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Die vorliegende Weltraum-Utopie des seit Jahrzehnten erfolgreichen SF-Autors Clifford D. Simak ist von liebenswürdiger Skurrilität und bezieht ihren Reiz aus den Widersprüchen zu Logik und Gesetzen unserer (beileibe nicht einsichtigen, widerspruchsfreien) Welt. In der Galaxis haben sich durch die Ausbreitung der Menschen vielerlei, teilweise äußerst bizarre Religionen gebildet, die – wie das aus der irdischen Geschichte bekannt ist – eines gemeinsam haben: den Ausschließlichkeitsanspruch. Diesen Anspruch erhebt man auch auf dem abgelegenen kleinen Planeten End of Nothing. Dort herrscht eine Kultur, in der Menschen und Roboter gleichberechtigt nebeneinander existieren. Anderswo nimmt man die großen Worte von End of Nothing nicht besonders ernst, doch das liegt nur daran, daß man im dortigen „Vatikan 17“ das große Projekt geheimhält: In jahrhundertelanger Arbeit hat man einen menschenähnlichen Computer geschaffen, ein Gehirn, das alles Wissen und alle Weisheit in sich vereinigt und damit der Papst für das ganze Universum sein könnte. Bis zu seiner Vollendung soll es geheim bleiben, doch die findige Journalistin Jill Roberts hat Wind von der Sache bekommen und ist bis zum fernen Rand der Galaxis gereist, um auf End of Nothing den Aufmacher für die Story ihres Lebens zu finden. Aber dann tritt ein Ereignis ein, das alles verändert: Die Roboter finden einen Weg, der Zugang zum Himmel verschaffen kann, und Jill Roberts dringt in den Himmel ein. Es kommt zu einer Revolte der Roboter gegen die Menschen. Doch die Aufregung war umsonst. Der von einer Frau namens Maria entdeckte Himmel ist nicht der Himmel, von dem die christliche Religion immer wieder erzählt. Und auch andere Rätselhafte Vorgänge finden ihre Aufklärung. Schließlich wird der elektronische Papst tatsächlich aktiviert, und er nimmt seinen Dienst auf, einigt die entzweiten Menschen und Roboter und stellt eine geeinte Zukunft aller Rassen in Friede und Freundschaft in Aussicht. Clifford D. Simak, 1904 in Milville (Wisconsin) geboren, wuchs in der ländlichen Idylle Wisconsins auf und besuchte die High School. Nach dem Studium an der Universität von Wisconsin arbeitete er als Journalist, in einem Beruf, dem er sein Leben lang treu blieb. Unter anderem war er Reporter für die Zeitungen Minnesota Star und Minnesota Tribüne, aber auch Nachrichtenredakteur und Redakteur einer wissenschaftlichen Kolumne. SF-Autor ist Simak seit 1931. Damit kann er auf eine der längsten Schriftstellerkarrieren innerhalb des Genres zurückblicken.
Clifford D. Simak Unternehmen Papst
«Hohenheim» Verlag Köln
ISBN 3-8147-0036-8 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1981 by Bellantine Del Rey Copyright © 1983 by «Hohenheim»Verlag GmbH, Köln-Lövenich Übersetzung: Ulrich Kiesow, Düsseldorf Lektorat: Klaus-Dietrich Petersen, Hamburg Titelgrafik: Oliviero Berni, Mailand Umschlaggestaltung: Hanswerner Klein BDG/BFF, Leverkusen Satzherstellung: Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln-Lövenich Druck und Bindung: May & Co., Darmstadt e-Book by Brrazo 10/2010
Prolog Thomas Decker war ungefähr eine halbe Stunde von seiner Hütte entfernt, da stoppte ihn Flüsterer zwischen zwei Schritten. „Decker“, sagte Flüsterer mit einer Stimme, die in Deckers Kopf erklang, „Decker, diesmal erwische ich dich. Diesmal bist du dran!“ Decker wirbelte auf dem engen Pfad herum, sein Gewehr flog hoch. Er hielt es vor die Brust, bereit, es beim ersten Anzeichen einer Gefahr an die Schulter zu reißen. Nichts war zu sehen, nichts rührte sich. Dichtes Gestrüpp und das Blattwerk der Bäume schnürten den schmalen Wildwechsel auf beiden Seiten ein. Die Luft war still. Nicht der kleinste Hauch regte sich, nirgendwo flatterte ein Vogel im Geäst. Absolut nichts. Alles war erstarrt, so als ob die Ewigkeit auf den Wald herabgesunken wäre. „Decker!“ Das Wort entstand in seinem Verstand. Es hatte keinen Klang, wurde nicht gesprochen. Es war nur ein Geräusch im Gehirn. Vielleicht nicht einmal das. Bei all seinen Begegnungen mit Flüsterer hatte Decker nie entscheiden können, ob tatsächlich ein Geräusch in seinem Gehirn gewesen war. Er vernahm einfach die Worte. Sie entstanden in einem bestimmten Bereich seines Gehirns, vorn, hinter der Stirn, direkt über den Augen. „Diesmal nicht, Flüsterer“, entgegnete er. Er sprach so, wie er angesprochen wurde: Seine Lippen blieben verschlossen. Er formte die Gedanken und Wörter im Kopf, wo Flüsterer sie lesen würde. „Ich spiele heute nicht mit dir. Das Spiel ist aus, endgültig aus!“ „Feigling!“ höhnte Flüsterer, „Feigling, Feigling, Feigling!“ „Steck dir deinen ‚Feigling’ sonstwo hin!“ erwiderte Decker. „Komm heraus und zeige dich, dann wirst du erleben, ob ich ein Feigling bin. Ich habe es satt, Flüsterer. Ich habe endgültig die Schnauze voll von dir!“ 7
„Du bist ein Feigling“, wiederholte Flüsterer. „Beim letzten Mal hattest du mich genau im Visier, und du hast nicht abgedrückt. Feigling, Decker, Feigling!“ „Ich hatte keinen Grund, dich zu töten, Flüsterer, auch nicht den Wunsch. Aber, so wahr mir Gott helfe, beim nächsten Mal erledige ich dich! Dann bin ich dich endlich los.“ „Wenn ich dich nicht zuerst erwische.“ „Die Gelegenheit dazu hattest du“, sagte Decker. „Du hast mehr als einmal die Chance gehabt. Also laß uns mit dem albernen Getue aufhören. Du willst mich genauso wenig töten, wie ich dich umbringen will. Du willst nur, daß das Spiel weitergeht, aber gerade dazu habe ich keine Lust mehr. Ich habe Hunger, und ich bin müde und will nach Hause. Auf keinen Fall will ich mit dir Verstecken spielen und dich durch die Wälder jagen.“ Inzwischen hatte Decker herausbekommen, wo sich Flüsterer versteckt hielt, und er neigte sich ein wenig zur Seite, um ihn besser in den Blick zu bekommen. „Diesmal hast du wirklich Glück gehabt“, sagte Flüsterer. „Du hast eine Menge Steine gefunden. Vielleicht sogar Diamanten.“ „Du weißt genau, daß ich keine gefunden habe. Du warst doch dabei. Hast mich keine Sekunde aus den Augen gelassen. Ich habe dich immer gespürt.“ „Du gibst dir solche Mühe“, sagte Flüsterer. „Du solltest hin und wieder einen Diamanten finden.“ „Ich suche nicht nach Diamanten.“ „Was tust du mit den Steinen, die du findest?“ „Warum stellst du so alberne Fragen, Flüsterer? Du weißt sehr gut, was ich damit mache.“ „Du gibst sie dem Captain, damit er sie für dich in Wansttritt verkauft. Er haut dich über’s Ohr. Er bekommt dreimal so viel Geld dafür, wie er dir erzählt.“ 8
„Das vermute ich auch“, erwiderte Decker. „Aber, was soll’s? Er braucht das Geld nötiger als ich. Er legt alles auf die hohe Kante, damit er sich ein Stück Land auf Apfelblüte kaufen kann. Warum interessierst du dich mit einemmal so sehr dafür, Flüsterer?“ „Du verkaufst ihm nicht alle?“ „Das stimmt. Die besten Stücke behalte ich für mich.“ „Ich könnte ein paar gute Steine gebrauchen.“ „Du, Flüsterer? Was willst du denn damit?“ „Ich will sie formen. Schleifen. Verändern.“ „Bist du etwa ein Steinschleifer, Flüsterer?“ „Nein, kein richtiger Diamantenschleifer, Decker. Es ist nur eine Liebhaberei.“ Jetzt wußte er genau, wo Flüsterer steckte. Wenn dieser nur eine falsche Bewegung machte, dann würde er ihn erledigen. Flüsterer wollte ihn mit dem Gerede über Steinschleiferei doch nur zum Narren halten. Er wollte ihn ablenken. Ich sollte der Sache wirklich ein Ende machen, sagte sich Decker. Seit Monaten ging es nun schon so: Dieser Clown in seinem Versteck schlich ihm nach, beobachtete ihn, verspottete und bedrohte ihn. Unaufhörlich trieb er sein albernes Spiel und machte sich über ihn lustig. „Gar nicht weit von hier ist ein Fluß, wo du viele Steine finden kannst“, sagte Flüsterer unvermittelt. „Ich kann ihn dir zeigen. Ein besonders großes Stück Jade liegt dort. Das möchte ich gern haben. Wenn du mir das Stück Jade holst, kannst du alle anderen Steine haben.“ „Warum holst du es dir nicht selbst?“ fragte Decker. „Wenn du weißt, wo es liegt, dann hol’ es dir doch!“ „Das kann ich nicht“, antwortete Flüsterer. „Ich habe keine Arme, um es zu erreichen, keine Hände, um zuzugreifen, keine Kraft, um es anzuheben. Das mußt du für mich tun. Und warum auch nicht? Wir sind schließlich Freunde. Wir haben jetzt so 9
lange miteinander gespielt, daß wir alte Freunde sein könnten. Ja, wir haben es lange genug versucht.“ „Wenn ich dich nur erwischen könnte!“ sagte Decker. „Wenn ich dich noch einmal vor den Lauf bekomme …!“ „Was du im Visier hattest“, erwiderte Flüsterer, „war ich gar nicht. Es war nur ein Schemen, eine Gestalt, die ich geschaffen hatte, damit du sie für mich hieltest. Als du die Gestalt gesehen und nicht abgedrückt hast, da wußte ich, daß du mein Freund geworden bist.“ „Freund oder nicht!“ versetzte Decker, „Schemen oder Schatten oder was auch immer, beim nächsten Mal drücke ich ab!“ „Wir könnten Freunde sein“, beharrte Flüsterer. „Wir haben eine Kindheit zusammen verbracht. Wir sind zusammen durchs Land gestreift und haben miteinander gespielt. So haben wir uns kennengelernt. Jetzt, wo wir gereift sind …“ „Gereift?“ „Ja, Decker, unsere Freundschaft ist gereift. Nun brauchen wir nicht mehr zu spielen. Das war nur ein Ritus. Vielleicht war es närrisch von mir, dir diesen Ritus aufzudrängen, aber es war nur ein Freundschaftsritual.“ „Ein Ritual? Flüsterer, du spinnst!“ „Es war ein Ritus, den du nicht erkannt und nicht verstanden hast, und dennoch hast du dich auf das Spiel mit mir eingelassen. Nicht immer sehr bereitwillig, nicht immer guten Mutes, oft sogar fluchend und schimpfend. Manchmal wolltest du mich umbringen, aber du hast mit mir gespielt. Und nun, da das Ritual beendet ist, können wir gemeinsam nach Hause gehen.“ „Nur über meine Leiche nehme ich dich mit zu mir! Ich kann nicht zulassen, daß du dich in meiner Hütte breitmachst!“ „Ich werde mich nicht sehr breitmachen. Ich benötige nur wenig Raum. Ich kann mich in eine Ecke quetschen. Du würdest mich gar nicht bemerken. Ich brauche doch so dringend 10
einen Freund! Mir fällt es schwer, einen Freund zu finden; ich muß nämlich einen suchen, der wirklich zu mir paßt …“ „Flüsterer“, sagte Decker, „du vergeudest deine Zeit. Ich weiß zwar nicht genau, worauf du hinauswillst, aber eines weiß ich: Du verschwendest deine Zeit!“ „Wir könnten füreinander sehr nützlich sein. Ich könnte deine Steine schleifen, und in einsamen Nächten könnte ich zu dir sprechen. Wir könnten gemeinsam vor dem Kamin sitzen, und sicher gäbe es viele Geschichten, die wir uns erzählen könnten. Und du, ja, vielleicht könntest du mir beim Vatikan helfen …?“ „Beim Vatikan!“ schrie Decker. „Was, um Gottes Willen, hast du mit dem Vatikan zu tun?“
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1 Auf seiner Flucht schoß Jason Tennyson tief über die steile Bergkette im Westen von Wansttritt dahin – es ging um sein Leben. Im gleichen Augenblick, als er die Lichter der Stadt entdeckte, drückte er auf den Ausstoßknopf, und er spürte, wie er mit unerwarteter Wucht nach oben geschleudert wurde. Für einen kurzen Moment war er von Finsternis umfangen, dann, während sein Körper sich im Kreise drehte, sah er wieder die Lichter der Stadt; auch den Schweber glaubte er zu erkennen. Eigentlich war es nicht wichtig, ob er den Schweber tatsächlich noch sehen konnte, das wußte er. Der würde sowieso weiterfliegen, über Wansttritt hinweg und dann dem Ozean entgegen, der die kleine Stadt und den Raumhafen gegen das Gebirge zu drängen schien. Wenn Tennysons Berechnung stimmte, dann würde der Schweber etwa achtzig Kilometer vom Ufer ins Wasser stürzen und versinken. Dann würde auch Doktor Jason Tennyson verschwunden sein, so hoffte er jedenfalls. Dr. Tennyson, der Hofarzt des Markgrafen von Daventry. Die Radargeräte von Wansttritt hatten den Schweber mit Sicherheit bereits entdeckt, und sie würden seine Flugbahn bis hinaus über den Ozean verfolgen. Doch dicht über dem Wasser würde der Schweber von den Schirmen verschwunden sein. Tennysons Sturz wurde bereits gebremst, dann, als der Fallschirm sich auf die volle Größe entfaltete, wurde sein Körper zur Seite gerissen. Er begann in weiten Bögen zu pendeln. Ein Aufwind erfaßte den Schirm und trieb ihn auf die nahen Berggipfel zu, doch einen Augenblick später hatte der Schirm die Luftströmung bereits wieder verlassen. Nun sank er in gleichmäßigem Tempo dem Boden entgegen. In den Leinen hängend, versuchte Tennyson seinen Landeplatz vorauszuberechnen. Vermutlich würde er am Südrand des Raumhafens aufkommen. 13
Mit beiden Händen hielt er seinen Arztkoffer vor der Brust umklammert, der ohnehin schon von den Gurten gehalten wurde. Laß es gut ausgehen, betete er. Laß es so gut enden, wie es bisher gelaufen ist! Bisher war nämlich alles überraschend glatt gegangen. Den ganzen Flug über hatte er den Schweber so niedrig wie möglich gehalten. In der dunklen Nacht hatte er die Feudalanwesen in weiten Bögen umflogen, denn dort standen überall Radargeräte, die den Himmel abtasteten. In dieser bösen Welt streitbarer Lehensgüter mußte man ständig auf der Hut sein. Wer konnte schon vorher sagen, wann und aus welcher Richtung die Plünderer herabgestürzt kämen? Tennyson versuchte angestrengt, die Entfernung zum Boden abzuschätzen, aber dazu war es zu dunkel. Er spürte, daß er sich verkrampfte und zwang sich zum Entspannen. Beim Aufprall mußte er entspannt sein. Die Lichter der Stadt waren nördlich von ihm, direkt vor ihm leuchtete es blendend hell: der Raumhafen. Eine schwarze Form schob sich vor die strahlenden Lampen, und Tennyson prallte auf den Boden, die Knie knickten unter ihm ein. Er warf sich zur Seite; seine Tasche ließ er nicht los. Der Schirm fiel zusammen, und Tennyson kam schwankend auf die Beine. Sofort begann er, die Leinen und den Stoff zu sich heranzuziehen. Er stellte fest, daß er dicht neben einer Ansammlung von Lagerhallen am Südrand des Raumhafens gelandet war. Es war die mächtige Silhouette eines solchen Gebäudes gewesen, die sich eben zwischen Tennyson und die Lichter des Raumhafens geschoben hatte. Nein, das Glück hatte ihn noch nicht verlassen. Der Zufall hatte ihm einen ausgezeichneten Landeplatz beschert, er hätte sich keinen besseren vorstellen können. Inzwischen hatten sich seine Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt. Er bemerkte, daß er sich dicht an einer Ladestraße zwischen den Hallen befand. Die Lagerhallen standen auf kurzen Säulen. Zwischen den Hallenböden und der ge14
stampften Erde war ein schmaler Zwischenraum, eine Handbreit vielleicht. Dort konnte er seinen Fallschirm vielleicht verstecken. Er konnte ihn zu einem Bündel zusammenrollen und ihn so tief unter die Halle stopfen, wie sein Arm reichte. Wenn er einen Stock fand, konnte er ihn noch tiefer hineinstoßen. Es würde schon genügen, wenn er so gut verborgen war, daß er nicht zufällig von einem Lagerarbeiter entdeckt wurde. Tennyson hatte befürchtet, daß er ein Loch graben oder ein Gebüsch suchen müßte, um den Fallschirm zu verstecken. In den nächsten Tagen durfte der Schirm nicht entdeckt werden. In dem Versteck unter der Lagerhalle wurde er wahrscheinlich in den nächsten Jahren nicht gefunden. Jetzt, dachte Tennyson, muß ich ein Schiff finden und mich irgendwie an Bord schleichen. Vielleicht konnte er ein Besatzungsmitglied bestechen, das sollte nicht zu schwierig sein. Die meisten Schiffe, die in Wansttritt landeten, hauptsächlich waren es Frachter, steuerten diesen Hafen lange Zeit nicht mehr an. Einige kehrten erst nach Jahren zurück, andere nie. Wenn Tennyson erst einmal auf einem Schiff war, dann war er in Sicherheit. Wenn nicht jemand den Schirm fand, mußte jedermann glauben, daß der Doktor mit dem Schweber untergegangen war. Nachdem der Schirm sicher verstaut war, löste Tennyson die Arzttasche von seinem Körper, nahm sie in die Hand und ging die Straße zwischen den Warenhäusern entlang. Dort, wo die Straße auf das Landefeld stieß, blieb er stehen. Zu seiner Rechten, nicht weit entfernt, stand ein Schiff auf dem Feld. Der Laufsteg war herabgelassen, und eine lange Schlange von Leuten – die meisten waren Fremde unterschiedlicher Rassen – wurde von rattenartigen Kreaturen die schmale Planke hinaufgetrieben. Die Schlange der fremden Wesen reichte bis weit auf das Landefeld hinaus, und die Rattenkreaturen schrien auf die Reihe der Wartenden ein, sie drohten ihnen mit Knüppeln und trieben sie zur Eile an. 15
Das Schiff würde sicher bald starten, sagte sich Tennyson. Er fragte sich, was für eine Art Schiff das sein mochte. Passagierlinien steuerten diesen Hafen nur selten an, und das Fahrzeug sah nicht nach einem Linienschiff aus. Es war eine verbeulte alte Blechschüssel, rauchgeschwärzt und unansehnlich. Über dem Einstieg war ein Name aufgemalt, aber es dauerte eine Zeitlang, bis Tennyson ihn entziffern konnte, denn die Farbe war teilweise abgeblättert und von Rostflecken durchsetzt. WANDERGESELL, so hieß das Schiff. Dem Fahrzeug fehlte jede Eleganz. Ein Reisender mit einem Fünkchen Selbstachtung würde es niemals betreten, doch während Tennyson es mit leichtem Unbehagen betrachtete, erinnerte er sich daran, daß er es sich nicht leisten konnte, wählerisch zu sein. Das Schiff war fast startbereit, und das war wichtiger als sein Aussehen. Wenn Tennyson es schaffte, sich an Bord zu schleichen, dann durfte er froh sein. Wenn sein Glück ihn jetzt nur nicht im Stich ließ …! Tennyson trat aus dem Schatten der Lagerhallen. Wo die Front der Halle zu seiner Rechten endete, fiel ein roter Lichtschein auf die Straße, die um das Landefeld führte. Vorsichtig ging Tennyson näher an das Licht heran und sah, daß es aus einer kleinen Kneipe kam. Am Fuß des Laufstegs war einige Unruhe entstanden. Ein spinnenartiges Wesen, das nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien, war mit einer Rattenkreatur aneinandergeraten. Tennyson beobachtete, wie das Spinnenwesen wieder in die Reihe gestoßen wurde. Eine Rattenkreatur blieb mit einem Knüppel an seiner Seite und achtete darauf, daß es nicht noch einmal aus der Schlange ausscherte. Die Straße vor dem Lagerhaus lag im tiefen Schatten eines Vordaches, und Tennyson huschte rasch an der Front der Lagerhalle vorbei. An ihrem Ende blieb er stehen und beobachtete die Kneipe. Am sichersten würde es sein, sagte er sich, wenn er 16
hinten an der Kneipe vorbeischlich und sich dann in einem Bogen dem Schiff näherte. Vielleicht konnte er sich unter dem Rumpf des Schiffes verbergen und in einem unbeobachteten Augenblick den Laufsteg hinaufrennen. Die Schlange der Passagiere war kürzer geworden. Ihr hinteres Ende hatte den Fuß des Laufstegs bereits erreicht. In wenigen Minuten würde die Einschiffung beendet sein. Vermutlich würde das Schiff nicht unmittelbar darauf starten, aber Tennyson hatte das Gefühl, daß Eile geboten war. Er entschloß sich, einfach an der Vorderseite der Kneipe vorbeizugehen. Zügig und selbstbewußt, so als ob er zum Raumhafen gehörte. Wenn ihn überhaupt jemand sah, würde er gewiß nicht auf ihn achten. Das Spinnenwesen war inzwischen im Schiff verschwunden, und die Rattenkreaturen standen am unteren Ende der Planke. Tennyson ging auf die Kneipe zu. Hinter der Fassade des Lokals lag die Straße wiederum im Schatten eines Lagerhauses. Wenn er es bis dorthin schaffte, ohne angesprochen zu werden, dann konnte er wahrscheinlich das Schiff erreichen. Auf einem Provinzhafen wie diesem gab es kaum ernsthafte Kontrollen. Jetzt ging er an der Fassade der Kneipe vorbei. Er schaute in eines der Fenster, durch die das Licht nach draußen fiel und entdeckte eine Art Kleiderständer neben der Tür. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit, und er hielt mitten im Schritt inne. Auf dem Ständer hing eine blaue Uniformjacke, auf die rechte Brustseite war mit einem Goldfaden das Wort WANDERGESELL aufgestickt. Über der Jacke hing an einem Haken die dazugehörige Mütze. Einer plötzlichen Eingebung folgend, stieß Tennyson die Tür zu dem kleinen Lokal auf und trat ein. Fremdrassige und Menschen saßen in bunt zusammengewürfelten Gruppen an runden Tischen im Gastraum, ein paar Matrosen lehnten an der Theke. Der Wirt war beschäftigt. Einige Gäste hoben die Köpfe und 17
warfen einen kurzen Blick auf den Neuankömmling, dann wandten sie sich wieder ihrer jeweiligen Beschäftigung zu. Blitzschnell packte Tennyson Jacke und Mütze. Dann stand er wieder auf der Straße, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen wartete er darauf, daß hinter ihm Stimmen laut wurden. Doch nichts rührte sich. Er stülpte sich die Mütze auf den Kopf und schlüpfte in die Jacke. Alle Passagiere waren vom Laufsteg verschwunden, offensichtlich war die Einschiffung abgeschlossen. Am Fuß der Planke stand eine einzelne Rattenkreatur. Mit festen schnellen Schritten ging Tennyson quer über das Landefeld auf das Schiff zu. Natürlich war es möglich, daß die Rattenwache ihn zur Rede stellte, aber Tennyson rechnete nicht damit. Jacke und Mütze waren eine ausgezeichnete Verkleidung. Höchstwahrscheinlich würde die Wache ihn nicht als Fremden erkennen. Die meisten Menschen konnten Angehörige einer fremden Rasse nicht auseinanderhalten, für sie sahen alle gleich aus. Ähnliches galt für die fremden Wesen, die ihrerseits kaum einen Menschen vom anderen unterscheiden konnten. Tennyson hatte den Laufsteg erreicht. Das Rattenwesen grüßte nachlässig. „Guten Abend, Sir“, sagte es. „Der Captain hat schon nach Ihnen gefragt.“
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2 Nachdem einige Zeit verstrichen war, entdeckte ein Besatzungsmitglied Tennyson in dem engen Einbauschrank, in den er sich verkrochen hatte. Das Rattenwesen zerrte ihn hinaus und schleppte ihn zum Captain, der allein in der Kommandozentrale saß. Er hatte es sich in einem der drei Sessel bequem gemacht. Im Augenblick gab es nichts zu tun, das Schiff flog mit automatischer Steuerung. „Was haben wir denn da?“ fragte der Captain. „Blinder Passagier“, antwortete der Matrose. „Hab’ ihn in einem Schrank in der Back entdeckt.“ „Okay“, sagte der Captain. „Lassen Sie ihn hier. Sie können gehen.“ Der Nager wandte sich ab. Er hatte Tennysons Tasche noch in den Krallen. „Geben Sie mir die Tasche!“ knurrte der Captain. „Und dann scheren Sie sich endlich raus!“ Die Ratte gab ihm die Tasche in die Hand und lief eilig davon. Der Captain untersuchte sorgfältig den Inhalt des kleinen Koffers, dann hob er den Kopf und sagte: „Soso, Jason Tennyson, praktischer Arzt.“ Tennyson nickte. „Ja, ich bin Arzt.“ Der Captain stellte die Tasche neben sich auf den Boden. „Gelegentlich kommt es vor, daß wir einen blinden Passagier finden, aber ein Doktor war noch nie darunter. Also, Herr Doktor, erzählen Sie mir, wie Sie hierhergekommen sind!“ „Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Tennyson, „ich will Sie nicht damit langweilen.“ „Sie müssen seit Stunden in dem Schrank gesteckt haben“, stellte der Captain fest. „Ich nehme an, Sie haben sich in 19
Wansttritt an Bord geschlichen. Warum haben Sie so lange gewartet?“ „Ich wollte gerade herausklettern“, erwiderte Tennyson. „Ihr pelziger Freund ist mir zuvorgekommen.“ „Das ist nicht mein Freund!“ „Entschuldigung“, sagte Tennyson. „Hier draußen trifft man nicht viele Menschen“, erklärte der Captain. „Je weiter man hinausfliegt, desto seltener werden sie. Ich benötige dieses Gesindel, um mein Schiff zu bemannen. Und ich muß ganze Ladungen von anderem Abschaum nach Nirgendsend befördern, und …“ „Nirgendswas?“ „Nirgendsend. Das ist unser Ziel. Sagen Sie mir nicht, daß Sie nicht dorthin wollen!“ „Bis zu diesem Augenblick habe ich noch nie davon gehört“, antwortete Tennyson. „Dann ging es Ihnen wohl nur darum, Wansttritt so schnell wie möglich zu verlassen?“ „Gut geraten, Captain.“ „Sie haben dort wohl Ärger gehabt?“ „Ich bin um mein Leben gelaufen.“ „Und einfach ins erstbeste Schiff gestiegen, das startklar war?“ Tennyson nickte. „So setzen Sie sich doch hin, Mann“, forderte ihn der Captain auf. „Stehen Sie doch nicht so steif herum. Möchten Sie etwas trinken?“ „Das wäre nicht schlecht“, antwortete Tennyson. „Ja, ich könnte einen Drink vertragen.“ „Sagen Sie mir, hat Sie jemand gesehen, als Sie ins Schiff geschlichen sind?“ fragte der Captain. „Ich glaube nicht.“ „Sind Sie sicher?“ „Ja, also, ich bin in einer Kneipe am Raumhafen gewesen. 20
Als ich sie wieder verließ, hatte ich aus Versehen eine falsche Jacke und Mütze an. Ich glaube, ich hatte es sehr eilig. Das muß wohl der Grund für den Irrtum gewesen sein.“ „Jetzt weiß ich endlich, was mit Jenkins’ Uniform geschehen ist. Jenkins ist mein erster Maat.“ „Ich werde ihm die Sachen zurückgeben“, versprach Tennyson. „Sie sind noch im Schrank.“ „Ich finde es seltsam, daß Sie unser Reiseziel nicht vorher in Erfahrung gebracht haben. Offenbar wollen Sie doch gar nicht nach Nirgendsend.“ „Ich wollte einfach nur von Wansttritt fort“, antwortete Tennyson. „Sie waren hinter mir her. Nun ja, vielleicht auch nicht, aber ich hatte das Gefühl, daß sie hinter mir her waren.“ Der Captain griff nach der Flasche, die vor ihm auf dem Tisch stand und reichte sie Tennyson. „Ich werde Ihnen etwas sagen, mein Herr“, begann er. „Die Vorschriften verlangen von mir, daß ich Ihnen die Transportbestimmungen vorlese. Dort steht in Artikel Neununddreißig, Abschnitt Acht, daß jeder blinde Passagier in Haft genommen werden muß. Danach muß er, so schnell es die jeweiligen Umstände zulassen, zu dem Hafen zurückgebracht werden, wo er sich an Bord geschlichen hat. Er ist den Hafenbehörden zu übergeben. Solange er sich an Bord befindet, hat er alle Arbeiten auszuführen, die ihm vom Captain aufgetragen werden. Auf diese Weise kann er einen Teil der Transportkosten abarbeiten. Sind Ihnen diese Bestimmungen bekannt, Sir?“ „In etwa“, antwortete Tennyson. „Ich weiß, es ist verboten, als blinder Passagier zu reisen. Aber ich muß Ihnen erklären …“ „Für mich ergibt sich allerdings noch ein Aspekt, den ich bedenken muß“, fuhr der Captain fort. „Gerade weil ich ständig bis zu den Knien in diesem fremden Abschaum stecke, habe ich das Gefühl, daß Menschen unter allen Umständen zusammen21
halten sollten. Es gibt nicht viele von uns hier draußen, und wir sollten einander unterstützen. Dabei kann man ruhig einmal die Vorschriften außer acht lassen …“ „Ihre Einstellung gefällt mir sehr“, unterbrach ihn Tennyson. „Es gibt etwas, das ich Ihnen sagen möchte. Bisher hatte ich einfach noch keine Gelegenheit dazu: Also, Sir, ich bin kein blinder Passagier.“ Der Captain sah ihn aus seinen stahlblauen Augen scharf an. „Dann sagen Sie mir, was Sie sind. Wenn Sie kein blinder Passagier sind, was sind Sie dann?“ „Nun, vielleicht könnten wir uns darauf einigen, daß ich unter ungeheurem Zeitdruck stand“, antwortete Tennyson. „Ich hatte nicht die Zeit, um auf offiziellem Weg eine Reise zu buchen. Meine Gründe hierfür habe ich angedeutet. Ich durfte Ihr Schiff auf keinen Fall verpassen, darum habe ich mich auf eine etwas unorthodoxe Weise an Bord begeben, wobei mir der Umstand zugute kam, daß eines Ihrer Besatzungsmitglieder mich für den ersten Maat gehalten hat. Und …“ „Aber Sie haben sich versteckt.“ „Das ist leicht zu erklären: Ich mußte befürchten, Sie würden mir nicht genügend Zeit geben, um meine Situation zu erklären, sondern mich sofort von Bord werfen lassen. Darum also hielt ich mich so lange versteckt, bis ich sicher sein konnte, daß Sie auf jeden Fall Ihre Fahrt fortsetzen würden.“ „Wollen Sie damit andeuten, Sie hätten vor, Ihre Reise nachträglich zu bezahlen?“ „Aber gewiß. Sie brauchen mir nur den Preis zu nennen.“ „Das tue ich nur zu gern“, sagte der Captain. „Aber Sie können versichert sein, daß ich Ihnen genau den regulären Tarif in Rechnung stelle.“ „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir.“ „Dr. Tennyson“, drängte der Captain, „nun trinken Sie doch endlich einen Schluck. Sie haben die Flasche ja noch immer 22
nicht angerührt. Es macht mich allmählich nervös, wenn ich sehe, wie Sie dauernd an ihr herumfingern, ohne sie an die Lippen zu setzen.“ „Das tut mir leid, Captain. Ich wollte Sie nicht nervös machen.“ Tennyson hob die Flasche, nahm einen kräftigen Schluck und stellte sie auf den Tisch zurück. „Ausgezeichnet!“ sagte er. „Was für ein Getränk ist das?“ „Es ist ein Gebräu, das man Scotch nennt“, erklärte der Captain. „Man hat es schon auf Mutter Erde zu schätzen gewußt.“ „Auf der alten Erde, meinen Sie?“ „Ja, die meine ich. Die Heimatwelt aller Menschen!“ „Ich interessiere mich sehr für die alte Erde. Sind Sie schon einmal dort gewesen?“ Der Captain schüttelte den Kopf. „Wenige Menschen haben je Ihren Fuß auf den heiligen Boden gesetzt. Wir sind weit über das ganze Weltall verstreut; immer wieder nehmen wir uns vor, einmal die alte Mutter zu besuchen, aber wenige von uns schaffen es.“ „Jaja“, nickte Tennyson. Er setzte die Flasche wiederum an die Lippen. „Um auf Ihre Reise zurückzukommen“, begann der Captain. „Ich fürchte, ich habe keinen Platz für Sie. An Bord gibt es nur wenige Kabinen, und die sind alle überfüllt. Sogar mein eigenes Quartier ist an eine Bande schuppiger Teufel vermietet, die nach Nirgendsend pilgern. Wenn die Fahrt zu Ende ist, muß ich die Kabine erst einmal ausräuchern, bevor ich sie wieder in Besitz nehmen kann. Es kann Jahre dauern, bis der Gestank endlich verflogen ist.“ „Warum lassen Sie sie dann überhaupt hinein?“ „Wegen des Geldes“, antwortete der Captain. „Gerade dieses Gesindel ist ekelhaft reich. Natürlich will es die besten und komfortabelsten Unterkünfte haben, Geld spielt überhaupt keine Rolle. Also bekommen sie, was sie verlangen, dafür zahlen 23
sie den dreifachen Preis. In letzter Zeit denke ich allerdings häufig, daß ich meine Geldgier eines Tages bereuen werde. Jetzt teile ich mir mit dem Maat dessen Kabine. Wir benutzen sie abwechselnd. Der Maat ißt leidenschaftlich gern Knoblauch. Er glaubt, daß er ihn gesund erhält. Ich benutze seine Koje nur dann, wenn ich vor Müdigkeit umfalle.“ „Ist der Maat der einzige andere Mensch an Bord?“ „Normalerweise ja. Dann sind wir beide allein. Die Mannschaft besteht ausschließlich aus diesen Rattenwesen, die Sie bereits gesehen haben, und anderen unappetitlichen Kreaturen. Die Kabinen und Massenunterkünfte sind von diesen widerwärtigen Pilgern überfüllt.“ „Wenn Sie alle Fremden so sehr hassen, warum betreiben Sie dann überhaupt dieses Geschäft. Mit Frachtgut könnten Sie doch sicher auch etwas verdienen?“ „Fünf Jahre mache ich das noch mit“, antwortete der Captain. „Fünf Jahre sind genug. Im Frachtgeschäft ist nicht viel Geld zu holen. Diese Pilger zu befördern, das bringt etwas ein, auch wenn es einem auf den Magen schlägt. Fünf Jahre werde ich es gerade noch aushalten können. Dann werde ich genug Geld verdient haben, um mich zurückzuziehen. Es gibt da einen rosigen Planeten, er heißt Apfelblüte. Es ist zwar ein alberner Name, ich weiß, aber er paßt genau zu dieser Welt. Sind Sie schon einmal auf einem rosaroten Planeten gewesen, Doktor? Es gibt nicht viele von dieser Art.“ „Nein, ich habe noch nie einen gesehen.“ „Schade“, sagte der Captain. Von der offenen Tür erklang ein leises Klopfen. Der Captain fuhr in seinem Sessel herum. „Da sind Sie ja, meine Liebe“, sagte er erfreut. Auch Tennyson drehte sich um. Eine Frau stand in der Türöffnung. Sie war kräftig gebaut, mit breiten Schultern und Hüften. Ihre Augen blinzelten fröhlich aus einem ausdrucksvollen 24
Gesicht. Ihr Mund war voll und weich, ihr Haar wie ein goldener Strahlenkranz. „Kommen Sie doch bitte herein“, sagte der Captain. „Wie Sie sehen, haben wir einen neuen Passagier. Vier Menschen auf einer einzigen Fahrt. Ich glaube, das ist ein neuer Rekord.“ „Wenn ich nicht störe …“, sagte sie. „Sie stören nie“, versicherte der Captain. „Ihre Anwesenheit ehrt uns. Jill Roberts, dies ist Dr. Tennyson. Dr. Jason Tennyson.“ Sie hielt Tennyson die Hand entgegen. „Ich freue mich, einen anderen Menschen zu treffen. Wo haben Sie sich denn versteckt gehalten?“ Tennyson zuckte zusammen. Die Frau hatte den Kopf gedreht und ihm die andere Wange zugewandt. Quer über diese Wange, von der Schläfe bis zum Unterkiefer, zog sich ein wulstiger, brandroter Strich. „Es tut mir leid, Doktor“, sagte sie. „Aber so sehe ich nun einmal aus. Damit erschrecke ich meine Freunde schon seit Jahren.“ „Bitte, verzeihen Sie mir!“ stammelte Tennyson. „Für meine Reaktion gibt es keine Entschuldigung. Gerade als Arzt …“ „Es gibt nichts, was ein Arzt dagegen tun könnte. Sie läßt sich operativ nicht entfernen. Ich muß damit leben. Ich habe gelernt, damit zu leben.“ „Miß Roberts schreibt“, bemerkte der Captain beiläufig. „Artikel für Zeitschriften und eine Menge Bücher.“ „Wenn die Flasche nicht in Ihrer Hand festgewachsen ist“, wandte sich Jill Roberts an Tennyson, „wie wäre es dann, wenn Sie sie für eine Sekunde losließen?“ „Gewiß“, versicherte Tennyson, „sofort! Ich will sie nur rasch abwischen.“ Er rieb mit dem Hemdärmel über den Flaschenhals. „Auf dieser Nußschale scheint es keine Gläser zu geben“, 25
sagte Jill Roberts. „Aber das macht mir nichts aus. Mit jemandem aus einer Flasche zu trinken, ist eine nette Art, Bakterien auszutauschen.“ Sie ergriff die Flasche und setzte sich in den freien Sessel. „Wo sind Sie denn untergekommen?“ fragte sie Tennyson. „Mir fällt ein, daß der Captain gesagt hat, alle Kabinen seien überfüllt. Er hat Sie doch nicht im Frachtraum mit diesem fremden Volk zusammengesperrt?“ „Dr. Tennyson ist sehr spät gekommen“, erwiderte der Captain kühl. „Ich habe wirklich keinen Platz mehr für ihn. Seine Ankunft war etwas überraschend.“ Sie hob die Flasche an die Lippen und sah Tennyson fragend an. „Ist das wahr?“ fragte sie. Tennyson grinste. „Der Captain versucht höflich zu sein. Eigentlich bin ich nämlich ein blinder Passagier. Was nun meine Unterkunft angeht, darüber braucht sich niemand den Kopf zu zerbrechen. Ich bin mit jedem Eckchen zufrieden. Ich bin glücklich, daß ich überhaupt an Bord bin.“ „Jetzt hat er ein wenig übertrieben“, warf der Captain ein. „Er hat sich an Bord geschlichen, das stimmt. Aber nun will er für die Fahrt bezahlen. Also ist er eigentlich kein blinder Passagier mehr.“ „Sie müssen ja halb verhungert sein“, sagte Jill zu Tennyson. „Es sei denn, Sie haben sich ein paar Brote mit an Bord gebracht.“ „Bisher habe ich noch gar nicht daran gedacht“, antwortete Tennyson. „Irgendwie war ich zu abgelenkt, doch jetzt, wo Sie davon sprechen … Ich könnte schon ein Steak gebrauchen.“ „Auf diesem Pott gibt es keine Steaks“, versetzte Jill. „Aber sicher wird sich irgend etwas finden, womit Sie sich den Magen füllen können. Was meinen Sie, Captain?“ „Das läßt sich machen. Ich werde mal schauen, ob wir für Sie noch etwas übrig haben.“ 26
Jill stand auf und klemmte sich die Flasche unter den Arm. „Schicken Sie das Essen in meine Kabine“, sagte sie zum Captain. Dann wandte sie sich an Tennyson. „Na, nun kommen Sie schon mit! Wir werden Sie waschen und Ihnen die Haare kämmen. Vielleicht kann man dann erkennen, wie Sie wirklich aussehen.“
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3 „Zunächst wollen wir einmal die Grundregeln festlegen“, sagte Jill. „Nachdem wir uns erst seit so kurzer Zeit kennen, habe ich nicht vor, mit Ihnen ins Bett zu steigen. Aber ich werde das Bett mit Ihnen teilen. Ich sollte wohl besser sagen, die Koje, denn von einem Bett kann man nicht sprechen. Wie der Captain und der Maat werden wir abwechselnd darin schlafen. Sie können das Klo mitbenutzen – ich glaube, auf Schiffen wie diesem nennt man es das Loch. Wir werden die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, und wir können miteinander plaudern oder uns meine Musikkristalle anhören. Ein paar kleinere Zudringlichkeiten kann ich ignorieren, denn ich habe ein ausgeglichenes Naturell und bin gutmütiger, als es gut für mich ist. Aber wenn Sie zu nervtötend werden, werde ich Sie an die Luft setzen.“ „Ich werde mich zusammennehmen“, versicherte Tennyson, „auch wenn es mir sicherlich nicht immer leichtfallen wird. Ich fühle mich fast wie ein streunender Hund, den jemand aufgelesen hat.“ Er benutzte die letzte halbe Brotscheibe, um die Soße von seinem Teller zu wischen. „Bei meinem gewaltigen Hunger hat mir das Essen ausgesprochen gut geschmeckt“, erklärte er. „Aber ich fand, daß es einen seltsamen Beigeschmack hatte. Offensichtlich war es irgendein Fleischeintopf, aber was war darin?“ „Stellen Sie nicht solche Fragen“, antwortete sie. „Schließen Sie einfach die Augen, und schlucken Sie. Hin und wieder ist es hilfreich, wenn man sich die Nase zuhält, allerdings müssen Sie dann darauf achten, daß Sie nicht ersticken. Hier hält sich ein hartnäckiges Gerücht. Wenn einer der Pilger stirbt, was übrigens nicht selten geschieht, da sie so eng im Laderaum zusammengepfercht sind, dann …“ 28
Er winkte hilflos mit der Hand. „Bitte, Miß Roberts, ersparen Sie mir den Rest. Mein Körper braucht das Essen, und ich würde es gern bei mir behalten.“ „Ich hätte nicht gedacht, daß man als Doktor einen so empfindlichen Magen haben kann.“ „Doktoren sind auch nur Menschen, meine Liebe“, erwiderte er. „Nun stellen Sie doch endlich den Teller weg“, forderte sie ihn auf. „Sie haben ihn ja bereits blitzblank gewischt. Ich habe hier immer noch die Flasche des Captains …“ „Das habe ich bemerkt. Sie sind einfach damit hinausmarschiert.“ „Sie gehört dem Captain gar nicht. Er mopst sie aus dem Laderaum, und der Empfänger schaut in die Röhre. Auf jeder Fahrt schafft er mehrere Kästen beiseite. Es ist eine Sonderbestellung für die Gnome vom Projekt Papst.“ „Gnome vom Projekt Papst? Was sind das für Gnome, und was hat es mit diesem Projekt auf sich?“ „Wollen Sie etwa behaupten, Sie wüßten das nicht?“ „Ich habe keinen Schimmer“, erwiderte er. „Also, ich glaube nicht, daß es sich wirklich um Gnome handelt, auch wenn sie häufig so genannt werden. In Wirklichkeit sind es Menschen, die meisten allerdings sind Roboter.“ „Jetzt bin ich so schlau wie zuvor“, sagte Tennyson. „Wovon reden Sie eigentlich? Für mich klingt das alles sehr geheimnisvoll und …“ „Das müssen Sie gerade sagen!“ versetzte sie. „Sie sind doch selbst von Geheimnissen umgeben. Der Captain sagt, Sie hätten sich an Bord geschlichen, doch dann bezahlen Sie Ihre Fahrt. Doch wenn Sie tatsächlich noch nie vom Projekt Papst gehört haben, warum reisen Sie dann nach Nirgendsend. Projekt Papst ist der einzige Grund, warum man dorthin fliegen könnte.“ „Ich kann nur wiederholen“, beteuerte Tennyson, „daß ich 29
noch nie etwas von Nirgendsend oder diesem Projekt gehört hatte, bevor ich meinen Fuß auf dieses Schiff setzte. Was ist denn eigentlich mit diesem Nirgendsend los?“ „Bei Gelegenheit werde ich Ihnen all Ihre Fragen beantworten“, sagte sie. „Aber zunächst sind Sie an der Reihe. Schließlich habe ich Sie aufgenommen, und nicht umgekehrt. Also, nun genehmigen wir uns noch einen Schluck, und dann legen Sie los!“ Nacheinander nahmen sie beide einen Zug aus der Flasche. Dann entwand er sie ihrer Hand und trank ein zweites Mal. „Das Zeug ist wirklich stark“, kommentierte er. „Nun fangen Sie schon an!“ „Zunächst einmal: Ich bin wirklich Arzt.“ „Das habe ich nie bezweifelt. Ich habe einen Blick in Ihre Tasche geworfen.“ „Wissen Sie Bescheid über Wansttritt? Das ist der Planet, wo ich an Bord gekommen bin.“ Sie schauderte. „Ein widerwärtiger Ort. Allerdings war ich froh, daß ich überhaupt dorthin gekommen bin. Es war mein letzter Aufenthalt auf dem Weg nach Irgendsend. Während meiner Reise hatte es schon zu viele Unterbrechungen gegeben. Nicht im Traum hätte ich damit gerechnet, daß ich die letzte Etappe meiner Fahrt in diesem schmierigen Pott zurücklegen muß. Sie können es sich vielleicht nicht vorstellen, aber dies ist das einzige Schiff, das zwischen Wansttritt und Nirgendsend verkehrt. Unser Captain macht eine Menge Geld mit diesen Pilgerfahrten.“ „Überhaupt, diese Pilger …?“ „Geben Sie es auf! Zuerst erzählen Sie von Wansttritt, dann berichte ich von Gnomen, Päpsten und Pilgern.“ „Meine Geschichte ist schnell erzählt, Jill“, begann Tennyson. „Ich darf Sie doch duzen und Jill sagen? Also, vielleicht hast du schon gehört, daß Wansttritt eine Feudalwelt ist. Eine 30
Menge kleiner Lehensgüter, die von üblen Gestalten regiert werden. Zum Teil sind es Menschen, zum größten Teil nicht. Ich war Hofarzt beim Markgrafen von Daventry. Der Graf war ein Mensch, wie du dir denken kannst. Ein menschlicher Arzt, der menschliche Medizin studiert hat, kann einem Lehensherren fremder Rassen wenig nützen. Es war nicht gerade ein Traumjob, doch ich war glücklich, ihn bekommen zu haben. Wenn man als junger Arzt frisch von der Universität kommt, hat man enorme Startschwierigkeiten. Es sei denn, man verfügt über genügend Geld, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Ich hatte natürlich kein Geld, und leider gab es gerade keine Krankenhäuser, die nach einem erfolgversprechenden jungen Talent Ausschau hielten. Eine eigene Praxis schied, wie gesagt, aus – außerdem kann man auch in einer Praxis verhungern, wenn keine Patienten kommen. Nachdem ich den ersten Schrecken bei meiner Ankunft auf Wansttritt überwunden hatte, begann ich, mich an diese Welt zu gewöhnen. Nach einer gewissen Zeit kann man sich auch an einen schmerzenden Zahn gewöhnen, weißt du. Also blieb ich da. Meine Entlöhnung war üppig, mir erschien sie geradezu fürstlich. Der Markgraf war kein übler Kerl. Aber auch kein Unschuldslamm. Wir kamen einigermaßen miteinander aus. Plötzlich fiel es dem Burschen ein, einfach den Löffel abzugeben. Ohne Vorwarnung! Fällt um und ist tot. Herzattacke, nehme ich an. Allerdings war mir nie aufgefallen, daß er ein schwaches Herz hatte. Ich bekam keine Gelegenheit, seine genaue Todesursache festzustellen und …“ „Aber man konnte dich doch nicht für seinen Tod verantwortlich machen. Es war nicht deine …“ „Du kennst dich eben nicht mit den Sitten und Gebräuchen in einem Feudalsystem aus“, sagte er. „Das ist eine Wolfsmeute, die von einem Mann in Schach gehalten wird. Wenn er die Leinen losläßt, dann springen sie sich gegenseitig an die Kehlen. 31
Ich habe versucht, mich aus der Politik herauszuhalten, aber ich war der inoffizielle Ratgeber des Markgrafen; das hat mir natürlich viele Neider geschaffen. Sofort hieß es überall, der Markgraf wurde umgebracht. Ich wartete nicht mehr ab, bis sich das Gerücht noch weiter ausbreitete, sondern machte mich auf den Weg. Schließlich verfügte ich über keine Hausmacht, auf die ich mich stützen konnte. Ich wäre zwischen alle Fronten geraten. Also holte ich mein sauer Erspartes aus seinem Versteck. Ich hatte mir einiges auf die Seite gelegt und von Anfang an darauf geachtet, daß sich mein Vermögen leicht transportieren ließ. Dann stahl ich einen Schweber und machte mich mit Höchstgeschwindigkeit aus dem Staube. Es wurde gerade dunkel, und ich flog so tief, daß mich das Radar nicht erwischen konnte. Ich wußte, auf dem ganzen Planeten gab es keinen einzigen sicheren Ort mehr für mich …“ „Also hast du den Raumhafen angesteuert?“ „Genau. Ich wußte, mir blieb nicht viel Zeit. Die Burschen saßen mir im Nacken, davon hatte ich auszugehen. Also mußte ich so schnell wie möglich ein Schiff finden. Am besten eines, das den Hafen schon verlassen hatte, wenn die Meute dort eintraf.“ „Das ist also die Geschichte?“ „Ja, das ist alles“, antwortete er. „Was mir jetzt am meisten Sorge bereitet, ist der Captain. Ich mußte ihm allerhand erzählen. Vielleicht hätte ich besser gelogen, aber ich hatte nicht genügend Zeit, um mir eine plausible Lüge auszudenken und …“ Sie schüttelte den Kopf. „Über unseren liebenswerten Captain brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Wenn man ihn ausfragt, wird er sagen, daß er nie etwas von dir gehört hat. Er will nämlich keinen Ärger haben. Er freut sich, daß er dieses hübsche Monopol auf Nirgendsend hat, und er will es nicht verlieren. Für ihn ist das eine Goldgrube. Er stopft sich das Schiff 32
mit Pilgern voll, lädt sie in Nirgendsend ab und fliegt mit den Pilgern nach Wansttritt zurück, die er auf der vorhergehenden Reise hinbefördert hat.“ „Sie kommen alle aus Wansttritt? Ich habe noch nie gehört, daß es dort Pilger gibt.“ „Wahrscheinlich stammt keiner von ihnen direkt aus Wansttritt. Wansttritt ist nur der Abflughafen für Nirgendsend. Sie kommen aus allen Teilen der Galaxis, von überallher reisen sie an, sammeln sich in Wansttritt und warten auf das nächste Schiff nach Nirgensend. Unser Captain treibt sie dann zusammen und schafft sie zum Projekt Papst.“ „Du bist kein Pilger, oder?“ „Seh ich vielleicht wie einer aus?“ „Nein, eigentlich nicht. Wie wäre es, wenn du mir die Flasche für einen Augenblick leihen würdest?“ Sie gab ihm die Flasche. „Alles über Nirgendsend kann ich dir auch nicht erzählen“, sagte sie. „Ich fahre dorthin, um es mir genauer anzusehen. Ich hoffe allerdings, daß ich Material für mehrere Artikel zusammenbekomme, vielleicht sogar für ein Buch.“ „Irgendeine Vorstellung von diesem Planeten wirst du schon haben, und das ist immerhin mehr als ich habe.“ „Eigentlich kenne ich nur ein paar Gerüchte. Es sind unterschiedliche Geschichten im Umlauf. Vielleicht ist nichts davon wahr, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Irgend etwas geht da draußen vor, wozu würden sonst die Pilger dorthin reisen? Zunächst habe ich herauszufinden versucht, woher die Pilger kommen, aber das führte zu nichts. Ihre Herkunftswelten geben keine Aufschlüsse. Die Pilger kommen von überallher, von den unterschiedlichsten Planeten. Es sind keine Menschen darunter, ausschließlich Fremdrassen. Ob nur Angehörige von bestimmten Rassen nach Nirgendsend pilgern, weiß ich nicht genau. Offenbar gehören sie alle irgendwelchen Kulten und bizarren 33
Sekten an. Vermutlich hat jede dieser Sekten einen eigenen Glauben, falls man es einen Glauben nennen kann, aber alle haben eines gemeinsam: Sie haben mit diesem Papst-Projekt zu tun. Das muß nicht unbedingt heißen, daß sie genau über das Projekt Bescheid wissen, sie vertrauen jedoch voll darauf. Alle diese Kreaturen suchen etwas, woran sie glauben können. Sie stürzen sich auf alles, was geheimnisvoll und bombastisch ist. Das ist nichts Besonderes, das hat es schon immer gegeben. Seltsam ist nur, daß bei diesem Projekt Menschen ihre Hand im Spiel zu haben scheinen. Zum Beispiel findet das Projekt an einem Ort statt, der als Vatikan-17 bezeichnet wird, und …“ „Moment mal“, unterbrach sie Tennyson. „Das klingt allerdings nach Menschenwerk. Auf der Erde hat es einmal einen Vatikan gegeben …“ „Es gibt ihn immer noch“, sagte sie. „Er ist das Zentrum des römisch-katholischen Glaubens. Diese Religion existiert bis heute auf der Erde und einigen anderen Planeten. Noch immer ist der Papst ihr Oberhaupt. Der Glaube ist sehr lebendig geblieben, vielleicht ist er heute stärker denn je. Aber ich bezweifle, daß Vatikan-17 etwas mit dem Vatikan auf der alten Erde zu tun hat. Vielleicht ist der Name nur eine Anspielung. Da sind zum Beispiel diese Roboter …“ „Was haben denn Roboter mit einer Religion von der alten Erde zu tun?“ „Das weiß ich nicht, und ich glaube auch nicht, daß es sich tatsächlich um eine Erdenreligion handelt. Jemand, möglicherweise die Roboter, hat sich die Terminologie ausgeliehen …“ „Die Roboter?“ „Ich weiß, das klingt seltsam. Das hat mich ja gerade neugierig gemacht.“ „Warum findet das Ganze gerade auf Nirgendsend statt?“ „Nirgendsend liegt ganz am Rande der Milchstraße“, antwor34
tete sie. „Es gibt nicht viele Randsterne, und wiederum nur sehr wenige davon besitzen Planeten. Viel leeren Raum gibt es dort, wo das Nichts zwischen den Galaxien beginnt. Über den Planeten selbst weiß ich nicht viel. Er soll erdähnlich sein. Menschen haben keine Schwierigkeiten mit den allgemeinen Lebensbedingungen. Dieses Schiff braucht einen Standardmonat für die Fahrt. Ich weiß nicht, der wievielfachen Lichtgeschwindigkeit das entspricht. Der alte Kasten ist mit einem Trägheitsantrieb ausgestattet, den man in einem solchen Wrack gar nicht vermuten würde. Die Reise ist nicht sehr gefährlich, fast die ganze Fahrt über bewegen wir uns durch den leeren Raum. Sechsmal im Jahr steuert das Schiff Nirgendsend an, das läßt darauf schließen, daß eine gewaltige Menge Pilger befördert werden. Der Captain ist mir ein Rätsel. Er könnte ebensogut ein interstellares Linienschiff kommandieren, die Qualifikation dazu hat er. Aber was tut er statt dessen? Er verfrachtet Pilger, die er nicht ausstehen kann.“ „Allerdings verdient er dabei eine Menge Geld. Er hat mir erzählt, daß er sich mit seinem Ersparten in fünf Jahren auf einem Planeten namens Apfelblüte zur Ruhe setzen kann.“ „Ja, das hat er mir auch erzählt. Das erzählt er jedem. Ich weiß nur nicht, was ich ihm davon glauben soll.“ „Vielleicht stimmt jedes Wort“, sagte Tennyson. „Die Menschen tun die seltsamsten Dinge, wenn sie sich einen Traum erfüllen wollen.“ „Jason“, sagte Jill, „ich mag dich. Weißt du, warum ich dich mag?“ „Wegen meiner Aufrichtigkeit“, erwiderte er, „wegen meiner Vertrauenswürdigkeit, meiner Menschlichkeit, meiner Leidenschaft, meiner Anständigkeit …“ „Nein, falsch geraten. Ich mag dich, weil du nicht ständig den Blick von mir abwendest, kaum daß du mich angesehen hast. Die meisten Menschen können mich nicht ansehen. Ich 35
habe mich damit abgefunden, daß ich so aussehe. Ich wünschte, andere könnten es auch.“ „Ich bemerke es kaum noch“, sagte er. „Du bist ein miserabler Lügner. Natürlich bemerkst du es. Du kannst gar nicht anders.“ „Mein erster Schreck – wenn ich es Schreck nennen darf – rührte daher, daß du sonst ein sehr schönes Gesicht hast. Von der Wange abgesehen, sind deine Gesichtszüge geradezu klassisch. Eine Seite deines Gesichtes ist ungeheuer anziehend, die andere ist entstellt.“ „Dir gelingt es sogar, darüber zu sprechen, als ob gar nichts dabei wäre“, sagte sie. „Kein Mitleid, keine besondere Anteilnahme. Als ob alles ganz normal wäre. Aber gerade das hilft mir. Du akzeptierst mich so wie ich bin. Du weißt ja nicht, was ich alles versucht habe, in wie vielen Kliniken ich gewesen bin. Immer der gleiche Befund: Kapillar-Hemangiom. Nichts zu machen. Kannst du dir vorstellen, daß mir ein Spezialist vorgeschlagen hat, eine Maske zu tragen? Eine Halbmaske sollte es sein, die die häßliche Seite meines Gesichtes abdeckt. Man könnte die Maske so formen und anpassen …“ „Du brauchst keine Maske“, sagte er. „Eine Maske hat nur jemand nötig, der nicht die Kraft hat, sich selbst zu akzeptieren.“ „Ist das wirklich Ihre Meinung, Herr Doktor?“ „Natürlich ist sie das!“ „Gib mir die Flasche“, bat sie, „darauf wollen wir trinken.“ Schweigend tranken sie einander zu. Beide nahmen einen großen Schluck. „Ich habe eine Frage“, sagte er. „Ich will nicht unbedingt das Thema wechseln, es ist nur eine praktische Frage: Wenn wir in Nirgendsend angekommen sind, wo werden wir dann wohnen? Was für Unterkünfte gibt es dort?“ „Ich habe mir ein Zimmer reserviert“, antwortete sie. „Das 36
Hotel heißt, Menschenhaus’. Ich weiß nichts Näheres darüber, nur, daß es sehr teuer ist, falls das ein Kriterium ist.“ „Wenn wir dort sind, darf ich dich dann zum Essen einladen? Gleich am ersten Abend, wenn es geht. Wir müssen so schnell wie möglich den Nachgeschmack von dieser Schiffskost loswerden.“ „Vielen Dank, mein Herr“, sagte sie. „Du bist wirklich sehr umsichtig.“
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4 Sie saßen in den drei Sesseln in der Kommandozentrale. „Sie dürfen nicht den Fehler machen, die Roboter des Papstprojektes zu unterschätzen“, warnte sie der Captain. „Das sind keine einfältigen Dienernaturen. Vielmehr handelt es sich um Elektronikmonstren von einer phantastischen Leistungsstärke. Manche Leute behaupten sogar, daß es den Robotern gelungen sei, sich selbst mit organischen Gehirnen auszustatten, doch das möchte ich bezweifeln. Das ist ein typisches Vorurteil der organischen Lebewesen. Es gibt keinen Grund, warum – beim heutigen Stand der Technik – ein technologischer Denkapparat einem menschlichen oder anderen organischen Gehirn unterlegen sein müßte. Seit Jahrhunderten haben diese Roboter an der Verfeinerung ihrer eigenen Konstruktion und Fähigkeiten gearbeitet. Sie haben sich auf vielen Gebieten erstaunlich fortentwickelt. Genau wie die Maschine eines menschlichen Erfinders, an der dieser unablässig herumtüftelt.“ „Wie kommen Sie mit den Robotern zurecht?“ fragte Tennyson. „Ich unterhalte ganz normale Kontakte zu ihnen“, erwiderte der Captain. „Die Kontakte, die mein Geschäft so mit sich bringt. Ich würde keinen Roboter als meinen Freund bezeichnen, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen.“ „Ich wollte Sie nicht ausfragen“, sagte Tennyson. „Ich bin einfach neugierig. Ich habe mich in eine Situation gebracht, die mir völlig neu sein wird. Ich möchte einfach soviel wie möglich über Nirgendsend erfahren.“ „Ich habe gehört, daß es Menschen dort gibt, die für die Roboter arbeiten“, sagte Jill. „Stimmt das?“ „Ich weiß nicht, ob die Menschen tatsächlich für sie arbeiten“, antwortete der Captain. „Vielleicht arbeiten sie zusammen. Auf jeden Fall gibt es eine ganze Menge Menschen auf 38
Nirgendsend. Aber ich bin noch nie mit ihnen zusammengetroffen. Ich verhandle nur mit den Robotern, und auch nur dann, wenn sie darauf bestehen. Projekt Papst ist eine gewaltige Unternehmung. Niemand, der nicht zum Vatikan gehört, weiß etwas Genaues darüber. Ein Gerücht besagt, daß die Roboter sich vorgenommen haben, einen unfehlbaren Papst zu erschaffen, einen elektronischen Papst, einen Computerpapst. Das Projekt scheint irgendwie aus dem Christentum hervorgegangen zu sein. Das ist eine Religion der alten Erde.“ „Ich weiß, was Christentum ist“, sagte Jill. „Es gibt immer noch eine Menge Christen, vielleicht sogar mehr denn je. Natürlich ist das Christentum heute nicht mehr so einflußreich wie zur Zeit vor dem Aufbruch ins All. Allerdings ist dieser Einfluß relativ zu sehen. Die Religion ist noch genauso wichtig wie zu allen Zeiten, ihre Bedeutung ist jedoch von den zahlreichen anderen Bekenntnissen im Kosmos verdeckt worden. Ist es nicht eigenartig, daß der Glaube ein so universelles Phänomen ist? Selbst die häßlichste Fremdrasse hat irgend einen Glauben, zu dem sie sich bekennt.“ „Nicht alle tun das“, widersprach der Captain. „Das kann man wirklich nicht sagen. Ich bin auf fremden Planeten gewesen, wo niemand je einen Gedanken an Religionen oder Glauben verschwendet hat. Und ich muß sagen, das waren nicht die schlechtesten Welten. Manchmal denke ich sogar, daß es die besten waren.“ „Einen Papst zu erschaffen, ist auf jeden Fall ein merkwürdiges Vorhaben“, sagte Tennyson. „Ich frage mich, wie die Roboter auf diesen Gedanken gekommen sind und worauf das alles hinauslaufen soll.“ „Das kann man bei Robotern nie wissen“, bemerkte der Captain. „Sie sind ein eigentümlicher Haufen. Wenn Sie erst einmal lange genug im Weltall umhergeflogen sind, dann hören Sie auf, sich darüber zu wundern, was bestimmte Leute tun, und Sie 39
fragen sich auch nicht mehr, warum sie etwas tun. Diese widerwärtigen Fremden denken auch nicht so wie wir, keiner von ihnen! Sie sind samt und sonders irrsinnige Schurken. Im Vergleich zu den meisten Fremdrassen kann man die Roboter geradezu als menschlich bezeichnen.“ „So sollte es auch sein“, sagte Jill. „Schließlich sind wir es gewesen, die sie erfunden haben. Keine andere Kultur hat etwas Ähnliches hervorgebracht, man könnte sie fast als unsere Ableger bezeichnen.“ „Da haben Sie nicht Unrecht“, stimmte der Captain zu. „Manchmal können die Roboter ganz schön verschroben sein, aber sie sind mir auch dann tausendmal lieber als jeder Alien.“ „Sie mögen wohl keine Fremden?“ stellte Tennyson fest. „Sie schmelzen auch nicht gerade vor Glück, wenn Sie einen sehen“, gab der Captain zurück. „Wer mag diesen Abschaum schon?“ „Aber dennoch heuern Sie sie für ihr Schiff an.“ „Das tue ich nur, weil ich keine Mannschaft aus Menschen zusammenbekomme. Hier draußen gibt es eben nicht genug Menschen.“ „Und Sie fliegen die Fremden nach Nirgendsend und befördern sie von dort wieder nach Wansttritt zurück.“ „Irgend jemand muß diese Arbeit ja machen“, antwortete der Captain. „Ich verdiene eine Menge Geld dabei. Ich transportiere sie, aber deswegen brauche ich sie nicht zu mögen. Es ist wahr, daß ich sie nicht ausstehen kann, das will ich gar nicht abstreiten. Und außerdem bin ich der Meinung, wir Menschen müssen zusammenhalten. Tun wir das nicht, werden wir eines Tages untergehen.“ Tennyson musterte den Captain eingehend. Der Mann war kein schäumender Fanatiker, ein sachlicher, etwas humorloser Mensch unbestimmbaren Alters. Seine Nase glich der Schneide einer Axt. Das einzige, woran er dachte, war sein Geschäft. Ein 40
eigenartiger Mann, sagte sich Tennyson. Einer dieser seltsamen Typen, denen man meist in einsamen Gegenden begegnet. Sicher fühlte sich der Captain zuweilen sehr einsam. Seit Jahren kutschierte er nun die Pilger von Wansttritt nach Nirgendsend, und während der ganzen Zeit hatte er sich nach Menschen gesehnt. So war sein Ekel vor den Passagieren immer mehr gewachsen, bis er schließlich zu einem Teil seiner Persönlichkeit geworden war. „Erzählen Sie uns ein wenig von Nirgendsend“, bat Jill. „Seit ich an Bord gekommen bin, haben wir uns immer wieder über diese Welt unterhalten, doch ich weiß bis heute nicht, wie der Planet aussieht. Zum Beispiel wüßte ich gern, ob es sich um eine Agrarwelt handelt oder …“ „Nein, es ist kein Bauernplanet“, antwortete der Captain. „Zum Projekt gehören einige Gärten und Äcker. Die Roboter arbeiten darin, sie bauen für ihre organischen Brüder Nahrung an. Doch der größte Teil des Planeten ist eine Wildnis. Die Natur ist völlig unberührt. Niemand dort interessiert sich für die Vegetation oder die Bodenschätze. Die Welt ist sehr dünn besiedelt, wer sollte die natürlichen Reichtümer des Planeten nutzen? Das heißt: Einen Menschen gibt es doch, der von den Naturgaben des Planeten lebt. Sein Name ist Thomas Decker. Ein komischer Kauz. Er lebt in einer Hütte im Wald, abseits der Siedlungen.“ „Sind Sie mit Decker befreundet?“ „Nicht direkt befreundet. Wir haben eine kleine, geschäftliche Vereinbarung. Fast jedesmal, wenn ich auf Nirgendsend lande, bringt er mir einen kleinen Beutel mit Halbedelsteinen. Verschiedenes Zeug: Granat, Aquamarine, Amethyste, Topase. Nichts besonders Kostbares. Hin und wieder einen mittelmäßigen Opal; einmal ein paar Smaragde, die haben einiges eingebracht. Insgesamt kommt nicht viel dabei herum. Ein Vermögen kann man damit nicht machen. Ich glaube, er sammelt die Stei41
ne gar nicht wegen des Geldes, aber darin kann ich mich täuschen. Ein geheimnisvoller Mensch. Niemand weiß etwas über ihn, dabei lebt er schon seit Jahren auf Nirgendsend. Ich glaube, er sammelt die Edelsteine nur zum Vergnügen. Er gibt sie mir, und ich verkaufe sie an einen Mann in Wansttritt. Dafür bekomme ich zehn Prozent vom Erlös.“ „Wo findet er die Steine denn?“ fragte Tennyson. „Naja, irgendwo in der Wildnis eben. Er steigt in die Berge hinauf und durchsucht die Flußtäler.“ „Sie sagen, daß er es nicht wegen des Geldes tut“, warf Jill ein. „Wozu tut er es dann?“ „Das weiß ich eben nicht“, antwortete der Captain. „Vielleicht sucht er nur eine Beschäftigung. Ach ja, eines habe ich Ihnen noch nicht erzählt: Er bringt mir nicht alle Steine, die er findet. Die besten hält er zurück. Manche schleift er. Er besitzt ein besonders großes Stück Jade. Schon vom Gewicht her ist es eine Menge Geld wert. So, wie es geschliffen ist, kann man ein Vermögen dafür bekommen. Aber gerade das Stück will er nicht hergeben. Er sagt, es gehöre ihm nicht. Gehört angeblich einem anderen.“ „Wem könnte es denn sonst gehören?“ Der Captain schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht stimmt es gar nicht, und er hat es nur so dahingesagt. Weiß der Teufel, was er damit meint. Sie müssen wissen, daß er in vielfacher Hinsicht ein rätselhafter Mensch ist. Sehr introvertiert und altmodisch. Manchmal habe ich das Gefühl, daß er in eine andere Zeit gehört. Eigentlich weiß ich nicht, wieso ich diese Dinge über ihn behaupten kann, denn ich könnte sie nicht beweisen. Ich kann wirklich keine konkreten Beispiele nennen, ich spüre es einfach. Auf jeden Fall ist er eine äußerst ungewöhnliche Erscheinung.“ „Sie müssen sehr eng mit ihm befreundet sein. Wie könnten Sie sonst soviel über ihn wissen?“ 42
„Nein, das bin ich nicht. Niemand ist eng mit ihm befreundet. Er ist kein unangenehmer Mensch, auf seine Weise kann er sogar recht charmant sein, aber er mischt sich niemals unter die anderen Menschen in Nirgendsend. Ich will damit nicht sagen, daß er ihnen um jeden Preis aus dem Weg geht oder er sie absichtlich zurückstößt, er legt einfach keinen Wert darauf, ihnen zu begegnen. Er geht niemals in die Bar im Menschenhaus und fährt nur sehr selten in die Stadt. Er besitzt einen alten Wagen, ein wahres Museumsstück, aber immer noch recht geländegängig. Irgend jemand in der Siedlung hat es ihm verkauft, ich weiß nicht, wer. Jedenfalls fährt Decker mit dem Wagen kreuz und quer durch die Wildnis, immer ganz allein. Wenn er zum Steinesuchen in den Wald zieht, läßt er den Geländewagen stehen. Dann geht er zu Fuß. Ich glaube, er braucht niemanden, alles, was er benötigt, hat er in seiner Hütte am Waldrand, oder er findet es in der Wildnis. Einmal bin ich in dieser Hütte gewesen, da habe ich auch seine geschliffenen Steine gesehen. Er hatte mich nicht eingeladen, ich bin einfach hingegangen, aber er war nicht verärgert über meinen Besuch. Im Gegenteil, er war ziemlich freundlich zu mir. Wir haben uns vor seinen Kamin gesetzt und geplaudert. Zwischendurch gab es Augenblicke, wo er sehr abwesend auf mich wirkte. Er schien mich völlig vergessen zu haben. Es war fast so, als ob er sich mit jemand anderem unterhielte, während er mit mir sprach und mir zuhörte. Das ist wieder so ein Punkt, den ich nicht konkret beweisen kann, es war einfach ein Gefühl. Als ich ging, hat er zu mir gesagt, er hätte sich sehr über meinen Besuch gefreut, aber er hat mich nicht zum Wiederkommen eingeladen, und ich bin nicht noch einmal zur Hütte gegangen. Ich glaube kaum, daß ich es je wieder tun werde.“ „Sie haben gesagt, daß er nie die Bar im Menschenhaus aufsucht“, unterbrach ihn Tennyson. „Ich nehme an, dort verkehren nur Menschen?“ 43
„Ja, natürlich“, antwortete der Captain. „Für die Fremden gibt es andere Lokale. Ins Menschenhaus gehen nur Menschen, dort trifft man nie einen Fremden.“ „Wie ist es mit den Menschen, die zum Vatikan gehören? Gehen sie auch ins Menschenhaus?“ „Jetzt, wo Sie mich danach fragen, fällt mir auf, daß sie es nicht tun. Man begegnet überhaupt nur selten einem von den Vatikan-Mitarbeitern, weder Robotern noch Menschen. Sie verlassen kaum einmal ihren Hügel. Sie mischen sich nicht unter die Menschen in der Stadt. Übrigens gibt es sowieso nicht viele Menschen in der Siedlung, diese wenigen bilden eine verschworene Gemeinschaft. Die meisten Menschen dort haben eine Arbeit, die irgendwie mit dem Projekt Papst zusammenhängt. Ich meine nicht, daß sie direkt im Vatikan arbeiten, aber sie sind alle vom Projekt abhängig. Wenn man die Sache genau betrachtet, dann ist Nirgendsend der Vatikan. Was gibt es sonst schon dort? In der Stadt leben auch Angehörige von Fremdrassen, die kümmern sich um die Pilger. Sie wissen ja sicher, daß die meisten Pilger Fremde sind? Ich habe noch nie einen menschlichen Pilger befördert. Genaugenommen hatte ich kaum jemals einen Menschen auf dem Schiff. Auf der letzten Fahrt hatte ich einen an Bord, aber das war kein Pilger. Er war Arzt. Anscheinend gibt es in letzter Zeit einen Ansturm von Ärzten auf meinen Raumer.“ „Ich verstehe Sie nicht“, sagte Tennyson. „Dieser andere Arzt wollte eine Stelle beim Vatikan annehmen. Seine Name war Anderson, ein junger Bursche, ein wenig hochnäsig. Er hat mir nicht besonders gefallen, aber wir sind einigermaßen miteinander ausgekommen. Auf die Dauer könnte ich ihn allerdings nicht ertragen. Er sollte die Stelle des alten Doktors übernehmen. Der hieß Easton und hat viele Jahre für den Vatikan gearbeitet. Er hat die Menschen betreut, Roboter brauchen natürlich keinen Arzt. Vielleicht haben sie auch ihre 44
eigenen, das weiß ich nicht. Naja, jedenfalls ist dieser Easton eines Tages gestorben, und der Vatikan hatte keinen Arzt mehr. Vorher hatten sich die Leute dort schon jahrelang um einen neuen Doktor bemüht, schließlich war Easton schon alt, und sie wußten, daß er nicht ewig leben würde. Ich nehme an, es ist gar nicht so leicht, Nirgendsend für jemanden schmackhaft zu machen. Wer will dort schon leben? Einige Monate nachdem der alte Doktor gestorben war, hieß es plötzlich, in Wansttritt sei ein Arzt aufgetaucht. Bald darauf habe ich ihn dann tatsächlich nach Nirgendsend geschafft, und ich war froh, als ich ihn endlich los war. Das war der einzige Vatikanmitarbeiter, den ich je transportiert habe. Dort herrscht nicht gerade ein reges Kommen und Gehen.“ „Es wundert mich, daß es immer Fremde sind, die dorthin pilgern“, sagte Jill. „Der Vatikan dürfte sich an einer menschlichen Vorstellung von Religion orientieren. Er wird von Robotern geführt, und was sind Roboter anderes als künstliche Menschen? Dann diese Terminologie: ‚Vatikan’, ‚Papst’, das klingt doch nach der alten Erde! Sicher handelt es sich um eine Abart des Christentums.“ „Möglicherweise ist das Christentum der ferne Ausgangspunkt gewesen“, bestätigte der Captain. „Ich habe noch nie genau darüber nachgedacht. Das Ganze hat wahrscheinlich eine christliche Basis, aber es ist mit tausenderlei fremden Religionen und Bekenntnissen vermischt. Nur perverse Robotergehirne können das alles auf einen Nenner bringen, für menschliches Denken ist es vermutlich nicht mehr zu erfassen.“ „Trotzdem“, beharrte Jill, „es sollte mehr menschliche Pilger geben, ein stärkeres Interesse der Menschen an der Sache. Außerhalb des Projektes, meine ich.“ „Nicht unbedingt“, behauptete Tennyson. „Als die Menschen vor Jahrtausenden die Erde verließen, haben viele von ihnen auch das Christentum hinter sich gelassen. Oder sie haben es 45
einfach vergessen, wie andere Religionen auch. Andere Menschen aber, möglicherweise sogar die Mehrheit, haben ihren Glauben behalten, sie haben ein Gefühl für die Religion ihrer Vorfahren bewahrt. Für diese Menschen ist das Projekt vielleicht eine Irrlehre, und sie halten sich bewußt davon fern.“ „Das wäre eine Erklärung“, sagte der Captain. „Die Fremden beurteilen das Projekt nicht von einem christlichen Hintergrund aus, daher kann es für sie eine höhere Anziehungskraft haben. Von den Fremden bezieht der Vatikan auch seine finanzielle Unterstützung. Manche Fremde sind sagenhaft reich. Die Meute, die jetzt in meiner Kabine hockt, stinkt geradezu vor Geld.“ „Ich hatte Sie vorhin nach dem Planeten gefragt“, sagte Jill. „Sie haben wieder nichts darüber erzählt, wir sind vom Thema abgekommen.“ „Er ist sehr erdähnlich“, antwortete der Captain. „Natürlich gibt es einige Unterschiede. Nur das enge Gebiet um den Vatikan ist besiedelt, der Rest ist unberührte Wildnis. Bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, genaue Karten von der Planetenoberfläche anzulegen. Ein paar Erkundungsflüge mit einem Aufklärer, das war alles. Nur eine einzige Siedlung auf einem Randplaneten ist nichts Ungewöhnliches. Viele entlegene Welten sehen so aus. Sie besitzen nur eine größere Ansiedlung in der Nähe des Raumhafens. Diese Stadt und der Planet tragen gewöhnlich den selben Namen. Wansttritt ist beispielsweise der Name des Planeten und der Stadt beim Raumhafen, und auch Nirgendsend ist gleichzeitig die Bezeichnung der Stadt und der ganzen Welt. Es sieht wohl so aus, daß es in Nirgendsend außer Decker niemanden gibt, der mehr von dem Planeten kennt als die Siedlung und ihre nächste Umgebung, und auch Decker wird mit seinem Wagen nicht weit in die Berge vorgedrungen sein. Wansttritt ist inzwischen gründlicher erkundet worden, außerdem liegen diese Lehensgüter über seine gesamte Ober46
fläche verstreut, doch im Grunde ist auch Wansttritt noch ein wilder Planet. Über Nirgendsend weiß man kaum etwas. Man nimmt an, daß dort keinerlei intelligente Lebewesen heimisch waren, aber gewiß ist auch das nicht. Bisher hat noch niemand nach diesen Lebewesen gesucht, vielleicht hockt also irgendwo eines in seinem Versteck und harrt seiner Entdeckung. Es gibt tierisches Leben: Pflanzenfresser und Fleischfresser, die sich von den Pflanzenfressern ernähren. Unter den Fleischfressern soll es schreckliche Bestien geben. Ich habe Decker nach ihnen gefragt, aber er ist mir ausgewichen. Ich habe ihn nicht noch einmal gefragt. Übrigens“, der Captain wandte sich an Tennyson und wechselte das Thema, „wie lange sind Sie eigentlich in Wansttritt gewesen?“ „Drei Jahre“, antwortete Tennyson. „Knapp drei Jahre.“ „Hatten Sie Ärger?“ „So könnte man sagen.“ „Captain“, mischte sich Jill in den Dialog, „es paßt gar nicht zu Ihnen, wenn Sie so neugierig sind. Niemand hat gesehen, wie er aufs Schiff gekommen ist. Niemand weiß davon. Also lassen Sie ihn in Ruhe!“ „Wenn es Ihr Gewissen beruhigt“, sagte Tennyson, „dann will ich Ihnen versichern, daß ich kein Verbrechen begangen habe. Ich bin in Verdacht geraten, das war alles. Auf Wansttritt kann es einen das Leben kosten, wenn man in Verdacht gerät.“ „Dr. Tennyson“, sagte der Captain förmlich, „wenn wir auf Nirgendsend landen, verlassen Sie so schnell wie möglich das Schiff. Wir wollen uns darauf einigen, daß wir nie ein Wort miteinander gesprochen haben. Ich glaube, das dürfte für uns beide das beste sein. Wie ich schon gesagt habe: Wir Menschen müssen zusammenhalten.“
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5 Nun beginnt der schönste Teil des Tages, dachte Decker, das Abendessen war verspeist, das Geschirr abgewaschen, ein kräftiges Feuer prasselte, die Welt war hinter der Tür ausgesperrt, und Flüsterer war an einer Tischecke damit beschäftigt, das Stück Topas umzuformen, das sie vor einer Woche von einem Ausflug mitgebracht hatten. Decker machte es sich in seinem Sessel gemütlich, streifte die Mokassins ab und stellte die bestrumpften Füße auf die steinerne Kaminschwelle. Gerade war ein dickes Holzscheit durchgebrannt, und jetzt fielen die beiden Stücke in einem Funkenregen tiefer in die Flammen hinab. Die Kaminöffnung seufzte, von oben antwortete der Wind, der klagend über den Schornstein strich. Decker wandte den Kopf und sah zu Flüsterer hinüber, aber von diesem war kein Anzeichen zu entdecken. Manchmal konnte man ihn sehen, manchmal nicht. An der äußersten Kante des Tisches lag das kunstvoll bearbeitete Stück aus blaßgrüner Jade. Ein Kunstwerk, das man kaum verstehen konnte, dachte Decker. Es war so verwirrend, weil Flüsterer soviel hineingelegt hatte. Das meiste davon war nichtmenschlich. Nuancen, die in der menschlichen Vorstellungswelt keine Parallelen hatten. Wenn man versuchte, den einzelnen Linien zu folgen, konnte man sich ganz und gar verlieren. Die Linie, die einem zuerst ins Auge sprang, verwandelte sich in ein komplexes Muster, und wenn der Betrachter glaubte, er hätte das Muster enträtselt, dann verwandelte es sich wieder in eine andere Struktur, noch verwirrender als die erste. So ging es endlos weiter und weiter. Wahrscheinlich konnte ein Mensch sein ganzes Leben vor dem Stein zubringen. Er würde auf das Netzwerk von Winkeln und Linien starren, ihrem Fluß zu folgen versuchen und sich am Ende doch unweigerlich verirren. 48
An einer anderen Stelle des Tisches stand der große Topaskristall. Seit gestern hatte es auch in seiner Gestaltung Fortschritte gegeben, allerdings bemerkte Decker nie, wann Flüsterer den Stein tatsächlich modellierte. Das Stück veränderte sich einfach. Es blieb sich nie völlig gleich, aber das war alles, was Decker erkennen konnte. Flüsterer schnitt nicht in den Stein, er meißelte auch nicht, denn es entstanden weder Splitter noch Staub. Bei dieser Arbeit gab es überhaupt keinen Abfall. Und doch entstanden auf den Steinen scharfe Schnittkanten, so als ob Teile des Stückes entfernt worden wären. Natürlich benutzte Flüsterer keine Werkzeuge, wie hätte er sie ergreifen und handhaben sollen? Er war ja ein Nichts, zumindest kam er einem Nichts unglaublich nahe, und doch konnte er etwas schaffen, etwas tun. Er sprach auf dem Gedankenweg, er verformte die Steine, er kam und ging, er war offenbar überall zur gleichen Zeit. Decker sah genau hin und bemerkte jetzt das leichte Flimmern des Diamantenstaubs. Das war Flüsterer. Wie ein Wölkchen schwebte er über dem Topaskristall. „Du hast dich wieder versteckt“, sagten Deckers Gedanken zu Flüsterer. „Decker, du weißt sehr gut, daß ich mich nicht verstecke. Es liegt an dir, du siehst mich einfach nicht.“ „Kannst du dich nicht ein bißchen sichtbarer machen? Kannst du eventuell heftiger flimmern? Immer schleichst du dich hier herein.“ „Jetzt willst du mich ärgern“, sagte Flüsterer. „Ich schleiche nie. Du kannst mich spüren, du weißt, wann ich hier bin.“ So war es tatsächlich, dachte Decker. Er wußte, wann Flüsterer da war. Er spürte ihn, wie er ihn allerdings spürte, hätte er nicht beschreiben können. Er wußte eben, wann er anwesend war. Er fühlte, wann dieses kleine Wölkchen Diamantstaub – natürlich war Flüsterer mehr als ein Wölkchen Diamantstaub – bei ihm war. 49
Wer war Flüsterer, was war er? Diese Frage ließ Decker nicht los. Natürlich hätte er ihn fragen können. Aber er konnte die Frage nicht in eine passende Form bringen. Zuerst hatte Decker geglaubt, daß er Flüsterer diese Frage schon gestellt hätte. Er hatte befürchtet, Flüsterer würde alles lesen, was ihm durch den Kopf ging, er also auch durch sein Nachdenken über Flüsterers Existenz die Frage bereits formuliert hätte. Doch nach einiger Zeit hatte Decker begriffen, daß es sich nicht so verhielt. Dieses seltsame Wesen konnte oder wollte seine Gedanken nicht lesen. Wenn er Flüsterer einen Gedanken mitteilen wollte, dann mußte er ihn bewußt in einem bestimmten Teil seines Gehirns formen und danach vor ihm enthüllen. Dies war ihre Art, ein Gespräch zu führen. Ein einfacher, unbewußter Gedanke war keine Mitteilung. Soviel hatte Decker inzwischen erkannt, aber wie diese besondere Art der Kommunikation wirklich funktionierte, wieso Flüsterer seine Gedanken und er diejenigen Flüsterers lesen konnte, dafür gab es keine Erklärung. Das war ein Vorgang, der sich dem menschlichen Verständnis entzog. „Unser letzter Streifzug war ein schöner Erfolg“, sagte Decker jetzt. „Allein der Topas war die Mühe wert. Und du hast ihn aufgespürt. Du hast mir gezeigt, wo er liegt. Es gab überhaupt kein Anzeichen im Kies, nicht das geringste Glitzern. Nur abgeschliffene Kieselsteine. Aber du hast mich genau an die richtige Stelle geführt, hast mir gesagt, wann ich mich bücken muß. Wie machst du das nur?“ „Glück“, antwortete Flüsterer, „reines Glück. Manchmal hast du es, manchmal ich. Es ist noch gar nicht lange her, da hast du den Rubin gefunden.“ „Ein kleiner Stein“, sagte Decker. „Aber lupenrein!“ „Ja, das stimmt. Wirklich ein schönes Stück! Hast du schon entschieden, ob du etwas mit ihm machen willst?“ 50
„Lust dazu hätte ich schon. Ich muß noch eine Weile über den Stein nachdenken. Ich möchte nicht, daß er hinterher zu klein ist. Zu klein für dich, meine ich. Du würdest eine Lupe brauchen, wenn du den Schliff sehen willst.“ „Zu klein für mich? Nun, vermutlich hast du recht. Wie ist es mit dir?“ „Für mich ist jede Größe relativ, Decker, fast ohne Bedeutung.“ „Wir werden den Rubin einstweilen behalten“, entschied Decker. „Ich habe mehr als genug Steine für den Captain.“ Jetzt konnte er Flüsterer nicht mehr sehen. Das diamantene Geflimmer war verschwunden. Vielleicht beeinflußt Flüsterer sein Erscheinen gar nicht willkürlich, dachte Decker. Es kann an einer unmerklichen Veränderung der Lichtverhältnisse in der Hütte liegen. Er wußte, daß Flüsterer noch immer in der Hütte war, denn er spürte ihn. Was war es eigentlich, das er da spürte? Was war Flüsterer, was für eine Art Lebewesen stellte er dar? Er war hier in der Hütte, das stand fest, aber wo war er sonst noch im gleichen Augenblick? Wie groß oder wie klein war er. Ein winziges Stäubchen, das im Feuerschein tanzte oder eine Wesenheit, die das ganze Universum umfaßte? Ein körperloses Wesen, das doch hin und wieder sichtbar wurde, ein schwebendes Fast-Nichts. Vielleicht war es an diesen Planeten gebunden, möglicherweise gehörte es nur zu einem bestimmten Teil dieser Welt. Während er über diese Dinge nachdachte, kam er zu der Überzeugung, daß Flüsterer sich aus freien Stücken an diesem Ort aufhielt. Er tat es aus irgendeinem Grund. Es war mehr als wahrscheinlich, daß nichts ihn daran hinderte, sich überall frei zu bewegen. Er konnte auch in der oberen Atmosphäre existieren, vermutlich sogar über ihr, im freien Raum. Er konnte sich eine Heimstatt in einem glühenden Stern suchen oder im Granitgestein einer Planetenkruste. Der Raum und alle seine Zustände waren Flüsterers natürliche Hei51
mat. Oder war es gar möglich, dachte Decker, daß Flüsterer nur eine kleine Facette eines allumfassenden Flüsterers war? Führte dieser große, dieser eigentliche Flüsterer eine Existenz, die sich über den gesamten Raum erstreckte, über die gesamte Zeit? War er ein echtes Wesen des Universums? Vermutlich werde ich das nie erfahren, gestand Decker sich ein. Das war auch der Grund, warum er Flüsterer nicht fragte. Was sollte er mit einer Information anfangen, die er nicht begreifen konnte, mit einer unfaßbaren Tatsache, die ihn sein ganzes Leben hindurch quälen würde. Er würde nur des Nachts schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken und keine Ruhe mehr finden. Am Ende würde er daran zugrunde gehen. Flüsterer sprach wieder: „Es hat ein Unglück im Wald gegeben“, sagte er. „Drei Männer vom Vatikan sind gestorben.“ „Im Wald? Du mußt dich täuschen, Flüsterer. Die Leute des Vatikans gehen nicht in den Wald. Sie bleiben immer brav zuhause.“ „Diese haben den Alten des Waldes gejagt.“ „Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, würde Jagd auf einen Alten machen. Im Gegenteil, wenn man in den Wald geht, hat man nur den einen Wunsch: nicht vom Alten gejagt zu werden.“ „Einer von den Männern war neu im Vatikan. Sehr arrogant. Er hatte eine mächtige Waffe, von der er glaubte, damit alles erledigen zu können. Die Waffe war nicht mächtig genug.“ „Und sie haben tatsächlich einen Alten gefunden?“ „Nein, der Alte hat sie gefunden. Er wußte, daß sie ihn jagen wollten.“ „Und jetzt sind sie tot? Alle drei?“ „Ja, ein schrecklicher Tod!“ „Wann ist es geschehen?“ „Vor ein paar Stunden. Der Vatikan weiß es noch nicht.“ „Vielleicht sollten wir es ihm mitteilen?“ 52
„Warum?“ fragte Flüsterer. „Jetzt kann man nichts mehr tun. Wenn man feststellt, daß sie überfällig sind, wird man sie finden und zurücktragen.“ „Aber der Alte wird auf den Suchtrupp warten.“ „Möglich“, sagte Flüsterer, „aber er wird die Sucher nicht verletzen. Sie jagen ihn ja nicht.“ „Tötet er nur jemanden, der auf ihn Jagd macht?“ „Ja. Hast du das nicht gewußt? Du ziehst doch schon seit Jahren durch die Wälder.“ „Ich habe eben Glück gehabt. Ich habe nie einen Alten gesehen, niemals einem gegenübergestanden.“ „Aber die Alten haben dich gesehen“, bemerkte Flüsterer. „Viele, viele Male. Sie haben dich in Ruhe gelassen, weil du sie in Ruhe läßt.“ „Nie im Leben würde ich mich mit einem Alten anlegen.“ „Du hast eine Waffe. Du nennst sie Gewehr.“ „Das stimmt, aber ich benutze es nur selten. Manchmal schieße ich mir einen Braten.“ „Auch das tust du nicht oft.“ „Nein, nicht sehr oft“, bestätigte Decker. Er griff nach einem Schürhaken und stocherte im Feuer herum. Er schob die Holzscheite dichter zusammen, damit sie kräftiger brannten. Der Kamin flüsterte, und der Wind heulte über die Schindeln. Die flackernden Flammen brachten überall im Zimmer schwarze Schatten zum Tanzen. „Der Vatikan ist sehr aufgeregt“, sagte Flüsterer. „Wegen des Alten?“ „Nein, deswegen nicht. Davon wissen sie noch nichts. Es heißt, daß ein Lauscher auf etwas Besonderes gestoßen ist.“ „Die Lauscher finden dauernd etwas Besonderes.“ „Aber dieser Fund ist ganz außergewöhnlich!“ „Inwiefern?“ „Das weiß ich noch nicht. Alle sind völlig außer sich. Man53
che jubilieren, andere sind skeptisch, wieder andere schockiert. Auf jeden Fall muß die Sache sehr wichtig sein. Die Glaubenskraft ist gewachsen, die religiöse Hingabe gestiegen.“ „Sie haben dauernd ihre kleinen Triumphe“, erwiderte Decker, „und ihre Niederlagen. Der ganze Verein ist in ständiger Aufruhr.“ „Diesmal kann es kein kleiner Triumph sein“, widersprach Flüsterer. „Es herrscht große Hoffnung. Alle spielen mit den Holzperlen.“
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6 Sie standen am Rande des Landefeldes und blickten enttäuscht auf die kleine Ansammlung von kümmerlichen Gebäuden, die zusammen die Siedlung namens Nirgendsend bildeten. Auf einem sanften Berghang hinter der kleinen Stadt erhob sich ein langgestrecktes Bauwerk – es mochte auch eine Gruppe von Gebäuden sein, auf diese Entfernung war das nicht zu erkennen. Es war strahlend weiß und trotz seiner geringen Höhe sehr eindrucksvoll. Das Bauwerk machte keinen komfortablen, aber soliden Eindruck, es beherrschte den gesamten Anblick, der sich den Reisenden bot. Hinter den weißen Gebäuden stiegen in weiter Ferne purpurne Berge auf, deren schneebedeckte Gipfel frei in der Luft zu schweben schienen. Tennyson zeigte mit dem Finger auf das Bauwerk. „Der Vatikan, nehme ich an.“ „Das würde ich auch sagen“, stimmte Jill ihm zu. „Ich habe Bilder vom Vatikan auf der Erde gesehen. Er sieht völlig anders aus.“ „Du darfst den Namen nicht zu wörtlich nehmen“, erklärte Jill. „Das ist doch nur eine Bezeichnung. Ich bezweifle, daß dieses Bauwerk eine Verbindung mit dem echten Vatikan hat.“ „Und was ist mit dem Papst?“ „Naja, vielleicht besteht da doch eine Beziehung, eine eingebildete Beziehung. Aber meiner Meinung nach gibt es keine offizielle Verbindung. Der Vatikan auf der Erde würde dies hier niemals offiziell anerkennen.“ „Das sind also die Höhen, die du stürmen willst?“ „Jason, jetzt wirst du zu dramatisch! Das tust du mit Absicht. Ich will gar nichts stürmen. Ich bin hinter einer Geschichte her, und die will ich hier finden. Dazu werde ich mich an die offiziellen Kanäle halten. Ich werde mich sehr höflich vorstellen, 55
sagen, wer ich bin und was ich vorhabe. Und was machst du, während ich mir die Geschichte besorge?“ „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Bisher habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Ich bin fortgelaufen, und hier ist die Flucht zunächst einmal zu Ende. Ich kann nicht nach Wansttritt zurück, jedenfalls nicht in nächster Zeit.“ „Das hört sich ja so an, als wolltest du noch weiter flüchten.“ „Nein, jetzt warte ich erst einmal ab. Dafür ist dieser Ort nicht schlechter geeignet als andere.“ Die lange Schlange der Pilger hatte die WANDERGESELL verlassen, jetzt ging sie über das Landefeld auf einen Abfertigungsschalter für Besucher zu. Tennyson nickte in Richtung auf den Schalter. „Weißt du, ob wir uns auch dieser Prozedur unterziehen müssen?“ Jill schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Menschen müssen überhaupt keine Papiere vorlegen. Offiziell wird Nirgendsend als Menschenplanet geführt, daher gibt es hier für Menschen gewisse Vorrechte. Außerdem ist es ja nur ein kleines Nest, da geht es meist nicht sehr förmlich zu. In ein paar Tagen wirst du bereits mit dem Sheriff, dem Marshall, dem Polizeichef, oder wie er sonst heißen mag, zu Abend essen. Dann ist ja immer noch Gelegenheit, dir ein paar Fragen zu stellen und dich gründlich in Augenschein zu nehmen. Ich weiß natürlich nicht mit Sicherheit, ob es hier genauso abläuft. Auf den anderen, unwichtigeren Kolonialplaneten der Menschen geht es jedenfalls so zu.“ „Das hört ich ja nicht sehr schlimm an.“ „Du wirst erklären müssen, warum du kein Gepäck hast. Die Leute im Menschenhaus sind möglicherweise neugierig. Am besten erzählst du ihnen, du hättest das Schiff in Wansttritt nur in letzter Not erreicht. In der Hektik sei das Gepäck verlorengegangen …“ „Du denkst wirklich an alles“, sagte Tennyson. „Dir entgeht nichts. Was sollte ich ohne dich nur anfangen?“ 56
„Ich habe mich wirklich gut um dich gekümmert, nicht wahr?“ fragte Jill. „Heute abend will ich mich in Wiedergutmachung versuchen“, versprach Tennyson. „Galadiner im Menschenhaus. Kerzenlicht, ein sauberes Tischtuch, echtes Porzellan, blinkende Gläser, zahlreiche vortreffliche Gänge, eine Flasche guten Wein …“ „Nun werde nicht zu überschwenglich! Ich glaube, die Phantasie spielt dir einen Streich. Vielleicht sieht der Speisesaal im Menschenhaus anders aus, als du erwartest.“ „Ganz gleich wie er aussehen mag, auf jeden Fall wird es eine Verbesserung sein gegen das Kaninchenloch, das wir uns auf dem Schiff geteilt haben.“ „Ich fand unsere gemeinsame Behausung recht gemütlich“, widersprach Jill. „Ich glaube, da vorn kommt jemand, der uns abholen will“, sagte Tennyson unvermittelt.
