Tödliches Blau
Seite 1 von 76
HOME
Tödliches Blau Roman von Jürgen Götke Kapitel 1
Eine Fahrt in den Norden
Es war ...
16 downloads
631 Views
635KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Tödliches Blau
Seite 1 von 76
HOME
Tödliches Blau Roman von Jürgen Götke Kapitel 1
Eine Fahrt in den Norden
Es war etwa gegen 2 Uhr nachmittags im Oktober, dem Frühjahr auf der südlichen Hälfte der Erdkugel. Er fuhr in Richtung Norden, als er an dem kleinen Flugplatz von Santa Elena de Uairén vorbeikam. Dieser erstreckte sich links von der leidlich befestigten Straße und war wegen des kurzen Rollfeldes nur für kleinere Maschinen geeignet. Wenige Kilometer hinter dem ‘Aeropuerto’ hörte die Straße plötzlich auf und ging in eine schlammige Sandpiste aus dieser unsäglich rotbraunen Erde über, wie sie überall in Südamerika anzutreffen ist. Wenn man die Farbe mit den Farben in einem Ölmalkasten vergleichen würde, käme sie dem Englischrot am nächsten. Die Landschaft wechselte jetzt von dem bisherigen lichten Baumbestand in einen dichten Dschungel über, der, abgesehen von den gerodeten Seitenstreifen, bis dicht an die Straße reichte. Das Unterholz bestand aus niedrigen farnähnlichen Gewächsen und von den Baumriesen hingen dicke Bündel von Lianen auf den Boden herab. Bis auf eine Schar bunter Papageien, die sich kreischend einen neuen Baum als Rastplatz suchten und das Motorengeräusch seines alten Suzuki-Jeeps, war kein Geräusch zu hören. Vor einer knappen Stunde hatte es geregnet und die tiefer ausgefahrenen Fahrtrinnen standen zum Teil noch voller Regenwasser, das sich in ihnen gesammelt hatte. Er kam nur noch langsam und im Zickzack, um die Wasserlöcher herum fahrend, voran. Es wurde wieder wärmer und zwischen den Bäumen stiegen dichte Nebelschwaden in den Himmel, die sich über den Baumkronen verflüchtigten. Plötzlich rutschte er seitlich in ein Wasserloch ab und steckte mit den rechten Rädern fest. Die Räder mahlten sich immer tiefer in den Schlamm. Fluchend stieg er aus. Es war der erste unfreiwillige Halt, seit er von Boa Vista am Rio Branco im Nordosten Brasiliens, der Provinz Roraima, auf die Fahrt ging und er hoffte, es würde auch der einzige bleiben. Selbst die Grenzdurchfahrt hinter Depósito zu dem Gebiet im Südosten Venezuelas bereitete keine Schwierigkeiten. Aber hier, keine 80 Kilometer hinter der Grenze, hatte es ihn erwischt. Eigentlich wollte er noch heute bis nach El Dorado kommen. Ein paar Kollegen erwarteten ihn dort, um im Nationalpark von Canaima eine Fotosafari zu den ‘Tepuys’ - den legendären Tafelbergen - zu starten. Die Entdeckung dieser Tafelberge im vorigen Jahrhundert veranlaßte schon den Schriftsteller der ‘Sherlock Holmes’-Romane - Sir Arthur Conan Doyle - seinen Roman ‘The Lost World’ zu verfassen. Hinten im Wagen, zwischen den querliegenden Rücksitzen, auf denen alte Decken lagen, befanden sich seine Habseligkeiten. Eine Stahlblechkiste mit Autowerkzeugen und einigen Ersatzteilen, ein kleiner Alu-Koffer mit seinen Papieren und seiner Fotoausrüstung, bestehend aus einer 6x6cm Hasselblad 500, einer Nikon 35mm SLR, und einer 35mm Minox nebst Zubehör und ein größerer Alu-Koffer mit persönlichen Gegenständen. Aus der Blechkiste holte er die Seilwinde, befestigte sie an der Hinterachse und schlang das andere Ende um einen mittelgroßen Baum, welcher nicht sehr stabil aussah. Für einen
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 2 von 76
stabilen Baum war das Seil viel zu kurz. Eine halbe Stunde lang mußte er mit dem Handhebel an der Seilwinde pumpen und immer wieder Reisig unter die Hinterräder stopfen, bis der Jeep endlich aus dem Wasserloch heraus war. Er fuhr weiter Richtung Norden und nach etwa zwei bis drei Kilometern wurde die Straße etwas besser. Die großen Schlaglöcher waren irgendwann mal mit scharfkantigen Steinen und Kies aufgefüllt und planiert worden. Es fing wieder an zu regnen; kein richtiges Tropengewitter aber doch mehr als ein normaler Durchschnittsregen in den gemäßigten Klimazonen. Durch den Wasserschleier kam eine Abzweigung in östlicher Richtung in Sicht. Die Straße nach Osten führte in Richtung der Grenze zu Guyana. Sein Weg ging weiter in Richtung Norden. Es war später Nachmittag und er hoffte, noch vor Einbruch der Nacht, einen Ort zu erreichen, wo er ein Bad und etwas zu essen bekam. Ein Rauschen war plötzlich zu hören und ein kleiner, reißender Fluß tauchte plötzlich auf. Er war nicht sehr tief; weil er die größeren Felsbrocken unter der Wasseroberfläche noch gut ausmachen konnte. Eine ‘Brücke’ aus zwei dicken Bohlen, die in Flußmitte durch Pfähle abgestützt wurden, führte hinüber. Querliegende, ziemlich vergammelte Bretter gaben dieser Konstruktion etwas Halt. Oben darauf lagen einige lose Bretter, die je nach Radstand in dem gewünschten Abstand verlegt werden konnten. Er stieg aus, legte sich die Bretter zurecht, prüfte noch mal alles und ging, sich umschauend, zum Wagen zurück. Am Ufer, in einiger Entfernung flußabwärts an einer Flußbiegung, standen ein paar Männer bis zu den Knien im Wasser und wuschen mit Blechschüsseln Gold aus dem Flußsand. Zwei Holzhütten standen, etwas höher auf dem Ufer versteckt, zwischen den Bäumen. Vor der ersten Hütte brannte ein Mann mit einem Schweißbrenner das Quecksilber aus dem Goldstaub heraus - Quecksilber wird mit dem Goldstaub zu einem Brei vermischt, um diesen von anderen Metallen zu befreien und so zu reinigen. Die Männer wurden auf ihn aufmerksam und schauten drohend zu ihm hin und er machte, daß er zu seinem Wagen zurückkam. Die Goldsucher schürften wahrscheinlich illegal, hatten fast alle Waffen und würden ihn ohne Zögern umbringen, wenn er ihnen zu nahe kam oder wenn sie bei ihm irgend etwas Wertvolles vermuteten. Langsam fuhr er den Jeep über den Fluß zum gegenüberliegenden Ufer. Die nächsten Kilometer vergingen ohne irgendwelche Zwischenfälle und er kam gut voran. Der Wald lichtete sich allmählich und nach einer weiteren Stunde erweiterte sich die Straße zu einer großen, freigeschlagenen Lichtung. Eine Holztafel am Straßenrand zeigte ihm, daß er nach einem Kilometer die Ortschaft ‘Santa Clara’ erreichen würde. Der Wald schloß sich wieder bis an die Straße. Es ging bergab und nach einigen Kurven führte die Straße übergangslos auf einen Platz von der Größe eines Fußballfeldes, der beidseitig mit Holzhäusern und einigen Steinhäusern bebaut war. Eine Kirche im Stil der Missionsstationen wie sie vom Franziskaner-Orden überall in Kalifornien im vorigen Jahrhundert erbaut wurden, ein ‘Hotel’ mit Namen ‘Tres Cruzes’ zweistöckig und fast so hoch wie die Kirche, überragten die anderen Gebäude. Eins der Steinhäuser gehörte einer Minengesellschaft; ein anderes war das örtliche
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 3 von 76
Bordell und das auf der gegenüber liegenden Seite war die Polizeistation. Die Holzhäuser waren allesamt mehr oder weniger Baracken und wurden teilweise an Goldbeziehungsweise Edelsteinsucher vermietet. Die Straße, welche er bis jetzt befahren hatte, ging am Ende des Ortes weiter bergan nach Norden und verschwand dann hinter einer Biegung im Wald. Auf dem Platz waren nur wenige Menschen zu sehen. Er nahm an, daß die Männer, die mühsam Schätze aus der roten Erde auszugraben hofften, erst am Abend in den Ort kamen um die erbeuteten Goldplättchen, die nach dem Ausbrennen übrig blieben oder kleine Edelsteinsplitter zu verjubeln. Er fuhr vor das ‘Tres Cruzes’ und fragte nach einem Zimmer. Alle Unterkünfte waren frei und er konnte sich einen Raum im obersten Stockwerk aussuchen. Die Dusche lag am Gangende neben seinem Zimmer. Der Raum war recht groß und weiß getüncht. Er hatte ein Fenster ohne Rahmen aber ein davorgesetztes Moskitogitter und war bis auf ein Bett, ein Schrankregal und einen Tisch nebst Stuhl, unmöbliert. Er ging nach unten, bestellte sich schwarze Bohnen mit Fleisch und Speck - in Brasilien hieß das ‘Fejoada’ und ist das Nationalgericht - und trank dazu ein Flaschenbier. Nach der Mahlzeit stellte er sein Fahrzeug hinter dem Hotel in einem Holzschuppen ab, in dem schon ein alter Ford-Pickup vor sich hinrottete. Er nahm seine beiden Gepäckstücke mit nach oben - sicher ist sicher - und holte sich einen Kübel mit Eiswürfeln aus der Bar. In dem großen Koffer hatte er noch eine Flasche ‘Jack Daniels’. Er goß sich ein großes Glas voll, trank mit Genuß, duschte danach, und wollte mit einem zweiten Glas den Tag beschließen. Mittlerweile war es schon zehn Uhr abends. Er hörte Schritte auf dem Gang und es klopfte an der Tür. Er öffnete und ohne seine Aufforderung abzuwarten, betraten der ‘Tabernero’, Señor Duarte, und ein kleiner Mann mit dunkler Hautfarbe, dessen Gesichtszüge ihn unschwer als Nachfahre der hier lebenden indianischen Ureinwohner auswiesen, sein Zimmer. Er trug eine khakifarbene Uniform und ein riesiges Pistolenholster am Gürtel um seine Taille. „Buenos noches Señor, ich bin Colonel Monzon, Señor, Ihren ‘pasaporte’ bitte!“ Er holte seinen Paß und gab ihn dem kleinen Mann wortlos. Dieser studierte ihn lange und schaute ihn öfter an, um sein Gesicht mit dem Bild in seinem Paß zu vergleichen. „Señor Stark, Peter Stark?“ „Si?“ „Ich sehe, Sie sind Schweizer Staatsbürger! Aus Zürich? Was veranlaßt Sie zum Besuch unseres Distriktes und was ist Ihr Reiseziel?“ „Ich mache Ferien und will den Nationalpark von Canaima besuchen. Mein heutiges Reiseziel war eigentlich der Airport von El Dorado im Norden, ich hatte aber Probleme wegen der schlechten Straße. “ „Ja, ja, die Straße. Ihr Wagen ist in Brasilien zugelassen?“(Er hatte also den Jeep gesucht und auch gefunden) „Si Colonel, ich habe ihn von einem Freund gekauft. “ Der kleine Beamte schaute Peter noch einmal lange und eindringlich an, flüsterte noch
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 4 von 76
etwas sehr schnell zu dem Wirt und beide gingen zur Tür. Den Paß legte der Kleine auf den Stuhl neben der Tür. „Adiós, Señor Stark. Sie machen hier wirklich nur Ferien?“ „Si, Adiós, Señores. “ Peter holte seinen Paß und verstaute ihn sorgfältig wieder zwischen seinen anderen Papieren. Was wollte der Colonel wirklich? Hatte er nur am Nachmittag den Wagen vor dem Hotel gesehen und war auf den Fremden neugierig, oder dachte er, Peter wäre ein illegaler Goldaufkäufer oder sowas in der Richtung? Er legte sich hin, hörte noch kurz die lauten Gespräche aus der Taberna und das helle Lachen der Frauen aus dem Bordell. Bald darauf, diesmal ohne diese Wachträume zu haben, schlief er ein. Kapitel 2
Der Fotograf
Es war jetzt fast vier Monate her, als sich Peter Stark aufmachte, um einen Job in Brasilien als Luftbildfotograf anzunehmen. Es war für ihn ein riskantes Unternehmen, seinen sicheren Lebensunterhalt, ein gutgehendes Fotostudio für Food - und Technik Design, welches er zusammen mit seinem Schulfreund Louis im Süden Zürichs unterhielt, aufzugeben und in eine unsichere Zukunft zu investieren. Er war jetzt dreiunddreißig Jahre alt, hatte im Alter von zwanzig, nach seiner Militärzeit, Grafik und Design in Luzern studiert, es aber mangels Interesse abgebrochen und ging dann im Alter von zweiundzwanzig Jahren bei einem in Zürich ziemlich bekannten Industriefotografen - Team in die Lehre. Als er dann seine Meisterprüfung mit Auszeichnung bestand, wurde er in das Team als vollwertiger Geschäftspartner aufgenommen. Die meisten Aufträge, die das Fotografen-Team erhielt, bestanden in der bildlichen Darstellung von industriellen Großprojekten die der Image-Pflege und dem ‘Product Placement’ von internationalen Konzernen diente. Dazu gehörten, neben anderem, zum großen Teil Luftbildaufnahmen, die er mit einem angemieteten Helikopter, welcher zu diesem Zweck extra ausgebaut war, mit einem oder zwei Assistenten durchführte. Die Kameras bestanden aus zwei 13x18 cm Planfilm-Kameras und einer speziell in den Helikopter montierbaren Luftbild-Kamera mit 23 cm breitem Rollfilm. Aus den Aufnahmen wurden zum überwiegenden Teil Hochglanzprospekte gefertigt. Mit dreißig Jahren stieg Peter aus dem Team aus, ließ sich auszahlen und kaufte eine kleine Privatwohnung. Er hatte noch etwas Geld auf dem Konto, von dem er sich mit besagtem Freund Louis selbständig machte. Die ersten beiden Jahre liefen nicht so gut, sie hatten mit diversen Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen. Dieses Jahr verlief wesentlich besser. Sie hatten endlich ein paar gute Stammkunden aus der Werbebranche an Land gezogen, die offensichtlich bereit waren, Geld in ihre junge Firma zu investieren. Eines Tages, mehr aus Zufall, er war Abonnent einer großen Zürcher Tageszeitung, schlug er die Rubrik der Stellenangebote auf. Auf der zweiten Seite erregte eine riesige Anzeige seine volle Aufmerksamkeit.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 5 von 76
„Spezialist für Stereo-Luftbildfotografie - Arbeitsort: Nordbrasilien - Dauer: 4 Monate gesucht“. Er überflog nur die wichtigen, fettgedruckten Zeilen. Mehr aus Spaß bewarb er sich bei der unten angegebenen Gesellschaft ‘Bramico’ und schickte seine Unterlagen in das Zürcher Büro ‘Bramico Europe’. Nach einer Woche erhielt Peter die Nachricht, er möge am übernächsten Tag im Büro der ‘Bramico’ um zehn Uhr bei einem Senhor Pinto vorstellig werden. Ein schlanker Herr mittleren Alters mit unverkennbar südländischen Gesichtszügen stellte sich ihm als Senhor Pinto vor, begrüßte ihn mit Handschlag und bat ihn, sich auf den Sessel vor dem Schreibtisch zu setzen. Er selbst setzte sich in den Sessel dahinter. Der Portugiese ließ Kaffee bringen und dann ging es auch gleich zur Sache. Peter erzählte im Großen und Ganzen noch einmal die Stationen seines Lebens, die er auch in seinem Lebenslauf aufgezählt hatte (viele waren es ja noch nicht). Einige Zwischenfragen des Portugiesen unterbrachen seinen Redefluß etwas, aber nach einer Stunde war fast alles berichtet. Zuletzt hatte Senhor Pinto nur noch eine Frage: „Warum?“ Peter stutzte. „Was warum? Warum ich meine Selbständigkeit aufgeben, und bei Ihnen einen 4 Monatsjob antreten möchte? Sehen Sie, ich bin jetzt dreiunddreißig Jahre alt, bin unverheiratet ( bis auf einige kurze Affären mit zwei Kolleginnen ), habe von der Welt, außer ein paar Fahrten nach Italien und Spanien, noch nicht viel gesehen, habe den Job, den sie anbieten, schon professionell durchgeführt und kann meine Teilhaberschaft an meinem Fotostudio gut für ein halbes Jahr in die Hände meines Freundes und Geschäftspartners legen. “ Senhor Pinto lächelte. „Was für ein langer Satz. Er war aber genau das, was ich hören wollte. Sie haben den Job.“ Er gab Peter die Hand, ging nach vorn um die Tür zu öffnen und sagte: „Sie hören von uns!“ Peter ging geradewegs zu seinem Geschäft und erzählte Louis die ganze Geschichte. Dieser wurde richtig zornig. „WAS willst Du? Du Verrückter. Jetzt wo das Geschäft etwas Gewinn abwirft, willst Du aussteigen? Willst Du uns beide ruinieren?“ Peter lachte. „Nein, natürlich nicht! Es ist doch nur für ein halbes Jahr. Du kommst ohne mich sowieso viel besser zurecht. Wenn Dir die Aufträge über den Kopf wachsen, gib einige an Andrea´s Studio weiter. Die ist auch sehr gut - und wenn Du das nicht willst, stell’ einen Mitarbeiter für ein halbes Jahr ein und zahl’ ihm das Gehalt, das auch ich gekostet hätte. “ Louis schaute immer noch finster vor sich hin, aber Peter sah ihm an, daß er sich im Stillen auf seine neue Rolle als Alleininhaber eines recht gut gehenden Geschäftes vorbereitete und Peter gab ihm die Zeit dafür. Nach zwei Wochen erhielt Peter einen dicken Umschlag von der ‘Bramico’ mit seinem Zeitarbeitsvertrag, in dem sein Gehalt außerordentlich großzügig bemessen war, ein Flugticket der Fluggesellschaft ‘Varig’ für die übernächste Woche, wobei der Rückflugtermin offen gelassen wurde, und einen Anschlußflug nach Boa Vista. Es lag noch ein Begleitschreiben von Senhor Pinto dabei, welches ihn aufforderte, in Boa Vista eine Nummer anzurufen, damit er von dort zur ‘Bramico’ gefahren wurde.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 6 von 76
Bis zum Abflugtermin war es nun wirklich nicht mehr lange und er hatte noch so viele Dinge mit der Wohnung, dem Geschäft und auch persönlicher Natur zu erledigen. Seiner letzten Liebschaft, Anja, - es war schon länger vorüber aber von Zeit zu Zeit sahen sie sich, wenn einer von ihnen oder beide einsam waren - wollte er noch ein ‘Auf Wiedersehen’ sagen. Es war heiß in Boa Vista, selbst jetzt am frühen Morgen. Der Flug vor ein paar Tagen mit der ‘Varig’ nach Rio de Janeiro war angenehm. Von dort ging es mit uralten Propellermaschinen gen Norden. Er mußte zweimal in andere ebenso alte Maschinen umsteigen, bis er hier, morgens um vier Uhr, ankam. Da es noch zu früh war, den Anruf zu machen, schlief er noch ein paar Stunden zwischen seinem Gepäck. Vor der Abfertigungsbaracke, direkt an der staubigen Straße, war eine ‘Bar’. Peter ging hinein, wechselte ein paar amerikanische Dollars in Cruzeiros, bestellte sich ein Bier und rief die angegebene Nummer an. Eine Männerstimme meldete sich auf portugiesisch. Peter sprach nur englisch und meldete sein Ankommen. Es dauerte eine Weile. Eine weibliche Stimme, sie sprach jetzt gebrochen englisch, war am Telefon zu hören. „Sind Sie der Senhor Stark aus Switzerland?“ „Si! “ „Senhor, Sie werden in einer Stunde abgeholt. “ Ein Lastwagen fuhr vor die ‘Bar’ und ein lachender rothaariger Mann stieg aus . Er stellte sich als ‘Bramico’-Mitarbeiter vor, hieß Sam Boswick und war Engländer. Er forderte Peter auf einzusteigen und die kurze Fahrt ging in westlicher Richtung über den Rio Branco bis in die Nähe der Stadt Malacheta. Die Gebäude der ‘Bramico’ - der ‘Brazil Mining Company’ - bestanden aus zwei langen flachen Bürohäusern aus Stahlblech und ungefähr zehn bis zwölf Blechkisten mit Fenstern als Unterkünfte für die Mitarbeiter. Diese waren unschwer als umgebaute Container zu erkennen. Ein Fuhrpark mit einigen Lastwagen und mehreren Landrovern ergänzte das mit einem hohen Zaun umschlossene Areal. In dieser Umgebung würde er nun die nächsten Monate arbeiten und schlafen. Zunächst gab es noch nicht viel zu tun. Nach der Eingangsbesprechung und seiner Vorstellung vor der Mannschaft mußte er noch eine Woche warten, bis das Foto-Equipment aus den USA angeliefert wurde. Es war eine amerikanische 9 Zoll Stereoluftbildkamera. Er brauchte einige Tage, um sie zu montieren und zu justieren. Sam Boswick wurde ihm als Fahrer zugeteilt und ein junger Brasilianer, Joao, stellte sich ihm als Assistent vor. Als alle drei das erste Mal mit der Ausrüstung zum Flugplatz von ‘Boa Vista’ fuhren, stand die Maschine, eine ältere ‘Piper’, schon auf dem angegebenen Abschnitt des Platzes und er baute mit Joao die Fotogeräte in das ausgeschnittene rechteckige Loch im Fußboden der Maschine ein. Die Kamera wurde waagerecht ausgerichtet, der Timer angeschlossen und eine Filmkassette geladen. Der Pilot kam nach einiger Zeit und erkundigte sich nach dem Fortgang der Arbeiten. Er war ein sehr wortkarger Mann, schaute Peter nur kurz an und sprach dann mit Joao ein paar Worte. Beide kamen auf Peter zu und der Pilot gab ihm die Hand und stellte sich vor. Er hieße Breno, nur Breno. Er hatte offensichtlich nur diesen einen Namen.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 7 von 76
Sie stiegen in die Maschine und der Pilot sollte auf dreitausend Meter Höhe steigen und nach Kompaß genau in westlicher Richtung mit genau zweihundertfünfzig Stundenkilometer Geschwindigkeit zwanzig Minuten geradeaus fliegen. Joao und Peter machten in dieser Zeit Probeaufnahmen um den Timer genauer zu justieren und die Objektive scharf zu stellen. So eine Luftbildkamera besteht aus zwei genau gleichen Kameras im zehnfachen menschlichen Augenabstand (70cm) nebeneinander, die beide gleichzeitig ausgelöst werden. Durch die Unterschiede in der Parallaxe entstehen zwei geringfügig unterschiedliche Bilder, die in einem geeigneten Betrachtungsgerät ein dreidimensionales Bild zeigen oder in einem Computer in Höheninformationen umgerechnet werden können. Dies sollte auch hier geschehen. Die ‘Bramico’ benötigte von einem Areal westlich von Boa Vista in einer Ausdehnung von einhundertfünfzig Kilometer in west-östlicher Richtung und fünfundsiebzig Kilometer in nord-südlicher Richtung genaue Karten mit Höheninformationen, um Erdgasprobebohrungen durchzuführen. Jedes Stereobild sollte dabei genau quadratisch sein und eine Kantenlänge von einem halben Kilometer abbilden. Die Probeaufnahmen waren ‘im Kasten’ und sie flogen zurück. Nach der Auswertung durch die ‘Bramico’ bekam er das ‘ok’ und am nächsten Tag begann die eigentliche Arbeit. Das Gebiet wurde im Norden durch die Flüsse Rio Uraricaá und Rio Uraricoera begrenzt. Im Südwesten sah man den Pico Redondo und im Südosten begrenzte der Rio Branco, südlich von Boa Vista das Gebiet. Zum größten Teil war alles dicht bewaldet und durchzogen von zahlreichen mäanderförmigen Flußläufen. Ortschaften waren aus der Maschine von hier oben nicht auszumachen. Im Norden erkannte man eine ausgedehnte Sumpflandschaft, die ein Bohren nach Erdgas wahrscheinlich sehr erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen würde. Die nächsten Wochen waren ausgefüllt von Aufsteigen, Warten bis das Anschlußgebiet erreicht wurde, Fotografieren, Kassetten wechseln, Weiterfliegen und Landen, wenn das Wetter oder die Lichtverhältnisse es nicht mehr zuließen. Einige Male verbrachte er das Wochenende in Boa Vista, aber der Ort war auch nicht gerade dazu angetan, sich ausgiebig zu amüsieren. Der Pilot, Breno, erwies sich als sehr umsichtig. Er flog sehr präzise und jedes mal, wenn Joao oder Peter die Kassetten wechseln mußten, genügte ein kurzer Zuruf nach vorn ins Cockpit und Breno flog eine Schleife und setzte genau wieder dort ein, wo das letzte Foto gemacht wurde. In der Maschine war ein GPS (global positioning system) eingebaut, welches über Satelliten die genaue Position der ‘Piper’ anzeigte. Diese Daten wurden auch automatisch in die Fotos mit einbelichtet. Wenn er wieder auf Kurs war, brummte er etwas unverständliches nach hinten, aber das sahen auch die beiden hinten in der Kabine durch den Meßsucher und das GPS schaltete den Timer wieder an der Position der letzten Aufnahme ein. Insgesamt wurden von der Gegend über fünfundvierzigtausend Bilder erstellt. Diese wurden von den Computern der ‘Bramico’ überarbeitet, wobei man noch die durchschnittliche Baumhöhe von zweiundsechzig Metern herunterrechnen mußte, um ein genaues Abbild der Höheninformation der Erdoberfläche zu erhalten, die zur Herstellung von genauesten Karten der Gegend dienten. Ein
paarmal
mußte
Peter
noch
aufsteigen,
um
Nachschüsse
von
schlecht
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 8 von 76
ausgeleuchteten Bildern zu machen, welche die Computer nicht eindeutig berechnen konnten. Aber dann war seine Arbeit in der Luft abgeschlossen. Er hatte noch eine Woche, die er mit dem Auswerte-Team verbrachte, um verschiedene Fragen zu einzelnen Objekten des Gebietes zu beantworten. Bei diesen Besprechungen war zum größten Teil auch der Pilot Breno mit anwesend, der ja auch mehr Erfahrung und den besseren Blick aus dem Cockpit hatte. Die Verabschiedung von der Companyleitung und der Mannschaft geschah auf das herzlichste und ihm zu Ehren wurde noch eine kleine Feier veranstaltet. Bald darauf sah er sich wieder bei Sam Boswick im selben Lastwagen sitzen, der ihn nach Boa Vista fuhr. Sie hielten vor einem kleinen Hotel und Sam fuhr anschließend wieder zurück. Peter nahm in dem Hotel ein Zimmer, rief ein paar Freunde in der Heimat an und ging dann hinunter, ein paar Straßen weiter, um sich in der ‘Banco do Roraima’ Geld anweisen zu lassen. Sein Geld hatte die ‘Bramico’ auf sein Schweizer Konto überwiesen. Der Schalterbeamte erklärte ihm, daß das ein paar Tage dauern könne, wenn er das Geld in amerikanischen Dollars haben wolle. Er dankte und sagte dem Beamten, daß er in ein paar Tagen wiederkäme, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Ein paar Dollars hatte er ja noch. Er ging wieder in Richtung Hotel und überlegte sich, wo er für die Zeit einen fahrbaren Untersatz bekommen könnte. Im Hotel angekommen, kam die junge Frau von der Reception auf ihn zu und sagte ihm, daß er einen Anruf aus der Schweiz gehabt hätte und zurückrufen solle. Die Frau gab ihm die Nummer. Es war ein ehemaliger Arbeitskollege aus dem Industriefotografen-Team, welcher ihm mitteilte, seine früheren Freunde und Kollegen Marc und Pierre seien zur Zeit in Venezuela in den Ferien und da er auch in Südamerika war, möge er sich doch telefonisch bei ihnen melden. Nach etlichen Versuchen hatte er das Hotel in El Dorado in Venezuela, wo seine beiden früheren Freunde abgestiegen waren, am anderen Ende der Leitung und er ließ sich mit Marc und Pierre verbinden. „Marc Suder, hallo?“ „Hallo Marc, hier ist Peter, Peter Stark, ich bin gerade in Boa Vista, hier in Brasilien. Ist Pierre auch bei Dir?“ Hallo Peter, das ist vielleicht eine Überraschung. Ja Pierre ist auch hier. Arbeitest Du noch drüben in Brasilien?“ „Nein, ich bin vor ein paar Tagen hier fertig geworden mit dem Job. “ „Na, dann hast Du ja Zeit. Komm’ doch hier herüber zu uns. Wir wollen den Nationalpark von Canaima mit Flugzeug und Jeep besichtigen und eine Menge Aufnahmen machen. Wir sind schon ein paarmal geflogen. Es ist eine der schönsten Landschaften, die Du Dir vorstellen kannst.“ „Haltet ein, Leute. So einfach geht das nicht. “ Als Peter das sagte, wußte er im gleichen Moment, daß er nicht nein sagen konnte. Zu sehr reizte ihn der Gedanke zu fliegen und zu fotografieren ohne daß es nach Arbeit schmeckte. Nein, einfach nur zum Vergnügen die Schönheit der Welt in sich aufzunehmen und den Blick für Neues schärfen. Und Zeit hatte
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 9 von 76
er auch (Oder wartete da vielleicht ein Geschäftspartner in Zürich auf ihn?). Ach was, etwas Zeit hatte er nun wirklich noch. „Also gut. Ihr könnt in einer Woche mit mir rechnen. Ich muß hier noch auf eine Geldanweisung warten und ein Auto brauche ich auch noch. “ „Das ist ja wundervoll. Wir nehmen Dich beim Wort. In einer Woche sehen wir uns hier in El Dorado.“ Pierre und Marc freuten sich. Peter ging hinunter und fragte die Dame an der Reception nach einem Händler für gebrauchte Off-Road-Fahrzeuge. Am anderen Ende, etwas außerhalb der Stadt, sollte es so einen Auto-Park geben. Er nahm sich ein Taxi von denen immer ein bis zwei vor dem Hotel herumstanden und ließ sich dort hinfahren. Dem Fahrer bedeutete er zu warten. Der Auto-Park erwies sich als besserer Schrottplatz mit einigen wenigen fahrbereiten Fahrzeugen. Der Händler, ein älterer Mensch, wie sich herausstellte, ein früherer Mineningenieur, hörte sich sein Anliegen an und ging mit ihm zu den ‘besseren’ Schrotthaufen. In die engere Wahl kamen zwei Autos. Ein leidlich guter Bedford-Pickup und ein angerosteter Suzuki-Jeep. Der Bedford sah wesentlich besser aus, aber als der Motor lief, hörte es sich so an, als ob unter dem Wagen ein böser Bube lag, der mit einem Hammer unaufhörlich gegen den Motor schlug. Er entschied sich nach eingehender Untersuchung des Suzuki für denselben, zumal zu diesem auch ein umfangreiches Werkzeug-Set mitgeliefert wurde. Nach einiger Zeit wurden sie sich bei 2500 US-Dollar handelseinig, wobei der Händler am Anfang inakzeptable 4000 US-Dollar verlangte und Peters Erstangebot bei 1500 Dollar lag. Peter erklärte dem Händler, daß er in ein paar Tagen vorbeikäme, das Geld bezahle und den Wagen abhole, wenn seine Überweisung eingetroffen wäre und der Händler möge noch ein zweites Ersatzrad dazulegen. Der Taxifahrer wartete noch, da Peter ihn noch nicht bezahlt hatte und sie fuhren ins Hotel zurück. Peter aß im Restaurant mit großem Behagen zu abend. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und das Fleischgericht mit Süßkartoffeln und einem großen Bier mundete ihm sehr. Nach ein paar Tagen des Nichtstuns und Ausschlafens, seine Überweisung war inzwischen eingetroffen, holte er den Jeep, bezahlte den Händler und das Hotel, und brach am nächsten Morgen in der Frühe auf. Kapitel 3
Der nächtliche Tod
Irgendwann, mitten in der Nacht, wachte Peter plötzlich auf. Was ihn aufwachen ließ, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht war es ein Geräusch, vielleicht irrte er sich auch. Er schaute auf seine Armbanduhr, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen und ging dann an das Fenster, um etwas Licht von draußen zu haben. Unten auf dem Platz von Santa Clara waren noch einige Lampen vor der Bar des Hotels eingeschaltet und ein paar Gesprächsfetzen kamen gedämpft bei ihm hier oben an. Es war gegen 0. 30 Uhr . Er hatte leichte Kopfschmerzen von dem Whiskey am Abend zuvor und wollte sich gerade wieder hinlegen, als er es wieder hörte. Er öffnete das Moskitogitter am Fenster vollends und schaute in die Nacht. Es war ein
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 10 von 76
leises Klatschen, wie von einer aufgeblasenen Papiertüte, die jemand zerplatzen läßt, um einen ängstlichen Menschen im Spaß zu erschrecken, aber es war dabei doch so gedämpft, daß niemand von den Personen auf dem Platz aufmerksam wurde. Das Geräusch kam von der Anhöhe im Nordwesten an der Straße, auf der er in ein paar Stunden weiterfahren wollte. Das Klatschen ertönte jetzt zahlreicher und ging in ein Stakkato über und erinnerte jetzt an das Rauschen eines Wasserfalles bis es nach einigen Minuten wieder abebbte und nur noch einzelne Klatschgeräusche zu vernehmen waren, die alsbald auch aufhörten. Peter horchte in die Nacht. Die Art und die Dauer dieses Phänomens erinnerte ihn an das knatternde Geräusch zu Hause, wenn er sich einen Topf Popcorn auf dem Herd machte. Die Stimmen auf dem Platz wurden noch gedämpfter als bisher. Alles schien wie in Watte verpackt zu sein. Der leichte Windhauch, den er vorher verspürte, wich völliger Windstille. Der Himmel war völlig klar und die Sterne leuchteten in vollem Glanz. Und dann sah er es. Von der Anhöhe kam, zuerst zwischen den Baumstämmen hindurch, eine Art dichter Nebel herunter geflossen. Die Nebelschwaden hatten schon die ersten Hütten erreicht, flossen um diese nach allen Seiten herum und füllten den ganzen Platz aus. Der rote festgestampfte Sand vor dem Hotel war jetzt, wo der wabernde Schleier ungefähr einen Meter hoch stand, nicht mehr zu erkennen. Noch mehr Nebel kam von dem Hügel herab und füllte jetzt das kleine Tal, in welchem Santa Clara lag, völlig aus. Die Obergrenze erreichte schon fast sein Fenster, als es aufhörte. Es war jetzt totenstill und Peter blickte auf die sich langsam in Wellenbewegung befindliche Oberfläche des wolkenartigen Gebildes. Von hier oben, vom Sternenlicht beschienen, leuchtete es in einem fast unwirklichen hellblau, fast genau so, als wenn man in einem Jet in den scheidenden Tag über den Wolken hineinfliegt. Ein scharfer Geruch lag in der Luft. Wie an den kalten Wintertagen in seiner Heimat, wenn noch kein Schnee gefallen war aber man ihn schon riechen konnte. Oder wie der scharfe Geschmack, den man im Mund bekommt, wenn der Körper völlig übermüdet ist und man sich krampfhaft wachzuhalten versucht. Irgendwann später, er war am Fenster fast im Stehen eingeschlafen, hörte er ein paar unterdrückte Schreie von unten. Sie waren aber so gedämpft, daß er nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob er die Schreie wirklich gehört, oder ob ihm die Müdigkeit einen Streich gespielt hatte. Er blickte nach unten. Der Nebel war schon bis auf eine Höhe von einem bis zwei Meter abgesunken und hatte jetzt die Farbe von schmutzigem Ocker, nicht mehr dieses unbeschreibliche Blau. Der Schlaf übermannte Peter jetzt mit Macht und er legte sich wieder auf sein Bett. Er wollte in der Frühe losfahren, weil er die Strecke und deren Unwägbarkeiten noch nicht kannte. Es war gegen neun Uhr vormittags, als er erwachte. Von wegen in der Frühe losfahren. Daraus wurde nun jedoch nichts. Er ging zum Fenster und dachte an die Vorgänge in der Nacht. Vielleicht hatte er das alles nur geträumt. Der Platz lag da wie gestern, nur über und über mit einer dünnen gelb-roten Staubschicht überpudert. Es war völlig still und kein Mensch war von hier oben zu sehen. Hinter dem Hotel in der Holzhütte neben dem Fahrzeugschuppen tuckerte fast unhörbar der Stromerzeuger, ein Dieselaggregat. Peter packte seine Sachen zusammen und ging nach unten.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 11 von 76
