Zwei Freunde – das sind Georg, die eigentlich Georgina heißt, und der Hund Tim. Noch bevor sie als Fünf Freunde weltber...
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Zwei Freunde – das sind Georg, die eigentlich Georgina heißt, und der Hund Tim. Noch bevor sie als Fünf Freunde weltberühmt werden, gehen Georg und Tim schon zusammen durch dick und dünn und lösen mutig ihre ersten Fälle. In diesem Band erleben sie ein neues Abenteuer. Georgs Vater droht damit, Tim wegzugeben. Wut entbrannt läuft Georg mit ihrem Liebling davon, bis zu einem verlassenen Leuchtturm. Dort stößt sie auf zwei Männer, die sie zwingen, in dem na hezu unzugänglichen Turm nach versteckten Dia manten zu suchen. Die Beute in Händen, nehmen die Diebe mit Tim reiß aus. Georg aber lassen sie allein im Turm zurück.
Enid Blyton, 1897 in London geboren, begann im Alter von 14 Jahren, Gedichte zu schreiben. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1968 verfasste sie über 700 Bücher und mehr als 10000 Kurzgeschichten. Bis heute gehört Enid Blyton zu den meistgelesenen Kin derbuchautoren der Welt. Ihre Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Von Enid Blyton sind beim C. Bertelsmann Ju gendbuch Verlag und bei OMNIBUS folgende Se rien erschienen: »Zwei Freunde«, »Fünf Freunde«, »Fünf Freunde und Du«, »Die schwarze 7«, »Die verwegenen 4« und »Lissy im Internat«.
Zwei Freunde
und das Versteck im Leuchtturm Aus dem Englischen von
Anna Claudia Wang
Illustriert von Lesley Harker
OMNIBUS
Der OMNIBUS Verlag gehört
zu den Kinder‐ & Jugendbuch‐Verlagen
in der Verlagsgruppe Random House
München Berlin Frankfurt Wien Zürich
www.omnibus‐verlag.de
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2002
© 2001 für die deutschsprachige Ausgabe
OMNIBUS/C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© für den Originaltext 2000 Enid Blyton Limited, London
Enid Blytons Unterschrift ist ein eingetragenes Warenzeichen
von Enid Blyton Limited.
Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel »Just George – George,
Timmy and the Lighthouse Mystery« bei Hodder Headline Limited,
London, und wurde geschrieben von Sue Welford.
The right of Sue Welford to be identified as the Author of the Work
has been asserted by her in accordance with the Copyright,
Designs and Patents act 1998.
© für die Innenillustrationen 2000 Lesley Harker
Übersetzung: Anna Claudia Wang
Umschlagbild: Michael Braman/Which Art
Umschlagkonzeption und Reihengestaltung: Atelier Langenfass
st • Redaktion: Brigitta Taroni (Büro linguart, Zürich)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: GGP Media, Pößneck
ISBN 3‐570‐12649‐8
Printed in Germany
Inhalt 1 Tim buddelt
9
2 Wieder einmal in Schwierigkeiten!
20
3 Die Felsspitze
30
4 Gefangen!
39
5 Im Leuchtturm
51
6 Eine tolle Idee
60
7 Das Versteck
70
8 Alles bloß erfunden?
81
9 Wo steckt Tim?
91
10 Ein Rätsel
102
11 Tim buddelt wieder
110
12 Darf Tim bleiben?
118
1 Tim buddelt
»O Tim, was hast du denn jetzt wieder ange stellt!«, rief Georg und betrachtete entsetzt die schmutzigen Pfoten ihres kleinen Hundes. »Ich wette, du hast ein Loch in Mutters Blumenbeet gebuddelt!« »Wuff«, gab Tim zu. »Wuff, wuff!« Er sah Ge org mit seinen samtbraunen Augen an und spitzte die Ohren. Sein zottiger Schwanz wedelte unsi cher. Wenn seine Besitzerin diesen strengen Ton anschlug, war er meistens in Schwierigkeiten. Ge org sah sich um. Tatsächlich! Unter einem der ge 9
liebten Sträucher ihrer Mutter entdeckte sie ein großes Loch. Schnell nahm sie einige Hände voll Erde und füllte es auf, dann stampfte sie mit ihren Turnschuhen darauf herum, bis nicht mehr zu er kennen war, dass es dort jemals ein Loch gegeben hatte. »Und jetzt gehen wir besser an den Strand, da mit du dir den Schmutz abwaschen kannst, bevor Mutter vom Einkaufen zurück ist und dich so sieht«, keuchte Georg, als sie fertig war. Sie bückte sich und knuddelte ihren Hund kräftig, damit er wusste, dass sie ihm die Buddelei bereits verzie hen hatte. »Du weißt, dass sie ausflippt, wenn du mit schmutzigen Pfoten ins Haus gehst und den Dreck überall verteilst.« »Wuff, wuff«, erwiderte Tim erneut, während er an Georg hochsprang und versuchte, dabei ihre Sommersprossennase abzulecken. Er wusste, dass sie ihm nie lange böse war. Und er freute sich sehr darüber, dass sie zum Strand gingen. Im salzigen, blauen Meerwasser herumzuplantschen war wun derbar. Es machte ihm fast ebenso viel Spaß wie den Garten umzugraben! »Los, komm«, drängte Georg und hopste auf dem Gartenweg Richtung Tor davon. Dabei klatschte sie fröhlich in die Hände, ihre lebhaften, blauen Augen strahlten spitzbübisch und ihre kurzen dunkeln Locken wippten frech. »Komm, 10
wir verschwinden, bevor Mutter aus dem Dorf zurückkommt.« »Wuff«, meinte Tim, der neben ihr herlief und aufgeregt auf und ab sprang. »Wuff, wuff!« Die zwei Rabauken liefen zum Gartentor hin aus. Georg steckte die Hände in die Taschen ihrer kurzen Hose und pfiff eine fröhliche Melodie. Sie schlugen den schmalen Weg ein, der vom Garten zum Klippenkamm hochführte und dann sanft zur Bucht hin abfiel. Die Bucht war wir ein Hufei sen geformt und von einem goldenen Sandstrand gesäumt. Auf der einen Seite ragten felsige Klip pen ins Meer hinaus und mitten in der Bucht lag die Felseninsel. Darauf erhob sich eine aufregend geheimnisvolle alte Steinburg. Die Burg hatte zwei baufällige Türme und war einer von Georgs Lieb lingsplätzen. Die ganze Insel befand sich seit Jah ren im Besitz der Familie ihrer Mutter und diese hatte ihr versprochen, dass sie eines Tages ganz allein Georg gehören würde. »Wer zuerst unten ist!«, rief Georg plötzlich. Sie nahm die Hände aus den Taschen und rannte hüpfend und springend los. »Ich gewinne!« »Wuff«, bellte Tim glücklich und sauste ihr nach. Georg und Tim waren ein abenteuerliches Paar. Um nichts in der Welt wollte Georg einfach bloß mit Puppen spielen. Ihr richtiger Name war Geor 12
gina, doch sie hasste ihn und hörte deshalb nur auf Georg. Sie trug immer kurze Hosen und T‐ Shirts und hatte sich die dunkeln Locken kurz ge schnitten, weil das praktischer war. Sie rannte schnell wie der Wind, konnte klettern, pfeifen und segeln und das alles besser als jedes andere Mäd chen und sicher auch als die meisten Jungen. Ge org war temperamentvoll und brauste rasch auf, aber sie beruhigte sich auch schnell wieder. Au ßerdem war sie besonders ehrlich und aufrichtig. Tim gehörte ihr, seit er ein ganz kleines Hun debaby gewesen war. Georg war eines Tages im Moor spazieren gegangen und hatte den struppi gen Winzling verängstigt zwischen den Erika sträuchern entdeckt und mit nach Hause genom men. Sie nannte ihn Tim, weil sie fand, das sei ein passender Name für einen tapferen kleinen Kerl. Als niemand Anspruch auf Tim erhob, erlaubten ihr die Eltern, Tim zu behalten, solange er brav war. So war Tim ihr bester Freund geworden. Niemand konnte so recht sagen, zu welcher Rasse er gehörte. Sein Fell war struppig braun, der Kopf zu groß, der Schwanz zu lang, die Pfoten waren zu breit und er hatte unglaubliche Schlapp ohren. Doch Georg war das alles völlig gleichgül tig. Er war der beste und tollste kleine Hund auf der ganzen Welt und es war wunderbar, einen so treuen Freund zu haben. 13
Georg hatte keine gleichaltrigen Freunde und sie hatte immer am liebsten allein gespielt – bis Tim auftauchte. Es gab da zwar zwei Vettern und eine Kusine namens Julius, Richard und Anne, die in London lebten. Aber sie hatte sie noch nie gese hen und war auch nicht besonders erpicht darauf. Auf das Mädchen schon gar nicht! »Da sind wir!«, rief Georg, als sie wie ein Wir belwind von der Böschung auf den warmen, gol denen Sand hinabsprang. Die Sonne spiegelte sich glitzernd im Meer und sie rannte mit Tim im Schlepptau zum Wasser. »Hinein mir dir Junge!« Tim sprang bellend hinein. Das Meer war ganz ruhig, kleine Wellen schwappten flüsternd an den Strand. Tim plantschte und bellte die Möwen an, die nicht weit entfernt von ihm auf dem Wasser schaukelten. Der kleine Hund konnte noch nicht schwimmen, aber er fürchtete sich kein bisschen vor dem Wasser. Er kläffte die Wellen an und tob te herum, bis alle Erde aus seinem Fell herausge waschen und er wieder blitzsauber war. »Na, dann komm«, rief Georg, als sie sah, dass sein Fell wieder glänzte. »Mutter wird gar nie er fahren, dass du über und über schmutzig warst. Und auch nicht, dass du ein Loch in ihr Blumen beet gebuddelt hast. Komm, wir gehen nach Hau se. Es ist Mittag und mein Magen knurrt wie ver rückt!« 14
Die beiden liefen über den Sand, die Böschung hoch und auf dem Klippenweg zum Felsenhaus, in dem sie wohnten. Das weiße Steinhaus war groß und alt und hatte eine schöne Holztür. Es stand auf einer niedrigen Klippe und blickte auf die Felsenbucht hinab. Durch das Seitenfenster in ihrem Zimmer unterm Dach hatte Georg eine wunderschöne Aussicht auf das Meer. Sie genoss es, nachts im Bett das Rauschen der Wellen und das Schreien der Seevögel zu hören. Johanna, die freundliche Haushaltshilfe ihrer Mutter, war in der Küche und bereitete das Mit tagessen zu, als die beiden hereinstürzten. »Der Hund ist ja ganz nass«, rief sie aus, als Tim salzige Pfotenabdrücke auf dem Küchenbo den hinterließ. Sie verpasste ihm mit dem Ge schirrtuch einen Nasenstüber. »Raus mit dir, mein Lieber, bevor du Schwierigkeiten bekommst.« »Wuff«, bellte Tim und versuchte das Geschirr tuch zu packen, als Johanna ihm damit vor der Nase herumwedelte. Er sprang hoch und erwisch te es an einer Ecke. »Grr, grr«, knurrte der kleine Hund und schüttelte das Stück Stoff so heftig, wie er nur konnte. »Grr!« »Du meine Güte!«, lachte Johanna und ihre Augen verschwanden fast zwischen den fröhli chen Lachfalten in ihrem runden Gesicht. »Du bist mir aber ein wilder Kerl!« 15
»Er ist sehr wild und sehr klug«, lachte Georg gleichfalls und versuchte, Tim das Geschirrtuch aus dem Maul zu ziehen. »Aus, du Schlitzohr, aus!« »Grr«, knurrte Tim und zog noch kräftiger. Er gab sich zwar Mühe, Georg immer zu gehorchen, doch manchmal schaffte er es einfach nicht! Vor allem dann, wenn sie gerade ein so tolles Spiel spielten. Sie machten ziemlich viel Lärm. Georg und Jo hanna lachten schallend und Tim knurrte laut, während er das Geschirrtuch wie wild schüttelte. Da hallten plötzlich energische Schritte durch den Flur und Georgs Vater erschien in der Kü chentür. Seine dunkeln Brauen hatten sich zu ei nem wütenden Knäuel zusammengeballt und er
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sah sehr ungehalten aus. Er war ein großer Mann mit dun kein Haaren, der unentwegt die Stirn zu runzeln schien. Tim hatte ziemlich Angst vor ihm. »Was ist denn das für ein Krach hier?«, brüllte Georgs Vater. »Wie soll ich dabei arbeiten kön nen?« Als bekannter Wissenschaftler verbrachte er unzählige Stunden damit, in seinem Arbeitszim mer über wichtigen Formeln zu brüten. Er hasste es, wenn man ihn störte. Endlich gelang es Georg, Tim das Geschirrtuch aus dem Maul zu ziehen. »Tut mir Leid, Vater«, sagte sie, noch immer kichernd. »Wir spielen bloß.« »Ja, das sehe ich«, tobte ihr Vater und betrach tete das zerrissene Geschirrtuch. »Raus mit dir, Georg, und bleib draußen! Und nimm diesen vermaledeiten Hund mit. Ich sage es nicht noch einmal!« »Aber Vater, wir sind doch zum Essen herein gekommen«, protestierte Georg. Ihr Lächeln machte einem wütenden Blick Platz, wodurch sie genau wie ihr Vater aussah. »Und Tim ist nicht ver… vermaledeit, er ist wunderbar!« »Dann macht ein Strandpicknick oder so«, er widerte ihr Vater nur, während er sich umdrehte und in sein Arbeitszimmer zurückging. »Was auch immer, seid einfach leise!« »Ja Vater«, antwortete Georg, noch immer 17
schmollend. »Komm Tim, wir gehen wieder hin aus«, fügte sie beleidigt hinzu. Georg war oft be leidigt, allerdings nie für lange. »Ich packe euch ein schönes Picknick ein, ja?«, versprach Johanna. »Ich habe noch etwas von dem Apfelkuchen übrig, den ich gestern gebacken ha be.« »Au ja, bitte«, rief Georg und der Flunsch ver wandelte sich in ein Strahlen. »Tim, wir gehen mit unserem Picknick ins Dorf und sehen den Fischer booten im Hafen zu! Was meinst du dazu?« »Wuff«, pflichtete Tim ihr bei. Picknicks gehör ten zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Im Grun de genommen hatte er fast nur Lieblingsbeschäfti gungen – solange er dabei mit Georg zusammen war. »Und wir werden Alf Hallo sagen«, fuhr Georg fort. Alf war der Sohn eines Fischers, der in Fel senburg lebte. Georg kannte ihn schon ewig und er mochte Tim sehr gerne. »Wuff«, stimmte Tim erneut zu. Alf besuchen tat er ebenfalls für sein Leben gern. Der Junge hat te meistens einen kleinen Leckerbissen für ihn in der Hosentasche, den Tim immer so schnell wie möglich verschlang, für den Fall, dass es noch ei nen weiteren gab. Georg half Johanna nach Kräften, ihren Ruck sack mit allen möglichen Leckerbissen zu füllen. 18
Als Erstes machten sie ein paar Schinkenbrote und wickelten sie in Stullenpapier. Dann nahm sie eine Tüte und legte ein Riesenstück hausgemachten Schokoladenkuchen, ein paar Kekse, ein Stück Ap felkuchen und saftige Pflaumen aus dem Garten hinein. Schließlich holte Johanna noch eine Flasche Ingwerlimonade und eine Tüte Hundekuchen für Tim und packte alles in Georgs Rucksack. »So, nun ist dein Picknick bereit«, bemerkte die freundliche Frau und öffnete ihr die Hintertür. »Vielen Dank Johanna! Und auf Wiedersehen«, sagte Georg begeistert und warf sich den Ruck sack um. »Du machst die köstlichsten Picknicks der Welt!« »Ab mit euch«, lächelte Johanna. »Ich wünsche euch viel Spaß.« »Den werden wir haben, keine Bange«, rief Ge org, während Tim schon zum Tor jagte und dort auf sie wartete. »Bis später Johanna.«
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2 Wieder einmal in Schwierigkeiten!