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7 Das Restaurant im Menschenhaus machte einen kultivierten Eindruck. Es lag ein sauberes Tuch auf dem Tisch, Porzellan und Gläser blinkten, und das Menü bestand aus fünf Gängen. Auch der Wein war annehmbar. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich diesen Abend genieße“, sagte Jill. „Ich hätte nicht erwartet, daß das Essen so schmackhaft ist. Andererseits mag das nach einem Monat auf der WANDERGESELL auch am Kontrast liegen. Vielleicht erscheint mir nun jedes normale Essen als Festmahl.“ „Morgen beginnst du mit deiner Arbeit“, sagte Tennyson. „Wirst du dann überhaupt noch Zeit für mich haben?“ „Wir werden uns so oft wie möglich treffen. Ich kann jeden Abend hierherkommen. Vielleicht wirft man mich im Vatikan auch sofort wieder raus oder läßt mich gar nicht hinein.“ „Hast du etwa vorher keine Absprache mit den Leuten getroffen?“ „Ich habe es versucht, hatte aber keinen Erfolg. Ich habe ihnen dann mehrere Briefe geschrieben, doch ich erhielt nie eine Antwort.“ „Vielleicht wünschen sie keine Publicity?“ „Das werden wir ja sehen. Ich werde mit ihnen reden. Wenn ich will, kann ich sehr überzeugend wirken. Was hast du denn eigentlich vor?“ „Ich werde mich zunächst einmal umsehen. Zunächst will ich mir einen allgemeinen Eindruck von diesem Ort verschaffen. Wenn es hier noch keinen Arzt gibt, kann ich vielleicht eine Praxis eröffnen.“ „Es wäre schön, wenn das klappen würde“, sagte sie. „Meinst du, das könnte dir wirklich gefallen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Es war nur so eine Idee. 58
Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Es gibt ja einen Arzt im Vatikan, und vermutlich versorgt der auch die Patienten in der Stadt. Eine neue Praxis würde sicher auf einige Startschwierigkeiten stoßen. Die Stadt wirkt auf mich wie eine Pioniersiedlung, aber das kann sie doch gar nicht sein. Wenn es stimmt, was uns der Captain erzählt hat, dann sind die Roboter schon seit tausend Jahren hier.“ „Vermutlich ist die Stadt noch nicht so alt“, sagte Jill. „Es ist möglich, daß die Roboter schon eine Weile hier waren, bevor die Stadt gegründet wurde.“ „Damit kannst du Recht haben, trotzdem muß die Stadt schon ziemlich alt sein. Auch wenn es hier offensichtlich wenig Fortschritte gegeben hat. Vielleicht liegt das an der Macht des Vatikans, der hier alles beherrscht. Alles dreht sich nur um diesen Vatikan.“ „Das muß nichts Schlimmes bedeuten“, sagte Jill. „Es hängt davon ab, aus welchen Leuten – Roboter und Menschen – sich der Vatikan zusammensetzt. Möglicherweise freuen sie sich über neue Leute mit überraschenden Ideen.“ „Ich werde es erleben“, sagte er. „Ich habe es nicht eilig. Nach einer Woche werde ich eher sagen können, ob mir diese Siedlung etwas zu bieten hat.“ „Das hört sich so an, als ob du vorhast, länger hierzubleiben, oder?“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht einmal darüber bin ich mir im klaren. Auf jeden Fall muß ich mich für einige Zeit verborgenhalten. Hier bin ich in Sicherheit. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Leute in Daventry damit rechnen, daß ich das Schiff nach Nirgendsend erwischt habe.“ „Wahrscheinlich nehmen sie an, du seist ertrunken. Das Radar in Wansttritt hat deinen Schweber verfolgt. Konnten sie bemerken, daß du abgesprungen bist?“ 59
„Wenn sie den Schirm nicht finden, können sie kaum darauf kommen. Den Schirm aber habe ich recht gut versteckt.“ „Dann bist du hier wirklich in Sicherheit. Sind sie eigentlich so versessen darauf, dich zu fangen, daß sie dir bis hierher folgen würden?“ „Nein, vermutlich nicht. Die ganze Affäre hatte einen politischen Hintergrund. Für einige Leute war es von Vorteil, mir den Tod des Markgrafen in die Schuhe schieben zu können.“ „Sie haben nach einem Sündenbock gesucht?“ „Genau“, antwortete Tennyson. „Die Tatsache, daß ich geflohen bin, können sie vermutlich ebensogut für sich nutzen. Eigentlich müßten alle Teile zufrieden sein. Im Augenblick ist es allerdings unwichtig, was auf Wansttritt passiert. Wie ist es eigentlich mit dir? Wahrscheinlich hast du eine Menge Geld in diese Reise investiert?“ „Das stimmt, aber in meinem Beruf muß man dieses Risiko eingehen. Der Einsatz wird sich in jedem Fall auszahlen. Wenn ich die Geschichte bekomme, dann kann ich eine große Sache daraus machen. Wenn der Vatikan nicht mitspielt, habe ich auch etwas in der Hand. Nicht ganz so lohnenswert, aber es dürfte reichen.“ „Wie meinst du das?“ „Also, ich fahre hierher, und sie lassen mich nicht herein. Sie reden nicht mit mir, sondern erteilen mir eine totale Abfuhr. Wenn sie wirklich Ernst machen, weisen sie mich vielleicht von dieser Welt. Warum lassen sie mich nicht herein? Warum reden sie nicht mit mir? Warum verweisen sie mich des Planeten? Was wird hier gespielt? Was ist das für eine Geheimreligion, die das Tageslicht scheut? Was haben sie zu verbergen?“ „Ja, jetzt begreife ich“, sagte er. „Stimmt, das ist auch eine Geschichte.“ „Wenn ich es richtig anstelle, dann wird vielleicht sogar ein Buch daraus.“ 60
„Wie bist du überhaupt auf die Sache gestoßen?“ „Ich habe immer wieder etwas aufgeschnappt. Über Jahre hinweg. Dann und wann wurden kleine Gerüchte laut. Jedes für sich war nicht wichtig, aber alle enthielten ein paar interessante Informationen. Wenn man alle Stücke zu einem Ganzen zusammenfügte, ergab sich schließlich ein ungewöhnliches Bild.“ „Also arbeitest du schon seit Jahren daran und versuchst, die Fäden zu verknüpfen?“ „Das ist wahr. Es war wirklich harte Arbeit. Ich habe mich nicht ununterbrochen damit beschäftigt, aber immer dann, wenn sich eine Gelegenheit bot. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto interessanter wurde das Ganze. Ich habe mich regelrecht in die Sache hineingesteigert. Vielleicht stellt sich nun heraus, daß gar nichts dahintersteckt und es sich nur um ein paar einfältige Roboter handelt, die sich einen sinnlosen Zeitvertreib ausgesucht haben.“ Danach schwiegen beide eine Zeitlang. Sie widmeten ihre Aufmerksamkeit dem Essen. „Wie gefällt dir eigentlich dein Zimmer?“ fragte Jill schließlich. „Ich bin mit meinem recht zufrieden.“ „Meines ist auch in Ordnung“, sagte Tennyson. „Nicht gerade eine Luxussuite, aber mir reicht es. Aus einem Fenster hat man einen schönen Blick auf die Berge.“ „Ich vermisse ein Telefon“, sagte Jill. „Ich habe nachgefragt, und man hat mir geantwortet, daß es hier überhaupt keine Telefone gibt. Es wurde nie ein Telefonnetz errichtet. Elektrisches Licht aber gibt es. Ich habe gesagt, daß ich nicht verstehe, wieso sie ein Stromnetz haben aber keine Telefonleitungen. Anscheinend war dieser Widerspruch noch niemandem aufgefallen.“ „Vielleicht vermissen sie die Telefone nicht“, sagte Tennyson. 61
„Entschuldigen Sie bitte“, unterbrach ihn eine Stimme. „Entschuldigen Sie die Störung, aber es ist sehr wichtig …“ Tennyson blickte auf. Neben seinem Arm stand ein Mann. Er war recht groß, hatte bereits die zweite Lebenshälfte erreicht und besaß ein zerfurchtes Gesicht, glatt zurückgekämmte Haare und einen sauber gestutzten, grau getönten Schnurrbart. „Sie sind Arzt, habe ich gehört?“ fragte der Mann. „Jedenfalls wurde mir das gesagt.“ „Das ist richtig“, erwiderte Tennyson. „Ich bin Jason Tennyson, die Dame hier ist Jill Roberts.“ „Mein Name ist Ecuyer“, stellte der Mann sich vor. „Ich arbeite für den Vatikan. Unser Arzt ist vor ein paar Tagen bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen.“ „Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …?“ „Ich bitte die junge Dame um Vergebung“, sagte Ecuyer. „Es tut mir sehr leid, daß ich Sie beim Essen störe. Aber bei uns liegt eine schwerkranke Frau. Wenn Sie jetzt schnell nach ihr sehen könnten …“ „Ich muß noch meine Tasche holen“, sagte Tennyson. „Sie liegt in meinem Zimmer.“ „Ich habe mir die Freiheit genommen, sie vom Portier herunterholen zu lassen“, erklärte der Mann vom Vatikan. „Er erwartet Sie in der Halle.“
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8 Die Frau war alt. Ihr Gesicht glich einem welken Apfel. Der Mund war schmallippig, die eingefallenen Wangen zeigten eine ungesunde, hektische Röte. Glänzende, schwarze Augen blickten Tennyson an. Man konnte ihnen nicht ansehen, ob sie den Arzt wahrnahmen. Die Frau rang nach Luft. Das Bettuch verdeckte einen ausgezehrten, sehnigen Körper. Eine Schwester in grauer Tracht gab Tennyson das Krankenblatt. „Diese Frau bedeutet uns sehr viel, Herr Doktor“, sagte Ecuyer. „Wie lange befindet sie sich schon in diesem Zustand?“ fragte Tennyson. „Seit fünf Tagen“, antwortete die Schwester. „Fünf Tage ist es her, seit …“ „Anderson hätte nicht auf diesen Jagdausflug gehen dürfen“, warf Ecuyer ein. „Er hat mir gesagt, es würde bald besser gehen. Sie brauchte nur Ruhe.“ „Ist Anderson der Mann, der getötet wurde?“ „Ja, er und zwei andere. Sie haben versucht, ihm die Sache auszureden. Er war neu hier, hatte keine Ahnung von der Gefahr. Habe ich Ihnen nicht erzählt, daß es hier im Wald einen Alten gibt?“ „Nein, das haben Sie nicht. Was ist ein Alter?“ „Ein riesiges Raubtier. Blutrünstig, grausam. Es greift jeden Menschen an, den es sieht. Die anderen beiden sind nur mitgegangen, um den Doktor zu beschützen …“ „Die Temperatur hat sich seit drei Tagen nicht geändert“, stellte Tennyson fest. „Hat es tatsächlich nie eine Schwankung gegeben?“ „Nein, Herr Doktor“, antwortete die Schwester. „Geringe Abweichungen, aber nichts von Bedeutung.“ „Wie ist es mit der Atemnot?“ 63
„Die Atmung hat sich in letzter Zeit verschlechtert.“ „Welche Medikamente?“ „Steht alles auf dem Blatt.“ „Ah, ja, ich sehe schon“, sagte Tennyson. Er hob das schmale Handgelenk der Frau. Der Puls ging schnell und schwach. Als Tennyson das Stethoskop gegen ihren Brustkorb hielt, hörte er ein Rasseln in der Lunge. „Essen?“ fragte er. „Hat sie Nahrung zu sich genommen?“ „Kaum etwas. Zum letzten Mal vorgestern ein wenig Brei.“ Tennyson sah Ecuyer über das Bett hinweg an. „Nun?“ fragte dieser. „Ich glaube, es ist eine Lungenentzündung“, sagte Tennyson. „Vermutlich eine Virusinfektion. Ich möchte gern einige Tests machen. Sind Sie dafür eingerichtet?“ „Wir haben ein Labor, aber keinen Laborassistenten. Er ist mit Anderson und Aldritt in den Wald gegangen.“ „Wurden alle drei getötet?“ „Ja, alle drei. Vielleicht könnten Sie, Herr Doktor …?“ „Ich habe keine Laborerfahrung. Ich kann nur die Krankheit behandeln. Wie sind Ihre medizinischen Einrichtungen? Verfügen Sie über geeignete Medikamente?“ „Mit beidem steht es sehr gut. Normalerweise sieht es auch mit dem Personal besser aus. Wir hatten zwei Assistenten, aber der andere hat vor einigen Monaten gekündigt. Bisher konnten wir ihn noch nicht ersetzen. Nirgendsend scheint nicht sehr anziehend auf mögliche Bewerber zu wirken.“ „Ich kann nur eine vorläufige Diagnose stellen“, sagte Tennyson. „Lungenentzündung aufgrund einer Virusinfektion. Wenn wir den Virus bestimmen könnten, wäre uns sehr geholfen, aber ohne ausgebildetes Personal ist das unmöglich. Es gibt so viele neue Viren, die von einem Planeten zum anderen verschleppt werden, daß es schwer ist, einen bestimmten zu ermitteln. Allerdings habe ich kürzlich in einer Fachzeitschrift gele64
sen, daß man einen Impfstoff mit einem breiten Anti-VirusSpektrum entwickelt hat.“ „Meinen Sie Protein-X?“ fragte die Schwester. „Genau. Haben Sie den Stoff etwa hier?“ „Auf der vorletzten Fahrt ist etwas mit der WANDERGESELL gekommen.“ „Damit haben wir eine Chance“, sagte Tennyson zu Ecuyer. „Allerdings können wir nicht sicher sein. Der Wirkstoff greift den Proteinmantel der Viren an und zerstört so den Virus selbst. Wenn wir den Stoff benutzen, gehen wir ein gewisses Risiko ein, aber ich wüßte nicht, was wir sonst tun könnten.“ „Sie wollen also sagen“, stellte Ecuyer fest, „daß Sie keine Garantie …“ „Kein Arzt kann eine Garantie übernehmen.“ „Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll“, sagte Ecuyer. „Wir müssen sie unbedingt retten. Wenn wir das Protein nicht anwenden …“ „Kann sie es auch überleben“, unterbrach ihn Tennyson. „Ihr Körper muß gegen den Virus kämpfen. Wir können ihn dabei unterstützen. Wir können ihr bei dem Kampf helfen, aber gegen den Virus selbst können wir nichts unternehmen. Sie muß ihn allein besiegen.“ „Sie ist alt“, gab die Schwester zu bedenken. „Sie hat nicht mehr viel Kraft zum Kämpfen.“ „Wenn wir das Protein einsetzen, können wir dann sicher sein?“ fragte Ecuyer. „Nein, das können wir nicht“, antwortete Tennyson. „Das habe ich Ihnen bereits gesagt.“ „Wollen Sie noch über den Impfstoff nachdenken? Es ist Ihre Entscheidung. Ich fürchte nur, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Was empfehlen Sie, Herr Doktor?“ „Wenn ich allein und als Arzt die Entscheidung treffen soll, würde ich mich für das Protein entscheiden. Es kann sein, daß 65
es nichts bewirkt, aber, soviel ich weiß, ist es das einzige Mittel, mit dem man einen unbekannten Virus bekämpfen kann. Ich will ganz aufrichtig zu Ihnen sein: Es ist auch möglich, daß das Protein sie umbringt. Und wenn es hilft, vielleicht hilft es nicht genug.“ Er trat neben Ecuyer und legte ihm die Hand auf den Arm. „Diese Frau bedeutet Ihnen sehr viel, nicht wahr?“ „Sie bedeutet uns allen viel“, antwortete Ecuyer. „Uns allen, dem ganzen Vatikan.“ „Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine größere Hilfe sein. Aber ich bin nicht in der Lage, Ihnen die Entscheidung abzunehmen. Gibt es irgend etwas, das ich tun oder sagen kann, um Ihnen den Entschluß zu erleichtern?“ Die Frau auf dem Bett bewegte sich. Sie hob Kopf und Schultern aus dem Kissen und versuchte einen Augenblick lang verzweifelt, sich weiter aufzurichten, dann fiel sie wieder zurück. In ihrem Gesicht zuckte es, ihre Lippen bewegten sich. Kaum hörbare Worte kamen aus ihrem Mund. Plötzlich begann sie zu schreien. „Die Türme!“ rief sie. „Die breite, leuchtende Treppe! Frieden und Seligkeit! Engel in der Luft …“ Ihr Gesicht entspannte sich, sie verstummte. Tennyson sah auf die Schwester. Diese starrte wie hypnotisiert die alte Frau an. Ecuyer schlug Tennyson heftig auf die Schulter. „Wir werden das Protein anwenden“, sagte er. „Wir werden es versuchen.“
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9 Die Wohnung war groß und gut ausgestattet. Ein weicher Teppich bedeckte den Boden im Wohnraum, die Möbel waren geradezu elegant. Die Hälfte einer Wand nahm ein offener Kamin ein, in dem ein großes Feuer loderte. Vom Eßplatz aus konnte man die Küche und das Schlafzimmer erreichen. Spiegel mit Messingrahmen und geschmackvolle Gemälde hingen an allen Wänden, und auf dem Kaminsims standen kleine Schnitzereien aus Elfenbein. „Setzen Sie sich, und machen Sie es sich bequem“, forderte Ecuyer Tennyson auf. „Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Ich kann Ihnen versichern, daß man in diesem Sessel hier besonders angenehm sitzt. Und was möchten Sie trinken?“ „Haben Sie vielleicht einen Scotch?“ „Sie haben einen guten Geschmack“, sagte Ecuyer. „Wie sind Sie denn auf Scotch verfallen? Das Getränk ist heute doch fast unbekannt. Ich kenne nur wenige Menschen …“ „Der Captain auf dem Schiff hat mir einen Scotch angeboten“, erklärte Tennyson. „Er hat erzählt, dieses Getränk stamme von der Erde.“ „Ja, der Captain. Er sorgt dafür, daß uns der Vorrat niemals ausgeht. Wir beziehen ständig Lieferungen von einem Planeten namens Sonnentau – ein Menschenplanet, wie Sie sich denken können. In einem Umkreis von tausend Lichtjahren ist dies die einzige Welt, wo das Zeug noch hergestellt wird. Der Captain stielt uns gelegentlich eine Flasche. Wir lassen ihn gewähren, denn wir betrachten es als Geschäftskosten.“ Ecuyer kam mit zwei Gläsern aus der Küche, eines gab er Tennyson, mit dem anderen setzte er sich in einen Sessel, der Tennyson gegenüberstand. „Hinunter damit“, sagte er. „Ich glaube, wir haben etwas, auf das wir trinken können.“ 67
„Das hoffe ich auch“, erwiderte Tennyson. „Die Patientin hat überraschend schnell auf das Protein reagiert. Allerdings müssen wir sie weiter gut im Auge behalten.“ „Sagen Sie mir, Doktor, widmen Sie sich allen Patienten mit dieser Hingabe? Sie sind so lange an Marias Bett geblieben, bis erste Anzeichen einer Besserung zu erkennen waren. Sie müssen todmüde sein. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Sicher haben Sie Ihren Schlaf bitter nötig!“ „Wenn Sie mir jetzt vielleicht zeigen könnten, wo ich mich hinlegen kann?“ „Gleich hier! Dies ist Ihre Wohnung. Benutzen Sie sie, solange Sie bei uns bleiben wollen.“ „Ich dachte, es wäre Ihre Wohnung.“ „Meine? 0 nein! Meine ist dieser sehr ähnlich, aber die hier ist für Gäste. Zur Zeit ist es die Ihre. Wir haben gehört, daß Sie Ihr Gepäck verloren haben, daher haben wir uns bemüht, Sie mit der notwendigsten Garderobe auszustatten. Morgen werden die Sachen hergebracht. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus?“ „Das wäre nicht nötig gewesen“, versetzte Tennyson steif. „Mir scheint, Sie wollen uns absichtlich nicht verstehen“, sagte Ecuyer. „Wir können gar nicht genug für Sie tun, um uns erkenntlich zu erweisen …“ „Sie wissen noch nicht, ob ich es überhaupt verdient habe. Maria ist noch nicht völlig über den Berg, auch nach der Protein-Impfung noch nicht.“ „Aber es gab doch eine deutliche Besserung.“ „Ja, ihr Pulsschlag ist jetzt regelmäßiger. Sie ist auch wieder etwas zu Kräften gekommen, und die Temperatur ist gesunken, allerdings noch nicht so weit, um Gewißheit haben zu können.“ „Ich glaube an Sie“, sagte Ecuyer. „Sie werden es schaffen.“ „Nun hören Sie gut zu“, sagte Tennyson. „Wir wollen uns doch nichts vormachen. Sie haben mit dem Captain gesprochen, oder einer Ihrer Leute hat es getan. Sie wissen verdammt gut, 68
daß ich in Wirklichkeit mein Gepäck nicht verloren habe. Ich hatte überhaupt kein Gepäck bei mir. Ich hatte keine Zeit zum Packen. Ich war auf der Flucht!“ „Ja“, antwortete Ecuyer sachlich. „Ja, das ist uns alles bekannt. Aber wir hatten nicht vor, Sie deswegen zur Rede zu stellen. Wir wissen nicht, was geschehen ist, und wenn Sie es uns nicht erzählen, dann wollen wir es auch gar nicht wissen. Wozu wäre uns dieses Wissen nütze? Ich weiß, daß Sie Arzt sind. Anfangs war ich mir auch darüber nicht sicher, aber nun weiß ich es. Durch Sie hat Maria eine Chance, am Leben zu bleiben. Welche Chance hätte sie ohne Sie gehabt?“ „Vermutlich keine“, gab Tennyson zu. „Es sei denn, diese junge Krankenschwester hätte allein die richtige Entscheidung getroffen.“ „Das hätte sie niemals getan“, widersprach Ecuyer. „Woher hätte Sie wissen sollen, was das Richtige ist. Sie hätte es nicht gewagt.“ „Also gut, nehmen wir einmal an, daß ich die Patientin gerettet habe. Ja und? Das ist mein Beruf. Deshalb habe ich studiert! Ich versuche jeden zu retten, den ich retten kann. Ich kann nicht alle retten. Sie schulden mir nichts. Das einzige, was ich verlangen kann, ist die normale Gebühr. Vielleicht nicht einmal die, schließlich habe ich mein Diplom in Wansttritt vergessen. Im Augenblick könnte ich nicht einmal dann beweisen, daß ich Arzt bin, wenn mein Leben davon abhinge. Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, hier zu praktizieren. Schließlich gibt es so etwas wie eine Lizenz.“ Ecuyer winkte ab. „Machen Sie sich über solche Formalitäten keine Sorgen. Wenn ich sage, daß Sie ein Doktor sind, dann sind Sie ein Doktor. Wenn wir Ihnen erlauben, hier zu praktizieren, dann haben Sie das Recht, hier zu praktizieren.“ „Ja“, sagte Tennyson, „wenn der Vatikan sagt …“ „Wenn auf Nirgendsend der Vatikan etwas behauptet, dann 69
ist das eine Tatsache. Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Wenn es uns nicht gäbe, dann gäbe es auch kein Nirgendsend. Wir sind Nirgendsend!“ „Schon gut, schon gut“, sagte Tennyson. „Ich will mich nicht mit Ihnen darüber streiten, ich verspüre nicht den geringsten Wunsch dazu. Jemand von Ihren Leuten ist krank geworden, und ich habe die Person behandelt. Das erwartet man schließlich von mir. Wir wollen keine große Sache daraus machen.“ „Inzwischen sollten Sie die Situation eigentlich erfaßt haben, Doktor: Wir haben keinen Arzt, aber wir brauchen einen, und zwar sehr dringend. Wir möchten, daß Sie für uns als festangestellter Arzt arbeiten.“ „Einfach so?“ fragte Tennyson. „Ja, einfach so. Ich will nicht länger darum herumreden. Wir sind in einer verzweifelten Lage. Es würde Monate dauern, bis wir einen Arzt finden, und wie gut er sein wird, wissen wir auch nicht.“ „Sie wissen auch nicht, wie gut ich bin …“ „Ich weiß, daß Sie Ihre Arbeit ernst nehmen. Und Sie sind ehrlich. Sie haben die Wahrheit über Ihre Flucht aus Wansttritt gesagt, und als ich Sie nach der Behandlungsmethode gefragt habe, haben Sie keine Garantie übernehmen wollen. Diese Art Aufrichtigkeit gefällt mir.“ „Es ist möglich, daß eines Tages jemand mit einem Haftbefehl für mich hier auftaucht. Ich rechne nicht damit, aber es ist …“ „Was wollte hier jemand mit einem Haftbefehl anfangen. Wir beschützen unsere Leute. Wenn Sie wirklich in Schwierigkeiten sind, Doktor, dann kann ich Ihnen versprechen, Sie sind hier in Sicherheit. Ob Sie nun im Recht sind oder nicht, für Ihre Sicherheit kann ich mich so oder so verbürgen.“ „Nun, ich glaube nicht, daß ich diesen Schutz brauchen werde, aber es tut gut zu wissen, daß es ihn gibt. Aber was ist dies eigentlich für ein Ort? Für wen soll ich hier arbeiten? Sie nen70
nen diesen Platz den Vatikan, und ich habe gerüchteweise von einem Projekt Papst gehört, das von einer Schar Roboter geleitet wird. Können Sie mir sagen, was davon der Wahrheit entspricht? Diese alte Dame, Maria, sie sprach von Engeln, ist das wirklich nur die Todesvision einer Schwerkranken?“ „Nein, das ist es nicht“, antwortete Tennyson. „Maria hat den Himmel entdeckt.“ „Sagen Sie das noch einmal: ‚Maria hat den Himmel entdeckt.’ Es klang so, als ob Sie das ernst meinten.“ „Ich habe es so gesagt, wie ich es gemeint habe“, erwiderte Ecuyer. „Sie hat wirklich den Himmel gefunden. Alle Beweise sprechen dafür. Allerdings sind noch weitere Beobachtungen nötig, damit wir Gewißheit bekommen. Wir haben zwar ihre Klonnachkommen, drei sind es, aber es ist nicht sicher, daß diese auch …“ „Beweise? Klonnachkommen. Was für Beweise sollen das sein? Wenn ich mich richtig erinnere, dann ist der Himmel kein bestimmter Ort. Es ist ein Zustand, eine Geistesverfassung, eine Glaubenshaltung …“ „Hören Sie mir zu, Doktor. Die Sache bedarf einer längeren Erklärung.“ „Das scheint mir auch so.“ „Zunächst will ich den allgemeinen Hintergrund beschreiben“, begann Ecuyer. „Vatikan-17, dieser Vatikan also, ist vor mehr als tausend Jahren von einer Gruppe von Robotern gegründet worden. Auf der Erde war es den Robotern nicht gestattet, irgend einem Glaubensbekenntnis anzugehören. Das hat sich heute in mancher Hinsicht geändert. So können Roboter zum Beispiel die Kommunion empfangen, nicht überall, aber auf einigen Planeten schon. Vor tausend Jahren war das noch nicht der Fall. Es wäre einer Blasphemie gleichgekommen, wenn man Robotern gestattet hätte, an einer Religion teilzuhaben. Wenn jemand Mitglied einer Glaubensgemeinschaft sein 71
will, ganz gleich, welche Gemeinschaft das ist, dann muß er eine Seele besitzen, oder das Äquivalent einer Seele. Roboter hatten keine Seele, zumindest hat man ihnen keine solche zugetraut. Also war ihnen der Zutritt zu Glaubensgemeinschaften aller Art verwehrt. Sind Sie mit Robotern einigermaßen vertraut, Doktor?“ „Nein, das kann ich wirklich nicht behaupten. In meinem Leben habe ich bisher nur mit einer Handvoll Robotern gesprochen, gesehen habe ich ein paar mehr. In der medizinischen Fakultät gab es auch Roboter, aber sie und die Menschen gingen sich gegenseitig aus dem Weg. Ich habe nie einen Roboter näher gekannt. Allerdings habe ich auch nie das Bedürfnis dazu verspürt.“ „Sie teilen Ihre Einstellung mit neunundneunzig von hundert Menschen. Sie wollen mit Robotern nichts zu tun haben, Sie interessieren sich nicht für sie. Wahrscheinlich stellen Sie sich die Roboter als eine Art Metallmenschen vor, als Maschinen, die Menschen nachäffen wollen. Ich kann Ihnen versichern, daß Roboter viel mehr sind als das. Das ist nicht immer so gewesen, aber heute und hier auf Nirgendsend sind sie mehr als Maschinen. In den letzten tausend Jahren haben sich die Roboter weiterentwickelt. Sie haben sich zu Wesen entwickelt, die wenig mit Menschen gemeinsam haben. Im Verlauf ihrer Evolution haben sie jedoch nie vergessen, daß sie Schöpfungen des Menschen sind. Sie leiden nicht unter dem Gedanken, daß sie von anderen geschaffen wurden. Im allgemeinen verspüren sie eine starke Bindung an den Menschen. Ich könnte eine ganze Nacht damit zubringen, Ihnen zu erzählen, was die Roboter tun, wie sie sind, was das Besondere an diesen Robotern hier ist. Sie sind einst hierhergekommen, weil man ihnen überall die Teilhabe an Religionen verweigert hat. Ein Teil des Menschenlebens war ihnen verwehrt, und gerade dieser Teil war für die Roboter besonders anziehend. Man muß 72
einen Roboter sehr gut kennen, damit man seinen seltsamen Drang zu religiösen Erfahrungen versteht. Vielleicht handelt es sich dabei nur um eine Art Überkompensation – um den starken Trieb, dem Menschen so ähnlich wie möglich zu werden. Dem Roboter sind soviele Aspekte des Menschentums verwehrt, seine Natur legt ihm viele Beschränkungen auf. Ein Roboter kann nicht weinen, und er kann nicht lachen. Er hat keinen Sexualtrieb, wenn er auch andere Roboter erschaffen kann. Zumindest unsere Roboter hier können andere Roboter erschaffen. Sie statten sie mit Verfeinerungen aus, die sich die Menschen niemals hätten träumen lassen. Vermutlich wäre ein Mensch gar nicht auf den Gedanken gekommen, Roboter mit diesen Merkmalen zu versehen. Hier auf Nirgendsend ist eine neue Rasse von Robotern entstanden … Ich glaube, jetzt habe ich ein wenig vorgegriffen.“ „Was Sie mir über den religiösen Drang als Überkompensation erzählt haben, kann ich nachvollziehen“, sagte Tennyson. „Die Religion ist ein Mysterium, das sie mit der menschlichen Rasse teilen könnten.“ „Ja, so ist es“, bestätigte Ecuyer. „Ich könnte Ihnen nun eine lange Geschichte erzählen, Ihnen schildern, welche Überlegungen und welche Schritte dazu führten, daß vor einem Jahrtausend eine kleine Gruppe von Robotern nach Nirgendsend zog, um hier eine eigene Religion zu stiften. Aber wir wollen das für den Augenblick beiseite lassen. Vielleicht können wir uns später einmal darüber unterhalten. Das heißt, wenn Sie daran interessiert sind.“ „Natürlich bin ich interessiert. Wenn Sie die Zeit erübrigen können …“ „Die Roboter sind also hier gelandet und haben den Vatikan gegründet. Die Basis bildete eine irdische Religion, für die sie eine gewisse Zuneigung hegten. Nicht so sehr wegen der Lehre, nehme ich an, sondern wegen der Organisation, ihrer Hierarchie, ihrer langen Tradition und ihrem Dogma. In diesem Vati73
kan werden Sie viel von der Liturgie und den Ritualen wiederfinden, die Sie vom Vatikan auf der Erde kennen. Dieser hat gewiß als Modell gedient, aber man hat nicht versucht, ihn sklavisch nachzuahmen, davon bin ich fest überzeugt. Auch mit dem katholischen Glauben hat dies Unternehmen hier wenig gemein. Es war nicht die Absicht der Roboter, eine bestimmte Religion an den Rand der Galaxis zu verpflanzen. Wenn man das Projekt einer gründlichen Untersuchung unterzöge, würde man vermutlich feststellen, daß es sich um eine Synthese aus verschiedenen Religionen handelt, denn die Roboter haben auch zahlreiche Aspekte aus den Bekenntnissen von Fremdrassen übernommen.“ „Sie haben sich also gewissermaßen ihren eigenen Glauben geschaffen“, stellte Tennyson fest. „Dazu haben sie sich von überallher geeignete Teile ausgeborgt?“ „Genauso ist es. Ein Roboterglaube, aber deshalb ist es dennoch ein ernstzunehmender Glaube. Das hängt davon ab, wie Sie den Begriff ‚Religion’ definieren.“ „Mr. Ecuyer – oder sollte ich Sie anders anreden, verfügen Sie etwa über einen Titel?“ „Mister genügt mir. Schöner fände ich es, wenn Sie mich beim Vornamen nennen würden. Ich heiße Paul. Einen Titel führe ich übrigens nicht. Ich bin kein Gemeindeglied, wenn Sie so wollen.“ „Ich wollte gerade fragen, welche Rolle Sie … äh, du bei diesem Unternehmen spielst.“ „Ich arbeite als Koordinator beim sogenannten Suchprogramm.“ „Was ist das, ich habe noch nie etwas davon gehört.“ „Davon wird nicht viel gesprochen. Es ist ein Teil des Projektes. Manchmal habe ich das Gefühl, das Projekt Papst wird nur weitergeführt, um das Suchprogramm fortsetzen zu können. Es wäre mir lieb, wenn du den Brüdern nichts von dieser mei74
ner Ansicht erzählen würdest. Viele von ihnen sind sehr fromm und empfindlich.“ „Für mich klingt das alles sehr verwirrend.“ „Dabei ist es eigentlich sehr einfach“, sagte Ecuyer, „und auf seine Art auch logisch. Die Vorstellung eines Papstes als Pontifex Maximus für ihren Glauben hatte eine große Anziehungskraft auf die Religionsstifter. Aber wo sollten sie einen Papst finden? Sie waren der Ansicht, daß es ein Sakrileg darstellte, wenn sie einen Roboter zum Papst ausriefen. Einen Menschen konnten sie nicht gebrauchen, selbst wenn es ihnen gelungen wäre, einen menschlichen Kandidaten für dieses Amt zu finden. Ein Mensch lebt nicht lange genug, um in einer Roboterkirche als Papst dienen zu können, denn die Gemeindeglieder verfügen – zumindest theoretisch – über das ewige Leben. Natürlich nur bei entsprechender Wartung, versteht sich. Wie dem auch sei, abgesehen von diesem ernstlichen Hinderungsgrund wäre ein Mensch auch in anderer Hinsicht nicht in Frage gekommen. Nach der Denkungsart der Roboter sollte ein Papst unsterblich sein, allwissend und unfehlbar. Seine Unfehlbarkeit sollte die des menschlichen Papstes übersteigen. Also machten sie sich daran, sich selbst einen Papst zu erschaffen.“ „Einen Papst zu erschaffen?“ „Ja, einen Computerpapst.“ „O Gott!“ seufzte Tennyson. „Das ist schwer vorstellbar, nicht wahr? Sie bauen noch immer an ihm. Jahr für Jahr arbeiten sie an ihm und verbessern ihn. Über die Jahrhunderte hat sein Umfang gewaltig zugenommen. Täglich wird er mit neuen Daten vollgestopft, und während die Jahre vergehen, nähert er sich immer mehr der Unfehlbarkeit.“ „Das kann ich nicht glauben. Es ist …“ „Du brauchst auch nicht daran zu glauben. Ich tue es ebenfalls nicht. Es reicht, wenn die Roboter daran glauben. Schließ75
lich ist es ihre Religion. Und wenn du einmal in Ruhe über alles nachdenkst, dann wirst du einen gewissen Sinn darin finden.“ „Ja, das kann ich mir vorstellen. Jeder Glaube baut schließlich auf eindeutigen, unfehlbaren Antworten auf. Ja, wenn man es so betrachtet, ergibt das Projekt durchaus einen Sinn. Die Daten liefert das Suchprogramm, nehme ich an?“ Ecuyer nickte. „So ist es“, bestätigte er. „Nur weil ich eben so lässig, fast wegwerfend darüber geredet habe, darfst du nicht denken, daß ich ganz und gar ungläubig bin. Vielleicht bin ich kein echter Gläubiger, aber gelegentlich stoße ich auf Dinge, an die ich glauben kann.“ „Dazu möchte ich mich jetzt nicht äußern. Was ist mit diesen Daten? Woher bezieht das Suchprogramm seine Daten. Ihr seid hier, an einem festen Ort, doch die Daten müßt ihr im ganzen Universum suchen, oder?“ „Dabei helfen uns Menschen, die wir als ‚Lauscher’ bezeichnen. Der Ausdruck klingt vielleicht etwas seltsam, aber er ist zutreffend.“ „Parapsychologisch Begabte?“ „Sensitive ganz besonderer Art. Wir suchen die ganze Galaxis nach ihnen ab. Wir spüren sie regelrecht auf. Überall haben wir Anwerber, die im stillen arbeiten. Die Roboter haben Methoden und Geräte entwickelt, mit denen man die Begabung der Lauscher verstärken kann. Gelegentlich erhalten wir Ergebnisse, die geradezu unglaublich sind.“ „Nehmt ihr immer Menschen dazu?“ „Bisher ausschließlich. Hin und wieder haben wir es mit einem Fremden versucht, aber das hat nie funktioniert. Vielleicht entwickeln wir eines Tages eine Methode, wie wir mit ihnen zusammenarbeiten können. Das ist ein Forschungsprojekt, an dem wir zur Zeit arbeiten. Vermutlich könnten uns fremde Wesen Daten beschaffen, die uns kein Mensch liefern kann.“ 76
„Und diese Daten werden dann in den Papst eingegeben?“ „Der größte Teil jedenfalls. In letzter Zeit sind wir wählerisch geworden. Wir treffen eine Art Vorauswahl, geben also nicht das ganze Rohmaterial weiter. Aber alle Funde der Lauscher werden ausnahmslos aufbewahrt. Wir haben alles gespeichert, ich hätte fast gesagt, auf Bändern gespeichert, dabei sind es keine Bänder. Naja, jedenfalls haben wir alles festgehalten. So haben wir ein Archiv aufgebaut, das die Galaxis in Erstaunen versetzen würde, wenn es bekannt wäre.“ „Aber ihr wollt nicht, daß es bekannt wird?“ „Wir wollen nicht, daß die gesamte Milchstraße unseren Planeten stürmt.“ „Maria ist ein Lauscher. Und sie glaubt, sie hat den Himmel gefunden?“ „Das ist wahr.“ „Und was hältst du, als äh … teilweise Gläubiger davon?“ „Ich muß es ernst nehmen. Maria ist einer unserer begabtesten und vertrauenswürdigsten Lauscher.“ „Aber den Himmel entdeckt!?“ „Du mußt bedenken“, sagte Ecuyer, „daß wir uns nicht nur mit dem physikalischen Raum befassen. Manchmal wissen wir nicht, was wir entdeckt haben. Ich will dir ein einfaches Beispiel nennen: Wir haben einen Lauscher, der sich im Verlaufe von Jahren immer weiter zurück in die Vergangenheit begeben hat. Ganz offensichtlich ist er dabei nicht einfach willkürlich in vergangene Zeiten gesprungen, sondern er ist der Linie seiner Ahnen und seiner entfernten Vorfahren gefolgt. Warum er diesen Weg eingeschlagen hat, wissen weder wir noch er selbst. Möglicherweise werden wir es eines Tages herausfinden. Er folgt also seiner Stammbaumlinie in Jahrtausendsprüngen immer weiter zurück. Kürzlich hat er die Welt aus den Augen eines Trilobiten betrachtet.“ „Eines Trilobiten?“ 77
„Ein irdisches Lebewesen. Es ist seit dreihundert Millionen Jahren ausgestorben.“ „Ein Mensch als Trilobiten?“ „Die Gene, Doktor, die Lebenskraft. Wenn man weit genug zurückgeht …“ „Ja, ich verstehe“, sagte Tennyson. „Es ist sehr faszinierend“, erklärte Ecuyer. „Eine Sache gibt mir zu denken“, stellte Tennyson fest. „Du erzählst mir das alles, aber du willst nicht, daß es bekannt wird. Wenn ich Nirgendsend verlasse …“ „Wenn du Nirgendsend verläßt …“ „Was willst du damit sagen?“ „Wir hoffen, daß du hierbleiben wirst. Wir können dir ein sehr attraktives Angebot machen. Die Einzelheiten können wir später besprechen.“ „Und wenn ich nicht hierbleiben will?“ „Nur ein Schiff steuert Nirgendsend an“, sagte Ecuyer. „Es unterhält einen Pendelverkehr nach Wansttritt. Wansttritt ist der einzige Planet, zu dem man von hier aus fliegen kann.“ „Ihr geht davon aus, daß ich es nicht riskieren werde, nach Wansttritt zurückzukehren?“ „Ich hatte den Eindruck, du möchtest eine Rückkehr dorthin vermeiden. Wenn du Nirgendsend wirklich verlassen willst, werden wir dich nicht aufhalten. Wenn wir das wollten, könnten wir es natürlich. Ein Wort zum Captain, und er wird plötzlich feststellen, daß er nicht genügend Platz an Bord seines Schiffes hat. Aber ich glaube, wir können es uns leisten, dich ziehen zu lassen. Auch wenn du alles ausplauderst, was ich dir erzählt habe, wirst du uns nicht schaden. Ich bezweifle, daß dir irgend jemand die Geschichte glauben wird. Man wird sie für Raumfahrergarn halten.“ „Ihr scheint recht selbstsicher zu sein“, stellte Tennyson fest. „Das sind wir auch“, entgegnete Ecuyer. 78
10 Als Tennyson erwachte, war es noch dunkel. Minutenlang blieb er reglos liegen, eingehüllt von behaglicher, undurchdringlicher Finsternis. Er schlief nicht mehr, war aber auch noch nicht wach. Unterbewußt glaubte er sich noch immer auf Wansttritt, die Erinnerungen an die jüngsten Ereignisse hatten sich noch nicht eingestellt. Im Zimmer war es sehr dunkel, doch von irgendwoher fiel ein schwacher Lichtschein in den Raum, und nach und nach begannen die Gegenstände im Zimmer Gestalt anzunehmen. Das Bett war sehr bequem, Tennyson wurde erneut von einer angenehmen Benommenheit übermannt und schloß die Augen. Er versuchte, sich noch einmal in den Schlaf zu flüchten, aber er spürte, daß etwas nicht stimmte. Er war nicht auf Wansttritt und auch nicht auf dem Schiff. Das Schiff! Mit einem Ruck fuhr er im Bett hoch, bei diesem Gedanken war alle Müdigkeit verflogen. Das Schiff und Jill und Nirgendsend … Nirgendsend, ach du liebe Güte! Nun stürzten die Erinnerungen wie eine Lawine auf ihn nieder. Mit einem Mal erschreckte ihn die vollkommene Ruhe, die ihn umgab, und er spannte alle Muskeln an. Maria hatte den Himmel gefunden! Jetzt sah Tennyson das Licht, das durch die Türöffnung zum Wohnraum hereinfiel. Der Schein flackerte und schwankte, wurde heller und verblaßte wieder, huschte irrlichternd über die Wände und brachte schwarze Schatten zum Tanzen. Offenbar kam das Licht vom Kamin, in dem noch immer das Feuer brannte. Wie war das möglich? Das Holz mußte inzwischen längst zu Asche heruntergebrannt sein. Aus einer dunklen Zimmerecke löste sich langsam ein Schat79
ten und näherte sich dem Bett. „Sind Sie aufgewacht, Sir?“ fragte er. „Ja, ich bin wach“, antwortete Tennyson, wobei er sich Mühe gab, ruhig zu bleiben. „Wer zum Teufel sind Sie?“ „Ich bin Hubert“, erwiderte der Schatten. „Ich bin Ihnen als Diener zugeteilt. Ich werde für Sie arbeiten.“ „Sie haben eine seltsame Art, eine Stelle anzutreten“, versetzte Tennyson. „Sie haben mich zu Tode erschreckt.“ „Das tut mir leid.“ Der Diener war in den Lichtschein getreten, und Tennyson konnte ihn jetzt besser betrachten. Er sah eine seltsame, menschenähnliche Gestalt, kantig, und in einer Haltung, in der sich Kraft und Unterwürfigkeit mischten. „Sie können unbesorgt sein, Sir“, fuhr der Schatten fort. „Ich bin ein Roboter, und ich werde Ihnen nichts zuleide tun. Soll ich das Licht einschalten? Wäre Ihnen das angenehm?“ „Ja, bitte, schalten Sie eine Lampe an“, sagte Tennyson. Der Roboter knipste eine kleine Tischlampe an. In ihrem gelben Licht konnte Tennyson feststellen, daß der Schlafraum genauso komfortabel ausgestattet war wie jener Teil der Wohnung, den er bereits am vergangenen Abend besichtigt hatte. Die Möbel waren aus dunklem, edlem Holz und mit Messingbeschlägen versehen. An den Wänden hingen mehrere Gemälde. Tennyson stieß die Bettdecke zurück und bemerkte, daß er völlig nackt war. Er schwang die Beine aus dem Bett, seine Füße sanken tief in den weichen Teppichboden ein. Dann faßte er nach dem Stuhl neben dem Bett, wo er seine Kleider vermutete. Der Stuhl war leer. Tennyson zog die Hand zurück und fuhr sich durchs Haar, betastete sein Gesicht. Bartstoppeln kratzten unter seiner Handfläche. „Ihre Garderobe ist leider noch nicht eingetroffen“, bemerkte Hubert. „Aber ich habe Ihnen ein paar Kleidungsstücke besorgt. Das Bad ist dort drüben, und in der Küche steht der Kaffee für Sie bereit.“ 80
„Zuerst will ich ins Bad“, sagte Tennyson. „Gibt es dort eine Dusche?“ „Eine Dusche und eine Wanne. Wenn Sie die Wanne vorziehen, werde ich das Wasser einlaufen lassen.“ „Nein, danke. Eine Dusche genügt mir. Außerdem bin ich in Eile. Auf mich wartet viel Arbeit. Gibt es etwas Neues von Maria?“ „Da ich damit rechnete, daß Sie sich gleich nach ihr erkundigen würden, habe ich sie vor einer Stunde aufgesucht. Die Schwester hat mir gesagt, daß es ihr gut geht, sie spricht ausgezeichnet auf das Protein an. Sie finden Handtücher, Zahnbürste und Rasierzeug im Badezimmer. Wenn Sie fertig sind, werde ich Ihre Garderobe bereitgelegt haben.“ „Danke schön“, sagte Tennyson. „Mir scheint, Sie verstehen sich auf Ihren Beruf. Arbeiten Sie schon lange als Diener? Eigentlich arbeite ich für Mr. Ecuyer, Sir. Er hat zwei Diener. Mich hat er an Sie ausgeliehen.“ Als Tennyson aus dem Bad kam, war das Bett gemacht und seine Garderobe darauf ausgebreitet. Jetzt hatte er Gelegenheit, sich den Roboter genauer anzusehen, und er stellte fest, daß er äußerlich einem Menschen stark ähnelte – einem idealisierten, glänzenden Menschen. Der Kopf war kahl und bestand aus poliertem Metall, aber davon abgesehen sah Hubert tatsächlich wie ein Mensch aus. Er trug keine Kleidung, aber sein Körper war so lackiert, daß er einem bekleideten Menschenleib glich. „Möchten Sie jetzt frühstücken?“ fragte Hubert. „Nein, ich trinke nur eine Tasse Kaffee. Zum Frühstücken ist später noch Zeit. Ich möchte rasch einmal nach Maria sehen, dann komme ich hierher zurück.“ „Ich werde den Kaffee im Wohnzimmer servieren“, sagte Hubert. „Vor dem Kamin. Vorher werde ich noch rasch das Feuer schüren, damit es schöner flackert.“ 81
11 Hinter dem Gebäude, in dem die Klinik untergebracht war, stieß Tennyson auf einen kleinen Garten. Die Sonne war bereits ein beträchtliches Stück am Himmel hochgewandert. Im Westen ragten die Berge auf. Sie schienen unnatürlich nahe zu sein, eine mächtige Wand aus blauen Schatten. Die blaue Tönung der Berge war vielfach abgestuft, vom dunklen Ultramarin an den untersten Hängen bis hinauf zum hellsten Azur. Darüber glitzerten die eisbedeckten Gipfel weiß wie kostbare Diamanten. Der Garten war sehr gut gepflegt. Seine Anlage war ein wenig steif, doch das Morgenlicht erfüllte ihn mit einem weichen Schein. Ziegelgepflasterte Wege zogen sich – eingefaßt von niedrigem Buschwerk – durch die Rasenflächen. Überall waren kleine Blumenbeete zu sehen, von denen einige in voller Blüte standen. Tennyson stellte fest, daß er keine der zahlreichen Blumenarten kannte. Am fernen Ende des Gartens erschienen drei Gestalten in braunen Kutten. In tiefes Nachdenken versunken gingen sie einen Weg entlang. Sie hielten die glänzenden Schädel gesenkt, die metallenen Kinnladen lagen fast auf der Brust auf. Die Kühle der Nacht wurde schnell von der Sonne vertrieben. Der Garten war ein stiller, angenehmer Ort, und es bereitete Tennyson Wohlbehagen, sich dort aufzuhalten. An einer Kreuzung von drei Wegen stand eine Steinbank. Tennyson ließ sich darauf nieder, seine Augen waren auf die ferne Bergkette gerichtet. Während er dort saß, empfand er eine ruhige, wohltuende Zuversicht, wie er sie schon seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Maria ging es recht gut. Offenbar befand sie sich auf dem Wege zu einer vollständigen Heilung. Es war allerdings noch 82
zu früh, um in dieser Frage letzte Gewißheit zu haben. Ihr Fieber ließ ständig nach, und ihr Puls schlug kräftiger. Auch das Atmen fiel ihr nun leichter. Bald würde sich ihr Bewußtsein wieder klären. Tennyson hatte es ihrem Gesicht angesehen, daß sie in nächster Zeit wieder zu sich kommen würde. Die Frau war sehr alt, doch in dem bemitleidenswert ausgezehrten Körper konnte man einen ungeheuren Lebenswillen spüren. Vielleicht hat sie etwas, um das es sich zu kämpfen lohnt, dachte Tennyson. Ecuyer hatte am vergangenen Abend behauptet, sie hätte den Himmel gefunden, das war natürlich glatter Blödsinn. Maria aber war gewiß überzeugt, den Himmel gefunden zu haben. Nun wollte sie mehr davon erspähen, dieser Gedanke gab ihr Lebenskraft. So hatte jedenfalls Ecuyer die Sache dargestellt: Maria mußte unbedingt am Leben erhalten werden, damit sie mehr über den Himmel in Erfahrung bringen konnte. Das Ganze war völlig unlogisch, sagte sich Tennyson. Entweder hatte irgend jemand etwas falsch verstanden, oder es handelte sich um einen schlechten Scherz, einen Scherz, den man nur im Vatikan verstehen konnte oder der im Suchprogramm begründet lag. Andererseits hatte Ecuyer nicht den Eindruck eines Spinners oder Scherzboldes gemacht, als er die Geschichte erzählte. Er hatte es bereits Ecuyer erklärt, und hier auf der Gartenbank wiederholte er es noch einmal für sich: Der Himmel, wenn es ihn wirklich gab, war kein Ort, den man finden konnte. Der Himmel ist ein Bewußtseinszustand, hatte er zu Ecuyer gesagt, und Ecuyer hatte das nicht bestritten. Trotzdem schien es so, als ob Ecuyer, der sich selbst als teilweise Ungläubigen bezeichnete, es nicht für ausgeschlossen hielt, daß jemand den Himmel finden konnte. Unsinn, sagte sich Tennyson. Kein Fünkchen Logik steckt in dieser Sache. Aber vermutlich stand diese unsinnige Himmelsentdeckung nicht allein da, wahrscheinlich bildeten Jahrhunderte ähnlich sinnloser Unternehmungen und Behauptungen den 83
Hintergrund für dieses merkwürdige Ereignis. Unlogisch also, aber wenn es ein Charakteristikum gab, das ohne Einschränkung auf alle Roboter angewandt werden konnte, dann war das ihre Fähigkeit zum logischen Denken. Die Logik war ein Grundbestandteil jedes Roboters. Ecuyer hatte behauptet, die Roboter hätten sich selbst ständig verfeinert und verbessert, seit sie sich einst auf Nirgendsend niedergelassen hatten. Es erschien Tennyson völlig unmöglich, daß bei dieser Weiterentwicklung die Fähigkeit zum logischen Denken abgenommen haben sollte. Schließlich war die Logik das Wesensmerkmal des Robotgehirns. Aber vielleicht hatte er etwas übersehen. In diesem System offenbarer Unlogik mußte es einen Faktor – vielleicht gar mehrere Faktoren – geben, die er außer Acht gelassen hatte. Vatikan-17 war kein Unternehmen, das man leichtfertig abtun konnte. Zehn Jahrhunderte hingebungsvoller Bemühungen steckten dahinter, und diese Bemühungen hielten noch an. Ihr Ziel war es, eine universelle Religion zu errichten, einen unfehlbaren Papst zu schaffen und alle Facetten zu suchen und zu verstehen, die zu einem universalen Glauben zusammenkommen mußten. Er hatte zu schnell darüber geurteilt, gestand sich Tennyson ein. Vielleicht reichte ein Menschenleben gerade aus, um zu einem gerechten Urteil zu gelangen. Er würde mit dem Projekt leben müssen, es beobachten, Fragen stellen und so allmählich ein Gefühl dafür bekommen, was an diesem Ort vor sich ging. Auch mußte er erst einmal die Personen kennenlernen, die am Projekt arbeiteten. Plötzlich stellte Tennyson fest, daß er eine Entscheidung getroffen hatte. Dabei hatte er gar nicht über diese Entscheidung nachgedacht. Doch wenn er das Projekt beobachten wollte, wenn er sich ein Urteil bilden wollte, dann mußte er ja wohl oder übel hierbleiben. Und warum eigentlich nicht? fragte er sich. Wenn er diesen 84
Planeten verlassen wollte, mußte er nach Wansttritt zurückkehren, und das war etwas, was er in nächster Zukunft um jeden Preis vermeiden wollte. Es ging ihm nicht schlecht auf Nirgendsend, zumindest war es ihm bisher nicht schlechtgegangen. Wenn er blieb, würde er in seinem Beruf arbeiten können. Er würde eine kleine Praxis unterhalten und die Mitarbeiter des Vatikans betreuen, gelegentlich vielleicht einmal einen Siedler aus der Stadt. Ihm standen eine prachtvolle Wohnung und ein Robotdiener zur Verfügung, und vermutlich würde er ein paar interessanten Leuten begegnen, mit denen er seine Zeit verbringen konnte. Bei seiner Flucht aus Wansttritt hatte er nicht nach einem Asyl gesucht, doch hier hatte er das beste Asyl gefunden, das er sich vorstellen konnte. Ein seltsamer Ort, aber man konnte sich an ihn gewöhnen. In mancher Hinsicht recht primitiv, aber auf keinen Fall primitiver als Wansttritt. Er beugte sich auf der Bank nach vorn und zog mit der Schuhspitze eine Ritze im Ziegelpflaster nach. Die Entscheidung war ihm leichter gefallen, als er erwartet hatte. Vielleicht hätte er Ecuyers Angebot schon am vergangenen Abend angenommen, doch als Ecuyer durchblicken ließ, daß der Vatikan ihn auch mit Gewalt festhalten könnte, hatte ihn das abgeschreckt. Diese Drohung wäre nicht nötig gewesen, warum hatte Ecuyer sie dann ausgesprochen? Freiwillig oder unfreiwillig, dachte Tennyson, wenn ich hierbleibe, ist das die vernünftigste Lösung. Wohin sollte ich sonst auch gehen? Er stand auf und ging langsam den Weg entlang. Bald mußte er zu seiner Wohnung zurück, wo Hubert mit dem Frühstück auf ihn wartete. Doch er erkannte, daß diese Minuten im Garten unwiederbringlich waren. Wenn die Sonne erst hoch am Himmel stand, dann würde sich dieser Ort verwandelt haben. Der weiche, zarte Hauch des Augenblicks würde verschwunden sein und vielleicht niemals wiederkehren. An diesem Morgen war Tennyson mit sich ins reine gekommen. Aus frei85
en Stücken und ohne Schuldgefühle hatte er sich für sein Asyl entschieden. Vor ihm beschrieb der Weg einen scharfen Knick. Die Biegung war teilweise hinter einer blutrot blühenden Buschgruppe verborgen. Diese Büsche waren etwas höher als die anderen im Garten. Als Tennyson die Buschgruppe umrundete, erstarrte er in der Bewegung. Direkt vor ihm auf dem Weg hockte mit einer Rosenschere in der Faust ein Roboter. Er machte sich an einem kleinen Strauch zu schaffen, der wunderschöne, samtig rote Blüten trug, auf denen Tautropfen glitzerten. Der Roboter blickte auf. „Guten Morgen, Sir“, sagte er. „Sie müssen der Arzt sein, der gestern eingetroffen ist?“ „Ja, der bin ich“, antwortete Tennyson. „Wie ist es möglich, daß Sie bereits von mir gehört haben?“ Der Roboter nickte bedächtig mit dem Kopf. „Nicht nur ich, Sir. Jedermann hat von Ihnen gehört. Hier geschieht nichts, das nicht sofort allgemein bekannt ist.“ „Aha, ich verstehe“, sagte Tennyson und trat einen Schritt näher. „Das sind doch Rosen, nicht wahr?“ „Ja, das stimmt“, bestätigte der Roboter. „Pflanzen von der alten Erde. Wir haben hier viele Rosenstöcke, darauf sind wir sehr stolz. Sonst findet man sie kaum noch. Haben Sie schon einmal Rosen gesehen?“ „Einmal“, sagte Tennyson, „aber das ist lange her.“ „Sie wissen sicher, daß wir von der Erde hierhergekommen sind. Inzwischen sind unsere Bande an den Mutterplaneten längst zerrissen, aber wir halten an unserem Erbe fest. Sagen Sie mir doch, Sir, sind Sie schon einmal auf der Erde gewesen?“ „Nein, ich war noch nicht dort. Die Menschen besuchen die Erde nur noch selten.“ „Ja, ja“, nickte der Roboter. „Es war auch nur eine Frage.“ 86
Er knippste eine einzelne, langstielige Rose ab und hielt sie Tennyson entgegen. „Bitte, Sir“, sagte er. „Ich möchte Ihnen ein Stück von der alten Erde geben.“
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12 Enoch Kardinal Theodosius war von schmächtiger Gestalt. Er wurde von der gewaltigen purpurnen Robe, die ihn umhüllte, fast erdrückt. Allein das metallene Glänzen des Gesichtes unter dem scharlachroten Käppchen verriet ihn als Roboter. Verraten war eigentlich nicht das richtige Wort, dachte Jill Roberts. Kardinal Theodosius und alle seine Gefährten versuchten nicht, sich als Menschen zu maskieren. Vermutlich waren sie stolz darauf, Roboter zu sein. Wenn das, was sie auf Nirgendsend geleistet hatten, ein echtes Abbild ihres Geschicks und ihres Leistungsvermögens bot, dann hatten sie einen Grund, stolz zu sein. Der Vatikandiener, der sie zum Kardinalsgemach geleitet hatte, schloß hinter ihr die Tür. Er pflanzte sich breitbeinig davor auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Der Raum lag im Halbdunkel, er war nur von einer einzigen Kerze erleuchtet, die auf dem Schreibtisch brannte, hinter dem der Kardinal saß. Was mochte die Kerze für einen Sinn haben? fragte sie sich. Es gab doch elektrisches Licht, wozu also diese Kerze? Vielleicht diente sie der Dekoration. Vieles an diesem Ort diente einem dekorativen Zweck. Rote und goldene Vorhänge hingen an den Wänden herab. Falls der Raum überhaupt Fenster hatte, waren diese ebenfalls hinter schweren Wandbehängen verborgen. Auf dem Boden lag ein tiefer Teppich. Vermutlich war er ebenfalls rot, aber das war nicht genau zu erkennen. In der dämmrigen Beleuchtung erschien er fast schwarz, doch wer würde einen schwarzen Teppich in ein Zimmer legen? Der Raum war sparsam möbliert, und im schwachen Licht sahen die dunklen Formen der Möbelstücke fast wie sprungbereite Ungeheuer aus. Langsam ging Jill auf den Kardinal zu, wobei sie im Kopf hastig noch einmal das Protokoll durchging, mit dem sie im 88
Vorzimmer vertraut gemacht worden war. Hinknien und den Ring küssen; erst wieder aufstehen, wenn er das Zeichen dazu gibt; danach so lange stehenbleiben, bis er zum Hinsetzen auffordert. Anreden mit „Eure Eminenz“, nach der ersten Begrüßung durfte auch die Kurzform „Eminenz“ verwendet werden. Vielleicht gab es noch mehr zu bedenken, aber alles andere war ihr entfallen. Sie würde sich schon durchschlagen, beruhigte sie sich; sie hatte sich schon durch prekärere Situationen gewunden. Außerdem: So genau würde es der Kardinal hoffentlich nicht nehmen. Ein paar kleinere Verstöße gegen die Etikette würde er ihr gewiß verzeihen. Sicher würde er sich sagen: Sie ist nur ein einfältiges Weibsbild und wird keinen Schaden anrichten. Sie bewegte sich sehr langsam und hoffte, daß der Kardinal dies als würdevolles Benehmen auslegen würde. Sie hatte jedoch ihre Zweifel über die Gedanken des Kardinals. Viel eher würde er sich sagen, daß sie sich so seltsam benahm, weil sie weiche Knie hatte. Dabei stimmte das gar nicht. Eigentlich bedeutete ihr dieser Roboterkardinal in einer obskuren Welt am Rande der Galaxis recht wenig. Der Kardinal blickte ihr stumm entgegen, wahrscheinlich war er bereits dabei, sie zu taxieren. Als sie etwa einen Meter von ihm entfernt war, blieb sie stehen. Sie berührte mit einem Knie den Boden, und der Kardinal streckte langsam seine Hand aus. Da ist der Ring, dachte sie. Sie küßte ihn. Er zog den Ring zurück und bedeutete ihr mit einer freundlichen Handbewegung, daß sie sich erheben sollte. Also stand sie auf. „Miß Roberts“, sagte der Kardinal. Seine Stimme war leise und tief. „Eure Eminenz“, erwiderte sie. „Nehmen Sie doch Platz!“ Sie entdeckte, daß man an einer Schreibtischecke einen Stuhl für sie bereitgestellt hatte. 89
„Vielen Dank“, murmelte sie und setzte sich. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen in dem düsteren Zimmer, dann ergriff der Kardinal das Wort: „Es wäre ein Ausdruck guter Umgangsformen, wenn ich Sie nun fragen würde, ob Sie eine gute Reise hatten, aber da ich das Schiff kenne, kann ich mir vorstellen, daß sie unmöglich war. Deshalb frage ich Sie nur, ob sie nicht allzu unerträglich war.“ „Es war erträglich, Eure Eminenz. Der Captain ist ein netter Mensch, er hat sich alle Mühe gegeben.“ Der Kardinal streckte die Hand aus und ergriff einen Stapel Papier, der auf seinem Schreibtisch lag. Die Blätter raschelten leise. „Miß Roberts“, sagte er, „Sie sind eine sehr beharrliche Person. Wir haben einige Briefe von Ihnen erhalten.“ „Ja, Eure Eminenz, leider ist keiner davon beantwortet worden.“ „Wir haben sie absichtlich nicht beantwortet“, sagte der Kardinal. „Wir beantworten nur wenige Briefe, solche wie die Ihren lassen wir aus Prinzip unbeantwortet.“ „Das darf ich wohl so deuten, daß ich hier unerwünscht bin, nicht wahr?“ Da ist es schon passiert, dachte sie. Jetzt hast du „Eure Eminenz“ vergessen. Falls der Kardinal es bemerkt hatte, schien es ihm nichts auszumachen. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen unsere Einstellung erklären kann, ohne unhöflich zu erscheinen“, sagte er. „Seien Sie meinetwegen ruhig unhöflich, Eure Eminenz“, entgegnete Jill. „Denn ich möchte gern den Grund erfahren.“ „Wir wünschen keine Publicity“, erklärte der Kardinal. „Wir wollen nicht, daß unsere Arbeit vor den Augen der Galaxis ausgebreitet wird.“ „Das hätten Sie mir sagen können, bevor ich meine Reise angetreten habe, Eure Eminenz. Sie hätten mir schreiben kön90
nen, um mich zu entmutigen. Auf Vernunftgründe hätte ich gehört, vielleicht hätte ich sogar ein gewisses Verständnis für Ihre Haltung entwickelt. Aber Sie haben vermutlich gehofft, es würde mich eher entmutigen, wenn Sie mich ignorieren.“ „Ja, das haben wir tatsächlich gehofft, Miß Roberts.“ „Sie haben eine falsche psychologische Taktik angewandt, Eure Eminenz. Wenn Sie mir kurz Ihre Einstellung mitgeteilt hätten, wären Sie erfolgreicher gewesen.“ Der Kardinal seufzte. „Habe ich da eben eine gewisse Herausforderung aus Ihren Worten gehört?“ „Darüber bin ich mir selbst nicht sicher“, erwiderte Jill. „Normalerweise verhalte ich mich Autoritäten gegenüber nicht herausfordernd. Es erscheint mir nur, daß ich eine bessere Behandlung von Ihnen verdient gehabt hätte. Ich war sehr offen in meinen Briefen. Ich habe Ihnen genau geschildert, was ich vorhatte und was ich mir erhoffte. Ich habe Sie um Ihre Zusammenarbeit gebeten. Sie hätten mir wenigstens den Gefallen erweisen können, mir von einem Besuch abzuraten.“ „Das hätten wir wirklich tun können“, sagte der Kardinal. „Es wäre Ihnen gegenüber fairer gewesen, und möglicherweise hätte es unserer Sache besser gedient. Aber wir sind davon ausgegangen, daß eine solche Erklärung unsererseits die Arbeit hier nur unnötig betont hätte. Hätten wir Ihnen Ihre Bitte abgeschlagen, wäre der Eindruck entstanden, wir wollten im Verborgenen arbeiten. Auf diese Weise wäre unser Unternehmen nur wichtiger und sensationeller erschienen, als es tatsächlich ist. Bislang wurden wir von niemandem beachtet, und wir wünschen, daß das so bleibt. Seit zehn Jahrhunderten arbeiten wir nun an unserem Werk. Einiges von dem, was wir uns vorgenommen hatten, haben wir abgeschlossen. Aber es bleibt noch viel zu tun. Wir werden noch viele Jahrtausende benötigen, um unser Ziel zu erreichen, und wenn wir es überhaupt erreichen wollen, dann müssen wir ungestört arbeiten können. Wir wollen 91
nicht, daß die ganze Galaxis die Nase in unsere Angelegenheiten steckt, wenn ich es einmal so ausdrücken darf.“ „Aber jedes Jahr kommen Tausende von Pilgern hierher, Eure Eminenz.“ „Das ist wahr, aber diese Tausende sind nur eine Handvoll im Vergleich zu den Scharen, die hierherströmen würden, wenn eine Journalistin von Ihrer Kompetenz und Ihrem Ruf einen Bericht über uns schreiben würde. Die Pilger kommen von verschiedenen Planeten, die meisten gehören einer obskuren Sekte an. Sie haben auf den unterschiedlichsten Wegen von uns erfahren. Aber eben weil die Sekten zwielichtig sind, weil die Pilger von vielen Welten kommen und über die gesamte Milchstraße verstreut leben und selten viele von einem Planeten zu uns kommen, darum ist der Ansturm vergleichsweise gering, und die Aufmerksamkeit gewissermaßen verwässert. Wir sind keine Heilsbringer, wir versuchen nicht, unsere Botschaft in die Galaxis zu tragen, denn ich bezweifele, daß wir bisher überhaupt eine Botschaft gefunden haben. Irgendwann, in fernen Tagen, werden wir eine Botschaft verkünden, aber so weit sind wir noch nicht. Wir können unsere Türen nicht vor denen verschließen, die uns vertrauensvoll aufsuchen wollen. Unser Ehrgefühl verlangt von uns, daß wir uns ihrer annehmen, und – ganz im Vertrauen – wir können die Spenden dieser Leute sehr gut gebrauchen, denn wir verfügen über keinen finanziellen Hintergrund …“ „Lassen Sie mich über Ihre Arbeit schreiben, Eminenz, und Sie werden finanzielle Unterstützung bekommen, alle Hilfe, die Sie benötigen.“ Der Kardinal hob die Hände zu einer abwehrenden Geste aus seinem Schoß. „Das wäre ein zu hoher Preis“, sagte er. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, und wir müssen ihn auf unsere Art zurücklegen. Wenn wir von außen, von der Neugierde der Galaxis unter Druck gesetzt würden, würde das unserem 92
Vorhaben schaden. Wir müssen unsere Bemühungen in Ruhe fortsetzen können, denn eigentlich haben wir gerade erst mit unserer Arbeit begonnen. Eine Bewunderung unserer Erfolge, auch eine allgemeine Verehrung würde sich gegen uns auswirken. Wir müssen dem Ideal einer universellen Religion treu bleiben, um es zu erreichen, dürfen wir keine Mühe scheuen. Weltliches Interesse würde unser Vorhaben untergraben. Verstehen Sie mich?“ „Ich glaube schon, Eure Eminenz“, antwortete Jill. „Aber ich bin der Ansicht, daß Sie nicht im Verborgenen arbeiten müssen, um Ihr Ziel zu erreichen.“ „Doch, Miß Roberts, genau das müssen wir. Wenn wir unser Vorhaben nicht geheimhielten, wären wir ständigen Störungen ausgesetzt. Dabei ist es unerheblich, ob der Störenfried in guter oder in böser Absicht zu uns kommt. Gerade in letzter Zeit …“ Er hielt inne und sah sie aus eulenhaft großen Augen an. „Gerade in letzter Zeit, Eminenz …?“ drängte sie. „Stellen Sie sich einmal vor“, sagte er, „wir besäßen etwas, das man auf vielen Welten sehr gut gebrauchen könnte. Aber wir können es nicht guten Gewissens an sie weitergeben, solange wir das Ganze nicht überschauen können, oder zumindest nicht den allgemeinen Zusammenhang, in den es gehört. Ich bin sicher, daß es skrupellose Mächte gibt, die einen Teil unseres Wissens stehlen wollen. Sie wollen es uns entreißen und für ihre eigenen Zwecke nutzen. Dabei lassen sie die Gesamtstruktur, die wir zusammenfügen wollen, völlig außer Acht. Wir haben Angst vor einem solchen Diebstahl. Wir fürchten ihn nicht um unseretwillen, sondern weil wir um das Heil der ganzen Galaxis besorgt sind. Eventuell wäre gar das Universum selbst bedroht. Unsere Struktur darf nicht verfälscht werden. Wenn das Konzept einmal abgeschlossen ist, dann wird es ein umfassendes Ganzes darstellen, aufbauend auf einer Logik, die ohne Widerspruch von jedermann akzeptiert werden muß. Dieses 93
Gefüge darf nicht von Aasgeiern zerpflückt werden, es darf nicht den Würmern der Selbstsucht ausgeliefert werden. Wir müssen verhindern, daß einzelne Teile um ihrer selbst willen aus der Gesamtstruktur herausgerissen werden. Dieser Gefahr sind wir uns von Anfang an bewußt gewesen, durch die Jahre ist die Vorsicht ein fester Bestandteil all unserer Überlegungen geworden. Wir müssen befürchten, daß trotz unserer Verborgenheit bereits Diebe auf uns aufmerksam geworden sind. Jemand nagt offenbar heimlich an den Schätzen unseres Wissens. In letzter Zeit hat sich dieser Verdacht verstärkt, allerdings wissen wir nicht, mit wem wir es zu tun haben. Wir kennen die Diebe nicht, auch nicht den Zweck oder die Methode ihrer Schnüffelei. Aber wir sind sicher, daß es sie gibt. Diese heimtückischen Versuche können wir einigermaßen abwehren, aber wenn wir der ganzen Milchstraße offen präsentiert werden, wenn Sie über uns schreiben …“ „Soll ich abreisen? Wünschen Sie, daß ich das nächste Schiff nehme?“ „Ich habe versucht, aufrichtig zu Ihnen zu sein“, entgegnete der Kardinal. „Ich habe an Ihre Vernunft appelliert. Bei meinen Erklärungen habe ich Ihnen womöglich mehr erzählt, als ich hätte preisgeben dürfen. Wir hätten uns weigern können, Sie zu empfangen und mit Ihnen zu sprechen, doch wir hatten erkannt, daß Sie uns im Grunde nicht schaden wollen, und nur die Folgen Ihrer Unternehmung nicht bedacht haben. Wir bedauern aufrichtig, Ihnen Mühen und finanziellen Aufwand verursacht zu haben. Wir wünschten, daß Sie nie hierher gekommen wären, aber da Sie es nun doch getan haben, glaubten wir, Ihnen eine gewisse Höflichkeit erweisen zu müssen. Wir hoffen, Sie lassen sich die Dinge, die ich Ihnen geschildert habe, noch einmal durch den Kopf gehen. Ich habe gehört, Sie sind im Menschenhaus abgestiegen, ist das richtig?“ „Ja, das stimmt“, antwortete Jill. 94
„Ich möchte Sie einladen, unser Gast zu sein. Wir können Ihnen eine Suite zur Verfügung stellen. Sie können darin wohnen, so lange Sie möchten. Selbstverständlich werden wir Ihnen alle Ausgaben, die Ihnen durch die Reise hierher entstanden sind und noch entstehen werden, voll erstatten. Darüber hinaus haben wir einen Tagessatz bewilligt, um Sie für Ihren Zeitverlust zu entschädigen. Diese Bitte können Sie uns nicht abschlagen: Nehmen Sie unsere Einladung an, und denken Sie einmal in Ruhe über alles eben Gehörte nach.“ „Ihr Angebot ist sehr großzügig, Eminenz“, sagte Jill. „Aber ich möchte Sie nicht so leicht entwischen lassen. Ich kann mich einfach nicht mit Ihrer Weigerung abfinden; hoffentlich können wir uns noch einmal zu einem Gespräch treffen.“ „Natürlich können wir noch einmal miteinander sprechen, aber ich fürchte, dabei wird auch nicht mehr herauskommen. Unsere Gesichtspunkte unterscheiden sich zu stark voneinander.“ „Es muß doch gewisse Aspekte Ihrer Arbeit geben, die Sie nicht unbedingt geheimhalten müssen. Auch wenn es nicht die ganze Geschichte ist …“ „Mir kommt da ein anderer Vorschlag in den Sinn, Miß Roberts.“ „Ein anderer Vorschlag, Eminenz?“ „Ja, wie wäre es, wenn Sie für uns arbeiteten? Wir könnten Ihnen eine attraktive Stellung anbieten.“ „Eine Anstellung? Ich suche keine Stellung.“ „Bitte!“ sagte der Kardinal. „Bevor Sie meinen Vorschlag zurückweisen, erlauben Sie mir eine Erklärung: Seit vielen Jahren reden wir nun schon von der Notwendigkeit, eine umfassende Geschichte des Vatikans niederzuschreiben. Die authentische Geschichte des Vatikan-17, nur zu unserem eigenen Gebrauch bestimmt. Seit Jahrhunderten haben wir die entsprechenden Daten gespeichert, alle Ereignisse seit unserer Ankunft 95
auf Nirgendsend sind festgehalten, unsere Arbeit, unsere Hoffnungen, unsere Erfolge und Fehlschläge. Das alles steht zur Verfügung und wartet nur darauf, aufbereitet zu werden, doch aus unerfindlichen Gründen sind wir nie dazu gekommen. Es gab immer so viel zu tun, und, um die Wahrheit zu gestehen, bisher haben wir niemanden gefunden, der kompetent genug für diese Aufgabe gewesen wäre. Aber jetzt …“ „Aber jetzt ist Ihnen eingefallen, daß ich diejenige sein könnte. Die Geschichte eines ganzen Jahrtausends, einigermaßen detailliert, nehme ich an? Wieviel tausend Manuskriptseiten werden erwartet, wie lange wird die Arbeit insgesamt dauern? Ein Menschenleben oder zwei. Und würde ich angemessen für die Arbeit bezahlt?“ „Wie? Ja, natürlich werden Sie ein großzügiges Honorar erhalten“, sagte der Kardinal. „Bedeutend mehr, als Sie auf der hektischen Jagd nach Neuigkeiten in der Galaxis verdienen können. Dazu kämen: optimale Arbeitsbedingungen, jede erdenkliche Unterstützung, eine angenehme Umgebung, sowohl während der Arbeit als auch der Freizeit, kein Termindruck …“ „Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie. „Zumindest könnten Sie für die nächste Zeit unsere Gastfreundschaft annehmen“, drängte der Kardinal. „Jemand kann Ihnen die zur Verfügung stehenden Suiten zeigen, danach können Sie Ihre Wahl treffen. Sie brauchen gar nicht ins Menschenhaus zurückzugehen, Ihr Gepäck werden wir holen lassen.“ „Ich muß noch darüber nachdenken, Eure Eminenz.“ „Dann denken Sie hier darüber nach. Sie werden unsere Wohnungen bedeutend komfortabler finden …“ Lieber Gott, dachte sie, alle Daten säuberlich gespeichert, sie warten nur darauf, daß sie jemand aufbereitet! „Sie antworten nicht“, stellte der Kardinal fest. „Sie sind wirklich sehr freundlich zu mir“, erwiderte sie. „Ich 96
werde tatsächlich Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, da Sie es so sehr zu wünschen scheinen. In der anderen Sache brauche ich noch Zeit zum Nachdenken.“ „Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möchten“, sagte der Kardinal. „Wir werden nicht auf eine rasche Antwort drängen. Wir können später noch einmal darüber sprechen. Lassen Sie mich aber wiederholen, daß wir Ihre Dienste wirklich benötigen. Die Geschichte muß unbedingt geschrieben werden. Doch das Schreiben bedarf eines gewissen Talents, vielleicht eines spezifisch menschlichen Talents, das uns Robotern nicht zu eigen ist. Hier auf Nirgendsend ist ein talentierter Mensch schwer zu finden. Diese Welt ist zu abgelegen und einsam, um geeignete Menschen anzuziehen. Gehen Sie einmal nachts nach draußen, und sehen Sie sich den Himmel an! Es sind kaum Sterne zu sehen, nur der schwache Schimmer der Milchstraße. Aber Nirgendsend hat auch seine Vorzüge, hier gibt es Raum, hier ist alles unverbraucht. Eine Frische, die man nicht auf vielen Planeten findet. Und die Berge. Für die Menschen hier sind unsere Berge immer ein Quell des Entzückens.“ „Ja, das kann ich mir vorstellen“, sagte Jill.
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13 „Dies ist unser Archiv“, sagte Ecuyer zu Tennyson. „Hier stehen, griffbereit und vollständig und mit genauen Bezeichnungen versehen, die Berichte über die Arbeit, die wir im Suchprogramm geleistet haben.“ Der Raum war groß und fensterlos. Die parallelen Reihen der bleichen Deckenleuchten strebten auf einen Punkt in der Ferne zu. Endlose Reihen von Schränken erstreckten sich weiter, als das Auge sehen konnte. Ecuyer ging langsam an einer Schrankreihe entlang, dabei ließ er die Handfläche über das Metall der Vorderwände gleiten. Tennyson blieb an seiner Seite, um sich nicht in dieser Aktenhöhle zu verlaufen. Er hatte das Gefühl, daß der Raum von allen Seiten auf ihn eindrang, ihn ersticken wollte. Jetzt blieb Ecuyer stehen und zog eine Schublade aus dem Schrank. Seine Hand fuhr unschlüssig über die zahlreichen kleinen Kristallwürfel, die in der Lade gestapelt waren. Er schien einen bestimmten Würfel zu suchen, zumindest gab er sich den Anschein. „Ah, ja“, sagte er schließlich und hielt einen Kristallkubus ins Licht. „Da wäre ein solcher Würfel, ganz zufällig ausgewählt.“ Er hielt ihn unter Tennysons Augen: ein Würfel aus klarem Kristall mit einer Kantenlänge von ungefähr zehn Zentimetern. Nicht sehr eindrucksvoll, dachte Tennyson. Ecuyer schob die Lade in den Schrank zurück. „Dies hier würde ich dir gerne zeigen, wenn du dazu bereit bist.“ „Mir zeigen?“ „Ja, ich möchte dir die Erfahrung zeigen, die in diesem Würfel eingefangen ist. Du kannst sie nachleben, so wie sie unser Lauscher erlebt hat. Alles, was er sah, fühlte und dachte. Du schlüpfst gleichermaßen in seine Haut.“ 98
Er sah Tennyson fest in die Augen. „Es wird nicht wehtun“, versprach er. „Du wirst dich nicht einmal unbehaglich fühlen. Kein Schmerz, keine Furcht …“ „Du meinst, du kannst …? Du willst mich irgendwie an diesen Würfel anschließen?“ Ecuyer nickte. „Das ist ganz einfach.“ „Aber warum?“ fragte Tennyson. „Warum willst du das tun?“ „Weil ich dir drei Tage lang beschreiben könnte, was wir hier tun, und du würdest es nicht annähernd so viel wissen, wie nach ein paar Minuten Beschäftigung mit diesem Würfel.“ „Das verstehe ich“, sagte Tennyson. „Aber wieso willst du es gerade mir zeigen, einem Fremden?“ „Du bist ein Fremder, aber ich möchte gern, daß du hierbleibst und ein Mitglied des Teams wirst. Wir brauchen dich, Jason, begreifst du das nicht?“ „Ich habe mich übrigens schon zum Bleiben entschlossen“, erklärte Tennyson. „Heute morgen, auf einer Bank in einem wunderschönen Garten, stellte ich plötzlich fest, daß ich – ohne es zu bemerken – meine Entscheidung bereits getroffen hatte.“ „Oh! Das freut mich zu hören!“ rief Ecuyer aus. „Das freut mich sehr! Aber warum hast du so lange gewartet? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“ „Weil du dir so große Mühe gemacht hast, mich zu umgarnen“, versetzte Tennyson. „Es hat mir Spaß gemacht, dich dabei zu beobachten.“ „Du hast mich wirklich durchschaut“, seufzte Ecuyer. „Aber, um die Wahrheit zu sagen, es macht mir nichts aus. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich mich deine Entscheidung macht. Und nun? Wie ist es mit dem Würfel?“ „Ganz wohl ist mir nicht dabei. Aber wenn du es mir rätst, werde ich es tun.“ „Ich rate es dir sehr“, beteuerte Ecuyer. „Es ist für uns beide wichtig, daß du über unsere Arbeit genau im Bilde bist.“ 99
„Damit ich diese Geschichte über den Himmel besser verstehe?“ „Nun, ja, aber darum geht es nicht allein. Ich stelle fest, du bist immer noch sehr skeptisch, was diese Frage betrifft.“ „Ja, das stimmt. Bist du es etwa nicht?“ „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, erwiderte Ecuyer. „Jede Faser meines Gehirns sträubt sich dagegen, und doch …“ „Also dann“, erklärte Tennyson. „Wollen wir einmal sehen, was es mit diesem Würfel auf sich hat.“ „Okay“, sagte Ecuyer. „Hier entlang.“ Er ging aus der Archivhalle in ein kleines, mit Geräten vollgestopftes Zimmer. „Setz dich da drüben in den Sessel“, wies er Tennyson an. „Mach es dir bequem, entspanne dich!“ An einer Stütze hing ein helmartiger Gegenstand herab. Tennyson musterte ihn voller Mißtrauen. „Na los, nun setz dich schon hin“, forderte ihn Ecuyer auf. „Ich werde dir den Helm aufsetzen, dann werde ich den Würfel in diese Vertiefung schieben und …“ „Also gut“, sagte Tennyson. „Ich muß mich eben auf dich verlassen.“ „Du kannst mir trauen“, versicherte Ecuyer. „Es wird gewiß nicht wehtun.“ Tennyson ließ sich zögernd in dem Sessel nieder und rutschte hin und her, bis er eine bequeme Haltung gefunden hatte. Ecuyer senkte vorsichtig den Helm herab und justierte ihn so, daß er genau über dem Kopf zentriert war. „Alles klar?“ fragte er. „Alles klar. Ich kann absolut nichts sehen.“ „Du brauchst auch nichts zu sehen. Kannst du gut atmen? Bekommst du genügend Luft?“ „Soviel ich brauche.“ „Na dann … Es geht los!“ 100
Einen Wimpernschlag lang gab es nur äußerste Finsternis. Dann war ein Lichtschein da, ein grünlicher Lichtschein und Nässe. Tennyson zuckte zusammen, sofort entspannte er sich wieder. Es gab keinen Grund zu Besorgnis, alles war in Ordnung, es war mehr als das. Das Wasser war warm und der Schlamm weich. Sein Bauch war voll. Im Augenblick hatte er nichts zu befürchten. Zufriedenheit erfüllte ihn, und er ließ sich tiefer in den nachgiebigen Schlamm sinken. Als der Schlamm nicht mehr zurückwich, bewegte er die Beine, um sich tiefer hineinzuwühlen, doch das führte zu nichts. Als er jedoch seine Bemühungen einstellte, spürte er, wie der Schlamm über ihm zusammenfloß – Wärme und zusätzliche Sicherheit. Er schmiegte sich so gut es ging in den Schlamm, seine Zufriedenheit verstärkte sich. Trägheit ergriff Besitz von ihm. Wenn er mit Schlamm bedeckt war, ganz gleich wie dünn, war er vor aller Blicke verborgen. Es war sehr unwahrscheinlich, daß ein umherstreifender Raubfisch ihn entdecken und fressen würde. So war es prima, dachte er wohlig. Er brauchte sich nicht zu bewegen. Wenn man sich bewegte, zog man nur Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte alles, was er brauchte. Er hatte soviel gefressen, bis die Nahrung allen Reiz für ihn verloren hatte. Er hatte es warm und war sicher. Er brauchte sich nicht zu bewegen, sich überhaupt nicht anzustrengen. Aber etwas war da, etwas nagte in seinem Innern. Kaum hatte er seine höchste Zufriedenheit erreicht, kaum hatte er sie zu genießen begonnen, da hatte es sich zum ersten Mal gerührt. Nie zuvor hatte ihn eine Frage behelligt, bis zu diesem Augenblick hatte es niemals irgend eine Frage gegeben. Er hatte nicht einmal gewußt, daß es so etwas wie eine Frage überhaupt gab! Er existierte, das war alles. Er hatte sich nie darum gekümmert, was er war. Das Identitätsproblem war kein Problem. Er zappelte nervös im Schlamm, empört über die lästige Fra101
ge. Dabei war die Frage noch nicht einmal das Schlimmste! Da war noch etwas, ein Gefühl, als ob er nicht er selbst wäre. Als ob nicht er es war, dem die Frage eingefallen war. Diese Frage, sie war nicht in seinem Innern entstanden, sie kam von außen. Aber außerhalb von ihm, was war da schon? Das seichte Wasser, der weiche Grundschlamm und das Bewußtsein, daß der furchtbare Schatten, der ihn verschlingen konnte, nicht in der Nähe war. Unter der Schlammschicht war er sicher, der Raubfisch konnte ihn nicht sehen, dieser Schatten, der Trilobiten fraß. „0 Gott!“ dachte er erstaunt und erschreckt zugleich. „Ich bin ein Trilobit!“ Mit dieser Erkenntnis schlug die Finsternis wieder über ihm zusammen. Gleich darauf wurde es hell, sehr hell, und er sah Ecuyer, der mit dem Helm in der Hand vor dem Sessel stand. Tennyson stieß geräuschvoll den Atem aus den Lungen und starrte Ecuyer fragend an. „Paul, du hast so getan, als hättest du einen x-beliebigen Würfel herausgegriffen, doch das hier, das war kein Zufall!“ Ecuyer grinste ihn an. „Nein, vermutlich nicht. Ich habe dir doch von diesem Lauscher erzählt?“ „Ja, der Mann, der ein Trilobit war. Es wirkte alles so … echt.“ „Ich kann dir versichern, mein Freund“, sagte Ecuyer, „dies war keine Taschenspielerei, keine unterhaltsame Sinnestäuschung. Für kurze Zeit warst du ein Trilobit.“
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14 Als Tennyson zu seiner Wohnung zurückkehrte, saß Jill vor dem Kaminfeuer. Er eilte durch das Zimmer auf sie zu. „Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht! Ich hatte mir eben vorgenommen, mich auf die Suche nach dir zu machen.“ „Hubert bereitet gerade das Abendessen vor“, entgegnete sie. „Ich habe ihm gesagt, ich würde noch ein wenig bleiben. Hoffentlich macht dir das nichts aus?“ Er beugte sich zu ihr hinab und küßte sie. „Das ist prima“, sagte er. „Wie ist es bei dir gelaufen?“ Sie schnitt eine Grimasse. „Nicht besonders. Die Geschichte wollen sie mir nicht liefern, aber sie haben mir einen Job angeboten.“ „Hast du ihn angenommen?“ „Nein, habe ich nicht. Und ich glaube auch nicht, daß ich es tun werde. Ich habe gehört, du willst hierbleiben?“ „Ja, jedenfalls für eine Weile. Ein guter Platz, um sich aus der Schußlinie zu halten.“ Sie zeigte auf die einzelne Rose, die in einer Vase auf dem Couchtisch stand. „Woher hast du die?“ „Ein Gärtner hat sie mir geschenkt. Ich bin heute morgen zufällig auf einen Garten gestoßen. Bei Gelegenheit werde ich ihn dir zeigen.“ „Sie haben mir eine Wohnung angeboten“, berichtete Jill. „Heute nachmittag bin ich eingezogen. Ich wohne nur ein paar Türen von dir entfernt. Der Roboter, der mir beim Umzug geholfen hat, hat mir erzählt, daß ich dich hier finden kann. Hast du vielleicht etwas zu trinken?“ „Ich denke schon“, sagte er. „Aber eigentlich möchte ich dir lieber den Garten zeigen, jetzt gleich. Hast du Lust?“ „Na schön.“ 103
„Er wird dir bestimmt gefallen“, versicherte er. Als sie den Garten betraten, zuckte sie mit den Schultern. „Warum denn dieses Gehabe um den Garten? Das ist doch ein ganz gewöhnliches Gärtchen. Ich verstehe dich nicht.“ „Es geht gar nicht um den Garten“, sagte er. „Ich hatte nur das Gefühl, daß Hubert in der Küche lange Ohren machte. Wenn hier irgend etwas geschieht, weiß es zehn Minuten später der ganze Ort. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns nicht auch hier belauschen können, aber hier haben wir wenigstens eine kleine Chance. Es gibt ein paar Dinge, über die wir unbedingt sprechen müssen.“ „Wansttritt steckt dir noch in den Knochen“, stellte sie fest. „Du siehst überall Mordbuben und Intriganten.“ Er seufzte hörbar. „Vielleicht, vielleicht hast du in diesem Fall tatsächlich recht.“ „Offenbar hast du dich entschieden, hierzubleiben, also scheint es dir hier nicht zu schlecht zu gefallen?“ „Es gefällt mir auch nicht schlecht“, erwiderte er. „Aber seltsam ist dieser Ort schon, sehr seltsam. Es gibt hier eine Frau – Ecuyer hat mich neulich abends an ihr Bett geholt –, die behauptet, sie habe den Himmel gefunden.“ „Den Himmel?“ „So ist es, den Himmel! Weißt du, es gibt da so ein Programm. Leute reisen – in ihrem Verstand – zu fremden Orten. Sie erhalten Daten, die in den Papst eingespeichert werden. Vielleicht geht es auch gar nicht darum, den Papst mit Daten zu versorgen. Ecuyer hat gestern abend angedeutet, daß es Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vatikan und dem Suchprogramm gäbe.“ „Himmel?“ fragte sie noch einmal. „Meinst du den richtigen, echten, biblischen Himmel mit goldener Treppe und Posaunenengeln?“ „Ja, so etwas ist gemeint.“ 104
„Aber Jason, das ist doch unmöglich!“ „Vielleicht. Aber Mary glaubt, sie habe ihn gefunden, und Ecuyer will es zumindest nicht ausschließen.“ „Ecuyer ist ein Narr!“ „Nein, das ist er nicht“, entgegnete er. „Sag mir, Jill, haben sie versucht, dich einzuschüchtern?“ „Einzuschüchtern?“ „Haben sie dich unter Druck gesetzt? Ecuyer hat mir geradezu unverhohlen erklärt, daß ich den Vatikan eventuell nicht mehr verlassen dürfte.“ „Nein, davon war bei mir nicht die Rede. Ich habe mit einem Kardinal gesprochen, mit Purpurrobe und scharlachrotem Käppchen. Beim Licht einer einzelnen Kerze. Halt, Augenblick mal! Ist das der Grund, weswegen du hierbleibst? Weil sie dich nicht ziehen lassen wollen?“ „Nein, das ist es nicht. Möglicherweise ließen sie uns sogar gehen. Bisher ist es nur eine versteckte Drohung. Diese Welt wird vom Vatikan geleitet, und was der Vatikan sagt, ist Gesetz. Ich bleibe hier, weil ich es will. Im Augenblick jedenfalls. Wohin sollte ich sonst gehen? Außerdem ist es hier nicht ungemütlich. Dazu kommt – das muß ich gestehen – meine unbändige Neugier.“ „So geht es mir auch“, antwortete Jill. „Der Kardinal wollte es nicht zulassen, daß ich ein Buch oder eine Artikelserie über diesen Ort schreibe. Er hat nicht gesagt, ich dürfte den Planeten nicht verlassen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, daß er mich hinauswerfen lassen würde, doch dann hat er mir einen Job angeboten.“ „Die eiserne Klaue im Glacehandschuh.“ „Das wäre möglich. Er ist ein recht angenehmer Roboter – fast hätte ich gesagt, ein angenehmer, alter Mann. Freundlich, aber dickköpfig. Ich habe lange auf ihn eingeredet, aber er ist keinen Zoll zurückgewichen.“ „Was ist das für ein Job?“ 105
„Sie wollen, daß die Geschichte des Vatikans aufgeschrieben wird. Der Kardinal hat behauptet, es gäbe niemanden, der diese Aufgabe für sie erledigen könnte. Angeblich ist ein Roboter nicht dazu im Stande. Kannst du dir das vorstellen: Sie haben lückenlose Aufzeichnungen über alles, was hier geschehen ist, seit das erste Schiff hier landete. Alles archiviert und abgelegt. Natürlich habe ich nein gesagt. Aber wenn man es genau nimmt, habe ich die Stelle nicht rundheraus abgelehnt. Ich würde mir die Sache überlegen, habe ich gesagt. Vermutlich erweckte ich jedoch den Eindruck, mir sei an dem Job nichts gelegen.“ „Und das willst du tun?“ „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Jason. Stell dir das nur einmal vor! Die Story liegt zum Zugreifen vor dir. Die ganzen Jahre hat sie nur darauf gewartet, daß jemand kommt und sie ausgräbt.“ „Aber was hast du davon, wenn du die Geschichte nicht publizieren darfst?“ „Ja, das stimmt. Dann habe ich überhaupt nichts davon. Jason, sehe ich vielleicht wie eine elende Schnüfflerin aus?“ „Wenn ich dich genau betrachte, eigentlich schon.“ „Ich werde mir nie mehr in die Augen sehen können“, sagte Jill, „wenn ich nicht wenigstens einen Blick auf die Sache geworfen habe.“ „Jill, da stimmt doch etwas nicht. Erst verweigern sie dir einen Bericht über dieses Unternehmen, und dann servieren sie dir die ganze Geschichte auf einem silbernen Tablett. Kann es sein, daß sie die Vatikangeschichte so dringend brauchen? Wie können sie davon ausgehen, daß du den Planeten nicht bald wieder verlassen wirst?“ „Sie müssen sehr selbstsicher sein.“ „Genau das hat Ecuyer gestern abend gesagt: Sie sind sich ihrer Sache sehr sicher.“ 106
„Jason, vielleicht war unser Flug hierher ein großer Fehler. Wenn der Vatikan verhindern will, daß etwas über seine Arbeit nach draußen sickert, gibt es für ihn nur eine zuverlässige Methode: Niemand darf ohne seine Zustimmung den Planeten verlassen.“ „Aber wie steht es mit diesen Pilgern? Die kommen und gehen, wie sie wollen.“ „Dafür hat mir der Kardinal eine Art Erklärung geliefert. Die Pilger zählen anscheinend nicht. Ihre Heimatplaneten sind über die ganze Galaxis verstreut, und von jeder Welt kommen immer nur ein paar Pilger. Sie gehören bizarren Sekten an, die kein hohes Ansehen genießen. Niemand gibt etwas darauf, was die Mitglieder einer solchen Sekte sagen. Ganz gleich, was diese Pilger daheim erzählen, es wird doch immer als religiöse Spinnerei abgetan werden.“ „Der Vatikan hat eine Menge zu verbergen“, bemerkte Tennyson nachdenklich. „Da ist zum Beispiel Ecuyers Suchprogramm. Sicher haben die Pilger keine Ahnung, daß es etwas Derartiges gibt. Vielleicht ist das Suchprogramm viel bedeutungsvoller als der Vatikan selbst. Die Sucher saugen überall Wissen auf, aus Raum und Zeit, möglicherweise sogar aus Orten, die außerhalb von Raum und Zeit liegen, falls es solche Orte gibt.“ „Der Himmel könnte ein solcher Ort sein.“ „Das Suchprogramm ist einzigartig, das ist der entscheidende Punkt. Nirgendwo sonst gibt es etwas Vergleichbares. Ecuyer hat mir kilometerlange Aktenschränke gezeigt, die mit den Entdeckungen der Sucher gefüllt sind. Was haben sie damit vor?“ „Vielleicht füttern sie tatsächlich den Papst damit?“ „Ein schöner Papst ist mir das.“ Tennyson zuckte mit den Schultern. „Nein, das kann nicht der ganze Grund sein. Ecuyer hat mir etwas erzählt. Ich glaube, er sagte, das Projekt Papst sei im Laufe der Jahre zu einer Tarnung für das Suchprogramm geworden. Ich meine, so ähnlich hat er es formuliert. Er hat 107
mich gebeten, den Leuten aus dem Vatikan nichts von dieser Bemerkung zu erzählen. Mir schien, daß einige alte Vatikanmitglieder sauer auf eine solche Mitteilung reagieren würden.“ „Auch der Vatikan hat seine Sorgen“, sagte Jill. „Der Kardinal hat einiges davon durchblicken lassen. Mir war fast so, als ob er seine Sorgen loswerden wollte, aber so war es sicher nicht gemeint. Er und einige andere Kardinäle befürchten, daß jemand den Vatikan bestiehlt. ‚Sie nagen an den Schätzen unseres Wissens’, hat er gesagt. Am meisten beunruhigt ihn, daß niemand weiß, wer diese ‚Nager’ sind.“
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15 Enoch Kardinal Theodosius beschleunigte seinen Schritt, um seinen Busenfreund Cecil Kardinal Roberts einzuholen. „Eminenz“, rief er, „wir müssen unbedingt einmal miteinander reden!“ „Sie sind ja völlig außer sich“, antwortete Roberts. „Was ist geschehen?“ „Es geht um diese beiden Neuankömmlinge, den Menschenmann und die Frau.“ „Was ist mit ihnen?“ „Über den Mann weiß ich nichts. Ecuyer hat ihn als Vatikanarzt eingestellt. Ich habe gehört, daß er vor der Gerechtigkeit geflohen ist.“ „Haben Sie mit Ecuyer über ihn gesprochen?“ „Nein, Eure Eminenz. In letzter Zeit benimmt sich Ecuyer einfach unmöglich. Man kann kaum noch mit ihm reden.“ „Ja, ich weiß“, sagte Roberts. „Ich habe den Eindruck, er schätzt das Suchprogramm höher ein als den Vatikan. Er hält es für unsere Hauptaufgabe. Wenn Sie mich fragen, dieser Ecuyer wird allmählich größenwahnsinnig.“ Theodosius seufzte. „So sehr wir die menschliche Rasse bewundern, es gibt einige Exemplare dieser Spezies, mit denen man nur schwer auskommen kann.“ „Und was ist mit der Frau, Eminenz?“ „Ich habe heute morgen mit ihr gesprochen. Sie ist Schriftstellerin. Stellen Sie sich das vor, eine Schreiberin. Sie war es auch, die uns all diese Briefe geschrieben hat. Habe ich Ihnen von den Briefen erzählt?“ „Ja, ich glaube, das haben Sie getan.“ „Sie will über uns schreiben.“ „Über uns schreiben?“ 109
„Ja, darum ging es auch in den Briefen. Sie haben sie doch gelesen, oder?“ „Natürlich habe ich das getan. Dann habe ich versucht, sie aus meinem Gedächtnis zu verdrängen. Das ist natürlich unmöglich. Diese Unverfrorenheit!“ „Genau!“ stimmte Theodosius zu. „Sie haben ihr natürlich gesagt, daß dies nicht in Frage kommt?“ „Ja, aber sie hat sich geweigert, meine Weigerung hinzunehmen. Sie ist eine sehr hartnäckige Frau. Schließlich habe ich ihr eine Stellung angeboten.“ „Ich bitte um Vergebung, Eminenz, aber es gibt keine Stelle, die …“ „Doch, es gibt eine“, widersprach Theodosius. „Seit vielen Jahren sprechen wir schon davon, daß jemand eine Geschichte des Vatikan abfassen sollte. Immer wieder haben wir gesagt, wie schön es wäre, wenn wir alles schwarz auf weiß hätten, damit es jedermann zu seinem Erstaunen nachlesen könnte. Es war sogar davon die Rede, eine neue Robotergattung zu entwickeln, die diese Arbeit erledigen könnte. Es scheint, daß wir Roboter nicht für die Schreibarbeit geeignet sind. Es würden erhebliche Anstrengungen nötig sein, um eine Gattung mit der Spezialbegabung des Schreibens zu entwickeln. Doch jetzt ist jemand aus freien Stücken zu uns gekommen, der sich auf das Schriftstellerhandwerk versteht.“ „Und? Was hat sie zu dem Vorschlag gesagt?“ „Ich hatte den Eindruck, daß sie von dem Angebot nicht überwältigt war. Aber das war es nicht, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte.“ „Wenn ich mich recht erinnere, war es gerade das, worüber Sie sich mit mir unterhalten wollten: der neue Menschenmann und die Frau.“ „Ja, das stimmt schon, aber das war nicht alles. Es gibt noch 110
einen weiteren Faktor: In den letzten Jahren wurden wir insgesamt von drei menschlichen Faktoren gestört.“ „Von drei Faktoren?“ „Decker ist der dritte. Er ist gewissermaßen die dritte Unbekannte. Was wissen wir schon von ihm?“ „Tja, ich muß zugeben, wir wissen sehr wenig über ihn“, bemerkte Roberts. „Uns ist nicht bekannt, wie er hierhergekommen ist. Er ist nicht mit der WANDERGESELL angereist, und ich wüßte keinen anderen Weg, auf dem ein menschliches Wesen nach Nirgendsend kommen könnte. Vielleicht kennen Sie ihn besser als ich, Eminenz. Sie haben sich mit ihm unterhalten.“ „Das ist einige Jahre her“, sagte Theodosius. „Es war kurz, nachdem er hier auftauchte. Ich hatte mich als Mönch verkleidet und bin zu ihm gegangen. Ich habe so getan, als ob ich ihn willkommen heißen wollte. Ich habe ihm den einfältigen, neugierigen kleinen Mönch vorgespielt. Vielleicht, so habe ich mir gedacht, wird er einem unbedeutenden Mönch mehr anvertrauen als einem Kardinal. Absolut nichts habe ich aus ihm herausbekommen. Er war stumm wie ein Fisch. Nicht abweisend, aber undurchschaubar. Und nun diese beiden: der Doktor und die Frau. Können Sie mir vielleicht sagen, Eminenz, warum wir unbedingt einen menschlichen Arzt benötigen? Wir könnten in kürzester Frist einen Roboter zum Menschenarzt ausbilden. Er wäre jedem menschlichen Doktor in Wissen und Fähigkeiten mindestens ebenbürtig, möglicherweise sogar überlegen, denn wir haben Zugang zu einigen neueren medizinischen Erkenntnissen, die sich eventuell auch auf Menschen anwenden lassen.“ „Ja“, sagte Roberts. „Das weiß ich alles. Wir haben schon oft darüber gesprochen. Gelegentlich müssen wir von außerhalb einen Arzt für die Menschen herbeischaffen. Das ist unangenehm. Alle Neuankömmlinge von draußen sind unerwünscht. Der alte Doktor, der kürzlich – wie es Menschenart ist – starb, war annehmbar. Allerdings hatten wir anfangs auch bei ihm 111
unsere Bedenken. Sie erinnern sich vielleicht daran? Der Arzt, der ihn ersetzt hat, war unmöglich. Alle Menschen in der Stadt sind hier geboren, nur einige Lauscher wurden von uns hierhergeholt. Die Leute in der Stadt sind Nachkommen der ersten Siedler. Seit Jahrhunderten lebt dieser Menschenschlag nun auf Nirgendsend. Um diese Menschen brauchen wir uns nicht zu sorgen, von ihnen haben wir nichts zu befürchten. Sie sind fast eins mit uns. Doch Leute von draußen sind durch nichts an uns gebunden. Wir sind ihnen fremd, und auch wir können uns nur schwer auf sie einstellen.“ „Aber auch unser eigenes Volk“, wandte Theodosius ein, „ein Menschenstamm, der wirklich lange mit uns zusammenlebt, will keinen Robotarzt akzeptieren. Das betrübt mich sehr. Es beweist, daß zwischen Menschen und Robotern noch immer eine kulturelle Lücke besteht, ein Graben, von dem ich hoffte, daß er durch die Jahre endlich überbrückt würde. Gewiß gibt es Unterschiede zwischen Robotern und Menschen, aber …“ „Meiner Ansicht nach sind wir im Unterbewußtsein des Menschen noch immer mit einem Makel behaftet“, erklärte Roberts. „Uns umgibt der Geruch von Maschinen. Wenn man einen Menschen mit dieser Ansicht konfrontierte, würde er sie weit von sich weisen, womöglich in aufrichtiger Empörung, und doch gibt es in jedem Menschen diese unterbewußte Ablehnung, dessen bin ich mir sicher. Mir ist klar, daß wir sehr rasch einen ausgezeichneten Robotarzt ausbilden könnten, aber es hätte keinen Sinn. Wir sollten es auch nicht tun. Wir hätten den Menschen auf Nirgendsend viele luxuriöse Dienstleistungen anbieten können, aber wir haben darauf verzichtet, weil wir sie sonst in Abhängigkeit von uns gebracht hätten. Das darf niemals geschehen. Für uns wäre es leichter, wenn wir sie wie Haustiere halten würden. Wir könnten sie genau beobachten, alles Böse von ihnen fernhalten und sie mit allem versorgen, was sie brauchen. Doch gerade das dürfen wir nicht tun. Wir 112
dürfen sie nicht bevormunden. Sie müssen sich selbst ihren Weg suchen und ihre Würde wahren.“ „Wir stecken wirklich in einem Dilemma“, stellte Theodosius fest. „Wir liegen mit uns selbst im Streit. Ständig bekommen wir es mit der Sorge zu tun, mit der Achtung, ja, der Ehrfurcht, die wir vor den Menschen empfinden. Das ist eine Reaktion, von der wir uns nicht freimachen können. Ganz gewiß nicht solche Kreaturen wie wir beide, die wir noch von Menschenhand geschaffen wurden. Wir stehen ihnen zu nahe. Einige Roboter der zweiten oder dritten Generation, die ihrerseits von Robotern abstammen, können sich vielleicht von dieser Einstellung zum Menschen befreien. Wir versuchen uns damit zu trösten, daß wir uns sagen, wir seien mehr als nur ein Ableger der menschlichen Rasse. Dieser Gedanke gefällt uns, denn wir wiederholen ihn sehr oft, fast wie ein Gebet. Doch die bittere Wahrheit ist, daß wir ein Produkt der Menschen sind.“ „Eure Eminenz“, sagte Roberts beschwichtigend, „jetzt gehen Sie zu hart mit sich ins Gericht, mit uns allen. Vielleicht waren wir einmal Produkte, aber die Anstrengungen eines Jahrtausends haben uns weit über die Ebene eines reinen Produkts hinausgehoben. Ich denke, es macht uns am meisten zu schaffen, daß unsere Einstellung zum Menschen so sehr nach Anbetung schmeckt. Wenn Sie jedoch einmal genau darüber nachdenken, werden Sie den Trugschluß in diesem Gedankengang entdecken. Seit Jahrhunderten arbeiten wir nun daran, ein universelles Prinzip zu entwickeln, eines, das für alle gilt, nicht nur für Roboter, sondern für jedes denkende Wesen, für jeden Intelligenzfunken. Eminenz, wir haben unsere Schuld beglichen. Wir haben verdient, daß wir uns heute zu uns selbst bekennen können.“ „Warum bereiten mir dann diese drei Menschen solches Kopfzerbrechen? Benehme ich mich etwa so, wie sich ein Kind zu einer Vaterfigur verhält? Fürchte ich mich vor einem unzufriedenen Vater, der mich tadeln will?“ 113
„Wir alle, nicht nur Sie allein, jeder von uns leidet unter einem Minderwertigkeitskomplex“, sagte Roberts. „Das ist ein Kreuz, das wir nun einmal tragen müssen. Geben Sie uns noch ein paar Jahrtausende, und wir werden diesen Komplex überwunden haben.“ „An Ihren Worten ist viel Wahres“, sagte Theodosius. „Wenn ich tief in mich hineinschaue, dann entdecke ich ein verfitztes Gewirr von Schuldgefühlen. Es gibt sogar Zeiten – vergeben Sie mir, Eminenz –, da denke ich, daß wir eine Schuld auf uns geladen haben, als wir begannen, Seine Heiligkeit zu schaffen. Mir ist manchmal, als hätten wir durch diese Tat ein Sakrileg begangen, und ich frage mich, ob Seine Heiligkeit in Wirklichkeit nicht einfach nur einer von uns ist. Nicht heilig, sondern nur eine weitere Maschine, ein außerordentlich verfeinerter Roboter, ein kybernetischer Schatten, mit dem wir uns selbst betrügen.“ „Eure Eminenz!“ rief Roberts erschreckt aus. „Ich hoffe, Sie haben eine solche Häresie nie in Gegenwart anderer ausgesprochen. Als alter Freund kann ich Ihre Schuldgefühle verstehen, aber …“ „Kein Wort davon ist bisher über meine Lippen gekommen“, versicherte Theodosius. „Ich habe geschwiegen wie ein Grab. Nur zu Ihnen, guter Freund, kann ich es wagen, so zu sprechen. Ich hätte es auch jetzt nicht getan, wenn es in letzter Zeit nicht diese merkwürdigen Ereignisse gegeben hätte. Dieser Himmelsfund einer Lauscherin …“ „Ja, das ist schlimm“, sagte Roberts. „Es hat eine stärkere Wirkung auf unsere Brüder gehabt, als zu erwarten war. Ich hatte gehofft, daß die Sache bald wieder in Vergessenheit geraten würde. Die Lauscherin soll angeblich dem Tode sehr nahe gewesen sein. Damit hätte die Narretei ein Ende gehabt, doch dieser Doktor hat sie gerettet.“
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16 Marias Zustand verbesserte sich rasch. Das Fieber sank, und bald war die Atemnot überwunden. Ihre Augen wurden wieder klar, und sie richtete sich im Bett auf und nahm Anteil an allem, was in ihrem Zimmer geschah. Sie wurde herrschsüchtig und begann mehr und mehr einer häßlichen, ausgemergelten Grande Dame zu ähneln. Sie beschimpfte Tennyson, fauchte die Schwestern an und überging alle medizinischen Anweisungen mit lässiger Hochmütigkeit. „Das liegt an dieser verdammten Himmelsgeschichte“, bemerkte Ecuyer. „Sie fühlt sich jetzt über alle anderen Lauscher, über alle Menschen erhaben. Seit vielen Jahren ist sie einer unserer fähigsten Lauscher gewesen. Sie hat viele, Daten für uns hereingeholt. Aber niemals etwas von dieser Bedeutung. Auch ein paar andere Funde waren sehr wichtig – alle Daten besitzen eine potentielle Bedeutung –, doch nie war etwas ähnlich Spektakuläres dabei. Mit dem Himmel war das alles nicht zu vergleichen. Es handelt sich hierbei um einen bedeutungsvollen Fund, das ist für jedermann offensichtlich. Ich fürchte, dieser Fund wird die Frau als Lauscher ruinieren. Wenn man ein guter Lauscher sein will, dann muß man bescheiden und hingebungsvoll sein. Die Aufgabe des Lauschens kann man nur mit unterwürfiger Hingabe bewältigen. Der Lauscher muß sich unterordnen können, er muß seine Persönlichkeit verleugnen und seinen Verstand freimachen. Es ist ein Jammer, daß Marias Klone …“ „Du hast schon einmal von den Klonen gesprochen“, unterbrach ihn Tennyson. „Willst du damit sagen, ihr habt weitere Marias geschaffen?“ „Ja, das stimmt“, antwortete Ecuyer. „Wenn wir feststellen, daß ein Lauscher außerordentliche Fähigkeiten besitzt, dann führen wir ein Kloning durch. Das geschieht übrigens erst seit 115
einigen Jahren. Ich bin davon überzeugt, daß das biologische Labor des Vatikans Kloningverfahren entwickelt hat, die fortschrittlicher sind als alle ähnlichen Verfahren irgendwo sonst in der Galaxis. Absolut sicher; keinerlei Abweichungen. Gute Lauscher sind schwer zu finden. Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange man nach jedem von ihnen suchen muß. Ich rede von guten Lauschern, Maria ist überragend! Einen solchen Lauscher dürfen wir nicht verlieren, wir müssen Duplikate von ihr schaffen. Wir brauchen viele Marias. Bisher haben wir drei Klone von ihr, aber sie sind noch sehr jung, kleine Kinder. Auch wenn sie einst erwachsen sind, besitzen wir nicht die Gewißheit, ob eines von ihnen Marias Weg zum Himmel wiederfinden wird. Allerdings gehen wir davon aus, daß ein solcher Lauscher eine größere Chance hat als einer, der nicht mit Maria verwandt ist. Hervorragende Lauscher werden sie alle sein, aber ob auch sie den Himmel finden werden, ist noch die Frage.“ „Dann ist Maria womöglich eure einzige Hoffnung?“ „Ja, so ist es“, bestätigte Ecuyer. „Und das weiß sie genau, darum nimmt sie sich plötzlich so unerhört wichtig.“ „Gibt es denn nichts, was man dagegen tun könnte, etwas, das sie von ihrem hohen Roß herunterholt?“ „Wir lassen sie in Ruhe“, sagte Ecuyer. „Wir beachten sie gar nicht. Je mehr wir sie beachten, desto schlimmer wird es mit ihr.“ Jill nahm das Angebot, die Vatikangeschichte zu schreiben, an. „Warum auch nicht“, sagte sie zu Tennyson, während sie gemeinsam durch den Garten schlenderten. „Es dauert noch fünf Wochen, bis das Schiff aus Wansttritt wieder herkommt. In diesen fünf Wochen ist an eine Abreise sowieso nicht zu denken. Wenn ich solange untätig herumsitzen soll, schnappe ich über. Es gibt ja nichts, was man hier unternehmen könnte.“ „Du könntest einen Ausflug in die Berge machen. Ich finde 116
sie sehr interessant, sie scheinen sich ständig zu verändern. Mit jedem Wechsel des Lichts nehmen sie einen anderen Ausdruck an. Ich werde nie müde, sie zu betrachten.“ „Es mag sein, daß sie dir gefallen“, erwiderte sie. „Ich kann mit Bergen nichts anfangen.“ „Was wird sein, wenn du von der Vatikanstory nicht mehr loskommst? Möglicherweise erweist sie sich als derart faszinierend, daß du dich nicht mehr von ihr losreißen kannst, falls der Vatikan dir überhaupt gestattet, deine Arbeit nach Belieben zu beenden. Vielleicht weißt du bald zuviel, und sie können es sich nicht mehr leisten, dich von Nirgendsend abfliegen zu lassen.“ „Das Risiko muß ich halt eingehen“, sagte sie. „Ich bin schon oft in die Enge getrieben worden, aber ich habe noch immer einen Ausweg gefunden. Bedenk doch: die ungeheure Informationsflut. Wenn diese Leute behaupten, sie besäßen ein umfassendes Archiv, dann meinen sie, was sie sagen.“ Sie stürzte sich auf den Job. Oft sah Tennyson sie mehrere Tage nicht. Dann tauchte sie plötzlich zum Abendessen auf und begann zu erzählen. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, sagte sie. „Es gibt soviel zu berichten. Sie haben wirklich alles aufgezeichnet, alles, was sie geplant und ausgeführt haben, ja, sogar das, was sie gedacht haben.“ „Wenn du nicht aufpaßt, wirst du von der Sache verschluckt“, warnte er sie. „Dann kommst du nie mehr von hier fort. Du wirst dich in einen Geschichtsforscher verwandeln, der völlig in seiner Arbeit aufgeht. Eine Lebenszeit wird dir nicht reichen, um all den Daten nachzuspüren.“ „Tief in meinem Innern bin ich immer noch Jill Roberts, freie Schriftstellerin“, beruhigte sie ihn. „Eine Weltenbummlerin, die allen Geschichten bis zu ihrem Ursprung nachjagt. Wenn die Zeit kommt … Aber lassen wir das. Reden wir lieber von dir. Wie kommst du zurecht, Jason?“ 117
„Ich bin dabei, mich einzuleben.“ „Glücklich?“ „Glücklich? Das weiß ich nicht. Was ist Glück? Zufriedenheit, ja. Im Augenblick bin ich zufrieden. Meine medizinischen Aufgaben machen mir Spaß, und sie überfordern mich nicht. Wahrscheinlich war ich nie einer jener hingebungsvollen Ärzte, die nach höchsten medizinischen Ehren streben und sich nicht damit begnügen, gelegentlich einem einzelnen Patienten etwas Gutes zu tun. Hier gibt es gerade genug für mich zu tun, damit ich beruflich ausgefüllt bin, und das ist alles, was ich mir zur Zeit wünsche. Mit Ecuyer und den anderen komme ich sehr gut aus.“ „Wie ist es mit deiner Himmelsdame?“ „Meine Himmelsdame? Ach so! Ja, wenn ich das wüßte. Physisch ist sie wieder in Ordnung …“ „Aber?“ „Sie hat sich sehr verändert. Sie ist geradezu in sich selbst vernarrt, hält sich für eine große Dame. Wir sind alle nur Staub unter ihren Füßen. Psychisch hat sie einen schweren Schaden erlitten.“ „Aber das mußt du doch verstehen, du mußt einsehen, was der Himmel für sie bedeutet. Ob sie ihn nun gefunden hat oder nicht, für sie ist die Sache von ungeheurer Bedeutung. Vielleicht ist es das erste Mal in ihrem Leben, daß ihr etwas wirklich Wichtiges zugestoßen ist.“ „Sie ist sich sicher, den Himmel gefunden zu haben. Sie glaubt fest daran.“ „Das tut der halbe Vatikan auch.“ „Der halbe Vatikan? Ich dachte, sie wären alle überzeugt.“ „Genau kann ich das auch nicht einschätzen, Jason. Die Leute reden nicht mit mir darüber, aber ich höre Gerüchte. Es ist keineswegs so, daß alle glücklich über diesen Himmelsfund sind.“ 118
„Wie kann das angehen? Der Himmel! Meine Güte! Sie sollten vor Entzücken außer sich sein!“ „Man darf sich nicht durch den Namen ‚Vatikan’ täuschen lassen. Er ist nicht das, wofür wir ihn gehalten haben. Wegen der allgemeinen Terminologie – Vatikan, Papst, Kardinal und so weiter – kommt man leicht zu der Annahme, es handle sich um eine von Grund auf christliche Einrichtung. Doch das trifft nur begrenzt zu. In diesem Vatikan kommen viele Dinge zusammen. Was alles an ihm beteiligt ist, kann ich noch nicht abschätzen. Möglicherweise war er einmal eine christliche Institution, das Christentum war schließlich alles, was die armen Gründer von der Erde mitgebracht hatten. Aber dann sind die Roboter zu anderen Erkenntnissen gekommen, sie haben so viele neue Dinge gefunden, daß das Unternehmen heute nicht mehr nur christlich ist. Und dann gibt es da noch einen anderen Faktor …“ Sie zögerte einen Augenblick. Tennyson wartete ab und schwieg. Schließlich fuhr sie fort: „Im Vatikan gibt es zwei Gruppen von Robotern, die allerdings nicht sehr scharf gegeneinander abgegrenzt sind. Zunächst sind da die alten, diejenigen, die einst von der Erde gekommen sind. Diese neigen noch immer stark dazu, sich mit den Menschen zu identifizieren. Für sie sind Roboter und Menschen eine unzertrennliche Gemeinschaft. Auf die jüngeren Roboter trifft diese Einstellung nur teilweise zu. Aus denen, die hier erschaffen oder hergestellt wurden, und zwar von Robotern, setzt sich die zweite Gruppe zusammen. Man kann spüren, daß die Angehörigen der zweiten Gruppe eine gewisse Abneigung ausstrahlen, vielleicht nicht eine Abneigung gegen Menschen, aber gewiß gegen die Beziehung der alten Roboter zu den Menschen. Die Jungen wollen das Band zur Menschheit durchtrennen. Sie erkennen durchaus an, daß die Roboter in der Schuld der Menschen stehen, aber sie wollen sich dennoch von ihnen lösen. Sie wollen ihre eigene 119
