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Gerhard R. Steinhäuser
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Gerhard R. Steinhäuser
Unternehmen Stunde Null 1986 Fischer Taschenbuch Verlag - Band Copyright © - Kurt Desch Verlag --ISBN----
ebook by meTro
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
Über dieses Buch Vier Männer und eine Frau haben das vorbereitete »Unternehmen Stunde Null« in Angriff genommen. Wird es einer »vereinten letzten Menschheit« gelingen, den Kampf ums Dasein wieder aufzunehmen? Am . April * beginnt das große Abenteuer, der Kampf ums Überleben im Chaos einer Apokalypse, die todbringend um die Erde rast. Sechs Menschen fliehen aus dem sterbenden Wien. Werden sie die rettende Burg Spaldenstein erreichen? Wird morgen wieder ein Erdentag sein? Während Kontinente zu wandern beginnen, andere versinken, während tödliche Strahlen der Sonne und Kälteeinbrüche aus dem Kosmos Fauna und Flora zerstören oder mutieren, erwartet die sechs auf ihrer kleinen Insel im Meer der Vernichtung ein modernes Robinsonschicksal ….
Über den Autor Gerhard R. Steinhäuser, in Brünn/CSSR geboren, besuchte das Gymnasium, danach Studium der Philosophie und Naturwissenschaen. Ausbildung als Redakteur bis . Anschließend freier Journalist und Mitarbeiter bei österreichischen Tageszeitungen, heute wohnha in Wien. Seine wichtigsten Veröffentlichungen: »Heimkehr zu den Göttern‹ (), ›Das Geheimnis der sterbenden Sterne‹ (), ›Jesus Christus — Erbe der Astronauten‹ ().
* Der . April ist auch der Tag des Atomunfalls in Tschernobyl. Erstaunlich, dass der Autor exakt dieses Datum im Jahr als Termin für seine apokalyptische Vision wählte (Anm. d. Scanners).
Gerhard R. Steinhäuser
Unternehmen Stunde Null 1986 Leben nach dem Jüngsten Tag Fischer Taschenbuch Verlag
Fischer Taschenbuch Verlag .-. Tausend: Juli .-. Tausend: November Ungekürzte Ausgabe Umschlagtypografie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Umschlagillustration: Eddie Jones Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Kurt Desch Verlages GmbH, München © Kurt Desch Verlag GmbH, München Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany --ISBN----
Inhalt Die Insel der letzten Zuflucht .................................................................................... Wettlauf mit dem Weltuntergang ........................................................................... Wenn das Magnetfeld zusammenbricht................................................................. Ein Mensch kommt aus dem Nichts........................................................................ Ein totes Mammut und ein Luballon ................................................................... „Tod – Tod!“ schrien die Wahnsinnigen ................................................................ Robinsons lernen das Überleben ............................................................................ Ein Horrorfilm wird Wirklichkeit.......................................................................... Doch niemand wollte die Zeichen sehen.............................................................. Pierre Blanchards Flug............................................................................................. Requiem für einen Kontinent................................................................................. Nylon, Schnaps und tote Mädchen........................................................................ Ein leerer Zug steht auf dem Geleise ..................................................................... Das Geheimnis der Wirbeltrichter ........................................................................ Stützpunkt „Cato I“ gibt Antwort ......................................................................... Vulkane, Webstühle und eine neue Geographie................................................. Aktion Ultima ule ist angelaufen ...................................................................... Kerosin für einen Start … ...................................................................................... Da, wo einst die Alpen standen.............................................................................. Ein Computer schaltet auf Selbstmord ................................................................. „Krokodile“ retten Spaldenstein ........................................................................... Verzweiflungsflug an die Donau ........................................................................... Auf der Spur der Nibelungen.................................................................................. Ein Dampfschiff strandet in Camuntum............................................................. Morituri te salutant –.............................................................................................. Und auf der Wiese saß das Monstrum................................................................. Der König der letzten Zigeuner............................................................................. Da schoß ich auf die Menschenfresser.................................................................. Flammen über der Stadt der Toten ........................................................................ Die Rückkehr der „Franz Joseph“......................................................................... Abschied am Leopoldsberg..................................................................................... Bilanz einer verlorenen Epoche.............................................................................. Dort, wo einst der Nordpol lag............................................................................... Zwei Gänse und ein Hoffnungsschimmer........................................................... Besuch aus der anderen Zeit ................................................................................... Fracht für Podkamennaja Tunguska .................................................................... Die letzten Tage von Paris ....................................................................................... Programm für eine neue Welt ............................................................................... Alles, was übrig bleibt ….........................................................................................
Die Hauptpersonen der Geschichte Gruppe Spaldenstein: G. Steinhäuser, seine Frau Trude und seine Söhne Alexander und Johannes; Dr. Jelinek; Franzi Neuner; Ferry Süßbauer; der Hueber-Bauer mit Frau und Tochter Maria; Pierre Blanchard; Jaroslaw. Die Frauen von Nova-Ves: Vera, Vlasta, Jovanka und Olga. Gruppe : Prof. Dürrhuber; Col. McIntosh; Dr. Irving; Prof. Baker-Bull; Prof. Tschi-Pei-feng; Prof. Wolkoff; Prof. Schelest; Dr. de la Rose und La Fayette. Gruppe der Zigeuner: Janos Kedar, Grischa, Grisi und die Tsingara-Großmutter. Gruppe Monitor »Potemkin«: Kapitän Tscherwenkow; Dr. Moraj; Dmitrijewitsch; Irina Semjonskaja. Flugzeugbesatzung von »Super-Herkules« der Gruppe »Eternel Retour« auf dem Weg nach Sibirien: Frangois und Claude.
Zeit der Handlung: / – bei einer Analyse der heutigen Weltlage könnte es aber auch einige Jahre früher sein. Die Handlung ist frei erfunden. Die im Text angeführten Zitate und Daten entsprechen dem heutigen Stand der Wissenschaen.
»Wenn ich die derzeitige Situation auf der Erde betrachte, drängt sich mir der Gedanke auf, daß die Menschheit in bezug auf die biologischen Vorgänge auf diesem Planeten viel Ähnlichkeit mit einer Krebserkrankung hat: sie wuchert hemmungslos, bildet überall Tochtergeschwüre (Metastasen) und vergiet den gesamten Organismus. In einem solchen Fall würde jeder Human-Arzt zu einer Radikaloperation raten. Falls man der ›Natur‹ so etwas wie ein Gesetz oder Vernun zubilligen will (was angesichts ihrer Gesamtentwicklung – der Evolution – nur logisch wäre), wäre es also für die Natur an der Zeit, zu einer solchen Operation zu schreiten: zur Ausmerzung der sie tödlich bedrohenden Krankheit. Das Messer würde dann zwangsläufig nicht nur die erkrankten Teile, sondern auch viele gesunde mitnehmen. Es wäre eine Operation auf Leben und Tod …« (Notiz des Verfassers aus dem Jahre )
Die Insel der letzten Zuflucht Burg Spaldenstein, . September Gestern hätte ich Geburtstag gehabt – den siebenundfünfzigsten. Aber wer rechnet noch so; nach unserer neuen Zeitrechnung bin ich (wie die anderen hier auch) erst ein Jahr, fünf Monate und vier Tage alt. Am . April vorigen Jahres hat es begonnen, als wir mit drei Wagen und sieben Menschen losfuhren. Hierher in die Wälder, zu unserer Burg. Wenn ich mich recht erinnere, war es auch ein . April – im Jahre –, als es im Osten Österreichs das erste starke Erdbeben seit Menschengedenken gab. An diesem Tag ist in mir der Plan entstanden, dem wir später den Namen »Unternehmen Stunde Null« gaben. Ungefähr drei Jahre danach habe ich dann mit meinem letzten Geld die Burg gekau. Meine Frau war nicht gerade begeistert, ein Grundstück bei Wien wäre ihr lieber gewesen, aber die Gelegenheit war günstig. Der dicke Viehhändler, der keineswegs, wie ihm der Vorbesitzer weisgemacht, mit der Ruine auch den Titel des Freiherrn von Spaldenstein erworben hatte (das krebsrote Gesicht, das er bekam, als er mir das heimlich beichtete, werde ich nie vergessen), war heilfroh, den nutzlosen »Steinerhaufen«, wie er ihn nannte, wieder loszuwerden. Solche Trümmer waren in den Jahren modischer Bungalows nicht sonderlich beliebt. Jetzt
gibt es fast nur noch »Steinerhaufen«, und Spaldenstein düre einer der gemütlichsten und wohnlichsten sein. Von außen sieht man zwar nur verwitterte Mauern und leere Fensterhöhlen und, wenn man durchs vordere Tor kommt, überwucherte Schutthalden – aber dann kommt das innere Tor, und das ist fest und gut verschlossen. Für einen möglicherweise herumstreunenden Plünderer bietet sich die Burg sicher nicht als lohnendes Objekt an, und wenn er allzu neugierig sein sollte, dann gibt es in der inneren Wehrmauer noch ein paar Schießscharten, durch die man nicht nur eine alte Armbrust aus dem Rittersaal, sondern auch den Lauf einer Maschinenpistole jüngeren Datums stecken kann. Darüber ragt der Turm, der Bergfried. Er ist so massiv, daß er alle Beben, die es auch hier gab, überstanden hat. Nicht ein Riß hat sich gebildet. Was waren das früher für Maurer und Baumeister! Wie sorgsam wählten sie aber auch ihre Bauplätze aus. Die dicken Eichenbohlen der Treppe haben ebenfalls standgehalten; das kleine Fenster oben im Turm ist frisch verglast und selbst aus der Nähe nicht erkennbar. Dahinter steht der schwere Tisch, an dem ich sitze, und auf ihm das Funkgerät, dessen Antenne am Turmrand als dürres Bäumchen getarnt ist. Niemand soll merken, daß es hier Menschen, Vorräte und Waffen gibt – ja sogar noch meine gute alte Schreibmaschine … Vor zwei Tagen hat es zum erstenmal seit Wochen
wieder ausgiebig geregnet. Der Bach am Felsen, durch den ein langer Riß geht (deshalb der Name SpaldenStein), führt wieder Wasser und treibt das Schaufelrad des versteckten Generators und damit die Funkanlage, die unsere letzte Verbindung zur »großen weiten Welt« – so hieß es doch einmal in einer Zigaretten-Reklame? – darstellt. Im übrigen beleuchten wir unsere »Gemächer« im Parterre sonst mit Öllampen oder Kerzen – es ist gut, wenn sich meine Söhne beizeiten an diese primitive Technik gewöhnen. Der Spannungsmesser am Apparat (ob ihn das österreichische Bundesheer inzwischen vermißt hat?) klettert über die Minimal-Marke; ich stülpe mir die Kopfhörer auf und schalte auf Empfang. Aus Gewohnheit, und weil es wieder einmal Strom gibt. Was soll es denn schon Besonderes zu hören geben? Aber da ist etwas: Ich drehe an der Feineinstellung, und jetzt kommt der Sender schwach herein: »… hier ist OXKW Freilassing … ich rufe alle, die mich hören können … ich befinde mich neben dem Krankenhaus. Wir haben siebzehn Typhuskranke und keine Medikamente, vielleicht kann jemand helfen … Die Autobahn Richtung Salzburg scheint noch frei zu sein, der Ort Freilassing ist zu fünfundachtzig Prozent zerstört, es gibt ungefähr neunzig Überlebende, vermutlich aber alle strahlengeschädigt … Die Strahlungsdosis beträgt derzeit … Freilassing OXKW, ich rufe alle …«
Ich habe automatisch mitnotiert. Eine Notiz neben vielen anderen ähnlichen, ein sinnloses Notizbuch des Schreckens, denn wir können nicht helfen, selbst wenn wir wollten und die Medikamente hätten. Zwischen uns und dem Salzburger Land, in dem ja auch Freilassing jenseits der früheren deutschen Grenze liegt, erstreckt sich von Norden nach Süden eine riesige Lößwüste. Vom Abbruch der Berge des Waldviertels bis über die Gegend hinaus, wo einst Linz war. Wir müßten Kamele haben, um da durchzukommen. Woher aber sollten wir Kamele nehmen? Daß es so ist, haben meine beiden Söhne Johannes und Alexander und Dr. Jelinek erst kürzlich festgestellt, als sie mit dem Range-Rover vorzustoßen versuchten und trotz Vierradantrieb und PS steckenblieben. Sie fanden nur totes Gebiet. Schade um den Sprit. Löß, Lehm, Sand – ganze Höhenzüge davon, die der SuperSturm (ich finde keinen anderen Ausdruck für dieses Ereignis) im Sommer aus Sibirien oder der Sahara hierher getragen hat. Binnen Stunden. Geologisch unmöglich, hätte man früher gesagt. Aber dieser Sturm war eine Realität. Vor einigen zehntausend Jahren soll es ähnlich gewesen sein; damals, als die Löß- und Lehmhügel am Rand der Donau entstanden, in die man später die herrlichen Weinkeller grub. Nun, jetzt ist es wieder soweit – aber wird diesmal jemand Weinstöcke auf der neuen Erde pflanzen und Keller graben …? Wein – drei Fässer liegen noch im untersten Turm
verlies gut und kühl. Als Erinnerung sozusagen und als Medizin für besondere Fälle (ich bin öer so ein Fall). An Bier wage ich gar nicht zu denken, und einen gräßlich riechenden Schnaps habe ich mit einem zusammengestöpselten Destillierapparat im Winter gebraut, da waren offensichtlich Vor- und Nachlauf und zu viele ätherische Fuselöle mit hineingeraten. Im »Winter« – das darf man allerdings nicht mehr so wörtlich, sondern nur noch kalendarisch nehmen, denn die Jahreszeiten gehen kunterbunt durcheinander. Bald leiden wir unter meterhohem Schnee und können nur noch durch den halb eingefallenen Geheimgang der Burg hinüber zum Hueber-Bauer, neben dessen Kuhstall er endet; bald sind wir von Wasser eingeschlossen, und dann wieder dörrt plötzlich einsetzende, wochenlange Hitze die Wälder aus, so daß fast jeder der ungezählten Blitzschläge zündet. Und Gewitter gibt es mehr als genug. Ohne die wolkenbruchartigen Regen wäre der Waldbestand längst vernichtet. Gerade zieht wieder ein Gewitter herauf. Der einsame Rufer aus Freilassing ist still geworden, ich schalte ab auf Erdung. Das hat ja alles keinen Sinn. Wir wissen nicht einmal, ob es noch Überreste von Wien gibt, oder von München, Berlin oder anderen Städten. Das alles sind nur noch Namen. Der Funkempfang ist durch die dauernden magnetischen Stürme fast ununterbrochen gestört. Mit einem primitiven Sextanten, gebaut nach dem »Lehrbuch für Physik für die höheren Schulen Öster
reichs«, Jahrgang , habe ich unlängst einmal versucht, unsere »Position« zu bestimmen, so wie es die alten Segelschiapitäne taten. Dabei kam ich – ich kann mich natürlich irren – auf ganz verrückte Werte. Wenn sie stimmen sollten, dann müßten wir uns samt unserer Burg und wahrscheinlich der ganzen alten Landmasse, auf der sie steht, gute einhundertfünfzig Kilometer nördlich und zwei- bis dreihundert Kilometer westlich bewegt haben. Zumindest Teile der Kontinente scheinen zu wandern und zu treiben; Alfred Wegener selig, der einst die Kontinentalverschiebungs-eorie entwickelte, hätte seine helle Freude daran. Wie sich das alles wieder einmal einpendeln und ordnen wird – wer kann das sagen? Welche Lebewesen werden dann die veränderte Erde bevölkern und beherrschen? Menschliche Mutanten, oder …? Ich erinnere mich eines Fernsehvortrages, den ich vor vielen Jahren hörte und sah. Da hat jemand erklärt, die Reptilien, also Schlangen, Echsen usw., könnten als einzige höhere Organismen harte Strahlungen auf längere Dauer aushalten – und deshalb hätten sie auch bisher kosmische Katastrophen wiederholt überlebt, wenn der magnetische Schutzmantel der Erde zeitweise zerfiel, wie eben jetzt wieder, und die harten Strahlungen der Sonne und aus dem Kosmos weltweite Veränderungen der Fauna und Flora auslösten. Diesbezüglich bin ich übrigens erstaunt: entweder hat uns der Zufall maßlos begünstigt, oder der Unter
grund aus Urgestein und vor allem die großen, tiefen Wälder wirken so stark abschirmend, wie man das früher nicht gewußt hat. Jedenfalls ist die Strahlung zur Zeit bei uns nahezu wieder normal. Das war nicht immer so; im Vorjahr, als der Magnetschirm der Erde endgültig zusammengebrochen war und unvorstellbare Strahlungsstürme die letzte, schützende Hülle der Atmosphäre aufrissen und durchbrachen, da hockten wir tage-, ja wochenlang unter den meterdicken Mauern und Felswänden im Keller und warteten – auf das Ende der tobenden Gewalten oder unser eigenes. Wer hinter einfachen Ziegel- oder Betonwänden saß, war verloren. Mein Sohn Johannes und der junge Neuner, den wir seinerzeit auf der Flucht aufgelesen hatten (er ist ein Klassenkamerad von Johannes), diese beiden Vorzugsschüler in Mathematik und Physik, hatten schon früher, auf meine düsteren Prophezeiungen hin, in Wien irgendein angebliches Ionisations-Abschirmgerät zusammengebastelt, das (nach ihren Behauptungen) in einem kleinen Bereich und mit relativ geringer Energie stärker strahlungsabweisend wirken sollte als Blei. Das etwas poppig-futuristisch aussehende Gerät, gespeist von vier hintereinander geschalteten Autobatterien, surrte und summte jedenfalls ganz vertrauenerweckend – und nachträglich behaupteten die beiden Abiturienten, sie hätten uns damit das Leben gerettet.
Ob das stimmt, kann ich nicht sagen, ich bin ein Laie. Mir leuchten ihre Erklärungen insofern ein, als früher auch die Raumkapseln landender Astronauten bei ihrem Eintritt in die Lühülle von einem Mantel ionisierter Moleküle umgeben wurden, die jeden Kontakt mit der Umwelt unterbrachen. Auf einem ähnlichen Prinzip sollte das Ding der jungen Leute auch funktionieren – wer weiß, vielleicht ist das Teil einer Technik von morgen? Tatsache ist, daß wir alle von Strahlungsschäden verschont blieben. Von den fünf Kühen des Hueber-Bauern sind übrigens jene drei, die auf dem dicken Stroh des Stalles bzw. unter dem Heu der Tenne standen, völlig gesund, die beiden, die auf der offenen Weide waren, aber so schwer geschädigt, daß wir weder ihre Milch noch ihr Fleisch werden verwenden können. Und: Hirsche, Rehe und Hasen, die während der Strahlungseinbrüche im dichten Wald waren, zeigen auch vorerst keine Veränderungen. Seltsam – vielleicht haben die alten Bauern doch recht gehabt, die behaupteten, daß Stroh und Reisig gegen »böse Geister« abwehrend wirken? Nun, die schlimmste Zeit scheint vorbei zu sein. Der Geigerzähler tickt nur noch ab und zu stärker, vermutlich dann, wenn unsichtbare Atomwolken aus China oder dem Pazifik noch vorüberziehen. Wie viele Millionen Menschen hat es dort vor dem letzten Wahnsinnskrieg gegeben? Vierzehnhundert oder sechzehnhundert? Sie sind nicht mehr. Wie ich
verstümmelten Funksprüchen von Amateuren aus Frankreich entnehmen konnte (die ihre Informationen wieder von Gott weiß wem erhielten), düre Indien zum Teil von der Landkarte verschwunden sein. Daß die Küstengebiete von Westeuropa langsam im höher steigenden Meer versinken, habe ich auch gehört. Da dort ohnehin kaum noch jemand lebt, ist das auch gleichgültig. Südamerika soll sich an der Westküste in eine einzige Kette von Vulkanen verwandelt haben – ein Zeichen dafür, daß dieser Kontinent ebenfalls wieder in Bewegung geraten ist. »Panta rhei« – alles fließt –, hat der griechische Philosoph Heraklit, den sie wegen seiner Ideen »den Dunklen« nannten, einmal gesagt. Damit behielt er jedenfalls recht. Eines steht fest: das Ernährungs- und Bevölkerungsproblem ist auch ohne UNO-Konferenzen nunmehr gelöst. Keiner hungert mehr. Die Hungernden sind tot. Wen und was werde ich hinterlassen, wenn ich sterbe? Zwei Söhne, jetzt achtzehn und einundzwanzig Jahre alt, deren einer vielleicht für immer ledig bleiben wird, weil es weit und breit kein jüngeres weibliches Wesen mehr zu geben scheint. Die Maria vom HueberBauer haben wir im Frühjahr mit meinem Älteren, dem Alexander, in der kleinen Burgkapelle getraut. Und da ist noch meine Frau, Gertrude, geborene Stemmer, die mich später begraben oder verbrennen wird; da ist der alte Hueber mit seiner Frau, unser Dr.
Jelinek, vormals praktischer Arzt in Wien-Brigittenau (Sprechstunden Montag-Freitag von Uhr bis Uhr ), und der junge Neuner, dessen Vater die längst fällige Verleihung des Hofrat-Titels nun doch nicht mehr erlebt hat. Er und Johannes werden sich, wenn sie eine Frau haben wollen, eines Tages aufmachen müssen. Sie werden dann drei Pferde haben – die noch rüstigen Wallache vom Hueber-Bauer (die Autos werden längst ohne Batterie und verrostet sein) – und Bogen, Pfeile und Vorräte für einige Tage. Ein Gewehr, zwei Pistolen und eine MP mit hinreichend Munition. Das müßte genügen. Dr. Jelinek, obwohl er erst Jahre alt ist, will nicht mitgehen. Seit er so gut wie nichts zu tun hat, außer uns ab und zu einen Zahn zu behandeln (man merkt, daß er das nie richtig gelernt hat), ist er ein Snob geworden und erklärt, er habe nicht die Absicht, eine Generation neuer Neandertaler zu begründen. Wir werden dann also zwei Reitern und drei Pferden nachwinken – und hoffen und warten, daß sie zurückkehren. Mit Frauen … Nicht anders, als es die Menschen vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden taten, wenn einige von ihnen ins Unbekannte und Ungewisse aurachen. Und alles wird wieder von vorne beginnen … Es könnte sein, daß jemand in dreißig oder fünfzig oder hundert Jahren diese unterdessen leicht vergilbten
Blätter in die Hand bekommt (und dann noch lesen kann). Er könnte dann den Eindruck gewinnen, daß ich selbst snobistisch-zynisch-gemütlich – wie es in den siebziger Jahren vielfach Mode war – gedacht und geschrieben hätte. Dazu, und diesem eventuellen Leser, möchte ich folgendes erklären: Es gibt eine Grenze des Grauens, die keine Steigerung mehr zuläßt. Wer sie in vollem Bewußtsein erlebt und überschritten hat, kehrt entweder krank oder verrückt wieder – oder mit einem Lächeln, das nicht mehr nach gewohnten Maßstäben zu messen ist. Es ist weder irre noch arrogant, noch zynisch – es ist mein Lächeln. Das Gewitter hat sich nun doch hinter die nördlichen Waldberge verzogen; die Wolken reißen auf, geben das Bild einer sinkenden Sonne frei, die in einem Gemisch von Grün, Gelb und Blau irisiert. Natürlich hat sich die Sonne selbst nicht verändert, und ihre weiterhin starke Aktivität ist im Sinne ihrer Periodik nahezu normal; was sich verändert hat, ist die Atmosphäre und damit die Lichtbrechung. Man wird sich daran gewöhnen, man gewöhnt sich an vieles. Wenn ich daran denke, daß ich Spaldenstein erst vor etwas mehr als elf Jahren, im Grundbuch festgelegt, erworben habe … Damals war – nein: schien – die Welt wenigstens als Planet noch heil, und nicht einmal die ärgsten Pessimisten hätten geglaubt, daß alles so schnell gehen würde. Selbst sie unterlagen einem Irrtum des
Denkens, den man nachträglich leicht festhalten kann: ein System, gleich welcher Art, bricht nicht erst dann zusammen, wenn es auf dem Nullpunkt angelangt ist, sondern schon viel früher. Ein Mensch erstickt nicht erst dann, wenn es kein einziges Sauerstoffmolekül mehr zu atmen gibt, sondern bereits dann, wenn ein großer Bruchteil der benötigten Menge fehlt. Die Ozeane sind nicht, wie es Jacques Cousteau und andere Forscher seit / voraussagten, zwanzig Jahre später gestorben, sondern viele Jahre früher, als die Gimenge eine bestimmte Grenze überschritt. Es geschah überhaupt manches, das die Naturwissenschaler überrascht hätte (zum Teil haben sie es ja noch erlebt). Heute könnte ich anhand meiner Unterlagen ein Buch vom Untergang schreiben, das aber letztlich nur für die Untergegangenen von Interesse wäre. Alles, was ich seit nun gut siebzehn Jahren an diesbezüglichen Aufzeichnungen, Notizen, Ausschnitten, Tonbändern usw. gesammelt habe, liegt in einem Stahlblechkasten verwahrt, den meine Söhne »Die Bundeslade« getau haben, denn ebenso eifersüchtig, wie einst die Juden ihre Gesetzeslade, habe ich diese Kiste gehütet. Sie war auch das erste, was ich ins Auto packte, als wir die Flucht vorbereiteten. Nicht der Eitelkeit wegen – wem gegenüber sollte ich jetzt schon Beweise anführen? –, sondern weil alle diese Vorgänge vielleicht doch
später einmal den Nachgeborenen wichtige Hinweise geben können. Da sind zum Beispiel die Vorgänge im Magnetfeld der Erde, das es momentan in der alten Form nicht mehr gibt. Bis hatte es unseren Planeten wie ein Schutzmantel gegen die harte Strahlung der Sonne und aus dem Weltraum abgeschirmt und das Leben auf ihm bewahrt. Daß das nicht immer so war, stellten schon in den sechziger Jahren holländische und andere Forscher fest, und ich las erstmals in dem Buch »Kinder des Weltalls« von Hoimar von Ditfurth darüber. Für mich wurden die Ereignisse alarmierend, als ich in einem der Kosmos-Hee, dem deutschen Naturwissenschas-Magazin, eine relativ bescheidene Notiz las, daß die erdmagnetischen Observatorien von Wingst bei Cuxhaven und Fürstenfeldbruck bei München Messungen amerikanischer Gelehrter bestätigt hätten, wonach die Intensität des irdischen Magnetfeldes seit Beginn der Messungen um sich um fünfzehn Prozent verringert habe und weiterhin abnehme. Das bedeutete innerhalb dieses Nichts an erdgeschichtlicher Zeit unerhört viel. Seither verfolgte ich die Messungen, ich legte Tabellen an, verglich diese Zahlen mit der Zahl und Intensität der Erdbeben. bestätigte mir die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien, daß die Zahl und Stärke der Beben in Österreich dreimal so hoch gewesen war wie in den Jahren zuvor, und als ab das Magnetfeld sich neuerdings
prozentual rasch abschwächte, zweifelte ich kaum noch daran, daß der Countdown zum nächsten Polsprung, zum nächsten Weltuntergang begonnen hatte. Ich habe diese Einsichten ja keineswegs für mich behalten, weiß Gott nicht! Ich schrieb darüber, sprach darüber in Diskussionen: der größte Effekt, den ich erreichte, war ein zustimmendes Nicken – schließlich gab ich es auf. Ich fand mich mit den alten Worten ab: Wen die Götter strafen wollen, den schlagen sie zuvor mit Blindheit. Ein schwacher Trost, daß es nicht nur mir so erging, sondern prominenteren, wie Professor Dr. Grzimek in Deutschland, Dr. Koenig in Österreich, Jacques Cousteau in Frankreich sowie englischen, skandinavischen und sonstigen Fachleuten. Sie alle beschworen und warnten: sie predigten tauben Ohren wie einst die Kassandra in Troja. Hätte man noch etwas verhindern können? Ich glaube, ich fürchte ja. Ich »fürchte« für jene, für das Gewissen jener, die nicht hören und sehen wollten, denn zumindest eines wäre möglich gewesen: die äußerste Anstrengung, möglichst viele Menschen zu retten, das Menschenmögliche, um den Anteil der Menschheit am Untergang unserer Welt zu verringern. Nun, die Dinge nahmen ihren Lauf, man lebte weiter wie bisher. Industrie und Wirtscha wurden »entwikkelt«, wie es so schön hieß – sie expandierten ohne Rücksicht auf Verluste und auf die Natur –, und manchmal beschleicht mich das Gefühl, als wäre das alles
nicht ganz ohne Einfluß auf die Katastrophe geblieben, die wir erleben mußten und müssen – wie, das weiß auch ich nicht, aber die seltsame Parallele zwischen der Abnahme des Magnetfeldes und der wachsenden industriellen Expansion gibt mir zu denken. Ja, und dann geschah es – früher als zu erwarten gewesen wäre: war das Magnetfeld der Erde bereits um Prozent schwächer, schon um Prozent, und erfolgte der Kollaps. Bei etwa Prozent. Da stand der Dynamo der Erde von einem Tag zum anderen still, brach ihr Schutzfeld zusammen. Ein Motor, ein Auto bremst aus voller Fahrt zunächst langsam ab, aber dann immer schneller und zuletzt ruckartig. Die kleine Lampe an der unverputzten Turmwand beginnt zu flackern, obwohl sie theoretisch noch genug Spannung hätte – auch da ist eben eine Minimalgrenze erreicht. Vielleicht klemmt auch das Wasserrad des Generators wieder, oder der Bach hat nicht mehr genug Kra. Ich werde hinuntergehen zu den anderen in den wenigstens vom flackernden Kaminfeuer erhellten Saal des früheren »Palas«, in dem wir als seltsame Ritter des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts vornehmlich hausen und wohnen.
Wettlauf mit dem Weltuntergang Burg Spaldenstein, . Oktober Heute war ein großer Tag. Alexander, mein Älterer, frischgebackener Ehemann, ist einundzwanzig Jahre alt geworden. Nach einem Gesetz, das nicht mehr existent ist, wäre er somit großjährig. Wichtiger erscheint mir allerdings der Umstand, daß Alexander gerade heute sein erstes Kaninchen mit dem Pfeil erlegt hat. Mit dem schweren Komposit-Bogen tri er beinahe jedes Ziel, und das allein ist jetzt entscheidend für ihn und seine spätere Familie. Bei der Gemeinde Wien, wo er bis zuletzt Dienst tat, wäre er vielleicht ein mittelmäßiger Beamter geworden, jetzt wird er in den Erinnerungen seiner Nachfahren vielleicht einmal als der »große Jäger« weiterleben. Nicht nur die Kontinente, auch die Maßstäbe haben sich verschoben. Das Kaninchen (zuvor mit dem Geigerzähler untersucht) war ein solennes Festmahl. Meine Frau, die früher nur auf ihre Stimme bedacht war, beginnt, noch gut kochen zu lernen. Wie hieß es in den alten Lesebüchern: »Unsere Vorfahren ernährten sich vor allem von der Jagd, dem Ackerbau und der Viehzucht.« So weit sind wir auch wieder. In der versteckten Waldschneise habe ich einen Kartoffelacker angelegt. Wenn wir Glück haben, bringt er
Früchte, die nicht radioaktiv sind. Einmal müssen wir von den Vorräten unabhängig werden, wenn sie auch noch lange Zeit ausreichen würden. Niemand wird uns je wieder Konserven verkaufen, und auch die Schachtel mit den Farbbändern für meine Schreibmaschine wird einmal leer sein. Dann werde ich eben mit einer Kielfeder weiterschreiben, solange ich will und kann. Bei aller Voraussicht haben wir doch nicht an alles gedacht. Zum Beispiel nicht daran, daß es niemanden gibt, der einen Farbfilm entwickeln und kopieren könnte. Was ich seit dem . April in Farbe fotografiert habe, kann ich wegwerfen. Schade darum. Denn was sich jetzt an »Color-Effekten« am Himmel abspielt, ist unbeschreiblich. Fluoreszierende Wolken in den bizarrsten Formen rasen dahin, Nordlichter ziehen gigantische Vorhänge wallender Lichtschleier hinter sich her, und immer wieder sieht man jene hellen trichterförmigen Wirbel, die noch vor zwei Jahrzehnten als »UFOs« mißverstanden wurden. Wie hat man damals darum gestritten und debattiert! Vor allem, nachdem am . März der Chefpilot der AUA (Austrian Airlines) Alexander Raab und sein deutscher Luhansa-Kollege Brouwer solche Erscheinungen von ihren Flugzeugen aus gesehen und genau beschrieben hatten. Die UFO-Jäger jubelten – die Meteorologen erklärten kühl und bestimmt (wenn auch falsch], daß es sich um Teile eines Meteors gehandelt habe. Keiner von beiden hatte recht. Weder waren es die »kleinen grünen
Männlein vom Mars«, die landen wollten, noch Relikte eines Himmelskörpers. Was es wirklich war – nämlich Vorboten überdimensionaler Energie-Einbrüche in die Atmosphäre, wie wir sie seither, häufiger als uns lieb ist, erlebt haben –, habe ich damals als einer der ersten vermutet. Aber davon wollte niemand etwas wissen, und schon gar niemand wollte es drucken. Jetzt wird es erst recht keiner mehr tun; die Verleger sind wohl mit den meisten anderen Lebewesen für lange Zeit ausgestorben. Nein – es ist unterdessen keiner jener »Götter« gelandet, die früher einmal unseren Planeten heimgesucht haben sollen (und vielleicht auch heimgesucht haben), und auch der Heiland der Christenheit ist nicht strahlend und triumphierend auf den Wolken erschienen, wie es so manche erhoen. Als in Europa wie anderswo die Städte und Dome zusammenbrachen, flehte der letzte Papst vergebens seinen Gott um Beistand an. Allein im Stephansdom zu Wien düren es fünfzehnhundert gewesen sein, die zu einem Gottesdienst versammelt waren, als der mächtige gotische Turm und die Mauern des »Steffel« einstürzten, die selbst der UBahn-Bau nicht erschüttert hatte. Die Staubwolke, die sich erhob, war höher als die der anderen einstürzenden Gebäude. Man sah sie wie ein Fanal selbst bei uns im XX. Bezirk. Sie war auch das letzte, was wir von Wien, der Stadt, die einst den Türken getrotzt hatte, bewußt wahrnahmen. Denn in die
sem Augenblick – es waren bestimmt noch keine drei Minuten nach dem Einsetzen des Bebens vergangen – traten wir die Gaspedale unserer Wagen bis zum Anschlag durch und rasten, zwischen im Zeitlupentempo einfallenden Häusermauern, parkenden und brennenden Fahrzeugen kurvend, über die wie in schwerem Seegang schlingernde Nordbrücke zur Stadt hinaus. Man sagt, Sterbende erlebten ihr ganzes bisheriges Dasein nochmals wie in einem Zeitraffer – nun, ich erlebe als Beinahe-Gestorbener die letzten Stunden und Minuten in Wien und unsere Flucht auch immer wieder wie in einem Stummfilm … Rückblende auf den . April , Uhr Wir sitzen in Wien in unserer Wohnung beim Mittagessen. Meine Frau und ich, die beiden Buben und unser Hausarzt und Freund Dr. Jelinek. Diese Gruppierung hat sich seit längerem so eingebürgert und gehört – ohne besonderen Aufwand – mit zu unserem privaten Alarmplan. Denn so friedlich und gemütlich wie früher ist es längst nicht mehr, auch wenn der Fernostkrieg uns noch nicht direkt berührt, abgesehen von den rapiden Verteuerungen und den Rationierungen von Treibstoff, Heizöl und Lebensmitteln. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: als vor zehn oder zwölf Tagen bekannt wurde, daß das »Rote Reich der Söhne Maos« (wie China seit acht Jahren offiziell hieß) durch einen
»bedauerlichen Irrtum« der sowjetischen Führung mit Orbital- und Mehrfach-Sprengköpfen bombardiert und praktisch ausradiert worden sei, gab es in der restlichen Welt mehr Gleichgültigkeit als empörte Reaktionen. Diese Welt hatte mehr als genug mit sich selbst zu tun. In Afrika schlachteten die beiden schwarzen Militärblöcke einander und die letzten Weißen rücksichtslos ab; Südamerika befand sich mitten in einer großen Hunger-Revolution, und in den USA tobte der zweite Nord-Süd-Krieg zwischen weißen und schwarzen Fanatikern und den Mafia-Organisationen dazwischen. Europa war demgegenüber eine Insel friedlicher Stagnation – das aber nicht aus gutem Willen oder eigenem Antrieb, sondern weil sich hier vor allem das bereits / erfolgte totale biologische Absterben des Mittelmeers und der Ostsee mit einer enormen Verschlechterung der Luqualität bemerkbar gemacht hatte. Im Ruhrgebiet hatte man viele Industrien stillegen und ganze Städte, wie Gelsenkirchen und Bochum, räumen müssen. In Belgien, Nordfrankreich und der DDR sah es nicht viel besser aus. Ein nahezu perfektes Management politisch-wirtschalicher Art vermochte sogar noch die Folgen dieser Katastrophen aufzufangen und zum Teil in Geschä umzusetzen: Sauerstoff in druckfesten Plastikbehältern erlebte einen enormen Boom. Nur in Wien lebte man noch natürlich und fuhr – wenn man Benzin hatte, mit dem Auto, sonst mit
der Straßenbahn – zum Heurigen nach Grinzing oder Stammersdorf, nachdem der zum fünen Mal gewählte Bundeskanzler Kreisky, , versichert hatte: »Ich meine, daß das alles halb so schlimm wird …« Doch dann ist vor vier Tagen Wiener Neustadt mit einigen anderen Orten nach einem Beben der Stärke , bis , zerstört worden. Dank rechtzeitiger Warnung gab es nur Tote. Zwar ist Wiener Neustadt zu Prozent dem Erdboden gleich, aber das Rote Kreuz führte einen vorbildlichen Katastropheneinsatz durch, die Obdachlosen wurden in Zelten untergebracht. Am Graben oder auf der Rotenturmstraße merkte man wenig davon, aber die Kirchen wurden stärker frequentiert. Vor zwei Tagen bekam ich die letzte Fernverbindung mit meinem Freund in München – die Tendenzen zur Abspaltung des noch »gesunden« Bayern vom bundesdeutschen Reststaat werden immer stärker – und erfuhr von ihm, das Observatorium in Fürstenfeldbruck habe ihm vertraulich mitgeteilt, daß der Magnetschirm der Erde dabei sei, »umzufallen«. Das war für uns das »rote Telefon«. Uhr : Es ist ein milder, schöner Vorfrühlingstag. In der Nacht hat es geregnet. Wenn ich aus dem Fenster sehe, glitzern noch die Tropfen auf den Dächern der drei Wagen vor dem Haus, als wären sie gerade aus der Waschanlage gekommen. Da ist der knallgelbe Range
Rover, den sich Alexander – natürlich auf Kredit – gemeinsam mit seinem Bruder Johannes angescha hat; da ist unser uralter Opel Admiral, und daneben parkt der etwas protzige »Vanguard Mark XIII« von Dr. Jelinek. Die Autos stehen still, wie die meisten anderen auch. Aber in einem unterscheiden sie sich von den andern: seit zwei Tagen sind sie vollgepackt und vollgetankt, die Wohnung ist eigentlich nur noch ein leerer Wartesaal. Wir warten. Worauf? Es gibt eben Dinge, die man einfach nicht zur Kenntnis nehmen will, und dann zögert und zaudert bis zum letzten Augenblick … »Erdbeben!« schreit Johannes, und da fallen auch schon die Vasen von den Schränken, die Bilder von den Wänden. »Raus!« brülle ich und erwische noch das Köfferchen mit Geld und Dokumenten, während der Verputz von der Decke kommt. Uhr : Das Haus torkelt und wankt. Nur als Schuljunge bin ich noch schneller drei Stockwerke hinuntergerast, während die Treppen ächzen und einzelne Stufen sich von den Wänden lösen. Unser Haus ist ein älterer Ziegelbau und darum vielleicht etwas elastischer im Abfangen von Erdstößen. Das Betonhochhaus schräg gegenüber ist ein zusammengeklapptes Sandwich, als wir ins Freie kommen. Alles ist erfüllt von Dröhnen, Bersten und Staub. Zwei kalkweiße Gestalten taumeln uns entgegen: der immer elegante und geschästüchtige Drogist von nebenan
und der junge Neuner, der anscheinend als einziger aus dem Beton-Konglomerat vis-à-vis entkommen ist. Er schreit immerfort: »Mein Papa, meine Mama …!« Für Fragen und Nachsehen bleibt keine Zeit. Ich packe ihn buchstäblich am Kragen und stoße ihn rückwärts in den »Vanguard«; der fesche Drogist hat sich blitzschnell, aber nicht ohne den Mörtel von der neuen Hose zu klopfen, in unseren »Admiral« verkrümelt. Alexander und Johannes starten mit ihrem Range-Rover, und meine Frau bringt das Wunder fertig, die alte Familienkutsche der Firma Opel hinterherzusteuern. Der »Vanguard« heult unter den so geschickt wie bei einer Operation manipulierenden Händen von Dr. Jelinek auf und schießt nach. Es ist wie in einem Film, aber es ist Wirklichkeit. Uhr : Dort, wo unsere Straße in die Auffahrt zur Nordbrücke einmündet, sieht man vorne und ganz nahe den Kahlen- und Leopoldsberg, und rückwärts in Richtung Osten sieht man über dem Dächermeer der Stadt die gezackte Silhouette des Stephansturmes. Jetzt ist alles eine graue Masse, und an Stelle des Turmes steht ein riesiger Rauch- und Staubpilz. Der Wagen schlingert, und ich weiß: in diesen endlosen Sekunden stirbt, was einst Wien war. Uhr : Jenseits der Donau wird es etwas ruhiger. Zwar liegen auch hier viele Häuser in Schutt und Asche,
und die Autobahn nach Stockerau sieht beinahe aus wie ein Kurvenlineal – aber sie reißt und bricht wenigstens (noch) nicht. Nur vereinzelt tauchen hinter uns andere Wagen auf, zurrt Teil mit Koffern, Matratzen und Möbelstücken derart überladen, daß sie kaum vorwärts kommen. Das sind die wenigen Vorsichtigen und Mißtrauischen – die Masse glaubte einfach nicht »daran« und handelte nach der typisch österreichischen Maxime: »Es wird schon nichts passieren …« Noch dazu um die geheiligte Mittagszeit! Auch uns erscheint es wie ein Wunder, daß es hier relativ so friedlich ist. »Kannst du dir das erklären?« fragt mich Dr. Jelinek, ohne den Fuß auf dem Gashebel auch nur einen Millimeter zu bewegen und den Blick von der bizarr geformten Fahrbahn zu nehmen. »Eigentlich schon«, antworte ich langsam und nachdenkend, »schau, die Donau ist ja die alte geologische Bruchlinie, der erste Stoß hat sich hier noch nicht so ausgewirkt, aber der nächste wird es bestimmt tun. Erinnere dich an die früheren Beben: in Wiener Neustadt sind die Häuser umgefallen, und bei uns in Wien haben kaum die Teller und Gläser im Schrank geklirrt. Aber jetzt wird bald alles und überall klirren …« Wir hetzen weiter. Wir wissen, daß uns der Tod auf den Fersen ist. Es ist wie in einem Fiebertraum: Da und dort ist ein Bauernhaus eingestürzt, die Fahrbahndecke aufgewölbt und gerissen, und wir fahren mit wimmern
den Reifen Slalom – dann ist wieder alles unversehrt und beinahe sonntäglichruhig: ein Bauer zieht mit einem Traktor über ein Feld, Fasane schrecken neben der Straße hoch, während unsere wilde Jagd vorüberbraust, Bäume und Sträucher stehen im ersten zarten Frühlingsgrün. Ein halbleerer Autobus zockelt uns entgegen, das nächste Dorf ist wie ausgestorben; die Leute essen, schlafen oder sind auf dem Feld. In einem solchen Ort halten wir kurz an – keine Stunde nach unserem Auruch von Wien. Und hier wird das Traumgeschehen perfekt: aus dem kleinen Dorf Wirtshaus tritt der verschlafene Wirt mit der Schürze um den Bauch und fragt, auf die zwei Tische vor dem Eingang deutend: »Was darf ’s denn sein?« Aus der Küche riecht es nach Gulasch und Sauerkraut. »Nur einen Schluck Wasser oder Wein …«, sagte ich und dränge ihn ins Haus, »aber schnell – ja haben Sie denn nichts gehört?« »Was …? Ach ja, ein Erdbeben soll es gegeben haben, aber jetzt ist das Radio kaputt, ich weiß nichts. No ja, morgen wird es eh in der Zeitung stehen …« Wir gießen den köstlich-kühlen Wein durch die vor Angst ausgetrockneten Kehlen. »Noch ein Viertel …?« fragt der Dicke mit der Schürze. Alexander wir ein paar Münzen auf den Schanktisch: »Nein, nein – und schaun’ Sie, daß Sie wegkommen!« – »Ja warum denn?« Wir springen in die Autos, und als wir losfahren,
beginnt auch hier das unheimliche Dröhnen und Rumoren aus dem Untergrund, im Rückspiegel sehe ich, daß das Dach des Wirtshauses wie eine zusammengefaltete Serviette nach innen klappt. Die Straße torkelt und wankt wieder. Der Traum ist zu Ende, die nächste Bebenwelle hat uns erreicht. Uhr : Die ersten Steigungen liegen hinter uns, vom Löß- und Schwemmgebiet sind wir (geologisch gesprochen) längst auf den alten, festen Granitsockel der böhmischen Festlandsmasse übergewechselt. In den Wäldern, die wir passieren, sieht es zwar auch stellenweise aus, als hätte ein Tornado eine tiefe Bahn durch sie gezogen, aber noch wirkt das meiste verhältnismäßig heil. Horn – enge Straßen, das Bezirksstädtchen ist ein wilder Ameisenhaufen durcheinanderlaufender Menschen. Zu unserem Glück hat die Panik noch keine bestimmte Richtung eingeschlagen. Jelinek, meine Frau und Johannes vollbringen wahre Rallyewunder am Steuer. Einige – oder Dutzende? – Kilometer später scheint es endgültig aus. Während wir um eine Kurve biegen, die in ein kleines Tal in den Waldhügeln hinabführt, steigt vor uns auf einmal und im Zeitlupentempo die Straße samt einer kleinen Brücke hoch und bricht dann sozusagen tropfenweise ab. Zwei, drei Wagen, die eben noch vor uns waren, purzeln wie Kinderspielzeug durcheinander, einer fängt Feuer, eine Flammenwand
lodert hoch und dichter Rauch. Johannes springt mit dem Feuerlöscher aus dem Range-Rover. »Laß das, es hat keinen Sinn!« brüllt ihm Dr. Jelinek zu. Nein, es hat keinen Sinn. Auch für uns nicht? Der »Vanguard« steckt mit einem Hinterrad in einer MiniErdspalte, es dauert lange bange Minuten, bis wir ihn mit vereinten Kräen wieder frei gemacht haben. Ein Glück, daß wir diese Gegend in vielen Jahren wie unsere Hosentasche kennengelernt haben. »Da links …«, deutet meine Frau, »da geht doch der Feldweg ab …« Wir fahren ihn. Er bedeutet nicht nur vier Kilometer Abkürzung, er bedeutet für uns das Überleben. Solche Feld- und Waldwege mögen früher einmal der Schrecken aller Autofahrer gewesen sein – für uns sind sie jetzt die Rettung. Und da erweist sich ihr bisher nicht erkannter Vorteil: ihre Fahrbahndecke ist elastisch, weil sie nur aus Erde besteht und aus Schotter, sie ist zwar auch gewellt, aber nirgendwo geborsten. Die Stoßdämpfer krachen fürchterlich, und die Ölwannen der Autos knirschen o gefährlich über Stein und Schotter, aber wir scharfen es. Nach wenigen Kilometern sind wir wieder auf der Hauptstraße, und hier ist sie noch intakt. Sie ist leer, kein anderes Fahrzeug weit und breit. So leer habe ich Straßen zuletzt Ende des Zweiten Weltkrieges gesehen, als … Ich habe keine Zeit für solche Gedanken, die Jagd geht weiter. Wir fahren
durch ein menschenleeres Gebiet. »Kommen Sie ins Waldviertel, hier finden Sie noch Ruhe und Erholung …«, fällt mir ein alter Werbeslogan ein. Ja, das mit der Ruhe, das stimmt jetzt. Durch die offenen Fenster des Wagens duftet der Wald. An den Zweigen der riesigen Fichten hängen dicke Zapfen. Jetzt anhalten, aussteigen und Spazierengehen … Uhr : »Noch zwanzig Minuten …«, reißt mich die Stimme von Dr. Jelinek aus solchen kurzen Träumen. Mein Blick geht hinauf zum Himmel, und was ich sehe, läßt mein Herz einen Augenblick schneller schlagen: Das bisher wolkenlose helle Blau ist einem stumpfen Grauton gewichen, und wenn man genau beobachtet, sieht man ab und zu blaßrote Zungen von Horizont zu Horizont zucken. Was das bedeutet, ahne ich ungefähr. Diese Verfärbung bedeutet nichts weniger, als daß Hunderte von Kilometern über uns die Lumassen von irrsinnigen Stürmen auseinandergerissen wurden und daß schon bald erste Einbrüche von Weltraumkälte erfolgen werden. Jetzt geht es um Minuten. Noch fünfzehn Minuten; die Straße steigt stetig an, der Wald wird noch dichter. Zehn Minuten: jetzt kommt die Abzweigung von der Bundesstraße, da ist sie schon. Schief und mit heulenden Reifen kurven die drei Wagen nacheinander um die Ecke. Der junge Neuner weint wieder leise vor sich hin.
Eine scheinbar endlos dahinschlängelnde WaldLandstraße letzter Ordnung mit unzähligen Schlaglöchern. Noch eine Abzweigung mit dem verwaschenen Schild »Privatstraße, Einfahrt verboten«. Nur noch ein Feldweg, über dem die Bäume ein dichtes Dach bilden. Es riecht nach Harz und Holz. Ein steiler Buckel, eine morastige Senke, dahinter runde Kuppen und einzelne Felsen. Ein dunkelrotes Ziegeldach – der Hueber-Hof, die ehemalige Meierei der Burg Spaldenstein. Überhitzte Reifen knirschen im Sand vor dem Haus. Von den Bremsen steigt zitternde Wärme auf. Schlagartig herrschen Ruhe und Stille. Hühner gackern, eine Kuh gibt ein dumpfes Brummen von sich, Bienen summen. Der Himmel, den wir jetzt wieder sehen, ist dunkelgrau geworden. Ich stoße die quietschende Tür auf. Der HueberBauer liegt auf der Ofenbank und schnarcht aus vollem Halse. Ich rüttle ihn hoch: »Franzl, Franz – los, komm!« Die Hueberin kommt aus der Küche, wo sie das Mittagsgeschirr gewaschen hat. Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab, um uns zu begrüßen. Hinter ihr taucht die flachsblonde Maria auf und lächelt wie ein pausbäckiger Barockengel, als sie Alexander erblickt. Alexander und Johannes nehmen die beiden wortlos an den Armen und eskortieren sie zu den Wagen. Den noch halb schlafenden Hueber-Bauer drücke ich dem verdatterten Drogisten in den Schoß, dann rollen wir nochmals an und holpernd und krachend die fünun
dert Meter verwachsenen Fahrweg durch den Wald bis zur Burg. Die morschen Bohlen der Zugbrücke dröhnen unter dem Gewicht der überladenen Fahrzeuge, dann stehen wir endgültig still. Unser Drogist weiß noch immer nicht recht, wie ihm geschieht; er wird einfach mitgenommen. Fernes Grollen aus der Erde treibt uns voran. Der Himmel ist nun beinahe violett und von lautlosen Blitzen wie von Adern durchzogen, obwohl kein Windhauch zu spüren ist. Die Sonne ist eine glatte gleißende Scheibe nahe dem Zenit. Wir stolpern über Steine und Unkraut durch das innere Tor zum Turm. Da ist die Pforte und die Treppe, die nach unten führt. Scheppernd fällt hinter uns die Stahltür ins Schloß. Einer drückt auf den Beleuchtungsknopf – unten geht schmatzend die dicke Luschutztür auf, nachdem Dr. Jelinek das Kombischloß geöffnet hat. Jetzt liegen vier bis fünf Meter Fels und Mauerwerk über uns und vor uns ein langes Gewölbe. In den Regalen glänzen und schimmern Gläser, Kanister, Werkzeuge und Waffen – das Ergebnis von zehn Jahren o sinn- und nutzlos scheinender Planung, Sparsamkeit und schwerer Arbeit. Es ist kühl und ein bißchen feucht hier unten. Dennoch lassen wir uns aufatmend auf die Stühle und Liegen zwischen Kisten und Säcken fallen. Johannes und Alexander verriegeln die Stahlbetontür. Das NotstromAggregat springt an, es wird etwas heller, aber auf dem Bildschirm des Fernsehers sind nur wirre Muster zu
sehen, und aus dem Radio kommt nur Rauschen und Zischen. Niemand sendet mehr. Programmgestaltung und technische Leitung liegen jetzt allein bei den Regisseuren des Jüngsten Tages, der soeben begonnen hat. Er naht sich röhrend und krachend, unüberhörbar selbst in unserem Felsverlies. Die Pilgerväter auf der »Mayflower« mögen sich während der schwersten Stürme der Überfahrt zum neuen Kontinent kaum verzagter gefühlt haben als wir, die wir uns minutenlang aneinander festklammern, weil auch hier die Erde in Bewegung gerät. Wir fluchen und beten. In mir wird die Erinnerung an die Bombentage und -nächte des Zweiten Weltkriegs wach, die ich als halbwüchsiges Kind miterlebte. Und an das Ende, das auch niemand sehen und wahrhaben wollte. In meiner Heimatstadt Brünn ging ja auch noch alles seinen ganz »normalen« Gang, als die Russen schon bis auf dreißig oder vierzig Kilometer heran waren. Die Straßenbahnen fuhren, Lebensmittelkarten wurden verteilt und eingetragen, der Volkssturm übte Gewehrgriffe. Eine Woche später war alles aus, und jene, die keiner Warnung hatten glauben wollen, starben zu Hunderten auf der Flucht am Straßenrand. Vielleicht war dies das »Trauma«, das mich hellhörig und wach gemacht hat, als sich um das Jahr / die ersten Sturmböen der Apokalypse ankündigten.
Übrigens: unser Drogist hat sich keineswegs anders verhalten als jene Unbelehrbaren. Als am . April Beben und Stürme plötzlich nachließen und einer trügerischen Ruhe Platz machten, während die nach dem Tieälte-Einbruch erstarrten Bäume und Wiesen wieder auauten und dampen, war er nicht mehr zu halten. Er wollte unbedingt zu seiner (geschiedenen) Frau und zu seiner Tochter, die in Bibione auf Urlaub waren; er wollte zu Fuß oder per Auto-Stop bis zum nächsten Bahnhof und nach Italien. Daß es kein Auto, keinen Bahnhof und keinen Zug und schon gar kein Bibione mehr geben konnte – das ging über sein Fassungsvermögen, obwohl ich gerade die ersten Hiobsbotschaen aus der Umwelt empfangen hatte. Er wanderte los, wie er war. Weit kann er nicht gekommen sein, denn Stunden später war die Hölle wieder los, und wir mußten hinunter in die Kellergewölbe. Nun waren wir also noch sechs, die von Wien aufgebrochen waren, und neun insgesamt. Es ist rasch wieder dunkel geworden. Nach meinen Berechnungen hat sich die Tageslänge um eine Stunde verkürzt, was bedeuten würde, daß sich die Erde schneller dreht – ein Zeichen vielleicht, daß ihr Dynamo doch wieder in Bewegung kommt.
Wenn das Magnetfeld zusammenbricht Burg Spaldenstein, . Oktober Es war leider ein Irrtum: die Erde dreht sich nicht rascher, meine Uhr ging falsch, vielleicht ist sie magnetisch geworden, was nicht verwunderlich wäre. Wie lange es noch dauern wird, bis der »Dynamo Erde« wieder funktioniert und ein Magnetfeld auaut? Die Schätzungen der Wissenschaler bewegten sich früher zwischen einigen Jahrzehnten und einigen Jahrtausenden – man weiß es nicht. Der Turm zittert leise. Irgendwo jenseits der Bruchlinie der Donau – wer weiß, ob sie überhaupt noch fließt? – scheint ein Vulkan ausgebrochen zu sein; von der Turmkrone aus sahen wir im Süden einen rötlichen Schimmer, aber der berührt uns hier wenig. Es wäre schön, wenn es für uns endlich so etwas wie ein Verschnaufen gäbe, eine Pause, die wir seit unserer Ankun hier noch nicht hatten. Über ein Jahr lang gab es für uns nichts als einen ununterbrochenen Kampf um das nackte Überleben, o kamen wir wochenlang nicht aus dem Keller an die Oberwelt und vegetierten nur von unseren Vorräten. An Schreiben war überhaupt nicht zu denken. Jetzt ist ein früher »Winter« eingebrochen, das ermometer zeigt minus Grad, ab und zu schneit es leicht. Vor einer Stunde bin ich mit Dr. Jelinek lehm
verschmiert aus dem Geheimgang gekommen. Der Hueber-Bauer hat Grippe und hohes Fieber. Dr. Jelinek hat ihm Streptomyzin gespritzt. Den Gang müssen wir, sobald der Lehm fester wird, ordentlich abpölzen und sichern. Ein Glück, daß wir während der kurzen heißen Tage genug Holz geschlagen haben. Jetzt profitieren wir davon. Das Haupthaus ist immer wohl temperiert, und auch mein Turmzimmer hier. Nahrungssorgen gibt es in diesen Tagen nicht. Wir brauchen nur in unserer warmen Winterkleidung in den Wald zu gehen und erfrorene Hasen und Rehe einzusammeln. Rittersaal und »Frauengemächer« sind mit Fellen ausgekleidet, wie es sich für eine mittelalterliche Burg gehört. Gestern hatten wir eine lange Debatte über die Probleme des irdischen Magnetfeldes und seine Funktionen. Darüber waren sich bis zuletzt auch die Fachleute nicht ganz im klaren gewesen. »Wie ist es also damit?« fragte der Neuner-Franzi. »Also«, begann ich und wühlte dabei in meinen Unterlagen, »das ist oder war ungefähr so …« (Endlich hatte ich die zwei gesuchten Zeichnungen gefunden!) »Hier seht ihr, wie die Magnetlinien der Erde, die Krafelder – und die Erde ist ja ein großer Magnet mit Nord- und Südpol – nach der eorie normal verliefen oder hätten verlaufen sollen. Natürlich haben sie das nie exakt getan. Der ›Sonnenwind‹ verformt das irdi
sche Magnetfeld etwa so, wie eine Seifenblase verformt wird, wenn man leicht gegen sie pustet – das sieht dann so aus.«
So verlaufen die Kralinien des (ungestörten) Magnetfeldes der Erde. Teile von ihm bilden – Zehntausende von Kilometern von uns entfernt – den »Regenmantel«, der die Erde vor der kosmischen Strahlung und dem »Sonnenwind« schützt.
Ich hielt ihnen die zweite Skizze hin, die ich vor vielen Jahren aus einer Zeitschri ausgeschnitten hatte. »Der sogenannte ›Sonnenwind‹ ist eine harte Strahlung aus Elektronen und Neutronen. Träfe er unvermindert auf die Erde, würde er auf die Dauer wahrscheinlich das Leben auf ihr zerstören. Das tut er zwar momentan auch, aber die Erde hat außer ihrem Magnetfeld noch
eine zweite Schutzhülle: die Atmosphäre. Planeten, die weder ein Magnetfeld noch eine Luhülle haben wie Mond oder Mars, sind tot – das wißt ihr. Denn außer der harten Strahlung der Sonne gibt es dort die noch härtere Strahlung aus dem Weltraum, ›Höhenstrahlen‹ nannte man sie. Sie werden normalerweise vom Magnetfeld aufgefangen und abgeleitet. Die in den sechziger Jahren entdeckten ›Van-Allen-Gürtel‹ wirken wie Käfige, in denen sich diese Strahlung fängt – die von der Sonne und die aus dem freien Welt
raum –, und dort tobt sie mit ungeheuren Geschwindigkeiten, erreicht aber die Erde nicht. Sie war ein großes Problem für die Raumfahrt; die Techniker mußten Vorsorge treffen, daß die Rakete diesen Strahlengürtel schnell durchstieß, die Menschen darin wären sonst getötet worden.« »Und jetzt haben wir diesen Schutzgürtel nicht mehr?« wir Johannes ein. »Nein, leider nicht. Wir können nur hoffen, daß wenigstens das ›Unterkleid‹ der Erde, die Luhülle, standhält, sonst ist es aus mit uns; und was geschieht, wenn Strahlungen durchkommen, habt ihr selbst miterlebt. Über drei Milliarden Menschen haben das nicht überlebt …« »Wenn die Erde eine Art Magnet ist«, beharrt Johannes, »wie funktioniert er, wer treibt ihn an?« »Über die Entstehung und Antriebsenergien des Magnetfeldes der Erde hat es nur eorien gegeben. Die allgemein anerkannte: Der Erdkern rotiert etwas schneller als die äußeren Schichten, dadurch wirkt die Erde wie ein riesiger Dynamo, wobei auch der Mond eine Rolle zu spielen scheint. Trotzdem pendeln die magnetischen Pole der Erde dauernd, sie wandern, und von Zeit zu Zeit bleibt der Dynamo auch stehen: im Lauf der letzten sechsundsiebzig Millionen Jahre war dies nicht weniger als einhundertsiebzigmal der Fall, in jüngster geologischer Zeit verkürzten sich die Intervalle, dann ›sprangen‹ die Pole, und o waren Nord- und
Südpol dabei richtig ›umgetauscht‹ …« »Dann wird der Kompaß aber bald nach Süden zeigen …?« fragte Franzi Neuner. »Denkbar wäre es, wenn wir eine völlige Umpolung erleben. Daß unsere Kompaßnadeln spinnen, habt ihr selbst schon öers erlebt. Wie es später sein wird, kann niemand sagen, ich am allerwenigsten, denn meine ganze Weisheit stammt auch nur aus Büchern und Artikeln …« »Und wann war die letzte Umpolung?« »Vor ungefähr . Jahren. Aber sicher hat es später immer wieder Störungen des Magnetfeldes gegeben – und zwar immer häufiger. Der Wiener Schristeller Peter Kaiser, der sich mit diesen Fragen befaßte, hat aufgrund aller bekannten Daten von einem Groß-Computer den nächsten ›Polsprung‹ für die Zeit zwischen und errechnen lassen.« »Dann hat er ja recht behalten …« »Ja, leider …« »Aber was hat das Wandern der Erdteile damit zu tun?« fragte Johannes. »Viel: Veränderte erdelektrische Verhältnisse – das haben die Russen schon festgestellt – können nicht nur Erdbeben auslösen, sondern unter Umständen ganze Kontinente in Bewegung setzen. Das sind unerhört komplizierte Zusammenhänge, von denen man eigentlich kaum eine Ahnung hatte, bevor es geschah.« »Dann können wir also nur abwarten …«, schloß Dr.
Jelinek das Gespräch, »ein bißchen gescheiter bin ich doch geworden!« Ich war froh, mich nicht völlig blamiert zu haben. Die Zeichnungen packte ich wieder in die Stahlkiste. Weiß der Himmel, wann ich sie wieder brauchen würde. Heute sitze ich allein im Turm, schreibe und fühle mich gesättigt und wohl. Noch vor drei Jahren war ich nicht so satt. Damals hungerten wir manchmal sehr. Die ersten Anzeichen, das erste Wetterleuchten gab es schon ab /. wurde das Rindfleisch plötzlich knapper, weltweit. In diesem Jahr gab es auch die größte Mißernte seit hundert Jahren in Rußland. Ursache: Trockenheit und menschliches Versagen. – ich habe da eine alte Zeitungsmeldung vom März – reichten die Transportmöglichkeiten angesichts der Getreidemengen nicht aus, die von Texas nach Rußland zu transportieren waren; in der scheinbar unendlich reichen Sowjetunion wurden zum Teil und zeitweise wieder Lebensmittelkarten eingeführt. Damals lachten wir noch in Westeuropa; später, als auch wir lernten, wieder »auf Karten« zu leben, lachten wir nicht mehr. In Indien und Afrika verhungerten viele Millionen. Und immer wieder frage ich mich, ob die damals Satten noch glücklich waren. »Was schreibst du da?« fragt mein Sohn Johannes, der
zu mir in den Turm gestiegen ist. »Ich schreibe, wie es war – du erinnerst dich ja kaum noch. Komm, gib mir die Mappe mit dem ›N‹ drauf, ja die da … Stichwort ›Nahrung‹.« Er blickte mir über die Schulter, während ich in den alten Notizen und Ausschnitten nachblättere. »Lies mit …!« – Ich reiche ihm die betreffenden Ausschnitte und Notizen. ; Eine Reihenuntersuchung am Bürgerspital in Basel in der Schweiz hat ergeben, daß die Milch der stillenden Mütter eineinhalbmal bis doppelt soviel DDT enthält, wie zulässig ist. Die Mütter nehmen es mit der Nahrung zu sich. Trotzdem werden weiterhin Zehntausende Tonnen DDT in großen Teilen der Welt versprüht – man fand es sogar schon in der Leber von Seehunden aus der Arktis. ; An immer mehr Küstenstreifen des Mittelmeers muß das Baden verboten werden, das Meer ist durch Abwässer und Unrat verseucht. : In Peru, das bisher rund zwei Drittel der Weltproduktion an Fischmehl lieferte, müssen immer mehr Fischmehlfabriken stillgelegt werden, weil an den Küsten die riesigen Fischschwärme nicht mehr erscheinen. Grund: der Humboldtstrom an der Westküste Südamerikas ist plötzlich wärmer geworden, ein weltweiter Klimawechsel kündigt sich auch hier an – wie es Heinz Kaminski von der Sternwarte Bochum schon im Winter / vorausgesagt hatte.
/; Der Ausfall an Fischmehl für Hühner- und Schweinemast wird fühlbar; Hühner und Schweine werden teurer, vom früheren Hähnchenkrieg zwischen den USA und der EWG redet niemand mehr. : Fische aus dem Mittelmeer sind nur noch in Ausnahmefällen – im äußersten Nordosten – an der türkischen und zyprischen Küste genießbar. Sie sind durch Quecksilber- und Bleirückstände aus den Industrien an den übrigen Küsten verseucht. : Für Lebensmittel, die nicht chemisch behandelt sind, beginnt man Phantasiepreise zu zahlen. In Frankreich werden fieberha Versuche mit der Herstellung von Eiweiß aus Erdöl unternommen – auch eine Illusion, denn Erdöl wird ja auch knapper werden … »Nun, die Folgen hast du ja schon bewußt miterlebt …« »Und womit haben wir uns ernährt?« »Mit dem, was eben greiar war. Ein Glück, daß wir da schon den Hueber-Bauern hatten, der hat uns o geholfen, und wenn es nur Kartoffeln oder Kraut waren, es war wenigstens noch genießbar. Aber auch du hast schon deinen Anteil Gi in den Knochen, das kann niemand mehr ändern, das gilt für uns alle …« »Dann hätten sich also früher oder später die Menschen sowieso zugrunde gerichtet?« »Natürlich. Die Natur ist ihnen nur um zehn oder zwanzig oder vierzig Jahre zuvorgekommen, nachdem wir begonnen hatten, die gesteigerte Lebenserwartung
wieder zu reduzieren.« »Aber man hatte doch in Österreich einige Seen wieder gesäubert und zum Teil auch die Lu.« »Hat man, hat man – und in England die emse, aber das hat und hätte nichts genutzt, weil schließlich dieselbe Industrie, die auch die Reinigungsanlagen baute, immer neue Fabriken für die Entwicklungsländer lieferte und immer mehr Autos und Flugzeuge dazu, alles in allem ist es immer nur schlimmer geworden. Schau dir diesen Ausschnitt an, du kennst doch noch den Kurier aus Wien? Der ist vom . März , und da wird groß und breit berichtet, daß amerikanische Forscher wie Professor Harold Johnston aus Berkeley vor dem Bau von Überschall-Passagierflugzeugen warnten, weil nicht nur die Passagiere durch Höhenstrahlen gefährdet seien, sondern auch der Ozonmantel der Erde durch die riesigen Abgasmengen zerstört werden könnte, der die Ultraviolettstrahlen von der Erde abhält. Hier wörtlich: ›Sollte sich die Ozonschicht um die Häle verringern, träfen Prozent mehr UV-Strahlen die Erde, und alle höheren Lebewesen würden ihr Augenlicht verlieren …‹« »Dazu ist es aber nicht gekommen.« »Gott sei Dank nicht, aber nicht weil die Menschen klüger geworden wären – gebaut hat man diese Dinger ja doch, nur sind sie dann nicht mehr lange oder häufig geflogen. Und trotzdem: wer weiß, wieviel sie und alle die anderen Gierzeuger dazu beigetragen haben,
daß es zum Zusammenbruch kam. Das konnte damals niemand genau sagen, und das können auch wir nicht sicher behaupten, nur vermuten.« »Und jetzt?« »Jetzt können wir nur hoffen, daß sich alles wieder beruhigt und normalisiert – sicher nicht mehr zu meinen Lebzeiten, vielleicht auch nicht für dich, aber wenigstens für deine Kinder und Enkel.« Die Tür knarrt – Alexander kommt herein, ihm folgen seine Maria, Dr. Jelinek, der junge Neuner und als letzte meine Frau. »Was macht ihr da?« will sie wissen. »Wir erzählen …«, sage ich matt, weil ich schon weiß, was mir jetzt bevorsteht. »Wie war das mit Spaldenstein?« bohrt Alexander. Er – der Familienvater – ist selbst noch nicht ganz erwachsen. »Also, wie war das?« »Aber das wißt ihr doch selbst!« »Nein, erzähle«, begehrt Alexander, »jetzt!« Nun sind alle beisammen, bis auf die beiden Alten, die im Hueber-Hof schlafen. Sie hocken da um den kleinen Kamin an der Turmwand, in dem noch ein paar Scheite glimmen, und ich beginne meine »Spaldenstein-Saga«, die sie alle längst kennen, die sie hundertmal gehört haben und der sie doch begierig immer wieder lauschen, als wäre es ein Kindermärchen. Dabei
fühle ich mich in Wahrheit glücklich und wohl, wohler als vor jedem Auditorium, vor dem ich je gesprochen habe. Hier sind sie, die mir liebsten Menschen – der junge Neuner, der an der Kaminwand lehnt, nicht minder als meine eigenen Kinder. Ich fange an: »Da war einmal ein Schristeller … der schrieb Bücher, und als er etwas Geld gesammelt hatte, wollte er eine Burg kaufen – so, und jetzt lese ich euch das Weitere vor.« »Du hast das aufgeschrieben …?« fragt Alexander. »Für wen denn?« »Mein Gott, für wen? Für euch oder sonst wen, der es später vielleicht einmal liest. Damit man dann erfährt, woher die ›ersten Menschen‹ gekommen sind! Also … ich suchte lange und fand nicht das Richtige – Villen und Landhäuser mit oder ohne Swimmingpool hätte ich in beliebiger Zahl erwerben können, aber das entsprach nicht meiner Absicht. Bis uns der Zufall (wenn man das so nennen will) mit dem dicken Viehhändler aus Retz zusammenführte, der eben jenen ›Steinerhaufen‹ sein eigen nannte und doch kein Freiherr geworden war. Allerdings hatte dabei – wie ich erst später erfuhr – auch der Hueber-Bauer noch ein Wort mitzureden. Nicht als Grundeigentümer, aber als Inhaber der Wasser- und Bodennutzungsrechte. An einem heißen Sommertag des Jahres fuhren wir erstmals über die uns später so vertrauten miserablen Wege zu ihm und zur Burg. Der kleine, grauhaarige,
aber drahtige und zähe Mann war erst gar nicht einverstanden. Er wollte keine Nachbarn und schon gar keine Großstädter oder sogar Wiener in der Nähe. Erst, als ich ihm meine Bücher zeigte und wir auf den von ihm hochgeschätzten Bauern-Propheten ›Mühl-Hiasl‹ aus dem Bayerischen Wald zu sprechen kamen, der schon vor fünfzig Jahren eine zweite Apokalypse vorhergesagt hatte, taute er auf. Als der Hueber-Bauer aber merkte, daß ich ›auch so einer‹ war, der Grund und Boden als Refugium und nicht als Spekulationsobjekt suchte, wurde er zugänglicher. Für ihn, den Franz, war die ›Apokalypse‹ übrigens auch eine gute Ausrede, wenn er ins Wirtshaus wollte, ›weil sowieso schon alles egal und verloren‹ sei, wie er seiner Frau erklärte. Als ich das bestätigte, wurde ich ihm geradezu sympathisch, und der Vertrag kam zustande. Ich war Besitzer einer Ruine geworden. Ein Burgherr. Worüber ich herrschte und verfügte, waren vorerst allerdings hauptsächlich Steine und Trümmer, die kein Mensch aufsuchte und für die also auch keine Besichtigungsgebühr zu erheben war. Im Gegenteil: Wir mußten nur investieren, und das taten wir auch. Über zehn Jahre lang. Meine Frau, die Buben und ich (und später auch Dr. Jelinek) schaen, werkten und schwitzten jedes Jahr wochenlang, während wir den Urlaub beim Hueber-Franz verbrachten, und auch noch zwischendurch, soo wir Zeit fanden. ›Schwarzarbeiter‹ aus der Umgebung engagierten wir nur im Notfall – und denen
gegenüber behaupteten wir, die Burg solle später zu einem Ausflugsziel ausgebaut werden. Die letzten und entscheidenden Phasen aber – den Einbau der Stahlund Luschutztüren, der Vorratskammern und die notdürige Instandsetzung des unterirdischen Ganges zum Hueber-Hof – besorgten wir ganz allein. Palas und Turm wurden allmählich wohnlich, die Keller sauber und relativ trocken. Ein neues, heimliches Spaldenstein war über und vor allem unter dem gespaltenen Fels entstanden, während die Vorboten der Katastrophe kamen und gingen und manches Jahr relativ ruhig und normal verlief, so daß ich mich manchmal selbst einen gottverdammten Narren schalt, der für ein Hirngespinst Freizeit und Geld der Familie opferte, während andere bequem lebten und genossen, was die Erde noch zu bieten hatte. Auf Spaldenstein gab es weder Schwimmbecken noch Zentralheizung, nur hölzerne Zuber und zugige Kamine – aber rundherum den Wald, der uns nach und nach immer vertrauter und lieber wurde. Einrichtung, Werkzeuge, Vorräte – unsere Liste umfaßte Hunderte verschiedene Dinge und Artikel, die lebenswichtig waren – wollten angescha und in unzähligen, meist nächtlichen Fahrten unauffällig zur Burg gebracht werden. In Wien hielt man mich bald für verschroben und geizig, weil ich immer im gleichen Anzug herumlief, obwohl ich nicht schlecht verdiente. Einmal erschien
sogar die von mißtrauischen Nachbarn informierte Polizei und wollte wissen, wohin wir immer am späten Abend führen. Die Uniformierten machten erstaunte Gesichter, als sie im Fond und Kofferraum des Wagens nur Kartons mit Kaffee in Vakuumdosen und Schokolade und andere Dinge dieser Art fanden. Nein, es war keine leichte Zeit, und mein größtes Problem konnte ich den Ordnungshütern nicht einmal verraten: es war die Beschaffung von Waffen, ohne die das ganze Projekt fragwürdig geblieben wäre. Die alte Schrotflinte vom Hueber-Franz wäre denn doch zu dürig gewesen. Wieder half uns der Zufall, ein eigentlich recht unerfreulicher – das sage ich, damit später niemand glaubt, wir hätten nur immer in weiser Voraussicht gehandelt und Glück gehabt. Alexander war kein besonders guter Schüler gewesen, verfügte aber über viele praktische Fähigkeiten und eine o erstaunliche Kombinationsgabe. Nach Verlassen der Schule bot sich als beste Lösung eine Anstellung in der Verwaltung, die chronisch an Personalmangel litt. Dafür mußte Alexander aber erst einmal Österreicher werden, denn als mein Sohn besaß er noch immer die deutsche Staatsangehörigkeit. Er mußte sechs Monate Wehrdienst ableisten. Der aber hatte sich bis von Grund auf gewandelt. Kein Minister und kein General in Europa dachte noch an einen ›Verteidigungsfall‹ gegenüber irgendei
nem Nachbarn – die Soldaten wurden überall fast ausschließlich als eine Art technische Nothilfe oder Feuerwehr in den sich häufenden Naturkatastrophenfällen eingesetzt. Und dazu benötigte man keine Waffen. Um so leichter war es für Alexander, sich über eines der seltenen freien Wochenenden – er tat, und das war der Glücksfall, bei einer Einheit in der Nähe der Bezirksstadt Horn Dienst, keine dreißig Kilometer von Burg Spaldenstein entfernt – den Schlüssel der Waffenkammer zu besorgen. Ein Schlosser in Wien machte mir ein Duplikat. An einem verregneten, kalten Sonntag im November – Alex war längst vom Militärdienst entlassen und stellte als Kanzleipraktikant der Wiener Stadtverwaltung Listen über Lebensmittelkarten und Bezugsscheine auf – fuhren wir zu dritt los: Dr. Jelinek, Alexander und ich. Meine Frau hatten wir nicht eingeweiht, um sie nicht zu belasten, und Johannes war noch zu jung. Nach den Meldungen im Fernsehen und Rundfunk wußten wir, daß alle verfügbaren ›Streitkräe‹ der Republik Österreich (und das waren immer weniger geworden) in Kärnten und der Steiermark konzentriert waren und Häuser und Straßen nach Überflutungen und Erdrutschen freizumachen versuchten. Das große Kasernenareal bei Horn war – das wußten wir von Alexander – in solchen Alarmfällen nur von einem alten Zivilisten bewacht, der mehr nach einem Schnapsglas als nach möglichen Verdächtigen
Ausschau hielt. Dennoch waren wir entschlossen, im Extremfall auch sane Gewalt anzuwenden. Alexander war jüngst Träger des braunen Judo-Gürtels geworden und Dr. Jelinek ein bekannter Karate-Kämpfer. Nichts davon war nötig, es verlief alles wie ein Abenteuer des ›braven Soldaten Schwejk‹. Als uns der auf seinen Beinen nicht mehr ganz sichere Hüter vor der Kaserne vorfahren und in unseren Lederjacken, die er wohl für Uniformstücke hielt, aussteigen sah, salutierte er (so gut er das noch konnte) und meldete: ›Zivilwachmann Pospischil, alles in Ordnung!‹ Wir salutierten lässig zurück und gingen ganz selbstverständlich zur Waffenkammer hinüber, die ich – ebenso selbstverständlich – mit dem Nachschlüssel öffnete. Während Dr. Jelinek und ich das für uns Nötige auswählten, fuhr Alexander den Wagen vor. Der Zivilwachmann Pospischil saß in einer Ecke und bediente sich der Schnapsflasche, die ich (das war damals schon eine Rarität) mitgebracht und ihm zur Belohnung für seine militärisch-korrekte Haltung gegeben hatte. Das österreichische Bundesheer hielt, wie alle Armeen, auf bürokratische Ordnung. An der Wand des Bunkers hing eine lange Liste aller vorhandenen Waffen und Geräte samt der Preisangabe – für den Fall, daß ein Soldat etwas davon beschädigen oder verlieren sollte. Ich notierte alles sorgfältig, was wir den Regalen und Kisten entnahmen: vier Maschinenpistolen mit je zehn Magazinen, vier Karabiner mit zwanzig Karton
Munition, vier Pistolen mit je zehn Magazinen, ein LMG mit fünfzig Magazinen, vier Karton Handgranaten, ein Sprechfunkgerät, Modell ›Siemens M ‹ mit Batterie- und Netzanschluß. Das machte – laut der Preisliste – . Schilling aus. Aus dem Diplomatenköfferchen, das Alexander aus dem Wagen brachte, holte ich einen Quittungsblock und neunzehn Tausendschillingscheine, die ich dem Zivilwachmann Pospischil in die Hand drückte. ›Der Rest ist für Sie‹, sagte ich. Schließlich waren wir keine Räuber und wollten nichts stehlen. Der Kasernenwächter, der soviel Geld sicher noch nie in der Hand gehabt hatte, unterschrieb mit unsicherer Hand. Wenn er überhaupt noch etwas denken konnte, muß er uns wohl für ein besonders geheimes Kommando gehalten haben. Jedenfalls half er uns nach einem weiteren Schluck aus der Schnapsflasche diensteifrig Waffen, Kartons und das schwere Funkgerät in den Opel Admiral zu verstauen, dessen Federn ächzten. Als wir vorsichtig anfuhren, stand er wieder relativ stramm da – eine Hand an der Kappe, in der anderen die halbleere Flasche. Die mit Lehm verschmierte Autonummer hat er bestimmt nicht entziffern können. Der Regen rann ihm ins Gesicht. Ich bin mir durchaus bewußt, daß unsere Aktion alles andere als legal war – aber ebenso bewußt ist mir unser stilles Gelöbnis, die Waffen, die früher oder später ohnedies plündernden Gruppen in die Hände gefal
len wären, nur im äußersten Notfall gegen Menschen zu verwenden. Froh waren wir trotzdem, als die Waffen in der Burg und wir wieder in Wien gelandet waren. Bis heute bin ich mir übrigens nicht im klaren, ob unser gewaltloser Coup überhaupt je bemerkt wurde, denn schon zwei Monate später wurde das Bundesheer auch offiziell in einen ›Nationalen Notdienst‹ (kurz: NN) umfunktioniert, und ob der Zivilwachmann Pospischil das Geld abgeliefert oder in Alkohol umgesetzt hat (was ihm Freude gemacht und niemand mehr geschadet hätte), das weiß ich nicht.« »Und wie ging es weiter …?« fragte Johannes. »Für heute ist Schluß. Geht jetzt nach unten, ich komme gleich nach, ich ordne nur noch die Papiere. Eine Wache brauchen wir wohl heute nicht?« »Ach wo, es ist viel zu kalt, da kommt niemand und da geschieht auch nichts«, antwortete Dr. Jelinek. Das Feuer im Kamin ist halb herabgebrannt. Ich lege noch zwei, drei dicke Buchenholzscheite nach, damit es morgen hier nicht zu kalt ist, wenn ich mich wieder an die Maschine setzen und schreiben sollte – ein Schreiber ins Nichts, ein Autor ohne Verleger und Leser. Am dunkel werdenden Horizont über den verschneiten Baumwipfeln flackert und flammt noch immer der rötliche Schimmer des fernen Vulkanausbruchs. Es muß ein Vulkan sein, denn eine Stadt, die so brennen
könnte, gibt es in dieser Richtung nicht mehr. Auch ist die von unten her erleuchtete Rauchsäule, die man jetzt deutlicher sieht, enorm hoch. Unten, im Haupthaus, gehen jetzt alle schlafen. Nur meine Frau wird noch wach sein und warten, wie sie es viele Jahre lang getan hat. Es ist gut zu wissen, daß sie da ist. Ein Mensch, der auf mich wartet – warm in den dicken Fellen, unter denen wir uns verkriechen und bergen. Wenn wir schon halbwegs zu Urmenschen geworden sind, warum sollten wir das nicht auch genießen? Wir haben ja Zeit, unendlich viel Zeit. Ich lege die beschriebenen Blätter in die Ledermappe und schließe sie in die Lade des alten Tisches, blase die zwei großen Kerzen aus und gehe hinunter. PS am . Oktober Nichts war es mit der erträumten Urmenschen-Idylle. Wir haben nicht einmal drei Stunden geschlafen, und ich tippe mit einer Hand, weil die andere verbunden ist. Um Maria, die einen Schock hat, bemüht sich Dr. Jelinek, damit unser allererster »neuer Mensch« nicht einer Fehlgeburt zum Opfer fällt. Sehr rauh war ich gestern abend aus meinen Träumen vom »heimlichen Grund« gerissen worden, als ich gerade aus der unteren Turmtür in den Palas treten wollte. Die schwere Tür wurde mir aus der Hand gerissen und donnerte gegen die Wand, die Notbeleuchtung erlosch, und dann war sekundenlang Rumpeln und Dröhnen um mich. Ir
gendwo krachte ein Balken herab, und erst als wir uns nach und nach mit bleichen Gesichtern und zitternden Knien im Schein einer Magnesiumfackel trafen, die Johannes hochhielt, kam uns zu Bewußtsein, was geschehen war: ein einziger kurzer Erdbebenstoß hatte Spaldenstein getroffen wie ein Boxhieb. »Rasch in den Keller! Das kann noch schlimmer kommen!« rief ich, und dann saßen wir unten und froren vor Kälte und Schreck. Nach drei Stunden, als sich nichts mehr ereignete, stiegen Dr. Jelinek, Alexander und ich mit Handscheinwerfern vorsichtig nach oben. Staub lag noch in der Lu – gottlob, Wände und Decke des Haupthauses waren intakt, wir hatten also wenigstens noch unser Dach über dem Kopf. Die kleinen Schäden würden bald beseitigt sein. Schlimmer sah es im Innenhof aus; Trümmer und Schutt versperrten uns den Weg – ein Teil der mächtigen Burgmauer am Steilfelsen war zum Teil in den Hof, zum Teil den Felsen hinabgestürzt. Sie auch nur notdürig instand zu setzen, wird Monate dauern. Wir haben lange palavert, wie es zu diesem einzelnen Erdstoß kommen konnte, fanden aber keine Erklärung. Vielleicht hat es bei oder in dem Vulkan, dessen fernes Leuchten ich gestern sah, eine Explosion gegeben – möglich wäre es. Jedenfalls hat uns dieser Schreck wieder einmal zu Bewußtsein gebracht, wie sehr Zufällen und unkon
trollierten Gewalten ausgesetzt unser Leben und Überleben in jeder Minute ist, wie unsicher der Boden, auf dem wir uns bewegen, zudem die Lu, die uns umgibt, und daß es für uns immer nur zeitweise eine trügerische Ruhe und Geborgenheit geben kann und wird. Wir sind keine Auserwählten des Schicksals, wir sind nur übriggebliebene Spielzeuge in seiner Hand. Der Turm hat gehalten und sogar der unterirdische Gang zum Hueber-Bauern. Dort haben sie seltsamerweise nur einen Bruchteil von dem gespürt, was wir abbekamen. Wir werden Maria hinüberschaffen, sobald es geht, damit sie bei ihrer Mutter ist. Und werden weiterleben, »als ob« – als ob wir hier geborgen wären. Wo sollten wir auch hin? Geschehen kann jederzeit überall alles. Also werden wir bleiben.