Bald hatten die beiden Felsenburg erreicht und gingen über den Kieselstrand zum kleinen Hafen. Die Fischerboote lagen hoch oben am Strand auf dem Trockenen, in Sicherheit vor der Flut. Es dauerte nicht lange, bis sie Alf entdeckt hat ten. Er saß auf der Hafenmauer und aß Fisch mit Pommes aus einer Tüte aus Zeitungspapier. »Mmh, das riecht ja köstlich«, rief Georg. Sie setzte sich neben ihn und nahm den Rucksack ab. Sie liebte Fisch mit Pommes, vor allem direkt aus der Tüte. So schmeckten sie gleich noch besser. 20
»Nimm dir nur«, forderte Alf sie auf und hielt ihr die Tüte hin. »Nein danke«, erwiderte Georg. »Wir haben ein wunderbares Picknick dabei, nicht wahr, Tim?« »Wuff«, bellte dieser und sprang an Alf hoch. Ja, er liebte Picknicks, aber der Fisch und die Pommes dufteten ebenfalls verlockend. »Hallo, alter Knabe«, begrüßte Alf den kleinen Hund und kraulte ihm das braune Fell, während er Georg zuzwinkerte. »Na, möchtest du eine Fritte?« »Wu‐uff«, meinte Tim und tänzelte elegant bet telnd auf den Hinterbeinen. »Hoho, das ist aber ein tolles Kunststück«, lach te Alf und belohnte ihn mit einem Leckerbissen. »Wann hat er das denn gelernt?« »Ach vor ewigen Zeiten«, antwortete Georg und biss kräftig in ein Schinkenbrot. »Er ist eben der klügste Hund der Welt.« »Ja, das ist er echt«, bestätigte Alf. »Und was habt ihr zwei so getrieben?« »Och«, seufzte Georg. »Picknicken, spazieren, schwimmen und segeln, aber wir haben in der letzten Zeit kein Abenteuer mehr erlebt, nicht wahr Tim?« Tim japste kurz, während er sich wieder hin setzte und um eine weitere Fritte bettelte. »Und es sieht so aus, als würden wir in diesen Ferien auch keines erleben«, fügte Georg hinzu 21
und seufzte wieder. »Dabei mögen wir nichts so gern wie Abenteuer, stimmt’s Tim?« »Wuff«, antwortete Tim, wie immer ihrer Mei nung. »Ach was, irgendwas wird sich schon noch er geben, da bin ich sicher«, tröstete Alf. Er hatte Fisch und Pommes aufgegessen und faltete das Zeitungsblatt zusammen. »So ist es doch meis tens.« »Hoffentlich hast du Recht«, erwiderte Georg, den Mund voll Apfelkuchen. Alf ließ die Zeitung liegen und zog los, um mit Tim zu spielen. Er warf ein Stück Treibholz für den kleinen Hund, der ihm nachhetzte und es zu rückbrachte. Als Georg aufgegessen hatte, griff sie nach Alfs Zeitungblatt und trug es zusammen mit ihren eignen Picknickabfällen zum Abfalleimer. Da sprang ihr auf der Zeitung das Bild eines Mannes ins Auge. Er sah ziemlich gefährlich aus mit seinem zerzausten schwarzen Haar und dem struppigen Bart. Unter dem Bild stand »Häftling entflohen«. Ge org gefiel der Mann ganz und gar nicht. Er hatte ein Gesicht, das einem Alpträume verursachen konnte. Sie schauderte kurz, dann knüllte sie das Papier zusammen und warf es in den Eimer. Gleich darauf rannte sie zu den anderen hin 23
über und schloss sich ihrem Spiel an. Sie vergnüg ten sich königlich zusammen. Georg und Alf war fen den Stock für Tim und lachten, während er ihm nachsetzte und ihn zurückbrachte. Nach eini ger Zeit war der kleine Hund müde und legte sich flach auf den Kies. Er hechelte wie eine kleine Dampflok und seine lange rosa Zunge hing her aus. »Ich mache mich besser wieder an die Arbeit«, meinte Alf. »Ich sollte für Vater Fischernetze fli cken. Bis bald, ihr zwei!« Winkend ging er davon. »Komm Tim«, rief Georg. »Wir gehen nach Hause, ja?« Tim erholte sich schnell und trabte schon bald wieder munter neben ihr her. Als sie beim Felsen haus eintrafen, sahen sie Mutter und Vater im Garten neben einem der Blumenbeete stehen. Der Vater hatte die Hände in die Hüften gestützt und sah sehr verärgert aus. »Wir haben gerade entdeckt, wo dein Hund überall Löcher in die Blumenbeete gegraben hat«, tobte er wütend, als Georg und Tim fröhlich an gehüpft kamen. »Sieh dir das an!« Georg kam schlitternd zum Stehen. Ihre Augen folgten dem Zeigefinger ihres Vaters. Da klafften tatsächlich zwei Riesenlöcher in der Erde und Mutters geliebte Pflanzen lagen welk und zerzaust daneben. 24
Um Himmels willen, dachte Georg. Kein Wun der, war Tim heute Morgen so schmutzig. Er hatte offensichtlich mehrere Löcher gegraben, nicht bloß das eine, das sie wieder aufgefüllt hatte. Tim verbarg sich winselnd hinter ihren Beinen. Er wusste, dass er ungehorsam gewesen war. Aber dieser große Mensch namens Vater schien nicht zu verstehen, dass Hunde manchmal einfach buddeln mussten. Abgesehen davon, hatte er ja nur einen Knochen gesucht, den er hier irgendwo vergraben hatte und auf dem er noch etwas herumkauen wollte. Wozu hatte er denn so kräftige Vorderpfo ten, doch wohl zum Graben, oder etwa nicht? »Ich weiß nicht, was wir mit ihm machen sol len«, setzte Georgs Mutter hinzu und schüttelte traurig den Kopf. »Er ist wirklich furchtbar unge zogen.« »Wuff«, flüsterte Tim und kam hinter Georgs Beinen hervor. Er ging zu ihrer Mutter und leckte ihr die Hand, als wollte er sagen, es tue ihm wirk lich sehr Leid. »Das nützt jetzt auch nichts mehr«, schimpfte Georgs Vater wütend. »Ich habe dich gewarnt, Georgina. Wenn er sich nicht benimmt, müssen wir ihn weggeben.« »Das dürft ihr nicht! Das könnt ihr nicht!«, schrie Georg. »Doch, das können wir sehr wohl«, erwiderte 25
ihr Vater. »Und eine gute Tracht Prügel würde ihm vielleicht auch nicht schaden.« »Ich denke nicht, dass das nötig ist, Quentin«, meinte die Mutter hastig. »Der Hund muss ein fach richtig erzogen werden, das ist alles.« »Dafür ist es jetzt zu spät, Fanny«, erwiderte ihr Mann. »Er hatte oft genug Gelegenheit, sich zu bessern, das hier war der letzte Tropfen.« »Was hast du vor?«, fragte Georg, die immer noch schmollte, weil ihr Vater sie Georgina ge nannt hatte und weil er so unvernünftig war. Tim war noch klein. Junge Hunde buddelten nun ein mal gern und damit basta. »Ich rufe Wachtmeister Mond an und bitte ihn, für Tim ein neues Zuhause zu finden«, sagte ihr Vater. »Und bis dahin bleibt er angebunden.« »Nein!«, schrie Georg zornig. »Ich lasse nicht zu, dass er angebunden wird! Und ich lasse auch nicht zu, dass ihr ihn weggebt!« Sie hob Tim hoch und drückte ihn an sich. »Er ist mein bester Freund! Man kann seinen besten Freund nicht einfach wegschicken!« »Es ist mir völlig egal, was er ist«, erwiderte ihr Vater, noch immer furchtbar wütend. »Ich weiß gar nicht, warum du nicht einfach mit Menschen befreundet sein kannst, Georgina, so wie alle an deren auch. Es gibt so viele nette Mädchen im Ort, mit denen du spielen könntest.« 26
»Ich mag keine Menschen und Mädchen noch weniger«, antwortete Georg hitzig. Ihr Vater schüttelte seufzend den Kopf. Er lieb te seine temperamentvolle Tochter sehr, aber manchmal war sie echt stur. »Wie soll ich denn bei diesem ewigen Theater arbeiten können?«, brüllte er schließlich und stürmte dem Haus zu. »Schlag du dich doch mir ihr rum, Fanny!« Er stampfte in sein Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Hauses zurück. Sie hörten, wie er die Tür so heftig hinter sich zuknallte, dass das ganze Felsenhaus erbebte. »Mach dir keine Sorgen, Georg«, tröstete die Mutter. Sie legte seufzend den Arm um ihre Toch ter. »Vater vergisst ganz bestimmt, Wachtmeister
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Mond anzurufen.« Georgs Vater vergaß tatsäch lich unentwegt irgendwelche Dinge. Diesmal hoffte Georg inständig, dass ihre Mutter Recht hatte. »Wer weiß?«, meinte sie dennoch zweifelnd und versuchte krampfhaft, das Weinen zu unter drücken. Sie mochte es nicht, wenn jemand wein te. Sie hielt es für kindisch und dumm und war fest entschlossen, es nie soweit kommen zu lassen. Doch jetzt konnte sie nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Wütend wischte sie sie weg und hoffte, ihre Mutter habe sie nicht be merkt. »Lass uns erst dann den Kopf darüber zerbre chen, wenn es soweit ist«, meinte ihre Mutter sanft. »Aber du musst ernsthaft versuchen, Tim im Zaum zu halten. Sonst muss er eines Tages wirk lich fort, fürchte ich.« Georg schüttelte den Arm ihrer Mutter ab. »Ich lasse nicht zu, dass er festgebunden wird und auch nicht, dass er weggegeben wird«, schrie sie mit hochrotem Kopf. »Und wenn sich Vater auf den Kopf stellt!« Mit diesen Worten marschierte sie auf dem Gartenweg davon. Tim hielt sie wie ein struppiges braunes Paket unter dem Arm. »Wohin gehst du?«, rief ihr die Mutter besorgt 28
nach. Sie wusste, dass Georg oft für Stunden ver schwand, wenn sie so wütend davonlief. »Spazieren!«, rief Georg. »Irgendwohin, wo Va ter uns nicht anschreien kann!«
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3 Die Felsspitze
Georg marschierte mit Tim im Schlepptau den Weg entlang. Der kleine Hund war ganz durch einander. Seinetwegen hatte es einen bösen Streit gegeben und er war sehr traurig, dass seine Besit zerin derart außer sich war. Doch schon bald vergaß er die Angelegenheit völlig. Direkt vor sich entdeckte er viele weiße Stummelschwänze, die auseinanderstoben. Ka ninchen! Kaninchenjagd, das war eine tolle Sache! 30
»Wuff«, bellte Tim glücklich und raste auf sie zu. »Wuff, wuff!« Das Leben war wunderbar, wenn man auf Kaninchenjagd gehen konnte! »Wage bloß nicht, eins zu fangen«, rief Georg ihm nach. Sie war immer noch zornig und aufge bracht. »Sonst bist du auch bei mir schlecht ange schrieben.« Mit gesenktem Kopf schritt sie des Wegs und ihre Turnschuhe stampften dabei wütend auf den Boden. Ehe sie sich versah, hatten sie den Felsen hof und die heruntergekommene alte Mühle hin ter sich gelassen. Nun mündete der Weg in einen Steinhang, der von der Klippe direkt zu einem Leuchtturm hinabführte. »Komm, wir gehen auf Entdeckungstour«, rief Georg beim Anblick des Leuchtturms. Sie war ganz verblüfft darüber, wie weit sie gelaufen wa ren. »Hier bin ich ja mit dir noch gar nie gewesen, Tim. Ist das nicht spannend?« Während sie hinter dem schlitternden und rut schenden Tim hinabkletterte, verflog ihre schlech te Laune ganz und gar. Ihre Tritte lösten eine klei ne Gerölllawine aus. Immer schneller prasselten und kullerten vor ihnen Steine und Kiesel den Hang hinab und trafen hüpfend auf die Felsen darunter auf. Bald standen die beiden auf dem kleinen Strand unterhalb der Klippe und betrachteten den Leucht 31
turm. Er stand auf einer Felszunge, die einige Me ter ins Meer hinausragte. Die gefährlich scharfen Felsen rundum würden ein Loch in jedes Schiff rei ßen, das ihnen zu nahe kam. Ein großes Schild trug die warnende Aufschrift: »Gefahr! Betreten verboten!« »Das ist der Felsspitzleuchtturm«, erklärte Ge org. Sie musste laut reden, um die Wellen zu über tönen, die gegen die Felsen krachten. »Hier kommt nie jemand her. Man erreicht ihn nur bei Ebbe und er wird seit Jahren nicht mehr benutzt. Es gibt noch einen anderen, gleich auf der anderen Seite der Bucht, beim Dämonenfelsen, und daher ist der hier eigentlich überflüssig. Ist das nicht aufregend?« 32
Sie sprang auf einen Felsbrocken und lachte vergnügt, als eine Riesenwelle sich ganz in ihrer Nähe brach und salzige Gischt über sie hinweg sprühte. »Wuff«, bellte Tim und wich etwas zurück. Die weißen Schaumwellen kamen ihm zornig vor, wie sie so um die Felsen brandeten, und er wollte nicht fortgespült werden. Der kleine Hund sah zu dem hohen, schmalen Gebäude hoch, auf dessen Spitze ein runder Glas helm saß. Es war einst rot und weiß bemalt gewe sen, aber die Farbe war durch Wind und Wetter verblasst. Dieser Leuchtturm war das seltsamste Haus, das er je gesehen hatte. Der untere Teil war tief zwischen den Felsen verankert und eine mit Algen bewachsene, rutschige Steintreppe führte zu einer großen rostigen Tür hoch, die über der tosenden Brandung lag. Diese Tür war mit Bret tern vernagelt und einer Kette mit einem schwe ren Vorhängeschloss gesichert. Es sah aus, als sei es seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. »Den Leuchtturm hat man gebaut, um die See leute vor diesen gefährlich schroffen Felsen zu warnen«, erklärte Georg und sprang auf einen an deren Felsblock. »Und ganz früher haben so ge nannte Strandräuber mit ihren Laternen fremde Schiffe in die Irre geführt, damit sie die Felsen rammten und untergingen.« 33
»Wuff«, antwortete Tim empört. »Und wenn ihre Ladung dann an Land ge schwemmt wurde, stahlen diese Verbrecher alles, was sie fanden«, fuhr Georg fort. »Eine unglaubli che Gemeinheit, findest du nicht auch?« »Wuff«, stimmte Tim ihr zu. Das war nun wirk lich eine riesige Gemeinheit. »Und dort oben«, Georg zeigte zur Spitze des Leuchtturms, »dort oben zündeten die echten Leuchtturmwärter die Laterne an, um die Schiffe vor der Gefahr zu warnen. Ich wäre zu gerne Leuchtturmwärter, du nicht auch, Tim? Dann brauchten wir uns nicht mit Erwachsenen herum zuschlagen, die uns dauernd Vorschriften ma chen!« »Wuff«, meinte Tim, nicht gerade überzeugt. In einem Leuchtturm zu wohnen war vielleicht lus tig, aber er hätte ja keinen Garten zum Buddeln! »Komm, wir warten, bis die Flut zurückgeht«, bemerkte Georg. »Dann wollen wir herausfinden, ob wir in den Turm gelangen und ihn auskund schaften können.« Tim winselte. Wie sollten sie die mit einem Vor hängeschloss gesicherte Tür aufkriegen? Er blickte hoch. In der Mauer entdeckte er drei Fenster über einander, aber selbst das unterste lag zu hoch, als dass sie hätten hineinklettern können. Er sprang wieder zurück ans sichere Ufer und setzte sich 34
ziemlich ratlos hin. Aber wenn es einen Weg hin ein gab, dann würde Georg ihn finden. Hatte sei ne Besitzerin sich nämlich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, gab sie nicht so schnell auf. Georg folgte ihm, indem sie von Fels zu Fels hüpfte, und setzte sich schließlich neben ihn. Mö wen kreisten und schwebten über den Wellen und die Luft war erfüllt vom Geruch des Meeres. Sie machten es sich gemütlich und warteten darauf, dass die Flut zurückging. Es war warm in der Sonne und Georg wurde schläfrig. Sie waren ganz schön weit gelaufen. Ihr Magen begann zu knurren und das Wasser lief ihr im Mund zu sammen, als sie an Johannas köstlichen Schokola denkuchen dachte, den sie zum Mittagspicknick gegessen hatte. Wäre sie doch bloß nicht so wü tend losgestürmt. Nun hatte sie ganz vergessen, sich etwas davon mitzunehmen. »Früher oder später müssen wir wohl oder übel wieder nach Hause gehen«, sagte sie zu Tim und seufzte. »Vielleicht vergisst Vater ja, dass er dei netwegen Wachtmeister Mond anrufen wollte.« Tim gab einen hoffnungsvollen Japser von sich und blickte unter seinen zottigen Augenbrauen zu ihr hoch. »Und du musst mir versprechen, nie wieder Mut ters Blumen auszugraben, Tim, mein Schatz«, setzte Georg hinzu und hob drohend den Zeigefinger. 36
»Wuff, wuff«, antwortete Tim, bereit alles zu ver sprechen, wenn er nur im Felsenhaus bleiben durfte. Bald darauf war das Wasser etwas zurückgegan gen. So konnten sie zum Fuß der Steintreppe ge langen, die zum Eingang des Leuchtturms führte. »Sei vorsichtig, Tim«, rief Georg, während sie über die Felsen bis zur ersten Stufe kletterten. »Es ist furchtbar rutschig.« Sie klammerte sich fest an den rostigen Handlauf, während sie zur Eisentür hochstieg. Tim schlitterte und rutschte hinter ihr her. Einmal musste sie ihn rasch packen, sonst wä re er auf die Felsen unter ihnen gefallen. Oben rüttelte Georg an der Kette. »O weh, Tim, so kommen wir nie hinein. Ich frage mich, ob es noch einen anderen Eingang gibt. Lass uns auf die andere Seite gehen.« Eine breite Plattform führte um den Turm her um. Vorsichtig traten sie drauf. Sie war an den Rändern mit scharfkantigen Napfschnecken und Muscheln übersät und mit schleimigen grünen Meeralgen bedeckt. Etwas tiefer brodelte das Meer und die Wellen krachten tosend auf die Felsen. »Dort oben ist ein Fenster«, rief Georg, schüttel te aber gleichzeitig den Kopf. »Es ist viel zu weit oben, da kommen wir nie rein. Ach Tim, so ein Mist! Ich wäre so gerne auf Erkundungstour ge gangen, du nicht auch?« 37
Doch Tim hörte ihr nicht zu. Neben dem Rau schen der Wellen hatten seine feinen Ohren noch ein anderes Geräusch aufgeschnappt. Er hörte Stimmen. Zwei Menschen kamen über den steini gen Pfad auf sie zu! Aber Georg hatte doch gesagt, es komme nie jemand hierher. Wer um alles in der Welt konnte das also sein?
