»Lindsey und ich gehen die Treppe rauf zur Toilette und zeihen uns auf dem Klo ein bißchen Koks rein. Über dem Waschbeck...
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»Lindsey und ich gehen die Treppe rauf zur Toilette und zeihen uns auf dem Klo ein bißchen Koks rein. Über dem Waschbecken, auf dem Spiegel, steht in großen schwarzen Buchstaben: ›Das Reich des Stumpfsinns‹ «.
Über das Buch Gerade 20 Jahre alt, schreibt 1984 ein amerikanischer Student namens Bret Easton Ellis die Abschlußarbeit für einen creativewriting-Kurs. Der Schriftsteller Joe McGinniss, sein Lehrer, ist so begeistert, daß er das Manuskript einem angesehenen New Yorker Verlag schickt, wo es unter dem Titel »Less Than Zero« tatsächlich erscheint. »Unter Null« entwickelt sich zum Kultbuch. Die jungen Amerikaner finden sich wieder in B. E. Ellis' Geschichte von Clay und seinen Freunden im Los Angeles der 80er Jahre, diese Kinder reicher, aber gelangweilter Eltern, die ihrem mondänen Leben zwischen Partys, Sex, Drogen und Gewalt kaum noch einen Kick, geschweige denn einen Sinn abgewinnen können. »Lindsey und ich gehen die Treppe rauf zur Toilette und ziehen uns auf dem Klo ein bißchen Koks rein. Über dem Waschbecken, auf dem Spiegel, steht im großen schwarzen Buchstaben: ›Das Reich des Stumpfsinns‹.« »Die Wünsche sind erfüllt, das Begehren ist nurmehr eine schwache Kraft, die eine minimale Bewegung provoziert, von Genuß zu Genuß vielleicht, oder auch von Schmerz zu Schmerz, das ist nicht auszumachen. Videosentationen, Sexsensationen, der Extremismus des Genießens ist auf Dauer gestellt.« Hubert Winkels, Frankfurter Rundschau
Der Autor Bret Easton Ellis, geb. 1964 in Los Angeles, lebt in New York.
Weitere Titel bei K&W: »American Psycho«, Roman, 1991, KiWi 300, 1993. »Die Informanten«, 1995, »Glamorama«, Roman, 1999.
Bret Easton Ellis
Unter Null Roman
Deutsch von Sabine Hedinger
Kiepenheuer & Witsch
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
6. Auflage 2002 Copyright © 1985 by Bret Easton Ellis Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel Less Than Zero bei Simon & Schuster, New York Deutsch von Sabine Hedinger © 1999 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Deutsche Erstausgabe 1986 bei Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung Philipp Starke, Hamburg Umschlagfoto photonica/David Perry Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-462-02858-8
This is the game that moves as you play ... -X There's a feeling I get when I look to the West ... - Led Zeppelin
Für Joe McGinniss
Auf den freeways in Los Angeles werden die Leute auch immer rücksichtsloser. Das ist der erste Satz, den ich zu hören kriege, als ich in die Stadt zurückkomme. Blair holt mich vom LAX ab, dem internationalen Flughafen, und während sie den Zubringer hochfährt, murmelt sie vor sich hin: «Auf den freeways in Los Angeles werden die Leute auch immer rücksichtsloser.» Obwohl mich so ein Satz eigentlich nicht nervös machen sollte, schwirrt er mir doch unangenehm lange im Kopf herum. Dagegen kommt mir alles andere unwichtig vor: Die Tatsache, daß ich achtzehn bin und wir jetzt Dezember haben; daß der Flug stürmisch war und daß neben mir in der Ersten Klasse ein ziemlich betrunkenes Pärchen aus Santa Barbara saß. Oder daß meine Jeans, die sich noch vor ein paar Stunden, auf einem Flughafen in New Hampshire, irgendwie weit und kühl angefühlt haben, mit Dreck bespritzt sind. Daß mein Hemd heute morgen noch frisch und sauber ausgesehen hat und jetzt zerknittert und feucht ist, mit einem Fleck am Ärmel. Daß meine graue Schottenweste am Halsausschnitt eingerissen ist und ich mir darin irgendwie noch mehr vorkomme wie einer von der Ostküste, vor allem, wenn ich daneben Blairs enge Jeans und ihr blaßblaues T-Shirt sehe. All das kommt mir belanglos vor verglichen mit diesem einen Satz. Es scheint leichter, sich anzuhören, daß die Leute immer rücksichtsloser werden, leichter als der Satz: 9
«Höchstwahrscheinlich ist Muriel magersüchtig», leichter als der Song im Radio über Magnetwellen. Gegen diese zwölf Wörter kommt mir alles andere unwichtig vor: Der warme Wind, der das Auto auf der leeren Asphaltstraße davontreibt oder daß es in Blairs Auto immer noch schwach nach Marihuana riecht. Eigentlich bin ich doch nur ein Junge, der für einen Monat nach Hause zurückkommt, und ich treffe ein Mädchen, das ich seit vier Monaten nicht gesehen habe, und die Leute werden immer rücksichtsloser.
Blair biegt vom freeway ab und hält an einer roten Ampel. Ein heftiger Windstoß bringt das Auto einen Moment lang zum Schwanken, und Blair lächelt und meint, daß sie vielleicht das Verdeck hochklappen sollte und stellt einen anderen Radiosender ein. Kurz vor meinem Haus muß Blair anhalten, weil fünf Arbeiter auf der Straße gerade dabei sind, das aufzusammeln, was während des Sturmes von den Palmen runtergekommen ist, und die vielen Blätter und abgestorbenen Borkenstücke in einem großen roten Laster zu verstauen, und wieder lächelt Blair. Sie hält direkt am Haus, und das Tor ist offen, und als ich aussteige, bin ich richtig überrascht darüber, wie trocken und heiß es ist. Ich bleibe ziemlich lange einfach stehen, und nachdem Blair mir geholfen hat, mein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen, grinst sie mich an und fragt: «Was ist denn los mit dir?», und ich sage: «Gar nichts», und Blair sagt: «Du siehst blaß aus», und ich zucke die Achseln, und wir verabschieden uns, und sie steigt wieder ein und fährt los.
Niemand
ist zu Hause. Die Klimaanlage läuft, und das Haus
riecht nach Kiefern. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel, und darauf steht, daß meine Mutter und meine Schwestern weg sind, Weihnachtseinkäufe erledigen. Von da aus, wo ich stehe, kann 10
ich den Hund am Swimming-pool liegen sehen; er schläft, sein Atem geht schwer, und sein Fell ist vom Wind zerzaust. Ich geh die Treppe hoch, vorbei an dem neuen Mädchen, das mich anlächelt und offenbar weiß, wer ich bin, vorbei an den Zimmern meiner Schwestern, die immer noch genau gleich aussehen, abgesehen von unterschiedlichen Postern aus Gentlemen's Quarterly an den Wänden, und als ich in mein Zimmer komme, merke ich, daß sich darin nichts verändert hat. Die Wände sind immer noch weiß; die Schallplatten stehen am alten Platz, genau wie der Fernseher; die Jalousien sind immer noch offen; alles ist so, wie ich es zurückgelassen habe. Ich glaube, daß meine Mutter und das neue Mädchen - oder vielleicht auch das alte Mädchen - meinen Wandschrank ausgeräumt haben, solange ich weg war. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Stapel alter Comics und darauf ein Zettel, auf dem steht: «Willst du die noch behalten?»; dazu die Nachricht, daß Julian angerufen hat und eine Karte mit der Aufschrift «Alle reden von Weihnachten ...» Ich klappe sie auf, und innen steht «... wir tun was dagegen!», eine Einladung zu Blairs Weihnachtsparty. Ich lege die Karte wieder hin, und dann fällt mir auf, daß es in meinem Zimmer allmählich recht kühl wird. Ich ziehe mir die Schuhe aus und lege mich aufs Bett und halte mir die Hand an die Stirn, um zu fühlen, ob ich Fieber habe. Ich glaube schon. Und dabei schaue ich vorsichtig hoch zu dem Plakat, das über meinem Bett an der Wand hängt, unter Glas, aber das hat sich auch nicht verändert. Es ist ein PR-Poster für eine alte Platte von Elvis Costello. Elvis sieht an mir vorbei, mit so einem schiefen, ironischen Lächeln, direkt zum Fenster hinaus. Das Wort Trust - Vertrauen, Glaube, Zuversicht - schwebt über seinem Kopf, und die Sonnenbrille auf seiner Nase, mit einem roten und mit einem blauen Glas, ist so weit runtergeschoben, daß man seine Augen sehen kann, die ein bißchen wie verrutscht wirken. Diese Augen sehen aber nicht mich an. Sie sehen nur denjenigen an, der am Fenster steht, doch ich bin zu müde, um aufzustehen und mich ans Fenster zu stellen. Ich nehme den Telefonhörer in die Hand und rufe bei Julian an; es wundert mich direkt, daß ich seine Nummer noch im Kopf 11
habe. Aber niemand geht ran. Ich setze mich auf, und durch die Jalousie hindurch kann ich sehen, wie in diesem warmen Wind die Palmen wie wild hin- und herschwanken, sich sogar richtig zur Seite biegen, und dann starre ich wieder auf das Lächeln und die spöttischen Augen, das rote und das blaue Brillenglas, während mir gleichzeitig im Kopf rumgeht, daß die Leute immer rücksichtsloser werden, und ich versuche, von diesem Satz wegzukommen, ihn loszuwerden. Ich schalte MTV ein, den Fernsehsender, auf dem nur Videoclips laufen, und rede mir ein, daß ich davon wegkommen und einschlafen könnte, wenn ich Valium da hätte, und dann muß ich an Muriel denken, und mir wird ein bißchen schlecht, während die Videos an meinen Augen vorbeirasen.
An diesem Abend nehme ich Daniel zu Blairs Party mit, und Daniel trägt eine Sonnenbrille und ein schwarzes Wolljackett und schwarze Jeans. Außerdem hat er schwarze Wildlederhandschuhe an, weil er sich eine Woche vorher in New Hampshire ganz übel an einer Glasscherbe geschnitten hat. Ich war mit ihm ins Krankenhaus gefahren, zur Notaufnahme, und hatte beim Säubern der Wunde und beim Blutabwaschen zugesehen. Als sie anfingen, ihm die Hand mit Draht zu vernähen, wurde mir auf einmal schlecht, und ich ging raus und setzte mich ins Wartezimmer. Es war fünf Uhr morgens, und ich hörte die Eagles «New Kid in Town» singen, und ich wollte zurück. Wir stehen vor der Tür von Blairs Haus in Beverly Hills, und Daniel beschwert sich darüber, daß die Handschuhe immer an den Drähten hängenbleiben und daß sie zu eng sind, aber er zieht sie nicht aus, weil die Leute diese dünnen Silberdrähte nicht sehen sollen, die aus der Haut von Daumen und Fingern rausstehen. Blair öffnet die Tür. «He, toll», ruft Blair. Sie hat eine schwarze Lederjacke an und dazu passende Hosen und ist barfuß. Sie umarmt mich und schaut dann Daniel an. 12
«Wer ist denn das?» fragt sie und grinst dabei. «Das ist Daniel. Daniel - Blair», sage ich. Blair streckt ihre Hand aus, und Daniel lächelt und schüttelt sie ganz vorsichtig. «Na, kommt rein. Fröhliche Weihnachten.» Es gibt zwei Christbäume, einer steht im Wohnzimmer, der andere im Studio, und beide sind mit dunkelroten, blinkenden Lichtern geschmückt. Ich sehe vor allem Leute aus meiner alten High School; den meisten davon bin ich seit dem Examen nicht mehr begegnet. Alle stehen um diese beiden Riesenbäume herum. Trent, ein Dressman, den ich kenne, ist auch da. «Hi, Clay», sagt Trent. Er hat einen rotgrün-karierten Schal um den Hals gewickelt. «Hi, Trent», sage ich. «Wie geht's euch, ihr Lieben?» «Gut. Trent, das ist Daniel. Daniel - Trent.» Trent streckt die Hand aus, und Daniel lächelt und rückt sich die Sonnenbrille gerade und schüttelt sie ganz vorsichtig. «Daniel», sagt Trent. «Auf welches College gehst du?» «Dasselbe wie Clay», sagt Daniel. «Und du?» «Uni Kalifornien in L.A. Kurz U.C.L.A. oder U.C.R.A., wie der Orientale zu sagen pflegt.» Trent versucht, einen alten Japaner zu imitieren; er zieht die Augen zu Schlitzen zusammen, verneigt sich, streckt als Zugabe die Schneidezähne heraus und lacht, als wäre er betrunken. «Ich geh zur Uni für Super-Clowns», sagt Blair immer noch grinsend und fährt sich mit den Fingern durch ihre langen blonden Haare. «Wie, was?» fragt Daniel. «U.S.C.», sagt sie. «Universität von Südkalifornien.» «Ach so», sagt er. «Ja, klar.» Blair und Trent lachen, und sie hält sich einen Moment lang an seinem Arm fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. «Oder U.S. Chaos», sagt sie und kriegt kaum noch Luft. «Oder Uuh-Chaos von L.A.», sagt Trent und lacht wieder. Schließlich hört Blair auf zu lachen, streift mich auf dem Weg zur Tür und meint, daß ich den Punsch probieren soll. 13
«Ich hol den Punsch», sagt Daniel. «Willst du auch welchen, Trent?» «Nein, danke.» Trent schaut mich an und sagt: «Du siehst blaß aus.» Den Eindruck habe ich auch, vor allem neben Trent, der tiefgebräunt ist, wie die meisten anderen Leute im Raum. «Ich war auch vier Monate in New Hampshire.» Trent greift in seine Hosentasche. «Hier», sagt er und gibt mir eine Karte. «Das ist die Adresse von einem Bräunungsstudio in Santa Monica. Also, da gibt's kein künstliches Sonnenlicht oder so, und du brauchst dir auch keine Vitamin-E-Kapseln auf den Leib schmieren. Diese Sache nennt sich Uva-Bad, und weißt du, was das heißt? Die färben deine Haut.» Nach einer Weile höre ich Trent schon nicht mehr zu, sondern schaue zu drei Jungen hinüber, Freunden von Blair, die ich alle nicht kenne und die auch zur U.S.C. gehen; sie sind braungebrannt und blond, und einer singt zu der Musik, die aus den Lautsprechern kommt. «Es funktioniert», sagt Trent. «Was funktioniert?» frage ich zerstreut. «Dieses Uva-Bad. Uva-Bad. Guck doch mal auf die Karte, Mann.» «Ach so, ja.» Ich schau mir die Karte an. «Die färben also die Haut, stimmt's?» «Genau.» «Okay.» Schweigen. «Und was hast du so gemacht?» fragt Trent. «Koffer ausgepackt», sage ich. «Und du?» «Also -» er lächelt stolz. «Ich bin von dieser Modellagentur angenommen worden, die ist wirklich gut», versichert er mir. «Und nun rat mal, wer in zwei Monaten auf dem Titelbild von International Male ist und dazu noch der Juni-Boy des Monats im Männerkalender vom U.C.L.A.-College?» «Na, wer?» «Ich natürlich, Mann.» «International Male?» «Ja. Du, ich mag die Zeitschrift eigentlich nicht. Mein Agent 14
hat denen gleich gesagt, keine Nacktaufnahmen, nur Sportmode, Badehosen und so. Ich mach keine Nacktaufnahmen.» Ich glaube ihm, weiß aber selbst nicht so recht warum und seh mich ein bißchen in der Gegend um, für den Fall, daß Rip, mein Dealer, hier auftaucht. Aber er ist nirgendwo in Sicht, und ich drehe mich wieder zu Trent um und frage ihn: «Also, was hast du sonst noch getrieben?» «Ach, das übliche halt. Bißchen Bodybuilding, hab mich 'n paarmal vollgedröhnt, bei diesem Uva-Dings war ich auch ... Aber hör mal, erzähl das keinem, daß ich dort war, verstehst du?» «Was meinst du?» «Du sollst niemand was von diesem Uva-Studio erzählen.» Trent sieht nervös aus, schon fast besorgt, und ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und drücke ihn ein bißchen, zur Beruhigung. «Klar doch, das bleibt unter uns.» «He», sagt er und guckt sich dabei um. «Ich hab da noch 'n kleines Geschäft zu erledigen. Bis später denn. Wollen wir mal zusammen essen?» sagt er, ohne eine Antwort zu erwarten, und geht weg. Daniel kommt mit dem Punsch zurück, und der ist sehr rot und sehr stark, und nach dem ersten Schluck muß ich ein bißchen husten. Von da aus, wo ich stehe, kann ich Blairs Vater sehen, den Filmproduzenten. Er sitzt in einer Ecke vom Studio und unterhält sich mit einem jungen Schauspieler, mit dem ich zur Schule gegangen bin, glaube ich wenigstens. Der Freund von Blairs Vater ist auch da. Er heißt Jared und ist sehr jung und blond und braungebrannt und hat blaue Augen und unglaublich gerade, weiße Zähne, und er redet mit den drei Jungen von der U.S.C. Ich kann auch Blairs Mutter sehen, die an der Bar sitzt und einen Wodka-Gimlet trinkt. Ihre Hand zittert, während sie das Glas zum Mund führt. Blairs Freundin Alana kommt ins Studio und umarmt mich, und ich mache sie mit Daniel bekannt. «Du siehst echt genauso aus wie David Bowie», sagt Alana, die offenbar voll zugekokst ist, zu Daniel. «Bist du zufällig Linkshänder?» «Nein, leider nicht», sagt Daniel. 15
«Alana steht auf Linkshänder», teile ich Daniel mit. «Und auf Typen, die wie David Bowie aussehen», fügt sie hinzu. «Und in der Colony wohnen», sage ich, um das Thema zu beenden. «Ach Clay, was bist du doch für ein Herzchen», sagt sie kichernd. «Clay ist ein totales Herzchen», wiederholt sie, an Daniel gerichtet. «Ja, weiß ich», sagt Daniel. «Ein Herzchen. Absolut richtig.» «Hast du schon was von dem Punsch getrunken? Solltest du unbedingt», sage ich zu ihr. «Ach Schätzchen», antwortet sie langsam und mit gewissem Sinn für Dramatik. «Ich hab den Punsch gemacht.» Sie lacht und entdeckt dann Jared und wird auf einmal ernst. «Ach Gott, warum muß Blairs Vater diesen Jared überhaupt zu solchen Dingern einladen? Kein Wunder, daß ihre Mutter total ausflippt. Die säuft sich doch sowieso schon dauernd die Hucke voll, aber wenn Jared auch noch hier ist, wird's ganz schlimm.» Sie dreht sich zu Daniel um und sagt: «Blairs Mutter leidet unter Platzangst.» Sie schaut wieder zu Jared hinüber. «Ich meine, er ist nächste Woche sowieso im Dead Valley, zu Außenaufnahmen. Warum kann er denn nicht bis dahin warten, versteht ihr das?» Alana wendet sich an Daniel, dann an mich. «Nein», sagt Daniel ganz ernst. «Ich auch nicht», sage ich und schüttel den Kopf. Alana schaut auf den Boden und dann rüber zu mir und sagt: «Irgendwie siehst du blaß aus, Clay. Du solltest mal zum Strand gehen oder so.» «Mach ich vielleicht auch.» Meine Finger berühren die Karte, die Trent mir gegeben hat, und dann frage ich sie, ob Julian noch vorbeikommt. «Er hat bei mir angerufen und eine Nachricht hinterlassen, aber ich kann ihn nicht erreichen», sage ich. «O nein», sagt Alana. «Ich hab irgendwo gehört, daß er total am Arsch sein soll.» «Was meinst du damit?» frage ich. Plötzlich brechen die drei Jungen von der U.S.C. und Jared in lautes Gelächter aus, alle im selben Moment. 16
Alana rollt die Augen und macht einen gequälten Eindruck. «Jared kennt diesen blöden Witz von seinem Freund, weißt du, von dem, der bei Morton's arbeitet: Was sind die beiden größten Lügen der Welt? Ich zahl dir die Schulden zurück, und ich spritz nicht in deinem Mund ab. Was daran witzig sein soll ... O Gott, ich werd mal lieber Blair helfen gehen. Ihre Mama verschwindet schon hinter der Bar. War nett, dich kennenzulernen, Daniel.» «Ebenfalls», sagt Daniel. Alana geht rüber an die Bar, zu Blair und ihrer Mutter. «Vielleicht hätt ich ein paar Takte von ‹Let's Dance› summen sollen», meint Daniel. «Tja, vielleicht.» Daniel lächelt. «Ach Clay, du bist wirklich ein Herzchen.» Wir gehen, nachdem Trent und einer der U.S.C.-Studenten in den Wohnzimmer-Christbaum gefallen sind. Eine ganze Weile später sitzen wir am hintersten Ende der verdunkelten Bar in der Polo Lounge, und keiner von uns beiden ist besonders redselig. «Ich will wieder zurück», sagt Daniel leise und mit Mühe. «Wohin?» frage ich ganz unsicher. Danach schweigen wir beide ziemlich lange, und das macht mich richtig fertig, und Daniel trinkt sein Glas leer und fummelt an der Sonnenbrille herum, die er immer noch aufhat, und sagt: «Ich weiß auch nicht. Einfach zurück.»
Meine Mutter und ich sitzen in einem Restaurant in Melrose, und sie trinkt Weißwein und hat immer noch ihre Sonnenbrille auf und faßt sich dauernd an ihre Haare, und ich schaue die ganze Zeit auf meine Hände. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie zittern. Meine Mutter versucht zu lächeln, als sie mich fragt, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Es kostet mich richtig Mühe, meinen Kopf zu heben und sie anzusehen, und das erstaunt mich. «Nichts», sage ich. 17
Nach einer Pause frage ich sie: «Und was möchtest du?» Lange Zeit antwortet sie nicht, und ich schaue wieder meine Hände an, und sie trinkt ab und zu einen Schluck Wein. «Ich weiß auch nicht. Ich möchte einfach ein schönes 'Weihnachtsfest.» Ich sage nichts. «Du siehst unglücklich aus», sagt sie auf einmal. «Bin ich aber nicht», antworte ich ihr. «Du siehst unglücklich aus», sagt sie, aber diesmal etwas leiser. Wieder faßt sie sich an ihre gebleichten, blondierten Haare. «Du aber auch», antworte ich und hoffe, daß sie darauf nichts mehr sagt. Sie sagt darauf nichts mehr, bis sie ihr drittes Glas Wein ausgetrunken und das vierte eingegossen hat. «Wie war die Party?» «Ganz gut.» «Wie viele Leute waren da?» «Vierzig. Oder fünfzig.» Ich zucke die Achseln. Sie nimmt einen großen Schluck Wein. «Wann bist du weggegangen?» «Weiß ich nicht mehr.» «Um eins? Um zwei?» «War wohl eher eins.» «Ah.» Wieder macht sie eine Pause und trinkt einen tüchtigen Schluck. «Es war nicht so besonders», sage ich und sehe sie dabei an. «Warum nicht?» fragt sie neugierig. «Was weiß ich», sage ich und schaue wieder auf meine Hände.
Trent
und ich sitzen in einem Schnellimbiß auf dem Sunset
Boulevard. Trent raucht und trinkt eine Pepsi, und ich stiere aus dem Fenster, direkt in die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos. Wir warten auf Julian, der ein Gramm für Trent mitbringen soll. Julian hat sich schon um eine Viertelstunde verspätet, und Trent wird allmählich nervös und ungeduldig, und als ich ihm 18
sage, er soll es wie ich machen und sich sein Zeug bei Rip besorgen statt bei Julian, zuckt er bloß die Achseln. Schließlich gehen wir, und er meint, daß wir Julian vielleicht in der Spielhalle in Westwood finden könnten. Aber wir finden Julian nicht in der Spielhalle in Westwood, und daraufhin schlägt Trent vor, zu Fatburger zu gehen und dort etwas zu essen. Er sagt, daß er Hunger hat, daß er schon sehr lange nichts mehr gegessen hat, macht irgendeine Bemerkung über Fasten. Wir bestellen uns was und nehmen das Essen zu unserem Tisch mit. Aber ich bin nicht besonders hungrig, und Trent fällt auf, daß ich keinen Chili auf meinem Fatburger habe. «Was soll denn das? Du kannst doch keinen Fatburger ohne Chili essen.» Ich verdrehe bloß meine Augen und zünde mir eine Zigarette an. «O Mann, du tickst auch nicht mehr richtig. Du bist schon zu lange in diesem dämlichen New Hampshire gewesen», murmelt er. «Frißt nicht mal mehr Chili.» Ich sage gar nichts. Mir fällt auf, daß der Raum frisch gestrichen ist, in einem sehr hellen Gelb, das den Augen schon beinahe weh tut. Unter dem grellen Schein der fluoreszierenden Lichter scheinen die Wände direkt zu glühen. In der Musikbox läuft «Crimson and Clover», von Joan Jett und den Blackhearts. Ich starre die Wände an und höre der Musik zu. «Crimson and clover, over and over and over and over ...» Plötzlich bekomme ich Durst, aber ich habe keine Lust, zur Theke zu gehen und mir was zu bestellen, denn dort bedient ein fettes japanisches Mädchen, das ganz traurig aussieht und daneben, gegen eine dieser gelben Wände gelehnt, steht so 'ne Art von Wachmann, der alle Leute mißtrauisch beäugt, und Trent glotzt immer noch meinen Fatburger an, mit einem total erstaunten Ausdruck, und am Tisch neben uns hockt ein Typ in rotem Hemd mit langen strähnigen Haaren, der so tut, als ob er Gitarre spielen und Crimson and Clover mitsingen würde, aber kein Ton kommt aus seinem Mund, und plötzlich fängt er an, mit dem Kopf zu wackeln, und reißt den Mund auf. «-Crimson and clover, over and over and over and over ... Crimson and clo-oh-ver ...» 19
Es ist zwei Uhr morgens und heiß, und wir sind in einer Disco namens Edge, im Hinterzimmer, und Trent probiert meine Sonnenbrille an, und ich sage ihm, daß ich gehen möchte. Trent meint, wir würden gleich gehen, in ein paar Minuten vielleicht. Die Musik von der Tanzfläche ist mir zu laut, und ich zucke jedesmal zusammen, wenn ein Song aufhört und ein neuer beginnt. Ich lehne mich an die Backsteinmauer und beobachte, wie sich zwei Jungen in einer besonders finsteren Ecke umarmen. Trent scheint zu merken, wie verkrampft ich bin und sagt: «Was willst du denn von mir? Willste einen Downer oder was?» Er holt eine Pez-Box hervor und zieht den Donald-Duck-Kopf zurück, der als Verschluß draufsitzt. Ich sage nichts, sondern starre nur die Pez-Box an, und schließlich steckt er sie weg und macht den Hals lang. «Ist das Muriel da?» «Nee, das Mädchen ist doch schwarz.» «Oh ... stimmt.» Pause. «Das ist ja gar kein Mädchen.» Ich frage mich, wie Trent einen schwarzen Jungen, der nicht magersüchtig ist, für Muriel halten kann, aber dann bemerke ich, daß dieser Schwarze ein Kleid trägt. Ich sehe Trent an und sage ihm noch mal, daß ich jetzt gehen muß. «Ja, wir müssen alle gehen», sagt er. «Du wiederholst dich.» Also starre ich meine Schuhe an, und Trent findet endlich etwas, das er mir noch sagen kann: «Du nervst.» Ich starre weiter auf meine Schuhe, obwohl es mich reizt, ihn zu fragen, ob er mir noch mal seine Pez-Box zeigt. Trent sagt: «Ach Scheiße, such Blair, machen wir, daß wir hier rauskommen.» Ich will nicht mehr zur Tanzfläche zurückgehen, aber dann wird mir klar, daß man nur über die Tanzfläche zum Ausgang kommt. Ich entdecke Daniel, der sich mit einem richtig hübschen, braungebrannten Mädchen unterhält. Sie trägt ein Heaven T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln und einen schwarzweißen Minirock, und ich flüstere Daniel zu, daß wir gehen wollen, und er sieht mich direkt giftig an und sagt: «Mach mich bloß 20
nicht an.» Schließlich reiße ich ihn am Arm und sage ihm, daß er total besoffen ist, und er fragt mich, ob ich spinne. Er küßt das Mädchen auf die Schläfe und folgt uns zum Ausgang, wo Blair steht und sich mit einem Typen von der U.S.C. unterhält. «Gehen wir oder was?» fragt sie. «Ja», sage ich und überlege, wo sie wohl die ganze Zeit gesteckt hat. Wir gehen hinaus in die warme Nacht, und Blair fragt: «Na, gut amüsiert?», und niemand sagt etwas dazu, und sie schaut auf den Boden. Trent und Daniel stehen neben Trents BMW, und Trent holt ein Heftchen mit der Inhaltsangabe von dieser Faulknernovelle, Als ich im Sterben lag, aus dem Handschuhfach und überreicht es Blair. Wir verabschieden uns und warten noch solange, bis Daniel in sein Auto eingestiegen ist. Trent meint, daß vielleicht einer von uns Daniel nach Hause fahren sollte, aber er sieht dann ein, daß es viel zu nervig wäre, ihn erst nach Hause und morgen wieder herzufahren. Und ich fahre Blair heim nach Beverly Hills, und sie spielt mit diesem Faulknerheftchen, aber sagt nichts, außer einmal, als sie versucht, sich den Stempel von ihrer Hand zu rubbeln, da sagt sie: «Verdammte Scheiße. Wenn sie doch bloß nicht immer schwarze Farbe zum Stempeln nehmen würden. Das krieg ich nie runter.» Und dann macht sie eine Bemerkung darüber, daß ich sie nie angerufen habe, obwohl ich vier Monate lang weg war. Ich sage ihr, daß es mir leid tut, und dann biege ich vom Hollywood Boulevard ab, weil er zu hell beleuchtet ist, und fahre statt dessen über den Sunset, und dann kommen wir zu ihrer Straße und zu ihrer Einfahrt. Wir küssen uns, und sie merkt, daß ich das Lenkrad zu fest gehalten habe, und sie schaut meine Fäuste an und sagt: «Du hast rote Hände» und steigt dann aus. 21
Den halben Vormittag und den halben Nachmittag sind wir in Beverly Hills gewesen, zum Einkaufen. Meine Mutter und meine beiden Schwestern und ich. Meine Mutter war vermutlich fast die ganze Zeit bei Neiman-Marcus, und meine Schwestern haben mit der Kundenkreditkarte von meinem Vater etwas für ihn und für mich bei Jerry Magnin gekauft, und dann waren sie bei MGA und Camp Beverly Hills und Privilege, um sich selber was zu kaufen. Ich hänge schon seit Stunden an der Bar von der La Scala Boutique rum, gelangweilt bis zum Geht-nicht-mehr, rauche und trinke Rotwein. Endlich fährt meine Mutter in ihrem Mercedes vor und hält am Eingang von der La Scala und wartet auf mich. Ich stehe auf und lasse ein bißchen Geld auf der Theke liegen und steige in ihr Auto ein und lehne meinen Kopf ins Polster zurück. «Die ist doch mit diesem Halbidioten zusammen», sagt eine meiner Schwestern gerade. «In welche Schule geht der?» fragt die andere interessiert. «Harvard.» «Welche Klasse?» «Neunte. Er ist ein Jahr weiter.» «Ich habe gehört, daß deren Haus zu verkaufen sein soll», sagt meine Mutter. «Ob er selber wohl zu verkaufen ist», murmelt die ältere von meinen zwei Schwestern, die glaube ich fünfzehn ist, und beide kichern auf dem Rücksitz. Ein Lastwagen fährt vorbei. Er ist mit Videospielen beladen, und meine Schwestern steigern sich in eine Art Ekstase rein. «Los, fahr hinterher!» kommandiert eine von ihnen. «Mom, glaubst du, daß mir Daddy ein Galaga zu Weihnachten schenkt, wenn ich ihn drum bitte?» fragt die andere und bürstet sich ihre kurzen blonden Haare. Ich glaube, sie ist ungefähr dreizehn. «Was ist ein Galaga ?» fragt meine Mutter. «Ein Videospiel», sagt eine von beiden. «Aber ihr habt doch Atari», wendet meine Mutter ein. «Atari ist 'n Billigteil», sagt sie und reicht die Bürste meiner anderen Schwester, die auch blonde Haare hat. 22
«Ich weiß nicht recht», sagt meine Mutter, rückt ihre Sonnenbrille gerade und macht das Schiebedach auf. «Ich treffe mich heute abend zum Essen mit ihm.» «Na, dann kann man ja noch hoffen», sagt meine ältere Schwester sarkastisch. «Wohin würden wir's denn überhaupt stellen?» fragt eine von ihnen. «Was stellen?» fragt meine Mutter. «Galaga! Galaga!» brüllt meine Schwester. «In Clays Zimmer vielleicht», sagt meine Mutter. Ich schüttle den Kopf. «Ach Scheiße! Das läuft nicht», schreit eine von ihnen. «Clay darf das Galaga auf keinen Fall in seinem Zimmer haben. Der schließt doch immer ab.» «Genau, Clay, das macht mich echt sauer», sagt eine von ihnen mit einem richtig scharfen Unterton. «Warum schließt du denn eigentlich dauernd ab, hä?» Ich antworte nicht. «Warum schließt du immer ab?», wiederholt eine von beiden, ich weiß nicht welche. Ich sage immer noch nichts. Ich spielt mit dem Gedanken, einfach eine der Tüten von MGA oder Camp Beverly Hüls oder eine Schuhschachtel von Privilege zu nehmen und sie aus dem Fenster zu schmeißen. «Mom, sag ihm, daß er mir antworten soll. Warum schließt du immer deine Tür ab, Clay?» Ich drehe mich um. «Weil ihr beide mir das letzte Mal, als meine Tür offen war, ein Viertelgramm Kokain gestohlen habt. Darum.» Meine Schwestern sagen überhaupt nichts. Teenage Enema Nurses In Bondage, «Gefesselte junge Krankenschwestern mit Klistierspritze», heißt der Song von einer Gruppe namens Killer Pussy, der gerade im Radio läuft, und meine Mutter fragt, ob wir uns so was eigentlich anhören müssen, und meine Schwestern fordern sie auf, das Radio lauter zu stellen, und niemand sagt mehr etwas, bis der Song zu Ende ist. Als wir zu Hause ankommen, sagt meine jüngere Schwester schließlich draußen am Pool 23
zu mir: «So ein Scheißgeschwätz. Ich kann mir mein eigenes Kokain besorgen.»
Der
Psychiater, zu dem ich in diesen vier Wochen in L.A.
gehe, ist jung und hat einen Bart und fährt einen 450er SL und hat ein Haus in Malibu. Ab und zu sitze ich nun in seinem Büro in Westwood; die Jalousien sind runtergezogen, und ich habe meine Sonnenbrille auf, rauche, manchmal auch eine von diesen penetrant süßlichen Nelkenzigaretten, nur um ihn zu irritieren, manchmal weine ich auch. Manchmal schreie ich ihn an, und er schreit zurück. Ich erzähle ihm zum Beispiel, daß ich solche eigenartigen sexuellen Phantasien habe, und dann steigert sich sein Interesse auffällig. Oder ich fange grundlos an zu lachen, und dann wird mir schlecht. Manchmal lüge ich ihn an. Er erzählt mir auch mal von seiner Geliebten und den Reparaturen, die er an seinem Haus in Tahoe vornehmen läßt, und ich mache die Augen zu und zünde mir noch eine Zigarette an und beiße die Zähne zusammen. Manchmal stehe ich einfach auf und gehe.
Ich
sitze in einem Restaurant namens Du-par's, im Stadtteil
Studio City. Ich warte auf Blair und Alana und Kim. Sie hatten mich angerufen und gefragt, ob ich mit ihnen ins Kino gehen wollte, aber ich hatte am frühen Nachmittag etwas Valium genommen und war eingeschlafen, und deswegen konnte ich es nicht schaffen, sie rechtzeitig im Kino zu treffen. Also sagte ich ihnen, ich würde im Du-par's auf sie warten. Ich sitze an einem Tisch in der Nähe eines großen Fensters, und ich bitte die Kellnerin um eine Tasse Kaffee, aber sie bringt mir nichts, und sie hat schon damit angefangen, den Tisch neben mir abzuwischen und die Bestellung von einem anderen Tisch aufzunehmen. Doch es macht mir nichts, daß ich keinen Kaffee bekomme, weil meine 24
Hände ziemlich böse zittern. Ich zünde mir eine Zigarette an und betrachte die üppige Weihnachtsdekoration über der großen Theke. Ein neonbestrahlter Plastik-Weihnachtsmann hält eine Zuckertüte aus Styropor, die bestimmt einen Meter lang ist, und daran lehnen eine Menge großer grüner und roter Schachteln, und ich frage mich, ob in diesen Schachteln wohl etwas drin ist. Plötzlich habe ich direkten Augenkontakt mit einem kleinen, dunklen, schrill aussehenden Typen, der ein Universal Studios T-Shirt trägt und zwei Tische weiter sitzt. Er starrt mich an, und ich sehe weg und ziehe an meiner Zigarette und inhaliere tief. Der Mann starrt mich weiter an, und ich kann nichts anderes denken als: entweder sieht er mich nicht oder ich bin überhaupt nicht hier. Ich weiß auch nicht, warum ich so was denke. Die Leute werden auch immer rücksichtsloser. Ob er wohl zu verkaufen ist. Plötzlich küßt mich Blair auf die Schläfe und setzt sich zusammen mit Alana und Kim an den Tisch. Blair erzählt mir, daß Muriel heute ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wegen ihrer Magersucht. «Sie ist mitten im Filmseminar ohnmächtig geworden. Da haben sie sie zum Cedars-Sinai gebracht. Das liegt nun wirklich nicht besonders nah an der U.S.C.», sagt Blair hastig und zündet sich eine Zigarette an. Kim trägt eine rosa Sonnenbrille, und sie macht sich auch eine an, und dann will Alana auch noch eine. «Du kommst doch auf jeden Fall zu Kims Party, Clay?» fragt Alana. «Ach ja, Clay. Du mußt einfach», sagt Kim. «Wann soll die denn sein?» frage ich, wohl wissend, daß Kim dauernd solche Parties gibt, einmal pro Woche oder so. «Irgendwann gegen Ende nächster Woche», erzählt sie mir, aber ich ahne schon, daß sie damit wahrscheinlich «morgen» meint. «Ich weiß nicht, mit wem ich hingehen soll», sagt Alana plötzlich. «Verdamte Scheiße, ich weiß einfach nicht, mit wem ich hingehen soll.» Sie macht eine Pause. «Und das fällt mir jetzt erst ein.» «Was ist denn mit Cliff? Wolltest du nicht mit Cliff gehen?» fragt Blair. 25
«Ich gehe mit Cliff», sagt Kim und sieht dabei Blair an. «Ach ja, stimmt», sagt Blair. «Also gut, wenn du mit Cliff gehst, dann geh ich mit Warren», sagt Alana. «Aber ich dachte, du wärst mit Warren zusammen», sagt Kim zu Blair. Ich werfe einen Blick auf Blair. «Ja, früher mal, aber ich bin nicht mit Warren ‹zusammen›, sagt Blair ein bißchen nervös. «Stimmt ja gar nicht. Du hast mit ihm gebumst, aber du warst überhaupt nie mit ihm ‹zusammen›», sagt Alana. «Na ja, wie dem auch sei», sagt Blair, blättert die Speisekarte durch, sieht kurz zu mir rüber und dann wieder weg. «Hast du mit Warren gepennt?» fragt Kim Alana. Alana schaut erst rüber zu Blair, dann zu Kim und dann zu mir und sagt: «Nee. Hab ich nicht.» Sie schaut wieder rüber zu Blair und dann zu Kim. «Und was ist mit dir?» «Ich auch nicht, aber ich dachte, Cliff hätte mit Warren gepennt», sagt Kim. Sie wirkt ein bißchen verwirrt. «Da könnte was dran sein, aber ich dachte, Cliff hätte mit dieser widerlichen Tante aus dem Valley gepennt, die jetzt einen auf Punk macht. Didi Hellman», sagt Blair. «Nee, das kann nicht angehen. Wer hat dir denn das erzählt?» will Alana wissen. In diesem Moment kommt mir der Gedanke, daß ich vielleicht mit Didi Hellmann geschlafen habe. Außerdem kommt mir der Gedanke, daß ich vielleicht auch mit Warren geschlafen habe. Ich sage nichts dazu. Die anderen wissen es wahrscheinlich sowieso. «Didi selbst», sagt Blair. «Hat sie dir das etwa nicht erzählt?» «Nein», sagt Kim. «Kein Wort.» «Mir auch nicht», sagt Alana. «Na, mir hat sie's jedenfalls erzählt», sagt Blair. «Ach, was die so alles labert. Die hat doch sowieso keine Ahnung», sagt Alana mit gequältem Ausdruck. Blair denkt einen Moment lang darüber nach und sagt dann langsam und mit ruhiger Stimme: «Wenn Cliff mit Didi gepennt hat, dann hatte er auch was mit diesem ... Raoul.» 26
«Wer ist denn Raoul?» fragen Alana und Kim im selben Moment. Ich öffne meine Speisekarte und tu so, als würde ich mir was aussuchen. Dabei überlege ich, ob ich wohl mit Raoul geschlafen habe. Der Name kommt mir bekannt vor. «Didis anderer Freund. Sie hat schon immer auf diese abartigen Dreier gestanden. Einfach albern so was», sagt Blair und klappt ihre Speisekarte zu. «Didi ist albern», sagt Alana. «Raoul ist ein Schwarzer, oder?» fragt Kim nach einer Weile. Ich habe nicht mit Raoul geschlafen. «Ja. Wieso?» «Weil ich ihn, glaub ich, mal auf einer Musikerparty getroffen habe, im Roxy.» «Ich dachte, er hätte sich 'ne Überdosis verpaßt.» «Nee, nee. Der ist wirklich Zucker. Also, ich würde sagen, er ist der gutaussehenste schwarze Typ, der mir je über den Weg gelaufen ist», sagt Blair. Alana und Kim nicken zustimmend. Ich klappe meine Speisekarte zu. «Aber der soll doch schwul sein», sagt Kim und macht eine bekümmerte Miene. «Wer? Cliff?» fragt Blair. «Nein, Raoul.» «Der ist bi. Bi», sagt Blair und fügt dann etwas unsicher hinzu: «Glaub ich jedenfalls.» «Ich glaube nicht, daß er überhaupt mal mit Didi gepennt hat», sagt Alana. «Na ja, ich glaub's eigentlich auch nicht», sagt Blair. «Und wieso ist sie dann bitte mit ihm gegangen?» «Sie hat es wohl für schick gehalten, einen schwarzen Freund zu haben», sagt Blair, der das Thema allmählich langweilig wird. «Der reinste Schundroman», sagt Alana und tut so, als müßte sie sich vor Ekel schütteln. Eine Weile sind alle drei still, und dann sagt Kim: «Ich hatte echt keine Ahnung, daß Cliff mit Raoul gepennt hat.» «Es gibt wohl kaum jemand, mit dem Cliff noch nicht im Bett 27
war», sagt Alana und verdreht dabei die Augen, und Kim und Blair fangen an zu lachen. Blair sieht mich an, und ich versuche zu lächeln, und dann kommt die Bedienung und nimmt unsere Bestellung entgegen.
