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»Töte Celestine Draven!« von David Burnett Die Nacht war nasskalt und finster. Dichte Regenwolken hingen tief über der Stadt, und die oberen Stockwerke der Wolkenkratzer schienen in der schwarzgrauen Masse zu verschwinden. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, und der Asphalt glänzte vor Nässe. Die Schritte des Pärchens, das aus dem Gedränge des Szene-Clubs ins Freie trat, klangen unnatürlich laut. Es roch merkwürdig in dem winzigen, heruntergekommenen Hinterhof. Eine Mischung aus langsam vergammelndem Müll und verwesenden Rattenkadavern. Doch die beiden schienen sich nicht daran zu stören. Viel zu sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt...
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Der Mann hatte den Arm um die Schultern der Frau gelegt. Er war groß und hatte eine kräftige Figur mit breiten Schultern. Sein dunkelbraunes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, der bis zwischen die Schulterblätter reichte. Er trug einen schwarzen, bis über die Knie reichenden Ledermantel und schwarze Stiefel. Die junge Frau schmiegte sich in die starken Arme ihres Begleiters. Sie trug nur einen superkurzen Rock und eine durchsichtige Bluse, die einen freien Blick auf ihre Brüste gewährte. Ihr blondes Haar wies einen kurzen, modernen Schnitt auf, und ihr silberner Nasenstecker blitzte im fahlen Schein des Mondes. Mit einem Mal drängte der Mann sie gegen die feuchte Hauswand. Seine Lippen wanderten forschend ihren schlanken Hals hinauf. Sie seufzte verlangend. »O ja, Vince ... « Es gelang ihr nicht, den Satz zu vollenden, denn plötzlich wurde sie von einem Schauer ungekannter Ekstase geschüttelt. Sie wand sich stöhnend unter seinen Küssen. An den feinen Schmerz, den sie plötzlich an ihrem Hals verspürt hatte, dachte sie schon gar nicht mehr. Leise drangen schmatzenden Laute an ihr Ohr, doch sie nahm sie kaum wahr. Es war wie ein Rausch. Schließlich verdichtete sich die Dunkelheit um sie herum, sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden, und dann sank sie mit einem letzten, tiefen Seufzen in sich zusammen. Vince ließ sie vorsichtig an der Wand hinabgleiten. Zufrieden wischte er sich mit dem Ärmel seiner Jacke über den Mund und entfernte so die letzten Spuren seiner Hauptmahlzeit. Die Kleine hatte gar nicht schlecht geschmeckt! Ihr Blut war süß, warm und gleichzeitig würzig gewesen. Man erwischte nicht jede Nacht einen solchen Leckerbissen ... Vince wandte sich von der bewusstlosen Frau ab und wollte zurück in den Club. Nicht lange, und die Kleine würde wieder aufwachen und sich nur noch daran erinnern, einen Wahnsinnstyp kennengelernt zu haben. Irgendwann würde er in der Lage sein, seine Opfer auch das vergessen zu lassen. Gerade als Vince durch den Hinterausgang wieder in das Gebäude gehen wollte, trat ihm eine Frau in den Weg. Aus irgendeinem Grunde wusste Vince gleich, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war nicht wie die Puppe, die er gerade eben vernascht hatte. Er betrachtete ihre Aura. Auf den ersten Blick war da nichts besonderes. Sie war ein Mensch voller Hass und Zorn. Doch dann fiel ihm etwas auf, das er nicht einordnen konnte. Es war, als 3
wäre da etwas im Hintergrund, das nicht zu einem gewöhnlichen Menschen passte. Überrascht schüttelte Vince den Kopf. Was war das bloß? Sie entsprach nicht dem typischen Erscheinungsbild der Besucher des Clubs, denn sie hatte eine feuerrote Dread-Lock-Mähne. Und im Club Daemonique trieben sich für gewöhnlich Gothics herum, hier und da auch mal ein paar Rocker, aber ein solches Girl wie die Rothaarige war wirklich selten. Der Vampir kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. »Na, du Flachwichser!«, sagte das Mädchen. »Hast du wieder ein ahnungsloses Opfer gefunden, um deinen Hunger zu stillen?« Ihre Stimme klirrte wie Eis. Vince bekam vor Überraschung erstmal keinen Ton heraus. Sie wusste, was er war! Sie grinste ihn anzüglich an, doch es spiegelte sich keine Freude in ihren strahlenden blauen Augen wieder. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, wie du mit jemandem klar kommst, der weiß, womit er es zu tun hat!«, rief sie provozierend. Noch ehe ihre Worte verklungen waren, verpasste sie Vince einen kraftvollen Tritt in den Magen. Der Vampir wurde von dieser Aktion völlig überrumpelt. Im hohen Bogen flog er nach hinten und krachte gegen die Wand. Der Aufprall hätte einem normalen Menschen das Rückgrat zerschmettert. Keuchend rappelte er sich wieder auf. Zwar verfügte er über überragende Fähigkeiten, aber leider waren seine Selbstheilungskräfte nicht besonders ausgeprägt. Zwei oder drei Rippen waren gebrochen, aber immerhin konnte er noch stehen. Wenigstens war er jetzt sicher, dass die junge Frau kein Mensch war. So stark konnte kein Sterblicher werden. »Was, zum Henker...?« Doch Vince bekam keine Gelegenheit, seine Frage auszusprechen. Schon war das Teufelsweib bei ihm, und eine Salve kräftiger Hiebe prasselte auf den Vampir nieder. Ihre Fäuste trommelten mit solcher Gewalt gegen seinen Brustkorb, dass die gerade erst langsam verheilenden Rippen erneut krachten. Die Knochensplitter bohrten sich in seine Lunge. Wenn er noch atmen müsste, wäre das sein Ende gewesen, doch so tat es nur höllisch weh. Vince konnte es nicht fassen. Ein Mensch mit derartigen Kräften - so was konnte es doch gar nicht geben ... Er fauchte und ging zum Gegenangriff über. Ein gezielter Kick gegen ihre Kniescheibe, ein weiterer in ihren Unterleib 4
und ein Faustschlag mitten ins Gesicht ließen die Rothaarige zurückweichen. Ein Sprung zur Seite brachte ihn anschließend aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich. »Was hast du für ein Problem, Schlampe!« Wütend, aber noch immer verwirrt, starrte er seine Kontrahentin an. Doch die hatte nur einen abfälligen Blick für den Vampir übrig. Seine Hiebe hatte sie weggesteckt, als sei er ein kleines Kind. Vince fluchte. Der Vampir verstand die Welt nicht mehr. Irgend etwas stank hier ganz gewaltig zum Himmel, und Vince nahm sich vor, dem Baron davon zu unterrichten - sobald er diese Tussi erledigt hatte! »Na, wie fühlt sich das an, einem Menschen unterlegen zu sein, du blutsaugendes Monster?«, fragte sie und lachte höhnisch. Vince hatte genug. Sollte dieses kleine Aas doch ruhig das Maul aufreißen, so weit sie wollte. Er würde es ihr schneller stopfen, als sie gucken konnte! Mit einem gellenden Wutschrei stürmte der Vampir auf die Rothaarige zu und rammte ihr wuchtig die Faust ins Gesicht, bevor sie auch nur den Ansatz einer Reaktion zeigen konnte. Er war vielleicht nicht übermäßig stark, aber er war schnell. Der Schlag schleuderte sie nach hinten, und als sie wieder aufschaute, hatte Vince einen Wurfstern in der Hand. »Jetzt wirst du erleben, was man davon hat, wenn man die Schnauze nicht halten kann!«, brüllte er zornig. Gekonnt warf er den scharfkantigen Metallstern auf die Gegnerin. »Dir werde ich's zeigen, du ...«, rief er dabei, doch ihm blieben die Worte im Halse stecken, als sich, bevor der Wurfstern sie erreichte, eine bläuliche Hülle um ihren Körper bildete. Die Ninja-Waffe zerschnitt mit einem zischenden Laut die Luft, so schnell, dass das menschliche Auge nicht folgen konnte. Dann prallte sie an diesem blauen Etwas ab, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Das Gesicht des Vampirs verzerrte sich zu einer Maske des Entsetzens. Die blaue Hülle verschwand mit einem Flackern, und die Tussi zeigte ihm schon wieder ihr ekelhaft selbstbewusstes Grinsen. Sie blinzelte. Und als sie die Augen wieder öffnete ... Das eisige Kristallblau ihrer Augen war verschwunden und durch ein funkelndes, unmenschliches Gelb ersetzt worden. Vince sah es, und in diesem Moment war ihm klar, dass er jetzt ganz weit weg sein wollte. Doch er hatte noch nicht einmal den ersten Schritt getan, da brach die Hölle los. 5
Der Vampir hatte so etwas noch nicht erlebt! Wie eine wild gewordene Furie ging die Rothaarige auf ihn los. Ihre Schläge trafen ihn mit der Gewalt eines Vorschlaghammers, trieben ihn erbarmungslos immer weiter zurück. Dann setzte sie zu einem knochenzerschmetternden Roundkick an, der sein Schulterblatt zermalmte. Niemals zuvor hatte Vince solche Schmerzen verspürt - weder in seinem ersten, noch in seinem zweiten Leben! Er wollte nur noch fliehen, doch die Rothaarige hatte eindeutig andere Pläne. In der Faust der Furie blitzte plötzlich die Klinge einer Machete. Vince hatte keine Chance mehr. Ein letzter, fassungsloser Schrei entrang sich seiner Kehle, der abrupt verstummte, als die Klinge seinen Kopf mühelos vom Rumpf trennte. Zunächst zeugte nur eine feine, rötliche Linie von dem gerade Geschehenen. Dann fiel er herunter und schlug dumpf mit dem Gesicht zuerst auf dem nassen Asphalt auf - der Körper folgte nur einen Augenaufschlag später. Sofort fingen beide wie im Zeitraffer an zu verrotten. Die Rothaarige lächelte zufrieden ... * Celestine Draven wischte die Klinge der Machete an ihrer vollkommen zerfetzten Bluejeans ab. Wieder einer weniger, dachte sie - bleiben ja nur noch ein paar hundert Tausend auf dieser Welt! Da stürmte plötzlich ein Mann aus dem Club und steuerte direkt auf sie zu. Er war groß und breitschultrig, trug schwarze Kleidung, und sein langes, dunkles Haar hing glatt herunter - einer der Rausschmeißer des Clubs. »Hey!«, schrie der Kerl aufgeregt. »Was ist hier los? Was war das für ein Schrei?« Er erreichte Draven und erstarrte, als sein Blick auf die Überreste des Vampirs fiel und einen Moment später auf dessen letztes Opfer. »O mein Gott!«, schrie der Mann und würgte trocken. »Was ...? Was...?« Jetzt sah er verstört zu Draven herüber, blickte ihr genau in ihre gelb leuchtenden Augen. Sie konnte die plötzliche Erkenntnis in seinen Augen lesen, doch noch bevor er ein Wort sagen konnte, schnellte ihre Hand vor. Die Vampirjägerin packte den Kerl mit der Linken an der Kehle. Ihre Rechte rammte sie in der Höhe des Herzens in seinen Leib. Als die Hand hinten wieder austrat, sah der Mann sie ungläubig an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sie stellten die Frage, die er nicht mehr 6
aussprechen konnte. Warum? Nachdem sie kein Leben mehr in seinem Körper spürte, zog sie ihre Hand wieder aus dem Körper des Toten heraus. Die Hand und auch der Unterarm waren blutverschmiert, und Draven wischte sie wie die Machete an ihrer Hose ab. Dann fiel ihr Blick noch einmal dorthin, wo inzwischen nur noch die Klamotten des Vampirs lagen, und lächelte triumphierend. Wieder gab es einen dieser elenden Blutsauger weniger auf der Welt! Bei ihrem letzten Einsatz hatten unglücklicherweise einige Polizisten dran glauben müssen, was ihr den gesamten Polizeiapparat New Yorks auf den Hals gehetzt hatte. Das war sehr ärgerlich. Was sie aber wirklich wütend machte war, dass ihr der Blutsauger, hinter dem sie her gewesen war, im letzten Augenblick entkommen war. Doch sie hatte ihn nicht vergessen! Bruce Darkness ... Allein der Gedanke an ihn versetzte sie in unbändige Wut. Dass sie ihn bei ihrem letzten Zusammentreffen nicht hatte erledigen können, machte sie beinahe rasend. Doch sie würde ihn schon noch erwischen. Koste es, was es wolle! Früher einmal hatte ihr bei der Jagd auf Vampire immer etwas im Wege gestanden. Ihre Ehrfurcht vor allem menschlichen Leben war es, die ihr bei der Erfüllung ihrer Aufgabe stets ein Hindernis gewesen war. Inzwischen sah sie die Dinge etwas anders. Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne! Wenn jemand so dumm war, ihr in die Quere zu kommen, musste er eben mit den Konsequenzen leben oder sterben. Es machte ihr nichts mehr aus, ein Menschenleben auszulöschen, solange es ihr nur gelang, einen dieser dreckigen Vampirbastarde zu vernichten ... Sie hatte gehofft, heute Nacht auf Darkness zu treffen, hier im Club, denn sie wusste, dass er sich oft im Daemonique aufhielt, zudem war sie sicher, dass er ebenfalls nach ihr suchte. Doch bisher hatte sie ihn nirgendwo entdecken können, und ihr Gefühl sagte ihr, dass sie heute keinen Erfolg mehr haben würde. Dravens Augen nahmen wieder ihre natürliche Farbe an, ein äußeres Zeichen dafür, dass ER sich zurückzog. ER - das war der Dämon, mit dem sie sich vor einiger Zeit verbündet hatte und der seitdem in ihrem Körper hauste, in einer einvernehmlichen Symbiose, durch die Draven übermenschliche Kräfte beziehen konnte. Welchen Vorteil der Dämon davon zog, war ihr bisher noch verschleiert geblieben. Vielleicht waren ihre Ziele aber auch identisch. Wie immer es 7
auch war - ohne den Dämon wäre sie niemals in der Lage gewesen, die Vampire effektiv zu bekämpfen. Als kleines Kind hatte sie mit ansehen müssen, wie ihre Eltern von Vampiren niedergemetzelt wurden. Später - als sie alt genug war und endlich eingesehen hatte, dass es mehr gewesen war als eine kindliche Albtraumfantasie - hatte sie begonnen, sich über Vampire zu informieren, und irgendwann lernte sie den Vampirjäger Steward Carter kennen. Von ihm wusste sie alles, was es über die Untoten Blutsauger zu wissen gab, und nach seinem Tod führte Draven sein Lebenswerk fort. Hart. Unerbittlich. Ohne Erbarmen. Jede Nacht aufs Neue zog sie seitdem los, immer auf der Suche nach Vampiren. Sie machte sie ausfindig und vernichtete sie. Doch ihr war immer klar, eines Nachts würde sie kein Glück haben - und sie würde sterben ... Aber dann erschien eine seltsame Frau bei ihr. Es handelte sich bei ihr um Stewards Mutter, von der Draven noch nie etwas gehört hatte. Die alte Frau bot ihr etwas an, das Draven im ersten Moment für unmöglich hielt und das ihr auch nicht wirklich gefiel - sie sollte sich mit einem Dämon verbünden! Draven wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber schließlich ließ sie sich darauf ein. Und seitdem hatte sie IHN in sich. Er war stark, so unglaublich stark. Und Draven erlangte durch ihn übernatürliche Kräfte, mit denen sie beinahe jeden Vampir, dem sie seitdem begegnet war, vernichtet hatte. Nur dieser Darkness machte ihr das Leben schwer. Er war der einzige Untote, der ihr je entkommen war. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste. Während ihres Kampfes hatte sie den Eindruck gehabt, dass er das Ganze für einen großen Spaß hielt. Dieser kleine Bastard hatte sie überhaupt nicht ernst genommen, dabei war er ihr eindeutig unterlegen gewesen! Oder hatte er nur so getan? Das war lächerlich! Schließlich hatte sie ihn in eine lebende Fackel verwandelt. Nur durch einen dummen Zufall hatte er überhaupt überlebt. Und trotzdem hatte Draven das Gefühl, dass er nicht nur keine Angst vor ihr hatte, sondern dass er sich sogar auf ihre nächste Begegnung freute. Doch wenn sie ihn erst wieder aufgespürt hatte, würde sie ihn zur Hölle schicken! Das schwor sich Celestine Draven in diesem Moment. 8
Und sie spürte, dass das nächste Zusammentreffen mit ihm nicht mehr lange auf sich warten lassen würde ... * Ein leises, ledriges Flattern erklang in der Luft, hoch über dem müllübersäten Boden des Hinterhofes. Im nächsten Moment landete eine Fledermaus auf einem Reifenstapel, der an der dem Hintereingang gegenüberliegenden Wand aufgetürmt worden war. Eine Minute lang hockte sie regungslos da, dann begann das Tier zu wachsen, sich zu verformen. Die weiten Schwingen schrumpften in sich zusammen und nahmen die Form von menschlichen Armen ein. Dann zogen sich die scharfen Klauen und Fänge zurück und das Gesicht nahm menschliche Züge an. Die ganze Verwandlung dauerte nicht länger als ein paar Augenblicke, und im nächsten Moment saß ein älterer, altmodisch gekleideter Mann auf dem aufgetürmten Reifenstapel. Er hatte ein Allerweltsgesicht. Niemand, nach dem man sich auf der Straße umblicken würde. Doch er war nicht irgendwer. Er war nicht einmal ein Mensch! Sein Name war Ryder Jackson - und er war ein Vampir! Nachdenklich fuhr sich der Alte mit der Hand über das lichte, graue Haar. Was er soeben beobachtet hatte, stimmte ihn besorgt. Celestine Draven, die Vampirkillerin, war immer noch in New York. Und Jackson befürchtete, dass sie sich als noch gefährlicher erweisen würde, als er es ohnehin schon vermutet hatte. Jackson hatte schon seit geraumer Zeit ein wachsames Auge auf Draven. Schnell war ihm klar geworden, dass es sich bei ihr nicht um irgendeine dahergelaufene Vampirjägerin handelte. Nein, sie war viel mehr als das. Sie hatte eine Macht in sich, die sie eines Tages zu einer großen vielleicht der größten - Bedrohung für die Vampirbevölkerung New Yorks machen konnte. Und damit auch für ihn. Schließlich hatte er geplant, sich die nächsten hundert Jahre hier niederzulassen. Was er soeben beobachtet hatte, zeigte auch, dass sie immer gefährlicher wurde. Es schien, als hätte sie ihre größte Behinderung - ihre Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben - überwunden, seit sie mit dem jungen Bruce Darkness zusammengestoßen war. Es machte ihr nichts mehr aus, einen Menschen zu töten, wenn sie hierdurch auch nur einen ihrer Feinde mit zur Hölle schickte. Jackson machte sich Sorgen - und es gab auf dieser Welt nicht viel, über 9
das sich Ryder Jackson noch Sorgen machte. Er musste einen Weg finden, sie aufzuhalten. Und er hatte nicht vor, sich dabei irgendeiner Gefahr auszusetzen, von der er noch nicht hundertprozentig wusste, dass er sie überstehen würde. Daher würde er den jungen Bruce Darkness erneut mit ihr zusammenführen. Wenn der verlor, würde Jackson kein Schaden entstehen, sondern er hätte die Chance, Informationen zu sammeln. Und wenn er gewann - nun, dann würde das Problem beseitigt sein. Ein feines Lächeln stahl sich über sein Gesicht. Um nichts in der Welt würde sich Bruce Darkness, dieser junge Heißsporn, davon abhalten lassen. Jackson selbst würde gar nicht nachhelfen müssen. Er musste nur die Augen aufhalten. Nachdenklich blickte der alte Vampir zum Himmel. Dann verwandelte er sich wieder. Kurze Zeit später flatterte eine Fledermaus davon und verschwand in der Dunkelheit des wolkenverhangenen Nachthimmels ... * »Oh, nein, bitte - tu mir nichts! Lass mir mein Leben, bitte!« Der große, breitschultrige Mann, der in seinem Leben schon eine Menge Leute eingeschüchtert hatte und sich immer stärker als Rambo vorgekommen war, hatte die Hosen gestrichen voll! Sein Gesicht war zu einer angstverzerrten Fratze geworden, und seine Rechte, die seinen Revolver umklammerte, zitterte. Aus den Augenwinkeln sah er die Toten. Fünf, sechs oder sogar sieben das war nicht mehr genau zu erkennen - Männer waren es, die hier bei ihm lagen. Alle hatten versucht zu kämpfen, doch keiner von ihnen hatte den Kampf überlebt. Sie hatten keine Chance gehabt. Und Bob Weaver war ebenfalls chancenlos! Das wusste er, aber trotzdem ... Er wollte es nicht wahrhaben, und deshalb versuchte er es mit Worten. Wenn er jetzt schoss, war er tot. Die einzige Chance, die ihm blieb, war, um sein Leben zu betteln. Aber war es wirklich eine Chance? Würde dieses Wesen Mitleid haben? Wohl kaum, und dennoch klammerte er sich an diesen einzigen Strohhalm. Das Wesen, das vor ihm stand, war kein Mensch. Es war ein Alien! Ein Außerirdischer, der auf die Erde gekommen war, um die Menschen zu töten! 10