Ein Mensch kommt aus dem Nichts Burg Spaldenstein, . Oktober Der Hueber-Franz hat trotz seiner Jahre die Grippe gut überstanden. Ob dank dem Penicillin oder seiner eisernen Konstitution, sei dahingestellt. Ich erinnere mich noch gut, daß mit dieser Art von Wundermitteln schon ab Ende der sechziger Jahre nicht mehr so sehr viel los war, sie verloren an Wirkung. Ihre massenhae Verwendung sowohl in der Humanmedizin wie in der Viehzucht – die Züchter pumpten Schweine, Kälber und Hühner damit voll, um Seuchen zu verhindern und schnelleren wie größeren Fleischertrag zu erzielen – machte immer mehr Bakterienstämme gegen Penicillin resistent; allmählich starben wieder mehr Menschen an Lungenentzündung und ähnlichen Krankheiten, weil sie auf Penicillin nicht mehr reagierten. oder stellte das deutsche Magazin Spiegel in einem großen Bericht fest, daß die erforderliche Durchschnittsdosis zur Heilung einer Infektion sich von . Einheiten Anfang auf , Millionen Ende erhöht habe. Und so ging die Entwicklung weiter. Wahrscheinlich wird eine überlebende Menschheit in Zukun wieder mit einer »natürlichen Auslese« durch Krankheiten oder Seuchen rechnen müssen, wobei es noch völlig offen ist, welche Krankheiten es dann geben wird, wie die Bakterien auf
die veränderte Umwelt reagieren. Der Traum von der totalen Beherrschung der Natur war jedenfalls sehr kurz, er hat keine zweihundert Jahre gewährt. Franz ist also wieder auf den Beinen, und als ich ihn gestern besuchte und seine Frau nicht da war, raunte er mir zu: »Hast an Wein mitbracht?« Ich hatte. Nur mit der Zeit- und Jahreseinteilung kommt er nicht mehr zurecht, seit es keinen Pfarrer und kein wohlgeordnetes Kirchenjahr mehr gibt – und keine klar abgegrenzten Jahreszeiten. Nach einem kurzen »Winter« mit sibirischen Kältegraden steht das Quecksilber seit drei Tagen wieder auf plus Grad, eine hellgrüne Sonne strahlt am blaßblauen Himmel, und die Wälder dampfen. Langsam wird es Abend. Wenn das Wetter hält, können wir uns morgen an die Aufräumungsarbeiten im Burghof machen. Der Schock, an den uns die Trümmer erinnern, legt sich langsam, wir werden wieder ruhiger und schrecken nicht bei jedem ungewohnten Geräusch hoch. Auch die Strahlung ist normal, wie mir ein Blick auf das Meßgerät zeigt, das neben dem Funkapparat steht. Es wäre schön, wenn wir wenigstens einmal eine Woche lang »Frieden« hätten … Das Sprechfunkgerät Siemens M hat eine besondere Schaltung: Wenn jemand auf der eingestellten Wellenlänge mit gleichem Code funkt, leuchtet eine rote Lampe auf. Das ist zweifellos eine Konstruktion für militä
rische Truppenbedürfnisse gewesen. Die kleine Birne flackert plötzlich – rot, dunkel-rot-dunkel-rot … Obwohl ich überzeugt bin, daß es sich nur um eine magnetische Störung handeln kann, schalte ich in fliegender Hast an den Knöpfen und von der Batterie- auf die Generatorversorgung um. Seit gestern haben wir wieder genug Wasser und Strom. Zunächst kommt aus den Kopörern nur ein Rauschen, dann eine ferne und dünne Stimme. Jetzt wird sie etwas klarer. »Ferry!« brülle ich in das umgehängte Mikrofon. »Ferry – du!« Wenn jemand unvermittelt die Stimme seines längst verstorbenen Bruders oder Onkels hört, ihm könnte nicht anders sein als mir in diesem Augenblick. Ferry Süßbauer, Geschäsmann, Lebenskünstler und großer Hobby-Funker, als Tenor jahrelang Partner meiner Frau auf der Bühne. Ein Kleiderschrank von einem Mann, immer lustig, gutmütig und durstig, ein Kumpel, ein Freund. Er ist der einzige, der von unserem abenteuerlich erworbenen Sender wußte und meine Frequenz kannte, denn er hat mir mit viel Eifer und manchmal geradezu penetrant die Anfangsgründe der Funktechnik beigebracht. Er konnte sich das alles leisten – die Schauspielerei, das Funken und zwei Häuser dazu – ein reicher Schwiegervater sorgte für ihn und seine Frau Lisa. »Du lebst, Ferry – wo bist du?« sprudle ich hervor. »Gerd, alter Kumpel …«, wispert die ferne Stimme
sichtlich erleichtert, »daß ich dich noch einmal höre. Paß auf: ich kann nur gut zehn Minuten senden, dann ist Schluß.« »Verstanden, wo bist du?« »Ich bin am Bisamberg, mach’ Urlaub …« Das ist typisch Ferry. Aber dann wird er sachlich und schildert in knappen Worten. Am Null-Tag, dem . April , war er in seinem Sommerhaus am Peilstein bei Baden, südlich von Wien. Ich kenne dieses »Haus«, eine herrschaliche Villa mit allem Zubehör. Dort haben sie das erste Jahr überlebt. Aber Anfang Oktober fing der Berg zu wandern an und brach stückweise ab. Plötzlich war Lisa verschwunden. »Dann habe ich das Boot genommen«, sagt er. »Was – das Boot, das hast du mitgehabt?« »Ja, ich wollte weiter ans Mittelmeer. Und das war gut so. Du weißt ja …« »Gar nichts weiß ich!« »Dann hör zu: vom Wienerwald bis zum Leithagebirge ist alles ein großer See, ein Meer, voll von Öl.« »Von Öl?« »Ja natürlich. Denk an die Raffinerien in Schwechat und die Ölquellen von Zistersdorf und die Tausende Ölbehälter. Das ist oben geschwommen und hat monatelang gebrannt. Das hat uns wenigstens vor Kälte geschützt. Nein, du hörst recht, es gibt kein Wien mehr, nur noch diesen See, dieses Meer. Alles andere liegt fünfzig oder hundert Meter darunter …«
»Mein Gott …« »Dein Gott oder mein Gott – als das halbe Haus fort war und Lisa auch, hab’ ich an dich gedacht und an deine ese, nördlich der früheren Donau würde sich das nicht so stark auswirken, und da bin ich eben losgefahren. Es waren ja nur hundert Meter bis zum Wasser …« »Und jetzt bist du am Bisamberg?« »Ja.« »Allein?« »Nein – zwei oder drei Dutzend Gestalten laufen und kriechen hier herum. Wo sie hergekommen sind, weiß ich nicht. Sie sind alle verrückt. Sie singen Schlager und Kirchenlieder und fressen einander auf.« »Was sagst du?« »Was sollen sie sonst tun? Die Bäume und Sträucher haben sie längst leer genagt. Zwei von ihnen hab’ ich umlegen müssen, sonst wäre ich dran gewesen – tut mir leid, aber es war nichts zu machen. Ich kam nicht mehr weiter, mein Außenbordmotor war restlos verdreckt und verölt, und die wollten mir an den Kragen.« »Von wo sprichst du jetzt?« »Aus dem Keller des alten Senders. Der große Mast liegt natürlich flach, und alle Maschinen sind ausgefallen. Aber da ist noch eine kleine Notanlage, und die hab’ ich zusammengeflickt, und ein uralter Diesel mit fünf Litern Öl ist noch da. Die verbrauche ich jetzt, und dann ist es endgültig aus …«
Für Bruchteile von Sekunden bleibe ich stumm. »Gerd!« »Ja!« »Wenn es gutgeht, habe ich noch drei Minuten, was soll ich tun?« Ich überlege fieberha. »Du mußt losgehen«, sage ich dann. »Meine Zehen sind halb erfroren, es war sehr kalt hier.« »Du mußt. Dich kriegt Dr. Jelinek schon wieder hin. Wir werden dich holen.« »Wo?« »Hör gut zu, ganz genau: Ich weiß von einem Funker in Ernstbrunn, daß die Gegend dort völlig intakt und passierbar ist. Natürlich sind die meisten Häuser hin, und die Menschen düren Strahlung und Kälte auch nicht überstanden haben. Der Funker lebt wohl auch nicht mehr. Habe jedenfalls nie wieder von ihm gehört. Aber die Straßen düren relativ frei sein. Hast du die Karte ungefähr im Kopf?« »Ja.« »Dann marschier Richtung Rohrwald und Leiserberge bis Ernstbrunn. Dort wartest du am Ausgang der Straße nach Hollabrunn. Das sind dreißig Kilometer für dich, die schaffst du in einem Tag. Und dort holen wir dich ab.« »Wirklich?« »Nein …«, versuche ich zu spotten, »als Denkmal
werden wir dich dort stehenlassen!« Dabei habe ich nicht die mindeste Ahnung, wie wir dorthin gelangen sollen. Ich kann nur hoffen, daß das, was ich soeben sagte, ungefähr stimmt. In die Richtung haben wir nie einen Vorstoß unternommen. Und ob der Höhenrücken vom Bisamberg bis Ernstbrunn frei oder überflutet ist, weiß ich auch nicht. Sollte keiner der auf dem beliebten »Hausberg« der Wiener Zugrundegehenden einen Ausbruchsversuch gemacht haben? Nun ja, sie scheinen alle verrückt zu sein. »Gerd …«, reißt mich die Stimme aus dem Kopörer wieder in die unmittelbare Wirklichkeit zurück. In der unsichtbaren Leitung kracht und knackt es. »Ja, Ferry?« »Der Motor beginnt zu stottern, es ist gleich aus. Ich gehe dann also los, so gut ich kann.« »Gott behüte dich, Ferry – und wenn du am Weg ein hübsches, normales Mädchen siehst, nimm es mit!« »Für dich?« »Du Depp – für unsere Kinder! Und jetzt geh – Uhrenvergleich: Uhr .« »Sollst recht haben – bis in zwanzig Stunden. Ciao!« »Ciao …« Es kracht noch einmal, dann ist es still. Ich wische mir den Schweiß von der Stirne – nicht einmal zu Beginn der Steinzeit II hat man seine Ruhe. »Doc – Alexander – Johannes!« Sie kommen mir am Fuß der Treppe entgegen. »Wir fahren in elf Stunden. Ihr beiden« (damit meine ich meine Söhne) »holt die
Wagen vom Hueber-Hof. Und wir, Dr. Jelinek und ich, machen das andere bereit. Warum? Das werde ich euch gleich erklären.« Für die Buben ist es ein Abenteuer, für Dr. Jelinek und mich eine Rechenaufgabe. Wir müssen alles bedenken, auch wenn wir Glück haben sollten und das warme Wetter noch ein oder zwei Tage anhält. Wir müssen nicht nur vollgetankte und absolut betriebssichere Fahrzeuge haben, sondern auch dicke Winterkleidung, Schneeketten, Schaufeln, die beiden Motorsägen, Beile und Äxte, Waffen und Proviant. Und die beiden transportablen Sprechfunkgeräte – sie reichen sowieso nicht weiter als vier oder fünf Kilometer, aber das ist besser als nichts. Die Liste, die wir zuletzt »checken«, ist nicht viel kürzer als die eines startenden Düsenjägers oder Super-Jets der Vergangenheit. Eine halbe Stunde später stehen der Range-Rover und der Vanguard Mark XIII, die fast ein Jahr lang in der nicht mehr benötigten Scheune des Hueber-Franz unter Plastikhüllen schliefen, vor dem Burgtor. Wir können einladen. Dabei kreisen unsere Gedanken und Gespräche – soweit wir dazu Zeit haben – immer um das »Wunder«, daß ausgerechnet Ferry der erste Mensch ist, auf den wir – und sei es zunächst nur über Funk – gestoßen sind. »Es ist gar nicht so unwahrscheinlich und so wunderbar …«, sage ich schließlich und lade eine Kiste auf den Rover, »wenn man es nüchtern überlegt: Ferry ist
erstens ein Büffel von einem Kerl und hat deshalb eine größere Überlebenschance, zweitens wollte er sowieso zu uns stoßen und kam deshalb zum Bisamberg, und drittens ist er ein routinierter Funktechniker und kannte unsere Frequenz. Das einzige Wunder ist, daß er auf dem Bisamberg einen intakten Notsender fand – was aber an der Stelle einer Großfunkanlage auch wiederum so verwunderlich nicht ist. Hätte sich irgendein anderer gemeldet, wäre das viel unwahrscheinlicher gewesen, und doch hatte ich längst die Hoffnung aufgegeben, je wieder von ihm zu hören.« »Aber fein ist es, daß wir ihn wiedersehen werden«, meint Alexander, »mit ihm kann ich Judo üben.« »Freu dich nicht zu früh, noch haben wir ihn nicht. Das wirkliche Wunder muß er jetzt bewerkstelligen, und wir müssen es auch …« Rund hundert Kilometer hin und hundert zurück – früher wären das mit jedem normalen Wagen zwei Stunden gewesen. Was jetzt vor uns liegt, weiß niemand. Wir arbeiten stumm weiter und kriechen dann schleunigst in unsere Betten. Sechs Stunden schlechter Schlaf, von Angstträumen durchquält. Eine grünblaue Sonne kommt am Horizont hoch. Gott sei Dank bis jetzt keine Wolken. Die Batterien der Wagen haben wir über Nacht an den Generator gehängt, sie starten mühelos. Ein Lächeln zu meiner Frau, das mich an das eines Cowboys
aus einem alten Western erinnert, bevor er zu neuen Abenteuern auricht – wir holpern über die Brücke, den Fahrweg und hinaus auf die Straße. Es ist still wie am ersten Schöpfungstag. Wir brauchen keine Angst zu haben, niemand wird uns entgegenkommen, niemand unseren Weg kreuzen. Die Bundesstraße ist leer und gar nicht so übel. Ab und zu müssen wir einen umgefallenen Baum wegräumen oder wegsägen, ab und zu Aufwerfungen und Frostaurüchen ausweichen. Stellenweise wühlen die Räder der Wagen auch durch Sand und Schlamm. In fünfzig oder hundert Jahren wird es hier keine Straße mehr geben, auch das letzte Restchen Asphalt wird dann tief unter Wald oder Wiesen begraben sein. Einzelne Pflanzen, die nicht erfroren sind, zeigen Mutationen: es gibt Butterblumen, die groß sind wie früher Sonnenblumen, und Grashalme von eineinhalb bis zwei Meter Schalänge. Noch sind das Ausnahmen – oder sind es die ersten Gewächse einer neuen Flora? Die Strahlung ist normal, die Zeiger der Geigergeräte gehen nicht über die rote Marke. Die Lu ist von Ozon gesättigt, daß man ihn zu riechen glaubt – das Überangebot an Sauerstoff macht uns beinahe benommen. Schlimm wird es, als wir die ersten Orte passieren, o ganz knapp an zerfallenen Scheunen und Häusern vorbei, auf denen Gras zu wuchern beginnt. Da stinkt es einfach bestialisch, die Wärme läßt die zahlreichen
gefrorenen Leichen auauen. Scharen von Krähen kreisen über diesen Schutthügeln. Sie sind dick und fett geworden. Ratten huschen in Rudeln über die Straße. Woher sie kommen, wieso es sie überhaupt gibt, wissen wir nicht. Ich hätte meinen Jungen diesen Anblick gerne erspart – es nutzt nichts, früher oder später wären sie doch damit konfrontiert worden, und hier und jetzt geht es um einen Menschen und gemeinsamen Freund, den wir lebend wiederzufinden hoffen. Menschen aber sind eine Rarität geworden. Wieder ein größeres Dorf, fast unzerstört, der Untergrund hat hier die Bebenwellen offensichtlich weniger wirksam werden lassen. Die Tür des Gasthauses am Straßenrand schwingt im auommenden Wind hin und her, der Rolladen des Geschäes daneben ist halb herabgelassen, derjenige, der ihn anscheinend noch zu schließen versuchte, liegt darunter, so wie ihn der Einbruch der unterkühlten Lu erreichte. Jetzt ragen nur noch Knochen aus den verwaschenen Hosenbeinen heraus. Auf dem Bahndamm neben der Straße steht ein Zug. Hier hat der Lokführer anscheinend gehalten, als »es« geschah. Die Passagiere sitzen unter zwei Bäumen mit großer Krone, wohin sie geflüchtet waren. Sie sitzen eng geschart da, Männer, Frauen und Kinder. Ein Haufen verwesenden Fleisches und vermodernder Kleidung. Nicht die Phantasie eines Hitchcock hat je beschrieben, was wir zu sehen bekommen. Es ist das absolute
Inferno – weil es völlig erstarrt und lautlos ist, während ringsum die neue Vegetation einer neuen Welt zu grünen beginnt. Wir können gegen diese Ruhe nichts tun. Ich hatte mir alle möglichen Gefahren und Hindernisse vorgestellt, aber nicht das. Zwei, drei rostende Autowracks müssen wir aus dem Weg räumen, dann kündet eine Tafel: »Ernstbrunn, Kilometer.« Wir sind um mindestens fünf Stunden zu früh da. Nichts und niemand ist an der Ortseinfahrt zu sehen. Wir wenden die Wagen und setzen uns an den Straßenrand. Keiner sagt ein Wort. Weiterzufahren hat keinen Sinn – ich weiß nicht, woher Ferry kommen wird, wenn er kommt. Eine Stunde, zwei Stunden, zweieinhalb Stunden. Auf dem Feldweg links neben der Bundesstraße bewegt sich etwas. Ein Mensch – nein: zwei Menschen. Sie taumeln leicht und stützen einander. Ein großer Mann mit angegrautem Haar, der nur noch eine Hose trägt, und ein anderes Wesen, anscheinend eine Frau. Sie preßt einen Fetzen vor den nackten Leib. Wir springen auf und laufen ihnen entgegen; wir schreien und brüllen wie wild gewordene Buschmänner. Die Beklemmung der letzten Stunden löst sich in diesem Geschrei. Denn was hier und jetzt geschieht, ist ein Wunder: ein Mensch, zwei Menschen kommen zu einem Treffpunkt in einer Wüste des totalen Todes.
Und sie kommen pünktlich. »Ich bin immer pünktlich gewesen …«, lallt der Mann, der Ferry heißt – »und ich habe eine Frau mitgebracht …« Dann fällt er um. Das nackte weibliche Wesen kauert sich neben ihn und fällt in einen Weinkrampf. Wie es Dr. Jelinek fertigbringt zu grinsen, weiß ich nicht – vielleicht ist das auch eine verlegene Abwehrreaktion. Jedenfalls tut er das einzig Vernünige: er gibt dem weiblichen Wesen eine Decke und Ferry eine Spritze. Nun haben wir auf einmal alle Durst. Während ich einen Schluck aus der Weinflasche nehmen will, grei eine haarige Hand nach ihr – und der halbe Liter ist weg. Mein Freund Ferry ist zu sich gekommen, das ist nicht zu übersehen. Heimlich schwöre ich mir, daß er den Kellerschlüssel nie in die Hand bekommen wird. Dann stemmt er sich hoch, und wir umarmen uns lachend und weinend. Die Frau, so stellt sich heraus, ist zweiundzwanzig und heißt Leopoldine. Ferry hat sie aus dem Keller eines kleinen Warenhauses geholt, wo sie seit Monaten hauste und wo er sie auf der Suche nach etwas Eßbarem fand. Im übrigen ist er zuvor zwei oder drei Kilometer durch eine dicke Lehmbrühe geschwommen, die den Bisamberg von »unserer« Welt trennt. Kein anderer hätte das gescha. Und die Leopoldine hat er halt mitgenommen, für
alle Fälle. Wie sie sonst heißt und wer und was sie früher war, ist völlig uninteressant. Sie scheint gesund und nicht strahlengeschädigt – auch ein Mirakel am Rande der Straße des Todes. Wir packen die beiden, die gleich darauf wieder in eine Art Erschöpfungsschlaf versinken, auf die hintere Ladefläche des Range-Rovers und betten sie auf unsere Wintersachen; dann geht es zurück. Es ist warm geblieben, das Wetter war beständig. Erst als wir – dreizehn Stunden nach unserem Auruch – wieder vor der Burg ankommen, springen kalte Windböen auf. Es wirbeln Flocken aus einem grauen Himmel. Doch das macht uns nichts mehr, wir sind daheim.
Ein totes Mammut und ein Luballon Burg Spaldenstein, . Oktober Ich habe mich nicht getäuscht, als ich von Ferry sagte, daß er ein Büffel sei. Und Dr. Jelinek erweist sich erneut als guter Medizinmann, denn der »Büffel« läu schon wieder recht munter herum; auch seine »Beute«, die Leopoldine, ist gesund und neu eingekleidet. Beide sind für uns keine Belastung, sondern ein Gewinn, in einer Welt, in der wieder jeder Mensch benötigt wird. Glück, ein bißchen Glück, haben wir nicht nur mit Ferry gehabt, sondern bisher auch mit dem Wetter. Bis auf ein paar kalte Nächte und einige Schneeschauer ist es frühlingsha geblieben. Unten im Burghof basteln (soweit die Mauertrümmer das zulassen) Johannes und der junge Neuner an einer Art Flächenantenne aus Draht, die übersät ist mit kleinen Elementen: es sind Sonnenzellen, wie früher die Satelliten sie besaßen, um Energie aus dem Sonnenlicht zu gewinnen. Später, etwa seit Ende der siebziger Jahre, gab es sie als Massenartikel ganz billig in Bastlerläden zu kaufen, und solche Antennen, wie die unsere da, konnte man manchmal in Gärten von Hobbytechnikern sehen, wo sie zum Antrieb von kleinen Springbrunnen und anderen Spielereien dienten. Wir haben auch einen großen Karton voller Einzelteile gekau, aber erst jetzt wiederentdeckt. Mit zwei oder drei solcher Antennen
könnte man vielleicht zumindest einen kleinen Sender betreiben. »Was sagst du zu dem Wetter?« fragte mich Johannes, als ich vorhin unten war und das Werk der beiden Techniker bewunderte. »Ein blauer Himmel – und nicht violett …«, meinte Dr. Jelinek, der dazukam, »na, meine Herren Physiker, wie erklärt ihr das?« Der junge Neuner – früher wäre er sicher Dozent für Geo- und Astrophysik geworden – unterbrach seine Tätigkeit. »Die dunklere Färbung des Himmels ist auf eine Verdünnung der Luhülle zurückzuführen …« »Wissen wir, wissen wir – aber wie kommt dann die Weltraumkälte herein?« »Die kommt gar nicht herein, denn dann wäre bei minus zweihundertsechsundsiebzig Grad mit einem Schlag alles Leben erloschen. Und übrigens kann Kälte nicht ›hereinkommen‹, sondern nur Wärme abstrahlen, und dann entsteht Kälte. Bei Magnet-Unwettern und Einbrüchen von ›Sonnenwind‹ werden oberste Luschichten abgedrängt und andere steigen hoch. Das ist so, als ob man kräig auf eine Wasseroberfläche bläst – die hochgestiegene Lu kühlt enorm ab und fällt dann wie in gewaltigen ›Tropfen‹ in das entstandene ›Loch‹ oder den ›Trichter‹ oder wie man das nennen will. Dabei kann sie bis auf oder Grad unterkühlt sein. Aber sehr viel mehr nicht, denn dann würde sie flüssig …«
»Das kann ich mir ungefähr vorstellen …«, meinte Dr. Jelinek. »Stammt übrigens nicht von mir«, stellte unser »Vortragender« fest, »das hat so ähnlich schon der Schwede Ivar T. Sandersson vermutet und erklärt.« »Da warst du ja noch gar nicht auf der Welt!« spöttelte Johannes. »Macht nichts, gelesen habe ich es, und Sandersson war auch nicht auf der Welt, als es die Mammuts gab.« »Was hat der mit den Mammuts zu tun?« »Ja, die haben ihn auf die Idee gebracht. Ihr wißt doch«, er war nicht mehr zu bremsen, »so um haben die Russen an der Beresowka, einem Fluß in Sibirien, ein Mammut gefunden, ganz im Eis, und das war völlig erhalten, man hätte sogar sein Fleisch noch essen können, und es hatte frisches Gras und Blümchen im Maul. Erst dachte man, das Tier sei in einen Eis-Sumpf gefallen und erfroren, aber dann kamen – erst in unserer Zeit – die Kältetechniker und wiesen nach, daß so ein Riesenvieh nur dann so gut konserviert werden kann, wenn es schlagartig auf ganz tiefe Temperaturen unterkühlt wird. Übrigens hat man später noch mehr solcher Tiere gefunden. Und das hat den Schweden zu seiner eorie gebracht. Nur ein Punkt blieb unklar.« »Und was?« Nun waren wir wirklich neugierig. »Er erklärte sich den Vorgang so, daß mächtige Vulkane die Lumassen, die später als ›Kälte-Tropfen‹ herunterkamen, hochgewirbelt hätten, aber in Sibirien gab
es ja gar keine Vulkane. Wir können das besser deuten: wahrscheinlich war es ähnlich wie heute, es waren Einbrüche von Sonnenenergie …« »Nur in Sibirien?« »Warum nicht? Es waren wahrscheinlich nur Störungen im Magnetfeld der Erde, aber kein totaler Zusammenbruch wie jetzt. Aber auch jetzt fällt der Tieühl-Lu-Regen sicher nur da und dort und relativ begrenzt.« »Das leuchtet mir ein«, bemerkte ich, »ich habe mich schon o gefragt, wieso da und dort noch Menschen leben können, und vor allem, woher immer wieder Wild in unsere Wälder gelangt. Das hätte ja völlig ausgerottet sein müssen. Es muß also Gegenden geben, wo es nur wenig oder gar keine Kaltlueinbrüche gab, und vielleicht gar nicht so weit entfernt von uns.« »Man müßte eben mehr wissen und sehen, fliegen müßte man können«, meinte Dr. Jelinek. »Ob man viel später einmal irgendwo auch Menschen aus dem Eis graben wird, so wie die Toten von Pompeji und Herculaneum aus Asche und Lava?« spann Johannes einen anderen Gedanken weiter, um plötzlich innezuhalten und zu erklären: »Wißt ihr, wie lang es her ist, seit das erste Lufahrzeug flog?« »Nein – was soll das!« »Es ist genau zweihundertvier Jahre her«, erklärte der frühere Möchtegern-Pilot, der sich darin genau
auskennt, »und damals, , stieg in Paris der Ballon des Herrn Montgolfier auf. Es war ein Heißluballon, der flog mit erhitzter Lu, mit einem Brenner …« »Ja und?« »Und meint ihr nicht, daß wir so ein Ding auch basteln könnten? Einen Brenner zu bauen ist kein Kunststück …« »Und die Hülle?« warf ich ein. »Und die Seile?« »Das Material dafür müßte man eben finden …« »Finden …«, wiederholte hinter uns eine Stimme. Ferry, der trotz strengen Verbots von Dr. Jelinek über die Steine zu uns geklettert war und anscheinend die letzten Sätze mitangehört hatte, »brauchen wir nicht – ich hab’s!« »Was hast du?« »Die Hülle und die Seile. Nein, ich mach’ keinen dummen Witz. Ich war doch zeitweilig Vertreter für eine große Kunststoffirma – übrigens ziemlich nahe bei uns, bei Groß-Siegharts, da hatten die eine Fabrik für feuerfeste Kunstgewebe und Seile, hauptsächlich fürs Militär und für Spezialzwecke. Wenn die noch steht, dann könnt ihr Ballons steigen lassen, soviel ihr wollt, meine Herren …« »Wann fahren wir hin?« fragte Johannes. »Morgen?« »Aber kein Denken daran, lieber Freund«, bremste ich ihn, »das müssen wir vorher gut überlegen. Nein, nein, als wir Ferry holten, war das etwas anderes, da ging es um Leben und Tod, aber für ein paar Ballen
Nylon und solches Zeug riskieren wir nicht gleich Kopf und Kragen.« Womit unsere Kalt- und Heißludebatte zunächst einmal beendet war. Ich wollte zumindest warten, bis Ferry wieder ganz auf dem Damm ist, denn er müßte uns führen, er kennt sich dort aus. Ich muß, als ich die vorige Notiz in mein Tagebuch schrieb, eine dumpfe Ahnung gehabt haben – denn schon am nächsten Tag wäre niemand mehr imstande gewesen, eine Expedition zu unternehmen. Alle unsere Burgbewohner wankten herum wie eine Gruppe von Seekranken und benahmen sich auch so. »Brechdurchfall«, konstatierte Dr. Jelinek, selbst bleich und würgend, »nichts essen, nur Tierkohle!« Einzig »Überlebender« in diesem Fall war meine Frau, und das brachte Dr. Jelinek schließlich zu einer möglichen Erklärung: sie hatte am Vortag kein Wasser aus dem Brunnen getrunken. Ein Virus, ein Gistoff im Wasser? Im Filter und unter dem Mikroskop zeigte sich nichts (oder nichts mehr) davon. »Da muß mit dem letzten Schnee etwas ins Grundwasser gekommen sein, aber das ist auch schon wieder weg«, meinte Dr. Jelinek schließlich. »Auf jeden Fall trinken wir einige Tage nur abgekochtes und gefiltertes Wasser – dann können wir es wieder versuchen.« »Dabei sind wir noch gut dran«, bemerkte ich, »erinnert euch, was die armen Großstädter, vor allem
in Deutschland und den anderen Industriegebieten, früher getrunken haben: drastisch gesagt Wasser, das schon mehrmals durch ihre Körper gegangen war. Ja, ja: hatte der Tübinger Hydrobiologe Otto Klee – ich habe sein Buch gelesen – festgestellt, daß im Londoner Trinkwasser weibliche Hormonstoffe vorhanden waren – Reste der ›Pillen‹, die die Frauen nahmen und die über die Kanäle und Filter ungehindert wieder zurückkehrten … Dazu eine ganze Skala von Gien und Bakterien. Dagegen ist unser Wasser Gold. Aber wißt ihr, was wir jetzt noch viel dringender brauchen als einen Luballon?« »Nun?« »Klosettpapier, meine Herrschaen, oder etwas Ähnliches, sonst muß bald mein Archiv dran glauben.« »Ich weiß schon wo«, Ferry grinste, »beste Qualität.« Es war nur ein sehr unbedeutender Vorfall, aber auch er hat uns neuerlich gezeigt, wie dünn der »Boden« unter unseren Füßen ist, wie dünn der Faden, an dem unser Schicksal hängt. Hoffentlich setzt sich die Serie der Überraschungen nicht fort. Über das sogenannte »Gesetz der Serie« und den sogenannten »Zufall« habe ich früher einmal eine Abhandlung geschrieben. Ich kann sie hier nicht wiedergeben – aber ich bin überzeugt, daß Serien und Zufälle bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die für uns nur vorerst noch undurchschaubar sind. Diese Gedanken machen mich unruhig und nervös.
Heute vormittag spazierte ich mit Dr. Jelinek hinaus über die Wiese vor der Ostseite der Burg bis zum Rand des kleinen Wäldchens. »Was hast du?« wollte mein Begleiter wissen. »Ich weiß nicht – komm, laß uns einmal die Drähte nachsehen, wenn wir schon da sind.« Vor einem Jahr ungefähr, als wir noch unsicher waren, ob wir nicht mit ungebetenen Gästen rechnen müßten, haben wir dort Stolperdrähte angelegt, die mit kleinen Sprengladungen versehen sind und außerdem eine schrille Glocke im Turm auslösen. Dort gab es keinen Wildwechsel, das wußten wir, und tatsächlich hat nur einmal ein verirrtes Reh eine Sprengladung hochgehen lassen. Kopfschüttelnd sah Jelinek zu, wie ich die Drähte kontrollierte. Bis auf einen waren sie noch in Ordnung. »Soll ich dir etwas zur Beruhigung geben?« fragte mein ärztlicher Freund. Jetzt überlege ich, ob ich ihn nicht doch darum bitten soll, denn ich möchte wenigstens in der Nacht gut schlafen. Und keine Alpträume haben. Natürlich ist das alles Unsinn – was sollte geschehen? Gegen Unwetter und Erdbeben schützen kein Draht und keine Alarmglocke, ebensowenig wie gegen irgendeine Krankheit. Vielleicht ist ein Viertel Wein die beste Medizin.
„Tod – Tod!“ schrien die Wahnsinnigen Burg Spaldenstein, . November – Allerseelen Dieser Tag hätte für einige von uns tatsächlich zum »Seelentag« werden können. Der Alarm kam im Morgengrauen. Die Glocke im Turm schrillte grell, und im Wäldchen krachten mindestens zehn kleine Explosionen. Das war kein Wild! Mir fiel die alte Straße ein, die nordöstlich durch die Wälder nach Böhmen führt. Auf ihr sollten nach alten Überlieferungen einst die Hussiten gekommen sein, die Spaldenstein plünderten und zerstörten. Wer oder was mochte jetzt kommen? Schlarunken, wie wir waren, liefen wir über den Schutt und die Steine im äußeren Hof und die Holztreppe zum Wehrgang hinauf. Ferry im flatternden Nachthemd meiner Frau, das sie ihm überlassen hatte, und in seinen Unterhosen, die darunter hervorschauten, wirkte so unbeschreiblich komisch, daß ich lachen mußte. Ferry lachte nicht. Er hatte das Prunkstück unseres Waffenarsenals, das immerhin zehn Kilogramm schwere LMG wie einen Spazierstock geschultert und legte es dann behutsam zwischen zwei Mauerzinnen. Wir anderen verteilten uns links und rechts von ihm. Dann kamen sie auch schon über das freie Wiesenstück: sechs, acht, neun, zwölf wilde und wüste Gestalten. Alte Männer und ganz junge. In ihren weit aufgerissenen Augen stand der Wahnsinn, und ihre Gesichter
waren kirschrot verfärbt – sie mußten zumindest einen Strahlenstoß in voller Stärke abbekommen haben. Sie trugen Sensen, Messer, Pistolen und Gewehre, und sie schrien in mehreren Sprachen heiser durcheinander – es mochte Tschechisch, Deutsch, Polnisch oder weiß Gott was sein. Nur ein Wort verstanden wir gut: »Tod – Tod!« Und das galt uns. »Sollen wir schießen?« fragte Alexander neben mir und sah sehr bleich aus. »Nein … nein – noch nicht …« In dem Moment, als Ferry sich tiefer über seine Waffe beugte, in diesem Moment tat Dr. Jelinek etwas, das verhinderte, daß wir zu Mördern wider Willen wurden: er riß die Leuchtpistole hoch, es zischte, und über den Köpfen der Anstürmenden erschien ein grünlicher Stern. Die mit den roten Gesichtern hielten überrascht im Laufen inne. Die zweite Leuchtpatrone fauchte, und das grellweiße Leuchten stand jetzt hinter den Angreifern. Zwei, drei wandten sich um, deuteten empor und schrien etwas Unverständliches. Dann fielen sie auf die Knie und begannen irgendeine Art Betgesang zu heulen und zu krächzen; die anderen folgten ihrem Beispiel. Die dritte und vierte Leuchtkugel schoß Jelinek so, daß sie weit über dem Wald als strahlende Sterne aufplatzten. Jetzt gab es für die Gestalten vor der Burgmauer kein Halten mehr. Jubelnd, hüpfend und singend rannten und sprangen sie dem Waldrand zu,
den leuchtenden Kugeln nach, die in der Ferne langsam niedersanken. Eine kurze Weile noch hörte man sie singen und schreien – dann war alles wieder still – die ganze Szene mochte knapp fünf Minuten gedauert haben. Wir reckten uns und sahen uns an, keiner fand ein Wort – bis Alexander rief: »Da unten, da ist doch etwas!« Richtig: direkt am Fuß der Mauer, fast schon in ihrem toten Winkel, lag ein regloses Bündel – ein Mensch. Daß nur elf von den zwölf wieder davongerannt waren, hatten wir in der Aufregung gar nicht bemerkt. Ferry, Johannes, der junge Neuner und die Frauen blieben oben auf dem Wehrweg. Dr. Jelinek, Alexander und ich kletterten hinab und gingen, immer noch vorsichtig, auf das Bündel zu. Es war ein junger Mann von vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahren, zerlumpt und zerschunden, aber unverletzt; er lebte, und: »Er hat kein rotes Gesicht!« sagte Dr. Jelinek überrascht, der sich über ihn gebeugt hatte; »wir können ihn also ruhig anfassen … los, meine Herren!« Zu dritt schleppten wir den anscheinend nur an Entkräung Zusammengebrochenen in unser provisorisches Lazarett im Keller. Er war sehr leicht. Aber auch zäh, das merkte ich am Abend, nachdem wir unsere »Wachen« zurückgezogen und neue Stolperdrähte und Knallkapseln ausgelegt hatten. Und verdummt und wahnsinnig schien er jedenfalls auch nicht zu sein, das zeigten schon die ersten Sätze, die er – wohlversorgt
und gesättigt – von seinem Lager aus sprach, halb tschechisch – halb deutsch. Er heißt Jaroslaw Mlynek, ist Biologe und Agrotechniker und stammt aus Prag. Wie er zu den anderen kam, weiß er nicht mehr. Er erinnert sich nur, daß er in seiner kleinen biologischen Station mitten im Böhmerwald war, als es passierte. Deshalb hat er wohl auch kein kirschrotes Gesicht bekommen, der Wald hat ihn geschützt. Geblieben ist ihm die Erinnerungslücke, aber sein Denken war ganz klar, als er vor der Burg stand, dort oben Menschen sah und die anderen »Tod!« schreien hörte. Das gab ihm einen Schock. Ein kräiger Grog machte Jaroslaw munter, und so sitzen wir noch eine gute Stunde um sein Bett und unterhalten uns, vor allem über die uns alle interessierende Frage, wieso es zu dieser anscheinend weltweiten Verblödungswelle gekommen ist. Daß die Menschen durch die harte Strahlung umgekommen oder geschädigt sind, das leuchtet uns ja allen ein – schließlich hatten wir ja schon Hiroshima und Nagasaki und genügend Atomunfälle, aber das andere, der Wahnsinn …? »Es war nicht wie eine Atombombe«, meint Jaroslaw, nachdem er von uns gehört hat, was alles vor sich ging, »das Spektrum der Weltraumstrahlung ist breiter, ist anders. Ich bin ein wenig Fachmann für Strahlungseinflüsse auf lebende Wesen – erinnert ihr euch, daß schon nach den Apolloflügen der Amerikaner einige Astronauten gewisse psychische Veränderungen zeig
ten? Manche merkten irgend etwas schon auf dem Flug, andere mußten später behandelt werden, auch einige Ehen sind geschieden worden. Warum? Weil die Männer anders geworden waren, aber das hat man möglichst verschwiegen. Und noch etwas: die Flüge waren relativ kurz, die Männer hatten Schutzanzüge und waren in der Kapsel – die Menschen jetzt waren ohne Schutz und länger der Strahlung ausgesetzt, da gibt es eben auch nicht nur psychische Störungen, sondern Zerstörungen …« »Es hat angeblich«, komme ich auf mein altes Lieblingsthema zurück, »schon Jahrzehntausende vor unserer Kultur andere gegeben, die weiter entwickelt waren und restlos verschwanden; es hat vor eineinhalb Millionen Jahren den Kenya-Menschen gegeben – hat ihn ein Engländer gefunden –, der uns fast in allem gleich war, aber plötzlich verschwunden ist, und dann kamen Halbaffen und solche Wesen wie die Neandertaler …« »Du meinst also, das könnte damals auch schon so gewesen sein?« fragt Johannes. »Warum nicht? Umpolungen hat es auf der Erde ja schon einige gegeben, größere und kleinere – vor der letzten ganz großen um . vor uns lebte der Kenya-Mensch, nach ihr der primitive Australopithecus.« »Aber warum ist denn gerade uns nichts passiert?« Jaroslaw antwortet, während er lächelnd zur Kellerdecke blickt: »Erstens ist man hier unten gut geschützt,
und außerdem ist es ein Zufall, wo jeder sich im entscheidenden Augenblick befand, oder auch später, wenn sich die Ereignisse wiederholten.« »Wieso Zufall?« »Jeder Untergrund, jeder Boden«, erklärt Jaroslaw, »ist unterschiedlich magnetisch, das weiß man schon seit und früher, und das kann einen Einfluß ausüben auf die Strahlungen und ihre Wirkungen …« Er ist leiser geworden, und jetzt fallen ihm die Augen zu. Wir lassen ihn schlafen und wollen es auch tun, in der Hoffnung, daß es keinen zweiten Alarm gibt. Ich kann nicht schlafen, noch nicht. Im Kopf geht mir eine Episode herum, die Jaroslaw so nebenbei in seinem Erlebnisbericht erwähnt hat: Einmal, als er in der Zeit seiner Erinnerungslosigkeit für kurze Zeit halb bei Sinnen war, hatte er den Eindruck, in einem Dorf zu sein, in dem ein paar Mädchen und Frauen völlig normal herumgingen und redeten, während die Männer alle rotgesichtig und übergeschnappt waren – vielleicht, weil die Frauen zu Hause gewesen und in die Keller geflüchtet waren, die Männer aber auf dem Feld? Das ist jetzt auch gleichgültig, entscheidend für uns (und ich denke dabei an unsere drei unbeweibten jungen »Besatzungsmitglieder«) wäre es, diesen Ort zu finden. Es könnte sich – ich studiere die große Wandkarte – nach den Angaben von Jaroslaw bezüglich seiner Forschungsstation eigentlich nur um das winzige
Nest »Nova-Ves« (Neudorf), ungefähr Kilometer von uns entfernt, gehandelt haben. Hinter den Bergen. Man müßte doch versuchen, dort einmal nachzusehen. Nach Weihnachten, wenn das Wetter etwas konstanter zu werden verspricht. Jaroslaw ist Agronom und kann später auf dem Hof vom Hueber mithelfen und – aber jetzt überfällt auch mich die große Müdigkeit.
Robinsons lernen das Überleben Burg Spaldenstein, . November , Uhr Über eine Woche ist Jaroslaw als zehntes Mitglied unserer kleinen Gemeinscha jetzt hier – aber es ist, als wäre er schon immer dabeigewesen. Alle Maßstäbe haben sich anscheinend verändert. Es wird nun Zeit, daß wir nicht nur einfach in den Tag hineinleben, sondern so etwas wie ein Programm aufstellen, einen Plan über das, was zu tun ist, und derer, die es zu tun haben. Daß die Organisation keine Erfindung der Bürokraten, sondern eine simple Lebensnotwendigkeit ist, beginnen wir zu begreifen. Und wir richten uns danach: Alexander und Jaroslaw werden als Biologe und Landwirt eingeteilt; ihre Aufgabe ist es, mit Hilfe der alten Huebers eine »Ernährungsbasis« zu schaffen, soweit das geht. Johannes und Franzi Neuner haben sich als Technologen darum zu kümmern, daß unsere bescheidenen technischen Einrichtungen funktionieren und nach Möglichkeit erweitert werden. Ferry ist für die Funkanlagen und damit für mögliche Kontakte mit anderen Überlebenden zuständig. Nebenbei ist er, gemeinsam mit Dr. Jelinek, Jäger und »Erkunder«. Ja, und die Frauen besorgen eben alles, was für das
tägliche Leben nötig ist, während ich als Koordinator tätig bin. Das hat nichts mit Autorität oder dergleichen zu tun – aber den Luxus fruchtloser Diskussionen und eigenwilliger Einzelaktionen können wir uns nicht leisten. In extremen Situationen muß einer bestimmen, was zu geschehen hat – und das unter Umständen blitzschnell. Er trägt auch die Verantwortung. Wir leben in einer Art Kriegszustand – im Kampf mit der Umwelt, und das erfordert Konsequenzen. Den Prioritätenplan, die Reihenfolge unserer Vorhaben haben wir gemeinsam aufgestellt. Da steht an erster Stelle die Ernährung, denn nur von Fleisch und Konserven können wir nicht ewig leben. Deshalb sind Alexander und Jaroslaw, wenn es das Wetter nur irgendwie erlaubt, unterwegs und fahnden nach Körnern und Früchten, die ohne Schäden geblieben sind. Die untersuchen sie dann unter unserem alten Schulmikroskop, um brauchbare Sorten herauszufinden, die dann hoffentlich möglichst strahlen- und wetterfest sind. An zweiter Stelle rangiert die Energieversorgung. Unsere Ölvorräte gehen zur Neige, und neue werden wir wohl nicht finden; auch auf den Bach ist nicht für alle Zeit Verlaß. Wenn wir nur eine gute, alte Dampfmaschine hätten! Ich hatte noch versucht, so ein Ding anzuschaffen – aber dergleichen war im Zeitalter des Fortschritts nirgends mehr aufzutreiben. Punkt drei ist der Luballon. Das ist nicht nur eine Spielerei für uns Männer – seit dem Allerseelentag be
herrscht uns alle das Gefühl, daß es gut wäre, wenn wir ab und zu etwas weiter in die Gegend sehen könnten. Und schließlich und endlich wollen wir irgendwann einmal einen Vorstoß zu jenem geheimnisvollen Dorf der einsamen Frauen unternehmen, von dem Jaroslaw erzählt hat. Dies aus zweierlei Gründen: erstens interessiert uns, wie und warum sie überlebten, und zweitens – wir brauchen Frauen. Das ist nüchtern, aber realistisch gesagt. Von den derzeit hier lebenden vier Frauen kommen nur zwei – Maria und Leopoldine – für Nachwuchs in Frage, und zwei unserer Männer, Johannes und Jaroslaw, sollten nicht als Junggesellen sterben. Die Verhältnisse haben sich im Vergleich zu der Zeit, da Geburtenbeschränkung das oberste Gebot hätte sein sollen, ins Gegenteil verkehrt. Wir müssen vorerst damit rechnen (auch wenn wir es nicht hoffen), allein zu bleiben; wenn aber diese Menschheit weiterleben soll, müssen Kinder zur Welt kommen. Für diesen Programmpunkt besteht natürlich keine Eile; bevor nicht die Wetterverhältnisse stabiler geworden sind, werden wir unser Leben nicht riskieren. An ruhigen Abenden, wenn Erde und Himmel einmal keine Sensationen bieten – nie haben wir so häufig und mit soviel Hoffnung und Bangen zum Himmel aufgeblickt –, versammeln wir uns manchmal alle im großen Saal, und meine Frau liest vor – das ersetzt das Fernsehen von einst. So haben wir es schon vor vielen Jahren zu Hause gehalten, wenn uns das Programm
nicht interessierte; für die Kinder war dies das schönste Abendvergnügen. Damals waren es historische Romane und Tatsachenberichte, die sie fesselten – jetzt ist es der uralte »Robinson« von Daniel Defoe. Es gibt nichts, was passender für unsere Situation wäre. Diese vom Dichter teils erfundene, teils auch authentische Gestalt hat ebenfalls überlebt; mit einfachsten Mitteln in einer feindlichen Umwelt. Wir müssen dieselbe Aufgabe bewältigen, haben aber wesentlich bessere Mittel zur Verfügung, sind allerdings auch stärker gefährdet. Die Robinsonade ist deshalb nicht weniger mühsam. Es sind Kleinigkeiten, scheinbar lächerliche Kleinigkeiten, die unser Weiterleben möglich machen, doch sie wollen Tag für Tag bewältigt sein. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Karpfen und den Netzen. Vor einigen Tagen kam Dr. Jelinek nach einem langen Streifzug mit der Kunde zurück, daß er einen Teich entdeckt habe, in dem es von Karpfen nur so wimmle. Das ist zunächst nicht erstaunlich, denn das Waldviertel war in früheren Zeiten der Lieferant dieser schmackhaen Fische für Wien und halb Österreich. Nach vielen Monaten Wildbret wäre ein Karpfen eine willkommene Abwechslung auf unserem Speisezettel und zudem eine Chance für eine spätere Fischzucht. Karpfen fängt man mit Netzen – ein Artikel, den wir leider nicht eingeplant hatten. Vielleicht gibt es welche in der Umgebung, aber wo …?
Besser, wir knüpfen sie selbst. Wer hat oder überlegt, wie man Netze herstellt, was doch früher einmal für jeden Fischer eine Selbstverständlichkeit war? Meine Frau hat den rettenden Einfall: »Du«, sagt sie, »erinnere dich, wie wir damals in Wien ein Tischtennis-Netz gebastelt haben. Das war zwar nicht ganz einfach, aber die Kinder wollten es, und dann habe ich eine Anleitung aufgetrieben und aus alten Wollresten eines hergestellt. Das war doch so …« Vierundzwanzig Stunden später – einen ganzen Abend lang saßen unsere Frauen beisammen und knüpen und wirkten – haben wir ein Netz etwa drei mal drei Meter groß. Ich vermisse meinen dicken Pulli, er ist jetzt mit im Netz verarbeitet. Dann ziehen sie los: Dr. Jelinek und unsere Frauen; und dann gibt es vier Tage lang Karpfen und Fischsuppen – ein kleines Wunder, daß diese Fische tiefgekühlt im oder unter dem Eis überlebt haben. Jaroslaw, der Biologe vom Dienst, erklärt es uns: »Sicher war das Wasser nicht bis auf den Grund gefroren. Aber abgesehen davon: ich war als Student mit einer Delegation in Moskau. Da haben uns sowjetische Kollegen eine Eidechse gezeigt, die sie kurz vorher aus dem sibirischen Eis geborgen hatten. Sie kam in der Wärme zu sich und lebte völlig normal, obwohl sie, wie die Untersuchung mit dem Radiokarbon-Test ergab, mindestens hundert Jahre im Eis eingefroren gewesen war. Eidechsen leben manchmal fünfzehn bis sechzehn Jahre – vielleicht lebt sie also auch heute noch …«
Unsere Karpfen schmeckten jedenfalls hervorragend. Vom Hueber-Hof her dringt metallisches Hämmern durch das offene Turmfenster. Dort sind die Techniker am Werk, und sie haben nichts anderes vor, als den Aufbau einer eigenen Industrie im Kleinformat, so ähnlich, wie es in den sechziger Jahren die Chinesen bei ihrem »großen Sprung nach vorne« versucht hatten. Was jenen zum Teil glückte, das müssen wir jetzt zwangsläufig versuchen. Im Burgenland hatte man eine Eisenverhüttungsanlage aus der Vorzeit ausgegraben, mit Öfen aus Lehm, sehr primitiv, aber offenbar recht wirkungsvoll, denn dort waren jahrhundertelang Eisenschmelzer am Werk gewesen. Wir fuhren damals hin, sahen uns die Anlagen an, und Alexander zeichnete sie genau ab. Jetzt steht ein solcher »Hochofen« in der Nähe des HueberHofes, und demnächst wollen wir mit Eisenteilen und Blech, das wir aus dem Dorf geholt haben, die ersten Schmelzversuche machen. Holzkohle können wir in Eigenproduktion genügend herstellen. Uns geht es ja in dieser Beziehung unendlich viel besser als unseren Vorfahren: wir haben das Wissen von diesen Dingen bis zur Herstellung von Nitroglyzerin und Raketen mit einfachsten Mitteln gesammelt und gehortet; in unserer Bücherei stehen die Bände der technologischen, physikalischen und chemischen Lexi
ka – der Grundstock für eine spätere Zivilisation. Im »Dorf«, das wir ab und zu aufsuchen – zwar immer mit einem etwas unsicheren Gefühl, denn die tote Leere dort wirkt unheimlich und bedrückend –, fanden wir auch etwas, das für uns von größter Wichtigkeit ist: eine alte Schmiede mit allem Gerät, die in den siebziger Jahren stillgelegt und zu einem Freilichtmuseum heimischer Schmiedekunst ausgestaltet worden war – die Gemeinde erhoe sich davon eine Fremdenverkehrsattraktion. Diese Werkstätte haben wir nun Stück für Stück zu uns verfrachtet und wären theoretisch in der Lage, sogar kompliziertere Güsse und Eisenprodukte herzustellen. Einmal wird es ja aus sein mit unseren Autos und Maschinen, und dann werden wir wieder mit Hufbeschlägen und Pflügen anfangen müssen – wenn wir noch leben. Die sechs Traktoren, die im Dorf herumstehen, wieder in Gang zu bringen, wäre sinnlos, jedenfalls vorläufig – womit sollen wir sie betreiben? Aus meiner Bücherkiste habe ich ein Buch ausgegraben, das mehr oder weniger zufällig mit hineingeraten war. Es trägt den Titel »Die eisernen Engel« und wurde vor dem Zweiten Weltkrieg von Walter Kiaulehn geschrieben. Es handelt von der Geschichte der Maschinen und enthält Bilder und Skizzen der frühesten Dampfmaschinen. Johannes, Alexander und der junge Neuner haben begonnen, anhand dieser Bilder eine Konstruktion zu entwerfen. Eisenteile von Traktoren,
Mähdreschern und dergleichen lagern bereits vor dem Hueber-Hof, und es könnte sein, daß es ihnen gelingt, daraus eine Maschine zu basteln, die mit Holz und Wasserdampf Energie erzeugt. Was uns fehlt, ist ein Schweißapparat – ein Königreich für einen Schweißapparat. Leider habe ich im Augenblick weder das eine noch das andere. Aber vielleicht werden wir auch den irgendwo noch einmal aureiben. Letztlich waren wir trotz aller Voraussicht doch viel zu sehr in den Begriffen einer Überflußwelt befangen gewesen, in der es alles gab, als wir unser Lager anlegten. Jetzt gibt es nur noch Zufälliges. Wenn ich daran denke, wie man sich damals die Köpfe zerbrach, um der beginnenden Rohstoff- und Energiekrise Herr zu werden, ohne den »geheiligten« Lebensstandard zu senken … Es hat alles nichts genützt: die Energiekrise kam, die Lichter gingen immer öer aus, und die Rohstoffe wurden immer knapper und teurer. Energie hat später der Himmel im Übermaß geliefert – allerdings eine zerstörerische. Ferry ist gerade zur Tür hereingekommen: »Du, die drüben sollen auören …« »Warum denn?« »Schau hinaus, es kommt wieder ein Stück Winter!« Im Westen hat sich eine Wolkenwand hochgeschoben und rückt rasch näher. Das Barometer sinkt rapide.
»Gut, hol sie, und sicherheitshalber die Maria und die beiden Alten auch, man kann nie wissen.« »Weißt du, wo Leopoldine ist?« »Keine Ahnung, wenn du es nicht weißt.« »Sie war zuletzt im Hof drüben und ist dann angeblich noch in den Wald, Holz für den Kamin holen …« »Wenn das gut geht!« Ein Windstoß knallt das Fenster zu.
Ein Horrorfilm wird Wirklichkeit Burg Spaldenstein, . November Das Unwetter war nicht so arg, wie wir zunächst befürchtet hatten – ein für unsere Begriffe »harmloser« Schneesturm mit achtzig bis neunzig Stundenkilometern, aber ohne Strahlenstöße und sonstige Nebenerscheinungen. Er ist auch bereits vorübergezogen, nur nasser Schnee fällt noch. Schlimm ist etwas ganz anderes: wir haben Leopoldine gefunden. Als sie in der Burg nirgendwo zu entdekken war, brachen wir gestern abend auf, sie zu suchen. Mit Scheinwerfern und Magnesiumfackeln. Ferry, Alexander, Jelinek und ich. Vier Männer in Pelzstiefeln und Parkas gegen eine tobende Schneehölle. Den Weg wußten wir ungefähr. Nach dreiviertelstündigem Suchen fanden wir, was von Leopoldine übriggeblieben war – keine zwei Kilometer von der Burg entfernt im Wald. Der Anblick war entsetzlich, und wir fanden auch zunächst keine Erklärung. Sie muß ausgeglitten sein und sich einen Knöchel gebrochen haben, das war offensichtlich. Aber nicht, was dann geschah. Unsere erste Vermutung war, daß Wölfe oder Füchse sie so zugerichtet hätten. Bis Dr. Jelinek die Reste des Körpers vorsichtig anhob und unter ihm etwas her
vorholte, das im Licht der Scheinwerfer zunächst nicht genau zu erkennen war. Ferry wandte sich ab und erbrach sich. Jetzt, im Morgengrauen, liegt dieses Etwas vor mir auf einer großen flachen Schale, und Jaroslaw und der Doktor beugen sich darüber. »Formica rufa – die rote Waldameise«, konstatiert Jaroslaw nun schon zum zweitenmal, »eine Ameise, allerdings recht verändert …« »Stand früher unter Naturschutz«, ergänzt Jelinek sachlich, »aber die da würde ich nicht schützen.« »Die-da« ist gut fünfundzwanzig Zentimeter lang, Kopf und Beißwerkzeuge sind im Verhältnis zum übrigen Körper überdimensioniert. Die Augen des seltsamen Insekts, das zum Teil zerdrückt ist, blicken starr und stumm, als richteten sie eine Frage an uns. »Die-da« hätte man früher in japanischen Horror-Filmen aureten lassen, jetzt ist sie eine tote, aber nicht minder häßliche Wirklichkeit. Grausamer als jeder Gruselfilm. So grausam, wie es die Bergung des toten Mädchens war; Johannes und der junge Neuner waren auf unseren Anruf hin mit einer Akja gekommen, und jetzt müssen wir überlegen, wo wir das, was darauf unter einer Plane ruht, begraben wollen. Wir haben nasse Füße und heiße Köpfe. Wir überlegen und diskutieren. Denn wenn dieses Wesen, das greiar vor uns liegt, nicht ein Einzelfall ist, dann sind nicht nur ein paar wissenschaliche eorien überholt – dann
müssen wir uns überhaupt auf allerlei gefaßt machen. Die Konsequenzen sind ganz andere, wenn man sich im Kino von einem utopischen riller schocken läßt oder wenn man solchen Phänomenen übernächtigt im kalten Turmzimmer einer alten Burg gegenübersteht. Das geringste Kopfzerbrechen bereitete uns die Rekonstruktion von Leopoldines schrecklichem Ende: Sie wollte Holz sammeln, stürzte, brach sich den Knöchel und schleppte sich hilflos zurück. Dabei kreuzte sie offensichtlich eine »Ameisenstraße«. Und dann müssen sie gekommen sein, trotz des einsetzenden Schneesturms – zu Tausenden, Zehntausenden. Hungrig und mit mahlenden Kiefern. Und eines dieser entsetzlichen Tiere hat Leopoldine bei ihrem verzweifelten Abwehrkampf unter sich begraben … Jaroslaw faßt das Ergebnis unserer und seiner Überlegungen zusammen: »Trotz aller Widersprüche bleibe ich bei meiner eorie: die Veränderungen des Lebens auf dieser Erde sind nicht nur durch Anpassung an veränderte Lebensbedingungen erfolgt, das hätte viel zu lange gedauert, sondern zumindest ebenso o durch sprunghae Mutationen. Darwin hatte nur zum Teil recht, denn neben der Anpassung gibt es den jähen, plötzlichen ›Sprung‹. Ein Strahlenstoß dringt durch, und einige von Abermillionen genetischen Möglichkeiten werden umprogrammiert oder aktiviert. Von einem Tag zum anderen. Und was dann übrigbleibt und sich als lebensfähig erweist, ist die neue Art …«
Er ist aufgestanden und steht mit seinen entzündeten roten Augen da wie ein fanatischer Prophet früherer Zeiten, der Menschenmassen zu begeistern und mitzureißen versucht. »Denkt doch daran –«, er sieht uns beinahe böse an, während Dr. Jelinek beifällig nickt, »daß schon zweimal in der Erdgeschichte eine unbeschreibliche Fülle neuer Lebensformen schlagartig unseren Planeten überschwemmte. Einmal am Ende des Paläozoikums, als eine erste Eiszeit die Erde heimsuchte, um danach der ungeahnten Fülle grotesker Saurier Platz zu geben, die wir später in den Museen bestaunen konnten. Heute möchte ich gerne wissen, wie die hochgelehrten Fachleute es damals erklärt haben, daß aus harmlosen Schlangen und Echsen Riesensaurier wurden – so wie jetzt aus der ›Formica rufa‹ so ein Monstrum. – Noch ein zweites Mal, im Tertiär, schäumte die Erde von ungeahnten Mutationen über. Tausende neue Arten entstanden, darunter die Säuger, unsere Vorfahren. War das alles nur eine ›natürliche Auslese‹? Oder hat auch damals irgendeine Strahlung die Chromosomen verändert und manipuliert?« Ferry und ich haben fasziniert zugehört. »Du hast recht«, sage ich, »so kann es gewesen sein, auf jeden Fall ist es heute so. Ich erinnere nur an einen Klaatsch oder Edgar Dacqué, die in den dreißiger Jahren ähnliches behauptet hatten – natürlich ohne von Strahlungseinflüssen etwas zu wissen. Aber sie haben
Darwin und seiner Evolutionstheorie widersprochen, denn sie ahnten, daß das Gerede vom Zufall und der Anpassung nicht ganz ausreichte, um alle Lebensformen zu deuten. So weit gut und schön – doch welche Konsequenzen ergeben sich für uns? Gehen diese Veränderungen und Mutationen noch weiter?« Jaroslaw zuckt resigniert die Schultern: »Das werden wir im nächsten Jahr sehen. Wenn diese Art«, er deutet auf die tote Riesenameise, »lebens- und zeugungsfähig ist, dann gnade uns Gott. Schaut euch den Kopf an! Die Ameisen waren schon früher nicht dumm, aber in so ein Gehirn gehen hundertmal mehr Informationen hinein; diese Biester könnten eines Tages eine enorme Intelligenz entwickeln …« »Na, vielleicht schreiben sie einmal die Geschichte der Menschheit …«, konstatiert Ferry sarkastisch. »Vorläufig müssen wir diese Menschheit erst einmal erhalten«, sage ich und tippe weiter, »was können wir wirklich tun, wenn diese Biester massenha aureten sollten?« »Mit Gi und derlei Dingen kommen wir ihnen sicher nicht bei«, antwortet Jaroslaw, »auch nicht mit Wasser. Ihr habt ja gesehen, daß ihnen der Schnee gar nichts ausmacht. Die sind zäher als wir. Erinnert ihr euch an die Ratten? Die sind ziemlich harmlos geworden, und ich glaube, daß sie eher verkümmern werden – aber früher … In Deutschland hat es in den siebziger Jahren einhundertfünfzig Millionen Ratten gegeben,
fast dreimal soviel wie Einwohner, und sie waren nicht auszurotten, weil sie zu klug waren und schnell lernten. Sie hatten sich den Menschen angepaßt – und deshalb werden sie jetzt auch wahrscheinlich aussterben. Sie sind mit dem Menschen groß geworden, sie werden mit ihm klein …« Mir brummt der Schädel vor Überlegungen und Müdigkeit: »Bitte, werdet endlich konkret: was machen wir, wenn ein Zug der ›Formica gigantea‹ – ist das nicht ein schöner, neuer Name? – auf uns zukommt?« »Feuer«, sagte Ferry, »da nützt höchstens noch Feuer.« »Napalm …«, überlegte ich laut, »damit hat man früher Menschen und Häuser vernichtet – wir müssen noch einmal ins Dorf. Irgendwo muß dort noch ein Schweißgerät vorhanden sein. Wir brauchen Flammenwerfer, wir müssen sie bauen. Petroleum, Öl und Benzin haben wir; Johannes und Franzi sollen daraus etwas mixen …« Am Abend Wir sind ins Dorf gefahren, es war kein Problem. Der Schnee ist bereits zur Häle wieder weggetaut, nur sehr morastig war alles. Stundenlang haben wir Keller und Häuser durchstöbert, bis wir endlich in einem verfallenen Schuppen hinter der Tankstelle fanden, was wir suchten: zwei Flaschen mit Dissousgas und Sauerstoff, die noch Druck aufwiesen, und ein Schweißgerät. Das hätten wir schon früher haben können, aber da schien
es uns nicht so wichtig. Erst wenn die nackte Existenz bedroht ist, wird der Mensch aktiv und erfinderisch. Vielleicht ist diese Kunst des Überlebens sein Vorteil gegenüber den Insekten – sein einziger. Die Dampfmaschine hätte uns jedenfalls nicht zu solchem Eifer angeregt. Nun, das Schweißgerät ist da, und Kanister gibt es massenha. Unsere Techniker basteln, zeichnen und konstruieren, als ginge es ums Leben. Es geht ja tatsächlich darum! Der lächerliche Burggraben mit dem wenigen Wasser darin würde uns nicht schützen, und auch keine Mauer und kein Maschinengewehr, wenn die Ameisen uns überfallen sollten. Ein Wahnsinnswitz des Schicksals scheint es mir, daß das erste, was wir in unserer neuen Welt konstruieren werden, kein Gerät des Friedens ist, nicht die so dringend nötige Dampfmaschine – ob die möglich ist, wird sich erst herausstellen, wenn wir sehen, ob noch Gas genug für das Schweißgerät vorhanden ist –, sondern eine Vernichtungswaffe. Ein Ding zum Töten, um nicht selbst getötet zu werden. Morgen werden wir Leopoldine begraben. Vielleicht hat sie uns mit ihrem Tod das Leben gerettet, denn sonst wären wir wohl zu spät auf die Spur der Riesenameisen gekommen. Und bedeutender denn je ist auch das »Projekt Luballon« geworden. Wir müssen ihn haben, um unser
Blickfeld zu erweitern, um jede Gefahr früher erkennen zu können, gleich, ob sie von Mensch oder Tier herrührt. Das Haustelefon vom Hueber-Hof läutet. Der Hueber-Franz selbst ist am Apparat. »Die zünden mir noch die Scheune an«, schimp er, »die sollen das woanders machen!« »Die« sind in diesem Fall Johannes und der junge Neuner. »Es funktioniert!« schreit Johannes aufgeregt in den Hörer. »Wir haben eine Mischung, die brennt großartig. Die Pumpe dazu wird morgen fertig. Dann sollen sie nur kommen, diese Viecher, denen werden wir es zeigen!« »Ja, aber zündet dem Franz um Gottes willen nicht die Scheune an …« Wie begeistert Menschen doch werden, wenn es um Kampf geht. »Der Kampf ist der Vater aller Dinge«, hat vor etwa zweitausendfünundert Jahren Heraklit geschrieben. Er hat anscheinend recht gehabt. Und wenn ich »die-da« ansehe, dieses Wesen, das nun in einer Glasflasche in Spiritus liegt – diese tote und stumme Drohung –, dann kann auch ich mich nur freuen, daß wir es schaffen werden und im Notfall wenigstens mit gleichen Chancen kämpfen können.
Doch niemand wollte die Zeichen sehen Burg Spaldenstein, . November Vier Tage sind vergangen, seit Leopoldine, unser »Beute-Mädchen« von einst, der grüne Rasen deckt. Eine dumme Phrase, dieser »grüne Rasen«. Es ist düriges altes Gras, und der Boden war zum Teil gefroren, zum Teil matschig, als wir neben dem Hueber-Hof das Grab schaufelten und die Nylonhülle darin versenkten. Särge gibt es im Jahr des Heils oder Unheils nicht mehr. Ob sie katholisch, evangelisch oder überhaupt christlich war, wußten wir nicht. Jeder hat sein Gebet nach seiner Weise gesprochen, und wenn es einen Himmel gibt, wird sie auch so dort hineingelangen. Ferry war sternhagelvoll. Das ist seine Art der Trauer. Vorgestern haben Johannes und Franz Neuner ihre Flammenwerfer vorgeführt. Wir standen pompös und dumm da und ließen uns die neuen Waffen zeigen. Wir staunten, als aus den Gebilden, die künstlerischen Kompositionen der siebziger Jahre gleichsehen, vierzig Meter lange Flammenzungen leckten und alles in Rauch und Feuer hüllten. Wir kamen uns sehr mächtig und erfinderisch vor. Jetzt steht eines der bizarren Dinger im Vorhof und eines ist auf der Ladefläche des Range-Rovers montiert. Nun könnten die Ameisen kommen – aber sie kommen
nicht, und das ist gut so. Wir brauchen eine Verschnaufpause, damit wir Programmpunkt zwei in Angriff nehmen können – den Bau der Dampfmaschine. Sehr viel Gas zum Schweißen ist nicht mehr vorhanden. Kurz vor Leopoldines Beisetzung trat etwas ein, das man früher nur in übervölkerten Millionenstädten kannte: ein »Sauerstoff-Loch«. Der normale Gehalt an Sauerstoff in der Atmosphäre beträgt Prozent. Gestern waren es Prozent, wie unsere Geräte und auch unsere Lungen anzeigten. Sauerstoffarme Lu muß über uns hinweggezogen sein. Wir keuchten und schnauen, und dem alten Hueber mußte Jelinek eine Sauerstoffmaske aufsetzen. Daß die Lu zum Atmen knapp werden könnte, hat früher niemand bedacht. Der Vorrat schien unerschöpflich. Billionen Tonnen Oxygenium reichten nach Aussage einiger Wissenschaler jedenfalls aus, um sämtliche Verbrennungsvorgänge auf der Erde für immer zu speisen. Sie müssen sich geirrt haben. Oder wie es der Schweizer Professor Meyer von Gonzenbach schon bei einem Symposion der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich wörtlich sagte (ich habe mir diese Notiz extra aus der »Bundeslade« geholt, um sie den anderen zu zeigen): »Zum Beispiel verschlingt die Summe aller Verbrennungsvorgänge in der Schweiz wie auch in anderen Industrieländern jetzt schon mehr Sauerstoff, als die landeseigene Vegetation zu produzieren vermag. Wir leben also heute bereits von
Sauerstoffvorräten aus Gegenden, die nur zeitlich noch etwas hinter unserem Fortschritt herhinken und bald ebensoviel Sauerstoff verbrennen werden wie wir. Und dann?« Das »dann« ist eingetreten. Die Meere, deren Algen und treibende Schwebetiere, das Plankton, zwei Drittel des Sauerstoffnachschubs erzeugten, starben Stück für Stück – vor allem durch die Verölung –, und damit starb ein Teil der Lu. Meyer von Gonzenbach war ein Prophet, auch er leider ein einsamer und nicht gehörter. Ich erinnere mich noch an diese Zeit: damals war es Mode geworden, Umweltschutz zu betreiben, und die Zeitungsredakteure schrieben sich die Finger wund, um ein paar Bäume in diesem oder jenem Park zu »retten« – aber der Inseratenteil derselben Zeitung war voll mit Anpreisungen der neuesten Automodelle: von neuen Gierzeugern und Sauerstoffverbrauchern. Eine Schizophrenie sondergleichen hatte zumindest die »zivilisierte« Menschheit erfaßt: Während im Winter / in Amerika Menschen wegen Heizölmangels froren und im Kongreß die Rationierung von Benzin angeregt wurde, gab es allein in Wien im Frühjahr über . neue Autos; während die Stromerzeugung infolge anhaltender Trockenheit überall absank, propagierte und verkaue man Elektrogeräte wie nie zuvor. Rückblickend kann ich heute die damalige Situation nur mit der eines Rauschgisüchtigen vergleichen, der
ganz genau weiß, daß das Gi ihn umbringen wird, der es aber in immer größeren Dosen zu sich nimmt. Das Gift der untergehenden Menschheit war der hemmungslose »Fortschritt«, war die Industrialisierung ohne Rücksicht auf Verluste. Ich sprach damals bei einem Empfang mit einem bedeutenden Wirtschasfachmann. Ich wies ihn darauf hin, daß kurz zuvor erst Professor Dr. Grzimek, in der Bundesrepublik zum obersten Naturschützer ernannt, sein Amt niedergelegt hatte, weil er – mit Budgetmitteln von nicht einmal einer Million Mark – keine Hoffnung sah. »Was wollen Sie«, antwortete der Experte, »wenn es diese Erscheinungen nicht mehr gibt, gibt es auch keine Wirtscha mehr …« Von seiner Warte aus hatte er sicher recht. Nur: jetzt gibt es überhaupt keine Wirtscha mehr, keine freie und keine gelenkte. Es gibt keine Vollbeschäigung (außer für uns, die wir o einen Zwanzigstundentag haben), keine Krankenkassen und Versicherungen, kein garantiertes Mindesteinkommen – keine Zeitungen und keine Inserate. Die Schlagworte sind noch vor den Menschen gestorben. Es war ein bitterer Tag für die Amerikaner, als ihr Präsident den nationalen Energienotstand verkünden mußte, weil man zu spät erkannt hatte, daß die einst mächtigen und reichen USA im Grunde nur vom Wohl- oder Mißwollen einiger Ölscheichs im Per
sischen Golf abhingen. Und es war ein noch schlimmerer Tag, als um diese letzten Ölvorräte der dritte Weltkrieg drohte. Er fand nicht statt, weil die Sowjets und die Amerikaner sich in letzter Sekunde einigten. Mit den Chinesen einigten sich die Russen nicht – fielen die ersten Atombomben seit . stieg der Benzinpreis in Österreich, das nur ein Viertel seines Bedarfs aus eigenen Ölquellen decken konnte, von fünf auf acht Schilling, bereits auf Schilling, und war Benzin teurer geworden als Wein. Und rationiert. Ab da konnte man Autos schon beinahe geschenkt erhalten oder im Tausch gegen Koks oder Kohle. Die Autoindustrie brach ziemlich jäh zusammen, und es gab plötzlich Millionen von Arbeitslosen. Eine Welt brach zusammen – die der industrialisierten Überflußgesellscha, die zuletzt nur noch aus Werbung und Phrasen bestanden hatte. Die Fernseh- und Werbewelt war am Ende, und das nackte Elend grinste von heute auf morgen alle an. In Europa gab es in allen Ländern Aufstände und Straßenschlachten, sinnlose Ausbrüche von Aggression, wie sie schon Jahre zuvor der amerikanische Verhaltensforscher J. B. Calhoun prophezeit hatte, der mit Mäusen und Ratten experimentierte. Wenn er sie in Massen in enge Käfige sperrte, wurde – selbst bei noch ausreichender Ernährung – ein Teil von ihnen bösartig, der andere, größere, jedoch völlig apathisch und gleichgültig.
