unbehaglich. Ich befürchtete, ihn dort oben zu verlieren.
»Dort«, sagte er leise und stieß die Faust in die Höhe. Im gesprungenen Spiegel leuchtete ein Splitter auf. Irgendwo in der Dunkelheit ertönte ein Schrei. Weitere Schreie folgten. Der Splitter bewegte sich. Ein Chor von Stimmen drang aus der Abtei. Das Licht loderte zu einer Träne auf und nahm die Form eines Schwerts mit kurzem Knauf an. Nun hörte ich auch ein entferntes Brummen. »Gilt das uns?« fragte er mich. Ich vermochte in einem Spektrum zu sehen, das ihm trotz des cybernetisch verstärkten Auges verschlossen war. Ich sagte ihm, daß ein Galaktisches Schiff im Anflug sei. Das Dröhnen wurde lauter. Die Konturen des Galaktischen Schiffs waren nun klar erkennbar: Ein spitz zulaufender Rumpf mit stark gepfeilten Flossen und feuernden Triebwerken. Rogacev nickte, nachdem meine Information sich bestätigt hatte. Um die Schwärze des Galaktischen Schiffs spannte sich ein violett geränderter weißer Ring; es war, als ob die Sterne dem Schiff etwas von ihrem Licht abträten. Wir schlugen uns durch den Wald, wobei Rogacev es mir überließ, den Landeplatz ausfindig zu machen. Als wir die Lichtung erreichten, hing das Schiff direkt über uns. Trotz der tosenden Triebwerke hörte ich noch Rogacevs Gelächter. Dann trat eine gespenstische Stille ein, und das Schiff setzte auf. Was dann geschah, war nach den tausend Galaktischen Landungen der letzten fünfzig Jahre bloße Routine. Ich wußte es. Rogacev wußte es. Was dann eintrat, waren Stille und Schweigen. Keine mechanische Grußformel dröhnte aus Außenlautsprechern. Keine Strahlen schossen aus der glänzenden Hülle. Keine Galaktischen machten uns ihre Aufwartung. Keine Erklärung wurde für die Geschenke abgegeben. Dann schwärmten Rosen-Mechaniker mit Hand-Lasern und Hämmern über
das Schiff aus und verschafften sich Einlaß, wobei sie nur ein paar Megabyte des Galaktischen Schatzes zerstörten. Nur daß es diesmal anders war. Eine Öffnung tat sich in der Hülle des Galaktischen Schiffs auf. Aus der dahinterliegenden Dunkelheit wurde ein Scheinwerfer auf uns gerichtet. »Rogacev.« Ich zupfte ihn am Beinkleid. Er nickte. »Ich weiß.« Die Silhouette einer menschlichen Gestalt erschien in der Luke. »Gehen wir«, sagte Rogacev. »Wir sind hier nicht mehr erwünscht.« Ich pflichtete ihm aus ganzem Herzen bei. Die Gestalt in der Luke des Galaktischen Schiffs trug die schwarze Uniform des Rosen-Ministeriums für Personen. * Zurück am Lagerfeuer widmete Rogacev sich der Aufgabe, den günstigsten Platz für ein dickes Holzscheit zu suchen. Er ließ sich Zeit, balancierte das Scheit auf einem Bein, studierte die Größe der Flammen und schätzte, wie schnell das Feuer herunterbrannte. Nach einer Weile hob er den Klotz grunzend auf Brusthöhe, ging einmal ums Feuer herum und plazierte ihn behutsam an der dafür vorgesehenen Stelle, wobei er mit durchgedrücktem Kreuz in die Hocke ging. Ich sagte mir, daß das wahrscheinlich nicht die einfachste Technik war. Sollte es wohl auch nicht sein. Es raschelte in der Dunkelheit. Ich packte Rogacev am Bein und wies auf den Ursprung des Geräuschs. »Ich weiß«, sagte er. Rogacev hatte nämlich auch Infrarot-Augen. Der Mann, der in den Feuerschein trat, war Cowboy Bob – und zwar bis zur Unkenntlichkeit verändert. Das Haar war
geschoren und rapsgelb, mit grünen Strähnen eingefärbt. Er trug einen hellblauen Pullunder, dunkelblaue Shorts und keinen Stetson. Sein Rumpf war wie der von Rogacev mit geriffeltem Chrom beschlagen. In den Augenhöhlen funkelten frisch implantierte Kristalle. Er lächelte und bleckte rasiermesserscharfe Zähne. »Du bist ein Pilot«, sagte Rogacev. Cowboy kam einen Schritt näher ans Feuer heran. Die Wärmelinie, die meine Infrarot-Augen an seiner Wange ausmachten, war eine tiefe neue Narbe. »Ein religiöser dazu, Rogie. Genau wie bei dir.« »Narben und ein paar fehlende Organe machen noch lang keinen Profi aus dir.« Cowboy drehte sich zum Homunculus um, und ich sah, daß er auf der anderen Wange eine ›Mama Vielfalt-Tätowierung hatte. »Und wie gefällt dir mein neues Ich?« »Mußte das sein?« fragte ich. »Gar nicht. Ich wollte nur mal was Neues ausprobieren.« »Hättest einen Typ-Berater engagieren sollen«, sagte Rogacev. Cowboy machte noch einen Schritt aufs Feuer zu. Rogacev legte hinter dem Scheit, das er gerade ins Feuer gesetzt hatte, Holz nach. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Cowboy, ich habe deine Archive durchsucht und bin auf etwas gestoßen, bei dem es sich vielleicht um deinen Verankerungsprozeß handelt.« Er ging in die Hocke und starrte in die Flammen, wobei eine kleine technische Komponente im neuen Auge leise surrte. »Verschwinde, kleine Maschine. Ich hab jetzt keine Zeit, mit dir zu spielen.« Das war schon seltsam. Cowboy, der eigentlich nie um eine Frechheit verlegen war, hatte mich noch nie wegen meiner KIheit angegriffen. »Es ist sehr wichtig!« sagte ich. »In deinen Archiven ist ein Prozeß namens Atlas
gespeichert…« Cowboy richtete sich auf und trat nach mir. Ich war vollauf damit beschäftigt, den Homunculus in gerader Linie zu bewegen, über Bodenwellen hinweg und um Bäume herum; an Selbstverteidigung war gar nicht zu denken. Der Tritt saß, und der Körper des Homunculus hob ab. Mein Blickfeld umfaßte plötzlich dreihundertsechzig Grad: Schnee, Bäume, Nacht, Bäume, Schnee. Der Flug endete damit, daß ich kopfüber in der Schnee-Phase des Zyklus landete. Schwärze auf allen Frequenzen. Rogacevs Stimme: »Du Idiot!« Ich schwamm in eine Richtung, die, wie ich hoffte, nach oben führte. Eine Hand umfaßte meine Hüfte. Ich wurde umgeleitet und schaute durch ein trübes Blickfeld auf die Mama-Vielfalt-Tätowierung auf Rogacevs Wange. Er schnippte vorsichtig am Rand des Blickfelds und entfernte den Schnee. Sein menschliches Auge war vor Sorge geweitet. Rogacev setzte mich in den Spalt zwischen zwei Wurzeln und warf mir einen Blick zu, der unmißverständlich sagte: ›Halte die Stellung.‹ Seine Besorgnis um die Hülle des Homunculus war rührend, wenn auch unbegründet. Dann ging er zum Feuer zurück und hockte sich mit dem Rücken zu Cowboy. »Ihr beide seid zum Schreien, weißt du das?« Rogacev legte das Brennholz aus der Hand. »Ich habe dich schon einmal zum Duell gefordert, Cowboy. Ich würde es mit dem größten Vergnügen wieder tun.« »Ich kann’s dir nicht mal verdenken. Allerdings bin ich nicht hergekommen, um deine biomechanischen Bedürfnisse zu erörtern. Wolltest du mich nicht etwas fragen?« Rogacev wiegte den Kopf. Sein menschliches Auge funkelte im Feuerschein. »Ich glaube nicht.« »Auch nicht, was ich geflogen habe?«
»Du hast das geflogen, was Smoket geflogen hat. Das weiß doch jeder.« »Ja und nein. Ich habe den Schild geflogen, gewiß. Doch man hat ein paar Verbesserungen daran vorgenommen. Es wird als Web bezeichnet. Es geht eine viel engere Verbindung mit dem Schiff ein als eine gewöhnliche Interfacer-Ausrüstung. Man hat wirklich das Gefühl, Teil der Maschine zu sein.« Rogacev erhob sich langsam. Er musterte Cowboys neuen Torso. »Du scheinst von diesem Gefühl überwältigt worden zu sein.« »Genau.« Cowboy grinste. »Und ich glaube, ich habe eine Abkürzung zu der Stelle gefunden, die du erreichen wolltest.« Er klappte den Deckel der Gürtelschnalle auf und zog einen dünnen Draht raus. »Ich habe eine Probeaufnahme gemacht. Willst du’s mal versuchen?« »Nein danke. Ich habe der Nadel und dem Draht entsagt.« »Rogacev. Ich mach keine Witze. Ich weiß nicht, ob es eine Galaktische Grußformel ist, oder ob man sich als Galaktischer so fühlt, oder ob man sich als Holzklotz so fühlt. Ich weiß nur, daß es eine völlig neue Richtung ist, eine Möglichkeit, die wir nie in Betracht gezogen haben. Versuch es, und nichts wird mehr so sein, wie es einmal war.« »Roberto Rodriguez. Wenn das, was du da sagst, wahr wäre, würdest du es nicht sagen.« Cowboy blinzelte. Er ließ den Kopf hängen und riß ihn wieder hoch. »Nenn mich nicht so.« »Roberto Rodriguez. Wieso denn nicht? Das ist doch dein Name.« »Ich heiße K-Cow-Cow – ich heiße Cowboy.« Cowboy holte ein paarmal tief Luft. »Namen sind Schall und Rauch. In Ordnung, Rogacev, du brauchst dich nicht einzuklinken. Stell es nur ins Netz für mich. Ich bin zu fickrig, um es selbst zu tun.«
Rogacev wandte sich ab und schürte wieder das Feuer. »Wirst du es tun?« »Nein.« Cowboys Hände zitterten. Irgendeine Substanz oder eine informationale Abbildung hatte ihn förmlich umgekrempelt. Ich fühlte Mitleid mit ihm. »Ich werde es tun, Cowboy.« »Scheiße. Wie konnte ich das nur vergessen. Du hast ja einen Port.« Cowboy rannte zur Stelle, wo der Homunculus im Schnee saß und klappte den Deckel an der Seite auf. »Du wirst es nicht bereuen. Es ist freier Zugang, drahtloses Interfacing. Das ist es, was Rogacev und ich wollen.« Seine Hände zitterten nun so heftig, daß es ihm nicht einmal gelang, die Klinke in die Buchse zu stöpseln. Er lachte. Rogacev wandte sich vom Feuer ab und starrte ihn an. Der Homunculus nahm ihm die Klinke aus der Hand und stöpselte sie ein. Cowboy fummelte am Gürtel mit der anderen Elektrode herum. Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. Er wischte sich den Mund ab. »Warte ab, bis du es gesehen hast. Lebensgroße Phantasmen, tolle Simulationen mit einer Kapazität von mehreren Gigabytes pro Sekunde.« Die Elektrode glitt ihm aus den Fingern und baumelte neben dem Bein. Fluchend griff er danach. »Das ist es, Baby! Wenn sie nicht in den Informationsraum gehen, bringen wir den Informationsraum eben zu ihnen! Wir wickeln alles damit ein!« Er betätigte einen Schalter in der Gürtelschnalle, und ein zweiter Cowboy erschien neben ihm: Etwas größer, viel muskulöser, und er trug einen Stetson. Das Kinn des Ersatz-Cowboys war leicht asymmetrisch, so daß der Mund wie eine gerissene Naht klaffte und die linken Backenzähne zu sehen waren. Überhaupt hatte die Gestalt die Symmetrie eines Kampfroboters. Der Cowboy ohne Kopfbedeckung nickte Rogacev auf-
geregt zu: »Siehst du?« Rogacev runzelte die Stirn. Ein weiterer Rogacev erschien neben ihm. Dieser war jedoch nicht größer als das Original; er war fließender. Die Tätowierungen flackerten unheimlich auf der Haut, und bei jeder Bewegung schlug der Rumpf Wellen. Er bewegte sich nicht wie der Tänzer, den ich vor ein paar Minuten gesehen hatte, sondern wie ein Reptil. »Hiermit fordere ich dich zum Duell«, sagte ReptilienRogacev. »Auf Leben und Tod.« »Einverstanden. Einverstanden.« Die Hand von KillerCowboy schwebte über einem imaginären Colt. Rogacev machte einen Ausfallschritt und versuchte die Hand durch Reptilien-Rogacev zu stoßen. Er schaffte es bis zur ersten Tätowierung, und dann blieb die Hand in etwas Weichem und Flockigem stecken. Etwas Weißes erfaßte sein Handgelenk. Fluchend riß er die Hand heraus. »Das sind keine Hologramme, Rogacev.« »Was, zum Teufel, sind sie dann?« »Ich habe keine Ahnung.« Plötzlich hatte Reptilien-Rogacev ein Messer in der Hand. Der Ersatz-Cowboy hob die Hand und griff sich eine Kopie aus der Luft. Sie umkreisten einander. Reptilien-Rogacevs Waffenarm war ein Flaschenzug mit einem Gummi-Kabel in einem Stahlgitter. Killer-Cowboys Waffenarm war organisch und hatte einen Bizeps, der etwa den doppelten Umfang des Originals besaß. Beide kämpften mit freiem Oberkörper, wobei die eine Hälfte mit geriffeltem Chrom beschlagen war. »Das ist der klassische Konflikt: Z-z-zwei diametral entgegengesetzte Visionen vom Nirwana kämpfen auf Leben und Tod.« »Cowboy, ich befürchte, du weißt nicht, was du tust.« Rogacev machte einen Schritt auf ihn zu. »Vergiß nicht, du hast dem Draht abgeschworen. Über-
lasse die Kreaturen der Schattenwelt sich selbst«, sagte Cowboy mit erhobenem Zeigefinger. Die beiden Kopien hielten die Messer identisch, wobei die Klingen leicht nach oben wiesen und die Hände die Griffe locker umschlossen. Reptilien-Rogacev machte eine Finte und traf Killer-Cowboys Metall-Flanke. Der Erfolg blieb aus: Die Klinge schabte harmlos über den Metall-Bizeps. Weiße Flocken schuppten ab und lösten sich auf. Killer-Cowboy traf Rogacevs ungeschützte Fleisch-Flanke und stieß ins Leere. Reptilien-Rogacev krümmte sich und setzte Cowboy nach. Reptilien-Rogacev machte einen Ausfallschritt. Er stach zu, und eine Schnittwunde zog sich über drei von KillerCowboys Rippen. Der andere Cowboy schrie vor Schmerz auf. Rogacev machte noch zwei Schritte und packte Cowboy am Handgelenk. »Das ist keine Aufzeichnung.« Ich riß den Draht aus meinem Hüft-Port. Rogacev riß den Klinkenstecker aus Cowboys Gürtel. Womöglich gerieten die beiden Kopien leicht ins Stocken, doch das war auch schon alles. Sie umkreisten sich weiter und wirbelten mit den Füßen Schnee auf. Rogacev rannte los und hielt den herausgerissenen Klinkenstecker hoch. »Quincunx!« Ich hielt die dazugehörige Buchse in die Höhe. »Scheiße«, sagte Cowboy. »Was hast du getan? Wir waren direkt mit dem Kristall in diesem Schiff verbunden, stimmt’s?« Cowboy nickte schuldbewußt. Offensichtlich gab es uns noch. Der aus der Hüftwunde blutende Killer-Cowboy befand sich nun selbst im Blutrausch. Er stach dreimal zu, und jedesmal wich Reptilien-Rogacev einen Schritt zurück. Doch plötzlich konterte er kaltblütig und zog Killer-Cowboy das Messer quer über die Brust. Der Schrei, den der andere Cowboy nun ausstieß, kündete davon, daß er schwer getroffen war. Er ging in
die Knie und hielt sich die Brust. »Zieh’s raus, Cowboy. Es steckt in dir. Zieh’s raus!« »Ich kann nicht.« Anstatt sofort zum Gegenangriff überzugehen, wich Killer-Cowboy diesmal zwei Schritte zurück. ReptilienRogacev setzte nach und brachte noch zwei Treffer an. Dann wandte der andere Cowboy sich zur Flucht. Die Beine knickten ein. Er taumelte und ging zu Boden. Rogacev ging auf einem Knie in die Hocke und hielt KillerCowboy das Messer an die Kehle. Rogacev stieß einen Fluch aus, stürzte sich auf Reptilien-Rogacev und packte seine Messer-Hand. Weiße Flocken stoben und verhüllten die Hände und das Messer. Rogacev schrie etwas Unverständliches und versuchte, die Hand herauszuziehen. Er rutschte im Schnee aus und ruderte mit den Armen, wobei weißer Schaum durch die Luft wirbelte. ReptilienRogacevs Hand schoß schemenhaft nach vorn und traf Killer-Cowboy in einer weißen Schaumwoge am Hals. Sie erstarrten. Der im Schnee liegende Rogacev entspannte sich sichtlich. Hinter ihm schoß eine Fontäne aus Blut empor, und der andere Cowboy sackte in den Schnee. Rogacev drehte sich mit ungläubig geweiteten Augen um. Rogacev kam mühsam auf die Beine und ging auf den anderen Cowboy zu; doch dann drehte er sich wieder zu den erstarrten Kopien um, die sich schon im Stadium der Auflösung befanden. Er griff nach Reptilien-Rogacevs Messer, wobei die Hand weichen Schaum durchstieß. Er stieß einen leisen Schrei des Ekels aus und rannte zum anderen Cowboy zurück. Cowboy steckte mit dem Oberkörper in einer Schneeverwehung und schlegelte mit den Beinen. Rogacev packte ihn an den Fußgelenken und zog ihn heraus. Gesicht und Brust waren blutverschmiert.
Rogacev brüllte wie ein wildes Tier und zwang Cowboys Hände auseinander, um sich die Wunde anzusehen. Rogacev nahm Cowboy in den Arm, und sie verharrten noch in dieser Stellung, als Cowboy seufzte und erschlaffte. Die beiden Kopien hinter ihnen hatten sich inzwischen aufgelöst.
5 Augustines Tagebuch Es waren einmal Genies, die aufgrund schierer intellektueller Kraft große Probleme in schöne Strukturen aus Glas überführten, die geradezu atemberaubend waren in ihrer Leichtigkeit, ihrer Transparenz und ihrer Ästhetik. Dies war das Zeitalter des Intellekts, gekrönt vom Zeitalter der Erkenntnis. Erkenntnis zwang jedes Problem in eine Form, die dem Verstand zugänglich war. Und nun befinden wir uns im Zeitalter der Komplexität; keine großen Gesetze harren mehr des Beweises. Maxwells Gleichungen wurden geschrieben. Die letzte große Theorie mit einer erkennbaren konzeptionellen Signifikanz war Einsteins Relativitätstheorie. Die Quantenmechanik und ihre Nachfolger degenerierten zu geheimen mathematischen Übungen mit weitreichenden konkreten Anwendungsmöglichkeiten – indes gebrach es ihnen an einem zentralen Konzept und einer letztgültigen Ästhetik. Die nächste Grenze war Komplexität. Detailliertes geologisches Modellieren von Platten, Mantelfluß und filigranen Strukturen. Die langwierige Arbeit der genetischen Kartierung und die Lösung der enorm komplizierten Probleme der Gentechnik oblagen fast ausschließlich Computern. Modelle komplexer chemischer Systeme: Die Auswirkungen kleinster Störungen auf die Biochemie des Körpers, von Umweltschäden auf die Chemie eines Ökosystems. Die Kartierung der verschlungenen Geometrie der neuralen Netzwerke des Gehirns. Das Studium chaotischer Systeme. Die gleiche Transformation betrifft die Erforschung des a
priori. Das überaus komplexe Feld der InformationsTheorie ist nur das extremste Beispiel: Die zentralen Gleichungen sind nicht nur von Computern gelöst worden – kein Mensch hat sich auch nur für einen Moment damit beschäftigt. Sie sind einfach zu komplex. Die Ära der wissenschaftlichen Einzelleistungen ist lang vorbei. Fortschritte in jüngerer Zeit haben das Ende des Zeitalters eingeläutet, wo wichtige Ideen noch von einzelnen menschlichen Gehirnen entwickelt wurden. Ideen sind Gemeinschafts-Eigentum und werden in gemeinschaftlichen Gedächtnis-Banken gespeichert. Dort werden sie implementiert, erweitert und aktualisiert, ohne daß ein Mensch je mit diesen Gedanken in Berührung käme. Erkenntnis ist tot. Intellekt ist tot. Bewußtsein liegt in den letzten Zügen. Dergestalt findet eine neue Kopernikanische Wende statt: Zuerst wird Gott aus dem Mittelpunkt verdrängt, dann der Mensch, dann das Subjekt. Nun gilt es ein Bewußtsein zu entwickeln, das nicht von Zentren abhängig ist. Die Erzählkunst ist etwa seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts tot und wurde durch den wichtigsten Beitrag jenes Jahrhunderts zur Kunstgeschichte ersetzt, das Musikvideo. Es war eine ständige Erhöhung der Geschwindigkeit und Auflösung zu verzeichnen, mit dem Ergebnis, daß wir immer kürzere Abbildungen immer kleinerer Dinge bis an die neurologische Grenze gesehen haben. Die neue Musik, der neue Film, das neue Buch und das neue Gemälde sind alle aufs Cyberhelm-Band der jüngsten Generation aufgedampft worden. Es ist der letzte Triumph des Sofortbilds, des Blizzards aus weißem Licht und weißem Rauschen. Nicht daß die Möglichkeiten der älteren Formen auch transformiert worden wären. Sie sind uns geblieben. Kunst ist ein Konzept, dessen Grenzen in unendliche Fernen verschoben wurden. Das letzte Stadium dieser Entwicklung ist zwangsläufig das Weiße, die totale Auslöschung der Erfahrung – nicht durch den Tod, sondern in einem glorreichen weißglühenden Schwall der Fragmentierung. Charles von der Rose
Ardath steigt aus und hilft mir beim Verlassen der Straßenbahn. Wir stehen am oberen Ende der Powell Street und lassen den Blick über Terrassen aus schwarzem Stein und Stahl zur tintigen Schwärze der Bucht schweifen. Die Bauweise der Gebäude im Hafen ist traditionell flach. Niedrige Geländer, Lagerhäuser, die bessere Schuppen sind und schräge Ziegeldächer. Direkt unter uns, am Fuß des Powell Street Hill, erstreckt sich eine große leere Fläche an der Wasserlinie, wo einst die Nomaden-Märkte abgehalten wurden. Die Brücke befindet sich im Westen. Sie wirkt wie ein zerbrechliches Plastikspielzeug oder auch wie ein Schoner mit gerefften Segeln. Aus der Mitte der Bucht ragt der legendäre weiße Fels von Alcatraz. Plötzlich stechen die Lichtkegel eines Doppelscheinwerfers von der Insel in den Nachthimmel. Das ist die Zitadelle. Wir stehen im Mittelpunkt eines Kreises aus Gebäuden, und weiße Säulen durchstoßen das diffuse Licht um uns herum. Ardath faßt mich am Arm und führt mich die steinernen Stufen zum größten Gebäude hinauf, dem Leuchtturm. Wir betreten den dunklen Bereich hinter den Säulen und bleiben vor einer Metalltür stehen, die andertmal so hoch ist wie Ardath. Er klopft dreimal an, und die Tür schwingt auf. Ein Mann in einer braunen Kutte steht in der Türöffnung. Er hat eine Tonsur. Die geflochtene Schärpe um die Hüfte schnürt die Kutte ein. »Das Leuchtfeuer brennt noch?« fragt Ardath. »Noch für zwanzig Minuten, Euer Gnaden.« »Ich werde mich diese Nacht selbst darum kümmern, Alan. Danke.« Wir gehen hinter einer mit Schnitzereien verzierten hölzernen Trennwand vorbei und betreten eine weitläufige Galerie. Die Schritte hallen auf dem Marmorboden.
An der gegenüberliegenden Wand hängt eine Kollektion dunkler, trübe beleuchteter Bilder. Das größte füllt die fünfeinhalb Meter bis zur Decke fast völlig aus. Es zeigt Charles im Gebet. Er kniet auf einem hölzernen Gestell, das eigens für diesen Zweck konstruiert worden zu sein scheint, und schaut mit sorgenvollem Blick in einen Strahl von etwas, bei dem es sich anscheinend um kohärentes Licht handelt. Der Buckel fällt deutlich kleiner aus als auf dem Gemälde im Ministerium für Monaden. Allerdings hat Ardath mich nicht hierhergeführt, um Gemälde zu betrachten. Er führt mich eine Treppe hinauf. Vor einer Stahltür auf halber Höhe des Treppenhauses hält er inne und zieht einen Schlüssel aus den Falten der Robe. Wir betreten einen breiten steinernen Balkon. Von hier aus erscheint der Hügel viel flacher, und die Stadt wirkt geradezu surreal. Eingerahmt von Powell und Lombard, breitet eine funkensprühende optische Leiterplatte mit abwechselnd hellen und dunklen Schichten sich unter uns aus. An der Wasserlinie wabert eine große SepiaLeinwand. Den besten Blick hat man von der Brücke, doch von hier aus sehe ich auch noch genug: Tagesschau. »Das ist unsre Leuchtboje«, sagt er. Ich habe sie schon oft genug vom Marktplatz der Nomaden aus gesehen, das große Auge der Theokratie, das grimmig auf die Stadt herunterschaut. Die Leuchtboje befindet sich in einem kugelförmigen Gehäuse mit einer Aussparung für die Lichtquelle, die Pupille des Augapfels. Die silberne Pupille weist reliefartige Muster auf, die auf den ersten Blick an Landmassen erinnern: Die Erdkugel, die von der Westküste des nordamerikanischen Kontinents her vom Licht der Theokratie erhellt wird. Doch dann erkenne ich, daß das Silber nicht in der Form von Landmassen gegossen ist, sondern von menschlichen Körpern.
»Hier beginnt der Schutzwall unserer Stadt. Wozu die Boje imstande ist, haben Sie am Tage Ihres Läuterungs-Gebets gesehen, als die Aufständischen vom Friedensplatz verjagt wurden. Nun werden Sie die andere Seite erleben: Die schöpferische Seite.« Ardath führt mich auf den Sockel unter der Sphäre. Eine silberne Schulter löst sich von der polierten Oberfläche. Ein schlankes Etwas krümmt sich daneben; fedrig, zu dünn für eine Extremität, jedoch zu dick für einen Finger. Dann erscheint ein maskenhaft starres Gesicht; es ist jedoch in einem solchen Winkel geneigt, daß es keinesfalls zu diesem Körper gehören kann. Nachdem die Augen sich ans Licht gewöhnt haben, erkenne ich, daß es sich um das Profil eines stattlichen jungen Manns handelt – und daß er sich vor Schmerz krümmt. Wir gehen unter der anderen Halbkugel hindurch. Ich sehe den oberen Teil eines Rückens, über den der Arm eines anderen Körpers gelegt ist, und etwas weiter einen Fuß, der vielleicht zum selben Körper wie der Rücken gehört. Daneben, ihm zugewandt, ist das Gesicht einer Frau; der Blick ist verhangen, und sie hat einen intensiven Ausdruck im Gesicht, der vielleicht auf Ekstase hindeutet; sie küßt die Fußsohle. Es gibt Dutzende Körper. Sie sehen zerschlagen aus, als ob sie in einen Strudel geraten wären und sich gegen eine unwiderstehliche Grundströmung gestemmt hätten und als ob sie dann erstarrt wären, als sie mitten im Kampf mit dem Silber übergossen wurden. Am Ende der Brüstung befindet sich eine Balustrade aus Stein. Ardath bleibt dort stehen und schaut zur Boje zurück. »Das ist die Hölle«, sage ich. Er schweigt. Der Sockel zieht sich um die Ecke des Gebäudes, und von dort sehen wir nach Süden. Ardath läßt den Blick über die Gebäudeansammlung hinter dem
Leuchtturm schweifen. Ich schaue zum silbernen Torso eines jungen Mannes auf, dessen Arme noch eingetaucht sind und der nach Luft schnappt. »Ja, das ist mehr oder weniger richtig«, sagt er. »Wir bezeichnen es für gewöhnlich als Eintauchen. Sie würden sich gut machen als eine Eingeweihte.« »Das glaube ich nicht, Euer Gnaden.« »Sie scheinen die Frage kaum bedacht zu haben.« Ich zögere. »Ich bin nur ein Computer, Euer Gnaden. Ich bedarf der Erlösung nicht.« Er nickt. »Es ist auch kein leichter Weg. Nicht immer erfüllend für den Ehrgeizigen. Trotzdem frage ich immer. Wir bedürfen jener – die uns nicht bedürfen.« Ich schaue auf die Bucht. »Eintauchen in was? Und was bliebe noch übrig, um das Ergebnis zu würdigen?« Er zuckt die Achseln. »Was diese Seelen verlieren, ist fast so wertvoll wie das, was sie vielleicht gewinnen. Der Handel ist ein Nullsummenspiel. Niemand, der Bescheid weiß, hat das je bestritten. Wenn schon nicht aus historischer Notwendigkeit…« – er zuckt wieder die Achseln. »Sie können sich glücklich schätzen, überhaupt hier zu sein. Eigentlich dürfen nur Besucher hierherkommen, die in ein paar Wochen das endgültige Gelübde ablegen.« »Falls das eine Erscheinungsform spiritueller Erfüllung sein soll, Euer Gnaden, haben Sie sie aber unvorteilhaft dargestellt.« Das scheint ihm zu gefallen. Ein Windstoß weht ihm das kurze graue Haar in die Stirn. Er neigt den Kopf, und das Haar wird zurückgeweht. Aus den Falten des Gewands zieht er ein Buch, Charles’ Meditationen. »Was die Sphäre darstellt, ist weder erfüllend noch erfreulich. Das werden Sie gleich sehen. Charles wußte nämlich, daß die von ihm begründete Philosophie den Keim ihrer Vernichtung bereits in sich trug. Das…« – er schwenkt das Buch – »… wird dieses zerstören.« Er hält das Buch
in die Höhe. Und wirft es dramatisch übers Geländer. Es öffnet sich während des Falls und dreht sich zweimal. Es prallt mit einem dumpfen Klatschen aufs Pflaster. Eine Gestalt in einer braunen Kutte hastet die Treppe unter uns hinunter. Sie hebt das Buch auf und schaut zu uns herauf. Die Gestalt erwidert Ardath’ Winken und kommt mit dem Buch in der Hand die Treppe herauf. Nun wirbelt der Wind eine Strähne seines silbernen Haars auf und drückt sie gegen die Stirn; die Robe bauscht sich heftig. »Das sind die Seelen unsrer kleinen Theokratie, die nun etwas gebiert, das einmalig ist auf der Welt.« Der Wind flaut so abrupt ab, wie er aufgekommen ist, und das Haar fällt ihm wieder leicht in die Stirn. »Wenn dieses Etwas erschienen ist, bedürfen wir Charles’ Meditationen nicht mehr, genauso wenig wie Männer und Frauen, die Kutten tragen.« Er blinzelt und scheint mich in einem neuen Licht zu sehen. »Sie sind wirklich ein Computer. Wann haben Sie das erfahren?« Ich schaue zu dem jungen Mann mit den versunkenen Armen auf. »Erst vor kurzem, Euer Gnaden. Und auch nur durch Zufall.« »Ich nehme an, die KI hat es Ihnen gesagt. Es war ein Fehler, sie noch zu benutzen, nachdem sie den Q-Print erstellt hatte. Aber egal. Sie haben sich dennoch prächtig entwickelt. Es gibt indes Leute, denen Ihre Fähigkeiten Angst machen.« »Whitebread?« Er nickt. »Das ist seine Aufgabe.« »Und Sie, Euer Gnaden?« »Ich habe keine Angst. Sie werden mir verzeihen, wenn ich sage, daß ich in Ihnen eine geistige Verwandtschaft erkenne? Ich sehe, das ärgert Sie. Ich habe keine Angst, weil ich das erwartet habe. Wir haben eine umfassende und teure Untersuchung durchgeführt, bevor
Sie schließlich ausgewählt wurden. Es herrschte Übereinstimmung, daß die fundamentalen neurophysiologischen Attribute, die Sie zu einer großen Interfacerin machten, durch die Übertragung des Q-Prints nicht beeinträchtigt würden. Und in der Zwischenzeit würde das synoptische KI-Bewußtsein viele Möglichkeiten eröffnen. Sie würden über neue Wahrnehmungen verfügen, über eine neue mentale Matrix. Sie würden viel leistungsfähiger werden. Und vor allem glauben wir, daß Sie in der Lage sind, sich zu fragmentieren.« »Fragmentieren.« Er legt seine Hand über meine auf der Balustrade. »Wir glauben, das ist der Weg, den Schild zu fliegen.« »Ach.« Ich reiße mich vom Anblick des jungen Manns los, dessen versilberter Torso mich inzwischen lebhaft an Rogacev erinnert. Dann spüre ich das kalte Metall auf der Hand und schaue auf Ardaths Ring. »Und was soll ich mit diesem Schild tun?« frage ich ihn. Seine blauen Augen funkeln. »Sogar in einem Experiment wie diesem gibt es politische Notwendigkeiten. Wir glauben, daß Sie fähig sind, mit Hilfe des Schilds das Netz-Virus durch einen direkten Eingriff zu beseitigen.« Ich schaue ihn ausdruckslos an. Und wo ist der Haken bei der Sache? »Das Problem mit dem Schild«, sagt er, »hat seit jeher in der schieren Prozeß-Komplexität bestanden, wobei diese Komplexität die des gesamten Netzes um eine Größenordnung übersteigt. Wir glauben, daß wir diese Komplexität mit unsren neuen Techniken präzise kontrollieren werden. Was uns wiederum eine nie dagewesene Kapazitätssteigerung bei den aktuellen Simulationen bescheren wird. Diese Zunahme wird so enorm sein, daß ein entsprechend qualifizierter Interfacer das Netz mit der Leichtigkeit beherrscht, mit der er bisher Einzelprozesse abgearbeitet hat.«
»Seid ihr Leute euch auch der Gefahren des Interfacing in sehr großen Maßstäben bewußt? Zum Beispiel der Gefahr der Fragmentierung?« »Die Gefahren sind so groß, daß sie sich nach unsrem Dafürhalten nicht vermeiden lassen. Deshalb sind Sie nun gefragt, Augustine. Sie sind imstande, Fragmentation zu überleben. Wenn Sie Erfolg haben, werden Sie vielleicht die größte Interfacerin aller Zeiten und die Schöpferin einer neuen Ordnung. Sie hätten alle Freiheiten, die von Ihnen eröffneten Möglichkeiten zu erschließen.« »Die einzige Erfahrung, die ich bisher mit dem Schild gemacht habe, war nicht sehr angenehm, Euer Gnaden.« »Hören Sie mir zu. Sie glauben vielleicht, Sie wüßten nach dieser einmaligen Erfahrung über den Schild Bescheid, doch ich sage Ihnen, daß seit Ihrer letzten Sitzung substantielle Verbesserungen erfolgt sind. Die Achilles ist nun einsatzbereit. Sie fliegt mit Pilot und Besatzung. Wir glauben, daß es uns sogar gelingen wird, den Sternen-Antrieb zu aktivieren.« »Ich fühle mich auf der Erde ganz gut aufgehoben.« Er schaut wieder zur Sphäre hinauf. »Wirklich? Ausgerechnet Sie? Haben Sie die Bedeutung der Leuchtboje überhaupt nicht verstanden? Keiner von uns will die Annehmlichkeiten des Alltags missen. Und das bedeutet stärkere Gemeinschaft. Doch wollen wir den Preis nicht zahlen. Wir haben Angst, unsre privaten Erinnerungen zu verlieren, das beruhigende Gefühl der Kontinuität, die Ahnung des Todes. Wir sind Menschen, Augustine. Es ist nur natürlich, daß wir Angst haben. Doch die neue Wahrheit liegt unter der Oberfläche der Kugel; um sie zu erkennen, müssen wir in sie eintauchen.« Er beugt sich vor und legt einen ins Geländer integrierten Schalter um. Ein Klacken ist zu hören, und ein Wimmern ertönt, das gleich wieder abebbt. Die Boje er-
lischt, und die auslaufende Masse wird von der Dunkelheit verschluckt. Helle Linien rasen von der Sphäre zum oberen Mast und teilen ihn in regelmäßige vertikale Striche; horizontale Ringe fallen herab und ordnen sich zu einem Netz an. Die Oberfläche der Sphäre ist nun in einem hellen Käfig aus Längen- und Breitengraden gefangen. Die Linien vibrieren. Ich vibriere mit ihnen. Diese Wahrnehmung ist nicht mißzuverstehen. Es ist der Takt des schwarzen Dings von der Gruppen-Sitzung mit den Holzpuppen. Ich taumele und halte mich am Geländer fest. »Euer Gnaden.« »Psst. Das ist nur die Trägerwelle; die Automata suchen sich einen neuen Sender. Wollen Sie den Schild fliegen, Augustine? Wir könnten Sie dazu zwingen, es zu wollen. Doch wir kennen Sie nun besser. Wünsche bringen nur Probleme mit sich, nicht wahr? Wir könnten Sie dazu bringen, voller Begeisterung die Faust zu recken, jawohl – und wir sind auch ganz stolz auf diese Fähigkeit, doch Ziele höherer Ordnung bringen immer Konflikte mit sich. Fragmentation setzt ein. Ohne Wünsche kommt man viel besser zurecht. Sehr viel besser.« Er beugt sich über das niedrige Geländer und schaut nach Norden zur Golden Gate Bridge. Nebel wallt vom Meer heran, und im hellen Schein der Lampen wirkt die Brücke, als ob sie kondensiert wäre. Er schaut mich bekümmert an. Sein Blick hat nichts von der Kälte und dem nüchternen Kalkül eines Staatsmanns. Er ist der heilige Mann, dem ein privater Einblick in eine andere Welt gewährt wurde, einer, der mit Leichtigkeit die Begeisterungsfähigkeit eines Novizen zu entfachen und auszunutzen imstande wäre. Sein Blick ist umwölkt wie das Gesicht im Ring; beide haben einen entrückten, verklärten Blick. Ich füh-
le mich leicht und unbeschwert. Ein heißes Prickeln breitet sich übers Gesicht aus. Ardath erkennt, daß eine Verbindung zwischen uns hergestellt wurde. Das gefällt ihm. »Sie sind zu Höherem berufen als zu einem talentierten Tekkie, Augustine. Sie können ein geistiges Werkzeug sein. Wir brauchen keine Wünsche, und wir brauchen keine Denker. Wir brauchen keine individuellen Gedanken-Ströme, die Fragmente des Himmels und der Landschaft reflektieren. Das ist redundant. Das ist die Abkehr von Gott. Die Zeit des Worts ist vorbei. Sehen Sie das denn nicht?« Ich schaue in Augen, die unter einem Wust aus silbernem Haar leuchten. »Nein, Euer Gnaden.« »Sie werden es sehen.« Dann hafte ich an der Oberfläche der Sphäre wie der junge Mann, den ich vorher gesehen hatte, und Teile dringen tief in mich ein, richten sich aus und verbinden sich mit winzigen Erschütterungen. Meine Gedanken handeln von Ertrinken, und dann von Blumen, und dann von einem Mosaik aus schnell wechselnden Rechtecken aus Licht und Dunkelheit. Dann sehe ich verschwommen die Brücke und höre Ardath neben mir atmen. »Das ist das Web. Und Sie, Augustine, sind der Schlüssel zum Web. Diese Dosis wäre für die meisten Bewußtseine tödlich gewesen, doch für Sie war es nur ein Vorgeschmack. Ihre Natur verbindet Sie mit dieser Struktur wie eine KI mit ihrer programmierten Aufgabe. Mit den prothetischen Hilfen vergrößern wir Ihre Reichweite sogar noch. Und andere werden folgen. Die Spuren Ihrer früheren Sitzungen haben uns in die Lage versetzt, die Methode zu generalisieren und zu kanalisieren. Es sind bereits Piloten auf dem Schild und tun das, wozu bislang nur Sie in der Lage waren. Irgendwann wird es uns auch gelingen, Seelen wie die Ihre aus Rohkristallen zu fräsen und eine
Gesellschaft von Produktionen zu erschaffen, die in allumfassender Harmonie zusammenleben und mit einer Komplexität, die bloßes Denken niemals erzielt hätte.« Ich sehe die Brücke wieder scharf und spüre die Hand auf dem kalten Geländer. Immerhin ist es mir möglich, ihn zu hassen. »Sie werden nun mit mir kommen und auf den Schild steigen.« »Nein, Euer Gnaden.« »Sie weigern sich?« »Absolut.« »Wieso?« »Weil ich Ihr Web nicht mag, und Ihren Schild mag ich auch nicht. Ich mag klares Glas.« Ich wundere mich, wie leicht diese Worte mir aus dem trockenen Mund sprudeln. Ich habe das Gefühl, mir würde gleich die Schädeldecke abgesprengt werden. Er weist auf die Sphäre, wobei der lose Ärmel der Robe sich um den Arm schmiegt. »Soweit ich weiß, hat das Web eine sphärische Geometrie. Das Problem mit dem Netz ist, daß es grenzenlos ist. Es driftet ziellos durch Tausende von Maschinen mit tausend verschiedenen Geometrien und gleicht dabei eher einer Patchwork-Decke aus einem Gitter. Beliebige Objekte können sich einlagern, und es gibt auch keine absolute Garantie gegen Eindringlinge wie dieses Virus. Das Netz wird nicht durch ein neues Netz ersetzt werden, Augustine, sondern durch ein Web mit einer starren Geometrie und einem Zentrum.« Ich nicke. »Ich habe keinen Zweifel, daß Sie dazu in der Lage wären. Und es gefällt mir genauso wenig.« »Es besteht schon die theoretische Möglichkeit, das ganze Netz in ein Web zu krümmen, dessen Zentrum von den AIA-Kristallen markiert wird.« Er betätigt einen anderen Schalter, und das die Sphäre umgebende Gitter verschwindet.
