STEVE MOORE
V WIE VENDETTA
Aus dem Amerikanischen von JAN DINTER
Basierend auf dem Filmdrehbuch der WACHOWSKI BRÜDER...
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STEVE MOORE
V WIE VENDETTA
Aus dem Amerikanischen von JAN DINTER
Basierend auf dem Filmdrehbuch der WACHOWSKI BRÜDER
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. Deutsche Ausgabe: Translation copyright © 2005 by Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. All Rights Reserved. This edition published by arrangement with Pocket Books, a division of Simon & Schuster, New York, USA.
Amerikanische Originalausgabe: „V FOR VENDETTA“ by Steve Moore, published 2005 by Pocket Books, USA. V FOR VENDETTA and all related titles, characters, and elements are trademarks of DC Comics. Copyright © 2005 DC Comics. All Rights Reserved. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).
Übersetzung: Timothy Stahl Lektorat: Peter Bondy Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Umschlaggestaltung: tab visuelle kommunikation, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Norhaven Paperback A/S, Viborg, DK 1. Auflage, November 2005 ISBN: 3-8332-1327-2 www.paninicomics.de/filmromane
Stellen Sie sich ein England ohne Demokratie vor. Die Freiheit in diesem Land ging nicht einfach verloren, sondern sie wurde freiwillig einem totalitären System untergeordnet, das mit den tiefsten Ängsten und den abgründigsten Schwächen der Menschen geschickt taktiert. Dies ist die Geschichte von Evey, einer jungen Frau, die ihr Leben einem maskierten Mann verdankt, der sich selbst nur „V“ nennt. Verführerisch und verhängnisvoll zugleich entzündet „V“ den Funken der Revolution in seinen Landsleuten – damit sie das Joch der Tyrannei und der Unterdrückung endlich abstreifen, unter das sie sich freiwillig begeben haben.
PROLOG
Was sagt der Kalender? Der fünfte November, das Schießpulver-Attentat! Stets mögen die Menschen in Ehrfurcht gedenken dieser glorreichen Tat.
KAPITEL 1
Ein seltsamer, düsterer Raum irgendwo tief unter den Straßen von London. Jenes uralten Londons, das im Laufe von zweitausend Jahren so viel Krieg und Schrecken und Verzweiflung gesehen hat. Gegründet von den siegreichen Legionen des Römischen Reiches und eingeäschert von der keltischen Heerführerin Boudicca, die rasend vor Zorn achtzigtausend ihrer eigenen Landsleute tötete, die römischen Herren aber kaum anrührte. Verlassen von den Angelsachsen, geschwächt vom Schwarzen Tod, abermals zerstört im Großen Feuer und noch einmal in Trümmer gelegt durch Hermann Görings Luftwaffe. Immerfort gefallen, auferstanden und doch wieder gefallen… und nun einmal mehr gefallen, und noch dazu durch gänzlich andere Feinde als Seuche, Feuer und Krieg es sind. Denn nun ist London, die bekannteste Stadt der Welt, sich selbst zum Opfer gefallen. Und durch jenen merkwürdigen und düsteren Raum bewegte sich langsamen und festen Schrittes eine hoch gewachsene und gleichermaßen düstere Männergestalt, gekleidet in einen puritanischen Rock von tiefem, schmucklosem Schwarz. Fast wie gedankenlos schaltete der Mann im Vorübergehen einen Fernsehapparat ein und kehrte ihm dann augenblicklich den Rücken. Schließlich wusste er genau, was gerade ausgestrahlt wurde, und da die Sendung Die Stimme von London hieß, brauchte man auch nicht hinzusehen. Wenn man sich allerdings in der Behausung des Mannes umsah, konnte man sich schon fragen, warum er überhaupt Interesse an einer Sendung wie dieser hatte.
Der düstere Raum war nur eines von mehreren miteinander verbundenen Zimmern mit fensterlosen Steinwänden und Gewölbedecken, die diesem Ort ein mittelalterliches Aussehen verliehen. Es wirkte wie die Krypta einer riesigen Kirche oder Kathedrale oder vielleicht der Weinkeller eines Millionärs aus der Renaissance. Doch waren hier keine als heilig verehrten Toten beigesetzt und es wurden auch keine Fässer oder Flaschen gelagert. Stattdessen gab es Schätze ganz anderer Art: Bücher, Gemälde, Skulpturen und verschiedene andere Kunstwerke. Einige waren durch gedämpftes Licht besonders hervorgehoben und leuchteten wie vergoldete Ikonen, doch auch sie konnten die Aura geheimnisvoller Schwermut nicht vertreiben. Andere waren schlicht aufeinander gestapelt, damit sie so wenig Platz wie möglich beanspruchten, eingelagert für eine zukünftige Zeit, zu der sie in angemessener Weise ausgestellt oder dorthin zurückgebracht werden konnten, wo sie ursprünglich hingehörten. Eine ungeheure Sammlung geretteter objects d’art – literarische Höhenflüge, Lebensgeschichten, Anekdoten und Gedanken. Gerettet vor dem Vergessen, vor der Zerstörung, vor Vandalen… und insbesondere vor der Regierung. Vorbei an einem Bücherregal, voll gestopft mit eigenwilligen politischen Visionen, von Thomas Mores Utopia und Campanellas Stadt der Sonne über Karl Marx’ Kapital bis hin zu Adolf Hitlers Mein Kampf (einige davon inzwischen verboten, andere zur Lektüre empfohlen), ging der Mann zu einem Schminktisch und ließ sich vor einem großen, von kleinen Glühbirnen umrahmten Spiegel nieder- ein Möbelstück, das aus irgendeiner Theatergarderobe hierher gebracht worden war, ein Relikt aus jenen Zeiten, als Theater noch Dramen zeigten und nicht bloße Varieteshows und propagandistische Farcen. Als der vom Band eingespielte Applaus in Die Stimme von London verklang, der Vorspann
vorbei war, zog der Mann schwarze, eng anliegende Lederhandschuhe über. Dann, als die tiefe, sonore und ach so britische Stimme von Lewis Prothero, dem Moderator der Sendung, das Publikum zum Programm des Abends willkommen hieß, streckten sich eben diese nun lederbezogenen Hände aus und schalteten die Lichter des Schminkspiegels ein. Das matte Leuchten breitete sich in dem düsteren Raum aus und zeigte eine Wand hinter der Kommode, die mit Filmplakaten aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg geradezu tapeziert war – denn diese unterirdische Galerie versammelte mehr als nur jene Kunst, die den meisten als „ewig“ galt. Hier fanden sich auch Artefakte und Ephemere der Popkultur, von Fernsehsendungen, die längst vom Bildschirm verschwunden waren, von Spielen, die seit Jahren niemand mehr gespielt hatte, von Liedern, die nicht mehr gesungen wurden. Und als das Licht flackerte, weil die Stromversorgung nicht mehr das war, was sie einmal gewesen war, fiel der Blick des Mannes auf Bela Lugosi in Frankensteins Sohn, und um seine Lippen spielte ein schwaches Lächeln, als Prothero zu sprechen anfing. „Hören Sie sich das an“, begann die Stimme von London. „Ich las heute, dass die ehemals »Vereinigten’ Staaten so dringend Arzneimittel und dergleichen brauchen, dass sie uns angeblich mehrere Container voll Weizen und Tabak schickten. Eine, wie sie es nennen, Geste des guten Willens…“ Das Licht wurde ein wenig heller und enthüllte eine schulterlange, schwarze Perücke auf einem kopfförmigen Ständer, und dazu eine Maske. Als die behandschuhten Hände nach letzterer griffen, fragte Lewis Prothero: „Möchten Sie wissen, was ich denke?“ War da ein ganz leises Kopfschütteln, als die Maske vor das Gesicht des Mannes gehoben wurde? Es war wohl kaum der
Frage wert, denn sobald die Maske befestigt war, verschwand jede Spur der Miene ihres Trägers, seiner Gedanken und ureigenen Gefühle – und alles, was blieb, war der Ausdruck der Maske. Denn eine Maske zu tragen, bedeutet aufzugeben, wer wir wirklich sind, und – vielleicht nur für ein Weilchen, vielleicht auch für längere Zeit – jene Person zu werden, die die Maske selbst darzustellen scheint. Die Maske. Die Maskerade… Fast weiß war diese Maske, mit einem leicht heiteren und clownesken Ausdruck, die Wangen ein wenig gerötet, die Unterlippe ein wenig rosig, die Augen ein wenig mehr als Schlitze, die einmal zu lächeln und ein anderes Mal zu blinzeln schienen und doch immer etwas Verschlagenes hatten. Der ebenholzfarbene, aufgemalte Spitzbart, der tintenschwarze Schnauzbart, die Spitzen für alle Zeit aufwärts gebogen. Das Lächeln auf ewig starr. Betörend. Bedrückend. Eine Guy-Fawkes-Maske.
„Möchten Sie wissen, was ich denke?“, fragte Lewis Prothero auf einem anderen Fernsehbildschirm, in einem Raum so weit über dem Erdboden, wie der vorherige darunter lag. Ein weitaus dürftiger dekorierter Raum war das – die Miete allein verschlang zu viel vom monatlichen Gehaltsscheck der Bewohnerin, als dass sie sich irgendwelche Accessoires oder andere Kinkerlitzchen hätte leisten können – und er lag an einer heruntergekommenen Seitenstraße nicht weit von Paddington Station. Auch hier saß eine Gestalt vor einem Spiegel und legte eine Verkleidung an. Keine Maske diesmal, sondern jene Verkleidung, die Frauen tragen, aus Lippenstift, Lidschatten, Puder und Mascara, und die bedeutet: „Meine Augen sind dunkel von Geheimnissen,
meine Lippen sind rot von Leidenschaft, meine Haut ist jung und glatt.“ Nicht, dass an dieser jungen Frau etwas gewesen wäre, dass solcherlei Verkleidung bedurft hätte. Und Gordon Deitrich, das Ziel ihrer weiblichen Lockungen, war die Mühe eigentlich gar nicht wert. Evey Hammond fragte sich, weshalb sie überhaupt einen solchen Aufwand trieb. Aber sie kannte auch die Antwort auf diese Frage. Wenn sie ihren Fuß auf diese verdammte Karriereleiter bekommen und dann weiter hinaufsteigen wollte, konnte dies das wichtigste Rendezvous ihres Lebens werden. So funktionierten die Dinge heutzutage eben. Vervollkommne also das ohnedies schon Vollkommene und nimm, was immer man dir anbietet. Außerdem würden mehr Geld und bessere berufliche Aussichten sie in die Lage versetzen, eine Wohnung in einem dieser neuen Appartementhäuser zu bekommen, die jetzt gebaut wurden, geschützt hinter eigenen Sicherheitszäunen, die Eingänge von bewaffneten Posten bewacht. Wo man – auch wenn Lebensmittel, Benzin und andere Notwendigkeiten des Alltags nur gegen entsprechende Rations-Coupons erhältlich waren – doch wenigstens mit etwas weniger Angst leben konnte. Und Evey Hammond wünschte sich so sehr, ohne jene Angst zu leben, die sie tagein, tagaus heimsuchte… und mehr noch – und schlimmer – ihre Träume. „Sie sehen sich meine Sendung an“, fuhr die Stimme von London fort, obschon Evey das eigentlich ebenso wenig tat wie ein gewisser anderer Zuschauer des Programms nicht allzu weit entfernt, „also gehe ich davon aus, dass es Sie interessiert. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir die Kolonien wissen lassen, was wir wirklich von ihnen halten. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir ihnen die kleine ,Teeparty’, die sie vor ein paar Hundert Jahren für uns gaben, ein wenig heimzahlen.“
In scheinbar meisterhafter Beherrschung der dramatischen Pause hielt Prothero inne, während die Techniker den Applaus aus der Konserve ein weiteres Mal aufdrehten. Als Evey mit ihrem Make-up fertig war, schlüpfte sie in ihr bestes Kleid und strich es über den Hüften glatt, während sie sich im Spiegel betrachtete. Volle Lippen, hohe Stirn, braune Augen und glattes, goldenes Haar, das über ihre Schultern fiel und sich darüber ausbreitete. Eine geschmeidige Figur, an genau den richtigen Stellen gerundet. Ja, es gefiel ihr, wie sie aussah, und wenn es Deitrich nicht gefiel… nun, wenn nicht, was machte das schon? Entweder schaffte sie es, sich bei ihm einzuschmeicheln, was letztlich zu einer Beförderung führen könnte, oder sie blieb, wo sie war, und machte so weiter wie gewohnt, bis sich eine neue Gelegenheit ergab. Und wenn alle Stricke rissen, konnte sie ja immer noch versuchen, einen anderen Job zu finden. Davon gab es heutzutage jede Menge. Oder genauer gesagt, es gab heute sehr viel weniger Leute als früher, um die gleich gebliebene Anzahl von Stellen zu besetzen. Zumindest Leute eines gewissen Schlages… Ehrlich gesagt, dachte sie und biss sich nervös auf die Lippe, würde eine Beförderung ziemlich viel bedeuten, denn so, wie die Partei die Dinge heutzutage organisierte, brachte einem eine Beförderung einen höheren Status und mehr Geld ein. Und das bedeutete zumindest schon einmal mehr Lebensmittelcoupons. „Ich schlage vor“, erklang Protheros Stimme wieder, als sich der Beifall gelegt hatte, „dass wir heute Nacht hinunter zu den Docks gehen und diesen kolonialen Mist dorthin kippen, wo alles aus dem Ulkösen Sphinkter von Asserika hingehört!“ Eine Pause, diesmal aber nicht lange genug, um den Applaus wieder einsetzen zu lassen. „Wer ist meiner Meinung?“
Die Stille hielt an, bis die dramatische Anspannung fast unerträglich schien. Dann, endlich, in bestem demagogischen Tonfall: „ Wer ist, verdammt noch mal, meiner Meinung?“ Und erst jetzt brandete der Beifall auf, als drehe das gesamte fiktive Publikum schier durch in scheinbar hysterischer Zustimmung. Evey zuckte die Achseln. Schließlich kannte sie die Sendung zur Genüge, all die Tricks, all die Stichworte. Sie wusste sogar, wer Protheros Texte schrieb – und auch seine „Improvisationen“. Und, weiß Gott, sie kannte die Botschaft, die damit übermittelt werden sollte. Was sie nicht wusste, war, weshalb jemand das alles für bare Münze nahm. Aber man tat es. Sie taten es, und sie taten es seit inzwischen über zehn Jahren. Und es sah so aus, als würden sie es für immer tun. Natürlich würde niemand wirklich Weizen und Tabak in die Docks kippen. Vielleicht würde man für die Kameras so tun, als ob, und ein paar leere Kisten ins Wasser werfen, aber den Weizen und den Tabak würde man einfach verschwinden lassen, um die Partei-Elite zu füttern und zu besänftigen. Das hieß, wenn es diese Weizen- und Tabaklieferungen überhaupt gab und das Ganze nicht nur ein weiterer Propagandaschwindel war, um die britischen Vorstellungen von Überlegenheit zu stützen. Heutzutage, das wusste sie als Insiderin, die im Jordan Tower arbeitete, konnte man nichts glauben, was die Regierung sagte, abgesehen von Todesdrohungen und Prohibitionen. Der Beifallssturm legte sich wieder und Lewis Prothero fuhr in einem viel ruhigeren, viel vertraulicheren Ton fort… ein leichterer, wissender Ton, der suggerierte, dass er einen Witz mit seinen Zuschauern teilte – und einen gemeinsamen Standpunkt.
„Hat Ihnen das gefallen? USA? Der Ulköse Sphinkter von Asserika? Seien wir doch mal ehrlich, wie soll man es denn sonst nennen? Da war ein Land, das alles hatte, und jetzt, zwanzig Jahre später… ist es was? Die größte Leprakolonie der Welt. Und warum?“ Nun gewann die Stimme wieder an Selbstsicherheit, wurde eindringlicher, begann, einschüchternd zu klingen. Aufwieglerisch. Und laut. „Gottlosigkeit. Lassen Sie mich das noch einmal sagen. Gottlosigkeit. Es war nicht der Krieg, den sie begannen. Es war nicht die Seuche, die sie erschufen. Es war… die Strafe Gottes.“ Neuerlicher Applaus, derweil Evey nur darüber nachdenken konnte, wie sich Wahrnehmungen doch veränderten. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte man die USA immerhin als eines der christlichsten Länder der Welt betrachtet, rechtsgerichtete, christliche Republikaner hatten es Jahr um Jahr regiert, und protestantische amerikanische Missionare waren mit ihren unerwünschten Bibeln in all die anderen glückselig unerlösten Teile der Welt ausgezogen – und dann war der Krieg gekommen. Danach erinnerte man sich des alten Amerikas nur noch seines Militarismus und seines übermäßigen Konsums wegen. Und was einst als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gegolten hatte, war nicht mehr als Rom und Babylon. Und jetzt kümmerte die Verfassung der amerikanischen Seele niemanden mehr, jedenfalls nicht hier in England. Denn nun war es England, auf das Gott lächelnd herabsah, und auf nichts sonst. Unterdessen kam Prothero richtig in Fahrt: „Niemand entgeht seiner Vergangenheit. Niemand entgeht der Strafe Gottes. Glaubt ihr, Er sei nicht dort oben? Glaubt ihr, Er wacht nicht über dieses Land? Wie sonst ließe sich alles erklären? Er prüfte uns, aber wir kamen durch!“
Eveys Miene wurde mit jedem Augenblick säuerlicher. Sie steckte ihre Ohrringe fest und begann, ihr Haar zu bürsten. Sie wusste ganz genau, was als Nächstes kam, und Prothero tat exakt, was sie erwartete. Die sich aufbauende Tirade, die Rötung des Gesichts, die mit den Worten einherging, der steigende Blutdruck und schließlich das Geschrei. „Wir taten, was wir tun mussten! Islington. Enfield. Ich war dabei. Ich sah alles mit an. Immigranten. Muslime. Homosexuelle. Terroristen. Von Krankheiten geplagte Degenerierte. Sie mussten weg!“ Und jetzt die Pointe, dieselbe wie immer: „Stärke durch Einigkeit, Einigkeit durch Glauben! Ich bin dein gottesfürchtiger Engländer und ich bin verflucht noch mal stolz darauf!“ „Und das reicht jetzt, vielen Dank auch“, sagte Evey und drehte sich herum, um den Fernseher auszuschalten, gerade in dem Moment, als Prothero zum gottverdammten Salut ansetzte. Dann wandte sie sich wieder dem Spiegel zu, um ihr Aussehen noch einmal in Augenschein zu nehmen. Ja, sie sah gut aus und sie wusste es, ganz egal, was diese nervtötende, kleine Stimme in ihrem Hinterkopf auch sagen mochte. Trotzdem, vielleicht noch ein allerletzter Blick in den Spiegel. Den Spiegel, in dessen Rahmen ringsum Fotos steckten. Von ihren Freunden. Ihren Kollegen. Ihren Eltern. Und es war dieses letzte Foto, das stets denselben alten Kloß in ihrem Hals entstehen ließ. Aber an einem Abend wie diesem sollte sie sich darüber vielleicht nicht den Kopf zerbrechen. „Hör zu“, sagte sie, ohne jedoch recht zu wissen, ob zu sich selbst, den Fotos oder ins Leere. „Er ist ein sehr netter Mann. Er bringt mich zum Lachen. Aber ich werde einfach ehrlich zu ihm sein und wenn mich das den Job kostet… na ja, wäre blöd, aber ich bin schon mit schlimmeren Dingen fertig geworden, oder?“
Und dann fiel ihr noch einmal das Bild von Mum und Dad ins Auge und sie musste den Kopf abwenden. Dabei streifte ihr Blick die Uhr. Sie zeigte eine Minute nach 23 Uhr. „Mist“, rief Evey verzweifelt. Plötzlich hatte sie Angst. Sie rupfte ein kleines Stück Papier aus dem Spiegelrahmen, auf das eine Adresse gekritzelt war, und hastete zur Tür. Und hinaus in eine Nacht, dunkler als alle, die sie je erlebt hatte… Unter der Erde. In jenem Raum voller Schatten und Illusionen, voller literarischer Träume und filmischer Fantasien hatte der dunkel gekleidete Mann seine theatralische Gewandung in der Zwischenzeit vervollständigt. Die Maske war befestigt, die Perücke aufgesetzt, die langen, weichen schwarzen Lederstiefel an seinen Füßen reichten bis über seine Knie, ein tintiger Umhang lag um seine Schultern, und auf seinem Kopf saß ein großer, spitz zulaufender Jakobinerhut, dessen Rand so breit war, dass er eine weitere Lage Schatten über die ohnedies schon rätselhaft grinsenden Züge legte. Etwas von einem Dandy, etwas von einer Vogelscheuche. Etwas von der Nacht. Ein letztes Mal noch begutachtete er sein Aussehen im Spiegel, schaltete die Lichter der Frisierkommode aus und wandte sich einer in der Nähe stehenden Shakespearebüste zu. Dann warf er sich in Pose und begann in wogendem, mitreißendem Ton vor seinem einzigen, steinernen Zuhörer zu deklamieren. „Nicht Schlachtenbrand, nicht Schwert des Mars kann fallen das Denkmal, das lebendig dich verehrt…“
Eine Verbeugung, ein Wirbeln des Umhangs, und dann, in weit leichterem, schelmischerem Ton: „Warte nicht auf mich, Will. Ich habe vor, mich heute Abend zu amüsieren.“ Damit war er fort und die Lichter waren alle gelöscht. Und alles, was dann noch blieb, waren Unmengen von Schatten.
KAPITEL 2
Evey Hammonds Nerven schrillten wie überspannte Geigensaiten, die von einem wahnsinnigen Paganini mit den Fingern gezupft wurden, während sie in verzweifelter Hast durch die schlecht beleuchteten Straßen lief. Ihre Absätze trommelten die rasende Begleitmusik auf dem Betonpflaster. Über ihr hatte eine vorüberziehende, schwere Wolkenbank Mond und Sterne erstickt und sich wie eine Decke über die unheimlich stillen Straßen gebreitet und dadurch die Dunkelheit noch dunkler, die Stille noch stiller gemacht. Hier fuhren keine Autos, es kamen keine Busse vorbei. Sie hatten ihre Ladungen nächtlicher Feiernder längst zu Hause abgeliefert. Nicht dass die Leute überhaupt viel gefeiert hätten in diesen Zeiten, außer vielleicht die höheren Ränge der Elite. Aber wer war Evey schon, als dass sie wirklich etwas darüber gewusst hätte, was die taten, ganz gleich, was sie vorhin auch über Weizen und Tabak gemutmaßt haben mochte? Die Skandalgeschichten, die sie im Büro hörte, waren wahrscheinlich nicht mehr als genau das: Geschichten. Die Partei errichtete hier das neue Jerusalem, nicht das neue Babylon. Wo sie sich im Moment allerdings befand, unterwegs in Richtung Goodge Street, schien weit weg von beidem. Hier gab es nur Stille und leere Straßen und das Klappern ihrer Absätze, das nun in ihren überempfindlichen Ohren zu beinahe donnernder Lautstärke angeschwollen war. Und die allgegenwärtigen Überwachungskameras, alle mit ZU IHREM SCHUTZE beschriftet, waren für Evey aber um diese Nachtzeit die größte Bedrohung von allen. Wenn sie doch nur nicht so spät losgegangen wäre.
Schnell weiter. Es war jetzt nicht mehr weit bis zu Gordon Deitrichs Haus in Bloomsbury und damit zu Licht und Musik, angenehmer Gesellschaft, Wein und Wärme. Und Sicherheit. Alle Bedenken, die sie zuvor gehabt hatte, sich mit ihm zu treffen, waren komplett verschwunden. Evey wollte nur noch dort sein, dort in seinem Haus, selbst in seinen Armen, wenn es nötig war, solange sie nur da bleiben konnte bis zum Morgengrauen, wenn alles wieder normal war und ihr Leben wieder seinen gewohnten Gang gehen würde. Denn im Augenblick stand sie, ganz offen gesagt, Todesängste aus. Nicht mehr weit. Wenn nur diese Nebenstraßen nördlich der Oxford Street nicht so feucht und schlecht beleuchtet gewesen wären… aber andererseits wagte sie es nicht, um diese Nachtzeit die Hauptstraßen zu benutzen, wo ihre Gegenwart viel zu auffällig gewesen wäre. Schnell weiter. Durch den Müll, der sich immer höher türmte, weil „anständige Engländer“ das Aufräumen heutzutage als unter ihrer Würde erachteten. Und all der anderen Leute, die wohl dazu bereit gewesen wären, hätte man sich ihrer nicht entledigt. Vorbei an zerrissenen Fahnen und Transparenten, die übrig waren von einer dieser Parteikundgebungen, die man vor ein paar Tagen abgehalten hatte. Das erinnerte sie nur an die Behörden und wie geschickt die Gesetzeslücken auszunutzen verstanden. Schneller. Trüge sie doch nur ihre anderen Schuhe, darin hätte sie bestimmt viel schneller laufen können als in diesen. Aber nein, sie hatte sich ja unbedingt schön machen müssen, anstatt etwas Bequemes anzuziehen. Und in diesen Schuhen zu rennen, war völlig undenkbar. Beeilung. Beeilung. Halt!
War da jemand vor ihr ein Stück die Straße hinauf? Oder war es nur eine Täuschung des Lichts, die Bewegung eines Schattens, verursacht durch vom Wind aufgewirbelten Abfall? Aber hier sollte niemand sein. Auch sie sollte nicht hier sein. Durch Panik jäh aus der Fassung geraten wandte Evey sich zur Seite und trat in eine düstere, kopfsteingepflasterte Gasse. Und eilte wieder los. Die Gasse sah ganz und gar nicht einladend aus, dermaßen mit Mülltonnen und Abfall übersät war sie. Aber wenn Evey nur so dem geheimnisvollen Fremden aus dem Weg gehen konnte… indem sie einen Bogen schlug, eine andere Gasse fand, die sie zu derselben Straße zurückführte, jenseits der Stelle, an der er lauerte. Wenn er dort noch lauerte. Wenn er ihr nicht folgte. Wenn er nicht gerade im Begriff war, sie zu packen… Renn! Schlechte Schuhe und Atemlosigkeit hin oder her, renn los. Und schau nach hinten. Keiner da, aber renn trotzdem. Und sie rannte in vollem Lauf und prallte, während sie noch nach hinten blickte, gegen etwas, das sich direkt vor ihr befand. Etwas Festes, aber doch Nachgiebiges, außen weich, aber innen hart. Schwindlig und noch taumelnd fiel ihr Blick im Licht einer kleinen Lampe auf ein Plakat, das an die Gassenmauer geklebt war. Eines dieser Plakate, die überall waren und auf denen derselbe alte Spruch stand: Stärke durch Einigkeit, Einigkeit durch Glauben, und darunter ein kleines Kreuz mit Engelsflügeln. Das Motto, das die Nation zusammenschweißte, alle bei der Stange hielt und Gewähr leistete, dass niemand auf Abwege geriet. Und dann schlangen sich kräftige Arme um ihre Taille, stützten sie und verhinderten, dass sie hinfiel. Aber ob der große Mann im Tweedmantel irgendetwas mit dem Glauben zu
tun hatte, war höchst fragwürdig. Engelsflügel jedenfalls hatte er keine. „Hoppla!“, rief er in theatralischem Tonfall. „Verzeihen Sie, Miss!“ Evey erlangte ihr Gleichgewicht zurück, war aber immer noch zu panisch, um klar zu denken, und stammelte: „Tut mir Leid, ich hab Sie nicht gesehen!“ „Wir haben es aber ganz schön eilig, was?“, sagte der Mann in übertrieben beruhigendem Tonfall, doch sein Versuch eines onkelhaften Lächelns geriet immer wieder nur zu einem Grinsen. Evey versuchte zurückzuweichen, aber seine großen Hände lagen immer noch um ihre Hüften. Und sie wusste ganz genau, warum er sie nicht fortnahm. Große, kraftvolle Hände, die zu einem muskulösen, grobknochigen Körper und einem harten Gesicht gehörten. Ein selbstgefälliger, bösartiger Funke glomm in den ansonsten kalten, schwermütigen Augen des Mannes. Augen, die sagten: „Das ist meine Glücksnacht. Hab mir ein Schnuckelchen gefangen…“ „Ich wollte nur…“ Der Mann im Tweedmantel unterbrach sie und seine Stimme war jetzt klanglos und kalt. Dann eine Feststellung, der sich nicht widersprechen ließ: „Die Sperrstunde ist vorbei, weißt du.“ „Mein Onkel…“, setzte Evey an und suchte verzweifelt nach irgendeiner Erklärung, während die Gasse um sie her mit jeder Sekunde dunkler und bedrohlicher zu werden schien. „Er ist sehr krank.“ „Oh, ein kranker Onkel, sieh an“, grinste der Tweedmantel. Als hätte er diese Ausrede noch nie gehört. Er ließ ihre Taille los und fasste mit schwieligen Fingern nach einer Locke ihres langen, blonden Haars. Dann wandte er sich einem Mann zu, der plötzlich aus der Dunkelheit auftauchte. „Was hältst du davon, Willy?“
„Für einen Haufen Mist halte ich das“, erklärte Willy, während er sich Evey von hinten näherte. Ein ebenfalls kräftiger Mann, der um nichts angenehmer aussah als sein Kumpan. Im Gegenteil, schlimmer noch, denn er hatte eine hässliche Narbe auf der Stirn, die nicht einmal seine wippende Haartolle verbergen konnte. Inzwischen schrillten in Eveys Kopf sämtliche Alarmglocken. Zwei stämmige, bedrohliche Männer. Eine düstere Seitengasse. Niemand in der Nähe, an den sie sich wenden konnte oder der auch nur ihre Schreie hätte hören können. Sie steckte in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten. Evey sah sich um, suchte nach einem Ausweg, versuchte nach hinten zu auszuweichen. Aber sie befand sich jetzt zwischen den beiden Männern und die Gasse war so schmal, dass die Kerle ihr mühelos den Weg verstellen konnten. Langsam ließ Evey eine Hand in ihre Tasche gleiten. Hoffentlich merkte es niemand. „Ich habe einen Fehler gemacht“, sagte sie, ein bisschen ruhiger jetzt und entschlossen, sich aus dieser Lage herauszureden, wenn es irgend möglich war, bevor sie etwas Drastischeres probieren musste. „Ich sollte nach der Sperrstunde nicht mehr draußen sein, das weiß ich. Aber mein Onkel…“ „Tja, vielleicht könntest du dich um uns kümmern, bevor du wieder zu deinem Onkel gehst“, sagte Tweedmantel und grinste wölfisch, ohne sich länger zu verstellen. „Weißt du, mein Freund hier… der ist irgendwie krank.“ Ein böses Lachen. „Bist du doch, oder, Willy?“ „O ja“, kicherte Willy boshaft und packte grob ihre freie Hand. „Richtig krank. Übler Fall von Depressionen. Hier, kannst mal fühlen.“
Und damit schob er die Lenden vor und versuchte ihre Hand in seinen Schritt zu drücken, wobei er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Mit jäher, panischer Kraft schaffte Evey es, sich loszureißen. Und mit der anderen Hand zog sie eine Dose Pfefferspray aus der Tasche. „Rührt mich nicht an“, knurrte sie so kalt und bedrohlich, wie sie konnte, und schwang, während sie an die Gassenmauer zurückwich, das Spray vor sich hin und her. „Oh, guck dir das an, Willy“, lachte Tweedmantel, kaum beeindruckt von ihrer zur Schau gestellten Entschlossenheit. „Das Kätzchen hat Krallen!“ Ein zahnlückiges Lächeln verzerrte Willys Lippen, als er neben seinen Kumpan trat, um sie anzusehen. „Sie hat uns gerade gedroht“, bemerkte er boshaft. Und irgendwie wirkte er in diesem Moment auf Evey wie ein ganz besonders niederträchtiger und mieser Bastard. So schlimm oder schlimmer noch wie jene, die des Nachts gekommen waren… in jener schrecklichen Nacht, vor so vielen Jahren… „Das hat sie“, grinste Tweedmantel ihm zu. „Das hat sie. Das ist ein Klasse-G-Verstoß, oder nicht?“ „Du weißt, was das bedeutet?“, fragte er wieder an Evey gewandt und zog unvermittelt eine Dienstmarke hervor. „Das bedeutet, dass wir nach eigenem richterlichen Gutdünken handeln dürfen.“ „Und du musst es schlucken“, schloss Willy anzüglich glucksend. „O Gott, ihr seid Fingermänner“, sagte Evey, als es ihr endlich dämmerte. Dieselben… „Sie kapiert’s.“ Tweedmantel blinzelte Willy zu. „O nein, bitte“, begann Evey verzweifelt und Angst ließ ihr mit einem Mal die Knie weich werden. „Das wusste ich nicht. Ich bedaure…“
„Tust du nicht“, erklärte Willy ihr mit einem kalten Lachen und einem Funken purer sadistischer Lust in den Augen. „Aber das wirst du“, sagte Tweedmantel beiläufig, obgleich er plötzlich kein Interesse mehr daran zu haben schien, sie fest zu halten, als sie an der Mauer entlang zu rutschen begann, um vielleicht doch noch zum Ausgang der Gasse fliehen zu können. „Wenn du nicht das bedauernswerteste Stück Fleisch in ganz London bist, wenn die Sonne aufgeht, so wirst du zumindest das blutigste sein.“ Aber immer noch stand er da und tat nichts weiter, als sich mit wissendem Blick Willy zuzuwenden, während sie nebeneinander traten und die Gasse in die eine Richtung vollständig abriegelten. Und als sie sich noch einmal zuzwinkerten, nahm Evey all ihre Kraft zusammen und rannte in die andere Richtung, in Angst und Schrecken, voller Verzweiflung. Wiederum blindlings. Und so rannte sie geradewegs gegen einen dritten Fingermann, von dem die anderen beiden offenbar die ganze Zeit über gewusst hatten und der sich von hinten an sie herangepirscht hatte. Er war sogar noch größer als seine Gefährten. Es fühlte sich an, wie in ein Pissoir aus Ziegeln zu rennen, wie Gordon Deitrich in einem seiner derberen Momente gesagt hätte. Der Zusammenstoß trieb ihr allen Atem aus dem Leib. So kostete es den Mann nur eine Sekunde, ihr den Arm schmerzhaft auf den Rücken zu drehen und sie zu zwingen, das Pfefferspray fallen zu lassen. Es schlug mit einem dünnen, blechernen Klappern aufs Pflaster und dieses Geräusch schien für Evey irgendwie das Ende der Welt zu signalisieren. Oder zumindest ihrer Welt. „O Gott, nein!“, kreischte Evey nunmehr vollends in Panik, da ihr letztes Mittel zur Verteidigung dahin war und ein
scharfer Schmerz durch sämtliche Gelenke ihres Armes schoss, von der Schulter über den Ellbogen bis zum Handgelenk. „Bitte, tut das nicht!“, flehte sie verzweifelt und ihr wurde schlecht vor Entsetzen. „Ich werde nach Hause gehen! Ich werd’s nicht wieder tun, ich schwör’s! Bitte!“ „Was meint ihr, Jungs?“, fragte der dritte Fingermann, während er ihren Arm noch weiter nach hinten zerrte und ihren Oberkörper vornüber zwang. „Wer die Rute schont, verzieht das Kind“, kicherte Willy boshaft, grinste seinen Kumpanen lüstern und auffordernd zu und fing an, den Reißverschluss seiner Hose mit übertrieben theatralischer Geste zu öffnen. Er hatte eine ganz bestimmte Rute im Sinn. Während die Gasse von rauem, männlichem und zutiefst unangenehmem Gelächter widerklang, von Witzen über Willy, der seinen Willy herausholte, und von Streitereien darüber, wer als Zweites ran durfte, spürte Evey, wie sich ein Fuß gegen ihre Unterschenkel presste und sie auf die Knie nieder zwang. Dann, und ohne ihren Arm loszulassen, packte der Fingermann hinter ihr mit seiner freien Hand ihr Haar und riss ihren Kopf hoch. „Hilfe!“, schrie Evey aus vollem Halse. Kalte, harte Pflastersteine drückten schmerzhaft gegen ihre Kniescheiben. „Bitte! Helft mir!“ Sie wusste, dass es sinnlos war, und der Fingermann wusste es auch. Noch schlimmer und erniedrigender war, dass es in dieser nasskalten, schmutzigen Seitengasse geschah, wo man sie zu nichts anderem als einem weiteren Stück Abfall degradierte, wie all der Abfall um sie her. Etwas, das man benutzte und wegwarf. Willy trat auf sie zu, jetzt auch noch den Gürtel geöffnet, und begann seine Hosen herunterzulassen. Plötzlich erklang irgendwo aus dem nahen Dunkel jenseits des Lichtes der Lampe, die das Plakat beschien, eine Stimme.
Eine volle, theatralische, shakespear’sche Stimme mit den passenden Worten für die Situation, die sich da in der Gasse offenbarte, auch wenn den Hauptdarstellern der Szene das Zitat gänzlich entging. „Umschwärmen, stets sich mehrend, der Natur Bosheiten ihn…“ „Was zum Teufel…?“, rief der dritte Fingermann und starrte in die pechschwarze Finsternis ein Stück die Gasse hinunter. Und dann begann etwas aus dieser tintigen Schwärze aufzutauchen, einige Fuß über dem Boden. Etwas derart Knochenweißes, dass es zu leuchten schien. Zunächst sah es aus wie ein grinsender Totenschädel, der in der erdrückenden Nacht schwebte, sich dann aber, als er langsam näher kam, vor ihren Augen in ein etwas menschlicheres Gesicht verwandelte, totenbleich bis auf den Hauch von Farbe auf Lippen und Wangen, die Schwärze eines nach oben gezwirbelten Schnurrsowie eines Spitzbarts, das Lächeln auf immer festgefroren. Eine Maske… die Stirn überschattet von einem breitkrempigen Hut. „Wir sind Fingermänner, Freundchen!“, brüllte Tweedmantel grimmig, obschon er sich sehr wohl bewusst war, dass er ins Dunkel rief und versuchte, dieses entnervende Schreckgespenst allein mit der Macht von Worten zu vertreiben. „Hau ab!“, fügte Willy hinzu, den Blick auf die Maske geheftet, während seine Hände in Richtung seiner Hosen sanken, die ihm um die Knöchel hingen. Jeder Gedanke an sexuelle Befriedigung war unvermittelt dahingeschwunden im Angesicht plötzlicher Bedrohung, es mochte vielleicht nur ein vorbeikommender Irrer sein… davon gab es weiß Gott noch genug, trotz der Bemühungen, sie alle wegzusperren oder zu erschießen… es konnte aber auch eine echte, unmittelbare Gefahr sein. Oder beides. Was immer oder wer immer es auch
war, sie mussten sich auf der Stelle darum kümmern. Das Mädchen konnte warten. Aber plötzlich aufwallende Angst hinderte seine Finger daran, seine Hose zu fassen und hochzuziehen. „Das Glück vernichtend mit geschwungnem Stahl“, erklang die Stimme von neuem und die Maske schien sich nun rascher zu nähern, „,der heiß von Blut und Niederlage dampfte.“ Plötzlich tat sich ein Spalt in den Wolken auf und ein Mondstrahl traf die verkommene Gasse, schimmerte auf den feuchten, schmierigen Granitpflastersteinen, den rostenden Mülltonnen und aufgeplatzten Kartons, erfasste die schwarz gekleidete Gestalt im wirbelnden Umhang, die diese Maske trug… und funkelte bedrohlich auf der langen Stahlklinge, die der Fremde so fest in einer dunkel behandschuhten Faust hielt. „Er hat ein Messer!“, rief der dritte und größte Fingermann und zog plötzlich einen schweren Polizeiknüppel unter seinem Mantel hervor. Dieser Aufschrei erlöste Willy endlich aus seiner Lähmung, aber er stolperte nur und stürzte zu Boden, die Hose immer noch um seine Knöchel. Und ehe er auch nur auf die Knie hochkommen konnte, war alles vorbei. Nicht ganz sicher, was eigentlich passierte, konnte Evey das folgende, tödliche Geschehen nur voller Entsetzen mit ansehen, das allerdings blankem Staunen wich, weil sie nicht verstand, wie ein Mensch sich so blitzartig bewegen konnte – sie war nicht in der Lage auszumachen, ob der Fremde seine Fäuste oder Füße einsetzte, ob er zuschlug oder -trat. Keine Zweifel jedoch gab es hinsichtlich seines langen, tödlichen Messers. Alles wurde zu einem verschwommenen Wirbel aus Gewalt, den sie kaum zu verfolgen im Stande war und den sie noch weniger begriff. Blitzschnell war der maskierte Mann zwischen seinen Widersachern, das Messer in einer Hand, die andere zu einer stahlharten Faust geballt. Diese Faust, so schien es Evey,
erwischte den knüppelschwingenden Fingermann mit enormer Wucht in den Bauch und schleuderte ihn zurück, sodass er gegen die Mauer krachte. Der Schlagstock entglitt seinen Fingern. Langsam rutschte der Kerl an der Wand hinunter und sackte bewusstlos in sich zusammen. Vielleicht sogar für immer bewusstlos. Irgendwie schien er auch zu bluten, obwohl Evey nichts gesehen hatte, was eine derartige Verletzung hätte verursachen können. Konnte irgendjemand ein Messer so schnell fuhren, dass es mit Blicken nicht zu verfolgen war? Unterdessen hatte Tweedmantel es geschafft, eine Pistole zu ziehen und zu spannen, aber bevor der Hahn zurückschlagen konnte, blitzte ein geschleudertes Messer durchs Mondlicht, traf ihn in die Schulter und warf ihn nach hinten. Taumelnd rang er um sein Gleichgewicht, während die Waffe einen unkontrollierten Schuss abgab. Ehe er zielen konnte, hatte auch er die Besinnung verloren, und das Messer steckte wieder passgenau in der Gürtelscheide, aus der es nur Augenblicke zuvor gezogen worden war. Lebte der Kerl noch? Evey hatte keine Ahnung. Und damit war nur noch Willy übrig, der sich immer noch in animalischer Panik mit seiner Hose abmühte und verzweifelt versuchte, auf die Füße zu kommen. Er wollte nicht kämpfen, sondern um sein Leben rennen. Er hatte es gerade auf die Knie geschafft, als sich ein großer schwarzer Schatten über ihm auftürmte wie der sich endgültig schließende, schwere Deckel eines Sarges. „Oh mein Gott!“, schrie Willy und wenn ihm auch nur annähernd bewusst war, dass er in ziemlich derselben Position vor seinem Feind kniete, wie Evey es eben noch vor ihm getan hatte, entging ihm die Ironie doch gänzlich. „Gnade, bitte! Gnade!“ „Wir sind oft hierin zu tadeln“, bemerkte die maskierte Gestalt im Umhang nachdenklich und erst jetzt entdeckte
Willy, dass der lange, schwere Knüppel seines Kumpans in der schwarz behandschuhten Hand des Mannes lag und drohend in die andere geschlagen wurde. „Gar viel erlebt man’s – mit der Andacht Mienen und frommem Wesen überzuckern wir den Teufel selbst.“ „Wa… was heißt das?“, wimmerte Willy verständnislos und starrte mit schreckensweiten Augen in die ausdruckslose Maske über ihm. Nein, als er von neuem hinsah, erkannte er, dass die Züge ganz und gar nicht ausdruckslos waren, so unbeweglich sie auch sein mochten. Als das Mondlicht noch ein bisschen zunahm, wurde das Lächeln deutlicher. Und für Willy war es kein nettes Lächeln. „Schont die Rute!“, erklärte der Fremde geduldig. Und dann schlug er zu. Es gab ein irgendwie feuchtes, Übelkeit erregendes Geräusch. Danach konnte Willy nicht mehr aufstehen. Evey hatte die ganze Zeit auf dem Boden der Gasse gelegen und alles beobachtet, ohne auch nur das Geringste zu begreifen. Sie wusste nicht, wie oder warum unvermittelt jemand aufgetaucht war und sich nun um drei bullige Fingermänner kümmerte, die ihr mit dem traditionellen „Schicksal, schlimmer als der Tod“ drohten… dem dann sehr wohl auch noch der Tod selbst folgen konnte. Sie wusste nicht, wie er mit diesen Kerlen hatte fertig werden können, geschweige denn so schnell und brutal, dass sie kaum Zeit gehabt hatte wahrzunehmen, was eigentlich geschehen war. Natürlich war sie nicht zum ersten Mal mit Gewalt konfrontiert worden… wie jeder in Zeiten wie diesen… aber nicht so. Und für gewöhnlich wurde sie von den Agenten des Fingers zugefügt, nicht umgekehrt. Schlimmer noch aber war, dass sie keine Ahnung hatte, was der Fremde als Nächstes vorhatte.
Als sich der maskierte Mann ihr zuwandte, fast so, als bemerkte er sie erst jetzt, kroch sie hastig über das Pflaster, las die Pfefferspraydose auf, die sie vorhin hatte fallen lassen müssen, und hielt sie abwehrend vor sich, während sie darauf wartete, dass er seinen nächsten Zug machte. Aber noch im selben Moment musste sie daran denken, wie nutzlos es schon zuvor gewesen war – und dachte weiter, dass es jetzt wahrscheinlich noch nutzloser war. „Ich versichere dir, dass ich dir nichts zu Leide tun will“, sagte der Fremde ruhig, beinahe sanft, und mit der leisen Andeutung einer Verbeugung. Aber auch wenn in seiner Stimme aufrichtige Sorge um sie zu liegen schien, war Evey doch nicht ganz überzeugt. „Wer… wer sind Sie?“, fragte sie nervös, das Pfefferspray noch erhoben, obgleich sie, nach allem was sie gesehen hatte, wusste, dass er es ihr mit ziemlicher Gewissheit so leicht abnehmen könnte wie einem Kind einen Lutscher. „Wer?“, fragte er in fast verdutztem Ton. „Wer ist nur die Form, die der Frage nach dem Was folgt… und was ich bin, das ist ein Mann mit einer Maske.“ „Das kann ich ja sehen“, entgegnete Evey, obgleich sie verwirrter war denn je. „Natürlich kannst du das“, sagte er geduldig. „Ich stelle nicht deine Beobachtungsgabe in Frage. Ich beziehe mich lediglich auf das Paradoxon, einen maskierten Mann zu fragen, wer er ist.“ „Oh“, sagte Evey zögerlich. „Oh, richtig.“ „Doch in dieser glückhaftesten aller Nächte“, fuhr er fort, jetzt zunehmend schwülstiger, „erlaube mir denn, dir an Stelle des eher banalen Beinamens das Wesen dieser Dramatischen Figur vorzustellen.“ Es folgte eine große, extravagante, theatralische Geste, von der Spitze seines Hutes bis zur Sohle seiner Stiefel, die es
zugleich vermochte, seine schwarz gekleidete Gestalt aus der Dunkelheit zu lösen. „Voilà!“ Eine winzige Pause, perfekt auf die größtmögliche Wirkung hin abgestimmt, und dann: „Ihr seht einen bescheidenen Varieteveteranen, vom steten Wandel des Schicksals sowohl als Opfer wie auch als Schurke besetzt.“ Evey starrte ihn nur an und vergaß, das Pfefferspray hoch zu halten. Und als nähme er ihr Schweigen als willige Zustimmung, doch fortzufahren, hob er eine Hand, um auf seine Maske zu deuten. „Dieses Antlitz, nicht bloße Tünche der Eitelkeit, ist ein Rudiment der vox populi, nunmehr vakant, verschwunden – eine vitale Stimme, einst hoch verehrt, jetzt verachtet. Indes, diese verwegene Visitation einer Plage der Vergangenheit ist nun erfüllt von neuem Leben und hat versprochen, jene verführbaren und virulenten Parasiten zu vernichten, die der Verderbtheit vorangehen und die violente, verwerfliche und versessene Verletzung des freien Willens vonstatten gehen lassen.“ Dann hielt er um der Wirkung willen inne und Evey spürte, wie ihr der Mund offen stehen blieb. Aber vielleicht war ja das die Wirkung, die er erzielen wollte. Wie auch immer, bevor sie etwas sagen oder ihn gar fragen konnte, wovon zum Teufel er da redete, war er schon wieder in seinem Element. „Rache ist das einzige Votum“, proklamierte er. „Eine Vendetta, als Votiv gegeben, nicht vergebens, denn Wert und Wahrhaftigkeit einer solchen sollen eines Tages die Vigilanten und Vertrauenswürdigen verteidigen. Doch fürwahr, dieser verbale Vortrag ist zu wortreich, darum lass mich noch schlicht hinzufügen, dass es mir eine sehr große Ehre ist, dich kennen zu lernen, und du kannst mich V nennen.“ Damit vollführte er eine tiefe, theatralische Verbeugung und streckte eine Hand nach ihr aus, um ihr beim Aufstehen
behilflich zu sein. Doch sie starrte die behandschuhte Hand vor ihr an, als könnte sie gefährlich sein wie eine Schlange. „Sind Sie“, setzte sie zögernd an, „sind Sie… ein Irrer?“ „Ich bin ganz sicher, dass man das sagen wird“, antwortete er und bot ihr seine Hand demonstrativer dar als zuvor. „Aber mit wem, wenn ich fragen darf, habe ich das Vergnügen zu sprechen?“ „Ich bin…“ Immer noch kam sie gegen ihr Zögern nicht an, aber sie ließ endlich das Pfefferspray zurück in ihre Tasche gleiten und griff nach seiner Hand. „Ich bin Evey. Evey Hammond.“ „Evey?“, bemerkte er mit einer Spur verwirrter Überraschung, während er ihr auf die Beine half. „Ih-Vih. Ja, natürlich bist du das.“ „Was soll das heißen?“, fragte sie, klopfte sich den Schmutz ab und strich ihre Kleidung glatt. Gott, sie sah furchtbar aus. Aber das war ja auch kein Wunder nach allem, was passiert war. „Das heißt“, in seiner Stimme war jetzt ein nachdenklicher Ton, „dass ich, wie Gott, nicht würfle und nicht an Zufall glaube. – Bist du verletzt?“ „Nein, ich bin in Ordnung“, entgegnete sie, nachdem sie sich endlich so weit wieder hergerichtet hatte, dass sie das Gefühl hatte, ihre Aufmerksamkeit jetzt auf ihren Retter richten zu können. Nicht, dass sie viel von ihm erkennen konnte, so maskiert und kostümiert. War er unterwegs zu einem schicken Kostümball gewesen? Vielleicht sollte sie besser nicht danach fragen. „Ich danke Ihnen.“ „Ich spielte nur meine Rolle“, sagte er mit einer weiteren, weniger förmlichen und weitaus bescheideneren Verbeugung. Und dann, nach einem Moment des Nachdenkens: „Aber sag mir, Evey, magst du Musik?“
„Ich glaube schon“, gab sie zurück, nicht ganz sicher, an welche Art von Musik er dabei dachte. Aber die Frage weckte Erinnerungen an ihre Kindheit – schließlich hatte es damals so viel mehr Musik gegeben. Jazz, Reggae, Rock ‘n’ Roll, Weltmusik… heute alles Vergangenheit und es gab nichts mehr zu hören außer der „genehmigten“ Musik, die von den regierungskontrollierten Radiosendern gespielt wurde. Größtenteils militaristischer Dreck. Aber weshalb, um alles in der Welt, sollte er ihr eine Frage wie diese stellen, nachdem er sie gerade erst aus einer so scheußlichen Lage befreit hatte? „Weißt du, ich bin eine Art Musiker“, erklärte ihr der Mann, der sich V nannte, „und auf dem Weg zu einer ganz besonderen Vorstellung.“ „Was für ein Musiker denn?“, fragte Evey auf einmal wieder nervös und nicht ganz sicher, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte. „Schlaginstrumente sind meine Spezialität.“ Irgendwie schien das Grinsen auf seiner Maske breiter als zuvor. „Aber heute Abend, für dieses besondere Ereignis, möchte ich das ganze Orchester in Anspruch nehmen. Und…“ Abermals eine winzige Pause, eine ganz leichte Verbeugung. „Ich wäre sehr geehrt, wenn du dich mir anschließen könntest.“ „Oh, ich glaube nicht“, sagte sie eilig und plötzlich fiel ihr alles, was in den vergangenen paar Minuten geschehen war, wieder ein und auch, dass es, da sie ja immer noch nach der Sperrstunde unterwegs war, jederzeit wieder geschehen konnte. „Ich denke, ich sollte nach Hause gehen.“ Doch während sie so dastand, verstört und verunsichert, trat er näher, nahm ihre Hand und hob sie an seine Maske, fast so als sei er im Begriff, sie zu küssen. Sie sah ihn voll Befremden an. Gesten wie diese hatte sie bislang nur in historischen Fernsehsendungen gesehen, die im 19. Jahrhundert und früher spielten. Das Gebaren eines altmodischen englischen
Gentlemans, einer Spezies, die, davon war sie überzeugt gewesen, längst ausgestorben war. „Ich verspreche, es wird sein wie nichts, was du je gehört oder gesehen hast“, sagte er, seine Stimme beharrlich und fesselnd. „Und dass du hinterher ganz sicher nach Hause gelangen wirst.“ Und irgendwie wusste sie, dass es auf eine derart höflich formulierte Versicherung nur eines zu sagen gab. „Naja… einverstanden.“
Danach begannen das Gefühl von Abenteuer und Aufregung Eveys Nervosität zu verdrängen. Wie oft bekam sie schließlich schon die Chance, um beinahe Mitternacht durch die Straßen von London zu streifen, begleitet nur von einem maskierten, mysteriösen Mann in Schwarz, der drei der gefürchteten, ungeschlachten Fingermänner in kaum mehr als einem Lidschlag erledigen konnte? Und sie hatte das Gefühl, dass sie ihm dafür etwas schuldig war, und wenn er sie also zu einer Art musikalischer Darbietung mitnehmen wollte, wäre es äußerst undankbar, ihm diese Bitte abzuschlagen. Andererseits war er nicht gerade mitteilsam, was den Ort anging, wo dieses Konzert stattfinden sollte, oder die genaue Anfangszeit. Aber während er sie durch die Straßen führte, Bogen schlug, um Überwachungskameras zu entgehen, und sich gelegentlich in dunkle Türeingänge oder Gassenmündungen drückte, wenn ein Streifenwagen vorbeifuhr, hielt sie derlei Fragen für zunehmend unwichtiger und gab sich ganz ihrer Abenteuerlust hin. Oder dem Vergnügen am Wagnis, wie V es wahrscheinlich eher genannt hätte, so besessen wie er vom Alphabet war. Wie als Reaktion darauf, dass ihr nun leichter zu Mute war, blies eine Brise die Wolken fort, und die Sterne erschienen wie
Diamanten über das dunkle Tuch der Nacht gestreut. Der silbern leuchtende, fast volle Mond kam in Sicht und beschien mit seinem fahlen Licht das alte London, wie er es auch schon in den vergangenen 2000 Jahren getan hatte, ohne Furcht vor seinen Einwohnern und ohne Wohlwollen für sie, ungeachtet ihrer Unschuld oder Schuld. Die Unruhe kehrte jedoch zurück, als sie – nach einem ziemlichen Umweg, der in etwa der New Oxford Street folgte und sich dann entlang High Holborn dahinschlängelte – in der Gegend von Farringdon ankam und er Evey, anstatt sie in einen Konzertsaal oder dergleichen zu geleiten, eine Feuertreppe emporführte und auf das Dach eines der höheren Gebäude des Viertels. Außerdem war sie jetzt ein ganzes Stück von ihrer Wohnung in Paddington entfernt, trotz seiner Zusicherung, dass sie sicher wieder nach Hause käme. Doch dann wurde das Gefühl der Nervosität augenblicklich verdrängt vom Wunder der Aussicht, die sie ringsum hatte, mit reinstem Mondlicht versilbert und unter den Sternen funkelnd. Vor ihnen erhob sich Old Bailey oder, wie es förmlicher hieß, der Oberste Strafgerichtshof, ein gewaltiger Klotz aus Stein, gekrönt von einer kupfernen Kuppel, die wiederum die berühmte Bronzestatue der Justitia trug, eine Frau mit verbundenen Augen, die Arme zu beiden Seiten gerade ausgestreckt, die Waagschalen der Gerechtigkeit von ihrer linken Hand hängend, das gefürchtete Richtschwert aus der rechten aufragend. Etwas rechts davon sah man die Kuppel von Sir Christopher Wrens Saint-Pauls-Kathedrale, ein Phönix, der sich wieder lebend aus der Verheerung des Großen Feuers erhob, das seinen Vorgänger so gründlich vernichtet hatte. Weiter südlich dann lag das Denkmal, das an das Große Feuer selbst erinnerte, errichtet an der Pudding Lane, wo der Brand begonnen hatte. Dahinter wiederum standen die hoch aufragenden Wolkenkratzer der City von London, dem
Finanzherz der Nation. Und noch weiter dahinter sah man die noch größeren, blockartigen Türme von Canary Wharf. Eveys rundum schweifender Blick streifte den erst vor kurzem gebauten, aber doch vertrauten Jordan Television Tower (vertraut deshalb, weil sie dort arbeitete), dann kehrte er zum West End zurück, zum Centre Point und dem alten Post Office Tower (heute Hauptquartier des Auges), bevor er weiterwanderte zur Westminster Abbey und den Houses of Parliament und südlich davon bis hin zur Themse. Alles lag vor ihr wie eine Karte oder ein vom Mond beleuchtetes Modell der Stadt, ihre Verbrechen und Laster, Schrecken und Unterdrückung im Dunkeln verborgen, ihre Schönheiten von himmlischem Licht hervorgehoben. Kein Wunder, dass jemand (sie glaubte, dass es Dr. Samuel Johnson gewesen war, konnte sich aber nicht ganz genau erinnern) einmal gesagt hatte, dass „jeder, der Londons müde ist, ist des Lebens müde“. Oder so ähnlich jedenfalls. Ihr Vater hatte es einmal auf einer Stadtrundfahrt zu ihr gesagt, und das hieß, dass sie es vor langer Zeit gehört haben musste. „Es ist wunderschön hier oben“, sagte sie, als sie sich schließlich aus ihrer Versunkenheit in die Szenerie löste und sich zu V umdrehte, der neben ihr stand und nachdenklich in die Richtung von Old Bailey schaute. „Eine perfektere Bühne könnte man nicht verlangen“, sagte er leise, gerade so, als sei auch er von der Aussicht gefangen. „Trotzdem, ich sehe keine Instrumente“, bemerkte Evey verwirrt. „Deine Beobachtungsgabe lässt dich fürderhin nicht im Stich.“ Jetzt schien das auf seine Maske gemalte Lächeln irgendwie echt, als verliehen seine Stimme und Körpersprache dem ausdruckslosen Gebilde mehr und mehr Ausdruck, je besser sie ihn kennen lernte. „Aber warte…“
Dann trat V mit der Flinkheit eines professionellen Bühnenzauberers an die Brüstung, zog einen dünnen Taktstock aus seinem Ärmel und vollführte damit eine übertriebene Bewegung, mit der er Eveys Augenmerk auf Old Bailey lenkte. „Der Old Bailey“, begann er dann, „wurde 1907 an der Stelle des berüchtigten Afewgate-Gefangnisses erbaut, ein fürchterlicher Ort, an dem man von Glück reden konnte, wenn man lange genug überlebte, um aufgehängt zu werden. Der berühmte Straßenräuber Dick Turpin wurde einst dort gefangen gehalten, wie so viele andere, die ihres letzten Tages auf Erden harrten – ein Ende, das vielen Erlösung bedeutet haben muss. Direkt gegenüber liegt das Magpie and Stumps, wo es das ,Exekutionsfrühstück’ gab für die hysterische Menge, die sich versammelte, um die öffentlichen Massenhinrichtungen, die nicht weit von hier stattfanden, zu begaffen, und die jedes Mal wie verrückt jubelte, wenn es wieder einen dahinraffte’, bis es 1868 endlich vorbei war mit den Exekutionen. Und all das geschah in der guten alten Zeit, als England noch ein Gerichtswesen und eine funktionierende Verfassung hatte. Damals, lange vor dem letzten Krieg und allem, was seitdem passiert ist.“ Die Ironie entging Evey nicht. Seit dem Krieg war alles noch viel schlimmer geworden und der Old Bailey hatte zahllose Menschen gesehen, die zum Tode verurteilt wurden. Nur war heute niemandem mehr nach Jubeln zu Mute. Schließlich fuhr er fort und kehrte zum Thema der Verlustierung dieses Abends zurück: „Es ist Frau Justitia, der ich dieses Konzert widme, zu Ehren des Urlaubs, zu dem sie sich aus diesem Teil der Welt zurückgezogen zu haben scheint… und in Anerkennung der Hochstaplerin, die dort an ihrer statt steht.“ Während sie erneut einen Blick auf die Statue warf, dachte Evey darüber nach, wie sehr sich die Dinge doch geändert
hatten. Obgleich beides in Justitias Händen verblieben war, entschied heute nur noch das Schwert und nicht mehr die Waage. „Sag“, unterbrach er ihre Gedanken, „weißt du, welche Nacht wir heute haben, Evey?“ „Äh…“, sie musste innehalten und überlegen. „Den fünften November?“ Und kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, begann hinter ihr, drunten an der Westminster Abbey, Big Ben die Mitternachtsstunde zu schlagen. Und mit einem leichten Nicken, das den perfekten Zeitpunkt des Glockenschlags quittierte, fuhr V fort: „Und die Bedeutung dieses Datums?“ Natürlich kannte Evey die, aber sie wusste auch, dass dieses Datum nicht mehr gefeiert wurde. Die offizielle Lesart war immerhin, dass Guy Fawkes nicht mehr gewesen war als ein Terrorist, der versucht hatte, den Staat zu stürzen. Und wenn das gemeine Volk den Verräter seither auch alljährlich symbolisch verbrannt hatte, um ihn auf ewig für seine Verbrechen zu strafen, hatte es für die gegenwärtige Regierung doch zu sehr nach einer Feier ausgesehen. Und alles, was auch nur annähernd wie eine Feier des Terrorismus wirkte, war rigoros ausgemerzt worden. Das hatte zu sehr den Ruch von Redefreiheit und konnte keinesfalls geduldet werden. Dann, fast so als erklänge das ferne Schlagen der riesigen Glocke aus keinem anderen Grund als dem, seine Stimme zu untermalen, begann der maskierte Mann zu deklamieren… „Was sagt der Kalender? Der fünfte November, das Schießpulver-Attentat! Stets mögen die Menschen in Ehrfurcht gedenken dieser glorreichen Tat.“
Als der letzte Ton des Mitternachtsläutens in der kühlenden Luft verklang, begann V endlich mit seiner Vorstellung, tippte mit seinem Taktstock gegen die steinerne Brüstung und hob dann beide Arme über den Kopf, als riefe er ein unsichtbares Orchester zur Aufmerksamkeit. „Zuerst“, erklärte er, „die Ouvertüre.“ Und dann begannen sich seine Arme zu bewegen, langsam und sanft zunächst, als versuchte er, der Stille Musik abzuschmeicheln. Doch es war nichts zu hören und Evey fragte sich allmählich, ob er wirklich verrückt war und die Musik vielleicht nur in seinem Kopf existierte. Oder ob seine ganze „Vorstellung“ nicht mehr sei als eine Pantomime. Irgendwie erinnerte sie das, was er tat, an einen alten Bugs-BunnyCartoon, den sie als Kind gesehen hatte, bevor alles Amerikanische mit dem Bann belegt wurde. „Hör genau zu“, sagte er da, und seine leise Stimme forderte ihre Aufmerksamkeit zurück. „Hörst du es?“ Evey, die nun verwirrt war, weil offenbar mehr hinter all dem steckte, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, legte den Kopf schief und lauschte, während sie Vs Taktstock beobachtete, wie er sich bewegte, beschwörend… „Ich höre es“, sagte sie auf einmal, kindliches Staunen in ihrer Stimme – das war schließlich Magie. Und vielleicht war es ja weniger ein Taktstock, den er da hielt, und eher ein Zauberstab. Trotzdem, selbst jetzt war sie nicht ganz sicher, ob sie es sich vielleicht nicht doch nur einbildete. Aber nein, es war zweifellos zu hören… die sanften Geigen der ersten Takte von Peter Tschaikowskys Ouvertüre 1812, die sich sanft erhoben wie dünner, weißer Dunst, der aus der Dunkelheit der Straßen und Gassen von London aufstieg. Als die Musik zu größerer Lautstärke anschwoll und das wohl bekannte Thema aufnahm, konnte Evey nicht anders, als an die Brüstung zu stürzen und hinabzuschauen, um den Ursprung auszumachen.
Schließlich glaubte sie, es sei ein in der Nähe befindlicher Lautsprecher, einer von den unzähligen, die jetzt überall in London und jeder anderen Stadt des Landes hingen und die tagsüber in endloser Folge Bekanntgaben, Propaganda und Kontrollbefehle kundtaten. Aber nein, es war nicht nur ein Lautsprecher. Es waren alle. In ganz London erklang Tschaikowskys musikalische Darstellung von Moskaus heroischem Widerstand gegen die einmarschierenden napoleonischen Horden und wurde lauter und lauter. Und eingewoben in das Thema waren, obgleich sie nach Auffassung des Komponisten nicht mehr und nicht weniger als den Feind repräsentieren sollten, Auszüge aus der Marseillaise, jener Lobeshymne auf die heutigentags vergessenen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Jener revolutionäre Ruf: „Aux armes citoyens!“ Zu den Waffen, Bürger! Und überall in der Stadt wachten Kinder auf und fragten ihre Mütter erschrocken, was das zu bedeuten hätte, und Menschen stürzten auf die mondbeschienenen Straßen heraus, um zuzuhören, ohne an die Sperrstunde zu denken. Denn diese Musik war jetzt laut genug, um die gesamte Stadt aufzuwecken, vielleicht sogar laut genug, um die Toten zu wecken… denn die Seelen der meisten Einwohner der Stadt waren heute wie tot gegenüber so vielen Dingen, auf die es ankam. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit… Und in den Büros der Sicherheitsdienste und der Polizei und selbst dort in der Downing Street war der Teufel los. „Wie haben Sie das gemacht?“, fragte Evey, ein staunendes Lächeln im Gesicht. „Warte“, sagte V immer noch dirigierend und seine Bewegungen wurden noch rasender und zügelloser. „Hier kommt das Crescendo.“
Und das Thema kehrte wieder, weit mächtiger als beim ersten Mal, steigerte sich unerbittlich seinem Höhepunkt entgegen, mit allem Kampfeszorn von Trommeln und Becken und Kesselpauken, bis zu der Stelle, an der Tschaikowsky bei der Premiere als Teil der Aufführung echte Kanonen hatte abfeuern lassen. Und als dieser Punkt erreicht war, wurde der Nachthimmel über London plötzlich von einer erschütternden Explosion zerrissen, perfekt abgestimmt auf die Musik, und die Statue der Justitia wurde in Brocken schmelzenden Metalls zerfetzt, ihr Schwert und ihre Waage verschwanden in einem Ball aus wütenden Flammen und Rauch. Evey konnte nur schockiert hinüberstarren, während die Musik wieder anhob und – abermals so abgestimmt, dass es dem originalen Kanonendonner entsprach – eine weitere Reihe dröhnender Explosionen den Old Bailey in unzählige Trümmer riss. „Wunderschön, nicht wahr?“, fragte V, als die ungeheuren Echos des einstürzenden Gebäudes verhallten. Er wandte sich um und verneigte sich nach Dirigentenart vor seiner zutiefst bestürzten Zuschauerin. Evey konnte einfach nicht glauben, was sie sah. Dieses gewaltige Bollwerk aus Stein und Metall, eines der Wahrzeichen, welches das Bild von London seit über hundert Jahren geprägt hatte, mit all seiner Geschichte, all den Erinnerungen an Strafprozesse, war einfach verschwunden. Zerstört, zusammengebrochen, eingehüllt in wogende Wolken aus Rauch und Staub. Und V hatte ihr, ganz allein ihr, einen Logenplatz für dieses Spektakel zur Verfügung gestellt. Doch die Vorführung war noch immer nicht ganz vorbei, denn als das Dröhnen in ihren Ohren nachließ, hörte sie plötzlich das Brausen und Zischen von Feuerwerk und eine weitere, weit weniger lautstarke Explosion. Aber dies war
nicht der übliche Sternenschauer einer explodierenden Rakete – vielmehr war es der Nachspann des Künstlers, groß über den sternübersäten Himmel geschrieben. Dort oben funkelte, in erblühenden Lichtpunkten, ein einzelner leuchtender Buchstabe: V. Die Augen groß vor Ehrfurcht und Überraschung wandte Evey sich dem Verursacher des Vergnügens dieses Abends zu… aber er war bereits verschwunden. „V?“, fragte sie das leere Dach. Und fragte noch einmal, die leere, stille Luft: „V?“ Dann begannen ringsum aus all den Lautsprechern, die vor wenigen Augenblicken noch die musikalische Untermalung geliefert hatten, die grellen, misstönenden Sirenen zu heulen…
KAPITEL 3
Die Spannung erfüllte den Raum wie der dicke schwarze Rauch der sich von einem Opfer an böse Götter erhob, aber keiner der Männer, die um den großen Tisch in der Mitte versammelt waren, konnte sich dazu überwinden, etwas zu sagen, um sie zu verringern. Auch dies war ein Raum voller Düsternis und Schatten, aber ganz im Gegensatz zu jenem, der ein ganzes Stück entfernt unter der Erde verborgen lag, enthielt dieser nichts, um die bedrückende Atmosphäre zu lindern: keine Plakate, Bücher und Musik… und schon gar keine Büste von Shakespeare. Denn dies war der neue, modernisierte und in jeder Hinsicht auf dem neuesten Stand befindliche Kabinettsraum der Downing Street, jetzt gänzlich ausgestattet in Grau, Stahl und Schwarz. Und hier, wo sich einst gewählte Kabinettsminister eingefunden hatten, um die Geschicke und die Führung des Landes zu debattieren und zu diskutieren, saßen die nicht gewählten, sondern ernannten Abteilungsleiter, die heute das neue Staatswesen repräsentierten – oder eher seine Unterdrückung, denn das politische Leben hatte man indessen, wie Guy Fawkes selbst vor vierhundert Jahren, gehängt, ausgeweidet und gevierteilt und danach den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Es waren meistenteils eisenharte, skrupellose Männer, die ihrer Macht zum Trotze dem karikierenden Humor der britischen Öffentlichkeit, den zu ersticken und zu verbieten sie alle Anstrengungen unternahmen, nicht ganz entgehen konnten. Und so hatten diese übrig gebliebenen Zerrbilder angeblich gesetzmäßiger Regierungsabteilungen ihre Spitznamen: Die Sicherheitsdienste nannte man den
Finger, die visuelle Überwachung das Auge, die Audioüberwachung das Ohr, die Verbrechensermittlung die Nase, die Propaganda den Mund. Und alle zusammen genommen waren sie als der Kopf bekannt, trotz der offenkundigen Anomalie, dass auch der Finger dazu gehörte. Aber der Finger war auch am gefürchtetsten von allen und niemand wollte die Berührung dieser besonderen Gliedmaße auf seiner Schulter spüren. Und hier waren sie also alle, um den großen Tisch in der Mitte versammelt, abgehärmt von Schlafmangel, ihre Gesichter nur von kleinen Leselampen auf der Tischplatte und dem grauen Schein eines großen Bildschirms am Ende des Tisches erhellt. Und so warteten sie, wie auch der Bildschirm, darauf, dass jemand erschien. Der Kopf nämlich des Kopfes selbst. Endlich erwachte der Bildschirm mit einem Flackern zum Leben, und während eilends Zigaretten ausgedrückt wurden und man sich rasch kerzengerade hinsetzte, glomm das Gesicht von Großkanzler Adam Sutler auf. Und Großkanzler Sutler war alles andere als ein glücklicher und zufriedener Mensch. „Meine Herren“, begann er frostig. „Sie hatten vier Stunden. Ich hoffe für Sie, dass Sie mit Ergebnissen aufwarten können.“ Unbehagliches Herumrutschen in der Runde, denn sie wussten alle, dass die zahlreichen Kameras im Raum ihre Bilder zu Sutler übertrugen, genau wie das seine sie erreichte. Wer würde als Erster dran sein? „Mr. Creedy!“ Peter Creedy lehnte sich aus dem Dunkeln nach vorn, die Lampe beleuchtete ein Gesicht aus Stein, die Augen zeigten die Gefühlsregung eines Gewehrlaufs. Ein knallharter Hundesohn, härter noch als die Männer, die ihm dienten. „Das Gebiet um den Old Bailey steht unter Quarantäne“, sagte der Kopf des Fingers kühl. „Alle wichtigen Zeugen wurden festgenommen.“
Und just in diesem Augenblick, hätte er noch hinzufügen können, werden sämtliche Informationen, über die sie verfügen könnten, aus ihnen herausgeprügelt. Aber das wusste Sutler ohnehin. Der Finger war nicht für seine subtile Art bekannt – sondern für Effizienz von einer besonders unangenehmen Sorte. Weshalb es einige gab, die von den Fingermännern als der Gestapo sprachen – allerdings nie laut und nie, wenn sie ihnen direkt gegenüberstanden. „Gut.“ Sutler nickte. „Mr. Etheridge?“ Der kleine Mann mit den großen Ohren, die auf so natürliche Weise zu seiner Stellung zu passen schienen, sprach in ziemlich nervösem Ton. „Wir fanden ein Aufnahmegerät, das mit dem Zentralen Notfallfunkübertragungssystem verbunden war. Bei der DCD handelte es sich um Tschaikowskys Ouvertüre 1812.“ „Setzen Sie sie auf die schwarze Liste“, unterbrach Sutler ihn scharf. „Ich will diese Musik nie wieder hören.“ „Ja, Sir“, antwortete Brian Etheridge, notierte hastig etwas auf dem Schreibblock, der vor ihm lag, und schien ganz durcheinander, als er spürte, wie sich die Blicke aller anderen Anwesenden auf ihn richteten. Kein Wunder, dass der Spitzname des Mannes „Häschen“ war, dachte Sutler geringschätzig. Ein Hase, der im Scheinwerferlicht gefangen ist. Wären die offenkundigen technischen Fähigkeiten des Mannes nicht gewesen, hätte er ihn schon längst ersetzt. Genau die Art von Mensch, mit der Sutler nichts mehr zu tun haben wollte. Aber streng genommen wollte sich der Großkanzler mit keinem von ihnen mehr persönlich befassen müssen, geschweige denn mit dem Pöbel draußen auf den Straßen. Deshalb die Videoverbindung anstatt der direkte Kontakt mit seinem eigenen Kabinett. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass Menschen sich logisch verhielten, ganz gleich wie strikt man sie kontrollierte. Im Gegensatz zu
Computern, deren Gesellschaft er über die Jahre mehr zu schätzen gelernt hatte als zwischenmenschliche Interaktion. Maschinen folgten zumindest physikalischen, wissenschaftlichen Gesetzen, die auf ewig unveränderlich waren. Menschliche Wesen jedoch brachen sie immerfort, egal wie rigide man die logischsten, von Menschen aufgestellten Gesetze auch durchsetzte. Nun, wenn irgendjemand seine Gesetze brach, wie jener Terrorist, der die Freveltat von gestern Nacht begangen hatte, würde er diese Verbrecher zerbrechen, so gewiss wie Gott ihm die Macht dazu gegeben hatte. Und das Recht. „Wir haben außerdem unsere Zufallsstreifen verdoppelt“, würgte Etheridge hervor, der es hasste, etwas melden zu müssen, das Informationen, die sein Führer nicht würde hören wollen, auch nur annähernd ähnelte, „und unsere Telefonüberwachung verstärkt, da sich ein hoher Prozentsatz der Gespräche um die Explosion drehte.“ „Mr. Dascombe, was unternehmen wir in dieser Angelegenheit?“, fragte Sutler, rasiermesserscharf wie immer. Auf Grund langer Erfahrung ließ niemand, der sich hier im Kabinettsraum eingefunden hatte, seine Aufmerksamkeit auch nur für einen Augenblick schleifen. Andere, die in der Vergangenheit nicht stets äußerst vorsichtig gewesen waren, hatten ihren Hut nehmen können. Roger Dascombe jedoch war keiner von denen, die sich womöglich schon bald verabschieden konnten. Gepflegt, sonnengebräunt und tadellos gekleidet in einen maßgeschneiderten Anzug ohne die kleinste Knitterfalte sah er ganz genauso perfekt aus, wie er offensichtlich auszusehen glaubte. Mehr noch, im Moment wirkte er ausgesprochen verärgert, dass jemand, selbst der Kanzler, es für nötig hielt, ihn zu fragen, was er wegen einer Situation zu unternehmen gedachte, die er binnen einer Stunde nach den Explosionen
bereits vollständig im Griff gehabt hatte. Der Mund stand schließlich nicht einfach nur herum und hielt Maulaffen feil. „Wir nennen es einen Notfallabbruch“, erklärte er und konnte sich einen überheblichen Blick in die Runde seiner Kollegen nicht verkneifen. „Wir haben Dauerberichterstattung über das Network und durch den Interlink. Es stehen mehrere Experten bereit, um den Mangel baulicher Sicherheit des Old Baileys zu bestätigen.“ Auf dem Bildschirm nickte Sutler, überlegte kurz und fügte dann hinzu: „Ich möchte, dass Prothero heute Abend über die Gefahren dieser alten Gebäude spricht, und darüber, dass wir es vermeiden müssen, uns an den Bauwerken einer dekadenten Vergangenheit festzuklammern. Abschließend soll er sagen, dass der New Bailey ein Symbol unserer Zeit und unserer Zukunft werden wird, mit der unsere Überzeugung uns belohnt hat.“ Dann, fast so als suchte er im Dunkeln nach seinem nächsten Opfer, lehnte sich Sutler näher zur Kamera hin und sagte: „Mr. Heyer.“ Conrad Heyer war schwer auszumachen, so wie er sich in den Schatten drückte. Er war weniger ein geheimnisvoller Mensch als vielmehr einer, der meinte, man vermeide Ärger am ehesten, wenn man nicht auffiel, es sei denn, es war wirklich nötig. Stille Effizienz war der Eindruck, den er hinterlassen wollte. „Unsere Überwachungskameras haben mehrere Bilder des Terroristen aufgenommen“, verkündete der Leiter des Auges, „doch die Maske macht eine Netzhautidentifikation natürlich unmöglich. Außerdem konnten wir an ein Bild des Mädchens gelangen, das Creedys Männer… äh… verhaften wollten.“ „Wer ist sie, Mr. Finch?“ „Noch nicht bekannt, Sir, aber wir arbeiten an mehreren Spuren.“ Eric Finch war ein altgedienter Polizist, der eigentlich
keine Zeit hatte für all diesen „Nasen“-Kram und sich lieber der Illusion hingab, dass er noch seinen alten Rang als Chief Inspector bekleidete, bevor man ihn, ein bisschen gegen seinen Willen, zum Abteilungsleiter befördert hatte. Chief Constable wäre die passendere Bezeichnung für den Rang gewesen, den er jetzt innehatte, aber den letzten Chief Constable von London hatte man erschossen, als er versuchte, gegen die Übernahme durch die Partei zu revoltieren, und danach hatte man den Titel abgeschafft. Noch dazu war er öffentlich erschossen worden, um an dem „Verräter“ ein Exempel zu statuieren. Mit inzwischen fast sechzig und zerfurchten, abgespannten Zügen hatte Finch jenen hängenden, weltmüden Gesichtsausdruck eines professionellen Bluthunds. Und ehrlich gesagt konnte er es nicht erwarten, hier herauszukommen. Polizeiarbeit und Ermittlungen waren die Dinge, die ihn interessierten, nicht Politisieren und in Kabinettsbüros herumlungern. „Sonst noch etwas?“, fragte Sutler ihn. „Wir fanden die Abschussvorrichtung für das Feuerwerk und Rückstände des Sprengstoffs, der dort benutzt wurde. Leider sieht es so aus, als ob das Ganze aller Raffinesse zum Trotz aus frei verkäuflichen Chemikalien zu Hause hergestellt wurde, was es sehr schwierig macht, die Spur zurückzuverfolgen. Wer immer er auch sein mag, Kanzler, er ist sehr gut.“ „Sparen Sie sich Ihre berufsmäßigen Kommentare, Mr. Finch“, erwiderte Sutler kalt. Anerkennung für fehlbare menschliche Wesen interessierte ihn nicht. „Sie sind irrelevant.“ Finch verkniff sich eine Verwünschung und hob sich etliche mit Kraftausdrücken durchsetzte Gedanken für eine spätere Konversation über den hartherzigen, unmenschlichen Bastard, dem er verantwortlich war, für später auf. Dann sagte er, was
er, wie er wusste, sagen musste: „Ich bitte um Entschuldigung, Kanzler.“ Auf dem Bildschirm sah man, wie Sutler sich in seinem Stuhl zurücklehnte, offensichtlich zufrieden, dass er nun alle Berichte von Bedeutung gehört hatte. Nach einem Moment des Überlegens beugte er sich noch einmal der Kamera entgegen. „Meine Herren, dies ist eine Prüfung“, sagte er in seinem besten politisch belehrenden und religiös predigenden Tonfall. „Augenblicke wie diese sind Angelegenheiten des Glaubens. Versagen bedeutet, Zweifel einzulassen in alles, woran wir glauben und wofür wir gekämpft haben. Zweifel werden dieses Land zurück ins Chaos stürzen und das werde ich nicht zulassen. Ich will, dass dieser Terrorist gefunden wird, meine Herren, und ich will, dass er erfahrt, was wahrer Terror ist.“ Und dann, wie immer, die abschließenden Worte des Kanzlers: „England gedeihe.“ Und mit unterschiedlicher Begeisterung und Überzeugung erwiderten die um den Tisch versammelten im Chor dasselbe: „England gedeihe!“
Und tatsächlich gedieh England nirgendwo besser als im Jordan Television Tower, dem wahren Sprachrohr des „Informations“-Dienstes der Regierung, den Roger Dascombe ganz als seine private Domäne betrachtete. Als er nun, eine Stunde nach seiner Rückkehr aus der Downing Street, in seiner Regiekabine saß, konnte er sich eines Gefühls selbstgefälliger Zufriedenheit nicht erwehren. All die anderen „Köpfe“ wie Finch und Creedy machten jetzt gerade Männchen und er saß hier und hatte alles vollkommen unter Kontrolle. Eine Operation, die so glatt lief, dass sie durch jede Krise rutschen konnte und am anderen Ende trotzdem glänzend wieder zum Vorschein kam.
