Seewölfe 159 1
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Seewölfe 159 1
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Schwarze Wolken trieben über den Himmel. Von Westen her baute sich eine bedrohlich hohe Dünung auf, Gischtfahnen krönten die Wellen. Die „Isabella VIII.“ kletterte an den grauen, wogenden Bergen hinauf, verschwand in schwindelerregenden Tälern, kletterte von neuem aufwärts, bis ihr Bugspriet die dunklen Wolkenfetzen aufzuspießen schien. Manntaue waren über Deck gespannt, alle Segel bis auf Sturmfock und Besan geborgen. Wanten und Pardunen sangen im Wind wie straff gespannte Saiten, und die Galeone ächzte in ihren Verbänden, als spüre sie, daß sich die Elemente wieder einmal gegen sie verschworen hatten. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, starrte mit wilden blauen Augen in die Schwärze, die im Westen die Linie der Kimm verwischte. Auch er spürte, was sich da zusammenbraute. Ihren Feinden hatten sie ein Schnippchen geschlagen und eine vernichtende Niederlage beigebracht, jetzt zeigte ihnen die See die Zähne. Der Nordwest-Sturm würde sie weit in den Golf von Biscaya verschlagen - jetzt, da sie England schon in greifbarer Nähe geglaubt hatten. Und im Golf von Biscaya trieben sich genug Spanier herum. Spanier, die nach der Schlappe von Cadiz sicher noch wütender waren, noch wilder entschlossen, endlich „El Lobo del Mar“ zu fangen. Mit einem grimmigen Lächeln dachte Hasard an die Begegnung mit dem alten Drake, der sich in all den Jahren kaum verändert hatte. Immer noch so stur wie eh und je, immer noch ein Mann, der keinen Fingerbreit von seinen Prinzipien abwich. Aber im Augenblick hatte der Seewolf weiß der Himmel andere Sorgen. Mit beiden Fäusten umklammerte er die Schmuckbalustrade des Achterkastells. Sein langes schwarzes Haar flatterte im Wind, der ständig an bösartiger Schärfe zunahm. „Bill!“ schrie er zum Großmars hinauf. „Komm da runter, in drei Teufels Namen!“
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„Sir, wenn ein Spanier ...“ „Abentern!“ donnerte der Seewolf. Gegen diesen Ton gab es kein Aufmucken. Der Schiffsjunge Bill zog den Kopf ein und beeilte sich. Hasards Blick prüfte das Rigg, wanderte zum Vormars - und dann. zuckte er zusammen, als habe er ein Gespenst gesehen. Zwei schwarzhaarige Köpfe lugten über die Segeltuchverkleidung der Plattform. Nein, drei Köpfe - aber der dritte war braun und zottig und gehörte dem Schimpansen Arwenack. Der Affe kauerte zwischen seinen neuen Freunden Hasard und Philip, fühlte sich offenbar sicher in ihrem Schutz, und die Zwillinge genossen in ihrer luftigen Höhe mit funkelnden Augen das aufregende Naturschauspiel. „Runter da!“ wollte der Seewolf schreien. Im selben Moment holte die „Isabella“ schwer nach Steuerbord über. Mit jäher Wildheit heulte eine Bö durch das Rigg und ein zweistimmiger Aufschrei mischte sich mit Arwenacks verängstigtem Keckern. Von einer Sekunde zur anderen schüttelte der Sturm die Galeone mit Urgewalt.' Hasards Magen zog sich zusammen. Die Angst um die beiden Jungen da oben packte ihn wie eine brutale Faust, aber er handelte ohne Schrecksekunde. „Festhalten!