Identität finden und kräftigen. Marias Himmel hat ihren Verdacht erregt. Sie mißtrauen ihm, weil er einen menschlichen Begriff verkörpert. Maria ist ein Mensch, und sie hat ein menschlich-christliches Prinzip entdeckt …“ „Das finde ich nicht unbedingt schlüssig“, wandte Tennyson ein. „Nicht alle Menschen sind Christen, vermutlich ist es nur ein kleiner Prozentsatz. Ich kann nicht sagen, ob ich ein Christ bin, du bist vermutlich keiner. Vielleicht waren unsere Vorfahren Christen, aber sie können ebensogut Juden oder Moslems gewesen sein …“ „Aber viele von uns tragen ein christliches Erbe, ganz gleich, ob sie sich selbst als Christen empfinden. Eigentlich macht es keinen Unterschied, ob wir uns als Christen bezeichnen oder nicht. Wir sind immer noch von der christlichen Denkungsart geprägt. Zum Beispiel benutzen wir christliche Ausdrücke, wenn wir fluchen: ‚Zum Teufel!’, ‚Gottverdammt!’. Diese Wörter gehen uns ganz leicht und natürlich über die Lippen.“ Tennyson nickte nachdenklich. „Ja, ich kann mir vorstellen, daß die Roboter uns alle für Christen halten. Es ist ja auch nichts Schlimmes, wenn man ein Christ ist.“ „Natürlich nicht, Jason. Als die Menschheit begann, die Erde zu verlassen, hat sie eine Menge verloren oder fortgeworfen. Viele von uns wissen heute nicht mehr, wer wir wirklich sind.“ Sie saßen eine Zeitlang schweigend beieinander, dann sagte sie mit zärtlicher, leiser Stimme: „Jason, du bemerkst meine Entstellung gar nicht mehr, diese scheußliche Narbe. Ich weiß, daß du sie überhaupt nicht mehr siehst. Von allen Männern, denen ich je begegnet bin, bist du der erste, der die Narbe vergessen konnte.“ „Meine Liebe“, erwiderte er. „Warum sollte ich mich inzwischen nicht daran gewöhnt haben?“ „Weil sie mich entstellt, weil sie mich häßlich macht.“ „Du bist ein schöner Mensch“, entgegnete er, „innerlich und 120
äußerlich. Die Narbe spielt keine Rolle, du verlierst nichts durch sie. Außerdem hast du recht: Ich sehe sie tatsächlich nicht mehr.“ Sie lehnte sich gegen ihn und zog ihn in ihre Arme. „Halt mich fest“, sagte sie, „ganz fest. Das brauche ich sehr.“ Ein solcher Abend war sehr selten. An den meisten Abenden bekam er sie nicht zu Gesicht. Sie verbrachte viele Stunden damit, die Geschichte auszugraben. Sie suchte sich die Einzelheiten aus den Archiven zusammen, versuchte, sie zu verstehen und zu einem sinnvollen Ganzen zu fügen. Bei ihrer Arbeit bewunderte sie die fanatische Hingabe, die die Roboter seit Jahrhunderten vorantrieb. Das ist mehr als eine Religion, dachte sie gelegentlich, zu anderen Zeiten war sie davon überzeugt, daß sie es mit einer starken Religion zu tun hatte. Immer wieder drängte sich ihr die gleiche Frage auf: Was ist eigentlich eine Religion? Hin und wieder besuchte Kardinal Theodosius sie an ihrem Arbeitsplatz. Er zog einen Hocker an ihre Seite und drapierte die purpurfarbenen Stoffbahnen seiner Robe sorgfältig um seinen Körper. Er erinnerte sie an eine Raupe in einem Kokon. „Brauchen Sie weitere Hilfe?“ fragte er. „Wenn dem so ist, kann ich mehr Hilfskräfte für Sie abstellen.“ „Sie sind sehr freundlich zu mir, Eminenz“, erwiderte sie dann, „aber ich habe alle Hilfe, die ich benötige.“ So war es tatsächlich. Die beiden Roboter, die ihr bei der Arbeit halfen, schienen an der Sache genauso interessiert zu sein wie sie selbst. Häufig steckten sie über dem großen Arbeitstisch die Köpfe zusammen und versuchten, eine unklare Stelle in den Annalen zu enträtseln. Gemeinsam erörterten sie theologische Streitfragen und widersprüchliche Angaben. Ihr Ziel war es, die Daten von ihrem Ballast zu befreien und zum Wesentlichen vorzudringen. Auf einem seiner Besuche sagte der Kardinal ohne einleitende 121
Floskeln: „Sie werden allmählich eine von uns, Miß Roberts.“ „Wohl kaum, Eure Eminenz“, erwiderte Jill. „Ich fürchte, Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe das nicht so wörtlich gemeint, wie Sie es offenbar aufgefaßt haben. Eigentlich wollte ich auf Ihren wissenschaftlichen Standpunkt zu sprechen kommen, auf Ihren Enthusiasmus und Ihre Begeisterung für die Fakten.“ „Wenn Sie auf mein Interesse an der Wahrheit anspielen, Eminenz“, erwiderte sie, „nun, ich habe die Wahrheit schon immer geliebt.“ „Es geht gar nicht so sehr um die Wahrheit“, sagte der Roboter, „es ist eher eine Frage des Verstehens. Ich glaube, Sie haben begonnen, den Sinn unserer Arbeit zu verstehen.“ Jill schob die Papiere zurück, die sie gerade studiert hatte. „Nein, Eminenz, ich verstehe ihn nicht. Vielleicht können Sie mir eine Erleuchtung verschaffen. Es gibt ganze Teilgebiete in der Geschichte, die ich nicht verstehe. So finde ich keine Erklärung dafür, warum Sie gerade hierhergekommen sind. Was hat Sie von der Erde vertrieben? Allgemein wird behauptet, Sie hätten sehr darunter gelitten, daß Sie nicht Mitglied in einer Kirche werden konnten und man Ihnen somit die Religion vorenthielt. Allgemein wird dieser Zustand als Grund für den Exodus angegeben. Jeder Roboter hier im Vatikan gibt die gleiche Erklärung ab, es klingt fast wie ein Glaubensbekenntnis. Doch in der Geschichte findet sich kein eindeutiger Beweis dafür, daß diese These zutreffend ist.“ „Alles, was vor unserer Ankunft auf Nirgendsend geschah, ist nicht aufgezeichnet worden“, erklärte der Kardinal. „Es gab keinen Grund, diese Dinge ins Archiv aufzunehmen. Wir wußten doch alle, warum wir nach Nirgendsend gekommen waren, dieses Wissen war geradezu ein Teil von uns. Eine allgemein bekannte Tatsache braucht man nicht aufzuzeichnen.“ Sie schwieg. Sie wollte sich nicht auf ein Streitgespräch mit 122
einem Kardinal einlassen, auch wenn es nur ein Robotkardinal war. Er schien nicht zu bemerken, daß sie die Frage nicht weiter vertiefte; vermutlich ging er davon aus, er hätte sie zu ihrer Zufriedenheit beantwortet. Auch das Gespräch trieb er nicht weiter voran. Er saß noch eine Weile nachdenklich auf seinem Hocker, dann erhob er sich und ging. Tennysons Tage waren ausgefüllt. Er beobachtete den Vatikan, spähte ihn aus, sprach mit allen Robotern, denen er begegnete. Häufig traf er mit den Lauschern zusammen und lernte einige von ihnen sehr gut kennen. Einmal hatte er eine Unterredung mit James Henry, dem Mann, der ein Trilobit gewesen war. „Sie haben also den Trilobitenwürfel ausprobiert“, sagte Henry. „Sagen Sie mir, wie fanden sie ihn?“ „Er hat mir ein seltsames Gefühl im Magen verursacht.“ „So ging es mir auch“, erklärte Henry. „Seitdem habe ich nicht mehr als Lauscher gearbeitet. Ehrlich gesagt, ich habe Angst davor. Ich sage mir, weiter als zum Trilobiten darf ich nicht gehen. Irgendwo dort muß die Grenze des Bewußtseins sein. Wenn man noch einen Schritt weiter zurückgeht, hat man sie womöglich überschritten und findet sich in einem Klumpen hirnlosen Protoplasmas wieder, dann spürt man nichts mehr als einen Drang zur Nahrung und einen dumpfen Fluchtimpuls. So ähnlich ist es mir mit dem Trilobiten ergangen. Wenn der Würfel überhaupt einen verständlichen Inhalt hat, liegt das daran, daß mein Verstand Besitz von diesem Tier ergriffen hat. Wenn ich nun noch weiter zurückgehe, bleibe ich vielleicht für immer in einem Kloß aus lebendigem Gelee stecken. Das wäre eine tolle Art, mein Leben zu beschließen.“ „Warum versuchen Sie nicht, ein anderes Ziel anzusteuern?“ „Sie verstehen eben nichts von der Sache. Natürlich könnte ich mir ein anderes Ziel suchen. Viele Lauscher visieren ganz bestimmte Gebiete an. Gelegentlich haben sie damit Erfolg, 123
meistens gelingt es ihnen nicht, sie zu finden. Man kann sich nie sicher sein. Das Lauschen ist ein kniffliges Geschäft. Man hat es nicht völlig unter Kontrolle. Nehmen Sie zum Beispiel Maria. Ich nehme an, daß sie noch einmal den Himmel ansteuern wird, und ein Lauscher von ihren Fähigkeiten kann es durchaus schaffen. Aber auch sie kann sich nicht darauf verlassen. Wie ich schon sagte, es gibt keine Gewißheit. Ich habe es nie darauf angelegt, an der Protoplasmalinie entlangzuwandern. Es ist einfach passiert.“ „Warum zögern Sie dann, es noch einmal mit dem Lauschen zu probieren? Es kann doch sein, daß Sie gar nicht …“ „Dr. Tennyson“, entgegnete Henry. „Ich kann nur wiederholen, ich weiß nicht, warum ich diesen Weg überhaupt eingeschlagen habe und immer wieder auf ihn zurückkehre. Ich weiß nur eins: Nachdem ich es ein paar Mal getan hatte, war es so, als befände ich mich auf einer gut geschmierten Rutsche. Nun fürchte ich einfach, daß diese Rutschbahn immer noch da ist und auf mich wartet. Am Anfang hat es mir nichts ausgemacht. Ganz im Gegenteil, es war ein Mordsspaß. Hochinteressant. Häufig war ich ein Urmensch. Das war wirklich nicht übel, obwohl ich oft eine Heidenangst hatte – dauernd mußte ich um mein Leben rennen. Ich kann Ihnen sagen, mein Herr, unsere Altvorderen hatten den Wagemut nicht gerade erfunden. Die Tapfersten waren wir leider nicht. Wir waren nur ein appetitlicher Fleischhappen unter anderen Fleischhappen. Die Raubtiere interessierte es wenig, ob sie einen von uns verspeisten oder etwas anderes. Protein und Fett, das waren wir! Die halbe Zeit also war ich auf der Flucht. Während der anderen Hälfte habe ich es mir wohl ergehen lassen. Kadaverreste, die die Raubtiere übriggelassen hatten, kleine Nager, die ich erschlagen konnte, Obst, Wurzeln, Insekten. Manchmal wird mir übel, wenn ich daran denke, was ich alles verzehrt habe. Doch während ich es verschlang, freute ich mich über jeden Bissen. In der Vorzeit 124
hat es mir nichts ausgemacht, doch heute träume ich gelegentlich davon, wie ich einen faulen Baumstamm umwende und die weißen Maden darunter vom Waldboden aufklaube. Sie krümmen sich und versuchen, durch meine Finger zu schlüpfen, aber ich halte sie gut fest und stopfe sie mir in den Mund. Sie schmecken süßlich und lassen sich leicht schlucken. Dann wache ich auf und bin am ganzen Körper schweißgebadet, mein Magen rumort. Von dieser Sache einmal abgesehen, war es keine schlechte Erfahrung. Sogar wenn ich um mein Leben gerannt bin, war es nicht wirklich schlimm. Ich hatte große Angst, das stimmt, aber es war auch ein eigenartiger Überschwang in dieser Angst. Man verspürte eine tiefe Befriedigung, wenn man es geschafft hat und der Großkatze eine lange Nase machen kann. ‚Ätsch! ätsch!’ rufst du dann und bist richtig übermütig. Jetzt hast du erst einmal Ruhe, kannst dir den Wanst vollschlagen und einen warmen Platz zum Schlafen suchen. Manchmal ist man geil wie ein Ziegenbock, dann geht’s auf Weiberjagd. Ich will Ihnen von dem besten Wesen erzählen, das ich je war. Da war ich kein Mensch oder Urmensch oder Vormensch – ich weiß sowieso nicht genau, ob man alle diese vormenschlichen Kreaturen mit dem Beiwort, Mensch’ versehen sollte. Dieses tollste Wesen also war eine Art Reptil. Was es genau war, weiß ich nicht, das weiß niemand. Ecuyer hat sich alle Mühe gegeben, es herauszufinden. Er hat sich einen Haufen Bücher schicken lassen, die ihm Aufschluß geben sollten, aber es stand nichts drin. Mich hat es eigentlich nie besonders interessiert, wer ich genau war, aber er wollte es unbedingt wissen. Ich nehme an, daß ich eines dieser fehlenden Bindeglieder gewesen sein könnte, so ein heimtückisches Biest, von dem kein Skelett gefunden wurde, über das sich die Paläontologen den Kopf zerbrechen konnten. Ecuyer und ich vermuten, daß es im Trias gelebt hat. Ich behaupte, es war ein Reptil, aber vielleicht stimmt das auch nicht. Jedenfalls war es nicht groß, doch es war 125
flink. Es war eines der schnellsten Lebewesen, die zu der Zeit gelebt haben. Und böse war es. Mann, war das ein böses Tier. Es hat alles gehaßt und sich mit allen angelegt. Alles, was sich bewegte, wollte es auffressen. Wem es begegnete, der war zu Tode erschrocken. Bis dahin wußte ich gar nicht, was für ein tolles Gefühl es sein kann, von Grund auf böse zu sein. Durch und durch schlecht. Ein richtig niederträchtiger Teufel! Meine Zeit als Trilobit war sehr kurz, aber als Reptilwesen habe ich sehr lange gelebt. Wie lange, kann ich nicht sagen, denn ich hatte kein Zeitgefühl; ich habe einfach mitten im Immerdar gelebt. Vielleicht bin ich so lange geblieben, weil ich es genossen habe. Warum bitten Sie Ecuyer nicht einmal, Ihnen den Reptilwürfel herauszusuchen? Er wird Ihnen gefallen.“ „Vielleicht werde ich ihn eines Tages ausprobieren“, versprach Tennyson. Er probierte den Reptilwürfel nicht aus. Es gab zu viele andere. Ecuyer hatte nichts dagegen, wenn er sich umsah. Er wies den Robotbibliothekar an, Tennyson alle Würfel zu zeigen, nach denen dieser verlangte, und schlug selbst eine Reihe interessanter Würfel vor. Das ist doch merkwürdig, dachte Tennyson. Wie kann man einem Fremden all diese Aufzeichnungen zeigen, so als ob er ein Mitglied des Projektes wäre. Und im Vatikan-Archiv hatte Jill Zugang zu allen geschichtlichen Aufzeichnungen. Beides paßte überhaupt nicht zu den Worten des Kardinals, zur allgemeinen Weigerung des Vatikans eine öffentliche Berichterstattung über seine Arbeit zuzulassen. Für dieses Verhalten konnte es nur eine Erklärung geben: Die Kirchenleute waren sicher, daß weder er noch Jill noch jemand mit ihren Kenntnissen über die Unternehmungen des Vatikans den Planeten verlassen konnte. Oder wollte man durch diese Offenlegung erreichen, daß Jill und er für die Sache des Vatikans gewonnen wurden? Im we126
sentlichen bestand der Vatikan aus einer Schar übereifriger Fanatiker, die in völliger Isolation vom Rest der Galaxis lebte. Möglicherweise war den Kirchenleuten wegen ihres Eifers und wegen der Isolation der Blick für allgemeine Größenverhältnisse verlorengegangen. Ihre Arbeit mußte ihnen über alle Maßen bedeutungsvoll erscheinen. War also der Vatikan ein Opfer seiner eigenen Egozentrik geworden, und erschien ihm seine Sache so großartig, so heilig und so sehr von Vernunft geprägt, daß er davon überzeugt war, jedermann, der sich ausreichend informiert hatte, müsse sich zwangsläufig auf seine Seite schlagen? Glaubte der Vatikan seine Unternehmungen nur ausreichend erklären zu müssen, und schon würde jeder zu seinem Bundesgenossen? Tennyson schüttelte nachdenklich den Kopf. Das Verhalten des Vatikans war unlogisch. Er hätte Jill und ihn selbst leicht wieder mit der WANDERGESELL nach Wansttritt zurückschicken können, wenn er das gewollt hätte. Sicher, sie beide hätten dann einen gewissen Eindruck vom Vatikan, aber keine Vorstellung vom wahren Charakter seiner Arbeit gehabt. Jill hätte in einem Artikel genau schildern können, wie sie aus Nirgendsend hinausgeworfen wurde, doch in all den Zwistigkeiten, Kreuzzügen und Streitereien, die die Galaxis beherrschten, hätte ein solcher Artikel auch nicht mehr Aufsehen verursacht als ein Kiesel, den man in einen sturmgepeitschten Ozean wirft. Es gab auch eine sehr einfache Erklärung für das zwiespältige Verhalten der Kirchenleute, doch Tennyson zögerte am meisten, gerade diese Erklärung zu akzeptieren: Sie wurden auf Nirgendsend gebraucht. Man mußte zugeben, ein Arzt für die menschliche Bevölkerung wurde tatsächlich benötigt, und eine Geschichtsschreibung mochte der Vatikan ebenfalls für notwendig erachten. Vermutlich war es wirklich schwierig, qualifizierte Fachleute auf diese abgelegene Welt zu locken, so schwierig, daß der Vatikan zufaßte, als unverhofft zwei Spezia127
listen auf dem Planeten landeten. Doch ohne zu wissen warum, zögerte Tennyson, sich mit dieser Erklärung abzufinden. So wichtig konnten er und Jill doch gar nicht sein, sagte er sich. Das Verhalten des Vatikans ergab nur dann einen Sinn, wenn man vorhatte, sie nie wieder von dieser Welt wegzulassen. Ein Würfel stürzte ihn in tiefe Verwirrung. Selbst wenn man die fremde Welt als einer ihrer Einwohner erlebte, und Tennyson ging davon aus, daß er sich in einem der Bewohner befand, entzog sich der Ort jedem menschlichen Verständnis. Er war völlig unfaßlich. Was Tennyson sah – später erkannte er, daß es sich bei dieser besonderen Art der Wahrnehmung nicht um wirkliches Sehen gehandelt hatte – war eine Welt der Diagramme und Gleichungen. Zumindest betrachtete Tennyson sie als Diagramme und Gleichungen, denn er konnte die fremden Zeichen und Symbole in keiner Weise mit vertrauten Zahlen und Formeln in Verbindung bringen. Ihm war, als existierte er innerhalb einer riesigen, dreidimensionalen Tafel, und die Zeichen und Symbole, die Diagramme und Gleichungen umgaben ihn auf allen Seiten bis in weite Ferne. Hin und wieder hatte er das starke Gefühl – wieso er dies verspürte, hätte er nicht sagen können – er selbst, beziehungsweise die Wesenheit, an deren Verstand er teilhatte, wäre ebenfalls eine solche Gleichung. Er suchte vergebens nach einer Antwort, nach einer Erklärung. Zögernd tastete er den Verstand seines Gastgebers ab, aber er erweckte keine Reaktion. Diese Kreatur weiß nicht, daß ich da bin, sagte er sich. Sie selbst benötigt keine Erklärung, sie versteht, was sie sieht. Vielleicht deutete sie sogar den Anblick, der sich ihr bot, und trat in einen Gedankenaustausch mit den anderen Diagrammen und Gleichungen. Aber wenn dem so war, dann entging es Tennyson vollständig. Er wurde von einem Meer der Unwissenheit verschlungen. Er gab nicht auf. Er blieb in der Welt und kämpfte um einen Funken Verständnis. Irgend etwas wollte er erfassen, einen 128
Schimmer des Verstehens, ein kleiner erster Schritt der Erkenntnis. Dieser Schritt wollte ihm nicht gelingen. Als die Würfelsitzung zum Ende kam und Tennyson sich in seiner vertrauten Umgebung wiederfand, war er kein Jota klüger als vor seinem Sprung in diesen fremden Verstand. Er blieb benommen im Sessel sitzen. „Ein interessanter Würfel, nicht wahr, Sir?“ fragte der Robotarchivar. Tennyson fuhr sich mit der Hand über die Augen, sein Blick wurde allmählich wieder klarer. „Ja“, antwortete er. „Was war das?“ „Wir wissen es nicht, Sir.“ „Was hat man dann überhaupt davon, wenn man es findet und betrachtet?“ fragte Tennyson. „Der Vatikan wird es wissen“, antwortete der Archivar. „Der Vatikan hat seine eigenen Methoden.“ „Nun, das wollen wir hoffen“, bemerkte Tennyson, während er sich aus dem Sessel erhob. „Mehr kann ich heute nicht ertragen. Kann ich morgen wiederkommen?“ „Aber gewiß, Sir, wann immer Sie wollen.“ Am nächsten Tag war es das Herbstland. Eigentlich war es nichts Bestimmtes; es war nur ein Ort. Diesmal war Tennyson sicher, daß er nicht in einer fremden Intelligenz existierte. Er war einfach da. Er konnte seinen Standort nicht genau lokalisieren, er hatte nur das sichere Gefühl, an einem bestimmten Platz zu sein. Er hätte schwören können, daß er das Rascheln und Knistern trockener Blätter unter seinen Füßen hörte und er kühle, würzige Luft atmete, eine frische Brise, in der sich der Geruch herbstlicher Laubfeuer und reif hängender Äpfel vermischte. Der schwache Duft später Blüten hing in der Luft, und ein Hauch von Rauhreif lag über den welken Pflanzen. Tennyson glaubte das Prasseln herabfal129
lender Kastanien zu hören, den fernen Flügelschlag eines aufgeschreckten Fasans und das Gemurmel eines Bächleins, das eine Last von herbstlichen Blättern auf seinen plätschernden Wellen trug. Tennyson war sicher, daß er die Farben gesehen hatte: das üppige Gold des Walnußbaums, das leuchtende Purpur einer Esche, das sonnenhelle Gelb einer Espe, blutrotes Ahornlaub und das warme Rotbraun der Eichen. Über allem schwebte der bittersüße Atem des Herbstes, der Nachgesang auf das sterbende Jahr, wenn alle Arbeit getan war und die Jahreszeit der Stille und der Ruhe ihre Herrschaft antrat. Alle diese Gefühle hatten sich eingestellt, so deutlich waren sie, daß Tennyson sich ihrer fast sicher wähnte, fast sicher. Sie hatten ihn wohlig umfangen, und er hatte sich leichtherzig in sie ergeben, war über die Hügel gewandert und dem gewundenen Lauf des Baches gefolgt. Er hatte weit hinaus über das goldbraune, herbstliche Moor geblickt und hatte gehört, wie das Gold, Rot und Gelb der buntbemalten Bäume gegen den klaren Himmel schrie. Ein seltsamer Friede war über ihn gekommen. Ein Friede, wie er sich nur nach einem langen Sommer einstellt, Friede und Gelassenheit, bevor der eisige Hauch des Winters die Seele erfaßt. Eine kleine Zeitspanne der Ruhe und des Nachdenkens, in der alte Wunden versorgt und dann vergessen werden konnten. Die bösen Streiche, die das Leben während des Jahres gespielt hatte, zählten nun nicht mehr. Wenn Tennyson später über das Erlebnis nachdachte, war es ihm, als wäre er im Himmel gewesen, in seinem persönlichen Himmel. Keine goldenen Türme hinter einer breiten, glänzenden Treppe, keine Posaunenengel in der Luft, wie in Marias Himmel. Nein, dies war der wahre Himmel, der stille Herbstnachmittag, der sich nach der Hitze der Sommersonne auf das Land und die langen, staubigen Straßen senkte. In tiefes Nachdenken versunken ging Tennyson fort, nachdem er ein paar Höflichkeitsfloskeln mit dem immer frohgemu130
ten Archivar gewechselt hatte. Während er seiner Wohnung entgegenschlenderte, versuchte er, das Erlebnis noch einmal zurückzuholen. Es gelang ihm nicht, und es wurde ihm bewußt, wie immateriell, wie vergänglich dieses Land irgendwo im All gewesen war. Am Abend erzählte er Jill davon. „Mir war, als wäre ich auf meinen Heimatplaneten zurückgekehrt, in die Tage der Kinderzeit und der späten Jugend, kurz bevor ich meine Heimat verlassen habe, um zur Universität zu gehen. Meine Heimatwelt war der Erde sehr ähnlich, ein erstaunlich erdähnlicher Planet. Eigentlich kann ich das nicht beurteilen, denn ich bin selbst nie auf der Erde gewesen, aber man hat es mir immer wieder gesagt. Die Welt war eine britische Kolonie, sie hieß Paddington. Offenbar ist das der Name einer Stadt, denn die Silbe ‚ton’ stammt vom englischen Wort ‚Town’, und das bedeutet Stadt. Die Bewohner fanden es nicht merkwürdig, eine ganze Welt nach einer Stadt zu benennen, die Briten haben eben keinen Sinn für Humor. Ich meine, bei uns ging es sehr englisch zu, sehr britisch, sollte ich wohl besser sagen, denn so lautet der korrekte Ausdruck dafür. Es wurde viel über die alte Erde gesprochen, sie wurde mit England gleichgesetzt. Später habe ich festgestellt, daß das eine sehr einseitige Betrachtungsweise war, denn die Erde war eher ein Abbild Nordamerikas. In meiner Kindheit war ich geradezu von England besessen, oder von der Legende Englands. Ich habe viel über die englische Geschichte gelesen. Die Bibliothek in meiner Heimatstadt hatte eine große Auswahl an …“ „Ich wollte es dir schon ein paarmal erzählen“, unterbrach ihn Jill, „aber ich vergesse es immer wieder: In der Bibliothek des Vatikans gibt es eine Menge Bücher von der Erde. Ich meine richtige Bücher, die von der Erde stammen, keine Bänder über die Erde. Einzelne Blätter zwischen Buchdeckeln. Jedermann darf in ihnen blättern. Ich glaube, auch du könntest dir einige ausleihen, wenn sie dich interessieren.“ 131
„Ich werde dich in den nächsten Tagen besuchen und in den Büchern schmökern“, versprach Tennyson. „Aber ich wollte jetzt von Paddington erzählen. Man hat mir gesagt, diese Welt sei fast ein Duplikat der Erde. Immer wieder haben die Einwohner beteuert, daß sie großes Glück hatten, gerade diesen Planeten zu finden. Es gibt viele Planeten, auf denen man leben kann, aber der alten Erde gleichen nur wenige. Auf Paddington gab es viele Pflanzen und Bäume, die der irdischen Vegetation sehr ähnlich waren, der Vegetation in Nordamerika, allerdings. Einige Pflanzen kommen jedoch in Nordamerika und in England vor. Die Jahreszeiten waren genau wie auf der Erde. In meiner Heimatstadt gab es einen wunderschönen Herbst, einen Altweibersommer mit leuchtend bunten Bäumen und rauchigem Dunst in der Ferne. Ich hatte das alles fast vergessen, doch heute habe ich es wiedergesehen. Ich glaube jedenfalls, daß ich es gesehen habe. Ich habe den Herbst gerochen und ihn gehört und bin durch ihn hindurchgegangen und …“ „Aber Jason, du bist ja völlig außer dir. Versuch es zu vergessen! Geh zu Bett!“ Tennyson befragte Ecuyer. „Diese Welt der Gleichungen ergibt einfach keinen Sinn. Ist dein Lauscher noch einmal dort gewesen?“ „Mehrmals“, antwortete Ecuyer. „Und?“ „Sie ergibt immer noch keinen Sinn. Überhaupt keinen.“ „Geschieht so etwas häufig?“ „Daß wir Gleichungswelten finden? Nein. Übrigens versuchen wir selten, ein zweites Mal an einen Fundort zurückzukehren. In einem Universum, in dem alles, ich meine wirklich alles, statistisch betrachtet mindestens einmal geschieht, wo alles Mögliche sich tatsächlich einmal ereignet, besteht wirklich wenig Aussicht auf eine Wiederholung. Es kommt zwar vor, aber nicht sehr oft. Wir haben auch schon gelegentlich einmal uner132
klärliche Situationen anderer Art gefunden, sie entziehen sich unserem Verständnis.“ „Wozu können diese Funde dann gut sein? Welchen Nutzen zieht ihr aus ihnen?“ „Vielleicht zieht der Vatikan einen Nutzen daraus?“ „Du gibst also all diese Funde an den Vatikan weiter?“ „Aber gewiß. Dafür arbeiten wir doch, für den Vatikan. Die Kirchenleute haben das Recht, sich jeden Würfel anzusehen. Sie prüfen ihn, bewerten ihn und schicken ihn dann zu uns zurück, damit wir ihn einlagern können. Manche Würfel werden sehr gewissenhaft ausgewertet, andere kaum beachtet. Die Methoden des Vatikans sind nicht immer leicht zu verstehen.“ „Aber wenn sie diese Gleichungswelt überprüfen wollten, dann müßten sie sich tatsächlich dorthin begeben. Physisch in diese Welt eintreten, meine ich. Man muß sie aus einem eigenen Blickwinkel betrachten und nicht durch die Augen eines Einwohners. Davon bin ich überzeugt.“ „Tja, hin und wieder kommt es vor, daß die Vatikanleute Orte aufsuchen, die wir gefunden haben.“ „Du meinst, sie reisen wirklich dorthin?“ „Ja, so ist es“, bestätigte Ecuyer. „Ich dachte, das wüßtest du längst.“ „Nein, das habe ich nicht gewußt. Niemand hat je mit mir darüber gesprochen. Also könnt ihr viel mehr als nur durch fremde Schlüssellöcher schauen?“ „Im Prinzip schon, aber häufig müssen wir uns mit einem flüchtigen Blick durch ein Schlüsselloch begnügen.“ „Warum zieht der Vatikan eigentlich nicht los und sieht sich Marias Himmel aus der Nähe an? Ich könnte mir vorstellen …“ „Vielleicht können sie das nicht“, sagte Ecuyer. „Vermutlich wissen sie nicht, wo er sich befindet. Wenn sie die Koordinaten nicht haben …“ 133
„Das verstehe ich nicht. Liefern die Lauscher denn auch die Koordinaten ihrer Fundorte?“ „Nein, das können sie nicht. Aber es gibt andere Wege, um die Koordinaten zu ermitteln. In dieser Sache können die Leute vom Vatikan äußerst geschickt sein. Bei einer einfachen Methode werden einfach zufällig sichtbare Sternbilder bestimmt.“ „Im Himmelswürfel gibt es keine Sternbilder, oder? Wenn es wirklich der Himmel ist, kann ich mir nicht vorstellen, daß man von dort die Sterne sehen kann. Wahrscheinlich hat der Himmel keinerlei Bezugspunkte zu Raum und Zeit. Doch wenn es dem Vatikan gelänge, ihn dennoch zu lokalisieren, was würde er tun? Jemanden in den Himmel schicken?“ „Das weiß ich wirklich nicht“, erwiderte Ecuyer. „Ich kann nicht für den Vatikan sprechen.“ Es ist eine Sackgasse, dachte Tennyson. Der Himmelsfund war zu eng mit philosophischen Problemen verknüpft. Ein Wunder dieses Ausmaßes mußte der empfindlichen Theologie sehr zusetzen. Ihm fiel wieder ein, was Jill ihm über die Kluft berichtet hatte, die der Fund im Vatikan aufgerissen hatte. „Der Himmel“, sagte Tennyson, „ist ein Symbol für ein zweites Leben, für ein Leben nach dem Tod. Sag mir doch, haben die Lauscher irgendeinen Hinweis darauf gefunden, daß es ein Leben nach dem Tod geben könnte? Ein kleines Anzeichen, ob ein solches Leben möglich ist?“ „Jason, ich weiß es nicht. Wie könnte ich mir sicher sein? Es ist unmöglich …“ „Wieso kannst du dir nicht sicher sein?“ „Sieh mal, es gibt so viele Lebensformen. Ganz offensichtlich quillt das All vor Leben über, von biologischem und nichtbiologischem Leben. Das nichtbiologische kann seinerseits wiederum in zahlreiche Gattungen zerfallen, von denen wir nichts wissen.“ 134
„Ja, ich verstehe“, sagte Tennyson. „Da sind zum Beispiel die Roboter.“ „Ach, von den Robotern rede ich gar nicht. Sie sind eindeutig nichtbiologisch. Künstlich hergestellt und nichtbiologisch. Aber es gibt auch natürliches Leben, oder natürlich erscheinendes Leben, das ebenfalls nichtbiologisch ist. Es gibt eine Wolke aus Staub und Gas im Orion – so lautet die irdische Bezeichnung für dieses Gebiet –, einen Nebel, den man auch mit den stärksten Teleskopen nicht wahrnehmen kann. Einfach ein Gebrodel aus Magnetfeldern, hoher Gasdichte, massiver Ionisierung und kosmischem Staub. Etwas lebt darin. Man kann den Pulsschlag des Lebens spüren, seinen Rhythmus. Vielleicht ist es der Staub selbst, vielleicht etwas anderes, jedenfalls spricht es. Sprechen ist möglicherweise nicht der richtige Ausdruck, es kommuniziert, sollte ich wohl besser sagen. Man kann es hören, oder fühlen, jedenfalls wahrnehmen. Was es sagt, weiß niemand. Die Lebensformen in dem Nebel richten womöglich unablässig Botschaften an uns. Vielleicht unterhalten sie sich auch nur miteinander, niemand kann das feststellen …“ „Aber was hat das alles mit dem Leben nach dem Tod zu tun?“ „Habe ich behauptet, daß es etwas damit zu tun hat?“ „Nein, ich glaube nicht“, erwiderte Tennyson. An manchen Tagen wanderte Tennyson in das Land hinaus. Er folgte schmalen Pfaden, zog durch enge, grüne Täler und kletterte steile Hügelhänge hinauf. Proviant und eine Flasche Wein trug er im Rucksack, die Wasserflasche hatte er umgehängt. Immer wieder fiel sein Blick auf die Berge, die blau und purpurn in den Himmel ragten. Wahrhaft majestätisch und unergründlich waren sie. Tiefe Schatten wanderten über ihre Flanken, und das Sonnenlicht glitzerte auf den eisbedeckten Gipfeln. Tennyson verbrachte viele Stunden auf einem Hügel sitzend, in die Betrachtung der Berge versunken, und doch konnte er niemals genug von ihnen bekommen. Die geheimnisvolle 135
Faszination ließ nicht nach, ganz gleich, wie lange man das ferne Gebirge anstarrte. Als er wieder die Richtung auf den Vatikan einschlug, stieß er auf eine der seltenen Straßen. Eigentlich war es eher ein breiter Waldweg, immerhin führte er zur Stadt zurück. Bald lichtete sich der Wald, und der Weg führte durch trockenes Gelände. Tennysons Füße wirbelten kleine Staubwölkchen auf. Die Sonne brannte ihm wohlig auf den Rücken, und sein Verstand war vom Anblick der Berge friedvoll gestimmt. In ein paar Tagen würde er wieder losziehen, vielleicht in eine andere Gegend, es gab auf dieser Welt so viel zu entdecken. Irgendwo in seinem Rücken war ein schwaches, summendes Geräusch zu hören. Es wurde lauter, unregelmäßiger, und Tennyson schaute sich um. Er sah ein klappriges Landfahrzeug, das von einem Mann gesteuert wurde. Eine Überraschung. Es war das erste Mal, daß Tennyson auf seinen Streifzügen einen Menschen zu Gesicht bekam, von einem Wagen ganz zu Schweigen. Er stellte sich an den Straßenrand, um das Fahrzeug vorbeizulassen. Doch es fuhr nicht vorbei. Als der Wagen mit Tennyson auf gleicher Höhe war, hielt er an, und der Mann am Lenkrad sagte: „Kann ich Sie ein Stück mitnehmen, oder sind Sie ein so eingefleischter Wanderer, daß Sie lieber zu Fuß gehen?“ Der Mann hatte ein ehrliches, offenes Gesicht und durchdringende, blaue Augen. „Ich würde gern mitfahren“, antwortete Tennyson. „Ich nehme an, Sie sind der neue Doktor des Vatikans?“ fragte der Mann, während Tennyson auf den Beifahrersitz kletterte. „Dr. Tennyson, nicht wahr?“ „Richtig. Und wer sind Sie?“ „Ich bin Decker. Thomas Decker, zu Ihren Diensten, Sir.“ „Seit einigen Wochen wandere ich nun schon durch diese Gegend“, erklärte Tennyson, „doch Sie sind der erste Mensch, dem ich begegne.“ 136
„Wahrscheinlich bin ich auch der einzige, den Sie je zu sehen bekommen werden“, erwiderte Decker. „Alle anderen sind ausgemachte Stubenhocker. Sie interessieren sich nicht für ihre Umwelt. Jeden Tag ihres Lebens fällt ihr Blick auf die Berge, und alles, was sie in ihnen sehen, ist eine Gebirgskette. Sie sehen mehr, nicht wahr Doktor?“ „Viel mehr“, erwiderte Tennyson. „Wollen Sie vielleicht noch mehr sehen?“ fragte Decker. „Ich bin gerade zu einer Fremdenführung aufgelegt.“ „Betrachten Sie mich als Ihren Kunden“, antwortete Tennyson. „Fein, die Batterie ist frisch aufgeladen, und es dauert noch Stunden, bis es dunkel wird. Am besten beginnen wir mit den Farmen.“ „Den Farmen?“ „Wußten Sie etwa nicht, daß es hier Bauernhöfe gibt? Essen Sie etwa kein Brot, kein Fleisch, keine Eier?“ „Natürlich tue ich das.“ „Was glauben Sie denn, wo diese Sachen herkommen, wenn nicht von Bauernhöfen?“ „Darüber habe ich mir bisher nicht den Kopf zerbrochen.“ „Die Roboter denken eben an alles“, sagte Decker. „Sie müssen ihre Menschen ernähren, also sind einige von ihnen Bauern. Elektrizität wird benötigt, also bauen sie einen Damm und errichten ein Kraftwerk. Sie verwenden auch Sonnenenergie, aber nur in einem bescheidenen Rahmen. Allerdings sind sie mit der Technik gut vertraut, und sie können die Sonnenenergiegewinnung leicht ausbauen, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Eine Sägemühle besitzen sie auch, aber sie ist nur zeitweise in Betrieb; es besteht kein großer Bedarf an Holz. Vor einigen Jahrhunderten, als noch viele Neubauten errichtet wurden, haben sie mehr Holz verarbeitet.“ Er kicherte in sich hinein. „In Sachen Ökonomie sind die Roboter unschlagbar. Sie 137
benutzen eine primitive Dampfmaschine, um die Sägemühle anzutreiben, sie heizen sie mit dem anfallenden Sägemehl und dem Verschnittholz.“ „Sie sind ausgezeichnete Selbstversorger“, kommentierte Tennyson. „Das müssen sie auch sein. Sie sind hier draußen ganz auf sich selbst gestellt. Es gibt praktisch keinen Import, abgesehen von wenigen Ausnahmen, Kleinigkeiten, die mit der WANDERGESELL hereinkommen. Die Frachtkosten sind hoch, und die Roboter drehen jede Münze zweimal um, bevor sie sie ausgeben. Wer nicht viel braucht, kommt mit wenig Bargeld aus, und Bares ist es, woran es den Robotern mangelt. Was sie aus den Pilgern herausholen, reicht gerade für das Nötigste. Ein kleiner Robotertrupp zieht das ganze Jahr über durch den Wald und schlägt das Brennholz für die Kamine der Menschen; eine ständige Nachfrage und eine ständige Versorgung, genau ausbalanciert. Sie haben alles genau berechnet. Eine Getreidemühle besitzen sie auch, in der das Korn zu Mehl gemahlen wird. Wieder eine ständige Nachfrage und Versorgung, genau aufeinander abgestimmt. Es fällt jedoch jedes Jahr eine kleine Reserve an, die für schlechte Zeiten aufbewahrt wird. Bisher habe ich allerdings noch nicht gehört, daß es je ein schlechtes Jahr gegeben hätte. Das ganze System ist sehr primitiv, aber es funktioniert, und genau darauf kommt es an.“ Inzwischen hatten sie eine besser ausgebaute Straße erreicht. In schnurgerader Linie verlief die Fahrbahn zwischen Äckern, auf denen reife Ähren im Winde nickten. „Bald ist Erntezeit“, erläuterte Decker. „Dann werden sogar die Mitglieder des Vatikans ihre Arbeit beiseite legen und hinaus auf die Felder ziehen. Kardinäle, die ihre Purpurroben eingeschlagen haben, um sie vor dem Staub auf den Äckern zu schützen. Mönche in braunen Kutten, die aufgeregt durcheinan138
derlaufen und einmal im Jahr eine sinnvolle Arbeit verrichten. Sie ziehen das Getreide auf Schlitten hinter sich her und werfen es vor der Dreschmaschine auf einen Haufen. Eine recht gute Dreschmaschine haben sie sich gebaut. Es dauert Wochen, bis alles Stroh gedroschen ist. Auch der Drescher wird von einer Dampfmaschine angetrieben. Lange bevor das Korn reif ist, legen sie schon das Feuerholz für die Dreschmaschine zurecht.“ Im Ackerland gab es zahlreiche grüne Inseln, saftige Wiesen, auf denen Rinder, Schafe, Pferde und Ziegen weideten. Schweinepferche gab es, in denen Sauen und Ferkel um die Wette quiekten; riesige Hühnerscharen pickten hinter Maschendrahtzäunen. Decker zeigte mit dem Daumen zum Horizont. „Maisfelder“, erklärte er, „zur Schweinemast. Hier auf dem kleinen Feld direkt vor uns wächst Buchweizen. Ich habe es ja gesagt: Sie denken an alles. Irgendwo in den Hügeln haben sie ein Bienenhaus, in dem Hunderte von Völkern leben. Und hier irgendwo, ja, wir fahren direkt darauf zu, Zuckerrohr. Sehen Sie? Zucker für die Buchweizenpfannkuchen, die Sie später probieren müssen.“ „Das erinnert mich alles an meine Heimatwelt“, sagte Tennyson. „Ich komme von einem Agrarplaneten, der Ackerbau war die Grundlage unserer Wirtschaft.“ Sie fuhren an Obstwiesen vorüber, Äpfel, Birnen, Aprikosen, Pfirsiche und andere Früchte. „Kirschen“, erklärte Decker, „das sind Kirschbäume. Kirschen sind zuerst reif, sie sind alle bereits abgepflückt.“ „Auch das haben die Roboter nicht vergessen“, bemerkte Tennyson. Decker schnaubte: „Sie hatten auch lange genug Zeit, um darüber nachzudenken, tausend Jahre oder mehr. Wie lange, weiß ich nicht genau. Wenn sie keine Menschen brauchten, könnten sie auf dies alles hier verzichten. Aber sie brauchen die 139
Menschen halt. So ein Roboter ist ein merkwürdiges Wesen: Er muß unbedingt seine Menschen haben. Ich weiß nicht, wann sie die ersten Menschen hierhergeholt haben, schätzungsweise hundert Jahre, nachdem sie selbst hier angekommen waren.“ Die Sonne war sehr tief am Himmel hinuntergewandert, und sie kehrten um. „Ich bin froh, daß Sie mir das hier gezeigt haben“, sagte Tennyson. „Ich hatte von alledem keine Ahnung.“ „Wie kommen Sie eigentlich mit dem Vatikan zurecht?“ fragte Decker. „Recht gut. Ich habe mich aber noch nicht richtig eingelebt. Was ich bisher erlebt habe, hat mir gefallen.“ „Was wissen Sie über diese Himmelsgeschichte?“ „Gelegentlich höre ich etwas darüber. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es geht um eine Frau, die behauptet, den Himmel gefunden zu haben.“ „Stimmt es?“ „Das kann ich wirklich nicht beurteilen. Ich möchte es bezweifeln.“ Decker nickte bedächtig mit dem Kopf. „Es gibt dauernd solche Sensationen; wenn es nicht der Himmel ist, dann ist es etwas anderes.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Tennyson ein eigentümliches Glitzern in der Luft über Deckers rechter Schulter. Er schaute weg und wieder hin, aber das Flimmern war immer noch da, wie ein Schwebewölkchen am Diamantenstaub. Tennyson rieb sich die Hände mit beiden Augen. Während er das tat, verschwand das Flimmern allmählich. „Ist Ihnen etwas ins Auge geflogen?“ fragte Decker. „Ach, es ist nichts“, gab Tennyson zurück. „Nur ein Staubkorn, jetzt ist es heraus.“ „Soll ich es mir einmal ansehen, nur um sicher zu gehen?“ „Nein, vielen Dank. Es ist schon in Ordnung.“ Decker lenkte den Wagen durch eine Kurve der gewundenen 140
Straße. Vor ihnen kroch die Fahrbahn in Serpentinen den Hang hinauf, auf dem die Vatikangebäude vor der Silhouette der purpurfarbenen Berge kauerten. „Soll ich Sie bei der Klinik absetzen?“ fragte Decker, „oder wäre Ihnen eine andere Stelle lieber?“ „Bei der Klinik wäre mir recht“, antwortete Tennyson. „Ich möchte Ihnen noch einmal für die Tour danken. Ich habe sie wirklich sehr genossen.“ „Hin und wieder gehe ich in den Bergen auf Edelsteinsuche“, sagte Decker. „So ein Streifzug dauert oft mehrere Tage. Wenn Sie sich einmal so lange Zeit nehmen können, könnten Sie mich auf einer Wanderung begleiten …“ „Sehr gern, Mr. Decker.“ „Sag Tom zu mir.“ „Gern, Tom. Ich heiße Jason. Hin und wieder habe ich ein paar Tage hintereinander frei. Die Schwestern können auch einmal ohne mich auskommen.“ „Wir könnten den Ausflug auf deinen Schichtdienst abstimmen. Ich glaube, es würde dir in den Bergen gefallen.“ „Das glaube ich auch.“ „Wir werden die Sache bei Gelegenheit planen.“ Nachdem Decker ihn vor der Klinik abgesetzt hatte, blieb Tennyson auf der Straße stehen und sah dem klapprigen Wagen nach, bis er um eine Biegung verschwunden war. Dann drehte er sich um und ging auf seine Wohnung zu, doch einer plötzlichen Eingebung folgend wechselte er die Richtung und schlug den Weg zu dem kleinen Garten ein, den er an seinem ersten Tag im Vatikan entdeckt hatte. Der Garten lag im abendlichen Zwielicht, eine Insel der Ruhe, voll fremdartiger süßlicher Blütendüfte. Er erinnerte Tennyson an eine kleine Bühne, die vor den mächtigen, tiefroten Vorhängen der gewaltigen Berge aufgebaut war. Während er noch den Garten betrachtete, wußte er plötzlich, warum er hierher 141
gekommen war: Dies war der richtige Ort, um einem wundervollen Tag Lebewohl zu sagen. Bis zu diesem Augenblick war ihm gar nicht bewußt gewesen, wie wundervoll der Tag gewesen war, und nun fragte er sich, was den Tag eigentlich so vollkommen gemacht hatte. Lag es einzig und allein an Decker? Der Mann war ein neuer Freund. Jemand, der nicht mit dem Vatikan in Verbindung stand und sich schon aus diesem Grund von allen Menschen deutlich unterschied, die er bisher hier getroffen hatte. Doch da gab es noch etwas anderes, etwas, das man nicht mit den Händen greifen konnte. Ein Roboter kam den Ziegelpfad herabgeschlendert. „Guten Abend, Sir“, sagte er. „Auch Ihnen einen guten Abend“, erwiderte Tennyson, dann fuhr er fort: „Oh, es tut mir leid, ich habe Sie nicht gleich erkannt. Sie sind der Gärtner. Wie geht es den Rosen?“ „Es geht ihnen gut“, antwortete der Gärtner. „Im Augenblick sind die meisten von ihnen verblüht, aber bald werden andere Arten aufblühen. Ich habe da einen Stock Teerosen, die gerade Knospen angesetzt haben. In ein paar Tagen werden sie in Blüte stehen; das müssen Sie sich unbedingt ansehen.“ „Das werde ich auch tun“, versprach Tennyson. Der Roboter traf Anstalten, an Tennyson vorüberzugehen, offenbar steuerte er das Tor an. Doch dann drehte er sich um und sah Tennyson gerade ins Gesicht. „Sir, haben Sie die Neuigkeiten schon vernommen?“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, welche Neuigkeiten Sie meinen“, sagte Tennyson. „Aber Sir! Man hat die Absicht geäußert, die Lauscherin Maria heiligzusprechen.“ „Sie wollen Sie zur Heiligen erklären?“ „Ja, wirklich, Sir! Der Vatikan ist der Ansicht …“ „Aber Menschen werden doch erst heiliggesprochen, nachdem sie gestorben sind, normalerweise lange nachdem sie tot 142
sind.“ „Davon weiß ich nichts, Sir. Aber wenn jemand den Himmel gefunden hat …“ „Augenblick mal, mein lieber Gärtner. Woher wissen Sie das eigentlich? Wer hat davon gesprochen?“ „Wer? Nun, der Vatikan ganz allgemein. Jedermann ist davon überzeugt, daß es ein ausgezeichneter Gedanke wäre. Unsere erste Heilige, wir hatten noch niemals eine, und es wurde schon oft gesagt, allmählich wäre es an der Zeit …“ „Wie ist es mit den Kardinälen? Was denkt Seine Heiligkeit darüber?“ „Das weiß ich nicht, Sir. Ich will in solchen Dingen nicht aufdringlich sein. Aber man spricht überall davon. Ich dachte, sie würden es gern wissen.“ Er hob die Hand, in der er eine Rosenschere trug, zu einem feierlichen Gruß und ging den Weg hinunter. Bald war er durch das Tor verschwunden, und Tennyson stand allein auf dem Gartenweg. Eine Windbö kam von den Berghängen herunter, sie trug einen Hauch von rauschhafter Süße heran. „Herr im Himmel!“ sagte Tennyson laut zu sich selbst. „Nun wird man gar nicht mehr mit ihr auskommen können.“
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17 Spät in der Nacht brannte eine einsame Lampe auf Jills Arbeitstisch. Ihre beiden Gehilfen hatten sie verlassen, der eine, um irgendwelchen religiösen Pflichten nachzukommen, der andere, um ihr ein paar Brote und ein Glas Milch zu besorgen. Sie schob die Blätter mit ihren Notizen zurück, die sie gerade noch einmal durchgesehen hatte, preßte den Rücken gegen die Stuhllehne und streckte die Arme über dem Kopf aus. Dann verschränkte sie sie vor der Brust und kauerte sich zusammen. Ferne Orte, dachte sie. Seltsame, unmögliche Plätze außerhalb von Raum und Zeit. Wo konnten sie sein? Was lag hinter den Grenzen des Raums und den Beschränkungen der Zeit? Sie trieb ihren Verstand an, forderte Verständnis von ihm, aber es gab keinen Zugang, nichts, auf dem ein solches Verstehen wurzeln konnte. Auch die Aufzeichnungen waren keine Hilfe, sie gaben keinen Hinweis. Eines allerdings sprachen sie ganz unmißverständlich aus: Von Zeit zu Zeit reisten die Roboter in jenes unmögliche Reich, das jenseits des Raum-ZeitKontinuums lag. Sie flogen mit Schiffen, die sie selbst ersonnen hatten. Schiffe, die von der Energie eines Gedankens angetrieben wurden, von der Kraft des Verstandes? Dessen war sie sich nicht ganz sicher, aber die Aufzeichnungen schienen so etwas anzudeuten. Lieber Gott, dachte sie, worauf habe ich mich da eingelassen? Wie konnte es geschehen, daß ich in diese Vorgänge hineingezogen wurde. Aber eine Sache war ganz klar: Nun, da sie einmal so weit gegangen war, konnte sie nicht aufhören. Sie konnte nicht einfach den Rücken wenden und gehen. Sie konnte das Buch jetzt nicht zuschlagen. Sie mußte Gewißheit haben, und es gab noch so viel zu lernen. Jason hatte sie vor dem gewarnt, was nun geschah. Sie hätte auf ihn hören sollen. Du 144
wirst verschlungen werden, hatte er gesagt, du wirst nicht mehr davon loskommen. Ihre Gehilfen hatten gegen ihre Forschungsmethoden protestiert, gegen ihre Art, wie sie durch Aufzeichnungen und Berichte hetzte. So kann man es doch nicht machen, hatte einer von ihnen gejammert. Man muß ganz vorn beginnen und sich allmählich zum Ende vorarbeiten, man soll nicht planlos hin und her springen. Sie hatte erklärt, daß sie so vorgehen mußte, wenn sie einen Überblick bekommen wollte. Sie mußte sich zunächst einmal einen Gesamteindruck verschaffen. Wie sollte sie sonst das, was geschehen war, mit dem in Verbindung bringen, was demnächst geschehen würde? Wenn wir das erst einmal wissen, hatte sie zu ihrem Gehilfen gesagt, dann kehren wir wieder zum Anfang zurück und beginnen noch einmal von vorn. Das Anderswo, dachte sie, und das Anderswann. Nein, schon dieser Ansatz war falsch. Diese Orte lagen weder irgendwo noch irgendwann. Sie befanden sich in einer entlegenen Region des Geistes allerdings nicht ihres Geistes, sondern in von etwas oder jemand anderem. Konnten diese fernen Welten in den entrückten Dimensionen des Magnetflusses liegen, wo jene Wesenheiten lebten, die nicht biologisch waren und doch nicht nur von Leben erfüllt, sondern auch von Intelligenz? Nein, so konnte es nicht sein, dachte sie, denn diese Wesenheiten, so unfaßlich sie auch sein mochten, existierten dennoch innerhalb der vertrauten Grenzen von Raum und Zeit. Es lag an der Beschränktheit der Menschen, daß sie sie nicht wahrnehmen konnten. Innerhalb von Raum und Zeit galten die bekannten physikalischen Gesetze des Universums: Es gab Materie und Energie, Ursache und Wirkung, Sein und Nichtsein. Innerhalb dieser Parameter konnte es natürlich Raum geben für ein Bewußtsein, einen Intellekt und ein Denken, die womöglich dem biologischen Denken überlegen waren. Das konnte sie alles akzeptie145
ren. Es fiel zwar nicht leicht, aber sie konnte sich sagen: Ja, das wäre möglich, das lag innerhalb der Grenzen des menschlichen Begriffsvermögens und der Vorstellungskraft. Was sie nicht hinnehmen konnte, war dieses implizierte Gebiet jenseits der Grenzen von Raum oder Zeit, die stillschweigende Voraussetzung eines Nirgends-Niemals-Landes, das existieren konnte, ohne auf Raum und Zeit angewiesen zu sein, und in dem vermutlich auch die stabilisierenden Gesetze der Physik keine Geltung hatten. Dieses Gebiet war eins mit der Energie der Gedanken, mit der Kraft des Geistes. Vielleicht war ‚Energie’ nicht einmal das richtige Wort, denn Energie war ein vertrauter Begriff, der vermutlich nicht für diese andere Welt tauglich war. Diese Welt also war eins mit den Robotern, die ihre Schiffe mit Gedankenkraft antrieben, diese Schiffe, in denen sie nicht nur das bekannte Universum durchkreuzten, sondern auch in die Gebiete jenseits von ihm vordrangen. Was den Rest der Geschichte des Vatikans betraf, so war diese schnell erzählt: die Landung der Schiffe von der Erde, die ersten Pioniertage, der Bau des Vatikans selbst, die Konstruktion eines elektronischen Papstes, die noch immer nicht abgeschlossen war, das Herbeiholen der Menschen, die Einrichtung des Suchprogramms, die Entwicklung neuer Fähigkeiten bei den robotproduzierten Robotern. Von Anfang an hatten die Roboter ihr Projekt gründlich durchdacht. Noch bevor sie die Erde verließen, hatten sie bereits gewußt, wonach sie suchten: einen abgelegenen Planeten, auf dem sie kaum von zufälligen Besuchern gestört werden würden. Aber es mußte unbedingt auch eine Welt sein, auf der Menschen leben konnten. Die Roboter selbst hätten fast auf jedem Planeten leben können, und hätte es den Faktor Mensch nicht gegeben, hätten sie viel leichter eine Basis für ihre Unternehmungen finden können. Doch die Roboter hatten nicht eine Sekunde lang daran gedacht, ihr Projekt ohne menschliche Hil146
fe abzuschließen. Ob in jenen Tagen die Prinzipien des Suchprogramms, das ja ganz und gar auf Menschen aufbaute, bereits aufgestellt waren, ging aus den Aufzeichnungen nicht eindeutig hervor, doch Jill war sich fast sicher, daß es so gewesen sein mußte. Der alte Bund mit der Menschheit existierte sicherlich noch, die alte Partnerschaft dauerte an. Wie viele Schiffe die Roboter zur Verfügung hatten, um sich selbst und ihre Ausrüstung nach Nirgendsend zu schaffen, darüber schwiegen sich die Berichte aus, und auch darüber, wie sie sich die Schiffe damals beschafft hatten. Jill schätzte, daß es nicht mehr als drei Schiffe gewesen waren. Mehrere Fahrten zwischen Erde und Nirgendsend waren erforderlich gewesen. Die späteren Flüge dienten vor allem dazu, Gerätschaften zu transportieren, die auf der ersten Reise nicht mehr untergebracht werden konnten. Auf dem letzten Flug wurden die ersten Menschen nach Nirgendsend gebracht, deren Nachkommen heute noch immer auf dem Planeten lebten. Später wurden die Schiffe nach und nach zerlegt, um ihr Metall und andere benötigte Teile weiter zu verwenden. Auch hier gab das Archiv keine exakten Aufschlüsse über den Beginn der Ausschlachtung, aber Jill sagte sich, daß man wohl erst damit begonnen hatte, nachdem die ersten gedankengetriebenen Schiffe erbaut worden waren. Die Roboter hatten viel mehr erreicht, als in tausend Jahren möglich schien. Dieser Eindruck drängte sich einem zunächst auf. So erschien es zumindest auf den ersten Blick, und wurde erst korrigiert, wenn man sich klarmachte, daß Roboter niemals Schlaf oder Ruhe brauchen. Sie arbeiteten rund um die Uhr, Tage, Wochen, Monate, und, wenn es nötig war, auch Jahre hindurch. Niemals fühlten sie sich erschöpft oder müde, niemals arbeiteten sie mit halber Kraft, niemals wurden sie krank. Sie verspürten kein Verlangen nach Unterhaltung oder Entspannung, und Jill fragte sich gelegentlich amüsiert, wobei ein 147
Roboter sich wohl unterhalten oder entspannen konnte. Roboter machten keine Essenspausen, sie mußten nicht einmal Atem schöpfen. Und die Umwandlung von Robotern, beziehungsweise die Herstellung von neuen Robotern (Roboter der zweiten oder dritten Generation) war natürlich einfacher als die Evolution und Mutation von biologischen Kreaturen. Genetische Veränderungen, die eine Art leistungsfähiger machten, benötigten eine unglaubliche Zeitspanne. Die natürliche, biologische Evolution war auf das Leben und Sterben vieler Generationen angewiesen, nur so wurde ein Art allmählich von einer den Umständen besser angepaßten Mutation abgelöst. In einer Robotergesellschaft war das anders: Erwünschte Veränderungen und neue Fähigkeiten konnten auf dem Reißbrett entworfen werden, danach begannen die elektronischen Werkstätten mit ihrer Arbeit. Hinter Jill erklangen Fußtritte. Als sie das Geräusch hörte, drehte sie sich um. Es war Asa, der ihr das Glas Milch und die Brote brachte. Er stellte sie behutsam vor ihr auf den Tisch und trat leise neben sie. „Und nun“, fragte er, „was kann ich jetzt für Sie tun?“ „Im Augenblick gibt es nichts“, antwortete sie. „Mach eine Pause, setz dich hin und halte ein Schwätzchen mit mir.“ „Ich benötige keine Pause“, erwiderte er. „Ich verspüre nicht das Bedürfnis zu sitzen.“ „Es verstößt aber auch nicht gegen die guten Sitten, oder?“ „Nein, es ist nicht gegen die Vorschriften.“ „Sogar Kardinäle setzen sich gelegentlich hin“, sagte sie. „Wenn Seine Eminenz Theodosius mich besuchen kommt, dann setzt er sich oft neben mich und unterhält sich mit mir.“ „Wenn Sie es wünschen“, murmelte Asa und kauerte sich auf den Hocker, den auch der Kardinal bei seinen Besuchen benutzte. 148
Sie nahm ein Sandwich und biß herzhaft hinein. Es war mit Roastbeef belegt und schmeckte ausgezeichnet. Dann trank sie von der Milch. „Asa“, sagte sie, „erzähl mir etwas von dir. Wurdest du auf der Erde … äh, geschaffen?“ „Nein, nicht auf der Erde, gnädige Frau.“ „Also hier?“ „Ja, hier auf Nirgendsend. Ich bin ein Roboter der dritten Generation.“ „Aha, wieviele Generationen gibt es eigentlich?“ „Das läßt sich schwer sagen, es hängt davon ab, wie man zählt. Manche behaupten fünf, andere sieben.“ „So viele?“ „So viele, möglicherweise sind es sogar noch mehr.“ „Bist du schon einmal an einem Ort gewesen, den ein Sucher gefunden hat?“ „Zweimal, gnädige Frau. Ich habe an zwei Reisen teilgenommen.“ „Jedesmal außerhalb von Raum und Zeit?“ „Einmal“, antwortete er. „Bei einer Reise waren wir jenseits von Zeit und Raum.“ „Könntest du mir beschreiben, wie es war?“ „Nein, das kann ich nicht. Man kann es nicht beschreiben. Es ist eine andere Welt, in nichts mit dieser Welt zu vergleichen.“
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18 Tennyson war wieder in der Welt der Gleichungen und Diagramme, diesmal schien es ihm, als könne er einige Gleichungen erkennen. Eine von ihnen war Ecuyer, davon war er überzeugt. Das Diagramm erinnerte auf eigentümliche Weise an den Leiter des Suchprogrammes, und die Gleichungen, die mit dem Diagramm verknüpft waren, ergaben Ecuyer. Tennyson hätte nicht sagen können, woher er das wußte. Vielleicht liegt es an den Farben, dachte er. Ecuyers Diagramm war grau und rosa, aber wieso gerade diese Farben für Ecuyer standen, war unerklärlich. Nein, die Farben sollten eigentlich keine besondere Rolle spielen, dachte Tennyson, eher schon die Gestalt der Diagramme und die Komponenten der einzelnen Gleichungen. Mit aller Kraft seines Geistes kämpfte Tennyson um die Auflösung der Gleichungen; der Schweiß brach ihm aus, doch alle seine Anstrengungen waren vergeblich. Er konnte die Gleichungen nicht lösen, da er keines der verwendeten Zeichen kannte. Er zog sich bewußt von Ecuyer, oder dem, was er für Ecuyer hielt, zurück. Schritt für Schritt entfernte er sich von ihm, und jeder Schritt fiel ihm unsagbar schwer. Doch er mußte unbedingt Abstand gewinnen. Du mußt das alles aus einem anderen Blickwinkel betrachten, sagte er sich. Versuch es aus der Ferne zu sehen. Sieh für eine Weile gar nicht hin, bemüh dich, deinen Verstand davon freizumachen. Wenn du dann plötzlich wieder hinschaust, wirst du vielleicht in den Diagrammen oder den Gleichungen etwas entdecken können. Denn ich muß es wissen, sagte er sich. Die Frage, ob er tatsächlich Ecuyer gesehen hatte, schien ihm lebenswichtig. Die Welt war dunstig, und es hing ein ständiges Flimmern in der Luft. Wenn irgend etwas hier, ganz gleich, was es war, nur für einen Bruchteil einer Sekunde ganz still stehen würde, 150
dachte Tennyson, wenn ich nur Einzelheiten visuell fixieren könnte! Die Welt befand sich in einem eigenartigen Zustand, nichts änderte sich, doch gleichzeitig schien alles unmittelbar vor einer Veränderung zu stehen, ein Bild äußerster Unsicherheit. Tennyson hatte seinen Blick eine Zeitlang abgewendet, jetzt fuhr sein Kopf plötzlich herum. Er hoffte, die Diagramme und Gleichungen überrumpeln zu können. Ecuyer war verschwunden. Grau und Rosa waren nicht mehr da; an ihre Stelle waren Purpur und Gold getreten, ein anderes Diagramm und andere Gleichungen. Als Tennyson dies erblickte, erstarrte er. Der Schrecken schnürte ihm die Kehle zu. „Maria!“ keuchte er, „Maria! Maria! Maria!“ Verzweifelt versuchte Tennyson, aus der fremden Welt herauszuklettern, aber es gab nichts, an dem er Halt fand. Außerdem hielt ihn jemand fest. Offenbar wollte er ihn an der Flucht hindern. „Nein, nein, nein!“ schrie er. Jemand sprach leise auf ihn ein. „Na, na, na“, sagte die Stimme, und weiche Hände tasteten über sein Gesicht. Tennyson öffnete die Augen und stellte überrascht fest, daß es dunkel war. Er befand sich auch nicht im Sessel im Sucherarchiv. Die Stimme sagte: „Nein, Hubert, kein Grund zur Beunruhigung. Er hatte nur einen Alptraum.“ „Jill?“ fragte Tennyson matt. „Ja. Es ist alles in Ordnung. Ich bin bei dir. Du bist wieder zurück.“ Er stellte fest, daß er im Bett lag. Jill beugte sich über ihn, und die Gestalt Huberts zeichnete sich im hellen Türrahmen ab. „Ich habe bis spät in die Nacht gearbeitet“, berichtete Jill. „Ich hatte zwar befürchtet, daß du schon schlafen würdest, aber ich habe dennoch geklopft, und Hubert hat mich eingelassen. 151
Ich wollte unbedingt mir dir sprechen, ich habe dir soviel zu erzählen.“ „Ich war in der Gleichungswelt“, sagte er. „Ich habe wieder davon geträumt. Ecuyer war dort, und er war grau und rosa, und als ich einen Augenblick lang weggeschaut habe …“ „Du hast den Namen ‚Maria’ geschrien. War Maria auch da, die Himmelsmaria?“ Er nickte und richtete sich im Bett auf, noch immer benommen von seinen Traumvisionen. „Sie war purpurn und golden“, sagte er. „Und es war schrecklich.“
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19 Zum ersten Mal, seit er damals das Boot verlassen hatte, und das war jetzt zehn, nein zwölf Jahre her, kehrte er hierher zurück. Es war noch immer dort, wo es einst gelandet war, in einem schmalen Wiesental zwischen zwei steilen Bergketten. Rankenpflanzen hatten es teilweise überwuchert, aber nicht so dicht, daß man es nicht mehr sehen konnte. Offenbar hatte kein anderer es bisher entdeckt, denn es lag noch genauso da wie am ersten Tag. Er wunderte sich darüber, daß er es so leicht gefunden hatte. Er war geradewegs durch das niedrige Buschwerk am Fuß der Berge hierhermarschiert. „Flüsterer, bist du da?“ fragte er. Er wußte, daß er da war, aber fragen mußte er dennoch. „Ja, Decker, natürlich bin ich da. Ein Alter aus den Wäldern ist auch da, er folgt uns schon seit Tagen.“ „Was mag er vorhaben?“ „Er ist neugierig, das ist alles. Du gibst ihm Rätsel auf. Alle Menschen sind rätselhaft für ihn. Für mich bist du übrigens auch ein Rätsel. Warum kehrst du zu deinem Anfang zurück?“ „Das ist nicht mein Anfang. Mein Ursprung liegt fern von hier.“ „Also, warum zu deinem Anfang auf diesem Planeten?“ „Ja, zu meinem Anfang auf dieser Welt. Du weißt natürlich, was hier liegt?“ „Du hast es mir erzählt, ein Rettungsboot. Ein Fluggerät, das dich sicher durch den Raum transportiert hat, bis es einen Platz fand, an dem du überleben konntest. Doch mehr hast du mir nie gesagt, Decker. Du bist ein einsilbiger Mensch. Nicht einmal deinem besten Freund …“ „Redest du von dir?“ „Wenn ich es nicht bin, wer sollte denn sonst dein bester Freund sein?“ 153
„Vermutlich hast du recht“, sagte Decker. „Als mich das Boot aus dem Kälteschlaf aufgeweckt hat, hatte ich keine Ahnung, wo ich mich befand. Zunächst habe ich gedacht, dies sei ein völlig primitiver Planet, unberührt von jeder Zivilisation. Dann habe ich begonnen, die Umgebung auszukundschaften. Wochen und Monate streifte ich durch die Wälder, aber da war nichts als endlose Wildnis, keine furchterregende Wildnis, allerdings. Einmal habe ich mich sehr weit vom Boot entfernt, und da habe ich von einem Berghang aus den Vatikan erblickt. Als ich die weiß leuchtenden Gebäude sah, wußte ich endlich, daß ich nicht allein war, daß es hier intelligente Lebewesen gab. Wie diese Wesen sein mochten, konnte ich natürlich nicht ahnen.“ „Du bist allerdings nicht sofort hingeeilt und hast dich ihnen vorgestellt?“ „Woher weißt du das, Flüsterer?“ „Ich kann es mir denken, weil ich dich kenne, Decker. Ich weiß sehr genau, was für ein Mensch du bist: zurückgezogen, reserviert, von pathologischer Furcht erfüllt, auch nur die kleinste Schwäche zu zeigen. Immer auf dich selbst gestellt. Ein typischer Einzelgänger.“ „Du kennst mich viel zu gut“, schimpfte Decker. „Du bist ein elender Schnüffler!“ „Das bist du auch“, versetzte Flüsterer. „Aber immer mit Würde. Warum legst du soviel Wert auf ein würdevolles Verhalten, Decker?“ „Weiß ich auch nicht“, antwortete Decker. „Ich war schon immer so.“ Der Alte aus den Wäldern war immer noch auf dem Hang über ihnen. Er hielt sich in einem kleinen Wäldchen unterhalb eines Geröllfeldes versteckt und beobachtete sie. Decker konnte ihn jetzt fühlen, er spürte ihn sehr deutlich. Es gab lange Zeitspannen, in denen er sich des Beobachtens nicht bewußt war, 154
aber gelegentlich bemerkte er ihn doch. Diesen Alten hatte er bereits gespürt, bevor ihn Flüsterer darauf aufmerksam gemacht hatte. „Der Alte ist immer noch dort oben“, sagte er. „Beachte ihn gar nicht“, riet Flüsterer. „Er will uns ja nur beobachten. Er glaubt, daß wir nichts von ihm wissen. Es bereitet ihm Vergnügen, wenn er jemanden unbemerkt belauern kann.“ Während er am Fuß des Berges stand, rief sich Decker noch einmal den Tag ins Gedächtnis, an dem er zum erstenmal Nirgendsend und die Vatikangebäude erblickt hatte. Er dachte an die Erleichterung, als ihm gedämmert hatte, daß er nicht auf einem verlassenen Planeten gestrandet war. Er war zum Boot zurückgelaufen und hatte sich das Notwendigste zusammengesucht: Werkzeuge, Kochgerätschaften und andere kleine Dinge, dann hatte er sich in Richtung Nirgendsend auf den Weg gemacht. Vom Talausgang hatte er einen letzten Blick auf das Rettungsboot geworfen. Als er in der Nähe von Nirgendsend angekommen war, hatte er sich einen geeigneten Platz am Waldrand gesucht und sofort begonnen, ein Blockhaus zu bauen, ohne auf eine Genehmigung zu warten. Er hatte sich passende Bäume ausgesucht, sie auf die geeignete Länge zugesägt, sie gekerbt und aufeinandergeschichtet. Steine wurden zugeschlagen und eine Feuerstelle gemauert, die Fenster mußte er in einem kleinen Laden in der Stadt kaufen. Die Ritzen zwischen den Stämmen wurden mit Moos und Lehm gestopft und ein Brennholzvorrat geschlagen. Schließlich hatte er ein Stück Land um das Haus urbar gemacht und einen kleinen Garten angelegt. Samen konnte man ebenfalls in der Stadt kaufen. Von da ab hatte er als Selbstversorger gelebt; Fleisch hatte er sich in den Wäldern erjagt, Wildpflanzen gaben ein gutes Gemüse ab, bis der Garten die ersten Früchte trug, und ein kleiner Bach in der Nähe lieferte die Fische. 155
Es waren Besucher erschienen. Anfangs waren sie in Scharen gekommen, und die Fragen sprudelten aus ihnen nur so heraus. Unter den Besuchern war auch ein kleiner Mönch aus dem Vatikan in brauner Kutte. Er war einer der angenehmsten Roboter, denen Decker je begegnet war, doch er hegte den Verdacht, daß sich unter der Kutte mehr als nur ein einfacher Mönch verbarg. Die Besucher hatten ihn reichlich mit Informationen über den Vatikan versorgt, noch reichlicher mit gutgemeinten Ratschlägen. Die Informationen hatte Decker sich dankbar gemerkt, die Ratschläge zum größten Teil ignoriert. Nachdem die Besucher Informationen und guten Rat losgeworden waren, begann ein jeder von ihnen vorsichtige Fragen nach Deckers Lebensgeschichte zu stellen. Er weigerte sich nicht offen, diese Fragen zu beantworten, er wich ihnen so elegant aus, wie er es vermochte, und seine Gäste zogen verwirrt von dannen. Einige wenige kehrten zu einem zweiten Besuch zurück, aber als sie bei diesem und auch bei einem dritten oder vierten nicht mehr erfuhren als beim ersten Mal, gaben sie es schließlich auf. Von da an ließen sie Decker in Ruhe. Und so hatte er es gern. So war es ihm recht. Gelegentlich bedauerte er es, daß er seine Nachbarn so behandelt hatte, doch je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, sich richtig verhalten zu haben. Besser, man hielt ihn für eine geheimnisumwitterte Person, als für das, was man von ihm gehalten hätte, wenn er seine Geschichte erzählt hätte. So wie die Dinge lagen, hatte er den Leuten ein Rätsel aufgegeben, über das sie sich die Köpfe zerbrechen konnten. So verhielt es sich nun schon seit Jahren, und möglicherweise fanden die Leute von Nirgendsend sogar Gefallen daran. .Warum kehrst du zu deinem Anfang zurück?’ hatte Flüsterer ihn gefragt. ‚Zurück zu deinem Anfang auf diesem Planeten?’ Ja, warum tue ich das, fragte sich Decker selbst. Ein seltsames Gefühl, eine dunkle Vorahnung, für die es vermutlich kei156
ne Begründung gab. Und selbst wenn sie berechtigt war, was sollte er, was konnte er deswegen unternehmen. Decker, sagte er sich, du spinnst. Du hast einfach nicht alle Tassen im Schrank. „Diesen Tennyson mochte ich, Decker“, sagte Flüsterer unvermittelt. „Ich mochte ihn sehr.“ „Ja, er war recht angenehm.“ „Er hat mich gesehen“, erklärte Flüsterer, „ich bin sicher, daß er mich gesehen hat. Es gibt nur wenige Wesen, die mich wahrnehmen können, dazu braucht man eine besondere Fähigkeit.“ „Er hat dich gesehen? Wieso bist du dir dessen so sicher? Warum erzählst du mir erst jetzt davon?“ „Ich habe es noch nicht erwähnt, weil ich mir noch nicht sicher war. Doch nun habe ich tagelang darüber nachgedacht, und jetzt weiß ich es genau. Er hat mich gesehen, und er konnte es nicht glauben, er wollte seinen Augen nicht trauen. Er hat sich die Augen gerieben, weil er dachte, mit ihnen wäre etwas nicht in Ordnung. Erinnerst du dich? Du hast ihn gefragt, ob ihm etwas ins Auge geflogen wäre, und er hat geantwortet, daß es nur ein Staubkorn sei. Dann hast du noch einmal nachgefragt, du hast ihm angeboten, das Auge auszuwischen, aber er hat gesagt, das sei nicht mehr nötig.“ „Ja, jetzt, wo du davon sprichst, fällt mir die Sache wieder ein.“ „Und ich“, fuhr Flüsterer fort, „ich habe auch etwas gesehen. Einen flüchtigen Augenblick lang. Ich weiß nicht, was es war.“ „Hast du mit ihm gesprochen? Hast du versucht, mit ihm zu reden?“ „Nein, ich habe es nicht versucht. Aber etwas Seltsames umgibt diesen Menschen, das weiß ich genau.“ „Na ja“, sagte Decker, „wir werden ihn bald wieder treffen. Dann kannst du ihn genau untersuchen, vielleicht entdeckst du dann auch, was an ihm so seltsam ist.“ 157
Der Alte aus den Wäldern hatte sich bewegt. Jetzt verbarg er sich nicht mehr in dem Gebüsch über dem Geröllfeld. Decker konnte ihn nicht mehr spüren. „Nun wollen wir einmal sehen, was aus dem Boot geworden ist“, sagte er zu Flüsterer.
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20 Jill hatte gerade gesagt, sie wolle in einer halben Stunde wieder in die Bibliothek zurückkehren, als Ecuyer ins Zimmer trat. Tennyson hockte bei einer Tasse Kaffee am Tisch, und Hubert begann, nachdem er Ecuyer eingelassen hatte, in der Küche geräuschvoll mit dem Geschirr zu klappern. Er mochte es nicht, wenn man nach dem Essen noch am Tisch sitzen blieb. „Du bist ja schon früh unterwegs“, sagte Tennyson zu Ecuyer. „Setz dich und trink eine Tasse Kaffee.“ „Ich danke für die Einladung“, antwortete Ecuyer. „Ich fürchte nur, daß wir alle nicht viel Zeit haben.“ „Ich habe soviel Zeit, wie ich will“, sagte Tennyson. „Heute habe ich keinen Dienst in der Klinik.“ „Um deine Freizeit ist es leider geschehen“, bemerkte Ecuyer. „Wir beide sind vorgeladen.“ Tennyson starrte ihn wortlos an. „Vorgeladen zu einer Audienz bei Seiner Heiligkeit“, erklärte Ecuyer. „Ach?“ „Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ „Was hast du denn erwartet? Daß ich tot umfalle? Daß ich Schüttelfrost bekomme oder auf die Knie sinke?“ „Du könntest zumindest etwas Respekt zeigen. Es ist eine Auszeichnung, wenn man zum Papst gerufen wird.“ „Tut mir leid“, sagte Tennyson. „Vermutlich ist es das. Worum geht es denn?“ „Das weiß ich nicht genau. Vielleicht um Marias Himmel. Theodosius und Roberts werden uns begleiten.“ „Die Kardinäle?“ „Ja, die Kardinäle.“ „Ich kann verstehen, warum der Papst dich sprechen will. 159
Wenn es um die Sache mit dem Himmel geht, nun, du steckst bis zu den Ohren darin, aber ich …?“ „Maria ist deine Patientin. Vielleicht hat er einige medizinische Fragen ihretwegen. Es steht auch nicht fest, ob es tatsächlich um den Himmel geht. Möglicherweise will er dich nur einmal sehen. Jeder neue Mitarbeiter des Vatikans bekommt eine Audienz beim Papst, warum sollte das beim Vatikanarzt anders sein. Vermutlich hat er dich schon lange sprechen wollen und war bisher nur zu beschäftigt.“ „Ich habe den Eindruck, daß jedermann hier dauernd sehr geschäftig ist“, sagte Tennyson. „Ja, das stimmt schon, aber es gibt Zeiten, da geht es noch hektischer zu als sonst.“ Sie saßen schweigend am Tisch. Hubert veranstaltete einen Höllenlärm in der Küche. „Hubert!“ rief Ecuyer. „Ja, Sir?“ „Nimm dich zusammen. Wir haben ein Recht dazu, hier zu sitzen und Kaffee zu trinken.“ „Aber gewiß doch!“ rief Hubert. Das Geschirrklappern ließ nach. „Er ist verdorben“, erklärte Ecuyer. „Ich habe ihn selbst verdorben. Nun weiß ich nicht mehr, was ich mit ihm anfangen soll.“ „Da ist noch etwas, das ich dich unbedingt fragen wollte.“ „Schieß los, laß dir nicht zuviel Zeit!“ „Ich habe mir diesen Würfel angesehen, den mit den Gleichungen und Diagrammen. Ich glaube, ich habe dir davon erzählt. Kennst du ihn auch?“ „Ich meine, ich hätte ihn mir auch einmal angesehen, aber das ist lange her. Er wurde schon vor einigen Jahren aufgezeichnet.“ „Du hast mir erzählt, der Lauscher sei mehrere Male dorthin zurückgekehrt, aber er habe es nicht verstanden.“ 160
„Das stimmt“, bestätigte Ecuyer. „Der Würfel hat es dir wohl besonders angetan?“ Tennyson nickte. „Es ist etwas Besonderes an dieser Welt, etwas, das ich nicht zu fassen kriege. Manchmal ist mir so, als könnte ich es greifen, doch dann entwischt es mir wieder. Ich habe das Gefühl, daß ich meinen Verstand nur ein wenig auszudehnen brauchte, dann könnte ich es packen.“ „Weißt du denn nichts Genaueres darüber?“ „Nein, eben nicht! Das ist es ja gerade. Ich weiß, daß es da etwas gibt, aber ich habe keine Vorstellung davon, was es sein könnte. Immer wieder stelle ich mir die gewagtesten Dinge vor, aber nichts will so richtig ins Bild passen.“ „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber“, murmelte Ecuyer. „Ich kann dir viel schlimmere Dinge zeigen. Ich hätte sowieso erwartet, daß du viel ausgiebiger in unseren Archiven stöbern würdest. Du bist jederzeit herzlich eingeladen, das weißt du doch. Was du willst, wann du willst.“ „Ich hatte soviel andere Sachen zu erledigen“, antwortete Tennyson. „Und, wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich fürchte mich ein wenig vor dem, was ich finden könnte. Die Gleichungenwelt setzt mir sehr zu. Auch die Herbstwelt spukt mir noch oft im Kopf herum. Ich würde sie mir gern noch einmal ansehen, aber etwas hält mich davon ab.“ Ecuyer trank seinen Kaffee aus. „Komm“, sagte er, „wir wollen den Papst nicht warten lassen.“
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21 Der Papst war die Porträtzeichnung eines Menschengesichtes, oder vielmehr die Andeutung eines Gesichts. Um es überhaupt zu sehen, bedurfte es einiger Konzentration und eines ausgezeichneten Vorstellungsvermögens. Das Antlitz war eine Strichätzung auf einer Metallplatte, die in eine nackte Steinwand eingesetzt worden war. Die Platte erinnerte Tennyson an die Abbildung eines der ersten Photos, die er einmal auf einer Ausstellung gesehen hatte. Das Gesicht war nicht ständig gleichermaßen gut zu sehen, aber hin und wieder konnte Tennyson es recht deutlich erkennen. Es war kein Versuch unternommen worden, das karge, abstrahierte Gesicht mit dekorativem Beiwerk zu versehen; es gab nichts, was dem Antlitz einen Anschein von Macht oder Ruhm verlieh. Vielleicht war es gerade diese äußerste Einfachheit, die das Gesicht so eindrucksvoll erscheinen ließ, dachte Tennyson. Der kleine Audienzraum, in dem sie sich befanden, war ebenfalls völlig schmucklos. Es war deutlich zu erkennen, daß die Kammer direkt aus dem Granitgestein herausgeschlagen worden war. Es gab nur vier kahle Steinwände, von denen eine die Steinplatte mit dem Bildnis des Papstes trug. Um in diese Kammer zu gelangen, waren die Besucher zahlreiche Treppenfluchten hinabgestiegen, die ebenfalls aus dem Fundamentgestein des Vatikans herausgeschlagen waren. Auf jedem Treppenabsatz hatten sie Korridore erblickt, die sich tief in die Felsmassen bohrten. So hatten sie einen Eindruck davon erhalten, wie tief dieser Computerpapst seine Wurzeln in den Berg getrieben hatte. Tennyson überlegte, daß es hier unten vermutlich noch viele andere Papstgesichter in weiteren Audienzräumen geben würde. Wahrscheinlich waren einige dieser Räume größer als der, in 162
dem sich die Besucher nun befanden, denn es gab gewiß Anlässe, zu denen sich das gesamte Personal des Vatikans in einem gemeinsamen Raum versammelte. Ein Multi-Papst, dachte Tennyson, ein Mechanismus, so gewaltig und vielfältig, daß er sich zur gleichen Zeit an vielen Orten aufhalten konnte, um sich in einem einzigen Augenblick den unterschiedlichsten Aufgaben zu widmen. Jetzt begann der Papst zu sprechen, und seine Stimme war tonlos, gleichzeitig aber flüssig und kühl. Eine ausgeprägt nichtmenschliche Stimme und doch keine Robotstimme. Zwar bildeten auch die Roboter ihre Sätze nicht mit menschlicher Betonung, aber gelegentlich legten sie eine überraschende Wärme in ihre Worte. Diese Stimme jedoch war völlig emotionslos, ohne einen Hauch von Wärme. Es war keine Menschenstimme und nicht die eines Roboters, aber es war auch nicht das rasselnde Organ, das man bei einer Maschine erwartete. Er formte seine Worte mit präziser Klarheit, und die Gedanken, die die Wörter begleiteten, waren teilnahmslos und direkt – Maschinengedanken, Computergedanken, nackte elektronische Hirnströme. „Dr. Tennyson“, sagte der Papst. „Berichten Sie mir von der Lauscherin Maria! Wie ist ihre Gemütsverfassung?“ „Dazu kann ich wenig sagen, Eure Heiligkeit“, erwiderte Tennyson. „Ich kann ihren physischen Zustand beschreiben. Über ihre Psyche kann ich keine Aussagen machen; Geisteskrankheiten sind nicht mein Ressort.“ „Wozu nützen Sie dann?“ fragte der Papst. „Wenn wir einen Robotarzt hätten – dieser Plan wurde schon häufig erörtert –, dann könnten wir jetzt auch Auskünfte über ihren Verstand bekommen.“ „Dann bauen Sie sich doch Ihren Robotarzt“, erwiderte Tennyson knapp. „Sie sind sich gewiß bewußt, Heiligkeit“, schaltete sich Kar163
dinal Theodosius ein, „daß die Menschen im Vatikan kein Zutrauen zu einem Robotarzt haben. Wie Sie schon gesagt haben, der Vorschlag wurde bereits häufig diskutiert …“ „Was Sie da sagen, gehört nicht zum Thema“, versetzte der Papst. „Sie benutzen eine Randbemerkung von mir, um meiner Frage auszuweichen. Wie ist es mit Ihnen, Ecuyer, haben Sie Einblick in ihr Denken?“ „Nein, diesen Einblick habe ich nicht“, antwortete Ecuyer. „Auch ich bin nicht darin ausgebildet worden, einen menschlichen Verstand zu beurteilen, Eure Heiligkeit. Ich kann lediglich ihr Benehmen beschreiben. Während der ganzen Zeit, die sie bei uns war, ist sie ein sehr freundlicher Mensch gewesen, der sich seiner Arbeit mit Hingabe widmete, doch seit sie den Himmel gefunden hat oder gefunden zu haben glaubt, hat sich ihre Persönlichkeit verändert. Sie ist von einer solchen Überheblichkeit, daß wir kaum noch mit ihr zusammenarbeiten können.“ „Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?“ fragte der Papst. „Mir erscheint es äußerst widersprüchlich. Wenn sie tatsächlich, wie sie behauptet, den Himmel gefunden hat, sollte man dann nicht erwarten, daß sie nun besonders hingebungsvoll und demütig sein müßte? Überheblichkeit ist gewiß nicht das Benehmen, das man von einem Menschen erwartet, der den Himmel gesehen haben will. Als guter Christ sollten Sie das wissen!“ „Eure Heiligkeit, ich bin kein guter Christ“, entgegnete Ecuyer. „Ich weiß auch nicht, ob ich auf irgendeinem Gebiet gut bin. Heiligkeit, Sie wissen doch, daß ich kein Christ bin. Versuchen Sie, mir eine Falle zu stellen?“ „Wie ist es mit der Lauscherin Maria? Ist sie eine gute Christin?“ „Ja, Eure Heiligkeit, das ist sie mit Sicherheit. Sie müssen jedoch bedenken, das Suchprogramm ist nicht unbedingt mit theologischen Fragen verknüpft.“ 164
„Das ist ja seltsam“, bemerkte der Papst. „Ich hatte gedacht, eben das sei der Fall.“ „Heiligkeit, jetzt geben Sie sich absichtlich schwierig“, unterbrach Theodosius vorwurfsvoll den Dialog. „Ihre Haltung ist Ihrer nicht würdig. Sie schätzen unseren Freund aus dem Suchprogramm zu gering. Er hat uns seit vielen Jahren außerordentliche Dienste geleistet.“ „Eminenz“, sagte Kardinal Roberts förmlich, „ich denke, jetzt gehen Sie zu weit.“ „Das finde ich nicht“, widersprach Theodosius starrköpfig. „Bei einer Unterredung wie dieser müssen alle Standpunkte mit Respekt erörtert werden. Abfällige Bemerkungen helfen uns nicht weiter.“ „Bisher hat noch niemand von uns versucht, einen Standpunkt zu diskutieren“, sagte der Papst. „Immer wieder kommen wir von unserem eigentlichen Thema, der Himmelsfindung, beziehungsweise der angeblichen Himmelsfindung, ab. Hat denn noch niemand von Ihnen vernommen, daß es eine starke Strömung in der öffentlichen Meinung gibt, die die Heiligsprechung dieser Maria fordert? Bisher haben wir niemanden heiliggesprochen. Wir hatten auch nicht vor, jemanden vor seinem Tod zum Heiligen auszurufen.“ „Eure Heiligkeit“, sagte Roberts, „wir alle wissen, wovon Sie sprechen, auch uns ist der Ernst der Lage und die Gefahr bewußt. Natürlich ist diese Heiligsprechung ein unmöglicher Gedanke, aber die Situation hat sich bereits so zugespitzt, daß wir jetzt nicht offen gegen die Heiligsprechung opponieren können. Wir dürfen nicht vergessen, viele, vielleicht sogar die Mehrheit der geringeren Vatikanmitglieder sind nach all den Jahren noch immer der Einfachheit und den Versprechungen des christlichen Glaubens verbunden.“ „Von welchen Versprechungen reden Sie, Kardinal?“ fragte der Papst. „Kein Roboter – ganz gleich wie gläubig er sein mag – 165
wird darauf hoffen, daß er einmal in den Himmel eingehen wird. Wenn er einigermaßen auf seinen Erhaltungszustand achtet, wird sich die Frage für ihn auch gar nicht stellen.“ „Vielleicht liegt der Fehler in uns“, warf Theodosius ein. „Viele Mitglieder unseres Volkes, die eine niedere Stellung bekleiden, die Landarbeiter, die Gärtner, die Waldarbeiter, die Brüder in den Werkstätten und die einfachen Mönche sind sehr einfältige Seelen. Für sie ist das Christentum, wenn auch einige seiner Ideen verblaßt sein mögen, noch immer eine machtvolle Kraft. Sie verstehen das Christentum vielleicht nicht völlig, aber vor tausend Jahren gab es auf der Erde viele Menschen, die das Christentum gleichfalls nicht verstanden und dennoch stolz darauf waren, ein Christ zu sein. Unsere Leute wissen nicht alles, was wir heute wissen, wir haben es sie nie gelehrt. Wir wissen, daß Leben und Intelligenz in vielen Erscheinungsformen auftreten können: biologisch, nichtbiologisch und in jenen Intelligenzstrukturen, denen wir nur in der Welt jenseits von Raum und Zeit begegnen. Uns ist bekannt, daß es mindestens ein zweites Universum gibt, wenn nicht gar ein drittes oder viertes, obgleich wir nicht hundertprozentig sicher sein können. Bisher sind wir lediglich auf gewisse Hinweise gestoßen. Einiges spricht dafür, daß es ein umfassendes Prinzip geben könnte, das weit über das bekannte Raum-Zeit-Kontinuum hinaus Geltung hat. Allgemein können wir davon ausgehen, daß der Himmel – falls es in diesem Vielfach-Universum überhaupt einen Himmel gibt – viel mehr sein dürfte als das christliche Himmelreich, die Ewigen Jagdgründe, das Walhalla der Krieger oder wie immer man es auch sonst bezeichnen möchte. Mit Sicherheit ist der Himmel mehr als eine Ansammlung von goldenen Türmen mit einer Treppe davor und Posaunenengeln in der Luft.“ „All das ist wahr“, pflichtete ihm Roberts bei. „Das Problem, ob wir unser Wissen und unsere Vermutungen mit den Brüdern 166
teilen sollen, wurde ständig erörtert, und bis zum heutigen Tag haben wir immer wieder entschieden, daß es nicht ratsam ist, wenn wir alle unsere Kenntnisse an die Brüder weitergeben. Können Sie sich vorstellen, wie gewisse Teile unseres Wissens von den anderen aufgenommen würden? Wir haben eine Elite im Vatikan geschaffen. Nur diese Elite verfügt über alle Erkenntnisse, die wir bisher gesammelt haben. Das mag der falsche Weg sein, dennoch bin ich davon überzeugt, daß wir richtig handeln, wenn wir Teile unseres Wissens zurückhalten. Würden wir sie enthüllen, würden tausend Ketzerlehren daraus erwachsen. Die Arbeit käme zum Erliegen, denn jeder einzelne Roboter würde von sich glauben, daß nur er die Welt richtig verstünde, und er würde ständig versuchen, seine irrenden Brüder zu seiner Lehre zu bekehren. Feindseligkeiten, Gezänk und Streitereien würden uns auseinanderreißen. Weil wir das erkannt haben, haben wir unsere ursprüngliche Entscheidung immer wieder erneuert: Es ist besser, wenn die Brüder weiter an ihrem einfachen, meinetwegen verwässerten Christentum festhalten.“ „Gezänk!“ fuhr die schreckliche, kalte Stimme des Papstes dazwischen. „Gezänk nenne ich auch das, was ihr hier treibt. Das Schlimmste dabei ist, daß ihr es vor den Menschen ausbreitet, die sonst gar nichts von unseren Meinungsverschiedenheiten gemerkt hätten.“ „Eure Heiligkeit“, sagte Ecuyer, „ich für meinen Teil habe viel von diesen Streitfragen mitbekommen. Und was meinen Freund Dr. Tennyson angeht …“ „Ja, Tennyson?“ fragte der Papst, „wie ist es nun eigentlich mit Ihnen?“ „Wenn Sie die Befürchtung haben, ich würde nun einen Kreuzzug starten, um die anderen Vatikanmitglieder ins Bild zu setzen, kann ich Sie beruhigen, Eure Heiligkeit“, antwortete Tennyson. „Ich versichere Ihnen, ich führe nichts dergleichen 167
im Schilde. Ich werde nur mit Interesse verfolgen, was weiter geschieht.“ „Und was die übrige Galaxis angeht“, sagte Roberts beschwichtigend, „da besteht nicht die Gefahr, daß sie von unseren beiden menschlichen Neuankömmlingen über unsere Probleme informiert wird, denn keiner von beiden wird uns verlassen.“ Der Papst antwortete mit einiger Verzögerung. „Ich weiß nicht … Dann ist da noch dieser Mensch Decker. Er ist plötzlich aus dem Nirgendwo aufgetaucht. Haben Sie inzwischen herausbekommen, wie er auf unsere Welt gelangt ist?“ „Nein, Heiligkeit“, antwortete Theodosius. „Wenn einer von ihnen kommt, ohne daß wir es bemerken, dann kann ein anderer unbemerkt gehen“, sagte der Papst. „Die Menschen sind eine schlüpfrige Rasse, wir müssen sie dauernd im Auge behalten.“ „Es sind unsere Brüder, Heiligkeit“, gab Theodosius zu bedenken. „Sie waren es immer, und sie sind es noch heute. Es gibt einen stillen Bund zwischen Menschen und Robotern. In all den Jahren haben sie Seite an Seite gestanden.“ „Sie haben euch ausgebeutet“, entgegnete der Papst. „Wir verdanken ihnen alles“, bemerkte Theodosius. „Ohne die Menschen würde es uns nicht geben. Sie haben uns nach ihrem Ebenbild geschaffen, keine andere Rasse hätte das getan. Keine andere Rasse hat es getan. Die Fremden haben Maschinen geschaffen, aber keine Roboter.“ „Und dennoch haben Sie gerade eben gesagt, daß ich den Vatikan nicht verlassen darf“, sagte Tennyson. „Weder die Frau noch ich selbst würden Nirgendsend verlassen. Ist das etwa ein Beweis der Brüderschaft, von der Sie gesprochen haben? Allerdings bin ich nicht überrascht, ich habe damit gerechnet.“ „Sie befanden sich auf der Flucht“, erklärte Theodosius. „Wir gewährten Ihnen Asyl. Was erwarten Sie denn noch von uns?“ 168
„Und wie ist es mit Jill?“ „Bei ihr liegt der Fall anders“, entgegnete der Kardinal. „Ich bin davon überzeugt, daß sie uns gar nicht verlassen will.“ „Was mich betrifft“, erklärte Tennyson, „auch ich habe zur Zeit nicht den Wunsch, von hier fortzugehen. Ich wüßte nur gern, ob ich es könnte, wenn ich wollte.“ „Dr. Tennyson“, schaltete sich der Papst ein. „Die Frage Ihrer Abreise steht im Augenblick nicht zur Debatte. Wir wollen diesen Punkt später einmal diskutieren.“ „Einverstanden“, sagte Tennyson. „Ich werde gelegentlich wieder darauf zu sprechen kommen.“ „Das kann ich mir vorstellen“, bemerkte Ecuyer. „Nun wollen wir zur Diskussion über den Himmel zurückkehren“, erklärte der Papst. „Eigentlich scheint mir das Problem nicht besonders schwierig zu sein“, sagte Ecuyer. „Gibt es einen Himmel oder nicht? Wenn es keinen gibt, dann ist unsere ganze Diskussion sinnlos. Warum reisen Sie denn nicht einmal hin? Der Vatikan hat die Möglichkeit, fast zu jedem beliebigen Punkt zu reisen …“ „Wir haben die Koordinaten nicht“, erklärte Roberts. „Der Würfel der Lauscherin Maria liefert uns keine Koordinaten. Wir müssen wissen, welchen Punkt wir ansteuern sollen, bevor wir uns auf den Weg machen können.“ „Möglicherweise unternimmt Maria noch einen zweiten Versuch“, sagte Tennyson. „Vielleicht kann sie nach einem zweiten oder dritten Besuch die Koordinaten benennen?“ Ecuyer schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, sie wird es nicht noch ein zweites Mal versuchen. Sie will nicht. Ich glaube, sie hat Angst.“
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22 Es war ein trüber Tag. Die Wolken hingen so tief, daß die Berggipfel in ihnen verschwanden. Das ganze Land war in ein monotones, graues Licht getaucht. Der Pfad, dem Tennyson folgte, stieg seit einiger Zeit leicht an. Hin und wieder riß der Nebel auf, und Tennyson konnte einen kurzen Blick auf die Hütte am Ende des Weges werfen. Er war sicher, daß es sich um Deckers Hütte handelte. Er fragte sich, ob er den Mann zu Hause antreffen würde, oder ob Decker sich auf einem seiner Streifzüge in den Bergen befand. Tennyson zuckte die Achseln. Egal, wenn Decker nicht in seiner Hütte war, dann würde er eben zum Vatikan zurückkehren. Es war ein angenehmer Tag für einen Fußmarsch, und Tennyson hätte vermutlich vor Sonnenuntergang ohnehin noch einen Spaziergang gemacht. Als Tennyson den Hang etwa zur Hälfte erklommen hatte, kam Decker hinter seiner Hütte hervor. Er trug einen Armvoll Feuerholz, aber er winkte freundlich mit der freien Hand und rief einen Gruß, der von der schweren Luft erstickt wurde. Decker ließ die Tür hinter sich offen, und als Tennyson durch sie eintrat, kam Decker vom Kamin an der anderen Seite des Raumes zurück und hielt Tennyson die rechte Hand entgegen. „Entschuldige, daß ich dich nicht hereingeführt habe“, sagte er, „aber ich mußte erst das Feuerholz loswerden. Jetzt wollen wir es uns vor dem Kamin gemütlich machen. Einen solchen Tag verbringt man am besten vor einem prasselnden Feuer.“ Tennyson streifte seine Umhängetasche von der Schulter, griff hinein und zog eine Flasche heraus. Er gab sie Decker. „Ich habe eine Extrazuteilung entdeckt“, sagte er. Decker hielt die Flasche gegen das Licht. „Sie retten mir das Leben“, erklärte er. „Vor einer Woche ist 170
mein Vorrat zur Neige gegangen. Charly bringt mir hin und wieder ein paar Flaschen mit, aber nicht immer. Er ist selber knapp mit dem Zeug. Er stiehlt es, weißt du?“ „Ja, das weiß ich“, sagte Tennyson. „Falls es sich bei ‚Charley’ um den Kapitän der WANDERGESELL handelt. Seinen Namen habe ich nie erfahren.“ „Von dem Mann rede ich“, antwortete Decker. „Wie gut hast du ihn kennengelernt?“ „Überhaupt nicht, würde ich sagen. Wir haben ein paarmal miteinander gesprochen. Er hat mir von Apfelblüte erzählt.“ „Sein Planet für den Ruhestand? Ja, fast jeder Mensch hat seinen Lieblingsplaneten. Wie ist es mit dir, Jason?“ Tennyson schüttelte den Kopf. „Ich habe noch nie darüber nachgedacht.“ „Na komm, setz dich vors Feuer! Stell die Füße auf den Kaminsockel! Beweg dich doch nicht so vorsichtig, hier kannst du nichts beschädigen und dich wirklich wie zu Hause fühlen. Sobald ich zwei Gläser gefunden habe, werde ich mich zu dir setzen. Eis habe ich leider nicht.“ „Was soll ich mit Eis?“ fragte Tennyson. Wenn man die Hütte von innen betrachtete, erschien sie größer als von außen gesehen. Sie bestand aus einem einzigen Raum. Eine Ecke war als Küche hergerichtet, mit einem kleinen Herd und selbstgebauten Geschirregalen an den Wänden. Auf dem Herd sang ein Aluminiumkessel. An einer Längswand stand ein Bett, auf einem Brett darüber eine Reihe Bücher. In der Ecke neben dem Kamin befand sich ein niedriger Tisch, auf dem eine Handvoll kleiner, geschliffener Steine lag. Tennyson erinnerte sich daran, daß ihm der Captain der WANDERGESELL etwas über Deckers Steine erzählt hatte. Decker kam mit zwei Gläsern aus der Kochecke zurück, gab eines davon Tennyson und schenkte ein. Dann stellte er die Flasche in Reichweite auf dem Kaminsockel ab. Nachdem er es 171
sich in einem Sessel bequem gemacht hatte, nippte er genießerisch an seinem Glas. „Das schmeckt gut“, seufzte er. „Man vergißt jedesmal aufs neue, wie gut das Zeug schmeckt.“ Danach schwiegen beide einige Zeit. Sie tranken und starrten in die Flammen. Endlich fragte Decker: „Was gibt es Neues im Vatikan? Oben bei euch auf dem Hügel? Ich höre allerlei Gerüchte in letzter Zeit. Dieses ganze Nest, Vatikan und Siedlung, kocht über vor Gerüchten. Man weiß nie, was man davon glauben soll. Am Ende entschließe ich mich meistens, gar nichts zu glauben.“ „Das ist vermutlich das beste, was du tun kannst“, antwortete Tennyson. „Ich wohne im Vatikan, und die Hälfte von dem, was ich dort höre, kann ich kaum glauben. Wenn ich mich erst mal eingelebt habe, kann ich die umlaufenden Geschichten sicher besser beurteilen. Gestern bin ich Seiner Heiligkeit begegnet.“ „Ach was?“ „Was meinst du mit ‚ach was’?“ „Was hattest du für einen Eindruck?“ „Ich war enttäuscht“, antwortete Tennyson. „Er kam mir irgendwie kleinkrämerisch vor. Vielleicht besteht er aus reiner Weisheit, wenn er mit großen, bedeutungsvollen Fragen konfrontiert wird, aber bei den kleinen Sorgen ist er genauso verwirrt wie jeder von uns. Vielleicht noch verwirrter. Ich war überrascht, daß er sich überhaupt um solche Bagatellen kümmert.“ „Sprichst du von dem neuentdeckten Himmel?“ „Wieso weißt du etwas davon, Tom?“ „Gerüchte, ich hab dir doch von der Gerüchteküche erzählt. Überall in der Stadt hörst du nur noch das Wort ‚Himmel’.“ „Das gleiche gilt für den Vatikan“, sagte Tennyson. „Jedermann zerbricht sich den Kopf über diese eine Frage, die mir höchst simpel erscheint: Entweder hat Maria tatsächlich den Himmel gefunden, oder sie hat einen anderen Ort gesehen, den 172
sie für den Himmel hält. Soviel ich weiß, könnte der Vatikan sich zu der Fundstelle begeben, aber die Vatikanleute klatschen hilflos in die Hände und jammern, daß sie keine Koordinaten haben. Maria könnte noch einmal zurückkehren und die Koordinaten beschaffen, aber Ecuyer bezweifelt, daß sie es tun wird. Er glaubt, sie fürchtet sich davor.“ „Und was glaubst du?“ „Meine Meinung spielt keine Rolle.“ „Trotzdem: Was hältst du von der Sache?“ „Ich glaube, der Vatikan, also der eigentliche, der offizielle Vatikan, will seine Hände in Unschuld waschen. Es sind die Vatikanbonzen, die Angst haben, nicht Maria. Mag sein, daß auch Maria Angst hat, aber die Vatikanleute fürchten sich noch mehr. Die Leute an der Spitze wollen gar nicht wissen, ob die Geschichte stimmt. Offensichtlich haben sie Angst, es könnte tatsächlich der Himmel sein.“ „Ich bin sicher, daß du recht hast“, sagte Decker. „Die Kardinäle und die anderen Vorbeter haben tausend Jahre damit verbracht, den Geheimnissen des Universums auf den Grund zu gehen. Sie sind sehr umsichtig – das muß man ihnen zugestehen. Sie haben Unmassen von Daten aus dem ganzen Universum zusammengetragen. Welches Bild des Universums sich aus diesen Daten ergeben hat, wissen wir nicht. Vermutlich ist es anders, als du und ich es uns vorstellen. Sie haben die Daten in Seine Heiligkeit eingegeben, und Seine Heiligkeit hat sie, wie jeder erstklassige Computer, miteinander in Verbindung gebracht. So haben sie gemeinsam einen Punkt erreicht, wo sie das Wesen der Dinge sehen oder zumindest erahnen können. Sie haben begonnen, eine vorläufige Theorie aufzustellen, ein zerbrechliches Gedankengebäude. Zu einem großen Teil passen die einzelnen Faktoren zueinander, vermutlich ergänzen sie sich sogar. Andererseits dürfte es noch einige Widersprüche im System geben. Wenn man nun die Theorie weiter behutsam ab173
wandelt und anpaßt, dann kann man auch die Widersprüche in das Gesamtsystem einbeziehen. Ich glaube, der Vatikan hat gerade eine Stufe erreicht, wo er sich sagen kann, daß er noch einmal tausend Jahre benötigt, um die Theorie zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuschmieden. Und da findet diese alberne Frau den Himmel, und der Himmel, der Originalchristenhimmel, ist genau die Sache, die das ganze wunderschöne Theoriegebäude zum Einsturz bringen wird. Dieser eine Faktor wird, wenn er sich als wahr erweist, alles andere als unrichtig abqualifizieren.“ „Du magst recht haben“, sagte Tennyson, „aber ich glaube, es steckt noch mehr dahinter. Möglicherweise befürchten die Vatikanfürsten auch, daß ihr besonderer Vatikan zum alten christlichen Glauben überläuft. Der Glaube hat zweifellos noch einen starken Einfluß auf die gewöhnlichen Roboter. Du darfst nicht vergessen, daß viele Roboter auf der Erde hergestellt wurden, und diese Roboter stehen den Menschen näher als jene, die hier auf Nirgendsend konstruiert wurden. Unter den Menschen stellt das Christentum immer noch eine bedeutende Kraft dar. Fünftausend Jahre nach Christi Geburt ist dieser Glaube noch so stark, daß sich die Mehrheit der Menschen zu ihm bekennt. Der Vatikan hat nichts unternommen, um die Roboter daran zu hindern, weiter ihrem einfachen, christlichen Glauben treu zu bleiben, aber er weiß, es würde seine Arbeit unmöglich machen, wenn es nun zu einer fanatischen, machtvollen Wiedergeburt des Christentums kommen würde. Gerade das aber könnte der Himmelsfund auslösen, davon bin ich überzeugt.“ „Was du da sagst, ist nicht von der Hand zu weisen“, bemerkte Decker, „aber ich bin davon überzeugt, daß sich der Vatikan besonders vor allen Entdeckungen fürchtet, die die Universaltheorie, an der er arbeitet, durcheinanderbringen können.“ „Aber denkst du nicht auch“, fragte Tennyson, „daß der Vatikan sich über den Himmel Gewißheit verschaffen müßte? Was 174
versprechen sich die Kirchenleute davon, wenn sie den Kopf in den Sand stecken. Hoffen sie, der Himmel verschwindet von allein, wenn sie nichts unternehmen?“ „Bald werden sie soweit sein, um die Sache aus einem praktischen Gesichtspunkt betrachten zu können“, erwiderte Decker. „Was sie auch immer sein mögen, sie sind keine Narren. Im Augenblick müssen sie sich erst einmal von ihrem Schrecken erholen. Gib ihnen ein wenig Zeit, und sie werden wieder Tritt fassen.“ Er hielt Tennyson einladend die Flasche entgegen; Tennyson reichte ihm sein Glas. Decker füllte beide Gläser und stellte die Flasche auf den Kaminsockel zurück. „Das muß man sich einmal vorstellen“, sagte Decker nach einer Pause. „Eine Idee wird geboren. Ihre Anhänger sind ganz gewöhnliche Lebewesen auf einem durchschnittlichen Planeten unter einer normalen Sonne. Die Idee wird in Jahrhunderten zu einem Glauben, der aus sich selbst immer neue Kraft gewinnt. Jetzt, nach dreitausend Jahren, ist er immer noch so stark, daß er die vereinten Bemühungen einer Gruppe von Superhirnen umzustürzen droht, obwohl diese Gehirne ein Jahrtausend auf ihre Anstrengungen verwandt haben. Der Mensch ist nicht das pfiffigste Tier in der Galaxis und auf keinen Fall das intelligenteste. Jason, wäre es denkbar, daß der Mensch durch eine Eingebung, durch sein Hoffen und sein Verlangen eine Wahrheit gefunden hat, die …“ „Ich weiß es nicht“, sagte Tennyson. „Niemand weiß das.“ „Es ist ein faszinierender Gedanke“, erklärte Decker. „Und gleichzeitig auch ein erschreckender Gedanke“, meinte Tennyson. „Wenn der Vatikan nur nicht so engstirnig wäre, nicht so versessen darauf, die letzten Wahrheiten und den Sinn des Universums zu entdecken …! Kannst du dir vorstellen, wozu er in der Lage wäre?“ 175
„Nein, das kann ich nicht“, antwortete Tennyson. „Ich weiß nicht, was er vermag.“ „Ich bin sicher, die Vatikanleute kennen die Antworten auf Fragen, von denen nur wenige wissen, daß man sie stellen kann. Sie sind tiefer in den Kern des universalen Wissens eingedrungen, als irgend jemand ahnen kann. Wenn sie die Macht, die sie zweifellos besitzen, anwenden würden, könnten sie der Galaxis ihren Stempel aufdrücken. Gott sei Dank gebrauchen sie ihre Macht nicht. Sie sind derart von ihrem großen Plan besessen, daß sie keinen Sinn für Macht und Größe haben.“ Decker stellte sein Glas ab, ging in die Kochecke hinüber und schob ein paar Holzscheite in den Herd. Ein paar Zentimeter über den geschliffenen Steinen auf dem flachen Tisch neben dem Kamin flimmerte ein kleines Wölkchen aus Diamantenstaub im Flackerlicht der Flammen. Tennyson zuckte in seinem Sessel zusammen; der Whisky im Glas schwappte über. Ihm fiel plötzlich ein, daß er das gleiche Staubwölkchen schon einmal gesehen hatte. In Deckers Wagen hatte das Wölkchen über dessen Schulter geschwebt. Damals hatte er kurz weggeschaut, und das Flimmern war verschwunden gewesen. Doch diesmal verschwand es nicht, es schwebte weiter glitzernd über der Tischplatte in der Luft. Decker kehrte zum Kamin zurück, nahm sein Glas auf und setzte sich in den Sessel. „Willst du nicht zum Essen bleiben?“ fragte er. „Ich habe einen Eintopf aufs Feuer gestellt, es ist mehr als genug für uns beide. Außerdem kann ich etwas Schwarzbrot in die Backröhre schieben. Der Kaffee ist leider ausgegangen, aber ich kann Tee kochen.“ „Eine Tasse Tee wäre mir lieb.“ „Später kann ich die alte Betsy anwerfen und dich nach Hause fahren“, versprach Decker. „Im Dunkeln könntest du dich leicht verlaufen, wenn du zu Fuß gehst. Du kannst aber auch 176
über Nacht bleiben. Ich trete dir das Bett ab und mache es mir mit ein paar Decken auf dem Boden gemütlich.“ „Vielen Dank für das Angebot, aber ich muß unbedingt heute abend noch zur Klinik zurück.“ „Klar, ich bringe dich hin, du brauchst mir nur zu sagen, wann du aufbrechen willst.“ „Tom“, sagte Tennyson, „ich habe gehört, du wärst ein sehr verschlossener, zurückgezogener Mensch.“ „Hat Charly dir das erzählt?“ „Ich glaube, er war es. Sonst habe ich mit niemandem über dich gesprochen.“ „Jeder andere hätte dir das gleiche erzählt.“ „Ich habe niemanden danach gefragt.“ „Genau das ist es“, sagte Decker unvermittelt. „Auch jetzt hast du nichts gefragt: Wann bin ich hierhergekommen? Wie bin ich gekommen? Warum bin ich gekommen?“ „Na ja, ich habe dir auch nichts von mir erzählt“, entgegnete Tennyson. „Was ich bin oder getan habe, erscheint mir nicht besonders wichtig.“ „Es heißt, du bist davongelaufen“, sagte Decker, „in der Stadt habe ich es so gehört.“ „Das ist wahr“, antwortete Tennyson. „Willst du die Einzelheiten wissen?“ „Absolut nicht“, erwiderte Decker. „Gib mir dein Glas, ich will nachschenken.“ Sie saßen eine Weile still beieinander und starrten in die Flammen. Decker räkelte sich in seinem Sessel. „Wenn du den Gesichtspunkt des Vatikan verstehen willst“, sagte er, „dann mußt du dich zunächst einmal fragen, was ein Roboter ist. Zu häufig stellen wir ihn uns als einen mechanischen Menschen vor, aber gerade das ist er nicht. Er ist eine Menge mehr und gleichzeitig viel weniger. Ich vermute, daß die Roboter sich häufig für Men177
schen mit einem gewissen Unterschied halten, aber auch das ist eine falsche Sehweise. Ist es nicht sonderbar, daß Menschen und Roboter den gleichen Fehler machen? Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Ist ein Roboter zur Liebe fähig? Treue, ja; Verantwortungsgefühl, ja; Logik, natürlich. Aber wie steht es mit der Liebe? Kann ein Roboter irgend jemanden oder irgend etwas wirklich lieben? Der Roboter heiratet nicht, er hat keine Kinder, überhaupt keine Blutsverwandten. Liebe ist eine biologische Emotion. Man kann nicht erwarten, daß ein Roboter dieses Gefühl kennt, auch er selber wird es nicht erwarten. Weil er niemanden hat, den er liebt, gibt es für den Roboter auch niemanden, den er beschützen oder umsorgen müßte, nicht einmal um sich selbst braucht er sich Sorgen zu machen. Bei der entsprechenden Wartung kann er mit einem ewigen Leben rechnen. Er braucht sich nicht vor den Gebrechen des Alters zu fürchten, und er hat es nicht nötig, beizeiten Geld auf die hohe Kante zu legen, um im Alter davon zehren zu können. Was persönliche Beziehungen angeht, nun, er kennt sie nicht. So entsteht eine große Leere im Leben des Roboters.“ „Vielleicht wird ihm diese Leere nicht bewußt“, wandte Tennyson ein. „So könnte es tatsächlich sein, wenn die Roboter ganz für sich allein leben würden, von allen biologischen Lebewesen getrennt. Aber das tun sie nicht, ich glaube, das können sie gar nicht. Sie sind geradezu auf Menschen versessen, sie müssen unbedingt ihre Menschen haben. Und in all den Jahren, in denen sie nun mit den Menschen zusammenleben und sie beobachten, haben sie sicher auch festgestellt, daß ihnen etwas im Leben fehlt.“ „Du nimmst offenbar an“, sagte Tennyson, „daß die Roboter sich wegen ihrer fehlenden Liebesfähigkeit zum Ausgleich der Religion zugewandt haben. Für mich ergibt das keinen Sinn: Die Religion baut doch auf der Liebe auf.“ 178
„Du vergißt, die Liebe ist nicht der einzige Bestandteil einer Religion. Da gibt es noch den Glauben. Zuweilen ist es ein sehr hartnäckiger Glaube, und ein Roboter ist so beschaffen, daß er lange Zeit nur aufgrund eines hartnäckigen Glaubens funktionieren kann. Es gehört zu seinem Wesen, sich in einen Fanatiker verwandeln zu können, gegen den jedes menschliche Sektenmitglied verblassen muß.“ „Aber ist das, was der Vatikan verkündet, überhaupt eine Religion?“ fragte Tennyson. „Ich bin davon nicht hundertprozentig überzeugt.“ „Sicher hat es einmal mit einer Religion begonnen, und die meisten der einfachen Vatikanmitglieder sind auch heute noch davon überzeugt, daß hier um religiöse Fragen gerungen wird. Doch in den Jahren hat sich das Ziel des Vatikans geändert. Heute strebt die Suche nach universalen Strukturen, nach universalen Wahrheiten, würden die Kardinäle vermutlich sagen. Eigentlich ist dieses neue Ziel für die Robotermentalität viel attraktiver, als es irgendein Glaube sein könnte. Wenn sie einmal das Ende ihres Weges erreichen, werden sie vielleicht überrascht feststellen, daß sie mit den Wahrheiten zugleich die Theologie des Universums entdeckt haben. Vermutlich werden sie dann hochzufrieden sein.“ „Aber wenn sie etwas anderes entdecken, werden sie auch nicht enttäuscht sein“, stellte Tennyson fest. „Genau das ist der Punkt“, erklärte Decker. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.“ Immer noch schwebte das Wölkchen aus Diamantenstaub über dem Tisch, wie ein Schutzschirm waberte es über der kleinen Ansammlung von Steinen. Gelegentlich geriet es in flirrende Bewegung, aber meistens hing es nur reglos in der Luft, so als würde es etwas beobachten. Eine Frage drängte sich auf Tennysons Lippen, aber er hielt sich zurück. Decker hatte das Wölkchen gewiß auch gesehen. 179
Ihm mußte klar sein, daß sein Gast es bemerkt hatte. Wenn eine Bemerkung dazu angebracht war, dann war es an Decker, sie abzugeben. Bisher hatte niemand viel gefragt, und so sollte es auch bleiben. Decker sagte: „Noch einmal zurück zu der Sache mit dem Himmel. Hast du dir das Band angesehen?“ „Es ist kein Band“, antwortete Tennyson, „es ist ein Würfel. Nein, ich habe ihn mir nicht angesehen. Andere ja, aber nicht den Himmelswürfel. Ich wollte nicht darum bitten; es scheint sich um eine intime Angelegenheit zu handeln.“ „Du weißt doch – ich glaube, du hast es selbst gesagt –, der Vatikan hat die Möglichkeit, den Fundort selbst zu inspizieren.“ „Das stimmt“, antwortete Tennyson, „aber sie haben keine Koordinaten.“ „Ich habe so eine dunkle Ahnung“, murmelte Decker, „als ob ich …“ Er verstummte, und Tennyson wartete. „Als ob …?“ fragte er endlich. „Ich habe so eine Ahnung, als ob ich wüßte, wo dieser Himmel sein könnte“, sagte Decker.