Und dort, auf dem Sofa im Studio vor ihm, ungezwungen und gerade nah genug beisammen, um eine gewisse Intimität zu suggerieren (und um in den Köpfen der Zuschauer jene uralte Frage zu wecken: „Treiben die es miteinander, wenn die Kameras ausgehen, oder nicht?“), saßen Dick und June, die Lieblinge der Nation, und verkauften einem gebannten Publikum die Morgennachrichten en gros. Keine Nachnamen, kein Akzent, keine Vorstrafen, kein Hauch skandalösen Benehmens und nicht die Spur von Persönlichkeit – sie waren absolute Perfektion, jung, gut aussehend und, wie jedermann einfach wusste, völlig vertrauenswürdig. Und nein, sie trieben es nicht miteinander. Abseits des Bildschirms hassten sie einander wie verrückt. Sie weigerten sich, auch nur Garderoben auf derselben Etage zu haben. Und die Zuschauer hatten keine Ahnung davon. Echte Profis eben, die beiden. Ein Blick auf den Teleprompter und dann lächelte Dick mit müheloser Plastizität und las mit perfekter Betonung Dascombes perfekten Text ab. „Kommen wir zu den angenehmeren Dingen: Es scheint, die Crew, die für den Abbruch des Old Baileys verantwortlich war, wollte dem alten Mädchen einen großen, wenn auch improvisierten Abgang verschaffen.“ In der Regiekabine wandte Dascombes leitende Assistentin Patricia (auch hinter der Kamera gab es keine Zunamen. Hier war jeder Teil von „Rogers Familie“, außer vielleicht Gordon Deitrich) den Blick von den Monitoren ab und flüsterte ihm, ein klein wenig nervös nur, zu: „Glaubst du, die Leute werden das schlucken?“ „Warum nicht?“ Dascombe grinste. „Das ist das British Television Network. Und die Aufgabe des BTN ist es, Nachrichten zu melden, nicht zu erfinden – das ist die Aufgabe der Regierung.“
Draußen auf der Couch hatte June Dicks Stichwort mit unangestrengter Leichtigkeit aufgenommen und fuhr nun fort: „Obwohl der Abriss seit einiger Zeit geplant war, hatten die Musik und das Feuerwerk laut dem Truppführer ,ganz bestimmt nicht auf dem Plan gestanden’.“ Dann, perfekt synchron, das perfekte leise Lachen des Duos. ,Alles in Ordnung mit der Welt’, bedeutete das. ,Es war nur ein kleiner Streich eines übereifrigen Mitarbeiters einer Abrisscrew, der ein bisschen ausgeartet ist. Vertraut uns.’ Und nach ein paar Sekunden, um die Nachricht ihre Wirkung tun zu lassen, war Dick zu hören: „Wir sind gleich wieder da…“
„Glaubst du diesen verdammten Blödsinn?“, fragte Eveys Freundin Vicky, während sie zusammen in dem Zimmer saßen, in dem sie arbeiteten und das weiter unten am Flur auf derselben Etage des Jordan Towers lag, zwei junge persönliche Assistentinnen, die vorhatten, sich weit höher emporzuarbeiten. Und wenn um Eveys Lippen ein seltsames, kleines Lächeln lag, während sie die Terminpläne und den Berg täglichen Papierkrams durchging, dann war Vicky viel zu sehr damit beschäftigt, zu dem Bildschirm in der Ecke des Raumes hinaufzuschauen, um es zu bemerken. „Verdammt, das war kein Abbruch“, fuhr Vicky fort und verriet mit jedem Wort, das sie sagte, ihre East-End-Wurzeln. Manchmal erwartete Evey beinahe, dass sie in den melodiösen Cockney-Slang verfiel und vom „Stiegensteigen“ sprach oder jemanden „anner Strippe“ hatte, aber irgendwie ging es nie über einen Wust von Flüchen und Ungeschminktheiten der Arbeiterklasse hinaus. Man musste es Vicky allerdings zugute halten, dass sie sich zu bessern versuchte. „Ich hab’s gesehen“,
fügte sie jetzt hinzu. „Die ganze Nummer. Alle in meinem Haus haben es gesehen. Hast du es gesehen?“ „Nein“, sagte Evey, plötzlich ein ganz klein wenig nervös. Sie wollte nicht, dass jemand sie nach dem gestrigen Abend fragte, nicht einmal Vicky. Aber irgendetwas musste sie sagen. „Gestern Nacht war ich…“ „Ach so, stimmt ja!“, stürzte Vicky sich schadenfroh auf das Thema und ihre blauen Augen funkelten. „Du bist gestern Abend ja zu Daddy Deitrich gegangen, nicht? Komm schon. Erzähl, erzähl…“ Zum Glück schwang die Tür auf, ehe Evey auch nur darüber nachdenken konnte, was sie sagen sollte, und Patricia stürzte ins Zimmer – nicht unbedingt wütend, aber auch nicht unbedingt gut gelaunt. „Evey, da bist du ja!“, begann sie sofort, geschäftsmäßig wie immer. „Du arbeitest doch noch für mich oder nicht?“ Ein Moment der Verwirrung, dann bemerkte Evey das kleine persönliche Funkgerät auf ihrem Schreibtisch, das sie als Interkom von Stockwerk zu Stockwerk benutzte. Irgendwie hatte sie nach all den Aufregungen der vergangenen Nacht heute Morgen vergessen, es einzuschalten. „Tut mir Leid, Patricia“, sagte sie zerknirscht. Diese Entschuldigung schien zu genügen und Patricia war nie der Typ gewesen, der Zeit mit sinnlosem Geplapper vergeudete. Nun, da sie ihren verschollenen Lakaien gefunden hatte, sprudelte die Liste von Aufgaben in Nullkommanichts über ihre Lippen. „Ich brauche zwei Espresso und drei Tassen Filterkaffee von unten. Und Deitrich möchte jetzt seinen Tee haben.“ Sie wandte sich zum Gehen, schon mit dem nächsten Punkt auf der Agenda des Tages befasst. „Und wir hätten das bitte alles gern ein kleines bisschen schneller als gestern.“
Und Vicky, die auf einmal sehr beschäftigt schien, blickte hoch und lächelte kurz, als Evey aufsprang, errötete und in Patricias Fahrwasser zur Tür hinaus flitzte.
In New Scotland Yard derweil fühlte Chief Inspector Finch sich allmählich genauso zerknittert wie sein alter Anzug. Er war aus dem Bett gesprungen, kaum dass die Musik angefangen und die Sirenen losgegangen waren. Ein paar Stunden am Old Bailey, ein paar Stunden an seinem Schreibtisch, dann diese verdammte Kabinettssitzung, dann wieder zurück an seinen Schreibtisch. Und der Schreibtisch bot keinen erfreulicheren Anblick als er selbst. Ein Wust von Berichten, ein Durcheinander aus Notizen, eine Tastatur und ein Monitor, ein paar Telefone. Und er hatte mehr leere Kaffeetassen aufgetürmt als er im Moment Spuren hatte. Und immer noch kamen neue Meldungen herein, 95 Prozent davon nutzlos, aber überprüft mussten sie trotzdem werden und wenn er nicht aufpasste, würden die Stapel wieder umfallen, und dann wusste er nicht mehr, wo er war und was er bereits gelesen hatte. Wenn es doch bloß etwas Simples und Begreifbares gewesen wäre, wie ein Banküberfall… aber nein, es musste ein Terrorangriff sein, mit unbegreiflichen Extras wie Feuerwerk und einem verdammten Konzert. Dies sollte ein kooperativer Einsatz von Nase und Finger sein, ob er es nun wollte oder nicht, und Berichtskopien mussten gefaxt werden, so schnell wie Wachtmeisterin Barnden sie versenden konnte. Das arme Mädchen schickte schon den ganzen Morgen Zeug raus. Während er von Creedy und seinen Fingermännern nicht viel bekam. Aber das war typisch. Nimm alles und gib nichts zurück. Verdammter Creedy. Aber dieses Spiel konnte von zwei Leuten gespielt werden. Vielleicht würde er Lizzie Barnden sagen, dass sie
morgen krank machen sollte, und dann hätte er „zu wenig Personal“, um jemanden zu finden, der sie für eine Weile ersetzen konnte. „Ich versteh’s nicht“, sagte Detective Sergeant Dominic Stone, Finchs Lieutenant – „DSDS“, wie er vom Kantinenpersonal des Yards für gewöhnlich genannt wurde, das er irgendwie so bezirzt hatte, dass immer er die besten Bratenstücke und den extra Nachschlag bekam. Der jüngere Mann sah verwirrt von seinem Schreibtisch auf, der viel, viel aufgeräumter war als der seines Chefs. Beinahe sauber, dachte Finch angewidert. Aber das würde er sich noch abgewöhnen. Jedenfalls hoffte Finch das. Nicht wie der letzte DS, den er gehabt hatte und dem bei diesem Terrorangriff der schottischen Nationalarmee vor ein paar Jahren der halbe Kopf weggeblasen worden war. Finch mochte Dominic Stone wegen seiner Persönlichkeit ebenso sehr wie auf Grund seiner Effizienz und dachte an ihn immer als „Dominic“, nicht als „Sergeant Stone“. Wahrscheinlich mochte er ihn ein bisschen zu sehr. Schließlich wäre Finchs Sohn Peter, hätte er nicht mit seiner Mutter den Tod gefunden damals während all des Ärgers zur Zeit der Reklamation, wäre er… nun ja, daran zu denken, half ihm nicht dabei, mit seiner Arbeit voranzukommen. „Warum trägt er eine Guy-Fawkes-Maske und jagt dann den Old Bailey in die Luft?“, fuhr Dominic fort. „Hatte Fawkes nicht versucht, das Parlament in die Luft zu jagen?“ „Dazu ist es ja noch nicht zu spät“, erwiderte Finch müde. „Vielleicht fangt er gerade erst an.“ Beinahe hätte er noch hinzugefügt: „Aber davon wollen wir jetzt mal gar nicht reden.“ Doch ehe die Worte über seine Lippen kamen, klingelte das Telefon auf Dominics Schreibtisch. Finch sah zu ihm hinüber, als er den Anruf entgegennahm. Jung, gut aussehend, ordentlich frisiert, klug
und eifrig. All das würde er verlieren, wenn er lange genug in diesem Geschäft blieb. Zuerst würden ihm die Haare ausfallen, während er genau diese Art von Fällen zu lösen versuchte. Einen Moment lang fragte Finch sich, ob er sich hier selber sah, als er jung gewesen war. Aber dann befand er, dass es albern war, Zeit damit zu verschwenden, über derlei Dinge nachzudenken. Stattdessen richtete er sein Augenmerk wieder auf das Foto des Terroristen, das eine der CCTV-Kameras gestern Nacht aufgenommen hatte. Und wen oder was schaute er hier an? Die Maske. Das Grinsen. Der ganze verdammte Pantomimenkram. Ein Witz? Oder ein Albtraum? Die Gedankenkette wurde unvermittelt unterbrochen, als Dominic den Hörer auf den Apparat knallte und aufgeregt von seinem Stuhl hochfuhr. „Ein Hinweis auf das Mädchen!“ Und so ließ Finch, mit der Schwere, die ihm sein Alter und sein Posten eingetragen hatten, und der Müdigkeit, die auch daher rührte, dass er die ganze Nacht auf gewesen war, das Foto wieder auf den Schreibtisch fallen und hievte sich in die Höhe. Vielleicht gab es hier ja doch etwas, in das ein alter Hund seine Zähne schlagen konnte.
Das fragliche Mädchen war genau in diesem Augenblick im Begriff, einem anderen älteren Mann zu begegnen – dem, mit dem sie sich am gestrigen Abend hatte treffen sollen. Gordon Deitrich war ein langjähriger Produzent und Moderator von Unterhaltungsshows aus den alten Tagen, als es noch viele Kanäle gegeben hatte, bevor alles zum Teufel gegangen und nichts übrig geblieben war außer dem British Television Network, ob einem das nun passte oder nicht. Er hatte eine Zeit lang an Bedeutung verloren, während sich die
neuen Machthaber etablierten. Zunächst hatte er denen eine Abfuhr erteilt, weil seine früheren Programme zu derb seien für heutige Geschmäcker… und dann hatte man ihn plötzlich gebeten, eine neue wöchentliche, von der Regierung abgesegnete Unterhaltungssendung zu produzieren. Erst als er den Brief las, erkannte er, dass er den Job deshalb bekommen hatte, weil sie nun plötzlich niemanden finden konnten, der noch derber war. Dennoch gab es Grenzen. Aber so lange er für genug billige Lacher und süßlichen Brei sorgte, um die geistlosen Massen zu unterhalten… nun ja, er verdiente seinen Lebensunterhalt. Ehrlich gesagt, hatte er ein verdammt gutes Leben. Und zu leben, das war, was viele der Medienleute, die er gekannt hatte, nicht mehr taten. Diejenigen, die allmorgendlich ins Büro stolziert waren und jeden „Schätzchen“ und „Liebling“ genannt hatten. Seit der Reklamation nicht mehr. „Hören Sie, verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte Deitrich, als Evey sich seiner offen stehenden Tür näherte, ein Teetablett in der Hand. Das brachte sie zum Lächeln. Wie jeder Produzent im Gebäude war er immer am Telefon. „Ich liebe es“, fuhr er fort. „Eine Kuh, die gekreuzigt wird… das ist der Hammer. Aber dafür kriegen wir nie und nimmer die Zustimmung.“ In dem Moment schaute er auf, ein leicht wölfisches Glitzern in den Augen, als er Evey das Zimmer betreten sah. „Sie müssen es umschreiben, okay?“, sagte er zu dem glücklosen Drehbuchautor am anderen Ende der Leitung. Und bevor noch Zeit war für weiteren Widerspruch: „Ich muss Schluss machen.“ Er legte auf, während Evey das Teetablett auf seinem Schreibtisch abstellte. Dann stand er auf und ging zu ihr herum. Ein grobknochiger Mann mit ausdrucksstarken Gesichtszügen, der wahrscheinlich in den Fünfzigern war,
dachte Evey, und mit einer, wie er wohl gerne glaubte, „ziemlich wohlgerundeten Figur“… nicht wirklich fett, aber er lebte offensichtlich sehr gut… er war bekannt dafür, dass er gerne ein Auge auf das jüngere und attraktivere Büropersonal warf. Es gab zwei Alternativen, einem Mann mit solchem Ruf zu begegnen – und Evey zog es vor, ihn als Quelle potenzieller Möglichkeiten zu betrachten. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals von einer schöneren Frau versetzt worden zu sein“, sagte er, doch das Lächeln, das um seine Lippen spielte, sollte den Vorwurf nur ein wenig mindern. „Mr. Deitrich“, setzte Evey an und wurde rot vor Verlegenheit, aber er fiel ihr ins Wort. „Gordon, bitte. Ich brauche keinen Mister, damit sich dieser Körper noch älter fühlt.“ Dadurch wurde sie natürlich noch verlegener, aber sie wusste, dass sie etwas sagen musste, bevor die Pfirsichröte ihrer Wangen zu der einer Tomate wurde. „Gordon, ich war gestern Abend schon auf dem Weg, aber es trieben sich Fingermänner herum. Ich bekam es mit der Angst zu tun und ging wieder heim.“ Deitrich schwieg kurz und sah einen Moment lang nachdenklich drein. „Bedauerlicherweise glaube ich, dass unsere Sperrstunde nach gestern Nacht nur noch schlimmer werden wird.“ Ein Seufzen, ehe er hinzufügte: „Aber Sie haben wahrscheinlich Recht. In Zeiten wie diesen ist es zu Hause vermutlich am sichersten.“
Aber nicht für Evey Hammond. Nicht mehr.
Die einstige Sicherheit ihrer Wohnung wurde für alle Zeit zerstört, als Finch und Dominic die Tür eintraten und mit gezogenen Waffen hineinstürmten. Für ein paar Augenblicke standen sie angespannt da, während sie einen Blick in die ärmlichen Zimmer warfen, dann schwand das Gefühl, als sie feststellten, dass niemand sonst hier war. Sie steckten die Pistolen weg… danach fühlte Finch sich immer besser und er erinnerte sich daran, dass früher, als er zur Polizei gekommen war, nur Spezialeinheiten Schusswaffen getragen hatten. Die beiden Männer fingen an, sich umzusehen, suchten in Schubladen und Schränken nach irgendetwas, das ihnen weiterhelfen mochte. Briefe, ein Adressbuch, ein Anrufbeantworter, irgendetwas… nicht dass es hier viel gegeben hätte, das den Schluss nahe legte, es handele sich um das Zuhause eines gefährlichen Terroristen. Jedenfalls gab es keine Gerätschaften zur Herstellung von Bomben, keine Listen von Zielen und keine Einsatzpläne. Die Wohnung sah aus, als könnte sie jeder jungen Frau mit relativ geringen Mitteln gehören: Studentin, Büroangestellte, Verkäuferin. Die Kleidungsstücke waren billig, die Einrichtung noch schlimmer. Es war Finch, dem der Spiegel auffiel, in dessen Rahmen ringsum Fotos gesteckt waren. Und da, inmitten all der anderen, war natürlich auch eines von Evey. Eine perfekte Übereinstimmung mit dem doch eher verschwommenen Bild, das die CCTV-Kameras eingefangen hatten. Ein Blick hin zu Dominic und dann… „Hab ich dich“, sagte er zu dem Foto. Und meinte es auch so. Das war genau die Identitätsbestätigung, die sie brauchten.
KAPITEL 4
Je länger sie darüber nachdachte, während der Morgen voranschritt, desto mehr wünschte Evey, es in der vergangenen Nacht zu Gordon Deitrich geschafft zu haben, ungeachtet der nächtlichen Abenteuer (sie musste aber auch sagen, dass diese nächtlichen Abenteuer immer haarsträubender wurden, je länger sie über die Ereignisse nachdachte). Schließlich war der hochtrabend klingende Titel „persönliche Juniorassistentin“ im Grunde nichts als ein Witz. Ebenso gut hätte man sie „Laufbotin Nummer zwei“ nennen können. Bring den Kaffee. Geh und such dies. Lass das herbringen. Und jetzt hieß es: Hol die Post vom Haupteingang. Wenn sie sich wirklich so weit hocharbeiten konnte, dass sie jemandes persönliche Assistentin war, anstatt jedermanns Aushilfe, würde sie sich vielleicht wirklich nicht mehr die Hacken abrennen müssen. Eines Tages, dachte sie… nun, vielleicht schaffte sie es eines Tages sogar noch viel weiter. Schließlich hatte sie immer schon vor der Kamera sein wollen, nicht dahinter. Aber auf Grund ihrer Herkunft hatte sie nie die Gelegenheit für so etwas gehabt. Wenn sie es doch nur fertig brächte, dass sie jemandem auffiel… jemandem, der sich für sie interessieren könnte… Im Augenblick allerdings war sie ganz allein im Fahrstuhl, mit einem Handkarren, auf dem sich perfekt einheitliche FedCo-Kartons stapelten, die alle gleich aussahen mit ihrem schwarz und grün gestreiften Emblem auf der Seite. Typisches Regierungspostsystem: alles gleich. Gleiche Größe, gleiches Gewicht, gleiche Farbe. Mehr noch, typisch für die ganze Regierung an sich. Es war nur überraschend, dass nicht alle die gleiche Uniform tragen mussten, so wie es in China zur Zeit
des Vorsitzenden Mao Pflicht gewesen war. Aber es war am besten, wenn man über solche Dinge gar nicht nachgrübelte. Jedes Mal wenn sie an eine Möglichkeit dachte, wie die Dinge noch schlimmer werden könnten, wurden sie es für gewöhnlich auch. Momentan waren die einzigen Uniformierten im Jordan Tower die Wachmänner und es stand auch schon einer vor ihr, als sich die Aufzugtür öffnete und sie den Handwagen hinausschob. Zum Glück war es einer der Freundlicheren, im Gegensatz zu den schießwütigen Schlägertypen, die man am Haupteingang postiert hatte. Ein Opportunist, der nur seine Stunden herunterriss und seinen Gehaltsscheck mit nach Hause nahm und weit mehr daran interessiert war, die neueste Folge von Storm Saxon zu gucken, anstatt seine Sicherheitsmonitore im Auge zu behalten. „Hey, Fred!“, rief Evey munter und lenkte seine Aufmerksamkeit kurzfristig ab von dem pomadisierten, arischen Helden aus „Englands Albtraum von der Zukunft“, wenn die Degenerierten und Terroristen zurück waren und man sich ernsthaft um sie kümmern musste, genauso wie man es vorher schon getan hatte, nur diesmal unter Zuhilfenahme von Laser-Lugers und Rocket-Racers. „Ist das ganze Zeug durchleuchtet worden?“, fragte der große Wachmann beiläufig, während sein Blick sich kurz vom Bildschirm löste und über die Kartons wanderte, ein klein wenig länger auf Evey verweilte und dann dorthin zurückkehrte, wo er hergekommen war. „Nö“, scherzte Evey, wohl wissend, dass sie die Sendungen höchstpersönlich durch die Maschine geschoben hatte. „Sind voller Bomben.“ „Na schön, aber warte bis zur Werbung, bis du sie hochjagst, okay?“, entgegnete Fred Thorpe selbstzufrieden, ein
schwaches Grinsen auf seinem runden Gesicht, während er ihr eine Liste zur Unterschrift hinhielt. „Ich kann nicht fassen, dass du dir diesen Mist ansiehst“, sagte Evey und kritzelte ihren Namen aufs Papier. „Was?“, rief er, endlich genauso aufgeschreckt, wie sie es erwartet hatte. Fast so als hätte sie behauptet, dass Fußball im größeren Rahmen der Dinge nicht von Wichtigkeit wäre. Oder Pin-up-Girls. „Aber… Laser Lass ist doch… der Superbums!“ Evey unterdrückte ein Kichern und entschied, dass es sich hierbei um einen Ausdruck unter Männern handeln musste, der ihr bislang noch nicht untergekommen war. Sie versetzte dem Handkarren einen Schubs und machte sich wieder auf den Weg. „Bumsen“ war schließlich nichts, was heutzutage im Fernsehen gezeigt wurde, auch wenn ein paar von Gordon Deitrichs Shows bisweilen schon sehr gewagt waren. Ein paar Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht, den Garderobentrakt. Der Krach, der ihr entgegendröhnte, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte, war überwältigend nach der Stille des Korridors, aber wenn zwanzig attraktive junge Frauen dabei waren, eilends in Showgirl-Kostüme zu schlüpfen, war ein solcher Lärmpegel eigentlich nicht verwunderlich. Und irgendwo in dieser lärmenden Masse aus blonden Perücken, Korsetts, Netzstrümpfen, Stöckelschuhen, Straußenfedern und Pailletten machte Evey tatsächlich die Garderobenmeisterin aus, eine Frau, die sich sehr viel weniger für ihr eigenes Aussehen als das der Mädchen, die sie einzukleiden versuchte, interessierte. Mehr noch, ihr eigenes Aussehen war schon seit langem dahin, aber wenn man drei Männer hinter sich und fünf Kinder zur Welt gebracht hatte, schienen derlei Dinge nicht mehr groß zu zählen. „Was ist denn das alles?“, fragte sie übel gelaunt und beäugte misstrauisch den Stapel von Kartons, während sie eine Hand voll Sicherheitsnadeln in ihrer Tasche versenkte.
„Weiß nicht genau“, antwortete Evey und es kümmerte sie eigentlich auch nicht. Was sie anging, war dies nicht mehr als eine weitere Aufgabe, die sie zu erledigen hatte, bevor sie Mittagspause machte. „Die sind gerade gekommen und es steht ,Bühne 3’ drauf.“ Ein säuerlicher Ausdruck glitt über das Gesicht der älteren Frau, der ganz unverblümt sagte: „Als ob ich nicht auch schon ohne dieses Zeug genug Probleme hätte.“ Und dann zog sie einen Schluss, der ihre Laune um keinen Deut verbesserte. „Müssen für Prothero sein“, schnappte sie. „Ich wünschte, jemand hätte den Mumm, ihm zu sagen, dass dieser Sender nicht sein persönlicher Spielplatz ist!“ Damit griff sie sich einen der Kartons von dem Stapel und riss ihn auf. „Was zum Teufel ist denn das?“, fragte sie und zog einen langen schwarzen Umhang und eine Maske heraus. Eine Maske, die Evey sofort wieder erkannte. Eine Guy-FawkesMaske. Vs Maske. Evey konnte kaum noch atmen. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, fürchtete, der Schock müsse sie auf der Stelle verraten. Sie fing an, in Panik zu geraten – die Rückkehr derselben übermächtigen Angst, die ihr ganzes Leben beherrscht hatte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, und die sie nur verließ, wenn sie zu sehr beschäftigt war, um daran zu denken. Aber wenn die Garderobenmeisterin überhaupt etwas in Eveys Miene sah, dann schien sie es lediglich für Verständnislosigkeit zu halten. Sie stopfte Maske und Cape grob zurück in den Karton und warf ihn zurück auf den Stapel, dann wandte sie sich angewidert ab und sagte: „Stell sie da drüben hin, bis ich herausgefunden habe, wo sie hingehören.“
Und dann war sie auch schon wieder mitten unter ihren Schützlingen, richtete Federn und reparierte Strassbroschen und bellte und brüllte in dem babylonischen Sprachengewirr, das den Raum erfüllte. Und bemerkte nicht, wie Evey ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Weil sie nicht fähig war, ein Wort zu sagen. Eine Minute darauf war Evey wieder im Büro der persönlichen Juniorassistentinnen, beladen mit einem Geheimnis, das sie nicht kennen wollte und erstickte beinah an dem Gefühl zunehmender Verzweiflung. „Was ist denn?“, fragte Vicky voll ehrlicher Sorge, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte. „Was ist passiert?“ „Ich… mir geht’s nicht so gut“, stammelte Evey und mit ihrem weißen Gesicht schaute sie auch dementsprechend aus. „Ich glaube, ich muss nach Hause.“ Evey hoffte verzweifelt, dass Vicky ihr keine weiteren Fragen stellen würde, und begann, ihre Sachen in ihre Handtasche zu stopfen. Aber die Hoffnung war natürlich vergebens. „War es Deitrich?“, bohrte Vicky. „Was hat dieser alte Perversling gesagt?“ „Nein, es war nicht so was“, erwiderte Evey rasch und wollte Vicky raten, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern, wusste aber, dass damit alles nur noch schlimmer würde. „Ich muss jetzt einfach gehen.“ Und das tat sie.
Im Auto, das Dominic von Paddington in Richtung Jordan Tower jagte, hatte Finch Eveys Akte auf das Computersystem im Armaturenbrett geholt, um sich auf etwas anderes konzentrieren zu können, als die haarsträubend gefährliche Fahrweise des jungen Mannes. Ob es Wahnsinn oder
Selbstvertrauen oder schlicht dieses jungenhafte Vergnügen war, einen Polizeiwagen ungeachtet des Tempolimits ausfahren zu dürfen, wusste Finch nie so recht. Er hatte nur das ungute Gefühl, dass es, sollte er je ein plötzliches Ende finden, nicht durch die Kugel eines Terroristen geschehen würde. Dominics Fahrstil würde der Grund sein. Nichtsdestotrotz schien es in diesem Fall einen triftigen Grund dafür zu geben. „Sieht ernst aus“, meinte Finch, der nicht aufschauen wollte, damit er weder die Straße sehen musste, die viel zu schnell am Fenster vorbeiraste, noch die Trucks, zwischen denen Dominic den Wagen hindurchschlängelte, und auch nicht die Fußgänger, die ihnen fassungslos nachgafften. „Ihre Eltern waren politische Aktivisten. Sie wurden ,in Gewahrsam genommen’, als sie zwölf war.“ „Was ist mit ihr passiert?“, fragte Dominic und drehte seinen Kopf weit zu Finch hin, was dem gar nicht gefiel. „Jugendreklamationsprojekt, für fünf Jahre.“ „Mist“, sagte Dominic, weil er viel zu viele Strafregister gelesen hatte, die in der brutalen Hölle eines JRP ihren Anfang genommen hatten. Von dort war es mit den Delinquenten stets bergab gegangen. In der Regel bis sie irgendwo ihr Ende fanden. Tot. „Wir werden Verstärkung brauchen. Aber lass es uns so klein wie möglich halten. Ich will unter Creedys Radar bleiben.“ „Sind Sie sich dessen sicher, Sir?“, fragte Dominic überrascht und jetzt war sein Blick definitiv nicht auf die Straße gerichtet. „Ich will nur Gelegenheit haben, mit ihr zu reden, bevor Creedy sie verschwinden lässt. Und pass um Gottes willen auf, wo du hinfährst!“
Auf jenem Sicherheitsposten im Jordan Tower, den Evey vor ein paar Minuten erst passiert hatte, verfolgte Fred Thorpe immer noch mit Hingabe Storm Saxon und leckte sich vor Spannung die Lippen. Laser Lass war schließlich ein kräftiges Mädchen. Eines Tages musste sie einfach einen Unfall haben und aus diesem knappen Kostüm fallen und er wollte sicher gehen, dass er dabei war, wenn es passierte. Wenn doch nur er Rex Ranall wäre, der glückliche Hundesohn, der Storm Saxon spielte… Darum also warf er keinen Blick auf die Überwachungsmonitore und sah nicht, wie der erste davon den Geist aufgab und nur noch statisches Flimmern zeigte. Und auch nicht, wie der zweite folgte. Bis ihm endlich überhaupt etwas auffiel – Laser Lass war vorübergehend vom Bildschirm verschwunden –, war über die Hälfte der Monitore tot, darunter so ziemlich alle, die den unmittelbaren Bereich um seine Wachstation herum abdeckten. „Was zum Teufel…?“, keuchte er, schwang auf seinem Stuhl herum und wollte aufstehen. Das Letzte, was er brauchte, war, jetzt – mitten in einer Folge von Storm Saxon – nach einem Elektriker suchen zu müssen. Oder, schlimmer noch, einen umfassenden Sicherheitsalarm auszulösen, nur weil irgendwo eine Sicherung durchgebrannt war. Das leise Läuten einer haltenden Fahrstuhlkabine schnitt durch seine Gedanken und als die Türhälften auseinander glitten, hatte er kaum noch einen Augenblick Zeit, um überhaupt zu denken. „Wer ist da?“, rief er. Er sah nur eine grinsende weiße Maske, einen breitkrempigen Hut und einen bodenlangen Umhang, der eine Gestalt umhüllte, die sich mit raubtierhafter Schnelligkeit bewegte. Das konnte natürlich ein Schauspieler im Kostüm sein. War das nicht die nahe liegendste Schlussfolgerung? Aber irgendwie glaubte er das nicht.
Außerdem war seit dem Bombenanschlag von gestern Nacht jeder hier höllisch nervös. Dazu hätte es der Lautsprecherdurchsagen, die zur Wachsamkeit mahnten und neue Sicherheitsmaßnahmen ankündigten, gar nicht bedurft. Auf Wachsamkeit, das musste er eingestehen, war er die letzte halbe Stunde über nicht sonderlich bedacht gewesen. Und das daher rührende Schuldgefühl – oder war es Angst davor, dass sein Versäumnis aufgedeckt werden würde – führte irgendwie dazu, dass er auf einmal voll da war – und obendrein noch wütend deswegen. „Ich treib hier keine Spielchen!“, rief der Wachmann als Nächstes und griff nach seiner Waffe. Eine Waffe, die er noch nie benutzt hatte und auch nie hatte benutzen wollen. „Zeig mir deinen Ausweis, sonst kriegst du ‘ne verdammte Storm Saxon-Behandlung! Aber flott!“ Die dunkle Gestalt vor ihm blieb stumm und das an sich war weitaus Furcht einflößender, als wenn sie etwas gesagt hätte. Stattdessen öffnete der Mann den Umhang ein wenig, um den kleinen Partytrick zu zeigen, den er mitgebracht hatte, um für etwas Unterhaltung zu sorgen. Eine schwere Weste aus Dynamitstangen, die um seine Brust geschnallt war, während der Zünder in seiner schwarz behandschuhten Hand ruhte. „Verdammter Mist!“, war alles, was Thorpe darauf sagen konnte. Und die maskierte, aber lächelnde Gestalt nickte, wie um zu sagen: Ja, stimmt genau. Von draußen war das Geräusch sich nähernder Polizeisirenen zu hören, doch V schien davon ungerührt, fast so als könnte er nicht glauben, dass sie hierher kommen könnten. Mit rascher und lautloser Effizienz entwaffnete er den Wachmann, dann gab er ihm präzise, geflüsterte Anweisungen. Und schließlich
gingen sie den Korridor hinunter, der eine so kalt wie Eis, der andere eiskalt vor Angst. Ein oder zwei Minuten darauf passierte Evey den Wachposten auf ihrem Weg zu eben demselben Aufzug und hielt inne ob dessen, was sie sah. Beziehungsweise dessen, was sie nicht sah. Hier stimmte etwas nicht. Fred verließ seinen Posten niemals, schon gar nicht während Storm Saxon lief. Und der Flur war nie so unheimlich still. Eine fürchterliche Vorahnung krampfte ihr den Magen zusammen. Sie musste hier raus. Und zwar auf der Stelle! Nicht weit entfernt schwang die Tür zum Hauptnachrichtenstudio unvermittelt auf und jeder dort erstarrte zu statuenhafter Reglosigkeit. Die einzige Bewegung rührte von den beiden Gestalten her, die durch die Tür kamen, die eine vertraut, die andere das genaue Gegenteil. Mit über den Boden raschelndem Umhang, den Zünder in der Hand, das Dynamit offen zeigend, schwebte V in geradezu feierlicher Stille herein… begleitet von dem schlicht und ergreifend entsetzten Fred Thorpe, der den mit FedCo-Kartons gefüllten Handkarren vor sich herschob, den Evey zuvor abgeliefert hatte. Und genau in dem Augenblick, da Evey im Begriff war, den Fahrstuhlknopf zu drücken, trat V an die Studiowand und löste den Feueralarm aus. Drunten in der Eingangshalle fuhren Finch, Dominic und ihre versammelte Verstärkung aus bewaffneten und uniformierten Beamten plötzlich zusammen, als dröhnend laute Alarmglocken die Luft erfüllten… und sämtliche Fahrstühle des Gebäudes sich augenblicklich abschalteten. Wie ein Mann zogen die Polizisten ihre Waffen. „Ihr beide behaltet die Aufzüge im Auge“, befahl Finch, schon auf dem Weg zur Treppe. „Der Rest – mir nach.“
Viele Etagen weiter oben benutzte V, während sich die Mitarbeiter im Studio vor Angst duckten, einen Elektrobohrer, um einen schweren Bolzen durch die metallene Eingangstür und in den Rahmen zu treiben, womit sie verriegelt war. Und niemand machte Anstalten, ihn aufzuhalten. Evey fand sich derweil, frustriert ob der plötzlichen Stilllegung der Aufzüge, inmitten einer Gruppe von Angestellten des Turmes wieder, die auf die Treppe zudrängten. Da sie keine Alternative hatte, ließ sie sich von ihnen mitziehen. Vielleicht war es ja zu ihrem Besten. Einer von vielen zu sein war schließlich der leichteste Weg, ihre Spuren zu verwischen, bis sie, wie sie verzweifelt hoffte, aus dem Gebäude gelangte und nach Hause gehen konnte. Und dann… nun, sie hatte keine Ahnung, was sie dann tun sollte. Von Angst ergriffen, wie sie es war, konnte sie nicht übersehen, wie sehr sich das Verhalten der Menge von dem unterschied, das die Leute zeigten, wenn sie ihre Übungsdrills absolvierten. Das waren stets leise und ordentlich ablaufende Aktionen gewesen, die Leute waren ruhig zu den Ausgängen gelaufen. Aber sobald der Alarm überraschend losgegangen und aus den Lautsprechern verkündet worden war: „Dies ist keine Übung!“, war alles anders gewesen. Jetzt steckte sie in einem angsterfüllten, drängelnden Mob, einige fluchten, die meisten schrien, verlangten, dass die Leute vor ihnen sich schneller bewegten, fragten, was zum Teufel eigentlich los sei, riefen nach Freunden. Der einzige Vorteil, dachte Evey, bestand darin, dass in einer Menge aus panischen Leuten niemandem auffallen würde, wie entsetzt sie selbst war. Also dann, weiter. Lass dich treiben in diesem Fluss aus Menschen wie alle anderen und hoffe, dass du sicher auf die Straße hinaus gespült wirst. Ein Mann, der gegen die Strömung ankämpfte, war Roger Dascombe, unterwegs zum Nachrichtenstudio, das
normalerweise sein ganzer unantastbarer Stolz war. Vor der Tür hatte sich bereits eine kleine Gruppe angesammelt, zum größten Teil sein persönliches Team von Wachmännern, und Dascombe brauchte nur einen Moment, um sich zu ihnen durchzudrängen. „Verdammt noch mal, was geht hier vor?“, schrie er außer sich, kaum im Stande sich über die Alarmglocken hinweg Gehör zu verschaffen. „Sie klemmt“, sagte einer der Wachmänner kategorisch, als sei es so verdammt offensichtlich, dass sie nicht hinein konnten, dass es kaum der Erwähnung bedurfte. Hätten sie es gekonnt, würden längst schon die Kugeln fliegen. „Dann brecht sie auf!“, brüllte Dascombe und ein Anflug von Hysterie kroch in seinen Ton. Das durfte nicht passieren. Nicht in seinem kostbaren Nachrichtenstudio. Nicht in seiner perfekt kontrollierten Privatdomäne. Nicht ihm. „Und schaltet diese gottverdammten Alarmglocken ab!“, rief er mit überschnappender Stimme und am Ende seiner Kräfte. Im Korridor hatte Evey unterdessen die Tür zum Treppenhaus fast erreicht, als die Menge, die darauf zuströmte, plötzlich beiseite gedrängt wurde, als Finch und seine Polizisten herausgestürmt kamen. Einen Moment lang dachte sie, die Männer seien nur infolge des Alarms hier oder vielleicht wegen dem Unheil, das V gerade anrichten mochte. Wobei Unheil wahrscheinlich eine Untertreibung dessen war, was V im Schilde führte. Chaos passte wohl eher. Oder sogar totale Anarchie. Nur war, wie Evey auf einmal erkannte, sie diejenige, die in Schwierigkeiten steckte. Finch blickte sie direkt an, dann deutete er plötzlich auch noch auf sie und rief aus vollem Halse: „Dominic!“ Und ein jüngerer, wendigerer und weitaus energiegeladenerer Mann
machte sich sofort daran, durch die Menge in ihre Richtung zu drängeln. „O mein Gott“, dachte sie und fuhr plötzlich von Panik übermannt herum, um sich durch den Mob zurückzukämpfen. „Sie haben mich gefunden. Sie wissen Bescheid!“ „Polizei!“, rief Finch jetzt wütend und kämpfte sich in Dominics Fahrwasser durch den zunehmend stärker beunruhigten Mob, der den Korridor verstopfte. „Gehen Sie mir verdammt noch mal aus dem Weg!“ Evey war es übel vor Entsetzen, während sie sich vorwärts schob, andere beiseite rempelte und nach einer Hand kratzte, die sie fest zu halten versuchte, und sich so den Weg zu einer Ecke zurückeroberte und es schaffte, um sie herumzuschlüpfen, wodurch sie aus dem Blickfeld ihrer Verfolger entschwand. Doch nur einen Moment später kamen Finch und Dominic um dieselbe Ecke herum, aber das war genau einen Moment zu spät. Die Flüchtige war spurlos verschwunden. „Verdammt!“, knirschte Finch und rang einen Augenblick lang um Atem. Sie wussten beide, was sie als Nächstes zu tun hatten, und ein paar Sekunden darauf fingen sie eilends an, Bürotüren aufzureißen und die Suche fortzusetzen. Im Nachrichtenstudio hatte V derweil die Regiekabine erreicht und drückte, immer noch mit dem Zünder drohend, einem jungen Techniker eine DCD in die schweißnasse Hand. Die grinsende Maske sagte nichts, gab keinerlei Hinweis, aber irgendwie wusste der junge Mann trotzdem genau, was der andere wollte. Ein Ausdruck, als müsste er sich übergeben, strich über sein Gesicht, fast so als hätte der Eindringling von ihm verlangt, sich zu erschießen. Aber andererseits, da er sich offenbar einem wahnsinnigen Bombenleger gegenübersah, wäre das womöglich die einfachere Möglichkeit gewesen.
In der verzweifelten Hoffnung, dass ihm irgendjemand diese Verantwortung abnehmen würde, drehte sich der Techniker zu einer Gruppe von leitenden Angestellten in Anzügen um, die sich angstvoll in die Ecke duckten, und mindestens einer von ihnen sah aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. Von denen würde ihm also schon mal keiner helfen. Aber einer der anderen nickte langsam, und mit einem fast hörbaren Seufzer der Erleichterung schob der jüngere Mann die Disk in das Abspielgerät. Nachdem ihm der alte Jenkins grünes Licht gegeben hatte, würde man ihm zumindest kaum anhängen können, mit dem Terroristen kollaboriert zu haben. Vorausgesetzt es war noch etwas von ihm übrig, dem man etwas anhängen konnte, wenn das alles vorbei war. Oder von irgendjemandem hier. Dominic platzte inzwischen durch die Tür des Büros der persönlichen Juniorassistentinnen und fand sich in leerer Stille wieder, derweil es auf dem Korridor hinter ihm nur so von Menschen wimmelte. Das einzige Geräusch hier war das Lachen vom Band, das zu einer Sitcom gehörte und von einem Bildschirm kam, der an einer der Wände hing. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, als lachte das Publikum über ihn und die Vergeblichkeit seiner Suche. Und vielleicht war es ja auch so, denn kaum hatte er den Raum wieder verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt, kam Evey aus ihrem Versteck unter einem Schreibtisch hervor und schob die Aktenkartons beiseite, die sie als Deckung zu sich herangezogen hatte. Dann verstummte das Lachen aus der Konserve unvermittelt, verschluckt von statischem Rauschen. Und als Evey zu dem Schirm hinaufsah, war auch das Bild verschwunden. Überall in London erloschen Fernsehbildschirme, große und kleine, alle auf genau dieselbe Weise, vom winzigsten tragbaren Gerät bis hin zu den riesigen JumboTrons hoch über
den Menschen am Piccadilly Circus. Von Altenheimen, wo alte Männer grummelnd an ihren Fernsehantennen herumhantierten, über Pubs und Clubs, wo ein leerer Bildschirm eine Gelegenheit bedeutete, noch eine Halbe zu bekommen, bevor das Bild wiederkam oder das Essen serviert wurde, bis hin zu Familienwohnzimmern, wo kleine Buben in klagenden Ton fragten: „Mum, was ist denn mit dem Fernseher los?“, gab es nur schweigende, verschneite Bildschirme ohne Signal. Und ratloses Abwarten. Aber nicht für lange. Im PJA-Büro kam Evey auf die Füße und machte sich bereit, von neuem das Weite zu suchen, als der Monitor plötzlich flackernd wieder zum Leben erwachte. Und nun grinste Vs bekannte Maske auf sie herab, sein Gesicht füllte den Bildschirm beinahe aus, wie eine Parodie auf Sutlers herrische Politsendungen. In einer Ecke des Schirms erschien nicht das übliche BTN-Logo, sondern stattdessen das Kürzel VTV. Und in ruhigem, fast professionellem Moderationston begann er zu sprechen. „Guten Morgen London.“ Und Evey konnte nur in sich zusammensinken. Das Ganze wurde einfach zu viel für die Nerven eines Menschen und für ihre sowieso nach den Ereignissen der vergangenen Nacht. Inzwischen war ihr beinahe schlecht vor Angst. Roger Dascombe verkraftete die Sache auch nicht besonders gut. Obgleich die Alarmglocken abgestellt worden waren, regte er sich zunehmend mehr auf über das Unvermögen seiner Wachmänner, durch diese Tür zu gelangen. Dann bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass die On Air-Lampe brannte und Vs Stimme durch das ganze Gebäude hallte. „Erlauben Sie zunächst, dass ich mich für diese Unterbrechung entschuldige.“
„Das ist der Notfallkanal!“, brüllte Dascombe, wohlwissend, dass er jede andere Übertragung im Land überlagerte. Und damit schoss der davon, um einen Fernseher zu finden, auf dem er sich alles anschauen konnte, und ließ seine Untergebenen zurück, auf dass sie mit dem Problem der verriegelten Tür klar kamen. „Wie viele von Ihnen“, fuhr Vs Stimme fort, „begrüße ich die Annehmlichkeiten der täglichen Routine, der Sicherheit der Familie, der friedlichen Zerstreuung durch das Fernsehen. Ich genieße all das ebenso sehr wie jeder andere.“ „Verdammt“, sagte Finch den Blick auf den Bildschirm im Garderobentrakt gerichtet, wo er nach Evey gesucht hatte. Tja, das ist jetzt Sache der gewöhnlichen Bullen, dachte er und ging zur Tür zurück. Im Augenblick musste er zum Studio und sich um diese seltsame Sendung kümmern. Besser gesagt, er musste ihr ein Ende machen. Zugleich aber wollte ein Teil von ihm sich gar nicht vom Bildschirm abwenden – was ihm verriet, dass sich, selbst wenn es ihm gelang, dem ein Ende zu machen, der Terrorist bis dahin aus dem Staub gemacht haben würde… schließlich war das ein Mann, der offenbar zu schlau war, um wegen einer einzigen Rundfunkübertragung tatsächlichen oder potenziellen Selbstmord zu begehen… und dass er seine Zeit wahrscheinlich besser nutzte, wenn er seinen Feind beobachtete und vielleicht etwas darüber erfuhr, wie der dachte und handelte. Eines war jedenfalls sicher: Der Kerl wusste genug über das Fernsehen, um das Medium für seine eigenen Zwecke auszunutzen. Auf Bildschirmen überall im Land fuhr die Kamera aus der Nahaufnahme von Vs Maske zurück, um ihn an einem Schreibtisch sitzend zu zeigen, ohne Hut jetzt, aber immer noch maskiert und mit Perücke, während hinter seiner Schulter das BTN-Logo, das für gewöhnlich mit dem normalen
Nachrichtensprecher erschien, mit einem Kreis übersprüht worden war, der den Buchstaben V enthielt. Er sprach weiter. „Aber im Geiste des Gedenkens, in dem jene wichtigen Ereignisse der Vergangenheit, üblicherweise in Verbindung stehend mit jemandes Tod oder mit dem Ende eines furchtbaren, blutigen Kampfes, mittels eines netten Feiertags begangen werden, dachte ich, dass wir uns in diesem Jahr des fünften Novembers erinnern könnten… ein Tag, dessen bedauerlicherweise nicht mehr gedacht wird… indem wir etwas Zeit aus unserem Alltag abzweigen, um uns hinzusetzen und ein wenig zu plaudern.“ Inzwischen hatte Dascombe sich zusammen mit Patricia und einigen bewaffneten Wachen in sein privates Büro zurückgezogen. Dort ging er vor dem Fernseher auf und ab und machte beinahe den Eindruck, als sei er bereit, sich sein perfekt frisiertes Haar an den Wurzeln auszureißen. „Lasst mich überlegen!“, sagte er, ohne jemanden direkt anzusprechen, so, als sei es ein Mantra, das ihm, wenn er es nur laut aussprach, helfen würde, genau das zu tun. „Lasst mich überlegen!“ Und alle um ihn her standen schweigend da und ließen ihn gewähren. Nur dass Vs ununterbrochene Stimme ihm eben keine Ruhe zum Nachdenken ließ. „Natürlich gibt es diejenigen, die nicht wollen, dass wir sprechen. Ich nehme sogar an, dass gerade jetzt Befehle in Telefone gebrüllt werden und dass bald schon Männer mit Schusswaffen unterwegs sein werden.“ Wie aufs Stichwort klingelte ein Handy auf Dascombes Schreibtisch. Patricia nahm den Anruf entgegen, hörte ein paar Sekunden zu und reichte es ihm dann. „Es ist Kanzler Sutler“, sagte sie nervös und wirkte beinah, als sei das Telefon zu heiß, um es noch länger zu halten, oder
als könnte es sich jeden Moment in eine giftige Schlange verwandeln. „Gottverdammt!“, knirschte Dascombe und riss es ihr aus der Hand. „Man wird alles tun, damit ich aufhöre, zu Ihnen zu sprechen“, sagte V, diesmal auf dem Bildschirm der Wachstation, über den zuvor Storm Saxon geflimmert war, und wo Finch nun stehen geblieben war und hinsah, während Dominic herbeigerannt kam, um sich ihm anzuschließen. „Wir brauchen einen Schweißbrenner“, erklärte Dominic und bezog sich offenbar auf das Problem mit der Studiotür. Aber Finch nickte nur und überließ es seinem Lieutenant, sich damit zu befassen, weil er inzwischen entschieden hatte, dass ihn die Stimme des Mannes, den er bereits als seinen persönlichen Gegner betrachtete, weitaus mehr interessierte. Und wenn das Gesicht nicht zu sehen war, musste man jede Nuance der Stimme, der Körpersprache, der Gedanken hinter den Worten in sich aufnehmen. „Kenne deinen Feind.“ Das war heute so wichtig wie eh und je. „Warum?“, fragte V. „Weil Worte immer ihre Macht behalten werden, auch wenn der Schlagstock statt des Gesprächs zum Einsatz kommt.“ Evey stand immer noch wie versteinert im PJA-Büro, starrte auf den Bildschirm und hatte fast das Gefühl, als spräche V direkt zu ihr. Dieselbe fesselnde Stimme, die sie letzte Nacht gehört hatte, hielt sie auch weiterhin in ihrem Bann. „Worte verleihen der Bedeutung erst ihre Bedeutung und für jene, die zuhören, bringen sie die Wahrheit zum Ausdruck. Und die Wahrheit ist, dass etwas böse im Argen liegt in diesem Land, oder nicht?“ In seinem Büro versuchte Roger Dascombe schwitzend mit einem Ohr Sutler zuzuhören und mit dem anderen V, obgleich offensichtlich nur einer von beiden einer Antwort bedurfte.
„Sie haben es entworfen, Sir“, erinnerte er und versuchte die bittere Pille der Wahrheit mit einem angemessen scheinenden Ton von Unterwürfigkeit zu überzuckern. Und die Schuld so weit wie möglich von sich zu weisen. „Sie wollten es narrensicher haben. Sie sagten mir damals, jedes Fernsehgerät in London…“ Aber dann kappte Vs Stimme seine Gedankenkette, wurde jetzt mächtiger, schärfer. „Grausamkeit und Ungerechtigkeit… Intoleranz und Unterdrückung. Und wo Sie einst die Freiheit hatten zu widersprechen, zu denken und zu sagen, was Ihnen passend erschien, haben Sie jetzt Zensoren und Überwachungssysteme, die Sie zur Konformität zwingen und Ihren Gehorsam fordern.“ Roger Dascombe vergaß für einen Moment, mit wem er sprach, schaute zur offenen Tür seines Büros und sah, wie mehrere Polizisten einen großen Azetylen-Schweißbrenner den Korridor entlang und in Richtung der immer noch unnachgiebigen Studiotür schleppten. „Kameras!“, schrie er plötzlich. „Wir brauchen Kameras!“ Und vor einer anderen Kamera breitete V ausdrucksvoll seine behandschuhten Hände aus, um die Fragen in seinen Sätzen zu unterstreichen. „Wie ist es dazu gekommen? Wen trifft die Schuld? Gewiss gibt es einige, die mehr dafür verantwortlich sind als andere, und die wird man zur Rechenschaft ziehen. Aber auf der anderen Seite, um die Wahrheit zu sagen… wenn Sie nach den Schuldigen suchen, brauchen Sie nur in den Spiegel zu schauen.“ Dann hielt V inne und überall in der Stadt taten Zuschauer dasselbe, während die Worte in ihr Bewusstsein drangen. In unterschiedlichem Maße natürlich. „Ich weiß, was Sie getan haben“, fuhr er fort. „Ich weiß, dass Sie Angst hatten. Wer hätte keine Angst gehabt? Krieg. Terror. Krankheit. Lebensmittel- und Wasserknappheit. Es gab eine
Unzahl von Problemen… die dazu beitrugen, Ihre Vernunft zu untergraben und Sie Ihres gesunden Menschenverstands zu berauben.“ Und nun schaffte es nicht einmal die Maske mehr, Vs offenkundige Enttäuschung zu verhehlen. „Angst übermannte Sie und in Ihrer Panik wandten Sie sich an den jetzigen Großkanzler Adam Sutler mit seinen glänzenden Stiefeln aus poliertem Leder und seiner Garnison von Schlägern. Er versprach Ihnen Ordnung. Er versprach Ihnen Frieden. Und alles, was er im Gegenzug verlangte, war Ihre schweigende, ergebene Zustimmung.“ Auf unzähligen Bildschirmen machte der maskierte Mann eine weitere Pause, während Dominic zu der Wachstation zurückkehrte, um Finch auf dem Laufenden zu halten. „Inspector, wir sind fast durch“, sagte er und Finch nickte unbestimmt, bevor er dem Bildschirm den Rücken zukehrte und Dominic den Flur hinunter folgte. Sie trafen im selben Moment wie Dascombe ein, der von einem kleinen Kamerateam begleitet wurde. „Gestern Nacht“, nahm V den Faden wieder auf, „trachtete ich, das Schweigen zu brechen. Gestern Nacht zerstörte ich den Old Bailey, um dieses Land daran zu erinnern, was es vergessen hat. Vor vierhundert Jahren wollte einer unserer Bürger den fünften November für alle Zeit in unser Gedächtnis brennen. Seine Hoffnung war es, die Welt daran zu erinnern, dass Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit mehr sind als nur Worte. Es sind Perspektiven. Wenn Sie also nichts gesehen haben“, und hier sank die Stimme in offenkundiger Abscheu gegenüber jedem, der so blind sein mochte, „wenn Ihnen die Verbrechen dieser Regierung verborgen bleiben, dann schlage ich vor, dass Sie den fünften November unbemerkt verstreichen lassen. Aber wenn Sie sehen, was ich sehe“, und jetzt war die Anziehungskraft wieder da, als V zu seinem
mitreißenden Finale ansetzte, „wenn Sie so empfinden, wie ich empfinde, und wenn Sie die Befreiung aus ihrer Tyrannei suchen, so wie ich sie suche, und ein Ende dieser Unterdrückung… dann bitte ich Sie, an meiner Seite zu stehen, in einem Jahr, vor den Toren des Parlaments. Und gemeinsam werden wir ihnen einen fünften November bereiten, der nie, niemals in Vergessenheit geraten wird!“ Damit endete die Aufzeichnung und Vs maskiertes Gesicht verlor sich in statischem Flimmern. Und diejenigen aus seinem Publikum, die gebannt waren von dem, was er zu sagen hatte, und deren waren es nicht wenige verstreut in der Stadt und im ganzen Land, stellten mit einem Mal fest, dass ihnen die Fähigkeit, sich zu bewegen, wiedergegeben war. Und unter den Ersten, die sich bewegten, war Evey Hammond. Sie erwachte aus ihrer Trance, sah sich um und war zum Glück immer noch allein. Sofort lief sie aus dem Zimmer.
KAPITEL 5
In einem Sprühnebel aus schmelzendem Metall, dem zischenden Brüllen der Flamme und mehr Rauch, als irgendjemand erwartet hatte, fraß sich der AzetylenSchweißbrenner endlich durch den letzten Teil der schweren, schallgedämpften Studiotür, dann ließ der kräftige Tritt eines Polizeistiefels sie nach innen kippen. Sie krachte mit einem lauten Dröhnen zu Boden, aber ehe sich ein weiterer Stiefel auf die Tür senken konnte, quoll eine dicke Dunstwolke auf den Gang hinaus und hüllte Polizisten, Wachmänner und Studiopersonal ein. Finch, der gerade erst eintraf, versuchte durch die dichte graue Wand hindurchzuspähen, konnte aber absolut nichts sehen, da auch sämtlicher Lichter gelöscht worden waren. In der plötzlichen Ruhe, die dem Ende von Vs Übertragung folgte, durchbrach das Summen eines kleinen Motors die beinah unheimliche Stille des düsteren, wolkenverhangenen Studios. „Kerosinnebel“, erklärte Dascombe, der hinter Finchs Schulter auftauchte. „Er benutzt unsere Nebelmaschine.“ Nicht sonderlich dankbar für Erkenntnisse, auf die er auch selber gekommen wäre, wandte Finch sich an Dominic und wies ihn leise an, die Ausgänge zu besetzen. Tat er das, um seinen besten Mann mit dieser speziellen Aufgabe zu betrauen – oder um ihn vor dem zu schützen, was im Studio auf sie warten mochte? Finch stellte fest, dass er das nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Als der jüngere Mann ging und sich mit ruhiger Effizienz seiner Aufgabe widmete, ließ Finch seinen Blick über den Trupp von Uniformierten wandern und
fragte sich, wie viele von ihnen wohl lebend aus dieser Sache herauskommen würden. Oder – als er die kaum verhohlene Brutalität in den leicht glasig wirkenden Augen der Männer schimmern sah ob der Aussicht auf Gewalttätigkeiten – wie viele von ihnen es verdienten, mit dem Leben davonzukommen. Die Polizei war nicht mehr das, was sie in seinen jüngeren Jahren einmal gewesen war – und diese Männer hier waren nur die Pfeifen, die es nicht zu Fingermännern brachten. Wie auch immer, im Augenblick beschäftigte ihn eine viel wichtigere Frage: Würde er mit dem Leben davonkommen? „Ihr zwei bleibt hier“, befahl er zwei enttäuschten Männern, aber sie schöpften ein bisschen neuen Mut, als er sie anwies: „Niemand kommt hier raus.“ Er winkte die anderen heran und fuhr fort: „Der Rest von euch folgt mir.“ Und auch Dascombe und seine Kameracrew schlossen sich an. Niemand würde ihm den Zutritt zu seinem eigenen Studio verwehren, schon gar nicht, wenn dieses Studio im Mittelpunkt der Nachrichten stand. Während um sie her immer noch der Nebel in der Luft hing, drangen sie vorsichtig in das weitläufige Studio vor, schoben sich an den schemenhaften Umrissen von Kamerawagen und längst erloschener Scheinwerfer, von Regiestühlen und Teleskopbalken herunterhängender Mikrofone vorbei. Ein vertrauter eisiger Schauer rann Finch über den Rücken, während kalter Schweiß die Innenseite seiner Waffenhand schmierig werden ließ, aber das Letzte, was er jetzt tun würde, war, die Pistole in die andere zu nehmen, um sich die Hand abzuwischen. Er war höllisch nervös und wenn er sich schon so fühlte, der er seit fast vierzig Jahren ein Bulle war, konnte er nur Vermutungen darüber anstellen, wie es den jungen Schlägertypen hinter ihm ergehen musste. Er hoffte nur, dass
nicht der Schießwütigste ausgerechnet hinter ihm stehen würde. Vor ihnen in der grauen Leere erklang ein Geräusch wie von einem schwachen Schlag. Waffen und Kameras visierten die Stelle an, beide auf ihre Weise schussbereit. Als Nächstes ertönten Schritte, erst stolpernd, dann rennend… auf sie zu rennend. Ein Ruf aus dem Nebel: „Nicht schießen! Bitte nicht schießen!“ Und dann tauchte eine dunkle Gestalt aus dem alles verhüllenden Grau auf mit einem wehenden Umhang um die Schultern. Und einer grinsenden weißen Maske auf dem Gesicht. Hinter Finch eröffneten die Polizeischützen, noch ehe er einen Gedanken fassen konnte und ganz bestimmt ehe sie selbst das getan hatten, das Feuer. Der Inspector warf sich flach hin und betete. Wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennte, überschlug sich die Gestalt mit dem Cape in der Luft und ging in einem Kugelhagel zuckend und ruckend zu Boden. Dann lag sie still. Ganz still. Finch hob eine Hand und hoffte, dass niemand sie ihm abschießen würde. Dann bellte er einen Befehl, während er sich aufrappelte und die Waffen verstummten. Außerordentlich vorsichtig trat er nach vorne. Blutend und sonderbar verdreht lag der Mann auf der Seite. Nachdem das Schießen nun aufgehört hatte, begann er sich vor Schmerz zu winden, schien aber nicht in der Lage zu sein, mit den Händen auch nur an eine seiner Wunden zu gelangen. Erst jetzt fiel Finch auf, dass die Hände des Mannes auf den Rücken gefesselt waren.
Mit einem schrecklich flauen Gefühl im Magen streckte der Inspector die Hand aus und zog dem Mann die Maske vom Kopf. Darunter kam das Gesicht eines alten Mannes zum Vorschein, bleich vor Entsetzen und Qualen. „Das ist kein Terrorist!“, rief Dascombe, der plötzlich hinter Finch auftauchte, die Kameracrew dicht hinter sich. „Das ist Brownleas, einer der Geschäftsführer unseres Studios!“ „Er… er hat uns allen Masken aufgesetzt“, stieß der Mann schwach und keuchend hervor, dann verfiel er in Schweigen, seine Augen schlossen sich und er knirschte vor Schmerz mit den Zähnen. „Oh Gott…!“, rief Finch entsetzt. Aus dem sich langsam lichtenden Nebel erklangen weitere schlurfende und stolpernde Schritte und ein weiterer Ruf: „Nicht schießen! Lieber Gott, nicht schießen!“ Viele Stimmen nahmen die Worte verzweifelt auf. Und dann tauchten die Menschen selbst vor Finch auf, alle mit Umhängen, alle mit Masken, und alle stolperten sie vor Angst über ihre eigenen Füße. Und hinter ihm begannen die Polizisten zu murmeln und mit den Füßen zu scharren, ihre zunehmende verständnislose Panik war fast zu riechen. Es würde nur eines nervösen Fingers bedürfen, nur eines Schusses, und die Hölle würde losbrechen. Ein Polizeimassaker. Nicht so ungewöhnlich, wie sie es einst gewesen waren, aber trotzdem etwas, das man im Augenblick nicht gebrauchen konnten. „Keine Bewegung!“, rief Finch so laut und befehlend, wie er nur konnte. Eine Anweisung, die sowohl den Leuten vor als auch hinter ihm galt. „Keiner rührt sich!“ Die Schatten im Dunst blieben stolpernd stehen, unbeholfen taumelnd. Einer von ihnen fiel hilflos zu Boden. „Wenn Sie eine Maske tragen, gehen Sie auf die Knie nieder“, befahl Finch als Nächstes. „Los!“
Die in Umhänge gehüllten Schemen sackten zu Boden und hinter Finch zischte ein Polizist leise durch die Zähne, wodurch er seine eigene Anspannung abbaute und dasselbe irgendwie auch für die anderen mit tat. „Nehmt ihnen die Masken ab!“, sagte Finch nun ruhiger, aber den Leuten die Handfesseln zu lösen, darüber sagte Finch bewusst nichts. Dann setzte er sich in Begleitung seiner Männer langsam und vorsichtig in Bewegung. „Beeilen Sie sich bitte!“, sagte der kniende Mann, den Finch als Ersten erreichte. Diese Stimme klang anders, ihr fehlte das ältere Timbre der anderen. Es war die Stimme des jungen Technikers, der gezwungen worden war, die Aufzeichnung des Eindringlings abzuspielen. Eine Stimme, die als Nächstes eine verhängnisvolle Schreckensnachricht übermittelte. „Er hat eine Bombe mit einem Zeitzünder in der Regiekabine gelassen!“ „Oh nein!“, stöhnte Dascombe, der immer noch hinter Finch stand und jetzt schlagartig blass wurde. Dass Menschen erschossen wurden, war eine Sache… das war eine Nachricht… aber sein geliebtes Studio… „Herrgott noch mal!“, brummte Finch, als Dascombe auf die Kabine zustürmte, das Kamerateam immer noch im Gefolge. „Jones! Schaffen Sie alle, die keine Maske tragen, hier raus!“ Und dann, mit einem Blick zurück zu dem verletzten und möglicherweise sterbenden Geschäftsführer, der von der ersten Salve niedergemäht worden war: „Marshall, helfen Sie, diesen Mann hinauszutragen.“ Mit einem furchtbar unguten Gefühl im Bauch setzte er Dascombe nach und wies den Rest seiner Männer an, das Studio weiter nach dem echten Terroristen zu durchsuchen. „Und alle anderen – auf geht’s!“
Dascombe, dessen Bewegungen die ihm folgende Crew zurückhielt, hatte die raucherfüllte Regiekabine erreicht… und blieb entsetzt stehen. „Großer Gott“, keuchte er und die Knie drohten ihm plötzlich den Dienst zu versagen, als er durch den Nebel auf die rot leuchtende Anzeige einer Uhr schaute, die schon unter der Vier-Minuten-Marke war und nun unerbittlich auf die Drei zuraste. Aus einer Öffnung an der Seite der Uhr schlängelten sich Drähte hin zu der Weste aus Dynamitstangen, die V zuvor getragen hatte. Und irgendwo in Dascombes Kopf flüsterte eine Stimme, dass es kein Strom war, der durch diese Drähte floss. Es war das Böse. Das Böse im kosmischen Maßstab, das ganze Welten der Ordnung zu stürzen drohte. Vor allem aber seine. Und das Schicksal hatte ihn ausgesucht, wie einen Ritter in strahlender Rüstung, den Kampf im Namen der Mächte des Lichtes zu führen und die Welt vor der Finsternis zu retten. Oder zumindest dafür Sorge zu tragen, dass ihr die Neun-UhrNachrichten erhalten blieben. Als Finch in der Kabine eintraf und das Kamerateam mit der Schulter beiseite rempelte (was natürlich mit Protest quittiert wurde – das hier war großes Fernsehen, was konnte wichtiger sein als das?), kniete Dascombe schon vor der Bombe, fast wie zum Gebet. Aber es war kein Rosenkranz und auch kein Gebetbuch, was seine Hand umklammert hielt. Es war ein Drahtschneider. „Dascombe!“, rief Finch scharf. Aber bevor er noch etwas anderes sagen konnte, hatte Dascombe ihm das Gesicht zugewandt, und etwas in seiner Miene ließ ihm die Worte auf den Lippen stocken. Denn Roger Dascombe wirkte verklärt, war jetzt ein Mann, der, zur größten Entscheidung gezwungen, die er je hatte treffen müssen, beinahe einen Zustand der Anmut erreicht hatte. Was war am wichtigsten, sein Leben oder das Studio? Aber irgendwie hatte er diesen Gegensatz
überschritten – sein Leben war doch das Studio. Es gab keine Frage zu beantworten. Alles was sonst noch zu entscheiden war, konnte Gott überlassen werden… und dem fast heiligen Drahtschneider, den er in der Hand hielt. „Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie lange es dauern würde, diese Einrichtung wieder aufzubauen?“, fragte Dascombe mit nahezu überirdischer Ruhe und einem seltsamen Leuchten in den Augen. „Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, was Sie da tun?“, knirschte Finch barsch in der Hoffnung, dass seine Worte Dascombe aus diesem Zustand aufwecken würden, der für einen ehrlichen Polypen wie ihn fast wie Wahnsinn aussah. „Beten Sie, dass dem so ist.“ Dascombe lächelte und wandte sich wieder der Apparatur zu. Und Finch, der wusste, dass die Bombe jeden Wettlauf mit einem Entschärfungskommando haushoch gewinnen würde, begann in der Tat aufrichtig zu beten.
Vor dem Studio hatte Jones es geschafft, die demaskierten leitenden Angestellten des Studios an den beiden Polizisten, die man zurückgelassen hatte, um an der aufgeschweißten Tür Wache zu stehen, vorbei und damit, wie er hoffte, in Sicherheit zu bringen. Er wollte gerade wieder hineingehen, um dort selber noch ein bisschen mitzumischen, als er einen weiteren Ruf aus dem immer noch nebelverhangenen Studio hörte. „Wartet!“, rief jemand. „Nicht schießen! Wartet auf uns!“ Zwei weitere maskierte Männer, die wie alle anderen Umhänge trugen, eilten durch die Tür heraus. Jones sprang zurück, nicht sicher, auf welchen der beiden er seine Waffe richten sollte, und in der verzweifelten Hoffnung, dass die anderen beiden Wachen jenen in Schach halten würden, um den er sich nicht kümmern konnte. Verflucht, dachte er, das
war kein Problem, mit dem sich die arme, blutige Infanterie, die sie waren, befassen sollte. Aber es war kein vorgesetzter Beamter in Sicht. Die beiden maskierten Männer schienen einander in ihrer Hast zu entkommen, beiseite zu stoßen, als sie auf den Gang herausstürmten, der erste erhielt plötzlich irgendwie einen Schubs vom zweiten und prallte, verzweifelt bemüht, nicht zu stürzen, gegen die drei Cops und stieß wiederum sie auseinander. Als sie sich endlich wieder gefangen hatten, war der zweite Mann ungeschickt gestolpert, die Hände noch auf den Rücken gefesselt, und hingefallen. Und dann begann er zu schreien. Schrie Worte, die in dem Moment das Letzte waren, was Jones hören wollte. „Schießt!“, kreischte er und starrte zu seinem noch stehenden Begleiter empor. „Lieber Gott, er ist es! Schießt!“ Der stehende Mann wirbelte eilends herum… tat aber seltsamerweise nicht mehr als das… um die drei Polizisten anzusehen, die inzwischen ihre Fassung so weit wieder gewonnen hatten, um dafür Sorge zu tragen, dass alle drei Pistolen direkt in seine Richtung wiesen. Aber weiter reichte ihre Fassung dann auch schon nicht mehr. Es war ein Wunder, dass noch keine dieser drei Pistolen losgegangen war. „Auf die Knie!“, schrie Jones mit wachsender Panik in der Stimme. „Runter auf die Knie!“ Und zu seiner gewaltigen Erleichterung tat der Mann es sogar. Langsam. Unbeholfen. Schweigend. Niemand bewegte sich. Aber irgendjemand musste etwas tun. Jones atmete zischend aus und dann noch tiefer wieder ein, hob seine freie Hand und bedeutete den anderen beiden zurückzubleiben und ihm Deckung zu geben. Dann, die Waffe vorgestreckt, fast so, als sei sie ein Kruzifix, mit dem er einen Vampir abwehren wollte, machte er einen langsamen Schritt
nach vorn… einen weiteren noch langsameren… dann streckte er zaghaft, nervös die Hand aus, um die Maske des Mannes abzunehmen. Und als er sie fortriss, enthüllte sie Fred Thorpe, den Wachmann, die Augen vor Entsetzen geweitet, der Mund geknebelt. Und ehe irgendeiner von ihnen Zeit hatte, um zu reagieren… … hatte V sich, geschmeidig wie eine angreifende Kobra vom Boden erhoben, nunmehr bar aller Täuschung – der wahre V, dessen Hände nicht nach hinten gebunden waren und stattdessen lange Messer hielten. So scharf waren diese Klingen und auf ihren Schneiden lag solch ein silberner Glanz, dass es fast schön anzusehen war… bis sie für einen Augenblick rot wurden. Und danach sah man sie nie wieder. Es war im Nu vorbei. Jones kam nicht dazu, einen Schuss abzugeben, seine Kollegen indes schon. Aber alles, was ihre Kugeln fanden, war ein sich bauschender Umhang, der ihr Ziel umwirbelte und ihr Augenmerk ablenkte wie das Cape eines Stierkämpfers, nur war dies kein rotes Tuch, sondern schlicht formloser Schatten. Und dann war keine Zeit mehr, um noch zu schießen. Es war nur Zeit zum Schreien und für das Geräusch brechender Knochen und die bösartigen, schneidenden Laute scharfer Messer, die menschliches Fleisch durchtrennten. Und fallende Körper. Und blicklose Augen. Und sich langsam ausbreitende Lachen zähflüssigen, gerinnenden Blutes. Arme, blutige Infanterie…
Es war nur Schweiß, der in der Regiekabine des Studios von Finchs Stirn strömte, während er zusah, wie Roger Dascombe,
der irgendwie immer noch von dieser feierlichen Aura umgeben war, die Finch sich selbst so verzweifelt wünschte, im Begriff war, ihrer aller Leben mit größter Wahrscheinlichkeit zu einem erschütternden, zerfetzten Ende zu bringen. Wenn er es nicht tat, dann würde es die Uhr, die sich jetzt rasend schnell der Anzeige 0:00 näherte, ganz bestimmt tun… die Uhr und die damit verbundene Bombe. Was mochte es für ein Gefühl sein, in Stücke gerissen zu werden? Finch wusste es nicht, fürchtete aber, dass er es nur zu bald herausfinden würde. Und es war kein sonderlicher Trost zu wissen, dass er diese Erfahrung nicht allein machen würde. Oder dass es mit ziemlicher Sicherheit sehr schnell gehen würde. Zwei oder drei Minuten waren vergangen, in denen Finch angenommen hatte, dass Dascombe die Bombe untersuchte – aber dann erkannte er, dass Dascombe nichts dergleichen tat. Er nutzte die letzten Augenblicke seines Lebens einfach nur für eine Art irrsinnige innere Einkehr, bis keine Zeit mehr war für irgendetwas anderes als entschiedenes Handeln. Und jetzt war dieser Zeitpunkt endlich gekommen. „Also los“, sagte Dascombe gelassen und knipste einen Draht durch. Ein winziger Laut, aber in der lähmenden Stille des Raumes mehr als genug, um Finch zusammenzucken zu lassen. Er stieß nervös die Luft aus und hob den Blick dankbar himmelwärts… dann fiel ihm auf, dass sonst niemand sich bewegt oder ein Wort gesagt hatte. Als er wieder zu Dascombe hinschaute, sah er, dass der Mann immer noch dort kniete, den Blick immer noch fast ehrfürchtig auf die Uhr geheftet. Die Uhr, auf der immer noch, in schrecklicher, eisiger Langsamkeit, die letzten paar Sekunden abliefen. 4…3…2… 1… Null. Nichts.
Keine Explosion. Keine Schreie. Kein Lärm. Keine Schmerzen. Kein Tod. Und dann löste sich die Spannung und Roger Dascombe wurde fast wieder zu einem menschlichen Wesen. „Ich hab’s geschafft!“, rief er und sein Gesicht strahlte jetzt vor einer ganz anderen Erregung. „Ich habs geschafft!“ „Verdammt“, murmelte Finch, weil es offenbar nichts anderes zu sagen gab. Er überließ Dascombe seinem Triumph, drehte sich um und drängte sich durch die Menge an der Tür. Einige lachten, einige sahen aus, als müssten sie sich gleich übergeben, einige sackten einfach zu Boden, je nachdem, wie ihnen der Stress und die Erlösung davon mitspielten. Er war sicher, dass er Dascombe nie mögen würde, aber er musste zugeben, dass der Mann Mumm hatte, wenn es um Dinge ging, die er wirklich für wichtig hielt. Nicht viel Verstand vielleicht, aber Mumm. Und dank Dascombes irrsinniger Tollkühnheit hatten sie es geschafft, einer der erbarmungslosen Attacken ihres Feindes einen Riegel vorzuschieben. „Und jetzt darf ich ihn fangen“, fügte er für sich hinzu.
Nicht weit entfernt eilte Evey Hammond den Korridor entlang. Sie hoffte verzweifelt, dass die Aufzüge nun, da der Feueralarm abgeschaltet war, auch wieder voll funktionstüchtig waren. Doch ganz in der Nähe von Fred Thorpes immer noch verwaister Wachstation blickte sie plötzlich auf. Und dort, in lautloser Eile aus der Richtung des Studios, kam V. Eveys Magen verkrampfte sich bei seinem Anblick und sie drückte sich in einen Türrahmen und versteckte sich. So lächerlich diese alten Geschichten über den Vogelstrauß, der den Kopf in den Sand steckte, auch sein mochten, jetzt konnte
sie doch die Logik hinter all dem verstehen. Wenn nicht die Polizei sie verfolgte, dann war es V, und sie wollte, dass sie alle einfach verschwanden. Wollte nach Hause und den Kopf unter der Bettdecke verstecken und morgen Früh dann aufwachen und feststellen, dass alles wieder so war, wie es noch gestern gewesen war… und dass heute und die gestrige Nacht sich nie ereignet hatten. Ja, es war etwas immens Anziehendes an V, obschon sie keine Ahnung hatte, wie er eigentlich aussah. Ein Gefühl von Wildheit und Freiheit und das Potenzial, so viel mehr zu sein, als jeder normale Mensch es je sein würde… aber zugleich weckten diese Wildheit und diese Freiheit auch Angst. Und die Gewalt machte es nur noch schlimmer. Zumal für jemanden, der die Welt so fürchtete, wie sie es tat. Dann versteck dich. Warte, bis er weg ist, und versuch dann, dich davonzustehlen, bevor er oder sonst jemand es merkt. Aber um zu wissen, wann er weg war, bedeutete, dass sie einen Blick um die Ecke riskieren musste, bevor sie es wagen konnte hervorzukommen. Nein, noch nicht. Sie hatte die Zeit falsch abgeschätzt und er war gerade erst bei den Fahrstühlen angelangt und streckte die Hand aus, um den Knopf zu drücken und eine Kabine heraufzurufen. Aber als sein Finger nur noch knapp einen Zoll entfernt war… „Keine Bewegung!“ Dominic Stones Stimme erscholl zuerst und dann tauchte der junge Polizist selbst aus seinem Versteck hinter dem Wachtresen auf. Er hielt seine Waffe fest mit beiden Händen umklammert und der Lauf wies mit absolut unfehlbarer Zielsicherheit zwischen die Augen des maskierten Mannes. Evey musste seine Tapferkeit bewundern. Oder zumindest hätte sie ihn unter anderen Umständen bewundert. Im Moment allerdings war er der letzte Mensch, den sie sehen wollte.
„Hände auf den Kopf!“ rief er schroff und die Anspannung schärfte seine Stimme, die er mühsam – und mit nur geringem Erfolg – zu beherrschen versuchte. „Los, los, sonst schieße ich!“ Als sei ihr bisheriges Entsetzen nicht genug gewesen, geriet Evey jetzt vollends in Panik. Vor ein paar Sekunden noch schien ihre weitere Vorgehensweise ganz klar: noch ein bisschen warten, bis sich die Lage beruhigte, dann fliehen. Aber was um alles in der Welt sollte sie jetzt machen? Wenn V verhaftet wurde und die anderen Polizisten hierher zurückkamen, würde sie nie einen Aufzug erwischen – und wahrscheinlich auch nicht ins Treppenhaus gelangen. Und ob sie V nun schnappten oder nicht, hinter ihr würden sie nach wie vor her sein. Und außerdem: Wenn V jetzt festgenommen wurde, dann würden die Dinge sich nie ändern. Keine Wildheit, keine Freiheit, kein Potenzial. Nur ewig Adam Sutler und Fingermänner und Terror. Welche dieser Alternativen war denn Furcht erregender? „Ich muss gestehen“, erklärte V nur ein paar Schritte entfernt und die Hände nun fest hinter dem Kopf verschränkt, „dass ich reichlich erstaunt bin ob der Reaktionszeit von Londons Freunden und Helfern. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie so auf Draht sein würden.“ „Wir waren hier, bevor du auch nur angefangen hast“, erwiderte Dominic. Blick und Visier wichen um keinen Deut von ihrem Ziel ab, seine Konzentration ließ keinen Moment lang nach. Müßig, ihm zu erzählen, dass sie hierher gekommen waren, um nach jemand ganz anderem zu suchen, und dass sein Hiersein nur ein glücklicher Zufall gewesen war. „Pech, Kumpel.“
„Och, ich weiß nicht recht“, entgegnete V ruhig, ohne einen Muskel zu rühren, den Blick jedoch an dem jungen Polizisten vorbei und den Flur hinuntergerichtet. Noch immer wankte weder die Waffe noch die Konzentration. Dennoch konnte Dominic die Bilder nicht verhindern, die ungebeten vor seinem geistigen Auge aufstiegen. Der Mann, der den Terroristen stellte. Sein Foto in den Zeitungen. Die Fernsehinterviews. Ruhm. Beförderung. Vielleicht sogar die Polizeimedaille, auch wenn die heutzutage nicht mehr so viel bedeutete wie früher einmal. Als ihm die Hand ganz leicht, fast zögerlich auf die Schulter tippte, fuhr Dominic dermaßen zusammen, dass es ein Wunder war, dass sein zuckender Finger den Abzug nicht drückte – aber so viel immerhin brachte er fertig. Den Kopf zu drehen allerdings, das war etwas, das er sich nicht verkneifen konnte. Und da stand Evey, direkt hinter ihm, und wirkte völlig entsetzt ob dessen, was sie tat. Sie hielt das Pfefferspray in die Höhe, kaum mehr als sechs Zoll von seinem Gesicht entfernt. Direkt vor seine sich weitenden Augen. Und dann drückte sie den Sprühknopf. Brüllend, geblendet, vor Schmerz und Schock würgend, griff er instinktiv zu und schaffte es, ihr Handgelenk zu packen und den Sprühstrahl von sich fortzudrehen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnte. Der schraubstockartige Griff ließ sie aufschreien. Und dann wirbelte er auf sie zu, attackierte ohne zu sehen, schwang die Pistole wie einen Knüppel. Kaltes Metall krachte gegen Eveys Schläfe. Ihre Beine gaben nach und sie sackte zu Boden, just als V herankam und Dominic von ihr wegzerrte. Jetzt war keine Zeit für den Stahl, nur für augenblickliche, waffenlose Vergeltung. Die durchgestreckten Finger seiner flachen Hand stachen dem Polizisten brutal in den Solarplexus. Der Treffer nahm ihm die Luft und ließ ihn vornüber klappen,
genau in die richtige Position für einen hammerartigen, lotrecht nach unten geführten Ellbogenhieb auf den Hinterkopf. Dominic war bewusstlos, ehe sein Kopf auf den Boden schlug. Und dann stand V über den niedergestreckten Körpern, blickte auf Evey hinab und wusste zum ersten Mal seit langer, langer Zeit ganz und gar nicht, was er als Nächstes tun sollte.