Wie ich es geahnt habe, findet heute abend Kims Party statt. Trent trägt einen Schlips, als er mich abholen kommt und meint, daß ich mir auch einen umbinden soll, und ich hole einen roten aus dem Schrank. Als wir dann kurz bei San Pietro halten, um vor der Party noch schnell was zu essen, entdeckt Trent sein Spiegelbild in einem Fenster und schneidet sich eine Grimasse und nimmt seinen Schlips ab und meint, daß ich meinen auch abnehmen soll, was mir nur recht ist, denn nachher auf der Party hat kein Mensch einen um. Auf Kims Party, die bei ihr zu Hause in Holmby Hills stattfindet, unterhalte ich mich mit einer Menge Leute, die mir was über die Anzüge erzählen, die sie bei Fred Segal erstanden haben und über Karten für irgendwelche Rockkonzerte, und ich kann hören, wie Trent überall rumerzählt, wie toll es bei der Studentenverbindung an der U.C.L.A. ist, zu der er seit neuestem gehört. Ich unterhalte mich auch mit Pierce, einem Freund aus meiner alten High School, und entschuldige mich dafür, daß ich ihn noch nicht angerufen habe, seit ich wieder da bin, und er meint, daß es nicht so schlimm ist, und daß ich blaß aussehe, und daß ihm jemand seinen neuen BMW, das Examensgeschenk von seinem Vater, geklaut hat. Auch Julian ist zu der Party gekommen, und er sieht nicht so fertig aus, wie Alana behauptet hat: immer noch gebräunt, immer noch blond, vielleicht etwas mager, aber ansonsten macht er einen guten Eindruck. Julian entschuldigt sich bei Trent dafür, daß er ihn kürzlich abends bei Carney's verpaßt hat, es sei ihm was dazwischengekommen, und ich stehe direkt neben Trent, der gerade seinen dritten Gin-Tonic leergemacht hat, und höre, wie er sagt: «Ich find's echt zum Kotzen, wie wenig man sich auf dich verlassen kann», und ich drehe mich 28
weg und überlege, ob ich Julian fragen soll, was er wollte, als er bei mir angerufen und eine Nachricht hinterlassen hat, aber als ich seinen Blick erwidere und wir uns schon fast begrüßt hätten, schaut er weg und geht ins Wohnzimmer. Blair kommt zu mir herübergetanzt und singt den Song mit, der gerade läuft: Do You Really Want to Hurt Me, «Willst du mir wirklich wehtun», wahrscheinlich ist sie total zugekifft, und sie sagt, daß ich glücklich aussehe und daß ich gut aussehe, und sie überreicht mir eine Schachtel von Jerry Magnin und flüstert «Frohe Weihnachten, du Traumprinz» in mein Ohr und küßt mich. Ich mache die Schachtel auf. Es ist ein Schal. Ich bedanke mich bei ihr und sage, daß er sehr hübsch ist. Sie fordert mich auf, ihn mir um den Hals zu legen, um zu sehen, ob er paßt, und ich sage ihr, daß Schals normalerweise jedem passen. Aber sie besteht darauf, und ich lege mir den Schal um, und sie lächelt und murmelt «perfekt» und geht zurück zur Bar, um sich einen Drink zu holen. Ich stehe ganz allein in einer Ecke vom Wohnzimmer, mit dem Schal um den Hals, und sehe auf einmal Rip, meinen Dealer, und bin total erleichtert. Rip trägt so einen dicken, unförmigen Anzug, den er vermutlich bei Parachute, dem Fallschirmsportladen, gekauft hat, und einen teuren schwarzen Filzhut, und während er auf mich zusteuert, fragt ihn Trent, ob er Fallschirmspringen war. «Warste Fallschirmspringen? Kapierste?» sagt Trent kichernd. Rip glotzt Trent einfach nur an, bis Trent aufhört zu kichern. Julian kommt ins Zimmer zurück, und ich will gerade zu ihm rübergehen und ihn begrüßen, aber da packt mich Rip an meinem Schal und zieht mich in ein leeres Zimmer. Mir fällt auf, daß überhaupt keine Möbel darin sind, ich möchte wissen warum, und dann schlägt mir Rip leicht auf die Schulter und fängt an zu lachen. «Na, wie isses dir in der bösen weiten Welt ergangen?» «Echt gut», sage ich. «Wieso sind hier keine Möbel?» «Kim zieht um», sagt er. «Vielen Dank, daß du mich zurückgerufen hast, du Sack.» Ich weiß, daß Rip noch nicht mal versucht hat, mich anzuru29
fen, aber ich sage: «Tut mir leid, ich bin erst seit etwa vier Tagen wieder hier und ... Ich weiß nicht ... Aber ich hab schon nach dir gesucht.» «Tja, hier bin ich. Also, was kann ich für dich tun, Mann?» «Was hast du denn da?» «Was für Fächer studierste denn so?» fragt Rip, der offenbar keine rechte Lust hat, meine Frage zu beantworten. Er holt zwei kleine gefaltete Umschläge aus einer Hosentasche. «Ich mach einen Kunstkurs und einen Schreibkurs und so einen Musikkurs -» «Musikkurs?» unterbricht mich Rip; dabei tut er ganz aufgeregt. «Hast du irgendwas komponiert?» «Ja, also, ein paar Sachen.» Ich greife in meine Gesäßtasche, um den Geldbeutel rauszuholen. «He, ich hab da einige Texte. Na, komponier doch noch was, und dann sacken wir die Millionen ein.» «Was für Millionen?» «Gehst du zurück?» fragt Rip ganz cool. Ich antworte nicht, sondern schaue bloß auf das halbe Gramm, das er auf einen Taschenspiegel geschüttet hat. «Oder bleibst du einfach da, im schönen Cali-for-nia.» Rip lacht und macht sich eine Zigarette an. Mit einer Rasierklinge zerteilt er das Häufchen in vier dicke Linien, und dann gibt er mir einen zusammengerollten Zwanziger, und ich beuge mich vor und ziehe mir eine rein. «Wohin?» frage ich, hebe den Kopf und schniefe laut. «Ach Gott», sagt Rip, während er sich vorbeugt. «Zum College, du Arsch.» «Weiß nicht. Aber ich denke schon.» «Du denkst also, soso.» Er zieht sich gleich seine beiden Teile rein, echt viel auf einmal, und gibt mir dann wieder den Zwanziger. «Tja», ich zucke die Achseln und beuge mich wieder vor. «Ein hübscher Schal. Wirklich hübsch. Ich glaube, Blair mag dich immer noch», sagt Rip lächelnd. «Ja, glaub ich schon», sage ich und ziehe mir meine zweite Portion rein. 30
«Das glaubst du, das glaubst du», sagt Rip lachend. Ich grinse und zucke noch mal die Achseln. «Das Zeug ist gut. Kann ich ein Gramm haben?» «Bitte sehr, Mann.» Er überreicht mir einen der kleinen Umschläge. Ich gebe ihm zwei Fünfziger und einen Zwanziger, und er gibt mir den Zwanziger zurück und sagt: «Kleines Weihnachtsgeschenk.» «Vielen Dank, Rip.» «Ich glaube, du solltest wirklich zurückgehen»,sagt er und steckt das Geld ein. «Laß dich nicht kaputtmachen. Werd bloß kein Penner.» «So wie du?» Sofort bereue ich diese Bemerkung. Das hatte ich nicht sagen wollen. «So wie ich, Mann», sagt Rip etwas weniger cool. «Ich weiß noch gar nicht, ob ich Lust dazu habe», sage ich zögernd. «Was soll das heißen, du weißt nicht, ob du Lust dazu hast?» «Ich weiß nicht. Da drüben im Osten ist es auch nicht viel anders als hier.» Rip wird allmählich unruhig, und ich kriege das Gefühl, daß es für ihn keine allzugroße Rolle spielt, ob ich bleibe oder wieder weggehe. «Hör mal, du hast doch lange Ferien? 'n ganzen Monat, stimmt's?» «Ja. Vier Wochen genau.» «Also 'n Monat. Überleg's dir.» «Mach ich.» Rip geht zum Fenster hinüber. «Arbeitest du noch als Disjockey?» frage ich und zünde mir eine Zigarette an. «Nee, die Zeiten sind vorbei.» Er fährt mit dem Finger über den Spiegel und reibt ihn über seine Zähne und das Zahnfleisch, dann verstaut er den Spiegel wieder in der Tasche. «Mit der Stiftung läuft's jetzt wirklich gut. Sollte irgendwann kein Geld mehr kommen, würde ich wahrscheinlich auch wieder Disjockey machen. Da gibt's nur ein Problem: ich glaube, das Geld trudelt ein 31
bis in alle Ewigkeiten.» Er lacht. «Ich hab jetzt ein total geiles Penthouse in Wilshire. Ganz toll.» «Ja?» «Echt. Du mußt mal vorbeikommen.» «Mach ich.» Rip setzt sich aufs Fensterbrett und sagt: «Ich glaube, Alana will mit mir bumsen. Was denkst du?» Ich sage überhaupt nichts. Ich wüßte allerdings nicht warum, denn Rip sieht David Bowie nicht im geringsten ähnlich, ist kein Linkshänder und wohnt auch nicht in der Colony. «Also, was meinst du, soll ich mit ihr bumsen oder was?» «Was weiß ich», sage ich. «Klar, warum nicht.» Rip läßt sich vom Fenstersims runter und sagt: «Hör mal, du mußt unbedingt zu meinem Apartment kommen. Ich hab da 'ne Raubkopie vom neuen Indiana Jones, Der Tempel des Todes. Das Teil hat mich vierhundert Dollar gekostet. Du solltest echt mal kommen, Mann.» «Ja, klar, Rip.» Wir gehen zur Tür. «Bestimmt?» «Ja, ganz bestimmt.» Als wir beide ins Wohnzimmer zurückkehren, kommen zwei Mädchen, an die ich mich nicht erinnern kann, auf mich zu, um mir zu sagen, daß ich sie anrufen soll, und die eine erinnert mich an «die Nacht im Roxy», und ich sage ihr, daß ich ziemlich viele Nächte im Roxy verbracht habe, und sie lächelt und meint, ich solle sie trotzdem anrufen. Ich weiß nicht, ob ich ihre Telefonnummer habe und gerade, als ich sie danach fragen will, kommt Alana auf mich zu und erzählt mir, daß Rip sie dauernd belästigt und ob ich dagegen nicht was unternehmen könnte? Ich antworte ihr, daß ich nicht wüßte, was. Und während Alana anfängt, mir alles über Rip zu erzählen, sehe ich zu, wie Rips Mitbewohner und Blair zusammen tanzen, direkt vor dem Weihnachtsbaum. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, und beide brechen in Lachen aus und nicken mit dem Kopf. Außerdem ist noch so ein älterer Typ da, mit eher längeren grauen Haaren und in einem Pullover von Giorgio Armani und Mokassins, der an Alana und mir vorbeigeht und anfängt, sich 32
mit Rip zu unterhalten. Einer der Jungs von der U.S.C., den ich schon auf Blairs Party gesehen habe, ist auch da, und er schaut diesen alten Knacker an - ich schätze ihn auf etwa vierzig, fünfundvierzig -, und dann dreht er sich zu einem der Mädchen um, die ich aus dem Roxy kennen soll, und schneidet eine Grimasse. Er bemerkt, daß ich ihn dabei beobachtet habe, und er grinst, und ich grinse zurück, und Alana redet immer noch auf mich ein, und glücklicherweise dreht jemand die Anlage voll auf, und Prince fängt an zu brüllen. Alana geht, weil gerade ein Song läuft, zu dem sie tanzen möchte, und der Typ von der U.S.C., Griffin, kommt auf mich zu und fragt mich, ob ich auch Champagner will. Ich sage, ja, klar, und er geht zur Bar, und ich mache mich auf die Suche nach einem Badezimmer, um mir noch ein bißchen Kokain reinzutun. Dieses Bad kann man nur von Kims Zimmer aus erreichen. Im Erdgeschoß gibt es zwar auch eins, aber da ist das Schloß kaputt. Als ich vor Kims Zimmertür ankomme, läuft Trent gerade raus und macht sie hinter sich zu. «Benutz bitte das andere Bad», sagt er. «Wieso denn?» «Weil Julian und Kim und Derf hier drin bumsen.» Ich bleibe einfach stehen. «Derf ist auch da?» frage ich. «Komm mal mit», sagt Trent. Ich gehe ihm nach, die Treppe runter, aus dem Haus und zu seinem Auto. «Steig ein», sagt er. Ich mache die Tür auf und setze mich in seinen BMW. «Was willst du eigentlich?» frage ich ihn, als er auf der Fahrerseite einsteigt. Er greift in seine Hosentasche und holt ein kleines Fläschen heraus. «Ein bissel Ko-kain», sagt er in diesem Singsang-Tonfall der Südstaatler. Ich erzähle ihm nicht, daß ich selbst welches habe, und er holt einen goldenen Löffel aus der Tasche und drückt den Löffel in das Pulver und hält ihn dann unter seine Nase und zieht viermal hintereinander. Dann drückt er eine Kassette in seinen Autore33
corder, genau dieselbe, die auch auf der Party läuft, und reicht mir Fläschchen und Löffel. Ich nehme auch vier Züge, und meine Augen fangen an zu laufen, und ich muß kräftig schlukken. Der Koks ist anders als der von Rip, und ich frage mich, ob er ihn von Julian hat. Es ist keine so gute Qualität. «Wollen wir nicht mal 'ne Woche nach Palm Springs fahren, solange du noch da bist?» schlägt er mir vor. «Ja, also, Palm Springs. Klingt gut», antworte ich. «Hör mal, ich will wieder rein.» Ich lasse Trent allein im Auto und gehe ins Haus zurück und direkt zur Bar, wo Griffin mit zwei Gläsern Champagner in der Hand steht. «Ich glaube, er ist schon ein bißchen schal», sagt er. «Wie bitte?» «Ich hab gesagt, dein Champagner ist schal geworden.» «Ach so.» Einen Moment lang weiß ich nicht, wovon er redet. «Ist schon okay.» Ich trinke ihn trotzdem, und er gießt mir das Glas wieder voll. «Schmeckt immer noch ganz gut», sagt er, nachdem er ausgetrunken und sich wieder nachgeschenkt hat. «Willst du noch mehr?» «Klar.» Ich trinke mein zweites Glas aus, und er gießt mir das dritte ein. «Danke.» «Das Mädchen, mit dem ich hergekommen bin, ist gerade mit dem Japaner weggegangen, dem mit dem English Beat T-Shirt und diesen engen weißen Hosen. Weißt du, wer er ist?» «Nein.» «Kims Friseur.» «Irre», sage ich, trinke meinen Champagner aus und schaue über den ganzen Raum hinweg Blair an. Sie erwidert meinen Blick und lächelt und zieht eine Grimasse. Ich lächle sie auch an, aber ohne das Gesicht zu verziehen. Das alles hat Griffin mitbekommen, und er sagt so laut, daß es die Musik übertönt: «Du bist also der Typ, der mit Blair geht?» «Na ja, wir sind miteinander gegangen.» «Ich dachte, ihr wärt immer noch zusammen.» «Ja, vielleicht», sage ich und schenke mir von dem Champagner nach. «Ich weiß auch nicht.» 34
«Sie redet viel über dich.» «Im Ernst? Na ja ...» Ich breche ab. Lange Zeit sagen wir beide überhaupt nichts. «Dein Schal ist gut», sagt Griffin. «Ja, gefällt er dir?» Ich leere mein Glas und gieße mir nach und frage mich, wie spät es wohl sein mag und wie lange ich schon hier bin. Das Kokain verliert allmählich seine Wirkung, und ich werde ein bißchen betrunken. Griffin holt tief Luft und sagt: «He, hast du Lust, mit zu mir zu kommen? Meine Eltern sind über Weihnachten in Rom.» Irgend jemand legt eine neue Kassette auf, und ich atme einmal tief durch und schaue das Glas mit Champagner an, das er in der Hand hält, dann trinke ich schnell aus und sage ja, warum nicht. Griffin, nur mit Jockeyhosen bekleidet, steht im Schlafzimmer, am Fenster, schaut zum Garten hinunter, zum Pool, und ich sitze auf dem Boden, mit dem Rücken an sein Bett gelehnt, gelangweilt, nüchtern, und rauche eine Zigarette. Griffin schaut mich an und zieht langsam, schwerfällig, seine Unterhose aus, und da fällt mir auf, daß die Haut darunter nicht blasser ist als der Rest, und ich frage mich warum und fange beinahe an zu lachen.
Ich wache irgendwann vor der Dämmerung auf. Mein Mund ist ganz trocken, und es tut direkt weh, als ich die Zunge vom Gaumen losmache. Ich kneife die Augen zu und versuche, wieder einzuschlafen, aber auf der Digitaluhr neben dem Bett ist es halb fünf, und erst jetzt kommt mir voll zu Bewußtsein, wo ich bin. Ich sehe zu Griffin hinüber, der auf der anderen Seite des großen Doppelbetts liegt. Ich möchte Griffin nicht wecken, und deshalb stehe ich so leise wie möglich auf und gehe ins Bad und mache die Tür hinter mir zu. Erst mal muß ich pinkeln, und dann betrachte ich mich einen Moment lang im Spiegel, nackt, und dann beuge ich mich übers Waschbecken und klatsche kaltes Wasser auf mein Gesicht. Dann betrachte ich mich noch einmal im Spiegel, 35
diesmal etwas länger. Ich gehe ins Schlafzimmer zurück und ziehe meine Unterhosen an, nachdem ich mich vergewissert habe, daß es wirklich meine sind, dann sehe ich mich im Zimmer um und drehe beinahe durch, weil ich meine Klamotten nicht finden kann. Dann fällt mir ein, daß es zuerst im Wohnzimmer losging, und ich schleiche auf Zehenspitzen durch diese riesige leere Villa, die Treppen hinunter und ins Wohnzimmer. Ich finde meine Sachen und ziehe mich schnell an. Als ich mir gerade die Hose zuknöpfen will, kommt ein schwarzes Dienstmädchen in blauem Kleid und mit Lockenwicklern im Haar an der Tür vorbei und schaut mich kurz an, ganz beiläufig, als wäre es überhaupt nichts Ungewöhnliches, wenn sich irgend ein junger Mann um fünf Uhr morgens mitten im Wohnzimmer die Hosen hochzieht. Sie verschwindet, und ich habe Schwierigkeiten, die Vordertür zu finden. Nachdem ich sie gefunden und das Haus verlassen habe, sage ich mir, daß die letzte Nacht gar nicht so schlecht war. Und ich steige in mein Auto und mache das Handschuhfach auf und tu mir noch ein bißchen Koks rein, damit ich es bis nach Hause schaffe. Dann fahre ich durch das Tor und auf den Sunset Boulevard. Ich schalte das Radio ein und drehe voll auf. Die Straßen sind total leer, und ich fahre schnell. Ich komme zu einer roten Ampel und bin drauf und dran, einfach durchzufahren, aber ich halte an, als ich eine Reklametafel bemerke, an die ich mich nicht erinnern kann, und ich schau sie mir an. Es steht bloß «Verschwinde von hier» drauf, und obwohl das wahrscheinlich nur irgendeine Werbung für ein Ferienparadies ist, wird mir ganz anders davon, und ich drücke das Gaspedal voll durch, und das Auto fährt kreischend an, als die Ampel auf Grün springt. Ich setze meine Sonnenbrille auf, obwohl es draußen immer noch ziemlich dunkel ist, und ich schaue dauernd in den Rückspiegel, weil ich das komische Gefühl habe, daß jemand hinter mir her ist. Ich komme wieder zu einer roten Ampel, und in dem Moment fällt mir ein, daß ich den Schal vergessen habe, den Blair mir geschenkt hat; der muß noch bei Griffin liegen. 36
Ich wohne im Stadtteil Mulholland, und als ich vor dem Haus ankomme und auf den Summer für das Tor drücke, schaue ich aus dem Fenster zum Valley hinüber und sehe, wie ein neuer Tag beginnt, mein fünfter Tag zu Hause, und dann biege ich auf den großen Parkplatz ein und stelle mein Auto neben das meiner Mutter, das wiederum neben einem Ferrari steht, der mir überhaupt nicht bekannt vorkommt. Ich bleibe noch einen Moment sitzen und hör mir das Ende eines Songs an und steige dann aus und gehe zum Vordereingang und finde meinen Schlüssel und mache die Tür auf. Ich gehe hoch zu meinem Zimmer und schließe hinter mir ab und zünde mir eine Zigarette an und schalte den Fernseher ein und drehe die Lautstärke weg, und dann gehe ich zum Wandschrank und finde die Valiumpackung, die ich hinter ein paar Kaschmirpullis versteckt hatte. Nachdem ich die kleine gelbe Tablette mit dem Loch in der Mitte eine Weile angeschaut habe, sage ich mir, daß ich jetzt nicht unbedingt eine brauche, und lege sie wieder weg. Ich ziehe mich aus und schaue auf die Digitaluhr, genauso eine Digitaluhr, wie Griffin sie hat, und stelle fest, daß ich nur noch wenige Stunden Zeit habe, bevor ich meinen Vater treffen muß, mit dem ich zum Mittagessen verabredet bin, und deshalb vergewissere ich mich, daß der Wecker richtig eingestellt ist und lege mich hin und starre den Fernseher mit aller Kraft an, weil ich mal gehört habe, daß man den Fernseher nur lange genug anstarren muß, um einschlafen zu können.
Der Wecker klingelt um elf. Im Radio läuft ein Song mit dem Titel Artificial Insemination — «Künstliche Befruchtung», und ich warte, bis er zu Ende ist, bevor ich die Augen öffne und aufstehe. Die Sonne knallt durch die Jalousien hindurch voll in mein Zimmer, und als ich in den Spiegel schaue, sieht mein grinsendes Gesicht irgendwie kaputt und zerrissen aus. Ich trete ganz dicht vor den Spiegel und betrachte meinen ganzen Körper; spanne die Muskeln ein paarmal an, überlege, ob ich mir die 37
Haare schneiden lassen soll, sage mir, daß ich unbedingt mehr Farbe kriegen muß. Ich drehe mich um und mache den Umschlag auf, den ich ebenfalls hinter den Pullis versteckt hatte. Ich nehme etwa zwei Portionen von dem Kokain raus, das ich gestern bei Rip gekauft habe, und zieh mir gleich beide rein und fühle mich sofort besser. Ich bin noch in Unterhosen, als ich die Treppe runtergehe. Obwohl es elf Uhr ist, glaube ich nicht, daß die anderen schon auf sind, und ich bemerke, daß die Schlafzimmertür von meiner Mutter zu ist, vermutlich abgeschlossen. Ich gehe nach draußen und springe in den Pool und schwimme ziemlich schnell zwanzig Längen, und dann steige ich wieder raus und trockne mich ab, während ich in die Küche gehe. Ich nehme mir eine Orange aus dem Kühlschrank und schäle sie auf dem Weg nach oben. Ich esse die Orange, bevor ich unter die Dusche gehe und merke dann, daß ich keine Zeit zum Gewichtheben mehr habe. Dann gehe ich in mein Zimmer und schalte MTV ein und drehe voll auf und zieh mir noch was rein, und dann fahre ich los, um meinen Vater zu treffen, mit dem ich zu Mittag essen werde.
Während der Mittagszeit fahre ich nur ungern über den Wilshire Boulevard. Mir kommt es immer zu voll vor: zuviel Autos und alte Leute und Dienstmädchen, die auf den Bus warten, und jedesmal kommt der Punkt, wo ich nichts mehr sehen will, nur noch am Rauchen bin und das Radio voll aufdrehe. Im Moment steht alles, obwohl die Ampel grün ist. Während ich darauf warte, daß es weitergeht, sehe ich mir die Leute in den Autos neben mir an. Immer wenn ich um die Mittagszeit auf dem Wilshire oder Sunset Boulevard bin, versuche ich, Augenkontakt mit dem nächstbesten Autofahrer aufzunehmen, der neben mir halten muß. Wenn mir das nicht gelingt, was meistens der Fall ist, setze ich meine Sonnenbrille wieder auf und fahre langsam ein Stückchen weiter. Als ich auf den Sunset Boulevard einbiege, komme ich an der Reklametafel vorbei, die ich heute morgen 38
gesehen habe, und auf der «Verschwinde von hier» steht, und ich sehe weg und versuche irgendwie, diesen Satz aus dem Kopf zu kriegen.
Die
Büroräume meines Vaters liegen im Stadtteil Century
City. Ich warte in der großen, teuer möblierten Eingangshalle auf ihn, rede und flirte ein bißchen mit den Sekretärinnen, vor allem mit einer sehr hübschen Blondine. Es stört mich noch nicht mal, daß mein Vater mich eine halbe Stunde warten läßt, während er noch in einer Besprechung ist, und mich dann fragt, warum ich zu spät komme. Ich habe eigentlich keine Lust, jetzt essen zu gehen, würde viel lieber am Strand sein oder schlafen oder am Pool liegen, aber ich bin nett zu ihm und lächle und nicke ziemlich oft und tu so, als würde ich mir alle seine Fragen über das College genau anhören, und ich beantworte sie sogar ziemlich ernsthaft. Und es geniert mich auch nicht allzusehr, daß er auf dem Weg zum Restaurant, dem Ma Maison, das Verdeck von seinem 450er runterklappt und eine Bob Seeger-Kassette spielt, als könne so was irgendeine komische Art von Verständigung schaffen. Es macht mich auch nicht wahnsinnig sauer, daß mein Vater beim Mittagessen mit vielen anderen Geschäftsleuten redet, mit denen er im Filmgeschäft zu tun hat, die an unserem Tisch stehenbleiben und denen ich nur als «mein Sohn» vorgestellt werde, und mit der Zeit sehen alle diese Leute gleich aus, und ich beginne mich zu fragen, warum ich bloß nicht den Rest Kokain mitgebracht habe. Mein Vater sieht ziemlich gesund aus, wenn man nicht so genau hinschaut. Er ist ganz braungebrannt und hat sich vor zwei Wochen eine Haartransplantation machen lassen, in Palm Springs, und das Haar sieht ziemlich voll aus und ziemlich blond. Außerdem hat er sich das Gesicht liften lassen. Nach der Operation hatte ich ihn im Cedars-Sinai Krankenhaus besucht, und ich erinnere mich an sein Gesicht, das dick verbunden war, und daran, wie er diesen Verband dauernd leicht berührt hat. 39
«Warum nimmst du nicht das übliche?» frage ich, diesmal aus echtem Interesse, nachdem wir bestellt haben. Er lächelt und entblößt dabei seine Jacketkronen. «Mein Diätberater hat's mir verboten.» «Ach so.» «Wie geht's deiner Mutter?» fragt er ganz gelassen. «Gut, glaub ich.» «Wirklich gut?» «Ja, es geht ihr wirklich gut.» Einen Moment lang bin ich in Versuchung, ihm von dem Ferrari zu erzählen, der auf unserem Parkplatz gestanden hat. «Bist du sicher?» «Also, ich glaube nicht, daß du dir irgendwelche Sorgen machen mußt.» «Das ist ja prima.» Er macht eine Pause. «Geht sie immer noch zu diesem Dr. Crain?» «Mmh, ja.» «Das ist ja prima.» Es gibt wieder eine Pause. Noch ein Geschäftsmann bleibt an unserem Tisch stehen und geht dann weg. «Also, was wünscht du dir zu Weihnachten, Clay?» «Nichts», sage ich nach einer Weile. «Soll ich dein Abonnement für Variety verlängern?» «Das läuft schon weiter.» Noch eine Pause. «Brauchst du Geld?» «Nein», antworte ich und weiß dabei, daß er mir später was zustecken wird, vor dem Restaurant vielleicht oder auf dem Rückweg. «Du siehst mager aus», sagt er. «Hmmm.» «Und blaß.» «Das kommt von den Drogen», murmel ich. «Ich hab dich grade nicht verstanden.» Ich sehe ihn an und sage: «Ich hab fünf Pfund zugenommen, seit ich wieder zu Hause bin.» «Oh», sagt er und schenkt sich ein Glas Weißwein ein. 40
Noch ein Geschäftsmann bleibt stehen. Nachdem er weg ist, dreht sich mein Vater zu mir und fragt: «Möchtest du über Weihnachten nach Palm Springs?»
Ziemlich am Ende meines letzten High-School-Jahres ging ich einen Tag nicht zur Schule. Statt dessen fuhr ich allein nach Palm Springs und hörte mir eine Menge alter Kassetten an, die ich irgendwann mal sehr gemocht hatte, aber mittlerweile nicht mehr, und ich hielt bei einem McDonald's in Sunland, um eine Cola zu trinken, und fuhr dann hinaus in die Wüste und stellte das Auto vor dem alten Haus ab. Ich mochte das neue nicht, das die Familie gekauft hatte; es war ganz nett, aber kein Vergleich mit dem alten Haus. Das alte Haus war leer und sah von außen ziemlich schäbig und verwahrlost aus, und überall wuchs Unkraut, und die Fernsehantenne war vom Dach gefallen, und auf dem ehemaligen Rasen lagen leere Abfalleimer rum. Der Pool war ausgetrocknet, und all diese Erinnerungen stürzten auf mich ein, und ich mußte mich in meiner Schuluniform auf die Stufen vom Pool setzen und weinen. Ich dachte daran, wie oft wir Freitag abends hier rausgekommen und Sonntag abends wieder zurückgefahren waren, und an all die Nachmittage im Liegestuhl am Pool, beim Kartenspiel mit meiner Großmutter. Aber diese Erinnerungen schienen zu verblassen angesichts der leeren Bierbüchsen, die überall auf dem abgestorbenen Rasen herumlagen, und der eingeschlagenen, zerbrochenen Fenster. Meine Tante hatte versucht, das Haus zu verkaufen, aber ich glaube, irgendwann wurde sie sentimental und wollte nicht mehr. Mein Vater hatte es verkaufen wollen und wurde richtig wütend, als niemand sich darum kümmerte. Aber irgendwann redeten sie nicht mehr darüber, und die Sache mit dem Haus stand zwischen ihnen und kam nicht mehr zur Sprache. An diesem Tag fuhr ich nicht nach Palm Springs, um rumzuschnüffeln oder das Haus zu sehen, und ich fuhr auch nicht raus, um die Schule zu schwänzen oder so was. Ich glaube, ich fuhr raus, weil 41
ich mich daran erinnern wollte, wie alles früher war. Ich weiß auch nicht.
Auf
dem Heimweg vom Mittagessen halte ich beim Cedars-
Sinai, um Muriel zu besuchen, weil Blair mir gesagt hat, daß sie mich unbedingt sehen will. Sie ist sehr blaß und dermaßen dünn, daß ich die Adern an ihrem Hals ganz deutlich erkennen kann. Außerdem hat sie dunkle Ringe unter den Augen, und der rosa Lippenstift verträgt sich überhaupt nicht mit ihrer wachsbleichen Gesichtsfarbe. Sie schaut sich irgendein Fitnessprogramm im Fernsehen an, und ein großer Haufen Zeitschriften, lauter Glamour und Vogue und Interview, liegen neben ihrem Bett. Die Vorhänge sind zugezogen, und sie bittet mich, sie zu öffnen. Sobald Licht reinkommt, setzt sie ihre Sonnenbrille auf und erklärt mir, daß sie die Nikotinflatter hat und «auf Leben und Tod» sofort eine Zigarette braucht. Ich sage ihr, daß ich keine dabei habe. Sie zuckt die Achseln und dreht die Lautstärke am Fernseher hoch und lacht über die Leute, die da gymnastische Übungen machen. Sie redet nicht besonders viel, aber das ist mir recht, weil ich auch nicht besonders viel rede. Ich fahre vom Krankenhausparkplatz runter und biege ein paarmal falsch ab und lande auf dem Santa Monica Boulevard. Ich hole tief Luft, dreh das Radio lauter, ein paar kleine Mädchen besingen ein Erdbeben in L. A. «My surfboard's ready for the tidal wave.» An der nächsten Ampel kommt ein Auto neben mir zu stehen, und ich drehe den Kopf, um zu sehen, wer drin sitzt. Zwei junge Typen in einem Fiat, und beide haben kurze Haare und dicke Schnäuzer und tragen karierte kurzärmelige Hemden und Daunenwesten, und einer schaut zu mir rüber mit einem Ausdruck von ungläubigem Erstaunen, und dann sagt er etwas zu seinem Freund, und jetzt schauen sie beide zu mir rüber. «Smack, smack, I fell in a crack.» Der Fahrer kurbelt sein Fenster runter, und ich werde nervös, und er fragt mich was, aber mein Fenster ist zu, genau wie das Dach, und deshalb ant42
worte ich ihm auch nicht. Aber der Fahrer ruft mir noch mal etwas zu, ganz sicher hält er mich für einen bestimmten Schauspieler. «Now I'm part of the debris», kreischen die Mädels. Die Ampel springt auf Grün, und ich fahre los, aber ich bin in der linken Spur, und es ist Freitag nachmittag kurz vor fünf, und der Verkehr ist ganz schlimm, und als ich zur nächsten roten Ampel komme, fährt der Fiat wieder an meine Seite, und diese beiden bescheuerten Tunten lachen und deuten auf mich und rufen immer wieder dieselbe beschissene Frage zu mir rüber. Schließlich biege ich verbotenerweise links ab und gelange in eine Seitenstraße, wo ich eine Minute lang anhalte, und stelle das Radio aus und zünde mir eine Zigarette an.
Rip
und ich sind im Cafe Casino in Westwood verabredet,
aber er ist noch nicht aufgetaucht. Eigentlich kann man in Westwood überhaupt nichts machen. Es ist zu heiß, um in der Gegend rumzulaufen, und ich habe alle Filme schon gesehen, manche sogar zweimal, und deshalb sitze ich unter einem Sonnenschirm vor dem Cafe Casino und trinke Perrier und Grapefruitsaft und sehe den Autos zu, die in dieser Hitze an mir vorbeifahren. Ich zünde mir eine Zigarette an und starre auf die Perrierflasche. Zwei Mädchen, vielleicht sechzehn, siebzehn Jahre alt, beide mit kurzen Haaren, sitzen am Nebentisch, und ich schaue immer wieder zu ihnen rüber, flirte ein bißchen, und die beiden gehen darauf ein. Die eine schält eine Orange, und die andere trinkt Espresso. Die mit der Orange fragt die andere, ob sie sich eine kastanienbraune Strähne ins Haar färben soll. Das Mädchen mit dem Espresso nimmt einen Schluck und sagt nein dazu. Das andere Mädchen zählt weitere Farben auf, anthrazit zum Beispiel. Das Mädchen mit dem Espresso trinkt noch einen Schluck und denkt darüber eine Minute lang nach und sagt dann nein, die Strähne sollte rot sein, und wenn schon nicht rot, dann doch zumindest lila, aber ganz sicher nicht kastanie oder anthrazit. Ich schaue zu ihr rüber und sie schaut zu mir rüber, und dann 43
schaue ich die Perrierflasche an. Das Mädchen mit dem Espresso überlegt ein paar Sekunden lang und fragt dann: «Was ist anthrazit?» Ein schwarzer Porsche mit getönten Scheiben hält direkt vor dem Cafe Casino, und Julian steigt aus. Er sieht mich und kommt her, obwohl es den Anschein hat, daß er eigentlich nicht will. Er läßt eine Hand auf meine Schulter fallen, und ich schüttle seine andere Hand. «Na, Julian», sage ich, «wie geht's dir denn so?» «Hi, Clay», sagt er. «Was ist los, Mann? Wie lange biste schon zurück?» «Erst fünf Tage, ungefähr», sage ich. «Erst fünf Tage.» «Und was treibst du so?» fragt er. «Was machst du hier?» «Ich warte auf Rip.» Julian sieht ziemlich müde aus und irgendwie kaputt, aber ich erzähle ihm, daß er echt gut aussieht, und er sagt das gleiche zu mir, obwohl ich etwas Sonne vertragen könnte. «Hör mal», legt er los. «Tut mir leid, daß ich dich und Trent da versetzt habe, bei Carney's meine ich, und daß ich auf der Party ausgetickt bin. Es war halt, ich war halt die letzten vier Tage total daneben, und ich hab einfach irgendwie vergessen ... Ich war noch nicht mal zu Hause ...» Er schlägt sich auf die Stirn. «O Mann, meine Mutter ist sicher schon am Austicken.» Er unterbricht sich. Die ganze Zeit hat er kein einziges Mal gelächelt. «Ich kann im Moment einfach nicht auf andere Leute, das schafft mich.» Er sieht an mir vorbei. «Ach, Scheiße, ich weiß auch nicht.» Ich schaue zu dem schwarzen Porsche hinüber und versuche, hinter den getönten Scheiben etwas zu erkennen, und frage mich, ob vielleicht noch jemand in dem Auto sitzt. Julian fängt an, mit seinen Schlüsseln rumzuspielen. «Willst du irgendwas, Mann?» fragt er. «Ich meine, ich mag dich, und falls du irgendwas brauchst, komm einfach bei mir vorbei, ja?» «Danke, aber ich brauche im Moment nichts, echt nicht.» Ich breche ab und bin auf einmal etwas traurig. «Mensch Julian, was hast du denn so gemacht? Wir müssen uns unbedingt mal treffen. 44
Ich hab dich so lang nicht gesehen.» Ich breche wieder ab. «Ich hab dich vermißt.» Julian hört auf, mit seinen Schlüsseln rumzuspielen und schaut an mir vorbei. «Ach, mir ging's ganz gut. Wie war's in ... O Scheiße, wo warst du, in Vermont?» «Nee, New Hampshire.» «Ach ja, genau. Und wie war's da?» «Ganz gut. Sag mal, stimmt das Gerücht, daß du von der U.S.C. runtergegangen bist?» «Ja, stimmt. Ich konnte einfach nicht mehr. Der ganze Unibetrieb — das ist doch alles nur heiße Luft. Aber wer weiß, vielleicht geh ich ja nächstes Jahr zurück.» «Ja ...» sage ich. «Hast du mit Trent geredet?» «O Mann, wenn ich Trent sehen will, dann werd ich ihn auch sehen.» Daraufhin schweigen wir beide ziemlich lange. «Und was hast du so gemacht?» frage ich schließlich. «Was meinst du?» «Wo hast du gesteckt, was hast du gemacht und so?» «Och, was soll ich schon gemacht haben. Das übliche halt. Ich war bei dem Tom Petty-Konzert im ... Forum. Er hat diesen Song gebracht, ach, du weißt schon, diesen Song, den wir uns immer angehört haben ...» Julian macht die Augen zu und versucht, sich an die Melodie zu erinnern. «Ach, verdammt, du weißt doch ...» Er fängt an zu summen, und dann singt er den Text. «Straight into darkness, we went straight into darkness, out over that line, yeah straight into darkness, straight into night ...» Die beiden Mädchen sehen zu uns rüber. Mir ist das ein bißchen peinlich, und ich schaue die Perrierflasche an und sage: «Ja, ich weiß.» «Ich liebe diesen Song einfach», sagt er. «Ja, so ging's mir auch», sage ich. «Und was hast du sonst noch gemacht?» «Nichts Anständiges», antwortet er lachend. «Ach, ich weiß auch nicht. Nichts besonderes.» «Du hast bei mir angerufen und 'ne Nachricht hinterlassen, stimmt's?» 45
«Mmh, ja.» «Was wolltest du denn?» «Ach vergiß es, das war nicht so wichtig.» «Na los, worum ging's?» «Ich habe gesagt: vergiß es, Clay.» Er nimmt die Sonnenbrille ab und blinzelt, und seine Augen sehen ganz leer aus, und mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, außer: «Und wie war das Konzert?» «Was?» Er beginnt, an seinen Nägeln rumzukauen. «Das Konzert. Wie war's?» Er schaut angestrengt woanders hin. Die beiden Mädchen stehen auf und gehen. «Der letzte Scheiß, du. Echt der letzte Scheiß», sagt er schließlich und geht los in Richtung Auto. «Bis dann.» «Ja, bis dann», sage ich und schaue noch mal den Porsche an und habe das starke Gefühl, daß da noch jemand anders drinsitzt.
Rip
erscheint überhaupt nicht im Cafe Casino; er ruft mich
später an, etwa um drei, und sagt nur, daß ich in sein Apartment auf dem Wilshire Boulevard kommen soll. Spin, sein Mitbewohner, sonnt sich nackt auf dem Balkon, und die neueste Platte von Devo läuft. Ich gehe in Rips Schlafzimmer und er liegt immer noch im Bett, nackt, und auf dem Nachttisch liegt ein Spiegel, und er macht sich grade eine Ladung Koks fertig. Er fordert mich auf, reinzukommen, mich hinzusetzen, seine schöne Aussicht zu bewundern. Ich gehe zum Fenster rüber, und er deutet auf den Spiegel und fragt, ob ich ein bißchen Koks haben will, und ich antworte ihm, ich glaube nicht, jetzt jedenfalls nicht. Ein sehr junger Typ, vielleicht sechzehn, vielleicht sogar erst fünfzehn, sehr braungebrannt, kommt aus dem Badezimmer, und er zieht den Reißverschluß seiner Jeans hoch und macht den Gürtel zu. Er setzt sich auf den Bettrand und zieht seine Stiefel an, die aussehen, als wären sie ein paar Nummern zu groß für 46
ihn. Dieser Junge hat sehr kurze abstehende blonde Haare und trägt ein Fear T-Shirt und ein schwarzes Lederband ums Handgelenk. Rip sagt kein Wort zu ihm, und ich tu so, als wäre der Junge überhaupt nicht da. Er steht auf, glotzt Rip an und verschwindet. Von da aus, wo ich sitze, kann ich sehen, wie Spin aufsteht und immer noch nackt in die Küche geht und anfängt, Grapefruits über einem großen Behälter auszupressen. Von der Küche aus ruft er zu Rip herüber: «Hast du an die Reservierung bei Morton's gedacht?» «Ja, Mausi», ruft Rip zurück, bevor er sich an seinen Koks macht. Ich beginne langsam, mich zu fragen, warum Rip mich hierher bestellt hat, warum er mich nicht woanders treffen wollte. Über seinem Bett hängt ein altes Poster von den Beach Boys in einem teuren Rahmen, und während ich es anschaue, versuche ich mich zu erinnern, welcher von ihnen tot ist. In der Zwischenzeit genehmigt sich Rip drei weitere Linien Koks. Rip wirft den Kopf zurück und schüttelt ihn und schnieft laut. Dann sieht er mich an und will wissen, warum ich im Cafe Casino in Westwood war, wo er sich doch genau daran erinnert, daß er mich ins Cafe Casino in Beverly Hills bestellt hat. Ich erkläre ihm, ich sei ziemlich sicher, daß wir ausgemacht hätten, uns im Cafe Casino in Westwood zu treffen. Rip sagt: «Sei dir da mal nicht zu sicher», und dann: «Na ja, ist auch egal.» «Okay, lassen wir das.» «Was brauchst du?» Ich zieh meinen Geldbeutel raus und bekomme allmählich den Eindruck, daß Rip auch nicht im Cafe Casino in Beverly Hills erschienen ist. 47
Trent ist in seinem Zimmer, am Telefon, und versucht, etwas Kokain von einem Dealer in Malibu zu organisieren, weil er es nicht geschafft hat, Julian zu erwischen. Nachdem er vielleicht zwanzig Minuten mit diesem Typen geredet hat, legt er auf und schaut mich an. Ich zucke die Achseln und zünde mir eine Zigarette an. Das Telefon läutet andauernd, und Trent versichert mir andauernd, daß er mit mir nach Westwood ins Kino gehen will, egal in welches, weil dort seit Freitag ungefähr neun neue Filme laufen. Trent holt tief Luft und geht dann ans Telefon. Der neue Dealer ist dran. Das Telefongespräch bringt nichts. Trent legt auf, und ich meine, daß wir allmählich gehen sollten, wenn wir es zur Vier-Uhr-Vorstellung schaffen wollen. Trent antwortet darauf, daß ich vielleicht doch lieber mit Daniel gehen sollte oder mit Rip oder mit einem von meinen «Tuntenfreunden». «Daniel ist nicht schwul», sage ich leicht ermüdet und schalte um auf ein anderes Fernsehprogramm. «Das denken aber alle.» «Wer denn zum Beispiel?» «Blair zum Beispiel.» «Er ist trotzdem nicht schwul.» «Na, dann sieh mal zu, ob Blair dir das abkauft.» «Ich bin nicht mehr mit Blair zusammen. Das ist vorbei, Trent», erkläre ich ihm und versuche, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. «Ich glaube nicht, daß sie das so sieht», sagt Trent, legt sich aufs Bett und starrt an die Decke. Nach einer Weile frage ich: «Was geht dich das überhaupt an?» «Vielleicht gar nichts», sagt er seufzend. Trent wechselt das Thema und sagt mir, daß ich mit ihm zu einer Party gehen soll, die jemand im Roxy für eine neue Band veranstaltet. Ich frage ihn, wer die Party gibt, und er antwortet, daß er das auch nicht so genau weiß. «Und für welche Band soll das sein?» frage ich. «Für eine neue Band halt.» «Für welche neue Band?» «Weiß ich auch nicht, Clay.» 48
Ich höre den Hund im Erdgeschoß laut bellen. «Na ja, mal sehen», sage ich. «Bei Daniel ist heut abend auch eine Party.» «Oh, toll», antwortet er sarkastisch. «Eine Tuntenparty.» Das Telefon läutet schon wieder. «Du kannst mich mal», sage ich. «Herrgott», schreit Trent, setzt sich auf, reißt den Hörer hoch und brüllt hinein: «Du kannst dir dein Scheißkoks in den Arsch schieben!» Er hört einen Moment zu und sagt dann: «Jawohl, ich komme gleich runter.» Er legt auf und schaut mich an. «Wer war denn dran?» «Meine Mutter. Sie hat von unten angerufen.» Wir gehen hinunter. Das Dienstmädchen sitzt im Wohnzimmer und guckt MTV. Sie sieht völlig daneben aus. Trent erklärt mir, daß sie nicht gerne putzt, wenn jemand zu Hause ist. «Außerdem ist sie dauernd vollgekifft. Meine Mutter hat Schuldgefühle, weil doch die ganze Familie von diesem Mädchens in El Salvador umgekommen ist, aber ich glaube, daß sie sie trotzdem bald rausschmeißt.» Trent geht rüber zu dem Mädchen, und sie schaut nervös zu ihm hoch und lächelt. Trent probiert seine paar Brocken Spanisch an ihr aus, kann sich aber nicht verständlich machen. Sie guckt ihn nur mit leerem Ausdruck an und nickt und versucht zu lächeln. Trent dreht sich um und sagt: «Tja, die ist schon wieder total zu.» In der Küche steht Trents Mutter, schon halb auf dem Weg zu einer Modenschau in Century City. Sie raucht noch eine Zigarette und trinkt ihr Tab aus, und Trent holt eine Kanne mit Orangensaft aus dem Kühlschrank, schenkt sich ein Glas ein und fragt mich, ob ich auch welchen will. Ich sage nein. Er sieht seine Mutter an und trinkt einen Schluck. Ungefähr zwei Minuten lang wird kein Wort gesprochen, bis schließlich Trents Mutter «Wiedersehen» sagt. Trent sagt nichts außer: «Willst du jetzt doch heut abend ins Roxy mitkommen oder was, Clay?» «Ich glaube nicht», antworte ich und überlege, was seine Mutter wohl von ihm wollte. «Das heißt also nein?» «Ich glaube, ich geh zu Daniels Party.» 49
«Na toll», sagt er. Ich will ihn gerade fragen, ob er Lust hat, ins Kino zu gehen, da klingelt oben schon wieder das Telefon, und Trent läuft aus der Küche. Ich gehe ins Wohnzimmer zurück und starre aus dem Fenster und beobachte, wie Trents Mutter in ihr Auto einsteigt und wegfährt. Das Mädchen aus El Salvador steht auf und geht langsam ins Badezimmer, und ich kann hören, wie sie da drin lacht und dann würgt und dann wieder lacht. Trent kommt mit beleidigtem Ausdruck ins Wohnzimmer und setzt sich vor den Fernseher; das Telefongespräch hat wohl nicht allzuviel gebracht. «Ich glaube, mit eurem Mädchen stimmt irgendwas nicht», teile ich ihm mit. Trent schaut zum Badezimmer rüber und sagt: «Tickt sie schon wieder aus?» Ich setze mich auf eine andere Couch. «Hat sich zumindest so angehört.» «Meine Mutter wird sie wohl ziemlich bald rausschmeißen.» Er nimmt einen Schluck Orangensaft aus dem Glas, das er immer noch in der Hand hält, und starrt in den Fernseher. Ich starre aus dem Fenster. «Ich hab eigentlich zu überhaupt nichts Lust», sagt er nach einer Weile. Ich beschließe, daß ich auch nicht ins Kino gehen will, und überlege, wen ich zu Daniels Party mitnehmen soll. Blair vielleicht. «Willst du dir Alien ansehen?» fragt Trent mit geschlossenen Augen und mit den Füßen auf dem Couchtisch. «Also davon würde sie bestimmt total austicken.»
Ich beschließe, Blair
zu Daniels Party mitzunehmen. Ich fahre
zu ihrem Haus in Beverly Hills, und sie trägt einen rosa Hut und einen blauen Minirock und gelbe Handschuhe und eine gelbe Sonnenbrille, und sie erzählt mir, daß ihr heute bei Fred Segal jemand gesagt hat, sie sollte bei einer Band mitmachen. Und sie 50
meint, daß sie vielleicht sogar eine gründen will, ein bißchen New Wave oder so was in der Art. Ich grinse und sage, daß die Idee gut klingt, und dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob sie vielleicht nur einen kleinen Scherz gemacht hat, und ich klammere meine Hände fest um das Lenkrad. Ich kenne kaum jemand auf der Party, und schließlich finde ich Daniel, der betrunken und allein am Pool sitzt, in schwarzen Jeans und einem weißen Specials T-Shirt und mit Sonnenbrille. Ich setze mich neben ihn, während Blair losgeht, um Drinks zu holen. Ich weiß nicht genau, ob Daniel nur ins Wasser starrt oder ob er schon gar nichts mehr mitkriegt, aber schließlich macht er den Mund auf und sagt: «Hallo Clay.» «Hi, Daniel.» «Amüsierst du dich gut?» fragt er ganz langsam und dreht mir den Kopf zu. «Ich bin eben erst gekommen.» «Ach so.» Er schweigt einen Moment lang. «Mit wem bist du denn gekommen?» «Mit Blair. Sie holt gerade was zu trinken.» Ich setze meine Sonnenbrille ab und schau mir seine bandagierte Hand an. «Ich glaube, sie glaubt, daß wir noch miteinander gehen.» Daniel behält seine Sonnenbrille auf und nickt, ohne zu lächeln. Ich setze meine Sonnenbrille wieder auf. Daniel dreht seinen Kopf wieder zum Pool zurück. «Wo sind eigentlich deine Eltern?» frage ich. «Meine Eltern?» «Ja.» «Ich glaube, in Japan.» «Und was machen sie da?» «Einkaufen.» Ich nicke. «Vielleicht sind sie auch in Aspen zum Skifahren», sagt er. «Wo ist da der Unterschied?» Blair kommt her; in der einen Hand trägt sie einen Gin-Tonic, in der anderen ein Bier, und sie reicht mir das Bier und steckt sich eine Zigarette an und sagt: «Red bloß nicht mit diesem Typ in 51
dem rot-blau gestreiften Polohemd. Der ist mit Sicherheit vom Rauschgiftdezernat», und dann: «Ist meine Sonnenbrille verbogen?» «Nein», antworte ich, und sie lächelt und legt ihre Hand auf mein Bein und flüstert: «Ich kenn keine Menschenseele hier. Wollen wir gehen? Jetzt.» Sie wirft einen Blick auf Daniel. «Lebt der überhaupt noch?» «Da fragst du mich zuviel.» «Was ist?» Daniel dreht sich zu uns um. «Hi, Blair.» «Hi, Daniel», sagt Blair. «Wir gehen», erkläre ich ihm. Blairs Flüstern und ihre behandschuhte Hand auf meinem Oberschenkel haben mich irgendwie erregt. «Warum denn?» «Ja, warum? Also, äh ...» Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll. «Aber ihr seid doch grad erst gekommen.» «Aber wir müssen wirklich los.» Ich hab auch keine große Lust mehr zu bleiben, und vielleicht is es ja gar keine schlechte Idee, zu Blair zu gehen. «Nun bleibt doch noch da.» Daniel versucht, sich aus dem Liegestuhl zu erheben, aber es klappt nicht. «Warum denn?» Ich glaube, das bringt ihn ein bißchen aus der Fassung, denn er sagt überhaupt nichts dazu. Blair schaut zu mir rüber. «Nur so, zur Gesellschaft.» «Blair geht's nicht so gut», erkläre ich ihm. «Aber ich wollte doch, daß du Carleton und Cecil kennenlernst. Sie sollten schon längst da sein, aber ihr Wagen ist in den Palisades verreckt, direkt am Strand, und ...» Daniel ächzt und starrt wieder in den Pool. «Tut mir leid, Mann», sage ich und stehe auf. «Ich meld mich bei dir.» «Carleton ist am Amerikanischen Filminstitut.» «Tja, aber Blair kann wirklich nicht noch ... Sie will los. Sofort.» 52
Blair nickt und hustet vernehmlich. «Vielleicht schau ich später noch mal rein», sage ich. Ich fühle mich irgendwie schuldig, weil ich schon so früh gehen will; schuldig, weil ich zu Blair will. «Ach, das machst du doch sowieso nicht.» Daniel setzt sich wieder hin und ächzt noch mal. Blair wird allmählich ganz schön nervös und sagt: «Hör zu, ich bin wirklich nicht scharf drauf, die ganze Nacht über so 'n Scheiß zu streiten. Kommst du jetzt, Clay?» Sie trinkt ihren Gin-Tonic aus. «Also, Daniel, wir gehen jetzt, okay?» sage ich. «Tschüs.» Daniel sagt mir, daß er mich morgen anrufen will. «Vielleicht können wir zusammen essen gehen oder so.» «Ja, gut», sage ich ohne große Begeisterung. «Morgen mittag.» Sobald wir im Auto sitzen, sagt Blair: «Laß uns irgendwohin fahren, aber schnell.» Ich denke: Warum kannst du es nicht einfach aussprechen? «Wohin?» frage ich. Sie zögert, nennt dann einen Club. «Ich hab meinen Geldbeutel zu Hause gelassen», lüge ich. «Ich hab da eine Mitgliedskarte», sagt sie, als wüßte sie, daß ich lüge. «Ich hab keine Lust dazu, ehrlich gesagt.» Sie dreht das Radio lauter und summt ein bißchen mit, und ich überlege, ob wir nicht einfach zu ihr nach Hause fahren sollten. Statt dessen fahre ich weiter geradeaus, ohne zu wissen wohin. Wir halten an einem Cafe in Beverly Hills und hinterher, als wir wieder ins Auto einsteigen, frage ich sie: «Wohin willst du eigentlich?» «Ich will ...» Sie unterbricht sich. «Nach Hause.» 53
Ich liege im Bett von Blair. Der Boden und das Fußende des Bettes sind übersät mit Stofftieren, und als ich mich auf den Rükken drehe, spüre ich etwas Hartes und Dickes unter mir, und ich greife danach und ziehe eine schwarze Stoffkatze hervor. Ich werfe sie auf den Boden und steige aus dem Bett und gehe unter die Dusche. Nachdem ich mir die Haare trockengerieben habe, wickle ich das Handtuch um meine Hüften und gehe in ihr Zimmer zurück, um mich anzuziehen. Blair raucht eine Zigarette und sieht sich MTV an, aber mit ganz niedriger Lautstärke. «Rufst du mich vor Weihnachten noch mal an?» fragt sie. «Mal sehen.» Ich ziehe meine Weste über und frage mich, warum ich überhaupt hierher gekommen bin. «Hast du denn eigentlich noch meine Telefonnummer?» Sie langt nach einem Notizblock und beginnt, etwas draufzuschreiben. «Ja doch. Ich hab deine Nummer. Ich meld mich auch.» Ich knöpfe mir die Jeans zu und wende mich zum Gehen. «Clay?» «Ja?» «Falls ich dich vor Weihnachten nicht mehr sehen sollte —» sie unterbricht sich. «Schönes Fest jedenfalls.» Ich sehe sie einen Moment lang an. «Danke, gleichfalls.» Sie hebt die schwarze Stoffkatze hoch und streichelt ihr über den Kopf. Ich gehe zur Tür raus und will sie hinter mir zumachen. «Clay?» flüstert sie laut. Ich bleibe stehen, drehe mich aber nicht um. «Ja?» «Ach, nichts.»