Aber warum ausgerechnet Weaver? Eine logische Erklärung dafür gab es nicht, zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt, und vermutlich befand sich Weaver auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort... Das Wesen, ein wahrhaftiges Monstrum, stieß ein schauriges Geräusch aus, das wohl ein Lachen sein sollte. Dann stürmte es auf Weaver zu. Der schoss! Eine Kugel nach der anderen bohrte sich in den massigen, quallenartigen Körper des Außerirdischen, doch sie bewirkten nichts. Dann packte das Wesen Weaver mit einem seiner acht schleimigen Tentakel an der Kehle und hob ihn mühelos hoch. Der Mann röchelte und schlug verzweifelt auf den Fangarm ein. Der Alien beachtete die Hiebe gar nicht, sondern schmetterte den Menschen zu Boden, dass die Knochen krachten. Weaver rappelte sich auf alle viere auf und versuchte, dem Monster zu entkommen. Verzweifelt krabbelte er los. Doch einer der Tentakel des Alien wurde immer länger und wickelte sich schließlich um den Knöchel des Mannes. Augenblicke später baumelte Weaver kopfüber in der Luft. Laut rief er um Hilfe, obwohl es mehr ein Kreischen war. Der Mann wurde einige Meter in die Luft geschleudert, wieder aufgefangen und dann zu Boden geschmettert. Als Weaver keuchend auf dem Rücken lag, sah er nur noch den Fuß seines nichtmenschlichen Gegners auf sich zurasen. Dann sah er nichts mehr, denn sein Kopf war zermatscht wie eine zertretene Tomate ... * Lachend klopfte sich Bruce Darkness auf die Schenkel. Er hatte irren Spaß, obwohl der Film, den er sich anschaute, wirklich trashig war - oder vielleicht gerade aus diesem Grund. Der Streifen lief nun eine geschlagene Stunde, und in diesen 60 Minuten waren mindestens 30 Menschen von Aliens dahingemetzelt worden. Das alles war so grottenschlecht in Szene gesetzt und die Schauspieler waren so mies, dass es wirklich mehr wie eine Slapstick-Komödie rüberkam. Aber etwas anderes hatte Bruce auch nicht erwartet, denn dies war nun mal ein Splatter-Film. In dem großen Kinokomplex war heute Horror und Science-Fiction angesagt. In einigen Sälen liefen neuere Mystery-Filme, in einigen anderen eben solche trashigen Billigproduktionen wie der hier, die zum Teil schon zwei, drei Jahrzehnte alt waren. Aber das Wichtigste für Bruce war, dass er 11
dabei seinen Spaß hatte und das war zweifelsohne der Fall! Eigentlich hatte sich Bruce ja »Blade« reinziehen wollen, aber der Saal, in dem der Streifen lief, war dummerweise ausverkauft gewesen. Zwar hatte er überlegt, ob er einfach einen Menschen, der eine Karte besaß, umhauen sollte, aber dann hatte er es schließlich doch gelassen und sich für den bekloppten Alien-Film entschieden. Schließlich hatte er »Blade« zu Hause auf DVD. Amüsiert beobachtete der Vampir, wie dieser schleimige Außerirdische auf der Leinwand nun weiter durch die Straßen zog und mit seiner kosmischen Strahlenwaffe die nächsten Menschen killte. Es war wirklich zum Grölen! Bruce blickte sich um. Allzu voll war der Saal nicht, er saß ziemlich weit vorne, und neben und vor ihm hockten einige Jugendliche. Bruce war sicher, dass die Meisten von ihnen eigentlich noch zu jung für den Film waren. Ganz hinten im Saal hockten noch einige Pärchen, die offensichtlich mit ganz anderen Dingen als dem Film beschäftigt waren. Gerade, als der Alien auf der Leinwand einen fetten Mann mit seinem Laser in zwei Teile zerlegen wollte, wurde Bruce abgelenkt. Eine Frau war aufgestanden und ging durch die Reihen in Richtung Ausgang. Entweder wollte sie sich Popcorn holen oder sie hatte genug von dem Film, aber das war egal, denn etwas anderes war viel wichtiger für den Vampir - ihr Aussehen! Das gibts doch nicht! Bruce kniff die Augen zusammen. Sicher, es war verdammt dunkel hier, aber so finster war es auch wieder nicht. Vor allem die beleuchteten Notausgang-Schilder und auch die Leinwand selbst warfen genug Licht ab, um Bruce stutzen zu lassen. Draven!, schoss es ihm durch den Kopf, und sofort sprang er auf und stürmte der Rothaarigen hinterher. Das gibts doch nicht! Die Frau verließ gerade den Saal, als sich der Vampir endlich aus seiner Reihe gequetscht hatte, und ihr hinterher rannte. Die schwere Tür, die aus dem Saal führte, war noch nicht wieder ins Schloss gefallen, da stürmte er über die Schwelle. Die Flügeltüren prallten auf beiden Seiten mit einem Krachen gegen die Wände. Die Rothaarige steuerte auf das Foyer zu. Als der Lärm hinter ihr ertönte, wollte sie herumfahren, doch da packte er sie schon an der Schulter. Sie wirbelte vollends herum. Bruce war bereit zum zuschlagen - doch er blickte in ein Gesicht, das ihm völlig fremd war. »Hey, spinnst du?«, schrie die Rothaarige und gab Bruce wütend einen 12
Schubs. »Hast du sie noch alle, mich so zu erschrecken? Was soll das?« Bruce schüttelte den Kopf. »Sorry«, sagte er. »Verwechslung.« Die junge Frau machte eine eindeutige Handbewegung, wandte sich ab und ging, leise vor sich hinschimpfend, weiter. Mann, dachte Bruce sauer, dein Draven-Tick macht dich noch verrückt! Tatsächlich dachte der junge Vampir in letzter Zeit kaum an etwas anderes als an Celestine Draven. Ständig glaubte er, sie irgendwo zu sehen, und hinter jeder Ecke, um die er bog, rechnete er damit, dass sie dort auf der Lauer lag. Es wäre schon toll, wenn sie ihm auflauerte, denn er hatte die Befürchtung, dass er anderenfalls nie auf sie treffen würde. Seit ihrem letzten Zusammentreffen suchte er vergeblich ganz New York nach ihr ab. Freundlicherweise half ihm die Polizei diesmal dabei, wenn auch ohne es zu wissen. Nachdem sie einige Polizisten getötet hatte, stand sie ganz oben auf der Fahndungsliste. Aber auch die Bullen waren erfolglos. Allerdings stand es für Bruce fest, dass auch Draven wieder nach ihm suchen würde, es war nur eine Frage der Zeit. Sie wollte ihn killen, das war klar, und wahrscheinlich war es momentan nur so ruhig, weil sie zum großen Schlag ausholte. Der Vampir war inzwischen die Lust auf den Film vergangen. Verdammt, da hatte er mal Spaß, dann wurde durch diese durchgeknallte Vampirjägerin mit den gelben Augen die ganze Stimmung verdorben. Sie musste nicht mal da sein, um ihn zu nerven. Er ging in Richtung des Foyers. Als er an dem Kino vorbeikam, in dem >Blade< lief, hörte er lautes Gekreische. Und jetzt hörte er auch eine männliche Stimme, die etwas brüllte, das ihn aufhorchen ließ. »Ja, seht ruhig her, ihr elenden Würmer! Hier seht ihr einen richtigen Vampir!« Bruce schluckte. Er kannte die Stimme, kam aber nicht darauf, zu wem sie gehörte. Und es waren keine besonders guten Erinnerungen, die er mit ihr verband. Er preschte vor, stemmte die Tür auf und stürmte in den Saal. Schreiende Menschen kamen ihm entgegen und wollten in Panik nach draußen laufen. Alles drängelte sich dicht an dicht. Sie hätten ihn wahrscheinlich rücksichtslos tot getrampelt, so angsterfüllt wie sie waren, doch Bruce stand wie ein Fels in der Brandung in der hinausdrängenden Menschenmenge. Und dann sah Bruce den Mann, dessen Stimme er eben gehört hatte, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Marvey! Ja, das war er: Nick Marvey. Ein Vampir, nicht viel älter als Bruce. Ein 13
Einzelgänger, der sich von keinem etwas sagen ließ und sich gern in der Vordergrund spielte. Durch ihn war Bruce zum ersten Mal auf Draven getroffen, denn er war zufällig Zeuge geworden, wie sich Marvey mit ihr einen Fight geliefert hatte. Bruce grinste. Wie das Großmaul von der Vampirjägerin verprügelt worden war, dachte er sich selbst berichtigend. Bruce war dazwischengegangen, doch mit Kräften, wie er sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte, hatte sie die beiden weggeschleudert. Marvey, dieser Feigling, hatte offenbar die Hosen voll gehabt und war abgehauen. Die Tatsache, dass er Bruce - der ihm immerhin zur Hilfe geeilt war rücksichtslos im Stich gelassen hatte, bereitete dem Widerling kein Kopfzerbrechen. Es machte ihm wesentlich mehr zu schaffen, dass er einem menschlichen Wesen unterlegen gewesen war! Es sprach sich schnell herum, dass Marvey seitdem immer wieder total ausflippte. Es schien, als müsse er jedem Menschen - und vor allem seinen Schicksalsgenossen - beweisen, dass er ein ultrastarker Vampir war, der sich von nichts und niemandem einschüchtern ließ. Immer wieder legte er sich mit ganzen Gruppen an, saugte Menschen in der Öffentlichkeit aus und versetzte die Leute in Angst und Schrecken. Anscheinend brauchte er das für sein Ego, aber den anderen Vampiren, allen voran Baron von Kradoc, war dieses Verhalten natürlich ein Dorn im Auge. Um genau zu sein kochte der Baron vor Wut. Er hatte Vampire schon für weniger vernichten lassen. Bruce wusste nicht, warum er Marvey so viel durchgehen ließ. Er erzeugte einfach viel zu viel Aufsehen - und das war für Vampire mehr als ungesund. Es hatte einmal Zeiten gegeben, da hatten sie ihr Wesen ungezwungener zur Schau gestellt. Das Ergebnis war die Hexenverfolgung im Mittelalter gewesen. Neben zahllosen Unschuldigen hatten auch unzählige Vampire in der alten Welt den ewigen Tod gefunden. Der Baron von Kradoc, der Herrscher von New York, erwartete daher von seinen Untergebenen, dass sie im Verborgenen blieben. Er war nicht der Einzige, der so dachte, und im Laufe der Zeit führte dies dazu, das immer weniger Menschen an Vampire glaubten - und heute galten sie als Sagengestalten, obwohl allein in New York Hunderte ihr Unwesen trieben. Bisher hatten Marveys Extratouren glücklicherweise noch keine größeren Schäden angerichtet. Niemand - auch die Presse nicht - nahm ihm ab, dass 14
er wirklich ein Vampir war. Alle hielten ihn für einen ausgetickten Irren, wenn Marvey mal wieder die Kontrolle über sich verlor. Aber lange konnte das so nicht weitergehen ... Marvey stand nun auf einem Podest unter der Leinwand. In seinen Armen hielt er eine junge, sehr schlanke Brünette. Sie war bewusstlos, ihr Kopf hing schlaff herunter, und ihr blasser Hals wies zwei Einstiche auf, aus denen dünne Fäden aus Blut rannen. Auch Marveys Mund war blutverschmiert. »Ja, lauft nur«, brüllte er lachend, »lauft nur weg, ihr armseligen Geschöpfe. Euch hole ich mir schon noch!« Hinter ihm lief noch immer der Vampir-Action-Kracher. In der Szene, die gerade zu sehen war, lieferten sich Blade - alias Wesley Snipes - und sein vampirischer Kontrahent Deacon Frost einen mörderischen Kampf. Bruce nahm das kaum wahr, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt Marvey. Er schüttelte ungläubig den Kopf. War der Kerl denn völlig verrückt geworden, sich so aufzuführen? »Lass auf der Stelle die Frau los und komm her!«, brüllte Bruce wutentbrannt, während die Leute weiterhin rechts und links an ihm vorbeistürmten. Marvey blickte in seine Richtung und kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Darkness!«, rief er, als er sein Gegenüber erkannte. »Was, zur Hölle, willst du denn hier?« »Dich vor weiteren Dummheiten bewahren, du hirnverbrannter Idiot! Jetzt komm schon! Wir müssen von hier verschwinden!« Doch Marvey lachte nur abfällig. Der Schwachkopf bringt uns alle noch in Teufels Küche! Bruce knurrte wütend. Dann kämpfte er sich einen Weg in den Kinosaal, indem er die ihm entgegenkommenden Menschen einfach beiseite fegte. Sobald er Marvey erreicht hatte, würde er ihn zur Vernunft bringen. Bruce ballte die Fäuste. Doch der andere Vampir sah Bruces Absicht voraus und benutzte den bewusstlosen Körper der Frau als Wurfgeschoss. Mit einem wütenden Heulen schleuderte er sie Bruce entgegen. Oh, Mann, dachte Bruce, jetzt wirft der hier hübsche Mädchen durch die Gegend! Halb instinktiv fing Bruce die junge Frau auf. Er tat das mehr, um Marvey zu zeigen, dass er diesem überlegen war, als dass er die Braunhaarige retten wollte. Allerdings gefiel Bruce sich in der Rolle des heldenhaften Retters ausgezeichnet. 15
Wirklich sehr hübsch, schoss es ihm noch durch den Kopf, während er sie sanft zu Boden gleiten ließ. In dem Moment stoppte auch der Film und die Saalbeleuchtung ging an. »Herrschaften, bitte behalten Sie die Ruhe!«, hörte Bruce eine Männerstimme von draußen. Die Angestellten des Kinos bemühten sich, die Situation unter Kontrolle zu bringen, und vermutlich war auch die Polizei bereits informiert. »Jetzt komm endlich raus hier!« Bruce stürmte weiter vor, warf sich dann mit einem Hechtsprung auf Marvey und riss ihn mit sich zu Boden. Kreischend rannten Menschen an ihnen vorbei, denn während etwa die Hälfte der Kinobesucher in Richtung des eigentlichen Ausgangs stürmten, war das Ziel für die andere Hälfte der Notausgang links neben der Leinwand. Marvey schlug Bruce mit der rechten Faust heftig ins Gesicht, dass die Nasenknochen knirschten. Bruces Kopf wurde zurückgeworfen. Blut schoss aus seiner Nase. Doch nur einen Moment. Schon als sein Schädel zurückfederte, verebbte der Blutstrom. Wieder schlug Marvey zu. Bruce packte dessen Schlagfaust und drückte so fest zu, dass der andere Vampir gellend aufschrie. Erst als Darkness hören konnte, wie die Hand seines Gegners brach, ließ er los. »Glaubst du, dass du dir alles erlauben kannst?« Bruces Faust schoss vor und grub sich gnadenlos in Marveys Gesicht. Der hatte noch mit seiner Hand zu kämpfen, als sein Kiefer gebrochen wurde. Der nächste Hieb traf ihn an der Schulter und zertrümmerte das Gelenk. »Ich habe wirklich die Schnauze voll von dir!« Bruce schlug immer wieder zu, während er diese Worte schrie. Doch plötzlich wurde er von hinten am Kragen gepackt und hochgezogen. »Jetzt ist Schluss mit dem Theater!«, schrie einer der Kerle, die ihn noch immer am Schlafittchen hatten. Bruce ließ seine Arme hochschnellen und wirbelte herum. Er hatte die Typen nur gestreift, trotzdem flogen sie nach hinten. Es handelte sich um Sicherheitsleute, und Bruce sah, wie sie nun ihre Pistolen zogen. »Keine falsche Bewegung!«, schrie der Rechte, ein bulliger Kerl, der, wie der andere auch, einen schwarzen Overall mit der Aufschrift »Security« trug. »Mischt euch hier nicht ein!«, rief Bruce und machte einen Schritt auf sie zu. »Ist besser für euch.« 16
Der Bullige schoss. Die Kugel traf Bruce am rechten Bein. Es war nur eine kleinkalibrige Pistole, und Bruce zuckte nicht mal zurück, als sie einschlug. Zähflüssiges Blut sickerte für einen Moment aus der Wunde, doch nur kurz, dann hatte sich das Einschussloch bereits wieder geschlossen. Die Security-Männer glotzten ihn ungläubig an. Erneut ließen sie die Pistolen krachen. Diesmal wurde Bruce in der Magengegend getroffen, und eine weitere Kugel riss ein Loch in seinen rechten Oberarm. Doch Bruce ignorierte die Treffer wie Normalsterbliche Mückenstiche und ging ruhig weiter auf sie Sicherheitsleute zu. Da registrierte er im rechten Augenwinkel eine Bewegung. Nick Marvey war wieder auf den Beinen. Doch der machte keine Anstalten, sich auf Bruce zu stürzen. Stattdessen wandte er sich dem links stehenden Security-Typen zu. Der konnte ihn nur anstarren, die Waffe immer noch auf Bruce gerichtet ohne abzudrücken. Marveys blutverkrustetes Gesicht bot einen schrecklichen Anblick. Mit einem Satz überwand der Vampir die drei Meter zu seinem Opfer und kam direkt vor ihm auf. Er federte in die Knie, richtete sich langsam wieder auf und grinste den Sicherheitsmann an. Seine langen Eckzähne blitzten. Dann brach Marvey dem Sterblichen ohne zu zögern das Genick. Es knirschte fürchterlich, und der Sterbliche sackte leblos zusammen. Bruce hatte dem Bulligen inzwischen die Pistole aus der Hand geschlagen und ihn dann mit einer Hand hochgehoben. Nun schleuderte er den Security-Mann gegen die nächste Wand, an der er kraftlos niedersank und wie tot liegen blieb. Gerade wollte sich Bruce wieder zu Marvey umwenden, da hatte ihn der Kerl schon angesprungen. Bruce wurde zu Boden geschleudert. Er knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden. Dann war Marvey über ihm und ließ seine Fäuste in Bruces Gesicht krachen. Bruce bäumte sich auf und schleuderte seinen Gegner von sich. »Es reicht!«, brüllte er, während er sich aufrappelte. Wieder stürmte Marvey heran. Diesmal war Bruce vorbereitet und empfing ihn mit einer rechten Geraden. Nick Marvey wurde erneut zurückgeworfen. Diesmal ließ Bruce Darkness ihm keine Verschnaufpause. Er packte seinen Gegner, schleuderte ihn gegen die Leinwand und setzte ihm dann sofort wieder nach. 17
Mit dem Rücken zur Leinwand stand Marvey da, und Bruce hämmerte ihm die Fäuste ins Gesicht, als wolle er dessen Schädel direkt durch die Wand treiben. »Mach - nie - wieder - so - eine - Scheiße!«, rief Bruce und begleitete jedes Wort mit einem Knochen zertrümmernden Schlag. Da sah er, wie weitere Security-Leute durch den Haupteingang in den Saal stürmten. Bruce ließ von Marvey ab, riss zwei Sessel aus der stählernen Verankerung und warf sie ihnen entgegen. Sie waren nicht besonders gut gezielt, aber als sie Sicherheitsmänner in Deckung gingen, hatten die großen Wurfgeschosse ihren Zweck erfüllt. Denn als sie Security-Leute wieder aus ihrer Deckung auftauchten, waren die beiden Vampire verschwunden ... Draußen, vor dem Kino, sah Bruce noch, wie die Cops eintrudelten, doch sie stürmten sofort in das riesige Gebäude des Kinos und beachteten ihn gar nicht. Er wandte sich wieder der dunklen Ecke zu, in der er Marvey abgelegt hatte. Er sah ziemlich tot aus - so mit zerbrochenen Knochen und zermanschtem Gesicht -, aber Bruce war sich sicher, dass er sich erholen würde. Schließlich handelte es sich um einen Vampir. Darkness ging neben seinem Opfer in die Hocke. »Ich werde dir das nicht noch einmal sagen«, erklärte er. »Der Baron von Kradoc - der Herrscher von New York, dein Herrscher - wünscht Ruhe in seiner Stadt. Und auch du bist ruhig, wenn du nur noch aus Staub bestehst, verstanden?« Aber Bruce wartete die Antwort nicht ab, sondern erhob sich und verschwand in der Nacht... * Noch immer wütend über das unverantwortliche Verhalten, das dieser Nick Marvey an den Tag legte, streifte Bruce durch die Straßen. Seine Harley hatte er direkt vor dem riesigen Kino-Komplex abgestellt, und dort wollte er sich in den nächsten Stunden nicht mehr sehen lassen. Womöglich würde ihn jemand wiedererkennen, und dann müsste er sich den Weg freimetzeln. Er grinste. Das würde dem Baron gar nicht gefallen. Aber vielleicht tat ihm ein kleiner Spaziergang ganz gut... Ziellos wanderte er umher, bis er plötzlich eine Berührung an seiner Schulter spürte. Er wirbelte herum - und seine Kinnlade fiel herab! 18