Wenig später erwachten Fernsehbildschirme überall im Land abermals zum Leben und zeigten eine dunkle und offenbar in aller Eile entworfene Einblendung: KRISENSONDERBERICHT. Und in genau denselben Altenheimen, Pubs und Clubs und den Wohnzimmern von Mittelstandsfamilien, in denen vor kurzem erst Vs Unterbrechung des Programms vor einem gleichermaßen verwirrten und gebannten Publikum über die Bildschirme geflimmert war, hielten nun erwartungsvolle Zuschauer den Atem an und fragten sich, was ihnen als Nächstes geboten werden mochte. Was man ihnen bot, war Dick, diesmal ohne June, ohne die zuschauerfreundliche Couch und vor allem ohne das versichernde Alles-in-Ordnung-mit-der-Welt-Lächeln. Dafür aber mit einem Balkenlogo in der Ecke, das von einer Krise im Jordan Tower kündete. „Wir unterbrechen das regulär vorgesehene Programm“, begann er, als sei das Programm nicht bereits unterbrochen worden, „für diese fürchterliche Meldung von einer terroristischen Übernahme des Jordan Towers, die erst vor wenigen Augenblicken endete.“ All das sagte er mit grimmiger, harter Miene, die zum Ton seiner Stimme passte. Dann eine Pause, nur um sicherzugehen,
dass es auch jeder begriffen hatte: Die Übernahme war beendet – es gab keine Krise mehr. Die normale Ordnung wurde eilends wieder hergestellt. Professionell wie eh und je. Und mit einem Skript, das Roger Dascombe fast umgehend persönlich geschrieben hatte, der nun glaubte, dass nichts jenseits seiner Macht lag. „Ein wahnsinniger Terrorist, ausgewiesen nur mit dem Codebuchstaben V, attackierte Studio und Regiekabine mit hochkarätigen Sprengstoffen und anderen Waffen, die er gegen unschuldige, unbewaffnete Zivilisten einsetzte, um eine Hassbotschaft zu senden. Wir haben gerade diese Aufnahmen eines mutigen Polizeieinsatzes erhalten.“ Jetzt zeigte der Bildschirm einen zusammengeschnittenen Auszug aus dem körnigen Filmmaterial, das Dascombes Crew mit der tragbaren Kamera aufgenommen hatte, als sie hinter der Polizei das Studio betreten hatten. Es sah aus wie Cinemaverite, mit all dem wirbelnden Nebel und der lärmenden Salve von Schüssen, dem sich krümmenden, blutenden Körper und den Schreien. Und es war Cinema-verite, nur war der Ruf „Nicht schießen!“ herausgeschnitten worden und niemand erwähnte, wie viele Männer mit Masken man im Studio vorgefunden hatte oder dass der hier, der jetzt in einem nahe gelegenen Krankenhaus an lebenserhaltenden Apparaten hing, aber zunehmend schwächer wurde, in Wahrheit gar nicht der Richtige war. Aber das würde natürlich niemand erfahren. Die Hauptsache war, dem Publikum die Schüsse zu zeigen und das Blut und den offenkundigen Beweis, dass der Terrorist tot war. Bedrohung vorbei. Seht, wie effizient die Polizei und Sicherheitsdienste waren. Fühlt euch sicher. Und beherzigt vor allem die Warnung: Versuch bloß nicht dasselbe, Kumpel. Denn auch du könntest wie totes Fleisch im Metzgerladen enden, genau wie der maskierte Feigling, der vor ein paar
Minuten noch all diesen Mist erzählt hat. Und dass er erschossen wurde, war sein Glück. „Das ist nur ein erster Bericht“, ging Dicks Begleitkommentar weiter, bis die Kamera ihn wieder erfasste und sein nunmehr viel beruhigenderes Lächeln, „aber im Moment geht man davon aus, dass der Terrorist bei diesem heldenhaften Polizeieinsatz von mehreren Schüssen getroffen und getötet wurde.“ Und dann, nur mit einem Anflug von Triumph und sehr viel mehr Nachdruck, als sei es umso offensichtlicher wahr, je lauter es gesagt wurde: „Ich wiederhole noch einmal – nach allem was wir von den Behörden erfahren haben, ist die Gefahr jetzt vorüber und der Terrorist ist tot.“ Und irgendwo auf einem Hügel im Südosten von London sagte ein kleines Mädchen, das Evey vor zwölf Jahren hätte sein können und dessen Eltern bereits verdächtigt wurden, gefährlich frei zu denken, genau das, was es dachte. Und was seine Eltern dachten. Und die Hälfte der Einwohnerschaft der Stadt. „So ein Mist!“
KAPITEL 6
Evey erwachte in Dunkelheit, einen dumpfen, pochenden Schmerz in der Schläfe, der sich anfühlte, als klopfte jemand ebenso beharrlich wie sadistisch mit einem Gummihammer gegen ihren Schädel, bis ihr wenig später bewusst wurde, dass dieses Pochen in Wirklichkeit von ihrem eigenen Blut herrührte, das durch die geprellte, empfindliche Haut gepumpt wurde, wo sie von der Pistole des Polizisten getroffen worden war. Sie hatte immer gewusst, dass es dort einen Puls gab, aber das jetzt war eher wie die Trommel der Verdammnis – eine Verdammnis, die sich immerzu wiederholte, wieder und immer wieder, für immer und immer. Als sie an ihren Kopf griff, um die Stelle zu berühren, fand sie eine kühle, feuchte Kompresse über der Beule und fragte sich, wer um alles in der Welt sie ihr aufgelegt haben mochte. Mit der Erinnerung daran, wie sie bewusstlos geschlagen worden war und an alles, was sich zuvor zugetragen hatte, kamen zuerst Entsetzen und dann die Erkenntnis, dass sie in einem Bett lag, immer noch vollständig angezogen. Aber nicht in ihrem eigenen Bett. Nicht in ihrer eigenen Wohnung. Ein schwacher Lichtstrahl fiel durch eine Tür, die einen winzigen Spaltbreit offen stand, in den fensterlosen Raum. Ein warmes, kerzenartiges Leuchten, das sich über das Bett breitete und ihr, nachdem sich ihre Augen darauf eingestellt hatten, gestattete, ein wenig mehr von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Der Raum schien keine Wände zu haben – oder es schien vielmehr jeder Zoll Wand hinter Bücherregalen verborgen zu sein, die Bücher darauf allesamt quer gelagert, sodass noch
mehr Bände in den zur Verfügung stehenden Raum gequetscht werden konnten. Buch über Buch über Buch türmte sich dicht wie Mauerziegel in die Höhe, sodass es beinahe schien, als stützten nur sie und sonst nichts die niedrige Gewölbedecke, die sich wie ein steinerner Baldachin über dem Bett spannte. Es waren mehr Bücher, als Evey außerhalb einer Bibliothek je gesehen hatte. Und auch abseits der Regale gab es weitere Stapel von Büchern, die vom Fußboden aufragten, einige davon waren umgekippt und ergossen sich im Chaos der Unordnung über den Boden wie brechende Wellen in einem weiten Meer aus Literatur. Und nicht weit von Evey weg ließ das weiche goldene Licht von der Tür ein paar goldgeprägte Buchrücken erkennen und verlieh den Namen ihrer Autoren einen heiligen Glanz: Oscar Wilde. Radclyffe Hall. William Beckford. Allesamt verbotene Schriftsteller. Das nahm sie jedenfalls an – einige der Namen, wie etwa Pierre Louys, hatte sie nie zuvor gehört. Neben dem Licht kam auch leise Musik durch die Tür. Einen Moment lang war sie nicht sicher, was es war, aber dann erinnerte sie sich. Es war lange, lange her. Solche Musik hatte sie zuletzt gehört, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Ihr Vater hatte diese Art von Musik gemocht. Blues. Schwarze amerikanische Musik. Verboten wie die Bücher ringsum. Und dann erstickte sie fast an einer Erinnerung, die sich aus der Vergangenheit erhob und sie zu strangulieren drohte mit ihrer süßen, widerlichen Lieblichkeit. Die Erinnerung, eines Sonntagmorgens mit Teddy in ihren Armen im Bett gelegen zu haben, warm und geborgen und fünf Jahre alt, in Bann geschlagen von den Staubkörnchen, die in einem Strahl goldenen Sonnenscheins schwebten, von einer Kinderkrankheit genesend, den Duft von Mummys Roastbeef und Yorkshire
Pudding und Daddys Pfeifenrauch in der Nase, der aus dem Wohnzimmer im Erdgeschoss zu ihr herauftrieb, während eben dieses Lied auf einer alten Stereoanlage spielte. Und wie Daddy am Sonntagmorgen immer den Rasen gemäht hatte und wie Glyzinien an der Gartenmauer wuchsen und immer, immer hatte die Sonne geschienen. Und da wusste sie, dass sie aufstehen und herausfinden musste, was das alles zu bedeuten hatte, bevor sie in salzige, melancholische Tränen ausbrach. Hinter der Tür lag ein kurzer Gang, der sie irgendwie an einen Weinkeller erinnerte. Er führte in einen größeren Raum, der noch verblüffender und herrlicher war als das Schlafzimmer mit den Büchern, in dem sie erwacht war. Aber auch er war fensterlos. Wie ein Lagerraum eines Museums oder einer Kunstgalerie oder einer Kombination aus beidem war dieser Raum voll von Kunstwerken, von der Renaissance bis hin zur Modernen, von Kunst um der Kunst willen bis zu kommerziellen Werken, von Tizian bis zum Comicheftcover. Auch ganze Comichefte, heillos zerfleddert, meistenteils aber Undergroundmagazine und politische oder künstlerische Spielarten des Mediums, die nie die Anerkennung erhalten hatten, die sie verdienten. Und es gab auch noch mehr Bücher, Erzählungen und Romane von der Mas bis zu Raymond Chandler, Philosophisches von Plato bis zu Foucault, Werke der heute getilgten neoheidnischen Religionen und Hunderte von Historien, die Geschichten enthielten, denen niemand mehr Beachtung zu schenken schien. Darüber hinaus fand sich hier alles, was an Erzeugnissen der Popkultur zu retten gewesen war, die Sutlers faschistischer Imperialismus hinweggefegt hatte: DVDs und Videobänder, CDs, Kassetten und sogar alte Vinylalben. Blues, Soul, Tamla-
Motown. Zigeunermusik. Protestlieder. Ein unerschöpfliches Füllhorn, nun weggeworfen wie ein Strauß welker Rosen. Und auch hier tapezierten Filmplakate die Wände hinter all diesen Bergen im Vordergrund: Humphrey Bogart. George Raft. James Cagney. Alte Gangster sterben nie… aber es schien, als schliefen sie, länger schon als Evey zurückdenken konnte. Und in einer Ecke, auffällig glänzend mit all ihrem Chrom und Plastik und den elektrischen Lichtern, eine Jukebox aus den 1950ern, aus der leise schmachtend eben jener alte Blues drang. Und Evey konnte nichts anderes tun, als einfach nur dazustehen wie Alice im Wunderland, weil ihr das Gemisch aus gleichen Teilen melancholischer Nostalgie und Entzücken die Kehle eng werden ließen. So viele Dinge, die sie verloren geglaubt hatte – so viele Dinge, die bewahrt worden waren. V kam lautlos aus den Schatten hervor, ohne Umhang jetzt, aber immer noch mit Maske und Perücke und immer noch in demselben jakobinischen Waffenrock nebst Bundhose und Stiefeln. „Oh!“, entfuhr es Evey überrascht. „Sie haben mich erschreckt.“ „Ich bitte um Entschuldigung“, sagte er leise, in seiner Stimme unüberhörbare und ehrliche Sorge. „Geht es dir gut?“ „Ja, danke“, antwortete sie misstrauisch, ein bisschen beruhigt von seinem Ton, aber immer noch im Ungewissen über so vieles, darunter auch seine Absichten. „Was ist das für ein Ort?“ „Mein Heim“, entgegnete er und so künstlich es offenkundig auch sein mochte, schien doch auch etwas Natürliches an diesem Lächeln auf seiner Maske zu sein. Oder vielleicht lag das Lächeln ja auch in seiner Stimme. „Ich nenne es die Schattengalerie.“
„Es ist wunderschön hier.“ Evey wandte den Kopf, um ihren Blick noch einmal über die angesammelten Schätze schweifen zu lassen und entdeckte dabei immerzu neue Dinge, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. War das dort drüben im Halbdunkel wirklich ein ägyptischer Sarkophag oder nur ein Requisit vom Gelände eines Filmstudios? Und diese seltsamen Holzschnitzereien, wie diejenigen, die sie immer in dem Afrikaladen gesehen hatte, bevor Sutlers Schläger das Geschäft niedergebrannt hatten. Japanische Holzschnittdrucke. Buddhas. Es schien kein Ende zu nehmen. „Wo haben Sie all diese Sachen gefunden?“ „Hier und da“, erwiderte er leichthin, während das Bluesstück zu Ende ging, fing an, ziellos durch den Raum zu streifen, und deutete mit einer alles umfassenden Handbewegung auf die Ausstellung. „Vieles davon stammt aus den Tresorräumen des Ministeriums für unerwünschte Materialien.“ „Sie haben sie gestohlen?“, fragte Evey mit großen Augen, und plötzlich fürchtete sie sich wieder. Gab es denn nichts, was sich dieser Mann nicht traute? Diebstahl. Gewaltanwendung, Terrorismus… und hier war sie bei ihm, in seinem Hauptquartier, und verkehrte mit einem „Staatsfeind“. Was würde man mit ihr anstellen, wenn jemals jemand dahinter käme? „Um Himmels willen, nein!“ Ein sanftes Lachen erfüllte seine Stimme mit unerwarteter Wärme. „Stehlen setzt Besitztum voraus. Einen Zensor kann man nicht bestehlen. Ich habe sie nur zurückgeholt.“ „Gott, wenn die diesen Ort je finden…“, begann Evey, führte den Gedanken allerdings nicht ganz zu Ende. „Ich nehme an, wenn sie diesen Ort je finden“, sagte V und spielte die Vorstellung herunter, „werden ein paar Kunstwerke meine geringste Sorge sein.“
„Sie meinen, nach allem, was Sie getan haben“, sagte Evey, und dann brachen all die Ereignisse des vorherigen Tages wieder über sie herein, und der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken. „O Gott…“ Auf einmal wirkte das ganze Wunderland um sie her nicht einmal mehr annähernd so wunderbar und ihr Kopf, den sie ob all des Neuen und Ungewöhnlichen für ein Weilchen vergessen hatte, begann wieder zu pochen. „Was hab ich getan?“, fragte sie in erster Linie sich selbst, eine Hand erhoben, um sich die Stirn zu reiben, als würde ihr Gehirn dadurch irgendwie besser funktionieren. „Ich habe einem Polizisten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht.“ Ein verzweifeltes Stöhnen. „Oh nein… warum hab ich das getan?“ „Du hast getan, was du für richtig hieltest“, sagte V in einem fast väterlichen, beruhigenden Ton. „Nein“, sagte Evey und schüttelte den Kopf. „Das hätte ich nicht tun sollen. Ich muss den Verstand verloren haben.“ „Ist es das, was du wirklich glaubst“, wollte er wissen, und jetzt erinnerte er sie irgendwie an einen ihrer Lehrer in der Schule, „oder ist es das, was sie dich glauben machen wollen?“ Nun, da es ihr einmal in den Sinn gekommen war, erinnerte sie sich, dass dieser bestimmte Lehrer, so verlockend der Gedanke auch sein mochte, einer von denen gewesen war, die sie nie richtig leiden konnte. Jener mit der harten, unnachgiebigen Weltsicht, der alles schwarz und weiß sah und keine Zeit hatte für unbequeme moralische Grauschattierungen. Der Prinzipien hatte. Derjenige, der sie zu sehr zum Nachdenken bewegt hatte. Der Aufwiegler, der ohne jeden Zweifel unter den Ersten gewesen wäre, deren Köpfe man in einen schwarzen Plastiksack steckte. Nicht die Säcke, welche die Fingermänner benutzten, wenn sie einen fortbrachten, obwohl sie sich weiß Gott vor denen auch schon zur Genüge fürchtete. Nein, die Sorte von Säcken, durch die
sie eine Kugel schossen. Die verhinderten, dass das Gehirn überall hinspritzte. Und da konnte sie sich, tief in ihrem Mark, des Gefühls nicht erwehren, dass der Mann, der hier vor ihr stand, dessen wahres Gesicht unter der lächelnden Maske versteckt lag, außerordentlich gefährlich war. Nicht nur für die Polizei, den Staat oder die Welt insgesamt… sondern auch für sie ganz persönlich. „Ich glaube, ich sollte gehen“, sagte sie abrupt und versuchte ein plötzliches Gefühl von Panik zu unterdrücken, während sie sich voller Hoffnung nach einer Ausgangstür umschaute. „Darf ich fragen wohin?“, erkundigte er sich in ruhigem, beruhigendem und ach so vernünftigem Ton. „Nach Hause“, erwiderte sie, nicht im Stande an etwas anderes zu denken als an all die Sicherheit und Behaglichkeit, die ihre Wohnung ihr bot, so billig und geschmacklos sie auch sein mochte. Schon komisch, dass sie seit Urzeiten aus der Gegend um Paddington weg gewollt hatte, um irgendwohin zu ziehen, wo es besser war – und jetzt konnte sie es nicht erwarten, wieder dort hinzukommen. „Ich muss nach Hause.“ „Du weißt, dass sie nach dir suchen“, sagte er langsam, geduldig, als müsste er einem kleinen Kind etwas erklären. „Wenn sie wissen, wo du arbeitest, wissen sie sicher auch, wo du wohnst.“ „Ich habe Freunde“, sagte Evey verzweifelt. „Ich kann bei denen bleiben.“ „Ich fürchte, das wird auch nicht klappen.“ Sie hatte gewusst, dass er das sagen würde, noch während sie die Idee geäußert hatte. Und ebenso wusste sie, dass er Recht hatte. Sie durfte ihre Freunde nicht in diese Sache hineinziehen, indem sie um Hilfe bat. Oder besser gesagt, sie durfte sie nicht noch tiefer hineinziehen. Bestimmt hatte man sie bereits vorgeladen und verhört, und ganz sicher nicht auf
angenehme Weise. Heutzutage war Unschuld keine Entschuldigung, kein Schutz. „Ich möchte, dass du das verstehst, Evey“, fuhr V fort und wandte sich von ihr ab, als seien die Worte, die er sagen musste, zu hart, um sie ihr ins Gesicht zu sagen. „Ich wollte nicht, dass es für dich oder für mich so weit kommt, aber ich sah keine andere Möglichkeit. Du warst bewusstlos, und ich musste eine Entscheidung treffen. Hätte ich dich zurückgelassen, wärst du in diesem Moment bereits in einer von Creedys Verhörzellen. Sie würden dich einsperren, dich foltern und aller Wahrscheinlichkeit nach umbringen, um mich zu finden.“ Evey wusste, dass jedes Wort, das er sagte, stimmte, aber sie klangen dennoch wie eine Verurteilung zum Tode. Und in vielerlei Hinsicht waren sie das auch, denn was immer jetzt auch geschehen würde, das alte Leben, das sie geführt hatte, war vorbei. Unwiderruflich und für immer. „Nach dem, was du für mich getan hattest, konnte ich das nicht zulassen.“ Abermals unterbrachen Vs Worte ihre Gedankenkette. „Ich hob dich hoch und brachte dich an den einzigen Ort, wo du in Sicherheit bist. Hier. In meinem Zuhause.“ „Ich werd’s niemandem verraten“, flehte Evey und ihre Verzweiflung wich jetzt Schrecken. „Ich schwör’s. Sie wissen doch, dass Sie mir vertrauen können…“ „Tut mir Leid, aber dieses Risiko kann ich nicht eingehen.“ Er wandte sich ihr nun wieder zu, nachdem das Schlimmste gesagt war und alles andere nur noch der Betonung des Wesentlichen diente. „Bist du schon einmal gefoltert worden? Unter Folter verraten Leute Dinge, die sie zu verraten nie geglaubt hätten.“ Er musterte sie und sah ihr genau an, was sie tun würde. Sie war so verängstigt und durcheinander, dass sie schon beim
ersten Anzeichen von Drohung alles sagen würde, was die hören wollten, wenn es sie denn nur rettete. Sie würde es nicht wollen. Sie würde es sich danach nie verzeihen. Aber ihr Entschluss würde völlig in sich zusammenfallen, sobald man anfing, sie zu befragen. „Aber ich weiß doch nicht einmal, wo dieser Ort hier liegt“, hielt sie dagegen und versuchte sich einzureden, dass Folter, nach allem was sie in ihrem kurzen, erbärmlichen Leben schon hatte durchmachen müssen, nicht so viel schlimmer sein konnte – aber tief in ihrem Innersten wusste sie natürlich, dass es schlimmer war. „Wir könnten überall sein!“ „Du weißt, dass wir unter der Erde sind. Du kennst die Farbe dieser Steine. Für einen klugen Menschen wäre das schon genug.“ „Was wollen Sie damit sagen?“, schrie Evey nahe daran, gänzlich die Beherrschung zu verlieren. „Dass ich für immer hier bleiben muss?“ „Nur bis ich fertig bin“, entgegnete V und versuchte, sie wieder zu beruhigen. „Ich glaube, nach dem Fünften wird es nicht mehr darauf ankommen.“ „Nach dem Fünften?“, fragte sie, einen Moment lang verdutzt, bis ihr klar wurde, wovon er redete. „Sie meinen in einem Jahr? Ich muss ein Jahr lang hier bleiben?“ „Es tut mir Leid, Evey“, sagte er und wirkte plötzlich ernüchtert angesichts ihrer wütenden Ablehnung. „Ich wusste nur nicht, was ich sonst tun sollte.“ „Warum haben Sie mich nicht in Ruhe gelassen?“, schrie sie, verlor nun endlich vollends die Fassung und wusste doch, selbst jetzt, da sie ihn anbrüllte, dass sie es nicht so meinte, wusste, dass ihm keine andere Wahl geblieben war. „Sie hätten mich einfach in Ruhe lassen sollen!“ Dann wirbelte Evey herum, während Tränen ihren Blick verschwimmen ließen und über ihr Gesicht strömten, und
rannte aus dem Raum durch den Gang zurück in das Schlafzimmer, das sie nun offenbar als „Zuhause“ ansehen musste. Denn es war entweder dieser Raum oder das Gefängnis – und ein anderes Zuhause, in das sie heimkehren konnte, hatte sie im Augenblick nicht. Und vielleicht würde sie nie wieder ein anderes haben. Und V, umgeben von all den Schätzen der Vergangenheit, all jenen Dingen, die ein einsames Leben lebenswert machten, konnte nur dastehen und zuhören, wie die Stille der Nacht von schmerzvollem, verständnislosem Schluchzen zerrissen wurde. Derweil das Wissen auf ihm lastete, dass Evey Hammonds Leben nicht das einzige Leben war, das sich für immer verändert hatte.
Da die Schattengalerie keine Fenster hatte, bestand das einzige Anzeichen des nahenden Morgens darin, dass die Lichter ein bisschen heller gedreht wurden. Und im Geruch von Spiegeleiern. Es waren mehr die Eier als das Licht, die Evey weckten, aber um die Wahrheit zu sagen, hatte sie ohnehin nicht viel geschlafen. Und sich selbst in den Schlaf zu weinen, war eines jener Dinge, von denen sie gehofft hatte, sie lägen weit hinter ihr. Dennoch, egal wie viel Schmerz und Leid das Herz und der Geist auch erdulden mochten, der Magen hatte immer ganz unabhängig sein eigenes Verlangen. Und für Spiegeleier war Evey stets bereit gewesen aufzustehen. In der Küche der Schattengalerie lächelte V unter der Maske, während er zubereitete, was die Amerikaner „Ei im Korb“ genannt hatten, doch in dem Teil von England, aus dem er kam, hieß es „ägyptisches Fischaugensandwich“. Warum genau, hatte er nie verstanden, aber er hütete die bildhafte
Bezeichnung als weiteres hübsches Überbleibsel aus der Vergangenheit. Evey fand ihn am Herd vor, die Eier fingen gerade vor ihm in der Mitte des getoasteten Brotes an zu zischen und er war maskiert und gekleidet wie üblich, bis auf den Umhang. Und eine Schürze, die er um die Hüften gebunden hatte, was Evey gleichermaßen albern wie heimelig fand. Eine Mutter- und Vaterfigur in einem. „V?“, fragte sie zögerlich, weil sie nicht sicher war, wie seine Laune sein mochte nach ihren Malheuren der vergangenen Nacht. „Oh, guten Morgen“, sagte er durchaus freundlich, drehte sich um und nahm Pfanne und Wender einen Moment lang vom Ofen, während er sprach. „Ich wollte mich nur für meine Reaktion gestern Abend entschuldigen“, sagte Evey nervös und versuchte, sich nicht zu verhaspeln in der Rede, die sie jedes Mal geprobt hatte, wenn sie gegen Ende der Nacht aufgewacht war. „Ich verstehe, was Sie für mich getan haben, und Sie sollen wissen, dass ich Ihnen dafür dankbar bin…“ Und dann verebbten die Worte einfach und weigerten sich, weiter ausgesprochen zu werden, als sie voll Abscheu auf seine Hände blickte. Denn V hatte es versäumt, wohl weil er zu sehr mit Kochen beschäftigt war, seine Handschuhe anzuziehen. Die Haut beider Hände war entsetzlich zernarbt, wie von schweren Verbrennungen, die zudem nicht sonderlich gut behandelt worden waren. Was vom Fleisch übrig geblieben war, war jetzt zwar verheilt, doch die Ähnlichkeit mit normaler Haut war allenfalls marginal. „Ihre Hände…?“, setzte Evey leise an, aber es schien nichts zu geben, was sie dem noch hinzufügen konnte. „Oh, ja“, sagte V, setzte rasch die Pfanne ab und griff nach seinen Handschuhen, die neben ihm auf der Arbeitsfläche
lagen, dann wandte er sich ab und verbarg seine Hände, während er sie überzog. „So“, sagte er einen Moment darauf und drehte sich wieder zu ihr um. „Das ist besser. Ich hoffe, ich habe dir nicht den Appetit verdorben.“ „Nein, ich bitte Sie“, beeilte Evey sich zu sagen, mit einem Mal von Mitgefühl erfüllt, von dem sie gestern noch geglaubt hätte, dass sie es für diesen seltsamen und rätselhaften Mann, dessen geheimnisvolle Zurückhaltung beinahe so viel verhüllte wie seine Maske, nie empfinden könnte. „Es ist nur… sind Sie… in Ordnung?“ „Es geht schon“, antwortete er kurz, aber keineswegs schroff. „Geht schon.“ „Darf ich fragen, was passiert ist?“ Er richtete sein Augenmerk wieder auf die Eier. „Es gab ein Feuer“, sagte V und hob den Kopf, als blickte er in die ferne Vergangenheit. „Vor langer Zeit. Ein alter Hut für manche. Wirklich kein gutes Thema für ein Tischgespräch.“ Und dann, mit kaum mehr als einem nur im Geiste vollzogenen Achselzucken, blickte er zu ihr und wechselte das Thema. „Möchtest du eine Tasse Tee und eine Portion Eier?“ „Ja, danke“, erwiderte sie eifrig, als hätte sie schon gedacht, er würde sie nie fragen. „Ich bin ehrlich gesagt am Verhungern.“ Er nickte in Richtung eines kleinen Frühstückstisches und ließ die Eier geschickt aus der Pfanne auf einen Teller gleiten, nahm ein Messer und eine Gabel, drehte sich um und servierte ihr das schlichte Mahl. „Bitte sehr, guten Appetit“, wünschte er und fügte nach einer winzigen Pause hinzu: „Ich habe schon gegessen.“ Natürlich, dachte sie: Um in ihrer Gesellschaft zu essen, müsste er die Maske abnehmen, und die mochte er aus mehr als nur dem simplen Grund tragen, nicht erkannt zu werden.
Und wenn sein Gesicht auch nur annähernd seinen Händen glich, wollte sie dann wirklich wissen, wie er aussah? Aber da hatte sie auch schon einen heißen Bissen Spiegelei im Mund und damit etwas anderes, auf das sie ihre Gedanken lenken konnte, als das Aussehen anderer Leute. „Mmh, köstlich“, seufzte sie leise. Sie hatte den Mund noch voll und lud sich doch schon mehr auf die Gabel. „Gut“, freute er sich mit all der Zufriedenheit eines Kochs, der gerade ein achtgängiges Bankett angerichtet hatte. „Oh Gott“, sagte Evey plötzlich, als die Erkenntnis eines längst vergessenen Geschmacks heraufdämmerte und eine Flut von Erinnerungen mit sich brachte. „Ich habe keine richtige Butter mehr gegessen, seit ich ein kleines Mädchen war. Wo um alles in der Welt haben Sie die her?“ „Von einem Nachschubzug der Regierung.“ Vs Stimme verriet das Grinsen, das offenkundig um seine Lippen spielte. „Er war unterwegs zu Kanzler Sutler.“ „Sie haben sie von Kanzler Sutler gestohlen?“, platzte es aus Evey heraus. Fast verschluckte sie sich an einem Bissen Ei. Gab es irgendetwas, das er nicht riskieren würde? „Sie sind ja wahnsinnig!“ „Ich wage alles, was dem Menschen ziemt“, zitierte V schulmeisterhaft, „wer mehr wagt, der ist keiner.“ „Macbeth“, gab Evey zurück, entschlossen, nicht zurückzustehen. „Sehr gut“, entgegnete V und warf einen Blick hinaus in die Schattengalerie, in Richtung seiner Lieblingsbüste. Dann nickte er ein klein wenig mit dem Kopf zum Zeichen einer unausgesprochenen Frage. „Meine Mum…“, erklärte sie und aß den letzten Bissen Spiegelei. „Sie hat mir immer seine Stücke vorgelesen und seitdem wollte ich immer spielen. In Theaterstücken oder
Filmen auftreten. Als ich neun war, spielte ich Viola in Was ihr wollt. Mum war sehr stolz.“ Ein kleines Lächeln erschien unwillkürlich um ihre Lippen. Erinnerungen so süß wie diese waren selten. „Und wo ist deine Mutter jetzt?“ „Sie ist tot.“ „Das tut mir Leid.“ Evey nickte, nur zu gut daran gewöhnt, solcherlei Mitleid zu erfahren. Aber andererseits war sie alles andere als allein mit diesem Leid. Ihr fiel niemand von ihren Bekannten ein, der nicht irgendwo in der Familie oder im Freundeskreis mit dieser Art von Verlust in Berührung gekommen war. Sie nahm einen Schluck Tee, und dann saßen sie einen Moment lang da, schauten sich über den Tisch hinweg schweigend an und fragten sich, was für Geheimnisse wohl noch bleiben mochten. Jeder, das wusste sie, trug auf die eine oder andere Weise eine Maske – es war nur so, dass die von V weit offensichtlicher war als die meisten anderen. „Darf ich Sie etwas über das fragen, was Sie im Fernsehen sagten?“, ergriff sie schließlich das Wort, obgleich sie keineswegs sicher war, ob sie die Ereignisse des gestrigen Tages noch einmal aufwärmen wollte. Aber wenn sie ein ganzes Jahr lang hier und mit ihm leben musste, dann wollte sie wissen, was gespielt wurde. Was ihn antrieb. „War das Ihr Ernst?“ „Jedes Wort.“ „Sie glauben wirklich, die Houses of Parliament zu sprengen, macht dieses Land zu einem besseren Ort?“ „Es gibt keine Sicherheit. Nur Gelegenheit.“ Aphorismen und Zitate. Sie schienen die Hälfte dieses Gesprächs auszumachen, dachte Evey, vielleicht sogar mehr. Manchmal war sie beeindruckt, wenn auch vermutlich nicht so beeindruckt, wie sie es seiner Meinung nach sein sollte. Und
dann wieder fand sie es einfach nur lästig. War er in Wirklichkeit nur ein Besserwisser mit fotografischem Gedächtnis? Oder war seine Art zu sprechen nur eine weitere Maske, um sein wahres Ich zu verstecken? Oder war er, wie es ihr in der ersten Nacht, als sie sich getroffen hatten, in den Sinn gekommen war, tatsächlich ein Irrer? Nun, die einzige Möglichkeit, dieses wahre Ich kennen zu lernen, bestand darin, ihn zum Reden zu ermuntern, und dem Wenigen zu lauschen, das nicht nur auswendig gelernter Vortrag war. „Ich glaube, Sie können ziemlich sicher sein, dass Creedy jeden Einzelnen, der aufkreuzt, um mitzumachen“, sagte sie kurz darauf, „in einen schwarzen Sack stecken wird.“ „Das Volk sollte sich nicht vor seiner Regierung fürchten“, erklärte er und verfiel wieder in seine belehrende Art. „Regierungen sollten sich vor ihrem Volk fürchten.“ „Und das bewerkstelligen Sie, indem Sie ein Gebäude in die Luft jagen?“, fragte sie und stellte sich damit der Herausforderung. „Das Gebäude ist ein Symbol“, sagte der Mann, „genau wie es der Zerstörungsakt ist. Symbole erhalten ihre Macht von Menschen. Ein Symbol allein ist bedeutungslos, aber wenn genug Menschen darin verwickelt sind, kann die Sprengung eines Gebäudes die Welt verändern.“ „Ich wünschte, ich könnte glauben, das wäre möglich.“ Evey stellte die leere Teetasse ab. „Ehrlich. Aber wann immer ich sah, wie diese Welt sich änderte, geschah es stets zum Schlechteren.“ Dann stand sie auf und sagte: „Danke für die Eier.“ Und damit ging sie davon, zurück in ihren Raum, und ließ V still am Tisch sitzen, der Ausdruck seiner Maske so rätselhaft wie eh und je.
„Genau da. Was denkt er da?“, fragte Chief Inspector Finch eher sich selbst als Dominic, obwohl der jüngere Mann direkt neben ihm saß. Beide starrten sie angespannt auf einen kleinen Monitor, der Bilder des Fiaskos im Jordan Tower vom Vortag zeigte, aufgenommen von einer der wenigen Sicherheitskameras, die der Terrorist auf seinem Weg hinein irgendwie versäumt hatte lahm zu legen. Voll konzentriert ruhten ihre Blicke auf V, der überlegend über den bewusstlosen Körpern von Evey und Dominic stand, die zu seinen Füßen lagen. „Zieht er in Betracht, sie zurückzulassen? Nachdem sie ihn gerade gerettet hat?“ „Er ist ein Terrorist. Sie können nicht erwarten, dass er wie Sie oder ich handelt“, sagte Dominic knapp, immer noch rotäugig und tastete mit einer Hand nach der Prellung in seinem Nacken. Verständlicherweise war der Mann selbst im Augenblick nicht seine oberste Priorität – die bestand nur darin, ihn zu fangen. Ihn zu fangen und allein in einer Zelle mit ihm zu sein, wo er dem Bastard die Seele aus dem Leib treten würde. Und was das Mädchen anging… nun, Dominic war für gewöhnlich nicht der Typ, der herumlief und Frauen verprügelte, aber für Frauen mit Pfefferspray war er bereit, eine Ausnahme zu machen. Auf dem Monitor bückte V sich schließlich und hob Evey mit beiden Armen auf. „Ein Teil von ihm ist menschlich“, bemerkte Finch. „Und in Freud oder Leid, er hält ihr die Treue.“ Nachdem er noch einmal mit ansah, wie V Evey zum Aufzug trug – und er konnte sich nicht erinnern, wie oft er es sich bereits angesehen hatte –, schaltete Finch den Monitor endlich aus und drehte seinen Stuhl herum, um Dominic anzusehen, wobei ihm der Schnellhefter auffiel, den sein Assistent mitgebracht hatte, als er zu ihm herübergekommen war. „Haben Sie noch etwas über ihre Eltern herausgefunden?“
„Ja.“ Dominic breitete Blätter auf dem Schreibtisch aus. „Und nichts Gutes. Sie waren beide in Belmarsh interniert.“ „O nein“, stöhnte Finch. Wieder dieselbe alte Geschichte. Wie viele Tausend waren verschwunden – anständige Menschen zum größten Teil, dessen war er sicher –, nur weil sie nicht mit der politischen Linie der Partei einverstanden waren oder gegen die Übernahme protestiert hatten? Wie viele Familien waren zerstört worden, während die Neue Ordnung eingeführt wurde? Dennoch, es hatte schlimmere Orte gegeben als Belmarsh, wie er wusste. Nach Belmarsh hatten sie nur die „Politischen“ geschafft. Es hatte andere, stinkendere Höllen gegeben während der Reklamation, für die „Degenerierten“, die „Immigranten“, die „Ketzer“. Diese und viele andere Bezeichnungen wurden nur benutzt, um die Opfer zu entmenschlichen. Wie leicht es doch war zu übersehen, dass man es mit richtigen Menschen zu tun hatte, wenn sie einfach zu Kategorien wurden, um sie zu sortieren, abzulegen und dann zu vergessen, wenn sie „aus den Akten gestrichen“ worden waren. Das passierte auch heute noch. Schließlich sprach niemand in den Medien oder den Pressemitteilungen der Regierung von diesem „V“ als einem Menschen, als jemandem, der Gefühle haben mochte, eine Familie, eine Geschichte: Er war einfach nur „der Terrorist“. Natürlich waren von all den „Kategorien“, um die man sich während der Reklamation „gekümmert“ hatte, die „Politischen“ diejenigen gewesen, die den meisten Ärger machten, die am heftigsten Widerstand geleistet hatten. „Ja“, fuhr Dominic fort, jetzt etwas mehr Mitgefühl in der Stimme, nachdem sich das Thema von seinem speziellen Schreckgespenst wieder zu Eveys Eltern hin verlagert hatte. „Sie starb während des Hungerstreiks und er musste dran glauben, als das Militär sich den Schuppen zurückholte.“
„Das ist furchtbar.“ „Das ist noch nicht das Schlimmste. Ihr Bruder war in St. Mary’s.“ „Herrgott.“ „Nichts als Pech“, schloss der jüngere Mann mit einem Achselzucken, das bedeutete: Was hätte man schon machen können? „Wir kennen also ihre Geschichte. Jetzt brauchen wir seine.“
KAPITEL 7
Zu behaupten, dass Lewis Prothero eine Wohnung besaß, die eines Mannes in seiner Position würdig war, wäre eine Untertreibung gewesen. Das Penthouse war eher ein Denkmal für einen Mann in seiner Position. Oder treffender gesagt, eine Kathedrale, die einzig errichtet wurde, um ihren Besitzer zu feiern. Lewis Prothero ist Gott, bedeutete sie – es gibt keine anderen Götter neben Ihm. Und hierher zog Lewis Prothero sich des Nachts zurück, um sich selbst zu huldigen. Das große, üppig ausstaffierte Badezimmer spiegelte das nicht weniger wider als irgendeiner der anderen Räume. Mehr noch, im Augenblick spiegelte es nichts anderes wider als Lewis Prothero, denn sein Gesicht und sein in einen Bademantel gehüllter Körper waren in glänzenden Spiegeln rund um den Raum zu sehen. Und wo sich keine Spiegel befanden, hingen stattdessen Monitore an den Wänden, und jeder dieser Bildschirme war mit einem zentralen Videogerät verbunden, das die Ausgabe der Stimme von London, die heute Abend ausgestrahlt worden war, in einer Endlosschleife wiederholte. Dadurch wurde das Badezimmer irgendwie zu einem gewaltigen Kaleidoskop, das Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen ließ, Ton und Bild… eine Unzahl strahlender Erscheinungen des göttlichen Lewis Prothero, zu herrlich, als dass simple Worte es je ganz zum Ausdruck bringen könnten. Was konnte sich ein Mensch mehr zu erblicken wünschen als sich selbst, Star und Wunder seiner Zeit, nackt ausgezogen und bar allen Unrats der Alltagswelt?
Und welche Stimme könnte sich besser eignen, seine eigene zu begleiten, als wiederum seine eigene? „Ich sage euch, was ich weiß!“, rief der Prothero auf dem Bildschirm dem Londoner Pöbel zu – und der Prothero des Badezimmers fiel mit ein: „Ich weiß, dass er kein Mann ist!“ Die Sendung ging natürlich um diesen blöden Terroristen, der es beinahe geschafft hatte, das Studio in die Luft zu jagen – und Lewis Prothero fast vom Bildschirm geholt hätte. Ein Masken tragender Clown, dachte er, das war alles, was er war. „Ein Mann trägt keine Maske!“, schrie der Fernseh-Prothero, während sein lebendes Gegenstück einen Spiegelschrank öffnete, der Reihen von Fläschchen verschreibungspflichtiger Medikamente enthielt, für die er allerdings keine legalen Rezepte besaß. „Was ist er?“, schrie Prothero, während er seine Arzneiliste für den Abend zusammenstellte. „Ein Mann bedroht keine unschuldigen Zivilisten!“, ging die Bandaufnahme weiter. „Was ist er?“, warf Prothero den Ball zurück, diesmal mit besserem Timing. „Ich werde euch sagen, was er ist!“, erwiderte der Monitor aufs Stichwort. „Was jeder gemeine, die Freiheit verachtende Terrorist ist… ein gottverdammter Feigling!“ Komisch dass man immer diesen Satz für ihn schrieb, dachte er, selbst wenn er über Selbstmordattentäter sprach, die weit mehr wagten, als selbst er, der heroische Lewis Prothero, sich trauen würde. Er mochte zwar sagen, was immer auch nötig war zur Verteidigung dessen, woran er glaubte, aber tatsächlich dafür zu sterben… nein, vielen Dank. Er gehörte zur Offiziersklasse und für derlei Dinge hatten sie Kanonenfutter. Nichtsdestotrotz, andere Leute Feiglinge zu nennen, hatte seinen Einschaltquoten nie geschadet, und die waren sehr viel wichtiger als alles andere.
Als die „Zuschauer“ in „spontanen Applaus“ ausbrachen, wie sie es immer taten, hielt Prothero inne, um eine Hand voll Pillen einzuwerfen und diesen Cocktail mit einem halben Glas Scotch hinunterzuspülen. Ah, ja, das musste wirken. Bevor er noch einen Schluck nehmen konnte, begann das Telefon zu läuten. Mit der Fernbedienung schaltete Prothero das Band auf Pause, dann nahm er den Hörer auf und hörte einen Moment lang zu. Dieses herumstolzierende, wichtigtuerische kleine Stück Dreck Roger Dascombe. Nur weil Dascombe Kabinettssitzungen besuchte (und das allein war schon ungerecht. Es war doch ganz offensichtlich, dass Prothero selbst der Einzige war, der es verdiente, im Namen des Mundes mit Sutler zu sprechen… nein, eigentlich sollte er Sutler sagen, was zu tun war, anstatt Anweisungen von oben zu erhalten) und nur weil er sich zu kleiden wusste… und was faselte er da jetzt? Ach so, das wieder. „Da gibt es nichts zu bereden, Roger“, sagte er kategorisch und missachtete damit einfach die Tatsache, dass Dascombe nominell sein Chef war. „Wenn ich morgen komme, ist der Ire verschwunden. Ich sehe mir die Aufzeichnung gerade an und der Kerl hat keine Ahnung, wie er mich ausleuchten muss. Meine Nase sieht aus wie der gottverdammte Big Ben.“ Dascombe fing an zu jammern, aber Prothero hörte ihm schon nicht mehr zu, sondern verglich sorgfältig seine Nase im Spiegel mit der auf dem Monitor. Ohne jeden Zweifel war es die Schuld dieses dicken Iren. „Hör zu, du verfluchter Blödmann!“, unterbrach Prothero. „England gedeiht, weil ich es sage! Und jeder faule Sack, der für diese Sendung arbeitet, tut das, weil ich es sage… und das schließt dich mit ein. Such mir einen neuen Kameramann, sonst kannst du dir einen neuen Job suchen!“
Jetzt weiß er Bescheid, dachte Prothero und legte auf. Dann nahm er die Fernbedienung zur Hand, ließ die Stimme von London weiterlaufen und trat in die Dusche. Dascombe. Der Terrorist. Alle zusammen. Sollten sie ihn doch sonst wo. „Ich sage euch, was ich mir wünschte“, erklang die Stimme vom Band wieder, mit jedem Augenblick ungestümer, einschüchternder, während Prothero den Hahn aufdrehte. „Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen, ich wünschte, ich hätte eine Chance zu einer direkten Konfrontation gehabt… nur eine Chance, mehr hätte ich nicht gebraucht…“ Und als die Dusche zu dampfen begann, öffnete sich drunten in der Eingangshalle die Fahrstuhltür mit einem schwachen, mechanischen Läuten, derweil eine schwarz behandschuhte Hand eine Ausweiskarte durch den Schlitz des Lesegeräts zog. Eine Ausweiskarte mit einem bekannten Namen und Gesicht, wenn sie auch nicht zu der Hand gehörten: Evey Hammonds. Prothero wusste davon freilich nichts. Er wusch seinen wohlgerundeten Leib in der riesigen Duschkabine, während er sich selbst auf einem wasserfesten Monitor betrachtete, der dort einzig zu diesem Zweck platziert war. „Dieser so genannte V“, hallte seine Stimme wider, „und seine Komplizin Evey Hammond… Neodemagogen, die ihre Hassbotschaft verspritzen…“ Das kam gut rüber, dachte er, während Wolken aus dichtem Dampf um ihn her aufstiegen und wie Ektoplasma gerannen. Aber Prothero war unterdessen in weit mehr gefangen als nur diesem Nebel. Er war in sich selbst gefangen. „Eine wahnhafte und anomale Stimme…“, sagte sein Fernseh-Ich. „Abnormal und abstoßend“, stimmte er mit ein, um das Thema noch auszuschmücken. Er sollte seine Texte selber
schreiben, ganz klar, und auch alles andere sollte er selber machen. „Übermittelt das Ultimatum eines Terroristen!“ „Verrat!“, schrie Prothero und antwortete sich in der Rolle des Publikums selbst. „Ein Ultimatum, das auf rasche, chirurgisch präzise angewandte Gerechtigkeit traf!“ „Keine Gnade!“ „Und die Moral dieser Geschichte, meine Damen und Herren?“, fragte seine elektronische Persönlichkeit und verfiel nun , in einen ruhigen, versichernden Tonfall, der sie all den Ärger der vergangenen paar Tage vergessen machen sollte. Prothero lächelte und zwinkerte seinem Spiegelbild zu, als er aus der Dusche trat, und wartete nicht auf die Aufzeichnung, sondern lieferte die Pointe selbst. „Die Guten gewinnen, die Schlechten verlieren und, wie immer, England gedeihe!“ Als das Band diese triumphale Erklärung einem Echo gleich wiederholte, schaltete er die Bildschirme aus und sah zu, wie das viel geliebte Bild seiner selbst zu Grau verblasste… Und sah ein anderes Gesicht im Glas reflektiert. Und in den Spiegeln. Ein knochenweißes Lächeln. Ein starres, schnurrbärtiges Grinsen, schrecklich in seiner Andeutung. Eine Maske. Teilweise überschattet von einem breitkrempigen Hut, auf Schultern, um die ein schwarzer Umhang lag – eine Mischung aus Puritaner und Witzbold, ein Abbild der grinsenden Nacht. Eine dem 17. Jahrhundert entstammende Inkarnation des Sensenmannes, zurückgekehrt, um das 21. heimzusuchen. V. „Ach herrje!“, entfuhr es Prothero, halb Schreckensschrei, halb Keuchen der Verzweiflung. Als er herumfuhr, um dem
Eindringling ins Gesicht zu sehen, rutschte sein Fuß auf dem glatten Marmorboden weg, seine Beine knickten ein und all die Extrapfunde Fleisch, die durch Jahre zunehmend besseren Lebens entstanden waren, klatschten nass vor Vs Füße. Einen Augenblick lang lag er da und schnappte nach Luft wie ein an den Strand gespülter Wal, während das ernüchternde Adrenalin durch seine Adern pumpte. Dann sah er angstvoll auf zu seinem ungebetenen und höchst unwillkommenen Besucher. „Guten Abend, Commander Prothero“, sagte V zwar ruhig, aber alles andere als freundlich, und blickte auf ihn hinunter, als sei er ein fixiertes, zappelndes Insekt, das der Untersuchung harrte. Oder der Sezierung. „Oh mein Gott!“, stöhnte Prothero plötzlich und hoffte verzweifelt, dass es noch einen anderen Gott neben ihm geben möge. „Wie sind Sie hier reingekommen?“ Zu stolz, um zu antworten, schien V ihm einen Augenblick zu gewähren, um sich von seiner Panik zu erholen, bevor er mit dem Unterhaltungsprogramm des Abends fortfuhr. Und Prothero, der immer noch und trotz seines Schreckens versuchte, wenigstens einen Funken Würde zu bewahren, nutzte diese Pause, um davonzukriechen und sich ein Badetuch zu schnappen. Das Telefon allerdings, über das er vorhin mit Dascombe gesprochen hatte, schien zu weit entfernt, um es zu erreichen. „Keine Angst“, sagte V, als er der Richtung seines Blickes folgte, „ich habe Sorge getragen, dass unser Wiedersehen nicht durch ärgerliche späte Anrufe gestört wird, Commander.“ „Hören Sie auf damit!“, schnauzte Prothero. Verärgerung mengte sich jetzt in seine Verwirrung. Und etwas, das ein bisschen mehr war als nur Verärgerung. „Warum nennen Sie mich immerzu so?“ „Das war doch Ihr Titel, wissen Sie nicht mehr?“ V trat näher, türmte sich über ihm auf wie der Schatten des
drohenden Todes. „Als wir uns das erste Mal begegneten, vor all den Jahren.“ Abkühlende Tropfen des Duschwassers begannen sich jetzt auf Protheros wabbelnder Haut mit noch kälterem Schweiß zu vermischen. „Sie trugen eine Uniform in jenen Tagen“, sagte V, eine unvermittelte Härte schärfte seine Stimme. „Sie sahen darin sehr gut aus.“ Und dann kamen die Bilder zurück. Keine Videoaufnahmen diesmal… niemand sah heute noch Aufnahmen aus jenen Tagen… sondern Erinnerungen, die aus ihrem uralten Versteck in Protheros nasskaltem, stinkendem Unterbewusstsein aufstiegen. Umerziehungslager Larkhill. Die neueste in einer langen Reihe ehrwürdiger Institutionen – schließlich war das ursprüngliche Konzept des Konzentrationslagers eine britische Erfindung, die zurückging auf den Burenkrieg und von anderen mit Begeisterung übernommen worden war… Auschwitz, Dachau, die Gulags, die Bucht von Guantanamo… Larkhill… Natürlich wurden sie nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr Konzentrationslager genannt. Es waren „Militärgefängnisse“ oder „Umsiedlungslager“. Andere Namen. Dieselben hässlichen Einrichtungen. Die Stacheldrahtzäune. Die Wachtürme und Suchscheinwerfer. Die Rohlinge in Stiefeln, mit seelenlosen Gesichtern und automatischen Schusswaffen. Die Ärzte mit den Skalpellen, die sich nicht mit einer Narkose aufhielten. Die Gitterkäfige, in denen sich die nackten Gefangenen zusammendrängten, ungeachtet ihres Geschlechts und Alters (man durfte sie nicht als Menschen bezeichnen. Auch ihre Namen brauchte man nicht zu wissen. Die Nummern, die ihnen in die Haut tätowiert wurden, genügten vollauf),
ungewaschen und sich in ihrem eigenen Dreck suhlend beteten sie zu ihren verschiedenen Göttern. Nicht zu dem Gott, denn der wahre Gott war, wie jeder wusste, Engländer und hatte keine Zeit für Ausländer. Die Schläge zur Bestrafung. Der sexuelle Missbrauch und die Erniedrigung. Die Fotografien, über die hinterher in der Offiziersmesse gelacht wurde. Die Folterräume. Die Hinrichtungen. Die Leichenverbrennungsöfen. Und ja, die Lampenschirme aus Menschenhaut, die einer der Wachmänner angefertigt hatte. Ein Scherz, hatte er gesagt, um die alte Tradition aufrecht zu erhalten. Außerdem konnten die Tommys alles, was Hermann, der Germane, konnte, noch viel besser. Natürlich war der Mann für all das zur Rechenschaft gezogen worden, aber das hieß nicht mehr, als dass er in ein anderes Lager versetzt worden war, wo er dasselbe wahrscheinlich wieder gemacht hatte. Ein psychopathischer Sadist zu sein, war nicht das Problem – ganz im Gegenteil. Wie in der Messe immer gewitzelt wurde, mussten die Lagerwachen bei dem Job, den sie hatten, mehr als nur einen tick pathologisch veranlagt sein, um nicht durchzudrehen. Nur war der hier eben ein bisschen… übermütig geworden. Und da war, wie er breitbeinig über seiner Welt stand, einem Koloss gleich… über seiner kleinen Hölle auf Erden und ganz eigenem Königreich… Commander Lewis Prothero. So nobel sah er aus in seiner perfekt geschneiderten Uniform (und auf einen sehr viel schlankeren und muskulöseren Leib zugeschnitten, von jener Art, wie es die Damen so mochten – das redete er sich jedenfalls ein, aber vielleicht war es auch nur die Macht), mit seinen auf Hochglanz polierten Stiefeln, seiner Reitgerte. Sein erster Anfall von Größenwahn – wahnhaft in der Hinsicht, dass sein Verständnis seiner eigenen Größe
schlicht zu demutsvoll bescheiden war –, bevor er zu jener Göttlichkeit aufstieg, die nur das Fernsehen verleihen konnte. Wie er durch die blutfleckigen, keramikgefliesten Etagen jenes speziellen Blockes spazierte, der nur den hohen Tieren gezeigt wurde. Aber erst nachdem die Böden sauber gescheuert worden waren, damit er sich nicht die Stiefel einsaute. Die Zellen, in denen die Versuchswesen waren… Diejenigen zumindest, die den gewöhnlichen Schrecken des medizinischen Blockes überlebten. Die Versuche. Ein ganz bestimmter Versuch. „Du…?“, keuchte Prothero und das Entsetzen gefror ihm das Wort beinahe auf den Lippen. Dann ein letztes Bild, das zeigte, wie alles zu einem Ende gekommen war. Eine gesichtslose Silhouette vor einem brüllenden Flammeninferno, das durch seine Albträume geisterte, untermalt von Explosionen und schreienden Männern. Das Herz der Finsternis, das ihn seither heimsuchte. Das Entsetzen. Das Entsetzen… „Du bist es“, sagte Prothero schließlich mit ausdrucksloser Stimme. Er wusste, dass es nichts mehr gab, was er tun oder sagen konnte. Unter ihm jetzt keine nassen Keramikfliesen, sondern Marmor. Nicht blutfleckig. Noch nicht. „Der Geist der vergangenen Weihnacht“, sagte die Stimme hinter der Maske. Und dann trat die Gestalt vor, wurde zur Silhouette im Gegenlicht der Badezimmerlampen. Wurde so schwarz wie der Tod selbst.
Auf der anderen Seite der Stadt, in Lambeth, südlich der Themse, begann in einem nachtdunklen Apartment ein Telefon
zu klingeln. Hier gab es nichts von der schwülstigen Pracht, die bei Prothero herrschte. Dies war eine kleine Einzimmerwohnung für einen allein lebenden Mann, einen Mann, der seine Familie vor langem verloren hatte und dessen Dasein in der Folge nur noch wenig mehr als seine Arbeit war. Mit seinem Gehalt hätte sich der Bewohner etwas Besseres leisten können, aber alles, was er wirklich brauchte, war ein Platz zum Schlafen, der nahe genug war, dass er das Auto stehen lassen und zu Fuß zur Arbeit gehen konnte, wenn die Benzinverknappung zu arg wurde. Oder zumindest ein Platz zum Schlafen, wenn er es durfte. Es verging eine Weile, ehe sich die Gestalt im Schlafzimmer regte, im Dunkeln umhertastete und halblaut fluchte und dann endlich das Licht einschaltete und nach dem Hörer griff. „Ja?“, meldete sich Eric Finch, kaum wach, die Augen nur halb geöffnet, und obwohl er keine Ahnung hatte, wie spät es war, wusste er doch wenigstens, dass dies nicht die Zeit für Routineanrufe war. „Finch!“, plärrte ihm eine panikerfüllte Stimme ins Ohr. „Hier ist Dascombe.“ „Dascombe?“, fragte Finch verständnislos. Warum rief dieser schleimige kleine Mistkerl ihn mitten in der Nacht an? „Was…?“ „Ich habe bereits den Kanzler verständigt“, unterbrach Dascombe ihn hastig und verhaspelte sich fast in seinem verzweifelten Drang, die Worte hervorzubringen. „Wir müssen die Situation unter Kontrolle bekommen…“ Finch verstand gar nichts. Er hatte keine Ahnung, wovon Dascombe redete, und darüber hinaus hatte er ihn noch nie in einem solchen Zustand erlebt. Er rieb sich mit einem Fingerknöchel den Schlaf aus den Augen und fragte: „Was für eine Situation?“
Eine halbe Stunde später, sie warteten immer noch auf die Spurensicherung, standen Finch und Dascombe nebeneinander in Protheros Badezimmer und sahen hinunter auf den leblosen, nackten Körper des ehemaligen Stars. Kalt und blass, weil das Blut, das nicht länger gegen den Zug der Schwerkraft anpumpte, gen Boden sank, war es ein zweifarbiger Leichnam, oben weiß und unten bläulich. Der Tote wies keine Stichverletzungen auf, aus denen das Blut herausfließen konnte, kein geschlitztes menschliches Fleisch war den Blicken offenbart – ein „sauberer“ Tod, soweit man das von einem Mord sagen konnte. Neben der Leiche lag eine Floribundarose, die Blüte zur Gänze geöffnet, lachsfarben, aber in Creme und Gelb übergehend. Und als er sich umschaute in diesem Palast der Sünde, war Finch sich verdammt sicher, dass der Mann, der die Stimme von London gewesen war, nicht der Typ war, der die Blume dort hingelegt hatte. Herrje, was für ein Leben hatte dieser Mensch überhaupt geführt? Das Badezimmer war ja schon schlimm genug, aber die anderen Räume erst… „Kanzler Sutler war, aus offensichtlichen Gründen, ebenfalls der Meinung“, störte Dascombe seine Überlegungen, „dass wir diese Angelegenheit diskret abwickeln müssen, Inspector. Ins falsche Licht gerückt könnte der Verlust der ,Stimme von London’ vernichtende Folgen für unsere Glaubwürdigkeit haben. Verstehen Sie das?“ Finch verstand nur zu gut. Keinen Gedanken an den Mann, der tot war, an den Mann, der ihn umgebracht hatte, und auch nicht daran, den Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Verdammtes Medienvolk. Lasst uns einfach nur unsere Hälse retten und aus dieser Sauerei herauskommen, ohne unsere
Jobs, unsere Lohntüten und unseren Status zu verlieren. Sauber und nach Rosen duftend, wie die, die hier am Boden lag. Gefühlloser Bastard. Rosen. Die hier hatte offenbar eine Bedeutung, auch wenn Finch im Moment keine Ahnung hatte, welche. Er ging in die Knie, um sie sich genauer anzusehen. Keine vertraute Farbe, aber andererseits waren Blumen auch nicht seine starke Seite. Er musste jemanden finden, der ihm mehr darüber erzählen konnte. „Vielleicht ein Schlaganfall?“ fuhr Dascombe fort und dachte eigentlich nur noch laut, als er erkannte, dass Finch ihm kein Gehör schenken würde. „Nein, nein, zu erschreckend. Ein stiller, würdevoller Tod im Schlaf.“ Nicht dass irgendetwas Würdevolles daran war, vergiftet zu werden, dachte Finch und warf einen Blick nach hinten auf den grünen Schaum, der aus Protheros Nase und Mund getreten war, und in die leeren Augen, die starr zur Decke blickten. Keine Spiegel da oben, dachte Finch. Aber Prothero hätte offenbar nie erwartet, dass er hier liegend enden würde, während sich Gift in seine Nerven und sein Gehirn fraß, nicht im Stande, sich in den letzten paar Sekunden zu sehen, bevor er gar nichts mehr sehen konnte. Aber mit diesem grünen Zeug, das aus seinen Nasenlöchern kam, hätte er sich wahrscheinlich sowieso nicht sehen wollen. Schritte klackten über den Marmorboden und zogen Finchs Aufmerksamkeit auf sich. Er schaute auf und sah, wie Dominic den Raum betrat, stehen blieb, um den Blick schweifen zu lassen. Er wirkte ein bisschen verschlafen und verblüfft und ungläubig ob des ausschweifenden Luxus ringsum. Dann kam er zu ihm herüber. Auch er blickte einen Moment lang auf den Toten nieder. Kein schöner Anblick, aber so neu er im Polizeidienst auch sein mochte, er würde sich rasch daran
gewöhnen, eine Vielzahl unterschiedlicher Leichen zu sehen, zumal in Zeiten wie diesen. „Gibt’s irgendwelche Video- oder Audioaufzeichnungen?“, fragte Finch ihn und erhob sich wieder. „Die Kamerarekorder wurden deaktiviert“, antwortete Dominic. „Selber Modus Operandi wie zuvor. Aber wir haben einen Kennungseintrag im Fahrstuhl-Log.“ „Lassen Sie mich raten“, sagte Finch müde. Genau wie sein Assistent kannte er die Antwort bereits. „Sie steckt tief mit drin, Inspector“, bestätigte Dominic.
KAPITEL 8
Schrecken. Der alte Schrecken, den sie zu unterdrücken versuchte, über den nachzudenken sie hasste und meist nicht wagte. Der sie kurz vor Morgengrauen weckte… und dann hörte sie, wie… War sie jetzt wieder dort? Wiederholte sich der alte Schrecken? Oder war dies ein neuer? Was es auch war, Evey erwachte durch den Lärm eines heftigen Kampfes, wie sie es vor so langer Zeit getan hatte. Aber das war nicht das einzige Beängstigende daran. Diese Gewalt vor Tagesanbruch war zwar schon schlimm genug, doch war sie immer nur, das wusste sie, der Vorbote einer Kette von Ereignissen, die noch schrecklicher wurden. Aber hier konnte das sicher nicht geschehen. Nicht ein weiteres Mal. Nicht hier, in Vs unterirdischem Heim. Es sei denn… Es sei denn, jemand hatte die Schattengalerie aufgespürt. „V?“, fragte sie leise. Zu rufen wagte Sie kaum, um nicht zu verraten, wo sie sich befand. Der Lärm dauerte an, aber dann fiel ihr auf, dass sie keine Schüsse gehört hatte. Nur das Klirren von Metall, das Geräusch stampfender Füße und Rufe. Ein wenig beruhigt, aber immer noch nervös kroch Evey aus dem Bett, zog rasch einen Bademantel über und ging dann leise und vorsichtig durch den Gang in den mit Plakaten übersäten Wohnbereich der Schattengalerie. Sie schlich sich in eine düstere Ecke des Raumes, sah… und spürte, wie ihr vor Staunen die Kinnlade herunterklappte. Denn dort war V, den Umhang über die Schultern nach hinten geworfen, mit einer Hand ein Rapier führend, sprang und stampfte er wie in einem tödlichen Duell, hieb, parierte
und stieß nach einem hoffnungslos unterlegenen Gegner. Eine still stehende Rüstung. War er vollkommen wahnsinnig geworden? Am Vortag hatte sie ihn für gefährlich gehalten, aber diese Art von Bedrohlichkeit war nichts im Vergleich mit diesem absolut unkontrollierten Verhalten. Doch dann bemerkte sie, dass er gar nicht ganz allein war. Oder jedenfalls nicht ganz ohne Gesellschaft. Auf einem Fernseher hinter ihm lief ein alter Schwarz-WeißFilm. Ein Mantel-und-Degen-Streifen, der aussah, als stammte er aus den 1930ern, mit einem schneidigen Helden, der ebenfalls um sein Leben focht und, mehr noch, um die Liebe. Und V ahmte sämtliche Bewegungen des Helden in perfekter Synchronisation nach und sprach auch seinen Text – Worte, die er offensichtlich auswendig kannte. Mit einem letzten Wirbel klappernder metallener Schläge bezwang er die hilflose Rüstung schließlich und ließ ihren Helm zu Boden scheppern. Evey konnte nur in sich hineinlächeln ob dieser völligen, absoluten Hingabe an seinen Irrsinn. Als die Echos des zu Boden geschepperten Helmes schließlich verklangen, bemerkte er, dass er beobachtet wurde. „Oh…“, sagte V leise und rückte rasch seine Maske zurecht, ob nun um sich zu vergewissern, dass sein Gesicht oder seine Verlegenheit verborgen war, konnte sie nicht sagen. „Es tut mir Leid“, fuhr er dann fort. „Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.“ „Nein“, erwiderte sie, obwohl das nicht ganz stimmte. „Ich dachte nur, Sie würden kämpfen… ich meine, richtig kämpfen…“ Ob in ihren Worten Sorge um ihn, sich selbst oder um sie beide lag, war etwas, das weder sie noch er klar entscheiden
konnten. Die Frage unbeantwortet lassend, drehte V sich um und deutete mit dem Rapier auf den Fernseher. „Das ist mein Lieblingsfilm. Der Graf von Monte Cristo mit Robert Donat als Edmond Dantes. Es reißt mich jedes Mal wieder mit.“ „Ich hab ihn noch nie gesehen.“ Schließlich musste er mindestens fünfzig Jahre vor ihrer Geburt gedreht worden sein und nun, da es weit weniger Fernsehprogramme gab als zu der Zeit, da sie ein kleines Mädchen gewesen war, überraschte es sie kaum, dass sie noch nicht darüber gestolpert war. „Wirklich?“, erkundigte sich V. Und dann, mit recht charmantem Eifer: „Möchtest du ihn gerne sehen?“ „Hat er ein Happy End?“, fragte sie zögerlich, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, dass Happy Ends nach allem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte, das Wichtigste auf der Welt waren. „Der Graf findet schließlich Frieden in den Armen der schönen Mercedes“, versicherte er ihr. „Ein Happy End?“, fragte sie noch einmal, weil sie noch nicht ganz sicher war, was „Frieden finden“ bedeuten mochte. „Wie nur Zelluloid es bieten kann.“ „Okay“, sagte sie und lächelte etwas erleichtert. Dann richtete sie den Blick auf das, was er immer noch in der Hand hielt, und in der Erinnerung daran, wie sehr er sich vor ein paar Augenblicken erst hatte mitreißen lassen, fügte sie hinzu: „Aber leg das Schwert weg.“
Finch war an seinen Schreibtisch im Yard zurückgekehrt und hatte angefangen, eine stete Folge von Kaffeetassen zu leeren. Eigentlich hätte er nach all diesen Jahren im Polizeidienst daran gewöhnt sein müssen, um den Schlaf gebracht zu werden, aber je älter er wurde, desto schwerer war das
wegzustecken. Und obwohl Creedy und seine Schlägertypen „Gesetz und Ordnung“ rigoros durchsetzten, schien sich die Art von Verbrechen, mit dem sich gewöhnliche Bullen zu befassen hatten, nicht zu verringern. Je mehr man jene Dinge beschnitt, die im Leben der Menschen wichtig waren, so vermutete er, wie etwa die Handlungs- und Bewegungsfreiheit, desto verzweifelter wurden sie. Und verzweifelte Menschen kümmerte es nicht, was Recht oder Unrecht war, sondern nur das, womit sie davonkommen konnten. Er schaute von dem Computermonitor auf, wo Fakten und Zahlen vor seinen schmerzenden Augen zu bedeutungslosen Symbolen verschwammen, als Dominic, während er ein Bündel von Ausdrucken durchblätterte, das Büro betrat. „Die Spurensicherung ist gerade fertig geworden“, berichtete ihm der junge Detective. „Keine Fingerabdrücke, kein Haar, keine Fasern. Der Typ ist wie ein Gespenst. Aber Sie können sich nicht vorstellen, was für einen Dreck man in Prothero fand.“ „Drogen?“ „Er hätte sein eigenes Krankenhaus aufmachen können.“ „Interessant.“ Finch winkte den Kollegen zu sich. „Warum?“, fragte Dominic und kam zu ihm hinter den Schreibtisch. Finch deutete auf den Bildschirm, wo die bedeutungslosen Symbole, auf die er einen Moment vorher noch gestarrt hatte, jetzt ein bisschen mehr Sinn zu ergeben begannen. „Wussten Sie, dass Lewis Prothero einer der reichsten Männer des Landes war, bevor er ,Die Stimme von London’ wurde?“ „Drogen?“ Dominics Augen leuchteten auf, wie sie es immer taten, wenn es auch nur den leisesten Hinweis auf eine heiße Spur gab.
„Legale“, sagte Finch. „Großaktionär von Viadox Pharmaceutical.“ „Holla…“, schnaufte Dominic, als ihm die Verbindung klar wurde. „Viadox und St. Mary’s innerhalb von weniger als einer Woche. Zufall?“ Finch schüttelte den Kopf, ein ganz leichtes Lächeln im Gesicht – seine übliche Reaktion auf eine heiße Spur. „Wenn man so lange dabei ist wie ich, hört man auf, an Zufalle zu glauben.“
In der schwarz-weißen Welt des Fernsehers, die für Evey irgendwie ein paar Stunden lang sämtliche Farben der Magie geborgen hatte, klang das letzte romantische Anschwellen von Musik auf und Edmond Dantes, der Graf von Monte Cristo höchstselbst, ließ sich mit Mercedes de Rosas im Baum der Glückseligkeit nieder. „Suchen Sie sich Ihren eigenen Baum“, richtete er einen letzten Satz an die Zuschauer, und als „The End“ erschien, konnte Evey nur schniefen. Nein, solche Filme wurden heute nicht mehr gedreht, und es war ihr egal, dass das ein Klischee war. „Hat er dir gefallen?“, fragte V und suchte nach der Fernbedienung. „Ja.“ Allein, einfach nur in Sicherheit zu sein, auf einer bequemen Couch zu sitzen und sich einen Film anzuschauen, war nach ihren Erlebnissen in den vergangenen paar Tagen schon ein Vergnügen gewesen. „Aber Mercedes tut mir Leid.“ „Warum?“ „Weil ihm Rache wichtiger war als sie.“ V nickte, als sei das ein akzeptabler weiblicher Standpunkt, nicht aber einer, dem er viel Bedeutung beimaß, und schaltete
den DVD-Spieler aus. Das reguläre BTNNachrichtenprogramm erschien wieder auf dem Bildschirm. Und June, weitaus ernster als gewöhnlich (obschon man einräumen musste, dass Nachrichtensprecher mit ernsten Mienen in den letzten paar Tagen mehr und mehr zur Norm wurden), machte eine weitere gewichtige Ansage. „Fans im ganzen Land sind am Boden zerstört ob der Nachricht über den beliebtesten…“ V war schon im Begriff, den Fernseher auszuschalten, aber Evey legte ihm eine Hand auf den Arm. „Warte. Was ist das?“ „… mit den meisten Auszeichnungen bedachten Stars in der Geschichte des BTN“, fuhr das vertraute Gesicht mit der vertrauten Stimme fort, „ein Mann, den das ganze Land als ,Die Stimme von London’ kennt, der am späten gestrigen Abend allem Anschein nach an Herzversagen starb.“ Ein schwarz umrahmtes Foto von Lewis Prothero erschien auf dem Bildschirm. „Sie lügt“, sagte Evey rundheraus, ihre Überzeugung war absolut. „Woher willst du das wissen?“, fragte V, obgleich er offenbar nur zu gut wusste, dass die Nachricht eine Lüge war. „June blinzelt oft, wenn sie eine Story vorträgt, von der sie weiß, dass sie falsch ist“, antwortete Evey leise, während sie sich immer noch auf die Worte der Bekanntgabe zu konzentrieren versuchte. „Prothero, ein außergewöhnliches Talent, hatte sein Leben und seinen Glauben seinem Land gewidmet und war unermüdlich in seinem Beruf. Für diejenigen, die ihn kannten, war es keine Überraschung, dass man seine Leiche in seinem Büro fand, wo er oft noch lange arbeitete, nachdem alle anderen schon nach Hause gegangen waren. Lewis, wir werden Sie schmerzlich vermissen.“
Evey spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten, während V den Fernseher ausschaltete. Irgendetwas schien an dieser Sache nicht zu stimmen. In den letzten Tagen war so vieles geschehen und sie kam einfach nicht recht dahinter, wie alles zusammenhing. Nur dass all dies, wie sie zu argwöhnen begann, mit V in Verbindung stand. Und dann wurde ihr bewusst, dass er sie schweigend musterte, der Ausdruck der Maske so undeutbar wie eh und je. „V“, setzte sie zögernd an, weil sie das Thema eigentlich gar nicht zur Sprache bringen wollte, da sie nicht wusste, wo es hinführen würde. „Gestern konnte ich meinen Ausweis nicht finden.“ Er saß reglos da und betrachtete sie in rätselhaftem Schweigen. „Du hast ihn nicht an dich genommen, oder?“, fragte sie nervös und fürchtete die Antwort, kaum dass sie die Frage gestellt hatte. Sie stellte fest, dass sie nicht ganz still sitzen konnte, und die Couch, die ihr vor ein paar Minuten noch so bequem vorgekommen war, fühlte sich mehr und mehr an wie ein Nagelbrett. „Möchtest du lieber eine Lüge oder die Wahrheit hören?“, fragte er in sachlichem Ton, der nichts anderes nahe legte, als dass er seine Antwort ganz klar machen wollte. „O mein Gott“, keuchte Evey, sprang von der Couch auf und schaute voll schockiertem Unglauben auf ihn hinab. „Hattest du… damit etwas zu tun?“ Eine Geste in Richtung des Fernsehers ließ keinen Zweifel daran, was sie mit „damit“ meinte. „Ja“, antwortete er ruhig. „Ich habe ihn getötet.“ „Du…?“ Evey konnte nicht glauben, was sie da hörte – und wusste zugleich doch, dass sie es glauben musste. „Oh Gott!“ „Du bist bestürzt.“ V stellte schlicht das Offenkundige fest. Eine dieser oberflächlichen Phrasen, die vermuten ließen, dass
er glaubte, es würde sie irgendwie beruhigen, wenn er einfach nur anerkannte, dass sie bestürzt war. Leider aber bewirkte es genau das Gegenteil. „Ich bin bestürzt!“, schrie sie und versuchte, ein wachsendes Gefühl nahezu hysterischer Panik niederzukämpfen. „Du hast gerade gesagt, dass du Lewis Prothero getötet hast! Lewis Prothero!“ „Ich hätte auch die Fingermänner töten können, die dich angriffen.“ Er neigte den Kopf auf eine Weise, die sie inzwischen als Ausdruck einer Frage erkannte. Für gewöhnlich einer unangenehmen Frage. „Aber hörte ich da irgendwelche Einwände?“ „Was?“ Davon überrascht, verschluckte sie sich fast an dem Wort. Warum wechselte er auf einmal das Thema? Oder… wechselte er das Thema gar nicht? „Gewalt lässt sich für höhere Ziele einsetzen.“ Da war es wieder, dieses Gefühl, mit unliebsamen Wahrheiten belehrt zu werden. Plötzlich nervös wich sie ein paar Schritte nach hinten. „Wovon redest du?“ „Gerechtigkeit.“ „Oh.“ Evey hielt inne, als sie an den Film dachte, den sie gerade gesehen hatten. An die Ungerechtigkeit, die Edmond Dantes angetan worden war, an die unrechtmäßige Gefangenschaft im Chateau d’If und, obwohl ihr das Prinzip der Rache ganz und gar nicht gefiel, an die zugegebenermaßen gerechtfertigte Heimzahlung, die seine Feinde letztlich einstecken mussten. Und, ja, wie sie den Schluss für ein Happy End gehalten hatte. „Ich sehe, was du meinst“, hauchte sie leise. Sie verstand zwar, aber dennoch wollte sie unverbindlich klingen. Bisweilen war Vs Sicht der Welt einfach zu grob und unnachgiebig, zu hart, als dass sie es hinnehmen konnte.
„In diesem Land gibt es kein Gericht für Menschen wie Prothero“, erklärte V, obgleich er ihr das Verbrechen nicht erklärte, das eine solch endgültige und tödliche Vergeltung verdient hatte. „Wirst du…“ Eine Pause. Ein tiefer Atemzug. Eine Frage, die sie eigentlich nicht stellen wollte: „… noch mehr Menschen umbringen?“ Es schien kaum nötig zu antworten, aber er nickte trotzdem. „Wirst du mich umbringen?“ Die Frage entschlüpfte ihr einfach. „Natürlich nicht, Evey.“ Er stand auf und trat auf sie zu, fast als wollte er sie in die Arme nehmen und trösten. Aber andererseits war es natürlich klar gewesen, dass er das sagen würde, ob er es nun vorhatte oder nicht. „Nein, nicht“, sagte sie und wich einen Schritt zurück, um den, den er auf sie zugemacht hatte, abzugleichen. Dann wandte sie sich mit einer abrupten Bewegung ab, die ihr Gespräch wirkungsvoll beendete, und sagte nur: „Ich glaube, ich sollte jetzt zurück in mein Zimmer gehen.“
Finch hatte sein Zimmer unterdessen gar nicht verlassen, hatte seinen Schreibtisch nicht verlassen, hatte diesen Bildschirm nicht verlassen, wo er das Daten-Retrieval-System der Nase durchwühlte. „Schauen Sie sich das mal an“, sagte er und winkte Dominic zu sich, der gerade Ähnliches getan hatte. „Protheros Militärakte. Was sehen Sie da?“ Dominic lehnte sich vor und betrachtete den Bildschirm aus zusammengekniffenen Augen. „Hmm… Irak, Kurdistan, Syrien vorher und nachher. Sudan. Fleißiger Junge.“
„Ja.“ Finch nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. „Aber nach all dem übertragen Sie ihm die Verantwortung für ein Militärgefängnis in Larkhill.“ „Keine gute Tat bleibt ungestraft“, warf Dominic nachdenklich ein. „Stimmt“, pflichtete Finch bei, fügte aber im Stillen hinzu: „Oder keine Schandtat unbelohnt.“ Obgleich ihm nicht einfallen wollte, was für eine Belohnung ein Ort wie Larkhill zu bieten haben mochte. Vielleicht hatte Dominic Recht – vielleicht war es ja ein Vergehen gewesen, das Prothero dort hingebracht hatte. Aber sein Instinkt sagte ihm etwas anderes. Vielleicht also war Larkhill wichtiger gewesen, als es zunächst den Anschein hatte. „Sie glauben, es gibt eine Verbindung zwischen Larkhill und unserem Burschen?“, fragte Dominic nach ein paar Sekunden des Überlegens. „Es könnte die Verbindung zwischen ihm und Evey Hammond erklären“, erwiderte Finch, erinnerte sich dann aber, dass die Eltern des Mädchens nach Belmarsh geschickt worden waren, nicht nach Larkhill. Nichtsdestotrotz, Straflager war Straflager. Aber vielleicht waren es ja nicht die Lager, die die Verbindung darstellten. Viadox hatte das Heilmittel für den St.-Mary’s-Virus entwickelt, und Prothero war einer der Großaktionäre von Viadox… und der Leiter von Larkhill. Und V hatte Prothero getötet. Nein, irgendwie drehte sich das alles im Kreis und passte nicht recht zusammen. Aber der Name Larkhill nagte jetzt an ihm und er wusste, dass er mehr darüber herausfinden musste. So ein angenehm klingender Name, der an Vogelgesang, Wälder und englische Hügellandschaften erinnerte. Aber andererseits hatten die Leute wahrscheinlich auch Belsen für ein hübsches Fleckchen gehalten, ehe man dort ein Konzentrationslager gebaut hatte. Larkhill…
„Das Problem ist“, fügte er hinzu, „dass ich keine anderen Unterlagen über diesen Ort finden kann.“ Sie schauten einander ein paar Sekunden lang an, aber, wie Finch es sich schon gedacht hatte, überraschte Dominic ihn nicht mit einem genialen Einfall. Stattdessen fragte sein Gesichtsausdruck nur: „Was machen wir als Nächstes?“ Manchmal war der Junge so eine Enttäuschung, dachte Finch wehmütig und lächelte still in sich hinein. Aber nein, das stimmte eigentlich nicht. Er durfte von Dominic ebenso wenig erwarten, dass er Dinge löste, wie er es vom Allmächtigen durfte. Und in den vergangenen vierzig Jahren hatte der Allmächtige es noch kein einziges Mal geschafft. Und doch… Es war nur so, dass Finch leider ganz genau wusste, was sie als Nächstes tun mussten, und er war absolut sicher, dass es völlig vergebens sein würde. Aber sie mussten sich trotzdem an die Verfahrensweise halten. Seufzend stand er langsam auf, ging zur Tür und bedeutete dem jungen Mann, ihm zu folgen. Wenigstens würde der Ausflug, den er im Sinn hatte, wahrscheinlich nicht lange genug dauern, um Dominic Zeit zu geben, sie beide umzubringen. Ein paar Stunden später näherte sich Finchs Frustration dem Höhepunkt. Er hatte genug davon, in Sackgassen zu landen und gegen Mauern zu rennen, und ebenso hatte er genug davon, durch scheinbar meilenlange Gänge zu latschen auf seinen Umwegen von einer Archivkraft zur nächsten. Nun saß er hier in einem Büro der Abteilung für Militärunterlagen des Verteidigungsministeriums – dem Büro des verantwortlichen Mannes, wie man ihm gesagt hatte, „dem Mann, der dabei gewesen war“. „Genau der Richtige“, um das Problem für ihn zu lösen. Von wegen… Major Wilson hatte etwas von derselben militärischen Großspurigkeit, die auch dem unbetrauerten Lewis Prothero zu
Eigen gewesen war, wobei Wilson aber zumindest über die Form und den Stil verfügte, sie überzeugend zur Schau zu tragen. Ein Offizier und Gentleman. Wie er so da saß hinter seinem Schreibtisch, den Rücken gerade wie ein Ladestock (und in Reaktion auf Finchs abgekämpfte, müde vornübergeneigte Haltung nur noch umso gerader), hatte er offensichtlich keine Zeit für eine Störung durch Zivilisten. Verdammt! Wenn ein Berufspolizist so aussah, würde er ihm zeigen, wie es war, sich mit einem Berufssoldaten anzulegen. War sowieso ein verflucht neugieriger Bastard. Und der Junge, der bei ihm war, sah aus, als könnte er sechs Monate Kasernenhofdrill gebrauchen, um ihm Haltung einzubläuen. Das Hündchen hatte es doch tatsächlich gewagt, ihm vor ein paar Minuten eine direkte Frage zu stellen. Das sollte nicht erlaubt sein. „Larkhill?“, fragte Wilson und militärisches Poltern vermengte sich mit scheinbarem Willen zu helfen, als Finch den Namen noch einmal erwähnte. „Larkhill? Ich erinnere mich nicht an diese spezielle Einrichtung, Inspector, aber Sie dürfen natürlich gern unsere Unterlagen einsehen.“ „Wir haben Ihre Unterlagen durchgesehen, Major“, presste Finch zwischen den Zähnen hervor und rang ohne allzu großen Erfolg um würdevolle Ruhe. „Darin steht nur, dass es in Larkhill ein Straflager gab, etwa zehn Meilen nördlich von Salisbury.“ „Nun, da haben Sie es doch“, sagte Wilson selbstgefällig. Jetzt wussten die zivilen Kasper Bescheid. Militärakten. Absolut zuverlässig. Bei New Scotland Yard kannte man wahrscheinlich den Unterschied zwischen einem Strafregister und einem Wäschezettel nicht. Wenn sie überhaupt eines von beiden finden konnten. Finch seufzte, rieb sich erschöpft die Stirn und sah dann in Wilsons durch und durch falsches, aber ach so hilfsbereites,
ach so leutseliges Lächeln. Und der Hundesohn hatte ihnen nicht einmal eine Tasse Kaffee angeboten. „Diese Angelegenheit ist ziemlich dringlich, Major Wilson“, sagte er mit aufgesetzter Geduld, entschlossen, nicht in diese alte englische Tour zu verfallen, bei der man, wenn jemand nicht zu verstehen schien, was man sagte, es einfach immer lauter und lauter wiederholte, bis er es verstand. „Wir müssen wissen, ob an dieser Einrichtung irgendetwas anders war.“ „Es tut mir Leid, Inspector“, erfolgte die herablassende Entgegnung, „aber ich kann mich wirklich nicht erinnern.“ „Gab es ein spezifisches Profil für diejenigen, die dort hingeschickt wurden?“, bohrte Finch so hartnäckig wie verärgert. „Die üblichen Unerwünschten, würde ich meinen.“ „Aber wissen Sie es auch?“ „Natürlich nicht“, versetzte Wilson, dessen Geduld nun ebenfalls zur Neige ging. Er holte tief Luft, um seine Fassung wieder zu erlangen. Er durfte sich von diesen verdammten Zivilisten nicht auf die Palme bringen lassen. „Ich war nicht selbst dort stationiert.“ „Wissen Sie, wer dort stationiert war?“ Wie ein Hund, der sich um einen Knochen sorgte, ließ Finch nicht locker. „Ich erinnere mich nicht an einzelne Namen“, mauerte Wilson von neuem. „Aber wenn Sie die Akten durchsehen…“ „Ihre Akten sind entweder gelöscht, unvollständig oder verschollen“, knurrte Finch mit lauter werdender Stimme, nachdem seine Geduld nun endgültig erschöpft war. „Und da Sie damals der Leiter des Strafprogramms waren…“ „Bevor Sie weitersprechen, Inspector“, schnauzte Wilson zurück und sein Gesicht begann vor Wut rot anzulaufen, „darf ich Sie daran erinnern, dass es damals sehr ungeordnet zuging.“
Finch stöhnte innerlich auf, während Dominic in hilflosem Frust zusah. Wie oft hatten sie diesen Satz heute schon gehört? „Im Moment haben wir die Probleme, die wir seinerzeit hatten, nicht“, fuhr Wilson kategorisch fort. „Wir taten alle, was wir tun mussten, und unter den Umständen taten wir unser Bestes.“ Und dann, endlich, knapp und im Aufstehen begriffen: „Und das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.“ Ein paar Schritte um den Schreibtisch herum, eine Handbewegung in Richtung der Tür, eine schmallippige Miene und Schweigen. Das war wirklich alles, was Wilson zu sagen hatte. Müde und enttäuscht hob Finch die Schultern und stand, begleitet von Dominic, auf. Er sagte nichts, schenkte Wilson aber einen verächtlichen Blick, der nur allzu beredt war und sagte: „Schmor in der Hölle, du aufgeblasener Bastard.“ Und dann ging er. Ein Offizier und Gentleman. Verpiss dich und verrecke.