Zu lange hatte es in der Stadt nicht geregnet, und Blair rief mich dauernd an, um sich mit mir zu treffen und zum Strandclub zu gehen. Ich war aber immer zu müde oder bekifft oder kaputt, um mich nachmittags noch aufzuraffen und aus dem Haus zu 54
gehen und mich mit Blair in der knalligen Hitze unter einen Sonnenschirm am Strand zu setzen. Also beschlossen wir beide, Richtung Norden zu fahren, nach Pajaro Dunes in Monterey, wo es kühler war und wo das Meer grünlich schimmerte und wo meine Eltern ein Strandhaus hatten. Wir fuhren mit meinem Wagen hin, und wir schliefen im Schlafzimmer meiner Eltern, und wir fuhren in die Stadt und kauften Essen und Zigaretten und Kerzen. In der Stadt konnte man nicht viel unternehmen; da gab es nur ein altes Kino, das einen neuen Anstrich bitter nötig gehabt hätte, und Möven und verfallene Docks und mexikanische Fischer, die Blair hinterherpfiffen, und eine alte Kirche. Blair fotografierte sie ein paarmal, ging aber nie hinein. Wir fanden eine Kiste Champagner in der Garage und tranken in dieser Woche die ganze Kiste leer. Meistens machten wir am späten Vormittag, nach unserem Strandspaziergang, eine Flasche auf. Früher am Morgen liebten wir uns, entweder im Wohnzimmer, oder wenn nicht dort, dann auf dem Fußboden im Schlafzimmer, und dafür machten wir die Jalousien dicht und zündeten die Kerzen an, die wir in der Stadt gekauft hatten, und wir betrachteten das Schattenspiel unserer Körper in Bewegung an den weißen Wänden. Das Haus war alt und verwittert und hatte einen Innenhof und einen Tennisplatz, aber wir spielten nie Tennis. Statt dessen ging ich oft nachts durchs Haus und legte alte Platten auf, die ich früher mal gern gehört hatte, und setzte mich in den Innenhof und trank den letzten Rest Champagner aus. Ich mochte das Haus nicht besonders, und manchmal in der Nacht, wenn ich die weißen Wände und die dünnen Jalousien und die schwarzen Fliesen in der Küche nicht mehr aushalten konnte, trieb es mich raus ins Freie. Dann ging ich am Strand entlang, und manchmal setzte ich mich in den feuchten Sand und rauchte eine Zigarette und starrte hoch zu dem erleuchteten Haus, und manchmal konnte ich die Silhouette von Blair sehen, wenn sie im Wohnzimmer stand und mit irgendwelchen Leuten telefonierte, die sich gerade in Palm Springs aufhielten. Wenn ich dann zurückkam, waren wir beide schon betrunken, und sie schlug vor, schwimmen zu gehen, aber es war zu kalt und zu dunkel, und 55
statt dessen setzten wir uns in den kleinen Whirlpool in der Mitte des Innenhofs und liebten uns dort. Tagsüber saß ich meistens im Wohnzimmer und versuchte, den San Francisco Chronicle zu lesen, und sie machte eine Strandwanderung und sammelte Muscheln, und nach ein paar Tagen spielte es sich so ein, daß wir erst kurz vor der Morgendämmerung ins Bett gingen und irgendwann nachmittags aufwachten, und dann machten wir erst mal eine Flasche auf. An einem Tag fuhren wir mit dem Kabrio zu einem besonders abgelegenen Teil des Strandes. Wir aßen Kaviar, und Blair hatte Zwiebeln, Eier und etwas Käse kleingehackt, und wir nahmen Obst mit und Zimtkekse, nach denen Blair süchtig war, und einen Sechserpack Tab, denn Blair trank nur noch so was oder eben Champagner, und wir liefen über den leeren Strand oder versuchten, in der rauhen Brandung zu schwimmen. Aber bald fühlte ich mich richtig verwirrt, und ich wußte, daß ich zuviel trank, und jedesmal, wenn Blair etwas sagte, reagierte ich, indem ich die Augen zumachte und stöhnte. Das Wasser wurde immer kälter und die Brandung schwerer, und der Sand wurde naß, und Blair saß ganz allein draußen, sah aufs Meer hinaus und betrachtete Boote, die schon nachmittags im Nebel versanken. Ich sah ihr durch das große Fenster im Wohnzimmer beim Solitairespielen zu, und ich hörte, wie die Boote quietschten und knarrten, und all das verstörte mich immer mehr. Bald war der Champagner alle, und ich ging an die Hausbar. Blair wurde braun und ich auch, und gegen Ende der Woche taten wir nichts weiter als fernsehen, obwohl der Empfang nicht allzu gut war, und Bourbon trinken, und Blair legte Muscheln in spiralförmigen Mustern auf dem Wohnzimmerboden aus. Eines Abends, als wir jeder in einer anderen Ecke vom Wohnzimmer saßen, murmelte Blair: «Wir hätten nach Palm Springs fahren sollen», und da wußte ich, daß es Zeit war zurückzukehren. 56
Nachdem ich Blairs Haus verlassen habe, fahre ich über den Wilshire Boulevard und dann auf den Santa Monica und dann auf den Sunset und dann über den Beverly Glen nach Mulholland, und dann durch Mulholland nach Sepulveda und dann von Sepulveda nach Ventura und dann durch Sherman Oaks nach Encino und dann nach Tarzana und dann zu den Woodland Hills. Ich halte bei Sambo's, der die ganze Nacht geöffnet hat, und sitze allein an einem großen leeren Tisch, und ein Sturm kommt auf, und er ist so heftig, daß die Fensterscheiben vibrieren, und das Geräusch von klirrendem Glas kurz vor dem Zerspringen durchdringt das ganze Lokal. Am Nebentisch sitzen zwei junge Typen, beide in schwarzem Anzug und mit Sonnenbrille, und der eine, der einen Billy Idol-Button am Revers trägt, schlägt dauernd mit der Hand auf den Tisch, als wollte er einen imaginären Takt halten. Aber seine Hand zittert, und er gerät aus dem Rhythmus, und ziemlich oft fällt die Hand vom Tisch runter und schlägt ins Leere. Die Kellnerin geht zu den beiden und bringt ihnen die Rechnung und bedankt sich im voraus, und der Typ mit dem Billy Idol-Button reißt ihr die Rechnung weg und wirft einen flüchtigen Blick darauf. «Ach verdammt, können Sie noch nicht mal zusammenzählen?» «Ich glaube, die Rechnung stimmt», sagt die Kellnerin etwas nervös. «Ach ja, das glauben Sie», antwortet er höhnisch. Ich habe das Gefühl, daß gleich etwas Schlimmes passiert, aber der andere sagt: «Vergiß es», und dann: «O Gott, wie ich dieses Scheiß-Valley hasse», und er greift in die Hosentasche und knallt einen Zehner auf den Tisch. Sein Freund steht auf, rülpst und murmelt: «Valley-Ärsche», so laut, daß sie es hören kann. «Den Rest können Sie im Einkaufszentrum verballern oder wo Sie sich sonst rumtreiben», und dann gehen sie aus dem Restaurant hinaus in den Sturm. Als die Kellnerin zu meinem Tisch kommt, um meine Bestellung aufzunehmen, sieht sie total durcheinander aus. «Drogen57
süchtiges Gesindel. Ich hab nicht immer im Valley gelebt, aber ich sage Ihnen eins: woanders ist es auch nicht so toll», versichert sie mir.
Auf
dem Heimweg halte ich an einem Zeitungskiosk und
kaufe ein Pornoheft, auf dessen Hochglanz-Titelfoto zwei Mädchen mit Reitpeitschen in der Hand abgebildet sind. Ich bleibe regungslos stehen, und die Straßen sind leer und alles ist ruhig, und ich kann nichts hören außer dem Rascheln von Papier, und der Zeitungsverkäufer rennt herum und legt Ziegelsteine auf die Stapel, damit sie nicht wegflattern. Außerdem kann ich Koyotengeheul hören und Hundegebell und das Rauschen der Palmen, die sich oben auf den Hügeln im Sturm biegen. Ich steige in mein Auto, und ein heftiger Windstoß bringt es einen Moment lang zum Schwanken, und dann fahre ich los, die Straße hoch, zu meinem Haus in den Hügeln. Später in der Nacht höre ich von meinem Bett aus, wie die Fensterscheiben im ganzen Haus klirren, und ich drehe total durch und denke immerzu, daß sie jeden Moment zersplittern könnten. Von diesem Geräusch werde ich wach, und ich setze mich auf und sehe zum Fenster hinüber, und dann werfe ich einen Blick auf das Elvis-Poster, und seine Augen schauen zum Fenster hinaus, mitten in die Nacht, und er macht den Eindruck, als sei er direkt erschrocken über das, was er da draußen vielleicht sieht, und über dem besorgten Gesicht schwebt das Wort Trust. Ich muß an die Reklametafel auf dem Sunset denken und an die komische Art, wie Julian vor dem Cafe Casino an mir vorbeigesehen hat, und als ich endlich einschlafe, ist es Heiligabend. 58
An diesem Tag ruft mich Daniel
an und erzählt mir, daß es
ihm besser geht und daß ihm auf der Party gestern abend jemand einen zu starken Downer angedreht hat. Außerdem erzählt mir Daniel, daß Vanden, ein Mädchen, mit dem er an der Uni in New Hampshire was gehabt hat, anscheinend schwanger ist. Er erinnert sich, daß sie kurz vor seiner Abreise auf irgendeiner Party halb im Scherz eine Bemerkung darüber gemacht hat. Vor ein paar Tagen bekam er nun einen Brief von ihr, und er erzählt mir, daß Vanden vielleicht nicht zum College zurückgehen will, daß sie vielleicht in New York eine Punkrock-Band namens «The Spider's Web» gründen will; daß sie vielleicht dort im Village mit einem Freund zusammenziehen will, der Schlagzeuger ist; daß sie vielleicht mit ein paar Leuten als Vorgruppe für eine bekannte Band in der Peppermint Lounge oder sogar im CBGB, diesem berühmten Nachtclub, auftreten kann; daß sie vielleicht nach L. A. kommt oder auch nicht; daß Daniel vielleicht der Vater ist oder auch nicht; daß sie vielleicht abtreiben, das Kind wegmachen läßt oder auch nicht; daß sich ihre Eltern haben scheiden lassen und daß ihre Mutter zurück nach Connecticut gezogen ist und daß sie vielleicht für etwa einen Monat zu ihrer Mutter fährt oder auch nicht, und daß sich ihr Vater, einer der Bosse von der Fernsehgesellschaft ABC, große Sorgen um sie macht. Daniel sagt, daß der ganze Brief etwas wirr ist. Ich liege auf dem Bett, schaue mir MTV an, während der Telefonhörer in meinen Nacken drückt, und ich erkläre ihm, daß er sich nicht aufregen soll, und dann frage ich ihn, ob seine Eltern an Weihnachten zurückkommen, und er sagt, daß sie noch zwei Wochen wegbleiben und daß er über Weihnachten wahrscheinlich zu ein paar Freunden nach Bel Air fährt. Eigentlich wollte er ja mit einem Mädchen aus Malibu feiern, aber die hat Pfeiffersches Drüsenfieber, und deshalb ist er nicht mehr so scharf darauf, sie überhaupt zu treffen, und ich rate ihm auch davon ab, und Daniel fragt mich, ob er sich bei Vanden melden soll, und ich bin erstaunt darüber, wie schwer es mir fällt, das nötige Interesse aufzubringen und ihm Druck zu machen, damit er sich mit Van59
den in Verbindung setzt, und er antwortet, er wüßte nicht, was das für einen Sinn haben sollte, und dann sagte er noch «Schöne Weihnachten, Mann», und wir legen auf.
Ich
sitze mit meinen Eltern und Schwestern bei Chasen's im
Speisesaal, und es ist spät, halb zehn oder zehn, und Heiligabend. Statt etwas zu essen, schaue ich auf meinen Teller runter und spiele mit der Gabel und konzentriere mich total darauf, wie die Gabel eine Schneise zwischen die Erbsen pflügt. Ich schrecke hoch, als mein Vater mir das Glas mit Champagner nachfüllt. Meine Schwestern sehen gelangweilt und braungebrannt aus und unterhalten sich über magersüchtige Freundinnen und über ein Mannequin, das für Calvin Klein arbeitet, und sie sehen älter aus als in meiner Erinnerung, vor allem, wenn sie ihre Gläser am Stiel hochheben und langsam ihren Champagner schlürfen; sie erzählen mir ein paar Witze, die ich nicht kapiere, und sagen meinem Vater, was sie sich zu Weihnachten wünschen. Etwas früher haben wir meinen Vater von seinem Penthouse in Century City abgeholt. Anscheinend hatte er schon vor unserer Ankunft eine Flasche Champagner aufgemacht und ziemlich viel davon getrunken. In das Penthouse war mein Vater nach der Trennung von meiner Mutter gezogen. Es ist ziemlich geräumig und nett eingerichtet und hat sogar einen großen Whirlpool direkt vor dem Schlafzimmer, der immer dampfend heiß ist. Meine Eltern hatten seit ihrer Trennung vor etwa einem Jahr oder so nicht besonders viel miteinander geredet, und es schien sie nervös und gereizt zu machen, daß sie nun wegen der Feiertage zusammenkommen mußten, und sie saßen sich im Wohnzimmer gegenüber und sprachen, glaub ich, insgesamt nur vier Worte miteinander. «Dein Auto?» fragte mein Vater. «Ja», sagte meine Mutter und sah hinüber zu dem kleinen Weihnachtsbaum, den sein Dienstmädchen geschmückt hatte. «Hübsch.» 60
Mein Vater trinkt sein Glas Champagner aus und schenkt sich wieder nach. Meine Mutter bittet um den Brotkorb. Mein Vater wischt sich den Mund mit seiner Serviette ab, räuspert sich und ich werde ganz steif, weil ich weiß, daß er gleich fragen wird, was wir uns zu Weihnachten wünschen, obwohl meine Schwestern es ihm ja schon gesagt haben. Mein Vater öffnet den Mund. Ich mache die Augen zu, und er fragt, ob wir alle Nachtisch wollen. Wie angenehm banal. Der Kellner kommt an unseren Tisch. Ich sage, für mich nichts mehr. Ich sehe kaum zu meinen Eltern rüber, streiche mir nur andauernd durchs Haar, denke daran, wie gerne ich jetzt ein bißchen Koks hätte oder sonstwas, nur um diesen Abend heil durchzustehen, und dabei schaue ich mich im Restaurant um, das nur halbvoll ist; überall unterhalten sich die Leute mit gedämpfter Stimme, aber dieses Gemurmel hat etwas Durchdringendes, und plötzlich muß ich denken, daß ich eigentlich doch nur ein achtzehnjähriger Junge bin, mit zitternden Händen und blonden Haaren, ein bißchen braungebrannt und halbbetrunken, daß ich in einem Restaurant namens Chasen's an der Ecke Doheny und Beverly sitze und darauf warte, daß mein Vater mich fragt, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Niemand redet besonders viel, und niemandem scheint das etwas auszumachen, mir jedenfalls nicht. Mein Vater erwähnt, daß einer seiner Geschäftspartner kürzlich an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben ist, und meine Mutter erwähnt, daß einer Bekannten von ihr, mit der sie manchmal Tennis spielt, eine Brust amputiert wurde. Mein Vater bestellt noch eine Flasche — die dritte oder vierte? — und erzählt etwas von einem guten Geschäft. Die ältere von meinen Schwestern gähnt und stochert in ihrem Salat herum. In meinem Kopf dreht sich alles. Blair, die allein in ihrem Bett sitzt und die blöde schwarze Katze streichelt; die Reklametafel mit der Aufschrift «Verschwinde von hier»; Julians Augen;oberwohl zu verkaufen ist; die Leute werden auch immer rücksichtsloser; unser Swimming-pool bei Nacht, das hellerleuchtete Wasser wie ein glühendes Rechteck im dunklen Garten. Jared kommt zur Tür rein, aber nicht mit Blairs Vater, sondern mit einem ziemlich berühmten Mannequin. Sie zieht ihren Pelzmantel nicht aus, und Jared setzt seine dunkle Brille nicht ab. Ein 61
Mann, den mein Vater kennt, irgend jemand von Warner Brothers, kommt an unseren Tisch und wünscht uns Fröhliche Weihnachten. Er fängt eine Unterhaltung mit meinem Vater an, aber ich höre nicht hin. Statt dessen sehe ich zu meiner Mutter rüber, die in ihr Glas starrt, und eine meiner Schwestern erzählt ihr einen Witz, und sie versteht ihn nicht und bestellt sich einen Drink. Ich frage mich, ob Blairs Vater weiß, daß Jared heute abend mit diesem berühmten Mannequin bei Chasen's ist. Ich hoffe, daß ich so was nicht noch mal mitmachen muß.
Wir gehen aus dem Restaurant, und die Straßen sind leer, und die Luft ist immer noch trocken und heiß, und es ist immer noch windig. Auf der Little Santa Monica liegt ein Auto, das sich überschlagen hat, mit zerbrochenen Scheiben, und als wir daran vorbeifahren, recken meine Schwestern ihre Hälse, um so viel wie möglich zu sehen, und sie fragen meine Mutter, die am Steuer sitzt, ob sie nicht ein bißchen langsamer fahren kann, aber meine Mutter reagiert nicht darauf, und meine Schwestern sind sauer. Wir fahren zu Jimmy's, und meine Mutter stellt den Mercedes direkt vor dem Eingang ab, und wir steigen aus, und ein Angestellter bringt den Wagen weg, und wir gehen in die Bar, zu einer Couch mit kleinen Tischen davor. Hier ist es dunkel und ziemlich leer; wir und einige wenige Pärchen vorn an der Theke und eine Familie, die schräg gegenüber sitzt, sind die einzigen Gäste. Ein Klavierspieler singt mit gedämpfter Stimme «September Song». Mein Vater beschwert sich darüber, daß er keine Weihnachtslieder singt. Meine Schwestern gehen auf die Toilette, und als sie zurückkommen, erzählen sie, daß sie in einem der Klos einen Salamander gesehen haben, und meine Mutter sagt, sie versteht das nicht. Ich beginne einen kleinen Flirt mit dem ältesten Mädchen von der Familie, die schräg gegenüber sitzt, und frage mich, ob unsere beiden Familien wohl ähnlich aussehen. Das Mädchen erinnert mich unheimlich an eine Studentin, mit der ich in New 62
Hampshire mal zusammen war. Sie hat kurze blonde Haare und blaue Augen und ist braungebrannt, und als sie bemerkt, daß ich sie anstarre, schaut sie weg, lächelt aber dabei. Mein Vater bittet um ein Telefon, und dieses Telefon mit einer langen Schnur wird zur Couch gebracht, und mein Vater ruft seinen Vater in Palm Springs an, und wir alle wünschen ihm Fröhliche Weihnachten, und ich komme mir vor wie ein Idiot, als ich in Gegenwart dieses Mädchens «Fröhliche Weihnachten, Opa» sage. Auf dem Heimweg, nachdem wir meinen Vater vor seinem Penthouse in Century City abgesetzt haben, drücke ich mein Gesicht ganz fest an die Scheibe und starre hinaus auf die Lichter vom Valley, und die Lichter wandern bis in die Hügel hinauf, als wir nach Mulholland hochfahren. Eine meiner Schwestern hat sich den Pelzmantel meiner Mutter umgelegt und ist eingeschlafen. Das Tor öffnet sich, und das Auto fährt auf den Parkplatz. Meine Mutter drückt auf den Summer, der das Tor automatisch schließt, und ich versuche, ihr Fröhliche Weihnachten zu wünschen, aber die Worte wollen nicht rauskommen, und ich lasse sie allein im Auto sitzen.
Weihnachten in Palm Springs. Es war immer heiß. Selbst wenn es regnete, war es noch heiß. Einmal an Weihnachten, dem letzten Weihnachten, nachdem alles vorbei war, nachdem sie das alte Haus aufgegeben hatten, wurde es so heiß wie seit Menschengedenken nicht mehr. Niemand mochte glauben, daß es tatsächlich so heiß werden konnte; es schien einfach unmöglich. Aber das Thermometer an der Security National Bank in Rancho Mirage stand auf 111 und 112 und 115 Grad Fahrenheit, also über 40 Grad Celsius, und ich starrte einfach nur diese Ziffern an und weigerte mich zu glauben, daß es überhaupt so heiß sein konnte, so unerträglich heiß. Aber dann schaute ich hinaus in die Wüste, und der heiße Wind schlug mir ins Gesicht, und die Sonne brannte mit solcher Kraft auf mich herunter, daß meine Sonnenbrille die Strahlen nicht mehr abfangen konnte und ich die Augen 63
zusammenkneifen mußte, um zu erkennen, daß die Metallstreben an den Verkehrsschildern sich bogen, krümmten, daß sie in der Hitze tatsächlich anfingen zu schmelzen, und da wußte ich, daß ich es glauben mußte. An diesen Weihnachten brachten selbst die Nächte keine Erleichterung. Um sieben war es immer noch hell, und bis etwa acht Uhr leuchtete der Himmel in einem intensiven Orange. Der heiße Wind strich durch die Canyons und ließ sich auf der Wüste nieder. Dafür waren die Nächte stockdunkel und heiß, und manchmal trieben sonderbare weiße Wolken langsam über den Himmel und verschwanden erst bei Morgenanbruch. Dazu herrschte totale Stille. Es war ein ganz eigenartiges Gefühl, um ein oder zwei Uhr morgens über die Landstraße zu fahren. Nie begegnete ich da draußen einem anderen Auto, und wenn ich am Straßenrand anhielt und das Radio ausstellte und die Fenster runterkurbelte, konnte ich nichts hören. Nur meinen eigenen Atem, der krächzend und trocken war und ganz unregelmäßig. Aber lange blieb ich nie so sitzen, denn wenn ich zufällig meine Augen im Rückspiegel sah — rotgerändert, mit erschrockenem Ausdruck -, bekam ich irgendwie richtig Angst und fuhr schnell nach Hause. Die einzige Zeit, in der ich überhaupt nach draußen ging, war der frühe Abend. Ich setzte mich immer an den Pool, aß Bananeneis, und wenn es im Garten ein bißchen Schatten gab, las ich den Herald Examiner, und das Wasser im Pool war ganz ruhig, nur manchmal plätscherte es ein bißchen, wenn sich schwarze Libellen und große gelb-schwarze Bienen mit riesigen Flügeln, die alle in der wahnsinnigen Hitze durchgedreht waren, in den Pool stürzten. Weihnachten letzten Jahres in Palm Springs. Ich lag im Bett, nackt, die Klimaanlage lief und verströmte kühle Luft, und neben meinem Bett stand eine Schale mit Eiswürfeln, in ein Handtuch gewickelt, trotzdem konnte ich einfach nicht abkühlen. Ich hatte Visionen von Autofahrten durch die Stadt und spürte den heißen Wind auf meiner Schulter und sah, wie die Hitze aus der Wüste emporstieg, und von alldem wurde mir ganz heiß, und ich zwang mich dazu, aufzustehen und hinunterzugehen, hinaus auf 64
die Terrasse, vor den erleuchteten Pool, mitten in der Nacht. Ich versuchte, einen Joint zu rauchen, aber ich konnte kaum Luft kriegen. Ich rauchte ihn trotzdem, um schläfrig zu werden. Ich konnte es nie lange draußen aushalten. Im Nachbarhaus brannten Lichter, und fremdartige Geräusche drangen herüber, und ich ging wieder hoch in mein Zimmer und schloß die Tür ab und schlief irgendwann endlich ein. Wenn ich gegen Nachmittag aufwachte, ging ich runter, und dann erzählte mir mein Großvater ein paarmal, daß er in der Nacht merkwürdige Sachen gehört hätte, und wenn ich ihn fragte, was er denn damit meinte, sagte er nur, daß er sie nicht so genau beschreiben könnte, und dann zuckte er die Achseln und meinte schließlich, daß es wahrscheinlich Einbildung gewesen wäre, nichts Wirkliches. Einmal bellte der Hund die ganze Nacht, und als ich aufwachte und ihm befehlen wollte, still zu sein, sah er total verstört aus: weitaufgerissene Augen, keuchend, zitternd, aber ich ging nicht raus, um nachzusehen, weshalb der Hund bellte, und ich schloß mich wieder in mein Zimmer ein und legte mir das feuchte, kühle Handtuch über die Augen. Am nächsten Tag lag draußen vor dem Pool eine leere Zigarettenschachtel. Lucky Strikes. Niemand von meiner Familie raucht Zigaretten. Am nächsten Tag ließ mein Vater die Schlösser in allen Türen und Toren auswechseln, während meine Mutter und meine Schwestern den Weihnachtsbaum abräumten und ich schlief.
Ein paar Stunden später ruft mich Blair an. Sie erzählt mir, daß im neuen People-Magazin ein Foto von ihr und ihrem Vater ist, bei irgendeiner Premiere aufgenommen. Dann sagt sie, daß sie betrunken ist und allein im Haus, und daß ihre Familie im Vorführraum von irgendeinem Nachbarn hockt und die Rohfassung vom neuesten Film ihres Vaters anguckt. Außerdem erzählt sie mir, daß sie nackt ist und im Bett und daß sie mich vermißt. Ich fange an, vor lauter Nervosität im Zimmer auf- und abzugehen, 65
während ich ihr zuhöre. Dann starre ich auf mein Spiegelbild. Ich entdecke eine kleine Schuhschachtel im Regal und öffne sie, während ich mit Blair rede. In der Schachtel sind lauter Fotos: eins von Blair und mir auf dem Schulball; eins von uns beiden bei der Examensfeier in Disneyland; ein paar Bilder von uns am Strand in Monterey; ein paar andere von einer Party in Palm Springs; ein Foto von Blair in Westwood, das ich gemacht habe, als wir mal früher aus der Schule abgehauen sind, mit ihren Initialen auf der Rückseite. Außerdem finde ich ein Bild von mir, in Jeans, ohne Hemd und Schuhe, auf dem Fußboden, mit Sonnenbrille und nassen Haaren, und ich überlege, wer dieses Foto wohl gemacht hat, aber es fällt mir nicht ein. Ich streiche es glatt und versuche, mich darauf zu konzentrieren. Ich denke noch ein bißchen über dieses Bild nach und lege es dann weg. In der Schachtel sind noch mehr Fotos, aber ich packe es einfach nicht, sie anzuschauen, all die alten Schnappschüsse von Blair und mir, und deshalb stelle ich die Schuhschachtel auch ins Regal zurück. Ich zünde mir eine Zigarette an und schalte MTV ein und drehe den Ton ab. Eine Stunde vergeht, Blair redet weiterhin auf mich ein, erzählt mir, daß sie mich immer noch mag und daß wir wieder Zusammensein sollten und daß unsere viermonatige Trennung kein Grund ist, um Schluß miteinander zu machen. Ich erkläre ihr, daß wir sehr wohl zusammen waren, erwähne die letzte Nacht. Sie sagt, du weißt genau, was ich meine, und allmählich kann ich es kaum noch aushalten, in meinem Zimmer zu sitzen und ihr beim Reden zuzuhören. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist schon fast drei. Ich erzähle ihr, daß ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie unsere Beziehung war, und ich versuche, das Gespräch auf andere Themen zu lenken, auf Filme oder Konzerte oder darauf, was sie den ganzen Tag über gemacht hat oder darauf, was ich heute abend gemacht habe. Als wir schließlich auflegen, ist es schon beinahe Morgen, Weihnachtsmorgen. 66
Es ist Weihnachtsmorgen, und ich bin high vom Kokain, und eine meiner Schwestern hat mir einen ziemlich teuren ledergebundenen Terminkalender geschenkt; die Seiten sind groß und weiß und elegant bedruckt, mit goldenen und silbernen Buchstaben. Ich bedanke mich bei ihr und küsse sie und so weiter, und sie lächelt und gießt sich noch ein Glas Champagner ein. Ich habe mal versucht, einen Terminkalender zu führen, einen Sommer lang, aber es funktionierte nicht. Ich geriet durcheinander und schrieb Sachen rein, nur damit etwas drinstand, und ich kam zu der Erkenntnis, daß ich einfach nicht genug zu tun hatte, um einen Terminkalender zu führen. Ich weiß, daß ich diesen nicht benutzen werde, aber wahrscheinlich nehme ich ihn mit nach New Hampshire, und er wird einfach ein paar Monate auf meinem Schreibtisch liegen, unbenutzt, leer. Meine Mutter sitzt auf dem Rand der Wohnzimmercouch, trinkt Champagner und beobachtet uns. Meine Schwestern öffnen ihre Geschenke nachlässig, gleichgültig. Mein Vater wirkt energisch und schreibt Schecks für meine Schwestern und mich aus, und ich überlege mir, warum er das nicht schon früher gemacht hat, aber dann vergesse ich den Gedanken und schaue zum Fenster hinaus, auf den Garten, durch den der warme Wind weht. Das Wasser im Pool kräuselt sich.
Der
Freitag nach Weihnachten ist richtig schön sonnig und
warm, und ich beschließe, daß ich endlich mal braun werden muß, und deshalb treffe ich mich mit einer Menge Leute am Strandclub: mit Blair und Alana und Kim und Rip und Griffin. Ich komme als erster dort an, und während der Parkwächter meinen Wagen abstellt, sitze ich auf einer Bank und warte auf die anderen und starre dorthin, wo der Sand das Wasser berührt, wo das Land aufhört. Verschwinde von hier. Ich starre hinaus auf das Meer, bis Griffin in seinem Porsche vorfährt. Griffin kennt den Parkwächter, und die beiden unter67
halten sich ein paar Minuten. Kurz darauf kommt Rip an, in seinem neuen Mercedes, und auch er scheint den Parkwächter zu kennen, und als ich Rip und Griffin einander vorstellen will, lachen sie beide und erzählen mir, daß sie sich kennen, und ich frage mich, ob sie miteinander geschlafen haben, und auf einmal wird mir richtig schwindlig, und ich muß mich wieder auf die Bank setzen. Alana und Kim und Blair kommen in einem Cadillac-Cabrio angefahren; wem der Wagen gehört, weiß ich nicht. «Wir waren gerade im Century Club zum Mittagessen», sagt Blair und dreht das Radio leiser. «Und dann hat sich Kim verfahren.» «Stimmt ja gar nicht», sagt Kim. «Und sie hat mir nicht glauben wollen, daß ich mich auskenne, und wir mußten an einer Tankstelle halten und den Tankwart nach dem Weg fragen, und Kim fragt diesen Typen doch tatsächlich nach seiner Telefonnummer.» «Ein toller Mann», ruft Kim begeistert. «Na und? Der ist Tankwart», sagt Blair mit schrillem Lachen und steigt aus. Der Einteiler steht ihr unheimlich gut. «Halt dich fest. Der Typ heißt Moose.» «Ist mir doch egal, wie er heißt. Er ist einfach toll», sagt Kim zum zweitenmal. Im Bereich vom Strandclub herrscht Alkoholverbot, aber Griffin hat Cola-Rum reingeschmuggelt, und wir alle trinken davon. Rip zieht sich die Badehose praktisch ganz aus, um «nahtlos braun» zu werden. Ich schmiere mir nicht genug Sonnenöl auf Beine und Brust. Alana hat einen Kassettenrecorder mitgebracht und spielt immer wieder denselben Song von INXS; alle unterhalten sich über das neue Psychedelic Furs-Album; Blair erzählt, daß Muriel gerade aus dem Cedars-Sinai entlassen worden ist; Alana sagt, sie hätte bei Julian angerufen, um ihn zu fragen, ob er mitkommen wollte, aber niemand wäre rangegangen. Irgendwann hören alle auf zu reden und konzentrieren sich auf den Rest Nachmittagssonne. Ein Song von Blondie läuft, und Blair und Kim bitten Alana, die Musik lauter zu drehen. Griffin und ich stehen auf und gehen Richtung Umkleidekabi68
nen. Deborah Harry singt gerade: «Where is my wave?» Wir stehen im Waschraum, und Griffin betrachtet sich im Spiegel und sagt: «Irgendwas stimmt nicht mit dir.» «Ich bin nur ein bißchen verspannt», antworte ich und klatsche mir Wasser aufs Gesicht. «Na, das wird schon wieder», sagt Griffin. Und als ich an den Strand zurückgehe, in die Sonne, und auf den Pazifik hinausschaue, da erscheint es mir überhaupt nicht mehr unmöglich, Griffins Worten zu glauben. Aber ich bekomme einen Sonnenbrand, und als ich beim nächsten Supermarkt halte, um Zigaretten und eine Flasche Perrier zu kaufen, entdecke ich einen Salamander im Auto, auf dem Vordersitz. Der Kassierer redet über Mordstatistiken und sieht mir aus irgendeinem Grund voll ins Gesicht und fragt mich, ob mir vielleicht schlecht ist. Ich antworte nichts darauf, sondern gehe schnell raus. Als ich nach Hause komme, dusche ich und mache die Stereoanlage an. Und in dieser Nacht kann ich nicht schlafen; der Sonnenbrand ist unangenehm, und vom MTV kriege ich Kopfschmerzen, und ich nehme was von dem Beruhigungsmittel, das Griffin mir auf dem Parkplatz am Strandclub zugesteckt hat.
Am nächsten Morgen stehe ich spät auf. Aus dem Schlafzimmer meiner Mutter dröhnt ein Song von Duran Duran. Die Tür steht offen, und meine Schwestern liegen auf dem breiten Bett, beide im Badeanzug, blättern alte Ausgaben von Gentlemen's Quarterly durch, sehen sich irgendeinen Pornofilm auf Video an, ohne Ton. Ich setze mich dazu, und sie erzählen mir, daß meine Mutter zum Mittagessen weggefahren ist und daß unser Mädchen gerade Einkäufe macht, und ich sehe mir etwa zehn Minuten von diesem Film an und überlege dabei, wem er wohl gehören mag - meiner Mutter? meinen Schwestern? Ein Weihnachtsgeschenk von einem Freund? der Person mit dem Ferrari? von mir? Eine meiner Schwestern sagt, daß sie es nicht leiden 69
kann, wenn der Mann beim Abspritzen gezeigt wird, und ich gehe runter, zum Pool raus, und schwimme mein Morgenpensum.
Mit fünfzehn lernte ich das Autofahren, in Palm Springs, und immer, wenn meine Eltern schliefen, nahm ich mir den Wagen von meinem Vater, und meine Schwestern und ich fuhren mitten in der Nacht zur Wüste hinaus, mit runtergeklapptem Verdeck, und wir ließen Fleetwood Mac oder die Eagles laufen, ganz laut, und der heiße Wind brachte die Palmen zum Schwanken, geräuschlos. Und in einer Nacht holten meine Schwestern und ich den Wagen raus, die Nacht war mondlos und der Wind war kräftig, und irgendjemand hatte mich kurz vorher von einer ziemlich langweiligen Party zurückgebracht. Wir wollten eigentlich zu McDonald's, aber der Wind hatte einen Stromausfall verursacht, und deshalb war der Laden geschlossen, und ich war müde, und meine Schwestern stritten sich, und ich machte mich auf den Rückweg, und plötzlich sah ich etwa eine Meile vor mir auf der Straße etwas, das ich für ein offenes Feuer hielt, aber als ich näherkam, merkte ich, daß es kein offenes Feuer war, sondern ein Toyota, der eigenartig schräg stand, mit offener Motorhaube, aus der Flammen schlugen. Die Windschutzscheibe war zersplittert, und eine Mexikanerin saß auf einem Bordstein am Straßenrand und weinte. Zwei oder drei Kinder, ebenfalls Mexikaner, standen hinter ihr, starrten mit weitaufgerissenen Augen das Feuer an, die lodernden Flammen, und ich fragte mich, warum keine anderen Autos unterwegs waren, niemand, der anhielt oder sonstwie half. Meine Schwestern hörten auf zu streiten und verlangten von mir anzuhalten, weil sie zuschauen wollten. Der Drang, genau das zu tun, war sehr stark, aber ich gab ihm nicht nach. Ich bremste ab, und dann trat ich aufs Gas und fuhr schnell weiter und drückte die Kassette wieder rein, die meine Schwestern in dem Moment rausgemacht hatten, als das Feuer zu sehen war, und drehte die Lautstärke voll auf, und fuhr 70
durch, ohne anzuhalten, auch wenn eine Ampel auf Rot stand, bis ich zu Hause ankam. Ich weiß auch nicht, warum mich dieses Feuer so sehr beschäftigte, aber ich kam nicht davon los, und ich begann, Visionen von einem Kind zu haben, das mitten in den Flammen liegt und brennt und noch lebt. Vielleicht ein Kind, das durch die Windschutzscheibe direkt auf den Motorblock geschleudert worden war, und ich fragte meine Schwestern, ob sie auf dem Auto ein brennendes, verschrumpeltes Kind gesehen hätten, und sie sagten, nein, du etwa? toll, Mensch, und am nächsten Tag ging ich die Zeitung genau durch, nur um sicher zu sein, daß dieses Kind nicht in Wirklichkeit existierte. Und später in derselben Nacht saß ich am Pool und dachte darüber nach, bis ich schließlich einschlief, aber erst, nachdem der Strom ausgefallen war, wegen dem Wind, und der Pool dunkel wurde. Und ich erinnere mich daran, daß ich zu dieser Zeit anfing, einen Haufen Zeitungsausschnitte zu sammeln, einen über einen zwölfjährigen Jungen in Chino, der aus Versehen seinen Bruder erschoß; einen anderen über einen Mann in Indio, der sein Kind an die Wand oder an die Tür nagelte, so genau weiß ich das nicht mehr, und dann mit einem Schuß direkt ins Gesicht tötete, und einen über ein Feuer in einem Altersheim, das zwanzig Todesopfer forderte, und einen über eine Hausfrau aus San Diego, die ihre Kinder von der Schule heimfahren wollte und beim Sturz von einem fünfundzwanzig Meter hohen Damm zusammen mit den drei Kindern ums Leben kam, und einen über einen Mann in der Nähe von Reno, der in voller Absicht seine Ex-Frau mit dem Wagen überfuhr, wodurch sie vom Hals abwärts gelähmt wurde. In dieser Zeit sammelte ich viele Zeitungsausschnitte, ich glaube, weil es viel zum Sammeln gab.
Es
ist Samstag abend, und manchmal, wenn es keine Party
gibt, zu der man gehen könnte, und keine Konzerte in der Gegend, und alle Leute schon alle Filme gesehen haben, bleiben die 71
meisten am Samstag abend zu Hause und laden Freunde ein und telefonieren. Manchmal kommt jemand kurz vorbei und erzählt ein bißchen und trinkt was und steigt dann wieder in sein Auto und fährt weiter zu jemand anderem. Manchmal sind es drei oder vier Leute, die am Samstag abend von einem Haus zum anderen fahren. Die von etwa zehn Uhr abends bis kurz vor der Dämmerung am nächsten Morgen unterwegs sind. Trent kommt vorbei und erzählt mir, daß «ein paar hysterische Popper» etwas gesehen haben wollen, was sie als «eine Art Monster» beschreiben, daß es Gerede über Werwölfe gab. Einer von diesen Leuten ist offenbar verschwunden. Und nun hat sich eine Gruppe in Bel Air zusammengetan, um ihn zu suchen, und nichts gefunden außer - an dieser Stelle grinst Trent - dem Körper von einem verstümmelten Hund. Die «Popper», die Trent als «völlig ausgetickt» bezeichnet, wollten nun bei einem Freund in Encino übernachten. Trent sagt, daß die Popper wahrscheinlich zuviel CocaCola oder Tab getrunken haben und zu allergischen Reaktionen auf solche harten Drinks neigen. Kann sein, sage ich, aber die ganze Geschichte macht mich nervös. Als Trent gegangen ist, versuche ich, Julian anzurufen, aber niemand hebt ab, und ich frage mich, wo er wohl sein könnte, und nachdem ich aufgelegt habe, bin ich mir ziemlich sicher, daß ich hören kann, wie im Nebenhaus, ein Stück den Canyon runter, jemand schreit, und ich mache mein Fenster zu. Außerdem kann ich den Hund draußen im Garten bellen hören, und Radio KROQ bringt alte Doors-Songs, und auf Kanal dreizehn läuft Krieg der Welten, und ich schalte um zu einem religiösen Fernsehprogramm, wo so ein Prediger dauernd schreit: «Laß Gott dich deiner bedienen. Leg deine Hände in den Schoß und laß ihn sich deiner bedienen, deiner bedienen.» - «Leg deine Hände in den Schoß», predigt er immer weiter in diesem Sing-Sang. «Der Herr will sich deiner bedienen, deiner bedienen.» Ich bin im Bett und trinke Gin mit geschmolzenem Eis und bilde mir ein, daß ich hören kann, wie gerade eben jemand einbricht. Aber Daniel sagt am anderen Ende der Leitung, daß es wahrscheinlich nur meine Schwestern sind, die sich was zu trinken holen. Heute abend fällt es mir schwer, Daniel zu glauben; in den Nachrichten höre ich, daß 72
letzte Nacht vier Leute in den Hügeln zu Tode geprügelt worden sind, und ich bleibe die halbe Nacht auf, sehe aus dem Fenster, starre in den Garten, halte Ausschau nach Werwölfen.