Man hätte daraus lernen und Konsequenzen ziehen können. Man tat es nicht. Die friedlichsten Länder auf dieser Welt blieben China, Österreich und einige Afrikaner, während die bis dahin friedfertigen Inder unter Führung ihrer Präsidentin Indira Gandhi einen Irrsinnskrieg mit Pakistan entfesselten. Die Österreicher hielten sich an die fünf Buchstaben, die einst das Wappen der Habsburger geziert hatten: »A.E.I.O.U.« Diese fünf Vokale waren eine Art Zauberspruch gewesen, später hatte man ihnen die Bedeutung unterlegt: »Austria Erit In Orbe Ultima« (»Österreich wird als letztes auf der Welt sein«). Nun ja, anscheinend sind wir die letzten geblieben … Das alles geht mir zuweilen durch den Sinn, obwohl es unendlich fern liegt, ferner als das Lichtjahre entfernte Sonnensystem »Ypsilon-Bootis«, von dem aus, nach einer Behauptung des schottischen Astronomen Duncan Lunan, die er im März aufstellte, ein Satellit zu uns gestoßen sein und um den Mond kreisen soll: letzter Bote einer dort untergegangenen Zivilisation. Vielleicht finde ich einmal Zeit, die Geschichte unserer untergegangenen Zivilisation zu schreiben. Die Geschichte ihrer letzten Jahre. Sie wird hauptsächlich aus kurzen Notizen bestehen, wie etwa diese, die mir gerade in die Hand kommen: Kurier, Wien, . . : Wien, die Großstadt
mit der noch angeblich sauberen Luft, atmet täglich Tonnen Gift ein. Jährlich sind es – nach dem Umweltforscher Dr. Strunz – . Tonnen giftige Autoabgase, Tonnen giftige Fluor verbindungen und . Tonnen Schwefeldioxyd. Die Menge hat sich seit versechsfacht. Kronenzeitung, Wien, . . : In der Ostsee sterben Zehntausende von Seehundjungen, ehe sie geboren sind. Der ungewöhnlich milde Winter hat die Bildung von Eisschollen unmöglich gemacht, auf denen allein die Seehundmütter Junge werfen, die in den ersten Wochen ihres Lebens nicht schwimmfähig sind und von Sand- oder Steinklippen aus unweigerlich ins Meer gespült werden. . . : Zwei Drittel der am . Dezember durch ein Erdbeben betroffenen Stadt Managua in Nicaragua sind nach einem neuen Beben endgültig vernichtet. Nicht mehr zu retten ist auch die zweitgrößte Stadt Islands auf der Westman-Insel vor der Küste von Reykjavik, die von einem Vulkan verschlungen wird, der vorher tausend Jahre als tot galt. Mai : Viehseuchen und Dürre bringen die Landwirtscha im Osten Österreichs an den Rand des Ruins. Die Apokalypse hatte in Wahrheit längst schon begonnen, nur erkannte sie niemand … Wieder einmal läutet das Haustelefon. Wieder ist Jo
hannes am Apparat. »Die Dampfmaschine läu …!« Daran haben sie nach der Fertigstellung der Flammenwerfer ununterbrochen gewerkelt, haben Teile von Dieselmotoren, Traktoren und einen alten Mähdrescher verarbeitet, haben geschweißt und gelötet, geflucht und sich die Finger aufgerissen. Ein monströses Gebilde ist entstanden, phantastischer als es sich ein Tinguely hätte ausdenken können, der in den sechziger Jahren seine berühmten beweglichen Skulpturen erfand. »Zwölf Umdrehungen pro Minute!« ru Johannes. Zwölf Umdrehungen – die Motoren unserer Autos, die nach und nach verrotteten, machen vier- bis fünausend … Zwölf Umdrehungen … Während ich den Hörer einlege, kommt Jaroslaw ins Zimmer und hält mir eine Hand hin: »Das erste Korn vom Versuchsfeld – strahlenfrei!« Und freut sich über alle Maßen. Eigentlich müßte ich mich mitfreuen, aber ich sehe nur neue Aufgaben auf uns zukommen: Falls wir wirklich Korn ernten sollten, dann müssen wir es auch mahlen. Wir werden eine Mühle konstruieren müssen und einen Backofen und … das hört nicht mehr auf und wird nie mehr auören. Wer hätte früher je daran gedacht, wie man eine Mühle baut, woher man die Mahlsteine nimmt, die Schütte und das Triebwerk? Davon war damals nur noch in alten Erzählungen und Kinderbüchern die Rede. Das Mehl holte man vom Kaufmann, das Brot vom Bäcker – damit hatte es sich. Zuletzt war auch das
knapp geworden. Es gab zwar sehr viele Automechaniker, aber nur wenige, die Mehl mahlen oder Brot hätten backen können. Gott sei Dank gibt es diese Probleme. Sie verscheuchen Grübeleien und romantisch-tragische Phantasien. Draußen, es geht schon wieder gegen Mitternacht, flammt und zuckt der Himmel in allen Farben des Spektrums. Der Weltraum rüttelt an der Atmosphäre der Erde. Wann wird sich das einmal beruhigen? Vielleicht nie mehr, solange wir leben. Aber wir wollen und werden leben. Warum? Ganz einfach, weil wir Menschen sind.
Pierre Blanchards Flug Burg Spaldenstein, . November In einigen Tagen haben wir den ersten Advent. Ich sehe den kommenden Wochen und Monaten nicht mit der freudigen Erwartung eines Christen entgegen. Meist um den Jahreswechsel hat es in den Jahren vor der Apokalypse die schlimmsten Katastrophen gegeben. Vielleicht hängt das irgendwie mit der Aktivität der Sonne zusammen, die / ungewöhnliche Ausmaße annahm. Riesige Fleckengruppen tauchten in der Folge auch in den Pol-Gegenden der Sonne auf, magnetische Monster-Stürme tobten auf unserem Muttergestirn und brachten auf der Erde das Wetter durcheinander. Dann beruhigte sich alles wieder für einige Zeit – bis es endgültig losging. Mit dem Schreiben hat es jetzt seine Schwierigkeit. Ferry ist im Begriff, mich mehr und mehr aus meinem geliebten Turmzimmer zu verdrängen. Seit über einer Woche hat er es in Beschlag gelegt, überall stehen Batterien, Geräte und Werkzeugkisten herum, winden sich Kabel und Schnüre, und an den Wänden hängen Landkarten und Schaltskizzen. Er behauptet, daß es ihm gelungen sei, unseren Sender auf beinahe doppelte Kapazität zu trimmen, und daß wir nunmehr eine ganz ansehnliche Radiostation abgäben. Diese Aktion hat ihn aus seiner Apathie befreit. Er
hatte die Überreste meines fürchterlichen »Selbstgebrannten« ausgesoffen und war nicht ansprechbar gewesen. Nun hat er sich wieder gefangen und hockt den ganzen Tag am Funkgerät. Bisher ohne Erfolg, es rührt sich nichts im Äther, nur die Entladungen der Magnetgewitter krachen ab und zu aus dem Lautsprecher. Ich kenne den Schauspieler- und Sprecher-Ehrgeiz von Ferry und weiß, wie gern er sich als Chefansager der ersten Rundfunkstation von »Erde II« produzieren möchte. Aber er hat zunächst kein Publikum. Selbst die beiden Amateure aus Frankreich haben sich nicht mehr gemeldet. »Weißt du«, überlegt Ferry gerade, »wir hätten sogar eine schöne Kennmelodie …« Er legt die einzige Schallplatte, die wir besitzen (die anderen sind nicht mehr aufzufinden – wozu auch?), auf den langsam kreisenden Teller. Es ist – das Schicksal treibt manchmal seltsame Späße – das einst weltberühmte Harry-Lime-ema aus dem »Dritten Mann«, das Karas selig jetzt wieder vorzithert. Die Platte hat einen Sprung, und deshalb klingt das etwa so: »Dadadam – dadadam – knacks – dadada – dada – knacks – dada …« Es ist das wohl makaberste Musikprogramm aller Zeiten, das wir da ausstrahlen, während Ferry an Knöpfen und Schaltern herumdreht. Nichts. »Verfluchte Scheiße!« brüllt er und drischt mit den Fäusten auf den Tisch.
»Weißt du« (er sagt immer »weißt du«, wenn er etwas sagen will), hat er mir kürzlich anvertraut, »die Leopoldine war ganz gut fürs Bett, aber …« Nun ja, er lebte trotzdem mit ihr zusammen und hatte sich an sie gewöhnt. Man gewöhnt sich an fast alles. Nur die ewigen Hasen, Rehe und Hirsche, die ich früher – natürlich gebraten – so gern aß, hängen mir längst zum Halse heraus, und es ist mir ein Rätsel, wie die Germanen und andere Jägervölker so ein Einheitsmenü ein Leben lang aushielten. Es wird Zeit, daß Jaroslaw mit unserer Landwirtscha – er nennt sie seine »Einmannkolchose« – etwas anderes zuwege bringt. Ferry will eben die Hörer vom Kopf ziehen … Sechs Stunden später, Uhr »Was ist los?« fragte ich, als Ferry zusammenzuckte wie vom Blitz getroffen. »Hält’s Maul!« zischte er wenig freundlich zurück und beugte sich wieder tief über Kästen und Schalter. Endlos lange, so schien es mir, lauschte er nur, dann sprach er englische Worte, Zahlen und Daten im internationalen Kauderwelsch der Funker ins Mikrofon, lauschte wieder und notierte in fliegender Hast mit, was sein für mich unhörbarer Partner anscheinend antwortete. Schließlich erhob er sich mit der eatralik eines Operntenors und verkündete mir: »Er kommt …« »Wer kommt?« »Das weiß ich auch noch nicht genau – los, mach
schon!« Er zog mich die Treppe hinunter. Dabei gab er im Telegrammstil von sich, was geschehen war. Jemand hatte den »Dritten Mann« doch mitgehört, und zwar ein gewisser Monsieur Blanchard aus Frankreich. Der befand sich aber nicht dort, sondern in einem Hubschrauber unterwegs, hatte sich im Sturm verirrt und nur noch wenig Sprit. Ein fliegendes Flugzeug, eineinhalb Jahre nach dem Tag Null … das ging über jede Fassungskra. »Du spinnst!« konstatierte ich sachlich. »Nein, ich spinne nicht, und jetzt komm, der Mensch kann in ein bis zwei Stunden da sein!« »Und wo – wo soll der landen?« »Auf dem Platz beim Dorf, wir müssen sofort hin!« Tatsächlich gab es bei dem winzigen Nest, fünf Kilometer von uns entfernt, einen großen freien Platz. Dort hatten eifrige Sportler einmal ein Fußballfeld angelegt. Wie er jetzt aussehen mochte? Zum Überlegen blieb keine Zeit. Johannes, der unten im Saal über Büchern und Berechnungen saß, lief in Richtung Hueber-Hof, um den jetzt immer fahrbereit gehaltenen Range-Rover zu holen. Ferry und ich raen trotz der Proteste meiner Frau alle verfügbaren Bettücher zusammen und holten aus dem Keller einige Signalraketen. Es war ungefähr zwei Uhr nachmittags, das Wetter war kühl, aber nicht schlecht. Graue Wolken zogen über einen grauen Himmel. Vor dem Burgtor brummte und rumpelte der Range
Rover heran. Alexander und Jaroslaw, die gerade den Stall in Ordnung gebracht hatten, waren mitgekommen. Den Agrotechniker schickte Ferry hinauf zum Funkgerät: »Er soll nur aufpassen, daß das Ding immer den Peilton sendet, den ich eingestellt habe.« Wir anderen fuhren los. Die alte Wald- und Feldstraße zum Dorf ist mit Unkraut bewachsen, und stellenweise mußten wir schieben, um den heulenden Wagen über Aurüche hinwegzubringen. Aber wir schaen es in knapp einer Dreiviertelstunde. Dann stand der Range-Rover dampfend neben einem vermorschten und halb umgestürzten Fußballtor auf einer graslosen Fläche. Weit dahinter konnte man einige übermooste, aber auch eingestürzte Dächer sehen. Das Dorf. Es war still, ein leichter Wind ließ den nahen Wald leise summen. Nach einer weiteren Stunde, als uns die Augen schon vom konzentrierten Ausspähen durch die Feldstecher zu tränen begannen – die Bettücher hatten wir ungefähr in Kreuzform und mit Steinen beschwert auf dem Platz ausgebreitet – und als ich bereits wieder an Ferrys Verstand zu zweifeln begann, mischte sich in das Säuseln des Windes ein anderer, brummender Ton. Er kam näher, entfernte sich, kam wieder näher. Zu sehen war nichts, die Wolken hingen zu tief. Als der Ton wieder ganz nahe war, zündeten wir die Leuchtraketen, die fauchend emporschossen, um in einem grellen
Licht zu zerplatzen. Zwei, drei, vier … Ein Schatten tauchte in einem Wolkenfetzen auf, wurde größer, sank tiefer. Ein wirbelnder Rotor über einem schlanken Rumpf. »Eine Sikorsky «, stellte Johannes fachkundig fest, »ein tolles Ding, fliegt über sechshundert geradeaus und kann zehn Meter über dem Boden Spazierengehen. Und mehrere Tonnen tragen …« Der unbekannte Pilot machte eine Landung, die ihm bei jedem Wettbewerb einen Preis eingebracht hätte. Er setzte die Maschine mitten auf unsere schönen, weißen Leinentücher auf. Es war eine Militärmaschine gewesen, das war an der Tarnfarbe und den Kokarden zu erkennen. Und sie schien gut gepflegt. Der Mann, der ausstieg, nachdem die beiden Düsentriebwerke verstummt und der Rotor ausgelaufen war, sah nicht sehr militärisch aus. Er trug uralte Jeans, einen verwaschenen Pullover und einen flatternden Vollbart. Als er unser ansichtig wurde, die wir, wie früher einmal die Fernsehfamilie Cartwright, vier Mann hoch und grinsend dastanden, hielt er kurz inne und starrte uns wie ein Weltwunder an. Dann breitete er die Arme aus und lief weinend und lachend auf uns zu. »Mes amis – meine Freunde! Menschen … mon Dieu!« Jeden einzelnen von uns umarmte und küßte er, was bei seinem Bart nicht ganz einfach war. »Pierre Blanchard …« »Das ist doch der, der als erster über den Ärmelkanal
geflogen ist …«, raunte mir Johannes zu. »Mais non«, erwiderte der Bärtige in einem Gemisch von Französisch und Deutsch an meiner Stelle, »das war Ur-Ur-Ur-Onkel von mich, compris?« Und dabei lachte er, und die Tränen rannen über seine hageren Wangen. Offensichtlich war der Mann ziemlich ausgepumpt und am Ende seiner Kräe. Wir fragten ihn deshalb zunächst gar nichts, sondern setzten ihn in den Rover, und Ferry gab ihm einen großen Schluck aus der Cognacflasche unserer Auto-Apotheke. Da es über den grauen Wolken wieder zu zucken und leuchten begann, beeilten wir uns. Mit den zwei Seilen aus der Werkzeug-Lade zurrten wir, so gut es ging, den Hubschrauber am Waldrand in der Deckung der Bäume am Boden fest – stehlen würde ihn hier bestimmt niemand – dann traten wir die Rückfahrt an, nachdem wir auch die ölverschmierten Leinenlaken in den Kofferraum gestop hatten. Ich konnte mir vorstellen, was unsere Frauen sagen würden … Von Pierre Blanchard, dem buchstäblich vom Himmel zu uns Gekommenen, erfuhren wir zunächst nur folgendes: er war Angehöriger einer kleinen Gruppe von Wissenschalern in einer geheimen, aber bestausgerüsteten Forschungsstation in den Vogesen, wo sie allesamt überlebt hatten. Vor zwei Monaten war es ihnen gelungen, mit deutschen Kollegen Funkverbindung aufzunehmen, die in einer ähnlichen Situation
im Bayerischen Wald saßen. Man hatte den Austausch von Informationen beschlossen und Blanchard als ausgebildeten Piloten mit der bis zum Rand vollgetankten Sikorsky und einer Handvoll Mikrofilme losgeschickt. Aber dann war er in fürchterliche Unwetter geraten und trotz seines berühmten Namens über zehn Stunden praktisch im Kreise geflogen, hatte schon alles aufgegeben, als er plötzlich die Melodie aus dem »Dritten Mann« hörte. Dreihundertfünfzig Kilometer von uns entfernt. Als wir ankamen, war zum Glück Dr. Jelinek schon von einem seiner einsamen Pirschgänge zurück und konnte sich des neuen Patienten annehmen. Er spritzte ihm eine Mischung von Herzstärkungs- und Schlafmittel und packte ihn in ein Fellbett. Jetzt schlä er. Wir aber sind gespannt, was er uns morgen erzählen wird. Um den Bergfried pfei der Wind jetzt stärker. Regengüsse klatschen gegen das kleine Fenster. Der Advent kündigt sich an.
Requiem für einen Kontinent Burg Spaldenstein, . November Gegen Mittag ist Pierre Blanchard aufgewacht. Er trank einen Viertelliter des besten Kaffees, den wir noch haben, aß vier Spiegeleier mit Schmalzbrot, und jetzt ist er munter. Unsere beiden Frauen betreuen ihn wie einen Säugling. Franzose müßte man sein . -. Nebenbei ist Pierre, wie wir ihn einfachheitshalber nennen und wie es bei uns Brauch ist, nicht nur Franzose, sondern auch Professor der Physik und zweifacher Doktor. Was er uns mitzuteilen hat, ist teils sensationell, teils Teil eines Dramas, das auch wir ähnlich erlebt haben: Soweit er und seine Freunde, die am Tag X in ihren Bunkern in den Vogesen saßen, es übersehen können beziehungsweise konnten, ist auch Frankreich so gut wie tot. Es gab zwar keine tiefgreifenden geologischen Veränderungen, wenn man davon absieht, daß die alten Vulkane in der Auvergne auf siebzig Kilometer Länge wieder in voller Tätigkeit sind, aber die ersten Strahlungsstöße scheinen in Frankreich besonders heig gewesen zu sein. Sie führten nicht nur zu einem mehr oder minder raschen Tod der Betroffenen, sondern bewirkten (wir werden dabei unwillkürlich an unsere Angreifer vom . November erinnert) eine fast völlige Verblödung der noch am Leben Gebliebenen.
Einzelne Horden von diesen wieder zu »nackten Affen« gewordenen Menschen streifen durchs Land, keiner Sprache und Vernun mehr mächtig, plündern und morden und ernähren sich von greiaren Vorräten und von erschlagenen Artgenossen. Der Biologe Dr. Bequerel, ein Kollege von Pierre, vertritt die Auffassung, daß einige der kräigsten Exemplare dieser Mensch-Tier-Rasse weiterexistieren und sich vermehren könnten. Zum Teil monströs mutiert – Riesen und Ungeheuer einer Welt von morgen? Totale Nacht hat sich auch über jenen Teil von Deutschland gesenkt, den Pierre bei seinem Sturmflug überquerte. Der Rhein ist von Basel an wieder zu einem Strom in den Ausmaßen der Nach-Eiszeit geworden, viele Kilometer breit wälzt er sich über das, was einst an seinen Ufern lag, hinweg, als wollte er sich für alles rächen, was man ihm früher angetan hat. Über dem Schwarzwald, wo einzelne Gebiete unversehrt scheinen, hat Pierre Rauchsäulen gesehen – aber das können auch Waldbrände gewesen sein. Im Hegau schütten die wieder lebendig gewordenen Vulkane vom Hohentwiel an bis weit hinauf nach Nordwesten riesige Lavamassen in den kochenden Bodensee. Von München, das er nach den Kursberechnungen von Ferry zumindest gestrei haben müßte, hat Pierre nichts gesehen. Von den um anscheinend Hunderte Meter angehobenen und von Schnee bedeckten Alpen beginnen neue Flüsse und Gletscher ins Land zu
greifen. Was da Inn, Isar und Donau sind oder nicht, läßt sich nicht mehr feststellen. Man wird den neuen Gebilden neue Namen geben müssen. Während er das berichtet, atmet Pierre immer wieder ganz tief ein: »Mon Dieu«, sagt er dann, »was ihr hier für eine Lu habt …!« Er genießt sie wie ein Feinschmecker eine Delikatesse. Bei ihm »daheim«, in den Vogesen, war der Sauerstoffgehalt bereits bis an die untere Grenze des Existenzminimums abgesunken, die Triebwerke der »Sikorsky« mußten mit Zusatz-Oxygen angeworfen werden. »Wir haben eben ein wenig mehr Glück gehabt«, tröste ich ihn, »vielleicht wissen Sie, daß der französisch sprechende Preußenkönig Friedrich zu seinen Offizieren zu sagen pflegte: Die Messieurs Officiers müssen haben fortune …« Sehr viel »fortune« brauchen wir jetzt, wenn wir von hier aus den geheimnisvollen Stützpunkt im Bayerischen Wald ausfindig machen wollen. Bisher kennen wir nur die Wellenlänge seines Senders und seinen Codenamen » «. Es muß sich um einen geheimen NATO-Stützpunkt handeln, der einstmals dort angelegt wurde; in unserem normalen Senderverzeichnis ist er jedenfalls nicht verzeichnet. Ebensowenig wissen wir, wer dort lebt, und noch weniger, wie wir mit diesen Menschen in Kontakt kommen können, was für uns immerhin von größter Bedeutung wäre; Menschen, andere Menschen!
Gewiß ist nur eines: Pierre Blanchard wird mit seinem Hubschrauber nicht mehr starten können, selbst wenn Stürme und Kälte das Flugzeug unbeschädigt ließen. Wir haben kein Kerosin für seine Motoren. Wir haben momentan nicht einmal Strom genug für unseren Sender. Die Sonnenzellen können uns mangels Sonne nichts bieten, und unsere schöne Dampfmaschine ist nach einem Probelauf halb in die Lu geflogen. Die Schweißnähte hielten dem Dampfdruck nicht stand. Den kleinen Rest an Treibstoff aber können wir nicht für Experimente verwenden – es sei denn, wir fänden eine neue Quelle. Diesbezüglich hat uns Pierre Hoffnung gemacht. Er behauptet steif und fest, daß er bei seinem Anflug auf Spaldenstein östlich vom Dorf in einer Waldschneise einen Tankwagenzug habe stehen sehen. Das wäre mehr als ein Wunder, das wäre so etwas wie eine Rettung aus unserer Energiekrise. Vielleicht hat sich Pierre in seiner Übermüdung geirrt und eine Fata Morgana gesehen, vielleicht aber gibt es diesen mysteriösen Tankwagenzug doch. Vorläufig regnet es pausenlos, und alle Wege sind unpassierbar. Pierre kann sich einige Tage, wenn nicht Wochen, ausruhen. Schon jetzt hat seine gelbliche Haut wieder eine normale Farbe bekommen, und wenn es wieder Strom geben sollte, kann er mit Ferry und unseren beiden Physikern, mit Johannes und Franz Neuner, versuchen, Verbindung mit aufzunehmen. Wir haben ja wirklich Zeit, niemand drängt und
hetzt uns, nicht einmal die Ameisen – durch diesen Schlamm kommen auch sie nicht durch. Beinahe freue ich mich, wenn ich am Morgen den Himmel grau und regenverhangen sehe. Das bedeutet Ruhe, und ich möchte in Gottes Namen womöglich auch ein ruhiges Weihnachtsfest – das erste seit drei Jahren – erleben. »Was meint ihr«, sage ich zu Jelinek, Ferry und Pierre, die sich gerade am Kamin die Hände wärmen, »wollen wir übermorgen eine Adventskerze anzünden?« »Mais oui!« grinste Pierre. »Das wollen wir«, bestätigt Dr. Jelinek. Er schnuppert wie ein Jagdhund: »Du, ich glaube, deine Frau hat wieder einen guten Braten gemacht, ich rieche es. Los, Brüder, laßt uns gehen!«
Nylon, Schnaps und tote Mädchen Burg Spaldenstein, . November Ich dachte an einen ruhigen Advent, an Tage ungestörten Schreibens und der Muße, aber dann kam ein starker Frost, der die Schlammwüste rund um uns zu Eis erstarren und die Wege passierbar werden ließ. Und sofern man dem Barometer noch trauen kann, bleibt die Kälte vorläufig konstant. Auch uns hielt es nicht mehr. Sieben wohlgenährte Männer auf engem Raum, trotz aller Planung im Grunde untätig – es mußte etwas geschehen, das merkte ich immer deutlicher. Und wenn es nur »Beschäigungstherapie« sein sollte. Also setzten wir die Aktion Luballon in Gang. Bis Groß-Siegharts, wo nach den Erinnerungen von Ferry die Spinnstoffabrik der Firma Kernmayer & Co. gewesen sein soll, sind es knapp zwanzig Kilometer. Wir rüsteten uns aus, als gälte es, die Arktis neu zu erkunden. In unserer Lage sind schon fünf oder zehn Kilometer eine Expedition ins Unbekannte. In Wirklichkeit war es nicht mehr als ein Ausflug. »Beinahe wie am Vatertag …« Ferry grinste, als wir zu fün – Johannes und den jungen Neuner hatten wir als »männlichen« Schutz in der Burg zurückgelassen – mit dem Range-Rover anhand einer alten Straßenkarte des »Österreichischen Automobil- und Touring
Clubs« aus dem Jahre über Eis, Sand und Schlamm in Richtung Groß-Siegharts mehr rutschten als fuhren. Der Himmel war blau und klar, die Lu wieder einmal überreich an Sauerstoff ( Prozent zeigten die Oxygenium-Messer) und wir dementsprechend in Hochstimmung. »Und wißt ihr was –«, Ferry lachte, »dort gibt es nicht nur diese Fabrik, sondern auch eine Schnapsbrennerei!« Die Brennerei fanden wir natürlich als erstes und füllten zwei Kanister mit Slibowitz und – welch Wunder! – im Lager einen kleinen Stapel von Toilettenpapier, das wir mit Indianergeheul zum Wagen schleppten. Wir waren blau wie die Veilchen, als wir weiterfuhren, ein Glück, daß keiner von uns in die Röhre pusten mußte … Die Kunststoffspinnerei der Firma Kernmayer & Co. erwies sich als ein einziges Leichenschauhaus. So wie sie ihren Sechsstundentag begonnen und nie beendet hatten, saßen und lagen fünfzig oder sechzig Frauen und Mädchen als Mumien oder Skelette neben und in den Sitzen der Nähmaschinen oder an den Webstühlen. Eine makabre Szene: fünf mehr oder minder betrunkene Männer in einer hochmodernen Totenhalle. In nüchternem Zustand hätten wir das sicher nicht ertragen.
Aber auch so raen wir nur schnell zwei Ballen unverarbeiteten Stoffes und einige Rollen Nylonseile zusammen und flüchteten. Ja – eine Nähmaschine haben wir auch noch mitgenommen, an der zufällig niemand gesessen hatte, denn auf Spaldenstein gab es bisher nur unsere alte »Singer«. Zum Glück hat die mitgebrachte Maschine neben dem elektrischen auch noch einen Fußantrieb, und so treten wir schon am Abend alle abwechselnd die Pedale der Maschine, durch die sich langsam der Stoff schiebt, aus dem unser Ballon werden soll. Den »Schnitt« haben Johannes und Alexander entworfen – auch Nähgarn haben wir nicht vergessen –, und es entsteht nach und nach ein riesiges Etwas, umschlossen von Nylonseilen. An ihnen hängt der beinahe mannshohe Korb, in dem früher die Hueber-Bäuerin ihre Wäsche zu stapeln pflegte. Bevor sie ihn uns leihweise überließ, mußten wir schwören, ihn zurückzugeben. Herz- und Kernstück des künigen Lufahrzeuges ist jedoch der Brenner, der es mit heißer Lu füllen soll. Er ist aus zwei kombinierten Lötlampen und Bestandteilen aus dem Hubschrauber zusammengebastelt. Aus der »Sikorsky« stammt auch die Seilwinde mit der annähernd zweihundert Meter langen Perlonschnur, die wir an die Hinterachse des Range-Rovers koppeln wollen. Ohne diese Winde gäbe es keinen Start, denn an ei
nen Freiflug ist nicht zu denken. Als unser Windmesser ausnahmsweise stillsteht und kein Wölkchen am Himmel zu sehen ist, schleppen wir das Ungetüm auf die Wiese vor der Burg. An drei schrägen dünnen Bäumchen hieven wir die Spitze der Hülle hoch, und Johannes entzündet den Brenner. Unendlich lange scheint es uns, bis sich der Stoff aufzublähen beginnt und Form annimmt. Ein wenig seltsam sieht er schon aus, unser Ballon – an einer Seite hat er eine Beule, da hat jemand beim Nähen nicht aufgepaßt, aber jetzt schwebt er bereits fast acht Meter hoch über dem Boden, die Seile straffen sich. Im Korb kauert Pierre. »Au revoir, Monsieur Montgolfier …!« ru Ferry ihm zu, dann dreht Pierre den Brenner voll auf, die Hülle wird praller, und das Ding erhebt sich langsam. Wir halten die Hände gefaltet und beißen uns auf die Lippen – jetzt muß es sich zeigen, ob wir Pierre lebend wiedersehen oder nicht. Nein – die Stichflamme aus dem Brenner, die o gefährlich nahe an den Schnüren und dem Stoff wabert, zündet nicht, Ferry hat sich nicht geirrt, das Zeug ist wirklich feuerfest. Jaroslaw steht an der Seilwinde; sie läu im Leergang, und der Ballon steigt höher und höher. Wir sehen ihm andächtig nach, als führe ein Gott auf in den Himmel. Was dann folgt, ist ein Volksfest – jeder möchte wenigstens einmal hundert Meter hoch steigen und von dort
aus unsere Umwelt überblicken. Es ist in der Tat überwältigend, von dieser Höhe aus Spaldenstein und die Umgebung, die heute völlig ruhig daliegt, zu sehen. Der alte Wäschekorb wackelt zwar recht bedenklich, aber er hält, und die Nylonseile tun dies ebenfalls. Nach zwei Stunden machen wir Schluß. Neues oder Besonderes haben wir nicht entdeckt, aber wir haben das Gefühl, als wären wir einen Schritt weitergekommen. Wir bergen die jetzt wieder leere Ballonhülle und schaffen die Seilwinde in den Verschlag am Wehrgang. »Du, das war viel schöner als damals der Flug mit der Caravelle von Wien nach Basel«, sagt Johannes, »es war ganz, ganz anders …« Ja – es ist alles ganz anders geworden …
Ein leerer Zug steht auf dem Geleise Burg Spaldenstein, . Dezember Lange ist mein Tagebuch unbenutzt geblieben, und das hat seinen Grund. Nach einer Zeit erzwungener Ruhe sind wir wieder voller Aktivität. Wir müssen das anhaltend gute Wetter ausnützen – wer weiß, was danach kommt. Johannes und Ferry haben unseren Sender mit Bestandteilen aus dem Hubschrauber noch weiter ausgebaut und versuchen immer wieder, mit der geheimnisvollen Station im Bayerischen Wald Verbindung zu bekommen. Bisher vergeblich; vielleicht existiert sie auch nicht mehr. Darüber hinaus sind wir zu dem mysteriösen Tankwagenzug im Wald vorgestoßen, den Pierre gesehen haben wollte. Er stand tatsächlich da; zerbeult, verrostet, aber noch vollgetankt: der Zugwagen mit Benzin, der Anhänger mit Dieselöl. Neben dem Führerhaus lagen zwei Gerippe, fein säuberlich abgenagt von Füchsen und Wölfen, die jetzt immer öer auauchen. Kanister um Kanister füllten wir ab und fuhren sie zur Burg. Ein Teil der für uns lebenswichtigen Beute schwappt in den Trögen und im Silo des Hueber-Bauern, der deshalb fürchterlich flucht, weil das Zeug bestialisch stinkt. Ja – und dann haben wir begonnen, das Unternehmen vorzubereiten, dem ich den Namen »Raub der
Sabinerinnen« gegeben habe, denn es geht um jene Frauen oder Mädchen, an die sich Jaroslaw erinnern konnte – die in Nova-Ves. »Ich interessiere mich natürlich nur als Biologe dafür …«, betont Jaroslaw immer wieder. In Wahrheit, in der neosteinzeitlichen Wahrheit von heute, geht es aber vielleicht um den Fortbestand zumindest unserer kleinen Menschheit hier. Ich war früher manchmal skeptisch und dachte mir: wozu sollen überhaupt Menschen auf dieser Erde leben? Heute denke ich anders. Möglich, daß in Zeiten größter Not andere Programmierungen unser Gehirn beherrschen. Kurz und gut: wir wollen und müssen nach Nova-Ves. Das »Wie« ist eine andere, die größere Frage. Durch den Wald und über die Berge auf einer schon früher schlechten Straße werden wir sicher nicht durchkommen. Bei einem seiner einsamen Streifzüge, von denen er sich trotz meines Verbots, daß niemand mehr allein gehen darf, nicht abbringen läßt, hat Jelinek auf der kleinen eingleisigen Bahnlinie, die nach Slavonice jenseits der früheren tschechischen Grenze führt, eine verblüffende Entdeckung gemacht: einen Zug. Wir sind nachher gemeinsam hingefahren, und dort steht er tatsächlich – einsam, kalt, verlassen und leer. Eine Lok, eine richtige Dampflok aus uralter Zeit, ein
Gepäckwagen und ein flacher Güterwagen, auf dem man früher Holz oder dergleichen transportiert haben mag. Wie er dorthin gekommen ist, wird uns niemand beantworten, aber er ist da. Seitdem spukt der »Zug« in unseren Köpfen herum. Nach langen Debatten kommen wir zu der Überzeugung, wenn es uns gelänge, ihn wieder flottzumachen und den Rover auf den flachen Güterwagen zu laden, dann wäre das immerhin eine Chance, denn die Bahnlinie düre eher frei geblieben sein als die Straße. Hat das Schicksal uns diese Chance beschert? Nein – der Zug ist kein Mirakel, das extra für uns vom Himmel gefallen wäre. Ferry ist es, der mit kühler Logik eine solche Illusion zerstört: »Die Lok ist eine DT der Bauserie !« Er weiß das, denn er war einst einer der bekanntesten Eisenbahnbastler Österreichs. Man hat sie vor ein paar Jahren, als es mit der Stromversorgung schlecht stand und fast alle elektrifizierten Strecken stillagen, wieder aus den Remisen und Museen geholt … »Und sie konnte fahren, weil es in Böhmen noch Kohle gab«, ergänzt Jelinek, »während man in Deutschland und anderswo schon in den sechziger Jahren die meisten Kohlenbergwerke hatte absaufen lassen – damals gab es ja den großen Erdöl-Boom, und Kohle war plötzlich unrentabel …« »Ja, ich weiß«, füge ich hinzu, »Erdgas aus Rußland und der Sahara – aber damit war auch bald Schluß,
und dann wären wir froh gewesen, wenn man die alten Bergwerke wieder hätte reaktivieren können. Es ist alles so schnell gegangen.« »Alles in der Geschichte ist immer rascher gegangen«, bemerkt der sonst stille Alexander, »ich hab’ das genau aufgezeichnet« (Statistiken sind und bleiben sein Hobby). »Vor dreitausend Jahren machten Dädalus und Ikarus den angeblich ersten Flug. flog der erste Heißluballon, nur hundertzwanzig Jahre später das erste Motorflugzeug der Brüder Wright, fünfundfünfzig Jahre später der erste Satellit, und nur elf Jahre danach landeten die ersten Menschen auf dem Mond. Vor zweitausendzweihundert Jahren entdeckte Archimedes das Hebelgesetz, baute James Watt die erste Dampfmaschine, lief der erste Benzinmotor – hundertsechzehn Jahre später –, und , diesmal nur sechzig Jahre danach, explodierte die erste Atombombe. Die Kurve geht ganz steil hinauf, jetzt hat sie sich überschlagen. Da …« Wenn ich ihn jetzt nicht unterbreche, müssen wir noch stundenlang seine Kurven bewundern, deshalb frage ich laut: »Wie wollen wir unseren Zug also taufen?« Alex sieht mich zwar etwas schief an, aber dann meint er: »Als wir noch klein waren, hast du uns einmal eine fahrbare Dampfmaschine mitgebracht, die hieß ›Old Smoky‹, und die ist gut gefahren …« »Großartig: Old Smoky!«
Old Smoky II hatte erfreulicherweise noch volle Bunker – und zum Glück kaum Wasser in den Rohren der Lok, denn das hätte sie gesprengt. Das müssen wir erst wieder heranschaffen, und wir tun es in Non-Stop-Pendelfahrten, Kanister auf Kanister. Unsere Techniker basteln, löten und montieren, schrauben und klempnern. Endlich kommt die feierliche Stunde. Auf dem Rost brennt die Kohle, die Manometernadel klettert langsam hoch, Ferry zieht am großen Hebel. Mit Kreischen und Krachen rucken die Räder an, drehen durch. Dann macht der Zug einen wilden Satz und hüp nach vorne. Die alte Lok zischt und damp aus allen Ritzen und Fugen, aber sie fährt auch wieder ein Stückchen zurück. Ähnlich wie wir müssen die Menschen gejubelt haben, als die erste Eisenbahn in Europa ihre ersten Meter rollte. Wir haben doppelten Grund zum Feiern: nach dem geglückten Start der Montgolfiere haben wir das zweite Wunder zustande gebracht. Ein weiteres Geschenk des Himmels ist das Wetter, das schön bleibt. Ein nach einigen Frosttagen frühlingsha mildes Wetter – durch die Wälder orgelt der Föhn. Nur am Morgen gibt es ab und zu Nebelfelder, die alles in ein ödes Grau tauchen. Unsere Nächte sind kurz geworden; schon im allerersten Licht stehen wir auf und fahren zum Zug, der für uns so etwas wie ein Symbol des Überlebenwollens geworden ist. Wir kennen nun jede Schraube und jeden
Hebel. Hunderte Liter Wasser haben wir in seine Behälter gefüllt – aber noch immer ist uns unerklärlich, wieso er bis auf drei verschimmelte Postsäcke völlig leer ist und wo die frühere Besatzung geblieben ist. Wir haben nicht die mindeste Spur von ihr gefunden, und manchmal träume ich schon von diesem Geisterzug, der am Kilometerstein , vor Slavonice steht – Kurs der weiland Kaiser-Franz-Josephs-Nordbahn, das entnahmen wir dem vergilbten Fahrtenbuch im Führerstand der DT /. Daß der Zug in der falschen Richtung steht, also mit dem Güterwagen in der geplanten Fahrtrichtung, ist für uns ein Vorteil. Denn so können wir den Rover dort, fertig zum Umsteigen, unterbringen und auch einen der beiden Flammenwerfer, mit dem wir Bäume und ähnliche Hindernisse auf der Strecke wegbrennen wollen. Daß sie frei ist, haben wir – soweit es die Sicht zuließ – bei einem neuerlichen Ballonaufstieg festgestellt. Was hinter den Bergen im Norden liegt, wissen wir nicht. Am . Dezember machten wir – nach Tagen und Nachten voll vorbereitender Arbeiten – Dampf auf. Und kamen uns vor wie die ersten Dampfschiff-Fahrer auf dem Ozean. An »Bord« von »Old Smoky II« waren Ferry, Johannes, Jaroslaw und ich und einer der beiden Wallache vom Hueber-Bauern, der sich im Postwaggon sichtlich
nicht wohl fühlte. Vorne auf dem Güterwagen stand der Rover, und neben ihm waren ungefähr sechs Zentner an Ausrüstung – Funkgeräte, Waffen, Lebensmittel und Sprengstoff – verstaut. Und natürlich der Flammenwerfer, dessen monströse Form jedem Soldaten des Zweiten Weltkriegs nur ein mitleidiges Lächeln entlockt haben würde. Es war neun Uhr morgens, als Ferry im Führerstand der DT langsam den Hebel herunterzog. Neben der Bahnstrecke standen Alexander, Jelinek, der junge Neuner und meine Frau und winkten. Aus dem Schornstein der Lok quollen dicke Rauchwolken. Wir hatten das Feuer mit einem Paket von Gemeinde-Obligationen entfacht, das wir im Postabteil gefunden hatten. Ein Bündel ungestempelter Papiere zu / Prozent. Sie brannten prächtig, und die Millionen stoben durch den Kamin in die Nebellu. Keine Bank oder Sparkasse würde sie je vermissen. Bis Slavonice sollten es nach unseren Karten Kilometer sein. Es waren beinahe zwei Tage. Nach Kilometern unbekümmerter Fahrt, bei der wir alte Seemanns- und Piratenlieder sangen, kamen wir in den Wald, und da verging uns das Singen. Die Strecke war keineswegs frei. Bäume und meterhoch wucherndes Unkraut bedeckten sie. Die dicksten Stämme sprengten wir mit Donarit, die dünneren brannte der Flammenwerfer weg. Und dann kamen die Tiere. Zunächst ein Zug von
Riesenameisen. Ein Strom, gute vier Meter breit, und jede von ihnen mochte bis Zentimeter groß sein. Jaroslaw nickte nur mit dem Kopf: »Das ist die dritte Generation …« Und zog Ferrys Hand zurück, die den Flammenwerfer auslösen wollte: »Nein, nein – um Gottes willen! Sie sind nicht so dumm, das solltest du wissen – die fressen uns auf …« Es war ein Rascheln, Schlürfen und Schmatzen, das durch Mark und Bein ging, und es währte fünf Stunden. Die Nachzügler überfuhren wir. Ich dachte dabei immer nur daran, was wir tun könnten, wenn so ein Zug zu unserer Burg käme. In der Abenddämmerung hielten wir auf freier Strecke. Es wäre sinnlos gewesen, im Dunkeln weiterzufahren. In dieser Nacht kamen die Wölfe. Es wird mir immer unerfindlich bleiben, wie sich Tiere so rasch vermehren können und so verändern, in eineinhalb Jahren. Aber sie waren da und kamen; in drei Rudeln von allen Seiten. Der Wallach im Packwagen wieherte wild und schlug gegen die Wände des Waggons. Wir standen auf der Lok und neben dem Rover und schossen Dauerfeuer aus den MPs. Wir zielten »akustisch« – hielten in Richtung auf das stärkste Geheul. Wölfe, das lehrte früher die Verhaltensforschung, sind im Grunde feige und greifen Menschen selten an. Die da griffen an. Sehen konnten wir nur in Richtung der aufgeblendeten Scheinwerfer des Range-Rovers auf dem Güterwa
gen und jenen der Lok. Und in diesem Licht erschien »er«, der Superwolf, wie ihn Cartoonzeichner der Vergangenheit ab und zu in ihren Serien dargestellt haben mochten: groß wie ein Leopard, aber viel mächtiger. Er zeigte keinerlei Furcht vor dem Licht, er schlich sich langsam über die Geleise an, seine Augen funkelten gelbgrün, dann duckte er sich zum Sprung. Ich stand gerade neben dem Flammenwerfer und zog den Griff. Eine Feuerflut brandete vor mir auf, ein schrilles Heulen – dann ein Geruch von verbranntem Fleisch und Haar. Es muß das Leittier gewesen sein, denn von diesem Moment an verzogen sich die anderen lautlos. »Wir werden umlernen müssen …«, murmelte Jaroslaw, ehe er im Packwaggon einschlief. Wir hielten Wache im »Vierertakt«, aber es geschah nichts mehr. Am nächsten Tag riß der Nebel für ein paar Stunden auf, der übliche buntscheckige Himmel mit seinen Wirbeln und Farbenspielen wurde sichtbar. Uns erschien er wie eine Offenbarung. Von da an ging es recht flott voran. Verfallene kleine Bahnhöfe, Häuser mit leeren Fenstern, Felder, Wald, Bäume zersägen, sprengen, wegbrennen. Vor Slavonice war es aus. Lange Reihen von Güterwaggons blockierten die Geleise. An einer flachen Stelle ließen wir den Rover von der improvisierten Rampe rollen und sattelten den Wallach. Den leeren und verbarrikadierten Zug würde wohl kein Tier angreifen.
Ein Stückchen weiter fanden wir unter dem Bahndamm einen Durchlaß und eine recht saubere Feldstraße. Jaroslaw, der auf dem Pferd vorausritt, deutete auf eine verwaschene Tafel: »Nova-Ves – km!« Besser hätten wir nicht »landen« können. Es dämmerte bereits. Der Wald, durch den wir nun im Schrittempo ritten und fuhren, war eine Erholung im Vergleich zu dem, was hinter uns lag. Kaum ein Tier, keine Riesenameisen und keine Wölfe. Trotzdem biwakierten wir noch einmal ungefähr zwei Kilometer vor dem Ort. Der Wallach schlief. Ein gutes Zeichen. Auch wir schliefen erschöp in unseren Schlafsäcken. Im Morgengrauen des zweiten Tages gingen wir zu Fuß weiter. »Schau dir diese Gräser an, diese Blumen!« rief Jaroslaw immer wieder. Und es war in der Tat märchenha: Gras, meterhoch, Blumen von einer Farbe und einem Du, wie wir es noch nie erlebt hatten. Eine andere Welt, keine Kilometer von unserer WaldWelt entfernt. Die Lu war weich und mild, wir maßen Grad plus. »Da«, sagte Ferry gerade, »ein Haus!«, als ich ein kurzes Sausen wahrnahm und dann den Schmerz im linken Arm. Ein kleiner, hölzerner Pfeil steckte in ihm. Ferry stürmte wie ein wilder Büffel durch das dichte Gras nach vorne, schrie etwas, und dann kam er zurück, eine zappelnde Gestalt in seinen großen Pranken – ein Mädchen. Er grinste. »Zieht mir lieber den Pfeil heraus!« schrie ich. Johannes tat es, und es war nicht
gerade angenehm. Den primitiven Bogen hielt das Geschöpf, das Ferry unsan auf den Boden setzte, noch in der Hand. Das Geschöpf sah uns einen nach dem anderen an, dann sagte es auf tschechisch: »O Gott!« und fiel in Ohnmacht. Das tun Frauen immer, wenn es peinlich wird. Eine Stunde später war der Konflikt ohne Eingreifen des Sicherheitsrates der UNO beigelegt. Mein Arm war verbunden, und wir saßen in dem, was einst das Dorfwirtshaus von Nova-Ves gewesen war. Sie waren sieben. Drei alte Frauen und vier junge. Und sie konnten uns auch nicht mehr berichten, als daß »damals«, während sie gerade im Haus oder Keller waren, die Welt untergegangen sei. Dann seien die Männer gekommen, mit roten Gesichtern, verrückt! Einwohner hatte das Nest gehabt – waren tot oder wahnsinnig geworden und fortgezogen, die letzten hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert und später mit einem neuen, einfachen Leben begonnen. Ohne Männer, ohne Kinder, nur mit den Toten, die sie nach und nach bestatteten. Warum nur die Frauen? »Sie sind weniger strahlenempfänglich«, bemerkte Jaroslaw lakonisch, »das hat man schon in Hiroshima festgestellt – und sie waren in den Häusern und Kellern …« »Einer«, fügte Ferry hinzu, während er hinter der verfallenen eke wühlte und dann eine Flasche trium
phierend hochhielt wie ein Landsknecht im Mittelalter, »einer verträgt den Alkohol, einer nicht …« »Den gibst du jetzt mir«, knurrte ich, »ich hab’ ihn nötiger!« Wir durchstreien das Dorf während des restlichen Tages mit unseren Meßgeräten – Johannes und Jaroslaw machten ununterbrochen Notizen. Nach und nach kamen wir der Lösung des Rätsels näher: Der Boden hier, in den die Keller gegraben sind (und aus dem auch die Ziegel der Häuser bestehen), wies ein ungewöhnliches Maß an Blei- und anderen Metalloxyden auf, eine natürliche Abschirmung gegen jede Strahlung. Deshalb blieben die sieben verschont, die zufällig in den Häusern und Kellern waren – und die anderen starben. Schade, daß wir das wenige Vieh nicht mitnehmen könnten – es war nahezu strahlenfrei und gesund. »Und worauf führst du den phantastischen Pflanzenwuchs in dieser Gegend zurück?« fragte ich Jaroslaw, als wir gegen Abend im Wirtshaus saßen und Flasche um Flasche leerten. Jaroslaw überlegte: »Das hat mit dem Boden nur indirekt zu tun – aber vielleicht erinnerst du dich auch an das Buch ›Kinder des Weltalls‹ von Hoimar von Ditfurth. Darin hieß es, ursprünglich sei der Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre geringer gewesen als heute. Und Pflanzen gedeihen bei oder Prozent Sauerstoff besser. Zunächst gab es nur Methan und ähnliche
Gase. Dann kamen die Gewächse und produzierten Sauerstoff; schließlich so viel, daß sie beinahe selbst daran zugrunde gingen. Jetzt gibt es immer wieder Wetterlagen, bei denen der Sauerstoffgehalt der Lu verringert ist – und das wirkt wie ein Lebensimpuls auf manche Pflanzen. Wenn sich nach und nach alles einpendelt und normalisiert, werden auch die Pflanzen wieder normaler werden. Jedenfalls in diesem Zusammenhang und ohne Rücksicht auf mögliche Mutationen, von denen wir noch sehr wenig wissen. Hier haben anscheinend beide Faktoren gewirkt: verringerter Sauerstoff in dem engen Tal, und die Mutation. Mehr kann ich dir vorläufig auch nicht sagen.« Die sieben Frauen, die neben uns sitzen, haben mit wachsendem Staunen zugehört. Sie verstehen nichts von diesen Dingen, auch wenn Jaroslaw ihnen diese Überlegungen möglichst vereinfachend ins Tschechische übersetzt. Sie begreifen aber bald eines: daß sie sich jetzt entscheiden müssen, ob sie mit uns kommen wollen oder nicht. Hier ist ihre Heimat, hier ist alles wieder relativ friedlich geworden. Aber hier gibt es keine Männer mehr, nur Tote. Heute noch oder spätestens morgen früh müssen sie sich entschließen. Wir reden noch lange darüber in einem Kauderwelch aus Deutsch und Tschechisch, während eine Petroleumlampe ihr trübes Licht auf den großen runden Wirtshaustisch wir.
Gegen neun Uhr machen wir Schluß und hüllen uns in unsere Schlafsäcke. Die Frauen und Mädchen von Nova-Ves scheinen noch die halbe Nacht beraten zu haben und erklären uns am nächsten Morgen ihren Beschluß: Die drei alten Frauen wollen nicht weg – auch nachdem wir ihnen klargemacht haben, daß der nächste Strahlenstoß, der nächste Kälteeinbruch vielleicht dieses Tal des Friedens nicht mehr verschonen wird. Ihre Männer sind hiergeblieben, ihre Geschwister, ihre Verwandten. Sie sind aber vernünig genug, den jungen zu raten: »Geht, geht mit denen – ihr müßt weiterleben, jemand muß weiterleben!« An der kleinen Kapelle am Ortsausgang nehmen wir Abschied – ich werde die Blicke der drei alten Frauen, die zurückbleiben, nicht vergessen. Eine der jungen Frauen saß hinter Jaroslaw auf dem Wallach auf, die drei anderen zwängten sich zu uns in den Rover. Auch der Zug stand noch da, und die Lok lief nach einigem Gefauche wieder an. Diesmal brauchten wir nur die halbe Zeit. Fünf Kilometer vor unserem »Bahnhof« begann sich der Himmel wieder einmal zu verfärben. Der Nebel war weg, und doch blieb der Himmel grau und wurde langsam violett. Fahle Blitze zuckten von einem Horizont zum anderen. Johannes hatte über Sprechfunk Spaldenstein angerufen. Sie würden da sein, es war höchste Zeit. Mit
einem letzten Schnaufer hielt »Old Smoky II« bei Kilometer , der Strecke nach Slavonice. In fliegender Hast luden wir um, was umzuladen war. Dann brausten der Rover, der Vanguard von Jelinek und der uralte Opel los. Jaroslaw galoppierte auf dem Wallach hinterher. Eine Stunde vor dem nächsten Mini-Weltuntergang, der mit Heulen und Donnern kam und vergeblich an den alten Mauern von Spaldenstein rüttelte. Wieder war ein Stückchen Menschheit geborgen. »Und weißt du was«, sagte Dr. Jelinek, nachdem er die vier »Neuen« flüchtig angesehen und für durchaus »o.B.« (ohne Befund) befunden hatte, »wir haben ein Zeichen von denen in Bayern bekommen, nicht viel, aber …« Mein Gott, wenn das nur wahr wäre! Bei einer unserer »Neuerwerbungen« hat Dr. Jelinek nachträglich ein seltsames Phänomen konstatiert: die zwanzigjährige Vlasta hat kein Schmerzgefühl. Man kann sie zwicken, wie man will – sie spürt nichts. Im Mittelalter hätte man sie als Hexe verbrannt – für uns ist das ein sehr bedenkliches Zeichen: sollte sich die Gefühllosigkeit vererben, wären die Menschen automatisch zum Aussterben verurteilt. Denn ohne Schmerz gibt es keine Kontrolle über den Körper. Diese winzige Fehlschaltung im -MillionenSchaltkasten des Gehirns könnte das Ende menschli
chen Lebens auf der Erde bedeuten; darüber haben wir bisher noch nicht nachgedacht. Der Österreicher Mesmer war der erste, der im . Jahrhundert seine hypnotisierten »Somnambulen« schmerzfrei machte, der Deutschfranzose Freiherr Carl du Frei tat das gleiche mit seinen Hypnotisierten hundert Jahre später. Das blieben aber immer Ausnahmezustände. Während mir Jelinek das klarzumachen versucht, denke ich daran, daß auch wir manchmal keinerlei Kältegefühl zeigen. Mir ist es schon passiert, daß ich bei minus oder Grad herumspazierte und erst am Weißwerden der Finger merkte, daß sie im Begriff waren, abzusterben. Ich fühlte zwar etwas, aber nicht das, was man bisher als »Kälte« bezeichnet hat. Jetzt wird mir auch klar, warum die Halbnackten, die auf unsere Burg zurannten (und später sicher irgendwo im Wald starben), nicht zitterten und froren – sie hatten kein Kältegefühl …! Das sind Nebenprobleme, die auf uns zukommen und die wir lösen müssen. Wie, ist uns vorläufig unklar.
Das Geheimnis der Wirbeltrichter Burg Spaldenstein, . Dezember In fünf Tagen haben wir den Heiligen Abend – es ist nicht zu fassen; um so weniger, als nichts, aber auch gar nichts weihnachtlich wirkt: bei nahezu sommerlichen Temperaturen sitzen wir auf den Liegestühlen im Innenhof oder auf der Wiese und erfreuen uns der Ruhe, die nach dem kürzlichen Strahleneinbruch wieder herrscht. Diesmal hat das Magnet-Unwetter länger gedauert, als wir erwarteten; beinahe eineinhalb Tage, aber die dabei immer auretenden Strahlenstöße haben keine nennenswerten Spuren hinterassen. Das zeigen unsere Geigermesser. Wir haben – soweit das mit unseren doch recht primitiven Mitteln möglich ist – eine interessante Feststellung gemacht, die die Physiker der »Vorzeit« wahrscheinlich sehr verwundert hätte: das Magnetfeld der Erde ist nicht einfach weg, es verändert sich nur dauernd. Das heißt praktisch, daß wir einmal einen völlig intakten Schutzmantel haben – manchmal reißt er auf. Dann gibt es diese Superstürme. Noch flammt der Himmel in allen Farben, aber das ist nur ein Wetterleuchten, wir können uns zumindest für einige Zeit wieder auf einen Normalzustand einrichten. Und das ist auch nötig, denn jetzt sind wir schon
fünfzehn Menschen hier auf unserer »Insel«: sieben Männer und acht Frauen – und ein sechzehnter Mensch wird wohl bald ankommen. Die vier »Neuen« haben wir nach dem Sturm in den Hueber-Hof verfrachtet – den »Harem« nennt Jelinek ihn seither, aber ich habe auch gesehen, daß der eingefleischte Junggeselle einer von ihnen schöne Augen macht. Insgeheim fürchte ich, daß es diesmal auch Nova-Ves erwischt haben könnte, aber davon sage ich den vier Mädchen lieber nichts – wer weiß, welche Reaktion ich auslösen würde? Jedenfalls hat unser selbstgebastelter Seismograph am zweiten Tag, nachdem der Himmel sich verfärbt hatte, ein Nahbeben aus dieser Richtung angezeigt. Vera, Vlasta, Jovanka und Olga sind in unsere Gemeinscha bereits so integriert, daß sie immer seltener zurückdenken. Sie hausen im Hueber-Hof und helfen Jaroslaw und Alexander, dessen Maria unmittelbar vor der Niederkun wirklich nicht mehr für bäuerliche Arbeit taugt. Dieses ist ein verzweifelter Versuch, aber wir müssen ihn wagen, denn wenn ich durch die unterirdischen Vorratsräume gehe, sehe ich mit Schrecken, wie schnell unsere Konservenvorräte abnehmen. Nun, vielleicht werden wir im Januar ernten oder im März … Eine ganz andere Frage ist es, ob die jungen weiblichen Wesen, die wir mehr oder minder überfallsartig »erbeutet« haben, Kinder bekommen werden. Denn dazu gehört Liebe oder auch nur Sex – und beides läßt
sich weder planen noch dirigieren. Ferry zum Beispiel scheint vorerst apathisch, nachdem er nach seiner Frau auch Leopoldine verloren hat, und die andern vier Junggesellen – Jaroslaw, Johannes, Pierre und der Franzi – haben noch keineswegs Feuer gefangen. Für Ferry gibt es jetzt nur den Sender, seit sich einmal gemeldet hat. Leider nur das eine Mal. Seitdem toben dauernd magnetische Stürme in der Tropo- und Stratosphäre, die einen Empfang unmöglich machen. »Wieder nichts«, sagt Ferry, der gerade vom Turm gekommen ist, resigniert und läßt sich in den Liegestuhl neben mir fallen, während ich die alte Schreibmaschine auf den Knien halte und mein Tagebuch weiterführe. Er blickt zum Himmel hoch, der blau ist und über den bizarre Wolkengebilde und jene seltsamen trichterförmigen Gebilde daherziehen, die man früher für »UFOs« hielt. »Was sagst du dazu?« »Dazu, lieber Freund, ist allerhand zu sagen. Alexander – hol mir aus der ›Bundeslade‹ doch den Ordner, auf dem ›UFO und Wolken‹ steht …« Johannes, der mit dem jungen Neuner näher kommt, mault: »Heute ist Sonntag und damit bis zum Mittagessen ›Ruhetag‹.« Die alte Ordnung müssen wir einhalten, nicht aus Tradition, sondern um überhaupt eine zu haben. Auch Pierre kommt vom Burghof herüber, und Dr.
Jelinek – die unvermeidliche, stets leere Pfeife im Mund – pflanzt sich hinter mir auf: »Das Wildschwein ist noch nicht soweit, läßt deine Frau sagen – und ich hab’ mir eingebildet, das wäre ein ganz junges Vieh; aber wer kennt sich heutzutage schon aus?« »Und was ist mit dem Sauerkraut?« »Na ja, wenn Olga es gut durchgewaschen hat, wird es vielleicht genießbar. Ganz einwandfrei war es nicht – ich muß einmal überlegen, wie man das Zeug früher herstellte, damit wir frisches bekommen …« »Mit den Füßen treten«, bemerkt Jelinek, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Ehe das Gerede weitergeht, ist Alexander mit dem Leitz-Ordner erschienen: »Da hast du, was du suchst.« »Hier sind alte Artikel, die ich irgendwann irgendwo einmal publiziert habe. Sie sind heute vielleicht aktueller als damals …« Ich blättere in dem Faszikel. »Da sind zunächst einmal die Wolken, die ihr ja da oben o genug sehen und bewundern könnt. Darüber habe ich – das war – geschrieben … . Juli … Die Wolken und ihre Formen, so scheint mir, sind in der letzten Zeit verändert. Das läßt sich nicht einfach beschreiben: Die Haufenwolken, die früher vor allem für den sommerlichen Himmel typisch waren, scheinen seltener geworden, sogar bei Gewitter sieht man vielfach eher scheinbar ›flache‹ Fronten und amorphere Formen als die bekannten mächtigen Türme und wogenden Rund
gebilde. Ganz auffallend ist hingegen das Zunehmen von ›Zirren‹ (Federwölkchen) und föhnigem Fasergewölk – und der entsprechenden Wetterlage. Auffällig vor allem ist die faserige Struktur dieser Gebilde, die jedoch nicht wie Schleier wirken, sondern wie feine, zerrissene Glaswolle. Sie bilden die absurdesten Formen, die an abstrakte Graphiken erinnern: Fahnen mit Wirbeln dazwischen oder ›Bällchen‹, die aussehen wie einst die charakteristischen Flak-Wölkchen. Manche ähneln wiederum Feinschnitten durch Zellgewebe, erinnern an zerfallendes Zellgewebe. Im übrigen wird jeder, der sich mit der Malerei seit der Romantik befaßt, in der Naturdarstellungen und Wolkenstimmungen sehr beliebt waren, feststellen, daß er dort zwar alle möglichen Formen und Arten finden kann – aber die vorhin beschriebenen nicht. Entweder waren sie sehr selten oder es hat sie überhaupt nicht gegeben. Da mag folgender Zusammenhang bestehen: Wolken hängen nicht nur vom Wind, der Lufeuchtigkeit und Temperatur ab, sondern auch von elektromagnetischen Kräen und Einflüssen. Als einer der ersten hat der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt darauf hingewiesen. In seinem Buch ›Kosmos‹ erwähnt er, daß Schäfchenwölkchen sich manchmal in der Richtung der Kralinien des erdmagnetischen Feldes (also nord-südlich) anordneten.
machte der schwedische Forscher Adolf Erik Freiherr von Nordenskjöld einen Versuch: er schmolz tonnenweise Schnee und filterte das Wasser. Im Bodensatz fand er“ schwärzlichen Staub, der, wie er unter dem Mikroskop feststellte, magnetische Eisenteilchen enthielt, die nicht von der Erde stammen konnten. Richtig folgerte Nordenskjöld daraus, daß dieser Staub aus dem Kosmos in den Wolken Kondensationskerne für den Wasserdampf bildete und die Wolken jedenfalls zum Teil magnetischen Kräen gehorchten. Nordenskjölds Versuch wurde vergessen, erst neue Experimente mit Raketen bewiesen , daß er recht hatte. Was ergibt sich daraus? Nun, wir wissen, daß vor allem die Flugzeuge Abertausende Tonnen verschiedenster Elementteilchen stetig bis in die höchsten Luschichten bringen, sie müssen also auch in fast allen Wolken vorhanden sein und, soweit sie magnetisch sind, deren Form und Struktur beeinflussen. Wir wissen außerdem, daß das Magnetfeld der Erde sich verändert und daß es daneben noch zahlreiche elektromagnetische Einflüsse von der Sonne und durch die kosmische Strahlung gibt. Sie müssen sich in wachsendem Maße auf die Wolken auswirken und bemerkbar machen. Auch die Häufung extremer Wetterlagen ist auffällig, wie sie es früher in dieser dichten Folge kaum gab;
daß das aber für Erde und Mensch nicht ›gesund‹ ist, liegt wohl auf der Hand: einerseits sinkt etwa vielerorts der Grundwasserspiegel ab, andererseits reißen Überschwemmungen die fruchtbare Erde fort. Das Wetter ist krank geworden – und mit ihm die Wolken. Sie sind die äußerlich sichtbaren Symptome einer tiefgreifenden, wohl durch den Menschen hervorgerufenen Veränderung.« »Nicht schlecht«, meint Ferry – »aber leider wird dir außer uns niemand applaudieren. Und wie ist das mit den ›UFOs‹…?« Er deutet zum Firmament, wo gerade eine Dreierformation in allen Farben schillernder und leuchtender Trichter in rasendem Flug die eigenartigsten Kursschwenkungen vollführt. Die Trichtergebilde sind durchsichtig; von uns aus gesehen, wirken sie scheibenförmig, und man könnte sie durchaus für irgendwelche Flugapparate halten – vor allem, weil sie meist gruppenweise auauchen. Wir haben uns schon so an sie gewöhnt wie die Engländer früher an ihre Schloßgespenster. Und tatsächlich hat ihr Anblick etwas Gespenstisches. »Tja – das ist eine Sache für sich und meine Ansicht – hier ist sie. Übrigens ist mein Artikel in He / der Esotera erschienen. Der Titel hieß: ›Was geht am Himmel vor sich?‹ Anfang der zweiten Häle März waren die europäischen Zeitungen voll von Berichten über das Auauchen ›unbekannter fliegender Objekte‹ über Österreich, Deutschland, der Schweiz und Frank
reich. Und prompt begann das große Rätselraten: wer und was sind sie? Die Erklärungen der zuständigen Fachleute, der Astronauten und Meteorologen, waren nichtssagend: es habe sich um Meteoriten gehandelt. In Frankreich würde die Erscheinung als das Verglühen einer Versuchsrakete gedeutet. Währenddem hatten zwei erfahrene Flieger – Flugkapitän Alexander Raab der Austrian Airlines (AUA) und Flugkapitän Brouwer der deutschen Lufthansa (Kapitän Raab hat seit über . Flugstunden hinter sich) – übereinstimmende und ganz dezidierte Schilderungen von jener Erscheinung gegeben, die sie gleichzeitig am . März gegen Uhr über Österreich beziehungsweise Süddeutschland beobachtet hatten. Um übrigen kam dabei (Kurier, Wien vom . März) zutage, daß bereits ungefähr zwei Wochen vorher die Piloten einer KLM-Maschine und einer Chartermaschine der privaten Atlantis-Fluggesellscha über dem Raum Amstetten in Österreich und über der Steiermark ähnliche Phänomene gesehen hatten. Eine wichtige Einzelheit ist noch festzuhalten: Flugkapitän Raab (›Ich habe in unzähligen Nächten den Atlantik unzählige Male überquert, ich kenne die Erscheinungen von Satelliten und Meteoriten, und ich hätte niemals Alarm geschlagen, wenn es sich nicht um eine ganz außergewöhnliche Erscheinung gehandelt hätte …‹) stellte immer wieder und ganz eindeutig fest – daß
die magnetischen Kompasse der DC- der AUA bei – diesem Flug von Wien nach Frankfurt bereits sechs bis sieben Minuten vor dem optischen Aureten der UFO-Erscheinung – also ungefähr über dem Raum Krems an der Donau – ›verrückt spielten‹. Sie zeigten Abweichungen von bis zu acht Grad an, so daß der Bordcomputer Alarm gab. Wir wollen alle diese Einzelheiten einmal außer acht lassen und nur eine chronologische Reihenfolge ganz bestimmter Ereignisse im März aufzeichnen: . – . März : Von einer KLM- und einer Atlantis-Maschine aus werden unerklärliche Leuchterscheinungen am Himmel beobachtet. . März : Über dem Scheichtum Bahrain am Persischen Golf stürzt eine Super-Caravelle einer dänischen Charter-Gesellscha ab. Tote. Ursache: ›optische Störungen‹ des Piloten. Das Flugzeug war aus unerklärlicher Ursache gegen einen niedrigen Bergrükken gerast. . März : Die Flugkapitäne Alexander Raab der AUA und Brouwer der Lufthansa machen nahezu gleichzeitig eigenartige Leuchterscheinungen am wolkenfreien Nachthimmel aus: trichterförmige Leuchtformen, scharf abgegrenzt, die sehr schnell dahinziehen (geschätzte Höhe: . bis . Meter). Ähnliche Erscheinungen werden vom Boden aus und von zahlreichen Augenzeugen über Vorarlberg, Genf und Frankreich gesichtet.
. März : Über Ägypten stürzt eine jugoslawische Verkehrsmaschine ab – Tote. Sie ist gegen einen Berghang geflogen. Bei völlig klarem Wetter – wie die Super-Caravelle aus Dänemark. Die gleiche Ursache: der Pilot hatte angeblich ›Sichtstörungen‹. Alle diese Ereignisse gehen sehr bald im Strudel politischer und wirtschalicher Geschehnisse unter, und doch ist etwas Besonderes geschehen: wieder einmal haben sich Einflüsse, Dinge und Energien aus einem Bereich des Seins gemeldet, der gemeinhin als ›jenseitig‹ gilt, obwohl die Mathematiker seit Karl Friedrich Gauß ( bis ) mit ihm rechnen, aus dessen und aus seiner Nachfolger Erkenntnissen übrigens Albert Einstein die Formeln entwickelte, auf denen wiederum die Anwendung der Atomkra beruht. Nein, nein – es sind keine ›Untertassen‹ gelandet, es sind auch keine grünen Männlein vom ›Mars‹ ihnen entstiegen, niemand hat mit ihnen gesprochen oder sie auch nur zu sehen behauptet. Und doch geschahen sensationelle Dinge. Nun zu meiner eorie: Unvermittelt treten Wirbel in der Atmosphäre auf, ähnlich jener beim Abfließen des Wassers aus einem Becken. Solche Erscheinungen können aureten, wenn sich irgendwo jenseits unserer Raum-Zeit-Welt Wirbel bilden, dann beginnen sich auch bei uns die Lumoleküle zu ›ionisieren‹ und zu verändern, dann treten Störungen im Magnetfeld der Erde auf, dann ziehen
Leuchterscheinungen verschiedenster Art urplötzlich über den Himmel, um ebenso überraschend wieder zu verschwinden. Oder es taucht tatsächlich ein Körper aus einer anderen Dimension in unsere Einheit von Raum und Zeit ein; auch dann gäbe es solche Wirbelerscheinungen. Damit wird behauptet: alle ›UFO‹-Erscheinungen, sofern sie echt sind (über Prozent sind sicherlich auf Einbildung, Täuschung oder Schwindel zurückzuführen), beruhen auf zwei Möglichkeiten: auf ›Stürmen‹ in höheren Dimensionen oder auf dem Eintauchen von materiellen Dingen in unsere Sphäre. Das ist meine Theorie, die wir anhand der Praxis und Wirklichkeit untersuchen wollen: . Wie Flugkapitän Alexander Raab immer wieder aussagte, traten die Störungen an den Magnetkompassen der DC- am . März sechs bis sieben Minuten vor dem Sichtbarwerden der kegelförmigen Leuchterscheinung auf. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Kursmaschine der AUA von Wien nach Frankfurt im Raum Krems a. d. Donau, gut hundert Kilometer vom späteren Sichtungsort entfernt. Und damit beginnt die physikalische Unmöglichkeit einer Deutung als ›Meteor‹. Zwar bilden auch die Kommandokapseln von Mondraumschiffen bei ihrem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre um sich herum eine ionisierte Luschicht, die den Funkverkehr unterbricht (der sogenannte ›black out‹) – aber dieser Effekt reicht
nicht über Hunderte Kilometer hinweg, er bezieht sich allein auf eine zeitweilige ›Hülle‹ um die Kapsel aufgrund des Aufpralls auf die Atmosphäre und deren Komprimierung dabei. Nicht anders kann es bei einem Meteoriten sein. Wäre dem nicht so, dann müßte der gesamte Funkverkehr der Erde während der alljährlichen großen Meteoriteneinfälle im Hochsommer und Frühherbst dauernd gestört sein, müßten unzählige Flugzeuge Kompaßabweichungen verzeichnen. . Zur gleichen Zeit, als Kapitän Raab Alarm gab, weil er ein solches Phänomen noch nie gesehen hatte, schilderte Kapitän Brouwer der Lufthansa im Raum Rastatt eine ähnliche Beobachtung. Es kann sich nicht um die gleiche gehandelt haben, denn die AUA-Maschine war über Linz Meter hoch, die Erscheinung nicht sehr viel höher, und dazwischen lagen Berge und die Krümmung der Erde. Und gleichzeitig wurden ähnliche ›Dinge‹ über Frankreich und Genf vom Boden aus gesehen. Worauf die Wissenschaler sagten: der Meteor ist eben über Genf geplatzt und hat sich in Einzelteile verstreut. Eine ziemlich unglaubwürdige Erklärung. . Wie anders klingt folgende Deutung: Die Erde befand sich örtlich zu diesem Zeitpunkt in einer höher-dimensionalen ›Sturmzone‹, die schon vorher begonnen hatte. Die ›Sichtstörungen‹ der Piloten der dänischen Super-Caravelle über Arabien und der jugoslawischen Maschine über Ägypten sind darauf zu
rückzuführen. Bei ihrem Intensiverwerden traten diese Wirbelwinde aus einer anderen Welt schließlich auch optisch in Erscheinung. Nach vorangegangenen Störungen im Magnetfeld der Erde und in ihrer Form so typisch, wie es Tornados eben sind – als trichterförmige Gebilde mit einem ›Rüssel‹ an der Spitze, der leuchtete, wie eine Scheibe. . Tornados, die aus einer anderen Welt in unsere eindringen, sind so harmlos und so gefährlich wie ›hiesige‹. Wenn man ihnen nicht zu nahe kommt, tun sie nichts. Andernfalls schon. Das hat – als einer der ersten – der amerikanische Fliegerhauptmann Mantell erlebt, der ein ›UFO‹ verfolgte und dessen Maschine später in der Wüste von Nevada zertrümmert aufgefunden wurde. Das haben auch andere Piloten erlebt, deren Flugzeuge (auch ohne daß es sichtbare Erscheinungen der Wirbel gab) plötzlich in der Lu brannten oder explodierten. Sie waren und wurden Opfer der ›Himmelsschlangen‹, der ›vrtras‹, wie die alten Inder sie nannten. Es scheint, als habe es derartige ungute Zeiten schon früher gegeben – als die Pole der Erde anderswo lagen, als gewaltige Veränderungen den Erdball und seine Bewohner trafen. Es scheint, als gingen wir wiederum einer derartigen Zeit entgegen. Zweierlei gilt es festzuhalten: a) Die sogenannten ›UFOs‹ sind wahrscheinlich
Blatt aus dem Bordbuch der DC- der AUA (Flugkapitän Raab) auf dem Flug von Wien nach Frankfurt, am . . , mit Zeitvermerk Uhr und Größenschätzung.
durchweg ›Wetterphänomene‹ aus höheren Dimensionen, zum allergeringsten Teil reale Objekte. b) Landungen derartiger Objekte hat es vielleicht früher gegeben. Daher die genaue Kenntnis der Inder von den gefährlichen Himmelsschlangen, die jetzt wie
der häufiger über die Erde hinziehen. Wir werden wohl lernen müssen, sie als ein Phänomen hinzunehmen. Wir werden uns abfinden müssen, daß es nicht nur unsere ›Welt‹ gibt, sondern mehrere ähnliche, daß wir nicht isoliert auf diesem Miniplaneten Erde leben und nicht nur in diesem Universum – das ist vielleicht für manchen erschütternd, anderen mag es ein Trost sein, denn die Unabhängigkeit von unserem Raum und unserer Zeit, die Einwirkung ›höherer Sphären‹, die manchmal offenbar wird, ist ein Hinweis auf eine Seinswelt jenseits der unseren.« »Jetzt möchte ich nur wissen, wie das Ding, das der Flugkapitän Raab damals gesichtet hat, wirklich ausgesehen hat …! Ob es so war wie unsere Trichter da oben …?« fragt Johannes. »Möglich – und wie es aussah, das kann ich euch zeigen. Da habt ihr die Skizze, die Flugkapitän Raab damals gezeichnet – und mir später gegeben hat. Sie ist einfach, aber klar, und ich erkenne keinen Unterschied zu den Wirbeln und Trichtern, die wir jetzt immer wieder sehen.« Ich reiche Johannes das kleine Blatt mit der Zeichnung vom . März . »Und da ist noch die erste Skizze; sie stammt aus dem Bordbuch der DC-, und die Beobachtungszeit ist darauf vermerkt …« Auch sie wandert von Hand zu Hand. Präziser läßt sich das nicht dokumentieren.
Skizze von Flugkapitän Raab der AUA vom . März .