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23 „Ich weiß nicht, was geschehen ist“, sagte Ecuyer. „Ich habe keine blasse Ahnung. Aber plötzlich besteht Maria darauf, ein zweites Mal zum Himmel zu reisen.“ „Wenn sie es schafft“, bemerkte Tennyson. „Das glaube ich schon“, erwiderte Ecuyer. „Sie ist die beste Lauscherin, die wir haben. Sie hat die Fähigkeit für einen zweiten Versuch. Ich weiß nicht genau, was dazu nötig ist, um denselben Zielort noch einmal wiederzufinden, doch unsere Lauscher haben im Laufe der Jahre immer wieder bewiesen, daß sie es können. Wir haben versucht, dieser besonderen Fähigkeit auf den Grund zu gehen, denn wenn wir über sie Bescheid wüßten, könnten wir unsere Lauscher darin unterweisen. Aber genug davon. Ich verstehe einfach nicht, warum sich Maria plötzlich anders entschieden hat. Noch vor ein paar Tagen dachte sie nicht daran, es noch einmal zu versuchen.“ „Vielleicht will sie etwas tun, was ihr erneut allgemeine Beachtung verschafft“, meinte Jill. „Ihr beide habt sie ja gewissermaßen dazu getrieben. Ihr habt ihr überdeutlich gezeigt, daß sie nicht halb so wichtig ist, wie sie sich nimmt.“ „Es war das einzige, was wir tun konnten“, sagte Ecuyer. „Zumindest war es das einzige, was mir einfiel, und Jason hat mir darin zugestimmt.“ „Ob es nun das einzige war oder nicht, jedenfalls hat es gewirkt“, stellte Jill fest. „Und nun, da sie sich zu einem zweiten Versuch entschlossen hat, gibt es einen Weg, wie ihr sie dazu bringen könnt, sich um die Koordinaten zu bemühen?“ „Wir können mit ihr reden“, antwortete Ecuyer, „versuchen, ihr klarzumachen, wie wichtig die Koordinaten für uns sind. Ob sie es begreifen wird, kann ich nicht sagen.“ Er wandte sich an Jill. „Sie sollten mit ihr sprechen, von Frau zu Frau.“ 181
„Wozu sollte das gut sein?“ erwiderte Jill. „Wir sind uns noch nie begegnet. Ich bezweifle, daß sie mir traut. Ich fürchte, sie wird eher den Eindruck gewinnen, alles habe sich gegen sie verschworen.“ Tennyson unterbrach das Zwiegespräch: „Decker glaubt zu wissen, wo der Himmel ist. Ich habe gestern mit ihm darüber geredet.“ „Woher will er das wissen?“ fragte Ecuyer erstaunt. „Woher könnte er das wissen?“ „Er hat es nicht gesagt, und ich habe nicht danach gefragt. Er reagiert allergisch auf Fragen nach seiner Person. Womöglich hat er erwartet, daß ich ihn frage, aber ich habe es nicht getan, und er hat seinen Worten nichts mehr hinzugefügt.“ „Du hättest ihn fragen sollen“, erklärte Jill. „Vielleicht hat er nur darauf gewartet.“ „Nein, ich denke, es wäre falsch gewesen, wenn ich nachgefragt hätte. Es kam mir so vor, als ob er mich testen wollte. Er hat mehrmals Andeutungen gemacht, die Nachfragen geradezu herausforderten, aber ich habe geschwiegen. Die Fragen brannten mir auf der Zunge, aber ich habe sie unterdrückt. Er ist ein sonderbarer Mensch, aber ich bin gut mit ihm ausgekommen und wollte, daß es so bleibt.“ „Seit ich ihn kenne, habe ich Decker als Sonderling abgeschrieben“, sagte Ecuyer. „Er ist ein typischer Einzelgänger, das steht fest. Er will um jeden Preis allein bleiben. Jason ist der erste Mensch, bei dem er aufgetaut ist. Das könnte sehr wertvoll sein, wir sollten es nicht aufs Spiel setzen. Ich habe so ein Gefühl, als ob mehr hinter dem Mann stecken könnte, als wir alle vermutet haben.“ Hubert kam mit einer Kanne dampfenden Kaffees ins Zimmer; er füllte ihre Tassen und ging, ohne ein Wort zu sagen, in die Küche zurück. „Er schmollt noch immer“, bemerkte Ecuyer. „Ich habe ihm 182
gestern den Kopf zurechtgerückt.“ Er wandte sich an Tennyson. „Das ist manchmal nötig, damit er nicht aus der Rolle fällt.“ „Eines muß man ihm lassen“, sagte Tennyson, „er kocht einen ausgezeichneten Kaffee.“ „Ich würde gern etwas wissen“, begann Jill. „Ist Maria eigentlich ein Mensch? Sind die Lauscher wirklich echte Menschen?“ „Wieso? Natürlich ist Maria ein Mensch“, sagte Ecuyer. „Was soll diese Frage?“ „Die Lauscher haben so viele … äh … Erfahrungen in fremden Welten gemacht“, erklärte Jill, „und viele Male sind sie fremdartige Kreaturen gewesen … Angesichts dieser Tatsachen habe ich mich gefragt, wie es ihnen gelingen konnte, ihr Menschsein zu erhalten.“ „Ich habe mich schon oft dasselbe gefragt“, erwiderte Ecuyer. „Aber ganz gleich, wie oft ich darüber nachgegrübelt habe, ich habe es doch nie gewagt, mit einem von ihnen darüber zu sprechen. Diese parapsychisch Begabten muß man behandeln wie rohe Eier. Sie sind allesamt sehr starke Persönlichkeiten. Vielleicht ist eine starke Persönlichkeit eine Vorbedingung, wenn man als Lauscher arbeiten will. Aber trotz ihrer persönlichen Kraft und ihrer Charakterfestigkeit kehren die Lauscher doch oft unter Schockeinwirkung von ihren Erkundungen zurück. Es gibt immer einige unter ihnen, die sich weigern, noch einmal an ihren letzten Fundort zurückzukehren; sie sind bereit, ein anderes Ziel anzusteuern, aber vor ihrer letzten Erfahrung schrecken sie oft zurück. Es hat jedoch noch nie ein Lauscher den Verstand verloren, bisher sind sie alle wohlbehalten zurückgekehrt.“ Ecuyer trank seinen Kaffee aus. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser“, sagte er, „und spreche noch einmal mit Maria. Jason, hast du Lust, mitzukommen?“ „Besser nicht“, entgegnete Tennyson. „Sie mag mich nicht besonders.“ 183
„In letzter Zeit gilt das auch für mich“, sagte Ecuyer. „Dich kennt sie schon seit langer Zeit. Das macht sicher manches leichter.“ „Das wollen wir hoffen.“ Ecuyer verabschiedete sich. „Bis bald“, sagte er von der Tür aus. Nachdem er gegangen war, blieben Tennyson und Jill schweigend sitzen. Schließlich ergriff Jill das Wort: „Jason, ich habe so ein Gefühl, als ob große Dinge auf uns zukommen. Ich spüre es in den Knochen.“ Tennyson nickte. „Maria geht zurück zum Himmel, und wenn sie etwas findet, wenn sie mehr findet, als beim letzten Mal …“ „Ich glaube, ich verstehe nicht so recht, was eigentlich vor sich geht“, sagte Jill. „Der Vatikan ist auf seltsame Weise gespalten. Was entzweit ihn eigentlich? Oh, einen Teil davon verstehe ich schon, aber noch längst nicht alles. Das schlimmste ist, daß ich nicht weiß, was der Vatikan selbst eigentlich ist. Ist er nun Hüter einer Religion oder Forschungsunternehmen? Was erwartet der Vatikan zu finden?“ „Ich möchte bezweifeln“, erwiderte Tennyson, „daß der Vatikan weiß, was er finden möchte.“ „Ich muß häufig an diesen Kardinal denken – ich glaube, Roberts hieß er –, der gesagt hat, es sei uns nicht erlaubt, den Planeten zu verlassen.“ „Ja, das hat er gesagt“, antwortete Tennyson. „Aber da er es geradezu beiläufig ausgesprochen hat, weiß ich nicht, wie ernst es gemeint war.“ „Für mich ist das zur Zeit nur ein akademisches Problem“, sagte Jill. „Im Moment kann ich gar nicht gehen. Ich habe ja gerade erst damit begonnen, die Geschichte des Vatikans auszugraben. Wenn ich mein Buch schreibe …“ „Dein Buch? Ich dachte, es wäre das Buch des Vatikans?“ „Mein Buch!“ beharrte sie. „Es wird milliardenfach verkauft 184
werden. Bis zum Nabel werde ich in Geld waten. Niemals wieder brauche ich zu arbeiten, ich kann mir alles kaufen, was mir gefällt.“ „Wenn es dir gelingt, Nirgendsend wieder zu verlassen.“ „Nun hör mal zu, mein Freund. Jill geht, wann und wohin sie will. Der Platz, den sie nicht verlassen kann, muß noch erfunden werden. Keine Klemme ist so eng, als daß sie sich nicht aus ihr hinauswinden könnte.“ „Na, wir wollen das Beste hoffen“, sagte Tennyson. „Wenn du gehst, nimmst du mich dann mit?“ „Wenn du mitkommen willst“, erwiderte sie.
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24 Es war genauso wie beim ersten Mal: die breite, singende Straße, die sich weit in die Ferne erstreckte. Gerade wie ein Pfeil strebte sie dem Land des Heils und des Ruhms entgegen, das fern, fern, fern von hier lag. Sie schwebte über der Straße in einem Nichts, das von einer schmerzhaften Leere war. Durch das Nichts bewegte sie sich auf die singende Straße zu, aber es ging nicht schnell genug voran. Sie spannte alle Fibern und Nerven an, um schneller zu der Straße des Heils zu kommen. Diesmal werde ich mich besser umschauen, sagte sie sich. Markante Punkte und Zeichen werde ich mir genau merken, dann werde ich genau wissen, wo ich bin und ihnen sagen können, wo ich war. Ich werde beweisen, daß es der Himmel ist. Sie haben mir nicht geglaubt, aber diesmal werden sie mir glauben müssen. Es darf nicht den geringsten Zweifel geben. Koordinaten, hat Ecuyer gesagt, was sind denn diese Koordinaten? Wie kann ich Koordinaten finden, die sie wirklich überzeugen werden? Vielleicht gibt es nur solche des Glaubens, solche, an die sie glauben müssen? Diesmal werde ich ihnen einen Beweis des Glaubens liefern, der allen Zweifel für immer verstummen läßt. Dann werden sie zugeben müssen, daß ich es war, die den Himmel gefunden hat. Ich weiß, was sie wollen, sagte sie sich. Sie wollen, daß ich ihnen eine Straßenkarte liefere, damit sie ihre lächerlichen Maschinen anwerfen und mir in den Himmel folgen können. Diese Narren, dachte sie, zugleich erzürnt und betrübt über ihre Einfalt, diese Narren, sie glauben, physisch in den Himmel eindringen zu können, dabei vergessen sie, daß der Himmel für Sterbliche ein – wie hat der Trottel von Doktor gesagt? – ein Geisteszustand ist. Und auch er hat sich getäuscht, dieser Bursche mit seinem Gesicht voll professioneller Freundlichkeit und 186
seiner unterwürfigen Hingabe an die Wissenschaft. Denn der Himmel ist kein Geisteszustand, er ist ein Stand der Gnade. Und ich allein unter ihnen allen habe diesen Stand erreicht, den man braucht, wenn man den Himmel suchen und finden will. Dieser Gnadenstand konnte nur unter unsäglichen Mühen erreicht werden. Nein, eigentlich nicht unter Mühen, gestand sie sich ein, denn es war keine Arbeit vonnöten gewesen, keine Anstrengung, eher durch ein Streben nach jenem tiefen Gefühl von Heiligkeit, nach der selbstlosen Unterwerfung des Ichs unter eine süße Macht. Und gelegentlich gelang es durch das unentwegte Streben, den Saum der Heiligkeit zu berühren, ohne sie selbst festhalten zu können. Dann waren alle eigennützigen Gedanken für kurze Zeit verbannt, aber schon bald meldete sich wieder ein ununterdrückbarer Impuls: Es war das Selbst, das zurückkroch und sich in die Leere schmiegte, in die es verdammt war. Ihr letztes Ziel hatte sie nie erreicht, gemahnte sie sich, aber immerhin war sie weit genug gekommen, um auf der Straße des Ruhms zu wandeln, die jetzt direkt vor ihr lag. Jetzt kam sie heraus aus dem Nichts, und ihr war, als ob ihre Füße die Straße berührten, doch die Straße fühlte sich anders an als alle, auf denen sie jemals gegangen war. Sie war glatt und glänzend und erstreckte sich in gerader Linie bis zu jenem Glorienschein in der Ferne, der möglicherweise außerhalb ihrer Reichweite lag. Was sollte sie tun, wenn sie vor Erschöpfung zusammenbrach, wenn ihre Kräfte aufgezehrt waren, bevor sie die entlegenen, leuchtenden Türme erreichte? Doch das Problem löste sich von allein, denn sie mußte nicht gehen. Auf rätselhafte Weise trieb sie über die Straße dahin, ohne einen Fuß vor den anderen setzen zu müssen. Musik und Gesang erklangen rings um sie her, und sie fragte sich, ob es wohl der Gesang war, die Stärke dieser Wohlklänge, die sie ihrem Ziel entgegentrugen. Ihr Körper hing seltsam schlaff in der Luft. Sie war von dich187
tem Nebel umgeben, so daß sie nur die Straße und den Glorienschein an ihrem Ende sehen konnte. Die Mattigkeit, die ihren Leib erfaßt hatte, war von einer stillen Freude begleitet, und sie kam mühelos weiter voran. Es war, als ob eine sanfte Woge sie erfaßt hätte, die sie nun an eine ferne Küste trug. Die Musik wurde feierlicher, und das Licht schien prächtiger zu werden. Im Angesicht der blendenden Helligkeit schloß sie die Augen, und ein heiliges Gefühl (ein heiliges?) ergriff sie und hielt sie umfangen. Dann brach die Musik unvermittelt ab. Plötzlich herrschte Stille. Maria landete auf den Füßen, nichts trug und hielt sie mehr, ihr Körpergewicht preßte ihre Fußsohlen gegen die Straße. Erschreckt öffnete sie die Augen. Das Licht hatte viel von seiner Helligkeit verloren, nun war das Leuchten eher ein Glühen, und in der Glut zeichneten sich die hohen, mächtigen Türme vor dem weiten blauen Himmel ab. Viele Türme waren es, die sich weiß vor dem azurnen Firmament abzeichneten. Reines Weiß gegen reines Blau, und von den fernen Türmen wehte leise Musik herüber. Sie war kaum hörbar und hatte den Klang von fallendem Wasser: Jeder Tropfen schlug eine andere, klingende Note an. Sie hielt nach den Engeln Ausschau, konnte aber keine sehen. Vielleicht flogen sie so hoch, daß kein sterbliches Auge sie erblicken konnte, sagte sie sich. Dicht vor ihren Füßen begann die Treppe, breit und steil mit Stufen aus reinstem Gold. Sie stieg den Türmen entgegen. So unerhört lang war die Treppe, daß sie am oberen Ende nur noch so breit wie ein Bleistift schien. Ein langer Aufstieg wird das werden, dachte Maria, doch sie mußte ihn hinter sich bringen, Stufe für Stufe, bis sie die Türme erreichte. Dort oben, am Tor, würden Posaunen sie mit himmlischem Schmettern begrüßen. Während sie sich darauf vorbereitete, den ersten Schritt zu 188
tun, lichtete sich der Nebel zu ihren Seiten. Der Landstrich links und rechts von der Straße war wie ein Heerlager von Hütten und Zelten übersät. Grob zusammengezimmerte Verschlage und baufällige Baracken bestimmten das Bild, aber es gab auch mächtige Tempelbauten, die sich über das Gewirr der Elendsquartiere erhoben. Die Hüttenstadt wurde von einer Ansammlung unterschiedlicher Kreaturen bevölkert, die Maria noch nie zuvor gesehen hatte. Aus einem unerfindlichen Grund konnte sie keines der Wesen klar erkennen, doch die einzelnen, flüchtigen Eindrücke verdichteten sich zu einem Gesamtbild aus abstoßenden Formen und Farben. Das Leben in seiner widerwärtigsten Gestalt brodelte dort neben den Straßenrändern. In namenlosem Schrecken floh Maria die Treppe hinauf, die Verzweiflung trieb sie an, bis sie völlig entkräftet keuchend stehenbleiben mußte. Sie schwankte und stürzte auf die Stufen. Mit letzter Kraft klammerte sie sich an das glatte Metall, um nicht zum Fuß der Treppe hinabzufallen, wo der Abgrund des Schreckens auf sie wartete. Allmählich gelang es ihr, das Zittern der Glieder zu unterdrücken, auch ihr Atem ging wieder in gleichmäßigeren Zügen. Sie richtete den Oberkörper auf und blickte sich um. Der Nebel hatte sich wieder verdichtet, die Elendsquartiere neben der Straße waren nicht mehr zu sehen. Maria stand auf und begann erneut, die Stufen der Treppe emporzusteigen. Die Musik war etwas lauter geworden, aber sie schien noch immer aus weiter Ferne zu kommen. Die Türme vor dem Himmel leuchteten weiß. Der Anblick schenkte ihr Frieden, und es gelang ihr, den Schrecken aus ihrem Verstand zu verdrängen. Die Türme waren nicht nähergekommen. Ihre lange Flucht die Stufen hinauf, ihr ganzer mühevoller Aufstieg hatte offensichtlich nichts bewirkt. Jetzt entdeckte sie weit oben auf den Stufen einen winzigen Punkt, der im goldenen Licht vibrierte. 189
Für einen Augenblick unterbrach sie ihren Aufstieg und versuchte, die ferne Erscheinung genauer zu betrachten. Anfangs hatte sie sie lediglich für eine Irritation auf ihrer Netzhaut gehalten, aber der winzige Fleck verschwand auch bei genauem Hinsehen nicht. Er tanzte im Licht, das von den goldenen Stufen reflektiert wurde. Jemand kommt mir entgegen, dachte sie. Jemand steigt die goldene Treppe herab, um mich im Himmel willkommen zu heißen! Sie beschleunigte ihre Schritte, eilte dem Wesen entgegen, das gekommen war, sie zu begrüßen. Der Punkt wurde größer und nahm deutlichere Formen an. Bald konnte Maria eine menschenähnliche Gestalt erkennen, ein Wesen, das auf zwei Beinen ging. Flügel waren allerdings nicht auszumachen. Das bereitete ihr eine gewisse Enttäuschung, aber sie sagte sich, daß nicht unbedingt jeder Himmelsbewohner über Flügel verfügen müßte. Während sie daran dachte, wurde ihr klar, wie wenig sie tatsächlich über die Bewohner des Himmels wußte. Sie hatte sie sich immer samt und sonders als Engel vorgestellt, aber das Wesen, das ihr nun entgegenkam, war gewiß kein Engel. Die Gestalt auf der Treppe hatte sich nun weiter genähert. Maria mußte erkennen, daß es sich bei ihr offensichtlich nicht um einen Menschen handelte. Sie war menschenähnlich, das schon, aber nicht wirklich menschlich und auch nicht himmlisch. Eine Sache wog besonders schwer: Die Gestalt war schwarz. Verwirrt verlangsamte Maria ihre Schritte, schließlich blieb sie stehen. Sie hob den Kopf und starrte dem Wesen entgegen, das unablässig die Stufen herabstieg. Seine Ohren waren lang und spitz, sein Gesicht schmal wie das eines Fuchses. Dünne Lippen und ein großer Mund. Die Augen waren geschlitzt und gelb, Raubtieraugen, das Weiß der Augäpfel war nicht zu sehen. Der Kopf war glänzend schwarz wie nasse Steinkohle. 190
Wie der Körper aussah oder bekleidet war, sah Maria nicht. Der Anblick des Gesichtes erschütterte und faszinierte sie so sehr, daß sie nichts anderes bemerkte. Zwei Stufen über Maria blieb das Wesen stehen. Es hob die Hand und drohte ihr mit einem Finger, so wie ein Vater oder Lehrer einen tadelnden Finger erhebt. Seine Stimme war wie ein Donnergrollen. „Ungezogen!“ sagte der Schwarze. „Ungezogenes kleines Ding!“ Maria wandte sich ab und floh, sie hastete die Stufen hinab, die Worte dröhnten in ihrem Kopf. Sie trat fehl und verlor das Gleichgewicht. Ihr Körper prallte auf die Stufen und begann zu rollen. Sie versuchte ihren Sturz zu bremsen, aber ihr endloser Fall war nicht aufzuhalten. Sie stürzte und rollte von Stufe zu Stufe, und Himmel und Land drehten sich in wahnsinnigen Kreisen. Endlich endete der schwindelerregende Sturz, und Maria schaute sich benommen um. Sie saß am Fuß der Treppe auf der Straße. Der Nebel war jetzt völlig verschwunden, die Elendshütten auf beiden Seiten der Straße waren deutlich zu sehen. Die abstoßenden Kreaturen drängten sich an den Straßenrändern zusammen, aber sie drangen nicht auf die Straße vor. Es war, als ob sie von einem unsichtbaren Zaun abgehalten würden. So standen sie dicht an dicht nebeneinander und lachten über Maria. Sie johlten, buhten, höhnten und bedachten sie mit obszönen Gesten. Schwankend kam sie auf die Füße und blickte die Treppe hinauf. Der Schwarze, der ihr entgegengekommen war, stand jetzt auf den untersten Stufen und hatte noch immer seinen tadelnden Finger erhoben. „Ungezogenes kleines Ding!“ brüllte er.
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25 Jill war in die Bibliothek gegangen; Hubert hatte sich davongemacht, um etwas zu erledigen; Tennyson saß vor dem Kamin. Das Spiel der Flammen hatte ihn in seinen Bann gezogen. Bald mußte er zur Klinik aufbrechen, aber es war nicht sehr wahrscheinlich, daß es dort viel zu tun für ihn gab. Die Menschen im Vatikan und in Nirgendsend schienen außerordentlich robuste Naturen zu sein. Seit seinem Arbeitsantritt hatte er außer Maria keinen schwerkranken Patienten gehabt. Kleinere Wehwehchen hatte es schon gegeben: ein paar Fälle von Schnupfen, einen entzündeten Zahn, jemand mit Rückenschmerzen, ein paar nervöse Mägen, ein verstauchter Knöchel, das war bisher alles. Jetzt hatte sich Maria zum zweiten Mal in den Himmel begeben. Tennyson fragte sich, was sie dazu gebracht haben mochte, ihre ursprüngliche Entscheidung zu ändern und es noch einmal zu versuchen. Zuvor hatte es immer geheißen, sie weigere sich standhaft, einen zweiten Versuch zu unternehmen. Was würde sie diesmal finden? Eine Bestätigung, daß sie tatsächlich den Himmel gefunden hatte, oder würde sie voller Zweifel zurückkehren? Es konnte nicht der Himmel sein, sagte sich Tennyson. Allein die Vorstellung war lächerlich. Die ganze Sache erinnerte ihn an die Visionen, von denen die Überlieferungen aus dem irdischen Mittelalter voll waren. Er räkelte sich auf der Couch, ohne die Flammen aus den Augen zu lassen. Jetzt mußt du bald gehen, ermahnte er sich. Es kann ja sein, daß in der Klinik Patienten auf dich warten. Der Gedanke verursachte ihm ein leichtes Unbehagen. Wieso kann mir die Vorstellung, dort von Menschen erwartet zu werden, unbehaglich sein, fragte er sich. Er richtete sich in eine sitzende Haltung auf und schüttelte den Kopf, dann blickte er 192
sich im Zimmer um. Es war niemand zu sehen, und das war keineswegs überraschend, Tennyson wußte, daß er allein im Zimmer war. Wieso hatte er dann plötzlich das Gefühl, noch jemand befände sich in diesem Raum? Er sprang auf die Füße und wirbelte herum. Jetzt stand er mit dem Rücken zum Kamin und konnte das ganze Zimmer überblicken. Er hatte damit gerechnet, daß nun aus irgendeinem Schatten eine Gestalt hervortreten würde, aber nichts dergleichen geschah. Dennoch verließ Tennyson die quälende Unruhe nicht. Der Anblick des leeren Raumes hatte keine beruhigende Wirkung. Tennyson konnte zu deutlich spüren, daß jemand oder etwas bei ihm in diesem Zimmer war. Er zwang sich zu einer Frage. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen: „Wer ist da?“ Wie zur Antwort auf seine Frage sah er etwas in der Ecke, direkt neben dem Messingstuhl bei dem Tisch mit der Marmorplatte: Das vage Flimmern von Diamantenstaub. „Du bist es also“, sagte Tennyson, und während er sprach, verschwand das Flimmern, die Stelle neben dem Stuhl war leer. Doch Tennyson spürte noch immer eine fremde Gegenwart. Das Flimmern war verschwunden, aber das Wesen, das geflimmert hatte, war immer noch da. In Tennysons Kopf wirbelten Fragen durcheinander: Wer bist du? Was bist du? Was willst du hier? Aber er sprach sie nicht aus. Er stand nur reglos vor dem Kamin und starrte in die Ecke, wo er zuletzt das Flimmern gesehen hatte. Etwas sprach in seinem Innern. „Ich bin hier“, sagte es. „Ich bin in dir. Ich bin in deinem Verstand. Möchtest du, daß ich ihn wieder verlasse?“ Es war eine sanfte Stimme (falls man es als Stimme bezeichnen konnte). Sanft und höflich. Tennyson konnte keinen Muskel bewegen. Eisiger Schrecken – oder war es gar kein Schrecken? – hielt ihn in seinem Griff. Er kämpfte um ein Wort, um 193
einen Gedanken, doch er konnte weder sprechen noch denken. Sein Verstand war genauso erstarrt wie sein Körper. „Möchtest du, daß ich dich verlasse?“ Tennyson fand seine Worte wieder. „Nein“, sagte er. Er sprach nicht mit dem Mund, sondern mit dem Gehirn. „Nein, das brauchst du nicht, aber gib mir eine Erklärung. Du gehörst zu Decker. Willst du mir etwas von Decker bestellen?“ „Ich gehöre nicht zu Decker. Ich gehöre zu niemandem. Ich bin absolut frei, aber ich bin Deckers Freund. Das ist alles, was ich bin. Ich kann mit ihm sprechen, aber ich kann kein Teil von ihm sein.“ „Du kannst ein Teil von mir sein. Wieso kannst du ein Teil von mir, aber nicht von Decker sein?“ „Ich bin Flüsterer. So nennt mich Decker. Der Name paßt so gut zu mir wie irgendein anderer.“ „Du hast meine Frage nicht beantwortet, Flüsterer: Wieso kannst du ein Teil von mir sein, aber nicht von Decker?“ „Ich bin Deckers Freund. Er ist der einzige Freund, den ich habe. Ich habe ihn lange geprüft, bis ich sicher wußte, daß er ein guter Freund sein würde. Ich habe es auch mit anderen versucht, auch die hätten meine Freunde werden können, aber sie haben mich nicht gehört und nicht erkannt. Sie haben gar nicht gewußt, daß ich da war.“ „Und dann?“ „Dann habe ich es mit Decker probiert, aber ich konnte nicht in ihn hineinkommen. Sprechen konnte ich mit ihm, das schon, aber sein Verstand blieb mir verschlossen. Du bist der Richtige, das habe ich gleich beim ersten Mal gespürt.“ „Und jetzt willst du Decker verlassen? Flüsterer, das kannst du Decker nicht antun. Ich jedenfalls werde es ihm nicht antun, ich werde ihm nicht den Freund stehlen.“ 194
„Ich werde ihn nicht verlassen. Aber kann ich in dir sein?“ „Du willst aber nicht darauf bestehen?“ „Nein, ich bestehe nicht darauf. Wenn du sagst, geh, dann gehe ich, wenn du sagst, bleib weg, dann bleibe ich weg. Aber, bitte!“ Das ist doch völlig verrückt, dachte Tennyson. Das ist nicht wahr, ich bilde es mir ein. So etwas gibt es gar nicht. Die Tür flog auf, Ecuyer stürmte ins Zimmer. „Jason!“ rief er, „du mußt sofort kommen.“ „Was ist denn los?“ rief Jason zurück. „Maria ist aus dem Himmel zurückgekehrt“, sagte Ecuyer schweratmend. „Und es geht ihr sehr schlecht.“
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26 Wieder einmal durchlebte Decker jene Minuten. Seit Jahren hatte er nicht mehr daran gedacht, aber seit kurzem, seit er zum Boot gegangen war, fiel es ihm immer wieder ein. Wie ein Filmstreifen lief die Erinnerung deutlich vor seinem inneren Auge ab, und mit jeder Wiederholung nahmen die halb verblaßten Bilder an Schärfe zu. Seine Hand tastete nach dem Metallkasten, der auf dem Schreibtisch stand, jenem Kasten, den er aus dem Boot geholt hatte. Dort war alles festgehalten, dachte Decker, dies war das automatische Logbuch des Schiffes. Aber er zögerte, den Kasten zu öffnen. Vielleicht hätte ich ihn besser im Rettungsboot liegen lassen sollen, sagte er sich, dort, wo er seit zwölf Jahren fast vergessen gelegen hatte. Was mochte ihn davon abhalten, sich das Logbuch anzuhören? Hatte er Angst, daß er dort den Schrecken wiederfinden würde? War es überhaupt möglich, daß das Buch den Schrecken aufgezeichnet hatte? Konnte er tatsächlich dort in diesem Kasten stecken, so grauenhaft und nackt, wie an jenem Tag vor vielen Jahren? Tiefe Falten gruben sich in seine Stirn, als er versuchte, sich zu konzentrieren. Er hatte das Schiff gekannt, jahrelang war er auf ihm gefahren, alle seine Eigenheiten und Tücken waren ihm vertraut. Er hatte es geliebt und war stolz auf es gewesen. In einsamen Stunden hatte er sogar mit ihm gesprochen. Und es hatte Augenblicke gegeben, wo das Schiff ihm zu antworten schien. Was das Schiff betraf, so gab es nur eine Kleinigkeit, über die Decker nicht Bescheid wußte, und das war die Qualität seiner Aufzeichnungen. Daß sie sorgfältig und klar waren, war ihm bekannt, daß sie alle bedeutungsvollen Ereignisse sorgfältig registrierten, wußte er. Sie vermaßen Positionen und Entfer196
nungen, sie errechneten Koordinaten mit minimalen Abweichungen, hielten Temperaturen, Druck, Schwerkraftwerte und chemische Prozesse fest. Wenn es irgendwo Leben gab, dann spürten die Ortungsgeräte des Schiffes es auf. Sie meldeten Gefahren, die kein Mensch vorher wahrnehmen konnte. Aber wie war es mit Gefühlen? Nahm das Logbuch auch Gefühle auf? War es möglich, daß auf den Bändern dieser überwältigende Schrecken aufgezeichnet war, der eine harte, erfahrene Mannschaft in wilder Panik in die Rettungsboote getrieben hatte? Er saß am Tisch, und seine Finger glitten über das Metall. Die Augen hatte er geschlossen, um sich besser erinnern zu können. Er suchte nach einer Sache, die sein Gedächtnis nicht zu fassen vermochte. Sie steuerten gerade die inneren Bereiche des CoonsteinSystems an, als das Schiff in eine Verwerfung geriet. Ein rätselhaftes Phänomen, Decker hatte es sich wie eine Verwerfung vorgestellt, jene berühmten unerklärlichen Risse im Raum-ZeitKontinuum, ein Riß oder eine Krümmung, durch die das Schiff in ein anderes Universum geschleudert wurde. In den Kneipen auf allen entlegenen Planeten wurden solche Ereignisse lang und breit und mit den abenteuerlichsten Ausschmückungen diskutiert. Die Erzähler beteuerten regelmäßig, daß jedes Wort ihrer haarsträubenden Berichte der Wahrheit entsprächen, aber über die tatsächliche Existenz solcher Verwerfungen sagten die Schilderungen der Fahrensmänner wenig aus. Ob nun eine Verwerfung oder nicht, jedenfalls war etwas Außergewöhnliches mit dem Schiff geschehen. Vor wenigen Augenblicken hatte es noch in schwärzester Finsternis gehangen – dieses Gefühl stellte sich beim Überlichtflug immer ein –, dann begann es plötzlich zu vibrieren und rucken und schließlich wie ein Blatt durch die unerklärlichen Gefilde jenseits der Lichtgeschwindigkeit zu trudeln. Decker erinnerte sich daran, daß er allein hinter einer der 197
Frontsichtscheiben gestanden hatte, vor sich die gestaltlose Finsternis der Außenwelt. Wie häufig war er erneut fasziniert von diesem optischen Ereignis, das sich auf keine Weise angemessen beschreiben ließ. Nur Schwärze und Nichts befanden sich jenseits der Schiffshülle. Die Schwärze aber war nicht eigentlich schwarz, sie war es nur deshalb, weil nichts anderes da war, und das Nichts war nicht dadurch entstanden, daß man irgend etwas fortgenommen hätte, sein Charakteristikum war es, daß an seiner Stelle niemals etwas gewesen war und auch niemals etwas sein würde. Viele Male schon hatte sich Decker gefragt, was diesen grenzenlos öden Anblick so anziehend für ihn machte, es war ihm aber nie gelungen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Mit einem Ruck neigte sich der Schiffsboden zur Seite, Decker verlor das Gleichgewicht. Er prallte auf das Deck und rutschte hilflos auf dem glatten Metall hin und her, während das Schiff immer wieder seine Lage veränderte. Deckers Arme ruderten durch die Luft, vergeblich versuchte er, an einem festen Gegenstand Halt zu finden. Er stieß mit der Schulter gegen eine harte Kante, doch als er mit den Händen danach griff, trat sein Körper bereits wieder eine unfreiwillige Fahrt in eine andere Richtung an. Endlich schlug sein Kopf irgendwo gegen die Bordwand, und Decker sah nichts mehr als bunte, tanzende Sterne. Wie lange er bewußtlos blieb, konnte er später nicht mehr ermitteln. Er dachte oft ohne Erfolg darüber nach. Irgendwann versuchte er, sich an einem Pilotensitz vor den Navigationsschirmen hochzuziehen. In seinem Kopf dröhnte es, und von fern waren Schreie zu hören. Die lauten Schreie erschreckter Männer, das rasende Geheul von Menschen, die so sehr vom Entsetzen gepackt waren, daß sie die Kontrolle über sich verloren hatten. Die verdammten Narren, hatte er gedacht, was ist denn nur in 198
sie gefahren? Noch während er darüber sinnierte, erfuhr er urplötzlich den Grund für das merkwürdige Verhalten seiner Mannschaft: Das Entsetzen traf ihn wie ein Keulenschlag. Der Schrecken erfüllte das Schiff bis zum Ersticken. Er hämmerte auf Decker ein, als wäre er kein Gefühl, sondern eine physische Kraft. Von irgendwo dröhnte eine sehr machtvolle Stimme, aber Decker war so sehr von Panik erfüllt, daß er die Worte nicht verstehen konnte. Das Schiff hatte zu vibrieren und rucken aufgehört. Dennoch mußte sich Decker am Stuhl festhalten, damit er nicht stürzte. Als er die Rückenlehne nur kurz losließ, gaben sofort die Beine unter ihm nach. Er warf einen Blick auf die Sichtschirme und stellte fest, daß die schwarze Leere verschwunden war. Das Schiff war in den Normalraum zurückgekehrt. Der Schrecken kam in Wellen, er schüttelte ihn und schlug mit gnadenlosen Hieben auf ihn ein. Deckers Magen verkrampfte sich. Noch immer an den Pilotensitz geklammert, beugte er sich vor und würgte. Er wollte sich erbrechen, konnte es aber nicht. Nacktes Grauen. Es war nichts zu sehen, das diesen Schrecken ausstrahlen konnte. Eine Heimsuchung aus dem Nichts. Tiefstes Entsetzen, in das sich noch immer die dröhnende Stimme aus dem Hintergrund mischte. Die Stimme richtete ihre unverständlichen Worte direkt an Decker, an ihn ganz persönlich. Wenn die Stimme für Augenblicke verstummte, konnte Decker aus weiter Ferne die kreischenden Schreie seiner Mannschaft hören, die Stimmen schienen sich von ihm zu entfernen. Die Mannschaft floh in panischem Entsetzen und ließ ihren Captain allein zurück. Decker hörte einen dumpfen Schlag, danach einen zweiten. Er kannte dieses Geräusch, es entstand, wenn ein Rettungsboot startete. Er ließ die Rückenlehne für einen Augenblick los. Seine Beine trugen ihn wieder. Ein seltsam feuchtes Gefühl am Kopf irritierte ihn. Er griff ins Haar und stellte fest, daß seine Haare naß 199
und verklebt waren. Als er die Hand wieder zurückzog, war sie rot und naß. Decker tat ein paar unsichere Schritte durch das Cockpit. Schwankend blieb er vor einem Sichtfenster stehen. Er hielt sich mit beiden Händen an dem runden Rahmen fest und preßte die Stirn gegen das Kristallglas. Unter dem Schiff erstreckte sich – viel zu nah – die Oberfläche eines Planeten. Fadendünne Straßen liefen wie die Speichen eines gewaltigen Rades in einer zentralen Nabe zusammen, die direkt vor ihm lag. Die Flugbahn des Schiffes war in einem flachen Bogen auf die Planetenoberfläche gerichtet. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis es aufschlug. Decker wußte, daß nur die anstürmenden Wellen des Entsetzens ihn daran hinderten, das schrille Pfeifen der Atmosphäre auf dem Schiffsrumpf zu hören. Deckers Leib wurde von Krämpfen geschüttelt; es war, als wollte er schrumpfen, welken wie ein vom Baum gefallener Apfel. Decker preßte sich enger gegen die Schiffswand, aber da war nichts, in dem er sich verkriechen konnte, dennoch versuchte er weiter, sich in das abweisende Metall einzubohren. Seine Finger verkrallten sich um den Lukenrahmen. Unten auf dem Planeten war das Zentrum, in dem sich die Straßen vereinigten, jetzt klarer zu sehen. Die Nabe des vielspeichigen Rades war eine Erhebung, eine Pyramide aus Felsgestein, die weit über das flache Land ihrer Umgebung hinausragte. Decker sah, daß die Straßen nicht am Fuße des Felsgebildes endeten, sondern den steilen Hang hinaufführten, immer auf das gemeinsame Zentrum gerichtet. Einen Augenblick nur konnte Decker das Zentrum des Rades betrachten. Er sah eine Ansammlung seltsamer Gebäude, die wie gewaltige Speerspitzen in den Himmel ragten, als ob sie nach dem Schiff greifen und es durchbohren wollten. Als er die Bauwerke auf dem Felsenturm erblickte, wußte er instinktiv, daß sie die Quelle dieses namenlosen Grauens waren, das ihn noch immer mit eisernem Griff umklammert hielt. Ein gequälter 200
Schrei löste sich aus seiner Kehle. Er sprang vom Sichtfenster zurück und blieb einen Moment lang unentschlossen im Cockpit des Schiffes stehen. Dann übernahm das Unterbewußtsein die Kontrolle über Decker. Jahrelanges Training hatte ihm die nächsten Schritte eingedrillt. Seine Hände griffen nach dem Auto-Logbuch. Mit geläufigen Bewegungen lösten die Finger den Kasten mit dem Aufzeichnungsband aus seiner Halterung. Decker klemmte den Kasten unter den Arm, warf sich herum und begann zu laufen. Er hatte zwei dumpfe Schläge gehört, erinnerte er sich. Wenn sein Gehör ihn nicht getäuscht hatte, dann war jetzt noch ein Rettungsboot übrig. An einen dritten Schlag konnte er sich nicht erinnern, oder hatte er ihn in seiner Panik nicht wahrgenommen? Als er sich diese Frage stellte, brach Decker der kalte Schweiß aus. Er hatte sich nicht getäuscht, es waren tatsächlich nur zwei Schläge gewesen. Das dritte Boot lag noch in seinem Hangar.
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27 Maria mühte sich, aus ihren Kissen hochzukommen. „Sie haben mich hinausgeworfen!“ schrie sie. „Sie haben mich aus dem Himmel hinausgeworfen!“ Dann sank sie wieder auf das Kopfkissen zurück. Weißer, schaumiger Speichel klebte in ihren Mundwinkeln. Ihre Augen blickten gehetzt im Zimmer umher, ohne etwas zu sehen. Die Schwester reichte Tennyson eine Spritze an, und er trieb die Nadel in Marias dünnen Arm, dann drückte er langsam den Kolben nach unten. Er gab der Schwester die leere Spritze zurück. Maria griff mit ihrer kraftlosen Hand in die Luft. Sie murmelte unablässig, hin und wieder konnte man ein paar Worte verstehen: „Groß und schwarz. Er hat mir mit dem Finger gedroht.“ Jetzt preßte sich ihr Kopf schwer in das Kissen. Die Lider schlossen sich über den verzweifelten Augen. Noch einmal hob sie eine Hand, als ob sie nach etwas greifen wollte, doch dann fiel die Hand schlaff und entspannt auf das Bett zurück. Tennyson sah Ecuyer über das Bett hinweg an. „Erzähl mir, was geschehen ist! Ich will es ganz genau wissen.“ „Als sie von ihrem Ausflug zurückkam, raste sie“, sagte Ecuyer. „Ich weiß, das ist ein seltsamer Ausdruck, aber ich kann es nicht anders bezeichnen: Sie war rasend vor Angst.“ „Kommt das häufig vor? Ist es schon mit anderen Lauschern geschehen?“ „Gelegentlich“, antwortete Ecuyer, „aber nicht häufig. Nein, eher selten. Manchmal sind sie wegen irgendeines Ereignisses sehr aufgeregt, aber in der Regel ist das eine oberflächliche Furcht, die rasch vergeht. Die Lauscher stellen fest, daß sie wieder in ihrer gewohnten Umgebung sind und es keinen 202
Grund zur Beunruhigung mehr gibt. Manchmal bleiben von besonders aufwühlenden Erfahrungen Spuren zurück. Es kann zum Beispiel sein, daß die Lauscher von ihren Erlebnissen träumen. Aber auch diese Nachwirkungen werden rasch schwächer und sind bald völlig verschwunden. So etwas wie das hier, habe ich noch nie erlebt. Marias Reaktion ist die schlimmste, die wir je beobachtet haben.“ „Sie wird jetzt eine Weile ruhig bleiben“, versicherte Tennyson. „Das Beruhigungsmittel ist sehr stark, gewiß wird sie einige Stunden schlafen. Wenn sie dann wieder aufwacht, wird sie stark benommen sein. Ihr Empfindungszentrum arbeitet nur gedämpft, auch wenn sie sich noch an die schreckliche Erfahrung erinnert, wird die Wirkung auf sie nicht allzu heftig sein. Danach müssen wir weitersehen.“ „Sie glaubt immer noch, den Himmel gefunden zu haben“, berichtete Ecuyer. „Trotz ihres Hinauswurfs ist sie davon überzeugt, daß es sich um den Himmel gehandelt hat. Darum hat es sie auch so schwer getroffen. Du kannst dir sicher vorstellen, was diese Sache für ihr Gefühlsleben bedeutet: den Himmel zu finden und aus ihm ausgestoßen zu werden.“ „Hat sie noch etwas berichtet? Ich meine mehr, als wir gerade gehört haben?“ Ecuyer schüttelte den Kopf. „Nein, nur ein paar Kleinigkeiten. Ein Mann war da, schwarz und riesenhaft. Er hat sie die Treppe hinuntergeworfen, die goldene Treppe. Sie ist über alle Stufen bis nach unten gerollt. Sie ist überzeugt davon, daß sie am ganzen Körper mit blauen Flecken übersät ist.“ „Sie ist völlig unversehrt!“ „Das weiß ich, aber sie ist davon überzeugt, am ganzen Körper zerschunden zu sein. Für sie war dieses Erlebnis völlig real. Die grausame Zurückweisung hat für sie wirklich stattgefunden.“ „Hast du dir den Würfel schon angesehen?“ 203
„Nein, noch nicht. Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll: Ich fürchte mich eigentlich davor. Auch wenn ich weiß, was mich erwartet …“ „Ich verstehe“, sagte Tennyson. „Etwas geht mir nicht aus dem Kopf und bereitet mir große Sorgen. Dieser Himmel, oder die Wesen im Himmel, oder was immer dort draußen sein mag, haben unsere Schnüffelei entdeckt. Vielleicht haben sie Marias Spur bis zu uns zurückverfolgt. Wir sollten …“ „Ich halte diese Ängste für übertrieben. Ich wüßte nicht, wie sie ihrer Spur hätten folgen können. Wieso glaubst du eigentlich, daß sie sie entdeckt haben. Körperlich war sie doch gar nicht dort.“ „Herrjeh! Ich weiß es nicht!“ seufzte Ecuyer. „Ich weiß überhaupt nichts mehr. Wir hätten sie niemals gehen lassen dürfen, wir hätten die Gefahr erkennen müssen.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, daß man sie entdeckt hat oder dem Projekt auf die Spur gekommen ist.“ „Dieser schwarze Mann, den sie für den Teufel hält – er hat sie die Treppe hinuntergestürzt.“ „Also schön“, sagte Tennyson, „vielleicht hat er das getan. Ich bin eher der Ansicht, er hatte gar nichts zu stürzen, denn Maria war ja nicht wirklich dort. Aber selbst wenn sie – gegen jede Wahrscheinlichkeit – tatsächlich dort war, und er sie bedroht hat, dann kannst du dir nicht die Schuld daran geben. Wie hättest du so etwas im voraus ahnen können?“ „Es ist absolut ungewöhnlich, daß unsere Lauscher in der Welt, die sie besuchen, irgendeine Reaktion auslösen“, sagte Ecuyer. „Normalerweise sind sie nichts anderes als Beobachter. Wenn sie ihre Beobachterrolle verlassen, dann bedeutet das immer, daß sie mit einem Einzelwesen in der fremden Welt in enge Beziehung treten. Sie treten in den fremden Verstand ein und werden ein Teil von ihm. Jason, eigentlich weiß ich nicht, 204
was sich wirklich abspielt, wenn die Lauscher an ihrem Zielort eintreffen. Ich habe es nie gewußt, und von den Lauschern kann ich es nicht erfahren. Sie können die Vorgänge nicht beschreiben. Was Maria zugestoßen ist, ist noch niemals zuvor geschehen. Wenn ein Lauscher an den Ereignissen in der fremden Welt teilnimmt, dann tut er das immer als ein Teil jener Welt, dann hat er sich zuvor in etwas anderes verwandelt, er ist nicht mehr er selbst. Aber Maria hat ihr Erlebnis als Maria gehabt. Sie selbst ist im Himmel gewesen – für sie besteht kein Zweifel, daß es tatsächlich der Himmel war – und sie hat diesen Mann getroffen, und er hat sie die Stufen hinuntergestoßen …“ „Das behauptet sie jedenfalls …“ „Ich bin davon überzeugt, daß es so war“, entgegnete Ecuyer. „Ich wette, der Würfel zeigt es genauso.“ „Natürlich wird er das“, sagte Tennyson. „Wenn sich die Sache für sie so abgespielt hat, dann wird es auch so aufgezeichnet sein. Der Würfel zeigt ja nur ihre Sicht des Ereignisses, aber kein reales Abbild der tatsächlichen Geschehnisse. Doch nehmen wir einmal an, es hat sich tatsächlich so ereignet, wie Maria behauptet, und sie ist wirklich von dieser schwarzen Gestalt die Treppe hinuntergestürzt worden, wieso nimmst du dann an, daß die Bewohner jener Welt Marias Spur hierher verfolgen können?“ „Mit der Möglichkeit muß man einfach rechnen“, erwiderte Ecuyer, „mit der Möglichkeit, daß sie uns verraten hat, natürlich ohne es zu wollen. Unsere Lauscher wissen nie, was sie am Zielort vorfinden werden. Der Mann, der Maria gestoßen hat, war möglicherweise eine völlig andere Kreatur als die, die sie erblickt hat. Vielleicht war er etwas völlig Unfaßliches, und Marias menschlicher Verstand hat ihn nur mit menschenähnlichen Zügen ausgestattet. Das kann ein Weg sein, um etwas über alle Maßen Schreckerregendes faßbar und verständlich zu machen. Maria ist eine sehr erfahrene und wertvolle Lauscherin. 205
Ich bin sicher, sie weiß genau, was sie gesehen hat, und ebenso sicher bin ich, daß sie sich instinktiv durch eine Umwandlung des beobachteten Objektes schützt, wenn sie auf eine Lebensform trifft, deren Anblick nicht zu ertragen ist.“ „Ich verstehe deine Befürchtungen immer noch nicht“, sagte Tennyson. „Die Vatikanroboter besuchen doch auch in ihren Gedankenschiffen – oder wie du sie nennen willst – die Welten, die deine Leute entdeckt haben.“ „Das stimmt“, pflichtete ihm Ecuyer bei, „aber da gibt es einen Unterschied: Die Roboter ziehen nicht blindlings los. Sie wissen genau, was sie zu erwarten haben, ihre Zielorte werden sorgfältig ausgesucht.“ Maria lag in tiefem Schlaf. Das Beruhigungsmittel hatte seine Wirkung getan. „Es wird ihr jetzt besser gehen“, erklärte Tennyson. „Das Schlimmste ist vorüber. Sie wird sich nach dem Aufwachen zwar noch an ihr Erlebnis erinnern, aber die Erinnerung wird einiges von ihrem Schrecken verloren haben. Im Moment braucht sie vor allem Ruhe. Später müssen wir versuchen, sie auf andere Gedanken zu bringen. Eventuell könnte sie als Lauscherin eine andere Welt ausspähen. Falls das nicht zu gefährlich für sie ist. Auf keinen Fall dürfen wir riskieren, daß sie noch einmal in den Himmel gerät. Wenn wir das nicht mit Sicherheit ausschließen können, mußt du sie ganz aus dem Programm herausnehmen. Wenn sie jedoch nicht mehr als Lauscherin arbeiten darf, wird sie nur noch über ihr letztes Erlebnis nachgrübeln. Es wäre das beste für sie, wenn sie eine neue Erfahrung als Lauscherin machen könnte. Ein solches Erlebnis wäre vermutlich das einzige, was ihre Erinnerungen allmählich auslöschen könnte.“ „Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll“, sagte Ecuyer. „Wenn sie wieder bei klarem Verstand ist, werden wir das Problem mit ihr besprechen.“ 206
„Es warten einige Patienten auf mich“, bemerkte Tennyson. „Ich schaue rasch nach ihnen und komme später hoch einmal vorbei.“ Es waren nur wenige Patienten, und Tennyson hatte sie schnell versorgt. Er kehrte nicht gleich zu Marias Bett zurück. Sie lag immer noch in tiefem Schlaf, und wenn etwas mit ihr nicht in Ordnung wäre, hätte ihn die Schwester längst alarmiert. Es war früher Nachmittag, und der Tag war sehr schön. Vor dem blassen Himmel zeichneten sich die Silhouetten der Berge dunkelblau ab. Als er die Berge erblickte, wußte Tennyson sofort, wo er jetzt gern sein würde: an einem Platz, wo er allein sitzen und nachdenken konnte. In den letzten Tagen, ja in den letzten Stunden noch war zuviel geschehen. All diese Ereignisse mußten einmal überdacht werden. Ganz in der Nähe gab es einen Platz, der für solche Gelegenheiten wie geschaffen war. Der Garten lag verlassen unter den Strahlen der Nachmittagssonne. Gewöhnlich begegnete man hier immer einigen Mönchen, die schweigend über die Ziegelpfade wandelten, aber jetzt war keiner von ihnen zu sehen. Tennyson lenkte seine Schritte zu der Bank bei den Rosen. Nur eine Rose war voll aufgeblüht, die blaßgelben Blütenblätter begannen an den Rändern bereits wieder zu welken, ein leichter Windstoß wirbelte einige von ihnen durch die Luft. Von seinem Platz auf der Bank aus betrachtete Tennyson die Berge. Er wunderte sich wieder einmal darüber, daß sie eine so starke Anziehungskraft auf ihn ausübten. Bald würde er auf Deckers Angebot zurückkommen und mit ihm und seinem sonderbaren neuen Freund einen Ausflug dorthin machen. Leider würden ein paar Tagesmärsche – wie sie Decker vorgeschlagen hatte – kaum ausreichen, um die Berge kennenzulernen. Vermutlich reichte diese Zeit gerade für die ersten Ausläufer. Ich muß Decker bald besuchen und mit ihm über Flüsterer 207
sprechen, sagte Tennyson zu sich. Flüsterer, dachte er, was für ein alberner Name. Was, um Himmels willen, war dieser Flüsterer eigentlich? Etwas, das in anderer Leute Geist eindringen konnte, das mit einem anderen eins werden konnte. Ich bin in dir und kann ein Teil von dir werden. Hatte Flüsterer diese Worte tatsächlich gesprochen, oder bildete er sich das nur ein, fragte sich Tennyson. Er versuchte, die ganze Angelegenheit aus seinen Gedanken zu verbannen. Es war eine beunruhigende Geschichte, auch wenn man nur an sie dachte. Wenn er mit Decker über die Sache spräche, würde er mehr wissen, bis dahin konnte er durch seine Grübelei nichts gewinnen. Sicher war Decker inzwischen bereits von Flüsterer ins Bild gesetzt worden. Ein Fuß scharrte über den Weg, Tennyson blickte auf. Der Gärtner stand neben ihm. „Ach, Sie sind es wieder“, sagte Tennyson. „Wen haben Sie denn erwartet?“ fragte der Gärtner. „Wer anderes hätte ein größeres Recht, hier zu sein. Ich gehöre hierher, und dieser Ort ist mein Besitz, oder vielmehr etwas, das einem Besitz sehr nahe kommt.“ „Ich habe Ihnen das Recht, hier zu sein, nicht streitig machen wollen“, erwiderte Tennyson. „Mir ist nur aufgefallen, daß ich Ihnen jedesmal begegne, wenn ich hierherkomme.“ „Der Garten ist sehr klein“, bemerkte der Gärtner, gab aber keine weitere Erläuterung zu diesem Satz ab. „Wann werden die Rosen wieder blühen?“ fragte Tennyson. „Ich sehe nur eine einzige.“ „Aber die ist schön. Finden Sie nicht, daß sie wunderschön ist?“ „Ja, sehr schön“, sagte Tennyson. „Ich habe zu meinem großen Bedauern gehört, daß Maria wieder erkrankt ist?“ „Ja, sie ist sehr krank.“ 208
„Mir ist zu Ohren gekommen, sie sei wieder zum Himmel gegangen.“ „Darüber weiß ich nichts“, log Tennyson. „Ich weiß nur, daß sie krank ist.“ Was geht das eigentlich den Gärtner an, dachte er.
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28 Als sie von der Erde kamen, hatten die Roboter Mäuse mitgebracht. Vermutlich war es unbeabsichtigt geschehen, aber nun waren die Mäuse da. Als Jill einmal spät in der Nacht noch arbeitete, begegnete sie der ersten. Später entdeckte sie hin und wieder auch andere Mäuse, aber die erste wurde ihre kleine Freundin. Sie kam Jill in langen, einsamen Stunden besuchen, beobachtete sie aus einem Versteck hinter einem Bänder- oder Würfelstapel. Die weichen runden Ohren waren hoch aufgestellt, damit ihnen nicht der kleinste Laut entging, das rosafarbene Näschen schnüffelte ohne Unterlaß. Wenn sich die Maus vergewissert hatte, daß die Luft rein war und keine unmittelbare Gefahr drohte, trat sie zögernd ins Freie. Vorsichtig witternd kam sie näher und nahm mit den winzigen Vorderpfoten ein Stück Brot oder Käse vom Boden auf. Dann setzte sie sich aufrecht auf ihre Hinterbacken und begann zu knabbern, der dicke runde Bauch wölbte sich nach vorn, der Schwanz war in einem dekorativen Bogen auf dem Boden drapiert. Während sie fraß, ließ die Maus Jill keine Sekunde aus den Augen, sondern starrte sie aus schwarzen Knopfaugen unentwegt an. Jill sprach mit der Maus, sie redete sehr leise, denn normale menschliche Lautstärke erschreckte das Tier zutiefst. Kleiner Flüchtling nannte sie sie, kleiner Flüchtling von der Erde. Wenn die Maus nicht zu sehr mit ihrem Käse beschäftigt war, dann stieß sie gelegentlich zur Antwort einen leisen Quietschton aus, ein freundlicher Laut, der bedeuten sollte, daß die Maus Jills Zuneigung erwiderte. Anfangs hatte Jill oft an den Schaden denken müssen, den gefräßige Mäuse in einer Bibliothek anrichten konnten, doch nachdem sie die Bibliothek besser kennenlernte, schwand ihre 210
Sorge langsam. Die kostbaren Bücher von der Erde waren alle sicher in Glasschränken untergebracht, und die Bänder und Würfel wurden in Stahlschränken aufbewahrt. Sogar die Schreibpapiervorräte wurden in Metallkästen gelagert. In diesen Räumen gab es nur wenig, was der Freßlust einer Maus zum Opfer fallen konnte. Überhaupt gab es nicht viele Mäuse in der Bibliothek, alles in allem vielleicht ein Dutzend, und mit Ausnahme ihrer kleinen Freundin, die regelmäßig zu den Mahlzeiten auftauchte, bekam Jill die Nager kaum zu Gesicht. Wenn ihr kleiner Gast seinen Bissen verzehrt hatte, verschwand auch er. Dieser Vorgang verblüffte Jill immer wieder. Der Aufbruch der Maus kündigte sich vorher nicht durch unruhiges Hinundherlaufen an. Sie verzehrte einfach ihren Brot- oder Käsebissen und verschwand. Nicht ein einziges Mal hatte Jill beobachten können, wohin sich die Maus so urplötzlich zurückzog. Zunächst dachte Jill sich nichts dabei. Es interessierte sie kaum, woher die Maus kam und wohin sie ging. Doch im Laufe der Zeit änderte sich ihre Einstellung. Nun wollte sie mit einemmal wissen, wie die Maus es anstellte, so schnell und so spurlos zu verschwinden. Jill begann das Tier genau zu beobachten. Gelegentlich ärgerte sie sich über ihre Neugier. Selbst wenn sie dem Geheimnis der Maus auf die Spur kam, was hatte sie schon davon? Also beschwichtigte sie ihre Neugier und beschloß, keine Zeit mehr auf dieses alberne Rätsel zu verschwenden. Und doch ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie darauf wartete, daß die Maus ihren Käse verspeiste und den geheimnisvollen Rückzug antrat. Eines Abends sah Jill, wohin die Maus tippelte. Sie verschwand einfach irgendwo in der holzgetäfelten Wand gegenüber dem Arbeitstisch. Den Schwanz steil aufgerichtet, lief sie in gerader Linie auf die Wand zu, so als ob sie einem alten ausgetretenen Pfad folgte. (Natürlich gab es dort keinen Pfad, nicht einmal einen Mäusepfad.) Wenn die Maus die Wand 211
erreichte, hastete sie, ohne ihr Tempo zu mindern, einfach hindurch. Verdutzt erhob sich Jill von ihrem Platz am Schreibtisch. Ohne den Blick von der Stelle zu lösen, wo sie die Maus zuletzt gesehen hatte, ging sie zu der Wand hinüber. Sie ließ sich auf die Knie fallen und strich mit den Fingern über die Unterkante der Holztäfelung. Da war kein Mauseloch, oder? Das Holz schloß glatt mit dem Boden ab. Halt! Ihr Zeigefinger fand eine Vertiefung, einen kleinen Spalt, nicht mehr als zwei Zentimeter breit. Er war von ihrem Platz aus nicht zu sehen gewesen, aber vermutlich war er groß genug, um eine Maus hindurchzulassen. Die Ritze zwischen Vertäfelung und Boden war nur etwa zehn Zentimeter lang. Rechts und links von ihr schlossen Boden und Wand glatt miteinander ab. Vielleicht war an dieser Stelle der Fußboden ein wenig abgesackt und die kleine Öffnung auf diese Weise entstanden. Sie schob zwei Finger durch den Spalt, krümmte sie und betastete die Rückseite der Holzvertäfelung. Während sie dies tat, beschlich sie ein seltsames Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Sie faßte kräftiger zu und zog an dem Holz. Unter lautem Knarren öffnete sich eine kleine Tür in der Holzvertäfelung. Dahinter befand sich ein winziger Raum, eine Art großer Wandschrank. An einem Haken hing eine ausgebleichte Robe, das Gewand eines Kardinals. Unter der purpurfarbenen Robe stand ein Paar einfacher Sandalen, daneben ein Papierkorb. Das war alles: die Robe, die Sandalen und der Papierkorb. Die kleine Kammer stank intensiv nach Mäusekot. Jill zog den Papierkorb aus dem Wandschrank und schloß die Tür wieder. Sie setzte sich auf ihren Stuhl am Schreibtisch und machte sich daran, den Inhalt des Papierkorbs zu untersuchen. Fast bis zum Rand war er mit zusammengeknülltem Papier gefüllt. Auf dem Boden befand sich ein großes Mäusenest aus zerkauten 212
Papierresten, ein Nest, das vermutlich schon von vielen Mäusegenerationen benutzt worden war und im Laufe der Zeit beeindruckende Ausmaße angenommen hatte. Alle unbeschädigten oder teilweise beschädigten Papierreste breitete Jill auf der Schreibtischplatte aus. Als sie diese Arbeit beendet hatte und im Korb nur noch das Mäusenest übriggeblieben war, begann sie, die Papiere eins nach dem anderen zu studieren. Ihr Inhalt war von einer enttäuschenden Alltäglichkeit. Viele Blätter waren mit mathematischen Formeln bedeckt, die äußerst uninteressant schienen. Ein anderes Blatt enthielt eine Liste mit anstehenden Erledigungen, von denen ein großer Teil durchgekreuzt worden war. Jill fand auch eine Reihe von kurzen, persönlichen Notizen, die in einer völlig unleserlichen Schrift abgefaßt waren. Unter den Fundstücken war der Beginn eines Briefes, nur wenige Zeilen lang: Eure Eminenz, in den letzten Tagen habe ich häufig über die Angelegenheit nachgedacht, die wir im Garten so ausführlich besprochen haben, und ich bin zu einer Entscheidung gelangt … Danach riß der Text ab, das Blatt war achtlos zerknüllt worden. Eine Seite trug die Überschrift: Seiner Heiligkeit zur wohlgefälligen Beachtung, aber der Rest der Seite war leer. Eine rätselhafte Liste war auch unter den Fundstücken: 600 Scheffel Weizen; 3 Klafter gutes, festes Holz, das lange brennt; 150 Pfund der besten Kartoffeln; 7 Eimer Honig … Damit war auch diese Liste beendet. Auch die anderen Blätter waren wenig aufschlußreich. Vielleicht enthielten sie interessante Informationen für jemanden, der bereit war, sich in Ruhe mit ihnen auseinanderzusetzen, und der auch die Umstände kannte, unter denen sie entstanden waren, doch dazu hatte Jill nicht die Zeit, und vermutlich war auch dann der größte Teil der Schriftstücke nur belangloses Zeug. Jill ordnete ihre armseligen Schätze zu säuberlichen Papierstapeln auf dem Tisch. Vorher strich sie jedes einzelne Blatt mit 213
den Handballen glatt. Eines Tages, sagte sie sich, werde ich alle diese Blätter noch einmal genau untersuchen, vielleicht enthalten sie doch verschlüsselte Mitteilungen, die mir ein Geheimnis des Vatikans verraten. Bei diesem Gedanken zuckte sie heftig zusammen. Ihr war ein plötzlicher Schauer über den Rücken gelaufen. Mit einemmal war ihr klargeworden, wie sehr ihre Arbeit schon Besitz von ihr ergriffen hatte. Nun war es soweit mit ihr gekommen, daß sie bereits wertlose Papierfetzen sammelte mit dem Hintergedanken, sich ihnen eines Tages ausgiebig zu widmen, nur weil sie die schwache Hoffnung boten, ein winziges Geheimnis des Vatikans aufzuhellen. Jill hatte sich weit von ihrer ursprünglichen Einstellung zu ihrer Aufgabe entfernt, das merkte sie nun in aller Deutlichkeit. Eigentlich hatte sie sich mit dem Studium der Vatikangeschichte nur die Zeit bis zu ihrer Abreise verkürzen sollen, gleichzeitig bot sich eine gute Gelegenheit, in diesen Archiven Material für ihr Buch zu sammeln. Jason hatte sie gewarnt. Du wirst nicht mehr davon loskommen, hatte er gesagt, du wirst so sehr von deiner Arbeit in den Bann gezogen werden, daß du dich nicht mehr davon befreien kannst. Jetzt hing Jason genauso an der Angel wie sie selbst, das stand fest. Allerdings hatte Jason auch nie behauptet, daß er in nächster Zukunft den Planeten verlassen wollte. Sie war es gewesen, die den Plan gehabt hatte, Nirgendsend sofort wieder den Rücken zu kehren, wenn man ihr nicht gestattete, ihre Reportage zu schreiben. Falls sie jetzt eine Gelegenheit bekäme, den Planeten zu verlassen, würde sie diese ergreifen, fragte sie sich und versuchte aufrichtig zu sein. Sie stellte fest, daß sie auf diese Frage keine Antwort geben konnte. Sie wandte sich wieder den Blättern zu, entschlossen, ihre Suche rasch zu beenden. Unter den letzten Zetteln fand sie einen kleinen Stoß Papierbögen, die mit einer Klammer aneinandergeheftet waren. Die Seiten waren in einer schrecklich altmo214
dischen Handschrift beschrieben; Jill konnte den Text nur mit Mühe entziffern: Ich, Enoch, Kardinal, habe diese inoffizielle Notiz in dem Bewußtsein für mich persönlich abgefaßt, daß sie nicht in den offiziellen Bericht aufgenommen wird, da der Vorfall, auf den ich mich beziehe, ebenfalls nicht in den offiziellen Bericht aufgenommen wurde. Diese Auslassung ist vorsätzlich geschehen. Ich schreibe diese Notiz in erster Linie als eine Warnung an mich selbst, obwohl sie auch anderen zur Warnung dienen kann, wenn ich mich einmal entschließe, sie weiterzugeben. (Zur Zeit verspüre ich allerdings keine Neigung, mein Wissen mit irgend jemandem zu teilen.) Ich schreibe dies nicht, weil ich mich davor fürchte, vergeßlich zu werden, denn ich leide nicht unter Vergeßlichkeit – seit vielen Jahrhunderten habe ich nichts vergessen –, sondern weil ich meine Gefühle in Worte fassen (falls man das, was diese Sache bei mir auslöst, Gefühle nennen kann) und meine Furcht festhalten will, bevor die Zeit meine Eindrücke abgemildert und gedämpft hat. Ich möchte es einen Vorfall nennen, denn mehr war es nicht, nur ein belangloser Vorfall. Seine Folgen könnten allerdings höchst bedeutungsvoll werden. Lange Zeit haben wir uns auf unserer isolierten Welt sicher gefühlt. Der Planet liegt am äußersten Rand der Galaxis, in einer Gegend, in der es nur wenige Sterne gibt, und unsere Sonne ist so durchschnittlich, daß sie kein Interesse erregen dürfte. Aber seit es diesen Vorfall gegeben hat, halte ich unsere Sicherheit nicht mehr für unbedingt gewährleistet. Keiner meiner Gefährten hat sich – zumindest mir gegenüber – so geäußert, als ob er meine Befürchtungen teilen würde, und ich selbst habe streng darauf geachtet, daß man auch mir meine Sorge nicht anmerkt. Weil ich also zögere, mich jemandem anzuvertrauen (über den Grund meines Verhaltens bin ich mir selbst nicht im klaren) 215
und weil ich befürchte, daß mit dem Verstreichen der Zeit meine Furcht allmählich erlahmt (diese Furcht, die ich für wertvoll halte), schreibe ich diese Notiz. In zukünftigen Tagen soll sie mir eine Mahnung sein und mich daran erinnern, daß ich diese Furcht hegte, eine Furcht, die ich für begründet halte und die bei unseren Planungen berücksichtigt werden muß. Gestern waren Fremde auf unserem Planeten. Die Besucher ähnelten keinem der Wesen, die unsere menschlichen Lauscher je gesehen haben. Viele von uns werden – dessen bin ich mir sicher – die Wesen gar nicht gesehen haben, weil sie dachten, die Blasen seien das Wesentliche. Ich, der ich die Passagiere in den Blasen gesehen habe, weiß, daß die Blasen nur eine Art Luftfahrzeuge waren. In einem jener Augenblicke, in denen ich die Insassen wahrnahm, stand ich einer Kreatur, die aus der Blase spähte, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich weiß genau, ich sah ein Gesicht, und dieses Gesicht ähnelte weder einem Robotergesicht noch einem menschlichen Antlitz, eher schon erinnerte es an ein Rauchwölkchen in einer leichten Brise. Dabei bin ich mir sicher, daß es sich nicht um Rauch, sondern um ein Gesicht handelte, auch wenn es nichts mehr war als ein verwehtes Nichts. Es war ein bewegliches Gesicht, verformbar wie Badeschaum und fähig, viele verschiedene Formen anzunehmen. Niemals werde ich den Ausdruck auf diesem fremden Antlitz vergessen, das aus einer Entfernung von nicht mehr als zehn Metern auf mich herabstarrte. Es trug einen höhnischen Zug, verächtliche Amüsiertheit fast, als ob es in einen Schweinekoben hinabblicken würde. Als ich diesen Ausdruck äußerster Verachtung wahrnahm, erstarrte ich innerlich. Ich fühlte mich wie ein erbärmlicher Wurm, ich verspürte großes Mitleid mit mir selbst und den meinen, mit meiner Gesellschaft, die durch ihren degenerierten Lebenswandel eine unendliche Schuld auf sich geladen hatte. Vermutlich waren es zwölf Blasen, doch niemand hatte die 216
Nerven bewahrt, sie zu zählen. Sie waren plötzlich da und ebenso schnell wieder verschwunden. Der ganze Besuch mag zehn Minuten gedauert haben, vielleicht nicht einmal so lange. Sie erschienen und verschwanden. Urplötzlich tauchten sie aus dem Nichts auf, und dorthin zogen sie sich auch unvermittelt wieder zurück. Sie kamen und warfen einen kurzen Blick auf uns; wenig Zeit waren wir ihnen wert. Vermutlich hielten sie es nicht für nötig, länger zu bleiben. Bestimmt verfügten sie über die Fähigkeit, in kürzesten Zeitspannen ungeheuer viel wahrzunehmen. Amüsiert und herablassend haben sie auf uns heruntergestarrt, dann wußten sie, wer wir waren und was wir taten. Anschließend versahen sie uns mit dem Vermerk, daß wir die Mühe einer eingehenden Beschäftigung nicht wert sind. Es mag sein, daß sie keine Gefahr für uns darstellen, doch nun haben sie uns entdeckt, und wir wissen es. (Zumindest ich weiß das.) Auch wenn sie uns auf ihrer Liste als uninteressant abgehakt haben, so wissen sie doch, daß es uns gibt, und ich kann mich nicht mehr sicher fühlen. Denn sie sind sich unserer Existenz bewußt, und selbst wenn sie nichts gegen uns unternehmen, bedeutet bereits die Tatsache ihrer Erkenntnis eine Gefahr für uns. Wenn sie uns bei einem routinemäßigen Beobachtungsflug entdeckt haben (auch wenn sie ihre Zeit nicht mit uns verschwenden wollen), dann mag es andere geben (dann wird es gewiß andere geben), die uns – aus welchen Gründen auch immer – bewußt aufsuchen werden. Wir haben versucht, unsere Sicherheit in Abkapselung und Isolation zu suchen. Wir haben die Pilger nicht nur geduldet, sondern sogar ermutigt, nicht so sehr wegen des Geldes, das sie bringen, sondern wegen des Hintergedankens, die Pilger könnten als Tarnung für uns dienen: Wird man einmal auf uns aufmerksam, dann werden die Pilger den Anschein erwecken, daß wir nichts weiter sind als eine armselige Sekte unter vielen. 217
Niemand wird sich dann mehr für uns interessieren. Doch vielleicht haben wir uns getäuscht und nun … An dieser Stelle brach der Text ab. Jill strich die zerknitterten Blätter vorsichtig mit dem Handballen glatt, faltete sie zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Sie hatte noch nie etwas aus der Bibliothek hinausgetragen, doch heute hatte sie vor, genau dies zu tun. Enoch Kardinal Theodosius, dachte sie, dieser pummelige alte Roboter, wie war es möglich, daß er diese Zeilen niedergeschrieben hatte? Ein scharfsinniger Geist steckte in dem Metallschädel. Sie hatte den Kardinal unterschätzt.