Als er durch den Raum gehen wollte, der dem Hotel als Bar, Restaurant und Reception diente, sah er warum kein Mensch auf dem Platz gewesen sein konnte. Die Personen, welche er von dort erkannte, lagen auf dem Fußboden, oder waren halb von den Stühlen gestürzt. Einige von ihnen lagen vor und hinter der Bartheke mit verrenkten Gliedern und weit aufgerissenen, schrecklich verzerrten Mündern. Die Haut war bei allen von tiefer dunkler rotbrauner Farbe und spannte sich wie faltiges Pergament über die darunterliegenden Knochenpartien. An den Stellen, wo die Haut dicker war, hatte sie eine matte grau-grüne Färbung. Das Schlimmste aber waren die Augen. Sie waren weit aufgerissen und die Augäpfel, völlig schwarz. Sie glänzten wie lackiert. Über Allem lag wieder dieser scharfe Geruch, den er schon in der Nacht wahrgenommen hatte und der gelbe Staub, der auf dem Platz lag, hatte sich auch hier drinnen überall verteilt. Er mußte auch eingeatmet worden sein, wie er an den staubig gelb-roten Mundhöhlen und Nasenlöchern der Opfer sah. Daß diese Menschen keinen Arzt mehr brauchten, war mehr als klar. Als er einen der Unglücklichen mit dem Fuß an dessen Arm stieß, platzte an dieser Stelle die trockene Haut auf und eine dunkle breiige Masse floß langsam aus dem Arm und breitete sich über dem Fußboden aus. Peter machte, daß er aus dem Raum kam und mußte sich hinter dem Haus übergeben. Was war hier in der vergangenen Nacht geschehen? Er verstaute mit zitternden Händen sein Gepäck in dem Jeep und ging dann durch den Ort. In fast allen Häusern lagen Menschen in dem selben Zustand, wie jene im Hotel und er wurde sich langsam bewußt, daß er der einzige Überlebende dieser Katastrophe war. Wer oder was hatte dieses Sterben in der Nacht ausgelöst? Und warum war er der einzige Überlebende? Wenn es dieser seltsame Nebel war, konnte es eine Erklärung geben: Sein Zimmer lag ‘über’ dem Nebel und er hatte ihn dadurch auch nicht eingeatmet. Aber was hatte den Nebel ausgelöst? Dieses Klatschen kurz zuvor? Peter ging zurück in den Schuppen zu seinem Wagen. Er wollte nur weg von hier. Als er gerade von innen die Schuppentür öffnen wollte, um seinen Wagen herauszufahren, hörte er Schritte von draußen und ein Kratzen an dem Türschloß. Er stellte sich hinter einen Kistenstapel an der Tür als diese ganz langsam aufging und ein Arm sichtbar wurde. Er gehörte einer jungen Frau von vielleicht achtundzwanzig, dreißig Jahren. Sie kam vorsichtig, sich umblickend, ganz in den Schuppen und ging langsam auf Peters Wagen zu. Sie trug eine Art kleinen Seesack oder Rucksack bei sich, den sie an der Rückfront des Jeeps abstellte und wollte gerade anfangen, Peters Gepäck zu durchsuchen. Der nahm das kurze Stück Eisenrohr, was er zu seinen Füßen fand, bevor die Frau noch ganz in den Schuppen eingetreten war und trat langsam von hinten an sie heran. Er hielt ihr das Ende des Eisenrohres zwischen die Schulterblätter und drückte kräftig dagegen. „Halt, Hände auf die Ladefläche und nicht umdrehen, Miss!“ Sie stieß einen Laut der Überraschung aus und zuckte leicht mit dem Kopf, wobei ihre langen braunen Haare sich seitlich über ihre rechte Schulter legten. Sie drehte sich aber nicht um und sagte etwas unverständliches in englischer Sprache. Peter durchsuchte die Taschen ihrer Leinenweste und ihrer Jeans. Er fand ein Taschenmesser und ein flaches Lederetui mit ihren Papieren. Noch immer hielt er ihr das Stahlrohr mit einer Hand in den Rücken und mit der anderen Hand fand er zwischen den Papieren ihren Paß. Sie war Amerikanerin, hieß Lisa Tate und kam aus Reno/ Nevada.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 12 von 76
„Was suchen Sie hier in dieser Gegend und an meinem Wagen? Wollten Sie ihn stehlen?“ „Nein.“ erwiderte sie ängstlich. Peter drückte die Stange etwas fester. „Doch, doch ja.“ Ihre Stimme wurde etwas höher. „Warum?“ fragte er. „Ich kam heute morgen hier mit dem Postboot an und sah die Leichen an der Anlegestelle unten am Fluß. Ich wollte möglichst schnell weg von hier.“ Sie sagte das nur stockend, weil sie in Peter vielleicht den Mörder der Goldsucher unten am Fluß vermutete. Peter trat etwas zurück. „Sie können sich jetzt umdrehen, Miss.“ Er nahm das Eisenrohr herunter und warf es weg. Sie drehte sich um und sah ihn an. Sie hatte ein feines, ebenmäßiges Gesicht. Ihre Figur konnte man als schlank bezeichnen und sie war etwa ein Meter siebzig groß und ging ihm etwa bis an die Nasenspitze. „Sie müssen keine Angst mehr haben, Miss. Ich habe niemand umgebracht und bin auch erst gestern hier eingetroffen.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen, die sie nur zögernd ergriff. Peter erzählte ihr kurz, wer er war und was er vorhatte. Dann berichtete er von den Vorgängen während der letzten Nacht bis zum jetzigen Zeitpunkt. Lisa hörte aufmerksam zu und unterbrach ihn nur einmal, um zu berichten, daß die Toten an der Anlegestelle auf die gleiche Weise zugerichtet waren, wie diejenigen im Ort, die er gesehen hatte. Als er geendet hatte, schwiegen beide und nach einer längeren Pause fing sie an, ihre Geschichte zu berichten. Sie war hierher gekommen, um ihren älteren Bruder zu suchen, der ihr vor ein paar Wochen mitteilte, daß er hier einer großen Sache auf der Spur wäre, mit der er bei seiner Zeitung groß herauskommen würde. Ihr Bruder stammte auch aus Reno in den Staaten. Sie zeigte ihm die Fotografie eines Mannes, etwa in Peters Alter. Er hatte unverkennbar Ähnlichkeit mit ihr. Sie selbst war Krankenschwester in einer Klinik für Kinder, die an den Atemwegen erkrankt waren und ihr Bruder arbeitete als Bild-Reporter beim ‘Reno Cronicle’. Sein letzter Anruf enthielt viel wirres Zeug. Er berichtete gehetzt, er würde verfolgt und man habe es auf sein Leben abgesehen. Danach hörte sie nichts mehr von ihm. Sie nahm sich den Urlaub, den sie noch beanspruchte, flog nach Venezuela und wohnte ein paar Tage, sechs Kilometer flußabwärts, in einem kleinen Nest. Sie kam erst heute früh mit dem ‘Postboot’ hier an. Sie erzählte ihm, daß das ‘Postboot’ ein kleiner Holzkahn mit Außenborder wäre, den ein früherer Goldsucher gepachtet hätte, um die Post oder irgendwelche Gerätschaften auf dem Rio Aponguao zu transportieren, welche die hiesigen Goldsucher hier dringend benötigen, um mit der Arbeit nicht ins Stocken zu geraten. Daraus hatte sich mit der Zeit eine richtige Einmann-Schiffslinie entwickelt. Der halbe Kilometer Entfernung, welcher die Anlegestelle mit Santa Clara verband, wurde durch einen Buschpfad gebildet. Der Postmann kam aber heute nicht mit in den Ort,
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 13 von 76
da er ebenfalls die Leichen in dem Goldsucher-Camp gesehen hatte. Er drehte vor lauter Angst um und fuhr schleunigst zurück, flußabwärts. Nachdem sie ihre Geschichte beendet hatte, wandte sich fragend zu ihm. „Können Sie mir nicht helfen, meinen Bruder zu finden? Allein und ohne Fahrzeug werde ich es nie schaffen, etwas über ihn zu erfahren.“ Peter antwortete ihr, vielleicht etwas zu schroff, daß er seine eigenen Ziele verfolgen wolle und diese Gegend möglichst schnell verlassen werde. Sie schaute ihn flehend an. „Bitte helfen Sie mir. Sie können Ihre Ferien doch um ein paar Tage verschieben und ich kann Sie auch gut bezahlen. Wenn wir in ein, zwei Tagen noch nichts über ihn erfahren haben, können Sie Ihren Urlaub doch fortsetzen.“ Peter wurde weich und nickte bedächtig. „Also gut. Ein paar Tage kann ich Ihnen bei der Suche nach Ihrem Bruder helfen. Aber ich nehme kein Geld von Freunden, also auch nicht von Ihnen. Wenn das alles hier vorüber ist, können Sie mich später einmal einladen. Ich würde mich freuen. Aber wenn es so ist, wie ich vermute, daß das Verschwinden Ihres Bruders mit den Vorgängen hier im Ort in Zusammenhang steht, kann das ein sehr gefährliches Unternehmen werden.“ Sie lächelte schon wieder und sah jetzt sehr anziehend aus. „Das ist mir vollkommen klar; aber ich kann meinen Bruder unmöglich jetzt im Stich lassen, wo er mich braucht. Wann fahren wir los?“ „Wir können noch nicht gleich losfahren. Zuerst brauchen wir noch Proviant, Wasser und Werkzeug. Wir müssen auch damit rechnen, im Dschungel zu übernachten. Dazu wäre eine Zeltbahn sehr günstig. Außerdem müssen wir herausbekommen, wo wir mit der Suche ansetzen können und wonach wir suchen. Haben Sie das alles bedacht?“ „Nein, nicht alles - aber wo wir mit der Suche beginnen können. Sie berichteten doch von dem Hügel dort, von dem der Nebel herabfiel. Außerdem habe ich von dem Postschiffer und von einigen Leuten flußabwärts gehört, daß es etwa acht bis zehn Kilometer flußaufwärts, noch vor den dortigen Stromschnellen, eine geheimnisvolle Fabrik geben soll, die aber keiner von den Erzählern jemals zu Gesicht bekommen hat. „Sehr gut. Das ist schon mal ein Anfang.“ Lisa lud ihren Seesack auf Peters Jeep und beide gingen dann in den Ort, um die Sachen zu besorgen, die sie noch brauchen würden. Peter nahm seine Minox mit. Im Hotel wandte sich Lisa mit Abscheu von den Toten ab und beide gingen nach hinten in die Küche. Sie nahmen eine große Plastikflasche Mineralwasser mit etwa zehn Litern Inhalt und verschiedene Konserven in Dosen, die sie in einem leeren Zuckersack verstauten, sowie einige Messer und einen Dosenöffner. Peter fand in der Bar noch eine Flasche Rum, die er ebenfalls einsteckte. Weil die Lebensmittel und das Wasser schon allein ziemlich schwer waren, brachten sie alles erst mal zum Jeep. Peter fotografierte den ganzen Ort, um vielleicht später, wenn alles mal vorbei war, einen Beweis für das ganze Ausmaß dieses Verbrechens, wie er vermutete, zu haben. In einer der Holzhütten fand Peter noch einen kurzen Spaten und einige Stangen Dynamit in einer Holzkiste sowie einiges Werkzeug und ein langes Seil. Das Dynamit war schon etwas alt, denn die Papprollen waren an der Außenseite sehr ölig. Er nahm etwas Sand und verteilte ihn zwischen den Rollen, damit sich das Nitroglyzerin nicht durch einen
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 14 von 76
Stoß oder Schlag selbst entzündete. Nachdem er sich nochmals in der Hütte umgesehen hatte, fand er auch glücklicherweise ein altes Zelt in einer Ecke und legte es zu der Dynamitkiste. Er lief zum Polizeigebäude. Der Colonel, welcher ihn am Abend zuvor verhört hatte, lag hinter seinem Schreibtisch. Papiere lagen um ihn herum verstreut auf dem Boden als ob er im Sterben noch gearbeitet hätte. Viele Papierblätter, die neben oder auf ihm lagen, hatten häßliche rotbraune Flecken. Im Hinterzimmer fand er eine Repetierflinte - Mossberg Kaliber 12 - eine sogenannte ‘Pump-Gun’ - in einem Schrank, die er mit einer Schachtel Schrotkartuschen an sich nahm. Im Büro nahm er dem Colonel, vorsichtig, ohne ihn zu berühren das Pistolenholster ab. Es war ein Nachbau einer Colt ‘Government 1911’ cal. .45 brasilianischer Herkunft. Das Magazin war voll, aber er fand dafür keine weitere passende Munition. Beim Zurückgehen nahm er das Zelt und das Dynamit auch noch an sich und ging zum Jeep. Lisa wartete dort auf ihn. Sie wollte sich den weiteren Anblick der Leichen ersparen. Peter packte alles auf den Wagen und breitete das Zelt darüber. Plötzlich lag ein seltsames Geräusch in der Luft. Es kam von der Straße aus nördlicher Richtung. Peter lief nach vorn zur Straße und spähte um die Ecke der Hotelfront. Es hörte sich an, wie Motorengeräusch. Seltsam, die ganze Zeit die er bis jetzt in dem Ort verbrachte, hatte er noch nicht einmal ein Fahrzeug die Straße herunter kommen gehört. Weder in der einen, noch in der anderen Richtung. Oben an der Straßenbiegung, in ungefähr dreihundert Metern Entfernung, kamen jetzt acht bis zehn weißlackierte Fahrzeuge in Sicht; darunter vier größere Lastfahrzeuge. Er rannte zum Jeep und rief Lisa zu, sie möge ihm helfen, den Wagen aus dem Schuppen zu schieben. Ohne den Motor anzulassen, denn das hätte jemand hören können, rollten sie das Fahrzeug den abschüssigen Dschungelpfad in Richtung Anlegestelle herunter und sprangen beide hinein. Glücklicherweise war der Boden des Pfades etwas bewachsen, so daß man eventuelle Fahrzeugspuren nicht erkennen konnte. Die Pflanzen, die sie mit den Reifen überrollten, würden sich nach einiger Zeit wieder aufrichten. „Was ist denn los?“ fragte Lisa. „Oben, von der Straße nördlich, kommen viele Fahrzeuge herunter. Wenn es so ist, wie ich vermute, dürfen die uns nicht finden. Das könnte für uns äußerst gefährlich werden.“ Auf halbem Weg zur Anlegestelle bog Peter links in den Dschungel ab. Der Erdboden war nicht sehr eben, aber der Wagen stürzte nicht um und nach ein paar Metern schloß sich die dichte Vegetation hinter ihnen. Er bremste und legte einen Gang ein. Sie liefen beide vorsichtig durch den dichten Dschungel zurück in Richtung Santa Clara. Peter erkletterte einen hohen Baum, dessen seitlich abstehende Äste glücklicherweise nicht sehr weit über dem Boden aus dem Stamm wuchsen. Er bedeutete ihr, nachzukommen und beide stiegen, ohne ein Wort zu sprechen, weiter nach oben, bis sie in etwa acht Metern Höhe eine Astgabelung fanden, auf der sie recht bequem sitzen konnten und die von unten nicht einsehbar war. Nur sie selbst konnten durch ein Loch im Blätterdach den Ort überblicken. Die Äste ihres Baumes waren dicht mit Tillandsien bewachsen, einer Epiphytenart, die sich ohne Erde mit den Wurzeln an der Baumrinde festkrallte und die ihre Nahrung aus der
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 15 von 76
Luftfeuchtigkeit bezog, die als Nebel in den Baumkronen hing oder als Tau an deren Zweigen herablief. Einige Orchideen, Cattleyen und Laelien, blühten gerade und strömten einen betörenden Duft aus. Wenn es da unten nicht das ganze Grauen gäbe, könnten sie sich beide wie im Paradies fühlen. Er und Lisa wie Tarzan und Jane in ihrem Baumhaus. Im Ort sammelten sich die Fahrzeuge. Gestalten in weiß-blauen Overalls und ebensolchen Helmen mit verglasten Sichtfenstern sprangen heraus. Aus einem Kleinbus luden sie Meßgeräte aus und prüften, soweit Peter und Lisa erkennen konnten, die Luft an verschiedenen Stellen und ebenso den gelben Staub auf dem Boden. Nach einer Weile gab der Meßtrupp einer Person, in der Mitte des Platzes, ein Handzeichen, worauf diese ihren Helm abnahm und etwas in das, an einem der Lastwagen befestigte, Megaphon rief. Darauf nahmen alle ihre Helme ab. Es waren ausschließlich männliche Personen auf dem Platz. Einige davon waren farbig und Peter konnte auch mehrere Asiaten ausmachen. Die restlichen Personen waren südländischen Ursprungs. Peter machte Fotos durch das Loch im Blätterdach der Baumkrone. Drei Südländer luden eine Art Staubsauger von einem der geschlossenen Lastwagen ab und gingen damit in das Hotel. Der Sauger war durch einen armdicken Schlauch mit dem Kraftfahrzeug verbunden von dem nun ein dumpfes Heulen zu hören war. Die Farbigen gingen ebenfalls zuerst ins Hotel. Sie hatten mehrere lange Blechwannen und schwarze Plasikfolien bei sich. Lisa fragte: „Was tun die denn dort?“ „Ich glaube sie bergen die Toten“ erwiderte Peter. Nach einer Weile kamen die Farbigen mit mehreren Wannen der sterblichen Überreste der armen Opfer zurück. Schwarze Folie lag über den Wannen. Der traurige Zug bewegte sich auf ein Fahrzeug zu, welches verdammte Ähnlichkeit mit einem Wagen der städtischen Müllabfuhr hatte. Da hinein ließen sie den Inhalt der Wannen gleiten und die Mechanik des Wagens setzte alsbald ein, den Inhalt aus der Kippmulde in das Innere des Fahrzeuges zu befördern. Lisa wandte sich ab und schloß die Augen vor Ekel und Grauen. Die Männer mit den Wannen waren noch oft unterwegs. Peter schätzte, daß es fast sechzig Tote waren. Die an der Anlegestelle nicht mit eingerechnet. Der andere Trupp mit dem Staubsauger reinigte die Innenräume sämtlicher Häuser von dem gelben Staub. Draußen würde der Regen sämtliche Spuren beseitigen. Ein Hochdruck-Dampfreiniger wurde ausgeladen, um noch die letzten verräterischen Spuren in den Häusern zu tilgen und der Trupp von Farbigen machte sich mit einem Pickup auf, um zum Fluß zu fahren. Sie kamen gefährlich dicht an ihnen vorüber, aber niemand dachte daran, hier noch auf Überlebende zu treffen. Nach einer halben Stunde kamen sie zurück, die Ladefläche mit Folie abgedeckt, und fuhren in den Ort. Auf dem Platz kam jetzt Leben in die Gruppe. Der Mann mit dem Megaphon schickte nun jeweils zwei Landrover die Straße in Richtung Süden und Norden in Bewegung, wahrscheinlich, wie Peter und Lisa vermuteten, um den Ort weitläufig abzusperren und eventuell Durchfahrende zu hindern, Santa Clara zu erreichen. Ein völlig menschenleerer Ort dieser Größe würde wohl Aufmerksamkeit erringen. Nach einer weiteren Stunde - die Mannschaft packte in der Zwischenzeit ihre Geräte zusammen - setzte sich der Rest der Fahrzeuge in Richtung Norden in Bewegung. Nach
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 16 von 76
kurzer Zeit kehrte wieder Stille ein, als wäre niemals jemand hier gewesen. Sie kletterten langsam den Baum herunter. Von dem langen Stillsitzen war Peter etwas verkrampft und kletterte etwas wackelig nach unten. Die anfangs so bequeme Sitzposition erwies sich nach den Stunden doch als sehr anstrengend; aber beide waren sehr erleichtert, daß die Gruppe wieder verschwunden war. Niemand hatte sie bemerkt oder wußte um ihre Anwesenheit. Es war jetzt gegen vier Uhr nachmittags, als Lisa meinte, sie sollten jetzt beide aufbrechen und einen anderen Standort wählen. In dem Ort wollte sie nicht übernachten und vielleicht würde der Nebel auch diese Nacht kommen. Hier an der Stelle, wo sie jetzt standen, konnten sie auch nicht bleiben, da dieser Standplatz noch tiefer lag, als der Ort selbst. Der Nebel würde auch hierher kommen und bis zum Rio Aponguao treiben, wenn es genau so windstill sein würde, wie in der letzten Nacht. Sie stiegen in den Jeep und fuhren rückwärts aus dem Dickicht bis zu dem Waldpfad. Peter wendete den Wagen und fuhr vorsichtig und langsam hinauf zum Ort. Er hielt ein paar mal an, schaltete den Motor aus und lauschte auf irgendwelche Geräusche. Außer dem üblichen Gekreische einer Schar weißer Vögel mit langen Schwanzfedern und dem Rauschen der Bäume im leichten Wind, oberhalb der Baumkronen, war nichts zu hören. Sie kamen in den Ort. Er lag so friedlich da. Niemand war zu sehen und nichts erinnerte an das grauenvolle Geschehen von heute vormittag und während der letzten Nacht. Peter bog ab auf die Straße nach Norden. Sie führte, in einer starken Steigung, direkt an der rechten Seite des Hügels vorbei, von dem in der letzten Nacht der Nebel herab fiel. Nach etwa zwei Kilometern erreichten sie den Kamm der Straße. Peter bog nach links in den Wald ab, in den er etwa hundert Meter hinein fuhr. Von der Straße konnte man den Jeep unmöglich sehen, denn Peter hatte einige umgestürzte Bäume entdeckt, die über und über mit dichtem Pflanzenwuchs bedeckt waren. Dahinter brachte er den Wagen zu stehen. Sie stellten beide fest, daß sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatten und nach der Anspannung, die den ganzen bisherigen Tag herrschte und sich langsam legte, bekamen sie jetzt Hunger. Peter öffnete eine Dose Corned Beef und eine mit roten Bohnen, die sie kalt aber mit Heißhunger aßen. Es fing jetzt an zu regnen und schlagartig setzte auch die Dämmerung ein. Sie beschlossen hier zu übernachten und morgen mit der Suche nach Steven Tate, Lisas Bruder, zu beginnen. Lisa stieg nach hinten auf die Ladefläche. Die Plane auf dem Jeep war glücklicherweise dicht. Sie fand die beiden Wolldecken, die Peter über die Rücksitze gelegt hatte, weil diese sehr zerschlissen waren, und machte es sich bequem. Peter selbst blieb auf den Vordersitzen. Er trank ein paar Schlucke Rum aus der Flasche und bald übermannte ihn der Schlaf. „Peter?“ Er fuhr hoch. „Ja?“ „Haben Sie nichts gehört?“ „Nein“. Er klappte leise das Seitenfenster nach außen. Es war beschlagen von der Atemluft hier im Wagen. Draußen war es stockdunkel und regnete immer noch etwas. Peter horchte auf das gleichmäßige eintönige Rauschen des Regens. Außer diesem
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 17 von 76
einschläfernden Ton war noch ein anderes sanfteres Rauschen und Glucksen aus größerer Entfernung zu vernehmen. Es kam von dem Fluß herauf, der einige hundert Meter bergab vorbei floß. Außer diesen Geräuschen war absolut nichts zu vernehmen. „Ich glaube, es klang wie ein Schuß“ flüsterte Lisa zögernd. An dem Zögern in ihrer Stimme glaubte Peter zu hören, daß sie sich selbst nicht mehr sicher war, etwas gehört oder geträumt zu haben. „Ich höre nichts“ flüsterte er und lauschte noch eine Weile auf die Geräusche von draußen. Einmal, seine Augen fielen ihm schon fast wieder zu, glaubte er, ein kurz aufblitzendes Licht, aus der Richtung, wo er den Fluß vermutete, gesehen zu haben. Er schaute angestrengt in die Richtung, konnte aber das Licht kein zweites Mal entdecken. Außer dem leichten Rauschen war es vollkommen still in dem Dschungel. Nach ein paar Minuten merkte er, daß er wieder einschlief und schloß leise das Seitenfenster. Er lauschte nach hinten. An dem gleichmäßigen Atem von Lisa bemerkte er, daß auch sie wieder schlief. Kapitel 4
Der Aufbruch
Der nächste Morgen war kühl und nebelig. Lisa wachte zuerst auf und wusch sich, ohne allzuviel Wasser aus dem Kanister zu vergeuden. Sie aß noch etwas von dem übrig gebliebenen Corned Beef und schaute nach Peter, der gerade erwachte. Er putzte sich nur die Zähne und wollte später, wenn die Zeit es zuließe, im Fluß baden. Sie besprachen, was sie als erstes tun wollten und entschlossen sich, zuerst den Hügel zu erkunden, von dem der blaue Nebel vor etwas über einer Nacht herunter gekommen war. Sie standen hier am Fuße des Hügels an dessen Rückseite. Peter packte etwas Proviant und ein paar Kleinigkeiten zusammen. Den ‘Colt’ nahm er aus dem Holster und steckte ihn in seine Hosentasche. Die ‘Minox’ verstaute er in der Brusttasche seiner Jacke. Der Aufstieg war einigermaßen leicht und die beiden erreichten nach einer Stunde den Kamm des Hügels. Von hier konnte man in einiger Entfernung ein paar Häuser von Santa Clara durch die Baumwipfel erkennen. Ein kurzes Stück der Straße nach Süden war auch zu sehen, aber von einer Straßensperre war weit und breit nichts zu bemerken. Sie konnten aber auch nur ein kleines Stück einsehen. Weiter hinten konnte man die Straße, die dort ein Stück geradeaus verlief, auf einer Länge von einem Kilometer überblicken, aber auch dort war niemand. Die Straße war völlig leer. Sie stiegen jetzt den Hügel in Richtung Santa Clara hinab und nach etwa zweihundert Metern erblickten sie ein ebenes Plateau von vielleicht fünfundzwanzig Metern Breite und etwa hundert Metern Länge. Es lag quer vor ihnen - etwa dreißig Meter tiefer - und war von dem Kamm des Hügels noch nicht zu sehen gewesen. Vorsichtig gingen sie weiter. Das Plateau war mit einem stabilen Drahtzaun umzäunt. Der Erdboden war planiert und mit einer Pflanzenart bepflanzt, die keiner von ihnen je zu Gesicht bekommen hatte. Die Gewächse erinnerten in ihrer Form und Größe an eine Art Melonen. Die Außenhaut war aber nicht grün, sondern graubraun und ohne Glanz. Die Farbe erinnerte sie an die Haut von Kartoffeln oder an glatte Baumrinde. Die Form war oval, wie aufrecht stehende Eier und hatte vier dicke, von der Wurzel bis zur Spitze gehende Nähte. Sie konnten das nur an den jungen Pflanzen, die zwischen den ‘reifen’ Gewächsen standen, erkennen.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 18 von 76
Die reifen Pflanzen waren nämlich alle aufgeplatzt, wobei die vier Segmente an den Nähten aufgerissen waren und jetzt seitlich auf dem Erdboden lagen - und nur noch an dem unteren Ende mit der Wurzel Verbindung hatten. Über allen Gewächsen lag wieder dieser ocker-rote Staub, der durch den Regen in der letzten Nacht zu einem gelben, lehmartigen Schlamm wurde und jetzt trocknete. Peter schaute sich um und entdeckte etwas weiter hinten ein Schild an dem Zaun. Sie gingen dort hin und lasen die Blechtafel. Diese war in spanischer Sprache verfaßt und dem Sinn nach übersetzten sie, daß diese Anlage von der ‘Genutrex S.A.’ angelegt worden war und dieses Testfeld der Züchtung von neuen Nahrungsmitteln diente. Diese Früchte seien ‘Mehlfrüchte’ und sollten von einer genmanipulierten Melonenart abstammen. Sie waren angeblich völlig ungefährlich aber auch noch nicht zum Verzehr geeignet. Man bat, das Feld nicht zu betreten oder zu zerstören. Lisa und Peter schauten sich zweifelnd an. Er fragte sie „Glaubst Du das, was die uns hier weismachen wollen? Das sind niemals irgendwelche eßbaren Pflanzen. Das hier sieht fast wie etwas aus, was ich in der Heimat schon einmal gesehen habe. Es ist ein Pilz, den wir Kartoffelbovist nennen nur sind die hier riesengroß. Bei uns werden sie etwa so groß wie Kartoffeln - daher auch der Name. Einige Unterschiede haben diese hier noch - außer der Größe. Als Erstes die vier Nahtstellen und als Zweites die Farbe der Sporen. Die bei uns sind innen blauschwarz und feucht, wenn sie jung sind und dunkelgrau und staubig, wenn sie reif und aufgeplatzt sind.“ Lisa bestätigte, daß es in den Staaten die gleichen Pilze gab. Sie hatte zwar noch keinen gesehen - kein Wunder - in Reno, einer Stadt in der Wüste von Nevada, und in der näheren Umgebung trifft man nicht sehr oft auf Pilze -, aber sie hatte schon welche in Büchern über Pflanzenkunde entdeckt. Peter entschloß sich, den Zaun zu durchtrennen und einen der jüngeren, unreifen Pilze zu untersuchen. Er holte einen ‘Seitenschneider’ - eine Art Kneifzange aus der Umhängetasche, die er normalerweise für seine Fotoausrüstung mitnahm, heraus und durchtrennte den Zaun an einer tief liegenden Stelle und schlüpfte hindurch auf das Feld. Mit seinem Armeetaschenmesser schnitt er einen der jungen, etwa tennisballgroßen Pilze, in zwei Teile, ohne das Gewächs zu berühren. Sofort kam ihm wieder der scharfe Geruch in die Nase, den er schon die vorletzte Nacht gerochen hatte. Er sprang zurück aber nichts geschah. Die beiden Hälften des Pilzes neigten sich zum Boden und Peter sah die Schnittfläche. Sie war hellblau und glänzte feucht. Wäre sie trocken, würden höchstwahrscheinlich die dann hellblauen Sporen in alle Windrichtungen verteilt worden sein und Peters letzte Stunde hätte geschlagen. Er ging über das Feld und schaute nach weiteren unreifen Pilzen der neuen Generation. Glücklicherweise waren es nicht sehr viele. Er kappte alle an der Wurzel, ließ sie ungeöffnet liegen und dachte daran, daß das in dem Boden verbleibende Myzel - dem Wurzelgeflecht der Pilze - neue Fruchtkörper hervorbringen könnte und seine Arbeit aussichtslos sein könnte. Die hellblauen Schnittflächen des aufgeschnittenen Pilzes verfärbten sich mit der Zeit in ein sattes Gelb, um dann in ein Gelbrot über zu gehen. Die Masse wurde flüssig und lief aus den Schalen auf den Erdboden, wo sie versickerte. Lisa meinte, daß die Masse in kurzer Zeit an der Luft oxydiere und damit unschädlich werden würde, was auch den Umstand erkläre, daß sie nicht erkrankten oder getötet würden.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 19 von 76
Das alles erklärte aber nicht die Tatsache, warum überhaupt Menschen von den Sporen getötet wurden. Normalerweise konnte man die Sporen solcher Pilze in Peters Heimat einatmen, ohne daß man krank wurde. Es mußten hier durch Einbringen von Bakterien oder Viren in die Pilzsporen besondere Verhältnisse geschaffen worden sein, um dieses Krankheitsbild auszulösen. Peter dachte über eine Art bakteriologischer Kriegführung nach. Lisa meinte, von diesem Krankheitsbild schon mal in medizinischen Fachzeitschriften gelesen zu haben. Der Bericht handelte von dem Ebola-Virus, einer Krankheit in einigen afrikanischen Ländern, die sämtliche Zellwände im ganzen Körper zerstöre und alle Blutgefäße auflöse. Nur passiere das nicht über Nacht, wie hier, sondern zöge sich über Wochen hinweg. Das Endstadium sähe aber genau so aus wie dort unten in Santa Clara. Das Plateau endete nach Süden, in Richtung Santa Clara, in einem circa dreißig Meter tiefen Steilhang, den sie nicht herab zu klettern vermochten. Sie hatten das auch nicht vor, da sie den Ort möglichst nicht mehr betreten wollten. Die Angst, entdeckt zu werden, war zu groß. Am Fuße des Steilhanges ging der Waldboden, wesentlich sanfter abfallend, in einen mit hochstämmigen Bäumen bestandenen Hang über, der fast bis zu den ersten Häusern reichte. Da es hier nichts weiter zu erkunden gab, stiegen sie wieder auf den Kamm des Hügels und schauten sich um. „Was meinst Du Lisa, sollten wir von hier aus zum Fluß herunter gehen, um dort etwas zu finden? Ich sage das auch nicht ganz uneigennützig, denn ich brauche dringend ein Bad und eine Erfrischung täte Dir auch ganz gut.“ Lisa nickte müde. „Dann können wir uns auch etwas ausruhen. Das Klettern hat mich ziemlich fertig gemacht.“ Sie gingen hügelabwärts nach Westen. Das Unterholz war an dieser Seite des Hügels noch dichter und selbst das Herunterlaufen war beschwerlich. Nach einer Stunde und mehreren kurzen Pausen hörten sie den Fluß schon deutlich rauschen und konnten zwischen den hohen Baumstämmen auch ein Teilstück des Wasserlaufes überblicken. Sie hatten kein Glück. An dieser Stelle gab es nur ein etwa drei Meter hohes, unterspültes Steilufer und das Wasser war schon am Rand mehrere Meter tief und floß ziemlich schnell. Das Ufer auf der anderen Seite des hier etwa vierzig Meter breiten Flusses war flach. Dort hätten sie bequem baden können, wenn sie hinüber gekommen wären. Sie gingen flußaufwärts. In der entgegengesetzten Richtung wären sie zwar auch an flache Uferstellen gekommen, aber auch an den Anlegesteg und das Goldsuchercamp. Lisa schüttelte sich. Sie dachte an die Vorfälle von gestern. Nach etwa dreihundert Metern Fußmarsch direkt am Ufer entlang erreichten sie eine Uferregion, die genau ihren Vorstellungen entsprach. An dieser Stelle war das sandige Steilufer auf einer Fläche von etwa dreißig Metern Länge herunter gespült worden und hatte eine etwa zehn Meter breite Bucht gebildet, die nicht sehr tief war. Der Fluß selbst war an dieser Stelle etwa fünfzig Meter breit und floß im eigentlichen Flußbett auch recht schnell, aber in der Bucht stand das Wasser fast still. Die Wasseroberfläche war hier spiegelglatt und der orangefarbene Sandboden schien hell leuchtend durch das kristallklare Wasser. Herrlich. Sie entkleideten sich, ohne einander anzusehen und sprangen in das wundervoll erfrischend kühle Wasser. Jeder schwamm für sich ein paar Bahnen auf und ab
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 20 von 76
in der Bucht. Nach einer halben Stunde hatten sie genug Kühle getankt und schauten einander an. Lisa trug auch nur einen Slip, wie er. Sie kamen in dem knietiefen Wasser langsam auf einander zu gelaufen. Lisa sah wunderschön aus in ihrer zart gebräunten, vom Wasser schimmernden Haut. Ihre kleinen, festen Brüste waren etwas heller, fast perlmuttfarben. Sie standen einander direkt gegenüber und sahen sich an. Peter nahm Lisa zart in die Arme und hielt sie lange fest. Sie küßten sich. Am Ufer legten sie sich in den roten Sand und ließen sich von der Sonne und vom Wind trocknen und vergaßen für kurze Zeit alles Übel und alle Strapazen. Später liebten sie sich und hielten sich danach noch lange in den Armen. „Du Peter, ich glaube, wir sollten jetzt zurück zum Wagen gehen. Der Tag geht bald zu Ende.“ „Ja?“ Peter war kurz eingeschlafen. „Ja, Du hast recht, gehen wir.“ Sie kleideten sich still an. Beiden kam es vor, als hätten sie etwas Verbotenes getan, weil sie ja eigentlich Lisas Bruder finden wollten und noch immer nicht das Geringste erreicht hatten. Der Weg nach oben war wesentlich besser als sie befürchteten, denn nach kurzer Zeit erreichten sie einen ausgebauten, aber schon lange nicht mehr benutzten Pfad, den irgendwann einmal Kautschuk-Zapfer angelegt hatten. Er war mit Brettern im Abstand von etwa einem halben Meter ausgelegt - es sah fast aus wie Bahnschwellen. Man sah rechts und links des Pfades die schräg eingeritzten Kerbenreihen an den Stämmen der Kautschukbäume, die dort zum Austreten des Kautschuksaftes geschnitten wurden - aber schon fast wieder unter vernarbter Baumrinde verschwunden waren. Beidseitig des Weges, hinter den Gummibäumen, lagen jetzt wieder viele umgestürzte Stämme von Baumriesen. Peter meinte, daß sie bald wieder an die Stelle kommen müßten, wo sie den Wagen abstellt hatten. Sie hörten es fast gleichzeitig. Ein Stöhnen, weiter hinten zwischen den übereinanderliegenden Stämmen, drang an ihre Ohren. Peter nahm die Pistole aus der Hosentasche und kletterte über ein paar kleinere Baumstämme in die Richtung, von der er die Laute vermutete. Hinter einem meterdicken, liegenden Stamm sah er eine Hand winken, die dann kraftlos auf den Baumstamm heruntersank und dahinter verschwand. Peter griff seine Pistole fester und ging langsam auf den Baum zu. Hinter dem Baumstamm bemerkte er eine Gestalt, ein Mann, etwas älter als Peter selbst, an den Baumstamm gelehnt. Er war unbewaffnet, wie Peter sofort feststellte und wohl auch nicht mehr fähig, ihm etwas anzutun. Halb sitzend, und Peter ängstlich anblickend, umfaßte er mit der anderen Hand seinen Leib und stöhnte wieder etwas. Seine Kleidung, eine dunkle Hose und ein ehemals weißes Oberhemd, war jetzt stark verschmutzt. Der Arm, mit dem er vorher über den Baumstamm gewinkt hatte, hing jetzt kraftlos an seiner Schulter herab und die Hand lag auf seinem Oberschenkel. Unter dem anderen Unterarm, den er vor seinen Leib hielt, floß langsam dunkelrotes Blut hervor, welches sich mit dem Schmutz auf dem Hemd und der Hose vermischte. Er war augenscheinlich schwer verletzt. Peter winkte zu Lisa, sie möge kommen und ihm helfen. Lisa kam zögernd heran. Sie kniete neben dem Fremden nieder, nahm den Unterarm von seinem Körper etwas fort und untersuchte die Wunde. Der Mann hatte eine Schußwunde im Leib, etwas unterhalb des Bauchnabels. Er stöhnte jetzt etwas stärker. In
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 21 von 76