Die Tore von Kims neuem Haus — in den Hügeln, mit Blick auf den Sunset — sind offen, aber es scheinen nicht allzuviele Autos rumzustehen. Blair und ich gehen zur Eingangstür hoch und drücken auf die Klingel, aber es dauert ziemlich lange, bevor jemand aufmacht. Es ist Kim, und sie trägt enge, verwaschene Jeans, hohe schwarze Lederstiefel, ein weißes T-Shirt und raucht einen Joint. Sie zieht noch mal daran, bevor sie uns beide umarmt und uns ein «Gutes neues Jahr» wünscht, dann führt sie uns in eine hohe Eingangshalle und erzählt uns, daß sie erst vor drei Tagen eingezogen ist und daß ihre Mutter und Milo sich gerade in London rumtreiben und daß sie bisher noch keine Zeit gehabt hat, das Haus einzurichten. Aber Teppichböden sind bereits gelegt, erzählt sie uns und sagt, daß so was ja schon ganz gut kommt, und ich frage sie nicht, warum sie denkt, daß so was gut kommt. Sie erzählt uns, daß das Haus ziemlich alt ist und daß der vorherige Besitzer ein Nazi war. Auf den Balustraden stehen riesige Töpfe, die kleine, mit Hakenkreuzen bemalte Bäume enthalten. «Man nennt sie Nazi-Töpfe», sagt Kim. Wir gehen ihr nach, die Treppe hinunter. Nur etwa zwölf oder dreizehn Leute sind da. Kim erzählt uns, daß Fear heute abend spielen soll. Sie macht Blair und mich mit Spit bekannt, einem Freund des Fear-Schlagzeugers; und dieser Spit ist total bleich, bleicher noch als Muriel, und hat kurze fettige Haare und einen Totenkopf am Ohr und dunkle Ringe unter den Augen, aber Spit ist ganz mies drauf, und nachdem er «hi» gesagt hat, erklärt er Kim, daß sie wegen Muriel etwas unternehmen muß. «Wieso?» fragt Kim und zieht an ihrem Joint. «Weil dieses verdammte Stück gesagt hat, ich würde aussehen wie 'ne Leiche», sagt Spit mit weitaufgerissenen Augen. «Ach komm, Spit, Muriel ist unheimlich in Ordnung», sagt 73
Kim. «Sie hat bloß sechzig Milligramm Lithium täglich schlukken müssen. Sie ist bloß müde.» Kim wendet sich an Blair und mich. «Ihre Mutter hat ihr gerade einen Porsche für fünfundfünfzigtausend Dollar gekauft.» Dann schaut sie wieder zu Spit rüber. «Kannst du dir das vorstellen?» Spit sagt, nein, das kann er nicht, und er hat genug von dem Thema und will jetzt lieber die Platten raussuchen, die nachher gespielt werden sollen, und Kim sagt: «Nur zu», und bevor er zur Stereoanlage rübergeht: «Hör mal, Spit, laß Muriel in Ruhe. Am besten, du redest überhaupt nicht mit ihr. Sie ist doch gerade erst aus dem Cedars-Sinai entlassen worden, und sobald sie sich einen angesoffen hat, geht's ihr auch besser. Sie ist einfach nur ein bißchen fertig.» Spit reagiert nicht darauf, sondern hält eine alte Oingo-BoingoPlatte hoch. «Kann ich die jetzt auflegen oder was?» «Nein, wart doch noch ein bißchen damit.» «Hör mal, Kim-ber-ly, mir wird's allmählich langweilig», sagt er und beißt die Zähne zusammen. Kim zieht einen Joint aus ihrer Hosentasche und reicht ihn an Spit weiter. «Reg dich ab, Spit.» Spit sagt dankeschön und setzt sich dann auf die Couch am Kamin, über dem eine riesengroße Kopie der amerikanischen Nationalflagge hängt, und starrt lange auf den Joint, bevor er ihn anzündet. «Mensch, Mensch, ihr beiden seht toll aus», sagt Kim. «Du aber auch», erwidert Blair. Ich nicke. Ich bin müde und ein bißchen stoned und hatte eigentlich gar nicht kommen wollen, aber Blair war vorher bei mir, zum Schwimmen, und dann gingen wir miteinander ins Bett, und dann rief Kim an, und jetzt bin ich hier. «Kommt Alana auch?» fragt Blair. «Nein, das hat nicht mehr geklappt.» Kim schüttelt den Kopf und zieht noch mal an ihrem Joint. «Sie ist zu den Springs gefahren.» «Und was ist mit Julian?» fragt Blair. 74
«Kommt auch nicht. Der hat sowieso nur noch Zeit dafür, mit älteren Herren ins Bett zu steigen, gegen Honorar natürlich», sagt Kim seufzend und lacht dann auf. Ich will sie gerade fragen, was sie damit gemeint hat, als plötzlich jemand ihren Namen ruft, und Kim sagt: «Oh, Scheiße, da kommt ja schon das Zeug zum Saufen», und verschwindet, und ich schaue über den beleuchteten Pool hinweg auf Hollywood; ein Lichterteppich unter einem neonroten Himmel, und Blair fragt mich, ob's mir gut geht, und ich sage, aber sicher. Ein junger Typ, achtzehn oder neunzehn, bringt einen großen Pappkarton herein und stellt ihn auf die Bar, und Kim unterschreibt etwas und gibt ihm ein Trinkgeld, und er sagt: «Gutes neues Jahr, Leute», und verschwindet. Kim holt eine Flasche Champagner aus dem Karton, öffnet sie wie ein Profi und ruft: «He, nehmt euch alle 'ne Flasche. Das ist Perrier-Jouet, eisgekühlt.» «Du hast mich überredet, Alte.» Muriel kommt hergerannt und umarmt Kim, und Kim gibt ihr eine Flasche. «Sag mal, ist Spit irgendwie sauer auf mich? Ich hab doch bloß gesagt, daß er wie 'ne Leiche aussieht», sagt Muriel und macht ihre Flasche auf. «Hallo Blair, hallo Clay.» «Der ist eben schlecht drauf», meint Kim. «Muß wohl am Wetter liegen.» «So ein Idiot. Der erzählt mir doch zum Beispiel: ‹Ich war gut in der Schule, bevor sie mich rausgeschmissen haben.› Hä? Was soll denn der Scheiß?» fragt Muriel. «Außerdem mischt er sich seinen Koks mit Angel's Dust.» Kim zuckt die Achseln und nimmt noch einen Schluck. «Muriel, du siehst stark aus», sagt Blair. «Oh, Blair, und du siehst toll aus, wie üblich», sagt Muriel und nimmt einen Schluck. «Mensch, Clay, du mußt mir unbedingt mal deine Weste leihen.» Ich sehe an mir herunter, während ich meine Flasche aufmache. Die Weste hat überhaupt nichts besonderes, nur ein grauweißes Schottenmuster eins der Karos ist dunkelrot. «Sieht fast so aus, als wenn dich einer erdolcht hätte. Ach, leih sie mir doch mal», bettelt Muriel und faßt die Weste an. 75
Ich grinse und schaue sie an, und dann geht mir auf, daß sie es total ernst meint, und ich bin zu erschöpft, um nein zu sagen, und deshalb ziehe ich die Weste aus und reiche sie ihr, und sie schlüpft rein und lacht. «Du kriegst sie ja wieder, du kriegst sie ja wieder, keine Sorge.» Außerdem ist da noch ein Fotograf, der mich richtig nervt, und dieser Typ macht dauernd Bilder von allen möglichen Leuten. Er geht einfach auf jemanden zu und hält ihm die Kamera direkt vors Gesicht und drückt zwei- oder dreimal ab, und irgendwann kommt er auf mich zu, und das Blitzlicht blendet mich für einen Moment, und ich nehme noch einen Schluck aus meiner Champagnerflasche. Kim fängt damit an, überall im Raum Kerzen anzuzünden, und Spit legt eine Platte von X auf, und irgend jemand behängt eine der kahlen Wände mit Luftballons, und diese Dinger sind nur halb aufgeblasen und hängen schlaff runter. Die Tür, die zum Pool und zur Veranda führt, steht offen, und auch daran baumeln ein paar Luftballons, und wir gehen raus zum Pool. «Was macht eigentlich deine Mutter?» fragt Blair. «Ist sie immer noch mit diesem Tom zusammen?» «Woher hast du denn das? Aus dem Inquirer oder 'nem anderen Klatschblatt?» Kim lacht. «Nein. Ich hab im Hollywood Reporter ein Foto von den beiden gesehen.» «Sie ist mit Milo in England, das hab ich dir doch schon erzählt», sagt Kim, während wir auf den beleuchteten Pool zugehen. «Zumindest steht das in Variety.» «Und was ist mit dir?» fragt Blair mit dem Anflug eines Lächelns. «Mit wem gehst du im Moment?» «Moi?» Kim lacht und nennt dann den Namen eines ziemlich berühmten jungen Schauspielers, mit dem wir, glaub ich, zur Schule gegangen sind; ich weiß nicht mehr genau. «Richtig, davon hab ich schon gehört. Ich wollte dich nur noch mal selber fragen.» «Also, es stimmt.» «Er war aber nicht auf deiner Weihnachtsparty», sagt Blair. «Echt nicht?» Kim sieht etwas beunruhigt aus. «Bist du da sicher?» 76
«Ganz sicher», sagt Blair. «Oder hast du ihn gesehen, Clay?» «Nee, ich auch nicht», antworte ich ihr, ohne mich zu erinnern. «Das ist aber komisch», sagt Kim. «Na, dann war er wohl bei Dreharbeiten.» «Wie ist er denn so?» «Nett, wirklich ein netter Typ.» «Und was ist mit Dimitri?» «Was soll schon sein», sagt Kim. «Weiß er von der Sache?» fragt Blair. «Wahrscheinlich. Bin mir nicht sicher.» «Glaubst du, daß es ihm was ausmacht?» «Hör mal, Jeff ist nur so 'ne Affaire. Und Dimitri, den mag ich wirklich.» Dimitri sitzt am Pool und spielt Gitarre und ist sehr braungebrannt und hat kurze blonde Haare, und er sitzt einfach auf dem Liegestuhl und spielt seltsame, unheimliche Akkorde und wiederholt dann ein bestimmtes Motiv immer wieder, und Kim sieht ihn bloß an und sagt überhaupt nichts. Drinnen läutet das Telefon, und Muriel kommt an die Tür, wedelt mit der Hand und ruft: «Kim, für dich.» Kim verschwindet im Haus, und ich will Blair gerade fragen, ob sie gehen will, aber da kommt Spit, der sich immer noch an seinem Joint festhält, mit einem Kumpel vom Typ «Surfer» her und sagt zu Dimitri: «Heston hat Trips, echt gute Ware», und der Surfer-Freund von Spit schaut Blair an und blinzelt ihr zu, und dann klopft sie mir auf den Arsch und zündet sich eine Zigarette an. «Wo ist Kim?» fragt Spit, und noch immer zeigt Dimitri keine Reaktion, sondern starrt weiter nur in den Pool und klimpert auf der Gitarre. Wir vier stehen um ihn herum, und irgendwann schaut er doch her zu uns, und eine Weile sieht es so aus, als ob er etwas sagen will. Aber er gibt nur eine Art Seufzer von sich und schaut dann wieder ins Wasser. Schließlich taucht eine junge Schauspielerin auf, und zwar in Begleitung eines bekannten Produzenten, den ich mal auf einer der Parties von Blairs Vater kennengelernt habe, und sie sehen 77
sich ein bißchen um und gehen rüber zu Kim, die gerade den Hörer aufgelegt hat, und sie erzählt den beiden, daß ihre Mutter mit Milo in England ist, und der Produzent will gerade erst gehört haben, daß sie auf Hawaii ist, und dann informieren sie Kim, daß Thomas Noguchi vielleicht nachher noch reinschaut, und dann gehen die Schauspielerin und der Produzent wieder, und Kim kommt rüber zu Blair und mir und erzählt uns, daß der Telefonanruf von Jeff war. «Und was hat er gesagt?» fragt Blair. «So ein Arsch. Er ist in Malibu mit irgendeinem Typen, so 'nem Surfer, und die haben sich da in seinem Haus verkrochen.» «Was wollte er denn?» «Mir ein Gutes neues Jahr wünschen.» Kim sieht ziemlich fertig aus. «Na, das ist doch nett», sagt Blair aufmunternd. «Es klang aber so: ‹Gutes neues Jahr, du alte Fotze›», sagt sie und zündet sich eine Zigarette an. Die Champagnerflasche in ihrer Hand ist fast leer. Sie ist kurz davor zu heulen oder noch etwas zu sagen, als Spit herkommt und erzählt, daß Muriel sich in Kims Zimmer eingeschlossen hat, und deshalb gehen Kim und Spit und Blair und ich wieder ins Haus, die Treppe hoch und durch einen Flur zu Kims Zimmertür, und Kim versucht, sie aufzumachen, aber sie ist zugeschlossen. «Muriel», ruft sie und klopft an. Niemand antwortet. Spit hämmert gegen die Tür und gibt ihr dann einen Tritt. «Spit! Mach bloß nicht die Tür kaputt», sagt Kim und schreit dann: «Muriel, komm raus!» Ich schaue zu Blair rüber, und sie sieht echt besorgt aus. «Glaubst du, daß ihr was passiert ist?» «Ich weiß es nicht», sagt Kim. «Hat sie irgendwas genommen?» will Spit wissen. «Muriel?» ruft Kim noch mal. Spit holt noch einen Joint aus der Tasche und lehnt sich an die Wand. Der Fotograf kommt dazu und knipst ein paar Bilder von uns. Die Tür öffnet sich langsam, und Muriel steht dahinter und sieht aus, als ob sie geheult hätte. Sie läßt Spit, Kim, 78
Blair, den Fotografen und mich ins Zimmer, und dann macht sie die Tür zu und schließt ab. «Ist was mit dir?» fragt Kim. «Nee, alles in Ordnung», sagt sie und wischt sich übers Gesicht. Das Zimmer ist fast dunkel, nur in einer Ecke brennen ein paar Kerzen, und Muriel setzt sich in diese Ecke, neben eine Kerze, neben einen Löffel und eine Spritze und ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier mit bräunlichem Pulver drauf und ein Stückchen Baumwolle. Der Löffel ist schon voll, und Muriel rollt das Stück Baumwolle ganz fest zusammen und legt es auf den Löffel und sticht die Nadel in die Baumwolle und zieht dann die Spritze auf. Sie rollt sich einen Ärmel hoch, tastet im Dunkeln nach einem Gürtel, findet ihn und wickelt ihn um ihren Oberarm. Ich entdecke mehrere Einstiche und schaue rüber zu Blair, die nur auf Muriels Arm starrt. «Was ist hier los?» fragt Kim. «Muriel, was machst du da?» Muriel antwortet nicht, schlägt sich nur auf den Arm, um eine Vene zu finden, und ich schaue auf meine Weste, und mir wird ganz anders, weil es fast so aussieht, als ob jemand erdolcht worden wäre. Muriel richtet die Spritze auf ihren Arm, und Kim flüstert: «Tu's nicht», aber ihre Lippen zittern, und sie sieht richtig aufgeregt aus, und ich kann einen Anflug von Lächeln in ihrem Gesicht erkennen, und ich bekomme allmählich das Gefühl, daß sie gar nicht meint, was sie gesagt hat, und als die Nadel in Muriels Arm steckt, steht Blair auf und sagt: «Ich bleib nicht hier», und geht aus dem Zimmer. Muriel macht die Augen zu, und die Spritze füllt sich langsam mit Blut. Spit sagt: «Wahnsinn, Mann.» Der Fotograf macht ein Bild. Meine Hände zittern, als ich mir eine Zigarette anzünde. Muriel fängt an zu heulen, und Kim streicht ihr über den Kopf, aber Muriel heult immer weiter, und aus ihrem Mund tropft Speichel, und sie sieht aus, als würde sie in Wirklichkeit lachen, und ihr Lippenstift ist total verschmiert, bis zur Nase hoch, und die Wimperntusche läuft ihr über das ganze Gesicht. 79
Um Mitternacht versucht Spit, ein paar Knallfrösche zu zünden, aber nur ganz wenige gehen überhaupt los. Kim umarmt Dimitri, der das entweder gar nicht mitkriegt oder zumindest nicht darauf reagiert, und er legt die Gitarre auf die Seite und starrt weiter in den Pool, und irgend jemand dreht die Musik leiser, damit wir alle hören können, wie die ganze Stadt feiert, aber da gibt es nicht viel zu hören, und ich werfe immer wieder einen Blick ins Wohnzimmer, wo Muriel mit Sonnenbrille auf der Couch liegt, eine Zigarette raucht und MTV anschaut. Wir können nur das Geräusch von splitternden Fensterscheiben hören, oben in den Hügeln, und Hundegebell, und dann platzt noch ein Luftballon, und Spit läßt eine Flasche Champagner fallen, und die amerikanische Flagge, die wie eine Art Vorhang über dem Kamin hängt, wedelt hin und her, und die Luft ist heiß, und Kim steht auf und steckt sich noch einen Joint an. Blair flüstert mir «Gutes neues Jahr» ins Ohr und zieht sich dann die Schuhe aus und steckt ihre Füße in das warme, erleuchtete Wasser. Die Gruppe Fear erscheint überhaupt nicht, und die Party ist früh zu Ende.
Und
später
in
derselben
Nacht, irgendwann
frühmorgens,
sitze ich zu Hause in meinem Zimmer und schaue mir eine religiöse Fernsehsendung an, weil ich keine Lust auf Videos mehr habe, und da treten zwei Typen auf, Priester, vielleicht Prediger, so etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt, beide mit Anzug und Schlips und rosagetönter Sonnenbrille, und reden über Platten von Led Zeppelin, behaupten, daß diese Platten, rückwärts gespielt, «alarmierende Aussagen über den Teufel beinhalten.» Einer von den Typen steht auf und macht diese Platte kaputt, bricht sie in zwei Teile, und sagt: «Und glauben Sie mir, wir als gottesfürchtige Christen werden das nicht dulden!» Dann redet dieser Mann über seine große Sorge, daß solche Platten einen Schaden für junge Menschen bedeuten. «Und die Jugend ist die Zukunft unseres Landes», schreit er und zerbricht dann noch eine Platte. 80
«Julian will dich sehen», sagt Rip am Telefon. «Mich?» «Ja doch.» «Hat er gesagt, weshalb?» frage ich. «Nein. Er hatte deine Telefonnummer nicht, und er brauchte sie, und da hab ich sie ihm gegeben.» «Er hatte meine Nummer nicht?» «Sag ich doch.» «Ich glaub nicht, daß er hier schon angerufen hat.» «Er meinte, daß er mit dir reden müßte. Hör mal, ich bin auch nicht so scharf drauf, jemand was auszurichten, also bedank dich mal lieber bei mir.» «Danke.» «Er hat gesagt, er würde heute um halb vier beim Chinesischen Theater sein. Ich schätze, dort kannst du ihn erwischen.» «Was will er da überhaupt?» frage ich. «Was glaubst du denn?»
Nach
einigem Nachdenken entschließe ich mich, Julian zu
treffen. Ich fahre zum Chinesischen Theater auf dem Hollywood Boulevard und schaue mir eine Weile die Fußabdrücke an. Außer einem jungen Pärchen von auswärts, das Fotos von den Fußabdrücken macht, und einem argwöhnisch blickenden Orientalen, der vor dem Kartenhäuschen steht, ist niemand da. Der braungebrannte blonde Platzanweiser, der an der Tür lehnt, sagt zu mir: «He, dich kenn ich doch. Von einer Party in Santa Monica vor zwei Jahren, stimmt's?» «Davon weiß ich nichts», antworte ich. «Doch, doch. Kickers Party. Daran mußt du dich noch erinnern.» Ich erkläre ihm, daß ich mich nicht daran erinnere und frage ihn, ob die Theke im Kino geöffnet ist. Der Platzanweiser sagt ja und läßt mich rein, und ich kauf mir eine Cola. 81
«Aber der Film hat schon angefangen», erklärt mir der Platzanweiser. «Das macht nichts. Ich will den Film gar nicht sehen», erkläre ich ihm. Der argwöhnisch blickende Orientale sieht dauernd auf seine Uhr und verschwindet schließlich. Ich trinke meine Cola aus und warte bis etwa vier. Julian taucht nicht auf.
Ich fahre zu Trents Haus, aber Trent ist nicht da, und ich warte in seinem Zimmer ein bißchen auf ihn und schalte den Videorecorder ein und lasse einen Spielfilm laufen und rufe Blair an und frage sie, ob sie heut abend was unternehmen will, zu einem Club gehen oder ins Kino, und sie sagt ja, und ich fange an, auf einem Blatt Papier neben dem Telefon rumzukritzeln, Telefonnummern abzuschreiben. «Julian will dich sehen», erzählt mir Blair. «Mmh. Das weiß ich schon. Hat er gesagt, weshalb?» «Keine Ahnung, warum er dich sehen will. Er hat bloß gesagt, er muß mit dir reden.» «Hast du seine Telefonnummer?» frage ich. «Nee. Das ganze Haus in Bel Air hat neue Nummern gekriegt. Aber wer weiß, vielleicht ist er ja auch in Malibu. Ich kann's dir nicht sagen ... Ist es denn so wichtig? Wahrscheinlich will er dich nun auch wieder nicht soo dringend sehen.» «Na ja», sage ich zögernd, «vielleicht fahr ich noch kurz bei dem Haus in Bel Air vorbei.» «Okay.» «Wenn du heut abend was machen willst, ruf mich an, okay?» «Okay.» Danach entsteht ein langes Schweigen, und sie sagt noch mal okay und legt auf. 82
Julian ist nicht in dem Haus in Bel Air, aber an der Tür hängt eine Nachricht, die besagt, daß er eventuell in einem Haus auf der King's Road sein könnte. Julian ist auch nicht in dem Haus auf der King's Road, aber im Garten treffe ich so einen Typen mit Zahnklammern und kurzen platinblonden Haaren; er trägt eine Badehose und hebt gerade Gewichte. Als ich näherkomme, legt er eins von den Gewichten auf den Boden und macht sich eine Zigarette an und fragt mich, ob ich einen Downer will. Ich frage ihn, wo Julian ist. In einem Liegestuhl vor dem Pool hängt ein blondes, besoffenes Mädchen rum, und sie sagt mit absolut träger Stimme: «Ach, Julian könnte sonstwo stecken. Schuldet er dir auch Geld?» Das Mädchen hat einen tragbaren Fernseher vor sich stehen und guckt irgendeinen Film über Höhlenmenschen an. «Nein», antworte ich ihr. «Na, dann isses ja gut. Er hat mir versprochen, das Gramm Koks zu bezahlen, das ich ihm besorgt habe.» Sie schüttelt den Kopf. «Aber nein. Bis jetzt ist nichts rübergekommen.» Ihre Stimme ist belegt, und sie schüttelt noch einmal den Kopf, ganz langsam, und eine halbleere Flasche Gin steht neben ihr. Der Gewichtheber mit den Zahnspangen fragt mich, ob ich einen Raubkopie von Der Tempel des Todes kaufen will. Ich sage nein und bitte ihn dann, Julian auszurichten, daß ich da war. Der Gewichtheber nickt, als würde er kein Wort verstehen, und das Mädchen fragt ihn, ob er die Freikarten für das Missing PersonsKonzert gekriegt hat. Er sagt: «Ja doch, Baby», und sie hüpft in den Pool. Einer der Höhlenmenschen wird von einer Klippe geworfen, und ich verzieh mich.
Auf dem Weg zu meinem Auto stoße ich fast mit Julian zusammen. Er ist bleich unter der Sonnenbräune, und sein Aussehen will mir gar nicht gefallen, und ich könnte mir vorstellen, daß er gleich zusammenklappt, so wie er dasteht, leichenblaß, aber er macht den Mund auf und sagt: «Hi, Clay.» 83
«Hallo, Julian.» «Willste ein bißchen Gras mitrauchen?» «Nee, jetzt nicht.» «Schön, daß du vorbeigekommen bist.» «Ich hab gehört, daß du mich sehen wolltest.» «Mmh, ja.» «Was ist los? Worum geht's denn?» Julian schaut auf den Boden und dann hoch zu mir und blinzelt in die untergehende Sonne und sagt: «Um Geld.» «Und wofür?» frage ich nach einer Weile. Er schaut wieder auf den Boden, greift sich an den Nacken und sagt: «Komm, wir fahren zum Einkaufszentrum. Na los.» Ich möchte nicht ins Einkaufszentrum, und ich möchte Julian auch kein Geld geben, aber es ist ein sonniger Nachmittag, und ich habe sonst nichts zu tun, und deshalb fahre ich Julian hinterher, nach Sherman Oaks.
Wir sitzen in einem kleinen Lokal innerhalb des Einkaufszentrums. Julian stochert in einem Cheeseburger rum. Er nimmt eine Serviette und wischt damit den Ketchup ab. Ich trinke eine Cola. Julian sagt, daß er etwas Geld braucht, Bargeld. «Wofür denn?» frage ich. «Willst du ein paar Pommes frites?» «Könntest du bitte zur Sache kommen?» «Es geht um eine Abtreibung.» Er beißt einmal von seinem Cheeseburger ab, und ich nehme die ketchupverschmierte Serviette und lege sie auf den Tisch hinter uns. «Eine Abtreibung?» «Ja, genau.» «Für wen?» Nach einer langen Pause sagt Julian: «Für ein Mädchen halt.»: «Das hätte ich mir beinahe gedacht. Also, für wen?» «Sie wohnt in Westwood, bei irgendwelchen Freunden. Nun sag schon, kannst du mir das Geld leihen, ja oder nein?» 84
Ich lehne mich über die Brüstung und schaue auf die Leute hinunter, die im ersten Stock vom Einkaufszentrum rumlaufen, und stelle mir vor, was wohl passieren mag, wenn ich jetzt einfach meine Cola da runterschütte. «Na ja», antworte ich schließlich. «Ich glaube schon.» «He, das ist toll», sagt Julian erleichtert. «Hast du denn überhaupt kein Geld?» frage ich. Julian schaut mich ganz kurz an und sagt: «Äh, also im Moment nicht. Aber bald hab ich wieder welches und, na ja, dann, dann ist es halt, dann wär es eh zu spät, verstehste? Und ich möchte deswegen nicht den Porsche verkaufen müssen. Also ehrlich, das wäre das letzte.» Er macht eine lange Pause und spielt mit seinem Cheeseburger. «Nur wegen 'ner Abtreibung?» Er versucht zu lachen. Ich sage zu Julian, daß ich echt meine Zweifel habe, ob er seinen Porsche verkaufen müßte, nur um für eine Abtreibung zu zahlen. «Wofür brauchst du es denn nun wirklich?» frage ich ihn. «Was soll das heißen?» Julian wird auf einmal richtig defensiv. «Ich hab dir doch gesagt, für eine Abtreibung.» «Julian, das ist ein Haufen Geld für 'ne Abtreibung.» «Na ja, dieser Arzt verlangt eben soviel», sagt er ziemlich lahm. «Sie will nicht in irgendso 'ne Klinik gehen, was weiß ich warum. Sie will halt nicht.» Ich hole tief Luft und lehne mich zurück. «Clay, ich schwör's dir, das Geld ist für 'ne Abtreibung.» «Ach Julian, was soll das?» «Ich hab Kreditkarten und ein Girokonto, aber meine Eltern haben, glaub ich, alles sperren lassen. Ich brauch doch nur im Moment was. Wie isses denn nun: leihst du mir das Geld oder nicht?» «Ich leih's dir ja, Julian, aber ich will wissen, wofür du es brauchst.» «Das hab ich dir bereits gesagt.» Wir stehen auf und gehen ein bißchen im Einkaufszentrum spazieren. Zwei Mädchen kommen uns entgegen und lächeln. Julian lächelt zurück. Wir bleiben bei einem Laden für Punkkla85
motten stehen, und Julian nimmt ein Paar Polizeistiefel in die Hand und betrachtet sie genau. «Die sehen ganz schön abartig aus», sagt er. «Ich find sie gut.» Er stellt die Stiefel wieder hin und beginnt, an seinen Fingernägeln rumzukauen. Er nimmt einen Gürtel in die Hand, einen schwarzen Ledergürtel, und betrachtet ihn genau. Und auf einmal erinnere ich mich daran, wie Julian und ich in der fünften Klasse waren und nach der Schule Fußball gespielt haben und wie er und ich und Trent zum Magic Mountain gegangen sind, dem Mini-Disneyland, an Julians elftem Geburtstag. «Erinnerst du dich noch an die fünfte Klasse?» frage ich ihn. «An den Sportclub, nach der Schule?» «Kann mich nicht erinnern», sagt Julian. Er nimmt einen anderen Ledergürtel in die Hand, legt ihn wieder hin, und dann verlassen wir beide das Einkaufszentrum.
Am
selben Nachmittag, nachdem mich Julian um das Geld
gebeten und mir aufgetragen hat, es ihm in zwei Tagen vorbeizubringen, komme ich nach Hause, und das Telefon läutet, und Rip ist dran, und er fragt mich, ob ich Julian erreicht habe. Ich sage nein, und Rip fragt mich, ob ich irgendwas brauche. Ich sage ja, eine Viertelunze, also etwas mehr als sieben Gramm. Rip ist eine ganze Weile still und meint dann: «Sechshundert.» Ich schaue rüber zu dem Poster von Elvis Costello und dann aus dem Fenster, und dann zähle ich bis sechzig. Als ich mit Zählen fertig bin, hat Rip immer noch kein Wort gesagt. «Okay?» frage ich. Rip antwortet: «Okay. Morgen. Vielleicht.» Ich raffe mich auf und fahre zu einem Plattenladen und laufe einmal ganz durch und wühle zwischen den Stapeln rum, aber ich finde nichts Ordentliches, das ich nicht schon habe. Ich nehme ein paar neue Platten in die Hand und schau mir die Cover an, und bevor ich es merke, ist schon eine Stunde vergangen, und draußen wird es allmählich dunkel. 86
Spit kommt in den Laden rein, und ich bin drauf und dran, zu ihm rüberzulaufen, hallo zu sagen und nach Kim zu fragen, aber ich entdecke Einstiche auf seinem Arm, und ich gehe raus und überlege, ob Spit sich überhaupt an mich erinnern würde. Als ich schon fast bei meinem Wagen bin, sehe ich Alana und Kim und diesen blonden Rockabilly-Freak namens Benjamin auf mich zukommen. Es ist zu spät zum Umkehren, also setze ich ein Lächeln auf und gehe ihnen entgegen, und wir vier landen in einem japanischen Restaurant irgendwo in Studio City.
Wir sitzen in dem japanischen Restaurant in Studio City, und Alana redet kaum etwas. Sie schaut nur ständig runter auf ihre Cola light und steckt sich eine Zigarette nach der anderen an und drückt sie nach ein paar Zügen wieder aus. Als ich sie nach Blair frage, schaut sie mich an und sagt: «Willst du das ehrlich wissen?» und lächelt dann verkrampft und sagt: «Scheint dich ja wirklich zu interessieren.» Irgendwie bringt mich das aus der Fassung, und ich drehe mich von ihr weg und rede mit diesem Benjamin, der auf das College in Oakwood geht. Anscheinend ist sein BMW geklaut worden, und er breitet sich darüber aus, was für ein Glück es doch ist, daß er einen neuen BMW 320i gefunden hat, und zwar in demselben Grünton wie das Original, das ihm sein Vater gekauft hatte, und er sagt zu mir: «Ich meine, ich kann's noch gar nicht fassen, daß ich genau so einen gefunden habe, oder kommt dir das normal vor?» «Nein, mir auch nicht», antworte ich und werfe einen Blick auf Alana. Kim läßt Benjamin ein Stück rohen Fisch probieren, dann trinkt er einen Schluck Sake, den er nur mit einem gefälschten Ausweis gekriegt hat, weil sie hier in der Gegend ziemlich scharf das Gesetz einhalten, daß keinem unter achtzehn Alkohol verkauft wird. Benjamin fängt an, über Musik zu reden. «New Wave. Power Pop. Heavy Metal. Ist doch alles Scheiße. Ich sage euch, was im Kommen ist: Rockabilly. Und zwar nicht so 'n 87
Schlaffkram wie Stray Cats, sondern der echte Rockabilly. Im April will ich nach New York, die Rockabillyszene abchecken. Obwohl ich nicht weiß, ob New York der richtige Platz dafür ist. Vielleicht geht's ja in Baltimore los.» «Baltimore, soso», sage ich. «Ich steh auch auf Rockabilly», sagt Kim und reibt sich die Hände ab. «Aber die Psychedelic Furs sind immer noch echt gut, find ich, und den neuen Song von Human League mag ich unheimlich.» Benjamin sagt: «Human League, die sind out. Vorbei. Finito. Du hast absolut keine Ahnung, Kim.» Kim zuckt die Achseln. Ich frage mich, wo Dimitri sein mag; Jeff hängt immer noch in seinem Haus in Malibu rum, mit diesem Surfer. «Nee, ganz im Ernst, du hast keine Ahnung», fährt er fort. «Ich könnte wetten, daß du noch nicht mal die richtige Zeitschrift liest. Ich meine, The Face. Das müßtest du aber.» Er zündet sich eine Nelkenzigarette an. «Das mußt du einfach.» «Warum denn?» frage ich. Benjamin sieht mich an, fährt mit den Fingern über seine Haartolle und sagt: «Damit's dir nicht langweilig wird.» Ich sage, ach so, und dann mache ich mit Kim aus, daß ich sie und Blair irgendwann heute abend bei sich zu Hause abhole, und dann fahre ich heim und gehe mit meiner Mutter zum Abendessen. Als ich von diesem Essen zurückkomme, dusche ich lange, eiskalt. Ich sitze auf dem Boden der Wanne und richte den Wasserstrahl direkt auf mich.
Ich fahre zu Kims Haus und sehe Blair in Kims Zimmer sitzen, und sie hat eine Einkaufstüte von Jurgenson über dem Kopf, und ihr Körper wird ganz steif, als ich reinkomme, und sie dreht sich um, total überrascht, und langt zur Seite und dreht die Anlage leiser. «Wer ist denn das?» «Ich bin's», erkläre ich ihr. «Clay.» 88
Sie nimmt die Tüte vom Kopf und lächelt und erzählt mir, daß sie Schluckauf hatte. Zu Blairs Füßen liegt ein großer Hund, und ich beuge mich runter und streichel ihm über den Kopf. Kim kommt aus dem Badezimmer, zieht einmal an der Zigarette, die Blair geraucht hat, und schmeißt sie dann auf den Fußboden. Sie dreht die Anlage wieder auf, ein Song von Prince läuft. «Mensch, Clay, du siehst aus, als wärst du aufm Trip oder so was», sagt Blair und zündet sich eine neue Zigarette an. «Ich war grad abendessen mit meiner Mutter», erzähle ich ihr. Der Hund macht die Zigarette mit der Pfote aus und beginnt, sie aufzufressen. Kim erwähnt einen alten Freund von sich, der mal auf einem ganz üblen Trip war. «Er hat LSD genommen und kam sechs Wochen lang nicht davon runter. Seine Eltern haben ihn in die Schweiz geschickt.» Kim dreht sich um zu Blair, die den Hund anschaut. Der Hund verschlingt den Rest der Zigarette. «Sehe ich noch zu aufgemotzt aus?» fragt Kim uns. Blair schüttelt den Kopf und meint dann, sie sollte vielleicht den Hut abnehmen. «Findest du das auch?» fragt mich Kim unschlüssig. «Ja, mach doch.» Ich atme tief durch und setze mich auf Kims Bett. «Hört mal, wollen wir nicht ins Kino gehn, es ist sowieso noch unheimlich früh», sagt Kim, schaut in den Spiegel und nimmt den Hut ab. Blair steht auf und sagt: «Gute Idee. Was läuft denn?» Der Hund hustet und schluckt noch mal.
Wir
fahren nach Westwood. Der Film, den Kim und Blair
sehen wollen, fängt um zehn an und handelt von einer Gruppe junger hübscher Verbindungsstudentinnen, die mit aufgeschlitzten Kehlen in einen Pool geschmissen werden. Ich sehe die meiste Zeit gar nicht hin, nur bei den blutrünstigen Stellen. Meine 89
Augen wandern immer wieder weg von der Leinwand und zu den beiden grünen Leuchtschildern mit der Aufschrift «Ausgang», die über den beiden Türen hinten im Kino hängen. Der Film endet urplötzlich, und Kim und Blair bleiben noch sitzen und sehen sich den Nachspann an und erkennen eine Menge von den Namen wieder. Auf dem Weg nach draußen entdecken Kim und Blair Lene, und Blair packt mich am Arm und sagt: «O nein.» «Dreh dich um, dreh dich um. Da vorne ist Lene», sagt Kim mit flehender Stimme. «Erzähl ihr bloß nicht, daß wir sie heute in dieser blöden Sendung gesehen haben.» «Zu spät.» Blair lächelt. «Hallo Lene.» Lene ist zu braungebrannt und hat nur verwaschene Jeans und ein fast durchsichtiges Hard Rock Cafe T-Shirt an, und der Typ neben ihr ist sehr jung und sehr blond und auch zu braungebrannt, und er trägt eine Sonnenbrille und Shorts und Lene ruft: «Ach Gott! Blair und Kimmy.» Lene und Blair umarmen sich, und dann umarmen sich Lene und Kim und tun so, als würden sie sich auf die Wange küssen. «Das ist Troy», sagt Lene und zeigt auf diesen jungen Typen. «Und das ist Clay», sagt Blair und legt ihren Arm auf meine Schulter. «Hi, Troy», sage ich. «Hi, Clay», sagt er. Wir schütteln einander die schlaffe, zittrige Hand, und die Mädchen sehen erfreut aus. «Blair, hör doch mal, Troy und ich waren heute im Fernsehen, auf MV3. Hast du das zufällig gesehen?» fragt Lene. «Nee», sagt Blair mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme und sieht kurz zu Kim rüber. «Du vielleicht?» fragt Lene Kim. Kim schüttelt den Kopf. «Na ja, ich konnte mich ja selber nicht sehen. Ein einziges Mal hab ich geglaubt, ich würde mich sehen, aber ich war mir nicht sicher. Hast du mich gesehen, Troy?» Troy schüttelt den Kopf und beschäftigt sich mit seinen Fingernägeln. «Troy war voll im Bild, aber mich hatten sie wohl nicht drauf, 90
dabei hab ich doch mit Troy getanzt. Und statt mir war da so 'ne blöde Valley-Tante zu sehen, die ganz dicht neben Troy getanzt hat.» Sie zieht eine Zigarette aus der Schachtel und sucht nach einem Feuerzeug. «Vielleicht wiederholen sie's ja, und dann kannst du's ganz genau mitkriegen», sagt Blair und fängt beinahe an zu grinsen. «Ja, Mensch, die wiederholen das ganz sicher», fügt Kim grinsend hinzu und wirft einen Blick auf Troy. «Meinst du das ehrlich?» fragt Lene hoffnungsvoll. Ich gebe ihr Feuer. «Die bringen doch alles ein paarmal», sagt Blair. «Alles.» Eigentlich wollen wir ja zum Nowhere Club, aber Kim verfährt sich und vergißt die Adresse, und deshalb landen wir statt dessen in einer Kneipe namens Barney's und hocken da ziemlich schweigsam rum, und Kim redet über ihre Party, und ich spiele ein bißchen Billard, und als Blair einen Drink bestellt, fragt die Kellnerin nach ihrem Ausweis, und Blair zeigt ihr einen gefälschten, und die Kellnerin bringt ihr einen Drink, und Blair gibt ihn Kim, die ihn sofort runterstürzt und dann sagt, daß Blair noch einen bestellen soll. Und die beiden unterhalten sich darüber, wie blöd Lene heute auf MV3 ausgesehen hat.
Am nächsten Abend, als ich gerade auf dem Bett liege und der Fernseher läuft, ruft mich Trent an und erzählt mir, daß er ziemlich depressiv ist; daß er kein Kokain mehr hat und Julian nicht erreichen kann; daß es Probleme mit einem Mädchen gibt. «Gestern abend sind wir zu so 'ner Party gefahren, oben am Stadtrand ...» fängt Trent an und bricht dann ab. «Na und?» frage ich und starre auf den Fernseher. «Vielleicht hat sie ja 'n anderen Freund oder so, ich weiß auch nicht ...» Er bricht wieder ab. «Irgendwie läuft's nicht zwischen uns. Ich bin ziemlich am Arsch.» Nach einer ziemlich langen Pause frage ich: «Du bist am Arsch?» 91
«Komm doch mit ins Kino», sagt Trent. Ich brauche eine Weile, um darauf zu antworten, weil sie gerade in einem Video zeigen, wie Häuser in die Luft gejagt werden, in Zeitlupe und schwarzweiß. Auf dem Weg zum Beverly Center raucht Trent einen Joint und erwähnt, daß dieses Mädchen ganz in der Nähe vom Beverly Center wohnt und daß ich ihr ein bißchen ähnlich sehe. «Na toll», sage ich. «Ach weißt du, Weiber sind sowieso das letzte. Diese vor allem. Die ist ganz übel drauf. Dauernd zugekokst, dann haut sie sich so 'ne Diätpillen rein, Preludin heißen die, und Speed jede Menge. Das ist schon nicht mehr feierlich.» Trent nimmt noch einen Zug, reicht mir den Joint, kurbelt das Fenster runter und schaut zum Himmel hoch. Wir stellen das Auto ab und gehen dann durch das leere, hellerleuchtete Beverly Center. Alle Läden sind geschlossen, und während wir zur obersten Etage hochsteigen, wo die Filme laufen, kriege ich auf einmal zuviel von den weißen Fußböden und weißen Decken und weißen Wänden, und wir laufen ziemlich schnell durch das leere Center und begegnen keinem anderen Menschen, bis wir bei den Kinos ankommen. Da lungern ein paar Leute am Kartenhäuschen rum. Wir kaufen unsere Karten und gehen durch die Halle bis zum Kino dreizehn, Trent und ich sind die einzigen Besucher, und in diesem schmalen, hohen Kabuff teilen wir uns noch einen Joint.
Als
wir aus dem Kino kommen, anderthalb oder zwei Stun-
den später, läuft so ein Mädchen mit rosa Haaren und Rollschuhen über der Schulter auf Trent zu. «Hi, Trent, Mensch, du. Ist das nicht der reine Wahnsinn?» kreischt dieses Mädchen. «Hallo Ronnette, was machst du denn hier?» Trent ist total zugekifft; die zweite Hälfte des Films hat er komplett verschlafen. 92
«Ach, nichts besonderes.» «Ronnette, das ist Clay. Clay - Ronnette.» «Hi, Clay», zwitschert sie. «Na, ihr beiden, was für einen Streifen habt ihr euch denn angeguckt?» Sie wickelt einen Kaugummi aus und schiebt ihn sich in den Mund. «Äh ... Nummer dreizehn», murmelt Trent. Er sieht ziemlich fertig aus: rotgeränderte Augen, halbgeschlossen. «Wie hat er denn geheißen?» fragt Ronnette. «Hab ich vergessen», sagt Trent und schaut zu mir rüber. Ich hab's auch vergessen und zucke bloß die Achseln. «He, Trenty, kannst mich 'n Stück mitnehmen? Bist du mit 'm Auto hier?» fragt sie. «Nee, also, ja. Nein, mit Clays Auto.» «Oh, Clay, kannst du mich mitnehmen?» «Sicher doch.» «Toll. Ich will mir nur die Rollschuhe anschnallen, und dann können wir.» Auf dem Weg durchs Center begegnen wir einem Wachmann, der allein auf einer weißen Bank sitzt und raucht, und er belehrt Ronnette, daß das Rollschuhfahren im Beverly Center nicht gestattet ist. «O Mann», sagt Ronnette und rollt davon. Der Wachmann bleibt sitzen und zieht an seiner Zigarette und glotzt uns hinterher. Sobald wir im Auto sitzen, erzählt uns Ronnette, daß sie gerade mit Gesangsaufnahmen fertig geworden ist, genauer gesagt, Backgroundaufnahmen für Bandarastas neues Album. «Aber ich kann Bandarasta nicht ab. Aus irgendwelchen Gründen nennt er mich dauernd ‹Halloween›. Ich find's bescheuert, wenn jemand ‹Halloween› zu mir sagt. Ich find's total bescheuert.» Ich frage nicht, wer Bandarasta ist; statt dessen frage ich sie, ob sie als Sängerin arbeitet. «Ja, das könnte man sagen. Eigentlich bin ich aber Friseuse. Weißt du, ich hab Drüsenfieber gekriegt und bin von der Uni abgegangen, und jetzt häng ich halt so rum. Ich male auch ... o Gott, dabei fällt mir ein, ich hab meine Bilder in Devos Haus 93
vergessen. Ich glaub, die wollen sie in so 'n Video einbauen. Na ja ...» Sie fängt an zu lachen und bricht plötzlich ab und bläst ihren Kaugummi auf und läßt ihn knallen. «Was wolltest du mich fragen, ich hab's vergessen.» Ich stelle fest, daß Trent eingeschlafen ist, und stoße ihm in den Bauch. «Ich bin wach, Mann, ehrlich.» Er setzt sich auf und kurbelt das Seitenfenster runter. «Cla-ay», sagt Ronnette. «Was wolltest du mich fragen? Ich hab's vergessen.» «Was du so machst», antworte ich leicht irritiert, weil ich mich voll darauf konzentriere, wach zu bleiben. «Also, ich arbeite bei Flip und schneide den Leuten die Haare. Ach, dreh doch bitte auf. Der Song ist so toll. Die spielen am Freitag im Palace.» «Trent, wach auf, du Arsch», sage ich laut, über die Musik hinweg. «Bin doch wach, ehrlich, Mann. Meine Augen sind bloß müde.» «Mach sie auf», befehle ich ihm. Er macht sie auf und sieht sich im Auto um. «Die Haare sehen gut aus», erklärt er Ronnette. «Selbstgemacht. Weißte, ich hatte da einen Traum, und in dem Traum konnte ich sehen, wie die ganze Welt zu schmelzen anfing. Ich war auf La Cienega, und von da aus konnte ich die ganze Welt sehen, und alles war am Schmelzen, echt stark du, total realistisch. Und da dachte ich so, na ja, wenn der Traum wahr würde, was könnte ich dagegen machen, verstehst du?» Ich nicke. «Wie könnte ich das ändern, verstehst du? Und da dachte ich, also, wenn ich mein Ohr durchstechen lasse oder so was, halt irgendeine äußere Veränderung an mir, die Haare färben zum Beispiel, dann würde die Welt nicht schmelzen. Also hab ich mir die Haare gefärbt, und dieses Rosa hält sich. Ich find das gut. Es hält sich. Ich glaub nicht mehr dran, daß die Welt schmilzt.» 94
Ihr Ton überzeugt mich nicht besonders, und ich kann es kaum fassen, daß ich tatsächlich nicke, aber ich halte vor einem Hot-Dog-Stand auf dem Santa Monica, und sie klettert etwas umständlich aus dem engen Mercedes-Rücksitz und stolpert und fällt hin, und als ich wieder losfahre, liegt sie auf dem Bürgersteig und lacht. Ich frage Trent, woher er sie kennt. Wir kommen an der Reklametafel auf dem Sunset vorbei. Verschwinde von hier. Ob er wohl zu verkaufen ist. «Von irgendwoher halt», sagt er. «Willste 'n Joint?»
Am nächsten Tag bringe ich das Geld
in einem grünen Um-
schlag nach Bel Air. Julian ist tatsächlich zu Hause. Er liegt in einer nassen Badehose auf seinem Bett und schaut sich MTV an. Es ist ganz dunkel im Zimmer, nur aus dem Fernseher kommt etwas Licht, weiß und grau. «Ich hab das Geld dabei», sage ich zu ihm. «Toll», antwortet er. Ich gehe rüber zu seinem Bett und lege das Geld hin. «Du brauchst nicht nachzählen. Es ist alles da.» «Danke, Clay.» «Wofür ist es in Wirklichkeit, Julian?» Julian schaut in den Fernseher, bis der Video zu Ende ist, und dreht dann den Kopf weg und sagt: «Wieso?» «Weil das schließlich eine ganz schöne Menge Geld ist.» «Warum hast du's mir dann gegeben?» fragt er und streicht sich mit der Hand über seine braungebrannte, glatte Brust. «Weil du ein Freund bist?» Es kommt so raus, als wäre das eine Frage. Ich schau auf den Boden. «Genau», sagt Julian und dreht das Gesicht wieder zum Fernseher. Ein neues Video fängt an. Julian schläft ein. Ich gehe. 95
Rip ruft mich an und sagt, daß ich mich mit ihm in der La Scala Boutique treffen soll, um dort 'ne Kleinigkeit zu essen, vielleicht einen Salatteller, und 'n kleines Geschäft zu machen. Ich fahre zur La Scala und finde hinter dem Haus einen Parkplatz und bleibe noch sitzen und hör mir das Ende von einem Song im Radio an. Die Leute mit dem dunkelblauen Jaguar hinter mir glauben wohl, daß ich wegfahren will, aber ich winke sie nicht vorbei. Ich bleibe noch ein bißchen länger sitzen, und der Jaguarfahrer hupt schließlich und fährt davon. Ich steige aus und gehe ins Restaurant und setze mich an die Bar und bestelle ein Glas Rotwein. Nachdem ich es ausgetrunken habe, bestelle ich ein zweites, und bei Rips Ankunft sitze ich schon an meinem dritten. «Na, Junge, wie geht's denn so?» Ich starre auf mein Glas. «Hast du das Zeug mitgebracht?» «Junge, Junge.» Sein Tonfall ändert sich. «Ich hab dich gefragt, wie's dir geht. Willst du mir darauf nicht antworten, oder wie soll ich das verstehen?» «Gut geht's mir, Rip. Echt gut.» «Na toll. Genau das wollte ich hören. Trink deinen Wein aus, und dann suchen wir uns einen Tisch.» «Okay.» «Du siehst gut aus.» «Danke», sage ich und trinke aus und lasse einen Zehner auf der Theke liegen. «Richtig schön braun», meint er, als wir uns hinsetzen. «Hast du das Zeug mitgebracht?» «Ganz ruhig ...» sagt Rip und schaut sich die Speisekarte an. «Es wird allmählich heiß. Richtig heiß. Wie letzten Sommer.» «Mmh, ja.» Auf der anderen Straßenseite fällt eine alte Frau mit Regenschirm plötzlich hin. «Erinnerst du dich noch an letzten Sommer?» fragt er mich. «Nicht mehr so genau.» Ein paar Leute beugen sich über die alte Frau, und ein Krankenwagen kommt angefahren, aber die meisten Gäste im La Scala scheinen nichts davon mitzukriegen. «Ach komm, natürlich erinnerst du dich.» 96
Letzten Sommer. Dinge vom letzten Sommer, an die ich mich erinnern kann. Viel in Clubs rumgehangen: The Wire, Nowhere Club, Land's End, The Edge. Aufputschpillen morgens um drei bei Canter's. Von einer Reklametafel auf dem Sunset grinst höhnisch ein riesiger grüner Totenkopf mit Kapuze auf die Autofahrer runter, hält eine Sammelbüchse, winkt mit seinen Knochenfingern. Ein Transvestit im Bikini, der in der Schlange vor einem Kino steht. In diesem Sommer sah ich überhaupt eine Menge Transvestiten. Das Abendessen bei Morton's mit Blair, wo sie mich bat, nicht nach New Hampshire zu gehen. Ein Zwerg, der in einen Renault Corvette klettert. Mit Julian bei einem Konzert von den Go-Gos. Eine Party bei Kim an einem heißen Sonntag nachmittag. B 52s im Radio. Gazpacho, eine spanische kalte Tomatensuppe, Chili von Chasen's, Hamburger, Bananendaiquiris, Sahneeis Marke Double Rainbow. Zwei englische Jungs, die am Pool rumhängen und mir erzählen, wie gern sie bei Fred Segal arbeiten. In diesem Sommer schienen alle jungen Engländer bei Fred Segal zu arbeiten. Ein dünner französischer Junge, mit dem Blair ins Bett geht, raucht einen Joint, steckt seine Füße in den Whirlpool. Ein großer schwarzer Rottweiler beißt ins Wasser und schwimmt durch das Becken. Rip spaziert mit einem Plastikauge im Mund rum. Ich starre immer nur an den Palmen vorbei in den Himmel.
Heute abend soll im Palace jemand spielen, aber Blair ist betrunken, und Kim entdeckt Lene vor dem Club, und die beiden stöhnen auf, und Blair wendet und fährt zurück. Ein Mädchen namens Angel wollte eigentlich mitkommen, aber heute nachmittag ist sie in den Abfluß von ihrem Whirlpool geraten und beinahe ertrunken. Kim sagt, daß die Garage neu eröffnet hat, irgendwo auf der La Brea, und Blair fährt die ganze La Brea entlang und dann die ganze La Brea wieder zurück und dann die ganze Straße noch mal hin und her, und sie kann die Garage nicht finden. Blair lacht 97
und sagt: «So was Albernes» und läßt eine Kassette von Spandau Ballet laufen und dreht voll auf. «Dann gehen wir halt in das blöde Edge», brüllt Kim. Blair fängt an zu lachen und sagt dann: «Na gut.» «Was meinst du, Clay? Sollen wir ins Edge?» fragt Kim. Ich hocke auf dem Rücksitz und bin schon betrunken und zucke die Achseln, und als wir endlich im Edge sind, zieh ich mir noch zwei Drinks rein. Der Discjockey, der heute im Edge die Musik macht, läuft mit freiem Oberkörper rum, und seine Brustwarzen sind durchstochen, und er hat einen Cowboyhut auf und zwischen den einzelnen Songs murmelt er immer «Hipp-Hipp-Hurra.» Kim sagt zu mir, daß sich der Discjockey offenbar nicht entscheiden kann, ob er auf Macho oder New Wave machen soll. Blair stellt mir eine Freundin von sich vor, die Christie heißt und in einer neuen ABC-Fernsehshow mitmacht. Lindsay, ihr Freund, ist groß und hat unheimliche Ähnlichkeit mit dem Jungstar Matt Dillon. Lindsay und ich gehen die Treppe rauf zur Toilette und ziehen uns auf einem Klo ein bißchen Koks rein. Über dem Waschbekken, auf dem Spiegel, steht in großen schwarzen Buchstaben: «Das Reich des Stumpfsinns.» Lindsay und ich gehen aus der Toilette und setzen uns an die Bar im oberen Stock, und er erzählt mir, daß nirgendwo in der Stadt besonders viel los ist. Ich nicke und konzentriere mich auf das aus- und angehende Strobolicht, das über die große Tanzfläche zuckt. Lindsay zündet mir die Zigarette an und beginnt, auf mich einzureden, aber die Musik ist laut und ich kann kaum was verstehen. So ein Surfertyp rempelt mich an und grinst dann und fragt mich, ob ich Feuer habe. Lindsay hält dem Jungen ein Feuerzeug unter die Nase und grinst zurück. Dann breitet sich Lindsay darüber aus, daß er in den letzten vier Monaten keinen Menschen über neunzehn kennengelernt hat. «Das haut dich vom Hocker, was?» brüllt er über die Musik hinweg. Lindsay steht auf und sagt, daß er seinen Dealer, eine Frau, entdeckt hat und daß er gleich mal mit ihr reden muß. Ich bleibe allein an der Theke sitzen und mach mir noch eine Zigarette an, bestell mir noch einen Drink. Ein dickes Mädchen sitzt ebenfalls 98
allein an der fast leeren Theke und versucht, sich mit dem Barkeeper zu unterhalten, der genau wie der Discjockey ohne Hemd ist und hinter der Theke zu der Musik tanzt, die aus den riesigen Lautsprechern dröhnt. Das dicke Mädchen hat eine Menge Make-up im Gesicht, und sie trinkt ihr Tab mit einem Strohhalm und trägt lila Calvin Klein-Jeans und dazu passende Cowboystiefel. Der Barkeeper hört ihr gar nicht zu, und ich kann mir auf einmal genau vorstellen, wie sie irgendwo in der Stadt allein in einem Zimmer hockt und darauf wartet, daß das Telefon läutet. Das dicke Mädchen bestellt sich noch ein Tab. Die Musik unten bricht plötzlich ab, und der Discjockey kündigt an, daß in zwei Wochen eine Minirock-Strandparty in den Florentine Gardens stattfindet. «Heut nacht ist ja wirklich was los», erzählt das dicke Mädchen dem Barkeeper. «Ja, wo denn?» fragt der Barkeeper. Das Mädchen schaut einen Moment lang verlegen auf den Boden und bezahlt ihr Tab, und ich kann es kaum verstehen, als sie «Irgendwo halt» murmelt, und dann steht sie auf und macht den obersten Knopf von ihrer Jeans zu und geht weg, und irgendwann später an diesem Abend wird mir klar, daß ich noch zwei Wochen zu Hause vor mir habe.