KAPITEL 9
„Du kannst das“, sagte sich Evey, holte tief Luft und blickte hinab auf das kleine Stück Papier, das sie in ihrer Hand umklammert hielt. Dasselbe Stück Papier mit der darauf geschriebenen Adresse, das sie von seinem Platz im Rahmen ihres Schminkspiegels weggenommen hatte, in jener Nacht, in der all das begonnen hatte. Jener Nacht, die ihr Leben verändert hatte. Komisch, wie man an solchen Dingen fest hielt, auch wenn alles andere ins totale Chaos gestürzt war. Nun, wenn sie es tun wollte, dann war es an der Zeit, damit anzufangen. Zeit, dieses Gefühl von Nervosität zu überwinden, das, wie sie wusste, nur das augenfällige Symptom einer unterschwelligen Furcht war, die sie immer schon verspürt hatte: die Angst vor der Welt und allem, was sie ausmachte. Aber manchmal musste man diese Angst einfach bezwingen, und sei es nur für eine kleine Weile. Sie stieg aus dem Bett, verließ den Raum, der „ihr Zimmer“ geworden war, und kehrte durch den Gang zu V zurück. Er saß reglos da und lauschte leiser Musik, maskiert und unergründlich wie eh und je. „Hallo“, sagte sie zögerlich, nicht einmal sicher, ob er wach war hinter dieser Maske. Und wenn nicht, war dies dann die Gelegenheit für einen dieser Phantom der Oper-Momente? Die Demaskierung… das schreckliche Gesicht… das Entsetzen? Nein, wenn sie über die möglichen Folgen nachzudenken begann, schien es ihr ganz und gar nicht wie eine gute Idee. Und abgesehen davon zeigte das grüßende Nicken, das er ihr zukommen ließ, dass er gar nicht schlief.
„Ich habe nachgedacht“, sagte sie stockend, nahm auf der Couch Platz und sah ihn an wie eine Schauspielerin, die sich ihres nächsten Satzes nicht ganz sicher ist. „Ich möchte dich etwas fragen, aber ich glaube, du wirst nicht verstehen, warum, ehe du nicht ein paar Dinge über mich weißt.“ V nickte ein weiteres Mal, setzte sich jetzt ein wenig auf und widmete ihr nun offensichtlich seine ganze Aufmerksamkeit. Das war immerhin schon einmal ermutigend. Trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie immer noch nervös an einem Faden der Couch zupfte. Was sie ihm sagen wollte, brachte unangenehme Erinnerungen zurück, über die sie lieber nicht nachdachte. Die Vergangenheit – insbesondere ihre eigene Vergangenheit – taugte nicht für Plaudereien. „Mein Vater war Schriftsteller“, fuhr sie nach einem tiefen Atemzug fort. Er war ihr so lieb gewesen mit seinem widerspenstigen Haar und seiner Brille, seiner schlaksigen Figur und seinem schiefen Lächeln, dass es, seit er… fort war… stets schmerzhaft war, auch nur an ihn zu denken, geschweige denn über ihn zu reden. „Du hättest ihn gemocht. Er sagte immer, dass Künstler Lügen benutzen, um die Wahrheit zu sagen, während Politiker die Wahrheit damit vertuschen.“ „Ein Mann nach meinem Herzen“, bemerkte V kurz und leise. „Er erzählte immer die besten Geschichten, bis…“ Eine Pause. Ein weiterer tiefer Atemzug. „Bis mein Bruder starb. Das war der Punkt, wo sich alles veränderte. Mein Bruder war einer der Schüler in St. Mary’s.“ Und dann kehrten die Erinnerungen wirklich zurück, mit überwältigender Macht. Erinnerungen, die so quälend waren, dass sie jetzt beinahe weinte, wie sie damals so viel geweint hatte, vor so vielen Jahren.
Die Intensivstation des Krankenhauses, wo sie gar nicht richtig verstanden hatte, was los war, aber alle hatten sie Masken über Mund und Nase tragen müssen und es war nicht die Art von Masken gewesen, die man trug, weil es zum Spiel gehörte. Und Mummy hatte geweint und Daddy hatte versucht, nicht zu weinen, während er sie in den Armen hielt und alles getan hatte, was er konnte, um sie zu trösten. Und Evey hatte dagestanden und versucht, ihre Finger unter die Maske zu zwängen, um die Tränen fortzuwischen, die unentwegt über ihre Wangen strömten, während sie durch das Plastikzelt auf den kleinen Timmy blickte, auf den sie am Tag vorher so wütend gewesen war, weil er sie mit seinem Fußball getroffen hatte, und der jetzt dalag und nach Luft schnappte und mit violetten Entzündungen übersät war. Und sie hatte nie Gelegenheit gehabt, sich für all die hässlichen Dinge zu entschuldigen, die sie wegen des Fußballs zu ihm gesagt hatte, und er hatte nie Gelegenheit gehabt, sie ihr zu verzeihen, und sie hatte sich nie verziehen, sie überhaupt gesagt zu haben. Und sie hatte es damals nicht verstanden und sie verstand es auch jetzt noch nicht. Aber das war der letzte Tag, den sie je mit Timmy gehabt hatte. Es war ihnen nicht einmal erlaubt worden, der Verbrennung beizuwohnen. Und Timmy war einer von denen gewesen, die „Glück“ gehabt hatten… eines der Kinder, die sie lebend aus der Schule hatten holen können, wenn auch nur für ein Weilchen. Der größte Teil der Schulkinder, die an Ort und Stelle gestorben waren und deren Körper einfach zu einer verwesenden, zerfließenden Masse geschmolzen waren, bevor sie identifiziert werden konnten… sie waren direkt in ein großes Loch im Boden gekommen, ziemlich genau dort, wo sie gestorben waren. Eine Rückkehr zu den alten Pestgruben aus der Zeit des Schwarzen Todes. Nur war er diesmal violett.
„Nachdem er gestorben war“, erzählte Evey dem Mann mit der Maske und riss sich zusammen, als sie zu Erinnerungen kam, die etwas weniger brutal, aber nur ein bisschen weniger schmerzhaft waren, „wurden meine Eltern politisch.“ Spaßig war es ihr anfangs vorgekommen, mit ihren Eltern, die Transparente trugen, und in ihrer Schuluniform und ordentlich geflochtenen Zöpfen durch die Straßen zu laufen und Flugblätter an vorbeikommende Geschäftsleute zu verteilen, die sie für gewöhnlich gleich wegwarfen. Dann hatte sie die fallen gelassenen Blätter aufgehoben und gleich wieder verteilt. Und immer wieder. Die Blätter, denen niemand Aufmerksamkeit schenkte. Auf denen in fetten Buchstaben stand: „US-Militär entwickelt Viruswaffen für Einsatz im Mittleren Osten.“ Das war auch etwas gewesen, das sie zu der Zeit nicht verstanden hatte, aber ihren Eltern hatte es offenbar sehr viel bedeutet. Niemand stand in der Kälte und im Regen und ließ sich anschreien, wenn er nicht glaubte, dass es wichtig war. Denn das machte überhaupt keinen Spaß. Sie hatte auch jene Flugblätter, die „Stoppt die Regierungslügen!“ verlangten, nicht verstanden. Schließlich erzählten nur böse Menschen Lügen, und warum sollte jemand böse Menschen wählen? „Sie protestierten gegen den Krieg und die Reklamation“, fuhr Evey fort und erinnerte sich, wie es gewesen war, damals, als sie zehn Jahre alt gewesen war. Das war zu der Zeit gewesen, als die Amerikaner nach all ihren scheinbaren Erfolgen im Mittleren Osten („Sie erschaffen eine Wüste und nennen sie Frieden“, hatte Daddy gesagt, ein Zitat eines alten Autors, dessen Name ihr nicht einfiel) schließlich übers Ziel hinausgeschossen und gezwungen waren, den Preis dafür zu zahlen. Zum Glück waren mehrere aufeinander folgende britische Regierungen zu dem Zeitpunkt für ihre gedankenlose Unterstützung der amerikanischen Militärabenteuer bei ihren
Wählern derart in die Bredouille geraten, dass sie die USStützpunkte hier schlossen und die Raketen nach Hause schickten, ganz so wie es das übrige „alte Europa“ schon ein paar Jahre vorher getan hatte. Und die stillgelegte NATOAllianz war wahrscheinlich das, was das Land rettete, als die Taiwankrise kam. Natürlich hatte niemand wirklich mit dem gerechnet, was dann geschah, als sich herausstellte, dass der amerikanische Militärhammer China eben nicht zertrümmert hatte wie jenes Geschirr, mit dem ihre Propagandamaschinerie es andauernd verglich. Stattdessen war es der Hammer, der an dem Porzellan zerbrach, wenn auch nicht ohne gewaltige Verluste auf beiden Seiten. Dann war auch die Hand, die den Hammer führte, zerbrochen und der zweite amerikanische Bürgerkrieg war ausgebrochen. Und er war noch nicht zu Ende, allerdings schienen sich beide Seiten inzwischen in ein erschöpftes Patt gekämpft zu haben. Es war eine jener Situationen, die nach internationaler Intervention riefen, aber vor dem Krieg hatten die Amerikaner die Vereinten Nationen zerstört, als diese einfach nicht Männchen machen und nicht tun wollten, was die USA verlangten. England war von dem Chaos, das nach dem Krieg die ganze Welt überspült hatte wie ein Tsunami, nicht unangetastet geblieben: Der internationale Handel, das transnationale Bankensystem und die Lebensmittelversorgung waren zusammengebrochen. Es war zu einer Ölkrise und zu Kleinkriegen in Südamerika gekommen, und unterdessen kämpften verschiedene Staaten um die Vorherrschaft in jenem Machtvakuum, das die Vereinigten Staaten hinterlassen hatten, als sie den Vereinten Nationen ins funktionelle Vergessen gefolgt waren. Und am schlimmsten von allem waren vielleicht die Veränderungen im globalen Wettersystem. Evey konnte sich noch daran erinnern, wie die Themseschleusen
gebrochen waren und London größtenteils überschwemmt worden war. Dadurch waren mehr Menschen ums Leben gekommen als durch das St.-Mary’s-Virus. Aber das war eine Atomkatastrophe gewesen, darum konnte niemand großartig politisches Kapital daraus schlagen, außer der religiösen Rechten. Aber die sahen die Hand Gottes in allem und daher betrachtete jeder sie als einen Witz. Und das waren sie auch, im Vergleich zu dem, was als Nächstes kam. Dann nämlich hatten die Faschisten die Wahl gewonnen und begannen die Reklamation, jenen abscheulichen Vorwand für eine Orgie ethnischer, politischer, religiöser und moralischer „Läuterung“ im Sinne der „Reklamation Englands für die Engländer“ und den damit einhergehenden Ruf nach „viktorianischen Werten“. Jene Art von Werten, die gediehen waren, als das Britische Reich noch über dem halben Erdball thronte und Weltkarten zum größten Teil in Rosa gedruckt wurden, die zurückreichten in Zeiten, als es „die Bürde des weißen Mannes“ gewesen war, den heidnischen Wilden Erleuchtung zu bringen. Nur entledigte sich der weiße Mann dieses Mal selbst der heidnischen Wilden, so rasch und brutal, wie er nur konnte. Und eines jeden, der nicht an den einen wahren Gott glaubte, dessen Name Jesus Christus war, und nicht über die richtigen „Familienwerte“ verfügte und grundsatztreu genug war, um die Parteivorgabe nicht zu schlucken. „Als Sutler zum Großkanzler ernannt wurde“, sprach Evey weiter, „nahmen sie am Aufruhr in Leeds teil. Ich sah es im Fernsehen und dachte, ich würde sehen, wie meine Eltern umgebracht wurden. Ich weiß noch, wie sie sich in der Nacht stritten. Mum wollte das Land verlassen. Dad weigerte sich. Er sagte, dass die gewinnen würden, wenn wir davonliefen. Gewinnen. Als sei es ein Spiel gewesen.“
Und dann war da noch die andere Erinnerung, die zweite der beiden, an die sie am besten nicht dachte, vor allem nachts nicht, vor allem nicht kurz vor Tagesanbruch. Diejenige, die trotzdem immer wieder kam. Die schlimmste, schrecklicher noch als die an Timmy. Diejenige, die sie just heute Morgen vor Augen gehabt hatte, als sie sie mit der Tonspur von Der Graf von Monte Cristo verwechselte. Sie hatte geschlafen, als es begann. Zuerst das Geräusch von zerbrechendem Glas, dann das Geräusch einer schweren Eisenramme, mit der die Wohnungstür eingeschlagen wurde. Die schweren Schritte metallverstärkter Stiefel. Die Schreie. Der Schuss. Sie hätten damit rechnen müssen. Überall im Land war es passiert und noch dazu Leuten, die sie kannten. Aber wenn Freunde den Kontakt einstellten, war es weitaus leichter, sich einzureden, dass es irgendeinen nichtigen Grund dafür geben musste, obgleich man in seinem Innersten wusste, was wirklich dahinter steckte. Und allgegenwärtig war das Gefühl, dass diese Dinge nur anderen Leuten widerfuhren, dass es nie uns treffen würde. Aber andererseits hatte auch niemand wirklich damit gerechnet, dass eine faschistische Regierung an die Macht kommen würde. Gleich nach dem Schuss – nur ein Warnschuss, wie sich herausstellte – war ihre Mutter im Nachthemd in ihr Schlafzimmer geplatzt und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. „Evey, schnell!“, hatte sie leise gesagt, in der verzweifelten Hoffnung, dass die Eindringlinge sie nicht hörten. „Versteck dich! Unter dem Bett!“ Und das hatte sie getan, allerdings nicht ohne ihren Lieblingsteddy, mit dem sie immer redete, wenn sie in Schwierigkeiten steckte, der das Zauberwort kannte, das sie
Traumabenteuer erleben ließ in einer Welt, in der alles schön war, und den sie jetzt, ohne darüber nachzudenken, mit einer Hand packte. Dann war die Tür aufgebrochen worden, ihre Mutter wurde zu Boden gestoßen, aber es war nicht etwa die Polizei, die sie immer halbwegs erwartet hatten, sondern es waren Soldaten. Brutale, grobe Kerle, die ihre Mutter im Nachthemd lachend angafften, sie auf die Füße zerrten, ihr die Arme auf den Rücken zwangen und sie blitzschnell mit Plastikhandschellen fesselten. Und dabei kümmerte es sie nicht, was sie währenddessen mit ihren Händen betatschten. Evey kauerte verzweifelt und von Panik übermannt unter dem Bett. Sie konnte kaum atmen, brachte nur ein winziges, maushaftes Keuchen zu Stande. In völliger Verzweiflung blickte sie nach oben und sah, wie ihre Mutter direkt auf sie herunterschaute, wie um sich das Bild ihrer Tochter für immer einzuprägen, und da zogen sie ihr auch schon den glänzenden schwarzen Sack über den Kopf. Dann hatte Evey geschrien, hilflos, alle Beherrschung verloren. Und die Strahlen der Taschenlampen stießen unter das Bett. Und die Soldaten hatten sie gefunden und mitgenommen. „Ich sah sie nie wieder“, erzählte Evey. Sie kämpfte mit Erinnerungen, über die sie nie gesprochen hatte – und in diesem Augenblick fiel ihr ein, dass sie auch Teddy nie wieder gesehen hatte. „Es war, als hätten diese schwarzen Säcke sie ausgelöscht.“ Und auch das Zauberwort hatten sie ausgelöscht und allen Zauber, den es je auf der Welt gegeben hatte. Und übrig geblieben war nichts als Angst. Kalte, dunkle Angst, die irgendwo nahe des Endes ihres Rückgrats hauste und, bei der geringsten Gelegenheit, urplötzlich emporstieg, ihr ganzes Gehirn umhüllte und ihren Geist durchdrang.
„Es tut mir Leid, Evey“, sagte V sanft und mit offenkundigem Mitleid, das über die üblichen Plattitüden hinausging. „Nein, mir tut es Leid“, erwiderte sie und versuchte sich zu sammeln, nur um einer weiteren Erinnerung zum Opfer zu fallen – der Erinnerung daran, wie ihre Mutter in Augenblicken wie diesen, wo sie den Tränen so nahe war, immer lächelte und sie leise hieß, sich die „Nase zu putzen und sich zusammenzunehmen“. Aber seit sie das zum letzten Mal gesagt hatte, schien es irgendwie, als helfe das Naseputzen nicht mehr. „Es tut mir Leid, dass ich nicht stärker bin. Es tut mir Leid, dass ich nicht wie meine Eltern bin. Ich wünschte, ich wäre es, aber ich bin es nicht. Ich wünschte, ich würde mich nicht immerzu fürchten, aber ich tu’s.“ Dann sog sie tief den Atem ein und wappnete sich, die Worte zu sagen, auf die all das hingeführt hatte: „Ich weiß, diese Welt ist vermurkst. Glaub mir, ich weiß das besser als die meisten anderen. Und darum wollte ich fragen… wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann, um zu helfen, sie wieder in Ordnung zu bringen… lass es mich bitte wissen.“ „Wenn du willst“, murmelte V leise. „Wenn du willst…“
Derweil war bei einem anderen Ministerium ein weiteres Gesuch eingereicht worden, diesmal bei einem der zivilen – und sehr viel zivilisierteren. Aber trotzdem warteten Finch und Dominic mit wachsender Ungeduld am Auskunftsschalter. Wie lange dauerte so etwas denn? Der Regen war so heftig gewesen, als sie eingetroffen waren – „in Bindfäden“, wie Finchs alte Mum immer gesagt hatte, was noch einmal eine ganze Stufe über dem üblichen „Es gießt wie aus Kübeln“ war –, dass sie schon auf dem kurzen Weg von ihrem geparkten
Auto zum Gebäude bis auf die Haut nass geworden waren. Jetzt warteten sie schon so lange, dass sie beinahe wieder trocken waren. Aber man musste natürlich bedenken, dass es Samstagmorgen war, und obschon er und Dominic bereit waren, Überstunden zu schieben, hatten sie extra jemanden anrufen müssen, der ihnen hier half. Und der Mann würde zweifelsohne den anderthalbfachen Lohn für Samstagsarbeit einstreichen, also war es vielleicht nicht so überraschend, dass er es so lange hinzog, wie er nur konnte. Oder vielleicht dauerte es eben einfach wirklich so lange. „Glauben Sie wirklich, dass wir hier etwas finden werden?“, fragte Dominic den älteren Mann, eigentlich nur um Konversation zu machen. „Ist einen Versuch wert“, meinte Finch, während er sich fragte, woran es liegen mochte, dass den Beamten des Staates heutzutage der Kaffee vorenthalten wurde. „Eines trifft jedenfalls auf jede Regierung zu: Die besten Akten sind die Steuerakten.“ Endlich öffnete sich auf der anderen Seite des Zimmers eine Tür und der grauhaarige Archivar mit der Zweistärkenbrille, mit dem sie zuerst gesprochen hatten, vor Urzeiten, tauchte wieder auf. Leicht vornüber gebeugt und einen großen Aktenkarton auf den Armen mäanderte er durch das Büro auf sie zu. Sein Gesichtsausdruck wirkte jedoch alles andere als hoffnungsvoll. „Die originalen elektronischen Unterlagen sind anscheinend alle verloren gegangen, wahrscheinlich während der Reklamation“, sagte er entschuldigend, als er die Enttäuschung über die Gesichter der Detectives gleiten sah, wie Vorhänge, die sich vor dem Sarg in einem Krematorium schlossen. „Damals gingen eine Menge Dinge verschütt. Aber ich fand drunten im Keller diese Papierausdrucke.“
Mit immer noch reichlich verzeihungsheischender Miene reichte er Finch den Karton. „Alles, was wir über Larkhill haben, ist da drin.“ Und dann schaute er auf, beinahe verwundert, und wurde des Ausdrucks dankbarer Überraschung auf Finchs zerfurchtem und weltmüdem Gesicht gewahr. „Danke“, sagte Finch und dieses Mal meinte er es ganz ehrlich. „Das ist uns eine große Hilfe.“ Herrgott, dachte er, wenn die Dinge nur immer so laufen würden…
Etwas später machte Evey eine ganz eigene Entdeckung. Sie vertrieb sich die Zeit, bis es für sie etwas zu tun gab, damit, ihr Schlafzimmer ein wenig heimeliger zu gestalten, hatte dabei etwas Stoff gefunden, mit dem sie das schmale Stück Ziegelwand verhängen konnte, das zwischen den Stapeln von Büchern sichtbar war, und richtete ihre Aufmerksamkeit nun darauf, den Frisierkommodenspiegel zu putzen. Als sie die Staubschicht abwischte, die V sich hier hatte ansammeln lassen – aber schließlich war es ja auch kaum mehr als ein Abstellraum mit einem Extrabett darin –, fand sie einen lateinischen Spruch, der in den Rahmen eingeschnitzt war. Sie betrachtete ihn in dem Halbdunkel, das durch nichts zu vertreiben zu sein schien, so düster wie die Wände und die Decke und die Bücher waren, die sich davor türmten, und schaffte es endlich, die Worte so weit zu erkennen, dass sie sie lesen konnte. „Vi Veri Veniversum Vivus Vie!“, sagte sie laut vor sich hin, doch während sie das tat, sah sie V im Spiegel unter den Worten auftauchen. Und sie konnte nur vor Staunen nach Luft schnappen.
Einen Moment lang rasten ihre Gedanken. Das war wie früher, als sie ein Kind war, wie in den Geschichten aus den Märchenbüchern, die ihr Vater ihr vorgelesen hatte, wie… wie damals mit Teddy… denn es kam ihr vor, als hätte sie die Zauberworte wieder ausgesprochen und als sei V daraufhin im magischen Spiegel erschienen, wie ein dienstbarer Geist. Und dann erst wurde ihr bewusst, dass er den Raum hinter ihr wirklich betreten hatte und dass sein Auftauchen in genau diesem Augenblick nur einer jener verblüffenden Zufälle war. Aber doch ein sehr sonderbarer… „Bei der Wahrheit Macht, als Sterblicher habe ich das Universum erobert“, übersetzte er für sie und trat weiter vor. Sie wandte sich ihm zu. „Persönliches Motto?“, fragte sie, da sie um seine Vorliebe für alles, das mit dem Buchstaben V zu tun hatte, wusste. „Aus Faust.“ Natürlich, dachte sie: ein Zauberer. Wer sonst sollte die Zauberworte kennen? „Darin geht es darum, den Teufel hinters Licht zu führen, nicht wahr?“, fragte sie, nachdem sie kurz innegehalten hatte, um ihre Gedanken zu sammeln. In der Tat, um den Teufel hinters Licht zu führen… „Stimmt.“ Eine gewisse Wärme in seiner Stimme brachte seine Freude über ihr Wissen zum Ausdruck. „Apropos Teufel, ich fragte mich, ob dein Angebot zu helfen noch gilt.“ „Natürlich“, erwiderte Evey und ihr Puls beschleunigte sich, während sie das Staubtuch weglegte. „Es sieht so aus, als hätten unvorhergesehene Umstände meinen ursprünglichen Plan beschleunigt. Infolgedessen brauche ich jemanden mit schauspielerischem Talent.“ „Ich werde mein Bestes tun.“ Sie lächelte, mehr als nur ein wenig erfreut ob seiner Wertschätzung ihrer Fähigkeiten und der Gelegenheit, die sich hieraus ergab. „Das glaube ich dir“, sagte V und machte sich daran, ihren Part mit ihr zu proben.
„Noch ein Doktor?“, entfuhr es Finch und er wusste nicht ganz, ob er diese Frage sich oder Dominic oder einfach nur ins Leere stellte. Oder vielleicht dem Regen, der immer noch gegen die Scheiben prasselte. So war es früher nie gewesen, ehe das Wetter zusammengebrochen war. Jetzt herrschte oft wochenlange Dürre, gefolgt von einem Regenwochenende, an dem so viel herunterkam, dass es für einen ganzen Monat reichte. Kein Wunder, dass das Wasser, das sie hatten, so streng kontrolliert wurde. Bei solchen Wolkenbrüchen würde alles in die Kanäle und von dort in die Themse fließen, bevor man etwas Nützliches damit tun konnte… wenn die Kanäle nicht wieder einmal überliefen und die Straßen mit Abwässern überfluteten, wie es vor ein paar Monaten passiert war. Und das war nicht das erste Mal gewesen. „Wozu braucht ein Straflager so viele Ärzte?“, fuhr Finch fort, nahm seine Kaffeetasse auf und stellte sie, als er sah, dass sie leer war, angewidert zurück. Sie waren die ganze Nacht über hier gewesen, waren die Steuerakten durchgegangen, hatten ab und zu in ihren Schreibtischsesseln kurz geschlafen und sich Sandwichs von draußen bringen lassen, nachdem die Kantine geschlossen hatte. Und nun war es Sonntagmorgen, und sie schienen keinen Schritt weiterzukommen. Diese neueste Ärztin war eine gewisse Dana Stanton, eine von einer Liste, an deren Länge er sich nicht mehr genau erinnern konnte. Die Steuerunterlagen, die sie aus dem Ministerium mitgebracht hatten, enthielten jede Menge Stoff zum Nachdenken, obgleich vieles davon nicht zusammenzupassen schien. Interessant, anregend… aber verwirrend. „Ich weiß es nicht“, antwortete Dominic auf seine Frage, während er selbst einen Schnellhefter durchblätterte. „Aber das
hier ist interessant. Die bestbezahlte Person im Lager war ein Priester.“ „Was?“ Verwirrend war nicht mehr das zutreffende Wort – diese neueste Information schien schlicht absolut unbegreiflich. „Reverend Anthony James Lilliman“, sagte Dominic, und er wirkte genauso perplex wie sein Vorgesetzter. „Man bezahlte ihm fast zweihundert Riesen im Monat.“ „Das ist interessant.“ Finch gab den Namen Lilliman in seine Computersuchmaschine ein. „Sieht aus, als ob er befördert wurde“, ergänzte er, als die Information auf dem Monitor erschien. „Er ist jetzt Bischof. Leitet den Gottesdienst in der Westminster Abbey.“ Warum um alles in der Welt sollte man einem Priester, dessen offizielle Rolle im Lager es zu sein schien, dafür Sorge zu tragen, dass Regeln und Rechte nicht verletzt wurden, so viel bezahlen? Es sei denn, es war eine Art Schweigegeld… „Dann nehme ich mal an, dass wir morgen zur Beichte gehen“, grinste Dominic. „Ja“, stimmte Finch zu und gestattete sich ein kleines Lächeln der Zufriedenheit, weil es den Anschein hatte, dass sie in diesem Fall endlich vorankamen. „Aber ich wette, seine Beichte wird viel interessanter sein als unsere.“
KAPITEL 10
Am frühen Sonntagabend befanden sich in der Dekanei der Westminster Abbey, jetzt Bischof Lillimans Privatwohnung, zwei Männer, der eine jung, der andere beträchtlich älter, die ganz unterschiedliche Dinge im Sinn hatten. „Euer Exzellenz“, rief der junge Mann und seine Stimme wahrte irgendwie doch eine ehrfurchtsvolle Stille, während sie durch den hallenden Korridor trug und er den Bischof einzuholen trachtete. Er hatte diesen Posten als persönlicher Assistent des Bischofs als wunderbare Gelegenheit für einen jungen Priester erachtet – bis er merkte, wie persönlich einige seiner Pflichten tatsächlich waren. Nichtsdestotrotz, Not kannte kein Gebot, nicht einmal hier, in Gottes Haus zu Westminster, und nachdem er sich erst einmal an die Vorstellung gewöhnt hatte – sowie einige der Vergünstigungen und Nutzen, die damit einhergingen –, war es doch eine wunderbare Gelegenheit. Nur eben nicht ganz auf die Weise, wie er es sich gedacht hatte. „Ah, Denis“, sagte der Bischof leise, hielt inne und drehte sich um, während der junge Priester herankam. „Ist alles arrangiert?“ „Ja, Euer Exzellenz“, sagte Denis eilig, wie immer erpicht darauf, alles recht zu machen. „Ich habe gerade per InterLink Eure Reiseroute erhalten und Ihr müsstet rechtzeitig in Perth eintreffen, um die Kommunion zu feiern.“ Lilliman lächelte, aber es war ein Lächeln, das eher reptilienhafter Herkunft zu sein schien, als schierer Freude entsprungen, mehr an geprüfte Geduld erinnerte als an väterlichen Stolz auf die Leistung seines Assistenten. Die Art
von Lächeln, die zu seinem dünnen, hoch aufgeschossenen Körper passte, zu seinem zurückgehenden Haaransatz und dem fast verschrumpelt wirkenden Gesicht, das an einen mit Haut überzogenen Totenkopf gemahnte. Alles was ihm noch fehlte, um den Eindruck zu vervollständigen, war eine gespaltene Zunge, doch Denis hatte schon früh erkannt, dass der alte Heuchler ohnehin mit einer solchen sprach, ganz gleich, was sich tatsächlich in seinem Mund befand. „Du bist sehr fleißig, Denis“, begann er mit einem Anflug von Sarkasmus. „Ein nobles Beispiel für all jene, die sich mühen im Namen des Herrn. Aber…“ „Euer Exzellenz?“, fragte Denis nervös, weil er am Ton in der Stimme des Bischofs erkannte, dass die Unterhaltung in einen Bereich abdriftete, den er, zumindest heute, wirklich nicht berühren wollte. „Es war nicht Mühe, wovon ich sprach“, sagte der Bischof mit kaum verhohlener Ungeduld. Inzwischen musste der Junge ihn doch verstehen. Und was sah er so nervös drein? „Es war vielmehr“, fuhr Lilliman fort, „meine letzte Überweisung, die mich interessierte. Meine letzte kleine Freude…“ „Es tut mir Leid, Euer Exzellenz“, sagte Denis jetzt wieder ruhiger, doch nicht recht im Stande, dem Bischof in die Augen zu sehen, und rückte näher, als fürchte er, obwohl sie allein waren, dass man sie belauschen könnte. „Sie ist eingetroffen, aber in der Agentur ging etwas durcheinander und man hat ein neues Mädchen geschickt.“ Ein fragender Blick des Bischofs und da war er nun, der Haken an der Sache. Aber es musste gesagt werden: „Ein neues Mädchen, das, wie ich fürchte, ein bisschen älter ist als üblich.“ „Älter?“, fragte Lilliman, Verärgerung im Blick, seine perfekt modulierte Priesterstimme jedoch noch immer
bewundernswert beherrscht. „Ach du liebe Güte. Nicht zu alt, möchte ich hoffen?“ „Dies zu befinden obliegt Eurer Exzellenz“, sagte Denis und senkte respektvoll den Blick in der Hoffnung, der Ausbruch, mit dem er insgeheim gerechnet hatte, möge nicht erfolgen. „Nun gut“, seufzte der Bischof und warf einen Blick gen Himmel. „Wenn Hiob seine Prüfungen erdulden konnte, dann muss ich, nehme ich an, wohl die meinen erdulden.“ Und damit wandte er sich ab und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer, hinter der das ziemliche Gegenteil einer klösterlichen Bußzelle lag. Dicke Perserteppiche, antik und aus den Lagern des Victoria and Albert Museums gestohlen, lagen auf dem Parkettboden, das Doppelbett von königlichen (oder wie er es lieber nannte, „bischöflichen“) Ausmaßen und an den Wänden ringsum hingen keine religiösen Bilder, sondern Ikonen widerlichster Lust. Kinderpornografie. Junge Mädchen, von den Malern in den Rollen von Huren dargestellt. Sehr junge Mädchen. Wie sie die Agentur für gewöhnlich zur Verfügung stellte. Und das nicht nur dem Bischof. Allerdings auch nicht jedem, der nicht irgendwie mit der Regierung oder der Partei verbunden war. Es handelte sich um eine exklusive Agentur – schließlich wurde sie von der Regierung geführt. Und da, ein Bild der Unschuld inmitten von Dekadenz, die blonden Haare zu Zöpfen gebunden, in einem mit Rüschen besetzten, pinkfarbenen Partykleid, das ihr einige Nummern zu klein war, in das sie sich aber trotzdem hineingezwängt hatte, und kleinen weißen Socken stand Evey, ein nervöses Lächeln im Gesicht. „Ach du…“, schnaufte Lilliman und trat näher. „Euer Exzellenz.“ Evey machte einen Knicks, den Saum ihres Kleides zwischen Daumen und Zeigefinger, und sah auf, angewidert, was sie jedoch nicht zu zeigen wagte, in das
faltige, verwitterte Gesicht dieses Perversen, der ein Hundehalsband trug und dem sie in die Hände gefallen war. „Ich darf gar nicht daran denken, dass ich deinen Liebreiz auch nur für einen Augenblick in Zweifel zog“, sagte der Bischof anzüglich grinsend und ließ seinen Blick über ihren Körper bis zu den Zehen hinabgleiten und wieder hinauf. Nicht das Kalbfleisch, an dem er sich für gewöhnlich gütlich tat, aber doch ein junges, zartes Lamm. „Mea culpa, mein Kind. Mea culpa.“ „Ähm, danke“, erwiderte Evey zögernd und fragte sich, ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war. Und wie lange sie dieses Spielchen treiben musste, bis V eintraf. Nicht fragen musste sie sich jedoch, ob der Bischof schnell zur Sache kam – er nahm sie schon bei der Hand und führte sie zum Bett, setzte sie hin und ließ sich neben ihr nieder. „Warum hilfst du mir nicht mit deinem Kleid, Kindchen?“, fragte er augenblicklich, der Ton seiner Stimme väterlich, seine Augen brennend vor zügelloser Lust. Er setzte an, nach ihren Schultern zu fassen, beugte sich vor, seine steckenartige Gestalt näherte sich wie eine Gottesanbeterin… doch Evey schrak zurück und schob seine Hände beiseite. Einen Moment lang wirkte er überrascht. Die Agentur hatte ihr doch sicherlich genau erklärt, was verlangt wurde? Schließlich bezahlte er sie gut genug. „Bitte, Euer Exzellenz“, sagte Evey drängend und versuchte einen plötzlichen Anfall von Nervosität niederzukämpfen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um zu tun, was sie geplant hatte, und nicht, um sich auf die widerlichen Spielchen des Bischofs einzulassen. „Wir haben nicht viel Zeit und ich muss Ihnen etwas sagen – „ „Eine Beichte?“, lachte Lilliman, und sein Ärger schwand. Vielleicht verfügte das Mädchen ja über hinreichend Eigeninitiative, um ihr Plus an Jahren wettzumachen. Und sie
sah ganz, ganz hinreißend aus. Eine rosige Schönheit, herrlich saftig. „Ich liebe das Beichtspiel“, sagte er lüstern und schlüpfte in die Rolle. „Erzähl mir deine Sünden.“ „Das ist kein Spiel, Euer Exzellenz“, erwiderte sie verzweifelt. Warum begriff er es denn nicht? „Es kommt jemand und ich glaube, er will Euch umbringen.“ So. Jetzt hatte sie es gesagt. Hatte den ersten Schritt getan auf dem, wie sie hoffte, Weg zur Erlösung und Flucht. Sie hasste sich dafür und wusste, dass es Verrat war. Sie fühlte sich ganz genauso wie der ängstliche Feigling, als den sie sich V gegenüber beschrieben hatte, wusste, dass die Beschreibung haargenau stimmte, und die einzige Lüge war, dass sie etwas dagegen unternehmen wollte. Aber wenn sie nur verhindern konnte, dass ihr ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt wurde… „Wie bitte?“, fragte der Bischof verwirrt. Leute in seiner Position wurden einfach nicht ermordet. Wer wollte denn einen Mann Gottes umbringen? „Ich erzähle Euch das, weil ich irgendeinen Schutz will oder Amnestie. Ich hatte nichts zu tun mit dem Old Bailey und im Jordan Tower habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht, aber ich glaube, damit mache ich ihn wieder gut.“ „Wovon, um alles in der Welt, sprichst du?“ „Ich heiße Evey Hammond“, sagte sie und versuchte, die Worte hervorzubringen, ehe er sie wieder unterbrach. Sie hatte so viel zu sagen, aber so wenig Zeit, um es zu sagen. Und dann platzte alles aus ihr heraus. „Ich bin… ich war während der vergangenen Tage die Gefangene des Terroristen namens V und ich sage Euch jetzt, dass er jeden Moment durch diese Tür kommen wird, weil ich das Fenster in dem Zimmer entriegelt habe, in dem ich mich auf Anweisung Eures Assistenten Denis fertig machen sollte.“
Da starrte er sie an, das Weiße seiner Augen begann sich vor Angst aufzuhellen, und sie dachte, dass ihre Nachricht, vielleicht, endlich in sein Bewusstsein vordrang. Nach allem, was seit der Explosion des Old Baileys passiert war, musste er doch von V gehört haben, ganz egal, wie klösterlich sein Leben hier auch sein mochte. Und von dem Zwischenfall im Jordan Tower musste er doch auch wissen – der riesige Fernseher in einer Ecke des Zimmers konnte doch nicht nur dort stehen, um die Porno-DVDs abzuspielen, die sich darunter stapelten, selbst wenn das sein Hauptzweck sein sollte. Und wenn er auf Vs Zielliste stand, mochte er in dem ganzen Komplott so weit oben stehen, dass er die wahre Todesursache Lewis Protheros kannte. Aber dann fing er an zu lachen. Standen da nicht zwei bewaffnete Wachposten vor dem Haupteingang, die von der Regierung extra abgestellt worden waren, um dieser aktuellen Terroristengefahr zu begegnen? „Wunderbar!“, gluckste er. Das Kind hatte ganz gewiss Fantasie für solcherlei Dinge. „Ein Spiel, wie ich es noch nie gespielt habe! Was für ein vergnügliches Köpfchen du doch hast. Ich hoffe, der Rest von dir ist genauso interessant.“ Eine Hand legte sich auf ihren Oberschenkel, seine alte Haut wie Pergament, und glitt in einer schlängelnden Bewegung nach oben zwischen ihre Beine. „Nein, bitte“, protestierte Evey und drückte schnell ihre Knie zusammen. Das lief alles fürchterlich schief. Ganz und gar nicht so, wie sie es geplant hatte. „Sie müssen mir glauben…“ „Oh, aber das tue ich doch, das tue ich!“, erwiderte der Bischof wölfisch und zwang sie rücklings aufs Bett. „Lass mich dir die Festigkeit meines Glaubens zeigen…“ „Hören Sie auf!“, kreischte sie. „Gehen Sie runter von mir!“ Aber Lilliman ging inzwischen völlig auf in dem Spielchen und als sie sich zu wehren begann, freute es ihn nur noch mehr.
„Scheint, als hätte ich die gefährliche Terroristin geschnappt“, sagte er begeistert und drückte sich auf sie. „Nun, wie bewirken wir ihr Geständnis am besten?“ Durch Vergewaltigung, war offenbar die erstbeste Antwort und später vielleicht, wenn sie gefügig war… oder auch nicht… etwas vorsichtig zugefügten Schmerz, bis sie um die Vergebung ihrer bisherigen Sünden flehte und eine Gelegenheit, neue zu begehen, wie er sie im Sinn hatte. Hmm, ja, er hatte keine mehr gehabt, die wirklich auf eine gute Tracht Prügel abgefahren war, seit diesem braunhaarigen kleinen Biest in der Schuluniform vor ein paar Monaten. Warum war er vorhin nur enttäuscht gewesen? Das hier würde absolut herrlich werden. Sie schlug um sich und wand sich und schaffte es endlich, ein Bein unter ihm hervorzuziehen, dann rammte sie ihr Knie mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, zwischen seinen Schenkeln nach oben. Wie Eieraufschlagen. Lilliman brüllte auf, presste instinktiv beide Hände in den Schritt und rollte gerade weit genug zur Seite, dass Evey ihm einen Stoß gegen den Kopf versetzen konnte, der ihn vom Bett herunter und zu Boden stürzen ließ. Dort blieb er kurz liegen, keuchend und pfeifend, buchstäblich Blut und im übertragenen Sinne Gift und Galle spuckend. „Du kleine Schlampe!“, quiekte er und begann über den Boden auf sein Nachtkästchen zuzukriechen. „Du dreckige kleine Hure!“ Evey setzte sich auf dem Bett auf, massierte ihre schmerzenden Fingerknöchel, musterte ihn und wunderte sich. Sie war nicht ganz sicher, warum er so von ihr fort kroch, aber so lange er fort war, genügte ihr das in diesem Moment schon.
Nur würde er jetzt nie und nimmer auf sie hören. Und irgendwie hatte die Angst, der sie so verzweifelt zu entgehen versuchte, sie nur noch tiefer hineingeritten. Und dann wurde mit dem Krachen von berstendem Holz die Tür eingetreten und V war da, ein Dämon in Schwarz, der Umhang wehte hinter ihm, das Lächeln auf ewig erstarrt. Lilliman war immer noch am Boden und jetzt weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. „Oh mein Gott, sie hat nicht gelogen!“, stöhnte er und ihm war schlecht vor Schmerz und Angst. „Du bist es!“ V hielt inne, als ihm die Bedeutung der Worte bewusst wurde, und drehte sich nach Evey um. „Ich…“, setzte sie an, kam auf die Füße und suchte nach einem Wort der Erklärung. Nach irgendetwas, das die Schuld und Scham ausdrücken konnte, die sie jetzt verspürte und die ihr noch heftigere Übelkeit verursachten als ihre Angst. „Ich…“ Die Maske neigte sich, ein klein wenig nur. Und inzwischen verstand sie, welche Ausdrücke diese scheinbar ausdruckslose Maske zu vermitteln mochte. Enttäuschung. Verständnis. Und, vielleicht am schlimmsten von allem, Vergebung. „Es tut mir Leid!“, schluchzte sie fast. „Ich musste…“ Und dann versagte die Stimme ihr den Dienst. Die Art und Weise, auf die er sie an ihren Vater erinnerte, überfiel und peinigte sie und hielt sich die Waage mit der schrecklichen Angst wegen des Verrats. Des Verrats an ihm. Des Verrats an sich selbst. Sie konnte nicht zu ihm sprechen. Sie konnte ihn nicht ansehen. Sie rannte los.
„Evey?“, rief er und schaute ihr nach, wie sie floh. Aber da war sie schon aus dem Zimmer gestürzt und nichts konnte sie mehr zurückholen. Jetzt sah Lilliman seine Chance. Der Schmerz in seinem Schritt war immer noch unerträglich, aber die Schmerzen des Todes würden noch viel, viel schlimmer sein und er fand die Kraft, sich auf das Nachtkästchen zu werfen, in dessen Richtung er zuvor schon gekrochen war. Auf die große Bibel, die, mit Goldschnitt und goldenen Scharnieren versehen, zugeschlagen darauf lag. Ein Gebet bevor er starb, war jedoch das Letzte, was er im Sinn hatte. Immer noch vor Schmerz gekrümmt schaffte er es, den reich verzierten Deckel des Buches aufzuklappen und in das ausgeschnittene Innere zu greifen, wo sich seine Finger um den Elfenbeingriff des Revolvers schlossen, der darin versteckt lag. Das Wort Gottes und die Macht der Schusswaffe – die zwei Saulen seines kometenhaften Aufstiegs zum Erfolg, seines innersten Glaubens. Wenn das eine nicht genügte, um mit diesem Terroristen fertig zu werden, dann würde das andere ganz bestimmt reichen. Endlich richtete er sich auf, schaffte es, sich umzudrehen, und drückte noch in der Bewegung ab. Zwei Schüsse erklangen, zertrümmerten die Stille des Abends wie Hammerschläge. Aber die Schüsse kamen zu spät, denn V war bereits auf Lilliman zugesprungen, gewandt wie ein Tiger, kaum dass er erkannt hatte, dass der Mann etwas vorhatte. Noch ehe der Abzug gedrückt wurde, befand er sich schon in Reichweite der Waffenhand des Bischofs, der tintenschwarze Umhang umflatterte sie beide, erschwerte es Lilliman, irgendetwas zu sehen – und dann spürte er auch schon, wie Vs behandschuhte Faust nach der seinen griff, sie packte, zusammendrückte und verdrehte.
Dann ertönte ein weiteres lautes Krachen. Kein Schuss diesmal, sondern das trockene Bersten von Knochen, als Vs Griff dem Priester das Handgelenk brach und ihn schreiend auf die Knie zwang. Im nächsten Moment stand der maskierte Mann da, den Revolver in der Hand, und betrachteter die Waffe nachdenklich. „Und so bekleid ich meine nackte Bosheit“, zitierte er, „mit alten Fetzen, aus der Schrift gestohlen, und schein ein Heil’ger, wo ich ein Teufel bin.“ Er schleuderte die Waffe quer durch den Raum, außer Reichweite. Lilliman, eine drahtige Gestalt, immer noch vornüber gekrümmt und auf den Knien, vor Schmerz schluchzend und sein Handgelenk umklammernd, schaffte es endlich, den Kopf zu heben und zu der düsteren, dem Tode ähnlichen Figur aufzusehen, die über ihm emporragte. „Wer bist du?“, brachte er keuchend hervor. „Sie sagten einmal, ich sei der Fleisch gewordene Teufel“, erinnerte ihn V „Wissen Sie noch, Bischof? Sie erinnern sich doch noch an Larkhill, oder?“ Larkhill. Das Wort ließ Lillimans Herz beinahe stehen bleiben. Aber er hatte dort doch kaum etwas getan, hatte er sich stets eingeredet, außer ein Auge zuzudrücken, das zuzudrücken er reichlich entlohnt wurde. Und sich den Vergnügungen hinzugeben, für die er heute bezahlte. Es waren die anderen gewesen, die die Experimente vorgenommen hatten, nicht er, auch wenn er sich manchmal auf Kosten der Opfer amüsiert hatte. Aber das lag alles lange hinter ihm, war nur noch ein Schatten in der Vergangenheit. Ausradiert wie das Lager selbst in jener Nacht, da es niedergebrannt war. Längst dahin, wie der Mann, der es angesteckt hatte. Wie der Mann, der es angesteckt hatte…
„Oh lieber Gott, hab Gnade!“, keuchte er, als ihm die Erkenntnis dämmerte… eine Erkenntnis, die ihm mehr Übelkeit bereitete, als der Schmerz. „Nicht heute Nacht, Bischof“, verkündete V, die Worte ein Urteil, das zu endgültig war, um Einspruch dagegen zu erheben. „Nicht heute Nacht.“
Draußen in der rasch dunkler werdenden Nacht, wo der Regen dankenswerterweise vor einiger Zeit aufgehört hatte, floh Evey Hammond über die noch nassen Straßen, als hinge ihr Leben davon ab, und versuchte so schnell sie nur konnte so weit wie nur möglich von Westminster fortzukommen. Es hatte nicht geklappt, wie sie es sich erhofft und wie sie es geplant hatte. Es war eine schlechte Entscheidung gewesen, motiviert von Angst, die zu einem schlimmen Ergebnis geführt hatte. Es hätte laut genug Alarm geschlagen werden sollen, um V zu verscheuchen, dem sie wirklich nichts Böses gewünscht hatte, was immer er auch getan haben mochte. Und dann hätte man sie ein paar Stunden lang verhören und schlimmstenfalls vielleicht zu einer kurzen Haftstrafe verurteilen sollen, und dann hatte sie zur Arbeit und in ein normales Leben zurückkehren wollen. Stattdessen aber würde man sie jetzt noch eifriger jagen und ihr außerdem zweifellos die Schuld am Tod des Bischofs geben. Und ja, obwohl sie vor V geflohen war, hatte sie damit doch auch das kleine bisschen Schutz aufgegeben, das er ihr geboten hatte. Wenn sie jetzt allerdings, aus ihrer neuen und noch schlimmeren Lage heraus zurückblickte, war dieser Schutz vielleicht gar nicht so gering gewesen. Falsch. Verkehrt. Es war alles entsetzlich schief gegangen, und jetzt fürchtete sie sich sogar noch mehr als je zuvor.
Sie hatte fürchterliche Angst, dass sie, blind, in einem schwarzen Sack enden würde. Renn einfach nur weiter, sagte sie sich, aber auch das brachte grässliche Erinnerungen zurück an jene Nacht, als sie durch die Gasse gerannt war und die Fingermänner… Und V war zu ihrer Rettung gekommen. Aber er würde sie nicht mehr retten. Nicht jetzt. Nie wieder. Ein dunkler Schemen, der vor ihr um eine Ecke bog, ließ sie in die Schatten taumeln. Kein Mann diesmal, sondern eines der riesigen, gepanzerten Überwachungsfahrzeuge des Ohres. Schwarz wie die Nacht waren sie (die neue faschistische Regierung hatte die symbolische und psychologische Bedeutung der Farbe rasch erkannt, als es darum ging, die Bevölkerung einzuschüchtern), mit Antennen und Parabolschüsseln, Richtmikrofonen und gelegentlich auch mit visuellen und Infrarot-Kameras bestückt. Und Evey war sicher, dass das dort auf der schwarz lackierten Haube ein leichtes Maschinengewehr auf einer automatischen Drehvorrichtung war. Die hatten sie nicht immer schon gehabt, wie sie wusste, aber so, wie die Dinge sich verschlechterten, wer wusste da schon, wo das noch hinführen würde. Höchstwahrscheinlich zu Panzern auf allen Straßen, im Wind ständig der Geruch von Tränengas, so wie es zur Zeit der Reklamation gewesen war. Bedrohlich wie ein riesiger schwarzer Killerhai strich der Truck langsam die Straße entlang auf sie zu. Und Evey, obgleich sie wusste, dass die Sperrstunde noch nicht erreicht war und dass es, so lange die sie nicht erkannten, keinen Grund gab, warum sie nicht auf der Straße unterwegs sein sollte, drückte sich gegen die Mauer und betete. Im Truck jedoch zollte niemand dem Aufmerksamkeit, was die Kameras zeigten. Schließlich waren sie Ohrmänner, und sie wurden fürs Hören bezahlt. Und am meisten zu hören gab es in
der Gegend um Westminster, das wussten sie aus langer Erfahrung, immer am Sonntagabend. „O nein!“, hörten sie den Bischof kehlig, atemlos keuchen. „Tu das nicht. Ich flehe dich an…“ „Kinderstunde in der Abbey“, sagte einer der Operatoren grinsend zu seinem Kollegen, der sich ebenfalls grinsend um die Feineinstellung des Geräts kümmerte. Jeden Moment musste jetzt das mädchenhafte Kichern zu hören sein, dann das warme, elfenhafte Quieken… und dann die kleinen, kindlichen Keuchlaute, die ihre Fantasie immer auf volle Touren brachten… Kichernd hörten sie aufmerksamer zu. Aber es war nicht die Stimme eines jungen Mädchens, die sie als Nächstes vernahmen. Es war die eines Mannes. Und sie war brutal und sie duldete keinen Widerspruch. „Mach den Mund auf und streck die Zunge raus“, befahl V in einer entsetzlichen Parodie des Rituals der Kommunion. „Was zum Teufel…?“, rief der Chief Operator aus. „Ich will nicht sterben“, bettelte der Bischof in seinem Kopfhörer verzweifelt, diese volle, predigende Stimme jetzt auf kaum mehr als ein Krächzen reduziert. Und dann, als Lilliman entsetzlich zu schreien anfing, verzweifelt und schließlich erbärmlich, kläffte der Ohrmann hastig in das Mikrofon seines Headsets: „Hier spricht Überwachung eins-null-neun! Wir haben einen Notfall!“
KAPITEL 11
Obwohl es erst das zweite Mal war, dass er es sah, hatte Eric Finch die Nase schon gehörig voll vom Anblick grünem und weißem Erbrochenen, die jetzt in der Lache aus brackigem, bereits gerinnendem Blut schäumte, das den Perserteppich besudelt hatte und davon aufgesaugt worden war. Ein schön altmodischer Tod durch Erschießen ließ dem Opfer zumindest mehr Würde. Oder wenn jemand mit einem Messer niedergestochen wurde, wie es mit den beiden Wachmännern draußen geschehen war, bevor sie Gelegenheit gehabt hatten, ihre Waffen zu ziehen oder auch nur einen Laut von sich zu geben. Aber ein Toter blieb ein Toter, ganz gleich wie er erledigt worden war. Und Ex-Bischof Tony Lilliman war in der Tat sehr gründlich erledigt worden. Vielleicht verdiente er es auch, dachte Finch müde und ließ seinen Blick über die Gemälde an der Wand streichen, über den Stapel von Zeitschriften, die sie im Nachtkästchen des Bischofs gefunden hatten, über die Hardcore-DVDs. Kleine Mädchen. Kinderporno. Die Art von Dreck, die angeblich ausgemerzt werden sollte, als die Neue Ordnung in Kraft trat, für die ein gewöhnlicher Straßenräuber heutzutage erschossen werden konnte. Die reiche Elite aber konnte sie, wie es schien, auf Nachfrage durchaus noch bekommen. Wenn man das zu dem hinzuzählte, was er bei Prothero gesehen hatte, tat sich eine kranke Welt auf, erstand eine neue Aristokratie voller Dekadenz, Korruption und Heuchelei. Und das waren die Leute, die sich als Moralwächter der Nation aufspielten, die als gute, ehrliche Christen auftraten. Vielleicht tat V der Welt einen Gefallen, indem er sie ausschaltete.
Aber jetzt konnten sie Lilliman nicht mehr nach dem unverschämt hohen Salär fragen, das er in Larkhill bekommen hatte. Auf seiner Brust lag eine einzelne gelb- und lachsfarbene Rose. Genau wie die bei Lewis Prothero. Eine Visitenkarte also. Offenbar gab es hier eine Bedeutung, der nachgegangen werden musste. Und wenn sie dann noch etwas Nützliches aus dem jungen Priester herausbekommen konnten, der im Augenblick bei einem der Polizeimeister eine vorläufige Aussage machte… Natürlich war alles längst vorüber gewesen, bis jemand auf den Notruf der Ohrmänner reagieren konnte. Aber für Finch war es eine Sache des Stolzes, dass er und seine Männer wieder die Ersten am Tatort gewesen waren. Trotzdem… „Er ist uns immer einen Schritt voraus, was?“, meinte Dominic, während er Finch gegenüber auf der anderen Seite des Bischofs stand und hinabsah auf die Rose und den Leichnam. „Überprüfen Sie jeden Namen in dieser Akte“, trug Finch ihm auf, mit einem Mal ganz entschlossen. „Ich will den Aufenthaltsort all dieser Leute wissen. Heute Nacht noch.“ „Ja, Sir“, sagte Dominic sofort und hielt dann inne, als er sah, wie die Gesichtszüge seines Vorgesetzten entgleisten. „Verdammt“, brummte Finch und Dominic drehte sich um und sah, wie mehrere Fingermänner das Zimmer betraten. Binnen weniger Augenblicke hatten sie sich zwischen die Polizei und Denis gedrängt, kompromisslose Mienen auf den Gesichtern und die Hände unter ihren makellosen Anzügen nahe der Achselhöhlen, wo ihre Schulterholster saßen. Ihr ganzes Auftreten sagte: Keine Einwände. Und niemand wandte etwas ein. Und dann kam Peter Creedy durch die Tür und steuerte direkt auf Finch zu.
„Achtung, da kommt der Finger“, flüsterte Dominic, während sein Blick unverblümt verriet, dass er dem Mann selber gern den entsprechenden Finger zeigen würde. „Gehen Sie. Ich kümmere mich um ihn“, wies Finch seinen Assistenten leise an und sah dem Neuankömmling mit gespielter Überraschung entgegen. „Greedy, was tun Sie denn hier?“ „Es wurden mehrere prominente Parteimitglieder ermordet, Chief Inspector“, erwiderte Creedy eisig und machte sich kaum die Mühe, einen Blick auf die Leiche zu werfen. Schließlich unterschied sich ein toter Bischof nicht allzu sehr von anderen toten Parteimitgliedern. Und Creedy hatte persönlich so viele von ihnen beseitigt, dass Leichen für ihn kaum noch mehr als Nummern waren. Er war nicht ohne Grund als Sutlers Rottweiler bekannt gewesen, damals, während der Reklamation. Heute wurde er hinter seinem Rücken Creepy Creedy genannt, wenn auch nie laut, sodass er es hören konnte. Finch kam nicht umhin, sich zu fragen, was sein Fetisch war. Wenn ein scheinbar respektabler Bischof auf Sex mit Minderjährigen stand, konnte Finch wohl davon ausgehen, dass es in Creedys Fall etwas weitaus Schlimmeres sein musste. Wahrscheinlich hatte es etwas mit Badewannen voller Taranteln zu tun. Oder mittelalterlichen Folterinstrumenten. „Dies ist keine gewöhnliche Situation und sie verlangt mehr als Ihre gewöhnliche Aufmerksamkeit“, fuhr Creedy hochnäsig fort und Finch begannen sich die Nackenhaare aufzustellen. „Der Kanzler verlangte mein sofortiges Eingreifen.“ Eine knappe Erklärung, so unfreundlich vorgetragen, wie es nur irgend ging. Creedy hatte keine Zeit für die normalen Polizisten, die für die Nase arbeiteten, für ihren Chef oder ihre Methoden. Was sollte der ganze Mist von wegen Ermittlung, Spuren und Beweisführung vor Gericht, wenn Folter und
Terror und das Geheimtribunal doch so viel effektiver waren? Die Waffe und der schwarze Sack – so ging man mit Unruhestiftern um. „Es wird sehr schwierig werden, eine Untersuchung durchzuführen, wenn Sie all meine Zeugen ,in Gewahrsam nehmen’“, erklärte Finch säuerlich und deutete auf Denis, sah Creedy dabei aber direkt in die Augen, entschlossen sich von niemandem einschüchtern zu lassen, und schon gar nicht von diesem bösartigen Hurensohn, der hier vor ihm stand. „Die Sicherheit von Informationen hat absoluten Vorrang“, sagte Creedy kategorisch, als habe er den Satz auswendig gelernt. „In solch unbeständigen Zeiten können Fehler wie im Jordan Tower nicht länger toleriert werden.“ Das war es also, dachte Finch. Er hatte Creedy ausgestochen, indem er mit seinen Jungs zuerst dort aufgekreuzt war, vor dem Finger – und schlimmer noch, er war auch als Erster hier gewesen, und jetzt war es Zeit für die Revanche. Das Erste, was sie zu tun hatten, war, sich die Zeugen zu schnappen und die Sache für Finch so schwierig wie möglich zu machen, und danach würde all die angebliche „Kollaboration“ zwischen ihren Abteilungen knirschend zu einem völligen Stillstand kommen. Wenn Evey Hammond nur nicht mit dem Pfefferspray gegen Dominic vorgegangen wäre, dann hätte Creedy keinerlei Handhabe. „Falls die Sache im Jordan Tower wirklich ein Unfall war“, fügte Creedy betont hinzu. „Was soll das heißen?“, fragte Finch kurz angebunden. Jetzt wurde er langsam – und allen guten Vorsätzen zum Trotz – wütend. „Der Terrorist scheint nur zu gut mit unserem System vertraut zu sein“, sagte Creedy leichthin und sah sich nun zum ersten Mal im Raum um, als sei Finchs Antwort kaum seiner
Aufmerksamkeit wert. „Der Kanzler hegt die Vermutung, es könnte einen Informanten geben.“ „Wollen Sie damit sagen, dass ich überwacht werde, Mr. Creedy?“, fragte Finch rundheraus, denn er hatte jetzt endgültig genug von Creedys Spielchen und wollte auf den Punkt kommen. „Zum momentanen Zeitpunkt würde ich Ihnen nahe legen, jegliche Untersuchung von längst vergangenen Angelegenheiten einzustellen“, sagte Creedy unverblümt, „und sich auf die gegenwärtigen Probleme zu konzentrieren.“ Aha, das war es also. Die Verärgerung über die Geschichte im Jordan Tower war persönlicher Natur, aber sie war nicht der springende Punkt. Sie hatte nur Creedy auf die Palme gebracht, aber eigentlich war er hier, um eine Nachricht zu überbringen – eine Nachricht, die zu überbringen er besonders genoss, weil es ihm eine Chance bot, Finch alles heimzuzahlen. Hier ging es nicht um die Festnahme von Terroristen. Hier handelte es sich um eine Warnung. „Sie meinen Larkhill.“ „Major Wilson ist ein Freund des Großkanzlers“, erklärte Creedy mit der bloßen Andeutung eines heimtückischen Lächelns. Das war es also, was es hieß, ein „Berufssoldat“ zu sein, dachte Finch: Zu jammern und zu petzen, damit einem der böse Polizist vom Hals geschafft wurde. Aber Creedy war mit dem Thema Wilson noch nicht fertig. „Seine Loyalität steht nicht in Frage.“ „Meine aber schon?“, entgegnete Finch knapp. Plötzlich gefiel ihm die Richtung, die dieses Gespräch nahm, gar nicht mehr. „Ich bin seit siebenundzwanzig Jahren Mitglied der Partei.“ Und irgendwie hasste er sich dafür, das gesagt zu haben. Es stimmte, aber es wurmte ihn, und es war nichts, was er anderen normalerweise unter die Nase gerieben hätte. Etwas, von dem er damals das Gefühl gehabt hatte, es tun zu
müssen und hätte er es nicht getan, wäre er heute sicher nicht, wo er war. Aber es war nichts, worauf er stolz war. „Ihre Mutter war Irin, nicht wahr?“, unterbrach Creedy ihn frostig und wusste genau, welchen Nerv er treffen musste. „Sie verdammter…“ „Schrecklich, was St. Mary in Irland anrichtete, nicht wahr?“, sagte Creedy und wandte sich ab, kaum im Stande, das hämische, bösartige Lachen aus seiner Stimme fern zu halten. „Ich an Ihrer Stelle, Chief Inspector…“, und irgendwie schaffte Creedy es, den Titel in einen Begriff vollkommener Verachtung zu verwandeln, „… würde ich mich auf die Suche nach diesem Terroristen machen. Und würde versuchen, ihn schleunigst zu finden.“ Nur einen Moment lang setzte Finch zu einem Schritt nach vorne an, die Fäuste geballt und wäre beinahe über den toten Bischof gestolpert in seinem Eifer, Creedy eine Abreibung verpassen zu wollen ungeachtet der Konsequenzen. Aber ein kleiner Gedanke genügte, um ihn sich entspannen zu lassen und das Ganze mit einem Achselzucken abzutun. Creedy war nichts weiter als ein verfluchter Botenjunge…
„Evey?“, keuchte Gordon Deitrich, als er die Eingangstür seines großen, alten und sehr teuren Hauses in Bloomsbury öffnete und sie einfach nur starr ansah, wie sie dastand in jenem pinkfarbenen Partykleid, das sie schon früher am Abend getragen hatte. „Großer Gott!“ „Es tut mir Leid“, sagte sie nervös, hilflos und schaute verzweifelt und den Tränen nahe zu ihm auf. „Ich wusste nicht, wo ich sonst hin sollte…“ Das war zu einem gewissen Grad wahr, insgeheim aber musste sie sich eingestehen, dass es von Anfang an Teil des Planes gewesen war. Als sie ursprünglich vorgeschlagen hatte,
V zu helfen, in der Hoffnung, dass er sie zu diesem Zweck aus der Schattengalerie hinauslassen und ihr damit eine Chance zu fliehen geben würde, hatte sie stets vorgehabt, zu Deitrich zu gehen, weil er ein Mann war, der den nötigen Status und Einfluss hatte, um ihr zu helfen. Doch dann, als V sie in seinen Plan, Bischof Lilliman zu ermorden, einweihte, hatte sie eine noch näher liegende Möglichkeit gesehen, einen Deal mit den Behörden zu machen. Aber nun, nachdem das so fürchterlich schief gelaufen war, hatte sie wirklich keine andere Alternative gehabt, als auf Plan A zurückzugreifen. Sie hatte fast zwei Stunden gebraucht, um hierher zu kommen, weil sie es nicht gewagt hatte, durch Whitehall zu gehen, wo es, da sich dort der Sitz der Regierung und aller Ministerien befand, zu viele Wachen gab, als dass jemand wie sie dieses Risiko eingehen konnte, zumal sie viel zu auffällig gekleidet war, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Stattdessen war sie drunten an der Themse am Victoria Embankment entlanggegangen und hatte sich gelegentlich in den Gardens versteckt, um vorbeikommenden Streifenfahrzeugen auszuweichen, dann weiter durch die Seitenstraßen rund um Charing Cross Station und damit in das Labyrinth, das Covent Garden darstellte. In Long Acre hatte sie um ihr Leben rennen müssen, aber ob der Mann, vor dem sie floh, nun ein Fingermann, ein Straßenräuber oder ein Perverser gewesen war, wusste sie gar nicht genau. Doch sie hatte ihn abgeschüttelt und jetzt war sie endlich hier. Aber noch gab es die große Frage, die sie die ganze Zeit über gequält hatte: Würde er sie einlassen? Deitrich ließ rasch den Blick über die Straße schweifen, sah aber nichts und niemanden außer einem näher kommenden Fed-Co-Truck, der langsam die Straße entlang rollte, als wüsste der Fahrer nicht recht, wo die Hausnummer, die er suchte, zu finden war.
„Kommen Sie, schnell!“, sagte er dann und es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass FedCo sonntagabends normalerweise nicht auslieferte, als er sie am Handgelenk packte und sie in das anheimelnde Licht der Diele zog. „Kommen Sie rein, bevor Sie jemand sieht.“ Kurz darauf saß sie auf der Couch in seinem Wohnzimmer, immer noch von Anspannung verkrampft, die Knie zusammengedrückt und die Arme trotz Zentralheizung um den Oberkörper geschlungen, und versuchte, nicht zu zittern. Nein, genau genommen musste das heißen, dass sie versuchte, nicht zu schaudern. Sie konnte nicht aufhören, nervös zu schlucken, und hoffte verzweifelt, dass ihr nicht schlecht wurde – oder noch etwas Schlimmeres passierte. Im Grunde genommen, wenn sie einfach ohnmächtig werden könnte, jetzt auf der Stelle, das wäre eine enorme Erleichterung gewesen. „Hier, trinken Sie das“, sagte Deitrich, der mit zwei großen Gläsern Scotch kam, von denen er ihr eines reichte. Evey trank es in einem Zug leer. „Hmm… zum Wohl“, fügte er etwas verspätet hinzu, eine Augenbraue erhoben und reichlich verblüfft. Aber es schien ihm nichts anderes übrig zu bleiben, als ihrem Beispiel zu folgen. „Gordon“, begann sie, während er die Flasche holte, um nachzuschenken, und dann sprudelten die Worte aus ihr heraus, unkontrolliert und schneller, als sie es beide erwartet hatten. „Ich weiß, dass jeder Polizist des Landes nach mir sucht. Ich weiß, dass es eine furchtbare Idee von mir war, hierher zu kommen und Sie in diese Lage zu bringen…“ „Evey…“, versuchte er sie sanft zu unterbrechen, aber sie war nicht zu stoppen. „Wenn die mich hier finden, könnten Sie schrecklichen Ärger bekommen…“
„Evey, hören Sie mir zu“, sagte er um einiges lauter jetzt und er nahm ihre freie Hand und schüttelte sie beinahe durch, während er neben ihr Platz nahm. „Sollte die Regierung je mein Haus durchsuchen, wären Sie das Geringste meiner Probleme.“ Evey konnte ihn nur in blankem Unverständnis ansehen. Was konnte schlimmer sein, als das, was sie in den vergangenen paar Tagen getan hatte? Und da sie nur an sich selbst dachte, entging ihr völlig, dass jemand vor einigen Tagen erst etwas ganz Ähnliches zu ihr gesagt hatte. „Sie haben mir vertraut.“ Er lächelte und sie entdeckte eine väterliche und trotz seines Namens sehr englische Seite an ihm, die ihr zuvor nie aufgefallen war. „Es würde von furchtbar schlechten Manieren meinerseits zeugen, wenn ich Ihnen nicht vertraute.“ Und als sie immer noch nicht zu begreifen schien, nahm er ihr behutsam das Glas aus der Hand und zog sie auf die Füße. „Kommen Sie mit.“ Wenig später führte er sie die Treppe in den Keller hinunter und, nachdem das Klicken einer Zugkette eine einzelne nackte Glühbirne aufleuchten ließ, weiter in einen wunderschönen alten gemauerten Weinkeller, der mit Regalen voller dunkler, staubbedeckter Flaschen gefüllt war. Offensichtlich bezahlte Deitrichs Half Hour die Rechnungen und darüber hinaus noch eine ganze Menge mehr. Ein paar der Weine hier, so nahm sie an, kosteten pro Flasche mehr, als sie in einem ganzen Monat verdiente. Warum er sie allerdings hier heruntergebracht hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. „In der Öffentlichkeit habe ich immer gesagt, dass ich keine Kunst mache, sondern mich darüber lustig“, sagte er, als erklärte das, weshalb er ihr seinen Weinkeller zeigte. „Aber die
Wahrheit ist, dass ich Kunst liebe, und ich tu, was immer ich kann, um sie zu schützen.“ Und dann trat er an ein Regal an der Wand und drehte eine der alten Flaschen. Langsam und mit einem leisen, elektrischen Summen schwang das ganze Regal wie eine Tür von der Wand weg und dahinter lag ein dunkler Raum. Deitrich duckte sich in die Öffnung, griff nach einer weiteren Zugkette, dann trat er beiseite und drängte sie in den vor ihnen liegenden Geheimraum. Und Evey konnte nichts weiter tun, als zu starren. Sie kannte nur einen einzigen anderen Raum wie diesen. Und auch der lag unter der Erde: die Schattengalerie. Dies hier war eine kleinere Version, aber sie spiegelte dieselben Vorlieben wider und unübersehbar dasselbe Interesse. Zu bewahren, was alt und wertvoll, abgelegt, vergessen und verboten war. Bücher, Musik, Gemälde, Erotika verschiedener Art, Bildhauerei sowie – auch wenn 6s hier weniger von den populären, kommerziellen Sachen gab, die V offenbar so schätzte – reihenweise Filme, auf Video, auf Disk und selbst Originalkopien auf Spulen. Evey dachte daran, wie gut ihr Der Graf von Monte Cristo gefallen hatte, und ließ ihren Blick über die Sammlung von Filmen streichen. Ein unglaubliches Durcheinander, aus allen Zeiträumen und sämtlichen Teilen der Welt: Easy Rider, Liebende Frauen, Der Golem, Die Herberge zum Drachentor, Woodstock, 1984. Und dann wandte sie ihren Blick der gegenüberliegenden Wand zu. „Oh mein Gott!“, rief sie und sah auf zu einem großen und außerordentlich satirischen Gemälde. „Das ist God Save the Queen! Meine Eltern nahmen mich mit, um es zu sehen, als es in der Gallery 12 hing. Ich dachte, Sutler hätte es zerstören lassen.“
Und das wäre kaum eine Überraschung gewesen, denn Adam Sutler stand in diesem Bild auf einem Balkon und entbot mit einer edel behandschuhten Hand eine Mischung aus einem faschistischen Gruß und einem königlichen Winken, gekrönt, mit Juwelen geschmückt und gekleidet wie die verstorbene Königin Elizabeth II, nur mit einem viel größeren Dekollete. Ein Gemälde, das entstanden war, bevor er an die Macht kam, als er und seine Nordfeuer-Kundgebungen in weiten Teilen der Bevölkerung noch als schlechter Scherz galten. Wie schlecht dieser Scherz tatsächlich war, zeigte sich erst später, als jene weiten Teile der Bevölkerung des Nachts fortgeschafft wurden. Da lachten sie nicht. Und sie lachten nie wieder. „Das glaubt er auch, getan zu haben“, verriet Deitrich ihr genüsslich lächelnd ob eines jener kleinen Triumphe, die das Leben selbst in einem totalitären Staat, lebenswert machten. „Es kostete mehr als dieses Haus, aber ganz gleich, wie schlecht es mir geht, es muntert mich stets auf.“ Evey wandte sich ab, ließ ihren Blick weiter durch den Raum wandern und bemerkte ein großes und offensichtlich sehr altes Buch, das aufgeschlagen unter einem Glassturz lag. Sie trat näher, um es sich anzusehen, stellte aber fest, dass der Inhalt in einer fremden, unverständlichen Schrift verfasst war. Nur Gekritzel. „Was ist das?“, fragte sie darauf deutend, während sie sich wieder nach ihm umdrehte. „Eine Ausgabe des Koran. Vierzehntes Jahrhundert.“ Überrascht fragte sie: „Sind Sie… ein Muslim?“ „Nein, ich bin beim Fernsehen“, witzelte er. Und beim Fernsehen gab es keine Muslime. In ganz Britannien gab es keine Muslime mehr. Diejenigen, die Glück gehabt hatten, waren deportiert worden. „Aber warum haben Sie dieses Buch dann?“, wollte Evey wissen. Sie wirkte verwirrt.
„Ich muss kein Muslim sein, um die Bilder schön oder seine Poesie anrührend zu finden.“ „Aber ist es das wert?“, fragte sie mit sorgenvollem Mitgefühl. „Ich meine, wenn die das hier finden…“ „Wie ich schon sagte“, erinnerte Deitrich mit einem wehmütigen Lächeln, „Sie wären in dem Fall meine geringste Sorge.“ Ein unvermitteltes Gefühl gewaltiger Erleichterung und Dankbarkeit überkam sie. Und ohne recht zu wissen, was sie tat, und nicht im Stande, sich zu bremsen, trat sie vor und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Etwas, von dem sie nie geglaubt hätte, es tun zu wollen in jener Nacht, da sie sich aufgemacht hatte, ihn zu besuchen. Und jetzt, umgeben von all diesen Schätzen, erinnerte sie sich, wo sie jene ähnlichen Worte zuvor gehört hatte. Es war ebenfalls in der Schattengalerie gewesen und V hatte sie ausgesprochen. Und jetzt kehrte etwas von jenem Gefühl von Sicherheit und Behütetsein zurück, das sie auch dort verspürt hatte – wahrscheinlich war es jetzt sogar stärker, denn wenn es etwas gab, dessen sie sicher sein konnte, dann war es, dass Gordon Deitrich nicht herumspazierte und einer wie auch immer gearteten Vendetta folgend Gebäude in die Luft jagte und Menschen ermordete. Der einzige Wermutstropfen war nur, dass sie diesen Schutz beim ersten Mal verraten hatte. Nun, dachte sie entschlossen, das tue ich nicht noch einmal. „Danke, Gordon“, sagte sie und lächelte ob seiner leicht verwirrten und etwas verlegenen Miene. „Vielen Dank.“ „Schon gut“, sagte er sanft, erleichtert, dass sie sich endlich zu erholen, die Anspannung abzustreifen schien. „Wissen Sie, diese ganze Sache fing an in der Nacht, als er den Old Bailey hochjagte“, begann sie und wollte ihm alles erzählen, wollte ihn sagen hören, dass es nicht ihr Fehler war,
ihre Schuld, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. „Ich war auf dem Weg hierher…“ Und dann verklangen ihre Worte, als ihr auffiel, was hinter ihm an der Wand hing und über seiner Schulter zu sehen war. Herrliche, kolorierte Drucke explizitester homosexueller Erotika und so auffallend platziert, dass ihre Bedeutung offenkundig war. Sie gab sich alle Mühe, nicht hinzustarren, aber Deitrich hatte ihren Blick bereits bemerkt, sah nach hinten und lächelte dann traurig zur Bestätigung. „Oh, ja. Sehen Sie, auf ganz eigene Weise sind wir beide auf der Flucht.“ „Aber…“, murmelte sie und verstand immer noch nicht ganz. „Sie fragen sich, warum Sie eigentlich zum Abendessen hierher eingeladen wurden, wo es mir doch nach weit weniger konventioneller Kost gelüstet. Unglücklicherweise erwartet man von einem Mann in meiner Position, junge, bezaubernde Damen wie Sie zu unterhalten… denn würde ich einladen, wen ich mir wirklich hier zu haben wünschte, hätte ich zweifellos kein Zuhause mehr, geschweige denn eine Fernsehshow.“ „Tut mir Leid“, sagte Evey mit ehrlichem Mitgefühl und ehrlicher Sorge. Wen ging es schließlich etwas an, in welche Richtung sein Geschmack ging? Gewiss nicht die Regierung, die Kirche, die Richterschaft und am allerwenigsten die Polizei. Wenn andere nicht zu Schaden kamen… wenn die Beteiligten erwachsen und sich einig waren… wen ging es dann etwas an? Aber Menschen wie Gordon Deitrich wurden in die Lager geschickt, während elitäre Reptilien wie Bischof Lilliman ungeschoren davonkamen. In was für einer Welt lebten sie nur? Nun, es war sinnlos, diese Frage zu stellen. Eine Gesellschaft, die ihre Bürger so behandelte, war eine faschistische Gesellschaft, und es gab kein anderes Wort, um es zu benennen.