“ brüllte er mit einer Stimme, die mühelos das Orgeln und Tosen des Sturms übertönte. Dabei flankte er bereits mit einem mächtigen Satz über die Schmuckbalustrade, sprang auf die Kuhl und erwischte eins der straff durchgeholten Manntaue. Irgendwo hörte er Edwin Carberry fluchen, der die Gefahr ebenfalls erkannt hatte. Längst war die Galeone abgefallen und lief unter Sturmfock und Besan eine Höllenfahrt, die dem Ritt auf einem ungezähmten Ungeheuer glich. Sturzseen überspülten das Backbordschanzkleid, Gischt sprühte in der Luft, gurgelnd und schmatzend lief das Wasser durch die Speigatten ab. Hasard scherte sich den Teufel um alle ehernen Gesetze der Seefahrt. Statt sich vorsichtig über die Kuhl zu hangeln, erreichte er mit
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langen Sprüngen das Vorkastell und schlug die Fäuste um die Webleinen der Luvwanten. Wie ein Schemen tauchte vor ihm die Hünengestalt Ed Carberrys aus einer Gischtwolke. Der Profos knirschte mit den Zähnen, stolperte, schlingerte, hing sich ebenfalls ins Want. Er schwenkte einen zusammengerollten Tampen, und Hasard schnappte danach, während er bereits aufenterte. Auf halber Höhe flitzte Arwenack an ihm vorbei und rettete sich keckernd zu Dan O'Flynn, der sich ebenfalls aufs Vorkastell gekämpft hatte. Die Zwillinge hatten sich mit Händen und Füßen in die Marswanten gekrallt. Kreidebleich waren sie, ja. Und doch lag in der Angst auf ihren Gesichtern ein ziemlich verbissener Zug. Wie zwei kleine Wildkatzen klammerten sie sich fest - und Hasard hätte vielleicht gegrinst, wenn da nicht plötzlich ein scharfes, peitschendes Geräusch an sein Ohr geschlagen wäre. Brechendes Tauwerk! Hölle, Teufel und ... Mit einem verzweifelten Sprung schwang sich der Seewolf über die Segeltuchverkleidung, pflückte seine Söhne aus dem Want und preßte sie mit seinem Körper gegen die Plattform, während er einen Arm als Sicherung um die Stenge schlug. Krachend und berstend raste die Vormarsrah abwärts. Carberry, durchzuckte es Hasard. Er spürte mehr, als daß er es sah, daß der Vormars plötzlich nur noch die halbe Segeltuchverkleidung hatte. Unter ihm krachte die Rah auf die Planken. Ein Klumpen ballte sich in seinem Magen zusammen. Er spähte über den Rand der Plattform, halb in der Erwartung, den eisernen Profos mit zerschmettertem Schädel an Deck zu sehen - doch statt dessen sah er eine zerschmetterte Rah und einen Edwin Carberry, der mit einer Hand an der Webleine hing, wie es, sonst nur Arwenack fertigbrachte. Die blitzartige Ausweichbewegung hatte dem Profos zweifellos das Leben gerettet.
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Sein lästerlicher Fluch übertönte den Sturm. Verbissen schwang er sich wieder ins Want, enterte weiter auf, und unterdessen hatte der Seewolf bereits das Tau um den Leib des kleinen Hasard verknotet. Schnaufend erreichte Ed Carberry den Mars, wobei seine Luft durchaus noch reichte, um finstere Mutmaßungen über das Geschick anzustellen, das vorwitzigen Bengeln drohte, die nicht wußten, wie man sich bei Sturm zu benehmen hatte. Hastig schlang er das Seil auch um seinen eigenen Körper und klemmte sich den nun doch etwas zittrigen Hasard junior unter den Arm. Der Seewolf belegte das Tau am Mast, sicherte den Abstieg, hielt dabei seinen zweiten Sprößling fest und fragte