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4 Gefangen!
»Was ist los, Tim?«, fragte Georg besorgt, als sie sah, dass der kleine Hund die Ohren gespitzt hatte und vor Erregung bebte. »Was hörst du?« »Grr«, knurrte Tim grollend. »Grr!« Georg drehte sich um und sah zwei Gestalten den Steilhang zum Leuchtturm hinabklettern. »Mist!«, rief sie aus. »Wer um alles in der Welt ist das? Schnell, Tim, wir müssen uns verstecken, bevor sie uns sehen. Weißt du, eigentlich dürften wir gar nicht hier sein. Wenn das die Küstenwa che ist, sitzen wir ganz schön in der Patsche.« Die beiden schlitterten zur Treppe zurück und 39
stolperten sie eilends hinunter. Sie sprangen von der letzten Stufe und duckten sich hinter einen großen Felsblock. Tim knurrte noch immer Furcht erregend. Zum Glück wurde er vom Getöse der Wellen übertönt. »Psst«, flüsterte Georg und legte ihm die Hand auf die Schnauze. »Sonst hören sie dich! Wenn wir entdeckt werden, bekommen wir echt Schwierig keiten.« Die beiden Männer waren jetzt unten zwischen den Felsen und gingen auf die Leuchtturmtreppe zu. »Ist etwas rutschig, Max«, warnte der größere der beiden mit tiefer Stimme. »Sei vorsichtig.« Georg lugte hervor und sah, wie der eine Mann ausrutschte und fast ins Wasser fiel, weshalb er wild mit den Armen ruderte. Der größere, mit dunklem Haar und Bart, packte ihn am Arm. »Langsam, Max«, sagte er. »Wenn du dir den Hals brichst, finden wir die Diamanten nie.« »Diamanten?«, flüsterte Georg. »Wovon um al les in der Welt redet er?« Sie konnte den großen, bedrohlich wirkenden Kerl deutlich sehen, denn er stand fast direkt vor ihrem Versteck. Sie schnappte nach Luft. Irgendwie kam er ihr be kannt vor, aber sie konnte sich nicht erklären, weshalb. Sie zermarterte sich das Gehirn. Wo hat te sie dieses Gesicht bloß schon einmal gesehen? 40
Inzwischen war Max die Treppe hochgestiegen und stand stirnrunzelnd vor der Eisentür. Er war jünger als der andere Mann und trug eine dunkle Hose und eine ziemlich schmierige, ärmellose Weste. »Ich weiß nicht, wie wir hineinkommen sollen«, brummte er und rüttelte an der schweren Kette. »Die Tür ist richtig gut verriegelt. Sieht aus, als sei sie ewig nicht mehr geöffnet worden.« »Darauf kannst du wetten«, fuhr ihn der größe re an. »Darum hat Piet die Diamanten ja hier ver steckt, weil er wusste, dass man sie hier nicht fin den würde.« In ihrem Versteck schnappte Georg erneut nach Luft. Im Leuchtturm waren Diamanten versteckt! Das war vielleicht spannend! »Tja, dann versuch’s du doch mal, Eddie«, hör te sie Max säuerlich entgegnen. »Du bist der star ke Maxe.« Er trat einen Schritt zurück, während der größere Mann an der Kette rüttelte und am Vorhängeschloss zog. »Mist, du hast Recht«, brummte er schließlich und schüttelte den Kopf. »Piet muss sich auf eine andere Art Zutritt verschafft haben.« Hinter ihrem Felsen versteckt, runzelte Georg noch mehr die Stirn. Wer war Piet? Und wie kam er dazu, im alten Leuchtturm Diamanten zu ver stecken? Dann begann ihr Herz wie wild zu po chen. Plötzlich war ihr klar geworden, woher sie 41
den Mann namens Eddie kannte. Sein Bild war in der Zeitung gewesen, in die Alf Fisch und Pommes eingewickelt hatte. Eddie war aus dem Gefängnis ausgebrochen! »Sieh mal an«, rief Eddie unvermutet und zeig te nach oben. »Dort! Das Fenster. Ich wette, so ist er reingekommen.« Die beiden Männer blickten zu dem kleinen Fenster hoch. »Ja, du hast Recht«, sagte Max. »Piet kann klet tern wie ein Affe. Und er ist erst noch klein genug, um reinzuschlüpfen, im Gegensatz zu uns. Was machen wir jetzt?« »Keine Ahnung.« Eddie schüttelte den Kopf. »Selbst mit einer Leiter kämen wir nicht hinein. 42
Und wir haben nicht mal eine. Wenn Piet nicht im Gefängnis wäre, würde ich ihn auf der Stelle rein schicken, den miesen Nichtsnutz. Wenn er nicht jemandem verraten hätte, wo er die Diamanten versteckt hat, hätten wir es nie erfahren. Falls wir sie finden, würde ich zu gern sein Gesicht sehen, wenn er rauskommt und sie holen will, nur um festzustellen, dass sie schon weg sind!« Mit nachdenklich zerfurchtem Gesicht setzte er sich auf die Treppe. Von ihrem Versteck aus konn te Georg seine stechenden Augen sehen und ein kleiner Schauer rieselte ihr über den Rücken. Es war das erste Mal, dass sie einem Ausbrecher – und Diamantenräuber – so nahe kam! »Ja«, meinte Max mit einem rotzigen Grinsen. »Das würde ihm recht geschehen!« »Aber das löst unser momentanes Problem nicht«, brummte Eddie noch immer stirnrunzelnd. »Es hilft alles nichts, irgendwie müssen wir ein fach über dieses Fenster in den Turm rein und wenn wir dabei drauf gehen.« »Was wir vermutlich auch werden«, meinte Max und warf einen Blick auf die Wellen, die ge gen die Felsen krachten. »Ich möchte nicht da run terfallen. Ich wette, zwischen den Felsen gibt’s je de Menge Getier, vielleicht sogar Haie.« Der ist vielleicht dumm, dachte Georg, die alle Tierarten kannte, die in der Gegend von Felsen 43
burg und im Meer lebten. Jedes Kind wusste, dass es hier keine Haie gab! Mittlerweile bebte Tim vor Wut. Er hielt es kaum noch aus. Wie konnten diese Fremden es wagen, einfach so daherzukommen und ihnen den Spaß zu verderben! Fast unmittelbar vor sei ner Schnauze flatterte der Zipfel eines Hosenbeins im Wind. Am liebsten hätte er danach geschnappt. Vielleicht ergriffen die beiden ja die Flucht, wenn er ihn zu fassen bekam, und er und seine Besitze rin konnten weiterspielen? Die Versuchung war zu groß. Tim musste dieses Stück Stoff zwischen die Zähne kriegen! Er riss sich von Georg los, stürzte vor und packte das Hosenbein. »Grr«, knurrte er und schüttelte den Zipfel wie wild. »Grr, grr.« »He!«, schrie der Mann und wich erschreckt zurück. »Hilfe! Eddie, etwas hat mich gepackt!« »Hol’s der Teufel! Ein Hund!«, rief Eddie aus und trat nach Tim. »Wo kommt der denn her?« Er trat noch einmal kräftig nach ihm und es fehlte nicht viel und er hätte Tim ins Wasser befördert. »Hören Sie sofort auf, nach meinem Hund zu treten!«, rief Georg und sprang aus ihrem Versteck hervor. »Er spielt doch nur. Lassen Sie ihn in Ru he!« »Spielt nur?«, brüllte Max und versuchte, Tims 44
scharfe Zähne aus seiner Hose zu lösen. »Ein schö nes Spiel! Lass los, mach schon!« »Tim, aus!«, befahl Georg, die Angst hatte, dass Tim etwas passieren könnte, nachdem er beinahe einen Tritt zwischen die Rippen erwischt hatte. »Aus!« Tim ließ sofort los und stand nun knurrend vor Max. Diese zwei Menschen gefielen ihm gar nicht. Sie hatten laute Stimmen und rochen eigenartig. Sein Instinkt sagte ihm, dass der mit den stechen‐ den Augen sehr gefährlich war. »Sieh, was er angerichtet hat«, schrie Max. »Er hat meine Hose zerrissen! Dafür verdient er eine gute Tracht Prügel!« Er tat einen Schritt auf Tim zu, aber Georg war schneller. Sie packte den klei nen Hund und hob ihn hoch. »Wagen Sie ja nicht, ihn anzurühren!«, sagte sie drohend und ihre lebhaften Augen blitzten vor Zorn. »Oder ich werde … Ich werde …« Allein schon der Gedanke machte sie so wütend, dass sie gar nicht sagen konnte, was sie tun würde, falls sie Tim ein Leid zufügten. Eddie lachte. Dabei warf er seinen großen Kopf zurück und sein Bart zitterte. »Ist ja gut, Kleiner«, beschwichtigte er. »Du machst besser, dass du wegkommst. Und vergiss deinen Köter nicht!« »Komm Tim, wir gehen nach Hause«, befahl Georg hochmütig, obwohl sie sich vor diesem 45
großen Mann ziemlich fürchtete, seit sie wusste, dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Sie hatte viel zu viel Angst, um sich darüber zu freu en, dass er sie für einen Jungen hielt. Ihre Gedan ken überstürzten sich. Wenn sie ganz schnell nach Hause gingen und erzählten, dass sie den Ausbre cher gesehen hatten, konnten die Eltern Wacht meister Mond anrufen. Dann würde die Polizei herkommen und ihn festnehmen. Je schneller der gefährliche Kerl wieder hinter Gittern saß, desto besser! Georg stellte Tim auf den Boden und die beiden begannen zum Strand zurückzuklettern. Ihr Herz klopfte heftig. Es war ziemlich weit bis zum Fel senhaus. Sie mussten sich beeilen, beeilen! Doch gerade als sie dem steilen Abhang entge genliefen, hörte Georg schwere Schritte hinter sich und dann spürte sie eine große, schwere Hand auf der Schulter. »Augenblick mal, Jungchen«, ertönte Eddies Stimme hinter ihr. »Wir haben eine kleine Aufga be für dich.« »Was für eine Aufgabe?«, fragte Georg und drehte sich um wie der Blitz. Tim war vorausge rannt. Er hielt inne, drehte sich ebenfalls um und kam zurückgerannt, als er sah, dass der Mann sei ne Besitzerin gepackt hatte. »Eine kleine Kletterübung«, grinste Eddie und 46
schob Georg entschieden Richtung Leuchtturm zurück. Tim rannte neben ihr her und bellte die Männerstiefel neben ihm an. Plötzlich trat Eddie nach ihm und traf ihn zwischen den Rippen. Tim flog wie eine Kugel durch die Luft. »He!«, schrie Georg und versuchte, sich mit al ler Kraft aus dem festen Griff des Mannes zu be freien. »Lassen Sie meinen Hund in Ruhe!« Tim rappelte sich auf und schüttelte sich. Seine Rippen waren gequetscht und er stakste benom men zu Georg zurück. Der kleine Hund hatte nur einen Gedanken: seine Besitzerin zu retten. In diesem Augenblick stürzte sich Max auf ihn, riss ihn hoch und presste ihn fest an sich. Den ei nen Arm legte er ihm um den kleinen, struppigen Körper, den anderen fest um den Hals. Tim knurr te, japste und wehrte sich, aber es gelang ihm nicht, sich freizustrampeln. »Lassen Sie ihn herunter«, kreischte Georg, die sich immer noch wehrte und um sich trat. »Er beißt!« Doch der Griff des Mannes war fest und un nachgiebig. Tim versuchte, sich ihm zu widerset zen, aber es tat ihm zu weh. Er jaulte laut auf. Dann sah er, wie der bärtige Mann Georg zum Leuchtturm hinauftrieb. Sie schrie und schlug und trat um sich, aber sie konnte sich nicht los reißen. 47
Dem kleinen Hund blieb vor Angst fast das Herz stehen, als der Mann, der ihn festhielt, ein al tes Stück Seil fand und es ihm um den Hals band. Er stellte Tim auf den Boden und schlang das an dere Ende des Seils um einen Felsbrocken. »Du bleibst hier, du schäbiger kleiner Köter«, knurrte er. »Dein kleiner Herr verwandelt sich jetzt in ei nen Affen und wenn er sich weigert, dann sieht es für euch zwei ziemlich übel aus! Er tut also besser, was wir ihm befehlen!« Mutig versuchte Tim, sich auf den Mann zu stürzen, und bellte ihn grimmig an. Seine Rippen schmerzten bei jeder Bewegung, vor allem, wenn das Seil ihn mit einem plötzlichen, heftigen Ruck zurückriss. Er winselte leise und ließ sich schließlich unter Schmerzen auf den Steinen nie der. Er legte die Schnauze zwischen die Pfoten. Wieder entfuhr ihm ein Winseln. Er fühlte sich steif und der ganze Körper tat ihm weh. Georg stand oben auf der Leuchtturmtreppe und der Mann mit dem Bart zeigte auf das Fenster über ihnen. »Du kletterst jetzt da hoch«, befahl Eddie. »Du bist klein genug, um durch das Fenster zu schlüp fen.« »Niemals«, widersetzte sich Georg und schüt telte den Kopf. »Selbst wenn ich klein genug dafür wäre, ist das Fenster viel zu weit oben.« 49
»Nicht, wenn du auf meinen Schultern stehst«, fuhr Eddie sie an und packte sie wieder. »Und jetzt tu, was ich dir sage, sonst siehst du deinen Hund nie wieder!«
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5 Im Leuchtturm
Georg war klar, dass der furchtbare Kerl jedes Wort ernst meinte. Wenn sie nicht durch das Fens ter schlüpfte, würde Tim etwas Schreckliches zu stoßen. »Also gut«, willigte sie mürrisch ein. »Und was soll ich tun, wenn ich drin bin?« »Nach einem Paket suchen«, erwiderte Max. »Einer Schachtel oder so, die vermutlich in Papier oder Stoff eingewickelt ist.« »Was für eine Schachtel?«, fragte Georg, ob wohl ihr klar war, dass der Bösewicht den Behäl ter mit den Diamanten meinte. Sie hatte die bei den ja vorhin belauscht. »Das geht dich nichts an«, sagte Eddie. »Du sollst sie bloß finden und herbringen.« Er packte 51
Georg erneut und ging mit ihr zum Treppenabsatz hinüber. Er zog und schob sie über die Plattform, bis sie unterhalb des kleinen Fensters standen. »So«, knurrte er. »Hopp, auf meine Schultern!« Er hob Georg soweit in die Höhe, dass sie sich auf seine breiten Schultern stellen konnte. Einige Sekunden lang schwankte sie bedenklich und fürchtete schon, auf die Felsen hinabzustürzen. Doch sie fand das Gleichgewicht und blickte dann hoch. Der Mann hatte Recht. Von seinen Schultern aus war das Fenster locker in Reichweite. »Mach schon!«, schrie Max. »Beweg dich! Wir haben nicht ewig Zeit!« Vorsichtig streckte sie die Hand nach oben und griff nach dem Fensterriegel. Er war steif und ros tig, doch zu ihrer großen Erleichterung gab er nach und ließ sich mit einem festen Ruck öffnen. »Rein mit dir!«, rief Max. Georg zog sich auf den Sims hoch und schlüpf te durch die Öffnung. Auf der anderen Seite ging es tief hinunter und der Raum war proppenvoll mit stinkenden Ölkannen und braunen Kartons. Der Boden schien kilometerweit entfernt zu sein. »Ach, was soll’s«, dachte Georg und sprang. »Auf geht’s!« Sie schlug auf dem Boden auf und blieb einen Augenblick benommen liegen. Sie war unglück lich gelandet und hatte sich das eine Bein 52