„Nicht so sehr wie mir“, sagte er, doch die Worte, die von den Lippen eines jüngeren Mannes bitter geklungen hätten, waren in seinem Fall nichts weiter als resignierte Akzeptanz. „Aber es muss doch… noch andere geben?“, fragte sie und hoffte verzweifelt um seinetwillen, dass er nicht ganz so schrecklich allein war, wie es den Eindruck machte. Er hob nur viel sagend die Schultern. „Gelegentlich liest man etwas Erfreuliches“, sagte er versonnen, „oder man bemerkt einen hübschen Damenschuh und fragt sich… Aber die Wahrheit ist, dass man nach so vielen Jahren mehr verliert als nur den Appetit. Man trägt für so lange Zeit eine Maske, dass man vergisst, wer man darunter eigentlich ist.“
KAPITEL 12
„Dieselbe toxikologische Basis wie bei Lewis Prothero“, sagte Dr. Delia Surridge und zog das Laken wieder hoch, um die hagere Grimasse zuzudecken, die auf dem Gesicht des verstorbenen Bischofs Lilliman festgefroren war. „Diese Gifte könnte man in jedem Londoner Haushalt finden.“ „Danke, Delia.“ Sie war Anfang fünfzig und eine kluge und gut aussehende Frau, fand Eric Finch, wenn er auch zugeben musste, dass er voreingenommen war. Schließlich war sie ein Freund – und manchmal ein bisschen mehr. Aber im Moment sprach er mit ihr in ihrer offiziellen Eigenschaft als Amtsoberärztin, Pathologin, Autopsie-Expertin für die Nase. Sie schob den Toten zurück in das gekühlte Fach des Leichenschauhauses und stellte ihre nächste Frage, ohne zu ihm aufzusehen, fast so als wollte sie ihn nicht in Verlegenheit bringen. Oder vielleicht hatte sie auch nur das Gefühl, dass sie ihn fragen sollte, seinem Blick dabei aber nicht begegnen wollte. Und vielleicht wollte sie die Antwort nicht einmal wirklich wissen. „Irgendwelche Spuren, die zu diesem Kerl führen?“ „Ehrlich gesagt, bis jetzt noch keine. Nichts Konkretes jedenfalls.“ Finch ließ den Blick durch den hell erleuchteten, klinisch sterilen Raum schweifen, in dem es unmöglich war zu erkennen, ob es draußen Nacht oder Tag war. Delia schien nicht in dieses kalte, leere Reich des Todes zu passen. Sie war ein warmes, lebendes menschliches Wesen mit vollem Gesicht, wenn auch einem gelegentlichen müden Zug um die Mundwinkel, aber irgendwie war sie hier gelandet, in einem
Raum, der von der wirklichen Welt draußen abgeschnitten war. Beinahe so als rannte sie vor etwas oder jemandem davon… Menschen, Beziehungen, er wusste es nicht. Mediziner, die Menschen halfen, gesund zu werden, konnte er verstehen. Forensische Pathologen, die in den Körpern von Verstorbenen herumstocherten, allerdings nicht. „Aber es gibt da noch etwas, bei dem du mir helfen könntest“, fügte er hinzu und griff in seine Tasche. „Du hast doch als Botanikerin angefangen, oder?“ Und dann zog er eine Plastiktüte hervor, in der sich die Rose befand, die in Westminster gefunden worden war, und sagte Delia, dass er eine weitere bei Prothero gefunden habe. Er sah sie erwartungsvoll an und sein Blick fragte, womit er es zu tun hatte. Und Delia Surridge starrte, als hätte sie soeben einen Überlebenden aus dem Zeitalter der Dinosaurier gesehen. Oder wie die Toten wieder zum Leben erwachten. „Das ist…“ Sie beugte sich weiter vor, musterte die Blume und begann von neuem: „Das ist eine violette Carson. Ich dachte, die seien ausgestorben.“ Violett. Der Buchstabe V. Nun, das führte zumindest in die Richtung einer Erklärung. „Er lässt sie an den Tatorten zurück“, erläuterte Finch und reichte ihr den Beutel mit der Rose. „Ich wäre dir dankbar, wenn du einen Blick darauf werfen könntest. Jede Information wäre hilfreich.“ „Natürlich.“ Sie erzählte ihm, dass es sich um eine Hybride handelte, die auf das Jahr 1963 zurückging und nach einer bekannten Schauspielerin benannt war, die in der Soap-Opera Coronation Street mitgewirkt hatte. Steckte darin ein Hinweis? fragte sich Finch, der sich vage an die Serie erinnerte. Er war damals noch ein Kind gewesen. Wie war der Rollenname gewesen? Ena Sharpies, genau. Eine ungehobelte
Wichtigtuerin aus der Arbeiterklasse, die er ehrlich gesagt immer ein bisschen für eine alte Kuh gehalten hatte. Aber sie hatte fast zwanzig Jahre in der Serie mitgespielt und war zum Markennamen geworden. Wahrscheinlich war hier nichts zu finden… es sei denn, sein Mann war irgendwie besessen von Popkultur aus der Zeit vor der Reklamation. Aber nein, vermutlich ging es nur um den Buchstaben V… Sein Telefon klingelte, ehe er den Gedanken weiterverfolgen konnte. Er zog es aus der Tasche und sagte nur: „Ja?“ Dominic war am anderen Ende und der Ton seiner Stimme allein ließ das Ganze dringend klingen. „Ich bin gerade mit dem Durchsehen der Akte fertig geworden, Inspector. Sie kommen besser mal her.“
„Mein Gott“, sagte Finch und starrte auf die Liste von Namen, die über Dominics Computerbildschirm lief, als versinke sie unaufhaltsam in der Hölle. Wohin die Besitzer dieser Namen schon vorausgegangen zu sein schienen. Neben jedem davon stand das Wort Verstorben. „Er hat sie alle umgebracht?“, fragte Finch, da es keinen anderen Grund zu geben schien, weshalb die Sterbedaten so dicht beieinander und noch nicht lange zurück lagen. Einer oder zwei hätten vielleicht eines natürlichen Todes gestorben sein können, aber was den Rest anging – unmöglich. Das wäre ein zu großer Zufall gewesen, selbst in einem Fall, der so von Zufallen strotzte wie dieser. „Alle bis auf eine“, sagte Dominic, drückte Page Down und zeigte auf einen Namen. „Dr. Stanton, Dana.“ „Wer ist sie?“, fragte Finch und ein sich steigerndes Gefühl von Dringlichkeit und Aufregung färbte seine Stimme. Wenn sie die Frau ausfindig machen konnten… das letzte Opfer vor ihm erreichen konnten… ihn vielleicht sogar auf frischer Tat
ertappen konnten. Wenn es sich nämlich um eine Serie von Rachemorden handelte und nichts weiter, und wenn er sich bis zum Ende der Liste vorgearbeitet hatte… na ja, was dann? „Weiß nicht genau, wer sie ist“, antwortete Dominic. „Sie gehörte ganz klar zu den Leuten, die in Larkhill das Sagen hatten, aber nachdem das Lager dichtgemacht wurde, verschwand sie für zwei Jahre. Bis sie ein Gesuch für ein Überseevisum einreichte, das abgelehnt wurde.“ „Davongelaufen?“ „Wahrscheinlich. Damit enden nämlich alle Unterlagen über sie.“ „Sie hat ihren Namen geändert.“ Finch zog den nahe liegenden Schluss. Zu dem Dominic bereits gelangt war. „Das vermute ich auch“, sagte der junge Mann. „Ich habe beim Registeramt angerufen, aber noch keinen Rückruf erhalten. Es ist schließlich auch schon spät. Oder früh…“ „Rufen Sie noch mal an“, verlangte Finch entschieden. „Ich will diesen Namen haben.“ Und dann saß er da und trommelte mit den Fingern unruhig auf den Schreibtisch, während er wartete, wie Dominic sich die übliche Kette aus nicht hilfsbereiten, einander den Schwarzen Peter zuschiebenden Beamten entlang plagte und polterte, bis… endlich… „Was?“, rief der junge Detective überrascht aus. „Sind Sie da ganz sicher? In Ordnung. Danke.“ Er legte auf, dann sah er mit einem Ausdruck reichlich nervöser Bestürzung zu Finch hinüber. Das war eine Neuigkeit, die er ihm lieber nicht überbracht hätte. Schließlich gab es ein paar Dinge, die sein Chef nicht ganz für sich behalten konnte, auch wenn er sie nie laut ausgesprochen hätte. „Dr. Dana Stanton“, sagte Dominic, zögerte und fuhr dann fort, „änderte ihren Namen in Delia Surridge.“
„Oh Gott!“, entfuhr es Finch, griff nach seinem eigenen Telefon und wählte ihre Nummer. „Ich war gerade bei ihr!“ Nichts, gar nichts. Keine Antwort, kein Klingelton – überhaupt nichts. Kaltes Entsetzen lähmte seine Finger beinahe, als er es noch einmal versuchte. Und noch einmal. Dann probierte er es über die Vermittlung. „Tut mir Leid“, sagte die Frauenstimme am anderen Ende schließlich, „aber ich bekomme unter dieser Nummer keine Verbindung. Es gibt ein Problem mit der Leitung.“ „Herrgott! Er ist dort.“ Finch drosch den Hörer auf den Apparat und sprang auf, dann griff er hastig nach seinem Mantel. „Gehen wir!“
Die Nacht lag noch tief über Plaistow, wo ein heller Mond durch eine Lücke in den vom Wind gebauschten Vorhängen von Delia Surridges Schlafzimmer schien. Im Schlaf hatte ihr Gesicht all die friedvolle Unschuld eines Kindes zurückgewonnen. Oder die eines frisch Verstorbenen. Es war eine Ironie, die sie als Pathologin sicher begrüßt hätte, wenn sie sich nur so… bewusstlos hätte sehen können. Schließlich regte sie sich doch, tat einen schärferen Atemzug und erwachte. Erwachte durch den Duft von Rosen. Und durch eine dunkel gekleidete Gestalt mit breitkrempigem Hut, die still im Schatten stand und im Mondlicht kaum zu sehen war. „Du bist es, nicht wahr?“, fragte sie, setzte sich mit einem Ruck auf, sprach aber mit ruhiger, leiser Stimme. „Du bist gekommen, um mich umzubringen.“ „Ja“, sagte der Eindringling und glitt wie der Engel des Todes auf ihr Bett zu. Der Hut schob sich ein wenig nach hinten und gab die Maske dem Mondlicht preis.
„Gott sei Dank“, sagte Delia Surridge und begann leise zu weinen. Es würde also ein romantischer Tod sein, wie sie ihn sich immer erhofft, aber nie zu erwarten gewagt hatte, mit Mondlicht und Rosen – nicht voller Wut und Gewalt, sondern in Stille und Frieden. Und V stand, wie ein perfekter Gentleman, schweigend neben ihr, bis sie sich gefasst hatte, bis die Tränen aufgehört hatten zu fließen und bis sie schließlich bereit war, den Kopf zu heben und ihm ins Gesicht zu sehen. Oder vielmehr in die Maske. Die Maske, die nichts offenbarte, aber doch so beredt war. „Nach dem, was geschehen war, nach dem, was sie getan hatten“, begann sie schwankend, „dachte ich daran, mich umzubringen… aber ich wusste, dass du eines Tages kommen würdest, um mich zu holen.“ Dann richtete sie den Blick auf das Nachtkästchen neben ihrem Bett und das in rotes Leder gebundene Buch, das dort lag. Das Buch, das sie, aus einem Impuls heraus, früher am Abend aus dem versteckten Safe im Boden ihres Garderobenschranks geholt hatte, wo es jahrelang ungelesen gelegen hatte. Nicht dass sie es selbst noch einmal lesen wollte, sondern weil sie gewusst hatte, dass es jemanden geben würde, der es lesen wollte, auch wenn sie sich in dem Moment nicht ganz sicher gewesen war, wer. Und ebenso hatte sie gewusst, dass dies, irgendwie, die Nacht der Offenbarungen sein würde. Oh, und sie wollte, dass die Geschichte bekannt wurde, all den Jahren der Vertuschung durch die Regierung entkam und endlich ans Licht gebracht wurde. Es würde ihr nicht einmal etwas ausmachen, wenn sie die Geschichte mit nur einem anderen Menschen teilen konnte und sie anderweitig nie publik gemacht wurde. Aber wenn sie sie nur an irgendjemanden weitergeben und die Last der Schuld, die sie
so viele Jahre lang getragen hatte, ablegen konnte, bevor sie starb… „Ich wusste nicht, was sie tun würden“, sagte sie zu ihm, als bedürfte ihre Seele einer letzten Beichte oder wenigstens einer Erklärung. „Ich schwöre, dass ich es nicht wusste. Lies mein Tagebuch.“ Sie sah zu dem Buch hin, aber wenn sie auf eine Regung des Mitgefühls gehofft hatte, so zeigte er es nicht. „Was sie taten“, erwiderte V, regungslos wie ein Richter, der ein Urteil verkündet, „war nur durch Sie möglich.“ Eine kalte Einschätzung war das und keineswegs die Nachsicht, auf die sie gehofft hatte. Aber nichtsdestotrotz wahr. Und Wahrheit war etwas, das in Ehren zu halten war nach so vielen Jahren voller Lügen. „Oppenheimer gelang es, mehr als nur den Verlauf des Krieges zu verändern“, sagte sie nachdenklich, dankbar, wenn schon nicht für Mitgefühl, so doch zumindest für die Gelegenheit zu reden. „Er veränderte den gesamten Lauf der Menschheitsgeschichte. Ist es falsch, an solcher Art Hoffnung fest zu halten?“ „Ich bin nicht wegen dem gekommen, was Sie zu tun hofften, Delia“, sagte er sanft zu ihr und dass er ihren neuen Vornamen benutzte, schien beinahe wie Vergebung. „Dr. Dana Stanton“ wäre noch vorwurfsvoller gewesen, hätte sie so viel mehr an ihre Schuld erinnert. „Ich bin wegen dem gekommen, was Sie taten.“ „Ja, ich weiß“, seufzte sie und schüttelte müde den Kopf. „Es ist komisch. Ich erhielt heute eine deiner Rosen. Ich war nicht sicher, dass du der Terrorist warst, bis ich sie sah.“ Und damit brachte sie ein kleines, wehmütiges Lächeln zu Stande. „Was für ein merkwürdiger Zufall, dass ich sie gerade heute bekommen habe.“
„Es gibt keine Zufälle, Delia“, sagte V leise. „Nur die Illusion des Zufalls.“ Und dann griff er unter seinen Umhang und zog etwas hervor, das im Mondlicht blass zu leuchten schien. „Ich habe noch eine Rose“, sagte er und reichte sie ihr. „Die hier ist für Sie.“ Sie nahm die Blume fast dankbar entgegen, zog sie an sich und betrachtete sie, als sei sie der letzte Schatz ihres Lebens und irgendwie der wertvollste von allen. Ein Valentinsgeschenk vom Tod persönlich, der nun kam, um sie zu seiner schon vor langem auserwählten Braut zu machen. „Wirst du mich jetzt töten?“, fragte sie schließlich und sah mit ehrlicher Wärme in ihrer Miene zu ihm auf. „Ich tötete Sie schon vor zehn Minuten“, sagte er und zeigte ihr eine leere Spritze. „Während Sie schliefen.“ „Wird es wehtun?“ Jetzt sprach sie mit ihrer professionellen Stimme. Eine letzte medizinische Frage im Sinne beruflicher Neugier. „Nein“, sagte er in einem Ton offener, beruhigender Aufrichtigkeit. „Danke.“ Draußen in der reglosen Nachtluft begann eine ferne Polizeisirene zu heulen. Aber wenn V deswegen auch nur den leisesten Hauch von Beunruhigung spürte, so ließ er sich nichts davon anmerken. „Ist es sinnlos, sich zu entschuldigen?“, fragte sie. Eine letzte Frage, so lange noch Zeit war. „Nie“, sagte er und dabei schien die Maske von etwas wie einem echten Lächeln berührt zu werden. „Es tut mir Leid“, murmelte sie, während die Rose langsam aus ihren Fingern glitt. Und dann herrschte nur noch Schweigen, derweil ein Ausdruck friedlicher Unschuld in ihr Gesicht zurückkehrte.
Keine zwei Minuten später kam Finchs Wagen draußen kreischend zum Halten und die Beifahrertür öffnete sich, noch ehe er ganz stand. Finch verfluchte die lange Zeit, die sie gebraucht hatten, um den Osten von London zu durchqueren und hier herzukommen, trotz der infolge der Ausgangssperre leeren Straßen und Dominics gefährlicher Fahrweise. Er rannte auf das Haus zu und drückte wie wild mehrmals den Klingelknopf. Er wartete nicht länger als 30 Sekunden auf eine Reaktion, ein Licht, ein Geräusch, irgendetwas, dann winkte er auch schon Dominic zu sich und wies ihn an, die Haustür einzutreten. Sie fanden sie in ihrem Schlafzimmer, in Frieden im Mondlicht ruhend, das Bettzeug dort zurückgeschoben, wo sie sich zuerst aufgesetzt hatte, die Augen geöffnet und starr zur Decke gerichtet, die violette Carson lose in ihrem Schoß liegend. Zu spät. Wieder zu spät. Und das bei dem einen Mal, da Finch unbedingt rechtzeitig hatte kommen wollen. „Verdammt“, brummte er in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. Er wollte natürlich noch viel mehr sagen, wollte toben und schreien und die ganze Welt und den Gott verfluchen, der zuließ, dass solche Dinge geschahen… aber irgendwie konnte er sich nicht dazu bringen, die Gelassenheit zu stören, die sich über Delia, ihr Zimmer und die ganze mondhelle Nacht gesenkt zu haben schien. Fast so, als sagte die Welt selbst zu Delia Surridge: „Ruhe in Frieden“, und als könnte er nur dasselbe hinzufügen, in Erinnerung an die wenigen Male, da sie zueinander hingezogen worden waren, zwei einsame Menschen mittleren Alters, die miteinander zum Abendessen ausgegangen waren und einmal hier und zwei Mal in seiner Wohnung gelandet waren, bevor sie am nächsten Morgen wieder von einander fortgingen mit vagen Versprechungen, die keiner von ihnen
wirklich zu halten beabsichtigte. An diese Flasche Scotch, die sie gemeinsam geleert hatten, als sie ihm sagte, dass Pathologen mehr Grund hätten, sich zu betrinken als Bullen, und er ihr kategorisch erklärt hatte, dass dem nicht so war. Aber selbst als sie nicht mehr aufstehen konnte und er sie ins Bett hatte tragen müssen, hatte sie Larkhill doch mit keinem Wort erwähnt. Und dann fiel ihm das ledergebundene Tagebuch ins Auge, das immer noch neben ihrem Bett lag und nach Aufmerksamkeit verlangte. Darauf wartete, gelesen zu werden.
Auf keinen Fall würde Finch dieses besondere Beweisstück Peter Creedy in die Hände fallen lassen, und die einzige Möglichkeit, das zu verhindern – und zugleich seinen eigenen Hals zu retten –, bestand darin, es selbst ganz oben vorzulegen. Und hier war er also, nach einer schlaflosen Nacht, in der er nur gelesen hatte, allein im Kabinettsraum an der Downing Street und sah zu dem großen Monitor hinauf, klein im Vergleich zu Adam Sutlers Gesicht, das auf den Bildschirm übertragen wurde. „Es wurde am Tatort gefunden, neben dem Bett“, erklärte Finch und deutete auf das Tagebuch, das vor ihm auf dem Tisch lag, wohlwissend, dass die Kameras, die rund um den Raum installiert waren, es hinreichend erfassten, ebenso wie jede Nuance in Finchs Verhalten. Es war schwierig, etwas zu verheimlichen, wenn jede noch so geringe Bewegung, jede Spur eines Ausdrucks aus einer Vielzahl von Perspektiven aufgenommen und untersucht werden konnten. Und auch jedes Wort, jedes Innehalten, jeder Atemzug und jedes Schweigen aufgezeichnet wurden. Sag die Wahrheit und beschäme den Teufel, dachte sich Finch. Und als den betrachtete er den Großkanzler, nachdem er
das Tagebuch gelesen hatte. Wie auch jeden anderen, der in diesen Fall verwickelt war, angefangen bei denen, die in Larkhill angestellt gewesen waren, bis hin zu den politischen Führern, für die sie gearbeitet hatten. Ein korruptes Geschäft, ein korruptes System, eine durch und durch korrupte Welt – und dass er nur ein weiteres korrumpiertes Rädchen in diesem entsetzlich unmenschlichen Getriebe war, ließ ihn sich auch nicht besser fühlen. Aber er versuchte, all diese Gefühle aus seiner Präsentation herauszuhalten, als er Sutler vom Inhalt des Tagebuchs berichtete. Ob es ihm gelingen würde – nun, das musste sich weisen. „Der Terrorist wollte offenbar, dass wir es bekommen“, fuhr er fort, den Blick zum Bildschirm emporgerichtet, um Sutlers Reaktion auf das, was er als Nächstes sagte, zu beobachten. „Er wollte, dass wir die Geschichte kennen – oder zumindest einen Teil davon.“ Die Reaktion fiel in etwa so aus, wie er es erwartet hatte. Es war das erste Mal, dass er an dem bösartigen alten Bastard wenigstens ansatzweise Unbehagen wahrnahm. Nun, das Leben hatte seine kleinen Triumphe, die es mit seinen größeren, weiter gestreuten Augenblicken der Verzweiflung verquickte. „Soll ich das also so verstehen, dass Sie diese ganze Aufzeichnung gelesen haben, Inspector?“, fragte Sutler eisig, und in jedem Wort schwang Bosheit mit. „Ja, Sir.“ Das hatte Finch getan, und es lag auch auf der Hand, dass er es getan hatte, andernfalls hätte er ja nicht gewusst, dass es wichtig genug war, um es in die Downing Street zu bringen, also hatte es keinen Sinn, in diesem Punkt zu lügen. Aber da war immer noch diese nagende Ungewissheit in seinem Bauch über die potenziellen Konsequenzen. Er wollte ebenso wenig wie jeder andere in einem schwarzen Sack enden.
„Hat es sonst noch jemand gelesen?“, fragte Sutler weiter. Er versuchte, sachlich zu klingen, aber irgendwie hatte es den Anschein, als suchte er nur nach einem Grund für weitere Aktionen. Was man beschönigend „exekutives Handeln“ nannte. Mit der Betonung auf exekutiv. „Nein, Sir.“ Finch wartete. Es war nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Nach ein paar Sekunden schmaläugigen Überlegens, währenddessen er offensichtlich das Für und Wider abwog, ob es nützlicher war, Finch am Leben zu lassen oder nicht, traf Sutler seine Entscheidung. „Dann lassen Sie mich Ihnen das absolut klar machen. Der Inhalt dieses Dokuments ist eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, die einen Angriff auf den Ruf mehrerer wichtiger Parteimitglieder sowie eine eklatante Verletzung des Treueabkommens darstellt.“ Eine Pause – dann folgte das Dementi, das, ob es nun stimmte oder nicht, offenkundig die offizielle Richtlinie der Partei sein würde. „Da die Authentizität dieses Dokuments nicht verifiziert werden kann“, fuhr Sutler mit bedeutungsschwangerer Betonung fort, „könnte es sich ebenso leicht um eine aufwändige Fälschung handeln, die der Terrorist anfertigte, als auch um das geistiger Verwirrung entsprungene Hirngespinst eines früheren Parteiangehörigen, der aus psychopathologischen Gründen austrat. Daher wird jegliche Diskussion über dieses Dokument oder seinen Inhalt im mindesten Fall als Akt der Volksverhetzung, wenn nicht sogar als vorsätzlicher Verrat betrachtet. Ist das klar, Mr. Finch?“ „Ja, Sir“, erwiderte der laut. „Bullshit“, dachte er im Stillen. „Sie täten gut daran, Inspector“, erklärte Sutler mit Entschiedenheit, „es gänzlich aus Ihrem Gedächtnis zu streichen.“
Finch nickte ergeben, aber das Tagebuch, das offensichtlich hier bleiben würde, wenn er ging, lag da auf dem Tisch vor ihm wie ein angebissener Apfel, und diese Bissstelle weigerte sich zu verschwinden. Und das Einzige, das den Inhalt jetzt noch aus seinem Kopf löschen konnte, war eine Kugel durchs Gehirn.
KAPITEL 13
23. Mai, damit hatte das Tagebuch begonnen, wie Tagebücher eben so anfangen, obschon es für Finch recht offenkundig gewesen war, dass Delia Surridges nüchterne Schilderungen nur die Spitze des Eisbergs dargestellt hatten. Die wahren Erinnerungen, die hinter den sachlichen Aufzeichnungen versteckt lagen, ließen sich nur vermuten. Aber Finch hatte genug gesehen nach allem, was er im Leben durchgemacht hatte, nach all den „Regierungsprozessen“, deren Zeuge er gewesen war, um sie sich mühelos vorstellen zu können. Und wenn es auch den Anschein gehabt hatte, als hätte die Welt Delia Surridge in der Nacht ihres Todes vergeben, musste er nun nach der Lektüre der Schilderungen all dessen, was sie getan hatte, und all der Dinge, die sie versäumt hatte, gestehen, dass er eigentlich nicht verstehen konnte, warum. Heute traf mein erster Schwung von Versuchsobjekten ein, und ich muss zugeben, dass ich sehr aufgeregt bin: Damit hatte der erste Eintrag des Tagebuchs angefangen und Finch war, nachdem er Delia Surridge derart persönlich gekannt hatte, abgestoßen von der Leichtigkeit, mit der sie von Anfang an im Stande gewesen war, an „Objekte“ zu denken, anstatt an „Menschen“. Menschen, die, das wusste er, in Lastwagen im Lager eingetroffen waren, wie Vieh auf die Ladeflächen gepfercht, wo sie wahrscheinlich nicht einmal genug Platz zum Sitzen hatten, während sie über die seit langem schon löchrigen Straßen rumpelten. Menschen, wie man sie heute nicht mehr sah: Araber, Afrikaner, Asiaten, Chinesen, Zigeuner. Menschen, die zu anderen Göttern beteten. Schwule
und Lesben. Politische Aufrührer. Männer, Frauen… und Kinder. Aber natürlich keine kräftigen britischen Verbrecher angelsächsischer Herkunft. Verbrecher konnte man schließlich anderweitig einsetzen. Als Wachen in Konzentrationslagern zum Beispiel. Von dem Schlag, der lachte, wenn „Häftlinge“ in Stahlgitterpferche getrieben und wie Vieh nach Typ und Geschlecht sortiert wurden, wobei Familien auseinander gerissen wurden und Mütter ihre Kinder verloren. Und all das unter Anwendung selbstverständlicher Gewalt, die in dem Tagebuch keinen Niederschlag fand. Falls Delia Surridge sie je mit angesehen hatte. Oder falls sie Augen hatte zu sehen. Das bezweifelte er dann doch. Oder er hoffte jedenfalls, dass sie es nicht gesehen hatte, denn wenn doch, eröffnete das eine Perspektive auf eine Seite dieser Frau, die er lieber nicht kennen gelernt hätte. Aber andererseits war sie jung gewesen damals und die Frau, die er gekannt hatte, mochte längst alles bereut haben. Und wie leicht sind wir schließlich zu kompromittieren. Wer war er schon, dass er über sie richten durfte? Er hatte sich immer gern als ehrlichen Bullen betrachtet, aber er war immer noch Mitglied der Partei. Und er wusste nur zu gut, was mit den Leuten geschah, die er zu verurteilen half. Das Land verfügte nicht über die finanziellen Mittel, um jeden lebenslang im Gefängnis fest zu halten, ganz gleich, was die offizielle Linie besagte. Es war erstaunlich, wie viele Menschen dieser Tage im Gefängnis Selbstmord begingen… Ja, hatte er gedacht, während er weiter las, und es gefiel ihm nicht, was sein Gedanke über sie beide aussagte: Sie hatte es gewusst. Ich frage mich, ob Robert Oppenheimer sich auch so gefühlt hat. Dies könnte der Anbruch eines neuen Zeitalters sein. Atomkraft ist bedeutungslos in einer Welt, in der ein Virus
ganze Bevölkerungen auslöschen und ihren Wohlstand intakt lassen kann. Ein irregeleiteter Optimismus, der alle moralischen Bedenken überwog, der Fortschritt darin sah, einen Schrecken durch einen anderen zu ersetzen, der nur dann „besser“ war, wenn man ihn in Begriffen wie Besitz und Wohlstand bewertete. Wissenschaft um der Wissenschaft willen und ein Appell an ihre persönlichen Götter, selbst wenn diese von manchen für moralisch weitaus fragwürdiger gehalten wurden, als sie es tat. Und stets dieselbe Unmenschlichkeit. Oder nein, es war nicht Unmenschlichkeit, es war einfach nur das Fehlen von Menschlichkeit. Dieselbe Denkart, die nur an Testergebnissen interessiert war, und nicht an den Menschen, mit denen die Tests durchgeführt wurden. Es waren auch bekannte Namen unter den Opfern – Namen, die nach all diesen Jahren, selbst zu Opfern geworden waren. Und sicherlich, wie Finch jetzt glauben musste, Opfer, die ihr Schicksal mehr verdient hatten, als die, über deren Vernichtung sie damals alle entschieden hatten. 27. Mai. Commander Prothero besuchte das Labor im Beisein eines Priesters, Reverend Lilliman, der, wie man mir sagte, hier ist, um darauf zu achten, dass die Regeln und Rechte nicht verletzt werden. Das machte mich nervös, aber der Commander versicherte mir hinterher, dass es keine Probleme geben würde. Da wette ich drauf, hatte Finch gedacht. Prothero und Lilliman mussten richtig dicke Freunde gewesen sein und hatten die Situation sicher bis zum Gehtnichtmehr gemolken. Der Verbrecher-in-Uniform und die scheinheilige Schlange. „Regeln? Rechte? Probleme? Wir machen die Regeln und sie sind immer rechtens – kein Problem, oder? Ihnen gefallen die in Block elf, was, Pater? Oder eher die Elfjährigen in Block eins? Sie wollen ihnen beim Beten helfen? Na klar doch…
,Auf die Knie, mein Kind, und nimm die Hostie in den Mund.’ Ach ja, hab ich Ihnen erzählt, wie ich in Aden war, mit diesen zwei Mädchen und dem Affen? Das war echt ein tolles Ding!“ Nicht dass Delia etwas über diese speziellen Verbrechen gewusst hatte, schließlich war sie mit ihren „Objekten“ sicher weggesperrt gewesen im medizinischen Forschungsblock. Aber waren die Eingriffe, die sie mit ihren Nadeln vorgenommen hatte, wirklich weniger schändlich als die Eingriffe des Priesters? 2. Juni. Ich frage mich immer noch, ob diese Leute, wenn sie wüssten, wie sie womöglich ihrem Land helfen, sich anders verhalten würden. Nur war es eben nicht mehr ihr Land. Und welche Chance hätten sie denn überhaupt gehabt, sich anders zu verhalten? Oh Delia, was hast du dir dabei bloß gedacht? Sie sind so schwach und armselig. Sie schauen einem nie in die Augen. Ich stelle fest, dass ich sie hasse. Wahrscheinlich, dachte Finch, weil die einzige Alternative gewesen wäre, dich selbst zu hassen, und dann wäre die ganze Sache in sich zusammengestürzt. Der Vorwand, dass dies nichts weiter war als „medizinische Forschung“, dass die Inspektion der Wärter von Männern mit toten Augen und Frauen mit Verletzungen am Körper und Entzündungen im Gesicht „Krankenbesuche“ waren, dass die „Fehlschläge“, wie man die Verstorbenen nannte, „angemessen begraben“ und nicht von Männern in Schutzanzügen hinausgeschafft und mit Chemikalien abgespritzt wurden, bevor man sie in ein Loch im Boden warf, ein Massengrab, in dem all die Leichen derer, die sich zu Lebzeiten voneinander fern gehalten hatten – die Muslime, die Juden, die Hindus und die Christen –, unterschiedslos miteinander verwesen konnten in einem riesigen, stinkenden Haufen. Die überlasteten
Einäscherungsöfen waren schließlich längst schon ausgebrannt. 18. August. Von den ursprünglich vier Dutzend sind jetzt 75 Prozent verstorben. Es hat sich noch kein steuerbares Muster gezeigt. Und dann gab es nur noch die Letzten. Diejenigen, die es irgendwie geschafft hatten, die gefürchtete tägliche Zu- und Abgangsprozedur des Oberaufsehers am längsten zu überleben, die interessantesten „Kulturen“ hervorzubringen und ihre eigenen Zimmer zu bekommen. Die mit den römischen Ziffern auf ihren mehrfach versperrten und verriegelten Türen, die, fensterlos und winzig, schlicht und ergreifend jene Gefängniszellen waren, die sie sich nie so zu nennen zwingen konnte. Die Zimmer, die, wenn die Bewohner starben, abgeschlossen und auf deren Tür mit Kreide ein X gemalt wurde und die dann nie wieder benutzt wurden. 18. September. Einen Fall gibt es, der mir immer noch Hoffnung macht. Er zeigt keine der Immunsystem-Symptome, die die anderen Objekte entwickelt haben. In seinem Blut habe ich mehrere zellulare Anomalien entdeckt, die ich noch nicht kategorisieren konnte. Die Mutationen scheinen die abnormale Entwicklung elementarer Kinästhesie und Reflexe ausgelöst zu haben. Das könnte vermutlich an gewissen bereits zuvor existierenden Elementen liegen, die ursprünglich in seinem Blutkreislauf gefunden wurden. Auf Nachfrage gab das Objekt an, es könne sich nicht mehr erinnern, wer es sei und woher es komme. Aber wer er auch war, jetzt ist er der Schlüssel zu unserem Traum und die Hoffnung, dass all dies nicht umsonst gewesen sein wird. Ein großer Teil des Tagebuchs war Routinesache gewesen, aber es war nicht zu übersehen, dass, je länger ihr menschliches Versuchskaninchen überlebte, Delia Surridges
Faszination für den Mann in Raum fünf und die fesselnde Persönlichkeit, die er als Folge des Experiments zu entwickeln schien, ganz abgesehen von seiner Geschwindigkeit, sich zu bewegen, immer mehr zunahm. Offensichtlich war sie nicht in der Lage gewesen zu entscheiden, ob er wahnsinnig war, hatte aber einen Vermerk gemacht über die Art und Weise, auf die er sie, trotzdem er nur wenig sagte, anzusehen begann, als sei sie ein Insekt oder so etwas… als sei in Wahrheit sie das Versuchsobjekt in einem Experiment, das er durchführte, und nicht umgekehrt. Schließlich hatten seine Verhaltensmuster sie völlig in ihren Bann geschlagen, mit ihrem Anschein, von einer verrückten Logik unterstrichen zu werden, die sie immer nur fast, aber nie ganz nachvollziehen konnte. Immer häufiger erwähnte das Tagebuch, dass sie einen ganzen Tag damit zugebracht hatte, den Mann in Raum fünf zu studieren, und darüber ihre anderen, unmenschlicheren Pflichten vernachlässigt hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie Prothero gedrängt hatte, ihm Sonderprivilegien einzuräumen, aber natürlich erst, nachdem sie von ihm die Zellproben und Kulturen erhalten hatte, die sie für ihre Schwerpunktarbeit benötigte. Und dann war es darum gegangen herauszufinden, wie lange er das überleben würde, was sie ihm angetan hatte. Aber nachdem sie erst einmal dargelegt hatte, dass er höchstwahrscheinlich nicht mehr ansteckend war, hatte sie die Erlaubnis des Commanders erhalten, ihn aus seiner Zelle zu lassen. Und er hatte sogar ein kleines Stück Boden zum Gärtnern bekommen. Es stellte sich heraus, dass der Mann ein außergewöhnliches Talent im Umgang mit Pflanzen hatte, und in Anbetracht der Lebensmittelknappheit war Prothero darüber erfreut gewesen, aber eigentlich nur, weil Prothero all das extra Gemüse für sich in Anspruch genommen hatte. Und vielleicht war das auch der
Grund gewesen, aus dem Prothero ihm erlaubt hatte, in einer Ecke des Gartens Rosen zu züchten. Violette Carson-Rosen. Und der Grund, sich von Delia dazu überreden zu lassen, dass er dem Mann in Raum fünf doch erlauben sollte, eine Bestellung für Gartenbedarf aufzugeben. Und als Finch las, worum es sich bei diesen Artikeln handelte, war er vollkommen sicher, dass es sich dabei um den einen Fakt handelte, den Prothero aus den offiziellen Unterlagen löschen ließ, noch bevor man beschloss, die Akten insgesamt verschwinden zu lassen. Delia aber war blind für all das gewesen. Sie hatte nur fasziniert zugesehen, als der Mann bestimmte Mengen seiner Chemikalien und Düngemittel auf dem Boden seiner Zelle zu Häufchen und Linien arrangierte, fast so als konstruiere er eine Art Modell der Welt, wie die künstliche Landschaft einer Spielzeugeisenbahn ohne die Schienen und Züge, die Hügel, Täler und Häuser aber alle mittels verschieden farbiger Puderhaufen nachgebildet. Alle natürlich voneinander getrennt gehalten und in Mustern angeordnet, die verstehen zu wollen sie dermaßen beschäftigte, dass ihr nie auch nur in den Sinn kam, was passieren mochte, wenn sie miteinander vermengt wurden. 6. November. Es begann gestern Abend, gegen Mitternacht. Die ersten Explosionen rissen die gesamte medizinische Sektion auf. All die Arbeit…all meine Arbeit… zerstört. Natürlich konzentrierte sich das Tagebuch darauf. Nicht auf die Explosionen, das Feuer, die Menschen, die schreiend umher rannten mit brennenden Kleidern und Haaren, die panischen Wachen, die auf alles und jeden schossen, die Insassen, die dort starben, wo sie festgekettet waren, weil niemand daran dachte, sie zu befreien, bevor der Rauch sie erstickte. Wie viele starben in jener Nacht? Niemand wusste es. Niemand hatte gezählt. Auf Zivilopfer kam es ohnehin kaum an. Nicht auf diese Art Zivilisten.
Aber da war das Datum wieder. Der Eintrag stammte zwar vom sechsten, die betreffenden Ereignisse hatten sich aber am fünften zugetragen. Am fünften November. Und es war offenkundig, dass nicht „all“ ihre Arbeit zerstört worden war. Die Berichte waren weitergereicht worden, das Wissen bewahrt. Was es auch gewesen sein mochte, woran Delia Surridge gearbeitet hatte, und das wusste Finch nicht ganz genau, obwohl er das Tagebuch mit größter Aufmerksamkeit auch für die kleinsten Details gelesen hatte, sie hatte bereits Erfolg gehabt, als das Projekt – und Larkhill selbst – ein feuriges Ende nahmen. Ich versuchte zu verstehen, wie es geschehen sein konnte, als ich ihn sah. Den Mann aus Raum fünf. Er hatte die Sachen benutzt, die wir ihm für die Gartenarbeit gegeben hatten, die Chemikalien, die Düngemittel, das Ammoniak, um die Bomben zu machen. Ich sah ihn inmitten der Flammen. Er schaute mich an. Nicht aus Augen, Augen gab es keine. Aber ich weiß, dass er mich anschaute, weil ich es spürte und… Und, oh Gott, was habe ich getan…?
KAPITEL 14
Evey Hammond erwachte mit einem Gefühl von Déjà-vu, oder das glaubte sie zunächst jedenfalls, doch sie erkannte bald, dass Gordon Deitrichs Gästezimmer mit seinen herrlichen seidenen Bettlaken und intarsienverzierten Kleiderschränken, den Cloisonne-Vasen und Brokatvorhängen, die jetzt aufgezogen waren, um das Sonnenlicht in strahlender, goldener Pracht hereinströmen zu lassen, weit jenseits ihres Erfahrungshorizonts lag. Nicht das Gefühl also, dass sie das „schon einmal gesehen“ hatte… Schon einmal gerochen. Sie war nicht ganz sicher oder, treffender gesagt, sie konnte es nicht ganz glauben, aber sie bekam so eine Ahnung davon, was hier so duftete, und stolperte aus dem Bett, schlüpfte hastig in die Kleidung, die Gordon spät gestern Nacht für sie besorgt hatte, indem er einen Freund angerufen und ihm ein Märchen über eine lange vernachlässigte Nichte erzählt hatte, die mit nichts weiter als dem, was sie im Moment am Leibe trug, aus Carlisle gekommen sei, und dann hatte er es riskiert, trotz der Sperrstunde loszugehen, um Kleidung für sie zu borgen. Und er hatte so einen guten Geschmack – aber nach dem, was sie nun über ihn wusste, war das keine besonders große Überraschung. Außerdem wäre alles besser gewesen als dieses kleine rosafarbene Partykleid, in dem sie hier hergekommen war. Und jetzt, da eine durchschlafene Nacht die Angst des Vortages ein wenig besänftigt hatte, musste sie sagen, dass sie sich wirklich keinen besseren Zufluchtsort hätte erhoffen können.
Nichtsdestotrotz, solcherlei Gedanken halfen ihr nicht, diesen Duft zu ergründen. Sie zog ihre Schuhe an und ging nach unten. Wie erwartet fand sie Deitrich in der Küche vor, eine Bratpfanne in der einen Hand, einen Wender in der anderen. „Bonjour, Mademoiselle.“ Er grinste strahlend, als er sie zögernd in der Tür stehen sah. Er hielt inne, als ihm der verwirrte Ausdruck auf ihrem Gesicht auffiel. „Was machen Sie da?“, fragte sie und trat vorsichtig einen Schritt weiter in die Küche hinein. „Wir nannten das ,Eier im Körbchen’. Meine Mum hat sie immer gemacht. Setzen Sie sich.“ Sie nahm Platz, immer noch ein wenig verwirrt, und er ließ die Eier auf einen Teller, der vor ihr stand, gleiten. Genau dasselbe Mahl, auf genau dieselbe Art… „Ist das ein Traum?“, fragte sie eher sich selbst als ihn, obgleich nichts sie daran hindern würde, Messer und Gabel aufzunehmen und anzufangen. „Was meinen Sie?“, fragte Deitrich, jetzt selbst ein bisschen verwirrt. „An meinem ersten Morgen bei… ihm, da machte er mir Eier genau wie die hier.“ „Wirklich?“, fragte er und seine Augenbrauen hoben sich in ehrlicher Überraschung. „Ich schwör’s“, versicherte sie ihm. Sie wollte nicht ausgelacht werden wegen etwas, das ihr so nichtig und irgendwie so wichtig in einem vorkam. „Das ist ein ziemlich seltsamer Zufall“, meinte er nachdenklich – vielleicht ein klein wenig übertrieben nachdenklich. „Aber es gibt natürlich eine offensichtliche Erklärung.“ „Ja?“
„Ja, Evey“, erwiderte Deitrich und gab sich alle Mühe, ein ernstes Gesicht zu wahren, was ihm allerdings nicht ganz gelang. „Ich bin V. Endlich kennst du die Wahrheit.“ Evey konnte ihn nur unsicher ansehen, denn ihr war nicht klar, ob er einen Scherz machte – sie war nicht einmal ganz sicher, ob sie, nach allem was sie durchgemacht hatte, wollte, dass es ein Scherz war. „Da bist du baff, ich weiß“, fuhr er frohgemut fort und es fiel ihm mit jedem Augenblick schwerer, die ernste Miene zu wahren. „Man sieht es mir nicht an, aber unter diesem faltigen, wohl genährten Äußeren steckt eine gefährliche Mordmaschine mit einem Fetisch für Fawkes-Masken. Vive la revolution!“ „Das ist nicht witzig, Gordon“, sagte sie ausdruckslos, aber innerlich doch so aufgebracht, dass sie ihre Eier für einen Moment vergaß. „Ich weiß“, sagte er ernüchtert. „Ohne Studiopublikum tauge ich nichts.“ „Ich habe Leute für weniger als so was ins Gefängnis gehen sehen“, fügte sie hinzu, ein Versuch, ihn irgendwie dazu zu bringen, das Thema ernst zu nehmen. Er lehnte sich zurück gegen den Küchentresen und seufzte. „Das ist das Problem, nicht?“, sagte er und auf einmal wirkte er weltverdrossen. „V hat Recht. Man hat uns zum Schweigen gebracht.“ „V tötet Menschen“, sagte sie knapp, nicht sicher, ob ihr die Richtung gefiel, die ihre Unterhaltung nahm. „Vielleicht tut er das, aber deswegen hat er nicht weniger Recht.“ „Sie denken also, dass V das Richtige tut?“, fragte Evey. Sie konnte kaum glauben, so etwas aus dem Munde von jemandem zu hören, den sie stets als eine Säule des Establishments betrachtet hatte. Aber das war natürlich gewesen, bevor er ihr gestern Nacht gezeigt hatte, was er besaß. Jetzt, da er über die
Antwort auf ihre Frage nachdenken musste, ließ Gordon Deitrich sich auf einen Stuhl sinken. Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Evey einfiel, dass ihre Eier ja kalt wurden. Sie aß rasch weiter, schlang das meiste förmlich hinunter, ehe er wieder das Wort ergriff. „Ich glaube“, sagte er schließlich, „dass V ihnen ganz einfach das gibt, was sie uns gaben.“ „Und was ist das?“, fragte sie ernstlich an seiner Antwort interessiert. „Einen Grund, sich zu fürchten.“
Während die Zeit voranschritt und Eric Finch es endlich schaffte, seine Gedanken halbwegs zu ordnen, begann er sich selbst Fragen zu stellen, die so unangenehm wie beunruhigend waren. Fragen, die ihn so gründlich um den Schlaf gebracht hatten wie die Ereignisse, die den Tod von Bischof Lilliman und Delia Surridge umgaben. Er war absichtlich früher gekommen als alle anderen, auch als Dominic, und saß nun an seinem Computer und ging das Online-Archiv der Times durch, und alles, was er da las, steigerte nur noch seine Angst vor den Gedanken, die ihm im Kopf herumgingen. Schlechte Gedanken. Über schlechte Menschen. Und das waren nicht unbedingt jene, die zu fangen seine Aufgabe war. TERRORISTEN SCHLAGEN MIT BIOWAFFEN ZU, schrie eine der Schlagzeilen, aber das war nicht die einzige, die ihn interessierte, war nicht die einzige, die seine Suche zu Tage gefördert hatte. Mit trüben Augen und sich beinahe davor fürchtend, wie sich in seinem Kopf mit einem Mal alles zusammenfügte, begann er, die Reihe von Schlagzeilen und all die anderen Schrecken noch einmal zu durchleben, die vor
vierzehn Jahren jenem ersten schockierenden Bericht gefolgt waren. ST.-MARY’S-VIRUS TÖTET 178, verkündete eine andere und er erinnerte sich, dass dazu auch Evey Hammonds Bruder gehört hatte. THREE WATERS VERGIFTET. Und DAS GRAUEN AUS DEM ROHR. Dann, beredt in seiner Simplizität: EPIDEMIE! In eine entsann er sich persönlich verwickelt gewesen zu sein (zwei der Männer unter ihm waren dabei brutal ermordet worden): AUFRUHR IM KING’S HOSPITAL. Und schließlich die schlimmste von allen, mehr Grabinschrift als Schlagzeile: 8000 TOTE. Trotzdem war das, wie er wusste, nur die Gesamtzahl jenes ersten Ausbruchs gewesen. Wenn man die Zahl der Toten durch die anderen „Angriffe“ hinzuaddierte, wie den in Nordirland etwa, war die endgültige Zahl viel, viel furchtbarer. Es kam alles zusammen. Und die Endsumme war, schlicht und ergreifend, entsetzlich. Finch las immer noch, als Dominic eintraf und ihn mit einem munteren „Morgen, Inspector. Sie sind ja früh dran“ begrüßte. Heute Morgen fand Finch Dominics jugendliche Energie und Begeisterung deprimierend. Aber im Moment fand er eigentlich alles und jeden deprimierend. „Stimmt was nicht?“, fragte der junge Mann jetzt mit ehrlicher Sorge, als er in das teigige Gesicht seines Chefs schaute. Herrje, der Alte hatte doch nicht etwa einen Herzinfarkt, oder? „Sie sehen nicht besonders gut aus, Sir.“ Finch schüttelte leicht den Kopf, um jegliche Befürchtung zu zerstreuen, die Dominic hinsichtlich seiner Gesundheit haben mochte. Dann griff er in die unterste Schublade seines Schreibtischs, holte ein kleines elektronisches Gerät heraus und schaltete es ein, noch ehe er auch nur ein Wort sagte. Dominic reagierte mit unverhohlener Überraschung, als er den Störsender erkannte, der, wie er wusste, speziell entworfen
war, um die Wanzen und Abhörvorrichtungen des Ohres auszuschalten. Niemand sollte so ein Gerät in seinem Besitz haben. Für solche Dinge wurden Leute verhaftet. „Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, Dominic“, begann Finch, nachdem er sicher war, dass das Gerät genug Zeit gehabt hatte, um warm zu laufen, und jetzt funktionierte. „Es ist mir egal, ob Sie mir antworten oder nicht, aber…“ Und jetzt nickte Finch in Richtung des Geräts zum Zeichen dafür, dass dies der Grund war, weshalb er es eingeschaltet hatte. „Ich will es einfach nur laut aussprechen, aber ich muss sicher sein können, dass die Frage dieses Büro nicht verlässt.“ „Ja, klar, Inspector. Aber…“ Es ging nicht um die Frage, ob Finch ihm traute, aber die nach dem Warum stand noch offen. Und das Warum steckte in dem Blick, den Dominic dem Gerät zuwarf. „Wegen dem Terroristen?“, wollte Dominic wissen. „Nein.“ „Was ist es dann, Chef?“ Jetzt fühlte Dominic sich so verwirrt, dass er sich setzen wollte. „Was ist los?“ „Die Frage, die ich stellen will, betrifft St. Mary’s“, erwiderte Finch in todernstem und irgendwie bedrohlich ruhigem Ton. „Und Three Waters.“ Diese Namen allein genügten, um Dominic das Blut gefrieren zu lassen. „Die Frage, die mich in den letzten vierundzwanzig Stunden um den Schlaf brachte“, fuhr Finch langsam fort, zögernd, und auch der Fluss seines eigenen Blutes schien unter der enormen Größe all dessen ins Stocken zu geraten, „die Frage, die ich stellen muss, lautet… was wäre, wenn der schlimmste, entsetzlichste biologische Angriff in der Geschichte dieses Landes nicht das Werk religiöser Extremisten war?“
„Was?“, entfuhr es Dominic entgeistert. „Ich versteh nicht. Wir wissen doch, dass es so war. Sie wurden geschnappt. Sie haben gestanden.“ „Und sie wurden hingerichtet, ich weiß“, sprach Finch zu Ende, was Dominic hatte sagen wollen. „Und vielleicht war es ja auch wirklich so.“ Jedenfalls war es die offizielle Lesart: Eine Gruppe von Fundamentalisten aus dem Mittleren Osten hatte irgendwie dieselben viralen Wirkstoffe in die Hände bekommen, die die Amerikaner eingesetzt hatten, um einen ihrer schmutzigen kleinen Kriege in eben jener Gegend zu gewinnen… genau dieselben biologischen Waffen, gegen die so viele britische Aufrührer so lautstark protestiert hatten, bis die Regierung schließlich gezwungen gewesen war, sich einige Zeit vor dem Krieg aus dem NATO-Bündnis zurückzuziehen. Und dann hatten diese Extremisten alle christlichen Länder des Westens unter dem Namen Großer Satan auf einen Haufen geworfen, hier eine Zelle gegründet und in London, Nordirland und sonst wo Racheangriffe verübt. Das war es, was Finch, wie auch jeder andere, immer geglaubt hatte. Bis jetzt. Als er heute Morgen die Zeitungsberichte noch einmal gelesen hatte, war ihm klar geworden, dass das Virus, das sie benutzt hatten, eben keines von denen war, die die Amerikaner eingesetzt hatten. Ähnlich, ja, aber tatsächlich weitaus wirksamer. Eines, für das die Amis wahrscheinlich ihren rechten Arm gegeben hätten, wenn sie es nur im Krieg gegen China hätten einsetzen können. „Aber ich sehe diese Kette von Ereignissen, diese Zufälle“, nahm Finch seinen Gedankenfaden wieder auf, „und muss mich fragen: Was ist, wenn es nicht so war? Was ist, wenn jemand anders dieses Virus freisetzte… was ist, wenn jemand anders all diese Menschen umbrachte?… Würden Sie wissen wollen, wer es war?“
„Sicher“, sagte Dominic, der immer noch zu begreifen versuchte, dass das, was er über so viele Jahre hinweg als Gewissheit betrachtet hatte, als absolute Wahrheit, ein Lügengespinst sein konnte. „Auch dann, wenn es jemand wäre, der für diese Regierung arbeitet?“ „Großer Gott“, keuchte Dominic leise und jetzt verstand er, warum Finch das Störgerät eingeschaltet hatte. „Das ist meine Frage“, fasste sein Chef zusammen. „Wenn unsere eigene Regierung verantwortlich war für St. Mary’s und Three Waters… wenn unsere eigene Regierung verantwortlich war für den Tod von achtzehntausend Menschen… würden Sie das wirklich wissen wollen?“ „Ganz ehrlich?“, fragte Dominic und beantwortete damit eine Frage mit einer Gegenfrage. Finch nickte. „Ich weiß es nicht.“
KAPITEL 15
Der Sektkorken knallte – der Schampus fing an zu schäumen. Das Klirren von Flasche gegen Glas, einmal, zweimal. Gordon Deitrich reichte Evey eines der Gläser und hob es mit einem Lächeln. Ein Ausdruck echter Freude und nicht das reichlich gezwungene Lächeln, die Maske, an die sie sich gewöhnt hatte, während sie mit ihm im Jordan Tower arbeitete. Und in den paar Wochen, die sie nun bei ihm wohnte, hatte Evey herausgefunden, dass es, wenn er diese Maske abnahm und zu seinem wahren Selbst wurde, was er nur in der Sicherheit seines Zuhauses tat, viel zu bewundern gab an Gordon Deitrich. Sogar zu lieben, auf eine platonische Art und Weise. Schließlich war er nicht nur schwul, er war auch alt genug, um ihr Vater zu sein. Und das war das A und O. Dass er losging, um ihr Kleidung zu kaufen, seine Mahlzeiten mit ihr teilte, ihr nachts sogar ihre Lieblingsgeschichten vorlas, hatte ihr das Gefühl gegeben, wieder ein Heim zu haben, zum ersten Mal in mehr Jahren, als sie sich zurückerinnern konnte. Das bedeutete ihr mehr, als sie je ausdrücken konnte. Und er, als Teil von all dem, war ihr ebenfalls lieb und teuer geworden. Zur Familie. Vaterfigur hin oder her, er war freundlich und fürsorglich, er stellte keine Forderungen, und er war, abgesehen davon, wenn ihn der Druck der Arbeit müde gemacht hatte und deprimierte, wirklich ein sehr guter Gesellschafter. Und sie im Haus zu haben, schien all jene einsamen Jahre, die er herumbringen musste, seit auch er „in den Untergrund getrieben“ worden war, wettzumachen, ein wenig jedenfalls. Es war ihr nicht ergangen, wie er auflebte, seit sie bei ihm war, und bisweilen ging sein Sinn für Humor dermaßen mit ihm durch, dass sie
ihn weniger wie einen Vater behandeln, sondern ihm vielmehr den Hintern versohlen wollte wie einem kleinen Jungen. Und in den vergangenen paar Tagen war es noch schlimmer geworden. Er schien ständig mit einem geheimnistuerischen Grinsen im Gesicht herumzulaufen, als plante er einen herrlichen Streich… irgendeinen „Zaubertrick“… von dem er ihr nicht erzählen wollte, aus Angst, die Überraschung zu verderben. Und das, musste sie zugeben, fing an, ihr ein bisschen Sorge zu bereiten. Jetzt saßen sie am Mittwochabend um zwei Minuten vor acht auf der Couch in seinem Wohnzimmer und sie hatte immer noch keine Ahnung, warum er sich so zu freuen schien. Doch die kaum unterdrückte Aufregung, die von ihm ausging, ließ sie vermuten, dass sie im Begriff war, es herauszufinden. „Was geht hier eigentlich vor?“, fragte Evey, als er nach der Fernbedienung griff, den Fernseher einschaltete und mit einem begeisterten Grinsen die Lautstärke aufdrehte. „Ich feiere“, erklärte ihr Deitrich, stieß mit ihr an und nahm einen Schluck. Die Bläschen zerplatzten berauschend an seinem Gaumen, passend zu seiner euphorischen Stimmung, die sie nur noch verstärkten. „Was gibt es denn zu feiern?“, fragte Evey immer noch unsicher. So hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen, weder früher im Büro noch seit sie hier bei ihm war, und sie wusste wirklich nicht, was sie von seiner derzeitigen Gemütsverfassung halten sollte. Er hatte etwas von einem schadenfrohen, schelmischen Schuljungen, der gerade mit einem brüllend komischen Streich davongekommen war. Etwas von der ungezügelten Risikobereitschaft eines Menschen, der die Grenze übertreten hatte und den es nicht kümmerte, wer davon wusste. Etwas, das sie an den revolutionären Eifer ihres Vaters und Vs erinnerte. Und etwas von einem unschuldigen, einfältigen Narren.
„Das könnte die beste Show sein, die wir je gemacht haben“, gluckste er, als die bekannte Titelmusik erklang, der gleichermaßen bekannte nachtblaue und goldene Titelvorspann von Deitrichs Half Hour erschien mit der im futuristischen Stil gehaltenen Ansicht von Big Ben, der Tower Bridge und anderen Londonern Wahrzeichen und in einer Ecke des Bildschirms das BTN-Logo, das allem den offiziellen Segen verlieh. Die Zeiger von Big Ben standen auf acht Uhr, und überall im Land hatten Millionen von Menschen erwartungsvoll zugeschaltet. Auf dem Bildschirm kam Deitrich hinter den Vorhängen hervor, lächelnd, wie er es immer tat, und trat vor, um den Beifall des Studiopublikums entgegenzunehmen. Ein echtes Studiopublikum in diesem Fall, keine getürkten Aufnahmen und Tonspuren, wie man sie für Protheros nächtliche Politfarce eingesetzt hatte. Hier handelte es sich schließlich um eine authentische Farce, und das war etwas, das die Obrigkeit für sicher genug hielt, um es vor einem Live-Publikum aufzuzeichnen, das sich aus der „glücklichen britischen Öffentlichkeit“ rekrutierte. Das wirkte immer gut. Und außerdem wirkte Deitrich vor Publikum immer gut. „Danke, danke und guten Abend, meine Damen und Herren“, begann der Bildschirm-Deitrich, auch das wie immer. Die nächsten Sätze allerdings waren ein wenig anders. „Wir haben heute Abend eine ganz besondere Show. Sie werden es nicht glauben. Ich weiß nicht mal, ob ich es selber glaube. Würden Sie bitte unseren Kanzler persönlich aufs Herzlichste willkommen heißen… Adam Sutler!“ Den Zuschauern stockte der Atem, genau wie Evey, die den Blick Deitrich zuwandte, als sei sie nicht ganz sicher, ob das wirklich geschah. Als hoffte sie, dass es nicht wirklich geschah.
„Wir haben das von den Zensoren abgesegnete Skript über den Haufen geworfen und nach einem neuen gedreht, das ich heute Morgen geschrieben hab“, erklärte er mit funkelnden Augen. „Oh mein Gott“, war alles, was Evey einfiel, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher. So etwas würde er doch bestimmt nie tun, hoffte sie verzweifelt – das bedeutete, die eine Regel zu brechen, die niemand bei BTN je brach. Als sie noch im Jordan Tower gewesen war, hatte sie von niemandem gehört, der das seit der Reklamation gewagt hätte. Aber wenn es jemand tat, dann konnte es nur Gordon sein. Die einzige Frage war jetzt: Wie schlimm würde es werden? Ein Sutler-Doppelgänger trat hinter dem Vorhang hervor, genau wie Deitrich es vor ein paar Augenblicken erst getan hatte, und nickte wie Mussolini zur Würdigung der Reaktion des Publikums, als die Menge zu rasen begann. Und dann schwenkte die Kamera vom „Kanzler“ weg und über das jubelnde Publikum, ehe sie auf mehreren schwer bewaffneten und zum größten Teil schwer übergewichtigen und unübersehbar ungepflegt wirkenden Soldaten verharrte, die ihre Schusswaffen auf die munter klatschende Menge richteten, die Finger am Abzug, während sie unter einem großen, beleuchteten APPLAUS-Schild standen. „Großer Gott, Gordon!“, platzte es aus Evey heraus. Beinah lief ihr der Sekt aus der Nase. Dennoch wusste sie, dass es nach einem solchen Auftakt nur noch schlimmer werden konnte. Und das wurde es. Auf dem Fernsehschirm wurde Sutler derweil, der offenbar nicht aufhören konnte, zu salutieren und nach dem Takt des Marsches, den das Studio-Orchester spielte, im Stechschritt zu marschieren, von zwei wunderschönen Showgirls zu einer typischen Plaudershow-Sitzgruppe aus bequemen Sesseln
geführt, wo Deitrich auf ihn wartete. Während die Musik verstummte, schüttelten sie einander die Hände, und Deitrich machte eine leicht spöttische, übertrieben ehrerbietige Verbeugung dann nahmen sie Platz. Und als sie schließlich bequem saßen, ergriff der Moderator das Wort. „Herr Kanzler, ich weiß natürlich…“, Deitrich lächelte, „… dass Sie seit Beginn dieser ganzen Terroristensache unter gewaltigem Stress stehen, und darum wollen wir Ihnen ein bisschen helfen, sich zu entspannen.“ Dann ein Blick nach hinten, eine in Richtung der Kulisse erhobene und winkende Hand. „Meine Damen?“ Eine Schar kichernder Showgirls erschien auf Deitrichs Aufforderung, in Federkostümen, lächelnd und auf Stöckelschuhen, verzückt vor Aufregung, als sie auf den Kanzler zuwackelten. Eines der Mädchen trug ein kleines Tablett, auf dem ein Glas Milch stand. „Oh, warme Milch!“, rief der Sutler-Klon aus und grinste wie ein kleines Kind. „Es gibt nichts Besseres.“ „Sie trinken abends gerne ein Glas, nicht wahr, Kanzler?“, fragte Deitrich wissend und alles an seinem Ton und seiner Körpersprache ließ keinen Zweifel daran, dass er einem senilen, alten Deppen nach dem Munde redete. „Seit ich ein kleiner Junge war“, erwiderte sein Gegenüber mit selbstgefälliger Freude, nahm einen Schluck und schmatzte mit den Lippen, bevor er sich theatralisch entspannte, als zwei der üppigeren Showgirls mit Feuereifer seine Schultern zu massieren begannen, wobei sie sich nach vorne lehnten, um ihre ansehnlichen Vorzüge ins rechte Licht zu setzen. Und der Kanzler verdrehte übertrieben die Augen, um den Anblick zu genießen. „Aber Sie irren sich, Mr. Deitrich“, sagte er schließlich, um sein Augenmerk mit scheinbarer Mühe auf das eigentliche
Thema zurückzulenken. „Der Terrorist war nie ein ernstlicher Grund zur Besorgnis.“ Evey konnte nur mit wachsendem Entsetzen zusehen, wie die Kamera zurückfuhr, um zu zeigen, wie sich im Studioboden neben Sutlers Sessel eine Falltür öffnete. Ein hoher schwarzer Jakobinerhut kam daraus zum Vorschein, dann eine Maske… und V sprang in die Höhe, wie stets im Umhang, eine Hand an der Maske, wie um seinen Schnurrbart nach Art eines Vaudeville-Schurken zu zwirbeln. Dann schlich sich V auf allen Vieren zwischen den Beinen der Showgirls hindurch, die mit dem Ausdruck großäugiger Überraschung auf ihn hinuntersahen und die Lippen zu einem stummen, komischen „Uuuha“ schürzten, und begann, scheinbar unbemerkt von Deitrich und seinem Opfer, heimlich die Schnürsenkel des Kanzlers zusammenzubinden. Überall im Land, das wusste Evey, sah dasselbe Publikum, das auch Vs ursprüngliche Übertragung gesehen hatte, diese satirischen Possen, die der Obrigkeit in vielerlei Hinsicht genauso sehr schadeten. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Deitrich da zu tun glaubte oder wie er auf die Idee gekommen war… bis sie sich an God Save the Queen erinnerte, das Gemälde, das sich sicher versteckt im Keller dort unten befand. „Ist der Terrorist denn noch am Leben und aktiv?“, fuhr Deitrich unbekümmert fort, während er sich nach den Showgirls umschaute und einem von ihnen bedeutete, ihm eine große Zigarre zu bringen. Sie wollte sie anzünden, doch V nahm sie ihr weg und ersetzte sie durch eine andere. „Der Terrorist wurde ausgeschaltet“, sagte Sutler mit einem Lächeln absoluter Zuversicht, nahm die angesteckte Zigarre und begann zu paffen. Und Evey wusste genau, was als Nächstes passieren würde. Es würde einer dieser Bugs-Bunny-Cartoon-Momente sein –
und natürlich war es so. Die Zigarre explodierte mit einem lauten Knall und in einer dicken Rauchwolke. Und während die Zuschauer in schallendes Gelächter ausbrachen, erweckte eine Vorrichtung unter dem Kostüm den Eindruck, als schösse Dampf aus den Ohren des tobenden Kanzlers. Als sich der Beifalls- und Lachsturm endlich legte, sah Deitrich zu den Showgirls hin und schien jetzt erst zu bemerken, dass V sich zwischen ihnen versteckte. „Oh mein Gott, Kanzler!“, rief er überrascht und deutete mit ausgestrecktem Finger hinüber, der nur knapp an der Nase des Kanzlers vorbei stieß. „Sehen Sie nur!“ „Der Terrorist!“, schrie Sutler, sprang auf und legte umgehend eine Bauchlandung hin, als sich die zusammengebundenen Schnürsenkel zwischen seinen Füßen spannten. „Schnappt ihn euch!“, befahl der Kanzler als Nächstes, rollte in eine sitzende Position und begann, seine Schuhbänder auseinander zu knoten. Und die Soldaten, die vorher schon einmal zu sehen gewesen waren, stürmten vor und fingen an, V über die Bühne zu jagen, begleitet von den kichernden und stöckelnden Showgirls. Dann tollte der ganze Trupp ins Publikum hinein und wieder zurück auf die Bühne, dazu spielte das Orchester eine übertrieben schnelle Begleitmusik, und die Zuschauer tobten vor Lachen. Und während dieser verrückten Jagd, die an die Schlussszenen einer alten BennyHill-Show erinnerte, saß Gordon Deitrich mit freundlicher Miene in seinem Sessel, erfreute sich offensichtlich an diesem schönsten Auftritt, den er im Fernsehen je gehabt hatte, scheinbar ungerührt von und taub und blind für das Chaos rings um ihn her. Und Evey konnte nur entsetzt und schockiert zusehen, und es war ihr kaum noch bewusst, dass Deitrich neben ihr saß und das Erlebnis, den Ruhm, noch einmal genoss.
Schließlich erwischten die Soldaten V – nachdem einer oder zwei von ihnen es geschafft hatten, „irrtümlich“ Showgirls festzunehmen – und rangen ihn zu Boden. Und jetzt trat Sutler, nun wieder auf den Füßen und im Vollbesitz seiner Bewegungsfreiheit, vor und griff nach Vs Maske. „Endlich!“, schrie er. „Und nun auf dass die ganze Welt es sehe…“ Doch als er die Maske fortriss, wurde eine weitere Überraschung enthüllt, die sowohl die Soldaten als auch das Publikum gleichsam lähmte. Denn der „Terrorist“ erwies sich als weiterer Sutler-Doppelgänger und während die Soldaten ihn mit offenem Mund und blöde anglotzten, sprang er auf die Füße, warf Hut, Umhang und Perücke beiseite und zeigte sich, im gleichen Anzug wie der erste Imitator. „Lasst mich los!“, schrie er. „Ich bin euer Kanzler!“ „Was?“, explodierte der erste Sutler. „Wie kannst du es wagen? Ich bin der Kanzler!“ „Hochstapler!“, erwiderte der andere und dann stürzten sie sich aufeinander und gingen in einem Gewirr aus fliegenden Fäusten und um sich tretenden Beinen zu Boden, bis sie ineinander verdreht schienen wie ein Möbiusstreifen und es unmöglich war, einen Kanzler vom anderen zu unterscheiden. Alles, was es jetzt noch brauchte, um die peinliche Farce zu vervollständigen, war, dass sie ihre Hosen verloren und rotweiß gepunktete Boxershorts zum Vorschein kamen, aber nicht einmal Gordon schien es gewagt zu haben, so weit zu gehen. Oder vielleicht hatte er auch nur einfach nicht daran gedacht. Schließlich lösten sie sich voneinander, sprangen auf und zeigten wütend mit den Fingern aufeinander. Und einer schrie: „Soldaten! Dieser Mann da ist der Terrorist!“
Und der andere kreischte: „Ich befehle euch, diesen Verräter zu erschießen!“ „Diesen Lügner!“ „Diese Fälschung!“ „Diesen Schwindler!“ „Bereitmachen!“ „Legt an!“ „Feuer!“ Ein stakkatoartiges Rattern von Schnellfeuerwaffen, als die Soldaten das Feuer eröffneten, und dann klatschten sich die beiden Sutlers versteckte Blutkapseln gegen die Brust, sackten in einer Drehung zusammen, und der Vorhang fuhr herab, kaum dass sie zu Boden gefallen waren. Das Publikum geriet dermaßen aus dem Häuschen, wie es niemand auch nur annähernd hätte voraussehen können. Ganz gewiss allerdings nicht der Mann, der stieren Blickes vor seinem Fernseher saß, ein Glas warmer Milch fest in der Hand, während Deitrich eine tiefe, theatralische Verbeugung machte und hinter dem Vorhang verschwand. Er starrte immer noch, als das maskierte, lächelnde Gesicht von V einen Augenblick später im Schlitz des Vorhangs erschien, das Grinsen scheinbar breiter als je zuvor und noch einmal die Enden seines Schnurrbarts zwirbelnd. Und die Zuschauer jubelten. Jubelten. Und das Glas Milch zerbrach in der Hand des alternden Mannes.
Als das Telefon schrillte, starrte Evey immer noch auf den Bildschirm, in einem ganz ähnlichen Schockzustand, der sich jetzt rapide in eiskalte Angst verwandelte, nur umklammerte sie ihr Sektglas nicht ganz so fest. Deitrich, der immer noch in
sich hineinkicherte, stellte sein Glas ab und nahm den Anruf entgegen. Er hörte eine Weile zu, schien aber völlig unzugänglich für die Worte, die ihn vom anderen Ende der Leitung erreichten. „Was sollen sie denn machen?“, fragte er und sein Triumph verlieh ihm immer noch Auftrieb. „Uns mit einem Bußgeld belegen? Na und? Unsere Show ist die meist gesehene im ganzen Land.“ Eine Pause, und dann: „Nun, du bist ein Anwalt. Dafür bezahl ich dich… beschütze mich.“ Und damit legte er auf. „Ich hätte ihn schon vor Jahren als meine Mutter anheuern sollen“, sagte er lächelnd, als er zu Evey zurückkehrte. „Sie sind wahnsinnig“, sagte sie ihm freiheraus und konnte noch immer nicht ganz glauben, was sie da gerade gesehen hatte. „Entweder das, oder ich hab als Kind nicht die Brust bekommen“, witzelte er. „Ist für Sie alles ein Witz?“ „Nur die Dinge, auf die es ankommt.“ Obgleich er ein bisschen ernsthafter wirkte, als er das sagte, war es doch offensichtlich, dass sie einfach nicht zu ihm durchdringen konnte. Und in diesem Augenblick hätte das wahrscheinlich niemand vermocht. „Gordon, was ist, wenn die Sie holen kommen?“, fragte sie und schaffte es endlich, jener Angst Ausdruck zu verleihen, die sie verspürte. Nicht nur um ihn, sondern um sie beide. „Hören Sie“, sagte er beruhigend, setzte sich und nahm ihre Hand. „Ich werd Ihnen sagen, wie das laufen wird. Ich werde mich irgendwie entschuldigen und ein paar langweilige Wohltätigkeitsveranstaltungen durchziehen müssen, und in der Zwischenzeit werden unsere Einschaltquoten in den Himmel schießen. Keine Sorge, mir passiert schon nichts.“
Sie versuchte zu nicken, aber es war ihnen beiden klar, dass sie nicht davon überzeugt war.
Während die Stunden vergingen und die Sterne die Zeit zermahlten, zog der goldene Mond einen Schleier aus Wolken vor sein Gesicht, ganz so, als hätte er keine Lust mehr, den Ereignissen in der Welt der Menschen dort unten zuzusehen. Und die Nacht wurde wahrlich finster. Der Lärm zerbrechenden Glases weckte Evey, jenes eisige Klirren, das einem das Herz gefrieren ließ und die Stille, ihre Träume und ihre Welt zerschmetterte. Ihm folgte ein lautes, dumpfes Geräusch und dann hob wieder Bewegung an. Die Bewegung von Menschen drunten im Haus, der donnernde Schlag ihres Herzens. „Gordon?“, fragte sie verzweifelt und setzte sich im Bett auf, überwältigt von dem Gefühl, dass sie all das schon einmal durchgemacht hatte. Aber es durfte nicht noch einmal passieren. Es konnte doch nicht noch einmal passieren. Aber es passierte. Und die beklemmende Angst, die sie seit ihrer Ankunft in Bloomsbury fast vergessen hatte… sie war ebenfalls wieder da. Ein Schuss hallte durch das Haus und dann ertönte das Geräusch schwerer Schritte auf der Treppe, die ins Straucheln gerieten, als sie das obere Ende erreichten, und schließlich stampften sie in ihre Richtung. Und dann platzte Gordon Deitrich in ihr Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu, nur in einen Morgenmantel gekleidet und mit Schweiß bedeckt. Er schnappte nach Luft und das Weiße seiner Augen leuchtete hell in der Dunkelheit. Alles passierte noch einmal.
„Versteck dich, Evey!“, brachte er hastig hervor, während er seine beträchtliche Leibesfülle gegen die Tür warf. „Schnell!“ Einen Moment lang wollte Evey nur in Tränen ausbrechen… ihre Augen schließen und sich wünschen, dass alles verschwunden sein möge, wenn sie sie wieder aufmachte… wieder ein kleines Mädchen zu sein, geborgen in der Liebe ihrer Mummy und ihres Daddys, umgeben von Spielsachen, die sie liebte… mit Teddy zusammen zu sein… ihn fest zu umarmen und das Zauberwort zu sagen, dass die Welt ins rechte Lot brachte… Aber es gab kein Zauberwort und nichts würde das hier ins rechte Lot bringen. Dann übernahm Panik die Kontrolle und Evey rollte aus dem Bett, schlug hart auf den Boden und kroch in den Schatten unter dem Bettgestell. Lag da, vor Entsetzen zitternd, und dachte daran zurück, wie sie genau dasselbe schon einmal getan hatte… und an all die schrecklichen Dinge, die danach gekommen waren. Wiederholungen und Zufälle, als hätte Gott pro einzelner Person nur eine begrenzte Anzahl von Geschichten zu erzählen, die er immer und immer wieder abspulen wollte, und als bereite es ihm Vergnügen, die ihm zur Verfügung stehende Besetzung ein ums andere Mal durch dieselben Reifen springen zu lassen, bis endlich alle vor Erschöpfung zusammenbrachen. Oder vielleicht bis sie die Lektion gelernt hatten, die sie brauchten, um dem Spiel zu entkommen, hinaus in die Welt größerer Freiheit außerhalb des Theaters. Nur Augenblicke später explodierte die Tür, flog aus ihren Angeln und schleuderte Deitrich wie einen schlaffen Sack beiseite. Während er taumelnd um sein Gleichgewicht rang, stürmte ein Haufen schwer bewaffneter, dunkel gekleideter paramilitärischer Fingermänner in das Zimmer.
„Was bilden Sie sich ein…?“, stieß Deitrich hervor, doch ein Gewehrkolben krachte ihm gegen den Mund und kappte die Frage. Unter dem Bett hervor konnte Evey nur Deitrichs nackte Füße sehen, die bleich und alt und dick geädert wirkten in der Kulisse aus polierten schwarzen Lederstiefeln, und schrecklich verletzlich sahen sie aus, als die Fingermänner ihren Gefangenen ergriffen. Dann war Peter Creedy da, seinen bevorzugten, arg abgenutzten Schlagstock in der Hand. Mit einem Übelkeit erregenden dumpfen Laut traf er auf und dann von neuem, diesmal mit einem eher knöchern klingenden Knacken. „Jetzt ist es gar nicht mehr so komisch, was, du Komiker?“, grunzte er, während Deitrich schluchzte und gurgelnd nach Luft rang. Ein weiterer Schlag und dann prallte das – nun, da Lewis Prothero tot war – berühmteste Fernsehgesicht des Landes hart auf den Boden und sah in Richtung der Flüchtigen unter dem Bett. Und beide wussten sie, dass dieses Gesicht, das nun aufgeplatzt war wie die Schale einer Wassermelone und den roten Brei darin offenbarte, nie mehr auf dem Bildschirm zu sehen sein würde. Er versuchte etwas zu sagen, sie anzuflehen, ihn nicht mehr zu treten, was sie auch dann noch taten, als sie ihm die Hände auf den Rücken fesselten, aber sein Kiefer war gebrochen, und alles, was er hervorbrachte, war ein glucksender Schrei. Er krümmte sich, schaute weg, schaute wieder hin. Sein Blick suchte nach Evey, fing den ihren ein. Alles passierte noch einmal. Sie konnte nur hilflos zurückstarren, sich daran erinnern, wie es ihren Eltern widerfahren war und wie ihre Mutter sie genauso angesehen hatte, und sie spürte, wie die Panik ihre Kehle umklammerte und sie anfing zu hyperventilieren.
Alles passierte noch einmal. Sie versuchte, nicht zu schreien, als sie ihm den glänzenden schwarzen Sack über den Kopf zogen und wie eine Schlinge um den Hals herum festzurrten. Alles passierte noch einmal. Noch einmal. Noch einmal… Und Evey Hammond, der immer noch schlecht war vor Entsetzen, fühlte plötzlich, wie sich ihr ganzes Ich mit brennendem, zornigem Hass füllte. Auf Peter Creedy und seine Fingermänner und ihre hochmütige, bösartige und widerlich lässige Brutalität. Auf Adam Sutler und seine Partei, der dem Finger seine Befehle gab und der dieses Land in eine Hölle verwandelt hatte, unter dem Vorwand, es zum Himmel zu machen. Und in etwas geringerem Maße auf Gordon Deitrich, dafür, dass er so wunderbar dämlich heldenhaft war, einen satirischen Angriff auf das Böse dieser Welt zu wagen, und nicht klug genug, um sich die grässlichen Folgen bewusst zu machen, die seine tollkühne Tat nach sich ziehen würde. Aber am meisten auf sich selbst, denn sie fühlte sich verantwortlich für alles, was geschehen war: dafür, dass sie ihm jemand gewesen war, dem er seine Tapferkeit beweisen konnte. Dafür, dass sie überhaupt hier und mithin jemand war, den er beschützen musste. Dafür, dass sie nicht denselben Mut besaß wie er und mit dem er sich gegen sie erhoben hatte. Und sie hasste sich immer noch dafür, ganz gleich, was sie auch von seinem Tun halten mochte, dass sie Vs Vertrauen missbraucht hatte. Am meisten hasste sie die Angst, die sie stets verspürt hatte, die sie nie das Leben hatte leben lassen, das sie leben wollte, und die sie selbst jetzt wie gelähmt und zitternd unter dem Bett fest hielt, trotz der Selbstverachtung, die sie hervorrief. Dann zerrten sie Gordon Deitrich auf die Füße – seine alten, nackten Füße, die jetzt mit tropfendem Blut bespritzt waren – und schleiften ihn zur Tür hinaus. Und dabei lachten sie. Und
es gab nichts, was sie tun konnte, um ihm zu helfen, nichts, was irgendjemand im Augenblick hätte tun können. Dann verschwanden sämtliche Geräusche aus dem Haus, wie das Verebben der Flut. Die Schritte, die über die Treppe nach unten gingen, das Krachen der Eingangstür, das Geräusch von Fahrzeugen, die draußen angelassen wurden und die Straße hinab und davonfuhren. Und als die Stille das Haus endlich sicher in ihrem Griff hatte, schob Evey sich unter dem Bett hervor, wohlwissend, dass sie nicht zu bleiben wagte, denn nach diesem ersten Überfall würden ohne jeden Zweifel andere kommen, um das Haus gewissenhafter zu durchsuchen, nicht nach Beweisen gegen Deitrich – nach der Fernsehsendung des heutigen Abends brauchte man keine weiteren Beweise, um zu rechtfertigen, was nun mit ihm geschehen würde –, sondern nach Beweisen für Komplizenschaften, die auf Mitverschwörer hinwiesen, die gemeinsam Satiren ausheckten, um den Staat zu stürzen. Vielleicht sogar, wenn ihre Überwachung gut war, nach Beweisen, die auf sie hindeuteten. Wenn denn wirklich jeder das Haus verlassen hatte, dachte sie und zog sich eilends und leise an. Soweit sie wusste, konnten immer noch Fingermänner hier lauern und auf jemanden warten, der jetzt in dem Glauben, Stille bedeute auch Sicherheit, aus einem Versteck auftauchte und ihnen bei seinem Fluchtversuch in die Hände fiel, wie eine reife Frucht, die von einem Baum herunterplumpste. Also nicht durch die Vordertür. Stattdessen stieg sie aus dem offenen Schlafzimmerfenster und kroch auf ein dahinter liegendes kurzes Stück Dach hinaus. Das Dach überblickte den Garten hinter dem Haus, und sie rutschte zur Kante hinab und hielt sich an der Dachrinne fest, ehe sie hinunterfallen konnte. Doch als sie über den Rand
hinwegspähte, schien ihr der Boden zu weit entfernt, um einen Sprung zu riskieren. Sie schob ein Bein über die Kante des Daches, dann das andere, suchte nach einem Halt für ihre Hände, der verhinderte, dass sie abglitt, und schaffte es, ihren Körper über den Rand zu schieben. Sie hoffte inständig, dass die Dachrinne ihr Gewicht tragen würde, als sie hastig danach griff und merkte, wie sie sich nicht länger halten konnte, wie sie schnell nach unten rutschte und mit dem Kinn hart auf die Kante der Rinne schlug. Dann fiel sie, bis sie spürte, wie ihre Arme sich durchstreckten. Sie zuckte zusammen unter dem Schmerz des Zuges an ihren plötzlich gedehnten Gelenken und Schultern, und dann löste sich die Rinne aus ihren Halterungen – und sie fiel und versuchte sich in diesem einen Augenblick verzweifelt in Erinnerung zu rufen, ob es besser war, die Beine auszustrecken oder anzuziehen, und entschied sich für letzteres. Dann landete sie mit einem leisen Plumps auf dem Boden, dankbar dafür, dass sie sich an das Richtige erinnert hatte. Trotzdem schlug sie auf der betonierten Terrasse lang hin. Sie blieb unten, als der Strahl einer Taschenlampe aus dem Haus heraus leuchtete, über den Garten strich und dann wieder ins Innere des Hauses gerichtet wurde. Lichter und Schatten bewegten sich dort drinnen auf unheimliche Weise umher, und die Stille, in der es geschah, machte das Ganze nur noch bedrohlicher. Offenbar suchten sie immer noch, warteten auf einen verräterischen Laut oder eine Bewegung. Und da bekannt war, dass Deitrich allein gelebt hatte, wurde ihr bewusst, was das hieß: Sie suchten nach ihr. Evey holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen, dann begann sie sich auf dem Bauch über die Terrasse zu schieben, schaffte es bis zu einem Sträucherbeet und kroch hindurch und in Richtung des Gartentors. Kein Gedanke daran, wie
schmutzig ihre Kleidung dabei werden musste und dass Zweige an ihren Haaren zogen – nicht einmal daran, wo sie von hier aus hin sollte. Flucht war das Einzige, was sie in diesem Moment im Sinn hatte, und wenn sie laufen musste, bis sie das Land gänzlich verlassen hatte, dann würde sie das eben irgendwie fertig bringen. Kurz darauf war sie durch das Tor hindurch und draußen auf der Seitenstraße, und endlich fing sie wieder an, normal zu atmen, zum ersten Mal seit sie das Geräusch zerbrechenden Glases gehört hatte. Also dann… weg. Irgendwohin, nur weg von hier, aber sie hatte immer noch keinerlei Ziel vor Augen. Vielleicht war es am besten, wenn sie versuchte, aus London zu verschwinden, sogar aus den isolierten „Sicherheitszonen“, die von der Regierung eingerichtet worden waren. Sie war nie ganz sicher gewesen, was jenseits davon lag – in den Fernsehnachrichten war dauernd die Rede von Seuchenausbrüchen und anderen Schrecken, doch glaubte man den Medien ohnehin nicht mehr –, aber wenn es außerhalb der Bereiche lag, in denen das Regierungsrecht für gewöhnlich galt, mochte dort ihre letzte und beste Chance liegen. Und im Augenblick schien ihr selbst die Gefahr einer Seuche besser als die Aussicht auf einen schwarzen Beutel. So entschlossen fühlte sie sich allmählich besser, einfach deshalb, weil sie jetzt wieder einen Zweck verfolgte, und blickte die Straße hinauf, holte tief Luft und machte sich auf den Weg. Aber kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, als auch schon eine Hand auf ihrer Schulter landete, sie nach hinten riss und ihre Arme mit einer Kraft packte, die ihre unvermittelten, verzweifelten Versuche, sich zu wehren, vollkommen sinnlos machte. „Erwischt!“, sagte eine raue Männerstimme hinter ihr und obwohl sie über ihre Schulter nach hinten zu schauen versuchte, während sie spürte, wie sich die Plastikfesseln um
ihre Handgelenk straff zogen, konnte sie doch nur eine dunkle, gesichtslose Gestalt in der noch dunkleren Dunkelheit der Nacht ausmachen. Aber wenn sie auch nicht sehen konnte, mit wem sie es zu tun hatte, so wusste sie doch, womit. Ein Fingermann. „Nein!“, kreischte sie wild, hilflos zitternd vor entsetzlicher Angst, die ihr Blase und Schließmuskel versagen zu lassen drohte. „Nein! Bitte!“ Aber so sehr sie auch flehte, schrie und sich wehrte, es gab kein Entkommen… nichts, was den schwarzen Plastiksack daran hindern konnte, über ihren Kopf gestreift und um ihren Hals zugezogen zu werden. Und ihren durchdringenden Schrei absoluten, höchsten Entsetzens zu ersticken.
KAPITEL 16
Als sie ihr den schwarzen Plastiksack vom Kopf zogen, hatte Evey jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste noch, dass sie über den Boden geschleift worden war, bis an den Rand einer Ohnmacht. Und sie war in einen Laster geworfen worden. Evey erinnerte sich an den Lärm des Motors, an das heisere Geplapper der Wachen und sogar an deren Atem und Geruch. Und an den Geruch ihrer eigenen Angst. So entsetzt sie war von alledem, sie war doch auch überrascht, wie schnell die anderen Sinne wieder funktionierten, wenn einem die freie Sicht verloren gegangen war, man überhaupt nichts mehr sehen konnte. Und für eins war sie wirklich dankbar: dass ihr in dem Plastikbeutel nicht schlecht geworden war. Diese Peinlichkeit war ihr erspart geblieben. Allerdings, dachte sie, wäre ihr sogar eine solche Blamage wie eine verdiente Strafe vorgekommen. War denn nicht sie selbst an allem schuld? Warum hatte sie sich ihrer Angst so ganz und gar überlassen! Alles, was ihr jetzt womöglich noch bevorstand, hatte sie sich selber zuzuschreiben, wem sonst. Irgendwann hatte sie sicher auch das Bewusstsein verloren. Bevor oder nachdem man sie aus dem Lastwagen gestoßen, über ein paar Stufen abwärts gezerrt und einen Gang entlang geschubst hatte. Die Tür, die schwer ins Schloss fiel und das metallene Knirschen des Schlüssels hatte sie klar und deutlich vernommen, und sie entsann sich auch, wie man sie kurzerhand auf den eiskalten Boden geworfen hatte, ohne Essen, ohne Wasser, ohne Toilette.