sich, wieso sie nicht längst alle wie reife Pflaumen aus dem schwankenden Mast geschüttelt worden waren. Ed Carberry brachte das Kunststück fertig, heil auf dem Vorkastell anzukommen. Hasard wartete nicht, bis der Profos von neuem aufenterte. Der Sturm heulte jetzt mit einer so wahnwitzigen, vernichtenden Gewalt heran, daß jede Sekunde Zögern Selbstmord bedeutet hätte. Mit eisernem Griff hielt der Seewolf den kleinen Philip an sich gepreßt, schwang sich über den Rand der Plattform und war Sekunden später ebenfalls unten. Die Zwillinge wurden in ihre Kammer verfrachtet. Sie sahen beide etwas grünlich aus wahrscheinlich würde die Natur den disziplinarischen Teil der Angelegenheit übernehmen. Hasard hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Niemand hatte es. Der Sturm beutelte die „Isabella“, daß es eine Art hatte — und dieser dreimal verdammte Sturm dauerte den Rest des Tages, die ganze Nacht und den nächsten Morgen an. Die „Isabella“ wurde weit nach Südosten verschlagen. Wenn es so weiterging, würden sie geradewegs an der baskischen Küste landen — und dann, so wußten sie, hätten sie genauso gut gleich in die Hölle segeln
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und
* Ein paar Seemeilen nördlich von der „Isabella“ trieb' die holländische Fleute „Anneke Bouts“ vor Topp und Takel. Zwei Stunden zuvor war das Ruder gebrochen. An Deck herrschte ein Chaos aus zerfetztem Tauwerk und geborstenen Spieren, das die Männer mit verzweifelter Wut aufzuklaren versuchten. Nur wenige Strecktaue hatten der Belastung standgehalten. Jeder Schritt auf den gischtübersprühten Planken war lebensgefährlich. Aber die „Anneke Bouts“ trieb dicht unter Land, und jeder einzelne der Mannschaft kannte die tückischen Klippen, die vor ihnen lauerten. Kapitän Meerens umklammerte mit versteinertem Gesicht die Schmuckbalustrade des flachen Achterkastells. Friso Eyck, der flachshaarige Steuermann, trieb mit peitschender Stimme die Männer an, die verzweifelt irgendeinen Fetzen an der Gaffelrute des Besans zu setzen suchten. Es war vergebliche Mühe. Der Sturm riß ihnen das Tuch aus den Händen, Tauwerk peitschte in ihre Gesichter. Ein gellender Schrei ertönte, als die schlagende Gaffel einen Mann am Kopf traf. Friso Eyck sprang hinzu, warf das Fall los, damit die schräge Rute nicht noch die Reste des Riggs zerfetzte. Verzweifelt warf sich der Steuermann herum, und der silberne Geusenpfennig, den er um den Hals trug, schien wie-ein Irrlicht über seine Brust zu tanzen. Schwarz und drohend wuchsen die Klippen vor ihnen hoch. „Klar bei Anker!“ peitschte Kapitän Meerens' Stimme. Männer stürzten auf die Back, um die Trosse zum Laufen klarzulegen. Nichts außer diesem letzten, verzweifelten Manöver konnte das Schiff jetzt 'noch retten. Und Friso Eyck wußte so gut wie die anderen, daß schon ein Wunder