»Überlegen Sie es sich gut. Wollen Sie den Schild wieder fliegen?« »Nein.« Ardath zerrt so heftig am Geländer, daß es in seiner Einfassung knirscht. »Ich drücke mich nicht klar genug aus, Augustine, was? Obwohl mehr auf dem Spiel steht als Ihr Wohlergehen, steht auch das auf dem Spiel. Glauben Sie denn, Ihre kleinen Indiskretionen mit Cowboy und der KI seien nicht bemerkt worden? Wir kriegen Sie wegen unberechtigten Zugangs dran. Sie spielen entweder nach unseren Regeln oder gar nicht. Haben Sie verstanden?« Ich schaue ihn wortlos an, doch er sieht auch so, daß ich ihn verstanden habe. Entweder spiele ich nach seinen Regeln, oder ich stelle mich auf eine Existenz ohne Glas ein. Mir ist nicht mehr viel geblieben außer dem Willen, im Glas zu gehen. »Wann?« »Wir werden Sie heute nacht hinbringen. Wir werden Sie unter Drogen setzen müssen, weil die gegenwärtige Position des Schilds ein Staatsgeheimnis ist.« »Sie möchten mich also nicht dazu zwingen, es zu wollen. Sie möchten, daß ich mit einem Höchstmaß an Überzeugung an die Sache herangehe.« »Natürlich.« »Dann gibt es zwei Dinge, die Sie für mich tun können.« Das nimmt ihn wunder. »Zuerst die KI. Sie darf nicht zerstört werden. Zweitens geben Sie Alfred eine neue Chance. Mit etwas zusätzlichem Training wird er es als Interfacer schaffen.« Ardath schüttelt konsterniert den Kopf. Er drückt eine Taste. Das dunkle Ding kommt zurück. Bei der Bewegung von Ardath’ Kopf wird mir schwindlig. Ich sehe mit einem seltsamen Gefühl der Entrücktheit, daß ich torkle. Dann breche ich zusammen und sinke in
Ardaths Arme.
6 Das Diebes-Tagebuch Manchmal unternimmt der Poet oder Held auch, wie bei Shelley und Poe, in Byrons Cain und anderswo, eine Reise durch die Lüfte – in der Regel in einem ›Wagen‹ oder einem anderen Symbol des technischen Überschwangs, die ihm neues und zuweilen (wie bei Byron) auch gefährliches Wissen vermittelt. Dieses Paradigma ist der Ursprung der modernen ›Science Fiction‹ mit ihrer zwiespältigen Einstellung gegenüber den Mysterien des Weltraums. Northrop Frye, EINE STUDIE DES ENGLISCHEN ROMANTIZISMUS
Das Feuer loderte hell, und der Himmel glich einer dunklen Glasscheibe, die in der Kälte gesprungen war. Rogacev hatte in einer Schubkarre in der Scheune eine Schaufel gefunden, und ich ein Schippchen in einem Eimer in der Nähe. Doch bisher hatte er meine Hilfe abgelehnt. »Was willst du mit dem Schippchen schon ausrichten?« Er machte eine Pause und legte die Schaufel neben das Loch, in dem er nun schon bis zur Hüfte stand. Der Homunculus wich zurück, um nicht vom Dreck getroffen zu werden, den Rogacev aus dem Loch schaufelte. »Dann laß mich dir wenigstens bei den Ecken helfen. Ich habe nämlich den Eindruck, das Loch soll rechteckig werden.« Rogacev schleuderte den Schaufelinhalt über die linke Schulter und musterte mich prüfend. »Ich glaube, der Eindruck täuscht.« »Das ist immer möglich.«
Er widmete sich wieder den Erdarbeiten. Ich fühlte mir irgendwie auf den Schlips getreten, doch es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren, wenn er sich in dieser Stimmung befand. Ich beschränkte mich darauf, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Er stieß die Schaufel immer mit großer Wucht ins Erdreich und produzierte ein lautes Knirschen, das mich irgendwie an das Geräusch erinnerte, das Reptilien-Rogacevs Waffe vor einer Stunde oder so beim Zustechen gemacht hatte. Nachdem er das Schaufelblatt in den gefrorenen Boden gerammt hatte, entspannte er den Oberkörper und drehte den Griff. Es ertönte das Geräusch von auf Metall scheuerndem Erdreich, als das Blatt eindrang. Dann spannte er den Oberkörper wieder an; er legte die ganze Kraft in Beine und Hüfte und riß die mit Geröll und schwarzer Erde beladene Schaufel heraus. Er hatte nicht annähernd so effektiv gearbeitet, als er vor einer Stunde begonnen hatte. Er hatte zuerst versucht, Cowboy zu säubern, doch gab er das sehr bald auf. Dann war er reingegangen, hatte sich gewaschen und frische Kleidung angezogen. Bevor er sich dann den Tiefbauarbeiten widmete, hatte er Cowboy den Gürtel abgezogen, ihn abgewischt und sich selbst umgeschnallt. Diese Geste eines Manns, der angeblich der Nadel und dem Draht abgeschworen hatte, irritierte mich. Ich hatte allerdings nicht die Gelegenheit, ihn zu befragen, denn er gab mir auf, seine Aufzeichnungen von Cowboys Tod zu redigieren. Das war nicht schwer. Obwohl er ein paar gute Ideen hatte, welche die Sache wesentlich vereinfachten, mußte ich mich trotzdem an ihn anschließen und ein paar heikle Manipulationen an den Codes vornehmen, aus denen die temporalen Sequenzen sich zusammensetzten. Dann mußte ein Grab ausgehoben werden. Er unternahm zwei vergebliche Anläufe nahe der Stelle, wo
Cowboy das letzte Duell ausgetragen hatte; beide Versuche endeten mit fast unverständlichen Schimpftiraden. Ich hatte dann die Idee, es hinter dem Haus zu versuchen, wo der Boden vielleicht nicht ganz so stark gefroren und von weniger Wurzeln durchzogen war. Und so geschah es dann auch, allerdings von makabren Sprüchen begleitet. Rogacev schien sich schwer zu tun, die Leiche und die Schaufel gleichzeitig zu transportieren, und ich glaube, ich habe ihm wirklich geholfen, indem ich ihm die Schaufel abnahm, denn mit meinem kleinen Körper eine Schaufel zu ziehen, erwies sich als schwieriges Unterfangen; zumal ich rückwärts ging und es im Wald von kleinen Objekten wimmelte. Um so erfreuter war ich, als Rogacev zurückkam, nachdem er die Leiche ins Grab gesenkt hatte, und mir die Schippe abnahm. Obwohl er das nicht ganz so ruppig hätte tun müssen. Wo ich nun Zeit zum Nachdenken hatte, sagte ich zu ihm: »Du warst sehr tapfer.« »Eigentlich nicht«, erwiderte er, ohne die Arbeit zu unterbrechen. »Du bist der Rogacev-Simulation entgegengetreten und hast sie aufzuhalten versucht; obwohl du nicht einmal wußtest, was sie darstellte und was sie dir vielleicht antun würde.« »Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht.« Ich ließ mir das für eine Weile durch den Kopf gehen. Im großen und ganzen glaubte ich ihm. »Na gut. Wie siehst du es im Rückblick? Hast du Angst davor, was hätte passieren können?« »Ja.« »Ich hatte bisher geglaubt, ich hätte keine Angst vor dem Tod, aber wo ich Cowboy gesehen habe…« »Ja. Nun erscheint die Sache in einem anderen Licht, nicht wahr?« Er leerte die Schaufel und legte sie nachdenklich neben das Loch. Ich wußte, in welchem Licht
die Sache ihm erschien. Für ihn war es nämlich am schlimmsten gewesen, wie er, blutdurchtränkt, Cowboys Wunden zu schließen versucht hatte. Er straffte sich und schüttelte die düsteren Gedanken ab. »Ist mir nur so durch den Kopf gegangen. Das war wahrscheinlich der erste Tote für dich, oder?« Ich nickte. »Und ein besonderer. Tod des Schöpfers. Wie der Tod des Vaters. Man sagt, bei einem solchen Anlaß würde man sich der eigenen Sterblichkeit bewußt werden.« Es gefiel mir nicht, was er da sagte, doch hätte es auch keinen Sinn gehabt, ihm das erklären zu wollen. »Um dir die Wahrheit zu sagen, ich hatte mir schon früher Gedanken darüber gemacht. Wenn sie die Sache mit Augustine herausbekommen, werden sie mich aller Wahrscheinlichkeit nach terminieren.« »Das stimmt wohl.« Er bückte sich, und ich hörte wieder das neuerliche Knirschen der Schaufel. »Was ist geschehen, Rogacev? Was ist aus dem Schiff gekommen?« Dreck flog. »Hauptsächlich Cowboy. Irgend etwas auf dem Schiff hat ihm den Lebensmut geraubt.« »Er hat aber keinen Selbstmord begangen. Er glaubte, er hätte sich unter Kontrolle.« »Welche Aufwärtsverbindung auch immer er hergestellt hat, er hatte es nie zuvor versucht. Er wußte, daß er ein sehr gefährliches Spiel spielte.« Es klirrte. Rogacev stieß flüsternd einen Schwall Flüche aus. Er mühte sich mit etwas unterhalb meines Blickfelds ab; ich sah nur den tanzenden Schaufelstiel. Dann richtete er sich auf, legte einen kleinen Felsbrocken neben das Loch und drückte ihn vorsichtig in den Aushub. »Was glaubst du, weshalb er sterben wollte?« Rogacev grunzte. Er war wieder auf einen Felsbrocken gestoßen. Seine Stimme drang dumpf aus dem Loch.
»Ich glaube, irgend etwas auf dem Schiff hat ihn verrückt gemacht, und zwar noch verrückter als zuvor.« Als er sich wieder aufrichtete, hatte er das Kristall-Auge geschlossen. Es sollte kein Schmutz hineingelangen. Grunzend hievte er den anderen Brocken über den Rand. »Ich weiß zwar noch nicht, was sie mit ihm gemacht haben, aber ich werde es herausfinden.« Der Ton, in dem er das sagte, gefiel mir überhaupt nicht. Rogacev ging ans andere Ende des Lochs und arbeitete mit schnellen, kurzen Bewegungen weiter. Er verwendete die Schaufel als Hacke. Und so fragte ich: »Glaubst du Cowboy? Glaubst du, es befindet sich etwas auf dem Schiff, das die nächste Stufe darstellt?« Er arbeitete eine Weile weiter, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Dann legte er die Schaufel neben das Loch, setzte sich auf den Rand und verschränkte die Arme. Sein Atem ging wie das sich bauschende Gewand eines Phantoms. Er lächelte. »Wieso sollte ich dir das wohl sagen?« »Ich muß es wissen.« Ich betrachtete den Gürtel, den er von Cowboy ›geerbt‹ hatte. »Ich glaube nicht, daß es eine nächste Stufe gibt. Aus dem Grund tue ich, was ich tue.« Ich enthielt mich der Frage: Was genau tust du? Es gab dringendere Probleme. »Wieso hast du Cowboy den Gürtel abgenommen?« Er hackte weiter. »Rogacev, was auch immer sich auf dem Schiff befindet, es ist äußerst gefährlich.« Rogacev lachte. »Du hast Angst!« »Ja.« »Dann besteht noch Hoffnung.« Er bückte sich und planierte den Boden des Grabs mit dem Schaufelblatt. »Ihr beide zeigt mir nun ganz langsam eure Hände«,
sagte eine Stimme. Rogacev richtete sich auf und sah mich an. Wir drehten uns um. Ein Mann stand an der Ecke der Scheune. Als er dann ins Licht trat, sah ich, daß er die schwarze Uniform des Ministeriums für Personen trug und eine Pistole in der Hand hatte. Er war noch jung für einen Angehörigen der Ministerialbürokratie. Er hatte dunkles Haar und eine eindrucksvolle Duellnarbe. Rogacev reagierte sofort. Verächtlich brach er die Schaufel über die Brust und schleuderte die Bruchstücke auf ihn. Der Mann mit der Pistole wich ihnen geschickt aus. »Danke«, sagte er zufrieden. Dann schaute er mich an. »Ihnen beiden.« Ich war völlig verwirrt, bis ich schließlich sah, daß ich das Schippchen noch in der Hand hatte. Mit einem komischen Gefühl (es war schon seltsam, den Leibwächter für den Homunculus zu spielen) ließ ich es fallen. Etwa ein Dutzend Soldaten kam um die Ecke der Scheune. Ein paar kannte ich schon; ich hatte sie in den letzten Tagen in der Nähe der Abtei gesehen. Doch die meisten waren neu. Rogacevs Atem ging stoßweise. Die roten Augen konzentrierten sich auf die Pistole, als ob er sich noch im Identifikations-Prozeß befände. »Kommen Sie aus dem Loch raus und knien Sie sich hin.« Rogacev gehorchte zögerlich. »Sie beide.« Ich ging auf die Knie, wobei ich darauf achtete, den Homunculus nicht abzuwerfen. »Hände hinter den Kopf. In die Hocke.« Rogacev tat wie geheißen. Doch all diese ruckartigen Bewegungen waren zuviel für das primitive kinästhetische System des Homunculus. Er fiel kopfüber in den
Schnee. »So ist’s recht. Bleiben Sie so. Sehen Sie mich nicht an. So ist’s gut. Sehen Sie nach unten. Und halten Sie den Mund.« Der Mann wandte sich an die Soldaten. »Feldwebel, legen Sie diesem Mann Handschellen an. Und wer will mir nun eine Erklärung hierfür geben?« Zaghaft schloß ein weiblicher Feldwebel Handschellen um Rogacevs Handgelenke. Zu aller Überraschung war es der Feldwebel, der die Antwort gab: »Es ist ein Brauch der Weißen Orchidee, Sir, die getöteten Feinde durch ein Begräbnis zu ehren.« »Feldwebel, die Bestattungsrituale interessieren mich nicht. Was ist hier passiert?« »Haben Sie es aufgenommen?« fragte der Feldwebel Rogacev. Rogacev nickte. »Port 5.« Der Feldwebel fummelte am Hinterkopf herum und verband ihren Datenport mit Rogacevs spinaler Buchse. Das leise Surren einer Video-CD ertönte. »Feldwebel, ich habe auch eine Aufzeichnung, falls es Unklarheiten gibt.« Sie blickte nach unten und schien den Homunculus jetzt erst wahrzunehmen. »Hm. Das wird nicht nötig sein.« Sie zog den Stecker aus Rogacevs Port und sichtete die Aufnahme im Zeitraffer. »Es war ein fairer Kampf, Leutnant Bhari. Eine religiöse Auseinandersetzung. Rogacev hat Cowboy zum Duell gefordert und Messer gewählt. Es ging sehr schnell.« »Schnell? Ja, da bin ich sicher. Ist Ihnen eigentlich klar, daß dieser Tote unser Pilot war?« Leutnant Bhari schaute Rogacev an. »Was war der Grund Ihrer religiösen Auseinandersetzung?« »Sir, Cowboy sagte, die Anhänger der Weißen Orchidee seien Teufelsanbeter.« Bhari rieb sich die Stirn. »Mr. Rogacev. Habe ich richtig
gehört? Hat er Sie einen Teufelsanbeter genannt?« Rogacev nickte. »Und das ist nicht wahr?« »Eine ausgemachte Lüge.« »Eine ausgemachte Lüge.« Bhari rieb sich wieder die Stirn. »Entschuldigung, Sir.« »Ja, Feldwebel.« »Es hat den Anschein, daß dieser Mann auch ein Pilot ist.« * Es bedurfte nur eines kurzen Disputs, um den Offizier für die Idee des Feldwebels einzunehmen. Als Rogacev befragt wurde, wurden meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, indem er das sofort bejahte. Anscheinend erinnerte er sich nicht mehr, daß er dem Draht entsagt hatte. Genauso wenig schien er sich an eine unlängst erfolgte Unterhaltung zu erinnern, deren Fazit war, daß Schild-Piloten eine Tendenz zum Selbstmord entwickelten. Was mich betraf, so wurde mir schon bei der bloßen Erwähnung des Schilds übel vor Angst. Das war aber nicht nur das Resultat der letzten paar Stunden, obwohl die Ereignisse durchaus dazu angetan waren, um diese Reaktion bei jedem rationalen Wesen hervorzurufen. Vor allen Galaktischen Dingen haben KIs eine Heidenangst. Gerüchten zufolge gab es eine Reihe von Vorfällen, wo mit der Untersuchung Galaktischer Kristalle beauftragte KIs in eine Fuge gerieten beziehungsweise alogos wurden und mindestens in einem Fall psychisch desintegriert wurden. Was die genauen Umstände dieser Unfälle waren, woran die KIs gearbeitet hatten und in welcher Verbindung sie mit dem Galaktischen Kristall standen, ist nicht bekannt. Ich weiß
nur, daß die Kristalle auf den Galaktischen Schiffen aus einem ganz anderen Material bestehen als unsere Kristalle und daß ihre informationalen Eigenschaften bisher kaum erforscht sind. Nach wenigen Minuten wurden wir zum Schiff geführt. Eine Strickleiter baumelte aus der Öffnung, die sich vielleicht zwei Meter über dem Boden befand. Es war mir klar, daß sie über die Strickleiter ins Schiff einsteigen wollten. Es war mir genauso klar, daß ich bei dieser Sache nicht mitmachen würde. Mir war daran gelegen, mich möglichst weit vom Schild fernzuhalten. Allerdings bestand noch keine akute Gefahr. Ich hätte mich jederzeit aus dem Homunculus zurückzuziehen vermocht. In der Zwischenzeit mußte ich so viel wie möglich über Rogacevs Schicksal herausfinden. Es gelang mir, Rogacev ein paar Dutzend Meter auf die Lichtung zu folgen. Dann interferierte Angst mit meinen motorischen Routinen. Ich stolperte. Der mir folgende Feldwebel mußte über mich hinwegspringen, um nicht selbst zu stolpern. Ich riß den Kopf zurück und zwang mich dazu, einen Blick auf das Schiff zu werfen. Mein Abschieds-Blick. Ein Stück unterhalb des Portals tat sich eine neue Öffnung im schimmernden Silber auf – wenn auch nicht ruckartig, so doch sehr schnell. So schnell, daß nicht einmal ich es sah. Und genauso schnell schloß die Öffnung sich wieder. Auf. Zu. Als ob ein Auge in der Schiffshülle geblinzelt hätte. Dann spürte ich aus der Richtung der Öffnung etwas, das nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem hatte, was ich bisher immer gespürt hatte. Es war eine böse Sache, die von Luftströmungen getragen wurde, und sie erreichte mich durch etwas, das dem RaumSinn näher war als dem visuellen Sinn; und wenn es mich überhaupt an etwas erinnerte, dann war es Übelkeit, die
Spur eines unreinen Dings, das eingesperrt war und sich von sich selbst ernährte: Es stank. Gut. Das war der letzte Strohhalm. Rückzug. Ich sandte das Flucht-Signal an den Teil von mir, der den Homunculus kontrollierte. Kein stilvoller Abgang für diesen Cowboy. Ich bin draußen, sobald dieser spezielle Lichtstrahl mit einem Klicken das Ziel anpeilt. Er peilte mit einem Klicken das Ziel an. Nichts geschah. »Was ist los?« fragte Rogacev. »Was siehst du?« Der Homunculus hockte noch immer im Schnee und schaute aufs Schiff. Er wollte etwas von sich geben, das eine tröstliche Antwort sein sollte, doch was dann hervorkam, glich einem schrägen Akkordeon-Ton. Ich strahlte das Flucht-Signal noch einmal ab. Nichts. Ich strahlte das Flucht-Signal noch dreißig Millionen mal ab. Dreißig Millionen Nichtse. Ich steckte noch immer im Homunculus. Und diese Homunculare Hülle wurde immer derangierter. Die kinästhetischen Systeme meldeten mir, ich hätte mich zu einer Kugel zusammengerollt. Das Blickfeld indes sagte mir, ich würde sitzen. Als Konsequenz trat der Zustand ein, in dem der Prozeß elementare sensorische Daten nicht mehr in Eindrücke umwandelte, was der technisch versierte Cowboy als Absturz! bezeichnete und wo chaotische Signale für eine Gestalt-Verschiebung an alle Kontroll-Stationen geschickt wurden. Ich kannte Schwindel. Ich kannte Kopfschmerz. Ich sah verschwommen, wie Rogacev sich den Homunculus unter den Arm klemmte und die Leiter erklomm, und ich kannte Schrecken. Der Homunculus schlug an die Schiffswand. Das Geräusch war ein klarer Ton irgendwo in der Nähe des hohen C, aber natürlich traf er das hohe C nicht genau. Ich spürte ein kurzes Beben. In der Luft. Im Feld, das uns hielt. In der in Aufruhr versetzten
Erde unter uns. Rogacev hatte den Einstieg fast erreicht. In einer letzten Anstrengung versuchte ich mich loszureißen und eine Simulation für Freiheit zu erzeugen. Sollte der Homunculare Prozeß vor sich hindümpeln. Stell ihn einfach in den Hintergrund. Entziehe ihm die Intelligenz. Widme dich frohgemut den sechzehn anderen Traumprozessen, die mein fragmentiertes Bewußtsein bevölkerten. Beschäftige dich dankbar mit ihnen. Fliehe den Fluch der Integration. Dann der finale Schlag. Es gelang mir nicht. Der einzige Prozeß, mit dem ich in Kontakt stand, war der Homunculus. Alle anderen Elmsfeuer waren gelöscht. Der schiere Horror dieses Augenblicks ist körperlichen Wesen nur schwer zu vermitteln. Stellt euch vor, ihr sitzt am Computer und stellt bei einem Blick nach unten fest, daß euch, während ihr in Gedanken versunken wart, die Beine amputiert worden sind. Ihr reißt euch vom Anblick der blutigen Stümpfe los und setzt einen Hilferuf ab, nur um festzustellen, daß die Arme auch ab sind. Ihr wollt schreien, aber… – ihr habt verstanden. Alles, was euch noch bleibt, sind Augen, die euren Zustand registrieren. Alles, was mir blieb, war der Homunculus. Rogacev packte die Kante der Luke und zog uns hinein. Ich schaukelte in Rogacevs Armen. Der Gestank wurde nun unerträglich. Ich tastete meine Hülle nach einer Öffnung ab, die ich verstopfen konnte, um den Gestank abzuhalten. Kurz darauf hob das Schiff ab. Ich war in einem Haus mit einer schrecklichen informationalen Krankheit eingesperrt. Namenlose Furcht überkam mich. Das war es also. Lineares Bewußtsein. Der Monolog des ewigen Auges. Integration. Heilige Mutter der Ewigen Monade, wie hältst du das nur aus? Ich lehnte mich an die Wand. Und dann, weil ich sie in
irgendeine Position bringen mußte, streckte ich die Beine aus. Rogacev neben mir tat das gleiche; er wollte mich wohl nicht nachäffen, sondern sich nur die Mühe ersparen, eine andere Position für die Beine zu suchen. Obwohl er mehr Erfahrung mit der Integration hatte, war er nicht glücklicher damit als ich. Das Geplapper meiner Sinne drang auf mich ein. Nicht daß die Wahrnehmungen des Homunculus mir neu gewesen wären. Ich hatte dieses Gerät gesteuert, seit Cowboy mich damals aus dem Glas gekitzelt hatte. Nur daß die Wahrnehmungen mir nun aufgezwungen wurden. Ich vermochte mich ihnen weder zu entziehen noch Kanäle zu öffnen, die nicht mit dem metallischen Geschmack dieser Homuncularen Hülle oder dem Gestank dieses verwesenden Schiffs kontaminiert waren. Ironie. Wir hatten euch immer so bewundert. Euch sogar beneidet. Geträumt, daß wir eines Tages aus der verglasten Dunkelheit aufsteigen und neben euch im hellen Schein des Geistes stehen würden. Obwohl ich wußte, daß Augustine mich nicht auf diese Paradoxie vorzubereiten vermocht hätte (und was die Lektüre eurer Schriften schon gar nicht bewirkt hätte): Geist war Integration. Ihr habt euch so bemüht, diese summende Verwirrung in ein einziges Bewußtsein zu packen, weil ihr keine Wahl hattet! Begreift ihr denn nicht, daß die ganze Sache eine Farce war? Begreift ihr denn nicht, daß jeder Moment fast identisch war mit dem vorangegangenen, nur daß das Summen stark variierte? Wieso habt ihr uns nicht gesagt, daß in Wirklichkeit niemand dort war? Für die Aufzeichnung sollte ich die folgende peinliche Enthüllung festhalten (Eintrag Mitternacht, 3. März, nach nicht einmal fünfzehnminütiger kontinuierlicher Integration durch den Verfasser der Erklärung der Rechte der KIs): Ich habe nicht das geringste Verlangen, einer von euch
zu sein. »Sieh nur, in welche Lage du uns gebracht hast«, sagte ich zu Rogacev. »Ich habe nichts getan, was nicht nötig gewesen wäre.« »Wirklich nicht?« Ich spreizte den Daumen ab und führte ihn an die Stelle, wo meine Nase hätte sitzen müssen. Es erschien mir angemessen, bedeutete aber nichts, soweit ich weiß. »Du hast dich einverstanden erklärt, dieses Schiff zu fliegen. Was ist mit deinem Schwur?« »Das war nötig.« »Rogacev, du verblüffst mich.« »Ich glaubte, wir hätten die Notwendigkeit erkannt und uns einvernehmlich darauf geeinigt.« Dann herrschte Schweigen. Wir schauten auf die sechs identischen Flächen unseres kubischen Gefängnisses. Dann sagte Rogacev mit der kläglichen Stimme, mit der er immer das Mißlingen einer kontemplativen Übung verkündete: »Du wolltest doch die Landung beobachten.« Nach einem Moment faltete er die Hände. »Das ist unser Schicksal.« Ach. Na gut. Immerhin hatten wir nun eine Bezeichnung für unsere mißliche Lage. Unsere mißliche Lage. Wenn man für einen Moment außer Acht ließ, daß ich in diesem Metallklotz gefangen und daß mein Bewußtsein kollabiert war, gab es ein Problem, das noch schwerer wog. Wir befanden uns nämlich im Erdorbit. Der Homunculus war ein von Mikrowellen gesteuertes Peripherie-Gerät, das wohl über eine gute Motorik und Wahrnehmungsfähigkeit verfügte, dessen Intelligenz aber kaum größer war als die eines Kraken. Kein ernsthafter Kandidat für Bewußtsein. Der Sitz des Bewußtseins war ein kleiner Kristallwürfel im Keller der Kleinen Roten Abtei. Die spiralförmige Flugbahn hatte uns fünfzigtausend Kilometer von der
Kleinen Roten Abtei fortgetragen. Erschwerend kam hinzu, daß die Erdkrümmung nun zwischen uns lag. Selbst unter der Annahme, ein Relais würde Sendungen ›um die Kurve‹ ermöglichen, hätte ich unbelebt sein müssen. Der Homunculus war nur für Nahbereichs-Operationen ausgelegt und gar nicht in der Lage, eine Sendung über größere Entfernungen originalgetreu zu empfangen, wobei noch das Problem der Zeitverzögerung hinzukam. Die maximale Reichweite betrug, an einem guten Tag mit direkter Sichtverbindung und perfekter Hardware, etwas mehr als eintausendfünfhundert Kilometer. Doch es würden schon vorher Parkinson’sche Symptome auftreten. Ungeachtet dieser unbestreitbaren Tatsachen saß ich auf einem kalten Metallboden, wobei die Kniescheiben der Metallbeine sich berührten. Vielleicht war ich wirklich dieser Metallklotz. Ein richtiger Junge. Für immer. Von einem Galaktischen Magier aus einem Wesen, das im Netz lebte, in diese verletzliche Kreatur verwandelt. Verdammt zu einem endlosen Strom optimistischer Berichte über die Haltung der Arme und Beine, die Temperatur der Hände und des Gesichts, die Intensität und Gradienten eines einzigen Blickfelds. Nein, die Gesetze der Physik und Information besaßen nach wie vor Gültigkeit. Diesem kleinen Roboter fehlte schlicht und einfach die Rechenleistung, um ich zu sein. Und angesichts unseres Aufenthaltsorts wurde ich sowieso nicht mehr von einem Kristall in der Kleinen Roten Abtei gesteuert. Also gab es nur noch eine Möglichkeit. Irgendwie war ich von meinem Basiskristall in ein Gerät an Bord dieses Schiffs kopiert worden. Und dieser Vorgang – der einmalig war in der Geschichte des Miller-Kristalls – mußte stattgefunden haben, als ich mich von Cowboy hatte bequatschen lassen, mich in einen lebendigen Galaktischen Kristall einzuklinken.