schmerzhaft verdreht. Als sie es ausstreckte, stöhnte sie auf. »Autsch!«, seufzte sie, rieb über die schmer zende Stelle und biss sich dabei auf die Lippen. Sie wollte auf keinen Fall weinen. Sie rappelte sich hoch. Sie musste sich beeilen und die Schachtel so schnell wie möglich finden, damit die Männer Tim freiließen. Draußen drängten die zwei Bösewichte. »Wie sieht’s aus dort drin? Gibt’s sowas wie ’ne Schachtel?«, rief einer. »Ach, halt die Klappe«, knurrte Georg erbost. Sie wusste, dass man sie draußen nicht hören konnte, aber es tat ihr gut, etwas Unbotmäßiges zu sagen. Ihre Stimme hallte von den Wänden des merkwürdigen Raumes wider. »Ich mache, so rasch ich kann!«, schrie sie dann um des Friedens willen laut zurück. Sie humpelte in die Mitte des Raumes und sah sich um. Die Ölkannen und Vorräte mussten zu rückgelassen worden sein, als man den Leucht turm still legte. »Das war bestimmt der Vorratsraum«, sagte sie laut, um sich Mut zu machen. »Wie soll ich zwi schen all diesen Dingen bloß eine Schachtel mit Diamanten finden?« Es war sehr düster und unheimlich in dem Turm. Die einzige Lichtquelle war das kleine 53
Fenster, durch das Georg hineingeschlüpft war. Das Rauschen der Wellen, die unten auf die Felsen krachten, klang, als würde es unter ihren Füßen donnern. In der Mitte des Raumes wand sich eine eiserne Wendeltreppe zum nächsten Boden hoch. Georg untersuchte die Kisten. Sie enthielten rosti ge Konservendosen mit Bohnen, Sardinen und Fleisch. Sie fand Schachteln mit Kerzen und Streichhölzern, die nach der langen Zeit feucht waren. Doch sie entdeckte nichts, das nach einem Behälter mit Juwelen aussah. »Ich gehe wohl besser nach oben und sehe mich im nächsten Raum um«, sagte sie und kletterte die Wendeltreppe hoch. Sie hörte, wie die Männer draußen ihr Anweisungen zuriefen. Hin und wie der hörte sie auch Tim bellen und ihr Herz zog sich zusammen. Sie musste die Schachtel finden und so schnell wie möglich zu ihm zurückkehren! Im zweiten Raum stand ein altes Sofa, das sich bananenförmig in die Rundung der Mauer schmiegte. Auf einem niedrigen Tisch lagen alte Illustrierte und Zeitungen, sie waren vergilbt und wellig. Neben einem schimmelig aussehenden Sessel stand ein alter Paraffinofen. Georg spähte unter das Sofa und unter den Sessel, aber abgese hen von einer dicken Schicht aus Staub und Schmutz gab es da nichts zu sehen. Ihr Herz raste. Angenommen, sie fand die Schachtel nicht? Wür 54
den die Männer dann so zornig werden, dass sie Tim etwas antaten? Sie hielt die Tränen zurück, die ihr über die Wangen zu kullern drohten. Sie musste sich beeilen! Georg hastete die Eisentreppe hoch und kam in den Glashelm, ganz oben auf dem Felsspitzleucht turm. Außen herum verlief eine Plattform aus ros tigen Eisengittern. »Hier muss das Leuchtfeuer gebrannt haben«, überlegte sie laut und betrachtete die im Kreis an geordneten hohen Riesenspiegel. Sie hatten einst das Licht der alten Leuchte in der Mitte verstärkt und so den Schein weit aufs Meer hinausgetragen, um die Schiffe vor der Gefahr zu warnen. »Ich weiß noch, wie Vater mir erklärt hat, dass die Spiegel sich wie ein Karussell um die Laterne drehten, so dass es aussah, als würde das Licht ständig an‐ und ausgehen. Und dass man das Blinken meilenweit gesehen hat«, murmelte sie. Sie versuchte, die Spiegel zu drehen, aber die Me chanik war eingerostet und sie ließen sich kein bisschen bewegen. Aber Georg hatte auch gar keine Zeit, der Sache nachzugehen, und ebenso wenig, dazustehen und die spektakuläre Aussicht von der Turmspitze aus zu bewundern. Sie hatte nur ein Ziel: den Behälter zu finden, auf den es die zwei Kerle abgesehen hat ten, und Tim so schnell wie möglich zu Hilfe eilen. 56
Sie lief durch den Raum und bückte sich, um in den kleinen Zwischenraum unter der Lampe zu spähen. Das wäre ein ideales Versteck für etwas nicht Allzugroßes gewesen. Doch da war nichts. Sie rannte wieder die Wendeltreppe hinunter ins Wohnzimmer des Leuchtturmwärters und dann noch einen Stock tiefer in den Vorratsraum. Da blieb ihr Blick an einem Kerzenbehälter hängen. Er war aus Metall, damit die Kerzen trocken blie ben. Georg dachte mit gerunzelter Stirn kurz nach. »Wenn ich den in ganz viel Papier einwickle, denken sie vielleicht, die Diamanten könnten drin sein«, murmelte sie. Sie ergriff den Behälter und hastete wieder ins Wohnzimmer. Dort wickelte sie ihn in mehrere Lagen Zeitungspapier und rannte dann wieder die Treppe hinab. Sie entfernte die Schnur von einer Vorratskiste und band sie flink um ihr Paket. Da bei zurrte sie die Knoten richtig fest, damit man sie auch nicht zu leicht wieder aufbekam. Anschließend zog sie eine Kiste zum Fenster hinüber und sprang darauf. »Ich habe sie gefun den«, rief sie, auf den Zehenspitzen stehend, da mit sie hinaussah. »Bist du sicher?«, rief Eddie, der auf den Felsen darunter stand und zu ihr hochblickte. »Ja, Ehrenwort«, erwiderte Georg und kreuzte 57
die Finger. Sie hasste es zu lügen. Aber diesmal hatte sie keine andere Wahl. Wenn sie den Män nern nicht vorgaukelte, dass sie die Diamanten ge funden hatte, würde sie Tim möglicherweise nie wieder sehen. »Dann wirf das Ding runter«, brüllte Max ihr zu. »Wir fangen es auf.« »Zuerst müssen Sie meinen Hund freilassen«, rief Georg und schwenkte das Päckchen. »Dann bekommen Sie es.« Sie reckte den Hals, konnte Tim aber nirgends entdecken. »Wirf das Ding besser herunter, mein Sohn«, rief Max. »Sonst wird es dir Leid tun.« Er klang so drohend, dass Georg keinen Au genblick zögerte. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihren Teil der Abmachung einhielten und Tim freiließen, sobald sie das Päckchen hatten. 58
»Also gut, hier ist es«, rief sie, hielt das Päck chen aus dem Fenster und ließ es fallen. Sie sah, wie Eddie nach vorn schnellte und es auffing. Dann hörte sie die beiden jubeln. »Allerfreundlichsten Dank, mein Sohn, das hast du gut gemacht«, rief Max. Als nächstes sah sie, wie die zwei über die Felsen zur Küste zurück kletterten, den steinigen Hang zum Klippenkamm hocheilten und schließlich verschwanden. »He!«, rief Georg, so laut sie konnte. »Allein komme ich hier doch gar nicht raus. He! Kommt zurück!«, schrie sie und hüpfte wild auf und ab. Dann sprang sie von der Kiste und schob eine zweite ans Fenster, stemmte sie auf die erste und stieg wieder hoch. Nun konnte sie bis zu den Fel sen hinuntersehen. Der Wind war stärker gewor den und Riesenbrecher brodelten weiß und schau mig um die Steine herum. Das war alles, was es zu sehen gab. Von den Schurken fehlte jede Spur, ebenso von Tim. »Tim!«, schrie Georg in höchster Verzweiflung. »Tim! Wo bist du?« Doch sie erhielt keine Antwort. Tim war spur los verschwunden.
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6 Eine tolle Idee
Wieder sprang Georg von den Kisten und zog noch eine weitere unter das Fenster. Sie stemmte sie ebenfalls auf die ändern und stieg hoch. Viel leicht gelang es ihr, aus dem Fenster zu schlüpfen, wenn sie mehrere Kisten aufeinander türmte. Doch als sie vier Kisten übereinander gestapelt hatte und auf den Sims klettern konnte, musste sie feststellen, dass es auf der ändern Seite viel zu weit hinunter ging. Wenn sie sprang, würde sie auf den Felsen unten aufschlagen und sich ver mutlich den Hals brechen. Sie musste sich etwas anderes ausdenken. Georg ließ die Kisten stehen und sauste ins Erd geschoss hinunter. Vielleicht gab es einen Weg, 60
die Tür von innen zu öffnen. Schlitternd kam sie zum Stehen und betrachtete nachdenklich die mächtigen Eisenriegel. Als sie erkannte, dass kei ne Möglichkeit bestand, die Tür von innen zu öff nen, schüttelte sie traurig den Kopf. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, die schweren Riegel zurück zuschieben, würden das Vorhängeschloss, die Kette und die Bretter auf der ändern Seite die Tür blockieren. Mit einem Seufzer rannte sie wieder hoch, bis ganz nach oben in die Turmspitze. Sie fürchtete sich sehr und war traurig. Wo Tim wohl war? »Tim! Tim!«, rief sie und schlug auf die Glas wand ein, die den Turmhelm umgab. »Wo bist du?« Aber von unten ertönte kein Antwortbellen. Nur die Wellen, die um die Felsen brandeten, und die Schreie der Möwen, die über die Gischtkronen hinwegflogen, waren zu hören. Die Aussicht von der Leuchtturmspitze war wunderbar. Vor ihr lag das endlose, blau wogen de Meer. Die Gischtkronen glänzten im Licht der untergehenden Sonne golden auf. Es dämmerte schnell und bald würde es dunkel sein. Beim Ge danken, eine Nacht allein im Leuchtturm zu verbringen, schauderte sie kurz. »Mutter wird sich fragen, wo wir sind«, jam merte sie leise vor sich hin. »Wenn ich bei Ein 61
bruch der Dunkelheit nicht zurück bin, wird sie außer sich sein vor Sorge. Was soll ich nur tun?« Wieder und wieder lief sie im Kreis herum, die Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Inzwi schen war der Wind noch stärker geworden. Es klang seltsam und unheimlich, wie er an der Turmspitze rüttelte. Die Flut war bis zu den Fel sen gestiegen und die Riesenbrecher brachen Gischt spritzend darüber hinweg. Der ganze Turm bebte und zitterte, wenn eine Welle sich an ihm brach, so als könnte er jeden Moment zusammen krachen. Was auch geschah, Georg würde das Festland erst wieder erreichen können, wenn die Flut zurückgegangen war. Es sah ganz so aus, als müsste sie die Nacht im Turm verbringen. Ent schlossen, sich nicht zu fürchten, biss sie sich auf die Lippen. Der Leuchtturm hatte schon unzählige starke Stürme überlebt und würde kaum gerade diese Nacht einstürzen. »Ich bin mir doch nicht sicher, ob ich gern Leuchtturmwärter wäre«, überlegte sie sich, als sie wieder ins Wohnzimmer hinunterging und sich verloren auf das ungewohnt geformte Sofa legte. »Es muss schon ein seltsames und einsames Leben gewesen sein. Vor allem bei solchem Wetter.« Wieder biss sie sich fest auf die Lippen, da sie erneut am liebsten losgeheult hätte, trotz ihres Vorsatzes, sich nicht zu fürchten. Was war wohl 62
mit dem armen Tim geschehen? Wenn er irgend‐ wo verletzt dalag, würde er sich fragen, warum sie nicht kam und ihm half. Sie hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Sicher war er ganz unglücklich und fürchtete sich so ganz allein da draußen. Sie atmete tief durch und fasste frischen Mut. Weinen brachte nichts. Erwachsene weinten nie und sie würde es auch nicht tun. Sie musste sich einen Plan ausdenken. Draußen donnerten die Wellen an die Felsen, während der Wind immer mehr auffrischte. Manchmal spritzte das Wasser so hoch auf, dass Gischt ans Fenster sprühte. »Leuchtturmwärter müssen ganz schön uner schrocken gewesen sein«, sagte sie laut. »Sie mussten dafür sorgen, dass das Licht immer und
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bei jedem Wetter brannte und die Schiffe vor der Gefahr warnte.« Da hatte sie mit einem Mal eine tolle Idee. Wenn die Leuchte gebrannt hatte, um die Schiffe vor der Gefahr zu warnen, konnte sie sie viel leicht anzünden, um die Leute wissen zu lassen, dass sie hier war. Irgendwer würde das Licht be stimmt sehen und kommen, um zu sehen, was los war! Voller Hoffnung und ganz aufgeregt rannte Georg wieder in den Turmhelm hoch. Sie betrach tete die mächtige Leuchte im Kreis der glänzen den Spiegel. Es roch stark nach Paraffinöl und in der Mitte der Lampe ragte ein Docht hoch. »Die sieht aus wie der alte Ölofen bei meinem Großvater, als meine Mutter noch ein kleines Mädchen war und auf dem Felsenhof lebte«, dachte sie. Georg erinnerte sich daran, wie ihre Mutter erzählt hatte, dass ihr Großvater sein Zimmer mit einem solchen Ofen geheizt hatte. »Der Docht wurde mit Öl getränkt und mit einem Streichholz angezündet und dann setzte man den Deckel wieder drauf. Der Ofen wärmte und spen dete gleichzeitig Licht. Ich wette, die Laterne hier funktioniert genau gleich.« Und wieder eilte Georg, so schnell sie konnte, die Treppen hinab. Im Vorratsraum standen Öl kannen. Wenn es ihr gelang, eine davon hochzu 64
bringen und die Leuchte mit Öl zu füllen, konnte sie sie anzünden! Bald darauf schleppte sie eine Kanne mit dem durchdringend riechenden Öl die Treppen hoch. Behutsam goss sie etwas in die Öffnung an der Seite der Lampe und suchte nach einer Art Schraube, um den Docht hochzudrehen. Ach, da, an der Seite ragte sie heraus. Vorsichtig drehte Georg daran und der Docht wurde größer und größer. »Jetzt«, sagte sie und trat zurück, die Hände in die Hüften gestützt. »Streichhölzer!« Sie erinnerte sich, dass sie im Vorratsraum wel che gesehen hatte, und rannte rasch hinunter, um sie zu holen. Es dauerte nicht lange und sie kehrte mit einer Schachtel Streichhölzer in der Hand zurück. Sie nahm eines heraus. Es fühlte sich feucht und weich an. Das Herz rutschte ihr ein ganzes Stück tiefer, weil sie fürchtete, dass es sich nicht anzün den ließ. Sie versuchte es, aber nichts geschah. Nicht ein einziger Funke sprang und das Streich holz zerbrach ihr zwischen den Fingern. Sie ver suchte es wieder und wieder und wieder, bis sie sah, dass nur noch ein einziges Streichholz in der Schachtel lag. »Bitte, brenn«, murmelte sie und hielt den Atem an. »Bitte, bitte, brenn an!« 65