einer Sprache, die weder Lisa noch Peter verstanden, kamen ein paar Worte gepreßt über seine Lippen. Lisa sprach ihn in englisch an, er möge doch nach Möglichkeit diese Sprache benutzen, sofern er sie spräche. Der Fremde berichtete stöhnend, er wäre ein dänischer Biologe und vor einem Gangstersyndikat geflohen, dessen Suchtrupp ihn in der vergangenen Nacht verfolgt und angeschossen habe. Sie hatten ihn aber nicht aufgespürt und dann ihre Suche abgebrochen. Lisa erklärte dem Mann, daß sie ihm hier nicht helfen könne aber sie hätten einen Wagen ganz in der Nähe zu stehen, wo sie Verbandszeug und Medikamente zur Verfügung hätte um ihm zu helfen. Der Jeep stand glücklicherweise nur etwa zweihundert Meter entfernt im Dschungel und so trugen sie ihn zu zweit die kurze Strecke dort hin. Ein paarmal mußten sie den Mann doch noch ablegen, wobei er jedes Mal stark aufstöhnte. Er war zum Glück nicht allzu schwer, da er klein und schlank war, aber der Weg bergan wurde doch ziemlich beschwerlich. Am Jeep angekommen baute Peter das Zelt, welches er aus Santa Clara mitgenommen hatte, neben dem Wagen auf, während Lisa den Mann untersuchte und seine Bauchwunde mit dem Wasser aus dem Kanister von dem gröbsten Schmutz befreite. Die Kugel mußte noch im Leib sein, da keine Austrittswunde zu sehen war. Sie desinfizierte die Wunde mit Wundbenzin und sah, daß sich diese schon stark entzündet hatte. Der Mann schrie auf vor Schmerz, als das Benzin mit der Wunde in Berührung kam. Lisa verband die Wunde und gab ihm eine Spritze mit Morphin, worauf er bald ruhiger wurde und einschlief. Inzwischen hatte Peter das Zelt vollständig aufgebaut. Es hatte einen Gummiboden und war so sicher gegen Feuchtigkeit von unten. Peter legte eine Decke aus dem Jeep hinein und Lisa half ihm, den Mann ins Zelt zu tragen. Durch das Morphin merkte er nichts davon. Mit der zweiten Decke deckten sie ihn zu und sahen sich an. „Was hältst Du davon, kommt der Mann durch?“ fragte Peter. Lisa schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Der Mann hat einen Bauchsteckschuß und schon zuviel Blut verloren. Außerdem ist die Wunde schon stark entzündet. Mit meinen Mitteln kann ich nichts mehr für ihn tun, außer ihm noch mehr Morphin zu verabreichen. Hier, so weit weg von jeglicher Zivilisation, gibt es keinen Arzt und wenn wir versuchen würden, ihn in die nächste größere Ortschaft zu bringen, könnten wir selbst entdeckt und verfolgt werden.“ Peter nickte. Eine ähnliche Vermutung hatte er selbst gehabt. Der heutige Tag ging langsam seinem Ende entgegen. Sie aßen etwas, hatten beide aber nicht sehr viel Appetit und hingen ihren Gedanken nach. Ein paarmal kamen Geräusche aus dem Zelt. Peter hatte aber, solange noch Tageslicht war, den Eingang des Zeltes zurückgeschlagen um den Verwundeten vom Wagen aus zu beobachten und zu helfen, wenn dies nötig würde. Die Nacht brach schon bald herein als plötzlich Geräusche aus dem Zelt drangen. „Hallo, ist dort noch jemand. Mir ist kalt!“ Der Verwundete machte sich bemerkbar. Peter sprang auf und griff die Taschenlampe. Er schaute ins Zelt und schaltete die Lampe ein. Der Mann lag immer noch auf dem Rücken, war aber bei klarem Verstand.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 22 von 76
Peter fragte ihn ob er irgendwas brauche. „Ich habe furchtbaren Durst, Mister. Geben Sie mir bitte etwas zu trinken?“ Peter schaute fragend zurück zu Lisa, die hinter ihm stand. Sie nickte und Peter gab dem Mann etwas Wasser, welches der in gierigen Schlucken trank, um gleich darauf vor Schmerz zu stöhnen. Peter nahm ihm den Becher ab und erklärte er bekäme etwas später noch mehr Wasser. Der Mann lächelte dankbar und begann zu berichten. Er war, wie gesagt, Biologe und wurde, wie viele seiner Kollegen aus aller Welt von einer gewissen Firma ‘Genutrex’ angeworben um aus Pflanzen und Tieren des Regenwaldes neue Nahrungsmittel und Medikamente zu entwickeln, die den Hunger und die Krankheiten dieser Welt auf lange Zeit überwinden sollten. Sie waren allesamt Molekularbiologen, etwa hundert Personen, und die meisten hatten schon jahrelang mit Genforschung ihre Erfahrungen gesammelt, beziehungsweise dozierten in diesem Fach. Sie bekamen Labore in verschiedenen, von einander getrennten Abteilungen, von der Gesellschaft zugewiesen. Er selbst hatte ein Labor auf Ebene zwei. Die gesamte Anlage, wo sie alle seit fast einem Jahr wie kaserniert lebten, befand sich ganz in der Nähe, nur ein paar Kilometer nördlich von hier am Fluß. Jeder von ihnen arbeitete für sich auf seinem speziellen Gebiet und bekam Vorgaben von einem Gruppenleiter, die er dann in einer angemessenen Zeit auszuführen hatte. Da die vereinbarte Bezahlung, die sie alle für zwei Jahre Forschungsarbeit erhalten sollten, schon vorab gezahlt wurde und so hoch war, daß sie dann fast alle ausgesorgt hätten, sagte niemand nein, auch wenn einigen Mitarbeitern die Anordnungen, die sie von Zeit zu Zeit erhielten, manchmal sehr seltsam vorkamen. Es lief auf dem Gelände auch außergewöhnlich viel bewaffnetes Wachpersonal herum und einige Abschnitte durfte niemand von ihnen betreten, diese waren nur den Gruppenleitern vorbehalten. Vor ein paar Wochen belauschte er ein Gespräch zwischen zwei Gruppenleitern, welche ihn nicht bemerkten, so daß er ihre ganze Unterhaltung mithören konnte. Er bekam mit, daß die ganze Forschung, die sie hier betrieben, nur dem einzigen Zweck diente, neue biologische Waffen zu entwickeln, welche eine Gruppe Profitgangster aus dem nahen oder mittleren Osten auf dem internationalen Markt an arme Staaten der Dritten Welt mit Milliardengewinn zu verkaufen gedachte. Die beiden Gruppenleiter wollten sich absetzen, weil sie meinten, daß alle die hier mitgemacht hatten, beseitigt werden sollten, um alle Spuren zu tilgen, wenn die Produktion beendet war und die ‘Ware’ verkauft sei. In diesem Augenblick reifte auch bei dem Dänen der Gedanke an Flucht. In einer Nacht vor vier Tagen war es dann soweit. Er berichtete, er hätte sich ein großes Holzstück am Ufer zurecht gelegt und wäre in dieser Nacht damit in den Fluß gesprungen und hätte sich bis hierher treiben lassen. Seine Flucht wurde aber schnell bemerkt und der Suchtrupp wäre ihm in Booten gefolgt und hätte ihn hier eingeholt. Er konnte noch ans Ufer flüchten, wurde aber, als er sich nach den Verfolgern umblickte, angeschossen. Bis zu dem Baumdickicht konnte er noch laufen, bevor ihn die Kräfte verließen. Der Suchtrupp hätte bald darauf in der Dunkelheit seine Suche abgebrochen.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 23 von 76
Lisa unterbrach ihn nur einmal und fragte ihn, ob er einen amerikanischen Journalisten in den letzten Wochen auf dem Gelände bemerkt hätte. Der Biologe verneinte. Er sagte aber auch, daß er die ganze Zeit seines Aufenthaltes auf dem Gelände eigentlich nur den kürzesten Weg zwischen seinem Labor und seiner Schlafstätte benutzen durfte und durch die Wachen davon abgehalten wurde, andere Wege zu benutzen. Dem Dänen ging es wieder schlechter. Er stöhnte schwer und rang nach Atem. „Nehmen Sie sich vor den ‘Mollusken’ in acht! Ich habe sie zwar nie gesehen, aber ein Kollege verschwand vor ein paar Wochen spurlos und ein Gruppenleiter sagte, hämisch lachend, er sei von denen gefressen worden“ flüsterte er noch mit schwacher Stimme. Lisa und Peter verstanden nicht, was er damit meinte. Sie gab ihm noch eine Dosis Morphin und er schlief wieder ein. Auch in dem Jeep wurde es still. Der Schlaf forderte seinen Tribut. Zuviel war an diesem Tag auf die beiden eingestürmt. Der nächste Morgen war wieder neblig. Während Lisa noch schlief schaute Peter in das Zelt. Der Däne war tot. Er mußte schon vor einer ganzen Weile, während der Nacht, gestorben sein, da sich seine Haut eiskalt anfühlte. Peter wickelte ihn in eine von den Decken und trug ihn zu dem Wurzelkranz eines der umgestürzten Bäume. In dem Loch, das durch den herausgerissenen Wurzelstock entstanden war, entdeckte er an dessen unterster Stelle einen Felsspalt, der dort noch etwa drei Meter in die Tiefe ging. In diesen Spalt ließ er den Leichnam gleiten. Hierher würde auch kein Tier mehr folgen und der Tote hatte seine letzte Ruhestätte. Lisa war inzwischen auch erwacht und sah ihm von weitem zu. „Ist er in der Nacht gestorben?“ „Ja, Lisa, er war schon ganz kalt!“ Peter nahm die Papiere des Dänen, die er beiseite gelegt hatte, bevor er ihn zu dem Felsspalt brachte. Er hieß Sven Gustafsson und war gerade achtunddreißig Jahre alt geworden. Peter versteckte die Papiere im Jeep und baute dann das Zelt ab. Er betrachtete die zweite Wolldecke. Sollte er sie auch zu dem Toten unter dem Baum legen? Nein, Peters Sinn fürs Praktische siegte und so legte er sie zusammen und verstaute alles im Jeep. Die leeren Konservendosen vergrub er in der weichen Erde. Sie fuhren langsam zur Straße zurück. Peter mußte sehr vorsichtig fahren, da der Wagen auf dem nassen Blattwerk sehr leicht ins Rutschen kam. Kurz vor der Straße stieg er aus und betrachtete die sandige Piste. Sie war jetzt, am frühen Morgen, stark aufgeweicht aber doch so fest, daß er sie mit dem Jeep befahren konnte. Frische Reifenspuren konnte er nicht ausmachen. Diese hier waren offensichtlich schon mehrere Tage alt. Peter fuhr weiter in Richtung Norden. Es ging immer noch leicht bergauf. Der Regenwald bestand hier aus sehr hohen, schlanken Bäumen, an deren Stämmen viele Kletterpflanzen empor wuchsen. Die Baumstämme waren dadurch oft unter der Blättermasse verborgen. Es sah so aus, als ob mancher Baum nur durch diese Lianenbündel am Umstürzen gehindert würde und der Stamm, in dem Gewirr, völlig verfault, schon nicht mehr vorhanden war. Zwischen den Bäumen befand sich fast keine Vegetation. Es blieb hier sehr schattig.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 24 von 76
Auf der linken Seite der Straße war der Boden felsig. Wo Sand und Laub durch den Regen fortgespült wurden, trat der nackte Fels hervor. Schwarze, abgerundete Felsbrocken von mehreren Metern Durchmesser. Die Piste schlängelte sich hier in vielen Kurven durch den Wald und in einigen, niedriger liegenden Straßenabschnitten stand noch Regenwasser auf der Fahrbahn. Es war glücklicherweise nicht sehr tief und Peter brachte den Jeep gut hindurch, ohne stecken zu bleiben. Der Fluß, welcher links von ihnen parallel zur Straße verlief, war hier anscheinend weiter entfernt und er dachte manches Mal, er hätte ihn verloren. Die Karte besagte aber, daß der Fluß bei Luepa bis an die Straße kam und er ihn unmittelbar darauf überqueren würde. Soweit wollten sie aber heute nicht fahren, denn die ‘Fabrik’ lag noch weit davor. Hinter einer der zahllosen Kurven sahen sie - fast zu spät - auf der linken Seite eine Straßenabzweigung, die sich im Dschungel verlor. Sie war sehr breit und von Reifenspuren durchzogen, die von Lastwagen stammten. Peter hielt an. Er schaute auf den Kilometerstand. Sie waren seit heute morgen etwa zehn Kilometer gefahren. „Was denkst Du, sollen wir die Straße dort links nehmen?“ Lisa schaute ihn zweifelnd an. „Ich meine, wir sollten den Wagen etwas weiter zurück im Wald verstecken und den Weg zu Fuß erkunden. Mit dem Wagen könnten wir zu leicht entdeckt werden.“ Peter fuhr etwa dreihundert Meter zurück und bog an einer Stelle in den Wald ab, wo er meinte, einigermaßen hinein, und später auch wieder heraus zu kommen. Viele große Felsbrocken waren hier zur Hälfte im Waldboden versunken. Das Erdreich war fester als auf der Straße, welches dort von den Fahrzeugen aufgewühlt worden war. Er fuhr zwischen meterhohen Felsen hindurch und stellte den Jeep auf einem kleinen flachen Waldstück ab, welches fast ohne Pflanzenbewuchs war. Als sie ausstiegen, bemerkten sie zwischen den aufgetürmten Felsbrocken eine kleine Höhle von etwa zwei mal drei Metern. Sie war zu klein, darin zu schlafen - aber ein Feuer konnte man dort entfachen, ohne von der Straße oder aus einer anderen Richtung gesehen zu werden. Peter baute das Zelt auf. Hier würden sie wohl ein paar Tage verbringen müssen. Er schnitt ein paar größere Zweige ab, um die Einfahrt und die Rückseite des Jeeps damit zu tarnen. Er mußte dazu eins der größeren Messer aus dem Hotel als Machete benutzen, was auch leidlich vonstatten ging. Sein Armeemesser war dafür viel zu klein. Danach kochten sie Kaffee und erwärmten eine Büchse mit Rindfleisch auf dem kleinen Feuer, das er in der Höhle entfacht hatte. Das gesammelte Holz war noch feucht und das Feuer qualmte leicht, aber sie hofften, daß es niemand bemerkte. Endlich, nach Tagen, das erste warme Essen. Es schmeckte herrlich obwohl es so einfach war und sie merkten erst jetzt, wie hungrig sie waren. Langsam kehrten die Lebensgeister wieder zurück. Sie fühlten sich jetzt wesentlich besser und besprachen, welche Schritte sie als Nächstes unternehmen wollten und kamen überein, zunächst zur Abzweigung zu gehen, diese zu erkunden und danach zum Fluß hinunter zu gehen und dann zu sehen, wie sie weiterhin vorgehen könnten. Kapitel 5
Die Suche
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 25 von 76
Sie gingen in nördlicher Richtung durch den Wald und kamen auch alsbald an die Abzweigung. Das Gebüsch ausnutzend, gingen sie neben der Straße, in Richtung Nordwest, diese entlang und kamen nach etwa vierhundert Metern in die Nähe einer Schranke, die sich quer über die Straße erstreckte. Neben der Schranke war ein Holzhäuschen aufgestellt, vor dem ein bewaffneter Posten stand. Mehrere Meter vor der Schranke befand sich eine Art Torbogen quer über der Straße mit der Aufschrift: „GENUTREX S.A. - private property - no trespassing“ Hier kamen sie nicht weiter. Rechts und links des Torbogens führte ein stabiler Zaun zu beiden Seiten in den Wald. Sie schauten sich noch vorsichtig in der Gegend um, konnten aber nichts entdecken, was ihnen weiter half und gingen dann wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück Peter sah auf seine Armbanduhr. Es war fast zwölf Uhr mittags. Die Sonne stand fast am Zenit. Da sie sich hier nördlich des Äquators, etwa auf dem fünften Breitengrad, befanden, schien die Sonne etwas aus südlicher Richtung. Der Fluß lag in westlicher Richtung und dorthin machten sie sich auf den Weg. Es ging etwa eine Stunde Fußmarsch bergab, wobei sie Schwierigkeiten hatten, ein paar treppenähnliche Hänge herunter zu gelangen und einen Bach von etwa drei Meter Breite, der Hochwasser führte, zu überqueren. Ein über dem Bach liegender Baum, sehr naß und glitschig, erleichterte das Vorhaben etwas. Jetzt konnte man den Fluß schon hören und Peter ging etwas schneller voran. Als er einmal von einem kleinen Felsbrocken auf den Waldboden sprang, gab dieser nach und Peters rechter Fuß versank im Erdreich und der Knöchel steckte fest. Er schlug lang hin. Zum Glück nur auf den Boden und nicht auf irgendwelche Steine. Lisa schrie leicht auf. Peter blieb liegen. War irgend etwas gebrochen? Nein. Er konnte den Fuß, der jetzt wieder freikam, ohne Schmerzen bewegen. Er sah hoch und wollte sich gerade wieder aufrichten, als er vor sich, in ein paar Metern Entfernung, etwas glitzern sah, was nicht hierher gehörte. „Lisa! Halt! Geh’ nicht weiter!“ Sie blieb stehen. Peter stand vollends wieder auf, prüfte noch einmal seinen Fuß und stellte fest, nichts war gebrochen. Er ging vorsichtig auf den glänzenden Gegenstand zu. Es war ein dünner Draht in einem Meter Höhe gespannt, der an den Baumstämmen durch Ösen gehalten wurde und in beiden Richtungen nach links und rechts im Wald verschwand. Peter folgte dem Draht auf der rechten Seite. Soweit er den Wald überblicken konnte spannte sich der Draht von einem Baumstamm zum nächsten und verschwand irgendwo im Dschungel. Er ging zurück. Lisa fragte, was der Draht bedeutete. „Das ist ein Signaldraht. Wenn Du den berührst, wird irgendwo ein Signal ausgelöst und was dann passiert - die werden uns ebenfalls suchen, wie den Dänen. Für Tiere kann der Draht nicht sein - dazu ist er zu hoch angebracht. Der ist ausschließlich für Menschen errichtet worden.“ Sie krochen unter dem Draht hindurch und Peter ging voran, aufpassend, ob sich nicht noch ein weiterer Draht oder etwas ähnliches auf dem Gelände befand. Er fand aber nichts weiter und so kamen sie langsam zum Fluß herunter. Sie setzten sich, etwas oberhalb des Flußlaufes, auf den Waldboden, geschützt durch
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 26 von 76
einige Büsche und sahen sich um. Das Wasser floß hier so langsam, daß es so aussah, als wäre es ein stehendes Gewässer und Peter bemerkte, daß sie hier überhaupt nicht an dem eigentlichen Fluß saßen, sondern an einem Altarm desselben. Der Hauptfluß selbst floß in etwa zweihundert Metern Entfernung an ihnen vorüber. Man hörte es an dem stärkeren Rauschen und einen Teil des fließenden Gewässers konnte man durch die Bäume auch erkennen. Sie gingen an dem Altarm, die Deckung ausnutzend, etwa hundert Meter in nördliche Richtung und hatten so einen besseren Überblick. Der Altarm war etwa dreihundert Meter lang und fast vierzig Meter breit. Der Anfang und das Ende waren mit einem schweren Stahlgitter vom Hauptarm getrennt und der Altarm selbst war mit einem niedrigen Zaun umgeben, der aber an einigen Stellen umgerissen im Wasser lag. An der nördlichen Seite des Altarmes führte eine niedrige, recht breite Brücke auf die entstandene Insel zwischen Altarm und Hauptlauf des Flusses. Sie betrachteten noch den Flußlauf, als ein junger Tapir - eine Art Wasserschwein - aus dem Wald kam und vorsichtig zu dem Altarm herunter lief. Es war das erste größere Tier, was beide hier in dieser Gegend sahen. Bis jetzt hatte Peter nur ein paar Vögel gesehen und manchmal in den Bäumen ein Gekreische gehört, welches von Zwergaffen stammen konnte, aber er hatte hier sonst noch keine größeren Tiere wahrgenommen. Weder Raubkatzen in den Bäumen noch Kaimane oder größere Fische im Fluß. Der Tapir witterte am Flußufer und ging dann einige Schritte ins Wasser, um zu trinken. Er war noch nicht lange im Wasser, als Peter und Lisa wie gebannt auf die Stelle starrten, wo der Tapir stand. Ein dunkler Schatten, mehrere Meter lang, näherte sich dem Tier und ein Gebilde, was aussah, wie ein nasser, dunkelbrauner Sack, stülpte sich über den Tapir und riß diesen in die Tiefe. Das alles geschah völlig lautlos. Der Schatten glitt wieder zurück in die Mitte des Altarmes. Sie gingen beide weiter hinunter zu dem Gewässer und sahen es schaudernd. Unten, auf dem Grund des Altarmes, in vier, fünf Meter Tiefe lagen viele dieser ‘Schatten’. Solch scheußliche Kreaturen hatte keiner von ihnen je zuvor gesehen. Sie zählten etwa zwanzig dieser abnormen Gebilde. Alle waren etwa gleich groß - ungefähr fünf Meter lang und an der ‘Kopfseite’ etwa einen Meter breit und die Körper liefen zur Hinterseite spitz zu. Diese selbst waren flach - etwa fünfzig Zentimeter dick. Es sah aus, als ob dort unten auf dem Flußgrund riesige, lebende Krakenarme ohne Saugnäpfe lägen, mit einer Art riesigem, weichen Maul an der Vorderseite und mit Augen, welche, die Iris schlitzförmig und horizontal, umherblickend, ebenfalls aus der Oberseite des Kopfes heraus wuchsen. Die Haut war dunkelbraun, gallertartig und faltig. Das Ungeheuer, welches den Tapir verschlungen hatte, lag jetzt in der Mitte des Flusses und wand sich krampfartig. Die Wölbung in der Mitte seines Leibes wurde durch die Konvulsion seiner Muskeln langsam zerdrückt. Peter ging etwas weiter ans Ufer, fast bis zu dem Zaun und ein anderes dieser Wesen kam langsam, fast gemächlich, auf ihn zugeschwommen. Peter trat wieder etwas zurück und die Kreatur blieb ausharrend, an der Stelle stehen. Sie schlängelte auf und ab, um sich in dem langsam fließenden Gewässer zu halten und beobachtete ihn. Peter machte mit der Minox einige Aufnahmen von der Umgebung und den Kreaturen, wobei er nicht sicher war, ob diese durch die Wasserspiegelung überhaupt auf dem Film abgelichtet wurden. Ein
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 27 von 76
Polarisationsfilter hatte er heute nicht dabei. Von hier aus konnte er den Altarm ganz überblicken und bemerkte erst jetzt den ‘Müllwagen’, den er schon in Santa Clara gesehen hatte, am Ende der Brücke zwischen einigen Bäumen. Ein Mann mit weiß-blauem Overall, diesmal ohne Helm, wusch den Wagen mit einem Wasserschlauch aus. Der Wagen war leer und im gleichen Augenblick wurde ihm klar. wo die Opfer geblieben waren, die man in dem Fahrzeug eingesammelt hatte. Man hatte sie an diese schwammigen Monstren verfüttert. Ihm wurde übel. Er hatte genug gesehen und wollte zurück zu Lisa. Diese erwartete ihn schon. Sie selbst wollte das eklige Gewürm nicht sehen und hatte sich etwas höher in den Wald zurück gezogen. Er kletterte die Uferböschung hinauf, als er plötzlich auf dem lehmig, glitschigen Erdboden abrutschte und mehrere Meter zurück glitt, bis seine rechte Hand eine aus dem Boden herausragende Baumwurzel zu fassen bekam. Sein linker Fuß war angewinkelt, aber sein rechter lag bis zur Wade im Wasser. Lisa schrie leise auf. Das Untier kam augenblicklich auf ihn zugeglitten und saugte sich mit seinem wabbeligen Schlund an seinem rechten Stiefel fest und wollte ihn ins Wasser ziehen. Inzwischen hatte er auch seine andere Hand an der Wurzel und hielt sich krampfhaft fest. Das Vieh zog wie besessen an seinem Fuß und wand sich hinter ihm im Wasser um einen Widerhalt zu finden. Peter trat immer wieder mit aller Kraft seines linken Fußes auf das weiche Maul. Endlich ließ die Kreatur los und Peter kam frei. Er hechtete nach vorn und begann, diesmal vorsichtiger, den Hang hinauf zu steigen. Lisa sank ihm in die Arme. Sie hatte Tränen in den Augen. Er untersuchte seinen Fuß. Es war natürlich wieder der rechte und heute schon das zweite Mal. Das erste Mal hätte er ihn fast gebrochen und beim zweiten Mal wäre er ihm fast ausgerissen worden. Der Fuß war in Ordnung aber der Stiefel hatte tiefe Kratzspuren von dem Ungeheuer abbekommen. Wahrscheinlich hatte es in dem weichen Maul auch eine Art Zähne, welche die Spuren verursacht hatten. Peter berichtete, was er sonst noch gesehen hatte und daß sie hier auch nicht mit der Suche nach Lisas Bruder weiter kämen. Das mit dem Müllwagen ließ er aus. Peters Gedanken waren noch bei den merkwürdigen Lebewesen, von denen eines beinahe sein Verhängnis geworden wäre. Woher kamen sie und was waren sie überhaupt? Waren sie Kraken oder eine Art von Riesenschnecken? Er wußte nicht, ob es überhaupt Süßwasserkraken gab. Aber was waren sie dann? Im selben Augenblick erinnerte er sich an seine Schulzeit. Es war das Fach Biologie. Sie hatten im städtischen Zoo einen Vortrag über Weichtiere angehört. Diese Tiere nennt man auch Mollusken. Das war das Wort, welches sie von dem sterbenden Dänen gehört hatten. Ihm fiel ein, daß unter dieser Tiergattung Muscheln, Schnecken und auch Tintenfische zusammengefaßt wurden. Diese Riesenviecher hier mußten eine Mischung von allen Weichtieren sein und das in riesenhafter Ausgabe. Er sprach mit Lisa darüber, worauf auch sie sich wieder erinnerte, schon mal darüber etwas gehört zu haben. Sie hatte es aber im Laufe der Jahre, genau wie er, vergessen. Sie stiegen den Hang wieder hinauf und kamen nur sehr langsam vorwärts, da sie auf den Signaldraht achten mußten, aber nicht mehr genau wußten wo er gespannt war. Die
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 28 von 76
Sonne stand jetzt schon tief, so daß sie sich nicht mehr darauf verlassen konnten, den Draht an der Sonnenreflektion frühzeitig zu erkennen. Lisa ging jetzt voran und wäre auch beinahe hineingelaufen. Sie sah ihn erst aus einem halben Meter Entfernung vor sich, blieb stehen und warnte Peter, der seitlich hinter ihr war. Sie hielt ihn am Arm zurück, denn er hatte ihren leisen Ruf nicht gehört. Sie krochen darunter hindurch und horchten auf das Rauschen des Baches. Dieser mußte halb rechts vor ihnen liegen. Sie erreichten den Bach, aber nicht an der Stelle, wo der Baumstamm darüber lag. Weder in der Richtung bachabwärts noch bachaufwärts war der Stamm zu sehen. Sie trennten sich an der Stelle und wollten jeder zehn Minuten in der entgegengesetzten Richtung am Bach entlang laufen und dann umkehren. Peter lief bachabwärts und hatte nach zehn Minuten nicht das Geringste eines Baumes über dem Bach entdeckt. Er kehrte um. Lisa erwartete ihn schon. Sie hatte die Behelfsbrücke gefunden - etwa hundertfünfzig Meter in ihrer Richtung. Rittlings auf dem Stamm sitzend, kamen sie langsam, darauf achtend nicht abzurutschen, über den Bach. Danach ging es eine Weile nur leicht bergan. Sie kamen zu den stufenartigen Hängen, deren Erklimmung jetzt wesentlich mehr Mühe bereitete, als der Abstieg vor Stunden. Der weitere Weg war wesentlich leichter zu begehen und bald darauf kamen sie auch zu der Felsengruppe wo ihr Fahrzeug stand. Sie wären fast an der Einfahrt vorbei gelaufen. Die Felsen sahen von dieser Seite alle gleich aus und die Einfahrt war wirklich gut getarnt. Vorsichtig schauten sie sich um. Es stand alles noch so da, wie sie es verlassen hatten. Peter fachte das Feuer wieder an. Sie aßen dann heiße Gemüsesuppe und tranken dampfenden Kaffee dazu. Daß sie hier ohne Gefahr Feuer machen konnten, erleichterte das Leben doch sehr. Es war schon dunkel, als sie mit der Malzeit fertig waren. Peter löschte das Feuer und brachte die Reste des Abendessens in die Höhle, wo er sie vergrub. Es war bestimmt nicht angenehm, in der Nacht von Geräuschen zu erwachen, die irgendwelches Getier veranstaltete, während es über die Essensreste herfiel. Im Zelt hatten sie nur noch die eine Wolldecke. Sie war zum Glück jedoch so groß, daß sie sich beide darin einwickeln, aneinander kauern und somit gegenseitig wärmen konnten. Die Kälte der Nacht drang doch recht stark durch den dünnen Gummiboden des Zeltes. Mitten in der Nacht wachte Peter auf. Er stand in der Nähe des Zeltes und schaute sich um. Der ganze Wald leuchtete in einem strahlenden Grün. Die Farbe erinnerte ihn an die Leuchtziffern eines Weckers oder an den grünen Bildschirm eines Nachtsichtgerätes. Das Ganze sah aus, wie ein grün eingefärbtes Schwarzweißfoto. Er lief leichtfüßig über den weichen Waldboden und seine Füße berührten kaum noch die Erde. Über ihm der Himmel, hell, in strahlendem Grün, die Baumkronen in einem sanften Olivton. Er wurde immer leichtfüßiger und übersprang nun das niedrige Buschwerk in großen Sätzen, bis seine Füße überhaupt nicht mehr den Erdboden spürten. Er schwebte zwischen den hohen Bäumen hindurch und konnte mit seinen ausgebreiteten Armen durch Verlagerung des Körpers oder durch seine Gedanken in die Richtung gleiten, in die er wollte. Unter sich sah er den Bach vorüberziehen, der zwischen hohen Felsufern eingezwängt, dahinrauschte, und dichte Gischtwolken bildete.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 29 von 76
Er stieg höher und erreichte jetzt die Baumwipfel. Durch diese schwebte er in sanften Kurven hinauf in den Himmel. Das wogende, olivgrüne Meer der Bäume konnte er jetzt von oben betrachten und kreiste darüber, wie ein großer Vogel, in weiten Schleifen. Unter ihm lag der Fluß. Er war an dieser Stelle fast gerade und der Altarm schmiegte sich an den Fluß an. Er sah aus, wie der Henkel an einer Kaffeetasse. Er schwebte über dem Altarm hin und her, immer dem Flußlauf folgend und seine Arme wurden schwerer und schwerer. Er konnte sie nicht mehr ausgestreckt halten und sie sanken nach unten und hingen kraftlos an seinem Körper. Er sank immer tiefer auf die Wasserfläche zu. Mit aller Kraft wollte er noch einmal seine Arme ausbreiten und durch Auf- und Abschlagen derselben an Höhe gewinnen; aber er war wie gelähmt. Sein Körper sank langsam, mit den Füßen voran, auf die unter ihm liegende schwarzgrüne Wasserfläche zu. Es gab kein Geräusch, als sein Körper in das Wasser eintauchte und es sich über ihm wieder schloß. Das Wasser war warm. Er sank langsam auf den weichen Boden und lag auf dem Rücken. Über sich sah er den hellgrünen Himmel und an den Seiten tanzten die olivfarbenen Bäume, durch das sich in Wellen bewegende Wasser, einen wilden Tanz. Er erinnerte ihn an die Tänze der Einwohner einiger Südseeinseln, die mit ihren Baströcken am Strand eines ihrer Feste feierten. Es wurde dunkler. Eine Art halbduchsichtiges braunes Tuch schob sich über ihn hinweg und sank sanft auf ihn herab. Es war nicht völlig dunkel, nur etwa so, als ob in einem hohen dunklen Raum nur eine einzige Kerze brannte, die ihr schwaches Licht nur unzureichend an die Umgebung abgeben konnte. Er konnte die Einzelheiten unter dem braunen Gewölbe mehr oder weniger gut erkennen. Seine Haut brannte wie von Brennesseln berührt oder wie von dieser Salbe, die man bei Sportverletzungen benutzt. Mühsam hob er seine Arme, die bis jetzt neben seinem Körper geruht hatten. Auf der Haut bildeten sich Blasen, die langsam größer wurden. Die lose Haut über den größeren Blasen bewegte sich in dem langsam fließenden Wasser, als ob unter ihr etwas Lebendiges wäre und platzte an einigen Stellen auf. Das Muskelfleisch darunter lag frei und löste sich in einzelne Fäden auf und schwamm langsam fort. Nach und nach platzten alle Blasen auf und immer mehr Fäden schwammen in großen Klumpen davon. An den Unterarmen und auf den Handrücken lagen jetzt schon die weißen Knochen frei. Einige Rippen standen schon frei über dem jetzt zusammengefallenen Oberkörper und Peter wunderte sich, daß ihm jetzt überhaupt nichts mehr weh tat. Die braune Dämmerung wich nun einem strahlenden Hellblau, als ob das Tuch über ihm fortgespült würde und er lag auch nicht mehr auf dem Grund des Flusses. Seine Hände fühlten rauhes Holz. Er wollte sich aufrichten, war aber zu schwach dazu. Er schaute aus den Augenwinkeln an sich herunter und bemerkte dabei, daß er mit einem, ehemals weißen, wadenlangen Hemd aus grobem Leinen bekleidet war. Er blickte in den blauen Himmel und eine gleißende Sonne schien auf ihn herab. Rechts und links neben seinen Schultern ragten zwei kantige Balken ein paar Meter in den Himmel. Oben, an den Enden, waren sie durch einen Querbalken miteinander verbunden, unter dem ein merkwürdiger Gegenstand in der Sonne glitzerte. Eine Gestalt tauchte an seiner rechten Seite auf. Ganz in einen blauweißen Overall gekleidet, trug sie auf dem Kopf eine weiße, oben spitz zulaufende Haube, den Kopf und die Schultern bedeckend. Nur die Augenlöcher waren ausgeschnitten. Nun wußte er auch, wo er war. Er lag unter einer Guillotine und konnte sich nicht einen fingerbreit bewegen. Das metallene Fallbeil schwebte über ihm.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 30 von 76
Mit einer tiefen, höhnischen Stimme fing der hell Gekleidete in einer Art Singsang an zu sprechen. „Heut’ ist der Tag, an dem Euer Urteil vollstreckt wird! Wißt Ihr , warum es unausweichlich so sein wird? Nein? Euer Urteil ist, als tote Seele weiter zu existieren - weil - Ihr wart zu neugierig und unbotmäßig! Eure Zeit ist schon dreizehnmal abgelaufen, aber Wir haben Euch bis jetzt eine Gnadenfrist gewährt! Die geht nun ihrem Ende zu! Euer zukünftiges Sein verbringt Ihr ab diesem Augenblick kopflos bis in alle Ewigkeit!“ Im Hintergrund sah Peter aus den Augenwinkeln Colonel Monzon stehen, der eine Hand hob. Peter wunderte sich noch darüber, denn er hatte ihn ja leblos in der Polizeistation liegen sehen. Der Mann mit der weißen Kapuze ergriff ein dickes Seil, welches an dem rechten Balken verknotet war. Er öffnete den Knoten und ließ das Seil los. Die breite Klinge kam auf ihn zu und fiel durch ihn hindurch. Sie bohrte sich unter ihm in den Holzboden und blieb dort stecken. Peter stand auf und faßte sich an den Hals. Alles schien in Ordnung. Er blickte sich um und sprang von dem Gerüst. Im Hintergrund erkannte er den weißblauen Müllwagen. Er rannte und rannte, eine schmale Gasse entlang, bis er ganz außer Atem kam. Rechts und links standen dicht an dicht kleine dunkelbraune, ungestrichene Holzhäuser, deren Fassaden mit querliegenden, wie Schindeln übereinander genagelten Brettern verkleidet waren. Sie glänzten in der Sonne. Ihm kam es so vor, als liefe er durch eine Kleinstadt des vorigen Jahrhunderts, die er sehr gut kannte. Er mußte schon oft in dieser Stadt gewesen sein, denn viele Einzelheiten kamen ihm so vertraut vor. In der Mitte der Gasse gab es eine Art schmale Abwasserrinne, in der allerhand Unrat lag. Er sprang öfter von der einen zur anderen Gassenseite über die Rinne, da diese viele Ecken und Kurven hatte. Er war wie gelähmt und konnte sich nicht umblicken, aber er wußte, sie waren hinter ihm her, ihn wieder einzufangen. Hören konnte er sie bereits. Das Laufen fiel ihm schwerer und schwerer und er kam immer langsamer voran. Am Ende der schmalen Straße, welche innerhalb der Stadt abschüssig verlief, kam er auf einen sandigen Feldweg. Rechts und links wuchs gelbes, reifes Korn. Er dachte noch, es war eigentlich reif für die Ernte, aber er sah niemand auf den Feldern. Nur hinter sich hörte er die Verfolger. Er wurde immer schwächer und das Laufen fiel ihm so unsagbar schwer, als ob er gegen einen Sturm ankämpfen müßte. Es war aber nicht der geringste Windhauch zu spüren. Sein Körper stand schräg nach vorn und seine Füße stämmten sich verzweifelt in das Erdreich. Jetzt kam er nur noch schrittweise vorwärts und er lag mit dem Oberkörper schon so tief unten, daß seine Hände schon den Boden berührten. Die Meute kam immer näher. Er lief noch ein paar Schritte auf Händen und Füßen, wobei ihn das lange Hemd behinderte, denn er kam mit der rechten Hand auf den zu langen linken Ärmel, verhedderte sich und stürzte lang hin. Die Häscher hatten ihn eingeholt. Er verspürte einen starken Schmerz in beiden Waden und konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Sie hatten ihm mit langen Eisenspießen die Waden durchbohrt und die Spitzen der Spieße tief in den Boden gerammt. Er schrie auf....