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geschehen mußte, wenn der Anker Grund fassen und halten sollte. „Fallen Anker!“ schrie Meerens in das Tosen und Heulen des Sturms. „Fallen Anker!“ tönte es zurück wie ein dünnes Echo. Die Trosse rauschte aus. Quietschend drehte sich das Spill, die Fleute holte über und schlingerte und stampfte in den tückischen Kreuzseen, als wolle sie sich die Masten aus dem Leib schütteln. Friso Eyck war nach vorn geturnt und hatte es wie durch ein Wunder geschafft, ohne von einer der Sturzseen, die alle Augenblicke das Deck überspülten, außenbords gefegt zu werden. Der Anblick der schwarzen Klippe ließ ihn erschauern. Einen Sekundenbruchteil umklammerte er unbewußt den kalten, glänzenden Geusenpfennig - jenes Symbol des Freiheitskampfs, den sie alle führten und für den sie notfalls zu sterben bereit waren. „Auf und nieder!“ schrie jemand von vorn. In der nächsten Sekunde mußte der Anker Grund fassen und... Eine jähe Sturmbö besiegelte das Schicksal der „Anneke Bouts“. Hoch wurde die schlanke Fleute emporgeschleudert, krachte schmetternd auf die scharfkantigen Klippen, wo sie in zwei Teile zerbrach - und der vielstimmige Entsetzensschrei der Menschen ertrank im entfesselten, gnadenlosen Toben der Elemente. * Es war Mittag, als der Sturm abflaute. Unmerklich erst, dann so schnell, als sei es die wilde, kochende See ganz plötzlich müde geworden, gegen die „Isabella“ anzurennen und wieder und wieder zu versuchen, ob sich dieses feste Holz nicht doch zerschlagen, diese langen Masten nicht doch brechen ließen, damit der hungrige Ozean sein Opfer erhielt. Die letzten Böen fegten den Himmel leer, Sonnenlicht ergoß sich über das Meer und ließ die steile Dünung in funkelndem Feuer glänzen. Die erschöpften, durchnäßten Männer an Deck hoben die Köpfe, starrten
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in das blaue Firmament und spürten die Wärme, die ihre erstarrten Glieder belebte. Wäre nicht die immer noch gefährlich hohe Dünung gewesen, man hätte die vergangenen Stunden für einen bösen Spuk halten können. „Klar Schiff überall!“ ertönte die Stimme des Seewolfs ruhig und gelassen. „Wollt ihr wohl spuren, ihr Lahmärsche!“ grollte der Profos in altgewohntem Ton. „Klar Schiff überall, habt ihr das jetzt gehört, oder soll ich euch die Ohren mit dem Marspieker auskratzen? Hopp-hopp, ihr Rübenschweine, sonst ziehe ich euch die Haut in Streifen ...“ „Hasard!“ Es war Ben Brightons Stimme, die den Seewolf herumfahren ließ. Der breitschultrige dunkelblonde Bootsmann stand am Steuerbordschanzkleid und hatte das Spektiv auseinandergezogen. Sein sonst so unerschütterlich ruhiges Gesicht war angespannt. Jetzt reichte er Hasard den Kieker, und der spähte aufmerksam nach Süden, wo alle Verwünschungen die spanische Küste nicht wegzaubern konnten. Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Sie waren dichter unter Land, als er befürchtet hatte. Deutlich konnte er die dünne weiße Linie des Strandes erkennen, das verschwommene Grün und Braun des Küstenstreifens, über dem noch die dunklen Wolken im Stau vor den Kantabrischen Bergen hingen. Die spanischen Kriegsgaleonen, die hier vielleicht unterwegs gewesen waren, hatten sicher in den Häfen Schutz vor dem Sturm gesucht. Im Landesinneren mußte jetzt Regen fallen. Wenn die Wolken die schroffen Gipfel des Gebirgszugs freigaben, würde Dunst die Flachküste verhüllen. „Schiff ho!“ schrie Bill, der wieder in den Großmars geentert war. „Zwei Strich Backbord voraus!“ Hasard wirbelte herum. Eine Stahlfeder schien sich in seiner Haltung zu spannen, als er mit dem Spektiv die nordöstliche Kimm absuchte.