Es war eine Hand gewesen, die ihm auf die Schulter geklopft hatte. Daran war so weit ja nichts Ungewöhnliches, doch dieser speziellen Hand schien irgendwie der Körper abhanden gekommen zu sein, zu dem sie gehörte! Dabei war es nicht so, dass sie frei in der Luft schwebte. Nein, es war schon alles dran, was dazugehörte. Doch der Arm, an dem sie hing, schien überhaupt nicht mehr enden zu wollen! Bruces Augen verfolgte den Arm bis zur nächsten Straßenecke, hinter der er dann einfach abknickte und aus seinem Sichtfeld verschwand. Was zur Hölle war das jetzt wieder für ein Mist? So was hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen! Und nun winkte ihn die Hand auch noch zu sich! »So fest hat dieses Arschloch Marvey meinen Kopf doch gar nicht getroffen«, murmelte er. Plötzlich begann die Hand, sich zurückzuziehen. Dabei winkte sie Bruce immer noch hinter sich her. Der Vampir zuckte mit den Schultern. Was soll´s?, dachte er. Wenn sich jemand solche Mühe macht, mich kennen zu lernen, sollte ich ihn wirklich nicht enttäuschen! Kurzentschlossen folgte er der Hand um die nächste Straßenecke. Und wenn das eine Falle ist, überlegte er, dann kann sich der Besitzer dieses Schlangenarms auf was gefasst machen! Von der Ecke aus konnte er sehen, dass der Arm einen Block weiter abermals einen Knick vollzog. Wenn mich jetzt einer sehen könnte!, schoss es Bruce durch den Kopf. Mann, muss das beknackt aussehen! Als er, noch immer der Hand folgend, um die nächste Ecke bog, erwartete ihn eine weitere Überraschung. Plötzlich stand er vor dem Mann, zu dem die Hand gehörte, und der war ihm kein Unbekannter. »Ryder Jackson!«, stieß Bruce aus. »Ist dir denn nichts Auffälligeres eingefallen?«, fuhr er fort, nachdem er seine Überraschung einigermaßen verdaut hatte. »Wenn du mich hättest treffen wollen, hätte es auch ein einfacher Anruf getan! Diese Handys sind zwar schrecklich modern, aber sehr praktisch.« Jackson schüttelte amüsiert den Kopf. »Du bist und bleibst ein Heißsporn, Bruce Darkness. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, dass ich dich so sympathisch finde, weißt du das eigentlich?« »Sonst würdest du mir wohl den Kopf abreißen, was, alter Mann? Jetzt aber mal zur Sache - du hast mich doch nicht einfach nur zum Spaß hierher gelotst! Gibt es Neuigkeiten über Draven?« »Ich wusste doch, das du ein helles Köpfchen bist, Bruce!« Beifällig 19
klopfte er dem jüngeren Vampir mit der Hand, die nun wieder zu ihrem Normalzustand zurückgefunden hatte, auf die Schulter. »Ja, es geht um Celestine Draven«, sagte er anschließend. »Doch ich fürchte, dass ich keine guten Nachrichten habe. Obwohl, wenn ich recht überlege, dürfte es dich freuen, davon zu hören! Denn Draven ist offensichtlich immer noch in der Stadt, ich habe sie gesehen.« Sofort war Marvey vergessen. »Wusste ich doch, dass die Schlampe wieder auftaucht!«, rief Bruce. »Aber dieses Mal ist sie dran, das schwör ich bei allem, was mir heilig ist!« Er stutzte. »Was zugegebenermaßen nicht viel ist«, fügte er dann grinsend hinzu. »Und genau darum«, sagte Jackson, »denke ich, dass du der Richtige für diesen Job bist!« Dann wurde der ältere Vampir übergangslos ernst. »Aber ich warne dich - nimm die Sache nicht auf die leichte Schulter! Du weißt, dass in Draven Kräfte schlummern, die weder du noch ich bisher wirklich einschätzen können. Und es scheint, als würde es ihr nun auch nichts mehr ausmachen, Menschenleben zu opfern!« »Na und«, kommentierte Bruce trocken. »Besonders zimperlich schien sie mir nicht. Das hat man ja gesehen, als sie beim letzten Mal die Cops mit einem Feuerball geröstet hat.« Jackson wiegte den Kopf. »Das kannst du nicht wissen, aber wie ich mitbekommen habe, konnte sie das hinterher nur schwer mit ihrem Gewissen vereinbaren.« »Wie kannst du das mitbekommen haben? Ich meine ...« »Das spielt jetzt keine Rolle, Bruce. Was ich aber heute gesehen habe, sah ganz anders aus. Wenn du in einer Menschenmenge stehst, wird sie sie alle töten, wenn auch nur die Chance besteht, dass sie dich ebenfalls erwischt. Celestine Draven ist das Leben eines Menschen keinen Pfifferling mehr wert. Zumindest das Leben eines fremden Menschen.« »Aha. Und was hab ich jetzt davon?« »Ich denke, wenn es an der Zeit ist, wirst du es schon begreifen. Jedenfalls hat sie nur ein Ziel.« »Und das wäre?« Wie immer, wurde Bruce aus dem Altvampir nicht so recht schlau, und das nervte ihn wirklich. »Sie hat es auf dich abgesehen, Bruce, und sie wird alle Hebel in Bewegung setzen, um dich zu vernichten. Du musst sehr schlau vorgehen, um sie endgültig auszuschalten ...« »Ich gehe doch immer schlau vor.« Bruce grinste. Er wusste selbst, dass er kein Planer war. »Keine Sorge, diesmal weiß ich, was mich erwartet. Das Problem ist, sie zu finden...« Plötzlich hörte Bruce hinter sich ein Geräusch. 20
Er wirbelte herum. Außer einer alten Zeitung, die der Wind über die Straße geweht hatte, war nichts weiter zu sehen. Doch als er sich wieder umwandte, war Ryder Jackson verschwunden ... * Nick Marvey lag da und war am Ende. Wie konnte das nur sein? Dieser elende Darkness war jünger als er. Trotzdem war Bruce ihm überlegen gewesen. Nur weil er mich überrascht hat, dachte Marvey. Sonst hätte ich ihn zu Klump gehauen. Bei dieser Überlegung ignorierte er völlig die Tatsache, dass Bruce nicht einmal versucht hatte, ihn zu überraschen. Langsam regenerierte sich der Körper des Vampirs. Nick war immer stolz darauf, wie schnell die Heilung bei ihm vonstatten ging. Dass es jetzt so lange dauerte, war ein Zeichen dafür, wie mitgenommen er war. Endlich fühlte er sich in der Lage aufzustehen und stemmte sich hoch. Sein Gesicht, wieder vollständig geheilt, war immer noch von einer dicken Schicht Blut bedeckt. Auch seine Kleidung war über und über mit der roten Flüssigkeit besudelt. Es ist doch erstaunlich, dachte er, wie viel Blut in einem Vampir stecken kann. Er blickte an sich herunter. Das sind doch mindestens fünf Liter, überlegte er. Und ich lebe noch. Er grinste. Oder so ähnlich ... Dann sah er zum Kino. Dort beruhigte sich inzwischen wieder alles. Natürlich schwirrten noch überall Cops rum, aber die Besucher waren inzwischen alle rausgescheucht worden. Und da es draußen nichts zu sehen gab, hielt sich die Anzahl der Schaulustigen in Grenzen. »Das kann man ändern«, murmelte er, und ging auf den Kinoeingang zu. Natürlich erregte er durch sein Aussehen sofort die Aufmerksamkeit der Sterblichen. Rufe nach Sanitätern wurden laut. Darkness wird schon sehen, ob ich mir von ihm etwas verbieten lasse, dachte Marvey. Zwei uniformierte Cops drängten sich durch die Menge auf ihn zu. Nick, für den sie völlig gleich aussahen, taufte sie spontan Ernie und Bert. Aber das war auch egal. Sie erreichten ihn gleichzeitig. »Sir, kann ich Ihnen helfen?«, fragte Bert. Ernie starrte Marvey nur aus weit aufgerissenen Augen an und fragte sich, wieso der Mann, der vor ihm 21
stand noch lebte. Nick konnte direkt sehen, wie die kleinen Zahnrädchen im Kopf des Cops ineinander griffen. Jetzt kam Ernie der Gedanke, dass das unmöglich alles Marveys Blut sein konnte. Und jetzt fragte er sich, wessen Blut es dann war ... In diesem Moment riss der Vampir den Mund auf, zeigte die überlangen Eckzähne und fauchte. Sofort breitete sich Panik aus. Die Schaulustigen - die ja schließlich nur zugucken wollten, und nicht selbst in Gefahr geraten - spritzten in alle Richtungen. Selbst die beiden Cops machten einige Schritte zurück. Doch immerhin griffen sie nach ihren Waffen ... Sie hatten keine Chance. Nick Marvey sprang auf sie zu, ballte die Rechte zur Faust und rammte sie Ernie ins Gesicht. Der Schädel des Cops wurde zurückgeschleudert. Er taumelte einen Schritt nach hinten, stolperte dann und stürzte zu Boden. Leblos blieb er liegen. Bert schaffte es, seine Dienstpistole zu ziehen, doch noch bevor er die Waffe aufs Ziel richten konnte, sprang der Vampir vor und hieb ihm die Handkante auf den Unterarm. Der Cop schrie auf und übertönte damit sogar das hässliche Bersten, das der Schlag ausgelöst hatte. Die Pistole viel zu Boden. Plötzlich war Marvey hinter ihm. Er drückte seinem Opfer den Kopf zur Seite, sodass der Hals frei lag, und schlug ihm seine Raubtierfänge in die Vene. Gierig begann er zu trinken. Der Cop, den der Vampir Bert getauft hatte, schrie auf. Wenn man beim Blutsaugen vorsichtig vorging, tat es dem Opfer kaum weh. Es konnte im Gegenteil zur Extase führen. Doch Nick Marvey wollte gar nicht vorsichtig sein. Er wollte Tod und Schrecken verbreiten. Niemand würde ihn je wieder für schwach halten. Aus den Augenwinkeln bemerkte der Vampir, dass die Cops Verstärkung bekamen. Ihre Kollegen hatten sich schwer mit Pumpguns bewaffnet. Das wurde Marvey dann doch zu gefährlich. Ein direkter Treffer am Kopf, und es könnte vorbei für ihn sein. Außerdem hatte er sein Ziel erreicht. Er ließ Bert fallen, wandte sich einer Gasse zu und sprintete los. Hinter sich hörte er noch einzelne Schüsse, doch auf diese Entfernung stellte Schrot für ihn keine Gefahr dar. 22
Dann war er in der Nacht verschwunden ... * Es hatte wieder zu regnen begonnen. In dichten Schleiern hämmerten schwere Tropfen auf den Asphalt. Das Abflusssystem war von den plötzlichen Wassermassen völlig überfordert, und schon bald bildeten sich auf den Straßen riesige Seen aus angestautem Regenwasser. Bruce Darkness störte dies nicht. Ohne auch nur ins Schlingern zu geraten, steuerte er seine Harley über die regennasse Straße. Die Reifen durchschnitten die Pfützen, und das Regenwasser spritzte in gewaltigen Fontänen auf beiden Seiten der schweren Maschine weg. Dann hatte der Vampir sein Ziel erreicht. Er stellte sein Motorrad in der Tiefgarage des Empire State Buildings ab und schüttelte sich die Nässe aus dem kurzen schwarzen Haar. Der Expressaufzug beförderte ihn in weniger als sechzig Sekunden in das 85. Stockwerk des gewaltigen Gebäudes. Mit einem leisen Zischen schob sich die Fahrstuhltür zur Seite und Bruce betrat das nur schwach beleuchtete Foyer. Eine Vielzahl von Türen gingen von dieser Halle ab, und eine führte auf direktem Wege in das Büro des mächtigsten Wesens von New York. Denn nichts anderes war Boris Baron von Kradoc, obwohl dies außerhalb dieser Mauern nur sehr wenigen Personen bekannt war. »Oh, welch ein Glanz in diesen bescheidenen vier Wänden ... Unser hochwohlgeborener Herr Stellvertreter gibt sich die Ehre!« Katrina Steins Stimme triefte vor Sarkasmus. Bruce verzog gequält das Gesicht, dann zwang er sich zu einem honigsüßen Lächeln und wandte sich der Vampirin zu, die den Baron in politischen Dingen beriet. Katrina sah mal wieder umwerfend aus. Sie hatte die perfekteste Figur, die Bruce jemals zu Augen bekommen hatte, und ihr Gesicht war klar und regelmäßig geschnitten. Sie wirkte wie das Abbild eines Engels. Für Bruce jedoch war sie nicht mehr, als eine von Ehrgeiz und Neid zerfressene Nervensäge, die, wo sich eine Möglichkeit bot, ihr Gift verspritzte. Leider war er gleichzeitig auch ihr liebstes Opfer - und obwohl ihm klar war, dass sie eigentlich nur scharf auf seinen Stellvertreterposten war, wurmten ihn ihre dummen Sprüche mehr, als er eingestehen wollte. Doch das würde er ihr gegenüber natürlich niemals zugeben. »Katrina, mein Herzblatt.« Er lächelte falsch. »Es ist mir wie immer eine überwältigende Freude, dich zu sehen! Was bist du doch wieder schick, 23
Darling! Du musst mir bei Gelegenheit unbedingt einmal die Nummer deines Schneiders geben ... « »Nur allzu gern, denn du ...«, sie musterte abschätzend sein Hells-AngelsOutfit und zog pikiert das schmale Näschen kraus, »...nein, wenn ich es recht betrachte, ist bei dir Hopfen und Malz verloren!« Bruce schüttelte den Kopf. »Wirklich? Oh, nein! Katrina, das war grausam.« Er schniefte theatralisch. »Oh, Bruce, es tut mir wirklich entsetzlich Leid, sollte ich deine zarten Gefühle verletzt haben. Aber du musst zugeben - ich konnte wirklich nicht ahnen, das du überhaupt begreifst, wovon ich spreche!« Bruce funkelte sie wütend an. Jetzt wäre eine schlagfertige Antwort nicht schlecht, aber ihm fiel nichts Passendes ein. Wie so oft behielt Katrina das letzte Wort. »Ich muss zum Chef«, knurrte er. »Nerv mich nicht!« Er ging an ihr vorbei und öffnete die Tür zum Büro des Barons. Katrina stand hinter ihm und lächelte. Sie wusste, wann sie gewonnen hatte. Kradocs Büro war eine Stilmischung aus zwei völlig unterschiedlichen Epochen. Während die komplette Einrichtung aus einem dieser unbezahlbaren Antiquitätenläden zu stammen schien, waren die technischen Geräte vom allerneuesten Standard. Ein normaler Mensch, der ein Foto des Barons betrachtete, kam ganz sicher nicht auf den Gedanken, den mächtigsten Mann New Yorks vor sich zu haben. Viel eher hielt er ihn für völlig durchgeknallt, denn der hoch gewachsene Vampire mit dem langen, schwarzen Haar, das von feinen grauen Strähnen durchzogen war, kleidete sich nach der Mode des 18. Jahrhunderts. Heute trug er einen aquamarinblauen Gehrock mit schimmernden Perlmuttknöpfen. Was man auf so einem Foto natürlich nicht spürte, war diese überwältigende Aura der Macht, die er ausstrahlte. »Bruce. Was führt dich zu mir?« Kradoc saß hinter seinem Schreibtisch und musterte den jungen Vampir fragend. »Es geht um Draven, Herr«, sagte sein Stellvertreter ohne Umschweife. »Sie ist immer noch in der Stadt, und ... « »... und du willst sie haben.« Der Baron nickte. »Na, dann kümmere dich darum.« »Ryder Jackson hat sie gesehen. Es hat beinahe den Anschein, als würde er sie beobachte.« Nachdenklich zog Bruce die Stirn kraus. »Ich werde einfach nicht schlau aus Jackson, Herr. Warum kümmert er sich dann nicht um Draven? Wenn er wirklich so mächtig ist, sollte für ihn doch wirklich 24
ein Leichtes sein, sie zu erledigen!« »Er ist alt, Bruce. Jackson ist viel älter, als du vielleicht glauben magst. Er hat schon vieles erlebt und eines Tages hat er sich einfach zurückgezogen. Er mischt sich nicht mehr in unsere Angelegenheiten ein, jedenfalls nicht aktiv. Ich denke, er ist nicht bereit, sich auch nur einem kleinen Risiko auszusetzen.« Verständnislos schüttelte Bruce den Kopf. »Begreifen kann ich es trotzdem nicht. Für mich klingt das ziemlich feige. Aber auch gut, dann habe ich Draven für mich alleine. Das macht sowieso mehr Spaß.« »Sei auf der Hut, Bruce. Du weißt, Draven ist sehr gefährlich. Es würde mir ganz und gar nicht gefallen, einen anderen zu meinem Stellvertreter ernennen zu müssen!« Darkness grinste. »Glauben Sie mir, Herr - auch mir würde das nicht gefallen!« Er wollte gerade den Raum verlassen, da fiel ihm noch etwas ein. »Herr, was soll mit Nick Marvey geschehen.« »Marvey?«, fragte der Baron. »Was hat er diesmal getan?« »Vorhin hat Marvey in einem Kino ein unglaubliches Chaos angerichtet. Er hat laut herausposaunt, dass er ein Vampir ist und hat einer Frau das Blut ausgesaugt. Mindestens 50 andere Menschen waren Zeuge davon.« Der Baron verzog keine Miene, aber trotzdem konnte Bruce ihm ansehen, dass sein Verstand auf Hochtouren arbeitete. Und dass ihm das, was er eben zu hören bekommen hatte, ganz und gar nicht gefiel, war sowieso klar. »Gut«, sagte Kradoc nickend. »Ich werde dafür sorgen, dass morgen so wenig wie möglich darüber in den Medien erscheinen wird.« Das war üblich. Wenn irgendetwas geschah, was Menschen Hinweise darauf gab, dass Vampire existierten, wurde dafür gesorgt, dass die breite Masse davon so wenig wie möglich mitbekam. Natürlich gab es einige Zeitungen, die trotzdem davon berichteten, ohne etwas zu verschweigen, sodass es extrem wichtig war, erst gar keinen Grund für derartige Berichte zu liefern. »Und was ist mit Marvey?«, wollte sein Stellvertreter wissen. »Ich habe ihn niedergemacht, aber ich glaube nicht, dass er meine Warnung beachten wird.« Der Baron schüttelte kaum merklich den Kopf. »Schaff ihn hierher. Ich will mit ihm reden und für die richtige Bestrafung Sorge tragen.« * O Mann, beim Kino hab ich ganz schön für Action gesorgt!, dachte Nick Marvey. 25
Er war sehr stolz auf sich. Das Einzige, das ihn immer noch wurmte, war, dass er diesen Darkness nicht erledigt hatte. Wie stand er denn jetzt da? Der Kerl erzählte vermutlich überall herum, dass er Marvey verdroschen hatte, und das wollte der nun wirklich nicht. Er wollte nicht schon wieder wie ein kleiner dummer Junge dastehen, der Prügel bezogen hatte. Ich werde es Bruce zeigen, dachte er. Ein für allemal! Der kommt gar nicht dazu, irgendwas herumzuerzählen! Dann machte er sich auf den Weg. Doch gerade, als er überlegte, wo er Darkness jetzt finden konnte, geschah etwas Merkwürdiges. Er lief durch eine schmale Gasse. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, und die Gasse wurde nur sehr schwach durch einige wenige Straßenlaternen erleuchtet. Keine Menschenseele war um diese Zeit hier zu sehen, die Bürgersteige waren sozusagen hochgeklappt, und Autos fuhren hier ebenfalls nicht. Dafür erblickte Marvey etwas anderes. Zuerst glaubte er, nicht richtig hingesehen zu haben, denn das, was er nun vor einem Garagentor schräg rechts von ihm entdeckte, konnte er kaum glauben. »Das gibts doch nicht!«, murmelte der Vampir. Er stand da wie erstarrt und konnte es nicht fassen. Und es war auch nicht fassbar. Er kniff die Augen zusammen und sah noch einmal genauer hin. Doch er hatte sich nicht getäuscht. Auf dem regennassen Asphalt vor dem Garagentor lag - ein Kopf! Es sah so aus, als blickten die weit aufgerissenen Augen genau auf Marvey. »Scheiße!«, schrie der nun, und gleichzeitig legte sich ein triumphierendes Grinsen auf seine wulstigen Lippen. »Das gibts doch nicht!«, wiederholte er. Und er begann zu laut und grölend lachen. Denn der Kopf gehörte Bruce Darkness! Er konnte sein Glück kaum fassen! Bruce Darkness Kopf - ohne dazugehörigen Körper. Das war genau das, was er wollte! Meine Fresse, dachte der Vampir, irgendjemand hat mir eine Menge Arbeit abgenommen und mir Darkness Kopf praktisch frei Haus geliefert! Aber wer? Na, egal! Wichtig war, dass Darkness tot war und er nun keine Schwierigkeiten mehr mit ihm hatte. Ein wenig wunderte sich Marvey, dass der Kopf angestrahlt wurde, denn 26
er entdeckte nirgends eine Lichtquelle. Keine der Straßenlaternen warf ihren Schein auf diese Stelle vor der Garage. Und jetzt, als der Vampir näher trat, entdeckte er staunend, dass der Schädel von innen heraus leuchtete ... Was ist das denn jetzt schon wieder?, fragte sich Marvey und ging noch näher an den Schädel heran. Da begann der Kopf plötzlich, rot zu glühen. Erschrocken zuckte der Vampir zurück. Dann erhob sich der Kopf langsam, stieg in die Höhe und schwebte frei in der Luft. »Bullshit!«, stieß Marvey aus. Der Schädel befand sich jetzt etwa zwei Meter in der Luft, und nachdem er dort einige Momente lang regungslos schwebte, begannen sich als Erstes die Augen zu bewegen. Dann öffnete sich der Mund, und ein schallendes Lachen erklang. Schließlich flog der Kopf genau auf Marvey zu, stoppte wenige Zentimeter vor dem Kopf des Vampirs - und rammte ihm die Stirn ins Gesicht. Der Vampir kippte nach hinten weg. Aus seiner Kehle drang ein dumpfer Schrei, und als er auf den Rücken fiel, war der Kopf sofort über ihm. Wieder dieses schallende Lachen! Marvey rieselte es kalt den Rücken hinab. Er, der eben noch so großschnäuzig gewesen war, hatte nun - wie vor einiger Zeit, als ihn die Rothaarige fertig gemacht hatte - panische Angst. »Was ... ? Wer ... ?« Mehr bekam Marvey nicht heraus. Der Kopf lachte nur. Und raste dann auf ihn herab. Marvey machte eine Rolle zur Seite und wurde dadurch nicht von dem verfluchten Schädel getroffen. Er kam wieder auf die Beine und starrte den fliegenden Kopf an. Plötzlich begann der schwebende Schädel zu dampfen. Der Rauch stieg aus Nase, Mund und Ohren, und dann begann das Ding zu wachsen. Nein, eigentlich wuchs der Kopf nicht, obwohl er größer wurde. Es war etwas anderes, das Marvey zunächst nicht begriff, aber dann registrierte er, dass sich der Schädel verwandelte. Langsam. Drohend. Unaufhaltsam. Es knallte und blitzte, und schließlich hatte Marvey nicht mehr nur einen Schädel vor sich, sondern eine vollständige Gestalt. Ryder Jackson! Nick Marvey schluckte schwer. Seine Gedanken rasten. »Jackson«, stieß Marvey schließlich aus, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte. Abwehrend hob er nun beide Hände. »Nein, nicht du schon wieder! Lass mich bloß in Ruhe, alter Mann!« Jackson erwiderte erst einmal nichts. Der Vampir hatte die dünnen Lippen 27