Der
Psychiater, zu dem ich gehe, erzählt mir, daß er eine
neue Idee für ein Drehbuch hat. Statt ihm zuzuhören, lege ich ein Bein über die Lehne von seinem schicken riesigen schwarzen Leder-Bürostuhl und zünde mir eine Zigarette an, eine Nelkenzigarette diesmal. Der Typ redet endlos auf mich ein, und alle paar Sätze streicht er sich mit den Fingern über den Bart und schaut mich an. Ich habe meine Sonnenbrille auf, und er weiß nicht ganz genau, ob ich ihn auch anschaue, aber das tu ich. Der Psychiater redet immer weiter, und irgendwann spielt es überhaupt keine Rolle mehr, was er sagt. Er legt eine Pause ein und fragt mich dann, ob es mir Spaß machen würde, ihm dabei 99
zu helfen. Ich erkläre ihm, daß ich kein Interesse daran habe. Der Psychiater sagt so was Ähnliches wie: «Clay, du weißt doch, daß wir beide uns gemeinsam gefragt haben, wie du mehr Aktivität entwickeln könntest, statt immer so passiv zu sein, und ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn du mir bei diesem Drehbuch helfen würdest. Zumindest könnte das ein Behandlungsschritt sein.» Ich murmel irgendwas, blas den Rauch von meiner Nelkenzigarette in seine Richtung und schau aus dem Fenster.
Ich
stelle mein Auto vor Trents neuem Apartment ab, dem
Apartment, in dem er während des Semesters wohnt, das nur wenige Minuten von der U.C.L.A. entfernt ist. Rip kommt an die Tür; schließlich ist er ja Trents neuer Dealer, schließlich hat Trent es ja nicht geschafft, Julian zu finden. «Rat mal, wer hier ist», sagt Rip zu mir. «Wer?» «Rat mal.» «Wer?» «Rat mal.» «Sag's mir endlich.» «Ein junger, reicher Iraner- steht ganz zu deiner Verfügung.» Rip schiebt mich ins Wohnzimmer. «Da ist er: Atiff.» Atiff, den ich seit dem Examen nicht mehr gesehen habe, sitzt auf der Couch. Er trägt Slipper von Gucci und einen teuren italienischen Anzug. Atiff studiert im ersten Semenster an der U.S.C. und fährt einen schwarzen 380er SL. «O Clay, wie geht's dir, mein Freund?» Atiff erhebt sich von der Couch und schüttelt mir die Hand. «Ganz gut. Und dir?» «Oh, sehr, sehr gut. Ich bin gerade erst aus Rom zurückgekommen.» Rip geht aus dem Wohnzimmer und in Trents Zimmer und schaltet MTV ein und dreht die Lautstärke auf. 100
«Wo ist eigentlich Trent?» frage ich und überlege mir, wo die Hausbar sein könnte. «Unter der Dusche», sagt Atiff. «Du siehst hervorragend aus. Wie war's in New Hampshire?» «Ganz gut», sage ich und grinse rüber zu Trents Mitbewohner Chris, der am Küchtentisch sitzt und gerade telefoniert. Er grinst zurück und steht auf und fängt an, ganz nervös in der Gegend rumzulaufen. Atiff redet über Clubs in Venedig und darüber, auf welche Weise er in Florenz einen Louis-VuittonKoffer verloren hat. Er zündet sich eine dünne italienische Zigarette an. «Ich bin vorgestern abend zurückgekommen, weil man mir gesagt hat, daß die Seminare bald wieder anfangen. Ich weiß nicht genau wann, aber es soll doch ziemlich bald sein.» Er unterbricht sich. «Diese Party von Sandra gestern abend, bei Spago, bist du zufällig dagewesen? Nein? War auch nicht so gut.» Ich nicke und sehe rüber zu Chris, der den Hörer aufknallt und «Scheiße» brüllt. «Stimmt was nicht?» fragt Atiff. «Meine Gitarre ist mir geklaut worden, und ich hatte ein bißchen Desoxyn drin versteckt, aber das Zeug war für jemand anders.» «Was machst du eigentlich?» frage ich Chris. «Ach, ich häng so 'n bißchen an der U.C.L.A. rum.» «Haste irgendwas Bestimmtes belegt?» «Ja, glaub schon.» «Chris komponiert auch», sagt Trent, der plötzlich ins Zimmer kommt, nur in Jeans, mit nassen Haaren, die er sich gerade trockenreibt. «Spiel ihnen doch mal was von deinem Zeug vor.» «Na gut», sagt Chris und zuckt die Achseln. Chris geht zur Stereoanlage und legt eine Kassette ein. Von da aus, wo ich stehe, kann ich den dampfenden blauen beleuchteten Whirlpool sehen und dahinter einen Satz Hanteln und zwei Fahrräder. Ich setze mich auf die Couch und sehe ein paar von den Zeitschriften durch, die überall auf dem Tisch rumliegen: 101
Gentlemen's Quarterly, zwei oder drei Rolling Stones und ein Exemplar vom Playboy und die Ausgabe von People, in der Blair und ihr Vater abgebildet sind, und ein Stereo Review und ein Surfer-Magazin. Ich blätter den Playboy durch und plötzlich dreh ich ab und starre auf das gerahmte Poster vom «Hotel California»-Album: auf den hypnotisierenden blauen Schriftzug: auf die Schatten der Palmen. Trent erwähnt, daß ein Typ namens Larry auf der Filmhochschule nicht angenommen worden ist. Die Musik dröhnt aus den Lautsprechern, und ich versuche, ihr zuzuhören, aber Trent labert immer weiter über diesen Larry, und Rip kriegt in Trents Zimmer anscheinend einen hysterischen Lachkrampf. «Ich meine, sein Vater macht 'ne Serie mit absoluten Spitzeneinschaltquoten. Und er selber hat die volle Filmausrüstung und alles, und diese Arschgesichter von der U. S. C. lassen ihn trotzdem nicht die Ausbildung machen? So was kann doch nicht angehen.» «Die ham ihn nicht aufgenommen, weil er voll auf Heroin ist», ruft Rip aus dem anderen Zimmer. «Was laberst du denn da für 'n Scheiß?» «Wußtest du das etwa nicht?» ruft Rip und lacht dabei. «Sag mal, wovon redest du überhaupt?» «Der frißt das Zeug ja praktisch schon roh zum Frühstück», sagt Rip und dreht den Fernseher leise. «Und dabei war er früher mal ganz normal.» «Verdammte Scheiße, Rip», rufe ich laut. «Was heißt denn für dich ‹normal›?» «Nee, nee, ich meine richtig normal.» «Ach du Scheiße, gerade von Larry hätte ich das nicht gedacht», sagt Atiff. «Du steckst doch sowieso voller Scheiße», ruft Trent zum anderen Zimmer rüber. «Ach Trent, leck mich am Arsch», schreit Rip. «Dann laß die Hosen runter», ruft Trent und lacht und geht in sein Zimmer rüber. «He, wer hat eigentlich den Tisch bei Morton's bestellt?» Plötzlich überkommt mich so ein Déjà-vu-Gefühl, und ich 102
schlage ein Gentlemen's Quarterly auf, und die Bilder, die bei meinen Schwestern im Zimmer hängen, erscheinen vor meinen Augen. Die Musik ist zu laut, und es hört sich so an, als würde ein kleines Mädchen singen, und das elektronische Schlagzeug hämmert stumpfsinnig und aufdringlich. Die Kleinmädchenstimme kreischt: «I don't know where to go / I don't know what to do / I don't know where to go / I don't know what to do / Tell me. Tell me ...» «Hast du einen Tisch bestellt?» ruft Trent noch mal. «Hast du Methadon da?» ruft Chris zu Trent rüber. «Nein», ruft Trent zurück. «Wer hat den Tisch bestellt?» «Hab ich gemacht», brüllt Rip. «Hört jetzt auf mit dem Geschrei.» «Hat einer von euch zufällig ein bißchen Methadon?» fragt Chris. «Methadon?» fragt Atiff. «Hör zu, keiner von uns hat was dabei», erkläre ich ihm. Die Musik bricht ab. «Du mußt dir den nächsten Song anhören», sagt Trent und zieht sich ein Hemd über. Chris reagiert nicht darauf, sondern geht in die Küche und nimmt den Telefonhörer in die Hand. Er wählt eine Nummer und fragt denjenigen, der dran ist, ob er vielleicht Methadon hat. Chris hört einen Moment lang zu, legt dann auf und sieht plötzlich ganz deprimiert aus. «Irgendso 'n Typ hat mir heute einen Antrag gemacht», sagt Rip und kommt ins Wohnzimmer. «Er hat mich im Flip angesprochen und mir sechshundert Dollar angeboten, wenn ich ihn übers Wochenende nach Laguna begleite.» «Na, da warst du sicher nicht das einzige Opfer», sagt Trent und kommt auch ins Wohnzimmer und macht die Tür auf, die zum Whirlpool rausführt. Er bückt sich und checkt die Wassertemperatur. «Chris, hast du Zigaretten da?» «Klar doch, in meinem Zimmer, aufm Nachttisch», sagt Chris und wählt eine andere Nummer. Ich starre wieder auf das Poster und frage mich, ob ich den Koks, den ich dabeihabe, jetzt nehmen soll, bevor wir zu Mor103
ton's gehen, oder erst, wenn wir dort sind. Trent kommt aus Chris' Zimmer raus und will wissen, wer da drin auf dem Boden liegt und schläft. «Ach ja, das ist, glaub ich, Alan. Der ist so seit zwei Tagen da.» «Na toll», sagt Trent. «Ganz toll.» «Laß ihn einfach in Ruhe. Er hat Drüsenfieber oder so was.» «Können wir jetzt endlich los?» ruft Trent. Rip geht erst noch mal aufs Klo, und Atiff und ich erheben uns von der Couch. Chris legt den Hörer auf. «Bist du noch da, wenn ich zurückkomme?» fragt Trent ihn. «Nee. Ich muß rüber in die Colony, 'n bißchen Methadon besorgen.»
Meine Träume gehen ganz
normal los. Ich bin jünger als in
Wirklichkeit und komme gerade aus der Schule. Der Himmel ist bedeckt, die Wolken sind grau und weiß, manche auch lila. Plötzlich fängt es an zu regnen, und ich renne los. Ich renne unheimlich lange durch diese Wassermassen, so kommt es mir jedenfalls vor. Auf einmal rutsche ich im Matsch aus und falle flach auf den Boden, und weil die Erde so durchgeweicht ist, sinke ich ein, immer tiefer, und der Matsch läuft in meinen Mund, und ich fange an, ihn zu schlucken, und dann läuft er mir schon durch die Nase und schließlich voll in meine Augen, und ich wache erst auf, als ich total damit bedeckt bin. In L. A. fängt der Regen an. Ich lese davon, wie mitten in der Nacht ganze Häuser umkippen und von den Hügeln runterrutschen, und ich bleibe wach, meistens aufgedreht vom Koks, bis zum frühen Morgen, um ganz sicher zu sein, daß mit unserem Haus nichts passiert. Dann geh ich vor die Tür, und der feuchte Dunst schlägt mir ins Gesicht, und ich hol die Zeitung rein und les die Filmseite und geb mir Mühe, den Regen einfach zu ignorieren. Die Tage, an denen es regnet, sind nicht gerade aufregend. Eine von meinen Schwestern kauft einen Fisch und setzt ihn in den 104
Whirlpool, und die Hitze und der Chlor bringen ihn zur Strecke. Ich kriege eigenartige Telefonanrufe. Irgend jemand ruft an, meistens mitten in der Nacht, und zwar meine Durchwahlnummer, und wenn ich drangehe, sagt die Person am anderen Ende drei Minuten lang nichts. Ich zähle mit. Dann höre ich einen Seufzer und die Person legt auf. Die Ampeln auf dem Sunset haben einen Kurzschluß; an der einen Kreuzung blinkt immer das gelbe Licht auf, und dann blinkt das grüne Licht zwei Sekunden lang, und dann wieder das gelbe, und dann fangen das rote und das grüne Licht im selben Moment an zu strahlen. Ich erfahre, daß Trent vorbeigekommen ist. Er trug einen richtig teuren Anzug, sagen meine Schwestern, und saß in einem Mercedes, den er «von einem Freund» hatte, wie er ihnen mitteilte. Er teilte ihnen auch mit, daß sie mir ausrichten sollten, Scott hätte 'ne Überdosis genommen. Ich weiß nicht, wer Scott ist. Es regnet immer weiter. Und in dieser Nacht, nachdem ich drei von diesen komischen stummen Anrufen bekommen habe, breche ich ein Glas kaputt, indem ich es gegen die Wand schmeiße. Niemand kommt her, um rauszufinden, was für ein Geräusch das war. Dann liege ich auf dem Bett, hellwach, nehme zwanzig Milligramm Valium, um vom Koks runterzukommen, aber ich werde trotzdem nicht müde. Ich schalte MTV aus und das Radio an, aber ich kriege meinen Lieblingssender KNAC nicht rein, also schalte ich auch das Radio aus und starre hinunter auf das Valley, auf diese Leinwand aus Neon und flimmernden Lichtern unter dem lila Nachthimmel, und ich stehe nackt am Fenster und sehe den vorbeiziehenden Wolken nach, und dann lege ich mich aufs Bett und versuche, mich zu erinnern, wie viele Tage ich jetzt schon wieder zu Hause bin, und dann stehe ich wieder auf und laufe im Zimmer hin und her und zünde mir noch eine Zigarette an, und dann beginnt wieder das Telefon zu läuten. So sind die Nächte, wenn es regnet. 105
Ich sitze mit Trent und Blair bei Spago, und Trent sagt, daß sich die Leute an der Theke gerade Kokain reingetan hätten, garantiert, und ich antworte, warum gehst du nicht rüber und leistest ihnen Gesellschaft, und daraufhin sagt er, daß ich den Mund halten soll. Vorhin, in Trents Wohnung, haben wir noch ein halbes Gramm genommen, und deshalb ist keiner von uns besonders hungrig, und wir bestellen nur Vorspeisen und eine Pizza und trinken dafür einen Greyhound nach dem anderen, das ist Wodka mit Grapefruitsaft. Die spielen hier den neuesten Song von Human League, und Blair summt mit und reibt sich dauernd die Nase am Handgelenk. Als der Kellner uns die vierte Runde Greyhounds bringt, fragt Blair ihn, ob er neulich mal im Edge war. Er lächelt und schüttelt den Kopf. «Nun mal ganz im Ernst», sagt Blair zu Trent. «Ist Walker wirklich ein Alkoholiker?» «Ja, das isser wirklich», antwortet Trent. «Hab ich mir's doch gedacht. Aber trotzdem ist er ein toller Typ. Walker, der ist einfach in Ordnung.» Trent lacht zustimmend und schaut zu mir rüber. Einen Moment lang bin ich total durcheinander und schaue die beiden an und sage: «Walker ist echt nett.» Ich weiß nicht, wer Walker ist. «Ja, ich mag Walker», sagt Trent. «Ja, Walker ist nett», fügt Blair hinzu und nickt. «Hab ich euch eigentlich schon erzählt», sagt Trent, «daß ich morgen zu den Springs fahre? Ich muß da hin, weil ich so 'nem lahmarschigen mexikanischen Gärtner 'n bißchen auf die Finger sehen soll, damit er auch was tut. Der pflanzt uns da Kakteen hinters Haus. Ist das nicht mal wieder sagenhaft typisch. Also so was von typisch. Meine Mutter hat mich drum gebeten, und ich sag: ‹Das läuft nicht, Alte›, und sie: ‹Du tust auch nie mal was für mich›, und ich meine, sie hat ja recht, also sag ich ‹okay›, sie tut mir schließlich auch leid und so. Außerdem hab ich gehört, daß Sandy erstklassigen Koks haben soll, na ja, und der ist eben auch dort.» Blair lächelt. «Was bist du doch für ein guter Junge.» 106
Es geht auf Mitternacht zu, und jemand zahlt die Rechnung, und Blair geht aufs Klo, und da erzähle ich Trent, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, wer Walker ist. Trent schaut mich an und sagt: «Du bist echt total unlogisch, weißt du das eigentlich?» «Wieso denn unlogisch?» «Mann, Mann. Du bist einfach lächerlich.» «Warum soll ich denn unlogisch sein?» «Weil du unlogisch bist, deshalb.» «Das war grad aber auch unlogisch.» «Das mag schon sein.» «Hergott noch mal.» «Clay, du bist bescheuert», sagt Trent grinsend. «Nee, überhaupt nicht», erkläre ich ihm und grinse zurück. «Doch, doch, ich glaube schon. Ich bin mir sogar total sicher», sagt er. «Ach, wirklich?» Trent macht sein Glas leer, lutscht auf einem Eiswürfel rum und fragt: «Und mit wem bumst du so zur Zeit?» «Mit niemand. Außerdem geht es weder dich noch Blair das geringste an, mit wem ich bumse, kapiert?» «Is ja gut», sagt er ein bißchen verächtlich. «Was soll das überhaupt?» frage ich Trent. Er antwortet nicht. «Mit wem bumst du?» frage ich ihn. «Komm, komm, laß das bitte.» «Nein, Trent, mit wem bumst du?» frage ich noch mal. «Du schnallst aber auch gar nichts.» «Was soll ich denn schnallen? Was gibt's denn da zu schnallen?» frage ich. «Wenn das hier irgendwas mit Blair zu tun haben sollte, dann hast du dich nämlich schön verarschen lassen. Glaubt sie etwa, daß wir immer noch miteinander gehen? Hat sie dir das erzählt? Also, damit du's weißt: Das stimmt nicht. Kapiert?» Die Wirkung vom Koks läßt schon rapide nach, und ich will aufstehen und zur Toilette gehen. «Hast du ihr das gesagt?» fragt er schließlich. «Nein», sage ich, wobei ich ihn immer noch ansehe, und dann drehe ich den Kopf weg und schaue aus dem Fenster. 107
«So was Mieses. Echt mies», sagt er langsam. «Worum geht's?» fragt Blair und setzt sich wieder zu uns. «Um Roberto», sagt Trent und vermeidet Augenkontakt mit mir. Ich will Trent und Blair jetzt nicht allein lassen, also bleibe ich still sitzen. «Ach, ich weiß nicht. Der ist doch ganz freundlich.» «Nee, nee, das täuscht.» «Er ist halt anders, irgendwie», sagt Blair. «Und warum magst du ihn?» fragt Trent, steckt sich noch einen Eiswürfel in den Mund und wirft mir einen wütenden Blick zu. «Darum», sagt Blair und steht auf. «Weil du ihn nämlich gar nicht so besonders gut kennst.» Trent steht auch auf, und Blair lacht und sagt: «Schon möglich», und sie hat mittlerweile ziemlich gute Laune, und ich frage mich, ob sie sich auf dem Klo ein bißchen Kokain reingetan hat. Und dann frage ich mich, ob das eigentlich nicht ganz egal ist. Während wir noch darauf warten, daß der Parkwächter den Wagen vorfährt, lächeln sich Blair und Trent auf eine Weise an, die mich ziemlich nervt, und dann schaut sie zum Himmel hoch, der wolkenverhangen ist, und kurz darauf fängt es an zu nieseln. Wir steigen in Blairs Auto, und sie läßt eine Kassette laufen, die sie vor kurzem aufgenommen hat, und darauf singt dieser Bandarasta, und Trent fragt Blair, was aus der Kassette mit der «Strandmusik» geworden ist, und Blair sagt ihm, daß sie die einfach verbrennen mußte, weil sie sich an den Songs schon dermaßen überhört hatte. Aus irgendeinem Grund glaube ich das, und ich kurbel das Fenster runter, und wir fahren in einen Club namens After Hours.
Das Mädchen, das im After Hours neben mir
sitzt, ist sech-
zehn und braungebrannt und erzählt mir, es sei eine Schande, daß bei Radio KROQ nur ganz bestimmte Platten gespielt wer108
den. Blair sitzt mir gegenüber, neben Trent, der eine Komikernummer für zwei junge blonde Mädchen abzieht. Nachdem sich Rip mit einem schwulen Pornofilmstar unterhalten hat, der mit seiner Freundin vor der Theke hockt, kommt er zu uns an den Tisch und flüstert Blair was ins Ohr, und sie steht auf, und die beiden verschwinden. Das Mädchen neben mir ist betrunken und legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel und fragt mich, ob The Whiskey abgebrannt ist, und ich antworte, ja, das stimmt, und Blair und Rip kommen zurück, und beide machen einen irrsinnig munteren Eindruck. Blair schwenkt den Kopf hin und her, verfolgt die Leute auf der Tanzfläche mit ihrem Blick, und Rips Augen bewegen sich blitzschnell auf der Suche nach dem Mädchen, mit dem er hergekommen ist. Blair nimmt ein Stück Kreide in die Hand und beginnt, etwas auf den Tisch zu schreiben. Rip entdeckt das Mädchen. Ein großer blonder Junge kommt zu unserem Tisch, und eines der Mädchen, die neben Trent sitzen, springt auf und sagt: «Mensch Teddy! Ich dachte, du würdest im Koma liegen!» und Teddy erklärt ihr, daß er überhaupt nie im Koma lag, daß sie ihm aber den Führerschein abgenommen haben, wegen Trunkenheit am Steuer, und das auf dem Pacific Coast Highway, und Blair kritzelt immer noch auf dem Tisch rum, und Teddy setzt sich hin. Ich bilde mir ein, Julian zu erkennen, hinten am Ausgang, und ich stehe auf und gehe zur Theke und dann vor die Tür, und draußen gießt es mittlerweile, und den Song von Duran Duran, der gerade läuft, kann man auf der Straße noch hören, und ein Mädchen, das ich nicht kenne, läuft an mir vorbei und sagt «Hi», und ich nicke und gehe dann auf die Toilette und schließe die Tür ab und starre auf mein Gesicht im Spiegel. Jemand klopft an die Tür, und ich lehne mich nur dagegen und nehme nichts von dem Koks und heule vielleicht fünf Minuten lang, und dann geh ich raus und zurück in die Menge, und es ist dunkel, und niemand kann erkennen, daß ich ein ganz verschwollenes Gesicht und rote Augen habe, und ich setze mich wieder neben das betrunkene blonde Mädchen, und sie unterhält sich mit Blair über College-Aufnahmetests. Dann kommt Griffin mit einem ausgesprochen schönen blonden Mädchen rein, und er lächelt mich breit an, und die beiden gehen 109
zur Theke rüber und begrüßen den schwulen Pornofilmstar und seine Freundin. Und so etwa um den Dreh geht Blair mit Rip weg oder vielleicht auch mit Trent, oder vielleicht geht Rip mit Trent weg, oder vielleicht geht Rip mit den beiden blonden Mädchen weg, die neben Trent gesessen haben, oder vielleicht geht Blair mit den beiden blonden Mädchen weg, und zuguterletzt tanze ich mit diesem Mädchen, und sie lehnt sich an mich und flüstert, daß wir vielleicht zu ihr gehen sollten. Und wir drängeln uns durch die Menschenmenge auf der Tanzfläche, und sie geht zur Toilette, und ich warte am Tisch auf sie. Jemand hat mit roter Kreide und in einer ganz kindlichen Krakelschrift überall auf den Tisch helft mir geschrieben, und das e von helft ist jeweils mit kleinen Schnörkeln verziert, und um die etwa zwanzig helft mir herum stehen lauter Telefonnummern, und um die Telefonnummern herum ist ein Haufen unleserliches Geschreibsel, und diese zwei roten Wörter stechen dadurch nur noch mehr hervor. Das Mädchen kommt zurück, und wir gehen raus aus dem Club, vorbei an dem Mädchen, das vorhin «Hi» zu mir gesagt hat und jetzt heulend am Eingang steht, und vorbei an dem schwulen Pornofilmstar, der direkt vor der Tür einen Joint raucht; vorbei an den vier ganz jungen Mexikanern, die alle Leute anmachen, die rein- oder rausgehen, und vorbei an dem Wachmann und dem Parkwächter, der diesen Mexikanern dauernd erklärt, daß sie lieber abhauen sollen. Und einer von denen ruft mir «He, du schwuler Punker» hinterher, und das Mädchen und ich steigen in ihr Auto und fahren in die Hügel hinauf, und wir gehen in ihr Zimmer, und ich ziehe mich aus und lege mich auf ihr Bett, und sie geht ins Bad, und ich warte ein paar Minuten, und dann kommt sie raus, in ein Handtuch gehüllt, und setzt sich aufs Bett, und ich lege meine Hände auf ihre Schultern, und sie sagt, hör auf damit, und als ich sie losgelassen habe, sagt sie mir, ich soll meinen Kopf gegen den oberen Bettrand lehnen, und das mache ich auch, und dann streift sie das Handtuch ab, und sie ist nackt, und sie macht ihre Nachttischschublade auf und holt eine Tube Sonnencreme raus und reicht sie mir, und dann langt sie noch mal in die Schublade und holt eine Sonnenbrille Marke Wayfarer raus und sagt mir, daß ich die aufsetzen soll, und das 110
mache ich auch. Sie nimmt mir die Sonnencreme aus der Hand und schmiert sich was davon auf ihre Finger und streichelt sich selbst und gibt mir zu verstehen, ich soll es genauso machen, und das mache ich auch. Nach einer Weile höre ich auf und strecke die Hand nach ihr aus, und sie wehrt mich ab und sagt nein, und dann legt sie meine Hand an ihren Platz zurück, und ihre Hand beginnt wieder zu kreisen, und nachdem das eine Weile so weitergeht, sage ich ihr, daß ich gleich komme, und sie sagt mir, daß ich es noch einen Moment zurückhalten soll und daß sie auch gleich soweit ist, und sie beginnt, ihre Hand schneller zu bewegen, ihre Beine weiter auseinanderzuspreizen, sich in die Kissen zurückzulegen, und ich nehme die Sonnenbrille ab, und sie sagt mir, ich soll sie wieder aufsetzen, und ich setze sie wieder auf, und es brennt ein bißchen, als ich komme, und dann kommt sie glaub ich auch. Im Radio läuft ein Song von Bowie, und sie steht auf, rot im Gesicht, und schaltet das Radio aus und MTV an. Ich bleibe liegen, nackt, immer noch mit der Sonnenbrille auf der Nase, und sie reicht mir eine Schachtel Kleenex. Ich wische mich ab und blättere dann eine Vogue durch, die neben dem Bett liegt. Sie zieht sich einen Morgenrock über und schaut mich eine Weile an. Ich höre es in einiger Entfernung donnern, und der Regen wird noch stärker. Sie raucht eine Zigarette und ich beginne, mich anzuziehen. Und dann bestelle ich mir ein Taxi und nehme schließlich die Sonnenbrille ab, und sie sagt mir, ich soll leise die Treppe runtergehen, damit ihre Eltern nicht wach werden. Das Taxi bringt mich zu Trents Apartment zurück, und draußen gießt es in Strömen, und als ich in mein Auto einsteige, sehe ich auf dem Sitz einen Zettel, und darauf steht: «Na, gut amüsiert?», und ich bin mir ziemlich sicher, daß es Blairs Schrift ist, und ich fahre zurück nach Hause.
Es
ist der nächste Tag, ich sitze bei meinem Psychiater im
Büro, komme gerade vom Koks runter, habe leichtes Nasenbluten. Mein Psychiater trägt einen roten Pullover mit V-Aus111
schnitt, ohne Unterhemd, und eine abgeschnittene Jeans. Ich heule auf einmal richtig los. Er schaut mich an und spielt mit dem goldenen Kettchen, das von seinem braungebrannten Hals runterhängt. Einen Moment lang höre ich auf zu heulen, und er schaut mich noch ein bißchen länger an und schreibt irgendwas nieder. Dann fragt er mich irgendwas. Ich erkläre ihm, daß ich nicht weiß, was mit mir los ist; daß es vielleicht irgendwas mit meinen Eltern zu tun hat, andererseits aber auch nicht, oder vielleicht mit meinen Freunden oder damit, daß ich manchmal losfahre und mich verirre; daß es vielleicht an den Drogen liegt. «Zumindest sind dir diese Dinge klar. Aber davon rede ich nicht, darum geht es bei meiner Frage eigentlich nicht, das ist nicht der Punkt.» Er steht auf und geht durch den Raum und rückt ein gerahmtes Rolling Stone-Titelbild gerade, auf dem Elvis Costello zu sehen ist und in großer weißer Schrift die Worte «Elvis Costello Repents». Ich warte darauf, daß er mir seine Frage stellt. «Findest du ihn gut? Hast du ihn im Amphitheater gesehen? Ja? Im Moment ist er in Europa, glaube ich. Zumindest haben sie das im MTV gesagt. Magst du sein neuestes Album?» «Was ist mit mir?» «Was soll mit dir sein?» «Was ist mit mir?» «Du kommst schon wieder klar.» «Ich weiß nicht», sage ich. «Ich glaube nicht.» «Ich möchte mit dir über was anderes sprechen.» «Was ist mit mir?» schreie ich und spüre einen Würgreiz. «Na komm schon, Clay», sagt der Psychiater. «Sei nicht so ... banal.»
Mein Großvater hatte Geburtstag, und wir waren schon seit fast zwei Monaten in Palm Springs; zu lange. Die ganze Zeit war es heiß und schwül. Zum Mittagessen saßen wir alle draußen unter dem Vordach vom alten Haus, direkt am Pool. Ich dachte 112
daran, daß meine Großmutter mir am selben Tag eine Tüte Pfefferminzbonbons gekauft hatte, von denen ich aus lauter Nervosität einen nach dem anderen zerkaute. Die Haushälterin brachte uns Aufschnitt und Bier und Hawaii-Punsch und Kartoffelchips, alles auf einer großen Holzplatte angerichtet, und sie stellte die Platte auf den Tisch, an dem meine Tante, meine Großmutter, mein Großvater, meine Mutter, mein Vater und ich saßen. Meine Mutter und meine Tante stocherten in der Truthahnbrust rum. Mein Großvater trug eine Unterhose und einen Strohhut und trank Michelob-Bier. Meine Tante fächelte sich mit einem PeopleMagazin Luft zu. Meine Großmutter hatte sich schon länger nicht wohl gefühlt, und sie knabberte nur ein bißchen an einem Sandwich und trank kalten Kräutertee. Meine Mutter beteiligte sich überhaupt nicht an der Unterhaltung. Sie beobachtete meine Schwestern und Kusinen beim Spiel im Pool und hielt ihre Augen starr auf das kühlblau-grüne Wasser gerichtet. «Ich glaube, wir waren einfach zu lange hier», sagte meine Tante. «Das ist noch gewaltig untertrieben», sagte mein Vater und rutschte auf seinem Stuhl herum. «Ich möchte hier weg», sagte meine Tante geistesabwesend, mit verträumtem Blick, die Hand fest um ihre Zeitschrift gepreßt. «Also», sagte mein Großvater mit energischer Stimme. «Wir sollten wirklich baldigst abfahren. Ich werde allmählich so rot wie 'ne Tomate. Hab ich recht, Clay ?» Er blinzelte mir zu und machte sein fünftes Bier auf. «Ich lasse heute schon mal unseren Flug buchen», sagte meine Tante. Eine meiner Kusinen blätterte gerade die L. A. Times durch und erwähnte etwas von einem Flugzeugabsturz in San Diego. Alle unterhielten sich nun darüber, und unsere Abreisepläne waren vergessen. «Wie entsetzlich», sagte meine Tante. «Ich glaube, ich würde lieber bei einem Flugzeugabsturz sterben als auf irgendeine andere Weise», sagte mein Vater nach einer Weile. 113
«Ich glaube, das wäre ein schrecklicher Tod.» «Nein, ganz im Gegenteil. Du betrinkst dich an Bord, nimmst noch ein Librium, und das Flugzeug fliegt und stürzt ab, und du kriegst noch nicht mal mit, was passiert ist.» Mein Vater legte die Beine übereinander. Daraufhin sagte keiner am Tisch etwas. Nur meine Schwestern und Kusinen, die im Wasser herumplantschten, waren zu hören. «Was meinst du dazu?'» fragte meine Tante meine Mutter. «Ich versuche, an so was überhaupt nicht zu denken», sagte meine Mutter. «Und du, Mama?» fragte mein Vater meine Großmutter. Meine Großmutter, die den ganzen Tag noch kein Wort gesagt hatte, wischte sich den Mund ab und sagte leise: «Ich würde auf keine Weise sterben wollen.»
Ich fahre zu Trents Haus, aber dann fällt mir ein, daß Trent in Palm Springs ist, also fahre ich zu Rip, und so ein blonder Junge in Badehose kommt an die Tür, und im Wohnzimmer brennt eine Höhensonne. «Rip ist weg», sagt der blonde Junge. Ich fahre wieder los, und als ich in den Wilshire Boulevard einbiege, überholt mich Rip in seinem Mercedes und beugt sich aus dem Fenster und ruft: «Spin und ich wollen ins City Cafe. Treffen wir uns da, ja?» Ich nicke, fahre Rip hinterher, durch Melrose, starre sein silbern schimmerndes Nummernschild an, auf dem «CLIMAXX» steht. Das City Cafe ist geschlossen, und ein alter Mann mit schwarzem Hut und zerlumpter Kleidung steht davor und führt Selbstgespräche, und als wir anhalten, wirft er uns einen bösen Blick zu. Rip kurbelt sein Fenster runter, und ich lasse mein Auto neben seins rollen. «Wohin sollen wir jetzt?» frage ich ihn. «Spin will ins Hard Rock Cafe.» «Ich fahr euch hinterher», erkläre ich ihm. Es fängt an zu regnen. 114
Wir fahren zum Hard Rock Cafe, und kaum haben wir uns gesetzt, erzählt mir Spin, daß er heute nachmittag ganz tollen Stoff gekriegt hat. Am Nebentisch sitzt ein Mann, der die Augen ganz fest zukneift. Seine Begleiterin scheint das nicht zu stören, jedenfalls stochert sie offenbar ungerührt in ihrem Salat rum. Als der Mann schließlich die Augen aufmacht, bin ich irgendwie richtig erleichtert. Spin redet immer noch auf mich ein, und als ich versuche, das Thema zu wechseln, und ihn frage, wo Julian stecken könnte, erzählt mir Spin, daß Julian, der sonst eigentlich immer guten Koks liefert, ihn einmal voll beschissen hat. Rip meint, Julian hätte einfach zuviele Komplexe. «Zudem ist er ganz schön abgefuckt.» Spin sieht mich an und sagt: «Abgefuckt, genau.» «Ich meine, er dealt wirklich mit gutem Stoff, ob das nun Koks oder H ist, aber er sollte das Zeug nicht an Schulkinder verkaufen. So was finde ich echt mies.» «Ja», sage ich und schlucke diesen Ausdruck. «Mies.» «Manche Leute sagen, daß Julian auch der Dealer von dem Dreizehnjährigen war, der sich in Beverly den Goldenen Schuß gesetzt hat.» Nach einer Weile frage ich Rip: «Und was hast du so in letzter Zeit gemacht?» «Nicht allzuviel. Gestern abend hab ich zusammen mit Warren ein bißchen Angel's Dust genommen, und dann sind wir in das Konzert von den Grimsoles gegangen», sagt er. «Das war echt geil. Die haben Ratten ins Publikum geworfen. Warren hat eine zum Auto mitgenommen.» Rip schaut auf den Boden und kichert los. «Da hat er sie totgemacht. Die Ratte war irre groß. Er hat vielleicht 'ne halbe Stunde gebraucht, um das Biest totzukriegen.» «Ich bin grad erst aus Vegas zurückgekommen», sagt Spin. «Derf und ich waren zusammen da. Wir sind den ganzen Tag bloß in Badehosen rumgehangen, am Swimming-pool von dem Hotel, das meinem Vater da gehört. War schon gut ... irgendwie.» «Und was hast du so gemacht, Mann?» fragt Rip. «Ach, nichts Besonderes», sage ich. 115
«Tja, heutzutage ist halt auch nicht mehr besonders viel los», sagt er. Spin nickt zustimmend. Nach dem Essen teilen wir uns in Rips Auto einen Joint, während wir nach Malibu rausfahren, um ein paar Gramm Kokain von einem Typen namens Dead zu kaufen. Ich sitze auf dem engen Rücksitz und glaube, Rip hätte gesagt: «Wir fahren jetzt zu einem gewissen Ed.» Erst als Spin sagt: «Woher weißt du, daß Dead überhaupt da ist?» und Rip sagt: «Weil Dead immer da ist», wird mir klar, wie er wirklich heißt. Offenbar findet in Deads Haus eine Party statt, und einige der Anwesenden, fast nur Jungens, gucken uns drei ganz komisch an, wahrscheinlich, weil Rip und Spin und ich keine Badehosen anhaben. Wir gehen zu Dead, einem etwa fünfundvierzigjährigen Mann in kurzen Hosen, der auf einem riesigen Kissenhaufen liegt. Links und rechts von ihm hocken zwei braungebrannte Jungen und gucken sich irgendwas im Fernsehen an. Dead reicht Rip einen großen Umschlag. Hinter ihm sitzt ein junges hübsches Mädchen im Bikini, und dieses Mädchen tätschelt den Kopf von dem Jungen links neben Dead. «Ihr müßt 'n bißchen vorsichtiger sein, Jungs», sagt Dead lispelnd. «Wieso denn?» fragt Rip. «Weil die Rauschgiftschnüffler im Moment überall in der Colony rumschleichen.» «Ehrlich?» fragt Rip. «Ja. Einer meiner Jungs ist von so 'nem Schnüffler ins Bein geschossen worden.» «Was? Im Ernst?» «Ja. Das is die traurige Wahrheit.» «O Gott!» «Und der arme Junge ist erst siebzehn. Voll ins Bein geschossen. Kennst ihn vielleicht sogar.» «Wer war's denn?» fragt Rip. «Etwa Christian?» «Nein, Randall. Der geht in Oakwood zur Schule. Na, klingelt was?» Spin schüttelt den Kopf und plötzlich dröhnt «Hungry Like 116
the Wolf» aus den Lautsprechern, die an der Decke hängen, direkt über Deads halbkahlem, verschwitzten Kopf. «Also, ihr müßt 'n bißchen vorsichtiger sein.» «Jawohl. Ein bißchen vorsichtiger», sagt Spin und schaut das Mädchen an, dessen Finger immer noch über die Haare von dem blonden Jungen streichen, und leckt sich die Lippen. Der blonde Junge zwinkert mir zu und zieht einen Schmollmund. Sobald wir wieder im Auto sitzen, testet Spin das Kokain und sagt, daß es mit zuviel Novocain verschnitten ist. Rip sagt, daß ihn so was im Moment überhaupt nicht kratzen kann, und daß er sich jetzt gleich 'ne Ladung reinziehen will. Rip dreht das Radio lauter und schreit voller Freude ein paarmal: «Was soll bloß aus uns allen werden?» Und Spin schreit dauernd dazwischen: «Was heißt hier alle, Mensch? Was heißt hier alle?» Wir tun uns etwas von dem Koks rein, und dann fahren wir zu einer Spielhalle in Westwood und sind fast zwei Stunden mit Videospielen zugange und verballern pro Person ungefähr einen Zwanziger, und wir hören erst auf, als unser Wechselgeld alle ist. Rip hat nur Hundert-Dollar-Scheine bei sich, und an der Kasse wollen sie die nicht kleinmachen. Also stopft sich Rip die Scheine wieder in die Hosentasche und schreit «Sauladen» zu dem Typ an der Kasse rüber, und wir drei gehen zu seinem Auto zurück und nehmen den Rest Kokain.
Blairs
Vater gibt eine Party für den jungen australischen
Schauspieler, dessen neuester Film nächste Woche in L. A. Premiere hat. Blairs Vater versucht, diesen Schauspieler für die Hauptrolle in dem Film zu kriegen, den er als nächstes produziert; das soll so ein Science Fiction-Abenteuerfilm werden mit dem Titel Star Raiders, geschätzte Produktionskosten etwa dreißig Millionen Dollar. Aber der australische Schauspieler verlangt zuviel Geld. Ich gehe zu der Party, weil ich mit Blair reden will, aber bisher habe ich sie noch nicht gesehen, dafür aber eine Menge Schauspieler und Blairs Freunde vom U.S.C.-Filmsemi117
nar. Jared ist auch da und versucht, sich an den australischen Schauspieler ranzumachen, indem er ihn unter anderem dauernd fragt, ob er die eine Folge von «Twilight Zone» mit Agnes Moorehead gesehen hat, und der australische Schauspieler schüttelt nur dauernd den Kopf und sagt: «Nein, mein Lieber.» Jared erwähnt andere Folgen von dieser Serie, und der australische. Schauspieler, der total am Schwitzen ist und mittlerweile seine vierte Cola-Rum trinkt, erklärt Jared eins ums andere Mal, daß er keine einzige der speziellen Folgen von «Twilight Zone» gesehen hat, von denen Jared dauernd redet. Schließlich läßt der Schauspieler Jared stehen, und Jared gesellt sich zu seinem neuen Freund, und das ist nicht mehr der Kellner von Morton's, sondern ein Kostümbildner, der bei dem letzten Film von Blairs Vater mitgearbeitet hat und der vielleicht die Kostüme für Star Raiders machen soll, aber vielleicht auch nicht. Der australische Schauspieler geht rüber zu seiner Frau, die keinerlei Notiz von ihm nimmt. Kim erzählt mir, daß die beiden am Nachmittag einen Riesenstreit miteinander hatten und daß sie wütend aus ihrem Bungalow - der gehört zum Beverly Hills Hotel-Komplex - stürzte und zu einem teuren Friseur auf der Rodeostreet ging und sich dort das ganze Haar absäbeln ließ. Ihre Haare sind rot und bis auf die Kopfhaut runtergeschnitten, und wenn sie den Kopf schräg hält, kann ich weiße Flecke unter den abstehenden Haaren erkennen. Das Thema Sturmschäden in Malibu kommt auf, und einer der Gäste erwähnt, daß sein Nachbarhaus vollständig eingestürzt ist. «Einfach so. Den einen Moment war es noch da. Den nächsten - zack ... Einfach so.» Blairs Mutter nickt, während sie dem Regisseur zuhört, der ihr das erzählt, und ihre Lippen zittern, und ab und an wirft sie einen kurzen Blick auf Jared. Ich will gerade zu ihr rübergehen und sie fragen, wo Blair ist, aber in dem Moment drängt sich eine Gruppe von Leuten, ein paar Schauspieler und Schauspielerinnen und ein Regisseur und einige Studiobosse, zur Tür rein, und Blairs Mutter geht auf sie zu. Die kommen alle direkt von der «Golden Globe»-Preisverleihung. Eine der Schauspielerinnen rauscht ins Zimmer und umarmt den Kostümbildner und flüstert ihm gut hörbar ins Ohr: «Marty hat 118
nicht gewonnen, sei so lieb und besorg ihm schnell einen Whiskey, aber pur, und mir kannst du gleich einen Wodka Collins mitbringen, bevor ich hier noch zusammenklappe, machst du das, mein Schatz?» Der Kostümbildner schnalzt mit den Fingern rüber zu dem schwarzen, grauhaarigen Barmann und sagt: «Ha'm Sie das gehört?» Der Barmann erwacht ein bißchen zu schnell, ein bißchen zu wenig überzeugend aus seiner Erstarrung und macht der Schauspielerin ihre Drinks fertig. Die Leute beginnen zu fragen, wer was beim «Golden Globe» gewonnen hat. Aber die Schauspielerin und die meisten Schauspieler und Produzenten und Studiobosse erinnern sich nicht mehr. Der Regisseur, Marty, weiß es dagegen ganz genau und betet jeden einzelnen Namen runter, und wenn er gefragt wird, gegen wen jemand angetreten ist, dann blickt der Regisseur ganz ernst und sagt die Namen in alphabetischer Reihenfolge auf. Ich beginne, mich mit einem Jungen zu unterhalten, der auch auf das U.S.C. Filmseminar geht. Er ist sehr braungebrannt und hat blonde Bartstoppeln und trägt eine Brille und zerrissene Tennisschuhe Marke Tretorn, und er redet eine ganze Weile über die «ästhetische Bedeutungslosigkeit» amerikanischer Filme. Wir beide sitzen allein im Studio, und kurz darauf kommen Alana und Kim und Blair rein. Sie setzen sich auch hin. Blair schaut mich nicht an. Kim faßt den Jungen aus dem Filmseminar ans Bein und sagt: «Ich hab gestern nacht bei dir angerufen, wo warst du denn?» Und er sagt: «Jeff und ich haben ein paar Pfeifen geraucht, und dann sind wir zu einer Probevorführung vom neuesten Freitag der 13. gegangen.» Ich schaue zu Blair rüber, versuche, Augenkontakt herzustellen, ihre Aufmerksamkeit irgendwie zu kriegen, aber sie schaut nicht her zu mir. Jared und Blairs Vater und der Regisseur von Star Raiders und der Kostümbildner kommen rein und setzen sich hin, und ziemlich bald dreht sich die Unterhaltung um den australischen Schauspieler, und Blairs Vater fragt den Regisseur, der einen Jogginganzug und eine dunkle Brille trägt, warum der Schauspieler nach L. A. gekommen ist. «Ich glaube, er will sehen, ob er für einen Oscar nominiert 119
wird. Die Nominierungen kommen nämlich demnächst raus.» «Für so einen Scheißfilm?» sagt Blairs Vater wütend. Dann kriegt er sich wieder ein und schaut zu Blair rüber, die vor dem Kamin sitzt, da, wo vor kurzem noch der Christbaum stand, und sie sieht deprimiert aus. Ihr Vater winkt sie zu sich her. «Komm doch, mein Kleines, setz dich mal bei Papa auf den Schoß.» Und Blair starrt ihn einen Moment lang ungläubig an und schaut dann auf den Boden, lächelt und geht aus dem Zimmer. Niemand sagt etwas. Nach einer Weile räuspert sich der Regisseur und sagt, wenn der «beschissene Australier» nun nicht bei Star Raiders mitspielt, wer soll dann die Hauptrolle kriegen? Ein paar Namen fallen. «Was ist eigentlich mit diesem süßen Jungen, der in Beastman! mitgespielt hat? Du weißt doch, von wem ich rede?» Der Kostümbildner schaut rüber zum Regisseur, der sich gedankenversunken am Kinn kratzt. Blair kommt wieder rein, mit einem Drink in der Hand, und schaut zu mir her, und ich sehe weg und tu so, als würde ich mich total auf die Unterhaltung konzentrieren. Der Kostümbildner schlägt sich aufs Knie und sagt: «Marco! Marco!» Er stößt den Namen nochmal hervor. «Marco ... äh, Marco ... Ferr ... Ferr ... verdammte Scheiße, ich hab's total vergessen.» «Marco King?» «Nee, nee, nee.» «Marco Katz?» Der Kostümbildner schüttelt aufgebracht den Kopf und sagt: «Hat irgend jemand Beastman! gesehen?» «Wann ist Beastman! denn rausgekommen ?» fragt Blairs Vater. «Ich glaube, letzten Herbst.» «Im Ernst? Ich dachte, ich hätte ihn schon im Sommer gesehen, im Avco.» «Aber ich hab eine Probevorführung davon bei MGM gesehen.» «Die Premiere war doch auch nicht im Avco», sagt irgend jemand. 120
«Ich glaube, ihr redet von Marco Ferraro», sagt Blair. «Ja, genau», sagt der Kostümbildner. «Marco Ferraro.» «Ich dachte, der hätte sich 'ne Überdosis verpaßt», sagt Jared. «Stimmt ja, Beastman!, das war doch ziemlich gut», sagt der Filmstudent zu mir. «Hast du den gesehen?» Ich nicke und schaue zu Blair rüber. Ich fand Beastman! überhaupt nicht gut und frage den Filmstudenten: «Hat dich eigentlich nicht gestört, daß viele von den Figuren mittendrin einfach rausgefallen sind, daß die plötzlich wegwaren, ohne daß man wußte, warum?» Der Filmstudent antwortet nach einer Weile: «Na ja, irgendwie schon, aber das passiert schließlich auch im wirklichen Leben ...» Ich starre Blair an. «Ich meine, so ist es doch, oder?» «Wahrscheinlich hast du recht.» Sie schaut mich nicht an. «Marco Ferraro?» fragt Blairs Vater. «Ist das so 'n Itaker?» «Der ist einfach süß», sagt Kim seufzend. «Unheimlich süß», fügt Alana hinzu. «Ehrlich?» fragt der Regisseur grinsend und beugt sich zu Kim vor. «Wen sonst findest du noch ... süß?» «Ja, genau, Mädels», sagt Blairs Vater. «Vielleicht habt ihr ein paar gute Ideen.» «Und denkt bitte dran», sagt Jared, «keine großartigen Schauspieler. Nur so 'n Typ, bei dem der Arsch genausogut aussieht wie das Gesicht.» Der Kostümbildner nickt und sagt: «Ganz genau.» «Daddy, du weißt doch, daß ich dich mal gefragt habe, ob du Adam Ant oder Sting in dem Film unterbringen könntest», sagt Blair. «Ja, ich weiß, mein Schatz. Clyde und ich haben auch darüber gesprochen, und wenn du das wirklich so furchtbar gern möchtest, dann läßt sich ja bestimmt was machen. Wie fändet ihr's denn, wenn Adam Ant oder Sting in Star Raiders mitspielen würde?» fragt er Alana und Kim. «Das würde ich mir ansehen», sagt Kim. «Sogar zweimal», sagt Alana. 121
«Ich würde mir sogar die Videokassette kaufen», fügt Kim hinzu. «Ich denke genauso wie Blair», sagt Blairs Vater. «Ich glaube, wir sollten die Sache mit Adam Ant oder String wirklich in Betracht ziehen.» «Der heißt Sting, Daddy.» «Ja, genau, Sting.» Clyde lächelt und schaut Kim an. «Okay, nehmen wir Sting. Was hältst du davon, Kleines?» Kim wird rot und sagt: «Das wäre toll.» «Dann wollen wir nächste Woche mal mit ihm und Adam einen Termin machen fürs Vorsprechen.» «Danke, Daddy», sagt Blair. «Dein Wunsch ist mir Befehl, mein Schatz.» «Clyde, check mal lieber zuerst aus, ob er auch gut in Form ist, körperlich, meine ich», sagt Jared mit besorgtem Gesichtsausdruck. «Ach, das machen wir schon, was?» sagt Clyde und lächelt wieder Kim an. «Möchtest du etwa dabei sein?» Endlich schaut mich Blair an, mit einem gequälten Ausdruck in den Augen, und ich sehe zu Kim rüber, und erst kommt so was wie Scham und dann eine leichte Wut in mir hoch. Kim wird noch mal rot und sagt: «Vielleicht.»