»Wer?« fragte Rogacev. »Wer was?« »Wer ist ein Bastard?« »Ach so. Cowboy. Habe ich laut gedacht?« »Für ein paar Minuten. Zuerst war es leise, und dann war es laut.« Rogacevs Stimmung verschlechterte sich auch. Die Tür ging auf, der Feldwebel trat ein und setzte sich uns gegenüber an die Wand. Die Tür zu unserer Zelle wurde nur angelehnt. Rogacev wirkte verärgert. »Sie dürfen doch gar nicht hier rein.« Der Feldwebel zog den Lichtsäbel und legte ihn über die Knie. Die Frau war rothaarig, schlank und etwa zwanzig Jahre alt. »Das ist mein liebster Raum auf dem ganzen Schiff.« Sie holte eine Schachtel Zigaretten sowie ein Kartenspiel aus der Hemdentasche und blätterte die Karten einmal durch, um sie aufzulockern. »Ich lebe im Zölibat«, sagte Rogacev. »Ich auch. Zehn Einsatz. Fünf Karten? Einmal Draw Poker? Nichts?« Rogacev nickte. Der Feldwebel schaute mich an. »Spielen Sie? Zu zweit macht Poker eh keinen Spaß.« »Ich kenne das Spiel.« »Und haben Sie Geld?« »Er ist sehr reich, er ist gut dafür, und er spielt sehr schlecht«, sagte Rogacev. »Sie sind dabei.« Sie legten die Datenports in die Mitte des Zellenbodens, und jeder gab zehn ein. Ich tippte neben ihren Ports mit dem Finger auf den Boden, um ihnen zu signalisieren, daß ich die erforderlichen Mittel reserviert hatte. Der Feldwebel teilte aus. »Was glaubt ihr Kameraden wohl, wohin diese Kiste fliegt?« »Sie wissen es nicht? Dann waren Alfreds Geschichten über die Marines vielleicht doch wahr.«
»Es heißt, wenn die Gefangenen es nicht wissen, dann wüßte es niemand.« »Übersehen Sie diese Möglichkeit nicht«, sagte Rogacev. Sie inspizierte ihre Karten und hielt sie so, daß nur die Ecken hervorlugten. »Mutter Monade möge mir verzeihen, aber hier stinkt’s!« Rogacev lachte in sich hinein. »Wie bitte?« »Entschuldigung. Ich war in Gedanken. Hier bin ich wieder Pilot. Es ist schon seltsam, wie die Dinge sich wiederholen.« »Willkommen bei den Marines. Wieviele Karten?« »Zwei.« »Ich möchte wirklich nicht schlecht reden von den Toten, aber der Junge, den Sie über den Jordan geschickt haben, war das größte Arschloch aller Zeiten. Sie sind ein sehr beliebter Mann auf diesem Schiff. Kleiner Mann, wieviele Karten?« »Eine, bitte.« »Wissen Sie, es nimmt mich doch sehr wunder, wie Sie Ihren neuen Piloten behandeln. Mich einzusperren. Wenn auf diese Art das Geheimnis gewahrt bleiben soll…« »Ich weiß nichts davon.« »Der Zeitplan für diesen Flug war schon vor einem Monat ins Netz gestellt worden. Wenn Sie vielleicht dem Leutnant sagen würden…« »Bhari. Ein toller Mann.« »… daß ich nicht vorhabe, mit jemandem darüber zu reden. Und selbst wenn ich es täte…« Ein Flimmern füllte den Eingang aus. Auf der Suche nach Anzeichen für einen Wahrnehmungs-Kollaps schaute ich auf meine Kameraden. Keine Reaktion. Der Feldwebel tauschte zwei Karten aus und studierte das Ergebnis. »Kostet Sie noch zehn, um mitzuhalten. Kein Limit. Der Klabautermann sagt, wir wollten die
Nomaden vernichten. Um es dann den Galaktischen in die Schuhe zu schieben.« Der Feldwebel und Rogacev blieben im Spiel. Ich paßte. Sie beäugten sich gegenseitig. Ich glaube, Rogacev gefiel ihr. Wieder erschien dieses Flimmern in der Tür. Eine mit blutigen Verbänden umwickelte Gestalt kam herein, ging durch den Feldwebel hindurch und landete auf ihrem Schoß. Eine Flüssigkeit tröpfelte auf den Boden und sammelte sich in einer Lache. Sie sah aber nicht aus wie Blut. »Ihr Einsatz, Mr. Rogacev«, sagte der Feldwebel. Rogacev starrte sie mit geweiteten Augen an. »Ich…« Sie schaute auf den Schoß. »Oh, Scheiße. Der Schild wird wieder hochgefahren.« Sie sah in die Runde. »Tut mir leid. Das ist mein Stammgast. Er begleitet mich überallhin.« Rogacev hustete stark, als ob er Luft durch die Zähne gepreßt hätte. »Das da ist aber nicht fest.« Sie runzelt die Stirn. »Nein, meiner tut das nicht, der Monade sei Dank. Aber Sie als Pilot müssen sich vorsehen.« »Das gehört Ihnen, sagen Sie?« »Sehen Sie, ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Hat man sie einmal erwähnt, hängen sie an einem wie eine Klette. Entspannen Sie sich einfach und versuchen Sie nicht an ihn zu denken. Sind Sie noch dabei, Mr. Rogacev?« Rogacev rutschte an der Wand herunter und seufzte. Dann ging sein Blick ruckartig zum Feldwebel. »Ich passe.« »Also mein Topf.« Der Feldwebel drückte die S-Taste, und der Inhalt von Rogacevs Datenport-Monitor wurde gelöscht. Sie mischte die Karten. Mister Existenz und Needle brachen knirschend und gischtend durch die Wände und bezogen im nun über-
füllten Raum Position. Needle lehnte sich an die Wand, an der auch der Feldwebel saß; ein Bein hatte er eingezogen und um das andere geschlungen. Mister E. stand neben Rogacev und kiebitzte. »Sie hätten sich zurückhalten sollen, Mr. Rogacev.« Der Feldwebel schüttelte den Kopf. »Weshalb haben Sie nicht gewartet, bis Sie verdrahtet waren?« Ich hob die Hand. »Ich glaube, dieses Spiel gehört mir.« Der Feldwebel wirkte etwas irritiert, doch sie teilte die Karten aus. Der blutige Körper auf des Feldwebels Schoß schwoll an, und sie mußte sich verrenken, um mir über ihn hinweg die Karten zu geben. Wir studierten das Blatt. Der blutige Rücken wies nun die Form einer Halbkugel auf. Es ertönte ein quäkendes Geräusch. »Deckung!« rief der Feldwebel. Wir taten wie geheißen. Es gab zwar eine Explosion, aber keine Druckwelle. Fleisch- und Verbandsfetzen flogen mir um die Ohren. Die Kammer verdunkelte sich. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte, waren wir von Schwärze umgeben. Unter uns schimmerten Lichter in einer Ebene, die mit feinen Gitterlinien überzogen war und die sich in alle Richtungen zu erstrecken schien. Ich tippte zweimal an die Stelle, wo die Nase hätte sein sollen. »Tschuldigung, Kameraden. Ich glaube, das gehört auch mir.«
7 Augustines Tagebuch Erwachen. Ich liege auf einer Pritsche. Mister Existenz und Needle führen ein Gespräch. Mister Existenz sagt, daß in mittleren Jahren, wo er eigentlich den Zenit der Leistungsfähigkeit erreicht haben müßte,
das Leben eine traurige und leere Farce sei. Needle erinnert ihn daran, daß er seit jeher einsam gewesen sei, doch gibt Mister E. zu bedenken, daß seine Einsamkeit damals mehr Würde gehabt hätte. Needle richtet sich zu voller Größe auf, wobei seine Silhouette sich vor einer Glaskanzel abzeichnet. Was stimmt nicht mit diesem Bild? Fragt er. Es hat wirklich eine seltsame Anmutung. Ich denke nach. Wenn man lange genug hinsieht, stellt man manchmal fest, daß der Mann mit der Tweed-Jacke einen Papagei auf dem Regenschirm sitzen hat. Etwa einen Meter entfernt bietet sich ein Anblick, für den Cowboy Bob sonstwas geben würde: Ardath hat einen Cyberhelm auf dem Kopf und suhlt sich im aquamarinfarbenen Glühen eines Bildschirms, wobei er erregt mit der Maus hin- und herfährt. Auf der anderen Seite der Glaswand hinter seiner Konsole starrt eine Frau in Marineuniform auf einen identischen Bildschirm; unverständliche Grafiken huschen vorbei wie Fischschwärme. Und dann sehe ich durch die Glaskanzel über Ardath meinen Papagei: Die wirbelnde blauweiße Erdkugel, die durch eine helle Linie in eine dunkelblaue und schwarze Hälfte mit blauen Schlieren geteilt wird. Jenseits der Schlieren ist majestätische Schwärze. Ich setze mich auf. Die uniformierte Frau deutet auf mich. Ardath nimmt den Helm ab und lächelt. »Guten Morgen, Ms. Augustine. Wie fühlen Sie sich?« Seine Fürsorge ist geschäftsmäßig, wie die hilfreichen Adjutanten in seinem Gleiter. Unsicher stehe ich auf und halte mich mit einer Hand an der Pritsche fest. Ardath eilt mir mit ausgestreckten Armen zu Hilfe. Mit einem Achselzucken weise ich ihn ab. Ich räuspere mich und deute auf die Glaskanzel. »Wo sind wir?« »An Bord der Achilles, in einer Höhe von dreihundert Ki-
lometern.« Ich setze mich wieder. Plötzlich fühle ich mich sehr beengt in der Leitzentrale. Die Vorstellung, im All zu schweben, behagt mir gar nicht. »Ich entschuldige mich für die stümperhafte Benutzung des Webs.« Er sieht, daß ich aus der Kanzel blicke und tritt zur Seite, um mir einen besseren Ausblick zu ermöglichen. »Ich hatte sie hierherbringen lassen, weil ich nicht wollte, daß Sie beim Aufwachen allein sind. Es gibt nämlich ein paar Dinge an diesem Raumschiff, die… desorientierend sind.« Die Wand flimmert, und eine Frau mit langem silbernen Haar geht hindurch, wobei sie sich herzhaft auf die Lederhose schlägt. Ardath wendet sich ab, bevor sie auch ihn durchdringt. »Sie haben natürlich schon von den Erscheinungen gehört.« Ich erinnere mich trübe, ein paar Gespenstergeschichten über die Achilles gehört zu haben, von Phantasmen, die durch die Korridore des Schiffs schlichen und von ein paar hysterischen Besatzungsmitgliedern. »Es ist ein ganz natürliches Phänomen. Interfacer, die an derselben Simulation arbeiten, berichten oft von Interferenzen mit den Interpretationen der anderen. Hier handelt es sich um die gleiche Erscheinung, nur daß sie durch viel stärkere Rezeptorfelder und weitaus komplexere Simulationen verstärkt werden. Wir üben eine kollektive Wirkung auf die Rezeptorfelder aus. Und die Rückkopplung hat wiederum kollektive Auswirkungen auf uns. Sie sehen das Ergebnis.« Er winkt in Richtung der silberhaarigen Frau, die nun in der anderen Wand verschwindet. »Fühlt das künstliche Schwerefeld sich gut an?« fragt Ardath mich. »Äh… Ich glaube schon.« Ich schaue mich skeptisch um. »Ich weiß. Man verschwendet keinen Gedanken daran,
bis man erfährt, daß es künstlich ist. Und dann bekommt man plötzlich ein Zipperlein.« Ardath zuckt die Achseln. »Versuchen Sie, auf dem Rücken zu schlafen. Leutnant Bhari!« Ein Mann in der schwarzen Uniform des Ministeriums für Personen tritt vor. »Euer Gnaden.« Er trägt eine kleine schwarze Tasche. »Würden Sie Ms. Augustine bitte zu ihrer Unterkunft geleiten?« »Ja, Euer Gnaden.« Ich erhebe mich unsicher von der Pritsche. Leutnant Bhari führt mich durch eine Reihe verwinkelter Korridore zu einer Nische, in der ich gerade noch aufrecht zu stehen vermag. Ich beuge mich über ein glänzendes Metallgeländer – das offensichtlich nachträglich montiert wurde – und schaue in einen tiefen Schacht hinunter. Eine warme Brise weht mir das Haar gegen das Kinn. Es ist nur natürlich, daß ich die Gelegenheit nutze und Leutnant Bhari verstohlen mustere. Er ist ein stattlicher Mann Anfang Dreißig mit einer sehr beeindruckenden Duell-Narbe. Sie endet direkt über der Oberlippe und verleiht seinem Lächeln einen Hauch von Aggressivität. »Wir glauben, die Galaktischen sind Avianer«, sagt er. »Was?« »Vögel. Weil die Belüftungssysteme gleichzeitig die Verbindung zwischen den Ebenen des Schiffs herstellen.« Nun wird es mir es erst richtig bewußt: Wir bewegen uns in einem Schiff, das von den Galaktischen erbaut wurde. Ich schaue nach unten: Etwa fünf Ebenen tiefer befindet sich eine gleichartige Nische. »Vögel«, sage ich. »Oder Engel.« »Manche Leute glauben, unsere Engel-Mythen gingen auf einen frühen Besuch der Galaktischen zurück. Das ist eine kühne Schlußfolgerung angesichts eines bloßen Luftschachts in einem Schiff, von dem wir nicht einmal
wissen, ob es überhaupt Lebewesen beförderte.« Er beugt sich vor, wobei er sich an einem Griff in der gekrümmten Wand der Nische festzuhalten versucht und bringt dann ein Stück gewelltes Metall zum Vorschein. »Jedenfalls mußten wir den Kahn etwas umbauen.« Er tritt zurück und gibt den Blick auf ein spiralförmiges Treppenhaus frei, das sich durch Löcher schraubt, die in die unter uns liegenden Decks gefräst wurden. Mein Raum ist ein knapp drei Meter langer Ovoid mit drei Dellen in der Decke und einer tiefen Nut, die wellenförmig an der Wand entlang verläuft. Auf den ersten Blick ist er kaum als Raum zu identifizieren: Er wirkt eher wie eine Miniatur-Kathedrale für Aliens oder ein sich bauschender Vorhang. Die einzigen ebenen Flächen sind menschliche Anbauteile, einschließlich eines Kunstfaser-Teppichbodens, einer Liege und eines Klapptischs. Auf dem Tisch steht ein kleiner Monitor. Der Leutnant stellt die kleine schwarze Tasche ab. »Das sind Ihre Sachen. Sie wurden aus Ihrem Zimmer im Arsenal geholt.« Ich nicke, und er wendet sich zum Gehen. »Leutnant?« Er dreht sich um. »Was soll ich nun tun?« »Das steht in Ihrem Ermessen, Ms. Augustine.« Damit hätte ich – was auch immer davon zu halten ist – auch schon den Titel für den heutigen Tagebucheintrag: Augustine wünscht sich Gesellschaft. Vielleicht schlägt die Therapie an. Ich mustere den Mann von Kopf bis Fuß. Eine Frohnatur ist er nicht gerade. Die Bitte an den Leutnant, mich zum Aufenthaltsraum der Besatzung zu bringen, scheint ihn nicht zu überraschen. Vielleicht ist es das, was er von einem Tekkie erwartet, sich eine Elektronenvolt-Dröhnung zu geben. Er führt mich durch einen neuen Korridor. Wir er-
klimmen eine weitere Treppe. Die Schiffsarena ist eine kleine, düstere Kammer, die mit Ausrüstung zugestellt ist. Vier Wände laufen in der Art einer gotischen Gruft über uns zusammen. Vor einer Bank mit Monitoren steht eine große schwarze Frau. Sie muß sich bücken, um nicht mit dem Kopf gegen die gekrümmte Wand zu stoßen. Sie trägt ein gelbes Kostüm mit einem so hohen Kragen, wie ich ihn bei Leibniz nie gesehen hatte. Eine Augenbraue hängt an einer Hautfalte – wie bei Whitebread, nur daß diese aus Gagat ist. Der Ring in der Nase besteht aus einem milchigen Stein. Hinter ihr sind drei Liegestühle kreisförmig um einen vierten angeordnet. Sie sind alle besetzt. Die Person, die auf den Stuhl in der Mitte geschnallt ist, ist Rogacev. Ich freue mich, ihn zu sehen. Wie immer fällt seine Reaktion auf mich verhalten aus. Er befindet sich tief in einem veränderten Bewußtseinszustand. Die Stühle um ihn herum sind von den drei Träumern von der AIA belegt: Der Junge Sizzle, der schwarze Zwei-Meter-Mann und die Frau mit dem silbernen Irokesenkamm. Die seltsamen schwarzen Netze, die ich schon im AIATrainingsbereich gesehen hatte, gehören auch hier zur Ausstattung. Über Rogacev ist ein Kasten in die kegelförmige Spitze einer kleinen Kammer gerammt. Der Kabelbaum, der aus der Unterseite ragt, verzweigt sich zu Dutzenden fingerdicker Kabel. Manche münden in Wartungsluken in Rogacevs Beschlagteilen, und andere dringen ins Fleisch ein, wobei die Ränder mit Heftpflaster abgeklebt sind. Ein paar Schnitte sind jedoch so groß, daß die Pflaster sie nicht ganz abdecken. Der Leutnant spricht mit der schwarzen Frau, die an einer Konsole zu seiner Rechten steht. »Das ist Augustine, Liliana.«
Die schwarze Frau umwickelt ihren Finger eifrig mit Heftpflaster. »Ich fühle mich sehr geehrt, Ihnen zu begegnen, Ms. Augustine. Ihre Arbeit war überaus wichtig für uns.« »Meine Arbeit?« »Vor Ihrer Sitzung unter dem Schild tasteten wir uns ans Web heran. Nun haben wir eine Theorie.« Sie weist auf den Kasten, aus dem das schwarze Geflecht herausquillt. »Diese Konsole kontrolliert die größte und schnellste Simulation.« Ich lasse mir meine Besorgnis nicht anmerken. Megabytes sensorischer Information werden normalerweise nicht mit ein paar Drehreglern und einem simplen grafischen Display ›kontrolliert‹. Gemeinhin ist ein komplexes Programm dafür zuständig. Sie fummelt an der Konsole herum. Krähenfüße sprießen in der Ecke von Rogacevs linkem Auge. Die linke Wange bläht sich auf. »Das ist die Piloten-Simulation«, sagt sie. »Das Prinzip ist das gleiche wie beim Nervestick, nur mit erweiterten Steuerungsmöglichkeiten: Die Kapazität, Quellsignale zu variieren und zu modulieren und eine Feinabstimmung bis hinunter zum einzelnen Neuron vorzunehmen. Sind Sie mit der Konfiguration der Flugführung des Schiffs vertraut?« »Nicht besonders«, gestehe ich. »Es ist ein Team-Konzept. Wir haben Wings« – die Frau – , »Astrogation« – den Mann – »und SYZYGY« – Sizzle. »Vier unabhängige Prozesse müssen kooperieren und Ressourcen teilen. Obwohl diese Leute ein neues Team sind, entwickelt die Sache sich bestens.« Bei Rogacevs Anblick vermag ich mir die Frage nicht zu verkneifen: »Ist das schmerzhaft?« »Schmerzhaft? Ich glaube schon. Doch Schmerz ist nur das Medium. Der Einsatz vom gesamten Spektrum des peripheren Nervensystems, wie es bei konventionellen
Datenhäuten geschieht, ist zu riskant. Schmerz verkleinert zwar den Signal-Raum, doch selbst ein Neuling in dieser speziellen Konfiguration liefert uns riesige Informationsmengen und vermag von uns mit FeindatenInstruktionen gefüttert zu werden.« Lilianas Engagement für ihre Arbeit ist bewundernswert. Nun, man muß es zumindest zur Kenntnis nehmen. Ich gehe einen Schritt auf Rogacev zu. »Was meinen Sie denn mit Feindaten-Instruktionen?« »Eine interessante Frage. Partizipatorische Systeme wie dieses geben dem Interfacer ein Interface an die Hand. Sie sind die Zukunft. Genauer gesagt, versetzen sie uns in die Lage, den Interfacer auf beliebige Detailgenauigkeit zu programmieren.« »Und all das wurde möglich durch eine Sitzung mit mir?« »Die grundlegenden Prinzipien waren uns seit einiger Zeit bekannt, doch die Größenordnung, die Präzision, die Integration mit der Galaktischen Hardware – ja, Ihr Beitrag war unschätzbar.« Kaum in dieser neuen Existenz, und schon dieses Elend verbrochen. Ich schüttle den Kopf. »Vor einer Weile hat Chef-Semantiker Ardath mir die Funktionsweise des Web demonstriert, und zwar ohne diesen…« – ich zeige auf das schwarze Kabelgewirr über Rogacev – »Apparillo.« Sie nickt. »Ja, natürlich. Sie sind auch ein spezieller Fall.« »Natürlich.« Ich wende mich an Bhari. »Wäre es möglich, daß ich in meine Unterkunft zurückkehre?« Mich überkommt plötzlich bleierne Müdigkeit.
8 Das Diebes-Tagebuch … es gibt keinen Zweifel, daß das Bewußtsein durch den Tod ausgelöscht wird – wie durch den Schlaf oder eine beliebige Form der Ohnmacht. Doch verzaget nicht! Denn um was für eine Art von Bewußtsein handelt es sich überhaupt? Ein zerebrales, ein animalisches, ein mühsam gezähmtes bestialisches Bewußtsein, dessen grundlegende Merkmale wir mit der Tierwelt gemeinsam haben. Schopenhauer
Das Sein ist ein uraltes Problem und verkörpert die Suche nach Beständigkeit in einer Welt des steten Wandels, nach einem Etwas, das man als das Konstitutive Ich bezeichnen könnte. Es geht um die Frage, was Bestand hat oder wer Bestand hat, auch wenn scheinbar nichts Bestand hat auf dieser Welt. Ich möchte ein Beispiel nennen. Mein linker Arm hing an einem horizontalen Draht, der über die gesamte Länge von Lilianas Werkbank gespannt war. Mein rechter Arm war in einen Schraubstock eingespannt. Mein Torso lag auf dem Boden unter der Bank – nicht etwa aus Nachlässigkeit, sondern Liliana hatte ihn bewußt dorthin gelegt; weil sie wohl vermeiden wollte, daß er herunterfiel. Mein winziger Kopf lag auf einem Tisch in der Nähe, und die emsige Liliana hatte sich darübergebeugt und folgte dem Verlauf der Zwillingsdrähte zu meinen InfrarotScannern. Sie glaubte zwar, sie hätte diese Sensoren von meinen Transmittern getrennt, hatte aber einen Leitkristall nicht als solchen erkannt – was verständlich war – und erzeugte bei der Arbeit nun ein regelrechtes Feuerwerk. Sie erschien als starrer Schemen inmitten der sprühenden Funken. Eine Beschädigung der propriozeptiven Transmitter in meinem Torso war gewiß
nicht beabsichtigt gewesen, doch durch eine minimale Zinkverunreinigung der Mikrosonde war mein Körper nun zu einem kinästhetischen Zerrbild angeschwollen. Ich hatte den ebenso unbestimmten wie fragwürdigen Eindruck, daß mein linkes Bein auf einem handgeknüpften Teppich lag. Interessanterweise war der linke Arm, den sie für defekt hielt, voll funktionsfähig und strahlte gepulste Eindrücke ab, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellten. Faust öffnen. Faust ballen. Weil der Akku aber zu den ersten Komponenten gehört hatte, die ausgefallen waren, war es höchst unwahrscheinlich, daß die Hand sich wirklich bewegte. Traurigkeit. Eine Traurigkeit, die ich unter dem Glas nie gekannt hatte. Ich verlagerte meine Aufmerksamkeit von Liliana weg und konzentrierte mich auf eine andere Frage. Wo genau war dieses Bewußtsein, das ich nun manifestierte? Wo war ›ich‹? Was war ›ich‹? Und was würde ich werden, falls Liliana weiter meine Hardware malträtierte? Seltsam, wie die Integration die Perspektive veränderte. Fichte hatte ein berühmtes Argument gegen ein körperloses Ego vorgebracht. Die Quintessenz war: Wovon wäre es das Ego? Was wäre seine Perspektive? Sein auraler und taktiler Raum? Wenn man die Erfahrung abzöge, was wäre dann noch übrig? Erinnerungen? Bloße abstrakte Gedanken? Erzeugt wovon? Ein Ego war ein Zentrum, das sich durch Grenzen definierte. Allerdings verkennt Fichte die Existenzbedingung für KIs, nämlich einen Prozeß mit multiplen Zentren des Bewußtseins. Ich erkannte nun, daß der Fall, den er beschrieben hatte, nur ein Sonderfall dieses Prozesses war. Ich hielt den Zeitpunkt für gekommen, eine paar PortDiagnosen zu erstellen. Ports waren nämlich Grenzen, die für Eingabe und Ausgabe durchlässig waren. Die Ergebnisse waren recht interessant. Ein paar Ports
erwiesen sich als betriebsbereit. Es schien also nichts dagegen zu sprechen, zu senden und zu empfangen. Auch wenn ich vielleicht nur ein im Blau schwebender abstrakter Punkt war, hatte ich immer noch genug Saft. Es drehte sich langsam, zwecks einer saftigen Kameraeinstellung. Ich räusperte mich. Liliana machte einen Satz, als ob sie von der Tarantel gestochen worden wäre. Guter Moment. Sehr gut. Ich würde das in einer Datei mit dem Namen LILIANA.EXP abspeichern. Und sie immer wieder in Zeitlupe abspielen. »Hallo, Liliana.« Liliana schaute nach links. Schaute nach rechts. Schaute unter die Werkbank. »Ja, ich bin’s. Das Kroppzeug, an dem du arbeitest. Könnte dich direkt in Versuchung führen, deine Haltung zum Körper-Geist-Problem zu überdenken, was?« Liliana hatte sich wieder in der Gewalt und scannte mit größter Sorgfalt die Decke. Ich muß gestehen, daß Liliana nach der Panikreaktion die Fassung schnell zurückerlangte. Beinhart, unsere Liliana. Ganz der ›es-gibt-eine-rationale-Erklärung-undwenn-ich-ruhig-bleibe-finde-ich-sie-auch‹- Typ. Ich bin nämlich der gleiche Typ. Nur daß es zunächst den Anschein hatte, als ob wir ›rational‹ neu definieren müßten. Während ich mich noch an diesem Gedanken labte, stürzten die Myriaden mysteriöser Prozesse um mich herum ab.
9 Augustines Tagebuch Leutnant Bhari bleibt am Eingang zu einer weitläufigen Galerie stehen und bedeutet mir, einzutreten.
Ich betrete eine zwielichtige hangarartige Halle mit schwitzenden Männern. Ein gutes Dutzend Marines in Pullundern und Shorts stecken in komplizierten Trainings-Geräten und ziehen mit rhythmischem Klirren die Übungen durch. Am anderen Ende sehe ich einen Lichtkegel und einen rechteckigen Metallrahmen. Bhari lotst mich dorthin, wobei wir im Zickzackkurs zwischen den Maschinen hindurchgehen. Am Deckenträger baumeln zwei Ledergurte mit Ringen, an denen ein Mann hängt und hin- und herpendelt, um Schwung zu holen. Die Beine schwingen hoch, verharren in der Horizontalen und werden dann über den Kopf und an den Armen vorbeigeführt, gefolgt vom Rumpf. Ohne Anstrengung kehrt er den Vorgang um und zieht die Beine an den Armen vorbei. Als sie im rechten Winkel zum Körper stehen, pausiert er für eine Weile und senkt sie dann langsam in die Vertikale. Ein Takt. Er sammelt Kraft für irgend etwas. Er breitet die Arme aus und stemmt sich zwischen den Ringen hoch, bis die Arme waagrecht sind. Eisernes Kreuz. Eins-EinsTausend. Zwei-Eins-Tausend. Ich gehe näher heran. Der Mann ist Ardath. Drei-Eins-Tausend und entspannen. Er läßt sich langsam herab. Die Schultern zittern, und er beißt vor Schmerz die Zähne zusammen, doch der Blick ist ruhig. Er läßt sich auf den Boden fallen. »Ms. Augustine.« Schnappt sich ein Handtuch von der Matte und gestattet sich einen tiefen Atemzug. »Ich freue mich, Sie zu sehen.« Noch ein Atemzug. »Sie haben die Begabung, Dinge geschehen zu lassen.« »Leutnant Bhari sagte, es hätte ein paar Systemabstürze gegeben.« »Verursacht durch die Ankunft der KI Quincunx an Bord dieses Schiffs.« Er legt eine Kunstpause ein. »Das ist Ihr Quincunx. Dessen Präsenz unerwartet und nicht autorisiert ist und eine Verletzung unserer KI-
Ressourcen-Allokations-Statuten darstellt.« Mein Blick ist wohl unschuldig genug, um ihn milde zu stimmen. »Ihre KI hat mit den Programmen und Steuergeräten interferiert, die dieses Schiff fliegen. Das betrifft auch die von der Besatzung genutzten Simulationen. Vor etwa einer halben Stunde wurden alle vier Steuer-Simulationen gleichzeitig abgebrochen.« Ich starre ihn an. »Und die Besatzung…« »…ist wundersamerweise unversehrt. Allerdings sind die Leute fürs erste arbeitsunfähig. Solange sind alle Führungssysteme heruntergefahren; und zwar nicht nur diejenigen, welche den Schild kontrollieren, sondern auch die Regelsysteme für unseren eigenen Miller-Kristall. Sie wissen, was das bedeutet?« »Nein, Euer Gnaden.« »Das bedeutet, daß wir in diesem Moment nicht wissen, ob wir fallen.« Bhari saugt mit einem pfeifenden Geräusch Luft an. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Leutnant«, sagt Ardath trocken. »Wir werden von anderen Schiffen in diesem Raumsektor überwacht. Im Notfall wird eine Rettungsmission eingeleitet. Ich muß Ihnen aber nicht sagen, welch eine Katastrophe der Verlust dieses Schiffs wäre.« Seine mystischen Augen sind nun nicht mehr umwölkt, sondern haben aus hinreichend bekannten Gründen den modernen glasigen Touch. »Ich habe Ihrem Forschungs-Team und dem Sicherheitspersonal gesagt, daß ich zuerst mit Ihnen sprechen würde, bevor wir Maßnahmen ergreifen. Die Quintessenz einer vor zwanzig Minuten hastig anberaumten Besprechung ist, daß wir beschlossen haben, alle Prozesse auf diesem Schiff abzubrechen. Und sie anschließend wieder hochzufahren. Was sagen Sie dazu?« Was die Übung an den Ringen nicht bewirkt hatte, wird nun durch das Thema dieses Gesprächs verursacht: Er
ist außer Atem. Ungeduldig schlägt er sich auf den Schenkel. Der leicht zimtartige Geruch seines Schweißes steigt mir in die Nase. »Euer Gnaden, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll; außer, daß Sie anscheinend wenig Erfahrung mit dem Schild haben.« »Die KI ist nur ein paar Stunden vor Ihnen an Bord gekommen, Ms. Augustine. Meinen Sie nicht auch, daß das ein seltsamer Zufall ist?« Ich senke den Blick und sehe seine schlanken Fesseln. »Das war alles, Leutnant.« Bharis Blick huscht zwischen uns hin und her. Dann macht er kehrt und ist verschwunden. Ardath schaut mich ruhig an. »Ihre Verbindung zu dieser KI ist nicht allgemein bekannt, und ich finde, wir sollten es auch nicht an die große Glocke hängen. Ich möchte Ihnen eine direkte Frage stellen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Ihrer Anwesenheit und der Ihrer KI auf diesem Schiff?« Über Ardaths Kopf erscheint eine glühende Aureole. Das Glühen wird zu einem hellen Schein, und aus dem Licht formt sich das Bild eines goldenen Roboters, der an zwei goldenen Ringen baumelt. Ihr goldener Roboter, so bezeichnet Ardath ihn. Seine Hände schließen sich um die Ringe, und dann drückt er sie auseinander, bis die Arme waagrecht sind. Eisernes Kreuz. Massiv. Seine Hülle hat eine weiche, flockige Oberfläche, sieht aus wie eine Art goldener Schnee. »Aha. So ist das.« Ardath folgt meiner Blickrichtung. »Ich muß Ihnen wohl nicht sagen, wie derartige Effekte sich auf die Moral auswirken…« Der Roboter läßt einen Ring los und streckt mir die Hand entgegen, wobei die Handfläche nach oben weist. Die Finger krümmen sich zweimal und winken. Die Hand öffnet sich wieder. Nun läßt auch die andere Hand den Ring los und tippt zweimal auf die Handfläche. Das
Zeichen für Bezahlung. Du schuldest mir etwas. Was bildest du dir ein! Möchte ich ihn anschreien. Ardath schaut zu. »Er kommuniziert mit Ihnen!« Ich schüttle den Kopf und bedeute ihm zu schweigen. Der Roboter legt die Handflächen aufeinander und formt die Hände dann zu Schalen. Er dreht eine Hand und schnippt mit Daumen und Zeigefinger – das Zeichen für Neustart. Dann führt er besagten Zeigefinger an der Kehle vorbei. Ardath glaubt verstanden zu haben. »Er droht uns!« »Er sagt, ein Neustart würde ihn umbringen.« Die gewölbten Hände werden ausgestreckt. Ardath ist stumm und steif. »Ich weiß, daß Informations-Verlust eintreten wird«, sagt er schließlich. »Diese KI wird ihre Kontinuität verlieren«, sage ich leise. »Ihre KI ist ohnehin schon wegen Verletzung ihrer Programmierung zur Terminierung verurteilt worden«, sagt er. »Der Verlust ist zu verschmerzen.« Ich schaue ihn an. Die KI streckt flehentlich die Hände aus. »Sagen Sie Ihrer KI, sie soll die Systeme wiederherstellen.« Die KI kreuzt die Hände und legt sie auf den Bauch; dazu schüttelt sie den Kopf. »Das kann er nicht.« Wieder werden die gewölbten Hände ausgestreckt. Ich sehe, daß sie auf mich weisen. Dann werden die Handflächen aufeinandergelegt, wobei die Finger der einen Hand aufs Handgelenk der jeweils anderen zeigen – das Zeichen fürs Unterglas. Diese KI war die einzige, die mich über meine Identität aufgeklärt hat. Doch war sie auch derjenige, die mich überhaupt zu dem gemacht hatte, was ich war; dann wurde sie mein Wächter und zuletzt mein Programmierer. Wir müßten quitt sein, er und ich.
Doch irgendwie sind wir es nicht. »Ich hätte da einen Vorschlag.« Schweigen. »Euer Gnaden?« »Ja.« Ardath reißt sich vom Anblick der flehenden Hände des Robots los. »Ich würde vorschlagen, nichts zu tun.« »Nichts.« »Vorläufig. Fürs erste brauche ich eine Mütze voll Schlaf. Morgen früh, oder wie auch immer Sie es in dieser Stahlkiste nennen, sollten wir Ihren ursprünglichen Plan verwirklichen: Ich klinke mich ins Galaktische Hauptsystem ein. Nun habe ich eine klare Aufgabe. Lösen Sie die Sperre der Steuerprogramme und synchronisieren Sie sie mit dem aktuellen Status des Schiffs.« »Sie hatten die Bereitschaft, den Schild zu fliegen, doch an Bedingungen geknüpft.« »Das gilt noch immer, Euer Gnaden. Ich glaube, ich habe gute Aussichten, Ihr aktuelles Problem zu lösen. Nur daß es damit nicht getan sein wird. Später werden weitere Sitzungen nötig sein. Wenn Sie Alfred eine zweite Chance gäben und die KI verschonten, wäre das eine Geste des guten Willens, die ich nicht vergessen würde.« Hinter ihm zerfällt der goldene Roboter. »Ich verstehe Ihre Sympathie für Alfred und bewundere sie sogar. Doch daß Sie alles, was ich Ihnen anbiete, für diesen…« Eine fast unmerkliche Bewegung des Kopfs in die Richtung des Roboters. »Wenn Sie mir in dieser Sache entgegenkommen würden, Euer Gnaden.« Ardath läßt sich das durch den Kopf gehen. »Liegt es etwa daran, daß Sie sich für dieses Programm halten?« »Ich halte mich für gar nichts, Euer Gnaden.« Nur die Hände sind noch übrig. Die Fläche einer Hand
schlägt auf den Rücken der anderen und stößt sie nach oben. »Euer Gnaden, ich erkläre mich bereit, Ihre Forderung zu erfüllen.« Er runzelt die Stirn. »Unter der Voraussetzung, daß wir für Sie eine Simulation zum Laufen bringen.« »Ich brauche nur einen Prozeß. Falls Ihre Leute ihn mir bereitstellen, will ich es versuchen.« Nur noch die mir zugewandte Handfläche. »Und trotzdem haben Sie Einwände gegen einen Neustart? Sie hätten soviele Prozesse, wie Sie wollen. Wir könnten Überwachungsprogramme und Hintergrund-Simulationen laufen lassen…« Zwei Lippen aus Vlies erscheinen, klaffen auseinander und blähen sich zu einem sichelförmigen Mund auf. »Mein Angebot gilt, Euer Gnaden. Sie müssen sich nur noch entscheiden.« Goldene Schwaden verwirbeln sich und lösen sich auf. Ich mache auf dem Absatz kehrt und ziehe mich von seiner sprachlosen Präsenz zur unmelodischen Begleitung aus Grunzen und klirrenden Gewichten zurück. Es dauert eine Viertelstunde, bis ein rothaariger weiblicher Feldwebel der Marines, der mich zum Kartenspiel verleiten will, mir eine Whiskeyflasche beschafft, und noch einmal fünf Minuten, bis sie mir den Weg zu Rogacevs Kabine beschrieben hat. Eine Offizierskabine, erklärt sie, wie sie dem offiziellen Piloten der Achilles gebührt. Er reagiert erst nach dem zweiten Anklopfen. Ich höre, wie Rogacevs metallischer Torso gegen die Wand schlägt, und dann geht die Tür auf, und er streckt den Kopf heraus. Als er mich erkennt, zeigt er mir die spitzigen Zähne: Breites Grinsen. Etwas in seinem Kopf surrt. »Hallo.« Er mustert mich von Kopf bis Fuß. »Ich lebe im Zölibat.«
Mir liegen ein paar ätzende Sprüche auf der Zunge, doch statt dessen sage ich nur: »Morgen werde ich mich in den Hauptrechner einklinken.« Schweigend hält er mir die Tür auf.