zu einem feinen, kaum sichtbaren Lächeln verzogen. Marvey wusste, was es bedeutete, wenn der Kerl so war, davon konnte er ein Lied singen. Lebhaft erinnerte er sich an die letzte Begegnung mit dem Alten. Dabei hatte er sich alle Mühe gegeben, die Erinnerung daran zu verdrängen. Und jetzt war er wieder da, und Marvey hatte keinen Schimmer, was er von ihm wollte. War er vielleicht von Kradoc geschickt worden, weil es dem nicht gefiel, dass Marvey in letzter Zeit für einiges Aufsehen sorgte. »Was willst du von mir?«, fragte der erheblich jüngere Vampir, und seine Stimme zitterte. Doch Jackson sagte keinen Ton. Er lächelte nur. Jetzt verlor Marvey die Fassung. »Verdammte Scheiße, ich hab gefragt, was du von mir willst, alter Mann!« »Alt bin ich, das stimmt«, sagte Jackson nun. Seine Stimme war ruhig und gelassen. »Vielleicht solltest du dich einmal fragen, warum ich so alt geworden bin. Denn das schafft nicht jeder.« »Ach ne? Mann, ich bin ein Vampir, genau wie du. Auch ich werde irgendwann so alt sein. Vampire sterben nun mal nicht!« Nick Marvey wusste selbst, dass er irgendwelchen Blödsinn von sich gab. Sicher, normalerweise starben Vampire nicht, aber sie konnten vernichtet werden. Und vielleicht stand ihm genau das jetzt bevor. Denn ihm war klar, dass Jackson nur mit dem Finger schnippen musste, um Marveys untotem Leben ein Ende zu breiten. Dem Kerl ist alles zuzutrauen!, dachte er verbittert. »Ich denke, darauf muss ich nichts erwidern«, sagte Jackson leise. »Die Antwort hast du dir ja eben in Gedanken schon selbst gegeben.« Marvey starrte ihn an. Ich glaubs nicht! Der Kerl ließt meine Gedanken. Krampfhaft versuchte Marvey nun, an nichts mehr zu denken, was ihn noch weiter reinreiten konnte. Aber das war alles andere als einfach. Sag mir endlich, was du von mir willst!, dachte er nun. Sogar in Gedanken zitterte seine Stimme unsicher. »Das habe ich vor«, antwortete Jackson. »Ich will, dass du Bruce Darkness in Ruhe lässt!« Das war es also! Darkness! Marvey hatte es sich fast gedacht, dass es um ihn ging. Vermutlich passte es dem Alten nicht, dass er sich vorhin mit ihm geprügelt hatte. Jackson schien wohl Darkness Ziehvater zu sein oder so was ... »Aber klar doch, alter Mann! Natürlich lass ich den Kleinen in Ruhe! Aber das hättest du mir doch gar nicht extra sagen müssen, ich wäre doch nie auf dem Gedanken gekommen, ihm etwas ...« »Ich mag keine Lügen«, meinte Jackson, und in dem Moment hätte sich 28
Marvey am liebsten selbst eine Backpfeife verpasst. Der Kerl kann meine Gedanken lesen, dachte Marvey entsetzt, und ich versuche, ihm so einen Scheiß weiszumachen! Bekloppter geht´s kaum noch, Nick! »Du musst wissen, dass Bruce Darkness anderes zu tun hat, als sich mit Gesindel wie dir herumzuschlagen, und deshalb habe ich mich entschlossen, ihm ein wenig den Rücken freizuhalten.« »Ah ja«, stotterte Marvey, »klar, kein Problem ... « Jackson seufzte. »Doch, es gibt ein Problem, Marvey!« »Ach ja?« Der jüngere Vampir versuchte ein Lächeln. »Allerdings.« »Und das wäre?« »Ich trau dir nicht über den Weg!« Nick Marvey wusste nicht so recht, was er darauf erwidern sollte, deshalb versuchte er es mit einem wirren Lachen, und war gleichzeitig bemüht, sich irgendwie herauszureden. »Aber dafür gibt es doch keinen Grund, alter Mann. Ich bin total umgänglich, klar doch kannst du mir trauen!« »Tue ich aber nicht. Und deshalb zeige ich dir jetzt, was ich mit dir machen werde, wenn du Darkness nicht in Ruhe lässt!« Mit diesen Worten klatschte Ryder Jackson zweimal in die Hände, und das Klatschen war noch nicht verhallt, als Marvey spürte, dass etwas Seltsames, Irreales mit ihm geschah. Erst verstand er gar nicht, was mit ihm passierte. Dann aber begriff er, dass er zu schweben begann. Er flog immer höher. Doch als er nach unten blickte, sah er sich - seinen Körper - noch immer mit beiden Füßen auf dem Boden stehend ... Seine Gedanken überschlugen sich förmlich, er verstand gar nichts mehr und wurde beinahe wahnsinnig vor lauter Verzweiflung. Was, zum Teufel, geschieht hier mit mir?, dachte er. Dann registrierte er, dass er sich selbst, jedenfalls dort, wo er eigentlich sein musste, nämlich in der Luft, gar nicht sehen konnte. Denn als er an seinem Körper hinabblicken wollte, war da nichts ... Nur weit unter sich sah er seinen Körper, der sich nun verwandelte. Er schrumpfte zusammen, dann blitze es einmal, und er war weg. Stattdessen saß dort jetzt eine Ratte ... Marvey wollte schreien, doch er bekam keinen Ton heraus, nicht einmal ein Krächzen. Er wollte mit den Armen rudern, doch da waren ja gar keine Arme. Da war nichts, rein gar nichts! Dann spürte er, wie er im Sturzflug nach unten raste, und es wurde schwarz um ihn herum ... * 29
Nur wenige Augenblicke später fand sich Nick Marvey am Boden stehend wieder. Er blickte an sich herab und seufzte erleichtert auf. Er sah sich, sah seinen Körper, seine Brust, den Bauch, die Arme und die Beine. Blutiger Schweiß lief dem Vampir in salzigen Bächen übers Gesicht. Er spürte, dass er zitterte, und verdutzt sah er Ryder Jackson an. Der verzog keine Miene. »Noch Fragen, Marvey?« Fragen? Ja! Ja, sicher hatte er Fragen! »Was - hast du mit mir gemacht?«, wollte Marvey wissen und konnte ein Stottern nicht verhindern. »Ich habe dich in eine Ratte verwandelt, das hast du doch gesehen!« »Ja, eben! Ich habe es gesehen. Von da oben!« Er deutete in die Luft. »Aber ich war doch unten, ich meine, irgendwie war ich unten und oben.« »Dein Körper war unten, dein Geist, oder sagen wir besser, dein Inneres, war oben. Ich habe das Innere vom Äußeren getrennt, denn sonst hättest du ja nicht sehen können, was mit dir geschieht. Und jetzt noch einmal: Wenn du Bruce Darkness nicht in Ruhe lässt, wirst du für immer als Ratte durchs Leben gehen. Du hast es ja gesehen. Ich brauche nur zweimal in die Hände zu klatschen, mehr nicht!« »Ja, aber ...« »Und du weißt ja«, schnitt Jackson ihm das Wort ab, »dass das Leben für Ratten weitaus gefährlicher sein kann als für größere Lebewesen, nicht wahr? Ach, sieh mal, da ist ja eine Ratte. Was für ein Zufall!« Der alte Vampir deutete auf den Boden, und Marvey folgte seinem Blick. Er sah die Ratte, die sich direkt vor Jacksons Füße hockte. Jackson hob den rechten Fuß an, bewegte ihn so, dass er direkt über der Ratte hing - und ließ ihn dann hinabschnellen. Der kleine Körper wurde unter seinem Fuß zerquetscht. Nick Marvey wirbelte herum und rannte los. Nur weg hier!, dachte er. Er lief und lief, und noch lange verfolgte ihn das dröhnende Lachen von Ryder Jackson… * Ohne Ziel steuerte Bruce Darkness seine Harley durch die nächtlichen Straßen New Yorks. Der Regen hatte ebenso plötzlich wieder aufgehört, wie er begonnen hatte. Selbst die dichte Wolkendecke war endlich aufgerissen, und nun spiegelte sich der fahle Schein des halb vollen Mondes im nassen Asphalt. Menschen waren in dieser Gegend um diese Zeit kaum noch unterwegs. Hier und da ein paar Nachtschwärmer, das war schon alles. 30
Die Fahrt auf dem Motorrad half ihm, den Kopf freizubekommen. Er zermarterte sich das Gehirn, wie er Draven finden konnte, doch ihm kam keine Idee. Jackson, der alte Bastard, schien ja mehr zu wissen. Aber verraten wollte er es offensichtlich nicht. Also, wie findet man eine bestimmte Person in einer 8-Millionen-Stadt? Denk nach, Bruce!, sagte er sich immer wieder, doch auch das wollte nicht helfen. Er konnte grübeln, so viel er wollte, ihm fiel einfach nichts ein! Was wusste er denn schon über das Weibstück? So gut wie gar nichts! Es war einfach zum aus der Haut fahren! Er kannte gerade einmal ihren Namen, und das war auch schon alles. Nicht einmal in ihrer Polizeiakte, die der Baron ihm zur Verfügung gestellt hatte, stand wesentlich mehr. Außer... »Mann, bin ich blöd!«, murmelte der Vampir, riss seine Harley um 180 Grad herum und gab Vollgas. Er hatte doch eine Spur. Vielleicht konnte die Polizei nicht viel damit anfangen, aber wenn er es mal versuchte? Möglicherweise hatte er tatsächlich Glück! Warum auch nicht...? * Wütend knallte die junge Frau den Hörer auf die Gabel. Warum zur Hölle wollte ihr bloß keiner helfen? Jessica Draven hatte soeben mit dem Polizeipräsidium telefoniert und hatte nachforschen wollen, ob dort irgendetwas über den Verbleib ihrer Schwester Celestine bekannt war, doch der Officer am anderen Ende der Leitung hatte sie einfach nur ausgelacht. »Glauben Sie mir, Lady«, hatte er ihr frech gesagt. »Wir wüssten selber wirklich gern, wo sich ihre Schwester aufhält. Das würde unsere Ermittlungen wesentlich erleichtern, wissen Sie?« Jessica war gleich nach Celestines plötzlichem Verschwinden verhört worden. Man hatte alles Mögliche von ihr wissen wollen, doch Jess musste zugeben, das sie in Wirklichkeit eigentlich nicht viel über ihre kleine Schwester wusste. Sie wohnten einfach zu weit voneinander entfernt. Doch dass sie eine kaltblütige Mörderin war, wie die Polizei vermutete das konnte nicht stimmen, da war sie vollkommen sicher! Das hatte sie dem Polizisten, der sie verhörte, natürlich auch gesagt, aber der hatte nicht gerade viel auf ihre Worte gegeben. Jessica hatte das Gefühl, vor Sorge langsam verrückt zu werden. Es musste doch etwas geben, das sie unternehmen konnte. Sie konnte doch nicht einfach tatenlos dasitzen, während sich ihre kleine Schwester in 31
Schwierigkeiten befand! Und dass Celestine in Schwierigkeiten war, daran bestand kein Zweifel... Zuerst hatte sie ja noch gedacht, dass sich im Laufe der Zeit alles von allein aufklären würde. Doch inzwischen war eine geraume Weile vergangen, und nichts hatte sich geändert, rein gar nichts. Celestine wurde noch immer polizeilich gesucht, und Jessica hatte kein Lebenszeichen von ihr erhalten. Darum hatte sie sich auch wieder an die Polizei gewandt. Doch das hätte sie sich genauso gut sparen können. Es hatte sie keinen Schritt weiter gebracht. Eigentlich hätte sie schon längst wieder zurück nach Hause fliegen müssen. Schließlich hatte sie einen Job und einen kleinen Sohn, den die ganze Sache auch ziemlich mitnahm. Zwar hatte sie sich bemüht, ihn so weit wie möglich herauszuhalten, doch natürlich stellte er Fragen. Er wollte wissen, wo seine Tante war, und warum er sie nicht mehr besuchen konnte. Langsam begann Jessica daran zu zweifeln, dass ihr überhaupt jemand helfen konnte - oder wollte. Wenn sie irgendetwas erreichen wollte, musste sie sich wohl selbst helfen! Kurz entschlossen streifte sie ihre Jacke über und warf noch einen kurzen Blick hinüber zu Brian. Der Kleine schlummerte tief und friedlich. Sie strich ihm noch einmal liebevoll über das Haar und verließ dann so leise wie möglich das Gästezimmer. »Ich gehe noch mal weg, Jenny. Bitte pass auf Brian auf, okay?« Jennifer Wilson, bei der Jessica für die Dauer ihres Aufenthalts in New York untergekommen war, nickte und lächelte ihrer Freundin aufmunternd zu. »Mach dich nicht fertig, Jess! Deine Schwester wird schon wieder auftauchen, und dann klärt sich alles wie von selbst. Du wirst schon sehen...« »Ja, klar Jenny«, murmelte Jessica, wenig überzeugt von den Worten ihrer Freundin. »Wo willst du denn hin?« »Ich schaue mich mal bei Celests Wohnung um. Vielleicht finde ich was.« »Das ist...«, wollte Jenny einwenden. »Ich weiß! Ich muss irgendetwas tun.«, unterbrach Jessica ihre Freundin. Dann öffnete sie seufzend die Tür und verließ die Wohnung ... * Bruce sah sich um. Nette Gegend hier, dachte er. Die hat´s ja ganz gut getroffen. Er sah die Straße hinab. Sie schien endlos weiterzugehen, gesäumt von Bäumen und Einfamilienhäusern. 32
Laut den Polizeiunterlagen wohnte hier Jessica Draven, die große Schwester von Celestine Draven. Sie war hier zu Gast bei einer Freundin, Jennifer - er sah auf das Namensschild neben dem Klingelknopf - Wilson. Perfekt. Er betätigte die Türglocke. Gleich dreimal hintereinander, schließlich war es schon spät, und wahrscheinlich schliefen hier schon alle. Dann starrte er durch das Türglas. Doch es dauerte nicht lange, bis eine junge Frau zur Tür kam. Hinter ihr versteckte sich ein kleiner Junge. Das musste Jessica Draven und ihr Sohn wie hieß der nochmal - Brian sein. Die junge Frau öffnete die Tür einen Spalt breit, ließ die Kette jedoch vorgelegt. »Ja?« fragte sie. »Misses Draven? Hallo, ich bin Bruce und ... « »Ich bin Jennifer Wilson.« »Oh, Entschuldigung, ich möchte bitte mit Jessica Draven sprechen!« Er lächelte. »Jess ist nicht da. Wer sind Sie? Was wollen Sie?« »Äh ... Ich bin, wie gesagt, Bruce. Es geht um Celestine Draven.« »Sind Sie von der Polizei?«, fragte Jenny Wilson misstrauisch. »Nein, ich bin - Celestines Verlobter.« »Ihr Verlobter?« Unglauben schwang in der Stimme der jungen Frau mit. »Ja! Wie Sie bestimmt wissen, ist sie in großen Schwierigkeiten, und da wollte ich ihre Schwester fragen - na ja -, ob sie irgendetwas weiß.« »Okay«, kam es gedehnt durch den Türspalt. Geben Sie mir ihre Nummer, und ich werde Jess sagen, dass sie Sie anrufen soll.« Bruce lächelte noch immer, aber langsam war er etwas genervt. »Hören Sie, wie Ihnen bestimmt klar ist, ist die ganze Sache ziemlich eilig. Sagen Sie mir doch einfach, wo Jessica Draven gerade ist.« »Bestimmt nicht«, wehrte Jenny Wilson ab. »Ich kenne Sie ja gar nicht!« »Doch, tun Sie. Ich bin Bruce, schon vergessen? Und ich ...« Die junge Frau schloss die Tür. Bruce Schultern sackten herab, und er ließ den Kopf hängen. »Ich muss echt an meinem Charme arbeiten«, grummelte er. Dann blickte er wieder auf. Jenny Wilson war einige Schritte zurückgewichen. Hinter ihr lugte Brian hervor. Bruce grinste sie durch die Scheibe an - und rammte seine beiden Handballen gegen die Tür. Mit einem Krachen wurde sie aus Schloss und Angeln gerissen und knallte auf den Boden. Bevor Jenny Wilson reagieren konnte, stiefelte er bereits über die Überreste ihrer Haustür auf sie zu. 33
Sie starrte ihn entsetzt an. Der kleine Junge hatte sich jetzt ganz hinter ihr versteckt, und umklammerte verzweifelt ihre Hand. Vielleicht ahnte er, dass die junge Frau ihn nicht würde beschützen können. »Sie«, sagte Bruce lächelnd, »werden mir jetzt sagen, wo Jessica Draven ist, sonst...« Seine Augen lächelten nicht mit. Die junge Frau schluckte. »Sonst...?« Bruce lächelte nur. Was hätte er auch sagen sollen, schließlich hatte er nicht vor, eine hübsche Frau oder gar einem Kind ernsthaft weh zu tun. Aber das war glücklicherweise nicht nötig. »Sie ... sie ist in der Wohnung ihrer Schwester«, stotterte Jenny Wilson. »Bitte. Ich ...« Bruce strahlte sie an. Diesmal lächelten seine Augen mit. »Danke!«, sagte er, wandte sich um und stapfte davon. Jenny Wilson starrte ihm hinterher. Regungslos stand sie da, bis sie spürte, wie sich Brians verkrampfte Umklammerung um ihre Rechte lockerte. Erst dann regte sie sich. Ihre Gedanken rasten. Wieso nur hat Jess kein Handy ... ? * Ich muss den Verstand verloren haben, mich mitten in der Nacht hier herumzutreiben!, dachte die junge Frau. Jessica Draven hatte gerade den Bus verlassen und überlegte nun ernsthaft, ob sie sich nicht besser ein Yellow Cab, ein New Yorker Taxi, heranwinken sollte. Es war nicht gerade heimelig in der Gegend, in der ihre Schwester wohnte. Tagsüber ging es ja noch, aber um diese Zeit - es war bereits weit nach Mitternacht - war es schon ziemlicher Wahnsinn, sich allein und noch dazu als Frau hier aufzuhalten. Ihr Plan mit dem Cab wurde aber bereits davon durchkreuzt, dass weit und breit kein einziges zu sehen war. In New York kriegt man immer im Handumdrehen ein Taxi!, dachte sie ironisch. Aber Jessica konnte es den Fahrern nicht einmal verübeln, dass sie diese üble Gegend mieden. Wie hatte sich Celestine hier nur eine Wohnung mieten können? Das grenzte doch schon an Selbstmord! Wohl oder übel würde sich Jessica wohl zu Fuß auf den Weg machen müssen. Gott sei Dank war es nicht besonders weit. Trotzdem war es für die junge Frau ein unruhiger Spaziergang, bis sie schließlich vor dem Haus, in dem sich die Wohnung ihrer Schwester befand, angelangte. Bei jedem Geräusch zuckte sie unwillkürlich zusammen, und einmal jagte 34
ihr sogar ihr eigener Schatten einen gehörigen Schrecken ein ... Als sie nun endlich vor dem Haus stand, fragte sie sich plötzlich, was sie hier eigentlich wollte. Dies war nun wirklich der letzte Ort, an dem sich Draven im Moment aufhalten würde. Wahrscheinlich wird das Haus sogar von den Cops bewacht, fiel es ihr siedendheiß ein. Und ich dumme Kuh latsche denen auch noch direkt in die Falle! Als sich jedoch auch nach zehn Minuten nichts gerührt hatte, atmete die junge Frau erleichtert auf. Du fängst schon an, Gespenster zu sehen, Jess!, schalt sie sich und marschierte zielstrebig auf die Eingangstür des schäbigen Wohnhauses zu. Wenn sie nun schon einmal hier war, konnte sie sich ebenso gut auch einmal in Celestines Wohnung umschauen ... Die Haustür war wie immer nur angelehnt, im Treppenhaus war es finster, und die Luft roch muffig und verbraucht. Zaghaft tastete Jessica nach dem Schalter für die Treppenhausbeleuchtung. Als sie ihn endlich fand und herunterdrückte, musste sie ernüchtert feststellen, dass sich nicht viel tat. Von irgendwo, weit über ihr, drang zwar ein schwacher Lichtschein hinunter, doch noch immer konnte die junge Frau kaum die Hand vor Augen sehen. Na toll! Sie schüttelte seufzend den Kopf. Das kann ja heiter werden ... Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang bis zum Treppenabsatz vor und dann die Stufen hinauf. Dabei stieß sie mehr als einmal gegen eine, bis zum Überquellen vollgestopfte Mülltüte, deren Inhalt sich über den Boden des ohnehin vor Schmutz starrenden Fußboden ergoss. Dann hatte sie endlich die Wohnung ihrer Schwester erreicht, und schloss mit dem Ersatzschlüssel die Tür auf. Celestine hatte ihn ihr kurz vor ihrem Verschwinden gegeben für den Fall, dass Jessica einmal unverhofft herkam und Draven nicht da war. Zwar war die Tür von der Polizei versiegelt worden, aber das interessierte Jessica in diesem Moment nicht. Sie riss die Sperrbänder einfach ab. Achtsam trat sie über die Schwelle und betätigte den Lichtschalter. Als endlich das Deckenlicht angeschaltet war, atmete die junge Frau erleichtert auf. Sie erkannte sofort, dass sich bereits jemand genauestens in dem winzigen Appartement umgeschaut hatte. Überall lagen Kleidungsstücke auf dem Boden, und der Inhalt der Regale war quer über die ganze Wohnung verteilt worden. Ich hätte mir auch denken können, dass die Cops hier schon alles durchsucht haben! Jessica seufzte frustriert. Sie glaubte nicht, dass ausgerechnet sie etwas finden würde, das die Profis übersehen hatten. 35