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Drei dünne Nadeln tanzten in der Dünung, wurden größer und ließen ihre weißen, geblähten Segel erkennen. „Dan!“ rief der Seewolf. Der junge O'Flynn enterte über den Niedergang auf. Er hatte die schärfsten Äugen der Crew und konnte schon die Kanonen einer Galeone zählen, wenn andere sie gerade erst entdeckt hatten. Schweigend nahm er das Spektiv entgegen, enterte ein Stück in die Besanwanten und spähte in die angegebene Richtung. „Dreimastige Galeone“, meldete er wenig später. „Ein Spanier?“ Dan zögerte und zog die Lippen zwischen die Zähne. „Sieht nicht so aus“, meinte er schließlich. „Jedenfalls führt sie kein Kreuz unter dem Bugspriet.“ „Vielleicht 'n unfrommer Spanier!“ brummte Smoky, der Decksälteste, von der Kuhl. „Bill!“ rief Hasard zum Großmars hinauf. „Die Galeone im Auge behalten, klar?“ „Aye, aye, Sir! Im Augenblick segelt sie mit halbem Wind Südwestkurs.“ Hasard nickte und schwang herum. Er wollte Dan auf die Schulter tippen, der immer noch durch das Spektiv spähte, dann verharrte er mitten in der Bewegung. Seine Lider kniffen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, scharf sog er die Luft durch die Zähne. ' Er brauchte das Spektiv nicht. Was da Steuerbord voraus hinter einer felsigen Landzunge auftauchte, war auch mit bloßem Auge zu erkennen. Galeonen! Schwer bestückte spanische Kriegsgaleonen! In Kiellinie und gestaffelt liefen sie am Wind nach Norden, drei massige, drohende Schatten. Das vierte Schiff folgte etwas zurückhängend - und noch während der Seewolf tief Luft holte, schob sich ein fünfter Bugspriet hinter den Felsen hervor. „Meine Fresse“, murmelte Ben Brighton erschüttert. „Spanischer Verband Steuerbord voraus!“ schmetterte eine Stimme vom Vorkastell her - und nach Lage der Dinge wirkte diese
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zackige Meldung fast komisch - falls ein vernunftbegabter Mensch in dieser Situation überhaupt noch etwas komisch finden konnte! Hasard warf das Haar zurück. Seine Lippen bildeten einen harten, blutleeren Strich, ein kalter Glanz lag in seinen eisblauen Augen. „Klar Schiff zum Gefecht!“ peitschte seine Stimme. „An die Kanonen! Batuti, Shane klar bei Brandpfeile! Vielleicht holt uns heute der Teufel, aber er soll sich die Finger dabei verbrennen!“ 2. Schwerfällig rumpelten die beiden Wagen über die unbefestigte Straße. Zügel klatschten, die Hufe der Maultiere stampften. Ringsum trieften die Büsche, Dampfschwaden stiegen auf und zogen sich als weißer, wabernder Nebel über den Hügelkuppen zusammen. Bilbao lag unter einer Dunstglocke. Der gleiche Dunst, der das enge Tal des Nervion füllte, der das Rauschen des Flusses dämpfte und der in einer halben Stunde schon wieder von der gierigen Sonne aufgesogen sein würde. Der drahtige schwarzhaarige Mann auf dem Kutschbock lauschte aufmerksam in den Nebel. Seine Fäuste umspannten die Zügel, die dunklen, tiefliegenden Augen glitten unstet umher. Er trug eine runde, weiche Mütze auf dem Kopf, genau wie der stiernackige Hüne neben ihm, wie die beiden Männer auf dem Bock des Planwagens, der dem flachen Bauernkarren folgte. Der Stiernackige hielt eine Arkebuse zwischen den Knien. Sein Kiefer bewegte sich, ab und zu spie er einen Strahl braunen Tabaksaft zur Seite. „Läuft ja besser, als wir dachten“, murmelte er. Der Baske neben ihm zog die Schultern hoch. Gian Malandrès glaubte nie daran, daß eine Sache gut ging, bevor er sie zu Ende geführt hatte. Vor jedem Unternehmen prophezeite er, daß sie alle zur Hölle fahren würden. Trotzdem war ihm keine Übermacht zu groß, kein