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 31 von 76
Stöhnend wachte er auf. Er war schweißgebadet und seine Haare klebten am nassen Kopf. Es war dunkel im Zelt und draußen prasselte der Regen auf die Zeltplane. Neben ihm rührte sich Lisa. „Peter was hast Du denn? Ist Dir nicht gut? Kann ich Dir helfen?“ „Nein, nein, es ist nichts. Ich hatte nur einen schweren Alptraum.“ Er schaute auf seine Uhr. Es war so eine Digitaluhr mit Beleuchtung. Sie zeigte zwei Uhr vierzehn. „Du kannst ruhig weiterschlafen, Lisa, es ist erst kurz nach zwei.“ Unmittelbar darauf schlief sie wieder ein. Seine Waden schmerzten und er fühlte im Dunklen nach ihnen. Sie waren naß. Er schaltete die Taschenlampe ein und sah, daß die Decke auf seinen Füßen ganz naß war. Die Zeltbahn darüber hatte ein kleines Loch und der kalte Regen tropfte auf die Decke und hatte seine Füße durchnäßt. In seiner Jacke mußte er noch irgendwo Kaugummi haben. Er fand auch noch welchen, kaute ihn weich und flickte damit das Zelt. Hoffentlich hielt das eine Weile. Tief und diesmal traumlos schlief er durch, bis zum Morgen. Es roch feucht im Zelt, als er aufwachte. Lisa war schon aufgestanden und hantierte draußen mit irgendwelchen Gegenständen herum. Er kroch heraus und blickte sich um. Lisa war in der Höhle und hatte ein Feuer entzündet. Ein Wunder bei dieser Feuchtigkeit, die hier herrschte. In der Höhle war es aber trocken und das Holz brannte ohne Rauch. Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen. Sie hatte Kaffee gekocht und eine Büchse mit Bohnen und Speck auf dem Feuer erwärmt. Sie lächelte. Na, Peter, alles in Ordnung? Was hast Du denn für einen schlimmen Traum gehabt? Du hast im Schlaf geschrien und wirres Zeug gesprochen.“ „Ich weiß nicht, an meine Träume kann ich mich fast nie erinnern. Ich muß wohl aufgewacht sein, weil es durchgeregnet hatte und meine Füße naß wurden.“ Sie verzehrten das Frühstück und Peter stellte fest, daß sie fast kein Wasser mehr im Kanister hatten, obwohl es hier Wasser in Hülle und Fülle gab, nur aus dem Altarm des Flusses würden sie wohl keines holen wollen. Peter nahm den Kanister und wollte zu dem Bach, den sie schon zweimal überquert hatten. Lisa würde indessen das Zelt austrocknen lassen. Auf dem Gummiboden hatte sich bis zu Peters Aufwachen, mitten in der Nacht, eine Wasserlache gebildet, die sie jetzt wegwischen wollte. Peter ging in noch etwas mehr nördliche Richtung als gestern, und kam schon nach etwa dreißig Minuten an den Bach. An dieser Stelle war er nur zwei Meter breit und man konnte ihn ohne weiteres überspringen, da die Ufer hier steil abfielen und aus Fels bestanden. Durch den Regen in der Nacht trat der Bach fast bis über die Ufer und Peter konnte ohne Mühe Wasser schöpfen. Er tauchte seine Hand ein und kostete. Es war klar und sauber und schmeckte, wie frisches Quellwasser. Peter hielt den Kanister in den Wasserstrom. Das Wasser war hier so reißend, daß ihm der Behälter fast aus der Hand gerissen wurde. Nach ein bis zwei Minuten hatte er ihn gefüllt und ging zurück. Lisa hatte inzwischen das Zelt trocken bekommen, eine Zeltseite abgebaut und den Gummiboden hochgerollt. Sie hatte darunter dünne Zweige und Blätter, ein paar Zentimeter hoch, verteilt und war gerade dabei, den Zeltboden wieder darüber zu rollen. „Letzte Nacht habe ich ziemlich hart geschlafen. Vielleicht kann das hier Luftmatratzen und eine Decke ersetzen.“
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 32 von 76
Peter half ihr, das Zelt wieder vollständig aufzubauen und sie probierten es gleich aus. Man lag wunderbar weich auf der Unterlage, fast wie auf einem Bett aus Heu oder Stroh. „Wie wäre es, wenn wir einen Tag gar nichts unternähmen und hier nur Urlaub machten.?“ fragte Peter lachend, aber an Lisas ernstem Gesicht merkte er, daß es einen Urlaub nicht geben konnte, bevor das Schicksal ihres Bruders nicht vollends geklärt war. Sie machten sich auf den Weg, nahmen aber außer Taschenmessern, einer Zange, etwas Verbandszeug, der Waffe und Peters Minox nichts weiter mit. An der Stelle, wo Peter vorhin das Wasser geholt hatte, überquerten sie den Bach. Die Landschaft sah hier genauso aus, wie die von gestern. Es ging nur nicht so steil nach unten und es fehlten auch die treppenartigen Hangstücke. Der Baumbestand wurde lichter und sie konnten den Weg fast als Spaziergang betrachten. Der Signaldraht, den sie schon gestern sahen, oder ein ähnlicher, war hier viel tiefer, in einer Höhe von circa vierzig Zentimeter, gespannt. Sie überstiegen ihn und liefen weiter, bis sie in einiger Entfernung durch das niedrige Buschwerk, welches hier in der Nähe des Flusses wieder wuchs, einen Zaun erkennen konnten. Etwa fünfzig Meter weiter links bog der Zaun rechtwinklig in Richtung Fluß ab. Sie gingen bis zur Zaunecke und spähten durch die Büsche, am Zaun entlang, zum Fluß herunter. In etwa achtzig bis hundert Meter Entfernung floß der Hauptfluß an ihnen vorbei. An der stärkeren Strömung merkten sie, daß sie sich wieder am eigentlichen Fluß befanden und nicht an dem Altarm, der irgendwo links von ihnen im Dschungel verborgen lag. Die Büsche ausnutzend, kamen sie bis an den Zaun heran. Er bestand aus Zaunpfählen mit quer gespannten Drähten im Abstand von dreißig Zentimeter und einer, innen am Zaun befestigten, grünen Plastikfolie mit Löchern, etwa so groß wie Tennisbälle und auch etwa im gleichen Abstand. Sie schauten durch eins dieser Löcher. Auf der Innenseite sah man ein Feld, von drei Seiten vom selbigen Zaun umspannt. Nur die Nordseite besaß keinen Zaun und auf der Flußseite sah man keine grüne Folie. In der Mitte des etwa sechzig mal achtzig Meter großen Feldes stand ein Gewächshaus von ungefähr zwanzig Meter Länge und etwa vier bis fünf Meter Breite. Hundert Meter weiter in Richtung Norden erhob sich ein zweistöckiges, fensterloses Gebäude aus Blech, in das auf der rechten Seite ein drei Meter dickes Stahlrohr mündete, welches, einen Bogen machend, auf der Ostseite des Flusses, von einem Berg herabkommend, verlegt war. Links neben dem Rohr konnte man den Fluß sehen, der von demselben Berg herunterstürzend, in Kaskaden und Stromschnellen sich rauschend seinen Weg suchte. Das Rohr transportierte offensichtlich Wasser, welches in dem Gebäude durch eine Turbine lief und einen Generator antrieb, der für die Anlage hier Strom erzeugte. Nach der Dicke des Rohres zu urteilen, mußte hier sehr viel Strom verbraucht werden. Sie schauten noch eine Weile durch den Zaun, konnten aber keine Menschenseele erblicken und entschlossen sich, das Gelände zu betreten. Peter schnitt den untersten Zaundraht mit der Zange durch und hob vorsichtig die Folie an, ohne sie zu beschädigen. Sie krochen unter der Folie hindurch und lagen erst mal innerhalb des Geländes flach in den kurzgeschnittenen, grasartigen Pflanzenbewuchs gedrückt, und spähten umher. Nichts regte sich. Peter sprang auf und rannte auf das Gewächshaus zu. Er bedeutete Lisa, ihm zu folgen und beide hockten auf der Rückseite des Glashauses. Oben im Giebel desselben rauschte ein großer Ventilator und blies warme Luft nach außen. Den Eingang fanden sie gleich, als sie um die Ecke schauten. Sie gingen hinein, wobei
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 33 von 76
ihnen ein starker Luftsog fast die Tür aus der Hand riß. Trotz des hohen Sonnenstandes herrschte im Glashaus eine angenehme Kühle. Sie kam von einer auf der Nordseite des Hauses gespannten luftdurchlässigen Gewebewand, die dort anstelle der Glaswand eingesetzt worden war. Diese wurde pausenlos mit einem Wassernebel besprüht und durch diese Nässe und den Unterdruck, den der Ventilator erzeugte, entstand Verdunstungskälte, die das gläserne Haus mit einer so angenehmen Temperatur versorgte. Das Dach des Hauses bestand aus ausgemusterten Leuchtstoffröhren, die das harte Sonnenlicht in ein gleichmäßiges weiches Licht verwandelte aber das Regenwasser durchließen. Auf den Stelltischen im Innern des Hauses waren viele flache, weiße Plasikschalen verteilt, deren Bodenfläche mit dickem grauen Filz ausgelegt war. Auf dem Filz wuchsen hellrote, moosähnliche Pflanzen mit dickfleischigen, auf dem Boden liegenden Blättern, auf denen eine Art Blutegel, etwa sieben bis acht Zentimeter lang und tiefschwarz, gezüchtet wurden. Viele von ihnen lagen nur auf den Blättern herum, aber manche von ihnen standen, das Vorderteil aufgerichtet, wie winzige Seehunde, die Kunststücke vorführen wollten. Peter und Lisa mußten lachen. Das sah hier wirklich wie eine winzige Seehundkolonie aus. Einzig und allein die Mäuler der ‘Seehunde’ hatten etwas Gefährliches an sich. Ein runder Kranz von kleinen spitzen Zahnleisten, etwa so groß wie eine kleine Münze, war sichtbar. Der Schlund selbst war durch eine Art Ringmuskel verschlossen, welcher unentwegt zuckte. Die Schalen selbst waren mit Deckeln aus feinem Drahtgitter abgedeckt und mit Gewichten beschwert. In dem ganzen Treibhaus waren nur diese kleinen Tiere zu entdecken, sonst fanden sie weiter nichts Lebendiges. An einer Seitenwand, auf einem Labortisch standen ein paar Flaschen mit Reinigungsflüssigkeit und einige andere Chemikalien herum. Wahrscheinlich zur Desinfektion der Schalen. Ein paar Flaschen mit Flüssigdünger standen daneben. Peter fotografierte alles mit seiner Minox und verstaute sie danach wieder in seiner Hosentasche. Sie schauten sich noch ausgiebig um und Peter entdeckte plötzlich zwei Schalen, auf denen die Drahtgitter verrutscht waren. Er schaute daneben und sah einige der Tiere auf dem Stelltisch, sich wie Schnecken bewegend, langsam umherkriechen. An einer eisernen Tragsäule des Treibhauses krochen auch schon ein paar hinauf und auf dem Boden waren auch einige zu sehen. Peter drehte sich schnell um und wollte Lisa warnen, als diese aufschrie. Einer der Egel hatte sich auf ihrem Unterarm festgebissen, als er von der Decke fiel. „Hilf mir doch, es tut so weh!“ rief sie mit gepreßter Stimme. Sie wollte nicht laut aufschreien, weil das vielleicht jemand gehört hätte. Peter wollte in der ersten Eingebung den Egel abreißen, aber ihm kam in Erinnerung, daß dann dessen Kopf immer noch festhängen, und die Wunde sich entzünden würde. Er rannte zu dem Labortisch und suchte fieberhaft nach einer Flüssigkeit, die den Egel veranlassen würde, loszulassen. Er kam schnellstens mit einer Flasche Benzin zurück. Es war zwar kein Wundbenzin, aber für diese Zwecke vielleicht auch geeignet. Lisa hielt ihm den Arm hin und er goß eine ganze Menge darüber. Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerzen. Nachdem er ihr noch eine Ladung über den Arm gegossen hatte, ließ das Tier los und fiel auf den Boden. Peter zertrat es augenblicklich, und auch noch ein paar andere. Lisas Arm blutete ziemlich stark und der Blutstrom hörte nicht auf. Das Tier mußte ihr ein Antigerinnungsgift ins Blut gepumpt haben. Die Wunde selbst war ringförmig und münzgroß. Sie verband sich den Arm mit der linken Hand ziemlich fest und Peter konnte ihr
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 34 von 76
zwar ein wenig helfen, aber sie machte das selbst mir der einen Hand geschickter, als er es mit zwei Händen fertig bekommen hätte. Sie erklärte ihm noch, wie er ihr am Oberarm noch einen Druckverband anlegen sollte, was er dann auch einigermaßen fachgerecht fertig bekam. Lisa fühlte sich nicht sehr gut und sie begannen sich unmittelbar darauf, auf den Rückzug zu machen. Unter dem Zaun kamen sie ganz gut, trotz ihres verletzten Armes, hindurch. Sie begannen, den Hügel hinauf zu gehen. Der Draht glitzerte noch in der Sonne zwischen den Bäumen und sie bemerkten ihn rechtzeitig. Danach ging es Lisa schlechter. Sie schleppte sich nur mühsam neben Peter voran. Er faßte sie um die Taille und sie legte den linken Arm um seinen Hals. So konnte er sie besser stützen und halb tragen. Sie schloß jetzt manchmal die Augen vor Müdigkeit und wegen des Giftes in ihrem Körper. Bald kam sie überhaupt nicht mehr weiter und Peter mußte sie auf der Schulter, die Beine nach vorn, tragen. Mehrere Male mußte er Pause machen und stellte sie aufrecht vor sich. Sie war noch bei Bewußtsein, aber sehr müde und sie hatte Fieber, wie er an ihrer Stirn fühlte. Mühsam erreichten sie den Bach. Wie sollte er hier mit ihr zusammen hinüberkommen. Er konnte sie nicht einfach hinüberwerfen und dann selbst springen. Sie hätte sich vielleicht das Genick gebrochen. Er schüttelte sie. „Wach’ auf, Lisa, wir sind jetzt am Bach und ich muß dich jetzt irgendwie ‘rüberbringen. Ich werde Dich jetzt huckepack nehmen und mit Dir zusammen hinüberspringen. Du mußt Dich jetzt wirklich gut festhalten und auf keinen Fall loslassen. Schlaf’ bitte jetzt nicht ein!“ Er nahm sie auf seinen Rücken und hielt ihre Oberschenkel mit den Unterarmen umklammert. „Lisa?“ „Ja?“ „Bleib’ bitte noch einen Augenblick wach!“ „Ist gut!“ Sie umklammerte seinen Hals und seine Schultern etwas kräftiger und er nahm ein paar Meter Anlauf und sprang... ...Und er schaffte es, wenn auch knapp, mit der Last auf seinem Rücken. Am jenseitigen Ufer angekommen, stolperte er und blieb liegen. Lisa lag auf ihm. „Sind wir drüben?“ kam es mit schwacher Stimme aus seinem Rücken. „Ja, wir haben es geschafft. Du kannst Dich gleich hinlegen und ausruhen.“ antwortete er schwer atmend. Peter nahm sie wieder über die Schulter. So konnte er sie leichter tragen, aber für den Weg, für den er heute morgen eine halbe Stunde gebraucht hatte, benötigte er mit seiner Last fast noch eine Stunde. Er legte sie in das Zelt, weckte sie noch einmal und fragte sie, was sie für Medikamente benötige. Sie nannte ihm den Namen für ein Fieber senkendes Mittel und für ein Antibiotikum. Peter brachte ihr beides in der gewünschten Menge und einen Becher mit Wasser, den sie gierig austrank, nachdem sie die Tabletten eingenommen hatte. Sie hatte hohes Fieber und deshalb großen Durst. Sie wollte unbedingt noch mehr Wasser. Peter gab es ihr und
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 35 von 76
wickelte sie fest in die Decke ein. Mehr konnte er im Moment nicht für sie tun. Er ging zum Jeep, schob den Beifahrersitz aus der Halterung und stellte ihn in das Zelt. Heute würde er auf dem Sitz schlafen müssen. Erstens, um Lisa nicht zu stören und zweitens, um ihr beizustehen, wenn sie Hilfe benötigte. Lisa schlief jetzt fest. Einige Male warf sie sich hin und her und stöhnte leise, aber sie wachte nicht auf. Er berührte ihre Stirn. Sie war ganz heiß. Peter feuchtete ein Tuch an und legte es darauf. Sie seufzte leise im Schlaf. Peter war nach längerer Zeit eingenickt, als ihn ein Geräusch weckte. Lisa hatte die Augen geöffnet und redete, durch ihn hindurchblickend, unzusammenhängende Sätze gegen die Zeltplane. „Steven, paß’ auf, sie sind hinter Dir her. Laß’ sie Dich nicht erwischen. Ich bin bei Dir und werde Dich beschützen. Sie können Dir nichts anhaben, denn wir sind zusammen stärker als die.“ Lisa phantasierte offensichtlich, denn sie erkannte ihn nicht, obwohl sie ihn anblickte. Er nahm das Tuch und feuchtete es noch einmal an. Ihre Stirn war immer noch sehr heiß. Die kühle Feuchtigkeit, so hoffte er, würde ihr Linderung verschaffen. Sie schlief wieder ein und kurz darauf forderte bei ihm der Schlaf auch wieder sein Recht. Die Nachtkühle im Zelt ließ ihn erwachen. Es war gegen sieben Uhr am Morgen und die Dämmerung hatte das Zelt in ein schwaches Licht getaucht. Lisa wälzte sich in der Decke herum und schlief auch nicht mehr so fest. Er berührte sie an der Schulter. Sie schlug die Augen auf und sah ihn an. An ihrem Blick sah er, daß sie ihn wieder erkannte. Er berührte ihre Stirn. Sie war nicht mehr heiß, aber feucht vor Schweiß. „Wie geht es Dir, Lisa?“ Wie fühlst Du Dich?“ „Hallo Peter, ich bin so müde und alle Glieder tun mir weh. Was ist denn passiert?“ „Du bist gestern von diesem Blutegel gebissen worden und danach warst Du fast ohne Besinnung. Du hast wahrscheinlich eine ganze Menge Gift abbekommen, nur gut, daß wir die Wunde so schnell frei bekommen haben und mit dem Blut auch die größte Menge Gift aus deinem Körper entfernt wurde. Ich habe Dich fast die ganze Zeit tragen müssen.“ „Wie sind wir denn über den Bach gekommen? Bin ich gesprungen? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.“ „Nein, ich habe Dich auf dem Rücken getragen und bin mit Dir zusammen gesprungen. Das ist aber jetzt nicht wichtig. Wie geht es Dir jetzt wirklich?“ Sie nahm das Fieberthermometer und steckte es unter ihre Zunge. Nach einer Weile las sie es ab und erkannte, daß sie fast kein Fieber mehr hatte. Peter ließ sich das Thermometer geben. Es hatte eine Fahrenheit-Skala und er las neunundneunzig Grad ab. Es waren etwa achtunddreißig Grad Celsius, wie er aus seiner Laborerfahrung als Fotograf wußte. Das war endlich kein Fieber mehr, sondern höchstens noch erhöhte Temperatur. Er fragte sie, ob sie etwas essen wolle. Sie verneinte. Sie hatte seit gestern morgen nichts mehr gegessen und Peter meinte, sie müsse etwas zu sich nehmen, wenn es auch nur eine Kleinigkeit wäre. Er holte eine Dose Gemüsesuppe und eine Packung Salzcracker aus dem Sack, den er
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 36 von 76
in dem Hotel von Santa Clara gefüllt hatte. Die Suppe erwärmte er auf dem wieder angefachten Feuer in der Höhle und brachte beides in das Zelt. „Lisa, Du mußt jetzt etwas essen. Du bist durch das Fieber und das Gift in Deinem Körper so geschwächt, daß Du, wenn Du wieder zu Kräften kommen willst, jetzt unbedingt etwas in deinen Magen bekommen mußt! Du kannst jetzt nicht ausfallen! Wir müssen doch weiter nach dem Schicksal Deines Bruders Ausschau halten.“ Sie schaute ihn dankbar, ob seiner Fürsorge, an und aß langsam von der Suppe und knabberte an einem Cracker. Es schmeckte ihr noch nicht besonders, aber sie aß den größten Teil der angebotenen Malzeit auf und fühlte sich danach ein wenig besser. Peter kam mit ihr überein, heute die Suche allein fortzusetzen, da sie noch zu schwach war, irgend eine Anstrengung auf sich zu nehmen. Sie legte sich auch gleich wieder hin, und schlief kurz danach ein. Nahrung und Wasser hatte sie ja genug, falls sie Hunger oder Durst bekäme. Peter schaute nach, ob das Versteck immer noch gut getarnt war, und wechselte einige Zweige, deren Blätter etwas vertrocknet waren, aus. Dann machte er sich auf den Weg. Er ging die selbe Strecke, die sie schon gestern gegangen waren. Das Loch im Zaun war anscheinend noch nicht entdeckt worden. Kein Wunder - in diesem abgelegenen Teil des Geländes hatten sie schon gestern niemand entdecken können. Es wurde offensichtlich nur sporadisch kontrolliert. Das Gewächshaus war seit gestern auch noch nicht besucht worden, denn durch die schmutzigen Glasscheiben konnte er sehen, daß die sich aus den Behältern befreiten Egel immer noch überall herumkrochen. Er lief weiter, die Deckung ausnutzend, auf das Blechgebäude zu. An der Rückseite sah er eine Stahltür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Er hätte sie aufbrechen können, aber wenn jemand das zerstörte Schloß entdeckt hätte, wäre eine Suche nach dem Urheber ausgelöst worden. Das wollte er unbedingt vermeiden. An der linken Seite des Gebäudes kam das dicke Wasserrohr wieder zum Vorschein. Es führte direkt hinunter zum Fluß. Im Inneren des Rohres rauschte es stark. Tausende Kubikmeter Wasser wurde hier hindurch geleitet, um Strom zu erzeugen. Vor dem Wasserrohr führte eine seitlich angebrachte Eisentreppe auf das Dach des Maschinenraumes. Peter hatte Glück, daß direkt davor ein Baum wuchs, denn sonst hätte man ihn vielleicht bemerkt. So schnell wie möglich überwand er die Stufen, und legte sich flach auf das leicht abgeschrägte Dach. Die Dachschräge fiel nach Süden ab, so daß er zur Nordseite für jedermann unsichtbar blieb. Auf dem Dach befanden sich zwei Oberlichtfenster. Er robbte zu dem, ihm am nächsten gelegenen hin und schaute hindurch. Wie er sich gedacht hatte, erblickte er im Inneren eine große Turbine und den Generator, von dem ein Bündel sehr starker Elektrokabel fortführte. Er kroch zur Dachkante, und schaute flach liegend darüber hinweg. Vor ihm lag die ‘Fabrik’. Das gesamte Gelände war etwa fünfhundert Meter lang und lag direkt am Fluß. Das Flußufer war steil und fiel etwa fünf Meter tief ab. Es bestand aus schwarzem Felsgestein. Die Breite des Areals betrug etwa einhundertzwanzig Meter, und wurde an der östlichen Seite durch einen fünzehn Meter hohen Hang - ebenfalls bestehend aus diesem schwarzen Gestein - begrenzt.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 37 von 76
Etwa vierzig Meter entfernt sah er einen Komplex von zwölf Gewächshäusern. Diese standen dicht an dicht, und waren etwa so groß wie das, in dem sie beide gestern waren. Die Dächer der Häuser bestanden hier aus dickem Glas und aus jedem Glasdach ragte ein dickes Rohr aus Edelstahl. Die Rohre liefen alle zusammen in eine Art Absaugvorrichtung, von der ein weiteres, noch dickeres Rohr in das dahinter stehende Gebäude führte. Dieses Gebäude - ein Betonbau von etwa fünf Metern Höhe und einer Grundfläche von dreißig auf fünfzig Metern - besaß eine rundherum laufende Fensterfront, und war im Inneren mit Natriumdampflampen in helles, grellgelbes Licht getaucht. Menschen in weißen Overalls mit Sichtfenstern vor den Augen und Atemschutzmasken an den integrierten Helmen saßen an langen Tischen und füllten irgend etwas - er konnte es aus der Entfernung nicht erkennen - in Glasbehälter. Von hier oben - vom Dach - sah es dort drinnen aus, wie die staubfreien Abteilungen einer Fabrik für elektronische Schaltkreise. Die Personen, welche dort arbeiteten, waren auch ähnlich gekleidet. Dahinter - rechts an dem Hang - führte die Seitenstraße durch einen Einschnitt im Fels herunter, die Lisa und er schon vor ein paar Tagen bis zur Einfahrt erkundet hatten. Eine Brücke, unter der das große Wasserrohr hindurch lief, war die Verbindung zum Gelände. Links neben dem Betongebäude befand sich ein Parkplatz, auf dem eine Reihe schwerer Fahrzeuge stand. Einige davon hatte er schon in Santa Clara gesehen. Hinter dem im Inneren hell erleuchteten Gebäude befand sich, etwas erhöht stehend, ein mehrstöckiger, halbrunder Gebäudekomplex. Dieser war an der Außenseite fensterlos und mit seiner offenen Seite zum Hang ausgerichtet. Er war ebenfalls aus Beton errichtet worden. Peter hatte von hier oben erst einmal genug gesehen, und stieg die Stufen hinab. Über das Wasserrohr führte eine kleine Metallbrücke, die er schnell hinter sich brachte. Er lief auf die Gewächshäuser zu, und brachte sich an der Flußseite hinter einem Gestrüpp in Sicherheit. Die Gewächshäuser waren ungewöhnlich stabil errichtet worden und mit dicken Gläsern ausgestattet, welche noch zusätzlich in den Rahmen mit Gummi abgedichtet waren. In dem ihm am Nächsten gelegenen Glashaus war kein Mensch zu sehen. Er blickte durch das Glas und wußte auch warum. Die Gewächse, die er erblickte, hatte er schon gesehen. Es waren die gleichen, wie die auf dem Hügel bei Santa Clara. Die gleichen graubraunen, melonenförmigen Pilze, welche ungefähr sechzig Leben ausgelöscht hatten. Er schaute in die anderen Häuser. Überall erkannte er die gleichen Gewächse. Nur der Reifezustand war verschieden. Von Walnußgröße bis zu der Größe, wo sie bald aufplatzten, war alles vertreten. In einem der vorderen Häuser hörte er Geräusche, und lief dort hin. Der ganze Raum war undurchsichtig und mit dem hellblauen Staub angefüllt. Durch das Glas hindurch vernahm er diese klatschenden Geräusche, die er schon einmal gehört hatte. Die Saugvorrichtung auf dem Dach des Hauses begann brummend zu arbeiten, und auf der Turbine blinkte eine Signalleuchte. Eine Sirene heulte los. Peter schaute aus seiner Deckung in das Glashaus, wo sich der Staub langsam verzog, und in dem Saugrohr auf dem Dach verschwand. Er konnte jetzt die aufgeplatzten Pilze erkennen. Sie waren nicht mit dem gelbroten Staub bedeckt, wie auf dem Hügel. Bevor die Pilzsporen oxydierten, wurden sie abgesaugt.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 38 von 76
Er schlich vorsichtig zu dem Betongebäude. Da dieses ringsum mit Buschwerk bewachsen war, konnte er die Deckung ausnutzen und erreichte es gleich darauf. Durch ein Fenster konnte er - von einem Strauch gedeckt - den ganzen Innenraum überblicken. Das Gebäude war durch Glaswände in mehrere Abteilungen unterteilt, die durch Glastüren Verbindung miteinander hatten. Diese Glastüren hatten dicke Gummiwülste an ihren Kanten und schlossen die einzelnen Abteilungen hermetisch von einander ab. Das dicke Edelstahlrohr, welches von der Absaugturbine der Gewächshäuser kam, mündete gleich in den vordersten Raum, und wurde dort in einen Kessel geleitet. Er war ringsum mit dicken Kühlschlangen umgeben, und flüssiger Stickstoff trat an einigen Rohrverbindungen aus. Dicker Reif lagerte auf dem gesamten Kessel. Offensichtlich wurden die Pilzsporen hier gefriergetrocknet, um sie unbegrenzt haltbar zu machen. Unter dem Kessel befand sich ein kompliziertes Rohrsystem, welches in drei dahinter liegende Abteilungen verzweigte, wo an langen Tischen die Personen in ihren Overalls saßen, die er vorhin vom Dach aus gesehen hatte. Sie füllten das hellblaue Pulver in Glasgefäße, ähnlich einer großen Ampulle von etwa einem Liter Inhalt, und schmolzen die Öffnung mit Gasbrennern zu. Die Gläser wurden dann in gitterförmige, stabile Stahlbehälter gesteckt und oben mit einem Deckel verschraubt, welcher Ähnlichkeit mit einem Zündmechanismus hatte. Je ein Dutzend dieser Gegenstände landete danach in einer Holzkiste, die am anderen Ende der Halle gelagert wurde. Dort standen schon hunderte dieser Kisten, und warteten darauf, abtransportiert zu werden. Peter hatte noch nie eine Fabrik für biologische Kampfmittel gesehen. Dieses hier jedenfalls war eine. Hier wurde etwas produziert, was die ganze zivilisierte Welt dachte, durch Verträge verhindern zu können, aber anscheinend gab es immer noch kleinere Staaten, welche durch die Ausrottung der Bevölkerung ihrer Nachbarn hofften, einen Sieg über diese zu erringen. Einen Sieg mit furchtbaren Folgen. Peter ging jetzt - am Parkplatz vorbei - fast bis zum Flußufer, und dann flußaufwärts, den Parkplatz rechts neben sich im Auge behaltend. Am Ende des Parkplatzes, der in der gleichen Höhe wie das Hallenende lag, sah er vor dem nördlichen Hallentor zwei Wachleute. Sie schauten nicht in seine Richtung. Er war auch durch das Gebüsch gut verborgen. Sie trugen schwarze Lederkleidung wie Motorradfahrer, und hatten russische Kalaschnikovs umgehängt. An den Gesten, die sie machten, konnte Peter erkennen, daß sie sich unterhielten. Ein Motorengeräusch ließ sie aufhorchen. Von der Seitenstraße kommend, rollten jetzt zwei blauweiße Landrover über die Brücke. Von dort wo Peter stand, konnte er auch gut die Straße und die Brücke überblicken. Die Landrover kamen auf ihn zu und bogen kurz vor ihm nach rechts auf den Parkplatz ab. Die Wachschutzleute folgten ihnen. Aus den Fahrzeugen stiegen insgesamt vier Personen in blauweißen Overalls aus. Sie trugen keine Helme. Die beiden Wächter begrüßten die vier. Sie sprachen ein Spanisch, das Peter nur leidlich verstand, aber er hörte heraus, daß sie heute die Straßensperre aufgehoben hatten. Der Ort Santa Clara sollte angeblich wieder bewohnt sein, aber von Leuten, die von der Genutrex eingesetzt worden waren. Die Wachleute zeigten auf das halbrunde, hufeisenförmige Gebäude und erklärten den Fahrern, ihre Ankunft umgehend dort zu melden. Die vier marschierten auf das Gebäude zu und die Wächter nahmen wieder ihre Posten vor dem Hallentor ein. Peter ging etwas zurück, um aus dem Blickfeld der Wächter zu kommen. Vor ein paar Tagen, nach der ‘Aufräumaktion’ in Santa Clara, fuhren zwei Landrover nach Norden und zwei in südlicher Richtung davon. Auf dem Parkplatz standen aber nur
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 39 von 76
die beiden eben angekommenen Fahrzeuge. Aus welcher Richtung könnten die hier her gefahren sein? Aber klar. Wenn sie gesehen hatten, daß der Ort wieder bewohnt war, konnten sie nur aus südlicher Richtung kommen. Peter schaute sich noch einmal um und betrachtete die Umgebung. Für heute hatte er genug erkundet. Er betrachtete das halbrunde Gebäude, und überlegte, wie er morgen dort hinein kommen könnte. Sollte er noch einmal den gleichen Weg wie heute nehmen? Nein, er glaubte, einen besseren Weg zu finden, wenn er nördlich von der Seitenstraße bis zu dem Hang lief, und diesen herabzuklettern versuchte. Er wäre dann nördlich von dem hufeisenförmigen, halbrunden Gebäude, und er hoffte, es von dort betreten zu können. Der Rückzug erwies sich als ziemlich einfach, da er einen größeren Teil des Geländes und die Umgebung schon kannte. Von hier drohte ihm keine oder nur geringe Gefahr, da er wußte, wo sich die Menschen auf dem Areal aufhielten. Der südliche Teil wurde wahrscheinlich auch nur von Zeit zu Zeit kontrolliert. Er kam zurück, zu ihrer beider Versteck und lauschte von außerhalb. Es war nichts zu hören und Peter ging vorsichtig durch die Tarnung aus Zweigen. Lisa war nicht anwesend. Er schaute sich um. Alles stand noch so da, wie er es heute morgen verlassen hatte. Er schaute ins Zelt. Auch hier war sie nicht. Ein Geräusch von raschelnden Blättern vor dem Versteck ließ ihn aufspringen und sich neben den Eingang stellen, bereit zuzuschlagen, wenn es nötig wäre. Der Blättervorhang öffnete sich und Lisa kam mit einem Bündel Holz herein. Sie lächelte schalkhaft. „Na Peter, hast Du Angst vor mir? Ich habe Dich schon vorhin gesehen, als Du kamst. Ich stand dort drüben, zwischen den Bäumen, nicht mal dreißig Meter entfernt, aber Du bist natürlich wie ein Bigfoot durch den Wald gestapft.“ „Hi Lisa, wie ich sehe bist Du schon wieder auf den Beinen. Hast Du dich heute gut erholt?“ „Ja, aber ich fühle mich immer noch sehr schwach und das Holzsammeln war meine erste Tätigkeit heute.“ „Dann ruh’ Dich morgen auch noch aus, denn ich will versuchen, irgendwie in die ‘Fabrik’ einzudringen und etwas mehr in Erfahrung zu bringen. Das, was ich heute gesehen habe, reicht mir fürs Erste, und in der Richtung, aus der ich dort eindrang, komme ich nicht weiter voran. Ich muß mir einen andren Weg suchen.“ Er berichtete Lisa von den Kampfstoffen, die hier in großem Ausmaß produziert wurden. Das, was sie sich schon gedacht, und von dem sterbenden Dänen erfahren hatten, waren keine Hirngespinste oder Fieberphantasien, sondern die schreckliche Wahrheit. Lisa schauderte vor Entsetzen. Kapitel 6
Die ‘Fabrik’