»Und nun?«, fragte sie sich resignierend, denn sie stellte fest, dass ihre nächtliche Aktion sie keinen einzigen Schritt weitergebracht hatte ... * Ja, hier musste es sein! Bruce stellte seine schwere Harley auf dem müllübersäten Bürgersteig ab und schritt auf das alte, völlig heruntergekommene Wohnhaus zu. »Mann!« Der Vampir verzog angeekelt das Gesicht. »Wer kann denn bloß freiwillig in so einer Baracke wohnen?« Aber zu Draven passt es eigentlich sogar recht gut, dachte er dann, und ein freudloses Lächeln umspielte seine Lippen. Aber dass ihre Schwester die hoffentlich eine Normalsterbliche war - sich nachts in diese Gegend wagte, fand er entweder sehr mutig oder sehr dumm. Die Haustür stand einen Spalt weit offen, sodass sich Bruce nicht die Mühe machen musste, das Schloss mit Gewalt zu knacken. Leise betrat er den Eingangsflur und sah sich um. Dabei gab es nicht viel zu sehen, denn es war stockfinster. »Ich muss lernen, im Dunkeln zu sehen«, murmelte der Vampir. Doch er fand sich auch so ganz gut zurecht. Und wenn Jessica Draven ihn hörte, war das auch nicht weiter schlimm. Er wollte ja nur mit ihr reden. Und Celestine Draven würde sich kaum hier blicken lassen. Schließlich musste sie annehmen, dass die Bullen sie hier erwarteten. Auf dem Treppenabsatz vor Dravens Wohnung blieb er stehen. Die Versiegelung der Cops war abgerissen worden, und durch den Spalt unter der Tür konnte er helles Licht schimmern sehen. Hab dich!, dachte Bruce, griff nach der Klinke und öffnete die Tür ... * Zu Tode erschrocken wirbelte Jessica Draven herum! Sie hatte nicht gehört, dass sich jemand der Wohnung genähert hatte, und nun war sie plötzlich nicht mehr allein! Das Herz pochte ihr bis zum Hals, sodass sie fürchtete, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Vor ihr stand ein junger Mann, ganz in schwarzes Leder gehüllt. Wütend stemmte sie die Fäuste in die Seiten. »Wer sind Sie!«, fuhr sie ihren Gegenüber an. Die junge Frau wunderte sich über sich selbst. Normalerweise war sie nicht so mutig, wie es im Moment den Anschein hatte. Dabei war sie immer noch total geschockt, was wahrscheinlich verhinderte, dass sie in Panik 36
ausbrach. Aber langsam kam Jessica zu der Überzeugung, dass von dem Typen keine direkte Bedrohung ausging. Wenn er sie hätte überwältigen wollen, so hätte er dies schon lange erledigen können. Und nach einem Einbrecher sah er eigentlich auch nicht aus. Eher nach einem von diesen MotorradgangMitgliedern, von denen man so viel in der Zeitung las. Außerdem lächelte er sie charmant an. »Hallo, mein Name ist Bruce«, stellte er sich nun vor, und ich bin ...«, er zögerte einen Augenblick, unsicher, wie er sein plötzliches Eindringen in die Wohnung erklären sollte, »Celestine Dravens Verlobter!« Jessica glaubte, sich verhört zu haben! Was hatte der Typ gesagt? Verlobter? Das war doch wohl die Höhe! Gerade wollte sie ihm erzählen, was sie von seinen Märchengeschichten hielt, da kam ihr ein interessanter Gedanke. Warum sollte dieser Bruce eigentlich nicht der Verlobte ihrer kleinen Schwester sein? Sie hatte sie ja sowieso nie vorstellen können, dass es in ihrem Privatleben so langweilig aussah. Das, was Draven ihr beschrieben hatte, verdiente ja kaum die Bezeichnung Privatleben! Also hast du doch einen Macker, Schwesterchen. Hab ich's doch gewusst! Vielleicht sagte der Kerl ja tatsächlich die Wahrheit! Eigentlich war er ja sogar ganz schnuckelig, dachte sie und konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen. Auf jeden Fall würde er ganz gut zu meiner kleinen Schwester passen! Na warte, Celest! Wenn wir uns wiedersehen, wirst du mir einiges erklären müssen! Dann schluckte Jessica schwer. Wenn wir uns wiedersehen ... Sie hoffte so sehr, dass ihre Schwester jeden Moment über die Schwelle schreiten würde. Sie wollte nicht noch jemanden verlieren, den sie liebte. Schon der Gedanke daran, machte sie vollkommen fertig. »Also Bruce«, sagte sie dann, nach einem Moment des Schweigens, »dann beantworte mir doch eine Frage: Wo ist meine Schwester?« * Oh, Mann, dachte Bruce, schon wieder Verlobter. Ich muss mir echt was Neues einfallen lassen. Doch zu seiner Verwunderung nahm ihm Jessica Draven - im Gegensatz zu ihrer Freundin Jenny - diese Behauptung ab. Uff, machte er innerlich. »Es tut mir echt Leid«, sagte er dann, »aber ich fürchte, dass ich dir nicht weiterhelfen kann. Ich wüsste nämlich selbst gern, wo meine Süße steckt!« Er sah, wie sich die junge Frau entspannte und jubelte innerlich auf. »Du bist bestimmt Jess!« Er grinste. »Ich darf dich doch Jess nennen, wo 37
wir doch so gut wie verschwägert sind, oder?« Sie nickte stumm, und ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Also, Jess ... Ich denke, wir sollten uns einmal ausführlich unterhalten, aber ...« Mit einer weitläufigen Geste blickte er sich in der chaotisch zugerichteten Wohnung um. »... aber, wir sollten uns vielleicht eine gemütlichere Umgebung dafür suchen!« »Einverstanden!« Jessica Braven lächelte ahnungslos. »Irgendwo finden wir bestimmt ein Lokal, das noch geöffnet hat. Also los, gehen wir!« Durch eine Handbewegung bedeutete Bruce ihr, dass er ihr den Vortritt ließ. »Ladies first.« Jessica nickte und ging voraus. Na super, dachte der Vampir. Meine geniale Idee hat sich als gar nicht so genial herausgestellt. Könnte diese blöde Schlampe von einer Vampirjägerin nicht wenigstens mit ihrer Schwester in Kontakt bleiben. Wenn ich mich ernsthaft mit ihr unterhalten muss, dann merkt sie sofort, dass ich Celestine gar nicht kenne. Er seufzte. Planänderung! Jessica Draven hatte die Türschwelle noch nicht erreicht, da schlug Bruce zu! Eigentlich stupste er sie nur leicht am Hinterkopf, aber das reichte aus, um sie das Bewusstsein verlieren zu lassen. Der Vampir fing sie auf und nahm sie über die Schulter. Für ihn war sie kaum schwerer als eine Feder. Na, dann hoffen wir mal, dass uns unterwegs keiner sieht, dachte er. Doch das hoffte der Vampir nicht etwa für sich, sondern vielmehr für denjenigen, der ihm möglicherweise über den Weg lief ... * Bruce Darkness hatte Jessica zu einem verlassenen Lagerhaus an den Piers gebracht, wie es sie am Hafen zu Dutzenden gibt. Hier konnte man, obwohl man sich im Herzen von New York aufhielt, einen Menschen für Tage oder gar Wochen versteckt halten, ohne dass es jemand bemerken würde. In diesem Fall war Bruce jedoch ziemlich zuversichtlich, dass es erst gar nicht so lange dauern würde ... Noch in derselben Nacht machte er sich auf die Suche nach Ryder Jackson, obwohl Suche vielleicht nicht unbedingt das richtige Wort war. Irgendwie schien es Bruce langsam, als ob der alte Vampir immer gerade dann zufällig auftauchte, wenn er ihn brauchte. 38
Bruce hatte gerade seine Harley in einer düsteren Seitengasse abgestellt, und kaum war er ein paar Schritte gegangen, da stand Jackson auch schon vor ihm. Rasch zog er den Jüngeren zur Seite. »Hast du Neuigkeiten für mich, Bruce?« Der nickte. »Ich habe einen prima Köder, um Draven anzulocken.« Jackson schien nicht sonderlich überrascht. »Ich weiß, du hast ihre Schwester in deiner Gewalt. Und was hast du jetzt mit ihr vor?« »Du kannst einem auch jede Überraschung verderben, weißt du das? Auf jeden Fall könnte ich jemanden brauchen, der die Angel auswirft. Der die Jägerin wissen lässt, dass ich ihre geliebte Schwester habe. Die wird dann schon kommen.« »Nun, wenn du mich darum bittest, könnte ich das erledigen. Das wäre kein Problem für mich.« »Klasse, dann mal los!« »Wenn du mich darum bittest...«, erinnerte ihn der alte Vampir. »Was?«, machte Bruce verdutzt. »Hör mal, Alter, wenn du mir nicht helfen willst, dann nicht. Aber dann werde ich mir vom Baron die Erlaubnis geben lassen, dich aus der Stadt zu werfen, klar?« Er funkelte sein Gegenüber böse an. Jackson starrte zurück. »Hör mal, Jungchen, werde nicht unverschämt!«, zischte er. »Ich werde dir helfen, aber nur, weil es meine eigenen Interessen berührt, nicht, weil du mir drohst! Verstanden?« »Okay!« Bruce grinste. Mehr wollte er doch gar nicht. Sollte der alte Jackson ruhig sein Gesicht wahren. »Also, was hast du vor?«, fragte er dann... * Sie wollten Spaß und dachten nicht an den Tod! Die drei Jugendlichen standen auf Grusel und Horror. Doch nur in Filmen und in Büchern reichte ihnen nicht. Sie wollten den Schrecken auch in der Realität. Deshalb trieben sie sich auch in dieser Nacht auf dem Friedhof herum. Sie waren über die Mauer geklettert und streiften nun durch die Grabreihen. Sicher, ihnen war klar, dass sie nicht den richtigen Horror erleben würden, zumindest glaubten sie nicht daran, aber ihnen ging es um die Atmosphäre, um den Grusel-Effekt. Und den gab es hier zu Genüge! Es war frostig, der Himmel war wolkenverhangen, und es nieselte leicht. 39
Hin und wieder lugte der halb volle Mond zwischen den tiefgrauen Wolken hervor und warf seinen fahlen, silbernen Schein auf das Areal. Auf vielen Gräbern standen Windlichter, an manchen Grüften gab es Statuen von Engeln, die im Mondlicht beinahe lebendig wirkten. Der Wind pfiff, und überall knackte und knirschte es, sodass die Drei oft zusammenschreckten, weil sie im ersten Moment dachten, irgendwo sei jemand. Doch hier war niemand, sie waren allein. Allein mit den Tieren der Nacht, die ihre schaurigen Laute von sich gaben. Und mit den Toten ... »Na, fürchtest du dich, Wendy?«, fragte Tom Saunders, ein großer, schmaler Junge mit kurzen, ordentlich geschnittenen Haaren. »Quatsch!«, erwiderte Wendy Kilmore und hielt sich die Hand vor die Augen, als sie vom Schein der Taschenlampe, die Tom auf sie richtete, geblendet wurde. »Da machst du dir doch eher in die Hosen als ich!« Sie seufzte. Im Grunde genommen war Tom ein Angsthase. Er tat zwar immer betont cool, aber das war nur Fassade, das wusste sie. Er wollte sich groß vorkommen, doch nicht nur sich, sondern auch ihr, denn er war scharf auf sie. Wollte ihr imponieren, damit sie mit ihm ging. Doch darüber konnte sie nur lachen, denn an ihm hatte sie nun wirklich kein Interesse, schon aus dem Grund, weil sie mit seinem Bruder Richard zusammen war. Aber auch sonst wäre Tom nie und nimmer ihr Typ gewesen. Richard war da ganz anders als sein Bruder. Er war groß, stark und kräftig, schon jetzt ein ganzer Mann. Und er konnte verdammt gut küssen! Er war ebenfalls mit von der Partie in dieser Nacht, und eigentlich wäre Wendy auch viel lieber mit ihm allein gewesen, doch sein kleiner Bruder musste halt immer und überall dabei sein ... »Sei doch nicht so gereizt«, grinste Tom nun. »Du brauchst dich wirklich nicht deiner Angst zu schämen. Wenn etwas passieren sollte, bin ich ja da. Ich werde dich beschützen!« »Du?«, meldete sich jetzt Richard lachend zu Wort. »Du dünnes Hemd willst meine Freundin beschützen? Dass ich nicht lache! Du glaubst ja sogar an Vampire und hast Angst vor ihnen! Guckst doch jeden Abend unter dein Bett, um zu sehen, ob da ein Vampir oder irgendein anderes Monster ist...« »Ja, genau!«, stimmte Wendy in das Lachen ihres Freundes ein. »Vampire - dass ich nicht lache! An so was glauben doch nur Babys!« Tom sagte nichts mehr dazu, sondern schluckte einen weiteren Kommentar herunter. Manchmal würde er seinem Bruder am liebsten eine reinhauen. Immer behandelte er ihn wie ein Kleinkind! Und irgendwie bereute er auch schon wieder, dass er unbedingt bei dieser ungewöhnlichen 40
Nachtwanderung mitgehen wollte ... Doch auch aus einem anderen Grund war Tom jetzt daran gelegen, sich still zu verhalten, denn er hatte so ein komisches Gefühl, von dem er seinem Bruder und Wendy aber nichts sagte, da das für die beiden nur ein Grund gewesen wäre, um sich noch mehr über ihn lustig zu machen. Erst konnte Tom das Gefühl selbst nicht so recht beschreiben, aber dann spürte er es immer mehr. Ja, er hatte das Gefühl, als ob sie beobachtet wurden ... * Roger Thornton beobachtete die drei Jugendlichen und bleckte die Zähne. Die Puppe war echt schnuckelig, und ihr Blut schmeckte bestimmt ganz ausgezeichnet! Der große, muskulöse Vampir, dessen blondes Haar kurzgeschoren war, hockte hinter einigen Büschen und machte sich bereit. Bereit für den Angriff. Er wollte die Kleine, wollte ihr Blut, ihren Lebenssaft. Und was er wollte, nahm er sich ... * »Kommt, Jungs«, sagte Wendy Kilmore leise, »ich hab genug für heute. Lasst uns nach Hause gehen.« »Schon?«, fragte ihr Freund Richard und sah sie forschend an. »Warum denn? Ist was?« »Ach«, sie winkte ab, »nichts Besonderes. Ich hab nur ziemliches Kopfweh und bin müde.« So ganz stimmte das nicht. Zwar hatte Wendy tatsächlich Kopfschmerzen, aber der eigentliche Grund, weshalb sie nach Hause wollte, war ein anderer. Sie hatte einfach keine Lust mehr auf Tom. Der Kerl nervte einfach nur und war in seiner Art unerträglich. Wendy sehnte den Tag herbei, an dem Richard ihr einmal sagte, dass sie etwas ohne seinen ein Jahr jüngeren Bruder unternehmen konnten. Aber ob sie sich da wirklich Hoffnungen machen konnte? Kaum, dass sie in Gedanken seinen Namen ausgesprochen hatte, meldete sich Tom auch schon wieder zu Wort. »Ach, von wegen Kopfweh!«, sagte er in seiner gewohnt albernen Art. »Die hat doch nur Schiss, mehr nicht. Ist ihr einfach zu unheimlich hier!« Genervt verdrehte Wendy die Augen. »Halt doch einfach mal den Rand, Tom. Kommt eh nur Scheiße raus, wenn du das Maul aufreißt!« 41
Doch der Junge dachte gar nicht daran, ruhig zu sein. »Oh, Wendy wird zickig.« Er lachte. »Na, jetzt bekomme ich es aber gleich mit der Angst zu tun!« »Das solltest du a...«, erwiderte Wendy, doch dann blieb ihr jedes weitere Wort in Halse stecken, denn plötzlich sah sie die Gestalt! Es war ein großer, kräftiger Mann. Er kam in diesem Augenblick hinter einem der Büsche rechts von ihnen hervor, und Wendy starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ein heiserer Schrei entfuhr ihrer Kehle, und dieser Schrei ließ nun auch die anderen aufmerksam werden. »Was ist denn los, Wendy?«, fragte Richard. Mit einer kurzen Kopfbewegung deutete Wendy in die entsprechende Richtung. »Da vorn«, sagte sie stotternd, mit leiser, kaum vernehmbarer Stimme. »Da ... da ist jemand!« Richard folgte dem Blick seiner Freundin und erstarrte ebenfalls. Auch Tom war nun nicht mehr cool, das bewies sein Gesichtsausdruck eindeutig. »O Shit«, sagte er und riss die Augen auf. Richard fasste sich als Erster wieder. »Wer sind Sie?«, fragte er den Mann, der nun näher auf die drei zukam. »Sind Sie der Friedhofswärter? Hören Sie, wir wollten uns hier nur ein wenig umsehen. Wir hatten nicht vor, irgend etwas...« Doch dann stoppte er seine hilflosen Erklärungsversuche. Denn ihm wurde klar, dass der Kerl ganz sicher kein Friedhofswärter war. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm ... »Los, Leute, lasst uns abhauen!« Es war Tom, der das sagte, und in einer anderen Situation hätten ihn die anderen sicher ausgelacht, aber hier und jetzt war ihnen nicht nach Lachen zu Mute. Stattdessen nickten Wendy und Richard, doch noch bevor sie sich umwenden konnten, um anschließend die Beine in die Hand zu nehmen, war der Unheimliche auch schon bei ihnen. Er stand jetzt genau vor Richard und ließ blitzartig seine Hand vorschnellen. Er packte den Jungen an der Kehle und hob ihn hoch. »Hilfe...Hilfe...!«, schrie Richard verzweifelt. Die anderen standen wie zu Salzsäulen erstarrt da. Sie konnten nichts tun und auch nichts sagen. Und nun mussten sie mit ansehen, wie der Unheimliche zudrückte! Erbarmungslos drückte er Richard die Kehle zu. Der Junge rang röchelnd nach Luft, doch es war vergeblich. Es dauerte nicht lang, bis ihn das Leben verließ. Reglos hing sein Körper im Griff des Unheimlichen. 42
Der ließ den Toten achtlos zu Boden fallen. Jetzt schrie Tom wie am Spieß. Er wollte wegrennen, doch auch er war zu langsam. Viel zu langsam. Der Unheimliche packte ihn und brach ihm das Genick. Es knirschte grässlich. Wendy stand noch immer regungslos da. Bisher hatte sie noch gar nicht richtig begriffen, dass ihre Freunde tot waren. Alles hatte sich vor ihrem Auge abgespielt wie in einem Film, und sie war zu keinem klaren Gedanken fähig. Der unheimliche Kerl sah ihr in die Augen. Und plötzlich hatte sie keine Angst mehr vor dem Fremden, ganz im Gegenteil sogar. Sie hatte das Gefühl, ihn ewig zu kennen. Ja, sie vertraute ihm und fühlte sich sogar zu ihm hingezogen. Selbst, als er nun weit den Mund öffnete und seine spitzen Eckzähne zeigte, zuckte sie nicht einmal zusammen ... * Er kam näher auf sie zu. Seine Bewegungen waren mechanisch, und als er sie schließlich erreichte und mit der rechten Hand über ihre Wange strich, durchfuhr es Wendy Kilmore heiß und kalt zugleich. Seine Hand war kalt wie Eis, und dennoch so warm. Seine Berührungen waren zärtlich, so zärtlich, wie Wendy noch nie zuvor eine Berührung erfahren hatte. Sie sah in sein kantiges Gesicht. Er verzog keine Miene, lächelte nicht. Nichts war in den Zügen zu lesen, und doch hatte Wendy in diesem Moment nur einen Wunsch: sich ihm hinzugeben. Sie dachte an nichts anderes mehr, nur an ihn. Alles andere, auch das, was sich zuvor zugetragen hatte, war weg, einfach ausgelöscht. Es gab nur noch das Jetzt für Wendy. Sie sah seine ungewöhnlich langen, spitzen Eckzähne, doch sie erschreckten sie nicht und sie dachte auch gar nicht genauer darüber nach. Es war nicht wichtig für sie. Hingebungsvoll schmiegte sie sich an seine starke Brust. Seine Nähe verlieh ihr ein Gefühl der Geborgenheit, und als er nun einen Finger unter ihr Kinn legte, ihren Kopf hochdrückte und seine Lippen sich ihrem verlangenden Mund näherten, stöhnte sie auf. Ihr Atem ging schwer, und dann war es soweit: Er küsste sie. Spürend, wie das Verlangen in ihr immer größer wurde, ließ sie es geschehen und wollte ihn ebenfalls küssen, doch das ließ er nicht zu. 43
Stattdessen packte er ihren Kopf, bog ihn ein wenig nach links und strich die langen Haare zur Seite, sodass der Hals frei lag. Dann küsste er sie auf den Hals. * Roger Thornton starrte auf den Hals der Kleinen und konnte es kaum erwarten. Er roch ihr Blut durch die Haut des schlanken Halses, es roch ungemein gut, so süß. Junges, frisches Blut - das war genau das, was er jetzt brauchte! Einen solchen Leckerbissen hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Zu lange ... Da hatte er Nachholbedarf, und er war sicher, dass das Blut der Kleinen deshalb auch ganz besonders gut schmecken würde. Weit riss er den Mund auf und näherte sich mit ihm weiter ihrem Hals. Seine langen Zähne berührten schon die weiße, zarte Haut der Kleinen, als Roger plötzlich irgend etwas – irgend jemand - in den Rücken krachte. Der Vampir wurde von den Beinen geworfen... * Celestine Draven beobachtete den Vampir und sah zu, wie er sein Opfer küsste. Dann näherten sich sein Mund langsam ihrem Hals, und er wollte ihr gerade die Fänge in die Haut schlagen, da griff sie ein! Sie sprang aus ihrer Deckung heraus, stürmte vor und stürzte sich mit einem gewaltigen Hechtsprung von hinten auf den Blutsauger. Der kippte nach vorn weg, riss das Mädchen mit sich und kam über ihm zum Liegen, rollte sich dann aber gewandt ab. Auf dem Rücken liegend, sah er seine Angreiferin aus weit aufgerissenen Augen an. In den Pupillen funkelte es drohend, und aus seinem stechenden Blick sprach der pure Hass. Der Vampir wollte aufspringen, doch mit einem harten Tritt gegen sein Kinn hielt sie ihn davon ab. Sein Kopf wurde in den Nacken geschleudert, und er machte einen halben Salto rückwärts, bevor er schmerzhaft auf dem Rücken landete. Doch dann stützte er sich mit den Händen ab, zog die Beine an und ließ sie im nächsten Augenblick vorschnellen. Er traf Draven unterhalb der Knie. Der Tritt ließ sie ins Taumeln geraten. Krampfhaft bemühte sich die Vampirjägerin, nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren, was ihr auch gelang. Aber dieser Gegenangriff hatte sie Zeit gekostet, und als sie wieder sicher 44