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Bravourstück zu frech, kein Plan zu tollkühn. Gian Malandrès, der jüngere Bruder des großen, legendären El Vasco, ließ sich durch nichts und niemanden schrecken.' Seit Jahren kämpfte er für ein freies Baskenland und gegen die Spanier — seit Seine Allerkatholischste Majestät, der König von Spanien, immer deutlicher zeigte, die Sonderrechte, die traditionellen „fueros“, der baskischen Provinzen einzuschränken. Sie waren keine Spanier, diese braunhäutigen, zähen Männer mit den runden Tellermützen. Sie hatten ihr eigenes Land, ihre eigene Sprache, ihre eigene Art zu leben — und die wollten sie behalten. Gian Malandrès dachte an die Waffen, die sich auf den beiden Wagen stapelten. Er grinste in sich hinein, um seine Augen und Mundwinkel entstanden winzige Fältchen. Sie waren vorsichtig geworden, die spanischen Herren. Nacht für Nacht kontrollierten sie die Straßen um Bilbao und den Außenhafen unten an der Flußmündung, seit die Waffentransporte zu den Rebellennestern in den Bergen überhandnahmen. Aber das konnte keinen El Vasco und keinen Gian Malandrès schrecken. Wenn die Spanier nachts ihre Fallen bauten, rollten die Wagen eben tagsüber ihren Zielen entgegen. Natürlich war so etwas Wahnsinn. Natürlich stand für Gian Malandrès jedesmal schon vorher fest, daß es eine Katastrophe geben würde. Aber am Ende ging es dann doch irgendwie gut—und heute halfen ihnen der Sturm, der Regen und jetzt der geisterhafte weiße Dunst. Dennoch sollte El Vascos Bruder gerade heute mit seinen düsteren Prophezeiungen recht behalten. Der Nebel wurde dünner, und die Sonne bohrte sich durch den Dunst wie ein zorniges Auge. Schwer legte sich die schwüle Hitze über das Land. Gian Malandrès spähte voraus, wo die Hügelflanken dichter zusammentraten, bis sie eine Art Hohlweg bildeten. Der Baske glaubte, eine Bewegung zwischen den Sträuchern gesehen zu haben, doch er kam
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nicht mehr dazu, seine Kameraden darauf hinzuweisen. Jäh wurde es im Dickicht lebendig. Waffen klirrten, rauhe Stimmen schrien Befehle. Spanische Befehle! Die beiden Basken zuckten zusammen, strafften sich und da blühten im grauen Dunst schon die roten, strahlenden Feuerblumen auf. Gian Malandrès spürte einen harten Schlag an der Schulter. Wie ein Stoffbündel wurde er vom Bock geschleudert, verlor die. Zügel und prallte schwer auf die Wegsteine. Mit einem schrillen, fast menschlichen Laut sprangen die Maultiere an und gingen durch. Schüsse knallten, Männer schrien, und wie durch ein dickes, weiches Polster hörte Malandrès den schmetternden Krach, mit dem der Wagen umstürzte. Blindlings versuchte der Baske, sich auf die Seite zu wälzen. Schmerz zuckte durch seinen Körper und tauchte seine ganze rechte Seite in das schreckliche Brennen von siedendem Öl. Malandrès zog scharf die Luft ein und kämpfte gegen die schwarzen Wogen, die in sein Hirn schwappten und ihn lähmen wollten. Irgendwie gelangte er auf die Knie und stützte sich mit der Linken hoch - da sah er den hohen, glänzend polierten Stulpenstiefel vor sich. Der Tritt traf ihn hart und ließ von einer Sekunde zur anderen sein Bewußtsein erlöschen. * „Klar bei Brandsätze!“ Hasards Stimme gellte über die Decks. Sein Blick hing an den fünf spanischen Kriegsgaleonen, die immer noch in Kiellinie gestaffelt. stur ihren Kurs liefen. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß sie die „Isabella“ gesehen hatten. Und es stand ebenso zweifelsfrei fest, daß sie sich im Vollgefühl ihrer Übermacht diesen fetten Happen nicht entgehen lassen würden. Die angeschlagene, vom Sturm zerraufte „Isabella“ mußte sich ihrer Haut wehren. Es war keine Frage, daß sie diesmal die Raketen mit dem chinesischen Feuer