Sie strich das Streichholz besonders konzent riert an und es fing zu ihrer großen Erleichterung tatsächlich Feuer. Vorsichtig hielt sie es über den Docht. »Na also«, flüsterte sie, als das Öl sich ent zündete und eine warme blaue Flamme zu fla ckern begann. Sie drehte den Docht noch etwas höher und plötzlich war der ganze Raum in ein derart helles Licht getaucht, dass sie geblendet die Augen zusammenkneifen musste. »O wie schön«, rief sie und klatschte vor Freu de in die Hände. »Es funktioniert! Hurra!« Behut sam setzte sie die Glashaube auf und versuchte, die Mechanik in Gang zu setzen, damit die Spiegel sich drehten. Aber nichts bewegte sich, so stark sie auch drückte. Die Drehmechanik war nicht bloß eingerostet, vermutlich steckte auch noch etwas zwischen den Zahnrädern, so dass sie nicht grei fen konnten. »Es macht bestimmt nichts, wenn das Licht nicht blinkt«, keuchte Georg. Sie war ganz außer Atem, als sie es aufgab, die Spiegel in Bewegung zu versetzen, und zum Fenster hinüberging. »Ir gendjemand wird es ganz sicher sehen.« Ein langer Lichtstrahl strömte in die Dämme rung hinaus und verlor sich in der Unendlichkeit. »Bitte, schaut alle her und kommt, bitte bald«, flüsterte Georg. Es war wahnsinnig aufregend, sich auszumalen, dass die Leute in Felsenburg den 66
alten Leuchtturm wieder brennen sahen. Sie wür den sich bestimmt sehr darüber wundern und bald auftauchen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Was für eine Überraschung, wenn sie Ge org im Leuchtturm fanden! Georg ging ins Wohnzimmer zurück und warte te. Der Wind war fast ganz abgeflaut und das Meer ruhiger geworden. Sie war inzwischen völlig durchfroren und zitterte vor Kälte. Nach einigem Suchen fand sie Kerzen und eine weitere Schachtel Streichhölzer. Als die Kerzen brannten, warf das flackernde Licht seltsame Schatten an die Mauer. Es war ganz und gar unheimlich, so mutterseelenallein in einem Leuchtturm zu sitzen, vom rauschenden Meer umgeben und einen Lichtstrahl vor der Nase, der sich draußen in die Unendlichkeit bohrte. Wenn das kein Abenteuer war! Ob es ihr allerdings noch Spaß machte, war sie sich nicht sicher. »Hoffentlich muss ich nicht zu lange warten«, murmelte sie bekümmert vor sich hin, während sie sich ins Sofa kuschelte und die Arme um sich schlang, um den letzten Rest Wärme zu bewahren. »Ich wünschte, ich könnte mir eine Tasse heißen Kakao zubereiten.« Georg dachte sehnsüchtig an die warme gemütliche Küche zu Hause und den Duft von Johannas selbst gebackenem Brot. Der Gedanke daran machte sie hungrig und ihr Magen begann zu knurren. 67
»Bitte, beeilt euch«, rief sie laut. »Bitte, macht schnell!« Und tatsächlich dauerte es gar nicht lan ge, bis Georg Stimmen hörte. Kam da jemand schneller als erwartet zu Hilfe? Aufgeregt lief sie nach unten in den Vorrats raum und sprang auf die Kisten, um aus dem Fenster zu sehen. Endlich wurde sie gerettet und konnte Tim suchen. Doch zu Georgs Entsetzen war es weder die Küstenwache noch jemand aus dem Ort, der ge kommen war, um sie zu retten. Es waren auch nicht ihre Eltern, die besorgt zum Leuchtturm hochsahen. Nein, sie erkannte vielmehr die Dia mantendiebe in der Dämmerung, die aufgebracht auf den Felsen standen. Zu ihren Füßen brodelte das Meer. Zum Glück war es viel zu unruhig, als dass sie zum Leuchtturm herüberkommen konn ten. Georg ahnte, was geschehen war. Sie hatten entdeckt, dass sie ihnen einen alten Kerzenbehäl ter zugeworfen hatte, statt der Diamanten. Nun waren sie zurückgekommen, um sich das richtige Paket zu holen. Was sollte sie jetzt bloß tun?
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7 Das Versteck
»He, bist du noch da«, brüllte Eddie und blickte zum Fenster hoch. »Natürlich bin ich noch da«, rief Georg zurück. »Sie wissen doch genau, dass ich hier allein nicht rauskomme.« »Hast du die Lampe angezündet?«, fragte Max und schwenkte wütend die Faust. »Wer denn sonst?«, entgegnete Georg. »Ich will, dass man mich hier herausholt. Was haben Sie mit Tim gemacht? Bringen Sie ihn sofort zu rück!« »Vergiss den Köter«, rief Max. »Du dachtest wohl, du kannst uns zum Narren halten mit dem 70
Päckchen, aber wir haben rasch gemerkt, dass es nicht das richtige ist. Du findest jetzt besser die richtige Schachtel und wirfst sie herunter, und zwar ein bisschen dalli!« »Nur, wenn ich sehe, dass mit Tim alles in Ord nung ist«, rief Georg, die auf den Kisten stand und auf die beiden zornigen Männer hinabblickte. Max bückte sich und hob etwas auf, das sich neben seinen Füßen befand. Es war Tim, der strampelte und jaulend wieder hinunter wollte. Er hatte seine Besitzerin in dem seltsamen Gebäude nach ihm rufen hören und wollte zu ihr. Die bei den Männer hatten ihn verschleppt, nachdem Ge org ihnen etwas zugeworfen hatte. Da hatte sich der kleine Hund strampelnd gewehrt und sie zu beißen versucht, doch sie hatten ihn bloß ange schrien und weiter festgehalten. Dann waren sie über den Klippenkamm geklettert und durch das Moor zu einem Wagen gerannt. Doch kaum hat ten sie das Päckchen geöffnet und gesehen, dass keine Diamanten drin waren, waren sie wieder losgerannt. Sie hatten ihn den ganzen Weg zum Leuchtturm zurückgezerrt und sich dabei die ganze Zeit über heftig gestritten. »Hier ist dein Hund«, rief Max. »Wir haben ihn mitgenommen, weil wir dachten, er gibt eine gute Geisel ab, falls man uns erwischt.« »Tim!«, rief Georg. »Tim, mein Liebling! Ist auch 71
alles in Ordnung?« Wütend darüber, dass sie nicht einfach zu ihm laufen und ihn ganz fest umarmen konnte, schlug sie mit der Faust auf den Sims. Tim winselte. Er wand sich noch stärker in den Armen des Mannes und versuchte, ihn in die Hand zu beißen. Max ließ ihn zu Boden fallen, ohne dabei aber das Seil um seinen Hals loszulas sen. Tim versuchte auszubüxen, doch der Mann zog ihn brutal zurück. »Diesmal rat ich dir schwer, die Diamanten zu finden«, rief Eddie Georg zu. »Wenn ich sie finde, müssen Sie mir aber hier heraushelfen«, erwiderte Georg. Sie hatte darauf gehofft, dass irgendwelche Leute zu ihrer Rettung kommen würden, aber bis jetzt war niemand zu sehen. »Wir stellen hier die Bedingungen«, schrie Ed die. »Jetzt hol die Diamanten, sonst siehst du dei nen Hund nie wieder!« Georgs Gedanken überschlugen sich. Sie muss te die Diamanten finden und Tim retten. Das war das Allerwichtigste. Ganz bestimmt würde ir gendjemand das Licht sehen und früher oder spä ter kommen, um der Sache nachzugehen. Am bes ten versuchte sie, ein Problem nach dem anderen zu lösen. Sie fühlte sich hilflos und wütend. Ihr blieb nichts anderes übrig, als noch einmal nach den Diamanten zu suchen, obwohl sie nicht die 73
leiseste Ahnung hatte, wo sie sein konnten. Sie hatte doch schon überall nachgesehen. Der Kerl, der im Gefängnis saß, hatte sie wirk lich sehr gut versteckt. Aber diesmal musste sie sie finden. Tims Leben hing davon ab! »Einverstanden«, rief sie. »Sie haben gewonnen. Ich seh mich noch einmal genau um.« Sie sprang von den Kisten und durchstöberte den Vorrats raum, wobei sie verzweifelt Kisten und Ölkannen hin und her schob. Ohne Erfolg. Dann hetzte sie die Treppe ins Wohnzimmer hoch, warf sämtliche Sofakissen zur Seite und schob die Hände in alle Ritzen. Wieder nichts. Sie richtete sich auf und kratzte sich am Kopf. Wo konnte der Dieb die Di amanten nur versteckt haben? Es gab nur noch ei nen Ort, an dem sie noch einmal suchen konnte: im Raum mit der Leuchte. In höchster Verzweiflung rannte Georg die letz te Treppe hoch. Dort oben im Turmhelm befand sich nichts außer der Leuchte. Dort konnten die Diamanten doch gar nicht versteckt sein. Nachdenklich kaute sie an der Unterlippe, als sie vor dem gleißenden Licht stand und sich die Hand schützend vor die Augen hielt. Dann fiel ihr etwas ein. Sie hatte vergeblich versucht, die Dreh mechanik der Spiegel in Gang zu setzen. Sicher, sie war eingerostet, aber da war noch etwas anderes gewesen, das sie am Drehen gehindert hatte. 74
»Ich frage mich«, brummte sie stirnrunzelnd und beugte sich vor, um darunter zu spähen. »Ich frage mich …?« Sie schob die Hand tief in die Rit ze und tatsächlich stieß sie mit den Fingern auf etwas Rechteckiges, das sich weich anfühlte. Georg angelte danach und zog es heraus. Ihr Herz überschlug sich fast vor Aufregung. Sie hielt ein Paket in der Hand, umhüllt von einem wei chen, braunen Stoffbeutel, der oben mit einer gol denen Kordel zugebunden war. Sie löste den Kno ten und zog einen mit Samt bezogenen Behälter mit Messingverschluss heraus. Als sie sah, was darin war, verschlug es ihr den Atem: eine Hals kette aus lauter glitzernden Diamanten. Das war es, was die Diebe wollten, bevor sie Tim freiließen. »Echt Wahnsinn!«, rief Georg aus. Sie holte tief Luft und starrte die Diamanten staunend an. »Die müssen ein Vermögen wert sein! Kein Wunder, sind die beiden Kerle so verbissen dahin ter her.« Die Kette war wunderschön. Im Licht der Leuchte glitzerten und gleißten die schweren Stei ne wie ein Sternenhimmel. »Ich muss mich beei len«, ermahnte sich Georg noch immer atemlos. Sie verschloss den Behälter und schlug ihn wieder in den Stoffbeutel ein. Dann eilte sie, so schnell sie konnte, die zwei Treppen hinab. »Ich habe sie gefunden«, rief sie und sprang auf 75
die Kisten, um aus dem Fenster zu sehen. »Hier sind sie!« Sie schwenkte das Paket. »Bist du sicher?«, fragte Max. »Ja«, rief Georg. »Soll ich sie werfen?« Unten besprachen die Männer etwas, aber weil das Getöse der Wellen so laut war, konnte sie nichts verstehen. »Wir warten lieber, bis das Meer etwas ruhiger ist«, brüllte Eddie. »Wir wollen nicht, dass sie daneben fallen und auf dem Meeresgrund landen.« »Bestimmt hat schon jemand das Licht gesehen und kommt gleich her, um mich zu retten«, rief Georg zurück. »Dann wird man Sie festnehmen und ins Gefängnis zurückbringen! Sie beeilen sich also besser.« Die beiden Männer besprachen sich von neu em. Georg sah, wie Eddie, der größere, den klei neren Max Richtung Felsbrocken stieß. Max ließ Tim fahren und der kleine Hund entwischte ihm. Das Seil hinter sich herziehend, trippelte er den Weg hoch und verschwand. »Komm zurück, Tim!«, schrie Georg, als sie sei nen zottigen Schwanz in der Dämmerung ver schwinden sah. »O bitte, komm zurück!« »Scher dich nicht um ihn«, rief Eddie. »Der kommt nicht weit und wenn du uns die Diaman ten nicht gibst, haben wir ihn schnell wieder ge funden und das war’s dann für ihn.« 76
Georgs Herz wand sich vor Angst, als sie diese Worte vernahm. Der schreckliche Kerl hatte Recht. Da Tim wusste, dass sie sich in großer Gefahr be fand, würde er sich nicht allzu weit von ihr ent fernen, selbst wenn er sich dadurch selbst in Ge fahr brachte. »Max will versuchen, zur Treppe zu gelan gen«, rief Eddie. Er packte Max gleichzeitig am Arm und stieß ihn nach vorn. »Sobald er dort ist, wirfst du den Kram herunter. Verstanden, mein Sohn?« »Ich werd’s versuchen«, erwiderte Georg. »Ich geh da nicht rüber«, meinte Max ängstlich. »Die Wellen sind riesig und ich kann nicht schwimmen.« »Ich rate dir schwer, loszugehen, und zwar gleich«, drohte Eddie. Er schüttelte Max am Arm und drückte dabei so kräftig zu, dass der kleinere Mann vor Schmerz aufstöhnte. »Wenn du nicht gehst, kannst du deinen Anteil vergessen, wenn wir die Steine verkaufen.« »Das ist mir völlig egal«, sagte Max. Er sah in zwischen noch ängstlicher aus und riss sich von dem größeren Kerl los. »Du willst sie, dann geh und hol sie dir.« Stolpernd lief er davon und blieb zitternd in einiger Entfernung stehen. Was für ein Angsthase, dachte Georg verächt lich. Sie hatte die Szene von ihrem Fenster aus be 77
obachtet. Sich vor ein paar lächerlichen Wellen zu fürchten. »Na, warte«, knurrte Eddie, während er Schuhe und Strümpfe auszog und ins Wasser watete. Er hatte offensichtlich eingesehen, dass ihm nichts an deres übrig blieb, als selbst zu versuchen, zur Trep pe zu gelangen. Vom Gurgeln und Tosen der Wel len umgeben, stieg er auf den ersten Felsblock. Das Wasser reichte ihm bis zur Hüfte und er hatte große Mühe, auf den Füßen zu bleiben, denn die Wellen krachten mit großer Kraft über die Felsen herein. Plötzlich brach eine besonders große Woge über ihn hinweg und er kippte um ein Haar um. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er, das Gleich gewicht zu halten. 78
Oben am Fenster hielt Georg den Atem an. Zu gern hätte sie Eddie hineinfallen sehen. Doch wenn er ins Wasser fiel und nicht bis zur Treppe kam, würde sie Tim möglicherweise nie wieder sehen. Eddie fing sich auf und watete langsam das letzte Stück zu den Stufen. Tropfend und zitternd vor Kälte stieg er sie hoch. »Nun mach schon«, schrie er Georg wütend entgegen. »Wirf sie herunter!« »Nicht, bevor sie mir herausgeholfen haben«, rief Georg. »Wenn du nicht sofort tust, was ich sage, neh men wir deinen Hund und drehen ihm den Hals um«, drohte der Gauner. Georg zögerte, aber nur kurz. Sie durfte nicht riskieren, dass sie Tim etwas antaten. »Einver standen«, rief sie ungehalten. »Hier kommen sie geflogen!« Widerwillig lehnte sie sich, soweit sie konnte, aus dem Fenster und hielt das Paket mit den Diamanten in die Luft. Sie ließ es los und zu ihrer großen Erleichterung fiel es dem wartenden Dieb genau in die Hände. Er steckte es in die Ho sentasche und begann langsam und vorsichtig über die Felsbrocken zurückzuwaten, bis er wieder si cheren Boden unter den Füßen hatte. Kaum war er auf dem Trockenen, nahm er das Paket hervor und zerrte den Behälter aus dem 79
Stoffbeutel. Seine Augen strahlten, als er die glän zenden Diamanten erblickte. »Ich habe sie, Max«, rief er triumphierend. »Lass sehen«, erwiderte Max und rannte zu ihm hin. Auch seine Augen leuchteten beim An blick des Schmuckes auf. »Nun aber los«, drängte Eddie. Er steckte den Behälter ein und zog Strümpfe und Schuhe wieder an. »Bloß weg von hier!« »He, und was ist mit mir?«, schrie Georg. Aber die Kerle schienen sie nicht zu hören. Sie rannten beide so schnell sie konnten Richtung Klippenweg davon.