dastand, war ihr Gegner auch schon auf den Beinen. Mit enormer Wucht schossen seine Fäuste vor. Seine Rechte traf sie im Bereich der Nase. Die Linke kam nicht gerade auf sie zu, sondern von schräg unten, bohrte sich ihr unters Kinn. Dieser Schlag war so heftig, dass Draven abhob. Sie machte einen unfreiwilligen Satz nach hinten und schlug schließlich hart auf dem Rücken auf. Keuchend federte sie wieder hoch. Doch wieder war der Bastard schneller. Seine Stiefelspitze bohrte sich in ihre Magengegend, aber diesen Schmerz konnte sie unterdrücken. »Elender Scheißkerl!«, brüllte sie. »Dich mach ich fertig.« Der Vampir knurrte wütend. Er wollte nachsetzen, ihr noch einen Tritt verpassen, aber da brachte sie sich mit einer eleganten Rolle nach rechts aus der Gefahrenzone. Sofort darauf warf sie sich wieder nach links, packte den Fuß des Vampirs und zog ihn weg. Brüllend krachte der Untote auf den Boden. Aus ihrem Hosenbund zog Draven einen Eichenpflock. Bevor der Vampir wieder hochkam, war sie über ihm und wollte ihm den Pflock ins Herz rammen. Doch er wich aus. Zwar schaffte er es nicht, ganz ungeschoren davonzukommen, allerdings traf Draven ihn durch dieses Ausweichmanöver nicht da, wo sie ihn hatte treffen wollen - also mitten ins Herz - sondern lediglich an der linken Schulter. Der Blutsauger schrie auf. Mit einem kehligen Knurren, brachte er sich auf die Beine und verpasste Draven zwei Tritte. Während die Jägerin zurücktaumelte, sah sie, wie sich der Vampir den Pflock mit einem schmatzenden Geräusch aus der Schulter zog. Dann konnte sie beobachten, wie sich die Wunde langsam schloss. Der Vampir blickte sie an, starrte ihr direkt in die Augen - und ihre Blicke trafen sich. Das war´s, dachte Thornton. Denn gleich würde diese verdammte Vampirjägerin, die ihm beim Essen gestört hatte, genau wissen, dass sie schon seit langem Freunde waren. Sie waren Freunde ... Freunde... Noch immer blickte die junge Frau ausdruckslos in die Augen des Vampirs. Er grinste sie höhnisch an. »Na, hast du dich da nicht ein wenig 45
übernommen?« »Wohl kaum!«, zischte sie zu seiner Überraschung. Und in diesem Moment erwachte ER, der Dämon in ihr. Ihre Augen leuchteten gelb. Ihre Blessuren heilten in Sekundenbruchteilen. Roger Thornton wich zurück. »Was ist das für ein ...«, brüllte er. In diesem Moment loderten Dravens Augen hell auf. Flammen schossen daraus hervor und hüllten den Vampir ein. Sofort brach sein Wutgebrüll ab und wich einem panischen Kreischen. Verzweifelt schlug er um sich, wedelte mit den Armen. Vergeblich ... Innerhalb von Sekunden war er zu Asche verbrannt. Draven atmete auf. Kurz warf sie einen Blick hinüber zu der Kleinen, die noch immer am Boden lag. Sie war bewusstlos. Die Vampirjägerin kümmerte, sich nicht um sie, sondern ließ sie liegen und trat den Rückweg an. Doch plötzlich geschah etwas Seltsames. Draven spürte, wie ihr schummrig wurde, und dann hörte sie die Stimme. Die Stimme kam von innen, sie war nicht wirklich zu hören, sondern das, was sie sagte, erklang direkt in Dravens Kopf. Im aller ersten Augenblick dachte die Vampirjägerin, ER, der Dämon in ihr, meldete sich zu Wort, aber schnell wurde ihr klar, dass das nicht sein konnte, denn die Stimme, die sie in ihren Gedanken hörte, war weiblich, und sie gehörte zu einer Frau, die sie kannte. Ich bin in Gefahr, Schwester!, flüsterte die Stimme. Bitte hilf mir. Komm her, ich bin am Hafen, in ... Nachdem die Stimme ihr eine genaue Ortsangabe gemacht hatte, hielt Draven nichts mehr. Jessica!, dachte sie nur und rannte los, ohne genauer nachzudenken. Und so kam sie auch nicht auf den Gedanken, dass sie womöglich in eine Falle lief ... * Als Jessica Draven aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, wusste sie zunächst gar nicht, was passiert war. Schwerfällig öffnete sie die Augen. Sie sah alles wie durch einen Schleier, völlig unscharf, und erst nachdem sie mehrmals hintereinander fest die Augen zusammenkniff, wurde ihr Blick klarer. Was sie sah, war nicht viel. Sie befand sich in einem recht kleinen Raum, Wände und Boden waren schmutzig, einige Kerzen standen auf einem Tisch und verbreiteten flackernden Schein. Wo bin ich?, fragte sie sich und versuchte, sich zu bewegen. Doch es ging 46
nicht. Sie saß auf einem Stuhl und konnte weder Füße noch Hände bewegen. Sie war gefesselt, und erst jetzt merkte sie, dass sie auch geknebelt war, denn sie hatte irgendetwas stoffartiges im Mund und konnte nur durch die Nase atmen. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Jessica dachte an diesen Bruce, den angeblichen Verlobten ihrer Schwester. Verdammt! Dieser Mistkerl hat mich hinterrücks niedergeschlagen ... Jetzt schalt sie sich eine Närrin, denn sie hätte sich auch gleich denken können, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmte. Auch wenn er sich ganz nett ihr gegenüber verhalten hatte - irgendwie war er doch ziemlich seltsam gewesen... Sie begann, verzweifelt an ihren Fesseln zu zerren. Und wieder fragte sie sich, wo sie sich befand. Sie hatte keine Ahnung, wo dieser Bruce sie hingeschleppt hatte. Wo war der Kerl überhaupt? Sie blickte sich so weit wie möglich um, aber entdecken konnte sie ihn nirgends. Panik stieg in ihr auf. Wie besessen zerrte sie an den Fesseln, ihr Herz pochte wie verrückt, der Puls stieg erheblich an, und auf ihre Stirn legte sich eine Schicht aus kaltem Schweiß. Ihr Atem beschleunigte sich, doch der Knebel in ihrem Mund verhinderte, dass sie genügend Luft bekam. Sie hatte schon das Gefühl zu ersticken, als es ihr im letzten Moment gelang, sich so weit zu beherrschen, dass ihre Atmung sich einigermaßen normalisierte. Ihre Lage war aussichtslos. Die Schnüre saßen so fest, dass Jessica schon bald einsehen musste, dass sie keine Chance hatte, sie zu lösen. Tränen der Verzweiflung schossen der jungen Frau in die Augen und kullerten ihre Wangen hinab. Da zuckte sie zusammen, denn ihr Blick fiel auf die Tür des Raumes, und sie sah, wie etwas unter dem Schlitz hindurch in den Raum kroch. Nebel... Gas! Jessica verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, und als sie sah, was nun geschah, glaubte sie zu träumen. Der grünlich schimmernde Nebel stieg hoch und begann dann, sich zu verformen. »Das kann nicht sein«, stammelte Jessica, als sie beobachtete, wie der Nebel die Umrisse einer menschlichen Gestalt annahm. Was, zum Teufel, geschieht hier? Dann blitzte und krachte es aus dem Nebel heraus, dichter Rauch versperrte Jessica für einen Moment die Sicht. Und als sich der Rauch wieder lichtete, stand da, wo eben noch der Nebel gewesen war, ein alter Mann ... 47
Jessica Draven konnte nicht glauben, was sich soeben vor ihren Augen abgespielt hatte. Was geschah hier? Wo kam dieser Mann her? Er schien sich tatsächlich aus dem Nebel materialisiert zu haben. Aber so etwas konnte es - durfte es - doch einfach nicht geben! Oder etwa doch ...? Sie erhielt nicht die Gelegenheit, länger darüber nachzugrübeln, denn der Alte begann zu sprechen. Seine Stimme ließ der jungen Frau eisige Schauer über den Rücken rieseln. »Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Draven.« Er lächelte, doch das Lächeln schien seine Augen nicht zu erreichen. Seine Stimme war kalt wie Eis. »Nun, die Umstände sind vielleicht nicht die Angenehmsten, doch ich fürchte, es lässt sich nicht vermeiden.« Ein leises Wimmern drang aus Jessicas Kehle. Der Mann jagte ihr höllische Angst ein, obwohl er diese scheinbar freundlichen Worte an sie richtete. Sie wollte etwas sagen, doch dann wurde ihr wieder klar, dass das nicht möglich war. Und sie wusste: Selbst wenn dieser verdammte Knebel nicht in ihrem Mund gesteckt hätte, hätte sie wahrscheinlich kein Wort herausgebracht. Der alte Mann bewegte sich nun an ihr vorbei, sodass sie ihn aus ihrer Position nicht mehr sehen konnte. Panik machte sich in der jungen Frau breit. Sie war dem Alten schutzlos ausgeliefert, und sie wusste es. Wieder kämpfte sie einen Panikanfall nieder. Sie wollte hier weg! Fort von diesem Mann, der ihr solche Angst machte! Plötzlich legten sich kalte Hände auf ihre Schläfen. Gequält stöhnte sie auf. Sie spürte, wie etwas - der Alte - in ihre Gedanken eindrang. Nichts konnte sie vor seinen, sich immer weiter vortastenden Fingern - Fingern? verbergen. Keines ihrer kleinen Geheimnisse, kein noch so unwichtiger Gedanke blieb ihm verborgen. Er konnte in ihr Lesen wie in einem Buch, und sie spürte es. Tränen des Schmerzes und der Scham kullerten ihr Gesicht herab. Sie konnte ihn nicht aufhalten, so sehr sie sich auch bemühte. Es ist wie eine Vergewaltigung, dachte sie entsetzt. Nur noch viel, viel schlimmer... Und dann hörte sie diese Stimme in ihrem Kopf. Die Stimme schien tatsächlich direkt in ihrem Schädel zu ertönen, und sie erlaubte keinen Widerspruch. Deine Schwester ist böse! Nein! Meine Schwester ist nicht böse!, schrie etwas tief in ihrem Unterbewusstsein. Sie könnte niemandem etwas zu Leide tun. Glaub ihm kein Wort, er will dich täuschen! Celest ist nicht böse! 48
Doch dann sah sie die Bilder vor ihren Augen! Es waren Bilder voller Brutalität! Bilder, in denen Celest - ihre Schwester Celestine Draven! - Menschen grausam tötete. Sie mordete eiskalt und ohne mit der Wimper zu zucken. Und während sie tötete, lächelte sie! Sie ist ein Monster! Du hasst sie! Nein ... Ihr Unterbewusstsein wollte widersprechen, doch langsam schwand die Gegenwehr. Deine Schwester ist ein Teufel in Menschengestalt! Nein, das ... Sie konnte sich nicht länger dagegen wehren. Der Alte war viel zu mächtig! Es gab nichts, was sie ihm entgegenzusetzen hatte, rein gar nichts! Und irgendwann glitt Jessica Draven hinab in die gnädige Schwärze einer tiefen Bewusstlosigkeit... * Bruce Darkness war völlig in Gedanken versunken. Ryder Jackson hatte ihm gesagt, dass er Celestine Draven darüber informieren würde, dass Bruce ihre Schwester in seiner Gewalt hatte. Nicht, das Bruce das nicht auch selbst hätte erledigen können. Er wusste zwar noch nicht wie, aber irgendwie hätte er es schon hingekriegt. Allerdings war es so sicherlich einfacher. Eines aber gefiel ihm nicht so ganz: Der alte Vampir hatte ihm nahegelegt, sich erst einmal ruhig zu verhalten, sobald Celestine Draven hier eintrudelte. Er sollte sich irgendwo verstecken und abwarten, was geschah. Das schmeckte Bruce nicht so ganz. Er hatte noch ein Hühnchen mit dieser Vampirjägerin zu rupfen. Darüber dachte Bruce Darkness nach, als er die Lagerhalle, in der er Jessica Draven eingesperrt hatte, wieder betrat. Jackson hatte eine Weile mit Jessica Draven allein sein wollen, und Bruce fragte sich auch, was er da mit der Kleinen getrieben hatte ... Die Halle wurde seit mindestens fünf Jahren nicht mehr genutzt, und entsprechend verlottert sah die Bude auch aus. Überall war Dreck und Gerümpel, es roch moderig, und die Blechwände waren verrostet. Doch das alles war Bruce egal. Ihn störte es nicht, und für sein Vorhaben war dieser Ort genau richtig. Vor einem ehemaligen Büroraum machte er halt. Er öffnete die Tür und trat über die Schwelle. 49
Das Innere des Raumes wurde lediglich durch einige Kerzen erhellt, die inzwischen schon fast völlig heruntergebrannt waren. Die Einrichtung war mehr als einfach: ein einzelner, altersschwacher Stuhl, ein Tisch und zwei Regalschränke, auf deren Bretter eine mindestens zehn Zentimeter dicke Schicht aus Staub lag. Auf dem Stuhl hockte Jessica Draven. Ihre Arme waren hinten zusammengebunden, und ihre Füße waren an den Stuhlbeinen gefesselt. Außerdem hatte Bruce sie geknebelt, für den Fall, das sich doch jemand hierher verirren würde. Die Augen der jungen Frau waren weit aufgerissen und spiegelten unendliches Entsetzen wieder. Eine einzelne Träne löste sich und lief über ihr Gesicht bis zum Kinn hinab. Als sie Bruces Anwesenheit wahrnahm, merkte der Vampir, wie sich ihr Blick entspannte, und das machte ihn stutzig. Was hatte der alte Jackson mit ihr angestellt, dass sie sich freute, den Typen zu sehen, der sie niedergeschlagen und entführt hatte? Bruce, sagte er sich, du musst dir deine Partner in Zukunft besser aussuchen. Die Situation gefiel dem Vampir nicht. Er musste jetzt warten und sich darauf verlassen, dass Celestine Draven bald hier eintraf. Bruces Blick fiel zu einer kleinen Nebentür. Hinter dieser befand sich eine kleine Abstellkammer. Er konnte genauso gut da drin auf Draven waren. Er wäre vor Ort, könnte die Vampirjägerin überraschen -und er tat Jackson den Gefallen, sich anfangs zu verstecken. Celestine Draven würde bald kommen, hatte der ihm versichert. So betrat Bruce also die Kammer, ließ die Tür aber einen Spaltbreit offen, um sehen zu können, was geschehen würde. Falls überhaupt etwas geschah... * Celestine Draven wusste genau, wohin sie musste. Die Stimme hatte es ihr gesagt. Sie dachte nicht weiter über diese Stimme nach, ihr war alles egal. Sie wurde nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Ihrer Schwester war in Gefahr! Sie stand nun vor dem Lagerhaus im Hafengebiet. Hier wurde Jessica gefangen gehalten. Stimmte es wirklich, oder lief sie geradewegs in eine Falle? Egal, sie musste alles tun, um ihre Schwester zu retten, und obwohl sie es nicht wirklich genau sagen konnte, fühlte sie aus irgendeinem Grund doch, 50
dass sich Jessica hier befand. Ja, sie spürte es... Vielleicht sagte ER es ihr... Achtsam umrundete sie das Lagerhaus. Hier und da gab es kleine Fenster. Die Meisten von ihnen waren blind vor Schmutz, sodass man nicht hindurchsehen konnte. Zwei Fenster waren eingeschlagen, doch sehen konnte Draven trotzdem nichts, denn sie blickte in einen stockfinsteren Raum. Celest, bitte - bitte hilf mir. Ich bin es, Jessica. Bitte lass mich nicht im Stich! Die Stimme schlich sich in ihre Gedanken, und jetzt war es vorbei mit der Achtsamkeit! Celestine Draven rannte zum Eingang der Halle. Die Metalltür war verriegelt. Die junge Frau atmete tief durch. Ihre Augen blitzten für einen Moment gelb auf. Dann trat sie mit solcher Wucht zu, dass die Tür aus den Angeln flog. Sofort stürmte die Vampirjägerin vor! Sie trat über die Schwelle und gelangte in die stockfinstere Halle. Sie löste eine Halogentaschenlampe von ihrem Gürtel und knipste sie an. Der Lichtkegel durchschnitt die Dunkelheit, doch es gab nicht viel zu sehen. Überall auf dem Boden lag Gerümpel herum, alles war verdreckt und ein penetranter Gestank erfüllte die Luft. Dann erblickte Draven eine Tür am anderen Ende des Raumes und steuerte ohne Zögern auf sie zu. Sie war nur angelehnt. Als die Vampirjägerin sie vorsichtig aufschob, quietschte es vernehmbar. Draven trat über die Schwelle und zuckte zusammen. Denn was sie nun zu sehen bekam, versetzte ihr einen Stich ins Herz ... * Der Raum war klein. Auf einem Tisch standen einige Kerzen und verbreiteten schwaches, flackerndes Licht. Links neben dem Tisch stand ein Stuhl. Auf diesem Stuhl saß ihre Schwester, gefesselt und geknebelt! Draven starrte sie einen winzigen Moment lang aus weit aufgerissenen Augen an. Der Schreck über das, was sie sah, grub sich bis in ihre Knochen. Dann riss sich Draven aus ihrer Erstarrung und stürmte auf ihre Schwester zu. »Jessica«, rief sie dabei. »O Gott, was hat dieser Mistkerl mit dir gemacht? Bist du in Ordnung?« Sie befreite ihre Schwester zuerst von dem Knebel, und Jessica nickte keuchend. »Ja«, sagte sie leise, und ihre Stimme klang erschöpft. »Mir 51
geht's gut. Nimm mir nur bitte die Fesseln ab, meine Hände sind schon fast abgestorben.« »Ja, klar!« Draven kramte ein Messer aus ihrer Tasche und ging um den Stuhl herum. Mit zwei Schnitten befreite sie ihre Schwester von den Schnüren an den Handgelenken, dann kam sie wieder nach vorn. »Gib nur her«, sagte Jessica. »Den Rest erledige ich schon. Pass du auf, dass keiner kommt. Dieser Darkness wird bestimmt bald wieder hier sein!« »Darkness?« Die Vampirjägerin drückte ihrer Schwester das Messer in die Hand und wandte sich zur Tür. Darkness also steckte dahinter! Jessica begann, die Schnüre, mit denen ihre Beine gefesselt waren, zu zerschneiden. Celestine fiel auf, wie still es war. Nichts, aber auch gar nichts war zu hören. Kein Wind mehr, der vorhin noch pfeifend um die Halle gejagt war, keine Tiere der Nacht, und auch hier drinnen war nichts mehr vernehmbar, nicht einmal mehr die fiependen Ratten. »Bist du so weit, Jess?«, wollte Celestine fragen, wobei sie sich wieder umdrehte. In diesem Moment sprang Jessica Draven vom Stuhl auf und stürmte auf ihre Schwester zu. Die Klinge des Messers blitzte drohend, und aus dem Mund der Angreiferin erklang ein wütender Kampfschrei. Die Vampirjägerin warf sich zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, denn so gelang es Jessica nicht, ihrer Schwester das Messer in die Brust zu rammen, was ganz offensichtlich ihre Absicht gewesen war. Stattdessen schrammte die Klinge nur an Celestines Arm vorbei. Verblüfft sah die Vampirjägerin ihre Schwester an, als sie sich nun gegenüberstanden. »Jess, was ... ?«, flüsterte sie. Celestine Draven bekam keinen Satz heraus. Dafür überschlugen sich ihre Gedanken. Mein Gott, dachte sie, was ist hier los? Was tut Jess da? Warum, in drei Teufels Namen, greift sie mich an? Mich, ihre eigene Schwester! Ihr fiel nur eine Antwort ein - Darkness! Er musste ihre große Schwester hypnotisiert haben. Nun startete Jessica Draven den zweiten Angriff! Sie machte zwei Schritte nach vorn auf Draven zu, verpasste ihr einen Tritt, und ihre noch immer vollkommen verwirrte Schwester, die nun nicht einmal in der Lage war, zu reagieren, bekam die Spitze ihres Stiefels mit voller Wucht gegen den Unterleib. Röchelnd klappte Celestine zusammen. Dann trat Jessica erneut zu, und diesmal traf sie ihre Schwester am Kinn. 52