Der nächste Morgen brach an und Peter holte die Kiste mit dem Dynamit aus dem Jeep. Er nahm die Papprohre einzeln heraus und wischte sie sorgfältig ab. Sie waren von dem ausgetretenen Nitroglyzerin schon wieder leicht ölig, aber der Sand, den er vorsorglich dazwischen gestreut hatte, fing fast alles auf. Die Stangen band er zu je fünf Stück zusammen, bis er acht dieser Pakete hergestellt hatte. Diese legte er ganz unten in Lisas Rucksack. Dreißig Meter Zündschnur, ein Dutzend Zündkapseln und etwa zwanzig Meter Seil packte er noch oben darauf.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 40 von 76
Die Pistole und die Minox verschwanden in seinen Hosentaschen. Er wollte sich gerade auf den Weg machen, als er hörte, wie Lisa erwachte, und schaute in das Zelt. „Lisa, ich gehe jetzt. Wann ich zurück kommen werde, weiß ich noch nicht. Ich werde wahrscheinlich bis zur kommenden Nacht noch nicht wieder hier sein, da ich die Dunkelheit ausnutzen muß, um in die Gebäude zu kommen. Außerdem will ich versuchen, die Ampullen irgendwie zu zerstören, damit sie niemals mehr Schaden anrichten können.“ Lisa schaute ihn mit großen Augen an. „Wie willst Du das machen, ohne das Zeug selbst einzuatmen?“ „Das weiß ich jetzt auch noch nicht, Lisa, aber ich will es versuchen. Ach, noch etwas, gib mir doch die Fotografie Deines Bruders mit. Vielleicht hat ihn doch jemand gesehen.“ Sie gab ihm das Bild. Dann küßten sie sich zum Abschied und Peter ging, den Rucksack über einer Schulter, nach vorn bis fast zur Straße. Er hatte vorher noch schnell etwas Wasser getrunken und den Rest der Salzcracker in die Taschen seiner Jacke gesteckt. Für ein Frühstück wollte er keine Zeit mehr vergeuden. An der Straße ging er in nördlicher Richtung bis zu der Abzweigung. Diese mußte er überqueren, um noch etwa zweihundert Meter weiter zu kommen. Er lauschte, ob er irgendwelche Motorgeräusche hörte. Nein, alles war ruhig. Von der Abzweigung und der Hauptstraße kamen keine Fahrzeuge. Er überquerte die Abzweigung und ging noch das kurze Stück nordwärts, um dann nach Westen abzubiegen. Viele große, schwarze Felsbrocken bedeckten hier den Dschungelboden und er konnte nur im Zick-zack um diese Steine herum laufen. Für ein Überklettern waren sie zu hoch. Der Bach, den sie auf der anderen Seite der Abzweigung übersprungen hatten, war hier nur ein schmales Rinnsal, das er ohne nasse Füße zu bekommen, überwinden konnte. Nach etwa zwei Stunden hatte er den Hang erreicht. Einen Signaldraht hatte er nicht finden können. Zwischen dicht stehenden Pflanzen hindurch, konnte er das ganze, circa fünfzehn Meter unter ihm liegende, Gelände überschauen. Er lag ungefähr in der Höhe des nördlichen Giebels des halbkreisförmigen Gebäudes. Von ihm aus gesehen auf der rechten Seite stand noch ein weiterer, einstöckiger Gebäudekomplex, dessen Dach mit grüner, gefleckter Tarnfarbe gestrichen war. In der Mitte des Daches waren mit weißer Farbe drei große Kreise von fünf Metern Durchmesser aufgemalt. Diesen Komplex hatte er, von seinem gestrigen Standpunkt aus, nicht erkennen können. Von hier ober konnte er sehen, daß auch die Dächer der anderen Häuser diesen Tarnanstrich besaßen. Das halbkreisförmige Bauwerk war zweistöckig, und auf der Innenseite mit vielen Fenstern versehen, hinter denen eine große Anzahl Personen, überwiegend in weiße Kittel gekleidet, arbeitete. An den beiden Giebelseiten war das Dach etwas höher, als das übrige Gebäude. Dort vermutete Peter die Fahrstühle und Treppenhäuser. Auf einer Giebelseite war ein großer Parabolspiegel befestigt. Er war offensichtlich für eine SatellitentelefonAnlage aufgestellt worden. Jeder Giebel hatte einen Eingang, vor dem jeweils ein Doppelposten stand. Die Wachen hatten die gleiche Ausrüstung wie jene, welche er gestern gesehen hatte. Diese, oder eine Ablösung, stand auch wieder vor dem Tor der Produktionshalle, die er von hier oben gut überblicken konnte.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 41 von 76
Im Zentrum des Halbrundes befand sich zu ebener Erde eine schwach gewölbte Glaskuppel von etwa dreißig Meter Durchmesser, unter der er noch drei weitere Stockwerke, in den Fels geschlagen, erkannte. Auch dort arbeiteten Menschen hinter getönten Fensterscheiben. Diese Fenster liefen kreisförmig um diesen circa zehn Meter hohen Innenhof - unter der Kuppel - herum, und in jeder Etage war das Glas in einer anderen Farbe getönt. Das flache Gebäude, welches er gestern nicht sehen konnte, besaß mehrere numerierte Eingänge an den Seiten und eine breite Treppe, welche vom Dach führte. Es befanden sich kleine Fenster zwischen den Eingängen, und Peter nahm an, daß dieses die Unterkünfte der Mitarbeiter sein müßten. Das Gebäude stand auf einem Geländeabschnitt, der etwa fünf Meter höher lag, als das übrige Terrain. Die Kreise auf dem Dach erkannte er als Landemarken für Helikopter. Er holte seine Minox aus der Hosentasche und machte ein paar Aufnahmen von allen Gebäuden. Peter blickte über die Kante des Hanges. Sie war hier sehr zerklüftet, und er hoffte, hier sogar bei Tage ungesehen absteigen zu können, obwohl die Wächter an den Giebeln des vor ihm liegenden Gebäudes von Zeit zu Zeit in seine Richtung schauten. In den Felsspalten wuchs sehr viel Gestrüpp, welches ihm eine ausreichende Deckung geben konnte. Er holte das Seil aus dem Rucksack und band das eine Ende um einen Baum, der genau oben an der Hangkante wuchs. An dem anderen Ende befestigte er den Rucksack mit dem Dynamit und ließ ihn in der Felsspalte etwa acht Meter nach unten gleiten, wo er auf einem Felsvorsprung zu liegen kam. Er selbst kletterte danach an dem Seil herunter. Der Felsspalt verlief hier schräg im Hang und konnte von den Wachen nicht eingesehen werden. Auf dem Vorsprung stehend und an den Felsen gedrückt, ließ er den Sack vollends nach unten. Dieser lag nun hinter dem dicken Wasserrohr, welches - vom Berg kommend direkt am Fuße des Hanges entlang lief. Das Rohr war eine ausgezeichnete Deckung für ihn. Er wartete, bis niemand in seine Richtung blickte und ließ sich schnell die letzten Meter am Seil herunter gleiten und blieb hinter dem Rohr liegen. Zwischen dem Wasserrohr und dem Erdboden erblickte er einen Spalt von einem halben Meter Höhe, da das Rohr auf Betonfundamenten ruhte. Er schaute, unter dem Rohr hindurch, zu den Wachen. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Peter lag schon eine ganze Weile hinter dem Rohr und hoffte, daß die Wachen irgendwann auch einmal wechselten. Das hätte er dann vielleicht ausnützen können, um in das Haus mit den Unterkünften zu gelangen. Er nahm an, wenn dort nur Mitarbeiter untergebracht waren, welche mit dem gleichen Widerwillen zur Arbeit an Dingen gezwungen wurden, wie der dänische Wissenschaftler, würde er dort die beste Gelegenheit haben, Verbündete zu finden, die ihn nicht gleich verrieten. Ein Brummen lag plötzlich in der Luft. Von Norden her, über den Berg kommend, näherten sich zwei Helikopter. Sie kreisten erst ein paar Mal über dem Gelände und setzten dann auf dem Gebäude auf. Es waren sehr große, dunkelgrün lackierte Maschinen, wie zum Transport von Soldaten in Kriegsgebiete. Es waren keinerlei Kennzeichen auf ihnen erkennbar und Peter vermutete, sie hielten sich illegal in diesem Land auf. Die Türen öffneten sich und aus jeder Maschine stiegen etwa zehn Personen. Viele in dunklen Anzügen, und einige leicht gekleidet, mit weißem Hemd und dunkler Hose. Alle hatten Aktenkoffer oder Boardcases bei sich.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 42 von 76
Die ganze Prozession kam Peter so vor, wie eine Versammlung von Handlungsreisenden, die zu einem Konzern eingeladen wurden, um ein neues Produkt in ihr Sortiment aufzunehmen. Die Gruppe kam die Treppe vom Dach des Hauses herunter und ging die paar Meter zum nördlichen Giebel des halbrunden Hauses, begleitet von den Wachen. Die Wächter vom südlichen Giebel gesellten sich noch dazu und alle betraten das Gebäude. Das war Peters Chance, in das flache Bauwerk zu gelangen. Er ließ den Sack mit dem Sprengstoff liegen und rannte auf das Gebäude zu. Die zweite Tür mit der Aufschrift ‘6A’ war nur angelehnt. Er öffnete sie vollends und erblickte einen dreißig Meter langen Flur quer durch das Gebäude verlaufend, an dessen anderem Ende sich ebenfalls eine Tür befand. In der Mitte des Flures, etwa zwanzig Meter entfernt, kam ihm eine Wache in Lederkleidung und MP entgegen. Der Mann hob die Hand, rief etwas, und bedeutete Peter, stehen zu bleiben. Was tun? Da die Flurtür einen Einsatz aus Glas hatte, hoffte Peter, die Wache konnte nur seine Silhouette erkennen, und nicht merken, daß er nicht hierher gehörte. Peter hob ebenfalls die Hand, brummte etwas und ging zur ersten Tür auf der rechten Seite, die nur zwei Meter von ihm entfernt war. Er hoffte inständig, diese nicht verschlossen vorzufinden. Sie war offen und er trat ein. Auf einem Bett in dem kleinen Raum lag ein Mann, in einem Buch lesend. Peter legte die Hand auf den Mund und bedeutete ihm, ruhig zu sein. Er blickte sich rasend schnell nach einem Versteck um und sah, daß in der hinteren, rechten Ecke eine Naßzelle eingebaut war - ein Glasfiberbehälter mit integriertem WC und Dusche. Er stellte sich in die Dusche, nachdem er dem Mann durch Handzeichen zu verstehen gab, es käme gleich eine Wache herein und er möge ihn nicht verraten. Peter hörte, wie die Tür geöffnet wurde und die Wache hereinkam. Der Wächter herrschte den Mann auf dem Bett an, daß er außerhalb des Gebäudes nichts zu suchen habe, wenn er nicht gerade seinen Labordienst begonnen oder geendet hätte. Der Mann blieb ruhig liegen und erwiderte dem Wachmann, daß er mal frische Luft geatmet hätte und hier nicht im Gefängnis wäre. Schließlich arbeite er hier nur auf Zeit. Der Wächter lachte höhnisch und sagte ziemlich barsch, daß er, wenn er ihn noch einmal erwische, die längste Zeit hier gearbeitet hätte. Er lachte noch einmal auf und ging dann, die Tür zuwerfend, zurück auf den Gang. Der Mann legte sein Buch zur Seite, stand von dem Bett auf und ging zu Peter. Der kam aus der Dusche heraus und bedankte sich, daß er nicht verraten wurde. „Wer sind Sie, und was machen Sie hier? Ich habe Sie noch nie gesehen, obwohl ich fast alle kenne, die hier arbeiten:“ Der Mann sprach englisch und mußte, seinem Akzent nach, aus England stammen. „Mein Name ist Peter. Ich bin Fotograf und wollte hier, etwas nördlicher in der Gegend, Urlaub machen. Dabei bin ich mit Ereignissen konfrontiert worden, die mich meinen Urlaub abbrechen ließen. Ich suche einen Amerikaner, einen Reporter. Er soll angeblich hier gewesen sein und hat danach nie wieder etwas von sich hören lassen.“ Peter zeigte dem Briten das Bild von Lisas Bruder. Der nahm es und betrachtete es lange. Er blickte Peter an. „Ja, ich glaube, der ist vor
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 43 von 76
ein paar Wochen hier gewesen. Er wurde von den Wachen gefangen genommen, als er hier eindrang und Aufnahmen machte. Sie wissen ja wohl wahrscheinlich was das hier für eine Art Fabrik ist?“ Peter nickte und der Mann sprach weiter. „Wir müssen hier sehr vorsichtig sein. Schon einige von uns sind plötzlich über Nacht von den Wachen abgeholt worden, nachdem sie sich bei der Leitung des Unternehmens beschwert hatten, unter völlig anderen Voraussetzungen angeworben worden zu sein. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.“ „Aber nun zurück zu dem Amerikaner. Soviel ich hörte, muß er den Wachen irgendwann entwischt sein. Sie haben noch tagelang nach ihm gesucht.“ Peter freute sich für Lisa, daß ihr Bruder höchst wahrscheinlich doch entkommen konnte und berichtete dem Briten jetzt alles, was er seit der Nacht in Santa Clara erlebt hatte. Er vertraute ihm und hoffte, daß alles, was sie hier beredeten, nicht weitererzählt wurde. Von dem Versuchsfeld bei Santa Clara hatte der Brite gehört. Es war irgendwann von Hilfskräften angelegt worden. Er wußte nur nicht, daß dabei über sechzig Menschen geopfert wurden. Den Dänen kannte er nicht persönlich. Aber bei der Anzahl Menschen, die seit seiner Ankunft hier verschwanden, fiel eine einzelne Person auch nicht auf. Von den ‘Mollusken’ hatte der Engländer soviel mitbekommen, daß in der untersten Etage - der Ebene A - Virologen arbeiteten, und verschiedene Versuche mit Wachstumshormonen auf Basis von Antikörpern gemacht wurden. Da er von dieser speziellen Materie nicht allzuviel verstand, und die Forscher der beiden untersten Ebenen von dem übrigen Personal getrennt untergebracht waren, kannte er deren Arbeitsgebiet auch nur vom Hörensagen. Peter unterbrach den Redefluß des Briten. „Warum, wenn fast jeder gewußt hat, wofür hier geforscht und was hier produziert wird, haben sich nicht alle dagegen aufgelehnt?“ „Nun, das ist leider so. Die Leute, die dort unten forschen, haben fast nirgendwo auf der Welt mehr die Möglichkeit, dort weiter zu machen, wo der normale Mensch die Grenze zieht und sagt, bis hierher und nicht weiter. Es wird immer Menschen geben, die über den Rand sehen wollen, den andere für sie errichtet haben. Für sie ist etwas, was die Gesellschaft als Verbrechen ansieht, ein Vorgang, der im Auftrag der Wissenschaft durchgeführt werden muß. Diese Leute unterscheiden nicht mehr zwischen Menschen und Versuchstieren. Für sie ist es dasselbe.“ „Sind denn hier alle so weltfremd und bar jeder Ethik?“ fragte Peter. „Nein, die meisten nicht. Wir anderen haben unsere ethischen Grundsätze, genau wie jeder Mensch; aber wir haben Angst, daß es uns so ergehen wird wie jenen, die schon verschwunden sind.“ Was glaubt Ihr denn, wenn die Produktion hier eingestellt, und die Forschungen beendet sind, was mit Euch geschieht?“ Peter hatte sich aufgeregt und fiel unwillkürlich in das ‘Du’ bei seiner Antwort. „Ich weiß es wirklich nicht.“ „Die können Euch gar nicht laufen lassen. Ihr seid alle Mitwisser von Deren verbrecherischen Machenschaften. Die müssen Euch beseitigen, ob Die wollen oder nicht. Der Brite schaute Peter nachdenklich an, als ob ihm erst jetzt klar geworden war, daß
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 44 von 76
sie sich alle in großer Gefahr befanden. Im seinem Unterbewußtsein hatte es sich schon länger festgesetzt und erst nach Peters Ansprache drang es nach außen und die reale Angst ergriff von ihm Besitz. Peter wechselte das Thema, denn die Schritte, die er nun unternehmen wollte, setzten das Einverständnis des Engländers voraus. „Zunächst einmal etwas völlig Anderes. Erstens: wie darf ich Sie nennen und....“ Der Brite unterbrach Peter. „Nun unterhalten wir uns schon eine ganze Weile und ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Brian - Brian Davis aus Manchester.“ Er streckte Peter seine Hand entgegen. „Hallo Brian. Ich habe aber noch eine zweite Frage. Ist es möglich für mich, irgendwie in das halbrunde Laborgebäude einzudringen, ohne daß ich bemerkt werde?“ Brian sah ihn überrascht an. „Aber warum willst Du in das....“ „Ich habe vorhin eine ganze Delegation von - ich nehme einmal an, das waren Interessenten, die das Zeug, was hier produziert wird, aufkaufen wollen - gesehen. Sie sind mit Helikoptern gelandet, die keinerlei Kennzeichen besaßen. Wahrscheinlich hast Du sie ebenfalls gehört?“ „Ja, gehört habe ich die Maschinen aber sehen konnte ich von hier - innerhalb des Gebäudes - natürlich nichts.“ „Ja nun, die Leute gingen jedenfalls in das Laborgebäude und ich würde gern wissen wollen, was die dort vorhaben“ fuhr Peter fort. Brian wußte, wo die Gruppe hinwollte. „In der obersten Ebene, wo ich arbeite, sind in der Mitte des Gebäudes Konferenzräume. Ich habe sie noch nicht betreten können, aber durch die Fenster konnte man erkennen, wann Die ihre Konferenzen abhielten.“ Brian hatte plötzlich eine Idee. „Mein Labormitarbeiter, Tom Paulin, ist seit zwei Tagen krank. Er hat sich ein Darmvirus eingefangen, und wird wohl noch ein paar Tage nicht arbeiten können. Für ihn kannst Du einspringen. Er hat, wenn man nicht so genau hinschaut, Deine Statur und sein Gesicht hat auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Deinem. Ich werde mich gleich einmal darum kümmern. Er wohnt nur zwei Zimmer weiter.“ Brian ging und Peter versteckte sich wieder in der Dusche. Ein paar Minuten später kam Brian zurück. Er hatte einen weißen Kittel mit Identitätskarte und eine Brille mitgebracht. „Tom weiß Bescheid. Er wird mitspielen. Hier, zieh’ den Kittel über und versuche, ob Du durch die Brille etwas siehst!“ Peter betrachtete das Foto auf der Identitätskarte. Es zeigte das Gesicht eines Mannes, das bei flüchtiger Betrachtung dem Seinen durchaus ähnlich war. Er zog den etwas zu engen Kittel an, setzte die Brille auf und blickte in den Spiegel. Er konnte fast nichts sehen. Die Brille besaß ziemlich starke Gläser, aber es mußte gehen, wenn er die Brille ganz nach vorn auf die Nasenspitze schob und darüber hinweg blickte. „Einen ersten Test werden wir schon jetzt wagen müssen. Wir werden gleich in die Kantine gehen und zu Mittag essen. Es ist jetzt kurz vor zwölf und um ein Uhr nachmittags beginnt heute unser Labordienst.“ Der Kantinenraum war im gleichen Gebäude untergebracht, in dem sie sich befanden. Am Eingang stand der Wächter, der vor einiger Zeit Brians Zimmer betreten hatte. Er
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 45 von 76
schaute Brian durchdringend an. Dadurch, und weil gleichzeitig noch mehrere Personen den Raum betraten, wurde Peter keines Blickes gewürdigt. Im gesamten Raum herrschte eine gespannte Atmosphäre. Es wurde wenig und auch nur gedämpft gesprochen. Brian ging mit Peter im Schlepptau - sie hatten sich jeder ein Fleischgericht und eine Flasche Mineralwasser aushändigen lassen - an einen der hinteren Tische, wo sie allein saßen. Peter konnte durch die Brille kaum sehen, was er auf dem Teller hatte. Es schmeckte aber vorzüglich und er dachte daran, daß er schon lange nichts mehr von einem Teller und an einem Tisch sitzend, gegessen hatte. Genau so wie Lisa, die dort oben irgendwo im Dschungel saß und auf ihn wartete. Verstohlene Blicke über den Brillenrand auf die an den Nachbartischen sitzenden Männer, überzeugten ihn, daß niemand von ihm Notiz nahm. Nach dem Essen gingen beide wieder zu Brians Unterkunft. Brian machte Peter so taktvoll, wie er es vermochte, darauf aufmerksam, daß er sich bei ihm auch duschen könne. Peter hatte sich, seit dem Bad im Fluß, nicht mehr richtig waschen können. Wahrscheinlich konnte man sein Kommen schon riechen. Das Duschen tat unheimlich gut und Peter fühlte sich fast als neuer Mensch. Sein Tatendrang erwachte wieder. Beim Anziehen bemerkte er, daß er noch die Pistole in der Hosentasche trug. Er fand eine im Bad herumliegende Plastiktüte, wickelte die Waffe darin ein, verknotete die Tüte, und versenkte sie im Spülkasten der Toilette. Die Minox steckte er in die Hosentasche. Kurz vor ein Uhr gingen sie hinüber zum Laborgebäude. Vor dem Haupteingang der Unterkünfte stand eine Wache, die sie aber nicht beachtete. Es war nicht der gleiche Eingang, den Peter vor einiger Zeit benutzt hatte, um in das Gebäude einzudringen. Dieser hier lag nach Süden und neben der Treppe, welche die Delegation, als sie vorhin vom Dach des Gebäudes herabstieg, benutzte. Zu ihnen gesellten sich noch eine größere Anzahl von Personen, und gemeinsam schritten sie die leichte Anhöhe hinab. Vor dem nördlichen Giebeltor standen immer noch zwei Wachtposten. Sie achteten darauf, daß jeder seine Plastikkarte am Kittel trug. Peter schaute dem einen Wachtposten durch seine Brille direkt in die Augen und wäre fast gestolpert, weil er nicht sehr viel sah. Schnell blickte er über den Brillenrand hinweg und orientierte sich wieder. Peter folgte Brian in die erste Etage. Sie benutzten die Treppe, welche gleich hinter dem Eingang, wo sich auch der Aufzug befand, in die Höhe führte. Im ersten Stock betraten sie einen Flur, der sich nach links gekrümmt - der Form des Hauses folgend - bis zu den Konferenzräumen erstreckte. Das Ende des Flures konnte man von hier aus nicht sehen. Die Labors lagen alle auf der linken Seite und hatten zum Flur Wände und Türen aus Glas. Man konnte vom Flur aus bis auf den Innenhof des Gebäudes schauen. Auf der rechten Flurseite befanden sich - gegenüber den Laboreingängen - Holztüren in einer fensterlosen Betonwand. Peter fragte Brian, wohin diese Türen führten, und bekam erklärt, daß auf dieser Seite die Lager- und Materialräume wären und ganz vorn, neben dem Aufzug, befänden sich die WCs. Brian ging zum vierten Laborraum, löste die Plastikkarte von dem Clip am Kittel und steckte sie in einen Schlitz neben der Tür. Es summte leise und die Tür öffnete sich. Brian nahm seine Karte wieder heraus, und bedeutete Peter, auch seine Karte dort hineinzustecken, um seine Anwesenheit zu registrieren, denn auf einem Display neben der
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 46 von 76
Tür wurde die Anzahl der Personen angezeigt, die zur Zeit in diesem Raum anwesend waren. Sie betraten das Labor. Von hier aus konnte man nicht mehr in die Nachbarlabors sehen, da die Trennwände zwischen den Räumen aus undurchsichtigem Glas bestanden. Peter wußte nicht, womit er sich beschäftigen sollte, um seine Anwesenheit nicht auffällig werden zu lassen, und Brian zeigte ihm einen Arbeitsplatz, wo er so tun konnte, als ob er eine wichtige Tätigkeit ausübe. Peter hatte ein Mikroskop vor sich stehen, und Brian holte einen ganzen Stapel Petrischalen mit Nährboden auf dem Grund der Gläser. Auf diesen Nährböden waren in unregelmäßigen Abständen Bakterienkolonien verteilt. Diese sollte er mit einer Art Zählgerät mengenmäßig erfassen. Hierbei konnte Peter die Brille nun überhaupt nicht gebrauchen und schob sie auf die Stirn. Er legte eine Petrischale unter das Mikroskop und blickte durch das Okular. Die Petrischale war unter der Optik in voller Größe, durch ein Gitterraster unterteilt, zu sehen. Peter fing an zu zählen, indem er jedesmal auf den Auslöser des Zählgerätes drückte, wenn er einen der Bakterienherde erkannte. Die Gesamtmenge einer Schale wurde dann in eine Tabelle eingetragen. Nachdem Peter einige Schalen durchgezählt hatte, ging er zu Brian. Sie hatten bis dahin weiter kein Wort mehr gewechselt, weil dieser so auf seine Arbeit konzentriert war, daß er seine Umgebung völlig vergessen hatte. Peter sprach leise. „Ich werde jetzt versuchen, zu den Konferenzräumen zu gelangen. Falls jemand mich doch erwischen sollte und bei Dir nachfragt, kennst Du mich nicht. Es war ja eigentlich auch Tom, der heute hier gearbeitet hat. Jedenfalls nach der Karte zu urteilen. Ich werde mich aber auf keinen Fall erwischen lassen, und komme hierher zurück! Wenn jemand fragen sollte, bin ich - Tom - unterwegs zu den Waschräumen oder zur Krankenstation. Wie Du sagtest, leidet Tom ja immer noch an seiner Darmgrippe.“ „Viel Glück, Peter. Laß’ Dich nur nicht erwischen. Du weißt ja, Die fackeln nicht lange herum. Noch so ein Fehler, daß Denen jemand entkommt, können Die sich nicht leisten.“ Peter ging auf den Flur und steckte die Karte wieder von außen in den Schlitz. Aus der Zwei auf der Anzeige wurde eine Eins. Peter ging zurück zu den Waschräumen und sah sich um. Kein Mensch war auf dem Flur zu sehen. Er ging auf eine Tür zu, die noch vor dem Eingang zu den WCs lag, und sah gleichzeitig in das gegenüberliegende Labor. Dort arbeiteten drei Leute und kehrten ihm den Rücken zu. Er öffnete die Holztür und stand in einem Lagerraum in dem auf allerlei Regalen verschiedene Laborgeräte und Glasgefäße herumstanden. Dieser Raum hatte kein Fenster - nur ein Oberlicht. Peter dachte daran, daß ja das ganze Gebäude an der Außenseite kein Fenster besaß. Links an der Wand, hinter einem Regal, befand sich eine Tür, die in den nächsten Raum führen mußte. Das Regal stand etwa einen Meter von der Wand entfernt und Peter lief um es herum und öffnete die Tür zum nächsten Raum. Dieser war, ähnlich dem ersten, auch mit allerlei Gerätschaften gefüllt. Peter mußte noch durch sechs weitere Lagerräume hindurch, in denen größtenteils Plastiktonnen mit Chemikalien gefüllt, aufbewahrt wurden. Auf den dazwischen stehenden Regalen lagerten außerdem noch verschiedene elektrische Laborgeräte, deren Sinn und
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 47 von 76
Zweck Peter nicht ergründen konnte. Der Raum, den er jetzt betrat, unterschied sich von den vorhergehenden nur dadurch, daß ein Regal direkt an der hinteren Wand stand und keine Tür mehr zum nächsten Raum führte. Über dem Regal - fast unter der Decke - kam direkt aus der Wand ein zieharmonikaförmiger Schlauch, der zur Außenmauer des Gebäudes führte und dort befestigt war. Es sah aus, wie ein Lüftungsrohr. Er kletterte auf das Regal und setzte sich dort oben neben den Lüftungsschlauch. Vorsichtig schnitt er diesen mit seinem Taschenmesser zur Hälfte auf. Das erwies sich als unkompliziert, denn der Schlauch war aus diesem Material, welches auch im Kraftfahrzeugbau Verwendung findet. Nur der Durchmesser war wesentlich größer. Peter stellte noch einige kleine Chemikalientonnen hinter sich an die Regalkante, so daß er nicht gesehen werden konnte, wenn jemand zufällig den Raum betreten sollte. Vor ihm lag nun der Konferenzraum, den er - nur durch ein Gitter vor Entdeckung geschützt - vollständig von seinem erhöhten Standpunkt überblicken konnte. Im hinteren Teil des Raumes standen vier Tische quer nebeneinander, hinter denen jeweils ein Mann saß. Die bei Konferenzen obligaten Namenskarten waren auch auf den Tischen verteilt, nur waren dort keine Namen, sondern nur die Buchstaben „A“ „B“ „C“ und „D“ aufgedruckt. Längs des Raumes standen zwei Reihen Tische, an denen die Delegation saß, die heute hier eingeflogen wurde. Auf diesen Tischen hatten die Namenskärtchen nur Ziffern von „1“ bis „21“. Alle Tische zusammen bildeten ein großes „U“, dessen offene Seite in Peters Richtung zeigte. Der, mit dem „B“ vor sich auf dem Tisch, fing an zu reden. Er hatte orientalische Gesichtszüge, war ziemlich groß und sehr schlank. Peter war durch Zufall zum richtigen Zeitpunkt gekommen. „Meine Herren, wir haben Sie hierher eingeladen, um Ihren Regierungen und Organisationen eine Möglichkeit in die Hand zu geben, Ihre Ziele und Wünsche zu verwirklichen, ohne Milliarden von Dollars in teure militärische Rüstung zu investieren. Das Produkt, was wir Ihnen hier offerieren können, ist von der Wirkung her, um ein Vielfaches effizienter als alles, was bislang auf diesem Markt zu bekommen war.“ „B“ hielt eine der Ampullen mit dem blauen Pulver in die Höhe. „Hier sehen Sie eine Einheit mit Zündmechanismus. Sie haben die Auswahl zwischen einigen Arten von Zündmechanismen, die auf Aufschlag, Uhrzeit, Luftdruck und definierter Höhe über dem Einsatzgebiet reagieren. „In gesichertem Status ist diese Einheit völlig ungefährlich und kann auch aus großer Höhe auf den Boden aufschlagen. Hier, sehen Sie!“ Er ließ die Ampulle auf den Boden fallen. Ein Aufschrei ging durch die gesamte Delegation und Peter wollte auch schon flüchten, aber natürlich geschah nichts. Das Glas behielt seinen Verderben bringenden Inhalt. „Sie können beruhigt sein, das Glas ist unzerbrechlich und kann nur durch den Zünder zerstört werden.“
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 48 von 76
„Das blaue Pulver in der Einheit besteht aus Sporen eines von uns speziell gezüchteten Pilzes, der als Träger des Aggloma-Virus fungiert. Das Aggloma-Virus ist eine von uns entwickelte Abart des Ebola-Virus, nur wesentlich effizienter als dieser. Es werden nur humanoide Vitae terminiert. Bovines Leben ist davon nicht betroffen.“ „Das Virus gelangt über die Atemwege in den Körper. Sofort nach dem Einatmen wird die Sporenhülle zerstört, und das Virus freigesetzt. Etwa zwei bis drei Minuten später, je nach Konstitution, tritt der Exitus ein. Das sichtbare Finalstadium, bei dem sämtliche Zellwände zerstört und die Zellflüssigkeit frei im Körper vagabundiert, wird dann nach etwa zwei Stunden erreicht.“ „Darüber zeigen wir Ihnen nachher ein Video.“ „Nach weiteren zwei bis vier Stunden ist die Virulenz total abgeklungen. Das Zielgebiet kann dann gefahrlos betreten, und die humanoide Remanenz entsorgt werden.“ „Zur Haltbarkeit der nicht eingeatmeten Sporen kann gesagt werden, daß sie bei hoher Luftfeuchtigkeit, wie in dieser Gegend, etwa vierzig Minuten aktiv bleiben. Direkt ins Wasser gelangt, wenn dieses Temperaturen unter 36 Grad Celsius oder weniger als 96 Grad Fahrenheit aufweist, werden sie sofort inaktiv und in trockenen Gebieten bleiben sie etwa zwei bis drei Stunden virulent.“ „Und nun zu dem Video. Wir haben hier in der Nähe einen Feldversuch durchgeführt. Bei diesem hatten wir eine Testpopulation von etwa sechzig Humanoiden zur Verfügung. Die Sporenmenge betrug etwa soviel, wie Sie hier in einer Einheit zur Verfügung haben. Das davon abgedeckte Zielgebiet erstreckte sich über neun bis zehn Quadratkilometer bei einer Windstärke von etwa eins, also fast bei Windstille.“ „B“ gab ein Zeichen an „D“, der darauf das Video ablaufen ließ. Eine Aufzeichnung von Santa Clara an dem Vormittag, wo die Fahrzeugkolonne kam, um die Leichen zu ‘entsorgen’, wie sie das nannten. Das Video zeigte viele der armen Kreaturen, die Lisa und er auch zu Gesicht bekommen hatten, bevor sie den Ort des Grauens verließen. Als das Band zu Ende war, stand „A“ auf und kam auf die finanziellen Aspekte zu sprechen. „Sie haben jetzt eine Demonstration der Leistungsfähigkeit unseres Produktes erhalten.“ (Er sprach wie ein Firmenchef, der eine Vertreterschar von der Produktgüte seiner Staubsauger überzeugen wollte) „Wir werden jetzt über Preise reden. Sie haben bei meinem Kollegen eine Einheit vorgeführt bekommen. Diese Einheit kostet 200’000 US Dollar. Je ein Dutzend dieser Einheiten sind verpackt zu einem Target-Cluster. Dieser ist auch die Mindestabnahmemenge und kostet, wie Sie leicht errechnen können, 2’400‘000 US Dollar. Rabatte können wir nicht gewähren, aber die Lieferung an ihre Zieladresse können wir auf Wunsch zu Ihren Lasten, mit der, durch die Art der Ware, gebotenen Diskretion durchführen.“ „Sie können von hier aus an Ihre Regierungen und Organisationen faxen oder telefonieren.“ „Sie haben alle von uns eine, speziell nur für Sie geltende, Kontonummer erhalten. Sobald der Betrag, der für Ihre bestellte Ware von uns errechnet, und auf dem entsprechenden Konto gutgeschrieben ist, verfügen Sie über die Ware, beziehungsweise sie wird von uns angeliefert. Die Modalitäten werden wir noch in Einzelgesprächen
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 49 von 76