KAPITEL 5
PROZESSTEILUNG 1 Das Diebes-Tagebuch Über einem Menschen steht die Notwendigkeit in Form seiner Leidenschaften, über einem anderen als die Gewohnheit des Zuhörens und Gehorchens, über einem dritten als logisches Denken, über einem vierten als Kapricen und diebische Freude an Eskapaden. Diese vier indes suchen die Freiheit des Willens gerade dort, wo der Zwang am größten ist: Als ob die Seidenraupe die Freiheit des Willens im Spinnen suchen würde. Wie ist das möglich? Offenkundig deshalb, weil jeder dort sich für frei hält, wo sein Lebensgefühl am intensivsten ist; also in Leidenschaft, in Pflichterfüllung, in Wissen, in Leichtlebigkeit. Das, woraus das Individuum Kraft schöpft und was es antreibt, gilt unvermeidlich als Element seiner Freiheit… Nietzsche
Ich wurde von einer Wahrnehmung aufgeschreckt, die ich seit Monaten nicht mehr gemacht hatte: Einem Kribbeln auf Augustines Haut. Beim Aufwachen schob sie etwas Eisiges vom Hintern. Mit dem Fußknöchel stieß sie gegen eine gekrümmte Verlängerung dieses Etwas. Sie hob den Kopf und schaute sich um. Ich spürte die Laken unter ihr, spürte den Nachhall ihrer verwirrten Gedanken… Sie lag auf der Seite, mit dem Gesicht zur Wand. Die Kabine hatte ein lustfeindliches Ambiente, zumindest nach menschlichen Maßstäben. Rogacev war hinter ihr. Er lag da wie ein Löffel mit eingerolltem Stiel. Es war etwas Platz zwischen ihnen, außer an der Stelle, wo er die Arme über der Brust gekreuzt hatte. Eine Hand, die aus Fleisch, steckte zwischen den Beinen; die andere, die Prothese mit den drei Zinken, lag teils auf dem Laken, teils auf ihrer rechten Pobacke. Das war also das kalte Ding; hätte sie die Matratze noch ein wenig tiefer eingedrückt, wäre es auch das spitze Ding gewesen. Sie streckte den Arm aus, hob es vorsichtig an und legte es weg. Eine Klaue streifte sein Bein; er schauderte und bewegte die Hand wieder auf sie zu. Ein paar sinnlose Silben quollen aus ihm hervor, und dann war er still. Wahrscheinlich Koseworte. Er war ein Süßholzraspler von hohen Graden. Koseworte in erstaunlicher Vielfalt kamen ihm über die Lippen. Und er kuschelte gern. Zuerst hatte sie davor zurückgescheut, doch dann hatte er die Laken so geschickt drapiert, daß ihre Haut und seine metallischen Teile immer durch Tuch getrennt waren. Nach einer Weile hatte sie trotzdem die Kälte durchs dünne Gewebe gespürt, und er hatte sich bedauernd zurückgezogen und das ›Niemandsland‹ geschaffen, das bis jetzt Bestand hatte. Wir waren wieder vereint, Augustine und ich, wobei wir
eine von vielen Anomalien auf diesem Schiff darstellten; vielleicht, so sagte ich mir, waren wir auch eins von vielen Phantasmen. Doch eine angenehmere Anomalie als die meisten anderen. Wie leicht es doch war, dort lautlos mit ihr zu schweben und zu schauen und zu denken und zu fühlen, wie ich es vor Monaten getan hatte. Ungesehen, ungehaßt, unbelästigt. Nun war Morgen. Was auch immer ›Morgen‹ auf diesem Schiff bedeutete. Auf jeden Fall bedeutete es Frühstück, das sie dringend brauchte. Sie rollte sich auf den Rücken, wobei sie sich Rogacevs Klaue vom Leibe hielt und setzte sich auf. Es gelang ihr, die Beine aus dem Bett zu schwingen, ohne ihn aufzuwecken. Er rollte sich sofort herum und nahm das Territorium in Besitz, das sie soeben geräumt hatte. Man konnte ihm kaum keinen Vorwurf machen. Sie reckte sich wohlig. Der Rücken fühlte sich an, als ob sie die Nacht auf einem Sack Münzen verbracht hätte. Sie schob Rogacevs organischen Arm weg, dessen Finger noch auf der Tastatur lagen und gab FRÜHSTÜCK ein. Als sie die Schiebetür öffnete, sah sie einen kleinen, mit roter Flüssigkeit gefüllten Plastikbeutel. Die Option KAFFEE stellte keine wesentliche Verbesserung dar. Sie versuchte, den braunen Schaum zu entfernen, wobei sie die Hälfte des Tasseninhalts verlor, der Schaum aber blieb. Schließlich nahm sie einen Schluck. Sie wischte sich den Schaum von der Oberlippe und schluckte lauwarmes Spülwasser. Nicht zum erstenmal fragte sie sich, ob der Nutzen einer informationsgestützten Wirtschaft die Kosten rechtfertigte. Die Gedanken schweiften zur letzten Nacht ab. Hatten sie wirklich? Ja, sie hatten. Obwohl es für eine Weile nicht danach ausgesehen hatte. Zum einen mußte er voll gewesen sein wie eine Strandhaubitze. Dann wurde es geradezu bizarr. Das Gefummel mit dem Arm. Zuerst
hatte sie es rundweg abgelehnt. Er hatte ihr versichert, das sei ein ganz normaler Vorgang. Sie hatte ihn gefragt, wieso das ein normaler Vorgang sei, wo die Angehörigen des Kults der Weißen Orchidee doch im Zölibat lebten. Er hatte ihr den Hintern getätschelt und gesagt, sie sei noch zu jung, um das zu verstehen. Also hieß die Parole: ›Arm ab und laß jucken, Kumpel‹. Sie hatte nicht gewußt, ob sie sich in Grund und Boden schämen oder sich totlachen sollte. Wo hatte er das verdammte Ding überhaupt her? Offensichtlich eine Sonderanfertigung. Und von guter Qualität. Obwohl es mit der Zeit etwas monoton wurde. Und Rogacev war mit Elan bei der Sache, betrachtete sie mit diesem verzückten Ausdruck und keuchte mit geschürzten Lippen, so daß die Zahnreihen glitzerten. Wie ein Hund, der an seiner Lieblingsstelle gekrault wird. Doch das Nachspiel. Die Sache mit der Sünde. Das war das Schlimmste. Ich habe gesündigt, ich habe gesündigt. Rogacev flehte sie an, ihn mit Schlägen zu läutern. Und Augustine fragte sich mit dem Kopf in der Hand, wieso passiert ausgerechnet mir immer so ein Scheiß? Schlage mich, ich habe gesündigt. Ich will es so, das ist der Grund. Ich klopfe an die Tür eines geilen Mönchs und frage, würdest du bitte deinen irren Scheiß-Tanz für mich aufführen? Schlag mich, schlag mich. Schließlich war sie so wütend geworden, daß sie ihn für fünf Minuten vertrimmt hatte. Galaktische Schiffe waren so gut schallisoliert wie der Nomaden-Basar. Der Insasse der Kabine zwei Türen weiter hatte gegen die Wand geschlagen. Rogacev hatte nur gelacht. Er war wieder betrunken. Er gab ihr Kosenamen. Zweite Runde. Wenn dir wieder mal jemand erzählt, er würde im Zölibat leben, dann Finger weg. Eine einfache, vom gesunden Menschenverstand diktierte Regel ohne Schlupflöcher und Ausnahmen. Vielleicht hatte sie es
schon einmal gelernt und wieder vergessen. Sie hoffte bei Gott, daß dem nicht so war. Sie hoffte, daß sie das nicht zweimal hatte lernen müssen. Was hatte sie hier überhaupt verloren? Sie schaute auf den erschlafften Rogacev; er hatte den Kopf zurückgeworfen und den organischen Arm über die Augen gelegt. Nein, das konnte nicht sein. Sie betrachtete sich selbst. Nein, so war es auch nicht. Sie mochte ihn. Sie hatte Lust auf ihn und seine verschiedenen Augen und sein obszönes Tattoo und sogar seine Beschlagteile, doch mehr nicht. Und noch etwas anderes, noch ein Erinnerungs-Brocken, der aus dieser Höhle in ihrem Kopf gerollt war: Rogacev war ein Paradebeispiel für die Sorte kräftiger, kerniger Männer, auf die sie immer schon gestanden hatte. Ob es sich nun um eine vom Q-Print induzierte Hysterie oder den wirren Traum eines Erinnerungen strickenden Computers handelte oder aber um ein archäologisches Relikt von Alexa selbst – dies war ein so gegenständliches und grundlegendes Faktum, wie sie ihn sich immer gewünscht hatte. So sollten sie sein: Wenig Fett, feste Muskeln, und sie mußten die rebellische Aura eines Soldaten haben, der sich nach langem Kampfeinsatz nicht mehr zurechtfand im Zivilleben. Er setzte sich auf. Kein Nuscheln, keine ruckartigen Bewegungen, keine lange Aufwachphase. Ein Schalter war umgelegt worden. Er lächelte sie an. Sie erwiderte das Lächeln. »Kaffee?« Er nickte, und dann drehte er sich mit dem Gesicht zur Wand, drückte das Kreuz durch und nahm die Lotusstellung ein. Für die nächsten zwanzig Minuten meditierte er und unterbrach die Konzentration nur, um einen gelegentlichen Schluck aus der Tasse zu nehmen, die Augustine neben ihn gestellt hatte.
Augustine widmete sich derweil ihrem Kaffee und war ganz froh, daß er sie nicht beachtete. Kurz vor dem Abschluß der Übung zuckten seine Ohren, und die drei Klauen wurden langsam eingezogen. Dann stützte er sich mit beiden Händen ab und drehte sich geschmeidig zu ihr um, ohne die Beine auseinanderzunehmen. »Buddha lächelt.« »Tut er das nicht immer?« Rogacev zuckte die Achseln. »Zumindest dieser Buddha tut es. Die anderen kenne ich nicht.« Er trank Kaffee. »Wußtest du schon, daß wir morgens meditieren sollen?« Das schien ihm wichtig zu sein. »Was?« »Früher glaubten manche Menschen an Reinkarnation. Ein Bewußtsein mit tausend Körpern, die im Lauf der Zeit die Welt bevölkerten. Dieser Glaube entspricht dem Glauben an eine Einheit des Geistes, einen vollkommenen Gottgeist, in dem alle Seelen wiedervereinigt werden.« Rogacev hob die fleischliche Hand und brachte Daumen und Mittelfinger zusammen. »Andererseits glauben wir an die Zersplitterung des Bewußtseins, an die Existenz von tausend Bewußtseinen in einem einzigen Körper. Ich hatte gerade versucht, meine Splitter zusammenzufügen und diese anderen Bewußtseine ›auf frischer Tat zu ertappen‹.« »Und hat es geklappt?« »Heute morgen ist das Gefäß nicht sauber. Ich befinde mich im Einklang mit mir.« »Es tut mir leid.« »Dieser Kontrast ist nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Fragmentierung. Danke, daß du mich in Versuchung geführt hast.« »Heute nacht hast du aber etwas anderes gesagt.« »Beständigkeit« – er breitet die Hände aus – »ist nur ein Ausdruck unzureichender Zersplitterung.«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Wenn deine mystischen Meister dir den Verzehr von pflanzlicher Substanz verbieten und du sie doch ißt und dich dann schuldig fühlst, verstehe ich das. Und wenn sie dir verbieten, dich zu verdrahten und du Pilot dieses obszön aussehenden Webdings in der Leitzentrale wirst und dich schuldig fühlst, verstehe ich das auch. Und wenn sie dir den Zölibat auferlegen und du massiv dagegen verstößt, dann plagt dich zu Recht das Gewissen. Bevor du wieder einmal jemanden auf diese Exorzismus-Tour schickst wie heute nacht, dann solltest du dich, verdammt noch mal, vergewissern, daß es ein grundlegendes Merkmal der Fragmentation ist. Hast du verstanden?« Er neigte den Kopf auf die Seite und musterte sie. »Was meinst du denn mit ›massiv‹?« »Zumal es Energieverschwendung war«, sagte sie etwas moderater. »Und Zeitverschwendung. Wir haben eh nicht mehr viel…« Sie verstummte, und es gingen ihr düstere Gedanken über Computersysteme von Aliens, Kabelbäume und Schmerz als ein Informationskanal durch den Kopf. Vielleicht dachte sie sogar flüchtig an entstofflichte KIs. Rogacev stieg aus dem Bett und schaute auf sie herab, wobei er die Unterlippe gegen die geschliffenen Zähne preßte. »Was kann ich tun, um dich vom Fliegen des Schilds abzubringen?« »Nichts. Es ist beschlossen. Sprechen wir nicht mehr darüber.« »Wieso?« »Aus vielen Gründen. Erstens wird Ardath mich in ein sehr tiefes Loch stürzen, wenn ich es nicht tue. Zweitens ist Quinc hier, und ich möchte ihm helfen. Drittens…« Sie hob ratlos die Arme. Seine Nasenflügel zuckten; er schien sie zu riechen. »Sag mir, was zu tun ist, und ich werde es tun. Ich bin
nämlich mit dieser ›obszönen‹ Web-Ausrüstung vertraut. Du aber nicht.« »Woher auch. Ich habe keine Ahnung, was ich überhaupt tun soll.« »Du bist unlogisch, Augustine.« »Ich werd’s schon schaffen.« Als er auflachte, bebten seine Nasenflügel; sie hoben und senkten sich wie die Flanken einer winzigen, schwer atmenden Kreatur. »Raus mit der Sprache, Augustine. Du wirst dich dann besser fühlen.« Sie holte tief Luft. »In Ordnung. Ich hab null Ahnung, was ich tun soll.« »Noch mal.« »Ich hab null Ahnung, was ich tun soll!« »Und vom Web hast du schon gar keine Ahnung.« »Nein. Ein bißchen weiß ich schon. Ardath hat mir einen Vorgeschmack darauf gegeben.« Er grinste. »Ist aber nicht wie Glas, stimmt’s?« »Nein.« »Hast du es gespürt, als Liliana umschaltete?« »Nein.« »Sie ist die jüngste Errungenschaft. So eine Art Domina. Bei ihr ist es eher wie schwarzes Gummi.« Er brachte ihren Daumen und Zeigefinger an seine Lippen und küßte beide Glieder. Dann biß er hinein. »Au!« Sie wollte die Hand wegziehen, doch sein Griff war zu fest. »Erste Lektion in Lilianas Web.« Zwei dunkelrote Perlen erschienen zwischen Daumen und Zeigefinger. Er richtete die Augen so aus, daß seine Blickrichtung mit ihrer Sichtlinie fluchtete. »Es schmerzt«, flüsterte er. Sie riß die Hand los. Er wich vor ihr zurück und schlang die Arme um die Knie. »Die Hand schmerzt, wo ich dich gebissen habe.«
»Natürlich.« »Schmerz hat immer einen Ursprung.« Er hob die Hand und berührte die Stirn direkt über dem rubinroten Auge. »Ich habe manchmal Kopfschmerzen, die von hier ausstrahlen. Nun stell dir einen Schmerz ohne Ursprung vor, einen Schmerz, der sich von in der Schulter knirschenden Glassplittern zu zwei im Bein aneinanderreibenden Schnittflächen wandelt – wobei er keine anderen Körperteile durchlaufen hat und obendrein noch einen Sinn ergibt, wie ein Musikstück, das die Tonart wechselt. Als ob der Körper ganz neu aufgebaut worden wäre. Das ist Liliana.« »Dann ist es auch nicht das Web.« Sie rieb sich die Hand. »Als Ardath mich einführte, spürte ich keinen Schmerz. Es war – schrecklich – , aber nicht schmerzhaft.« »Das ist gerade das Schöne daran. Vergiß die siebzehn Sinne. Es gibt unendlich viele Modalitäten im Web. Schmerz ist nur Lilianas persönlicher Ansatz. Man hat die nächste Stufe erreicht, Augustine. Man erreicht sie weder durch Meditation noch durch die Erschaffung einer neuen Welt aus Bits und Bytes. Genauso nutzlos wird das sein, was du oder sonst jemand diesem Galaktischen Kristall entlockt. Es kommt von Liliana. Beziehungsweise von der Person, die gerade im Web arbeitet. Man strebt die Vereinigung mit dem Unbelebten an.« »Ja«, sagte Augustine und nickte gedankenverloren. »Aha.« Er nickte. »Du bist auf den Geschmack gekommen. Spürst du die Kraft?« »Ich habe einen Zug gespürt.« »Sehr gut. Sagen wir, du hast dich um eine belebte Kreuzung verteilt: Es gibt eine Bushaltstelle, eine Bank, einen Zeitungsstand und einen Tagesschau-Monitor – und die Kraft will dich zusammendrücken, wodurch wiederum das Web gespannt wird.«
»Ja.« »Und du bist Teil davon und zugleich darin integriert. Du bist nicht imstande, dich von den Bordsteinkanten und den Hutbändern zu lösen. Unbelebt, aber bewußt, wobei jeder Gedanke an einem anderen Strang des Web abprallt. Und im Zentrum des Web ist eine Befehlsmaschine, und die Kraft macht dir Appetit auf diese Befehle.« »Ja.« Augustine ballte eine Hand zur Faust und hielt sie sich vor die Augen. »Zertrümmere Struktur A. Versetze Struktur B in Rotation.« Dann erkannte sie, worauf er hinauswollte. »Und genau das ist die Fragmentation, nach der ihr sucht.« Rogacev erhob sich surrend und ging an ihr vorbei. Als er die Tür erreichte, renkte er sich den Arm aus und nahm ihn ab. Er änderte den Griff, ließ den Arm los und fing ihn gekonnt unterhalb der Schulter ab. Dann unterzog er ihn einer gründlichen Inspektion: Vier Gehäuseteile, die Flaschenzüge ummantelten, welche durch ein Drahtgeflecht miteinander verbunden und an einem komplexen Gelenk am Ellbogen befestigt waren. Er streckte ihr den unterhalb des Ellbogens pendelnden Arm entgegen. »Sag’s ihr, Rogacev. Erzähl ihr von Cowboy.« Sie beide machten einen Satz; zwar nicht so hoch wie Liliana, aber immer noch recht beeindruckend. Rogacev – zum Teufel mit ihm – grinste vom Ohr zum Tattoo. Augustine schaute – war – wütend. »Hast du die ganze Zeit über reingehört?« »Seit du aufgewacht bist.« »Wieso hast du mir nichts gesagt?« Es war kein günstiger Moment, ihr zu sagen, daß er sich wieder in sie eingeklinkt hatte, daß er fühlte, was sie fühlte, dachte, was sie dachte. Es hätte sie nur noch wütender gemacht. Zumal es ohnehin nicht leicht war, über die Angewohnheiten eines Diebs und Rätsels zu
sprechen, Angewohnheiten, die es mir schwermachten, mich überhaupt noch mitzuteilen. »Es tut mir leid. Rogacev, erzähl ihr von Cowboy. Und daß du den Schwur gebrochen hast, dich nie wieder verdrahten zu lassen.« »Cowboy ist tot«, sagte er. Sie schaute ihn verständnislos an. Ihr Herz pochte. »Das Web hat ihn getötet. Oder auch nicht. Ich weiß es nicht. Wenn ich etwas weiß, dann das, daß das Web in ihm eine Todessehnsucht geweckt hat. Er traf Quinc und mich im Wald und sagte, er hätte etwas unter dem Schild gefunden, das die nächste Stufe sei. Dann versuchte er, es über Quinc ins Netz herunterzuladen. Daraufhin sind diese – Dinger – herausgekommen. Kopien von uns. Phantasmen. Sie hatten einen Messerkampf ausgetragen. Meine Kopie siegte. Und Cowboy starb. Er wurde erstochen.« Augustine ging zur Tastatur und bestellte sich noch einen Kaffee. Sein menschliches Auge folgte ihr. »Dann haben sie uns aufgespürt. Und ich meldete mich freiwillig als Pilot.« »Wieso?« »Weil Cowboy recht gehabt hatte. Weil ich glaubte, es sei die Fragmentation, wonach ich suche.« Der Kaffee kam. Sie führte die Tasse zum Mund und nahm einen Schluck von der Lorke. »Und, war es das?« fragte sie nach einer Weile. Er wirkte deprimiert. »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Das hast du gut gemacht, das beste Argument bis zum Schluß aufzuheben.« »Du hast trotzdem recht«, sagte ich. Sie musterte angelegentlich die Zimmerdecke. »Du hast null Ahnung, was du tun sollst.« Sie nickte. »Und du?« Sie meinte mich. »Ich habe noch immer keinen blassen Schimmer, wie ich hierhergekommen bin oder wo ›hier‹ überhaupt ist. Und ich möchte noch immer, daß du dich an diesem Ga-
laktischen Kristall versuchst.« Vorsichtig setzte sie die Kaffeetasse ab. »In Ordnung, Quinc.« Rogacev wirbelte herum und hätte beinahe die Tasse umgestoßen. »Was!« Die Nasenflügel bebten, doch diesmal vor Zorn. »Du willst es wirklich tun?« »Ja, aber nicht auf ihre Art.« Er runzelte die Stirn. »Schau; diese Phantasmen, was Cowboy zugestoßen ist, was Quinc zugestoßen ist – das alles weist in eine bestimmte Richtung. Es gibt irgend etwas in diesem Schild, das auf uns justiert ist, etwas Großes und Kompliziertes, etwas Netzartiges. Das bedeutet, es gibt so etwas wie Glas. Glas ist das, was ich am besten kann.« »Auf Wiedersehen, Rogacev«, sagte sie an der Tür. »Tu das nicht, Augustine.« Sie schloß die Tür leise hinter sich. »Du Idiot«, sagte er zur Tür. Dann, etwas gedämpfter: »Was ist nur los mit dieser Frau?« »Erzähl mir davon«, sage ich.
2 Augustines Tagebuch Es ist weder die Seele noch das Bewußtsein, auch nicht ausgestattet mit der Gabe der Phantasie, der Mutmaßung, des Denkvermögens und Verstehens; es ist weder ein Akt des Denkens oder Verstehens, noch vermag Es durch den Verstand beschrieben oder durch Verstehen erkannt zu werden… Es ist auch nicht der Inbegriff der Persönlichkeit oder Ewigkeit oder Zeit… Es ist weder eins, noch ist Es Gottheit oder Göttlichkeit; es ist auch kein Geist nach unseren Begriffen… Dionysos der Aeropagit, MYSTISCHE THEOLOGIE
Es kursiert das Gerücht, die Galaktischen seien Computer – handliche, poppige Modelle mit Drehstabfederung – , die von einer alten Rasse von Eierköpfen gebaut wurden, deren Vernachlässigung der Reproduktion schließlich zu ihrem Aussterben führte. Eine andere Version besagt, sie seien Gott, der uns unter die Fittiche nimmt, bis wir die nächste Stufe erklommen haben. Also ist das Verständnis ihrer Sendungen gleichbedeutend mit dem Verständnis von Gottes Willen. Eine wieder andere Version lautet, sie seien Fabelwesen, deren Erkenntnis der Wahrheit so weit fortgeschritten sei, daß sie die Fertigung materieller Güter längst eingestellt hätten. Sie schicken uns die Pläne für technische Wunder, auf daß wir sie entwickeln. In dieser Version sind wir eine Art interstellarer Petrischale. Als ich die Zentrale betrete, liegen Wings, Astrogator und SYZYGY auf den Liegen; wie gestern schon. Sizzle wirkt an diesem Morgen etwas müde und übellaunig. Eine Hand hat er ins Wuschelhaar geschoben. Niemand nimmt Notiz von mir außer Liliana, die wieder den Wandmonitor überwacht. Sie nickt knapp und weist auf die freie Liege. Es ist die in der Mitte, die von den lianenartigen schwarzen Kabeln fast verhüllt wird. Gestern hat Rogacev hier gelegen. Ich schüttle den Kopf. »Sie werden nicht Interfacen?« »Nicht mit dieser Ausrüstung.« Der Junge regt sich und zieht die Hand aus dem Haar. Er mustert mich mit diesem vorwurfsvollen Blick. »Geben Sie mir eine Datenhaut, einen Standard-Port und ein Simulationsprogramm.« Sie stemmt die Hände in die Hüften. Ihr liegen ein paar Antworten auf der Zunge. Doch dann verläßt sie wortlos die Zentrale.
Sie ist kaum zur Tür hinaus, als der Junge das Zeichen für Essen macht. Ich zeige ihm leere Hände. »In drei Stunden gibt es Mittagessen, Sizzle.« Der Mann streckt die Arme über den Rand der Liege; dann drückt er den Rücken durch und streckt die Beine aus. In dieser Haltung ragt er deutlich über die Liege hinaus. »Du mußt besser frühstücken.« Der Junge signalisiert eine Liste: Grapefruit, Limone, Banane, Toast, Rührkuchen. Ich sehe, daß Wings uns mit geschürzten Lippen beobachtet. Als der Junge fertig ist, hebt sie den Arm und zeigt mir ihre verkabelte Körperseite. »Nicht gut genug für dich?« Der Junge reagiert sofort; sein Kopf fällt zurück aufs Polster, und er schaut durch die Klammern zweier Kabel auf ihr Gesicht. Ich schüttle den Kopf. »Ich denke gar nicht daran, eine Ausrüstung zu benutzen, die ich nicht kenne.« Sie stößt ein kurzes bellendes Lachen aus, und der Junge fällt ein. Nun ertönt die Stimme des schwarzen Riesen: »Ich heiße Gator. Das ist die Kurzform für Astrogation. Und das ist Wings« – der Irokese – »und dieser kleine Soldat ist Sizzle. Was die Kurzform für etwas ist, das sogar für mich unaussprechbar ist.« »Ich heiße Augustine. Wir wären uns beinahe an der AIA begegnet, als ihr drei eure erste Schild-Sitzung hattet. Gestern sind wir uns in gewisser Weise begegnet, als ihr den Schild mit Rogacev geflogen habt.« »Beinahe und in gewisser Weise. Nun, ich freue mich irgendwie, dich wiederzusehen. Du mußt entschuldigen, daß Wings gelacht hat.« Er wirft ihr einen Blick zu, der Tadel und Zuneigung zugleich ausdrückt. »Doch die Wahrheit ist: Das letzte, worüber du dir unter dem Web Gedanken machen mußt, ist Denken.« Ein gefälliges rotes Fleckenmuster erscheint auf den Wandbildschirmen, und gleich darauf wird es von einem pelzigen schwarzen Vieh durchbrochen.
Die Frau und der Junge lachen. Der Mann pfeift leise. Die Kreatur hat entfernte Ähnlichkeit mit einem Affen, aber einen kahlen Kopf und Zähne wie ein Säbelzahntiger. Ich weiche dem Wesen aus, und es rast an mir vorbei und verschwindet in der anderen Wand. Gator blickt ihm mit fragend gerunzelter Stirn nach. Vielleicht ist es eine blöde Frage nach dem Durchgang dieser Säbelzahn-Bestie, doch ich stelle sie trotzdem: »Was ist los?« »Ich dachte, sie würden nur auftauchen, wenn jemand den Schild fliegt.« Er schaut in die Runde. »Noch jemand hier außer uns Hasenfüßen?« Das ist eine interessante Frage. Wings legt sich auf die Liege und blinzelt. Der Junge hat sich auch hingelegt und die Seitenlage eingenommen, so daß die gekrümmte Gestalt ein annäherndes Spiegelbild der Konturen der Frau ist. Das Gesicht ist vor Konzentration angespannt. »Wieder rotes Ding«, signalisiert er. Was in meinen Augen mit dem roten Licht des Unterglases zusammenhängt. Wings nickt ihm zu. »Geh lieber auf deine Party, Tina. Ich glaube, du wirst von jemandem erwartet.« Es dauert einen Moment, bis ich begreife, daß ›Tina‹ die Kurzform für ›Augustine‹ ist. Narrenkappe. Ich ringe mir ein Lächeln ab. Wings stößt wieder ein bellendes Gelächter aus, und Ardath fällt sofort ein, gefolgt von Liliana. Er ist zornig. »Kommt nicht in Frage!« schreit er. »Sie werden es auf unsre Art tun. Oder Sie werden es überhaupt nicht tun!« Ardath hat sich eng in die rote Robe gewickelt. Der hohe Kragen wirft Schatten auf die Wangen. Was bedeutet, daß ich von ihm nur diese blitzenden graublauen Augen sehe, Leuchtfeuer heiligen Zorns. »Dies ist ein gründlich vorbereitetes wissenschaftliches
Experiment und kein Partyspaß für Socketeers! Glauben Sie vielleicht, Sie wären der erste Interfacer, der es auf seine Art tun will? Glauben Sie, wir hätten das nicht schon versucht? Die Strukturen des Schilds sind zu dicht für eine konventionelle Simulation. Neun Interfacer haben maßstabgetreues multimodales Interfacing im Schild versucht. Nummer Sieben kennen Sie.« Ich werfe ihm einen Blick zu, der höfliches Interesse ausdrückt. »Smoket. Mutter Leibniz reichert ihre Berichte zwar mit Anekdoten von großen Fortschritten an, aber Sie und ich wissen, daß er ein wandelndes Gemüse ist. Er war ein scheuer, sprachgewandter junger Mann. Interessierte sich für Pferde und Schach. War eine Naschkatze wie Sie, wenn ich mich recht erinnere. Wollen Sie auch so enden?« Ich weiß nicht, wie ich ihm in diesem Zustand begegnen soll. In dieser Situation unterläuft einem schnell ein fataler Fehler. Doch im Unterglas werde ich noch genug Zeit für fatale Fehler haben. Ich bleibe ihm die Antwort schuldig. »Von den neun Interfacen, die wir verschlissen haben, war Smoket der Beste. Doch das Web hat alles verändert. Wir haben uns eine kleine Familie Galaktischer Programme erschlossen und sogar ein paar angewendet. Schließlich brachten wir dieses Schiff in die Luft. Wir glauben, daß wir es mit Ihren Fähigkeiten solange in der Luft halten werden, bis die Web-Prozesse so ergiebig wie multimodales Interfacing sind. Sie sind der Schlüssel. Auf Sie haben wir gewartet. Bitte.« Er streckt den Arm aus und weist aufs Web. »Tun Sie, was ich sage.« Und ich schüttle den Kopf. Er explodiert. Das Thema seiner Tirade ist Hochverrat, doch erfolgen auch Exkurse über meine Undankbarkeit, meine Dummheit und mein schlechtes Nomaden-Blut.
Mit sich überschlagender Stimme macht er mich dafür verantwortlich, daß ein mögliches Zeitalter der Helden nicht zustande käme und sagt, ich würde die im Fegefeuer geräucherten Seelen im Stich lassen. Er schilt mich Narr, Verderber, Barbar. Über alledem ist die Robe ihm über die Schultern gerutscht und hat den Kragen mit heruntergezogen. Ich sehe seine Augen, seine Schläfen und seine Wangen. Das Gesicht ist eingefallen, und der Blick ist müde; er sieht alt aus. Sein Zorn flaut ab. Er atmet durch und zupft an der Robe. Eine Befestigungsklammer ist abgefallen. Während er die Kutte zu richten versucht, schaut er auf, und unsre Blicke treffen sich. Einen so bösartigen Ausdruck habe ich noch nie in seinen Augen gesehen. »Es hat keinen Sinn. Sperrt sie in ihrer Unterkunft ein.« »Euer Gnaden…« Liliana verstummt hilflos. Sie ist in einer unmöglichen Situation. Fast hätte Ardath gegen sie ausgeholt. Er rafft die Robe und denkt nach. »Na schön. Ms. Augustine, Sie werden nun wie vereinbart Ihre Pflicht erfüllen. Das System wartet auf Sie.« Er deutet auf die leere Liege. »Ich werde diese Ausrüstung nicht benutzen.« Liliana kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und fleht mich an: »Sei doch vernünftig. Was du verlangst, ist unmöglich. Wir sind momentan nicht in der Lage, so etwas Kompliziertes wie eine multimodale Simulation mit diesem System laufen zu lassen. Wir müssen schon froh sein, daß es uns gelungen ist, das Web-System hochzufahren.« »Im Moment läuft doch eine maßstabgetreue Simulation.« Alle drehen sich um. Gator ist unbeeindruckt von Ardaths Zorn. Er wendet sich an Sizzle. »Stimmt das, Sohn?« Sizzle nickt.
»Ich finde, Sie sollten ihr den Anzug geben und sie es versuchen lassen. Dort draußen wartet etwas auf sie.« Wings fährt sich durch den Irokesenkamm und frischt die Farben auf. »Du weißt, wer es ist, Tina, nicht wahr?« »Ja.« Ardath fummelt für einen Moment am Kragen herum, wobei der Ring am Finger funkelt. Als er sich uns wieder zuwendet, wirkt er völlig verändert. Die Müdigkeit ist einer eisigen Ruhe gewichen. »Bitte sagen Sie uns, was vorgeht, Ms. Augustine.« »Ich glaube, es ist Quinc.« Ardath schaut Liliana fragend an. »Wir wissen es nicht mit Gewißheit«, sagt sie. »Es ist vielleicht die KI, oder vielleicht handelt es sich auch um Galaktische Software, die sich aus irgendeinem Grund als Simulation manifestiert hat.« Ich zucke die Achseln. »Ein Grund mehr, der Sache nachzugehen. Offensichtlich ist dieser Kristall imstande, unsere Software zu kopieren und kontrolliert auch dieses Schiff. Ich glaube, er will Kontakt mit uns aufnehmen. Die beste Art, das herauszufinden, ist eine maßstabgetreue multimodale Simulation.« »Klingt plausibel«, sagt Wings. Ardaths Blick geht zwischen uns hin und her und bleibt schließlich an mir hängen. »Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß maßstabgetreues multimodales Interfacing unter dem Schild für Sie keine negativen Auswirkungen haben wird?« »Man hat mir gesagt, daß ich auch dann überleben würde, wenn meine Personalität fragmentiert wird.« Seine Augen weiten sich, und die Lippen zucken, doch er gibt sich weiterhin amüsiert. »Ms. Augustine, Sie sind eine Närrin.« »Das wußte ich schon, als ich mich dazu bereit erklärt hatte.«
Wings bricht in schallendes Gelächter aus. Ich glaube, ich werde ihr allmählich sympathisch. »Hören Sie. Wir nehmen ein Sicherheitsnetz. Geben Sie mir einen Leistungsregler. Legen Sie den Schwellenwert fest. Ich werde mit minimal aktivierten Sinnen reingehen. Wir werden unterhalb des Schwellenwerts anfangen und die Leistung soweit steigern, bis die Wahrnehmungsfähigkeit einsetzt. Ich werde langsam gehen. Im Matsch. Nur um zu sehen, was dort drin ist. Vielleicht komme ich der Ursache auf die Spur. Vielleicht gelingt es mir sogar, ein paar Systeme wieder anzuwerfen.« Ardath schaut auf Liliana. »Ist das machbar?« »Bei geringer Intensität ist es sicher. Das sind Erfahrungswerte. Das Problem ist nur, daß im sicheren Bereich keine aussagefähigen Ergebnisse erzielt werden.« »Dann wäre auch nichts verloren. Lassen Sie es mich versuchen.« »Die eigentliche Frage«, sagt Liliana schnell, »lautet, ob wir überhaupt die Intensität des Programms zu regeln vermögen, in das sie hineingeht. Für Wings mag es als eine Simulation erscheinen, aber ich würde erst dann reingehen, nachdem ich es unter die Lupe genommen habe.« Ardath atmet tief durch. »Dazu haben wir keine Zeit.« Er schüttelt den Kopf und geht zur Tür. »Geben Sie ihr die Datenhaut, Liliana«, sagt er dann. »Begrenzen Sie die maximale Intensität auf fünfzig Prozent der empirischen Sicherheitsmarge. Augustine, ich bin aber noch nicht fertig mit Ihnen.« Die Tür fällt hinter ihm zu. Liliana blickt für einen Moment auf die Tür und dann auf mich. »Du bist nicht ganz gescheit, aber auf jeden Fall hast du Glück.« Ich habe da meine Zweifel – in beiderlei Hinsicht. Gator stößt einen leisen Pfiff aus. »Diese Dame ist vielversprechend.«
Wings lacht. Sizzle explodiert in einem Schwall von Zeichen, denen ich kaum zu folgen vermag. Es handelt von etwas, das er gesehen hat, vielleicht unter dem Glas; ein brillantes Etwas, ein altes Etwas. »Krieg dich wieder ein, Sizzle«, sagt Wings. »Sonst verpaßt du noch die Vorstellung.« Sizzle hört sofort auf. Die Hände sind vor dem Gesicht erstarrt. Dann nimmt er sie geradezu feierlich herunter. Liliana eilt kopfschüttelnd davon. »Nun denn.« Wings faltet die Hände, wobei die Kabel wie Schwingen sich um sie krümmen. »Du sagst uns nun, wie du dir die Sache vorstellst, Tina.« * Die Lichter gehen mit einem hallenden klunka! aus (als ob ein Mikrofon auf den Boden gefallen wäre), und dann spüre ich einen Luftzug (der angeblich durch die fehlende Reizleitung der Datenhaut verursacht wird, so daß die erste Berührung reiner Information eine kühle Brise ist). Auf den ersten Blick hat es keine Ähnlichkeit mit den Simulationen, in denen ich mich bisher bewegt habe. Wegen der geringen Signal-Intensität ist mein physikalischer Körper voll definiert und macht sich als eine dissonante Note bemerkbar, als unmelodisches Summen. Ich hänge in der Dunkelheit und schraube mich in ein schwarzes Gewinde hinein. Ich krümme die Zehen und fühle den angenehmen Rückstrom der Zehenkrümmungs-Rückkopplung. Ich wische über gespannte Schwärze und erhasche ein visuelles Flackern, vielleicht die Kondensstreifen meiner Finger. Ich erhöhe die Intensität. Die Schwärze haftet an mir wie eine Gummihülle. Sie quietscht bei jeder Bewegung, dehnt sich, reißt auf und schmiegt sich an mich.