»Aber irgendwie bewiesen ist deine eorie nicht«, sagt Jelinek. »Nein, sie ist eine Spekulation, mehr nicht. Aber was war nicht alles einmal Spekulation? Vor siebzig oder achtzig Jahren hat man den Alfred Wegener verlacht, weil er behauptete, die Kontinente wanderten – nun wandern sie, und das ziemlich schnell. Vor einigen Jahrzehnten gab es nur die Selektionslehre Darwins – wir sehen heute die sprunghaen Mutationen; die von einigen Wissenschalern vertretene Ansicht, daß bestimmte Mineralien, die ›Tektiten‹ – die Australite, Moldavite und so weiter –, nicht von dieser Erde stammten, wurde lange Zeit von der offiziellen Lehrmeinung als Unsinn abgetan – bis die Professoren Gibson, Moore und C. Urey vom Raumfahrtzentrum in
Houston und der Universität von Kalifornien bei Vergleichen mit Gesteinsproben vom Mond darauf kamen, daß es sich um Reste uralter Kometeneinschläge auf der Erde gehandelt hat, die vermutlich auch – durch Umweltänderungen – das Aussterben der Saurier bewirkten. Die Saurier starben vor Millionen Jahren – und genau aus dieser Zeit stammen die nichtirdischen Steine …« »Du, Gerd«, sagt nach einer Weile Pierre, »ich glaube, daß ich so etwas wie der Capitaine Raab auch schon gesehen habe – du weißt, ich bin früher Linien geflogen, aber ich habe keine Meldung gemacht; man hätte es mir nicht geglaubt. Eh – wenn die von früher diese Dinge da sehen könnten!« »Diese Dinger« sind indessen wieder verschwunden. Ein viertes taucht fern am Horizont auf. Die ›UFOlogen‹ von früher hätten gejubelt. »Der Braten …«, ru meine Frau, »kommt jetzt endlich, die Mädchen warten schon!« Ich nehme den Aktenordner unter den Arm, wir stemmen uns aus den Liegestühlen hoch und gehen. Johannes fragt mich: »Glaubst du wirklich, daß es andere Welten und Energien neben der unseren gibt? Im Gymnasium haben wir zwar auch Negativwerte berechnet und solches Zeug, aber …« »Bei meinem letzten Vortrag im Mai in der ›Urania‹ in Wien ist plötzlich ein älterer Herr aufgestanden. Es war – ich habe das erst anschließend er
fahren – der berühmte Professor Joshua Lederberg aus Amerika. Und er hat ungefähr folgendes gesagt: ›Ich befasse mich jetzt schon einige Jahre mit diesen Fragen. Von mir stammt die eorie von den Tachyonen, den Körperchen, die schneller als das Licht sind und die es jenseits unserer Welt gibt oder geben müßte; sie werden träger, wenn sie sich – negativ – der Lichtgeschwindigkeit annähern, und dann materialisieren sie, erst. Ich muß Ihnen recht geben: Unser Universum ist nur eines von wahrscheinlich vielen, und wir wissen noch gar nichts von den anderen. Ihre Wirbel-eorie leuchtet mir durchaus ein …‹ Leider habe ich nie mehr von ihm gehört – und jetzt sitze ich da mit meiner schönen eorie.«
Stützpunkt „ “ gibt Antwort Burg Spaldenstein, Weihnacht Wir haben einander nichts zu schenken, außer ein wenig Hoffnung auf eine unbestimmte Zukun. Während sie unten im Saal Wände und Tisch nach Möglichkeit festlich schmücken, habe ich hier im Turm das Fenster geöffnet und sehe in eine fast frühlingshae Landscha. Und hoffe insgeheim, daß Pierre – er wäre ja sonst kein Franzose – irgendwo im Hubschrauber noch einige Flaschen Cognac versteckt hat, damit wir unsere Stimmung etwas heben können. Es ist der . Dezember, vier Uhr nachmittags. Um diese Tageszeit schlossen früher die letzten Läden, kehrten die letzten Käufer mit Paketen und Geschenken beladen heim. Und Mutter putzte den Christbaum. Wir haben keinen Christbaum, wozu auch? Rundherum im Wald stehen sie zu Tausenden, und mit den Kerzen müssen wir sparen, bis wir irgendwo neue finden. Wachs, Stearin müßten wir haben – aber wie es herstellen …? Vielleicht findet sich in einem der Chemie- und Physikbücher eine Anleitung. Viel problematischer noch ist die Sache mit den Konserven. Natürlich bringen wir von unseren Beute- und Erkundungsfahrten immer wieder welche heim – vom Kaviar bis zu Schnittbohnen, Gulasch und Erbsen. Erzeugen, produzieren können wir sie nicht. Abgesehen davon,
daß die, die wir noch haben oder heimbringen, trotz theoretisch unbeschränkter Haltbarkeitsdauer wohl doch nicht endlos genießbar bleiben. Wir werden uns wieder an Urgroßmutters Kochbuch erinnern müssen – wie man Früchte, Fleisch und Gemüse haltbar macht ohne Maschinen, Strahlen und Dosen. Mit Einpökeln, Einsalzen, Trocknen oder ähnlichen alten Konservierungsmethoden. Dazu gehören Gläser und Töpfe und Fässer. Etwas davon gibt es noch auf dem Hueber-Hof. Und tieühlen wird es die Erde, wird es der Weltraum. Das sind meine Gedanken und Überlegungen am »Heiligen Abend«, an der Wende des Jahres /. Um diese Zeit pflegte in meiner Kindheit Schnee zu fallen – heute fällt keiner, und kein Kinderchor singt im Radio: »Leise rieselt der Schnee …« Besser, er tut es nicht, denn wenn er jetzt fällt, kommt er in tobenden Schneestürmen. Die Magnetunwetter haben nachgelassen, aber die Funkanlage ist bis heute tot geblieben. Vergeblich hat Pierre versucht, mit seiner Heimatstation in den Vogesen Kontakt aufzunehmen. Wir müssen damit rechnen, daß wir isoliert bleiben. Darum haben wir die Hände nicht in den Schoß gelegt, sondern sind weiterhin tätig. Vor allem müssen wir jetzt dafür sorgen, daß der zwar recht stabile, aber doch schon alte Hueber-Hof ausgebaut wird und erhalten bleibt. Für die drei Kühe, das Kalb, die Pferde, die Schweine und die restlichen Hühner haben wir unterirdische
und möglichst strahlensichere Stallungen angelegt. Wir haben geschaufelt und betoniert, Drahtnetze und Folien gezogen – ein Glück, daß der Hueber-Franz sowieso vorhatte, seinen Hof umzubauen, und also ziemlich viel Material zur Hand ist. Auch der unterirdische Gang zur Burg ist jetzt trokken und sicher; wenn es ganz arg werden sollte, können die vom Hof in einigen Minuten in den Kellergewölben von Spaldenstein sein. Jetzt nach zwei Wochen Schwerarbeit sieht der Hof einem Bunker des Zweiten Weltkriegs ähnlicher als einem Bauerngehö, aber er wird halten. Daneben setzen Jaroslaw und Jelinek mit Unterstützung von Ferry, Johannes und dem jungen Neuner ihre Untersuchungen fort: mit einfachsten Mitteln haben sie sogar eine Art Serum gegen Strahlenschäden entwikkelt. Jaroslaw ging dabei von den Forschungen der amerikanischen Gelehrten Professor Andrew und Smith aus, die bei Versuchen in der Wüste von Nevada, wo Schlangen von ihnen lange Zeit unter Kobaltbeschuß genommen worden waren, entdeckt hatten, daß Reptilien gegen harte Strahlung resistent sind. Wir haben also nach dem letzten Kälteeinbruch zahlreiche Schlangen aufgelesen, die stocksteif gefroren waren, und – ich bin kein Chemiker und Biologe – aus ihnen einen Wirkstoff gewonnen und ihn zunächst
versuchsweise einem Huhn injiziert, das wir in einem Käfig dem letzten Strahlensturm aussetzten. Effekt: es gackerte nachher genauso munter wie vorher und legte Eier. Jetzt ist alles Viehzeug geimp, und viele Ampullen (in Wahrheit: sterilisierte Bierflaschen) stehen in Reserve. Meine Frau hat sich ihrer früheren Knüpf- und Webkünste entsonnen und mit den übrigen Frauen einen Webstuhl konstruiert, auf dem die ersten Meter eines neuen Stoffes, gewonnen aus den irrsinnig hoch wuchernden Gräsern, deren Fasern sich beim Versuch relativ gut verspinnen ließen, entstanden sind. Schön ist das Zeug gerade nicht, aber sehr fest, und es könnte – da die Gräser mehrfachen Strahlenstürmen ausgesetzt waren und überlebten – zumindest ein wenig schützend wirken. Hautnahe und weltweite Probleme … Oben im Turm versuchen wir immer wieder, Verbindung mit den Bayern zu bekommen, unten im Saal steht ein vorsintflutlicher Webstuhl. Die »Höhlenkinder im heimlichen Grund«, die einst ein ahnungsvoller Schristeller erdachte, sind in ganz anderer Gestalt Realität geworden. Nur eines können wir wirklich nicht: den Stier für die Kühe ersetzen, die ja einmal altersschwach sein und dann keine Milch für eventuelle Säuglinge geben werden. Vielleicht könnten uns die Unbekannten aus Bayern helfen? Ein Witz, ein Gedanke, denn wir wissen nicht, was und wer dort ist.
»Jetzt mach endlich Schluß«, höre ich meine Frau von der Treppe her rufen. So hat sie schon früher gerufen, wenn ich halbe Nächte an der Schreibmaschine saß. Oder auch ganze. »Ich komme ja schon!« Einen letzten Blick werfe ich noch zurück auf die Funkanlage. Und ausgerechnet in diesem Augenblick – um Uhr am . Dezember – flackert die rote Lampe. Ich stülpe mir die Hörer über. »Ist dort das Christkind?« frage ich ins Mikrofon, denn ich kann mir nur vorstellen, daß es eine Impulsstörung ist. »Naa – da ist der Professor Dürrhuber«, knurrt eine tiefe Stimme, »und a guate Weihnacht miteinand!« »Jetzt ist das Christkindl also doch da«, rufe ich, werfe den Hörer beiseite und rase zur Tür: »Ferry, Johannes, Pierre – kommt schnell!« Sie stürzen herauf – Pierre (ich habe es ja geahnt) mit einer Cognacflasche in der Hand. Ich schalte den Adapter ein, und nun können alle mithören: »Hier ist Spaldenstein, Burg Spaldenstein – bitte melden – melden …!« »Bluatsakra, beinah hält ich euch wieder verloren!« dröhnt neuerlich überlaut der Bierbaß aus dem Lautsprecher. »Was ist denn los mit euch?« Ich lache, ich schreie ins Mikrofon: »Weihnachten ist, Herr Professor, Weihnachten – Pierre, gib mir einen Schluck!«
»Wer ist Pierre, und wer will einen Schluck?« Nach kurzer Zeit ist alles geklärt; wir wissen ja nicht, wieviel Zeit wir haben, aber in diesen wenigen Minuten erfahren wir allerhand. Auf sitzen ungefähr drei Dutzend Menschen aller Rassen und Nationen. Mitten im Bayerischen Wald. ist ein früherer Stützpunkt der NATO und liegt bei Grafenau. Sie haben dort so ziemlich alles, was zum Leben nötig ist – aber nichts gegen die Strahlen. Beim letzten Sturm sind zwei von ihnen gestorben und drei verrückt geworden. Und rundherum sollen auch noch einige Orte sein, wo Menschen überlebt haben. Abgesehen davon möchten sie unbedingt mit uns sprechen – es sind namhae Wissenschaler bei ihnen. Deutsche, Amerikaner, Engländer und sogar zwei Russen, die dort auf offiziellem Besuch gewesen waren. Sie behaupten nämlich, sie hätten Beobachtungen gemacht, die man nur gemeinsam auswerten könne. Von wenigstens zwei Punkten aus. Sie möchten – es ist zum Lachen, aber wahr – uns »besuchen«. Ich glaube nicht recht verstanden zu haben. »Ihr wollt kommen?« »Ja!« »Dann kommts – aber wie, ihr Spaßmacher?« »Dös werds scho seg’n«, sagt der Professor Dürrhuber. Dann wird er wieder ernst und hochdeutsch, denn die Empfangs- und Sendemöglichkeiten sind doch sehr
fragwürdig: »Wir kommen mit Dromedaren …« »Mit was?« »Ja, mit Dromedaren – Flugzeuge ham mir net, also …« Mir hat es die Rede verschlagen. Dromedare in Bayern, das ist ja absurd – vielleicht ist dieser angebliche Professor auch verrückt? »Na, ich bin net narrisch«, orgelt es durch die Kopfhörer: »Wir haben hier wirklich Dromedare. Erinnern Sie sich nicht, daß in den sechziger und siebziger Jahren ein paar Naturschützer im Bayerischen Wald Elefanten und sonstige Viecher ausgesetzt haben? Auch Dromedare. Alle Tiere sind kaputtgegangen, nur die nicht. Die haben sich vermehrt wie die Ratzen und alles ausgehalten. Hundert oder zweihundert sind’s jetzt. Und die gehn durch’n Sand und um die halbe Welt. Wenn sie nur wissen, wohin – und dös wissen wir jetzt!« »Ja, dann kommts! Und bringts uns an Stier mit, an bayrischen …« »Was?« »Wir haben Kühe hier, aber keinen Nachwuchs für sie …« »Ah so – no ja, a Flascherl Sperma wird auf dem Gut drüben schon noch sein, habts an Viehdoktor?« Ich blinzle zu Jelinek und grinse vor mich hin: »Ja, den haben wir …« Die Verbindung beginnt wieder dünn zu werden. Deshalb sage ich noch rasch: »Wann wollen Sie denn
los – es sind ungefähr hundertfünfzig Kilometer Lulinie bis hierher …« »Wir können morgen reiten – a Wochn wirds scho dauern. Gebts uns nur dauernd das Peilsignal, wir nehmen Funkgeräte mit – und richts was zum Essen her!« »Werden wir, Professor, werden wir.« Die anderen um mich haben mitgehört. Ich lege die Kopörer weg und sage zu Jelinek: »Na, Viehdoktor, was meinst?« Dann lachen wir, lachen – es ist auch zu verrückt: da unterhalten sich in einer kaputtgegangenen Welt zwei Menschen per Funk über Viehzüchterei und ein Essen, das bereitstehen soll, wenn die von der einen Seite – vielleicht – kommen; über eine Entfernung, die man früher im Auto in zwei Stunden zurückgelegt hätte. Alexander tippt mich an: »Du, was der gemeint hat, das sind keine Dromedare, das sind Trampeltiere, die zweihöckrigen – ich weiß das, ich hab’ einmal gelesen, daß die dort in einem Naturpark waren …« »Na gut – ob ein oder zwei Höcker – Hauptsache, sie laufen und sie kommen durch.« »Und jetzt hab’ ich wirklich Appetit«, stelle ich fest, nachdem ich den Kopörer weggelegt habe, »und jetzt soll Weihnachten sein …« In der Halle brennen die Kerzen – die letzten, die wir haben, aber das spielt keine Rolle – und auf jedem Platz an der großen Tafel liegen ein paar Honigkuchen. Meine Frau ist doch eine Zauberin.
Wir können keinen Fernseher und keinen Radioapparat einschalten, um Weihnachtslieder zu hören oder eine Messe aus Rom mit anzusehen. Trotzdem stehen wir auf, als die uralte Pendeluhr die Mitternacht schlägt und der Cognac uns warm gemacht hat, und umarmen uns: »Frohe Weihnachten – bon Noel – svate vanoce …!« Am lautesten singen Pierre und der alte Hueber. Und draußen heult der Föhn. Weihnacht .
Vulkane, Webstühle und eine neue Geographie Burg Spaldenstein, . Januar Heute kam endlich wieder eine Verbindung mit zustande; wir hatten die Hoffnung beinahe schon wieder aufgegeben, nachdem magnetische Gewitter neuerlich – haben sie vielleicht etwas mit dem Erscheinen der Wirbeltrichter zu tun? – in der Stratosphäre tobten. Manchmal bin ich regelrecht verzweifelt und komme mir, wenn ich an der Maschine sitze und die Chronik der Tage nach dem Jüngsten Tag schreibe, vor wie ein uralter Indianer, der an einen Felsen gelehnt, sein Ende erwartend, die Totenklagen seines Volkes singt – oder wie ein tragischer »Augustin« des Jahres : »Alles ist hin …« Nutzlose Gedanken. Oder sind das Folgen organischer Veränderungen? Am . April wurde aus einem zurückhaltenden Bulletin der NASA ersichtlich, was dem zweiten Menschen, der nach Neil Armstrong den Mond betreten hatte, geschehen war. Astronaut Edwin Aldrin hatte »durchgedreht« und wurde auch nach langjähriger Behandlung in einem Spezialkrankenhaus nie mehr ganz gesund. Wie die Ärzte vermuteten, hatte er trotz seiner Schutzkleidung zu viel Weltraumstrahlung abbekom
men. Ein durch Hunderte Prüfungen und Tests gegangener Mensch, sicher zehnmal kräiger und gesünder als ich. Dabei saßen die drei Mondfahrer in einer ohnedies abgeschirmten Kapsel, doch auch die konnte nicht verhindern, daß sie selbst bei geschlossenen Augen andauernd »Lichtblitze« sahen – vielleicht durch überschnelle Teilchen der Strahlung ausgelöst. Wir haben heute nur noch einen lädierten Schutzmantel: die Lu. Ist es verwunderlich, daß nicht nur einige, sondern Abermillionen verrückt geworden sind? »Ich kann dir nur sagen, daß du völlig gesund bist«, betont Dr. Jelinek nach einer neuerlichen Untersuchung, »dir fehlt Ruhe, sonst nichts.« Ruhe – wo die hernehmen? Ich sitze am Apparat und lausche gespannt. Es geht darum, wann und wie wir die von erwarten können. Beim Anruf von Uhr ist nicht der Professor Dürrhuber am Mikrofon, sondern ein Engländer, ein Colonel McIntosh. ypisch in seiner Art: kühl, nüchtern, sachlich. Sie würden, präzisierte er, jetzt aurechen und mit ihren Kamelen nicht den Weg über die Böhmerwaldberge nehmen, sondern entlang der neuen mitteleuropäischen Wüste am Rande des Donaugrabens in Richtung Waldkirchen-Rohrbach-Neumarkt und weiter zu den Weinsberger Bergen und zum Kamp. Also in einem
großen Bogen. Wir verfolgten diesen Weg fieberha auf unseren Karten. »Wenn es uns gelingt, den Zug nochmals in Gang zu setzen – dann könnten wir Sie in der Gegend von Martinsberg erwarten«, gibt unser Karten-Stratege Alexander durch. Ob wir Vulkane in der Nähe hätten, wollte der Engländer noch wissen. »Nein – warum?« »Ach, die interessieren mich – südwestlich von hier ist gerade wieder einer aktiv geworden, wir bekommen etwas Asche ab, no … nicht schlimm …« Ich mußte unwillkürlich wieder an das vertrackte Jahr denken, an dessen Beginn – es war Ende Januar – vor der Küste von Island ein Vulkan ausgebrochen war, der seit n. Chr. als erloschen gegolten hatte. Damals hatte die isländische Regierung alle Welt um Hilfe bei der Evakuierung der Inselbewohner ersucht. Ein seit elundert Jahren toter Vulkan! Es war eine Sensation. Daß es auch ein Vorzeichen war, wollte niemand sehen. Vulkane gibt es jetzt mehr als genug, wir selbst merken nur wenig davon, ausgenommen, wenn der Regen wieder einmal rot oder braun gefärbt ist. Auf dem Granitsockel der böhmischen Masse wird kein neuer Vulkan zu spucken beginnen, das ist eine Beruhigung. Für uns gilt es nun, einen ungefähren Zeitplan aufzustellen, um die Kamelkolonne, angeführt von Colonel McIntosh, den wir insgeheim zum »Lawrence of
New Arabia« ernannt haben, irgendwo abzufangen und heil nach Spaldenstein zu bugsieren. Das sagt sich so leicht daher, aber das bedeutet wiederum harte Arbeit und einen neuen Vorstoß ins Ungewisse und Unbekannte. Wenn wir die Existenz der kleinen MenschenInsel nicht aufs Spiel setzen wollen, dürfen wir nichts riskieren. Während ich unten im Saal an den Webstuhl trete, der soeben den fünfzigsten Meter des »New Look « ausspuckt, empfinde ich die Atmosphäre der Geborgenheit und des Daheimseins doppelt stark. Da sitzt meine Frau, sie wendet sich um und sieht mich an; wir brauchen keine Worte mehr, um einander zu verstehen nach dreiundzwanzig Jahren Gemeinsamkeit und einem Jahr Apokalypse. Sie drückt mir die Hand, dann rattert der Webstuhl weiter. Irgendwo im All nahe der Erde toben Magnetstürme, oben im Turm sitzen unsere Techniker und stellen den Sender auf das Dauerpeilsignal ein. Und vierzehn Kilometer von hier wartet ein Zug aus dem Jahr auf die nächste Fahrt. Sind wir eigentlich nicht glücklich?
Aktion Ultima ule ist angelaufen Burg Spaldenstein, . Januar Viel, sehr viel ist zu berichten. Vor allem, daß seit einer Woche die Magnetstürme praktisch aufgehört haben und damit ein recht beständiges Wetter einsetzte. Am . Januar war die ›Funkatmosphäre‹ besonders ›klar‹; frei von den gräßlichen elektromagnetischen Störungen, die sich im Kopörer als stetes Maschinengewehrgeknatter manifestieren. Es waren unvergeßliche Augenblicke für Ferry und mich (und die anderen, die am angeschlossenen Lautsprecher mithörten), als wir für einige Stunden ab und zu die schwachen Stimmen anderer überlebender Menschen hereinbekamen und damit Gewißheit, daß wir doch nicht ganz allein sind auf dieser verfluchten Erde. Wir empfingen Signale aus Zentralafrika, aus New Mexico und Arizona und Labrador – überall dort, wo alte Kontinentalschollen der neuen Dri der Erdteile widerstanden haben, halten sich Gruppen und Grüppchen von Menschen, die normal geblieben sind. Ihre Berichte waren kurz und dürig und ähnelten mehr oder weniger den unseren: die einen haben Fahrzeuge, aber keinen Sprit, die anderen Sprit, aber keine Vehikel. Einige sind dabei, zu verhungern, andere sagen, daß sie Nahrung für zehn Jahre haben.
Wir konnten die Berichte und Meldungen lediglich registrieren und festhalten, dann senkte sich wieder das große Schweigen über unsere Antennen – wir aber hoen, daß unser Peilsignal bis durchkommen wird. Und nebenbei geht ja auch das ›normale‹ Leben bei uns weiter. Jaroslaw brachte die erste Handvoll selbstgezüchteter Bohnen, besser gesagt eine Kreuzung verschiedener Bohnensorten – man muß nun darüber nachdenken, wie man sie konservieren kann! Kein besonderes Problem war es, »Old Smoky II« wieder flottzumachen, ein Problem hingegen, über die aufgeweichten Wege gut zehnmal hin und her zu fahren und alles wieder einzuladen, was wir vor eineinhalb Monaten ausgeladen haben; samt dem Rover und dem poppigen Flammenwerfer. Da wir diesmal mit der Lok vorneweg fahren werden, wird er auf sie aufmontiert. Das so entstandene Monstrum bietet einen verblüffenden Anblick. Die folgende Fahrt brachte keine Sensation. Im Bahnhof Zwettl sprengten wir mehrere Waggons, viermal mußten wir Bäume von der Strecke wegbrennen. Wir taten dies alles schon mit der Routine erfahrener Wildwestler, und selbst die Skelette, die da und dort in kleinen Stationen herumliegen, nahmen wir nur noch flüchtig zur Kenntnis. Eine der erstaunlichsten Fähigkeiten des Menschen ist es, sich an alles zu gewöhnen.
Ebenso hielten wir automatisch an, als wieder einmal Riesenameisen unseren Weg kreuzten. Wir taten ihnen nichts, und auch sie ließen uns in Ruhe. Ferry in seinem rußgeschwärzten Overall grinste mich an: »Boß«, meinte er, während er den WildwestJargon nachahmte, »wenn du willst, fahren wir bis ans Ende der Welt!« »So weit die Geleise tragen …«, antwortete ich. Die Geleise trugen bis Martinsberg. Kurz davor, an einer lächerlich kleinen Brücke, die das Wasser weggerissen hatte, war es aus, war Endstation. Die konnten wir nicht reparieren. Wir stehen inmitten einer nacheiszeitlichen Urweltlandscha. Teils ist der Boden tiefgefroren, teils morastig. Wasserrinnen ziehen wirre Linien über Schwemmsand; wo sich einzelne Bodenwellen erheben, haben sich Pflanzen angesiedelt, die mächtig ins Kraut schießen. Wir stehen da und warten. Zurück wollen wir nicht und vorwärts können wir nicht. An einen Vorstoß in dieser oder jener Richtung ist nicht zu denken. Mit den Feldstechern beobachten wir die Umgebung: Felder, Häuser da und dort, in der Ferne Wälder. Und das neue Hochmoor. Kein Hauch, kein Laut. Wenn in dieser Umgebung auf einmal Riesenelche oder Mammuts auauchen würden, wir würden uns nicht wundern. Das einzig Lebendige, das wir sehen, sind Geier, die hoch über unseren Köpfen kreisen. Wo
her sie kommen, wir wissen es nicht. Aus Afrika, aus Asien? Jetzt sind sie jedenfalls da und werden vielleicht hier heimisch werden, wie früher einmal die Möwen zunächst als Fremdlinge kamen. Nahrung finden sie überreich. Es ist, als sei die Natur bemüht, mit diesen geflügelten Totengräbern einen Ausgleich zu schaffen. Manche der Geier sind riesig. »Ist das vielleicht ein Neo-Pteryx?« frage ich bosha unseren Cheiologen Jaroslaw. »Scheint so«, knurrt er, »einige Arten werden kleiner, andere größer. Denk an die Elefanten. Das waren in der Urzeit sooo kleine Schweinchen!« Er deutet die vermutliche Größe mit der Hand an. »Magst recht haben – der Hase, den Jelinek vor ein paar Tagen geschossen hat, war ein richtiger Zwerg, aber ausgewachsen. Vielleicht werden einmal Mäuse draus …« Wir sitzen und stehen um unseren Zug herum: Ferry, Johannes, Jaroslaw und ich. Ab und zu meldet sich Spaldenstein im Funkgerät, das aus der »Sikorsky« stammt und weit genug reicht. Jelinek ist sehr neugierig, im übrigen meldet er, daß das Wetter unverändert bleiben düre. Die Kamelreiter müßten eigentlich schon in der Nähe sein. Wir warten. Am Abend fällt Nebel. Manchmal meinen wir, im milchigen Dunst Schatten ziehen zu sehen, und manchmal klingt etwas wie fernes Trom
meln. Dann bilden wir schleunigst einen »Igel« um unsere Zug-Burg, wie es einst die Siedler im Westen Amerikas taten. Einmal wird Johannes, der Wache hat, nervös und drückt den Abzug der MP. Eine Leuchtgarbe zieht durch das graue Nichts. Einmal erscheint im Frontscheinwerfer der Lok ein riesiger Schatten, und wir ducken uns feuerbereit zusammen – es ist ein Pferd, das einsam herumstreunt. Am Mittag des zweiten Tages wird der Nebel durchsichtiger, die Rotlichter an unseren Sprechfunkgeräten blinken auf. »Wo seids denn?« brummt ein bekannter Bierbaß. »Mir san da …« Eine halbe Stunde später tauchen am Nebel-Horizont Schemen auf: eine lange Reihe von Reitern und Tieren, die sich langsam wie in einem Stummfilm vorwärts bewegt. »Rechts müßts halten, rechts!« brülle ich ins Mikro. Die Kolonne schwenkt im Zeitlupentempo ein. Ferry reißt vor Begeisterung an der Leine, und »Old Smoky II« gibt einen schrillen Pfiff von sich. Eines der Dromedare macht einen Satz zur Seite und wir den Reiter ab. Dann sind sie da. Ein Zug aus dem Jahre und eine Karawane aus Tausendundeiner Nacht. Zwei Dutzend bärtiger Männer stehen einander zunächst sprachlos gegenüber, dann stapfen sie durch den Matsch aufeinander zu, umarmen und küssen sich ab.
Der Dicke, der mich fast erdrückt, ist, wie ich dumpf ahne, Professor Dürrhuber. »Mensch …«, prustet er immer wieder durch seinen leicht vereisten Bart, »Mensch …« und drückt mich wieder an seine Brust. Colonel – das war er einmal – McIntosh steht abseits und sagt gar nichts. Über seine rosigen Wangen rollen Tränen. Nach zwei Stunden setzt sich der seltsame Kondukt in Bewegung. Voran »Old Smoky II«, neben- und hinterher die Karawane der zwanzig Reiter mit fünfundzwanzig Kamelen. Spaldenstein gleicht am nächsten Tag einem Ameisenhaufen. Fünfundzwanzig dumm und hochnäsig dreinschauende Dromedare stehen neben fünf nicht minder erstaunten Kühen im großen Bunkerstall des Hueber-Hofs, fünfunddreißig Menschen wimmeln, reden, lachen durcheinander; essen, trinken. Hauptanziehungspunkt für unsere Gäste, die zwei Jahre meist unter der Erde lebten, ist der Turm. Sie können sich am Anblick der weiten Wälder und Hügel nicht satt sehen, und immer wieder fassen sie mit beinahe gierigen Händen an die uralten Steinmauern. »Stein, natürlicher Stein …«, flüstern sie und lächeln glücklich. Es sind sieben Deutsche, vier Amerikaner, drei Franzosen, zwei Engländer – einer davon unser »Mr. Lawrence of New Arabia« – ein Abessinier, ein Chinese und zwei Russen.
Daß es Geheimkontakte zwischen Amerikanern und Russen besonders in der Frage des Fortbestandes der Welt schon vor gut fünfzehn Jahren gegeben hat, ist mir bekannt. Im Frühjahr soll es, so glaube ich mich zu erinnern, die erste Konferenz dieser Art in Byurakan in Sowjet-Armenien gegeben haben. Ein Gerücht, das kurz danach auf makabre Art und Weise bestätigt wurde: am . April stürzte nach einem Zusammenstoß in der Lu ein Spezialflugzeug der NASA, der amerikanischen Weltraumbehörde, ab, und dabei erfuhr man, daß diese Maschine gerade aus der Sowjetunion zurückgekehrt sei, wo sie gemeinsamen Untersuchungsprojekten diente. Welchen, das ahnte ich damals, das werde ich wohl jetzt erfahren. Neunundsechzig Fachleute und Wissenschaler waren es, die auf , dem bisher geheimen NATO-Stützpunkt, versammelt waren, als die Welt unterging. Es war die letzte internationale Geheimkonferenz gewesen – zu spät, wie alles, was die Menschen in den letzten Jahren taten. Sie lebten komfortabel – war ein Paradestück der NATO gewesen; und irgendwie hat dieser Stützpunkt ja seinen Zweck erfüllt, indem er uns den Kontakt mit diesen unseren Besuchern ermöglichte. Zwölf sind zurückgeblieben, die anderen sind tot oder verrückt geworden. Diese zwanzig Menschen hatten alle einmal Titel, Rang und berühmte Namen – das ist vorbei.
Warum sie auf , dem perfektesten aller perfekten Stützpunkte, starben oder wahnsinnig wurden, macht uns Dr. Irving, der amerikanische Ire, klar: Eisenbeton wirkt strahlenabschirmend, aber leider nicht immer. Wenn das Drahtgeflecht gewisse kritische Abstände und Stärken hat, verstärkt es, ähnlich einem Radioapparat, der auf bestimmte Wellenlängen justiert ist, »Sonnenwind« – und Weltraumstrahlung. Daran hatte man natürlich nicht gedacht, und so blieben jene am Leben und verschont, die damals – am . April – sich in den Teilen der unterirdischen Anlagen befanden, die zusätzlich noch eine starke Fels- und Erdabdeckung hatten. Jetzt wird uns klar, warum wir auf Spaldenstein überlebten und Millionen Menschen in Hochhäusern und Bunkern aus Beton nicht. Noch vor dem großen »Meeting«, das wir für den Abend angesetzt haben – an den Kochtöpfen in der Burg und am Hueber-Hof stehen jetzt fünf Köchinnen gleichzeitig, und ein Chinese, der sehr ehrenwerte Professor Tschi-Pei-feng, gibt ihnen Tips für das Würzen –, holt Professor Baker-Bull, einstmals Harvard University (übrigens ist er indianischer Abstammung und Nobelpreisträger für Physik), Ferry, Pierre und mich ins Turmzimmer. »Haben Sie in letzter Zeit Standortbestimmungen vorgenommen, und zu welchen Ergebnissen kamen Sie dabei?« will er wissen. (Daß praktisch alle »Catorianer« nahezu perfekt
Deutsch sprechen, sei hier erwähnt, denn sonst könnten unsere Köchinnen sich kaum nach jahrtausendealten chinesischen Rezepten richten.) »Nun ja«, meint Ferry, »unsere Instrumente sind sehr bescheiden, aber entweder hat unser altes Europa einen richtigen Sprung gemacht oder …« »Oder?« »Oder die Erdachse hat sich verschoben. Der Polarstern steht jedenfalls nicht mehr dort, wo er früher stand!« Der Mann, dessen Gesicht mit der scharfen Nase unter dem glatten, schwarzen Haar einst »Sitting-Bull« gehört haben könnte, Professor Baker-Bull, nickt bedächtig: »Ich meine, er hat sich verschoben, das heißt natürlich die Achse der Erde.« Er zieht aus seiner verwaschenen Uniformjacke ein Papier: eine Skizze mit Einzeichnungen. Es zeigt die Cheopspyramide. Er merkt dabei gar nicht, daß fünf oder sechs andere seiner Kollegen ins Turmzimmer gekommen sind und im Halbkreis um ihn stehen. »Das hier«, sagt Baker-Bull, »ist die Cheopspyramide. Ihre Seitenkanten waren zur Zeit ihrer Erbauung vor Jahren genau nach den Himmelsrichtungen orientiert. aber kamen der Schotte Pawley und der Däne Abrahamsen darauf, daß diese Richtungen nicht mehr stimmten. Obwohl sie angeblich bei den ersten Messungen etwa um noch gestimmt hatten. Die Nord-Süd- und die Ost-West-Achse der großen Pyra
mide wiesen Abweichungen von vier Bogenminuten auf.
Nun weiß man, daß die Erdachse eine komplizierte Pendelbewegung ausführt, wie jeder Kreisel – die sogenannte Nutation und Präzession. Bis die in sich geschlossen sind, dauert es rund . Jahre, das ist das sogenannte Platonische Jahr. Aber diese Änderungen haben nach den Messungen von Pawley und Abrahamsen nicht ausgereicht, um die Verschiebung zu erklären. Und da damals die Erdschollen nur sehr langsam ›schwammen‹, bleibt nur der Schluß, daß die Erdachse abnormal zu schwanken begann …« »Und was bedeutet das?« »Andere Messungen an anderen historischen Monumenten – den Steinbauten von Caithness in Schottland
etwa oder den Erdzeichnungen von Nazca in Peru – haben dasselbe Ergebnis gebracht, es kann sich also nicht um die Kontinentaldri gehandelt haben. Also schwanken nicht nur die magnetischen Pole, sondern auch die geographischen.« »Und worauf führen Sie das zurück?« fragt Ferry. »Unsere letzten Messungen von haben gezeigt, daß die Abweichung rapid stärker geworden ist. Nein, ich meine nicht, daß die Erde ganz ›kippen‹ könnte, noch nicht. Aber ich meine, daß das eine Folge der sogenannten Kultivierung der Erde durch den Menschen ist. Wenn man, wie das seit Jahrtausenden geschieht, Wälder abholzt und das Klima verändert, wenn man dann – wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war – neue Meere entstehen läßt, wie in der Sahara oder in Sibirien, dann bleiben diese scheinbar geringen Eingriffe global doch nicht ohne Folgen. In der Summierung sind es gigantische Kräe, die auf die Erdkruste einwirken. Es ist nun eine theoretisch-wissenschaliche Frage, was zuerst war: der Zusammenbruch des Magnetfeldes und als Folge eine Kontinentalwanderung – oder eine Verschiebung der Erdachse und in der Folge erst der eventuell durch sie bedingte Stillstand unseres Erd-Dynamos.« »Mensch und Natur haben also geradezu ideal kooperiert«, faßt Professor Haller aus München, der bisher im Hintergrund stand, zusammen. Baker-Bull nickt.
»Aber das ist leider nicht unsere einzige Sorge«, fügt Professor Haller hinzu, »wenn wir nur wüßten, was mit dem Mond los ist.« »Mit dem Mond?« frage ich erstaunt. »Ja, mit dem Mond – aber darüber wollen wir am Abend diskutieren. Und Sie«, er deutet auf mich, »können uns dabei vielleicht helfen.« »Ich, ja wie denn?« »Sie düren noch mit den Schrien von Hanns Hörbiger vertraut sein, der in diesem Zusammenhang seine eigenen Ideen hatte.« Am Abend treffen wir uns ganz offiziell. Wir sind im großen Saal versammelt. Fünfzehn Spaldensteiner und zwanzig Besucher aus einer anderen und doch der unseren Welt. Der Hirschbraten nach den Rezepten von Professor Tschi-Pei-feng war eine Delikatesse – jetzt kommt der Ernst. Professor Dürrhuber eröffnet ohne lange Vorreden die Sitzung mit einer kurzen Schilderung dessen, was sie seit dem April im Bayerischen Wald erlebt haben. »Es war grauslich!« Mit diesen Worten hat er eigentlich alles gesagt. »Erst hat es keiner glauben wollen, aber unser Computer, der TESLA-, hat es nach und nach bestätigt. Soll ich euch erzählen, wie die Erdbeben gekommen sind und wie ringsherum alles zusammengestürzt ist? Das habt ihr ja genauso erlebt. Aber das ist jetzt nicht wichtig – wichtig und interessant ist
jetzt nur noch eines, und deshalb frage ich Sie«, sagt er zu mir gewandt, »was hat seinerzeit der selige Ingenieur Hanns Hörbiger über das Verhältnis von Mond und Erde gesagt, was wissen Sie noch davon – ich erinnere mich an einige Ihrer Arbeiten – nein, sagen Sie erst einmal nichts, denken Sie nach, und dann sprechen Sie vom Mond und der Erde, von den Erdbeben und den Zusammenhängen. Ich will Sie nicht beeinflussen. Sie sollen ganz unvoreingenommen reden. Es ist für uns sehr, sehr wichtig. Sonst hätten wir diesen scheußlichen und gefährlichen Marsch nicht auf uns genommen. Zugrunde gehen können wir auch auf …« Der gute alte Hörbiger mit seiner Welteislehre … »Mond und Erde stehen in einem seltsamen Zusammenhang. Sie sind eine Art Zweigespann und in vieler Hinsicht voneinander abhängig. Am . Dezember , einen Tag vor Weihnachten, ist Managua, die Hauptstadt von Nicaragua, durch ein Erdbeben zerstört worden, bei dem viertausend Menschen den Tod fanden. Es war einen Tag vor Vollmond. Am . Januar darauf – – gab es in Neuseeland ein starkes Beben – einen Tag nach Neumond. Und so war es schon Hunderte Male vorher. Hier eine wahllos herausgegriffene Übersicht ›historischer‹ Erdbeben: . Februar : Erdbeben von Agadir (. Tote), zwei Tage vor Neumond;
. Juli : Erdbeben von Skoplje ( Tote), Vollmond; . Mai : Erdbeben in Peru (ca. . Tote), drei Tage vor Neumond; . April : Erdbeben in Persien (ca. Tote), dreieinhalb Tage vor Neumond; . April : Erdbeben in Österreich (Stärke ), zweieinhalb Tage nach Neumond. . Juni : Schweres Erdbeben in Persien/Teheran, Neumondtag. Diese Liste ließe sich endlos verlängern, und es ist bedauerlich, daß die Wissenschaler sich damals nicht die Mühe gemacht haben, alle Beben-Daten im Computer zu speichern und mit den Mondständen zu vergleichen. Der physikalische Zusammenhang ist einfach zu erklären: natürlich ›macht‹ der Mond kein Erdbeben, aber er beeinflußt durch seine Stellung das erdelektrische Feld, und dessen Veränderungen wirken wiederum auf die Erdkruste ein. Russische Forscher haben schon in den sechziger Jahren festgestellt, daß nicht nur Kristalle unter Druck elektrische Ströme erzeugen – die sogenannte Piezo-Elektrizität –, sondern daß auch umgekehrt elektrische Spannungsveränderungen in kristallinem Gestein bereits vorhandene Spannungen auslösen können. Diese Erkenntnisse, mit denen man sich erst sehr spät, ja zu spät intensiv zu befassen begann, als um
ganze Serien von Erdbeben Teile der Erde heimsuchten, sind übrigens neunzig Jahre alt und stammen von dem schwedischen Gelehrten Svante Arrhenius. Interessant, ja aufregend wurde die Sache, jedenfalls für mich, als Ende , nach der Mission von APOLLO , die Amerikaner darauf kamen, daß auch der Mond von regelrechten ›Erdbebenschwärmen‹ – so hieß es wörtlich im Bulletin der NASA – geschüttelt würde, wenn er sich in einer bestimmten Stellung zu Erde und Sonne befände. Da fiel mir wieder der Wiener Hanns Hörbiger ein und das, was er in seiner ›Welteislehre‹ vom Mond und der Erde behauptet hatte –« Es ist ganz still im Saal, und selbst das ewige Lächeln des ehrenwerten Professors Tschi-Pei-feng wirkt wie gefroren. Meine Kehle ist trocken, und ich bin Ferry dankbar, der mir ein Glas Wein reicht, das ich hinunterschütte, ehe ich fortfahre: »Hörbigers esen sind heute meist nicht mehr haltbar; er wußte nichts von der Atomkra und ähnlichen Dingen – aber mir scheint, als hätte er sehr viel mehr geahnt als gewußt, als er etwa die eorie aufstellte, daß vor unserem heutigen Mond schon andere die Erde umkreist hätten und einer nach dem anderen auf sie gestürzt sei. Hörbiger ist zu seinen Lebzeiten viel verlacht und angegriffen worden – mich fesselten seine Ideen. Und nach den erwähnten APOLLO--Messungen fragte ich mich: Ergibt sich im Verhältnis Erde – Mond auch ein Zusammenhang? Ist es denkbar, daß
Veränderungen im erdmagnetischen Feld ein ›Echo‹ auf dem Mond auslösen, ihn beeinflussen könnten? Vor allem in seiner labilen Schwerkra, denn im Zuge der Mondlandungen wurde bekannt, daß er stellenweise eigenartige ›Massekonzentrationen‹ aufweist, also instabil ist.« Professor Dürrhuber ist aufgestanden und atmet tief durch: »So – und jetzt sagen Sie uns endlich, was würde nach den esen des seligen Ingenieurs Hörbiger geschehen, wenn der Mond tatsächlich instabil würde und sich der Erde näherte …« »Was?« »Nun, vorausgesetzt, er käme der Erde näher …« »Dann – dann würde er sich, um mit Hörbiger zu sprechen, ungefähr wie ein Stein verhalten, den man an einer Schnur um einen Stab dreht; je kürzer die Schnur wird, desto rascher kreist der Stein um den Stecken. Der Mond würde keineswegs wie ein reifer Apfel auf die Erde plumpsen, er würde sich langsam näher schrauben und immer schneller werden. Er würde – ungefähr in der Äquatorgegend – Lu und Wasser immer stärker hochsaugen, und es müßte sich in einem längeren Zeitraum eine allmählich steigende Ring-Flut rings um die Erde bilden, die dort alles überfluten würde und zuletzt vielleicht Tausende Meter hoch wäre. Dann käme der Moment, in dem die Zentrifugalund Zentripetalkräe den Mond zerreißen würden, so wie man eine Zitrone in der Hand zerdrückt – er würde
sich in Trümmer auflösen, zerplatzen. Die Erde erhielte einen Trümmerring ringsum, wie der Saturn seine Ringe hat, die angestaute Flut würde nach dem Wegfall der Mondanziehung sich gegen die Pole verlaufen und auf diesem Weg die nächste Sintflut bilden. Viel bliebe dann nicht mehr übrig – aber was soll das alles?« »Diese eorien wollten wir nur bestätigt haben«, sagte Professor Dürrhuber und läßt sich auf seinen Sessel fallen, »und damit Sie endlich Bescheid wissen: wir haben auf ein Lasermeßgerät, das die ErdeMond-Distanz auf den Meter genau bestimmen kann, und dieses Gerät hat uns angezeigt, daß der Mond nicht mehr ganz auf seiner alten Bahn läu. Er ist uns in den letzten Monaten um genau , Kilometer näher gekommen. Nicht viel bei rund . Kilometern Abstand, aber sehr viel, wenn das so weitergeht.« »Das wäre das endgültige Ende, der letzte Jüngste Tag!« »Inwiefern?« wir Dr. Irving ein. »Wenn Hörbiger recht gehabt haben sollte, dann haben unsere Vorfahren schon mehrere Mondeinstürze überlebt.« »Die damaligen Monde waren nach seiner eorie aber kleiner.« »Und wir haben heute wirksamere Hilfsmittel als die Vorsteinzeitmenschen!« »Man müßte überlegen, was in einem solchen Fall zu tun wäre«, meint Professor Dr. Maskowskij, einer der beiden Russen.
»Eine Katastrophe kommt selten allein«, bemerkt Ferry sarkastisch, »erst die Apokalypse und dann vielleicht noch das! Wie lange hätten wir denn diesmal Zeit?« »Nach den Computerberechnungen zwischen und Jahre, bis es richtig losgeht«, sagt Dr. Irving. »Allerdings bin ich persönlich der Meinung, das heißt, ich habe die leise Hoffnung, daß die Messung nicht oder nicht genau stimmt, wenn die Erdachse sich verschoben haben sollte …« »Wir müssen aber mit allen Möglichkeiten rechnen«, brummt Professor Dürrhuber, »wir können es uns nicht leisten, wieder den Kopf in den Sand zu stekken wie vor zwanzig Jahren. Wir müssen uns ernstha fragen, wohin die paar Leute, die noch übrig sind, dann überhaupt noch könnten.« Johannes mischt sich ein: »Im Gymnasium haben wir von ›Ultima ule‹ gelesen, das lag irgendwo in Nordskandinavien, dort sollen einmal die Götter gelebt haben, und dort gab’ es wohl keine verheerende Sintflut …?« »Gar nicht so dumm.« Dürrhuber sieht Johannes erstaunt an. »Dort könnt es schon sein. Und damit hätte das Projekt, das wir jetzt vorbereiten müssen, auch einen schönen Namen: ›Aktion Ultima ule.‹ Aber hinkommen müßten wir zuerst …« »Dazu haben wir aber doch ein paar Jahre Zeit, oder?«
Wir beraten, reden, diskutieren. Pierre hat seine Mikrofilmrollen herbeigeholt: »Wenn man die auswerten könnte; es sind Fotos von unserem Satelliten ›France VII‹ nach dem . April , und sie zeigen genau die ruhigen und die unruhigen Zonen an. Meßdaten sind auch in großer Zahl dabei. Hier auf Spaldenstein fehlen uns die Geräte für das Ablesen. Der TESLA-OO wäre das Richtige dafür.« »Ja, dann fahren wir eben schnell mal nach hinüber!« schlägt Professor Haller spaßha vor. »Hinüberfahren« werden sie ja alle wieder müssen, unsere Gäste – aber vielleicht mit ein wenig mehr Hoffnung. »Ultima ule«, träumt Ferry vor sich hin, »erinnert ihr euch, daß schon die Azteken und Maya und die anderen alten Völker ihre letzten Zufluchtstätten auf den höchsten Gebirgen bauten? Kann sein, daß sie aus alter Überlieferung wußten, warum …« Konkret gilt es für uns, auf jeden Fall alle noch irgendwo lebenden Menschen zu erreichen, alle noch vorhandenen technischen Mittel dieser Erde zusammenzufassen, zu aktivieren. Messungen vorzunehmen, in Kontakt zu bleiben. Und das alles sollen ein paar Dutzend Menschen zuwege bringen – ohne intakte Industrien, ohne Laboratorien und Institute. Die Versäumnisse der letzten zwei, drei Generationen lasten schwerer auf uns als einst das Himmelsgewölbe auf den Schultern des Atlas.
Die nächsten Tage sind bis auf wenige Stunden, in denen die »Catorianer« glücklich wie Kinder durch den Wald streifen oder auf der Wiese Fußball spielen – die mehr oder minder würdigen Professoren und Nobelpreisträger zeigen dabei eine erstaunliche Gewandtheit, allen voran der wieselflinke Baker-Bull –, stundenlangen Beratungen gewidmet. In allen Ecken und Winkeln der alten Burg hocken und stehen die Fachleute beisammen, schmieden Pläne und Projekte und verwerfen sie. Basismaterial für das elektronische Supergehirn von . Nur wenn ich manchmal genauer hinsehe, merke ich, daß der eine oder andere unserer neuen Freunde öer als nötig zum Hueber-Hof hinüberschlendert. »Cherchez la femme«, Pierre grinst vieldeutig. Aber dann geht auch er schleunigst hinterher, um seinen »Beuteanteil« aus Nova-Ves, die rotblonde Jovanka, nicht aus den Augen zu verlieren. In Zeiten, wie den jetzigen, gilt wohl dasselbe Gesetz wie zu Anbeginn der Menschheit: das Gesetz des Schnelleren und Stärkeren. Die Tage vergehen wie ein einziges Fest. Am vierten Tag nimmt Ferry mich einmal kurz beiseite: »Du, seit gestern bekommen wir ein eigenartiges Signal herein. Das ist bestimmt nicht von oder einer ähnlichen Station. Es klingt streng automatisch und geht immer so: piip-piip-pip-piip, und zwar immer dann, wenn die Wirbel am Himmel zu sehen sind.« »Na ja – die Wirbel sind nichts Neues mehr.«
»Aber das Signal …« Eine schnell einberufene Konferenz von fünf Astronomen und drei Physikern kann auch nicht mehr als die Tatsache bestätigen: ab und zu kommt das seltsame Signal auf der gleichen Wellenlänge aus dem Unbekannten. Acht Fachleute – acht Deutungen. Die Meteorologen warnen: das Wetter könnte demnächst umschlagen; Zeit zum Auruch für unsere Gäste. Was zu bereden war, ist gesagt. Sie nehmen ein Dutzend unserer Serumflaschen mit und zwei Mädchen, Vlasta und Jovanka. Die Pointe: nicht die Franzosen waren die Eroberer, sondern die beiden Russen. So ist das Leben. Und es ist ja auch völlig gleichgültig, wer sich wo und wie vermehrt. Zwei Amerikaner, der achtundzwanzigjährige Gordon B. Smith und der zweiunddreißigjährige H. Hinnen, werden bei uns bleiben. Der eine ist Astrophysiker und der andere Fachmann für Treibstoffe – vielleicht gelingt es ihm, mit dem Zusatz, den er mitgebracht hat, aus unserem Sprit Treibstoff für den Helikopter zu produzieren. Dann könnten wir fliegen und nicht nur hüpfen, wie mit unserem Heißluballon. Wir müßten nur bis kommen, dort haben sie Kerosin genug. Johannes und Franz Neuner haben sich entschlossen, mit den Gästen nach zu gehen. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Wo und wie sollen junge Menschen heutzutage »die Welt«, die so klein – und doch so fern geworden ist,
sonst kennenlernen? Ein bitterer Abschied, aber immerhin wissen wir, daß ab jetzt die Verbindung zu dem Stützpunkt im Bayerischen Wald nicht mehr abreißen wird. Wir sind wieder allein. Um unsere Jüngsten, Johannes und den Neuner Franzi, und zwei unserer »BeuteMädchen« ärmer – um zwei junge Amerikaner, zwei Dromedare, mehrere Kanister synthetischen Treibstoffzusatz, eine Menge Wissen, drei Flaschen Sperma für unsere Kühe und einen Hauch Hoffnung reicher. Gegen Mittag hat sich die für unsere Begriffe riesige Karawane in Bewegung gesetzt. »Macht’s gut!« hat meine Frau Johannes und Franzi Neuner nachgerufen, die stolz wie Welteroberer auf ihren Kamelen hockten, auch wenn sie sich zunächst etwas ängstlich am Sattelzeug festhielten. Die Zweihöckrigen grunzten und brüllten, besonders jenes, auf dem der dicke Dürrhuber schaukelte. Eines nach dem anderen verschwanden sie im Wald. Colonel McIntosh, der – wie es sich für einen Kommandeur gehört – den Vorbeizug der anderen abgewartet hatte, hob noch einmal grüßend sein Stöckchen, dann ritt er ihnen eilends nach. »Komm«, sagte ich zu meiner Frau. Schweigend gingen wir den Weg zurück zur Burg. Es war warm und lind, und wir wandten unsere Gesichter voneinander ab, damit keiner des anderen Tränen sähe.
Es ist dunkel geworden. Leise, um niemand zu wekken, bin ich nochmals auf den Turm gestiegen. Über mir strahlt ein klarer Sternenhimmel. Am östlichen Horizont steht der Mond rötlich und rund, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Unser Planet liegt ruhig und still, als gäbe es nur Ruhe und Frieden und keine Sorgen und Nöte. Nicht Milliarden von Toten, nicht ein von Grund auf verwandeltes Leben. Dieser Tag bildet einen Einschnitt in unserer neuen Zeit: »Unternehmen Stunde Null« hat einen Abschluß gefunden, »Aktion Ultima ule« ist angelaufen. Ich will heute nichts mehr denken, nur noch schlafen. Gute Nacht, mein Turm; gute Nacht, meine Burg; gute Nacht, du arme, schreckliche, geliebte Erde …
Kerosin für einen Start … Burg Spaldenstein, . Januar Sie sind weg, wie vom Erdboden verschluckt. Seit die Karawane mit den Kamelen und Reitern im Wald verschwunden ist, haben wir keine Nachricht mehr von ihnen erhalten. Nun gut, ihre Sprechfunkgeräte können uns nicht erreichen – aber sie müßten längst auf wieder eingetroffen sein. Aber schweigt beharrlich. Aus dem Äther ist nur das ununterbrochene Maschinengewehrgeknatter atmosphärischer Störungen zu vernehmen, mal stärker, mal schwächer. Wir lösen einander an den Funkgeräten ab und geben jede Stunde Lockrufe. Nichts. »Es muß etwas geschehen sein«, sagt Ferry, »ich finde keine Erklärung.« Er hält mir eine Zeichnung hin, die er aus der »Bundeslade« ausgegraben hat: »Schau: so sieht die Sache normalerweise aus. Kurzwellen müßten von der FSchicht reflektiert werden, aber anscheinend werden sie das nicht. Vielleicht gibt es diese Schicht gar nicht mehr …« Es geht überhaupt alles schief. Vor zwei Tagen gab es plötzlich wieder ein Sauerstoffloch mit anstatt Prozent O-Gehalt in der Lu. Wir hockten im Keller und ließen die Oxygenium-Erzeuger auf Vollast laufen. Jelinek war im Wald gewesen und brach dort zusam
men. Auf allen vieren kroch er mit letzter Kra zur Burg zurück und wurde erst wieder munter, nachdem er eine Viertelstunde reinen Sauerstoff inhaliert hatte.
Der alte Hueber hat es nicht überlebt. Und zwei von den fünf Kühen auch nicht. Das ist, so brutal es klingt, ein noch schlimmerer Verlust; einen Esser kann man vermissen, zwei Milchspender nicht. Gestern haben wir den Hueber-Bauern beigesetzt, im Garten neben seinem Hof. Für wie lange wird es das letzte Grab sein? Wenn das Sauerstoffloch die Karawane erreicht haben sollte, dann gnade ihnen Gott. Welche Ursachen dieser binnen Minuten auretende Sauerstoffmangel hat, können wir noch immer nicht sagen. Auch die Catorianer wissen es nicht. trat dieses Phänomen zum erstenmal auf. Damals starben auf der Antilleninsel Barbados alle Menschen bis auf fünf: vier Herzkranke und ein Arzt. Sie hatten sich im entscheidenden Zeitraum in einer Klimakammer befunden. Später traten die tödlichen »Löcher« öer in
Erscheinung. entvölkerten sie die Großstadt Cleveland in den USA, Shanghai. Und Nürnberg und Kiew. Traten sie in freier Natur auf, fielen ihnen zwar wenige Menschen, aber viele Tiere zum Opfer. Die Gelehrten stritten um ihre Deutung. Nach einer eorie entstanden oder enstehen diese – zum Glück kurzlebigen – Mangelzonen dadurch, daß bestimmte Industrieabgase in einem bestimmten Mischungsverhältnis und bei extremen luelektrischen Spannungsverhältnissen schlagartig riesige Mengen Sauerstoff chemisch binden – nach einer anderen wären sie eine indirekte Folge der Übersättigung höchster Luschichten mit Verbrennungsrückständen hochfliegender Düsenflugzeuge. Diese würden, wie ich schon in meinem Tagebuch erwähnte, den Ozonmantel der Luhülle und die Erde zerstören oder aufreißen. Die Natur nähme im Bestreben, die entstandenen Risse zu flicken, den dazu nötigen Sauerstoff eben dorther, wo er gerade vorhanden ist, nämlich dort, wo die Risse sich bildeten. Diese Ansichten und Meinungen haben wir o durchdiskutiert. »Ich neige der zweiten eorie zu«, meint Jaroslaw. »Aber es gibt seit fast zwei Jahren keine Flugzeuge mehr!« »Das schon – aber die Hunderttausende Tonnen von Dreck, die sie in der Stratosphäre zurückgelassen haben, die gibt es noch, und die bleiben noch lange da oben …« »Gerede, Gerede!« breche ich aus. »Wir reden, und
vielleicht sind sie schon alle hin …« Ich nehme zum zehntenmal den Hörer und rufe zum Hueber-Hof hinüber: »Kommt ihr mit dem Sprit endlich weiter?« H. Hinnen ist am Apparat: »We do, what we can … wir tun, was wir können!« »Wir müssen fliegen, wir müssen nach ! Hörst du, wir müssen!« »Wenn ich ehrlich bin, sind unsere Chancen, die ›Sikorsky‹ wieder zum Fliegen zu bringen, nicht sehr groß. Da bastelt einer der ehemals führenden Chemiker der einst weltbeherrschenden Shell-Company mit wenigen Litern einer von ihm . entwickelten Kerosin-Emulsion und mit zwei ungelernten Helfern, Alexander und der roten Olga, seit einer Woche Tag und Nacht herum, mixt und versucht; bisher ohne Effekt.« Wahrscheinlich ist der Sprit, den wir aus dem Tankzug bargen, nicht viel wert. Ich muß vor Übermüdung eingeschlafen sein, denn das Schrillen des Telefons reißt mich aus einem wirren Traum, und draußen ist es schon dunkel. Tapsig fasse ich nach dem Hörer. »Es brennt, es brennt!« schreit Alexander mit sich überschlagender Stimme mir ins Ohr. Ich fahre hoch: »Was, wo brennt es?« »Unser Sprit brennt in der Ersatzdüse aus dem Hubschrauber …!« Ich starre durch das kleine Turmfenster. Tatsächlich, in Richtung Hueber-Hof zuckt und flammt es rötlich
gelb. Pierre brauche ich erst gar nicht zu rufen, er muß das auch gesehen haben, denn er reißt gerade die Tür auf. »Wie spät ist es, Pierre?« »Neun Uhr abends.« »Traust du dich, damit zu starten?« Ich weise in Richtung Fenster. »Mais – wir werden es versuchen …« Wir lächeln einander etwas schief an und wissen uns in einem Punkt völlig gleich und eins: wir haben keine Angst mehr vor Gefahr und Tod. Das hat mit Mut oder dergleichen nicht das mindeste zu tun, es ist eine rein psychologische Sache. konstatierte Professor Robert J. Lion an der Yale-Universität bei Untersuchungen von Überlebenden von Flugzeugkatastrophen, daß der gewaltige Schock des Beinahe-Sterbens ihr Bewußtsein verändert hat. Nur so sei es zu erklären, daß es mitunter auch zu Fällen von Kannibalismus kam, wie nach dem Flugzeugabsturz von Weihnachten in den Anden. Auch späterhin, so Professor Lion, bleibe das Verhältnis dieser Überlebenden zum Tod ein völlig neues und anderes. Nun – haben wir nicht einen sehr ähnlichen Schock erlebt? Sind wir im Innersten nicht auch »Kannibalen« geworden, bereit zu töten, wenn es nötig sein sollte? Ist der Tod für uns überhaupt noch von Belang? Es sei denn, es gehe um Menschen, die uns anvertraut sind. Um ihr Leben.
Wir sind, wie man früher in Österreich zu sagen pflegte, »dem Tod von der Schaufel gesprungen« – wir fürchten ihn nicht mehr. »Wann?« fragt Pierre. »Ich denke, um acht.« »Bien – um acht. Aber vorher wir müssen noch einladen. Wer kommt mit?« »Na du, Ferry und ich.« »Und ich soll wieder Burg- und Haremswächter spielen, wie?« knurrt Jelinek von der Tür her. »Du darfst uns auch zum Flugplatz geleiten … Hilf uns lieber nachdenken, was wir alles mitnehmen müssen!« »Das werde ich allein tun – ihr geht jetzt sofort ins Bett, das ist eine ärztliche Anordnung!«
Da, wo einst die Alpen standen Auf dem Flug nach , . Januar Mit einem der Anschnallgurte habe ich einen Notizblock auf dem rechten Oberschenkel festgeklemmt, und wenn die Lage der Maschine es erlaubt, kritzle ich rasch einige Stichworte darauf. Mit der Linken klammere ich mich an einen Griff. Die verkrakelten Stenogramme können später vielleicht doch von Wert sein, denn wir fliegen seit einer Stunde über eine Gegend, die es bisher nicht gab. Vor mir sitzt Pierre am Steuer und neben ihm Ferry im Copilotenstuhl. Um sieben Uhr morgens waren wir am Startplatz, dem Fußballfeld beim Dorf. Um Uhr waren die letzten Vertäuungen des Hubschraubers gelöst, alles eingeladen – das Auanken hatten vorher schon unsere »Haus-Amis« und Alexander besorgt – und Pierre zündete die beiden Düsenmotoren mit je einer Spezialsauerstoffpatrone. Die Motoren husteten und spuckten wie ein Zigarettenraucher, der sich auf Pfeifentabak umstellen muß, stießen Wolken von Gestank aus, doch dann »faßten« sie und begannen zu singen und zu heulen. Etwas unregelmäßig zwar (das tun sie auch jetzt noch), aber sie setzten nicht aus. Der über und über mit Öl und Schmutz verdreckte H. Hinnen führte einen wahren Indianertanz um den Helikopter auf.
Dann begann der Rotor zu kreisen. Langsam zunächst, dann immer schneller. Wir hoben ab. Unten auf der Wiese standen inmitten von Schlammpfützen Jaroslaw, Alexander, der glücklich grinsende Mr. Hinnen – ich glaube, keine Millionenprämie der »Shell« hätte ihm je eine solche Freude machen können – und Dr. Jelinek und meine Frau. Seine Frau immer kleiner werden zu sehen, mag früher für manchen Ehemann eine Genugtuung gewesen sein – für mich war es keine … Keine hundert Meter über dem Boden begann der Stahlblechkasten in einer Art Turbulenz wie verrückt zu schaukeln. Notabene bin ich nie gern geflogen, schon gar nicht mit einem Hubschrauber. Die haben die unangenehme Eigenscha, beim Aussetzen des Antriebs wie ein Stein herunterzufallen – und wir haben nur einen Fallschirm an Bord. Er ist für Pierre bestimmt, der allein mit dem Helikopter umgehen kann. Wir hatten die Absicht, jener Route zu folgen, die die Karawane bei ihrem Hin- und Rückmarsch genommen hat. Die war uns wenigstens in etwa bekannt. Es gibt keine Karten mehr, die mit der Wirklichkeit auch nur annähernd übereinstimmen, keine Bodenstation, die uns leitet – den ehemaligen Bordsender haben wir erst gar nicht wieder eingebaut, wozu, bei den dauernden Funkstörungen? – keine Peilstation, nichts. Wir fliegen »frei Schnauze«, wie es die ersten Pioniere der Lufahrt taten.
Unter uns ist totes, stummes Land. Wenn wir in die Dunkelheit gerieten, würde uns kein Licht einer Stadt oder eines Flughafens den Weg weisen. In ungefähr sechshundert Meter Höhe packte uns ein starker Nordwind und trieb uns weitab nach Süden. Der trockene Wind scheint den Motoren nicht zu bekommen, o stottern sie, dann sacken wir plötzlich durch. Das ist gar nicht schön. Jetzt hat der Sturm etwas nachgelassen, und Pierre versucht, wieder Kurs Nordwest aufzunehmen. Unter uns sind die Hügelberge des Weinsberger Waldes vorübergezogen, dann kam eine scheinbar endlose Wüste. Sand und nochmals Sand, übergehend in eine Art Tundralandscha, die jäh unterbrochen wurde von einem gewaltigen Strom – das war einmal die Donau; an ihrem Ufer dort müßte Linz mit seinen Hochöfen und Stahlhütten gelegen haben. Davon ist nichts mehr zu sehen. Ebensowenig von Wels oder einer anderen Stadt. Im Süden tauchen hohe Berge auf. Nach den alten Karten müßte dies das Tote Gebirge sein und dahinter der Dachstein. Und die Wasserflächen davor wären der Traun- und der Attersee. Die Sicht ist kristallklar. Ich skizziere angespannt auf meinem Notizblatt, vergleiche mit der Karte. Nein, das sind nicht mehr die altvertrauten Berge und Seen – das sind neue Berge und neue Seen. Mit völlig veränderten Konturen. Ferry hat sich mir zugewandt: »Weißt du noch«, sagt er und zeigt durch die großen Bugscheiben auf die
seltsamen Berge, »wie damals – war es ? – dieser Professor aus der Schweiz, na der für Fremdenverkehr … wie hat er geheißen?« »Dr. Krippendorf, wenn ich mich recht entsinne …« »Jaja, der Krippendorf, der hat doch damals ein großes Lamento angestimmt, daß die Alpen kaputtgingen vor lauter ›Erschließung‹. Daß sie von München bis Mailand bald nur noch, ein Riesen-Betondorf sein würden und die Almen verdorren, weil keiner sie kultivieren wolle, und daß es dort dann kein Wasser mehr geben würde, sondern nur noch Hotels!« »Mh, ich erinnere mich …« »Man würde die Berge in ein Betonkorsett zwingen, hat dann der Wiener Professor Aulitzky hinzugefügt – ich erinnere mich genau, denn ich war schon damals aktiv bei der Umweltschutzbewegung … Na siehst du – jetzt sind die Berge wieder frei …! Keine Seilbahnen mehr, keine Sessellie, keine Hotels, keine Bungalows mit Swimmingpool …« »Du bist doch nur neidisch!« »Ich? Ich hätte mir fünf Bungalows leisten können, aber der Ferry Süßbauer freut sich, daß dieser ganze faule Zauber vorüber ist.« »Ist das jetzt etwa besser?« »Irgendwie ja, sag, was du willst!« Ich sage gar nichts, ich sehe hinaus zu der bizarren Silhouette der völlig veränderten Berge. Wir fliegen zu schnell, um wahrnehmen zu können, wo und wie ganze
Felswände zu Tal gedonnert sind. Es sind vorläufig kahle und scharfe Grate und Hänge – vielleicht wird sich dort nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten eine neue Vegetation ansiedeln, werden die Wälder neu erstehen, die der Mensch in Jahrhunderten des Raubbaus vernichtet hat. Milliarden sind hier einst investiert worden, sie sind weg, pfutsch. Kein Schiff fährt auf den Seen zwischen den neuen Ufern, kein Fischer steht an den neu entstandenen Flüssen, kein Bauer geht über die schlamm- und geröllbedeckten Felder an ihren Rändern. Ein einsamer Geier kreist fern im Azurblau des Himmels. Kartographen hätten hier eine neue Aufgabe, aber es wird wohl kaum einen zweiten Peter Anich geben, der sie in Angriff nehmen würde. Die Alpen haben ihr Korsett abgeschüttelt. Für immer. Der Helikopter zieht eine weite Kurve, er fliegt jetzt Richtung Norden. »Merde!« flucht Pierre. »Der Kompaß spinnt wieder …« Tatsächlich: die Nadel dreht sich wie verrückt im Kreise. Im Süden, über den nun schon wieder ferneren Graten und Klippen, werden zwei in allen Farben schillernde Wirbel sichtbar. Ach, da sind sie wieder, unsere luigen »Geister«, von denen ich gar nicht begeistert bin. Und genau wie bei den Kapitänen Raab und Brouwer beginnt in diesem Moment unser Kompaß durchzudrehen. »Gib Gas, flieg, so schnell du kannst und – tiefer!«
rufe ich Pierre zu. Er reagiert prompt. Die Düsenaggregate der Sikorsky heulen auf, die Maschine ruckt nach vorne und unten, dann rast sie mit gut Stundenkilometern dicht über den nun flacheren Boden dahin. Richtung Norden. »Das geht aber nur noch eine halbe Stunde«, konstatiert Pierre, »dann ist es aus mit dem Sprit …« Immerhin: die schillernden Scheiben sind verschwunden, der Kompaß funktioniert wieder. »Still, seid still!« befiehlt Ferry. »Ich hör’ etwas …« »Was?« »Nur einen Pfeion, aber er kommt auf der Welle von . Drei Strich West«, kommandiert er, »zwei, eins – jetzt.« Wüste, Schlamm, Sand, Wälder, einige höhere Hügel. »Da muß es sein«, Ferry dreht am Peilgerät, »rechts, links – rechts – dort das Feld …« Wir rasen und hüpfen über Bergkuppen und Baumwipfel hinweg – da ist das Feld und mitten auf ihm ein halbzerstörtes Gebäude. Wir kreisen mit stark gedrosselten Düsen. Da – die kleine Tür am großen Tor der vermeintlichen Scheune öffnet sich, ein Mensch kommt hervor und winkt mit zwei bunten Fähnchen, weist uns ein. » «, stellt Pierre so ruhig fest, als riefe ein Straßenbahner eine Station aus, »wir landen«. Und er setzt die Sikorsky zehn Meter vor dem großen Tor mit der kleinen Tür ab. Sekundenlang wirbelt der Rotor noch, dann öffnen wir die Luke am Rumpf
des Helikopters und springen hinaus und unserem Freund Dr. Irving in die Arme. »Was ist denn los?« ist das erste, was ich wissen will. »Später, später«, beruhigt er, »jetzt kommt erst einmal herein …« Wir drücken uns durch die kaschierte Stahltür, eine andere öffnet sich, ein Großraumli nimmt uns auf und trägt uns sekundenlang tiefer, immer tiefer. hat uns empfangen.