Die Getroffene wurde zurückgeschleudert und verlor das Gleichgewicht. Sofort setzte Jessica nach. Zwei weitere Fußtritte ins Gesicht ließen Celestine Draven herumwirbeln. Sie landete schließlich auf dem Bauch, drehte sich dann aber sofort wieder um. Und nun spürte sie, wie ER aktiv wurde. Sie sah, wie ihre Schwester in der Bewegung verharrte, und sie wusste auch, warum. ER, der Dämon in ihr, übernahm die Kontrolle, und das bedeutete, dass ihre Augen begannen, gelb zu leuchten. Damit hatte ihre liebe Schwester bestimmt nicht gerechnet. Was fiel der ein, sie anzugreifen! Knurrend sprang Celestine auf, jagte auf ihre Schwester zu und drosch auf sie ein. In diesem Moment interessierte es sie nicht mehr, dass Jessica ihre Schwester war. Ihr ging es nur noch darum, die Angreiferin zu besiegen, und der Dämon in ihr steuerte ihr Handeln. Ein Faustschlag traf Jessica in den Magen und schleuderte sie gegen die Rückwand zwei Meter hinter ihr. Irgendwie blieb sie auf den Beinen, krümmte sich vor Schmerz und versuchte, sich auf den nächsten Angriff vorzubereiten. Vergeblich... Celestines Hieb durchbrach ihre Deckung mühelos und krachte auf die Nase der jungen Frau. Knirschend brach das Nasenbein, zersplitterte unter SEINER geballten Kraft. Tränen schossen Jessica in die Augen, als sie zusammenbrach. Über sich sah sie das verzerrte Gesicht, die glühenden Augen ihrer Schwester. Sie sah Celestines Fuß auf sie niedersausen, dann gar nichts mehr ... * In einer kleinen Ecke ihres Geistes hockte Celestine Draven, während sie IHM zusah. So war es immer, wenn ER die Herrschaft über ihren Körper übernommen hatte. Entsetzt beobachtete sie, wie ER Jessica zusammenschlug. ER wird sie umbringen!, dachte sie. Dann traf ER die Nase ihrer Schwester. Blut schoss daraus hervor, und Jessica brach zusammen. Dann hob der Dämon den Fuß, um den Kopf seines Opfers zu zerschmettern. Nein!, rief sie ihm zu. Sie ist doch meine Schwester! Nein! Mit aller Kraft stürzte sie sich auf IHN, stieß IHN zur Seite, und übernahm wieder die Kontrolle über ihren Körper. 53
Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihren Fuß noch ablenken, sodass er Jessicas Kopf nur noch streifte und ihre Schwester das Bewusstsein verlor. Celestine ging neben der reglos daliegenden Frau auf die Knie. »Jess!«, flüsterte sie. »Oh, Jess, was sollte das denn? Geht es dir gut?« Da warf sich jemand von hinten auf sie! * Bruce stürmte aus der Kammer, in der er sich verborgen gehalten hatte, und stürzte sich auf Celestine Draven. Er riss sie um und warf sie auf den Rücken. Dann setzte er sich auf sie und schlug zu. Doch im letzten Augenblick riss die Jägerin den Kopf zur Seite, sodass sie lediglich von den Nietenhandschuhen des Vampirs gestreift wurden, die ihr die Wange aufrissen. Gleichzeitig schnellte Dravens Knie hoch. Bruce wirbelte durch die Luft. Die Vampirjägerin rollte sich nach links, federte hoch und war dann wieder auf den Beinen. Bruce war hart auf den Boden gekracht und kam gerade wieder auf die Beine. Da aber schmetterte sie ihm ihren Fuß ins Gesicht, und er kippte wieder nach hinten weg. Fauchend, mit gelb leuchtenden Augen, warf sie sich auf ihn, drosch mit den Fäusten wie besessen auf ihn ein. Bruce spürte die harten Schläge und bekam sonst gar nichts mehr mit. Vor seinen Augen blitzte und krachte es. Er glaubte, sein Kopf würde jeden Moment explodieren. »Jetzt reicht´s mir aber!«, brüllte er. Mit einem wütenden Knurren ließ er beide Fäuste vorschnellen, hämmerte sie seiner Gegnerin mit solcher Kraft gegen den Brustkorb, dass Draven nach hinten durch den Raum flog. Der Vampir zögerte keine Sekunde, sondern sprang sofort auf und stürmte ihr hinterher. Da beugte sich Draven vor, stützte sich mit den Händen ab und schwang ihre Beine hoch. Es ähnelte einem Handstand, doch natürlich war es mehr als das. Mit den Unterschenkeln packte Draven der Hals von Bruce, und schwang sie wieder zurück, sodass sie den Vampir damit hochhob und durch die Luft schleuderte. Während sie sich wieder kampfbereit machte, stürzte Bruce nach einem unfreiwilligen Salto zu Boden. Sofort federte auch er sich wieder hoch. Draven hatte sich inzwischen eine etwa ein Meter lange Eisenstange, die so dick war wie ihr Handgelenk, aus einer Ecke gegriffen. Sie hielt die Stange mit beiden Händen fest, machte einen Satz vor und 54
stieß ihm die Stange in den Leib. Tief senkte sich die rostige Stange in die Seite des Vampirs. Bruce krümmte sich röchelnd. Schmerz durchzuckte seinen Körper, als er die Stange mit beiden Händen packte und sie sich wieder aus dem Leib zerrte. Er brüllte laut auf. Einen Moment lang schloss er die Augen, und sofort begann sich die Wunde zu schließen. Gerade noch rechtzeitig hob er die Lider wieder. Draven hatte ihm nicht nachgesetzt. Stattdessen starrte sie ihn hasserfüllt aus ihren gelb glühenden Augen an. Und dann schossen plötzlich blaue Blitze aus den schwarzen Pupillen auf Bruce zu. Der Vampir warf sich auf den Boden. Die Blitze jagten über ihn hinweg und schlugen krachend in die hinter ihm liegende Wand ein. Dort, wo soeben noch solider Beton gewesen war, gähnte nun ein klaffendes Loch. Er rollte sich zur Seite, um dann wieder auf die Beine zu kommen. Doch aus den Augenwinkeln sah er, wie sie nun rotglühende Feuerbälle auf ihn warf, und er warf sich gleich wieder flach auf den Boden. Eines der flammenden Geschosse verfehlte sein Ziel, das Zweite traf den Vampir an der Schulter. Sengender Schmerz fraß sich in jede Zelle seines Körpers und glühende Lava schien durch seine Adern zu pulsieren. Geistesgegenwärtig klopfte Bruce auf die Flammen ein und brachte sie so zum verlöschen. Diese Zeit nutzte die Draven! Blitzschnell griff sie hinter sich, löste etwas von ihrem Gürtel - und dann sah Bruce, dass sie eine Handgranate in der Faust hielt! Sie zog den Stift ab und warf! Schneller als ein Gedanke warf sich Bruce Darkness zur Seite. Gleich neben ihm donnerte es, einen Lidschlag lang wurde es taghell in dem kleinen Raum. Splitter flogen wie winzige nadelscharfe Geschosse durch die Luft und schlugen in Bruces Körper ein. Das ganze Gebäude schien zu erbeben und Bruce sah, das ein riesiges Stück des Fußbodens einfach weggesprengt worden war. »Ich schick dich zur Hölle, du gottverdammter Blutsauger!«, hörte er die Draven schreien. Bruce drehte sich auf den Rücken und blickte sie an. »Träum weiter!«, rief er und grinste. »Schlampe!« Und nicht einmal einen Lidschlag später war er auch schon wieder auf den Beinen und stürzte sich auf sie. Ein Tritt in den Unterleib, danach vier Schläge hintereinander gegen Brust und Gesicht. Draven taumelte zurück. 55
Bruce ließ ihr keine Zeit zum Atem holen, sondern folgte ihr und schlug zu. Immer wieder und wieder. Der Vampir war sauer und ließ alles heraus. Er war in seinem Element, doch so fest er auch zuschlug - Draven steckte es weg, auch wenn es Momente gab, in denen er glaubte, dass sie gleich in die Knie ging. Jetzt zog der Vampir sein Hiebmesser unter seiner Jacke hervor und hackte damit auf sie ein. Doch genau im richtigen Moment zauberte Draven wieder ihren Schutzschild herbei. Das Messer prallte einfach an der blauen Hülle ab, die ihren Körper wie eine zweite Haut umgab, obwohl Bruce mit voller Wucht durchgezogen hatte. Der Vampir fluchte wutentbrannt. Ihm entging nicht, dass die Vampirjägerin hinüber zu ihrer Schwester blickte und merklich zusammenzuckte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Jessica noch immer am Boden lag. Trotzdem - etwas war anders, und das bemerkte Bruce, ebenso wie Draven, erst jetzt: Jessica Dravens Körper war von unzähligen Splittern der Handgranate getroffen worden! * Der Raum begann, sich vor Dravens Augen zu drehen wie ein Karussell. Der Dämon war von ihr abgefallen, in dem Moment, als sie ihre Schwester aus unzähligen Wunden blutend auf dem Boden erblickt hatte. Nun war sie allein. Allein mit ihrem Schmerz. Wie von Sinnen schrie sie auf. »NEIN!« Ungläubig blickte sie auf ihre Hände. Die Hände, die ihre Schwester auf dem Gewissen hatten? Wie hatte es nur so weit kommen können? War sie am Ende schon genauso schlimm, wie die, die sie jagte? Vielleicht sogar noch schlimmer? Es war allein ihre Schuld! Sie hatte ihre Schwester bewusstlos geschlagen. Die Detonation ihrer Handgranate hatte Jessica verletzt, ihr vielleicht todbringende Wunden zugefügt. Sie hätte Jessica schützen müssen, hätte sich denken können, dass ihre Schwester eines Tages als Faustpfand gegen sie eingesetzt werden könnte! Sie hatte die Menschheit von Vampiren befreien wollen, und sie war nicht einmal in der Lage gewesen, Jessica - ihre eigene Schwester - zu 56
beschützen! Im Gegenteil! Vielleicht hatte sie sie sogar auf dem Gewissen, bloß, weil sie nicht aufgepasst hatte. Als sie die Granate geworfen hatte, war sie nicht mehr in der Lage gewesen, klar zu denken. Der Dämon in ihr hatte die Kontrolle über sie gehabt und ihre Handlungen gesteuert. Aber nein, das war keine Entschuldigung. Für das, was geschehen war, gab es keine Entschuldigung! Celestine Draven war erfüllt von schier überwältigenden Schuldgefühlen, konnte den Blick nicht von ihrer sterbenden Schwester abwenden, denn eines stand fest: Wenn Jessica nicht unverzüglich ärztliche Hilfe erhielt, würde sie nicht überleben! Sie musste ihrer Schwester helfen, koste es was es wolle! Auch, wenn sie dadurch ihre Chance verspielte, Bruce Darkness zu vernichten. Jessica' s Leben war wichtiger! * Bruce Darkness zögerte nur einen Augenblick. Er hatte nicht geplant, dass Jessica Draven sterben würde. Aber eigentlich war es ihm egal. Sie war nur ein Mensch. Und ihm entging nicht die besondere Ironie, dass sie durch die Granate ihrer eigenen Schwester gestorben war. Er hob sein Hiebmesser. Und jetzt mache ich dich ein für allemal fertig, Draven! Gerade, als er sich auf die Vampirjägerin stürzen wollte, blickte diese auf. Der Vampir konnte die seelische Qual in ihren Augen sehen. Dann erkannte sie, was Bruce vorhatte und reagierte instinktiv. Noch bevor der Vampir ihr die Klinge in den Leib hacken konnte, rollte sich Draven zur Seite, sodass der Hieb ihr lediglich eine oberflächliche Fleischwunde am Oberschenkel zufügte. Mit einem wütenden Schrei setzte Bruce nach, doch es gelang ihm nicht, sie zu erwischen. Stattdessen kassierte er einen kraftvollen Tritt gegen das Kinn, der ihn betäubt zurücktaumeln ließ. Doch zu seiner Überraschung folgte Draven ihm nicht. Augenblicklich eilte sie zurück zu ihrer bewusstlosen Schwester und hob sie mit einer Leichtigkeit vom Boden, als wäre sie eine Puppe. Bruce hatte sich erholt und ging wieder zum Angriff über. Aber bevor er Draven auch nur erreichen konnte, trafen sich ihre Blicke. Wieder schossen Blitze aus Dravens Augen hervor. Doch diesmal verwandelten sie sich in lodernde Feuerzungen, die direkt vor Bruces Füßen in den Boden schlugen. 57
Knurrend wich der Vampir zurück. Noch einmal brachen Feuerzungen aus Dravens Augen hervor, diesmal jedoch schossen sie höher in die Luft, da sie den Blick gehoben hatte. Knapp unter der Hallendecke vereinten sich die zwei Feuerzungen, und nun entstand ein riesiger Feuerball. Groß wie ein Medizinball hing der Feuerball einige Momente in der Luft, verbreitete grelles Licht, blendete Bruce, sodass er Draven nicht mehr sehen konnte. Dann raste der Feuerball auf ihn zu! Bruce reagierte instinktiv und wirbelte herum. Er wollte nur aus der Halle raus, doch da war nur die Wand. Und ehe er noch irgendetwas anderes tun konnte, schlug der Feuerball hinter ihm auf den Boden und explodierte. Eine riesige Druckwelle schleuderte den Vampir gegen die Wand, die Momente später ebenfalls davongewirbelt wurde. Bruce segelte hinterher. Der Aufprall! Bruce spürte jeden Knochen, hatte überall Schmerzen und wunderte sich selbst, dass er noch an einem Stück war. Er lag mit dem Kopf im Staub. Schwerfällig, aber mit eisernem Willen, rappelte er sich hoch. Die Schmerze verdrängte er, während er sich aufrichtete und sich auf den Boden hockte. Er blickte sich um, während er darauf wartete, dass sein Körper heilte. Er befand sich irgendwo vor der Lagerhalle, oder vor dem, was nach der Detonation noch von ihr übrig war. Die Reste standen in hellen Flammen. Dass es ihn nicht in Stücke gerissen hatte, war ein Wunder. Bruce blickte an sich herab. Seine Kleidung war völlig zerfetzt, blutdurchtränkt, aber die Wunden würden heilen. Und dann würde er Draven endlich zur Hölle schicken ... * Celestine Draven rannte wie noch nie zuvor in ihrem Leben! Das Gewicht ihrer Schwester, die schlaff wie eine Tote über ihrer Schulter hing, belastete sie kaum. Sie war nur noch von einem Gedanken beseelt: Jessica zu retten! Zwar befürchtete sie, dass es bereits zu spät war, doch sie musste es einfach versuchen. Jessica durfte nicht sterben - nicht auf diese Weise, und nicht heute Nacht! Sie würde es sich niemals verzeihen können, wenn sie Jessica verlor. Niemals! Denn es war alles ihre Schuld gewesen, da gab es kein Wenn und Aber. 58
Hätte sie sich nur niemals mit diesem Dämon eingelassen! Immer war sie von ihrem Handeln überzeugt gewesen. Sie hatte gewusst, dass sie das Richtige tat. Immer - bis zu dieser Nacht! Wie konnte sie die Menschheit retten wollen, wenn sie nicht einmal in der Lage war, diejenigen, die sie liebte zu beschützen? Heiße Tränen liefen über ihre Wangen, doch sie bemerkte es kaum. Wie durch einen Schleier nahm sie ihre Umgebung wahr. Ihre Füße bewegten sich wie von allein, trugen sie immer weiter und weiter. Da erklang plötzlich Jessicas Stimme an ihrem Ohr. Sie war kaum hörbar, nicht viel mehr als ein Raunen. »Lass mich runter, Celest. Bitte, ich bin so müde ...« Wie angewurzelt blieb Draven stehen. Alles in ihr drängte danach, weiterzulaufen. Trotzdem verharrte sie. Es hatte keinen Sinn, vor dem Unvermeidlichen fliehen zu wollen. Sie würde niemals schnell genug sein, um dem Tod zu entkommen. Sanft, unendlich sanft, ließ sie ihre Schwester auf den Boden gleiten. Dann kniete sie nieder und bettete vorsichtig Jessicas Kopf auf ihren Schoß. »Halt durch, Schwesterchen.« Celestines Stimme klang brüchig. Zärtlich strich sie Jessica durch das blutverklebte Haar. »Du darfst nicht aufgeben, hörst du?« Jessicas Körper erbebte in einer plötzlichen Woge von Schmerz. Leise stöhnte sie auf. »Du musst mir eines versprechen, Celest!« Mit letzter Kraft klammerte sie sich an ihre Schwester. »Kümmere dich um Brian, versprich es mir ...« Celestine schüttelte schluchzend den Kopf. »Nein, so darfst du nicht reden, Jess ... In ein paar Wochen bist du wieder auf den Beinen und kannst dich selbst um Brian kümmern, hörst du? Du wirst wieder gesund!« Sie wusste, dass es nicht so war. Jessica würde sterben, sie blutete immer noch stark. Und es gab nichts, was Celestine dagegen tun konnte. Es gelang ihr nicht einmal, sich selbst mit ihren Worten zu überzeugen ... »Nein, Celest ... « Jessica wurde von einem schlimmen Hustenkrampf geschüttelt. Ein feiner Blutfaden lief aus ihrem Mundwinkel und rann die Wange hinab. Ihre Lungen füllten sich mit der klebrigen Flüssigkeit, und sie hatte Mühe zu atmen. Als sie wieder einigermaßen Luft bekam, zwang sie sich weiterzusprechen. »Ich werde sterben, ich weiß es. Ich fürchte mich nicht davor ...« Sie keuchte erstickt. »Aber du musst mir versprechen, dich um Brian zu kümmern ... Bitte kleine Schwester, versprich es mir ...« Schwerfällig nickte Celestine. »Ja«, sagte sie dann leise. »Ich verspreche es, Jess ... « Sie schluckte mühsam. 59
Oh, bitte, lieber Gott, betete sie still. Ich habe dich niemals um etwas gebeten! Niemals, bis jetzt! Lass sie nicht sterben! »Ich verspreche es ...«, flüsterte Celestine. Ein erleichtertes Lächeln umspielte Jessicas Lippen. Jetzt, wo sie wusste, dass für ihren Sohn gesorgt war, hatte sie ihren Frieden mit der Welt gefunden. Plötzlich verkrampfte sich für einen Augenblick ihr ganzer Körper, und als er sich wieder entspannte, war Jessica Draven tot... * Bruce Darkness hoffte, dass Draven noch nicht weit gekommen war. Er raste durch die Gegend wie ein Irrer. Dies war seine Gelegenheit, das wusste er. Es war eine Chance, die vielleicht niemals wiederkehren würde. Draven war geschwächt - die Sache mit ihrer Schwester hatte sie schwer mitgenommen. Sie konnte einfach nicht weit gekommen sein! Er setzte alles auf eine Karte und rannte weiter durch die Nacht, suchte sein Opfer wie ein Bluthund. Plötzlich verharrte er abrupt, denn in schriller Schrei zerriss die Stille der Nacht - und er war ganz in der Nähe erklungen! Ohne zu Zögern setzte sich Bruce wieder in Bewegung. Er musste die Jägerin einfach erwischen. Sie war zu gefährlich. Wer außer ihm konnte schon gegen sie bestehen? Er grinste. Niemand! Und dann konnte er sie sehen. Neben einer weiteren Lagerhalle kauerte sie über dem verkrümmten Körper ihrer Schwester. Ein unmenschliches Grollen stieg seine Kehle empor und entlud sich in einem infernalischen Kampfschrei. Er sah, wie Draven sich überrascht umsah. Dann trafen sich ihre Blicke. Purer Hass und der absolute Wille, den Gegner zu töten, lag in ihrer beider Augen. Beide wussten, dass nur einer von ihnen diese Konfrontation überleben würde. Geschmeidig wie eine Katze erhob sich Celestine Draven. In ihren Bewegungen lag eine provokante Eleganz, als sie sich Bruce näherte. »Ich habe sie auf dem Gewissen ...« Sie lächelte, doch es lag kein Funken Freude darin. »Du kannst dich freuen. Dieses Mal hast du mich wirklich getroffen, Blutsauger!« Bruce lächelte leicht, vielleicht ein bisschen traurig. »Ich erwarte ja nicht, dass du das glaubst, aber mir ging es nur um deinen Tod. Ihrer war nicht geplant.« »Pah!« 60
Sie begannen sich gegenseitig zu umkreisen, taxierten einander argwöhnisch. Plötzlich riss Draven den Arm nach oben und deutete mit dem Finger auf Bruce. »DU! Ohne dich, wäre nichts von alledem geschehen und ... und Jessica wäre noch am Leben!« »Hab ich diese Granate geworfen oder du? Ich habe Jess nicht angerührt.« »Nenn sie nicht so, du elendes Monster!«, schrie sie zurück. »Monster? Ich habe keinen Dämon in mir!«, erwiderte er und stürmte vor. Doch dann geschah etwas, das ihn verwirrte. Fest hatte er damit gerechnet, dass Draven zum Gegenangriff ausholen würde, so, wie sie es immer tat. Schließlich wollte nicht nur er sie vernichten, sondern sie auch ihn. Doch diesmal war es anders. Ganz anders. Denn kaum, dass Bruce sich in Bewegung gesetzt hatte, drehte Draven sich um - und rannte weg! Sie nahm die Beine in die Hand und lief vor ihm davon. Vor ihm, Bruce Darkness! Aber eigentlich war es ja auch kein Wunder, dass sie Angst vor ihm hatte. Schließlich hatte Bruce nie einen Zweifel daran gehabt, dass er der Stärkere war, und das war ihr natürlich ebenso klar wie ihm selbst! Sofort setzte Bruce ihr nach. Auf keinen Fall wollte er sich diese Chance entgehen lassen. Er mochte gar nicht daran denken, was Katrina Stein für einen Aufhebens machen würde, wenn er schon wieder mit leeren Händen im Hauptquartier erschien ... Doch dieses Mal würde sie ihm nicht entkommen! Bruce wusste, dass sie keine Chance hatte. Sie mochte dämonische Kräfte haben, doch sie konnte sich nicht schneller bewegen als er! Der Vampir gab volles Tempo, und rasch näherte er sich der fliehenden Draven. Obwohl sie nur ein Mensch war, musste Bruce zugeben, dass sie ganz schön schnell war. Doch nicht schnell genug für den Vampir. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er sie erreicht hatte. Bruce grinste siegessicher. Draven war schon jetzt so gut wie tot! Plötzlich aber begann sie Haken zu schlagen, wie ein Hase, der vom Fuchs gejagt wird. Sie wechselte immer wieder abrupt die Richtung, bog in schmale Gassen ein und preschte hinter verlassenen Lagerhallen vorbei. Ihre Strategie erwies sich insoweit als erfolgreich, dass Bruce sein Tempo etwas verlangsamen musste. Schließlich konnte er nicht voraussehen, in welche Richtung sich Draven als nächstes wenden würde. Trotzdem schmolz die Entfernung Meter um Meter dahin. Der Vampir sah befriedigt, wie sich seine Gegnerin immer wieder gehetzt umblickte. Er 61