Julian hat nichts mehr von sich hören lassen, seit ich ihm das Geld gegeben habe, und deshalb beschließe ich, ihn am nächsten Tag anzurufen. Aber ich habe seine Nummer nicht. Also rufe ich bei Rip an, aber Rip ist nicht da, erklärt mir so ein junger Typ. Also rufe ich bei Trent an, und Chris kommt ans Telefon und erzählt mir, daß Trent immer noch in Palm Springs ist und fragt mich dann, ob ich vielleicht jemanden kenne, der vielleicht Methadon hat. Schließlich rufe ich Blair an, und sie gibt mir Julians Nummer, und als ich ihr gerade erklären will, daß mir die Sache mit dem Abend bei After Hours leid tut, sagt sie, daß sie los muß 122
und legt auf. Ich wähle die Nummer, die Blair mir gegeben hat, und ein Mädchen ist am Apparat, dessen Stimme mir unheimlich bekannt vorkommt. «Der ist entweder in Malibu oder in Palm Springs.» «Und was macht er da?» «Weiß ich nicht.» «Hör mal, kannst du mir sagen, wie ich ihn da oder dort telefonisch erreichen kann?» «Ich weiß auch bloß, daß er entweder in dem Haus in Rancho Mirage oder in der Colony ist. »Sie bricht ab und scheint zu überlegen. «Mehr weiß ich auch nicht.» Dann macht sie eine lange Pause. «Mit wem spreche ich denn? Bist du Finn?» «Finn? Nee. Ich brauch bloß die Telefonnummer.» Wieder entsteht eine Pause, und dann höre ich sie stöhnen. «Okay, hör zu. Ich weiß nicht, wo er gerade ist. Ach, Scheiße ... ich kann das nicht sagen. Mit wem spreche ich eigentlich?» «Clay.» Eine ganz lange Pause. «Hör mal», sage ich. «Erzähl ihm nicht, daß ich angerufen habe. Ich meld mich einfach später noch mal.» «Ja, wirklich?» «Bestimmt.» Ich will auflegen. «Finn?» fragt sie. Ich lege auf.
An diesem Abend gehe ich zu einer Party bei Kim, und dort lerne ich einen gewissen Evan kennen, der mir erzählt, daß er ein sehr guter Freund von Julian ist. Und am nächsten Tag, nachdem er von der Schule kommt, gehen wir zu einem McDonald's. Es ist etwa drei Uhr nachmittags, und Evan sitzt mir gegenüber. «Also, ist Julian in Palm Springs?» frage ich ihn. «Palm Springs ist echt gut», sagt Evan. «Stimmt», sage ich. «Weißt du, ob er da ist?» «Ich find's einfach toll. Das ist der absolut supergeilste Fleck 123
auf der ganzen Erde. Vielleicht können wir irgendwann mal zusammen dahin», sagt er. «Ja, irgendwann.» Ich weiß auch nicht, was das heißen soll. «Au ja. Es ist toll. Genau wie Aspen. Aspen ist total gut.» «Könnte es sein, daß Julian in Aspen ist?» «Julian?» «Na ja, ich hab gehört, daß er vielleicht dort ist.» «Wieso sollte Julian in Aspen sein?» Ich erkläre ihm, daß ich auf die Toilette muß. Evan sagt, klar doch. Statt dessen gehe ich zum Telefon und rufe Trent an, der gerade aus Palm Springs zurückgekommen ist, und frage ihn, ob er dort Julian gesehen hat. Er antwortet mit Nein und erzählt mir, daß der Koks von Sandy Scheiße ist und daß er zuviel davon hat und das Zeug nicht losschlagen kann. Ich erkläre Trent, daß ich Julian nicht ausfindig machen kann und daß ich erschöpft und erledigt bin. Er fragt mich, von wo ich anrufe. «Aus einem McDonald's in Sherman Oaks», erzähle ich ihm. «Daran liegt's», sagt Trent. Ich verstehe das nicht und lege auf.
Rip sagt, daß man bei Pages in Encino um zwei oder drei Uhr morgens immer jemand treffen kann. Eines Nachts fahren Rip und ich dorthin, weil Du-par's zum Brechen voll ist von verkleideten Teenagern und alten Kellnerinnen in orthopädischen Schuhen, die alle Flieder im Knopfloch ihrer Uniformen tragen und dauernd die Leute auffordern, doch ein bißchen leiser zu sein. Also fahren Rip und ich zu Pages, und dort treffen wir Billy und Rod sowie Simon und Arnos und LeDeu und Sophie und Kristy und David. Sophie setzt sich zu uns und schleppt auch noch LeDeu und David an. Sophie erzählt uns von dem Vice Squad-Konzert im Palace und sagt, daß ihr Bruder ihr kurz vorher einen zu starken Downer angedreht hatte und sie dadurch die gesamte Show verschlief. LeDeu und David spielen in einer Band namens «Western Survival», und beide machen einen 124
ruhigen und zurückhaltenden Eindruck. Rip fragt Sophie, wo ein gewisser Boris ist, und sie meint, er sei wohl in dem Haus in Newport. LeDeu hat eine Unmenge von schwarzen Haaren, die richtig steif sind und in sämtliche Richtungen abstehen, und er erzählt mir, daß die Leute im Du-par's immer vor ihm abhauen. Und deshalb gehen David und er seit neuestem ins Pages. Sophie schläft an meiner Schulter ein, und bald darauf schläft auch mein Arm ein, aber ich ziehe ihn nicht weg, weil ihr Kopf draufliegt. David trägt eine Sonnenbrille und ein Fear T-Shirt und erzählt mir, daß er mich auf Kims Silvesterparty gesehen hat. Ich nicke und sage, ja, ich weiß, obwohl er gar nicht da war. Wir reden über neue Musik und darüber, was mit den Bands in L. A. los ist, und über den Regen, und Rip schneidet einem alten mexikanischen Paar am Nebentisch Grimassen; er schielt sie blöde an und schiebt sich den schwarzen Filzhut, den er aufhat, übers Gesicht und grinst. Ich stehe auf und gehe zur Toilette. Über dem Waschbecken im Klo bei Pages stehen zwei Witze: Wie schwängert man eine Nonne? Indem man mit ihr bumst. Was ist der Unterschied zwischen einer Möwe und einem Neger? Die Möwe hat einen weißen Schwanz, und der Neger kann nicht fliegen. Und direkt unter den Witzen steht: «Julian ist nett im Bett, aber leider verreckt.»
In der allerletzten Woche blieb kaum jemand mehr in der Wüste. Nur meine Großeltern, meine Eltern und ich waren noch da. Die Dienstmädchen, selbst der Gärtner und der Hausmeister waren schon abgereist. Meine Schwestern flogen mit meiner Tante und ihren Kindern nach San Francisco. Alle hatten Palm Springs satt bis obenhin. Wir waren mit Unterbrechungen seit neun Wochen dagewesen, und die letzten drei davon ausschließlich in Rancho Mirage. In der Woche vor unserer Abreise passierte kaum mehr was. An dem einen Tag fuhr meine Großmutter mit meiner Mutter in die Stadt und kaufte sich eine blaue Handtasche. Am Abend nahmen meine Eltern sie zu einer Party mit, die im Haus 125
eines Regisseurs stattfand. Ich blieb daheim bei meinem Großvater, der sich schon am frühen Abend betrunken hatte und dann eingeschlafen war. Der künstliche Wasserfall in unserem großen Swimming-pool war schon abgestellt, und das ganze Becken trocknete allmählich aus. Nur der Whirlpool funktionierte noch. Irgend jemand hatte eine Klapperschlange in dem restlichen bißchen Wasser treiben sehen, und meine Eltern schärften mir ein, zu Hause zu bleiben und nicht in die Wüste rauszugehen. In dieser Nacht war es sehr warm, und während mein Großvater schlief, aß ich Steak und Rippchen, die zwei Tage vorher eingeflogen worden waren, und zwar von einem der Hotels in Nevada, die meinem Großvater gehörten. In dieser Nacht sah ich mir die Wiederholung von einer Folge der «Twilight Zone» an und ging dann spazieren. Niemand war unterwegs. Die Palmen schwankten, und die Straßenlaternen schienen ganz hell, und wenn man am Haus vorbei in die Wüste schaute, gab es dort nichts als Dunkelheit. Kein einziges Auto fuhr vorbei, und ich glaubte, eine Klapperschlange zu sehen, die in die Garage glitt. Die Dunkelheit, der Wind, das Rascheln der Hecken, die leere Zigarettenschachtel, die in der Einfahrt lag - das wirkte so unheimlich auf mich, daß ich ins Haus rannte und überall Licht anmachte und ins Bett ging, und der seltsame Wüstenwind blies vor meinem Fenster, und es hörte sich an wie Stöhnen, und dann schlief ich ein.
Es ist Samstag abend und ziemlich spät, und wir sind alle in Kims Haus. Wir hängen da mehr oder weniger nur rum, trinken Gin-Tonic mit unheimlich viel Limonensaft und gucken uns alte Spielfilme auf dem Videorecorder an. Ich muß dauernd zu dem Portraitbild von Kims Mutter rüberschauen, das ganz hoch über der Bar im Wohnzimmer hängt. Heute abend ist wohl nirgends was los, aber Blair hat von der sogenannten New Garage gehört, die im alten Zentrum, zwischen der 6. und 7. 126
oder der 7. und 8. Straße sein soll, also beschließen Dimitri und Kim und Alana und Blair und ich, dorthin zu fahren. Die New Garage entpuppt sich als ein Club, der in einem viergeschössigen Parkhaus untergebracht ist; das erste und zweite und dritte Geschoß werden offenbar nicht mehr genutzt, aber ein paar verlassene Autos stehen immer noch rum. Auf der vierten Etage liegt der Club. Die Musik ist laut, und eine Menge Leute tanzen, und überall riecht es nach Bier und Schweiß und Benzin. Die neueste Single von Icicle Works läuft, und ein paar Mitglieder der Go-Go's sind da und sogar einer von den Blasters, und Kim sagt, sie hätte John Doe und Exene vorn beim Discjokkey stehen sehen. Alana fängt eine Unterhaltung mit zwei englischen Jungen an, die sie kennt, weil beide bei Fred Segal arbeiten. Kim unterhält sich mit mir. Sie erzählt mir, sie glaubt nicht daran, daß Blair mich noch besonders mag. Ich zucke die Achseln und gucke aus einem offenen Fenster. Von da aus, wo ich stehe, schaue ich direkt auf den Nachthimmel, auf die Dächer der Gebäude im Geschäftsviertel, und alles ist dunkel, nur hier und da sehe ich Licht in einem einzelnen Büroraum, meistens in einer der oberen Etagen. Ich sehe auch eine riesige Kathedrale mit einem großen, erleuchteten Kreuz, wie aus einem Stein gehauen, das auf diesem Kirchturm steht und dem Mond entgegenragt; einem Mond, der mir so rund und so gelb vorkommt, als sei er eine Karikatur. Ich schaue einen Moment lang Kim an und sage gar nichts. Dann entdecke ich auf der Tanzfläche Blair zusammen mit einem hübschen Jungen, der etwa sechzehn oder siebzehn ist, und die beiden sehen richtig glücklich aus. Kim sagt: «Wirklich schade», aber ich glaube nicht, daß sie das im Ernst meint. Dimitri, der betrunken ist und unverständliches Zeug murmelt, kommt auf uns beide zugetorkelt, und ich glaube, daß er etwas zu Kim sagen will, doch statt dessen steckt er seine Hand durchs Fenster, und die Haut bleibt an den Glassplittern hängen, und als er sie rauszuziehen versucht, schneidet er sich alles auf, und es sieht aus wie verstümmelt, und an verschiedenen Stellen spritzt Blut raus und fällt in dicken Tropfen auf das Glas. Nachdem wir ihn zu irgendeiner Notaufnahme in irgendeiner Klinik gebracht haben, gehen wir zu einem Café auf 127
dem Wilshire Boulevard und bleiben da bis etwa vier Uhr sitzen und fahren dann nach Hause.
Ich habe eine Verabredung mit Blair, aber vorher läuft noch so eine religiöse Sendung im Fernsehen. Der Redner hat graue Haare, eine rosa getönte Sonnenbrille und sehr breite Jackettaufschläge, und er hält ein Mikrofon in der Hand. Ein neonbeleuchteter Christus steht verloren im Hintergrund. «Du fühlst dich verwirrt. Du fühlst dich verbittert», erklärt er mir. «Du weißt nicht, was los ist. Deshalb fühlst du dich hoffnungslos und hilflos. Deshalb hast du das Gefühl, deine Situation sei ausweglos. Aber Jesus wird kommen. Er wird durch diesen Bildschirm zu dir kommen. Jesus wird auf der Straße deines Lebens ein Hindernis errichten, damit du umkehren kannst, und genau das wird Er jetzt für dich tun. Himmlischer Vater, du wirst die Gefangenen befreien. Lehre die, die in Knechtschaft leben. Preise den Herrn. Laß dies eine Nacht der Erlösung werden. Sag zu Jesus: ‹Vergib mir meine Sündern, und dann mögest du diese unermeßliche Freude verspüren. Möge dein Kelch überfließen. In Jesu Namen, Amen ... Halleluja!» Ich warte darauf, daß etwas geschieht. Ich bleibe fast eine Stunde lang einfach sitzen. Nichts passiert. Ich stehe auf, nehme den Rest von meinem Koks, den ich im Schrank aufbewahrt habe, und fahre los und halte bei der Polo Lounge auf ein Bier, bevor ich Blair abhole, der ich etwas früher am Telefon einfach nur erzählt habe, daß ich zwei Karten für ein Konzert im Amphitheater hätte, woraufhin sie nur sagte: «Ich komme mit», und ich konnte ihr gerade noch mitteilen, ich würde sie um sieben abholen, da legte sie auch schon auf. Während ich allein an der Theke vor meinem Bier sitze, sage ich mir, daß ich eigentlich eine der Telefonnummern anrufen wollte, die während der Sendung eingeblendet wurden. Aber dann entdeckte ich, daß ich gar nicht wußte, was ich hätte sagen sollen. Und ich erinnere mich an sieben der Worte, die der Mann gesprochen hat. Laß dies eine Nacht der Erlösung werden. 128
An diese Worte erinnere ich mich aus irgendeinem Grund, als Blair und ich nach dem Konzert bei Spago sitzen, und es ist schon spät, und wir sitzen ganz allein im Innenhof, und Blair seufzt und bittet mich um eine Zigarette. Wir trinken Champagner-Kirs, aber Blair hatte schon mehr, als sie vertragen kann, und als sie ihr sechstes Glas bestellt, sage ich zu ihr, daß sie jetzt doch vielleicht genug getrunken hat, und sie schaut mich an und sagt: «Mir ist heiß, und ich bin durstig, und ich werde mir bestellen, was ich will, verdammt noch mal.»
Ich sitze mit Blair in einer italienischen Eisdiele in Westwood. Blair und ich essen ein bißchen italienisches Eis und unterhalten uns. Blair erwähnt, daß diese Woche im Kabelfernsehen Die Körperfresser kommen läuft. «Das Original?» frage ich und überlege mir, wieso sie gerade jetzt über diesen Film reden muß. Ich fange schon an, paranoide Gedankenverbindungen zu machen. «Nee.» «Die Neuverfilmung?» frage ich vorsichtig. «Mmh, ja.» «Ach so.» Ich schaue wieder auf meinen Eisbecher runter, von dem ich nicht besonders viel esse. «Hast du das Erdbeben mitgekriegt?» «Was?» «Hast du heute morgen das Erdbeben mitgekriegt?» «Ein Erdbeben?» «Genau.» «Heute morgen?» «Genau.» «Nein, nicht daß ich wüßte.» Pause. «Na ja, ich dachte, du wärst vielleicht davon aufgewacht oder so.» Auf dem Parkplatz mache ich eine Art Vorstoß und sage: «Hör mal, es tut mir leid, ehrlich», und dabei weiß ich selbst nicht so genau, ob das die Wahrheit ist. 129
«Laß nur», sagt sie. «Ist ja schon gut.» An einer roten Ampel auf dem Sunset beuge ich mich rüber und gebe ihr einen Kuß, und sie legt den zweiten Gang ein und drückt aufs Gas. Im Radio läuft ein Song, den ich heute schon mindestens fünfmal gehört habe, aber ich summe trotzdem mit. Blair steckt sich eine Zigarette an. Wir fahren vorbei an einer ärmlichen Frau mit schmutzigen, ungekämmten Haaren, die neben sich eine Kaufhaustüte stehen hat, aus der vergilbtes Zeitungspapier quillt. Sie hockt auf dem Bürgersteig, direkt an der Schnellstraße, und streckt das Gesicht dem Himmel entgegen; ihre Augen sind halb zugekniffen, wegen der grellen Sonne. Blair verriegelt die Autotüren von innen, und wir fahren über eine Seitenstraße die Hügel hinauf. Kein einziges Auto kommt vorbei. Blair dreht das Radio lauter. Den Koyoten sieht sie nicht. Er ist groß und bräunlich-grau, und das Auto trifft ihn mit voller Wucht, als er mitten auf die Straße rennt, und Blair fängt an zu kreischen und versucht weiterzufahren, und die Zigarette fällt ihr aus dem Mund. Aber der Koyote ist unter den Rädern festgeklemmt und jault, und das Auto bewegt sich kaum. Blair hält an und legt den Rückwärtsgang ein und stellt den Motor ab. Ich möchte nicht aussteigen, aber Blair bekommt einen hysterischen Weinkrampf und vergräbt ihren Kopf im Schoß, und ich steige aus und gehe langsam zu dem Koyoten rüber. Er liegt auf der Seite und versucht, mit dem Schwanz zu wedeln. Seine Augen sind weit aufgerissen und haben einen panischen Ausdruck, und ich sehe zu, wie er anfängt zu sterben, im hellen Sonnenlicht, während ihm Blut aus dem Maul rinnt. Alle seine Beine sind zerquetscht, und sein Körper zuckt andauernd, und dann fällt mir die Blutlache auf, die sich allmählich um seinen Kopf herum bildet. Blair ruft mir etwas zu, aber ich nehme keine Notiz davon und beobachte weiter den Koyoten. Ich bleibe etwa zehn Minuten lang stehen. Kein einziges Auto fährt vorbei. Der Koyote zittert und bäumt sich noch drei- oder viermal auf, und dann verdrehen sich seine Augen. Horden von Fliegen sammeln sich auf ihm, krabbeln über das Blut und die trüben Augen, die allmählich trocken werden. Ich gehe zurück zum Auto, und Blair fährt los, und als wir bei ihr zu Hause ankommen, stellt sie den 130
Fernseher an, und ich glaube, sie nimmt etwas Valium oder ein anderes Beruhigungsmittel, und wir beide gehen ins Bett, während «Another World», eine von den soap operas, anfängt. Und am selben Abend, auf Kims Party, während alle anderen pokern und sich einen ansaufen, sitzen Blair und ich auf einer Couch im Wohnzimmer und hören uns eine alte XTC-Platte an, und Blair sagt zu mir, daß wir vielleicht ins Gästehaus gehen sollten, und wir stehen auf und verschwinden aus dem Wohnzimmer und kommen an dem beleuchteten Pool vorbei, und sobald wir im Gästehaus sind, küssen wir uns grob, und so erregt war ich noch nie mit ihr, und sie packt meinen Hintern und preßt mich so fest gegen sich, daß ich das Gleichgewicht verliere und wir beide ganz langsam auf die Knie fallen, und ihre Hände schieben sich unter meinem Hemd hoch, und ich kann ihre Hand auf meiner Brust spüren, kühl und glatt, und ich küsse und lecke ihren Hals und dann ihr Haar, das wie Jasmin riecht, und ich reibe mich an ihr, und wir ziehen uns gegenseitig die Jeans runter und berühren einander, und ich fahre mit der Hand durch ihre Unterhose, und als ich zu schnell in sie eindringe, hält sie den Atem an, und ich versuche, ganz leise zu sein.
Ich sitze mit meinem Vater im Trumps. Er hat sich einen neuen Ferrari gekauft und trägt seit kurzer Zeit einen Cowboyhut. Diesen Cowboyhut setzt er allerdings ab, als wir ins Trumps reingehen, und das erleichtert mich irgendwie. Er möchte, daß ich seinen Astrologen kennenlerne und gibt mir den Rat, das «Löwenastroskop» fürs kommende Jahr zu kaufen. «Mach ich.» «Diese Planetenschwingungen beeinflussen deinen Körper auf ganz komische Weise», sagt er. «Weiß ich.» Das Fenster, an dem wir sitzen, steht offen, und ich heb mein Glas mit Champagner zum Mund und mach die Augen zu und 131
laß meine Haare ein bißchen von dem warmen Wind zerzausen, und dann dreh ich den Kopf und schau zu den Hügeln hoch. Ein Geschäftsmann kommt an unseren Tisch. Ich hatte meine Mutter gebeten mitzukommen, aber sie sagte, sie wäre anderweitig beschäftigt. Sie lag draußen am Pool und las in einem Glamour-Heft, als ich sie bat mitzukommen. «Nur auf 'n Drink», sagte ich. «Ich habe keine Lust, ‹nur auf 'n Drink› ins Trumps zu gehen.» Ich holte tief Luft und sagte gar nichts. «Ich habe überhaupt keine Lust wegzugehen.» Eine meiner Schwestern, die neben ihr lag, zuckte die Achseln und setzte sich ihre Sonnenbrille auf. «Außerdem soll gleich ein neues Kabelprogramm angeschlossen werden», sagte sie genervt, als ich vom Pool wegging. Der Geschäftsmann verschwindet. Mein Vater sagt nicht besonders viel. Ich versuche, Konversation zu machen. Ich erzähle ihm von dem Koyoten, den Blair überfahren hat. Er antwortet, das sei ja eine traurige Geschichte. Er schaut dauernd zum Fenster hinaus und beäugt seinen feuerhydrantenroten Ferrari. Mein Vater fragt mich, ob ich mich darauf freue, wieder nach New Hampshire zu gehen, und ich schau ihn an und sag ja.
Als ich aufwachte, hörte ich draußen Stimmen. Der Regisseur, zu dessen Party am Abend vorher meine Eltern meine Großmutter mitgenommen hatten, hockte am Gartentisch, unter einem Sonnenschirm, und aß ein spätes, ausgedehntes Frühstück. Die Frau des Regisseurs saß an seiner Seite. Im Schatten des Sonnenschirms sah meine Großmutter wohl aus. Der Regisseur begann, über den Tod eines seiner Stuntmen bei Filmaufnahmen zu reden. Er redete darüber, wie dieser Stuntman gestolpert und dann kopfüber auf das Pflaster gestürzt war. «So ein netter Junge. Und er war erst achtzehn.» 132
Mein Vater machte noch ein Bier auf. Mein Großvater schaute bekümmert auf den Boden. «Wie hieß er denn?» fragte er. «Wie bitte?» Der Regisseur warf ihm einen flüchtigen Blick zu. «Wie hieß er denn? Wie hieß der Junge denn?» Daraufhin entstand ein langes Schweigen, und ich nahm nichts wahr außer dem heißen Wüstenwind und dem Summen des Whirlpools, der sich gerade aufheizte, und dem leisen Gluckern im großen Becken und Frank Sinatras Song «Summer Wind», und ich betete darum, der Regisseur möge sich an diesen Namen erinnern. Aus irgendeinem Grund schien mir das entsetzlich wichtig zu sein. Ich wünschte mir mit aller Kraft, daß der Regisseur diesen Namen sagte. Der Regisseur öffnete den Mund und sagte: «Den hab ich vergessen.»
Nach dem Essen mit meinem Vater fahre ich zu Daniels Haus. Das Dienstmädchen kommt an die Tür und bringt mich in den hinteren Teil des Gartens, wo Daniels Mutter, die ich beim Elterntag am College in New Hampshire kennengelernt habe, im Bikini Tennis spielt. Ihr Körper glänzt fettig vom Sonnenöl. Sie unterbricht das Spiel mit der Ballmaschine und kommt her zu mir und redet über Japan und Aspen und dann darüber, daß sie neulich einen merkwürdigen Traum hatte, in dem Daniel entführt wurde. Sie setzt sich auf einen Liegestuhl am Pool, und das Dienstmädchen bringt ihr ein Glas Eistee, und Daniels Mutter nimmt die Zitronenscheibe raus und lutscht auf ihr rum, während sie den blonden Jungen anstarrt, der das Laub aus dem Bekken holt, und dann sagt sie mir, daß sie schon wieder Migräne kriegt und daß sie Daniel seit Tagen nicht mehr gesehen hat. Ich gehe ins Haus und die Treppe hoch und vorbei an dem Plakat für den neuesten Film von Daniels Vater und in Daniels Zimmer, um auf ihn zu warten. Als mir klar wird, daß Daniel wohl nicht so bald wiederkommt, gehe ich zum Auto zurück und fahre zu Kims Haus, um meine Weste zu holen. 133
Als
ich in Kims Haus komme, höre ich als erstes lautes
Schreien. Das Dienstmädchen scheint sich nicht darum zu kümmern, und nachdem sie mir die Tür aufgemacht hat, geht sie wieder in die Küche. Das Haus ist immer noch nicht eingerichtet, und auf dem Weg zum Pool sehe ich wieder diese Nazitöpfe. Das Schreien kommt von Muriel. Als ich am Pool angelangt bin, wo sie mit Kim und Dimitri liegt, hört sie auf damit. Dimitri trägt eine schwarze Badehose und einen Sombrero, hat eine elektrische Gitarre auf dem Schoß und versucht, «L.A. Woman» zu spielen, aber das geht nicht so gut, weil die Hand, die er sich in der New Garage aufgeschlitzt hat, gerade frisch verbunden ist, und jedesmal, wenn seine Hand auf die Saiten fällt, verzieht er schmerzhaft das Gesicht. Muriel schreit schon wieder. Kim raucht einen Joint, und schließlich bemerkt sie mich und steht auf und erzählt mir, daß sie geglaubt hat, ihre Mutter wäre in England, aber in der neuen Variety steht, daß sie momentan mit dem Regisseur ihres nächsten Films auf Hawaii ist, um geeignete Plätze für die Außenaufnahmen zu finden. «Du solltest anrufen, bevor du herkommst», erklärt mir Kim und reicht ihren Joint an Dimitri weiter. «Ich hab's ja versucht, aber niemand ist rangegangen», lüge ich, wobei mir klar ist, daß wahrscheinlich sowieso niemand rangegangen wäre, auch wenn ich versucht hätte anzurufen. Muriel schreit, und Kim schaut besorgt zu ihr rüber und sagt: «Na ja, vielleicht hast du ja aus Versehen eine von den alten Nummern gewählt.» «Vielleicht», antworte ich. «Tut mir leid. Ich will bloß meine Weste holen.» «Na ja, ich hab halt ... das eine Mal ist es schon okay, aber ich mag das nicht, wenn Leute einfach herkommen. Irgend jemand erzählt überall rum, wo ich wohne. Ich mag das nicht.» «Tut mir leid.» «Ich meine, früher fand ich's ja gut, wenn Leute zu Besuch kamen, aber zur Zeit kann ich's nicht ab. Ich ertrag's einfach nicht.» 134
«Wann mußt du wieder in die Uni?» frage ich Kim, als wir zu ihrem Zimmer zurückgehen. «Ich weiß nicht.» Auf einmal wird sie ganz defensiv. «Haben die Seminare denn schon wieder angefangen?» Wir gehen in ihr Zimmer. Abgesehen von einer großen Matratze auf dem Boden und einer riesigen, teuren Stereoanlage, die eine ganze Wand einnimmt, und einem Poster von Peter Gabriel und einem Klamottenhaufen in der Ecke ist es leer. Über der Matratze hängen auch die Fotos von ihrer Silvesterparty. Ich sehe eins von Muriel beim Fixen; sie hat meine Weste an, und ich schaue ihr zu. Auf einem anderen stehe ich im Wohnzimmer, nur in T-Shirt und Jeans, und bin wohl gerade dabei, eine Flasche Champagner aufzumachen, und sehe total daneben aus. Ein anderes zeigt Blair, die sich eine Zigarette anzündet. Eins von Spit im Vollrausch, unter der amerikanischen Flagge. Ich höre, wie draußen Muriel schreit und Dimitri immer noch versucht, Gitarre zu spielen. «Was hast du so gemacht?» frage ich. «Was hast du so gemacht?» fragt sie zurück. Ich sage gar nichts. Kim schaut mit verwirrtem Ausdruck zu mir hoch. «Na los, Clay, sag schon.» Sie wühlt den Stoß Klamotten durch. «Irgendwas wirst du doch wohl machen.» «Ach Gott, ich weiß auch nicht.» «Was machst du?» fragt sie. «Ich weiß nicht. Nichts Besonderes.» Ich setze mich auf die Matratze. «Sag mal genauer.» «Du, irgendwas halt.» Meine Stimme ist am Überkippen, und einen Moment lang denke ich an den Koyoten, und ich glaube, ich muß gleich heulen, aber es geht vorbei, und dann will ich nur noch meine Weste wiederhaben und von hier verschwinden. «Zum Beispiel?» «Was macht deine Mutter eigentlich gerade?» «Eine Dokumentation kommentieren, über jugendliche Spastiker. Was machst du, Clay?» Irgend jemand, vielleicht Spit oder Jeff oder Dimitri, hat das 135
Alphabet an eine Wand in ihrem Zimmer geschrieben. Darauf versuche ich mich zu konzentrieren, aber ich stelle fest, daß die meisten Buchstaben nicht in der richtigen Reihenfolge sind, also frage ich: «Was macht deine Mutter sonst noch?» «Demnächst macht sie diesen Film auf Hawaii. Was machst du?» «Telefoniert ihr miteinander?» «Frag mich bitte nicht nach meiner Mutter.» «Wieso denn nicht?» «Sag so was nicht.» «Wieso denn nicht?» sage ich noch mal. Sie hat die Weste gefunden. «Hier ist sie.» «Wieso nicht?» «Was machst du?» fragt sie und hält mir die Weste entgegen. «Was machst du?» «Was machst du?» fragt sie mit zitternder Stimme. «Frag mich bitte nicht. Okay, Clay?» «Wieso nicht?» Sie setzt sich auf die Matratze, nachdem ich aufgestanden bin. Muriel schreit. «Weil ... ich weiß auch nicht», sagt sie seufzend. Ich schau zu ihr rüber und spür überhaupt nichts und geh mit meiner Weste raus.
Rip
und ich sitzen im Büro der Plattenfirma I.R.S. Der Typ,
der als Werbeleiter fungiert, will von Rip etwas Kokain kaufen. Der Werbeleiter ist zweiundzwanzig und hat platinblonde Haare und ist ganz in Weiß gekleidet. Rip will wissen, was er ihm besorgen soll. «Ich brauche etwas Kokain», sagt der Typ. «Na toll», sagt Rip und greift in die Tasche von seiner Fallschirmspringerjacke. «Schönes Wetter heute», sagt der Typ. «Ja, wirklich toll draußen», sagt Rip. 136
«Mmh, toll», sage ich. Rip fragt den Werbeleiter, ob er ihm eine Freikarte für das Fleshtones-Konzert besorgen kann. «Klar doch.» Er reicht Rip zwei kleine Umschläge. Rip sagt, daß er sich wieder meldet, demnächst, und reicht ihm einen Umschlag. «Toll», sagt der Typ. Rip und ich stehen auf, und Rip fragt ihn: «Hast du zufällig Julian gesehen?» Der Typ sitzt hinter einem großen Schreibtisch, und er hebt den Hörer auf und bittet Rip, sich noch einen Moment zu gedulden. Der Typ sagt überhaupt nichts ins Telefon. Rip beugt sich über den großen gläsernen Schreibtisch und nimmt sich das Demo-Band von so 'ner neuen englischen Band runter. Der Typ legt auf, und Rip reicht mir das Demo-Band. Ich gucke es mir genau an und lege es wieder auf den Schreibtisch zurück. Der Typ grinst und sagt zu Rip, daß er mal mit ihm essen gehen will. «Und was ist mit Julian?» fragt Rip. «Weiß ich auch nicht», sagt der Werbeleiter. «Ganz herzlichen Dank.» Rip zwinkert ihm zu. «Klaro, Mann», sagt der Typ, lehnt sich in seinen Stuhl zurück und verdreht die Augen langsam nach oben.
Trent
ruft mich an, als Blair und Daniel gerade bei mir zu
Hause sind, und lädt uns zu einer Party in Malibu ein; er erwähnt, daß X vielleicht auch hinkommt. Blair und Daniel meinen, das wäre 'ne gute Idee, und obwohl ich wirklich nicht unbedingt zu 'ner Party gehen oder Trent sehen will, sage ich nichts dagegen. Es ist ein schöner, klarer Tag, und so eine Fahrt nach Malibu scheint wirklich keine schlechte Idee zu sein. Daniel ist sowieso dafür, weil er sehen will, welche Häuser durch die Regenstürme zerstört wurden. Ich achte darauf, nicht zu schnell über den Pacific Coast Highway zu fahren, und Daniel und Blair unterhalten sich über die neue U2-Platte, und als sie im Radio den 137
neuen Song von den Go-Gos bringen, bitten mich die beiden, ihn lauter zu stellen, und singen mit, halb im Spaß, halb im Ernst. Je näher wir ans Meer kommen, desto kühler wird es, und der Himmel färbt sich grau-lila, und kurz vor Malibu fahren wir an einem Krankenwagen und zwei Polizeiautos vorbei, die am Straßenrand stehen, und Daniel macht den Hals lang, um besser sehen zu können, und ich fahre ein bißchen langsamer. Blair sagt, daß sie wahrscheinlich nach einem Unfallwrack suchen, und wir drei sind einen Moment lang still. X ist nicht auf der Party in Malibu. Überhaupt sind nicht allzuviele Leute da. Trent kommt an die Tür, in kurzen Hosen, und erzählt uns, daß er und ein Freund von ihm das Haus benutzen, solange der Besitzer in Aspen ist. Offensichtlich kommt Trent oft hierher, und das gilt wohl auch für seine Freunde, fast alles blonde, gutaussehende Dressmen, genau wie Trent, und er sagt, wir sollen uns zu essen und zu trinken nehmen, was wir wollen, und geht zurück zum Whirlpool und legt sich dort ausgestreckt hin. Der Himmel bedeckt sich mit dunklen Wolken. Ich sehe fast nur ganz junge Typen, und die scheinen überall im Haus zu sein, und alle sehen gleich aus: dünn, braungebrannt, kurze blonde Haare, ausdruckslose blaue Augen, dieselbe leere, tonlose Stimme, und dann beginne ich, mich zu fragen, ob ich wohl genauso aussehe. Ich versuche, diesen Gedanken zu vergessen und hol mir einen Drink und seh mich im Wohnzimmer um. Zwei Jungens spielen PacMan. Ein weiterer Junge liegt in einer total weichgepolsterten Couch, raucht einen Joint und schaut sich MTV an. Einer der Jungens, die PacMan spielen, stöhnt auf und schlägt richtig hart gegen den Apparat. Zwei Hunde laufen über den leeren Strand. Einer der Jungens ruft zu ihnen rüber: «He, Hanoi und Saigon, kommt her», und die beiden Hunde, Dobermänner, kommen mit graziösen Bewegungen auf die Terrasse gesprungen. Der Junge streichelt sie, und Trent lächelt und fängt an, sich über die Bedienung bei Spago zu beschweren. Der Junge, der vorher gegen den PacMan-Apparat geschlagen hat, geht rüber zu Trent und schaut auf ihn runter. 138
«Ich brauch die Schlüssel für den Ferrari. Ich will was zu trinken kaufen. Weißt du, wo die Kreditkarten sind?» «Laß es einfach anschreiben», sagt Trent schlaff. «Und bring 'ne große Kiste Tonic mit, klar, Chuck?» «Die Schlüssel.» «Stecken.» «Alles klar.» Plötzlich bricht die Sonne durch die Wolken, und der Junge mit den Hunden setzt sich neben Trent und fängt ein Gespräch mit uns an. Anscheinend arbeitet dieser Typ auch als Dressman und versucht, ins Filmgeschäft reinzukommen, genau wie Trent. Aber der einzige Job, den sein Agent ihm bisher besorgt hat, war eine Fernsehreklame für irgendeine Imbißkette. «Trent, he, Mann, es geht los», ruft ein Junge aus dem Haus. Trent tippt mich auf die Schulter und zwinkert und sagt, daß ich mir da unbedingt was ansehen muß; dann fordert er Blair und Daniel mit einer Handbewegung auf, auch zu kommen. Wir gehen ins Haus und durch einen breiten Flur und in einen Raum, der vermutlich ein Schlafzimmer ist, und da sitzen etwa zehn Jungen außer uns und den zwei Hunden, die uns ins Haus gefolgt sind. Alle Anwesenden schauen hoch zu einem großen Bildschirm. Auch ich schaue hoch zu dem Bildschirm. Da ist ein junges Mädchen zu sehen, nackt, vielleicht fünfzehn Jahre alt, auf einem Bett; ihre Arme sind über dem Kopf zusammengebunden und ihre Beine weit auseinandergespreizt, und jeder Fuß ist an einen Bettpfosten gefesselt. Sie liegt auf etwas, das wie Zeitungspapier aussieht. Der Film ist schwarz-weiß und zerkratzt, und man kann nicht richtig erkennen, worauf sie liegt, aber es sieht aus wie Zeitungspapier. Nach einem schnellen Schnitt richtet sich die Kamera auf einen dünnen, nackten, ängstlich aussehenden Jungen, der vielleicht sechzehn oder siebzehn ist. Dieser Junge wird von einem fetten schwarzen Typen ins Zimmer geschubst. Der Schwarze ist ebenfalls nackt und hat einen riesenhaften Ständer. Der Junge starrt unerträglich lange und mit einem Ausdruck von Panik in die Kamera. Der Schwarze bindet den Jungen am Boden fest, und ich frage mich, warum im Hintergrund eine Motorsäge liegt, und dann hat er 139
Sex mit ihm, und dann hat er Sex mit dem Mädchen, und dann geht er weg, aus dem Kamerabild. Als er zurückkommt, trägt er einen Kasten. Der sieht aus wie ein Werkzeugkasten, und einen Moment lang bin ich verwirrt, und Blair geht aus dem Zimmer. Und er holt einen Eispickel heraus und etwas, das wie ein Drahtbügel aussieht, und eine Schachtel mit Nägeln und dann ein langes, dünnes Messer, und er geht auf das Mädchen zu, und Daniel lächelt und stupst mich in die Rippen. Ich mache mich schnell davon, als der Schwarze versucht, einen Nagel in den Hals des Mädchens zu drücken. Ich setze mich raus in die Sonne und zünde mir eine Zigarette an und versuche, mich zu beruhigen. Aber die Lautstärke ist voll aufgedreht worden, deshalb setze ich mich auf die Terrasse, ich höre die Brandung und die Möwenschreie, und ich höre das Summen der Telegraphenmasten, und ich fühle die Sonnenstrahlen auf meinem Körper, und ich lausche auf das Rauschen der Bäume im warmen Wind und auf die Schreie von einem jungen Mädchen aus dem Videorecorder im Schlafzimmer. Trent kommt etwa zwanzig, dreißig Minuten später wieder raus, nachdem das Schreien und Brüllen des Mädchens und des Jungen nicht mehr zu hören sind, und mir fällt auf, daß er einen Ständer hat. Er zieht sich die Hose gerade und setzt sich neben mich. «Der Typ hat fünfzehntausend dafür gelöhnt.» Die beiden Jungen, die vorher PacMan gespielt haben, kommen mit vollen Gläsern raus auf die Terrasse, und der eine meint zu Trent, daß er den Film nicht für echt hält, obwohl die Szene mit der Motorsäge ziemlich eindrucksvoll war. «Ich wette mit dir, daß der echt ist», sagt Trent irgendwie defensiv. Ich lehne mich in den Stuhl zurück und sehe Blair nach, die den Strand entlang geht. «Ja, ich glaub auch, daß der echt ist», sagt der andere Junge und läßt sich vorsichtig im Whirlpool nieder. «Das wär gar nicht anders möglich.» «Findest du also auch?» fragt Trent etwas hoffnungsvoller. «Ich meine, also, wie kann man überhaupt so 'ne Kastration künstlich nachmachen? Die haben dem Typ doch die Eier ganz 140
langsam abgeschnitten. Also das kann man gar nicht künstlich machen», sagt der Junge. Trent nickt und denkt eine Weile darüber nach, und Daniel kommt raus, lächelnd und mit rotem Kopf, und ich lehne mich voll in die Sonne.
An
einem Nachmittag kam West, einer der Privatsekretäre
von meinem Großvater, zu uns. Er ging gebückt und trug eine ganz schmale Krawatte und ein Jackett mit dem Abzeichen von der Hotelkette meines Großvaters hinten drauf, und er verteilte Lakritzkaugummis Marke Beechnut. Er redete über die Hitze und den Flug im Privatjet. Er kam zusammen mit Wilson, der auch für meinen Großvater arbeitete, und Wilson hatte eine rote Baseballmütze auf dem Kopf und trug Zeitungsausschnitte mit sich herum, die nur vom Wetter in Nevada während der letzten beiden Monate handelten. Die Männer saßen einfach rum und redeten über Baseball und tranken Bier, und meine Großmutter saß auch dabei, und ihre Bluse hing schlaff an ihrem gebrechlichen Körper, und ein gelb-blaues Tuch war fest um ihren Hals gewickelt.
Trent und ich sind irgendwo in Westwood, und er erzählt mir, wie der Typ von Aspen zurückgekommen ist und alle Leute aus dem Haus in Malibu rausgeschmissen hat, und daß er jetzt ein paar Tage bei Bekannten wohnt, im Valley, und daß er dann nach New York muß, um ein paar Aufnahmen zu machen. Und als ich ihn frage, was für Aufnahmen, zuckt er bloß die Achseln und sagt: «Aufnahmen, Mann, Aufnahmen.» Er sagt, daß er wirklich gern nach Malibu zurückgehen würde, daß er den Strand vermißt. Dann fragt er mich, ob ich mir ein bißchen Koks reinziehen will. Ich antworte, daß ich im Moment nichts will, aber spä141
ter vielleicht. Trent packt mich ziemlich grob am Arm und sagt: «Warum jetzt nicht?» «Ach, laß mich, Trent», antworte ich. «Ich hab Nasenschmerzen.» «Schon gut. Davon wird's bestimmt besser. Wir können hoch ins Hamburger-Hamlet.» Ich schaue Trent an. Trent schaut mich an. Wir brauchen nur fünf Minuten, und als wir wieder raus auf die Straße kommen, geht's mir nicht besonders viel besser. Trent sagt, daß er sich jetzt echt wohl fühlt, und er will in die Spielhalle auf der anderen Straßenseite. Außerdem erzählt er mir, daß Sylvan aus Frankreich letzten Freitag 'ne Überdosis genommen hat. Ich erkläre ihm, daß ich nicht weiß, wer Sylvan überhaupt war. Er zuckt die Achseln. «Hast du schon mal gefixt?» fragt er. «Ob ich schon mal gefixt habe?» «Ja.» «Nein.» «Junge, Junge», sagt er geheimnisvoll. Als wir bei seinem Auto ankommen, einem Ferrari, den er sich privat ausgeliehen hat, bekomme ich Nasenbluten. «Ich werd dir Decadron oder ein anderes Antihistamin besorgen. Damit kriegst du die blockierten Nasengänge leichter frei.» «Aus welcher Quelle hast du das Zeug?» frage ich. Meine Finger und das Papiertaschentuch sind voll von Rotz und Blut. «Wo läßt du dir so einen Scheiß andrehen?» Daraufhin entsteht eine lange Pause, und er läßt den Motor an und sagt: «Spinnst du eigentlich?»
An diesem Nachmittag war meine Großmutter sehr krank geworden. Sie fing an, Blut zu husten. Schon seit längerem hatte sie unter Haarausfall und Gewichtsverlust gelitten, beides Folgen vom Bauchspeicheldrüsenkrebs. Später am Abend, als meine Großmutter schon im Bett lag, unterhielten sich die anderen wei142
ter, über Mexiko und Stierkämpfe und schlechte Filme. Mein Großvater schnitt sich in den Finger, als er eine Bierdose aufmachte. Sie bestellten Essen von einem italienischen Restaurant in der Stadt, und der Junge, der es ins Haus brachte, hatte Jeans mit einem «Aerosmith Live»-Aufnäher an. Meine Großmutter kam noch mal herunter. Es ging ihr ein bißchen besser. Trotzdem aß sie keinen Bissen. Ich setzte mich neben sie, und mein Großvater führte einen Zaubertrick mit zwei Silberdollars vor. «Hast du das gesehen, Großmama?» fragte ich, zu schüchtern, um ihr in die trüben Augen zu schauen. «Ja, ich hab's gesehen», sagte sie und versuchte zu lächeln.