Ein Computer schaltet auf Selbstmord , . Januar Auf Spaldenstein habe ich immer im Turm geschrieben und konnte dabei weit in das Land sehen; hier blicke ich auf eine kahle Betonwand. Auf Bildschmuck scheint die NATO keinen Wert gelegt zu haben. Aber ich schaukle immerhin nicht mehr in der Lu. Trotzdem fühle ich mich beengt wie ein Gefangener. Gefangen von dem, was sich nennt: ein Labyrinth unterirdischer Gänge, Hallen und Säle, von Labors, Werkstätten und Räumen, in denen Maschinen klicken und surren. Das ganze Ding, kreisförmig und zwanzig bis dreißig Meter unter Wiesen und Ackerboden, zum Teil auch unter den umgebenden flachen Hügeln angelegt, mag etwa fünundert Meter Durchmesser haben und umfaßt drei Stockwerke. bei seiner Fertigstellung war es das Nonplusultra moderner Festungsbautechnik, sicher gegen jede bekannte Art von Bomben und Raketen. Fünf Meter Eisenbeton – daß gerade sie zu einem Todeskäfig wurden, konnte damals niemand ahnen. Wir sind gestern noch stundenlang durch diese Gänge und Räume gewandert, streckenweise auf automatischen Rollbändern. Es war ein Alptraum, es wäre einer geworden, wenn ich nicht zunächst meinen Sohn Johannes und meinen »ererbten« Sohn, Franzi, in die
Arme hätte schließen können. Sie leben, das genügt mir. In meinem Zimmer ist alles, was man sich an Komfort nur wünschen kann: eine bequeme Liege, eine Duschecke, ein Bücherregal, ein Schreibtisch, Telefon und ein Fernseher, der allerdings kalt und tot bleibt. hat zwei Herzen, beziehungsweise ein Herz und ein Hirn. Das Herz ist ein moderner Atomreaktor, der die ganze Anlage noch jahrzehntelang in Betrieb halten könnte. Das Hirn, der TESLA-, ist ein Supercomputer, groß wie ein Einfamilienhaus. Er steht, um nicht zu sagen thront, in der zentralen Rundhalle, umgeben von sechs Schaltpulten. Nein, fünfzehn bis zwanzig Jahre nach den Behauptungen utopischer Schristeller, Computer würden dereinst die Herrscha über Erde und Menschheit übernehmen und sogar so etwas wie ein eigenes Bewußtsein entwickeln, ist nichts Derartiges eingetreten. Der TESLA-OO ist nur ein gigantischer, blecherner Idiot der achten Generation – aber ein gefährlicher Idiot. Seit kurzem schaltet er nämlich manchmal falsch. Durch eine Fehlschaltung hat er verhindert, daß uns über den Sender erreichte – nur mit Hilfe einiger Manipulationen brachten sie schließlich den kümmerlichen Peilpfeion zustande. »Und deshalb haben wir Kopf und Kragen riskiert«, raunzt Ferry, der neben mir auf der Couch sitzt und
sich an den anscheinend unerschöpflichen Vorräten alkoholischer Getränke gütlich tut. Er blickt abschätzend auf die große Wandkarte, die den Grundriß von zeigt: »Ein kompletter Wahnsinn«, murmelt er. Und gießt sich noch einen »Bouchet« ein. Die Tür zu meinem Appartement öffnet sich schmatzend – auch sie eine technische Utopie von einst; sie hat weder Schloß noch Riegel, sie funktioniert, indem man die Hand auf eine bestimmte Stelle legt, die Wärme der Hand schließt einen Stromkreis, und das Ding geht auf. Mehr noch: bestimmte Türen in dem gigantischen Maulwurfsbau gehen nur auf, wenn ein bestimmter Mensch sie auf diese Weise betätigt – sie sind auf seine spezielle persönliche Infra-Ausstrahlung programmiert. oder wurden solche »Schlösser« erstmals bis zur technischen Reife entwickelt; im Grunde genommen nur Spielerei für sich aufspielende Militärs. Pierre und Johannes kommen in den Raum. Pierre schüttelt dauernd seinen Kopf: »Jetzt sagt mir nur eines: wie kamen die von der NATO auf die absurde Idee, ausgerechnet hier, keine vierzig Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, diesen Stützpunkt zu errichten!« »Das kann ich dir verraten«, antwortet Johannes, stolz, mehr zu wissen als wir »Neulinge«, »die haben logisch kalkuliert: alle Raketen des Ostblocks waren auf Ziele im Hinterland des möglichen Feindes eingestellt
und nicht auf eines unmittelbar vor der eigenen Grenze. Und ringsum waren Eliteeinheiten der NATO konzentriert, hier wäre keiner durchgekommen …« »Und das soll geheim geblieben sein?« »Ihr werdet lachen, es blieb geheim bis , als man ganz andere Sorgen hatte. Zwölundert Mann Besatzung hatte vorher die Festung – die Fernlenkbatterien liegen rundherum in den Bergen, sind aber längst nicht mehr aktiv.« »Und jetzt sind es wieviel?« überlege ich. »Zwanzig, zwölf – zweiunddreißig, und acht oder zehn im Lazarett …« »Denken müssen Sie nicht«, wir Pierre ein, »das macht ja der TESLA-!« Was dieses Supergehirn kann, hat es uns gestern abend bewiesen. In nicht ganz drei Minuten hatte er die Daten und Fotos des Satelliten »France VII« ausgewertet und mit seinen Einspeicherungen verglichen. Dann kam die blecherne Automatenstimme: »De-e-er Vergleich zeigt-t-t, daß …« – die Automatenstimme hallte mit mehrmaligem Echo im Saal – »daß die USA zu Prozent zerstört sind, China-a-a zu Prozent, die Sowjetu-union zu , A-australi-ien zu …« Gleichzeitig kamen Fotos auf den riesigen Bildschirm an der Eingangsseite der Halle. Bilder der Verwüstung und Zerstörung. Manche geheimen Atombombenvorräte scheinen fast gleichzeitig in die Lu geflogen zu sein – jedenfalls zeigen das die
Rauchpilze und Meßdaten – ausgelöst durch die »Zündung« aus dem Weltraum, gegen die manche nicht gesichert waren, vor allem die Satelliten und die Bomber in der Lu. Nicht ein Verrückter hat das Inferno durch einen Knopfdruck in Gang gebracht, die Natur hat es getan, und die hielt sich leider nicht an die tausendfachen Beruhigungen und Versicherungen der Fachleute. Mit einem Schlag verstreuten die um die Erde kreisenden Kriegssatelliten, nachdem sie Steuer- und führungslos geworden waren, ihre tödliche Last mehr oder minder zufällig: H-Bomben, Gigase, Bakterien, psychisch wirkende Chemikalien. Und wo nicht Satelliten und Bomben die Todeswelle im Verein mit der kosmischen Strahlung auslösten, besorgten geologische Veränderungen den Rest – auch die »friedlichen« Atomkrawerke, errichtet in der Energienot des ausgehenden Erdölzeitalters, zerbarsten unter dem Druck der sich auäumenden Erde. Die ganze schaurige Büchse der Pandora, erdacht und entwickelt von einer selbst fehlentwickelten Wissenscha und Zivilisation, ergoß ihren Inhalt mit einem Mal über Menschheit und Erde. »… Prozent, Prozent … Prozent …«, schepperte die mechanische Stimme ununterbrochen weiter, bis Professor Haller sie mit einem Tastendruck unterbrach. Mit zwei Assistenten programmierte er den TESLA um; wir hatten genug von dieser Apokalypse in
Breitwand und in Farben, wir wollten die Auswertung, die Konsequenzen wissen. Die Antwort kam diesmal nicht akustisch, sondern in Form eines Papierbandes, voll mit Berechnungen, Zahlen und Kurven. Professor Haller übersetzte sie in eine uns verständliche Sprache: »Es ist, wie wir erwartet haben – Grönland und der antarktische Kontinent steigen höher, weil das Eis an den Polkappen abschmilzt, in Labrador entwickelt sich so etwas wie ein neuer Nordpol, Australien düre früher oder später auch leicht vereisen, Südamerika driet in Richtung West, und die feuerspeienden Anden werden stetig höher; England und Westeuropa sacken ab und versinken im steigenden Ozean, das Mittelmeer beginnt weiter in Nordafrika vorzudringen und wird in einigen Jahren die ganze Sahara in ein Meer verwandeln – ansonsten scheint aber gerade dieser Kontinent am wenigsten von der allgemeinen Bewegung betroffen …« Er beugte sich tiefer über das breite Band: »Ja, das düre das Wesentlichste sein. Wir in Europa müssen mit Veränderungen lediglich im Verlauf der alten Bruchlinien – Donau und Rhein vor allem – rechnen, da wird die vulkanische Tätigkeit noch lange anhalten, und ich würde niemand raten, sich jetzt am Bodensee niederzulassen …« Niemand lachte über den Scherz. Ein Funker berichtete, er habe verstümmelte Nachrichten aus AddisAbeba, der Hauptstadt Abessiniens, empfangen. Dort
sei alles beinahe normal, bis auf den Umstand, daß sie keine Verbindung mit der Außenwelt haben. »Afrikas christliche Festung …«, zitierte der aus Wien gebürtige Dr. Formanek, »so lautete einmal ein Buchtitel. Die haben dort Jahrtausende isoliert gelebt seit den Zeiten der Königin von Saba – jetzt tun sie’s wieder …« »Vielleicht sollten wir dorthin emigrieren?« brummte Professor Dürrhuber. »Ich war einmal da, als der alte Negus noch lebte. Ein interessantes Land. Sogar a Brauerei hams dort!« »Zwei –«, korrigierte ihn Ingenieur Hanor Malakawi, der dunkelhäutige Mann aus der Provinz Amhara. »Möchtest gern heim? No ja, aber wie? A Schiff brauchten wir. Mir is eh alles wurscht, ich leb auch auf einer von diesen Amas …« »Ambas«, stellte Malakawi wieder richtig, »Sie meinen doch die vereinzelten Felsburgen, jede ein Dutzend Quadratkilometer groß.« Worauf sich ein wilder Disput über das Für und Wider einer solchen Möglichkeit erhob – obwohl diese Möglichkeit gar nicht zu verwirklichen ist. Gelehrte sind nie anders gewesen und werden auch nach dem vierten oder fünen Weltuntergang nicht anders sein. Mitten hinein in den theoretischen Streit platzte die blecherne Stimme des Computers, der – während Relais knackten und viele Lämpchen rot aufleuchteten – verkündete: »Te-e-esla- meldet Fehlschaltung,
Fehlschaltung, Fe-ehlschaltung …« »Der spinnt wieder«, rief der dicke Dürrhuber und stürzte mit fünf anderen Catorianern an die Schaltpulte, »bis morgen, meine Herrn …« Morgen – heute – wollen wir uns mit dem Mond befassen. »Morgen« ist längst angebrochen. Das zeigen zumindest unsere Uhren, denn von Tageslicht ist in dem unterirdischen Verlies nichts zu sehen. »Wie die das ausgehalten haben, ist mir schleierha«, bemerkt Ferry und gießt sich wieder einen Cognac ein. »Hör auf zu saufen!« ich werde böse. »Mir gefällt es hier auch nicht. Mir ist das alles unheimlich.« Der Zimmerlautsprecher knackt. Dr. med. Sagasaki, naturalisierter Amerikaner, Spezialist für neurovegetative Störungen, meldet sich. Das Schlangenserum, das sie von Spaldenstein mitnahmen, scheint bei den Kranken im Lazarett zu wirken; der erste Patient hat jedenfalls positiv darauf angesprochen. »Wenigstens etwas«, meint Pierre, »aber wenn es wieder einen Strahlenstoß geben sollte, möchte ich doch nicht hier sein.« »Habt ihr die Panzer in der unterirdischen Garage gesehen?« fragt Johannes. »Das sind Dinger. Wenn wir die auf der Burg gehabt hätten …« Ich erinnere mich: fünf dieser Monstren hat man uns gezeigt. Fünf »Krokodile« der Bauserie /, einstige Prunkstücke der NATO. Schwimmfähig,
Kilometer schnell auf dem Land und im Wasser. In jedem haben acht Mann bequem Platz, in drei ist probeweise ein Mini-Atomreaktor als Antrieb eingebaut. Diese Reaktoren sind nicht explodiert. Sie ruhen samt den Panzern unter bergenden Plastikhüllen. Eine stumme Drohung mit ihren Laserstrahlrohren, eine Beruhigung, wenn man sie zur Verfügung weiß. »Alles ein Wahnsinn«, grunzt Ferry. Ich nehme ihm das Glas weg: »Vor allem du!« Nach dem uns schon vertrauten Saugen und Schmatzen geht neuerlich die Tür auf, und herein stürzt Professor Baranskij, einer der beiden Russen, die hier den Weltuntergang überlebten und bei uns auf Spaldenstein waren. Seine sonst kunstvoll gewellten graumelierten Haare hängen ihm wirr in die Stirne, seine Stimme ist heiser, als er knapp grüßt: »Sdrawstje …« Ich habe den Eindruck, daß es ihn jetzt auch erwischt hat – oder hat ihm nach zweijährigem Zölibat die Jovanka nicht gutgetan? Er scheint mein Stutzen bemerkt zu haben: »Njet, nein – ich bin nicht verrückt, Towarischtsch Steinauser«, er nimmt das Glas, das ihm Ferry hinhält, und gießt es hinunter, »ich habe nur die ganze Nacht am Computer gearbeitet …« »Und?« »Und jetzt möchte ich Sie etwas fragen, Kollege Blanchard: Wissen Sie noch über Ihren Stützpunkt ›Sansretour‹ Bescheid?«
»Sie kennen unseren Decknamen? Den habe ich noch niemandem gesagt …« »Da – ich kenne ihn und noch ein bißchen mehr«, Baranskij lächelt, »sehen Sie: Köche auf aller Welt kochen nach gleichem Rezept. Militärs überall, sie bauen nach selbem Rezept. Sogar Namen sind o ähnlich. Was mich aber mehr interessiert: chat ›Sansretour‹ eine Suizid-, eine Selbstvernichtungsschaltung?« Pierre zündet sich nervös eine Zigarette an, überlegt: »Eh – man hat darüber bei uns gesprochen, aber ich glaube, genau weiß das niemand …« »Chabe ich doch gedacht«, nickt der Russe. »Du«, sagt er zu Ferry, »gib noch Glas!« Ferry reicht es ihm. Professor Baranskij nippt nachdenklich, schüttelt den Kopf: »Überall gleich – natürlich, alle solche Anlagen haben das. Aber das wissen nur Konstrukteure und nicht, die drin sitzen, sonst –«, er sieht uns bitter lächelnd an, »sonst sie wären alle davongelaufen …« »Können Sie das etwas näher erklären, Professor?« fragte ich. »Was hat das mit uns zu tun?« »Ganz einfach«, er geht auf und ab, »wenn Feind kommt oder keine Persönlichkeit mehr in der Nähe, die Computer kann identifizieren, geht es ›psch‹ – und alles fliegt in Lu!« »Und das kann man nicht abstellen?« »Dada – doch, man kann, aber ich kann nicht. Ich weiß gut, wo Hebel und Schaltung ist, aber sie funktio
niert nicht mehr bei TESLA- …« »Das heißt …« »Das heißt, daß wir alle bald machen können kleine Reise in Himmel – wenn ich mich nicht irre. Aber ich bin Fachmann; der Computer ist verrückt geworden.« »Ein Computer, der wahnsinnig wird?« Johannes staunt. »Njet, nicht wie Mensch, Brüderchen. Seit einer Woche, er schaltet vieles falsch. An alles sie haben gedacht, die Konstrukteure: an Bomben, Erdbeben und so. Nur nicht an kosmische Strahlung – daß Feind nicht kommt von Erde, sondern von oben …« »Und Sie glauben, Professor, daß diese … Suizidschaltung aktiviert ist?« »Ich glaube nichts, ich vermute. Deshalb war ich ganze Nacht dort.« »Haben Sie das den anderen schon gesagt?« »Dada – Dürrhuber und McIntosh. Dürrhuber will nicht glauben, ist Idealist; der Colonel hat besser verstanden. Ist Soldat, wie ich«, er öffnet seine Überjacke, und wir sehen an seiner Litewka militärische Abzeichen und eine Ordensspange. »Ich bin Oberst, wie er – das kann ich jetzt ruhig sagen. Gib noch Glas, Towarischtsch Ferry!« Er stürzt es in einem Zug hinunter. »Ich war im Krieg mit den Kitajski, mit den Chinesen, da sind zwei Stützpunkte von uns am Ussuri auf diese Weise kaputtgegangen. Mit allen, die drin waren,
und das soll hier nicht passieren. Deshalb gehe ich wieder – doswidanje, meine Cherren …!« »Professor …« Er hört es nicht mehr, will es nicht mehr hören; er schüttelt nur den Kopf und geht mit hängenden Schultern und sehr müde. Die Tür schließt sich mit leisem Fauchen. »Was hat der nur?« fragt Franzi, der an Baranskij vorbei ins Zimmer gehuscht ist. »Das werden wir sehen, Franzi – oder auch zu spüren bekommen.« »Ich ruf Dürrhuber an«, sagt Ferry nach einer Weile des Schweigens und versucht, die Verbindung zu bekommen. Es meldet sich, wie wir am Lautsprecher mithören können aber nicht der dicke Professor, sondern unser gelber Bruder Tschi-Pei-feng: »Ich weiß gal nichts«, antwortet er auf die Fragen von Ferry, »müssen walten, Schicksal noch immel liegt bei gloßem Tao …«, er meckert dünn. »Oder beim großen Mao!« schreit Ferry in die Muschel und drischt den Hörer auf die Gabel. »So kommen wir nicht weiter …« Ich überlege fieberha, was wir in dieser Situation tun könnten. »Wir sind hier erst seit einem Tag Gäste; man sollte höflich sein, aber mit Maßen – Pierre, hast du den Hubschrauber aufgetankt?« »Bis obenhin – mit echtem Kerosin. Er steht bei der
Scheune …« »Dann würde ich euch empfehlen, eure Klamotten fertig zu machen. Wir warten hier und bleiben zusammen.« »Okay«, sagte Ferry und setzt noch rasch die Cognacflasche an. In diesem Augenblick knackt wieder der Lautsprecher, dann meldet sich die kalte Metallstimme von TESLA-: »Achtung an alle, a-an allee-e. Negativ-Null-Fall ist eingetrete-en. Negativ-Null-Fall. Sie haben jetzt fünfundvierzig Minuten Zeit, den Stützpunkt zu räumen. Fünfundvierzig Minuten. Der Sicherheitsabstand über der Erde beträgt sechshundert Meter ab Zentrum, sechshundert Meter …« Dann folgt die gleiche Mitteilung auf englisch. Pause. Und nochmals die hallende Schepperstimme: »I-ich beginne mit der Teilsprengung, der Teilsprreeee …« Die Stimme erstirbt in Zischen, Fauchen und Heulen. »Der ist wirklich übergeschnappt!« ru Pierre. »Vite, vite …!« Er springt auf. »Raus – weg!« kommandiere ich. »Rennt, in Gottes Namen, rennt! Wir wissen nicht, wann es losgeht!« Wir hasten und stolpern über Korridore, stillstehende Lauänder und Treppen. Im obersten Gang erwischt uns die erste Detonationswelle. Wir werfen uns hin und bergen die Köpfe mit Händen und Armen. Die Wände beben, und alles ist voller Dreck und Staub. »Weiter …!« Ferry stemmt sich hoch und läu, wir hinterher. Bevor die nächste Explosion aus der Tiefe
wummert, sind wir im Schuppen und dann am Rande des Feldes. Es regnet in Strömen. Über und über mit Kalk bedeckt, eine wandelnde Staubwolke, taucht hinter uns Professor Dürrhuber aus dem Tor der Tarn-Scheune auf, dessen Flügel schief hängen. »Und er hat doch recht gehabt, der Baazi, der sakrische …«, keucht er und drückt ein Köfferchen – ein »suitcase« nannte man das früher poetisch – an seine mächtige Brust. »Wo ist er denn?« »Unten, beim Computer …« Ich huste und wische mir Dreck und Wasser aus dem Gesicht. Ich weiß, wen er meint: den Professor Dr. Iwan Baranskij. Nach und nach wanken noch vier andere Gestalten aus dem unter neuen Detonationen bebenden Bauwerk, zwei von ihnen bluten. Ungefähr hundert Meter linksab hat sich buchstäblich der Boden aufgetan, und über eine bis dahin unsichtbare Rampe kriechen, eines nach dem anderen, fünf »Krokodile«. Glänzend und fabrikneu, wie zu einer Parade. Im Licht der für Minuten durch die tiefziehenden Wolken brechenden Sonne schimmern ihre nassen Flanken. Parademäßig macht die Kolonne der Vierzig-Tonnen Ungetüme einen weiten Schlenker und hält schließlich im Abstand von zweihundert Metern hinter unserem Rücken. Genau neben der »Sikorsky«. An der Seite des Führungspanzers geht eine Luke auf, und ihr entsteigt Colonel McIntosh – in tadellos sitzender Uniform, das
Stöckchen unter dem Arm, vom Scheitel bis zur Sohle ein perfekter Gentleman. Er stelzt auf uns zu: »Diese Russen«, quengelt er, »ich habe die Panzer seit Mitternacht bereit gehabt …« »Weil Baranskij es Ihnen gesagt hat – aber mir haben Sie nichts gesagt!« poltert Professor Dürrhuber. »Excuse me, Sir, im Kriegsfall bin ich Kommandant …« »Wir haben keinen Krieg!« »Aber einen extremen Notfall – oder?« »Ja, meinetwegen«, brummt Dürrhuber, »aber wer weiß, ob es überhaupt noch etwas zu kommandieren gibt?« Das Rumoren unter der Erde wird stärker. Da und dort wölbt sich der Boden auf, als wollte er Blasen werfen. Ich sitze auf einem zerbrochenen Betonklotz, der einstmals zu einer Panzersperre gehört haben mag, und mache Notizen auf dem halb aufgeweichten Block. Nach einer Viertelstunde ist alles still. Totenstill. Mit Krampen, Schaufeln und bloßen Händen, mit jedem Werkzeug, das wir haben, beginnen wir zu buddeln. Bis die Schaufeln zerbrechen und unsere Hände bluten. Es ist sinnlos. Durch das Gewirr von Beton und Eisen können wir nicht vordringen. Ferry versucht es unter Lebensgefahr mit geballten Ladungen von Donarit-Kapseln, die wir im Helikopter hatten. Es nützt nichts. Einen einzigen Menschen haben wir geborgen: den
Professor Dr. Iwan Baranskij. Seine Leiche. Sie lag nur wenige Meter von der Haupttreppe entfernt. Er hat den TESLA-OO nicht mehr abstellen können. Zerschunden, verdreckt und frierend finden wir uns nach und nach wieder bei den Panzern ein. Es ist eine kleine Gruppe: fünf »Spaldensteiner« und elf von . Die anderen, darunter die immer lustige und vorwitzige Jovanka, sind unter der Erde geblieben. Und alle Lazarettinsassen. Weil ein Computer verrückt spielte. »Ich glaube, meine Herrschaen, wir sollten den einen da«, Professor Dürrhuber, dessen Gesicht jetzt gar nicht heiter und fröhlich wirkt, sondern wie eine steingewordene Maske, deutet auf die Bahre, auf der liegt, was von Professor Baranskij übriggeblieben ist, » – wir sollten den einen da für alle anderen bestatten …« Fünfzehn Männer und eine Frau stehen im Halbkreis um den Toten. Nicht einmal Professor Tschi-Peifeng hat ein Lächeln aufgesetzt. Er sieht grau aus, so grau wie der Himmel über uns. Aus den Bruchstücken des Scheunentores haben wir einen Scheiterhaufen aufgeschichtet. Obenauf legen wir die Bahre mit den sterblichen Überresten von Professor Dr. Iwan Baranskij. Das Holz ist etwas feucht und will zuerst nicht zünden, als Professor Dürrhuber vortritt und die Magnesiumfackel daran hält; doch dann lodert die Flamme hoch und erfaßt zunächst das große rote Tuch über der Bahre. Es ist ein Signaltuch aus einem der Panzer. Rauch steigt auf, Colonel McIntosh steht stramm da
und salutiert dem Mann, der noch vor wenigen Jahren sein Gegner war. Wir haben die Kopedeckungen abgenommen. Einige beten. »Er hat uns allen das Leben geschenkt und gerettet«, sagt Colonel McIntosh nach einer Weile des Schweigens, »jetzt müssen wir überlegen, wohin wir sollen …« Zum erstenmal sehe ich ihn ratlos. »Nach Spaldenstein …«, sage ich und höre selbst, wie krächzend meine Stimme klingt, »wohin denn sonst?«
„Krokodile“ retten Spaldenstein Auf der Fahrt nach Spaldenstein, . Januar Wieder halte ich mich mit der linken Hand an einem Griff fest, und wieder steckt der Notizblock unter einem Gurt auf dem rechten Oberschenkel. Nur sind es diesmal nicht Gurt und Sitz im Hubschrauber – der knattert hundert Meter über uns durch die Lu, und ich kann förmlich sehen, wie Pierre sich freut, endlich wieder mit normalem Treibstoff zu fliegen –, sondern in einem »Krokodil« der Serie /. Neben mir quillt der dicke Dürrhuber über die Lehnen seines Sessels. Nachdem ich das Stichwort »Spaldenstein« ausgegeben hatte – keineswegs aus einem besonderen Entschluß heraus, sondern weil es für uns gar keine andere Möglichkeit gibt –, hatte sich die makabre Bestattungsszene in ein wildes Durcheinander verwandelt. Sechzehn Überlebende verteilten sich auf die fünf Panzer und drei Kamele, die mit uns in den unterirdischen Stallungen das Ende von überstanden hatten. Durch den Sehschlitz sah ich den Oberst im offenen Turmluk des ersten Panzers stehen. Während die Flammen um den Scheiterhaufen mit der roten Fahne züngelten und träger Rauch über die Trümmer der Scheune wallte, stieß er die Faust dreimal hoch: das Signal zum Auruch. Die Motoren der Panzer heulten los, dann setzte sich der seltsame Zug in Bewegung.
Drei Kamele und fünf Amphibienpanzer. Rüttelnd und stoßend über den Acker und die aufgeweichte Straße. Der Regen rann wieder in Strömen. Außer dem Köfferchen, das sämtliche Speicherungen und Mikrofilme des TESLA-OO birgt, hat Professor Dürrhuber noch ein winziges Kästchen in der Hand. Es hat nur einen Druckknopf. Als wir ungefähr drei Kilometer über die Landstraße gewalzt sind, drückt er ihn nieder. Über dem Feld hinter uns birst die Erde und steigt ein Explosionspilz auf. existiert nicht mehr. »Das war der Reaktor«, sagt Professor Dürrhuber und sieht nach vorne, »er wäre so und so hochgegangen …« »Und die Menschen in den Dörfern rundherum?« »Wenn sie noch leben, werden sie die Kamele finden, die außerhalb in den Ställen sind, und die Vorräte dort. Und sie werden ein neues Leben anfangen, als Nomaden oder Hirten. Und von uns wird man dann nur noch in Sagen erzählen …« Das »Krokodil« mahlt durch tiefen Schlamm. Mit einem normalen Auto kämen wir hier nicht durch. »Meinen Sie, daß es richtig war, was ich vorhin sagte – das mit Spaldenstein?« beginne ich vorsichtig ein Gespräch, schon um den Mann neben mir abzulenken. »Nu naa –«, blitzt er mich an und ist schon wieder ganz der alte, »wissen Sie etwas Besseres?« »Nein.« »Also!«
Ich bin froh, daß er sich wieder gefangen hat. Wir fahren und fahren. Ein Glück, daß drei der Panzer unabhängig von Treibstoff sind und für die anderen zwei genug Sprit mitschleppen können. Wir fahren, gleiten und furchen drei Tage lang durch Schlamm und Sand, schwimmen durch aufgewühlte Flüsse und Bäche; die Kamele können das sowieso. Sie scheinen sich beinahe wohl zu fühlen. Wir essen spärliche Mahlzeiten aus alten Konservendosen. »Hoffentlich hat deine Frau was G’scheits zum Essen parat«, grunzt Dürrhuber, »sonst wirst du faschiert …« Der Dickwanst scheint immer nur ans Essen zu denken. Manchmal könnte ich ihn umbringen. Aber dann muß ich ihn wieder bewundern und beinahe lieben, weil er im richtigen Moment richtige Entscheidungen tri. Bessere als unser »Lawrence of New Arabia«, Colonel McIntosh, mit dem er o hart aneinandergerät. Dürrhuber hat den Instinkt eines Bauern, der genau weiß, wo man fahren, wo man einen Fluß überqueren kann. Ohne seine ewig müden Lider nur halb zu öffnen. Am vierten Tag – die Fahrer in den Panzern lösen einander im Vierstundenrhythmus ab – sind wir bis auf zehn Kilometer an Spaldenstein heran. Jetzt müßten die Sprechfunkgeräte wieder funktionieren. Sie tun es nicht. Auf alle unsere Anrufe kommt keine Antwort. Angst und Unruhe erfassen mich. »Nein, nein«, rufe ich ins Mikro, als Colonel McIn
tosh die Bundesstraße zu suchen beginnt, »nein, bitte fahren Sie direkt, durch den Wald …« Der Wald ist hier nicht dicht. Mühelos brechen die »Krokodile« ihren Weg. Noch drei Kilometer. Über den Baumwipfeln zuckt es rot und gelb. Haben sie uns doch gehört und brennen ein Feuerwerk ab? Es ist kein Feuerwerk, das sehen wir, als unsere Panzer die letzten Bäumchen vor der großen Wiese zerdrücken und die Mauern von Spaldenstein einige hundert Meter vor uns in den Himmel ragen. Von den verfallenen Zinnen der Burg zischt Leuchtspur nach rechts über die freie Fläche, und alle paar Sekunden lecken die Zungen eines Flammenwerfers über sie hinweg. Sie haben das gleiche Ziel: eine zehn Meter breite Flut rotbrauner Riesenkörper, die aus dem Wald genau auf die Burg hinführt. Ameisen … Jetzt verstehe ich, warum sie nicht antworten konnten. Und jetzt ist auch der dicke Dürrhuber hellwach und munter. Er packt das Mikro, das vor ihm in der Halterung liegt, und befiehlt: »Laser – marsch!« Die fünf Panzer sind am Rand der Wiese aufgefahren. Fünf kurze, armdicke Rohre schwenken in den Stahltürmen und richten sich automatisch auf ihr Ziel ein: den Strom der Riesenameisen, deren Rascheln, Schlürfen und Schmatzen sogar in den Panzern zu hören ist. Die erste Welle hat den seichten Burggraben bereits restlos aufgefüllt, und über sie hinweg gleitet
und steigt die nächste scheinbar mühelos die zerfallenen Mauern hoch. »Jetzt wirst seg’n«, grinst Dürrhuber mich an, »was die alte Tante NATO doch noch in ihrem Strickstrumpf versteckt gehabt hat …« »Feuer!« ru er. Im zweiten Panzer neben uns hebt Colonel McIntosh die Hand hoch zum Zeichen, daß er verstanden hat. »Omdurman!« schreit seine Stimme durch den Kopörer. Es ist das Losungswort, das sein Urgroßonkel Winston Churchill rief, als er mit der britischen Kavallerie in Ägypten gegen die Heere des »Mahdi« anstürmte. Aus zwei, vier, fünf Stummelrohren, die vorne keinen der üblichen Schalldämpfer, sondern ein linsenförmiges Drahtgeflecht tragen, fingern gebündelte grelle Lichtstrahlen stumm und ohne jeden Laut über die Fläche. Der Motor unseres Panzers brummt stärker und tiefer. Er erzeugt jetzt die Energie für die LaserWaffe. Die Lichtfinger tasten über die Wiese, und wo sie aureffen, zischt das feuchte Kraut auf und brodelt der Boden. Dann haben sie sich auf ihr Ziel eingespielt. Der Strom der rotbraunen Riesentiere beginnt zu stocken, zu kochen. Serienweise platzen die großen Leiber auf und verschmoren. Der Gestank, der uns erreicht, ist bestialisch. Aus dem unübersehbaren Strom, der von hinten immer neuen Nachschub erhält, hat sich ein Seitenarm abgezweigt und fließt mit beängstigender
Geschwindigkeit auf die fünf »Krokodile« zu. Jetzt sehen wir direkt in die Facettenaugen unseres Gegners. »Du«, stößt mich Dürrhuber an, »die sind nicht blöd, die sind zumindest so intelligent, wie mein Wastl es war – und das war ein g’scheiter Dackel.« Auch Colonel McIntosh scheint dieser Meinung zu sein: »Luken dicht«, befiehlt er, »Gas!« Dürrhuber legt einen Hebel um, ich spüre Druck in den Ohren – dann hüllen sich die fünf »Krokodile« in gelblichen Nebel. Durch das zentimeterdicke Glas des Sehschlitzes merke ich, wie die ersten der Tiere, die uns bereits erreicht hatten, in ihren Bewegungen erstarren. Leblos rollen sie zur Seite. Zu Dutzenden, zu Hunderten, zu Tausenden; die ganze Wiese ist bedeckt von toten Insektenleibern. »Ob wir da nicht unsere potentiellen Nachfolger umgebracht haben?« wende ich mich an Dürrhuber. »Unsinn«, überwindet er seine eigene Unsicherheit, »und wenn sie noch so gescheit sind – es sind unsere Gegner.« »Na ja …« »Und kämpfen kann man nur mit einem Gegner, nicht wahr?« Diese Logik ist allerdings umwerfend. Der auffrischende Wind und der wieder stärker einsetzende Regen vertreiben die schweren Gasschwaden wieder. Alles ringsum ist jetzt still, bis auf das Trommeln des Regens auf den Wänden der Panzer.
»Dann also …«, erhebt sich der Dürrhuber nach einer Viertelstunde neben mir und stößt die Turmluke auf, »die Lu ist rein, der riller ist aus, Finis, Ende. Komm schon hoch, Kleiner!« Ich möchte ihm jetzt etwas ganz Böses sagen, aber dann blicke ich hinüber zur Burg. Hinter den verfallenden Zinnen sehe ich einige Gestalten herumspringen. Über die zersplitterten Bäume des Waldes huscht ein Schemen mit wirbelnden Rotorblättern: der Helikopter, der uns vier Tage lang Pfadfinder und Spürhund war. Er setzt zu einer eleganten Landung vor dem Burgtor an. »Das Wichtigste hat er versäumt«, grinst Dürrhuber, »aber zum Essen kommt er zurecht!« Er gibt Gas. Gleichzeitig rucken auch die anderen vier »Krokodile« an. Ihre breiten Ketten malmen durch den meterhohen Fluß der toten Insektenkörper, es knirscht und kracht abscheulich. Dann halten wir an der Zugbrücke. Die Kamele sind auch nachgekommen. Sie rümpfen ihre hochnäsigen Nasen und lassen sich grunzend und blökend nieder; sechzehn mehr oder minder abgerissene Gestalten laufen über die morschen Bohlen. »Gut, daß du da bist …«, sagt meine Frau und umarmt mich. »Ich glaube, es war höchste Zeit!« bemerkt Jelinek, die leergeschossene MP im Arm. »Woher kommt ihr denn?« »Von einem Begräbnis«, antworte ich, »von einem großen Begräbnis, Doc …«
Professor Tschi-Pei-feng verneigt sich vor meiner Frau: »Ich beglüße«, säuselt er, »Flau des Hauses!« »Quatsch«, brummt Dürrhuber, »a Schweinshaxen möcht ich jetzt haben, mit Sauerkraut und Knödeln.« »Kann es auch eine Wildschweinhaxe sein, Herr Professor? Die haben wir – und Sauerkraut und Kartoffelknödel«, erwidert meine Frau. »Darf ich die Herrschaen bitten?« Fünfzehn Männer und ein Mädchen eilen in den großen Saal. Keiner von ihnen wäscht sich die Hände vor dem Essen. »Seife ist ungesund«, konstatiert Johannes, als seine Mutter ihn und uns schief ansieht, »das hat man schon vor vielen Jahrzehnten festgestellt; sie nimmt der Haut ihren natürlichen Schutzfilm und erleichtert das Eindringen von Bakterien …« Im Moment dringt er auf das Stück Fleisch ein, das Olga ihm hingestellt hat. »Möchtest du noch etwas?« fragt mich meine Frau. Ich weiß genau, daß sie nichts mehr hat. »Nein, danke«, antworte ich höflich, »ich möchte jetzt nur noch schlafen.« »Das sollst du, das könnt ihr alle …« Ich schlafe achtzehn Stunden, ohne aufzuwachen.
Verzweiflungsflug an die Donau Burg Spaldenstein, . Januar – . Februar Mit einer Kanne heißen Kaffee, einer Packung »Marlboro« von und noch immer müden Beinen bin ich nach den achtzehn Stunden Schlaf die Treppen zum Turm hinaufgeklettert. Und fühlte mich pudelwohl. An dieser Stelle möchte ich für einen denkbaren späteren Leser etwas einfügen: Es ist ein naiver Aberglaube, genährt von Sagen, Märchen und Poeten, daß der Mensch in bestimmten Situationen besonders heldenha sei. Er ist es keineswegs. Auch gestern, als wir mit dem Ameisenheer kämpen – von einem wirklichen Kampf konnte natürlich keine Rede sein, es war eine technische Angelegenheit –, empfand ich keinerlei »Hochgefühl«. Ob der Tod einfach oder tausendfach neben einem auritt, ist völlig belanglos. Man nimmt ihn zur Kenntnis – an der Bewußtseinslage ändert sich gar nichts. Man kämp und denkt an nichts, das ist die Wahrheit. Und wenn man dabei umkommt, hat man es o kaum gemerkt. Was ich erzählte und erzähle, ist also keine Dichtung, keine »überhöhte Realität«, es ist die nackte Wirklichkeit. So und nicht anders waren die Ereignisse. Ich bin ein nüchterner Chronist mit den Gemütsbewegungen
von jedermann. Ab und zu ernst, ab und zu eher komisch. Mit solchen Gedanken trat ich ins Turmzimmer und stieß beinahe mit Dürrhuber zusammen. »Da bist du ja wieder«, brummte er freundlich und tätschelte mir die Wange, was einer Serie von Ohrfeigen nahekam; er fügte siebensüß hinzu: »Jetzt weiß ich, warum du immer hier oben hockst …« (»Sie« und Titel haben wir wortlos beiseite gelassen.) »So, und warum?« »Weil du da vor deiner Frau sicher bist!« »Was?« »Ich habe gerade mit ihr eine Stunde lang gestritten, du, das ist eine ›Harbe‹. Weißt du, was sie unbedingt wissen wollte?« »Keine Ahnung.« Ich stellte Kaffee und Zigaretten ab. »Warum es bei uns auf alle Hautfarben gegeben hat, aber keine Busen – keine Weiber. Sie meint, das war’ doch richtiger gewesen. Und weißt du, daß sie gar nicht so unrecht hat? Wie viele sind wir jetzt? Neunzehn, nein: zweiundzwanzig Männer und drei Frauen im richtigen Alter. Glaubst du, daß die überzähligen Männer sich ewig mit Selbstbefriedigung begnügen werden? Das ist ein echtes Problem …« »Es gibt größere Probleme …« »Ja, in schönen Abenteuergeschichten, aber nicht bei
uns. Früher oder später gibt das Mord und Totschlag.« »Andere Sorgen hast du nicht?« brause ich auf. »Schau dich einmal an! Deine Hosen sind nur noch ein Gelump. Damit imponierst du keiner Frau, ob sie da ist oder nicht …« »Jaja«, bekennt der Dicke, »wir sollten uns neu einkleiden!« »Und wo? – Im nächsten Konfektionsgeschä; Winterschlußverkauf …!« höhne ich. »Wir werden uns schon etwas einfallen lassen müssen.« Damit hatte ich ihn geschlagen. Sehr friedlich setzten wir uns hin und begannen, eine Liste aufzustellen: Ein »Personenstandsregister«. Da sind die zehn Männer von ; da ist Ferry, Jaroslaw, Johannes, Dr. Jelinek, der junge Neuner; da sind unsere Haus-Amis – Hinnen und Smith – und Pierre. Tatsächlich: neunzehn Mann. Und auf der anderen Seite haben wir die drei Beutemädchen, die alte Bäuerin und meine Frau. Alexander mit seiner Maria habe ich nicht mitgezählt, der ist ja versorgt. Und auch das Baby nicht – mein Enkelkind –, das zur Welt gekommen ist, während wir auf waren. Es ist ein Mädchen, der erste bei uns neugeborene Mensch der neuen Gegenwart. Ich will Alexander keine Angst machen, aber ich warte mit Bangen, was aus dem Kind wird. Wird es ein Monstrum, ein Gnom? sagten fünf amerikanische Biologen in der Zeitschri Science voraus, daß die Menschen in einigen tausend Jahren infolge der Übertechnisierung und der
Klimaveränderung wieder ein Fell tragen würden. Und aus dem Kopf würden ihnen Fühler wachsen, während ihre Körper birnenförmig entartet wären und nur noch Stummel von Händen und Füßen hätten. Diese Sorgen brauchen wir uns nicht zu machen – mir und den Wissenschalern, die bei uns sind, scheint es eher, als würden die durch Strahlungen hervorgerufenen Mutationen die größte Rolle in der Formung und Gestaltung des Lebens dieser Erde spielen. »Sechsundzwanzig …«, murmelt Dürrhuber. »Jaja, sechsundzwanzig«, wiederhole ich. »Sechs-, nein siebenundzwanzig Menschen mit dem Kind, die ab jetzt genährt und gekleidet sein wollen.« »Früher war das einfacher …«, stöhnt der Dicke. »Bei euch auf vielleicht«, bemerkt Ferry, der mit Johannes eingetreten ist und den Großteil des Gesprächs mitgehört hat, »wir haben uns hier immer selbst helfen müssen. Da vergehen einem die Sexprobleme, mein Freund.« Johannes zeigt sich wieder einmal als Diplomat: »In der Fabrik bei Groß-Siegharts, wo wir die Ballonseide holten, habe ich im Keller auch Uniformstoffe gesehen – was meint ihr dazu?« Wieder in das Leichenschauhaus? Wir haben es dann doch getan. Zwei »Krokodile« brachten uns hin und zurück. Stellenweise quoll der Dreck durch die Seitenluken. Es regnet weiter. Spaldenstein ist eine Insel in einem Meer von Wasser und
Schlamm. Den Gang zum Hueber-Hof haben wir schon dreimal auspumpen müssen. Der endlose Regen hat die Wiese vor der Burg von den Resten der Ameisen freigeschwemmt. Daß er auch die Toten in der Fabrik von Groß-Siegharts aufquellen und verwesen ließ, war weniger erfreulich. Und noch unerfreulicher, daß die Schnapsfabrik nicht mehr zugänglich ist. Nur aus der Werkskantine haben wir ein paar Flaschen bergen können. Den sieben Mann von , die mit uns fuhren, hat der Dreißigkilometerausflug gutgetan – jetzt wissen sie endlich, wie die Realität von heute aussieht. Damit es alle sich einprägen, trainiert uns Colonel McIntosh jeden Tag trotz des Dauerregens im Burghof und bei den Maurerarbeiten. In kürzester Frist ist die zerstörte Wand am Steilfelsen wieder aufgebaut. Im Saal rattern jetzt drei Nähmaschinen mit Fußantrieb. Professor Tschi-Pei-feng hat die Schnitte entworfen. »Das sollen seine blauen Ameisen anziehen«, schimp Dürrhuber und zwängt sich in die neue Hose, die in Tarnfarben eingefärbt ist. Unterwäsche und Schuhwerk besitzen wir genug: die Laser der »Krokodile« haben uns diesbezüglich doch einen »Winterschlußverkauf« beschert, indem sie den Zugang zu den Lagerräumen des einzigen Kauauses von Groß-Siegharts freibrannten. Die Sachen waren kaum beschädigt, und auch die Stapel von Bettwäsche, Handtüchern und
Socken nicht. Nur Kleider hatte der Konsum-Markt leider nicht geführt. Jetzt sehen wir – Männlein und Weiblein – alle gleich aus. Jeder hat eine Hose und Jacke aus demselben Zeug, aber das ist wenigstens feuer- und wasserfest. Aus einer Gruppe, die der Zufall zusammengeführt hat, ist eine organisierte Truppe geworden. »Gloßaltig!« lispelt Tschi-Pei-feng, als er uns das erstemal so sieht. »Du häßlicher Affe«, schimp Dürrhuber – und umarmt den kleinen, gelben Mann. Der Indianer Baker-Bull und der schwarzhäutige Abessiner Malakawi grinsen. »Und du bist der dickste Affe …«, lacht Dr. Malakawi. Auch das Frauenproblem hat sich ohne Komplikationen und psychiatrische Beihilfe gelöst: jeden Abend geht der eine oder andere der alleinstehenden Männer zum Hueber-Hof hinüber. Vielmännerei nannte man das vielleicht früher – Prostitution ist es nicht, da nichts zu bezahlen ist oder bezahlt werden kann. Daß dies nur ein Übergangszustand sein kann, darüber sind wir uns völlig klar, aber vorderhand gibt es keine andere Möglichkeit. Und wenn die Frage der Vaterscha akut werden sollte, dann sind eben alle verantwortlich – was soll’s? Es regnet jetzt die dritte Woche. Seit Tagen bewege ich mich nur zwischen Schlafsaal und Turm hin und her.
Die Funkanlagen und Meßgeräte sind nun dreifach besetzt, die Ablösung ist kein Problem. Aber im Äther tut sich nichts. Einmal hat Pierre das Signal von »Sansretour« hereinbekommen und schleunigst ein MikroSpeicherband ablaufen lassen. »Ich muß wieder fliegen«, bedrängt er mich, »ich hab’ den Eindruck, daß es irgendwo etwas Neues zu sehen gibt, bitte – laßt mich!« »Flieg, wenn du willst und mußt«, sage ich, »so viel Sprit haben wir noch. Schau vor allem zur Donau hinunter. Wenn unsere Fernmesser nicht ganz spinnen, wie damals der TESLA-, so könnte es sein, daß …« Daß Pierre längst wieder seine alte Pilotenmontur angelegt hat, merke ich erst jetzt. »Wir brauchen langsam auch wieder Proviant …«, moniert Dürrhuber, »der Laden in Siegharts war diesbezüglich nicht sehr ergiebig …« Das heißt auf deutsch, daß wir neue Beute machen müssen. Unsere Versuchsfelder sind abgesoffen und die Kühe bis auf eine geschlachtet; die gibt die Milch für das Baby. Man sollte nicht glauben, wie groß der Nahrungsbedarf von siebenundzwanzig Menschen ist. »Ich bin am Ende«, sagt auch meine Frau – das hat sie schon früher gesagt, als ich noch Schristeller war. Damals ging es ums Geld, jetzt geht es ums Leben. Und jetzt ist kein Kaufmann namens Hejl im Haus, der auch auf Kredit liefert … Eine Woche oder zwei könnten wir noch so existie
ren – jagen und fischen, aber auch damit ist jetzt nicht viel los. Doch dann wäre Schluß. Dann würden wir die letzte Kuh aufessen. Und zuletzt uns gegenseitig. »Ich fliege mit dir, Pierre …« »Ich auch!« begehrt Dürrhuber auf. »Na schön, dann fliegen wir …« Es ist eine bittere, aber unumgängliche Erkenntnis, daß wir in Wahrheit zu einem eigenständigen Überleben nicht fähig sind. Wir können – zumindest vorläufig – nur von den Resten der früheren Zivilisation leben. Es langt nicht einmal für siebenundzwanzig Menschen auf einem Platz. »Aasgeier und Leichenfledderer sind wir …«, stößt Dürrhuber hervor, »jämmerliche Aasgeier …« »Du hast recht, ganz recht, Bruderherz«, sage ich, »und deshalb müssen wir eben auf Suche gehen …« Der Regen hat etwas nachgelassen. Durch knöcheltiefen Matsch stapfen wir zu der »Sikorsky«. Vom überdeckten Wehrgang der Burg aus sehen die Zurückbleibenden uns nach. Nach der dritten Patrone zünden die feucht gewordenen Motoren. »Wohin wünschen die Herren?« fragt Pierre, als der Helikopter sich langsam vom Boden abhebt. Unten stehen die fünf »Krokodile« stumm und kalt, der Turm von Spaldenstein ist nun nur noch spielzeuggroß. Auf der Wiese winkt ein Mann. Es ist der Colonel. »Zur Donau«, sage ich mehr oder minder aufs Ge
ratewohl; es ist auch völlig gleichgültig, wohin wir fliegen. Hauptsache, der Geier mit den vier über uns drehenden Windmühlenflügeln kommt mit Beute und Nahrung zurück … »Also Kurs Süd …«, nickt Pierre. Die Maschine legt sich in eine Steilkurve, dann schießt sie nach vorne. Die Wolken ziehen noch immer tief. Auf den Bergen des Ostrong liegt Schnee. Die Wälder sind kahl und etwas schütter. Linz mit seinen Hochöfen lag einmal zu nahe und hat sie mit Schwefeldioxyd vergiet – genau, wie es vor fünfzehn Jahren Professor Bert Bolin aus Stockholm, Leiter der dortigen Bodenuntersuchungsanstalt, voraussagte: daß fünfzehn bis zwanzig Prozent der Wälder sterben würden. Sie sind gestorben – und die Menschen auch. Ein schimmerndes Band im Süden: die Donau. Dort, wo der Betonklotz eines Silos aus dem Wasser ragt, müßte einst Pöchlarn gewesen sein. Der Strom ist breit und spült bis an die Abhänge des Dunkelsteiner Waldes. Aber da, an einem Hang, wo man noch einzelne Hallen und Gebäude erkennen kann – da liegen zwei längliche Körper auf Schienen. Zwei uralte Raddampfer der weiland »Donau-DampfschiffahrtsGesellscha« sind es, das erkennen wir, als Pierre im Tiefflug niedergeht. »Die Wer von Pöchlarn«, sage ich und fasse mich an den Kopf, »daß ich daran nicht gleich gedacht habe!«
Der Helikopter kreist. »Soll ich landen?« Pierre wendet sich um. »Natürlich! Möglichst nahe bei den Schiffen, vielleicht gibt es dort etwas …« Wir setzen einen Meter über dem Werkshof auf, das heißt, wir schweben über ihm – dann springen Professor Dürrhuber und ich aus der Tür des Hubschraubers und landen im Schlamm, der uns bis an die Knie geht. Zum Glück ist rechts von uns ein Brettersteg. Er führt zu einem der Dampfer. Wir waten auf ihn zu, stapfen über den Holzbelag und sind an Bord. Der Hubschrauber wirbelt näher. Jetzt haben wir nur ein Ziel: die Vorratsräume. Ob sie leer sind oder nicht, kann über unser Schicksal entscheiden. Sie sind nicht leer: anscheinend stand die »Maria eresia« – so heißt das Schiff, wie wir in goldenen und verschlammten Buchstaben am Bug lesen können – vor einer neuen Ausfahrt. Vielleicht nach Ungarn, vielleicht nach Rumänien. Wir raffen und raffen – Fleisch- und Pfirsichkonserven, die über und über mit Lehm verkrustet sind, Plastiksäcke mit Zucker und Mehl, Flaschen und nochmals Flaschen. Wir sehen aus wie Fahrer nach einer Motorradrallye, aber wir arbeiten wie Roboter. Kiste auf Kiste verschwindet im Rumpf der »Sikorsky« – Hummer, Sardinen, Mayonnaise, was uns gerade in die Hände kommt, Sekt und Wachauer Wein. »Und alles gratis …«, der Professor spuckt aus und
schmiert sich Lehm übers Gesicht. »Genug!« ru schließlich Pierre. »Wir sind voll.« Dürrhuber knallt den Hals einer Sektflasche gegen die Bordwand. Es zischt und sprudelt. Er schüttet sich den Champagner – es ist echter »Veuve Cliquot« – in den Mund. »Trink, Brüderlein, trink.« Ich trinke. »Ihr Säue«, schimp Pierre, als der Hubschrauber nach einer halben Stunde wieder abhebt, »ich kann jetzt die ganze Maschine waschen.« Aber er lacht mit uns, wir lachen alle drei. »Etwas an der Sache kommt mir spanisch vor …«, überlege ich laut, während Pierre mit der »Sikorsky« im auommenden Sturm nur knapp über Bäume und Hügel hüp, daß es uns immer wieder zentnerschwer gegen die Gurte drückt. »Was meinst du?« preßt Dürrhuber hervor und setzt sich so gut wie möglich wieder zurecht. »Wie kamen die beiden Schiffe ausgerechnet dort hinauf auf die Helling und wieso ist die ›Maria eresia‹ voll mit Vorräten, wo es doch in den letzten Jahren damit immer schwieriger wurde?« »Deine Sorgen möcht’ ich haben …«, er denkt nach. »Es gibt nur eine theoretische Erklärung: alle diese Konserven sind viele Jahre alt. Damals, vor dem großen Kladderadatsch, war die ›Maria eresia‹ wirklich zu einer Fahrt bereit; dann ging alles drunter und drüber, man hat sie in Sicherheit gebracht – und vergessen. Sonst war’ bestimmt nichts mehr drin gewesen!«
»Tja, so könnte es gewesen sein. Meinst du, daß im zweiten Schiff auch noch etwas ist? Wie heißt es übrigens?« »›Franz Joseph‹ – die halbe Monarchie ist dort versammelt. Aber weißt du was …? Diese beiden Veteranen der unchristlichen Flußschiffahrt sind eine Chance für uns.« »Wozu?« »Für eine kleine Fahrt nach Wien oder meinetwegen nach Budapest.« »Blödsinn!« »Kein Blödsinn, er hat recht«, sagt nun Pierre und fingert eine Zigarette aus seiner Kombination, »seid ehrlich: unsere ganze Umgebung haben wir praktisch schon leer gefressen, dort war nie viel, und dort ist nichts mehr zu holen. Firma Spaldenstein & Co. ist pleite. Rund um Wien – auch wenn die Stadt hin ist – hat es aber viele größere Orte gegeben. Jetzt haben wir die Amphibienpanzer – nein, die Idee ist nicht so dumm.« »Wenn wir nur eines von den beiden verschlammten Wracks fit machen wollen, dauert das Wochen.« »Na und? Das einzige, was wir haben, ist Zeit.« Pierre blickt rasch auf die Karte, die vor ihm hängt, und reißt die Maschine vor einer Bergkuppe hoch, daß wir kaum noch Atem kriegen: »Keine sechzig Kilometer Lulinie.« »Siehst du«, Dürrhuber zieht ein Reisefläschchen mit
Weinbrand aus seiner gesprenkelten Hose. »Prost!« Im nächsten Moment schnarcht er schon. Um Uhr Bordzeit platscht der Hubschrauber auf die Wiese vor der Burg. Ich rüttle den Dicken wach und stoße ihn vor mir her in Richtung Bad. Das Ausladen sollen die anderen besorgen. Uhr : Ich habe ein neues Einheitsgewand »Modell « an, eine Flasche Sekt neben mir und einen Riesenhunger. Die Knappen und Frauen der Raubritter im Mittelalter können nicht mehr gejubelt haben als unsere Burgbesatzung, nachdem der Helikopter entleert war. Die von Colonel McIntosh mühsam disziplinierte Gruppe hat sich in eine Horde beutefroher Wikinger verwandelt. Professor Tschi-Pei-feng singt chinesische Volkslieder, was ganz grauenha klingt, Dr. Malakawi fromme Gospels, und darüber dröhnt mit zwei, drei anderen Stimmen der Bierbaß von Dürrhuber: »Ja so warns, die oiden Rittersleut …« Gegen das kleine Fenster im Turm drischt der Sturm und prasselt der Hagel. Es stört mich nicht. Wir leben, wir wollen jetzt und heute leben, und wenn es geht, morgen auch noch. Die Idee mit den Schiffen sollte man wirklich nicht aus den Augen verlieren.
Auf der Spur der Nibelungen Pöchlarn, . März Wenn man den Sängern des Nibelungenliedes Glauben schenken darf, dann haben in dieser Gegend vor ungefähr tausend Jahren die Burgunder Rast gemacht, bevor sie zum Massaker an König Etzels Hof weiterreisten. Und in dem Ort, der jetzt fünf, zehn oder fünfzehn Meter unter dem Wasserspiegel der Donau liegt, herrschte damals der gastfreundliche Fürst Rüdiger. Die Festlichkeiten an seinem Hof – bis vor sechzehn Jahren konnte man noch einen alten Turm sehen, der aus seiner Zeit stammte – sollen wochenlang gedauert haben, begleitet von ritterlichen Spielen. Wir ergehen uns momentan in Arbeit, in furchtbar schmutziger Arbeit. Vor ungefähr zwanzig Tagen haben wir unser Hauptquartier von Spaldenstein hierher verlegt. Nachdem allerhand geschehen war, was ich immerhin festhalten sollte, wenn ich schon einmal Zeit zum Schreiben finde: Nach dem großen Regen, der nahezu vierzig Tage währte, wie jener der Sintflut (und so ähnlich sah es nachher auch aus), kam die Hitze und der Samum. Jaja – ein richtiger Sandsturm, und er verwehte die letzten noch passierbaren Wege. Wir lebten von den eisernen Vorräten; bis Pierre während einer Atempause des Orkans meinte, jetzt könne er nochmals einen Beuteflug nach Pöchlarn machen. Professor Haller und J. B. Smith
stiegen mit ihm in den Hubschrauber. Er war keine fünfzig Meter hoch, als eine fürchterliche Bö ihn herunterwarf. Mit Tüchern vor dem Mund, mit knirschendem Sand zwischen den Zähnen, mit Feuerlöschern und Notfallgerät rannten wir zur Absturzstelle. Pierre hat der ehemalige Chefchirurg der Ostberliner »Charité «, Professor Wolkoff, noch einigermaßen zusammenflicken können, seinen Kollegen Haller nicht mehr. Ob Smith überlebt, ist ungewiß. Beide liegen sie jetzt im Lazarett der Burg. Der Tod ist zwar nicht unser Freund, aber unser ständiger Begleiter geworden. Professor Haller ruht neben dem HueberBauern. Am . Februar, als der »Gibli« – Dr. Malakawi hat uns diesen Begriff für den Wüstensturm beigebracht – nachließ und die erstaunte Natur bei Grad über Null ein Frühlingsgewand anlegte, stiegen wir in vier der »Krokodile«. Das füne ist zum Schutz der Burg zurückgeblieben. Mit ihm Dr. Wolkoff, die beiden Patienten im Lazarett, Alexander mit seiner kleinen Familie, der zweite »Ami« H. Hinnen, der seinen Freund nicht alleinlassen wollte, eines der Mädchen und Professor Tschi-Pei-feng, der sich in das kleine Gewürzgärtlein, das Jaroslaw beim Hueber-Hof anpflanzte und das wunderbarerweise alle Naturereignisse überstand, so verliebt hat, daß er sich nicht mehr von ihm trennen mag. Nur die Schneckenplage macht ihm dort Sorgen. »Wenn ihl wiedel kommt, ist das hiel Mustel-Kol
chose …«, rief er uns nach, als die vier Stahlungetüme sich in Bewegung setzten. Wir spuckten den letzten Sand aus und fuhren. Es war beinahe ein Vergnügen, mit diesen Vehikeln, die so perfekt sind, wie es eine perfekte Technik nur sein kann, die drei Stunden bis zur Donau zu rollen. Sie waren vollgeladen mit allem Gerät und allen Dingen, die wir glaubten brauchen zu können. Besetzt mit neunzehn »Mann« (drei davon sind Frauen), die restlichen acht auf der Burg werden mit den vorhandenen Reserven noch lange leben können. Wir anderen müssen sehen, wir wir uns ernähren und erhalten. Nun ja, diesbezüglich sind wir in eine Art Paradies geraten. Allein von den Beständen der »Maria eresia« könnten wir ein halbes Jahr existieren. Zu ihr zu kommen, war trotzdem nicht leicht. Von Straßen und Wegen gibt es kaum noch eine Spur. Wir fuhren mehr nach dem Kompaß als nach den Karten. Einmal noch kamen die Ameisen. Wir wichen ihnen respektvoll aus. Das einzige, was wir eindeutig erkannten, war die Donau. In Dampfwolken gehüllt glitten die vier »Krokodile« ins Wasser. Der Strom fließt jetzt unglaublich schnell, platschend schlugen seine Wellen gegen die Sichtschlitze, und es dauerte eine gute halbe Stunde, bis wir ihn überquert hatten. Mit einem Boot wäre das unmöglich. Das Wasser ist braun und dreckig. In ihm treiben Bäume und immer wieder Teile von Brücken und
Häusern. Einen kompletten Bungalow, der senkrecht auf den ersten Panzer zugeschwommen kam, mußte Colonel McIntosh mit dem Laserrohr wegbrennen. Er ist nun wieder in seinem Element; er kann anschaffen und kommandieren, und manchmal habe ich den Verdacht, daß er in den Kajüten der beiden Schiffe nach einer Kapitänsmütze sucht, um sie aufzusetzen. Ich habe mich mit meiner Schreibmaschine und etlichen Flaschen in das Direktionsgebäude der früheren Wer zurückgezogen. Dort »wohnen« wir übrigens alle. Im Parterre und sehr primitiv. Anhand der Unterlagen, die ich in den Schreibtischen fand – einer davon dient mir als Bett –, ist mir klargeworden, wieso es die Wer und die Schiffe überhaupt noch gibt: begann man mit dem Bau des fünen, sehr umstrittenen Donaukrawerkes unterhalb von uns. Der kleine Ort Pöchlarn war dadurch ohnehin dem Untergang geweiht, er wäre in dem neuen Stausee ertrunken. Deshalb wurde die Wer und wurden alle ihre Anlagen seitlich und höher verlegt – und da sind sie geblieben. Jetzt liegen sie direkt am Ufer, und wir brauchen nur einige Holzkeile wegzusprengen, um die »Maria eresia« und die »Franz Joseph« zu Wasser zu lassen. In der alten Werkshalle fanden wir in einem Winkel ganze Berge von Schläuchen. Sie sind jetzt unser wichtigstes Requisit. Wir haben sie an die Motoren von zwei Panzern angeschlossen, und seit Tagen ergießen sich Ströme von Wasser über Auauten
und Innenräume der beiden Dampfschiffe. Allmählich schwindet die Dreckkruste, der Rest einer Hochflut der Donau. Im übrigen: im mehrwöchigen Schnitt scheint der Fluß eher zu fallen als zu steigen. Vielleicht macht das die neuerliche Trockenheit – vielleicht hat aber auch der See über Wien einen Abfluß gefunden? Das wäre natürlich ideal, denn wir sind fest entschlossen, dorthin zu kommen, koste es, was es wolle. Das Schlaraffenland hier kann nicht von langer Dauer sein. »Schon wieder Hummer, Krabben, Fischsalat und Sekt«, maule ich, als meine Frau mit einem Tablett in das einstige Renommierzimmer des örtlichen DDSGDirektors kommt. »Vor fünf Jahren hättest du viel dafür gegeben …« »Und jetzt gäbe ich viel für einen Einfall, woher wir genügend trockenes Holz für die Kessel der Schiffe heranschaffen können!« »Sie sind ja selbst aus Holz – erinnerst du dich an den Film ›In achtzig Tagen um die Welt‹? Da hat doch der … der …« »Na ja, was hat er?« »Das ganze Schiff verheizt!« »Du – das ist eine Königsidee, das werden auch wir tun; Motorsägen haben wir, und aus Holz bestehen sie sowieso zum Großteil …« Vorläufig hat das aber noch gute Weile. Vorläufig basteln und montieren unsere Techniker an den Geräten
und Maschinen, die gerade der Schlamm vor der Zerstörung bewahrt hat. Da und dort beginnen die uralten Messingarmaturen wieder zu glänzen. Jetzt müßte man nur noch Feuer unter den Kesseln machen … »Da hab’ ich dir etwas mitgebracht«, sagt meine Frau und legt mir ein längliches Paket hin, das in Plastik eingeschlagen ist, »das war in der ›Franz Joseph‹« Mein Gott – eine ganze Stange »Kent«! Irgendein Matrose muß sie einmal aus der Schweiz mitgebracht haben. Ein österreichischer, denn die Packung ist nochmals in Zeitungspapier eingeschlagen; in einen Kurier vom April . Ich glätte sorgfältig die vergilbten Seiten und lese Titel und Meldungen: Sicherheitsrat verurteilt Israel – Die Amerikaner grollen den Nordvietnamesen – Japanische Meteorologen haben festgestellt, daß das Erdklima bis Ende der siebziger Jahre immer extremer werden wird. Sie führen das auf kältere Temperaturen an den Polen zurück. (Daß dies nicht stimmt, wissen wir inzwischen.) In Brasilien hat es ein großes Erdbeben gegeben – am Vollmondtag – in den USA hat man die ersten vierzig Tankstellen gesperrt, die Vorräte reichen nur noch für zehn Jahre – in Österreich brüstet sich die Sozialistische Partei damit, daß unter ihrer Regierung dreihunderttausend neue Autos angescha worden sind (!), die (christliche) Volkspartei schimp in gleichgroßen Inseraten darüber, daß die Sozialisten den privaten Krafahrverkehr durch höhere Benzin
preise kaputtmachen möchten. Und über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben … Tito () hat Brandt empfangen, die Volksabstimmung darüber, ob im Wiener Sternwartepark für einen Institutsneubau Bäume gefällt werden sollen oder nicht, wird im Mai erfolgen. Tonnen Schmutz und Schwefeldioxyd rieseln jeden Monat auf Wien hernieder – sechs Tonnen Sauerstoff erzeugt ein Baum pro Monat – das Erdöl in Arabien soll noch für vierzig Jahre reichen – darum wird es wohl den dritten Weltkrieg geben – Picasso ist gestorben. »Vielleicht hörst du mir einmal zu.« Ferry ist ins Zimmer gekommen. »Pierre hat angerufen – er hält es nicht mehr aus, er will zu uns.« Ich knülle die alte Zeitung zusammen und werfe sie in den Papierkorb: »Wie denn?« »Na mit einem von den Kamelen. Damit kommt er schon durch. Wir müßten ihn dann nur am anderen Ufer abholen …« Dreihunderttausend neue Autos in drei Jahren – ein Kamel . »Wie sieht es auf der Wer aus?« »Großartig. eoretisch könnten wir in fünf oder sechs Tagen fertig sein.« »Schön war’s.« Wenn ich aus dem breiten Fenster blicke, sehe ich die beiden Dampfer. Die Stege und Wege zu ihnen sind jetzt nicht mehr von Schlamm bedeckt. Über ihnen
und der Donau strahlt ein makellos blaßblauer Frühlingshimmel, hinter uns, an den Abhängen des Dunkelsteiner Waldes, grünt und blüht es wie zu Ostern. »Wann will Pierre kommen?« »Übermorgen, wenn es gutgeht.« »Er soll ein zweites Kamel nehmen und die Hülle und den Brenner vom Heißluballon mitbringen. Das ist jetzt das einzige Lufahrzeug, das wir noch haben …« »Okay – ich werde es ihm sagen.« »Ich komm’ jetzt mit dir zu den Schiffen. Zigarette?« Ferry reißt die fünfzehn Jahre alte Packung auf. »Ze Pechelarn, da wos der Here Ruediger …«, zitiere ich das Nibelungenlied, während wir die Treppen hinuntergehen. »Was sagst du?« »Ach nichts, das hat jemand vor tausend Jahren gesagt …« Auf den verrosteten (und wieder frisch eingeölten) Schienen der Wer ruhen nebeneinander die dicken Leiber der Schaufeldampfer; der »Maria eresia« und der »Franz Joseph«. Still und geduldig in der verfrühten Vorfrühlingssonne. Im Hintergrund wälzt der mächtige Strom – vielleicht hat sich der Danubius f luvius den Römern, als sie auf ihn stießen, nicht viel anders gezeigt? – seine Wogen talab. Hinter den Bergen im Norden liegt ir
gendwo Spaldenstein. Beim Anblick der Schiffe kommen mir immer seltsame Gedanken: Wozu tun wir das eigentlich? Wozu arbeiten wir wie die Sklaven seit Wochen und ohne Pause? Selbst in der Nacht und im Licht der Scheinwerfer der Panzer schaffen unsere Techniker Stunde um Stunde. Könnten wir nicht einfach warten, bis uns der Tod auf der Burg erreicht? Was soll das alles – denn, das empfinde ich deutlicher als die anderen, es ist ja nur eine Ausrede, daß wir unbedingt nach Wien müßten, wo sowieso nichts zu holen sein wird. Aber da sind die Schiffe, und sie sind eine Herausforderung. Vor langer Zeit hat in einem Interview einmal ein Bergsteiger – wer das war, weiß ich wirklich nicht mehr – auf die Frage, warum die Menschen auf die Berge klettern, geantwortet: »Weil die da sind.« Es war die bestmögliche Antwort, und eine andere könnten auch wir nicht geben – wir arbeiten und werken, weil die Schiffe da sind. Das sogenannte »Irrationale« hat noch immer Geschichte mehr bestimmt und vorangetrieben als jede sachliche Erwägung. Weil wir eben Menschen sind.
Ein Dampfschiff strandet in Camuntum An Bord der »Maria eresia«, . März Es war nicht einfach. Pierre herüberzuholen. Ich verstehe jetzt, warum Hagen im Nibelungenlied den Fährmann erschlug. Ich hätte den Indianer Baker-Bull, der das »Krokodil« ans jenseitige Ufer steuerte, auch am liebsten erschlagen. Er hatte vergessen, das Turmluk zu schließen, und auf einmal schwappten gut hundert Liter Wasser herein. Noch eine solche Dusche, und wir wären rettungslos abgesoffen. Meine Füße sind patschnaß, und die Lenzpumpen des Schwimmpanzers hatten alle Mühe, die lehmige Brühe wieder hinauszuschaffen. Pierre entdeckten wir nur dank des Peilzeichens, das sein Funkgerät automatisch gab. Er stand inmitten eines urwaldartigen Gestrüpps – nein: er hockte auf einem der beiden Kamele – und schoß auf ein Rudel Ratten, die ihn umringten und nur darauf warteten, bis er herunterpurzeln würde. Wir können von Glück reden, daß die ausgehungerten Viecher nicht über die Donau gekommen sind. Der Laser des »Krokodils« ließ sie verschmoren. Den Trampeltieren stieß der Indianer einen spitzen Nagel ins Hinterteil, das wirkte sehr grausam, aber es war die einzige Möglichkeit, sie zum Laufen zu bringen – zurück. Sonst wären sie letzten Endes doch aufgefressen worden.
Pierre trocknete sich die Beine an der Heizung. »Na, und wie sieht es bei euch aus?« »Alles in Ordnung«, berichtete er, »deine Enkeltochter gerät dir nach – sie säu und säu. Alexander versteht sich großartig mit Tschi-Pei-feng, weil der auch so wortkarg ist; na und Hinnen und Smith sind ebenfalls ein guter Ersatz für dich: sie sitzen meist im Turmzimmer und funken und trinken …« die Rückfahrt schae Baker-Bull in dreiundzwanzig Minuten – eine Meisterleistung. Ich werde ihn doch nicht umbringen. Insgeheim habe ich es mehr befürchtet als erho: die Schiffe sind fahrbereit, sie müßten nur noch von den Schienen gleiten. Unsere beiden deutschen Wetterfrösche Vormann und Müller sagen, soweit das ihre Erfahrungen und bescheidenen Instrumente zulassen, eine relativ konstante Wetterlage voraus. Von den zwei oder drei Minivulkanen, die entlang der alten ermalquellenlinie Scharten – Bad Hall – Schallerbach ausgebrochen sind, haben wir nichts zu befürchten. Sie bewirken höchstens, daß das Wasser der Donau an manchen Tagen so lauwarm ist, daß es in der Morgenkühle damp; in den Nächten färben sie den Himmel im Südwesten rötlich. Man wird sich daran gewöhnen, mit tätigen Vulkanen zu leben – wie früher mit der Atombombe. Obwohl wir keine Weltreise vorhatten, sondern nur eine Fahrt, die einige Stunden dauern sollte, mußte
doch alles vorbereitet werden, als gälte es, für immer Abschied zu nehmen. Die Check-Liste, die der in Dingen dieser Art äußerst bürokratische und genaue Moskauer Professor Schelest – im Teamwork mit dem Franzosen La Fayette – angelegt hat, ist endlos. Unermüdlich klettert und stakelt das eigenartige Paar stundenlang durch die Schiffe und testet und prü. Ich glaube, daß sie sogar die Holzscheite zählen, die wir aus den Vertäfelungen und Bänken der Dampfer (und aus dem gleichfalls trockenen Inventar der Wer) gesägt haben. In der Direktion von Pöchlarn wird Jelinek zurückbleiben (»das ist wohl mein Schicksal«, resigniert er), zusammen mit der roten Olga – als lebende Relaisstation zur Burg Spaldenstein. Dort warten Alexander mit Frau und Kind, die beiden Amerikaner Hinnen und Smith, die alte Hueberin, der sehr ehrenwerte Professor Tschi-Pei-feng und eines der Mädchen von Nova-Ves. Auf die beiden Schiffe verteilen sich Dürrhuber, Ferry, Pierre, Johannes und ich, meine Frau Gertrude, Dr. Malakawi, der Indianer Baker-Bull, Professor Schelest, der Chirurg aus Ostberlin, Professor Wolkoff, Colonel McIntosh, die zwei deutschen Wettermacher Vormann und Müller, die Franzosen La Fayette und Mairie de la Rose (alle Franzosen scheinen irgendwie adlig zu sein …) und die gar nicht adelige, aber sehr intelligente Tina aus Nova-Ves beziehungsweise Prag, wo sie wissen
schaliche Assistentin war. Ja – und Jaroslaw hätte ich beinahe vergessen. Als Agronom und Biologe hat er im Augenblick keine Spezialaufgabe, er wird also Holz in die Öfen feuern. Einer der Schwimmpanzer ist auf der »Franz Joseph« vertäut, die drei anderen stehen an Deck der größeren »Maria eresia«. Auf ihr habe ich auch mich eingenistet, die »Franz Joseph« kommandiert Colonel McIntosh. Es ist ihm übrigens doch noch gelungen, eine Kapitänsmütze aufzutreiben, er trägt sie stolz und sieht damit sehr abenteuerlich aus. Um die altersschwachen Kessel nicht zu überlasten, haben wir schon gestern abend zu heizen begonnen. Jetzt quellen dicke Rauchwolken aus den Schornsteinen, und die Manometer zeigen ausreichenden Druck an. Am . März sprengt um genau Uhr Jelinek die Holzkeile weg, die bisher die Schiffe auf den Schienen hielten. Lärmend und wackelnd rutschen sie ins Wasser. »Dampf auf!« höre ich den Colonel aufgeregt durch den Sprechtrichter rufen. Ferry, der neben mir auf der Brücke der »Maria eresia« steht, fummelt nervös am Maschinentelegrafen. »Ja, ja«, ru Jaroslaw durch das Sprechrohr zurück. Die Schaufeln des Dampfers beginnen zu mahlen. Sie peitschen die gelbbraunen Fluten – das Schiff zieht in
die Strommitte. Vor uns wälzt sich die »Franz Joseph« träge hin und her. Das Wetter ist herrlich. Eine bläuliche Sonne geht hinter resedagrünen Wölkchen auf, kein Hauch rührt sich. Weitab am Ufersteg winken zwei Gestalten: Dr. Jelinek und die rote Olga. Ein bizarres Duo, das sich dauernd in den Haaren liegt. Vielleicht streiten sie sich noch zusammen. Zeit genug haben sie jetzt dazu. In der Kapitänskajüte der »Maria eresia« sieht es aus wie in einem Markart-Museum: roter Plüsch, verschnörkelte Stühle, ein großer Schreibtisch, an der Wand ein Plakat: »Besuchen Sie die herrliche Wachau!« Ein bißchen feucht ist alles noch. Die weißlackierten Holzwände und der Boden zittern leise im Rhythmus der stampfenden Maschine, deren Spiel ich vorhin ebenso bewundert habe wie zu jener Zeit, als ich – ein Kind noch – zum erstenmal mit einem Dampfschiff fuhr. Ich weiß noch genau, wie mich das Auf und Ab der mächtigen Kolben mit den messingglänzenden Schmiernippeln darüber faszinierte und wie ich die Männer bewunderte, die in der heißen Tiefe des Schiffsbauches Kohlen in die Flammen der Kessel schaufelten. Der Geruch nach Kohle, Dampf und Öl liegt mir noch jetzt in der Nase. Damals waren wir mit meinem Vater anschließend zum Büfett gegangen, und ich hatte eine kühle Brause bekommen. Jetzt könnte ich üppiger leben – ich brauche nur den kleinen
Wandschrank zu öffnen, da stehen einige Flaschen Sekt drin. Beinahe ärgere ich mich, daß ich nicht ebenfalls eine Kapitänsmütze gefunden habe wie der Colonel, sie würde die Illusion perfekt machen. »Kein Lied war je so schön wie das vom Donaudampfschiffahrtsgesellschaskapitän …«, stimme ich zu meinem Vergnügen den uralten Schlager an, den vor dem Zweiten Weltkrieg Hermann Leopold! kreierte. Das Schiff fährt, solange es noch ein Stückchen Holz an Bord gibt, die Welt ist schön! Die Illusion hält allerdings nicht lange: »Komm auf die Brücke …!« ru Pierre durch den Messingtrichter, der vor mir aus der Wand ragt. Wir fahren durch die Wachau. Ein enges Tal, bis an die Berghänge mit Wasser angefüllt. Mit Wasser, das so schnell dahinschießt, daß an ein wirksames Steuern – selbst wenn wir erfahrene Steuermänner wären – kaum zu denken ist. Das Schiff beginnt sich zu drehen. »Zurück – volle Kra zurück!« schreie ich in das Rohr, aber es dauert doch lange, bange Sekunden, bis die von Jaroslaw und dem Franzosen de la Rose bediente Maschine gehorcht und die mächtigen Schaufelräder erst stillstehen und dann rückwärts zu schlagen beginnen. Dann bekommen wir die »Maria eresia« wieder unter Kontrolle. Hunderte Meter vor uns treibt die »Franz Joseph« um die nächste Flußbiegung. »Wenn das nur gutgeht«, bemerkt Pierre und schlägt
seine in Gips steckende linke Hand gegen die Verschalung der Brücke, daß Gipsbrocken absplittern, »ich vertrag’ das Zeug nicht mehr!« »Professor Wolkoff wird dir was erzählen – sein schöner Gips …« »Siehst du die Brückenlager am rechten Ufer?« Ja, ich sehe. Ein Auto hängt noch immer über dem Abbruch der Straße, die ins Nichts führt. Darüber zeigen einige Marillenbäume erste Ansätze vom Blüten. Unter uns müssen jetzt so berühmte Weinorte wie Spitz und Krems liegen. Hier fuhren früher um diese Zeit endlose Autoschlangen in Richtung Wien. Der Strom wird breiter. Zu dritt – Pierre, Ferry und ich – halten wir das Steuerruder. Jaroslaw und sein Gehilfe werden unten schwitzen. Leider sind wir ziemlich kopflastig, das machen die »Krokodile« vorne an Deck, auf dem sich noch vor zwanzig Jahren Hunderte von Ausflüglern drängten. St. Andrä – die Ruine Greifenstein; das einstige Nobellokal in der Raubritterburg ragt kahl und stumm am Ufer hoch. Wir fahren die vierte Stunde. Die »Franz Joseph« ist nicht mehr zu sehen, es wird diesig. Der Strom weitet sich zum See, und doch läßt die Strömung nicht nach. »Der Kahlenberg!« ru Johannes. »Rechts, das ist der Kahlenberg …« »Und links, das war der Bisamberg …«
Ein riesiger Sendemast hängt zerknittert über der baumlosen Hochfläche. Alle, bis auf die, die an der Maschine zu tun haben, sind nun oben an Deck und auf der Brücke, als gälte es, irgend etwas Besonderes zu erwarten – Wien. Nein, nein, es ist nichts damit. Was wir kilometerweit im Dunst erblicken, ist ein Meer. Das Seltsame: in seiner Mitte, durch die wir steuern, ist die Strömung unglaublich stark. Sie reißt uns förmlich nach vorne. »Wenn Sie mich als Geologen fragen …« Dr. Mairie de la Rose spricht etwas von oben herab. »Ich würde die Hypothese aufstellen, daß dieser See plötzlich abfließt, so schnell wie das Wasser in einer Badewanne.« »Maschine volle Kra zurück!« schreit Ferry in das Sprachrohr, aber das hat keinerlei Effekt. Diesmal beginnt die »Maria eresia« völlig hilflos zu trudeln und zu treiben, ganz gleich, ob die Schaufeln vor- oder zurückdrehen. Sie rollt und schlingert wie eine Nußschale. Die Seile an den drei Panzern knarren und ächzen; eines reißt und zerschmettert einen Teil der Reling. Die beiden Rettungsboote in den altersschwachen Davits knallen hin und her, bis sie völlig zertrümmert sind. Ein Aussteigen ist also nicht mehr möglich. »Dr. Jelinek will wissen, wie es uns geht«, ru meine Frau von der Eisentreppe her. »Großartig, ganz wunderbar«, brülle ich zurück, um das Krachen und Ächzen ringsum zu übertönen, »es
könnte nicht besser sein.« Fern rechts im Osten wird eine Hügelkette erkennbar: das Leithagebirge. Demnach müßten wir über Wien schon hinweg sein. Wir werden weitergetrieben, hilflos, steuerlos. Eine Stunde später verdunkelt sich der Himmel plötzlich noch mehr, Nebel fällt beinahe schlagartig ein. Wir wissen nicht, wo wir sind. Die »Franz Joseph« meldet sich auf keine Anrufe mehr. Jedwedes Zeitgefühl ist uns abhanden gekommen. Wir könnten nicht sagen, ob wir stundenlang im Kreis herumgetrieben werden oder ob wir noch Fahrt machen. Es wird dunkler, die Strömung womöglich noch reißender, noch unkontrollierbarer. Um Uhr – ich weiß es, weil es mich gegen die Fenster der Brücke knallt und das Glas meiner Armbanduhr zerbricht – sitzen wir plötzlich fest. Kurz zuvor donnerten beiderseits des Schiffsrumpfs, unter dessen Kiel es fürchterlich schrammte und krachte, ganze Wasserfälle vorbei und spülten zum Teil auch über das sich neigende Deck. »Riß im Kesselraum«, keucht Jaroslaw durch das Rohr zur Brücke, »wir kommen hinauf.« Kurz danach umgeben uns zischende Dampfwolken – die Maschine der »Maria eresia« hat ihren Geist aufgegeben. Diesmal endgültig. Wir können jetzt nur abwarten, bis der Nebel sich
lichtet und es Morgen wird. Geschehen wird bis dahin kaum etwas, denn das Schiff liegt endgültig fest. Trotzdem teilen wir Wachen ein, die übrigen machen es sich auf den Bänken und Dielen im obersten Geschoß des Dampfers »bequem« – und schlafen tatsächlich ein, so todmüde sind wir. Ich wache dadurch auf, daß mir Ferry seinen Stiefel in den Magen bohrt, stemme mich hoch, glaube betrunken zu sein, denn alles ist schief. Wie spät? Ach so, die Uhr ist ja hin. Es muß aber gegen Morgen sein, durch den Nebel dringt fahles Licht. Die »Maria eresia« liegt in einem Winkel von ungefähr Grad schräg nach Backbord. Ringsherum ist alles still. Kein Rauschen, kein Plätschern von Wasser mehr. Nach und nach werden auch die anderen munter. Ich helfe meiner Frau auf, sie blutet an einer Wange, das hat sie bisher nicht bemerkt. »Doktor Wolkoff, bitte kommen Sie …« Der einstmalige Star-Chirurg der Charité taucht aus dem Nebel auf: »Was ist los?« lallt er schlarunken. »Da!« »Kein Problem«, meint er und klebt ein Pflaster auf die Quetschwunde, »ein Glas Sekt wäre jetzt das Beste …« »Sekt?« Das Stichwort hat Ferry munter gemacht. »Ich geh’ gleich nachsehen.« Es schlägt ihn der Länge nach hin, und wir alle lachen herzha und befreit.
Ein wenig später kommt er doch mit vier Flaschen im Arm. Ein Wunder, daß sie überlebt haben. Dann sehen wir uns um, soweit es der noch immer ziemlich dichte Nebel erlaubt. Als er für Sekunden aufreißt, zeichnet sich – vier, fünf Kilometer vor uns – der Schatten eines ziemlich hohen, aber flachen Berges ab. »Das ist doch …«, sagt Johannes. »Ja, der Hundsheimer Berg, wenn mich nicht alles täuscht, und daneben ist oder war Hainburg an der Donau, auf der anderen Seite Preßburg …« »Und wo sind wir?« will Dürrhuber wissen, der jetzt auf allen vieren herankrabbelt. Ich hangle mich bis an die geborstene Brückenverkleidung und schaue hinab. »Wir sind«, sage ich dann und muß an mich halten, um nicht schallend loszulachen, »wir befinden uns, meine Herrschaen – in einem römischen Amphitheater!« »Blöder Witz«, knurrt Dürrhuber, »nicht die passende Situation dafür.« »Kein Witz, Herr Professor – wollen Sie sich selbst überzeugen?« Dr. Müller, der Meteorologe, rutscht als erster zu mir ans Geländer: »Das sieht ja wirklich so aus wie eine Illustration aus einem Geschichtsbuch!« »Es ist«, ich genieße die Situation und spiele sie voll aus, »die Arena von Carnuntum – und was Sie rechts undeutlich im Nebel sehen, ist das berühmte ›Heiden
tor‹, ein Triumphtor oder Rest eines alten Heiligtums. Die Römer hätten nicht schlecht gestaunt, wenn sie uns hier gefunden hätten.« Es ist in der Tat eine Groteske sondergleichen: da hängt ein Raddampfer aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im Jahr schräg über den Mauerresten eines römischen Amphitheaters aus etwa dem Jahr n. Chr. Er liegt wie ein gestrandeter Walfisch auf dem Trockenen, und da wird er liegenbleiben, bis eines fernen Tages nichts mehr von ihm übrig ist. Ein skurriler Gedanke: Würden etwa künige Archäologen aus seinen Resten vielleicht schließen, daß die Römer schon Dampfschiffe gekannt haben? Oder werden verdummte Primitive das Monstrum als göttlich verehren? »Unsere Rolle als Seefahrer ist jedenfalls beendet. Und ebenso gewiß sind wir die allerletzten von Millionen Touristen in Carnuntum, der einst mächtigen römischen Großstadt am ›Danubius fluvius‹, Sitz der berühmten Legion XV, ›Apollinaris‹; Tagungsort der drei Mit-Kaiser Diokletian, Maximian und Galerius im Jahr .« »Ich bewundere ja deine Geschichtskenntnisse«, unterbricht mich meine Frau, »aber was machen wir jetzt?« Sie war schon immer realistisch. »Aussteigen«, sage ich, »aussteigen und weitermachen …«
»Ich plädiere für den Versuch, nach Wien zu kommen. Erstens ist das eine Möglichkeit, wieder Verbindung mit Pöchlarn und Spaldenstein aufzunehmen – und zweitens düre der See wirklich abgeflossen sein«, näselt Mairie de la Rose wieder, »wie ich schon einmal sagte.« »Wo ist der Colonel, und wo ist die ›Franz Joseph‹?« Ferry starrt in den sich lichtenden Nebel. Pierre zuckt die Achseln: »Keine Verbindung, das ist hoffnungslos. Entweder sind sie tot oder – irgendwie durchgekommen, fragt sich nur, wohin.« »Wir haben den Ballon mit!« mischt sich Johannes ein, »von ihm aus könnten wir etwas mehr als von hier sehen.« »Vor allem müssen wir ausladen«, konstatiere ich, »also los!« Die »Krokodile« sind zum Glück massiver als die alte »Maria eresia«. Soweit die Bordwände nicht von selbst nachgaben, haben sie sich mit ihren Laserstrahlen den Weg auf den festen Boden freigemacht. Nun, sonderlich fest ist er nicht, sondern ein Lehmbrei. Überstanden haben alles nur die Mauern des Amphitheaters. Sie schimmern im Licht einer neuerlich aufgehenden Sonne, die den Nebel vertreibt. An den Steinen, die vor sechzehnhundert Jahren von Kelten und Römern gefügt wurden, glitzern Wassertropfen in allen Regenbogenfarben. An den Pappeln neben dem
»Heidentor« hängen Gras und Gestrüpp. Nach Mittag ist das Ausladen beendet. »Krokodil II« krachte zwar ganz fürchterlich über den Bug der »Maria eresia« und die Säulenstümpfe herunter, über denen sich einst das Dach der Kaiser- und Statthalterloge wölbte – Rampen haben wir ja keine –, aber es passierte nichts. Auch Ballonhülle, Brenner und das Meter lange Nylonseil sind im Rumpf des Dampfers heil geblieben, nur einen »Korb« haben wir nicht. Ein leeres Blechfaß aus dem Schiff wird umfunktioniert, durch seinen Rand werden Löcher für die Seilhalterung gebohrt. Wenigstens einen Aufstieg wird und muß das improvisierte Lufahrzeug aushaken. Deshalb ist es auch keine Frage, wer ihn unternehmen soll; der zugleich leichteste und geeignetste Mann – Dr. de la Rose, knappe sechzig Kilogramm schwer, um so gewichtiger als internationaler Experte für Geologie und Geodynamik. Zu viert heben wir ihn in das rostige Faß, dann bläht die heiße Lu die noch immer von einer Beule verunzierte Hülle auf, und das Seil beginnt an der Winde von »Krokodil I«, der ein kombinierter Werkzeug- und Bergungspanzer ist, abzulaufen. Jeden Luschiffer von früher hätte bei dieser Unternehmung die Angst gepackt. Auch wir sind froh, als der Luschiff er wieder gesund unten ist, und neugierig auf seinen Bericht. Er ist nicht sensationell, aber für uns wichtig: die Donau fließt demnach in etwa noch immer (oder wieder) in
ihrem alten Bett, nur doppelt so breit wie ehedem. Ihre linke Uferzone – gegen die Slowakei hin – scheint sich abgesenkt zu haben, die rechte, wo wir sind, etwas gehoben. Richtung Nordwest hat Dr. de la Rose zahlreiche Rauchsäulen gesichtet – vermutlich die noch immer brennenden Ölquellen von Zistersdorf – intermittierende Dampfausbrüche in unmittelbarer Nähe zeigen an, daß die alten warmen Quellen von Bad Deutsch-Altenburg, die schon den Römern für die Heizung ihrer Häuser und Bäder dienten, wieder aktiver geworden sind. In der für uns allein wichtigen Richtung Südwest und Wien dehnt sich relativ trockenes Hügelland. Daß es mit unseren Karten nicht mehr übereinstimmt, überrascht nicht. Von der »Franz Joseph« hat Dr. de la Rose leider nichts gesehen. Seinem Bericht schließt sich ein langes Palaver an, an dem folgende Personen teilnehmen: Ferry, Pierre, Johannes, Dürrhuber, Professor Schelest, Dr. Wolkoff, Dr. Müller, Dr. de la Rose, Jaroslaw, meine Frau und ich. Zehn Männer und eine Frau. Wir sitzen auf den Sitzreihen, auf denen vor sechzehn- oder siebzehnhundert Jahren römische Zivilisten und Soldaten Zirkusspielen zusahen – ich notiere. Unser Entschluß: wir müssen zurück-»vor«-stoßen in Richtung Wien; dort allein ist – wenn es nicht mehr überschwemmt sein sollte – mit Vorräten und Brennstoff zu rechnen. Und mit einer Funkmöglichkeit nach Pöchlarn und Spaldenstein.