218
29 Decker jätete das Unkraut in seinem Garten. Das kleine Stück Land machte einen ordentlichen Eindruck auf Tennyson. Die Gemüsepflanzen standen in strammen Reihen. Decker zog die Hacke mit gelassener Ruhe durch den Boden. Tennyson trat an das Gartentor und wartete. Als Decker ihn nach einer Weile erblickte, schulterte er die Hacke und ging durch die Reihen auf ihn zu. „Wir wollen uns in den Schatten setzen“, schlug er Tennyson vor. „Es ist heiß hier draußen im Garten.“ Er ging voran zu einer Stelle unter zwei großen Bäumen, wo zwei einfache Holzstühle neben einem niedrigen Tisch standen. Auf der Tischplatte war ein Blechgefäß abgestellt. Decker griff nach dem Blechtopf. „Es ist nur Wasser“, erklärte er. „Vermutlich ist es warm, aber es ist wenigstens naß.“ Er hielt Tennyson den Topf hin, doch dieser schüttelte den Kopf. „Du bist zuerst an der Reihe, du hast gearbeitet.“ Decker nickte und setzte den Topf an die Lippen, trank und gab das Gefäß an Tennyson weiter. Das Wasser war lau, aber, wie Decker vorhergesagt hatte, es war naß. Tennyson stellte den Napf auf den Tisch zurück und ließ sich gegenüber von Decker in den Stuhl fallen. „Ich nehme mir immer einen Topf voll Wasser mit hinaus in den Garten, wenn ich arbeite“, sagte Decker. „Schließlich kann ich nicht jedesmal, wenn ich Durst bekomme, ins Haus zurückgehen.“ „Ich hoffe, ich störe dich nicht bei der Arbeit?“ sagte Tennyson. „Falls du noch eine zweite Hacke hast …? Ich kann einigermaßen damit umgehen.“ „Nein, du störst mich nicht. Im Gegenteil, du lieferst mir einen guten Grund, meine Arbeit zu unterbrechen. Eigentlich verschönere ich den Garten nur, das Hacken ist noch gar nicht nötig.“ 219
„Ich muß dir unbedingt etwas sagen“, begann Tennyson. „Ich weiß nicht, ob wir beide Freunde sind. Das hängt davon ab, wie man das Wort Freund definiert …“ „Laß uns davon ausgehen, daß wir Freunde sind“, unterbrach ihn Decker, „zunächst einmal, jedenfalls.“ „Es geht um Flüsterer.“ „Also ist er zu dir gekommen?“ „Ja, das stimmt. Woher weißt du davon?“ „Ich habe fest damit gerechnet. Er war geradezu fasziniert von dir. Das hat er mir selbst gesagt. Da habe ich mir sofort gedacht, daß er dich heimsuchen wird.“ „Er hat mehr getan, als mich heimzusuchen. Er wurde – wie soll ich es ausdrücken – ein Teil von mir. Er kam in meinen Verstand. Er hat behauptet, er sei ein Teil von mir gewesen. Ich selbst weiß es nicht genau. Die ganze Sache hat nicht lange gedauert.“ „Hast du ihn hinausgeworfen?“ „Nein, er hat versichert, daß er mich sofort verlassen würde, wenn ich ihn dazu aufforderte. Er hat sich sehr höflich verhalten.“ „Was ist geschehen?“ „Er war plötzlich verschwunden. Unmittelbar danach kam Ecuyer in mein Zimmer gestürzt. Maria ist aus dem Himmel zurückgekehrt. Seitdem ist sie völlig verwirrt.“ „Was ist Maria zugestoßen?“ „Wir kennen ihre ganze Geschichte noch nicht. Sie hatte unglaubliche Angst, bisher ist sie noch nicht wieder bei klarem Verstand.“ „Dann erscheint es mir unwahrscheinlich, daß sie tatsächlich im Himmel war.“ Tennyson schüttelte hilflos den Kopf. „Wir wissen einfach nicht genug darüber, um uns einen Reim auf ihr Verhalten machen zu können. Ich möchte noch einmal auf Flüsterer zurückkommen: Ich habe ihm gesagt, daß er zu dir gehört und ich nicht die Absicht habe, ihn zu stehlen.“ 220
„Ich weiß nicht, ob er zu mir gehört. Ich glaube, es verhält sich nicht unbedingt so. Wir sind Freunde, das ist alles. Es ist eine lange Geschichte. Jahrelang ist er mir auf die Nerven gegangen, hat seine Spielchen mit mir getrieben, eine verflixte Angelegenheit. Er ist meiner Spur gefolgt und hat mir aufgelauert, wenn ich durch die Wälder gestreift bin. Hat mich herausgefordert, wollte unbedingt, daß ich Jagd auf ihn mache. Gesprochen hat er auch, aber nicht mit einer Stimme. Es waren Worte in meinem Kopf. Vermutlich weißt du, was ich meine?“ „Ja, er hat auch mit mir gesprochen.“ „Zuerst habe ich ihn mir als blutrünstige Bestie vorgestellt. Ein streunender Menschenfresser mit einem perversen Sinn für Humor. Einige Male hatte ich ihn erspäht, zumindest hatte ich es mir eingebildet. Ich hatte ihn deutlich im Visier, aber ich habe den Abzug nicht betätigt. Ich weiß nicht, warum ich es nicht getan habe. Vermutlich hatte ich damals bereits Gefallen an dem Halunken gefunden. Es gab Tage, da hätte ich ihn mit Freuden erschlagen, nur um ihm endlich das Maul zu stopfen, verstehst du? Um ihn endlich los zu sein. Aber wenn sich einmal eine Gelegenheit bot, dann konnte ich den Abzug nicht betätigen. Später hat er behauptet, daß er mich nur getestet habe, er wollte sich vergewissern, ob er mir als Freund trauen konnte. Daß ich nicht geschossen habe, scheint ihn überzeugt zu haben, denn schließlich hat er sich mir gezeigt, und statt einer mordlustigen Bestie manifestierte er sich als Geflimmer aus Diamantenstaub.“ „Und seit damals hat er bei dir gelebt?“ „Er kommt und geht. Rein und raus. Hast du die Steine auf dem Tisch gesehen?“ „Ja, ich habe sie bemerkt.“ „Flüsterer hat sie geschliffen. Wie er es macht, weiß ich nicht. Ich habe das Gefühl, daß er Moleküle manipulieren kann. Er zerlegt sie, entfernt sie von den Stellen, an denen sie ihn stö221
ren. Ob diese Erklärung zutrifft, weiß ich nicht, vielleicht ist sie völlig aus der Luft gegriffen. Er hilft mir beim Steinesuchen. Auch wie er das macht, weiß ich nicht. Irgendwie spürt er sie auf und sagt mir, wo ich nach ihnen suchen soll. Wenn ich sie aufgesammelt habe, wählt er sich einige aus, die er bearbeiten will.“ „Aber du sprichst doch mit ihm. Du könntest ihn fragen, er könnte es dir sagen.“ „Ich glaube nicht, Jason. Unsere Unterhaltungen spielen sich nicht auf hoher Ebene ab. Einmal hat er mir ein sonderbares Gefühl bereitet. Nach dem, was du mir erzählt hast, kann ich mir vorstellen, was es war. Er hat versucht, in meinen Verstand einzudringen, er hat es versucht, aber es ist ihm nicht gelungen.“ „Ja, das könnte stimmen“, bemerkte Tennyson. „Er hat mir erzählt, daß er es bei dir probiert hat.“ „Aber er kann doch in deinen Verstand eindringen?“ „Woher soll ich das genau wissen, Tom? Er hat behauptet, daß er sich in meinen Verstand geschlichen hat, aber ich kann nicht beschwören, ob es tatsächlich so war. Nur seine Behauptung spricht dafür. Wenn er in mir war, dann hat es nicht lange gedauert. Nur eine oder zwei Minuten, dann kam Ecuyer dazwischen. Ich weiß nicht, was ich von Flüsterers Art halten soll. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, daß er in meinem Kopf herumgeistert. Ich habe genug mit mir selbst zu tun und bezweifle, ob ich Platz für zwei Personen bieten kann.“ „Ich glaube kaum, daß du etwas zu befürchten hast“, sagte Decker. „Er ist ein freundlicher kleiner Kerl. Nur seine Einsamkeit macht ihm zu schaffen. Darüber habe ich ihm ein wenig hinweghelfen können. Er hungert nach Freundschaft. Ich bin – oder war – der einzige Freund, den er hat. Es ist sonderbar, daß ich so etwas wie Freundschaft für ihn empfinde. Irgendwie erscheint es fast unmöglich, daß ein Mensch für ein 222
Staubwölkchen Freundschaft empfinden kann. Ich spüre das Fremde in ihm, aber es stößt mich nicht ab. Ich weiß nicht, wer er ist …“ „Gerade das wollte ich dich fragen. Ich hatte gehofft, du …“ „Ich habe ihn nie gefragt. Das geht dich nichts an, habe ich mir gesagt. Er selbst hat es mir nie erzählt. Anfangs hatte ich angenommen, daß er sich mir eines Tages anvertrauen würde, aber das ist nie geschehen. Vielleicht ist es zu kompliziert, um es zu beschreiben. Ich habe viel über seine Existenz spekuliert, aber ich habe mir nie wirklich einen Reim darauf machen können.“ „Also hast du nichts dagegen, wenn ich ihn in meinen Verstand einlasse? Wenn ich ihm befehle, draußen zu bleiben, wird er es tun, das weiß ich genau.“ „Nein, ich habe nichts dagegen“, erwiderte Decker, „wenn du keine Einwände und keine Angst davor hast. Wenn er einmal in dir ist, wird er dir womöglich Dinge erzählen, die für uns beide sehr wertvoll sind. Er ist schon seit langer Zeit auf diesem Planeten. Er muß schon vor dem Vatikan hiergewesen sein. Vielleicht kann er uns Wissenswertes über den Vatikan berichten. Ich weiß, daß er sich für ihn interessiert, dauernd schnüffelt er irgendwo dort herum. Bisher scheint er allerdings nicht allzu viel Erfolg gehabt zu haben.“ Decker erhob sich aus seinem Stuhl. „Darf ich dir etwas zu trinken anbieten, falls ich etwas Passendes finde?“ „Ich habe nichts dagegen.“ „Dann warte hier einen Augenblick auf mich. Ich werde im Haus nachsehen. Der Tag ist zu schön, um in der Stube zu sitzen.“ „So ist es“, bestätigte Tennyson. Nachdem Decker gegangen war, räkelte sich Tennyson behaglich in seinem Stuhl und betrachtete die Umgebung. Vor ihm erstreckte sich das Gartenland, dahinter ein lichter Wald. Weit in der Ferne ragten die Berge hinauf ins Himmelsblau. 223
Über allem lag eine friedvolle Stimmung. Irgendwo schlug ein Vogel ein zaghaftes Liedchen an, und eine sanfte Brise ließ die Blätter leise rascheln. Der Sonnenschein selbst sprach von Frieden und Ruhe. Zu seiner Linken konnte Tennyson die Vatikangebäude sehen. Grau und weiß verschmolzen sie mit dem Hintergrund. Sie wirkten unauffällig, geradezu bescheiden und schienen sich dafür entschuldigen zu wollen, daß sie in diese Welt eingedrungen waren. Ein ruhiges Unternehmen in einer stillen Welt, dachte Tennyson; hier ließ es sich leben. Dort drüben war Jill in der Bibliothek an der Arbeit. Er versuchte, die einzelnen Gebäude deutlicher in den Blick zu fassen, um die Bibliothek genauer zu lokalisieren, aber es war ihm unmöglich, ein Gebäude von dem anderen zu unterscheiden. Aus dieser Entfernung bildeten sie eine einzige, dunstige Form. Jill arbeitete zu hart, dachte Tennyson. Sie verbrachte zuviel Zeit über diesen Berichten. Inzwischen war sie von ihrer Aufgabe geradezu besessen. Seit langem schon hatte sie nicht mehr erwähnt, Nirgendsend verlassen zu wollen, Tennyson beschwor ihr Bild vor seinem inneren Auge: das angestrengte Gesicht im Lampenlicht, während sie ihm berichtete, was sie am letzten Tag herausgefunden hatte, wie sie ihre Beobachtungen mit ihm erörterte und Überlegungen mit ihm teilte. Und immer war da diese häßliche rote Narbe auf ihrem Gesicht, ein Stigma, das Tennyson zwar nur noch selten bemerkte, aber für das er Jill dennoch immer bedauerte. Er war so tief in seine Gedanken an Jill versunken, daß er zusammenschrak, als Decker mit einem vernehmlichen Bums eine Flasche und zwei Gläser auf den Tisch stellte. „Laß es dir schmecken“, sagte er. „Dies ist der Rest aus der Flasche, die du mitgebracht hast, aber Charley wird in zwei oder drei Tagen hier sein. Dann kann ich meinen Bestand auffüllen.“ 224
„Du bist nicht auf Charley angewiesen, ich werde dir bei Gelegenheit noch ein paar Flaschen besorgen. Ecuyer hat sich einen heimlichen Vorrat angelegt, mehr Flaschen, als du und ich leeren können.“ Decker seufzte. „Ich habe gerade gesagt, daß Charley in drei Tagen hier sein wird, aber es schien dich nicht die Bohne zu interessieren. Soll das bedeuten, du legst keinen Wert darauf, mit ihm von hier wegzufliegen?“ „So bald noch nicht“, entgegnete Tennyson. „Auf Wansttritt wird man sich noch gut an mich erinnern. Möglicherweise warten einige finstere Gestalten am Raumhafen auf mich. Auch wenn dem nicht so wäre, würde ich nicht abreisen, glaube ich. Jetzt jedenfalls noch nicht.“ „Wie ist es mit Jill?“ „Sie wird wahrscheinlich auch noch eine Weile hierbleiben. Die Geschichte des Vatikans hat sie offensichtlich völlig in ihren Bann gezogen.“ „Ihr beide macht gerade die gleichen Erfahrungen, die auch ich einmal gemacht habe“, erklärte Decker. „Nirgendsend ist ein annehmbarer Planet, angenehmes Klima, fruchtbarer Boden. Niemand schikaniert irgend jemanden. Das ist das Beste von allem hier: Niemand wird herumgestoßen.“ „Darum bist du geblieben?“ „Ja, das war einer meiner Gründe. Ein anderer Grund ist, ich lebe ein paar hundert Jahre nach meiner Zeit. Irgendwann werde ich dir die ganze Geschichte erzählen, wenn ich in Stimmung bin und du genügend Zeit hast. Der Kern der Sache ist folgender: Ich mußte mein Schiff verlassen. Meine Mannschaft hat sich abgesetzt und mich im Stich gelassen. Irgendwie, vielleicht in ihrer Panik, haben meine Männer ein Rettungsboot zurückgelassen. Bestimmt haben sie es nicht für mich getan, da bin ich mir sicher, vermutlich waren sie in einer solchen Eile, daß sie es einfach übersahen. Ich bin eingestiegen und wurde in 225
Kälteschlaf versetzt. Das Boot hat mich hierhergebracht, es hat einfach einen Planeten ausfindig gemacht, auf dem ich überleben konnte, aber als es hier landete, waren einige Jahrhunderte verstrichen. Ich bin ein Anachronismus, weit hinter meiner Zeit zurück. Ich kann nicht in die Galaxis zurückkehren, auf meiner Heimatwelt würde ich mich nicht mehr zurechtfinden. Hier spielt das keine Rolle. Die meisten Menschen, die hier leben, sind genauso überholt wie ich. Und die Roboter, ach du liebe Güte! In vieler Hinsicht haben sie sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt, seit sie vor einem Jahrtausend hierhergekommen sind. In anderer Beziehung sind sie uns vielleicht Millionen Jahre voraus. Mit ihren Gehirnen durchkämmen sie die Galaxis, wahrscheinlich sogar das ganze Universum.“ „Hast du eine Ahnung, was sie wirklich im Schilde führen?“ „Nein, keinen blassen Dunst. Was sie auch vorhaben mögen, sie sind schweigsam wie Austern.“ „Und außerdem haben sie Angst. Jill hat eine Notiz gefunden, die einer der Kardinäle niedergeschrieben hat. Ohne Datum, also kann man nicht mehr ermitteln, aus welcher Zeit sie stammt. Es geht um eine Meute von Fremden, die in Blasenschiffen hierhergekommen sind. Höchstwahrscheinlich auf einem Erkundungsflug. Sie waren nicht einmal eine Stunde hier, aber dem Kardinal ist der Schrecken in die blechernen Glieder gefahren.“ „Dieser Besuch ist fast schon eine Legende“, berichtete Decker. „Er muß viele Jahre zurückliegen. Der Tag, an dem die Blasen kamen. Die ganze Sache klingt wie ein altes Volksmärchen, aber diese Notiz scheint ja zu beweisen, daß mehr daran sein könnte.“ „Wieso sind die Roboter deswegen so erschrocken gewesen? Die fremden Besucher haben nichts Böses getan, sie haben sich nicht lange aufgehalten.“ „Du mußt dir eines klarmachen“, erwiderte Decker. „Ein Roboter ist kein Abenteurer. Er setzt immer auf den Durch226
schnitt; er geht nie ein Risiko ein; er ist immer vorsichtig. Das ist ein Hauptunterschied zwischen Mensch und Roboter. Ein Mensch setzt bisweilen alles auf eine Karte und riskiert Kopf und Kragen, alles oder nichts! Ein Roboter tut das niemals. Möglicherweise fußt sein Minderwertigkeitskomplex auf dieser Eigenschaft. Er führt große Reden, vollbringt gelegentlich große Taten, ist aber niemals wirklich groß. Meistens backt er kleine Brötchen. Er hat Angst vor seinem eigenen Schatten. Die Vatikanroboter haben hier gute Arbeit geleistet. Auf diesem Planeten gibt es nicht viel, vor dem sie sich fürchten müßten.“
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30 John, der Gärtner, stieg viele steinerne Treppenfluchten unter dem Vatikan hinab und gelangte schließlich in den päpstlichen Bereich. Er folgte einem Korridor, bis er auf eine kleine Tür stieß. Aus einer verborgenen Tasche holte er einen kleinen Schlüssel, schob ihn ins Schloß, drehte ihn um und zog die Tür auf. Vor ihm lag ein winziger Raum, in dem ein einzelner Stuhl stand. Die Tür fiel ins Schloß, und John setzte sich auf den Stuhl. Vor ihm war eine Metallplatte in die Wand eingesetzt. „Eure Heiligkeit“, sagte er, John ist gekommen, um Bericht zu erstatten.“ Auf der Metallplatte erschien zögernd und deutlich ein eingeätztes Gesicht. „Ich freue mich, dich zu sehen, John“, sagte es. „Was führt dich diesmal zu mir?“ „Ich bin hierhergekommen, Eure Heiligkeit, um von jüngsten Ereignissen zu berichten“, antwortete John. „Ich hoffe, daß ich diesmal Gehör finde. Schließlich möchte ich meine Rolle nicht umsonst spielen. Es ist nicht immer leicht, den einfältigen Gärtner zu mimen, der sich mit seinen Rosen unterhält. Ich bin es, der die kniffligen Aufgaben für Euch übernimmt, Dinge, die man den dummen Kardinälen nicht anvertrauen kann. Das mindeste, was ich dafür verlangen kann, ist, daß man mir zuhört.“ „Ich höre dir immer zu, John.“ „Nicht immer, Eure Heiligkeit“, schmollte John. „Ich werde dir diesmal zuhören.“ „Es gibt ein Gerücht“, begann John. „Noch ist es nur ein Gerücht, aber es ist sehr weit verbreitet und hartnäckig. Es heißt, die Lauscherin Maria sei ein zweites Mal im Himmel gewesen und wurde hinausgeworfen.“ „Davon ist mir nichts bekannt“, sagte der Papst. 228
„Das habe ich mir gedacht“, bemerkte John. „Die Kardinäle führen Euch hinters Licht. Sie halten bestimmte Neuigkeiten absichtlich zurück …“ „Über kurz oder lang“, unterbrach ihn der Papst, „würden sie mir schon davon berichtet haben.“ „Über kurz oder lang gewiß“, bestätigte John. „Aber zunächst einmal hätten sie sich die Köpfe darüber zerbrochen, sie hätten sich überlegt, wie sie die Sache am besten aufbereiten können, damit Ihr sie leichter schluckt.“ „Sie sind gute und treue Diener. Alles, was sie tun, geschieht nur aus Sorge um mich.“ „Da bin ich anderer Ansicht“, widersprach John. „Sie versuchen vielmehr Euer Denken und Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken. Als man den Vatikan einst gründete, war es unser erklärtes Ziel, eine wahre Religion zu suchen. Im Gegensatz zu den Menschen auf der Erde gaben wir ehrlich zu, daß wir nach einem besseren Glauben trachteten, als wir ihn auf der Erde vorfinden konnten. Eure Heiligkeit, sucht Ihr noch immer nach der wahren Religion?“ „Ich denke doch“, antwortete der Papst, „unter anderem …“ „Das ist es ja eben!“ stieß John hervor. „Unter anderem! Es gibt einfach zu viele andere Dinge, technologische Systeme, philosophische Strömungen, die kaum noch etwas mit unserem ursprünglichen Ziel zu tun haben …“ „Aber John! Die Philosophie hat sehr viel mit dem zu tun, was du unser ursprüngliches Ziel nennst. Nun will mir scheinen, daß du all unsere anderen Unternehmungen aufgeben willst, um sie der besessenen Suche nach einem Glauben zu opfern, den wir einstmals zu finden hofften.“ „Ja, denkt Ihr denn nicht ebenso, Eure Heiligkeit?“ „Wenn du mich fragst, ob ich noch an die Logik und die Notwendigkeit der Suche glaube, dann antworte ich mit Ja. Doch was vor tausend Jahren so einfach erschienen ist, hat sich 229
inzwischen als schwieriges Unterfangen herausgestellt. Es ist nicht nur eine Frage des Glaubens, es geht nicht allein darum, die richtige Gottheit zu finden – falls Gottheit die korrekte Bezeichnung dafür ist –, sondern darum, die zahllosen Lebens- und Entwicklungssysteme zu entwirren, die unsere Lauscher entdeckt haben. Nur wenn wir diese Systeme studieren und das Denken der Wesen, die sie entwickelt haben, können wir die Antworten finden, die uns am Ende zu einer wahren Religion führen.“ „Eure Heiligkeit, Ihr macht Euch über mich lustig.“ „Das liegt mir fern, John. Wir arbeiten nun schon zu lange zusammen, als daß ich auf einen solchen Gedanken kommen könnte. Aber mir scheint, unsere Standpunkte haben sich im Laufe der Zeit weit voneinander entfernt.“ „Ihr habt Euch mehr verändert als ich, Eure Heiligkeit. Ich bin immer noch der gleiche, einfache Roboter, der einst von der Erde gekommen ist. Mein Standpunkt liegt unserem ursprünglichen Ziel näher als der Eure. Ich habe dabei geholfen, Euch zu schaffen, und wir hatten den Plan, Euch mit Größe, tiefer Weisheit und einem Gefühl für Heiligkeit auszustatten. Vergebt mir, wenn ich das sagen muß, aber Ihr seid nicht mehr derselbe Pontifex, den wir einst hergestellt haben.“ Der Papst ließ ein Geräusch ertönen, das wie ein leises Kichern klang. „Nein, der bin ich tatsächlich nicht. Wie kannst du das nur von mir erwarten? Habt ihr gedacht, daß ihr eine Grundform für mich schaffen könntet, die sich niemals verändern würde? Daß diese Struktur sich trotz der neuen Gedanken und neuen Tatsachen niemals ändern würde und auf ewig dem Bild entspräche, das ihr, du und deine Robotergefährten, euch vor einem Jahrtausend von ihr gemacht habt? Du hast recht: Ich bin kein echter Roboter mehr, ich habe viel von der Menschlichkeit verloren, die ihr in mich hineingelegt habt. Ich bin – wie soll ich sagen – im Laufe der Jahrhunderte fremder geworden. Man hat soviel Fremdheit in mich hineingestopft, einiges 230
davon war nichts als Gedankenmüll, daß ich nun in mancherlei Hinsicht ebenfalls fremd geworden bin. Das war zu erwarten. Selbst du hättest damit rechnen müssen, John. Es war notwendig. Ich mußte gewisse fremde Wesenszüge entwickeln, um mit all dem fremden Gut fertig zu werden, mit dem ich gefüttert worden bin. Ich habe mich verändert. Natürlich habe ich mich verändert. Heute bin ich nicht mehr das Instrument, das ihr Roboter einst angefertigt habt. Es verwundert mich sehr, daß ihr das noch nicht bemerkt habt. Auf mir lastet ein Rückstau von Daten, die katalogisiert sind und alle darauf warten, in ein passendes Muster eingefügt zu werden. Ich kann dir aus meiner traurigen Erfahrung berichten, von Milliarden kleiner Puzzlesteine, die oft nicht zusammenpassen. Häufig scheint es so, als würden sie sich perfekt ergänzen, aber dann passen sie eben doch nicht und müssen ins Lager zurückgeschafft werden, bis sich eines Tages ein anderes Gefüge zeigt, in das einige von ihnen, vielleicht gar ein Dutzend oder Hunderte, sinnvoll eingefügt werden können. Ich kann dir sagen, ich stecke voller halbfertiger Puzzles, in einigen fehlen nur noch ein paar Stücke, dann sind sie abgeschlossen, aber andere, viele andere, können womöglich niemals vervollständigt werden, ergeben vielleicht niemals einen Sinn. Das ist ja das Problem mit euch Robotern: Ihr wollt Antworten, aber ich habe die Antworten nicht. Ich habe es euch schon oft gesagt: Das Universum ist nicht so einfach, wie es einmal erschien. Ich bin ein Langzeitprojekt, und ihr erwartet kurzfristige Antworten von mir.“ „Eure Heiligkeit, man kann tausend Jahre nicht als eine kurze Frist bezeichnen.“ Wieder ließ der Papst das seltsame, kichernde Geräusch hören. „Doch, in meinem Gewerbe ist das eine kurze Frist. Wenn ich eine Million Jahre dauerte …“ „Ihr werdet eine Million Jahre dauern. Wir werden dafür sorgen.“ 231
„Tja dann“, sagte der Papst, „besteht doch noch Hoffnung, daß du dein Ziel erreichst.“ „Mein Ziel? Eure Heiligkeit, ist es denn nicht auch Euer Ziel?“ „Doch, natürlich ist es das. Aber ich darf auch die anderen Aspekte unseres Forschungsprogramms nicht vernachlässigen. Niemand kann vorhersagen, in welche Bereiche einige unserer Projekte eindringen werden. Oft schlagen sie eine völlig unerwartete Richtung ein.“ „Eure Heiligkeit, Ihr habt es zugelassen, daß der Vatikan vom Wege abkam, Ihr habt ihn geradezu ermutigt, diese Seitenrichtungen einzuschlagen, von denen Ihr sprecht. Die Kardinäle streben nach Macht …“ „Ich will nicht verhehlen, daß einige meiner Kardinäle ein armseliges Schauspiel bieten“, sagte der Papst. „Aber sie sind nicht alle schlecht. Manche verstehen sich gut auf Verwaltungsaufgaben. So wurde das Pilgerprogramm bisher sehr sauber abgewickelt.“ „Ich bin bestürzt über den Zynismus, mit dem Ihr auf das Pilgerproblem zu sprechen kommt, Eure Heiligkeit. Wir unterhalten es doch nur wegen des Gewinns, den es abwirft. Wir speisen diese Pilger mit einem gefälligen Mischmasch aus religiösen Vorstellungen ab, die sie nicht verstehen, die zwar hübsch anzuhören sind, aber kaum eine Wahrheit und wenig Aufrichtigkeit enthalten. Das Schlimmste daran ist, daß sie an den Humbug glauben, gerade weil sie ihn nicht verstehen.“ „Kaum eine Wahrheit, sagst du. Ich könnte dich nun fragen, was die Wahrheit ist, aber ich werde es nicht tun, denn du würdest versuchen, mir zu antworten und mich dabei nur noch mehr verwirren. An dem, was du über die Pilger sagtest, ist etwas Wahres, aber wir können ihre Spenden sehr gut gebrauchen, und sie liefern uns eine ausgezeichnete Tarnung als hinterwäldlerischer Sektenplanet – falls sich überhaupt jemand über uns den Kopf zerbricht, was ich bezweifeln möchte.“ 232
„Ich beklage diese Einstellung sehr“, jammerte John. „Wir sollten den Pilgern mehr bieten als eine leere Posse, wir könnten viel mehr tun. Jede Seele in der Galaxis könnten wir mit unserem Ruf erreichen.“ „Das gefällt mir immer wieder so sehr an dir, John. Deine Sorge um die Seelen der anderen, wo du doch genau wissen mußt, daß du selbst keine Seele hast.“ „Ich weiß nicht, ob ich keine Seele habe. Manchmal glaube ich an das Gegenteil. Es ist durchaus möglich, daß jede Intelligenz über eine Seele verfügt.“ „Was immer eine Seele sein mag“, versetzte der Papst. „Ja, was immer eine Seele sein mag.“ „Niemand anderer könnte solche Dinge zu mir sagen“, erklärte Seine Heiligkeit, „und ich könnte zu niemandem sonst so sprechen. Das ist es auch, was dich für mich zu einem wertvollen Freund macht, auch wenn die Art unserer Worte uns nicht als Freunde erscheinen läßt. Es gab eine Zeit, da habe ich daran gedacht, dich zum Kardinal zu machen, aber als Gärtner warst du mir eine größere Hilfe. Wärst du gern ein Kardinal?“ Der Gärtner winkte verächtlich ab. „Vermutlich ist es so besser“, sagte der Papst. „Als Gärtner bist du gefährlich, als Kardinal wärst du womöglich noch gefährlicher. Antworte mir sofort auf meine nächste Frage, versuche nicht, durch Stottern Zeit zu gewinnen: Du hast diese Sache mit der Heiligsprechung Marias in Umlauf gebracht, nicht wahr?“ „Ja, ich war’s. Und ich entschuldige mich nicht dafür. Die Leute brauchen einen Heiligen, all die gläubigen Roboter im Vatikan und die Menschen in der Stadt. Ihr Glaube wird schwächer, er braucht eine Unterstützung. Es muß bald etwas geschehen, um den Grund, aus dem wir hierhergekommen sind, neu zu beleben. Aber jetzt, wo Maria aus dem Himmel hinausgeworfen wurde …“ 233
„John, hältst du das für eine Tatsache?“ „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich habe Euch gesagt, daß es ein Gerücht ist. Maria ist irgendwo gewesen und mit einem Trauma zurückgekehrt. Wie es geschehen konnte, kann ich nicht sagen. Ecuyer wird aufsässig und weigert sich, den Würfel an den Vatikan weiterzugeben; der freche kleine Doktor weicht meinen Fragen aus. Er weiß alles, was Ecuyer weiß, die beiden sind gute Kumpel.“ „Mir behagt der Gedanke nicht, eine Heilige aus dem Hut zu zaubern“, sagte der Papst. „Es wäre ein Rückfall in das Christentum auf der Erde. Nicht, daß das Christentum eine schlechte Sache gewesen wäre, das war es nicht, aber es war weit von dem entfernt, was es zu sein vorgab. Ich habe gerade absichtlich in der Vergangenheitsform gesprochen, obwohl mir bewußt ist, daß das Christentum bis heute lebendig geblieben ist, doch ich muß in der Vergangenheitsform sprechen, da ich nicht weiß, wie es sich entwickelt hat, falls es sich weiterentwickelt hat.“ „Ihr könnt gewiß sein, es hat sich verändert“, versetzte John bitter. „Vielleicht hat es sich nicht entwickelt, aber gewiß hat es sich verändert.“ „Noch einmal zu dieser Heiligsprechung: Dein Vorschlag, Maria zu einer Heiligen zu erklären, ist natürlich nun ein wenig überholt, wenn sich diese Gerüchte, die du erwähntest, bewahrheiten. Wir können aus einer Frau, die aus dem Himmel geworfen wurde, keine Heilige machen.“ „Gerade das wollte ich Euch erklären, Eure Heiligkeit“, sagte der Gärtner. „Wir brauchen einen Heiligen oder ein anderes Symbol, um unseren Glauben in der nächsten Zukunft zu zementieren. Ich habe mir die Augen nach einem Heiligen ausgeschaut, aber bisher war niemals einer zu entdecken, nicht einmal der Schatten eines solchen war zu sehen. Maria ist unsere erste Gelegenheit, und wir dürfen sie uns nicht durch die Finger schlüpfen lassen. Der Vatikan muß sich den Himmelswürfel – 234
den letzten Himmelswürfel meine ich – beschaffen und ihn entweder zerstören oder verschwinden lassen. Mit ganzer Kraft und Autorität müssen wir abstreiten, daß Maria aus dem Himmel hinausgeworfen wurde.“ „Ich muß dich zunächst einmal darauf hinweisen, daß das nicht der Himmel war“, sagte der Papst. „Natürlich war er es nicht“, erwiderte John. „Aber du wünschst, daß deine geringeren Brüder das Gegenteil glauben?“ „Eure Heiligkeit, wir brauchen einen Heiligen, wir brauchen den Himmel.“ „Wir haben eben noch über unsere Suche nach einer aufrichtigeren Religion gesprochen, und nun …“ „Aber, Eure Heiligkeit …!“ „Wenn wir tatsächlich einen Heiligen brauchen“, sagte Seine Heiligkeit, „kann ich einen besseren Kandidaten als Maria vorschlagen: einen intelligenten, äußerst ehrgeizigen Roboter, so sehr von selbstloser Liebe zu seinen Brüdern und von der Hoffnung auf ihre Errettung durchdrungen, daß er ein hohes Amt im Vatikan ausschlug, um als bescheidener Gärtner zu arbeiten und zu den Rosen zu sprechen …“ Der Gärtner stieß einen respektlosen Laut aus.
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31 Die Alten in den Wäldern besprachen sich miteinander. Es war eine gemütliche Plauderei unter Nachbarn, die nicht zu besonderen Konsequenzen führen sollte. Die Unterhaltung führten sie von ihren Standorten, die überall auf dem Planeten verstreut lagen. Die Alten respektierten sich untereinander und achteten immer streng darauf, einander nicht zu nahe zu treten. „Es gab einmal eine Zeit“, sagte einer, der auf einer Hunderte von Kilometern weiten Ebene hauste, die sich auf der Rückseite der den Vatikan überragenden Bergkette ausbreitete, „es gab eine Zeit, wo mir die Metallwesen, die sich auf unserem Planeten niederließen, großes Kopfzerbrechen bereiteten. Ich fürchtete, sie würden sich ausbreiten, unseren Boden und unsere Bäume stehlen und unsere Bodenschätze, unser Wasser und unser Land verschwenden. Ich geriet noch mehr in Sorge, als ich erfuhr, daß die Metallkreaturen die Schöpfung einer anderen Rasse waren, die sie als ihre Diener konstruiert hatten. Aber nun, nach langen Jahren der Beobachtung, hat sich erwiesen, daß sie keine Gefahr darstellen.“ „Es sind anständige Leute“, sagte der Alte, der in den Wäldern oberhalb von Deckers Hütte wohnte und von dort aus den Vatikan ständig im Auge behielt. „Sie nehmen von unseren Schätzen, aber sie gebrauchen sie mit Weisheit, nehmen nur soviel, wie sie benötigen und achten darauf, die Fruchtbarkeit des Bodens zu erhalten.“ „Am Anfang war ich bestürzt darüber, daß sie Bäume in großen Mengen schlugen“, sagte ein Alter, der sich ständig in den Gipfeln westlich des Vatikans aufhielt. „Am Anfang und auch heute noch benötigen sie viele Bäume. Aber sie schlagen sie sehr umsichtig und übertreiben den Abbau niemals. Auch pflan236
zen sie einen Schößling für jeden Baum, den sie aus den Wäldern holen.“ „Es sind Nachbarn, mit denen man zufrieden sein kann“, sagte ein anderer Alter, der am Meer auf der anderen Seite des Planeten wohnte. „Da es das Schicksal nun einmal wollte, daß wir Gäste auf unserer Welt haben müssen, sollten wir uns nicht über sie beklagen.“ „Ja“, sagte der Alte aus der Ebene. „Vor kurzem war es nötig, zu töten …“ „Kein Metallwesen“, sagte der Alte bei Deckers Blockhaus, „es war ein Mitglied dieser organischen Rasse, die eben kurz erwähnt wurde. Es gibt einige Exemplare dieser Rasse auf dem Planeten. Die ersten von ihnen sind kurz nach den Metallwesen aufgetaucht. Diese Spezies, die dauernd hier lebt, scheint von besonderer Art zu sein. Sie scheinen sich weder für den Planeten noch für uns zu interessieren. Sie fürchten uns, eine Haltung, die wir bedauern, die wir aber kaum beeinflussen können. Derjenige, den wir töten mußten, war neu auf dieser Welt und unterschied sich von den anderen. Er besaß eine Waffe, auf die er sehr vertraute. Er glaubte, uns mit ihr den Garaus machen zu können. Warum er allerdings diesen Vorsatz gefaßt hatte, kann ich mir nicht vorstellen.“ „Natürlich konnten wir das nicht zulassen“, sagte ein anderer Alter. „Nein, das konnten wir nicht“, sagte der Decker-Alte, „auch wenn mir unsere Handlungsweise sehr leid tut. Besonders bedauern wir den Tod der beiden, die den einen begleiteten, der es auf uns abgesehen hatte. Sie waren nicht so aus der Art geschlagen wie er, aber sie haben ihn begleitet.“ „Es war das einzige, was wir tun konnten“, sagte der Alte am Ozean. „Ihr habt den richtigen Weg gewählt.“ Dann unterbrachen sie für einen Augenblick ihre Unterhaltung, und sie zeigten einander, was jeder einzelne von ihnen sah 237
oder fühlte: das weite Grasland mit seinem fernen, ebenen Horizont und den Grasbüscheln, die sich im Winde regten wie Wellen auf einem Meer, Inseln aus Prärieblumen darin, den Schwestern der Gräser; der breite Sandstrand, der über viele Meilen die schäumende Brandung säumte; die Vögel auf dem Sand, die nichts anderes waren als einfache Strandläufer und gleichzeitig viel mehr, sie rannten in regelmäßigen Formationen über den Sand, als tanzten sie einen merkwürdigen Tanz; die ernste, bedrückende Feierlichkeit der Wälder; kein Unterholz wuchs zwischen den dunklen, mächtigen Stämmen, so daß der Wald in jeder Richtung, in die man schauen mochte, einem blauverhangenen Säulengang ähnelte, der direkt in die Ewigkeit zu führen schien; einen tiefen, mit Bäumchen und Buschwerk bewachsenen Felsgraben, der am oberen Rand von kahlen Gesteinszinnen gezähnt war, ein Ort, der vor winzigen, zwitschernden, freundlichen Lebewesen übersprudelte, die zwischen Felsbrocken und umgestürzten Baumstämmen durchs Gras huschten; in ihr possierliches Reifen mischte sich der Silberklang eines verborgenen Bächleins, das über die Steine am Boden der Schlucht plätscherte. „Bisher haben wir Glück gehabt“, sagte der Alte, der über dieser Schlucht hockte. „Es ist uns ohne große Mühen gelungen, den Planeten so zu erhalten, wie er geschaffen wurde. Als Hüter hatten wir nicht viel mehr zu tun, als über ihn zu wachen und von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen. Es gab keine Eindringlinge, die in der Absicht hierherkamen, den Planeten auszubeuten oder zu mißbrauchen. Hätte es je eine solche Herausforderung für uns gegeben, hätte sich gezeigt, ob es uns gelungen wäre, unsere Aufgabe zu erfüllen.“ „Wir hätten sie gemeistert, dessen bin ich mir sicher“, sagte der Alte vom Vatikanberg. „Wir hätten instinktiv das Richtige getan.“ „Einmal haben wir bereits gefehlt“, sagte der Decker-Alte. „Wir haben die Stäuber fortgehen lassen.“ 238
„Es gab nichts, was wir dagegen tun konnten“, wandte der Alte von der Ebene ein. „Wir konnten sie nicht am Aufbruch hindern. Ich weiß auch nicht, ob es richtig gewesen wäre, wenn wir es versucht hätten. Es waren intelligente Wesen, und man mußte ihnen ihren freien Willen zugestehen.“ „Das haben wir getan“, sagte der Alte beim Ozean. „Aber sie sind hier entstanden und haben sich hier entwickelt“, widersprach ein Alter, der in einer fernen Wüste hauste. „Sie waren ein Teil dieser Welt, und wir haben sie ziehen lassen. Durch ihr Fortgehen ging dem Planeten etwas verloren. Ich habe mich schon oft gefragt, welche Rolle sie wohl übernommen hätten, wenn sie hiergeblieben wären.“ „Alte!“ rief der im Wald aus, „dies ist eine fruchtlose Spekulation. Sie sind vor langer Zeit fortgezogen. Ob sie in späterer Zeit einen Einfluß auf diese Welt gehabt hätten, werden wir nie erfahren. Vielleicht hat der Planet unter ihrem Fortgehen gar nicht gelitten. Ihr Einfluß, falls es überhaupt einen solchen gegeben hat, hätte auch negativ sein können. Ich frage mich, warum diese Angelegenheit überhaupt in unserer Unterhaltung zur Sprache gebracht wurde.“ „Weil einer von ihnen zurückgeblieben ist“, sagte der Decker-Alte. „Er lebt mit einem dieser organischen Wesen zusammen, die die Metallkreaturen hergestellt haben. Als die anderen fortzogen, ist er hiergeblieben. Ich habe mich schon oft darüber gewundert, daß er nicht mit den anderen Stäubern davongegangen ist. Womöglich haben ihn die anderen absichtlich hier zurückgelassen, er ist nämlich ein Kümmerling …“
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32 Das diamantene Flimmern schwebte in der Luft, direkt über dem Stuhl aus Messingrohr, der neben dem Tisch mit der marmornen Platte stand. „Da bist du also wieder“, sagte Tennyson. „Bitte!“ jammerte Flüsterer, „bitte!“ „Ich bin nicht in der Stimmung, deiner Bettelei nachzugeben“, erwiderte Tennyson. „Aber ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir einmal miteinander sprechen.“ „Ich werde reden“, antwortete Flüsterer, „ich will alles sagen. Ich werde dir erzählen, wer und was ich bin. Niemand sonst weiß, wer ich bin. Ich werde dir auf alle deine Fragen antworten.“ „Also gut, dann sag mir, wer du bist!“ „Die Alten nennen mich einen Stäuber, und Decker sagt ‚Flüsterer’ zu mir, und …“ „Es ist unerheblich, wie du genannt wirst“, herrschte Tennyson ihn an. „Sag mir, was du bist!“ „Ich bin ein unsubstantielles Konglomerat von Molekülen. Die einzelnen Moleküle sind ungebunden, und doch fügen sie sich zu meiner Gestalt zusammen. Jedes Molekül in mir, vielleicht sogar jedes Atom ist intelligent. Ich bin auf diesem Planeten geboren, kann mich jedoch nicht an einen Anfang erinnern und fürchte auch kein Ende. Es mag sein, daß ich tatsächlich unsterblich bin, aber ich habe noch nie darüber nachgedacht. Aber wenn ich es mir genau überlege, glaube ich schon, daß ich unsterblich bin. Man kann mich nicht töten. Selbst wenn man mich in alle Winde verstreute und kein Atom meines Wesens je wieder zu einem anderen fände, ich wäre sicher, jedes Atom würde ein Leben für sich führen, jedes Atom würde fühlen, könnte denken.“ 240
„Du scheinst mir ja ein erstaunlicher Bursche zu sein“, bemerkte Tennyson. „Du bist unsterblich und intelligent, und niemand kann je Hand an dich legen. Du bist in jeder Hinsicht fein heraus.“ „Nein, das stimmt leider nicht. Es ist wahr, ich verfüge über Intelligenz, und als intelligentes Wesen habe ich den Wunsch zu lernen und Wissen zu sammeln, aber dazu fehlen mir die Werkzeuge“ „Du suchst also ein Werkzeug?“ „Das hast du sehr brutal ausgedrückt.“ „Du willst mich als Werkzeug gebrauchen. Ein Werkzeug, das dir beim Lernen behilflich sein soll. Was willst du denn überhaupt erfahren?“ „Ich muß über den Vatikan Bescheid wissen und über die Arbeit, die dort getan wird. Ich muß die Welten betreten, die die Lauscher suchen und finden. So lange habe ich mich nun schon bemüht, und ich habe auch einiges erfahren, aber es ist kümmerlich wenig. In die Gedankenabläufe von Maschinen kann man nicht eindringen. Ihr Verstand ist ganz anders strukturiert. Seit vielen Jahren versuche ich nun schon, in diese Gehirne einzudringen, und meine Versuche haben den Vatikan mißtrauisch gemacht. Sie wissen, daß ihnen jemand nachspioniert, aber sie wissen nicht, wer es ist. Sie haben versucht, mich aufzuspüren, aber sie haben mich nicht gefunden. Vermutlich haben sie noch nichts von meiner Existenz gemerkt.“ „Du glaubst, ich wäre bereit, dir zu helfen?“ „Du kannst mir helfen, das steht außer Frage. Du kannst die Würfel betrachten. Wenn du mich in deinen Verstand läßt, dann kann ich deine Beobachtungen mit dir teilen. Wir können die Würfel gemeinsam erleben …“ „Warum ausgerechnet ich, Flüsterer? Wie ist es mit Ecuyer?“ „Ich habe es mit Ecuyer versucht. Er ist unempfänglich für mich. So empfindsam wie ein Roboter; er weiß nicht, daß ich 241
da bin, sieht nicht einmal mein Flimmern. Decker nimmt das Flimmern wahr, und ich kann mit ihm sprechen, aber er hat keinen Zugang zu den Würfeln, und sein Geist bleibt mir verschlossen. Also bleibst nur noch du übrig, vielleicht noch eine andere Person.“ „Welche andere?“ „Die, welche du Jill nennst.“ „Hast du mit ihr gesprochen?“ „Nein, das habe ich nicht, aber ich glaube, daß ich es könnte. Auch ihr Geist ist nicht vor mir verschlossen.“ „Laß sie aus dem Spiel“, befahl Tennyson. „Verschone sie vorläufig mit dieser Angelegenheit! Klar?“ „Klar. Wir halten sie raus.“ „Du willst dir mit mir zusammen die Würfel ansehen, willst in meinen Verstand, damit du die Würfel betrachten kannst. Ist das alles, was du möchtest?“ „Vielleicht nicht alles. Aber es ist das Wichtigste.“ „Sag mir, warum. Warum ist es für dich so wichtig, die Würfel zu sehen?“ „Um mein Erbe zurückzubekommen.“ „Moment mal! Was hat dein Erbe mit dieser Angelegenheit zu tun?“ „Vor langer Zeit, die Erinnerung verblaßt, so lange ist es nun her, war ich nur ein kleiner Teil in einer Wolke wie ich. Eine Wolke anderer Stäuber oder Flüsterer, wenn du es so nennen willst. Ich sage, eine Wolke wie ich, aber ich weiß nicht, ob die Wolke eins war, ob ich nur ein kleiner Teil einer großen gemeinsamen Wesenheit war, oder ob sie aus Einzelwesen bestand. Die Wolke hatte ein Erbe, eine Bestimmung, du würdest vielleicht sagen, eine Aufgabe. Die Aufgabe war, das Universum zu erkennen.“ „Was du nicht sagst“, spottete Tennyson. „Es ist so, wie ich sage. Soll ich dich etwa täuschen und das 242
Risiko eingehen, daß du den Betrug erkennst und mir die Zusammenarbeit verweigerst, in die ich meine ganze Hoffnung setze?“ „Vielleicht sagst du die Wahrheit, es scheint fast so. Aber was ist mit der Wolke geschehen?“ „Sie zog davon und ließ mich zurück“, antwortete Flüsterer. „Warum sie es tat, weiß ich nicht. Auch weiß ich nicht, wo sie nun ist. Ich weiß nur, daß sie auszog, das Universum zu erkunden. Viele bittere Stunden habe ich über der Frage gebrütet, warum sie mich verlassen hat. Aber obwohl sie mich verließ, hat sie nicht meine Bestimmung von mir genommen. Um jeden Preis muß ich noch immer das Universum erforschen!“ „Aha!“, sagte Tennyson. „Du machst dich über mich lustig. Liegt es daran, daß du mir nicht glauben kannst?“ „Das mag wohl der Grund sein“, antwortete Tennyson. „Sagen wir einmal, ich bin nicht gerade überwältigt vom Glauben an deine Aufrichtigkeit. Eigentlich hast du mir bisher nur erzählt, was du tun willst und wieso du dazu meine Hilfe benötigst. Also möchte ich dich fragen, was springt für mich dabei heraus? Ich hoffe, es ist etwas mehr als die Annehmlichkeit deiner Gesellschaft.“ „Ein Geschäft“, sagte Flüsterer. „Darum also geht es, um einen Tauschhandel.“ „Du hast es erfaßt. Ein Handel mit dem Teufel.“ „Wer von uns ist der Teufel, von dem du sprichst? Nach dem, was ich über diese Gestalt weiß, bin ich es mit Sicherheit nicht, aber du scheinst es auch nicht zu sein.“ „Okay, also kein Teufel.“ „Ich bin ohne deine Erlaubnis kurz in deinen Verstand eingedrungen“, sagte Flüsterer. „Dafür bitte ich dich sehr herzlich um Verzeihung.“ 243
„Ich verzeihe dir, wenn es tatsächlich nur für einen Augenblick war.“ „Ich habe die Wahrheit gesagt, es war nur ein kurzer Blick. Dabei habe ich zwei Wörter aufgeschnappt: die Herbstwelt und die Gleichungswelt. Welche würdest du gern besuchen? Zu welcher würdest du lieber gehen? Welche willst du erleben? Sie nicht einfach ansehen, um sie zu bestaunen, nein, ich meine tatsächlich besuchen.“ „Du meinst, du könntest mich zu diesen Welten bringen. Ich könnte sie tatsächlich betreten?“ „Mit mir kannst du durch diese Welten streifen. Vielleicht sie sogar verstehen, aber in diesem Punkt bin ich mir nicht sicher. Auf jeden Fall könntest du sie genau betrachten, sie mit den Händen berühren.“ „Auch die Himmelswelt?“ „Du hast die Himmelswelt noch nicht gesehen?“ „Nein.“ „Tja dann?“ „Du meinst, wir könnten zu einer von diesen Welten reisen und wieder hierher zurückkehren?“ „Ja natürlich kannst du zurückkehren. Man geht nicht an einen Ort, von dem man nicht zurückkehren kann.“ „Willst du mich in Besitz nehmen?“ „Nein, darum geht es nicht. Wir beide werden gemeinsam reisen.“ Unmöglich, dachte Tennyson. Das durfte nicht wahr sein. Entweder er träumte die ganze Szene nur, oder er hatte es mit dem gerissensten Aufschneider … „Es ist nicht unmöglich“, erwiderte Flüsterer. „Man kann es schaffen. Es ist keine Aufschneiderei. Du hast lange über die Gleichungswelt nachgedacht. Du hast von ihr geträumt; sie wird dich nicht wieder loslassen.“ „Ich konnte sie mir nie richtig ansehen“, sagte Tennyson. 244
„Sie blieb immer irgendwie verborgen. Ich wußte genau, daß es dort viel mehr gab, als ich sehen konnte.“ „Dann komm mit mir und schau sie dir an!“ „Werde ich sie auch verstehen?“ „Das kann ich dir nicht versprechen. Aber gemeinsam haben wir eine bessere Chance als einer allein.“ „Du führst mich in Versuchung, Flüsterer. Soll ich es wirklich mit dir probieren?“ „Zögere nicht, mein Freund. Darf ich dich meinen Freund nennen?“ „Nein, nicht Freund, Flüsterer, Partner. Auch Partner müssen Vertrauen zueinander haben. Und wenn du gelogen hast …“ „Wenn ich gelogen habe?“ „Dann würde Decker davon erfahren, und du würdest deinen einzigen Freund verlieren.“ „Diese Drohung ist deiner nicht würdig, Partner.“ „Vielleicht doch.“ „Du läßt sie also bestehen?“ „Ja.“ „Wir werden also gemeinsam zur Gleichungswelt ziehen.“ „Zunächst einmal müssen wir uns den Würfel ansehen“, sagte Tennyson. „Das ist nicht nötig. Die Welt ist in deinem Kopf festgehalten.“ „Ja“, antwortete Tennyson, „aber sehr unvollständig. Ich habe immer nur einen Teil von ihr gesehen. Ganz gewiß fehlt etwas.“ „Es ist alles da, was wir brauchen. Es muß nur ausgegraben werden. Du und ich als eine Person, wir werden es schon schaffen.“ „Dieses ewige ‚wir beide zusammen’ geht mir allmählich auf die Nerven“, sagte Tennyson gereizt. „Dann stell es dir doch als Einheit vor. Wir beide sind eins, 245
das ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Jetzt versuche, dich auf die Gleichungswelt zu konzentrieren. Erinnere dich so gut du kannst. Wir werden versuchen, sie zu erreichen.“
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33 Enoch Kardinal Theodosius betrat die Bibliothek und nahm auf seinem Hocker Platz. Er ähnelte viel eher einer vornehm gekleideten Vogelscheuche als einem Kardinal. „Ich hoffe, daß Ihnen diese Besuche eines klappernden alten Roboters, der nicht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll, nicht zu sehr auf die Nerven gehen“, sagte er zu Jill. „Aber Eminenz“, erwiderte Jill. „Ich freue mich über Ihre Besuche. Ich kann sie kaum erwarten.“ „Ist es nicht seltsam“, murmelte der Kardinal und zog die Füße an, um sie auf einer Querstrebe des Hockers abzustellen. Darauf drapierte er sich die wallende Robe um den Leib und beugte sich vor, die Hände gegen den Bauch gepreßt, als litte er unter Magenschmerzen. „Ist es nicht seltsam, daß wir beide immer wieder so viele Themen entdecken, über die wir reden können? Ich fand bisher immer, daß unsere Gespräche sehr gehaltvoll waren. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht?“ „Doch, Eminenz, das bin ich.“ „Sie haben meine tiefe Hochachtung gewonnen“, sagte er. „Sie arbeiten hart und voller Enthusiasmus. Sie haben einen Verstand wie eine Mausefalle; es gibt kaum etwas, das Ihnen entgeht. Ihre Assistenten haben außerordentlich positiv über Sie berichtet.“ „Soll das heißen, meine Assistenten sind Schnüffler, die mich ausspionieren?“ Er hob die Hand zu einer bestürzten Geste. „Sie wissen, daß es nicht so ist. Gelegentlich rede ich mit ihnen, und sie erwähnen Ihren Namen. Sie haben sie stark beeindruckt. Sie haben mir gesagt, Sie dächten wie ein Roboter.“ „Ich kann nur hoffen, daß das nicht die Wahrheit ist.“ „Aber meine Dame, was ist denn so schrecklich an der Denkweise der Roboter?“ 247
„Vermutlich nichts. Dennoch ist es nicht die Art, wie ich denken sollte. Ich sollte so denken wie ein Mensch.“ „Ihr Menschen seid seltsame Leute“, stellte der Kardinal fest. „Nach langen Jahren der Beobachtung bin ich zu diesem Schluß gekommen. Sie haben es vielleicht noch nicht bemerkt, aber wir Roboter sind von euch Menschen geradezu besessen. Ihr seid unser bevorzugtes Gesprächsthema. Wir verbringen viele Stunden mit Diskussionen über euch. Ich halte es für möglich, daß sich zwischen einem Menschen und einem Roboter eine starke Beziehung entwickelt. Es gibt Mythen, die von solchen Verbindungen handeln. Ich hatte noch niemals eine ähnliche Beziehung, aber ich habe immer gespürt, daß sie mir fehlt, und jetzt will ich offen sein und Ihnen gestehen, daß aus meinen Besuchen allmählich eine Beziehung zwischen Ihnen und mir zu erwachsen scheint. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich so spreche?“ „Aber nein, natürlich nicht. Ich fühle mich geehrt.“ „Bislang hatte ich nur wenig Kontakt zu den Menschen“, sagte der Kardinal. „Eigentlich ist Ecuyer der einzige, mit dem ich häufiger zusammenkam.“ „Paul Ecuyer ist ein guter Mensch“, erklärte Jill. „Tja, mag sein, daß er gut ist. Aber er ist ein wenig eigensinnig. Er lebt ganz für seine Lauscher.“ „Das ist sein Beruf“, erklärte Jill. „Er nimmt ihn sehr ernst.“ „Sie haben schon recht, aber es gibt Zeiten, da vergißt er, für wen er seine Arbeit eigentlich tut. Er kapselt sich förmlich ab. Er hat ein übersteigertes Verantwortungsbewußtsein. Sein Projekt ist ein Vatikanprojekt. Gelegentlich spielt er sich auf, als würde die ganze Forschungsreihe nur für ihn unternommen.“ „Eure Eminenz, worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Haben Sie wegen der Geschichte mit dem Himmel so schlechte Laune?“ Der Kardinal hob den Kopf und starrte sie an. „Mein Fräulein, manchmal sind sie klüger, als gut für Sie ist“, murmelte er. 248
„Das wohl kaum“, erwiderte sie. „Wenn ich versuche, besonders klug zu sein, bin ich gelegentlich schrecklich dumm.“ „Mir bereitet diese Heiligsprechung einige Sorgen“, sagte er. „Ich bin nicht davon überzeugt, daß wir einen Heiligen brauchen. Ein Heiliger kann uns mehr Ärger bringen, als die Sache wert ist. Was sagen Sie zu dieser Angelegenheit?“ „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich habe nur Gerede gehört, das ist alles.“ „Ecuyer läßt sich sehr viel Zeit bei der Aushändigung des Würfels mit Marias zweiter Reise. Manchmal denke ich, daß er den Würfel gar nicht an den Vatikan übergeben will. Ich weiß nicht, was wirklich geschehen ist, und mir ist nicht bekannt, ob es überhaupt jemand weiß. Es hat einige häßliche Gerüchte gegeben.“ „Vermutlich entspricht keines von ihnen der Wahrheit.“ „Ja, so wird es wohl sein. Häufig haben Gerüchte nur wenig mit der Wahrheit zu tun. Aber warum hat Ecuyer uns den Würfel nicht gegeben?“ „Vermutlich war er zu beschäftigt. Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Reicht er denn jeden Würfel sofort an den Vatikan weiter?“ „Nein, ich schätze nicht. Er gibt sie uns nach Gutdünken.“ „Na also, da haben wir es doch“, sagte Jill. „Er hat einfach noch nicht daran gedacht.“ „Ich weiß nicht“, widersprach der Kardinal. „Ecuyer ist ein guter Freund von Tennyson, und Tennyson kennt Decker.“ „Eure Eminenz, das klingt ja so, als ob die drei ein Komplott gegen Sie schmieden wollten. Was haben Tennyson und Decker denn mit der Sache zu tun? Von beiden brauchen Sie nichts zu befürchten. Ecuyer und Tennyson sind Angestellte des Vatikans, und Decker mischt sich nie in irgend etwas ein.“ „Sie können mir also in dieser Sache nicht helfen?“ „Ich weiß nicht, wie Sie das meinen“, erwiderte sie. „Wieso glauben Sie, ich könnte Ihnen helfen?“ 249
„Sie müssen etwas wissen. Sie schlafen mit Tennyson.“ „Sie sollten sich schämen, Eminenz“, rief Jill aus. „Ich habe gar nicht gewußt, daß Roboter auf solche Dinge achten!“ „Das tun wir auch nicht“, versicherte der Kardinal, „jedenfalls nicht so, wie Sie sich das vorstellen. Aber Tennyson muß doch mit Ihnen gesprochen haben?“ „Es geht gar nicht darum, ob Maria zu einer Heiligen gemacht werden soll oder nicht“, sagte sie. „Es geht um den Himmel, nicht wahr? Wenn Ihnen der Himmel solches Kopfzerbrechen bereitet, warum ziehen Sie dann nicht los und schauen ihn sich an?“ „Meine Befürchtungen sind anderer Art“, erklärte er. „Mir geht es um den gegenwärtigen Zustand des Vatikan. Viele Jahrhunderte lang ist die Arbeit hier ungestört verlaufen. Es hat Höhen und Tiefen gegeben, oft hatten wir Meinungsverschiedenheiten auszufechten, aber in keinem Augenblick habe ich daran gezweifelt, daß diese Einrichtung so fest steht, wie der Fels, auf den sie gebaut ist. Doch nun verspüre ich eine Tiefenströmung, eine Strömung der … äh … Rebellion, die nicht zögern würde, die Prinzipien hinwegzuspülen, die unser Fundament bilden. Woher diese bedrohliche Strömung kommt, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, daß es irgendwo einen sehr aktiven Unruhestifter geben muß, der sie antreibt, nährt und am Fließen hält. Lange Zeit schon habe ich gespürt, daß etwas am Vatikan, an unseren Wissensspeichern knabbert. Dieser Ungekannte hat es nicht weit gebracht, aber er läßt nicht ab. Er ist wie eine einsame Maus, die an einer Tonne Käse nagt. Ob diese beiden, der heimliche Nager und der Unruhestifter die gleiche Person sind, oder ob sie in Verbindung stehen, weiß ich nicht. Dem Vatikan darf nichts geschehen, wir können keine Störung dulden. Für uns steht zu viel auf dem Spiel.“ „Eure Eminenz“, warf Jill ein, „Sie sorgen sich ohne Grund! 250
Sie haben gute Arbeit geleistet; der Vatikan ist so mächtig, daß ihn nichts stürzen könnte.“ „Den Vatikan selbst vielleicht nicht“, stimmte Theodosius zu, „aber sein Ziel. Wir sind vor vielen Jahren hierhergekommen, wie Sie aus Ihren Studien wissen, um einen besseren und wahreren Glauben zu suchen. Viele denken nun, daß wir dieses Ziel geopfert haben, um technologisches und philosophisches Wissen anzuhäufen, das nichts mit unserer Glaubenssuche gemein hat. Ich bin davon überzeugt, daß jene sich irren, die dies behaupten. Ich bin der Ansicht, der Glaube ist eng mit dem Wissen verknüpft. Es ist vielleicht ein spezielles Wissen, aber um es zu erreichen, um eine Antwort zu finden, müssen wir viele Fragen stellen. Wahrscheinlich sind wir schon oft einem falschen Weg gefolgt, aber vielleicht waren das Wege, denen wir einfach folgen mußten, um uns zu vergewissern, daß sie nirgendwohin führen oder in eine falsche Richtung weisen.“ „Euer Blickwinkel hat sich geändert“, sagte Jill. „In den Anfangsjahren lag der Schwerpunkt auf dem Glauben, jetzt hat er sich auf das Wissen verlagert.“ „Nein, Sie haben nur oberflächlich betrachtet recht“, widersprach Theodosius. „Zuerst haben wir nicht gewußt, daß der Glaube sich auf das Wissen stützen muß und nicht auf blindes Vertrauen, nicht auf das wiederholte Gemurmel von Unwahrheiten, die man immer und immer wieder in der Hoffnung, sie werde sich so in Wahrheiten verwandeln, vor sich hinsagt. Unwahrheiten können wir nicht hinnehmen, wir verlangen Gewißheit!“ Er hielt inne und musterte sie mit seinem starren, direkten Roboterblick. Dann hob er den Arm und fuhr mit der Hand durch die Luft. Instinktiv wußte Jill, daß er mit dieser Geste das Universum, den gesamten Raum und die Zeit umfassen wollte. „Irgendwo dort draußen“, sagte er, „gibt es jemanden, der alle Antworten kennt. Unter all diesen Antworten können wir die, 251
die wir suchen, nicht herauslesen. Also kann es sein, daß wir alle Antworten finden müssen, damit die eine darunter ist, die wir suchen. Diese Antwort zu erfahren, ist unser Daseinszweck. Wir dürfen uns nicht in die Selbsttäuschung zurückziehen, trotz des Trostes und Ruhmes, die sie bringen mag. Wir müssen mit der Suche fortfahren, die wir einst begonnen haben. Ganz gleich, wie lange sie dauern mag oder wohin sie uns führen wird, wir dürfen unser Ziel niemals aus den Augen verlieren.“ „Und der Himmel?“ fragte Jill. „Würde er dem Selbstbetrug eine Basis bieten? Ist es das, was Sie fürchten?“ „Wir dürfen das Risiko nicht eingehen“, antwortete er. „Es steht zu vermuten, daß es keinen Himmel gibt, jedenfalls nicht diesen alten Christenhimmel mit der goldenen Straße und den Posaunenengeln.“ „Aus Vernunftgründen würde ich Ihnen zustimmen, was aber wird geschehen, wenn es doch der Himmel war?“ „Dann haben Sie Ihre Antwort gefunden.“ „Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht hätten wir eine Antwort, aber nicht die Antwort. Mit der einen Antwort wären wir allerdings so sehr zufrieden, daß wir nicht mehr nach der Antwort suchen würden.“ „Also gut, dann begeben Sie sich dorthin und beweisen Sie, daß es nicht der Himmel ist. Danach können Sie zurückkommen und ungestört mit Ihrer Arbeit fortfahren.“ „Wir dürfen das Risiko nicht eingehen“, wiederholte der Kardinal. „Das Risiko, daß es sich tatsächlich um den Himmel handeln könnte?“ „Es ist nicht nur dieses Problem. Der Vatikan kann gar nicht gewinnen, so oder so. Wenn es nicht der Himmel war, dann erleidet das Vertrauen der Vatikanmitglieder in die Zuverlässigkeit der Lauscher einen schweren Schaden. Wenn Maria also … begreifen Sie denn nicht, alle Lauscher werden in Verruf geraten, wenn bewiesen wird, daß Maria sich geirrt hat. Dann 252
wird es heißen, die meisten anderen Lauscher würden sich auch irren. Ecuyers Suchprogramm ist unser großartigstes Werkzeug. Wir dürfen es nicht der Gerüchteküche preisgeben. Um den gegenwärtigen Stand des Suchprogramms zu erreichen, haben wir Jahrhunderte gebraucht, wenn es jetzt unterbrochen wird, wenn es jetzt in Zweifel gezogen wird, dann werden wir noch einmal Jahrhunderte benötigen, um es wieder auf den jetzigen Stand zu bringen, falls die Schäden sich überhaupt je beheben ließen.“ „Das dürfen Sie nicht zulassen“, sagte Jill mit vor Erregung zitternder Stimme. „Gott möge es verhüten“, erwiderte der Kardinal.
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34 Bei seinem ersten Besuch war ihm die Gleichungswelt eigentümlich verschwommen erschienen, so, als versuche er vergeblich das ferne Ende einer unter der Sonnenglut flimmernden Straße ins Auge zu fassen. Diesmal flimmerte nichts, und er hatte festen Boden oder zumindest eine feste Oberfläche unter seinen Füßen. Die Gleichungen und Diagramme standen in einer geordneten Formation über die weite ebene Fläche rings um ihn her verteilt. In der Ferne war der Horizont zu sehen. Er erhob sich höher als jeder andere Horizont, den Tennyson je betrachtet hatte. Es war unmöglich, die Entfernung bis zu jener Zone abzuschätzen, wo der erbsengrüne Teppich der Planetenoberfläche – falls es sich überhaupt um einen Planeten handelte – fast unmerklich mit der bleichen Lavendelfarbe der flachen Himmelskuppel verschmolz. „Flüsterer“, sagte Tennyson. Aber da war kein Flüsterer. Nur er selbst. Doch das konnte so nicht sein. Flüsterer war bei ihm, aber nicht als abgetrenntes Einzelwesen. Was nun auf diesem fremden Boden stand, das war nicht Tennyson allein, sondern die Verschmelzung von Flüsterer mit ihm zu einem Wesen. Während er dies dachte, stand Tennyson reglos da und fragte sich, ob er mit dieser Überlegung recht hatte. Im selben Augenblick wußte er die Antwort auf diese Frage: Nicht er, Tennyson, hatte die Erkenntnis gehabt, sondern der Flüsterer-Teil von ihm. Und doch, trotz dieser Einsicht konnte Tennyson nichts von Flüsterer spüren, und er dachte darüber nach, ob es Flüsterer wohl ebenso ginge, ob sich dieser auch nur seiner selbst bewußt sein würde und nichts von Tennyson verspürte. Auf diese Frage erhielt er keine Antwort, Flüsterer sandte ihm keine Bestätigung. 254
Besonders faszinierend fand Tennyson, daß er tatsächlich in der Gleichungswelt zu sein schien und sie nicht nur betrachtete. Er spürte die Festigkeit des Bodens unter den Füßen, und er atmete. Er atmete ohne Schwierigkeiten, als ob er sich auf einem erdähnlichen Planeten befände. Fieberhaft wägte Tennyson die Wahrscheinlichkeit ab, mit der er erwarten durfte, in einer solchen Umgebung als Mensch ohne Schutzausrüstung leben zu können: eine atembare Luft, eine annehmbare atmosphärische Dichte, ein erträglicher Schwerkraftfaktor, milde Temperaturen, die ein menschlicher Körper als angenehm empfand. Das Ergebnis seiner flüchtigen Berechnung erschreckte ihn. Es verwirrte ihn um so mehr, als er bei seiner Überlegung Minimalwerte verwendet hatte, doch die Lebensfaktoren auf dieser Welt konnte man nicht als Minimalwerte bezeichnen, sie waren nicht einfach erträglich, sie waren höchst angenehm. Die Gleichungen leuchteten auf den Vorderseiten von Quadern. Sie trugen ebensoviel, wenn nicht mehr, Farben, wie sie es bei der ersten Betrachtung im Würfel und später in Tennysons Träumen getan hatten. Im Würfel und in den Träumen – vor allem in den Träumen – waren die Quader eigentümlich nebelhaft erschienen, doch jetzt waren die Farben klar und leuchtend und keineswegs verschwommen. Es schienen weit mehr Diagramme zu sein, als Tennyson im Traum oder im Würfel erblickt hatte, und die Gleichungen waren deutlich vielfältiger und bizarrer. Tennyson betrachtete eine Gruppe von Blöcken und stellte fest, daß es nirgendwo zwei gleiche gab: Alle unterschieden sich in Farbe, Gleichung oder Diagramm. Jedes einzelne war ein Individuum. Seit seiner Ankunft war Tennyson auf einem Fleck stehen geblieben. Was er sah, machte ihn benommen, und ein zweifelnder Teil in ihm – wahrscheinlich der Tennyson-Teil – konnte sich nur schwer daran gewöhnen, daß er tatsächlich dort stand, wo er war. Endlich tat er einen zögernden Schritt. Erst 255
einen, dann einen zweiten, zunächst einmal mußte er sich vergewissern, ob er sich überhaupt bewegen konnte. Doch die Gleichungen standen still an ihren Plätzen, und irgend jemand mußte sich ja schließlich bewegen. Jemand mußte den ersten Schritt tun, damit überhaupt etwas geschah, damit ein Kontakt aufgenommen werden konnte. Es ist gewiß falsch, dachte Tennyson, wenn man hierherkommt, auf einem Fleck stehenbleibt, ungläubig die Umgebung anstarrt und dann wieder verschwindet. Dann hatte man nicht mehr von dieser Welt, als wenn man sie in einem Würfel oder einem Traum erblickte. Also rückte er langsam über die Oberfläche weiter vor, bis er einer der Gleichungen recht nahe gekommen war. Er stellte fest, daß sie mehr als zwei Meter hoch war, ihre Oberkante überragte ihn um mehr als Haupteslänge. Die Breite mochte ungefähr fünf Meter betragen. Von seinem Standort aus, er befand sich frontal vor der Gleichung, konnte er die Tiefe nicht schätzen, aber wenn er die Seitenkanten anderer Gleichungsblöcke betrachtete, schienen sie eine Stärke von etwa drei Metern zu haben. Vermutlich gab es Blöcke in verschiedenen Größen, aber die in Tennysons Nähe hatten alle die gleichen Ausmaße. Der Block, den er sich aus der Nähe anschauen wollte, war purpurfarben, die Gleichungen und Diagramme hauptsächlich in einer leuchtenden Orangefarbe gehalten, aber es gab auch rot oder grün schimmernde Zonen. Tennyson versuchte, eine der Gleichungen, eine sehr lange und komplizierte, zu lösen, aber alle vorkommenden Zeichen waren ihm vollständig fremd. Der Quader, dessen Seitenfläche Tennyson am besten sehen konnte, war von einem hellen, bonbonfarbenen Rosa, mit grünen Gleichungen darauf, und direkt daneben stand ein aschgrauer, mit kupferfarbenen Flecken gesprenkelter Block, der Gleichungen in Zitronengelb und lavendelfarbene Diagramme aufwies. Dieser Block machte auf Tennyson einen eigentümlich exzentrischen Eindruck. 256
Als er sich den Quadern genähert hatte, hatten diese keinerlei Reaktion gezeigt, und das änderte sich auch jetzt nicht. Sie standen reglos auf der grünen Ebene. Jetzt bemerkte Tennyson zum ersten Mal, daß nicht der geringste Laut zu hören war. Dies war ein stiller Ort. Tennyson wurde sich darüber klar, daß er sein ganzes Leben hindurch an einen gewissen Geräuschpegel gewohnt war. Selbst in Stunden äußerster Ruhe hatte es immer leise, kaum wahrnehmbare Laute gegeben: das Knarren eines Dielenbretts, Blätterrascheln in einer leichten Brise, Insektengeräusche. Aber hier gab es nichts, absolut nichts, keinen Laut. Er ging noch dichter an den Gleichungsblock heran und stellte überrascht fest, daß auch seine Schritte kein Geräusch verursachten. Zögernd streckte er eine Hand aus und berührte den Würfel mit dem Zeigefinger, bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr zurückzuzucken. Der Quader fühlte sich weich an, keineswegs glatt und hart, wie es sich Tennyson vorgestellt hatte. Er war weder warm noch kalt. Als der Block auf die vorsichtige Berührung nicht reagierte, legte Tennyson seine Handfläche darauf. Wenn er den Handballen dagegenpreßte, schien der Quader noch weicher als zuvor. Tennyson verstärkte den Druck und spürte, wie die Oberfläche zitternd nachgab, als bestünde sie aus einer Gallertmasse. Auf der Oberfläche des Blocks bewegte sich etwas, und Tennyson sprang zurück. Er stellte fest, daß die Gleichungen in Bewegung geraten waren, und auch die Diagramme regten sich. Die Veränderungen und Bewegungen begannen sehr langsam, doch dann steigerte sich ihr Tempo. Sie verliefen in einer faszinierend gleitenden Geschwindigkeit, lösten sich auf, formten sich neu und ordneten sich immer wieder um. Es versucht, mir etwas zu sagen, dachte Tennyson, es will die Kluft zwischen uns überbrücken. Gebannt starrte er auf die Oberfläche des Quaders, und hin und wieder schien es ihm fast, als stünde er 257
unmittelbar vor einer Erkenntnis, aber dann hatten sich die Gleichungen bereits wieder verändert, und Tennyson verlor sofort alles, was er aus der Schrift auf der Quaderwand herausgelesen hatte. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr, er sprang schnell ein paar Schritte zurück, aber da war kein Platz, wohin er sich wenden konnte. Ihm war der Rückweg abgeschnitten. Die Quader hatten begonnen, ihn zu umzingeln. Sie hatten sich bereits zu einem massiven Ring formiert, in dem kein Schlupfloch freigeblieben war. Auf ihren Vorderseiten waren die Gleichungen und Diagramme deutlich und sichtbar in Bewegung geraten. Es war ein entnervender Anblick. Während auch jetzt kein Laut zu hören war, hatte Tennyson das Gefühl, daß alle Quader gleichzeitig auf ihn einschrien. Immer mehr Blöcke kamen hinzu. Einige stießen sich vom Boden ab und ließen sich auf den Quadern des Ringes nieder, bald schon türmte sich eine dritte Reihe auf die zweite, als hätte sich ein unsichtbarer Maurer daran gemacht, Tennyson mit gewaltigen Felsblöcken einzumauern. Jetzt ragte der mächtige Ring hoch in die Luft, die Oberflächen aller Blöcke waren weiterhin in heftiger Bewegung, und Tennyson wurde beim Anblick der wild fließenden Farben und der schillernd wandernden Gleichungen schwindelig. Er gewann den Eindruck, daß die Quader jetzt nicht mehr mit ihm in Verbindung treten wollten, sondern aufgrund drängender Umstände zu einem Treffen zusammengekommen waren, um ein gewichtiges Problem zu lösen. Dabei steigerten sich die Gleichungen zu immenser Komplexität, die Diagramme nahmen unmögliche, völlig unverständliche Formen an. Dann stürzten sie über Tennyson zusammen. Die Mauer, die sich um ihn gebildet hatte, gab plötzlich nach, und die Blöcke donnerten auf ihn herab. In höchstem Schrecken schrie Tennyson auf, aber als die Blöcke über ihm waren, legte sich seine 258
Panik. An ihre Stelle trat äußerstes Erstaunen, eine Fassungslosigkeit, die so tief war, daß das ganze Universum in ihr Platz gehabt hätte. Tennyson wurde nicht zerschmettert. Ihm stieß nicht das geringste zu. Er stand einfach inmitten eines Haufens aus übereinandergestürzten Quadern, die zu einer Geleemasse zerflossen waren. Ein vielfarbiger Gallertbrei schloß Tennyson von allen Seiten ein, und einen Augenblick dachte er entsetzt, daß er nun ersticken oder ertrinken müßte. In dieser zähen, dichtgestopften Geleemasse gab es gewiß keinen Sauerstoff. Bald würde ihm sicherlich der Brei in Mund und Nasenlöcher dringen und in seine Lungen sickern … Aber das geschah nicht. Tennyson verspürte keinerlei Atemnot. Einen Augenblick versuchte er, durch den Gelee zu schwimmen, er wollte die Oberfläche erreichen, wo er genug Luft zum Atmen haben würde. Doch dann stellte er seine Bemühungen ein. Irgendwie wußte er, daß er keine Luft benötigte und nicht ertrinken würde. Die Gleichungsquader versorgten ihn, in ihrer Mitte konnte ihm kein Leid geschehen. Sie teilten ihm dies nicht mit, aber es war ihm dennoch deutlich bewußt. Er hatte den Eindruck, die Botschaft durch Osmose aufgenommen zu haben. Während der ganzen Zeit liefen um ihn herum unaufhörlich Gleichungen ab. Einige fügten sich zu einem Band zusammen, das sich um Tennyson legte, andere zogen durch ihn hindurch, und wieder andere drangen in ihn ein und blieben dort. In diesen Momenten hatte er das nebelhafte Empfinden, daß er selbst eine Gleichung sei. Er spürte den Fluß der Gleichungen um sich herum und durch sich hindurch. Einige Diagramme vereinigten sich und formten ein Haus für ihn. Er kauerte sich hinein und wußte nicht mehr, wer er war. Aber dennoch war er mit seiner Existenz äußerst zufrieden.
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35 Zur Kaffeezeit hatte sich eine Gruppe von Lauschern zusammengefunden. „Was gibt es Neues von Maria?“ wollte Ann Guthrie wissen. „Niemand scheint etwas darüber zu wissen“, antwortete James Henry. „Zumindest spricht niemand darüber.“ „Geht denn niemand von euch sie besuchen?“ fragte Ann. „Ich war einmal bei ihr“, sagte Herb Quinn. „Aber ich habe nur einen Blick hineingeworfen. Sie schien zu schlafen.“ „Bestimmt stand sie unter einem Beruhigungsmittel“, mutmaßte Janet Smith. „Vermutlich“, erwiderte Herb. „Die Schwester hat mich hinausgeworfen. Besucher sind unerwünscht.“ „Mir wäre wohler, wenn der alte Doktor noch da wäre und sich um sie kümmern könnte“, sagte Ann. „Den neuen kenne ich nicht.“ „Tennyson?“ „Ja, ich glaube, so heißt er.“ „Du schätzt ihn wohl falsch ein“, erklärte James Henry. „Er ist schwer in Ordnung. Ich habe vor ein paar Wochen mit ihm gesprochen.“ „Aber du weißt nicht, ob er als Arzt wirklich etwas taugt.“ „Nein, als Arzt habe ich ihn noch nicht erlebt.“ „Ich hatte vor kurzem eine leichte Halsentzündung“, warf Marge Streeter ein. „Ich bin zu ihm gegangen, und er hat sie sehr schnell geheilt. Er ist ein angenehmer Mensch, man kann sich gut mit ihm unterhalten. Der alte Doktor war ein Griesgram.“ „Das stimmt“, bestätigte Herb. „Wenn man sich nicht an seine Vorschriften hielt, konnte er einem die Hölle heiß machen.“ „Mir gefallen diese Gerüchte nicht, die über Maria im Umlauf sind“, bemerkte Ann. 260
„Keinem von uns gefallen sie“, erklärte Herb. „Der Vatikan ist immer voller Geschwätz. Am besten ist, man glaubt gar nichts davon.“ „Es muß etwas geschehen sein“, sagte Janet. „Etwas ungewöhnlich Schreckliches. Wir hatten alle schon Schockerlebnisse, wir wissen, daß so etwas möglich ist.“ „Aber wir sind immer schnell darüber hinweggekommen“, sagte Herb. „In ein oder zwei Tagen hatten wir es hinter uns.“ „Maria ist nicht mehr die Jüngste“, gab Ann zu bedenken. „Vielleicht schafft sie es einfach nicht mehr. Sie sollte sich zur Ruhe setzen. Ihre Klone wachsen heran; sie können bald ihre Arbeit übernehmen.“ „Dieses Klonen bereitet mir immer Unbehagen“, erzählte Marge. „Ich weiß, es kann sehr sinnvoll sein, und es wird fast vom gesamten von Menschen besiedelten Teil der Galaxis akzeptiert, dennoch habe ich immer ein unheimliches Gefühl, wenn ich daran denke. Alle Leute, die mit dem Klonen zu tun haben, scheinen von sich zu glauben, daß sie Gott spielen dürften. Diese Idee ist einfach unnatürlich.“ „Gott spielen ist nichts Neues“, entgegnete James. „In der Geschichte der Menschheit und auch in der anderer Spezies hat es eine Reihe von Gottesnachahmern gegeben. Das deutlichste Beispiel ist jenes, auf das Ernie gestoßen ist. Erinnert ihr euch noch? Es liegt schon einige Jahre zurück.“ „Meinst du diese Rasse, die Welten geschaffen hat und sie dann mit Kreaturen nach ihren eigenen Vorstellungen bevölkerte?“ fragte Herb. „Genau die meine ich“, antwortete James. „Man muß zugeben, daß die Welten sehr logisch aufgebaut waren. Nicht etwa Dreckklumpen, über die ein paar Zaubersprüche gemurmelt wurden. Nein, die Welten waren perfekt durchdacht, alle Faktoren, die für die Entstehung eines Planeten wichtig sind, wurden berücksichtigt. Nichts wurde dem Zufall überlassen, 261
alle Teile korrekt zueinander gefügt. Auch die Kreaturen, die dort ausgesetzt wurden, entstammten logischen Überlegungen. Es waren einige höchst merkwürdige biologische Gebilde darunter, aber die Sache hat funktioniert.“ „Ja, das weiß ich“, sagte Herb, „aber was geschah dann? Jeder Planet verwandelte sich in eine Welt des Leistungsdruckes, in ein lebendes Labor, und die Bevölkerungen wurden allen möglichen Tests unterzogen. Man konfrontierte sie mit unterschiedlichen Problemsituationen, die sie lösen mußten, wenn sie überleben wollten. Denkende Wesen wurden als Versuchstiere benutzt. Vermutlich hat man so eine Reihe von Daten gewonnen und konnte soziologische Probleme in aller Tiefe untersuchen, aber für die Planetenbewohner war es ein hartes Los. Und alles ohne Sinn …“ „Ich glaube schon, daß eine Absicht dahintersteckte“, wandte Janet ein. „Ich möchte diese Handlungsweise nicht verteidigen, aber daß sie einen Sinn hatte, kann man nicht abstreiten. Vielleicht war es kein Zweck, den wir als ausreichenden Grund für diese Maßnahmen empfunden hätten …“ „Das möchte ich bezweifeln“, unterbrach sie Ann. „Es muß einfach gewisse ethische Grundsätze geben. Für alle Zeiten und das gesamte Universum muß man davon ausgehen können, daß es gewisse Dinge gibt, die richtig und andere, die falsch sind. Wir können die bösen Taten einer bösen Rasse nicht einfach damit entschuldigen, daß die betreffende Rasse eben böse ist, und es nicht besser weiß …“ „Dieses Streitgespräch könnte man endlos fortführen“, stellte James fest. „Hat Ernie damals eigentlich die Koordinate festgehalten, als er diese Rasse von planetenschaffenden Göttern entdeckte?“ fragte Marge. „Ich glaube, es ist ihm nicht gelungen“, sagte Herb. „Er ist mehrere Male dorthin zurückgekehrt und hat eine Reihe von 262
Beobachtungen angestellt. Auf eine perverse Art und Weise hat er ein ungeheures Interesse für diese Rasse und die von ihr künstlich herbeigeführten Situationen entwickelt. Doch irgendwann kam er zu dem Schluß, daß er keine wirklich lohnenden Erkenntnisse sammelte, und er hat diese Welt nicht mehr angesteuert.“ „Er hat Glück gehabt, daß er sich davon losreißen konnte“, stellte James fest. „Gelegentlich entsteht aus diesen Erfahrungen eine Faszination, die einen immer wieder zu bestimmten Punkten zieht. Vermutlich ist Maria deswegen zum Himmel zurückgekehrt, weil sie von ihm angezogen wurde.“ „Ich hatte auch ein Erlebnis, das mir nicht aus dem Sinn geht“, sagte Marge. „Dabei habe ich diese Welt gar nicht selbst besucht, sondern mir nur einen Würfel angesehen, den Betsy hergestellt hat: Ich rede von diesem alten, senilen Computer,’ auf den sie vor Jahren gestoßen ist. Die Welt gehörte zu einem Kugelsternhaufen, wie man sie im Zentrum der Galaxis häufig finden kann. Der Computer herrschte noch immer über eine gewaltige Ansammlung recht mysteriöser Maschinen, die zu einem unbekannten Zweck hergestellt worden waren. Ein großer Teil der Maschinerie war bereits außer Betrieb, da die Geräte schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gewartet wurden. Was die Maschinen ursprünglich tun sollten, hat Betsy nie herausfinden können. Der ganze Planet ist heute nur noch ein riesiger Schrottplatz. Irgendwann muß es dort einmal intelligentes biologisches Leben gegeben haben, aber ob diese Wesen die Maschinen gebaut haben, konnte Betsy nicht in Erfahrung bringen. Heute ist fast alles Leben dort vernichtet, was von der Fauna übriggeblieben ist, lebt in unterschiedlichen Verstecken.“ „Ich habe gehört, daß Betsy auch heute noch gelegentlich dorthin zurückkehrt“, sagte Ann. „Vermutlich wird sie noch mehrmals dorthin geschickt werden“, bemerkte Herb. „Der Vatikan hegt ein spezifisches Inter263
esse an diesem senilen Computer. Er würde zu gern wissen, wie es zugehen kann, daß ein Computer eines Tages senil wird. Der Vatikan würde es zwar niemals zugeben, aber ich könnte mir gut vorstellen, daß sie bei diesem Computer an Seine Heiligkeit denken.“ „So alt ist der Papst noch nicht“, wandte Marge ein. „Von Altersschwachsinn kann bei ihm noch keine Rede sein.“ „Jetzt noch nicht“, bestätigte James. „Jetzt ist er noch ein junger Bengel. Aber gib ihm noch eine Million Jahre … Ich traue es dem Vatikan durchaus zu, eine Million Jahre im voraus zu planen.“ „Der Vatikan wird keine Million Jahre existieren“, behauptete Ann. „Darauf möchte ich nicht wetten“, sagte Herb. „Ein Roboter ist das hartnäckigste Wesen, das man sich vorstellen kann. Er weicht nie zurück, er gibt niemals auf. Die Roboter des Vatikans haben ein gewaltiges Werk in Bewegung gesetzt, und sie werden es um jeden Preis fortsetzen. In einer Million Jahren haben sie womöglich die ganze Galaxis fest im Griff.“
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36 Jill ging in die Klinik, um Maria einen Besuch abzustatten. Die Schwester hielt sie an der Türe auf. „Sie dürfen nur ein paar Minuten im Zimmer bleiben“, sagte sie. „Versuchen Sie nicht, mit ihr zu sprechen!“ Jill tat ein paar Schritte ins Zimmer hinein, blieb dann stehen und blickte auf die ausgemergelte, zerbrechliche Frauengestalt im Bett hinab. Ihr Körper war so zart, daß er sich kaum unter der Bettdecke abzeichnete. Das lange graue Haar war über das Kopfkissen gebreitet, die klauenähnlichen Hände lagen auf der Decke. Die Finger waren ineinander verschränkt, wie in einem verzweifelten Gebet. Die dünnen Lippen waren aufeinandergepreßt, Wangenknochen und Kinn ragten spitz und deutlich aus dem Gesicht heraus, von einer pergamentenen Haut straff überspannt. Erschreckt stellte Jill fest, daß dieses lebende Gerippe tatsächlich von einem Hauch Heiligkeit umweht war. Die junge Frau fühlte sich an die mittelalterliche Zeichnung von einem Eremiten erinnert, dem es gelungen war, sich in einer Höhle zu Tode zu hungern, auf welche Tat hin er später mit der Heiligsprechung belohnt wurde. Diese arme Frau, dieser erbarmungswürdige Überrest eines Menschen, dachte Jill, soll also wirklich als Heilige verkauft werden. Marias Augen öffneten sich langsam unter unnatürlichen Mühen. Die Frau schien ihre Lider zu dieser Bewegung zu zwingen. Ihr Kopf lag so auf dem Kopfkissen, daß sie Jill geradewegs ins Gesicht starrte. Die dünnen Lippen bewegten sich und formten eine Frage, die Flüsterstimme schnitt scharf in das Schweigen des Krankenzimmers. „Wer sind Sie?“ 265
Jill antwortete ebenfalls flüsternd: „Ich bin Jill. Ich wollte Sie besuchen.“ „Nein“, sagte Maria, „Sie sind nicht Jill. Von Jill habe ich gehört, aber ich habe sie nie gesehen. Sie jedoch habe ich schon gesehen. Irgendwo habe ich Sie schon gesehen!“ Jill schüttelte langsam den Kopf. So wollte sie die alte Frau beruhigen. „Ich erkenne Sie“, beharrte Maria. „Einmal, es ist schon sehr lange her, da haben wir miteinander gesprochen, aber ich habe vergessen, wo das war.“ Die Schwester kam herein und ging schnell auf Jill zu. Sie blieb jedoch stehen, als Maria noch etwas sagte. „Komm näher!“ sagte die alte Frau, „so nahe, daß ich dich besser sehen kann. Meine Augen sind heute sehr schwach. Beuge dich herab, ich will dich genau betrachten.“ Jill trat ganz dicht ans Bett und beugte sich vor. Die beiden welken Hände auf der Decke lösten sich voneinander; die Rechte schwebte hinauf und streichelte Jill zart über die Wange. „Ja, ja“, sagte Maria, „ich kenne dich.“ Dann verschränkten sich beide Hände wieder ineinander, die Augenlider senkten sich. Die Schwester zupfte Jill am Ärmel. „Nun müssen Sie wirklich gehen!“ „Lassen Sie mich los!“ herrschte Jill sie in plötzlichem Ärger an. „Ich kann allein gehen.“ Draußen vor der Kliniktür sog sie in tiefen Zügen die Luft ein, ein Gefühl der Freiheit durchströmte sie. Drinnen im Krankenzimmer war der Tod, sagte sich Jill, der Tod und etwas anderes. Die Sonne war am westlichen Himmel hinabgewandert und hing jetzt dicht über der purpurfarbenen Bergwand. Dieses Sonnenlicht der letzten Stunde legte sich wie eine Wohltat über das 266
Land. Zum ersten Mal, seit sie nach Nirgendsend gekommen war, betrachtete Jill das Land, auf dem sie stand, nicht als fremde Welt, nicht als grotesken Hintergrund, auf dem ein so unfaßliches Unternehmen wie der Vatikan wirkte, sondern als den Ort, an dem sie lebte, als Umgebung, in die sie sich auf angenehme Art eingewöhnt hatte. Der Vatikan zeichnete sich von dem Hügelland seiner Umgebung ab und war doch gleichzeitig ein Teil von ihm. Er wuchs nicht wie ein Fremdkörper aus dem Boden heraus, sondern auf eine organische Art, wie ein Baum, der seine Wurzeln tief in der Erde verankert hat. Nach Osten und Süden erstreckten sich die Äcker, die Gärten und Obstwiesen, idyllische Oasen, die bis dicht an die breit und behäbig ruhenden Gebäude des Vatikans heranreichten und so eine Brücke schlugen zwischen der wilden Natur von Nirgendsend und den Bauwerken seiner besiedelten Zone. Im Westen standen die Berge, eine wolkenhafte, blaue Masse sich ewig wiegender Schatten, jenes unendliche Schattenspiel, das Jason Tennyson sofort in sein Herz geschlossen hatte, als er es zum ersten Mal erblickte. Als er versucht hatte, Jills Aufmerksamkeit auf die Berge zu lenken, war sie nicht beeindruckt gewesen. Zu jenem Zeitpunkt war ein Berg für sie nichts weiter als ein Berg gewesen, was denn sonst? Damals hatte sie sich geirrt, gestand sie sich jetzt ein. Ein Berg war ein Freund, zumindest konnte er einer sein, wenn man es ihm erlaubte. Das Gefühl, das diese gewaltige, in den Himmel greifende, blaue Woge in ihr auslöste, war mit jedem Tag gewachsen. Sie hatte sich an den Anblick der Berge und an das Gefühl gewöhnt, doch an diesem Abend war es so stark, daß Jill schlagartig erkannte, was ihr die Berge wirklich bedeuteten: ein Wegzeichen in ihrem Leben, eine immerwachende, behütende Gegenwart, eine vertraute Gestalt, an die sie sich immer wenden konnte. Sie hätte dies alles schon viel früher empfinden müssen, dachte sie. Bisher hatte sie sich einfach nie die Zeit 267
genommen, stehenzubleiben und zu schauen. Sie hatte sich seinerzeit geirrt, und Jason hatte recht gehabt. Während sie an Jason dachte, hielt sie es plötzlich für notwendig, ihn sofort aufzusuchen. In der Klinik hatte sie ihn nicht gesehen, also war er vermutlich zu Hause, aber das war keineswegs sicher. In letzter Zeit hatte er es sich immer mehr angewöhnt, häufig zu langen Fußmärschen aufzubrechen. Vielleicht war er jetzt auch wieder einmal bei Decker. Sie pochte an seine Tür und vernahm keine Antwort. Vielleicht macht er ein Nickerchen, dachte sie und drehte am Türknopf. Die Tür öffnete sich; auf Nirgendsend gab es nur wenig verschlossene Türen. Schlösser wurden auf diesem Planeten nicht benötigt. Die Wohnung war leer. Sie lag völlig verlassen da. Auch aus der Küche war kein Laut zu hören, also war auch Hubert ausgegangen. Auf dem Kaminrost brannte ein kleines Feuer. „Jason!“ rief sie. Sie sprach leiser, als sie vorgehabt hatte. Die Stille im Raum schien jeden Besucher zu äußerster Ruhe verpflichten zu wollen. Jill sah ihre Reflexion in einem großen Spiegel, der über dem Kamin angebracht war: eine einsame Gestalt in einem großen, verlassenen Raum. Der Feuerschein fiel auf ihre bleiche Wange, in der ein roter Streifen brannte. „Jason!“ rief sie noch einmal, diesmal mit etwas kräftigerer Stimme. Als wieder keine Antwort erklang, ging sie zur offenen Schlafzimmertür hinüber. Das Bett war offensichtlich unberührt und mit einer bunten Tagesdecke zugedeckt. Auch die Badezimmertür stand offen. Sie ging ins Wohnzimmer zurück, und da stand Jason, vor dem Kaminfeuer, den Rücken den Flammen zugewandt, den Blick ins Zimmer gerichtet. Er starrte in den Raum, doch sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Seine Augen schienen nichts 268
wahrzunehmen. Woher war er so plötzlich gekommen, fragte sie sich. Wieso hatte sie ihn eben nicht bemerkt? Sie hatte nicht gehört, daß sich die Haustür geöffnet oder geschlossen hätte, und sie war auch gar nicht lange genug im Schlafzimmer gewesen, als daß er in dieser Zeit von der Eingangstür bis zum Kamin hätte gehen können. „Jason?“ fragte sie scharf. „Was ist los mit dir?“ Als er ihre Stimme hörte, fuhr er herum, aber er schien sie nicht zu erkennen. Sie ging schnell zum ihm hinüber, griff mit beiden Händen nach seinen Schultern und schüttelte ihn. „Jason, was ist geschehen?“ Seine Augen, die eigenartig trüb gewesen waren, wurden zusehends klarer. „Jill?“ sagte er mit verhaltener, mißtrauischer Stimme, so als ob er es nicht fassen könnte, sie vor sich zu sehen. „Jill!“ wiederholte er und faßte nach ihrem Arm. „Jill, ich bin fort gewesen.“ „Ich weiß, daß du nicht hier warst“, antwortete sie. „Aber wo bist du gewesen?“ „An einem anderen Ort“, erwiderte er. „Jason, komm, reiß dich zusammen! Von welchem anderen Ort redest du?“ „Ich war in der Gleichungswelt.“ „Die Welt, von der du immer wieder geträumt hast, die dir solche Alpträume bereitete?“ „Ja, aber diesmal war es kein Traum. Ich war tatsächlich dort. Ich bin über den Boden gegangen. Ich und Flüsterer …“ „Flüsterer, dieses Wölkchen aus Diamantenstaub, von dem du mir erzählt hast?“ „Wir sind als ein Wesen dorthin gereist“, antwortete Tennyson. „Wir gingen zusammen.“ „Komm“, forderte sie ihn auf, „setz dich hin! Kann ich etwas für dich tun? Soll ich dir einen Drink holen?“ 269
„Nein, danke, bleib einfach bei mir!“ Er hob die Hand, die auf ihrem Arm geruht hatte, und streichelte zärtlich ihre Wange, die Wange mit der häßlichen, zornroten Narbe. Diese Geste war ihm zur Gewohnheit geworden, vielleicht wollte er mit der Handbewegung unbewußt ausdrücken, daß er Jill trotz ihrer Entstellung liebte. Anfangs war sie seiner Hand ausgewichen, doch dann schien sie sie kaum noch zu bemerken. Von dieser Geste abgesehen, hatte er schon sehr lange nichts mehr gesagt oder getan, was auf ein bewußtes Wahrnehmen der Narbe hindeutete. Dies war einer der Gründe, weswegen sie ihn liebte, das wußte Jill. Noch keinem anderen Mann, noch keinem anderen Menschen überhaupt, war es bisher gelungen, ein so natürliches Verhältnis zu dieser schrecklichen Narbe zu entwickeln. Darum wich Jill der Hand nun nicht mehr aus, im Gegenteil, sie hatte diese Berührung lieben gelernt und empfand sie manchmal fast wie eine Segnungsgeste. Tennysons Finger glitten behutsam über ihre Wange. Jill stand dem großen Spiegel gegenüber, und sie konnte die Bewegung der Hand genau verfolgen; sie sah die Liebe, mit der die Hand geführt wurde. Die Hand sank herab, Jill erstarrte. Meine Phantasie geht mit mir durch, sagte sie sich. Ich lasse mich von meinem eigenen Wunschdenken täuschen. Was sie sah, war nicht die Wirklichkeit. In ein oder zwei Sekunden würde die Einbildungskraft ihre Macht über sie verlieren, die Normalität würde zurückkehren. Sie blieb völlig reglos stehen, während die Sekunden verstrichen. Sie schloß fest die Augen und öffnete sie wieder. Das Wunschbild war immer noch da. „Jason!“ sagte sie. Sie sprach sehr leise, versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten, und konnte doch nicht verhindern, daß sie zitterte. „Jason!“ stammelte sie noch einmal. Es kostete sie große Mühe, das Wort zu formen. Ihre Wange blieb makellos. Das Stigma war nicht mehr da. 270
37 Kurz vor Sonnenuntergang hatte Decker einen Platz gefunden, an dem er die Nacht verbringen konnte, und er blieb stehen. Aus dem Hang eines niedrigen Hügels entsprang eine Quelle, die ein schmales Bächlein in der Talsohle speiste. Oberhalb der Quelle wuchs niedriges, dichtes Buschwerk, das den Wind fernhalten würde, der des Nachts von den Berggipfeln in die Täler blies. Ein umgestürzter, kahler Baum lag dicht neben dem Lagerplatz auf einer Gruppe von Felsbrocken, also war auch für einen ausreichenden Vorrat an trockenem Feuerholz gesorgt. Decker ging methodisch an die Arbeit. Er schleppte ein paar Äste von dem toten Baum herbei und entfachte ein kleines Feuer, dann schlug er sich Feuerholz für die Nacht. Anschließend baute er sein kleines Zelt auf, das ihn vor nächtlichen Regenfällen schützen sollte, und rollte seinen Schlafsack auseinander. Er schöpfte einen Blechtopf voll Wasser aus dem Bach und hing einen Kaffeekessel über das Feuer. Nun wickelte er die beiden Fische aus. Er hatte sie früher am Tag gefangen, ausgenommen, bratfertig gemacht und anschließend in große Blätter gewickelt. Jetzt legte er sie in die Pfanne und ließ sich nieder, um sie über die Flammen zu halten. Seufzend stand er noch einmal auf, lud seine Flinte durch und stellte sie in Reichweite gegen einen Felsbrocken. Er war schon häufig in den Bergen gewesen, und er hatte sein Gewehr nur äußerst selten benötigt, aber seine natürliche Vorsicht sagte ihm, daß man niemals ganz sicher sein konnte, ob man das Gewehr nicht doch benutzen müßte. Bisher hatte Flüsterer ihn nicht eingeholt. Wie sollte er auch, dachte Decker. Flüsterer hatte schließlich nicht gewußt, daß Decker diesen Ausflug geplant hatte, und eigentlich hatte er ihn gar nicht geplant, er war einfach aufgestanden und losgegangen. Es war nicht so, daß ihn etwas zu diesem Ausflug getrie271
ben hätte, es gab keinen Grund, so plötzlich in die Berge hinauszuziehen. Die Bergwanderung hatte sich ganz natürlich ergeben: Der Garten war durchgehackt, die Brennholzvorräte aufgestapelt, es gab nichts mehr zu tun. Ohne Überraschung stellte Decker fest, daß er mit den Vorbereitungen für eine Wanderung begonnen hatte. An einen außergewöhnlichen Fußmarsch hatte er nicht gedacht, nur ein kleiner Ausflug sollte es sein, und wenn er unterwegs zufällig ein paar hübsche Steine fände, wollte er zufrieden sein. Einen Moment lang hatte er überlegt, ob er zum Vatikan hinunterfahren sollte, um Tennyson zu fragen, ob er ihn begleiten wolle, aber dann war ihm eingefallen, der Zeitpunkt könnte für Tennyson recht ungünstig sein. Als Vatikanarzt konnte Jason vermutlich nicht weg, da er ständig ein Auge auf Maria haben mußte. Na dann, vielleicht beim nächsten Mal, dachte Decker. Denn er wollte nicht unbedingt allein sein. Außerdem mochte er Tennyson. Jason war von allen, die er in den letzten Jahren getroffen hatte, der erste Mann, für den er eine gewisse Zuneigung empfand. Decker glaubte, daß ihm Tennyson in mancher Hinsicht ähnlich war. Er redete nicht zuviel und niemals über die falschen Dinge. Er stellte nur wenige Fragen, und wenn er etwas fragte, dann war er sehr taktvoll. Er hatte ein Gefühl dafür, wie man eine ungewöhnliche Situation mit diplomatischem Geschick bewältigte. Was Tennyson ihm über Flüsterer sagen wollte, hätte einen anderen leicht in Verlegenheit bringen können, aber er hatte es verstanden, offen und direkt zu sprechen, so daß alle Fragen auf eine beinahe erfrischende Weise gelöst werden konnten und für beide Teile keine Peinlichkeit entstand. Während Decker jetzt neben dem Feuer hockte und die im Fett brutzelnden Fische betrachtete, wünschte er, Flüsterer bei sich zu haben. Wenn Flüsterer gewußt hätte, daß er in die Berge wollte, hätte er ihn wahrscheinlich begleitet. Flüsterer mochte diese gemeinsamen Ausflüge sehr. Es gab immer eine Menge 272
Dinge, über die man reden konnte, und Flüsterer fand ebensoviel Gefallen daran, im Flußkies nach Halbedelsteinen zu suchen, wie Decker selbst. Flüsterer war schon ein guter Kumpel, gestand Decker sich ein. Zum Beispiel prahlte er nie mit den Steinen, die er an Stellen gefunden hatte, an denen Decker achtlos vorübergegangen war. Als Tennyson ihm von seinem Erlebnis mit Flüsterer erzählte, hatte Decker sofort vermutet, daß er Flüsterer in Zukunft weniger häufig sehen würde. Das konnte durchaus seine Vorzüge haben, denn es gab Zeiten, da konnte Flüsterer äußerst nervtötend sein. Aber die alte Freundschaft zerbrach daran bestimmt nicht. Er und Flüsterer waren nun so lange zusammen, daß so etwas nicht geschehen konnte. Wenn Flüsterer jetzt nicht bei ihm war, dann hatte das andere Gründe. Durch seine Begegnung mit Tennyson hatte Flüsterer vermutlich neue Interessen entdeckt, eine neue Welt, die er nun gründlich erkunden wollte. Aber über kurz oder lang würde er zurückkommen, dessen war sich Decker sicher. Es würde ihn nicht überraschen, wenn Flüsterer seiner Fährte folgen würde, um sich ihm anzuschließen, noch bevor der Ausflug vorüber war. Der Stecken, an dem der Kaffeekessel hing, neigte sich bedrohlich, und Decker beugte sich vor, um ihn fester in den Boden zu rammen. Direkt vor seinem Gesicht explodierte der Kessel. Die zerfetzten Reste flogen, von einer unsichtbaren Kraft fortgerissen, durch die Luft. Kochendes Wasser spritzte Decker auf Brust und Gesicht. In einem automatischen Reflex warf sich Decker hinter einem Felsbrocken auf den Boden, die Flinte riß er mit sich. Vom Hang über ihm wehte der häßliche Knall eines Gewehrschusses herab. Mit der Flinte in der Hand rollte sich Decker herum. Er wartete einen Augenblick und spähte dann vorsichtig über seine Deckung. Der Knall mußte von einem Felsvorsprung auf halber 273
Höhe des Hanges gekommen sein, aber dort war niemand zu entdecken. „Der Mistkerl hat zu früh abgedrückt“, murmelte Decker zwischen den Zähnen. „Er hätte noch ein wenig tiefer schleichen können, dann hätte er eine bessere Chance gehabt. Elender Feigling!“ Der zerfetzte Kessel lag etwa fünf Meter vom Lagerfeuer entfernt. Die Pfanne mit den Fischen stand direkt auf den brennenden Holzscheiten, und es stieg bereits eine dünne Rauchfahne aus der Pfanne auf. Wenn ich hier noch lange festsitze, dachte Decker, sind die Fische hinüber. Oh verdammt! Er hatte sich so auf die Fische gefreut, hatte bereits ihren Geschmack auf der Zunge wahrgenommen. Wer mochte nur auf ihn geschossen haben? Wer wollte ihn umbringen? Er war sicher, daß er das Ziel des Schützen gewesen war und nicht der Wasserkessel. Der Schuß hatte ihn töten sollen, nicht erschrecken. Langsam ließ Decker seinen Blick über den Hang wandern. Auf jede Bewegung, jede Andeutung einer Bewegung gab er acht. Wenn Flüsterer bei mir gewesen wäre, wäre dies nicht geschehen, dachte er. Schon vor Stunden hätte es Flüsterer gespürt, falls ihnen jemand nachschlich. Also mußte es jemand sein, der wußte, daß Flüsterer diesmal nicht bei ihm war. Nein, sagte er sich, das ergab keinen Sinn, denn im Vatikan wußte ja niemand von Flüsterers Existenz. Er hatte noch niemandem etwas von Flüsterer erzählt, also konnte auch niemand etwas von Flüsterer erfahren haben. Tennyson war der einzige, der Flüsterer kannte, und vermutlich Jill, denn zwischen den beiden gab es keine Geheimnisse. War es möglich, daß Tennyson Ecuyer von Flüsterer erzählt hatte? Nicht sehr wahrscheinlich. Ecuyer und Tennyson waren zwar befreundet, aber Decker konnte sich nicht vorstellen, daß Jason Ecuyer von Flüsterer erzählt hatte. Decker schüttelte den Kopf. All seine Überlegungen waren 274
nichts als fruchtlose Spekulationen. Wenn man Flüsterer aus dem Spiel ließ, konnte jedermann auf Nirgendsend der Schütze sein, denn niemand wußte von Flüsterer. Es war eben sein persönliches Pech, ohne Flüsterer in diese Lage geraten zu sein. Tennyson konnte nicht dort oben auf dem Hang lauern. Er hatte keinen Grund. Selbst wenn er einen hatte, so entsprach dieser Überfall nicht seinem Stil. Es gab nur wenige Gewehre auf Nirgendsend. Ein paar Leute gingen gelegentlich in den Wäldern auf die Jagd. Die meisten von ihnen besaßen nur leichte Flinten. Nach dem Abschußknall zu schließen, hatte der Mann auf dem Hügel eine schwere Büchse. Decker ging im Kopf die Liste der Leute durch, die ihm nach dem Leben trachten konnten. Ihm fiel kaum jemand ein, und er mußte seine ganze Vorstellungskraft bemühen, um die Liste aufzustellen. Nachdem er es geschafft hatte, strich er einen Namen nach dem anderen durch. Die wenigen Männer, die ihm in den Sinn kamen, hatten einfach kein ausreichendes Motiv. Vielleicht mochte er in den zurückliegenden Jahren jemanden durch ein Wort oder eine Tat beleidigt haben, aber sicher hatte er niemanden so tief gekränkt, daß er ihm nun mit einem Gewehr auflauerte, um Rache zu nehmen. Die Vorstellung, daß tatsächlich jemand Jagd auf ihn machte, erschien Decker lächerlich. Und doch gab es jemanden, der jetzt mit dem Kopf voller Mordgedanken dort oben hinter den Felsen hockte und darauf wartete, daß sich Decker bewegte und seine Position verriet, damit er ihm eine Kugel in den Leib jagen konnte. Hart und gedankenschnell schlug etwas auf den Fels, etwa einen Meter von Deckers Kopf entfernt. Granatsplitter flogen durch die Luft, und ein paar von ihnen bohrten sich in Deckers Nacken und Wange. Das Echo des Schusses hallte durch die Schlucht, die Kugel heulte als Querschläger in den Himmel hinauf. 275
Oben zwischen den Felsen hatte Decker für einen Augenblick einen metallischen Fleck im Sonnenlicht blitzen sehen. Er konzentrierte sich ganz auf die Stelle zwischen den Steinen, auf die die Strahlen der Abendsonne fielen, aber er konnte nichts erkennen. Dennoch schob er den Gewehrlauf über den Felsblock und nahm die Stelle ins Visier. Es geschah nichts, es rührte sich nichts. Kein Laut war zu hören. Der Killer wartete. Dann nahm Deckers Auge eine schemenhafte Form wahr, sein Blick folgte den Umrißlinien der Gestalt: eine Schulter, die Andeutung eines Oberkörpers, die Silhouette eines Kopfes. Decker zog den Gewehrkolben gegen die Schulter, er atmete ein und brachte Kimme und Korn auf eine Linie. Die Schulter, und da war auch der Kopf, in tiefem Schatten, kaum zu sehen, aber ohne Zweifel ein Kopf. Decker rückte das Visier ein kleines Stück nach oben, jetzt war der Kopf genau dahinter. Decker krümmte den Finger am Abzug …
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38 Tennyson erwachte kurz vor Morgengrauen. Jill lag an seiner Seite. Sie schlief noch, ihr Atem ging flach und regelmäßig. Tennyson stellte sein Kopfkissen gegen den Bettgiebel und richtete den Oberkörper auf. Es war dunkel und still. Das graue Licht der Vordämmerung fiel durch die Fenster ins Wohnzimmer. Tennyson sah es durch die offene Tür. Im Schlafzimmer waren die Blenden verschlossen, und der Raum war in tiefes Dunkel getaucht. In der Küche summte der Kühlschrank. Tennyson versuchte, Jills Gesicht zu betrachten. Er wollte sich vergewissern, ob ihre Wange noch immer ohne Narbe war. Aber sie lag auf der Seite und hatte die rechte Wange tief ins Kissen gepreßt. Außerdem war es so dunkel im Zimmer, daß Tennyson ohnehin keine Einzelheiten erkennen konnte. Wenn Tennyson jetzt wieder an das Ereignis dachte, rührte sich in ihm erneut eine tiefe Fassungslosigkeit. Und doch hatte es den Beweis gegeben, einen Beweis, der stundenlang Bestand gehabt hatte: Die rote Narbe war nicht wiedergekommen. Wenn es sich bei dieser seltsamen Heilung nur um eine zeitweilige Wirkung gehandelt hätte, wäre die Narbe gewiß bereits gestern abend wieder erschienen. Tennyson hob die rechte Hand dicht vor sein Gesicht und starrte sie an. Er konnte nur ihre schwarze Silhouette vor dem hellen Rechteck der Wohnzimmertür ausmachen. Die Form seiner Hand war unverändert, die Finger leuchteten auch nicht im Dunkeln, alles war so, wie es immer gewesen war. Und doch hatte er mit einer Berührung … Ein plötzlicher Schauder ließ ihn erzittern, obwohl die Nachtluft warm war. Er versuchte, sich zu erinnern, grub in sei277
nem Gedächtnis nach der anderen Welt, dem Land der Gleichungen. Die Zeichen hatten sich um ihn gedreht, sie waren in ihn eingedrungen, und einige von ihnen waren in ihm geblieben. Am Ende seines Erlebnisses war es ihm so vorgekommen – ja, jetzt konnte er sich wieder genau erinnern –, als habe er sich selbst in eine Gleichung verwandelt. Er war zu einer Gleichung geschrumpft, oder war er gewachsen? Er versuchte zu rekapitulieren, was für eine Art Gleichung er gewesen war, konnte sie sich jedoch nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen. Gewiß war er nicht eine von diesen unmäßigen, monströsen Gleichungen, die in ihrer Komplexität erschreckend waren. Einige dieser gigantischen Zeichenfolgen hatte er gesehen, als er unter dem Geleeberg begraben lag. Vermutlich war er nur eine einfache Gleichung gewesen, eine schlichte Zusammenfassung seiner selbst. Als die Diagramme das Haus für ihn errichtet hatten, war er schnell daruntergeschlüpft und hatte sich hingehockt, ohne zu wissen, wo er war. Dennoch war er mit seinem Dasein höchst zufrieden gewesen. Dies war ein einfacher, ein schlichter Gedanke, den er dort gehabt hatte, und der gut zu einer einfachen Gleichung passen würde. Ob die Diagramme einen Schutzwall um ihn errichtet hatten, fragte sich Tennyson, um ihn vor den wilden, übermächtigen Gleichungen zu schützen, die draußen um das Häuschen tobten? Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, hatte er die Gleichungswelt wieder hinter sich gelassen und sich mit dem Rücken zum Kamin in seinem Wohnzimmer wiedergefunden. Er war frei – und doch nicht völlig frei, denn er hatte aus der Welt der Gleichungen etwas mit sich gebracht, das er vorher nicht besaß, eine Eigenschaft, eine Fähigkeit. Einen Beweis für seine neue Fähigkeit hatte es bereits gegeben, würden nun weitere folgen? Was bin ich, fragte er sich. Was bin ich, das war auch die immerwährende Frage, die er sich in dem von den Diagrammen errichteten Haus gestellt hatte. 278
Bin ich überhaupt noch ein Mensch? Wie viele fremde Wesenszüge kann man in eine menschliche Struktur einfügen und immer noch von einem Menschen sprechen? Hatten die Wesen in der Gleichungswelt gewußt oder gespürt, daß er ein Arzt, ein Heiler war? Hatten sie seine Erneuerung nur vollzogen – er stellte sich sein Erlebnis in dem Haus immer als Erneuerung vor –, um ihn zu einem besseren Helfer umzuformen? Oder hatten sie sich etwa auch in andere Facetten seines Lebens eingemischt? Bei diesem Gedanken erschrak er zutiefst, und je länger er über diese Möglichkeit nachdachte, desto größer wurde sein Schrecken. Hatte er sich in etwas eingemischt, in das er sich nicht einmischen durfte? War er nun nicht unversehrt aus allem hervorgegangen? Er war verändert worden, aber er hatte sich keinen Wandel gewünscht. Eine Veränderung bereitete ihm unter allen Umständen Unbehagen, eine Veränderung seiner eigenen Person war bestürzend. Doch hatte er wirklich Grund, einen solchen Schrecken zu spüren? Seine Veränderung, woraus sie auch bestehen, wie beschränkt oder umfangreich sie auch sein mochte, hatte es ihm ermöglicht, Jill eine Gabe darzubringen, die ihr kein anderer Mensch hätte geben können. Und das war der entscheidende Punkt. Es war falsch von ihm, erschreckt oder verängstigt zu sein. Was auch geschehen sein mochte, es war Jill zugute gekommen. Wenn er in Zukunft nichts Außergewöhnliches mehr vollbringen würde, ja, selbst wenn er irgendwann für seine Tat leiden mußte, er würde es nicht bereuen. Er würde gern jeden Preis zahlen, den die Zukunft ihm abverlangen mochte. In dem Augenblick, wo er seine Hand auf Jills Wange gelegt hatte, hatte er den Gegenwert für jeden erdenklichen Einsatz erhalten. Bei diesen Gedanken wurde Tennyson wieder ruhiger. Er blieb halb aufgerichtet im Bett liegen und betrachtete die wach279
sende Helligkeit im Nachbarzimmer. In seinen Gedanken wanderte er noch einmal in die Welt der Gleichungen. Er versuchte herauszufinden, wie es ihm gelungen sein mochte, in seiner physischen Existenz dorthin zu gelangen. Dabei war ihm klar, daß nicht er es gewesen war, der die Fähigkeit zu einer solchen Reise besaß, sondern Flüsterer ihn in diese Welt geschafft hatte. Wenn er wissen wollte, wie Flüsterer dies gelingen konnte, dann mußte er sich bemühen, eine Menge mehr über Flüsterer zu erfahren, als er bisher herausgefunden hatte. Langsam ließ er den Blick durch das Zimmer wandern. Er suchte nach einem Anzeichen von Flüsterer, einem Flimmern in einer Ecke, einem Glitzern in der Luft. Er sah weder ein Flimmern noch ein Glitzern. Da suchte er in seinem Innern nach Flüsterer, denn es konnte sein, daß Flüsterer noch immer in ihm war. Aber es war nichts von ihm zu spüren, doch das bedeutete nicht viel, denn auch in der Gleichungswelt hatte Tennyson von Flüsterer nichts gespürt. Mit einem Ruck schüttelte Tennyson einen Rest Schläfrigkeit von sich ab. Er hatte ein Klopfen gehört. Das Geräusch brach ab, dann erklang es von neuem. Es schien von allen Seiten zugleich zu kommen, eine bestimmte Richtung ließ sich nicht ausmachen. Tennyson hörte genauer hin, dann hatte er das Klopfen lokalisiert: Es kam von der Haustür. Er glitt aus dem Bett und begann, mit den Füßen nach den Hausschuhen zu suchen, die plötzlich verschwunden waren. Jill bewegte sich unruhig und stieß einen lauten und fragenden Laut aus. „Es ist schon in Ordnung“, beruhigte er sie. „Bleib nur liegen, es ist jemand an der Tür.“ Die Hausschuhe blieben verschwunden, und Tennyson gab die Suche auf. Barfüßig stapfte er durch das Wohnzimmer, die Schlafzimmertür hatte er hinter sich zugezogen. Das 280
Klopfen an der Haustür hatte für einen Augenblick ausgesetzt, nun begann es erneut. Ein diskretes Pochen, leise, aber beharrlich. Im dämmrigen Wohnzimmer hatte Tennyson Mühe, seinen Weg zwischen Sesseln und Tisch zu finden. Als er die Haustür aufgerissen hatte, konnte er den Mann, der vor ihm stand, zunächst nicht erkennen. Dann sah er, daß es Ecuyer war. „Jason, es tut mir leid, daß ich dich zu dieser unmöglichen Uhrzeit …“ „Ist schon in Ordnung“, erwiderte Tennyson. „Ich war zufällig schon wach. Ich habe auf dem Bett gelegen und über etwas nachgedacht.“ „Kannst du mir etwas zu trinken geben? Etwas Alkoholisches, wenn du hast …?“ „Klar“, sagte Tennyson. „Setz dich vors Feuer, ich werde einen Holzscheit nachlegen.“ Er schloß die Haustür, schaltete das Licht ein und betrachtete Ecuyer genauer. Der Mann war in Jackett und Anzugshose gekleidet. „Du bist früh auf den Beinen“, stellte Tennyson fest. „Oder warst du etwa noch nicht im Bett?“ „Nein, ich bin nicht zum Schlafen gekommen“, antwortete Ecuyer und ließ sich auf die Couch vor dem Feuer fallen. Tennyson hatte den Brandy gefunden und brachte Ecuyer ein gut gefülltes Glas. „Du siehst ziemlich fertig aus“, sagte er zu ihm. „Ich bin auch völlig erledigt“, erwiderte Ecuyer. „Etwas Schreckliches ist geschehen. Etwas, das noch nie zuvor passiert ist, jedenfalls soweit ich weiß.“ Tennyson legte noch einen Scheit in den Kamin, dann setzte er sich neben Ecuyer auf die Couch und legte die Füße auf den niedrigen Tisch vor dem Feuer. Die Flammen wärmten seine Fußsohlen, und er ließ seine Zehen spielen. 281
Ecuyer nahm einen mächtigen Schluck Brandy. „Willst du mir hierbei nicht Gesellschaft leisten?“ fragte er. Tennyson schüttelte den Kopf. „Nicht so früh am Morgen“, sagte er. „Na ja“, murmelte Ecuyer, „bei mir ist das etwas anderes. Ich bin ja überhaupt noch nicht im Bett gewesen.“ „Eben wolltest du mir unbedingt etwas erzählen“, mahnte ihn Tennyson, „und jetzt läßt du dir reichlich Zeit. Falls du inzwischen deine Meinung geändert hast …“ „Nein, ich schiebe es nur vor mir her. Es ist etwas, das du erfahren mußt, aber es fällt mir nicht leicht.“ Tennyson erwiderte nichts, Ecuyer wandte sich noch einmal seinem Brandy zu. „Es geht um folgendes“, begann Ecuyer schließlich. „Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, mir den Himmelswürfel anzusehen. Der Gedanke an ihn bereitete mir Unbehagen. Natürlich weiß ich, daß ich ihn mir längst hätte anschauen müssen. Möglicherweise hätte ich etwas entdeckt, das dir bei der Heilung Marias geholfen hätte.“ „Auch ich hätte mir den Würfel anschauen müssen“, sagte Tennyson, „aber ich brachte es einfach nicht fertig.“ „Dann kannst du dir vielleicht vorstellen, was in mir vorging: Ich fand tausend Ausreden, warum ich den Würfel noch nicht betrachten konnte. Vermutlich hatte ich einfach Angst vor dem Erlebnis, das mich erwartete. Endlich bekam ich meine Gefühle in den Griff und sah ein, daß ich mich lange genug selbst betrogen hatte.“ „Also hast du dir den Würfel endlich angesehen?“ „Nein, Jason, das habe ich nicht.“ „Warum denn nicht, zum Teufel. Hast du im letzten Augenblick wieder den Mut verloren?“ „Nein, das nicht. Der Würfel war nicht mehr da.“ „Was soll das heißen: Der Würfel war nicht da?“ 282
„Nicht da! Verschwunden!“ „Was?“ „Der Würfel ist nicht mehr dort, wo wir ihn abgelegt haben, der alte Ezra und ich. Du kennst doch Ezra, den Archivar?“ „Ja, ich kenne ihn.“ „Er hat sich genau an die Vorschriften gehalten. Er hält sich immer an die Vorschriften, tut immer genau das, was ihm aufgetragen wird. Ich arbeite schon viele Jahre mit ihm zusammen und vertraue ihm mehr als mir selbst.“ Tennyson wartete schweigend ab, dann fuhr Ecuyer fort: „Wenn ein neuer Würfel hereinkommt, dann übergebe ich ihn an Ezra, und er legt ihn in einem Safe ab. Nachdem ich mir den Würfel angesehen habe, wird er gewöhnlich an den Vatikan weitergereicht, und von dort kehrt er nach einiger Zeit wieder zurück, um in unser Archiv zu wandern. Es kommt häufig vor, daß ein Würfel dem Vatikan nicht sofort ausgehändigt wird, manche geben wir gar nicht weiter. Das sind solche Würfel, die offensichtlich keine interessanten Informationen enthalten. Diese lagern wir in einem Schrank. Ezra hat ein eigenes Ablagesystem. Wie es funktioniert, weiß ich nicht. Vielleicht behält er einfach alles im Kopf. Wir besitzen Tausende von Würfeln; frage ihn nach einem x-beliebigen, und er wird ihn dir sofort bringen. Er irrt sich niemals. Er geht direkt auf den richtigen Schrank zu. Wie gesagt, ich glaube nicht, daß er ein Ordnungssystem benutzt, aber auf eine rätselhafte Weise kann Ezra alles finden, was man von ihm verlangt. Ezras Methode ist gleichzeitig unser Sicherheitssystem.“ Tennyson nickte. „Ich verstehe, Ezra ist der einzige, der etwas finden kann, ein Fremder hätte keine Chance.“ „So ist es. Es gibt ein paar Würfel, sehr ausgefallene Exemplare, die ich ohne Ezras Hilfe finden kann, aber viele sind es nicht.“ „Also, ein neuer Würfel liegt solange im Safe, bis du ihn dir 283
angesehen hast, nicht wahr? Aber der Himmelswürfel war nicht im Safe?“ „Das habe ich dir ja eben erzählt, Jason. Ezra öffnete den Safe und meldete, daß der Würfel nicht darin sei. Drei andere Würfel lagen dort, aber der Himmelswürfel war nicht darunter. Es waren drei Würfel, die ich mir ebenfalls noch nicht angesehen hatte.“ „Vielleicht trug einer eine falsche Aufschrift?“ „Nein. Um ganz sicher zu gehen, habe ich mir alle drei angesehen. Der Himmelswürfel war nicht dabei, die Würfel waren in den letzten Tagen hereingekommen.“ „Wer außer Ezra und dir hätte den Safe sonst noch öffnen können, Paul?“ „Niemand. Nicht einmal ich kann ihn öffnen. Ezra ist der einzige.“ „Also dann kann nur Ezra …“ „Undenkbar!“ erklärte Ecuyer. „Das Archiv bedeutet Ezra mehr als sein Leben. Er existiert nur für das Suchprogramm, wenn man es ihm fortnähme, würde er sterben. Er ist noch enger mit dem Programm verbunden als ich. Er arbeitet auch schon viel länger daran, war von Anfang an dabei, seit einigen Jahrhunderten also.“ „Und wenn der Vatikan ihm …“ „Ganz ausgeschlossen. Nicht einmal der Papst selbst kann ihm etwas befehlen. Ezras ganze Loyalität gehört dem Suchprogramm, nicht dem Vatikan.“ „Dann muß jemand anderes die Zahlenkombination herausgefunden haben. Wäre das möglich?“ „Auch das ist äußerst unwahrscheinlich, aber es ist die einzige Erklärung.“ „Der Würfel ist nicht einfach verlegt worden?“ „Nein. Ezra hat ihn in den Safe gelegt, ich habe daneben gestanden und dabei zugesehen.“ 284
„Paul, was halst du von der Sache?“ „Was soll ich dazu sagen, Jason? Jemand hat den Würfel gestohlen.“ „Weil er nicht wollte, daß du ihn siehst?“ „Das muß ich fast annehmen. Du weißt sicher, daß es eine theologische Fraktion im Vatikan gibt, diese Gruppe, die Maria heiligsprechen lassen will?“ „Es sind die gleichen Leute, die auch das Suchprogramm abwürgen wollen. Denkst du, sie wollen dich etwa in Mißkredit bringen?“ „Das will ich ihnen nicht unterstellen“, sagte Ecuyer, „aber ausschließen kann ich es auch nicht.“ Dann schwiegen die beiden Männer eine Zeitlang. Das Holz, das Tennyson nachgelegt hatte, brannte prasselnd und lichterloh. Das Licht der Morgendämmerung erfüllte das Zimmer. „Das ist noch nicht alles“, sagte Ecuyer schließlich. „Ich habe dir noch nicht alles erzählt.“ „Was gibt es denn noch?“ „Der erste Würfel, der erste Himmelswürfel, ist ebenfalls verschwunden.“
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39 Ein Gerücht ging im Vatikan um und breitete sich über Nirgendsend aus. Maria hat ein Wunder vollbracht. Sie hat Jill von ihrem Stigma befreit. Sie hat ihre Hand auf Jills Wange gelegt, und die Narbe war verschwunden … Die Schwester behauptete, sie habe es selbst gesehen. Maria hatte Jill gebeten, sich zu ihr herabzubeugen, damit sie sie berühren konnte. Kaum hatte Maria Jills Wange berührt, war die Narbe verschwunden gewesen. Jills Gesicht war von da an makellos. Ein Wunder! Ein Wunder! Ein Wunder! Es konnte keine Zweifel geben. Die wenigen, die einen kurzen Blick auf Jill werfen konnten, schrien das Wunder über Nirgendsend hinaus. Sie beschworen, daß das Schandzeichen ausgelöscht war. Nachdem die ersten Leute „Wunder, Wunder“ geschrieen hatten, suchte Jill das Weite. Eine besorgte Schar von Kardinälen brachte die Angelegenheit vor Seine Heiligkeit, und Seine Heiligkeit, der über diese Narretei sehr betrübt war, stieß verächtliche Geräusche aus und riet seinen Leuten eine skeptischere Einstellung einzunehmen, solange keine gesicherten Beweise vorlagen. Als ein Kardinal vorschlug, ein Konzil sollte zusammentreten, um die Möglichkeit einer Heiligsprechung zu prüfen, wies ihn der Papst mit der Bemerkung ab, daß es für einen solchen Schritt noch zu früh sei. Seine Heiligkeit wirkte zwar erregt, blieb aber unverbindlich und wollte sich auf nichts festlegen. Automatisch, beinahe instinktiv, wurde ein allgemeiner Fei286
ertag ausgerufen. Die Arbeiter in den Gärten, Obstwiesen und auf den Bauernhöfen ließen ihre Werkzeuge fallen und reihten sich in eine spontane Prozession ein, die sich in Richtung auf den Vatikan in Bewegung setzte. Die Holzfäller kamen aus den Wäldern. Viele Mönche und andere Vatikanangehörige schlossen sich der fröhlichen Schar an. Die Vatikanswache hatte Mühe, die erregte Menge von einem überschwenglichen Sturm auf die Vatikangemächer abzuhalten. In der riesigen Basilika stritten sich Menschen und Roboter um einen Platz zum Knien. Zunächst blieben die Glocken stumm, aber dann setzten sie machtvoll ein, um die Menge zu beschwichtigen. Die Masse der Gläubigen begann zunehmend verärgert auf die indifferente Haltung des Vatikans zu reagieren, aber der Klang der Glocken versöhnte sie wieder. Menschentrauben zogen vor die Klinik, sie drangen in den kleinen Garten ein und zertrampelten Blumen und Büsche. In Sprechchören feierten sie Maria. Wachen marschierten auf, um sie am Eindringen in das Hospital zu hindern. Maria erwachte und vernahm den vielstimmigen Ruf: „Maria! Maria! Maria!“ Weil sie sehr verwundert darüber war, daß die vielen Menschen ihren Namen riefen, richtete sie sich im Bett auf. Die Schwester war gerade nicht im Krankenzimmer, sondern im Nachbarraum, wo sie im offenen Fenster lehnend die Vorgänge vor dem Klinikgebäude besser verfolgen konnte. Maria nahm alle Kraft zusammen, glitt aus dem Bett und griff nach einem Stuhl, um sich an ihm hochzuziehen. Mit unsicheren Schritten schleppte sie sich zur Tür. Nun konnte sie in den Korridor schauen, an dessen Ende eine Balkontür offenstand, um Kühle und frische Luft in die Gänge zu lassen. Die Menge bemerkte sie, als sie durch diese Balkontür hinaus ins Freie trat. Sie sahen, wie sich Marias knochige Linke um das Balkongitter klammerte, damit die schwache Frau nicht stürzte. Totenstille trat ein, während alle Augen die Zerbrech287
lichkeit und fraglose Heiligkeit der Gestalt auf dem Balkon wahrnahmen. Maria hob den rechten Arm. Ihre Hand war zur Faust geballt, nur der Zeigefinger ausgestreckt. Tadelnd schüttelte sie ihn über den Köpfen der Menge. In der atemlosen Stille war Marias dünne, krächzende Stimme deutlich zu hören. „Böse!“ schrie sie zu der Menge hinab. „Ihr seid böse, böse, böse!“
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40 „Es sieht nicht so aus, als ob jemand daheim wäre“, sagte Tennyson zu Ecuyer. „Woher willst du das wissen?“ „Es kommt kein Rauch aus dem Kamin.“ „Das muß nichts besagen.“ „Bei Decker schon. Decker läßt das Feuer niemals ausgehen. Natürlich unterhält er nicht immer ein großes Feuer, aber er sorgt ständig dafür, daß ein paar Scheite brennen, damit er das Holz nicht dauernd neu entzünden muß. Noch nie habe ich keine Rauchfahne über seiner Hütte gesehen.“ „Nun, wir werden es bald wissen“, sagte Ecuyer. Sie setzten ihren Weg den Hang hinauf fort. Deckers klappriges Fahrzeug stand neben seinem Schuppen. Zwischen zwei Bäumen war ein ansehnlicher Stapel Brennholz aufgeschichtet, die Baumstämme dienten als seitliche Stützen für den Stapel. Neben dem Haus lag der Garten mit seinen säuberlich gejäteten Gemüsebeeten und einer Reihe bunter Blumen. „Sieht gar nicht übel aus“, stellte Ecuyer fest. „Ich bin noch nie hier gewesen.“ „Bist du Tom noch nie begegnet?“ „Nein, es ist auch nicht leicht, ihn zu treffen. Er macht sich ziemlich rar. Glaubst du, daß er mit uns sprechen wird?“ „Natürlich wird er mit uns reden, er ist doch kein Wilder, sondern ein zivilisierter, gebildeter Mensch.“ „Erzähl mir noch einmal, was er dir über den Himmel gesagt hat.“ „Er hat einmal die Bemerkung gemacht, daß er sich vorstellen könnte, wo der Himmel ist. Er ist dann nicht näher darauf eingegangen, und ich wollte ihn nicht drängen. Ich wollte ihn nicht mißtrauisch machen, sondern abwarten und bei Gelegenheit darauf zurückkommen.“ 289
„Vielleicht sagt er es uns jetzt. Wenn wir ihm erklären, wie wichtig es ist. Da die Würfel verschwunden sind, haben wir jetzt keine Chance mehr, die Koordination zu finden. Möglicherweise hätten wir auch mit den Würfeln nur eine geringe Chance gehabt, aber nun haben wir überhaupt keine mehr. Inzwischen bin ich deiner Meinung: Wir brauchen diese Koordination unbedingt. Irgend jemand muß in den Himmel reisen.“ „Ich hoffe sehr, daß Tom es wirklich weiß“, erwiderte Tennyson. „Aber hundertprozentig sicher bin ich mir nicht. Seit ich weiß, wie sehr wir darauf angewiesen sind, daß seine Behauptung stimmt, bin ich nicht mehr so zuversichtlich. Er hat mir übrigens erzählt, daß er Ärger mit seinem Schiff hatte und mit einem Rettungsboot aussteigen mußte. So ist er hierhergekommen, das Boot hat ihn hergebracht.“ Inzwischen waren sie bei der Hütte angekommen, und Tennyson klopfte an die Tür. Als keine Reaktion erfolgte, klopfte er erneut. „Vielleicht schläft er“, sagte er. „Das ist unwahrscheinlich“, bemerkte Ecuyer. „Er hätte dich gewiß gehört. Komm, wir wollen uns einmal umsehen.“ Sie gingen einmal in weitem Bogen um Hütte und Garten herum. Dabei riefen sie nach Decker, aber Decker antwortete nicht. Sie kehrten zur Hütte zurück. Diesmal klopfte Ecuyer an die Tür. Nachdem sie eine Zeitlang gewartet hatten, fragte Ecuyer: „Was meinst du? Ob wir hineingehen sollen?“ „Meinetwegen“, antwortete Tennyson. „Ich glaube nicht, daß es Decker etwas ausmacht. Er hat nichts zu verbergen,“ Ecuyer drückte die Klinke nieder, die Tür öffnete sich. Die beiden Männer blieben im Zimmer stehen, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Der Wohnraum war säuberlich aufgeräumt. Alles war an seinem Platz. Tennyson schaute sich um. „Sein Gewehr ist nicht da“, stell290
te er fest. „Es hing dort an der Wand, neben dem Kamin. Rucksack und Schlafsack hatte er über dem Regal über dem Tisch verstaut, sie sind ebenfalls verschwunden. Dann ist Decker irgendwo in den Bergen unterwegs.“ „Wie lange wird er fortbleiben?“ „Ich weiß nicht. Seine Wanderungen dauern unterschiedlich lange. Er hat mich eingeladen, ihn auf einem Ausflug zu begleiten. ‚Wenn du mal ein paar Tage Zeit hast’, hat er gesagt. Also werden seine Wanderungen in der Regel nur wenige Tage dauern. Ich nehme an, daß er bald zurück sein wird.“ „Jason, es ist immens wichtig, bald Gewißheit zu haben. Wir müssen diesen theologischen Fanatikern etwas entgegensetzen. Wenn wir ihnen bedeuten könnten, daß wir eine Möglichkeit gefunden haben, wie man den Himmel genau lokalisieren kann, dann hätten wir ihnen eine schwere Schlappe zugefügt.“ „Du fürchtest dich vor ihnen, nicht wahr, Paul?“ „Wenn die Theologiefraktion die Oberhand gewinnt, dann werden diese Leute das Suchprogramm kippen. Das haben sie schon sehr lange vor. Entweder schalten sie uns aus, oder sie schreiben uns genau vor, was wir zu tun haben, oder, und das wäre das Schlimmste, sie entscheiden darüber, auf welche Weise unsere Funde zu interpretieren sind. Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen, verstehst du? Sie werden mir nichts zuleide tun. Vermutlich würden sie mir sogar erlauben, mit meiner Arbeit fortzufahren. Eine Art Beschäftigungstherapie, damit ich mir nicht allzu nutzlos vorkomme. Aber das Programm als solches wäre erledigt. Und das darf ich nicht zulassen, denn es ist die Seele des Vatikan. Meinetwegen sollen sie sich über theologische Fragen die Köpfe heiß reden, die wirkliche Arbeit aber wird im Suchprogramm geleistet.“ „Aber du wirst doch gewiß vom Vatikan in irgendeiner Form unterstützt?“ „Ich habe wahrscheinlich einige Fürsprecher. Ich kenne sie 291
nicht. Vermutlich ein paar Kardinäle und andere Mitarbeiter, genaues weiß ich nicht.“ „Wie ist es mit Seiner Heiligkeit?“ „Auf den Papst kann sich niemand verlassen. Er hat einen kalten, mechanistischen Verstand. Niemand kann sagen, was der Papst wirklich denkt. Er ist dermaßen vollgestopft mit dem Material, das unsere Lauscher zusammengetragen haben, daß er kaum Zeit hat, sich um gegenwärtige Ereignisse zu kümmern. Außerdem glaube ich, er leidet trotz seiner gewaltigen Aufnahmefähigkeit manchmal unter Verwirrungszuständen. Und dann ist es einstweilen auch gar nicht die Aufgabe des Papstes, den Vatikan zu führen; er soll die Entwicklung des Vatikans weit in die Zukunft hinein bestimmen.“ „Es kommt mir so vor, als ob der Vatikan ohne die Lauscher nicht auskommen könnte“, sagte Tennyson. „Ich habe sehr oft davon reden hören, daß man wichtige Ergebnisse aus den Beobachtungen gewonnen hat. Da sind zum Beispiel die Gedankenschiffe. Was hat der Vatikan eigentlich noch, außer diesen Schiffen, meine ich?“ „Sie haben eine Menge Sachen. Ich weiß nicht, ob ich sie selber alle kenne. Von dem Klonverfahren hast du schon gehört. Eigentlich ist es mehr als ein Klonen. Sie benötigen keine Zelle als Grundbaustein. Sie können von kleineren Teilen ausgehen und daraus eine DNS-Kette aufbauen. Künstliches Leben, technisch gesteuertes Leben, könntest du es auch nennen. Und Zeitreisen. Zum Teufel, was sie haben, übertrifft eine normale Zeitreise sogar noch. Sie benutzen Neutrinos, das heißt, eigentlich wissen sie gar nicht, ob sie tatsächlich Neutrinos benutzen, vielleicht ist es auch etwas anderes. Mit Hilfe dieser Dinger – was immer sie auch sein mögen – sind sie in der Lage, in unterschiedliche Richtungen der Zeit zu reisen, nicht nur in die Vergangenheit oder in die Zukunft, sondern auch in andere Richtungen. Es wird dich überraschen, daß es noch weitere 292
Richtungen geben soll, nun, mir ging es nicht anders. Ich weiß auch heute noch nicht, ob ich es inzwischen verstanden habe. Sie bewegen sich also durch Vergangenheit und Zukunft, oder sie werden es tun, sobald die Technologie voll ausgereift ist. Und sie werden auch dazu imstande sein, sich in andere Zustände als Vergangenheit und Zukunft zu begeben. Möglicherweise handelt es sich um alternative Welten und Universen, ich weiß es nicht. Mir ist das ganze zu hoch. Auf jeden Fall weiß ich, daß sie den Schlüssel zur Zeitreise in Händen halten, Dimensionsreisen unternehmen können und vermutlich noch andere Fähigkeiten besitzen. Ich nehme an, du hast eine Vorstellung von ihrem Leistungsvermögen.“ „Kannst du dir vorstellen, daß sie all das aufgeben würden?“ „Nicht alles, und sicher nicht bewußt. Aber die Theologische Fraktion setzt völlig andere Prioritäten. Sie ist der Ansicht, der Vatikan habe sein ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren oder gar verraten. Der größere Teil der Theologiefraktion hat einfach Angst. Sie haben festgestellt, daß das Universum größer ist, als sie sich vorgestellt haben. Es birgt in sich Zustände und Situationen, die bizarrer sind, als sie es sich je erträumt haben. Nun sind die überwältigt von der schieren Menge der Dinge, die die Lauscher finden. Das Universum ist so gewaltig, so übermächtig, daß diese Leute sich plötzlich klein und nackt vorkommen. Sie suchen einen sicheren Platz, wo sie sich verstecken können.“ „Wie wäre es mit einem Bluff?“ schlug Tennyson vor. „Wir könnten das Gerücht ausstreuen, wir hätten einen Weg zum Himmel gefunden. Sie wollen nicht, daß jemand den Himmel besucht. Wenn sich jemand dorthin begäbe und herausfände, daß es sich nicht um den Himmel handelt, dann wäre ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. Ein solches Gerücht würde sie eine Weile beschäftigen, und wir hätten Zeit gewonnen.“ „Nein, das sollten wir lieber bleiben lassen“, widersprach 293
Ecuyer. „Wenn wir bluffen, und sie durchschauen das Ganze, dann fühlten sie sich nur gestärkt. Ihre Position wäre dann besser als je zuvor. Wenn wir zu einem entscheidenden Zug ansetzen, dann müssen wir einigermaßen sicher sein, damit auch die gewünschte Wirkung zu erzielen.“ „Ja“, sagte Tennyson, „Vermutlich hast du recht.“ „Jason, als Decker andeutete, er wüßte, wo der Himmel ist, hattest du da den Eindruck, daß er irgendein Dokument darüber besitzt, oder meinst du, er hat sich nur auf sein Gedächtnis berufen?“ „Woran denkst du, an ein Logbuch?“ „Genau, etwas derartiges hatte ich im Sinn. Auf den Schiffen gibt es doch Flugrekorder, nicht wahr? Er hatte Schwierigkeiten im All. Könnte es sein, daß er das Logbuch mitgenommen hat, bevor er ins Rettungsboot stieg?“ „Jetzt, wo du mich danach fragst, fällt es mir ein. Damals hatte ich genau diesen Eindruck. Ich hatte das Gefühl, daß er ein Dokument besitzt, das aussagekräftiger ist als sein Erinnerungsvermögen. Allerdings hat er nichts gesagt, was diesen Schluß zuläßt. Mir kam es nur so vor, das ist alles. Sicher bin ich mir keineswegs.“ „Meinst du, wir könnten …?“ Ecuyer ließ seinen langsam begonnenen Satz unvollendet, und Tennyson zögerte, ehe er dann das Wort ergriff. Schließlich sagte er: „Der Gedanke gefällt mir nicht. Decker ist mein Freund, und er vertraut mir.“ „Aber Jason, wir müssen Gewißheit haben! Ich muß es einfach wissen!“ „Also gut“, sagte Tennyson, „ich sehe ein, es muß sein. Machen wir uns an die Arbeit. Aber achte darauf, daß alles wieder an seinen Platz zurückgestellt wird.“ Systematisch begannen sie, die Hütte abzusuchen. Tennyson stellte fest, daß die Steine, an denen Flüsterer gearbeitet hatte, 294
nicht mehr auf dem Tisch lagen. Später fand er sie in einem Kästchen im Regal. Offenbar hatte Decker sie vor seinem Aufbruch dorthin gestellt. Das, nach dem sie suchten, fanden sie nicht. „Vielleicht hat er es gar nicht in der Hütte aufbewahrt?“ mutmaßte Ecuyer. „Vorausgesetzt, er besitzt das Logbuch überhaupt“, entgegnete Decker. „Wenn er es absichtlich versteckt hat, haben wir keine Chance, es zu finden.“ Plötzlich fiel ihm ein, daß Flüsterer es vielleicht wissen könnte. „Es gibt sicherlich noch eine andere Möglichkeit“, sagte er. „Und zwar?“ Tennyson zuckte die Achseln. „Ach was, vermutlich habe ich mich geirrt. Vergiß, was ich gesagt habe.“ Ecuyer gegenüber hatte er Flüsterer noch nicht erwähnt, und er hatte auch nicht die Absicht, es zu tun. Gott sei Dank hatte er sich noch rechtzeitig zusammengerissen. Wenn man Flüsterer in die Überlegungen mit einbezog, gab es noch eine andere Möglichkeit, den Himmel zu erreichen. Doch auch diese Möglichkeit war nun zunichte, dachte Tennyson. Womöglich konnte ihn Flüsterer zum Himmel bringen, da er ihn ja auch zur Gleichungswelt gebracht hatte. Doch auch dieser Weg war nun verstellt, denn Flüsterer besaß nichts, von dem er ausgehen konnte. Schließlich hatte Tennyson keinen der beiden Himmelswürfel selbst gesehen. Außer Tennyson und Decker war Jill der einzige Mensch, der von der Existenz Flüsterers wußte, und so sollte es auch bleiben, versprach sich Tennyson. Tatsächlich hing also alles von Decker ab. Er war ihre einzige Hoffnung. Wenn Decker von seinem Ausflug zurück war, würde er ihnen vielleicht helfen können. Wenn sich erwies, daß 295
er es nicht konnte, wenn sein Wissen nicht groß genug war, dann war es um die zukünftige Entwicklung des Vatikans geschehen. Das Suchprogramm würde eingestellt, und der Vatikan würde wieder zu dem werden, was er einstmals war: eine Institution, die einem spiritistischen Irrlicht nachjagte. Flüsterer war vermutlich bei Decker, und so blieb Tennyson und Ecuyer nichts anderes übrig, als ihre Rückkehr abzuwarten. Erst dann würden sie erfahren, wie ihre Chancen standen. Sie verließen die Hütte und zogen die Tür hinter sich zu, wobei sie darauf achteten, daß das Schloß einrastete. Auf der Hügelkuppe verweilten sie noch einige Zeit und blickten auf den Vatikan herab. Im grellen Licht des späten Vormittags zeichneten sich die weißen Blocks scharf vor dem Hintergrund der bewaldeten Hügel ab. Während sie dort standen und die eindrucksvolle Formation der Bauwerke betrachteten, klang schwaches Geläut zu ihnen herauf. „Die Glocken!“ rief Ecuyer aus. „Warum läuten sie die Glocken? Jetzt ist nicht die richtige Uhrzeit, und es sind so viele …“ Der Wind drehte, und nun wehte der Glockenklang volltönend und machtvoll heran. „Das sind ja die großen Glocken der Basilika!“ stelle Ecuyer fest. „Was zum Teufel mag dort los sein?“ Hastig liefen die beiden den Hügel hinab.