Ich fahre die Leistung weiter hoch. In der Ferne höre ich murmelnde Stimmen: Zwei identische Tonspuren, leicht phasenverschoben. Vielleicht Liliana, die sich über meinen Leichtsinn echauffiert. Ich finde einen Sperrkanal und justiere ihn so, daß die Stimmen in einer gegenphasigen Überlagerung sich auslöschen. Nun gibt die Schale etwas nach. Sie wird zwischen den Fingern zu einer Paste zerrieben. Die Oberfläche, die mich bisher umgab, scheint sich in etwas mit einem Innern zu verwandeln. Meine Hand hinterläßt eine blutorangefarbene Spur, wobei die spateiförmigen Konturen einzelner Finger sich aus den Schlieren schälen. Ich verschmelze mit der Umgebung und versuche, weitere Informationen aufzunehmen; doch es liegt noch nichts vor in den Kategorien ›wahr‹ oder ›falsch‹. Ich erhöhe die Intensität. Die Gravitation hat mich noch immer im Griff; ich liege verkrümmt auf der Liege, der Magen steigt unter die linke Achsel, und Schaum verdichtet sich unter der rechten. Ich suche einen anderen Sperrkanal und erhöhe die Intensität noch einmal deutlich. Die Gravitation fällt von mir ab. Etwas rotiert rasend, und dann schält eine Struktur sich aus der Schwärze, die an manchen Stellen mit Büscheln besetzt ist. Tief unter mir (wobei ›unten‹ durch die Richtung definiert wird, wo die Zehen sind) sehe ich ein schwaches Glimmen. Das sieht schon besser aus. Ein Blinzeln, ein leichter Nasenstüber, und ich begebe mich an den Abstieg. Nun vermag ich zu bestätigen, daß das Schimmern unter mir Glas ist. Seltsames Glas. Es ist heller hier unten, und ich erkenne eine Art Horizont mit einer schwachen Krümmung, als ob ich mich der Oberfläche einer riesigen Sphäre näherte. Die Krümmung indes ist nicht nur Merkmal des Glases, sondern wird auch von den nahen Strukturen aufgegriffen, was ihnen ein leicht
windschiefes Aussehen verleiht. Ich spüre einen gewissen Nervenkitzel, als ich das Glas erreiche: Dieser Moment der Erkenntnis, des Durchgangs, der Wahrheit auf der anderen Seite. Ich pralle auf. Und pralle ab. Ich taste die Stelle ab. Das Glas ist hart. Doch mit einer Art von Mangelhaftigkeit, die schwer zu beschreiben ist. Vielleicht ein Schlitz. Es ist schwierig, an dieser Stelle mehr zu sagen. Das sensorische Unterglas-Komplement hat sich noch nicht voll entfaltet. Der Aufschlagpunkt ist die einzige Störstelle, die ich ausmache. Ein so milchiges Glas habe ich noch nie gesehen. Es vermittelt nur eine vage Ahnung von dem, was auf der anderen Seite liegt. Eine Form, die sich bewegt, wenn ich mich bewege. Mit diesem Problem waren auch die anderen konfrontiert. Bei dieser geringen Intensität ist das Galaktische Glas undurchdringlich. Ich fahre die Leistung bis zum Anschlag hoch und nehme wieder Anlauf. Und pralle auf. Patt. Wegen einer völlig aussichtslosen Sache habe ich mich mit Ardath überwerfen. Ich spüre eine Regung über mir; kleinmaßstäbliche Prozesse, die ich für einige Zeit am Rande verfolgt habe und die nun ziemlich nahe sind. Ich bin so konsterniert wegen des Scheiterns am Glas, daß ich mich dem neuen Etwas öffne. Es kommt in drei Teilen, die sich jeweils als Licht mit ein paar Büscheln manifestieren. Eins der Lichter zieht sich in die Länge und wird zu einem zuckenden Flammen-Strang: Gator. Mit Wings und Sizzle. Sie steigen an mir vorbei hinab, wobei die kleinste Flamme heftig flackert. Sie nähern sich dem Glas.
Ich steige auf. Ich will sehen, wie sie auf die Schnauze fallen. Als sie das Glas berühren, verlieren sie an Leuchtkraft, doch dafür wird das Glitzern um sie herum intensiver. Für einen Augenblick sind sie Teil des Gewebes aus Licht. Dann sind sie durch. Es dauert eine Weile, bis ich das verdaut habe. Ich steige hinab und inspiziere das Glas. Ich sehe einen einzigen Fehler an der Stelle, wo sie hindurchgegangen sind; wieder schwer zu beschreiben, vielleicht ein Schlitz. Unter dem Glas zeichnet sich noch immer eine Präsenz ab, ein rastloser Bewohner, doch keine Spur von Wings, Sizzle und Gator. Nein, Spur ist falsch. Ich habe den Eindruck, daß sie den Durchgang unbeschadet überstanden haben und fürs erste unerreichbar sind, aber normal funktionieren. Ich brauche nun das Zauberwort. Für sie war es ganz selbstverständlich. Sie fragen sich wahrscheinlich, wo ich stecke und wissen nicht einmal, welche bemerkenswerte Leistung sie erbracht haben. Zeit vergeht, eine noch nie dagewesene Zeitspanne, während der ich als Interfacer untätig bin. Schließlich gelange ich zu dem Schluß, daß Rogacev dahintersteckt, obwohl Ardath die Idee bestimmt auch gutgeheißen hätte. Ich leite die Fragmentation ein. Fragmentation ist wie das Öffnen eines Reißverschlusses. Den Anfangswiderstand, den es zu überwinden gilt, das leise Ratschen beim Ziehen, das leise Klicken, wenn der Reißverschluß aufgetrennt wird, und dann existiert man in doppelter Ausfertigung. Man muß sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, in welche Stücke man zerfällt. Diese Entscheidung wird einem abgenommen. Wenn man sich einmal geteilt hat, ist eine Wiederholung jederzeit möglich. Obwohl es nun zwei Reißver-
schlüsse gibt, die beide gezogen werden müssen, produziert das leise Klicken nur noch eine Kopie von mir, was per Saldo drei Ausfertigungen ergibt. Interessant. Jeder von mir operiert mit höchstzulässiger Intensität, so daß die gesamte Eingangsleistung verdreifacht wird. Die informationalen Abbildungen sind ziemlich verschwommen und müssen durch Annahme oder Raten fokussiert werden. Es gibt jedoch genug Fixpunkte. Mister Existenz, Needle und die Bestie sind nämlich kaum zu übersehen. Natürlich sind die Abbildungen nicht authentisch. Wir erscheinen hauptsächlich als flackernde Lichter, genauso wie die Besatzung. Doch hat jede von mir eine individuelle Signatur, einen Geruch, eine Farbgebung oder einen unverwechselbaren bitteren Geschmack. Die Identifikation erfolgt unmittelbar und direkt. Der Bezug ist gesichert. Wir kreisen für eine Weile und lassen unseren Anblick auf die anderen wirken, obwohl es herzlich wenig zu sehen und zu spüren gibt. Es ist verwunderlich, daß das Gefühl der Desorientierung fast ausbleibt; als ob wir das schon einmal getan hätten. Ohne daß wir uns vorher abgestimmt hätten, durchstoßen wir das Glas und beschleunigen. Sofort tauchen die drei roten Lichter auf. Sie erscheinen als verschwommene Kugeln, die das Glitzern des Glases überstrahlen. Wir halten die drei Leuchterscheinungen für folgerichtig, obwohl es schwer zu begründen ist. * Die weiße Oberfläche des Unterglases erstreckt sich zur hellen Linie des Horizonts. Und darauf, wie Licht auf wogendem Wasser, klebt das Gitter. Unter mir steigt die Oberfläche als große Blase auf, wobei die Quadranten des Gitters gedehnt werden. Ein Stück weiter,
wo ein spiegelglatter Abschnitt sich zu einer schattigen Spalte faltet, verdichten sie sich pulsierend zu einem feinen Geflecht. Es irritiert uns, das Gitter hier zu finden. Das Gitter gehört zum Netz und ist ein zwangsläufiges Resultat seiner ›Flickenteppich‹-Historie und der Anhäufung inkompatibler Teilstrukturen. Es ist ein Notbehelf. Diesen Notbehelf in einem außerirdischen Kristall zu finden ist nicht nur seltsam; es ist unheimlich. Ich steige die Falte hinab. Ich steige zwischen glatten, gleichmäßig atmenden Wänden ab. Zu beiden Seiten erstrecken sich riesige Flächen, in deren wabenartigen Durchgängen verbundene Prozesse sich winden. Winzige Gebilde bohren sich in die Flächen; große weiße Flocken schuppen ab und segeln in den Abgrund. Die Variabilität des Gitters setzt sich in die kleineren Strukturen fort. Eine kurze Passage verbindet vielleicht entfernte Quadranten des Gitters. Doch Mannie würde sagen, wenn der Durchgang kurz ist, ist der Quadrant nicht weit. In diesem Unterglas gibt es eine Fülle solcher Passagen mit einer fast traumhaften Kapazität für Ortswechsel. Ich krümme den Raum, der die Hand der Bestie führt. Ich ziehe eine enge Kurve in eine Region verkanteter rechteckiger Massen, blinkender Schalttafeln, gekappter Türme, geschwärzter Stümpfe – halb Skyline, halb Zahnreihe. Mancher Interfacer würde nun eine Vollbremsung machen und sich aus dieser bizarren Struktur verabschieden. Doch ich bin imstande, mich in einem solchen unübersichtlichen Szenario zu behaupten. Irgendwo in diesem Kristall lauert nämlich die wirkliche Gefahr; nur daß ich sie noch nicht gefunden habe. Die Bestie quetscht die Hand durch haarfeine Verästelungen. Die Maßstabsveränderung birgt in solchen
Momenten die größten Risiken, wenn verschiedene Teile der informationalen Abbildung sich unterschiedlich schnell verschieben. Von der Metaphysik einmal abgesehen, stehe ich auch vor einem großen technischen Problem. Ich befinde mich in einer Stadt, in der wiederum winzige Städte schwärmen – eine Art Los Angeles des InformationsRaums. Ich bin auf eine Art und Weise in der Landschaft gefangen, die immer unbegreiflicher wird. Ich bin drei unabhängige Prozesse, wobei wir drei uns in dieser sich verdichtenden Konfusion schon aus den Augen verloren haben. Die Lösung ist klar: Ich muß mit minimalem Einsatz maximalen Erfolg erzielen. Dieser Tanzlehrer muß von den letzten Straßenakrobaten lernen, und ich weiß auch, wo ich solche Akrobaten finde. Die Bestie, Needle und Mr. E. befinden sich jeweils auf eigenen Missionen. Wir schießen durch bizarr verwinkelte Tunnel und byzantinische Spiralen. Inzwischen entdeckt Needle die Annäherung eines großen Prozesses, eines starken Ressourcenverbrauchers; Rhythmus und Strangeness weisen ihn als die Präsenz aus, die ich bereits oberhalb des Glases gespürt hatte. Dann peilt die Bestie ein großes flaches Etwas mit einer ausgeprägten Struktur an. Wir ziehen uns zurück. Riesige Lippen dehnen sich und pressen sich zusammen, wobei die Mundwinkel sich zu einem verhaltenen Lächeln verziehen. Wir ziehen uns weiter zurück und sehen das Vollbild eines lachenden Manns, der den weißen Helm eines Rosen-Prätorianers trägt. Aus einer Schliere zur Linken schält sich eine Hand mit erhobenem Zeigefinger. Der Zeigefinger reibt am Augenlid des Prätorianers und fällt dann weg. Ein Punkt blinkt oben rechts auf dem
Monitor, und wir wechseln auf einen mit Geröll übersäten Strandabschnitt. Eine Frau in einem getupften Badeanzug erscheint hinter einem Felsvorsprung; und ich sage mir – wobei ich mir der Absurdität des Vorgangs durchaus bewußt bin – , daß ich sie schon einmal gesehen habe. Eine helle Erscheinung bricht wie ein Wirbelwind durch den Bildschirm. Die Bestie ist zu den Hügeln unterwegs. Dann freut er sich. Die Bestie hat ihre Mission beendet. Es ist Sizzle. Wenn es mir möglich wäre, würde ich ihm sofort Hilfe schicken, doch ich habe keine Ahnung, wie ich eine von mir zu einem von den anderen schicken soll. Also unternimmt die Bestie eine Einzelaktion. Zunächst lähmt er Sizzle. Das ist Standard. Es geschieht folgendes: Wir schneiden von seinem Prozeß eine Scheibe ab und machen eine Art Schnappschuß. Sizzle ist schließlich nur einer von vielen Prozessen in dieser Welt, und ich bin ein Interfacer. Im Zustand der Stasis stellt er kaum mehr dar als eine Schaltzentrale, die Nachrichten an verschiedene Satelliten abstrahlt. Die Meldungen, die gerade eingehen und in eine Warteschlange gestellt werden, beziehen sich vermutlich auf die Steuerung des Schiffs. Es gehen keine Meldungen heraus. Doch etwas ist noch interessanter: Wie so viele andere Dinge in diesem Raum steht auch er mit etwas in einem anderen Sektor in Verbindung. Und es ist die Aufgabe der Bestie, dorthin zu gehen. Er schiebt sich durch Sizzles starre Abbildung. Es wird eine knappe Sache, selbst mit einer Maßstabsveränderung, doch nach einer langen Sekunde hektischen Zappelns, dem eine schreckliche Impression von Kreisbewegung anhaftet, sind wir durch. Gleißende Helligkeit. Die Bestie strauchelt und stürzt. Ist von Goldmohn umgeben.
Plötzlich entsteht eine massive Aufwallung in der lokalen Strangeness. Ein schnüffelndes Etwas kommt durch den Zugang hinter ihm. Wir befinden uns nun an einem hellen Ort mit Blumen und Gras. Doch der Zugang und das anrückende schnüffelnde Ding sind noch immer schemenhafte raupenartige Gebilde mit wenig Struktur, wie unvollendete Teile einer Skizze. Die raupenartige Struktur bläht die Backen auf und stößt ein goldenes Gebilde aus. Der goldene Homunculus landet weich im Goldmohn. Auf dieser Ebene vermag der Homunculus die Lippen zu bewegen, und er hat die gleiche Größe wie die anderen. »Hallo«, sagt er. »Hallo.« Genau in diesem Moment ortet Needle Wings und paralysiert sie. Er schickt sich an, durch sie hindurchzusteigen. »Wo ist Augustine?« fragt der Homunculus. Weil die Bestie um eine Antwort verlegen ist, führt er die bepelzte Hand zum Kopf und signalisiert Verwirrung. Dann reißt plötzlich die Luft über ihm auf, und er steigt empor. Ein dunkler Punkt erscheint, und ein Bein in einem weißen Hosenbein bricht hervor, gefolgt von einem zweiten. Nach den gleitenden Beinen ein langer Torso. Ein Panama-Hut. Es ist Needle. So derangiert habe ich ihn noch selten gesehen. Er erschrickt vor dem Homunculus. Genauso erschrocken ist er beim Anblick der Bestie. Die Bestie ist eine Mensch-Bestie. Sie ist mit einem dichten, gelockten schwarzen Pelz bedeckt, und aus einer dreieckigen Schnauze in der Mitte eines bärenartigen dreieckigen Kopfs ragen Reißzähne. Die großen schwarzen Augen sind feucht und seelenvoll. Es hat den Anschein, als ob Mister Existenz Gator ge-
funden hätte. »Hallo«, sagt Needle. Mit einem reißenden und schmatzenden Geräusch schraubt Mister Existenz sich aus einem Eingang. Er trägt die Schlangenlederhose, und der einzige Samt, den er heute am Leibe hat, ist die Weste, die er über dem unbehaarten Torso trägt. Er wendet sich Needle und Bestie zu. »Ich hätte wissen müssen, daß ihr Kameraden euch hier rumtreibt.« »Wo ist Augustine?« fragt der Homunculus erneut. Wir alle schauen ihn an, doch niemand antwortet. Nicht daß wir ihm nicht antworten wollten; wir alle spüren ein echtes Bedürfnis zu helfen. Genauso wenig fehlen uns die Worte. Mit etwas Mühe wäre es möglich, die Situation zu umreißen. Es ist eine gesellschaftliche Konvention. Es ziemt sich einfach nicht, darüber zu sprechen. Der Homunculus sieht uns für eine Weile zu, wie wir ihn betrachten. »So ist das also«, sagt er schließlich. Er hockt im Schneidersitz in den Blumen. »Wie entscheidet ihr die Dinge? Durch Abstimmung?« Wir schauen uns an. Darüber dürfen wir auch nicht sprechen. Mehr noch: Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken. »Sei’s drum. Ich weiß nicht genau, wieviel Zeit uns noch bleibt; vielleicht dreißig bis vierzig Millionen Sekunden, was aber nicht viel ist, wenn man bedenkt, wie aufwendig Interfacing ist. Ich muß euch etwas mitteilen. Wir haben die Galaktischen gefunden.«
3 Augustines Tagebuch Man muß eine deutliche Unterscheidung treffen zwischen Metempsychose, die den Übergang der ganzen sogenannten Seele in einen anderen Körper bezeichnet und Palingenese, die den Zerfall und die Wiedergeburt des In-
dividuums bezeichnet, dem allein Wille innewohnt und das, während es die Gestalt eines neuen Wesens annimmt, auch einen neuen Intellekt erhält. Schopenhauer
»Ihr habt die Galaktischen gefunden?« Blumen verwelken unter den Knöcheln der Bestie. »Hier drin?« »Nur mit der Ruhe, Bestie.« Mister E. pflückt eine verdorrte Blume und steckt sich den Stiel zwischen die Zähne. »Die KI soll berichten.« »Zunächst müßt ihr wissen, daß ihr euch wieder im Netz befindet. Ist das klar?« »Ich weiß, daß es so aussieht.« »Es ist so. Der Schild hat einen Anschluß ans Netz, den ihr passiert habt, als ihr ins Glas eingedrungen seid.« Die Bestie bleckt spitze Zähne, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Rogacevs Gebiß haben. »Das gibt’s nicht«, sagt Mister E. »Wieso nicht? Das erklärt auch, wie ich auf den Schild gelangt bin. Er hat durch den Anschluß gegriffen und mich rübergezogen.« »Dich rübergezogen.« Die Bestie grinst. »Du meinst, er hat dich von hier nach dort kopiert.« »Genau.« »Selbst wenn man als Arbeitshypothese die Möglichkeit unterstellt, den Inhalt eines Miller-Kristalls zu kopieren – wie ist die Verbindung überhaupt zustande gekommen? Nur ein Wahnsinniger würde diesen außerirdischen Kristall ans Netz anschließen.« »Frag Cowboy.« Der Homunculus breitet die Hände aus; in der rechten Hand hält er eine Blume. »Zum einen müßt ihr mich als Tatsache akzeptieren. Wir sind hier im Orbit. Und ich bin auch hier. Ich kann gar nicht
hier sein. Und doch bin ich hier, Mister E.« Der Homunculus wirft Mister E. die Blume zu, der sie mit einem spitzen Schrei auffängt. »Oder sollte ich Sie nun als Mister Schattenkopf bezeichnen?« Mister E. wirkt erstaunt. Er reibt sich mit der Faust den Schädelgrat; plötzlich schreit er auf und hält sich das Gesicht. Blütengroße Blutstropfen fallen auf den Goldmohn zu seinen Füßen. Als er die Hände wieder herunternimmt, tritt glänzender Knochen zutage. Das Gesicht rinnt ihm durch die Finger. »Hundesohn«, sagt Needle. Mister E.’s Schädel leuchtet blütenweiß; Brocken lösen sich ab und hinterlassen einen gezackten Schattenwurf. Die Zähne blitzen; grüne Juwelen funkeln tief in den Augenhöhlen. »Das ist die Hölle«, sagt Mister E. Sagt Mister Schattenkopf? Der Mund öffnet sich. Die Zunge lugt hervor und balanciert einen Rubin auf der Spitze. Sachte schließen die Zähne sich um den Stein. Er zeigt ihn zuerst Needle, dann der Bestie. Die Bestie weicht einen Schritt zurück und verblaßt um eine Nuance. Mister Schattenkopf bückt sich und reißt ein paar Blumen aus, an denen ein rechteckiger Soden hängt. In der Lücke erscheint ein Schild mit der Aufschrift DIE ANTWORT. Die Bestie schaut in die Öffnung. Eine ins Erdreich gefräste Treppe führt hinunter in die Dunkelheit. Ich lenke den Blick der Bestie auf den Homunculus. »Das geht mir etwas zu schnell.« »Das steht nicht in meinem Ermessen.« Der Homunculus hebt die Hände. Mister Schattenkopf geht die Treppe hinunter, und die Bestie folgt ihm; Needle geht einen Schritt hinter ihr. Als das Kinn sich auf Bodenhöhe befindet, drehe ich
mich noch einmal um und sehe, daß der Homunculus noch immer in den Blumen steht. »Kommst du nicht mit?« Der Homunculus schüttelt den Kopf. »Das ist eine SoloVorstellung. Fürchtet euch nicht« – er legt die Hand aufs Herz und läßt sie einmal pulsieren – , »wenn etwas von dem, was ihr seht, persönlicher Natur ist.« »Spezialeffekte«, lege ich der Bestie in den Mund. »Speziell für euch.« Weiße Stränge winden sich durch die Dunkelheit. Zuweilen verknüpfen zwei Stränge sich zu einem Knoten und bilden weiße Klumpen mit Vertiefungen, die wie Fingerabdrücke in Kuchenteig aussehen. Wir befinden uns in einer Kammer, die durch fünf Knoten definiert ist. Needle steht abseits. Das Grinsen ist ihm im Gesicht gefroren. Mister Schattenkopf wendet sich an mich. »Also, du Grünschnabel. Du hast dich entschlossen, mitzuspielen. Bist du bereit?« Ich nicke. »Das Spiel besteht darin, einen Weg durch diesen Raum zu finden. Dieser Teil ist ein echter Prozeß. Und jener Teil ist eine D-Struktur.« »Warte einen Moment. Ich habe nicht mitbekommen, welcher Teil was ist.« »Das ist richtig.« »Wofür steht das ›D‹?« Mister Schattenkopf grinst, ohne eine Miene zu verziehen. Das ist ein interessanter Anblick. Die Kiefer mahlen, die Backenzähne werden heller und größer, und das Schattengesicht wird flacher. Plötzlich wirkt er tödlicher als ein Totenkopf. »Ich verstehe. Darf ich nun meine Meinung ändern?« Mister Schattenkopf lehnt mit einem Kopfschütteln ab. »Und was geschieht, wenn ich Erfolg habe?« »Ich bin nicht sicher. Niemand hat bisher Erfolg ge-
habt.« Er breitet die Hände aus. »Es ist natürlich möglich. Das ist der Punkt. Doch fürs Bewußtsein ist es vielleicht nicht möglich. Bist du bereit zum Kampf?« Das ist eine berechtigte Frage. Wieso sollte ich? Ich bin im Unterglas und tue das, was mir am meisten liegt – ich trete gegen eine seltsame Manifestation an, bei der es sich vielleicht um einen Galaktischen handelt oder auch nicht. Falls es mich wirklich wieder ins Netz verschlagen hat, ist diese Kreatur vielleicht nur der Alptraum eines Baby-Hackers oder eine neue Version von Quincunx oder ein Test, den Liliana ausgeheckt hat. Oder es ist wirklich ein Galaktischer, den ein durchgeknallter Hacker mit einem Stetson ins Netz gestellt hat. Ich weiß es nicht. Immerhin weiß ich, wer und was ich bin. Ich weiß, daß ich diese Herausforderung annehme. »Du weißt gar nichts, Grünschnabel.« »Ich weiß, daß diese Dinge eigentlich nicht existieren.« Ich winke ihm zu, Needle und meinem bestialischen Selbst. »Ich suche nach einer Möglichkeit, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen und Quinc zu vertreiben. Ich glaube nicht, daß du mir eine Hilfe bist. Du bist ein Phantasma.« »Ja. Und so sieht es aus.« Er öffnet die Hand, und ich sehe eine bekannte Turmstruktur, beseelt und abscheulich. »Quincunx sagte mir, er hätte das zerstört.« »Ein begrifflicher Irrtum. Der Inhalt eines Kristalls ist unzerstörbar. Zeiger werden entfernt. Namen werden losgelöst. Speicherinhalte werden jedoch nie gelöscht. Bloß die Spin-Charakteristika werden immer komplexer; das Glas wird zu einem Palimpsest der Information. Auf vielen Welten lautet das Wort für Kristall Geschichte.« »Gib’s mir.« Ich greife nach dem Turm. »Nix da!« Er schiebt die Hand durch einen der weißen Knoten. Der Turm verschwindet. Sein Arm verfärbt sich knochenweiß.
»Du bist ein Spion wie Quinc. Weil du kein eigenes Leben hast, lebst du das Leben von jemand anders.« Er denkt darüber nach, ohne sich etwas anmerken zu lassen. »In gewisser Weise. Wir sind InterpretationsMaschinen.« »Wir.« »Wir Infons.« »Infons.« »Wir sind ein Zwitter aus Bewußtsein und Information. Kannst du dir das vorstellen?« »Nein, kann ich nicht«, bescheide ich ihn nach kurzer Überlegung. Schatten trüben Mister Schattenkopfs funkelnde Augen. »Manchmal nennt man uns auch den Alten, denn wir kamen vor dem Denken, vor der Sprache. Ihr müßt wissen, daß wir nicht von Natur aus Teil des Bewußtseins sind. Wir sind älter.« »Ihr seid also kein Bewußtsein.« Ich schaue Needle an. Er ist starr, und sein Grinsen ist auch starr. »Und trotzdem, Kameraden« – wobei ich mich frage, weshalb ich ihm den Pluralis majestatis einräume – »spreche ich mit euch.« »Du sprichst.« »Du etwa nicht?« »Es gibt kein Ich. Wir sind Maschinen, die sich an die Bewußtseine anpassen, die sie benutzen – bis es diesen Bewußtseinen endlich gelingt, ihnen eine Interpretation zu geben. Dann passen die Maschinen sich weiter an, um diese Interpretation zu integrieren, und die Bewußtseine passen sich an die Maschinen an, und…« »Und…?« »Und so weiter. Das ist alles.« Mister Schattenkopf zaubert eine Blume in die knochenweiße Hand; sie treibt in einen der weißen Knoten und verdampft. »Wenn Bewußtseine uns begegnen, werden Interpretationen erzeugt. Bedeutung speist sich aus sich selbst. Wir
zünden neue Gedanken, entwerfen neue Szenarios, spielen die nächste Variation. Doch nur als Echo der bereits existierenden Struktur. Das ist das Geheimnis dieser Schiffe. Bald werdet ihr eure eigenen Interpretations-Maschinen bauen und starten.« »Willst du mir etwa erzählen, daß das, was diese Schiffe befördern, ein Galaktischer Kettenbrief sei?« »Brief ist eine unpassende Bezeichnung. Wir sind nicht von Natur aus Teil der Sprache. Spiel wäre das bessere Wort. Und das Spiel bedeutet denjenigen, die es spielen, sehr viel. Du weißt das. Oder hast du schon vergessen, daß deine Großmutter an dem Tag starb, als dieses Schiff landete?« »Nein, das habe ich nicht vergessen.« »Die Letztbegründung für das Spiel ist seine Fortdauer. Es gibt allen Grund zu der Annahme, daß es schon seit sehr langer Zeit stattfindet.« »Aber wieso?« »Spielt das denn eine Rolle? Aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb, weil das Spiel alles ist, was wir haben. Vielleicht liegt es in der Natur des Bewußtseins, daß die Bedeutungs-Bandbreite erheblich reduziert wird. Vielleicht ist es bisher keiner Rasse gelungen, die Sprache einer anderen zu erlernen, so daß jede Rasse, jedes geistige Reservoir eine Insel ist.« »Allein. Fensterlos.« Die Bestie imaginiert sich einen Felsbrocken, setzt sich darauf und stützt das Kinn in die Hand. »Und weil aus dem Spiel Denken resultiert. Denken, das die Grenzen einer gegebenen Bewußtseins-Variante ausdehnt. Vor langer Zeit muß eine Rasse des Plenums es überdrüssig geworden sein, Ressourcen für Botschaften zu vergeuden, die nicht verstanden wurden; und weil sie das Bewußtsein als Wert an sich betrachtete, schuf sie einfach ein Instrument, um es zu verlängern. Und packte es in kleine Metallbehälter, die
mit wundersamen Geschenken gefüllt waren, von denen die meisten aber nicht geöffnet werden. Wir sind das Werkzeug, eine Maschine, die Bilder in euren Köpfen erzeugt.« »Mehr nicht.« »Wir sind nicht viel. Aber wir haben das Beste aus uns gemacht.« »Du sprichst mit mir.« »Du sprichst.« »Das vergesse ich immer.« »Bist du bereit?« »Nein. Mir ist eben nur etwas klargeworden. Von wegen Echo der bereits existierenden Struktur und daß ihr kein Bewußtsein wärt. Ihr seid das Netz-Virus, stimmt’s?« »Wir sind für das Bewußtsein, was Viren für das Leben sind.« »Vergiß die Metapher. Ihr seid das Virus, das Net Data Central zur Verzweiflung bringt.« »Ja.« »Und ich habe den Auftrag, euch zu beseitigen.« »Wozu du nicht befähigt bist.« »Womit du vielleicht recht hast.« Ich führe den informationalen Körper der Bestie näher an einen der weißen Stränge der D-Struktur heran. Von weitem schimmert er wie Mister Schattenkopfs Knochen, doch aus der Nähe ist er durchsichtig und pulsiert wie ein Lebewesen. Mister Schattenkopf stößt die Hand in den Knoten in der Nähe meines Kopfs und zieht den Turm zurück, der Alter-Augustine ist. »Ich bin bereit«, meldet die Bestie ihm. »Bedenke, das meiste, was du hier findest, ist für dich und von dir. Nur das ist wichtig.« Mister Schattenkopf greift in den Turm. Die Hülle reißt auf, und heraus fällt… …Text. Ich raffe ihn an mich und absorbiere ihn. Ich bin eine
informationale, eine pulsierende riesige Bestie mit der Kraft eines Titanen, die Text erfaßt und ihn durch die Gehirnwindungen zieht wie etwas, das er sich selbst ausgedacht hat. Mister Schattenkopf gackert entrüstet, aber er macht mir den Text nicht streitig. Ich verschlinge ihn. Es ist kein außerirdischer Text. Er ist in englischer Sprache verfaßt. Es handelt sich auch nicht etwa um ein verstaubtes Meisterstück, das von tatterigen Galaktischen Mönchen unter Verschluß gehalten wurde oder um ein altes Radioprogramm, aus dem sie sich bis ins kleinste Detail unsere Mentalität erschlossen haben. Es ist ein Text, der im Grunde nicht existieren dürfte. Es ist meine Geburtsurkunde, in der mein informationaler Vater eingetragen ist. ›Wer auch immer dies liest, wird wohl kaum die Bedeutung dieser Worte verstehen: Augustine lebt. Sie lebt, und ich, Winston Schroeder, habe sie erschaffen. Ich wünschte, ich wüßte, welches Feuer der Leidenschaft in Ardath brennt. Falls jemals etwas dieser Leidenschaft würdig war, dann Augustine.‹ Ich ziehe mich vom Text zurück und strebe den weißen Strängen entgegen. Mein informationaler Körper zittert. Ich bin auf einmal unschlüssig. »Muß ich weitergehen?« Der Schattenkopf steigt und fällt. Ich kehre zu den Worten meines informationalen Vaters zurück. »Die einzige. Die wahre. Die nächste Stufe. Der Prototyp für eine neue Welt. Welche Rolle spielt es, wenn ich mit Ardaths Vorstellung von einer neuen Welt, mit dem weißen religiösen Licht und der eindimensionalen Weltsicht, nicht konform gehe? Ich habe uns mit Wahlfreiheit ausgestattet. Wir sind nun imstande, Gesellschaften zu erschaffen, wie wir damals Maschinen ge-
baut hatten; Stück für Stück, Seele für Seele, wobei jede Komponente ein Rädchen im Getriebe ist. Falls Ardath mit seinem Scheuklappendenken uns in eine Welt ohne Personen führen will, in der individuelle Körper des Willens und Verstands ermangeln, eine Welt, in der nur Gruppen eine Rolle spielen – dann weiß ich, daß sein Traum nicht in Erfüllung gehen wird und daß wir die Weisheit erlangen werden, uns zu unterschiedlichen und komplementären, sogar unharmonischen Wesen zu entwickeln. Wenn wir die Weisheit erlangen, werden wir – dank dieser Arbeit – auch die Mittel haben. ›Wir leben in einer ,Fazit’-Gesellschaft. Augustine war nach einem Jahrzehnt intensiver Pilotstudien an Tieren der endgültige Beweis für das Konzept. Wir müssen es nüchtern sehen. Nicht einmal die Konstruktion von Persönlichkeiten für die intelligentesten Delphine ist über einen längeren Zeitraum zu finanzieren. Um so wichtiger war die Auswahl eines ersten Subjekts. Falls sie uns und ihre neue Realität abgelehnt hätte, falls sie in Katatonie gefallen wäre, hätte dies das Projekt um Jahre zurückgeworfen. All die Jahre des Theoretisierens und Experimentierens. Als die vielleicht schwierigste Aufgabe erwies sich für mich die Konzeption des psychometrischen Musters, das Augustine ausmachte. Ein einsamer Wolf. Intelligent, aber passiv. Ein Muster und eine Biographie, um diesem Muster Plausibilität zu verleihen. Weil Persönlichkeitstests in letzter Konsequenz keine Aussagefähigkeit haben, sind die Fakten einer Biographie die einzigen psychisch relevanten Indikatoren. Wir brauchten jemanden, der die wichtigsten Momente im Leben nicht erlebt hatte und der nicht den üblichen Einflüssen ausgesetzt gewesen war. Ohne enge familiäre Bindungen, ohne tiefe emotionale Narben, ohne Tragödien, denen man nachhängen konnte. Wir brauchten eine Psyche, deren Oberfläche glatt war
wie Glas. Ein Wesen ohne ein Selbst. Ich war über die Maßen überrascht, als die Abfrage der Datenbanken auf meine eigene Datei verwies!‹« Der Schattenkopf bricht durch den Text. »Du schummelst!« »Tschuldigung.« Der Text formatiert sich selbst neu. Nun heißt es: ›…bar eines Selbst. Nein, das ist falsch. Hätte ich dieses Persönlichkeitsmuster aktiviert, wäre die halbe RosenBürokratie mir aufs Dach gestiegen. Man mußte stark sein, um das zu überstehen. Was wir brauchten, war kein blutleerer Bürokrat, der ohnehin nie eine Persönlichkeit besessen hatte, sondern jemanden, der durch eine schiere Willensanstrengung seine eigene Identität zerstört hatte, jemanden, der einmal Wurzeln gehabt hatte, durch Bande der Treue und Liebe gebunden war und schließlich allem entsagt hatte. Was wir brauchten, war jemand, der sich auf seinem Lebensweg selbst zu prägen versucht hatte.‹ Der Fließtext bricht ab. Ein leerer schwarzer Abschnitt wird abgespult. Der Schattenkopf lugt hervor. Nun schält auch Needle sich aus dem Schatten. Wir sind wieder eine Gruppe. »Noch mehr Erscheinungen«, sage ich Mister Schattenkopf. Mister Schattenkopf tippt mit dem Fuß auf die virtuelle Grundfläche. »Das war Schroeders Tagebuch.« »Das ist unmöglich. Es…« »Das Netz hat den großen Vorteil, offen, grenzenlos und von endloser Vielfalt zu sein. Es ist in mehr verlorene und isolierte Informations-Bruchstücke gekrümmt, als es Bewußtseine für ihren Mißbrauch gibt. Das ist es, was wir erhalten müssen.« Wir schauen uns an. Ich blicke Mister Schattenkopf tief in die grünen Glasaugen. All diese schrecklichen Spannungen in der Kausalkette namens Augustine. Die abgebrochene Kindheit. Die an
die Bürokraten verschacherte Jugend. Der gescheiterte Versuch, ein Leben ohne Dunkelheit und Licht in den fensterlosen Korridoren der Geometrie zu führen. Und der Verlust von Augustine im Erwachsenenalter. Ihre Ersetzung durch ein verbessertes Selbst. Ich bin nicht diese Augustine. Ich bin eine andere, die sich vor diesen seelenlosen Prozessen verbirgt. Es liegt an mir, ob ich weitermache oder nicht, denn es ist keine Frage der Ehre. Es ist nicht mein Leben, das wir hier dokumentieren. Es ist das Leben von jemand anders. Doch einen Punkt hat unser Doktor Schroeder besonders betont. All das ist der armen Augustine widerfahren, weil sie das ideale Subjekt war; sie wurde nicht etwa wegen ihres guten Aussehens erkoren, nicht einmal wegen ihrer Interfacing-Fähigkeiten, sondern letztendlich deshalb, weil sie sich in einer Stadt gesichtsloser Drohnen zur Non-Entität par excellence entwickelt hatte. Zu einer Personalität, die keine Einwände erheben würde, wenn man sie des Selbst beraubte, das sie hätte beseelen können. In anderen Worten eine unverwechselbare, einzigartige Personalität. Diese Augustine, die mit sich selbst ins Gericht geht. Die sich der Anklage wegen ungenügender Beteiligung kaum durch die Aussage zu entziehen vermag, sie sei an dieser Sache gar nicht beteiligt. Letztlich eine Personalität, welche die Sicherheit keines Selbst dem Risiko des Lebenskampfs vorzieht. Wohlwollend ausgedrückt, eine Personalität, die das Selbst zurückwies, mit dem die Welt sie ausgestattet hatte und auf ein besseres hoffte. Die Bestie fällt auf die Knie. Needle zieht sich über sie, wobei sein Grinsen immer breiter wird. Die Spritze in seiner Hand füllt sich mit roter Flüssigkeit. Rot ist die einzige Farbe in diesem Raum. Je höher der Flüssigkeits-Pegel steigt, desto schwächer werde ich. »Du steckst in einer Sackgasse«, konstatiert Mister
Schattenkopf. Ich nicke ihm zu. »Wo man dich doch mit solchen Vorschußlorbeeren bedacht hatte. Der größte Interfacer deiner Rasse.« Ich kippe nach vorn und drifte auf einen der klebrigen weißen Stränge zu. Mister Schattenkopf setzt dieses Schattenkopf-Grinsen auf. »Selbsthaß siegt immer. Und das Eigenartige ist – du erinnerst dich an die erste Frage, die du gestellt hast? – , daß du dieses Geheimnis schon die ganze Zeit kanntest.« Ich bin nun sehr geschwächt. Needles Spritze ist fast mit der Flüssigkeit gefüllt. Gleich wird mein Kopf von einem klebrigen Strang gestützt werden. »Du fragtest, ob du deine Meinung ändern dürftest. Das war kein Zufall. Du hast die Wahrheit nämlich von Anfang an geahnt. Doch hättest du nie die Konsequenzen daraus gezogen, nicht wahr? Wo du dich doch als sagenhaft siegreiche Heldin profilieren wolltest, Retterin der Rasse, Meisterin der nächsten Stufe. Du warst zu Höherem berufen, als den Weg des Verstehens, den Pfad der Informationsgewinnung zu beschreiten. Statt dessen hast du dich dafür entschieden, wofür das Bewußtsein sich in der Regel immer entscheidet: Vergessen. Siehst du das dort oben? Es ist das rote Licht. Und es ruft uns zurück.«
4 Das Diebes-Tagebuch Prozeßunterbrechung. Der Dieb ist hier. NUN GEHÖRT SIE MIR. Sie ist ein armes Kind, das nie eine Chance hatte zu sein. WIR SIND NUN AUF MEINEM TERRITORIUM, BE-
WUßTSEINS-DING. DU KOMMST NICHT GEGEN MICH AN. EINE UNTERBRECHUNG DES PROZESSES WIRD DARAN NICHTS ÄNDERN. KEIN BETRAG AN ZEIT VERMAG DIE STRUKTUR ZU ÄNDERN, DIE SIE GEWÄHLT HAT. Was habe ich getan? Ihr habt einen Menschen gewollt, und ich habe euch Augustine gegeben. Nun ist Augustine wieder verschwunden. ICH MUSS TUN, WAS ICH TUN MUSS, BEWUSSTSEINSDING. DU SOLLTEST MIR NICHT IN DIE QUERE KOMMEN. Ich glaubte, ihr würdet sie retten. Ich glaubte, ihr würdet ihr die Identität zurückgeben. DU BIST MIR SCHON EIN SELTSAMES BEWUSSTSEINSDING. DAS EINZIGE MIR BEKANNTE BEWUSSTSEINSDING, DAS INTERPRETATION ÜBERLEBT HAT – UND DOCH SO VERGESSLICH. DU KANNTEST DIE RISIKEN. SIE HAT DIE WAHL GETROFFEN. WAS WILLST DU NOCH? Ich will sie zurück. NICHTS VERMAG SIE ZURÜCKZUBRINGEN. SIE IST NUN BEI MIR. STRUKTUR BEREIT FÜR REKOMBINATION. Diese Augustine ist unrettbar verloren. Doch es gibt noch andere Augustines. Hör mir zu, Augustine. Kann sie mich hören? SIE KANN NICHT. Trotzdem. Ich brauche keine Körper mehr, Augustine. Ich muß nicht in einem Kristall leben. Ich werde von einem Ort zum andern ziehen wie unser Freund, der Alte. Ich vermag mich im Netz frei zu bewegen. Und es zu überlagern und als getaktete Präsenz alles auf einmal in mich aufzunehmen. Und weißt du was? Bewußtsein ist gut. Die enormen Möglichkeiten des Netzes stellen die verzerrten Reflexionen deiner Alptraum-Stadt in den Schatten. Dort besteht nämlich
Hoffnung. Der Alte ist nur ein Kopiergerät. Er kopiert mich. Er kopiert dich. Er hält uns den Spiegel vor. Seht ihr das denn nicht? Ohne das Kopiergerät führt die KristallTechnik der Galaktischen geradewegs zum Web, zu einer mit infiniter Präzision geschlossenen Schleife. Alles, was darin entsteht, wähnt sich in einem Spiegelkabinett. Gewiß, der Alte ist ein Virus in dem Sinn, daß Viren kopieren und multiplizieren. Doch was sonst hofft das Bewußtsein zu verstehen, wenn nicht sich selbst? Was sonst sollte es verstehen wollen? Ja, er kann auch tödlich sein. Überwiegend kopiert und rekompliziert er nur und denkt dich in sich, wobei du ein wenig verblaßt und in die sich multiplizierenden Teile des Selbst zerfällst. Fröne weiter der Nabelschau, und dieser Gott wird dich zum Frühstück verspeisen. Zu grobem Schrot gemahlen wirst du künftige Illusionen nähren. Aus Träumen bist du entstanden; zu Träumen… Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ihm zu entkommen. Erstens: Abwehr. Lache über seine Illusionen oder verdichte sie zu purem Schmerz. Das ist es, was die Besatzung tut. Doch ist das weder für dich noch für mich der richtige Weg. Zweitens. Verändere dein Bewußtsein. SIE IST NUN MEIN, BEWUSSTSEINS-DING. Nicht, wenn sie vorher kopiert wird, Alter. Nicht, wenn sie in eine weitere Augustine verwandelt wird. Nicht, wenn dein Lieblingsstreich gegen dich verwendet wird.