erörtern.“ Peter fotografierte die ganze Gruppe, und versuchte möglichst alle Gesichter auf den Film zu bannen. Einzelne Personen erhoben sich von den Sitzen und gingen hinüber zur Fensterfront, wo mehrere Telefone und Faxgeräte in kleinen Nischen standen. An diejenigen der Gruppe, welche noch sitzen geblieben waren, wurden Optionszettel verteilt. In dem Saal herrschte eine große Hektik. Peter kletterte von seinem Regal herab, wobei er den Schlauch wieder so hinbog, daß der Schnitt von unten fast nicht mehr sichtbar war. Auf dem Weg zurück, durch die Lagerräume, begegnete ihm zum Glück niemand. Nur in einem der Letzten hörte er Stimmen, und mußte ein paar Minuten - an der Tür lauschend - warten, bis die Tür zum Flur zuschlug, und er seinen Weg fortsetzen konnte. Er erreichte den letzten Raum. Es war der gleiche, von dem aus er seinen Weg zum Konferenzsaal vor einiger Zeit begonnen hatte. Seine Uhr zeigte vier Uhr nachmittags. Wenn er die eine Stunde, welche er im Labor verbracht hatte, abzog, hatte seine Abwesenheit insgesamt zwei Stunden gedauert. Vorsichtig, nur einen Spalt breit, öffnete er die Tür zum Flur. Es waren keine Schritte zu hören, und Peter stieß die Tür vollends auf. Er schaute in die Gesichter von zwei Wissenschaftlern, welche direkt hinter der Glastür des ersten Labors in ein Gespräch vertieft waren und interessiert hochschauten, als er so geräuschvoll die Tür öffnete. Peter lächelte die beiden an, zuckte die Schultern, und schloß die Tür. Diesmal etwas langsamer. Er deutete auf seine Brille und dann auf die Waschräume, um ihnen mit den Händen klar zu machen, er hätte sich in der Tür geirrt. Die Tür zu den Waschräumen lag gleich nebenan. Peter hielt sich ein paar Minuten dort auf, und reinigte seinen Kittel, der auf dem Regal ziemlich staubig geworden war. Als er den Weg zu Brians Labor nahm, sah er aus den Augenwinkeln, wie die beiden über seine Tolpatschigkeit immer noch grinsten. Brian schaute von seiner Arbeit hoch, als Peter den Raum betrat. An Brians ruhigem Gesicht konnte er erkennen, daß während seiner Abwesenheit nichts Besonderes vorgefallen sein konnte. Peter ging darauf zu Brian und sagte ihm, daß sie sich nach Dienstschluß über alles ausführlich unterhalten müßten. Um sieben Uhr abends - es war schon fast dunkel - beendete Brian seine Arbeit. Er hatte seit Peters Ankunft nicht mehr sehr intensiv gearbeitet, des Öfteren vor sich hingestarrt, und irgendwelche Überlegungen angestellt. Wortlos gingen sie hinauf zu den Unterkünften. Peter hatte seine Brille auf die Stirn geschoben, um sich in der Dunkelheit, die nur durch einige Scheinwerfer auf den Gebäuden erhellt wurde, zurecht zu finden. Mit ihnen zusammen verließen auch die Mitarbeiter, welche er schon bei Dienstantritt wahrgenommen hatte, das Gebäude. Er sah sich um. Die Deckenlampen in den Labors waren schon zum größten Teil abgeschaltet, und das Gebäude lag im Halbdunkel hinter ihm. Nur in den Ebenen, die unterhalb des Terrains lagen, waren noch eine ganze Anzahl Lichter eingeschaltet, wie Peter durch die Glaskuppel des Innenhofes erkennen konnte. Brian ging zu seiner Unterkunft und bedeutete Peter, erst einmal zu Tom’s Zimmer zu gehen, bis sich auf dem Flur alles beruhigt habe.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 50 von 76
Peter ging zu Tom, begrüßte ihn, und erkundigte sich nach dessen Befinden, nachdem er sich erst einmal vorgestellt hatte. Tom war ein blasser, rothaariger Mensch. Er war sehr hager, lag bei Peters Eintreten im Bett und döste vor sich hin. Peter erklärte ihm, daß er gleich wieder zu Brian zurück müsse. Von ihm könne er ja dann, am morgigen Tag, alles erfahren, was er wissen wollte. Peter horchte an der Tür. Die Schritte auf dem Flur waren verklungen. Er hob wortlos die Hand, um sich von Tom zu verabschieden, und ging zu Brians Unterkunft. Der Flur war jetzt menschenleer. Brian saß in einem Stuhl als Peter eintrat. Er hatte eine Flasche Whiskey vor sich stehen und schon ein Glas gefüllt. Als er Peter sah, hob er fragend den Kopf und deutete auf die Flasche. Peter dankte. Er wollte heute nüchtern bleiben und begann zu berichten. „Heute war für ‘Die’ der Tag „X“. Sie haben begonnen, die ganze Produktion von dem Dreck, den Ihr hergestellt habt, zu verkaufen. Die wollen Hunderte von Millionen damit ergaunern. Das werde ich nicht zulassen. Ich glaube, ich habe die Möglichkeit, das zu verhindern. Du mußt mir nur eins versprechen: heute mit keinem Menschen mehr darüber zu reden, und auf keinen Fall dieses Gebäude zu verlassen. Bitte bespreche diesen Aspekt auch mit den Leuten, mit denen Du Kontakt hast. Also noch einmal, bitte verlaßt dieses Gebäude nicht vor morgen früh, vor allen Dingen nicht in Richtung des Laborgebäudes.“ „Warum, was hast Du vor?“ fragte Brian. „Wenn alles so läuft, wie ich mir vorgestellt habe, kann ich das ganze Zeug vernichten, ohne daß Menschen dabei zu Schaden kommen werden. Frag’ mich bitte nicht wie. Ihr werdet es morgen früh bestimmt zu sehen bekommen.“ Peter holte seine Pistole aus dem WC, die Brian mit Argwohn betrachtete. „Keine Angst, ich werde niemand damit erschießen. Nicht einmal einen von diesen Halunken, die unsägliches Leid über die Menschen bringen wollen. Die Pistole ist nur für meine eigene Sicherheit“ „Ich werde mich jetzt verabschieden. Wenn alles so ausgeht wie ich denke, seid Ihr ab morgen früh auf Euch allein gestellt. Versucht vorher noch ein paar Lebensmittel zu organisieren, denn bevor hier Hilfe eintrifft, um Euch rauszuholen, kann es einige Tage dauern. Versucht, Euch von den Wachmannschaften fernzuhalten, denn ich weiß nicht, auf welcher Seite sie stehen. Es kann sein, daß sie noch Loyalität für ihre Arbeitgeber empfinden, und versuchen, Euch zu beseitigen.“ Er gab Brian noch ein letztes Mal die Hand und ging dann entschlossen hinaus auf den Flur. Vor dem Eingang zu den Unterkünften stand ein Wachtposten, wie Peter durch das Glasfenster der Eingangstür erkennen konnte. Er wartete eine Minute, um sicher zu gehen, daß nicht noch irgendwann ein zweiter Posten auftauchte. Entschlossen öffnete er die Tür, und bevor der Wächter sich zu ihm umdrehen konnte, schlug er ihm den Lauf der Pistole gegen die Schläfe. Der Mann sackte zusammen und Peter fing ihn mit seinen Armen auf. Dann schleppte er ihn schnell unter die große Treppe und sah hinunter zu den beiden Wächtern am nördlichen Giebel des Laborgebäudes. Die hatten nichts bemerkt und unterhielten sich angeregt. Peter zog dem Mann die Lederjacke aus und entfernte den Gürtel aus dessen Hose. Mit dem Gürtel fesselte er die Hände des Wächters und band sie an einem Stützpfeiler der Treppe fest. Die Lederjacke zog er ihm über den Kopf und verknotete deren Ärmel im
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 51 von 76
Nacken des Mannes. So bekam dieser noch etwas Luft, konnte aber nur stark gedämpfte Laute von sich geben, falls er erwachte und zu schreien begann. Peter schaute sich noch einmal um. Mittlerweile war es fast stockdunkel geworden. Nur die Scheinwerfer auf den Gebäuden warfen einige helle Lichtkreise auf den Erdboden, und das Sternenlicht erhellte den Himmel nur schwach. Die Wächter waren immer noch in ihr Gespräch vertieft Peter schlich geduckt, die erhellten Stellen auf dem Boden vermeidend, in Richtung des Hanges. Er schlüpfte unter dem riesigen Wasserrohr hindurch und konnte sich zwischen dem Hang und dem Rohr wieder aufrichten. Hier irgendwo mußte der Rucksack liegen, den er heute morgen zurückgelassen hatte. Er ging ein Stück in südliche Richtung und hatte ihn nach kurzer Zeit entdeckt, weil er zufällig dagegen stieß. Hinter dem Rohr herrschte totale Finsternis, aber Peter konnte den Inhalt des Sackes erfühlen. Nach einer Viertelstunde hatten sich seine Augen so an die Dunkelheit gewöhnt, daß er im Licht der Sterne sogar Einzelheiten erkennen konnte. Um seinen Plan zu verwirklichen, brauchte er ein paar größere Steine, die hier überall herumlagen. Er holte die zu Bündeln gepackten Dynamitstäbe aus dem Sack und steckte in jedes Bündel eine Zündkapsel. Die Zündschnur teilte er in mehrere gleichlange Stücke und verband sie mit den Kapseln. Peter verteilte die Dynamitbündel auf einer Länge von sechs bis sieben Metern unter dem Wasserrohr, und legte unter jedes Bündel große Steine, damit der Sprengstoff direkt am Rohr anlag, und von unten eine Dämmung aus Stein erhielt, was die Wirkung verstärken sollte. Mit dieser Arbeit war er durch die Finsternis und das unbequeme Hantieren unter dem Rohr, fast eine Stunde beschäftigt. Peter band die Zündschnüre zusammen und befestigte daran noch eine weitere, mehrere Meter lange, Lunte. Er band sich das Ende um sein Handgelenk, nahm den Rucksack auf die Schulter, und wollte an dem Seil, welches dort seit heute morgen hing, zu dem Felsvorsprung hinaufklettern. Das erwies sich als leichter gesagt als getan, da Peter als Stadtmensch kein besonders guter Kletterer war. Das letzte Mal, wo er an einem Seil klettern durfte, geschah während seiner Militärausbildung. Nach einiger Zeit mühsamer Plackerei und noch mehr Hautabschürfungen an Armen und Händen hatte er es endlich geschafft. Sogar die Lunte befand sich noch an seinem Handgelenk. Auf dem Felsvorsprung ruhte er sich erst einmal aus, um zu Atem zu kommen. Unten auf dem Gelände war alles ruhig. Das Laborgebäude lag völlig im Dunkel, nur die beiden Eingänge waren erhellt. Peter sah zu den beiden Posten hinunter und konnte noch zwei weitere vor dem südlichen Giebel erkennen. Den Wächter, welchen er vor den Unterkünften niedergeschlagen hatte, konnte man unter der Treppe nicht erkennen, denn diese wurde nicht von den Scheinwerfern beleuchtet. Man hatte ihn anscheinend auch noch nicht gefunden, und vermißt wurde er auch nicht, sonst wäre schon längst Alarm ausgelöst worden. Das schwach erleuchtete Dach des Wohngebäudes war leer. Die Helikopter waren fort, und Peter hatte es vor Aufregung nicht einmal mitbekommen wann sie das Gelände verlassen hatten. Peter entzündete das Ende der Lunte und ließ sie hinunter zum Fuß des Hanges fallen. Er hoffte inständig, daß sie nicht erlosch. Er blickte nach unten und sah in der Dunkelheit den glimmenden Punkt, der sich, nachdem er einmal etwas heller aufleuchtete, in mehrere helle Punkte aufteilte, die unter dem Rohr verschwanden. Peter trat zurück, preßte sich in die hinterste Nische des Felsvorsprungs und hielt sich den jetzt fast leeren Rucksack vor
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 52 von 76
Gesicht und Ohren. Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde tat es mehrere gewaltige, ohrenbetäubende Schläge, daß er einen Augenblick dachte, der ganze Hang stürze mit ihm zusammen in die Tiefe, aber Peter wurde nur durch den Luftdruck in die Höhe gerissen und gegen den rückwärtigen Felsen geschleudert. Wasserfontänen und große Metallfetzen stiegen vor ihm in die Höhe, aber er wurde von keinem Metallteil getroffen - nur völlig durchnäßt. Peter bewegte sich vorsichtig nach vorn. Auf dem schlammbedeckten Fels konnte man leicht abrutschen und nach unten stürzen, deshalb band sich Peter vorsichtshalber das Seil um die Hüfte. Nach unten blickend sah er, daß das Rohr auf einer Länge von acht bis zehn Metern völlig weggesprengt war. Es fehlte einfach ein Stück. Das talseitige Rohrende stand, durch die Sprengwirkung zusammengefaltet und flachgedrückt, am Hang. Aus dem entgegengesetzten Ende rauschten riesige Wassermassen über das Gelände und ergossen sich in den Innenhof des Laborgebäudes. Die Wachtposten waren verschwunden, und kurze Zeit darauf heulte eine Alarmsirene los, die aber bald wieder verstummte. Die Scheinwerfer wurden merklich dunkler und erloschen alsbald. Der Generator, der durch das Wasser angetrieben wurde, produzierte keine Elektrizität mehr. Das ganze Gelände lag in völliger Dunkelheit, nur das unheimliche Tosen des Wassers drang von unten zu ihm herauf. Nach einer ganzen Weile erleuchteten einige schwache Lampen an den Gebäuden das Areal. Jemand hatte wahrscheinlich einen oder mehrere Notgeneratoren angeworfen. Peter sah, als das Wasser im Innenhof schon fast einen Meter hoch stand, wie die Glaskuppel des Lichthofes durch des Gewicht der Wassermassen einstürzte und das Wasser die unter der Erdoberfläche liegenden Stockwerke überflutete. Das entstandene Loch füllte sich nach einigen Minuten bis zur Erdoberfläche. Die Wasserfläche stieg durch den Druck der nachfolgenden Flut bis auf eine Höhe von mehreren Metern im Innenhof, als der südliche Teil des Gebäudes nach außen wegkippte und in sich zusammenstürzte. Die dadurch entstandene riesige Flutwelle setzte sich in südlicher Richtung in Bewegung und krachte mit voller Wucht gegen das nur wenige Meter entfernte Produktionsgebäude, dessen nördliche Wand dröhnend zerbarst, und die für das Syndikat wertvolle Ware unter sich begrub. Die Welle tobte durch das Gebäude und riß es in Stücke und spülte die Teile hinunter in den Rio Aponguao, wobei sie den hinter dem zerstörten Gebäude liegenden Parkplatz ebenfalls einebnete und die Fahrzeuge gleich mitnahm. Wenn jetzt noch irgendwelche unzerstörte Ampullen mit dem tödlichen Virus existierten, lagen sie auf dem Flußgrund und die mahlenden Kiesel dort unten trugen dazu bei, daß niemals wieder eine auftauchte und Unheil anrichten konnte. Das ausströmende Wasser hatte sich im dem weichen, aufgeschütteten Sand über dem Felsboden ein neues Bett gegraben. Der neu entstandene Flußlauf strömte, bei etwa zehn Meter Breite, genau dort hindurch, wo einst das Produktionsgebäude stand. Fast nichts erinnerte mehr daran. Vor den Unterkünften standen eine Menge Leute und schauten auf den wildbewegten See, der sich zu ihren Füßen ausdehnte. Sie schienen nicht sonderlich beunruhigt, denn der Wasserspiegel stieg nicht mehr weiter. Peter konnte die Menschen in der Dunkelheit
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 53 von 76
nicht direkt erkennen, aber an dem Aufleuchten von einigen Taschenlampen und dem Glimmen von Zigarettenglut erahnte er deren Anwesenheit. Peter hatte alles getan, was in seiner Macht lag. Hier konnte er nichts mehr tun ohne sich unnötiger Gefahr auszuliefern. Er mußte jetzt daran denken, seinen Rückzug vorzubereiten. Kapitel 7
Die Flucht
Peter nahm den Rucksack wieder auf seine Schultern. Er brauchte ihn, um seinen Rücken vor dem nassen, scharfkantigen Fels zu schützen, während er versuchte in der Felsspalte zur oberen Kante des Hanges zu gelangen. Das Seil nützte ihm dabei auch nicht viel. Es war durch das hochgeschleuderte Wasser naß und mit Lehm verschmutzt. Mit den Füßen konnte er sich auf der einen Seite der Felsspalte abstützen, während er sich den Rücken gegen die andere Seite gepreßt - an dem Seil Stück für Stück in die Höhe zog. Seine Arme wurden langsam gefühllos, und er ruhte sich - die Füße auf der gegenüberliegenden Seite fest an den Fels gestämmt - ein paar Minuten in sitzender Position aus. Der Felsvorsprung lag unsichtbar unter ihm in dunkler Tiefe. Die Rückenmuskeln verkrampften langsam von der andauernden, gegen den Fels gepreßten Haltung. Er dachte, er käme überhaupt nicht mehr weiter, und müßte wieder hinunter zu dem Felsvorsprung herabsteigen, als er endlich - er meinte, er wäre schon stundenlang geklettert - die Kante erreichte. Erschöpft blieb er am Rand liegen. Seine Uhr zeigte ein Uhr in der Nacht. Die ganze Kletterei hatte nur eine Viertelstunde gedauert. Er lauschte in die Nacht. Unten war bis auf das Rauschen des Wassers nichts zu hören. Zwischen den wenigen, trüben Lichtkegeln konnte er auch keine Bewegung mehr erkennen. Peter wollte möglichst schnell weg von hier oben. Er hatte keine Ahnung, ob sie schon angefangen hatten, ihn zu suchen. Wenn sie vorhatten, die Suche aufzunehmen, mußten sie erst einmal wissen, in welcher Richtung sie suchen sollten. Er glaubte, keine Spuren, die zu ihm führten, hinterlassen zu haben. Doch wenn sie bei dem Explosionsherd beginnen sollten, mußten sie erst die Wasserzufuhr stoppen. Der Absperrblock lag auf dem Berg am Oberlauf des Flusses, und konnte von unten nicht gesteuert werden, weil erstens keine Elektrizität mehr vorhanden war, und zweitens die Steuerkabel bei der Explosion mit in die Luft geflogen waren. Die einzige Möglichkeit, die sie hatten, bestand darin, sich mit den Posten am Eingang in der Seitenstraße zu verständigen. Wenn die dort Fahrzeuge hätten, könnten sie die ganze Gegend nach ihm abkämmen. Außerdem waren immer noch zwei Landrover unterwegs. Peter hatte die Fahrzeuge, welche sich von Santa Clara in nördliche Richtung entfernt hatten, nicht wieder auf dem Gelände auftauchen gesehen. Er band das Seil vom Baum los und tastete sich langsam voran durch die Dunkelheit, die nur durch das flackernde Glitzern der Sterne ein wenig abgemildert wurde. An einem blattlosen, abgestorbenen Gebüsch brach er den längsten Zweig, den er erreichen konnte, ab. Er hatte Angst in eine Felsspalte zu rutschen und sich etwas zu brechen. Hier würde ihn niemand finden, außer vielleicht der Suchtrupp und dem wollte er nun wirklich nicht in die Hände fallen. Mit seinem Stock tastete er sich, wie ein Blinder, voran durch den nächtlichen Dschungel, und hoffte, kein größeres Tier, wie etwa ein Jaguar oder eine
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 54 von 76
große Schlange, hätte ihn entdeckt und bekäme Appetit auf ihn. Gestern morgen, als er bei Tageslicht in entgegengesetzter Richtung durch diese Gegend lief, hatte er nicht bemerkt, wieviele Unebenheiten es in dem Waldstück gab. Jetzt bei Dunkelheit kam es ihm so vor, als ob er dauernd irgendwelchen Hindernissen ausweichen mußte. Ein tiefer Einschnitt kreuzte seinen Weg zur Straße. Er tastete mit dem Zweig - auf dem Bauch liegend - ob er mit diesem auf den Grund kam. Nein, er stieß ins Leere. Sein Feuerzeug flammte auf, und er konnte erkennen, daß es ein ausgetrockneter, circa drei bis vier Meter tiefer Bach war. Den hatte er gestern morgen nicht überquert, soweit er sich erinnerte. Vielleicht hatte er ihn an einem anderen, flacheren Teilstück passiert, oder das Bachbett war an dieser anderen Stelle mit Steinen gefüllt, und er hatte es nicht wahrgenommen. Er mußte jedenfalls hinüber und hatte keine Zeit, einen günstigeren Weg zu suchen. Er rutschte vorsichtig die Böschung hinunter und steckte plötzlich mit den Stiefeln bis zu den Knöcheln im Morast fest, der sich am Grund des Bachbettes gesammelt hatte. Mühsam konnte er sich aus der klebrigen Masse befreien und ein Stück zurückkriechen. Fast hätte er seinen Stiefel eingebüßt. Sein Fuß rutschte heraus, und der Stiefel stak, halb versunken im Schlamm. Mit beiden Händen zerrte er ihn aus dem Morast und zog ihn wieder an. Er leuchtete noch einmal, ob er die gegenüberliegende Böschung zu Gesicht bekam. Der Schlamm erstreckte sich hier über zwei Meter Breite auf dem Grund und der jenseitige Hang begann etwa einen Meter weiter. Mit brennendem Feuerzeug sprang er hinüber und landete im Trocknen. Die Flamme erlosch während des Sprunges, und er zündete sie wieder an, um zu sehen, wie der Hang beschaffen war. Der Aufstieg war viel leichter, denn die Uferregion fiel flacher zum Bachgrund ab. Ein gutes Stück kam er jetzt problemlos voran, wenn er davon absah, daß sein Fuß jetzt anfing, zu schmerzen. Der anhaftende Schlamm ließ einige Blasen entstehen. Hoffentlich platzten sie nicht so bald auf und der Fuß entzündete sich. Tiefes, kehliges Gebrüll ließ ihn erschreckt aufhorchen. Es wurde immer stärker und stärker, als wenn mehr und mehr Stimmen sich dazugesellten. Aber zum Glück waren es keine menschlichen Stimmen. Eine Horde Brüllaffen fühlte sich im Schlaf gestört wahrscheinlich von einem Jaguar. Die machten ihrem Unmut Luft. Große Felsengruppen versperrten ihm jetzt den Weg. Er mußte sie weitläufig umgehen, und sich des öfteren nach den Sternen orientieren, um die Richtung nicht zu verlieren. Langsam fing es an zu dämmern. Er sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr dreißig, und er stellte fest, daß er schon mehrere Stunden unterwegs war. Jetzt, wo es heller wurde, kam er wesentlich schneller voran und konnte den ‘Blindenstab’ fortwerfen. Bald darauf erreichte er die Straße. Durch Buschwerk gedeckt, lief er parallel zur Straße in südlicher Richtung. Erst nach schätzungsweise zwei Kilometern erreichte er die Abzweigung. In der Dunkelheit war er doch etwas von der Richtung abgewichen. Natürlich, wie bei Menschen üblich, nach links. Wenn ein Mensch keine Orientierung hat, an die er sich halten kann, und denkt, er laufe geradeaus, weicht er instinktiv fast immer nach links ab. Es sei denn, er ist Linkshänder. Diese haben meist einen ‘Rechtsdrall’. Er lauschte vor der Abzweigung. Von dort unten kam kein Fahrzeug herauf, und Fußgänger konnte er auch nicht ausmachen.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 55 von 76
Rasch überquerte er die Seitenstraße und warf sich kurz darauf hinter ein Gebüsch. Ein Fahrzeug kam ihm aus südlicher Richtung entgegen. Es mußte, dem Geräusch nach, ein großer Wagen sein. Hinter der Deckung liegend sah er einen Sattelschlepper, der an ihm vorüber, in nördlicher Richtung fuhr. Es war so ein Fahrzeug, was man zum Transport von Baumstämmen benutzte. Es war auch voll beladen mit Stämmen von Edelhölzern, und fuhr unbeirrt an der Abzweigung vorbei. Peter erhob sich und legte das kurze Stück bis zu ihrem Versteck zurück. Dort drinnen war alles still. Er ging an das Zelt. Lisa schlief noch. Er weckte sie und sie fielen sich in die Arme. „Peter, daß Du wieder da bist. Ich habe so lange warten müssen und Angst gehabt, daß Du überhaupt nicht mehr wiederkommst. Erzähl’ doch, wie ist es dir ergangen - und wie verschmutzt siehst Du aus.“ Das war nun Peters geringste Sorge. „Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier, Lisa. Es kann sein, daß ich verfolgt werde. Ich erzähle Dir alles während der Fahrt. Jetzt müssen wir uns erst einmal beeilen.“ Hastig packten sie alles zusammen und Peter baute das Zelt ab, und legte es zusammengerollt, hinten auf die kleine Ladefläche. Was sie nicht mitnahmen, warfen sie in die Höhle. Peter wusch sich noch hastig mit dem Rest des Wassers. Sein Fuß war nur etwas gerötet. Lisa öffnete die Wasserblasen an seiner Ferse und desinfizierte sie mit Wundbenzin und Jodtinktur. Sie wickelte eine saubere Mullbinde darüber und Peter schlüpfte wieder in seinen notdürftig gereinigten Stiefel. Sie schauten sich noch einmal hastig um, ob sie nichts vergessen hatten, und fuhren los. An der Straße stieg Peter noch einmal aus und lauschte, ob er etwas hörte; aber zu beiden Seiten war weder etwas zu hören noch zu sehen. Er bog ab nach Norden. Der Fahrweg war verhältnismäßig eben und fest, wenn er mit den Rädern nicht gerade in die Fahrspuren der großen Fahrzeuge kam. Während der Fahrt fing Peter an zu erzählen, was er am letzten Tag und in der Nacht erlebt hatte. Als er von dem Gespräch mit Brian berichtete und dieser ihm mitgeteilt hatte, daß Lisas Bruder noch lebte und entkommen konnte, tat Lisa einen Luftsprung im Jeep und umarmte ihn kurz. Dabei wäre er beinahe wieder in die Fahrspur abgerutscht, und konnte nur noch im letzten Augenblick das Steuer herumreißen, um auf den ebenen Teil der Straße zurückzukommen. Peter berichtete, wie er dann die Konferenz belauscht, das Wasserrohr gesprengt, und das ganze Gelände unter Wasser gesetzt hatte, wobei fast die ganze ‘Fabrik’ in den Fluß gespült wurde. „Du hast die ‘Fabrik’ gesprengt? Du mußt verrückt sein!“ Sie lachte, aber gleich darauf wurde sie wieder ernst. „Sind dabei auch Menschen zu Schaden gekommen?“ „Ich weiß es nicht, Lisa. Ich denke nicht. Hast Du denn noch Mitleid mit denen?“ „Nein, aber niemand hat das Recht einem anderen Schaden zuzufügen, wenn nicht sein eigenes Leben bedroht wird.“ „Du hast ja recht, aber ich dachte mir, wenn ich alles so gelassen hätte wie es war, und nichts unternommen, wären wahrscheinlich irgendwo, in einem anderen Land, zehntausende wenn nicht hunderttausende Unschuldiger vernichtet worden. Was, frage ich
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 56 von 76
Dich, habe ich so falsch gemacht?“ „Nichts, Peter. Wenn ich es mit Deinen Augen sehe, hast Du völlig richtig gehandelt. Ich hatte nur gedacht, wenn Du wissentlich Menschen verletzt hättest, die vielleicht auch nur aus Angst Mitläufer waren, hättest Du eine große Schuld auf Dich geladen.“ Peter schwieg. Die Aufregung gestern und der nächtliche Marsch hatten ihn sehr ermüdet. „Lisa, wie wäre es, wenn Du einmal eine Weile fahren würdest. Ich bin so müde und könnte auf der Stelle einschlafen. Der gestrige Tag und die letzte Nacht haben mich sehr geschlaucht. Kannst Du mich nicht einige Zeit ablösen? Ach sag’, wie geht es eigentlich Deinem Arm?“ Peter sah erst jetzt, daß sie noch immer eine Mullbinde um ihren Arm gewickelt hatte. „Meinem Arm geht es besser. Er ist nur noch leicht entzündet, aber das gibt sich bald. Natürlich werde ich Dich beim Fahren ablösen. Du hättest schon längst etwas sagen können. Ich sehe doch, wie müde Du bist.“ Peter hielt an, und sie wechselten die Plätze. Lisa fuhr gut. Er hätte nicht gedacht, daß sie so gut fuhr. Innerhalb kürzester Zeit schlief er ein und träumte allerlei wirres Zeug, von dem er nach dem Aufwachen meist nichts mehr in Erinnerung behielt. Sie mußten schon zwei Stunden oder mehr gefahren sein - er hatte die ganze Zeit fest geschlafen - als sie ihn am linken Arm faßte und heftig daran zog, um ihn wach zu bekommen. „Du Peter. P e t e r !“ Er fuhr hoch und blickte auf die Uhr. Zuerst wußte er nicht, wo er war. Ach ja. Er hatte geschlafen und Lisa fuhr den Wagen. „Uns folgt jemand.“ rief sie. Peter blickte sich um. Hinter ihnen - im Abstand von etwa hundert Metern - fuhr ein Wagen, der sie verfolgte. Durch den Staub, den ihr Jeep hinter sich hochschleuderte, konnte er anfänglich nicht erkennen, was das für ein Fahrzeug war. Aber dann sah er es ganz deutlich, als sie über ein feuchtes Straßenstück fuhren, und keinen Staub mehr aufwirbelten. Es war ein Landrover, blau-weiß lackiert, und er kam näher. Zwei Personen saßen in dem Geländewagen und Peter konnte erkennen, daß sie schwarzes Lederzeug trugen. „Lisa, die folgen uns wirklich. Es muß eins von den Fahrzeugen sein, die damals nach Norden fuhren und Straße absperrten. Die standen wahrscheinlich irgendwo hinter uns in Deckung, und Du mußt an ihnen vorbei gefahren sein, ohne sie zu bemerken. Wahrscheinlich haben sie über Funk von den Geschehnissen dort unten in der ‘Fabrik’ Kenntnis bekommen. Ich gehe nach hinten in den Wagen, und versuche, sie aufzuhalten.“ Er riß die Persenning über der Hecktür herunter, schob das zusammengerollte Zelt vor seinen Körper und beobachtete den Wagen. Der kam schnell näher, denn er war für diese Sorte von Straßen besser ausgerüstet und hatte den stärkeren Motor. Als er nur noch etwa fünfzig Meter hinter ihnen war, streckte der Beifahrer eine Hand aus dem Seitenfenster. Eine kleine Rauchwolke entstand plötzlich in der Hand des Mannes und an Peters Jeep krachte es, als ob Metall auf Metall schlug. Etwas zischte jaulend an ihm vorüber und durchschlug das Stoffverdeck über ihm. Durch das kleine Loch schien hell
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 57 von 76
die Sonne und warf einen Lichtfleck auf seinen linken Arm. „Lisa, die schießen auf uns, rutsch’ nach vorn und zieh’ Deinen Kopf ein, und fahre so schnell Du kannst, weiter. Halte bitte unter keinen Umständen an.“ Während Peter das sagte, hatte er die Pistole aus der Tasche gezogen, und gleichzeitig einen der Alukoffer als Schutz vor sich gestellt. Er zielte, so gut wie er bei der Fahrt vermochte, auf den Kühler und die Reifen. Sein erster Schuß, das sah er, ging in deren Kühler. Ein zweiter ebenfalls. Während er schoß, bekamen sie einen weiteren Schuß in den Wagen, der aber kein Unheil anrichtete, und durch ihre Windschutzscheibe nach vorn austrat. Lisa schrie auf. Sie hatte mindestens genausoviel Angst, wie er. Peter feuerte jetzt in kurzen Abständen ein paarmal auf die Reifen des Landrovers. Er traf aber nicht ein einziges Mal. Der Beifahrer hatte inzwischen nachgeladen und hatte gerade wieder die Hand aus dem Seitenfenster. Peter schoß in seine Richtung durch die Windschutzscheibe. Die bekam ein Loch, der Arm des Mannes zuckte hoch und ließ die Pistole auf die Straße fallen. Der Mann sackte seitlich zusammen. Der Fahrer unterdessen, gab nicht auf. Er verfolgte sie weiter und Peter sah, wie er seinerseits eine Pistole ergriff und sie, während er fuhr, aus seinem Seitenfenster streckte. Er wollte sie zum Anhalten zwingen, indem er sie mit der Waffe niederstreckte. Peter wollte auch ihn erschießen, aber der Schlitten seiner Waffe blockierte in der hinteren Stellung. Sie war leergeschossen. Er suchte die Pump-Gun, die er aus Santa Clara mitgenommen hatte, und fand sie unter der rechten Sitzbank. Ebenso die Schachtel mit der Munition. Fieberhaft lud er die Waffe mit den Schrotkartuschen. Sechs Stück paßten in das Magazinrohr. Geladen waren sie mit 0.25 inch Bleischrot Der Fahrer hatte ein paarmal seine Pistole auf sie abgefeuert, während Peter die PumpGun lud. Er hatte aber nicht getroffen. Jedenfalls hatte Peter keinen Einschlag gehört. Peter zielte auf den Kühler des Landrovers, der darauf zerbarst. Aber immer noch fuhr der Wagen hinter ihnen her und verfolgte sie. Jetzt hatte Peter genug, und machte dem tödlichen Spiel ein Ende. Er zielte genau auf den Teil der Windschutzscheibe, hinter welchem der Kopf des Fahrers zu erkennen war, und zog ab. Die Schrotladung riß ein Loch in die Windschutzscheibe - so groß wie ein Fußball - und der Oberkörper des Fahrers flog nach hinten. Das Auto fuhr noch ein paar Meter geradeaus, um dann abrupt nach rechts zu ziehen, wo es in das Unterholz raste und umkippte. Auslaufender Treibstoff setzte das Fahrzeug in Brand und schwarze Rauchwolken stiegen zwischen den Bäumen in den Himmel. Peter drehte sich weg und schaute nicht ein einziges Mal zurück. Ihm war übel. Er hatte - zum ersten Mal in seinem Leben - Menschen getötet. Es geschah zwar in Notwehr, aber das Ergebnis sah dadurch nicht anders aus. Er kletterte wieder nach vorn, auf den Beifahrersitz. Lisa saß neben ihm, den Oberkörper hinter der Sitzlehne in Deckung gebracht, und blickte starr geradeaus. Sie wich fast automatisch den Schlaglöchern aus, und ihre Hände umkrampften das Steuer so fest, daß die Knöchel an ihren Händen schneeweiß wurden. „Lisa, es ist vorbei. Halt’ bitte an, ich fahre weiter!“ Sie fuhr, wie in Trance und hatte seine Stimme anscheinend nicht gehört oder ihn nicht verstanden. Sie mußte vor Angst völlig erstarrt sein. „Lisa, bitte halt’ an!“ Peter legte seine Hand auf ihren Arm.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 58 von 76