Und so blieb ihr keine andere Wahl, als ihre Notdurft letztlich auf dem Boden zu verrichten. Auch das geschah ihr wohl recht. Wie viel Zeit seitdem vergangen war, bis ein Bewacher kam, um sie zu holen, wusste sie nicht einmal ungefähr. Er hatte sie eine dreckige, kleine Kuh genannt, aber er hatte auch endlich ihre wund gescheuerten Handgelenke von den Plastikfesseln befreit. Danach hatte er Evey hierher geschleift, wo immer das nun war, und hatte sie auf einen Stuhl geschubst. Und dann, endlich, nahmen sie ihr den Plastiksack ab. Sie wollte so unbedingt wieder sehen, sich umschauen und vielleicht sogar begreifen, wo sie war, aber das Licht, das ihr ins Gesicht schien, war so grell, und ihre Pupillen waren von der langen Dunkelheit so geweitet, dass sie die Augen sofort wieder zukniff. Aber in diesem kurzen Augenblick hatte sie vor sich einen Schreibtisch ausgemacht und die dunklen Konturen eines Mannes, der ihr gegenübersaß, hinter den Lampen, die sie blendeten. „Wissen Sie, warum Sie hier sind, Evey Hammond?“, fragte der Mann kalt. Evey blinzelte verzweifelt gegen das Scheinwerferlicht an, aber außer einem wabernden, roten Schemen konnte sie nichts erkennen. „Bitte…“ Mehr brachte sie nicht hervor. Sie versuchte, sich umzusehen, aber sofort packten von hinten zwei Hände ihren Kopf und drehten ihn wieder nach vorn. Evey hatte ihre Aufmerksamkeit auf den Fragensteller vor sich zu richten und sonst nirgendwohin. Aber sie hatte gesehen, dass sie in einem fensterlosen Raum saß. Kahle Wände bis auf eins dieser Plakate mit dem Spruch Stärke durch Einigkeit, Einigkeit durch Glauben. „Sie werden des dreifachen Mordes angeklagt“, fuhr der Fragesteller in scheinbarer Sachlichkeit mit boshaftem Unterton fort, „eines Bombenattentats auf Regierungseigentum
sowie der Verschwörung zum Zwecke des Terrorismus, des Verrats und der Volksverhetzung. Darauf steht die Todesstrafe durch ein Erschießungskommando.“ Auf Evey wirkte jedes Wort dieser Beschuldigung wie ein Hieb in den Magen. Es war genauso, wie sie es befürchtet hatte. Schlimmer konnte es gar nicht sein. Gut war einzig und allein, dass sie ihr bis jetzt noch keine Kugel durch den Kopf gejagt hatten. Im Gegensatz zu Gordon Deitrich, wie sie vermutete. Da sie es nicht getan hatten, mussten sie einen Grund haben, sie noch am Leben zu lassen, vielleicht erhofften sie sich etwas von ihr. Evey öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber es kam kein Ton heraus. „Sie haben eine Chance und nur diese einzige, Ihr Leben zu retten“, sprach der Fragesteller weiter, und jetzt gewahrte sie eine Spur von Ungeduld in seiner Stimme. Seltsam, wie fast übernatürlich scharf ihr Gehör geworden war in den wenigen Stunden, in denen sie sich nur darauf hatte verlassen können, hellhörig für das leiseste Flüstern und jede Nuance, jeden Zwischenton. „Wir wollen von Ihnen wissen, wer V ist und wo er sich befindet“, fuhr die Stimme fort. „Wenn die Information zu seiner Festnahme führt, werden Sie sofort auf freien Fuß gesetzt. Verstehen Sie, was ich Ihnen anbiete?“ Da war er. Der Deal, den sie hatte schließen wollen, als sie V beinahe an den Bischof verraten hatte, die letzte Hoffnung, an die sie sich die ganze Zeit geklammert hatte. Bis… Wann war es gewesen?… letzte Nacht? Bis sie gekommen waren und Gordon Deitrich erledigt hatten. Armer, alter, närrischer, tapferer Gordon Deitrich. „Sie können ins normale Leben zurückkehren, Miss Hammond“, betonte der Mann. Er schien sich etwas vorzubeugen. Soweit ihre überanstrengten Augen es erkennen
konnten, tauchte er seitwärts etwas aus dem grellen Licht. „Sie brauchen nur zu kooperieren.“ Kooperieren. Und frei sein. Wenn sie ihnen nur glauben könnte. Aber vielleicht erschossen sie sie, sobald sie alles erzählt hatte. „Ich…“, setzte Evey zögernd an. Sie hörte sich selber gepresst dabei atmen. Und dann sagte sie: „Ich weiß es nicht.“ „Machen Sie sie fertig, Rossiter“, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch knapp. Und als Evey sich hastig umzuschauen versuchte, um zu sehen, wem sein Befehl gegolten hatte, packten schon grobe Hände sie von hinten, stülpten ihr den Plastiksack wieder über den Kopf und schleiften sie über den Fußboden davon.
Sie weinte, als man ihr den Kopf kahl schor. Sie wollte nicht weinen, aber sie war so stolz auf ihre Haare. Sie waren in ihren Augen das Schönste an ihr. Und als die ruppige Hand nun mit dem plumpen Elektrorasierer ihr schmerzhaft über die Kopfhaut fuhr, als die langen blonden Strähnen zu Boden regneten, fühlte Evey sich entwürdigt wie durch nichts anderes. Ab jetzt war sie nicht mehr sie selbst. Evey Hammond war sie nicht mehr, nur noch eine Gefangene, die nicht einmal eine Nummer hatte. Ein Nichts war sie. Ein Objekt. Ein Niemand. Ein Niemand, der sehr, sehr große Angst hatte. Natürlich hatte sie gewusst, dass es so kommen würde. Dass sie verzweifeln würde, wenn man sie kahl schor. Deshalb taten sie es ja auch. Körperliche Folter mochte später kommen, zunächst stand Erniedrigung an. Als Nächstes nahmen sie ihr die Kleidung weg. Die nackte Evey wurde in eine Art Waschraum gebracht. Ihre Hände wurden über ihr an einem Deckenhaken befestigt. Und dann
spritzte man sie mit starken Wasserstrahlen ab, unter deren Wucht sie hin und herschwankte. Die Luft blieb ihr weg, sie bekam Prellungen. Angeblich sollte sie nur gewaschen werden und entlaust, aber am Ende war es schon eine Folterung. Und dann, als ihre Haut von der rauen Prozedur ganz wund war und wehtat, zogen sie ihr ein Kleid aus grobem Hanf über den Kopf, mehr Büßerhemd als sonst etwas, gaben ihr jedoch weder Schuhe noch Unterwäsche und zerrten sie über Treppen und Flure in eine Zelle. Eine Zelle, mit einem kleinen Fenster, zu hoch für Evey, um hinausschauen zu können, und mit einer Fassung an der Decke, in der sich keine Glühbirne befand. Wenn der Tag also zu Ende ging, war alles dunkel. Durch ein Gitter in der Tür sah Evey auf einen finsteren Korridor hinaus und direkt gegenüber hing ein weiteres dieser Stärke durch Einigkeit, Einigkeit durch Glauben-Plakate, an deren Botschaft sie schon lange nicht mehr glaubte. Sie hatte keinen Glauben und fürchterlich wenig Kraft. Ihr war inzwischen bewusst, dass Einigkeit für diese Regierung kaum mehr bedeutete, als jeden zu ermorden, der mit irgendetwas, das sie sagte, nicht konform ging. In der Zelle stand nur ein leeres Gestell, darauf sollte sie schlafen, ohne jegliches Bettzeug. Ein Eimer sollte als Toilette dienen, aber niemand machte sich die Mühe, ihn zu entleeren, bevor er ganz voll war. Und ein Rattenloch war da, auf Fußbodenhöhe, aus dem der einzige andere Bewohner der Zelle nach dem Dunkelwerden erschien. Des Nachts lief das Biest über den Körper der Gefangenen, nagte an ihrem Kleid, wenn sie schlief, biss sie vielleicht. Evey war vor Entsetzen wie betäubt. Und dann boten sie ihr etwas zu essen an. Ein Blick genügte, es war zum Kotzen, denn genau wie Kotze sah das „Essen“ aus. Nicht einmal die Ratte würde das anrühren. Warum brachte man sie denn nicht einfach um? Sie war sicher, dass sie es tun würden, unabhängig davon, ob sie
kooperierte, warum also nicht Gnade walten lassen und sie jetzt töten? Aber Gnade stand natürlich nicht auf ihrer Agenda. Eveys Zeitgefühl begann wieder zu verschwimmen. Die Minuten vergingen irgendwie, aber da es nur vier Mauern gab, die sie ansehen konnte, und dieses blöde Plakat, das sie immer blöder fand, hatte sie nichts, was ihr Zerstreuung geboten hätte. Zu wechselnden Tages- und Nachtzeiten schleppte man sie immer wieder fort, um sie weiter zu befragen, um sie zu verprügeln, zu foltern und zu demütigen. Man zeigte ihr Aufnahmen der Überwachungskameras aus der Gasse, in der sie V zum ersten Mal begegnet war. Man beschuldigte Evey, den Köder gespielt zu haben, den der Terrorist zunächst ausgeworfen hatte. Dass Evey die Fingermänner habe ablenken sollen, bevor ihr Auftraggeber dazugestoßen war, um die Männer zu töten und zu verstümmeln. Als Evey das leugnete, fragte man sie aufgebracht, was er danach denn zu ihr gesagt habe, und verwies dann darauf, wie offensichtlich es sei, dass sie den Tatort freiwillig mit dem Terroristen verlassen habe. Man zeigte ihr weitere Aufnahmen von ihr, die in der Nähe von Old Bailey und Westminster entstanden waren. Evey sollte ihre Anwesenheit dort erklären… Aber vor allem, wieso war Eveys Ausweis in Lewis Protheros Appartmentgebäude benutzt worden? Hatte der junge Priester in der Dekanei nicht eindeutig Evey als V’s Komplizin bei der Ermordung des Bischofs identifiziert? Wie gedachte sie denn das zu erklären? Und was hatte der Terrorist als Nächstes vor? Endlos. Endlose Fragen. Und wann immer sie nicht mehr antworten wollte oder konnte, wenn selbst den Verhörspezialisten die Verzweiflung überkam, goss der Mann, der Rossiter hieß, Wassereimer über ihr aus. Am Ende brachte er Evey, der eiskalt geworden war, die am ganzen Leibe zitterte, zurück in ihre Zelle. Evey schlief, wann immer sie konnte. Bewusstlosigkeit war ihr einziges Entkommen. Aber ihr kam es so vor, als ob der
Lautsprecher jedes Mal, wenn sie kaum eingeschlafen war, dröhnend zum Leben erwachte und eine Militärkapelle immer und immer wieder Sutlers erst vor kurzem komponierte Nationalhymne spielte, manchmal stundenlang, bis sie es nicht mehr aushielt. Und dann schlug man sie mit dünnen Bambusstöcken, bis ihre Haut so wund war, dass sie gar nicht mehr liegen konnte, auch zum Schlafen nicht. Das war der Part, den Rossiter am meisten zu genießen schien. Die Prügel. Die Zigarettenbrandnarben. Die Demütigung. Er war ein böser, ein sadistischer Schlägertyp. So wie ihn hatte sie sich einen Folterknecht des Fingers immer vorgestellt. Ein Wunder nur, dass Rossiter offenbar davor zurückschreckte, ihr dauerhafte körperliche Schäden zuzufügen. Aber wenn man zu den Schlägen das andere alles hinzunahm – den Schlafentzug, die Verhöre, den erbärmlichen Zustand der Zelle, das widerwärtige Essen –, wie sollte Evey bei dieser Behandlung ungeschoren davonkommen. Und in ihrer fürchterlichen Verworrenheit, als sie schließlich gar nicht mehr wusste, ob es Tag oder Nacht war, was überhaupt war, nahm sie in ihrer großen Not den ersten Bissen des ekelhaften Essens in den Mund. Das allein schon brachte sie zum Weinen. Dass sie an diesem Punkt der Erniedrigung angelangt war. Dass sie diesen Dreck jetzt herunterwürgte. Aber sie weinte sowieso fast immer, wenn man ihr eine Minute für sich selber ließ. Und die Ratte kam und ging. Das Tier bot die einzige Unterhaltung, die Evey hatte, die einzige Gesellschaft. Liebesbisse im Dunkeln. Und als die Zuwendungen der Ratte alles waren, worauf sie sich noch freuen konnte, wurde ihr bewusst, dass sie wirklich nicht mehr tiefer sinken konnte. Sie war selber nichts Besseres mehr als eine Ratte. Wahrscheinlich noch Schlimmeres.
Zuletzt kam auch die Ratte nicht mehr und Eveys Einsamkeit schien endlos und endgültig zu sein. Und manchmal schien das Licht durchs Fenster. Und manchmal nicht. Doch die Fragen, die Evey sich stellte, hörten nie auf.
Irgendwann, in einer jener Phasen völliger Stille, während derer es irgendwie noch schwieriger geworden war zu schlafen als in den Phasen fortwährenden Lärms, hörte Evey ein schwaches Kratzen aus dem Loch unten am Fuße der Wand. Die Ratte. Die Ratte war doch noch wieder zurückgekehrt, wie schön! Evey löste sich langsam aus der fötal gekrümmten Haltung, in der sie zu schlafen versucht hatte. In einer schmerzhaften Anstrengung schob sie den ausgezehrten Körper von dem Bettgestell herunter und krabbelte über den Boden. Keine Ratte. Dafür befand sich etwas anderes in dem Loch – etwas, das von der anderen Seite her hindurchgeschoben worden war. Eine kleine Rolle Klopapier. Evey schaute sie erstaunt an. Klopapier war etwas, das sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie verhaftet worden war – etwas, das sie fast schon vergessen hatte. Noch erstaunlicher aber war, dass auf diese kleine Rolle aus Papier etwas geschrieben war. Krakelig mit Bleistift aufgetragen sah diese Schrift genauso aus, wie sie wohl selbst schreiben würde nach Wochen der Folter und des Hungerns. Es konnte nur, dachte Evey, eine Nachricht des Gefangenen aus der Zelle nebenan sein. Es sei denn, es handelte sich nur um eine weitere Gemeinheit der Leute, von denen Evey immer wieder verhört worden war. Wie auch immer, es gab ihr etwas zu tun, etwas zu lesen. Es war eine Stimme von irgendwo außerhalb ihrer eigenen Hölle.
Und wenn irgendetwas auch nur eine Minute der langen einsamen Stunden ihrer Gefangenschaft füllen konnte, sie wollte es dankbar annehmen, ganz egal, wo es herkam. So lange es nur V nicht erwähnte oder Evey aufforderte, dazu etwas zu erklären. Sie schleppte sich hinüber ins Licht, das durchs Fenster hereinfiel, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und machte sich daran, das seltsame Schriftstück zu entrollen. Ich weiß, es gibt keine Möglichkeit, dich davon zu überzeugen, dass dies nicht nur ein weiterer ihrer Tricks ist. Aber das ist mir einerlei. Ich bin ich. Ich heiße Valerie. Ich glaube, ich werde nicht mehr lange leben, und ich wollte jemandem von meinem Leben erzählen. Ich schreibe dies mit einem Bleistift, den ich in mir versteckt hatte. Dies ist die einzige Autobiografie, die ich je schreiben werde, und, ach lieber Gott, ich schreibe sie auf Klopapier. Eine andere Frau. Und das schien Evey wichtig zu sein. Selbst wenn sich herausstellte, dass sie von ganz unterschiedlicher Herkunft waren, sie hatten doch immer noch diese gemeinsame Grundlage, dasselbe Geschlecht. Zwei Frauen, die gemeinsam in Not waren, „Schwestern im Geiste“, wie es das alte Klischee besagte. Eifrig las Evey weiter. Ich wurde in Nottingham geboren. Ich erinnere mich an nicht viel aus meiner frühen Kindheit, aber ich erinnere mich noch an den Regen. Meine Großmutter besaß eine Farm in Tottlebrook und sie erzählte mir immer, dass Gott sich im Regen befinde. Das Geräusch des Regens, der gegen ein Fenster tippt, hat mir immer das Gefühl von Heimat gegeben. Ich bestand meine Prüfung und ging aufs Mädchengymnasium. Gymnasium. Das hatte Evey nie kennen gelernt. Nach der Verhaftung ihrer Eltern hatte sie den größten Teil ihrer
Teenagerzeit im so genannten Besserungsprojekt für Jugendliche verbracht, eine höllische Institution für junge Straftäter drüben in Wapping. Und dort hatte man ganz andere Dinge gelernt als auf einem Gymnasium: Angst, Brutalität, Missbrauch und die Bibel. Danach kam das Auswendiglernen von Sprüchen, „politische Umerziehung“ genannt: „Stärke durch Einigkeit, Einigkeit durch Glauben“, „Es lebe England“, „Wer anders ist, ist verdammt“ und so weiter. Und das sinnlose Exerzieren und das „Halte den Arm gerade, wenn du salutierst, Mädchen!“. Prügel für die geringsten Übertretungen. Und sobald es so aussah, als freundete man sich mit jemandem an, wurde man auf boshafte Weise irgendwie voneinander getrennt, schickte man einen weg in einen anderen Flügel, ein anderes Gefängnis, eine andere Welt… Gymnasium. Schulfreunde. Junge Liebe. Wie um alles in der Welt wäre das wohl gewesen, dachte Evey. In der Schule lernte ich meine erste Freundin kennen. Sie hieß Sarah. Ich liebte ihre Handgelenke, ihre wunderschönen Handgelenke. Ich glaubte, wir würden einander für immer lieben. Ich weiß noch, unser Lehrer sagte, das sei eine Entwicklungsphase, der man ganz von selber entwüchse. Sarah entwuchs ihr. Ich nicht. So schlicht gesagt, dachte Evey, aber so viel Schmerz darin verborgen. Sie fing wieder an zu weinen. Unter normalen Umständen hätte sie an sich gehalten, aber ihre Nerven waren so angegriffen, ihre Gefühle lagen so nah unter der Oberfläche, dass es ihr einfach unmöglich war, nicht zu weinen. Schließlich versuchte sie schniefend, sich zusammenzureißen. Sie hatte ja aber kein Taschentuch, um sich die Nase zu putzen, und dieser Gedanke ließ sie von neuem weinen, weil sie plötzlich an ihre Mutter denken musste. Mit tränenverschleiertem Blick las Evey weiter.
Später verliebte ich mich in ein Mädchen namens Christina. Da offenbarte ich mich meinen Eltern. Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte, wenn Chris dabei nicht meine Hand gehalten hätte. Mein Vater schaute mich nicht an. Er sagte, ich solle gehen und nie wiederkommen. Meine Mutter sagte nichts. Aber ich hatte ihnen doch nur die Wahrheit gesagt. War das so falsch? Was wir wirklich sind, ist so einfach, aber allein darauf kommt es an. Auf jeden Zentimeter in uns. Nur in uns selber sind wir wirklich frei. Da hörte Evey, dass sie wieder geholt wurde. In plötzlicher Panik, wohlwissend, dass man ihr Valeries Botschaft abnehmen würde, falls man sie fand, schaffte es Evey, über den Boden zu kriechen und die Papierrolle zurück in das Rattenloch zu stecken. Auf gar keinen Fall durften Eveys Peiniger das Schriftstück in die Hände bekommen – schon gar nicht jetzt, da Evey vielleicht einen Rettungsanker gefunden hatte, eine Verbindung zu jemandem draußen, außerhalb ihrer eigenen Hölle. Draußen, ein Zauberwort, das Evey eine andere Welt eröffnete. Rossiter, der Wärter, kam. Evey bekam wieder einen schwarzen Sack über den Kopf, wie immer, wenn sie durch das Gefängnis geführt wurde. Rossiter fesselte ihr die Hände auf den Rücken, brachte sie in den gewohnten Verhörraum und stellte sie vor einen Tisch. Als man Evey den schwarzen Sack wieder abnahm, sah sie vor sich eine Schüssel, die mit Wasser gefüllt war. Wieder wurde Evey aufgefordert, von V zu berichten, und als sie auch jetzt nichts verriet, drückte Rossiter ihr Gesicht unter Wasser und hielt sie so fest, stundenlang, wie ihr schien.
Spuckend und hustend kam sie wieder hoch, und fast noch ehe sie Zeit hatte, keuchend Luft zu holen, wurde ihr Kopf wieder in die Wasserschüssel gedrückt. „Es hört auf, wann immer Sie wollen“, erklärte ihr der Fragesteller jenseits der grellen Lampen, als sie schließlich wieder auftauchen durfte. Evey sah ihn nur stumpfen Blickes an. Wieder ins Wasser hinab und diesmal wurde sie, so kam es ihr jedenfalls vor, so lange runtergedrückt, bis sie nur noch einen Zentimeter vom Tod entfernt war. Und da fielen ihr Valeries Worte wieder ein: „Nur in uns selber sind wir wirklich frei. Aber da in jedem Zentimeter.“ „Sagen Sie uns einfach nur, wo er ist“, verlangte man erneut von ihr. Ich selbst sein, frei sein, dachte Evey. In jedem Zentimeter. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. Schließlich hatten sie es satt. Sie hatten es satt, immer wieder die gleiche Antwort zu hören. So wie Evey es längst satt hatte, sie ihnen zu geben. Das Mädchen war nun auch deutlich so herunter, dass beim nächsten Untertauchen vielleicht schon ihr Herz versagte. Zurück mit ihr in die dreckige, bestialisch stinkende Zelle. Evey kam es wie Stunden vor, bis sie sich wieder kräftig genug fühlte, sich über den Boden zu wälzen und die Rolle wieder herauszuholen, für sie jetzt schon eine fast heilige Schrift. Ich zog nach London. Ich war noch nie so glücklich. Ich hatte immer gewusst, was ich aus meinem Leben machen wollte. Und ein paar Jahre später spielte ich tatsächlich meine erste Rolle in einem Film. Die Salzwüste. Es war die wichtigste Rolle meines Lebens. Nicht für meine Karriere, sondern weil ich durch sie Ruth kennen lernte. Als
ich sie zum ersten Mal küsste, wusste ich, dass ich nie mehr andere Lippen küssen wollte als ihre. Wir zogen miteinander in eine kleine Wohnung in London. Sie züchtete auf dem Balkon violette Carsons für mich, und unsere Küche duftete immer nach Rosen. Das waren die schönsten Jahre meines Lebens. Aber der amerikanische Krieg wurde immer schlimmer und schließlich brach über London die gleiche Hölle herein. Danach gab es keine Rosen mehr. Für niemanden. Überraschend schnell kam Rossiter abermals zu ihr, steckte ihren Kopf in den schwarzen Sack, vor dem sie sich immer so gefürchtet hatte, der sie jetzt aber längst schon nicht mehr kümmerte, band ihr die Hände nach hinten… und ließ sie kurzerhand auf dem Boden liegen. Vollkommene Stille senkte sich über sie, nachdem er gegangen war und die Tür zugesperrt hatte, und sie konnte nur daliegen, ihrer Sinne beraubt und in völliger Ungewissheit, für lange Zeit, die ihr ewig vorkam. Das verschaffte ihr Ruhe, um nachzudenken, allerdings nicht über eine positive Antwort auf die Fragen ihrer Peiniger. Über Valerie dachte Evey nach und über die seltsamen Schicksalswege der Menschen. Evey selbst wäre auch gern Schauspielerin geworden wie Valerie, bis ihre Welt zum Teufel gegangen war, die Welt im Allgemeinen und ihre persönliche Welt. In einer Besserungsanstalt für Jugendliche mochte man zwar allerlei lernen, Lügen, Betrügen, Stehlen und Kämpfen, um nur einiges zu nennen. Die Schauspielerei gehörte nicht dazu. Um die kurze Freude vor der Kamera mochte Evey Valerie vielleicht beneiden, sonst aber gab es keinen Anlass dazu. Auch Valerie war schließlich in dieser Gefängnishölle gelandet und nicht sanfter als Evey. Und das, wie es schien, der Liebe wegen. Dafür, dass sie zu sehr geliebt hatte, zu ehrlich, zu tapfer gewesen war.
Plötzlich wurde Evey der Sack wieder vom Kopf gerissen, die Fesselung gelöst. Rossiter beugte sich zu Evey herunter und brüllte ihr ins Gesicht: „Das stehst du doch nicht mehr lange durch! Du wirst hier sterben! Warum schützt du jemanden, der einen Dreck auf dich gibt?“ Sie starrte ihn ausdruckslos an, wusste gar nicht so recht, was er wollte. Sie begriff nur, dass es wieder um die eine Antwort ging, die sie von ihr haben wollten und die sie ihnen nicht gab. Als er fort war und als sie sich wieder kräftig genug fühlte, begann sie abermals zu lesen. Über die Ansichten einer Unbekannten. Nein, das stimmte nicht. Valerie war ihr durchaus bekannt. Wenn man Valerie inzwischen nicht weggebracht hatte, kaum dass sie ihre Nachricht durch das Rattenloch gezwängt hatte, dann saß Valerie in der Zelle nebenan. Valerie war Eveys Gefährtin in der Not, ihre Freundin. Ihre einzige Freundin, die letzte, die sie auf der Welt noch besaß. Es sei denn, sie war bereits tot. Tot? Was hieß das? Waren sie hier drin nicht alle tot? Waren sie, vielleicht mit einer einzigen Ausnahme, im heutigen England nicht alle tot? Und waren sie das nicht schon seit Jahren? Und befand sich Evey nicht gerade deshalb in diesem Gefängnis? Wie lange war es her, dass aus der Nation ein Leichnam geworden war? Und wie war es dazugekommen? Ich erinnere mich, wie sich die Bedeutung von Wörtern zu verändern begann. Wie ungewohnte Ausdrücke wie „Kollateralschaden“ und „außerordentliche Verkündung“ zu etwas Furcht erregendem wurden, wie Begriffe wie „Nordfeuer“ und „Treueabkommen“ eine neue Macht erlangten.
Und ich erinnere mich, wie „anders“ zu etwas wurde, das „gefährlich“ war. Ich verstehe es immer noch nicht. Warum hassen sie uns so sehr? Ruth verschleppten sie, als sie unterwegs war, um nach Lebensmitteln zu suchen. So sehr habe ich noch nie im Leben geweint. Es dauerte nicht lange, bis sie mich holen kamen. Auch Evey weinte jetzt wieder. Weil sie genau wusste, was geschehen sein musste. Ruth musste unter der Folter zusammengebrochen sein, vielleicht auch schon unter der bloßen Androhung der Tortur. Und sie musste ihnen alles verraten haben: die Verbindung zu Valerie, deren Namen, die Adresse. Alles im Tausch gegen ein Leben, das, wie Evey wusste, danach nicht mehr lebenswert gewesen sein konnte. Die Art Leben, die im Selbstmord endet. Sie nannten mich eine Verbrecherin und sagten, meine Filme würden verbrannt werden. Sie rasierten mir die Haare ab. Sie hielten mir den Kopf in eine Kloschüssel und missbrauchten mich. Sie haben mir Chemikalien injiziert. Meine Haut ist mit dunkelroten Flecken übersät und ich spüre kaum noch meine Zunge. Es scheint mir seltsam, dass mein Leben an so einem furchtbaren Ort enden soll, aber drei Jahre hatte ich den Himmel auf Erden und musste mich bei niemandem entschuldigen. Ich werde hier sterben. Jeder Zentimeter meines Seins wird umkommen. Jeder Zentimeter, bis auf einen. Ein Zentimeter. Klein und zerbrechlich und doch das Einzige auf der Welt, das besitzenswert ist. Wir dürfen ihn nie verlieren oder hergeben. Wir dürfen ihn uns niemals wegnehmen lassen. Ich hoffe, dass du, wer du auch sein magst, von hier entkommen wirst. Ich hoffe, dass die Welt eine Kehrtwendung macht und dass alles doch wieder besser wird.
Aber am meisten hoffe ich, dass du verstehst, was ich dir sagen will, obwohl ich dich nicht kenne, dich vielleicht nie kennen lernen, nie mit dir lachen, nie mit dir weinen und niemals dich küssen werde – ich liebe dich. Von ganzem Herzen liebe ich dich. Valerie. Und Evey, immer noch schluchzend, konnte nichts weiter tun, als diese Unterschrift zu küssen, dieses Vermächtnis auf Toilettenpapier. Und damit küsste sie die ganze Welt.
Als man Evey das nächste Mal in den Sack steckte und fortschaffte, spürte sie intuitiv oder weil Rossiter unbewusst einen etwas anderen Ton anschlug: Es ging jetzt zu Ende. Und als sie dann wieder ins Licht der Verhörlampen blinzelte, wurde ihr schnell ganz klar, dass es tatsächlich so war. „Ich habe Sie darüber zu informieren“, begann der Mann hinter dem Schreibtisch, „dass Sie inzwischen von einem Sondertribunal verurteilt worden sind. Sollten Sie auch heute nicht bereit sein, uns Ihre Mitarbeit anzubieten, sind Sie unverzüglich zu exekutieren. Verstehen Sie mich?“ „Ja“, erwiderte Evey leise. Sie starrte unverwandt den umleuchteten Schattenriss des Kopfes ihr gegenüber an und versuchte, dem Mann direkt in die Augen zu schauen. „Sind Sie bereit, mit uns zu kooperieren?“ „Nein.“ Und in der Stille, die darauf folgte, huschte der leichte Anflug eines Lächelns über ihre Lippen. „Nun gut“, sagte der Mann in einem Ton, in dem sich Erschöpfung, Verärgerung und Unverständnis mischten. An Rossiter gewandt, der unsichtbar hinter Evey stand, fuhr der Mann fort: „Begleiten Sie Miss Hammond zurück in ihre Zelle.
Organisieren Sie einen Trupp von sechs Männern. Das Urteil wird hinter den Chemikalienschuppen vollstreckt. Miss Hammond wird dort erschossen.“ Wenn sie darauf irgendeine Reaktion Eveys erwarteten, dann warteten sie vergebens. Der schwarze Sack wurde ihr ein letztes Mal über den Kopf gestülpt und ganz kurz nur ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich das jetzt nicht mehr würde gefallen lassen müssen. Aber, so gesehen, würde sie sich schon sehr bald gar nichts mehr gefallen lassen müssen, nie wieder. Evey hielt immer noch Valeries Brief in Händen, als Rossiter zum letzten Mal kam. Sie hatte daran gedacht, das Schreiben mit in den Tod zu nehmen – eine letzte sentimentale Geste. Der Brief, ein Schatz, den sie mit sich ins Grab nahm. Aber wozu? Letztendlich konnte man ja gar nichts mitnehmen. Nichts Materielles jedenfalls. Nur jenes eine kleine Etwas, das sie jetzt am höchsten schätzte. Sich selbst. Evey legte den Brief ehrerbietig auf das Bettgestell und stand auf. Und erinnerte sich plötzlich an eine Geschichte, die ihr Vater ihr erzählt hatte, vor langer Zeit, und die sie damals nicht ganz verstanden hatte. Die Geschichte eines buddhistischen Mönchs aus Tibet. Der Mönch floh vor chinesischen Soldaten, die durch sein Land schwärmten. Seine Familie hatte er zurückgelassen, weil man ihm versicherte, ihr werde nichts geschehen. Er hatte den Himalaja fast schon überquert und war damit nahezu in Sicherheit. Da erfuhr er, dass seine Familie getötet worden war. Bei seinen Begleitern löste diese Nachricht Entsetzen aus, der Mönch jedoch lachte. Als man ihn später auf das Ereignis ansprach, sagte der Mönch, noch nie sei ihm die geistige Erleuchtung so nah gewesen wie damals und auch seitdem nie wieder. Denn
damals sei plötzlich alles von ihm genommen gewesen und nichts sei ihm übrig geblieben außer Erleichterung. „Es ist Zeit“, sagte Rossiter und starrte Evey von der offenen Tür her an. „Ich bin bereit“, erklärte Evey und richtete sich mit einem fast glücklichen Lächeln auf. „Alles, was sie von dir wollen, ist eine winzige Information“, sagte Rossiter mit einem leisen Anflug menschlicher Wärme wie vorher noch nie. Als wolle er am Ende doch, dass sie mit dem Leben davon kam trotz allem… Als könne er einfach nicht verstehen, warum sie nicht nachgab, wo er es doch ganz bestimmt getan hätte. „Gib ihnen etwas. Irgendetwas.“ „Danke“, sagte sie, ein beinahe schelmisches Funkeln in den Augen. „Aber ich sterbe lieber hinter den Chemikalienschuppen.“ „Dann hast du keine Angst mehr“, sagte er und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. „Du bist frei.“ Und er wandte sich um und ließ sie zurück. Und die Zellentür ließ er offen stehen. Evey war völlig verblüfft. Sie konnte nur dastehen und starren. Und während sie den Schritten lauschte, die sich durch den Gang entfernten, konnte sie nur ein einziges Wort hervorwürgen. „Was?“
KAPITEL 17
Benommen trat Evey auf die offene Tür zu. Ihre bis dahin so starre Haltung lockerte sich mit jedem Schritt nur ein bisschen. Sie streckte nervös die Hand aus, um die Tür zu berühren. Evey konnte einfach nicht glauben, dass sie nicht wieder eingesperrt worden war. Vorsichtig streckte sie den Kopf aus der Tür auf den Gang hinaus. Und sah… niemanden. Das ergab keinen Sinn. Aber der Wärter hatte gesagt, sie sei frei. Und was hatte sie jetzt zu verlieren? Bis eben noch war sie davon überzeugt gewesen, dass sie gleich hingerichtet werden würde. Wenn man sie jetzt wieder schnappte, war sie nicht schlechter dran als zuvor. Evey trat auf den Gang hinaus. Überrascht stellte sie fest, dass es sich bei der kahlen Ziegelmauer mit dem darauf geklebten Plakat nur um ein kurzes Mauerstück handelte. Es war nicht breiter als Eveys Blickfeld durch das Gitter ihrer Zellentür. Links und rechts davon war die Wand ganz normal verputzt. Was Evey natürlich nie hatte sehen können. Auf dem Weg von der Zelle zum Verhörraum war ihr Kopf ja immer vermummt gewesen. Noch verwirrender war, dass weit und breit keine zweite vergitterte Zelle zu sehen war, so als ob die ihre die einzige war, womöglich extra für sie errichtet. Aber das hieß natürlich auch, dass es gar keine Nachbarzelle gab. Und keine Valerie. Verblüfft schüttelte Evey den Kopf und ging weiter, rannte nicht, warum sollte sie rennen, sie spähte am Ende des Gangs vorsichtig um die Ecke und stutzte.
Ein Stück vor ihr stand eine uniformierte Wache… war es Rossiter? Doch etwas an dem starren Blick, der absoluten Reglosigkeit des Bewachers ließ sie nicht umkehren. Und je länger sie hinsah, desto lebloser wirkte der Mann. Eine Schaufensterpuppe. Evey schritt darauf zu und bemerkte dahinter eine Tür. Eine Tür, die sich ebenfalls öffnen ließ, als sie den Griff drückte. Evey schob sich durch den Spalt. Sie befand sich im Verhörraum, mit dem Tisch und all seinen Lampen. Wie viel näher an ihrer Zelle, als sie es sich hatte vorstellen können. Sie hatte den Weg, den man sie geführt hatte, ja nie sehen können. Am Tisch saß eine weitere Schaufensterpuppe, und darunter befand sich ein Tonbandgerät, das mit einem kleinen Lautsprecher an der Kehle der sitzenden Schaufensterpuppe verkabelt war. In einem Raum nebenan fand Evey eine Wachuniform und eine hautfarbene Maske, die sie als Rossiters Gesicht erkannte. Eine FedCo-Uniform und noch eine Maske. Sowie andere, die ihr gänzlich unbekannt waren. Und auf einem Tisch stand ein kleiner Drahtkäfig mit einer Ratte darin. Ihrer Ratte. Was um alles in der Welt hatte all das zu bedeuten? Schaufensterpuppen, Verkleidungen, nur eine einzige Zelle, ein Gefängnis, das kein richtiges Gefängnis war… Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden, nämlich weiterzugehen, bis sich eine der Türen schließlich zur Außenwelt öffnete. Oder bis Evey zumindest auf etwas stieß, das weniger verworren war. Die nächste Tür, die vom Korridor abging, war die richtige. Evey schlüpfte vorsichtig hindurch… Und fand sich einmal mehr, und zu ihrer größten Überraschung, in der Schattengalerie wieder.
Die Schattengalerie. Zunächst begriff Evey es gar nicht ganz. Dieser Ort, den sie nie wieder zu sehen geglaubt hatte. Wieso sollte sie je hierher zurückkehren. Oder war auch das hier nur eine weitere Täuschung, ein Kulissen-Nachbau der wahren Schattengalerie? Nein, als ihr Blick über die gesammelten Schätze schweifte, die dieser Ort barg, war ihr klar, dass sie sich in der echten Schattengalerie befand. Was bedeutete, dass auch ihr Gefängnis von Anfang an dazu gehört hatte. Aber wie konnte das sein? Es konnte gar nicht sein. Aber plötzlich stand V vor ihr, maskiert wie immer, und er war ganz sicher keine Schaufensterpuppe. „Hallo, Evey“, sagte V schlicht, aber doch mit einer gewissen Wärme, stolz auf Eveys Leistung, zugleich jedoch gespannt, wie Evey jetzt reagierte, mit Freude, mit einem Schock, mit Abscheu… Doch ihre erste Reaktion war völlige Verständnislosigkeit. „Du…“, begann sie erschrocken, aber dann stand ihr Mund bloß offen und sie starrte ihn nur an. Wo war sie hier? In einer Welt doch, in die eine Gefängniszelle überhaupt nicht passte. „Das warst du?“, brachte sie endlich hervor. „Das war nicht real? Ist Gordon…?“ „Es tut mir Leid, aber Mr. Deitrich ist tot“, antwortete er, echtes Mitgefühl in der Stimme. „Ich dachte, sie würden ihn nur verhaften, aber als sie den Koran in seinem Haus fanden und all die anderen Dinge, ließen sie ihn hinrichten.“ Der Koran war nicht einmal der halbe Grund gewesen, das wusste sie, nicht einmal ein kleiner Teil davon. Von all den anderen Dingen war es vor allem God Save the Queen gewesen, was Gordon das Leben gekostet hatte. Die Brutalität des Regimes jagte ihr wieder mal kalte Schauer über den Rücken.
„Oh Gott“, entfuhr es Evey. So stimmte also alles, was sie befürchtet hatte. „Zum Glück“, fuhr V in sanftem Ton fort, „habe ich dich vor ihnen gefunden.“ „Du hast mich gefunden?“, stieß sie hervor. Sie begriff nicht ganz. „Du hast mir das angetan?“ Und dann begriff sie es doch. Alles was geschehen war in den vergangenen – wie lange? In Tagen? Wochen? Monaten? –, all das war sein Werk gewesen. Rossiter, der Fragesteller – er in Verkleidungen. Auch dieser FedCo-Lieferwagen auf der Straße an jenem Sonntagabend, als sie in Bloomsbury eingetroffen war, auch das musste er gewesen sein, er hatte ihr verkleidet nachgestellt, um herauszufinden, wo sie sich versteckte. Aber vor allem… war er Rossiter gewesen… Sie wankte an die Wand hinter sich, ihre Beine trugen sie kaum noch. „Du hast mir die Haare abrasiert… du hast mich gefoltert? Du hast mich gefoltert?“ Sie begann zu zittern, merkte jetzt erst, wie mager sie geworden war, wie schwach, wie krank. Und V nickte beinahe traurig, er gab alles zu, bestätigte alles. „Warum?“, fragte sie ihn ungläubig. „Gott, warum?“ Er zauderte, als sei es ebenso schmerzhaft, seine Handlungsweise zu erklären wie sie auszuführen gewesen war. „Du hast gesagt, du wolltest ohne Angst leben können. Ich wünschte, es hätte einen einfacheren Weg dahin gegeben, aber es gab keinen.“ Evey spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie hielt die Hände vor den Mund, als sie zu würgen begann. Aber in ihrem Magen war nichts, was hätte hochkommen können. „Ich weiß, dass du mir wohl nie vergeben wirst“, sagte V und machte einen Schritt auf sie zu, als sei er ehrlich besorgt um sie. „Noch wirst du je verstehen, wie schwer es für mich war,
das zu tun, was ich tat. Jeden Tag sah ich selbst in mir, was du jetzt in mir siehst. Jeden Tag wollte ich es beenden. Aber jedes Mal weigerte ich mich nachzugeben, weil ich wusste, dass ich es nicht durfte.“ „Du bist krank!“, schrie sie und sah mit einem Blick zu ihm auf, der ihn innehalten ließ. „Du bist böse!“ „Du hättest es beenden können, Evey“, sagte er nachdenklich. „Du hättest nachgeben können, aber das hast du nicht. Warum?“ Und mit dieser Frage machte er ein paar Schritte auf sie zu, schien er ihr Trost und Hilfe anzubieten zu wollen. Doch sie rutschte an der Wand entlang von ihm fort und sah ihn an, als sei er so etwas wie eine Kakerlake. Bei weitem schlimmer noch als ihr Zellengenosse, die Ratte. Die Ratte konnte sie wenigstens verstehen. „Lass mich in Ruhe!“, schrie sie V an. „Ich hasse dich!“ „Genau das ist es“, sagte er und blieb stehen. „Zuerst glaubte auch ich, es sei Hass. Hass war alles, was ich kannte. Hass hatte meine Welt errichtet, mich eingesperrt, mich gelehrt, wie man Hass aß, wie man Hass trank, wie man Hass atmete. Ich glaubte, ich würde sterben an dem Hass in meinen Adern. Aber dann geschah etwas. Und es geschah mit mir, so wie es mit dir geschehen ist.“ Evey wandte sich von ihm ab, schloss fest die Augen und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. „Halt den Mund!“, kreischte sie. Sie zitterte am ganzen Leibe unter der nervlichen Anspannung, zu schwach nach ihrem fürchterlichen Martyrium. „Ich will nichts mehr hören von deinen Lügen!“ „Dein Vater sagte, Künstler benutzen Lügen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen“, erinnerte er sie. „Ja, ich erschuf eine Lüge und weil du daran glaubtest, fandest du etwas Wahres über dich selbst heraus.“
„Nein!“, schrie sie. Sie bog sich weg von ihm, versuchte ihm zu entkommen, ihn loszuwerden. Alles loszuwerden. „Was in dieser Zelle wahr war, ist jetzt noch genauso wahr“, erklärte V ihr beharrlich und fügte betont hinzu: „Was du dort drinnen fühltest, hatte nichts mit mir zu tun.“ „Ich kann gar nichts mehr fühlen!“ „Lauf nicht davor weg“, sprach er weiter, in derselben lästigen, unnachgiebigen Art, die sie von Anfang an so entnervt hatte, diese Art, mit der er sie zwang, sich auch unangenehmen Wahrheiten zu stellen. „Du bist dein ganzes Leben lang weggelaufen.“ „Oh Gott“, schluchzte sie plötzlich und fiel auf die Knie. Wie ein Fötus rollte sie sich zusammen, als die Panikattacke mit unaufhaltsamer Macht über sie kam. „Ich krieg… k… keine… Luft…“ Keuchend und ächzend stieß sie hervor: „Asthma… schon… a… als ich… klein war…“ Danach jedoch brachte sie kein Wort mehr zu Stande, atmete auch kaum noch. Und sie spürte, dass dieser Zusammenbruch ihres Körpers ein weiterer und letzter Verrat war – und sie konnte nichts weiter tun, als zu weinen. „Hör mir zu, Evey“, sagte V in ruhigem, befehlendem Ton. „Dies könnte der wichtigste Augenblick deines Lebens sein. Gib dich ihm hin.“ Sie wollte es nicht hören. Sie wollte gar nichts, nur, dass all das aufhörte. Sie schloss die Augen so fest sie konnte, aber irgendwie drangen die Tränen trotzdem weiter zwischen ihren Lidern hindurch und rannen ihr über die Wangen. „Sie nahmen dir deine Eltern weg. Sie nahmen dir den Mann weg, den du zu lieben begonnen hattest. Sie steckten dich in eine Zelle und nahmen dir alles weg, was sie dir wegnehmen konnten, bis auf dein Leben.“
„B… bitte…“, stieß sie keuchend hervor, mehr aber nicht. Und als V neben ihr in die Hocke ging und ihr beide Hände auf die Schultern legte, fing sie wie ein Kind an zu heulen. „Du glaubst, das sei alles gewesen, nicht wahr?“, sagte er, sanfter jetzt. „Dass alles, was du noch hattest, dein Leben war. Aber so war es nicht, stimmt’s?“ Evey schüttelte den Kopf. Tränen brannten auf ihren Wangen. Aber mit dieser einfachen Geste des Eingestehens erlangte sie ein kleines bisschen Selbstbeherrschung zurück. „Du hast noch etwas anderes gefunden“, sagte er, und sie wusste, dass er Recht hatte. Sie begann endlich zu verstehen, dass er die ganze Zeit über Recht gehabt hatte, mit allem. „In dieser Zelle hast du etwas gefunden, das dir mehr bedeutete als das Leben selbst, denn als sie dir androhten, es dir wegzunehmen, als sie drohten, dich umzubringen, wenn du ihnen nicht geben würdest, was sie haben wollten, sagtest du ihnen, dass du lieber sterben würdest.“ Und damit begann ihr Atem zurückzukehren, die Panik begann zu versiegen, und sie sog die Luft tief in ihre Lungen. „Du hast dem Tod ins Gesicht geschaut, Evey“, sagte er leise, fast flüsternd. „Du warst ruhig, du warst still. Versuche jetzt zu fühlen, was du in jenem Moment gefühlt hast.“ Sie versuchte es und verspürte abermals jene Erleichterung, jenes Gefühl, alle Last der Welt abzulegen. Und sie fing an, eine Wärme zu spüren, die sich in ihrem ganzen Sein ausbreitete. Nicht nur in ihrem Körper, sondern auch in ihrem Geist, ihrer Seele, in jedem Teil von ihr, der jemals gewesen war, der jetzt war und der je sein würde. „Oh Gott, ich fühlte mich“, begann sie, und jetzt klärten sich ihre Augen, „wie ein Engel.“ V nickte. Er erinnerte sich, selbst ganz ähnlich empfunden zu haben, und bot ihr die Hand. Evey ergriff sie, zögernd zunächst, dann fest, ein Druck, der mehr sagte als alle Worte.
Sie versuchte aufzustehen, stolperte aber hilflos gegen ihn. Ihre geistige Kraft vermochte die körperliche Schwäche nicht wettzumachen. „Mir ist schwindlig“, sagte Evey, fasste sich mit der freien Hand an die Stirn, dankbar für seine behandschuhte Hand, wohlwissend, dass sie ohne diesen Halt wieder zu Boden gegangen wäre. „Ich brauche Luft. Bitte. Ich muss hier raus.“ „Es gibt einen Aufzug. Er bringt uns hoch zum Dach.“ Und dann geleitete er sie, stützte sie dabei immer noch, durch die stille Schattengalerie zu einer Tür, von der sie immer angenommen hatte, dass sie in irgendeinen anderen Raum führte. Stattdessen aber lag dahinter der kleine Gitterfahrstuhl, den V erwähnt hatte. Evey hatte keine Ahnung, wie weit sie fahren mussten, aber der Weg nach oben schien kein Ende zu nehmen. Vielleicht lag das an ihrem gestörten Zeitgefühl. Aber sie hatte auch den Eindruck, dass die Schattengalerie ein beträchtliches Stück unter der Erde liegen musste und dieses Dach weit darüber. Genauer gesagt, der Aufzug trug sie aus der Hölle, in der sie wer weiß wie lange gesteckt hatte, und brachte sie, wenn schon nicht in den Himmel, so doch wenigstens zurück in die Welt, die sie damals hinter sich gelassen hatte… Jetzt, da Evey die würgende Enge ihrer Angst überwunden hatte, erkannte sie, dass es eine Welt unendlicher Möglichkeiten war. Und dann glitt die Gittertür beiseite, die Außentür wurde aufgestoßen und Evey vergaß die lastende Stille der Tiefe. Die Nacht wurde von einer rollenden Kanonade von Donnerschlägen zerrissen. Es erinnerte Evey an jene Nacht, als V den Old Bailey in die Luft gejagt hatte, und sie erwartete, jeden Moment Tschaikowsky zu hören, vom Wind herbeigeweht. Und noch deutlicher wurde die Parallele, als gezackte, blaue, sich gabelnde Blitze den Himmel mit einem Netz aus starken elektrischen Entladungen überzogen, ehe
neuerliches Donnern die wogenden, tief hängenden Wolken erbeben ließ. Aber es war nicht das himmlische Feuerwerk, das Evey interessierte. Es war der Regen, der sich aus den Wolken ergoss und vor ihr auf das Dach klatschte und rauschte und spiegelnde Pfützen erschuf, die das Blitzgewitter reflektierten, so viele Teilchen des Himmels hier unten auf Erden. „Hier“, sagte V und bot ihr seinen Umhang dar, aber sie beachtete ihn gar nicht. Im Gegenteil, sie wand sich aus dem Hanfkleid, das sie viel zu lange getragen hatte, und trat nackt in den strömenden Regen hinaus. Ruhig und friedvoll hob sie den Kopf und blickte direkt in den Himmel hinauf, spürte, wie die schweren Regentropfen fast senkrecht niederfielen, ließ sie über ihr Gesicht fließen, auf ihren dünnen, zerbrechlich wirkenden, zerschlagenen Körper prasseln. Ließ ihn nicht ihre Sünden, aber ihr Leid fortspülen. Alles war jetzt vorbei, alles lag hinter ihr. Und mit dem Leid wusch der Sturm auch ihre Angst weg, ein für alle Mal. „Gott ist im Regen“, sagte Evey bedächtig in Erinnerung an Valeries Worte. Sie atmete tief durch und füllte ihre Lungen, als seien sie noch nie zuvor benutzt worden. Und sie wusste, dass Valerie Recht gehabt hatte. Gott, ganz gleich, was man von Ihm oder Ihr hielt, war ohne jeden Zweifel im Regen… in den Wolken, den Bäumen, den Gebäuden, den Menschen… in der Ratte… in allem. Und umgekehrt war alles auch Gott. Und Gott war kein Engländer, war nicht Sutlers Gott, war nicht einmal „christlich“. Gott war jedermanns Gott, jedermanns Götter oder Göttinnen. Und „die Gottheit“ gab es nur im selben Sinne, wie es „den Menschen“ gab. Ob man „Gott“ nun Jehova oder Allah, Zeus oder Odin, Brahma oder den Jadekaiser nannte. Ebenso wie man Mann oder Frau oder Kind genannt wurde, ob man nun Angelsachse, Afrikaner,
Araber, Jude oder Chinese war. Denn so wie Shylock sagt: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir dann nicht?“, so würde die Gottheit, vom gekreuzigten Christus bis hin zu einem Götzenbild aus Erdreich, fragen: „Wenn du mich verehrst, bin ich dann nicht Gott?“ Und Evey wusste, dass es so war, und genau darum war es so für sie. Und V, der sie beobachtete, erinnerte sich an die Nacht, in der er selbst dieses Stadium erreicht hatte. Nicht durch Wasser, sondern durch Feuer. Nicht in London, sondern in Larkhill. Nicht mit himmlischem Feuerwerk, sondern mit Sprengstoff, den er selbst gezündet hatte. Jener fünfte November vor vielen Jahren. Der Himmel war ganz aus Feuer und die Welt ganz aus Rauch, auch er war damals nackt gewesen. Nicht um die Welt auf seiner Haut zu spüren, sondern weil ihm die Kleider vom Leibe gebrannt waren und ein großer Teil seiner Haut ganz einfach weg war. Ein Inferno. Nicht einfach nur im Sinne eines gewaltigen Feuers, sondern in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: eine Flammenhölle. Aber irgendwie auch ein reinigendes, alchemistisches Feuer, das den Unrat der Welt zerglühte, von dem nur Schlacke und Silber und Gold übrig blieb. Und nicht nur sein Leiden hatte in jener Nacht ein Ende gefunden, sondern auch das Leiden vieler anderer, auf die eine oder andere Weise, ob zum Besseren oder zum Schlechteren. Und wenn er in jener Nacht befreit worden war, welch größerer Aufgabe konnte er sich danach verschreiben als der Befreiung anderer, vielleicht der ganzen Welt? „Alles ist… so anders“, sagte Evey leise, sanft, fast unhörbar durch den Regen, aber gerade laut genug, um V aus jener Nacht zurückzuholen, in der es keine solchen leisen Worte gegeben hatte, sondern nur Schreie und Gebrüll.
Und so sollte es sein, denn dies nun war Eveys Nacht, eine Nacht, wie sie noch keine erlebt hatte und nie wieder eine erleben würde. Und er würde sein Möglichstes tun, mit ihr zu sein und zu fühlen, denn all diese Erfahrungen waren ebenso unterschiedlich, wie sie einander immer aber auch gleich waren. Nicht weit von V, da draußen auf dem Dach in einer Welt aus niederstürzendem Wasser, begann Evey zu weinen. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen und sie hatte das Gefühl, als vermenge sich ihr ganzes Sein so mit der Unendlichkeit. Über ihr zerrissen die tanzenden Blitze mit grellem Himmelsleuchten abermals das Firmament und schrien: „Ich bin!“, wie die im Licht verkörperten Götter es stets getan hatten. Im Glanze. Als Erleuchtung.
KAPITEL 18
Tage waren vergangen, zu Wochen verschwommen, ganz ähnlich wie sie es in ihrem vermeintlichen Gefängnis getan hatten. Und wieder hatte Evey so gut wie kein Zeitgefühl. Jetzt allerdings nicht wegen der andauernden psychologischen Marter, von der ihre früheren Ängste langsam weggescheuert worden waren, sondern weil die Zeit als solche nicht mehr zählte. Stattdessen gab es nur noch den fortwährenden Prozess des Genesens: den Körper wieder auffüttern, Kraft zurückgewinnen, die neue geistige Ruhe und innere Ausgewogenheit durchleben, das zuvor unbeachtete Gefühl nicht des Wohlseins, sondern einfach des Seins. Bis Evey eines Tages bemerkte, dass sie genug Haar hatte, um wieder mit den Fingern hindurchfahren zu können. Und am folgenden Morgen war sie zu einer Entscheidung gelangt. In der Straßenkleidung, die V ihr zur Verfügung gestellt hatte – sicher ging er auch in anderen Verkleidungen hinaus und kaufte für sie ein oder, ihr fiel ein, wie er in den Besitz seiner Kunstwerke gekommen war, er stahl für sie –, und mit ihrer gepackten Tasche fand sie V im Hauptraum der Schattengalerie. Er stand nachdenklich an der Jukebox, scheinbar verloren in einer ganz eigenen Welt. Oder er sann über weitere Züge seines Planes nach, die Anarchie heraufzubeschwören, die er als einzige Antwort auf die Unterdrückung des faschistischen Staats betrachtete. Selbst wenn er nicht die ausdruckslose Maske trug, hätte Evey doch, so glaubte sie, nie genau gewusst, wie er in seinem Innersten dachte. Denn trotz des Wenigen, das er ihr über seine eigene Herkunft erzählt hatte, und die Einblicke, die sie während ihrer
„Gefangenschaft“ erhalten hatte, verstand sie noch immer nicht ganz, durch was für eine Hölle er in Larkhill gegangen war. Und nun, da die Hauptübeltäter durch seine Hand gestorben waren, würde das vielleicht nie jemand außer V selbst verstehen. „V“, begann Evey. Sie wusste nicht, wie anders sie es sagen sollte als kurz, und außerdem hatte es keinen Zweck, etwas anderes versuchen zu wollen, als es frei heraus zu sagen. „Ich gehe.“ Es war keine leichte Entscheidung gewesen. Die Welt draußen war rau, gleichgültig, gefährlich. Sie war voller Dinge, vor denen Evey sich einst so sehr gefürchtet hatte, dass sie ihr ganzes Leben lang davongelaufen war. Und Evey wusste, dass ihr altes Leben ohnedies vorbei war. Sie konnte nicht mehr zur Arbeit gehen, zu ihren Freunden, ihren wenigen noch lebenden Verwandten, selbst wenn sie es gewollt hätte. Was mit Gordon Deitrich geschehen war, hatte ihr eine Lektion erteilt. Sie konnte nicht zulassen, dass jemand anderem, den sie kannte oder gern hatte, das Gleiche zustieß. Aber genau dazu würde es kommen, einfach deshalb, weil sie sie kannten. Die Schattengalerie hingegen bot Sicherheit, hier gab es Kunst und Staunen. Es war die Art von wunderbarer Zuflucht, von der sie immer geträumt hatte. Die das Zauberwort ihr offenbaren sollte, die zu entdecken Evey immer gehofft hatte. Aber jetzt wusste sie, dass sie keine sicheren Zufluchtsorte wie diesen mehr brauchte. Sie hatte das Zauberwort gefunden, und es hatte sich herausgestellt, dass es ganz anders lautete, als sie es erwartet hatte. Es hieß: „Lieber sterbe ich hinter den Chemikalienschuppen.“ „Hier drin sind achthundertzweiundsiebzig Lieder“, sagte V schließlich wie abwesend und ohne sich umzudrehen und sie anzusehen. „Ich habe sie mir alle angehört, aber ich habe nie zu einem davon getanzt.“
„Hast du mich gehört?“, fragte sie etwas verwirrt. „Ja.“ „Ich kann nicht hier bleiben“, erklärte sie noch einmal rundheraus und fragte sich zugleich, ob er sie vielleicht noch immer nicht ganz verstand, auch wenn er sie gehört hatte. „Ich weiß“, sagte er und wandte sich endlich von der Jukebox ab und ihr zu und das Lächeln auf der Maske schien ihr jetzt mitfühlend zu sein, obgleich es sich nie veränderte. Oder vielleicht lag es einfach daran, wie er den Kopf hielt, lag es an seiner Körpersprache. Nein, es war mehr als nur das. Sie wusste seine Stimme unterdessen viel besser zu lesen, all die winzigen Modulationen und Veränderungen des Tones, die unterschwelligen Andeutungen. „Du wirst hier keine verschlossenen Türen mehr finden.“ Sie durchquerte den Raum und ging auf ihn zu, griff dabei in ihre Tasche und suchte nach etwas, das sie nachträglich aus ihrer „Zelle“ geholt hatte. „Ich dachte daran, das hier zu behalten“, setzte sie an und zog endlich die kleine Rolle Toilettenpapier hervor, die Valeries Brief enthielt, „aber es schien mir nicht richtig, nun, da ich weiß, dass du es geschrieben hast.“ „Das habe ich nicht.“ Es war eine so eindeutige Aussage und so schlicht ausgesprochen, dass sie ihm glauben musste. Dennoch überraschte es Evey und zertrümmerte eine weitere Illusion in den Vorstellungen, die sie bei sich als „offenbar wahr“ eingestuft hatte. „Darf ich dir etwas zeigen, bevor du gehst?“, fragte er dann. Sie zögerte, weil sie nie recht wusste, was zu erwarten stand, wenn V ihr etwas zeigen wollte, dann nickte sie. Daraufhin führte er sie durch die Schattengalerie und in einen weiteren Raum, den sie zuvor noch nicht gesehen hatte. Dieser Ort schien endlos zu sein, eine labyrinthische Ansammlung
von Räumen über Räumen, miteinander verbunden durch Gänge, die sich ineinander zu winden und nirgendwohin zu führen schienen und schließlich doch ein immer erstaunliches Ziel erreichten, erfüllt nur vom allernötigsten Licht. Ein Irrgarten aus geheimnisvoller Düsternis und Wundern. Doch was V ihr zeigte, als er diese Tür öffnete, war das bislang wohl Überraschendste. Der Raum dahinter war schlichtweg ein Schrein. Unter der gewölbten Decke, wie man sie auch sonst überall in der Schattengalerie fand, wurde die kalte Härte der steinernen Mauern von aufwändig gewebten Wandteppichen erwärmt. Der Boden war mit der Art dicker Perserteppiche ausgelegt, die Evey zuvor nur in Bischof Lillimans Schlafzimmer gesehen hatte. Dann ließ er ihr einen Augenblick zum Nachdenken über die Scheinheiligkeit, die sich hinter der Maske „ordentlich“ organisierter Religionen verbergen konnte, die ihre Zeremonien offen im Tageslicht durchführten, und in welchem Gegensatz sie zu der offenkundigen und ehrlichen Reverenz stand, mit der V diesen Gedenkraum eingerichtet hatte, den er, dessen war sie sicher, noch keiner anderen Seele gezeigt hatte. Hier mochte keine Gottheit verehrt werden, aber es war offensichtlich, dass ihm dieser Raum trotzdem heilig war. Zu beiden Seiten, unter an Ketten hängenden Pflanzenlampen, lagen blühende Rosenbeete. Violette Carson-Rosen. Als V sie hineinführte in den Raum, wurde sie eines weiteren Beetes violetter Carsons gewahr, das sich auf einer Art Altar befand, und direkt unterhalb davon sah sie das Allerheiligste. In der Mitte stand ein Porträt, und an die Wände darum her waren Fotos, Kinoplakate, Zeitungsausschnitte und Rezensionen geklebt, die alle dieselbe Frau zeigten wie das Gemälde. Einen Moment lang konnte Evey diese bislang nicht
offenbarte und anscheinend sentimentale Seite von Vs Wesen nicht ganz verstehen, denn das hier war ohne jeden Zweifel mehr als die zufällige Zusammenstellung von alten Horrorund Gangsterfilmplakaten, die andernorts in der Schattengalerie zu sehen war. Hier drehte sich alles um eine einzelne Person, eine, die ihm offenbar besonders lieb war. Und dann fiel ihr der Name der Schauspielerin auf. Valerie Page. Und eines der Plakate warb für Die Salzwüste. „Es gab sie wirklich?“, fragte Evey leise, Staunen in der Stimme. Kurze Zeit nur schien diese Frau so wichtig für sie gewesen zu sein, so real. Und dann plötzlich so falsch, als Evey gewahr wurde, dass ihr Gefängnis eine Fälschung gewesen war. Und nun, da Valerie allem Anschein nach doch wieder Wirklichkeit war, schien alles, was mit ihr zusammenhing, vollkommen fließend zu sein. V nickte zur Antwort auf Eveys Frage und brachte sie so dahin zurück, wo es auf Wirklichkeit ankam. Und zeigte dabei echte Ehrfurcht, trotz der Maske. „Sie ist wunderschön“, sagte Evey, von demselben Gefühl ergriffen. „Kanntest du sie?“ „Nein“, sagte V leise. „Sie schrieb den Brief, kurz bevor sie starb. Ich ließ ihn dir auf demselben Wege zukommen, wie er mir zugekommen war.“ „Dann ist es tatsächlich passiert?“, fragte Evey mit einem Mal schier erdrückt. Nachdem sie herausgefunden hatte, dass alles, was während ihrer „Gefangenschaft“ geschehen war, nichts weiter gewesen war als ein Puppentheater, in dem V die Fäden zog, hatte sie eine Zeit lang geglaubt, dass Valeries Brief nur ein Schwindel gewesen sei. Dass dies vielleicht der größte Betrug gewesen war unter all dem, was er ihr angetan hatte, so notwendig das auch gewesen sein mochte. Jetzt aber kam alles Mitgefühl, das sie für Valeries Leiden empfunden
hatte, mit doppelter Macht zurück. Und damit eine neue Bereitschaft und Fähigkeit, sich in V hineinzuversetzen. „Du warst in der Zelle neben ihr?“, fragte sie, obgleich sie die Antwort schon wusste, bevor er nickte. Dann musste er also etwa die gleichen Gefühle verspürt haben wie sie beim Lesen dieses schmerzvollen Testaments einer Todgeweihten. „Darum also geht es bei all dem hier“, fuhr sie fort, keineswegs anklagend. Sie fasste jetzt nur in Worte, was ihr durch den Kopf schoss. „Du rächst dich an ihnen für das, was sie ihr angetan haben. Und dir.“ Und uns allen, hätte sie noch hinzufügen können. Wenn sie daran dachte, wie weit Sutlers Brutalität über die Straflager und Verhörzentren hinausgereicht hatte, ein alles verschlingendes Krebsgeschwür, das Verderben über das ganze Land gebracht und es zur Hölle gemacht hatte für alle, die darin lebten. „Was sie mir angetan haben, hat mich erschaffen“, erklärte er. „Es ist eins der Grundprinzipien des Universums, dass jede Aktion eine dementsprechende entgegengesetzte Reaktion erzeugt.“ „So siehst du das?“, fragte Evey. Obwohl sie gerade noch hatte gehen wollen, war sie wieder fasziniert von den Überraschungen, die seine Denkweise aufwarf. Und wie V übergangslos umschalten konnte von anscheinender Sentimentalität zu fast abstoßender Konsequenz. „Wie eine Gleichung?“ „Was sie taten, war ungeheuerlich“, erwiderte er im Ton schlichter Akzeptanz. Die bloße Feststellung einer Tatsache ohne gefühlsmäßige Bedeutung. „Und sie erschufen ein Ungeheuer“, ergänzte sie gleichermaßen emotionslos, gleichermaßen ohne moralische Wertung.
Was er von ihrer Zusammenfassung auch halten mochte, V sagte nichts. Und für ein paar Augenblicke standen sie schweigend da und sahen einander an, vielleicht zum letzten Mal. Dann reichte Evey ihm Valeries Brief. Sie sah zu, wie er ihn ehrfürchtig zurück auf den Schrein stellte, von wo er ihn vor all den Tagen oder Wochen zuvor weggenommen hatte. Und irgendwie verspürte auch sie ein ehrfürchtiges Gefühl. Als verabschiede sie sich mit ihrem Aufbruch nun aus der Schattengalerie von gleich zwei Menschen, nicht nur von einem. „Weißt du schon, wo du hingehst?“, fragte er schließlich. „Nein.“ Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Bislang hätte mir das Angst gemacht. Ich nehme an, ich sollte dir dafür danken, dass es jetzt nicht mehr so ist.“ Aus einem plötzlichen Impuls trat sie auf ihn zu und sah auf zu dem starren Lächeln, mit dem er sich das Gesicht maskierte. Fast schien es, als sei sie im Begriff, V zu küssen. Aber welchen Sinn hatte es, eine Maske zu küssen? „Danke“, sagte Evey, und, schon im Wegdrehen, fügte sie hinzu: „Und auf Wiedersehen.“ Doch bevor sie den Schrein verlassen konnte, gerade als sie den Drang verspürte, V noch einen letzten Blick zuzuwerfen, ehe sie für immer aus seinem Leben verschwand, rief er ihren Namen. „Evey… darf ich dich um etwas bitten?“ Sie nickte und fragte sich, was sie tun würde, wenn er sie in diesem letzten Moment zu bleiben bäte. „Wenn ich einen Wunsch frei hätte“, sagte er und ein Ton starker Trauer in seiner Stimme unterstrich die Bedeutsamkeit seiner Bitte, „würde ich dich noch einmal sehen wollen, nur einmal, vor dem fünften November.“
Einen Augenblick lang stand sie da und überlegte. Wäre es besser, einen klaren Schnitt zu machen, all das hinter sich zu lassen, ihn nie wieder zu sehen? Aber nach allem, was er für sie getan hatte, ob sie es nun gewollt hatte oder nicht, vielleicht konnte sie ihm da im Gegenzug diesen kleinen Gefallen erweisen. „In Ordnung“, sagte sie leise, dankbar, mit einem Lächeln, das ihm, irgendwie, all seine Sünden vergab. „Danke“, sagte er und erwiderte ihr Lächeln mit seinem, das immer gleich war, auf immer erstarrt, auf ewig undeutbar. Evey drehte sich um und verließ ihn. Verließ ihn und fragte sich, wie sie ohne ihn zurechtkommen würde. Fragte sich, wie er ohne sie zurechtkommen würde.
KAPITEL 19
Großkanzler Adam Sutler blickte von dem großen Bildschirm in den Kabinettsaal hinunter, eindeutig alles andere als glücklich über die Situation, die seine Abteilungsleiter ihm soeben schilderten. Waren das wirklich die besten zur Verfügung stehenden Männer? Und taten sie wirklich ihr Bestes, um mit diesem terroristischen Chaos fertig zu werden? Wenn er vielleicht einen von ihnen töten ließe, vor den Augen der anderen, um die damit anzupuschen. Etheridge zum Beispiel. Diese nutzlose kleine Kröte. „Basierend auf zufällig abgehörten Gesprächen“, sagte der potenzielle Todeskandidat soeben. Nervös vor sich hin murmelnd kämpfte er sich durch den Bericht, der vor ihm auf dem Konferenztisch lag. Und er gab sich alle Mühe, das kurz zusammenzufassen, was der Kanzler, wie Etheridge wusste, nur als widerlich schlechte Nachricht betrachten konnte. „Auf dieser Grundlage besagt meine Hochrechnung: Im Moment glauben achtzig Prozent der Einwohner, dass der Terrorist noch am Leben ist.“ Etheridge räusperte sich, nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas vor sich und fuhr fort: „Außerdem verzeichnen wir gegenüber dem Vormonat eine zwölfprozentige Zunahme in puncto ,positiver Erwähnung’ in allen vier Quadranten.“ Der Blick des Kanzlers war voller Verachtung. Hatte Hitler sich mit solchen Untergebenen herumschlagen müssen? Da entledigte man sich all des Abschaums, um den Weg freizumachen für seine reinrassigen Nordfeuer-Übermenschen, und endete mit…so etwas? Als wüsste er, was sein Herr dachte, versuchte Etheridge in den Schatten zurückzusinken,
unsichtbar zu werden, aus dem Blickfeld zu verschwinden. Wenn sie nur die gegenwärtige Unruhe ebenfalls verschwinden lassen könnten. Im größeren Rahmen, unabhängig von den Aktivitäten des Terroristen selbst, handelte es sich bislang zwar nur um Gerede, um eine Zunahme von Slogans, auf Wände geschmiert, und um Verunstaltung von Plakaten. Aber es war ein Besorgnis erregendes Zeichen. Und es gab Viertel im East End, wo man anfing, Sicherheitskameras zu zerstören, wo die Kleinkriminalität wuchs, wo es die Polizei für ratsam hielt, nur noch paarweise auf Streife zu gehen… „Mr. Creedy?“, schnauzte Sutler als Nächstes, und selbst der normalerweise kühle, ruhige Leiter des Fingers machte plötzlich einen unbehaglichen Eindruck. „Wir handhaben die Sache, so gut wir können, Kanzler.“ Peter Creedy tat sein Bestes, um geschäftsmäßig und effizient zu klingen. „Die Zahl unserer Festnahmen ist immerhin schon so hoch wie zur Zeit der Reklamation.“ Das war sicherlich etwas, auf das man stolz sein konnte. Und wenn nicht, dann zeigte es zumindest, dass er und seine Männer am Ball waren, ihre Arbeit taten. Dass es da draußen immer mehr Leute zu geben schien, die verhaftet werden mussten, war vielleicht etwas, auf das man im Moment nicht eingehen sollte. Trotzdem war Creedy auf Sutlers Reaktion doch nicht ganz vorbereitet. „Ich will mehr als nur Festnahmen!“, rief der Kanzler aufgebracht und änderte seine Ansicht über Etheridge. An Creedy mochte sich ein weitaus wirkungsvolleres Exempel statuieren lassen. „Ich will Ergebnisse!“ Ein paar Sekunden lang schien die Stille im Nachklang des Wutausbruchs zu vibrieren. Die versammelten Abteilungsleiter starrten auf die Tischplatte vor sich. Angespannte Nerven, sich überschlagenden Gedanken. Begann der alte Tyrann die
Beherrschung zu verlieren? Ging ihm diese verdammte Terroristensache jetzt allmählich unter die Haut? Und wenn er weich wurde, welche Auswirkungen hatte das? Wer würde das Heft in die Hand nehmen? Wer würde an die Spitze treten, mit den Stiefeln auf dem Nacken der anderen? Wenn andere dann noch übrig waren… Schließlich wurde die Stille von raschelnden Papieren durchbrochen, die nervös geordnet wurden. Man bereitete sich auf den nächsten Punkt der Agenda vor, in der Hoffnung, dass sich Sutlers finsteres Gesicht bis dahin etwas entspannt hatte und einen wieder eher normalen Ausdruck zeigte. Nur Eric Finch gestattete sich ein ganz leichtes Grinsen über Creedys Unbehagen. Geschah dem Hurensohn ganz recht. Nach all dem Mist, den er Finch in letzter Zeit reingewürgt hatte, war es höchste Zeit, dass zur Abwechslung mal dieser hinterhältige Blödmann eins aufs Dach bekam. Schließlich räusperte sich Conrad Heyer nervös die Kehle frei. „Ich bitte um Verzeihung, Kanzler“, begann er zögernd. Er begriff nicht ganz, warum es gerade ihm zugefallen war, den Bericht vorzutragen, für dessen Zusammenstellung die Abteilungsleiter gemeinsam verantwortlich waren – alle bis auf einen jedenfalls. Heyer hatte eher erwartet, dass Creedy sich um den Vortrag reißen würde, damit der wie üblich alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Aber nach dem Anschiss, den der Fingermann gerade erhalten hatte, war es vielleicht auch keine Überraschung, dass er es nicht tat. Dascombe gab einen Dreck auf die Houses of Parliament, solange nur einige Nachrichtenteams vor Ort waren, um über die Ereignisse zu berichten, und Etheridge war ganz bestimmt nicht der richtige Mann für diese Aufgabe… Finch würde es ohnehin nicht machen… also blieb nur er übrig.
„Ich weiß, dass niemand diese Angelegenheit diskutieren will“, fuhr er mit ziemlich anklagendem Blick in die schweigende Runde fort. Dann kam er in Schwung. „Aber wenn wir auf jede Eventualität vorbereitet sein wollen, dürfen wir diesen Punkt nicht länger ignorieren. Der Red-Report vor dieser Sitzung wurde von mehreren Sprengstoffspezialisten geprüft. Er kommt zu dem Schluss, dass die logischste Vorgehensweise für den Terroristen ein Angriff aus der Luft wäre.“ Nachdem Dascombe dem Kanzler diese wichtige Angelegenheit vorgetragen hatte, wandte er den Blick Finch zu. Nun, eines musste wohl noch gesagt werden, so lächerlich es nach Meinung all der anderen auch sein mochte: „Es wurde allerdings noch ein zweiter Bericht vorgelegt, der sich auf eine U-Bahn festlegt. Obwohl die Tunnels rund um das Parlament versiegelt worden sind.“ „Wer hat den Bericht vorgelegt?“, fragte Sutler, und der Hohn in seiner Miene ließ bereits vermuten, was er von dieser Idee hielt. „Chief Inspector Finch“, antwortete Heyer und schob so den schwarzen Peter mit auffälligem Eifer von sich weg. „Haben Sie irgendeinen Beweis, der diese Schlussfolgerung stützt, Inspector?“, fragte der Kanzler vom Bildschirm herab, den Blick starr auf Finch geheftet. „Nein, Sir“, erwiderte Finch ehrlich. Einen solchen Beweis hatte er leider nicht. „Nur so ein Gefühl.“ „Wenn es eines gibt, dessen ich mir sicher bin, Inspector Finch“, sagte Sutler mit kalter, schwerer Betonung, „dann dass diese Regierung nicht überdauern wird, wenn sie sich von Ihren so genannten Gefühlen abhängig machen sollte.“ Von der anderen Seite des Tisches grinste Creedy wölfisch zu Finch herüber, er vergalt Verachtung mit Verachtung plus Zinsen.
Nun, dachte Finch, das würde man ja sehen. Und er hätte viel eher dem Instinkt eines Bullen vertraut als der absoluten Überzeugung eines hochnäsigen Nazis vom Schlage des Adam Sutler. Wenn er überhaupt noch jemandem vertraut hätte. Finch erkannte es am Ausdruck auf Dominics Gesicht, als der junge Mann das Büro betrat, das sie sich bei New Scotland Yard teilten. Dominic schloss die Tür hinter sich, noch bevor er das Zeichen gab, das sie verabredet hatten. Trotzdem, dachte Finch, während er den Störsender aus seinem Schreibtisch holte und einschaltete, sah sein Assistent heute Morgen ganz besonders gequält drein. „Mein Freund beim Finger hat etwas gefunden“, sagte Dominic trotz des Störsenders leise. Mit einem verstohlenen Blick in die Runde, obwohl er ganz genau wusste, dass sie allein waren, griff er in die Tasche und reichte Finch eine Diskette, die der sofort auf seinen Computer lud. „Es waren drei Männer“, sagte Dominic. Er trat zu seinem Chef hinter dessen Schreibtisch, als sich die Datei zu öffnen begann. „Geheimdienst. Originale Schwarzsäcke. Alle unter Creedy.“ „Alan Percy“, las Finch vom Bildschirm ab. „Robert Keyes und William Rookwood.“ „Am Tag nach dem St.-Mary’s-Ausbruch“, ergänzte Dominic, „hat Percy seiner Beretta einen geblasen, Keyes kam in einem Feuer um und…“ „Rookwood wird ,vermisst’“, beendete Finch für ihn den Satz, den Blick auf die Informationen am Bildschirm gerichtet. „Bei solchen verdammten Zufällen wird mir speiübel“, bemerkte Dominic, der ebenso wenig wie Finch noch an Zufalle glaubte. „Rookwood?“, brummte Finch nachdenklich und versuchte, den Finger auf etwas zu legen, an das er sich nicht recht
erinnern konnte. „Rookwood? Woher kenne ich diesen Namen?“ Ein Verdacht, eine Ahnung, eines jener Gefühle, die Sutler so verachtete. Finch öffnete seine Mailbox und tippte den Namen in die Suchleiste ein… und fand eine nicht geöffnete E-Mail von „William Rookwood“. „Großer Gott“, stieß Dominic leise hervor, der seinem Chef über die Schulter blickte. Finch öffnete die Nachricht und begann sie zu lesen. Lieber Inspector, soweit ich weiß, suchen Sie nach mir. Daraus kann ich nur schließen, dass Sie für die Wahrheit bereit sind. Wenn dem so ist, schicken Sie diese E-Mail zurück. Dann werde ich Ihnen Einzelheiten zur Kontaktaufnahme senden. W. R. „Er muss in seiner Akte beim Finger so etwas wie einen Auslöser versteckt haben“, sagte Dominic. Seine Befriedigung darüber, dass er die Lösung gefunden hatte, wich allerdings schon bald neuerlicher Verwirrung. „Aber woher wusste er, dass Sie dahinter stecken?“ Finch schüttelte den Kopf. Manchmal gab es Fragen, die auch der Instinkt eines Bullen nicht beantworten konnte. „Und was machen wir jetzt?“, fragte Dominic nervös. Er fürchtete die Antwort, konnte sie sich aber bereits denken. „Ich bin ein Bulle“, erwiderte Finch und drückte auf das Antwort-Feld. „Ich muss es wissen.“ „Bullshit“, schnaufte Dominic leise und hatte furchtbare Angst, dass es genau das war, wohinein sie geraten würden.
Das St. Mary’s Mausoleum and Memorial war eines jener gewaltigen Marmorbauwerke, auf die sich faschistisch-
imperialistische Regime so gut zu verstehen schienen – oder gar nicht gut, eine Frage des persönlichen Geschmacks. Gigantisch, imposant, monumental, die Art von Tribut, die diese unglücklichen Opfer so sehr verdienten – oder schwülstig, anmaßend und bedrückend, die Art von Monstrosität, die eine übel wollende Regierung errichtete, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern. Für Finch und Dominic war die Sache klar. „Ich war hier, als es eingeweiht wurde.“ Der jüngere Mann schauderte. „Bekam Bauchschmerzen davon.“ Er ließ den Blick über die Brunnen schweifen, über die Hauptstatue, die spielende Kinder darstellte. Deren engelhafte Gesichter waren vom schneeweißen Marmor in kalter Ewigkeit gefroren. Deren rennende Beine kamen nirgendwo an. Die Spielsachen, die sie in den Händchen hielten, blieben unbenutzt. Und die lange Reihe von Tafeln trugen in Gold graviert die Namen der schier endlosen Zahl von Toten. „Und daran hat sich nichts geändert“, fügte Dominic hinzu. Finch wusste genau, was er meinte. Er war nie ein großer Anhänger von Totenskulpturen gewesen, so schön die Christusfiguren und Engel in den Alkoven ringsum an den Wänden auch sein mochten. Was an diesem Denkmal hier allerdings noch schlimmer war: Mochte das Memorial auch wie ein hübscher und liebevoller Tribut an die Kleinen wirken, die hier gestorben waren, mochte es auch ein scheinbar angemessener Ersatz für die inzwischen abgerissene St. Mary’s Schule sein – es war aber genau an der Stelle des Spielplatzes erbaut, wo man das Massengrab ausgehoben hatte, um sich der vielen kleinen Leichen rasch zu entledigen. Damit sich die Seuche nicht ausbreitete. Und hatte einen gewaltigen Grabstein auf ein riesiges Grab gestellt.