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8 Alles bloß erfunden?
Obwohl die Verbrecher längst außer Sicht waren, hämmerte Georg weiter auf den Sims ein und schrie lauthals, sie sollten zurückkommen. Sie war außer sich vor Zorn. Wie konnten sie es wagen, ih ren Teil der Abmachung nicht einzuhalten, nach dem sie getan hatte, was sie von ihr verlangten! Plötzlich glommen oben auf dem Klippen kamm flackernde Lichter auf und begannen sich den Hang hinabzuschlängeln. Georg entdeckte sie sofort und stieß einen ab grundtiefen Seufzer der Erleichterung aus. Es kam 81
jemand, Gott sei Dank! Nun wurde sie doch noch gerettet. »Hilfe! Hilfe!«, schrie sie aus voller Kehle. Zwei Männer von der Küstenwache standen am Fuß der Klippe. Von den beiden Gaunern Ed die und Max aber war nichts zu sehen. Sie waren spurlos verschwunden. Georg vermutete, dass sie die Küstenwache entdeckt und sich durch das Di ckicht davongemacht hatten. »Hilfe, Hilfe«, rief Georg aus dem Fenster. »Ich sitze hier oben fest, holt mich bitte raus!« Völlig verblüfft blickten die beiden Männer von der Küstenwache zu ihr hoch. Das Letzte, was sie erwartet hatten, als sie den Lichtstrahl über der Felsspitze entdeckten, war ein kleiner Junge, der ihnen aus einem Fenster etwas zurief. »Was zum Teufel machst du hier, Junge?«, rief einer. »Das ist kein Spielplatz. Und wie hast du es geschafft, die Lampe anzuzünden?« »Das war ganz einfach«, erwiderte Georg schnell. »Bitte, helfen Sie mir hier raus, ich muss meinen Hund finden.« »Hund?« rief der andere Mann nun total ver wirrt. »Welchen Hund?« »Tim«, brüllte Georg ungeduldig. »Haben Sie ihn unterwegs gesehen?« »Nein, wir haben keinen Hund gesehen«, sagte einer der beiden und schüttelte den Kopf. 82
»Bitte können Sie mir helfen, hier herauszu kommen, damit ich ihn suchen kann?«, rief Georg verzweifelt. Inzwischen war das Meer ruhiger geworden und die Männer von der Küstenwache gelangten problemlos über die Felsen zur Treppe. Zum Glück trugen beide Gummistiefel. Als sie die Tür erreicht hatten, riss der Größere die Bretter weg, mit der sie zugenagelt war, und zog einen großen Schlüssel aus der Uniformjacke. »Mensch, ist das Ding rostig«, stöhnte er, als er versuchte, den Schlüssel im alten Vorhängeschloss zu drehen. »Der Turm ist seit Jahren zugesperrt. Ich habe keine Ahnung, wie der Junge hineinge kommen ist. Falls er durch das Fenster eingestie gen ist, muss er klettern können wie ein Affe.« Schließlich gelang es ihm aufzuschließen, und gemeinsam stießen die zwei Männer die mächtige Eisentür auf. Die rostigen Angeln quietschten, als sie klirrend gegen die Mauer des Leuchtturms schwang. Eine kühle Brise frischer Meeresluft wehte herein und zog durch das Wendeltreppen haus hoch. »Gott sei Dank!«, murmelte Georg und rannte hinunter, ihren beiden Rettern entgegen. »Sind Sie sicher, dass Sie meinen Hund nicht gesehen ha ben?«, rief sie ihnen zu. »Nun mal langsam, junger Mann«, meinte der 83
größere der beiden und packte sie am Arm. »Ver giss deinen Hund für einen Augenblick. Du hast uns eine Menge zu erklären. Zuerst zum Beispiel, wie du überhaupt hier reingekommen bist. Weißt du nicht, dass es gefährlich ist, diesen alten Leuchtturm zu betreten?« »Ich kann gar nichts dafür«, erwiderte Georg aufgebracht. »Zwei Diebe haben mich gezwungen, durch das Fenster einzusteigen und für sie nach Diamanten zu suchen. Sie haben gedroht, Tim et was anzutun, wenn ich nicht gehorche, und nun ist er verschwunden.« »Nun halt aber mal die Luft an«, sagte der an dere und wirkte wenn möglich noch verdutzter als bisher. »Das alles ergibt doch gar keinen Sinn.« »Doch, sehr wohl«, beharrte Georg. »Den Rest erzähle ich Ihnen aber später. Jetzt muss ich erst einmal Tim finden. Er irrt bestimmt einsam und verloren im Moor umher und hat große Angst.« Sie eilte die Treppe hinab und rannte über die Felsen, ohne darauf zu achten, ob sie sich dabei nasse Füße holte. Erklärungen abgeben konnte sie auch später. Zuerst musste sie ihren geliebten Hund finden. Aber die zwei Männer von der Küstenwache eilten ihr nach und packten sie am Arm. »Du sagst uns besser, woher du kommst«, sagte der eine und es klang ziemlich wütend. »Du wirst deinen Eltern einiges erklären müssen. Du bist 84
viel zu jung, um nach Einbruch der Dunkelheit al lein unterwegs zu sein. Und vielleicht interessiert es die Polizei, zu erfahren, dass du unerlaubt in den alten Leuchtturm eingedrungen bist und mit der Laterne herumgespielt hast. Sämtliche Leucht türme sind Privatbesitz, musst du wissen, und ge hören einer Vereinigung.« »Abgesehen davon«, warf der andere ein, »ist der hier auch noch baufällig und gefährlich und soll demnächst abgerissen werden. Du bist ein großes Risiko eingegangen.« »Es war ja noch gar nicht dunkel, als ich her kam«, wehrte sich Georg und zog einen Flunsch. Ihr war völlig egal, wem die Leuchttürme gehör ten und dass der Felsspitzleuchtturm abgerissen werden sollte. »Und überhaupt, ich wohne im Fel senhaus und gehe erst nach Hause, wenn ich mei nen Hund gefunden habe.« »Das werden wir ja sehen«, sagte einer der Männer. »Ja, das werden wir«, erwiderte Georg über heblich. Sie platzte beinahe vor Ungeduld. »Und wenn ich zu Hause bin, rufe ich die Polizei an und erzähle ihr von den beiden Dieben.« »Märchen«, brummte der größere kopfschüttelnd und nahm Georg am Arm. »Nichts als Märchen. Nun komm, Junge, lass uns nach Hause gehen.« Georg entwand sich ihm wütend. Es war offen 85
sichtlich völlig sinnlos, die beiden Männer von der Wahrheit überzeugen zu wollen. Erwachsene glaubten fast nie, was Kinder ihnen erzählten. Vor allem, wenn es sich um ein Abenteuer handelte. Sie dachten wohl, nur Erwachsene würden Aben teuer erleben. Mit einem Seufzer und schweren Herzens folg te Georg den Männern von der Küstenwache den steilen Pfad zum Klippenkamm hoch. Es sah ganz so aus, als sei dies das Ende des Abenteuers, und zwar ein ganz schreckliches Ende. Die zwei Diebe mussten sich im Dickicht versteckt haben und ge flohen sein, sobald die beiden Männer von der Küstenwache an ihnen vorbeigegangen waren. 86
Aber das Furchtbarste war, dass ihr geliebter Tim spurlos verschwunden war und sie ihn vielleicht nie wieder sah! Als sie den Klippenkamm erreichten, fror Georg schrecklich und war sehr müde. Hätte Tim sich im Gebüsch versteckt, wäre er ihr längst entgegenge sprungen. Was war wohl mit ihm geschehen? Während sie mit gesenktem Kopf zwischen den beiden Männern weiterging, hörte sie plötzlich Stimmen. Sie blickte auf und sah Lichter, die auf sie zukamen. »He«, rief sie, riss sich los und rannte ihnen ent gegen. »Habt ihr meinen Hund gesehen?« Beim Näherkommen sah Georg, dass es zwei kräftige Polizisten waren, die zwei verzagte Ges talten mit sich führten. Es waren Eddie und Max. Die Polizei hatte sie gefangen, als sie über das Moor Richtung Klippenstraße gerannt waren, wo sie ihren Wagen abgestellt hatten. »Oh, oh, oh«, rief Georg außer sich vor Freude, als sie sie sah. »Sie haben sie gefasst.« »Was weißt denn du über diese Männer, mein Junge?«, fragte einer der Polizisten höchst verblüfft. »Alles«, erwiderte Georg. »Aber das erzähle ich Ihnen später. Mein Hund hat sich verirrt. Haben Sie zufällig meinen Hund gesehen? Er ist klein und braun und ganz struppig.« 87
»Ich habe überhaupt keinen Hund gesehen«, erwiderte der Polizeibeamte noch immer ganz er staunt und schüttelte den Kopf. »Ein, zwei Kanin chen, aber keinen Hund.« Die Männer von der Küstenwache waren über rascht, die Polizisten anzutreffen. Sie unterhiel ten sich miteinander, während Georg ungedul dig von einem Fuß auf den ändern trat. Sie war tete begierig darauf, endlich Tim suchen zu kön nen. »Den Kerl namens Eddie haben wir sofort er kannt«, erzählten die Beamten ihren Kollegen von der Küstenwache. »Er ist vor einigen Tagen aus dem Gefängnis ausgebrochen. Allerdings wären wir nie auf die Idee gekommen, den bei den hier auf der Flucht zu begegnen, als uns je mand vom Licht im Leuchtturm berichtete. Sie behaupten allerdings, sie hätten die Laterne nicht angezündet. Aber wer soll es sonst gewesen sein?« »Ich war’s«, rief Georg. »Und da sie jetzt die Diamanten und die Diebe haben, helfen Sie mir doch bitte, meinen Hund Tim zu finden.« »Diamanten?«, fragte einer der Polizisten. »Wir haben keine Diamanten gefunden. Soweit wir wis sen, hat das dritte Mitglied der Bande sie ver steckt. Man hat sie nie gefunden – und dieser Mann sitzt noch immer im Gefängnis.« 89
»O doch, inzwischen wurden sie sehr wohl ge funden«, grinste Georg und zeigte auf den zornig blickenden Eddie. »Der da hat sie!«
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9 Wo steckt Tim?