Endlich brachte sie den Wagen zum Stehen. Schluchzend fiel sie Peter in die Arme und ihre Erstarrung löste sich. „Peter, es war so schrecklich. Ich hatte solche Angst, wir würden hier sterben. Was ist mit ihnen? Sind sie nicht mehr hinter uns her?“ Sie hatte während der Schießerei nicht ein einziges Mal in den Rückspiegel gesehen. Peter sah auch, warum. Dort, wo einst das Spiegelglas war, hingen nur noch ein paar Scherben in dem Rahmen und in dem Spiegelhalter bemerkte er ein Einschußloch. „Nein Lisa, sie verfolgen uns nicht mehr. Ihr Wagen ist kaputt und umgestürzt.“ Daß er die beiden erschossen hatte, sagte er Lisa lieber nicht. Sie mußte sich nicht auch noch unnötig ängstigen. Peter steuerte den Jeep nun schon mehrere Stunden über die ausgefahrene Piste, als er ein Schild bemerkte, welches darauf hinwies, daß auf der linken Seite gleich der Ort Luepa auftauchen müsse. Sie getrauten sich aber nicht, dort anzuhalten. Er schaute auf die Tankanzeige. Der Tank war noch halb voll. Er fuhr zwar schon mehrere Stunden, aber durch die schlechte Straße waren die Entfernungen nicht allzu groß, und der Kraftstoffverbrauch hielt sich in Grenzen. Er kam jetzt an eine Brücke. Laut seiner Karte mußte das wieder der Rio Aponguao sein. Der Fluß war an dieser Stelle schmal - keine acht Meter - aber die Brücke war breit und stabil gebaut. Mitten auf der Brücke hielt er an, und sie stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten. Hier, in der Nähe, mußte die Quelle des Rio Aponguao entspringen, der dann in Richtung Süden, im Rio Caroni mündete. Der Rio Caroni floß dort zuerst in westliche Richtung, um sich dann nach Norden in die Sümpfe von Guri zu ergießen, welche bei Porto Ordaz in den Orinoco mündeten, der dann in westlicher Richtung, durch das Orinocodelta hindurch, in den Südatlantik floß. Von hier, wo sie standen, beschrieb das Wasser fast einen Kreis, bis es sich im Delta mit dem Salzwasser vermischte. Sie blickten auf den Fluß. Hier sah alles so friedlich aus. Auf einem abgestorbenen Baum, der zur Hälfte ins Wasser gestürzt war, saßen drei Reiher und schauten bewegungslos nach unten. Vielleicht hatten sie Glück und ein unvorsichtiger Fisch ließ sich blicken. An der rechten Uferböschung, welche dort zwei, drei Meter Höhe hatte, klammerten sich etwa fünfzehn grellbunte Aras - eine hier heimische Papageienart - an das steil abfallende Hangstück und fraßen Krumen aus dem Erdreich. Der Sand enthielt irgendwelche Samenkörner oder Mineralien, welche sie als Nahrung benötigten. In nördlicher Richtung konnten sie den Cerro Venamo erblicken. Dieser, etwa 1900 Meter hohe Berg, dessen Spitze in dichte Wolken gehüllt, und ihnen verborgen blieb, bildete die Grenze zu Guyana. Sie setzten ihre Fahrt fort. Peter errechnete, daß sie noch etwa drei Stunden zu fahren hatten, bis sie El Dorado, die Goldgräberstadt, erreichten. El Dorado lag zwischen mehreren Flüssen und war natürlich auch keine Stadt im herkömmlichen Sinn, sondern, wie der Name schon sagt, ein Ansiedlung von Hütten und kleinen Häusern, wo sich Gold- und Diamantenwäscher ausruhen, und ihren Vergnügungen nachgehen konnten. Dort hatten diese auch die Möglichkeit, ihren Fund taxieren zu lassen und zu verkaufen. Die Gebäude, in denen sie ihren Fund in Geld
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 59 von 76
umtauschen konnten, waren aus Stein erbaut und schwer gesichert, wenn die Aufkäufer nicht anwesend waren. Peter erkundigte sich nach dem Hotel ‘Infierno Verde’, in welchem seine Freunde Marc und Pierre abgestiegen waren. Es lag etwas außerhalb, direkt an einem Fluß, dessen Name auf seiner Karte nicht eingezeichnet war. Er fragte nach, ob noch Zimmer frei wären. Der Concierge bejahte, er hätte noch ein Zimmer frei - und mit Blick auf Lisa bemerkte er, es handele sich um ein komfortables Doppelzimmer. Peter nahm es für drei Tage und bezahlte es sofort mit Dollars. Das Geld verschwand in dessen Hosentasche, und niemand fragte sie nach ihren Namen, noch wurden sie in das Gästebuch eingetragen. Peter fragte den Mann nach den zwei Schweizern, welche hier auch Zimmer bewohnten. Der verneinte. Die beiden wären vor zwei Tagen abgereist, hätten aber eine Nachricht für einen Señor Stark zurückgelassen. Er fragte Peter, ob er dieser Señor sei. Peter verneinte, sagte aber, Señor Stark käme nicht mehr in diese Gegend, aber er - Peter - würde ihn in ein paar Tagen sehen, und ihm dann diese Nachricht zukommen lassen. Der Concierge übergab Peter den Brief. Unmittelbar darauf holten sie das Gepäck und gingen auf ihr Zimmer. Der Raum war klein, hatte aber ein Bad, welches Lisa sofort aufsuchte. Sie hatte sich tagelang nicht richtig waschen können, und war jetzt überglücklich, unter einer Dusche stehen zu können, aus der auch sogar heißes Wasser kam. Peter öffnete das feinmaschige Netz vor dem Fenster und stieß dann die Fensterladen auf. Heller Sonnenschein überflutete den Raum, und er konnte die Deckenlampe abschalten. Er untersuchte währenddessen die Möbelstücke, ob sich in ihm irgendwelches Getier verkrochen hatte. Speziell Vogel- oder Wolfsspinnen hielten sich besonders gern in warmen, dunklen Ecken in den Gebäuden auf. Peter hatte seinerzeit mehrere in Santa Clara zu Gesicht bekommen, als er die Hütten durchsuchte. Es war aber alles sauber, wenn man von der angestaubten Tagesdecke absah. Das Zimmer war wohl schon eine Weile nicht vermietet worden. Er stellte die beiden Alukoffer auf das Bett und sah, daß der kleinere - sein Fotokoffer ein Einschußloch hatte. Es war der, hinter dem er bei der Schießerei in Deckung gegangen war. In dem geöffneten Koffer bemerkte er, daß seine Hasselblad völlig verbeult, und nicht mehr zu gebrauchen war. Nur das Objektiv hatte keine Beschädigung, und er löste es vom Kameragehäuse. Im Gehäuse steckte das aufgepilzte Bleigeschoß. Die Hasselblad hatte ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Mittlerweile war Lisa fertig mit dem Duschen und kam mit strahlendem Gesicht aus dem Bad. Sie hatte die schrecklichen Dinge von heute vormittag für kurze Zeit vergessen oder verdrängt. Peter duschte auch noch kurz, und dann konnten sie beide endlich gehen, um etwas zu essen. Er hatte ja gestern noch mit Brian zu Mittag in der Kantine gegessen, aber Lisa hatte in den letzten Tagen nur von Konserven gelebt. Gleich neben dem Hotel befand sich ein Restaurant, Es lag, halb überdacht, und halb unter hohen Bäumen verborgen, direkt am Flußufer, auf einem Unterbau aus Holzbohlen. Viele Gäste saßen zu dieser Zeit nicht an den Tischen. Eine Gruppe japanischer Touristen hatte gleich vorn, am Eingang Platz genommen. Sie unterhielten sich lautstark, obwohl das sonst eigentlich nicht ihre Art war, in der Öffentlichkeit laut zu werden. Sie hatten wohl einen Tagesflug hierher gebucht, und der Pilot hatte sich verspätet, oder sie versetzt.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 60 von 76
Lisa und Peter bestellten sich jeder ein großes Steak mit Reis und einen riesigen Teller, gefüllt mit frischem Salat. Lisa trank Cola, und er bestellte sich ein Bier. Längere Zeit waren sie nur mit dem Essen beschäftigt. Sie waren beide ziemlich ausgehungert und hatten Appetit auf etwas Frisches, nachdem sie die letzten Tage nur karge, oder gar keine Mahlzeiten zu sich genommen hatten. Peter holte den Brief heraus, den Marc an ihn gerichtet hatte. Er las, daß die beiden vor mehreren Tagen nach Canaima fliegen wollten, weil sie von El Dorado nicht jederzeit Flüge buchen konnten, um die Gegend zu erkunden. Zu oft wären keine Maschinen bereit, die beiden zu befördern, und außerdem seien die Flüge zu teuer und das Hotel sagte ihnen auch nicht mehr zu. In Canaima sollten die Flüge billiger, und die Unterkünfte besser sein, bedingt durch viele anreisende Touristen, die den Nationalpark besuchen wollten. Er legte den Brief wieder zusammen und wandte sich an Lisa. „Von hier aus können wir nicht mehr weiterfahren, Lisa. Wir müssen den Jeep zurücklassen und hinüber nach Canaima fliegen. Von dort kommen wir leichter nach Caracas, wo wir eine Maschine in die Staaten buchen können.“ „Gut, einverstanden. Laß’ uns zum Flugplatz fahren. Dort werden wir ja sehen, ob uns jemand hinüber fliegen kann. Ich möchte so schnell wie möglich weg von hier.“ Lisa war froh, endlich die Aussicht zu haben, in ihre Heimat zurückzukehren. Peter fuhr durch die Stadt. Ein Seitenweg war beschriftet, mit ‘Aeropuerto’. Dort fuhr er hinein, um nach zweihundert Metern eine Bar und eine Baracke vorzufinden. Auf der Baracke standen die Worte ‘Entrada y Salida’. Das Häuschen war die ‘Abfertigungshalle’ und der ‘Tower’. In dem Gebäude saß ein alter Mann an einem Funkgerät, und schaute auf, als er eintrat. Peter fragte nach einem Piloten für einen Privatflug. Der Mann deutete auf die Bar nebenan. In der Bar saßen ein paar Leute. Peter fragte in seinem schlechten Spanisch laut in die Runde „Quién es el piloto?“. „Si Señor?“ Die Antwort gab ein dicker Mensch mit Halbglatze an einem der Tische. Peter bedeutete ihm, mit vor die Tür zu kommen. Die anderen Personen mußten nicht alles mithören. Er fragte den Dicken, ob er sie beide nach Canaima fliegen könne, und wenn, was sollte es kosten, und wann könne er fliegen? Der Pilot antwortete, er flöge morgen früh sowieso dorthin und könne sie mitnehmen. Es müßten aber vierhundert Dollar für ihn dabei herausspringen. Peter sagte, er bekäme sogar noch mehr, nämlich dieses Fahrzeug. Er deutete auf seinen Jeep. Dafür sollte ihnen der Pilot aber noch den Anschlußflug nach Caracas kostenlos vermitteln. Der Dicke meinte, nach Caracas flöge keine Maschine direkt, aber er könne ihnen einen kostenlosen Flug nach Ciudad Bolivar bereitstellen lassen. Peter bedankte sich, und gab dem Piloten die Hand. Der grinste verstohlen über die Dummheit der Ausländer, einen Jeep für ein paar Stunden Flug einzutauschen. Sie verabredeten sich für morgen früh um sechs Uhr vor der Bar und Peter fuhr mit Lisa zum Hotel zurück. „Sie suchten vorher noch einmal das Restaurant auf, und nahmen noch eine Kleinigkeit zu sich. Um diese Zeit - es dämmerte schon - saßen wesentlich mehr Menschen darin, und aßen zu Abend. Alsbald brachen sie auf. Morgen mußten sie schon sehr zeitig aufstehen und Peter hatte noch eine Menge Schlaf nachzuholen.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 61 von 76
Am Zimmer angekommen, fühlte Peter unten an der Tür, ob das Hölzchen noch zwischen Tür und Rahmen steckte, welches er bei ihrem Fortgang dort eingeklemmt hatte. Es lag unten. Jemand hatte, während ihrer Abwesenheit, das Zimmer betreten. Drinnen sah alles so aus, wie sie es verlassen hatten, nichts fehlte. Und persönliche Sachen, welche ihre Namen oder ihre Herkunft verrieten, trugen sie sowieso immer bei sich. Peter legte sich ins Bett und dachte nicht weiter darüber nach. Er schlief fast sofort ein, tief und traumlos, bis Lisa ihn weckte. Sie war schon aufgestanden. „Peter, steh’ auf, wir müssen bald los. Es ist schon fünf Uhr. Peter rasierte sich noch schnell, und sie gingen, ohne jemanden zu wecken, zum Wagen. Er demontierte die Kennzeichen des Jeeps und warf sie weit in den Fluß - ebenso die Waffen. Dann fuhren sie hinüber zum Flugplatz. Der Dicke hatte schon auf sie gewartet, und Peter gab ihm die Autoschlüssel und die Zulassung, welche er argwöhnisch betrachtete, weil sie aus Brasilien stammte. Peter nahm sich vor, ihm die Zulassung wieder zu entwenden, sobald es die Umstände zuließen. Er konnte es sich nicht leisten, daß man über die Zulassung seinen Namen in Erfahrung bringen könnte. Die Maschine, eine uralte ‘Mohawk’, war innen wenigstens geräumig. Sie hatte mehrere Sitzplätze für Rundflüge und im Heck eine Menge Platz für Gepäck. Der Pilot funkte seinen Abflug und das Ziel, das er in einer Stunde erreichen wollte, an die Baracke im Hintergrund und stieg auf in den klaren Morgenhimmel. Unter ihnen zog eine Schar großer, weißer Vögel dahin, und ließ sich elegant auf einem Flußlauf nieder. Streifen von Schaum bildend, als sie die glatte Wasseroberfläche berührten. Vorn sang der Dicke laut vor sich hin, eine Zigarre paffend, die er auch bei seinem Gesang nicht aus dem Mund nahm. Nach einer geraumen Zeit gewahrte Peter auf der linken Seite die ersten Tafelberge, welche von der tiefstehenden Morgensonne beschienen waren. Sie flogen in etwa zweitausend Meter Höhe, und konnten sehen, daß die flachen Oberseiten der Berge genauso hoch reichten. Der ‘Auyan Tepui’ kam in ihr Blickfeld und Peter berührte Lisa an der Schulter. Er deutete auf den ‘Angel-Fall’, den höchsten Wasserfall der Erde. Er führte zur Zeit nicht sehr viel Wasser, aber dieses stürzte im freien Fall über neunhundert Meter von der Kante des Tafelberges in die Tiefe, bevor es, am Fuße des Berges zwischen den Baumriesen, im Dschungel verschwand und in den Rio Caroni mündete. Der Angel Fall soll seinen Namen von dem englischen Piloten Jimmy Angel bekommen haben, welcher ihn zuerst - am Anfang der dreißiger Jahre - entdeckte. Das - wie so Vieles - war vielleicht auch nur eine Geschichte, die sich jemand ausgedacht hatte, um die Herkunft des Namens interessanter zu gestalten. Dicht über dem Tafelberg hingen schwere, schwarze Wolken. Ein Tropengewitter ging dort nieder und gab dem Wasserfall neue Nahrung. Der Dicke flog noch eine Schleife, brummte etwas Unverständliches in sein Funkgerät, und ging langsam auf Sinkflug. Im Hintergrund konnten sie noch einen zweiten Wasserfall, den ‘Salto del Erito’ sehen. Der war bei Weitem nicht so hoch, aber malerisch gelegen. Ein tolles Naturschauspiel. Der Airport von Canaima war, wenn man ihn mit dem von El Dorado vergleichen wollte, relativ komfortabel.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 62 von 76
Der Dicke parkte die Mohawk neben einem Hangar aus Wellblech. Dort standen schon eine ganze Reihe kleinerer Maschinen nebeneinander. Zum großen Teil verschiedene Modelle von ‘Piper’ und ‘Cessna’. Der Pilot stieg aus und legte zwei Bremsklötze vor die Vorderräder der Maschine. Das war die Gelegenheit für Peter, die Zulassung des Jeeps wieder an sich zu nehmen, die der Dicke, zusammen mit den Wagenschlüsseln, in einen Behälter hinter seinem Sitz geworfen hatte. Lisa und Peter stiegen mit ihrem Gepäck aus der Maschine und sahen sich um. Der Dicke gab ihnen zu verstehen, sie mögen ihm folgen. Sie gingen alle drei, der Pilot voran, zum Hangar. Dort wollte der Dicke einen Kollegen treffen, der die beiden weiter transportieren würde. Im Hangar war es dämmerig und sehr heiß. Der Pilot ging auf einen kleinen, kräftig gebauten Mann zu, der an einer der Maschinen arbeitete, und sprach eine ganze Weile mit ihm, wobei sie beide heftig gestikulierten und sich des Öfteren nach Lisa und Peter umschauten. Endlich waren sich die Männer handelseinig und kamen zu ihnen herüber. Der Dicke stellte seinen Kollegen vor. Der nannte sich ‘Pongo’ und wollte die beiden am nächsten Tag nach Ciudad Bolivar fliegen. Aber erst müsse er seine Maschine reparieren. Wann er damit fertig würde, wisse er nicht. Die beiden könnten ja morgen vormittag mal vorbeischauen, aber bitte nicht vor zehn Uhr. Sie bedankten sich bei dem Piloten, der ihnen noch einen Zettel ausschrieb, damit sie morgen auf das Rollfeld gelangen konnten, und verabschiedeten sich von dem Dicken. Der war schon weiter gegangen und sprach mit einem anderen Kollegen. Er drehte sich nur kurz zu den beiden um, hob die Hand, und war sofort wieder in sein Gespräch vertieft. Sie gingen über das Rollfeld auf das Abfertigungsgebäude zu. Es war sehr warm auf dem Feld, und über der Start- und Landebahn flimmerten die Hitzeschwaden. Im dem Gebäude herrschte angenehme Kühle und ein Gewirr von Menschen. Touristen standen in Schlangen an der Ausgabe und warteten auf ihr Gepäck. Andere standen an dem einzigen Schalter, und hofften darauf, daß sie bald eingecheckt wurden. Sie durchquerten die Halle in Richtung Ausgang. Dort mußten sie ihre Pässe vorzeigen, die der Beamte aber nur flüchtig betrachtete. Vor dem Gebäude hielten ein paar Taxis. Uralte, amerikanische Straßenkreuzer, die schon bessere Tage gesehen hatten. Peter ging auf das vorderste zu, und fragte den Fahrer, wo hier die Hotels wären, in denen normalerweise Touristen absteigen würden. Der Taxifahrer erklärte ihm, dafür kämen nur zwei infrage, die etwa drei Kilometer entfernt wären und nebeneinander stünden. Peter handelte den Preis aus, holte Lisa, die noch im Eingang bei dem Gepäck stand, und sie fuhren zu dem am nächsten gelegenen Hotel. Es trug den berühmten Namen: ‘Simon Bolivar’, sah aber von außen nicht gerade berühmt aus. Aber wie auch immer, sie betraten es trotzdem und Peter fragte nach einem Zimmer. Sie bekamen eins und Peter trug sie beide als Mr. und Mrs. Stark ein. Dann fragte er nach Señor Marc Suder. Ja, der wohne hier, bemerkte die Dame am Empfang. Peter fragte nach der Zimmernummer, die sie ihm daraufhin bereitwillig gab. Sie ließen ihr Gepäck von einem Hoteldiener auf ihr Zimmer bringen, und setzten sich in die Bar. Peter versuchte Marc telefonisch zu erreichen. Marc war auf seinem Zimmer, und versprach, sofort herunter zu kommen. Peter erkannte ihn nicht gleich, als er die Bar betrat. Sie hatten sich schon lange Zeit nicht gesehen. Marc war in den vergangenen Jahren älter geworden, genau wie er selbst.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 63 von 76
Nur bei sich bemerkte Peter das Älterwerden nicht so stark, weil er sich täglich sah, und die Veränderungen nicht so sehr wahrnahm. „Hallo Peter, wo bist Du denn abgeblieben? Wir haben Dich schon vor Tagen in El Dorado erwartet!“ Erst jetzt gewahrte er Lisa, die neben Peter saß und sich an seine Schulter lehnte. „Willst Du mich denn nicht der jungen Dame vorstellen?“ Peter lachte. „Hallo Marc. Ja natürlich. Also Lisa, das ist Marc Suder. Marc, das ist Lisa Tate. Wir trafen uns, als ich auf dem Weg zu Euch war, unter Umständen, die ich Dir heute noch nicht näher erklären möchte. Wir sind in eine Sache hineingeraten, die für uns sehr schlimm enden könnte. Und wenn wir beobachtet werden, kann es auch für Euch gefährlich werden. Ach übrigens, wo ist eigentlich Pierre?“ Marc sah Peter zweifelnd an, als dieser seine Geschichte erzählte. Er glaubte Peter nicht, und dachte, dieser wolle sich wichtig machen. Peter war es recht, daß ihm nicht geglaubt wurde. Dadurch behielt Marc alles für sich, und erzählte es niemandem weiter. „Ja, Pierre ist heute mit einer Gruppe Touristen zu den Guri-Sümpfen geflogen. Ich hatte noch Einiges hier zu tun, und habe ihn deshalb nicht begleitet. Für morgen haben wir einen Jeep gemietet und wollen damit zum Salto del Erito hinauf. Ihr könnt ja mit uns fahren, wir haben noch genügend Platz.“ Peter lachte. „Wenn ich das gewußt hätte, daß ihr einen Jeep benötigt. Meiner steht in El Dorado. Ich hätte ihn Euch für vierhundert Dollar überlassen. Ihr hättet ihn nur von dort abholen müssen. So aber habe ich ihn gestern für den Flug hierher, und einen Anschlußflug für morgen, an einen Piloten verkauft. Wir wollen auf dem schnellsten Weg in die Staaten, um allen Unwägbarkeiten, die uns hier erwarten können, zu entgehen. Ich werde mich mit Euch in Verbindung setzen, wenn ihr wieder zu Hause seid. Dann können wir auch über alles reden.“ Wieder dieser zweifelnde Blick von Marc. Er hatte es plötzlich eilig und sagte, daß er noch etwas in der Stadt besorgen müßte. Der Abschied fiel recht kühl aus, aber Peter war es recht. Sie hatten ihre eigenen Probleme und wollten sie zur Zeit nicht mit Menschen erörtern, die sich nur alle paar Jahre begegneten. Am Nachmittag durchstreiften Lisa und Peter den Ort. In einem kleinen Restaurant, unter Einheimischen, aßen sie verspätet zu Mittag. Sie konnten im Hintergrund die Tafelberge erkennen. Diese waren jetzt zur bis zur halben Höhe von düsteren Wolken verhangen. Es blitzte von Zeit zu Zeit durch den Wolkenvorhang, während sie hier im strahlenden Sonnenschein saßen und nicht mehr die Angst verspürten, die sie in den vergangenen Tagen umfangen hielt. Sie wollten diesen Augenblick möglichst lange auskosten, blieben dort, bis es dämmerte und hatten sich so viel voneinander zu erzählen. In den letzten Tagen hatten sie dafür fast nie Zeit. Viel gab es am Abend in der Stadt auch nicht zu entdecken. Ein Ort, der fast ausschließlich dazu geschaffen war, um als Basis für die Ausflüge in den Nationalpark zu dienen. Sie gingen zurück zum Hotel. Ihr Zimmer, welches sie bis zu dieser Zeit noch nicht betreten hatten, war recht groß und für dieses Hotel komfortabel eingerichtet. In der Mitte stand ein breites Bett mit einem Messinggitter an der Kopfseite.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 64 von 76
Sie sahen sich an und lächelten. Peter nahm Lisa in die Arme und küßte sie lange. Etwas später liebten sie sich leidenschaftlich, und schliefen entspannt, eng umschlungen ein. Der nächste Morgen brachte Regen von den Bergen. Peter blickte aus dem Fenster. Auf der Straße fuhren vereinzelt Fahrzeuge vorüber, deren Reifen auf dem nassen Straßenbelag zischende Geräusche verursachten. Sie duschten und packten ihre Gepäckstücke. Unten, in der Bar, brannte schon Licht. Peter bestellte Kaffee und Sandwiches. Die Sandwiches ließ er als Verpflegungspaket einpacken. Lisa konnte zu dieser Tageszeit auch noch nichts essen. Er bezahlte das Hotel mit seiner Kreditkarte - so fortschrittlich waren sie hier schon, daß sie diese akzeptierten - und ließ ein Taxi vorfahren. Der Taxifahrer kam nur sehr langsam vorwärts. Seine völlig verbrauchten Scheibenwischer schafften es kaum, den Regen von dem Glas zu entfernen und ihm Sicht zu verschaffen. Er kannte aber den Piloten Pongo, als Peter ihn fragte. Peter gab ihm dessen handgeschriebenen Zettel, und der Fahrer konnte ohne Kontrolle mit seinem Taxi auf das Rollfeld, und die beiden vor dem Hangar absetzen. Peter bezahlte ein paar Dollars und der Wagen fuhr zurück. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen. Sie schauten in den Hangar, wo Pongo immer noch an seiner Cessna herumbastelte. Er meinte aber, er sei sofort fertig und sie könnten in dreißig Minuten starten. Als sie in der Luft waren, drehte sich Pongo zu ihnen um und meinte, er hätte von ihnen noch zweihundert Dollar zu bekommen. Peter war entrüstet. Er erklärte dem Piloten, daß er dem Dicken einen Jeep, der noch mehrere tausend Dollar wert gewesen war, als Bezahlung gegeben hätte, und nicht die Absicht habe, noch einen Dollar zu bezahlen. Pongo lachte und sagte, daß er dann umkehren und sie wieder absetzen werde. Er habe schließlich von dem Dicken nur hundert Dollar erhalten und werde den Rest von ihnen bekommen. Peter war zornig. Der Dicke hatte sie gelinkt. Wohl oder übel mußte er Pongo auszahlen, um nicht noch weitere Scherereien auf sich zu ziehen. Er tat es widerwillig. Unter sich sahen sie Regenwald, soweit das Auge reichte. Er wurde von vielen Flußläufen durchzogen, so daß sich größere Inseln bildeten, die vom Wasser umströmt wurden. Sie überflogen jetzt die ‘Embalse de Guri’. Nur noch einzelne Baumgruppen bildeten jetzt Eilande in einer flachen Wasserwüste, die an ein riesiges Überschwemmungsgebiet erinnerte, welches von Rio Paragua und Rio Caroni gespeist wurde. Es war die größte zusammenhängende Wasserfläche des Landes. Ein Stunde darauf erreichten sie den Orinoco und sahen kurze Zeit später auch Ciudad Bolivar, eine mittelgroße Stadt am südlichen Ufer des Flusses. Pongo setzte die Cessna hart auf. Er mußte kräftig gegensteuern, denn die Maschine driftete bei dem starken Seitenwind ziemlich ab. Aber er war ein erfahrener Pilot und es machte ihm nicht viel aus. Sie stiegen aus der Maschine und verabschiedeten sich recht frostig von Pongo, obwohl der am Wenigsten dafür konnte, daß er von Peter noch Geld nachgefordert hatte. Auch er war von dem Dicken gelinkt worden.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 65 von 76
Im Flughafengebäude erkundigten sie sich sofort nach dem nächsten Flug in Richtung Caracas. Zur Zeit waren alle Maschinen ausgebucht oder nicht einsatzfähig. Erst in zwei Tagen sollte eine Maschine bereitstehen, bei der sie noch buchen konnten. Peter buchte zwei Plätze und bezahlte sie sofort. Nun hatten sie gezwungenermaßen zwei Tage Zeit, die sie nutzen konnten, ihre Gedanken zu ordnen und einige Telefonate in die Heimat zu tätigen. Ein Hotel fanden sie schnell, direkt am Orinoco gelegen. Er war hier so breit - etwa acht bis zehn Kilometer - daß man das gegenüberliegende Ufer, durch den Dunst, der über der Wasseroberfläche lag, fast nicht mehr sah. Den Tag verbrachten sie mit Spaziergängen. In den Straßen herrschte reger Verkehr. Es war laut, hektisch und stank unbeschreiblich nach Auspuffgasen und anderen, nicht identifizierbaren Gerüchen. Um dem Lärm und Gestank zu entfliehen, gingen sie am Ufer des Flusses entlang. Hier war es erträglicher, obwohl auch auf dem Orinoco reger Schiffsverkehr vorhanden war. Sirenen dröhnten über das Wasser und warnten entgegenkommende oder kreuzende Boote. Hier wehte aber ein frischer Wind und dadurch wurde es erträglich. Langsam kamen sie bei ihrem Spaziergang hinaus aus der Stadt. Am Ufer wurde es ruhiger und die festen Häuser an der Straße wurden abgelöst von Holzhütten am Ufer. Zuerst standen sie noch zahlreich neben - und hintereinander. Nach und nach tauchten sie nur noch vereinzelt auf. Es dämmerte bereits und sie beschlossen umzukehren, als sie unter hohen Bäumen einen Lichtschein gewahrten. Unter den Baumkronen gewahrten sie einen Kreis kleiner Hütten, aus dessen Innerem das Licht kam. Sie gingen zwischen zwei dicht zusammenstehenden Hütten hindurch und standen am Rand eines kleinen Platzes, den die Holzhäuser begrenzten. Zahlreiche Menschen standen im Kreis, um das seltsame Schauspiel herum, das sich ihnen in der Mitte des Platzes darbot. Dort lag eine junge Frau auf der Erde. Sie lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt, wie ein großes „X“. Dicht an den Außenlinien ihres Körpers entlang steckten brennende Kerzen in kurzen Abständen im Sand. Ein bis zwei Meter dahinter, an der Seite, wo sich ihr Kopf befand, saßen Männer mit kleinen Holztrommeln im Halbkreis. Ein aufpeitschender aber zugleich monotoner Rhythmus ertönte, begleitet von einem tiefen, rauhen Gesang mit immer wiederkehrendem Refrain. Das Trommeln wurde lauter und schneller und der Gesang eindringlicher, als zwei Männer zu ihren Füßen auftauchten, die sich aus den Zuschauern gelöst hatten. Der eindrucksvollere von ihnen trug einen Umhang aus bunten Vogelfedern und ebensolchen Kopfschmuck. Das Gesicht hatte er mit weißer und roter Farbe bemalt, und die nackten Arme und Beine zierten dicke Ringe aus farbigen Steinen und Muscheln. Der zweite Mann trug ähnliche Kleidung, aber nicht so imposant, wie die des anderen. Er stellte den Diener oder Helfer des ersteren dar. Peter fragte einen der Umstehenden, was hier zelebriert werden sollte. Der erklärte ihnen, ohne die Augen von den Geschehnissen zu lenken, die Frau dort auf dem Boden würde hier und heute von einer schweren Krankheit geheilt werden. Sie hätte eine geistige Anomalie, und sollte von den Ärzten in der Stadt als unheilbar aufgegeben worden sein.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 66 von 76
Der Eindrucksvolle wäre der ‘Banco’ - eine Art Hohepriester, welcher von der Dschungelkönigin ‘Maria-Leonca’ magische Heilkräfte erhalten habe, und alle Krankheiten heilen könne. Die Königin Maria-Leonca würde im ganzen Land hohes Ansehen genießen und gleichwohl parallel zum Katholizismus genauso inbrünstig angebetet werden, wie der Gott der Katholiken. Der Angesprochene drehte sich noch einmal kurz zu ihnen um und rief, gleich würde die ‘Curación’ - die Kur - beginnen. Die Trommeln steigerten sich in ein wildes Stakkato. Der Banco schrie ein paarmal schrill auf und die am Boden liegende Frau verfiel in wilde Zuckungen. Das alles erinnerte Peter an den Voodoo-Kult, der in der Karibik heimisch war. Der Hohepriester holte jetzt einen kurzen Bambusstab - etwa so lang, wie zwei Bleistifte - aus den Untiefen seines Umhangs hervor. Der Stab hatte an der einen Seite viele spitze Stacheln. Mit diesen schlug er sich in rasendem Tempo viele Male auf seine weit herausgestreckte Zunge, welche zuerst anschwoll und dann stark zu bluten anfing. Der Diener reichte dem Banco eine Flasche mit hellgelbem Schnaps, wovon dieser einen großen Schluck in seinen Mund nahm und das Blut damit vermischte. Mit wild erhobenen Armen spie er das Gemisch aus Blut und Schnaps fein zerstäubt über Gesicht und Oberkörper der jungen Frau. Dabei stieß er einen markerschütternden, schrillen Schrei aus. Die ganze Prozedur wieder holte sich noch zweimal, bis die Frau über und über mit diesem hellroten Gemisch bedeckt war. Der Wunderheiler kniete jetzt bei der Frau nieder und malte ihr mit seinem Zeigefinger geheimnisvolle Zeichen auf die Stirn. Danach sprang er auf und machte mit Händen und Armen ziehende Bewegungen, als wenn er ihr an einem imaginären Seil die Krankheit aus dem Kopf ziehen wollte. Das alles geschah unter dem tosenden Lärm der Trommeln und des unsäglichen Gesanges der Mitwirkenden. Die Frau verfiel in immer wildere Zuckungen und warf den Kopf so weit hin und her, daß die brennenden Kerzen fast ihr Haar versengten. Plötzlich, mit einem Schlag, hörte der Trommelwirbel auf, und der Gesang verstummte. Die Frau richtete sich auf, wie aus langem Schlaf erwacht und blickte sitzend um sich. Zuerst wußte sie nicht, wo sie war aber dann lächelte sie und stand vollends auf. Sie sah furchterregend aus, mit ihrem blutigen Gesicht und Oberkörper, aber sie lächelte. Weinend vor Glück kamen ihre Angehörigen zu ihr und umarmten sie. Die Frau sprach schnell und eindringlich mit ihnen, und man hatte nicht den Eindruck, sie sei geistig behindert. Sollte der Banco die Frau wirklich geheilt haben? Peter war Realist und konnte es kaum glauben. Aber allem Anschein nach mußte die Zeremonie eine Menge bewirkt haben, wenn die Angehörigen der Frau so erfreut waren, sie in diesem Zustand zurück zu erhalten. Die Menge zerstreute sich langsam. Die Lichter erloschen, und Peter machte sich mit Lisa ebenfalls auf den Heimweg zu ihrem Hotel. Sie waren beide sehr nachdenklich geworden. So etwas hatte keiner von ihnen je vorher gesehen. Sollte in dem Ausspruch: „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde...“ doch ein Körnchen Wahrheit stecken?