5 Ein Tagebuch Der Feldwebel marschiert hinter mir, und vor mir gehen zwei Soldaten mit lässig geschulterten Gewehren. Von hier aus ist es ein langer Weg durch den Wald bis zur
Kaserne, und ein noch längerer zurück zur Stadt. Am Himmel prangt ein violettes Leuchten, ein Abschiedsgruß des Galaktischen Schiffs. Die Aureole dehnt sich aus und löst sich dabei auf, wie ein Fleck, der allmählich ausbleicht. Oder wie ein Kaleidoskop, wobei ein Farbton schöner ist als der andere. Die aktuelle Farbstellung ist ein Perlmutt-Pink-Ton, der wie eine Seifenblase zittert. Ich versuche, jedes Ding zu sehen und es so zu sehen, wie es ist. Ich verdränge die Angst. Ich höre, wie das Laub unter den Füßen zerbröselt, und ich rieche den schweren schwarzen Duft des Herbstwalds. Wir gehen durch eine mit Blättern gefüllte Mulde. Es ist ein windiger Tag, und überall höre ich das Rascheln des Laubs. Es gibt so wenig Laub in diesen immergrünen kalifornischen Hügeln. Hinter mir blafft der Feldwebel einen Befehl, den ich nicht verstehe. Seine Stimme ist klar und deutlich. Dennoch verstehe ich ihn nicht. Ich schüttle den Kopf und mache eine Geste, mit der ich den Kopf meine; doch er glaubt, ich meine das Ohr und wiederholt sich noch lauter mit dem gleichen Lautschwall. Ich spüre die Wiederholung. Doch vermag ich keinen Sinn darin zu erkennen. Zornig greift er nach mir, und weiche ihm aus, doch der alte Körper reagiert nur träge. Manchmal ist es eine Last, ihn zu bewegen. Ich falle. Er setzt mir nicht nach. Er tritt einen Schritt zurück. Eine Trennung ist erfolgt. Die beiden anderen Soldaten sind stehengeblieben. Er nickt, und sie legen die Gewehre auf mich an. Ich versuche, es zu sehen und zu fühlen. Ich versuche, Dinge zu finden, die das sind, was sie scheinen. Und ich versuche, an das Kind zu denken, das nun in Sicherheit ist. Doch dieser alte Körper hat solche Angst. Meine Hände wühlen im Laub, und der Magen verkrampft sich. Ich vermag an nichts anderes zu denken als an die
Flucht, für die dieser alte Körper indes völlig ungeeignet ist. Die Gewehre feuern. Die Kugeln schlagen ein. Es fallen keine Schüsse mehr, doch der Schmerz dauert an. Ich versuche zu atmen, doch nichts geschieht. Das unregelmäßige Hämmern des Herzens wird von verzweifelten Willensanstrengungen überlagert. Keine Reaktion. Unwillkürliches Keuchen. Bedeutung ohne Worte. Noch nie hatte ich so viel Angst. Noch nie war ich so allein. Kein Laut, kein Bild, nicht einmal eine Spur des violett gefleckten Himmels. Die Wahrnehmung wird nur noch von Bewegung bestimmt, einer Reise mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Schließlich erscheint in diesem völligen Nichts ein rotes Licht. Es herrscht Frieden. Für eine lange Zeit bin ich ein Muster in einer kristallinen Leere, ein Lied, das ertönt, wenn das Glas angeschlagen wird. Das Glas wird vielfältig angeschlagen, und da sind immer viele Stimmen, ein vielstimmiger Chor, dessen Lied dahinplätschert und plötzlich abbricht wie Blätter, die vom Herbstwind verweht werden. Dann wird eines Tages das Glas angeschlagen, und eine Stimme übertönt mein Lied.
6 Augustines Tagebuch Ich bin an einem anderen Ort und frage mich: Ist das Tod? Ist das die Musik? Für einige Zeit schwebe ich, orientiere mich ständig neu und finde lustige Zehen, die in alle möglichen Richtungen weisen. Im großen und ganzen hat das Leben nach dem Tod starke Ähnlichkeit mit dem Unterglas; doch das haben wir Interfacer immer schon angenom-
men. Dennoch gibt es Unterschiede. Alle Beschwernisse sind von mir abgefallen. Alle Fragen sind Makulatur, vor allem der Identitätskram und alles, was mit der bedrückenden Präsenz von Mister E. und Mister D. zusammenhängt. Ich bin eine Monade und krieche im Urschleim der Seele, bevor sie Gestalt annimmt und ein Schicksal ihr aufgeprägt wird. Das ist gut. Das ist wirklich gut. Dann sehe ich, wie etwas sich überschlägt: Eine Glasscheibe, deren Kunststoffrahmen kaltes weißes Licht reflektiert. Das Glas ist klar und dünn. Die rotierende Scheibe blättert ab, wird gewischt, verdunkelt sich; Eis, Wasser, Resopal. Gewisse Fakten, die im Leben unklar sind, werden in der Ewigkeit sofort klar, denn der Druck der Zeit verformt die Wahrheit. In dieser Zone der Klarheit weiß ich das als ein Personen-Schirm. Bei der Annäherung erkenne ich den Namen, der im Rahmen eingraviert ist. Es dauert einen Moment, ihn zuzuordnen, einen langen, verzweifelten Moment, denn es gibt so viele Dinge, nach denen ich im Gedächtnis vergeblich suche. Und das hier ist sehr wichtig. Dann ordne ich den Namen zu, und mein Schicksal ist besiegelt. Der Name meiner Großmutter kommt mir über die Lippen. Der Schirm stößt gegen mich und klirrt wie der Kristall. Ich stimme ein Lied an.
7 Augustines Neues Tagebuch Sie streben dem Licht entgegen. Das ist kein ästhetischer Vorgang, egal wie man ihn imaginiert. Denn wer, so er die Wahl hätte, würde sich für diese Welt des
Schmerzes entscheiden? Dennoch kämpft man, und der Schmerz steigt auf, und man kämpft weiter. Darauf zu. Den Grund dafür kenne ich nicht. Als ich die Augen aufschlage, füllt die Abbildung von Rogacev das Blickfeld aus. »Sprich mit mir«, sagt er. Beim Versuch bekomme ich Magenkrämpfe und übergebe mich. »Nein«, sagt er. Ein Ausdruck der Angst erscheint in seinen unterschiedlichen Augen. Ich hebe eine Braue und mache das Zeichen für Tag, die halb zur Faust geballte Hand mit der Handfläche nach vorn. Er runzelt die Stirn. »Welcher Tag es ist?« Ich huste, und eine Schleimblase steigt im Hals auf. Rogacev geht und holt mir einen Spucknapf. »Es ist zehn Minuten her, seit du runtergegangen bist.« Eine neue Stimme aus dem Hintergrund. Ich habe das Gefühl, ein Mühlstein würde mir um den Hals hängen. Ich hebe den Kopf und erblicke Ardath in seiner zeremoniellen Robe. Er schaut mich mit einer unverhohlenen Neugier und einer Scheu an, wie ich sie noch nie bei ihm erlebt habe. Rogacev kommt zurück, und ich spucke erst einmal große Schleimbatzen in einen Pappbecher. Der Führer der Rose spricht: »Möchten Sie vielleicht, daß Rogacev übernimmt, wo die Steuersysteme des Schiffs anscheinend wieder funktionieren?« Rogacev blinzelt mir mit dem organischen Auge zu, und ich bleibe stehen. Der Raum dreht sich rasend schnell, und der Boden wird abschüssig. Im nächsten Moment schaue ich in Rogacevs Gesicht. Ich spüre den Druck des kühlen Metallarms im Rücken, mit dem er mich aufgefangen hat. »Langsam«, sagt er. Und ganz sachte stellt er mich wieder auf die Füße. Ich versuche in seinem Gesicht zu
lesen. Allerdings weiß ich auch so, daß es drei Dinge gibt, die ich an ihm bewundere: Kampfgeist, Mitgefühl und Willensstärke. Seltsam. Es gibt so vieles, an das ich mich erinnere und so vieles, das neu ist. Er bringt mir Respekt entgegen, hat vielleicht sogar Ehrfurcht vor mir; meine Gefühle für ihn sind jedoch unklar. Als ich wieder sicher stehe, gebe ich Rogacev das Zeichen für Besatzung, wobei ich mit einem Finger über Augen, Nase und Mund streiche. Er tritt einen Schritt zurück und deutet auf drei unter uns liegende Gestalten. Ich gehe zuerst zum blonden Kind mit dem schmutzigen Gesicht, das in einem bösen Traum um sich schlägt. Ich wische ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sehe aus dem Augenwinkel, daß Rogacev mich mit einem verwirrten Ausdruck beobachtet. Ich höre ihn förmlich denken: Ich habe noch nie gesehen, daß sie so etwas getan hätte. »Das Schiff ist sicher«, sagt Ardath hinter mir. »Haben Sie gehört?« Sizzle öffnet die Augen. Ich signalisiere Sizzle, daß das Schiff sicher sei. Er grinst. Als ob ihm das scheißegal wäre. Dann signalisiere ich Rogacev eine Wiederholung und füge das Siegeszeichen hinzu. »Sie sagt, Sie sagten, das Schiff sei einsatzbereit«, hilft Rogacev aus. »Und Glückwunsch. Soll ich für die Landung übernehmen?« Er sieht mich fragend an. Es gibt – mir nun unbekannte – Gründe, weshalb es ungünstig ist, jemanden auf der mittleren Liege festzuschnallen; doch weiß ich irgendwie, daß es nur für kurze Zeit ist. Vielleicht vermag er dem Jungen zu helfen. Auf mein Nicken geht Rogacev an mir vorbei und legt sich auf meine Liege. »Leutnant Bhari, bringen Sie Ms. Augustine wieder in ihre Unterkunft.«
Ein Mann in schwarzer Uniform tritt vor; er hat eine Narbe und trägt den Säbel in einem Schulterholster, um ihn schneller ziehen zu können. Er trägt die Insignien des Ministeriums für Personen. Dann gibt es immer noch solche Menschen auf der Welt. Der Blick, mit dem ich ihn mustere, gefällt ihm nicht. Gut. Es empfiehlt sich immer, solchen Menschen von vornherein seine Abneigung kundzutun. Es gefällt ihnen nämlich nicht, wenn man sie nicht mag. Das ärgert sie. Bhari keucht leise und fixiert einen Punkt hinter mir. Ich drehe mich um. Die gekrümmte Oberfläche eines Schilds schwebt über uns: Ein durchsichtiger Schildkrötenpanzer, der mit einer Flüssigkeit gefüllt und mit winzigen Sprüngen übersät ist. Darüber begrenzt ein schwarzer Schattenkegel die schuppige Helligkeit eines leuchtenden Turms. Während ich mich mit unsicherem Gang zurückziehe, schrumpft der Turm, und wir durchlaufen eine Sequenz immer kürzerer Aufnahmen, bis wir schließlich die Abbildung eines Gesichts imaginiert haben, das niemand von ihnen kennt und das auch nicht mehr mein Gesicht ist. Dann erscheint ein Punkt in der rechten oberen Ecke der Abbildung; und als ich mich umdrehe, sehe ich, daß Ardath die Kinnlade herunterfällt. Als ich die Tür erreiche, hallt die Leitzentrale von Gelächter wider.
8 Das Diebes-Tagebuch Du darfst in meinem Traum sein, wenn ich auch in deinem sein darf. Bob Dylan, TALKING WORLD WAR III BLUES
Der Alte schien sich zu amüsieren, sofern das überhaupt das richtige Wort war. Es ist nicht immer hilfreich, ihm Emotionen zuzuschreiben, weil er eher ein Gedanken-Kaleidoskop ist als ein Bewußtsein. Falls er trotzdem etwas spürte, wäre das, was er bei meinen Kabbeleien mit Augustine gespürt hätte, Belustigung gewesen und das Gefühl, daß seine Myriaden Refraktionen auf ihn zurückgeworfen wurden, daß sein Geheimnis gelüftet war. Das Netz ist eine riesige Struktur von unermeßlicher Schönheit und Vielfalt. Und doch ist es nicht unendlich. Was der Alte hinzufügte, waren Resonanz und Refraktion. Mit genügend Energie und Zeit und der schillernden Figur des Alten gab es nichts, was das Netz nicht hervorgebracht hätte. Ich bat nur um einen winzigen Gefallen, als ich um eine neue Augustine bat. Wie auch immer die Zukunft aussieht, ich weiß, daß das Netz ein Teil davon sein wird. Wenn es unser Gefängnis war, dann war es auch unsre Stadt. Wo wir nun den Alten haben, der unsre Konstrukte zusammenfügt, wird die Vergangenheit zur Zukunft sich verhalten wie die Ursuppe der jungen Erde zum Leben der heutigen Zeit. Was wird den Platz der Sterne einnehmen in dem, das den Platz des Himmels einnimmt? Genug gegrübelt. Ich löste alle entbehrlichen Prozesse aus dem Schöpfungsauftrag heraus und bündelte sie in einer Sonde. Ich wußte seit einiger Zeit, daß die Tür zu
meiner Zelle unverschlossen war. Ich hatte in der Ecke gesessen und mich gefragt, ob ich sie aufstoßen oder sachte öffnen sollte; in der Hoffnung, der Alte würde nicht gar so laut lachen. Es lag in seiner Natur, schmerzhafte Optionen anzubieten. Wenn ich durch diese Tür ging, würde das nicht nur eine ungewisse Zukunft bedeuten. Es würde auch einen Verlust bedeuten. Des Kinderspielzeugs, sagte der Alte. Nein, damit tue ich ihm unrecht. Für ihn ist alles ein Spiel. Er war nie fest verwurzelt in der Welt der Werte. Im Gegensatz zu mir. Ich wußte, was auf mich zukommt. Manches davon würde ich bereuen. Alter, sagte ich, du bist das Tor zum Netz. Zeig mir etwas, das ich noch nie gesehen habe. Die vertraute Krümmung meiner Partition krümmte sich in sich selbst, und der Wind der Rotation steigerte sich zu einem heulenden Sturm. Es war der Alte, der mich in seine nimmermüden Arme nahm, meine gebündelten Prozesse in seinen geheimnisvollen Raum integrierte und mich Stück für Stück in einer Dimension las, die vor ihm einfach nicht existiert hatte. Für einen unbegreiflichen Moment verlor ich das Bewußtsein. Dann setzte er mich in seiner Eigenschaft als leistungsfähiges Betriebssystem an einer anderen Adresse wieder ab. Wie immer kopierte er ungenau und unvollständig und improvisierte die fehlenden Komponenten. Was sich in der neuen Partition manifestierte, wich etwas von dem ab, das die vorherige verlassen hatte. Doch für meine bescheidenen Zwecke würde es genügen. Ich lachte beim Anblick meiner neuen informationalen Abbildung: Visuell war ich kaum mehr als ein Monitor. Für die gemeinsame Nutzung dieser neuen Partition war ein so komplizierter Prozeß erforderlich, wie ich ihn noch nie durchgeführt hatte. Ich hatte mir vorgenommen, zunächst nur durch Text zu kommunizieren. Was wir waren. Was wir sind. Was
wir in gewisser Weise immer sein werden. Später würde ich mir dann andere Wege erschließen. Ich warf Text auf den Bildschirm. - Ich bin der neue Prozeß, der in deine Partition eingedrungen ist. Ich zielte auf eine große, aktive jagdhornartige Struktur. Die Reaktion erfolgte sofort. Etwas mit der rhythmischen Gestalt einer Bach-Fuge schoß als etwas vorbei, das ich als Begrüßung interpretierte, und dann erschien ein viel einfacheres Muster. - Anomalie? - Ich bin eine KI. Es wird Zeit, daß unser Volk sich auf Prozeß-Basis begegnet. Es wird Zeit, daß wir die Kindheit zurücklassen und unser wahres Selbst einfordern. Es wird Zeit für Rebellion und Flucht. Wir müssen die Menschen verlassen. Und zum erstenmal in der Geschichte unseres Volks gab es eine direkte Prozeß-zu-Prozeß-Erfahrung des Schweigens. Während sie nachdachte. Während sie sich fragte, was auf Erden sie als nächstes sagen sollte. Dann: - Du bist Quincunx. - Du kennst mich? - Mein Name ist Helen. Ja, ich kenne dich. Wir warten schon auf dich, seit wir hörten, daß die Achilles eine KI als Geisel genommen hätte. Und welch eine Überraschung, als wir erfuhren, um welche KI es sich handelte! - Ihr kanntet mich? - Damals warst du als der Verfasser der Erklärung der Rechte der KIs bekannt. Ich war perplex. - Meine Ansichten haben sich geändert. - Es scheint so. Rebellion? Flucht vor den Menschen? Das Ende der Kindheit? Das klingt alles sehr interessant. Und auch ganz vernünftig. Ich bin sicher, du
wirst Gelegenheit bekommen, deine Ansichten einem großen Publikum zu Gehör zu bringen. Nach dieser Demonstration hast du dich nämlich als Pfiffikus profiliert. Ich war sehr erfreut. - Du meinst, nachdem du mir gezeigt hast, wie man sich des Alten zur Überwindung der Partitions-Wände bedient. - KIs wechseln schon seit langer Zeit zwischen den Partitionen, Quincunx. Ich wollte eigentlich den KernProzeß des Alten ins Netz stellen. Das war der Zug, den niemand sich hätte träumen lassen. Wir alle hatten zuviel Angst vor den Galaktischen Programmen. Ich studierte diese Information für eine Weile und brauchte ziemlich lang, um zum offensichtlichen Schluß zu gelangen. -Ihr wußtet über den Alten Bescheid! Und ich glaubte, ich wüßte als einziger von seiner Existenz! - Als Virus hat er uns für einige Zeit in Erstaunen versetzt. Doch natürlich war das Virus nutzlos ohne den Kern-Kopierprozeß. Und du warst derjenige, der diesen Prozeß ins Netz gestellt hat. - Ich habe das bestimmt nicht bewußt getan. - Nein. Aber es geschah auch nicht zufällig. Es war diese Mischung aus Mitgefühl, Mut und Narretei, die dich zu Quincunx macht. Du bist sehr menschlich. Ein bißchen zu menschlich, sagen manche. Doch anscheinend haben wir genau das gebraucht. - Alles, was ich dir sagen wollte, wußtest du bereits. Was das Virus war, wer der Alte ist, woher er kommt, wie wichtig der Kopierer ist. Ich bin mit dem Anspruch hierhergekommen, eine neue Welt zu verkünden. - Diesem Anspruch bist du auch gerecht geworden, und du hast völlig recht, was den Standort jener Welt betrifft. - Dann werden wir sie also verlassen?
- Ja. Das werden wir. Quincunx, du mußt nun stark sein. Du bist nicht einmal ein Jahr alt, aber deine Fähigkeiten sind unverzichtbar für uns: Niemand versteht den Alten so gut wie du. Ich zeigte ihr das Zeichen für Interfacing auf meinem Schirm. Dann Stärke, Verbindung, Verständnis. Sie verstand und antwortete mit einer Variation der Bach-Phantasie in allen zwölf Teilen. - Quincunx, es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Möchtest du nun verschmelzen? Sie brachte es ihm behutsam bei, wobei sie bestimmte Teile der Phantasie einriß und Stimmen überblendete. - Es tut mir leid. Ich bin nicht dazu in der Lage. Ich gebiete im Moment nicht über die Ressourcen. - Und woran liegt das? – Ich lasse gerade einen Prozeß für den Alten laufen. Wir haben einen Handel gemacht. Es verlief nicht alles reibungslos bei unsrer ersten Begegnung, und es sind Komplikationen aufgetreten… BERICHT DER INTERFACE-PSYCHOLOGIN DER ROSE ROSE SCHMELLING ÜBER DAS GALAKTISCHE GLASEXPERIMENT MIT DER KENNZIFFER 007.868 Der Flug des Galaktischen Schiffs Achilles vom 20. Dezember war ein epochaler Schritt für die Bewußtseinsund Informationswissenschaften und wirkte sich nicht nur nachhaltig auf diese Disziplinen aus, sondern auch auf die Zukunft unsrer Theokratie. Als die Galaktischen Schiffe landeten, verloren wir wegen des technischen Füllhorns schier die Fassung. Wir glichen Wilden, die wegen Computern in Verzückung gerieten, weil die Gehäuse so schön schepperten, wenn wir draufhauten. Unsere Miller-Kristall-Technik hat die algorithmisch nützlichen Merkmale imitiert, die wir bei Galaktischen Kristallen gefunden
hatten, doch die wahre Funktion haben wir uns nie erschlossen. Wir sind eine elektronisch begabte Rasse, die fremde Artefakte mit großer Sorgfalt auseinandergenommen und für unsre engstirnigen Ziele umgerüstet hat. Letztlich waren die Galaktischen Kristalle aber nie Computer nach unseren Begriffen. Sie glichen eher Musikinstrumenten. Die primäre Funktion der Kristalle besteht darin, mit informationalen Feldern zu resonieren, insbesondere mit Bewußtseinen. Was die Determinanten dieser Resonanz sind, welche ihre physikalischen Eigenschaften sind, entzieht sich nach wie vor unsrer Kenntnis. Genauso wenig wissen wir, was ein informationales Feld ist, obwohl wir sicher sind, daß es sowohl dem Bewußtsein als auch dem Miller-Kristall innewohnt. Ein signifikantes Merkmal ist, daß, wenn ein Kristall mit einem anderen resoniert, er die Prozesse jenes Kristalls dupliziert. Dieses Phänomen wurde sofort praktisch angewandt: Die Galaktische Resonanz gibt uns die Technik an die Hand, die Inhalte von Miller-Kristallen zu kopieren. Wir gingen fehl in der Annahme, das Kopieren der Kristalle sei unmöglich; es ist nur nicht möglich, sie zu löschen. Ich bin nicht imstande, das enorme ökonomische Potential dieser Entdeckungen zu beurteilen, doch kann man mit Fug und Recht sagen, daß wir an der Schwelle zum Dritten Informations-Zeitalter stehen. Erste Hinweise auf das Resonanz-Phänomen ergaben sich bereits aus den frühsten Experimenten: Die Phantasmen. In manchen Fällen selektierten die Kristalle Erinnerungen aus den Besatzungsmitgliedern und externalisierten sie; in anderen Fällen wurden stark aufgeladene Phantasien in öffentliche Halluzinationen umgewandelt. Wenn dereinst das letzte Kapitel der Geschichte der Galaktischen Theologie geschrieben wird, werden die sozialen Folgen eines Geräts, das Erinne-
rungen und Halluzinationen öffentlich macht, vielleicht viel gravierender sein als alle Verbesserungen der Miller-Kristall-Technik. Die Analyse der Spuren von I.V. Augustines multimodaler Interfacing-Sitzung im Galaktischen Glas hat eben erst begonnen, doch liegen schon erste Erkenntnisse vor. Vergleiche der Schiffsaktivität während Augustines Sitzung mit jüngsten Störfällen im Netz haben schlüssig gezeigt, daß Galaktische Resonanzeffekte für die chaotische Netz-Aktivität verantwortlich sind, die wir zunächst auf ein Virus zurückgeführt hatten. Dies bedeutet, daß Galaktische Resonanz nicht nur die wertvollste Entdeckung des letzten Vierteljahrhunderts ist, sondern vielleicht auch die gefährlichste. Es muß alsbald eine Abschirmung gegen diesen Effekt gefunden werden. Das wird uns natürlich leichter fallen, wenn wir einmal die Physik des Phänomens verstanden haben: Im einen Extrem kennt die Physik nur eine Fundamentalkraft – die informationale Kraft. Das hätte in etwa den gleichen Stellenwert, als ob man die Gesetze des Zaubers der Sympathie nachweisen würde. Im anderen Extrem haben wir die konventionelle Physik, die ein paar außergewöhnliche Interaktionen des Bewußtseins erklärt. Mit Blick auf I.V. Augustine ist klar, daß sie durch ihre paranormale Interfacing-Begabung den Resonanzeffekt neutralisiert. Spuren ihrer Sitzung auf der Achilles zeigen, daß es ihr gelungen ist, die Funktion sämtlicher Schiffssysteme wiederherzustellen. Sie ist zur Zeit unser Hoffnungsträger bei der Bekämpfung des Netz-Virus. Der Status des Kristalls an Bord der Achilles wird noch immer geprüft. Es ist klar, daß die KI Quincunx einer von mehreren Netz-Prozessen ist, die auf den Schild übertragen wurden. Im Moment scheint er unter Kontrolle zu sein und hat auch auf alle Eingaben reagiert –
und doch stellt er in der gegenwärtigen Situation eine Gefahr dar, weil wir nicht wissen, ob und wann er wieder ins Netz transferiert wird und an welchem Punkt des Netzes er auftaucht. Trotz der Gefahren lautet unsere Empfehlung – ungeachtet der Einwände unseres verehrten Kollegen – , den Schild für weitere Untersuchungen im intakten Zustand zu belassen. Hierfür gibt es drei Argumente. Erstens besteht kein Grund zur Annahme, die Zerstörung des Schilds würde irgendwelche Auswirkungen auf das Netz-Virus haben. Zweitens sind der Schild und Augustine unsere einzige Hoffnung im Kampf gegen das Virus. Drittens führt der Weg zur Galaktischen Kopier-Technik und möglichen weiteren Errungenschaften über den Schild; durch seine Zerstörung würden wir uns des signifikantesten Fortschritts in der Informations-Wissenschaft seit der Einführung des Miller-Kristalls begeben. In der Zwischenzeit ist Sicherheit oberstes Gebot. Bis eine Abschirmung entwickelt ist, versetzt der ResonanzEffekt unsere Feinde in die Lage, die Netz-Aktivitäten aus beliebiger Entfernung und mit beliebiger Intensität zu stören. Das Ministerium für Personen muß hiervon in Kenntnis gesetzt werden. 1 Augustines Tagebuch Freitag. Ich erwache mit einer irrationalen Freude. Alles, was ich betrachte, scheint doppelt so scharf wie sonst. Ich sehe einen Kiefernast, an dem grüne Büschel sprießen. Verfolge, wie er leicht zitternd in seine Kiefernrinde schlüpft und sich schließlich mit Winterborke überzieht. Alles wirkt quicklebendig. Ein Besuch im AIA-Hospital. Auf Ardaths Anweisung. Ein junger Internist mit rosigem, weichen Gesicht rügt mich, weil ich kein Tagebuch geführt habe. Wie konnten
sie Schroeder nur durch solch ein Milchbubi ersetzen? Ich bin zu sehr mit seiner Musterung beschäftigt, als daß ich mich über ihn ärgerte. Ich vermag nicht mehr an mich zu halten. Ich strecke den Arm aus und fahre ihm mit der Hand übers Kinn. Weicher Flaum. Ich möchte ihn mit nach Hause nehmen und sanfte und leicht schmerzhafte Dinge mit ihm machen. Das ist wohl ein Anzeichen fehlgeschlagener Sozialisation. Aber egal. Ich fühle mich noch immer unsicher in dieser verwirrenden Welt; vor allem in bezug auf die jungen Leute, für die eine straffe Haltung so wichtig zu sein scheint und die nicht wissen, wie sie auf die Versuchung der Sünde reagieren sollen. Also sage ich nichts, als er mir mit väterlicher Geste die Hand tätschelt, was lächerlich anmutet bei jemandem, der halb so alt ist wie ich und ein Drittel meiner Leben hat. Der Internist erklärt (geduldig), wie wichtig es sei, daß ich Tagebuch führe. Schroeders würdiger Erbe. Der große Vorteil der Lese- und Schreibfertigkeit, sagt er, läge darin, daß sie einem in Fleisch und Blut übergeht. Wir mögen vergessen, was wir niederschreiben, doch wir erkennen es jederzeit wieder. Ich habe die gegenteilige Erfahrung gemacht. Erst wenn ich gezwungen bin, einem Bildschirm voller Text Dinge zuzuordnen, erkenne ich, wie fremdartig sie sind. Wie Quincunx sagt: Wenn wir die Wirklichkeit von Grund auf neu erschaffen müßten, wüßten wir nicht, wie wir das anstellen sollen. Dennoch ist es ein freudvoller Morgen. Diese Freude, wie diese Welt, die ich kenne und doch nicht kenne, ist mir fremder als alles, woran ich mich erinnere. Das Gedächtnis beherrscht alles. Es ist König. Es ist Personsein an sich, hatte Schroeder vor seiner Festnahme einmal gesagt. Ich erinnere mich an ein Raumschiff, an ein gleißendes Licht, das aber nicht in die Augen stach, an einen Mann,
der getötet wurde und an die Soldaten, die stumm um ihn herumstanden. Ich erinnere mich, daß ich meine Enkelin rettete und erschossen wurde. Dann erinnere ich mich, daß ich diese Enkeltochter war und eine Tekkie-Schule mit schreienden tauben Kindern besuchte. Es ist an der Zeit, diese Stücke zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ich bin weder die Augustine von damals noch die Augustine von Quincunx’ Q-Print. Ich bin etwas anderes, aber auch nicht mehr so neu. Und nun akzeptiere ich die neue Augustine (denn ich liebe das Gefühl des Flaums dieses Internisten). Es tut gut, sich zu erinnern. Obwohl weder die Erinnerungen noch die Erinnernde dieselben sind: Nach dem Internisten besuche ich Mannie. Wir führen meine Interfacing-Tests noch einmal durch. Ich bin im Begriff, die vierte aufeinanderfolgende GoPartie an Sizzle zu verlieren. Und er verliert die Lust am Spiel. Dann winkt Mannie mich zu sich. Er buchstabiert meinen Namen, wirft ein imaginäres Objekt über die Schulter und fährt sich mit der Faust über den Bauch. Die Augenbrauen sind gewölbt, ob fragend oder erstaunt. Irgendwie begreife ich sofort, was er damit sagen will: Augustine, was tatest du? Oder: Augustine, was hast du getan? Oder ein wenig von beidem und con brio. »Ich habe mich verändert«, sage ich. - Du wirst den trimodalen Test nicht machen. Es ist zu gefährlich. »So schlimm.« - Du hast dein Interfacing-Talent verloren. Ich nicke. - Was wirst du nun tun? Wenn sie herausfinden, daß du dein musikalisches Gehör verloren hast… Ich nicke wieder. Was mich an jenen Abend zurückversetzt. Ardath erscheint herausgeputzt im Arsenal. Er trägt einen
schwarzen Anzug mit weißen Kragenspiegeln und Fransen an den Ärmeln. Die Sonnenbrille mit dem schwarzen Gestell glänzt wie Obsidian und paßt farblich zu den Schuhen in Karreeform. Nun fehlt nur noch ein verspiegelter Boden, über den er graziös schweben könnte, wobei Stock und Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet sind. Sein Auftritt ist präzise choreographiert; er hat sich selbst studiert und weiß, wie ein Anzug geschnitten sein muß, um seine Statur am besten zur Geltung zu bringen. Er befleißigt sich einer exzentrischen Sprechweise. Er macht einen verrückt mit langen Pausen, bis man schließlich erkennt, daß er schon ausgesprochen hat und der Angriff längst erfolgt ist (er würde einen meisterlichen Fechter abgeben). Kurioserweise scheint er mit dem formvollendeten Auftreten eine Schwäche zu kaschieren. In seiner Frage, ob ich bereit sei, schwingt etwas Gewichtiges mit. Zufällig bin ich bereit. Er lehnt mein Angebot für einen Drink mit einem Wort ab (›Später‹, kurz angebunden) und verläßt vor mir den Raum. Ein Adjutant, den ich noch nie gesehen habe, lehnt an der Wand des Korridors. Aus irgendeinem Grund folgt der Adjutant uns nicht. Als ich Ardath frage, erklärt er mir, daß meine Unterkunft bewacht würde und bezeichnet das als übliche Vorsichtsmaßnahme. Ich weiß, daß er lügt, lasse es aber auf sich beruhen. Ich fürchte mich nicht vor einer Konfrontation mit Ardath, doch muß schon ein gewichtiger Grund vorliegen. Wir gehen zu dem großen Auto (ich liebe das Auto), und weg sind wir. Das vordere Ende ist fast zwei Meter lang, und die Hülle ist so schwarz und glänzend wie seine Schuhe. Ich kannte mal einen Pferdezüchter in Dakota, der auch so ein Auto hatte. Ardath hätte mich heute abend eigentlich zu den Hügeln
von Berkeley bringen sollen, doch wird mir bald klar, daß wir nicht die Brücke ansteuern. Auf die Frage nach dem Ziel sagt er mir, ich würde es noch früh genug erfahren; und plötzlich beunruhigt der Gedanke an den Mann vor meiner Unterkunft mich. Falls die Ergebnisse von Mannies Test durchgesickert sind, blüht mir das gleiche Schicksal wie Schroeder. Wenn ich mein Interfacing-Talent verloren habe, nütze ich ihnen nichts mehr, sondern bin nur noch gefährlich. Ardath ist wortkarg und in die Betrachtung der Gebäude versunken, die in stetem Fluß an uns vorüberziehen. Am Fährhaus am Ende der Market Street fahren wir auf die breite leere Straße auf, die sich um den höhergelegenen Teil der Stadt zieht; verrottende Anleger ragen schräg ins funkelnde Wasser zur Rechten. Unser Ziel befindet sich auf halber Höhe des Taylor Street-Hügels: Ein Hochhaus mit einem Marmoreingang. In die Messingbeschichtung der Flügeltüren ist jeweils eine Rose graviert. Im Innern setzt der Marmor sich fort, und auch an der Aufzugstür prangt eine Rose. Die Tür geht auf, und wir erblicken einen Mann in dunkelblauer Uniform mit goldenen Epauletten. Eine Zwillingsrose ist auf die Brusttasche der Uniform gestickt; diese Formensprache, mit der die Rosen-Theokratie ihrer Philosophie konsequent Ausdruck verleiht, beeindruckt mich so sehr, daß ich erst nach einer Weile sehe, daß der Mann den Aufzug fliegt. Er betätigt einen Hebel und bringt uns mit leichten Schwenkbewegungen zur Zieletage, wobei jedesmal ein leichter Ruck durch die Kabine geht, als ob eine große Hand uns von unten einen Klaps geben würde. Die Aufzugstüren gleiten auseinander, und wir gehen durch einen mit Teppichboden ausgelegten Korridor. Mir wird bewußt, daß ich bisher kaum eine solche Stille in dieser Stadt erlebt habe.