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41 Noch nie in ihrem Leben war sie so gedemütigt worden, dachte Jill. Und noch nie war sie so zornig gewesen. Was war nur in diese Leute gefahren? Wie konnte diese alberne Schwester so etwas behaupten? Jill knallte die Tür hinter sich zu und stapfte durch das Zimmer. Sie warf sich auf die Couch vor dem Kaminfeuer, doch dort hielt sie es nicht lange aus. Sie sprang wieder auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Wenn es ein Wunder gegeben hätte, so war es nicht Marias Wunder gewesen, ganz gleich, was diese einfältige Schwester behauptete. Jason hatte es vollbracht, und es war kein Wunder. Für seine Tat würde es eine vollkommen rationale Erklärung geben, sie mußte nur gefunden werden. Daß sie diese Erklärung nicht abgeben konnte, machte die Lage so schwierig. Wenn überhaupt jemand etwas dazu sagen konnte, so war es Jason, und sie war sicher, daß er kein Wort darüber verlieren würde. Sie hatte den närrischen Rufen in den Straßen einfach nichts entgegenzusetzen. Sie unterbrach ihren Marsch und ging zur Couch zurück. Eine Zeitlang betrachtete sie das Spiel der kleinen Flämmchen auf einem halb verzehrten Holzscheit. Schließlich sagte sie sich, daß es das Beste wäre, hinaus auf die Straße zu gehen und der Menge entgegenzutreten, doch ihre Instinkte wehrten sich mit aller Kraft gegen diesen Vorsatz. Viel lieber wollte sie sich in einer stillen Ecke zusammenrollen und die Wunden der öffentlichen Demütigung lecken. Aber sie wußte, daß es falsch war, sich zu verstecken. Der Vatikan konnte sie nicht besiegen, niemand hatte sie je besiegt. Jill Roberts hatte schon üblere Situationen als diese erlebt. So leicht gab sie nicht auf, und diese stinkigen Roboter und när297
rischen Menschen dort draußen konnten es mit ihr nicht aufnehmen. Und noch etwas: Aus dem Vatikan konnten sie sie nicht vertreiben, daran war gar nicht zu denken. Dort saß sie fest im Sattel. Sie dachte nicht daran, ihre Arbeit einzustellen. Bei diesem Gedanken fiel ihr auf, wie sehr sich ihre Einstellung gewandelt hatte, seit sie zum ersten Mal den Boden von Nirgendsend betreten hatte. Damals hatte sie nur Abscheu und Enttäuschung verspürt, sie hatte sich maßlos über das kleine Spiel geärgert, das die Kardinäle mit ihr gespielt hatten. Erst hatten sie versucht, sie von einem Besuch abzubringen, indem sie nicht auf ihre Briefe antworteten, und dann, als diese Taktik gescheitert war und sie dennoch gekommen war, hatten sie sich geweigert, mit ihr zusammenzuarbeiten. Seit dieser Zeit hatten sich ihre Perspektiven und Prioritäten sehr verändert. Es hatte einige Zeit gebraucht, bis sie die Bedeutung des Vatikans erkannt hatte, seine Bedeutung nicht nur für die Roboter sondern auch für die Menschen, und nicht nur für die Menschen auf Nirgendsend, sondern für alle Menschen überall im Kosmos. Hier hatte sie eine Größe vorgefunden, ein Konzept, dessen Gedankenkraft und Bedeutung auch für die Menschheit wichtig waren, und dem sie nicht so ohne Weiteres den Rücken kehren konnte. Auf gewisse Art war sie ein Teil des Ganzen geworden, und sie wollte gemeinsam mit Jason hierbleiben, der seinerseits einen Teil übernommen hatte. Also konnte sie nicht gehen, allein schon deswegen nicht, weil Jason hier glücklich war, und weil er in dieser seltsamen Gesellschaft ein Leben führen konnte, das zu ihm paßte. Sie konnte sich nicht von ihm trennen, das konnte sie nicht über sich bringen, besonders nicht nach dem, was in der letzten Nacht geschehen war. Seine Finger hatten sie berührt und das Schandmal ausgelöscht. Denn es war ein Schandmal gewesen, nun gestand sie es sich ein, wenn sie sich auch immer vorgemacht hatte, daß es sich nicht so verhielt. Mit 298
unfraulicher Derbheit hatte sie es zur Schau gestellt. Da sie es nicht auslöschen konnte, hatte sie geradezu damit geprahlt. Der ganzen Welt hatte sie etwas vorgespielt. Und es war nicht Jason allein, was sie an diese Welt fesselte. Da war zum Beispiel der alte Kardinal Enoch, der jeden Tag seinen Besuch bei ihr machte, der seinen Hocker an ihre Seite zog und stundenlang mit ihr plauderte, der mit ihr schwatzte, als sei sie ein anderer Roboter oder ein Mensch wie sie. Oftmals war er ihr wie ein seniler Tattergreis vorgekommen, aber er war kein Idiot, es waren nur seine merkwürdigen Umgangsformen. Und er war so freundlich. Sie hätte nie gedacht, daß ein Roboter so freundlich sein könnte, aber Enoch war die Liebenswürdigkeit in Person. Anfangs hatte sie ihn immer mit Eminenz angeredet und streng darauf geachtet, das Protokoll des Vatikans nicht zu verletzen. Doch mit der Zeit hatte sich ihr Ton gewandelt, und nun schwatzte sie gelegentlich mit ihm wie mit einer alten Schulfreundin. Ihm schien es nichts auszumachen. Vielleicht empfand er es gar als erfrischend, mit jemandem zu tun zu haben, der die steife Förmlichkeit des Vatikan für einige Zeit vergessen konnte. Jason hatte ihr von der Gleichungswelt erzählt. Jetzt dachte sie wieder einmal darüber nach, wie es dort wohl aussehen mochte. So gut er konnte hatte er ihr die Welt zu beschreiben versucht, hatte ihr in allen Einzelheiten geschildert, was er gesehen und empfunden hatte. Aber hier ging es um einen Ort und um Erfahrungen, die sich jeder Beschreibungsmöglichkeit entzogen. Das Erlebnis war so gewaltig, daß man es mit dem menschlichen Verstand nicht erfassen konnte. Es war unmöglich, die nötigen Worte zu finden, um es für einen anderen Menschen nachvollziehbar zu machen. „Ich kann es dir nicht beschreiben, Jill“, hatte er gesagt. „Wie sollte ich das auch können. Hier geht es um Dinge, für die wir einfach keine Worte haben.“ 299
Das Geschrei und Gejohle in den Straßen dauerte an. Machen sie Jagd auf mich, fragte sich Jill. Wollen sie um jeden Preis die Spur des Wunders noch einmal mit eigenen Augen sehen, dieses Wunder, das es gar nicht gegeben hat? Diese Narren, dachte sie, diese Narren! „Hier geht es um Dinge, für die wir keine Worte haben.“ Eine Kultur, die so alt und eigenständig war, daß sie ein System der Logik entwickelt hatte, das sich zum menschlichen Wissensstand verhielt wie die Kernverschmelzung zum Faustkeil. Eine Schar von Blöcken hockte auf einer Ebene und hantierte mit Symbolen und Diagrammen. Ging es um ein kompliziertes Spiel oder um die Lösung von Problemen? Oder waren die Symbole und Diagramme visuelle Manifestationen fremder Gedanken? Handelte es sich um ein Treffen von Philosophen, die zu einem Seminar zusammengekommen waren, um haarspalterische Hypothesen zu erörtern? Vertrieben sie sich die Zeit, oder waren sie dabei, neue universelle Wahrheiten zu entdecken? Waren diese Gleichungswesen etwa in ferner Vergangenheit zum Ende des Raums und zu den Grenzen der Zeit vorgedrungen und nun zu ihrem Ausgangsort zurückgekehrt, um all das auszuwerten und in einem Zusammenhang zu bringen, was sie gesehen und gefühlt hatten? Welch ungeheures Erstaunen mußte Jason überraschender, aufdringlicher Besuch bei ihnen ausgelöst haben, dachte Jill. In ihrer Welt tauchte plötzlich ein Wesen auf, das sie vielleicht in früheren Zeiten einmal beobachtet oder gar nie zuvor gesehen hatten. Kein Wunder, daß sie sich so merkwürdig benommen hatten, kein Wunder, daß ihre Symbole und Gleichungen in Raserei geraten waren. Kein Wunder aber auch, daß sie ein Haus für ihn errichtet hatten; sie hatten ihn behandelt wie einen willkommenen Gast und ihm schließlich eine besondere Gabe als Abschiedsgeschenk überreicht. 300
Sie lehnte sich zurück, versuchte ruhiger zu werden und sich zu sammeln. Im gleichen Augenblick sah sie ein Flimmern in einer Ecke des dunklen Zimmers. Eine Erscheinung, dachte sie, nun habe ich Halluzinationen. Sie sah, wie das Flimmern die Gestalt einer Kugel annahm, ein verschwommener Ball aus schimmerndem Staub. „Flüsterer?“ fragte sie. Sie redete das Flimmern in Gedanken an, versuchte auf die gleiche Art Verbindung aufzunehmen, wie Jason es getan hatte. „Du kannst mich sehen, Jill?“ „Ich sehe dich, Flüsterer.“ „Und hören kannst du mich auch?“ „Ja, ich höre dich.“ Sie war starr vor Staunen und dachte: Das ist doch einfach unmöglich! Jason hat niemals angedeutet, daß Flüsterer auch zu mir kommen und ich ihn sehen und mit ihm sprechen könnte. „Jason hat mir befohlen, dich aus der Sache herauszuhalten“, sagte Flüsterer. „Ich hatte ihm meine Absicht, auch mit dir zu sprechen, erklärt, aber er sagte, ‚Nein, laß sie in Ruhe!’. Aber das kann ich nicht tun, Jill. Ich mußte zu dir kommen.“ „Es ist schon in Ordnung“, antwortete sie. „Vielleicht siehst du die Dinge anders als Jason? Vielleicht kannst du besser sehen?“ „Was könnte ich besser sehen?“ „Die Gleichungswesen.“ „Nein!“ rief Jill. „Oh, nein!“ „Warum denn nicht? Wovor hast du Angst?“ „Wovor sollte ich wohl Angst haben? Vor diesen schrecklichen Wesen natürlich.“ „Sie haben dir ein neues Gesicht geschenkt.“ „Ja, das verdanke ich ihnen.“ „Jason hat ein Geschenk von ihnen mitgebracht. Sie werden auch dir ein Geschenk machen, Sie haben viel zu geben.“ „Warum sollten sie uns etwas geben?“ 301
„Das weiß ich nicht“, antwortete Flüsterer. „Mit Jason zusammen habe ich einiges herausgefunden, aber nicht genug.“ „Das hat Jason mir nicht erzählt.“ „Jason hat nicht alle meine Erfahrungen geteilt. Ich habe Wunder wahrgenommen, die er nicht erfassen konnte. Aber auch ich konnte nicht an allen seinen Einsichten teilhaben. Unser Begriffsvermögen ist sehr unterschiedlich ausgebildet.“ „Und ich? Würde ich mehr verstehen?“ „Mehr vielleicht nicht, aber andere Dinge. Jason würde etwas wahrnehmen, das du nicht siehst, und du würdest Dinge erkennen, die er nicht bemerkt.“ „Flüsterer, ich kann nicht zur Gleichungswelt gehen. Ich habe den Würfel nicht gesehen.“ „Ich bin dort gewesen“, erwiderte Flüsterer, „das genügt. Ich habe mir alles eingeprägt; jetzt kann ich den Weg wiederfinden.“ „Flüsterer, ich bin so unsicher, Flüsterer, ich kann es nicht.“ „Du brauchst keine Angst zu haben. Jason und ich sind wohlbehalten zurückgekehrt. Für uns bestand überhaupt keine Gefahr.“ „Woher willst du wissen, daß ihr nicht in Gefahr wart? Vielleicht habt ihr beide nur Glück gehabt.“ „Es ist sehr wichtig für mich, Jill.“ „Ich muß erst noch darüber nachdenken.“ „Jason hat mir befohlen, dich aus allem herauszuhalten. Er hat es mir verboten, aber ich habe es trotzdem getan.“ „Ich habe doch schon gesagt, daß es mir nichts ausmacht.“ „Ich will dich nicht weiter drängen. Wenn du nein sagst, dann bleibt es bei ‚nein’.“ Ich kann es nicht tun, dachte Jill. Ich würde sterben vor Angst. Außerdem ist es nicht notwendig. Jason ist ja bereits dort gewesen, also brauche ich nicht auch noch hinzugehen. Und doch … 302
„Noch nie in meinem Leben bin ich vor etwas zurückgeschreckt“, sagte sie zu Flüsterer. „Weder vor Nirgendsend noch vor einer anderen Sache. Wenn es etwas gab, das ich mir unbedingt ansehen wollte, dann bin ich immer losgegangen und habe es mir angesehen.“ So war es tatsächlich, dachte sie. Hingegangen war sie immer, wie ein guter Reporter. Manchmal hatte sie beim Gedanken an das, worauf sie sich einließ, gezittert wie Espenlaub. Aber sie war gegangen. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und war losgezogen. Gelegentlich war es recht haarig zugegangen, aber sie war immer wieder zurückgekommen, den Notizblock voller interessanter Eintragungen, die Tasche voller belichteter Filmrollen, die Nerven zum Zerreißen gespannt und den Kopf voller guter Ideen. „Also gut“, sagte sie, „ich komme mit. Kannst du mich denn tatsächlich hinführen, Flüsterer, auch wenn ich den Würfel nicht gesehen habe?“ „Zuerst muß ich mich mit deinem Verstand verschmelzen. Wir müssen zu einem Wesen werden.“ Sie zögerte. Ihr Inneres sträubte sich gegen den Gedanken an einen Eindringling, an ein Wesen, das sie nicht kannte und völlig anders war als alle Kreaturen, die sie bisher gesehen hatte. Doch dieses fremde Wesen, dieser Flüsterer, war auch in Jasons Verstand gewesen. „Ich wußte nicht, ob er in mir war“, hatte Jason gesagt, „aber ich konnte es niemals ausschließen. Manchmal konnte ich ihn spüren, sehr schwach spüren, aber niemals war ich mir seiner bewußt. Ich habe das Gefühl, daß es eine besondere Dimension meiner Person gibt, von der ich keine Ahnung hatte. Seit meinem Erlebnis fühle ich mich mächtiger und erkenntnisfähiger.“ „Einverstanden“, sagte sie zu Flüsterer. Genau wie Jason es beschrieben hatte, stand sie plötzlich auf einer teppichähnlichen Ebene, die sich auf allen Seiten bis zum 303
fernen Horizont erstreckte, wo sie mit der Lavendelfarbe des Himmels verschmolz. Auf dem grünen Teppich standen die Quader der Gleichungswelt. Sie leuchteten in bunten Farben, und das Flackern der rasch wechselnden Diagramme, der gleichmäßige Fluß der Gleichungen verlieh ihnen eine gewisse Lebendigkeit. Zum Teufel, dachte Jill, warum habe ich meine Kamera nicht mitgenommen. Um den Hals gehängt, hätte diese den Transport sicher überstanden. Höchstwahrscheinlich jedenfalls, denn Jills Kleider waren auch noch da – sie stand keineswegs splitternackt in der fremden Welt. Wenn die Kleider an ihr blieben, dann hätte sie auch die Kamera mitnehmen können. Es war einfach zu blöd, daß sie nicht an die Kamera gedacht hatte. „Flüsterer“, sagte sie laut. Sie hatte ihn fragen wollen, auf welche Weise sie hierher gereist waren, aber er antwortete nicht, und Jill fand in ihrem Verstand nicht die geringste Spur von ihm. Das war ja zu erwarten, dachte sie. Jason hatte ihr genau erzählt, wie es ihm ergangen war. Auch er hatte nach Flüsterer gerufen, aber die Prise Diamantenstaub war nirgendwo zu sehen gewesen, weil Flüsterer ja nicht als Einzelwesen, sondern gemeinsam mit ihm gekommen war, weil er sich irgendwo in Jasons Innerem befunden hatte, seine Atome verstreut und vermischt mit den Atomen von Jasons menschlichem Verstand. Das gleiche war nun mit Jill geschehen. „Flüsterer“, sagte sie. „Verdammt noch mal, so antworte doch! Gib mir ein Zeichen, daß du bei mir bist!“ Flüsterer antwortete nicht. Ob sie der kleine Kobold in diese Welt gezaubert hatte und selbst zurückgeblieben war? Sie dachte einen Augenblick darüber nach; es erschien ihr unwahrscheinlich. Flüsterer war ein neugieriger Kerl, ganz versessen darauf, das Universum zu erkunden. Wenn er zu einem bestimmten Ort gelangen wollte, war er offensichtlich auf einen Führer angewiesen, der ihm den Weg wies. Kannte er den Weg jedoch, so konnte er allein wie304
der an den Platz zurückkehren oder jemanden mit sich nehmen, wie er es mit ihr getan hatte. „Also dann versteck dich meinetwegen“, sagte sie. „Mach nur weiter mit deinem albernen Spiel, ich komme auch ohne dich zurecht.“ Warum hatte sie sich nur auf die Sache eingelassen, fragte sie sich jetzt. Weil sie von ganzem Herzen Reporterin war und es nicht ertragen konnte, wenn irgendwo etwas stattfand, ohne daß sie dabei war? Weil sie auf dem gleichen Boden stehen wollte, auf dem Jason gestanden hatte? Weil sie hoffte, hier ein neues Band zu finden, das sie noch enger an ihn knüpfte? Nein, dachte sie, das ist weiß Gott nicht nötig. Oder war sie auf Flüsterers Verlockung hereingefallen, hier möglicherweise Dinge zu entdecken, die Jason nicht gefunden hatte und so eine tiefere Einsicht in die Welt der Gleichungen zu gewinnen? Sie schüttelte den Kopf. Nichts von alledem ergab einen Sinn, aber nun war sie einmal da, und nun wollte sie diese Leute auch interviewen. (Leute?) Wie sollte sie mit diesen Wesen ins Gespräch kommen? Es auch nur versuchen, war eine lächerliche Idee. Es gab keine Methode, auf der sie und diese Wesen kommunizieren konnten. Sie würde ihnen mit dem Mund etwas vorplappern, und jene würden mit einem Gewusel von Gleichungen antworten. Beide Seiten würden sich nicht im Entferntesten vorstellen können, wovon der andere gerade sprach. Sie ging dennoch auf einen Block zu, der in ihrer Nähe stand, ein rosenrotes Gebilde, das auf seiner Vorderseite ein Muster auberginefarbener Gleichungen und schwefelgelber Diagramme trug. „Ich bin Jill Roberts“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich bin gekommen, um mit Euch zu sprechen.“ Ihre Worte zerrissen das Schweigen, das wie ein zarter Vorhang über der Welt schwebte. Der Block schien zurückzuzuc305
ken, seine Farbe verblaßte zu einem hellem Rosa. Ganz allmählich begann er, sich von ihr zu entfernen, so als ob er sich am liebsten umgedreht hätte und fortgelaufen wäre, das Fortlaufen aber als unhöfliche Geste vermeiden wollte. Jill dachte nach. Sie hatte sich unmöglich benommen. Sie hatte gewußt, daß sie sich in einer stillen Welt befand – Jason hatte ihr gesagt, wie schrecklich lautlos es hier zuging –, dennoch sie war einfach hineingestolpert und hatte ihren Satz hinaustrompetet. Und was für einen albernen Satz dazu! Wozu erzähle ich ihnen, daß ich Jill Roberts bin? Selbst wenn sie mich hören können, woher sollen sie wissen, was ein Jillroberts ist? Wenn ich tatsächlich mit ihnen sprechen will, kann ich es vermutlich nur auf die gleiche Art tun, wie ich mich mit Flüsterer unterhalte. Wenn ich ihnen also sagen will, wer ich bin … Nein, das ist schon im Ansatz falsch gedacht! Ich muß ihnen sagen, was ich bin und nicht wer ich bin. Wie aber kann ich ihnen beschreiben, was ich bin? Wie kann ich oder überhaupt ein Mensch einer anderen Lebensform beschreiben, was einen Menschen ausmacht? Vielleicht sollte ich damit beginnen, daß ich ihnen sage, ich sei ein organisches Lebewesen, dachte sie. Aber wie können sie wissen, was organisch bedeutet; immer vorausgesetzt, sie hören mich überhaupt und können mich verstehen. Jill sagte sich, daß die Gleichungswesen den Begriff ‚organisch’ wahrscheinlich nicht verstehen würden. Wenn sie mit ihnen sprechen wollte, dann würde sie auf einer einfacheren Ebene ansetzen müssen. Bevor sie sich selbst als organisch bezeichnete, mußte sie den fremden Wesen zunächst einmal den Begriff erklären. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß die Wesen schon einmal organisches Leben kennengelernt hatten, und für Jill ging es nun darum, den Quadern deutlich zu machen, daß auch sie, Jill, zu dieser Form des Lebens gehörte. Sie fragte sich, warum es ihr so wichtig war, gerade diesen Begriff zu klären. Vermutlich lag es an der Fremdartigkeit der Quader, 306
die sie eben nicht für organisch, sondern für etwas anderes, äußerst Einmaliges hielt. Wenn sie die Komplexität der organischen Lebensform auf eine einfache Grundform bringen wollte, wie sollte sie vorgehen? Ja, verdammt, was war eigentlich das besondere, unverwechselbare am organischen Leben? Ich wünschte, ich wüßte es, dachte sie, wenn ich es doch nur wüßte. Wenn Jason hier wäre, er könnte mir sicher helfen. Schließlich war er ein Doktor und kannte sich besser mit solchen Dingen aus. Irgendwie spielte Kohlenstoff eine Rolle, fiel ihr jetzt ein, aber was es genau mit dem Kohlenstoff auf sich hatte, wußte sie nicht. Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, aber sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es je gewußt hatte. Verdammt, verdammt, verdammt! Mein ganzes Leben lang habe ich es mir zur Pflicht gemacht, mich über möglichst viele Dinge zu informieren, einen umfassenden Wissensschatz wollte ich zur Verfügung haben, aber nun, wo es darauf ankommt, weiß ich gerade die Dinge nicht, die ich unbedingt wissen müßte. Als Reporterin hatte sie immer Wert darauf gelegt, sich mit einem gründlichen Vorwissen über das Thema auszustatten, über das sie mit einem Interviewpartner reden wollte. Sie machte sich immer schon vorher ein Bild von dem Lebewesen oder dem Menschen, dem sie ihre Fragen stellen wollte. Sie versuchte etwas über seinen Hintergrund, seine Interessen und seine Arbeit in Erfahrung zu bringen, damit sie alle sinnlosen Fragen auf ein Minimum beschränken konnte. Doch selbst wenn sie genügend Zeit gehabt hätte, wie hätte sie sich auf die Gleichungswesen vorbereiten sollen? Es brachte Jill schier zur Verzweiflung, daß sie alles allein tun mußte. Flüsterer war schließlich auch hier irgendwo, und er hätte sich an der Kontaktaufnahme beteiligen können, aber der kleine Mistkerl war ein Totalausfall, er tat überhaupt nichts. Der rosarote Quader hatte seinen Rückzug beendet und stand 307
nun in einiger Entfernung von Jill. Er war nur ein kleines Stück weiter entfernt als zuvor. Inzwischen hatten sich andere Blöcke in Bewegung gesetzt. Sie stellten sich zu einer massiven Phalanx hinter dem ersten Quader auf. Gleich werden sie mich umzingeln, dachte Jill, genau so, wie sie Jason umzingelt haben. Sie ging ein paar zögernde Schritte auf den roten Block zu, und im gleichen Moment löschte dieser plötzlich alle Gleichungen und das häßlich verzogene Diagramm auf seiner Oberfläche aus. Jill sah nichts als ein gleichmäßiges, makelloses Rechteck. Sie ging noch dichter an den Block heran. Etwa einen Meter vor ihm blieb sie stehen. Die Vorderseite war weiterhin eine unbeschriebene rote Fläche, und die anderen Quader, die hinter und neben dem rosenroten Block standen, bewegten sich nicht. Auch ihre Gleichungen blieben völlig unverändert. Wie eingefroren leuchteten sie von den vielfarbigen Quaderwänden. Mit einem Mal begann der rosenrote Würfel zögernd ein neues Diagramm auf seiner Vorderseite hervorzubringen. Er zeichnete es in leuchtendem Gold und ging sehr langsam zu Werke, so als wäre er sich seiner Sache nicht ganz sicher. Zunächst zeichnete er ein Dreieck, ein umgekehrtes Dreieck, dessen Spitze nach unten zeigte. Danach ein zweites, größeres Dreieck, dessen Spitze nach oben zeigte und die Spitze des ersten berührte. Nach einer längeren Pause fügte er zwei senkrechte Striche an die Basis des größeren Dreiecks an. Verständnislos hatte Jill den Vorgang beobachtet, doch nun holte sie tief Luft und sagte mit sorgfältig gedämpfter Stimme: „Das bin ja ich! Das kleine Dreieck ist mein Kopf, das große ist mein Körper in seinem Kleid, und die beiden Striche sind meine Beine.“ Dann erschien neben dem Diagramm, das Jill Roberts darstellen sollte, eine Zickzacklinie, eine Zickzacklinie, umgeben von fünf Punkten. „Das ist ein Fragezeichen“, sagte Jill. „Ich bin sicher, daß es ein Fragezeichen ist. Sie fragen mich, was ich bin.“ 308
„So ist es“, sagte Flüsterer mit einer Stimme, die irgendwo in ihrem Kopf erklang. „Du hast ihre Aufmerksamkeit erregt. Nun werde ich die Sache übernehmen.“
309
42 Trotz der flackernden Kerzen war es dunkel im Zimmer. Die Dunkelheit sog das Kerzenlicht auf. Die massigen Schatten der Möbel kauerten wie sprunghafte Tiere an den Wänden. Die Wache stand spreizbeinig vor der Tür. Kardinal Theodosius saß in seinem gewaltigen Stuhl mit der hohen Lehne, begraben unter den Stoffbahnen seines Gewandes. „Dr. Tennyson“, sagte er, „seit Sie nun hier bei uns sind, erweisen Sie mir zum ersten Mal die Ehre Ihres Besuches.“ „Ich weiß, wie beschäftigt sie sind, Eminenz, und bisher hatte ich keinen zwingenden Grund, Sie zu stören.“ „Aber jetzt gibt es einen?“ „Ich fürchte, ja.“ „Sie kommen in schwierigen Zeiten zu mir. Solche Zeiten sind selten im Vatikan, aber nun sind sie eingetreten. Diese Narren dort draußen …“ „Deswegen komme ich, Miß Roberts …“ „Das Benehmen der Menschen überrascht mich nicht, ihr Menschen seid ein impulsives Völkchen. Einigermaßen verläßlich zwar, aber außerordentlich emotional. Gelegentlich vermisse ich bei euch den vielgepriesenen ‚gesunden Menschenverstand’. Von den Robotern hätte ich ein solches Benehmen nicht erwartet. Wir sind ein sehr ruhiges Volk, beinahe phlegmatisch. Man konnte einfach nicht damit rechnen, daß sich die Roboter in diese Hysterie hineinsteigern. Sie wollten etwas über Jill sagen?“ „Ja, das wollte ich.“ „Sie ist einer der feinsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Sie ist sehr an uns und dem Vatikan interessiert. Wissen Sie eigentlich, wie hart sie arbeitet?“ „Ja.“ 310
„Als sie gerade auf Nirgendsend angekommen war, war sie nicht sonderlich entzückt von uns“, sagte der Kardinal. „Wie Sie sicher wissen, wollte sie etwas über uns schreiben, aber das konnten wir nicht zulassen. Anfangs habe ich gedacht, sie würde uns mit dem nächsten Schiff wieder verlassen. Das hätte ich nicht gerne gesehen, denn noch bevor sie es durch ihre Taten bestätigte, wußte ich, daß Sie genau der fähige, eifrige Historiker ist, den wir immer gesucht und nie gefunden hatten. Was halten Sie eigentlich davon, Doktor, daß so schlichte Leute wie wir unbedingt unsere Geschichte aufgezeichnet haben wollen? Nicht für andere, sondern für uns selbst. Jill hätte unsere Geschichte mit Freuden für andere niedergeschrieben, aber das konnten wir eben nicht dulden. Nun sind wir alle sehr froh darüber, daß sie sie für uns schreibt.“ „Ich bin kein Psychologe“, erwiderte Tennyson. „Ich kann also nicht mit der Autorität eines Fachmannes sprechen. Ich könnte mir aber vorstellen, Sie lassen die Geschichte niederschreiben, weil Sie eine Arbeit geleistet haben, auf die Sie stolz sind.“ „So ist es“, bestätigte der Kardinal. „Wir haben Gründe, stolz zu sein.“ „Vielleicht wollen Sie auch, daß Ihre Identität auf diese Weise verewigt wird“, mutmaßte Tennyson, „damit andere Lebensformen in einer Million Jahren sich von Ihrem Dasein überzeugen können. Aber vielleicht existieren Sie dann noch und wären auf geschichtliche Aufzeichnungen nicht angewiesen.“ „Wir werden noch existieren“, versicherte der Kardinal. „Vielleicht nicht ich persönlich oder meine Robotergefährten, aber der Vatikan wird noch existieren. Auf der alten Erde habt ihr Menschen Wirtschaftsunternehmen gegründet, die über Jahrhunderte Bestand hatten. Die Menschen, die diese Unternehmen gründeten und weiterführten, starben, aber die Unternehmen blieben bestehen. Sie dauerten an, weil es sich bei ihnen um Ideen handelte, um Ideen mit einer materialistischen 311
Konzeption. Der Vatikan ist kein Wirtschaftsunternehmen, aber er ist einem solchen Unternehmen verwandt. Auch bei ihm handelt es sich um eine Idee, die eine materielle Struktur angenommen hat. Sie wird von Dauer sein. Höchstwahrscheinlich wird sie Veränderungen unterworfen sein und Höhen und Tiefen erleben, wahrscheinlich wird sie sich weiterentwickeln müssen oder von Krisen geschüttelt werden, aber sie wird nicht sterben. Die Idee wird weiterleben. Ideen, Dr. Tennyson, kann man nicht so leicht vernichten.“ „Ich habe Ihnen mit Interesse zugehört, Eure Eminenz und ich schätzen Ihr Urteil in dieser und anderen Fragen, aber eigentlich habe ich Sie aufgesucht, um mit Ihnen über Jill zu sprechen. Ich wollte Ihnen sagen …“ „Ach ja, Jill.“ Der Kardinal nickte bedächtig mit dem Kopf. „Das ist eine leidige Angelegenheit. Bei dieser Heiligenaffäre hat sie sich – wie sagt man? – zwischen alle Stühle gesetzt. Es muß schrecklich peinlich für sie sein, wenn die Leute ihr auf der Straße nachlaufen und sich dauernd von diesem Wunder überzeugen wollen. Sie sind Arzt, können Sie mir sagen, wie das geschehen konnte? Das ganze Gerede über ein Wunder, das Maria auf Jills Wange vollbracht hat, ist natürlich albernes Gewäsch, aber ich frage mich doch …“ „Eure Eminenz“, unterbrach Tennyson ihn grob, „ich bin eigentlich gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Jill verschwunden ist. Ich habe überall nach ihr gesucht, und nun dachte ich, daß Sie vielleicht …“ „Das arme Mädchen!“ rief der Kardinal aus. „Sicher hat sich Jill versteckt, sie ist vor dem fanatischen Pöbel in den Straßen geflohen.“ „Aber wohin könnte sie gegangen sein? Sie kennt hier doch nur ein paar Plätze, an denen sie sich verstecken könnte, und dort habe ich überall nachgeschaut.“ „Doktor, sagen Sie mir aufrichtig, wie es zu diesem Wunder 312
kommen konnte. Wer hat die Narbe entfernt? Maria war es nicht, das weiß ich gewiß. Also muß es eine andere Ursache geben. Sie sind Arzt, Sie müssen doch eine bestimmte Vorstellung haben. Könnte es eine spontane Reaktion des Körpers gewesen sein, eine Selbstheilung?“ „Eminenz, ich weiß es nicht! Ich bin gekommen, weil ich Sie um Hilfe bitten wollte. Ich wollte von Ihnen wissen, ob Sie einen Ort kennen, an dem ich noch suchen könnte.“ „Waren Sie in der Bibliothek?“ „Natürlich war ich dort. Ich war überall.“ „Im kleinen Garten bei der Klinik?“ „Überall! Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Sie reden häufig mit ihr, Sie besuchen sie in der Bibliothek. Hat sie vielleicht einmal eine Andeutung gemacht …“ Sie wurden von einem lauten Klopfen an der Tür unterbrochen. Tennyson fuhr erschrocken herum. Der verdutzte Wächter öffnete die Tür einen Spalt, um sich den Störer anzusehen. Im nächsten Augenblick wurde die Tür nach innen aufgestoßen, der Wächter achtlos zur Seite gestoßen. Ein Roboter in Mönchstracht stürmte in den Raum. „Ein Alter!“ keuchte er. „Eure Eminenz, ein Alter!“ Der Kardinal sprang auf. „Ein Alter!“ donnerte er. „Was ist mit diesem Alten? Augenblicklich reißt du dich zusammen und sagst mir, was hier eigentlich los ist!“ „Ein Alter kommt!“ schrie der Mönch zurück. „Ein Alter kommt die Allee herauf!“ „Woher weißt du überhaupt, daß es ein Alter ist? Hast du jemals einen gesehen?“ „Nein, Eure Eminenz, aber alle sagen, daß es ein Alter ist. Alle schreien und laufen davon. Jedermann hat große Angst.“ „Wenn es tatsächlich ein Alter ist“, sagte der Kardinal nüchtern, „kann ich mir gut vorstellen, daß sie davonlaufen.“ 313
Durch die offene Tür klang fernes Geschrei, die Geräusche wurden durch viele Korridore gedämpft. „Auf der Allee?“ fragte Tennyson. „In Richtung auf die Basilika?“ „So ist es, Doktor!“ bestätigte der Mönch. Tennyson wandte sich an den Kardinal: „Denken Sie nicht, wir sollten hinausgehen und uns anschauen, was der Alte vorhat?“ „Ich verstehe das Ganze nicht“, sagte der Kardinal. „Kein Alter hat je den Vatikan besucht. In der ersten Zeit nach unserer Ankunft auf Nirgendsend haben wir gelegentlich einen Alten erspäht. Aber auch nur sehr selten und aus großer Entfernung. Wir haben nicht versucht, uns ihnen zu nähern. Wir wollten keinen Streit mit ihnen. Wir haben ihnen nichts zuleide getan, und sie haben uns nicht behelligt. Es sind einige schreckliche Geschichten über die Alten im Umlauf, aber die sind erst in späteren Jahren entstanden. Ich halte sie für Märchen.“ „Sie haben immerhin meinen Vorgänger umgebracht, und die beiden Männer, die bei ihm waren.“ „Das ist wahr, aber diese Idioten wollten Jagd auf die Alten machen. Man jagt keinen Alten. Das tut man einfach nicht! Dies war das erste und einzige Mal, daß ein Alter gewalttätig geworden ist.“ „Dann wird der Alte auf der Allee wahrscheinlich ebenfalls keine Gewalttat begehen.“ „Ich kann mir durchaus vorstellen, daß er in friedlicher Absicht kommt“, erwiderte der Kardinal, „aber sicher bin ich mir nicht. Die Leute flüchten natürlich wegen der Geschichten, die sie über die Alten gehört haben. Man kann ihnen deswegen keinen Vorwurf machen.“ „Also kommen Sie mit mir oder nicht?“ „Wollen Sie sich etwa dem Alten entgegenstellen?“ „Ich will ihn begrüßen.“ 314
„Na gut, ich komme mit“, sagte der Kardinal. „Außer uns wird vermutlich niemand auf der Straße sein. Ich muß sie warnen, wir beide werden ganz allein dastehen.“ „Es wird sicherlich genügen, wenn wir da sind“, entgegnete Tennyson. „Gibt es eine Möglichkeit, sich mit dem Alten zu verständigen?“ „In den alten Geschichten heißt es, die Alten verstünden unsere Sprache.“ „Gut, dann wollen wir hinausgehen und uns mit diesem Alten unterhalten.“ Während sie durch die Korridore dem Haupteingang des päpstlichen Palastes entgegengingen, versuchte Tennyson sich an alles zu erinnern, was er über die Alten gehört hatte. Es stellte sich heraus, daß er kaum etwas wußte. Die Alten waren bereits auf Nirgendsend gewesen, als die Roboter hier landeten. Vatikanmitglieder und Alte hatten niemals Kontakt zueinander aufgenommen. Im Laufe der Zeit war der Mythos von den Alten als blutrünstigen Bestien entstanden. Es handelte sich um Geschichten, wie sie überall an langen Abenden vor Kaminfeuern erzählt wurden. Ob wahre Begebenheiten die Grundlage für diese Erzählungen bildeten, wußte Tennyson nicht. Seit seiner Ankunft auf Nirgendsend hatte er nur äußerst selten jemanden von den Alten sprechen hören. Sie traten durch das Palastportal, und zu ihrer Rechten erhob sich die machtvoll emporstrebende Basilika, deren Fassade zur breiten, gepflasterten Allee wies, die von Osten auf den Papstpalast zustrebte. Kein Roboter oder Mensch war auf der Straße, Tennyson hatte sie noch nie so verlassen gesehen. Über die Mauerbrüstungen der Gebäude zu beiden Seiten der Straße ragte hier und da ein Roboter- oder Menschenkopf. Atemloses Schweigen hing über der kleinen Stadt, gelegentlich von einem fernen Schrei unterbrochen. 315
In weiter Ferne war auf der schnurgeraden Allee eine rundliche Gestalt zu sehen. Sie war ebenso breit wie sie hoch war. Aus dieser Entfernung betrachtet schien das Wesen nicht allzu groß zu sein, aber Tennyson stellte bald fest, daß er sich getäuscht hatte: Er hatte die Entfernung zu der Kreatur bei weitem unterschätzt, das Wesen mußte gigantische Ausmaße haben. Tennyson eilte die Stufen hinunter, der Kardinal folgte ihm zögernd. Gemeinsam gingen sie über den Bürgersteig zur Basilika hinüber. In gehörigem Abstand trotteten der Mönch und der Wächter hinter ihnen her. Gemeinsam bestiegen Tennyson und der Kardinal die breite hohe Treppe vor der Basilika. An ihrem oberen Ende blieben sie stehen, um den Alten zu erwarten. „Sehen Sie nur, das Ding dreht sich um seine Achse!“ stellte der Kardinal verwundert fest. So war es tatsächlich. Das Wesen hatte die Gestalt einer riesigen Kugel; ihren Durchmesser schätzte Tennyson auf mindestens sieben Meter. Die Kugel drehte sich langsam, und während sie sich drehte, bewegte sie sich vorwärts. Die Oberfläche der Kugel war schwarz und glatt, wies aber zahlreiche Dellen und Einbuchtungen auf. Die Kreatur schwebte in der Luft, die Unterseite des rotierenden Körpers war etwa dreißig Zentimeter vom Straßenpflaster entfernt. „Seltsam“, bemerkte der Kardinal, „wirklich äußerst seltsam. Haben Sie jemals etwas derart Merkwürdiges gesehen, Doktor?“ „Nein“, erwiderte Tennyson. „Aber wieso sind Sie so erstaunt? Ich dachte, Sie hätten schon einmal einen Alten gesehen.“ „Als wir gerade auf dem Planeten gelandet waren, habe ich gehört, daß diese Wesen kugelförmig sein sollen, aber ich habe noch nie einen Alten mit eigenen Augen gesehen.“ Inzwischen hatte der Alte den Fuß der Treppe erreicht. Dort 316
blieb er stehen, und das Rotieren hörte auf. Der Kugelleib sank auf das Pflaster. „Diese Einbuchtungen auf der Haut müssen Sinnesorgane sein“, mutmaßte Tennyson: „Gesicht, Gehör, Geruch und vielleicht noch andere Sinne.“ Der Kardinal erwiderte nichts. Er stand gerade aufgerichtet in gestraffter Haltung, wie ein Soldat auf Wache. Dem Alten wuchs auf der rechten Körperseite plötzlich ein Arm. Er schob sich aus dem Kugelleib heraus und wurde zusehends länger. Der Arm endete in einer überdimensionalen Hand. Diese griff nun in eine Hauttasche, von der vorher nichts zu sehen gewesen war. Als die Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie die Finger um etwas geschlossen. Der Arm streckte sich zu überraschender Länge, und die Hand legte ihre Last auf das Pflaster ab. Es war ein menschlicher Körper. Behutsam streckten die mächtigen Finger den Körper aus und drehten ihn auf den Rücken. „Mein Gott!“ schrie Tennyson. „Das ist Decker!“ Er lief ein paar Stufen hinab und blieb dann stehen. Die Hand des Alten war wieder in der Tasche verschwunden, nun zog er sie hervor. Bedächtig legte die Hand die Gegenstände, die sich in der gleichen Tasche wie Deckers Körper befunden hatten, auf dem Pflaster aus: ein Gewehr, ein zusammengerollter Schlafsack, eine Campingaxt, ein Rucksack und die Reste eines Wasserkessels. Der Alte zog seinen Arm in den Körper zurück und wurde wieder zu einer gleichmäßigen Kugel. Er begann zu summen. Der Laut schwoll an, bis er einem dumpfen Trommelwirbel glich, ein Ton, der die Luft vibrieren ließ. Aus dem Dröhnen lösten sich menschliche Worte, tief, ernst, feierlich. „Wir sind Wächter“, sagte die Stimme. „Wir halten die Wacht über diese Welt. Wir lassen es nicht zu, daß auf dieser 317
Welt getötet wird. Um der Nahrung willen zu töten, kann hingenommen werden, denn es gibt Wesen, deren Lebensplan diese Ernährungsweise fordert. Töten aus einem anderen Grund kann nicht hingenommen werden.“ Nach dem letzten Wort ließ das Dröhnen nach, schließlich verstummte es ganz. Nach einem kurzen Moment des Schweigens setzte das dröhnende Summen wieder ein, mit ihm erklangen folgende Worte: „Wir haben in Frieden mit euch gelebt; wir wollen weiter in Frieden mit euch leben. Ihr müßt verhindern, daß so etwas noch einmal geschieht.“ „Aber … ah, mein Herr!“ rief Tennyson. „Sie haben doch selbst vor kurzer Zeit drei Menschen getötet.“ Das Dröhnen wurde lauter. „Sie wollten Jagd auf uns machen. In ihren Hirnen war zu lesen, daß sie uns töten wollten. Das kann nicht hingenommen werden. Niemand tötet uns. Wir haben getötet, um uns zu schützen. Wir haben getötet, weil jene Menschen unerwünscht waren. Für sie war kein Platz auf dieser Welt.“ Das Summen erstarb. Diesmal wuchs dem Alten ein Arm auf der linken Seite. Wieder griff er in eine verborgene Hauttasche und legte etwas auf der Straße neben Deckers Körper ab: einen Roboter, dem die obere Hälfte des Schädels weggerissen war, und ein zweites Gewehr. Behutsam streckte der Alte den Roboter auf dem Pflaster aus, das Gewehr legte er neben ihn. Dann stieg der Körper des Alten ein paar Zentimeter über den Boden auf und begann zu rotieren. Langsam kreiselnd entfernte sich die massige Kugel auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war. Tennyson sprang die Stufen hinunter und warf sich neben Decker auf die Knie. Er hoffte, daß der Mann noch am Leben war. Decker war tot, seit mehreren Stunden tot. Tennyson schaute zu Kardinal Theodosius hinauf, der lang318
sam die Treppe herabkam. Hinter seinem Rücken hörte Tennyson den Trommelwirbel eiliger Fußtritte. Er sah sich um und erkannte Ecuyer. „Jill ist wieder da!“ rief Ecuyer. Dann war er heran und blieb keuchend stehen. „Sie sagte, sie sei in der Gleichungswelt gewesen, sie sagte …“ Er verstummte und starrte schreckerfüllt auf die Körper auf dem Pflaster. „Mein Gott, was ist das denn?“ fragte er. „Decker. Er ist tot. Ein Alter hat ihn hergebracht.“ „Also, das war ein Alter, ich habe ihn noch in der Ferne gesehen. Jason, weißt du, was geschehen ist?“ Tennyson schüttelte den Kopf. „Der Alte hat auch das hier gebracht: einen Roboter, dem man den halben Schädel weggeschossen hat.“ Ecuyer ging zu dem Roboter hinüber und musterte ihn genau. „Jason“, sagte er zögernd, „weißt du, wer das ist?“ „Ein Roboter halt, woher soll ich wissen …?“ „Es ist unser Diener, Hubert“, stieß Ecuyer hervor. „Du mußt ihn doch erkennen, er hat dir das Essen gekocht und deine Wohnung in Ordnung gehalten.“
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43 „Ich glaube ich weiß jetzt, wie es sich zugetragen hat“, sagte Tennyson. „Decker wurde hoch in der Brust getroffen, ein Lungenflügel ist zerrissen, vermutlich ist er schnell gestorben. Vorher konnte er aber noch einen gezielten Schuß auf Hubert abgeben. Die Kugel ist durch die Augenöffnung eingedrungen und hat die obere Hälfte des Schädels weggerissen. Das Robothirn ist völlig zerstört, nur ein Gewirr zerfetzter Schaltkreise. Wahrscheinlich war er im gleichen Augenblick tot, wo die Kugel ihn getroffen hat.“ „Ich begreife eines nicht“, sagte Ecuyer, „warum haben die beiden überhaupt aufeinander geschossen? Und wieso gerade Hubert? Er ist ein furchtsames Wesen. Als Diener hatte er seine Fehler, aber im allgemeinen war er in Ordnung. Ich mochte ihn gut leiden. Jahrelang hat er für mich gearbeitet. Decker … zum Teufel, ich kann mir nicht vorstellen, daß Hubert Decker überhaupt schon einmal begegnet ist. Er hatte natürlich von ihm gehört. Jeder hier auf Nirgendsend hat irgendwann von Decker gehört.“ „Das Gewehr, das Hubert benutzt hat, gehörte offensichtlich dem Doktor, der vor kurzem von den Alten getötet wurde“, berichtete Jill. „Ich wüßte gern, wie Hubert an dieses Gewehr herankommen konnte.“ „Das zu wissen, würde uns auch nicht helfen“, erwiderte Ecuyer. „Vermutlich hat es in irgendeinem Schrank gestanden. Als die Leiche des Arztes gefunden wurde, haben die Roboter das Gewehr einfach in den nächstbesten Schrank gestellt. Roboter interessieren sich nicht für Gewehre, sie wissen nichts damit anzufangen.“ „Einer konnte offensichtlich etwas damit anfangen“, widersprach Tennyson. „Es hätte einfach nicht passieren dürfen. De320
cker war ein guter Mensch. Ich mochte ihn sehr. Er war mein Freund. Er hatte nur einen einzigen Fehler: Er hätte uns vielleicht sagen können, wo der Himmel ist.“ „Das könnte ein Motiv sein“, sagte Ecuyer. „Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Hubert etwas mit diesen religiösen Fanatikern zu tun hatte. Was er über dieses Thema gedacht hat, kann ich nicht sagen. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen.“ „Vielleicht hat er uns belauscht.“ meinte Jill. „Er stand immerzu in einer Ecke und hörte uns zu. Möglicherweise hat er gehört, wie einer von uns gesagt hat, daß Decker eventuell weiß, wo der Himmel ist.“ „Ja, das stimmt“, sagte Ecuyer. „Er hat dauernd gelauscht. Er hat sich mit Informationen geradezu vollgesogen. Er war immer scharf auf Gerüchte, und der Vatikan ist eine riesige Gerüchteküche. Aber er war viele Jahre lang mein Diener, bevor ich ihn dir geliehen habe, Jason. Und ich hätte jeden Eid darauf geschworen, daß er harmlos ist.“ „Du hast dich geirrt“, stellte Jill fest. „Er war offenbar keineswegs harmlos.“ „Wir wollen die Ereignisse der letzten Tage einmal in einen Zusammenhang bringen“, schlug Tennyson vor. „Die beiden Himmelswürfel sind verschwunden, und ich würde sagen, sie wurden gestohlen. Decker wurde ermordet, und als wir seine Hütte durchsuchten, fanden wir nichts, was darauf hindeutete, daß er Kenntnis vom Himmel hatte. Irgend jemand, vielleicht Hubert, vielleicht ein anderer, hat die Hütte vor uns durchsucht. Entweder stieß er auf einen Hinweis, oder er hat ebenfalls nichts gefunden. Wenn er nichts gefunden hat, ist es immer noch möglich, daß Decker seine Beweise anderswo versteckt hat, dann bleibt uns noch eine kleine Chance, das Versteck zu finden. Wenn die Beweise bereits in der Hütte gefunden wurden, halte ich es für unwahrscheinlich, daß sie jemals wieder 321
auftauchen. Vermutlich wurden sie bereits vernichtet, so wie auch die Würfel wahrscheinlich schon vernichtet sind. Nachdem die Würfel verschwunden sind, Deckers möglicher Beweis ebenfalls unauffindbar ist und selbst Decker ermordet wurde, besteht keine Aussicht mehr, jemals den Himmel ausfindig zu machen.“ „Vielleicht könnte Maria es noch einmal versuchen“, sagte Jill. „Nein, das wird nicht gehen“, erklärte Tennyson. „Sie liegt im Koma. Vielleicht überlebt sie diese Nacht nicht mehr. Sie hat einen schweren Schock erlitten, als sie die Meute der Fanatiker vor dem Krankenhaus erblickte. Sie ist zusammengebrochen und hat seither nicht mehr das Bewußtsein erlangt.“ „Also bleibt uns keine Chance“, sagte Jill. „Für die Theologiefraktion wäre es nicht ungünstig, wenn Maria sterben würde“, warf Ecuyer ein. „Eine tote Maria wäre besser zur Heiligen geeignet als eine lebende. Eine lebendige Heilige hat etwas Unechtes. Aber wenn Maria erst einmal gestorben ist, dann können die Fanatiker die Heiligsprechung leicht durchsetzen. Der Vatikan hat seine erste Heilige, und über den Himmel wird es keinen Streit mehr geben. Die erste Heilige hat ihn gefunden, und dann …“ „Aber die Kardinäle können die Sache blockieren, oder nicht?“ fragte Jill. „Mir ist nicht klar, was ihre Mehrheit von der Heiligsprechung hält, aber ich weiß sicher, daß Theodosius dagegen ist.“ „Sie können es verhindern“, sagte Ecuyer, „aber vielleicht würde es dann zu einer offenen Rebellion kommen, und ich weiß nicht, ob die Kardinäle das riskieren wollen. Ein Aufruhr im Vatikan, das ist für die Kardinäle unvorstellbar. Dieser Platz soll schließlich ein Ort des Friedens und der Besinnung sein. Ich bin sicher, die Kardinäle werden vor allem dafür sorgen, daß der Vatikan seinen heiligen Frieden nicht verliert.“ 322
„Wenn die Theologen gewinnen“, sagte Tennyson bitter, „und im Augenblick sieht es ganz so aus, als würden sie gewinnen, dann wird das Suchprogramm eingestellt, und ohne das Suchprogramm …“ „Das ist auch den Kardinälen klar“, unterbrach ihn Ecuyer. „Sie werden mit einer langfristigen Planung gegensteuern. Sie planen immer weit voraus. Sie werden sich mit einem kurzfristigen Rückschlag abfinden, und in den zukünftigen Jahrhunderten den Vatikan allmählich wieder auf ihren Kurs bringen. Für einen Roboter hat die Zeit keinerlei Bedeutung; er hat alle Zeit der Welt.“ „Aber siehst du denn nicht, was eine solche Entwicklung für dich bedeuten würde?“ fragte ihn Tennyson. „Wenn die Kardinäle, die das Suchprogramm unterstützen, sich zu deinen Lebzeiten nicht mehr durchsetzen, dann bist du erledigt. Entweder du gewinnst jetzt, oder du hast für immer verloren.“ „Das ist mir klar“, antwortete Ecuyer. „Und ich denke dauernd darüber nach.“ Er wandte sich an Jill: „Vor kurzem hat mir Jason etwas von diesem Wesen erzählt, diesem Flüsterer. Er hat gesagt, daß er mit ihm in der Welt der Gleichungen war. Nun habe ich gehört, du warst ebenfalls dort. Als wir alle nach dir gesucht haben, bist du in dieser Welt gewesen, nicht wahr?“ „Ich hielt es für richtig, ihm von Flüsterer zu erzählen“, sagte Tennyson zu Jill. „Decker ist tot, und wir brauchen Flüsterer nicht mehr als sein Geheimnis zu betrachten.“ „Ja, ich glaube, du hast recht“, stimmte Jill zu. „Außerdem weiß ich gar nicht, ob Decker Flüsterers Existenz geheimhalten wollte.“ „Ich glaube eher, daß er viele Geheimnisse hatte“, widersprach Ecuyer. „Er war ein sehr schweigsamer Mensch. Allerdings, nach allem, was Jason mir über ihn erzählt hat …“ „Du hoffst vielleicht darauf, daß Flüsterer uns zum Himmel führen kann“, sagte Jill unvermittelt, „doch ich fürchte, das 323
wird nicht funktionieren. Er brachte Jason zur Welt der Gleichungen, weil Jason den Würfel gesehen hatte. Ich hatte den Würfel nicht gesehen, aber Flüsterer konnte mich dennoch dorthin bringen, weil er schon einmal dort gewesen war und sich den Weg gemerkt hatte.“ „Aber Koordinaten benötigt er nicht?“ „Nein, offenbar nicht. Für die Gleichungswelt gab es keine Koordinaten, aber nachdem Flüsterer einmal in Jasons Verstand geschaut hatte, konnte er sehr leicht den Weg finden. Er muß eine andere Orientierungsmethode besitzen, Koordination braucht er nicht.“ „Warum kann er dann den Himmel nicht finden?“ „Weil er zunächst in den Geist einer Person eindringen muß, die schon einmal einen Würfel von diesem Ort gesehen hat“, sagte Tennyson. „In den Geist? Das ist seine Methode?“ „So ist es.“ „Dann könnte er doch in Marias Geist eindringen, auch wenn sie im Koma liegt.“ „Es hätte keinen Sinn. Er fände dort keine Erinnerungen vor. In diesem Zustand ist Marias Bewußtsein völlig leer. Außerdem könnte er vermutlich nicht einmal in sie eindringen, wenn sie bei Bewußtsein und gesund wäre.“ „Ja, kann er denn nicht …?“ „Sieh mal, Paul, Flüsterer hat Decker sehr nahe gestanden, aber er hatte keinen Zugang zu seinem Verstand.“ „Aber er schafft es bei dir und bei Jill. Was ist denn so anders an euch?“ „Das weiß ich nicht, es ist mir ein Rätsel. Die meisten Menschen können Flüsterer nicht einmal sehen. Du zum Beispiel, kannst es nicht, das weiß ich. Er hat versucht, sich mit dir zu verbünden, er hat sich dir gezeigt, aber du hast ihn nicht wahrgenommen.“ 324
„Woher weißt du das?“ „Er hat es mir erzählt. Ich habe das Gefühl, daß er es bei den meisten Menschen hier auf Nirgendsend probiert hat, fast immer mit dem gleichen Ergebnis. Er hat es nie bei den Robotern versucht. Sie haben eine andere Art Verstand, sagt er, vermutlich auch andere Sinne. Er hat sich oft hier im Vatikan herumgetrieben und versucht, Informationen aufzuschnappen. Er ist wahnsinnig wißbegierig. Seine Lebensaufgabe besteht darin, das Universum zu erkennen. Hier im Vatikan hat er etwas Material aufgelesen, aber viel war es nicht. Das, was er herausgefunden hat, hat er sich hart erarbeiten müssen.“ „Der Vatikan hat gespürt, daß er ausspioniert wurde“, berichtete Jill. „,Da ist eine Maus, die an einer Tonne Käse knabbert’, so hat Theodosius es ausgedrückt. Aber sie haben nie herausbekommen, wer oder was die Maus eigentlich war. Es hat ihnen eine Menge Kopfzerbrechen bereitet, aber sie konnten nichts dagegen tun.“ „Wir haben also gar keine Chance?“ sagte Ecuyer mißmutig. „Nein“, sagte Tennyson, „ich sehe keine Möglichkeit.“ „Endgültig aus und vorbei“, murmelte Ecuyer. „Wir können nur noch dasitzen und auf das Ende warten. O Gott, ich darf gar nicht daran denken, wie es hätte sein können. Das ganze Universum stand uns offen, es wartete nur darauf, daß wir es in Besitz nahmen. Jetzt soll das alles fortgeworfen werden, wegen dieser närrischen Suche nach der wahren Religion!“ Tennyson rückte unbehaglich in seinem Stuhl hin und her. „Ich wünschte nur, ich könnte dir helfen“, sagte er. „Ich bin sicher, Jill geht es genauso. Sicher bist du nun von uns enttäuscht.“ „Nein, überhaupt nicht“, versicherte Ecuyer. „Es ist nicht euer Problem.“ „Doch, das ist es wohl“, erwiderte Tennyson. „Es betrifft die Menschheit ebenso sehr wie den Vatikan. Eigentlich geht es 325
hier um jedermann. Alle Lebensformen könnten davon profitieren, wenn wir die Antwort fänden.“ „Vielleicht finden wir doch noch einen Weg“, sagte Jill. „Wir sollten noch nicht aufgeben. Ich kenne einen sehr freundlichen Kardinal, mit dem werde ich darüber reden.“ „Was soll dabei schon herauskommen?“ fragte Ecuyer abfällig. „Er wird deine Sorgen nicht ernst nehmen. ‚Am Ende wird sich alles zum Guten wenden, mein Kind’, wird er sagen. ‚Mach dir keine Sorgen, die Zeit wird es schon richten’.“ Tennyson erhob sich. „Ich werde einmal nach Maria schauen“, sagte er. „Ich komme mit dir“, sagte Ecuyer. Er wandte sich an Jill: „Wie ist es mit dir? Willst du uns begleiten?“ Jill fröstelte. „Nein, ich mag nicht. Ich werde für das Abendessen sorgen. Ißt du bei uns, Paul?“ „Nein, vielen Dank für die Einladung, aber ich habe zuviel zu erledigen.“ Draußen fragte er Tennyson leise: „Ich wollte vor ihr nicht darüber sprechen. Über ihr Gesicht. Sag mir doch, wie war das möglich!“ „Irgendwann werden wir dir alles erzählen“, versprach Tennyson.
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44 „Ich wünschte, ich könnte es dir beschreiben“, sagte Jill zu Tennyson. „Aber ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. So viele seltsame Dinge sind geschehen. Wie ich schon sagte: Ich habe mir das sonderbare Diagramm und den Schnörkel daneben angesehen, und ich wußte, das Diagramm war ich und der Schnörkel war ein Fragezeichen. Das Wesen hat mich gefragt, was ich sei, und ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich ihm erwidern könnte, als Flüsterer in meinen Verstand zu sprechen begann und sagte, nun werde er die Sache in die Hand nehmen.“ „Und das hat er getan?“ „Ja, und ich war dabei. Er war in meinem Verstand, das heißt, eigentlich bildeten wir zusammen einen Verstand. Ich konnte miterleben, was sich nun abspielte, aber ich konnte es nicht begreifen. Vor Jahrtausenden hat es einmal ein Gerät gegeben, das sich Telegraph nannte. Die Menschen benutzten es, um sich über große Entfernungen zu verständigen. Sie lösten Folgen von Klick-Lauten aus und übertrugen sie über Drähte. Wenn man sich das Klicken anhörte, konnte man die Botschaft nur verstehen, wenn man den entsprechenden Code kannte. So ähnlich erging es mir in der Gleichungswelt. Du kannst dir auch eine Unterhaltung zweier fremder Wesen vorstellen: Du hörst nur Geplapper und Gezische, das sie als Wörter bezeichnen, aber du bekommst kein Wort von der Unterhaltung mit, weil dir jedes Verständnis für ihre Sprache fehlt.“ „Wie kommst du auf das Beispiel mit dem Telegraphen? Haben die Wesen tatsächlich Klicklaute produziert?“ „Du hast recht, ich habe wirklich ein ständiges Klicken gehört, ein Klicken und eine Menge anderer Geräusche. Es schien mir, daß ich diese anderen Laute hervorbrachte, aber wie ich sie 327
erzeugte, kann ich nicht sagen. Auch schossen mir sonderbare Gedanken durch den Kopf. Es kam mir so vor, als ob es meine eigenen Gedanken gewesen wären, aber andererseits waren sie mir so fremd, daß es gewiß Flüsterers Gedanken waren. Hin und wieder hatte ich das Gefühl, ich würde nun bald verstehen, was dort vor sich ging, aber dann verlor ich den Faden regelmäßig wieder und konnte überhaupt nicht mehr folgen. Normalerweise hätte mir eine solche Situation schwer zu schaffen gemacht. Aus Angst vor der Kreatur, in die ich mich verwandelt hatte, wäre ich über kurz oder lang sicher wahnsinnig geworden. Aber das Erlebnis in der Gleichungswelt hat mir nichts ausgemacht. Ich war nicht etwa benommen, nein, keineswegs. Mein Verstand war völlig klar, nur gehorchte er mir nicht mehr. Hin und wieder schien es mir, als ob ich mich ganz und gar in ein anderes Wesen verwandelt hatte, dann wieder gab es Zeiten, wo ich gewissermaßen neben mir stand und gelassen mein anderes Selbst dabei beobachtete, wie es sich so sonderbar aufführte. Währenddessen produzierte das Gleichungswesen – und einige andere, die hinzugekommen waren – unaufhörlich Gleichungen und Diagramme auf seiner Oberfläche. Es achtete darauf, die Symbole und Zeichnungen sehr einfach zu halten, einfach und knapp, so als wollte es einem Kind etwas mitteilen. Da dachte ich: Nun schau dir das an, diese Kreatur ist genauso verwirrt wie ich, sie weiß auch nicht, wie sie mit der Situation fertig werden soll. Denn das Klicken, Grunzen und Piepen, das ich ausstieß, erschien dem Wesen vermutlich ebensowenig als Sprache, wie mir seine Gleichungen und Diagramme als Sprache erschienen.“ „Wahrscheinlich hat Flüsterer mehr verstanden als du“, sagte Tennyson. „Er hatte schließlich das Kommando und betätigte sich als Dolmetscher.“ „Als Dolmetscher hat er versagt“, entgegnete Jill. „Aber es kann sein, daß er es versucht hat. Immerhin hätte er zweifach 328
dolmetschen müssen. Wir sind sehr dicht an das Gleichungswesen herangegangen. Ich habe beobachtet, was auf seiner Frontseite ablief, und gelegentlich habe ich mit einem Finger auf eine Gleichung oder ein Diagramm gezeigt, so also ob ich eine Frage dazu stellen wollte. Dabei war es gar nicht ich, der etwas fragen wollte. Es war Flüsterer. Jedesmal wenn ich mit dem Finger zeigte, hat das Gleichungswesen alles noch einmal vorgeführt, damit wir es besser verstanden. Manche Folgen mußte es mehrmals ablaufen lassen, ehe sich Flüsterer zufriedengab.“ „Aber du hast von alledem gar nichts verstanden?“ „Doch Jason, etwas schon. Ich meine, ich habe es nicht wirklich begriffen, aber einiges habe auch ich aufgeschnappt. Eventuell habe ich auch spontan einige Dinge verstanden, die ich inzwischen einfach wieder vergessen habe, weil es sich um Sachen handelte, die ein menschlicher Verstand nicht voll erfassen kann, wenn er sie zum ersten Mal kennenlernt. Einiges war einfach unfaßlich, unfaßlich, nach menschlichen Maßstäben. Ich konnte nicht die geringste Logik darin entdecken. Weißt du, was ich denke, Jason?“ „Was denkst du?“ „Ich glaube, die Gleichungswesen arbeiten mit einem veränderlichen Logiksystem. Eine Behauptung kann in einem Zusammenhang logisch sein, aber in einem anderen nicht. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Ich schnappte irgend etwas auf, dann erschien ein neuer Kontext auf der Quaderoberfläche, und mein kleines Stückchen Wissen paßte nicht hinein. Ich bin wirklich total verunsichert. Flüsterer hat mir erklärt, daß er mich mit hinübernehmen wollte, weil ich vermutlich einen anderen Blickpunkt hätte als du. So muß es auch tatsächlich gewesen sein, denn mein Besuch in jener Welt ist völlig anders verlaufen als deiner, nicht wahr?“ „Völlig anders nicht, auch ich war total verunsichert.“ „Vielleicht waren unsere Erfahrungen tatsächlich nicht be329
sonders unterschiedlich“, sagte Jill. „In erster Linie war es Flüsterer, der den ersten und den zweiten Besuch auf verschiedene Weise erlebt hat. Beim zweiten Mal war er auf die Gleichungswelt vorbereitet. Seit er mit dir dort gewesen ist, hat er vermutlich über nicht anderes nachgedacht. Wenn wir noch einmal in diese Welt reisten, würden wir sie auch unterschiedlich erleben.“ „Jill, es tut mir leid, daß du in diese Sache hineingezogen worden bist. Ich hatte Flüsterer befohlen, dich herauszuhalten. Er hatte mir gesagt, er hoffe, mit dir genauso gut zusammenarbeiten zu können wie mit mir, aber ich …“ „Ja, ich weiß. Er hat mir erzählt, was du zu ihm gesagt hast.“ „Wo ist Flüsterer jetzt?“ „Ich weiß es nicht. Ich war plötzlich aus der anderen Welt zurück. Ich war wieder in meiner Wohnung. Von dort sind wir auch aufgebrochen. Flüsterer war nicht bei mir. Er war weder im Zimmer noch in meinem Verstand. Ich kann nicht sagen, wieso ich mir dessen so sicher bin, aber ich weiß genau, daß er nicht da war.“ „Ich frage mich, ob er schon von Deckers Tod erfahren hat. Es wird ihn hart treffen. Er und Decker waren gute Freunde. Decker hat gern so getan, als ob ihm nicht viel an Flüsterer läge, aber ich weiß, daß es nicht so war. Er hat oft an Flüsterer gedacht.“ Jill griff nach der Kaffeekanne und füllte Jasons Tasse. „Ich habe einen Kuchen gebacken“, sagte sie. „Möchtest du vielleicht ein Stück?“ „Später“, erwiderte er. „Ich möchte noch ein wenig warten. Dein Eintopf …“ „Hat doch geschmeckt, oder?“ „War köstlich, aber auch sehr sättigend.“ „Jason, glaubst du, daß die religiösen Fanatiker Decker umgebracht haben?“ 330
„Es paßt alles zusammen: Die Würfel sind verschwunden, Decker ist tot. Sie haben uns ausgeschaltet. Wenn wir die Würfel noch hätten, könnte Flüsterer uns zum Himmel führen. Er ist nicht auf Koordinaten angewiesen und kann einer äußerst schwachen Fährte folgen. Er hat eine Nase wie ein Fuchs. So wie er uns zur Gleichungswelt geführt hat, hätte er uns auch zum Himmel bringen können. Im Universum gibt es viele Spuren, denen er folgen kann.“ „Kann es nicht sein, daß wir uns irren, Jason? Du, Paul und ich? Vielleicht haben die Vatikantheologen recht, und der wahre Glaube ist wertvoller als die Erforschung des Universums?“ „Ich denke, es geht nicht darum, was wertvoller ist, sondern welches Ziel zuerst angestrebt werden soll. Der Vatikan hatte seine Entscheidung schon vor langen Jahren getroffen, und nun versucht jemand, sie umzustoßen. Die Entscheidung lautete, daß man zuerst über Wissen verfügen muß, wenn man den Glauben erreichen will. Diese Entscheidung kann falsch gewesen sein, aber ich persönlich bin der Ansicht, sie war richtig.“ „Vielleicht werden wir nie erfahren, welches der richtige Weg war.“ „Du und ich, wir werden es nicht erfahren. Die Zukunft wird ihr Urteil fällen.“ „Was wird nun geschehen?“ „Ich habe keine Ahnung.“ „Jason, manchmal kommen mir kleine Bruchstücke meiner Erlebnisse in der Gleichungswelt wieder in den Sinn.“ „Möglicherweise kannst du dich bald an weitere Einzelheiten erinnern.“ „Eben habe ich mich an ein Gefühl der Ruhe, der Entspannung erinnert, ist das nicht merkwürdig?“ „Seltsam ist es schon“, sagte Tennyson. „Aber zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Es könnte sein, daß dein Verstand da331
bei ist, die fremden Vorstellungen in menschliche Begriffe zu übersetzen.“ „Außerdem ist da noch ein anderes Gefühl. Assoziationen von einem Spiel. Irgendwie geht es um ein aufregendes, neues Spiel. Jemand möchte es gern ausprobieren.“ „Vermutlich geht es in Wahrheit um völlig andere Dinge, aber immerhin ist es ein Ansatzpunkt. Offenbar hast du viel mehr mitbekommen als ich. Wenn Flüsterer hier wäre, könnte er uns vielleicht weiterhelfen.“ „Das glaube ich auch. Flüsterer hat viel mehr begriffen als ich.“ Es klopfte an der Tür. Als Tennyson sie öffnete, stand Theodosius davor. „Wie schön, daß Sie uns besuchen kommen“, sagte Tennyson. „Kommen Sie doch herein, Sie erweisen uns eine große Ehre.“ „Das würde ich gern tun“, erwiderte der Kardinal, „aber leider ist jetzt dazu keine Zeit. Seine Heiligkeit hat Sie beide zu einer Audienz berufen.“ Jill ging um den Tisch herum. „Das verstehe ich nicht“, sagte sie. „Seine Heiligkeit hat eine hohe Meinung von Ihnen.“ „Kommen Sie mit uns?“ fragte Tennyson. „Ich werde Sie dorthin begleiten, aber bei Ihnen bleiben werde ich nicht. Seine Heiligkeit hat ausdrücklich gesagt, daß er Sie beide allein sprechen will.“
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45 Flüsterer war außer sich. Er schwebte in einer fiebrigen Extase, Er schlitterte den geschwungenen Bogen einer Magnetströmung hinab. Er tanzte berauscht inmitten einer sprühenden lonenwolke. Er huschte in waghalsigem Zickzack durch das Herz einer explodierenden Galaxis. Er trat zu einem Wettlauf mit der verzehrenden Strahlung einer Nova an. Er schlug Purzelbäume in einem Pulsarfeld. Danach kauerte er sich vor einen roten Zwerg und streckte seine imaginären Hände aus, um sie am gedämpften Feuer des Sternes zu wärmen. Seltsamerweise war der rote Zwerg der einzige Himmelskörper weit und breit. Rings um ihn her war Finsternis, nur in weiter Ferne war ein schwaches Flackern zu sehen, so als ob sich hinter dem Horizont des Weltraumes etwas Ungeheuerliches ereignete. Flüsterer war von Leere und Nichts eingeschlossen, und er bemerkte die Einsamkeit, die eine Begleiterin der Leere war, aber ein Gefühl der Einsamkeit empfand er nicht, denn er war eine Kreatur der Raumzeit, und nirgendwo in Raum und Zeit konnte er wirklich einsam sein. Er wußte nicht, wo er war, aber er verschwendete keinen Gedanken daran, denn wo immer er sich befinden mochte, er war zu Hause. Er konnte überall hingehen, würde vielleicht nie wissen, wo er gerade war, und würde doch immer zu Hause sein. So kauerte er vor dem schwarzroten Stern und lauschte dem Lied der Ewigkeit, das aus der Leere in diesem Teil des Universums klang. Er wußte nicht, wo er sich befand, aber er vernahm den schwachen Duft von fernem Leben. Da begann er über das Streben dieser Lebensform nachzudenken. Über das Streben, das jeder Lebensform zu eigen war, ihr Drängen zu jenen letzten, unwägbaren Antworten, die zusammenkommen und verschmelzen mußten, damit endlich die letzte Antwort gefunden werden konnte. 333
Dies ist mein Erbe, dachte Flüsterer, dies ist das Erbe, die Aufgabe und die Erfüllung meines Volkes, und zugleich ist es die Bestimmung vieler anderer Wesen, die aus dem Dunkel der Unwissenheit dem Licht entgegenstreben. Dann waren plötzlich Stern und Finsternis verschwunden, und Flüsterer befand sich wieder in der Mitte des Kreises, den die Gleichungswesen um ihn gebildet hatten. Er erkannte den rosenroten Quader, der ein Stück aus dem Kreis herausgetreten war. Die Vorderseite des roten Blocks war leer, aber während Flüsterer sie noch betrachtete, flackerte auf ihr eine Gleichung auf. Schwach und verschwommen zunächst, doch bald wurde sie klarer und deutlicher. Flüsterer konzentrierte sich ganz auf sie, und endlich war sie völlig scharf zu sehen. Sofort danach verschwand sie wieder. Der rote Block war leergewischt, und Flüsterer nahm alle seine Verstandeskräfte zusammen und konzentrierte sie auf der roten Fläche. Langsam formte sich dort eine andere Gleichung, auch diese nahm nach einer Weile feste Formen an. Doch etwas war anders an dieser Gleichung: Es waren Flüsterers Zeichen, die dort zu sehen waren, er hatte sie dem rosenroten Wesen eingegeben, und der Quader hatte sie auf seine Vorderseite übertragen, um sie den anderen Gleichungswesen zu zeigen. Ich kann mit ihnen sprechen, dachte Flüsterer, und er spürte das Wohlgefühl des Stolzes. Ich rede zu ihnen in ihrer Sprache und auf ihre Art. Im ganzen Umkreis erschien dieselbe Gleichung auf den Vorderseiten der anderen Wesen, und Flüsterer konnte ihr Erstaunen spüren und ihre Befriedigung darüber, daß endlich jemand zu ihnen gekommen war, der sich in ihrer Sprache ausdrücken konnte. Wahrscheinlich war dies ein Ereignis, mit dem sie nie gerechnet hatten. Im weiten Universum hatten sie sich ihren kleinen Teil abgesteckt, und sie hatten sich damit abgefunden, allein zu bleiben, isoliert von allen anderen Wesen, oh334
ne Hoffnung auf einen Besucher aus einer anderen Welt. Irgendwann hatten sie ihre selbstgenügsame Isolation als wünschenswerte Daseinsform in ihren Herzen verankert. Die Gleichung wurde ausgewischt und eine neue erschien, schneller diesmal und ohne zu stocken. Das rosenrote Wesen sandte Flüsterer eine Antwort. Er stimmte sich auf einen langen Plausch mit seinen neugewonnenen Freunden ein.