Nichtsdestotrotz, sie waren nicht hergekommen, um über die Vergangenheit nachzusinnen, sondern um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und der Mann, dessen Hilfe sie dazu brauchten, war William Rookwood. Der Ort schien zu dieser Zeit am Morgen weitgehend leer zu sein. Die immer noch trauernden Verwandten hatten auf ihrem Weg zur Arbeit den Toten ihren Respekt gezollt, und die Lehrer, die ihre Schüler regelmäßig hierher brachten, kamen erst noch. Hinter dem Denkmal gab es ein Museum mit Fotos und Erinnerungsstücken an die Opfer und die Schule. Der größte Teil der Reliquien war mit ziemlicher Sicherheit gefälscht, bedachte man, wie die Aufräumtrupps beim Desinfizieren der ganzen Gegend alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet hatten. Das Museum der toten Kinder hieß es im Volksmund, und organisierte Besuche waren Pflichtteil des Lehrplans sämtlicher Schulen in London. Die Lektion der Geschichte war zu lernen und wie notwendig Wachsamkeit war gegenüber den Gefahren der Zukunft. Eine Geschichte, die Finch inzwischen im Verdacht hatte, komplett gefälscht zu sein – und eine zukünftige Gefahr, von der er kaum glaubte, dass sie von außen kommen würde. Vielmehr ging sie gerade von denen aus, deren Aufgabe es eigentlich war, die Bürger von morgen zu beschützen. Aber der Ort war nicht gänzlich verlassen. Ein leises Räuspern lenkte die Aufmerksamkeit der beiden Polizeibeamten auf einen Mann, der in einer dunklen Ecke der Gedenkstätte auf einer Marmorbank saß, fast versteckt hinter einem Beet aus weißen Lilien. Finch und Dominic wechselten einen Blick, dann gingen sie auf den Mann zu. „Das ist nahe genug, Inspector“, sagte der Mann leise, und sie blickten ihn an und riefen sich den hoch gewachsenen, relativ schlanken, glatt rasierten Mann in Erinnerung, der Rookwood
dem Foto in seiner Akte nach zu sein schien. Stattdessen sahen sie einen großen, fast fetten und bärtigen Mann mit dunkler Brille und einem breitkrempigen Hut. Den zog er tief in die Stirn, damit sein Gesicht im Schatten lag. Der Mann trug einen schweren, dunklen Mantel, neben ihm stand eine kleine Tasche, und seine behandschuhten Hände spielten mit einem schweren Spazierstock mit Silberknauf. Ein Stock, der auch als Waffe dienen konnte, selbst wenn sich in seinem Schaft keine Klinge verbarg, was Finch indes vermutete. Der Bart sah echt aus. Allerdings glaubte Dominic, dass der Mantel mit mehreren Lagen von Polstern gefüttert war, keine Überraschung, da Rookwood im Dunkeln lebte und immer verkleidet war. Draußen fing es wieder an zu regnen. Auf dem Marmorpflaster, das die Gedenkstätte umgab, hob ein sanftes Trommeln an, und die Luft wurde noch etwas kühler. Als ob es Eric Finch innerlich nicht schon kalt genug war, wenn er an alles dachte, was sie in dieser Sache bislang schon aufgedeckt hatten. Und er nahm fest an, dass noch weit Schlimmeres herauskam, wenn sie jetzt diesen Mann erst befragten. „Sie sind Rookwood?“ Finch erhielt ein Nicken zur Antwort. Und dann griff der Mann in die Tasche und holte einen Störsender hervor, der dem ähnelte, den Finch besaß. Rookwood schaltete das Gerät ein. „Wir sind nicht verwanzt“, sagte Finch, wohlwissend, dass Rookwood ein Narr wäre, würde er ihn beim Wort nehmen. Trotzdem hatte er das Gefühl, es erwähnen zu müssen. „Tut mir Leid“, erwiderte Rookwood, „aber ein Mann in meiner Lage überlebt nur, wenn er alle Vorsichtsmaßnahmen trifft.“ Finch nickte verständnisvoll und wies auf eine Bank nicht weit von der, auf der Rookwood saß. Als der sein
Einverständnis signalisierte, nahm Finch auf der anderen Bank neben Dominic Platz. „Sie haben Informationen für uns?“ „Nein, die Informationen haben Sie schon.“ Rookwood machte mit dem Kopf eine nickende Geste nach vorne und schien noch tiefer in die Schatten zu versinken. „Die Namen und Daten sind alle in Ihrem Kopf. Was Sie wollen, was Sie wirklich brauchen, ist eine Geschichte.“ „Eine Geschichte kann wahr oder falsch sein“, warf Finch etwas verärgert ein. Er war hier, um Ermittlungen anzustellen, nicht um Spielchen zu treiben. „Derlei Beurteilungen überlasse ich Ihnen, Inspector.“ Die Ahnung eines Lächelns spielte um Rookwoods bärtige Lippen, im Schatten kaum sichtbar. Dann klopfte er mit seinem Stock auf den Marmorboden, wie um sein Publikum um Aufmerksamkeit zu bitten. „Unsere Geschichte beginnt, wie diese Geschichten so oft beginnen“, sagte Rookwood, „mit einem jungen, aufstrebenden Politiker. Er ist ein zutiefst religiöser Mensch und Mitglied der Konservativen. Er ist absolut zielstrebig und alsbald nimmt er auf politische Traditionen keine Rücksicht mehr.“ Finch wusste nur zu gut, von wem Rookwood sprach: von Adam Sutler, der seinen konservativen Wurzeln bald entwachsen war und seine eigene Nordfeuer-Organisation gründete, die so viele Leute ursprünglich als Scherz abgetan hatten. „Adam Sutler, der Mann, der mit Gott spricht“, hatte man ihn spöttisch genannt in jenen Tagen, da Gott längst für tot erklärt worden war. Ohne dass man die vernichtende Rückkehr vorausahnte, die der Kirche ein paar Jahre später gelingen sollte, jetzt neu organisiert als ein Zweig der neuen Partei. Man hatte damals außerdem behauptet, dass ein Haufen von Neonazis wie Nordfeuer hier nie Fuß fassen würde, nicht in England, der Mutter der Demokratie. Man nannte sie Nasties, die Unartigen, die Lümmels, und lachte, wann immer
die Sprache auf sie kam. Und dachte nicht an Oswald Mosleys Blackshirts aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Dachte nicht daran, dass es eine Bewegung gewesen war, die alle Schichten der Gesellschaft angesprochen hatte, von den Fanatikern aus der Arbeiterklasse bis hin zu den adligen Fatzkes. Angeführt wurde sie schließlich von Sir Oswald Mosley, während die meisten ihrer Anhänger aus dem East End stammten. Und wenn man sich an Mosley erinnerte, dann nur als alten Witz, eine kleine Verirrung, gewiss aber keine ernsthafte Warnung. Und ebenso wenig dachte man an Thatcher, Blair und all die anderen, die das Land gefährlich weit nach rechts hatten schlingern lassen, ihre Absichten jedoch besser zu verschleiern wussten. Und gute, ehrliche Christen waren sie obendrein noch. Lektionen der Geschichte, die noch immer niemand gelernt hatte. Aber als die Kundgebungen begonnen hatten, als die Symbole erschienen, die Doppelkreuze, die hätten doch irgendjemandem auffallen müssen. Als die Armbinden und Uniformen auftauchten, die rot-schwarzen Motive, als das Salutieren anfing, da hätte man doch was merken müssen. Aber nein. Faschisten in aller Welt hatten stets gewusst, wie man eine gute Show abzog, wie man mit der Menge umging, wie man den Leuten gab, was sie wollten. Wie man ihnen, sobald man die Blödmänner am Haken hatte, sie zum Zuhören brachte, alles erzählte, was sie hören wollten. Oder das, was sie als willfährige Opfer der Partei-Propaganda hören wollten. Nachdem die Informationen der öffentlichen Medien von der Parteipropaganda unterminiert worden waren und die moralischen Wertvorstellungen ureigener Menschlichkeit auch. Dieselben alten Hassbotschaften wurden gepredigt: dass das Land voll Degenerierter und Götzendiener sei, vor allem die Schulen, wo sie die hilflosen Kinder angeblich verdarben.
Dass Horden von Asylsuchenden den kleinen Leuten die Arbeit wegnahmen. Dass all diese arabischen Teppichköpfe nichts weiter seien als getarnte Terroristen. Dass die Itzigs das ganze Geld hätten. Dass die Zigeuner nichts anderes seien als ein Haufen Bettler. Dass die Yardies die Schutzbanden in der Tasche hätten, die Spielhöllen von albanischen Einwanderern geführt würden, die Triaden Tag für Tag mehr Ausländer hereinschmuggelten und dass es keinen Grund gebe, abends in die Stadt zu gehen, es sei denn, man wolle Curry essen… Und dann seien da noch die Schlitzaugen, die Spaghettifresser, die Krauts und, am allerschlimmsten, die verfluchten Franzosen, Kommunisten allesamt. Man sollte sie alle in ein Schiff nach Hause stecken und es versenken, wenn es abgelegt hatte. England den Engländern! Kraft durch Einigkeit, Einigkeit durch Glauben! Es lebe England… Rookwoods Worte drangen in Finchs Erinnerungen vor: „Je mehr Macht er gewinnt, desto offensichtlicher wird sein fanatischer Eifer und desto aggressiver werden seine Anhänger.“ Das war nur zu wahr. Finch hatte es gesehen, es miterlebt. Und obwohl es ihn inzwischen zunehmend beschämte, je mehr er von diesem vergifteten Dreck aufdeckte, damals war er der Partei beigetreten. Jeder Polizist hatte das getan, genau wie sie sich den Freimaurern angeschlossen hatten. In einer Welt, in der Gesetz und Ordnung zur obersten Parole wurden, war das offenbar der rechte Weg. Er war nicht allein gewesen, als er seine Seele verkauft hatte. Keiner von ihnen war allein gewesen. Aber er hatte seine Seele eben verkauft. Und hatte seitdem damit leben müssen. Alles was er zu seiner Verteidigung zu sagen hatte, war, dass er seit der Reklamation an keiner Kundgebung mehr teilgenommen hatte, nicht mehr, seit seine Frau und sein Sohn gestorben waren. „Und jetzt“, sagte Rookwood, „startet seine Partei im Namen der nationalen Sicherheit ein Sonderprojekt.“
Finch konnte sich genau vorstellen, worum es sich bei diesem Projekt handelte, und auch wo es lag: Larkhill. „Zunächst hält man es für eine Suche nach biologischen Waffen und betreibt es ohne jede Rücksicht auf die Kosten“, fuhr die allwissende Stimme fort, ohne noch hinzufügen zu müssen:… und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aber, dachte Finch, hier stimmte etwas nicht. Rookwood schien über Ereignisse vor der Reklamation zu sprechen und das hieße, dass das Larkhill-Projekt viel früher begonnen hatte, als er annahm. Begonnen hatte vermutlich mit Zustimmung der Regierung jener Zeit, als man im Krieg mit den Amerikanern lag und die Welt zum Teufel ging. Die Regierung, die damals bereits die Gesetze über die „Schutzhaft unerwünschter Personen“ erlassen hatte. Finch erinnerte sich, dass das jetzige Kabinett mehr als nur froh gewesen war, die Hände in Unschuld zu waschen und die Leitung der Lager an „private Sicherheitsfirmen“ übergeben zu können. Das schlimmste dieser Unternehmen, die Security Corp, das Sicherheits-Korps, wurde rasch bekannt als Secure-a-Corpse, die Leichenmacher –, aber inzwischen hatte Finch den Verdacht, dass diese Organisationen mit Nordfeuer unter einer Decke steckten. Dass die Regierung absichtlich übersah, was dort vorging. „Das wahre Ziel“, ging Rookwoods Geschichte weiter, „dieses Projekts allerdings ist die Macht, die totale Herrschaft über das ganze Land. Doch das Projekt nimmt ein brutales Ende.“ Wiederum konnte Finch die Details selbst einsetzen. Er hatte ja Delia Surridges Tagebuch gelesen und wusste, wie V nach all dem Sterben, den geheimen Massengräbern und den angeblich verlorenen Akten, die Dinge zu einem explosiv feurigen Abschluss gebracht hatte. „Aber die Bemühungen derjenigen, die darin verwickelt waren, sind nicht vergebens gewesen, denn aus dem Blut
immerhin eines der Opfer erwächst eine neue Fähigkeit, Krieg zu führen. Stellen Sie sich ein Virus vor, so schrecklich, wie Sie nur können, und stellen Sie sich dann vor, dass Sie, nur Sie allein, das Heilmittel dagegen haben.“ Das, dachte Finch, bestätigte also, woran Delia gearbeitet hatte. Sie hatte sich zwar nicht überwinden können, alles das in ihr Tagebuch zu schreiben, doch ihre Andeutungen hatten genügt. „Aber wenn ihr ultimatives Ziel Macht ist, wie setzt man eine solche Waffe dann am besten ein? An dieser Stelle nimmt unsere Geschichte eine Wendung. Sie kommt in Gestalt eines Mannes, der allem Anschein nach kein Gewissen hat und für den der Zweck alle Mittel heiligt. Sein Name ist nicht Adam Sutler. Er heißt Peter Creedy. Er ist es, der vorschlägt, dass das Ziel kein Feind des Landes sein sollte, sondern stattdessen das Land selbst. Drei Ziele werden ausgewählt, um die Wirkung des Angriffs zu maximieren: eine Schule, eine U-Bahn-Station und eine Kläranlage.“ Da hatten sie es also, dachte Finch. Er wandte sich um und sah einen gleichermaßen entsetzten Ausdruck auf Dominics Gesicht. St. Mary’s. Die U-Bahn an der Tottenham Court Road. Three Waters. Und es waren keine „religiösen Extremisten“ aus dem Mittleren Osten mit gestohlenen amerikanischen Biowaffen gewesen. Das Ganze war die Idee dieses kaltherzigen Hurensohns Creedy gewesen. Peter Creedy. Kopf des Fingers. Achsnagel der Regierung. Spitzenfunktionär der Partei. Massenmörder. „In den ersten paar Wochen sterben etliche Hundert“, kappte Rookwood Finchs Gedankenfaden und erinnerte ihn an die „St.-Mary’s-Virus“-Panik. Während einer, wie er nun begriff, frei erfundenen Epidemie. Die sich auszubreiten schien, als die Situation nicht unter Kontrolle zu bekommen war. Das hieß,
nein, der Virus war durchaus echt, ebenso wie die Toten und die weiteren Ausbrüche, vornehmlich in Schottland, Irland und Wales. Nicht aber in England, nicht mehr nach den ersten Attacken, wie Finch sich jetzt entsann, und auch das ergab auf grausige Weise Sinn. O ja, jede Menge wirklicher Toter. Nur der Dreh war eine Lüge. „Von den Medien geschürt, greifen Angst und Panik rasch um sich, zerbrechen und teilen das Land, bis letztendlich das wahre Ziel in Sicht kommt. Vor der St.-Mary’s-Krise hätte niemand das Ergebnis der Wahl dieses Jahres vorhersagen können. Niemand.“ Sutler war durch einen Erdrutschsieg zum Premierminister geworden. Hart gegen den Terror-Sutler mit seinen Versprechen, die Gesetze so zu reformieren, dass derlei nie wieder passieren konnte, die Schutzhaft im großen Stil wieder einzuführen, das Land zu einem sicheren Ort zu machen, wo anständige Engländer leben und arbeiten konnten – und die Wähler hatten ihm alles abgekauft. Ohne zu erkennen, dass das nur der Anfang war, nur ein kleiner Teil eines weit größeren Plans, der noch nicht bekannt geworden war. Im Unterhaus saßen so viele Nordfeuer-Mitglieder, dass sie nur ein paar Wochen gebraucht hatten, um das Oberhaus abzuschaffen und jene ungeschriebene Verfassung um – oder, besser gesagt, zum ersten Mal überhaupt aufzuschreiben, die dem Land tausend Jahre lang gute Dienste erwiesen hatte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich auch das Parlament effektvoll aufhob und zu jener Versammlung von Ja-Sagern für Sutlers politischen Apparat wurde, die es bis heute geblieben war. Und sämtliche Wahlen seither hatten der Nordfeuer-Partei 95 Prozent der abgegebenen Stimmen bescheinigt, ganz gleich, wie sich die Wählerschaft tatsächlich entschied. Je mehr er darüber nachdachte und je mehr er sich mit den Verflechtungen und Folgen dieser Ereignisse auseinander
setzte, desto bewusster wurde es Finch, dass die Vertuschung sehr viel sorgfältiger vonstatten gegangen sein musste, als ihm bis dahin klar gewesen war. Denn alles, was ihm unter die Augen gekommen war, hatte darauf hingedeutet, dass Larkhill nur ein weiteres der vielen Lager war, die während der Reklamation entstanden waren, jener widerlichen „Säuberung“, im Rahmen derer man Einwanderer und Degenerierte davon „überzeugt“ hatte, entweder das Land oder die Welt selbst zu „verlassen“, und die begonnen hatte, sobald die Partei sich ihrer Machtposition sicher genug gewesen war. Jetzt aber sah es so aus, als sei Larkhill schon vorher in Betrieb genommen worden. Kein Wunder also, dass Akten „verloren gegangen“, Daten gefälscht und Details geändert worden waren. Konnte man denn überhaupt noch irgendwelchen Unterlagen trauen? Gab es jetzt noch so etwas wie Geschichte? Wie hieß es doch immer? „Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges.“ Und die Reklamation war ganz gewiss ein Krieg gewesen: ein bösartiger Angriff, in dem England sich gegen sich selbst gewandt und einen zu großen Prozentsatz seiner eigenen Bevölkerung vernichtet hatte, als dass man daran denken konnte, ohne dass einem schlecht dabei wurde. „Und dann“, nahm Rookwood den Faden der Geschichte wieder auf, „nicht lange nach der Wahl, siehe da… ein Wunder. Einige glaubten, es sei das Werk Gottes höchstselbst, aber es war eher das Werk eines pharmazeutischen Unternehmens, das unter der Kontrolle gewisser Parteimitglieder stand und das sie alle widerlich reich machte: Viadox.“ Gewisse Parteimitglieder. Zweifelsohne Prothero, aber wahrscheinlich auch all die anderen Großköpfe aus Larkhill. Obschon sie ihre Interessen sorgfältiger verborgen haben mussten als die verstorbene „Stimme von London“. Vielleicht
war Lillimans scheinbar so hohes Salär eine Art rückdatierte Vertuschung der Profite, die auch er abgeschöpft hatte. „Ein Jahr darauf macht man mehreren Extremisten den Prozess, befindet sie für schuldig und richtet sie hin, derweil man eine Gedenkstätte erbaut, um ihre Opfer heilig zu sprechen.“ Ach ja, was war denn dann mit diesen „Extremisten“? Vermutlich hatte es sich bei ihnen um Statisten gehandelt, fraglos gut bezahlte Statisten, die ihren Text lernten und vor Gericht ihre Rolle spielten. Die gestanden und für schuldig befunden wurden, und die man dann, als das Datum der Hinrichtung nahte, heimlich, still und leise außer Landes geschmuggelt hatte. Leicht zu bewerkstelligen, da die Zeiten öffentlicher Hinrichtungen längst passe waren. Nur konnte Finch, da er Creedy nun einmal so kannte, wie er ihn kannte, sich nicht vorstellen, dass es ganz so abgelaufen war. Wahrscheinlich hatte man ihnen zwar versprochen, sie über die Grenze zu bringen, aber hatte sie dann trotzdem exekutiert. Tote Männer erzählen keine Geschichten. „Das ultimative Ergebnis aber, das wahre Genie des Planes, war die Angst. Angst wurde zum ultimativen Werkzeug dieser Regierung. Mit ihrer Hilfe wurde der Politiker in unserer Geschichte schließlich zum Großkanzler ernannt, ein Amt, das man neu geschaffen hatte. Und der Rest ist, wie man so sagt“, schloss Rookwood mit einem wissenden Lächeln, „Geschichte.“ „Geschichte…“, dachte Finch reumütig, in Gedanken bei seinen Grübeleien von eben. Und erinnerte sich an ein Zitat Henry Fords: „Geschichte ist Quatsch.“ „Können Sie irgendetwas von all dem beweisen?“, fragte er scharf, noch immer nicht ganz sicher, ob Rookwoods Erzählung zu hundert Prozent der Wahrheit entsprach.
„Warum, glauben Sie, bin ich noch am Leben?“, erwiderte sein Informant, ein spitzbübisches Funkeln in den Augen. Aber wenn er darauf eine Antwort erwartet hatte, die kam nicht. „Wann immer Creedy etwas ,unter dem Radar’ zu erledigen hatte“, fuhr Rockwood dann fort, „kam er zu mir persönlich. Ich mochte ihn nie, traute ihm nie. Darum zeichnete ich, als er mich bat, das Virus nach St. Mary’s zu bringen, das Gespräch mit ihm heimlich auf, wie ich es oft getan habe.“ Finch und Dominic tauschten einen Blick. Das hatten sie hören wollen. Der entscheidende Beweis, der ihren Fall untermauern würde. „In Ordnung“, sagte Finch und wandte sich wieder an den Mann vor ihnen, „wir würden Sie gern in Schutzhaft nehmen, Mr. Rookwood.“ „Bestimmt möchten Sie das“, kicherte Rookwood. „Aber wenn Sie diese Aufzeichnung wollen, werden Sie tun, was ich Ihnen sage.“ Dann erhob er sich und stützte sich auf seinen Stock, als erschwerten ihm Alter und Fettleibigkeit die Bewegung. „Überwachen Sie Creedy rund um die Uhr“, verlangte Rookwood als Nächstes, und das war etwas, dachte Finch, das er mit größtem Vergnügen tun würde, seitdem er wusste, dass Creedy genau das mit ihm getan hatte. Finch nickte und wartete, ob der Mann noch etwas hinzuzufügen hatte. „Wenn ich das sichere Gefühl habe, dass er nicht einmal in der Nase bohren kann, ohne dass Sie davon wissen, werde ich mich wieder bei Ihnen melden. Bis dahin, machen Sie es gut.“ Langsam und mit einem leichten Hinken begann Rookwood davonzugehen. Aber Finch hatte noch eine letzte Frage. „Rookwood, warum haben Sie sich nicht schon früher gemeldet? Worauf haben Sie gewartet?“ „Auf Sie, Inspector“, antwortete der Mann und blickte über die Schulter zurück. „Ich brauchte Sie.“
Und dann verschwand er, wie ein Geist, im strömenden Regen.
KAPITEL 20
Peter Creedy beendete sein nächtliches Ritual im Atrium seines luxuriösen Hauses in Hampstead. Den Überwachungswagen ein Stückchen die Straße hinab sah er nicht. Den Mann, der bereits über sein Dach schlich und nach einer Möglichkeit zum Abstieg suchte, bemerkte er nicht. Unter dem Oberlicht, über das ein Schatten kurz und ungesehen durch den Mondschein huschte, versorgte Creedy seine Orchideensammlung mit Hilfe einer Nährstoffspritze. Die Orchideen waren seine einzige Freude, der Umgang mit ihnen entspannte ihn, nur sie interessierten ihn, abgesehen von dem unerbittlichen Streben nach Karriere und deren ultimativem Ziel. Das Ziel, über das er nie mit jemandem sprach. Die fantastisch geformten Blumen mit ihren herrlichen Farben waren ein immenser Blickfang, aber symbolisch wichtiger war Creedy die Tatsache, dass sie, obschon sie nicht unbedingt Parasiten waren, in freier Natur auf anderen Pflanzen wuchsen. Sie ritten auf deren Rücken, genauso wie er auf Sutlers Rücken ritt und arbeitete und auf den richtigen Tag wartete, auf die richtige Gelegenheit… aber dann! Außerdem, er lächelte vor sich hin, kam der Name Orchidee von dem griechischen Wort für „Hoden“, und einer Sache war Creedy sich vollkommen sicher: Er hatte, im Gegensatz zu Sutler, zwei richtige Eier im Sack. Creedy konnte mit den Orchideen nicht mehr genug Zeit verbringen. In der Vergangenheit hatte er sich immer ein Stündchen oder so im Atrium vertreiben können, bevor er sich zur Ruhe begab, Wagner oder Richard Strauss zu hören, ein
oder zwei Glas Calvados zu genießen, Nietzsche oder Hitler zu lesen und mit seinen Blumen zu kommunizieren. Für einige dieser Blumen hatte er ein Vermögen gezahlt, für eine sogar deren ursprünglichen Besitzer getötet. Aber jetzt, mit diesem ganzen Terroristenmist, hatte er nur noch Zeit, sie zu füttern, bevor er erschöpft ins Bett fiel. Nun ja, bald schon, zweifelsohne… Creedy wandte sich zur Tür, schaltete das Licht aus, drehte sich dann noch einmal um und warf einen letzten, fast zärtlichen Blick auf die schwach leuchtenden Blütenblätter, die im Mondlicht glühten. Da sah er einen weiteren bleichen Umriss zwischen den Schatten. Die Maske des Terroristen. Ehe Creedy reagieren konnte, war V bereits bei ihm, und eines seiner langen, tödlichen Messer lag schimmernd an Creedys Kehle. Creedys ganzes Einsatztraining, all die Male, da er die Waffe in der Hand gehalten hatte und dem Opfer keine andere Möglichkeit geblieben war, als hilflos vor ihm zu sterben… all das half ihm gar nichts, als sich die Klinge jetzt mit unangenehmer Härte gegen seine plötzlich hart pochende Drosselader drückte. „Schsch“, flüsterte V leise, führte Creedy langsam zum CDSpieler hinüber, das Messer immer noch in der Hand, und legte wahllos eine Disk ein. Als die Musik anschwoll, sahen die beiden Männer draußen im Überwachungswagen einander verwirrt an. Sie waren keine Ohrmänner, sondern gehörten zu Finchs gewöhnlichen Polizisten – vor einem Rätsel standen sie trotzdem. Als sie gesehen hatten, wie das Licht ausging, hatten sie nichts erwartet außer Stille und Schlaf und eine Chance, die Überwachung einstellen zu können. Aber ohne Musik. Sie machten diesen Job jetzt seit ein paar Wochen, und am Ende war immer alles still gewesen, ohne Ausnahme.
„Was macht er da im Dunkeln?“, fragte der eine. „Creepy Creedy?“, entgegnete der andere. „Ich weiß nicht, ob ich das wissen will.“ Trotzdem lauschten sie beide noch angestrengter. Aber die Musik, das war offenbar auch die Absicht, machte es unmöglich, irgendetwas anderes zu hören. Naja, sie würden es im Routinebericht vermerken müssen, aber es schien kaum etwas zu sein, dessentwegen man Alarm schlagen musste. Und drinnen derweil… „Sutler kann Ihnen nicht mehr trauen, stimmt’s, Mr. Creedy?“, flüsterte V kaum hörbar. „Und wir wissen beide, warum Sutler zu der Art von Führern gehört, die nur überleben, so lange sie unbesiegbar zu sein scheinen. In dem Moment, da er schwach wirkt, da er ungeschützt erscheint, ist er verletzbar. Und sobald er verletzbar ist, werden sie wie Hunde über ihn herfallen. Wenn ich das Parlament zerstört habe, wird seine einzige Chance darin bestehen, ihnen jemand anders zum Fraß vorzuwerfen, ein anderes Stück Fleisch. Und wer wird das wohl sein?“ Die Klinge zwang Creedys Kopf in den Nacken, als sei sie dabei, ihm die Kehle durchzuschneiden wie einem Stück Schlachtvieh. „Sie, Mr. Creedy.“ Eine Pause, um die Worte wirken zu lassen. Aber Creedy stand nur ausdruckslos da und versuchte sich nach dem Mann umzusehen, der ihn fest hielt, versuchte auszubaldowern, ob es sich lohnte, ein Risiko einzugehen, aber entschied sich dagegen. „Ein Mann, der so schlau ist wie Sie, hat das wahrscheinlich schon in Erwägung gezogen“, fuhr V fort, die Situation kühl einschätzend. „Ein Mann, der so schlau ist wie Sie, hat wahrscheinlich einen Plan. Dieser Plan ist der Grund, weshalb Sutler Ihnen nicht mehr traut. Er ist der Grund, weshalb Sie
jetzt überwacht werden, weshalb es in jedem Raum dieses Hauses Augen und Ohren gibt und jedes Telefon angezapft ist.“ Nun zeigte Creedy zum ersten Mal eine Reaktion, auf einen Schock, der ihn schier betäubte. „Unsinn“, sagte er, doch in dem Moment, da das Wort seinen Mund verlassen hatte, regte sich der Verdacht in ihm, dass es wahr sein konnte. Es war etwas, das der Überprüfung bedurfte, das sich leicht überprüfen ließ, natürlich nur, wenn er diese Begegnung lebend überstand. „Ein Mann, der so schlau ist wie Sie, weiß es, glaube ich, besser“, sagte V fast so als lese er seine Gedanken. Oder als kenne er die Gedanken, die dem, was er gesagt hatte, logischerweise folgen mussten. Natürlich würde er das überprüfen, aber unauffällig. Wenn sich herausstellte, dass es stimmte, brachte es nichts, Sutler wissen zu lassen, dass er Bescheid wusste. Das würde nur eine Krise heraufbeschwören. Besser war es, Bescheid zu wissen und den Feind im Dunkeln tappen zu lassen, derweil man auf seine Gelegenheit wartete. „Was wollen Sie?“, fragte Creedy gepresst. Er wollte den Unterkiefer nicht bewegen, solange sich ein derart scharfes Messer so dicht gegen die weiche, schutzlose Haut über seiner Kehle drückte. „Sutler“, antwortete V, und sein maskiertes Gesicht schob sich jetzt über Creedys Schulter nach vorne, sodass er sehen konnte, wie es in den Augen des Mannes aufblitzte. „Ich bitte Sie, Mr. Creedy, Sie wussten doch, dass das kommen würde. Sie wussten, dass es eines Tages Sie oder ihn erwischen würde. Darum hat man Sutler zu Sicherheitszwecken versteckt gehalten. Darum halten sich mehrere Ihrer Männer in Sutlers Nähe auf, Männer, auf die man sich verlassen kann. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen.“
„Und was springt bei diesem ,Deal’ für mich raus?“, fragte Creedy, dessen Gedanken sich bereits rasend schnell um die Konsequenzen eines solchen Coups drehten. „Ich denke, das liegt auf der Hand“, meinte V und bestätigte damit genau das, was Creedy selber gedacht hatte. Und dann hielt V mit der freien Hand ein Stück Kreide hoch und bewegte es in Creedys Blickfeld. „Wenn Sie das Angebot annehmen, hinterlassen Sie ein X auf Ihrer Haustür.“ „Und warum sollte ich Ihnen trauen?“ „Weil das Ihre einzige Möglichkeit ist, mich je zu stoppen.“ Und während eine Hand das Messer gegen Creedys Drosselader hielt, drückte die andere auf die Schlagader und schnitt die Blutzufuhr ab. Ein paar Sekunden darauf verlor Peter Creedy das Bewusstsein, und V ließ ihn sanft und vollkommen lautlos zu Boden gleiten. Und ebenso leise verschwand er durch das Oberlicht, auf demselben Weg, auf dem er hereingekommen war.
Die Tage verstrichen und wurden zu Wochen. Andere Fälle kamen und gingen und doch konnte Finch nicht ablassen von der einen Ermittlung, die seine Aufmerksamkeit immer noch beherrschte. Und das Gleiche galt für Dominic. Allerdings kümmerten sie sich beide um verschiedene Aspekte des Falles. Nicht der Terroristenfall, nicht V, obgleich der nach wie vor den größten Teil ihrer Zeit beanspruchte, weil Sutler ihnen deswegen fortwährend im Nacken saß. Die Larkhill-Geschichte. Aber sie wussten, dass diese Geschichte eng verknüpft war mit dem Fall V, und das war einer der Gründe, weshalb Finch die Sache so faszinierend fand und so wichtig. Es ging nicht darum, darauf zu warten, dass V irgendeinen Fehler machte, dazu war der Mann zu gut. Sie mussten begreifen lernen, wie
sein Verstand arbeitete, was ihn antrieb, wo er herkam. Dass er aus Larkhill gekommen war, stand außer Zweifel. Aber darüber hinaus gab es all diese Zufälle, diese seltsamen Verbindungen, über die alles zusammenzuhängen schien. Finch hatte Arthur Koestlers Die Wurzeln des Zufalls gelesen und war fasziniert davon, dass die Welt wie ein Netz konstruiert zu sein schien, in dem es Verknüpfungen gab, die das normale Begriffsvermögen überstiegen. Und einem Spinnenkönig gleich, tanzte auf den Fäden dieses Netzes V. Oder jedenfalls schien es V zu sein. Wer konnte das schon sagen, angesichts all dieser Verwicklungen aus Vertuschung und Verdunkelung, Verschwörungen, Intrigen und regelrechtem Verrat. Verrat und Intrige. Und der fünfte November kam immer näher, während sie V keinen Schritt näher gekommen zu sein schienen. Für Finch jedoch lag das Augenmerk auf William Rookwood. Etwas schien mit dem Mann nicht zu stimmen. Irgendetwas an seiner Geschichte passte nicht zusammen. Wieder so ein Gefühl, aber es ließ Finch die Akte des Mannes wieder und wieder öffnen, und dann versuchte er herauszufinden, was es war. Er war gerade wieder dabei, als Dominic zu ihm herüber kam und die Datei einmal mehr geöffnet auf dem Computer sah. „Wir hatten Creedy wochenlang wie einen Schmetterling unter dem Mikroskop, und immer noch kein Wort“, sagte Dominic, und Frustration schärfte seinen Ton. „Worauf wartet er noch?“ Ehe Finch über einen Grund für Rookwoods Schweigen nachdenken konnte, falls es einen gab, klingelte das Telefon. Dominic nahm ab und reichte den Anruf dann weiter: „Es ist für Sie, Inspector.“
„Ja?“, sagte Finch abwesend und nahm den Hörer, den Blick immer noch auf den Bildschirm gerichtet. „Ist da Chief Inspector Finch?“, fragte eine unbekannte Stimme in ruhigem, routiniertem Tonfall. „Ja“, antwortete er knapp. „Hier spricht Inspector Clark aus Southend. Wir haben ihn gefunden.“ „Wen gefunden?“, fragte Finch verständnislos, doch etwas begann sein Interesse zu wecken. Wiederum so ein Gefühl. „William Rookwood“, sagte Clark. Ein Blitzschlag in beiläufigem Ton, ein weiterer dieser verdammten Zufälle, da Finch justament die Akte vor Augen hatte. „Den Mann, den Sie gesucht haben. Ich sah vor ein paar Wochen Ihren Vermisstenreport und dachte, ich vergleich ihn mal mit unserer Täterkartei. Und siehe da, ich hab ihn gefunden. Der Gebissvergleich passt perfekt. War eine Wasserleiche, ein paar Fischer sind auf ihn gestoßen. Kein Ausweis. Wurde nie geklärt. Das heißt, bis jetzt.“ „William Rookwood ist tot?“, fragte Finch unsicher. Er brauchte die ausdrückliche Bestätigung. „Würde ich sagen“, antwortete Clark mit einem kleinen Lachen. „Seit fast fünfzehn Jahren inzwischen.“ Finch bedankte sich höflich, legte auf, schnellte hoch und begann im Zimmer umherzuwandern wie ein wütendes Tier, das in einem Käfig eingesperrt ist. Und Dominic, der genug von dem Gespräch mitbekommen hatte, um zu verstehen, wie er sich fühlte, konnte nur zu ihm aufsehen und darauf warten, dass sich der Sturm von selbst verzog. „Gottverdammt!“, grollte Finch, trat gegen den Papierkorb und ließ ihn über den Boden schlittern. „Das war die ganze Zeit über er! Dieser Hurensohn saß da und fütterte mich mit diesem Mist, und ich hab ihn geschluckt! Gottverdammt!“
War irgendetwas an „Rookwoods“ Geschichte wahr? Teile davon sicher, aber welche? War das St.-Mary’s-Virus wirklich in Larkhill entwickelt worden? Es sah sicherlich so aus, bedachte man die Viadox-Aktionäre, die reich geworden waren, wie Prothero und Lilliman, die so eng mit Larkhill verknüpft waren. Und auch wenn Delia Surridges Tagebuch vage blieb, was die genaue Art und das Resultat ihrer Arbeit anging, deutete die Schwere der Schuld, die sie mit sich herumgetragen zu haben schien, doch darauf hin. Es konnte durchaus wahr sein. Doch es blieb dieser Widerspruch. Alles, was Finch zuvor über Larkhill herausgefunden hatte, legte nahe, dass es sich um ein Nordfeuer-Lager handelte, das während der Reklamation eingerichtet worden war. In dem die Art von unerwünschten Personen behandelt wurde, mit der man sich im Rahmen dieser blutrünstigen Säuberung in vielen Lagern befasst hatte. Aber wenn das St-Mary’s-Virus dort entwickelt worden war, und wenn es dieser Virusangriff gewesen war, der Sutlers Nordfeuer-Partei an die Macht gebracht hatte, dann hieß das, dass Larkhill wenigstens ein paar Jahre vorher schon in Betrieb gewesen war. Konnten sie sich etwas derart Ungeheuerliches erlaubt haben? Und wenn ja, wies das nicht auf die rückhaltlose Kollaboration der vorherigen Regierung hin… darauf, dass der Faschismus von Nordfeuer im Grunde nicht viel schlimmer war als der jeder anderen politischen Partei, ob nun der Konservativen oder der Arbeiterpartei, nur offenkundiger? Oder gab es da eine noch weiter reichende Verschwörung, in der Nordfeuer nur die öffentliche Fassade einer Intrige war, die mit der vorherigen Regierung ihren Anfang genommen hatte? Die von Nordfeuer allem Anschein nach gestürzt worden war, um die alte Ordnung abzuschaffen und durch die neue zu ersetzen? Aber das würde bedeuten, dass das ganze politische
System und alle Parteien unsagbar korrupt gewesen waren – wahrscheinlich schon vor Jahren. Dass selbst die Wahlen vor dem Krieg bereits so sehr Farce gewesen waren wie diejenigen, die sie heute hatten. Oder um es in den Worten einer alten Phrase zu sagen, die er als Jugendlicher gehört hatte: „Egal wem du deine Stimme gegeben hast, die Regierung ist trotzdem wieder drin.“ Und war der Anarchismus, für den V eintrat, dann die einzig wahre politische Antwort? Ein Staat ohne Führer, über die Notwendigkeit von Führern hinausgewachsen, weil das ganze „Führer“-Konzept moralisch und politisch bankrott gegangen war. Konnte das wirklich funktionieren? Eine wahre Demokratie an Stelle der so genannten Demokratie, die Amerikaner wie Briten vor dem Krieg so eifrig über alle Welt verbreitet hatten und die sich nur als weiterer schamloser Euphemismus für Globalisierung, Imperialismus und Ausbeutung erwiesen hatte. Als Entschuldigung für ein Eingreifen, das letztlich zur ultimativen Torheit geführt hatte, zum chinesisch-amerikanischen Krieg.
Oder war selbst dieser Gedanke nur Teil des Drecks, den er V quasi aus der Hand gefressen hatte? Und war Creedy in irgendeiner Weise verantwortlich für das, was geschehen war? Oder hatte V nur ihre Aufmerksamkeit von sich ablenken wollen? Hatte er gewollt, dass sie Creedy mit ihrer Überwachung unter Druck setzten zu irgendeinem schändlichen, eigennützigen Zweck? Konnten sie eigentlich diesen Steuerunterlagen, die sie gefunden hatten, Glauben schenken? Oder war die absurde Summe, die man Lilliman gezahlt hatte, ein versteckter Hinweis… dass jemand diese ganze Angelegenheit auf die Schippe nahm?
War noch irgendwo etwas wirklich Wahres dran oder waren das alles nur „Versionen der Wahrheit“? Und waren diese verschiedenen „Versionen“ alle Teil eines riesigen Netzes aus Verschwörungen, das dieser verschlagene Bastard von V für seine ureigenen Zwecke manipulierte? V… V… alles führte zu V zurück. „Was machen wir jetzt, Inspector?“, fragte Dominic und lenkte Finchs Gedanken – fast – wieder auf die vorliegende Situation. „Wir machen, was wir die ganze Zeit schon hätten machen sollen: Wir machen ihn ausfindig.“
Aber die detektivische Arbeit musste nach wie vor mit der politischen in Einklang gebracht werden, und das bedeutete den Besuch der zunehmend bedrückenderen „Kabinettssitzungen“, in deren Rahmen Sutler, der offenbar die Spannung seiner nunmehr verletzlichen Position spürte, sie sowohl auf Grund ihrer besten als auch ihrer unzureichendsten Bemühungen zusammenstauchen konnte. Finch überraschte es nur, dass er sich inzwischen nicht auch noch einen kleinen Bürstenschnurrbart hatte wachsen lassen. „Jeder Tag, meine Herren“, sagte er jetzt gerade, und seine unerbittlichen Augen starrten riesengroß vom Bildschirm auf seine Untergebenen herab, „jeder Tag, der uns dem November näher bringt, jeder Tag, an dem dieser Mann auf freiem Fuß bleibt, ist ein neuerliches Versagen. Zweihundertsiebenundsiebzig Tage, meine Herren. Zweihundertsiebenundsiebzig Mal versagt!“ Creedy lehnte sich nach vorne in das Licht der Lampe, die vor ihm stand, eine Bewegung, die, wie er wusste, den Fokus der Hauptkamera umgehend auf sein Gesicht richten und damit das Augenmerk des Kanzlers auf ihn lenken würde.
„Kanzler, unsere Kräfte sind unzulänglich, um…“ „Wir werden begraben unter der Lawine Ihrer Unzulänglichkeiten, Mr. Creedy!“, schnitt Sutler ihm lautstark das Wort ab. Er verliert fraglos die Beherrschung, dachte Creedy und lehnte sich wieder zurück ins Dunkel. Nun gut, dann würde er eben zusehen und abwarten, wie Sutler sich ein noch tieferes Grab schaufelte. „Mr. Dascombe“, sagte Sutler dann und nahm sein nächstes Ziel aufs Korn. „Was wir im Augenblick brauchen, ist eine klare Botschaft an die Menschen dieses Landes. Diese Botschaft muss in jeder Zeitung zu lesen, aus jedem Radio zu hören und auf jedem Fernsehgerät zu sehen sein. Diese Nachricht wird im ganzen InterLink widerhallen.“ Dascombe nickte, stets bereits, einen verständigen Eindruck zu erwecken, aber nicht willens, sich auf etwas festzulegen, solange er nicht genau wusste, was der Kanzler wollte. Und Sutler fuhr jetzt fort, ganz im Tone Churchills: „Dieses Land soll erkennen, dass wir am Rande des Abgrunds stehen. Ich will, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind begreift, wie nahe wir dem Chaos sind.“ Und sowohl Creedy als auch Finch, mochten sie auch Feinde sein, wussten, was als Nächstes kam. „Ich will, dass jeder sich daran erinnert, warum sie uns brauchen!“ Creedy konnte sich im Dunkeln nur selbst zunicken. Genau wie V es vorhergesagt hatte. Sutler fing an, die Schwäche und Verletzlichkeit seiner Position zu spüren. Nun, dann war es nicht mehr lange hin…
Das war mehr als ein Job für Dick und June, darüber war sich Roger Dascombe im Klaren, obwohl die beiden natürlich ihren Teil dazu beitragen mussten. Aber sie konnten nicht Tag für Tag rund um die Uhr auf dem Bildschirm sein und eine
Ausstrahlung rund um die Uhr war offensichtlich das, was hier erforderlich war. Es musste eine Großaktion werden, alle paar Stunden eine neue Kurzmeldung und ausführlichere Nachrichten zum Frühstück, zur Mittagszeit und zum Abendessen. Was Zeitungen, Radio und Interlink anging, hatte er die Aufgaben bereits an geeignete Redakteure und Autoren delegiert – das niedere Personal für die niederen Wesen. Fernsehen aber war der Schlüssel, das wusste er – genauso wie er wusste, dass er die Schlüsselfigur des Fernsehens war. Und im Gegensatz zu den bisherigen Heile-Welt-Sendungen, auf die sie sich immer spezialisiert hatten, würde das ganz sicher ein Tag der schlechten Nachrichten werden. Gefolgt von etlichen weiteren. Und so sah sich die Bevölkerung im ganzen Land, von Mietswohnungen bis hin zu Mittelklassehäusern, von Kneipen und Restaurants bis hin zu Schulen und Altersheimen, regelrecht überschwemmt. Vom scheinbar Harmlosen, aber doch leicht Besorgnis erregenden ausgehend wurde es zunehmend schlimmer, immer bedrohlicher. „Wissenschaftler führen diese jüngste Wasserknappheit auf den mangelnden Niederschlag während der vergangenen beiden Jahre zurück. Vertreter des Ministeriums rechnen mit einem Anstieg der Preise für Wassercoupons…“ Das war immer der erste Schritt: Bring die Leute dazu, sich um die Grundbedürfnisse zu sorgen, und drohe ihnen damit, ihnen in den Geldbeutel zu fassen – aber formuliere es vorsichtig, damit es nicht klingt, als hätte die Regierung etwas Falsches getan. Und wenn sie aus dem Fenster schauten und sahen, dass es in Strömen regnete – na und? Die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Menschen ist so kurz, dass sie einem glauben, wenn man ihnen erzählt, dass alles nur am vorigen Monat lag, als es kaum geregnet hatte – zumal
wenn man ihnen dazu noch weismacht, dass es jetzt nur in ihrem Teil des Landes regnete, sonst aber nirgends. Und dann, nachdem man sie mit Hilfe von Naturkatastrophen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihren Lebensstandard sorgten, musste man sie mit all den anderen Schrecken traktieren, an denen offenkundig andere Leute schuld waren. Damit sie verlangten, dass die Regierung energisch dagegen vorging, bevor das Land ins selbe Chaos stürzte, das überall sonst auf der Welt herrschte. All die Dinge, die durch Terroristen und unerwünschte Personen und, die größten Buhmänner von allen, biologische Waffen und Seuchen ausgelöst wurden. Die Art von Gefahren, die Menschen danach verlangen ließen, dass die Regierung ihre Samthandschuhe auszog und diese Leute mit eiserner Faust niedermachte, so wie sie es zuvor schon getan hatte, als solche Sachen das letzte Mal passierten. Es hatte damals hervorragend funktioniert. Also musste es auch diesmal funktionieren. „Polizei verhaftet neun Verdächtige, die allem Anschein nach Impfstoffe gegen die Vogelgrippe horteten…“ „In den früheren Vereinigten Staaten verheert der Bürgerkrieg nach wie vor den Mittleren Westen…“ „Außerhalb der isolierten Sicherheitszone hat ein neuer durch die Luft übertragbarer Krankheitserreger siebenundzwanzig Menschen getötet…“ „Die Behörden haben neues Beweismaterial entdeckt, das die Terrororganisation namens V mit dem St.-Mary’s-VirusAngriff auf London vor vierzehn Jahren in Verbindung bringt…“ In ihrer neuen Wohnung sah Evey Hammond diese letzte Meldung, die diesmal von June selbst in die Kamera gelesen wurde, und registrierte, wie V jetzt zu einer „Terrororganisation“ aufgebläht worden war, um die Bedrohung noch gefährlicher wirken zu lassen. Und auch ohne
das heftige Blinzeln der Frau wusste Evey, dass zumindest diese spezielle Nachricht eine glatte Lüge war. Und sie nahm an, dass mehr Leute als die Regierung erwarten mochte, ebenfalls kein Wort davon glauben würden. Evey hatte gesehen, was auf den Straßen vorging. Die Dinge, die in den Nachrichten keine Erwähnung fanden. Die Fs, die über Nacht mit Farbe auf Wände gesprüht wurden, bisweilen sogar auf die Hecks von Überwachungsfahrzeugen der Regierung. Die verunstalteten Stärke durch Einigkeit, Einigkeit durch Glaube«-Plakate, deren Slogans anarchistisch in Stärke durch Uneinigkeit, Uneinigkeit durch Schicksal umgewandelt wurden. Die Polizeiautos mit ihren überraschenderweise platten Reifen. Die zerschlagenen Sicherheitskameras, die Lautsprecher mit den durchgeschnittenen Kabeln. Das alles war nicht das Werk von V. Das war das Werk gewöhnlicher Londoner, die endlich anfingen aufzuwachen. Evey fuhr sich mit einer Hand durch ihr kurzes und jetzt schwarz gefärbtes Haar und konnte sich nur mehr und mehr fragen, was das Nahen des fünften Novembers zeitigen mochte.
Was es auch sein mochte, es schien, als würde FedCo es liefern. Per Zug, per Lastwagen, per Boten, die immense Anzahl vollkommen gleicher Kartons mit vollkommen gleichen und vollkommen falschen Absendern wurde mit derselben Gründlichkeit, die Roger Dascombe mit seinen Sendungen erreichte, übers ganze Land verschickt, an Reiche und Arme, an Haushalte und Institutionen. Und an jedes Mitglied von Sutlers Kabinett. Eric Finch war noch nicht ganz zur Arbeit angezogen und noch nicht rasiert, als der FedCo-Mann vor seiner Tür eintraf.
Finch grunzte nur, als der Mann müßig über die Zahl von Lieferungen, die er zu erledigen hatte, zu plaudern anfing („So was hab ich noch nie gesehen, Mann, und was liegt sonst noch an?“), signierte den Erhalt der Schachtel und nahm sie mit hinein. Er hatte erst eine Tasse Kaffee getrunken und war noch zu verschlafen, um sich zu wundern, was er da bekommen haben mochte. Den Karton aufzumachen war ohnehin die einzige Möglichkeit, das herauszufinden. Er riss das Paket grob auf und kippte den Inhalt vor sich auf den Tisch. Und da lag eine Guy-Fawkes-Maske und sah zu ihm hoch, ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht, das ob der Botschaft, die es barg, noch breiter zu sein schien. Das Gesicht von V. „Verdammt noch mal“, sagte Finch und kratzte sich am Kopf. Was führte der elende Bastard jetzt im Schilde? Die Antwort darauf fand er auch auf dem Weg zum Büro nicht, allerdings vermittelte ihm die Menge aufgerissener und weggeworfener FedCo-Kartons, mit denen die Straßen übersät waren, einen Eindruck des Ausmaßes der Dinge. Das schien die größte Massensendung zu sein, die FedCo je auszuliefern hatte. Wie stellte er das nur an, wenn die „Organisation namens V“ – egal, was die Propagandamaschinerie der Regierung behauptete – doch nur aus einer Person bestand. Vielleicht zwei, wenn man die kleine Hammond dazuzählte, aber sie schien die letzten paar Monate wie vom Erdboden verschluckt. Wenn sie das Mädchen wieder finden könnten, vielleicht wäre das ein Weg, an ihn heranzukommen. Aber das konnten sie nicht. Sie war verschwunden. Vielleicht hatte der Finger sie erwischt, und die Information war nicht an Finch weitergegeben worden. Vielleicht war sie auch tot… Damit war V für die ganze Sache verantwortlich. Computerisierung das musste die Antwort sein. Es war die
einzige Möglichkeit, wie ein Mann allein das alles hätte organisieren können, angefangen bei der Bestellung der Masken, wahrscheinlich bei verschiedenen Lieferanten, um seine Spur zu verwischen, bis hin zur Massenversendung durch das offizielle Zustellungssystem. Und wenn es so war, dann hieß das, dass V gut genug war, um sich in das regierungseigene System zu hacken, die Rookwood-Akte mit dem Alarmauslöser zu versehen und sich die Informationen über die Larkhill-Mitarbeiter, die seine Opfer werden sollten, zu besorgen, ihre Aufenthaltsorte, ihre Namensänderungen. Kein Wunder, dass Sutler laut Creedy einen Spitzel in der Regierung vermutete – das regierungseigene System hatte die ganze Zeit über geleckt wie ein Sieb. Und kein Wunder auch, dass V ihnen immer einen Schritt voraus zu sein schien. Finch hätte es längst erkennen müssen, doch es hatte eines Ereignisses von diesem Ausmaß bedurft, um es ihm tatsächlich bewusst zu machen. Er würde natürlich die Jungs von der Technik darauf ansetzen. Aber der November war bereits nahe und er hatte das ungute Gefühl, dass es keinen großen Unterschied machen würde, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, den Laden dicht zu machen. V hatte wahrscheinlich schon alle Informationen, die er brauchte, und würde sich vielleicht nie wieder in das System hacken. Also bestand vermutlich auch keine Chance, ihm auf diesem Wege nachzuspüren. Gewiefter Bastard, dachte Finch. Die Jagd nach diesem Mann bescherte ihm Albträume, aber die Art und Weise, wie V vorging, wie er alles vorausgeplant hatte… nun, dafür musste Finch ihm Bewunderung zollen. Widerwillig zwar, aber… aber eine Herausforderung wie diese hatte sich ihm seit Jahren nicht mehr geboten.
New Scotland Yard war ein Tollhaus, als er endlich eintraf. Erster Halt am Kaffeeautomaten, dann ins Getümmel. So hatte er die Bude seit Jahren nicht mehr gesehen. „Wie viele sind rausgegangen?“, rief er Dominic über die Kakofonie aus läutenden Telefonen und lautstark rufendem Personal hinweg zu. Jemand hatte eine Verbindung zum Kontrollraum hergestellt und so kamen auch die Funkmeldungen der normalen Bobbys herein, die Streife liefen. Und jedes Wort drehte sich um Guy-Fawkes-Masken und FedCo-Lieferungen und V. „Bislang gehen wir davon aus, dass es sich um etwa acht Container voll handelt“, rief Dominic zurück. „Mehrere hunderttausend, mindestens.“ „Oh Gott“, war alles, was Finch sagen konnte, obgleich er bezweifelte, dass selbst der Allmächtige sie noch aus diesem Schlamassel herausholen konnte. Er kämpfte sich zu seinem Schreibtisch durch, hatte dort aber kaum Zeit, sich zu setzen, als auch schon das Telefon klingelte. Nicht die normale Büroleitung, sondern das Telefon. Die Direktverbindung. Mit einem Gefühl erschöpfter Resignation nahm Finch ab. „Ich will, dass jeder, der eine dieser Masken trägt, verhaftet wird!“, brüllte Sutler ihm ohne Umschweife ins Ohr. Finch sah keinen Sinn in dem Versuch, ihm erklären zu wollen, dass sie ganz sicher nicht genug Personal hatten, um, wie es dazu wohl nötig sein würde, die Hälfte der Einwohnerschaft von London festzunehmen, und auch nicht die Örtlichkeiten, um sie festzuhalten, wenn sie es denn täten. „Ja, Sir“, schien alles zu sein, was es zu sagen gab, und das tat er, wobei er halblaut noch jene zeitlose Phrase hinzusetzte, die er als Bobby auf Streife zu antworten gelernt hatte, wenn von oben unmögliche Befehle kamen: „Ja, Sir. Nein, Sir. Drei Tüten voll, Sir.“ Sutler war ein dummer Hurensohn. Beinahe
so dumm, dachte Finch allmählich, wie er in dieser Folge von Deitrichs Half Hour ausgesehen hatte, der letzten, die es gegeben hatte, bevor man Gordon Deitrich erschoss. Schade drum. Es war eine ziemlich derbe Sendung gewesen, aber wenn sie Material gehabt hätte, mit dem sich arbeiten ließ und wie diese aktuelle Lage es bot, hätte sie ihn sicher zum Lachen bringen können. Und gelacht wurde nur noch selten in diesen Tagen. Sobald er das Gespräch mit dem Kanzler beendet hatte, schienen alle anderen Telefone gleichzeitig loszuklingeln. Und sie hörten einfach nicht auf, ganz gleich wie viele Anrufe auch entgegengenommen wurden. „Wir werden hier belagert“, erklärte Dominic unnötigerweise. „Die ganze verdammte Stadt ist durchgedreht!“ „Das ist genau das, was er will“, sagte Finch, ein Hauch von Anerkennung für das Talent seines Widersachers in der Stimme, für die Größe seiner Vision. „Was sein Plan braucht.“ „Was?“, fragte Dominic, der nicht ganz mitkam. „Chaos. Totales, allumfassendes Chaos.“ Und Chaos brach in der Tat allerorten aus – und hielt auch in den folgenden Tagen an. Nicht nur in ganz London, sondern überall im Land, denn der Besitz einer von Vs Guy-FawkesMasken – und die Anonymität, die sie bot – schien irgendwie weite Teile der Bevölkerung von ihrer Verdrängung zu erlösen und all die Sehnsüchte freizusetzen, die sie so lange unterdrückt hatten im Austausch gegen „Gesetz und Ordnung“ und eine Gesellschaft, die auch dann noch zu funktionieren schien, wenn die ganze Welt ringsum zusammenbrach. Und all das trotz Roger Dascombes sorgfältig ausgearbeiteter, gegenteiliger Propaganda, die unermüdlich die Botschaft heraushämmerte, dass all dies Teil einer terroristischen Intrige sei und ein Versuch, alles zu vernichten, was sie seit dem
Krieg gewonnen hätten… sowie die weit ausdrücklicher betonte Warnung, dass das Tragen oder der Besitz einer der zuvor erwähnten Masken den Tatbestand einer Verschwörung mit einer terroristischen Organisation erfüllte, der wiederum eine sofortige Festnahme rechtfertigte. Alle verantwortungsvollen Bürger, so endete die Nachricht, würden jede solche Maske umgehend zerstören, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Und vielleicht einer unter hundert Bürgern tat das auch. Für einige derjenigen, die das nicht taten, waren die Masken nichts weiter als Gelegenheiten zum Verbrechen im Namen der Anarchie, und in den folgenden Tagen gab es eine Welle von Diebstählen auf offener Straße und bewaffneten Überfallen auf Supermärkte bis hin zu tollkühnen Plünderungen von Banken. Größtenteils aber boten die Masken Deckung für weit weniger sträfliche, aber dennoch illegale Handlungen. Dafür, nach der Sperrstunde noch draußen zu sein. Dafür, furchtlos die CCTVÜberwachungskameras zu zerstören, die an jeder Straßenecke standen. Dafür, Sprüche auf Wände zu malen, angefangen bei „Nordfeuer aus!“ über „Hängt Sutler!“ bis hin zu „Nehmt euren Finger und steckt ihn euch sonst wohin!“ und „So ein Mist!“. Weniger ausfallend, aber doch Besorgnis erregender waren die anarchistischen Aufrufe wie „Keine Regierung!“ und „Keine Führer!“, denn sie untergruben das Fundament dessen, was das politische System auch immer versuchen mochte, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen. Am Besorgnis erregendsten für das Nordfeuer-Establishment war jedoch der schlichte Buchstabe V, mit Sprühfarbe aufgetragen und von einem Kreis umschlossen. Und von diesem letzten Akt des „Vandalismus“ (ein Querverweis, der V selbst sicher gefallen hätte) schien es immer mehr Beispiele zu geben, sie tauchten überall auf und bewegten sich irgendwie immer weiter auf die Downing Street zu.
Selbst in abgelegenen Teilen des Landes, wo der Sicherheitsgriff nicht ganz so fest war, boten die Masken Gelegenheit für kleine Demonstrationen. Vielleicht am tückischsten und spontansten waren die Partys, die überall gefeiert wurden. Meistenteils hinter verschlossenen Türen veranstaltet, handelte es sich um anarchistische Maskenbälle, auf denen alles erlaubt war, von politischen Witzen und Satire bis hin zum zügellosen Saufgelage. Und Anarchismus, der anfangt, Gefallen an sich selbst zu finden, ist die am schwersten zu unterdrückende Bewegung von allen. Sich der verschlimmernden Lage wohl bewusst saß Peter Creedy zu Hause zwischen seinen Orchideen und dachte daran, wie Sutler sich ihn ausgesucht hatte bei der Konferenz an jenem Tag, und dabei hielt er etwas in der Hand, einen kleinen Gegenstand, der für ihn inzwischen zum Talisman geworden war. Er rief sich in Erinnerung, wie Sutler gesagt hatte: „Mr. Creedy, ich mache Sie persönlich verantwortlich für diese Situation!“, als sei es irgendwie seine Schuld, als hätte er nicht genug Leute erschossen, um seine Quote zu erfüllen, als seien er und der Finger nicht das letzte Bollwerk zwischen Sutler und einer ruhelosen Bevölkerung, zwischen Ordnung und völligem Zusammenbruch. Und er rief sich in Erinnerung, dass V Recht gehabt hatte: Er war überwacht worden und da die Überwacher gewöhnliche Polizisten zu sein schienen, musste er davon ausgehen, dass Finch das auf Sutlers Geheiß hin in die Wege geleitet hatte. „Wer überwacht die Wächter?“, hatte Juvenal gefragt, und als dieser spezielle Wächter herausfand, dass es ein vom Leben gebeutelter, abgetakelter Bulle wie Eric Finch war… nun, das war die Art von Beleidigung, die sich niemand gefallen lassen sollte. Und Creedys Griff wurde fester und fester, bis der Gegenstand in seiner Hand mit einem winzigen Geräusch zerbrach, was seine Gedanken zurück auf
die gegenwärtige Lage lenkte. Und auf das Stück Kreide, das V ihm gegeben hatte und das jetzt in zwei Hälften zerbrochen auf seiner Handfläche lag. Weit entfernt, in einem Raum der Schattengalerie stellte V unterdessen eine ungeheuer lange Reihe von Dominosteinen auf dem Boden auf, die sich wand und schlängelte, sich kreuzte und wieder teilte. Sie formte den Buchstaben V, der von einem großen Kreis umschlossen wurde, und es bedurfte nur eines einzigen umfallenden Steines, um in der Folge auch alle anderen zum Umkippen zu bringen. Der Domino-Effekt, der einsetzen würde, wenn ein kleines Ereignis die Waage letztlich aus dem Gleichgewicht brachte, und dann würde das gesamte System der Ordnung ins Chaos stürzen, von der Stabilität in den Zusammenbruch. Etwas, das – an kosmischen Maßstäben gemessen – nicht mehr sein würde als ein Fingerschnippen oder das Flattern eines Schmetterlingsflügels oder eine dunkle Wolke, die am Mond vorüber zog.
KAPITEL 21
„Das Problem ist, dass er uns besser kennt als wir uns selbst“, sagte Finch zu Dominic, wobei sein Blick über die Stapel von Berichten wanderte, die mit zunehmender Geschwindigkeit in die Höhe wuchsen, je näher der November kam. Und dabei handelte es sich nur um die gewöhnliche Polizeiarbeit, die tatsächlichen Straftaten und geringeren Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Creedys Fingermänner sollten sich um die politischen Aktivisten kümmern, die kleinen Demonstrationen und Aufruhre niederschlagen, zu denen es nun fast täglich kam, angefangen bei Protesten gegen Lebensmittelverknappungen und unbarmherzige Polizeieinsätze bis hin zu leidenschaftlichen Antiregierungskampagnen. Das einzig Gute an der ganzen Situation war wohl, dachte Finch, dass Creedy wahrscheinlich noch mehr überarbeitet war, unter noch stärkerem Druck stand als er selbst. Aber beide schafften sie es nicht, dahinter zu kommen, was V vorhatte, abgesehen davon, dass er aufrühren und das System mit Schreibarbeit zuschütten wollte. „Deshalb bin ich gestern Nacht nach Larkhill gefahren“, fuhr Finch in nüchternem Ton fort, wohlwissend, welche Wirkung seine Worte haben mussten. „Sie sind was?“, explodierte Dominic und bemerkte erst jetzt, dass Finch den Störsender eingeschaltet hatte. Trotzdem… „Das liegt außerhalb der Quarantänezone“, fügte Dominic hinzu, obgleich sie das alle beide nur zu gut wussten und die Risiken kannten, die es bedeutete, dort hinzugehen. „Ich musste es sehen“, sagte Finch schlicht und dachte daran zurück, wie er, anstatt direkt nach Hause zu fahren, das Auto
genommen hatte und, weitaus langsamer und vorsichtiger als Dominic es je tun würde, hinunter nach Salisbury Plain gefahren war, wo er im Zwielicht einer blutrot untergehenden Sonne eingetroffen war. Es war dort allerdings nicht viel übrig, was es noch zu sehen gab. Der größte Teil des Maschendrahtzauns war weggerostet oder gestohlen worden, weil jemand das Altmetall gebraucht hatte, und die Betonpfosten, zwischen denen er verlaufen war, staken schief im Boden, einige waren eingesackt oder abgebrochen, wie zu Klauen geformte Krallen, die sich aus dem Erdboden schoben. Oder riesige Knochenfinger der Toten, die sich aus den Massengräbern in der Tiefe nach oben dem Licht entgegen reckten. Einmal abgesehen von den Opfern der medizinischen Forschung – wie viele Tausend waren hier gestorben? Wie viele weitere Tausend in anderen Lagern wie diesem, die übers Land verstreut gewesen waren, an Orten wie Bradford, Liverpool oder Leicester? Weit mehr, daran hatte er keinen Zweifel, als durch die St.-Mary’s-Epidemie, aber das hier waren Nicht-Engländer, Nicht-Christen, Nicht-Normale – Nicht-Menschen, soweit es das Regime anging –, deren Zahl, deren Namen und deren Erinnerungen einfach völlig ausradiert worden waren. Die Regierung behauptete natürlich, sie seien in ihre ursprünglichen Heimatländer deportiert worden. Aber jeder wusste, dass dem nicht so war. Die meisten Gebäude waren zu Ruinen zerfallen und wenn erst einmal die Dächer eingebrochen waren und die Mauern zu zerfallen begonnen hatten, war es schwer zu sagen, was hier nun was gewesen war. Die meisten zeigten zumindest Spuren der Explosion und des Feuers, das sie zerstört hatte, rußbedeckte Ziegel und Holzbalken, die jetzt zu Holzkohle geworden waren. Waren das Zellen gewesen oder Büros? Wie unterschied man den Verwaltungsblock vom medizinischen
Trakt? Wenn es hier je Schilder gegeben hatte, dann waren sie vor langer Zeit entfernt worden. Nicht einmal der Name Larkhill ließ sich noch irgendwo auf dem Gelände finden. Ein kaum erinnertes Pompeji, hatte er zunächst gedacht, nicht durch einen Vulkanausbruch und einen alles zudeckenden Ascheregen vernichtet, sondern mit selbst gebastelten Bomben aus Pflanzendüngern und Brandstoffen, durch einen einzelnen Mann, der mittels mentaler und medizinischer Folter in einen Zustand getrieben worden war, den Finch nicht einmal ansatzweise begreifen konnte. Aber das traf es nicht ganz. Es war eher die zertrümmerten Überreste einer vergessenen Nekropole, eingestürzter Mausoleen und halb ausgegrabener Grüfte, von umgestürzten, moosbewachsenen Grabsteinen – eine Gedenkstätte der Toten, ergreifender auf Grund seiner Verheerung als so monumentale offizielle Bauten wie das St. Mary’s Memorial. Und ein weit passenderer letzter Gruß an diejenigen, die gestorben waren, sowohl durch den Ausbruch des Virus als auch infolge seiner Erforschung und Herstellung, denn dies war kein steriles, überzuckertes Denkmal, das ein fröhliches Nach-der-Ausrottung-Überleben suggerierte. Es war roh, verwest und verdorben, genau wie diese ganze widerwärtige Angelegenheit es gewesen war, hier am Ort ihres Ursprungs bis hin zu ihrem Abschluss in London. Ein Gestank lag über diesem Fleck, nicht der des Todes, sondern der des Bösen und der Korruption. Das hieß natürlich, wenn dieser Ort je etwas mit dem St.Mary’s-Virus zu tun gehabt hatte. Wenn das nicht nur eine weitere dieser Geschichten war, dieser Illusionen aus Rauch und Spiegeln, die die ganze Vergangenheit auf dieselbe Art von Chaos reduzierten, in das die Gegenwart abzugleiten schien. Aber es hatte eine Reihe von Räumen gegeben, bei denen es sich um zerstörte Zellen zu handeln schien, mit
bruchstückhaften Überresten eines keramikgefliesten Bodens davor, hier und da hingen noch Metalltüren in ihren Angeln, auf den meisten davon war noch schwach ein mit Kreide aufgemaltes X zu erkennen und nummeriert waren sie mit römischen Ziffern. Und eine Tür war da gewesen, vor der er minutenlang stehen geblieben war, tief in Gedanken versunken, während er versucht hatte, sich in all das, was dort geschehen war, hineinzuversetzen, in alles, was dazu geführt hatte, und alles, was danach gekommen war. Die Tür zu Raum fünf. Raum V. Und das war es eigentlich, das zu sehen er hergekommen war. Den Ausgangspunkt. Raum V. Gefangener V. Der Terrorist mit dem Kodenamen V. Der Gegner, den er zu respektieren gelernt hatte, ohne allerdings zu wissen, wie er mit ihm umgehen sollte. V. Das zumindest schien etwas Reales zu sein, etwas, an dem er sich fest halten konnte. Ein einzelnes ikonisches Faktum inmitten der Hirngespinste, auf das er eine Art von Verständnis aufzubauen versuchen konnte. „Es war nicht viel übrig“, sagte er zu Dominic. Seine Gedanken kehrten zum jetzigen Augenblick zurück und er versuchte, die Erfahrung zusammenzufassen. „Aber es war seltsam, als ich dort war. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass alles miteinander verbunden sei. Es war, als könnte ich die ganze Sache als eine lange Kette von Ereignissen sehen, die sich bis in die Zeit vor Larkhill zurückerstreckte. Ich hatte das Gefühl, alles sehen zu können, was geschehen war und was noch geschehen wird. Wie ein vollständiges Muster, das vor mir ausgelegt wurde… und ich erkannte, dass wir alle Teil davon waren… Und alle darin gefangen waren.“ Dann verstummte er wieder und ließ sich das alles durch den Kopf gehen, wie er es schon so viele Male getan hatte. Die
Geschichten. Delia Surridges Tagebuch. Die „Rookwood“Sache, von der er immer noch nicht wusste, ob sie Tatsache oder Fiktion war – oder zu welchen Teilen sich unter Umständen beides darin vermischte. Die Steuerakten und Lillimans grotesk hohe Bezahlung in Larkhill… oder war das auch nur ein Ablenkungsmanöver? Was, wenn es wirklich einen berechtigten Grund dafür gegeben hatte? Es war, als hätten sie Teile von verschiedenen Puzzles, die irgendwie zusammenzupassen schienen, obwohl das Bild, das sie ergaben, sich beharrlich weigerte, Sinn zu ergeben. Und darunter lagen die scheinbar „historischen Fakten“. Larkhill war offensichtlich durch ein Feuer zerstört worden, was auch immer dort vorgegangen sein mochte. Das St.Mary’s-Virus war echt, ebenso wie die Toten, die es gefordert hatte, ganz gleich, wer dafür zu beschuldigen war. Adam Sutler hatte all diese Nordfeuer-Kundgebungen abgehalten und es geschafft, sich auf Grund einer Antiterror-Abstimmung wählen zu lassen. Und Peter Creedy war ein Hurensohn, unabhängig davon, was ihm oder was ihm nicht anzulasten war. Und V hatte den Old Bailey in die Luft gesprengt, den Jordan Tower angegriffen, das gesamte Larkhill-Personal ermordet. Würde, ohne jeden Zweifel, die Houses of Parliament hochjagen, es sei denn, er wurde vorher irgendwie gestoppt. Hatte all diese Masken verschickt und Finch dazu gebracht, Creedy zu überwachen, wobei Finch die Gründe für beides noch immer nicht ganz verstand. Und mit all dem vermengten sich diese unerklärlichen, rasend machenden Zufalle. Gestern Nacht erst war ein weiterer eingetreten. Auf seiner Fahrt zurück von Larkhill, wo er auf einer der Türen dort das verblasste, mit Kreide aufgemalte X gesehen hatte, durchquerte er, nachdem er den M25 verlassen hatte, Hampstead und hatte
sich nicht davon abbringen können, einen Blick auf die Tür von Peter Creedys Haus zu werfen. Und dort, auf der Eingangstür seines Feindes, war ein weiteres Kreide-X gewesen. Was zur Hölle konnte das zu bedeuten haben? Und doch… alles Teil des Musters. Jenes verwirrende, wütend machende Muster, das, wie er wusste, dieser verwirrende, wütend machende V irgendwie kontrollierte. Wie Dominosteine, die darauf warteten umzufallen. Das Muster… „Und? Wissen Sie, was passieren wird?“, fragte Dominic ihn schließlich, als sich das Schweigen zu fast peinlicher Länge gedehnt hatte und als hoffte er, dass Finch einen gottähnlichen Blitz der Erleuchtung abschießen würde, der sie „Fall geklärt“ unter die ganze Sache schreiben und zu ihrem normalen Leben zurückkehren ließe. „Nein“, antwortete Finch, schüttelte den Kopf und lächelte wehmütig. „Wie gesagt, es war nur so ein Gefühl. Aber ich kann es mir denken. In all diesem Durcheinander wird irgendjemand etwas Dummes tun. Und wenn das passiert, wird’s richtig schlimm werden.“
Durch einen jener Zufalle, in denen V sich zu sonnen schien und mit denen Finch zu rechnen gelernt hatte, ließ sich jemand zu etwas sehr Dummem hinreißen, genau in dem Moment, da Finch in Gedanken versunken in Larkhill gestanden hatte. Denn in genau demselben blutroten Zwielicht des Sonnenuntergangs, das die Wolken mit einem fast himmlischen, religiösen Rosa färbte, war ein Fingermann durch eine Nebenstraße in Brixton gestreift und auf ein kleines Mädchen gestoßen, etwa acht Jahre alt. Ein kleines Mädchen, das eine Maske trug.
Wäre das alles gewesen, hätte er es wahrscheinlich laufen lassen. Der Befehl, „jeden zu verhaften, der eine Guy-FawkesMaske trug“, war zwar eindeutig, aber wenn es sich um kleine Mädchen handelte, konnte man sicher ein wenig Diskretion walten lassen. Aber die Maske war nicht alles gewesen. Die Kleine hatte eine Dose Sprühfarbe in der Hand und stand vor einem der beinahe heiligen Stärke durch Einigkeit, Einigkeit durch Glauben-Plakate, die die Partei unentwegt überall aufhängte, trotz ihrer immer häufiger werdenden, immer wütender machenden Verunstaltung. Und sie hatte gerade eines dieser gottverdammten F-Zeichen darauf gesprüht. Und er war durch und durch Partei-Anhänger, der seit drei Wochen Zwölfstundenschichten schob, ohne Pause, und sich mit einer Protestaktion nach der anderen auseinander setzen musste, von Sprayern und Sperrstundenbrechern bis hin zu Steinewerfern und jungen Rabauken mit Molotowcocktails. Und das hier war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Hey, du!“, rief er und lief auf sie zu. Kind hin oder her, das kleine Miststück würde ins Gefängnis wandern. Da rannte sie los, mit wirbelnden kleinen Beinen, immer noch die Maske auf dem Gesicht, vor Entsetzen kreischend. Während in der Nähe Fenster aufgingen und Vorhänge sich bewegten, warf sie die Farbdose weg und ließ sie hinter sich über die Straße rollen. Unter die Füße des näher kommenden Fingermanns rollen, der, die Augen nur auf seine Beute gerichtet, darauf trat… sein Gleichgewicht verlor und mit Karacho gegen eine Wand prallte. Und, wie es so oft der Fall war, zog nicht die Wand den Kürzeren. Aus einer Platzwunde auf der Stirn rann ihm Blut ins Auge. Sein Kopf dröhnte von der Wucht des Aufpralls, und er konnte
nichts weiter tun, als zu keuchen, während ihm der Atem aus den Lungen getrieben wurde. Wilder Schmerz schoss ihm durch den verstauchten Knöchel des Fußes, mit dem er auf die Dose getreten war… und die Schusswaffe war in seiner Hand, ehe es ihm richtig bewusst wurde, und er drückte den Abzug, bevor er auch nur einen Gedanken fassen konnte. Ein Schuss war alles, was es brauchte. Ein Schuss, um eine bereits instabile Situation umkippen zu lassen in einen wirbelnden Strudel sich steigernden Aufruhrs. Der Körper des Mädchens zuckte in der Luft zusammen, als hätte man an einer Schnur gezogen, das Loch, das sich geradewegs durch ihre winzige Lunge bohrte, sah entsetzlich aus. Die Kleine schlug als winkliges, verzerrtes Häufchen zu Boden, wälzte sich in Blut und rührte sich nie wieder. Die dünne, aus Pappmaschee bestehende Maske jedoch, die ohnehin nur lose auf ihrem kleinen, kindlichen Gesicht gesessen hatte, löste sich vollends und schwebte kurz in der Luft, bevor sie auf den Boden traf und auf der Kante weiterrollte, bevor sie endlich zur Ruhe kam vor den Füßen eines erschrockenen Mannes mit einem Universalschraubenschlüssel in der Hand, der gerade sein Auto repariert hatte, als der Schuss erklang. Ein Mann, der nach unten schaute und eine Maske sah, die mit dem Blut eines kleinen Kindes bespritzt war. Jemandes Tochter. Nicht seiner Tochter, aber in diesem Moment war sie irgendwie jedermanns Tochter, als sich eine Menschenmenge zu sammeln begann, aus ihren Häusern gelockt von der Tragödie, die sich vor ihren Augen zugetragen hatte. Männer und Frauen, Teenager und Rentner. Die meisten mit leeren Händen. Ein paar mit Messern, mit denen sie in ihren Küchen gearbeitet hatten, weil es fast Zeit fürs Abendessen war.
Und als der Fingermann heranhumpelte und vor der Leiche seines Opfers stehen blieb und ihm endlich die schreckliche Erkenntnis dessen dämmerte, was genau er getan hatte, zogen sie den Kreis um ihn enger. Sie hielten inne, als er drohend die Waffe schwang und ihnen seine Dienstmarke zeigte, sahen einander verunsichert an, als er sich lautstark aus der Affäre zu ziehen versuchte. Aber ein dumpfes Raunen hob an, als sich die heulende Mutter des Mädchens einen Weg durch die Menge bahnte und sich über ihre Tochter warf und dem Mörder Flüche entgegenschleuderte. In diesem Moment trat der Automechaniker hinter den Fingermann und hieb ihm den Schraubenschlüssel auf den Kopf. Und dann begann wirklich Blut zu fließen. Nicht nur in Brixton. Creedy und seine Fingermänner glaubten, sie hätten diesen Fall im Griff, bevor der Tumult wirklich außer Kontrolle geriet, auch wenn es sie fünfzehn Mann gekostet hatte. Massenverhaftungen und die invasive, brutale Präsenz von Sicherheitspersonal hätten den Zweck eigentlich erfüllen müssen und sie schafften es auch, die Sache aus den Medien herauszuhalten. Und doch machte das, was geschehen war, irgendwie die Runde. Nicht nur die Angelegenheit mit dem kleinen Mädchen, sondern auch die Todesfälle, zu denen es in der Folge davon gekommen war. Fingermänner ließen die ihren schließlich nicht ungerächt. Gegen den zweiten Aufruhr in Brixton am folgenden Morgen konnten sie allerdings nichts tun. Oder die in Manchester, in Bristol, in Newcastle und in Liverpool. Und im Gebäude von New Scotland Yard, wo die ganze Zeit BTN über den Bildschirm lief, sodass man die Kurzmeldungen verfolgen konnte, die einem das größere Bild dessen vermittelten, was außerhalb der Hauptstadt vorging, sah Eric
Finch zu Dominic und hob mutlos die Schultern. Es war kein Fall mehr, bei dem die Dinge „richtig schlimm“ werden würden. Sie waren es bereits geworden. „Und damit“, nahm Finch seinen früheren Gedankenfaden wieder auf, „ist Sutler gezwungen, das Einzige zu tun, das er zu tun weiß.“ Dominic wusste nur zu gut, was das war. Die Armee aufbieten. Das Kriegsrecht ausrufen. Ausgedehnte Ausgangssperren rund um die Uhr verhängen. Aufrührer und Plünderer sofort erschießen. „An diesem Punkt braucht V nur noch sein Wort zu halten, und dann…“ Finch ließ den Satz so stehen. Keiner von ihnen wollte an die Konsequenzen denken, die sich danach ergeben würden. Allerdings mussten sie sich fragen, ob diese Konsequenzen denn so viel schlimmer sein konnten als das, was jetzt vorging. In der Schattengalerie hatte V lange über die Konsequenzen nachgedacht, entsprechend geplant und darauf hingearbeitet, dass sie sich ergaben. Und nun machte er aus dem leichten Schnippen eines behandschuhten Fingers eine große Geste von enormer Tragweite, indem er den ersten Dominostein seines großen Entwurfs umstieß beginnend an der Spitze des Vs und dann lauschte er zufrieden der Folge leiser, sich wiederholender Klicklaute und sah zu, wie sich die umfallenden Steine in zwei Reihen aufspalteten, als die Bewegung die beiden Arme des Vs entlangraste, den Rand des Kreises erreichte und sich auf dessen Linie fortsetzte, perfekt angeordnet, mit perfektem Timing, sodass sich die beiden Reihen umkippender Plättchen exakt an ihrem Ausgangspunkt wieder treffen würden.
Zwei gleiche und doch einander entgegen laufende Kräfte, die gleichzeitig und in perfekter Symmetrie aufeinander prallten. Und dabei aus irgendeinem Grund einen einzelnen Dominostein stehen ließen. Und V konnte nichts weiter tun, als ihn anzustarren, wie es ein Juwelier tun würde, der im allerletzten Moment einen einzigen, winzigen, aber gravierenden Makel in einem ansonsten perfekten Design entdeckte.
KAPITEL 22
„Manchmal höre ich im Kopf immer noch dieses Lied, wenn ich aufwache“, sagte Evey Hammond gedankenvoll, während sie in der Schattengalerie an der Jukebox stand, die sie gerade in Betrieb gesetzt hatte. „Es hat mir gefehlt.“ Sie wandte sich von dem Apparat ab, als die Musik zu spielen anfing, und sah sich um an diesem Ort, an den sie sich so gut erinnerte, aus so vielen verschiedenen Gründen, aus guten wie aus schlechten. Die schlechten schienen jetzt so viel weniger wichtig und was die guten anging… eine Zeit lang war dies ihr Zuhause gewesen und abgesehen von allem anderen war es immer noch so etwas wie Aladins Schatzhöhle, voller wunderbarer Dinge, die sie ebenso zu schätzen gelernt hatte, wie er es tat. Sie wirkte gesund und kräftig, zuversichtlich und entspannt, ihr nun schwarzes Haar war etwa halb so lang gewachsen, wie es gewesen war, als er sie das erste Mal hierher gebracht hatte. „Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest“, sagte V, er stand am Rande der Schatten, immer noch maskiert wie stets und dazu noch angetan mit Umhang und Hut. Schließlich hatte sie bis zum Abend des großen Tages gewartet. „Ich sagte doch, dass ich kommen würde.“ Sie lächelte. Und heute war ein Versprechen etwas, das zu halten war, und dem man sich nicht entzog, wie es in den verdrießlichen, angstvollen Tagen der Vergangenheit so oft der Fall gewesen war. „Du siehst gut aus“, fuhr er fort und betrieb damit höfliche Konversation auf eine Art, wie sie es von ihm eigentlich nie erwartet hätte… es sei denn, dies war die Art und Weise, wie
er mit der Spannung umging, die sich aufbauen musste, bevor er mit dem Akt begann, der, wie sie im Herzen wusste, das große Finale all dessen sein würde, woran er je gearbeitet hatte. „Danke“, sagte sie einfach nur. Es hatte keinen Zweck, das Kompliment an ihn zurückzugeben, wo sie doch nicht mehr sehen konnte als eine Maske. „Du hattest keine Schwierigkeiten?“, fragte er sie, obgleich die bloße Tatsache, dass sie zurückgekommen war, offenkundig zeigte, dass nichts von dem, womit sie sich hatte auseinander setzen müssen, unüberwindlich gewesen war. „Für eine Weile.“ Sie lächelte wieder und erinnerte sich daran, wie sie anfangs zu kämpfen gehabt hatte, wollte ihm jedoch nicht davon erzählen. „Dann gelang es mir, einen neuen Ausweis zu kaufen.“ „Deine Maske“, sagte er, wenn auch nicht unbedingt mit einem Lachen in der Stimme, so aber doch mit einer Andeutung darauf, dass unter dem Guy-Fawkes-Gesicht etwas wie ein echtes Lächeln sein mochte. „Sozusagen.“ „Nicht ungewöhnlich in diesen Tagen“, fuhr er leichthin fort, und beide wussten sie ganz genau, worauf er sich bezog. „Nein, wohl nicht.“ Sie lachte, alles andere als daran gewöhnt, ihn scherzen zu hören. Und dann senkte sich Schweigen zwischen sie, dehnte sich, als sie beide darauf warteten, dass der andere als Nächstes sprach. Sie, weil sie wusste, dass er sie aus einem wichtigen Grund gebeten haben musste, hierher zurückzukommen, und weil sie ihm Gelegenheit geben wollte, ihr zu sagen, was es war. Und er, weil ‘ er nicht sicher war, ob sie bereit war, es zu hören, oder ob er wirklich bereit war, es ihr zu sagen.