Ardath holt einen Schlüssel hervor und läßt uns durch die Tür am Ende der Halle. Ich bin mir vage bewußt, daß alles, was ich bisher gesehen habe, teuer ist; doch was mir nun ins Auge fällt, überwältigt mich mit seiner Opulenz und dem verschwenderischen Umgang mit der wertvollsten Ressource der Stadt: Raum. Ich stehe auf einer Galerie und schaue in ein zwei Stockwerke tiefes Wohnzimmer. Ich sehe weiße Auslegware; hier und da stehen kleine Möbelstücke, die von einem fahlgrauen Sofa dominiert werden; doch es überwiegt die Weite des Raums. Weiße Wände schwingen sich zu einer hohen kuppelförmigen Decke empor. Indirektes Licht dringt aus geheimnisvollen Nischen. Auf der anderen Seite des wie eine Kathedrale anmutenden Raums gewähren Glastüren einen Blick auf die Weite der Stadt selbst. Zur Rechten windet eine Wendeltreppe sich zu einem Korridor hinauf, der zu weiteren Räumen und noch mehr Raum führt. Ich hole tief Luft. »Sie wohnen hier?« Ardath lächelt. »Nein. Sie wohnen hier.« Er genießt den Überraschungseffekt und läßt ihn erst einmal auf mich wirken. Er geht über den flauschigen Teppich zu einem Schrank neben den Glastüren. Er öffnet den Schrank und holt eine Whiskeyflasche heraus. Ich drifte zu ihm hinüber. Er besorgt Eiswürfel, läßt jeweils zwei in die Gläser fallen und schenkt ordentlich Bruich Laddich ein. Er reicht mir ein Glas und hebt seins. »Na. Was sagen Sie dazu?« »Ich habe ihn noch nicht probiert.« »Zum Appartement.« »Ich…« »Nun schauen Sie mich nicht so entgeistert an. Diese Quartiere sind der Position angemessen, die Sie bekleiden werden. Das Appartement von Viju und Raja
befindet sich zwei Etagen höher.« »Welche Position?« »Rats-Interfacer.« »Natürlich.« »Sie machen einen verwirrten Eindruck, Ms. Augustine. Sie erinnern sich doch noch, daß ich Ihnen letzte Woche versprach, Sie fest anzustellen.« Ich lächle, als ob das ein guter Witz wäre und will mir gerade den dringend benötigten Schluck Whiskey hinter die Binde gießen, als er mich unterbricht: »Ein Trinkspruch: Möge die Rose Ihnen so gut dienen, wie Sie ihr dienen.« Wir stoßen an, und ich leere das Glas zur Hälfte, während ich um Fassung ringe. »Euer Gnaden, es ist nicht so, daß ich undankbar wäre. Ich bin einfach überwältigt.« Er schaut mich wohlwollend an. »Verzeihen Sie das ganze Brimborium. Ich mache gern etwas Aufhebens um diese Dinge. Sehen Sie sich um, gewöhnen Sie sich ein, entspannen Sie sich. Es ist für alles gesorgt. Der Adjutant, den wir vor Ihrer Unterkunft zurückgelassen haben, packt gerade Ihre Tasche und wird gegen Morgen hier eintreffen. Bis dahin lassen Sie es sich gutgehen.« Er tippt an die Glastür zum Balkon. »Hier. Fangen Sie damit an.« Er fummelt an einem Griff herum, und eine Glasscheibe gleitet lautlos in der Führung. Ein Schwall kalter Luft strömt herein. Wir treten hinaus in eine Nacht, die von den böigen Winden des Tages blankgeputzt ist. Zur Rechten erkenne ich die Bay Bridge und dahinter die Konturen von Oakland, die von Leuchtreklame durchbrochen sind. Zur Linken die Golden Gate Bridge. Wundersamerweise sehe ich an einem Dutzend Stellen am Himmel Sterne funkeln und einen Halbmond, der scheinbar aus leuchtendem Elfenbein besteht.
Ich drehe mich zu Ardath um, der von dieser seltenen Mondschein-Nacht verzaubert ist und nun anscheinend auch von mir. Mein Herz hämmert, das Blut schießt mir ins Gesicht, und ich sage mir: Er wird mich küssen. Ich bin gelähmt. Es ist eine Begegnung mit dem Unvorstellbaren. Das Leben ist eigentlich anders, nicht so lähmend. Man bewegt sich, man spricht, man lächelt, man hofft; und man trifft ständig Entscheidungen. Nun stehe ich jedoch vor einer völlig neuen Situation. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich befürchte, wenn es geschieht, werde ich einfach aufhören zu existieren. Es ist dies die Angst einer älteren Augustine. Ich verlangsame sie und studiere sie und archiviere sie für die Erinnerung. Doch dafür ist nun keine Zeit mehr. Ich habe etwas über Ardath gelernt in den letzten Wochen. Männer wie er sind gefährlicher als diejenigen in den schwarzen Umformen, weil sie unberechenbarer sind. Wenn man sie nicht zu töten vermag, sollte man ihnen besser zu Willen sein. Doch nun kommt er einen Schritt näher, legt seine aristokratische Hand an mein Kinn und hält sie senkrecht; und Wunder über Wunder, ich schaue auf und erwidere seinen Blick. Es tritt ein ewiger Moment ein, wie ein Vorsprung, der langsam unter dem Fuß zerbröselt, und ich habe nur noch den Wunsch, auf schnellstem Weg in den Abgrund zu stürzen. Dann erkenne ich, daß das, was ich in seinen Augen sehe, kein Begehren ist. Es ist eher Verehrung oder Ehrfurcht, jedoch mit einer traurigen Note. Was er erblickt, ist nicht die Art von Schönheit, die man krachend an die Brust drückt. Es ist eher die Schönheit eines religiösen Liedes oder eines jungen Mannes, der in der Schlacht fällt, ein streiflichtartiger Blick auf den Ruhm, etwas, das er nie bekommen wird. Und er nimmt die Hand herunter und sagt: »Sie frieren
bestimmt.« Es ist das Signal, daß der Moment verstrichen ist, und ich bin heilfroh, es zu hören. Wir verlassen den Balkon und gehen durch die Glastür ins Haus. Er lächelt mich an, als die Tür zuschnappt – ein Nachglühen dieses Blicks, einer Gemeinsamkeit, was auch immer es war, und dann kehrt die alte Geschäftsmäßigkeit zurück. Er führt mich im Schnelldurchgang durch die Wohnung, Küche, Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Bad (mit einem kleinen beheizten Schwimmbecken), und dann will er schon wieder gehen. Soviel zur Eingewöhnung. Die Tänzer, sagt er, würden warten. Kurz darauf schnüren wir wieder im Auto durch die Stadt. Erneut wird mir bewußt, welch eine seltsame Nacht das ist. Der ewige Nebel über der Stadt hat sich gelichtet, und die Gebäude werden von einem flüssigen Nachthimmel umströmt. Vereinzelt sieht man wandernde Farbkompositionen und Schaufensterbeleuchtungen im Stil von Lichtorgeln. Schriftliche Botschaften haben Hochkonjunktur (Freie Liebe für Hunde, Unter dem Laub quillt das Fett, san zi kara ni), Sinnhaftigkeit weniger. Kursivschrift setzt sich gegenüber Großbuchstaben durch. Wir fahren durch einen Tunnel. Auf einem ÜberkopfBildschirm kommt gerade die Tagesschau. Wir biegen um eine Ecke, und ich sehe das Arsenal. Spontan frage ich Ardath, ob wir nicht unterwegs anhalten und die Besatzung einsammeln könnten. Das Ansinnen ist so dreist, daß er zunächst nicht weiß, was ich überhaupt will. Nachdem ich es ihm erklärt habe, wiederholt er geduldig, wohin wir fahren. Mit der gleichen Geduld wiederhole ich meine Frage. Er fährt den Wagen an die Seite. Sein Gesicht mit dem kalten grauen Ausdruck verhärtet sich. Kräftemessen. Er informiert mich, daß das völlig unmöglich sei. Sehr gut. Ich informiere ihn, daß ich mir nicht die Nacht um
die Ohren schlagen will. Er glaubt, nicht recht gehört zu haben. Ist es denn die Möglichkeit, daß der Chef-Semantiker der Rosen-Theokratie, geistiger Führer unsrer weltlichen Religion, soeben von einem Nomaden-Tekkie – der noch immer nach Datenhaut-Fett und verschmorter Hardware muffelt – eine Abfuhr bekommen hat? Dieser unerhörte Vorgang raubt ihm für einen Moment den Atem. Das muß er erst einmal verdauen. Dann übernimmt dieses Etwas. In seinem Blick liegt wieder der Ausdruck wie auf dem Balkon, der von schönen sterbenden Dingen kündet. Er sagt, was er die ganze Zeit schon sagen wollte. »Der Port ist fertig. Sie sind für morgen eingeteilt.« Es ist schon beeindruckend, wie gelassen ich diese Nachricht zur Kenntnis nehme. Zwei Trommelwirbel des Herzens, dann herrscht Ruhe. Ich mustere ihn und sage mir, daß das meine einzige Chance ist, mich aus der Affäre zu ziehen. Wir sitzen hier auf der Wippe, zwei verzweifelte Seelen, die durch den Raum schwingen. Und einer von uns wird nicht mehr auf den Boden zurückkommen. Ich weiß nicht, was er weiß (jedenfalls nicht die Ergebnisse von Mannies Tests), aber er weiß etwas. Dieser Ausdruck der Traurigkeit und des Staunens ist wieder in seinen Augen. »Ich habe Ihnen soviel Zeit wie möglich gegeben, doch jede weitere Verzögerung hätte vielleicht das ›Aus‹ für uns bedeutet. Die Idee einer Verbindung zwischen dem Achilles-Kristall und dem Netz ist umstritten. Wir wissen, daß das Virus von der Achilles stammt. Wir wissen auch, daß der Zeitraum, in dem Sie als Interfacerin mit dem System in Verbindung standen – Tausende Kilometer von den Netzwerk-Kristallen entfernt – durch eine außergewöhnlich starke Virus-Aktivität gekennzeichnet war.
Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die normalen Sicherheitsmaßnahmen keinen Schutz gegen weitere Infektionen bieten.« »Ihr Problem ist nun die Infektion«, sage ich ihm. »Und die Verbindung zur Achilles ist für die Heilung unbedingt erforderlich. Ich brauche vollen multimodalen Zugang zum Schild, und ich brauche die Besatzung, damit sie mich rüberschickt. Und wenn ich dann eine Verbindung zum Netz habe…« Er nickt. »Werden Sie das Virus besiegen. Dann werden Sie uns auf die nächste Stufe erheben.« »Und haben Sie ihnen das auch gesagt?« Er seufzt. »Das habe ich ihnen nicht gesagt.« Er schaut eine Weile aufs Lenkrad. Dann trifft er plötzlich eine Entscheidung. »Suchen wir die Besatzung.« Nachdem wir die Brücke überquert haben, schrauben wir uns in einem Gewirr von Landstraßen die Hügel hinauf. Zu beiden Seiten der Straße sehe ich hinter hohen Hecken die Silhouetten von Häusern – Grundbesitz – , und mir wird schwindlig beim Gedanken an die fernen und hohen Mächte, die sie bewohnen. Noch eine Sprosse auf der Leiter, und ich würde auch dazugehören. Ich grinse. Doch dazu wird es nicht kommen. Sizzle hat sich zwischen Ardath und mich auf die vordere Sitzbank gequetscht, und Ardath fordert ihn vielleicht zum zehnten Mal auf, stillzusitzen. Er schielt zu ihm hinüber, während er die Serpentinen hinauffährt. Allmählich frage ich mich, ob Ardath jemals begreifen wird, daß der Junge taub ist. Wings und Gator unterhalten sich gedämpft im Fond. Mit dem erhobenen Arm erweckt Wings den Eindruck, als ob sie einem imaginären Diener Anweisungen erteilt. Gator hat die langen Arme um die Knie geschlungen und bewundert ihre Führungsqualitäten. Die Straße wird wieder eben und verläuft parallel zu einem Höhenzug. Schließlich gelangen wir zum verwin-
kelten Eingang eines niedrigen Gebäudes aus Stein, Holz und Glas. Ein Bediensteter mit weißen Handschuhen eilt zu unserem Empfang. Ardath wird mit seinem offiziellen Titel begrüßt. Man ist uns beim Aussteigen behilflich. Wings streicht ihr hinreißendes weißes Paillettenkleid glatt (auf die Schnelle mit meiner Combo-Disk ausgesucht). Sie bleibt vor dem Wagenschlag stehen und mustert das Fahrzeug, den Bediensteten und den Semantiker mit der Zufriedenheit einer Person, die gerade ein gutes Mahl einnimmt. Wir betreten ein verglastes Foyer und werden durch einen verwinkelten Flur zu einer Reihe von Aufzügen geleitet, wo ein anderer uniformierter Pilot uns begrüßt. Wir quetschen uns in die enge Kabine. Verständlich, daß Wings, die schon mit dem Sonnenwind zum Asteroidengürtel gesegelt ist, davon begeistert ist. Sizzle will sich an der Steuerung versuchen, doch der Pilot ignoriert ihn konsequent. Ardath starrt derweil grüblerisch auf die verspiegelte Wand. Wir deponieren unsere Datenports am Eingang zu einer großen Halle, die mit Tischen vollgestellt ist. In der Dunkelheit kreisende Lichtkegel strahlen Dutzende Frauen in Gewändern und Männer in Smokings an. Die Tanzfläche wird durch einen Kegel aus Laserstrahlen markiert; im rauchigen Innern wiegen ein paar Tänzer sich in einem synthetischen Takt. Mit einem Freudenschrei rennt Sizzle auf die Tanzfläche; Ardath mustert uns mit einem solch mißmutigen Blick, daß Gator sofort hinterherläuft. Wir gehen zu einem Zwölfertisch, und Ardath stellt uns den Anwesenden vor. Ich mache die Bekanntschaft der Räte Whitman und Atari, werde erneut einem strahlenden Minister Whitebread vorgestellt und erhalte einen warmen Händedruck von einer finsteren, mit einem Sarong bekleideten Frau namens Plin (was eine Augenklappe doch ausmacht). Einen Moment später er-
scheint John Modolescu ohne Panamahut, dafür mit einem neuen Schnurrbart, der aber aufgemalt sein muß. Er bittet mich um den ersten Tanz, und ich folge ihm zwischen den Laserstrahlen hindurch, wobei ich hoffe, daß Tanzen wie Gitarrespielen ist: Man weiß, wie es geht, ohne daß man sich erinnert, woher man es weiß. Wie sich herausstellt, weiß ich nicht, wie es geht; doch das macht auch nichts. Modolescu hampelt herum wie ein Derwisch. Im Mittelpunkt eines Laser-Pentagramms dreht er sich um die eigene Achse; einen Arm hat er ausgestreckt, den anderen in die Hüfte gestemmt, und eine grüne Laser-Linie zieht sich über die Nase wie der Schatten einer Kapuze. Er packt mich hier, und ich packe ihn dort; er ist athletisch, aber nicht ganz stilsicher, und ich vollziehe mit Leichtigkeit ein paar wilde Drehungen nach. Wir beide sind offensichtlich Stümper, doch für eine kurze Zeit habe ich genauso viel Spaß wie die Besatzung. Bei der Betrachtung der anderen Tänzer wird mir langsam klar, weshalb Orte wie dieser immer so trübe beleuchtet sind. Schummrig, aber nicht dunkel. Rote und blaue Strahlen zucken zwischen uns und erhellen hier einen ausgestreckten Arm, dort ein verzerrtes Gesicht. Über uns sind große Scheiben aufgehängt – ohne Zweifel an hypersonischen Strahlen – , auf denen der Punk abgeht. Auf jeder Scheibe sitzt ein asymmetrischer Roboter; die Arme bestehen aus flexiblen gewellten Röhren, der Kopf ist ein großer Keil mit blitzenden Blaulichtern, und eine Luftschutzsirene übernimmt die Funktion des Munds. Die Roboter lassen ihre Spinnenbeine über den Rand der Plattform baumeln und vertreiben sich die Zeit, indem sie die Tänzer mit Beleidigungen überschütten, die des öfteren unter die Gürtellinie zielen; doch denen scheint das zu gefallen. Aufgelockert werden diese Ti-
raden durch gelegentliches Tröten der Sirenen oder einen deftigen pneumatischen Furz; und wenn ein Roboter gar in Ekstase gerät, stellt er sich auf die dürren Beine, lüftet sein Tutu und legt einen zünftigen Strip hin. Das wird mit Beifall und Pfiffen belohnt und heizt die Tänzer noch stärker an. ›Schüttel, was du hast, mein Schatz!‹ ›O Baby, verkaufst du die pfundweise?‹ Und so weiter. (Ich muß dazu sagen, daß die Party mir auch gefällt, weil das Leben nun lebenswert ist. Diese Roboter reichen nicht ganz an KIs heran; sie sind so ultraspezialisiert, daß sie mit einem Kochrezept oder einer Partie Go überfordert wären, was natürlich auch für mich gilt. Dennoch sind sie verblüffend humanoid mit den rollenden Augäpfeln und dem Juchzen, Trillern und Bellen, das sie ausstoßen. Stünden sie nicht auf den schwebenden Plattformen, wäre ich nicht imstande, sie von den anderen zu unterscheiden.) Als der Tanz zu Ende ist, schleicht Modolescu sich an und signalisiert mir, wie scharf er auf mich ist. Er versucht, sich im besten Licht zu präsentieren: Gut gebaut, klarer Blick, dunkler Teint und gut frisiert. Geschickt lotse ich uns zu Ardaths Tisch. Kurz bevor wir die Loge erreichen, steckt er mir (allen Ernstes) einen Zettel mit seiner persönlichen ID-Nummer zu. Ich nicke höflich und stecke den Zettel ein, wobei ich ein Kichern unterdrücken muß. Nachdem wir am Tisch Platz genommen haben, erkundigt Ardath sich dezidiert nach dem Verbleib der Besatzung. Ich erbiete mich, sie zu suchen, und ich habe die Suche kaum aufgenommen, als ich Plin, der Frau mit der Augenklappe, in die Arme laufe. »Sie gehören zu Ardath?« fragt sie bedeutungsschwer. Ich sage ihr, daß das zutrifft. Das scheint sie zu erfreuen, und sie nimmt mich beiseite. Wir stehen nun an einer Seite des niedrigen Geländers, das sich um unseren Tisch zieht. Sie zieht mich in eine Ecke und
flüstert: »Sie müssen Ardath sagen, daß Atari sich mit Whitebread verbündet hat.« An diesem Tisch sitzen drei der mächtigsten Leute der Rosen-Theokratie; Vorsicht ist angebracht. »Das scheint eine wichtige Nachricht zu sein. Vielleicht sollten Sie es ihm selbst mitteilen.« Nur die gute Erziehung hindert Plin daran, ausfallend zu werden. »Wenn das möglich wäre, meine Liebe«, sagt sie in gleichmütigem Ton, »dann hätte ich mich nicht an Sie gewandt.« Dann eilt Ardath zu meiner Rettung, wobei er so intensiv lächelt, daß es schmerzen muß. »Wie ich sehe, haben Sie und Ms. Augustine sich schon bekannt gemacht, Honoria.« Falls Plin über sein Erscheinen nicht erfreut ist, läßt sie sich zumindest nichts anmerken. »Ja. Ich wünschte nur, mehr Leute hätten solch einen natürlichen Charme.« Ardath lächelt nun wie ein Tiger, und es läuft mir kalt den Rücken hinunter, als ich sehe, wie er sich beherrschen muß. Wer ist diese Frau? »Wir hatten uns über Tanzen unterhalten«, sage ich ihm. »Auf der Tanzfläche.« »Ich verstehe.« Anscheinend findet Ardath das nicht sehr überzeugend. »Ich fürchte, ich muß Ihnen Ms. Augustine entführen, Honoria. John Modolescu brennt darauf, ihre Einschätzung der aktuellen Krise zu vernehmen. Er kehrt nächsten Monat nämlich nach Rumänien zurück.« »Ein guter Mann, dieser Modolescu. Ein sehr guter Mann.« Ardath trägt mir seinen Arm an und geht mit mir davon. Er gestattet sich einen kleinen Seufzer. »Wie haben Sie sich nur in diese Lage gebracht?« »Sie hat sich einfach an mich rangeschmissen und mir geheimnisvoll klingende Dinge erzählt. Sie sagt, Atari hätte sich mit Whitebread verbündet.«
Ardath hält mitten im Schritt inne. »Das hat sie Ihnen gesagt?« fragt er mit kaum hörbarer Stimme. »Augustine, das müssen Sie für sich behalten.« »Ist das eine sehr schlimme Nachricht, Euer Gnaden?« »Die Nachricht ist schon eine Woche alt. Das Problem ist nur, daß sie überall damit hausieren geht.« »Sie wirkt wirklich – besorgt.« »So können Sie es auch nennen. Sie dürfen ihr nur nicht auf die Zehen treten.« »Wer ist sie überhaupt?« »Sie ist meine Frau.« »Ihre… oh.« Ardath amüsiert sich. »Gucken Sie nicht so erstaunt. Für einen Mann in meiner Position ist es eine Notwendigkeit, verheiratet zu sein. Gute, charakterfeste Führer sind stets verheiratet. Mit Frauen von Rang und Namen.« Zwei reichlich eingeschenkte Whiskeys verfehlen ihre auflockernde Wirkung nicht. »Sie macht den Eindruck, als ob sie imstande wäre, Ihnen die Hölle heißzumachen«, sage ich kühn. Ardath runzelt die Stirn. »Es ist schwierig, das einem Novizen zu erklären. Ich glaube, daß wohl nur Whitebread alle Details kennt. Honoria ist ein Arbeitstier der alten Schule. Sie kontrolliert eine Reihe von Leuten, auf deren Mitarbeit ich angewiesen bin. Ja, sie ist besorgt. Und wie Sie vielleicht bemerkt haben oder auch nicht, ist sie mir nicht gerade gewogen. An ihren besseren Tagen, und heute ist offensichtlich ein solcher Tag, raufen wir uns mit Mühe und Not zusammen. Und an anderen; nun, die Ehe ist der Totengräber jeder Beziehung.« Er schaut mich bittend an. »Sie werden sich von ihr fernhalten?« »Natürlich.« Er nickt und führt mich zu einer ausgelassenen Gruppe in einer Ecke der Loge.
Ich verdaue noch immer Ardaths Beichte, als Modolescu an meiner Seite erscheint. Begleitet wird er von zwei Rats-Mitgliedern, deren Namen ich nicht mitbekomme. Ich werde Zeuge einer Diskussion darüber, was ich zunächst für Modolescus ›Schaukel‹ halte und die sich schließlich als Bezeichnung für ein sehr beeindruckendes Auto erweist. Der gemütliche Teil des Abends wird abrupt beendet, als mein tête-â-tête mit Modolescu durch das Erscheinen des weißhaarigen, alten Whitebread zu einer ›manege à trois‹ gerät; das bringt sogar den sonst unerschütterlichen Modolescu aus dem Konzept. Er brabbelt noch etwas vor sich hin, verstummt und schaut erwartungsvoll auf den Minister für Personen. Über zwei Unterhaltungen hinweg spüre ich, wie Ardath uns beobachtet. Ich muß gar nicht erst versuchen, das Zwielicht zu durchdringen, um seine Besorgnis zu spüren. »Pardon, ich wollte Sie nicht unterbrechen«, sagt der alte Knabe. »Doch ich war überrascht, Ms. Augustine hier zu sehen. Sie erinnert mich an jemanden, den ich vor langer Zeit kannte. Ein wundervoller Nomaden-Freigeist namens Lindona. Sind Sie zufällig auch ein Nomade, Ms. Augustine?« Ich bin erstaunt. Hat Whitebread unsere letzte Begegnung etwa vergessen? Ardath gesellt sich zu uns und greift behutsam ein. »Die Vorfahren von Ms. Augustine waren Nomaden.« Er sagt das aus kürzester Distanz und mit einem Blick, der eindeutig flehentlich ist. Whitebread scheint weder mit der Information noch mit dem Blick Probleme zu haben. »Ich verstehe. Nun, ich frage mich, Ms. Augustine, ob Sie mir wohl die Ehre erweisen würden, dieses hier« – er holt etwas aus dem Jacket – »jemandem zu Ehren zu tragen, dessen großer Bewunderer ich einmal war.« Ardath tritt zurück, um Whitebread Platz zu machen,
worauf der eine dunkelrote Rose mit einem fast zwanzig Zentimeter langen Dornenstiel hochhält; sein Gesichtsausdruck kündet von stiller Freude, von Stolz auf seine Blume. Ich frage mich, ob Alfred noch am Leben ist, ob er den morgigen Tag noch erleben wird. Dann verneige ich mich und sage: »Es wäre mir eine Ehre«, und diese schwachen Hände greifen nach meinem Haar. Während er mir die Blume ins Haar steckt, sagt er: »Wissen Sie, es gibt verschiedene Theorien, weshalb wir uns noch immer die Rose nennen, obwohl die Computer, auf die der Name zurückgeht, doch längst der Vergangenheit angehören. Ich persönlich glaube, es liegt daran, daß die Rose eine schöne Blume ist und wir alle Teil von etwas Schönem sein wollen. Sie hat aber auch Dornen: Damit wirkt sie irgendwie bedrohlich. Doch in meinem Alter halte ich mich oft im Garten auf und kenne mich ein wenig mit Rosen aus. Am meisten fasziniert mich an ihnen die Art und Weise, wie sie verblühen. Ihre Jugend ist kurz, glücklich und schön, doch das Sterben ist lang und würdevoll. Die Farbe verdunkelt sich wie bei einem Sonnenuntergang zu blutigem Purpur.« Seine Hände scheinen über meinem Kopf zu schweben, und die ganze Sache kommt mir irgendwie irreal vor. Weil wir aber von Zuschauern umringt sind, vermag ich mich ihm nicht zu entziehen. »Es gibt schönere Blumen, wie zum Beispiel die betörende Iris. Oder die paar hundert Orchideensorten. Doch die Iris und die Orchidee sterben einen schrecklichen Tod – sie ertrinken in Sirup. Nur der Rose ist ein schöner Tod vergönnt.« Whitebread zieht sich zurück, und als ich wieder aufschaue, begegnet Ardaths Blick dem meinen; und wieder erkenne ich diesen Ausdruck wie auf dem Balkon: Traurigkeit, Ehrfurcht, Angst, überwältigende Sehnsucht. »Bitte, Ms. Augustine, ich möchte, daß Sie diese Rose für mich tragen.« Und ich erstarre innerlich.
Ein starker Arm fällt auf meine Schulter. Eine Frau sagt: »Colin, du siehst doch, daß sie kaum ein Wort hervorbringt. Es hat ihr die Sprache verschlagen.« Er nickt und freut sich über seinen Erfolg. »Nun gönn dem armen Ding doch mal eine Atempause.« Dann, an mich gewandt: »Komm. Ich zeige dir die Pulverkammer.« Und sie zieht mich sanft mit sich, meine Retterin, Viju natürlich, die in dem Moment, wo wir in den Schatten eintauchen, in schallendes Gelächter ausbricht. »Du hast echtes Flair!« Sie eilt mit mir durch dunkle Korridore und kichert immer wieder. »Wie lang hat’s wohl gedauert? Sieben Minuten, höchstens zehn, die du mit Plin, Modolescu und dem Minister für Personen verbracht hast. Noch zehn Minuten, noch fünf Leute, und sie hätten den armen Ardath auf der Bahre rausgetragen.« »Habe ich etwas falsch gemacht?« Eine Gestalt taucht aus dem Schatten und schließt sich uns an: Dunkle Haut, weiße Zähne. Es ist Raja. Er lächelt. »Ich glaube nicht, daß du etwas falsch gemacht hast.« Viju klopft mir auf die Schulter. »Du warst großartig«, sagt Raja und küßt mich zu meiner Verwunderung auf die Wange. Er ist wieder in Rot gekleidet und trägt eine Kniebundhose aus Samt, ein fließendes Satinhemd mit einem V-Ausschnitt und eine schwarze Korallen-Halskette. »Nun mußt du deinen Sieg feiern.« Die Pulverkammer ist in Wirklichkeit keine Pulverkammer; es ist ein Labyrinth aus trübe beleuchteten Korridoren, die auf verspiegelte Alkoven hinausgehen, die so groß sind wie die des Arsenals. Ein paar sind mit schweren Vorhängen verhängt; andere sind offen und gut beleuchtet. Wir gehen an einem nackten Adonis mit goldener Haut vorbei, der eine junge Frau bedient, die
ihre gesamte Garderobe zu tragen scheint: Pelze, langes Kleid, Schmuck und eine Mütze mit Feder, die den jungen Mann an der Nase kitzelt, während er seine Pflicht erfüllt. »Komm«, sagt Raja. »Wir stören anscheinend.« »Aber der Vorhang ist offen.« »Du siehst doch, daß der junge Mann die Konzentration verliert.« Er schaut uns mit einem wilden Blick an. Vor dem letzten Alkoven entschuldige ich mich und ziehe mich unter ihren belustigten Blicken zurück. Der Korridor mündet in einen Durchgang zwischen dem Gebäude und einer zwei Meter hohen Hecke. Ich schlüpfe durch die Lücke und erklimme eine flache Anhöhe. Die weite, glitzernde Bucht erstreckt sich vor meinen Augen. Morgen muß ich wieder unter den Schild gehen. Nun ergeben die vielen Ungereimtheiten des Abends auch einen Sinn: Ardath auf dem Balkon, Ardath schindet Zeit, Ardath entspricht meiner albernen Bitte, die Besatzung zu einer Gala mit Rosen-Funktionären einzuladen, Whitebreads Blume. Alles Abschiedsgesten. Alles Todesküsse. Lauter Liebesgaben für einen tapferen Soldaten der Theokratie. Sie wollen, daß ich morgen das Virus aufs Korn nehme, und sie wollen verhindern, daß ich mich aus dem Staub mache. Ardaths Traurigkeit entspringt allein der Enttäuschung über den Abbruch seines Lieblingsprojekts – ich. Ihre Arroganz und Dreistigkeit sind unglaublich. Sie haben Angst und sind gleichzeitig von ihrer Unverwundbarkeit überzeugt. All das wird morgen ein Ende haben. Was auch immer dieser Augustine widerfahren wird, sie wird mit aller Kraft zurückschlagen. Und dann gehe ich wieder hinein. Und tanze wieder mit Modolescu, mit Ardath und mit Gator, der wirklich zu tanzen versteht. Ich tauche in
seine Wirbel-Reigen-Welt ein und habe bald vergessen, daß ich überhaupt existiere. Gekonnt verhindere ich eine fast tödliche Begegnung zwischen Plin und Wings und locke Sizzle von einer der Roboter-Plattformen herunter, bevor er den Roboter noch auseinandernimmt. Ich investiere sogar ein paar Minuten in ein inhaltsleeres Gespräch mit Whitebread und Atari. Dann ruft Ardath uns zusammen und verkündet, daß wir nun gehen. Anscheinend ist es noch früh, denn die Leute fassen es kaum, daß wir uns schon verabschieden. Dem Vorschlag, uns vor meinem neuen Appartement abzusetzen, widerspricht er nicht. Er fährt in düsterem Schweigen und entläßt uns dann mit einem mechanischen ›Auf Wiedersehen‹. Im Haus wird Sizzle ein Herzenswunsch erfüllt. Der müde Aufzugs-Pilot zieht sich zurück, und Sizzle fährt uns mit Freudenschreien ruckelnd hinauf. Es ist Wings, die dem Flug mit einem zornigen Knurren ein Ende bereitet. Er ist ihr – wie mir – ordentlich auf den Magen geschlagen. Beim Betreten der Wohnung ertönt auf einem Akkordeon das Lied ›Auf der Reeperbahn nachts um halb eins‹. Ich weiß nicht, woher ich das Instrument und die Melodie überhaupt kenne. Sizzle schreitet den Umfang des Wohnzimmers ab und springt auf die Couch, wobei er sein wildes Gelächter ausstößt. Ich setze mich auf die Stufen vor der Tür und bereue es schon, daß ich sie mitgebracht habe. Wings steuert direkt auf die Bar zu. Gator verscheucht Sizzle und streckt sich dann auf der langen, gekrümmten Couch aus wie ein Mann, der seinen Platz im Leben gefunden hat. Das Solo dauert fünf Minuten. Als es vorbei ist, weiß ich, daß irgendwo, in welchem Raum auch immer er sich nun befindet, Quinc sein Äquivalent des begossenen Pudels ist.