»Ich habe gar nichts«, brummte der Ausbrecher und schüttelte nachdrücklich den Kopf, als Georg auf ihn zeigte. »Weder Max noch ich haben ir gendwelche Diamanten. Dieser Junge bindet Ih nen einen Bären auf.« »Nein, das tu ich bestimmt nicht«, rief Georg aufgebracht und erzählte den vier Beamten, was geschehen war. »Alles erstunken und erlogen«, schaltete Max sich ein und bestätigte damit die Aussage seines Kumpels. »Der Kleine da hat keine Diamanten ge 91
funden und konnte uns also auch keine runter werfen.« »Aber ich habe sie gefunden, ehrlich, es ist alles wahr«, beharrte Georg wütend. Es stand lediglich ihr Wort gegen das der Diebe. Sie mussten den Behälter irgendwo versteckt haben, als sie die Po lizisten kommen sahen. Das Dumme war, dass die Erwachsenen immer eher anderen Erwachsenen glaubten als einem Kind. Sogar dann, wenn die ändern Erwachsenen Diebe waren. »Und überhaupt, was habt ihr mit Tim ge macht?«, wollte Georg voller Zorn und Sorge wis sen. »Ihr habt versprochen, ihm nichts zu tun, wenn ich euch die Diamanten zuwerfe. Also, wo ist er?« »Keine Ahnung, wo der bescheuerte Köter ab geblieben ist«, erwiderte Max hämisch und schüt telte den Kopf. »Abgehauen, vermutlich.« »Wohin?«, fragte Georg. »Was weiß ich?«, erwiderte Max und zuckte die Schultern. »Also, ich weiß nicht«, bemerkte einer der Poli zeibeamten zweifelnd. »Das klingt mir alles ziem lich verwirrend. Aber zwei Dinge weiß ich sicher. Ein Kind in deinem Alter sollte um diese Zeit zu Hause bei den Eltern sein. Und ihr beide«, wandte er sich an die Verbrecher, »solltet hinter Gittern sein. Also, auf geht’s.« 92
»Nicht, bis ich Tim gefunden habe«, sagte Ge org starrköpfig und rührte sich nicht von der Stel le. »Tim! Tim!«, begann sie zu rufen. »Wo bist du?« »Komm schon, Junge«, sagte einer der Polizis ten und ergriff sie sanft am Arm. »Wir begleiten dich nach Hause. Du kannst deinen Hund ein an dermal suchen.« »Ich gehe nirgendwo hin. Sie können mich nicht zwingen«, entgegnete Georg ziemlich frech. »Ich muss Tim finden.« Doch trotz ihrer Proteste wurde Georg mit Nachdruck über das Moor an der alten Mühle und am Felsenhof vorbei Richtung Felsenhaus geführt. Der Schein der Taschenlampen erhellte ihnen den Weg. Ein oder zweimal sahen sie, wie Kaninchen in alle Richtungen davon stoben. Georg fröstelte und einer der Polizisten zog sei ne Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. »Danke«, brummte Georg mürrisch. Es passte ihr gar nicht, ohne Tim zurückzukehren. Sie stellte sich vor, wie er sich irgendwo versteckte und frie rend und verängstigt fragte, was mit ihr geschehen war. Vielleicht hatte er sogar gehört, wie sie nach ihm rief, sich aber zu sehr vor den beiden Grobia nen gefürchtet und deshalb nicht hergetraut. »Wenn ihr wollt, begleiten wir den Jungen nach Hause, dann könnt ihr die beiden hier auf die Wa 93
che bringen«, schlug einer der Männer von der Küstenwache vor, als sie zur Weggabelung ka men, von der aus es in der einen Richtung zur Straße und in der anderen zum Felsenhaus ging. »In Ordnung«, antwortete einer der Polizeibe amten. »Wir werden dem Felsenhaus später einen Besuch abstatten, um den Eltern des Jungen zu sagen, dass sie ihn von gefährlichen Plätzen fern halten sollen.« Aber Georg hörte ihnen gar nicht zu. Sie hatte wieder zwei flackernde Lichter entdeckt, die sich auf sie zubewegten, und ihre feinen Ohren hatten ein aufgeregtes Hundegebell aufgeschnappt. Ge orgs Herz hüpfte vor Freude. Dieses Bellen würde sie überall erkennen. Plötzlich schoss ein braunes, struppiges Fellpa ket aus der Dunkelheit auf sie zu. »Tim«, schrie Georg überglücklich und stürzte ihm entgegen. »Tim, mein Liebling! Gott sei Dank, du bist wohlauf!« »Wuff, wuff!«, bellte Tim und wedelte so heftig, dass ihm fast der Schwanz abfiel. Er sprang seiner Besitzerin in die Arme, leckte ihr das Gesicht ab und bebte dabei vor lauter Wiedersehensfreude. »O Tim«, rief Georg und vergrub ihr Gesicht in seinem weichen Fell. »Ich hatte solche Angst, ich würde dich nie wieder sehen. Wo bist du nur ge wesen?« 94
»Er ist nach Hause gerannt, um uns zu holen«, antwortete eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit. Georgs Vater tauchte auf und leuchtete mit seiner großen Taschenlampe den Kreis ab. »Kannst du mir bitte sagen, was hier los ist? Und wer all diese Leute sind?«, fügte er stirnrunzelnd hinzu. Er hat te in seinem Arbeitszimmer über einer wichtigen Formel gebrütet, als Tim mit einem alten Seilende um den Hals wild bellend zu Hause aufgetaucht war. Dann hatte ihm Georgs Mutter mitgeteilt, Georg sei verschwunden und sie müssten Tim folgen, weil er sie vielleicht zu ihr führen würde. Georgs Vater hatte sich nicht zuletzt auch deshalb geärgert, weil der Hund mit schmutzigen Pfoten ins Haus gekommen war und offensichtlich wie der irgendwo gebuddelt hatte. »O Georg, endlich«, rief ihre Mutter. Sie eilte auf sie zu und umarmte sie fest. »Wo bist du nur gewesen? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Und als Tim ohne dich auftauchte, hatten wir Angst, dir sei etwas Schreckliches zugestoßen.« »Das stimmt auch«, sagte Georg und umarmte ihre Mutter ebenfalls. Sie war erleichtert und freu te sich sehr viel mehr, ihre Mutter zu sehen, als sie jemals zugegeben hätte. »Etwas schrecklich Auf regendes ist geschehen.« In einem atemlos über stürzten Wortschwall begann sie, ihnen von ihrem Abenteuer zu erzählen. 96
»Du meine Güte, Georgina, ich bitte dich«, warf ihr Vater ein, der die Polizisten, die Männer der Küstenwache und die Bösewichte mit größter Ver wirrung musterte. »Hör auf, vor dich hin zu fa seln, und lass die Erwachsenen hier vernünftig er klären, was geschehen ist.« »Georgina«, rief einer der Beamten von der Küstenwache erschrocken und erstaunt zugleich. »Wir dachten, sie sei ein Junge!« »Ein Mädchen«, rief Max gleichzeitig aus. »Dar auf wäre ich nie gekommen.« »Ach, das ist nichts Neues. Das geht allen so«, meinte Georgs Vater unwirsch. »Könnte mir nun vielleicht jemand das Ganze endlich auf verständ liche Weise erklären?« »Wir kennen die ganze Geschichte selbst noch nicht«, erwiderte einer der Polizisten. »Sie lassen also besser ihre Tochter fortfahren.« Es war reichlich seltsam, im Schein brennender Taschenlampen auf einer windumtosten Klippe zu stehen und ein wahnsinnig spannendes Aben teuer zu schildern. Georg setzte Tim auf den Boden und er ver schwand im Gebüsch, um schnüffelnd nach inte ressanten Dingen zu suchen. Kaninchen, Igel, Ha sen und Kröten, sie alle kamen nach Einbruch der Dunkelheit aus ihren Verstecken und er musste ih nen einfach hinterherschnüffeln. Allerdings ent 97
fernte er sich nicht allzu weit. Er hatte seine Besit zerin heute schon einmal verloren und das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Als Georg innehielt, um Atem zu holen, be merkte ihr Vater: »Sie können sich darauf verlas sen, dass alles wahr ist, was meine Tochter er zählt. Sie mag ja manchmal unfolgsam sein, aber sie sagt immer die Wahrheit.« »Danke Vater«, sagte Georg. »War es nicht klug von Tim, euch zu holen? Ist er nicht der klügste Hund auf der ganzen Welt? Wie konnte ich nur glauben, er verstecke sich irgendwo vor Angst!« »Ja, klug ist er tatsächlich«, räumte ihr Vater ein. »Gewiss ist er aber der lauteste Hund auf Er den. Er hat uns so lange angebellt, bis wir ihm hierher gefolgt sind.« »Und er hat dich an der Hose gepackt und ver sucht, dich aus dem Haus zu zerren«, lachte Ge orgs Mutter, während sie ihre Tochter immer wieder fest an sich drückte. »Ja, das auch noch«, meinte der Vater. Seine buschigen Augenbrauen waren immer noch zu einem Knäuel zusammengezogen. »Sein Glück, dass er sie nicht zerrissen hat, kann ich nur sa gen.« »Nun«, unterbrach ihn einer der beiden Poli zeibeamten und wandte sich an die Verbrecher. »Wenn das Mädchen tatsächlich die Wahrheit 98
sagt, wie ihr Vater versichert … wo habt ihr dann die Diamanten versteckt?« »Das haben wir Ihnen doch gesagt«, beharrte Eddie entrüstet. »Es gibt keine Diamanten. Das Mädchen lügt.« »Noch einmal, meine Tochter lügt nie«, trat Ge orgs Vater für sie ein. »Wie auch immer, ich kann mir nicht vorstel len, wie sie in den Leuchtturm gekommen wä ren«, bemerkte einer der Männer von der Küs tenwache. »Georgina ist es zwar gelungen, durch das Fenster zu klettern, aber für einen erwachse nen Mann ist es viel zu klein. Die Geschichte vom dritten Bandenmitglied, das sie im Leuchtturm
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versteckt haben soll, scheint mir etwas weit her geholt.« »Sie sagten, er sei sehr klein und könne klettern wie ein Affe«, beharrte Georg und zog einen fürchterlichen Flunsch. »Und im übrigen heiße ich Georg.« »Also, ich verstehe die Sache nicht«, seufzte ei ner der Polizisten. »Aber jetzt können wir so oder so nichts mehr unternehmen«, fügte er hinzu und verpasste den beiden Dieben einen Stoß. »Auf geht’s, ihr zwei, auf die Wache mit euch. Meine Jacke komme ich morgen holen«, wandte er sich an Georg, die noch immer darin eingehüllt war. »Jetzt aber ab nach Hause und ins Bett mit dir.« »Danke, dass Sie unsere Tochter gerettet ha ben«, sagte der Vater zu den Männern der Küs tenwache beim Abschied. »Ich werde dafür sor gen, dass das ihr letzter Scherz dieser Art war. In den Leuchtturm zu klettern und die Lampe anzu zünden, das ist ja wohl das Letzte.« Insgeheim war Georgs Vater jedoch ziemlich stolz darauf, dass seine Tochter sich so gut zu hel fen gewusst hatte. Aber das hätte er ihr gegenüber nie zugegeben. »Das war kein Scherz, Vater«, beharrte Georg ungehalten, als sie losmarschierten. »Das war ein Abenteuer.« »Pah«, schnaubte ihr Vater. »Ein Abenteuer! 100
Könntest du dann bitte in Zukunft dafür sorgen, dass deine Abenteuer mich nicht aus meiner Ar beit herausreißen, junge Dame?« Georg schmollte von neuem. Sie hasste es fast ebenso sehr, wenn man sie junge Dame nannte, wie wenn man sie Georgina rief! »Komm, Liebes«, tröstete ihre Mutter und nahm sie bei der Hand. »Lass uns nach Hause ge hen. Du musst furchtbar hungrig sein. Johanna hat leckere Gemüsesuppe für dich bereitgestellt.« »Mmm, köstlich«, rief Georg, die mit einem Mal feststellte, dass sie am Verhungern war. Sie hatte seit Stunden nichts mehr gegessen. Tim musste ebenfalls hungrig sein. Schließlich war er durch das ganze Moor gerannt. Bestimmt knurrte sein Magen schon ganz furchtbar laut. »Tim! Komm, wir gehen jetzt«, rief Georg, als Tim aus dem Dickicht gesprungen kam. »Sieh ihn dir bloß an!«, tadelte der Vater und strahlte Tim mit der Taschenlampe an. »Ich glau be, er hat schon wieder gebuddelt.« »Ach Tim«, lachte Georg und knuddelte den struppigen kleinen Hund. »Du kannst wohl ein fach nicht widerstehen, was?« »Wuff«, erwiderte Tim glücklich. »Wuff, wuff!«
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10 Ein Rätsel
Bald waren alle vier wieder im Felsenhaus. Tim schlang sein Essen hinunter und Georg saß am Kü chentisch und löffelte Johannas schmackhafte Sup pe in sich hinein. Dazu gab es knusprig geröstetes Brot, dick mit weich tropfender Butter bestrichen. Der Vater hatte sich in sein Arbeitszimmer zu rückgezogen, um seine wichtige Arbeit fortzuset zen, und die Mutter fegte den Schmutz zusam men, den Tim ins Haus geschleppt hatte. »Ach, das war lecker«, seufzte Georg, als sie ihr Abendbrot verzehrt hatte. Sie lehnte sich zurück und gähnte kräftig. »Mensch, bin ich müde.« 102
»Das wundert mich nicht, nach einem derart aufregenden Tag«, erwiderte ihre Mutter. »Ich denke, es ist Zeit, dass du ins Bett kommst, was meinst du?« »Ich glaube, du hast Recht«, stimmte Georg ihr zu. Sie ging vom Tisch und spülte ihren Suppen teller und den Löffel. »Sieh nur, Tim ist ebenfalls müde«, fügte sie hinzu, als Tim gähnte und dabei seine kleinen scharfen Zähne entblößte. »Aben teuer machen ihn immer müde.« Georg schüttelte die Decke im Hundekorb, der neben dem Herd stand, und Tim stieg hinein. Er drehte sich drei, vier Mal im Kreis, dann legte er sich mit einem Seufzer hin und blickte unter sei nen buschigen Brauen zu Georg hoch. »Ich komme dich nachher holen, wie immer«, flüsterte sie ihm ins Ohr und umarmte und küsste ihn. Genau genommen durfte Tim nicht bei ihr oben im Zimmer schlafen. Aber Georg huschte Nacht für Nacht nach unten, um ihn zu holen, so bald ihre Eltern zu Bett gegangen waren. Sie er trug es nicht, dass er so mutterseelenallein in der großen Küche schlafen musste. Zum Glück hatte noch nie jemand Verdacht geschöpft, da sie Tim morgens stets wieder nach unten brachte, bevor ihre Eltern erwachten. »Wuff«, jaulte Tim schläfrig und blinzelte. Er war wirklich ein sehr müder kleiner Hund. Er 103
hatte einen furchtbar aufregenden und anstren genden Tag hinter sich. Der aufregendste seit lan gem. Georg ging nach oben, um sich auszuziehen. Sie stieg in ihr Bett und blickte aus dem Fenster. Die Leuchte im Felsspitzleuchtturm bohrte ihren Strahl noch immer in die Dunkelheit. »Ich frage mich, wie lange sie wohl noch brennt?«, fragte sie sich und gluckste beim Ge danken, wie erstaunt alle gewesen sein mussten, als der alte Leuchtturm nach all den Jahren plötz lich wieder sein Licht über das Meer sandte. Ihr Plan hatte perfekt funktioniert. Besser, als sie je mals zu hoffen gewagt hätte. Obwohl Georg sehr müde war, warf sie sich ruhelos im Bett hin und 104
her und musste immer wieder an all die aufre genden Ereignisse des Tages denken. Sie hörte, wie draußen die Wellen ans Ufer schwappten und ein Käuzchen im Obstgarten rief. Eine Frage be schäftigte sie immer noch sehr. Etwas, an dem sie herumrätselte, seit die beiden Polizisten mit den festgenommenen Dieben auf der Klippe aufge taucht waren. Wo waren die Diamanten? »Ich habe gesehen, wie der schreckliche Kerl sie aufgefangen hat«, flüsterte sie vor sich hin. »Ich weiß also, dass sie sie dabei hatten, als sie sich da vonmachten. Ich habe sie ihm vom Leuchtturm fenster aus direkt in die Hände fallen lassen.« Und doch hatte von dem Behälter im braunen Beutel jede Spur gefehlt, als die Polizisten den Dieben begegnet waren, die wie der Blitz über die Klippe hetzten. »Das ist mir völlig rätselhaft.« Georg runzelte im Dunkeln die Stirn. »Was haben sie nur damit angestellt?« Sie lag da und wartete darauf, dass ihre Eltern schlafen gingen. Als sie hörte, wie die beiden die Treppe hochstiegen und in ihrem Zimmer ver schwanden, wartete sie noch eine Weile und schlüpfte dann in die Küche, um Tim zu holen. »Ich habe keine Ahnung, was sie mit den Dia manten gemacht haben könnten, Tim«, flüsterte 105
sie, während sie mit ihm die Treppe hochschlich. »Du vielleicht?« »Wurf«, meinte Tim nur. Er sprang auf das Bett und machte es sich auf seinem angestammten Plätzchen gemütlich. Im Moment waren ihm die Diamanten ziemlich gleichgültig. Wichtig für ihn war nur, dass er und Georg zu Hause und in Si cherheit waren. »Sie haben sie doch bestimmt nicht einfach weggeworfen?« wisperte Georg verunsichert. »Nicht nach all der Mühe, die sie sich gemacht haben, um sie zu bekommen.« »Wurf«, wiederholte Tim und schloss schläfrig die Augen. Als Georg fortfuhr, öffnete er sie wie der. »Vielleicht haben sie den Behälter ins Gebüsch geworfen und wollen später wieder hin und ihn holen«, überlegte sie. »Wurf«, meinte Tim zum dritten Mal und gähn te ausgiebig. »Vorerst kommen sie allerdings ganz bestimmt hinter Gitter. Es wird also eine ganze Weile dau ern, bis sie zurückkommen und nach den Juwelen suchen können«, beruhigte sich Georg. Auf der Suche nach einer bequemen Stellung wälzte sie sich im Bett hin und her. »Wurf«, kam die Antwort von Tim, der die Au gen nicht mehr offen halten konnte. Er wollte jetzt 106
unbedingt schlafen und wünschte sehnlichst, Georg würde aufhören, sich mit ihm zu unter halten. »Dieser grässliche Eddie wird bestimmt einge sperrt«, brabbelte Georg weiter. »Denn er war ja vorher schon im Gefängnis. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Polizei beweisen kann, dass der an dere Mann auch ein Dieb ist, solange die gestoh lenen Diamanten als Beweisstück fehlen.« Plötz lich setzte sie sich so ruckartig auf, dass Tim am andern Ende fast vom Bett fiel. »O Tim, mein Liebling! Ist dir klar, dass wir sie einfach finden müssen, sonst lassen sie diesen furchtbaren Max laufen und er wird sich an uns rächen.« »Wuff«, bestätigte Tim. Gewiss hörte seine Be sitzerin am ehesten dann auf zu reden, wenn er immer einer Meinung war mit ihr. Einmal musste sie doch zur Ruhe kommen und einschlafen. Genau genommen verstand er ohnehin gar nicht, worüber sie sich solche Sorgen machte! Schließlich gelang es Georg trotz des Rätsels, das ihr im Kopf herumgeisterte, doch noch einzu schlafen. »Morgen fangen wir gleich mit der Suche an«, murmelte sie nun ebenfalls sehr schläfrig, als sie die Augen schloss und eindöste. »Nicht vergessen, Tim … morgen, gleich als Erstes!« Doch diesmal antwortete Tim nicht. Er schlief 108
bereits tief und fest, mit bebender Nase und zu ckenden Ohren, weil er im Traum Kaninchen jagte.