Schließlich ging das Lied aus der Jukebox zu Ende und in der folgenden Stille schien es keine andere Möglichkeit zu geben, als zur Sache zu kommen. „Ich habe ein Geschenk für dich, Evey. Deshalb wollte ich dich noch einmal sehen. Aber…“ Ein weiteres Zögern. Dann, beinahe schüchtern: „Bevor ich es dir gebe… ich hatte gehofft, dass du vielleicht tanzen möchtest.“ „Jetzt?“, fragte sie, bezaubert, aber auch völlig überrascht. „Am Abend deiner Revolution?“ „Eine Revolution ohne Tanz ist eine Revolution, die es nicht wert ist stattzufinden.“ Seine ganze Körpersprache verriet eine Ungeduld, sie genau das sagen zu hören, was sie sagte. „Liebend gern.“
Nicht weit entfernt, und über dem Erdboden, fuhren Dominic, der am Steuer saß, und Finch von der Chelsea-Kaserne zurück, wo sie zwecks eines Briefings über die Vorkehrungen des Militärs gewesen waren, die man zum Schutz des Parliament Squares an diesem Abend getroffen hatte. In ein paar Minuten würden sie die Houses of Parliament erreichen, wo das Protokoll ihre Anwesenheit verlangte, aber keiner von beiden wirklich sein wollte. Nicht weil sie fürchteten, zu sterben oder verletzt zu werden, falls V das Parlament tatsächlich in die Luft jagte, sondern weil sie wussten, dass, wenn er es tat, die Anwesenheit von zwei zusätzlichen Polizisten nicht den geringsten Unterschied machen würde. Und außerdem begann Chief Inspector Finch wieder so ein Gefühl zu verspüren. „Halten Sie hier an und lassen Sie mich raus“, sagte er unvermittelt, als er merkte, dass sie die U-Bahn-Haltestelle Victoria passierten.
„Kommen Sie, Inspector“, protestierte Dominic. „Wir haben unsere Befehle. Wir müssen unseren Job tun.“ „Das ist nicht mein Job“, erwiderte Finch, als Dominic nachgab und den Wagen trotzdem stoppte. „Mein Job ist es, ihn zu finden.“ „Aber wir haben diese Tunnel wochenlang abgesucht“, sagte Dominic in einem letzten Versuch, Finch von seiner Absicht abzubringen. Er wusste nicht, woher der Alte diesen Floh im Ohr hatte, wenn V nach der Meinung aller anderen Experten aus der Luft angreifen würde, aber er wollte einfach nicht davon ablassen. Abgesehen davon, dass das gesamte U-BahnNetz seit der Reklamation stillgelegt war und seiner „Sanierung“ harrte (oder treffender gesagt, auf genug überschüssige Energie wartete, um das Ding betreiben zu können), wusste jeder, dass die Strecken Circle, District und Jubilee vor Jahren schon ganz bewusst blockiert worden waren, und das waren die einzigen, die auch nur in der Nähe der Houses of Parliament verliefen. Und außerdem war es viel zu spät, selbst für „Gefühle“ in letzter Minute. „Sie werden ihn auch jetzt nicht finden“, rief Dominic, als Finch aus dem Auto stieg, aber nichts konnte seinen Chef zurückbringen. Naja, dachte er achselzuckend, als er Finch nachsah, wie der die Treppe zur Haltestelle hinunterging und verschwand, ihm schien nichts anderes übrig zu bleiben, als Meldung an seinen Posten zu machen und zu hoffen, dass ihm eine glaubwürdige Entschuldigung für die Abwesenheit des Inspectors einfiel, bevor ihn tatsächlich jemand nach einer solchen fragte. Vielleicht würde er sagen, der Alte habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Oder dass er im Untergrund ermittle… dreißig oder vierzig Fuß unter der Erde. Zugleich aber hoffte Dominic, dass Finch nichts zustoßen mochte, denn jetzt bekam er selbst eines jener Gefühle, unter denen sein Chef so oft zu leiden schien. Ein Gefühl, dass dies,
ganz egal, wie die Sache heute Nacht ausging, einer jener Schlüsselmomente war, in dem sich alles für immer wendete. Ob zum Besseren oder zum Schlechteren, das wusste er nicht, aber er wusste, dass es nie mehr so sein würde, wie es gewesen war. Und plötzlich fragte er sich auch, ob er Eric Finch je wieder sehen würde. Letzterer hatte unterdessen die Vorhalle der Station durchquert und ging bereits die jetzt still stehende Rolltreppe hinunter, wobei ihm nur eine Taschenlampe den Weg wies. Irgendwo dort unten, jenseits der Bahnsteige, irgendwo tief in den Tunneln, entweder auf der Victoriastrecke oder, was wahrscheinlicher war, auf den Circle- und Districtstrecken… dort musste die Antwort liegen. Vielleicht sogar auf der anderen Seite der Blockaden, wenn er einen Wartungstunnel oder so etwas finden konnte, den sie zuvor übersehen hatten. Eine U-Bahn-Station bestand aus weit mehr als nur den Zugtunneln und den Bahnsteigen, die alles waren, was die allgemeine Öffentlichkeit zu sehen bekam. Wartungsschächte, Notausgang-Tunnel, unterirdische Rangiergleise, auf die Züge bugsiert werden konnten, um andere passieren zu lassen… ein Irrgarten aus Gängen. Ein unterirdisches Labyrinth, in dem man durchaus ein minotaurusartiges Ungeheuer wie V, in einem schrecklichen Experiment herangezüchtet, finden konnte, wenn man nur den richtigen Hinweis hatte. Und es fingen nur zwei Londoner U-Bahn-Haltestationen mit V an: Victoria und Vauxhall. Und letztere lag südlich des Flusses, abseits der Machtzentren… abseits aller Schauplätze von Vs Heldentaten. Wenn es eine richtige Spur gab, dann war es Victoria.
Nicht weit entfernt tanzte die Person, der Finchs Suche galt, langsam mit einer schönen Frau in den Armen. Ein letzter
Tanz… „The Last Waltz“… ehe er der Welt ein Ende bereitete. Zumindest der Welt von Sutlers England, deren Abbruch längst schon überfällig war. „Du warst sehr fleißig“, sagte Evey und sah zu seiner Maske auf – diese Maske, die alles war, was sie je von ihm gesehen hatte. „Sie haben große Angst. Ich hörte, dass Sutler heute Abend eine öffentliche Mitteilung abgeben wird.“ „Es ist fast vorbei“, sagte V und sie wusste, dass er, auf die eine oder andere Weise, Recht hatte. Wenn es nicht mit Sutlers Welt vorbei war, dann mit seiner. „Das mit den Masken war sehr raffiniert“, fuhr Evey fort. Sie wollte ihn wissen lassen, dass sie es bewunderte, wie er seinen Feldzug geführt hatte. In der Vergangenheit, als ihre Angst sie gezwungen hatte, ihn zu hintergehen, oder als er ihr eben diese Angst per Folter ausgetrieben hatte, war kaum Gelegenheit für so etwas gewesen. „Es war sehr seltsam, dein Gesicht auf einmal überall zu sehen.“ Er antwortete mit einem jener Shakespearezitate, die er offenbar so sehr mochte: „Verhehle, was ich bin, und verhilf mir zu einer Verkleidung, die meinen Absichten beförderlich sein mag.“ „Was ihr wollt.“ Sie erkannte den Auszug mit Leichtigkeit, weil sie das Stück nie vergessen hatte, seit sie als Kind darin aufgetreten war. „Viola“, ergänzte er und erinnerte sich, dass dies die Rolle gewesen war, die sie gespielt hatte. Einmal noch gab sie sich glücklich dem Tanz hin. Dennoch, heute Nacht… in dieser letzten Nacht, bevor alles anders wurde… gab es immer noch Dinge zu sagen, immer noch offene Fragen. Weibliche Neugier, die trotz allem nicht ganz weichen wollte. „Ich verstehe es nicht“, sagte sie schließlich. „Was?“
„Wie du, in mancherlei Hinsicht, eines der wichtigsten Dinge sein kannst, die mir je widerfahren sind… und doch weiß ich fast nichts über dich. Ich weiß nicht, wo du geboren wurdest, wo deine Eltern lebten oder ob du Geschwister hattest. Ich weiß nicht einmal, wie du wirklich aussiehst.“ Da war die Frage also, hing in der Luft, nicht ganz gestellt, ohne ausdrücklich eine Antwort zu verlangen. Ein Köder, den er hätte schlucken können, wenn er gewollt hätte… was er jedoch nicht tat. „Evey, es ist ein Gesicht unter dieser Maske, aber das bin nicht ich. Ich bin ebenso wenig dieses Gesicht, wie ich das Fleisch darunter bin oder die Knochen.“ Zweideutig bis zum Ende also. Sollte sie das als Hinweis darauf auffassen, dass das Gesicht unter der Maske auf die gleiche Weise zerstört worden war wie seine Hände? Oder sagte er damit, dass ein Mensch nicht das Gesicht ist, das er der Welt zeigt, nicht die öffentliche Person, sondern etwas Tieferes, Wesentlicheres, eine Persönlichkeit, die die äußere Erscheinung bei weitem übertraf? Dass das Gesicht selbst nichts weiter ist als eine Maske? Wie auch immer, er konnte immer noch das Gesicht eines Teufels oder das eines Engels hinter dem von Guy Fawkes verstecken und endlich befand sie, dass es besser war, wenn sie das nie erfuhr. „Ich verstehe“, sagte sie etwas betreten und tanzte weiter. „Danke“, erwiderte er leise. „Weißt du“, sagte sie dann mit einem Strahlen und wechselte damit zu einem angenehmeren Thema. „Ich fand eine Kopie von Der Graf von Monte Cristo. Ich denke jedes Mal an dich, wenn ich mir den Film ansehe. Es ist komisch, denn jetzt tut mir Mercedes nie so sehr Leid wie der Graf.“ Schließlich endete die Musik und die Stille kehrte zurück und zerstörte ihren zarten Moment der Vertrautheit. Als er sie aus
seinen Armen entließ, schien V wieder in sein übliches kühles, gefasstes Ich zurückzufallen, schien ihr wieder so fern zu sein, wie er es der Welt im Allgemeinen war. „Es ist nicht mehr viel Zeit“, begann er und drehte sich, um sie aus dem Raum zu führen, „und ich habe etwas, das ich dir geben muss.“ Während sie sich fragte, was um alles in der Welt er wohl vorhaben konnte, ließ sie sich von ihm durch das Labyrinth der Schattengalerie führen, durch eine Anzahl von Türen und dann hinaus in einen langen, schlauchartigen Tunnel und schließlich, über ein paar Treppen hinab, auf den Bahnsteig einer Haltestelle. „Die U-Bahn?“, wunderte sich Evey. „Ich dachte, die hätte man geschlossen!“ „Das hat man auch. Es dauerte fast zehn Jahre, die Schienen frei zu räumen… zumindest so weit, wie ich es wollte.“ Erst jetzt fiel Evey der alte Zug wirklich auf, der am Bahnsteig stand. Einst mochte es eine richtige Bahn gewesen sein, jetzt allerdings war sie umgewandelt worden, das Äußere war, wie früher, über und über mit Graffiti bemalt, allerdings mit herrlichen Schnörkeln und Arabesken im Jugendstil, mit Lilien und Rosen. „Was für ein wunderschöner, alter Zug“, hauchte Evey, die Augen groß vor Staunen, als sie Vs Handschrift in den Verzierungen erkannte. Wenn Züge immer so ausgesehen hätten, dachte sie, wären sie wahrscheinlich nie mutwillig verwüstet worden. Und wenn alles so gemacht und verziert worden wäre… wenn ganze Städte von Antonio Gaudi entworfen worden wären anstatt von Architekten, die uns entmenschlichende Betonklötze gaben, um darin zu wohnen, und Einkaufszentren, die wie Gefängnisse aussahen… vielleicht hätte es dann nie eine faschistische Partei gegeben
oder sinnlose Verbrechen und Kriege. Oder zumindest weniger davon. „Komm, ich zeig ihn dir“, sagte er, nahm sie bei der Hand und führte sie darauf zu. Aber bevor er ihr das Innere des Wagons zeigte, ging er mit ihr zum Führerstand. „Diese Züge bewegten sich nur mittels so genannter Sicherheitsfahrschalter“, erklärte er, „das heißt, der Strom erreichte die Motoren nur, wenn der Fahrer hier saß und den Schalter nach unten drückte. Das habe ich ausgebaut. Hier gibt es ja sowieso keinen Strom. Aber es gibt ein leichtes Gefälle, das von hier nach Westminster führt, dorthin, wo die Tunnel noch blockiert sind. Du brauchst nur den Bremsgriff hier zu lösen, und dann rollt der Zug von selbst die Gleise hinunter.“ „Aber warum erzählst du mir das, V?“, fragte sie verwirrt. „Für den Fall, dass du es wissen musst“, antwortete er geheimnisvoll, dann führte er sie nach hinten zum Wagon. Wie sie es fast erwartet hatte, war er mit violetten CarsonRosen gefüllt. Aber das war nicht alles. Der vordere Teil des Zuges war unmittelbar hinter dem Führerhaus mit kleinen Rechtecken voll gepackt, die aus rotem Lehm zu bestehen schienen, im Gang zwischen den Sitzen aufgestapelt, um eine Art Plattform zu bilden, fast wie eine Totenbahre. Ein Blick in die Runde zeigte ihr, dass sich auch hinter ihnen weitere dieser kleinen roten Ziegel befanden, und sie vermutete, dass der ganze Zug damit voll geladen war. „Was ist das?“, fragte Evey und hob einen davon hoch. „Gelatinedynamit“, sagte er beiläufig. „Was?“, entfuhr es ihr dermaßen überrascht, dass sie das Ding beinahe fallen gelassen hätte. „Vorsichtig“, sagte er mit einem ganz leisen Lachen, als sie es behutsam, aber eilends zurück auf den Stapel legte und schnell ein paar Schritte zurückging.
„Du sagtest, die Gleise seien blockiert drunten bei Westminster“, sagte sie nachdenklich und fügte dann hinzu: „Unter den Houses of Parliament?“ Er nickte. „Dann wird es also wirklich dazu kommen, was?“, sagte sie bedächtig. Irgendwie hatte sie immer gewusst, dass es dazu kommen würde, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wie. Aber tatsächlich hier zu sein, es zu sehen, Teil davon zu sein, tauchte die ganze Sache in ein neues Licht. All die Planung, all die Arbeit, all die Jahre… alles lief auf diese eine Nacht hinaus, in der alles im Wüten der Flammen explodieren würde. „Das wird es. Wenn du es willst.“ „Was?“, rief sie aus. Was um alles in der Welt hatte das mit ihr zu tun? „Das ist mein Geschenk an dich, Evey.“ Seine Hand beschrieb einen Halbkreis, von dem sie erst glaubte, er beziehe sich nur auf den Zug, dann aber erkannte sie, dass er weit mehr umfasste als das. „Alles, was ich habe: mein Heim, meine Bücher, die Galerie, dieser Zug. Ich überlasse das alles dir, um damit zu tun, was du willst.“ Evey sah ihn mit einem beinahe enttäuschten Ausdruck an. Das war nicht die Art Geschenk, die sie erwartet hatte. Mehr noch, sie bezweifelte, dass „ein Zug voller Gelatinedynamit“ auf der Wunschliste irgendeines Mädchens sehr weit oben rangierte. Aber es steckte offenbar mehr dahinter als das – abgesehen von seinen Besitztümern wollte er noch etwas anderes weitervererben. „Ist das wieder ein Trick, V?“, fragte sie zögerlich. „Nein“, erwiderte er schlicht. „Keine Tricks mehr. Keine Lügen mehr. Nur die Wahrheit. Die Wahrheit ist: Du hast mir begreiflich gemacht, dass ich mich irrte. Dass die Wahl, diesen Hebel zu ziehen, nicht bei mir liegt.“
Ein paar Augenblicke, um darüber nachzudenken, und dann glaubte sie zu verstehen. Wenn es schließlich nur seine Wahl gewesen wäre, dann wäre all dies auf kaum mehr als einen Akt persönlicher Rache reduziert worden, den er an den Leuten verübte, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war. Die Tat eines, wie sie ihm deutlich gemacht hatte, bevor sie ihn verlassen hatte, Ungeheuers, das es den Leuten heimzahlte, die es zu dem gemacht hatten, was es war. Und die Rolle des Ungeheuers war offenbar eine, der er letztlich zu entsagen beschlossen hatte. Dennoch, sie wollte es aus seinem Munde hören, wollte die auf der Hand liegende Frage stellen: „Warum?“ „Weil diese Welt, die Welt, von der ich Teil bin und die ich zu formen half, heute Nacht enden wird. Morgen wird eine andere Welt beginnen, die andere Menschen formen werden, und diese Wahl steht ihnen zu.“ Oder genauer gesagt Evey, als deren Vertreterin, wodurch das Ganze zu einem wahren Akt der Revolution wurde, ausgeführt vom Volk für das Volk, anstatt nur die böswillige Tat eines Einzelnen zu sein. Und sie wusste, dass sie ihm glaubte. An diesem letzten Abend war kein Raum für irgendetwas anderes als die Wahrheit. Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Wie es am Old Bailey gewesen war, bevor das Gerichtswesen durch das politische korrumpiert worden war und der ganze Laden in die Luft gejagt werden musste. Heute Nacht vor einem Jahr. Und nun hatte sich das Jahr gewendet und es war an der Zeit, auch das korrupte Politikwesen zu zerstören. Während ihr all das durch den Kopf gegangen war, hatte sich V, wie ihr plötzlich auffiel, umgedreht und war aus dem Zug gestiegen, fast so, als gäbe es damit, dass er die Sache in ihre Hände gelegt hatte, nichts mehr zu bereden zwischen ihnen.
Oder zumindest nichts mehr, was er sich zu sagen zwingen könnte. Sie eilte ihm nach und rief ihn zurück. „Wo gehst du denn hin?“, wollte sie wissen, als er sich noch einmal zu ihr umwandte, obschon sie wusste, dass er nur kurz innehielt, bevor er seiner Wege gehen würde. „Für mich ist die Zeit gekommen, meinem Schöpfer gegenüberzutreten.“ Sie war sicher, dass seine Worte einen zweideutigen Sinn hatten. „Um ihm endlich in gleicher Münze alles zu vergelten, was er getan hat.“ „V Warte… bitte“, rief sie, als er sich wieder umzudrehen begann. „Du musst das nicht tun. Du könntest es sein lassen. Wir könnten von hier weggehen… miteinander.“ „Das kann ich nicht“, antwortete er. Nicht brutal, nicht im Ton der Zurückweisung, sondern nur, weil er es am Ende nicht konnte. „Ich dachte so oft daran zurückzukommen.“ Sie verstand vollauf, was er meinte, wünschte sich aber doch, dass es nicht so sein müsse. „Aber ich wusste immer, dass, ganz egal, was passiert, ganz egal, was ich sage oder tue, dieser Augenblick kommen würde… und dass er nicht noch trauriger zu sein brauchte, als er es ohnehin schon ist.“ Und damit trat sie zu ihm und, endlich, so wie sie es zuvor schon hatte tun wollen und so fest, wie sie konnte, küsste sie die starren Lippen seiner Maske. Und obgleich er seinen Kopf neigte, um ihre Lippen zu berühren, blieb alle Emotion doch begraben jenseits der Fassade der Maske, unter seinem erdrückenden Ziel. „Leb wohl“, war alles, was er sagte – alles, was es zu sagen gab. Dann drehte er sich um und eilte davon in einen lichtlosen Tunnel, sein Umhang bauschte sich hinter ihm und sie konnte nur zusehen, wie jegliche Spur von ihm von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Vielleicht, dachte sie, für immer.
KAPITEL 23
Auf Fernsehbildschirmen überall im Land, von Privathaushalten bis hin zu den riesigen Monitoren über den öffentlichen Plätzen und Piazzen der Stadt sowie über die Lautsprecher entlang der Straßen hielt Großkanzler Adam Sutler eine „Live“-Ansprache an eine scheinbar besorgte Nation und versuchte eben jenen Geist wachzurufen, der seine Landsleute durch den Blitzkrieg, die Schlacht um England und andere Gefahren, imminente wie potenzielle, reale wie eingebildete, gebracht hatte. Er versicherte ihnen, dass sie – und wichtiger noch er – die „Schlacht“ des fünften Novembers überstehen würden. Ja, da war er, immer noch auf seinem Posten, wo jeder ihn sehen konnte, eine beruhigende Präsenz, ganz gleich, welche Gefahr die tückische Terrororganisation namens V auch darstellen mochte. Englands großer Beschützer, der Hüter ihrer Werte, ihrer Traditionen und ihres Glaubens. Ein alternder St. George, Englands Schutzheiliger, einmal mehr herbeigerufen, um das Reich gegen den Drachen der Revolution zu verteidigen. „Meine lieben Engländer“, begann er rundheraus, mit oratorischer Lauterkeit direkt in die Kamera, „heute Nacht steht unser Land, für das wir einstehen und das wir wertschätzen wie nichts anderes, einer ernsten und schrecklichen Gefahr gegenüber. Dieser gewalttätige und beispiellose Angriff auf unsere Sicherheit wird weder unverteidigt noch ungestraft bleiben.“ Einer der wenigen Orte, wo sich keine Fernsehschirme befanden, war der Bahnsteig der alten, verlassenen Victoria-UBahn-Station, und so hörten Peter Creedy und zwei seiner
auserwählten, vertrauenswürdigsten Fingermänner die Worte natürlich nicht, als sie die Stufen herunterkamen und sich umschauten. Aber sie hatten sie schon früher am Tage gehört, als die „Live“-Übertragung aufgezeichnet worden war, und die ironische Verachtung, die sie zu dem Zeitpunkt schon für Sutlers Worte empfunden hatten, war im Laufe der Ereignisse des Tages nur noch stärker geworden. Aber wenn die Übertragung hier auch nicht zu hören sein mochte, so gab es doch reichlich anderweitige Aktivitäten, da eine Anzahl der schwer bewaffneten paramilitärischen Truppen des Fingers, die vor etwa einer Stunde eingetroffen waren, den Ort unentwegt mit Metalldetektoren und elektronischen Scannern absuchten. „Die Gegend ist sauber, Sir“, meldete einer der Männer, ohne zu ahnen, dass irgendwo weiter unten Finch seine besessene Einmannsuche fortsetzte. Aber Finch befand sich weit außerhalb der Reichweite von jedermanns Wahrnehmung und er war weit davon entfernt, eine Rolle in jenem Drama spielen zu müssen, das sich über ihm anzubahnen begann. Creedy ließ den Blick durch die Station schweifen, die jahrelang nicht genutzt worden war und jetzt nur von einer tragbaren Laterne in einer Ecke und den Taschenlampen seiner Leute erhellt wurde. Alte Ticketsperren rosteten vor sich hin, Bodenfliesen waren eingesunken und hatten sich verkantet, durchtrennte Rohre und durchgeschnittene Stromkabel baumelten von der Decke herunter. Und je mehr seine Männer umherliefen, desto mehr Wolken aus modrigem, stinkendem Staub stiegen auf, um das bisschen Luft, das es noch gab, zu ersticken und verliehen ihr das Aussehen jenes albernen „dichten Londoner Nebels“, in den die Hauptstadt in Hollywoodfilmen stets gehüllt schien, bis Hollywood in Grund und Boden gebombt worden war.
Das hier war kein angenehmer Ort, nicht einmal umgeben von so vielen seiner Männer, und während die Strahlen ihrer Taschenlampen weiter durch die Dunkelheit schnitten, musste Creedy zugeben, dass er sich alles andere als wohl fühlte. Es gab so viele potenzielle Verstecke hier und alle waren sie unbeleuchtet: der alte Fahrkartenschalter, die Umkleideräume für das Personal, das Büro des Stationsvorstehers… und obgleich er wusste, dass seine Männer überall dort nachgesehen hatten, wirkten die Schatten allein doch bedrohlich. „Sie sagten dreiundzwanzig Uhr, Mr. Creedy“, meldete sich einer der begleitenden Fingermänner zu Wort, der einen Hauch derselben Nervosität verspürte, obwohl der Ort von oben bis unten durchsucht worden war und die Suche immer noch fortgesetzt wurde. „Es ist dreiundzwanzig Uhr. Wo ist er?“ „Einen Penny für den Guy“, sagte eine ruhige Stimme hinter ihm mit einer leisen Andeutung von Ironie. Der Fingermann zuckte zusammen, fuhr herum und griff automatisch nach seiner Waffe. Als sie in seiner Hand lag, hatten zahllose Taschenlampen V erfasst und ließen seine Maske im Dunkeln leuchten wie einen kleinen Mond, der die Nacht erhellte. „Unser Feind ist von hinterhältiger Art“, sagte Adam Sutler an buchstäblich jedem anderen Ort des Landes außer diesem, „er trachtet, uns zu entzweien und das Fundament unserer großen Nation zu zerstören.“ Aber jetzt stand der „hinterhältige Feind“ seelenruhig da, während einer der Paramilitärs mit einem Scanner vortrat und seinen Körper rasch nach Spuren von Sprengstoff absuchte. „Nichts, Sir“, meldete der Mann schließlich an Creedy gewandt und entfernte sich dann eilends, zurück in die Sicherheit der Überzahl seiner Kameraden.
„Ich habe meinen Teil des Handels eingehalten“, sagte V zu Creedy. „Aber haben Sie auch Ihren eingehalten?“ Creedys Lächeln war nicht einmal entfernt freundlich. „Heute Nacht müssen wir standhaft bleiben, wir müssen entschlossen bleiben und vor allem müssen wir einig bleiben!“ „Bringt ihn runter“, sagte Creedy eisig zu seinen Begleitern, die genau wussten, wen er meinte, ihre Waffen wegsteckten und leise und zügig die Treppe wieder hinaufgingen. „Wer heute Nacht bei einer Übertretung der Sperrstunde erwischt wird“, fuhr Sutlers Stimme fort, ohne zu wissen, dass vor allem im Bereich von London viele Fernsehapparate ausgeschaltet worden waren und dass er in leere Zimmer sprach, „gilt als Verbündeter unseres Feindes und wird als Terrorist behandelt, ohne Nachsicht und Ausnahme.“ Die Andeutung war offensichtlich. Der schwarze Sack. Die Plastikhandschellen. Das Verhör, die Folter und, letztlich, die Exekution. Der Mann, den die beiden Fingermänner in die Station herunterbrachten, trug selbst einen schwarzen Sack, die Arme waren ihm auf den Rücken gefesselt. Er wehrte sich immer noch schwach, hilflos, vergebens, als sie ihn auf dem unebenen Boden auf die Knie fallen ließen. Ob vor Schmerz durch den Aufprall oder infolge all dessen, was er bislang durchgemacht hatte, wimmerte der Mann wie ein Kind. Und dieses eine Mal schien das Lächeln auf Vs Gesicht ganz und gar lebendig und nicht künstlich. „Ich will sein Gesicht sehen“, sagte er zu Creedy, weil er sich vergewissern wollte, dass man jetzt am Ende kein letztes Täuschungsmanöver versuchte. „Heute Abend gebe ich Ihnen mein feierlichstes Versprechen, dass der Gerechtigkeit rasch genüge getan werden wird“, schloss Sutler machtvoll, zuversichtlich und, letztendlich,
selbstgefällig. „Sie wird rechtens erfolgen und sie wird ohne Gnade erfolgen.“ Creedy selbst zog den schwarzen Plastiksack ab, sein Triumph bereitete ihm ein persönliches, boshaftes Vergnügen. Und da war Adam Sutler, nicht so, wie er sich vor Sekunden noch landesweit im Fernsehen gezeigt hatte, als rechtschaffene Hand Gottes und Beschützer der Nation, sondern mit vor Entsetzen geweiteten Augen, mit Speichel, der ihm von der Unterlippe tropfte. Er versuchte, den Kopf wegzudrehen von den Taschenlampen, die ihm grell ins Gesicht leuchteten, wie so viele Verhörlampen in die Gesichter so vieler seiner Bürger geleuchtet hatten in den Jahren, seit er an die Macht gekommen war. Ein zerschlagener, besiegter und plötzlich sehr alter Mann, dem übel war vor Angst und der, als sich seine Augen endlich an das Muster aus grellem Licht und tiefsten Schatten gewöhnt hatten, es schaffte, sich umzuschauen und das Gesicht des Mannes vor ihm zu erkennen. Oder vielmehr seine Maske. „Oh Gott“, stöhnte Sutler verzweifelt. „Lieber Gott, nein…“ „Endlich lernen wir uns kennen“, sagte V freundlich, als machte er eine Bekanntschaft, die er sich schon lange gewünscht hatte, während er vor dem verängstigten Mann in die Knie ging. Der einstige Großkanzler von England war fast völlig zusammengebrochen, starrte den Mann… oder war es ein Ungeheuer?… verständnislos an, der ihn das vergangene Jahr über gepeinigt hatte, der seine letzten Monate im Amt in einen ständig schlimmer werdenden Albtraum verwandelt hatte. „Ich habe etwas für Sie, Kanzler“, fuhr V fort und griff mit einer Hand unter seinen Umhang. „Ein Abschiedsgeschenk, für alles, was Sie getan haben, für alles, was Sie vielleicht noch getan hätten, und für alles, was Sie übrig gelassen haben.“
Und damit legte er, wie ein Mann, der an einem Grabstein seine Verehrung bezeugte oder vergebens versuchte, einen toten Gott zu besänftigen, eine violette Carson-Rose vor dem knienden Gefangenen zu Boden. Und Adam Sutler wusste nur zu gut, was das bedeutete, denn er erinnerte sich an die Rosen, die man bei Prothero, Lilliman und den anderen gefunden hatte. „Adieu, Kanzler“, sagte V fast zärtlich, als er sich wieder aufrichtete. „Oh Gott, nein!“, bettelte Sutler, jetzt bar aller Beherrschung. „Bitte! Bitte!“ Dann kamen keine Worte mehr und der Mann, der vor ein paar Stunden noch der mächtigste Mann einer der mächtigsten Nationen der Nachkriegswelt gewesen war, konnte nur noch unkontrolliert schluchzen und vor Entsetzen zittern. „Mister Creedy?“, fragte V gelassen, wandte sich an den Kopf des Fingers und trat einen Schritt zurück, um dem Mann Platz zu machen, damit der seine Aufgabe erfüllen konnte. Creedy zog seinen schweren, großkalibrigen Revolver, den er immer auf Geheiß des Kanzlers benutzt hatte, damals, als er der „Rottweiler“ dieses Mannes gewesen war, rief einen seiner Begleiter herbei, um das Opfer fest zu halten, und setzte die Waffe an Sutlers Schläfe. Er verharrte sadistisch, während sein früherer Chef hilflos heulte, nicht mehr im Stande zu sprechen, und sich vor Grauen in die Hosen machte. „Widerlich“, sagte Creedy kalt und drückte ab. Knochen, Gehirnmasse und Blut explodierten aus der anderen Seite des Kopfes hervor, Großkanzler Adam Sutler fiel vornüber aufs Gesicht, sein Kopf drehte sich zur Seite, als er auf den Boden schlug. Und die violette Carson-Rose lag nur ein paar Zentimeter vor seinen blicklosen Augen, derweil ihm noch viel mehr Blut aus Nase und Mund quoll.
Nachdem das Echo des Schusses verklungen war, senkte sich Stille für, wie es schien, lange Zeit über die Station, obschon es in Wirklichkeit kaum mehr als ein paar Sekunden waren. Die paramilitärischen Fingermänner konnten nur wie betäubt auf den Toten starren, ob der Plötzlichkeit und Unbarmherzigkeit mit der ihr einstiger politischer Führer so summarisch exekutiert worden war, während sowohl V als auch Creedy etwas Zeit für sich in Anspruch zu nehmen schienen, um den Abschluss eines ganz besonderen und höchst wichtigen Projekts zu genießen, bevor sie zum nächsten übergingen. Doch beide wussten sie ganz genau, was sehr wahrscheinlich als Nächstes auf der Agenda stand. „Jetzt, da das erledigt ist“, sagte Creedy schließlich, hob seine Waffe, während er sich zu V umdrehte, und richtete sie direkt auf dessen Herz, „ist es Zeit, einen Blick auf dein Gesicht zu werfen.“ Dem Beispiel ihres Vorgesetzten folgend hoben auch die Fingermänner um sie herum ihre Waffen und visierten alle dasselbe Ziel an. Aber V stand nur da und erwiderte Creedys Blick, die Arme unter dem Umhang verschränkt. Und dank des konischen Falles des Stoffes, des Hutes, der Perücke und der Maske schien es einen Augenblick lang, als stünde da gar kein Mensch. Als sei dies nur ein Kostüm, ein Bild, ein Schatten. Ein Symbol. „Nimm deine Maske ab“, befahl Creedy jetzt in festerem Ton, gerade so, als hätte V ihn beim ersten Mal nicht verstanden. „Nein“, sagte V rundheraus. „Trotzig bis zum Ende.“ Creedy lächelte, ein Lächeln, das irgendwie Bösartigkeit mit Respekt vermischte, auch wenn es mehr von ersterem enthielt. „Du wirst nicht so heulen wie er, oder? Du hast keine Angst vorm Tod. Du bist wie ich.“
„Das Einzige, was Sie und ich gemeinsam haben, Mr. Creedy, ist, dass wir beide im Begriff sind zu sterben.“ „Ach, wirklich?“ Creedy lachte und er weitete sein Blickfeld ein wenig, um auch die Fingermänner ringsum und deren Waffen wahrnehmen zu können. „Und wie, stellst du dir vor, wird es dazu kommen?“ „Mit meinen Händen um Ihren Hals.“ Jetzt spannte sich Creedys Körper, als sei ein Hahn zurückgezogen worden. „So ein Mist“, sagte er kalt, zuversichtlich, und um ihn her verhielten sich seine Männer wie auf den Mann dressierte Hunde, die an ihren Leinen zerrten und auf das eine Wort warteten, das ihr Zeichen zum Angriff war und sie vorschnellen ließ, um ihre Beute zu zerfleischen. „Was willst du tun, hm?“, feixte Creedy verächtlich. „Wir haben hier alles abgesucht, du hast nichts in der Hinterhand! Nichts, außer deinen verdammten Messern und deinen ach so tollen Karatetricks! Und wir haben Schießeisen!“ „Nein“, erwiderte V ruhig. „Ihr habt zweiundsechzig Kugeln. Und die Hoffnung, dass ich nicht mehr auf den Beinen bin, wenn eure Waffen leer sind. Wenn ich dann nämlich noch stehe, werdet ihr alle tot sein, bevor ihr nachgeladen habt.“ „Das ist unmöglich!“, schnauzte Creedy, aber jetzt lag ein unsicherer Ton in seiner Stimme. Was, wenn es möglich war? Was, wenn dieser Mann, irgendwie, mehr war als nur ein Mensch? Etwas, das nicht zu töten war? Und genau derselbe Gedanke verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Köpfen der versammelten Fingermänner und ließ ihre Handflächen um ihre Waffen mit einem Mal rutschig werden von Schweiß. Einen Moment lang sahen sie eher einander an als ihren Feind. „Erschießt ihn!“, brüllte Creedy da, ehe ihr Zögern noch in etwas Schlimmeres umschlug.
Die Worte hatten seinen Mund kaum verlassen, als sie auch schon in einer explosiven Kakofonie von Schüssen untergingen. Das Rattern von Schnellfeuerwaffen vermischte sich mit dem Bellen von Creedys Revolver. Die Zeit schien sich zu verlangsamen im wiederholten Dröhnen von Schießpulverdonner und pfeifendem Blei, vermengt mit dem Heulen von Querschlägern. Aber nicht mit dem Laut eines zu Boden stürzenden Körpers. Vs Körper ruckte nach hinten, die Mehrzahl der Kugeln verschwand in den schwarzen Falten seines Umhangs, und offenbar fanden sie ihr Ziel, denn andernfalls hätte er nicht immer wieder seinen Halt korrigieren müssen, um die andauernden Einschläge abzugleichen. Andere Kugeln prallten Funken stiebend von seiner Maske ab, die – im Gegensatz zu den Tausenden von Pappmaschee-Nachbildungen, die er an die Öffentlichkeit verteilt hatte – diesmal aus Stahl bestand. Dennoch riss jeder Treffer seinen Kopf mit der Wucht eines Hammerschlags von einer Seite zur anderen. Und doch stand er noch, steckte zwar sichtlich schwer ein, widersetzte sich aber dem offenkundigen Schmerz. Stand wie ein Denkmal für die menschliche Ausdauer, für den Sieg des Geistes über das Fleisch. Für die Kraft des Willens. Schließlich waren nur noch die verebbenden Echos der Schüsse zu hören, gefolgt von Stille, als die Verschlüsse der Schnellfeuerwaffen offen blieben und der Hahn des Revolvers auf leere Kammern klickte. Und immer noch war V auf den Beinen. Leicht schwankend, aber auf den Beinen. Ein Augenblick für ein stilles Gebet, dass V plötzlich wie ein Kartenhaus zusammenbrechen möge, dass sie neben ihren Frauen oder Freundinnen sicher aus diesem Albtraum erwachen mochten oder dass der Gott, an den so wenige von
ihnen wirklich glaubten, sich doch plötzlich als echt erwies und diesen Teufel niederschlug. Aber die Gestalt im Umhang stand immer noch da und die Maske lächelte weiter. „Jetzt bin ich an der Reihe“, sagte V, seine Worte so kalt und endgültig wie die Worte des Todes selbst. Das leise Geräusch klappernden Metalls erfüllte die Station, als die Fingermänner, die sich auf einmal aus ihrer Schreckensstarre lösten, versuchten ihre Waffen nachzuladen, ehe… Ehe V unter ihnen war und sich mit der Lautlosigkeit einer vom Wind getriebenen Wolke bewegte, der Schnelligkeit eines herabjagenden Falken. Der erste Fingermann hatte kaum Zeit, auf die acht Zoll kalten Stahls zu reagieren, die sich ihm durchs Herz bohrten, bevor das Messer gedreht und herausgezogen wurde, eine fürchterliche Austrittswunde verursachte und der lange Strahl von Pulsaderblut rot vor seinen entsetzten Augen in die Höhe stieg. Ein heftiger Sprühregen aus rotem Lebenssaft, der seine Gefährten irgendwie völlig verzagen ließ, Finger zu Gummi machte und Magazine so schlüpfrig wie Seife. Und noch bevor der erste zu Boden gegangen war, hatte ein zweiter Fingermann sein Magazin fallen lassen, als ihm dasselbe Messer die Kehle öffnete. Eine flinke, silbrige Klinge, die sich wie ein geölter Blitz bewegte, und wo immer dieser Blitz einschlug, ging Blut wie Regen nieder. Dann bauschte sich Vs Umhang hinter ihm, so schnell bewegte er sich, wie ein riesiger Teufelsrochen, der von Schatten zu Schatten glitt, von Tod zu Tod. Nach diesem ersten Stich ins Herz, der so demoralisierend gewirkt hatte, war es immer nur die Kehle: am schnellsten, am sichersten, am tödlichsten. Einer oder zwei der Männer, denen klar war, dass sie nie und nimmer die Zeit für weitere Schüsse haben würden,
versuchten mit ihm zu kämpfen, aber Vs Bewegungen waren so übernatürlich schnell – eine lange vergessene Nebenwirkung der Larkhill-Experimente –, dass er sie mit kraftvollen Tritten davonstieß, während seine Hände noch anderswo ihrer tödlichen Beschäftigung nachgingen. Und letztendlich konnte, was immer sie taten, das unaufhaltsam nahende Wirken des Messers nur hinauszögern. V umkreiste die jungen Fingermänner, schnitt, schlitzte, durchbohrte hier und da, bewegte sich immerfort, während das Blut zu spritzen und der Körper zu taumeln begann, hob er sich Creedy offensichtlich bis zum Schluss auf. Der rang darum, seine Hände ruhig zu halten, und konnte nur versuchen, ein Auge auf V zu richten und das andere darauf, seinen Revolver nachzuladen. Aber mit jeder Kammer, die es ihm zu füllen gelang, starb ein weiterer seiner Männer einen furchtbaren, glucksenden Tod. Endlich war keine leere Kammer mehr übrig. Und keiner seiner Männer, der ihm Verstärkung hätte leisten konnte. Und V war noch immer nicht tot. Er stand da, die Körper der Fingermänner um ihn herum verstreut, jeder von ihnen so tot wie Sutler, und dann, als er sich nach Creedy selbst umdrehte, versetzte er seinen Gegner in Staunen, indem er seine Messer unvermittelt fallen ließ. Und dann kam V auf ihn zu. „Nein!“, schrie Creedy, inzwischen selbst verängstigt, und nicht fähig zu verstehen, was geschehen war, was noch geschah… hob er seinen neu geladenen Revolver wieder an und schoss, sein Finger am Abzug krümmte sich wie unter Zwang. „Stirb!“, kreischte er, leerte eine Kammer nach der anderen, zielte mit Bedacht, und jede Kugel fand ihr Ziel. „Stirb! Stirb! Stirb!“
Doch V kam immer noch, durchgeschüttelt von jedem Treffer, jeder Schritt bedeutete eine Kugel weniger für Creedy. Und schließlich klickte der Hammer abermals auf eine leere Kammer. „Warum stirbst du nicht?“, keuchte Creedy fassungslos, sein Waffenarm hing mit einem Mal schlaff herunter und er schwankte jetzt beinahe so heftig wie V selbst. „Unter dieser Maske liegt mehr als nur Fleisch“, antwortete V, einen rauen Ton in der Stimme, aber doch kam er unerbittlich, unaufhaltsam näher, ein lebender Gott des Todes. Und Creedy konnte nur in angewidertem Entsetzen nach hinten weichen, zog sich Schritt um Schritt zurück und glich damit Vs Näherkommen aus… bis sein Rücken schließlich gegen eine Wand prallte und es keinen Ausweg mehr gab. „Unter dieser Maske steckt eine Idee, Mr. Creedy“, sagte V Drohend ragte er vor ihm auf. Und jetzt, da sich die ewig lächelnde Maske näher und näher auf sein Gesicht zuschob, wurde Creedy endlich von nacktem Terror übermannt, der ihm seine Bewegungsfähigkeit raubte, seine Stimme, seinen Lebenswillen. „Und Ideen sind kugelfest.“ Da fing Creedy an zu schreien, diese letzten Worte der Erklärung hallten ihm noch in den Ohren wider und Vs behandschuhte Hände legten sich um seinen Hals, wie er es versprochen hatte, wie es fast vorherbestimmt schien. Hände, die, als sie zuzudrücken begannen, den Schrei erstickten, das Denken erstickten. Seine Luftröhre zerquetschten. Die Augen hervortreten ließen, Augen, deren Blick nie von dieser schrecklich grinsenden Maske wich, diesem lächelnden Totenkopf, der ihn ins Grab geleiten würde. Schließlich färbte sich sein Gesicht dunkel, seine Zunge begann ihm aus dem Mund zu quellen… und dann verdrehten sich seine Augen und sein Atem verebbte für immer.
Doch V drückte weiter zu, jetzt weit jenseits des Punktes, an dem er nur sicher gehen wollte, seine Hände waren wie in einem Krampf erstarrt, der sich erst und endlich löste, als Creedys regloser Körper schlaff an der Wand nach unten zu gleiten begann. Tief und keuchend Luft holend wandte sich V dann ab und betrachtete sein nächtliches Werk: Leichen, die in einer verdreckten, verlassenen U-Bahn-Station verstreut lagen, die noch widerhallte von seinem Tun, in Blut schwamm und nach dem Geruch von Pulverqualm stank. Ein toter Diktator und auch der Mann, der geglaubt hatte, seine Nachfolge anzutreten, war nicht mehr: Der Leib der totalitären Politik war gewissermaßen enthauptet. Alle Opfer wert, keine Frage, aber was war mit dem Preis? Vs behandschuhte Hände hingen immer noch zu Klauen verkrampft vor ihm in der Luft, und er musste noch lange Sekunden warten, bevor sie ihm endlich wieder gehorchten. Beinahe wie betrunken torkelnd ging er zur Wand hinüber, stützte sich mit einer Hand ab und griff mit der anderen unter den Umhang. Die Hand schien nicht richtig funktionieren zu wollen, und er sackte kurz weg und musste sich von neuem abstützen, bevor seine Finger endlich die verborgene Klammer fanden und aufschnappen ließen. Dann zog er, geschwächt und unter Schmerzen, die dünne Metallweste hervor, die seine Brust umhüllt hatte. Buchstäblich die ganze Oberfläche war zernarbt und zerbeult, wo Kugeln aus kurzer Distanz mit entsetzlicher Wucht dagegen geklatscht waren. Schlimmer noch – an einigen Stellen war sie schlicht und ergreifend durchlöchert. Löcher, die, wie er vermutete, von den stärkeren Kugeln aus Creedys Revolver stammten. Er betrachtete die Weste kurz und das Lächeln auf der Maske des Gesichts wirkte irgendwie fast wehmütig, als er sah, dass
die Innenseite mit Blut verschmiert war. Dann war nichts anderes mehr damit anzufangen, als sie aus seinen schlaffen Fingern rutschen zu lassen. Als sie scheppernd zu Boden fiel, wandte er sich um und wankte erschöpft davon in die Dunkelheit, zurück in die Schatten, aus denen er gekommen war. Und er hinterließ eine Spur aus nassen, blutigen Fußabdrücken.
KAPITEL 24
General William Byrd stand neben dem gepanzerten Mannschaftstransporter, der ihm als mobiles Hauptquartier diente, und war überzeugt davon, die Situation unter Kontrolle zu haben, trotzdem die Politiker eine Heidenangst zu haben schienen. Er befand sich in der Mitte des Parliament Squares, war umgeben von seinen besten Männern, und die ganze Gegend war abgeriegelt und evakuiert. Alle Straßen, die auf den Platz zuführten, waren blockiert, darunter Whitehall, Millbank und Victoria Street, und auch Westminster Bridge war gesperrt. Auf der Themse waren Patrouillenboote, in den Nebenstraßen Panzer, auf dem Platz Boden-Luft-Raketen stationiert. Weiter entfernt, wo sie die Situation hier nicht störten, schwebten Hubschrauber über den Straßen, bereit, vor jeder aus der Luft kommenden Gefahr zu warnen. Westminster Abbey, der herrliche viktorianische, neugotische Gebäudekomplex, den man als Barrys und Pugins Houses of Parliament kannte, und der Uhrenturm, der Big Ben barg, wurden alle von ihren normalen nächtlichen Flutlichtern beleuchtet, und auf dem Platz selbst erleuchteten riesige Jupiterlampen, die man extra deshalb hergeschafft hatte, alles beinahe taghell. Und dann waren da auch noch seine Männer: handverlesene Einsatztrupps der Royal Marines sowie eine taktische Einheit von der SAS, die speziell für die Handhabung von Terrorangriffen ausgebildet war. Darunter mischten sich natürlich diese verdammten Emporkömmlinge vom Finger, aber manchmal musste man die politische Einmischung in militärische Angelegenheiten eben hinnehmen. Er hätte lieber mehr gewöhnliche Polizisten gehabt
– diese Idioten waren wenigstens daran gewöhnt, Befehle zu befolgen. Mit Fingermännern wusste man nie, wie man dran war. Die konnten alles Mögliche anstellen, obwohl ihm dieser unangenehme Bastard Peter Creedy versichert hatte, dass die Fingermänner einstweilen unter seinem, Byrds, Befehl stünden. Nicht dass der General darauf viel gab – Creedy war dafür bekannt, etwas zu sagen und etwas ganz anderes zu tun. Er hatte damit gerechnet, dass er heute Nacht hier sein würde, zusammen mit diesem anderen Niemand… wie hieß er noch gleich? Der Kerl, der aussah, als bekäme er seine Kleidung aus einem Wohlfahrtsladen… Eric Finch… Wie auch immer, dachte Byrd, mit all der hier versammelten Feuerkraft hätte er gern gesehen, wie diese gottverdammten Terroristen heute Nacht etwas versuchten. O ja! Er würde es ihnen schon zeigen! Niemand würde diesen fünften November zu einer denkwürdigen Nacht machen! Nicht solange William Byrd das Kommando hatte. Und was wollten sie gegen ein Gebäude von der Größe des Parlaments überhaupt ausrichten? Tausend Räume oder noch mehr, hatte man ihm gesagt, und jede Art von Luftangriff auf einen Bau wie diesen würde nur geringen Schaden anrichten… es sei denn natürlich, es handelte sich um einen Atomschlag, aber dieser Mistkerl „V“ hätte doch niemanden hier herbestellt, um zuzusehen, wenn er so etwas einsetzen wollte. Nein, die einzige Möglichkeit, ein Gebäude wie dieses zum Einsturz zu bringen, hätte darin bestanden, das Fundament anzugreifen, aber alle Experten hatten gesagt, der Angriff würde aus der Luft erfolgen. Und den Experten musste man glauben… die meisten von ihnen waren schließlich Männer des Militärs. Und außerdem war es das, worauf sie sich vorbereitet hatten, also würde es auch so sein, oder nicht? Ein Mann behielt seinen Job schließlich nicht, wenn er nicht auf Draht war, oder?
Ein leichtes Räuspern, um die Aufmerksamkeit seines Kommandeurs zu erregen, und dann stand Lieutenant Dowland auch schon vor ihm, salutierte zackig und wartete auf die Erlaubnis zu sprechen. Byrd nickte langsam. „Patrouillen bestätigen, dass Leute auf den Straßen unterwegs sind, Sir“, sagte Dowland unverzüglich, allerdings schien eine Spur von Unbehagen in seiner Stimme zu liegen. „Dann befehlen Sie ihnen, sie zu verhaften“, erwiderte Byrd knapp. Waren seine Anweisungen denn nicht klar genug gewesen? Dowland war ein guter Mann, aber es bestand doch keine Notwendigkeit, dauernd angerannt zu kommen und jede solche kleine Einzelheit zu melden. Dafür hatte man doch Offiziere, damit man die Befehlsgewalt an sie delegieren konnte. Sollten die sich damit befassen. Auf eigene Initiative handeln. „Sie sagen, das können sie nicht“, berichtete Dowland zögernd. „Was?“, explodierte Byrd. So etwas Lächerliches hatte er ja im Leben noch nicht gehört. Sie waren doch Soldaten der britischen Armee, oder? Sollten doch im Stande sein, problemlos ein paar Zivilisten festzunehmen. „Warum?“ „Sie sagen…“ Sein Lieutenant wollte es eigentlich nicht aussprechen, wusste aber, dass er es letztlich tun musste. „Sie sagen, es sind zu viele.“
Evey Hammond saß immer noch auf der Bank in der Station und schaute auf den Zug, der jetzt zu einem so wichtigen Teil ihres Erbes geworden war, und wusste nicht, was sie tun sollte. Das Äußere so schön, das Innere so tödlich. Würde sie diesen Bremshebel wirklich lösen? Es war offenkundig das, was V die ganze Zeit über beabsichtigt hatte, gewollt hatte. Aber was war mit den Folgen? Und warum war er im letzten Augenblick so
verunsichert gewesen, dass er die Entscheidung an sie weitergegeben hatte? Sie hatte es sich ein ums andere Mal durch den Kopf gehen lassen und war noch immer nicht wirklich sicher, weshalb, und je länger er weg war, desto mehr Zeit hatte sie zum Nachdenken und desto weniger war sie im Stande, sich zu entscheiden. Oder vielleicht lag es auch daran, dass sie – bedachte man, wie schlicht es ihr vorgekommen war, als er zum ersten Mal davon gesprochen hatte, die Verantwortung abzugeben – seine Motive immer noch für einen Weg hielt, die Entscheidung kurzerhand abzuwälzen. Ihre Gedankenkette wurde plötzlich von einem leisen Geräusch durchbrochen, dann noch einem. Erst war sie nicht ganz sicher, was es war. Schließlich war sie sich völlig sicher, dass niemand sonst sich hier unten befand. Und dann erkannte sie die Geräusche als Schritte. Aber irgendwie waren es unsichere, stockende Schritte. Sie schnellte hoch und rief: „V?“ Da trat er aus den Schatten und hielt sich steif aufrecht, ein Arm um seine Brust geschlungen. Und sie war so erleichtert, ihn zu sehen, so erfreut über seine Rückkehr, dass sie von den Schwierigkeiten, die ihm das Gehen zu bereiten schien, kaum Notiz nahm. „Du bist zurückgekommen“, sagte sie und lächelte strahlend, voller Hoffnung und Freude. „Ich hatte gehofft, dass du noch…“, brachte er matt hervor. Und dann, nachdem er noch einen Schritt näher gewankt war, sackte er zu Boden, fast so als sei der Mann selbst noch anderswo und als hätte es nur das Kostüm zurückgeschafft. „V!“, schrie sie alarmiert, eilte zu ihm und kniete neben ihm nieder. Sie versuchte ihn herumzurollen, um nachzusehen, was los war, aber kaum tat sie das, fand sie ihre Hände von Blut bedeckt.
„O nein“, stöhnte sie entsetzt und versuchte verzweifelt zu überlegen, was zu tun war. „Wir müssen die Blutung stoppen“, sagte sie als Nächstes, auch wenn sie nicht sicher war, wie sie das bewerkstelligen sollte. Wenn sie vielleicht den Umhang um seine Wunden bände? Sie konnte sich nur verfluchen, weil sie nie Erste-HilfeUnterricht genommen hatte. Aber sie bezweifelte, dass erste Hilfe bei den Verletzungen, unter denen V litt, etwas hätte ausrichten können. Was er brauchte, war eine Behandlung im Krankenhaus, und zwar sofort. Aber der würde ohnehin nur seine Hinrichtung folgen. „Bitte… nicht“, sagte V schwach und eine Hand krampfte sich um ihren Arm, als sie seinen Kopf in ihre Hände nahm und ein Knie darunter schob, um seinen Nacken darauf zu betten. „Ich bin erledigt… und froh darüber.“ „Sag das nicht“, erwiderte sie, wohl wissend dass sie um ihrer beider willen nicht wollte, dass es wahr war. „Ich habe dir… die Wahrheit gesagt“, fügte er hinzu. Er wusste weit besser Bescheid über das Ausmaß und die Schwere seiner Wunden. „V…“, sagte sie, nicht im Stande, ein Schluchzen aus ihrer Stimme zu verbannen. „Ich will nicht, dass du stirbst.“ „Das“, seine Stimme senkte sich jetzt beinahe zu einem Flüstern, „ist das Schönste, was du mir je geben konntest.“ Ein Zittern durchlief seinen Körper und er packte ihren Arm nur noch fester, als sei er das Letzte, woran er sich festklammern könne… als klammere er sich damit am Leben selbst fest. Aber fraglos nicht sehr lange. „Zwanzig Jahre lang sah ich nur diesen Moment“, keuchte er und seine Stimme war jetzt so kraftlos, dass sie sich zu ihm hinunterbeugen musste, um sie zu verstehen. „Es gab nichts anderes für mich… bis ich dich sah. Damit änderte sich alles… mein Leben… meine Gründe… meine Wünsche…“
Und Evey konnte ihn nur in ihren Armen halten und weinen. „Ich verliebte mich in dich, Evey… wie ich es nicht mehr zu können glaubte. Und jeder Tag, der diesen Tag näher brachte, ließ mich begreifen, dass ich nicht auf Blut aus war… sondern auf eine zweite Chance…“ „Eine Chance worauf?“, fragte sie unter Tränen. „Auf Rosen.“ Nicht mehr als ein ganz schwaches Flüstern jetzt. „Nicht für mich… für uns alle.“ „Oh, V…“ Ein letztes Mal nannte sie seinen Namen. Oder wenigstens den einzigen Namen, unter dem sie ihn je gekannt hatte. Je kennen würde. Ein Rätsel bis zum Ende. Auf einmal wurde sein Körper schwer in ihren Armen, entspannte sich nun im Frieden des Todes. „V?“, fragte sie leise. Ihr war bewusst, was geschehen war, nur wahrhaben wollte sie es noch immer nicht. Aber schließlich kam sie nicht umhin. Bereits unter der Erde, bereits tief in der Unterwelt hatte V seine letzte Reise ins Land der Toten angetreten. Und sie, die er zurückgelassen hatte, konnte nur einsam weinen, wie Frauen seit jeher um ihre Männer geweint hatten, und ihre Schreie der Trauer hallten durch die dunkle Leere der verlassenen Station.
Auf dem Parliament Square hatte General Byrd beschlossen, den Perimeter persönlich zu inspizieren. Er rief Dowland herbei, ihn zu begleiten. „Leute auf der Straße“, das klang nicht übermäßig gefährlich, aber sie sollten sich nun mal nicht dort aufhalten und sie konnten durchaus ein Ablenkungsmanöver für etwas anderes sein, das vielleicht geplant war. Am besten war es, einmal nachzusehen und auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. Und sich zu
vergewissern, dass auch die Männer auf der Hut waren… Langsam schlugen sie einen Bogen von Westminster Bridge herum nach Whitehall, fanden in der unmittelbaren Umgebung alles so ruhig vor, wie sie es erwartet hatten, und gingen dann weiter zur Great George Street, die kurze Straße, die zwischen gewaltigen, Gebäuden, die einen zu erdrücken schienen, zum St. James Park führte. Nicht genug Licht hier, befand Byrd in Gedanken, vielleicht sollte man ein paar Lampen von einer weniger wichtigen Position abziehen und hier herbringen. Vielleicht drüben von der Abbey, die hatte schließlich ihre eigene Beleuchtung. Er dachte immer noch darüber nach, als er bemerkte, dass Dowland unvermittelt zusammenzuckte. Er sah sich erst nach seinem Lieutenant um und dann dorthin, wo der Mann selbst hinstarrte. „Das ist er!“, rief Dowland und deutete in den Schatten auf ein weißes, grinsendes Gesicht. „Was?“, stieß Byrd erstickt hervor und griff automatisch nach der Pistole im Holster an seiner Hüfte. Damit hatte er nicht gerechnet… ein Flugzeug, ein Missile, vielleicht sogar eine Mörsersalve zur Eröffnung des Angriffs… aber nicht mit dem Terroristen selbst, der ganz unverhohlen auf die versammelten Truppen zuspazierte. Aber es war ohne jeden Zweifel ein Mann mit einer GuyFawkes-Maske. Und als der Mann stehen blieb, zog Byrd die Pistole, begann eine Hand zu heben, um die Aufmerksamkeit seiner Männer auf sich zu lenken… und erstarrte dann, als er eine weitere Maske aus dem Dunkeln auftauchen sah. Gefolgt von einer weiteren. Und noch einer. Und dann waren es zu viele, um sie noch zu zählen. War dies die „Terrororganisation namens V“? Gewiss nicht, denn einige dieser Masken schienen von Frauen getragen zu werden. Und andere befanden sich so weit unten, dass sie offensichtlich die
Gesichter von Kindern verbargen. Und anstatt Waffen trugen viele von ihnen Blumen und angezündete Kerzen bei sich. Doch allesamt, so kam es dem General irgendwie vor, waren nun, wenn schon nicht V selbst, so doch zu dem geworden, was er verkörperte. Und das schien kein „Terrorist“ zu sein. Sie alle waren gekommen, um zuzusehen. Gekommen, um zu warten.
Nachdem sie ihre Trauer endlich verwunden hatte, wenn auch nur für ein Weilchen, hatte Evey Hammond den Leichnam von V in den Zug gezerrt, hatte ihn, immer noch maskiert, friedlich auf einen Scheiterhaufen aus Gelatinedynamit gebettet, umgeben von den Rosen, die er so geliebt hatte, die auch Valerie Page so geliebt hatte, und die zu einem Symbol dessen geworden waren, was er bereits erreicht und was er noch geplant hatte. Sie hatte gewusst, dass es das war, was sie tun würde, kaum dass er in ihren Armen gestorben war – wusste, dass dies das Letzte war, was sie für ihn tun konnte, nachdem er so stark an dieses Vorhaben geglaubt hatte, dass er tatsächlich bereit gewesen war, sein Leben dafür zu geben. Jetzt würde sie seinen Plan endlich verwirklichen und dafür Sorge tragen, dass er persönlich Anteil daran hatte, dass er bis zum Schluss dabei war. Bis das Stück zu Ende war, der letzte Vorhang fiel und, wie jener andere tragische Held Hamlet gesagt hatte: „Der Rest ist Schweigen.“ Sie hatte ihm eine Wikingerbestattung bereitet, wie diese alten Häuptlinge sie bekommen hatten, wenn man sie auf einem brennenden Boot in die kalte Nordsee hatte davontreiben lassen, fort durch Feuer und Eis, um letztlich die Walhalla zu erreichen. Eine Vorstellung, die ihm, wie sie glaubte, gefallen hätte, auch wenn es eher jenem Zug in die Hölle gleichkam, von dem sie in einem der alten Bluessongs
gehört hatte, die er so liebte, auf einem U-Bahn-Gleis, dessen Endstation ein Inferno war, das er ganz allein erschaffen hatte. Nur noch eine letzte Berührung, seine behandschuhten Hände über seiner Brust falten, eine violette Carson-Rose pflücken und zwischen seinen Fingern platzieren. Ein letzter kurzer Kuss auf die Lippen der Maske und dann wandte sie sich ab, noch immer ohne sein Gesicht je gesehen zu haben. Und sie würde nicht nachschauen, ein letztes Zeichen von Respekt. Sie stieg aus dem Wagon und machte sich auf den Weg zum Führerstand. Doch als sie an der Tür ankam und hineinsah, ließ etwas sie innehalten. Eine letzte Überraschung, eine letzte kleine Botschaft von jenseits des Grabes… Denn dort, neben dem Bremshebel, stand ein einzelner Dominostein, den sie zuvor nicht gesehen hatte, den er vermutlich beim Aussteigen heimlich dort hingestellt hatte, nachdem er ihr die Armaturen gezeigt hatte. Eine Doppelfünf. Zwei Vs nach römischer Schreibart. Er und sie. Und wenn sie den Bremshebel löste, würde die Bewegung diesen letzten Dominostein unweigerlich umfallen lassen. Und damit fiel, im letzten Augenblick, auch alles andere an seinen Platz. Darüber musste sie lächeln. Ein kleines, trauriges Lächeln, aber er hatte es die ganze Zeit über gewusst, hatte alles vorhergesehen. Und nun würde sie ihm beweisen, dass er Recht gehabt hatte. Wenn ihr die Zeit dazu blieb. „Halt!“, erklang unvermittelt eine Stimme und hallte über den leeren Bahnsteig. „Keine Bewegung mehr!“ Es schien, dass es am Ende doch etwas gab, das V nicht vorhergesehen hatte. Chief Inspector Eric Finch. Sie schaute nach hinten und sah ihn auf dem Bahnsteig vor dem Zug stehen, eine Waffe in der Hand, die jeder ihrer
Bewegungen folgte. Eine müde, abgerissene Gestalt, die, nachdem sie eine Spur blutiger Fußabdrücke gefunden hatte und ihr bis zum Ende gefolgt war, jetzt beinahe so weltverdrossen wirkte, wie sie Evey in diesem Moment fühlte. „Sie sind Evey Hammond, nicht wahr?“ Sie gab keine Antwort, kein Zeichen der Bestätigung. Was hatte es schließlich noch für einen Zweck, so spät am Tag noch etwas zuzugeben? Es war längst zu spät, „der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen“, wie man Verhöre gern beschönigend genannt hatte. Ohne sie aus dem Visier zu lassen, warf Finch einen Blick durch das Fenster des Zuges und sah V inmitten der Rosen liegen, aber es gelang ihm nicht ganz zu erkennen, worauf er lag. Aber er konnte sich ziemlich gut vorstellen, womit der Zug voll gepackt war. Gefühle. Der Instinkt eines Bullen. Dem immer mehr zu trauen war als „Expertenmeinungen“. Er hatte die ganze Zeit über Recht gehabt und sie hatten ihm nicht geglaubt. Hatten ihn ausgelacht. Jetzt nicht mehr. „Ist das…?“, fragte er und diesmal nickte sie. Es hatte schließlich keinen Sinn, das zu leugnen. „Ist er tot?“, fragte Finch als Nächstes, aber jetzt stellte sie fest, dass sie nicht antworten konnte. Es war nicht so, dass sie ihn im Ungewissen lassen wollte, dass es ihn unvorbereitet traf, sollte V plötzlich wieder zum Leben erwachen und ihn angreifen. Es war, weil er für sie zwar, irgendwie, mit Sicherheit tot war, während er es zugleich aber mit Sicherheit auch nicht war. Denn V war sowohl ein Mensch als auch eine Idee und während der Mann tot sein mochte, würde die Idee doch ewig fortleben. Das hatte sie gewusst, sobald sie entschieden hatte, was sie tun musste.
„Dann ist es also vorbei?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage und er deutete ihre Schweigen offenbar als Bestätigung von Vs Tod. „Nicht ganz“, sagte sie entschlossen, griff in die Kabine und packte den Bremshebel, als er näher kam. „Halt!“, schrie er, jetzt nahe genug, um zu sehen, was sie tat, und seine Stimme echote durch den Tunnel. „Nehmen Sie die Hand von dem Hebel!“ Dabei stieß er seine Waffe nach vorn, um seinen Befehl zu unterstreichen. Aber Evey Hammond hatte die Nase voll von Befehlen, von der Polizei, der Regierung, der Gesellschaft, in der sie lebte, von allem. Und sie hatte lange schon die Nase voll von Angst. „Nein“, erwiderte sie rundheraus. „Nein?“, wiederholte Finch verdutzt. Er hatte es ein-, zweimal mit verzweifelten, abgebrühten Verbrechern zu tun gehabt, die sich einem Befehl trotz vorgehaltener Waffe widersetzt hatten, aber eben nur ein- oder zweimal. Eine relativ zerbrechlich wirkende junge Frau vor sich zu haben, die ihm trotzte, war eine völlig neue Erfahrung. Und doch strahlte durch ihren Trotz ein derart offensichtliches Selbstvertrauen, ihre Entschlossenheit, die Gesellschaft zu stürzen, die er sein Leben lang beschützt hatte, dass er nur innehalten und sich wundern konnte. Wahrheit und Gerechtigkeit, das waren immer seine Schlagworte gewesen, doch die Gerechtigkeit, das musste er zugeben, war in den Jahren seit der Reklamation mehr als nur ein bisschen kompromittiert worden. Genau wie er selbst. Konnte sie dann tatsächlich eine andere Wahrheit entdeckt haben… eine bessere Wahrheit als seine, die der Welt irgendwie eine echte Form von Gerechtigkeit zurückgeben würde? Und wenn ja… nun, er hatte immer auch noch ein drittes Schlagwort gehabt: Pflicht. Und mochten seine Vorstellungen von Wahrheit und Gerechtigkeit auch
durcheinander geraten sein, seine Pflicht schien ihm noch ganz klar. „Es tut mir Leid, aber ich habe mich entschieden“, erklärte sie ihm ruhig, und ihr eigenes Pflichtgefühl stand dem seinen eindeutig in nichts nach. „Ihre einzige Möglichkeit, mich aufzuhalten, ist, mich umzubringen.“ Finch verharrte, die Waffe jedoch blieb unverwandt auf sie gerichtet. Ihre offenkundige Entschlossenheit ließ ihn erkennen, dass sie die Bremse lösen würde, wenn er auch nur noch einen Schritt nach vorne machte. Worte waren die einzige Waffe, die ihm jetzt noch blieb, wenn er seine Pflicht noch erfüllen wollte. „Warum tun Sie das?“, fragte er und wusste, noch während er es aussprach, dass es um mehr ging als nur darum, sie in ein Gespräch zu verwickeln – er wollte es wirklich verstehen. Er hatte die Art und Weise verstehen wollen, wie V gedacht hatte, aber das würde er nun nie mehr erfahren. Und er wollte auch wissen, wie sich diese Art zu denken verbreiten konnte, jemand anders infizieren konnte. Und wie weit konnte sie sich ausbreiten? Konnte sie womöglich sogar ihn infizieren? „Weil er Recht hatte“, antwortete Evey mit dem absoluten Glauben einer unlängst Bekehrten. „Womit?“ „Dass dieses Land im Augenblick mehr braucht als ein Gebäude“, erwiderte sie, noch immer mit derselben einzigartigen Ruhe, die er irgendwie seltsam anziehend fand. „Es braucht Hoffnung.“ Hoffnung. Wann hatte er zuletzt auf irgendetwas gehofft? Als er der Partei beigetreten war, hatte er vielleicht gehofft, dass es ihm helfen würde, im Beruf vorwärts zu kommen. Nun, das hatte es auch, aber war das wirklich Hoffnung gewesen oder nur ein Wunsch? Und nun, da er sich mit der Idee konfrontiert sah, kam es ihm vor, als seien Hoffen und Wünschen ganz und
gar nicht dasselbe. Wünschen war nicht sehr viel mehr als Gier und davon hatte er in den Nordfeuer-Jahren genug gesehen. Hoffnung war etwas Größeres, Umfassenderes, Abstrakteres. Was Gier im Vergleich zu Hoffnung war, entsprach dem, was Passion im Vergleich zu Mitgefühl war – und unter Sutlers faschistischer Regierung hatte es weiß Gott wenig genug Mitgefühl gegeben. Aber da war immer noch seine Pflicht. Doch hier war diese Frau, die er über den Lauf seiner Waffe hinweg ansah und die genau jene Hoffnung und jenes Mitgefühl zu verkörpern schien, die er verloren hatte im Laufe der Zeit, die eine Lücke hinterlassen hatte, die er stets das Gefühl gehabt hatte, füllen zu müssen. Und deren unbezwingbares Pflichtgefühl weit stärker zu sein schien als das seine. Vielleicht, dämmerte es ihm schließlich, lag es daran, dass seine Pflichttreue immer der Polizei gegolten hatte und den Prinzipien, die das englische Gesetz bewahrte – aber was hatten sie dem englischen Gesetz während der letzten paar Jahrzehnte angetan mit ihren Verhandlungen ohne Geschworene und ihren Haftstrafen, die gänzlich ohne Verhandlung verhängt worden waren? Und wenn es ihm endlich gelang, all die Verschwörungsfäden zu entwirren, auf die er gestoßen war, derweil er seine Pflicht erfüllt hatte, und die sich um Larkhill und St. Mary’s, um Creedy und hingerichtete Terroristen drehten – würde er je ein Urteil zu seinen Gunsten erhalten, beim gegenwärtigen Zustand des Gesetzes? Konnte er den Fall überhaupt vor Gericht bringen? Nein, natürlich konnte er das nicht. Mehr noch, es war, wie ihm jetzt bewusst wurde, dumm gewesen, je zu glauben, dass er es könnte. Ein Wort davon und man hätte ihm im Nu einen schwarzen Sack über den Kopf gezogen. Und auch Dominic und jedem anderen, der darin verwickelt war. Und sie würden sich nicht einmal mit einem Verhör aufhalten. Es musste
seinem Alter zuzuschreiben sein, dass er je auch nur den Gedanken in Betracht gezogen hatte. Gab es also eine höhere Pflicht, die über jene hinausging, die er immer zu haben geglaubt hatte? Und stand sie hier in Gestalt dieses Mädchens vor ihm, das, wie ihm jetzt ganz klar wurde, nie eine Terroristin gewesen war? Eine Pflicht, endlich nicht mehr zu sagen: „Ich befolgte nur Befehle“ und stattdessen einem viel höheren Leitsatz zu folgen… die ganze Weltordnung zu stürzen? Es waren Sutlers Nordfeuer-Partei und deren gottverdammte Reklamation gewesen, die ihm vor all den Jahren Jane und Peter genommen hatten. Nicht direkt vielleicht, aber hätten sie den Ärger nicht begonnen, der zu den Aufrühren, den Straßenschlachten führte… und wäre er nicht so damit beschäftigt gewesen, diesen Ärger im Auftrag der Partei einzudämmen, hätte sie nicht hinausgehen müssen in die wenigen noch offenen Läden, zusammen mit Peter, weil sie ihn nicht allein lassen wollte… und das Auto wäre nicht verunglückt… „Es ist Zeit“, sagte Evey in diesem Moment und lächelte ihm so reizend zu, dass er wirklich nicht wusste, was er tun sollte. Sie indes wusste es. Und löste den Bremshebel. Dann trat sie vom Führerstand zurück. Und der letzte Dominostein fiel um, sein einsames Klicken ein Nachruf auf einen Mann ohne Identität und all seine Ideen und Pläne, die er mit sich ins Grab genommen hatte. Ideen, die fortlebten, und ein Plan, der in Erfüllung ging, als sein finales Denkmal. Und Eric Finch hatte absolut keine Ahnung, was er machen sollte, sein Körper schien ihm fast tot vor Erschöpfung, der Kopf schwirrte ihm, und er senkte langsam seine Waffe und sah zu, wie sich der Zug leise nach vorn und in den Tunnel
schob, so sanft zunächst, dass noch Zeit zu sein schien, ihn zurückzurufen. Aber bis Finch bewusst geworden war, was er getan hatte, war des Führerstand im Tunnel verschwunden, und es gab keine Möglichkeit mehr, den Wagon je aufzuhalten. Und V verschwand mit ihm in der Dunkelheit. Der endgültigen Dunkelheit. Es schien keinen Sinn zu haben, irgendetwas anderes zu tun, als die Waffe wieder in die Tasche zu stecken, zu vergessen, dass er sie überhaupt besaß, und der Welt ihren Lauf zu lassen. Sinnlos auch, das Mädchen vor ihm zu verhaften. Sinnlos, jemanden warnen zu wollen. Sinnlos zu versuchen, eine Regierung zu retten, an die er, wie ihm klar wurde, nicht mehr glaubte. An die er nie wirklich geglaubt hatte, die er aber akzeptiert hatte, weil es die einzige war, die sie hatten. Und die heute Morgen restlos gestürzt sein würde. Und als ihm bewusst wurde, dass ihn das nicht im Geringsten kümmerte, verspürte er ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung. Immer noch verwirrt darüber, was er getan hatte und was, auf lange Sicht, in der Folge davon geschehen würde, konnte Finch nur dastehen, als Evey vortrat. Sanft fasste sie ihn am Arm und lächelnd wie eine Tochter, die er nie gehabt hatte, führte sie ihn langsam auf die Treppe zu. „Sagen Sie“, begann sie fast liebevoll, in Erinnerung an eine andere Zeit, als jemand anders sie beinahe dasselbe gefragt hatte, „mögen Sie Musik, Mr. Finch?“
Rund um den Parliament Square erschienen immer mehr „Vs“ aus den Schatten und nicht mehr nur aus einer Richtung. Sie kamen über Millbank, sie strömten an der Abbey vorbei, sie versammelten sich auf der anderen Seite der Themse, auf der
Westminster Bridge. Sie kamen über Whitehall, die angeblich abgeriegelt war, und aus all ihren Seitenstraßen, bis hin zum Trafalgar Square – und dabei passierten sie sogar Downing Street, als höchster Beweis der Aufsässigkeit. „General?“, wandte Dowland sich unsicher an Byrd. Er bedurfte verzweifelt der Führung durch seinen Vorgesetzten, hoffte aber gleichermaßen verzweifelt, dass der Befehl, den er befürchtete, nicht kommen möge. Doch er kam. „Waffen bereitmachen!“, schrie General Byrd und leises Stirnmengemurmel hob an und ein Klappern, als Schnellfeuerwaffen überprüft und gegen Schultern gestemmt wurden. Dennoch geschah all dies mit einem gewissen Zögern. Denn inzwischen waren die anderen mehr und es kamen immer noch weitere dazu. Hunderte wurden zu Tausenden und dann zu Tausenden mehr. Sie erfüllten die Straßen als riesiges Menschenmeer. „Was machen wir nur?“, fragte Lieutenant Dowland noch einmal und blickte ihnen mit einem Gefühl zunehmender Panik entgegen. „Gottverdammt noch mal“, sagte Byrd leise, als ihm endlich klar wurde, dass, wenn diese maskierte Horde herankam – was sie ganz sicher tun würde, sobald der erste Schuss fiel –, sie bei weitem zu groß war, als dass seine Männer sie niederschießen konnten, bevor die menschliche Flutwelle über sie hereinbrach. Und wenn man es genau betrachtete, dann stellten diese maskierten Gestalten doch gar keine unmittelbare Gefahr dar. Sie standen ja nur da und warteten, gespannt, hoffnungsvoll. Und jede einzelne von ihnen lächelte. Und dann, ganz leise erst nur, begann die Musik zu spielen, klang aus den Lautsprechern an den Straßenecken, wie sie es vor einem Jahr getan hatte, in der Nacht von Old Baileys pyrotechnischer Herrlichkeit.
Musik, die General Byrd irgendwie davor bewahrte, einen Befehl zu erteilen, den er für den Rest seines Lebens bereut hätte, und die bald schon so laut war, dass sie diesen Befehl ohnehin übertönt hätte. Doch diesmal war es andere Musik, passender noch. Speziell für den Anlass ausgewählt. Für den fünften November. Händels Feuerwerksmusik…
Nicht weit entfernt hatte Evey einen immer noch ziemlich verwirrten Inspector Finch aus der Station nach oben geführt und durch die Schattengalerie, wobei sie ihn sanft zur Eile trieb und ihm kaum Zeit ließ, die Wunder zu betrachten, die diese Räume bargen… dennoch offenbarte ihm selbst dieser kurze Blick so viele andere Welten jenseits der eingeengten, die er gekannt hatte, so viele Dinge, an die er sich auf einmal voller Überraschung und ehrlicher Freude erinnerte, dass er sich wünschte, all das eines Tages wieder hergestellt zu sehen… und dann drängte sie ihn in den Aufzug, der sie zum Dach hinaufbringen würde. Dasselbe Dach, auf dem sie in jener Nacht, da sie ihr wahres Selbst wieder gefunden hatte, nackt im Regen gestanden hatte, und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Finch im Begriff war, zu derselben enthüllenden Schlussfolgerung zu gelangen. Doch hätte sie ihn gefragt, hätte er nur eingestehen müssen, dass er sich justament nur müde, orientierungslos und weit älter fühlte, als er es tatsächlich war. Es war Zeit zu gehen, dachte er, die Arbeit des Wiederaufbaus der Zukunft in jüngere Hände zu legen… wie in die von Dominic Stone und der kleinen Hammond hier neben ihm. „Diese Musik…“, sagte er, als sie jetzt ins Freie traten. „Ja, seine Musik“, antwortete Evey, womit sie keineswegs andeuten wollte, dass diese Musik irgendjemandes anderen Musik war als Händels, aber sie wusste, dass V es so arrangiert
hatte, einen automatischen Schalter oder so etwas, der ausgelöst wurde, sobald der Zug seine letzte Fahrt begann. „Sie ist wunderschön, nicht wahr?“ Sie trat von Finch fort, ging auf die Brüstung zu und hob ihre Hände, genau wie V es getan hatte, heute Nacht vor einem Jahr, als die Melodie erfüllt gewesen war von heroischem Widerstand, als sei jetzt sie es, die Händels wunderbare, feierliche Musik dirigierte, während deren Macht sekündlich anschwoll. Tief unter dem Erdboden erreichte Vs bunt bemalter, rosengefüllter, zur Hölle fahrender Zug sein letztes Ziel, traf auf einen Berg aus Betonblöcken… und tat genau das, was von einem Zug voller Gelatinedynamit zu erwarten stand. Und an der Oberfläche, direkt darüber, barsten die Houses of Parliament in wütenden Flammen, in Rauch und zerbrochenem Mauerwerk auseinander, als Augustus Pugins aufwändig verzierte Fassade von innen heraus zerrissen wurde, zertrümmert in Millionen steinerner Bruchstücke, noch bevor das Holz und die anderweitige Innenausstattung dem Feuer neue Nahrung zuführten. Und dann neigte sich der mächtige Uhrenturm und überantwortete Big Ben den aufgewühlten Wassern der Themse und eine Wassersäule stieg auf, die es an Höhe fast mit den Flammen aufnehmen konnte, als das Bauwerk zu einem gewaltigen, orangefarbenen Scheiterhaufen erblühte. Ein Scheiterhaufen, auf dem die letzten Überreste der Regierung und der Nordfeuer-Partei verbrannten, von Englands faschistischem Zwischenspiel, von tausend Intrigen und Verschwörungen, von Historien und Fiktionen, die Finch nie ganz hatte entwirren können. Und die er, wie er wusste, jetzt nie entwirren würde – was ihn jedoch nicht länger scherte. Ein Scheiterhaufen, auf dem die letzten Überreste von V verbrannten.
„Wer war er?“, fragte Finch schließlich, als er an das Geländer zu Evey trat. „Er war Edmond Dantes“, sagte sie leise, wandte den Blick, um seine leicht verwirrte Miene zu sehen, und fügte hinzu: „Und er war mein Vater und meine Mutter. Mein Bruder und mein Freund. Er war Sie und ich. Er war wir alle.“ Wir alle, dachte Finch… und erkannte, dass es dem Staat nicht zustand, sein eigenes Volk zu unterdrücken, denn letztlich war das Volk der Staat. Und am Ende waren, wie er wusste, nur die Menschen real und alles andere – Politik, Verschwörungen, der Staat selbst – war Fiktion, Geschichten, erdacht von Menschen als Möglichkeit, ihr Leben zu organisieren. Die „Wahrheit“ über Larkhill? Was zählte sie am Ende schon? Nur die Menschen, die dort lebten und starben, waren wichtig, und was sie getan hatten. Und nun hatten die Geschehnisse dieser Nacht die ganze Geschichte zu einem Ende geführt… Aber würden sie darüber in Zukunft Reime schreiben? Und wenn sie wieder dazu zurückkehrten, alle Jahre in dieser Nacht ein Bildnis zu verbrennen, wessen Gesicht würde nun unter der Maske verborgen sein? Evey stand noch ein paar Sekunden lang nachdenklich da, dann drehte sie sich Finch zu und lächelte. „Niemand wird diese Nacht je vergessen“, sagte sie zu ihm, „oder was sie für dieses Land bedeutet.“ Und dann, als sie sich für einen letzten, intimen Gedanken abwandte, ergänzte sie: „Aber ich werde den Menschen nie vergessen und was er mir bedeutete.“ Und als die Feier mit einem riesigen Feuerwerk, das in der Luft explodierte und abermals den Buchstaben V bildete, zu Ende ging, begann die versammelte Menge die Masken abzunehmen, ihre Anonymität aufzugeben, wieder diejenigen zu werden, die sie gewesen waren, bevor die langen Jahre der
Unterdrückung ihnen ganz andere Masken aufgezwungen hatten. Denn dieses Mal stand der Buchstabe V schlicht und ergreifend für „Viktoria“, den köstlichen Sieg.