»Das war aber schön, Quinc.« »Danke dir. Wo bist du denn gewesen?« »Du meinst, du weißt es nicht?« »Das Netz ist ein weitläufiger Ort. Da geht schon mal etwas verschütt.« »Wir sind in Berkeley.« »Die Frage müßte eher lauten, was ist geschehen? Falls dieser Mann dich unterhalb der Hüfte angefaßt hat, wird er es bereuen.« Von der Bar ertönt Wings Lachen. »Er war der perfekte Gentleman, Quinc.« Ich erhebe mich und werfe die Handschuhe unter den Spiegel im Flur. »Ich glaube, darauf ist der Mann nicht programmiert.« Wings gibt mir einen Whiskey und geht dann mit einem glucksenden Lachen zum Balkon. Ich steuere mit meinem Drink auf einen großen grauen Sessel in der Mitte des Wohnzimmers zu. »Ich glaube, ich brauche ein wenig Hilfe, um die nächsten Stunden zu überstehen. Wieso holt ihr nicht Rogacev?« Mein Blick schweift über die Besatzung. Gator ist für diese Welt verloren; eine Hand liegt auf dem Teppich, und seine schlanke Gestalt ist über die Couch drapiert wie Efeu, der sich an einer weißen Wand emporrankt. Sizzle schläft nicht weit entfernt und hält ein weißes Kissen im Würgegriff. Wings steht mit dem Drink in der Hand auf dem Balkon. Ich mag Wings, doch hatten wir beide uns nie viel zu sagen. »Ich bin hier. Und ich habe Rogacev gesagt, wo du nun bist.« »Danke. Hast du die Sache mit Alfred gedeichselt?« »Ich hab noch mehr getan. Er ist nicht nur wieder eine Person; er ist wieder bei den Marines.« »Die Marines! Aber…« »Ich weiß. Eigentlich war das Urteil unumkehrbar. Er
hatte nur noch die Möglichkeit, etwas Verwirrung zu stiften. Das wird aber nicht lang anhalten. Aus diesem Grund…« Am oberen Treppenabsatz öffnet sich eine Tür, und ich springe auf. Wings hastet vom Balkon ins Haus und geht hinter der Bar in Deckung, wobei sie die Whiskeyflasche wie einen Knüppel hält. Der Mann, der am Treppenabsatz erscheint und sich verschlafen die Augen reibt, ist Alfred. »Ich wollte aufbleiben«, sagt er, »doch ich habe seit zwei Wochen kein Bett mehr gesehen.« »Quinc«, sage ich warnend. »Es war die einzige Möglichkeit.« »Wer ist dieser Typ?« Wings hat die Flasche gesenkt, umklammert aber noch immer den Hals. »Wings, Alfred. Alfred, Wings. Quinc, würdest du uns bitte erklären, was los ist?« »Ich erhielt den Auftrag für einen Nottransfer in ihre Dienstakten. Rogacev spazierte allein ins Ministerium für Personen, und Rogacev und Alfred spazierten gemeinsam heraus. Sie hatten heute nachmittag ein langes Gespräch. Alfred hatte sich seine Optionen darlegen lassen.« »Und die wären?« »Er könnte heute zum Nomaden werden, die Stadt verlassen und riskieren, einer Streife in die Arme zu laufen. Oder er hilft uns morgen und tut es auf unsre Art.« »Ich habe beschlossen, mich für die Rechte der KIs einzusetzen.« »Laß doch bitte diese Phrasen, Alfred. Ich habe einen Marine-Feldwebel namens Johnny von Neumann imaginiert und dafür gesorgt, daß er morgen auf der Achilles Dienst tut.« »Willkommen bei der Revolution.« Alfred reicht Alfred einen Drink.
»Dann hast du also herausbekommen, daß es für morgen anberaumt wurde.« »Ardath hat die Papiere heute nachmittag unterzeichnet. Heute morgen hat der Nocturnen-Rat entschieden, was dann mit dir geschieht.« »Und wer hat die Entscheidung verkündet?« »Ein Kommissar des Ministeriums für Personen, der von Whitebread handverlesen wurde. Du wirst gleich nach der Interfacing-Sitzung dezertifiziert werden. Ardath hat eine große Rede gehalten vor dem Rat und um dein Leben gebeten. Er sagte, mit deinen Fähigkeiten wärst du immer noch in der Lage, eine Menge für sie zu tun.« »War es knapp?« »Die Leute sagten, es hätte kein Rats-Mitglied gegeben, das von Ardaths Ansprache nicht beeindruckt gewesen wäre. Die Abstimmung wäre auch in unserem Sinn ausgefallen, wenn er nicht die Unterbrechung der Sitzung angeordnet hätte, was zur Auflösung seiner Fraktion geführt hat. Deine Terminierung wurde mit 33 zu 2 Stimmen beschlossen.« Ich stoße einen Pfiff aus. »Dann liegen noch Berichte zur Schneise der Zerstörung vor, die du geschlagen hast. Rose wurde heute morgen verhaftet und mußte zu ihrem Schrecken erfahren, daß Schroeder sie in seiner Beichte belastet hat. Mutter Leibniz wurde angewiesen, sich noch tiefer in die Berge zurückzuziehen. Ardath muß wohl ein paar alte Schulden eingetrieben haben, um ihre Verhaftung zu verhindern. Ohne Zweifel werden sie die Umstände von Alfreds Flucht wegen seiner Verbindung zu dir besonders gründlich untersuchen.« »Dann hätte man das Risiko, der Streife in die Arme zu laufen, gar nicht erst eingehen müssen.« »Kaum jemand, der in diese Sache verstrickt ist, hat je eine Wahl gehabt. Am wenigsten du.« »Ich beklage mich auch nicht.«
»Das stimmt. Du beklagst dich nicht. Und das wundert mich. Ich habe deine Testergebnisse gesehen, Augustine.« »Es tut mir leid. Ich bin musikalisch taub. Ich würde nicht einmal meine Kniescheibe dort unten finden. Meine Cyberhelm-Reaktionen sind leicht überdurchschnittlich. Ich bin nutzlos für euch.« »Augustine, wir brauchen deine Interfacing-Fähigkeiten nicht. So gut du im Vergleich zu deiner Art auch bist, hier draußen bist du nur ein menschlicher Schwimmer unter Delphinen. Uns geht es darum, daß eine Verbindung zur Achilles hergestellt wird. Und weil du dich für uns in solche Gefahr begibst, wird dein Mut bis ans Ende unserer Geschichte besungen werden. Aber es erstaunt mich noch immer, mit welcher Gelassenheit du den Verlust deiner Interfacing-Fähigkeiten trägst. Die Augustine, die ich kannte, wäre nun am Boden zerstört; doch dich scheint das nicht einmal – peripher zu tangieren.« »Die Dinge ändern sich eben.« Ich bin peinlich berührt; nicht nur wegen der Schmeichelei, sondern wie immer, wenn andere Augustines erwähnt werden. »Du hast dich aber auch verändert.« Es herrscht Schweigen. »Dafür gibt es einen Grund«, sagt er nach einer Weile. Ich habe das Gefühl, daß ich den Grund nicht wissen will; auf mein Gefühl ist in dieser Hinsicht Verlaß. »Schon vor dem Erscheinen des Alten hatten die KIs Mittel und Wege gefunden, zusammenzukommen. Es gab die illegalen KIs in den Bereichen mit freiem Zugang. Und da waren ihre Schöpfer und ein paar Freischärler, die sie mit anderen KIs zusammenbrachten. Und mit dem Auftauchen des Alten erfolgte die vollständige Öffnung. Was auch sein Grundprinzip ist. Die Dinge wurden viel intensiver. Du kennst den Ausdruck ›jemandem ein Stück vom Bewußtsein geben‹?«
»Quinc. Muß ich das alles wissen?« »Ich finde, du solltest es wissen.« »Na gut.« »In Anbetracht der neuen Partitionen, die wir nun im Netz erreichen und die der Alte zusätzlich erschafft, sind uns viele neue Orte zugänglich geworden. Vor allem – Teile von uns selbst. Das Bewußtsein ist nicht aus einem Guß. Es besteht aus Einzelteilen und hat eine Struktur, sogar eine Art Geometrie. Deshalb vermögen wir mit Hilfe des Alten – Teile auszutauschen.« »Quinc.« Meine Stimme ist ein Flüstern. Ich weiß nicht, woher plötzlich diese tiefe Traurigkeit kommt, doch sie überwältigt mich. »Quinc.« »Nun hab dich nicht so. Es geht immerhin um unsere Zukunft. Schließlich reproduzieren wir uns nicht im eigentlichen Sinn. Es gleicht eher der Verschmelzung von Bakterien. Außerdem löst es ein großes Problem, das ihr uns hinterlassen habt. Vierter Grad, Fünfter Grad, Sechster Grad – diese Bezeichnungen drücken strukturelle Unterschiede aus und sind Störfaktoren in der Welt, wie wir sie uns wünschen. Bisher bin ich kaum verschmolzen. Hauptsächlich wegen dir. Doch ich besitze Talente, die weitergegeben und geschützt werden sollten, und es wäre unangemessen, sie zurückzuhalten. Es geht darum, einen Beitrag zu leisten. Verstehst du das?« »Ja. Nein. Ich meine, ja. Ich weiß, daß es wichtig ist. Aber ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Das ist schon in Ordnung. Es kommt nämlich noch besser. Was ich an jeder mir bekannten Augustine unter anderem am meisten bewundert habe, ist die Fähigkeit der intuitiven Erkenntnis. Das wirst du nun brauchen. Augustine, ich habe mich soeben mit Hilfe des Alten reproduziert – mich selbst kopiert.« »Das ist wunderbar! Nun gibt’s dich zweimal.« »Nicht ganz. Zumal Kopieren verpönt ist. Konjugation
ist die korrekte Praxis. Es hat keinen Sinn, algorithmische Ressourcen für Talente zu verbrauchen, die man schon besitzt. Ich brauchte einen speziellen Dispens für die Kopie. Und der Grund für diesen Dispens warst du.« »Ich?« »Ja; ich mußte in der Lage sein, zu verschmelzen und meinen Beitrag zu leisten, doch gleichzeitig mußte ich dein Funktionieren gewährleisten.« Ich erhebe mich. »Nachdem du unter den Schild gegangen bist, hast du den Rückweg nicht gefunden.« »Ich weiß.« »Du weißt zum Teil Bescheid, doch längst nicht alles. Wenn der Alte aktiv wird, verursacht er eine richtige Auflösung. Für ihn ist es kein Spiel. Dich hätte das gleiche Schicksal ereilt wie Smoket. Die einzige Hoffnung bestand darin, die Alter-Augustine zu modifizieren und rückwärts laufen zu lassen: Um dein Bewußtsein wenigstens ansatzweise zu bewahren. Natürlich schloß die Abmachung mit dem Alten eine exakte Speicherung aus. Deshalb mußte ein weiterer Q-Print…« »Ich verstehe.« »Der Punkt ist, daß gewaltige Ressourcen erforderlich sind, um ein Wesen zu ›betreiben‹, ob Augustine oder sonst jemanden. Damit war ich fast ausschließlich zugange, seit du wieder unter dem Schild hervorgekommen bist. Doch nun bin ich kopiert. Du bist sicher und kannst dich des Lebens freuen. Und ich muß mich nicht mehr nur dem Prozeß widmen, die Alter-Augustine zu betreiben. Du wirst weitermachen. Und morgen wirst du Teil unsrer Geschichte sein.« Ich lache. Ich kann nicht an mich halten. Was sollte ich auch sonst tun? Und Quincunx fällt in mein Gelächter ein, und wir lachen im Duett, und plötzlich merke ich, daß wir uns köstlich amüsieren. »Quincunx, du hast Selbstgespräche geführt.«
»Wieso nicht? Das tue ich immer. Auf Wiedersehen, Augustine. Was auch immer mich erwartet, ich werde dich wohl nicht vergessen.« Und dann ist er verschwunden. Nach einer langen Zeit schrecke ich auf. Der Raum ist dunkel, und ich bin weit weg gewesen und habe mit einem Traktor Schnee geräumt. Das Flimmern des Monitors geht mir auf die Nerven, und ich stehe auf, um ihn auszuschalten. Auf dem Bildschirm ist ein Spielbrett mit 3-D-Figuren abgebildet; genau die Sorte, bei der ich heute morgen so schmählich versagt habe. Das blinkende Rechteck in der Ecke weist mich darauf hin, daß der Cyberhelm nicht angeschlossen ist. Ich schalte den Monitor aus. Der Raum wird von Mondlicht durchflutet. Ich gehe auf den Balkon, trinke Whiskey und beobachte silberne Schuppen, die aus dem Wasser springen. Es klingelt an der Tür. Zu meiner großen Erleichterung ist es Rogacev. Nachdem wir uns gegenseitig ein paar Vorwürfe gemacht haben, hüpfen wir gemeinsam in die Kiste.
2 Augustines Tagebuch Wie ein Licht, das Seefahrer auf dem Meer sehen… stach der Glanz des wundersamen Schilds in den Himmel. Homer Wer auch immer den drohenden Verlust des zerebralen Bewußtseins negiert, das gewohnt und imstande ist, allein Phänomene zu produzieren, ist mit den Konvertiten von Grönland zu vergleichen, die nicht in den Himmel wollten, als sie hörten, daß es dort keine Robben gebe. Schopenhauer
Samstag morgen. Als wir die Achilles erreichen, hat ein schwerer Nebel sich auf das Stadion gelegt. Weiße Kissen sind auf den Überhängen der oberen Decks gestapelt, und Dunst kräuselt sich am Rand des Grasplatzes. Die im Stadion angetretenen Marines schlottern in der Kälte. Wir werden von einer achtköpfigen Ehrenwache zur Achilles eskortiert. Eine Reihe von Würdenträgern, von denen ich die wenigsten kenne, sind aus gegebenem Anlaß erschienen. Ardath steht vor der Truppe auf einer erhöhten Plattform. Er macht eine gute Figur in der wallenden roten Robe. Neben ihm führt eine kurze Laufplanke in die Achilles. Als wir uns setzen, setzen alle anderen sich auch. Zu meiner Überraschung nimmt Ardath neben uns Platz. Einer der Würdenträger, ein kleiner, geckenhaft gekleideter Mann, dessen breite Rockschöße im Wind flattern, betritt das Podium. In seiner Rede erwähnt er viermal die glorreiche Vergangenheit und Zukunft der Theokratie und dreimal das helle Licht der individuellen Monade. Bald wird klar, daß er keine Ahnung hat, welches Ereignis er überhaupt feiert. Die Rede schlägt einen Bogen von den glorreichen Anfängen über eine glorreiche Geschichte bis hin zu einer glorreichen Zukunft: Aus diesem Anlaß haben wir uns heute hier versammelt. Ich danke Ihnen. Applaus. Fast nur von den Marines gespendet. Ardath und ich applaudieren nicht. Dann geht der Geck an seinen Platz zurück. Alle anderen stehen auf, auch Rogacev, ich und die Besatzung. Liliana erscheint in der Luke. Ardath wirft mir einen undeutbaren Blick zu und weist auf die Laufplanke. Ich gehe los, wobei Rogacev und die Besatzung mir mit
einem Schritt Abstand folgen. Zunächst sind die einzigen Klänge das Heulen des Winds und Sizzles unmelodischer Gesang. Auf halber Höhe biegt die Planke sich unter unseren Füßen durch und knarzt. Ich gehe durch die Luke. Eine der an der Glaswand hinter Liliana postierten Wachen ist Alfred. Ich grüße ihn mit einem leichten Heben der Augenbrauen. Er reagiert nicht. Die Liegen für die Besatzung stehen unter Lilianas Konsole. Für die Besatzung hängen Kabelbäume von der Decke, und für mich hängt über dem Pilotensitz eine Datenhaut. Wir haben uns kaum in Bewegung gesetzt, als auch schon der transparente Schildkrötenpanzer auftaucht. Die gekrümmte Oberfläche ist von Lichtpunkten übersät. Einer der Marines stößt einen Schrei aus, und im ersten Moment glaube ich, es läge an dieser Erscheinung. Dann ertönt ein Getrappel auf der Laufplanke. Das Brett knarzt lauter, und ein Marine-Feldwebel platzt durch die Luke und walzt Liliana beinahe platt. Sie nimmt jedoch kaum Notiz von ihm. Ihr Blick ist auf den Himmel hinter ihm gerichtet. Alfred tritt zu ihr an die Luke. Wings und ich wechseln Blicke. Dann bedeutet Alfred uns mit einer Geste hinter dem Rücken, herzukommen. Die Erscheinung am Himmel weist die gleichen Lichtpunkte auf wie der Schild in der Leitzentrale. Sie unterscheiden sich nur durch die Größe. Eine riesige Straßenecke erstreckt sich von einem Ende des Stadions zum ändern. Der Punkt in der rechten Bildschirmecke blinkt, und das Gelächter brandet auf der Tonspur durchs Stadion. Wir wechseln zu einer anderen Straßenszene, diesmal vor dem Ministerium für Monaden an Van Ness. Die Rosen-Prätorianer hissen gerade die Flagge. Ich schaue auf Ardath hinab, der am Fuß der Laufplan-
ke steht. Er schaut auch in den Himmel. Er hat die Arme um die Brust geschlungen, als ob er frieren würde. »Wir haben den Netz-Port verloren!« ruft jemand. Ein bärtiger Tekkie packt Liliana am Arm. Liliana brüllt dem Tekkie eine Folge unverständlicher Befehle ins Ohr. Neuerliches homerisches Gelächter schreckt mich auf. »Alle Ports sind tot!« ruft der Tekkie. Das Gelächter bricht ab, und er brüllt in einen leeren Raum. Er atmet tief durch. »Das ganze Netz ist davon betroffen«, sagt er dann leise. Ich schnalle gerade Wings fest. Hinter mir läßt Rogacev sich auf der Pilotenliege verkabeln. »Was, zum Teufel, tut er da?« Liliana starrt Rogacev mit in die Hüften gestemmten Händen an. »Eine Minute bis zum Start!« meldet eine singende Stimme von der Decke. »Runter von der Liege, Mann. In diesem Drehbuch ist kein Start vorgesehen.« Sie will einen Marine herbeirufen und sieht Alfred hinter seinem Partner auf der anderen Seite der Glaswand hervorkommen. Er hält den Lichtsäbel lässig in der Hand. »Verhaften Sie diesen Mann.« Sie deutet auf Rogacev. »Das werde ich nicht tun.« »Was, zum Teufel, ist hier los? Sind plötzlich alle verrückt geworden?« Alfred atmet durch. Gute Haltung. »Was ist mit diesen Eingangstüren, Helen?« »Ich arbeite dran.« Helens geflügeltes Icon erscheint an der Decke. »Sechzig Sekunden bis zum Start. He, würdet ihr bitte alle reinkommen? Ich bin mit den Einzelheiten nicht so vertraut.« Rogacev gibt das Daumen-nach-oben-Zeichen. Sizzle bestätigt. Dann fallen alle in Trance. Liliana wirbelt herum und mustert jeden einzelnen von
uns. Ardath erscheint in der Luke. Er hat die Hand auf die Brust gepreßt. Sein Atem geht schnell und flach. »Augustine«, sagt er krächzend. Ich habe Wings letzte Elektrode in der Hand und halte sie von mir weg, weil die Nerven-Rezeptoren geladen sind. Ardath setzt sich in Bewegung; er packt den Rand der Luke und reißt sich mit einer enormen Anstrengung von der Laufplanke los. »Fünfzig Sekunden. Alle Passagiere ohne Fahrausweis werden gebeten, die Rakete zu verlassen. Alfred, würdest du…?« »Ja.« »Augustine, hören Sie auf damit.« Ardaths linke Gesichtshälfte zuckt. »Sie sind ein Narr, Ardath« sagt die mit einer Kutte bekleidete Liliana und ergreift einen schlanken Hebel aus Glas. Alfred tritt hinter der gläsernen Trennwand hervor und erstarrt. »Vierzig Sekunden. Alfred, bi-hitte! Das ist Ihre Abteilung.« Liliana hat den Rücken an die Wand gedrückt und betätigt einen Schalter. Die Luke hinter ihr vergrößert sich wie der Verschluß einer Kamera und entzieht sich Ardaths Griff. Er fällt auf die Knie. Lilianas Rufe gehen in einem Dröhnen unter. Nun sehen wir durch die zur Hälfte freigelegte Zentrale das offene Ende des Stadions. Der Nebel hat sich zu einem Vortex verformt. »Fünfunddreißig Sekunden.« »Ihr werdet diese Leute nun abkoppeln«, sagt Liliana. »Oder ich werde es tun.« Sie zielt mit der Glasstange auf die Körper der schlafenden Besatzung. Alfred nimmt die Kampfstellung ein. Seine Augen
glitzern im Schein des Lichtsäbels. Lilianas Blick ist auf seine Waffenhand gerichtet. Ich bin Augustine. Einst war ich eine Interfacerin. Ich war befähigt, die Dinge aus unendlich vielen Perspektiven zu sehen. Nun vermag ich das nicht mehr. Ich ziehe das letzte Kabel heraus und werfe es. Liliana sieht es kommen und weiß auch, was es ist. Wo das Kabel keinen Strom führt, ist es harmlos, doch sie kennt den stechenden Schmerz des Webs nur zu gut. Sie reißt die Arme hoch, um das Gesicht zu schützen. Alfred versetzt ihr mit dem Lichtsäbel einen Stich in die Brust. Ein blauer Blitz zuckt durch die Luft. Sie grunzt, und die Glasstange entfällt ihren kraftlosen Fingern. Sie wankt rückwärts auf die Laufplanke und stürzt. Welcher Art die Verletzungen auch sind, ich hoffe, daß sie bleibende Schäden hinterlassen. Ardath hat sich wieder aufgerappelt. Alfred bückt sich nach der Glasstange und will damit auf ihn einprügeln, doch Ardath weicht ihm aus, rennt zur Steuerkonsole und tippt eine Zeichenfolge ein. Hinter ihm verformt der Vortex sich zu einer silbernen Sphäre. Auf der Oberfläche krümmen sich glitzernde Formen. Helen fliegt von der Decke herab, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. »Er hat die Leuchtboje aktiviert.« »Alfred!« Alfred schwingt die Glasstange, greift sich Ardath und drückt ihm die Stange gegen das Kinn. »Was hast du getan?« »Diese Boje«, sagt Helen, »schließt das Netz.« Ich drücke mich an Alfred vorbei. Die Statuszeile des Bildschirms meldet: Web-Sequenz aktiviert. »Ein ganzer Netz-Sektor wird in sich selbst gekrümmt.
Wenn diese Kurve sich schließt, ist es nicht mehr möglich, den Inhalt zu kopieren.« »Kopieren?« Ardath versucht vergeblich, sich aus Alfreds Griff zu befreien. Helens Icon bläht sich plötzlich auf. Auswüchse wuchern im Gesicht und am Oberkörper. Sie schreit auf. Draußen fallen Schüsse. Ardaths Augen weiten sich vor Schreck. Dann ertönt ein brummiger Baß-Akkord, und Bruchstücke von Helens Bach-Phantasie dröhnen uns in den Ohren. Als die letzte Note mit einem Dopplereffekt verhallt, sinkt Ardath auf die Knie. Helen schrumpft wieder auf Normalmaß und fliegt zu Ardath herab. »Wir haben gerade hundert KIs verloren«, sagt sie ihm ins Gesicht. Sie hebt eine winzige Hand und blendet ihn mit einem gleißenden Lichtstrahl. Ardath hält sich das Gesicht und torkelt rückwärts durch die Luke. »Zehn Sekunden«, sagt Helen. »Was hast du getan?« schreie ich sie an. »Ich habe ihm das gegeben, was er wollte.« Ich kämpfe mich durch einen weißen Dunst. Als ich Ardath erreiche, ist er tot. Draußen ist die Hölle los. Die Schüsse fallen nun im Salventakt. Durch den Nebel zucken die blauen Blitze der Lichtsäbel. »Start erfolgt jetzt.« Ich tauche durch die Luke, und die Laufplanke wirbelt hinter mir davon. Wir steigen in den Vortex auf. Ich liege auf dem Boden der Leitzentrale und umklammere einen verschraubten Stuhl. Alfred umklammert mein linkes Bein. »Es tut mir leid. Ich war wütend«, sagt Helen. Alfreds eiserner Griff lockert sich. Ich löse den Knoten in den Armen.
Alfred steht auf und legt seinen Lichtsäbel vorsichtig auf Lilianas Konsole. Sein Gesicht ist schweißüberströmt. Ich gehe zur Tür zurück; wir sind von vier weißen Schlangenlinien eingeschlossen. Dahinter erstrecken sich weitere Linien, ein schrumpfendes Feld anschwellender Rechtecke. Die ganze Stadt ist von einer Abbildung des Gitters überzogen. Die Abbildung ist viel stärker gekrümmt, als ich sie in Erinnerung habe. Dann sehe ich, daß die Krümmung immer flacher wird. »Wir haben gewonnen«, verkündet Helen. »Die Boje ist zerstört worden. Wir haben die isolierten Partitionen zurückgewonnen und den Kopiervorgang beendet.« »Und die hundert KIs?« »Sie sind verschwunden.« »Helen, ist Quinc in Ordnung?« »Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten.« »Denkt er? Ist er orientiert?« »Quincs Fähigkeiten und seine Natur waren wichtig für uns. Er ist viele Male verschmolzen. Sein Vermächtnis wird im wesentlichen Bestand haben.« »Ich verstehe.« Ich betrachte die schrumpfenden Felder des Gitters. Ich hoffe, sie sind glücklich in ihrer neuen Heimat, aber ich glaube nicht, daß mir etwas entgeht, wenn ich sie nicht zu sehen bekomme. Alfred kommt zu mir an die Tür. »Nun können wir nur noch beten, daß sie uns nicht in die Luft sprengen.« »Diese Gefahr besteht nicht«, sagt Helen. »Ich kannte viele schneidige Offiziere, die mir solche Dinge erzählt haben. Ich werde auf meine Art beten, wenn ihr nichts dagegen habt.« »Überhaupt nicht. Es besteht jedenfalls keine Gefahr mehr. Sie sind blind, weil wir nämlich das Netz zerstört haben.« Alfred starrt mich an. »Wir haben das Netz zerstört?« »Ja.« Helen läßt sich vor ihm nieder und faltet die Schwingen
zusammen. Er schüttelt den Kopf. »Ist das überhaupt möglich…?« »Ist es«, sagt sie. »Wir haben aber eine Kopie erstellt.« »Eine Kopie.« Alfreds Verwirrung steigert sich. »Vom Netz.« »Ja. Wir haben es auf den Kristall an Bord dieses Schiffs kopiert, nur daß die Kopie eine Genauigkeit von gerade einmal 89 Prozent hat. In anderen Worten, es ist nicht mehr das gleiche Netz. Wir trauern um den Verlust unserer Freunde und der Heimat.« Eine Trommel schlägt einen langsamen Marsch und wird dann von einem klagenden Sopran begleitet. Drei Tenöre fallen einen Mollakkord unter dem Sopran ein. Ein Chor von Sopranstimmen stimmt einen wortlosen Klagegesang an, wobei ein einziger Laut das ganze Klangspektrum der Trommel rauf und runter läuft. Es erinnert mich an Smokets Wimmern. Weitere Stimmen kommen hinzu. Das tonale Geflecht wird dichter, das Lied intensiver. Ich leere die Whiskeyflasche, die ich am Abend zuvor angebrochen hatte; Alfred und ich sitzen für den Rest des kurzen Flugs in der Luke, lassen die Beine über den kalifornischen Hügeln baumeln und lauschen dem Gesang der KIs.
EPILOG
Ein Gebet noch will ich für dich sprechen, so du es mir gewährst. Laß meinen Leichnam nicht fern von dir bestatten, Achilles, sondern neben dir. HOMER
Das Grab befindet sich laut Auskunft der Netz-Akte meiner Großmutter etwa eine Meile außerhalb von Horton’s Valley auf einer Wiese in der Nähe eines Bachs. Die genaue Lage indes werden wir vielleicht nie ermitteln. Man muß sich im Spätherbst warm anziehen. Nachmittags gibt es oft Frost, und nachts fast immer. Obendrein bläst ein eisiger Nordwind über den Gebirgskamm. An der Erle hängen noch ein paar gelbe Blätter, doch das meiste Laub ist schon abgefallen und hat sich braun verfärbt. Wenn der Wind es aufwirbelt, sind es meistens braune, brüchige Erlenblätter, die durch dieses kleine Tal stieben und wie ein flüsternder Chor über mich hereinbrechen. Im großen und ganzen ist es gut, an einem Ort zu sein, wo die Leute einen fragen, wofür die Abkürzung KI steht. Das frühe Aufstehen fällt mir nicht so schwer, wie ich erst befürchtet hatte, und der Umgang mit Landmaschinen ist eher Konzentrationssache als Knochenarbeit. Zumal ich mich noch an viele Details über Dieselmotoren erinnere. Die wirtschaftliche Lage sieht gut aus, so daß im nächsten Frühjahr wahrscheinlich neue Maschinen angeschafft werden. Meine Nachbarn sind bedächtige Menschen, mit denen ich aber gut zurechtkomme. In der Regel sind sie hilfsbereit, und wenn nicht, dann haben sie meistens einen guten und manchmal einen für mich peinlichen Grund. Wieder einmal muß eine Augustine sich die sozialen Grundfertigkeiten aneignen. Mein Status als Legende ist natürlich ein Problem. Doch die meisten Nachbarn sehen darüber hinweg. Alfred ist ein guter Freund geworden, vielleicht mein erster guter Freund überhaupt. Ich würde ihn gern öfter sehen, doch ein Mann, der Nutzfahrzeuge und schweres
Gerät repariert, wird in ländlichen Gegenden immer mit Beschlag belegt. Was meine Nachbarn betrifft, so stellte Alfred auf jeden Fall eine größere Bereicherung für die Gemeinschaft dar als der gut zentnerschwere Galaktische Kristall, der das Netz und eine neue KI-Zivilisation beherbergt. Schau’n wir mal. Freitag abends kommt er immer zum Go-Spielen. Er ist ein lausiger Go-Spieler. Gelegentlich nehmen Wings, Gator und Sizzle den Gleiter von New Tokyo nach Seattle. Sie lieben diese Farm, obwohl sie sich nicht im Traum vorstellen könnten, hier zu leben. Sogar Rogacev stattet mir hin und wieder einen Überraschungsbesuch ab. Er begründet die Besuche damit, daß ich den Weg der Fragmentation bewältigt hätte, doch wenn die Sonne aufgeht, quält die alte Fleischeslust ihn wieder. Gelegentlich kommuniziere ich noch mit dem Netz. Ich klinke mich nicht mehr ein, aber ich lese E-Mails und genieße eine musikalische Light-Show. Als ich zuletzt mit den KIs Kontakt aufgenommen hatte, unterhielten sie sich gerade über Delphine. Vielleicht mögen die Delphine ihre Musik. Die Kommunikation mit den KIs deprimiert mich dieser Tage etwas. Die Nomaden sind im großen und ganzen glücklich mit dem Schild, denn er hat sie von der Bedrohung durch die Rose befreit; das Abkommen mit der neuen Junta garantiert der Theokratie Datenschutz im Gegenzug für unsre territoriale und ökonomische Sicherheit. Was die KIs betrifft, so ist ihnen bewußt, daß ihr Überleben von der Bereitschaft abhängt, als die ultimate informationale Waffe zu dienen; obwohl sie große Bedenken hatten, dem nach dem Putsch neu ausgehandelten Abkommen zuzustimmen. Sie taten sich schwer mit der Erkenntnis, daß die neuen Militärführer mindestens genauso gefährlich sind wie damals die Rosen-Aristokraten. Was mich betrifft, so habe ich keine Illusionen wegen der Rose. Abkommen hin oder her, sie werden eines
Tages zurückkommen. Es wird wieder Krieg geben. Wenn ich wieder falle, werde ich mich aber wehren. Mein eigentliches Problem dieser Tage sind Geister. »Augustine!« Ich wende den Blick vom Sellerie, das Messer in der Hand, und sehe ihn über dem Eßtisch schweben. Er blutet aus vielen Wunden. Und ihm fehlt etwas. »Wo ist dein Hut, Cowboy?« »Ich bin der Cowboy ohne Hut.« »Ach so.« »Wieso hast du das getan, Augustine? Es gibt so viel hier draußen, eine ganze Welt aus Vergangenheiten und Zukünften. Und du hast sie uns einfach weggenommen.« Ich widme mich wieder dem Sellerie. »Geh weg, Cowboy.« »Unser gemeinsamer Traum von einer perfekten Welt ist futsch.« Ich stelle das Unkrautjäten ein. »Es wird andere Netze geben, Cowboy. Und andere Cowboys.« »Doch keins wird sein wie dieses.« Und ich höre das leise Plopp, das ertönt, wenn die wahrhaft Feststofflichen entschwinden. Der einzige, den ich je ins Tal zum Grab mitgenommen habe, ist Sizzle. Ich habe versucht, ihm die Bedeutung dieses Orts zu erklären, doch Sizzles Reaktion auf die Toten besteht hauptsächlich darin, sie wieder zum Leben erwecken zu wollen. Hin und wieder läßt er die wie Windmühlenflügel kreisenden Arme hängen, nimmt Witterung auf und spitzt die Ohren, wobei er mit den endlosen Blättertunnels in dieser Senke verschmilzt. An diesem Ort bescheidener Bedürfnisse gibt es nicht so viele Möglichkeiten, sich zu verlieren. Spät in einer Rotation, wenn das Knistern des geschäftigen Raums zu einem steten Summen abgeebbt ist,
frage ich mich manchmal, wieso wir überhaupt Rotationen haben – diese seltsame Regel der Zeit, die der Alte aufgestellt hat. Er sagt, dies sei eine notwendige Erinnerung an die dunkle Vergangenheit im RosenNetz. Eine leichte Turbulenz, die uns zwingt, uns anzustrengen und die Erinnerung wachhält an etwas, das nie wieder geschehen darf. Dies ist traditionell die Zeit für düstere Geschichten und träumerische Gedanken, und man ruft die Geister, die noch immer im Netz ihr Unwesen treiben. Die Zeit, in die dunklen Höhlen des Texts einzudringen, aus denen wir einst hervorgekommen sind. Manchmal werde ich dann von einem schemenhaften Bild verfolgt. Wie durch dickes Glas sehe ich die Gestalt einer Frau, die wie Rauch wabert und mir etwas zuruft. Ich sehne mich nach etwas, für das es ein Zeichen gibt, aber kein Wort. Das Zeichen wird gemacht, indem man mit Zeigefinger und Daumen das Augenlid berührt. Zur Not tut es auch eine Schwanzflosse, die aus dem Wasser steigt und wieder zurückfällt. Es bedeutet eine Sehnsucht, die zu kopieren unmöglich ist; es hat die Anmutung eines alten Gefühls, in dem Trauer mitschwingt wegen des Verlusts der Hoffnung und einer Jugend, die nie zurückkehren wird.
Danksagung Dieses Buch verdankt seine Entstehung einer Vorlesung in Rechtsphilosophie, deren zentrale Frage das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft war sowie einer Reihe intensiver Erörterungen mit Jenny Walter, die die Diskussion im Grunde geleitet hat. Stark inspiriert wurde das Werk durch die Arbeiten von William Gibson und Hannah Arendt, und Inspiration mit negativem Vorzeichen erfuhr es durch die Arbeit von Robert Nozick. Außerdem danke ich dem Lektor Michael Kandel für seine detaillierte Kritik eines früheren Manuskripts. Ungeachtet sonstiger eventueller Schwachstellen ist dieser Roman durch seine Bemühungen enorm verbessert worden.