Ein Glück, daß zwei Panzer Atomantrieb haben. Im letzten Licht des bereits wieder schwindenden Tages beladen wir die drei »Krokodile« mit allem, was uns mitnehmenswert scheint und was sie außer uns elf Menschen schleppen können. Dann bereiten wir nochmals, so gut es geht, in den Räumen der »Maria eresia« ein Nachtlager, essen Lachs und Kaviar und trinken Sekt. Bordfest in Carnuntum – das hat es noch nie gegeben. In dieser Nacht kann ich nicht einschlafen. Mag es der Lachs sein, der doch immerhin seine sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, mögen es die Gedanken sein, die mich bedrängen: wieder einmal sind wir gescheitert und um eine Hoffnung ärmer. Die Häle unserer Expedition ist verschollen, keine Verbindung mit dem Ausgangspunkt; an kühne Zukunspläne wie die »Aktion Ultima ule« ist nicht mal im Traum zu denken. Vorsichtig, um die Schläfer nicht zu wecken, klettere ich hinauf auf die Kommandobrücke. Zu meinem Erstaunen brennt die kleine Notbeleuchtung neben dem Kompaß und dem Steuerrad. In dem trüben Licht erkenne ich dort auf den schrägen Planken Dr. Mairie de la Rose. Er sieht auf: »Oh, Gérard, du?« Er näselt gar nicht mehr – das »du« ist sowieso wieder die normale Ansprache zwischen Menschen geworden – in den Augen, deren schwere Lider er hochzieht, liegen Müdigkeit und Resignation eines jahrhundertealten Geschlechts.
»Ja, ich auch!« »Merde«, ist sein gar nicht adliger Kommentar zu allem, was uns betri, »aber falls du vielleicht so ähnlich gedacht haben solltest wie ich …« Ich nicke nur, ich kann mir denken, was er denkt. – »Dann laß das. Es hat gar nicht anders kommen können, und du und ich (ich weiß, daß er einer der großen vergeblichen Warner in Frankreich war), wir hätten sowieso nichts ändern können. Erinnerst du dich noch an das Buch ›Grenzen des Wachstums‹, das der Amerikaner Meadows und der ›Club of Rome‹ herausbrachten?« Ich merke, daß er keine Antwort erwartet, er muß sich dasselbe von der Seele reden, was ungesagt auch auf mir lastet. »Das war damals ein Bestseller, und darin war klipp und klar aufgrund von Computerberechnungen festgestellt, daß die Menschheit spätestens um das Jahr an Übervölkerung, Hunger und Rohstoffmangel zugrunde gehen würde, noch bevor die Umwelt sie vergiet hätte, die von ihr vergiete Umwelt. Millionen haben dieses Buch gelesen, und die Zeitungen haben die Diagramme und Zahlen gebracht; die harten, nüchternen Zahlen, aber geändert hat das überhaupt nichts.« »Jaja – ich hab’ das Buch noch irgendwo auf Spaldenstein liegen …« »Dann weißt du auch, was die Computer der Universität Cambridge in den USA auf die Frage geantwortet haben, was die Voraussetzungen dafür wären, daß es nicht so weit käme?«
»Es waren wohl drei Grundbedingungen: Senkung der Geburtenzahl, Drosselung oder teilweise Stillegung der Industrien und Schluß mit der Konsum- und Wegwerfgesellscha.« »Voilà – hast du eine Industrie stillegen können oder ich? Haben wir massenha Kinder produziert? Also!« »Vielleicht hätten wir noch mehr Geschrei machen sollen, und vielleicht war’ es dann nicht ganz so schlimm gekommen …« »So, und jetzt sage ich dir noch eines, was du nicht weißt und auch sonst niemand: Ich, Jacques Mairie de la Rose, habe später im Computerzentrum in der Auvergne einen ›Bruder‹ von TESLA- nochmals mit den neuesten Daten vollgestop und zusätzlich mit denen, die Meadows und seine Kollegen nicht berücksichtigt hatten – mit denen des zunehmenden Klimawechsels, der schon selbst für einen Ignoranten sicht- und spürbar war: Oktober niedrigster Wasserstand des Rheins seit Menschengedenken, April zehnmal so hoch, heißester Sommer in Australien, größte Überschwemmung des Mississippi und Missouri seit zweihundert Jahren, in Indien seit drei Jahren kein Monsun, Millionen Tote und Verdurstete – alles das hab’ ich dem Computer eingegeben und dann gefragt. Er hat gesurrt, der Gute, und dann, mon cher Gérard, ist die Antwort gekommen, welche Chancen unter diesen Umständen noch vorhanden wären – es war ein Band, auf dem lauter Nullen standen: zero, zero, zero …!«
Er hat sich so in Eifer geredet, daß die letzten Sätze immer lauter wurden. An der Treppe taucht das vorwurfsvolle Gesicht von Professor Dürrhuber auf: »Streitet doch bitte morgen weiter …« »Wir streiten ja gar nicht!« »Was denn sonst?« »Wir haben uns darüber unterhalten«, erkläre ich milde, »ob die Menschen es auch ohne Nachhilfe der Natur gescha hätten, sich und die Erde kaputtzumachen.« »Nu na«, grunzt Dürrhuber, »das hat der Nobelpreisträger Max Born schon viel früher gewußt. Ich kann euch sogar noch die Sätze zitieren, die er einmal geschrieben hat – ich kann sie aus- und inwendig: ›Ich bin der Ansicht, daß der Versuch, den die Natur gemacht hat, ein denkendes Tier zu erzeugen, fehlgeschlagen ist. Es ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit, daß ein nuklearer Krieg ausbrechen könnte, auch wenn diese Möglichkeit vermieden wird, kann ich nur eine dunkle Zukun der Menschheit sehen …‹ – das hat Max Born geschrieben. Genügt euch das? Im übrigen interessiert das jetzt niemanden mehr …« »Dich sicher nicht, du dickes denkendes Tier!« ereifert sich Jacques. Dann schreien wir alle drei durcheinander, schreien uns die ganze angestaute Verzweiflung, Wut und Angst aus der Kehle. Drei komische Figuren in dreckverkrusteten buntscheckigen Overalls auf der schiefstehenden Brücke eines Dampfers, der nie mehr
fahren wird und in einer römischen Arena gestrandet liegt. Andere Köpfe werden an der Treppe sichtbar, einige beginnen mitzuschreien – es ist wie in einem Tollhaus, bis Ferry alle überbrüllt: »Ruhe! Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Das ist wirklich ein Narrenschiff – Zeit, daß wir wegkommen. Und vorher möchte ich in Gottes Namen noch ein paar Stunden schlafen!« »Mon Dieu«, Pierre kratzt sich hinter dem Ohr, »da gibt es nur ein Mittel, um abzukühlen die Gemüter«, er verschwindet und taucht gleich wieder mit einigen Bierflaschen auf: »Trinkt, trinkt – leider ‘aben Menschen bis heut niemals etwas Besseres gewußt …« Wir lachen, wir trinken, das gute Bier fließt in uns hinein und über die Planken mit der abblätternden Farbe. Dann schlafen wir unruhig bis in den späten Morgen.
Morituri te salutant – Carnuntum/irgendwo, , März Um Uhr haben Pierre, Ferry und Johannes noch einmal versucht, Funkverbindung mit der »Franz Joseph« oder wenigstens Pöchlarn zu bekommen. In den Hörern war nur Rauschen und das schon sattsam bekannte Maschinengewehrknattern. Wir sind allein und müssen allein entscheiden. Auf den Steinen der Arena halten wir noch einmal Kriegsrat wie vielleicht vor sechzehn- oder siebzehnhundert Jahren römische Tribunen und Kommandanten, als die Markomannen und Quaden zum erstenmal Carnuntum berannten. Wir haben nicht viel bessere Karten als sie – es stimmt wohl nur noch ein Bruchteil. Klar ist nur unser Ziel: Wien. Als die Russen unter Marschall Malinowski über die ungarische Grenze vorstießen, haben sie nicht die direkte Richtung auf Wien genommen, sondern es in einem großen Bogen zunächst nach Süden und dann nach Nordwesten umfaßt und erobert. Wir werden es ihnen nachmachen, wenn auch aus anderem Grund: an den Hängen des Leithagebirges können wir – wenn überhaupt – mit relativ trockenem Gelände rechnen. Dann müssen wir von Wiener Neustadt den erdbebengefährdeten Wiener Graben überqueren und uns über den Wienerwald in Richtung Nord vortasten. Das ist
diesmal keine strategische, sondern eine geologische Notwendigkeit. Die Kommandanten der drei »Krokodile« – Ferry (er ist wirklich geländekundig), Professor Schelest (er ist oder war im Nebenberuf Major der Roten Armee) und Pierre (auch er war Soldat und Flieger) – zeichnen die ungefähre Route in ihre Karten ein. Im Notfall muß jeder für sich allein operieren; im Notfall heißt der gemeinsame Treffpunkt Pöchlarn. Wir hoffen, daß dieser Notfall nicht eintritt, denn »Krokodil III« ist nicht atombetrieben und deshalb von Sprit abhängig. Der reicht bis Wien und eventuell etwas darüber hinaus, aber nicht weiter. Mit dem restlichen sauberen Wasser aus den Tanks der »Maria eresia« haben. wir die Panzer und uns selbst vom ärgsten Schmutz befreit. Wir und sie glänzen beinahe wie neu … Um Uhr des . März – es ist ein leuchtender Frühlingstag, die grünliche Sonne strahlt, und zwischen den Ritzen der Mauern und Steine zeigen sich Spuren zaghaen Grüns: die Lu ist voll und würzig – steigen wir in die Fahrzeuge. Professor-Major Schelest hebt die Hand, die Motoren brummen auf, dann setzen sich die inmitten der schlammbedeckten Arena stehenden Ungetüme in Bewegung, schmatzen und walzen durch den Dreck auf den breiten Eingangstoreinschnitt zu, durch ihn hindurch und ins Freie. Wenden scharf nach rechts. Durch das Luk von »Krokodil II« blicke ich zurück:
über dem Wall der Arena ragt das Heck der »Maria eresia« hoch. Wir scheiden ohne Tränen und ohne Trennungsschmerz. »Ave Caesar, morituri te salutant!« schreit Dürrhuber vom rückwärtigen Panzer her den alten Gruß der Gladiatoren – ein bißchen verspätet, denn die Arena liegt schon hinter uns. Vor uns Felder, verstümmelte Bäume, zerfallene Häuser, links der Mauerbogen des »Heidentores«. Er bleibt zurück, wird kleiner. Wir rollen und rütteln Kurs Südost, dem flachen Hügelrücken des Leithagebirges zu. Die Gegend hier war schon vor dem Tag Null nicht sehr reizvoll, jetzt bietet sie nur Tod und Schlamm. Kein Mensch, kein Tier, keine lebende Pflanze. Über die Senke von Brück an der Leitha, in der einst das mauerbewehrte Städtchen lag, müssen die Panzer schwimmen. Eine gute Stunde lang. Vor Mannersdorf fassen die Ketten wieder »Fuß«, am Mitterberg ist der Boden völlig trocken. Wir halten in einer Lichtung von Stangenholz und dürren Eichen. Totenstille. Nachdem wir ausgestiegen sind und uns auf Steinen und Baumstümpfen zur ersten Rast niedergelassen haben, deutet Johannes nach Süden: »Dort bei dem Steinbruch, da haben wir doch einmal nach Versteinerungen gesucht …« »Ja – das haben wir. Es war damals auch so warm …«
Wenn irgend möglich, möchten wir noch heute ans »andere Ufer« gelangen, über den breiten Einbruch des Wiener Grabens hinweg. Wir beschließen, den Versuch schon früher, weiter nördlich zu riskieren – Richtung Baden – Bad Vöslau. Wer weiß, wie lange das Wetter hält. Nach nicht ganz einer Viertelstunde und einigen hastig hinuntergewürgten Bissen setzen wir uns wieder in Marsch. Sand und Staub wirbeln auf, als wir durch ausgetrocknete Hohlwege hangabwärts donnern. Jetzt müßte der Abfall zum Tal der Fischa und Piesting kommen – er kommt nicht, und auch kein Fluß. Es kommen nur neue Hügel und Sanddünen – kein Dorf, kein Ort, kein Fluß. »Da war doch«, höre ich Ferry durch das Kehlkopfmikrofon stammeln, »da war doch Ebreichsdorf, da war doch eine Fabrik, da war …« »Alles war einmal …«, knurrt Dürrhuber über Bordfunk dazwischen, »Maul halten und weiterfahren! Schauts lieber nach Westen und auf den Kompaß!« Tatsächlich: im Westen – vor uns – türmt sich eine pechschwarze Wolkenwand hoch. »Wenn die uns erwischt, hier in dieser Wüste …«, sagt Pierre, der schräg unter mir am Fahrersitz von »Krokodil II« festgeschnallt ist; neben ihm sitzt meine Frau, und hinter den beiden kauert Johannes auf einigen Stahlkisten. Der restliche Innenraum ist vollgestop mit Ausrüstung und Geräten.
Sehr bequem ist das Ganze nicht, aber die anderen sieben in den beiden anderen Vehikeln haben es auch nicht besser. Am ekelhaesten ist, daß mir bei jedem stärkeren Ruck des Panzers Griff und Zielgerät des Laserrohrs gegen die Brust schlagen. Die NATO scheint früher nur schlanke Panzerfahrer beschäigt zu haben. Gegen Uhr ist der Teufel los: Finsternis, Sturm, Hagel, Schnee, wolkenbruchartiger Regen. Im Nu ist alles aufgeweicht, bilden sich wachsende Wasserlachen rund um uns, Bäche, kleine Flüsse. Wir fahren dichtauf und mit vollen Scheinwerfern nur noch nach dem Kompaß, immer genau West. Jetzt zeigen die »Krokodile«, was sie wirklich können, und ich bitte den Konstrukteuren und Ingenieuren der NATO alles wieder ab. Eis hängt sich an die Stahlwände der Panzer, aber sie rollen unbeirrbar weiter. Die Augen sind gerötet vom Starren durch die Sehschlitze, wir sind halb taub vom Prasseln und Gedröhn, die Köpfe scheinen zu platzen, unsere Lungen pfeifen unter dem Druck der Haltegurte. Eine Stunde, zwei – wo wir fahren, wodurch wir fahren, wird niemand von uns später sagen können. Um Uhr läßt die Wut des Ur-Unwetters nach. Durch dichte Regenvorhänge zeichnen sich Berge vor uns ab, das Eis beginnt von den Flanken der Fahrzeuge zu brechen und zu rutschen – wir sind frei. Ob das der Harzberg bei Baden ist oder ein anderer Berg, ist uns völlig gleichgültig, als wir endlich wieder griffigen Boden unter den Ketten fühlen, felsigen
Boden, der steil ansteigt. Wir brechen durch niederen Föhrenwald, halten auf einer Art Wiese. Irgendwo rauscht ein Wildbach, feuchtkalter Nebel verhüllt die Sicht. Uhr. »Ich meine, wir bleiben da, wo wir sind …«, ru Professor Schelest über Bordfunk, »bis morgen.« »Bis morgen!« Wir essen und schlafen in den Fahrzeugen und verlassen sie nur, wenn es gar nicht anders geht – Bordtoiletten gibt es nämlich auch im Jahr nicht …
Und auf der Wiese saß das Monstrum Vor und bei Wien, . März Es gibt Schöneres, als in einem Panzer zu übernachten – selbst wenn er Heizung und Klimaanlage hat. An die »hautenge« Nähe des Kleinreaktors im rückwärtigen Maschinenteil habe ich mich schon nahezu gewöhnt; nachdem mir Pierre und Johannes als Fachleute versichert hatten: »Das ist ganz harmlos, auf den Atom-UBooten war es ja auch nicht anders, und was die Strahlung betri – da haben wir von oben sicher erheblich mehr abbekommen. Im übrigen«, fügte Pierre hinzu, »funktionieren unsere Brenner anders als die früheren Anlagen dieser Art: sie wandeln die Wärme nicht erst auf dem Umweg über Wasser und Dampf in Energie um, sondern direkt in elektrischen Strom, sonst müßten wir ja Unmengen von Wasser mitschleppen. Diese Methode war im Prinzip schon Anfang der siebziger Jahre bekannt, technisch verwendbar wurde sie erst später.« »Das heißt, daß bei uns kein Dampessel explodieren kann, aber der Brenner durchgehen …?« »Natürlich«, hatte Dürrhuber gemütlich geantwortet, »wenn wir Pech haben …« Bisher hatten wir dieses Pech nicht, aber das ändert nichts daran, daß ich vor Kreuzschmerzen kaum noch sitzen kann.
Im Schoß halte ich den Kopf meiner Frau gebettet. Sie schlä. Und während ich auf dem Block am Armaturenbrett flüchtige Notizen mache, überkommt mich ein Gefühl unendlicher Zuneigung und Zärtlichkeit, das Gefühl eines Eins-Seins, das unter anderen Umständen wahrscheinlich nie so intensiv sein könnte. »Neoromantik der letzten Menschen …!« spotte ich. Ein eigenartiges Scharren und Kratzen unterbricht mein Grübeln. Es kommt von draußen. Vorsichtig öffne ich die Innenklappe des Sehschlitzes neben mir – und blicke durch das Panzerglas direkt in das Gesicht eines mächtigen Bären, der mich ebenso verwundert anstarrt. Selbstverständlich sagt mir mein Verstand sofort, daß er mir nichts anhaben kann, aber irgendwie muß ich instinktiv zusammengezuckt sein und mit einem Knie gleich gegen mehrere Schalter gestoßen haben. Jedenfalls ertönt ein heller Summlaut, der Motor schaltet sich automatisch ein, und zwischen den unzähligen warzenartigen Erhöhungen an der Stahlwand draußen zucken flächige Entladungen – der Panzer hat sich in Verteidigungszustand versetzt. Den Bären wir es meterweit zurück, ein anderer »Feind«, der sich vielleicht heimlich mit einer Haladung herangemacht hätte, wäre jetzt mit ihr gemeinsam in die Lu geflogen. Nicht schlecht durchdacht, dieses System. Sekunden später geht alles durcheinander: rote Leuchtflächen mit der Aufschri »Danger – Alarm«
flackern, die Anzeiger am Lasergerät zeigen »full power« an, und durch den Lautsprecher kommen die Stimmen von Schelest und Ferry. Gleichzeitig wird der mal Zentimeter große Schirm des Fernseh- und Nachtsichtgerätes vor mir hell und zeiet. sich langsam drehend, die unmittelbare Umgebung und die beiden anderen »Krokodile« Auch ihre Panzertürme schwenken drohend im Kreis. Es ist, als ob die Technik von gestern noch einmal demonstrieren wollte, wozu sie fähig war; es ist unwirklich-phantastisch. Vor zwei Tagen noch fuhren wir auf einem vorsintflutlichen Raddampfer donauabwärts – jetzt dieses Schauspiel, in dem wir zu Robotern in Robotern werden! Wo ist der Bär geblieben? Ach, da steht er am Waldrand, leckt sich die anscheinend lädierten Vorderpfoten und guckt böse zu uns herüber. Die anderen scheinen indessen ebenfalls die Ursache des Alarms erkannt zu haben – nacheinander springen die Panzerschotte der »Krokodile« auf, und drei, vier, fünf Mann klettern aus ihnen heraus. Der Tag dämmert träge und trüb, es regnet gleichmäßig. »Ein Bär«, lacht Ferry, »ein Lebewesen – ich möchte ihn am liebsten umarmen!« »Würde ich dir nicht raten«, empfiehlt Dürrhuber, der sich aus dem Turmluk von »Krokodil III« zwängt: »Da sind ja mehrere!« ru Dr. Meier von Panzer I her. Tatsächlich: es sind drei; ein großer und zwei klei
nere, wohl eine Bärenmutter mit zwei Jungen. Vorsichtig gehen wir näher, während die Bärin immer wieder warnend brummt und sich auf die Hinterbeine stellt. Und dann bleiben wir wie angewurzelt stehen – der eine der beiden jungen Braunpelze, der ich zu seiner Mutter geflüchtet hat, sieht aus, wie ein junger Bär eben aussieht, das andere Wesen, zwei Meter vor ihm aber … Es ist, als wäre eine der Phantasiezeichnungen aus einem »Cartoon« von anno dazumal lebendig geworden: der Kopf ist ein deformiertes Etwas mit einem klaffenden, schrägen Maul, über dem eine Öffnung die Nase andeutet; drei verquollene Schlitze sollten wohl einmal Augen werden. Anstelle der Vorderpfoten hat das Wesen flossenförmige Stummel, die hinteren Extremitäten dagegen sind lang und dünn geraten und erinnern an die eines Känguruhs. Auf dem armen, verunstalteten Schädel pendelt ein einziges Ohr aufgeregt hin und her. Wir reiben uns die Augen, blicken dann nochmals hin – nein, es ist keine Täuschung. Das ist, das war ein Bär oder das sollte einer werden – und nun ist es das. Wirklich und lebendig. Pierre nimmt die kurzläufige Millimeter-MP vom Rücken. »No«, schüttelt Professor Wolkoff den Kopf, »laß das – es lebt, und das nur so lange, bis die Mutter es verstößt; vermehren kann es sich sowieso nicht.« »Meinst du«, fragt Pierre mit belegter Stimme, »daß auch Menschen …?« »Möglich, ›natura non facit saltus‹ – die Natur macht
keine Sprünge, hat man mich noch auf der Universität gelehrt; nun – sie macht Sprünge, und es besteht kein vernüniger Grund, warum sie es beim Menschen nicht auch tun sollte.« Schelest (daß er ein Neffe des entmachteten ukrainischen Parteisekretärs und stellvertretenden Ministerpräsidenten der UdSSR ist, haben wir inzwischen herausbekommen) winkt und ru über Sprechfunk: »Kommt jetzt endlich, wir müssen weiter – dawai!« Wir gehorchen und stapfen über die morastige Wiese zurück zu den Fahrzeugen. Auseinandersetzungen oder gar Kämpfe um den Führungsanspruch gibt es bei uns nicht; wer in einer bestimmten Situation sich als der Erfahrenste erweist, übernimmt ganz selbstverständlich das Kommando. Das ist der Vorteil einer so kleinen »Horde«. Abgesehen davon ist es nicht besonders angenehm draußen, das Wasser rinnt uns übers Gesicht und in die Halsausschnitte der Kombinationen. Die Bärin schaut uns ungnädig nach, ein Junges drängt sich an ihre Beine. Das Monstrum sitzt abseits und gibt pfeifende Laute von sich. »Wo die da nur hergekommen sind?« staunt Dr. Meier. »Kein Wunder und kein Problem«, erwidere ich, »Bären sind immer wieder einmal vom Balkan über die Karawanken bis gegen Wien gestreunt. Und daß sie überlebt haben – nun, im jugoslawischen Karst gibt es
Höhlen mehr als genug. Dort können sie sich verkrochen haben …« »Oh«, staune ich, als ich mich in den Schützensitz von »Krokodil II« fallen lasse und meine Frau im »Cockpit« sehe, vor einem Instrumentarium, das einem Düsenjäger alle Ehre gemacht hätte, »mh, du wolltest ja immer ein größeres Fahrzeug haben. Jetzt hast du es – neuunddreißig Tonnen. Unser alter Opel hat knapp eineinhalb gewogen.« Pierre, der sich neben ihr angeschnallt hat, grinst. »Laß nur«, ich klopfe ihm auf die Schulter, »sie ist eine sehr gute Fahrerin, sie fährt nämlich zum Unterschied von uns Männern mit mehr Gefühl und Instinkt.« »Panzer marsch!« ru Major Schelest durch die Kopörer. Wir fahren wieder. Und der Regen rinnt. Wir fahren nach Kompaß und Karte. An einen Ballonaufstieg ist bei diesem Wetter nicht zu denken. Daß halbrechts vor uns die ehrwürdige Kurstadt Baden gelegen haben muß, merken wir an den gigantischen Dampfwolken, die aus dieser Richtung aufsteigen. Auch hier sind die ermen wieder aktiv geworden. Ein paar hundert Jahre, sinniere ich, und dann wird sich über den Mauerresten die erste Kalkschicht absetzen und dann die nächste, und dann wird es dort einmal aussehen wie auf den Sinter-Katarakten in Israel und Kleinasien.
Wir fahren »querwaldein«, über einstige Holzwege und Feldstraßen – über das schmale Helenental, das nun durch eine geologische Verschiebung an seinem Ausgang verlegt scheint, schwimmen wir. Hinter Baden stoßen wir auf die alte Weinstraße, die sich von hier über Gumpoldskirchen bis Mödling durch die sonnigen Rebhügel am Rand des Wienerwaldes zog; mit den vielen Weinkellern und Heurigenschenken einst ein bevorzugtes Wochenendziel der Wiener und der Touristen. Jetzt ist das alles eine wüste Geröllhalde. »Hier haben die Römer den ersten Wein in Nordeuropa gepflanzt«, bemerkt Pierre. »Du irrst«, kontert Johannes, »der war schon da, bevor die kamen, aber er war so sauer, daß sie ihn zunächst nicht trinken wollten. Also ließ Mark Aurel Wein aus Italien importieren – aber der war nach dem Transport auch nicht mehr genießbar. Effekt: man verschnitt die beiden Sorten, und so ist es geblieben.« »Der Wein ist also eine österreichische Entdeckung«, werfe ich ein, »aber jetzt haben wir gar keinen …« »Tut dir nur gut«, kommentiert mein Weib und steuert das O-Tonnen-Stahlungetüm, als wäre es ein Pkw von ehedem. Insgeheim bewundere ich sie. Und insgeheim ziehe ich die letzte Reiseflasche von Bord der »Maria eresia« aus der Brusttasche und mache einen tiefen Zug – nicht vom Wein, sondern vom Cognac. Und der Regen rinnt.
Vor Mödling zwingt uns ein gewaltiger Schuttkegel, der vom Anningerberg her Hang und Straße versperrt, zu einer Kursänderung nach West – denn ins Tal wollen wir auf keinen Fall. Die drei Stahlraupen, Zwerge in der sie umgebenden urweltlichen Landscha, kurven scharf nach links, schürfen und schlurfen über Felsen und zersplitterte Bäume. Meter zeigt der Höhenmesser – das Land hier scheint sich beträchtlich gehoben zu haben. Wieder bergab. Gaaden, Breitenfurth – hier hatten einst wohlhabendere Wiener ihre Zweitwohnungen und Wochenendhäuser, doch nichts erinnert daran, wenn auch Ferry und ich die Gegend wiedererkennen. Die flachen Täler, in denen die Siedlungen und Orte einst lagen, sind entweder mit Schlamm und Schutt vollgefüllt oder reißende Flüsse. Und der Regen rinnt. Kurz bevor wir den Höhenrücken von Laab erreichen, gibt es beim Führungspanzer eine gewaltige Explosion. Sekundenlang scheint »Krokodil I« in ein Flammenmeer gehüllt, aber es kriecht und steigt aus ihm heraus wie Phönix aus der Asche. Die Schutzschicht hat gehalten, die Ursache ist uns bald klar: eine alte Tankstelle, in der wohl noch Benzin vorhanden war; die Funken der über die Stahlkonstruktion mahlenden Ketten haben den unterirdischen Tank hochgehen lassen – zum Glück unmittelbar hinter dem Fahrzeug. »Das kostet eine saige Ordnungsstrafe«, ru Ferry via Sprechfunk zu Major Schelest hinüber, »einfach
eine Tankstelle überfahren …« Oben, auf der Hochfläche, halten wir neben einem halbfertigen Rohbau. Mittagspause. Im Raum, der wahrscheinlich einmal das Wohnzimmer des Hauses hätte werden sollen, hocken wir auf Ziegelsteinhaufen und kratzen Schmalz und Cornedbeef aus den Konserven. Niemand zeigt Lust, die anderen Häuser jenseits der ziemlich intakten Straße zu untersuchen; den Tod in jeder Gestalt haben wir schon zur Genüge gesehen, und was dort vielleicht an Vorräten sein sollte, ist für uns unverwendbar. Die Geigerzähler ticken rascher als normal, hier scheint ein Strahlenstoß ziemlich heig gewirkt zu haben. Johannes ru mich an eine der leeren Fensterhöhlen: »Du, dort drüben, über dem Wald – ja, dort! – das ist doch Rauch?« »Na und, da brennt eben irgendwas – komm, hier ist es ungemütlich, das Ticken von den Geigerzählern macht mich ganz nervös, wir sollten sehen, daß wir wieder in den Wald kommen!« Meine Nervosität scheint auch die anderen angesteckt zu haben; es ist die gleiche Unruhe, wie sie früher die Pferde und später Autofahrer erfaßte, wenn sie dicht vor dem Ziel waren. Dabei ist sie in unserem Fall unbegründet und lächerlich – was sollen wir von Wien Besonderes erwarten, außer Treibstoff für den einen Panzer und einer Verbindung nach Pöchlarn? Und doch hat auch die Nicht-Wiener – und das
sind fünf von uns – dieses seltsame Heimkehrgefühl gepackt. Vielleicht steht für den einen von ihnen Wien stellvertretend für Paris, für den anderen für Berlin, Prag, München oder Moskau. Hinter dem Ort (der keiner mehr ist) mit dem beziehungsvollen Namen »Wolfsgraben« unterqueren wir die frühere Westautobahn, die hier in einer gigantischen Brücke den Taleinschnitt überwand. Die »Bahn« liegt jetzt unten, stehengeblieben sind die über hundert Meter hohen Betonpfeiler – abgebrochene Doppelpylonen, die stumm und wie anklagend zum wolkenverhangenen Himmel weisen. Die Trümmer sperren die Straße. Im konzentrierten Feuer aus drei Laserrohren schmilzt und vergast der Beton, bis eine schmale Durchfahrt geschaffen ist. Die Gegend wird belebter. Welch bitteres Wort: wir sehen immer mehr Reste von Häusern und Orten, Reste von Fahrzeugen und auch Menschen. Neuwaldegg, Neusti am Walde – hier begann (oder endete) die berühmte Wiener Höhenstraße – das sind jetzt bestenfalls noch verbogene und verrostete Ortstafeln. Die ohnedies spärliche Sprechfunkunterhaltung zwischen den Fahrern und Kommandanten der drei Panzer bricht bald ganz ab. Was wir mit den Augen aufnehmen müssen – mit den Ohren nicht, denn es ist alles totenstill bis auf das Rauschen des Regens –, ist so entsetzlich, daß man es nicht wiedergeben kann. Es macht uns stumm und sprachlos.
Hierher, in den an die Stadt grenzenden Teil des Wienerwaldes, scheinen sich am Tage Null vor nahezu zwei Jahren die meisten Bewohner der westlichen Bezirke geflüchtet zu haben, als die Erde zu beben begann und die Strahlenstöße kamen. Mitte der siebziger, als den Menschen die erste Ahnung von den verheerenden Folgen der Autopest dämmerte (während die Fließbänder noch auf vollen Touren liefen und die Pumpwerke das letzte Öl aus der Erde holten), brachten die Zeitungen gerne Schreckbilder von riesigen Schrotthalden, die überall in den Himmel wuchsen. Durch einen solchen Autofriedhof fahren wir jetzt. Hier gibt es mehr Wracks als Baumstämme, unter denen sie stehen oder an die sie geknallt sind. Wrack an Wrack. Aber sie sind – zum Unterschied von den Autofriedhöfen früherer Jahre – nicht leer, sondern meist noch »bemannt«. Der Autofriedhof an der Höhenstraße ist gleichzeitig ein riesiges Beinhaus. In allen Lagen und Stellungen kauern, sitzen und liegen sie da – Tausende und aber Tausende von Skeletten und halbverwesten Mumien. Die Häuser ringsum hat das Erdbeben zerstört; in den Blechkästen der Automobile sind die Toten erhalten geblieben. Heere von Ratten huschen hinweg, wenn das Dröhnen der Panzermotoren sie aufscheucht.
Johannes bricht den Bann des Schweigens: »Ich glaube«, sagt er, »daß die da« (ja, er sagt »die da«, was soll er auch anderes sagen?) »nicht durch Strahlen oder Kälte, sondern in einem totalen Sauerstoffloch gestorben sind – sonst wären sie weiter rundum verstreut …« »Da hast du recht«, meldet sich Professor Dürrhuber über die Kopörer, »die da sind höchstwahrscheinlich schlagartig erstickt.« »Richtig oder nicht richtig«, mischt sich de la Rose in das Gespräch, »aber wie konnten die überhaupt noch fahren; es hat doch praktisch kein Benzin mehr gegeben …« »Da kennst du die Wiener schlecht«, antworte ich, »jeder von denen hat ein paar Kanister voll im Keller oder sonstwo versteckt gehabt. Seit Jahren … Einige ›Schlaue‹ sind damals bis in die arabischen Staaten gefahren, weil der Sprit dort noch billig und unbegrenzt zu haben war. Dort haben sie vollgetankt und ihre Wagen mit Fässern oder Kanistern vollgeladen und sind die tausend oder zwölundert Kilometer wieder zurückgerollt!« »So ein Blödsinn.« Er lacht. Jetzt lachen wir alle, wenn auch etwas gequält, über das dumme Gerede, und ich bin froh darüber. Sonst würden wir das ringsum nicht ertragen. Dr. Meier, der deutsche Meteorologe, ist der erste, der durchdreht. Mitten in der Fahrt beginnt er unar
tikuliert zu schreien und springt aus dem Seitenschott von »Krokodil I«. Nach fünfzig Metern haben wir ihn eingeholt – er ist immerzu geradeaus gelaufen. Ferry, Dr. Wolkoff und Jaroslaw erwischen ihn, bevor er im Gewirr der Blechhalde verschwindet; stürzen sich auf ihn und werfen ihn auf den lehmigen Boden. Professor Wolkoff gibt ihm eine Spritze, das Geheule verstummt. Sie schleppen Dr. Meier zurück und betten ihn auf eine Trage. »Ein Deutscher«, knurrt Major Schelest, »kann Tote nicht vertragen.« Aber wir wissen alle, daß er es nicht zynisch meint, sondern selbst betroffen ist. »Ladet ihn auf – oder wollt ihr in diesem Wald übernachten?« Sie schieben die Trage in den ersten Panzer, das Schott schließt sich. Meine Frau ist käsebleich, und auch mir ist übel. Weiter! Wir biegen von der Straße der Toten ab, brechen mitten durch den schütteren Stangenwald, den die »Krokodile« rücksichtslos niederwalzen, nur um das nicht mehr sehen zu müssen. Es dämmert allmählich, der Regen rinnt noch immer. Der Schutthaufen links neben uns war einstmals das »Häuserl am Roan« – wie o haben wir da unter den alten Bäumen im Garten gesessen, Wein getrunken und Gulaschsuppe gelöffelt! Vorbei, verweht. Der Cobenzl. Hier traf sich einst »tout Vienne«, die große Welt, im Nobelrestaurant oder an der Bar. Nur
ein Seitenflügel der Millionenhütte ragt noch unter Schutt und Geröll hervor. Weiter! Der Kahlenberg. Auf der großen, aufgewölbten und zerborstenen Betonfläche parkten einst Hunderte von Autos und Omnibussen aus allen Teilen Europas und aus Übersee. Über sie strömten die Menschen, um den einmaligen Blick von den Terrassen des Hotels über die Stadt an der Donau zu genießen. Segelflieger kreisten hier um den Sendemast, der nicht mehr existiert, und über der kleinen Kirche vor dem Hotel, die schon immer baufällig war. Nun wird sie niemand mehr restaurieren. Weiter! Die Straße zum Leopoldsberg ist fast leer. Der Spiegel des tödlichen Öl-Sees lag dreißig oder vierzig Meter tiefer, er hat die Reste der neunhundert Jahre alten Babenberger-Burg nicht erreicht, und auch die Beben konnten ihr nichts antun – die Alten wußten sehr genau, wo sie ihre Wohnsitze anlegten. Das Hotel-Restaurant am Kahlenberg ist ein Trümmerhaufen – kein Verlust für die Menschheit, denn eine architektonische Zierde war es nie –, unversehrt und unberührt vom Chaos ringsherum zeigen sich uns Mauern und Tore der alten Feste auf dem Leopoldsberg, als wir auf dem Parkplatz vor der steilen Auffahrt halten. Kein Autowrack, kein Toter. Während die Motoren der Panzer auf Standgas laufen, bereit zu einem plötzlichen Alarmstart, durchstreifen
wir das kleine Geviert von Gebäuden, Mauern und der schäbig gewordenen Barockkirche. Wir nehmen Handscheinwerfer mit, denn es dämmert stark. Nackt und kahl wie schon vor Dutzenden von Jahren präsentiert sich das »Restaurant Leopoldsberg«, die Glastür am Eingang pendelt im Wind hin und her; am Kartenständer dahinter vergilben Postkarten, ich stecke eine davon gedankenlos ein. Leere, Stille, Dämmerung. Im Keller schimmern unter einer dicken Staubschicht einige Fäßchen – Ferry macht große Augen. »Kannst du dir das erklären«, frage ich ihn, »wieso ist hier niemand?« »Na ja«, meint er und reißt sich vom Anblick der Fäßchen los, »das kann man vielleicht nur psychologisch tun. Schau«, wir stapfen wieder die Treppen hinauf »der Leopoldsberg war und ist eine Art Bastion über der Donau, aber auch eine Sackgasse, verstehst du? Von hier aus kommt man nirgendwohin weiter. Wer aus Wien flüchten wollte, ist logischerweise nicht hierher gefahren, sondern über die Höhenstraße nach Westen, wo es noch scheinbar freies Gelände gab. Und die, die hier waren, haben das gleiche getan. Daß sie nicht weit gekommen sind, ist wieder eine andere Sache – wer hat denn geglaubt, daß ausgerechnet dieses uralte Nest hier erhalten bliebe …?« Der Kies des Vorplatzes knirscht unter unseren Stiefeln, umgestürzte verrostete Blechtische und Gartenstühle liegen herum. »Tja, so könnte es gewesen sein«, stimme ich Ferry
zu und gehe hinüber zu der niederen Begrenzungsmauer im Osten. Von hier aus hätte man früher um diese Abendzeit die Lichter der Millionenstadt bis fernhin gegen die ungarische Grenze aufflammen gesehen. Nun ist alles dunkel, nur der Regen rinnt. »Ist der schon wieder bei einem Weinfaß hängengeblieben?« erkundigt sich Pierre, als wir mit Ferry, Johannes und Jaroslaw wieder bei den Panzern auf dem Parkplatz landen. Er meint natürlich Ferry. »Quatsch«, sagt Ferry und wischt sich den Regen aus dem Gesicht, »aber es sind ein paar schöne Fäßchen da – und ich meine, es wäre das beste, wenn wir blieben. Heute jedenfalls. Habt ihr Verbindung mit Dr. Jelinek?« »Nein. Entweder schnarcht er schon, oder er hat sich so in die rote Olga vertie, daß er nichts mehr sieht und hört. Wir werden es morgen wieder versuchen.« Kurze Beratung. Auch Major Schelest ist einverstanden. »Und gibt es dort wirklich keine Skelette und keine Ratten?« will meine Frau wissen. »Nichts, gar nichts – aber ein paar Zimmer in der alten Bude, die noch intakt sind und in denen sogar Betten stehen. Einmal könnten wir doch eine Nacht auch in einem Bett verbringen …?« Aber dann schlafen wir noch lange nicht. Ein »Krokodil«, in dem abwechselnd einer von uns zehn – Dr. Meier liegt noch immer in tiefem Schlaf – Wache schieben wird, haben wir vor dem äußeren Torbogen der
Burg postiert; die beiden anderen auf den Platz hinter das zweite Tor bugsiert. Von ihnen aus laufen Kabel bis in die Zimmer im ersten Stock des ehemaligen Restaurants. Selbst wenn der jeweilige »Nachtwächter« einschlafen sollte, würde die Automatik der Panzer uns die Annäherung jedes größeren Lebewesens und jedes Fahrzeuges bereits auf Hunderte Meter signalisieren. Ein Zwei-Mann-Suchkommando hat im Keller außer den Weinfässern noch weitere Beute gemacht: Büchsen mit Beinschinken und Knäckebrot, Gläser mit Gurken und Peperonis. Ferry hat ein Rotweinfäßchen kunstgerecht angeschlagen; wir waschen die Gläser aus dem Restaurant am fließenden Wein aus, dann setzen wir uns in die Wirtsstube, die vom matten Glanz einiger Kerzen erhellt ist. Ein seltsamer »Heurigenabend«. Zwei-, dreihundert Meter unterhalb in der Finsternis liegt, was einst Wien war. Der Regen rinnt noch immer, aber er ist schwächer geworden. Das Bettzeug in den Kammern, in denen zuletzt türkische, italienische oder jugoslawische Gastarbeiter gewohnt haben mochten, ist feucht, steif und kalt. Trotzdem fallen wir hinein wie Engel auf ihre Wolken. Oder wie Ludwig XIV. auf sein Prunkbett.
Der König der letzten Zigeuner Am Leopoldsberg, . März Endlich kann ich einmal die halbverwischten Notizen von dem aufgeweichten Block auf Schreibmaschinenpapier übertragen. Meine »Olympia«, Jahrgang , hat auch diese Fahrt überstanden, wie so viele andere vorher. Nur das Farbband wird allmählich dünn. Ein bißchen verbeult und abgewetzt sieht mein Schreibgerät aus – seit Jahren hat kein Mechaniker es gereinigt, aber ich liebe es, als wäre es ein Stück von mir. Bücher und Serien sind auf ihm entstanden. Und alles, was seit dem Tag Null geschah, haben diese Tasten hier festgehalten. Jetzt steht das dumme Relikt der Vergangenheit auf einem abgegriffenen und von unzähligen Händen, Tellern und Gläsern glattpolierten Tisch im Gastraum des Restaurants am Leopoldsberg. Kein Gast, kein Tourist wird mich hier stören – ich könnte ihm auch nichts verkaufen. »Menü – Suppe, Schnitzel, Salat, Nachspeise – Schilling« steht zwar handgeschrieben auf der vergilbten Speisekarte, die hinter einem zerbrochenen Glas hängt, aber in der rauchschwarzen Küche steht kein Koch, und kein Fleisch ist da, um ein Schnitzel zu bereiten. Wir leben, wie immer, von Konserven; von dem, was wir hinter einer schlecht getarnten Ziegelwand im Keller hervor
gebuddelt haben. Das langt für uns zehn auf Wochen hinaus. Ja, wir sind nur noch zehn. Während ich in der Nacht zum . März vor dem Burgtor in »Krokodil II« Wache hielt, muß es geschehen sein: Dr. Meier ist weg. Um Uhr jedenfalls war die Trage, auf der er hier im Gastraum gelegen hatte, leer. Wohin er gegangen oder gelaufen ist, weiß niemand von uns. Aber niemand zweifelt daran, daß wir ihn kaum lebend wiedersehen werden. Wahrscheinlich ist er irgendwo in der graugelben Wüstenei verschwunden, die sich tief unter uns endlos gegen Osten hin dehnt und die einmal Wien war. Kaum etwas erinnert noch daran. Kein Stephansturm, kein Riesenrad, keine Votivkirche grüßen herauf, dunstige Schwaden lagern über dem Meer von Schlamm und Trümmern, in das von den umgebenden Hügeln her einzelne Schuttbahnen wie mit langen Fingern fassen. Das ist keine Stadt mehr, das ist der Boden eines ausgeflossenen Sees. Die Donau durchströmt das Chaos aus Schmutz und Ruinen in drei Armen: ihrem alten Lauf, einem zweiten nördlich davon, ungefähr da, wo einst die Teiche der »Alten Donau« lagen, und einem mitten durch die Stadt – quer über den XX. Bezirk, die Brigittenau, wo wir einmal wohnten, hinweg. Wie weit der See, der zwei Jahre lang sich hier dehnte, gereicht hat, können wir nur schätzen; wahrscheinlich im Norden bis zu den
Leiserbergen und in alle Seitentäler hinein. Wir verzichten auf einen Ballonaufstieg. Hundert Meter höher wäre auch nicht mehr zu sehen. Mit den Infrarotgeräten der Panzer haben wir Serien von Aufnahmen gemacht, damit wir uns in etwa orientieren können, falls wir von unserem Berg aus nach unten vorstoßen sollten. Eigenartigerweise verspürt niemand ein Verlangen danach, obwohl wir es früher oder später werden tun müssen, um neue Vorräte zu erbeuten – wir reden einfach nicht davon und lassen die Tage vergehen. Heute ist es schon der dritte. Gestern hat sich endlich Dr. Jelinek aus Pöchlarn gemeldet. Es geht ihm und seiner Olga gut, und er zeigte sich höchst erstaunt, daß wir noch leben; von der »Franz Joseph« weiß er natürlich auch nichts. Auf Spaldenstein scheint unter der milden Herrscha von Tschi-Pei-feng alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Wenigstens eine Beruhigung. Seit vorgestern ist der Frühling – nein, der Sommer – ausgebrochen. Rund um die alte Babenberger-Burg blüht und grünt es in allen Farben und zum Teil auch neuen Formen. Fünfzig Meter weiter unten ist alles tot. Einen ähnlichen verfrühten Sommer gab es, ich entsinne mich, , in jenem ominösen Jahr, das in vieler Hinsicht eine Vorahnung und Projektion der Zukun war. Auch damals stieg nach verheerenden Schneefällen Ende April dann Anfang Mai von einem Tag zum anderen die Quecksilbersäule von auf Grad im
Schatten, blühte der Flieder in einer Nacht auf – und vier Tage später heizten wir wieder bei Grad Außentemperatur. Es war das Jahr, in dem der größte Komet aller Zeiten am Himmel erschien, in dem die ersten Skylab-Astronauten eine ungewöhnliche Sonnenaktivität feststellten, obwohl ein »Minimum« an dieser Aktivität herrschen sollte; es war das Jahr, in dem in den USA die erste akute Treibstorise eintrat und Fluglinien stillgelegt wurden, während man in Wien noch um den Ausbau des Flughafens Schwechat stritt; es war das Jahr, in dem mehrere westafrikanische Staaten sich in wasserlose Wüsten verwandelten, die größten Hochwasser seit Menschengedenken Teile von Österreich und der Schweiz verheerten, Japan von Erdbeben und Flutwellen heimgesucht wurde und dauernde Wetterumbrüche die Zahl der Herztoten und Selbstmorde jäh in die Höhe schnellen ließen. Nein – es hat Zeichen und Vorzeichen genug gegeben. Nur wollte niemand sie sehen. Wie heißt es doch in der Christenbibel? »Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören …« Ich gehe hinaus ins Freie, ich brauche Lu, wenn ich an das Übermaß an Dummheit und Irrsinn denke, das die letzten zwei Jahrzehnte kennzeichnete. Dürrhuber kriecht auf allen vieren mit wabbelndem Speckbauch über die Steine. In der einen Hand hält er ein Reagenzglas, mit einer kleinen Pipette saugt er vor
sichtig Wassertropfen auf, die vom letzten Regen noch immer an den Kieseln und im Gras schimmern. Jaroslaw sieht ihm interessiert zu. »Was machst du da, wir haben doch Wasser genug im Brunnen?« »Er sammelt«, erklärt Jaroslaw, »ein besonderes Wasser.« Er grinst schief, als er meinen zweifelnden Blick bemerkt: »Nein, wir sind nicht verrückt geworden, keine Angst – aber jetzt schau, was geschieht.« Dürrhuber hebt das halbvolle Reagenzglas hoch und läßt sich ächzend auf einen Stuhl fallen, der unter ihm beinahe zusammenbricht. Jaroslaw angelt aus der Hosentasche ein vorsintflutliches Feuerzeug und läßt die Flamme um das Röhrchen spielen. Nichts geschieht. »Na und …?« »Ja, merkst du denn nichts? Das Wasser kocht nicht. Dieses Wasser kocht erst bei ungefähr Grad – und es gefriert bei minus .« »Das gibt es nicht –« »Doch – das ist Poly-Wasser. Chemische Formel HO wie jedes Wasser. Und doch ganz anders. Nein – kein ›schweres Wasser‹, damit hat es nichts zu tun. Dieses Wasser da – wir haben ja bestenfalls eine Lösung von zehn oder zwanzig Prozent – hat eine Dichte von , und eine Viskosität wie Motorenöl!« Dürrhuber bekommt endlich Lu: »«, sagt er, »hat es der Russe Deryagin entdeckt, und hat der Amerikaner Rutherford Platt ein ganzes Buch darüber
geschrieben. Man nannte es später ›Super-Wasser‹ – aber was es wirklich war oder ist, hat niemand herausgekriegt. Es gab verschiedene eorien: es würde sich sozusagen selbst erzeugen und vermutlich die Gleitfähigkeit von bestimmten Kriechtieren bewirken, also in lebenden Zellen entstehen. Ich habe mich viel mit diesem komischen Wasser befaßt, das wahrscheinlich ein Zusammenschluß von fünf oder sechs normalen Wassermolekülen ist, sozusagen ein Mikro-Kristallit – es hat auch nicht bei Grad die größte Dichte wie anderes Wasser. Gäbe es nur solches, wäre die Erde so tot wie die Venus, auf der die Russen es festgestellt haben wollen …« »Polymerisiertes Wasser«, nickt Jaroslaw bestätigend, »schade, daß Dr. Meier nicht mehr da ist. Das hätte ihn interessiert. Ich habe an der Karls-Universität in Prag Versuche damit begonnen und bin jetzt noch der Ansicht, daß dieses Wasser nur unter ganz bestimmten elektrischen Spannungsverhältnissen entsteht. Der Zusammenschluß der Moleküle zu einer Kette ist schließlich nichts anders als eine elektrostatische Erscheinung. Wißt ihr noch, wie fassungslos die Naturwissenschaler vor der Tatsache standen, daß Überschwemmungen und Sturmfluten immer schlimmer wurden, daß es allmählich fast nur noch Dürre oder Hochwasser gab, das die Kulturschicht wegriß?« »Ihr meint, daß das Poly-Wasser dabei eine Rolle gespielt hat?«
»Wir vermuten es«, erwiderte Jaroslaw; »die zunehmende Veränderung der elektrischen Spannungsverhältnisse in der Atmosphäre durch kosmische Einflüsse wie Magnetfeldabschwächung und Sonnenstürme und durch die Luverseuchung hat seine Bildung wahrscheinlich begünstigt – die Bildung einer Flüssigkeit, von der wir noch immer sehr wenig wissen.« »Und was nutzt uns das jetzt?« »Viel und nichts«, sagt Dürrhuber, »wenn der Anteil an Super-Wasser – er beträgt im weltweiten Schnitt jetzt höchstens einige Prozent – zunimmt, dann können wir uns beruhigt auängen, weil dann auch das letzte Leben auf dieser Erde verloren ist; nimmt er ab, dann haben wir wenigstens diese Sorge nicht.« »Und das alles hat man früher nicht gewußt?« »Einige werden es sicher gewußt haben – oder wenigstens geahnt. Aber Wirtscha, Fortschritt und Profit waren ja viel wichtiger als die Forschung …« »Wißt ihr«, meint Pierre, der zu uns gekommen ist, »was mich mehr interessiert?« »Nein …« »Als wir hierher gefahren sind, hat Johannes Rauchsäulen gesehen. Ich bin gerade auf der Mauer gewesen, sie sind noch immer zu sehen, nur vier oder fünf Kilometer südwestlich von uns. Entweder brennt dort etwas von selbst – oder …« »Oder …?« »Oder es hat dort jemand ein Feuer angezündet –«
»Wo ist Professor Schelest?« »Im Keller mit Ferry, sie unterhalten sich anscheinend über die Vergänglichkeit des Weins.« »Wozu haben wir diese Scheiß-Panzer? Wie spät ist es?« »Zehn Uhr – ich rieche es, deine Frau kocht gut …« »Laß sie kochen – wir fahren. Du, Jaroslaw, Johannes und ich. Schelest und Ferry sollen bleiben, wo sie sind – wenigstens zwei Menschen, die zufrieden und glücklich sind …« »Wolha, wolha – matj rodnaja …«, tönt es doppelstimmig von der Kellertreppe her. »Mit denen ist im Moment nichts anzufangen, komm!« »Wohin wollt ihr?« fragt meine Frau und wischt sich mit der Küchenschürze die Hände sauber. »Etwas nachsehen – wo sind Jaroslaw und Johannes?« »An der Mauer bei der Kirche. Sie machen wieder einmal Strahlen- und Magnetfeldmessungen …« »Und Wolkoff?« »Der hockt bei mir in der Küche und hat sie zur Häle in ein Laboratorium umgebaut. Er behauptet, daß er jetzt darauf gekommen ist, wieso Pflanzen strahlenresistenter sind als Menschen, und das wäre sehr wichtig ….« »Das ist wichtig«, ru der Chirurg und Hobby-Biologe aus der Küchentür, »wenn wir weiterleben wollen.
Schaut euch die Bäume und Sträucher und das Gras an. Was tun sie? Sie wachsen und blühen – und daneben liegen Zehntausende von Toten. Was machen wir, wenn wieder Strahlenstöße kommen? Wir können nicht ewig in den Panzern sitzen oder uns Injektionen geben. Wir müssen etwas finden, das uns unabhängig und lebensfähig erhält oder macht für die neuen Verhältnisse.« »Er hat mir schon alle Töpfe weggenommen, wie soll ich kochen?« schimp meine Frau ihm nach, dann lacht sie. »Daß du noch einmal eine solche Musterhausfrau werden würdest, und das ausgerechnet am Leopoldsberg, das haben wir uns nicht träumen lassen, wie …?« Ich lache mit, und auch die anderen stimmen ein. »Und wohin wollt ihr wirklich? In die CobenzlBar?« »Nein. Wir wollen nur wissen, was es mit diesen Rauchsäulen auf sich hat. In zwei, drei Stunden sind wir wieder da, es wird sowieso nichts Besonderes sein. Stell das Sprechfunkgerät neben dich in die Küche, wir rufen an … Und halt das Essen warm – ciao!« Wir gehen. »Krokodil II« springt sofort an. Wir holen »Krokodil I« an seine Stelle und schließen die Kabel an. Der Panzer gleitete die kurze Steilkehre zum kleinen Parkplatz hinab und dann mit voller Fahrt über die Straße zum Kahlenberg. Vorher biegen wir in den
Wald, in Richtung auf die beiden Rauchsäulen. »Warum«, fragt Pierre, während er das »Krokodil« auf einem Seitenweg durch den Wald hindurch zwingt, »warum fahren wir nicht endlich nach Pöchlarn und Spaldenstein zurück?« »Weil wir noch keinen Sprit für ›Krokodil III‹ haben.« »Ach – das ist doch eine Ausrede – den finden wir da oder dort …« »Also, wenn du willst: weil wir doch einmal nach Wien hinein wollen – nur getraut sich keiner, das zu sagen.« »Oder meinst du, daß die von der ›Franz Joseph‹ doch einmal zurückkommen könnten?« grübelt Pierre. »Optimist! Schön war’s. Baker-Bull und Malakawi waren nette Burschen.« »Und der Colonel etwa nicht?« wir Jaroslaw ein und brennt mit dem Laserrohr mehrere dicke Baumstämme weg. »Natürlich, der auch …« Wir fahren durch den Frühling-Sommer, den es eigentlich nicht geben düre; doch das Denken in Jahreszeiten wird immer undeutlicher. Alles grünt und blüht, alles lebt, und jeder Baum und jeder Strauch, den wir verbrennen oder niederwalzen, tut uns leid. Aber wir wollen wissen, was die seltsamen Rauchwolken zu bedeuten haben – schon aus Existenzgründen. »Jetzt sind wir ganz nahe dran«, sagt Pierre, »und ich sehe
kein Haus, das brennt, keinen Vulkan oder …« »Krokodil II« walzt weiter – da, eine Lichtung im Wald. Und da sind auch die Rauchsäulen und die Feuer. Gewöhnliche Lagerfeuer. Sie brennen inmitten einer Gruppe von fünf Zelten. Niemand ist zu sehen. Der Panzer rollt bis dicht an eines der Holzfeuer heran, der Turm mit dem Funkgerät schwenkt langsam im Kreis. Wir warten angespannt. Die Decke am Eingang eines der primitiven Zelte aus Säcken, Zeltplanen oder Nylonplachen bewegt sich – ein Mann tritt heraus. Ein Mann? Das Bild eines Mannes. Braunhäutig, schwarzlockig. Ein Zigeuner. »Jetzt wird er gleich seine Geige holen, spielen und uns anbetteln«, spöttelt Jaroslaw. Der Mann holt keine Fidel hervor und bettelt uns nicht an. Er geht nur bedächtig auf uns zu, die wir Seitenschott und Turmluk geöffnet haben und ihn anstarren. Er macht eine beinahe graziöse Verbeugung. »Kedar«, sagte er dann und deutet auf seine Brust, »Janos Kedar …« Jaroslaw kann aus seiner böhmischen Heimat sowohl ein paar dürige Brocken Ungarisch wie auch der Zigeunersprache: »Wie viele seid ihr, woher kommt ihr, habt ihr Waffen …?« »Nichts Waffen«, erwidert der Mann, der sich Janos Kedar nennt, zugleich freundlich und würdevoll, »wir sind arme Zigeuner und wollen nach Wien …« »Nach Wien?«
»Ja, nach Wien. Fünf Männer und acht Frauen, die anderen sind tot.« Wir sehen einander stumm an, wir vier aus »Krokodil II«. Janos lächelt: »Wir haben euch schon gesehen, vor drei Tagen. Ihr wollt auch nach Wien?« »Nu – vielleicht, vielleicht auch nicht …« »Jeden führt es dorthin, wohin er muß«, sagt Janos Kedar, »aber, bitte die Herren!« Er weist auf die Dekken neben den Feuern. Unser Superpanzer scheint ihm nicht den mindesten Eindruck gemacht zu haben. Die »Herren« steigen aus – gleichzeitig taucht am Waldrand ein Dutzend anderer, teils zerlumpter, teils malerisch gekleideter Gestalten auf. Männer, Burschen und Frauen. »Ich glaube«, sagt Janos Kedar, »ich glaube, daß wir uns einiges zu erzählen haben, oder?« »Ja«, sage ich, »das glaube ich auch. Nur einen Moment bitte!« Ich gehe zurück zum Panzer, angle das Sprechfunkgerät aus der Halterung, drücke die Taste. »Du bist es!« tönt die Stimme meiner Frau. »Ja, ich bin es – bitte warte nicht mit dem Essen auf uns. Es kann länger dauern … Ja, wir haben sie gefunden … Wen? Die Zigeuner … Du hörst richtig: Zigeuner! Wir melden uns bald wieder – der Peilton bleibt für alle Fälle – Ende!« Es ist das zweitemal, daß wir anderen Menschen gegenüberstehen.
Wie einst denen von . Diesmal sind es eben Zigeuner. Und – ehrlich gesagt – viel sauberer und besser sehen wir in unseren schmutzigen Monturen auch nicht aus. Und lange Haare und Bärte tragen wir auch. Der Mann, der sich Kedar nennt, scheint unsere Blicke verstanden zu haben. Er lächelt, und es ist ein sehr überlegenes Lächeln: »Keine Angst, die Herren – vielleicht soll ich mich noch einmal vorstellen: Janos Kedar, Ingenieur, Universität Agram.« »Wir wollten Sie nicht beleidigen, wir sind nur erstaunt …« »Wäre ich auch gewesen – und jetzt bin ich kein Ingenieur und Doktor mehr, sondern nur letzter König der Zigeuner, jedenfalls hier bei Wien … Ah, Grisi, bring Schnaps!« Eine der Frauen huscht davon und kommt sofort mit einer bauchigen Flasche wieder. »Zum Wohl«, sagt Janos Kedar und setzt sie an, dann reicht er sie uns herüber, »es ist mir eine Ehre, Menschen zu begrüßen, normale Menschen – Sie sind die ersten.« Wir lassen uns auf Baumstrünke und Decken nieder. Die Sonne strahlt, und die Flasche kreist. Dann beginnt Janos Kedar zu sprechen. Er spricht Englisch, ein beinahe lupenreines OxfordEnglisch, um das ihn sogar Colonel McIntosh hätte beneiden müssen. »Ich war drei Jahre drüben in England«, erklärt er wie zur Entschuldigung, »dann ist mein Vater gestor
ben, und mein Volk brauchte einen neuen König.« Von den Bäumen über uns fallen Zecken hernieder, und wir haben Mühe, sie von den Overalls zu kratzen, ehe sie sich durchgebohrt haben. Das feuchtwarme Wetter läßt sie in großen Mengen gedeihen, und sie sind größer und bissiger geworden. Mitte der siebziger Jahre fielen ihnen immer mehr Menschen zum Opfer – sie haben die Gehirnhautentzündung übertragen, und immer weniger Wanderer getrauten sich in die Wälder, je stärker das Klima sich veränderte. Den Zigeunern scheinen sie nichts anzuhaben. Wenn ein Zeck auf ihre bloßen Arme oder Füße fällt, drehen sie ihn einfach linksherum und werfen ihn ins Gras. Wir bieten Zigaretten an, die dankbar genommen werden. »Ihr Volk ist klein geworden«, meine ich, um überhaupt etwas zu sagen, »früher war es größer.« Mein Englisch ist miserabel. »Ja, früher …« »Ich erinnere mich, daß ungefähr ab / viele Zigeuner nach Wien kamen.« »Man hat sie nicht gerne gesehen.« »Nein, das hat man nicht. Wer hat damals schon andere, fremde Menschen, gerne gesehen? Sie haben überall herumgelungert, Teppiche verkau, Mülleimer durchwühlt, sie haben scheinbar gar nichts Gescheites getan – das hat man nicht verstanden.« »Sie haben völlig recht.«
»Nur – ich habe mir schon damals gedacht, daß das kein Zufall sein könnte, oder daß auch Tito nicht die Ursache war, der sie bei sich nicht wollte und hinauswarf – Zigeuner tun meiner Meinung nach nichts zufällig, sie folgen irgendeinem Gesetz, stimmt das?« »Das stimmt.« Kedar blickt mich lange und prüfend an. »Sind Sie ein›Seher‹?« »Ein was …?« »Ein Seher; ein Mensch, der ein bißchen weiter in die Zukun sieht – doch«, er beugt sich vor, »Sie sind einer, Sie haben das Zeichen zwischen den Augen. Sie gehören eigentlich auch zu uns – nein, lachen Sie nicht, das ist wahr. Vielleicht war einer Ihrer Urgroßväter einer von uns, oder eine Urgroßmutter eine Tsingara, wer weiß?« »Wer weiß?« Mir ist gar nicht wohl zumute, und ich halte das für puren Unsinn. Kedar scheint auch diese meine Gedanken erraten zu haben: »Ich bin Ingenieur«, sagt er sehr bestimmt, »und wenn Sie wollen, kann ich Ihnen hier und jetzt die Einsteinschen Transformationsgesetze auswendig aufsagen – aber ich bin auch Zigeuner, und das allein gilt jetzt. Wie viele seid ihr?« »Zehn – neun Männer und eine Frau.« »Ich nehme euch in meinen Stamm auf, in mein Volk – weil Sie ein Seher sind. Wir sind dreizehn. Wir werden einander sehr nötig haben.« Janos Kedar umarmt mich: »Bruder …« Er stinkt
abscheulich. Ob wir besser riechen …? Andererseits ist mir durchaus klar, daß diese Zeremonie wichtig für uns ist: ab jetzt sind wir in den Augen der Zigeuner ihresgleichen. Sie werden uns weder betrügen noch bestehlen, sie werden zu uns halten, komme, was wolle. Die Schnapsflasche ist leer. »Komm, Bruder, wir werden jetzt aurechen«, sagt Janos, »aber vorher will ich dir noch etwas zeigen, damit du siehst, daß wir nicht ganz so arm sind …« Er schleppt mich zwischen die Bäume hinter dem Lager. Da stehen zwei Wagen mit drei spindeldürren Pferden davor zwischen Bäumen und Büschen. Ich kann nur den Kopf schütteln: »Mit denen seid ihr hergekommen?« »Ja und nein.« »Und vorher, wo wart ihr vorher?« »In den Höhlen, Bruder, in den Höhlen von Kroatien – dort, wo auch die Bären waren. Bären wissen, wo man überleben kann …« Tatsächlich: die Plachen der drei Karren bestehen aus Bärenfellen. Janos schlägt eine an einem der Wagen zurück: »Da, schau!« Was ich sehe, ist ein Sortiment an Waffen, mit dem man gut und gerne eine Kompanie ausrüsten könnte; von der modernsten MP bis zur Klein-Rakete, die selbst unseren »Krokodilen« hätte gefährlich werden können. »Und du hast gesagt, daß ihr keine Waffen habt …?«
»Da warst du noch nicht mein Bruder. Jetzt sind wir ein Volk.« Die Logik ist umwerfend. Er zieht mich zu einem anderen Wagen: »Da.« Er ist vollgefüllt mit Konserven und Flaschen, in einem offenen Karton schimmert Gold und Schmuck, darüber liegen, achtlos hingestreut, einige Reiseapotheken; die morschen Bretter sind mit schweren Perserteppichen belegt. Im dritten Wagen hockt – ebenfalls auf Teppichen – eine Mumie. Nein, es ist keine, sie bewegt sich und öffnet den zahnlosen Mund zu einem Grinsen. Janos redet ungeheuer schnell auf sie ein und deutet mehrmals auf mich: »Das ist Großmutter – sie freut sich, daß wir uns gefunden haben.« Ich freue mich weniger, als die Mumie Anstalten tri, mich zu umarmen. Doch auch das geht vorüber. »Komm, wir müssen fahren – es gibt bald Regen«, sagt Großmutter. »Haben wir noch Läusepulver?« flüstert mir Pierre zu, als wir in den Panzer steigen. »Sei still, die können Gedanken lesen – im übrigen glaube ich nicht an die Läuse. Und nebenbei bist du jetzt auch ein Zigeuner, also …!« Der Konvoi, der sich vom Lagerplatz in Bewegung setzt, ist noch komischer als jener der Panzer und Kamele von : ein »Krokodil« und dahinter drei in allen Fugen ächzende Wagen mit drei Karikaturen von Pferden davor. Die Zigeuner haben die Feuer sorgfältig
gelöscht und die Spuren verwischt. Die älteren sitzen auf den Wagen, die jüngeren laufen daneben her; barfuß. Janos Kedar hat sich zu uns in den Panzer gezwängt. Jetzt kommt der Techniker und Ingenieur in ihm zum Durchbruch. Wir sehen schmunzelnd, wie er alles mit großen Augen förmlich verschlingt. Und sofort begrei. Pierre nickt ihm zu und klop ihm auf die Schulter: »Ein bißchen besser, als eure Karren …?« »Oh, ja.« »Komm, schalt mit!« Janos agiert wie ein Virtuose – traumsicher, sagenha. »Der soll von jetzt ab fahren …«, brummt Pierre leicht beleidigt. Und macht keine Bemerkung mehr über die »Karren«. Meine Frau erweist sich wieder einmal als große Diplomatin, als der seltsame Zug durch das innere Tor gerollt kommt und auf dem Kies vor dem Restaurant hält: sie reicht jedem unserer neuen Stammesbrüder und -schwestern die Hand und hil der Oma beim Aussteigen. Was ihr einen Kuß einträgt, um den ich sie nicht beneide. Professor Schelest und Ferry, die aus dem Keller aufgetaucht sind, verziehen sich, bevor die flinke Tsingara-Oma sie erwischen kann. Die Szene ist äußerst seltsam und grotesk. Manchmal übersteigt, was wir erleben, jede mögliche Phantasie: da liegt vor und unter uns eine Millionenstadt mit
Hunderttausenden von Toten, da ist eine neue Welt entstanden – und da dringt lärmend eine Horde von Zigeunern in die Mauern, die einst die ersten Babenberger errichteten, ehe es ein Wien gab, aber nachdem es schon einen kleinen Ort namens Vindobona gegeben hatte, der seinerseit von den Markomannen und Quaden zerstört worden war. Nachdem diese auch Carnuntum erobert und zerstört hatten. Zigeuner auf dem »heiligen Berg« der Wiener: die alten Wiener (die ihrerseits wieder von Kelten, Slawen und Bajuwaren abstammten) würden sich im Grabe herumdrehen. Aber von ihren Gräbern düre es kaum noch eine Spur geben. Es ist einfach alles absurd, und ich gebe das Denken bald auf. Die Zigeuner tun es nicht, und allmählich beginne ich, beginnen wir, dieses Volk zu bewundern, das man immer nur als faul und arbeitsscheu bezeichnet hatte. In nicht ganz zwei Stunden haben sie alles organisiert: die kleine Barockkirche ist zu einem gedeckten Lagerplatz geworden; in der Sakristei stehen die drei dürren Pferdchen, im Mittelschiff liegen Decken, Teppiche und Ausrüstung, beinahe gemütlich sieht es aus. Ein Atheist von früher hätte seine Freude daran gehabt – allerdings gibt es einen Unterschied: jedesmal, wenn einer der Zigeuner die Kirche betritt oder am Altar vorbeigeht, kniet er kurz nieder und bekreuzigt sich. Drei der acht Frauen haben meine Frau und den zeternden Professor Wolkoff aus der Küche verdrängt
– dafür dürfen wir uns gegen Uhr (es regnet, wie die Oma es vorausgesagt hat …) in der Gaststube beim Schein von Kerzen und Petroleumlampen zu einem richtigen Festmahl niederlassen. Es gibt Bärenschinken, Wildschwein in Pfeffersauce mit Gurken und Zwiebeln, bulgarische Pfirsiche und kroatischen Wein. Und Schnaps. Das einzige, was wir beigesteuert haben, sind die Zigaretten und Zigarren aus den Beständen der »Maria eresia«. Worüber sich vor allem die Oma freut. Dreiundzwanzig Menschen – die Stube ist doch nur halbvoll. Nachdem alle satt sind, erhebt sich »König Janos«: »Ihr seid jetzt ›Tsingara‹, Zigeuner, und deshalb will ich euch berichten, was ich weiß … Der Weg meines Volkes ist lang gewesen, jahrtausendelang. Wir waren immer Wanderer – so wie ihr es heute seid. In meinem Volk gibt es eine Überlieferung, die sagt, daß nach dem Ende der Welt nur die Zigeuner übrigbleiben; sie würden sich an zwei Orten sammeln: hier in Wien und am Rande der Pyrenäen in Frankreich. Deshalb, Bruder«, er lächelt mir zu, »deshalb sind die Zigeuner seit vielen Jahren schon nach Wien gekommen. Nein, glaube nichts Besonderes, die wenigsten wußten warum, wir sind ein Volk wie jedes andere. Was ich euch soeben anvertraut habe, war das letzte Geheimnis meines Volkes, niemand hat es weitergeben dürfen, nur der König. Vielleicht versteht ihr jetzt, warum die Zigeuner immer ein wenig traurig waren? Sie
wußten, nein, sie wußten nicht, sie ahnten, was kommen würde, und deshalb, und nicht um einen faulen Zauber zu veranstalten, habe ich euch aufgenommen in mein Volk – damit ich euch das sagen konnte. Wir haben überlebt, dreizehn von Tausenden. Und ihr habt überlebt. Und wir werden um dieses Wien, das es gar nicht mehr gibt, vielleicht sogar kämpfen müssen. Nein, sag nichts, ich spüre, daß es so sein wird.« Die Oma auf dem Ehrenplatz uns gegenüber hat sich gerührt – »Ich dachte schon, die lebt nicht mehr«, raunt mir Jaroslaw zu – und erhebt sich tatsächlich vom Stuhl. Sie nimmt das Glas mit Schnaps und trinkt es auf einen Zug leer. Dann sieht sie auf einmal gar nicht mehr aus wie ein altes, zahnloses Zigeunerweib: »Ihr werdet leben, meine Kinder – nicht alle, aber die meisten. Ich bin sehr glücklich, daß ich bei euch sein kann, daß ich doch noch erlebt habe, daß die Zigeuner Brüder aller Menschen werden …« Platsch – da sitzt sie wieder: eine alte Zigeunerin, die eine Zigarette raucht und Schnaps bechert. »Alles Schwindel«, knurrt Professor Schelest, »keine Realität …« Der Schnaps hat ihn aggressiv gemacht. »Sag das nicht, Bruder«, Janos säuselt es so milde wie ein Landpastor, »was ist Schwindel, was ist Wahrheit auf dieser Welt?« »Das da«, Schelest knallt sein Glas gegen die Wand, »das ist Realität, aber du nicht!« Die Splitter fallen zu Boden.