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46 Es war ein karger, winziger Raum. Da gab es nichts als vier aus dem Felsgestein gehauene Wände, und in eine davon war die Metallplatte eingesetzt. Der Platte gegenüber standen die beiden Stühle, auf denen sie saßen. Ein Gesicht begann sich auf der Platte abzuzeichnen. Nachdem es sich gebildet hatte, geschah eine Zeitlang nichts, dann sagte der Papst: „Ich freue mich, daß Sie auf meinen Ruf gefolgt sind.“ „Es ehrt uns, vor Euch treten zu dürfen, Eure Heiligkeit,“ erwiderte Jill. „Ich habe viele Berater“, begann der Papst, „und es kommt gelegentlich vor, daß ich viele einander widersprechende Ratschläge erhalte, so daß ich oft nicht weiß, welchem ich folgen soll. Nun möchte ich, mit Ihrer Zustimmung, einen Rat völlig anderer Art einholen. Gewöhnlich entspringen meine Ratschläge der Denkweise der Roboter. In all den Jahren habe ich natürlich auch mit Menschen reden können, aber diese Gelegenheiten ergaben sich selten, und es geschieht nicht oft, daß Menschen frei ihre innersten Gedanken aussprechen. Natürlich kann ich mich an Ecuyer wenden, doch, obwohl ich ihn höher schätze als viele andere, neigt er dazu, zu sehr einem einzigen Gesichtspunkt verhaftet zu bleiben. Das Suchprogramm nimmt ihn ganz und gar in Anspruch …“ „Er ist Euch treu ergeben …“, warf Tennyson ein. „Ja, das ist er zweifellos. Darf ich Sie etwas fragen? Sind Sie – als Menschen – empört darüber, daß dieser Ort von uns Vatikan genannt wird?“ „Nein, überhaupt nicht“, antwortete Jill. „Sind Sie zufällig Christen?“ „Diese Frage haben wir uns selbst schon häufig gestellt“, erwiderte Jill. „Wir wissen nicht, was wir sind. Wir stammen bei336
de von christlichen Vorfahren ab, aber das will lediglich besagen, daß unsere Kultur nicht der jüdischen, moslemischen oder einer der vielen anderen Religionen zuzuordnen ist; ich kann also nur eine negative Definition geben.“ „Wir sind natürlich nicht der Vatikan“, sagte der Papst, „nicht einmal ein Vatikan. Wir bezeichnen uns selbst als Vatikan-17, allerdings wird die Zahl selten gebraucht. Ich vermute, daß zu jener Zeit, als diese Institution gegründet wurde, sechzehn weitere Vatikane überall im von Menschen besiedelten Teil des Weltalls verstreut lagen. Das ist aber nur eine Vermutung. Ich bin der Ansicht, der Vatikan auf der alten Erde ist immer noch der erste Vatikan, und die anderen sind gewissermaßen seine Ableger, wenn ich mich so ausdrücken darf. Diese Nebenstellen des Vatikans besitzen zweifellos das Recht, diesen Namen zu tragen. Wir haben nicht danach gefragt, ob wir ihn benutzen dürften. Wenn wir unsere Einrichtung heute gründeten, würden wir kaum noch einmal diesen Namen verwenden. Würde ich heute erschaffen, würde ich gewiß nicht ‚Papst’ genannt werden. Als der Grundstein für diesen Vatikan und für mich gelegt wurde, waren die Roboter frisch von der Erde gekommen. Sie standen noch immer im Bann der großen irdischen Religionen, besonders beeindruckt waren sie von der Tradition und der Majestät der römisch-katholischen Kirche. Also nannten sie diesen Ort Vatikan und mich Papst. Viele Vatikanfunktionäre würden dem, was ich soeben gesagt habe, widersprechen. Es gibt viele unter ihnen, die diesen Platz für einen heiligen Platz halten und unser Unternehmen für eine heilige Tat. Aus Hochachtung, vielleicht sogar aus Liebe zum historischen, irdischen Christentum wurden die katholischen Bezeichnungen übernommen. Trotz der Tatsache, daß unseren Gründern die Teilnahme an der Religionsgemeinschaft verwehrt wurde, hegten sie doch eine tiefe Ehrfurcht vor dem alten Glauben.“ „Das können wir gut verstehen“, sagte Tennyson. „Wir be337
greifen, warum die Roboter diese Terminologie verwendet haben, und wir haben keine Einwände dagegen.“ „Von mir als Papst wird erwartet, daß ich unfehlbar bin“, erklärte Seine Heiligkeit. „Man erwartet von mir die Antwort auf alle Fragen. Die Gemeinschaft wartet auf meine Führung. Als hochentwickelter Computer bin ich eher dazu geschaffen, langfristige Antworten zu finden. Bei spontanen Problemlösungen fühle ich mich oft recht hilflos. Bitten Sie mich um eine Antwort, deren Bedeutung in etwa zehntausend Jahren wertvoll werden wird; wenn Sie mir genügend Zeit zum Nachdenken lassen, werde ich eine akzeptable Hochrechnung liefern. Bitten Sie mich über ein Problem zu entscheiden, das bis morgen Abend geklärt sein muß, und sie werden feststellen, daß ich genauso unsicher bin wie jeder andere. Verstehen Sie nun, in welcher Lage ich mich befinde?“ „Ja, ich glaube schon“, antwortete Jill. „Am meisten verwirrt mich dieses Glaubensproblem“, sagte Seine Heiligkeit. „In unserer Galaxis und zweifellos im gesamten Universum haben viele verschiedene Rassen ebenso verschiedene Arten von Bekenntnissen entwickelt. Sie gehen von den unterschiedlichsten Vorstellungen aus und beten eine Vielzahl von Gottheiten an. Es mag Ihnen seltsam erscheinen, daß ein Papst dies ausspricht …“ „Wir hören aufmerksam zu“, sagte Tennyson. „Wie ich schon sagte, gibt es zahllose Glaubensrichtungen im Universum. In einer Hinsicht steht die Erde allerdings unter allen Planeten, die mir bekannt sind, einzigartig dar, und das ist die schiere Vielfalt der Bekenntnisse. Was würden Sie schätzen, wieviele Glaubensrichtungen es auf der Erde gibt?“ „Ich habe nie versucht, sie zu zählen“, antwortete Jill. „Wenn ich es versuchte, würde ich gewiß eine Menge Religionen auslassen, die nur eine lokale Bedeutung haben. Ich bin sicher, daß es eine Unzahl irdischer Religionen gibt.“ 338
„Und nicht zwei von ihnen stimmen überein. Alle liegen miteinander im Streit, jede Religion behauptet, daß sie die allein seligmachende sei. Es gab eine Jahrhunderte währende Episode in der irdischen Geschichte, in der sich die Menschen gegenseitig niedergemetzelt haben, um zu beweisen, daß ihr Glaube der bessere war. Ein Glaube, der vom Blutvergießen lebte. Erscheint Ihnen das richtig? Worauf würden Sie diese Erscheinung zurückführen?“ „Auf die Unvernunft der Menschheit“, erwiderte Tennyson. „Wir sind in mancher Hinsicht eine böse Rasse.“ „Und doch wird diese Rasse von den Robotern geliebt. Ihr Volk hat mein Volk geschaffen. Aus Ihren Gehirnen und Ihrem Geschick ist unser Volk entsprungen. Wir sind aus euch erwachsen. Ihr habt uns erschaffen und weiterentwickelt. Allein aus diesem Grunde muß etwas Gutes in der menschlichen Rasse liegen. Die Roboter sind ein Beweis dafür, daß die Menschen über ein Übermaß an Edelmut und Liebe verfügen.“ „Eure Heiligkeit, unsere Philosophen haben sich diese Fragen ebenfalls gestellt“, sagte Tennyson. „Sie sind nicht neu für uns.“ „Was soll dann also in dieser Glaubensfrage geschehen? Sie erkennen das Problem, dem der Vatikan gegenübersteht? Als ein Abkömmling der Roboter, die ihrerseits Abkömmlinge der Menschen sind, frage ich nun Sie. Ich will nicht versprechen, daß ich mich nach Ihrem Ratschlag richten werde. Es gibt viele Faktoren, die ich berücksichtigen muß, aber ich muß unbedingt wissen, wie Sie über diese Sache denken. Darum frage ich Sie jetzt, Sie allein, in Abwesenheit Ihres Freundes, des Kardinals. Also bitte, reden Sie! Ich frage Sie als hochgeschätzte Freunde.“ „Wir sind am Anfang nicht als Freunde hierher gekommen“, sagte Tennyson. „Jill kam als Journalistin, die Eure Geschichte der Galaxis mitteilen wollte, und sie wurde schroff zurückgewiesen. Ich kam als Mann, der vor der menschlichen Gerechtigkeit auf der Flucht war. Hier wurde mir Asyl gewährt, doch 339
das geschah nur deshalb, weil ich Arzt war und hier ein Doktor benötigt wurde.“ „Aber seit damals haben Sie uns beide gezeigt, daß Sie unsere Freunde geworden sind“, erklärte der Papst. „Sie haben sich zunehmend mit dem Vatikan identifiziert. Es gab eine Zeit, da reagierten Sie verärgert auf unsere Andeutung, wir würden Sie eventuell nicht fortgehen lassen. Nun hätten wir Schwierigkeiten, wenn wir Sie vertreiben wollten. Was haben Sie im Vatikan gefunden, das diesen Sinneswandel bewirken konnte?“ „Ich weiß nicht, wie ich Euch das erklären soll“, erwiderte Tennyson. Es wäre tatsächlich nicht leicht, gestand er sich ein. Es gab viele Gründe, und sie waren schwer zu nennen. „Wegen der Ruhe“, sagte Jill. „Die ruhige Lebensweise und die stille Hingabe. Die stille Hingabe ist allerdings in jüngster Zeit in Gefahr geraten. Da ist der kleine Garten beim Krankenhaus, die Kornfelder, die Berge …“ „Ich hatte den Eindruck, daß du dir nichts aus den Bergen machst“, sagte Tennyson. „Das hat sich geändert, Jason. Gestern habe ich sie zum ersten Male richtig gesehen. Ich habe sie so wahrgenommen, wie du sie gesehen hast.“ „Zur Zeit des Mittelalters hat es auf der Erde viele Klöster gegeben“, berichtete Tennyson dem Papst. „Die Menschen haben sich dorthin zurückgezogen und ihr Leben dort verbracht. Nach christlichen Regeln haben sie ein christliches Leben geführt. Wenn man sie danach gefragt hätte, hätten sie geantwortet, sie täten es um Jesu Willen und es sei ihre Art, Christus zu dienen. Ich neige zu der Ansicht, daß sie die Klöster als Zufluchtsort vor den harten Zeiten aufgesucht haben. Dort fanden sie eine Welt des Friedens und der Ruhe. Ich halte sie deswegen nicht für weniger gläubig, aber es ist immerhin möglich, daß ihr Glauben weniger mit ihrem Entschluß zu tun hatte, als sie sel340
ber dachten. Ich glaube, Ihr habt das gleiche erschaffen, und ich habe es gefunden: einen Zufluchtsort vor den Turbulenzen einer zerstrittenen Galaxis.“ „Und so soll es auch bleiben“, entgegnete der Papst. „Ein Ort, an dem wir in Ruhe unserer Arbeit nachgehen können. Die Frage aber lautet: Was soll unsere Arbeit sein?“ „Wenn Ihr mich fragt, ob Ihr nach Glauben oder Wissen trachten sollt, dann antworte ich: nach Wissen, denn es erscheint mir, daß der Glauben aus dem Wissen entspringen sollte und nicht das Wissen aus dem Glauben. Aber dies ist meine persönliche Meinung. Fragt zehn oder hundert andere Menschen, einmal abgesehen von den voreingenommenen Menschen hier auf Nirgendsend, und Ihr werdet viele verschiedene Antworten erhalten. Einige werden die gleiche Antwort geben wie ich, andere werden sich für den Glauben entscheiden. Vielleicht besteht die wahre Antwort darin, daß es auf diese Frage eine wirklich wahre Antwort nicht geben kann, ebensowenig wie es den wahren Glauben gibt?“ „Gibt es die wahre Erkenntnis?“ „Ich bin davon überzeugt, daß es sie gibt, aber genauso sicher bin ich, daß ich sie nie erlangen werde. Womöglich werdet auch Ihr sie niemals finden.“ „Vielleicht haben sich die guten Roboter bei meiner Konstruktion verrechnet“, sagte der Papst. „Sie haben es versäumt, mich mit der gleichen Frömmigkeit auszustatten, die sie in sich spürten. Ich neige nämlich zu der gleichen Ansicht wie Sie. Wenn ich mich jedoch für Ihren Weg entscheide, dann wird der Vatikan auseinandergerissen werden. Auf Jahre hinaus werden Streit und Zwietracht herrschen, und es wird sich nicht der gesamte Vatikan meiner Entscheidung anschließen. Ein solcher Vorgang würde dem Ansehen des Papstes schaden. Ich weiß nicht, ob Sie das einsehen können, aber das Ansehen des Papstes ist für uns alle sehr wichtig.“ 341
Die beiden Menschen antworteten nicht. „Ihr Menschen verspürt Liebe und Haß“, fuhr der Papst fort. „Mir sind beide Gefühle unbekannt. Ich bin der Meinung, dies verschafft den Robotern und mir einen gewissen Vorteil. Ihr habt eure Träume und ich den meinen, aber mein Traum kann mit euren nicht identisch sein. Ihr habt die Kunst: Musik, Malerei und Literatur. Mir sind diese Dinge bekannt, ich begreife den Zweck, dem sie dienen, und verstehe, daß man aus ihnen Vergnügen schöpfen kann, aber sie sprechen mich nicht an.“ „Eure Heiligkeit“, wandte Hill ein, „auch der Glaube selbst kann eine Kunst sein.“ „Das bezweifle ich nicht“, erwiderte der Papst. „Sie haben da eine wichtige Frage angesprochen. Auf jeden Fall können Sie nicht behaupten, daß die Roboter in ihrem Glauben, beziehungsweise ihrem Hunger nach Glauben, den Menschen unterlegen sind. Es war dieser Hunger, der den Vatikan entstehen ließ und uns über tausend Jahre auf unserer Suche nach dem wahren Glauben vorangetrieben hat. Wäre es denkbar, daß es unterschiedliche Erscheinungsformen des Glaubens – nein, nicht einfach des Glaubens, sondern des wahren Glaubens – gibt?“ „So mag es erscheinen“, sagte Tennyson, „aber nach der allerletzten Prüfung wird nur ein einziger Bestand haben, ein Glaube, dem sich alle denkenden Wesen unterwerfen können. Es wird einen letzten Glauben geben, so wie es eine letzte Wahrheit gibt. Ich wäre nicht überrascht, wenn diese beiden Dinge identisch sind: die Wahrheit und der Glaube.“ „Und darum sind Sie der Ansicht, wir sollten der Wahrheit folgen, da sie am Ende die bessere und leichtere Straße zum Glauben bietet, als die Suche nach dem Glauben selbst?“ „Das ist meine Meinung“, sagte Tennyson. „Wenn man nach der Wahrheit sucht, kann man gewissen Leitlinien folgen, zum Glauben gibt es keinen verläßlichen Wegweiser.“ 342
„Ich habe in mir ein immenses Wissensreservoir aufgestaut“, erklärte der Papst. „Im Laufe der Jahrhunderte haben mir die Lauscher soviel Material geliefert, daß ich manchmal nicht weiß, wohin ich mich wenden soll. Wie rasend suche ich dann in den Abstellkammern meines Wissensvorrates nach einem winzigen Stück Information, das in jenes Puzzle paßt, das ich gerade lösen will. Es gibt viele Puzzles, und so muß ich immer gleichzeitig nach vielen Wissensstückchen suchen, die in ihrer Gesamtheit ein jeweils anderes Puzzel ergeben. Während ich mich also auf die Suche begebe, muß ich ständig Angst vor dem Gedanken haben, daß gerade dieses besondere Stück von den Lauschern noch nicht gefunden wurde. Sie können endlos weit ins All hinausschauen, und ihre Suche währt schon viele hundert Jahre, aber sie haben kaum am Wissen des Universums gekratzt.“ „Das bedeutet doch, Ihr müßt dafür sorgen, daß die Lauscher mit ihrer Arbeit fortfahren können“, sagte Tennyson. „Vielleicht findet gerade morgen einer von ihnen ein Stück, das Ihr so dringend benötigt. Vielleicht dauert die Suche aber auch noch hundert oder tausend Jahre. Wenn die Lauscher aber ihr Werk nicht fortsetzen dürfen, dann wird dies Stückchen gewiß niemals gefunden werden.“ „Ich weiß“, sagte der Papst, „ich weiß. Aber es gibt immer solche, die mit metallischer Kennermiene behaupten, daß ich außerhalb der Realität lebe und in meiner Isolation in diesem steinernen Gefängnis den Bezug zur Wirklichkeit verloren habe. Ich bin davon überzeugt, sie irren sich, aber ich kann ihnen meinen Standpunkt nicht verständlich machen. Diese Leute reden von einer Welt, die ich als provinziell empfinde. Sie wird von den Grenzen des Wissens und den besonderen Lebensbedingungen dieser Leute beschränkt. Was hier im Vatikan und auf Nirgendsend die reale Welt ausmacht, hat auf einem anderen Planeten in der Mitte der Galaxis, ja womöglich nicht ein343
mal auf unseren Nachbarplaneten Gültigkeit. Unsere beschränkten Sinne grenzen unser Verständnisvermögen ein, sie schirmen uns von der Realität des Universums ab. Ich glaube also, ich existiere viel eher in einer realen Welt als meine Kontrahenten. Ich bin über sie hinausgewachsen“, fuhr der Papst fort. „So ist die Lage. Heute bin ich Ihnen überlegen, aber das ist es doch, was sie wollten. Als sie mich einst konstruierten, strebten sie nach Unfehlbarkeit, wie bei dem irdischen Papst. Doch nun bin ich über sie hinausgewachsen, und sie sind von mir enttäuscht. Unfehlbarkeit auf einem einzelnen Planeten und im Universum sind zwei verschiedene Dinge.“
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47 „Worum ging es denn nun eigentlich?“ fragte Jill. „Der Vatikan fällt langsam auseinander,“ antwortete Tennyson, „und der Papst hat es erkannt.“ „Wir haben ihm nicht sehr geholfen.“ „Wir waren ihm überhaupt keine Hilfe. Er ist von uns enttäuscht. Die Roboter sind immer noch der einfältigen Überzeugung, die Menschen seien große Zauberer, die sofort eine Antwort wissen, wenn sie, die Roboter, in der Klemme sitzen. Die Vaterfigur: Vater kann alles, er wird schon alles ins Lot bringen. So denkt auch der Papst. Vielleicht hatte er sich vorher schon gesagt, daß wir nichts für ihn tun können, aber er mußte dennoch an dem Wunschbild vom übermächtigen Vater festhalten. Und nun ist er von uns enttäuscht.“ Tennyson erhob sich, um ein paar Holzscheite aufs Feuer zu werfen, dann kehrte er zu seinem Platz neben Jill zurück. „Eigentlich hält nur das Suchprogramm den Vatikan zusammen“, sagte er. „Ecuyer jedenfalls ist dieser Meinung. Als ich ihn gerade kennengelernte, hat er zu mir gesagt, der Vatikan sei nur noch ein Vorwand, um mit dem Suchprogramm fortzufahren. Damals habe ich seine Worte für Prahlerei gehalten, es schien mir, er wolle sich mit seiner eigenen Wichtigkeit brüsten. Inzwischen habe ich begriffen, daß viel Wahrheit in seinen Worten lag. Mit dem Suchprogramm ist der Vatikan ein dynamisches Unternehmen, ohne das es hier nur noch ein blindes Getappe nach Erkenntnissen gäbe, die niemand verstehen kann. Endlose Streitereien würden entstehen, nutzlose Sophistereien und Ketzerlehren, die in einen erbitterten Wettstreit mit der kirchlichen Autorität treten würden. Ohne die Lauscher würde der Vatikan in seinem jetzigen Zustand keine tausend Jahre mehr existieren. Wenn es ihm dennoch gelänge, wäre er zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.“ 345
„Aber Seine Heiligkeit hat uns erzählt, daß er einen gewaltigen Vorrat an unaufgearbeitetem Wissen besitzt“, wandte Jill ein. „Könnte er nicht zunächst an den Dingen arbeiten, mit denen ihn die Lauscher versorgt haben? So könnte er lange Zeit mit seiner Arbeit fortfahren, und …“ „Siehst du denn nicht, daß das in eine Sackgasse führt?“ unterbrach sie Tennyson. „Einen großen Teil seiner Informationen kann er niemals verwenden. Er kann sein Wissen wieder und wieder durchsieben, aber verwenden kann er die einzelnen Teile nicht. Wenn er sinnvoll arbeiten will, dann muß er in Bewegung bleiben. Wie Feuerholz für den Winter muß sein Wissensreservoir weiter wachsen. Es ist fraglich, ob es so kommen wird, denn wenn die Theologen die Macht ergreifen, wird es in wenigen Jahren keine Lauscher mehr geben. Die zur Zeit tätigen Lauscher werden nach und nach sterben, und wenn keine neuen rekrutiert und die Klone nicht ausgebildet werden, dann wird es um das Suchprogramm geschehen sein. Damit ist dann alles aus.“ „Und wenn es einmal abgebrochen wird, kann es nie wieder neu aufgebaut werden.“ „Das ist es ja gerade“, sagte Tennyson. „Jill, wir sitzen hier und haben den Untergang des ehrgeizigsten Forschungsprojektes, das die Galaxis je gesehen hat, vor Augen. Gott allein weiß, was dieser Verlust bedeutet. Niemand kann ermessen, wie die Wirkung dieses Scheiterns auf Roboter und Menschen sein wird. Ich schließe die Menschen mit ein, denn alles, was die Roboter besitzen, gehört auch den Menschen. Wir stellen sie uns gern als zwei verschiedene Rassen vor, aber das sind sie nicht. Die Roboter besitzen ein menschliches Erbe, sie sind ein Teil von uns. Sie gehören zu uns, und wir gehören zu ihnen.“ „Jason, wir müssen etwas dagegen unternehmen. Wir beide sind die einzigen, die etwas tun können, also müssen wir handeln.“ „Ecuyer, ist auch noch da.“ 346
„Ja sicher, das stimmt, aber Ecuyer ist zu eng an den Vatikan gebunden.“ „Du hast recht. Er ist so voreingenommen wie die meisten Menschen auf Nirgendsend, aber auch er ist vom Vatikan geprägt.“ „Also können nur wir etwas tun! Aber was?“ „Liebling, ich weiß es nicht. Im Augenblick ist mein Kopf vollkommen leer. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wenn wir zum Himmel gelangen könnten …“ „Und einen Beweis mit zurückbrächten. Einen Beweis, daß wir dort waren, müßten wir vorzeigen können.“ „Ja, natürlich müßten wir das. Ohne Beweis würde niemand uns glauben. Aber wozu sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen? Wir kommen sowieso niemals dorthin.“ „Ich habe mir gerade etwas überlegt.“ „Ja, was denn?“ „Was wäre, wenn es sich, tatsächlich um den echten Himmel handelte, wenn Maria sich nicht getäuscht hätte?“ „Der Himmel ist kein fester Ort, er ist ein Geisteszustand.“ „Nein, Jason, du machst es dir zu leicht. Was du da sagst, ist nur eine Phrase, nichts anderes als ein vorschnelles Urteil. Ich habe dir von den Gleichungswesen erzählt und von dem veränderlichen logischen System, das sie möglicherweise benutzen. Es könnte doch sein, daß das gesamte Universum sich solcher variabler Logikstrukturen bediente. Damit wären alle unsere menschlichen Konzepte sinnlos. Wäre es nicht möglich, daß unsere Vorstellungen von Grund auf falsch sind?“ „Wenn du meinst, es könnte doch einen Himmel geben …“ „Das habe ich nicht behauptet. Ich will von dir wissen, was du tätest, wenn es einen gäbe.“ „Du meinst, ob ich ihn akzeptieren würde?“ „Ich will deine Einstellung wissen. Wenn du nun mit der Nase auf den Himmel gestoßen würdest?“ 347
„Ich denke, daran hätte ich nicht schlecht zu schlucken.“ „Aber würdest du seine Existenz anerkennen?“ „Das müßte ich wohl, oder? Aber wie sollte ich wissen, ob es sich tatsächlich um den Himmel handelt? Wenn es keine goldene Treppe und keine Engel gibt …?“ „Vermutlich wird es dort keine goldene Treppe und keine Engel geben. Das sind alte Geschichten, man hat versucht, mit ihnen den Himmel so auszuschmücken, daß sich jeder nach ihm sehnt. Ein Ort, an dem jeder gern leben würde, eine Art ewiges Picknick. Ich glaube, man würde sofort feststellen, daß man im Himmel ist, auch wenn er ganz anders aussieht.“ „Ein prächtiger Bach zum Angeln“, schwärmte Tennyson. „Schattige Waldwege und prachtvolle Gebirgspanoramen. Gemütliche Restaurants, wo die Kellner dich wie einen guten Freund behandeln und nicht wie einen Kunden. Geselligkeit, gute Bücher, die man lesen und über die man nachdenken kann, und du …“ „So stellst du dir den Himmel vor?“ „Das war aus dem Stegreif gesprochen. Gib mir etwas Zeit zum Nachdenken, und ich kann dir noch mehr erzählen.“ „Ich wäre froh, wenn ich alles so locker betrachten könnte wie du“, sagte Jill mit überraschendem Ernst. „Ich bin in der letzten Zeit völlig verwirrt. Der Vatikan, die Gleichungswelt … all das macht mir zu schaffen. Ich möchte gern an den Himmel glauben, aber es gelingt mir nicht immer, und dann ärgere ich mich über mich selbst. Seine Heiligkeit hat über die Wirklichkeit gesprochen. Wenn man hier lebt, dann empfindet man diese Welt als Wirklichkeit, aber gelegentlich trete ich gewissermaßen neben mich, und wenn ich dann mich und alles um mich herum betrachte, dann habe ich das Gefühl, daß dies nicht die Wirklichkeit ist. Bevor ich hierher gekommen bin, hätte ich nie gedacht, daß es einen solchen Ort überhaupt gibt. Hier ist alles so unwirklich.“ 348
Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Sie schmiegte sich an seine Brust. Im offenen Kamin knisterte das Feuer und verursachte das einzige Geräusch in der vollkommenen Ruhe. Sie waren allein und fühlten sich sicher im dunklen Schoß dieser Welt. „Jason, ich bin sehr glücklich.“ „Ich auch, und so soll es bleiben.“ „Du bist von Wansttritt geflohen. Auch ich bin geflohen. Ich bin nicht vor etwas Bestimmten fortgelaufen, nicht einmal vor mir selbst. Ich bin einfach gelaufen. So war es immer, mein ganzes Leben lang war ich auf der Flucht.“ „Aber jetzt nicht mehr.“ „Nein, jetzt nicht mehr. Du hast Seiner Heiligkeit von den mittelalterlichen Klöstern erzählt. Hier ist unser Kloster: eine interessante Arbeit, Schutz vor der Welt draußen, Glück und Sicherheit in unseren Herzen. Vielleicht gehöre ich gar nicht hierher. In den Mönchsklostern gab es keine Frauen, oder?“ „Nun, vielleicht doch, wenn es einem Mönch gelang, eine einzuschmuggeln.“ Vor der Kaminöffnung glitzerte etwas im Schein der Flammen. Mit einem Ruck richtete Tennyson sich auf. „Jill“, sagte er, „Flüsterer ist da!“ „Decker!“ klagte Flüsterer, „Decker, Decker, Decker! Ich habe es eben erst erfahren.“ „Komm zu mir“, sagte Jill. „Komm zu mir! Ich werde mit dir trauern.“ „Komm zu uns beiden“, sagte Tennyson. Flüsterer kam zu beiden, und sie trauerten gemeinsam.
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48 Enoch Kardinal Theodosius spazierte durch den Klinikgarten. Niemand war dort, nicht einmal John, der alte Gärtner. Die Schwärze des Himmels wurde nur von wenigen Sternen durchbrochen, nicht einmal ein Dutzend mochten es sein, und sie standen weit voneinander entfernt. Schemenhaft war zwischen den einsamen Sternen das schwache Leuchten ferner Galaxien zu sehen, schwach schimmernde Flecken, die von Myriaden fremder Welten kündeten. Über dem östlichen Horizont erstreckte sich das eisige Glitzern der Milchstraße, Lichtquellen einiger offener Sternenhaufen, die oberhalb der Galaxis am Himmel standen. Die Füße des Kardinals schlurften über den Ziegelpfad, während er gemächlich seinem Weg folgte, die Arme auf dem Rücken verschränkt und den Kopf in tiefem Nachdenken gebeugt. Es mag sein, daß wir uns irren, dachte er. Wir haben die Alten falsch eingeschätzt und irren uns vermutlich auch in anderen Dingen. Nur weil wir glauben, daß sich etwas so und so verhält, muß es noch lange nicht tatsächlich so ein. Jahrelang haben wir die Alten für mordlüsterne Raubtiere gehalten. Sie wären blutrünstige Fleischfresser, haben wir geglaubt. Wenn man einem von ihnen begegnete, mußte das zwangsläufig den Tod bedeuten. Eifersüchtig würden sie ihre Wälder und ihre Welt vor uns schützen und uns beobachten, immer bereit, loszuschlagen. Davon waren wir überzeugt, und nun hat einer von ihnen Decker und Hubert hierhergetragen. Er hat ihre Leichen sorgfältig vor den Stufen der Basilika abgelegt und darauf geachtet, daß die sterblichen Überreste sorgfältig ausgestreckt lagen und ihre Würde unangetastet blieb. Gesprochen hatte der Alte außerdem. Sie seien Wächter, hat350
te er behauptet, und sie würden kein sinnloses Töten zulassen. Vor weiteren, sinnlosen Morden hatte er gewarnt. Wächter. Waren die Alten tatsächlich die Hüter dieser Welt? Einiges sprach dafür, daß der Alte die Wahrheit gesagt hatte, dachte Theodosius. Jahrhundertelang hatten die Alten den Vatikan beobachtet, aber sie waren nie gegen ihn eingeschritten. Vermutlich haben sie sich nicht eingemischt, weil es uns bisher gelungen ist, uns als anständige Gäste dieser Welt aufzuführen, sagte sich der Kardinal. Beobachtet haben sie uns also, sie haben uns schärfer gemustert, als wir geahnt haben, denn sie beherrschen unsere Sprache. Sie wußten, wie wir sprechen, aber sie haben nie mit uns geredet. Vermutlich weil sie bisher keine Veranlassung dazu hatten. Es schien dem Alten Mühe zu bereiten, sich auf unsere Art verständlich zu machen. Wahrscheinlich verständigen Sie sich untereinander auf ganz andere Weise. Er hat unsere Kommunikationsform angenommen, weil er wußte, daß wir seine nicht beherrschen. Während der tausend Jahre, die wir nun auf Nirgendsend leben, sind wir von ihnen geduldet worden. Sie haben uns nach unserer Facon agieren lassen und haben nichts gegen uns unternommen, abgesehen von der Tötung dreier Menschen, wodurch wir in unserer Einschätzung, die Alten seien Bestien, bestätigt wurden. Doch sie haben die Menschen nur deshalb getötet, weil diese Jagd auf sie machen wollten. Wenn man den Vorfall in diesem Licht betrachtete, konnte man die Handlungsweise der Alten verstehen. Auch die Menschen, ja selbst die Roboter zögerten nicht, jemanden zu töten, der ihnen nach dem Leben trachtete. Einst kursierten auf Nirgendsend Geschichten, in denen es geheißen hatte, daß die Alten die menschliche Sprache beherrschten, aber das war nur eine aus der Vielzahl der Legenden, die man sich über die Alten erzählte. Hatte tatsächlich jemals ein Mensch oder ein Roboter mit einem Alten gesprochen, 351
fragte sich Theodosius. Er schüttelte zweifelnd den Kopf. Nein, auch diese Geschichten gehörten in das Reich der Fabel. Wenn ein Mythos geschmiedet wurde, bestand immer die Möglichkeit, daß etwas an ihm zufällig den Tatsachen entsprach. Oh, welche Verschwendung, welch unwiederbringlich verschwendete Zeit, dachte der Kardinal. In all den Jahren hatten die Alten als potentielle Freunde in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt. Es hätte sich gelohnt, dieses Volk kennenzulernen. Ein Volk, das eine wertvolle Bereicherung des vatikanischen Lebens bedeutet hätte. Wenn sich jemand auf einem Planeten niederläßt, dann sollte er dessen Hüter kennen. Auf wieviel anderen Planeten mochte es Hüter geben, vielleicht auf keinem anderen. In diesem Sinne könnte Nirgendsend einzigartig sein, und wir hätten das in Betracht ziehen müssen. Vieles wäre wahrscheinlich anders gekommen, wenn wir es gewußt hätten. Der Alte hatte Decker und Hubert zur Siedlung getragen – doch warum hatte Hubert dieses Verbrechen begangen? Warum hatte er Decker ermordet? Tennyson schien Zweifel daran zu haben, daß Hubert die Tat aus eigenem Antrieb begangen hatte. Vieles sprach für einen Auftrag der Theologen, doch Theodosius konnte sich mit diesem Gedanken nicht abfinden. Es erschien ihm durchaus wahrscheinlich, daß die Theologen die Himmelswürfel gestohlen hatten, aber Diebstahl und Mord waren zwei verschiedene Dinge, die man nicht auf eine Stufe stellen konnte. Wie konnte sich ein Roboter überhaupt dazu bereitfinden, einen Menschen zu töten, sei es Decker oder irgendein anderer? Es war möglich, daß ein einzelner Roboter mit einem Hirnschaden so handelte, aber wenn Hubert Decker im Auftrag der Theologen getötet hatte, dann war mehr als nur ein Roboter im Spiel, dann handelte es sich vermutlich um eine beträchtliche Anzahl. Wieviele Roboter an dem Komplott beteiligt gewesen sein mochten, konnte Theodosius nicht abschätzen. Der Gedanke, daß eine größere Zahl Roboter zu solchen Mitteln 352
griff, um ihren Plan durchzusetzen, traf ihn wie ein Schlag. Der Kardinal spürte ungewohnten Zorn in sich und unbekannte Furcht, und beide, Furcht und Zorn, traten in einen Wettstreit miteinander. Tennyson hatte Theodosius in knappen Worten unterrichtet, daß Decker möglicherweise Informationen über den Himmel besaß. Nach Tennysons Ansicht war dieses Wissen der Grund für Deckers Ermordung. Doch Decker hatte als Außenseiter auf Nirgendsend gelebt, außerdem war der Kardinal der Meinung, Tennyson, den er sonst sehr schätzte und bewunderte, urteilte in diesem Fall nach dem ersten, oberflächlichen Anschein. Tennyson war Deckers Freund, vielleicht der einzige Freund, den dieser Mann jemals gehabt hatte. Möglicherweise hatte Decker Tennyson erzählt oder angedeutet, er wüßte etwas über den Himmel, aber war auf Deckers Worte Verlaß? Der Mann war ein Rätsel. Er war aus dem Nichts aufgetaucht. Es stand fest, daß er nicht mit der WANDERGESELL gekommen war, das hatte der Vatikan sofort überprüft. Wie aber mochte er hierhergekommen sein, wenn er dieses Raumschiff nicht benutzt hatte? Er selbst hatte nie etwas darüber erzählt und bis Tennyson erschienen war, hatte er sich mit niemandem auf Nirgendsend angefreundet. Decker hatte nur selten mit jemandem gesprochen, und in diesen Gesprächen hatte er nie etwas über sich verlauten lassen. Der Mann war immer von einem Geheimnis umgeben gewesen. Doch wenn wir uns bei den Alten geirrt haben, haben wir vielleicht auch Decker falsch eingeschätzt, sagte sich der Kardinal. Wobei mögen wir uns außerdem noch geirrt haben? Vor vielen Jahrhunderten sind wir hierhergekommen, um nach etwas zu suchen. Nun bestehen die Theologen darauf, daß wir unsere Suche verstärken, die Suche nach einem umfassenderen und wahreren Glauben. Das war schließlich unser ursprüngliches Ziel, der Grund, warum wir die Erde verlassen 353
haben. Nun aber haben wir uns zerstritten, wie man dieses Ziel erreichen kann. Sind wir tatsächlich so weit von unserem Plan abgewichen? Sind wir – auch wenn wir es nicht zugeben – geprägt von der materialistischen Ethik der Menschen, die uns gebaut, ausgebildet und geleitet haben nach ihrem Bild? Nicht nur nach dem Vorbild ihres Körpers, sondern auch nach dem Bild ihres Geistes? Nachdem die Menschen dies getan hatten, haben sie uns gnadenlos ausgenutzt, das kann auch die Freundlichkeit, mit der es geschehen ist, nicht verdecken. Freundlich waren sie zu uns, weil sie tief im Innern immer wußten, daß wir Brüder sind, die aus ihnen hervorgingen. Wenn sie uns anschauten, haben sie sich selbst erblickt, und wenn wir sie betrachteten, haben wir uns in ihnen erkannt. So sind wir in Wahrheit eine Rasse. Was uns die Arbeit, die wir hier leisten, einbringen mag, werden wir sofort mit ihnen teilen, wenn sie uns darum bitten. Wir haben uns große Mühe gegeben, uns vor der Galaxis abzuschirmen, aber nicht vor den Menschen in der Galaxis. Vor allen anderen soll unsere Arbeit geheim bleiben, aber mit den Menschen würden wir bereitwillig alles teilen, so wie sie, wenn sie auch in alle Winde zerstreut sein mögen, uns an allem teilhaben lassen, was sie besitzen. Also ist es nicht verwunderlich, daß wir von ihrem Materialismus durchdrungen sind. Diese materialistische Einstellung ist an sich nichts Negatives, denn ohne sie hätten die Menschen nicht diese gewaltigen Anstrengungen unternommen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Ohne den Materialismus wären sie vermutlich noch immer eine unauffällige Säugetierrasse, die ihre Heimatwelt mit anderen Säugetieren teilt. Dann hätte es niemals Roboter oder diesen Vatikan gegeben. Wenn dem so ist, dachte Theodosius, dann haben wir uns in unserem Materialismus keiner Sünde schuldig gemacht, auch wenn die Theologen uns das vorwerfen. Es sei denn, der Sündenfall, die Ursünde, über die wir soviel gelesen haben, hätte eben in diesem Materialismus bestanden. 354
Doch diese Annahme erscheint mir sinnlos, denn wenn die Menschen nicht danach gestrebt hätten, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, dann hätten sie niemals die geistigen Fähigkeiten entwickelt, um jene große, von uns bewunderte Religion zu ersinnen. Dann würden die Menschen noch immer kleine sinnlose Götzenbilder aus Holz, Bein und Ton anbeten – falls sie überhaupt etwas anbeteten. Sie würden in ihren Höhlen hocken, geplagt von der Angst vor der Dunkelheit und bösen Omen. Unsere menschlichen Brüder sind viele Male auf ihrem Weg gestrauchelt. Furchtsam und unsicher sind sie ihrem langen Weg durch die Geschichte gefolgt. Auf dem letzten Stück haben wir sie begleitet. Auch wir sind gestrauchelt, auch wir sind unsicher und haben Angst, dabei sind wir erst gut tausend Jahre unterwegs, ein Katzensprung verglichen mit ihren drei Millionen. Wenn wir an diesem Wendepunkt unseres Weges stürzen, wenn wir einen schweren Fehler machen, dann tun wir doch nichts anderes, was die Menschheit schon viele Male getan hat, und genau wie sie werden auch wir uns von dem Schlag erholen. Wir haben eine Aufgabe, in die wir all unsere Kraft und unseren Glauben legen müssen: Wir müssen dafür sorgen, daß der Vatikan überlebt, das Bauwerk, das wir errichtet, muß erhalten bleiben. Nur dann können wir, wenn wir straucheln, uns wieder erheben und unseren Weg fortsetzen, um unserem Ziel mit neuer Entschlossenheit entgegenzueilen. Es ist mir bewußt, daß viele Menschen auf Nirgendsend und im Vatikan unsere roboterhafte Neigung zum langfristigen Denken mißbilligend betrachten. Sie verstehen nicht, daß ein Jahrhundert uns nichts bedeutet, ja, selbst das Verstreichen eines Jahrtausends erschüttert uns nicht, wenn eine solche Zeitverschwendung (so nennen sie es) am Ende zur Fortsetzung unserer Arbeit führen kann. 355
Der Kardinal hielt auf dem Ziegelpfad inne. Er hob den Kopf und starrte nach Osten, wo das körnige Glitzern der Milchstraße in weiter Ferne am Himmel stand. Die Heimat der Menschen, dachte Theodosius, und das eisige Flimmern schienen ihm nicht mehr so fern zu sein. Irgendwo dort draußen im Osten, im Gewirr der Hügel oberhalb von Deckers Blockhaus, gab es einen Ort, der häufig von den Alten aufgesucht wurde, so hatte man dem Kardinal berichtet. Vielleicht konnte man dort dem Alten begegnen, der Decker in die Siedlung getragen hatte. Vielleicht hatte dieser Alte über Decker die Wacht gehalten. Ach nein, sagte sich der Kardinal, es wäre doch zu merkwürdig, wenn ein Alter sich speziell um Decker gekümmert hätte. Eigentlich wäre es durchaus angebracht, wenn jemand aus dem Vatikan, vielleicht ich selbst, einmal mit Deckers Altem reden würde, dachte Theodosius. Schließlich ist es nichts weiter als eine höfliche Geste, wenn man einen Besuch erwidert.
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49 „Hast du die ganze Zeit in der Gleichungswelt verbracht?“ fragte Jill Flüsterer. „Ja. Ich habe dich zurückgeschickt, aber selbst bin ich nicht mitgekommen. Ich bin dort geblieben und habe mit den Wesen geredet.“ „Du kannst tatsächlich mit ihnen sprechen? Als ich dort war, hatte ich das Gefühl …“ „Ich kann mit ihnen sprechen und mich mit ihnen verständigen“, sagte Flüsterer. „Kannst du uns erklären, was diese Wesen sind?“ „Es sind alte Philosophen.“ „Das kommt mir bekannt vor,“ bemerkte Tennyson. „Auf der Erde hat es zu allen Zeiten zahlreiche Philosophen gegeben – ich nehme an, daß es sich auch heute noch so verhält –, und die meisten von ihnen waren ältere Herren, bedächtige Männer, die sich ihrer Weisheit bewußt waren, und dich immer gern spüren ließen, wie weise sie waren.“ „Es sind verbrauchte Philosophen“, berichtete Flüsterer. „Verbraucht?“ „Sie sind so alt, daß man mit ihnen nichts mehr anfangen kann. Vermutlich sind sie hinter der Zeit zurückgeblieben. Sie murmeln in ihre Barte und leben nicht mehr mit ihrem Volk zusammen. Man hat sie abgeschoben. Sie vertreiben sich die Zeit mit kleinen Spielchen.“ „Wie Pensionäre in einem Altenheim auf der Erde, die Dame oder Boccia spielen?“ „Nein, nein, damit kann man es überhaupt nicht vergleichen. Sie ersinnen Probleme und spielen sie durch. Manchmal brauchen sie lange Zeit für ein Problem, denn sie sind nicht leicht zu lösen.“ 357
„Probleme?“ fragte Jill. „Du meinst, es werden ihnen Aufgaben gestellt? Aber du hast doch behauptet, man hat sie abgeschoben?“ „Niemand stellt ihnen eine Aufgabe. Sie denken sich die Probleme selbst aus. Hypothetische Denkspiele, Probleme, auf die niemand sonst seine Zeit verschwenden würde. Möglicherweise sind es ethische Streitfragen, möglicherweise moralische, vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Sie haben versucht, es mir zu erklären, aber …“ „Ach, dann stellen alle diese Gleichungen und Diagramme in Wahrheit Probleme dar, es handelt sich gar nicht um eine Sprache?“ „Es sind Probleme“, antwortete Flüsterer. „Wahrscheinlich ist das auch ihre Art der Kommunikation, aber im Wesentlichen handelt es sich um Probleme. Sie brauchen nicht miteinander zu sprechen, sie verstehen sich auch so. Sie kennen einander schon so lange …“ „Moment mal!“ unterbrach ihn Tennyson. „Diese Wesen kommen mir tatsächlich wie Pensionäre vor. Weißt du, was ein Pensionär ist?“ „Ich glaube nicht.“ „Wenn ein Mensch den größeren Teil seines Lebens gearbeitet hat, dann setzt er sich zur Ruhe. Es gibt keine Arbeit mehr für ihn. Er kann seine Zeit nach Belieben nutzen, kann alles tun, wozu er Lust hat.“ „Ja, genauso ist es auf der Gleichungswelt“, sagte Flüsterer. „Mit anderen Worten, wir haben ein Altersheim entdeckt, einen Seniorenclub, der nicht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll.“ „Nein, das Gefühl haben die Gleichungswesen nicht. Für sie ist es eine Arbeit, die sie verrichten. Darum geben sie sich auch große Mühe. Sie haben nur eine Sorge: Sie werden nie mit realen Problemen konfrontiert, und ob sie ihre eigenen lösen oder 358
nicht, spielt keine Rolle. Sie sind ganz verrückt nach richtiger Arbeit, aber die bekommen sie nicht.“ „Wo leben denn die anderen Wesen ihrer Rasse, diejenigen, die sich noch nicht zur Ruhe gesetzt haben?“ „Anderswo. Ob sie in der Nähe von ihren Alten leben oder in weiter Ferne, weiß ich nicht. Sie arbeiten an echten Problemen.“ „Wie ist es mit den Pensionären, den Ruheständlern, mit denen du gesprochen hat. Sind sie noch leistungsfähig? Besitzen Sie einen klaren Verstand? Zeichnen sie sich durch besondere Fähigkeiten aus?“ „Sie haben mich auf eine Reise geschickt“, erzählte Flüsterer. „Wohin kann ich nicht sagen. Keine Geographie, keine Koordinaten. Ich bin auf einer Magnetströmung geritten und habe mit Ionen getanzt. Ich habe mich an einem roten Zwergenstern in der Finsternis aufgewärmt.“ „Sie haben dich tatsächlich in den Weltraum transportiert? Haben ihn dir nicht nur gezeigt? Haben tatsächlich deine Atome hingeschickt?“ „Sie haben meine Atome in den Weltraum gesandt.“ „Warum?“ fragte Jill. „Weil sie wußten, daß ich es so wollte. Sie haben diesen Wunsch in mir entdeckt. Vielleicht wollten sie mir auch nur ihre Fähigkeiten demonstrieren. Aber das glaube ich eigentlich nicht, denn sie haben mich spüren lassen, daß das, was sie taten, für sie nur eine Kleinigkeit war. Ich meine, es sollte eine freundliche Geste sein, da sie bemerkt hatten, wie sehr ich es mir wünschte. Übrigens habe ich mit ihnen über den Himmel gesprochen.“ „Über den Himmel?“ „Ihr wollt doch zum Himmel, oder nicht? Sollte ich mich so sehr getäuscht haben?“ „Nein, du hast dich nicht getäuscht“, versicherte Tennyson. „Aber es gibt keine Koordinaten, keine Daten …“ 359
„Ihr müßt noch einmal über den Himmel mit mir reden, Ihr müßt mir alles sagen, was ihr darüber wißt. Ich muß in euren Verstand hineinschauen.“ „Und dann?“ „Dann werde ich noch einmal mit den Gleichungswesen reden. Ich werde ihnen sagen, daß ihr unbedingt dorthin wollt und eine Reise dorthin auch verdient habt. Sie werden versuchen, ihn zu finden, das weiß ich. Es wäre eine echte Aufgabe für sie, kein albernes Spiel. Sie werden beglückt sein. Die Gleichungen werden blinken, Diagramme werden wachsen, und sie werden ihre Daten und ihre Erinnerungen durchforsten.“ „Nehmen wir einmal an, sie würden den Himmel tatsächlich finden. Könnten sie uns in den Himmel bringen?“ „Sie haben mich ausgeschickt“, sagte Flüsterer. „Sie haben mich an viele Orte geschickt.“
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50 Maria starb am Vormittag. Sie war eine zarte, zerbrechliche alte Frau, die im Tod noch zarter und immaterieller erschien als im Leben. Es war, als hätte der Tod einen Teil ihrer physischen Dimension geraubt, die sie zu Lebzeiten noch besaß. Tennyson stand neben dem Bett und blickte auf den Leichnam hinab, der sich kaum unter der schweren Decke abzeichnete. Wie schon häufig, wenn er einen Patienten verloren hatte, verspürte er ein vages Schuldgefühl. Immer tauchte die Frage auf, ob er seine Aufgabe als Arzt hätte besser erfüllen können, ob es nicht auch seine Schuld war. Einmal hatte er Maria das Leben gerettet, dessen war er sich sicher. Die Frau hatte den tödlichen Schlag auf jener goldenen Treppe erlitten, als die schwarze Gestalt sie die Stufen hinuntertrieb und ihr mit dem Finger drohte. Danach hatte sie nicht mehr leben wollen. Sie hatte den Kampf aufgegeben, und so hatte der Tod leichtes Spiel gehabt. Die Schwester berührte Tennysons Arm. „Es tut mir leid, Herr Doktor“, sagte sie. Tennyson spürte, daß die Schwester ihn verstand. „Mir tut es auch sehr leid“, erwiderte er. „Ich habe diese Frau sehr bewundert.“ „Es gab nichts, was Sie noch tun konnten“, sagte die Schwester. „Nichts, was irgendwer hätte tun können.“ Dann ging sie aus dem Zimmer. Tennyson blieb noch einen Augenblick vor dem Bett stehen und ging dann ebenfalls. Ecuyer erhob sich von einem Stuhl im Wartezimmer. Tennyson nickte ihm zu. „Es ist vorüber.“ Ecuyer tat ein paar Schritte auf Tennyson zu und blieb dicht vor ihm stehen. „Sie war die beste“, sagte er. „Die beste Lauscherin, die ich jemals hatte. Draußen wartet eine große Menschenmenge. Ich werde es den Leuten sagen müssen.“ 361
„Ich komme mit dir“, sagte Tennyson. „Es ist seltsam“, bemerkte Ecuyer. „Sie war nicht nur eine gute Lauscherin, sie war mit Hingabe bei der Sache. Sie hat an das Programm geglaubt. Für sie war es das ganze Leben, und dann war sie es, die dem Programm ein Ende bereitet hat.“ „Hast du schon etwas Neues gehört? Gibt es irgendwelche Andeutungen?“ Ecuyer schüttelte den Kopf. „Für die nächste Zeit rechne ich auch nicht damit. Es wird alles sehr glatt und still über die Bühne gehen. Nur kein Aufsehen! Ein paar neue Vorschriften, einige Einschränkungen hier und dort. Eines Tages – wir werden gar nicht bemerken, wie es dazu gekommen ist – wird dann alles vorbei sein.“ „Was wirst du tun, Paul?“ „Ich werde hierbleiben. Wo sollte ich sonst hingehen? Man wird sich schon um mich kümmern. Der Vatikan wird mich versorgen. Das ist das Mindeste, was er mir schuldet. Auch für die Lauscher wird gesorgt sein. Irgendwann werden wir unser Leben aushauchen, und wenn der letzte von uns verschwunden ist, kann man die Sache zu den Akten legen.“ „Du solltest nicht so schnell aufgeben, Paul“, sagte Tennyson. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er Ecuyer etwas von Flüsterers Andeutungen erzählen sollte, damit ihm noch ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb. „Hast du etwas Besonderes erfahren?“ fragte Ecuyer. „Nein, ich glaube nicht.“ Es hat keinen Sinn, wenn ich es ihm sage, dachte Tennyson. Die Hoffnung, wenn es überhaupt eine gab, war sehr gering. Was Flüsterer vorgeschlagen hatte, erschien unmöglich. Es war einfach zu weit hergeholt. Ohne Daten konnten die Gleichungswesen jenen Ort, den Maria als Himmel bezeichnet hatte, nicht finden. Dieser Himmel konnte überall sein. Er konnte 362
sich in einer fernen Galaxis, womöglich gar in einem anderen Universum befinden. Allerdings war es nicht sehr wahrscheinlich, daß dieser Platz so weit entfernt war. Decker war der Meinung gewesen, er wüßte, wo sich der Himmel befand, also mußte er sich dort oder zumindest in der Nähe aufgehalten haben. Nein, das ist ein armseliges Argument, sagte sich Tennyson. Decker hatte seine Andeutung niemals erläutern können, und er würde es auch nicht mehr tun. Ecuyer hatte vor ihm die Tür erreicht und öffnete sie. Tennyson trat hindurch. Der kleine Platz vor der Klinik war von Menschen überfüllt. Als Tennyson in der Klinik eintraf, hatte sich dort bereits eine stattliche Schar versammelt. Nun waren weitere Leute hinzugekommen. Die Menge war still. Nicht einmal das übliche leise Geräusch, das eine Ansammlung von Menschen unbewußt verursacht, war zu hören. Ecuyer trat einen Schritt vor, und die Menge beobachtete ihn. Tennyson wußte, das Ecuyer sagen würde, all die wartenden Menschen wußten es, aber Roboter und Menschen schwiegen erwartungsvoll. Sie wollten hören, daß Maria gestorben war und sie nun endlich eine Heilige hatten. Ecuyer sprach sehr leise. „Maria ist zur Ruhe gegangen. Vor wenigen Minuten. Sie ist ruhig gestorben, mit einem Lächeln auf den Lippen. Man konnte nichts mehr tun, um sie zu retten.“ Ein Laut fuhr durch die Menge, ein Geräusch wie ein gewaltiger Atemzug. War es ein Seufzer der Erleichterung, fragte sich Tennyson, Erleichterung, weil die Wartezeit endlich vorüber war? Dann begann jemand mit einer Stimme wie ein Nebelhorn – eher eine Menschen- als eine Roboterstimme – ein Gebet anzustimmen. Andere Stimmen fielen ein, bis schließlich ein gewaltiger Sprechchor durch den Vatikan hallte. Viele Gläubige san363
ken auf die Knie nieder, und Augenblicke später setzten die Glocken der Basilika mit einem feierlichen, ernsten Geläut ein. Ecuyer trat wieder neben Tennyson, und gemeinsam gingen sie fort. „Solltest du dich nicht dem Gebet anschließen?“ fragte Tennyson. „Auf einen Heiden wie mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen.“ „Ich bin kein …“, begann Ecuyer, aber dann verstummte er und sagte: „Wenn Maria dies erlebt hätte, sie hätte es genossen. Sie war ein sehr gläubiger Mensch, ist regelmäßig zur Messe gegangen und hat Stunden auf den Knien mit dem Rosenkranz zugebracht. Bei ihr war das keine Augenwischerei, sie hat für ihren Glauben gelebt.“ Vermutlich, weil sie ihren Fundort für den Himmel gehalten hat, dachte Tennyson, aber er sprach den Gedanken nicht aus. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Schließlich fragte Ecuyer: „Wie fühlst du dich?“ „Traurig“, antwortete Tennyson. „Nicht schuldig? Du hast kein Schuldgefühl?“ „Doch, ich fühle mich schuldig. Ein Arzt leidet immer unter Schuldgefühlen, das gehört zu seinem Beruf. Vielleicht ist es der Preis für das Privileg, als Arzt arbeiten zu dürfen. Ich nehme an, es wird irgendwann vergehen.“ „Leider muß ich jetzt dringend etwas erledigen, kann ich dich allein lassen?“ „Klar“, antwortete Tennyson. „Ich werde einen Spaziergang machen. Ein Spaziergang wird mir gut tun.“ Was soll ich denn sonst tun, fragte er sich. Jill war in der Bibliothek. Sie hatte gesagt, daß sie sich auf die Arbeit stürzen wollte, weil sie so am besten auf andere Gedanken kam. In seine Wohnung mochte er nicht gehen, weil das Appartement ohne Jill schrecklich verlassen wirken konnte. Also ein Spaziergang. Vielleicht würde er ihm tatsächlich gut tun. 364
Der Spaziergang hatte nicht die erhoffte Wirkung. Noch immer spürte Tennyson eine quälende Unruhe, und er empfand das monotone Läuten der Basilikaglocken als unangenehme Belästigung. Er war schon fünfzehn Minuten unterwegs, als er feststellte, daß er sich auf dem Pfad zu Deckers Blockhaus befand. Da blieb er unvermittelt stehen und drehte sich um. Er konnte nicht zu Deckers Hütte gehen, das konnte er einfach nicht. Es mußte noch einige Zeit vergehen, bis er den Anblick von Deckers Blockhaus wieder ertragen konnte. Tennyson bog dann in einen Seitenpfad ein, der zu einem Hügel führte, auf dem er schon oft gesessen und die ewigen Schatten in den stumm aufragenden Bergen betrachtet hatte. Das ferne Schlagen der Glocken trieb ihn förmlich den schmalen Pfad hinauf. Er setzte sich auf den vertrauten Felsbrocken und maß die Entfernung zu den Bergen mit abschätzendem Blick. Die Sonne stand fast im Zenit, und die Berghänge erschienen in einem bleichen Hellblau, durchmischt von dunklen Flecken, dort, wo der Wald die Bergflanken hinaufstrebte. Über allem glitzerten die schneebedeckten Gipfel unter der strahlenden Sonne. Wie sich alles wandelt, dachte Tennyson. Die Farben veränderten sich unaufhörlich. In einer Stunde würden die Berge einen völlig anderen Anblick bieten. Sie sind veränderlich und doch von Dauer. An unserem Zeitempfinden gemessen sind sie unendlich dauerhaft. Und doch werden sie eines Tages nicht mehr da sein. Irgendwann werden sie zu einer Ebene abgetragen sein, und es werden fremde Lebewesen über diese Ebene wandeln und sich nicht träumen lassen, daß hier einmal Berge gestanden haben. Nichts, dachte Tennyson, nichts bleibt ewig gleich. Wir streben nach Wissen. Atemlos saugen wir alles in uns auf, was wir erhaschen können. Unaufhörlich sind wir auf der 365
Suche nach jener letzten Antwort, nur um festzustellen, daß es viele letzte Antworten gibt, die ihrerseits nur wieder zu neuen Erkenntnissen führen, die auch nicht von letzter Gültigkeit sind. Und doch bemühen wir uns unser Leben lang. Wir können niemals aufgeben. Durch unsere Intelligenz sind wir zu diesem Los verurteilt. Er streckte die Arme aus und betrachtete seine gespreizten Hände. Er sah sie in einem völlig neuen Licht, als wären sie ein Teil von ihm, den er noch nie zuvor bemerkt hatte. Eine Berührung dieser Finger, eine liebevolle Berührung, die nichts weiter sein sollte als eine zärtliche Geste, hatte die Narbe auf Jills Gesicht ausgelöscht. Daran konnte es keinen Zweifel geben, das stand außer Frage. Die lange, auffällige Narbe war dagewesen, als er die Wange gestreichelt hatte, und als er die Hand zurückzog, war die Narbe verschwunden. War es eine selbsttätige Heilung, fragte er sich. Nein, entschied er, eine selbsttätige Heilung lief anders ab, außerdem erstreckte sie sich über einen gewissen Zeitraum, und die Narbe war von einem Augenblick zum nächsten verschwunden. Eine Kraft, so hatten Jill und er es genannt. Während sie es sagte, hatten sie selbst noch nicht daran geglaubt, aber etwas mußten sie schließlich sagen, weil sie nicht still bleiben konnten. Eine Kraft, die ihm von den Gleichungswesen verliehen worden war, ein Geschenk von einer Welt an eine andere. Tennyson betrachtete seine Hände. Sie schienen sich nicht verändert zu haben. Er horchte in sich hinein. Auch in seinem Inneren konnte er keine Veränderung feststellen. Konnte es möglich sein, daß in Jahrtausenden verborgene Talente in den Menschen gewachsen waren und sie sich entwickelt hatten, bis endlich der Tag herankam, an dem sie benötigt wurden? Die Menschheitsgeschichte war voll von Wunderheilern, die Menschen durch Handauflegen von Gebrechen befreit hatten. Viele Male wurde von solchen Taten berichtet, aber 366
es gab keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die die Heilungen untermauerten. Außerdem war da noch die Sache mit Flüsterer. Bevor Decker nach Nirgendsend gekommen war, hatte es auf dem Planeten niemanden gegeben, der Flüsterer auch nur sehen konnte. Decker konnte ihn nicht nur sehen, er konnte sogar mit ihm sprechen. Allerdings war Decker nicht dazu fähig, seinen Verstand mit dem Flüsterers zu vereinigen. Doch das wiederum war Jill und Tennyson gelungen. Wieso gab es diesen Unterschied zwischen Decker und ihnen? Kamen darin verschiedene Entwicklungsstufen verborgener Fähigkeiten zum Ausdruck, die nun herangereift waren und sich bei den einzelnen Menschen unterschiedlich weit entwickelt hatten? Oder besaßen viele Menschen außergewöhnliche Fähigkeiten und benutzten sie nicht, weil sie gar nichts von ihnen wußten? Für die Entfernung von Jills Narbe boten alle diese Überlegungen keine Erklärung. Dutzende Male hatte Tennyson mit der Hand jene verunstaltete Wange berührt, aber erst nach seinem Besuch in der Gleichungswelt war die Narbe auf der Wange verschwunden, davor hatte er sie so oft streicheln können wie er wollte. Seine Überlegungen über die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten mochten auf die Beziehung zu Flüsterer zutreffen, aber die Heilung von Jills Wange war damit nicht erklärt. Die besondere Fähigkeit oder der Zauber oder was sonst dafür verantwortlich sein mochte, war in Tennyson neu gewachsen und es gab nur einen einzigen Ort, von dem er diese neue Kraft mitgebracht haben konnte. Er betrachtete noch einmal seine Hände. Es waren die gleichen Hände, die ihm schon sein Leben lang ihren Dienst geleistet hatten. Von einer neuen Fähigkeit oder einer Zauberkraft war an ihnen nichts zu entdecken. Er erhob sich von dem Felsblock und steckte die Hände tief in die Hosentaschen, weil ihm ihr Anblick unangenehm ge367
worden war. Die Glocken der Basilika läuteten noch immer. Tennyson setzte seinen Spaziergang fort, aber der Gang bereitete ihm keine Freude. Es gab keinen Ort, wo er hingehen mochte. Endlich entschloß er sich, in seine Wohnung zurückzukehren. Zwar würde Jill nicht dort sein, und er würde sich einsam fühlen, aber vielleicht konnte er sich die Zeit mit der Vorbereitung des Abendessens vertreiben, auch wenn es dafür noch ein wenig früh am Tag war. Nun wußte er, was er tun würde: Er würde ein tolles Feinschmeckermenü zubereiten. Dazu würde er eine Menge Zeit brauchen. Was allerdings dabei herauskäme, wäre vermutlich ungenießbar. Er verwarf den Einfall wieder. Schließlich wollte er Jill mit einem fertigen Abendessen überraschen und nicht mit undefinierbarem Zeug, das keinem schmeckte. Der Gedanke, etwas zu kochen, war Tennyson eigentümlich fremd. Bisher hatte immer Hubert das Essen zubereitet, wobei ihm Jill gelegentlich geholfen hatte. Hinter einer scharfen Biegung blieb Tennyson überrascht stehen. Jemand kam ihm mit eiligen Schritten entgegen. Der einsame Wanderer trug ein purpurfarbenes, gegürtetes Gewand. Den langen Rock hatte er hinten in den Gürtel gesteckt, damit er ihn nicht durch den Schmutz schleifte. Es war Kardinal Theodosius. Auf dem Kopf trug er sein scharlachrotes Käppchen. Tennyson trat zur Seite, um den Roboter vorbeizulassen. Der Kardinal blieb vor ihm stehen. „Eure Eminenz“, sagte Tennyson. „Ich habe nicht gewußt, daß Ihr gern spazierengeht.“ „Das kann man auch nicht behaupten“, erwiderte der Kardinal. „Aber Sie wandern gern, habe ich gehört?“ „Ja, das stimmt. Vielleicht sollten wir bei Gelegenheit gemeinsam einen Ausflug machen. Ich bin sicher, es würde mir 368
gefallen. Ich hoffe, Ihr würdet das gleiche empfinden. Es gibt so viele Dinge, über die man plaudern und die man betrachten kann.“ „Über die Schönheit?“ schlug der Kardinal vor. „Die Schönheit der Landschaft?“ „Zum Beispiel. In der Ferne die Schönheit der Berge und direkt vor unseren Füßen die Schönheit der Blumen, die am Wegrand blühen.“ „Das mag in Ihren Augen Schönheit sein“, entgegnete der Kardinal, „in meinen Augen ist sie es nicht. Als Ihr Volk uns Roboter geschaffen hat, ließ es bestimmte Eigenschaften weg, und dazu gehört auch das Schönheitsempfinden. Aber ich kenne eine andere Art der Schönheit: die Schönheit der Logik, das Eibenmaß einer Abstraktion, über die ich stundenlang nachsinnen kann.“ „Das ist zu schade. Ihr versäumt sehr viel, wenn Ihr unseren Schönheitssinn nicht kennt.“ „Ihr vielleicht auch, wenn ihr den unseren nicht kennt.“ „Es tut mir leid, Eminenz, ich wollte Euch nicht kränken.“ „Es ist schon in Ordnung“, versicherte Theodosius. „Sie haben mich nicht gekränkt. Im übrigen fühle ich mich so wohl, daß es nicht leicht ist, mich überhaupt zu verletzen. Dieser Spaziergang ist für mich ein großes Abenteuer. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich mich schon einmal so weit vom Vatikan entfernt hätte. Aber ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht zum nutzlosen Zeitvertreib unterwegs bin. Ich bin losgezogen, um einen Alten zu suchen.“ „Einen Alten? Wozu denn das?“ „Die Alten hätten uns gute Nachbarn sein können. Wir haben sie zu lange ignoriert, weil wir ein falsches Bild von ihnen hatten. Ich habe gehört, daß man einen von ihnen in den Hügeln oberhalb von Deckers Blockhaus antreffen kann. Wissen Sie etwas Näheres darüber?“ 369
„Decker hat nie etwas erwähnt“, erwiderte Tennyson. „Seid Ihr sicher?“ „Seit vielen Jahren hält sich das Gerücht: Einer der Alten beobachtet uns von einem Standplatz bei Deckers Hütte aus.“ „Wenn Euch die Alten während der ganzen tausend Jahre beobachtet haben, dann müssen sie eine Menge über Euch wissen, über den Vatikan, meine ich.“ „Vermutlich wissen sie mehr, als wir je geahnt haben“, bestätigte der Kardinal. „Aber nun muß ich weiter. Wahrscheinlich ist es nicht leicht, einen Alten zu finden. Besuchen Sie mich doch gelegentlich einmal, dann können wir unser Gespräch fortsetzen.“ „Vielen Dank“, erwiderte Tennyson. „Das will ich gern tun.“ Er blieb auf dem Pfad stehen und sah dem Kardinal nach, bis jener hinter einer Hügelkuppe verschwunden war. Dann wandte er sich um und setzte seinen Weg zum Vatikan fort. Endlich hatte er seine Wohnung erreicht und griff nach dem Türknopf. Er zog die Tür auf, doch er trat nicht sofort ein. Der Gedanke an die Einsamkeit und Leere, die ihn erwarteten, machte ihm zu schaffen. So blieb er kurze Zeit im leeren Türrahmen stehen und ärgerte sich über seine eigene Mutlosigkeit. Endlich gab er sich einen Ruck und ging mit energischen Schritten durch den Korridor. Das Wohnzimmer war keineswegs leer. Im Kamin prasselte ein munteres Feuer, und Jill sprang von der Couch auf, um ihn zu begrüßen. Er eilte durchs Zimmer auf sie zu, riß sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. „Ich bin so glücklich, daß du hier bist“, sagte er leise. „Ich habe nicht gehofft, dich hierzu treffen.“ Sie löste sich sanft aus seiner Umarmung. „Wir sind nicht allein“, sagte sie. „Flüsterer ist zurückgekommen.“ Tennyson sah sich hastig im Zimmer um, konnte aber kein Anzeichen von ihm entdecken. „Ich sehe ihn nicht.“ 370
„Er ist in mir, in meinem Verstand“, erklärte sie. „Er will sich auch mit dir vereinigen. Er ist gekommen, um uns beide in die Gleichungswelt zu holen.“ „Der Himmel!“ „Ja, Jason. Die Gleichungswesen haben einen Weg zum Himmel gefunden. Sie können uns dorthinbringen.“
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51 Etwas später am selben Tag fand Theodosius den Alten, den er gesucht hatte. Er stellte sich dicht vor ihn und wartete darauf, daß ihm der Alte zu erkennen gab, ob er ihn bemerkt hatte. Aber es erfolgte keine Reaktion. Endlich ergriff Theodosius das Wort: „Ich bin gekommen, um dich zu besuchen.“ Der Alte stimmte seinen vibrierenden, dröhnenden Ton an, und nach einer Weile mischten sich Wörter in das Dröhnen. „Willkommen im Wald“, sagte er. „Du kommst mir bekannt vor. Hast du nicht auf den Stufen gestanden, als ich den Decker gebracht habe?“ „Ja, das war ich. Ich, Enoch Kardinal Theodosius.“ „Oh, dann bist du also dieser Kardinal? Ich habe schon von dir gehört. Sag mir, ist das organische Wesen, das neben dir auf der Treppe gestanden hat, der Tennyson gewesen?“ „Ja, das war Tennyson. Er war ein Freund von Thomas Decker.“ „Das habe ich auch gehört“, erwiderte der Alte. „Du sagtest, du hast schon von mir gehört. Kennst du viele von uns, beziehungsweise hast du von vielen gehört?“ „Ich kenne niemanden“, antwortete der Alte. „Ich beobachte, das ist alles.“ Zu Anfang hatte der Alte nur mühsam seine Worte hervorgebracht, doch nun bemerkte Theodosius, daß er seine Sätze flüssiger und leichter formulierte. „Ich fürchte, wir haben uns nicht gut nachbarlich verhalten“, sagte der Kardinal. „Dafür möchte ich um Verzeihung bitten. Diesen Besuch hätte ich schon vor Jahrhunderten machen müssen.“ 372
„Ihr hattet Angst vor uns“, entgegnete der Alte. „Ihr habt uns sehr gefürchtet, und wir haben nichts gegen eure Furcht unternommen. Der Grund für eure Angst lag in eurem Verstand und nicht in unseren Taten. Wir haben eure Furcht nicht zerstreut, weil ihr nicht von großem Interesse für uns seid. Wir sorgen uns nur um diesen Planeten, und ihr seid nichts weiter als eine vorübergehende Erscheinung auf der Oberfläche dieser Welt. Wenn uns an euch etwas interessiert, dann ist es die Frage, wie ihr den Planeten behandelt.“ „Ich hoffe, wir haben ihn schlecht behandelt“, sagte der Kardinal. „Nein, das habt ihr nicht, und dafür danken wir euch. Vielleicht schulden wir euch mehr als nur Dank. Wir könnten euch einen gewissen Beistand leisten. Weißt du, was ein Stäuber ist?“ „Ein Stäuber?“ „Der Decker hat ihn Flüsterer genannt. Vielleicht kennst du ihn unter diesem Namen?“ „Nein, ich habe nie davon gehört“, antwortete der Kardinal. „Es hat einmal viele von ihnen auf diesem Planeten gegeben, aber dann sind sie fortgezogen. Einen haben sie zurückgelassen. Sie ließen einen Kümmerling zurück“ „Dieser Kümmerling ist Flüsterer, Deckers Flüsterer?“ „So ist es. Aber dieser Schwächling, der von seinen Gefährten voller Verachtung zurückgelassen wurde, hat sich prächtig herausgemacht. Wir sind heute fast stolz auf ihn.“ „Ich würde ihn gern einmal treffen“, sagte der Kardinal. „Wieso ist er mir noch nie begegnet? Ich habe auch noch nie von ihm gehört.“ „Du kannst ihn jetzt nicht treffen. Er ist fortgegangen. Mit der Jill und dem Tennyson ist er fortgegangen. Sie sind gemeinsam ausgezogen, um den Himmel zu suchen.“ Theodosius schluckte. „Den Himmel! Hast du gerade Himmel gesagt?“ 373
„Hast du schon von diesem Himmel gehört? Bedeutet er dir etwas?“ „Er bedeutet uns allen sehr viel. Kannst du mir sagen, was der Himmel ist?“ „Ich kann dir nur sagen, daß die drei sich auf die Suche nach ihm begeben haben. Sie erhalten Unterstützung von anderen, die die Gleichungswesen genannt werden. Das ist ein Volk, das die Lauscher vor vielen Jahren entdeckt haben.“ „Es überrascht mich, wieviel du über uns und unsere Arbeit zu wissen scheinst.“ „Wenn man sich um das Wohl des Planeten kümmert, muß man sich notdürftig auf dem Laufenden halten.“ „Der Himmel!“ stieß Theodosius noch einmal hervor. „Ja, das stimmt, der Himmel“, sagte der Alte ruhig. Theodosius hielt es nicht länger im Wald. Abrupt wandte er sich ab und hastete den Hügel hinunter. Sein Gewand verfing sich im Gebüsch. Er riß so heftig daran, daß der Purpurstoff in Fetzen ging. Am Fuß des Hügels war eine flache Rinne, ausgefüllt mit Felsgestein, das im Laufe der Zeit aus den Hügelflanken herausgebrochen war. Ein schmales, glitzerndes Bächlein wand sich zwischen den Steinen hindurch. An diesem Bach ließ sich Enoch Kardinal Theodosius auf die Knie fallen. Er faltete die Hände und hob sie vor die Brust, dann neigte er den Kopf und preßte die Stirn gegen die Hände. „Allmächtiger Gott!“ betete er. „Laß alles gut ausgehen! Bitte laß alles zu einem guten Ende kommen!“
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52 Alles war genauso, wie er es in Erinnerung hatte: Der erbsengrüne Teppich der Oberfläche verschmolz in weiter Ferne mit dem lavendelfarbenen Himmel. Die Quader waren an ihrem Platz, alles wie beim ersten Mal … Und doch war gleichzeitig alles anders. Der Unterschied lag nicht in der fremden Welt oder der Anordnung der Quader, nein, er lag in ihm selbst. Denn er war nicht er selbst, nicht er allein. Er war gleichzeitig er selbst und jemand anderes, er selbst und andere. Bei seinem ersten Besuch in der Gleichungswelt hatte er Flüsterer nur sehr schwach wahrgenommen. Die meiste Zeit hatte er nichts von ihm gespürt. Vermutlich war er zu verängstigt dazu gewesen. Vielleicht hatten ihn auch die anderen Eindrücke so sehr in Anspruch genommen, daß er gar nicht genügend auf Flüsterer achten konnte. Diesmal konnte er ihn fühlen. Er spürte eine zarte, fast feenhafte Berührung. Aber das war nicht Flüsterer, das war jemand, dem er sich noch näher fühlte. „Jason“, sagte Jill. Sie sprach als Teil von ihm. Untrennbar waren sie miteinander verbunden, zu einem Verstand und zu einem Körper schienen sie verschmolzen zu sein. „Jason, ich bin hier.“ Ein ähnliches Gefühl hatte Tennyson auch in der letzten Nacht gehabt, als er gemeinsam mit Jill seinen Geist geöffnet hatte, so daß sich Flüsterer mit ihnen beiden vereinigen konnte, und sie gemeinsam mit ihm trauerten. Auch da hatte Tennyson den zarten Hauch verspürt, als ihrer beider Geist zu einem wurde. Aber das Gefühl wurde von der Erinnerung an Decker abgeschwächt. Gemeinsam hatten sie Decker gesehen, ein scharfes, überdeutliches Erinnerungsbild. Doch diesmal traf Tennyson das Gefühl der Verschmelzung mit aller Kraft. Noch nie war er 375
Jill so unglaublich nahe gewesen, auch dann nicht, wenn sie sich im Liebesakt vereinigt hatten. „Ich liebe dich, Jason“, sagte sie. „Doch eigentlich brauche ich es dir jetzt gar nicht zu sagen, denn nun weißt du genau, wie sehr ich dich liebe.“ Sie hatte recht, so wie sie immer recht hatte. Sie brauchte ihm nichts zu sagen, und er brauchte ihr nichts zu sagen, denn sie waren eins und konnten nicht anders, als im Verstand des anderen zu lesen. Eine Gruppe von fünf Quadern stand ein Stück von allen anderen entfernt. Die anderen hatten sich zurückgezogen und im Halbkreis um die Fünfergruppe angeordnet. „Diese fünf werden unsere Führer sein“, sagte Flüsterer. Unter den fünfen entdeckte Tennyson einen alten Bekannten: den purpurnen Quader mit leuchtend orangefarbenen Gleichungen und Diagrammen. Der grellrosafarbene mit den grünen Gleichungen war auch darunter, genau wie der extravagante graue Block mit den kupferfarbenen Flecken und den Gleichungen in Zitronengelb. Außerdem gehörte zu der Gruppe ein rosenroter Quader, dessen Gleichungen blau und dessen Diagramme schwefelgelb waren. Auf diesen letzteren deutete Jill. „Der dort ist meiner“, sagte sie. Der fünfte schließlich war von einem kränklichen Hellgrün; seine Gleichungen und Diagramme waren goldbraun gefärbt. „Wie können sie so sicher sein?“ fragte Tennyson Flüsterer. „Glaubst du wirklich, daß sie wissen, wo der Himmel ist?“ „Sie kennen diesen Ort nicht als Himmel, ihnen ist er unter einem anderen Namen bekannt. In einem weit entfernten Teil der Galaxis liegt eine berühmte Welt. Uns ist sie unbekannt, aber sie ist dennoch sehr berühmt.“ „Und diese berühmte Welt soll der Himmel sein?“ „Genau das denken sie“, antwortete Flüsterer. „Dort gibt es 376
die strahlenden Türme und auch dieses Geräusch, das ihr Musik nennt. Zu den Türmen führt eine steile Treppe hinauf.“ Inzwischen hatten sie sich den fünf Blöcken genähert. Während sie auf die Quader zugingen, hatten auch diese sich bewegt. Nun standen sie so, daß sie einen Kreis um die zwei menschlichen Gestalten bildeten. Die beiden Menschen standen dem rosenroten Quader genau gegenüber. Dieser entfernte nun die Gleichung, die er bis jetzt auf seiner Vorderseite getragen hatte. Einen Augenblick lang war die rote Fläche völlig leer, dann produzierte der Block eine Reihe von neuen Zeichen. Dies geschah sehr langsam, so daß auch jemand, der in dieser Form der Kommunikation ungeübt war, die neue Gleichung entschlüsseln konnte. „Wir heißen euch willkommen“, war dort zu lesen. „Seid ihr bereit?“ „Flüsterer!“ rief Tennyson. „Flüsterer!“ Es kam keine Antwort, und das war auch nicht nötig, denn es war offenkundig, daß nicht die Menschen es waren, die die Zeichen auf dem Quader entziffert hatten. Flüsterer hatte das getan. Nur weil er bei ihnen war, weil er mit ihnen vereint war, konnten sie die Gleichung verstehen. „Ihr braucht nichts zu tun“, teilte der Quader nun mit, indem er in gleichmäßigem Fluß eine neue Reihe von Zeichen auf seiner Vorderseite erscheinen ließ. „Ihr bleibt dort stehen, wo ihr seid. Verstanden?“ „Verstanden“, antwortete Flüsterer, und während er sprach, war seine Antwort für einen kurzen Moment als knappe, einfache Gleichung auf dem rosenroten Block zu sehen. Auf diese Weise wurden auch die anderen Gleichungswesen über Flüsterers Antwort informiert. Ein alberner Humbug ist das alles, dachte Tennyson, aber er hatte seinen Gedanken kaum beendet, als sich Flüsterer und Jill gemeinsam über ihn drängten. Sie schlossen seinen Verstand 377
ein, so daß er nichts mehr denken konnte. Zynismus und Zweifel, die sich in ihm geregt hatten, wurden ausgelöscht. Nun begann sich eine neue Gleichung langsam auf der rosenroten Fläche abzuzeichnen, und Tennyson hörte gerade noch den Beginn von Flüsterers Übersetzung – dann waren sie im Himmel. Sie standen mitten auf einem zentralen Platz. Rings um sie ragten Türme schwindelerregend in die Lüfte empor. Himmlische Klänge schwebten von den Türmen hernieder. Sie badete die Besucher in einem Meer von Klängen, die ganze Welt schien aus Musik zu bestehen. Der Platz war vollständig mit Gold gepflastert – oder doch zumindest mit einem goldfarbenen Material –, die Türme waren leuchtend weiß. So weiß und so leuchtend waren sie, daß sie von einem inneren Licht zu erstrahlen schienen. Die Luft war von Heiligkeit – oder dem Anschein von Heiligkeit – erfüllt. Tennyson schüttelte den Kopf. Irgend etwas stimmte hier nicht. Sie standen in der Mitte des Platzes, die Sphärenmusik erklang und die Türme waren leuchtend und weiß, aber es war niemand zu sehen. In der Nähe standen die fünf Gleichungswesen. Flüsterer schwebte als kleiner Ball aus schimmerndem Staub über ihnen, aber sonst war niemand auf dem Platz. Nirgendwo regte sich ein Lebenszeichen. Allem Anschein nach war der Himmel unbewohnt. „Was ist los?“ fragte Jill. Sie entfernte sich ein paar Schritte von Tennyson und suchte den weiten Platz mit ihren Blicken ab. „Hier stimmt doch etwas nicht“, stellte sie fest. „Wieso ist hier niemand?“ „Mir fällt auf, daß es hier keine Türen gibt“, bemerkte Tennyson. „Jedenfalls nichts, was wir als Türen bezeichnen würden. Da sind nur diese seltsamen runden Löcher in allen Bauwerken. Sie sehen aus wie riesige Mauselöcher. Ich schätze, sie liegen mindestens zwei Meter über dem Pflaster.“ 378
Diese architektonische Merkwürdigkeit war Jill bereits aufgefallen. Außerdem hatte sie entdeckt, daß es keine Fenster gab. Nirgendwo in den mächtigen Mauern der Türme war ein einziges Fenster zu sehen. Sie teilte ihre Beobachtung Tennyson mit. Eine kühle Brise strich über den Platz, Tennyson fröstelte. Zwischen den Türmen schien es schmale Gassen zu geben. Es kam Tennyson so vor, als ob er sich mitten im Herzen der Stadt befand – falls es sich tatsächlich um eine Stadt handelte. Er blickte an den Türmen hinauf, und ihm wurde klar, daß sie viel höher waren, als er auf den ersten Blick vermutet hatte. Sie erhoben sich hoch hinauf in die Luft, so hoch, daß ihre Spitzen mit dem Blau des Firmaments verschmolzen. Zunächst hatte Tennyson geglaubt, der Platz sei von zahlreichen Gebäuden eingeschlossen, von denen jedes einzelne mit einem dieser gewaltigen Türme versehen war. Doch es war ebensogut möglich, daß die in regelmäßigen Abständen aufragenden Türme und der weite Platz selbst zu einem einzigen Bauwerk gehörten. Auch die Gassen mochten womöglich gar keine schmalen Straßen zwischen Einzelgebäuden sein, sondern nur Korridore, die sich in einem riesigen Innenhof trafen. Das Bauwerk war von einem makellosen Weiß. Die Mauern schienen nicht aus Steinen zu bestehen, eher schon aus Eis. Aus Eis, das aus reinstem Wasser ohne Luftblasen oder anderen Unregelmäßigkeiten gefroren war. Nein, das kann nicht sein, sagte sich Tennyson. Wenn diese Türme auch nicht aus Stein gemauert sind, aus Eis werden sie gewiß nicht bestehen. Während der ganzen Zeit rieselte die Musik auf die Besucher herab und durchdrang sie – eine unbeschreibliche Musik, Klänge, die mehr als Musik zu sein schienen, Melodien von einer Eindringlichkeit, wie sie ein menschlicher Komponist niemals ersinnen konnte. Flüsterer sagte etwas: „Dieser Ort ist nicht so verlassen, wie 379
er erscheint. Hier gibt es viele Wesen, die Mauern sind von Leben erfüllt.“ Und wie auf ein Zeichen zeigte sich das Leben. Aus einer der Gassen (oder Tunnel) schob sich ein mächtiger Kopf. Es war der Kopf eines Wurms. Die Schädelfront war abgeplattet und schwer gepanzert. Ein dicker Hautschild bedeckte die Vorderseite des Kopfes, in Vertiefungen an den Seiten des Schildes steckten Facettenaugen. Fühler ragten oben aus dem Kopf heraus. Der Wurmkopf war riesig. Tennyson, dem der abscheuliche Anblick die Kehle zuschnürte, schätzte den Abstand zwischen der Oberseite des Kopfes und dem Straßenpflaster auf knapp zwei Meter. Der Wurm drängte weiter vor. Der lange, pralle Leib schleppte sich hinter dem gepanzerten Kopf her. Nachdem sich ein beträchtlicher Teil seines Körpers aus der Gassenmündung herausgeschoben hatte, hob der Wurm seinen Kopf. Dünne Gliederbeinchen, die zuvor gegen den Leib gepreßt waren, damit sich der Wurm durch den Tunnel fortbewegen konnte, streckten sich nun aus und stemmten den Vorderteil des Leibes etwa fünfzig Zentimeter hoch über den Boden. Während sich der hintere Teil des Wurmleibes noch aus dem Tunnel schlängelte, begann die Kreatur, sich der Gruppe auf dem Platz zuzuwenden. Jill und Tennyson zogen sich langsam zurück, aber die fünf Gleichungswesen rührten sich nicht. Ihre Vorderseiten waren von Farbgeflacker bedeckt, während die Gleichungen über sie hinrasten. Dann hatte der Wurm mit seiner gesamten Körperlänge, die mindestens zehn Meter betrug, den Tunnel verlassen. Dicht an dicht beieinanderstehende Beinchen hielten den Leib über den Boden. Das Monstrum änderte seine Richtung, nun strebte es wieder den weiß aufragenden Mauern zu. Offenbar hatte es ein bestimmtes Ziel vor Augen. Die Gruppe auf dem Platz schien es gar nicht bemerkt zu haben. 380
Der Wurm blieb vor einem der zwei Meter großen Mauselöcher stehen, sein Kopf fuhr hoch. Die vordersten Beinpaare klammerten sich an den Rand des Lochs und begannen, den Körper hineinzuziehen. Die Besucher auf dem Platz sahen dabei zu, wie der Wurm seinen endlosen Leib in das Loch hineinzwängte, bis er schließlich verschwunden war. Tennyson stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Wir sollten uns einmal umschauen“, schlug er vor. „Mal sehen, was es hier sonst noch zu entdecken gibt.“ Zunächst konnten sie nichts Bemerkenswertes feststellen. Bei den Gassen handelte es sich tatsächlich um Tunnel, die das Bauwerk durchzogen. (Vieles sprach dafür, daß es sich um ein gewaltiges Bauwerk und nicht um eine Ansammlung von einzelnen Gebäuden handelte.) Die Tunnel waren verschlossen. Wenn man in einen hineinging, stieß man etwa zehn Meter hinter der äußeren Mündung auf eine verschlossene Tür. Die Türen waren nicht weiß, sondern blau. Sie waren rund und schlossen genau mit den gewölbten Tunnelwänden ab. Tennyson und Jill stemmten sich mit den Schultern gegen mehrere Türen, doch keine von ihnen wich auch nur einen Zentimeter zurück. Manchmal schien es so, als würde eine Tür nachgeben, doch öffnen ließ sie sich nicht. „Ich glaube, es sind Federtüren“, sagte Tennyson. „Wenn man kräftig genug gegen sie drückt, werden sie sich öffnen, aber wir beide sind nicht stark genug.“ „Der Wurm ist durchgekommen“, stellte Jill fest. „Vermutlich ist er viel stärker als wir. Es kann sein, daß die Türen speziell für die Würmer konstruiert sind. Vielleicht sind sie die einzigen Wesen, die sie öffnen können.“ „Wir können wohl davon ausgehen, daß das hier nicht der Himmel ist“, erklärte Jill. „Aber wir besitzen keine Beweise. Wir können nicht einfach zum Vatikan zurückkehren und sagen, es ist nicht der Himmel. Bevor wir heimkehren, müssen wir uns einen Beweis verschaffen. Wenn ich nur meine Kamera dabei hätte!“ 381
„Wir mußten unser Gewicht so niedrig wie möglich halten“, warf Flüsterer ein. „Da wir nicht wissen konnten, was uns hier erwartet, mußten wir darauf achten, schnell und beweglich zu bleiben.“ „Was halten unsere Gleichungsfreunde von diesem Ort?“ „Sie sind baß erstaunt.“ „Das sind wir auch“, versicherte Jill. „Möglicherweise würden Photographien als Beweise auch nicht anerkannt“, gab Tennyson zu bedenken. „Photographien kann man überall herstellen oder fälschen. Wir brauchen etwas Besseres als ein paar Bilder.“ Sie wanderten einmal um den Platz herum, ohne etwas Interessantes zu finden. „Wir sitzen hier in der Falle“, sagte Jill. „Der einzige Ausweg sind diese Mauselöcher, die nur von den Würmern benutzt werden können. Wir könnten Flüsterer bitten, daß er hinauffliegt und feststellt, was jenseits dieser Türme zu sehen ist. Irgend etwas muß sich hinter den Türmen befinden.“ „Auch die Gleichungswesen können durch die Luft fliegen“, erwiderte Tennyson, „aber im Augenblick möchte ich unsere Kräfte nicht gern zersplittern. Ich habe das Gefühl, wir sollten besser zusammenbleiben.“ Auf der anderen Seite des Platzes kam ein Wurm aus einem Tunnel hervor und steuerte genau auf sie zu, aber als er sie fast erreicht hatte, bog er ab und strebte einem anderen Mauseloch entgegen. Er kletterte zu dem Loch empor und verschwand im Turm. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich tatsächlich durch eine dieser Türen gehen will“, sagte Jill. „Die einzigen Wesen, die dort einund ausgehen, sind Würmer.“ „Die Würmer scheinen sich nicht sonderlich für uns zu interessieren.“ „Nicht, solange wir hier draußen bleiben. Vielleicht ändert 382
sich ihr Verhalten, wenn sie uns im Innern des Baues begegnen.“ „Ich frage mich …“, sagte Tennyson, der auf Jills Worte nicht geachtet hatte. „Flüsterer, könntest du einen deiner Gleichungsfreunde bitten, daß er sich ein bißchen kleiner macht, damit ich auf seinen Rücken steigen kann? Dann könnte er mich zu einem dieser Mauselöcher tragen.“ „Wenn du in ein Loch steigst, komme ich mit“, erklärte Jill. „Ich will nicht allein hier draußen zurückbleiben!“ „Jeder meiner Freunde würde dir gern behilflich sein“, antwortete Flüsterer. „Hast du ein spezielles Loch im Sinn?“ „Wie wäre es mit dem direkt hinter dir?“ „Das würde ausgezeichnet passen.“ „Mir scheint, wir sind alle nicht mehr recht bei Trost“, versetzte Jill. Der rosenrote Block hatte sich inzwischen dicht an die Turmwand unter dem Loch geschoben. Nun verformte er sich, wurde niedriger und breiter, so daß Jill und Tennyson seine Oberkante erreichen konnten. „Ich werde dich hinaufschieben“, sagte Tennyson. „Also gut“, erwiderte sie. „Ich hoffe nur, das Ganze wird nicht so schlimm, wie ich befürchte.“ Tennyson stemmte sie hinauf, und sie krabbelte auf den Block. „Liebe Güte, ist das ein seltsames Gefühl!“ rief sie aus. „Einfach schrecklich! Als ob man auf einem riesigen Geleepudding steht. Ich habe Angst, daß ich versinke. Außerdem ist unser Freund verteufelt schlüpfrig.“ Tennyson nahm einen kleinen Anlauf und sprang. Mit ausgebreiteten Armen landete er auf der Oberfläche des Quaders. Jill streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn zu sich heran. Schließlich saßen sie dicht beieinander und stützten sich gegenseitig, um das Gleichgewicht zu bewahren. Der Block schien 383
sich innerlich zu verhärten, er versteifte sich und bot nun mehr Halt. Gleichzeitig wuchs er, das heißt, er nahm wieder seine ursprüngliche Form an und beförderte so die Menschen auf seiner Oberfläche nach oben. Das Mauseloch befand sich direkt vor ihnen. Tennyson sprang hinein. Er landete auf Händen und Knien und drehte sich hastig, um Jill eine Hand entgegenzustrecken, doch bevor er sich ganz umgewandt hatte, prallte Jill bereits neben ihm auf den Boden. Sie standen auf und schauten sich um. Hinter dem Mauseloch begann wiederum ein Tunnel, doch dieser war kurz und nicht von einer Tür verschlossen. Sein Ende erstrahlte in blendender Helligkeit. Der Boden unter Jills und Tennysons Füßen war fest, sie gingen mit zögernden Schritten dem Licht entgegen. Als Jill sich einmal umschaute, stellte sie fest, daß die fünf Gleichungswesen hinter ihnen in den Tunnel eingedrungen waren. Flüsterer flimmerte über dem vordersten in der Luft. Bald war das hintere Ende des Tunnels erreicht. Hier stieß der Gang auf eine breite Straße, die offenbar aus dem gleichen Material wie Wände und Türme bestand. Das Band der Straße erstreckte sich bis in unendliche Ferne, wo es sich im blendenden Licht auflöste. Die Straße selbst schien frei in der Luft zu schweben. Über ihr schwang sich eine Halle zu ungeahnten Höhen auf, unter ihr drohte eine schwindelerregende Tiefe. Der Innenraum, den die Straße durchquerte, war von ungeheuerlichen Ausmaßen, eine gigantische Halle, deren Weite nur von vereinzelten säulenartigen Gebilden unterbrochen war, die aus der Tiefe aufstiegen und irgendwo in der Höhe verschwanden. Sowohl das untere als auch das obere Ende der Säulen war so weit entfernt, daß man es nicht sehen konnte. Vermutlich waren auch die Säulen aus dem gleichen, weißen Material wie die anderen Teile des Bauwerks. Ob sie aber tatsächlich weiß 384
waren, ließ sich kaum feststellen, denn überall in der Luft blinkten und flirrten blendende Lichter. Die Lichter waren unregelmäßig über den gesamten Raum verteilt, und ihr Flackern besaß keinen Rhythmus. Sie leuchteten in allen möglichen Farben. Tennyson fühlte sich durch die Halle an einen Festsaal erinnert. Hier konnten sich Riesen zu einem rauschenden, farbenfrohen Silvesterball versammeln. „Sieh mal!“ Jill zupfte Tennyson am Arm. „Da kommt einer von diesen possierlichen Würmern!“ „Wo?“ „Genau dort drüben. Er klebt an einer Säule. Siehst du ihn jetzt?“ Tennysons Blicke folgten der Richtung, in die Jills Zeigefinger wies, aber es dauerte eine Zeitlang, bis er den Wurm entdeckt hatte. Er hing senkrecht an einer Säule, mit dem Kopf nach oben. Offenbar benötigte er nicht alle seine Beine, um sich an der Säule festzuklammern, denn mit den vorderen Paaren hantierte er an irgendwelchen Gegenständen, die in die Säule eingesetzt waren. „Ein Wartungsmann“, bemerkte Jill. „Wartungswurm, sollte ich wohl besser sagen. Jason, mir scheint, die Würmer sehen hier nach dem Rechten.“ „Das könnte durchaus sein“, erwiderte er. „Ich will hier raus“, sagte Jill. „Bei diesem Anblick wird mir schwindlig.“ Sie eilten das weiße Band der Straße entlang, doch eigentlich war die Straßendecke gar nicht weiß, im Licht der grellbunten Lampen schillerte sie in vielen Farben. Nach einer Weile kam eine Tunnelmündung in Sicht. Dort warteten vier Gestalten auf die Besucher. Die Wesen waren kegelförmig und schwarz, mattschwarz wie fettiger Ruß. Nirgendwo schimmerte ein Glanzlicht auf ihrer Körperoberfläche. Sie war so stumpf, daß sie alles Licht zu absorbieren schien, nicht der kleinste Strahl wurde reflektiert. An der Basis hatten 385
die Kegel einen beträchtlichen Durchmesser. Sie waren etwa eineinhalb Meter hoch und glitten behende über den Boden. Wie sie sich jedoch fortbewegen mochten, konnte man nicht feststellen. Direkt hinter dem Tunneleingang stand eine mit Rädern versehene Plattform, auch sie völlig schwarz. Als Jill, Tennyson und die Gleichungswesen heranwaren, machten sich die Kegelkreaturen daran, sie auf die Plattform zu treiben. Dies taten sie ohne ein Wort oder ein Zeichen, sondern allein durch allerlei Manöver ihrer Rümpfe. Als Jill, die sich bereits auf der Plattform befand, diese wieder zu verlassen und zurück auf die Straße zu gehen versuchte, verstellte ihr ein Kegel den Weg. Wohin sie sich auch wandte, das schwarze Wesen blieb immer genau vor ihr. „Wir sollen wohl auf der Plattform bleiben“, stellte Tennyson fest. Als sie alle Gleichungswesen und die Menschen auf die Plattform gedrängt hatten, stellten sich die Kegel an den vier Ecken der Platte auf. Das Gefährt setzte sich in Bewegung, offenbar wurde es auf eine geheimnisvolle Weise von den Kegeln gesteuert. Zunächst folgte die Plattform dem Tunnel, in dem sie gestanden hatte, dann schoß sie hinaus in eine gigantische Halle, in der es keine Säulen gab. Ein verwirrendes dreidimensionales Straßennetz erstreckte sich in verschiedene Richtungen. Die Straßenbänder kreuzten einander, überschnitten sich oder wichen einander in eleganten Schwüngen aus. Einige Straßen waren Fahrzeugen vorbehalten. Auf ihnen konnte man die rollenden Plattformen mit den Kegelwesen sehen, aber es gab auch Fahrzeuge von einer merkwürdigen Käferform und andere, die wie Pfeilspitzen geformt waren und frei über den Fahrbahnen schwebten. Bestimmte Straßen wurden nur von Fußgängern benutzt. Hier kroch, hopste, schlitterte, ging, sprang und krabbelte eine bizarre Ansammlung von Lebensformen. Als Tenny386
son sie erblickte, mußte er an den Captain der WANDERGESELL denken und an seinen Ekel vor allen Fremdrassen. Beim Anblick der Wesen, die sich über die Fußgängerstraßen bewegten, konnte er den Abscheu des Captains verstehen. Er selbst war schon verschiedenen fremden Lebewesen begegnet, aber niemals hatte er eine solche Vielzahl abstoßender Kreaturen gesehen. Zwischen den Straßen befanden sich Gebäude der unterschiedlichsten Formen und Abmessungen. Jedes war von einem kleinen Hof umgeben. Diese Häuser und Hütten bestanden aus diversen, vielfarbigen Materialien. Die weiße Substanz, aus der Türme und Straßen hergestellt worden waren, hatte man für sie nicht verwendet. Tennyson gewann den Eindruck, daß er auf eine Ausstellung von Häusermodellen hinabschaute. Die einzelnen Modelle waren jedoch nach keinem erkennbaren Gesichtspunkt sortiert, sondern wild durcheinandergewürfelt. Die Plattform schwenkte überraschend herum. Tennyson wäre fast hinabgestürzt. Das Fahrzeug wechselte von einer Straße auf eine andere, um sofort danach in einen Tunnel einzubiegen. Als die Plattform den Tunnel wieder verließ, hatte man offenbar das Innere eines jener Gebäude erreicht, welche die Besucher vom Platz aus betrachtet hatten. Die Plattform bremste sanft und kam an einer Stelle zum Stehen, die an einen Parkplatz erinnerte, denn dort waren bereits viele ähnliche Fahrzeuge abgestellt. Jill und Tennyson sprangen und die Gleichungswesen schwebten von der Plattform. Die vier Kegel trieben sie durch einen Gang zwischen den abgestellten Fahrzeugen. Sie schritten durch eine Türöffnung und betraten einen Raum. Vor der gegenüberliegenden Wand war ein Podium errichtet, auf dem eine Blase ruhte. Weitere Kegel standen in Gruppen um das Podium herum, und neben ihm lag auf dem Boden ein kleiner Heuhaufen, aus dem ein Augenpaar hervorschaute. Ein Wesen, das einem Tintenfisch stark ähnelte, hopste 387
vor der Blase aufgeregt hin und her. Jedesmal, wenn es auf den Boden prallte, entstand ein feuchtes, klatschendes Geräusch, als ob ein großes Stück frische Leber auf einen Steinboden fiel. Die Kegel drängten Menschen und Gleichungswesen bis vor das Podest, dann zogen sie sich ein Stück zurück. Die Blase war mehr als nur eine Blase. Auf ihrer Vorderseite wies sie eine Einbuchtung auf, und hinter der Einbuchtung war etwas zu sehen, das möglicherweise ein Gesicht war. Wenn es sich tatsächlich um ein Gesicht handelte, so war es unerhört schwer zu fixieren. Einen Augenblick glaubte man es zu erkennen, im nächsten war an seiner Stelle nur noch ein verwehtes Rauchwölkchen. Jill schluckte. „Jason“, flüsterte sie, „kannst du dich an die Notiz erinnern – die Notiz die Theodosius abgefaßt hat? Ich habe sie in dem Papierkorb im Geheimschrank gefunden.“ „O Gott, ja!“ stieß Tennyson hervor. „Die Blase sieht genauso aus wie die Wesen, die Theodosius beschrieben hat. Ein Gesicht wie ein Rauchwölkchen – das hat er geschrieben.“ Von der Blase war ein Geräusch zu hören, ein schabendes, mahlendes Geräusch. Die Laute dauerten eine Weile an. Die Besucher begriffen, daß die Blase ihnen etwas sagen wollte. „Ich verstehe kein Wort“, bemerkte Jill. „Es will sich verständlich machen“, erklärte Flüsterer. „Aber auch ich kann es nicht verstehen.“ „Es klingt, als ob das Wesen uns anschreit“, sagte Tennyson. „Ist es verärgert, Flüsterer?“ „Ich glaube nicht. Es strahlt keinen Zorn aus.“ Einer der Kegel huschte herbei und blieb vor der Blase stehen. Die Blase richtete ihr Gekratze an ihn, und er drehte sich um und eilte davon. Die Blase schwieg. Sie starrte die Besucher an. Auch wenn das Gesicht gelegentlich hinter Rauchschwaden verschwand, konnten sie deutlich spüren, daß sie angestarrt wurden. 388
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Flüsterer, „aber ich glaube, die Blase läßt jemanden holen, der euch ihre Laute übersetzen soll.“ Die Blase blieb weiterhin stumm. Auch die Kegel schwiegen. Es war ohnehin fraglich, ob sie jemals einen Laut hervorbrachten. So war das einzige Geräusch im Saal das feuchte Klatschen, das die Tintenfischkreatur verursachte, die unablässig hin und her hüpfte. Aus dem Heuhaufen neben dem Podest starrten zwei Augen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Abgesehen von dem Leberklatschen lastete tiefes Schweigen auf dem Saal. Dann war aus der Ferne ein neues Geräusch zu hören, das unverkennbare Stapfen von Fußtritten, wie sie nur ein menschlicher Zweibeiner verursacht. Tennyson starrte dem Gehenden entgegen. Thomas Decker kam mit eiligen Schritten auf die Besucher zu.
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53 „Ecuyer, diesmal wollen wir wirklich reinen Tisch miteinander machen“, sagte Kardinal Theodosius. „Eure Eminenz!“ protestierte Ecuyer. „Ich für meinen Teil war immer völlig offen zu Euch.“ „Wenn Sie damit sagen wollen, daß Sie mir keine Lügen erzählt haben, mögen Sie recht haben“, entgegnete der Kardinal. „Allerdings sagen Sie mir auch nicht alles, was Sie wissen. Immer verheimlichen Sie mir etwas. Warum haben Sie mir zum Beispiel nie etwas von Deckers Flüsterer erzählt?“ „Weil bei unseren Unterredungen das Gespräch nie auf diesen Flüsterer gekommen ist“, erwiderte Ecuyer. „Außerdem habe ich selbst erst vor wenigen Tagen von ihm erfahren.“ „Aber Tennyson hat davon gewußt. Offenbar schon lange vor Ihnen?“ „Ja, das stimmt. Er war mit Decker eng befreundet.“ „Was hat Tennyson mit diesem Flüsterer zu tun?“ „Wie er mir erzählte, hat Flüsterer ihn aufgesucht.“ „Aber als er Ihnen davon erzählt hat, lag das Ereignis schon eine Weile zurück?“ „Den Eindruck hatte ich. Ich glaube, erfühlte sich Decker gegenüber verpflichtet, niemandem etwas über Flüsterer zu erzählen, auch mir nicht. Erst als Decker tot war, hat er mir ausführlich davon erzählt.“ „Sie und Tennyson stehen sich doch sehr nahe. Würden Sie sagen, daß er mit Ihnen – von Flüsterer einmal abgesehen – über alles geredet hat?“ „Ich denke schon.“ „Hat er Ihnen zufällig anvertraut, daß er zum Himmel reisen wollte?“ Ecuyer zuckte im Sessel zusammen. Er starrte dem Kardinal 390
einen Augenblick lang ins Gesicht, als ob er dort etwas lesen wollte, doch niemand kann sehen, was hinter einer Roboterstirn vorgeht. Dann ließ sich Ecuyer tief in die Polster sinken. „Nein“, sagte er, „davon hatte ich keine Ahnung.“ „Nun, es scheint aber tatsächlich so zu sein. Daß er zum Himmel gereist ist, meine ich. Er ist entweder auf dem Weg dorthin oder bereits dort eingetroffen.“ „Eminenz“, sagte Ecuyer. „Wie ist es möglich, daß Ihr von dieser Unternehmung wißt?“ „Ein Alter hat es mir erzählt“, erwiderte Theodosius. „Bevor ich Sie rufen ließ, habe ich bereits eine Zeitlang über alles nachgedacht. Wir müssen wichtige Pläne schmieden.“ „Moment, Moment!“ rief Ecuyer aus. „Ihr sagt, Ihr wißt es von einem Alten. Wo seid Ihr ihm begegnet?“ „Ein Alter lebt in der Nähe von Deckers Blockhaus. Ich habe ihn besucht.“ „Und der hat Euch erzählt, daß Tennyson zum Himmel gehen will?“ „Er hat gesagt, sie seien bereits unterwegs. Tennyson und Jill. Dieser Flüsterer soll einen Weg zum Himmel gefunden haben.“ „Wir haben einmal über den Himmel gesprochen …“ „Aha! Sie haben darüber geredet, aber mir nichts davon gesagt!“ „Es hatte gar keinen Sinn, Euch davon zu erzählen. Wir waren uns darüber einig, daß das Unternehmen unmöglich ist.“ „Offenbar war es nicht unmöglich.“ „Es stimmt, Tennyson ist seit ein oder zwei Tagen verschwunden. Aber das heißt doch noch lange nicht, daß …“ „Jill ist ebenfalls verschwunden. Wenn sie nicht zum Himmel unterwegs sind, wohin sollen sie dann gegangen sein?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Ecuyer. „Es erscheint mir völlig unmöglich, daß sie zum Himmel gereist sind. Zunächst einmal: Niemand hat eine Ahnung, wo er sich befinden könnte. Wenn wir Marias Würfel wiedergefunden hätten …“ 391
„Der Alte hat gesagt, die Wesen aus der Gleichungswelt hätten ihnen geholfen.“ „Ja, das könnte möglich sein. Tennyson und Jill sind beide in der Gleichungswelt gewesen.“ „Aha, da haben wir es wieder“, versetzte Theodosius. „Davon haben Sie mir auch nichts erzählt. Ist Ihnen eigentlich nie der Gedanke gekommen, daß ich gern wüßte, was vorgeht?“ „Wie könnt Ihr so sicher sein, daß der Alte weiß, worüber er spricht? Wie seid Ihr überhaupt auf die Idee gekommen, einen Alten zu besuchen? Wie …?“ „Ecuyer, in all den Jahren haben wir uns in den Alten schwer getäuscht. Sie sind keineswegs umherstreifende Horrorwesen, wie die alten Geschichten weismachen wollen. Das ist es eben, was mich an alten Mythen stört: Sie berichten nur selten die Wahrheit. Ich habe mit dem Alten gesprochen, der Decker und Hubert hergetragen hat. Gemeinsam mit Tennyson hatte ich bereits auf der Esplanade mit ihm gesprochen. Eigentlich müßten wir uns bei den Alten für das, was wir über sie gedacht haben, entschuldigen. Wir hätten schon vor vielen Jahren mit ihnen Freundschaft schließen sollen. Das wäre sehr zu unserem Vorteil gewesen.“ „Dann seid Ihr also davon überzeugt, daß Tennyson tatsächlich zum Himmel unterwegs ist?“ „Ich bin sicher“, erwiderte Theodosius. „Der Alte hatte keine Zweifel und ich glaube, er hat mir die Wahrheit gesagt. Daß er es mir gesagt hat, war eine Freundschaftsgeste von ihm.“ „Ich kann es noch immer nicht glauben“, murmelte Ecuyer. „Aber wenn es tatsächlich stimmt, dann ist Tennyson der richtige Mann für das Unternehmen. Er ist ein ungewöhnlicher Mensch.“ „Wenn Tennyson und Jill zurückkehren, müssen wir auf ihre Botschaft vorbereitet sein.“ „Ihr rechnet damit, daß sie zurückkommen?“ 392
„Ich vertraue fest darauf. Sie haben ihre Reise für den Vatikan unternommen. Obwohl erst seit kurzer Zeit bei uns, sind sie eins mit uns geworden. Der Papst hat mir etwas weitererzählt, das Tennyson zu ihm gesagt hat. Ich glaube, Seine Heiligkeit fühlte sich irgendwie geschmeichelt. Es ging um Mönchsklöster auf der alten Erde …“ „Was schlagt Ihr vor? Was sollen wir tun? Wenn sie im Himmel waren, wenn sie ihn tatsächlich gefunden haben und hierher zurückkehren …“ „Ich habe inzwischen herausbekommen, wer hinter all dem theologischen Unsinn steckt: John, der Gärtner vom Klinikgarten. Er scheint als Geheimagent für den Papst gearbeitet zu haben. Wieso der Papst allerdings einen geheimen Zuträger braucht, ist mir völlig unklar. Nun, wie dem auch sei, ich werde dafür sorgen, daß aus unserem Freund wieder ein unbedeutendes, kleines Mönchlein wird und er auf ewig ein kümmerliches Mönchlein bleibt. Und was die anderen angeht …“ „Aber Ihr besitzt keine Hausmacht, um diese Maßnahmen durchzusetzen.“ „Jetzt noch nicht, aber das wird sich ändern, wenn ich erst einmal mit Seiner Heiligkeit gesprochen habe. Wenn er erfährt, was ich herausgefunden habe und von der Existenz seines Geheimagenten weiß. Wenn ich ihm mitgeteilt habe, daß Tennyson und Jill bald vom Himmel zurückkehren. Wenn es nicht darum ginge, daß der falsche Himmel demaskiert wird, würde der Papst zögern, sich einzuschalten, aber wenn er das erst weiß …“ „Was aber wird sein, wenn sich all Eure Behauptungen als Irrtum erweisen, Eminenz?“ „Dann werde ich untergehen“, sagte Theodosius. „Und Sie mit mir. Aber wenn wir nichts unternehmen, werden wir auf jeden Fall verlieren. Eigentlich können wir also nur gewinnen.“ „In diesem Punkt habt Ihr recht“, stimmte Ecuyer zu, „völlig recht.“ 393
„Also werden Sie mich zum Papst begleiten?“ „Ja“, antwortete Ecuyer und stemmte sich aus dem Sessel hoch. „Wir wollen Seine Heiligkeit besuchen.“ Auch der Kardinal erhob sich. Ecuyer hatte noch eine Frage: „Ihr sagtet, der falsche Himmel wird demaskiert werden. Woher wißt Ihr so genau, daß es sich tatsächlich um den falschen Himmel handelt?“ „Tja“, erwiderte Seine Eminenz, „darauf setzte ich eben, ein kalkuliertes Risiko. Wenn ich mich irre, werde ich mich bald in ein unbedeutendes, kleines Mönchlein verwandeln.“ „Das Risiko geht Ihr ein?“ „Was soll ich sonst tun?“ fragte Theodosius.