Ich bin gerade am Einschlafen, da kommt überraschend Alana, und das Mädchen läßt sie rein, und sie klopft an meine Tür, und ich warte ziemlich lange, bevor ich aufmache. Sie hat offenbar geweint, und sie kommt rein und setzt sich auf mein Bett und erwähnt irgendwas von einer Abtreibung und fängt an zu lachen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wie ich damit umgehen soll, also murmel ich nur, daß es mir leid tut. Sie steht auf und geht zum Fenster rüber. «Was soll dir denn leid tun?» fragt sie und zündet sich eine Zigarette an und nimmt ein paar Züge und drückt sie dann wieder aus. «Ich weiß auch nicht.» «Also, Clay ...» Sie lacht noch mal kurz auf und schaut zum Fenster raus, und einen Moment lang glaube ich, daß sie gleich anfängt zu weinen. Ich stehe neben der Tür und schaue rüber zu dem Elvis Costello-Poster, zu seinen Augen, die sie beobachten, uns beobachten, und ich versuche, sie aus diesem Bann zu ziehen, und deshalb sage ich ihr, sie soll zu mir rüber kommen und sich hinsetzen, und sie denkt wohl, daß ich sie in den Arm nehmen will, und sie kommt her zu mir und legt ihre Arme um mich und sagt so was wie: «Ich glaube, wir haben alle eine bestimmte Art von Gefühl verloren.» 143
«War es von Julian?» frage ich und merke, wie ich mich verkrampfe. «Von Julian? Ach was. Den Typen kennst du gar nicht.» Sie schläft ein, und ich geh runter, ins Freie, und setz mich vor den Whirlpool, schau in das erleuchtete Wasser und laß mich von dem aufsteigenden Dampf wärmen. Kurz vor der Morgendämmerung geh ich wieder rein, in mein Zimmer hoch. Alana steht am Fenster, raucht eine Zigarette und schaut zum Valley rüber. Sie erzählt mir, daß sie in der Nacht starke Blutungen hatte und daß sie sich ziemlich schwach fühlt. Wir fahren zum Frühstück nach Encino, und sie behält ihre Sonnenbrille auf und trinkt eine Menge Orangensaft. Wir fahren wieder zu meinem Haus zurück, und als ich vor dem Tor anhalte, steigt sie aus und sagt: «Vielen Dank.» «Wofür?» frage ich. «Ich weiß auch nicht», sagt sie nach einer ganzen Weile. Sie steigt in ihr Auto und fährt davon. Als ich auf die Klospülung in meinem Badezimmer drücke, entdecke ich, daß der Abfluß mit Kleenex verstopft ist, und das Wasser sieht ganz blutig aus, und ich klappe den Deckel zu, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen könnte.
Später am selben Tag fahre ich bei Daniel vorbei. Er sitzt in seinem Zimmer vor einem Atari-Spiel, das er an seinen Fernseher angeschlossen hat. Er sieht nicht besonders wohl aus, so dermaßen gebräunt, daß es schon an Sonnenbrand grenzt, und viel jünger, als er mir jemals in New Hampshire vorgekommen ist, und wenn ich etwas zu ihm sage, wiederholt er einen Teil davon und nickt dann. Ich frage ihn, ob er den Brief vom Camden-College gekriegt hat, in dem man ankreuzen muß, welche Kurse man im nächsten Semester belegen will, und er zieht die Pitfall-Kassette raus und schiebt eine andere namens Megama144
nia rein. Er reibt sich ständig am Mund, und als mir klar wird, daß ich auf meine Frage keine Antwort bekomme, erkundige ich mich danach, was er in letzter Zeit so gemacht hat. «Gemacht?» «Ja, genau.» «Rumgehangen.» «Und wo bist du rumgehangen?» «Wo? Was weiß ich. Reichst du mir mal den Joint? Liegt aufm Nachttisch.» Ich hole ihm den Joint und dann eine Streichholzschachtel vom Ginger Man. Er zündet sich den Joint an und spielt dann weiter Megamania. Er reicht mir den Joint, und ich zünde ihn wieder an. Gelbfarbene Teile fallen auf Daniels Video-Männchen runter. Daniel fängt an, mir von einem Mädchen zu erzählen, das er anscheinend kennt. Er erwähnt ihren Namen nicht. «Sie sieht gut aus und ist sechzehn Jahre alt und wohnt hier in der Gegend, und eines Tages trifft sie sich im Westward Ho, da auf dem Westwood Boulevard, mit ihrem Dealer. Der Typ ist siebzehn und geht aufs College. Und dieser Typ tut den ganzen Tag nichts anderes, als ihr eine Ladung Heroin nach der anderen zu verpassen ...» Daniel versäumt es, einem der herabfallenden Teile auszuweichen, und sein Video-Männchen wird getroffen und löst sich in Luft auf. Er stöhnt und redet weiter. «Und dann gibt er ihr noch 'n bißchen LSD obendrauf und nimmt sie zu 'ner Party mit, in den Hügeln oder in der Colony, und dann ... und dann ...» Daniel bricht ab. «Und was dann?» frage ich und gebe ihm den Joint zurück. «Und auf dieser Party sind lauter Typen, und einer nach dem anderen vergewaltigt dann das Mädchen.» «Oh.» «Wie findest du das?» «Das ist ja ... echt schlimm.» «'ne gute Idee für ein Drehbuch?» Pause. «Für ein Drehbuch.» «Genau. Für ein Drehbuch.» «Na ja, ich weiß nicht so recht.» Er zieht Megamania raus und schiebt eine neue Kassette rein, 145
diesmal ist es Donkey Kong. «Ich glaub nicht, daß ich ins College zurückgehe», sagt er. «Nach New Hampshire, mein ich.» Nach einer Pause frage ich ihn, warum nicht. «Ich weiß auch nicht.» Er bricht ab, zündet sich den Joint wieder an. «Es kommt mir so vor, als war ich nie dortgewesen.» Er zuckt die Achseln und nimmt einen tiefen Zug. «Es kommt mir so vor, als war ich seit 'ner Ewigkeit hier.» Er reicht mir den Joint. Ich schüttel den Kopf, nein. «Du willst also nicht zurück?» «Ich will dieses Drehbuch schreiben, verstehste?» «Aber was sagen deine Eltern dazu?» «Meine Eltern? Die interessiert doch so was nicht. Deine etwa?» «Sie müssen doch irgendeine Meinung dazu haben.» «Die sind diesen Monat auf Barbados, und dann reisen sie nach, äh ... Scheiße ... ich weiß nicht mehr ... nach Versailles? Ich weiß nicht mehr. Die interessiert so was nicht», sagt er noch mal. Ich erkläre ihm: «Ich fänd's besser, wenn du wieder mitkommen würdest.» «Ich wüßte nicht, was das bringen sollte», sagt Daniel und starrt unverwandt auf den Bildschirm, und ich beginne mich zu fragen, ob es überhaupt was bringen könnte, ob wir das je wissen werden. Schließlich steht Daniel auf und dreht den Fernseher ab und schaut dann aus dem Fenster. «Komischer Wind heute. Das stürmt ja richtig.» «Und was ist mit Vanden?» frage ich. «Mit wem?» «Vanden. Ach komm schon, Daniel. Vanden.» «Vielleicht kommt sie überhaupt nicht zurück», sagt er und setzt sich wieder hin. «Aber vielleicht doch.» «Wer ist Vanden?» Ich gehe zum Fenster rüber und erkläre ihm, daß ich in fünf Tagen weg bin. Draußen am Pool liegen Zeitschriften rum, und der Wind wirbelt sie hoch, läßt sie über den betonierten Weg neben dem Pool flattern. Eine Zeitschrift fällt rein. Daniel sagt 146
überhaupt nichts. Bevor ich weggehe, sehe ich ihn an, und dann sehe ich die Narbe auf seinem Daumen und Zeigefinger an, und aus irgendeinem Grund fühle ich mich besser.
Ich bin in einer Telefonzelle in Beverly Hills. «Hallo?» sagt mein Psychiater am anderen Ende der Leitung. «Hi. Hier spricht Clay.» «Ach ja, Clay. Hi. Wo bist du denn?» «In einer Telefonzelle in Beverly Hills.» «Kommst du heute nicht zu unserer Sitzung?» «Nein.» Pause. «Ah so. Äh, und warum nicht?» «Ich glaube nicht, daß Sie mir besonders viel helfen.» Eine weitere Pause. «Ist das wirklich der Grund?» «Was?» «Hör mal, warum willst du nicht -» «Ach, vergessen Sie's.» «Wo genau in Beverly Hills bist du?» «Ich glaube, ich komme gar nicht mehr zu Ihnen.» «Und ich glaube, ich werde wohl deine Mutter anrufen.» «Bitte sehr. Das kratzt mich überhaupt nicht. Aber ich komme nicht mehr, okay?» «Also, Clay, ich weiß nicht, was ich im Moment sagen soll, und ich weiß, daß das alles ein bißchen schwierig war. Aber Junge, wir alle haben -» «Leck mich am Arsch.»
Am Morgen desletzten Tages stand West sehr zeitig auf. Ertrug dasselbe Jackett und dieselbe Krawatte, und Wilson trug dieselbe rote Baseballmütze. West bot mir noch einen Bazooka-Kau147
gummi an und sagte: «Kaugummi am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen», und ich nahm zwei Stück. Er fragte mich, ob alle fertig wären, und ich sagte, das wüßte ich nicht. Die Frau des Regisseurs kam vorbei, um uns zu erzählen, daß sie übers Wochenende nach Las Vegas fliegen würde. Meine Großmutter nahm Percodan, ein morphinhaltiges Schmerzmittel. Wir fuhren mit dem Cadillac zum Flughafen. Am frühen Nachmittag waren wir endlich soweit, ins Flugzeug zu steigen und die Wüste hinter uns zu lassen. Niemand sagte auch nur ein Wort in der leeren Flughafenhalle, bis mein Großvater sich umdrehte und meine Großmutter ansah und sagte: «Okay, Partner, gehen wir.» Meine Großmutter starb zwei Monate später in einem breiten hohen Bett in einem leeren Krankenhauszimmer am Rande der Wüste. Seit diesem Sommer erinnere ich mich an meine Großmutter auf vielfältige Art. Ich erinnere mich daran, wie ich mit ihr Karten gespielt habe und wie ich auf ihrem Schoß im Flugzeug saß und daran, wie sie auf einer der Parties von meinem Großvater in einem seiner Hotels einmal langsam den Kopf wegdrehte, als er versuchte, sie zu küssen. Und ich erinnere mich an ihren Aufenthalt im Bel Air-Hotel, wo sie mir rosa und grüne Pfefferminzbonbons schenkte, und an das La Scala, spätabends, wo sie Rotwein trank und «On the Sunny Side of the Street» vor sich hinsummte.
Ich weiß auch nicht so recht, wie ich da hingekommen bin, aber plötzlich stehe ich vor dem Tor meiner alten Grundschule. Ich glaube nicht, daß der Rasen und die Blumen, Bougainvillea vermutlich, schon da waren, als ich dort noch zur Schule ging; und der Betonstreifen vor dem Verwaltungsgebäude ist durch Bäume ersetzt worden, und die toten Bäume, die früher schlaff über den Zaun hingen, da, wo das Wachhäuschen stand, sind nicht mehr tot; der gesamte Parkplatz ist neu geteert worden, sehr gut sogar. Ich kann mich auch nicht an das große gelbe Schild mit der Auf148
schrift «Warnung! Zutritt verboten! Wachhunde im Einsatz!» erinnern, das am Eingangstor hängt und das man gut von der Straße aus lesen kann, wo ich mein Auto abgestellt habe. Weil der Unterricht schon zu Ende ist, entschließe ich mich zu einem Gang durch die Schule. Als ich vor dem Tor ankomme, bleibe ich einen Moment lang stehen und mache fast wieder kehrt. Aber dann gehe ich doch durch und denke daran, wie lange ich schon nicht mehr hierher zurückgekommen und über das Schulgelände gelaufen bin. Ich sehe drei Kindern zu, die an einem Klettergerüst in der Nähe des Eingangstores spielen, und ich entdecke zwei Lehrer, die ich in der ersten oder zweiten Klasse hatte, aber ich spreche sie nicht an. Statt dessen gucke ich durchs Fenster in einen Klassenraum, und da sitzt ein kleines Mädchen und malt ein Stadtbild. Von da aus, wo ich stehe, kann ich den Schulchor hören, der im Raum neben dem mit dem kleinen Mädchen probt, und dieser Chor singt Lieder, an die ich mich jetzt überhaupt erst wieder erinnere, «Itsy Bitsy Spider» zum Beispiel und «Little White Duck». Früher bin ich oft an der Schule vorbeigekommen. Jedesmal, wenn ich meine Schwestern zu ihrer Schule brachte, sorgte ich dafür, daß ich auf dem Weg an meiner alten vorbeifuhr, und ich konnte immer ein paar kleine Kinder sehen, die aus gelben Bussen mit schwarzen Streifen kletterten, und Lehrer, die vor dem Unterricht auf dem Parkplatz miteinander herumalberten. Ich glaube nicht, daß noch andere ehemalige Schüler hier vorbeifahren oder aussteigen und sich umsehen, denn bisher habe ich noch nie jemanden gesehen, an den ich mich erinnere. Eines Tages sah ich einen Jungen, mit dem ich in die erste Klasse oder so ging, am Zaun stehen, ganz allein, und er umklammerte den Maschendraht und starrte hindurch, und ich sagte mir, daß er sicher in der Nähe wohnte und deshalb so allein dastand, genau wie ich. Ich stecke mir eine Zigarette an und setze mich auf eine Bank und entdecke zwei Telefonzellen und erinnere mich daran, daß hier früher keine Telefonzellen waren. Ein paar Frauen holen ihre Kinder von der Schule ab, und die Kinder erspähen ihre Mütter und rennen über den Hof und in ihre Arme, und der Anblick dieser Kinder, die über den Beton rennen, gibt mir ein 149
Gefühl von Frieden, und ich möchte ewig auf der Bank sitzen bleiben. Aber irgendwann geh ich doch in einen der alten Pavillons, und ich bin mir sicher, daß ich in der dritten Klasse hier Unterricht hatte. Der Pavillon wird offensichtlich gerade abgerissen. Neben dem verlassenen Gebäude liegt die alte Mensa, und auch die wird offensichtlich gerade abgerissen. Der Außenanstrich an beiden Gebäuden, ein helles Grün, ist verblichen, und der Putz fällt in großen Platten ab. Ich komme zu einem anderen Pavillon, und die Tür ist offen, und ich trete ein. Die Hausaufgaben stehen an der Tafel, und ich lese sie sorgfältig durch, und dann gehe ich zu den Schließfächern, aber ich kann mein altes nicht wiederfinden. Ich erinnere mich nicht mehr daran, welches meins war. Ich gehe auf die Jungentoilette und drücke ein bißchen Flüssigseife ins Waschbekken. In der Aula hebe ich eine vergilbte Zeitschrift hoch und schlage ein paar Tasten auf dem Klavier an. Ich hatte bei einer Weihnachtsfeier in der zweiten Klasse auf genau diesem Klavier gespielt, und ich klimper noch ein paar Takte von dem Lied, das ich damals gespielt hatte, und die Töne schallen und hallen durch die leere Aula. Aus irgendeinem Grund gerate ich in Panik und laufe raus ins Freie. Da spielen zwei Jungen Handball, ein Spiel, an das ich mich jetzt überhaupt erst wieder erinnere. Ich gehe vom Schulgelände runter, ohne einen Blick zurückzuwerfen, steige in mein Auto und fahre los.
Ich treffe mich mit Julian in einer alten, heruntergekommenen Spielhalle auf dem Westwood Boulevard. Er spielt gerade Space Invaders, als ich auf ihn zukomme und mich neben ihn stelle. Julian sieht erschöpft aus und redet ganz langsam, und ich frage ihn, wo er denn gesteckt hat, und er sagt, er war die ganze Zeit hier, und ich frage ihn nach dem Geld und erzähle ihm, daß ich bald abreise. Julian sagt, daß es ein paar Probleme gibt, aber wenn ich zu einem Bekannten von ihm mitkomme, dann kann er mir das Geld geben. 150
«Was ist denn das für ein Bekannter?» «Der Typ ist ...» Julian bricht ab und jagt eine ganze Reihe feindlicher Raketen in die Luft. «Dieser Typ ist halt jemand, den ich kenne. Der wird dir das Geld geben.» Julian verliert eins seiner Video-Männchen und brummt irgendwas vor sich hin. «Und warum holst du's nicht allein und bringst es mir dann?» frage ich ihn. Julian sieht hoch von seinem Spiel und starrt mich an. «Einen Moment mal», sagt er und geht aus der Spielhalle. Als er zurückkehrt, erklärt er mir, daß ich schon mitkommen muß, wenn ich mein Geld haben will, und zwar jetzt gleich. «Ich hab wirklich keine Lust dazu.» «Also bis dann, Clay», sagt Julian. «Wart mal ...» «Was ist los mit dir? Willst du nun mit, ja oder nein? Willst du dein Geld, ja oder nein?» «Warum muß es denn so laufen?» «Darum.» Das ist alles, was Julian darauf antwortet. «Können wir das denn nicht irgendwie anders regeln?» Pause. «Julian?» «Willst du dein Geld, ja oder nein, Clay?» «Ja.» «Dann komm jetzt, wir fahren los.» Wir verlassen die Spielhalle.
Finns
Apartment liegt auf dem Wilshire Boulevard, gar nicht
weit von Rips Penthouse entfernt. Julian sagt, er kennt Finn seit etwa sechs, sieben Monaten, aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, kommt er schon seit wesentlich längerer Zeit hierher, schon zu lange; zumindest kriege ich so ein Gefühl. Der Parkwächter kennt seinen Wagen und läßt ihn in der Ladezone parken. Julian winkt dem Pförtner zu, der auf einer Couch sitzt. Wir fahren mit dem Aufzug hoch, und Julian drückt auf P; Finn 151
wohnt also im Penthouse. Der Aufzug ist leer, und Julian fängt an, alte Songs von den Beach Boys zu singen, und zwar sehr laut, und ich lehne mich gegen die Wand des Aufzugs und atme einmal tief durch, als er zum Stehen kommt. In der Scheibe kann ich mein Spiegelbild sehen: blonde, zu kurz geschnittene Haare, voll gebräunt, Sonnenbrille auf der Nase. Wir müssen durch einen dunklen Korridor gehen, um zu Finns Wohnungstür zu gelangen, und Julian läutet. Der Junge, der uns aufmacht, ist vielleicht fünfzehn, mit blonden, wahrscheinlich gebleichten Haaren, braungebrannt und mit diesem gewissen coolen Ausdruck, der typisch für die Surfer-Scene in Venice oder Malibu ist. Der Junge hat nur graue Shorts an, und ich erkenne ihn wieder: Er kam an dem Tag aus Rips Apartment, als Rip sich mit mir im Cafe Casino treffen wollte, und dieser Junge starrt uns beide feindselig an, als wir eintreten. Ich frage mich, ob das vielleicht Finn ist oder ob Finn mit diesem Surfertypen ins Bett geht, und allein der Gedanke bringt mich ein bißchen zum Flattern, und ich spüre ein flaues Gefühl im Magen. Julian weiß, wo Finns «Büro» ist, wo Finn seine Geschäfte abwickelt. Aus irgendeinem Grund fange ich an, mißtrauisch zu werden und sogar richtig nervös. Julian geht vor zu einer weißen Tür und macht sie auf, und wir beide betreten einen total leeren, total weißgestrichenen Raum, durchgehend und von oben bis unten verglast und mit verspiegelter Decke, und ein Schwindelgefühl überkommt mich mit voller Kraft, und ich habe richtig Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ich entdecke, daß ich von diesem Raum aus das Penthouse meines Vaters in Century City sehen kann, und ich werde direkt paranoid und beginne, mich zu fragen, ob mein Vater mich hier sehen kann. «He, he, he. Da kommt ja mein lieber Julian höchstpersönlich.» Finn sitzt hinter einem großen Schreibtisch, und er ist etwa fünfundzwanzig, dreißig, blond, braungebrannt, aber ein eher unauffälliger Typ. Der Schreibtisch ist leer, abgesehen von einem Telefon und einem Umschlag mit Finns Namen drauf und zwei kleinen silbernen Fläschchen; außerdem liegt da noch ein gläserner Briefbeschwerer, in den ein kleiner Fisch eingeschlos152
sen ist, dessen Augen hilflos starren, fast so, als würde er flehentlich darum bitten, befreit zu werden, und ich stelle mir die Frage: Wenn der Fisch eh schon tot ist, was macht es dann noch aus? «Und wer ist das?» fragt Finn und lächelt mich an. «Ein Freund von mir. Er heißt Clay. Clay, das ist Finn.» Julian zuckt die Achseln. Er scheint einigermaßen durcheinander zu sein. Finn schaut prüfend an mir runter und lächelt dann und wendet sich wieder Julian zu. «Na, wie ist es gestern abend so gelaufen?» fragt Finn und lächelt immer noch. Julian schweigt einen Moment lang und sagt dann: «Ganz gut», und schaut auf den Boden. «Ganz gut? Ist das alles? Jason hat mich heute angerufen und gesagt, daß du einfach toll warst. Echt super.» «Im Ernst?» «Ja. Ich übertreib nicht. Der steht wirklich auf dich.» Plötzlich ist mir ganz schwach zumute, und ich gehe im Zimmer rum und suche in der Hosentasche nach einer Zigarette. Noch eine Pause entsteht, und dann fängt Julian an zu husten. «Also, mein Junge, wenn du's heute noch einrichten kannst, dann hast du um vier Uhr einen Termin mit 'nem Geschäftsmann von auswärts; im Saint Marquis ist das. Und dann heut abend bei Eddies Party, ja?» Finn starrt erst Julian an, dann mich. «Weißt du was?» Er beginnt, mit den Fingern auf den Schreibtisch zu trommeln. «Das wär gar keine schlechte Idee, wenn du deinen Freund hier mitnehmen würdest. Der Typ im Saint Marquis will zwei Jungs. Einen natürlich nur zum Zugucken, aber Jan ist grad noch in der Colony und kommt vielleicht nicht rechtzeitig wieder ...» Ich schaue erst Finn an, dann Julian. «Nein, Finn. Das ist ein Freund von mir», sagt Julian. «Ich schulde ihm Geld. Deshalb hab ich ihn hergebracht.» «Hör mal, ich kann gern noch 'n bißchen drauf warten», sage ich und weiß im selben Moment, daß es irgendwie schon zu spät ist, und eine Ladung Adrenalin schießt mir durch den Körper. 153
«Warum geht ihr zwei Hübschen nicht zusammen hin?» sagt Finn und schaut an mir runter. «Julian, nimm deinen Freund mit.» «Nein, Finn. Zieh da bitte nicht noch jemand anders rein.» «Hör mal, Julian», sagt Finn und lächelt auf einmal nicht mehr und betont jedes einzelne Wort. «Ich hab gesagt, ich denke, daß du mit deinem Freund um vier ins Saint Marquis gehen solltest, ja?» Finn wendet sich an mich. «Du willst dein Geld, ja?» Ich schüttle den Kopf, nein. «Heißt das nein?» fragt er ungläubig. «Ja. Ich meine, doch, ich ... doch, klar», sage ich. Finn wirft einen Blick zu Julian rüber und wendet sich dann wieder an mich. «Ist dir nicht gut?» «Doch», antworte ich ihm. «Ich bin bloß 'n bißchen flatterig.» «Willste 'n Downer?» «Nein danke.» Ich schau mir wieder den Fisch an. Finn wendet sich an Julian. «Und wie geht's deinen Eltern, Julian?» «Weiß ich nicht.» Julian schaut immer noch auf den Boden. «Ja, nun ... also», beginnt Finn. «Okay, wie wär's damit? Ihr zwei geht ins Hotel, und wir treffen uns hinterher im Land's End, und dann fahren wir zusammen zu Eddies Party, und ich geb dir dein Geld und deinem Freund sein Geld. Na, ist das ein Vorschlag? Wollen wir's so machen?» «Wo soll ich dich treffen?» fragt Julian. «Im Land's End, aber oben», sagt Finn. «Na, was ist? Stimmt was nicht?» «Nee, nee», sagt Julian. «Um wieviel Uhr?» «Halb zehn?» «Okay.» Ich schau rüber zu Julian, und die Erinnerung an die fünfte Klasse und den Sportclub nach der Schule kommt mir wieder hoch. «Ist dir nicht gut, Julian?» Finn schaut noch mal zu Julian rüber. «Alles in Ordnung. Ich bin bloß 'n bißchen nervös.» Julian stockt. Er sieht aus, als ob er noch was sagen wollte. Sein Mund 154
steht offen. Ich höre ein Flugzeug über uns vorbeifliegen. Dann höre ich einen Krankenwagen. «Was ist denn, mein Lieber? Na komm, du kannst mir's ruhig sagen.» Finn wirkt auf einmal ganz verständnisvoll, und er geht zu Julian rüber und legt seinen Arm um ihn. Ich glaube, Julian heult. «Würdest du uns bitte entschuldigen?» fragt Finn mich sehr höflich. Ich geh aus dem Zimmer und mach die Tür hinter mir zu, aber die Stimmen kann ich trotzdem noch hören. «Ich glaube, daß heute mein letzter ... mein letzter Tag ist. Verstehst du, Finn? Ich glaube nicht, daß ich damit weitermachen kann. Ich halt einfach das Gefühl nicht mehr aus, dieses ... diese dauernde Traurigkeit ... und ich kann nicht ... kann ich nicht was anderes für dich machen? Nur bis ich genug hab, um dir das Geld zurückzuzahlen?» Julians Stimme wird ganz zitterig und kippt auf einmal um. «Na, na, na, mein Junge», summt Finn. «Na, ist doch schon wieder in Ordnung.» Ich könnte jetzt einfach abhauen. Obwohl wir mit Julians Auto hier sind, könnte ich einfach abhauen. Ich könnte jemand anrufen, der mich abholen kommt. «Nein, Finn, gar nichts ist in Ordnung.» «Na, wie wär's ...» «Halt, stop, Finn. Auf keinen Fall. Ich will nicht. Ich hab Schluß damit gemacht.» «Aber natürlich, Julian.» Dann ist es sehr lange still, und ich höre nur, wie ein paar Streichhölzer angezündet werden, und dann eine Art leichtes Klatschen, und eine Weile später fängt schließlich Finn wieder an zu sprechen. «Also, du weißt doch, daß du mir richtig ans Herz gewachsen bist. Als wärst du mein eigenes Kind. Mein eigener Sohn ...» Wieder entsteht eine lange Pause, und dann redet Finn weiter: «Du siehst mager aus.» Der Surfer drängelt sich an mir vorbei und läuft ins Zimmer und erzählt Finn, daß ein gewisser Manuel am Telefon ist. Der Surfer geht wieder raus. Julian erhebt sich von Finns Schreib155
tisch, rollt seinen Hemdärmel runter und sagt «Auf Wiedersehen» zu Finn. «He, mach mal wieder 'n bißchen Bodybuilding. Tu deinem Körper mal wieder was Gutes.» Finn zwinkert ihm zu. «Alles klar.» «Also, bis später dann, ja, Clay?» Ich möchte nein sagen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich ihn heute abend noch mal zu sehen kriege, und ich nicke und sage «Jawoll», und versuche, überzeugend zu klingen, als würde ich es wirklich so meinen. «Jungs, ihr seid toll. Einfach super», ruft Finn uns nach. Ich gehe mit Julian über den Flur, und als ich auf dem Weg zur Eingangstür durchs Wohnzimmer komme, sehe ich da den Surfer auf dem Fußboden liegen. Seine rechte Hand steckt in der Hose, und er ißt einen Teller Knusper-Müsli, und er kann sich wohl nicht so recht entscheiden, ob er nun die Rückseite der Müslipackung studieren oder seinen Blick auf den riesigen Bildschirm des Fernsehers richten soll, der mitten im Wohnzimmer steht. Die «Twilight Zone» beginnt gerade, und der Sprecher, Rod Serling, starrt uns an und erzählt uns, daß wir uns soeben in die Zone des Zwielichts begeben haben, und ich will das alles eigentlich nicht glauben, aber es ist dermaßen absurd, daß es nur wahr sein kann, und ich starre den Jungen auf dem Fußboden noch mal an, zum letztenmal, und dann drehe ich mich langsam um und folge Julian durch die Tür und in die Dunkelheit von Finns Korridor. Und im Fahrstuhl, auf dem Weg nach unten, sage ich: «Warum hast du mir bloß nicht erzählt, daß du das Geld dafür gebraucht hast?», und Julians Augen sind total glasig, und sein Grinsen ist total traurig, und er sagt: «Ach, wozu denn? Das ist doch sowieso allen scheißegal, dir etwa nicht?», und ich sage nichts darauf, und dann wird mir klar, daß es mir wirklich scheißegal ist, und plötzlich komme ich mir so dumm vor, so idiotisch. Außerdem wird mir klar, daß ich tatsächlich mit Julian ins Saint Marquis gehen werde. Daß ich rausfinden will, ob so etwas wirklich passieren kann. Und wir fahren weiter abwärts, vorbei am ersten Stock, vorbei am Erdgeschoß, noch tiefer, und da wird mir klar, daß es nicht um das Geld geht. Daß es in Wirk156
lichkeit nur um eines geht: Ich will auch noch das Schlimmste erleben.
Das
Saint Marquis. Vier Uhr. Sunset Boulevard. Die Sonne
ist ein riesiger Feuerball, ein orangefarbenes Monster. Aus irgendeinem Grund fährt Julian zweimal am Hotel vorbei, bevor er auf den Parkplatz einbiegt, und ich frage ihn mehrmals warum, und er fragt mich mehrmals, ob ich das wirklich durchziehen will, und ich antworte ihm mehrmals mit ja. Gleich nach dem Aussteigen fällt mein Blick auf den Pool, und ich frage mich, ob da schon jemand drin ertrunken ist. Das Saint Marquis erinnert mich an eine Höhle; das ganze Hotel scheint um den Innenhof mit seinem Swimming-pool herum gebaut zu sein. In einem der Liegestühle räkelt sich ein fetter Mann, dessen Körper voll mit Sonnenöl beschmiert ist und fettig glänzt. Er starrt uns beide an, als wir uns auf den Weg zu dem Zimmer machen, das Finn Julian angegeben hat. Die Zimmernummer ist 001. Julian geht zu dieser Tür und klopft. Die Vorhänge drinnen sind zugezogen, und ein Gesicht, eigentlich eher ein Schatten, lugt heraus. Dann wird die Tür von einem etwa vierzig- bis fünfundvierzigjährigen Mann geöffnet, der eine sportliche Hose und ein Hemd und einen Schlips trägt und der uns fragt: «Ja ... um was handelt es sich denn?» «Sie sind Mr. Erickson, stimmt's?» «Ja ... Ach, ihr seid sicher ...» Er zögert und sieht dann Julian und mich prüfend an. «Stimmt irgendwas nicht?» fragt Julian. «Nein, nein, alles in Ordnung. Wollt ihr beiden nicht reinkommen?» «Danke», sagt Julian. Ich folge Julian in das Zimmer und werde sofort total nervös. Ich hasse Hotelzimmer. Mein Urgroßvater ist in so 'nem Ding gestorben. Im Stardust in Las Vegas. Es dauerte zwei Tage, bevor ihn jemand fand. 157
«Kann ich euch einen Drink anbieten, Jungs?» fragt der Mann. Ich hab so das Gefühl, daß diese Art von Männern ständig diese Art von Fragen stellt, und obwohl ich im Moment einen Drink unheimlich nötig hätte, schau ich zu Julian rüber, der den Kopf schüttelt und «Nein danke, Sir» sagt. Also sage ich auch: «Nein danke, Sir.» «Wollt ihr beiden euch nicht hinsetzen und es euch gemütlich machen?» «Kann ich mein Jackett ausziehen?» fragt Julian. «Aber selbstverständlich, mein Junge.» Der Mann macht sich einen Drink. «Bleiben Sie länger in L. A.?» fragt Julian. «Nein, nein, nur eine Woche, geschäftlich.» Der Mann nippt an seinem Drink. «Was machen Sie denn beruflich?» «Ich bin Grundstücksmakler, mein Junge.» Ich schau rüber zu Julian und frage mich, ob dieser Mann vielleicht meinen Vater kennt. Ich schau auf den Boden und stelle fest, daß ich nicht weiß, was ich sagen soll, aber ich versuche, mir irgendwas auszudenken; das Bedürfnis, meine eigene Stimme zu hören, wird immer heftiger, und dabei frage ich mich die ganze Zeit, ob mein Vater diesen Mann kennt. Ich versuche, mir den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, die Vorstellung, dieser Mann könnte im Ma Maison oder Trumps meinen Vater begrüßen, aber es ist wie eine fixe Idee, die ich einfach nicht loswerden kann. Julian macht den Mund auf. «Wo leben Sie eigentlich?» «In Indiana.» «Tatsächlich? Und wo genau in Indiana?» «Muncie.» «Ah ja, Muncie in Indiana.» «Genau.» Dann entsteht eine Pause, und der Mann läßt seinen Blick von Julian zu mir und dann wieder zu Julian wandern. Er nimmt einen kleinen Schluck von seinem Drink. «Na, wer von den beiden jungen Herren möchte denn?» Der 158
Mann aus Indiana nimmt sein Glas ein bißchen zu schwungvoll in die Hand und stellt es auf der Bar ab. Julian erhebt sich. Der Mann nickt und fragt: «Willst du nicht deinen Schlips abnehmen?» Julian nimmt seinen Schlips ab. Der Mann läßt seinen Blick von Julian zu mir wandern, wohl um zu kontrollieren, ob ich auch zusehe. «Schuhe und Strümpfe auch, bitte.» Julian zieht Schuhe und Strümpfe aus und schaut dann auf den Boden. «Und ... äh, und den Rest.» Julian schlüpft aus seinem Hemd und seiner Hose, und der Mann biegt die Jalousie ein bißchen auseinander und schaut raus auf den Sunset Boulevard und dann wieder rüber zu Julian. «Lebst du gerne in L.A.?» «O ja. L.A. ist toll», sagt Julian und faltet seine Hose ordentlich zusammen. Der Mann schaut rüber zu mir und sagt dann: «Ach nein, das reicht nicht. Könntest du dich hier rüber setzen, ans Fenster? Ja, das ist schon viel besser.» Der Mann bugsiert mich in einen Sessel und gibt mir wortlos zu verstehen, daß ich damit näher zum Bett hin rücken soll, und scheint vom Ergebnis befriedigt zu sein und geht auf Julian zu und legt eine Hand auf Julians nackte Schulter. Seine Hand fällt hinunter auf Julians Unterhose, und Julian schließt die Augen. «Du bist ein sehr netter junger Mann.» Ein Bild von Julian als Fünftkläßler, beim Fußballspielen, auf einem grünen Feld. «O ja, du bist ein sehr schöner Junge», sagt der Mann aus Indiana, «und das ist alles, worauf es hier ankommt.» Julian macht die Augen auf und starrt mir ins Gesicht, und ich dreh mich weg und bemerke eine Fliege, die träge zur Wand neben dem Bett schwirrt. Ich frage mich, was der Mann und Julian jetzt tun werden. Ich sage mir, daß ich abhauen könnte. Ich könnte ganz einfach zu dem Mann aus Muncie und zu Julian sagen, daß ich jetzt gehe. Aber wieder wollen, können die Worte nicht rauskommen, und ich bleibe sitzen und dieses Bedürfnis, 159
daß ich jetzt auch noch das Schlimmste erleben will, überfällt mich ganz plötzlich und ungeheuer heftig. Der Mann geht zum Badezimmer und erklärt uns beiden, daß er in einer Minute wieder da ist. Er macht die Badezimmertür zu. Ich steh auf und geh zur Bar rüber und schau nach, ob da was zum Trinken rumsteht. Ich entdecke die Brieftasche des Mannes; die hat er auf der Bar liegenlassen, und ich mache sie auf. Ich bin so nervös, daß mir alles egal ist, ich weiß noch nicht mal, warum ich das eigentlich mache. In der Brieftasche sind eine Menge Geschäftskarten, aber ich schaue nicht genauer hin, ich möchte nicht auf den Namen meines Vaters stoßen. Dann sind auch ein paar Kreditkarten drin und die Menge an Bargeld, die man wohl üblicherweise mit sich rumträgt, wenn man auf Geschäftsreisen ist. Außerdem sind da noch Fotos von einer sehr erschöpft aussehenden, aber immer noch hübschen Frau, wahrscheinlich seine Ehefrau, und zwei Fotos von seinen Kindern, alles Jungen, alle schlaksig und mit kurzen blonden Haaren und gestreiften Hemden und vertrauensvollem Blick. Die Fotos deprimieren mich, und ich lege die Brieftasche zurück auf die Bar und frage mich, ob der Mann diese Bilder wohl selbst aufgenommen hat. Ich schau zu Julian rüber, der mit gesenktem Kopf auf dem Rand des Bettes sitzt. Ich setze mich hin und beuge mich dann vor und schalte das Radio ein. Der Mann kommt aus dem Bad und erklärt mir: «Nein. Keine Musik. Ich möchte, daß du alles hörst. Jedes bißchen.» Er schaltet das Radio aus. Ich frage den Mann, ob ich die Toilette benutzen kann. Julian zieht seine Unterhose runter. Der Mann lächelt aus irgendeinem Grund und sagt ja, und ich geh ins Bad und schließ die Tür ab und dreh beide Wasserhähne am Waschbecken voll auf und drücke ein paarmal auf die Klospülung, während ich versuche zu kotzen, aber es geht nicht. Ich wisch mir den Mund ab und geh dann wieder ins Zimmer. Die Sonne ist weitergewandert, Schatten ziehen über die Wände, und Julian versucht zu lächeln. Der Mann lächelt zurück, Schatten ziehen über sein Gesicht. Ich zünde mir eine Zigarette an. Der Mann dreht Julian auf die Seite. 160
Ob er wohl zu verkaufen ist. Ich mache die Augen nicht zu. Du kannst verschwinden, ohne es zu merken.
Julian und ich gehen raus auf den Parkplatz. Wir sind seit vier Uhr in dem Hotelzimmer gewesen, und jetzt ist es neun. Ich habe fünf Stunden lang in dem Sessel gehockt. Als wir in Julians Auto steigen, frage ich ihn, wo wir jetzt hinfahren. «Zum Land's End, dein Geld holen. Du willst doch dein Geld, oder?» fragt er. «Oder, Clay?» Ich schaue in Julians Gesicht und erinnere mich daran, wie wir morgens immer in seinem Porsche saßen, den er in der zweiten Reihe geparkt hatte, und ganz dünn gerollte Joints rauchten, und uns die neueste Squeeze-Platte anhörten, bevor der Unterricht begann, um neun Uhr, und obwohl all diese Bilder wieder in mir hochkommen, bringt mich das nicht mehr durcheinander. Julians Gesicht kommt mir auf einmal viel älter vor.
Es ist ungefähr zehn Uhr, und um die Zeit ist es im Land's End immer gerammelt voll. Der Club liegt auf dem Hollywood Boulevard, und Julian stellt den Wagen beim Hintereingang ab, in einer Seitenstraße, und ich gehe mit ihm zur Tür, und Julian drängelt sich an der Schlange vorbei, und die Leute machen ihn deswegen an, aber Julian kümmert sich nicht darum. Vom Hintereingang aus steigt man in den Club hinunter wie in einen Keller, und er ist dunkel und fast höhlenartig mit all den Trennwänden, die den Raum in kleinere Flächen unterteilen, auf denen sich die einzelnen Grüppchen in der Dunkelheit zusammenquetschen. Als wir durch die Tür treten, schlägt sich der Manager gerade mit einer Gruppe von Teenagern rum, die versuchen reinzukommen, obwohl sie ganz offensichtlich unter achtzehn sind. 161
Der Manager sieht aus wie ein fünfundfünfzigjähriger Surfer, und als er Julian zuzwinkert und uns beide durchläßt, starrt mich ein Mädchen in der Schlange an, und dann lächelt sie, und ihre feuchten grellrosa geschminkten Lippen teilen sich, und sie entblößt ihre Schneidezähne, als wäre sie eine Art Hund oder Wolf, der mit seinem Knurren ankündigt, daß er sich gleich auf einen stürzen will, und dieses Mädchen kennt Julian und sagt offenbar etwas Fieses zu ihm, das ich nicht verstehen kann, und Julian zeigt ihr ein Fickfäustchen. Bevor ich irgendwelche Gesichter erkennen kann, müssen sich meine Augen erst eine Weile an die Dunkelheit gewöhnen. Der Club ist heute abend überfüllt, und einige Leute, die vor dem Hintereingang warten, werden es wohl überhaupt nicht mehr schaffen reinzukommen. «Tainted Love» läuft gerade, irrsinnig laut, und auf der knallvollen Tanzfläche bewegen sich Leute, die fast alle jung sind und sich langweilen und versuchen, so auszusehen, als wären sie echt gut drauf. An den Tischen sitzen ein paar Typen rum, die alle nur dieses eine, wahnsinnig tolle Mädchen anschauen, voller Verlangen, voller Hoffnung auf zumindest einen Tanz oder eine heiße Nummer auf dem Rücksitz von Daddys Auto, und dann sind noch alle diese Mädchen da, die gleichgültig oder gelangweilt aussehen und Nelkenzigaretten rauchen, und alle oder zumindest die meisten von ihnen starren diesen einen blonden Jungen an, der weiter hinten steht und eine Sonnenbrille aufhat. Julian erkennt den Typen und erzählt mir, daß der auch für Finn arbeitet. Wir drängeln uns durch die Menge und kommen zum Nebenraum und lassen die hämmernde Musik und die verqualmte Luft hinter uns. Vom Nebenraum aus führt eine Treppe hoch, und da oben hängt Lee rum, der Discjockey, der seit neuestem ein paar Stunden pro Abend hier arbeitet. Finn sitzt auf einer Couch und unterhält sich mit ihm, und anscheinend ist heute Lees erster Abend, und Lee, ein blonder, braungebrannter Typ, scheint unheimlich nervös zu sein. Finn macht Lee mit Julian und mir bekannt und fragt dann Julian, wie alles gelaufen ist, und Julian murmelt «ganz gut» und erklärt Finn, daß er das Geld möchte. Finn erklärt ihm, daß wir beide unser Geld kriegen, aber erst auf 162
Eddies Party; daß er Julian um einen kleinen Gefallen bitten möchte; und wenn diese Kleinigkeit erledigt ist, sagt Finn, wird er uns liebend gern unser Geld geben. Obwohl Lee achtzehn ist, sieht er doch ein ganzes Stück jünger aus als Julian oder ich, und das erschreckt mich irgendwie. Von hier oben blickt man direkt auf den Hollywood Boulevard, und während Julian einmal kurz stöhnt und sich von Finn abwendet, der wieder mit Lee redet, gehe ich zum Fenster und starre auf die Autos runter. Ein Krankenwagen fährt vorbei. Dann ein Polizeiauto mit Blaulicht. Finn meint, daß Lee sehr poppermäßig aussieht, und sagt dann so was Ähnliches wie «Darauf stehen sie. Auf diesem Popper-Look.» Offenbar macht sich Lee zum Gehen fertig, und Finn auch, und Lee sagt, daß er ein bißchen nervös ist, und Finn lacht und sagt: «Überhaupt kein Grund zur Aufregung. So wahnsinnig viel hast du sowieso nicht zu tun. Nicht mit diesen Typen. Das sind wirklich alles nur so 'ne Studiobosse, die Szene halt.» Finn lächelt und zieht Lees Schlips gerade. «Und wenn du überhaupt irgendwas machen sollst ... na ja, denk an das Geld, das dabei rüberkommt, mein Junge.» Und Julian sagt ein bißchen zu laut: «So ein Schwachsinn», und Finn sagt «Sei du mal lieber vorsichtig», und ich hab keine Ahnung, was ich hier überhaupt soll, und ich schau rüber zu Lee, der blöde vor sich hinlächelt, und dasselbe unschuldige Lächeln sehe ich auf Julians Gesicht oder auch nicht. Julian fährt hinter Finns Rolls-Royce her, in dem Finn und Lee sitzen, und erklärt ihnen an einer roten Ampel, daß er mich bei meinem Auto rauslassen muß, damit ich ihnen zu Eddies Party hinterherfahren kann. Julian läßt mich bei meinem Auto raus, das noch vor der Spielhalle in Westwood steht, und dann fahre ich den beiden Autos hinterher, die Hügel hinauf. 163
Das Haus, zu dem Finn und Lee und Julian und ich fahren, liegt in Bel Air, und es entpuppt sich als ein riesiger Steinbau mit breitem Rasen davor und Springbrunnen im spanischen Stil und Wasserspeiern, die über das Dach ragen. Das Haus ist auf der Bellagiostreet, und ich frage mich, was «Bellagio» heißt, während ich auf den großen Parkplatz einbiege, und eine Art Butler macht die Tür auf, und als ich aus dem Auto steige, sehe ich, wie Finn seine Arme um Julian und Lee legt, und die drei gehen vor mir durch die geöffnete Haustür. Ich folge ihnen, und drinnen sind vorwiegend Männer, aber auch ein paar Frauen, und alle scheinen Finn zu kennen. Einige Leute kennen sogar Julian. Im Wohnzimmer blitzt ein Strobolicht, und einen Moment lang kippt meine leichte Nervosität um, und ein dermaßen heftiges Schwindelgefühl überkommt mich, daß mir die Beine fast wegsacken, und alle Leute scheinen gleichzeitig zu reden und ihre Augen ruhelos umherwandern zu lassen; und die Bewegungen und Blicke laufen synchron zur Musik ab; alles im selben Rhythmus. «He, Finn, mein Bester, wie geht's dir denn?» «Hallo Bobby. Ganz ausgezeichnet. Was machen die Geschäfte?» «Alles bestens. Und wer ist das?» «Das ist meine Nummer Eins, Julian. Und das ist Lee.» «Hallo», sagt Bobby. «Hi», sagt Lee und lächelt auf den Boden runter. «Sag hallo.» Finn gibt Julian einen Stupser. «Hallo.» «Möchtest du tanzen?» Finn gibt Julian einen weiteren Stupser. «Danke, im Moment nicht. Entschuldigt ihr mich bitte?» Julian läßt Finn und Lee stehen, und Finn ruft ihm etwas hinterher, und ich folge Julian durch das Gedränge, aber ich verliere ihn aus den Augen, und dann zünde ich mir eine Zigarette an und spaziere rüber zum Badezimmer, aber es ist abgeschlossen. The Clash singen gerade «Somebody Got Murdered», und ich lehne mich an die Wand, und plötzlich bricht mir der kalte Schweiß 164
aus, und in der anderen Ecke sitzt so ein junger Typ, der mir irgendwie bekannt vorkommt, und dieser Typ starrt zu mir rüber, und ich starre ziemlich fassungslos zurück und frage mich, ob er mich wohl kennt, aber dann geht mir auf, daß sein stierer Blick gar nichts zu bedeuten hat. Daß der Typ total zu ist und mich überhaupt nicht wahrnimmt, überhaupt nichts wahrnimmt. Die Tür vom Bad geht auf, und ein Mann und eine Frau kommen zusammen raus und lachen und verschwinden, und ich geh rein und mach die Tür zu und hole ein kleines Fläschchen raus und entdecke, daß nicht mehr besonders viel Koks drin ist, aber ich zieh mir den ganzen Rest rein, und ich trinke direkt aus dem Wasserhahn und schau mich im Spiegel an, fahre mit der Hand übers Haar und dann übers Gesicht, stelle fest, daß ich mich rasieren muß. Plötzlich stürzt Julian rein, und Finn kommt direkt hinterher. Finn knallt ihn gegen die Wand und schließt dann die Tür ab. «Verdammt noch mal, was ist denn in dich gefahren?» «Nichts», kreischt Julian. «Überhaupt nichts. Laß mich in Frieden. Ich geh nach Hause. Gib Julian sein Geld.» «Du führst dich auf wie das reinste Arschloch, und ich will, daß du dich jetzt zusammenreißt. Da draußen sind ein paar unheimlich wichtige Kunden von mir, und du wirst mir die Sache nicht vermasseln, das sag ich dir.» «Laß mich in Ruhe, verdammt noch mal», ruft Julian. «Rühr mich nicht an.» Ich lehne mich gegen die Wand und schau auf den Boden. Finn schaut zu mir rüber und dann zu Julian und grinst spöttisch. «Herrgott, Julian, was bist du doch für ein Jammerlappen. Kannst du mir sagen, was du eigentlich machen willst? Du hast doch gar keine Wahl, verstehst du mich? Du kannst nicht einfach abhauen. Du kannst jetzt nicht weg. Willst du etwa zu Mama und Papa laufen, häh?» «Hör auf.» «Oder zu deinem teuren Seelenklempner?» «Hör auf, Finn.» «Zu wem dann? Hast du überhaupt noch einen einzigen 165
Freund? Was willst du denn machen, verdammt noch mal? Einfach abhauen?» «Hör auf!» schreit Julian. «Vor einem Jahr kommst du zu mir und laberst mir einen vor von deinem Schuldenberg bei irgendwelchen Dealern, und ich geb dir einen Job und zeig mich mit dir vor allen Leuten und verschaff dir die ganzen Kontakte und geb dir all diese Klamotten und soviel von dem gottverdammten Koks, wie du dir überhaupt reinknallen kannst, und was krieg ich als Gegenleistung?» «Weiß ich ja. Hör auf», schreit Julian und würgt und bedeckt sein Gesicht mit den Händen. «Du benimmst dich wie ein arroganter, egoistischer, undankbarer -» «Verpiß dich, du -» «- kleiner Wichser.» «- Zuhälterschwein.» «Ist das der Dank für alles, was ich für dich getan habe?» Finn drückt Julian fest gegen die Tür. «Häh? Ist das der Dank?» «Hör auf, du Zuhälterschwein.» «Na los, ich will eine Antwort. Sag was!» «Was du für mich getan hast? Du hast mich zu einer Nutte gemacht.» Julians Gesicht ist knallrot, und seine Augen sind feucht, und ich bin fast am Austicken und versuche krampfhaft, immer auf den Boden zu schauen, wenn Julian oder Finn zu mir rüber sehen. «Nein, mein Lieber, das hab nicht ich gemacht», sagt Finn ganz ruhig. «Was?» «Nicht ich hab dich zu einer Nutte gemacht. Das warst du selber, du ganz allein.» Die Musik dröhnt durch die Wände, und ich spüre, wie die Wand hinter mir vibriert, ich spüre es durch meinen Rücken und fast durch den ganzen Körper, und Julian schaut immer noch auf den Boden, und er versucht, sich zu bewegen, sich vielleicht wegzudrehen, aber Finn drückt seine Schultern an die Tür, und Julian beginnt leise zu lachen und zu weinen, zur selben Zeit, und er erklärt Finn, daß es ihm leid tut. 166
«Ich kann echt nicht mehr ... Bitte, Finn ...» «Tut mir leid, mein Kleiner, aber so einfach kann ich dich aus der Sache nicht rauslassen.» Julian rutscht langsam zu Boden und bleibt da sitzen. Finn zieht eine Spritze und eine Schachtel Streichhölzer vom Le Dome aus der Tasche. «Was machst du da?» fragt Julian schniefend. «Meine Nummer Eins muß sich jetzt erst mal wieder abregen.» «Aber Finn ... ich gehe.» Julian fängt an zu lachen. «Ganz im Ernst, ich gehe. Ich hab meine verfluchten Schulden doch abbezahlt. Schluß, aus. Das wär's.» Aber Finn hört überhaupt nicht zu, und er hockt sich hin und greift nach Julians Arm und schiebt den Ärmel von seinem Jakkett hoch, und dann den vom Hemd, und er nimmt seinen eigenen Gürtel ab und bindet ihn um den Arm und schlägt drauf, um eine Vene zu finden, und nach einer Weile kommt auch eine zum Vorschein, und während er in dem tiefen Silberlöffel etwas erhitzt, sagt Julian immer nur: «Finn. Nicht.» Finn knallt die Nadel in Julians Arm und dreht sie ein paarmal. «Was willst du denn sonst machen? Du kannst doch nirgends hin. Oder willst du etwa auspacken? Willst du rumerzählen, daß du einen Stricher aus dir gemacht hast, um Drogenschulden zu zahlen? Menschenskinder, du bist noch viel naiver, als ich gedacht hätte. Aber nun laß mal, mein Junge, gleich geht's dir besser.» Verschwinde von hier. Die Spritze füllt sich mit Blut. Du bist ein schöner Junge, und das ist alles, worauf es ankommt. Ob er wohl zu verkaufen ist. Die Leute werden auch immer rücksichtsloser. Rücksichtsloser. Schließlich bringt Finn Julian aus dem Badezimmer, und ich geh hinterher, und Finn bugsiert Julian die Treppe rauf, und während die beiden das riesige Treppenhaus hochsteigen, kann ich erkennen, daß eine Tür ganz oben einen Spaltbreit geöffnet 167
ist, und für einen Moment bricht die Musik ab, und ein schwaches Stöhnen dringt aus dem Zimmer, und als Finn Julian in dieses Zimmer führt, ertönt plötzlich ein lauter Schrei, und Julian verschwindet mit Finn, und die Tür knallt zu. Ich mache kehrt und verlasse das Haus.