Zwei der braunen Burschen ziehen ihre Messer. Das kann ja lieblich werden … »Nichts!« weist sie Kedar zurück. »Er soll kommen und da mit mir kämpfen.« Er zeigt auf die kahle Wand der Gaststube. Dann wir er, wie ein Fechter einen Degen, dem Professor Schelest eine blaue Kreide zu, die er aus dem Hosensack gezaubert hat – eine andere behält er für sich: »Die Transformationsformeln nach Einstein!« Der glatzköpfige Schelest geht zur Wand und beginnt Zahlen und Zeichen an sie zu kritzeln. »Nein«, sagt Janos, »da ist ein Fehler.« Seine Kreide kratzt über den Kalk. Das stumme Duell dauert eine halbe Stunde, dann gibt Schelest schwitzend auf: »Er hat recht, der Goldjunge«, und umarmt Janos, »ein Zigeuner!« Der Rest des Abends ertrinkt in Wodka und Wein. Wir wachen erst am späten Vormittag wieder auf. »Du hättest die letzte Wache gehabt …«, sagt Johannes ziemlich sauer zu mir, »ich hab’ das für dich mit erledigt.« »Was ist mit dem Wetter?« »Es regnet, aber es wird vielleicht bald auören – hat Jelinek in Pöchlarn behauptet …« »Die Zigeuner?« »Ach, die schlafen noch. Den Pferden hab’ ich Gras aus dem Wald geholt, um die kümmert sich ja keiner.« Mein Schädel brummt wie eine Baßgeige. »Hast du
Kaffee für mich?« frage ich recht jämmerlich meine Frau. Er ist heiß, ich verbrenne mir die Zunge. Aber dann werde ich wach. Nach und nach erfahren wir etwas mehr über die Odyssee der Zigeuner, die im Sommer begann. Weit über tausend – Janos schätzt auf ungefähr dreizehnhundert – waren es gewesen, die kurz vor dem Tag Null ihre Lager an und in den Höhlen des Karst südwestlich von Lubljana/Laibach aufschlugen, wie es ihnen ihre Wahrsager geraten hatten. »Nicht so armselig, wie wir jetzt sind«, Janos lächelt in der Erinnerung, »nein – zum Teil waren sie mit großen Straßenkreuzern, Wohnwagen und den modernsten Campingzelten mit allem Wohnkomfort gekommen. Es sah dort aus wie …« »Wie in einem Lager von Attila oder DschingisKhan«, wir der junge Grischa ein. »Richtig. Aber nicht lange. Nach dem ersten Tag des Gottesgerichts war ein Teil des riesigen Lagers zerstört, und jene, die nicht rechtzeitig in den Höhlen Zuflucht gesucht hatten« (Janos berichtet das so feierlich-literarisch, als läse er aus einer heiligen Schri vor), »waren tot oder irrsinnig geworden. Ich kann das auch sachlicher und wissenschalicher formulieren: die Strahlenstöße kamen, Erdbeben, Kältewellen, Stürme und Sauerstoffmangel. Aber die Höhlen sind riesig, und
wir hatten große Vorräte darin aufgestapelt. Ungefähr neunhundert Menschen überlebten und zweihundert Pferde. Wie – das wißt ihr ja von euch selbst.« Er nimmt einen Schluck aus der Flasche, die ihm Grischa reicht, und zieht hastig an der Zigarette. »Im Spätsommer schienen sich Himmel und Erde etwas beruhigt zu haben – jedenfalls bei uns –, und nach einer Beratung der Ältesten und der beiden übriggebliebenen Könige beschlossen wir, aufzubrechen. Es gab zwei Meinungen: die einen wollten nach Frankreich, die anderen nach Wien. Ich bin, wie ihr wißt, Techniker und habe auch ein wenig Geologie studiert – ich rechnete mir die größeren Chancen für Wien aus.« »Ja, aber warum überhaupt Wien?« »In diesem Punkt«, sagt Janos, »folgen wir unserem Zigeunerinstinkt: ich wußte es einfach, wir wußten es – mehr läßt sich dazu nicht sagen. Warum haben andere Menschen Berge bestiegen oder Wüsten erforscht? Weil sie es mußten. Es war ihr Ziel. Meines war eben Wien. Im übrigen ist oder war es ja auch völlig gleichgültig, wohin wir gingen. Wir teilten uns also in zwei, nein: drei Gruppen – die ›Franzosen‹, die ›Wiener‹ und diejenigen, die bleiben wollten. Das waren vielleicht zweihundert. Sie überließen uns den größten Teil an Ausrüstung und Pferden. Ich lehnte es für meine Gruppe ab, Autos oder Karren überhaupt zur Diskussion zu stellen. Deshalb erhielten wir mehr Pferde, auf die
wir alles packten, wir selbst gingen zu Fuß. Noch ehe wir die Karawanken und den Loibl-Paß erreichten, waren es mehr Pferde als Menschen; neunzig Pferde und achtzig Menschen, die zähesten, die Kälte, Hunger, Lumangel und alles Schreckliche überstanden hatten. Achtzig von zweihundertzwanzig. Wir zogen immer möglichst am Rand der Gebirge entlang, nie in den Tälern, die immer wieder von Hochwassern überflutet wurden oder verschüttet waren, obwohl sich der Ostrand der Alpen im großen und ganzen nur wenig verändert hat – zumindest geologisch. Von den früheren Orten und Bewohnern sahen wir nichts und wollten wir nichts sehen, außer wenn wir unbedingt neue Vorräte brauchten. Den ersten Winter – / – verbrachten wir in einem verfallenen Kloster in der Nähe von Klagenfurt. Dort war eine alte feste Scheune, voll mit Heu; die Keller waren tief und auch fest. Trotzdem waren wir Anfang des neuen Jahres nur noch sechzig. Und die ersten, auf unserem ›Langen Marsch‹ geborenen Kinder haben wir dort begraben – wenigstens in geweihter Erde …« »Kamen die tot zur Welt?« »Nein«, Janos’ Gesicht wird starr, und sein Blick geht über uns hinweg irgendwohin, »sie waren nicht tot, aber sie sahen so ähnlich aus, wie ihr uns den jungen Bären beschrieben habt …« Grischa hält den Kopf tief gesenkt. Wir schweigen. »Auch seines war darunter«, sagt Janos, »was wollt
ihr sonst noch wissen? Tod, Not und Elend in jeder Form, ihr kennt das doch auch. Ach so« (Grischa hat ihm etwas zugeflüstert), »ach so, die … ja, in diesem nächsten Winter, der kein richtiger Winter war, hatten wir den Semmering-Paß erreicht und uns dort in den Ruinen von Maria-Schutz eingenistet, dem kleinen Wallfahrtsort an der Nordseite des Semmering. Erstens, weil die meisten von uns gerne in der Nähe von Kirchen und heiligen Orten hausen, und zweitens, weil es nach dorthin nur einen Zugang gibt. Einige von euch kennen vielleicht dieses Nest mit der früheren Seilbahn zum Sonnwendstein?« Johannes, Ferry und ich nicken. »Wir waren auch da allein – glaubten wir. Es gibt dort keine großen Gebäude, und so verteilten wir uns auf die wenigen, die noch halbwegs intakt waren. Und schliefen beruhigt. An einem Morgen aber fehlten vier von uns und zwei Pferde; sie waren spurlos aus einem der Häuser verschwunden. Wir suchten den ganzen Tag den steilen Bergwald ab; gegen Abend fanden wir eine noch glimmende Feuerstelle – und die Reste von zwei Pferden und vier Menschen. Bären können Pferde und Menschen fressen, aber kein Feuer machen, auch Wölfe nicht; die das getan hatten, kamen am nächsten Tag wieder. Zu Hunderten, wie Tiere, die Beute wittern. Heulende Tiere mit Menschengesichtern und Knüppeln, Messern und Gewehren in den Händen. Woher? Wahrscheinlich aus einem der Täler, von wo sie der
Hunger hergetrieben hatte. Aus Höhlen und Grotten, die es ja auch hier gibt. Wir kämpen zwei Tage lang. Wir hatte keine Panzer, nur unsere MPs, Handgranaten und Messer – und wir waren viel weniger. Dann schleppten die letzten Lebenden ihre letzten Toten mit sich fort. Man-eater – Menschenfresser …« Jetzt nimmt sogar Johannes einen Schluck aus der Flasche, die Grischa wortlos herumreicht. »Da waren wir noch dreiundzwanzig und siebzehn Pferde –« »Und die Wagen?« »Die? Die haben wir später nach und nach aus Bauerngehöen geholt, weil wir immer weniger Tragpferde hatten – sie wurden immer schwächer, und wir aßen sie der Reihe nach auf. Da und dort stießen wir wieder auf befahrbare Feld- und Waldwege. Bis wir hierher kamen: vier Wagen, vier Pferde und dreizehn Menschen. Nachdem wir euch beobachtet hatten, machten wir große Feuer; wir dachten: wenn diese Wesen noch normal sind, werden sie kommen. Und nun wißt ihr alles.« »Und sonst habt ihr keine … keine Menschen gesehen?« »Nur tote. Wir haben sie auch nicht gesucht, wir hatten nur unser Ziel vor Augen – wir haben es erreicht.« »Ein vorläufiges Ziel …« »Was ist endgültig, Bruder?«
Da schoß ich auf die Menschenfresser Am Leopoldsberg, . März Ich knie vor dem Altar der kleinen Barockkirche und spreche zu einem Gott, den ich nicht kenne und der uns nicht mehr zu kennen scheint: »Herr, vergib mir, wenn Du vergeben kannst – und wenn Du es aber nicht kannst, wird auch das nichts ändern …« In einem zerbrochenen Kirchenstuhl neben mir kniet die Tsingara-Oma und murmelt etwas vor sich hin. Wenigstens kühl ist es hier im Innern. Geschehen ist es heute gegen sechs Uhr morgens. Schon tags zuvor hatte ich bemerkt, daß Janos unruhig wurde und begonnen hatte, an seine Leute die Waffen auszugeben, die bis dahin unter den Flachen des einen Karrens gelegen hatten. »Was soll das?« hatte ich ihn gefragt. »Glaubst du, die Türken kommen?« »Etwas kommt, die Oma hat es gesagt.« »Deine äußerst verehrungswürdige Oma spinnt«, maulte Ferry, als er sah, daß die Zigeuner mit Waffen behängt wie Christbäume herumliefen, »und wenn etwas kommt, dann sind unsere Panzer zehnmal mehr wert als eure ganze Maskerade!« In Situationen wie der unseren fallen viele konventionelle Hemmungen. Trotzdem haben wir dann die Panzer umformiert:
den einen an die östliche Mauer gestellt, den anderen an die Terrasse gegen Klosterneuburg zu; »Krokodil III« bewacht weiterhin das Eingangstor. Ich hatte wieder einmal letzte Wache. Um fünf Uhr ging wie gewohnt die Sonne auf. Ohne Zeitverschiebung, wie britische Wissenschaler sie im August konstatiert hatten, nachdem es gigantische Eruptionen auf unserem Mutterstern gegeben hatte und nach denen die Erde einige Tage lang »falsch gegangen« war – der Zeitungsausschnitt von damals liegt noch in der »Bundeslade« auf Spaldenstein. Man ist, so überlegte ich während des Auf- und Abgehens, in diesen Jahren überhaupt auf sehr viel gekommen, was vorher als reine Phantasie und Einbildung gegolten hatte – etwa darauf, daß die Erde außer dem bekannten Mond noch zwei andere hat: sie bestehen allerdings nur aus Staub, aber der Dozent Kordylewski an der Universität Krakau hat sie doch eruiert und berechnet. Über der weiten Ebene unter uns lagerte, wie jeden Tag, Dunst. Über Wien oder dem, was davon noch übrig ist. Janos war nahezu lautlos herangekommen, ich erschrak. »Du schläfst nicht?« »Ich kann nicht …« Er sah den Panzer an der Mauer an: »Meinst du, daß der uns wirklich etwas nützen kann?« »Und ob! Du bist doch Techniker, Ingenieur – also
weißt du, was ein Laser ist.« Janos klope auf den Lauf seiner MP: »Trotzdem ist mir die lieber …« In diesem Moment sah ich zufällig über die niedere Mauer. Dort unten dehnten sich, wie eh und je, die Weinberge von Grinzing – nur, daß kein Wein mehr dort wächst, weil alles verschlammt und verölt ist. Dort wandelte einst ein Beethoven durch grüne Rebhänge. Am »Beethovengang«. Und dort – vier-, fünundert Meter von uns entfernt – läu jetzt ein Mensch in einem Höllentempo bergan. Hinter ihm sind vier, fünf, acht andere. Sie schwingen (soweit man das erkennen kann) Keulen und Messer. Der einzelne Mensch rennt – offensichtlich um sein Leben. Und es besteht nicht der mindeste Zweifel, daß die Verfolger ihm dieses nehmen wollen. In diesem Augenblick setzt mein normales Denken aus. Ich reiße das Sturmgewehr von der Schulter und schieße, ohne lange zu zielen. Einer der Verfolger macht einen Satz und bricht zusammen. Aber es nutzt nichts, die anderen holen den Flüchtenden ein, schlagen ihn nieder und schleppen ihn fort. Um den liegengebliebenen Toten kümmert sich niemand. Das alles läu wie in einem Stummfilm ab. »Du Narr, du verdammter Narr!« fährt mich Janos an. »Ein Glück, daß dein Gewehr einen Schalldämpfer hat und die da unten blöd sind, sonst hätten wir sie morgen auf dem Hals …«
Mir zittern die Finger: »Was war das …?« »Man-eater«, erklärt mir Janos, »Menschenfresser – jetzt sind sie auch schon hier …« »Aber es sind doch Menschen, und ich habe einen erschossen …« »Unsinn – das sind Tiere, sie sind schlimmer als Tiere …« »Arme sind es, Wahnsinnige!« »Ja – aber entweder leben wir oder sie, capito?« Mir ist speiübel. Ich hätte wohl nie als Sheriff im Wilden Westen getaugt. »Kränk dich nicht, Söhnchen«, sagt die Tsingara-Oma, wie es vor vielen, vielen Jahren einmal meine Großmutter gesagt hat, wenn ich vom Fußballspielen wunde und zerschundene Beine hatte, »das geht alles vorbei.: .« »Ja, das geht vorbei – alles geht vorbei …« Wissende und gütige Augen sehen mich an: »Komm, wir haben genug gebetet, Söhnchen –« Ein König hätte eine Königin nicht behutsamer aus der Kirche geleiten können als ich die alte und häßliche Zigeunerin. Janos grinst, als wir in der Wirtsstube ankommen: »Die will doch nur wieder einen Schnaps haben«, und er reicht ihr ein volles Glas. »Übrigens«, sagt er, »wir müssen in die Stadt. Es hat keinen Sinn mehr, zu warten. Ihr wollt Vorräte und Sprit – wir wollen bleiben. Und dazu müssen wir diese Stadt erobern, du hast es gesehen …«
Flammen über der Stadt der Toten Wien, . März Im ersten Tageslicht machen wir zwei der drei Panzer startklar – »Krokodil I« und »Krokodil III« – der dritte bleibt hier. Unter dem wunderbarerweise noch immer rinnenden Leitungswasser (das Reservoir am Kahlenberg scheint nicht zerstört zu sein) habe ich mir die Hände gewaschen, als müßte ich Blut von ihnen spülen. Auch die drei Zigeuner, die uns – Pierre, Jaroslaw, Ferry, de la Rose und mich – außer Janos begleiten werden, sehen erstaunlich sauber aus. Vor dreihundertfünf Jahren sind von hier aus die Ritterheere Karls von Lothringen und des Polenfürsten Jan Sobieski hinabgezogen, um das von Wesir Kara Mustapha belagerte Wien zu entsetzen; vor genau fünfzig Jahren hat Adolf Hitler aus Braunau über die Straße an der Donau, die nun unter dem Wasser liegt, seinen Einzug in Wien gehalten. Acht Jahre später hat es kein tausendjähriges Reich, aber statt dessen drei deutschsprachige Staaten gegeben. Und jetzt gibt es überhaupt kein »Reich« mehr. Auch keine Gastarbeiter, nur Menschenfresser. »Weißt du übrigens«, sagt Ferry, als wir in die Fahrzeuge klettern, »daß der Leopoldsberg früher der ›Kahlenberg‹ war – der kahle Berg – und der jetzige Kahlen
berg ›Sauberg‹ hieß?« »Schau lieber auf die Karten – wir müssen erst einmal über die Donau und dann von Floridsdorf aus wieder zurück in die Stadt, geradeaus geht es nicht.« »Das haben wir doch schon zehnmal besprochen.« »Jaja – aber die Wirklichkeit sieht dann doch immer anders aus.« Sie sieht anders aus. Schon an den Rand des Stromes zu kommen, ist ein Problem. Die beiden »Krokodile« waten in meterhohem Schlamm, manchmal hängen wir in den Gurten über Grad vornüber. Die braune Wassermasse, die uns unten empfängt, ist geradezu ein Labsal. Schräg gegen die noch immer ungeheuer rasche Strömung überqueren wir den Fluß. In einem seichten Seitenarm treiben Reste von Motorbooten – seit zwei Jahren schon. In der Nähe war der Jachthafen. Floridsdorf, die nördliche Industrievorstadt von Wien: weite Fabrikareale, die nur noch andeutungsweise ahnen lassen, daß dort einst Werkshallen standen; Reihen von lehmüberkrusteten Ruinen, auf einem Gleis das Gestänge einer Straßenbahn, von Drähten wie in einem Spinnennetz gefangen. »Ein Dreihunderteinunddreißiger«, ru Ferry, »Mit dem bin ich früher nach Stammersdorf zum Heurigen gefahren …« »Wir fahren den Geleisen nach, da kommen wir am
ehesten wieder in Richtung Donau, Donaukanal und Stadtmitte …« Irrtum: nach wenigen hundert Metern platschen die Ketten der Panzer bereits wieder in eine unabsehbare Wasserfläche, das ganze Gelände scheint sich total verändert zu haben. Ab und zu ragt eine Hausruine aus dem Wasser, aus offenen Stockwerken hängen Wände und Möbelreste in die trübe Flut. So schlimm hat es nicht einmal nach den schlimmsten Bombentagen und -nächten hier ausgesehen. Im Nordosten zeichnen sich schemenha die Umrisse eines eigenartig gezackten Gebirgszuges ab. »Weißt du, was das ist?« fragt Ferry über die Kopörer. »Das ist kein neues Gebirge, das sind die Reste der Satellitenstadt Leopoldau-Großfeld …« Mein Gott – natürlich hat er recht: dort wohnten einmal dreißig- oder vierzigtausend Menschen in riesigen Betonwohnsilos; in einem jener modernen Gettos, die es bei fast allen Großstädten gab, seelenlos-perfektionierter Wunschtraum der Städteplaner, Alptraum der Bewohner, die bald wieder aus ihnen zu flüchten begannen – wenn sie es konnten. Diese Siedlungen wirkten schon immer wie Geisterstädte, nun sind sie es tatsächlich geworden. Leere Betonhüllen und Stahlskelette, Gebirge des Todes, Särge … Beinahe eine Gnade, daß der über der ganzen Verwüstung lagernde Dunst die Fernsicht nimmt. Ganz hoch oben rasen wieder zwei, drei, vier Trichtergebilde
über den resedafarbigen Himmel. »Mir gefällt das alles nicht …«, stelle ich mehr für mich fest. »Gib ihm Slibowitz, Grischa«, sagt Janos, der den Panzer, in dem ich sitze, mit traumwandlerischer Sicherheit durch das Chaos steuert, zu dem jungen Zigeuner neben mir. Ich trinke. »Drück auf den gelben und dann den roten Knopf, Janos!« Die Luken schließen sich, die Sauerstoffgeräte laufen an – der Gestank wäre sonst unerträglich. »Du hast eine zu feine Nase«, kommentiert Janos. Vielleicht habe ich eine zu feine Nase und zu scharfe Augen, ich bin auch kein Gruselgeschichtenautor – was ich festhalten will, ist nichts als eine Art »Chronik der laufenden Ereignisse«, keine Detailschilderung, an der übrigens auch begabte Schristeller scheitern müßten. Man nehme eine Millionenstadt, die zunächst vom Erdbeben heimgesucht wurde, dann von Strahlenstößen und dann für zwei Jahre in einem Ölsee ertrank. Das haben wir vor uns, durch das fahren wir – schwimmend, schmatzend und patschend. Es knirscht und kracht, wenn wir über Reste von abgestellten Autos rollen oder über eine Straßenbahn; es rumpelt leicht, wenn die Ketten der zwei »Krokodile« Ziegelsteine oder Knochen zermahlen, die massenha herumliegen. Zum Teil von Schlamm bedeckt, zum Teil nackt oder bleich in der grünen Sonne. Vor dem Tor einer Fabrik
türmen sich Skelette zu einem flachen Wall. Das einzig Lebende hier sind Ratten. Woher sie gekommen sind? Ich weiß es nicht, aber irgendwie segne ich sie. Und die Geier … Im Gewirr der neu entstandenen Wasserarme der Donau scheinen wir zu weit nach links abgekommen zu sein – die verrosteten und verschlammten Stahlgerüste vor uns gehörten jedenfalls zur Reichsbrücke und nicht zur Floridsdorfer. Ganz gleich: sie bieten einen gewissen Schutz gegen die Strömung. Der Rest einer Kirche – das ist das andere Donauufer; fünundert Meter weiter ein Wall – der Damm der früheren Stadt- und Schnellbahn. Hier war der »Praterstern«, und auf dem Säulenstumpf inmitten des Schlamms stand einst die Figur des Admirals Tegethoff, der in der Seeschlacht bei Lissa die Italiener besiegt hat. Wann? Als ob das nicht völlig gleichgültig wäre. Mehr tut es mir um das »Riesenrad« leid, das den großen Brand anno überstanden hatte und sich dann wieder zu drehen begann – jetzt liegt das gigantische Stahlrund zerdrückt und verbogen auf der Seite. Es wird sich nie mehr drehen. Die Praterstraße, einst das Hurenviertel von Wien, in dem sich Ganoven und Zuhälter Revolverduelle lieferten, ist eine Allee von Ruinen. Die Praterbrücke: ein geplatztes Betonband in einem Fluß. Jetzt sind wir »in der Stadt«, am Ring, dem Boulevard von Wien. Gerippe von Straßenbahnen, Autos und Menschen;
Schlamm, Baumstümpfe, Öl. Öl in großen Lachen vor den zerborstenen Schaufenstern zerborstener Häuser, hinter denen früher die neuesten Automodelle glänzten. Oder Pelze und Schmuck. Von dem Eingang zum Hotel »Bristol« flattert ein roter Fetzen unter einem Schuttberg hervor – vielleicht war das der Portier, der die letzten Gäste zu ihren Wagen begleiten wollte? Die Oper; das Kuppeldach liegt schräg und von Tang grün überkrustet in Richtung des Hotels »Sacher«. Wie eine Haube über einer Kaffeekanne. »Rechts«, sage ich durch das Kehlkopfmikrofon. Wir holpern über Schutt-, Schlamm- und Trümmerberge. Die Kärntnerstraße. An einer der vielen Ruinen sage ich zu Janos: »Hier – schalt den Laser ein!« Die beinahe unsichtbare Entladung zuckt und läßt Steine und Mauern verdampfen. Wir setzen die Atemmasken auf und dringen durch das entstandene finstere Loch ein. Ich weiß, was unten im Keller ist: die Lebensmittelabteilung des Kauauses »Steffel«, wahrscheinlich bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Nein, sie steht nicht unter Wasser, wir haben Glück: irgendwo muß es einen Abfluß gefunden haben. Drei Donaritpatronen sprengen die letzten Trümmer hinweg. Im Licht der Handscheinwerfer waten wir bis zu den Oberschenkeln in einer Soße aus Wasser, Pfeffer, Paprika, Ketchup und anderen Gewürzen und fischen aus ihr heraus, was wir in die Hände bekommen. In der nächsten halben Stunde wird mir bewußt, wie
rasch Zigeuner abräumen können – in Null Komma nichts ist »Krokodil I« mit Paketen und Dosen vollgefüllt. Und jede einzelne bedeutet Leben für uns. »Sprit«, mahnt Ferry von ›Krokodil III‹, »wir sind fast leer – beim Dom war doch eine Garage mit einer Tankstelle. Wir sollten es wenigstens versuchen. Bis zur Raffinerie von Schwechat kommen wir doch nie …« Wieder haben wir enormes Glück. Hinter dem riesigen Schuttberg, der der weltberühmte Stephansdom war – von einem Mauerrest streckt uns ein Wasserspeier wie höhnend ein nacktes Hinterteil entgegen –, entdecken wir Garage und Tankstelle. Und sie ist nicht leer; einer der Tanks hat gehalten um ist hoch halbvoll. Wahrscheinlich, weil die Pumpen nicht mehr funktionierten. Unsere eigenen tun es, und »Krokodil III« säu sich voll wie ein ausgetrockneter Schwamm. »Zu viel Glück«, murmelt der schmächtige Grischa und bekreuzigt sich. »Hält’s Maul!« schreit Janos ihn an. Die Katastrophe passiert am »Kai« neben dem früheren Donaukanal. Genau da stehen wir auf einmal vor einer Straßensperre. Daß sie nicht »natürlich« ist, merken wir in dem Moment, als Feuerstöße aus Maschinenpistolen gegen die Stahlwände der Panzer prasseln. »Ich habe das erwartet«, sagt Janos, »es mußte ja kommen …« Was sollen wir tun? Hinter der primitiven Barrikade aus Schienen und Pflastersteinen hüpfen menschliche Gestalten auf und ab.
»Ich dachte, die sind verblödet?« »Das sind sie auch«, antwortet Jaroslaw hinter mir, »sie sind so verblödet, daß sie unfähig sind, auch nur eine Sardinenbüchse aufzumachen – sonst würden sie einander nicht auffressen. Irgendwie haben sie überlebt, und jetzt sind sie da.« »Aber sie schießen!« »Na und? Schießen, Töten und Fressen ist das, was ein Mensch zuletzt verlernt, diese Programmierung ist geblieben.« Das ungezielte Feuer hält an. Querschläger spritzen über die Flanken der Panzer und die aufgerissene Straße. Und diesmal ist kein Dr. Jelinek da, der die Verrückten mit Leuchtpatronen verwirrt und ablenkt. Schräg hinter der Barrikade, am Eingang der UBahn-Station kräuselt Rauch hoch. An einem Holzgestell hängt der Oberteil eines Menschenkörpers. »Nein!« »Man-eater …«, stellt Janos ruhig und sachlich fest. Ferry scheint das Ganze noch weniger begreifen zu können als ich. Die Seitentür von »Krokodil III« schwingt auf, und er klettert hinaus, die MP im Arm. Und winkt denen hinter der Barrikade zu. Wir sitzen wie versteinert da. Im selben Augenblick faucht ein Feuerstrahl hinter der Mauer aus Schienen und Steinen. Eine Panzerfaust. Sie tri »Krokodil III« genau unter dem Turm; Pierre hat vergessen, die Abwehrautomatik einzuschalten.
Fünfzehnhundert Liter Superbenzin und über hundert Kilogramm Munition fliegen in die Lu. Brennendes Öl rinnt über die Straße. Wo »Krokodil III« stand, gähnt ein tiefer Krater – auch die halbe Barrikade ist weg. Steine und Stahlstücke regnen auf uns herab. Auf dem verdreckten Pflaster liegt eine blutende Gestalt: Ferry. Der linke Unterarm ist weg, zerschmettert, verbrannt. Jaroslaw verbindet den Bewußtlosen. Wir betten ihn auf den Berg von Konservendosen im rückwärtigen Teil des Panzers. »Laser …!« Ich würge das nur noch hervor. Der Motor von »Krokodil I« brummt tiefer, der Strahlfinger zuckt nach vorne. Wolken von Dampf und Rauch steigen auf, einzelne Gestalten flüchten, werden von dem unbarmherzigen Licht erfaßt, verschmoren, vergehen. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir geschossen haben, ich weiß nur eines: es hat mir nichts mehr ausgemacht, mich nicht mehr berührt, daß ich ein x-facher Mörder geworden bin. Irgendwann ist alles aus, alles still. Von Jacques de la Rose, Pierre und den beiden Zigeunern, die sich im anderen Panzer vor uns befanden, finden wir keine Spur mehr. Janos und Grischa treten an das dunkle, gähnende Loch. Ihre braunen Gesichter sind bleich. Sie beten. Für die unschuldigen Mörder und ihre unschuldigen Opfer. Um Uhr Bordzeit fährt »Krokodil I« wieder an, malmt über die Reste der Barrikade und viele Körper hinweg.
Wie wir gegen Abend zurückgekommen sind, ist mir nicht mehr bewußt. Ich habe nur noch den abgebrochenen Schlot des einstigen Fernheizwerkes von Wien-Brigittenau vor Augen, in dessen Nähe wir einst wohnten – und bei seinem Anblick war mir blitzartig eine groteske Sache eingefallen, die mit ihm zusammenhing: hatte nämlich eben dieser Riesenkamin, einer der höchsten in Europa, begonnen, sich selbst aufzufressen. Entgegen den Versicherungen aller Fachleute spuckte er Dämpfe von Fluß-, Salz- und Schwefelsäure in die Lu, aber vor allem auf sich selbst. Bis der Beton und sogar der Stahl derart angegriffen waren, daß man sie erneuern und zusätzliche Filter einbauen mußte. Es nutzte nur zeitweise, dann knabberte der Kamin wieder an sich selbst; Wahrzeichen seiner Zeit und ihrer Technik … Mit Vollgas brausen wir die Höhenstraße hinauf zum Leopoldsberg. »Hm, nicht schön«, meint Professor Wolkoff, als wir den bewußtlosen Ferry in die Gaststube tragen. Dann operiert er. Ich sitze auf einem Gartenstuhl und starre in den langsam verblassenden Himmel. »Ab sofort stellen wir Doppelwachen aus …« »Ja, Bruder«, bestätigt Janos Kedar. Die anderen Zigeuner haben sich in der Kirche versammelt und singen und beten im Schein von Kerzen, die sie am Altar entzündet haben. Wir haben jetzt nur noch zwei Panzer und sind wieder nur zehn Männer
und neun Frauen. Und drei Pferde und drei Wagen. »Morgen«, sagt die Tsingara-Oma, als ich mich tränenlos und stumm an die Wand der Kirche lehne, »morgen, Söhnchen, wird alles besser sein – sei nicht so traurig. Du wirst noch lange leben, du mußt …« Ihre alte, faltige Hand berührt meinen Kopf: »Geh schlafen, Söhnchen, geh jetzt schlafen …« Ich gehe, und in den Armen meiner Frau, die mich in den jämmerlichen Bett mit der kalten und feuchten Decke erwartet, finde ich Ruhe – und endlich Tränen. »Ich habe wieder getötet, ich habe viele Menschen getötet …« »Das hast du, und wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich es auch getan; wo ist der Unterschied? Damit müssen wir fertig werden, ob es uns paßt oder nicht. Ich brauche dich – wir alle brauchen dich.«
Die Rückkehr der „Franz Joseph“ Am Leopoldsberg, . März Man sollte es nicht für möglich halten, was einige Stunden Schlaf ausmachen. Wir sitzen im Kreis auf dem Vorplatz des Restaurants auf dem Leopoldsberg und diskutieren über das, was gestern geschah, so nüchtern und sachlich wie ein Kollegium von Ärzten, das berät, warum ein Patient gestorben ist und woran. Was dem Betreffenden meist nichts mehr nützt. Unser ema sind die »Man-eater«. »Kann mir einer von euch eigentlich sagen, warum man keine Menschen essen soll?« fragt Professor Schelest unvermittelt. Die provokative Frage steht wie eine Drohung im Raum. »Das Fleisch eines Menschen ist nicht wesentlich anders als das eines Schweins oder einer Kuh. Macht der Intelligenzgrad die Abgrenzung? Delphine – das weiß man seit – sind uns darin in mancher Hinsicht völlig gleich, ja sie können, worauf man erst damals kam, tun, wozu sonst nur ein Mensch fähig ist: Selbstmord begehen …« »Es gab«, sagt Dürrhuber bedächtig, »schon immer einzelne Menschen, die dümmer als Schweine, Kühe, Affen oder Delphine waren. Warum sollte man sie also nicht kochen oder braten? Das Tabu war eine Konvention, Arterhaltungstrieb: ein Löwe frißt keinen Löwen, wenn, er nicht muß, ein Hund keinen Hund, eine Krähe
keine Krähe – nur: mit ›Moral‹ hat das nichts zu tun.« »Dich möchte ich trotzdem nicht fressen!« bemerkt Jaroslaw. »Du wärst mir zu fett und zu zäh –« »Immerhin besser als ein dürrer Beute-Tscheche!« gibt Dürrhuber kampflustig zurück. Es sind billige Späße, aber was sollen wir anderes tun? Wir haben längst erkannt, daß es ein bestimmtes Maß des Entsetzens gibt, nach dem man nur noch lachen kann. Oder kaputtgehen wie Dr. Meier. »Vielleicht«, überlege ich laut, »könnte es einmal eine Zeit geben, in der kein Mensch mehr Kadaver von anderen Lebewesen ißt. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, ich kann nichts dafür, aber schon vor vielen Jahren hat es mich o gegraust, wenn ich einen Fleischerladen mit den noch blutenden Teilen von Tieren darin sah. Ich mußte mir dabei immer vorstellen, daß diese Herzen, Nieren, Lungen und Beine auch von Menschen sein könnten. Könnt ihr das verstehen?« »Das schon«, sagt Janos, »nur ändern können wir es vorläufig nicht; wir müssen jagen und fressen, um zu leben.« »Eiweiß aus Erdöl, Fleisch aus gezüchteten Zellen«, Jaroslaw sagt das, »in Frankreich hat man derartige Versuche schon vor vielen Jahren gemacht, es ist dann doch nichts daraus geworden, denn sieben Milliarden Menschen hätte man auch damit nicht ernähren können.« »Jetzt sind es nur noch ein paar Millionen, da sollte es
eigentlich funktionieren – später wenigstens einmal.« »Ja, später«, echot Dürrhuber, »jetzt habe ich Hunger.« »Freßsack!« wir ihm Ferry vor. »Wißt ihr, wie gut ein in Lehm gebackener Igel ist …?« Janos schließt träumerisch die Augen. »Da kommt kein Cornedbeef und kein Hering mit!« »Wir bleiben noch lange Tiere.« Ich hätte nie gedacht, daß Dürrhuber so tiefsinnig werden kann. »Essen – mangiare!« ru meine Frau vom Restaurant her. »Was gibt es?« fragt Johannes. »Pommes frites aus dem Jahr , grüne Bohnen von und Krevetten aus dem Mittelmeer.« »Ja, dann wollen wir unserem Trieb folgen.« Ferry fuchtelt mit dem linken Armstummel. Er ist schon wieder erstaunlich mobil. »Etwas Neues?« Meine Frau schüttelt den Kopf: »Nichts, nur diese Zeichen …« Sie kommen immer dann, wenn die vielfarbigen Trichtergebilde am Himmel über uns auauchen, und ich mache mir über sie mehr Gedanken als über sämtliche Menschen- und sonstigen Fresser, die vielleicht noch in der Wüste da unten leben, die einst Wien war. Daß diese Stadt’ nicht mehr existiert und nie mehr
so existieren wird wie früher, damit haben wir uns längst abgefunden. Schließlich gibt es auch kein London, München oder Berlin mehr. Alles das sind nur noch Namen, wie einmal Babylon, Memphis oder eben. Wer in zweihundert oder zweitausend Jahren da wohnen wird – wer weiß das schon? Vielleicht werden es die Zigeuner sein. Oder die grünen Männlein vom Mars. »Piip-piip-pipi-piip« tönt es wie zur Bekräigung aus dem Funkgerät, als wir in die Stube treten. Auch Dr. Jelinek hat die Zeichen empfangen, das bestätigt er uns in einem Gespräch mit Pöchlarn. Ende März behauptete der Schotte Duncan Lunan der Stanford-Universität, daß in der Nähe des Mondes ein Satellit kreise, der nicht von Menschen dorthin geschossen worden sei. Seine eorie basierte auf Messungen, die gemacht worden waren. Damals hatte man – ohne überhaupt zu ahnen, daß es extraterristrisches Leben geben könne – Funksignale dieses »Satelliten« empfangen. Lunan entzifferte sie und kam zur Überzeugung, daß ihr Inhalt eine Botscha sei: die eines Flugkörpers, der vor . Jahren aus dem Doppelsternsystem »Ypsilon-Bootis« gestartet worden wäre, einhundertunddrei Lichtjahre von der Erde entfernt. Das Leben auf dem einzigen Planeten dieses Systems wäre unerträglich geworden, und so hätten sich die Bewohner entschlossen, auszuwandern. Lunans ese blieb umstritten – sie ist es bis jetzt ge
blieben. Da es keine neuen Mondexpeditionen gab, wurde der mysteriöse Satellit nie gefunden. »Kommt zurück, es hat keinen Sinn«, hat Dr. Jelinek zuletzt gemeint, »Alexander und der junge Neuner haben von Spaldenstein aus noch eine andere Burg entdeckt: Rapottenstein, die sich durchaus bewohnen läßt. Auch von Zigeunern.« Janos hatte den Hörer des Funkgerätes, das wir in der Gaststube aufgebaut hatten, vom Kopf genommen: »Wir gehen nicht mit euch – wir bleiben …« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Was den seltsamen Effekt hatte, daß die danebenstehende Musikbox – sie war zweifellos batteriebetrieben, denn sonst hätte sie nicht so reagieren können – sich in Bewegung setzte. Wir starren sie an, wie ein Weltwunder, als der Tonarm unter dem zersplitterten Glas sich auf den Teller senkte – dann scholl es aus mindestens vier Lautsprechern in der Stube und auf dem Vorplatz in Überlautstärke: »Donau, so blau …«, der Donauwalzer. »Ich werde verrückt«, rief Ferry. »Stellt das Ding ab!« schrie Janos. »Das hört man bis zur ungarischen Grenze, das hetzt uns alle Wahnsinnigen oder Halbwahnsinnigen auf den Hals …!« Das Abstellen war gar nicht so einfach, denn es gab kein Kabel, das man aus der Wand ziehen konnte. Jaroslaw löste das Problem, indem er dem Kasten einen Tritt gab. Die Walzerklänge brachen mit einem häßlichen Mißton ab.
Das war vor etwa einer Viertelstunde. Seitdem streifen wir zu viert die Mauern und das Tor ab, und die Motoren der beiden übriggebliebenen Panzer laufen. Viel ist nicht zu sehen, der Nebel aus der Ebene ist bis zu uns hochgestiegen und hüllt alles ein. Unwillkürlich erinnere ich mich an die Aussendung des Harry-Lime-Motives von Spaldenstein aus, das schließlich Pierre zu uns brachte. Pierre Blanchard, geboren in Frankreich, gestorben in Wien. Ich wische mir über die Augen. Der Nebel … Im immer dichter werdenden Dunst flammt es plötzlich rot auf. »Eine Leuchtkugel«, sagt Grischa neben mir. Er hat es also auch gesehen. Aus dem Dunst wehen Regen und Schnee, es wird empfindlich kalt. »Hol den Panzer!« Janos hat begriffen und spurtet über den Kies; Minuten später torkelt ein mächtiger Schatten heran: »Krokodil II«. Wir drängen uns an den winzigen Bildschirm des Nachtsichtgerätes. Nichts – kein Mensch, kein Tier, kein Fahrzeug, nur die grauen Konturen der Hügel und Berge. »Radar …!« Auf der Stahlkuppel über uns beginnt der Drahtkorb des Radars zu kreisen, wir aulitzende Lichter und Linien auf die Mattscheibe. Da, das ist die Donau, ihr Hauptarm jedenfalls. Und auf ihm bewegen sich unendlich langsam zwei leuchtende Striche stromaufwärts. »Schiffe! Sollen wir uns melden?« »Um Gottes willen, nein«, Janos zieht meine Hand
von der Funktaste, »warte noch!« Im offenen Geviert des vorderen Panzerschlitzes blitzt es wieder rot auf, der Bordlautsprecher kracht und zischt, dann kommt eine verzerrte Stimme aus ihm: »Damned – wo seid ihr; Wird da irgendwo ein Fest gefeiert? Die Musik haben wir schon vor zwanzig Minuten gehört!« »Das ist der Colonel«, ru Johannes, »so flucht nur er!« »Jetzt brauchen wir nicht mehr zu warten, Janos. Schießt, Kinder, schießt alle Raketen ab …!« Von den Seitenwänden des Panzers fauchen die Geschosse hoch wie bei einem Feuerwehrfest – rot, gelb, grün zerplatzen sie über dem Strom. »Linienschiff ›Franz Joseph‹ hat verstanden«, knarrt die Stimme aus dem Apparat, »versuchen, euch anzupeilen!« »Und das zweite Schiff?« »Monitor ›Potemkin‹ aus Odessa – Expedition Dunaj.« Diese Stimme gehörte ohne jeden Zweifel einem Russen. Das Geknalle und unser Geschrei haben sämtliche anderen Leopoldsberger herangelockt. Die TsingaraOma kommt durch den Schneeschauer gewatschelt: »Habe ich dir nicht gesagt, Söhnchen, daß heute etwas Gutes geschieht?« »Da, sprich mit deinem Landsmann.« Ich reiche Hörer und Mikrofon Professor Schelest.
»Weise sie ein, sie können eigentlich nur unten am Felsen anlegen. Wer holt sie?« Am liebsten möchten das alle tun. »Nein, höchstens zwei – sonst ist kein Platz in dem Ding.« Schelest und Johannes klettern in das »Krokodil II«, das kurz danach im Schneegestöber verschwindet. Wenn man sehr genau aufpaßt, kann man nun das Stampfen von Schiffsmaschinen hören. Es klingt für uns melodischer als vorhin der Donauwalzer. Für unsere Ungeduld hingegen dauert es endlos lange, bis der Panzer wieder im Schneeregen sichtbar wird. Johannes steuert den Koloß dicht an die Tür des Restaurants. Zehn Menschen quellen heraus, schmutzige, ölverschmierte Figuren – nur der Colonel, der als letzter vorsichtig durch das Schott klettert und auf uns zu stakt, sieht wie immer wie aus dem Ei gepellt aus. Wie er das fertigbringt, wird sein Geheimnis bleiben. Mit der Würde eines Lords setzt er sich an einen Tisch: »Wäre vielleicht ein Whisky möglich?« »Nein«, Janos lächelt, »aber ein echter Slibowitz.« »Oh«, sagt Colonel McIntosh, »das ist sehr nett. Danke.« Bruchteile von Sekunden bohren sich seine eisgrauen Augen in die pechschwarzen des Zigeunerkönigs – dann steht er auf und gibt Janos die Hand: »Ich freue mich.« In diesem historischen Augenblick wäre noch vor fünfzig Jahren England vor Scham im Ozean versunken – was es ohnedies inzwischen nachgeholt hat.
»Und La Fayette?« frage ich. McIntosh wendet sich stumm ab. »Beim Anlegen der beiden Schiffe …«, sagt er dann nur kurz. »Wir haben ihn nicht mehr gefunden. Die Donau …« Unter den restlichen Gestalten sind Dr. Malakawi, Baker-Bull, Dr. Vormann, ein Mädchen aus Nova-Ves, ein Rumäne, ein Ungar und zwei Russen. Einer von ihnen ist der Kommandant des Monitors’»Potemkin«, auf dem sie drei Mann Wache zurückgelassen haben. Die »Franz Joseph« braucht man nicht zu bewachen, die stiehlt nicht einmal ein Menschenfresser. Wie die hin- und wieder zurückgekommen ist, werden wir vielleicht einmal hören – vorerst möchten unsere Gäste essen, denn Lebensmittel scheinen bei ihnen knapp geworden zu sein; dem Kommandanten der »Potemkin« schlottert die Hose um Bauch und Beine; McIntosh kann längst nicht mehr dürrer werden, das ist unmöglich. Sie wühlen sich buchstäblich durch Berge von Dosen und Packungen, die wir aus der Beute von »Krokodil I« aufgetischt haben. Ich kann nur hoffen, daß die Konserven wegen ihrer überlangen Lagerung niemandem schaden. Im stillen überlege ich: wie soll das weitergehen? Was wir jetzt tun, ist leben aus Vorräten von einst. Mit Nahrung und Energie treiben wir Raubbau. Dieses Verbrauchszeitalter kann fünf, zehn oder zwanzig Jahre
währen – je nachdem, wo wir Nachschub finden. Und dann? »Wir werden uns völlig umstellen müssen.« Kapitän Tscherwenkow scheint meine Gedanken erraten zu haben. »Was es einst an Technik und Fortschritt gegeben hat, ist weg und kommt nie wieder. – Schon Lenin …« »Trink Schnaps und halt den Mund!« fährt Schelest ihn an. »Du bist auf keinem Parteikongreß, Genosse Kapitän, hier ist ein Haufen Menschen, der ganz einfach nur leben will!«
Abschied am Leopoldsberg Leopoldsberg, . März Sie haben sich geprügelt, und dann haben sie miteinander getrunken – die Russen, die Ungarn, die Rumänen und die Zigeuner. »Du wolltest unbedingt ein Lenindenkmal hier aufstellen …«, sagt meine Frau am Morgen, während ich heißen Kaffee schlürfe. »Mullarczag«, lächelt mir der rundliche Ungar Ferenz Moraj zu, »es war schön.« Zwei der Zigeunerinnen kehren die verrauchte Wirtsstube von Glasscherben leer. Daß mein Sohn Johannes hinter der Grisi her ist, habe ich übrigens schon bemerkt – gerade sind sie wieder bei der Kirche verschwunden. Beten werden sie dort wohl kaum. Soll ich etwas dagegen tun? Von McIntosh bekomme ich dann endlich einen einigermaßen vernünigen Bericht: wie wir es angenommen hatten, hat der ausfließende Naturstausee von Wien die »Franz Joseph« über die Enge von Preßburg hinaus mitgerissen und weit nach Ungarn hinein getrieben. Irgendwo sind sie hängengeblieben und um ein Haar mit der »Potemkin« zusammengestoßen, die flußaufwärts fuhr. Das alte Kanonenboot hatte die Besatzung in Odessa ausgerüstet und fit gemacht. Dort gibt es sogar noch eine Wer und etwa zwei- oder dreitausend Menschen,
die in Bunkern des Zweiten Weltkriegs die Apokalypse überstanden haben. Irgendwann einmal bekamen sie Signale von Spaldenstein in ihre Frequenz – und beschlossen darauin die Donaufahrt. »Warum? Nun, wir sind Menschen«, sagt Kapitän Tscherwenkow »und schon Lenin …« Janos steht auf und geht hinaus; Tscherwenkow setzt den Satz nicht fort. Was mich mehr erfreut als Lenin und seine Nachfolger, ist die Tatsache, daß auf Deck der »Potemkin« ein Hubschrauber steht. Und an Deck der »Franz Joseph« noch immer der vierte Panzer, der jetzt der dritte ist. Und daß wir jetzt dreizehn mehr sind. Nachteil: das alte Kanonenboot wird wohl nie mehr nach Odessa zurückfahren können, weil es Dieselmotoren hat und noch für bestenfalls achtzig Kilometer Treibstoff. Sie haben geho, in Wien welchen zu finden … Ich nehme Tscherwenkow am Arm und führe ihn hinaus auf die Terrasse. Der Tag ist wieder einigermaßen hell und klar. Vom Zentrum der Stadt aus steigen dicke, fette Rauchwolken empor. Wien brennt, und dieses Feuer wird nicht so bald erlöschen. Die Explosion von »Krokodil III« scheint den Brand ausgelöst zu haben, trotz der Nässe in den Mauern und Häusern. Häuser brennen, und einzelne explodieren – vermutlich dort, wo es noch Benzin gab. Oder Öl in den Tanks.
»Das dauert wochen- oder monatelang, oder noch länger …« Ausfließendes Öl scheint auch den Fluß erreicht zu haben. Flammenbäche treiben stromabwärts. Es ist eine Frage der Zeit, bis sie auf Umwegen die Raffinerien von Schwechat in Brand setzen. »Wenn wir da unten wären …«, sagt Janos. »Kannst du Odessa erreichen, Genosse Kapitän?« »Nein, mit meinem Sender nicht.« »Weißt du, was wir jetzt tun?« »Njet.« »Wir werden fahren – aber stromaufwärts …« Als hätte es einer Bestätigung bedur, beginnt in diesem Moment die Erde unter unseren Füßen zu zittern; eines der beiden Türmchen der Kirche kracht in einer Staubwolke in sich zusammen und stürzt durch das Dach ins Innere des Kirchenschiffs. Aus dem Haus mit den dicken Mauern, die keinen einzigen Riß zeigen, stürzen die Zigeunerinnen. »Und da willst du bleiben, Janos?« »Ich habe es dir schon einmal gesagt – wir bleiben.« Nach fünf Minuten ist das Erdbeben zu Ende; nach fünf Stunden – es ist jetzt zwei Uhr nachmittags – haben wir alles auf die Schiffe verfrachtet, die am Felsen unten verankert liegen. Nicht alles: ein Teil der Vorräte bleibt hier. Und ein Sendegerät. Zehn Zigeuner und zwei Russen, die nicht mehr weiter wollen. »Nu«, Janos grinst, »Frauen haben wir ja –«, er tät
schelt Grisi auf die Wange: »Mach’s gut, Grisi-Töchterchen, Johannes ist ein feiner Bursche …« Die Tsingara-Oma humpelt aus der Tür des Gasthauses, in einer Hand eine Flasche: »Du wirst noch lange leben müssen, Söhnchen«, schreit sie in das Aueulen der Panzermotoren, die uns endgültig zu den Schiffen bringen werden. »Ich werde dich nie vergessen, Oma …!« Sie nickt und schließt die faltigen Lider über ihre alten Augen. Janos hebt beide Hände: »Auf Wiedersehen, Brüder!« »Krokodil I« kippt nach vorne und walzt den Steilhang hinab. Auf der Brücke der »Franz Joseph« stelzt Colonel McIntosh hin und her. Unter dem linken Arm hält er sein Offiziersstöckchen. Um Uhr sind die Panzer an Deck, nach einigem Gefluche von Tscherwenkow knattern auch die Motoren der »Potemkin« auf. Wir legen ab. Hoch über uns ragt der Leopoldsberg mit seiner Burg.
Bilanz einer verlorenen Epoche Pöchlarn an der Donau, . März In völliger Finsternis haben wir Pöchlarn erreicht. Die Gegenströmung war stärker, als wir erwartet hatten. Die Donau der guten alten Zeit ist das nicht mehr; das ist ein neuer, ein anderer Strom … Zuletzt steuerten wir nur nach den Radarschirmen der Panzer und den Funkanweisungen von Dr. Jelinek. Kurz vor neun Uhr abends knallte die »Franz Joseph« gegen die Bohlen der morschen Landungsbrücke. Im grellweißen Licht der Scheinwerfer der »Potemkin« standen zwei Gestalten: Dr. Jelinek und die rote Olga. »Also, da seid ihr wieder«, sagte er nur, »kommt!« An der Treppe zum Direktionssaal der früheren Wer erwischte mich der Herzanfall. Ich bin erst jetzt wieder aufgewacht. »Das kannst du noch öer haben«, tröstete mich unser Hausarzt, »organisch fehlt dir sowieso nichts …« »Und die anderen?« »Die dreckige Gesellscha, die du mitgebracht hast? Die liegen auf dem Stroh in der Halle – wo soll ich sie denn sonst hintun?« »Hilf mir lieber auf und gibt mir noch eine Spritze.« Wir sitzen im ersten Licht der aufgehenden Sonne oberhalb des Stroms, in dessen Randuferwellen die
»Franz Joseph« und die »Potemkin« beinahe friedlich auf und ab schaukeln. »Danubius fluvius olim provinciam Pannoniam terminabat. Die Donau bildete einst die Grenze der Provinz Pannonien.« »Lateinbuch der vierten Klasse«, sagt der Doktor, »aber da war noch ein Satz: ›Incolae agricolae erant. Die Bewohner waren Bauern.‹ Ich glaube, daß wir das wieder werden müssen. Oder willst du auch Menschen fressen?« »Ehrlich: ich habe keine Ahnung, wie es werden soll. Du weißt jetzt alles von mir. Wir sind an einem Ende angelangt.« »Nein, noch nicht ganz – weißt du, was ich aus dem Dunkelsteiner Wald mitgebracht habe? Fünf Kühe und drei Kalbinnen, und einen Sack mit Saatgut –« »Und ein Kind – hab’ ich recht? Das ist aber gar nicht das Problem, Doc. Für die paar Jahre, die wir zwei noch leben, langt das. Aber dann – denk nur an die Energiefrage!« »Bei Rapottenstein gibt es ein kleines Krawerk, und hier ist die Donau. Also in dieser Hinsicht sind wir besser dran als die Amerikaner vor zehn Jahren, als sie die Erde anzubohren begannen, um an den heißen Erdkern zu gelangen, Gezeitenkrawerke konstruierten und versuchten, Sonnenenergie vom Himmel zu holen – wozu sonst haben sie sich mit den Russen arrangiert?«
Dr. Jelinek raucht eine Papyrossi, die die von der »Potemkin« mitgebracht haben: »Problem eins – wo bringen wir alle unter? Sechs Russen und zwölf von uns?« »Es sind nur vier Russen, dazu ein Ungar und ein Rumäne; und die Zigeunerin – sie gehört zu Johannes.« »Die ist übrigens gar nicht übel –« »Sei froh, daß dich deine Olga nicht hört!« »Wir werden heute eine Konferenz abhalten – Fachleute haben wir genug –« »Gott segne deinen Aberglauben, Doc!« Zunächst lief alles wie erwartet. »Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren«, faßt Ferry nach einer mehrstündigen Debatte das Ergebnis zusammen. »Da sitzen wir – und irgendwo sitzen andere Menschen. Tausend oder zehntausend, ein paar Millionen insgesamt. Aber auf einzelnen ›Inseln‹ und ohne feste Verbindung miteinander – wie schwer die herzustellen ist, haben wir erlebt. Ganz gleich, ob der Mond nun näher kommt oder nicht, ob es neue Katastrophen geben wird oder nicht, uns bleibt vorläufig nichts anderes übrig, als unser Leben buchstäblich zu ›fristen‹, seine Frist so weit wie möglich hinauszuschieben und zu hoffen. Worauf, wüßte ich allerdings auch nicht …« So habe ich Ferry noch nie reden gehört; seit er nur einen ganzen Arm hat, scheint er verändert. Dr. Moraj unterstreicht das düstere Bild: »Die ganze
bisherige Zivilisation und Technik war auf einer funktionierenden Industrie aufgebaut. Die ist aber, ganz abgesehen davon, daß sie sowieso früher oder später dem Rohstoffmangel erlegen wäre, nicht mehr da; es ist auch nicht das Minimum an Menschen da, das, wie man vor zwanzig Jahren errechnete, zu ihrer Inganghaltung unbedingt erforderlich wäre. So wäre es heute beispielsweise unmöglich, trotz des vorhandenen ›know-how‹ neuen Atombrennstoff zu erzeugen – ja nicht einmal einen Elektrokocher oder nur eine Glühlampe. Denn dazu benötigte man wieder Zulieferindustrien und Halbfertigwaren und so weiter, und so weiter … eoretisch wäre es zum Beispiel denkbar, daß wir, wenn sich die Erde noch mehr beruhigt hat, zu den Erdölfeldern von Zistersdorf vorstoßen und sie teilweise wieder ausbeuten – aber wenn dort eine Maschine zusammenbricht, haben wir keine Ersatzteile, niemand kann sie uns liefern. Praktisch bedeutet das, daß wir unseren technischen Standard zurückschrauben müssen; auf jenes Maß, das wir aus eigener Kra und mit eigenen Mitteln in etwa halten können. Es wird bestenfalls der Standard von Dampfmaschinen, Heißluballons und Wasserrädern sein, wenn nicht noch weniger.« »Wir haben ausgezeichnete Techniker unter uns«, sagt Kapitän Tscherwenkow, »und in Odessa noch mehr …« »Jaja«, antwortet Dürrhuber, »das ist schön und gut; und wenn Odessa nicht indessen schon im neuen,
größeren Mittelmeer oder ›Schwarz-Mittelmeer‹ versunken ist oder bald versinkt – das war eine der letzten geologischen Prognosen unseres TESLA- – und wir mit denen Kontakt aufnehmen könnten, so ergibt sich letztlich doch das gleiche Resultat: ein Haufen hochqualifizierter Wissenschaler und Techniker wird nichts anderes tun können, als den vom Kollegen Dr. Moraj erwähnten Minimalstandard aufrechtzuerhalten. Unsere ganzen mühsam geretteten Mikrofilme und Bänder können wir dabei getrost auf den Mist werfen – es gibt keine Computer mehr, die sie ausweiten könnten, und selbst wenn, dann doch nur so lange, bis ein einziges Schaltelement ausfällt.« Er lacht vor sich hin: »Es wird eine komische und skurrile Technik werden, gemixt aus Resten von Computertechnik und Pferdefuhrwerken; wenn wir noch Pferde oder Kamele auftreiben und züchten können, was ich übrigens für eine Überlebensfrage halte …« »Pferde, Haflinger …«, denkt Jelinek laut, »in Oberösterreich hat es ein großes Gestüt gegeben – wenn da ein paar übrig wären, die wären eine Reise wert!« »Rinder- und Kinderzucht also …«, bemerkt Professor Schelest sarkastisch. Dr. Wolkoff sieht ihn von der Seite an: »Für letzteres kommst du sowieso nicht mehr in Frage – aber Spaß beiseite: wir werden in beiden Fällen mit einer hohen Rate an Fehlprodukten zu rechnen haben, ihr wißt, was ich meine.«
Ein leichtes Frösteln geht über uns alle hinweg. »Hm«, bricht Jelinek das plötzliche Schweigen, »vielleicht wird man Schwangere bis zur Geburt in strahlensichere Keller sperren müssen.« »Vorausgesetzt, daß das Erbgut nicht bereits geschädigt ist –«, fügt sein Kollege Wolkoff hinzu. »Zeit zum Überlegen werden wir auf jeden Fall genug haben«, meint Dr. Malakawi nachdenklich; sein sonst immer lächelndes dunkles Gesicht ist ernst geworden: »Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn man sich früher mehr Zeit dafür genommen hätte – manches hätte nicht kommen müssen; oder wir hätten ihm jedenfalls anders begegnen können, sehender, wissender, besser vorbereitet.« Kapitän Tscherwenkow nickt zustimmend: »Bei denen im Westen ging doch alles nur nach Profit, Geld, Gold und Wohlstand; schon Lenin …« »Da hast du völlig recht, Genosse Kapitän«, pflichte, ich ihm bei, »und da hat auch dein Lenin recht gehabt, als er einmal erklärte, es werde die Zeit kommen, wo Gold so wenig wert sein wird, daß man bestenfalls Toiletten damit auskleiden würde – nun, heute sind wir soweit. Gesehen haben das auch im Westen nicht wenige – mir fallen da ein paar Sätze ein, die der Wiener Naturwissenschaler Dr. Koenig, ein prominenter Naturschützer seiner Zeit, bei irgendeinem Vortrag gesagt hat – ich kann ihn nur sinngemäß zitieren: ›Es gab‹, so hat er gesagt, mach dem Zweiten Weltkrieg Kriegsverbrecherprozesse, ich könnte mir denken, daß
es eines Tages Umweltverbrecherprozesse gibt. Bei den Kriegsverbrecherprozessen hat man den Angeklagten immer wieder vorgeworfen, warum sie nicht Befehle verweigert hätten. ›Meine Frage‹ – so fragte Dr. Koenig – ›ist, wo heute die Helden sind, die sich weigern, Lu und Wasser zu verseuchen und Industrieanlagen herzustellen, die die Umwelt verpesten. Es gibt weit und breit nur Zerstörung und keine Befehlsverweigerung.‹ Das hat Dr. Koenig gesagt mit gutem Recht, denn es ist nichts, aber auch gar nichts geschehen …« »Hätte das noch etwas geändert?« fragt Jelinek skeptisch. »Doch, doch«, rufen mehrere Stimmen gleichzeitig, aus denen sich die von Dürrhuber als lauteste durchsetzt: »Man hätte die Schädigung der Ozonschicht verhindern können, man hätte die Bevölkerungsexplosion eindämmen können, man hätte an Schutzmaßnahmen gegen Naturkatastrophen denken können statt an immer mehr Produktion unnötiger und unnützer Dinge, man hätte alle Anstrengungen auf die Erschließung neuer Energiequellen richten können statt auf die Erfindung neuer Vernichtungswaffen!« Ich sehe, wie mein Sohn Johannes neben mir eifrig an seinen Nägeln kaut. Das habe ich ihm nie abgewöhnen können, aber ich weiß auch, daß, »wenn er Nägel fraß«, manchmal ein guter Gedanke dabei herauskommt. »Spuck schon aus, was du sagen willst!« fordere ich ihn auf.
Etwas verlegen und schlaksig erhebt er sich: »Es ist wegen der Energie und so … ich bin ja noch jung und kein Fachmann, aber ich denke mir halt, daß alle bisherigen Energiearten – wenn wir von der Atomkra absehen, die aber wiederum gefährliche Abfälle erzeugt – auf dem Verbrauch vorhandender Vorräte beruht haben, auf Kohle, Öl und so weiter. Es müßte doch möglich sein, neue, andere Kräe zu finden und zu mobilisieren, die unabhängig davon sind; ich weiß auch nicht welche – erinnerst du dich«, wendet er sich an mich, »wie wir einmal, noch in Wien, Versuche mit ›PSI‹-Kräen gemacht haben, den geistigen Kräen des Menschen, die aber auch materielle Dinge beeinflussen und bewegen können.« »Ja, ich erinnere mich. Wir haben einen offenen Zylinder aus Zeichenpapier gebastelt, der hatte oben zwei Querstreben und ruhte in der Mitte auf einer Nadel auf einem kleinen Holzblock, so daß er sich um diesen herum frei und leicht drehen konnte. Die Anleitung stammte aus einem Artikel von einem Ingenieur Hofmann aus Wien, und der wiederum stützte sich auf den französischen Arzt Dr. Joire, der viel früher schon solche Experimente gemacht hatte – ja, jetzt sehe ich das alles noch ganz deutlich vor mir. Und wenn man die Hände außen in die Nähe des Zylinders brachte, begann er sich zu drehen. Nein, das war nicht der Atem und das war nicht die Wärme der Hände – denn wenn man ›wollte‹, das heißt, den Willensimpuls gab, dann
blieb der Zylinder stehen oder rotierte verkehrt herum. Niemand wollte uns das glauben, aber jeder zweite, der das probierte, konnte dasselbe ›Wunder‹ vollbringen; das war sehr lustig, aber ob da wirklich PSI-Kräe im Spiel waren …?« »Da – da – da! Ja, ja, ja!« Einer der Russen, bisher schweigsam und in sich versunken im Hintergrund, ist aufgesprungen. Er hat einen wallenden Bart wie ein Pope, seine Augen sind trotz des Eifers nicht fanatisch, sondern klar und kühl. Als ob er seine Spontaneität entschuldigen wollte, stellt er sich nochmals kurz vor: »Dozent Dmitrij Dmitrijewitsch, Sektion Parapsychologie der Sowjetischen Akademie der Wissenschaen …« »Man sollte glauben, daß es auf der Welt nur Professoren, Doktoren und Dozenten gegeben hat«, flüstert mir Jelinek zu. »Das Experiment, das Sie gerade erwähnt haben, ist mir neu«, erklärt Dozent Dmitrijewitsch jetzt sachlich, »aber wir haben bei uns seit Jahren ähnliche gemacht. Wir hatten einzelne Frauen und Männer, die konnten nur mit dem Willen eine Streichholzschachtel unter einer Glasglocke hin und her bewegen – Telekinese, Fernbewegung. Und ähnliches mit Telepathie – Gedankenübertragung. Sie können mir glauben, bei uns hat niemand an Zauber und Geister geglaubt, aber wir waren uns klar, daß da eine Energie ist, die ganz anders ist als elektrische oder sonstige. Vielleicht nennen Sie
das Seele oder Geist …« »Bei uns sagt man nicht ›Sie‹, sondern ›du‹…«, knurrt Dürrhuber. »Also gut, Dicker: da ist eine andere Energie, die nicht abhängt von Zeit und Raum, sie wird mit Entfernung nicht schwächer, das ist im Versuch bewiesen – aber was ist sie? Der Mensch kann sie produzieren oder wenigstens lenken. Physikalisch müßte man sagen, es ist anders-dimensionale Energie. Ohne Ursache, aber mit Wirkung. Da, ja – junger Freund, du hast recht: das ist eine Möglichkeit, eine Richtung, in der wir weiter forschen und suchen müssen. Stellt euch vor, man könnte Gedankenübertragung, Telepathie, trainieren und wirksam machen – dann brauchen wir keinen Funk, keine Sender und Empfänger mehr. Und wenn man wirksam machen könnte ›PSI‹ auch telekinetisch, zur Fernbewegung …! Ja, junger Freund, wir werden noch viel arbeiten miteinander: Ich habe Unterlagen, von Professor Bechterew angefangen bis zuletzt – da im Kopf und auch geschrieben.« Er geht auf Johannes zu und schüttelt ihm die Hand, sein Popenbart wackelt vor Begeisterung. Im Kauaus »Steffel« in Wien habe ich mir so nebenbei eine neue Uhr geangelt. Echt vergoldet, Steine, Schweizer Werk – sie zeigt drei Uhr morgens. Die Versammlung hat sich langsam aufgelöst, die meisten sind müde zu ihrem Strohlager gegangen – nur für die
Damen haben Jelinek und seine Olga auf den vorhandenen Sofas Schlafplätze bereitgemacht. Es war ein großes Palaver, das größte der neuen Zeit seit dem Tag Null – scheinbar sinnlos, aber ich finde nun, daß es nötig war: wir haben die Realitäten, Möglichkeiten und Hoffnungen abgetastet und abgegrenzt, wir haben ein ungeschminktes Bild unserer Situation erarbeitet. Zurückgeblieben im ehemaligen Konferenzraum der technischen Direktion der Donaudampfschiffahrtsgesellscha in Pöchlarn sind jene, die sozusagen den Kern der »alten Mannscha« darstellen – jene von Spaldenstein und : Dr. Jelinek, Johannes, Dürrhuber, Ferry, Schelest, McIntosh, meine Frau und ich. »Iwan Iwanowitsch Schelest«, sagte ich zu dem auch schon allmählich grau werdenden Mann mit dem ukrainischen Bauernschädel, »dich möchte ich bitten, so etwas wie die Organisation und Personalsachen zu übernehmen; es wird nötig werden, die Kräe einzuteilen, die Materialien und so weiter. Da hast du die Liste, die ich zusammengestellt habe. Wir sind jetzt – zusammen mit denen von Spaldenstein – achtundzwanzig: acht Österreicher, vier Tschechen, vier Russen, drei Deutsche, zwei Amerikaner, ein Engländer, ein Chinese, ein Ungar, ein Rumäne, ein Abessinier, ein Indianer und eine Zigeunerin. Sechs davon sind Frauen.« »Sieben«, sagt meine Frau. » Sechs; schau nach!«
»Sieben«, beharrt meine Frau, »der junge Russe, der nicht bei der Versammlung war, sondern Wache gehalten hat, ist eine Russin, sie hat es mir selbst gesagt: Irina Semjonskaja, Ärztin.« Professor Schelest schlägt sich vor Lachen auf die Schenkel: »Wenn das der Genosse Kapitän erfährt, hahaha!« »Und warum die blöde Verkleidungsgeschichte?« fragte ich. »Wollte sie sich retten oder …« »Nein – aber es wurden auf der ›Potemkin‹ keine Frauen mitgenommen, damit es keinen Unfrieden gibt, und sie wollte bei ihrem Dmitrij bleiben.« »Ach so – um so besser, da haben wir jetzt drei Mediziner!« »Aber trotzdem zu wenig Frauen«, bemerkt Ferry, »wir brauchen ein neues Nova-Ves …« Die hauseigene Beleuchtung im Konferenzzimmer der DDSG ist trübe und flackert. »Na vielleicht«, sage ich und gähne, »vielleicht entwickelt sich nicht nur unsere Zivilisation zurück, sondern auch der Instinkt – dann werden die jüngeren Männer schon wissen, wo sie suchen sollen; ah, Schelest: da ist noch eine Aufstellung, eine Inventaraufnahme von dem, was wir haben: vier Panzer, Typ ›Krokodil‹ mit und ohne Atomantrieb, zwei Schiffe, ein alter Range-Rover, ein alter Opel Admiral, ein alter Jaguar MXIII, zwei Kamele, ein Hubschrauber, fünf Kühe, drei Kalbinnen, einige Schweine und Hühner, ein Sack mit Saatgut …« »Machst du dein Testament?«
»Nein, das noch nicht ganz – aber ich möchte gern ein paar Tage Urlaub machen, wer kann mir etwas empfehlen?« »Wie war’s mit Burg Spaldenstein«, fragt Jelinek, »sehr empfehlenswert: gesunde Lage, jeder Komfort, erdbebensicher …« Ich lasse mich in einen Polsterstuhl sinken, und mir fallen auch schon die Augen zu: »Ja – Spaldenstein …« Der nimmermüde Gehirncomputer aber arbeitet noch weiter, ordnet und legt zurecht, was ich morgen in meinen Notizen festhalten will: das Unwahrscheinliche, ja Absurde, daß wir überhaupt noch leben; dieser ganze bunte Haufen da: keine Phantasie der Welt hätte ihn so ersinnen und kombinieren können, wie das Schicksal es in seinem großen Mixbecher getan hat. Und es hat es dabei gut mit uns gemeint – was es an Möglichkeiten überhaupt geben kann, ist hier menschen- und materialmäßig konzentriert. Zufall? Schicksal? Und doch hängt das alles an seidenen Fäden über dem Abgrund des Nichts. Ein stärkeres Erdbeben, ein Sauerstoffloch, ein Strahlenstoß, und auch dieser Funken wäre ausgelöscht. Das kann heute sein, das kann morgen sein – oder nie. Ein Roulette, in dem die Kugel nie zur Ruhe kommt. Nie …
Dort, wo einst der Nordpol lag Burg Spaldenstein, . April Heute sind es zwei Jahre her, daß wir aus Wien flohen; genau sechzehn seit dem Erdbeben von , das unser »Unternehmen Stunde Null« überhaupt entstehen ließ. Seitdem bin ich sechzehn Jahre älter geworden. Sechzehn? Manchmal scheint es mir, als wären es dreißig, vierzig oder hundert. Wir sitzen jetzt nicht nur auf Spaldenstein, sondern auch auf Rapottenstein, wir haben zwei kleine Wasserkrawerke ausgebaut und in Betrieb, betreiben Landwirtscha und Viehzucht. Ein völlig normales Kind ist geboren – das von Alexander und Maria – und krabbelt auf dem Boden des Saales herum. Olga wird bald die nächste Mutter werden – wenn nicht … Ich sehe es Dr. Jelinek an, wie er zunehmend unruhiger wird. Übrigens: Janos Kedar und seine Leute (samt den zwei Russen) hausen noch immer auf dem Leopoldsberg und warten, bis der Brand von Wien erlischt. »In vier Jahren ungefähr«, hat er beim letzten Funkgespräch gesagt, »besucht ihr uns beim ›Heurigen‹ – zwanzig Weinstöcke haben wir wieder zum Treiben gebracht.« »Und die Kannibalen?« »Haben sich nicht mehr gezeigt. Vielleicht war es nur die eine Gruppe, die zufällig in die Stadt kam; vielleicht
wird das einmal eine neue Rasse von Hominiden, wer weiß?« Es ist schwül und heiß heute an diesem ersten Tag, an dem ich endlich wieder im Turm an meiner Maschine sitze. »Tropische Wetterlage«, hat unser deutscher Chefmeteorologe Dr. Vormann konstatiert, »wie früher in Indien oder Südamerika.« Wir kennen das schon seit vielen Jahren: heißschwüle Frühlings- und Sommerwochen, dann verheerende Regengüsse und Hochwasser. Und ein früher kurzer Winter. »Klimatische Anomalien«, sagten die Meteorologen, aber eine Erklärung gaben sie nicht dafür. Andere vermuteten, daß die riesigen Waldbrände in Rußland die Atmosphäre so stark mit Rauch angereichert hätten, daß es zu einem Treibhauseffekt kam. Heute wissen wir, daß Dr. Kaminski von der Sternwarte Bochum nur zum Teil recht hatte: es waren auch die ersten Vorboten eines totalen Klimawechsels und -Zusammenbruchs infolge der Störungen des erdmagnetischen Feldes. Vor vier Wochen sind wir von Pöchlarn aufgebrochen und haben den Strom, der einmal die Donau war, überquert. Mit zwei Schiffen und den restlichen drei »Krokodilen«. Vor vierzehn Tagen hat ein Sauerstoffloch die Hueber-Oma auf freiem Feld überrascht. Sie liegt
jetzt neben ihrem Mann, dem Franz, im Garten ihres Hauses. Vor zehn Tagen haben die Riesenameisen den Range-Rover bei einer Erkundungsfahrt überfallen; der gemütliche Dr. Mokaj aus Budapest ist nicht mehr zurückgekehrt. Und vor zwei Tagen haben wir ein neues »Naturwunder« erlebt, das uns künig noch sehr zu schaffen machen kann, kaum weniger als Riesenameisen: über Land wandernde Fische; Welse, die alles fressen und vernichten, was ihnen in den Weg kommt. So neu ist die Erscheinung nicht einmal. Aus der »Bundeslade« habe ich einen Ausschnitt der Wiener Kronenzeitung »geangelt« (das Wort paßt gut zu den Fischen .) und den anderen vorgelesen. Der Artikel stammt vom . Mai und berichtete aus Amerika, was sie dort schon damals mit diesen Fischen erlebten. hatte ein Importeur in Palm Beach begonnen, »Froschwelse« aus ailand einzuführen, wo sie als Nahrung sehr geschätzt waren. Diese bis über einen Meter langen Tiere haben außer Kiemen auch eine Art Lunge, sie können bis zu Stunden außerhalb des Wassers leben. Einige der »Catfishes« (so nannte man sie in den USA) entkamen und vermehrten sich in einem ungeahnten Ausmaß. hatten sie schon zwei Naturschutzparks von allen anderen Tieren leergefressen und wanderten unaualtsam weiter. Als Fortbewegungsorgane dienten ihnen ihre unerhört starken Brustflossen.
kamen sie auf ungeklärte Weise (wie früher die Wollhandkrabben) nach Europa und tauchten in der Donau auf. Die neuen Umweltverhältnisse müssen ihnen günstig gewesen sein. Sie sind größer geworden – einzelne bis zu zweieinhalb Meter lang – und stärker und ziehen in riesigen Heerzügen über Land, gefräßig und aggressiv wie die Ameisen. Ihre Haut ist so dick und widerstandsfähig, daß man ihnen nur mit dem Laser beikommt. Und wie lange werden wir den noch haben, ohne neuen Brennstoff für die Atomreaktoren? Manchmal mag ich überhaupt nicht an die Zukun denken. Verblödete und menschenfressende Menschen und allesfressende Fische und Ameisen – ein Breughel hätte die kommende Hölle der neuen Welt nicht besser ersinnen und illustrieren können. Unser Empfänger spricht an. Ferry setzt sich mit einer Hand den Hörer auf. »Odessa«, raunt er mir zu. Ein Druck auf die Lautsprechertaste, dann höre ich mit. Die Regierung der provisorischen SchwarzmeerRepublik, mit der wir schon einmal kurz Verbindung hatten, möchte den Kapitän-Genossen Tscherwenkow sprechen. »Wo ist er?« wende ich mich an Dr. Jelinek, der gerade zur Tür hereinkommt. »Keine Ahnung – vielleicht bei den Kühen auf dem Hueber-Hof, vielleicht mit McIntosh im Wald?« Sie begnügen sich dann doch mit uns und berichten,
daß sie verstümmelte Nachrichten aus Sibirien aufgefangen hätten, denen zufolge es dort noch drei oder vier praktisch unversehrte Industriestädte geben soll und nahezu hunderttausend Menschen in einer beinahe paradiesischen Umgebung. Man will versuchen, eine Expedition dorthin auszurüsten – über eine Schlammund Sandwüste von vielen hundert Kilometern hinweg, die ganz Mittelrußland bis zum Ural überzogen hat. Wir haben den Eindruck, als entspränge dieser Plan nicht nur »wissenschalichen Zwecken«, sondern der bitteren Notwendigkeit, eine neue Heimat zu finden, denn – wie von TESLA- prognostiziert – scheint Odessa im Meer zu versinken. »Dem rinnt schon das Wasser in die Schuhe«, bemerkt Ferry angesichts der gewundenen Erklärungen des Sprechers vom Schwarzen Meer. Was nutzt das? Wir können ihnen nicht helfen und sie uns auch nicht. Wir versprechen baldige neuerliche Kontaktaufnahme. Heute ist ein Tag des guten Empfanges; nachdem Odessa verstummt ist, kommt ein anderer Sender herein, sehr schwach zunächst, aber Ferry und Johannes, der ihm jetzt assistiert, gelingt es, ihn genauer einzustellen. Der Sender liegt an keinem bestimmten Ort, auf keinem Land, sondern halb unter Wasser – es ist das französische Atom-U-Boot »Gloire«, und es schwimmt etwa da, wo früher der Nordpol lag. Aber der liegt nicht mehr dort, dort ist freies und offenes Meer. Die »Gloire« hat seit einem knappen Jahr keinen
Hafen mehr angelaufen; sie wagen es nicht, weil alle Küsten, in deren Nähe sie kamen, verseucht waren oder aus Vulkanen bestanden. Den »Tag Null« haben sie im Pazifik er- und überlebt. An einem Atoll, das wie eine Luschaukel dauernd auf und nieder ging. Einige Seebeben und »Tsunamis« – diese mit mehreren hundert Stundenkilometern dahinrasenden Flutwellen – überstanden sie Meter unter dem Meeresspiegel. Nach einem solchen Tauchmanöver haben sie auch die Verbindung mit der amerikanischen »Tresher II« und ihrem Schwesterschiff, der »Pompidou«, verloren. Sie sind jetzt allein. Mann, davon verrückt und nur noch mit Spritzen ruhig zu halten. Sie suchen eine Küste, wo sie die Verrückten ausladen könnten. » hat es den Film gegeben ›Das letzte Ufer‹ – erinnert ihr euch? Da war doch auch ein U-Boot, das keinen Hafen mehr hatte nach einem Atomkrieg«, flüstert Jelinek, »was können wir tun?« »Nichts«, flüstere ich zurück und verweise Ferry, der sich mit der »Gloire« auf englisch unterhält, gleichzeitig auf die große Wandkarte: »Sie sollen versuchen, in die Nordsee zu kommen und über die abgesunkenen Küstengebiete in Richtung auf uns zu. Dann müßten sie beim Harz oder sonstwo auf strahlenfreies Gebiet stoßen und könnten wenigstens einmal aussteigen …!« Johannes übersetzt und spricht und gibt Daten und Zahlen durch.
»Gib ihnen auch den Code des Stützpunktes in den Vogesen, vielleicht nützt ihnen der etwas …« Johannes spricht, horcht und spricht. »Krrrrr – rr – krrrr – rrr –« geht es wieder los. Das Maschinengewehrgeknatter. Aus. Nach weiteren vergeblichen Versuchen schalten wir ab. »Sie werden«, sagt Ferry und wischt sich mit der heilen Rechten den Schweiß von der Stirne, »Sie werden versuchen, sich nach unseren Weisungen zu richten. Und wenn sie in drei Tagen den Weg nach ›BinnenEuropa‹ nicht gefunden haben, dann werden sie die Atomraketen zünden. Aber ohne sie abzuschießen.« »Amen«, brummt ein Baß hinter uns. Es ist der Kapitän-Genosse Josip Tscherwenkow. Im inneren Burghof sitzen wir ein wenig später im Kreis auf alten Gartenstühlen und einigen Quadern der inzwischen ziemlich gut renovierten Burgmauer und reden uns die Köpfe heiß über den angeblich verschwundenen Nordpol. »Das gibt es nicht«, beharrt der Ex-Seebär Tscherwenkow, »wenn auch der Magnetpol gewandert ist und die Erdachse vielleicht um ein oder zwei Grad verschoben – die haben ja Kreiselkompasse an Bord.« »Also könnte die Abweichung höchstens ein oder zwei Grad betragen«, konstatiert McIntosh mit kühler Logik. »Und ich behaupte, meine Herren«, erklärt Dr. Vormann, »daß die von der ›Gloire‹ nicht alle verrückt
geworden sind und Unsinn reden – sie sind wirklich dort, wo einmal der Nordpol war, aber die ganze Eiskappe ist gewandert, hat sich verschoben, und zwar wahrscheinlich in Richtung auf Labrador und Alaska zu. Dort werden wir in Zukun den ›Nordpol‹ zu suchen haben, Womit im übrigen das Phänomen des Klimawechsels in Sibirien erklärt wäre: das liegt jetzt viel südlicher. Nicht die Erde ist gekippt, sondern die Kontinente haben zum Teil einen Sprung gemacht.« »Wir werden eine neue Weltkarte zeichnen müssen«, meint Ferry. »Auf ihr wird das ganze Inselgebiet vor Labrador und Alaska dann unter Eis liegen – wie bisher der antarktische Kontinent mit seinen Inseln, der ja viel früher auch einmal eisfrei war und es nun vielleicht wieder wird«, ergänzt Dr. Vormann. »Und wo sind wir, wo werden wir sein?« will Johannes wissen. »Da gibt es wieder zwei Möglichkeiten: entweder bekommen wir ein Klima wie früher Schweden oder Norwegen – oder ein subtropisches, das hängt davon ab, wo das Kontinental-Karussell stehenbleibt …« »Vorläufig scheint es mir eher subtropisch«, ächzt Dürrhuber, »ich gehe in den Saal.«
Zwei Gänse und ein Hoffnungsschimmer Burg Spaldenstein, . April Das schwüle Wetter hat sich, wie erwartet, in fürchterlichen Gewittern und Wolkenbrüchen entladen. Jetzt ist es eher kühl und der Himmel grau. Um den Burgfelsen rauschen die Wildbäche. Wir saßen gerade beim Mittagessen im Saal – wir vierzehn, die wir auf Spaldenstein zurückgeblieben sind – und aßen, was der sehr ehrenwerte Herr Professor Tschi-Pei-feng aus drei steinalten Hühnern, einem Paket Reis und einigen Gewürzen gezaubert hatte, als Jaroslaw triefend naß, aber triumphierend, in den Saal »schwamm«. Unter dem rechten Arm hielt er ein ebenso nasses schnatterndes Etwas von der Größe einer Gans. Es war auch eine Gans. »Warum bringst du die da herein?« fragte Schelest. »Gänse sind doch Wassertiere.« »O ja«, erwiderte Jaroslaw, »aber das da ist keine gewöhnliche Gans, das ist ein ›Anser fabalis‹, eine nordeurasische Wildgans, auuuuh!« Der Anser fabalis hatte ihn, wie das Gänse gern tun, in den Finger gezwickt, dann schnatterte sie sichtlich zufrieden vor sich hin. »Bring das Vieh wieder hinaus«, maulte Ferry, »wir haben schon gegessen.« »Diese Gans oder dieser Gänserich«, setzte Jaroslaw
unverdrossen hinzu, während er das flügelschlagende Tier auf den Boden setzte, »ist uns vor einer Stunde zugeflogen. Mit einem Bruder oder einer Schwester oder seinem Ehegespons – wer was ist, wird sich noch herausstellen. Und wißt ihr woher?« »Nein.« »Aus Sibirien, aus der Baraba-Steppe, wo sie im Winter zu Hause sind, und sie haben nichts anderes getan, als ihrer alten Sommerflugroute zu folgen – nach Süden …« »Aber dann wären sie doch nicht hier –« »Doch – ihr innerer Kompaß ist gleichgeblieben, nur die Magnetfeldeinrichtungen haben sich verändert. Wir sind jetzt für sie der Süden. Aber das wäre gar kein Wunder – das Wunderbare ist etwas anderes …« »Mach’s nicht so spannend!« ru Schelest und würgt den letzten Bissen Hühnerfleisch hinunter. »Diese Tiere«, sagt Jaroslaw und deutet auf die sich putzende Gans zu seinen Füßen, »haben keinerlei Strahlungen in und an sich. Sie sind wohlgenährt und gesund – und sie kommen aus Sibirien …« »Dann würde es also stimmen, daß sich das Klima dort geändert hat, daß sich dort nicht nur die Gänse vollfressen können und gesund sind, sondern auch Menschen.« »Logisch!« bestätigt Jaroslaw. Es ist, als ob die Sonne, die sich zeitweise grünblau durch die ziehenden Wolken kämp, plötzlich alle mit
einem besonderen Geist erleuchtet hätte – so reden und schwatzen sie durcheinander. Die unscheinbare Graugans wird zu einem Symbol, zur Taube Noahs, die zurückkehrte; Sibirien wird zu einem Wunderland, wie es das Goldland »Ophir« im fernen Afrika vor Jahrhunderten für unsere Vorfahren war: ein Traum, ein Wunschtraum, ein Märchen voller Verheißung. Hauptsache, sie haben wieder einen Traum, denke ich bei mir, denn ohne Träume kann der Mensch nicht leben. Und eine Verheißung, die sich nie erfüllt, ist besser als gar keine. Ein schöner Tag, trotz des Regens, notiere ich. Nach dem geheimnisvollen Gesetz der Serie findet der »schöne Tag« am späten Abend noch eine Fortsetzung. In einer Pause, während das »himmlische Maschinengewehr« schweigt, läutet uns der wachhabende Dr. Vormann in den Turm – irgend etwas, irgendwer ist auf der unsichtbaren Leitung im Äther. Und sendet, kaum hörbar, das internationale Notrufsignal: »Mayday, mayday, mayday …« »Schalt das Notstromaggregat dazu!« ru Ferry Johannes zu. »Aber wir haben doch kaum noch Sprit im Keller.« »Quatsch, schalt ein!« Johannes und Jelinek schalten, und die Zeiger am Funkgerät klettern höher. In atemlosem Schweigen stehen wir anderen dicht gedrängt in dem runden
Raum mit den kahlen Wänden: McIntosh, Alex, Schelest, Tscherwenkow, Wolkoff, Tschi, meine Frau, die rote Olga und ich. Dann schält sich aus einem fernen Rauschen eine noch fernere, dünne Stimme. Sie spricht französisch, unterbricht; Ferry hämmert das »Verstanden«-Signal auf die Taste, immer wieder, bis die Stimme neuerlich im Lautsprecher quäkt: sie kommt aus dem südfranzösischen Zentralplateau bei Clermont-Ferrand und gehört einem Funker der Flug- und Raketenversuchsanlage »Eternel retour«, gewissermaßen einem Gegenstück zu »Sans retour« in den Vogesen. Man muß zugeben, daß die Franzosen viel Sinn für Literatur und Romantik haben. »Warum«, schreit Wolkoff – er spricht am besten französisch von uns – ins Mikro, »warum sendet ihr Notrufe?« »Weil«, Jelinek übersetzt uns die Antwort, »weil uns sonst niemand antworten würde.« »Und was wollt ihr?« Nach endlos langen Minuten, in denen die Verbindung immer wieder abreißt, wissen wir es: das Plateau von Clermont-Ferrand ist eine der wenigen Inseln im ehemaligen Frankreich, die relativ heil geblieben sind. Von »Sans retour«, woher Pierre Blanchard kam, dürfen wir uns hingegen nichts mehr erhoffen – die Vogesen haben sich in eine hochsteigende und eine abbrechende Zone verwandelt, dort existiert nichts mehr.