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 67 von 76
Der nächste Tag verlief geruhsam. Sie unternahmen eine Fahrt mit einem Schiff auf dem Orinoco, und aßen zu Mittag in dem kleinen Ort Soledad am jenseitigen Ufer. Jeder hatte noch ein paar Telefonate zu erledigen. Lisa schrieb ein paar Ansichtskarten an ihre Kolleginnen und Peter saß in der Lobby des Hotels, ein paar internationale Zeitungen lesend, welche dort für die Gäste auslagen. Am darauf folgenden Tag mußten sie sich schon früh am Airport einfinden, denn die Maschine sollte um neun Uhr starten. Um zehn Uhr hob sie dann wirklich ab, und landete in Caracas um elf Uhr dreißig. Caracas erwies sich als laut und schmutzig. Dicke Wolken von Abgasen hingen über der Großstadt. Die Ankunftshalle war überfüllt. Es mußten zu gleicher Zeit mehrere Maschinen gelandet sein, und das einzige Gepäckband, welches eingeschaltet war, transportierte die Gepäckstücke in wilder Reihenfolge, aus allen angekommenen Flugzeugen gleichzeitig. Sie durften fast eine Stunde auf ihre Gepäckstücke warten, bis sie vollzählig waren. Peter organisierte einen Gepäck-Caddy, und sie marschierten hinüber in die Abflughalle, wo sie hofften, noch heute einen Flug in die Staaten zu erwischen. Sie hatten Glück. Es gab für heute Nachmittag noch einen Flug nach Houston in Texas. Lisa bezahlte dieses Mal mit ihrer ‘American-Express’ Karte. Sie fühlte sich verpflichtet, ihren Teil zu den Ausgaben beizusteuern, weil Peter doch schon seinen Jeep zurücklassen mußte. Sie aßen im Flughafenrestaurant zu Mittag und mußten sich danach noch eine Weile gedulden, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Drei Stunden flogen sie über das Karibische Meer und den Golf von Mexiko. Sie überquerten Jamaika und den nördlichsten Zipfel von Kuba, bis sie um sechs Uhr am Nachmittag in Houston landeten. „Peter?“ „Ja?“ „Ich bin froh, daß ich wieder auf heimischem Boden bin. Erst jetzt fühle ich mich frei und ohne Angst. Ich glaube, so lange ich lebe, werde ich dieses Land nie wieder betreten.“ „Mir geht es ähnlich, Lisa. Aber glaube mir, wenn wir unter anderen Umständen dort hingekommen wären, würdest Du anders denken. Es ist ein so schönes Land und weite Teile der Natur sind noch unberührt von der Zivilisation. Ich finde, trotz aller Scheußlichkeiten, die wir erleben mußten, war es andererseits auch schön. Wir haben uns kennengelernt.“ Lisa lächelte versonnen und sah ihn an. In der Abfertigungshalle gingen sie an einen der Schalter und buchten einen Flug nach Reno. Der erste Flug war ausgebucht. Erst für morgen Nachmittag bekamen sie zwei Plätze. Lisa ging anschließend zu dem Schalter von ‘Hertz’ und mietete einen Leihwagen für einen Tag. Sie wollte noch hinüber nach Baytown fahren, wo eine frühere Kollegin von ihr lebte. Diese hätte bestimmt ein Gästezimmer für sie beide. Lisa telefonierte mit ihr und meldete ihr Kommen an. Sie blickte sich zu Peter um,
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 68 von 76
während sie weitersprach und sagte, sie brächte noch jemand mit. Einen Mann. Lisa lachte, und die Freundin am anderen Ende der Leitung wahrscheinlich ebenfalls. Sie sprachen noch über dies und das, bis sich Lisa verabschiedete und auflegte. „Es ist alles klar, wir können beide bei ihr für einen Tag wohnen. Wenn wir wollen, auch für längere Zeit. Sie freut sich schon.“ Baytown lag, ebenso wie Houston, an der Galveston Bay. Ein Fischerort mit bunten Holzhäusern am Strand, und vielen kleinen Fischerbooten die auf den Wellen schaukelten. Sie schienen darauf zu warten, am Morgen in aller Herrgottsfrühe auslaufen zu dürfen, und schwer beladen mit den Früchten des Meeres heimzukehren. Lisa steuerte den Wagen in eine Seitenstraße. Sie hatten unterwegs in einem Fischrestaurant eine Wegbeschreibung bekommen, die ausführlich genug war. Sie hielt vor einem flachen, weißen Holzhaus mit einem mit Büschen und bunten Blumen bepflanzten Vorgarten. Eine etwa vierzigjährige, blonde Frau kam ihnen lachend entgegen gelaufen. „Hi Lisa, wie braun Du geworden bist und wie gut Du aussiehst. Du siehst richtig glücklich aus. Ja, man müßte noch einmal so jung wie Du sein.“ Sie fielen sich in die Arme und schauten sich lachend an. „Hi Carla! Braun bin ich geworden, das stimmt. Aber gut aussehen? Niemals, ich bin seit Wochen bei keinem Friseur mehr gewesen.“ Lisa schüttelte ihre braunen Locken, und Peter, der etwas weiter hinter ihnen stand, dachte bei sich, daß Lisa auch ohne Friseurbesuch wunderschön aussah. Sie drehten sich beide zu ihm um und Lisa stellte ihn Carla vor. So vertraut, wie sie das machte, entlockte Carla einen schelmischen Seitenblick, den sie Lisa zuwarf. Sie ahnte sofort, daß etwas zwischen lief. Frauen verspüren so etwas instinktiv. Peter hatte von alledem nichts mitbekommen. Carla hatte zwei Kinder im Teenageralter, die aber zur Zeit nicht zu Hause waren. Damals, als Lisa sie zuletzt gesehen hatte, waren sie noch klein und Carla frisch geschieden von ihrem ersten Mann. Sie hatte inzwischen ein zweites Mal geheiratet - Jake, einen Fischer aus dem Ort. Sie hatte ihn während eines Urlaubs kennengelernt. Etwas später kam Jake heim. Ein großer, vierschrötiger Mann mittleren Alters und einem freundlichen Kindergesicht. Carla legte ihren Kindern einen Zettel auf den Tisch, der ihnen mitteilte, sie hätten Besuch und kämen heute erst spät nach Hause. Das Abendessen für sie stände im Kühlschrank. Sie fuhren zu viert an die Bay, um dort zu Abend zu essen und den Tag im angeregten Gespräch ausklingen zu lassen. Am nächsten Tag verabschiedeten sie sich von Carla. Jake war schon wieder draußen auf der Bay, um mit seinem Boot und zwei Gehilfen den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. Der dreistündige Flug nach Reno wurde nur durch die Zwischenlandung in Las Vegas unterbrochen, wo viele Spielernaturen ausstiegen, um hier ihr Glück zu versuchen. Peter hatte es bei ihren Unterhaltungen mitbekommen. Viele unerfüllte Träume und Hoffnungen auf den großen, alles entscheidenden Gewinn würden in einigen Stunden einer Hoffnungslosigkeit, es wieder nicht geschafft zu haben, Platz machen.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 69 von 76
Es stiegen auch einige Passagiere zu. Vielleicht hofften sie in Reno - dem zweiten, nicht ganz so großen Spielerparadies - auf mehr Fortune. Peter war Realist und ein kühler Rechner. Glücksspiel war ihm zuwider. Auf Dauer gewann immer die Bank. Er hatte Augen im Kopf und erkannte, von welchem Geld die riesigen Marmorpaläste, die sich Hotels nannten - ja eigentlich die gesamte Stadt - erbaut worden war. Einzig und allein von dem Geld der Verlierer. In Reno ging Lisa zielstrebig, mit Peter im Schlepptau, auf die Taxis vor der Abfertigungshalle zu. Sie brauchten nicht sehr weit zu fahren, denn Lisa hatte ihren Dodge bei einem Freund, welcher eine Autowerkstatt in der Nähe hatte, vor ihrer Abreise dort abgestellt. Ein blonder, junger Mann - etwas jünger als Peter selbst, kam ihnen entgegen gelaufen und strahlte über das ganze Gesicht. „Lisa! Hallo! Du bist wieder da? Laß’ Dich einmal ansehen. Du bist noch schöner geworden, seitdem ich Dich das letzte Mal sah. Ich würde Dich auf der Stelle heiraten, aber bestimmt gibst Du mir auch heute wieder einen Korb.“ Lisa lacht laut auf. „Ich grüße Dich, Joe. Ja, mir geht es gut. Danke, daß Du mich danach gefragt hast, und nicht ob ich Dich heiraten möchte. Dazu bräuchten wir ganz bestimmt das Einverständnis Deiner Frau und Deiner zwei Kinder.“ Lisa drehte sich zu Peter um, der etwas hinter ihr stand und der Unterhaltung amüsiert gelauscht hatte. „Also Joe, das ist Peter. Ich habe ihn während meiner Reise kennen gelernt. Wir verstehen uns sehr gut. Er ist aus Zürich. Du weißt doch, aus Europa. Zürich liegt in der Schweiz.“ Joe gab Peter die Hand und spielte den Beleidigten. Er tat das so extrem übertrieben, daß alle drei lachen mußten. Joe holte ihren Wagen und Lisa fuhr dann mit Peter zu ihrem Häuschen. Es lag außerhalb der Stadt, wo schon langsam die Wüste begann. In einer breiten Nebenstraße, wo zu beiden Seiten flache Holzhäuser standen, lag auch ihr Anwesen. Ein einstöckiges, weißes Holzhaus das schon längere Zeit keinen frischen Anstrich gesehen hatte. Die Fläche vor dem Haus, ein einstiger Vorgarten, bestand jetzt fast nur noch aus hellem Sand, auf dem einige trockene Büsche wuchsen. Lisa hatte ihm vor ein paar Tagen erzählt, daß sie das Haus von ihren Eltern geerbt hatte, die vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Sie hatte nicht sehr viel geändert, im und am Haus. Schon deswegen, weil sie in ihrem Beruf so wenig Zeit für solche Dinge erübrigen konnte. Durch den oftmaligen Spät - und Nachtdienst benutzte sie es fast ausschließlich als Schlafstätte. Nur die Zimmer der Eltern hatte sie komplett ausräumen lassen, um nicht dauernd ihren schrecklichen Tod vor Augen zu haben. Sie fuhren die Auffahrt hinauf und seitlich am Haus vorbei. Hinter dem Gebäude lag ein kleiner, freier Platz, auf dem zwei Schuppen nebeneinander die Grenze zum Nachbargrundstück bildeten. Lisa stellte den Wagen dort hinter dem Haus ab und ging zur Straße zurück, um den Briefkasten zu leeren, in dem sich während ihrer Abwesenheit Einiges angesammelt hatte.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 70 von 76
Sie betraten das Häuschen. Es war innen geräumiger, als es von außen aussah. Lisa öffnete die Briefe. Meist war es belangloses Zeug. Reklame, ein paar Rechnungen und ein Brief von einer Versicherung. Nur ein Brief unterschied sich von den anderen. Er war nicht frankiert, und trug weder Adresse noch Anschrift. Sie hielt ihn gegen das Fenster. In dem Umschlag lag ein Schlüssel. Mehr konnte man durch den Umschlag nicht erkennen. „Was hältst du davon, Peter?“ „Ich weiß nicht, mach ihn doch auf. Vielleicht erfahren wir dann mehr.“ Der Schlüssel war nicht so groß, wie er für Türschlösser hergestellt wurde. Er trug die Nummer: „763“ und konnte für ein Schließfach oder ähnliches sein. Weiter lag nichts in dem Brief. Sie wußten beide nicht, was sie davon halten sollten. Unterdessen hörte Lisa ihren Anrufbeantworter ab. Es waren eine Menge Anrufe in der Zwischenzeit eingegangen. Plötzlich schrie Lisa auf. „Hör’ doch Peter, hör zu!“ Peter hatte nicht zugehört, weil er sich immer noch mit dem Schlüssel beschäftigte und schreckte bei Lisas Schrei auf. „Das war Steven auf dem Band. Ich habe ganz genau seine Stimme erkannt. Hier, hör’ doch mal.“ Lisa war völlig aufgeregt und spulte das Band ein Stück zurück. „Lisa, Du weißt wer ich bin. Ich lebe, aber ich kann Dir am Telefon nicht sagen, wo. Wenn Du mich sehen willst, dann nimm den Schlüssel, den ich dir bringen ließ, und komme zur Greyhound Busstation. Dort erfährst Du weiteres.“ Sie fuhren auf schnellstem Weg zu der Busstation. Peter schaut sich des Öfteren um, ob ihnen jemand folgte. Wenn Steven so geheimnisvoll tat, mußte ihm jemand auf den Fersen sein, und auch sie konnten beobachtet werden. Es war aber niemand da, der sie verfolgte und Peter beruhigte sich wieder. Steven hatte vielleicht etwas überreagiert und sah schon überall Verfolger. Der Busbahnhof bestand aus einer großen Aufenthaltshalle. Sie lag hinter den unzähligen Bushaltestellen, welche in mehreren Reihen schräg davor angeordnet waren. In der Halle suchten sie Steven. Es waren aber zu viele Menschen anwesend, die auf ihre Busse warteten und Lisa konnte niemand finden, der Steven ähnlich sah. Sie erblickten die Schließfächer und gingen dort hinüber. Es gab ein Schließfach mit der Nummer: „763“. Der Schlüssel paßte. Peter schaute sich um, ob sie jemand beobachtete, aber in dem engen Gang zwischen den Schließfächern waren nur sie beide. In dem Fach fand Lisa einen Umschlag, in dem eine Kinokarte für das Capitol Cinema lag. Auf der Rückseite stand etwas geschrieben. „FRI 04.26./ 11am / last row“ Lisa hielt sich kurz die Hand vor ihren Mund. Ja, das war eindeutig die Schrift von Steven. Selbst bei den paar Worten war sie sich ganz sicher. Das Capitol war eins jener Kinos, welche die Filme nonstop spielten. Dorthin sollte sich Lisa morgen, am Freitag, dem 26. April um elf Uhr vormittags begeben und sich in die letzte Reihe setzen. Jedenfalls entschlüsselten sie beide das aus den Kürzeln auf der Rückseite.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 71 von 76
Am nächsten Morgen fieberte Lisa schon dem Zeitpunkt entgegen, wo sie hoffte, Steven zu treffen. Peter war sich unschlüssig, ob er Lisa begleiten sollte, aber Lisa meinte, er müßte unbedingt mitkommen und Steven kennenlernen. Außerdem könne er ihm auch gleich die Filme übergeben, welche er - Peter - in der ‘Fabrik’ aufgenommen hatte. Wenn er möchte, daß die Öffentlichkeit erfahren sollte, was dort unten in Venezuela vorgefallen sei, wäre Steven der richtige Mann dafür, mit den Beziehungen, die er spielen lassen konnte. Peter war froh, die Filme loszuwerden. Er konnte sie sowieso nicht verwerten, da er niemand aus der Zeitungsbranche kannte und wenn die Filme in die falschen Hände geraten würden, hätten sie die gleichen Probleme wie Steven am Hals. Am Capitol kaufte sich Peter auch noch eine Karte und sie setzten sich nach hinten, in die letzte Reihe. Es war etwa zehn Minuten vor elf und sie hatten noch etwas Zeit. Das Kino war nur spärlich besucht um diese Zeit und in der letzten Reihe saß, außer ihnen, nur noch ein Liebespaar etwas weiter entfernt und war intensiv mit sich selbst beschäftigt. Auf der Filmleinwand lief irgendein alter Western mit John Wayne in schwarzweiß, den aber weder Lisa noch er länger betrachteten. „Wer ist das?“ Neben Lisa, die rechts von ihm saß, hatte ein Mann Platz genommen. Er hatte zwischen sich und Lisa einen Sessel freigelassen und betrachtete angeblich fasziniert die Leinwand, während er flüsternd die Frage stellte. Lisa blickte ihn an und konnte einen Aufschrei nur knapp verhindern. „Steven! Du bist es wirklich!“ flüsterte sie aufgeregt. Sie hatte Tränen in den Augen. „Ja Lisa. Aber schau auf die Leinwand, während wir sprechen. Noch mal, wer ist er? Kennst Du ihn?“ Ja Steven, das ist Peter. Du kannst ihm voll vertrauen. Wir trafen uns dort...Du weißt schon, wo. Ich bin Dir nachgeflogen, weil Du nach Deiner Nachricht so lange nichts mehr von Dir hören gelassen hast.“ „Was bist Du? Du bist mir nachgeflogen? Du warst auch dort unten mit ihm?“ Er deutete auf Peter. „Ja. Mit Peter. Deswegen kannst Du ihm vertrauen. Wir haben die ‘Fabrik’ gefunden und Peter hat sie, nachdem er erfahren hatte, daß Du entkommen konntest, in die Luft gejagt oder richtiger gesagt, in den Fluß gespült.“ „JA!!!“ Steven rief es laut in den Saal, während er die rechte Faust erhob und eine kurze, ziehende Bewegung nach unten machte, als ob er an einem unsichtbaren Hebel zog. Für einen Augenblick hatte er sich nicht in der Gewalt. Einige Reihen vor ihnen wurden ein paar Leute auf sie aufmerksam, als Steven den Schrei ausstieß. Sie zischten zu ihnen herüber, daß sie endlich Ruhe geben sollten, oder gehen. Steven stand auf. „Kommt mit nach draußen! Hier können wir uns nicht unterhalten. Fahr’ mir mit Deinem Wagen nach, Lisa!
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 72 von 76
Sie gingen etwas später hinaus, als Steven. Der saß schon in seinem Wagen - ein unauffälliges Modell - wahrscheinlich ein Leihwagen - und winkte ihnen verstohlen zu. Sie fuhren etwa eine Stunde in östlicher Richtung aus der Stadt - zum Pyramid Lake wie Lisa erklärte. Dort hielten sie an einem Aussichtspunkt. Winnemucca - Peak stand auf einer Holztafel. Er lag in einem Indianerreservat. Steven stand schon dort und beobachtete mit einem Fernglas die Umgebung. Jeder, der ihn sah, konnte ihn für einen Touristen halten. Er betrachtete aber nicht die Landschaft, sondern nur die Straßen, welche hier heraufführten. Er beruhigte die beiden, welche kurz nach ihm eintrafen, aber sogleich und meinte, zur Mittagszeit würde bei dieser Hitze sowieso niemand hierher kommen. Lisa und ihr Bruder umarmten sich erst einmal herzlich. Dann wurde Peter begrüßt. Steven gab ihm die Hand und schüttelte diese lange und kräftig, obwohl sich Amerikaner eher selten die Hände schütteln. Er hatte Peter wohl richtig als Europäer eingeschätzt. „Sie haben meine Schwester also begleitet, und wie ich vorhin mitbekam, die ‘Fabrik’ zerstört. Wie ist Ihnen das gelungen?“ Lisa unterbrach ihn. „Also Steven, das ist Peter. Ich kenne ihn sehr gut und wir haben uns gern. Wäre es da nicht angebracht, daß Ihr Euch duzt?“ „Ok! Ok!“ Beide sprachen, fast wie aus einem Mund und klopften sich auf die Schultern. „Also, wie ist Dir das gelungen?“ Peter erzählte - von Zeit zu Zeit unterbrochen von Lisa - die dann noch etwas ergänzte, wie er nach Venezuela kam, bis zu dem Zeitpunkt, wo sie sich trafen. Wie sie dann gemeinsam nach ihm - Steven - gesucht hatten und wie letztendlich Peter die Konferenz belauscht hatte. Von der Vernichtung der ‘Fabrik’ und ihrer anschließenden Flucht berichteten beide abwechselnd. Steven hörte aufmerksam zu und unterbrach sie nur selten, wenn er etwas genau wissen wollte. Einiges davon, einschließlich der Vernichtung der Menschen in Santa Clara hatte selbst er noch nicht gewußt. Peter holte seine Filme aus der Tasche und gab sie Steven. „Hier hast Du das ganze Material, welches ich dort verschossen habe. Ich glaube es ist reichlich explosiv, und Du solltest gut darauf achtgeben. Du mußt es noch irgendwo entwickeln lassen, oder es am Besten selbst machen. Nur dann kannst Du sicher sein, daß es nicht in falsche Hände gerät. Steven schaute ihn völlig entgeistert an. „Du hast das alles auch noch mit Fotos dokumentiert? Das ist ja der helle Wahnsinn! Ich werde es an die Öffentlichkeit bringen, aber nicht hier in Amerika. Selbst wenn ich mich an offizielle Stellen wenden würde. Ewig können die mich auch nicht beschützen. Ich werde es irgendwo auf der Welt anonym in die Printmedien lancieren, und mich dann aus dem Staub machen.“ Steven wurde jetzt etwas unruhig und drängte zum Aufbruch. Er hatte heute noch eine Menge vor. „So, liebe Schwester. Ich muß mich jetzt leider von Dir verabschieden. Es ist beruhigend für mich, aber gefährlich für Dich, daß Du nach mir gesucht hast. So habe ich das Gefühl, nicht allein auf mich gestellt zu sein, sondern immer jemand zu haben, der mir einen Rückhalt bietet.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 73 von 76
Er gab Peter noch einmal die Hand. „Bye Peter! Ich danke Dir für das Filmmaterial und werde es hüten, wie meinen Augapfel, bis es veröffentlicht ist. Ich hoffe, auch Dich einmal wiederzusehen. Und paß’ gut auf meine Schwester auf.“ Lisa und Steven umarmten sich noch ein letztes Mal, bevor Steven in seinen Wagen stieg und einer ungewissen Zukunft entgegen fuhr. Kapitel 8
Betrachtungen
Am Samstag stand Peter erst sehr spät auf. Lisa mußte ihren Dienst in der Klinik antreten und bekam gleich den Wochenenddienst aufgebürdet. Sie fuhr schon um sechs Uhr los und würde wohl das ganze Wochenende dort verbringen müssen. In den Dienstpausen benutzte sie einen leerstehenden Patientenraum, um sich auszuruhen. Für eine Heimfahrt waren die Ruhepausen zu kurz und etwas zum Essen bekam sie auch in der dortigen Kantine. Peter hatte also das ganze Wochenende Zeit, sich allein die Stadt anzusehen. Er fuhr mit dem Bus hinein und mietete sich dort einen Wagen - einen Subaru. Reno glich in weiten Teilen Las Vegas, war aber bei Weitem nicht so groß. Selbst die Leuchtreklamen, die in Las Vegas das Straßenbild beherrschten, wirkten hier wesentlich bescheidener. In einem Drive-in-Restaurant aß er zum Frühstück Rühreier mit Schinken und trank einen starken Kaffee dazu. Den Kaffee mußte er extra stark bestellen, weil das Gebräu, das man normalerweise in Amerika als Kaffee vorgesetzt bekommt, eher dünnem Tee gleicht und auch dementsprechend schmeckt. Er hatte sich vorher eine Zeitung besorgt - es war der Cronicle - die er jetzt ausgiebig studierte. Er fand nach längerem Lesen aber nichts, worüber es sich lohnte, ausgiebig nachzudenken. Vor Allem fand er kein Wort über die Vorgänge in Venezuela, was ihn aber auch nicht sonderlich wunderte. So schnell konnte selbst Steven sein Material nicht absetzen. An einem großen Platz, dem Trinity-Square, fand er einen Foto-Shop mit angeschlossenem Studio, welchen er aus fachlichem Interesse aufsuchte. Es war ein großer Laden, der in seinen Auslagen viele hochwertige Kameras stehen hatte. Hier mußte eine Klientel verkehren, die man als engagierte Amateure bezeichnen konnte, denn billige Sucherkameras fand er nur in den unattraktiven Ecken des Geschäftes. Das Studio war vollkommen. Selten hatte er ein besseres gesehen. Hier war ein Fachmann am Werk. Das sah Peter auf den ersten Blick. Es war so richtig nach seinem Geschmack. Peter fragte einen der Verkäufer, ob jemand zugegen wäre, der in dem Studio arbeite. Der junge Mann erklärte ihm, daß das Studio ausschließlich seinem Chef zur Verfügung stände, welcher aber zur Zeit verreist wäre und erst in ein paar Tagen erwartet würde. Peter verabschiedete sich und versprach, dann noch einmal vorbei zu schauen. Peter träumte vor sich hin wie es wäre, sein Leben mit Lisa zusammen zu verbringen. Er mußte sich eingestehen, daß er sie liebte und auch sie war ihm zugetan, wie er an vielen Kleinigkeiten bemerken konnte. Aber an eine Zukunft zu zweit mußte er sich erst gewöhnen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sein Leben selbst in die Hand genommen und brauchte niemandem Rechenschaft darüber abzulegen. Er gestand sich aber ehrlich ein, daß er ohne sie auch nicht glücklicher war. Jedenfalls nahm er sich ganz fest vor, bei der
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 74 von 76
nächsten Gelegenheit mit ihr darüber zu sprechen. Der Samstag und der Sonntag gingen dahin. Peter durchkämmte die Stadt und erkundete die Umgebung. Es gab hier ein paar Indianer-Reservate, die er aufsuchte. Er erstand ein silbernes Armband mit schönen, großen Türkisen, das er Lisa bei passender Gelegenheit schenken wollte. Er hatte einmal mit ihr telefoniert - den Zettel mit der Nummer ihrer Station hatte er auf dem Couchtisch vorgefunden. Sie hatte nur wenig Zeit, da sie gerade im Dienst war, und Peter erkundigte sich auch nur, wann er sie zurückerwarten könne. Lisa kam am Montag zur Mittagszeit. Sie hatte unterwegs noch etwas zum Essen gekauft. Es war eins dieser chinesischen Gerichte zum Mitnehmen, welche aus unzähligen Pappschachteln bestanden. In jeder war eine andere Köstlichkeit. Sie aßen und verbrachten den Nachmittag in Yerington am Walker River - in der Nähe von Carson City. Am Abend gab ihr Peter das Armband - sie bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln und einem Kuß - und er kam darauf zu sprechen, welche Gedanken er sich über ihrer beider Zukunft gemacht hatte. Sie hörte ihm lange Zeit andächtig zu, ohne ein Wort zu sagen. Dann lächelte sie. „Ja Peter, ich habe am Wochenende auch viel Zeit zum Nachdenken gehabt und bin zu dem gleichen Ergebnis gekommen, wie Du. Ich liebe Dich und es wäre schön, wenn Du bei mir bleiben würdest. Wir könnten sehen, ob wir zueinander passen. Heiraten möchte ich jetzt zu dieser Zeit noch nicht. Ich glaube auch, daß wir das von ganz allein herausfinden werden, wenn die Zeit gekommen ist.“ Sie küßten sich leidenschaftlich und blieben fast die ganze Nacht im Wohnzimmer sitzen. Sie hatten sich noch soviel zu sagen, und Angst, etwas vergessen zu haben, was sie sich vielleicht später nie mehr sagen konnten. Dabei hatten sie ihr ganzes Leben noch vor sich. Der Morgen graute schon als sie Arm in Arm einschliefen. Am Dienstag überschlugen sich die Ereignisse. Schon vormittags in den Nachrichten hörten sie, was vor einigen Tagen in einem Land in Südamerika vorgefallen war. Es wurde nur von einem Land gesprochen und dieses nicht näher bezeichnet. Dort hatten Polizeikräfte und Regierungsstellen über hundert Wissenschaftler gerettet, welche in einer geheimen Rüstungsfabrik bakteriologische Kriegswaffen hergestellt hatten. Diese - es waren überwiegend Biologen - wurden von einem in Asien sitzenden Syndikat angeworben und danach zwangsrekrutiert. Durch einen Unfall in dem Werk, konnte sich ein Teil der Leute befreien und entkommen. Die Hauptübeltäter waren allesamt flüchtig, wurden aber von Regierungsstellen gejagt. Es wurde mit baldigen Festnahmen gerechnet, zumal ein Teil der Verbrecher dem Geheimdienst des Landes namentlich bekannt war. Lisa und Peter fuhren zum Cronicle. Der hatte inzwischen eine Sonderausgabe heraus gebracht, in der Peter eine Menge von seinen Aufnahmen wiedererkannte. Steven hatte es also doch geschafft, das Material in die Öffentlichkeit zu bringen, und konnte jetzt sicher sein, nicht mehr in Gefahr zu geraten. Die gesamte Sonderausgabe behandelte fast ausschließlich dieses eine Thema. Lisa hatte Steven schon öfter in der Redaktion besucht und wußte, in welches Gebäude sie mußten. Sie erkannte einen Freund von Steven - Gordon hieß er, glaubte sie - und fragte nach Steven, obwohl sie wußte, daß er natürlich nicht anwesend sein konnte. Sie wollte Steven auf keinen Fall mit der Sonderausgabe in Zusammenhang bringen.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 75 von 76
Gordon sagte, Steven sei zur Zeit in Europa und mache dort eine Reportage, aber wo genau, wisse auch er nicht. Sie kam auf die Sonderausgabe zu sprechen und Gordon erklärte ihr, daß diese vor einiger Zeit über den Ticker hereingekommen wäre. Von wo genau, müßte er erst in Erfahrung bringen. Lisa meinte sie würde gerne warten, bis er dafür Zeit hätte. Sie wolle die Sonderausgabe zusammen mit ihren Anmerkungen später ihrem Bruder überreichen, wenn er aus Europa zurück sei. Er jage dort ahnungslos einer langweiligen Sache nach, während woanders auf der Welt die unglaublichsten Geschichten passierten. Gordon kam zurück und gab Lisa ein Fax. Das Bildmaterial war zusammen mit einem Bericht in Brisbane / Australien, bei der dortigen Filiale einer internationalen Presseagentur zuerst aufgetaucht. Es sollte einem freien Mitarbeiter der dortigen Agentur zum Kauf angeboten worden sein. Der Verkäufer war der Agentur angeblich nicht bekannt und die ganze Angelegenheit unterstand sowieso dem Pressegeheimnis. Nach eingehender Prüfung des Materials wurde dessen Echtheit bezeugt, und es dann jeder angeschlossenen Agentur zur Verfügung gestellt, wobei man sich unbedingt ausbat, den Namen des involvierten Landes, welcher der Agentur selbstverständlich bekannt war, nicht zu nennen. Sie verabschiedeten sich von Gordon und bedankten sich für die ausführliche Auskunft und für das Fax. Alles was sie eben gehört hatten, wußten sie ja längst. Lisa wollte eigentlich nur wissen, wo Steven sich jetzt aufhielt. Australien war ihr sicher genug, zumal die Gangster jetzt selbst gesucht wurden und nie mehr Zeit haben würden, den Urheber der Nachricht ausfindig zu machen. Am nächsten Tag wollten sie nach den ganzen Aufregungen etwas unternehmen. Lisa meinte sie könnten zum Lake Tahoe hinausfahren und dort den Tag verbringen. Der Lake Tahoe liegt an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada sehr idyllisch direkt in der Sierra. Sie gingen zu Lisas Wagen. Er stand etwas weiter entfernt auf der Straße, weil Peter gestern seinen Leihwagen hinter dem Haus abgestellt hatte. Glücklich gingen sie Hand in Hand und sahen sich verliebt an. Sie bemerkten nicht den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der sie wie in Gedanken versunken, an seinen Wagen gelehnt, beobachtete, während sie vorüber liefen. Sie sahen auch nicht, wie er langsam in den Wagen einstieg und leise die Tür schloß. Sie sahen ebenfalls nicht, wie er das Handschuhfach öffnete, einen gläsernen Gegenstand in die Hand nahm, dessen pulverförmiger Inhalt schimmerte, wie der Himmel an einem klaren Wintermorgen --- hellblau...
ENDE
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007
Tödliches Blau
Seite 76 von 76
Anmerkung: Die Handlung des Romans, sowie sämtliche Personen, Personengruppen und Institutionen sind rein fiktiv. Entstandene Übereinstimmungen sind zufällig, und nicht im Sinne des Autors. Die meisten Orte sind real, und nur per Zufall aus einem Kartenwerk ausgewählt worden. Wenn die dortigen Gegebenheiten mit der Realität übereinstimmen sollten, wäre das ebenfalls zufällig, da der Autor keines der beschriebenen Länder jemals bereist hat.
file://C:\Dokumente%20und%20Einstellungen\mm\Desktop\ebooks\Romane%20-%2... 12.02.2007