Nachdem
ich mich von der Party abgesetzt habe, fahre ich
Richtung Roxy, wo X heute abend spielt. Es ist fast Mitternacht, und das Roxy ist überfüllt, und ich entdecke Trent, der in der Nähe vom Eingang steht, und er fragt mich, wo ich gewesen bin, und ich sage überhaupt nichts, und dann reicht er mir einen Drink. Es ist heiß hier, und ich halte das Glas an meine Stirn, an meine Backen. Trent erwähnt, daß Rip auch da ist, und ich geh mit Trent rüber zu Rip, und Trent erzählt mir, daß sie wahrscheinlich gleich als nächstes «Sex and Dying in High Society» spielen, und ich sage, das ist ja toll. Rip hat schwarze 501-Jeans an, die mit den Knöpfen, und ein weißes X-T-Shirt, und Spin trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «Gumby. Pokey. The Blackheads» und auch eine schwarze 501. Rip kommt auf mich zu, und als erstes sagt er: «Mann, Mann, hier schwirren mir zu viele Scheiß-Mexikaner rum.» Spin prustet und sagt: «Die sollte man alle abknallen.» Trent findet die Idee offenbar saugut, denn er lacht und nickt. Rip wirft mir einen Blick zu und sagt: «Mann, Mann, du siehst echt beschissen aus. Was ist denn mit dir los? Willste 'n bißchen Koks?» Ich schaff es tatsächlich, den Kopf zu schütteln, und dann trinke ich Trents Glas leer. Ein dunkelhäutiger Junge mit dünnem Schnurrbart und einem T-Shirt mit der Aufschrift «Under The Big Black Sun» rempelt mich an, und Rip packt ihn an den Schultern und schubst ihn zurück auf die vollgepackte Tanzfläche und schreit: «Scheiß-Mexikaner!» 168
Spin unterhält sich mit einem gewissen Ross, und als sich Rip von der Bühne abgewendet hat, dreht sich Spin zu Rip um. «Hör mal, Ross hat in der kleinen Straße hinter Flip etwas Interessantes gefunden.» «Was denn?» fragt Rip neugierig. «'ne Leiche.» «Wülste mich verarschen?» Ross schüttelt nervös den Kopf und lächelt dann. «So was muß ich mir natürlich ansehen.» Rip grinst. «Na komm, Clay.» «Nein», sage ich. «Ich bleib lieber hier. Ich will mir die Show weiter angucken.» «Na komm schon. Ich will dir sowieso noch was zeigen, in meinem Haus.» Trent und ich folgen Rip und Spin zu Rips Auto, und Rip sagt, wir sollen uns alle hinter dem Flip treffen. Trent und ich fahren nach Melrose rein, und Flip ist hellerleuchtet und geschlossen, und wir alle biegen links ab und stellen unsere Autos auf den verlassenen Parkplatz hinter dem Gebäude. Ross steigt aus seinem VW Golf und fordert Rip und Spin und mich und Trent mit einer Handbewegung auf, ihm in die kleine Straße hinter dem leeren Geschäft zu folgen. «Hoffentlich hat noch niemand die Bullen angerufen», murmelt Ross. «Wer weiß sonst noch davon?» fragt Rip. «'n paar Freunde von mir. Die haben ihn heut nachmittag gefunden.» Zwei Mädchen kommen aus dem dunklen Sträßchen, kichern und halten sich aneinander fest. Eine sagt: «Mensch, Ross, wer ist denn der Typ?» «Weiß ich auch nicht, Alicia.» «Was ist eigentlich mit dem passiert?» «'ne Überdosis, würd ich sagen.» «Hast du die Bullen angerufen?» «Weshalb sollte ich?» Eins von den Mädchen sagt: «Wir müssen Marcia holen. Die dreht garantiert durch.» 169
«Habt ihr Mädels eigentlich Mimi gesehen?» «Die war schon hier, mit Derf zusammen, aber sie sind wieder abgehauen. Wir wollen gleich ins Roxy, heute abend spielt doch X.» «Da kommen wir grad her.» «Und, wie war's?» «Ganz gut. Aber ‹Adult Books› haben sie nicht gebracht.» «Ehrlich nicht?» «Nee, leider.» «Och, die spielen das auch nie.» «Ja, stimmt.» «Echt Scheiße.» Die Mädchen gehen davon und unterhalten sich dabei über Billy Zoom, und Rip und Spin und Trent und ich folgen Ross, der die Straße etwas weiter entlanggeht. Er liegt an der hinteren Mauer des Ladens, mit halbaufgerichtetem Oberkörper. Sein Gesicht ist aufgequollen und bleich, die Augen sind zu und der Mund steht offen, und dieses Gesicht gehört zu einem etwa achtzehn-, neunzehnjährigen Jungen; über seiner Oberlippe klebt angetrocknetes, verkrustetes Blut. «O Gott», sagt Rip. Spins Augen sind weit aufgerissen. Trent steht bloß da und sagt so was Ähnliches wie «Irre». Rip stößt den Jungen mit dem Fuß in den Bauch. «Biste sicher, daß er tot ist?» «Hat er sich grad vielleicht bewegt?» fragt Ross kichernd zurück. «Mensch, Mensch. Woher weißt du eigentlich, daß der hier liegt?» fragt Spin. «Gewisse Dinge sprechen sich halt rum.» Ich kann meine Augen nicht von dem toten Jungen abwenden. Über seinem Kopf schwirren Motten, tanzen um die Glühbirne, die etwas weiter oben an der Mauer hängt und die ganze Szene beleuchtet. Spin kniet nieder und schaut dem Jungen ins Gesicht und untersucht es sorgfältig. Trent lacht los und zündet sich einen Joint an. Ross lehnt sich gegen eine Mauer, raucht und will mir seine Packung reichen. Ich schüttel den Kopf und zünd mir 170
eine von meinen eigenen Zigaretten an, aber die Hand zittert mir ganz übel, und ich lasse sie fallen. «Guck dir das bloß an, nicht mal Socken», murmelt Trent. Wir bleiben noch eine Weile stehen. Der Wind pfeift durch die enge Straße. Man kann den Autoverkehr aus Richtung Melrose hören. «Wart mal», sagt Spin. «Ich glaube, ich kenn diesen Typ.» «Ach, Schwachsinn», meint Rip lachend. «Mann, du bist echt krank», sagt Trent und reicht mir den Joint. Ich nehme einen Zug und gebe ihn dann Trent zurück und frage mich, was wir wohl täten, wenn der Junge plötzlich seine Augen aufmachen würde. «Wollen wir nicht mal langsam gehen?» fragt Ross. «Moment noch.» Rip fordert Ross mit einer Handbewegung auf stehenzubleiben, und dann steckt er dem Jungen eine Zigarette in den Mund. Wir bleiben noch fünf Minuten da. Dann steht Spin auf und schüttelt den Kopf und kratzt sich auf der Brust und sagt: «Mensch, jetzt brauch ich 'ne Zigarette.» Rip steht auch auf und hält mich am Arm fest und sagt zu mir und Trent: «Hört mal, ihr beiden, ihr müßt unbedingt zu mir mitkommen.» «Warum denn?» frage ich. «Bei mir zu Hause hab ich was, da bleibt euch echt die Luft weg.» Trent kichert erwartungsvoll, und wir gehen alle zu unseren Autos zurück.
Als
wir in Rips Apartment auf dem Wilshire Boulevard an-
kommen, führt Rip uns ins Schlafzimmer. Da ist ein nacktes Mädchen, sehr jung und sehr hübsch, und sie liegt auf der Matratze. Ihre Beine sind auseinandergespreizt und an die Bettpfosten gefesselt und ihre Arme über dem Kopf zusammengebun171
den. Ihre Möse ist total mit Ausschlag bedeckt und sieht ganz trocken aus und ist offenbar rasiert worden. Das Mädchen stöhnt ununterbrochen und murmelt irgendwelche Worte und wirft ihren Kopf von einer Seite zur anderen; ihre Augen sind halb geschlossen. Irgend jemand hat ihr eine Menge Make-up ungeschickt ins Gesicht geschmiert, und sie leckt dauernd die Lippen, ihre Zunge schleppt sich immer wieder langsam darüber. Spin kniet am Bett nieder und hebt eine Spritze hoch und flüstert ihr irgendwas ins Ohr. Das Mädchen macht die Augen nicht auf. Spin drückt ihr die Nadel in den Arm. Ich starre bloß hin. Trent sagt «Irre». Rip sagt auch irgendwas. «Sie ist zwölf.» «Und eng gebaut, Mann», sagt Spin lachend. «Wer ist das?» frage ich. «Sie heißt Shandra und geht in die Corvalis-Schule.» Das ist alles, was Rip antwortet. Ross spielt Centipede im Wohnzimmer, und die Geräusche von diesem Videospiel dringen zu uns herüber. Spin macht den Kassettenrecorder an, und dann zieht er sein Hemd aus und dann seine Jeans. Er hat einen Ständer, und den schiebt er gegen die Lippen des Mädchens und schaut dann zu uns rüber. «Ihr könnt zugucken, wenn ihr wollt.» Ich gehe aus dem Zimmer. Rip kommt mir nach. «Warum?» Das ist alles, was ich frage. «Wie bitte?» «Warum, Rip?» Rip macht einen verwirrten Eindruck. «Warum? Du meinst das da drin?» Ich versuche zu nicken. «Warum nicht? Was hast du denn?» «O Gott, Rip, stell dich nicht so blöd an, das Mädchen ist elf.» «Zwölf», korrigiert mich Rip. «Ja, genau, zwölf», sage ich und denke einen Moment lang darüber nach. «He, guck mich bloß nicht so an, als wenn ich der letzte Arsch wäre. Das stimmt nämlich nicht.» 172
«Es ist ...» Ich gerate ins Stocken. «Es ist was?» will Rip wissen. «Es ist ... Ich glaube nicht, daß es recht ist.» «Was heißt hier recht? Wenn du was willst, dann hast du das Recht, es dir zu nehmen. Wenn du was machen willst, dann hast du das Recht, es zu machen.» Ich lehne mich an die Wand. Ich kann hören, wie Spin im Schlafzimmer stöhnt, und dann das Geräusch einer Hand, die zuschlägt, vielleicht in ein Gesicht. «Aber du brauchst doch nichts. Du hast doch alles», erkläre ich ihm. Rip schaut mich an. «Nein, das stimmt nicht.» «Was?» «Nein, das stimmt nicht.» Daraufhin schweigen wir beide eine Weile, und schließlich frage ich: «Verdammte Scheiße, Rip. Was könnte das denn sein, was du nicht hast?» «Etwas zu verlieren. Ich hab nichts zu verlieren.» Rip dreht sich um und geht zurück ins Schlafzimmer. Ich werf einen Blick rein, und Trent knöpft sich schon das Hemd auf und starrt dabei Spin an, der rittlings auf dem Kopf des Mädchens hockt. «Los, komm, Trent», sage ich. «Wir hauen ab.» Er schaut erst rüber zu mir und dann zu Spin und dem Mädchen und sagt: «Ich glaub, ich bleib doch hier.» Ich stehe eine Weile einfach an der Tür. Spin dreht sich um, während er auf dem Kopf des Mädchens hin- und herrutscht, und sagt: «Mach die Tür zu, wenn du dableiben willst, ja?» «Du solltest wirklich dableiben», sagt Trent. Ich mach die Tür zu, und auf dem Weg nach draußen komm ich durchs Wohnzimmer, wo Ross immer noch Centipede spielt. «Ich hab die höchste Punktzahl», sagt er. Dann fällt ihm auf, daß ich am Gehen bin, und er sagt: «He, wo willst du denn hin?» Ich sage überhaupt nichts. «Ich weiß schon. Du willst dir garantiert noch mal den Anblick von der Leiche reinziehen, stimmt's?» Ich mach die Tür hinter mir zu. 173
Ein paar Meilen von Rancho Mirage entfernt lag ein Haus, das jemandem gehörte, der mit einer meiner Kusinen befreundet war. Dieser Typ, blond und gutaussehend, wollte im Herbst zur Uni Stanford gehen und stammte aus einer guten Familie in San Francisco. Fast jedes Wochenende kam er nach Palm Springs und veranstaltete eine Party in dem Haus in der Wüste. Freunde von ihm aus L. A. und San Francisco und Sacramento kamen auch übers Wochenende und feierten mit. In einer Nacht, gegen Ende des Sommers, fand wieder eine solche Party statt, und diesmal geriet irgendwas außer Kontrolle. Ein junges Mädchen aus San Diego, die an der Party teilgenommen hatte, war am nächsten Morgen mit gefesselten Hand- und Fußgelenken gefunden worden. Es wurde festgestellt, daß sie mehrfach vergewaltigt worden war. Außerdem hatte sie Würgemale am Hals. Ihre Kehle war aufgeschlitzt und ihre Brüste abgeschnitten, und irgend jemand hatte Kerzen in die Wunden gesteckt. Ihre Leiche wurde beim Sun Air-Autokino gefunden. Sie hing kopfüber von einer Schaukel, die am Rand des Parkplatzes stand. Und dieser Freund meiner Kusine war verschwunden. Manche Leute sagten, er sei nach Mexiko gegangen, andere tippten auf Kanada oder London. Aber die meisten hielten es für wahrscheinlich, daß er in Mexiko untergetaucht war. Seine Mutter wurde in eine Anstalt eingeliefert, und das Haus stand zwei Jahre lang leer. Eines Nachts brannte es dann ab, und viele Leute sagen, der Typ wäre damals aus Mexiko oder London oder Kanada zurückgekehrt, um es anzuzünden. Ich fahre die Straße hoch, durch den Canyon, zu der Stelle, wo das Haus früher stand, und ich bin noch immer in den Klamotten, die ich heute nachmittag getragen habe, in Finns Büro, in dem Hotelzimmer vom Saint Marquis, hinter dem Flip, in der kleinen Straße, und ich stelle den Wagen ab und bleibe sitzen und rauche und halte Ausschau nach einem Schatten oder irgendwas anderem, das hinter den Felsen auf der Lauer liegen könnte. Ich hebe den Kopf und horche auf ein Geräusch, ein Rascheln oder Flüstern. Manche Leute sagen, daß man sehen kann, wie der Junge nachts durch die Canyons wandert, auf die Wüste runter174
starrt, in den Ruinen des Hauses rumstapft. Manche sagen auch, daß die Polizei ihn geschnappt und eingesperrt hat. In Camarillo, ein paar hundert Meilen weg von Palo Alto und Stanford. An diese Geschichte mit all ihren Einzelheiten muß ich denken, während ich von den Ruinen weg- und tiefer in die Wüste hineinfahre. Die Nacht ist warm, und das Wetter erinnert mich an ganz bestimmte Nächte in Palm Springs, wenn meine Eltern Freunde zu Besuch hatten und Bridge spielten, und ich das Auto meines Vaters nahm und mit offenem Verdeck in der Wüste herumfuhr und Eagles oder Fleetwood Mac laufen ließ, während der heiße Wind mir durchs Haar blies. Und ich erinnere mich daran, wie ich manchmal morgens als erster aufstand und zusah, wie der Dampf aus dem aufgeheizten Pool emporstieg, bei Morgengrauen, wenn die Wüste noch kühl war; wie meine Mutter den ganzen Tag in der Sonne saß; ich erinnere mich daran, wie manchmal alles ganz ruhig war, kein Lüftchen wehte, und ich sehen konnte, wie die Sonne die Schatten in Bewegung brachte und sie über den Grund des stillen Pools wanderten und über den dunkelbraun gebrannten Rücken meiner Mutter.
In der Woche vor meiner Abreise verschwindet eins der Kätzchen meiner Schwester. Es ist ein kleines braunes Kätzchen, und meine Schwester sagt, daß sie letzte Nacht etwas kreischen und jaulen gehört hat. In der Nähe vom Seiteneingang sind verfilzte Fellstückchen und angetrocknetes Blut. Eine Menge Katzen in der Nachbarschaft werden nachts überhaupt nicht mehr rausgelassen, weil sonst die Chance besteht, daß die Koyoten sie fressen. In manchen Nächten, bei Vollmond und klarem Himmel, schau ich raus und sehe Schatten, die durch die Straßen und durch die Canyons laufen. Früher hielt ich sie immer für große, unförmige Hunde. Erst viel später ging mir auf, daß es sich in Wirklichkeit um Koyoten handelt. Manchmal, wenn ich spät 175
nachts durch Mulholland fuhr, mußte ich das Steuer rumreißen und scharf bremsen, und in dem grellen Scheinwerferlicht sah ich Koyoten langsam durch den Nebel laufen, mit roten Fetzen im Maul, und erst wenn ich wieder zu Hause bin, wird mir klar, daß so ein roter Fetzen in Wirklichkeit eine Katze ist. Mit so was muß man halt leben, wenn man in den Hügeln wohnt.
Im Klo bei Pages, an der Wand, unter dem Spruch: «Julian ist nett im Bett, aber leider verreckt» steht: «Mama und Papa, ihr sollt verflucht sein. Ihr verdammten Mösenlecker und Schwanzlutscher. Verreckt doch ruhig, denn ihr habt mich kaputtgemacht. Ihr habt mich verrecken lassen. Für euch gibt's keine Hoffnung mehr. Eure Tochter ist eine Kommunistin, und euer Sohn ist eine Tunte. Ihr beiden sollt in der gottverdammten beschissenen Hölle schmoren. Brennt, ihr verfluchten Wichser! Brennt, ihr beschissenen Ärsche! Brennt!»
In der Woche vor meiner Abreise höre ich mir einen Song über L. A. an, den ein Komponist aus der Gegend geschrieben hat. Ich spielte nie die anderen Titel der Platte, immer nur diesen einen Song. Es lag nicht daran, daß ich ihn besonders gut fand; er verwirrte mich eher, und ich versuchte, ihn zu enträtseln. Zum Beispiel wollte ich rauskriegen, warum der Penner in diesem Song auf den Knien lag. Jemand anders meinte, der Penner wäre eben dankbar dafür, daß er in L. A. sein durfte und nicht sonstwo. Ich antwortete diesem Typen, das würde er wohl nicht ganz richtig sehen, und er sagte in einem Ton, der mir etwas verschwörerisch vorkam: «Nein, Mensch ... das finde ich überhaupt nicht.» In der Woche vor meiner Abreise saß ich viel in meinem Zimmer, vor dem Fernseher. Jeden Nachmittag lief eine Show mit 176
Videos, die von dem Discjockey eines lokalen Rockmusiksenders vorgestellt wurden. Etwa hundert Teenager tanzten vor einer riesigen Leinwand, auf der Videos liefen; die Bilder ließen die Jugendlichen direkt zwergenhaft erscheinen - und ich entdeckte Leute, die ich schon in irgendwelchen Clubs gesehen hatte: sie tanzten und lächelten für die Kameras und drehten sich um und schauten hoch zu der erleuchteten monumentalen Leinwand, auf der die Bilder vorbeirasten. Einige Leute taten so, als würden sie die Texte zu den Songs mitsingen. Aber ich konzentrierte mich auf die Teenager, die den Mund nicht aufmachten; die Teenager, die die Texte vergessen hatten; die Teenager, die sie vielleicht überhaupt nicht kannten.
Eines
Tages, kurz vor meiner Abreise, fuhren Rip und ich
durch Mulholland, und Rip kaute auf einem Plastikauge rum und trug ein Billy Idol T-Shirt und ließ das Auge immer wieder zwischen seinen Lippen vorgucken. Ich versuchte immer wieder, mir ein Lächeln abzuringen, und Rip machte irgendeine Bemerkung darüber, daß wir am Abend vor meiner Abreise nach Palm Springs fahren sollten, und ich nickte, weil es zu heiß war, um zu widersprechen. An einer besonders tückischen Kurve, mitten in Mulholland, bremste Rip ab und hielt am Straßenrand und stieg aus dem Auto und forderte mich mit einer Handbewegung auf, auch rauszukommen. Ich ging ihm hinterher. Er blieb stehen und zeigte mir die vielen Autowracks, die am Fuß des Hügels lagen. Einige davon waren verrostet, andere neu und zerquetscht, und ihre leuchtenden Farben wirkten in der grellen Sonne fast unanständig. Ich versuchte, die Autos zu zählen; da unten lagen mindestens zwanzig oder dreißig. Rip erzählte mir, daß ein paar Freunde von ihm in dieser Kurve ums Leben gekommen waren; Leute, die die Straße nicht gut genug kannten. Leute, die spätnachts einen Fehler machten und daraufhin ins Nichts segelten. Rip erzählte mir, daß man in manchen Nächten, ganz spät, wenn alles ruhig ist, das Kreischen von Rädern hören 177
kann und dann lange Zeit gar nichts, dann eine Art Zischen und dann - kaum vernehmbar - den Aufschlag. Und manchmal, wenn man ganz genau hinhört, tönen dann Schreie in der Nacht, aber nicht allzu lang. Rip sagte, er würde eigentlich nicht glauben, daß sie die Autos da jemals rausholten; wahrscheinlich würden sie warten, bis es da unten total voll mit Autos war, und das Ganze als warnendes Beispiel vorführen und dann Erde draufkippen. Und als ich dort oben auf dem Hügel stand und über das smoggetränkte, ausgedörrte Valley schaute und spürte, wie der heiße Wind wieder aufkam, und der Staub um meine Füße wirbelte und die Sonne, ein riesiger Feuerball, darüber emporstieg, da glaubte ich ihm. Und etwas später, als wir wieder im Auto saßen, bog er in eine Straße ein, die meines Wissens als Sackgasse endete. «Wohin fahren wir eigentlich?» fragte ich. «Weiß nicht», sagte er. «Einfach drauflos.» «Aber diese Straße führt nirgends hin», erklärte ich ihm. «Das ist unwichtig.» «Was ist dann wichtig?» fragte ich nach einer kleinen Weile. «Nur daß wir drauf sind, Mann», sagte er.
Vor
meiner Abreise wurde eine Frau in Venice mit durch-
schnittener Kehle aus einem fahrenden Auto geworfen; in Chatsworth wütete eine Serie von Bränden, die unkontrollierbare Feuersbrunst war das Werk eines Brandstifters; in Encino brachte ein Mann seine Frau und die beiden Kinder um; vier Jugendliche, die ich alle nicht kannte, kamen bei einem Autounfall auf dem Pacific Coast Highway ums Leben. Muriel wurde wieder ins Cedars-Sinai eingeliefert. Ein Typ mit Spitznamen Conan brachte sich auf der Party einer U.C.L.A.-Studentenverbindung um. Und ich traf Alana zufällig im Beverly Center. «Dich hab ich ja schon 'ne ganze Weile nicht mehr gesehen», sagte ich. «Ja, also, ich war auch nicht allzuviel da.» 178
«Ich hab jemand getroffen, der dich kennt.» «Ach ja?» «Er heißt Evan Dickson. Kennst du ihn auch?» «Mit dem bin ich grad zusammen.» «Ja, weiß ich. Das hat er mir erzählt.» «Aber er bumst mit einem gewissen Derf rum, das ist so 'n Student vom Buckley-College.» «Oh.» «Ganz genau, oh», sagte sie. «Was?» «Na ja, es ist einfach so typisch.» «Ja», erklärte ich ihr. «Isses auch.» «Hast du schöne Ferien gehabt?» «Nein.» «Schade.»
Und am Dienstag nachmittag sehe ich Finn im «Hughes Market» auf der Doheny-Street. Es ist heiß, und ich habe den ganzen Tag am Pool gelegen. Ich steige in mein Auto und nehme meine Schwestern mit zum Markt. Sie sind heute nicht in die Schule gegangen, und beide tragen Shorts und T-Shirts und Sonnenbrillen, und ich habe eine alte Polo-Badehose und ein T-Shirt an. Finn ist in Begleitung von Jared, und er entdeckt mich in der Tiefkühlabteilung. Er trägt Sandalen und ein Hard Rock Cafe T-Shirt, und er wirft mir einen Blick zu und schaut dann auf den Boden und dann wieder hoch. Ich dreh mich schnell um und geh zum Gemüsestand. Er kommt hinterher. Ich nehm einen Sechserpack Eistee aus dem Regal und dann eine Stange Zigaretten. Ich seh mich nach ihm um, und er erwidert meinen Blick und grinst, und ich dreh mich weg. Er kommt mir bis zur Kasse nach. «He, Clay.» Er zwinkert mir zu. «Hi», sage ich und lächel und geh zum Ausgang. «Wir sprechen uns noch», sagt er und krümmt seine Finger, als wären sie eine Pistole. 179
Die letzte Woche. Ich bin mit Trent im Parachute. Trent probiert Klamotten an. Ich lehne mich gegen die Wand und lese in einer alten Nummer von Interview rum. So ein hübscher blonder Junge - ich glaube, es ist Evan - probiert auch gerade Klamotten an. Er geht nicht etwa in eine Kabine, um sie anzuprobieren. Er probiert sie mitten im Laden an, vor einem großen Spiegel. Er steht da, nur in Unterhose und karierten Socken, und betrachtet sich ausgiebig. Der Junge wird jäh aus seiner Trance gerissen, als sein Freund, ebenfalls blond und hübsch, hinter ihn tritt und ihn in den Nacken kneift. Dann probiert er noch was an. Trent erzählt mir, daß er diesen Kerl zusammen mit Julian vor der Beverly Hills High School gesehen hat; die beiden saßen in Julians schwarzem Porsche und unterhielten sich mit einem vielleicht vierzehnjährigen Jungen. Trent erzählt mir, daß Julian eine Sonnenbrille trug, aber daß die blauen Flecken um seine Augen herum trotzdem noch zu sehen waren.
Als
ich in der Dämmerung am Pool sitze und Zeitung lese,
entdecke ich den Bericht über einen Mann aus L. A., der versucht hat, sich bei lebendigem Leibe in seinem Garten zu begraben; als Grund gab er an, es sei «so heiß, viel zu heiß». Ich lese den Artikel zum zweitenmal und lege dann die Zeitung beiseite und beobachte meine Schwestern. Sie sind immer noch im Bikini und haben immer noch ihre Sonnenbrillen auf, und sie liegen unter dem fast dunklen Himmel und spielen Totstellen. Ich soll der Schiedsrichter sein und entscheiden, welche von beiden am längsten tot aussehen kann; die Gewinnerin darf die andere dann in den Pool schubsen. Ich beobachte sie und hör mir gleichzeitig eine Kassette im Walkman an. Die Go-Go's singen «I wanna be worlds away / I know things will be okay when I get worlds away». Die Platte, von der das aufgenommen ist, hat offenbar einen Sprung, jedenfalls bricht der Song hier ab und es geht weiter mit «Vacation», und ich schließe die Augen und höre zu, und 180
als ich sie wieder aufmache, lassen sich meine Schwestern im Pool treiben, Kopf unter Wasser, um zu testen, welche von ihnen am längsten ertrunken aussehen kann.
Ich gehe mit Trent ins Kino, nach Westwood, und
in diesem
Kino ist es fast leer. Nur ein paar Leute sitzen herum, die meisten von ihnen ganz allein. Ich entdecke einen alten Freund aus der High School, der mit einem hübschen blonden Mädchen zusammen ziemlich weit vorn hockt, direkt am Gang, aber ich spreche ihn nicht an, und als die Lichter ausgehen, bin ich irgendwie direkt erleichtert, daß Trent ihn nicht erkannt hat. Später, in einer Spielhalle, hängt Trent nur vor einem Videospiel namens «Burger Time». Darin jagen eine Menge Hot Dogs und Eier einen kleinen bärtigen Koch, und Trent will mir beibringen, wie man das spielt, aber ich hab keine Lust. Ich starre bloß dauernd auf diese verrückt wackelnden Hot Dogs, und irgendwie halte ich das nicht mehr aus, und ich verzieh mich und such mir was anderes zum Spielen. Aber bei den ganzen Dingern geht es anscheinend nur um Käfer und Bienen und Motten und Schlangen und Moskitos und ertrinkende Frösche und wahnsinnige Spinnen, die große lila Videofliegen fressen, und von der Musik, die zur Begleitung läuft, wird mir schwindlig, und auf einmal krieg ich Kopfschmerzen, und selbst als ich aus der Spielhalle rausgehe, habe ich Mühe, diese Bilder abzuschütteln. Auf dem Heimweg erklärt mir Trent: «Also, du hast dich heute echt wie ein Saftsack benommen.» Auf dem Beverly Glen ist plötzlich ein roter Jaguar vor mir, auf dessen Nummernschild DECLINE steht, und ich muß an den Straßenrand fahren. «Was ist denn los, Clay?» fragt Trent mit einem komischen Unterton. «Nichts», schaffe ich zu sagen. «Was ist denn bloß los mit dir, verdammt noch mal?» 181
Ich erzähle ihm, daß ich Kopfweh habe, und fahre ihn nach Hause und sage, daß ich ihn mal aus New Hampshire anrufen werde.
Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich daran, wie ich mal um halb neun an einem Sonntag abend in der Telefonzelle von einer 76-Tankstelle in Palm Desert stand - das muß Ende August letzten Jahres gewesen sein - und auf einen Rückruf von Blair wartete, die am nächsten Morgen für drei 'Wochen nach New York fliegen wollte, um ihren Vater bei irgendwelchen Außenaufnahmen zu besuchen. Ich trug an diesem Abend Jeans und ein T-Shirt und einen alten, ausgeleierten Pulli mit Schottenmuster und Tennisschuhe, aber ohne Socken, und meine Haare waren durcheinander, und ich rauchte eine Zigarette. Und von da aus, wo ich stand, konnte ich eine Bushaltestelle sehen, und vier oder fünf Leute saßen oder standen unter einer fluoreszierenden Straßenlaterne und warteten. Ein Junge, vielleicht fünfzehn oder sechzehn, war auch da, und ich dachte, der wollte trampen, und ich war fast am Durchdrehen, und ich wollte diesem Jungen etwas sagen, aber dann kam der Bus, und er stieg ein. Ich wartete in einer Telefonzelle ohne Tür, und die fluoreszierende Beleuchtung war unerträglich, und ich bekam Kopfweh davon. Ein Zug von Ameisen marschierte über den leeren Joghurtbecher, in dem ich meine Zigarette ausdrückte. Das war ein ganz komischer Abend. An dieser einen Tankstelle standen drei verschiedene Telefonzellen, und an diesem Sonntag abend im letzten August war jede einzelne Telefonzelle besetzt. In der Zelle neben mir stand so ein junger Surfer-Typ in Shorts von Ocean Pacific Surfer Clothes und einem gelben T-Shirt, auf das «MAUI» gestickt war, und ich hätte wetten können, daß er auf den Bus wartete. Ich glaubte, daß der Surfer gar nicht richtig telefonierte, sondern nur so tat, als würde er mit jemandem reden, und daß am anderen Ende kein Mensch zuhörte, und ich konnte nur immerzu darüber nachdenken, ob es wohl besser sei, so zu tun, als ob man mit jemandem 182
reden würde, als überhaupt nicht zu reden, und dauernd fiel mir der Abend mit Blair in Disneyland ein. Und der Surfer schaute dauernd zu mir rüber, und ich drehte dauernd den Kopf weg und wartete auf das Klingeln vom Telefon. Ein Auto fuhr vor, auf dessen Nummernschild «GABSTOY» - also etwa «Gabs Spielzeug» - stand, und ein Mädchen - wahrscheinlich Gab - mit einem Haarschnitt à la Joan Jett und ihr Freund, der ein schwarzes Clash T-Shirt anhatte, stiegen aus, und der Motor lief weiter, und ich konnte ein Stück von einem alten Squeeze-Song hören. Ich rauchte eine weitere Zigarette zu Ende und zündete mir noch eine an. Einige Ameisen ertranken im Joghurt. Der Bus kam. Leute stiegen ein. Niemand stieg aus. Und ich dachte immer noch an den Abend in Disneyland und an New Hampshire und meine Trennung von Blair. Der warme Wind fegte durch die leere Tankstelle, und der Surfer, den ich für einen Stricher hielt, legte auf, und ich konnte kein Geldstück fallen hören und tat so, als hätte ich nicht drauf geachtet. Er stieg in den Bus ein, der dann weiterfuhr. GABSTOY fuhr auch los. Das Telefon klingelte. Blair war dran, und ich bat sie, nicht wegzufliegen. Sie fragte mich, wo ich wäre. Ich erzählte ihr, daß ich in einer Telefonzelle in Palm Desert sei. Sie fragte «Warum?» Ich fragte «Warum nicht?» Ich erklärte ihr, daß sie nicht nach New York fliegen sollte. Sie sagte, um das noch zu diskutieren, sei es wohl ein bißchen zu spät. Ich bat sie, mit mir nach Palm Springs zufahren. Sie erzählte mir, daß ich sie verletzt hätte; daß ich versprochen hätte, in L. A. zu bleiben; daß ich versprochen hätte, nie mehr zurück an die Ostküste zu gehen. Ich erklärte ihr, daß es mir leid täte, und daß alles wieder gut werden würde, und sie sagte, das hätte sie schon mehrmals aus meinem Mund gehört, und daß vier Monate gar nichts ausmachen würden, wenn wir uns wirklich gernhätten. Ich fragte sie, ob sie sich an den Abend in Disneyland erinnerte, und sie fragte: «Was für ein Abend in Disneyland?», und wir legten auf. Und dann fuhr ich wieder zurück nach L. A. und ging in ein Kino und saß dort ganz allein, und dann fuhr ich bis etwa ein Uhr in der Gegend rum und setzte mich in ein Restaurant auf dem Sunset Boulevard und trank Kaffee und rauchte meine Schachtel 183
leer und blieb sitzen, bis das Restaurant zumachte. Und dann fuhr ich nach Hause, und Blair rief mich an. Ich erzählte ihr, daß sie mir fehlen würde, aber daß vielleicht alles noch gut werden könnte, wenn ich erst wieder zurück wäre. Sie sagte, vielleicht, und dann sagte sie, daß sie sich doch an den Abend in Disneyland erinnerte. Eine Woche später reiste ich ab nach New Hampshire und sprach vier Monate lang nicht mit ihr.
Vor meiner Abreise treffe ich mich mit Blair zum Mittagessen. Sie sitzt auf der Terrasse vom Old World am Sunset Boulevard und wartet auf mich. Sie trägt eine Sonnenbrille und trinkt ein Glas Weißwein, das sie wahrscheinlich mit ihrem gefälschten Ausweis gekriegt hat. Vielleicht hat sie der Kellner ja nicht mal danach gefragt, denke ich, während ich zur Vordertür reingehe. Ich erkläre der Bedienung, daß ich mit dem Mädchen verabredet bin, das auf der Terrasse sitzt. Sie sitzt allein am Tisch, und sie streckt ihren Kopf dem leichten Wind entgegen, und diese kleine Geste drückt etwas Kraftvolles aus, vielleicht eine Art von Zuversicht oder eine Art von Mut, und ich bin auf einmal neidisch. Sie sieht mich nicht, als ich von hinten auf sie zugehe, und dann küsse ich sie auf die Schläfe. Sie lächelt und dreht sich um und zieht die Sonnenbrille ein Stück runter, und sie riecht nach Wein und Lippenstift und Parfum, und ich setz mich und blätter die Speisekarte durch. Dann leg ich die Karte beiseite und seh den vorbeifahrenden Autos nach und fang an, mich zu fragen, ob dies vielleicht ein Fehler war. «Überrascht mich echt, daß du gekommen bist», sagt sie. «Wieso? Ich hab dir doch gesagt, daß ich herkomme.» «Ja, das stimmt», murmelt sie. «Und wo warst du grade?» «Bei einem zeitigen Mittagessen mit meinem Vater.» «Muß ja nett gewesen sein.» Ich frag mich, ob das sarkastisch gemeint ist. «Na ja», sage ich verunsichert. Ich zünde mir eine Zigarette an. «Was hast du sonst noch gemacht?» 184
«Wieso?» «Na komm schon, reagier bloß nicht eingeschnappt. Ich möcht doch nur mit dir reden.» «Also rede.» Ich muß ein paarmal blinzeln, weil Rauch von der Zigarette in meine Augen zieht. «Hör mal.» Sie nimmt einen Schluck Wein. «Wie war's bei dir am Wochenende?» Ich stöhne auf; es überrascht mich wirklich, daß ich mich nicht besonders gut an das erinnern kann, was passiert ist. «Ich weiß nicht mehr. Keine Ahnung.» «Oh.» Ich nehme die Speisekarte wieder in die Hand und lege sie dann ungeöffnet beiseite. «Du gehst also wirklich zurück ans College», sagt sie. «Ich glaub schon. Hier ist doch nix.» «Hast du was anderes erwartet?» «Weiß ich nicht. Ich bin sehr lange hier gewesen.» Als wär ich seit 'ner Ewigkeit hier. Ich stoße leise mit dem Fuß gegen das Terrassengeländer und beachte sie nicht. Es war ein Fehler. Plötzlich schaut sie mich an und nimmt ihre Sonnenbrille ab. «Clay, hast du mich jemals geliebt?» Ich schaue konzentriert auf eine Reklametafel rüber und sage, daß ich das eben nicht mitgekriegt habe. «Ich sagte gerade: ‹Hast du mich jemals geliebt?›» Die Sonne sticht mir plötzlich direkt in die Augen, und in diesem einen Moment von Geblendetsein sehe ich mich selber ganz deutlich. Ich erinnere mich daran, wie wir uns zum erstenmal geliebt haben, in dem Haus in Palm Springs, an ihren braungebrannten nassen Körper in den kühlen weißen Laken. «Laß das bitte, Blair», erkläre ich ihr. «Du sollst mir bloß antworten.» Ich sage gar nichts. «Ist die Frage denn so schwer, daß du sie nicht beantworten kannst?» Ich schau sie direkt an. «Ja oder nein?» 185
«Wieso?» «Verdammt noch mal, Clay», sagt sie und stöhnt auf. «Ja, glaub schon, sicher.» «Lüg mich nicht an.» «Was willst du denn hören, verflucht?» «Du sollst mir bloß antworten», sagt sie mit erhobener Stimme. «Nein!» Ich schreie fast. «Niemals.» Ich muß fast lachen. Sie zieht die Luft ein und sagt: «Danke. Das ist alles, was ich wissen wollte.» Sie nimmt einen Schluck Wein. «Hast du mich denn jemals geliebt?» frage ich zurück, obwohl mir das nun wirklich scheißegal sein kann. Sie antwortet erst nach einer kleinen Weile. «Ich hab drüber nachgedacht und, ja, ich hab dich früher mal geliebt. Ich meine, richtig geliebt. Eine Zeitlang war alles gut zwischen uns. Du warst mein Freund.» Sie schaut auf den Boden und spricht weiter. «Aber dann kam's mir so vor, als wärst du überhaupt nicht richtig da. Ach, Scheiße, das klingt nicht besonders logisch.» Sie bricht ab. Ich seh sie an, warte darauf, daß sie weiterredet, schau rüber zu der Reklametafel. Verschwinde von hier. «Ich weiß noch nicht mal, ob überhaupt je ein Freund von mir richtig da war ... aber zumindest haben's die andern versucht.» Ich fummel an der Speisekarte rum; drück meine Zigarette aus. «Aber selbst das hast du nicht gemacht. Andere Leute haben sich wenigstens Mühe gegeben, und du ... du hast einfach nichts geschnallt.» Sie nimmt noch einen Schluck Wein. «Du warst nie da. Eine Weile hast du mir direkt leid getan, aber dann fand ich sogar das zu anstrengend. Du bist ein schöner Junge, Clay, aber auch nicht viel mehr.» Ich schau den vorbeifahrenden Autos nach. «Es ist anstrengend, Mitgefühl für jemand aufzubringen, dem alles egal ist.» «So?» frage ich. «Was interessiert dich denn überhaupt? Was macht dir Freude?» 186
«Nichts. Nichts macht mir Freude. Ich mag gar nichts», erkläre ich ihr. «Hast du mich jemals gemocht, Clay?» fragt sie mich. Ich sage überhaupt nichts, konzentriere mich nur wieder auf die Speisekarte. «Hast du mich jemals gemocht?» fragt sie noch mal. «Ich will überhaupt nichts mögen. Wenn ich irgendwas mag, dann wird's dadurch nur noch schlimmer, dann muß ich mir darum auch noch Sorgen machen. Und das kann weh tun, und deshalb laß ich's lieber gleich sein.» «Ich hab mir eine Weile Sorgen um dich gemacht.» Ich sage gar nichts. Sie nimmt ihre Sonnenbrille ab und sagt schließlich: «Bis dann, Clay.» Sie steht auf. «Wohin gehst du?» Plötzlich will ich nicht, daß sie hier in der Stadt bleibt. Ich hab fast das Bedürfnis, sie mitzunehmen. «Ich bin mit jemand zum Mittagessen verabredet.» «Aber was ist mit uns?» «Was mit uns ist?» Einen Moment lang steht sie da und wartet. Ich starre immer wieder auf die Reklametafel, bis mir alles vor den Augen verschwimmt, und als ich wieder klar sehen kann, beobachte ich, wie Blairs Auto aus der Parklücke biegt und im Verkehrsfluß auf dem Sunset untertaucht. Der Kellner kommt her und fragt: «Ist alles in Ordnung, Sir?» Ich sehe hoch und setze meine Sonnenbrille auf und versuche zu lächeln. «Ja, doch.»
Blair ruft mich am Abend vor meiner Abreise an. «Geh nicht weg», sagt sie. «Es sind doch bloß ein paar Monate.» «Das ist eine lange Zeit.» «Bald wird's schon wieder Sommer.» «Das ist eine lange Zeit.» «Ich komm doch zurück. Es ist gar nicht so lang.» 187
«Ach, Scheiße, Clay.» «Du mußt mir glauben.» «Tu ich aber nicht.» «Mußt du aber.» «Du lügst doch.» «Nein, ich lüg nicht.»
Und
vor meiner Abreise las ich im Los Angeles Magazine
einen Artikel über eine Straße namens Sierra Bonita in Hollywood. Eine Straße, auf der ich schon unheimlich oft gefahren war. In dem Artikel stand, daß einige Leute, die diese Straße entlangfuhren, Geister gesehen hätten; gespenstische Erscheinungen aus dem Wilden Westen. Ich las, daß man Indianer beobachtet hätte, die vorbeiritten, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, und daß einem Autofahrer ein Tomahawk ins Fenster geworfen worden wäre, der sich Sekunden später in Luft aufgelöst hätte. Ein älteres Ehepaar sagte aus, daß auf der Sierra Bonita, in ihrem eigenen Wohnzimmer, ein Indianer erschienen wäre und in klagendem Ton irgendwelche Beschwörungen gemurmelt hätte. Ein Mann war mit dem Auto in eine Palme gekracht, weil er mitten auf der Straße einen Planwagen gesehen hatte, vor dem er ausweichen mußte.
Bei
meiner Abreise war nicht mehr viel in meinem Zimmer
außer ein paar Büchern, dem Fernseher, der Stereoanlage, der Matratze, dem Poster von Elvis Costello, dessen Augen noch immer zum Fenster hinausstarrten, der Schuhschachtel mit den Fotos von Blair im Regal. Außerdem noch ein Poster von Kalifornien, das ich an die Wand gehängt hatte. Eine der Stecknadeln war runtergefallen, und das Poster war alt und in der Mitte eingerissen, und es hing krumm und schief an der Wand. 188
In dieser Nacht fuhr ich raus zum Topanga-Canyon und stellte mein Auto bei einem alten verlassenen Rummelplatz ab, dessen Überreste immer noch in diesem Tal rumstanden: leer und still und wie verloren. Von da aus konnte ich hören, wie der Wind durch die Canyons pfiff. Das Riesenrad stand ein bißchen schräg. Ein Koyote heulte. Die Zelte flatterten im warmen Wind. Es war Zeit, zurückzugehen. Ich war lange daheim gewesen.
Während
ich in Los Angeles war, hörte ich einen Song von
einer Gruppe aus der Gegend. Der Song hieß «Los Angeles», und die Worte und Bilder waren so hart und bitter, daß sie tagelang in meinem Kopf widerhallten. Wie ich später herausfand, waren die Bilder so persönlicher Natur, daß niemand, den ich kannte, damit etwas anfangen konnte. Die Bilder, die in mir hochkamen, hatten mit Menschen zu tun, die durch das Leben in der Stadt allmählich verrückt wurden. Bilder von Eltern, die so hungrig und unausgefüllt waren, daß sie ihre eigenen Kinder aßen. Bilder von Leuten, von Jugendlichen in meinem Alter, die das Sonnenlicht erblinden ließ, als sie vom Asphalt aufblickten. Diese Bilder begleiteten mich, selbst als ich die Stadt verlassen hatte. Bilder, die so gewalttätig und bösartig waren, daß es mir noch lange Zeit nachher schien, als wären sie mein einziger Anhaltspunkt. Nach meiner Abreise.
Bret Easton Ellis Glamorama Roman Titel der Originalausgabe: Glamorama Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka Gebunden
Stars und Models, hippe Charaktere, grenzenlose Gewalt und anarchischer Sex, Designerdrogen und hämmernde Musik - alles, was seine Fans (und Kritiker) erwartet haben, steckt in Bret Easton Ellis' spektakulärem neuen Roman »Glamorama«. Ein Horrortrip durch das glamouröse New York, durch die obszön glitzernde Welt von London und Paris. »Scharf wie ein Laserstrahl« Esquire