Und die »Gloire« wird von dort keine Signale mehr empfangen können. Auf und bei »Eternel retour« haben hundertfünfzig normale Menschen überlebt. In den Orten rundum vielleicht doch dreimal soviel. Auf »Eternel retour« befinden sich auch einige Schweizer. »Damit Europa komplett ist«, bemerkt Dürrhuber in einer kurzen Funkpause, »ohne die Eidgenossen ginge es ja nicht.« An die achthundert Menschen – das ist eine riesige Menge heutzutage. Und es scheint ihnen nicht einmal schlecht zu gehen: kaum Mutationen, keine Riesenameisen, keine »Man-eater«; der alte Gebirgsstock wird sich ebenfalls kaum verändern, sie können dort bleiben und auskömmlich leben. »Um Himmels willen, was wollen sie also?« Jelinek übersetzt bruchstückweise die immer wieder von Störungen unterbrochene Antwort: sie wollen über einen Satelliten Verbindung mit Podkamennaja Tunguska am Rand des mittelsibirischen Berglandes bekommen – die Sibirier haben Kernbrennstoff, den die Franzosen für ihre Anlagen brauchen, die Sibirier möchten dafür Teile für Lasergeräte haben, die wiederum auf »Eternel retour« massenha lagern – und die Ehre der Nation erfordert … Die Ehre der Nation … ich schlage die Hände vors Gesicht und lache hemmungslos. »Seit Napoleon nach Moskau gezogen ist«, bemerkt
Schelest, »haben die Franzosen einen Komplex …« »Sie wollen fliegen«, setzt Jelinek hinzu. »Ja, laß sie doch«, sage ich, während der Empfänger wieder einmal schweigt, »vor zwei Jahren sind Hunderte von Flugzeugen nicht mehr heil gelandet, auf das eine kommt es nun auch nicht mehr an …« »Womit wollen sie denn fliegen?« fragt McIntosh. Dr. Wolkoff spricht, und Jelinek lauscht: »Mit einer umgebauten Super-Herkules.« »Das war doch eine Propellermaschine!« »Eben. Sie haben sie auf Atomantrieb umgestellt und neuartige Elektromotoren eingebaut – mit Düsen ginge das ja nicht. Und deshalb können auch nur ein paar Mann mitfliegen – und deshalb müssen sie irgendwo zwischenlanden, um Kühlwasser aufzunehmen und Öl für die Motoren, sonst laufen sie heiß.« »Und wo wollen sie bei uns landen? Auf dem Burghof vielleicht?« Wolkoff zuckt die Achseln: »Was weiß ich? Der Fußballplatz langt für einen Hubschrauber, aber nicht für so ein Monstrum.« Wir sehen einander betreten an. »Sie fliegen in zweiundsiebzig Stunden los«, meldet Dr. Wolkoff; am Lautsprecher hören wir nichts mehr, das Notstromaggregat setzt aus. »Nein, nein, nein«, schreie ich, »das ist doch Wahnsinn!« Es knackt und zischt, die Zeiger auf den Skalen sinken auf Null, kein Strom mehr; Dr. Wolkoff erhebt
sich und sieht uns beinahe schuldbewußt an: »Ich kann nichts dafür.« »Jetzt haben wir den Salat«, schimp Ferry, »die sind verrückt – in dieser Situation! Und wir sollen das ausbaden.« Er beugt sich über die Geräte: »Drei Sicherungen sind durch, ich werde sie flicken. Dann können wir wenigstens ein Peilsignal geben, der Rest interessiert mich nicht mehr.« So endet der »schöne Tag«. Hätte ich diese Worte doch nie niedergeschrieben! »Schicksal«, lächelte Tschi-Pei-feng, »macht immel, wie will …« und verschwindet mit einer Verbeugung. »Diesem Kitajski drehe ich doch einmal den Kragen um!« droht Schelest, aber dann lacht er breit und laut: »Was wollt ihr, Brüder, so ist es eben. Hol Wodka«, bittet er Olga, »wir müssen noch beraten.« Wir beraten bis drei Uhr morgens, dann sind wir alle blau und müde. Ich habe ein ungutes Gefühl. Die halbe oder ganze Welt ist hin, und da wollen einige Narren – ich kann sie nicht anders bezeichnen – wieder mit einer Art Tauschhandel beginnen. Mit den kümmerlichen Resten einer vergangenen Zivilisation. »Wißt ihr, woran ich denken muß?« frage ich und stehe auf. »Na?« Ferry setzt die Wodkaflasche ab und reicht sie mir. »An frühere Zeiten, als es noch eine Überflußwirtscha und volle Mülleimer gab. Die von unserem
Haus standen in der kleinen Grünanlage davor. Und jeden Tag erschienen am frühen Morgen zwei oder drei Stadtstreicher – ›Stirrler‹ nannte man sie in Wien, aber auch Zigeunerweiber – und suchten mit langen Stecken das noch Brauchbare, Stoffreste, Schuhe, Metall aus den Kübeln heraus. Das trugen sie dann weg und verkauen es. Das war ihr ›Wirtschassystem‹ – das ist jetzt das unsere. Wir sind jetzt die ›Stirrler‹ und leben von Abfällen. Wir, und die Sibirier und die Franzosen und überhaupt alle.« »Wir müßten den Heißluballon starten«, bemerkt Dürrhuber, der mir gar nicht zugehört hat, »wenn sie kommen.« »Wenn – morgen ist auch noch ein Tag, mir reicht es für heute.«
Besuch aus der anderen Zeit Burg Spaldenstein, . April In der vergangenen Nacht hatte ich einen seltsamen Traum; er mag damit zusammenhängen, daß gestern wieder einmal das berühmte »Piip-piip-pip-piip« zu hören war. In meinem Traum hörte ich es auch wieder – und dann traten zwei Schatten durch die Wand des Turmzimmers. Sie wirkten wie blasse Kopien eines unterbelichteten Films und hatten Overalls oder eine Art Raumfahreranzüge an. Eigenartigerweise erschrak ich gar nicht. »Sind diese verdammten Zeichen von euch?« fragte ich nur. Der eine der beiden nickte. »Aber ihr seid doch nicht real, nicht existent – wie können eure Zeichen das sein?« (Die Logik meines Hirns arbeitete also einwandfrei.) Die Antwort auf meine Frage kam nicht akustisch – sie wurde in mir selbst laut, das Kopfschütteln der zweiten Gestalt unterstrich sie nur. »Das ist ein Irrtum, Bruder« (jetzt spricht er mich doch wie Janos an, dachte ich), »wir sind so real wie du und alles um dich herum – und für uns siehst du wie ein Gespenst aus.« »Wer seid ihr, woher kommt ihr?« Die Schemen lächelten: »Wir kommen von nirgendwoher, wir sind ›da‹ – aber wir gehören einer anderen
Möglichkeitswelt an, die neben oder außer der deinen besteht, wenn du willst: aus einer anderen Zukunswelt.« »Also seid ihr ›Zeitreisende‹, wie sie in utopischen Romanen beschrieben wurden?« »Ja und nein«, wurde die Antwort des anscheinend älteren der beiden, der mir selbst zum Erschrecken ähnlich sah, in mir laut, »wir sind aus einem anderen Zeitstrom, der eine andere Zukun hat entstehen lassen. Stell dir das so vor: ein U-Bahn-System mit mehreren Stockwerken über- und untereinander. Geleise, die parallel laufen, und Züge, die gleich schnell fahren – über- oder untereinander, aber jeder nach einer anderen Endstation, später gehen die Wege auseinander, und nur, wenn sie sich zufällig kreuzen, wie jetzt, kann man kurz aussteigen und einen anderen Zug im anderen Zeitstrom sehen.« »Ganz verstehe ich das nicht.« »Das ist nicht deine Schuld«, sagt das Schemen, das mich mit meinen Augen ansieht, »deine Welt hat sich auf einer anderen Ebene bewegt, in eine andere Richtung. Daß sie falsch war, hast du indessen selbst erkannt – es war eine Sackgasse. Wir ›fahren‹ in eine andere Richtung, und nur die außergewöhnlichen Verhältnisse des Augenblicks haben unseren Flug durch die Dimensionen möglich gemacht.« »Ihr seid also geflogen?« »Ja und nein. Nach euren Maßstäben sind wir Mil
lionen von Lichtjahren geflogen – nach den unseren eigentlich überhaupt nicht.« »Und diese Wirbeltrichter, die …« »Sind für uns so ›wirklich‹ wie für euch etwa der Hubschrauber, den ihr morgen – nach eurer Zeitrechnung – ›Pierre Blanchard‹ taufen werdet. Die Zeitparallele ist zu vage, als daß wir ganz materialisieren könnten.« »Ihr seid uns weit voraus.« »Keineswegs. Unsere Welt hat nur eine andere Entwicklung genommen, auf eine andere MöglichkeitsZukun hin.« »Und welche Welt ist die ›richtige‹?« »Beide, alle und keine. Es gibt viele Realitäten, nicht nur eine.« Das eine Schemen zup das andere am Ärmel: »Wir müssen wieder weg. Das Magnetfeld wird negativ …« Der andere nickt. »Wunder dich nicht, Bruder«, sagt er zu mir, »wenn wir scheinbar durch die Wand verschwinden. Das ist weder Zauber noch Wunder – für uns existiert sie nicht, ebensowenig wie wir für dich. Leb wohl und mach’s gut!« »Werdet ihr uns helfen?« »Nein, das können wir nicht. Vielleicht kreuzen sich unsere ›Züge‹ wieder einmal, und vielleicht könnt ihr uns dann helfen, wer weiß? Es handelt sich um ein Gesetz, eine Formel oder wie du das nennen willst.« »Und was ist die Zeit?«
Der eine, der dem Janos zum Verwechseln gleicht, grinst beinahe amüsiert und sieht den anderen an, der mein Gesicht und meine Augen hat: »Er fragt nach der Zeit, dein Zeit-Zwilling!« »Die Zeit«, sagt mein Doppel-Ich, »die Zeit ist alles. Und alles ist …« »Was?« Stille; die Gestalten sind fort. Ich schrecke aus dem alten Lehnstuhl im Turmzimmer auf, in dem ich eingenickt war, bin wieder »da«. Die Wanduhr zeigt fünf Uhr morgens und das Magnetometer neben ihr Rot-Werte. Der graue Himmel draußen wird violett, ich drücke die Alarmtaste, wir gehen in den Keller. Selbst das ist schon Gewohnheit. Dann kauern wir wieder an den kalten, nassen Wänden und bangen und zittern wie vor zwei Jahren. Ich blättere im matten Licht der Notbeleuchtung in einem zerlesenen Buch. Es stammt aus dem Jahr , Verfasser ist Dr. Leon Lederman von der Columbia-Universität New York. Dr. Lederman hatte damals behauptet, es gebe eine »Anti-Welt«, die »irgendwo in unserem Lebensbereich existieren muß, auch wenn wir sie nicht sehen und fühlen können«. In dieser Welt laufe die Zeit anders: »Wir müssen uns zu der verwegenen Spekulation bekennen, daß die Anti-Welt mit denkenden Geschöpfen bevölkert ist, die sich über unsere Existenz ähnliche Gedanken machen wie wir über die
Kreaturen der Anti-Welt, und es ist denkbar, daß es für jeden Menschen im ›Jenseits‹ ein Spiegelbild gibt; daß die Anti-Welt auch die Ursache unseres Verfalls und Sterbens sein könnte, weil beide Welten nach einem Ausgleich streben …« »Wie wollen wir den Hubschrauber taufen?« fragt Dr. Jelinek, sichtlich bemüht, uns ein bißchen die Angst zu nehmen. »Vielleicht ›Pierre Blanchard‹?« »Ein guter Name«, sage ich, »er kann gar keinen anderen haben –« An der Wand des Kellers hängt ein uraltes Plakat. Es zeigt eine »glückliche Familie«, die immer nur »Panta« trinkt – Johannes hat es dorthin geklebt, denn er ist eines der Kinder und hat dafür damals Schilling bekommen. Kapitän Tscherwenkow scheint meinen Blick und mein Lächeln mißverstanden zu haben. »Ja, so war der Kapitalismus«, beginnt er seine Predigt, »künstliche Bedürfnisse erzeugen und verkaufen. Schon …« »Richtig, absolut richtig!« Ich nehme ihm den Wind aus den Segeln. »Bei jeder zweiten Reklame hat es mir den Magen umgedreht. Idiotie, Heuchelei und sinnlose Verführung war das fast alles, ein böses Geschä mit der Dummheit der Menschen. Aber sag, Genosse Kapitän: Welche Gesellschasordnung haben wir eigentlich jetzt? Welcher ›Klasse‹ gehören wir an? Sind wir Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Ausbeuter oder Ausge
beutete? Oder sind wir vielleicht die ersten und wahren Kommunisten, weil wir gar nichts mehr haben außer unserm Leben, und auch das ist fragwürdig … Nein, nein, ich meine das durchaus ernst, und ich meine, daß wir sozusagen eine ›Null-Gesellscha‹ geworden sind, die es vorher nie gegeben hat …« »Mein Vater«, bemerkt der sonst wortkarge Colonel McIntosh, »war noch ein richtiger Kapitalist. Er hatte ein Schloß und viele Schulden. Weil er das Schloß hat erhalten müssen; es stand unter Denkmalschutz. Aber er war auch ein schlauer Kapitalist: er hat seine Gläubiger getäuscht und mir doch etwas hinterlassen …« Er zieht aus einer Tasche seiner Uniform ein Plastiksäckchen und leert den Inhalt auf den Lehmboden des Kellers. Es blinkt und glitzert. »Diamanten«, flüstert Dürrhuber andächtig, »solche Steine habe ich selten gesehen.« »Geh«, bedeutet ihm der Colonel, »und verkauf sie. Für nur zwei Laibe frischen Brotes, das habe ich schon lange nicht gegessen.« Johannes hebt die Steine auf und sagt: »Die kommen in meine Sammlung.« »Richtig«, meint McIntosh, »dort haben sie wenigstens einen Sinn – und mehr Sinn haben weder Kapitalismus noch Kommunismus je gehabt.« »Kinder«, sagt Ferry, »Kinder – laßt das jetzt, das hat doch keinen Zweck. Das alles ist vergessen und vorbei; ›passe‹ hätten Pierre oder Jacques gesagt. Kümmert
euch gefälligst um das Nächstliegende. Einer von euch Medizinern wird nach Rapottenstein gehen müssen – und einer könnte allmählich den jungen Leuten hier und dort ein wenig Medizin beibringen. Sie werden das brauchen – auch ohne Prüfung und Diplom …« Tschi-Pei-feng lächelt: »Ich habe noch einige silbelne Nadeln und einen Atlas von Akupunktul …« Professor Wolkoff sieht ihn schief an. »Dr. Wolkoff – das wird vielleicht einmal die einzige Methode sein, jemand zu operieren – wir haben noch einen Liter Äther, keine Narkosemaske und keine Charité in der Nähe …« »Wenn ich dran denke, daß man mir bald wird einen Zahn ziehen müssen«, meint Ferry und sieht Dr. Jelinek beziehungsvoll an, »dann wird mir jetzt schon schlecht –« Die Wände des Kellers vibrieren leicht, der Fernseher in der Ecke klirrt. Er verstaubt immer mehr. Es gibt keinen Sender, der die neuesten Sensationen ausstrahlt; kein Österreich, kein Deutschland (Ost oder West), Frankreich, Belgien oder England. Keine EWG, kein COMECON, keine Kapitalisten, Kommunisten, keine dritte Welt. Und auch keinen Papst. Keine Inflation und Währungskrise. Die einzige noch gültige Währung sind die Waffen und die Kühe, Hühner, Schweine, Kälber und Felder. Eine Burg hier und Rapottenstein dort. Siebenundzwanzig Menschen, dazu ein Kind und eine schwangere Frau. Zwei Gräber am Hueber-Hof und sechs Kreuze
– drei für Pierre, Jacques und La Fayette, zwei für die beiden jungen Zigeuner von »Krokodil III« und eines für Dr. Mokaj. Gegen Abend ist das Magnetunwetter vorbei. Rapottenstein meldet sich. Die zwölf dort haben es gut überstanden. Rapottenstein liegt südlich von uns bei Zwettl. Mit dem »Old smoky«, unserem Zug, den wir den »Neulingen« stolz vorgeführt haben (vor allem die Russen sind richtig verliebt in ihn – Eisenbahnfahren liegt eben in ihrer Tradition), kommt man recht nahe heran. Gegen Abend hat Tschi-Pei-feng, der Lächelnde und Schweigsame, den Einfall, wie wir den Verrückten von »Eternel retour« doch helfen könnten. »Lasel«, sagt er, »Lasel könnte Sand unten bei Wüste schmelzen und halt machen, Piste für Landung. Wassel können wil blingen.« Wir umarmen den kleinen, gelben, alten Mann, der so nebenbei auch aus den armseligen Feldern neben dem Hueber-Hof einen blühenden Garten gezaubert hat – das ist die Lösung. Noch in der Nacht machen wir zwei von unseren »Krokodilen« startbereit, im ersten Morgengrauen brechen wir auf. Johannes und Schelest werden zusätzlich »Old smoky« über Rapottenstein bis zum Rand der Wüste fahren und auch den zusammengelegten Heißluballon mitnehmen. Und Wasser und Öl.
Jelinek bleibt am Funkgerät im Turm zurück. »Immer ich«, schimp er, »immer ich!« Wir kennen auch das schon. In sechzehn Stunden müßte das Flugzeug kommen.
Fracht für Podkamennaja Tunguska Burg Spaldenstein, . April Nein, ich kann keine Abenteuer berichten. Schließlich schreibe ich keinen Roman, sondern die Geschichte der tatsächlichen Ereignisse seit dem . April . Seit dem Tag Null. Was wir gestern unternahmen, war wie ein Sonntagsausflug vor fünfzehn oder sechzehn Jahren: »Old smoky« schnaubte und spuckte, und wir fuhren mit den »Krokodilen« dahinter oder daneben her – je nach Möglichkeit. Bei Rapottenstein nahmen wir Dmitrij, seine Irina, Johannes und den Rumänen Kalaescu auf. Wir hielten dann schließlich ungefähr dort, wo wir vor Zeiten die Karawane von erwartet hatten. Diesmal gab es keinen Nebel, keine Wölfe und keine Ameisen. Das Gelände war trocken, eben und fest. Über eine Strecke von etwa Metern fuhrwerkten wir mit den Panzern hin und her, bis sie ganz glatt war. Dann schalteten wir die Laser ein. »In Großbritannien wird derzeit an der Entwicklung einer Laserwaffe gearbeitet, mit der auf große Entfernungen Flugzeuge, Panzer und Lenkwaffen zerstört werden können …« (AP-Meldung vom . Mai ). Nun – unsere Laserrohre sind etwas perfekter. Sie verwandeln die brodelnde Sandmasse in eine steinharte Schicht. Neben der Lok steigt der Heißluballon in die
Höhe. Der Himmel ist blau und wolkenlos. Zehn Mann und zwei Frauen starren in diesen Himmel, aus dem das »Wunder« kommen soll. Es kommt um Uhr mitteleuropäischer Zeit. Ein Schatten zunächst am Horizont, dann ein plumper Riesenkörper mit vier wirbelnden Propellern. Die Funkpeilung hat geklappt. Unhörbar kommt er näher – Elektromotoren machen keinen Lärm und erzeugen keine Auspuffgase, Atomaggregate auch nicht. Das war ja das Geheimnis und der Ursprung dieser Konstruktion: eine Maschine, die dank ihrer »natürlichen« Schwerfälligkeit alle Radarsysteme unterfliegen sollte, nicht anpeilbar für Raketen, die auf die Hitze der Auspuffgase herkömmlicher Düsenmotoren getrimmt waren. Auch für akustische Ortungsgeräte nicht meßbar. Es ist phantastisch: nahezu lautlos schwebt der dikke Maikäfer näher, und erst, als er ganz nahe heran ist, hört man das schrille Sausen und Pfeifen der riesigen Vierfachpropeller. Die Maschine kreist einmal um die glattgeschmolzene künstliche Piste, dann setzen ihre zwölf Doppelreifen auf, der plumpe Kasten wankt und federt, rollt aus, steht, keine vierhundert Meter von uns entfernt. Aus dem Gigantenleib senkt sich rückwärts im Zeitlupentempo die Rampe, groß wie ein Scheunentor, über die vormals vollausgerüstete Soldaten samt zwei Schützenpanzern »an Land« gehen konnten. Aus dem
klaffenden Loch am Rumpfunterteil staken und stolpern aber nur zwei Gestalten in Fliegerkombinationen. Wir warten. »Ist das alles?« fragt Ferry. »Du, mit dem einen stimmt etwas nicht!« ru Johannes, der sie mit dem Feldstecher beobachtet hat. »Los, holt sie!« »Krokodil I«, neben dem wir gestanden sind, startet unverzüglich; zehn Minuten später helfen Johannes und McIntosh den beiden Männern aus dem Panzer. »Ich bin Francois«, sagt der eine, »und das ist Claude.« Mir ist, als würde ich Pierre Blanchard und Jacques de la Rose wiedersehen. »Ihr seid nur zwei?« »Oui – viel mehr Platz ist nicht, und viel mehr wollten wir auch nicht riskieren an Menschen, alles andere ist voll mit Maschinen und Ladung«, sagt der Mann, der sich Francois nennt, »aber Claude ist irgendwie krank.« Dr. Wolkoff ist mit Professor Dürrhuber, Schelest, der Semjonskaja und Dmitrij Dmitrijewitsch von »Old smoky« herangekommen. Er führt das bisher holpernde deutsch-französische Gespräch weiter: »Was hat er?« deutet er auf den jungen Mann, den Francois Claude nannte. »Schmerzen, da …« »Seit ein paar Stunden.« Der frühere Chefchirurg der Charité – in seinem
abenteuerlichen Overall aus unseren Beutebeständen sieht er einem Feldscher aus dem Mittelalter ähnlicher als einem Arzt des ausgehenden . Jahrhunderts – zieht Claude vorsichtig näher, behorcht und betastet ihn. »Appendix – Blinddarm, Durchbruchgefahr«, sagt er dann zur Semjonskaja und zu Dürrhuber gewandt, »sofortige Operation …« »Wo?« frage ich. »Hier! Oder kann Tscherwenkow mit dem Hubschrauber kommen?« »Nein, so weit sind wir noch nicht, Smith und Hinnen brauen zwar wieder an einem Super-Sprit herum, außerdem würde das ein paar Stunden dauern.« »Also dann da. – Macht den Gepäckwagen im Zug frei und bringt mir alles, was ihr in den Panzern an Nothilfebehältern findet!« »Du willst hier operieren?« Dürrhuber ist entsetzt. »Wo sonst? – Sonst stirbt er.« »Ohne Narkose?« »Wenn es nicht anders geht, ja.« »Ich werde«, erklärt Dmitrij Dmitrijewitsch, »es mit Hypnose versuchen, vielleicht ist das, was ich in Moskau gelernt habe, doch etwas wert. Akupunktur wäre besser – ich wollte sowieso mit Tschi-Pei-feng darüber sprechen.« »Wir haben keine Zeit zu verlieren, macht schon!« mahnt Dr. Wolkoff. »Du wirst es also mit Hypnose probieren, die Damen werden mir assistieren, und du,
Dürrhuber, kümmerst dich um das Besteck und vor allem um den Sauerstoff.« »Eigentlich«, sagt Francois, der zum Unterschied von seiner Maschine gar kein »Herkules« ist, ganz bescheiden, »eigentlich hätten wir nur Kühlwasser und Öl aufnehmen und wieder starten sollen – unsere Meteorologen haben vorausgesagt, daß das Wetter nur knapp dreißig Stunden beständig bleiben wird.« »Willst du allein fliegen?« fragt Dr. Wolkoff zurück. »Der Mann da –«, er deutet auf Claude, der bereits auf einer Trage liegt und sich vor Schmerzen krümmt, »kann in den nächsten Tagen bestimmt nicht fliegen.« Die folgende Szene hätte in einem alten Kriegs- oder Ärztefilm spielen können, in denen die Ärzte Helden und die Helden Ärzte waren: ein uralter Gepäckwaggon der Kaiser-Franz-Joseph-Nordbahn, umfunktioniert zu einem Operationsraum. Zwei Standscheinwerfer aus zwei NATO-Panzern, der Holztisch, auf dem bis österreichische Postbeamte Briefe und Pakete sortierten und stempelten – ein weißes Nylontuch liegt darüber und auf diesem ein Mensch, ein Franzose, der vor einer Viertelstunde zu uns gekommen ist. Einer der besten Chirurgen der Welt in einem bunten Tarnanzug, zwei Frauen: eine russische Ärztin und eine Wiener Sängerin, die einmal auch Erste Hilfe gelernt hatte; ein Professor aus München, der nur wenig von Medizin versteht; zwei Taschen mit Geräten und Medikamenten – und ein Dozent aus Moskau, der sich auf Hypnose
versteht. Eine Blechschüssel mit abgekochtem Wasser. Der Mann auf dem improvisierten OP-Tisch liegt ruhig und schlä. Er hat eine Betäubungsspritze aus den Nothilfetaschen der »Krokodile« erhalten und außerdem den Hypnosebefehl von Dmitrij, der sich den Schweiß von der Stirne wischt und den Schlafenden konzentriert beobachtet. »Und jetzt alle hinaus, die hier nichts zu tun haben!« befiehlt Dr. Wolkoff. »Ich fange an – Skalpell, Professor Dürrhuber!« Dr. Jelinek wird neidisch werden, wenn wir ihm davon berichten … denke ich für mich und zünde mir eine Zigarette an. Die alte DT stößt keine Dampfwölkchen in die Lu. Ein Stück abseits steht die SuperHerkules und wartet. Neben dem Zug schimmern die stahlgrauen Flanken der beiden »Krokodile«. Alles ist still, die Urweltlandscha dämmert vor sich hin. »Was meinst du …?« – Johannes lehnt sich neben mich an die sonnenwarme Holzwand des Waggons. – »Wenn der nicht fliegen kann, dann – es war’ halt doch wichtig, daß die nach Sibirien kommen, weil …« »Ja, ja …« Vor einer Stunde war ich noch ganz anderer Meinung, da habe ich dieses verrückte Unternehmen innerlich verflucht und für unnötig gehalten, aber jetzt … »Was können wir machen, Johannes?« Ich fühle mich hilflos. »Wenn ich könnte!« Ferry mischt sich in unser Gespräch, »ich wüßte schon – ich würde mitfliegen.
Schau, Gerd, es ist eine Chance, eine echte Chance, daß wir nicht ewig auf unserer Insel bleiben, daß es weitergeht. Verstehst du: weitergeht!« »Ein Tauschhandel!« Ich sage das gegen meine Überzeugung. »Ja und nein. Aber damit haben die Menschen immer begonnen, immer wieder, und so muß es auch jetzt anfangen, oder alles hört auf.« »Ich werde fliegen«, erklärt Johannes, und er sagt das sehr bestimmt, und sein Gesicht ist das eines Mannes, der weiß, was er will. »Und ich, ich fliege auch mit.« Baker-Bull, der letzte Ehrenhäuptling der Schwarzfußindianer und Nobelpreisträger für Physik, erklärt es. »Wißt ihr überhaupt, was dieses Sibirien für uns bedeutet? Es ist der letzte unerschlossene Vorratskeller der Menschheit. Ich war zweimal dort, ich weiß es: Milliarden Tonnen Kohle, Milliarden Kubikmeter Erdgas, eineinhalb Billionen Kilowatt Elektrizität an Wasserkra, Millionen Tonnen Öl – das war vor fünfzehn Jahren. Kaum ein Fünel oder Viertel davon ist verbraucht worden, und solange wir«, er lächelt leicht, »nicht die PSI-Kräe meines ansonsten verehrten Kollegen Dmitrij zur Verfügung haben und deine, Johannes …« »Das ist ja auch erst für später«, wehrt Johannes ab. »Solange«, fährt Baker-Bull fort, »ist das für uns wichtiger.« »Dein Antlitz, Mutter Rußland …«, zitiert Professor Schelest den einstmaligen Staatspoeten Jewtuschenko,
»tschort pobiraj – der Teufel soll’s holen, es ist eben doch ein Mütterchen.« »Gleich wird er weinen«, knurrt Dürrhuber, der aus dem Waggon gestiegen ist, »und ich habe mich nur abgeplagt. Ja, wir sind bald fertig mit diesem dürren Franzosen. Gebt mir eine Zigarette!« »Und wer wird die ›Broncos‹, die Pferdchen aus Oberösterreich, holen, John?« frage ich Baker-Bull, um Zeit zu gewinnen. »Na wer schon – dein Sohn Alexander! Auch der ist kein Kind mehr, und es ist Zeit, daß er sich als Mann bewährt. Im übrigen – ich hab’ es ja gesehen – hat er einen hervorragenden ›Tierverstand‹, das kann ich beurteilen.« »Muß das jetzt entschieden werden?« »Es muß«, der Schwarzfußhäuptling grinst bosha, »oder hast du Angst vor deiner Squaw?« Francois, der zweite Franzose, der still neben uns gestanden, aber den Sinn des Gesprächs mitbekommen hat, beginnt zu strahlen: »Nous – wir können fliegen?« »Wir können«, erklärt Baker-Bull, »willst du meinen Pilotenschein sehen, Francois?« Ein Paar Gummihandschuhe sausen an uns vorbei in den Sand: »Den Anblick des Blinddarms möchte ich euch ersparen, er war gar nicht mehr schön.« Dr. Wolkoff lacht und wird in der Tür des Waggons sichtbar wie ein triumphierender Erzengel. »Und ich schwöre euch: ich laß mich von Dmitrij jetzt auch in Hypnose
ausbilden, das erspart Material und Zeit!« Ferry zaubert aus seiner Jacke das unvermeidliche Schnapsfläschchen: »Trink, Professor, hast es verdient!« Auch der blasse »Rasputin-Ersatz«, wie wir ihn heimlich getau haben, Dmitrij mit seinem wehenden Vollbart, taucht auf und hinter ihm seine ihn anbetende Irina Semjonskaja – Russe sollte man sein, geht es mir durch den Kopf – und meine »Squaw.« Ich atme einmal tief durch und bilde mir ganz fest ein, daß ich jetzt ein Indianer oder Russe bin: »Dein Sohn, Gertrude, geborene Stemmer« – solches wagte ich bisher stets nur dann zu sagen, wenn es um ganz wichtige Fragen ging, die sich schon der Scheidung näherten –, »dein Sohn Johannes wünscht, nach Sibirien zu fliegen.« Sekundenbruchteile hält der Mensch, den ich neben den Kindern am meisten auf dieser Welt liebe, inne – ich spüre fast körperlich ihren Herzschlag –, und unsere Blicke tauchen ineinander voll Liebe und Wehmut; dann sagt meine Frau ganz einfach: »Wenn er will …« »Du hast gesiegt, Freund«, raunt mir Baker-Bull zu. »Ach nein«, sage ich, »da hat ein anderer gesiegt – Gott oder das Schicksal oder dein Manitu.« Der Rest ist Technik und Routine. Das neue Dreiergespann, Francois, Baker-Bull und Johannes, will noch heute starten und die Nacht durchfliegen. Dann könn
ten sie am Morgen mitten über Rußland sein. Ein Gespräch mit unseren Meteorologen Dr. Vormann von Rapottenstein und Hinnen von Spaldenstein (Dr. Jelinek ist, wie ich erwartet habe, wütend, weil er die interessante Operation nicht mitmachen konnte) bekräigt diesen Entschluß: wenn es eine günstige Möglichkeit gibt, dann sofort! Gegen fünf Uhr nachmittags – keine zwei Stunden nach der Operation Claudes, der noch immer im Gepäckwaggon schlä – ist alles bereit. Die »Super-Herkules« hat einige Hunderte Liter kochendes Kühlwasser abgelassen und, gespeist von den hin und her fahrenden »Krokodilen«, die gleiche Menge Wasser aus den Behältern von »Old smoky« aufgenommen, dazu mehrere Großkanister Öl aus unseren letzten und besten Vorräten. Baker-Bull in der französischen Fliegerkombination sieht aus wie ein Firmling, der das Gewand seines älteren, aber kleineren Bruders angezogen hat, Johannes schlackert die Kombination wie eine zu große Haut um den Leib. Drei Dinge bleiben von unseren Gästen von »Eternel retour« zurück: vier Flaschen Cognac, eine Handvoll neuer Laser-Kristalle und das Wissen, daß die frühere Donau wieder einmal Hochwasser führt. Bei Pöchlarn, so berichtete uns Francois, treiben Schiffstrümmer – das ist wohl die selige »Franz Joseph« –, und ein Stückchen unterhalb hat sich ein flaches Schiff am Ufer verfangen, das düre die »Potemkin« sein. Wir werden sie bergen müssen. Schon deshalb, weil sie noch zweihundert Fla
schen Wodka an Bord hat. Ja – und Claude nehmen wir mit, und wieder einmal einen Funken Hoffnung. Um Uhr hebt Ferry die Startflagge; es ist ein Taschentuch, aber ich will ihm die Freude nicht nehmen. Die »Super-Herkules« rollt an, wird, singend und pfeifend, schneller und schneller, sie stäubt über die Kunstschmelzpiste, steigt hoch in das Grünblau des Abendhimmels. Ein dicker, brauner Maikäfer. »Ich möchte vorschlagen«, sage ich, nachdem die Maschine am Firmament verschwunden ist, »daß wir alle nach Spaldenstein zurückfahren. Mit den Krokodilen – den Zug lassen wir hier, der ist zu langsam, und wir können ihn später noch holen.« »Choroscho«, sagt Schelest, »aber nicht vergessen – Zug ist immer noch das beste.« Ich muß ein Gefühl dafür gehabt haben (oder war es eine Vorahnung?) – fast fünf Stunden hat unsere Rückfahrt mit den Panzern gedauert, um Uhr halten wir am äußeren Burgtor von Spaldenstein; um Uhr bricht der Sturm los. Dem Zug kann er nicht schaden, der hat schon mehr überstanden, und was unsere Flieger betri, so müßten sie um diese Zeit bereits über der Ukraine sein. Vor morgen können wir von ihnen keine Nachricht erwarten. Erst wenn sie gelandet sein … sollten, wird es ihnen möglich sein, die gesamte Energie auf den Sender zu leiten. Jetzt benötigen sie alle Kräe für die Motoren und ihre Instrumente.
Der Sturm heult um den Turm, Regenschauer prasseln gegen das kleine Fenster. Ich finde keine Ruhe und wandere durch die Burg, wie früher die »Beefeater« durch den Tower von London – eine einsame Wache. Nein, ganz so einsam auch wieder nicht: in unserem Keller-Lazarett liegt Claude und wacht allmählich aus seiner Hypnonarkose auf. Dr. Wolkoff und Dr. Jelinek halten abwechselnd Nachtwache bei ihm; sie sind verantwortlich für sein junges Leben. Sie werden es erhalten; Jelinek hat mir nur zuversichtlich zugenickt, als ich vorbeikam. In der kleinen Burgkapelle flackert eine kleine Kerze. »Du?« sage ich zu meiner Frau, die vor dem kleinen Bild (bis befand es sich in der Dorirche) der einst in der Kunstgeschichte nicht unbekannten »Madonna von Spaldenstein« kniet. »Geh doch schlafen, Liebe, wir brauchen unsere Kräe auch morgen noch. Schau, bei mir ist das etwas anderes – ich bin älter, da braucht man weniger Schlaf, aber du wirst hier noch benötigt, auch wenn ich einmal nicht mehr bin.« Ich nehme sie san um die Schultern und führe sie zurück, bette sie unter die dicken Felle und warte, bis ihre Atemzüge verraten, daß sie eingeschlafen ist. Und während ich langsam – und etwas müde – weitergehe, arbeitet das Gehirn unablässig und unermüdlich weiter: morgen sollten wir, morgen müssen wir, übermorgen … Als ich wieder im Turm ankomme,
sehe ich im Schein der verglimmenden Holzscheite im Kamin eine Gestalt am Tisch hocken: Ferry. Und eine zweite daneben: Schelest. Ich schalte das Licht an – Wasser haben wir ja wieder und damit Strom – und sage zu den beiden, die aus einem Dämmerzustand hochschrecken: »Ihr verdammten Brüder – was wollt ihr denn noch?« »Dasselbe wie du«, sagt Ferry, »warten … nimm noch einen Cognac.« Na ja – und dann sitzen wir eben zu dritt da, trinken, rauchen, reden Belanglosigkeiten, während neben uns am Tonbandgerät immer wieder die gleiche Spule abläu. Wir haben sie mit dem Sender gekoppelt und diesen auf die Welle von Podkamennaja Tunguska eingestellt. Das Band gibt ununterbrochen unsere Daten, unseren Code wieder und die Meldung vom Start der »Super-Herkules« mit der Bitte um Gegenruf. Tscherwenkow hat das Band besprochen. Es läu ab, spult zurück, läu wieder ab – seit einigen Stunden schon. Kurz vor vier Uhr morgens leuchtet das Rotlicht am Empfänger, und wir fahren schlaf- und cognactrunken auf. Aus dem überlaut eingestellten Lautsprecher quäkt eine zittrige Stimme: »Podkamennaja Tunguska …« Ferry spurtet davon und schleppt kurz danach den schimpfenden und gähnenden Professor Schelest hinter sich her. Der setzt sich die Hörer auf, spricht, lauscht, spricht. Nach langen bangen Minuten wendet er sich zu uns: »Sie haben«, sagt er, »sie haben auf eine
Entfernung von ungefähr Kilometern schwache atomare Reaktionen gemessen, die näher kommen – das müßte die ›Herkules‹ sein. Und jetzt …« Wir hören es aus dem Lautsprecher – es ist wieder einmal das Maschinengewehrfeuer der magnetischen Entladungen. Wir schlafen in den Stühlen ein und schlafen weit in den Tag hinein.
Die letzten Tage von Paris Burg Spaldenstein, . April Alexander stellt die Kanne mit dem heißen Mischkaffee auf den Tisch, zusammen mit drei buntbemalten Blech-»Häferln« (wie man dieses volkstümliche Frühstücksgeschirr in Österreich nannte), und mir legt er drei dicke Schmalzbrote vor. Woher meine Frau dieses Frühstück gezaubert hat, weiß ich nicht, aber es ist köstlich und erfrischend. »Claude ist munter geworden – er hat die Operation offenbar gut überstanden«, sagt Alexander. »Dann gleich zu ihm! Der kann uns sicher etwas erzählen.« Ich stürze einen Schluck von dem schwarzen Gebräu hinunter, nehme mein Brot und springe auf. Ferry hat das Mixbandgerät zuvor wieder eingeschaltet – es wird alles aufnehmen und festhalten, was indessen über den Empfänger hereinkommen sollte. Das gleiche Band gibt auf der zweiten Spur dabei laufend unsere Position wieder; ein System, das man früher teilweise schon beim Telefonverkehr anwandte; es ist nichts Neues, nur perfektioniert mit dem gleichzeitigen Senden und Empfangen bei Anruf. Und das funktioniert, solange es bei uns Strom gibt. Mit diesem System haben wir – vor und während wir die »Herkules« erwarteten – immerhin sechs Sta
tionen ausmachen können. »Eternel retour« natürlich – die warten auch nur auf neue Nachrichten von ihrer Expedition –, einen Brasilianer (im Amazonasgebiet leben anscheinend auch noch einige zehntausend Menschen), eine Station von den Philippinen (da war kein Wort zu verstehen), einen Nepalesen, der irgendwo in einem immer höher steigenden Bergtal des Himalaya sitzt, einen einsamen Spanier – und einen Kleinsender ganz aus der Nähe, aus Ischl im oberösterreichischen Salzkammergut. Der düre für uns zunächst der wichtigste sein, denn in diese Gegend wollen wir ja, wegen der Pferde. Allen unseren unbekannten Partnern hat das Band dabei automatisch mitgeteilt, daß sie uns um eine bestimmte Zeit am Abend rufen sollen (so sie können), dann wäre immer jemand sprechbereit. »Das habt ihr gut gemacht, Ferry, du und Franzi – das mit der kombinierten Sende-Empfangs-Schaltung, früher hättet ihr ein Patent darauf bekommen.« »Hauptsache«, wehrt Ferry ab und beißt in das Brot, das in Wirklichkeit schon Jahre alt ist, aber in der Vakuumpackung und in unserem Ofen frisch aufgebacken schmeckt, als käme es gerade vom Bäcker, »Hauptsache, wir kommen mit denen irgendwann einmal zusammen. Aber jetzt interessiert mich der Franzose da unten mehr und das, was er zu sagen hat.« Der »Franzose« liegt noch ziemlich blaß auf seinem Fellbett. Wie früher Pierre, muß ich denken. Neben ihm
stehen unsere beiden Medizinmänner Wolkoff und Jelinek so stolz, als hätten sie ein Kind zur Welt gebracht. »Merde«, ist das erste Wort, das wir von Claude hören – und das verstehen wir alle. Dann beginnt er langsam zu sprechen, zu erzählen, während die Semjonskaja ihm schluckweise Tee einflößt und seinen Puls mißt. Wolkoff übersetzt. Es sind Erinnerungen, Bruchstücke von Erinnerungen, aber viel farbiger und plastischer als alles, was uns seinerzeit Pierre und Jacques de la Rose zu berichten wußten. Pierre hatte ja nur aus der Warte einer völlig isolierten Stützpunktinsel berichten können und Jacques ebenso. »Eternel retour« war und ist nicht ganz so isoliert. Da ist zum Beispiel, kurz bevor Claude mit Francois zu dem Flug nach Sibirien starteten, ein Mensch zu ihnen gekommen – ein Mensch, der vorher in Paris gewesen war und sich bis zum Plateau von Clermont-Ferrand durchgeschlagen hatte. Vielleicht, weil er eine Ahnung davon hatte, oder auch nur aus Zufall. Und dieser Mensch – es war ein älterer Mensch – hat ihnen von Paris erzählt, von dem Paris, von dem sie ja alle insgeheim träumten. Der Mann war ein leitender Angestellter der Renaultwerke gewesen und hatte – zum Unterschied von über Prozent der anderen Pariser – den Tag Null in einem Versuchsraum in einem Keller überlebt (die Renaultwerke erzeugten damals unter anderem Raketenteile für die »Force de Frappe«). Dann kam er
heraus und sah … Wir sehen und erleben es nochmals mit den Augen und Ohren von Claude und denen des Unbekannten. Paris war nicht ganz zerstört. Nun ja, die Seine war stellenweise über die zerstörten Ufer getreten, und die Beben hatten Schäden angerichtet, aber der Invalidendom stand noch und Notre-Dame, der Eiffelturm nicht mehr, aber der Triumphbogen. Ja sogar das »Moulin rouge«. Aber das war nicht alles – da waren nämlich noch die restlichen Bewohner, die von den dort besonders starken Strahlenstößen und der Kälte nicht getötet worden waren, Zehntausende immerhin, aus Paris und aus der Umgebung. Sie waren nicht alle verrückt, aber zum größten Teil. Als der Renault-Ingenieur also endlich aus seinem Keller gekrochen war und sich – nach einem Zwischenaufenthalt von einigen Monaten in einer Vorortvilla – in die Stadt zurückwagte, hätte ihm das beinahe das Leben gekostet: in der Nähe der alten »Bannmeile« der Stadt fingen ihn einige Halbverrückte, die sich »revolutionäre Bürgergarde« nannten, und schleppten ihn vor ein Tribunal aus gleichfalls Halbverrückten, dessen Vorsitz ein Mann führte, der sich »Robespierre II.« nannte und dementsprechend handelte. In Minutenfrist war der Gefangene als »Verräter« angeklagt und zum Tode verurteilt. Und das war blutiger Ernst, denn auf der ehemaligen »Place de la Concorde« stand eine Guillotine, genau dem historischen Vorbild nachgebaut, die ausgezeichnet funktionierte. Hinrichtungen
fanden dort praktisch ununterbrochen statt – gewissermaßen als Ersatz für alle früheren Volksbelustigungen wie Fernsehen, Kino, Autorennen und andere Sportarten. Die »Garden« trugen Jakobinermützen und Maschinenpistolen, sie lagerten an offenen Feuern, und jedesmal, wenn das Fallbeil abwärts sauste – das war ungefähr alle acht bis zehn Minuten der Fall –, salutierten sie stramm. Einige grölten die Marseillaise. In einer Schlange von Hinrichtungskandidaten geduldig wartend – wie beim Anstehen vor einem Fleischer- oder Bäckerladen – hatte der Renault-Ingenieur die rettende Idee: er spielte plötzlich den Verrücktesten von allen, er sang, heulte und betete und behauptete, er habe in der Umgebung der Oper eine Horde von Teufeln gesehen, die eine Gegenrevolution entfachen wollten. Das war ein Alarmzeichen; die Garden ließen Guillotine Guillotine sein, nahmen ihre Waffen auf, rissen brennende Holzscheite aus den Feuern und marschierten los. Der Renault-Ingenieur verdrückte sich an der übernächsten Straßenecke. Als er, atemlos, wieder totes und damit sicheres Gebiet erreicht hatte, sah er aus der Innenstadt die ersten Rauchsäulen aufsteigen. Die Wahnsinnigen hatten die Umgebung der Oper in Brand gesetzt – und damit die Innenstadt. Er war dann beinahe neun Monate durch Frankreich gewandert, bis er auf »Eternel retour« stieß. »Vielleicht war er auch schon etwas verrückt«, mein
te Claude, »das war nicht so genau festzustellen, wer übersteht schon einen solchen Marsch durch den totalen Tod ohne Schaden? Jedenfalls haben Francois und ich einen kleinen Bogen über Paris geschlagen, obwohl es nicht ganz auf unserer Route lag. Die Stadt bestand aus Ruinen, Ruinen, Ruinen, die zum Teil noch schwelten – eine so große Stadt brennt eben langsamer und länger …« »Wie Wien«, sage ich. »Er muß jetzt wieder Ruhe haben«, mahnt die Semjonskaja, »in einigen Stunden könnt ihr wieder mit ihm weiterreden.« Wir gehen. Immerhin fanden wir bestätigt, was wir ohnehin schon ahnten: viel mehr als zwei, drei oder vier Millionen normal gebliebener, gesunder Menschen düre es auf dieser Erde kaum noch geben. Und die sind weiterhin bedroht von neuen Katastrophen und ihren Folgen. »Es ist gut, daß sie geflogen sind«, sage ich zu meiner Frau, »und morgen, nein, heute nicht mehr, morgen wollen wir uns zusammensetzen und beraten, was zu tun bleibt. Du kennst mich, ich habe nichts mehr gehaßt als Zwang, ›Pflicht‹. Aber jetzt haben wir eine Pflicht, und wenn es die letzte ist.« Pflichtübung Nummer eins – und die muß unverzüglich in Angriff genommen werden – fällt Tscherwenkow, Malakawi und McIntosh zu: sie müssen den Monitor »Potemkin« bergen, ehe eine neue Flutwelle ihn wegreißt.
»Wieviel Sprit hat der Hubschrauber tatsächlich noch?« frage ich den Genossen Kapitän. »Nu – für hundertzwanzig Kilometer etwa wird er reichen.« »Mehr als genug, da brauchen wir doch nicht zu warten, bis Hinnen und Smith neues ›Super‹ erzeugt haben – der Sturm ist vorüber; nehmt noch einen Mann mit und fliegt los. Fünfzig Kilometer hin, fünfzig zurück, mehr ist das nicht – sonst geht zu Fuß, aber die ›Potemkin‹ müssen wir haben.« »Was die an Kleidung, Waffen, Vorräten und so weiter noch an Bord hat, damit kommen wir monate-, vielleicht jahrelang aus«, bekräigt Dürrhuber. »Stell dir vor, Doc«, wendet er sich an Wolkoff, »einen netten kleinen Operationsraum mit allem Drum und Dran, da kannst du jedem von uns den Blinddarm herausnehmen.« »Ja, dann hätte er doch Claude holen können – der Hubschrauber«, poltert Dr. Wolkoff. »Hätte er nicht«, mischt sich Ferry ein, »um dreißig oder vierzig Kilometer zu wenig – aber das Schiff liegt jetzt ungefähr vor Krems, das ist wesentlich näher als der Landeplatz von gestern.« »Yes«, sagt McIntosh, »und da sind ja auch noch die Raketen unten im Laderaum … nicht wahr, Kapitän?« »Wieso weißt du?« »Ich bin Soldat, Kapitän, und deshalb verstehe ich, daß du davon nichts gesagt hast. Aber das hat jetzt kei
nen Sinn mehr – es könnte sein, daß wir diese Raketen so oder so verdammt nötig haben.« »Also gut«, brummt Tscherwenkow, »ich fliege, und wir holen den Kasten.« »Bei Spitz gibt es ein schmales langes Seitental Richtung Nord«, erklärt Ferry, »das müßte jetzt so etwas wie ein Fjord geworden sein, das wäre der ideale Liegeplatz für das Schiff. Wenn ich nur …« »Nein, das kannst du nicht, dich brauchen wir am Sender viel nötiger.« Um Uhr erhebt sich die »Iljuschin «, die jetzt »Pierre Blanchard« heißt, mit vier Mann – Tscherwenkow, Malakawi, McIntosh und Dr. Jelinek, der, kaum aus seinem verdienten Schlaf aufgewacht, unbedingt mitfliegen will – in einen der strahlendsten Frühlingshimmel, die es je gab; um Uhr ist sie wieder da. Sie haben es gescha. In vier Stunden (der Flug hat dabei etwas über eine Stunde gedauert) haben sie die »Potemkin«, die brav ihre automatischen Notpeilzeichen gab, gefunden, flottgemacht und in das kleine Seitental beim Buchberg bugsiert. Ein navigatorisches Kunststück, ohne genaue Karten und auf dem durch die jähe Schneeschmelze wild gewordenen Strom; von der guten alten »Franz Joseph« war nichts mehr zu entdecken gewesen. Wir feiern die vier Lu- und Dampfschiffer, wie es sich gebührt. »Orden haben wir leider nicht«, sage ich.
»Doch!« Ferry weiß es wieder einmal besser. »Da bei Heidenreichstein war früher einmal eine kleine Fabrik, in der Blech gestanzt wurde – auch Orden. Wenn wir nächstens dorthin kommen sollten, bring’ ich ein paar Kilogramm mit.« Die Kartons mit Wodka von der »Potemkin«, die sie natürlich, obwohl anderes nötiger gewesen wäre, doch mit eingeladen haben, feuern die Stimmung an. »Es muß nicht immer Kaviar sein«, zitiert Dr. Jelinek meinen Landsmann Mario Simmel und löffelt eine Büchse echten Malossol-Kaviar leer. »Bitte«, sage ich zu Ferry, »nimm mit Rapottenstein Funkverbindung auf, die haben ja ›Krokodil IV‹ dort, sie sollen morgen alle hierher kommen – ob sie vorher noch den Zug holen wollen, das bleibt ihre Sache, Hauptsache: sie kommen – weiß Gott, wie lange das Wetter noch hält und wann wir später wieder zusammenkommen können. Und das ist jetzt wirklich dringend nötig.« Gegen Uhr abends schleiche ich mich von der Feier fort zum Turm hinauf, den protestierenden Schelest im Schlepptau: »Ich kann zu wenig Russisch, Professor, wenn …« Ja, das Band hat gespeichert, was vor etwa einer Stunde von Podkamennaja Tunguska hereingesprochen wurde: die »Herkules« ist gelandet. Nicht ganz dort, sondern etwa zweihundert Kilometer vor dem Ziel, weil einer der Reaktoren versagte – aber sie haben bereits eine Hilfsexpedition mit Kettenfahrzeugen und
einem Hubschrauber ausgesandt und hoffen, morgen bei Francois, Baker-Bull und Johannes zu sein, die angeblich wohlauf sind. Nun ja, an der Bergung sind die Sibirier schließlich auch persönlich brennend interessiert – wegen der Laserersatzteile. »Frage an Radio Eriwan«, wende ich mich an Schelest, »du kennst deine Leute besser: Können wir ihnen glauben, dürfen wir …?« »Im Prinzip ja«, lacht der Ukrainer, »auch wenn diese Sibiriaken allesamt Spitzbuben sind. Bei uns …« »Schon gut«, ich kenne seine Sprüche und Loblieder auf die einzig wahren und echten Russen, die Ukrainer; er nimmt das aber selbst nicht mehr ernst – was gilt denn heute noch ein Volksstamm, eine Nation, eine Rasse oder Religion? »Also dann gib die Empfangsbestätigung auf Band, eine Verbindung bekommen wir jetzt wohl nicht.« Wie gestern ist wieder das Krachen in der »Leitung«, und wie gestern beginnt wieder der Sturm zu heulen. Trotzdem steige ich ziemlich erleichtert neben Schelest die Turmtreppe hinab und fühle mich plötzlich um einige Jahre kräiger und jünger. »Freunde, Genossen, Towarischtschi …«, brüllt der Exmajor in den Lärm, der im großen Saal herrscht, »sie leben, sie leben!« Die paar armseligen Glühlampen und Kerzen scheinen mir heller zu leuchten, ja zu strahlen. Alle strahlen und werden für Sekunden ganz still. Meine Frau umarmt mich wortlos, und auch der blasse
Claude, den sie auf einer Trage zu uns gebracht haben, hat plötzlich Farbe in den Wangen: »Wie schön ist es, unter Menschen zu sein.« Er schielt ein bißchen nach der Wodkaflasche, die Tscherwenkow in der Hand hält, aber Dr. Jelinek winkt energisch ab: »In drei oder vier Tagen, vorher nicht!«
Programm für eine neue Welt Burg Spaldenstein, . April Kurz vor Mittag sind alle versammelt. Die von Rapottenstein und die von Spaldenstein. Als Wächter haben sie nur den struppigen Köter zurückgelassen, der seinerzeit bei der »Eroberung« der Burg schon da war, heulend und allein. Er heißt (jetzt) »Perry« und hat die seltsame Eigenscha, zwar jeden in den Raum, in dem er sich gerade befindet, hereinzulassen, aber keinen hinaus. Dann beißt er, das ist sein Tick. Die »Menge«, die im großen Saal von Spaldenstein herumwimmelt, scheint mir riesig. So ändert sich das Urteil, wenn man immer nur einige wenige Menschen um sich sieht. Der Ordnung halber habe ich sogar eine Namensliste angelegt. Da sind also: die beiden Amis Hinnen und Smith (die ziemlich böse sind, weil ich sie aus ihrer Arbeit an einer neuen Kerosin-Emulsion herausgerissen habe); Franz Neuner, Physiker und Hobbyastronom, der ihnen dabei hil; McIntosh, unser englischer Lord und Paradesoldat; Alexander, der mit seiner Maria und Jaroslaw den Hueber-Hof bevölkert und sich schon auf die große Jagd und Suche nach Pferden freut; da ist Dr. Vormann aus Berlin, der an der Längswand
des Rittersaales mit einem Stück Holzkohle Skizzen von Erdteilen und Kontinenten entwir, die er uns später erklären will; da ist der kleine Professor aus Peking, Tschi-Peifeng, ohne den wir jetzt kein frisches Gemüse hätten und nicht die seltsame Kreuzung von Äpfeln und Limonen, die er gezüchtet hat; da ist der dicke Dürrhuber, Mädchen für alles – vor allem für Notfälle; der kahlköpfige Kapitän und Pilot Tscherwenkow und sein Landsmann Schelest – sowie der vierte Russe unter uns, Pjotr, Astronom und Geologe wie sein rumänischer Kollege Georgiu Kalaescu; da ist unser Afrikaner Dr. Malakawi aus Amhara, ein Allroundmann wie Dürrhuber; Jäger, Wissenschaler, Geograph und notfalls Panzerfahrer und Flieger – ein Mann der Zukun; da sind unsere Mediziner Wolkoff, Jelinek und die so bescheidene Irina Semjonskaja; da ist unser »Rasputin-Ersatz«, Parapsychologe und Hypnotiseur Dmitrij – der halb Russe, halb Pole ist; da ist Jaroslaw aus Böhmen, Agrotechniker und Biologe, ein Mensch mit Nerven wie Stahlseile – so was haben wir nötig; da ist die kleine Zigeunerin Grisi mit ihren jetzt etwas traurigen Kohleaugen, die immer nach Johannes Ausschau zu halten scheinen; da ist Olga, die auch bald Mutter sein wird, und Milena (dafür, daß die Kochkunst in Böhmen erfunden wurde, ist sie der lebende Beweis)
und schließlich und endlich meine Frau und ich. Und zwei von uns – nein: drei, denn Francois gehört doch auch dazu – warten jetzt wahrscheinlich am Rande der Steppe, daß man sie holt. Und da sind auch noch die Kreuze und die Gräber beim Hueber-Hof. Jeder kennt hier jeden. Und deshalb gibt es eigentlich nicht sehr viel mehr zu sagen, als daß sich unsere Situation nach der Kontaktnahme mit »Eternel retour« und den Sibiriern grundsätzlich geändert hat und daß wir deshalb ein neues, grundsätzliches Konzept für unsere Aktivitäten entwerfen müssen: Pläne für die unmittelbare Zukun und weiterreichende, »mittelfristige«; wenn wir uns als Menschen auf diesem Planeten behaupten wollen. Wir, diese kleine Gruppe im Herzen Europas, die eine Kette von Zufällen zusammengeführt hat und die doch so etwas wie eine Schlüsselposition einzunehmen scheint – zumindest ein entscheidendes Bindeglied ist. Keineswegs, weil wir Supermenschen sind, sondern weil das Schicksal es so und nicht anders gefügt hat. Mit diesem Gedanken beginne ich meine kurze Rede: »Wenn ihr mich vor zehn oder zwanzig Jahren gefragt hättet, meine Freunde, ob je möglich sein würde, was wir erleben – ich hätte nur den Kopf geschüttelt. Ich hätte nie gewagt, so etwas Absurdes zu schreiben – und niemand hätte es mir abgenommen. Ihr alle kennt die Umstände, die heute schon wieder ganz anders sind als noch vor kurzem bei unserer letzten Beratung in Pöch
larn, als alles sinnlos und verloren schien. Wir haben wieder Hoffnung gefaßt und haben Gründe dafür. Es muß aber auch jeder einzelne von uns wissen, woran er ist und was er nun zu tun hat. Deshalb bitte ich zunächst unsere Geologen …« Alexander hat mit einem Scheinwerfer aus einem der »Krokodile« die sonst im Dunkeln liegende Längswand des Saales angestrahlt, sehr effektvoll, wie ich zugeben muß – die Zeichnung von Dr. Vormann macht sich darauf großartig.
»Was ihr hier seht«, sagt er, »ist gewissermaßen der jüngste Stand der Geologie. Die Erdkruste bis zu einer Tiefe von etwa siebzig Kilometern teilt sich nicht nur in die uns bekannten Kontinente ein, sondern in einzelne ›Platten‹, die dauernd fließen und wandern. Die australische Platte zum Beispiel samt Indien hat sich etwas unter die eurasische geschoben und den Himalaya auf
gewölbt – die afrikanische, zu der auch Italien gehört, unter die europäische: so sind die Alpen entstanden. Alle die Bewegungen vollzogen sich scheinbar unendlich langsam, über Jahrmillionen hinweg. Was wir aber erlebt haben und erleben, scha eine neue Situation. Die Bewegungen vollziehen sich jetzt viel schneller, ja sprungha, und jede der ›großen‹ Platten zerfällt dabei in viele kleinere. Die Erdgeschichte – und das düre etwas Neues sein – geschieht nicht allmählich und fließend, sondern ruckartig in Schuhen …« »Und hat das etwas mit dem Mond zu tun – und wo könnten oder sollten wir unser ›Ultima ule‹ demnach suchen …?« »Das ist Ansichtssache«, antwortet der Rumäne Georgiu Kalaescu zu mir gewandt, »sollte sich der Mond tatsächlich früher oder später der Erde nähern – ich bin nicht unbedingt davon überzeugt, sondern glaube eher, daß TESLA- nicht mehr genau funktioniert hat –, dann würde sich die Wanderung der Kontinente und Platten noch stärker beschleunigen. Aber das wäre frühestens in zwanzig oder dreißig Jahren, früher auf gar keinen Fall …« »Und dann?« »Dann«, fährt nun wieder Dr. Vormann fort, »dann bliebe theoretisch – wir haben das alles ohne Computer auf Rapottenstein durchgerechnet – entweder nur Nordnorwegen als aus dem Meer hochsteigende
Felsinsel oder das mittelsibirische Bergland; ungefähr die Region, in der unsere Leute jetzt gelandet sind. Das Hochland von Abessinien würde dabei von der Ringflut, die der näher kommende Mond hochziehen würde, wahrscheinlich völlig überflutet – tut mir leid, Kollege Malakawi, aber das kann ich nicht ändern.« »Also«, konstatiert Dürrhuber sachlich knapp, »haben wir eigentlich zwei ›ule‹ in Aussicht für den Ernstfall – den oberen Zipfel von Skandinavien oder Mittelsibirien?« Kalaescu nickt: »So ist es. Dabei hätte Sibirien praktisch den Vorteil, daß dort immerhin mit Sicherheit einige Menschen leben, während wir von Norwegen oder Schweden oder Lappland gar nichts wissen.« »Das hat aber«, unterbreche ich, »auf jeden Fall noch zehn oder mehr Jahre Zeit – wenn ich unsere Astronomen richtig verstanden habe.« Franzi Neuner und Pjotr nicken. »Gut – kommen wir zu den nächstliegenden Planungen: als erstes die Ernährung. Wie sieht es damit aus, Tschi?« »Nicht gut, nicht schlecht«, Tschi-Pei-feng wiegt seinen Kopf, »wenn Wettel hält und Alexandel hil, oh – wil können Blot backen und Kaltoffel essen. Und Gemüse – genug fül uns …« »Alexander muß zunächst«, sage ich, »bald mit ein paar anderen losziehen und Pferde suchen – Pferde, Haflinger. Vor acht Jahren hat da ein gescheiter Mann
eine neue Zucht begonnen in der Nähe von Gmünden am früheren Traunsee. Wenn da noch etwas lebt … Vielleicht haben wir wieder einmal Glück? Daß dieser Mensch aus Ischl sich gemeldet hat, deutet immerhin darauf hin, daß dort nicht alles tot ist. Unsere drei Wallache und die zwei Kamele, die sterben ja eines Tages an Altersschwäche. Medizin?« Dr. Jelinek steht auf: »Eher schlecht. Wir leben hier nur von alten Vorräten oder von Beute. Eine pharmazeutische Industrie gibt es nicht mehr, und neue Ärzte auch nicht …« »Eure Versuche mit strahlenresistenten Pflanzen?« »Gehen weiter, brauchen aber noch viel Zeit.« »Dann werdet ihr drei – du, Wolkoff und Irina – den jüngeren alles das beibringen, was ihr wißt und was die jüngeren unter uns davon wissen müssen – und Dmitrij wird sie in Hypnose unterrichten und Tschi seine komischen Nadeln herausholen und Akupunktur lehren – was sollen wir sonst tun?« »In Sibirien haben sie sicher noch mehr Ärzte und Arzneien«, wir Schelest ein. »Gewiß, aber wir sind noch nicht dort, höchstens erst mit einer kleinen Zehe. Fazit: Apotheken plündern, wo es welche gibt, lehren und lernen. Nun zur Energiefrage …« Ferry hebt seinen noch heilen Arm: »Nicht übel. Zwei Kleinkrawerke haben wir, das sollte für uns ausreichen. Von dem zweiten müssen wir noch eine
Leitung nach Spaldenstein bauen, damit wir nicht von unserem Bach abhängig sind. Kupferdraht werden wir noch finden, das ist kein Problem. Und Öl – es ist gut, daß wir die ›Potemkin‹ wieder haben, die kann uns bei einer späteren Fahrt nach Zistersdorf bei Wien genug mitbringen. Wenn die Geologie ›hält‹, das heißt die Donau …« »Linz wäre näher«, wir Dr. Jelinek ein, »dort waren doch auch Raffinerien und Tanklager.« »Wenn es sie noch gibt – das müßte man erkunden.« »Und die Dampfmaschine und der Zug?« Schelest sagt es. »Vergeßt sie nicht: Holz und Wasser wird es immer geben, und vielleicht«, sein rundes Gesicht bekommt einen träumerischen Zug, »vielleicht könnten wir doch einmal mit einem Zug fahren – bis nach Rußland …« »Phantast«, brummt Dürrhuber, »aber immer noch besser als mit Kamelen oder Pferden …« »Waffen?« Tscherwenkow erhebt sich mit martialischer Pose: »Wenn du willst, Hejtman«, unwillkürlich spricht er mich an wie ein Kosak seinen Häuptling, »wenn du willst, schießen wir mit unseren Raketen alles kaputt!« »Nicht nötig, Kapitän, das ist es sowieso bereits. Aber es ist beruhigend, daß wir dich und diese Dinger haben. Schon aus Überlebensgründen …« Auch Jaroslaw als Biologe macht es kurz: »Mit wei
teren und ganz unterschiedlich entarteten Mutationen müssen wir rechnen. Die Riesenameisen und die wandernden Fische sind bestimmt nicht die letzte Überraschung in dieser Hinsicht. Auch die Man-eater nicht. Auf der anderen Seite ergeben sich vielleicht neue Möglichkeiten der Tierzucht und -kreuzung – und von den Tieren werden wir, ob wir wollen oder nicht, noch lange leben müssen. Die Hühner, die auf dem HueberHof aus den zum Teil bestrahlten Eiern geschlüp sind, entwickeln sich zum Beispiel anders als die, die wir bisher kannten: sie werden offensichtlich größer, beinahe wie Gänse – aber auf natürliche Weise. Einen Computer sollte man haben, dann könnte ich mehr sagen. Wichtig sind jetzt vor allem die Pferde – wenn es noch welche gibt, so wichtig wie früher die Kamele für die Wüstenbewohner. Auf längere Sicht sind wir ohne Pferde verloren – ich werde mit Alexander nach Oberösterreich gehen und suchen, wir müssen welche finden …« »Okay, Jaroslaw! – Und wie sieht es in puncto Kleidung aus, und wie mit der Liebe oder dem Sex …?« »Traurig bis trostlos«, sagt meine Frau. »Oho!« lacht Schelest und sieht mich von der Seite an. »Nein, so habe ich das nicht gemeint –«, meine Frau hatte schon immer ein Talent, ungewollt Bonmots zu produzieren, »aber bleiben wir bei der Bekleidung: Uniformen, Schuhe, Hemden und so weiter haben wir auf der ›Potemkin‹, aber Unterhosen und Socken be
ziehungsweise Strümpfe werden wieder knapp.« »Postkapitalistische Unnötigkeiten«, mäkelt Dmitrij. »Sei still«, fährt Irina ihn an, »ich kann deine postkapitalistischen Unnötigkeiten dauernd waschen und flicken!« »Der ist, was das Weibliche betri, versorgt!« Dr. Malakawi lacht. »Und der Rest ist vorläufig eben Schweigen. Es sei denn, Jaroslaw und Alexander finden außer den Pferden auch noch annehmbare Weiblichkeiten.« »Also, ganz schwarz sieht es ja nicht aus«, fasse ich nach drei Stunden die Diskussion zusammen, »die Lage ist kritisch, aber nicht verzweifelt. Jedenfalls besser als noch vor ein paar Wochen. Energie ist da, Nahrung ist da, die Burgen stehen – und wir sind da und werden weitermachen. Und einmal wird der Tag kommen, da fliegen oder fahren oder reiten wir nach Frankreich und nach Sibirien, und ob der Mond näher kommt oder nicht – es wäre gelacht, wenn dieser Rest der Menschheit sich selbst dann nicht doch zusammenfände und – diesmal wirklich und ohne Phrasen und weil es um das nackte Leben geht – gemeinsam handelte. ›Blut und Tränen‹ hat Churchill seinerzeit seinen Engländern versprochen. Ich kann euch nicht viel anderes versprechen, aber ich möchte das Zeichen, das dieser alte Haudegen damals zum Symbol erhoben hat, auch euch geben …« Ich hebe die Rechte und spreize Zeigeund Mittelfinger zum bekannten »V«, »Victory – Sieg«!
Sie lachen und schreien, ich weiß, sie brauchen das – und nichts anderes habe ich gewollt. Das Irrationale war noch immer des Menschen stärkstes Antriebsmittel, stärker als jede vernünige Überlegung. Tscherwenkow umarmt mich: »Hejtman – das hast du großartig gemacht.« »Ist gut, Towarischtsch Kapitän – aber jetzt sollten wir doch noch die Einzelheiten besprechen und einen Rat oder ein Gremium wählen, das alles koordiniert und lenkt.« »Einen Sowjet – einen richtigen Sowjet?« »Meinetwegen einen Sowjet – Namen sind Schall und Rauch …« Schelest, Dr. Jelinek, Dr. Wolkoff und meine Frau bilden schließlich das ›Komitee‹, das einstimmig akklamiert wird. Die Rollen sind also verteilt, das Stück kann weitergehen. Ich bin müde und froh; zufrieden wie jemand, der sein Tagewerk beendet hat. Wir öffnen die Türen und Fenster und lassen die wunderbare Frühlingslu herein – wir gehen hinaus auf den Hof und die Wiese. Und da fällt mir ein, daß ich doch noch jemand in meiner Liste vergessen habe: »Claude.« »Noch einer mehr …!« »Sei froh«, sagt Dr. Jelinek, »vorläufig können wir gar nicht genug Menschen haben.«
Alles, was übrig bleibt … Burg Spaldenstein, . April Morgen ist der . Mai. Da sind sie früher marschiert. Die »Roten« und die »Schwarzen«. Wir werden nicht marschieren. Wozu, für wen, gegen wen? Vor drei Tagen haben wir die letzte Nachricht von Podkamennaja Tunguska bekommen. Sie haben die von der »Herkules« gefunden, geborgen und ihnen einen triumphalen Empfang bereitet in der Stadt, die tatsächlich nahezu unversehrt ist. Mit Häusern, Fabriken, Werkstätten und Labors. Ein Wunder ist auch das anhaltend gute Wetter. Nichts stört den Funkverkehr, und langsam kommt so etwas wie eine »Ringverbindung« zustande mit allen Stationen, die noch da sind und sich gemeldet haben – und die immerhin Hunderttausende noch lebender, gesunder und normaler Menschen repräsentieren. In Frankreich, in Spanien, in Brasilien, in Abessinien und sogar auf den Philippinen. Nur Odessa hat sich nie mehr gerührt. Warum, können wir nur ahnen oder befürchten; auch im mittelsibirischen Bergland ist die Expedition von dort nicht angekommen. Den Sibiriern scheint hingegen die Ankun der »Herkules« einen unerhörten Aurieb gegeben zu haben. Sie haben eine Wer für Flugzeuge und Raketen reaktiviert und bauen jetzt nach dem französischen Vorbild vier alte »Tupolew«-Maschinen auf Reaktor- und Elek
troantrieb um. Sie haben darüber hinaus einen Satelliten wieder empfangen können und von ihm Bilder zumindest über dem russischen Raum. Demnach düre es dort nicht ganz so arg sein, wie uns die Berichte aus Odessa vermuten ließen: zwar ist Moskau nicht mehr vorhanden, und riesige Teile des europäischen Rußland sind Sumpf und Wüste geworden, bei Kiew aber müßte, wenigstens theoretisch, ein Durchkommen sein. Schelest schwärmt wieder: »Du wirst sehen, daß wir noch einmal mit unserem Zug fahren …« Die Eisenbahnliebe der Russen scheint unausrottbar. Tscherwenkow ist gestern mit der »Potemkin« und vier Mann in Richtung Linz aufgebrochen – vielleicht finden sie irgendwo einen halbvollen Tank? Mir erschiene jedenfalls die Möglichkeit, mit dem Schiff einen Vorstoß nach Osten zu wagen, sehr viel aussichtsreicher als ein solcher mit der Eisenbahn oder mit Pferden. Alexander, Jaroslaw, Grisi und Dr. Jelinek haben ein »Krokodil« in Gang gesetzt und sind unterwegs – nach Oberösterreich, in Richtung des einsamen Funkers aus Ischl, wo es seltsamerweise eine regelrechte Oase der Unberührtheit und Ruhe geben soll, wenn man ihm glauben kann; dem »Salzzwerg«, wie wir ihn unter uns genannt haben, da er sich in einem aufgelassenen Salzbergwerk installiert hat. Johannes gibt jeden zweiten Tag begeisterte Berichte aus Podkamennaja Tunguska durch, Claude ist wieder gesund und tatendurstig. Ich werde ihn mit der »Ilju
schin « und den Amis Hinnen und Smith Alexander nachschicken. Da können die zwei Super-Sprit-Brauer wenigstens erproben, was ihr neues Gemisch wert ist. Alles andere bleibt Hoffnung, Glaube – und Glück. »Ferry«, sage ich zu meinem einarmigen Freund, der eben mit mir gerade mit Sibirien gesprochen hat, »meinst du, daß uns das Glück jetzt ein wenig treu bleibt …?« »Haben wir doch eigentlich immer gehabt, oder nicht?« Das Turmfenster steht offen, warme Lu weht herein, der Wald drüben blüht und duet. »Aber alles andere ist hin.« »Ja, alles andere ist hin – du, Alex und Jaro sollten Salz mitbringen, wir werden es zum Einpökeln brauchen.« »Na ja, ruf sie an und sag es ihnen!« Ferry setzt sich an das Gerät und schaltet ein. Zur gleichen Sekunde leuchtet wieder die Empfangslampe auf. »Wer ist das?« frage ich. »Wir haben die Bereitschaszeit doch auf den Abend verlegt …« Es ist Wien, besser gesagt der Kahlenberg und dort Janos Kedar: »Ich wollte euch nur sagen«, klingt seine Stimme durch den Lautsprecher, »daß wir unser Rendezvous beim Wein vielleicht werden verschieben müssen – und daß jetzt keiner versuchen soll, mit dem Schiff donau
abwärts zu kommen. Der See unten füllt sich wieder auf. Ich vermute, daß es für einige Zeit wieder einmal Schluß ist mit Wien. – Wie lange? Ich bin zwar Physiker, aber kein Prophet. Dieses Pendeln wird vermutlich weitergehen – einmal hoch, einmal tief. Jedenfalls brennt die Stadt dann nicht mehr. – Wir? Ach, wir leben – mit der Oma geht es leider zu Ende. Sie fragt täglich nach euch – außerdem behauptet sie, daß unsere Leute gut in Frankreich angekommen seien. Nun – vielleicht wandern wir einmal dorthin, wer weiß? – Und wie steht es bei euch?« Ferry gibt im Telegrammstil einen Lagebericht, Janos bestätigt: »Das war wichtig für uns – Gott grüß euch, Brüder!« »Leb wohl, Bruder!« rufe ich ins Mikro. »Cognac oder Wodka?« fragt mich Ferry. »Cognac bitte.« Es ist alles wieder still ringsum, nur der laue Wind weht durchs Fenster, und der Wald duet. »Dann wollen wir also!« sagt Ferry. »Wir sollten noch ein bißchen an der Mauer arbeiten, die ist noch immer nicht wieder ganz in Ordnung.« »Gut«, ich lächle, »wir wollen gehen. Mir langt es für heute.« Ferry schaltet das Kombi-Tonband an, die Stahltür zum Turmzimmer fällt hinter uns ins Schloß. Am späteren Abend steige ich noch einmal zum
Turm hinauf und atme, über die Zinnen gelehnt, die köstliche Frühlingsabendlu. Der Himmel ist dunkel geworden. Tausende Sonnen und Sterne flammen auf und leuchten – Sterne, wie unsere Sonne, Sterne, von denen der eine oder der andere auch Planeten haben mag, wie unser Muttergestirn. Planeten mit Schicksalen wie dem unseren. Wo ist ein Anfang, wo ein Ende? »Nichts – nichts bleibt«, sage ich vor mich hin. »Doch – etwas bleibt«, sagt eine andere Stimme hinter mir, und eine warme Hand legt sich auf die meine. »Was bleibt?« »Die Liebe …« »Ah, vielleicht hat der das so gemeint …!« »Wer?« »Ach nichts, das war nur ein Traum –« »Weißt du, was heute – oder morgen – für ein Tag ist?« sagt meine Frau. »Keine Ahnung …« »Unser Hochzeitstag, der erste Mai …« »Um Gottes willen, den habe ich vergessen – verzeih!« Sie zaubert hinter ihrem Rücken eine Flasche Sekt hervor – Krimsekt von der »Potemkin«. Der Pfropfen knallt, und wir trinken. Prosten wortlos und stumm einem Wesen zu, das über und hinter allen Sternen wohnen mag. Der Sekt hat mich angeregt und übermütig gemacht.
Ich beuge mich über die Turmbrüstung und rufe hinab: »Nakara-uul!« Das Losungswort der Kremlwachen zur Zarenzeit. Schelest hat jetzt Wache. »Na-karauuuul!« tönt sein Baß zurück. Es ist gut zu wissen, daß da unten ein Mensch um die Burg geht, der zu uns gehört, und daß die anderen unten schlafen und bei uns sind. »Prost, meine Liebe!« sage ich zu meiner Frau und reiche ihr den Sekt. »Dreiundzwanzig Jahre … sie waren nicht immer leicht für dich.« »Nein, bestimmt nicht, Liebster.« »Aber sie waren trotzdem schön. Ich beginne, müde zu werden, und wenn ich ehrlich sein soll, dann möchte ich eigentlich nur noch eines: bei dir bleiben. Hier auf meiner Burg, auf meinem Turm und bei den Sternen. Die anderen, die jüngeren, sollen jetzt weitermachen, sie sollen ule suchen – ich will ihnen helfen, so gut ich kann. Aber jetzt möchte ich einmal ganz ruhig schlafen – mit dir, bei dir …« Fern im Südwesten flackert der Himmel rötlich – vielleicht ein Vulkan? Am nördlichen Horizont rast ein flammender Wirbeltrichter vorbei, wie eine Sternschnuppe. Bruder …? »Hast du etwas gesagt?« »Nein, nein – komm!« Hand in Hand gehen wir auf die Treppe zu unter dem Himmel der ungezählten Sterne.
Es ist die Nacht zum ersten Mai neunzehnhundertachtundachtzig. Mit diesem Datum endet die Chronik der Burg Spaldenstein und ihrer Bewohner; die Geschichte einer kleinen Gruppe von Menschen, wie sie sich in ähnlicher Form auch an beliebigen anderen Orten dieser Erde ereignen könnte … Ob, wann und wo sie eine Fortsetzung findet, steht in jenen Sternen, die heute leuchten und morgen leuchten werden, was auch immer auf unserer Welt geschehen mag. Während diese Zeilen in Druck gehen, verdüstern Krisenzeichen den Horizont der Zukunft. Klima und Wetter zeigen bedenkliche Veränderungen, die Rohstoffreserven schwinden dahin, die Zahl der Naturkatastrophen nimmt zu. Und jeder einzelne beginnt zu spüren, daß wir an einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte angelangt sind. In jeder Beziehung. Mündet er in eine Apokalypse, einen Jüngsten Tag oder …?
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