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54 „Bis zu einem gewissen Punkt kann ich mich an alles erinnern“, erzählte Decker. „Ich weiß noch genau, wie ich an der Cockpitwand klebte und mich wie wahnsinnig an dem Fensterrahmen festklammerte. Ich sah hinab auf dieses Bauwerk hier und hatte Angst, die Türme würden das Schiff aufspießen. Ich sah die Straßen, die wie Radspeichen zu einer Nabe zusammenliefen. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich zum Rettungsboot gelaufen bin, denn das war nicht ich, der dort gerannt ist, nicht dieser Decker II, der jetzt vor euch sitzt und mit euch redet, sondern der erste, der ursprüngliche Decker, der das Muster für mich geliefert hat.“ „Das stimmt alles mit dem überein, was mir der wirkliche Decker erzählt hat“, bestätigte Tennyson. „Viel hat er jedoch nicht berichtet; er war ein sehr verschlossener Mensch.“ „Das bin ich eigentlich auch“, sagte Decker II, „aber der freudige Schreck, Wesen meiner Art hier zu treffen, hat mich meine Zurückhaltung vergessen lassen.“ Sie saßen in einem hübschen Zimmer hoch oben in einem der Türme. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, an den Wänden hingen Gemälde, und bequeme Sitzmöbel standen überall im Raum verteilt. „Ich finde es nett, daß du uns diesen Raum gezeigt hast“, sagte Jill. „In all dieser Fremdheit erinnert er mich an daheim.“ „Es war nicht einfach, ihn herzurichten“, erklärte Decker. „Aber Bläschen hat darauf bestanden, daß ich euch in angenehmer Umgebung einquartiere. Bläschen hält große Stücke auf die Gastfreundschaft.“ „Bläschen?“ „Diese Blase mit dem komischen Gesicht“, erläuterte Decker. „Es gibt hier viele Wesen von seiner Art. In meiner Re395
spektlosigkeit nenne ich sie ‚Bläschen’. Natürlich haben sie eigentlich einen anderen Namen, aber der ist für eine menschliche Zunge kaum auszusprechen, und wollte man ihn übersetzen, klänge er einfach zu lächerlich. Dieses besondere Bläschen, dem ihr unten begegnet seid, ist ein guter Freund von mir, das heißt, vielleicht sollte ich besser sagen: ein guter Bekannter. Das ist schwer zu entscheiden. Ich nenne ihn ‚Qualm’, wegen seines Gesichtes, dabei haben alle diese Wesen das gleiche Gesicht. Mein Freund weiß nicht, was Qualm bedeutet, also nenne ich ihn so. Er glaubt, es sei ein menschlicher Kosename. Wenn er die wahre Bedeutung erfahren würde, wäre er vielleicht sauer auf mich. Habt ihr den Heuhaufen an seiner Seite bemerkt?“ „Ja“, antwortete Tennyson. „Er hat uns beobachtet.“ „Das ist Qualms erster Freund. Ich sage ‚erster’, weil er am längsten mit ihm zusammen ist. Ich bin sein zweiter Freund, weil ich noch nicht so lange hier bin. Zusammen bilden wir eine Triade. Die Bläschen können nicht für sich allein bleiben. Sie müssen immer zwei andere Wesen bei sich haben. Es ist eine Art Brüderschaft. Blutsbrüderschaft, könnte man sagen, obwohl es das auch nicht ist, aber es ist die zutreffendste Bezeichnung, die mir einfällt. Der alte Heuhaufen muß euch einen gehörigen Schrecken eingejagt haben. Er ist schon ein seltsamer Vogel.“ „Das ist er gewiß“, bestätigte Jill. „Heuhaufen ist kein übler Bursche“, versicherte Decker. „Man muß ihn nur besser kennenlernen. Zumindest ist er kein solches Ekelpaket, wie sie hier haufenweise herumlaufen.“ „Dich kann hier wohl nichts erschüttern“, stellte Jill fest. „Ich kann mich nicht beklagen“, sagte Decker. „Man hat mich immer gut behandelt. Zuerst habe ich mich gefragt, welche Stellung ich hier eigentlich innehabe: Gefangener, Flüchtling, Museumsstück? Ich weiß es heute noch nicht, aber ich 396
zerbreche mir nicht mehr den Kopf darüber. Mir geht es bei den Bläschen nicht schlecht.“ „Offenbar haben die Blasenwesen damals im Schiff eine Art Bild von dir aufgenommen. Ich meine, nicht von dir, sondern vom ursprünglichen Decker“, sagte Tennyson nachdenklich. „Dann haben sie das Bild benutzt, um einen neuen Decker zu erschaffen, sie haben ihn gewissermaßen rekonstruiert. Wenn man bedenkt, daß die Entfernung zum Schiff beträchtlich und er obendrein von der Schiffshülle abgeschirmt war …“ „Ich glaube, Bild ist nicht der richtige Ausdruck“, widersprach Decker. „Sie haben viel mehr getan, als ein Abbild von Thomas Decker herzustellen. Ich bin mit dieser Technik nicht vertraut. Ich kenne zwar das Prinzip, weiß aber nicht, wie es angewendet wird. Die Technik ist entfernt mit einem Verfahren der medizinischen Röntgenphotographie verwandt, das vor Unzeiten auf der alten Erde entwickelt wurde. Mit diesem Verfahren konnte man Querschnittaufnahmen des menschlichen Körpers herstellen. Damals wurde der Körper gewissermaßen Schicht um Schicht geröntgt, so daß man ein dreidimensionales Abbild von ihm erhielt. Das heißt, eigentlich wurde kein wirkliches Bild hergestellt, sondern die Ergebnisse der Röntgenaufnahmen wurden direkt in den Computer eingespeist, der dann die Gesamtanalyse lieferte. Ein ähnliches Verfahren benutzen auch die Bläschen, allerdings arbeitet es über erstaunliche Entfernungen. Die Daten, die man so gewinnt, kann man dazu benutzen, jede Art von Materie zu rekonstruieren. Mir hat man erzählt, daß man damals nicht nur meine Körperdaten festgehalten hat, sondern auch einen Querschnitt meines Schiffes. Ausgewertet wurden jedoch nur meine Daten, aber ich nehme an, der Schiffsquerschnitt ist irgendwo im Archiv gespeichert und kann jederzeit rekonstruiert werden, wenn sie Lust dazu verspüren.“ Tennyson hatte der Schilderung schweigend zugehört. Jetzt 397
sagte er: „Der ursprüngliche Decker hat zweihundert Jahre übersprungen. Das hat er mir erzählt. Das Rettungsboot versetzte ihn in Kälteschlaf, während es nach einem Planeten suchte, auf dem Decker überleben konnte. Die Suche dauerte ungefähr zweihundert Jahre. Du hast uns vorhin erzählt, daß du seit ungefähr hundert Jahren hier lebst. Wie paßt das zusammen?“ „Davon höre ich jetzt zum ersten Mal“, erwiderte Decker. „Aber ich habe eine Erklärung: Ich nehme an, es hat hundert Jahre gedauert, bis die Bläschen Zeit fanden, mich zu rekonstruieren. Sie haben eine Menge Daten gesammelt. Manchmal suchen sie sich etwas aus, das sie wieder herstellen wollen. Einige Daten bleiben mehrere hundert Jahre im Archiv, andere werden niemals verwendet.“ „Hundert Jahre lebst du hier, hast du behauptet. Wie alt war Decker, als sich die Katastrophe ereignete? Vierzig Jahre, würde ich schätzen. Du machst nicht den Eindruck, als seist du einhundertvierzig Jahre alt. Mir kommt es so vor, als wärst du auf den Tag genauso alt wie der Decker, den ich kannte.“ „Das liegt daran, daß die Bläschen Verbesserungen an ihren Rekonstruktionen vornehmen“, erklärte Decker. „Wenn sie einen Organismus wiederherstellen, dann untersuchen sie ihn auf Schwachstellen. Ich nehme an, sie haben in meinen Daten festgestellt, daß ich ein nutzloses Organ besitze, den Wurmfortsatz. Sie werden sich von der Nutzlosigkeit überzeugt und den Wurmfortsatz weggelassen haben. Darauf halte ich jede Wette. Eine schwache oder deformierte Herzklappe? Sie haben sie in Ordnung gebracht. Ein fehlender Zahn würde sofort ersetzt, ein von Karies befallener Zahn ebenfalls. Eine kranke Niere oder ein verdächtiges Stück Darm …“ „Das klingt ja fast so, als wärest du unsterblich.“ „Unsterblich vielleicht nicht, aber ich nehme an, daß ich noch einige Zeit überdauern werde. Wenn mir etwas zustieße, und die Bläschen würden sich dazu entschließen, mich zu ret398
ten, dann könnten sie mir vermutlich ein neues Herz, einen Lungenflügel oder eine Leber einsetzen. Sie sind sehr einfallsreich. Ich bin der einzige Mensch, den sie haben, und sie hatten keine Vorstellung von meiner Lebensweise. Aber als ich erst einmal ihre Sprache erlernt hatte und ihnen erklären konnte, was ich brauchte, haben sie es an nichts fehlen lassen: Teppiche, Möbel, Gemälde, Speisen, die ich mir wünschte. Meist haben sie mehr getan, als ich verlangte. So ist das Leben hier. Ihr braucht ihnen nur ein paar Angaben zu machen, und sie werden euch alles liefern, was ihr verlangt. Sie verfügen über Materiekonverter, die wahre Wunderdinge vollbringen.“ „Außer dir gibt es hier keine Menschen?“ fragte Jill. „Es gibt ein paar Humanoiden, aber das sind keine echten Menschen. Zwei Beine, zwei Arme, zwei Augen, zwei Ohren, ein Mund, eine Nase – aber Menschen sind sie nicht. Das soll nicht heißen, sie seien etwas Geringeres als Menschen, denn das sind sie keineswegs. Einige sind den Menschen sogar überlegen. Ich kenne sie alle, und wir kommen gut miteinander aus. Wir haben auch einiges gemeinsam: Jeder von uns verbringt seine Zeit lieber mit einem Humanoiden als mit einer superschlauen Spinne oder einem Häufchen pulsierender Intelligenz.“ „Aber warum lebt ihr alle eigentlich hier?“ wollte Jill wissen. „Mir erscheint das Ganze wie eine Art intergalaktischer Zoo.“ „Das ist es ja auch. Aber es ist auch einiges mehr. Am besten könnte ich dieses Unternehmen hier als Galaktisches Forschungszentrum bezeichnen. Zwar schießt diese Übersetzung am Ziel vorbei, aber die Sache muß ja irgendeinen Namen haben. Im Grunde geschieht hier etwas Ähnliches wie in eurem Vatikan, Unterschiede gibt es allerdings in den Verfahren und wohl auch in der Motivation. Die Bläschen haben die ganze Sache ins Rollen gebracht, vor etwa einer Million Jahren, doch heute sind sie nur noch ein Teil des Projektes. Sie haben natür399
lich immer noch das Sagen, aber im Laufe der Zeit haben sie sich in anderen Kulturen, die ebenfalls an der Forschung interessiert waren, Partner gesucht. Alles zusammengenommen ist das hier wirklich ein kolossales Unterfangen. Das ganze Unternehmen baut auf Forschungsreisen auf. Gruppen ziehen – physisch – hinaus in die Galaxis und bringen Daten mit zurück. Wenn die Daten zur Verfügung stehen, können Lebensformen rekonstruiert und untersucht werden. Sie stellen natürlich nicht nur Lebewesen wieder her, sondern alle möglichen Dinge aus fremden Kulturen: Maschinen, Gebäude, Fahrzeuge, Spielsachen, Nahrungsmittel, Kulturpflanzen – was ihr wollt. In mancher Hinsicht scheint mir dieses Verfahren solider als die Methode des Vatikans, weil sie handfeste Ergebnisse liefert. Doch der Forschungsbereich ist auf eine einzelne Galaxis beschränkt. Während des letzten Jahrhunderts wurde allerdings von einer neuen Technik gemunkelt. Mit ihr soll es möglich sein, den Forschungsbereich weiter auszudehnen und die benachbarten Galaxien mit einzubeziehen.“ „Wie ist diese Welt eigentlich abgesichert?“ fragte Tennyson. „Ihr lebt hier doch geradezu in einer Schatzkammer. Wenn andere Rassen im Universum von eurem Unternehmen erfahren, werden sie leicht auf den Gedanken kommen, euch zu überfallen. Der Vatikan ist relativ sicher, weil er sich einen entlegenen Planeten gesucht hat und im Verborgenen arbeitet, aber diese Welt liegt an einem exponierten Ort, sie fordert die Neugierde anderer Rassen heraus.“ „Meine Mannschaft, beziehungsweise die Mannschaft auf dem Schiff von Decker I, wurde durch eine psychologische Waffe abgeschreckt. Es wurde eine Schreckemotion ausgestrahlt – wie die Waffe arbeitet, weiß ich nicht –, und in den Gefühlsimpuls wurde eine dröhnende Stimme eingemischt. Die Stimme drohte in einer fremden Sprache, aber den Sinn ihrer Worte konnte man genau verstehen: ‚Schert euch zum Teufel!’ 400
sagte sie. Der Mannschaft und mir war der Schrecken so sehr in die Glieder gefahren, daß wir nicht einmal mehr daran dachten, den Kurs zu ändern. Alles lief in wilder Panik durcheinander. Das Schiff ist etwa fünfzig Kilometer von hier auf dem Boden aufgeschlagen. Auch eure Lauscherin Maria wurde wirksam abgeschreckt. Ich habe erst von der Sache erfahren, als ihr mir davon erzähltet, aber es ist eindeutig, daß auch ihr ein Schrecken eingejagt wurde. Obwohl sie nicht als Mensch aus Fleisch und Blut hierherkam, wurde sie dennoch entdeckt. Irgendwo im Archiv sind ihre Daten gespeichert. Vermutlich hat man sie bisher nicht ausgewertet. Ich glaube nicht, daß die Bläschen die Angelegenheit sehr wichtig genommen haben.“ „Für uns war es wichtig“, entgegnete Jill. „Wir sind deshalb hierhergekommen.“ „Ja, es scheint so. Wieviel wollt ihr den Bläschen sagen?“ „Wir haben dir bereits alles gesagt.“ „Ja, das habt ihr. Und ich werde es an Qualm weitergeben. Gibt es etwas, von dem ich ihm nichts erzählen soll?“ „Nein“, erwiderte Tennyson. „Wir haben nichts zu verbergen.“ „Ich würde euch auch raten, nicht allzu geheimnisvoll aufzutreten“, sagte Decker. „Die Bläschen platzen fast vor Neugierde, und sie werden bald beginnen, euch auszufragen. Ich bezweifle, daß ihr etwas von ihnen zu befürchten habt. Sie sind recht anständig, auch an menschlichen Maßstäben gemessen. Natürlich sind sie äußerst fremdartig und oft schwer zu berechnen, aber sie sind gewiß keine Menschenfresser. In ihrer ganzen Geschichte seid ihr die ersten, die sich hier hereinschleichen konnten. Damit habt ihr euch ihre besondere Aufmerksamkeit gesichert. Diese Gleichungswesen scheinen mir recht pfiffige Gesellen zu sein.“ „Die verstehen ihr Handwerk“, erwiderte Jill. „Nach dem Interesse, das Qualm für sie entwickelte, nehme 401
ich an, sie sind für die Bläschen völlig neu. Habt ihr eine Ahnung, wo sich ihre Heimatwelt befindet?“ „Keinen blassen Dunst“, antwortete Tennyson. „Soll das heißen, ihr habt Kontakt zu ihnen aufgenommen, ohne ihre Welt vorher lokalisieren zu müssen?“ „Ja, so ist es.“ „Aber wie macht ihr das?“ „Sieh mal, Decker, wir haben dir fast alles erzählt. Ein kleines Geschäftsgeheimnis mußt du uns schon lassen.“ „Da habt ihr recht. Ich meine, ich hätte vorhin einen Stäuber bei euch gesehen, oder habe ich mich getäuscht?“ „Einen Stäuber?“ „Ja, einen Stäuber. Ein nebelhaftes Staubbällchen.“ „Stimmt, so ein Wesen hat uns begleitet“, bestätigte Jill. „Inzwischen ist es aber verschwunden.“ „Hatte der Stäuber bei eurem Unternehmen die Hand im Spiel?“ „Ich habe doch gesagt, wir möchten ein Geheimnis bewahren, nicht wahr?“ sagte Tennyson. „Ja, das hast du gesagt. Entschuldigung.“ „Weißt du eigentlich, wo die Gleichungswesen geblieben sind?“ fragte Jill. „Sie haben sich auf Qualms Parkplatz versammelt“, berichtete Decker. „Da stehen sie im Kreis und lassen ihre Gleichungen und Diagramme flackern, daß einem schwindlig wird. Aber jetzt muß ich gute Nacht sagen, ihr braucht gewiß ein wenig Schlaf. Ich habe morgen auch einiges zu erledigen.“ „Hast du hier einen Job?“ „Aber gewiß. Jeder hier hat eine Arbeit. Man kann sie sich aussuchen, das heißt, wenn man die Qualifikation dazu besitzt. Meine Spezialität ist das Übersetzen. Es ist seltsam, aber ich habe gemerkt, daß ich ein gutes Ohr für fremde Sprachen mein eigen nenne. Inzwischen beherrsche ich eine erstaunliche An402
zahl. Aber hauptberuflich arbeite ich im Archiv. Ich sortiere den Ausschuß aus den Daten aus, die täglich von den fernen Welten bei uns eingehen.“ „Ich hoffe, es ist dir klar, daß wir nicht allzu lange hierbleiben können“, sagte Jill. „Auf jeden Fall müßt ihr euch ans Protokoll halten, und das verlangt, daß ihr euch zu einem Gespräch mit Qualm und möglicherweise auch mit anderen Bläschen bereitfindet. Ich fürchte, sie würden es euch übelnehmen, wenn ihr euch weigert, mit ihnen zu reden. Sie sind wirklich außerordentlich interessiert an euch. Ich werde als Übersetzer bei dem Gespräch anwesend sein.“
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55 Platscher platschte ununterbrochen. Klatsch, platsch machte er, klatsch, platsch, klatsch, platsch, als werfe man ein Stück frische Leber auf einen Steinfußboden. „Kann er denn niemals ruhig sein?“ fragte Heuhaufen verzweifelt. „Warum hört er niemals mit dem blöden Gehopse auf? Warum setzt er sich nicht einmal hin und gibt Ruhe?“ Klatsch, machte Platscher, klatsch, platsch, klatsch … „Laß ihn zufrieden!“ befahl Qualm. „Dauernd hast du ihn auf dem Kieker. Nie kann er dir etwas recht machen.“ „Er macht mich wahnsinnig“, sagte Heuhaufen. „Decker ärgert sich nie über ihn“, erwiderte das Bläschen. „Er beklagt sich auch nicht über ihn.“ „Decker ist auch nicht den ganzen Tag mit ihm zusammen“, entgegnete Heuhaufen. „Decker steht dir nicht so nahe wie ich. Ich bin dein ständiger Begleiter. Immer wenn du mich rufst, bin ich in der Nähe. Decker ist die meiste Zeit unterwegs. Wenn Decker soviel Zeit mit Platscher verbringen müßte wie ich …“ Platsch machte Platscher. „Er hört niemals damit auf, weder am Tag noch in der Nacht“, jammerte Heuhaufen. „Unaufhörlich hopst er herum. Wir sollten doch eine Triade sein, oder nicht? Wie läßt sich das mit ihm vereinbaren? Alle anderen Triaden bestehen aus dreien. Wieso sind wir vier?“ „Wir sind eine Triade“, sagte Qualm. „Nun werde nur nicht spitzfindig. Außerdem verdrehst du die Tatsachen. Du weißt genau, daß Platscher keiner von uns ist. Er ist nichts weiter als ein Haustier. Wenn du nicht den ganzen Tag maulen würdest und Decker häufiger bei uns wäre, brauchte ich vielleicht gar kein Haustier. Aber nun habe ich eben eines, und ich mag es sehr und …“ 404
Heuhaufen murmelte etwas Unverständliches. „Was sagst du? Sprich lauter!“ „Ich habe gesagt, daß du ihn vergötterst. Du stellst ihn über Decker und mich. Decker ist so oft unterwegs, weil er das ewige Platschen nicht ertragen kann. Platsch, klatsch, platsch, den lieben langen Tag. Nicht einen Augenblick lang Ruhe.“ „Er wird uns Glück bringen“, versicherte Qualm. „Er ist mehr als ein Haustier, er ist ein Talisman.“ „Wozu brauchst du einen Talisman?“ versetzte Heuhaufen. „Ich habe dir schon so oft meine Meinung gesagt, aber du läßt nicht locker. Immer höher und höher willst du hinauf. Du denkst nur noch an Macht. Alle sind schon sauer auf dich. Im ganzen Zentrum hast du keinen einzigen Freund mehr, aber du willst immer mehr. Wenn ich dich warne, lachst du mich aus. Wenn du tatsächlich einmal die Herrschaft über das Zentrum erreichst, was willst du dann mit ihr anfangen?“ „Mir geht es nicht nur um das Zentrum, Heuhaufen. Ich habe noch ganz andere Dinge im Sinn. Wenn ihr zu mir haltet, du und Decker, dann …“ „Jetzt fängst du schon wieder an! Ich weiß gar nicht, warum ich mich noch mit dir einlasse. Du wirst dir eine Menge Ärger einhandeln. Du und deine unmöglichen Träume. Wenn Decker nicht zu dir halten würde …“ „Decker hat Phantasie“, sagte Qualm. „Er sieht mit den gleichen Augen wie ich. Während du …“ „Es mag sein, daß Decker Phantasie hat, aber ich habe mir einen realistischen Verstand bewahrt. Ich weiß, was machbar ist. Decker weiß das nicht.“ Klatsch, platsch, klatsch, machte Platscher. „Niemand hat bisher die Hände nach dem Zentrum ausgestreckt“, sagte Heuhaufen. „Natürlich läßt du dir nichts anmerken. Du hältst dich im Hintergrund. Du denkst, du bist unheimlich clever, aber die anderen wissen Bescheid. Sie warten nur 405
darauf, daß du einen kleinen Fehler machst, dann fallen sie über dich her. Sie werden dich gnadenlos fertigmachen, darauf kannst du dich verlassen.“ „Wenn sich drei Wesen zu einer Triade zusammenfinden“, begann Qualm, „was für uns eine logische Existenzform ist, wie Beobachtungen ergeben haben, dann erwartet man, daß sich diese drei Wesen loyal zueinander verhalten. Dann mäkeln sie nicht dauernd aneinander herum, dann …“ „Ich verhalte mich loyal“, sagte Heuhaufen. „Ich nenne es loyal, wenn ich auf meine Art versuche, uns aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten. Warum hörst du niemals auf meine Ratschläge?“ „Aber ich höre doch auf dich, Heuhaufen. Jeden Tag höre ich dir geduldig zu.“ „Das ist es ja gerade. Du hörst mir zu, aber du beherzigst nicht, was ich sage. Deine Ruhmsucht hat dir den Verstand vernebelt. Du hast einen Punkt erreicht, wo du nicht mehr zu vernünftigen Einsichten fähig bist. Jetzt zerbrichst du dir schon wieder den Kopf, wie du die Neuankömmlinge am besten ausnutzen kannst. Sag mir nur nicht, daß es nicht so wäre!“ „Es dauert so lange, bis man sie rekonstruiert hat“, klagte Qualm. „Wenn es doch nur eine schnellere Methode gäbe!“ „Der Prozeß benötigt nun einmal seine Zeit“, erwiderte Heuhaufen. „Da spielen eine Menge Faktoren eine Rolle, und alle müssen berücksichtigt werden. Es darf keine Fehler geben, außerdem mußten wir bisher bei allen Rekonstruktionen, die wir verwenden wollten, einige Abänderungen vornehmen.“ „Ich habe darüber nachgedacht, ob wir nicht die Originale verwenden sollten“, sagte Qualm, „dann brauchten wir auf die Nachschöpfungen nicht zu warten. Aber das könnte gefährlich werden. Ich weiß nicht, wie sich diese Gleichungswesen verhalten werden, die Menschen jedenfalls sind schrecklich empfindlich. Lange Zeit war Decker der einzige, und jetzt sind gleich 406
zwei neue Menschen dazugekommen. Auf jeden Fall bin ich aber versucht …“ „Du gehst davon aus, daß sie mit Decker identisch sind. Das solltest du nicht tun. Das Risiko ist viel zu groß. Individuen einer Art können erhebliche Unterschiede aufweisen, und außerdem sind an Decker einige Veränderungen vorgenommen worden.“ „Du rätst mir also zur Vorsicht?“ „Ja, das tue ich.“ „Du gibst mir immer den gleichen Rat. Deine Zaghaftigkeit hängt mir allmählich zum Hals raus.“ „Du kannst dich einfach nicht darauf verlassen, daß sich diese Menschen genau wie Decker verhalten. Sie können sich im Temperament und in der Intelligenz von ihm unterscheiden. Decker hat sich als ein Wesen entpuppt, mit dem du zusammenarbeiten kannst. Das mag bei diesen beiden nicht der Fall sein.“ „Nun, wir werden sehen“, sagte Qualm. Klatsch, platsch, klatsch, machte Platscher.
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56 „Ich weiß nicht …“, sagte Jill. „Dieser Decker II …“ Tennyson legte einen Finger auf die Lippen und sah sie warnend an. Sie schaute sich im Zimmer um. Es war niemand im Raum. Decker war gegangen und hatte sie allein gelassen. „Ich frage mich, wo Flüsterer geblieben sein mag“, sagte Tennyson. „Es paßt nicht zu ihm, uns zu verlassen.“ „Vielleicht hat er alte Freunde gefunden“, mutmaßte Jill. „Decker hat mir erzählt, daß es hier einige Stäuber gibt. Vermutlich hält Flüsterer ein Schwätzchen mit ihnen.“ „Hoffentlich kommt er bald zurück“, murmelte Tennyson. „Wir sollten unbedingt mit ihm reden.“ „Also spürst du es auch?“ „Ja, Jill, ich fühle es auch.“ Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa und musterten stumm die Einrichtung. Die Teppiche waren geschmackvoll. Die Gemälde an den Wänden erschienen vertraut. Man hätte den gesamten Raum, so wie er war, in den Vatikan verpflanzen können, er hätte dort nicht deplaziert gewirkt. Und dennoch schwebte ein bedrückender Hauch von äußerster Fremdheit in diesem Zimmer. Tennyson streckte die Hand aus, und Jill ergriff sie. Sie saßen händchenhaltend Seite an Seite wie zwei verängstigte Kinder, waren aufgeregt und unsicher und lauschten gebannt auf jedes Geräusch in ihrer unheimlichen Umgebung. Jill öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Tennyson verschloß ihr mit der Hand die Lippen. Sie machte sich frei und flüsterte: „Jason, Flüsterer ist hier. Er ist zurückgekommen.“ „Flüsterer?“ fragte Tennyson. „Hier bin ich“, antwortete Flüsterer. „Es tut mir leid, daß ich 408
euch allein gelassen habe, aber ich habe Stäuber gefunden. Es gibt hier einige Stäuber.“ „Flüsterer, komm zu uns“, bat Jill. „Wir müssen miteinander reden.“ Flüsterer kam. Sie spürten ihn in ihren Köpfen. „Hier stimmt etwas nicht“, sagte Jill. „Dieser Decker ist unecht.“ „Ich hätte nicht gedacht, daß du es bemerken würdest, Jill“, sagte Tennyson. „Schließlich hast du den Decker auf Nirgendsend kaum gekannt. Ich weiß, daß dieser hier nicht mein Decker ist. Was meinst du dazu, Flüsterer?“ „Er ist nicht der Decker, den ich kannte“, antwortete Flüsterer, „ein Decker zwar, aber nicht unser Decker.“ „Er belügt uns“, erklärte Jill. „Er hat behauptet, er habe erst durch uns von Maria erfahren. Das kann ich nicht glauben. Dieses Zentrum legt großen Wert auf Geheimhaltung und Sicherheit. Maria hat zweimal versucht, sich hier einzuschleichen – sie hat es natürlich nicht als Einschleichen empfunden, sie tat nur ihre Arbeit. Beim ersten Mal haben sie sie offenbar nicht bemerkt, aber beim zweiten Mal haben sie sie entdeckt, denn sie setzen ihr psychologisches Abwehrsystem ein, um sie zu vertreiben. Gewiß ging es ihnen nur darum, unerkannt zu bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie vor Maria Angst hatten.“ „Vermutlich haben sie sich einige Daten von ihr verschafft“, sagte Tennyson. „Allerdings waren ihre Erkenntnisse sicherlich nicht zufriedenstellend, denn sie hatten es ja nicht mit dem Menschen Maria zu tun, sondern mit ihrer Lauscherexistenz. Ich schätze, sie erhielten ganz schön verwirrende Daten. Bestimmt hat die Angelegenheit einiges Aufsehen verursacht. Decker hat bestimmt davon erfahren, schließlich bekleidet er hier eine wichtige Stellung.“ „Haben wir Decker zuviel erzählt, Jason? Hätten wir nicht besser einiges für uns behalten sollen?“ 409
„Mag sein, ich weiß es nicht. Irgend etwas mußten wir ihm schließlich erzählen. Vielleicht haben wir ihm in den ersten Minuten nach unserer Begegnung zuviel verraten. Es dauerte einige Zeit, bis ich bemerkte, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Wieso ich es gemerkt habe, weiß ich jetzt noch nicht. Irgendwie spürte ich, daß er nicht der echte Decker ist. Kannst du dich noch an alles erinnern, was wir ihm mitgeteilt haben?“ „Am besten kann ich mich an das erinnern, was wir nicht erwähnt haben. Wir haben nichts von den Robotern erzählt. Er muß annehmen, daß es sich beim Vatikan um eine menschliche Unternehmung handelt. Den religiösen Aspekt haben wir ebenfalls verschwiegen. Wir haben nicht gesagt, wieso das Unternehmen die Bezeichnung Vatikan trägt. Außerdem haben wir nicht verraten, daß Maria glaubte, sie hätte den Himmel gefunden. Nach allem muß Decker den Vatikan für ein ähnliches Forschungszentrum wie diesen Ort hier halten.“ „Trotzdem“, sagte Flüsterer, „Decker ist gehörig erschrocken. Das ganze Zentrum ist in helle Aufregung geraten. Es muß ein großer Schock für diese Leute hier gewesen sein, als sie erfuhren, daß es noch ein anderes Forschungszentrum in der Galaxis gibt.“ „Können sie uns nicht schon entdeckt haben, bevor wir hier eindrangen?“ fragte Tennyson. „Haben sie uns tatsächlich erst bemerkt, als wir bereits im Zentrum waren?“ „Ganz bestimmt merkten sie es erst dann“, antwortete Flüsterer. „Aber dann wußten sie auch direkt Bescheid“, sagte Jill. „Sie besitzen ein ganzes Arsenal von Sensoren, mit denen sie jede Lebensform aufspüren können. Außerdem haben diese Würmer uns gesehen.“ „Darüber mache ich mir die meisten Sorgen“, sagte Tennyson. „Sie haben mit Sicherheit Bilder von uns aufgenommen – ich meine diese Aufnahmetechnik, von der Decker uns erzählt hat. Also besitzen sie jetzt Daten von uns allen, vermutlich so410
gar von Flüsterer. Inzwischen haben sie uns vielleicht schon rekonstruiert, und es gibt neue Gleichungswesen, eine neue Jill und einen neuen Tennyson.“ „Ob sie unsere Unterhaltung belauschen können?“ fragte Jill mißtrauisch. „Ich glaube nicht“, antwortete Flüsterer. „Aber es gibt auch Stäuber hier. Sie wissen, wie ein Stäuber sich verständigt.“ „Zur Zeit sind nur sehr wenige Stäuber im Zentrum“, berichtete Flüsterer. „Manchmal ist gar keiner da. Meine Leute gehören nicht zum Zentrum. Sie kommen und gehen. Um festzustellen, ob neue Erkenntnisse vorliegen, die sie verwenden können, behalten sie das Zentrum ständig im Auge. Und was die Rekonstruktion von einem Stäuber betrifft: Ob das dem Zentrum gelingt, wage ich zu bezweifeln, schließlich sind wir ja nur eine lockere Ansammlung von Atomen und Molekülen.“ „Willst du etwa behaupten, daß die Stäuber das Zentrum ausnutzen?“ „Tja, so könnte man es nennen. Eine Zusammenarbeit ist es jedenfalls nicht. Mein Volk ist eine ruhelose Schar.“ „Am Anfang habe ich diesem Decker zu viel Vertrauen geschenkt“, stellte Tennyson fest, „das war falsch. Ich war so froh, ihn zu sehen. Mir war, als hätte ich an einem unvermuteten Ort einen alten Freund getroffen. Meine Erinnerungen an den alten Decker haben mich geblendet. Ich glaube, ich war zu redselig. Als ich zu spüren begann, wie sehr sich dieser Decker von dem Original unterscheidet, konnte ich das Gesagte nicht mehr rückgängig machen. Dieser Decker hat einen anderen Charakter; er ist aalglatt. Der alte Decker war eher spröde. Decker II hat uns mehrmals belogen, das steht für mich fest. Er hat gelogen, als er behauptete, nichts von Maria gewußt zu haben, bis wir ihm von ihr erzählten. Daß seine Daten hundert Jahre in den Archiven geruht haben, bis er rekonstruiert wurde, war 411
ebenfalls eine Lüge. Diese Blasenwesen haben ihn mit Sicherheit direkt reproduziert. Es muß sie einfach interessiert haben, wer dort aus dem Weltraum kam und direkt auf ihren Planeten zusteuerte.“ „Man kann verstehen, daß dieser Decker anders ist“, sagte Jill. „Seit mehr als einem Jahrhundert, vielleicht gar zwei Jahrhunderten, ist er nun den Einflüssen dieser Umgebung ausgesetzt. Schließlich hat er begonnen, sich mit dem Zentrum zu identifizieren. Er hat seine Standpunkte verinnerlicht und seine Philosophie angenommen, falls das Zentrum eine Philosophie besitzt, was ich nicht bezweifle. Decker geht es hier gut, er hat sich eingerichtet. Er ist Teil einer … äh, Triade, nicht wahr? Gemeinsam mit diesem Bläschen, das er Qualm nennt, und dem Heuhaufen. Decker II ist nicht mehr der Mann, der er einmal war. Er hat sich verändert. Vermutlich hat er sich ändern müssen, um überleben zu können. Daran kann man ihm nicht die Schuld geben. Er hat getan, was er tun mußte. Also ist es kein Wunder, daß er nicht mehr wie der alte Decker ist, nicht wie der Mann, den du mir beschrieben hast, Jason. Dein Decker hat sich niemals angepaßt, er hat es nicht einmal versucht. Es kümmerte ihn nicht, was die anderen von ihm dachten. Er wollte nur in Ruhe sein Leben leben.“ „Du hast eben von einer Triade gesprochen“, warf Flüsterer ein, „das ist doch eine Dreizahl, nicht wahr?“ „Ja, gewiß.“ „Deckers Gruppe besteht aber nicht aus drei Wesen, es sind vier.“ „Vier?“ „Da ist noch dieser Platscher.“ „Platscher? Meinst du diese Kreatur, die ständig auf und ab hüpft?“ „Genau die meine ich. Der Platscher gehört zu Heuhaufen, Decker und der Blase.“ 412
„Woher, zum Teufel, weißt du das?“ fragte Tennyson. „Woher ich es weiß, kann ich nicht sagen, ich weiß es eben. Die Blase und der Platscher haben eine sehr enge Beziehung zueinander.“ „Wir sollten einmal kurz die Lage zusammenfassen“, schlug Tennyson vor. „Wir haben diese Welt hier gefunden, und sie ist nicht der Himmel. Mit dieser Nachricht sollten wir schnellstens zum Vatikan zurückkehren. Aber wie können wir beweisen, daß sie nicht der Himmel ist? Wir können es nicht einfach nur behaupten, niemand würde uns glauben. Und uns bleibt nicht mehr viel Zeit, um nach einem Beweis zu suchen.“ „Wir sollten so schnell wie möglich heimkehren“, sagte Jill. „Flüsterer, kannst du uns zurückbringen?“ „Ich kann euch nach Hause bringen.“ „Was wird aus den Gleichungswesen?“ „Um die braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Sie finden schon den Weg zurück. Wenn sie gehen wollen.“ „Du meinst, sie wollen vielleicht gar nicht zurückkehren? Ach, ich verstehe, man hat sie in ein Altenheim abgeschoben, und nun sind sie ausgebrochen …“ „Also brauchen wir nur an uns selbst zu denken“, sagte Tennyson. „Ich frage mich vor allem, wieviel Zeit uns noch bleibt, um uns ein Beweisstück zu sichern, und ob wir in Gefahr geraten, wenn wir noch länger warten. Wenn die Blasen Jill und mich rekonstruiert haben, dann werden sie die Originale vermutlich vernichten wollen. Die Neuschöpfungen könnten sie dazu benutzen, um den Vatikan auszuspionieren.“ „Wie kommen wir eigentlich zu diesen Befürchtungen?“ fragte Jill. „Wir gehen einfach davon aus, daß die Bläschen uns feindlich gesonnen sind. Vielleicht haben wir sie in falschem Verdacht? Das Zentrum und der Vatikan arbeiten im Grunde an der gleichen Sache, es wäre also möglich, daß die Bläschen zur Zusammenarbeit bereit sind …“ 413
„Dabei würde der Vatikan nicht mitspielen“, wandte Tennyson ein. „Eigentlich habe ich das gleiche Gefühl wie du, Jason“, fuhr Jill mit ihren Überlegungen fort. „Auch ich mißtraue den Blasenwesen. Aber wir können uns auch in ihnen täuschen.“ „Für meinen Geschmack hat sich Decker zu sehr für die Lauscher interessiert“, sagte Tennyson. „Er hat eine Menge Fragen gestellt. Was die Methoden der Datenbeschaffung angeht, da ist der Vatikan diesem Zentrum um Lichtjahre voraus. Diese Burschen hier würden die Lauscher gewiß gern für sich einspannen.“ „Aber sie müssen, lange bevor wir hierherkamen, vom Vatikan erfahren haben. Erinnere dich doch an Theodosius’ Notiz. Ein Aufklärergeschwader der Bläschen hat eindeutig Nirgendsend besucht.“ „Ja, ich weiß, das habe ich mir auch schon überlegt. Auch über den Datenrückstau, von dem Decker geredet hat, habe ich mir einige Gedanken gemacht. So eine Forschertruppe der Blasenwesen mag einige Jahrhunderte unterwegs sein und auf einem Flug tonnenweise Daten speichern. Aus diesem Material müssen sie eine Auswahl treffen. Sie werden sich zuerst das vornehmen, was ihnen am wichtigsten erscheint. Vielleicht liegen die Daten über den Vatikan noch unberührt in den Archiven. Rein äußerlich bietet der Vatikan kein spektakuläres Bild. Die Gebäude und Roboter dürften niemanden beeindruckt haben. Die Bläschen hatten womöglich vorher noch nie einen Roboter gesehen. Sie machten sich ein falsches Bild von seinen Fähigkeiten. Nach allem, was wir wissen, sind die von den Menschen produzierten Roboter die einzigen künstlichen Lebewesen in der Galaxis. Für ein Bläsche ist ein Roboter vielleicht nicht mehr als ein Metallhaufen, eine nichtssagende Maschine. Die Blasenwesen sind nur ein paar Minuten auf Nirgendsend geblieben, nur einmal darüber hinweggeflogen. Ich 414
erinnere mich gut an eine Stelle in der Notiz: Theodosius schrieb, daß die Wesen voller Verachtung auf den Vatikan hinabgeschaut haben.“ „Das war sein Eindruck, nichts weiter als eine subjektive Meinung …“ „Das würde ich nicht unbedingt sagen. Ein Robotkardinal verfügt über ein erstaunliches Urteilsvermögen.“ „Nun, vielleicht war es tatsächlich so“, sagte Jill. „Ich hoffe, du hast recht.“ „Wünscht ihr, daß ich euch sofort nach Hause bringe?“ fragte Flüsterer dazwischen. „Ich bin bereit. Ich hätte auch nichts dagegen, nach Nirgendsend zurückzukehren.“ „Wir können jetzt noch nicht fortgehen“, sagte Tennyson. „Wir müssen einen Beweis haben, sonst war unser Besuch hier ganz umsonst. Wir brauchen ein hieb- und stichfestes Beweisstück!“ „Ihr bringt euch in Gefahr“, warnte Flüsterer. „Ich weiß, daß dieser Ort gefährlich ist.“ „Ich wünschte, wir könnten uns Gewißheit darüber verschaffen, wozu dieser Ort eigentlich dient“, sagte Tennyson. „Decker hat ihn als Forschungszentrum bezeichnet, und ich bin geneigt, ihm zu glauben. Aber was ist die Motivation für diese Forschungen? Die meisten Forschungszentren – die menschlichen Zentren jedenfalls – betreiben ihre Forschungen aus rein wissenschaftlichen Gründen. Im Vatikan wird Wissen angehäuft, um zu einem wahren Glauben zu finden. Aber Forschungen können auch aus Machtstreben betrieben werden, denn Wissen bedeutet Macht. Ich fürchte, das könnte hier das Motiv sein. Decker hat gesagt, das Forschungszentrum wolle seine Reichweite auf die Nachbargalaxien ausdehnen. Vielleicht steckt hinter diesen Bestrebungen eher Machthunger als Wissensdrang?“ „So könnte es sein“, erwiderte Jill. „Aber Machtstreben setzt eine politische Organisation voraus. Welchem politischen System untersteht das Zentrum überhaupt?“ 415
„Das werden wir vermutlich nie erfahren“, antwortete Tennyson. „Wir haben einfach nicht genügend Zeit, um es herauszufinden. Das ist eine Frage, die man nicht so schnell beantworten kann.“ „Ich weiß“, stieß Jill unvermittelt aus, „ich weiß jetzt, was wir als Beweisstück mitnehmen könnten: einen von diesen Würmern. Wenn wir einen Wurm mit zurückbrächten, dann müßten die Theologen zugeben, daß es sich nicht um den Himmel handelt. Im Himmel gibt es keine Würmer, das ist einfach unvorstellbar.“ „Es tut mir leid“, warf Flüsterer ein, „aber ich kann diese Würmer nicht transportieren. Ihre Masse ist zu groß.“ „Na ja“, sagte Jill. „Nun wissen wir endlich genau, wo der Himmel ist. Wir können weitere Lauscher herschicken, sie können die Beweise in den Würfeln abbilden.“ „Nein, das würde nicht funktionieren“, widersprach Tennyson. „Maria ist es einmal gelungen, diesen Ort unbemerkt zu beobachten, schon beim zweiten Mal wurde sie entdeckt und abgewehrt. Weitere Lauscher hätten keine Chance, das Sicherheitssystem zu überwinden.“ „Wenn wir einen Würfel herstellen und mitbringen könnten“, meinte Jill. „Das können wir aber nicht“, widersprach Tennyson. „Wir sind keine Lauscher.“ „Sie haben uns absichtlich hereingelassen“, sagte Jill unvermittelt. „Die Blasen hätten uns aufhalten können. Sie hätten uns genauso abschrecken können, wie sie es mit Maria gemacht haben.“ „Darin täuschst du dich“, entgegnete Flüsterer. „Die Gleichungswesen arbeiten anders als die Lauscher. Sie haben uns hergeschafft, ohne daß wir entdeckt wurden. Als das Zentrum uns bemerkte, waren wir bereits da. Ob den Gleichungswesen 416
dieser Streich auch ein zweites Mal gelingen würde, weiß ich allerdings nicht. Die Blasen wissen nun, daß es eine Lücke in ihrem Abwehrnetz gibt. Sie werden alles tun, um sie zu schließen.“ „Ja, das vermute ich auch“, stimmte Tennyson ihm zu. „Wir werden nie wieder hierher zurückkommen können. Und wir haben keinen Beweis, den wir auf Nirgendsend vorweisen könnten. Wir haben nichts als unser Wort, aber das wird den Theologen nicht genügen. Sie werden sagen, wir hätten uns das alles nur ausgedacht.“ „Du bist also der Meinung, daß unsere ganze Reise vergebens war?“ fragte Jill. Was sollte er darauf antworten, fragte sich Tennyson. Würde ihr Bericht, den sie von dieser Welt mitbrächten, Theodosius etwas nützen? Würde er ihm in der Auseinandersetzung mit den Theologen den Rücken stärken? Konnte der Kardinal allein aufgrund ihrer Schilderung die Theologen noch eine Weile daran hindern, daß sie den Vatikan und das Suchprogramm in Besitz nahmen? Eine kleine Atempause, das war alles, worauf Tennyson hoffen konnte. Er fragte sich, warum Jill und er die Situation nicht vorhergesehen hatten. Sie hatten ihr Unternehmen natürlich besprochen. Daß sie einen Beweis mit zurückbringen müßten, war ihnen von vornherein klar gewesen, aber sie hatten sich keine Vorstellung von der Art dieses Beweisstücks gemacht. Wieso war ihnen nie der Gedanke gekommen, daß es fast unmöglich sein würde, ein absolut unwiderlegliches Beweisstück zu finden? Wenn sie nur genügend Zeit gehabt hätten, um über dieses Problem nachzudenken, aber es blieb ihnen nur noch eine Gnadenfrist. Tennyson spürte, daß eine Gefahr von diesem Ort ausging. Er konnte die Bedrohung nicht benennen, aber er fühlte sie mit jeder Faser seines Körpers, und Flüsterer teilte dieses Gefühl. 417
Gescheitert, dachte er. Sie hatten ihre Mission erfüllt und waren dennoch gescheitert. Was, zum Teufel, konnte er nur tun? Was konnten sie tun, Jill, Flüsterer und er? Eines kam nicht in Frage, und das war heillose Flucht. Sie mußten so lange wie möglich im Zentrum bleiben. „Wenn wir Theodosius nur eine Nachricht übermitteln könnten“, sagte Jill. „Ihm mitteilen, daß wir den Platz gefunden haben und es nicht der Himmel ist.“ „Ich kann die Nachricht überbringen“, sagte Flüsterer. „Aber mit wem willst du sprechen? Auf ganz Nirgendsend gibt es niemanden, der dich verstehen könnte. Theodosius nicht, auch nicht Ecuyer …“ „Ich kann mit den Alten sprechen“, sagte Flüsterer. „Der Alte von Deckers Blockhaus könnte Theodosius die Nachricht überbringen.“ „Aber wir brauchen dich hier.“ „Es wird nicht lange dauern.“ „Nein“, widersprach Tennyson, „wir können nicht auf dich verzichten, auch nicht für kurze Zeit. Ich fürchte, wir werden dich bald dringend brauchen.“ „Dann werde ich einen anderen Stäuber schicken. Einer von meinen Schwarmbrüdern kann nach Nirgendsend fliegen. Habe ich euch eigentlich erzählt, daß es hier Stäuber gibt?“ „Ja, das hast du“, antwortete Jill. „Dann macht euch keine Sorgen“, sagte Flüsterer, „ich werde einen von ihnen schicken.“
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57 Ein Mönch meldete, daß ein Alter die Allee heraufkäme. Sofort begab sich Theodosius zur Basilika, um ihn freundlich zu begrüßen. Der Alte kreiselte behäbig zum Fuß der Treppe. Dort stellte er seine Rotationen ein und ließ sich aufs Pflaster sinken. Sofort begann er vibrierend zu dröhnen, kurz darauf erklangen die ersten verständlichen Worte. „Ich komme, um deinen Besuch zu erwidern“, sagte er. „Dafür möchte ich dir danken“, erwiderte Theodosius. „Es ist sehr freundlich von dir. Wir sollten uns häufiger treffen.“ „Außerdem überbringe ich eine Nachricht“, fuhr der Alte fort. „Ein Stäuber hat sie mir gebracht.“ „Flüsterer, Deckers Stäuber?“ „Nein, der Flüsterer war es nicht. Es war einer der alten Stäuber, die vor langer Zeit von hier fortgegangen sind. Er hat sich gefreut, seine Heimat wiederzusehen. Wir Alten hatten schon die Hoffnung aufgegeben, daß wir je einen von ihnen wiedersehen würden. Es ist seltsam, aber wir haben sie immer als unsere Lieblingskinder betrachtet. Nun ist einer zu uns zurückgekehrt. Hoffentlich kehren auch die anderen eines Tages wieder zurück.“ „Das freut mich für euch“, sagte Theodosius. „Wie lautet die Nachricht, die du für mich hast?“ „Sie ist ausdrücklich an dich gerichtet, Kardinal. Der Tennyson und die Jill haben den Himmel gefunden, aber es ist nicht der Himmel.“ „Gott sei Dank!“ „Hast du nicht gewünscht, daß es der Himmel ist?“ „Einige von uns haben gehofft, daß er es nicht ist.“ „Außerdem soll ich sagen“, fuhr der Alte fort, „daß die Jill und der Tennyson bald zurückkehren werden.“ 419
„Wann?“ „Bald, hat der Stäuber gesagt, sehr bald.“ „Schön, ich werde sie erwarten.“ „Ich habe vorgeschlagen, sie sollten hier auf der Allee landen, wenn sie wiederkehren“, sagte der Alte. „Wie sollen sie von deinem Vorschlag erfahren?“ fragte der Kardinal. „Der Stäuber ist zu diesem Nicht-Himmel zurückgekehrt, um es ihnen zu sagen. Wir beide wollen hier warten, um sie zu begrüßen.“ „Vielleicht wird das eine Weile dauern.“ „Ich habe genügend Geduld für eine lange Wartezeit, und ich glaube, die hast du auch.“ „So ist es. Wir haben beide viel Geduld, und wir haben eine Menge zu bereden. Die Stunden werden uns nicht lang werden.“ „Ich bitte um Vergebung“, sagte der Alte, „aber ich finde es sehr anstrengend, auf eure Art zu sprechen. Ich kann es nicht lange tun.“ „In diesem Fall werden wir zusammen schweigen“, sagte Theodosius. „Vielleicht werden wir feststellen, daß wir uns auch ohne Sprache verstehen?“ „Ein guter Vorschlag“, bemerkte der Alte. „Wir wollen es mit dieser Art der Verständigung versuchen.“ „Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich mir einen Schemel holen“, sagte Theodosius. „Ich weiß, es ist albern, wenn ein Roboter einen Schemel benutzt, aber ich habe mich so daran gewöhnt. Wenn ich Jill in der Bibliothek besuche, sitze ich immer auf einem Hocker. Es ist sicherlich eine lächerliche Angewohnheit, aber ich …“ „Hol dir ruhig einen Schemel“, sagte der Alte. „Ich werde hier auf dich warten.“ Und so wartete er vor den Stufen der Basilika, während sich der Kardinal einen Hocker holte. 420
58 Heuhaufen war wieder einmal eingeschlafen. Er verschlief einen großen Teil seines Lebens, vielleicht schloß er aber auch nur die Augen. Heuhaufen bewegte sich nur sehr selten, und wenn er die Augen geschlossen hatte, dann konnte niemand sagen, ob er tatsächlich schlief, oder ob er sich nur von der äußeren Welt zurückzog. Vermutlich langweilte Heuhaufen sich, dachte das Bläschen, das Decker Qualm getauft hatte. Es hatte Zeiten gegeben, zu denen Qualm sich Heuhaufen nur zu gerne vom Hals geschafft hätte, aber dann hatte er noch einmal über alles nachgedacht und sich jedesmal entschieden, ihn bei sich zu behalten. Trotz seiner Trägheit und seiner Unordentlichkeit hatte Heuhaufen seine verborgenen Qualitäten. Er war recht pfiffig, und es würde schwierig, wenn nicht unmöglich sein, einen gleichwertigen Ersatz für ihn zu finden. Außerdem zögerte jedermann, eine Triade wieder aufzulösen, wenn sich einmal drei Partner zu ihr zusammengefunden hatten. Es dauerte lange, bis sich eine gut funktionierende Triade geformt hatte, und mit Heuhaufen war Qualm schon seit ewigen Zeiten zusammen. Man sollte annehmen, dachte Qualm, daß sich unlösbare persönliche Bande entwickeln mußten, wenn zwei Wesen eine solche Zeitspanne miteinander verbracht hatten. Unzertrennlich waren sie tatsächlich, Heuhaufen und er, aber nicht wegen irgendwelcher persönlicher Bande, sondern einzig deswegen, weil Heuhaufen sich partout nicht abschieben lassen wollte. Es gab einen psychologischen Faktor, der Heuhaufen trotz seiner Weisheit zu einer unsicheren Persönlichkeit machte. Er brauchte immer jemanden, an den er sich anschließen konnte und der ihn vor der Welt abschirmte. Er mochte über die Unruhe, die Platscher verursachte, zetern und schäumen, er mochte sogar damit drohen, daß er davongehen und die Triade auflösen würde, aber 421
in die Tat umsetzen würde er diese Drohungen nicht, denn er wußte, nur die Triade konnte ihm Schutz und Sicherheit bieten. Platsch, klatsch, platsch, machte Platscher. Heuhaufen schlief (vielleicht hielt er auch nur die Augen geschlossen), und Decker war nicht da. Die meiste Zeit war Decker nicht bei ihm, dachte Qualm mürrisch. Manchmal konnte Decker ein unterhaltsames, ja, amüsantes Wesen sein, und es stand außer Frage, daß er über eine kühne Phantasie verfügte. Alles in allem hatte er sich auch immer einigermaßen loyal verhalten, aber gelegentlich ließ er die nötige Hingabe an das Ideal der Triade vermissen. Decker war ein Opportunist, gestand Qualm sich ein, darüber konnte sein Charme nicht hinwegtäuschen. Im ganzen Zentrum gab es keine Blase, die mehr Tatkraft als Qualm gehabt hatte, und zu diesem Durchsetzungsvermögen trugen Heuhaufens Weisheit und Deckers Kühnheit ihren Anteil bei. Ich hätte meine Triade nicht besser zusammenfügen können, versicherte sich Qualm. Wie kam es dann, daß er sich über seine beiden Triadenmitglieder so häufig ärgerte und sie manchmal geradezu mit Widerwillen betrachtete? Bald würde die Rekonstruktion der beiden Menschen abgeschlossen sein. Ob es wohl möglich wäre, sie in seine Triade einzugliedern und so ein Quintett zu erschaffen? Würde er es wagen? Würde er sich überhaupt damit durchsetzen können? Es wäre ein Verstoß gegen alle Tradition und die Normalität, und es würde ihm empörte Kritik einbringen, aber die Kritik würde er schon ertragen können, wenn sie die ganze Reaktion war. Wäre das ein kluger Zug, fragte er sich. Drei Wesen vom Schlage Deckers würden das Gleichgewicht gefährden, andererseits besaßen diese sogenannten Menschen erstaunliche Fähigkeiten. Mit der Weisheit eines Heuhaufens und der Anpassungsfähigkeit von drei Menschen … Darüber muß ich noch einmal gründlich nachdenken, entschied Qualm, sehr gründlich nachdenken. 422
Klatsch, platsch, klatsch, machte Platscher. Warum zögere ich eigentlich noch, fragte sich Qualm. Er hatte bereits eine Tetrade, auch wenn es noch niemand gemerkt hatte. Zumindest hoffte er, daß es den anderen verborgen geblieben war. Bisher jedenfalls war es ihm gelungen, diese Tatsache geschickt zu kaschieren, indem er Platscher als possierliches Haustier ausgab, während es sich in Wirklichkeit ganz anders verhielt. Vor die Entscheidung gestellt, hätte Qualm eher seine beiden anderen Triadengefährten geopfert als Platscher. Doch, das habe ich geschickt eingefädelt, sagte er sich. Niemand hatte Verdacht geschöpft. Woran lag es eigentlich, daß er Platscher so sehr schätzte? Platscher besaß keine Weisheit wie Heuhaufen, und er hatte nicht Deckers Wagemut und Vorstellungskraft, aber er verlieh Qualm eine moralische Stärke und eine Ausdauer, wie sie bisher bei den Mitgliedern seiner Rasse nicht vorgekommen waren. Heuhaufen schlief noch immer, Decker war noch nicht zurückgekehrt, und alle Kegel waren abgewandert, also war Qualm allein … fast allein. Das einzige Wesen, das ein Lebenszeichen von sich gab, war der hopsende Platscher. Die einfältigen Blöcke, die gemeinsam mit den Menschen und dem Stäuber (Qualm selbst hatte den Stäuber nicht gesehen, aber Decker hatte von ihm erzählt) gekommen waren, hatten sich draußen auf dem Parkplatz versammelt. Dort standen sie nun in einem Kreis beieinander und spielten sich ihre albernen Gleichungen und Bildzeichen vor. Qualm dachte an die Vielfalt der Galaxis, die endlose Vielfalt ihrer Lebensformen und der Vorstellungen, die diese entwickelt hatten. Einige dieser Ideensysteme waren völlig verstiegen und sinnlos, aber in anderen steckten erstaunliche Möglichkeiten. Allen war gemeinsam, daß ihnen eine gewisse Logik innewohnte. Wenn es einem gelang, die Logik eines solchen 423
Systems aufzuschlüsseln, dann konnte man das ganze System für sich nutzbar machen. Das Forschungszentrum war der Ort, wo man diese logischen Systeme entschlüsselte, das war der Sinn des Unternehmens. War ein System erst einmal enträtselt, dann mußte unbedingt der nächste Schritt erfolgen: Nun kam es darauf an, sich das System nutzbar zu machen. Das mochte ein selbstsüchtiger Nutzen sein, aber, so sagte sich Qualm, ein selbstsüchtiger Nutzen ist besser als gar keiner. Von allen Wesen hier im Zentrum hatte er allein die Kraft und das Geschick, um Gebrauch von den Erkenntnissen des Zentrums zu machen. Mit Hilfe von Heuhaufen und Decker und der nimmermüden Unterstützung von Platscher, der Qualm unablässig versicherte, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, konnte er den gesamten Wissensschatz des Zentrums einem sinnvollen (und eigennützigen) Gebrauch zuführen. All die anderen, die stolzgeschwellt und voller Arroganz glaubten, daß sie eines Tages dieses Ziel erreichten, würden es eben nicht erreichen. Er, Qualm, und niemand sonst war es, dem es gelingen konnte, die Möglichkeiten und Versprechungen zu seinem Vorteil Wirklichkeit werden zu lassen. Er stellte sich ihre Gesichter vor, die Gesichter der Blasenwesen, unmittelbar nachdem sie von seiner Tat erfahren hatten: Überraschung, Ungläubigkeit, jämmerliche Furcht! Der Gedanke bereitete ihm unendliches Wohlbehagen. Heute die Galaxis, dachte er, und morgen das Universum. Heute die Galaxis, und morgen das Universum. Die anderen hockten selbstgefällig in ihren beschränkten, kleinen Welten. Sie fühlten sich sicher in ihren Triaden, und doch hatten sie einen entscheidenden Punkt übersehen, den allein Qualm erkannt hatte: Sie hatten ihn nicht bemerken können, denn ihre übersteigerte Arroganz und ihre unerträgliche Blasiertheit hatte sie so blind gemacht, daß sie eine schlichte Tatsache übersahen: Sie hatten sich geirrt. 424
In den Jahrtausenden seiner Arbeit war das Forschungszentrum auf Hunderte, vielleicht gar Tausende von Glaubenssystemen gestoßen. Es war häufig schwierig, sie zu erforschen, aber jedes einzelne von ihnen wurde untersucht und diversen Prüfungen unterworfen. Am Ende hatte keines von ihnen der Analyse standgehalten. Jedes einzelne hatte sich als völlig bedeutungslos erwiesen. Das Zentrum kam nicht nur zu dem Schluß, daß es sich bei allen Göttern um falsche Götter handelte, das Urteil wurde noch weiter gefaßt: Es gab überhaupt keine Götter, weder schwache noch starke, weder echte noch falsche. Demzufolge waren auch die Glaubenssysteme nichts weiter als Selbsttäuschungen, bewußte Selbsttäuschungen, in die sich die schwachen Wesen der Galaxis flüchteten. Die Religionen waren Schutzwälle, errichtet von erbärmlichen Kreaturen, die eine Zuflucht vor der nackten Wahrheit des Lebens suchten, die es nicht ertragen konnten, daß es im ganzen Universum niemanden gab, der sich um sie kümmerte. Platscher landete direkt vor Qualm. Diesmal sprang er nicht in eine andere Richtung davon, sondern hopste auf der Stelle auf und ab. Klatsch, platsch, klatsch, machte es in rascher Folge. Qualm beobachtete ihn, und während er ihn wie unter einem Bann betrachtete, hypnotisiert vom gleichmäßigen Rhythmus des Auf und Ab, spürte er, wie ihn das Gefühl, das niemals endende, wunderbare Gefühl durchpulste. Er fühlte die Frömmigkeit, die Leidenschaft und die Macht, spürte, wie sie miteinander verschmolzen. Die Frömmigkeit wurde zur Leidenschaft, und beide gemeinsam verwandelten sich in das Gefühl der Macht. Alle drei waren gleichermaßen geheiligt, so daß die Macht um nichts minderwertiger war als die Frömmigkeit. Von dieser Vorstellung war Qualm ganz und gar durchdrungen, sie gefiel ihm über alle Maßen. Es war schön, daß Leidenschaft und Frömmigkeit die Macht heiligten, denn nach Macht strebte er. Es gab Stimmen, die sagten, die Macht sei böse und 425
Machtstreben eine Sünde, doch diese Stimmen befanden sich im Irrtum. Auch als sie behaupteten, daß es keinen Gott gäbe, hatten sich die Stimmen geirrt. Sie mußten sich getäuscht haben, denn er hatte einen Gott gefunden, seinen persönlichen Gott, den er nur mit Heuhaufen und Decker teilte. Wenn es an der Zeit war, würde der Gott Qualm die Macht verleihen, die er brauchte, um seinen Plan auszuführen. Wenn Qualm zu seinem Schlag ausholte, dann würde er die Macht besitzen. Bete mich an, befahl der Gott. Und Qualm betete ihn an, denn so verlangte es der Pakt, den er mit ihm geschlossen hatte. Platsch, klatsch, platsch, machte Platscher.
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59 Qualm ruhte auf seinem Podest. Aus der Nähe betrachtet, gab das Blasenwesen eine eindrucksvolle Erscheinung ab, stellte Tennyson fest. Erst wenn man sich an Qualms Fremdartigkeit gewöhnt hatte, konnte man eine gewisse Schönheit in seiner Gestalt entdecken. Der Körper war eher ei- als kugelförmig, und seine Schale – konnte man sie Schale nennen? – wies einen perlmutternen Schimmer auf. Lichtreflexe in den Farben des Regenbogens tanzten auf ihr. Die Vertiefung auf der Vorderseite des Eies war wie von kleinen, grauen Wolken verhangen. Der graue Dunst war in ständiger Bewegung. Gelegentlich lichtete er sich so weit, daß man hinter ihm ein Gesicht erkennen konnte, ein Gesicht, so flüchtig und unbestimmt wie das bunte Gekritzel eines Kleinkindes. Neben Qualm stand Heuhaufen, eine Gestalt, die einem Haufen aus lose zusammengeworfenem Heu tatsächlich ähnlicher sah als einem lebenden Wesen. Hin und wieder blitzten die dunklen Augen zwischen den Halmen auf. Auf der anderen Seite von Qualm stand Decker II. Tennyson musterte ihn genau und versuchte, eine Eigentümlichkeit zu entdecken, die ihn von seinem Freund auf Nirgendsend unterschied. Er konnte keine finden. Der Mann war Decker, nunmehr ins Leben zurückgekehrt. Vor Qualm hopste Platscher. Er hüpfte in kleinen Sprüngen vor und zurück. Im ganzen Zimmer waren Kegel verteilt. Von diesen mattschwarzen Gesellen schien eine Bedrohung auszugehen. Dienten die Kegel als Wachen, fragte sich Tennyson. Glaubte Qualm, sich vor den beiden Menschen durch Leibwächter schützen zu müssen? Flüsterer wandte sich an Tennyson: „Schau dich nicht um“, sagte er. „Die Gleichungswesen sind gerade hereingekommen.“ 427
Klatsch, machte Platscher, klatsch, platsch, klatsch. „Weißt du, was das Ganze hier soll, Flüsterer?“ fragte Jill. „Nein“, antwortete er. „Offenbar ist es eine Audienz, aber wozu sie dienen soll, kann ich nicht sagen. Das Bläschen hat nichts Gutes im Sinn, das spüre ich. Und gebt acht auf den Platscher!“ „Den Platscher?“ „Er spielt eine entscheidende Rolle.“ Decker wandte sich an Tennyson: „Qualm grüßt euch und möchte wissen, ob ihr gut behandelt wurdet. Habt ihr einen besonderen Wunsch?“ „Wir können uns über die Behandlung nicht beklagen“, antwortete Tennyson, „und wir haben keine Wünsche.“ Das Blasenwesen stieß einige gutturale, mahlende Geräusche aus. Decker sagte: „Qualm wünscht, daß sich der Stäuber entfernt. Er hat eine Antipathie gegen Stäuber und möchte ihn nicht hier im Zimmer haben.“ „Der Stäuber bleibt, sag das dem Bläschen!“ erwiderte Tennyson. „Ich muß dich warnen, mein Freund. Es wäre unklug, darauf zu beharren.“ „Wie dem auch sei, der Stäuber bleibt hier. Er gehört zu uns.“ Decker redete mit dem Bläschen, und das Bläschen antwortete. Aus dem dunstverhangenen Gesicht funkelten Tennyson zwei Augen an. „Es ist gegen seinen Wunsch, gegen seinen ausdrücklichen Wunsch“, dolmetschte Decker, „aber in der Hoffnung auf Harmonie und auf ein fruchtbares Gespräch willigt Qualm in eure Bitte ein.“ „Ein Punkt für uns“, sagte Jill. „Er ist nachgiebiger als ich dachte.“ 428
„Täusche dich nicht“, mahnte Flüsterer. „Ich danke dir“, erklärte Tennyson. „Sage dem Bläschen, daß wir ihm danken.“ Das Blasenwesen begann erneut zu sprechen, und Decker übersetzte: „Wir sind glücklich, daß ihr zu uns gekommen seid. Es ist uns immer eine Freude, neue Bekanntschaften zu machen. Das Zentrum strebt nach einer friedlichen Zusammenarbeit mit allen Lebewesen in der Galaxis.“ „Wir freuen uns, hier sein zu dürfen“, erwiderte Tennyson knapp. Die Blase sprach, Decker dolmetschte: „Nun wäre es wohl angebracht, daß ihr uns eure Auftraggeber nennt und kurz darlegt, warum ihr so freundlich wart, uns diesen Besuch zu machen.“ „Wir haben keine Auftraggeber“, erwiderte Tennyson. „Wir kommen als freie Bürger der Galaxis, als Reisende.“ „Aber ihr könntet uns doch sicher sagen, wie ihr von uns erfahren habt?“ „Gewiß“, antwortete Tennyson, „schließlich ist die Bedeutung dieses Zentrums in der ganzen Galaxis bekannt.“ „Er macht sich über uns lustig“, sagte Qualm zu Decker, „er will uns verhöhnen.“ „Das bezweifle ich“, antwortete Decker. „Es ist einfach seine Art, so zu sprechen. Er ist ein grober Barbar.“ Das Blasenwesen richtete seine Worte wieder an Tennyson: „Was ist eure Absicht? Ihr verfolgt doch ein bestimmtes Ziel?“ „Wir wollten uns nur einmal umschauen“, erwiderte Tennyson, „wir sind nichts weiter als reiselustige Touristen.“ „Jetzt trägst du etwas zu dick auf“, ermahnte ihn Jill. „Du wirst ihn verärgern.“ „Er will uns aushorchen“, entgegnete Tennyson. „Ich habe nicht vor, ihm etwas zu verraten. Offensichtlich hat er keine Ahnung, wer wir sind oder woher wir kommen. Es ist das beste, wenn wir ihn im Ungewissen lassen.“ 429
„Mein Freund“, sagte Decker. „Warum verhältst du dich so eigenartig? Schon die Höflichkeit verlangt, daß du auf unsere Fragen vernünftige Antworten gibst.“ Flüsterer schaltete sich ein: „Offenbar sind sie mit eurer Rekonstruktion noch nicht fertig. Wenn sie schon Duplikate von euch hätten, würden sie euch keine Fragen stellen. Sie könnten alle Antworten von den Rekonstruktionen bekommen. Offensichtlich ist das Blasenwesen in großer Eile; es will nicht auf die Antworten warten.“ „Ich will offen mit dir sprechen“, sagte Tennyson zu Decker. „Bessere Antworten als die eben gehörten werde ich euch nicht geben. Wenn dein Freund wissen will, wo unsere Heimatwelt liegt, dann sag ihm, er soll sie mit anderen Mitteln suchen, denn ich werde es ihm nicht verraten. Wenn er wissen will, wie und warum wir hierhergekommen sind, dann kann er es später von unseren Rekonstruktionen erfragen, denn von uns wird er es nicht erfahren. Er kann natürlich versuchen, sich an die Quader zu halten. Vielleicht werden die es ihm sagen.“ „Du bereitest mir absichtlich Schwierigkeiten“, klagte Decker. „Du weißt sehr gut, daß wir uns mit den Quadern nicht verständigen können.“ „Was ist da los?“ fragte Qualm. „Sag mir sofort, worüber ihr gerade geredet habt, Decker!“ „Ach, es war nur ein Übersetzungsproblem“, erklärte Decker. „Ich brauche etwas Zeit zum Nachdenken, dann werde ich es dir sagen.“ Klatsch, machte Platscher, klatsch, platsch, klatsch. „Mir gefällt das alles nicht“, warf Heuhaufen ein. „Decker, hier läuft etwas, wie es nicht laufen soll. Sag uns sofort, was los ist!“ „Sei still!“ schnauzte Decker. „Halt die Klappe!“ „Ich habe ihn immer wieder gewarnt“, jammerte Heuhaufen, „aber er will nicht auf mich hören. Decker, du und ich, wir sind 430
vernünftige Wesen, wir müssen die ganze Angelegenheit erst in Ruhe besprechen. Wir sollten das Gespräch abbrechen und noch einmal untereinander beraten.“ „Ich will nicht warten“, schnaubte Qualm. „Ich will die Antworten sofort. Es gibt Methoden, wie man sich Antworten verschaffen kann.“ „Ich bekomme nicht alle seine Gedanken mit“, meldete Flüsterer, „aber ich fürchte, hier wird es gleich verdammt eng.“ „Dann soll es eben eng werden“, versetzte Tennyson. „Ich könnte uns jetzt hier herausreißen.“ „Nein, noch nicht“, entschied Tennyson. „Wir wollen sehen, was geschieht.“ Platscher hatte sich genau vor Qualm postiert und sprang sehr schnell auf der Stelle auf und ab. Platschplatschplatschplatschplatsch … „Wir haben immer noch keinen Beweis. Wenn wir jetzt flüchten, können wir keinen Beweis mitnehmen, aber wir brauchen unbedingt etwas …“ „Ich will dir etwas erklären“, sagte Tennyson zu Decker, „von Mann zu Mann, von Mensch zu Mensch. Du wirst das verstehen. Weil du ein Mensch bist, wirst du es verstehen, ein Fremder könnte es nicht. Wir haben gewettet. Wir haben eine Wette abgeschlossen, daß wir diese Welt besuchen würden und etwas als Beweis unseres Hierseins mit zurücknehmen werden. Gebt uns ein solches Beweisstück, einen unwiderleglichen Beweis, dann verspreche ich, daß wir zurückkommen und alle eure Fragen beantworten werden.“ „Du hast den Verstand verloren!“ brüllte Decker. „Wie kannst du nur glauben, daß ich dir diese Geschichte abkaufe? Du kannst keinen Handel …“ „Decker!“ kreischte Qualm dazwischen. „Übersetze! Was sagt er? Was geht da vor?“ „Sie weigern sich, zu antworten“, berichtete Decker. „Sie 431
schlagen uns ein Geschäft vor.“ „Ein Geschäft! Sie wollen mit uns handeln!“ „Warum sollten wir nicht einen Handel mit ihnen machen?“ flötete Heuhaufen. „Als vernunftbegabte Wesen …“ „Ich halte das nicht aus!“ brüllte Qualm. „Ich lasse mich doch nicht von diesen überheblichen Barbaren hereinlegen!“ „Vielleicht wäre es ratsam, mit ihnen zu verhandeln“, riet Decker vorsichtig. „Ich kenne die Menschen, ich bin selbst einer. Ich weiß, daß du sie nicht einfach niederbrüllen kannst, und außerdem …“ Platschers Gehopse hatte sich zu einem so rasenden Tempo gesteigert, die einzelnen Aufschläge waren nun ein einziger Dauerton. Der Lärm verschluckte Deckers Worte. Genau vor Qualm hüpfte Platscher auf und nieder, so schnell, daß seine Gestalt nur noch als unscharfer roter Fleck zu erkennen war. Und nun begann auch Qualm zu hüpfen, nicht so hoch und schnell wie Platscher, aber doch in gehörigem Tempo. „Ich glaube, nun sollten wir besser gehen“, riet Flüsterer. „Wir brauchen unbedingt einen Beweis“, beharrte Tennyson. „Wir können nicht mit leeren Händen zurückkehren.“ „Ihr werdet von diesen Irren keinen Beweis bekommen. Jeden Augenblick können sie direkt vor euren Augen explodieren.“ „Qualm!!!“ brüllte Decker mit aller Kraft, um das ohrenbetäubende Getöse zu übertönen. „Qualm, du bist ja völlig außer dir. Du mußt …“ „Der Bann!“ kreischte Qualm. „Den Bann auf eure Häupter! Ich belege euch alle mit dem Kirchenbann!“ „Jetzt“, sagte Flüsterer. Tennyson setzte zu einem Einwand an, doch dazu blieb keine Zeit mehr. Die Szene vor Tennysons Augen wurde unvermittelt ausgelöscht. Im letzten Augenblick sah er noch, wie Platscher direkt vor seinem Gesicht explodierte: eine Sturzsee aus Licht und Feuer, kaltem Feuer … 432
60 In Windeseile hatte sich das Gerücht, daß etwas geschehen war, über den Vatikan verbreitet. Etwas Außergewöhnliches hatte sich ereignet oder würde sich bald ereignen. Kardinal Theodosius und ein Alter standen vor der Basilikatreppe und warteten. Nur sie konnten wissen, worauf. Und habt ihr schon das Neueste gehört? Jill und Tennyson sind im Himmel, aber sie werden bald zurückkommen. Genau wie Maria zum Himmel gegangen und zurückgekommen ist. Sie werden uns die frohe Kunde bringen. Sie werden berichten, daß es tatsächlich der Himmel ist. Sie werden beweisen, daß Maria recht hatte. So redeten die meisten. Andere hatten eine abweichende Version: Ihr irrt euch, sagten sie zu den Gläubigen. Es widerspricht den Glaubenssätzen des Vatikan, wenn man denkt, daß man als Mensch aus Fleisch und Blut in den Himmel gehen könnte. Der Himmel ist ein Mysterium. Er ist nicht von dieser Welt, er liegt in anderen, besseren Gefilden. Es gab noch eine andere Gruppe, die ebenfalls, aber aus einem anderen Grund, den naiven Gläubigen widersprach. Jill und Tennyson sind Theodosius Marionetten, sagten diese. Und Theodosius und einige andere Kardinäle glaubten nicht daran, daß der Himmel gefunden wurde. Sie wollten es nicht glauben, denn wenn Maria tatsächlich den Himmel gefunden hatte, dann mußten sie ihre Wissenssuche aufgeben. Der Himmel würde allem Wissensdurst ein Ende setzen. Niemand würde mehr nach Wissen streben, denn was man brauchte, war allein der Glaube. John, der Gärtner, kam die Stufen der Basilikatreppe herab und baute sich vor Theodosius auf. „Wie ich höre, habt Ihr mit dem Papst gesprochen, Eure Eminenz“, sagte er. 433
„Das habe ich in der Tat“, entgegnete Theodosius, „wer hätte ein größeres Recht dazu als ich?“ „Und bei dieser Audienz habt Ihr mich des Verrats am Vatikan bezichtigt?“ „Ich habe dich beschuldigt, daß du dich in Dinge eingemischt hast, die dich nichts angehen.“ „Die Erhaltung des Glaubens geht jeden etwas an“, entgegnete der Gärtner. „Nur sind die Ermordung eines geachteten Menschen und der Diebstahl der Lauscherwürfel kein geeignetes Mittel, um den Glauben zu erhalten“, wandte der Kardinal ein. „Klagt Ihr mich auch dieser Taten an?“ „Willst du abstreiten, daß du der Initiator und Anführer der theologischen Bewegung bist? Willst du leugnen, daß du den Aufruhr um Marias Heiligsprechung angestiftet hast?“ „Das war kein Aufruhr. Es war ein ehrenhafter Versuch, den Vatikan wieder auf jenen Pfad zurückzuführen, den er seit Jahren verlassen hat. Die Kirche brauchte eine Heilige, und ich habe sie ihr verschafft.“ „Meiner Meinung nach stinkt die Sache zum Himmel, sie beleidigt die Kirche. Du hast die Geschichte einer verwirrten Frau mißbraucht, um das alles in Gang zu setzen.“ „Ich hätte jedes Mittel eingesetzt, um den Vatikan wieder zur Vernunft zu bringen“, erwiderte John. Er fuhr herum und begann, die Treppe wieder hinaufzusteigen, doch dann hielt er inne und wandte sich noch einmal um. „Ihr habt von Seiner Heiligkeit gefordert, daß ich zu einem kleinen Mönch degradiert werde, wenn jener Ort nicht der Himmel sein sollte?“ „Das habe ich gefordert“, antwortete Theodosius. „Und ich werde dafür sorgen, daß es auch geschieht.“ „Dann müßt Ihr erst einmal beweisen, daß es nicht der Him434
mel ist“, sagte John. „Gelingt Euch das nicht, dann wird Euch das Schicksal ereilen, das Ihr mir zugedacht habt.“ „Mir scheint, du verdrehst die Tatsachen“, erwiderte der Kardinal. „Nicht ich muß etwas beweisen, sondern du. Du mußt den Beweis liefern, daß Maria tatsächlich den Himmel gefunden hat.“ „Warum, Eminenz, steht Ihr dem Himmel so feindlich gegenüber?“ „Ich stehe dem Himmel nicht feindlich gegenüber“, sagte Theodosius. „Ich hoffe sehr, es gibt ihn, aber ich bete, daß er nicht so ist, wie du ihn dir erträumst.“ Ohne noch ein Wort zu verlieren, ging John die restlichen Stufen hinauf. Neue Gerüchte entstanden. „Habt ihr bemerkt, daß Theodosius auf einem Hocker sitzt? Noch nie hat ein Roboter auf einem Hocker gesessen. Jemand hat mir gesagt, es handle sich um eine Strafe. Seine Heiligkeit hat ihm befohlen, demütig auf diesem Schemel zu hocken.“ „Und der Alte? Was tut der Alte hier? Er hat hier doch nichts verloren! Ist dir aufgefallen, daß er dauernd mit dem Kardinal zusammensteckt, als ob sie alte Freunde wären. Was hat ein Kardinal mit einer solchen blutrünstigen Bestie zu schaffen? Ich sage dir, da steckt mehr dahinter, als es den Anschein hat.“ „Ich erkenne den Alten wieder“, entgegnete jemand „Es ist derselbe, der die Leichen von Decker und Hubert hergebracht hat. Das war eine edle Tat, vielleicht sind die Alten gar nicht so blutrünstig?“ „Hergebracht!“, empörte sich ein Dritter. „Das war wohl das mindeste, was er tun konnte, vermutlich war er es, der sie umbrachte!“ Alle Arbeit ruhte. Eine große Menschenmenge war ständig am Rand der Allee versammelt. Vor der Treppe ließen die Wartenden einen kreisförmigen Freiraum, was in einer allgemeinen 435
Vorahnung begründet lag. Was immer geschehen mochte, es würde dort vor den Stufen der Basilika passieren, davon war man überzeugt. Auf der Treppe selbst standen die Roboter dicht gedrängt. Holzfäller, Erntearbeiter, Viehtreiber, Dampfmaschinisten, sie alle hatten ihre Arbeit liegenlassen und waren zum Vatikan aufgebrochen. Jemand begann die Glocken zu läuten, und das Geläut dauerte an, bis Theodosius sich von seinem Hocker erhob und die Stufen hinaufstapfte, um dem Lärmen ein Ende zu machen. Sogar die Lauscher, die sich nur selten unter die Vatikanbewohner mischten, wurden von ihrer Neugierde herausgetrieben. Ohne daß sie jemand dazu aufgefordert hätte, fand sich eine Schar Techniker zusammen. Sie errichteten vor der Basilikafassade einen riesigen Videoschirm und schlossen ihn an eine päpstliche Leitung an. Minuten später erschien die Grafik des Papstgesichtes auf dem Bildschirm. Seine Heiligkeit schwieg und schloß sich den Wartenden an. Nichts geschah. Die Stunden vergingen ereignislos. Die Menge – sie hatte unablässig geräuschvoll geschwatzt – wurde zunehmend ruhiger, während sich die Sonne dem westlichen Horizont näherte. Die Spannung wuchs. „Ist es möglich, daß du dich geirrt hast?“, fragte Theodosius den Alten. „Hast du die Botschaft vielleicht falsch verstanden?“ „Ich habe die Nachricht so an dich weitergegeben, wie sie mir überbracht wurde“, antwortete der Alte. „Dann ist etwas schiefgegangen“, klagte Theodosius. „Es ist etwas schiefgegangen, ich spüre es ganz deutlich.“ Er hatte sich zu sehr darauf verlassen, daß alles gut ausgehen würde, gestand er sich nun ein. Er hatte fest daran geglaubt, daß seine beiden menschlichen Freunde mit der Botschaft zurückkehren würden, die den Vatikan wieder ins richtige Gleis brächte und diesem unreifen infantilen Himmels- und HeiligenZinnober ein Ende machte. Der Kardinal versuchte sich zu trösten. Auch wenn jetzt et436
was schiefgegangen war, bedeutete das keinen Rückschlag auf ewige Zeiten. Er und einige andere Leute im Vatikan – auch wenn sie nicht viele waren – würden die Flamme der Hoffnung am Leben erhalten. Der Vatikan würde nicht in ewige Finsternis versinken und seine gewaltigen Möglichkeiten verträumen. Irgendwann, in Jahrhunderten, würden die Leute der sterilen Frömmelei müde werden, und sie würden sich wieder auf die Suche nach dem Wissen begeben, um so vielleicht doch den wahren Glauben zu finden. Und wenn sich in ferner Zukunft erweisen sollte, daß es den wahren Glauben nicht gab und das Universum gottlos war, dann war es besser, dieser Tatsache ins Auge zu sehen, als Religion um ihrer selbst willen zu betreiben. Während Theodosius über dies alles nachdachte, hatte er der Menge den Rücken gewandt und, fast wie zum Gebet, den Kopf gesenkt. Plötzlich vernahm er hinter sich das erstaunte Raunen der Menge. Er fuhr herum und sah, was die Menge so erregte: Jill und Tennyson standen mitten auf der Allee, weniger als dreißig Schritte von ihm entfernt. Über ihnen schwebte für einen flüchtigen Augenblick ein flimmerndes Wölkchen wie aus Diamantenstaub, und Theodosius fragte sich, ob dieses Wölkchen wohl Flüsterer sein mochte. Der Kardinal erhob sich von seinem Hocker und ließ sich sofort wieder fallen. Ihm war die Erkenntnis in die Knie gefahren, daß tatsächlich etwas schiefgegangen war. Direkt vor Jill und Tennyson hüpfte ein Monstrum auf und ab. Es sah aus wie ein Krake, der auf dem Kopf stand, und wenn er auf dem Boden aufprallte, war ein klatschendes Geräusch zu hören. Draußen auf der Allee wandte sich Tennyson an Flüsterer. „Was, zum Teufel, geht hier vor?“ fragte er. „Du hast den Platscher mitgebracht!“ „Ich habe ihn im letzten Augenblick zu fassen bekommen“, antwortete Flüsterer. „Ich weiß selbst nicht genau, wie es dazu kam. Als er explodierte, konnte ich in seinen Verstand eindrin437
gen. Das hatte ich vorher mehrmals versucht, aber es war mir nie gelungen. Ich wollte ihn gar nicht mitnehmen. Wir haben ihn irgendwie mitgerissen.“ „Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er riesengroß und stand in Flammen“, sagte Jill. „Tja, diesen Zustand hat er offenbar überwunden“, bemerkte Flüsterer. „Weißt du, was es mit diesem Wesen auf sich hat?“ fragte Tennyson. „Das ist nicht leicht zu beantworten. Qualm hält Platscher für einen Gott, den er für seine Zwecke ausnutzen kann. Er betet ihn an und benutzt ihn, bezahlt seine Dienste durch Anbetung. Das ist ein Verhalten, das man auch bei Menschen findet. Qualm ist jedoch um einiges zynischer als ein Mensch.“ „Ist Platscher tatsächlich ein Gott?“ „Wer kann das sagen? Qualm ist davon überzeugt. Er glaubt, daß er mit Platscher jemanden besitzt, der ihn über alle anderen Blasenwesen erhebt und ihm hilft, seine Ziele zu erreichen. Wenn man den richtigen Gott besitzt, wird einem alles gelingen. Soweit ich das beurteilen kann, hält Platscher sich selbst ebenfalls für einen Gott. Das macht zwei. Zwei Wesen glauben, daß Platscher ein Gott ist. Wieviele Lebewesen müssen daran glauben, daß jemand ein Gott ist, damit er tatsächlich zu einem Gott wird?“ Klatsch, platsch, klatsch, machte Platscher. Theodosius hatte sich von seinem Schemel erhoben und ging auf Jill und Tennyson zu. An seiner Seite bewegte sich gemächlich kreiselnd der Alte. Hinter ihnen drängte die Menge nach, Menschen und Roboter. Dicht gedrängt bevölkerten sie die Treppe. Von allen Dächern blickten Gesichter herunter. Die Allee war überfüllt. Von der Basilikafassade beobachtete die riesenhafte Grafik des Papstgesichtes die Szene. Theodosius gab Jill und Tennyson die Hand. 438
„Willkommen daheim“, sagte er. „Wir sprechen euch unseren tiefen Dank aus für das Wagnis, das ihr auf euch genommen habt.“ Platscher hopste wie rasend. Er zog eine verwirrende Kreisbahn um Theodosius und den Alten. „Sie haben den Alten von Deckers Blockhaus ja schon einmal gesehen“, sagte der Kardinal an Tennyson gewandt, „aber ich glaube, Jill kennt ihn noch nicht.“ „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, äh … mein Herr“, sagte Jill. Der Alte begann zu summen, dann zu dröhnen, schließlich brachte er verständliche Worte hervor: „Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, euch zu treffen, und ich freue mich, daß ihr wohlbehalten nach Nirgendsend zurückgekehrt seid.“ Die Menge war näher herangerückt, jetzt schloß sie die vier – oder fünf, wenn man Platscher mitzählte – in einem dichten Halbkreis ein. „Jetzt müssen Sie aber meine Neugierde befriedigen“, sagte Theodosius. „Was ist das für eine hopsende Abscheulichkeit, die Sie da mitgebracht haben. Ist sie von Bedeutung?“ „Das möchte ich bezweifeln, Eure Eminenz“, antwortete Tennyson. „Was also soll sie hier?“ „Man könnte sagen, sie ist aus Versehen bei uns aufgesprungen.“ „Uns ist berichtet worden, daß Sie Marias Himmel gefunden haben?“ „Ja, das haben wir“, erwiderte Tennyson, „und es ist nicht der Himmel. Es ist ein Forschungszentrum, nicht unähnlich dem Vatikan. Allerdings hatten wir nicht genügend Zeit, um es ausführlich zu erkunden. Anscheinend sind wir dort in eine örtliche politische Auseinandersetzung hineingeraten.“ Ein Roboter bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge und pflanzte sich neben Theodosius auf. Ten439
nyson erkannte John, den Gärtner. „Dr. Tennyson“, fragte John, „können Sie einen Beweis erbringen, daß es sich nicht um den Himmel gehandelt hat?“ „Nun, einen handfesten Beweis haben wir nicht“, entgegnete Tennyson. „Genügt Ihnen unser Wort etwa nicht? Ich habe angenommen, das Ehrenwort eines Menschen müßte einem Roboter genügen.“ „In einer Lage wie dieser ist eine unbewiesene Behauptung leider nicht ausreichend“, erwiderte der Gärtner. „Auch nicht die Behauptung eines Menschen. Mir scheint überhaupt, daß ihr Menschen …“ „John!“ herrschte ihn Theodosius an. „Wo bleibt eigentlich dein Respekt?“ „Mit Respekt kommen wir nicht weiter, Eure Eminenz“, erwiderte John. „Wir alle haben das gleiche Recht auf eine Antwort.“ „Der Tennyson spricht die Wahrheit“, sagte der Alte dazwischen. „Er strahlt Wahrheit aus.“ Der Gärtner beachtete den Alten nicht, er sah Tennyson an. „Vielleicht dachtet ihr, daß dieser hüpfende Kobold eure Geschichte untermauern könnte. Ihr wolltet ihn vorzeigen und fragen, ob man im Himmel wohl solche Wesen finden würde.“ „Nein, das hatten wir nicht vor“, entgegnete Tennyson. „Denn hätten wir es getan, dann hätten Sie den Beweis verlangt, daß die Kreatur tatsächlich aus dem Himmel stammt und wir sie nicht irgendwo anders aufgelesen haben.“ „Stimmt, das hätte ich verlangt“, erklärte John. Wie aus einem Munde schrie die Menge auf. Eine wilde Bewegung entstand, als die Leute in der vordersten Linie immer noch schreiend nach hinten drängten. „Um Gottes Willen!“ rief Theodosius aus und erstarrte. Tennyson wirbelte herum, und da standen sie: Qualm, Heuhaufen und Decker II, Seite an Seite, umringt von den Glei440
chungswesen. „Offenbar haben die Gleichungswesen bemerkt, worauf es ankam“, erklärte Flüsterer. „Eigentlich habe ich nicht mehr damit gerechnet, daß sie es begreifen würden. Nun habt ihr doch hoffentlich den Beweis, den ihr braucht.“ Decker löste sich aus der Gruppe und kam auf den Kardinal zu. „Aber, das ist ja Decker!“ rief Theodosius aus. „Das ist doch völlig unmöglich! Decker ist tot! Ich habe eine Messe für ihn gelesen!“ „Ich werde gleich alles erklären“, versicherte Tennyson. „Dies ist ein anderer Decker, nicht unser Decker. Ich weiß, das klingt alles sehr verwirrend.“ Sie warteten, bis Decker II herangekommen war. Tennyson ging ihm ein paar Schritte entgegen. „Das hier ist der Vatikan, nehme ich an“, sagte Decker. „Stimmt“, antwortete Tennyson. „Ich freue mich, dich zu sehen.“ „Zunächst muß ich dir einmal sagen, daß du uns dort drüben in eine verdammt heikle Lage gebracht hast. Beinahe hättest du uns alle umgebracht.“ „Was?“ „Du hattest es mit einem Wahnsinnigen zu tun“, erklärte Decker. „Diese Bläschen sind so schon schlimm genug, aber wenn sie erst durchdrehen …“ „Aber du warst doch mit ihm im Bunde. Ihr gehört doch zu einer … äh, Triade.“ „Mein Freund, in diesem Hornissennest dort muß man vor allem ans Überleben denken. Wenn man überleben will, darf man nicht wählerisch sein. Dann muß man flexibel und anpassungsfähig sein, sonst ist man verloren.“ „Ich verstehe“, sagte Tennyson. „Aber jetzt muß ich unbedingt mit der Person verhandeln, die hier das eigentliche Sagen hat. Ich nehme an, du bist diese 441
Person nicht.“ „Nein, die bin ich tatsächlich nicht“, antwortete Tennyson. „Hier steht alles unter der Leitung von Seiner Heiligkeit – du siehst sein Bild dort auf der Fassade. Aber ich glaube, du hältst dich am besten an Kardinal Theodosius. Mit ihm kommt man besser zurecht als mit Seiner Heiligkeit. Wenn du mit dem Kardinal redest, sprichst du ihn bitte mit ‚Eure Eminenz’ an. Das ist zwar nicht unbedingt notwendig, aber er hört es gern.“ Tennyson ergriff Decker beim Arm und führte ihn vor Theodosius. „Eure Eminenz“, sagte er, „das hier ist Thomas Decker II. Er möchte mit Euch sprechen.“ „Decker II“, begann der Kardinal, „Sie sind unangemeldet und auf eine höchst merkwürdige Weise hier hereingeplatzt, dennoch bin ich gern bereit, Sie anzuhören.“ „Ich möchte für ein fremdes Wesen sprechen, das von seiner Heimatwelt geflohen ist“, erklärte Decker. „Ich rede von dieser eiförmigen Blase dort drüben, Eure Eminenz. Eigentlich hat sie einen anderen Namen, aber ich nenne sie Qualm.“ „Es scheint mir, daß ich Qualm oder einen seiner Gefährten vor Jahren schon einmal gesehen habe“, sagte Theodosius. „So, und nun halten Sie sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern sagen mir, worauf Sie hinauswollen!“ „Qualm liefert sich ganz Eurer Gnade aus, Eminenz, und bittet Euch um Asyl. Er kann nicht ins Zentrum zurückkehren. Täte er es dennoch, hätte er sein Leben verwirkt. Er ist tief gestürzt, eine demütige, heimatlose Kreatur.“ „Das klingt, als ob er in einer schwierigen Lage wäre“, stellte Theodosius fest. „Das ist er tatsächlich, Eure Eminenz. Er bittet Euch …“ „Genug davon!“ befahl Theodosius. „Sag mir erst einmal, ob der Ort, aus dem er floh, der Himmel ist.“ „Nach meinem Wissen nicht. Ich habe nie gehört, daß ihn 442
jemand so bezeichnet hätte.“ „Habt ihr gemerkt, daß unsere Lauscher versucht haben, euer Zentrum – so nennt ihr es ja wohl – zu besuchen?“ „Wir nennen es ‚Intergalaktisches Forschungszentrum’. Ja, wir haben es bemerkt. Jemand, auf den Tennysons Beschreibung von einem Lauscher paßt, versuchte ins Zentrum einzudringen. Wir haben den Eindringling abgeschreckt.“ Tennyson blickte sich um und stellte fest, daß die Gleichungswesen sich auf der Allee verteilt hatten. Heuhaufen und Qualm standen nun fast allein. Mit eifrigen Hüpfern eilte Platscher zu dem Bläschen hinüber. Als er einen Platz direkt vor Qualm erreicht hatte, begann er in höchstem Tempo auf der Stelle zu hopsen. „O nein!“ schrie Tennyson. „Nicht schon wieder!“ Er warf sich herum und rannte auf die beiden zu. Hinter sich hörte er Deckers eilige Fußtritte und seine Stimme, die ihm zurief: „Laß das sein, du Narr! Bring dich lieber in Sicherheit!“ Tennyson rannte weiter. Decker holte ihn ein und stieß ihn heftig gegen die Schulter. Durch den Stoß geriet Tennyson ins Straucheln. Er versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten und lief schräg zur Seite geneigt noch ein paar Schritte. Endlich prallte er auf das Pflaster und rollte und rutschte über die Allee, um nach ein paar Metern völlig benommen liegenzubleiben. Decker brüllte Qualm in Bläschensprache an: „Nein Qualm! Laß es bleiben! Hast du noch nicht genug? Du bist erledigt, begreif das doch endlich! Du hast nicht die Spur einer Chance!“ Heuhaufen schnauzte die Blase von der anderen Seite an: „Du und dein verfluchtes Haustier! Ihr werdet uns alle ins Verderben stürzen!“ Decker krümmte den Rücken und stürzte in wilder Flucht davon. Platscher flammte auf. Er wurde zu einem Ball aus loderndem Feuer, aber das Feuer war kalt. In einiger Entfernung auf dem Boden liegend, spürte Tennyson, wie die eisigen 443
Flammen seine Haut versengten. Im gleichen Augenblick senkte sich Totenstille über den Vorplatz der Basilika. Die Schreie der Menge waren wie abgeschnitten. Tennyson lag hilflos auf dem Rücken und blickte zur Basilika hinauf. Jetzt sah er einen dunklen Schaft, der aus dem Sichtschirm seiner Heiligkeit herausgewachsen war. Wie ein schwarzer Balken verband er die Allee mit dem Gesicht Seiner Heiligkeit, eine Säule aus finsterster Nacht. Platschers loderndes Feuer erlosch. Im gleichen Augenblick war der dunkle Balken verschwunden. Schlaff und leblos lag Platscher auf dem Pflaster. Heuhaufen war auf die Seite und Qualm vornüber gefallen. Tennyson beobachtete, wie das Blasenwesen sich mühsam wieder aufrichtete und zögernd in Richtung auf Theodosius und den Alten in Bewegung setzte. Decker ging mit sicheren Schritten über die Allee. Er packte Heuhaufen und stellte ihn wieder senkrecht. Platscher begann schwach zu zucken. Decker bückte sich, ergriff einen von Platschers Tentakeln und zog ihn hinter sich her. Tennyson hatte Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. In einer Schulter verspürte er einen stechenden Schmerz, sein rechtes Bein war eigentümlich taub. Er humpelte zu Decker und Heuhaufen hinüber. Decker zeigte mit dem Daumen auf Qualm. „Er weiß einfach nicht, wann er verloren hat“, sagte er. „Er ist einer von diesen Fanatikern, die niemals begreifen, wenn sie erledigt sind. Selbst eben, wo ihm das Wasser bis zum Hals stand, mußte er es noch einmal versuchen. Weißt du, wie sein Motto lautet? Heute die Galaxis, morgen das ganze Universum!“ „Er ist verrückt“, sagte Tennyson. „Das steht fest“, bestätigte Decker. „Aber du bist bei ihm geblieben.“ „Wie ich schon sagte: Es ging ums Überleben.“ Inzwischen war Qualm bei Theodosius angekommen. Er 444
blieb vor ihm liegen, das Gesicht auf dem Pflaster. Decker sagte etwas zu ihm, und Qualm antwortete mit erstickter Stimme. „Als ich vorhin mit Euch sprach, Eminenz, habe ich ihn bereits als demütige Kreatur bezeichnet“, sagte Decker. „Das war offenbar etwas voreilig von mir. Aber nun stimmt es. Jetzt ist das alte Miststück wirklich unterwürfig und demütig. Am besten macht Ihr ihm sofort den Garaus.“ „Wir vernichten kein Leben“, entgegnete der Kardinal. „Für uns ist alles Leben heilig. Aber wir werden ihn an einen sicheren Ort schaffen. Was ist mit diesem Hüpfer?“ „Sperrt ihn zu Qualm. Ich glaube nicht, daß er noch lange leben wird.“ „Und das andere Wesen?“ „Meint Ihr den Heuhaufen, Eure Eminenz?“ „Ja, ich glaube schon.“ „Heuhaufen ist in Ordnung. Harmlos. Ich würde sogar sagen, anständig. Ich verbürge mich für ihn.“ „Also gut. Aber um die anderen beiden werden wir uns kümmern. Lassen Sie mich Ihnen meinen Dank aussprechen.“ „Euren Dank wofür?“ „Dafür, daß Sie uns davon berichtet haben, wie die Lauscher vom Zentrum abgeschreckt wurden.“ Die Menge begann zu murmeln, die Erregung wuchs. Eine Stimme übertönte alle anderen. Seine Heiligkeit sprach. „Damit sind diese Vorgänge abgeschlossen“, sagte er. „Wir werden die neue Lage in allen Einzelheiten überprüfen. Unsere Erkenntnisse werden wir zu gegebener Zeit bekanntmachen.“
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61 Man hatte sich in Tennysons Wohnzimmer vor dem prasselnden Kaminfeuer versammelt. Während Tennyson Ecuyer einen neuen Brandy einschenkte, sagte er zu Theodosius: „Ich komme mir wie ein schlechter Gastgeber vor, wenn ich Euch nie etwas anbieten kann, Eminenz, während die anderen an ihren Sandwiches knabbern und sich ihre Drinks schmecken lassen.“ Der Kardinal beugte sich auf dem Hocker, den Jill aus der Küche hereingetragen hatte, etwas vor. „Mir genügt es, wenn ich in diesem Freundeskreis vor dem anheimelnden Feuer sitzen darf. Erinnern Sie sich noch an den Abend, wo ich vor Ihrer Tür stand, und Sie mich baten, hereinzukommen?“ „Natürlich erinnere ich mich daran“, antwortete Tennyson. „Sie hatten jedoch keine Zeit, da Sie uns nur zu einer Audienz bei Seiner Heiligkeit einladen wollten.“ „Ja, so war es, und seitdem habe ich immer darauf gehofft, daß ich noch einmal eingeladen würde.“ „Aber Ihr braucht doch nicht auf eine Einladung zu warten“, erklärte Jill. „Ihr seid jederzeit willkommen.“ „Nun scheint doch noch alles zu einem guten Ende gekommen zu sein“, stellte Ecuyer fest. „Wir können dort weitermachen, wo wir aufgehört haben, die Lauscher können ihre Arbeit wieder aufnehmen.“ „Seine Heiligkeit hat eine Erklärung angekündigt“, gab Jill zu bedenken. „Vielleicht muß man doch noch befürchten …“ „Nein, keineswegs“, versicherte der Kardinal. „Nach allem, was wir von Decker über das Zentrum gehört haben, besonders nach den Einzelheiten, die er über Marias Besuch berichten konnte, liegt der Fall klar. Seine Heiligkeit hätte auch geringere Beweise akzeptiert als die, welche wir vorlegen konnten. Er war durch die Affäre mit dem Himmel und den Vorschlag, Ma446
ria heiligzusprechen, wesentlich stärker verunsichert, als wir ahnen konnten. Man darf nicht vergessen, daß er im Grunde eben doch ein Computer ist, wenn auch ein äußerst leistungsfähiger. Eigentlich hätte uns die ganze Zeit hindurch klar sein müssen, wo seine Interessen liegen.“ „Aber wenn es hart auf hart gekommen wäre, hätte er sich gegen uns entschieden“, sagte Ecuyer. „Er hätte alles unternommen, um den Vatikan zusammenzuhalten. So hätte jeder von uns gehandelt.“ „Da ist noch eine Sache, die mir Sorgen bereitet“, sagte Ecuyer. „Diese Blasenwesen wissen von uns. Vor Jahrhunderten haben sie Nirgendsend einmal besucht.“ „Ich glaube nicht, daß uns das gefährlich werden kann“, bemerkte Tennyson. „Die Bläschen bringen von ihren Erkundungsflügen jeweils mehr Daten zurück, als sie aufarbeiten können. Jeden Tag kommen neue Daten hinzu, und die Archive quellen allmählich über. Warum sollten sie in ihren Speichern nach uns suchen. Sie können ja nicht wissen, daß wir von einer Welt kommen, die sie vor Jahren schon einmal besucht haben.“ „Doch da sind noch eure Rekonstruktionen, Jill II und Jason II. Die könnten ihnen sagen, daß sie Daten über unsere Welt besitzen, könnten ihnen zeigen, wo wir sind.“ „Ja, das ist tatsächlich eine Gefahr“, bestätigte Theodosius. „Eigentlich ist es ein Wunder, daß uns bisher noch niemand auf die Spur gekommen ist. Wir müssen immer damit rechnen, daß es eines Tages geschieht. Aber in einem solchen Fall sind wir nicht völlig schutzlos. Allerdings reden wir nicht darüber und prahlen auch nicht damit. Ihr habt gesehen, wie Seine Heiligkeit den Platscher ausgelöscht hat. Das war eine dämpfende, eine relativ humane Waffe, aber wir besitzen darüberhinaus auch einige andere …“ „Das habe ich nicht gewußt“, sagte Ecuyer. 447
„Das wissen auch nur wenige“, erwiderte der Kardinal. „Wir werden sie nur bei unerträglichen Provokationen einsetzen. Nach allem, was wir von Decker über die Blasenwesen gehört haben, sind sie eine böse Rasse. Jeder von ihnen hält sich für eine Insel und strebt nur nach Macht.“ „Qualm wollte sich die ganze Galaxis unterwerfen und danach Herrscher über das Universum werden“, sagte Tennyson. „Allerdings war er nicht bei klarem Verstand. Er hatte diesen seltsamen kleinen Gott gefunden und wollte ihn als Geheimwaffe einsetzen.“ „Er hat seinen Trumpf zu früh ausgespielt“, sagte Jill. „Jason, dazu hast du ihn getrieben. Hast du geahnt, was er im Schilde führte?“ „Nein, das war mir nicht klar. Ich wollte nur verhindern, daß er irgendwelche Informationen von uns bekommt. Anscheinend habe ich ihn zu sehr gereizt.“ „Wir hatten Glück, daß es so gekommen ist“, sagte Ecuyer. „Ein kleiner Gott haben Sie gesagt“, bemerkte Theodosius. „Es gibt keine kleinen Götter. Es gibt nur einen Gott, oder ein Prinzip, oder wie man es nennen will, das weiß ich gewiß. Vor kleinen Göttern muß man sich hüten, denn so etwas gibt es nicht.“ „Für Qualm war es ungeheuer wichtig, diesen Gott gefunden zu haben“, sagte Jill. „Das müssen wir uns klarmachen. Er hat ihm eine große Macht zugeschrieben, und das konnte er nur tun, weil das Zentrum durch seine Studien zu der Überzeugung gekommen war, daß es keine spirituellen Werte gibt und alle Glaubensbekenntnisse und Religionen ohne eine wirkliche Grundlage sind.“ „Wie wahr, wie wahr“, murmelte Theodosius. „Es gibt immer Wesen, die so denken. Sie stehen nackt im Angesicht des Universums und rühmen sich dieser Nacktheit. Selbst wenn wir eines Tages den wahren Glauben finden sollten, dann wird es 448
Stimmen geben, die sich dagegen auflehnen. Das sind jene, die sich keiner Disziplin und keinem Verzicht unterwerfen können.“ „Was wird mit Decker II geschehen?“ fragte Ecuyer. „Er und Heuhaufen sind unter Hausarrest gestellt“, antwortete Theodosius. „Sie scheinen ungefährlich zu sein, aber wir wollen sicher gehen. Auf Qualm müssen wir natürlich aufpassen, aber wir werden ihn an einem sicheren Ort unterbringen.“ „Er kann uns ohnehin nicht mehr schaden“, sagte Tennyson. „Inzwischen haben die anderen Bläschen von seinen Plänen erfahren, also kann er nicht mehr ins Zentrum zurückkehren. Es war wirklich ein Geniestreich, daß Flüsterer den Platscher mitgebracht hat. Selbst wenn uns die Gleichungswesen die anderen drei nicht überbracht hätten, hätte der Platscher Qualm irgendwann hierhergelockt, und wir hätten so unseren Beweis bekommen. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Flüsterer den Platscher tatsächlich ungewollt mitgenommen hat. Er behauptet es zwar, aber manchmal werde ich nicht schlau aus ihm.“ „Es war wirklich gut für unsere Sache, daß die Gleichungswesen die anderen drei hergebracht haben“, sagte Ecuyer. „Könnt ihr euch vorstellen, warum sie es getan haben?“ „Wer kann das sagen?“ erwiderte Jill. „Die Gleichungswesen können flinker agieren, als wir es ihnen zugetraut haben. Ich habe so ein Gefühl, ich meine …“ „Na, heraus damit“, ermunterte Ecuyer sie. „Wir werden dich schon nicht darauf festnageln.“ „Nun, ich meine manchmal, sie können in die Zukunft sehen.“ „Das würde mich keineswegs überraschen“, erklärte Tennyson. „Sind sie eigentlich noch in der Nähe?“ „Nein, sie sind fort“, antwortete Jill. „Ich weiß nicht, wohin sie gegangen sind. Doch wenn wir sie noch einmal brauchen, kann Flüsterer sie bestimmt für uns ausfindig machen.“ 449
„Tja, der Vatikan ist endlich wieder der alte“, sagte Theodosius. „Wir alle können unsere Arbeit fortsetzen. Jason, wie wär’s, wenn Sie mir auch einen Schnaps einschenken würden. Dann könnten wir miteinander anstoßen.“ „Aber, Eure Eminenz …“ „Ich werde mir den Schnaps aufs Kinn gießen und so tun, als ob ich trinke.“ Tennyson holte ein Glas aus der Küche und füllte es bis zum Rand mit Scotch. Theodosius ergriff das Glas und stand auf. Er hob den Whisky vor die Brust. „Auf die unter uns, die sich den Glauben bewahrt haben“, sagte er. Sie stießen ihre Gläser gegeneinander. Theodosius legte den Kopf in den Nacken und goß sich den Whisky feierlich über das Kinn.
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Inhalt Prolog ....................................................................................................... 7 1 ............................................................................................................. 13 2 ............................................................................................................. 19 3 ............................................................................................................. 28 4 ............................................................................................................. 38 5 ............................................................................................................. 48 6 ............................................................................................................. 55 7 ............................................................................................................. 58 8 ............................................................................................................. 63 9 ............................................................................................................. 67 10 ........................................................................................................... 79 11 ........................................................................................................... 82 12 ........................................................................................................... 88 13 ........................................................................................................... 98 14 .........................................................................................................103 15 .........................................................................................................109 16 .........................................................................................................115 17 .........................................................................................................144 18 .........................................................................................................150 19 .........................................................................................................153 20 .........................................................................................................159 21 .........................................................................................................162 22 .........................................................................................................170 23 .........................................................................................................181 24 .........................................................................................................186 25 .........................................................................................................192 26 .........................................................................................................196 27 .........................................................................................................202 28 .........................................................................................................210 29 .........................................................................................................219 30 .........................................................................................................228 31 .........................................................................................................236 32 .........................................................................................................240 33 .........................................................................................................247 34 .........................................................................................................254 35 .........................................................................................................260 36 .........................................................................................................265 37 .........................................................................................................271 38 .........................................................................................................277 39 .........................................................................................................286 40 .........................................................................................................289
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