legte noch einmal einen Zahn zu, holte auch noch das letzte Bisschen Geschwindigkeit aus sich heraus. Schließlich würde er kaum außer Atem kommen ... Wieder verschwand die Jägerin plötzlich in einer Gasse zwischen einigen Werkshallen. Wenn es so weiterging, würde die Sonne aufgehen, bevor er sie erwischt hatte! Kurz bevor auch er, nur einen Herzschlag später, die schmale Gasse erreichte, hinter der Draven abgebogen war, heulte er triumphierend auf. Jetzt hast du dich selbst ins Aus manövriert! Tatsächlich handelte es sich um eine Sackgasse, die komplett von hohen Lagerhauswänden umgeben war. Jetzt kann sie nicht mehr weiter!, dachte Bruce zufrieden. Zeit für den Showdown, Baby! Siegessicher bog er um die Ecke, in der Sicherheit, dass sich Draven in einer ausweglosen Falle befand. Doch als er die Gasse entlangblickte, lag diese verlassen da. Nichts zeugte davon, dass sich noch vor wenigen Sekunden jemand an diesem Ort befunden hatte. Sicher, es war dunkel, aber der Mond schien genau auf das Areal, zudem gab es hier und da vor den Eingängen der Hallen große Lampen. Bruce suchte wie besessen nach Draven. Doch nach einiger Zeit musste er sich klarmachen, dass es sinnlos war. Sie war wie vom Erdboden verschluckt ... * In Gedanken versunken lief Bruce Darkness durch die bald endende Nacht. Der Vampir ärgerte sich. Er war so kurz davor gewesen, die Beute zu erjagen. Und jetzt stand er wieder mit leeren Händen da. Der Baron würde nicht erfreut sein. Es machte ihm zu schaffen, dass sie ihm schon wieder entwischt war, und er fragte sich, wie lange das noch so weitergehen sollte. Er grübelte noch einen Moment darüber nach, dann zuckte er mit den Schultern. Vorbei ist vorbei, dachte er. Heute habe ich ihr in den Arsch getreten. Dann werde ich sie eben beim nächsten Mal umlegen. So fanatisch wie die ist, lässt sie sich bestimmt wieder blicken. Der Vampir steuerte gerade auf einige abgestellte Motorräder zu, um sich eines davon auszusuchen, da erblickte er Nick Marvey. 62
Bruce verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Der Kerl unterhielt sich gerade mit einem anderen Vampir. Es war Dan Shergun, der, ebenso wie Marvey, in der Hierarchie der Vampire ziemlich weit unten stand, wobei Marvey ja im Moment so weit unten war, wie es tiefer nicht ging. Bruce ging auf die beiden zu und legte Marvey eine Hand auf die Schulter. Der wirbelte herum. Und als er in Bruces Gesicht blickte, spiegelte sein eigenes sein Entsetzen wieder. »Darkness«, stammelte er. »Schön - schön, dich zu sehen, alter Kumpel!« Bruce grinste breit. »Ach? Tatsächlich?« »Ja, doch. Ich wollte dir nur sagen, dass es ... Na ja, du weißt schon ...« »Nein«, sagte Bruce knapp. »Ich weiß nicht.« »Also, ich - ich hab Bullshit gebaut, Darkness, und ich weiß, dass es ... Also, ich weiß ...« »Ja?« »Dass es falsch war. So was kommt nie wieder vor. Ich hab mich geändert!« »Geändert?«, wiederholte Bruce ungläubig. »Du? Und dann noch so schnell? Dass ich nicht lache!« »Doch, Ehrenwort, ich habe ...« Doch Marvey kam nicht dazu weiterzusprechen, denn da packte ihn Bruce schon am Kragen. Gleichzeitig rammte er ihm die linke Faust in den Magen. »Der Baron ist sehr verärgert, Marvey, und du kannst dir denken, dass es nicht gerade angenehm für dich wird, wenn ich dich jetzt zu ihm bringe, oder?« Heftig nickte Marvey. »Si... sicher. Aber - muss das denn sein? Ich meine, ich hab doch kapiert, dass ich einen Fehler gemacht habe. Und ab heute wird alles anders, das verspreche ich. Richte das dem Baron doch aus. Wenn er mich dann immer noch sprechen will, geht das klar, echt. Ist doch logo. Aber vielleicht...« Bruce ließ ihn los. Eindringlich sah er sein Gegenüber an. »Da stimmt doch was nicht, Marvey«, sagte er dann. »Du kannst mir viel erzählen, aber ich glaube nicht, dass du einfach so vernünftig wirst. Ich sehe dir doch an, dass du tierischen Schiss hast. Also - was ist wirklich los? Habe ich dich so sehr zusammengeprügelt, dass tatsächlich ein bisschen Verstand in deine hohle Birne gelangt ist?« »Ich ... also, an dir lag´s nicht...« Schade, dachte Bruce, ich habe gehofft, ich hätte den Dreh raus. »Mir hat jemand den Kopf gewaschen«, fuhr Marvey fort. »Und das war gut so, echt. Weißt du, ich war so in Rage, dass ich mich nicht mehr unter 63
Kontrolle hatte und eine Scheiße nach der anderen gebaut habe. Aber das ist jetzt vorbei!« Interessiert schaute Bruce auf. »Den Kopf gewaschen?«, fragte er. »Wer?« »Na ja, ich weiß nicht, eigentlich will ich das lieber für mich beha ...« »Gut«, unterbrach Bruce ihn. »Wenn du es mir nichts sagen willst, gehen wir jetzt zum Baron. Machst du aber die Schnauze auf, könnte ich mir das noch mal überlegen. Na?« »Also gut«, willigte Nick Marvey ein. »Es war - der alte Jackson!« »Jackson?« Erstaunt sah Bruce ihn an. Was mischte Jackson sich denn in diese Sache ein? Warum ließ er das nicht den Baron erledigen. Er hatte doch eigentlich gar nichts mit einer solchen Angelegenheit zu tun! »So«, riss Marvey ihn nun aus seinen Gedanken. »Ich mach mich dann mal wieder auf die Socken, Darkness. Schönes Leben noch. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder!« Doch so leicht ließ Bruce ihn nicht davonkommen! »Nichts da, Freundchen«, sagte er. »Vergiss nicht, dass du ein Meeting beim Baron hast!« Marvey fiel die Kinnlade runter. »Ha? Spinnst du jetzt total oder was? Wir haben eine glasklare Vereinbarung, Kumpel!« »Tja, das denkst du.« Bruce grinste schief. »Ich für meinen Teil habe gesagt, ich würde es mir vielleicht noch mal überlegen. Das habe ich getan. Also, los jetzt!« »Elender Wichser!«, schrie Marvey da und verpasste Bruce einen Kinnhaken und gleich danach noch kräftigen ein Schlag in die Magengrube. Bruce taumelte zurück. Nachdem Marvey so eingeschüchtert gewesen war, hatte er damit nicht gerechnet. Nick wirbelte herum und rannte los. Doch nicht noch eine Verfolgungsjagd!, dachte Bruce. Hektisch sah er sich um und entdeckte auch sofort, was er haben wollte. Er bückte sich und riss den Gullydeckel hoch. Marvey war gerade zwanzig Meter weit gekommen, als Bruce ihm sein Wurfgeschoss wie einen Diskus hinterher schleuderte und dem anderen Vampir dann sofort nachsprintete. Dan Shergun, der Vampir, mit dem Nick gerade gesprochen hatte, rief seinem Freund eine Warnung zu. Marvey sah sich gehetzt um, sah den Gullydeckel auf sich zurasen und warf sich zur Seite. Er rollte sich elegant ab, kam wieder auf die Füße ... In diesem Moment erreichte Bruce sein Opfer und rannte es einfach über den Haufen. Gemeinsam, sich umklammernd, rollten die beiden Vampire über den Asphalt. 64
Schließlich saß Bruce auf dem Bauch Marveys und drosch auf diesen ein. »Ich hatte heute einen Scheiß-Tag!«, schrie er dabei. »Ich wurde mit Blitzen beschossen, mit Flammenstrahlen und man hat einen Feuerball nach mir geschleudert. Und am Schluss ist mir diese Schlampe auch noch entwischt. Also komm mir nicht dumm, klar?« Marvey antwortete nicht. Er konnte nicht. Sein Kiefer war mehrmals gebrochen. Bruce blickte in das zerstörte Gesicht. So schrecklich es aussah, es würde heilen. Langsam stand er auf. Er zögerte einen Moment, dann lud er sich Marvey auf die Schulter und ging zurück zu den Motorrädern. Marveys Kumpel Dan war verschwunden. Bruce wählte eine Maschine mit Beiwagen und platzierte Marvey darin. Dann schloss er das Motorrad kurz und fuhr zum Empire State Building. Der Baron wollte Nick Marvey sehen ... * Die Nacht lag in ihren letzten Zügen. In wenigen Stunden würden die ersten Sonnenstrahlen die Dunkelheit verscheuchen und New York, die Stadt der Freiheit, in einen märchenhaft unwirklichen Glanz tauchen. Jetzt war davon jedoch noch nichts zu spüren - die Nacht hatte die Metropole noch fest in ihren Krallen. Gespenstische Stille hatte sich über die Stadt gelegt, die für Millionen Menschen eine Heimat war. Das pulsierende Leben, von dem sie sonst erfüllt war, schien für einen Augenblick stillzustehen. Die junge Frau saß einsam und verlassen auf einer Parkbank. Normalerweise war der Central Park in der Nacht kein Ort, in dem man sich sicher fühlen konnte - erst recht nicht als Frau. Doch für sie stellten die Drogendealer und die kleinen Gauner, die sich hier herumtrieben, kein Grund zur Besorgnis dar. Sie fürchtete sich nicht vor ihnen, konnte sie doch jeden Einzelnen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, erledigen. Sie wusste sich ihrer Haut zu wehren, hatte keine Skrupel davor, Menschen zu verletzten, so lange es nur dem Erreichen ihres Endziels diente. Und genau das war es auch, über das sich Celestine Draven den Kopf zermarterte. Wann hatte sie sich so verändert? Es war noch nicht sehr lange her, als ihr ein jedes Menschenleben heilig gewesen war. Der Zweck heiligt die Mittel - das war für sie von jeher nur 65
eine billig Entschuldigung derjenigen gewesen, die sie verabscheute Mensch wie Vampir! Aber was war heute noch von der Celestine Draven geblieben, an die sie sich erinnerte? Nicht viel... Heute nahm sie bedingungslos den Tod unschuldiger Menschen in Kauf und in dieser Nacht hatte sie sich sogar die Schuld am Tod ihrer eigenen Schwester auf das Gewissen geladen! War sie denn auch nur einen Deut besser als die Vampire, die sie jagte? Hatte sie nicht, genau wie diese, ihr Wohl über das aller anderen gestellt? Gab es überhaupt eine Rechtfertigung für ihr Handeln, wenn es auch in bester Absicht geschehen? »Nein!« Sie schrie es hinaus in die Nacht, und die plötzliche Einsicht hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Für Jessica kam sie zu spät. Viel zu spät... Eine salzige Träne löste sich aus ihren strahlend blauen Augen und fiel auf den staubigen Asphalt des Gehweges. Eine einzelne Träne - vergossen für einen der beiden Menschen auf dieser Welt, die ihr etwas bedeuteten ... Nun war nur noch einer übrig - und sie würde ihr Leben dafür geben, Brian zu beschützen. Sie würde den Sohn ihrer Schwester nicht im Stich lassen. Selbst wenn sie es Jessica nicht versprochen hätte, hätte sie nicht anders handeln können. Sie saß noch eine ganze Weile gedankenverloren da. Dann bemerkte sie eine Veränderung in der Stille der Nacht, die sie umgab. Sie war nicht mehr allein - das spürte sie instinktiv. Irgend jemand – irgend etwas? - hatte sich ihr unbemerkt genähert. Irritiert blickte Draven sich um. Hinter ihr lag der Park so weit ihre Augen reichten verlassen da. Nicht einmal die Zweige der Bäume bewegten sich im Wind. Doch als sie ihren Blick wieder nach vorne wandte, schnappte sie erschrocken nach Luft. »Guten Abend, Miss Draven ...« Die Stimme des Mannes, der wie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war, klang sanft und wohlgefällig. Doch konnte weder das noch sein engelsgleiches Antlitz über das gefährliche Glitzern in den merkwürdigen, pechschwarzen Augen hinwegtäuschen. Draven war auf der Hut. Der seltsame Typ, der einen blendendweißen Anzug und einen ebensolchen Hut trug, war ihr unheimlich. Er war kein Vampir, sonst wäre ER längst erwacht, aber ... »Was wollen Sie?«, fragte sie misstrauisch. »Sollten sie mich anmachen wollen, kann ich Ihnen nur raten, sich ein anderes Opfer zu suchen ...« »Aber, aber ...« Der Mann lächelte - es war eine Spur zu selbstgefällig, um freundlich zu wirken. »Ich bin keineswegs hier, um Ihnen ein Leid 66
zuzufügen, Miss Draven. Im Gegenteil, ich möchte Ihnen meine Bewunderung aussprechen!« Draven lachte ironisch auf. »Bewunderung? Ich sehe schon, Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie es zu tun haben, Mister! Auch wenn Sie meinen Namen kenne, was mich wundert, weil ich Sie ja nicht kenne - aber eines ist sicher: Ich verdiene niemandes Bewunderung!« »Nicht doch, nicht doch!« Der Unbekannte schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie sind viel zu bescheiden, Miss Draven. Das liegt ihnen nicht, und es ist auch nicht notwendig. Ich beobachte Ihre Entwicklung bereits seit längerem, und ich muss zugeben, dass ich sehr beeindruckt von Ihnen bin! Stellen Sie ihr Licht doch nicht unter einen Scheffel.« »Ich sagte Ihnen doch bereits, das ich Ihre Bewunderung nicht verdiene!« Draven war verwirrt. Was wollte dieser Typ bloß von ihr? Sie traute ihm nicht über den Weg. »Lassen Sie mich einfach in Frieden, hören Sie?« Doch der Kerl reagierte überhaupt nicht. Stattdessen trat er sogar noch einen Schritt auf Draven zu und beugte sich so dicht zu ihr hinüber, dass seine Lippen fast ihr Ohr berührten. »Ich habe Ihnen ein Angebot zu machen, Miss Draven. Ein Angebot, das sie nicht ausschlagen können ...« »Und was soll das sein? Sie können mir nicht helfen, wer immer Sie auch sein mögen. Also lassen Sie mich doch bitte einfach in Ruhe!« Der weiß Gekleidete zuckte gleichgültig die Schultern. »Ich kann verstehen, dass Sie mir nicht vertrauen, nach allem, was Sie durchgemacht haben ... Aber ich kann Ihnen beweisen, dass ich Ihnen helfen kann!« Einen Augenblick war er ruhig, dann rief er: »Tyria?« Er schnippte einmal kurz mit den Fingern, und was Draven als Nächstes sah, ließ ihr den Atem stocken ... Vor ihren Augen erschien, mitten aus dem Nichts, eine zweieinhalb Meter große Gestalt - hässlich wie die Nacht, muskulös, mit ledrigen Schwingen, die denen einer Fledermaus glichen. Was, zur Hölle, geht hier vor? Celestine Draven war völlig geschockt. Wo kam dieses furchtbare Monster plötzlich her? Sie spürte, wie der Dämon in ihr erwachte, auf das Gefühl der Bedrohung in ihr reagierte. Offenbar bemerkte der Unbekannte die Veränderung, die in ihr vorging, denn er hob beschwichtigend die Arme. »Miss Draven, ich muss doch bitten! Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, nicht um Sie zu bedrohen.« Draven schüttelte unwillig den Kopf. »Ich glaube Ihnen kein Wort! Pfeifen Sie dieses Monster zurück und verpissen Sie sich!« »Das ist aber wirklich nicht sehr freundlich.« Der Mann hatte nicht ein 67
einziges Mal aufgehört, sein kaltes Lächeln zu lächeln. Nun kam er wieder näher auf sie zu und winkte das Monster mit den Schwingen zurück, das sich nun hinter ihn stellte. »Aber ich sehe es Ihnen nach - weiß ich doch, welch einen schweren Schicksalsschlag Sie soeben erlitten haben. Und dass Sie aus diesem Grunde etwas gereizt sind, kann ich Ihnen nicht verübeln.« Erstaunt sah Draven ihn an. »Aber woher wissen Sie das alles? Sie können das doch gar nicht...« Sie sah ihn fragend an. »Was sind Sie?« »Das spielt jetzt keine Rolle«, wehrte er ab. »Ich habe nicht viel Zeit, deshalb komme ich jetzt gleich zur Sache: Ich mache Ihnen den Vorschlag, sich mit mir zu Verbünden. Wenn Sie mit mir zusammenarbeiten, sind Sie stark genug, diesen Darkness zu vernichten!« »Glauben Sie mir - das bin ich auch so!« Draven spürte, dass der Unheimliche eine Bedrohung war. Er war abgrundtief böse. Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Sie war - trotz allem, was geschehen war - eine von den Guten. Daran musste sie glauben, oder sie würde zerbrechen. »Verbünden Sie sich, mit wem Sie wollen!«, rief sie. »Aber nicht mit mir. Fahren Sie zur Hölle, Mister!« Er kniff die Augen zusammen und sah sie mit scharfem Blick an. »Sie machen einen Fehler, Miss Draven. Einen gewaltigen Fehler!« »Ach ja?« Jetzt schrie Celestine, Wut kochte in ihr hoch, und sie spürte, dass sie mit Worten nicht weiterkam. Deshalb rief sie IHN. Sie wusste nicht, ob es ihr gelang, IHN zum Erwachen zu bringen, denn in letzter Zeit tat ER nur noch, was ER wollte. Doch dann fühlte sie, dass ER da war, und sofort nutzte sie die Gelegenheit. Sie stieß einen gefährlich klingenden Laut aus, und dann schossen blaue Blitze aus ihren Augen. Gleich darauf warf sie einige Feuerbälle auf den Unheimlichen, die aber an seinem Körper abglitten, ohne ihm Schaden zuzufügen. Und er lächelte immer noch. Da wusste Draven, dass es besser war, zu verschwinden. Sie drehte sich um und hetzte davon. Weder der Unheimliche noch sein Monster folgten ihr. Nur sein hämisches Lachen ... * »Bruce«, begrüßte der Baron seinen Stellvertreter. »Hattest du Erfolg?« Der hob die Schultern. »Nun ja, Nick Marvey sitzt draußen als kleines Häufchen Elend und tut sich Leid. Ich habe den Eindruck, dass er sich in Zukunft benehmen wird. Er ist zur Zeit etwas verschüchtert.« 68
Der Baron hob eine Augenbraue. »Das hast du gut gemacht«, stellte er fest. »Oh, so gern ich ja auch fremde Lorbeeren einheimse. Das ist wohl nicht mein Verdienst, sondern der von jemand anderem.« Fragend blickte der Baron auf. »Von jemand anderem?« »Ja, von Jackson!«, sagte Bruce mit leicht resigniertem Unterton. »Ryder Jackson?« Die Stimme des Barons war mit einem Mal kalt wie ein Eisberg. Bruce hatte sich schon gedacht, dass es Kradoc nicht gefallen würde, dass Jackson sich da eingemischt hatte. Es war die Pflicht jedes Vampirs, Vampirjäger zu bekämpfen. Aber es war die Aufgabe des Barons, für Ruhe zu sorgen. Jackson hatte sich also in die Angelegenheiten des Herrschers von New York gemischt. »Was hat Jackson denn mit der Angelegenheit und mit Marvey zu tun?«, fragte Kradoc murmelnd. Bruce hob die Schultern. »Keine Ahnung.« Aber der Gedankengang seines Chefs war ihm schon klar. Wenn Ryder Jackson die Arbeit des Barons machte, dann wollte er vielleicht auch seine Stellung. Schließlich war das hier New York und nicht irgendein Kaff in Afrika, wo er früher geherrscht hatte. Kradoc blickte auf. »Du kannst Marvey gehen lassen«, sagte er dann, »wenn du wirklich der Meinung bist, dass er geläutert ist.« »Okay!«, kam die prompte Antwort. »Und was Jackson angeht...« Die Stimme des Barons klang nachdenklich. »Ich möchte, dass du mich über jede Begegnung mit ihm informierst, Bruce. Und du wirst mir von jedem Wort, das er mit dir sprichst, berichten. Ausnahmslos!« Der junge Vampir nickte. »Ja, Herr...« Damit war dieser Punkt für den Baron fürs Erste abgehakt und er wandte sich dem nächsten zu. »Was ist mit dieser Vampirjägerin?«, fragte er. »Es tut mir Leid, Herr. Aber Draven ist mir erneut entwischt. Sie ist geflohen, und ich habe noch keine Ahnung, wie. Aber da sie sich ja wohl mit einem Dämon eingelassen hat…Wer weiß, welche Tricks die noch drauf hat.« Bruce zögerte kurz. »Äh, ihre Schwester ist dabei gestorben. Und als ich mir dann, nachdem ich Marvey hier abgeliefert hatte, ihren Neffen holen wollte, war er schon weg. Sie muss ihn abgeholt haben.« »Es verwundert mich, dass du dich an einem Kind vergriffen hättest.« Bruce zuckte mit den Schultern. »Hätte ich nicht - aber das kann Draven ja kaum wissen.« 69
»Du wirst schon eine weiter Chance erhalten«, sagte Kradoc nun, nach einer Schweigepause. »Und auch wenn du sie diesmal nicht vernichten konntest, so hast du sie nach deinem Bericht doch geschwächt. Aber deine Aufgabe ist dir sicher bewusst.« Er schwieg einen Moment, bevor er dann fortfuhr. »Töte Celestine Draven!« ENDE
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Eine Ratte ist kein Problem, aber zehn Ratten sind schon Abscheu erregend.
RATTEN
Von Henry Rohmer
Millionen von Ratten, Abermillionen, gibt es in New York. Und wenn diese durch einen einzigen Willen gelenkt werden und einen Vampir bis auf die Knochen abnagen, führt das - zu seiner Vernich tung. Bruce versucht, über diese Bedrohung Herr zu werden.
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