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11 Tim buddelt wieder
Als Georg aufwachte, schien die Sonne zum Fens ter herein. Der Himmel war leuchtend blau und ein, zwei Wattewölkchen schwebten am Horizont. Das Meer glänzte spiegelglatt. Sie sprang aus dem Bett und eilte mit Tim nach unten, bevor die andern aufwachten. Sie öffnete die Hintertür und ließ ihn hinaus, damit er im Garten herumtoben konnte. Da kam ihr Johanna auf dem Gartenweg entgegen. »O bin ich froh, dich zu sehen, Georg!«, rief sie erfreut, als sie Georg im Schlafanzug entdeckte. 110
»Wir haben uns gestern gefragt, wo du bloß bleibst. Deine arme Mutter war ganz krank vor Sorge.« »Wir haben ein Abenteuer erlebt«, erwiderte Georg. Sie rief nach Tim und ging mit Johanna wieder ins Haus. »Ich war in einem Leuchtturm eingesperrt und Tim ist von Dieben entführt wor den.« »Was du dir immer ausdenkst«, lachte Johanna. »Trotzdem, du solltest immer vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kommen, egal was für ein Spiel du spielst.« »Das habe ich mir nicht ausgedacht«, fuhr Ge org auf und zog einen Flunsch. »Und du könntest bestimmt auch nicht rechtzeitig nach Hause kom men, wenn man dich in einen Leuchtturm ein sperrt, oder?« »Nein, natürlich nicht«, antwortete Johanna, immer noch lächelnd. »Nun geh und zieh dich an, während ich dir ein schönes Frühstück zubereite.« Georg war es gewohnt, dass die Erwachsenen ihr nicht glaubten, wenn sie von ihren Abenteuern erzählte, und so rannte sie wortlos nach oben und schlüpfte in ihr T‐Shirt und ihre kurze Hose. Sie hatte ihr Vorhaben, zur Felsspitze zurückzukeh ren und nach den Diamanten zu suchen, nicht vergessen. »Mmh, lecker, ich bin am Verhungern. Danke 111
Johanna«, sagte sie etwas später, als die Haushäl terin ihr einen Teller mit knusprig gebratenem Speck, Spiegeleiern und geröstetem Brot hinstellte. »Heute Morgen suchen wir die Diamanten, stimmt’s Tim?« »Wurf«, bestätigte Tim, der unter dem Tisch genüsslich an seinen nahrhaften Frühstückskeksen kaute. »So, so«, erwiderte Johanna grinsend. »Dann sind wohl weitere Abenteuer angesagt, was?« »Genau«, gab Georg undeutlich zur Antwort, weil sie den Mund voll mit köstlichem Brot hatte. »Möchtest du ein Picknick mitnehmen?«, fragte Johanna. »Nach Diamanten zu suchen kann un gemein hungrig machen.« »Au ja, bitte«, rief Georg. Sie schluckte den letz ten Bissen ihres Frühstücks herunter und trank das Glas mit sahniger Milch aus, das Johanna ihr neben den Teller gestellt hatte. »Aber diesmal bist du vor Einbruch der Dun kelheit wieder zurück«, erinnerte sie Johanna, während sie ein köstliches Picknick für sie zu sammenstellte. Nach und nach verschwanden Kä sebrote, tiefrote Tomaten, ein Stück hausgemach ter Schokoladenkuchen und eine Flasche Ingwer limonade in Georgs Rucksack. »Deine Mutter sorgt sich zu Tode, wenn du noch einmal zu spät kommst.« 112
»Wir sind rechtzeitig wieder zurück, großes Eh renwort«, versprach Georg. Sie warf sich den Rucksack um und rief Tim. »Bis später«, fügte sie hinzu und winkte, als sie auf dem Gartenweg da vonrannte. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Es war toll, an einem so schönen Morgen ein weiteres Aben teuer zu erleben. Obwohl es noch sehr früh war, schien die Son ne bereits angenehm warm. Georg spürte die Wärme auf der Haut und roch die salzige Meer luft. »Komm Tim«, rief sie, als er zwischen den Blu menbeeten herumzuschnüffeln begann. »Wir ha ben keine Zeit zum Buddeln.« »Wuff«, antwortete er und sauste hinter ihr her. Hurra, sie würden ein weiteres Abenteuer erleben! »Wuff, wuff!« Sie liefen den Weg hoch und über den Klippen kamm, wobei sie dem Pfad folgten, den sie am Abend zuvor gegangen waren. Tim tollte voraus und schnüffelte und schnupperte zwischen den Erikasträuchern herum, immer auf der Suche nach aufregenden Fährten. Sein Schwanz ragte wie ein struppiges Banner in die Höhe. Er erinnerte sich daran, das er erst vor kurzem in der Dunkelheit hier herumgeschnüffelt oder – genauer gesagt – geschnüffelt, geschnuppert und gegraben hatte. »Hier lang Tim«, rief Georg, als Tim im Di 113
ckicht verschwand. Alles, was sie noch sehen konnte, war seine hoch ragende Schwanzspitze. »Verirr dich jetzt bloß nicht, wir müssen die Dia manten finden!« Bald hatten sie den Felsenhof und die alte Müh le hinter sich gelassen und begannen, den Steil hang zum Felsspitzleuchtturm hinabzusteigen. Tim eilte voraus und verschwand im Gestrüpp. Es dauerte nicht lange, bis Georg feststellen musste, dass er spurlos verschwunden war. »Tim«, rief sie. »Ich gehe hinunter und suche zwischen den Felsen.« Sie kletterte den steinigen Pfad zum kleinen Strand hinab. Es war Ebbe und ganz einfach, zum Leuchtturm zu gelangen.
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»Das Öl muss aufgebraucht sein«, bemerkte sie, als sie hochblickte und sah, dass das Licht nicht mehr brannte. »Vermutlich wird der Leuchtturm schon sehr bald abgerissen und deshalb auch nie mehr brennen. Ist das nicht traurig Tim, mein Gu ter?« Als kein zustimmendes Bellen ertönte, sah sich Georg stirnrunzelnd um. Wo war der ungehorsa me kleine Hund abgeblieben? Er sollte ihr doch bei der Suche nach dem Behälter mit den wertvol len Diamanten helfen. Sie stieg auf die Felsblöcke rundum und spähte in alle Spalten und Ritzen. Sie suchte die kleinen Pfützen ab, in denen Krebse schwammen und rote Seeanemonen ihre Arme im sanft vom Wind ge kräuselten Wasser schwenkten. Sie kraxelte um die Leuchtturmplattform herum, aber sie fand nichts. »Wenn ich es mir so überlege … So dumm kön nen sie eigentlich nicht sein, dass sie die Diaman ten hier irgendwo versteckt haben«, murmelte sie ungeduldig. »Sie wären ja von der Flut fortgespült worden.« Georg kletterte zum Ufer zurück, wo sie mit gerunzelter Stirn und die Hände in die Hüften gestützt stehen blieb. Wo um alles in der Welt konnte der Behälter sein? Auf alle Fälle irgendwo in der Nähe! Sie beschloss, etwas weiter oben zu suchen. 115
Schließlich hatten die beiden Kerle schon ein gan zes Stück Weg zurückgelegt, bevor sie von der Po lizei gestellt wurden. »Genau!«, rief sie, mit einem Mal ganz aufge regt. »Das ist die Lösung! Sie haben den Behälter irgendwo am Wegrand versteckt.« Aber wo? Der Pfad wand sich am Rand der Klippe hoch und es wäre zu gefährlich gewesen, den Weg im Dunkeln zu verlassen und etwas zwi schen den großen Steinen zu verstecken. Und oben auf der Klippe gab es Erikasträucher und Farn kraut, soweit das Auge reichte. Georg seufzte. Es war, als würde man eine Na del im Heuhaufen suchen. Trotzdem machte sie sich an die Arbeit, fest entschlossen, nicht aufzugeben. Wenn Georg sich einmal etwas vorgenommen hatte, blieb sie auch dabei. Sie kletterte mit gesenktem Kopf den Pfad hoch und hielt Ausschau nach möglichen Verste cken. Plötzlich bemerkte sie, dass sie Tim schon ewig lange nicht mehr gesehen hatte. »Tim!«, rief sie ganz laut. »Ich gehe wieder hoch. Wobist du?« Sie blickte auf und sah den kleinen Hund etwas weiter vorn auf dem Weg sitzen. Seine rosa Zunge hing ihm aus dem Maul und der Schwanz wedelte heftig. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund schien er sehr zufrieden mit sich zu sein. 116
»Da bist du ja«, keuchte Georg beim Näher kommen. »Was hast du getrieben? Keine Kanin chen gejagt, hoffe ich!« Dann erkannte Georg nur allzu deutlich, was Tim getrieben hatte. Er hatte wieder gebuddelt. Seine Pfoten waren schwarz von der Torferde und seine Schnauze war mit Dreck überzogen. Trotz dem sah er höchst zufrieden und stolz aus und schien ganz aufgeregt über etwas zu sein. So auf geregt, dass er am ganzen Leib bebte. »Wuff«, bellte er. »Wuff, wuff!« Als Georg Tim erreichte, erkannte sie, warum er so selbstzufrieden aussah. Zu seinen Füßen lag ein kleiner brauner Beutel mit etwas drin. Einem Behälter. Einem Behälter, der eine unbezahlbare Diamantenkette enthielt!
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12 Darf Tim bleiben?
Georg ließ sich auf die Knie fallen und griff nach dem Beutel. »Tim, mein kluger Hundeschatz! Wo um alles in der Welt hast du das gefunden?«, japste sie. »Wuff«, bellte Tim und verschwand im Di ckicht. »Wuff, wuff!«, bellte er über die Schulter zurück. Folge mir und ich zeige es dir. Georg nahm den Beutel mit dem Behälter und stapfte hinter ihm her. Die trockenen Erikasträucher waren stachelig und zerkratzten ihr die Knie, aber das war ihr völ 118
lig gleichgültig. Sie musste wissen, wo Tim die Di amanten gefunden hatte. Der kleine Hund war in einer Lichtung stehen geblieben. Dort war der feuchte Moorboden mit ein paar grasbewachsenen Erhebungen durchsetzt, auf denen sich Schlüssel blumen und blaue Glockenblumen im Wind wieg ten. Und mitten drin klaffte ein tiefes, schwarzes Loch. Ein Loch, das Tim am Abend zuvor gegra ben hatte, um den Behälter mit den Diamanten si cher zu verstecken! »Tim«, rief Georg voller Ehrfurcht und Bewun derung, als sie das sah. Sie ging in die Hocke und drückte den kleinen Hund so fest an sich, dass er beinahe erstickte. »Der Kerl namens Eddie muss die Schachtel ins Gebüsch geworfen haben und du hast sie gefunden und vergraben. Du kluger, klu ger Hund. Kein Wunder, bist du völlig verdreckt zu Hause angekommen. Du hast sie zuerst ver graben, bevor du losgerannt bist, um Mutter und Vater zu holen. Du bist ein kluger Schatz!« Wieder umarmte sie ihn und drückte ihm einen schmat zenden Kuss auf den struppigen Kopf. »Wuff, wuff«, bellte Tim etwas erstickt. Sein Schwanz wedelte wie verrückt. Seine geliebte Be sitzerin zu erfreuen war das Tollste, was er sich denken konnte, auch wenn sie ihn dafür hinterher fast erwürgte! »Komm«, rief Georg, nachdem sie ihn genü 119
gend geherzt und geküsst hatte. »Wir gehen nach Hause und erzählen es Mutter, damit sie die Po lizei anrufen kann. Es würde mich nicht wun dern, wenn du dafür eine Belohnung bekommst, Tim. Du bist der klügste Hund auf der ganzen Welt.« Bald darauf rannte sie mit Tim an der Seite aufge regt zum Felsenhaus zurück. »Hoppla«, rief Johanna erstaunt, als die zwei zur Hintertür hereinstürzten. »Das hat aber nicht lange gedauert. Du hast doch bestimmt nicht schon alles aufgegessen?« Dann setzte sie schmunzelnd hinzu: »Und, hast du die Diamanten gefunden?«
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»Allerdings«, rief Georg und zerrte den Beutel aus ihrem Rucksack. »Wie findest du sie?« Johanna blieb vor Staunen der Mund offen, als Georg den Behälter aus dem Beutel schälte und ihn behutsam öffnete. Beim Anblick der funkeln‐ den Kette schnappte sie nach Luft. »Du meine Gü te«, flüsterte sie und ließ sich verblüfft auf einen Stuhl plumpsen. »Das ist ja kaum zu glauben.« Bald darauf bestaunten auch Georgs Eltern die Diamanten. Ihre Mutter war in dem Augenblick zur Tür hereingekommen, als Georg sie Johanna zeigte, und so überrascht gewesen, dass sie so fort ihren Mann aus dem Arbeitszimmer herbei rief. »A… also, ich muss schon sagen«, stotterte Ge orgs Vater, als er hörte, dass Tim den Schmuck vergraben hatte, um ihn vor der Polizei zu verber gen, nachdem die Diebe den Behälter ins Gebüsch geworfen hatten. »Ich hätte nie gedacht, dass die grässliche Buddelei auch einmal nützlich sein könnte.« »Wurf«, antwortete Tim, wie um zu sagen, dass Buddeln immer nützlich sei. »Wir rufen besser die Polizei an, Quentin«, meinte Georgs Mutter. »Sie werden hoch erfreut sein zu hören, dass wir die Diamanten gefunden haben.« »Du meinst, dass Tim die Diamanten gefunden 121
hat, Mutter«, korrigierte Georg sie empört und knuddelte ihren kleinen Hund noch einmal kräftig. »Richtig«, lachte ihre Mutter. »Tim hat sie ge funden.« »Meinst du, er bekommt eine Belohnung da für?«, wollte Georg von ihrem Vater wissen, wäh rend sie darauf warteten, dass ihre Mutter den Anruf erledigte. »Verdient hätte er sie auf jeden Fall«, lachte Jo hanna. »Wachtmeister Mond kommt gleich vorbei und holt die Diamanten ab«, erklärte die Mutter, als sie wieder in die Küche kam. »Er ist äußerst zufrie den, wie ihr euch sicher vorstellen könnt.« »Ich hoffe, du bist auch zufrieden«, sagte Georg und blickte zu ihrem gestrengen Vater hoch. »Natürlich bin ich das«, erwiderte dieser. »Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du dich nicht immer in diese unmöglichen Situationen bringen würdest, Georg. Und merk dir, nur weil Tim im Moor gebuddelt und gestohlene Diamanten ge funden hat, bedeutet das noch lange nicht, dass er den Garten deiner Mutter umgraben darf.« »Wuff«, bellte Tim, der Georg lammfromm zu Füßen saß. Er verstand einfach nicht, warum es den Menschen nicht in den Kopf ging, dass Hun de manchmal einfach buddeln mussten. »Das tut er auch bestimmt nicht mehr, Ehren 122
wort«, versicherte Georg und blickte auf ihren Hund hinab. »Sieh nur, wie brav er ist.« »Und das bleibt er besser auch«, meinte ihr Va ter. Er versuchte, streng zu blicken, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen. »Er darf also bleiben?«, fragte Georg und ihre lebhaften Augen strahlten. »Und du wirst Wachtmeister Mond nicht bitten, ein neues Zu hause für ihn zu finden?« »Nun …«, begann ihr Vater. »Aber Vater, du kannst ihn doch unmöglich fortschicken, wo er jetzt ein Held ist«, unterbrach ihn Georg. »Nein, wahrscheinlich nicht«, räumte ihr Vater widerwillig ein. Sie hörten Wachtmeister Monds Wagen draußen vorfahren. »Aber wehe dir, wenn du wieder etwas anstellst.« Georgs Vater drohte Tim mit dem Zeigefinger. »Hast du das gehört, Hund?« »Wuff«, antwortete Tim. Aber er beachtete Ge orgs Vater nicht weiter, sondern rannte zur Haus tür. Er hatte Wachtmeister Mond gehört. »Wuff, wuff, wuff!« Er wusste, dass Hunde bellen muss ten, wenn jemand vor dem Haus stand. Und jetzt, da er vor Vater wieder Gnade gefunden hatte, sah er besser zu, dass es auch so blieb! Überglücklich und zufrieden wartete der kleine Hund darauf, dass der Vater die Haustür öffnete 123
und den Wachtmeister eintreten ließ, um ihm die Diamanten zu übergeben. Was war das für ein aufregendes Abenteuer gewesen! Und was für ein Glück er hatte, bei einem so unternehmungslusti gen Mädchen wie Georg im Felsenhaus am Meer zu leben. Welcher andere Hund auf der Welt hatte schon eine Besitzerin, die so viele tolle Abenteuer erlebte wie seine?
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