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einsetzen würden - das letzte Mittel, das sie sich stets für Fälle aufgespart hatten, in denen alles andere versagte. In aller Eile wurden die unscheinbaren Gestelle mit den Bronzerohren an Deck gemannt. Hasard beobachtete den Verband mit schmalen Augen. Gleich würden die beiden vordersten Galeonen über Stag gehen, um die Beute in die Zange zu nehmen. Und da war auch noch jenes andere Schiff - der Dreimaster, der von Nordosten heranrauschte und dessen Absichten sie nicht kannten. „Deck!“ schrie Bill aus dem Großmars. „Galeone Backbord voraus fällt ab. Ich glaube, das ist ein Holländer!“ „Was heißt das, du glaubst?“ brüllte Hasard, ohne den feindlichen Verband aus den Augen zu lassen. „Ihr Name ist ,Hoek van Holland', Sir!“ rief Bill prompt. „Das klingt ziemlich holländisch, finde ich! Sie hat gehalst! Ich glaube - eh - sieht aus, als wollte sie uns helfen, Sir!“ So sah es wirklich aus. Es sei denn, die Galeone mit dem Namen „Hoek van Holland“ hatte sich platt vor den Wind gelegt, um den Kurs des spanischen Verbands zu kreuzen und so rasch wie möglich Abstand von dem. .sich anbahnenden Gefecht zu gewinnen. Ganz kurz schwenkte Hasard das Spektiv nach Nordosten hinüber. Genau in dem Augenblick, in dem auf der „Hoek van Holland“ die Stückpforten fielen und die Kanonen ausgerannt wurden. Nein, das sah nicht nach Flucht aus. Die Fremden dort drüben wollten den Spaniern ein paar feurige Grüße schicken. Damit bewiesen sie eine Menge Mut, da sie von den Brandsätzen ja nichts ahnen konnten, und schon mit ihrer ersten Aktion brachten sie die Taktik des Verbandes durcheinander. Wenn die spanische Führungsgaleone jetzt anluvte und durch den Wind ging, würde sie selbst zwischen der „Isabella“ und der „Hoek van Holland“ in eine tödliche Zange geraten. Der spanische Capitan begriff das sofort.
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„San Cristobal“ hieß sein Schiff -die Buchstaben am Bug leuchteten in der Sonne. Befehle gellten. Statt anzuluven, fiel die Galeone ab. Mit halbem Wind ging sie auf Nordostkurs, um die Absicht der „Hoek van Holland“ zu durchkreuzen. Hasard lächelte grimmig. Die zweite spanische Galeone, die „Esperanza“, würde zweifellos durch den Wind gehen und das dritte Schiff nachziehen. Ein elegantes Ausweichmanöver vor der Breitseite der „Isabella“, dann hatte das nachfolgende spanische Schiff Zeit genug, acht saubere Löcher in die Wasserlinie des Gegners zu stanzen, bevor die Seewölfe die Steuerbordkanonen nachladen konnten. Das war die einzig richtige Taktik, es gab nichts daran auszusetzen — nur daß die Spanier die Bedeutung der unscheinbaren Bronzerohre nicht kannten. Ohne Vormarssegel und mit beschädigtem Besan war die „Isabella“ in ihrer Manövrierfähigkeit erheblich eingeschränkt. Aber die Brandsätze reichten weiter als Kanonenkugeln und trafen genauer. Das Verhängnis würde über die Spanier hereinbrechen, bevor sie den Gegner überhaupt vor die Rohre bekamen. „Brandsätze nach Steuerbord“, befahl Hasard. „Steuerbordund Backbordkanonen klar! Etwas abfallen, Pete!“ „Abfallen!“ ertönte die ruhige Stimme des Rudergängers, dessen ankerklüsengroßen Fäuste das Rad bewegten. „Heckdrehbassen klar! Al, du schießt Störfeuer, sobald die Kähne Feuer gefangen haben und wir an ihnen vorbeigelaufen sind. Wir nehmen die beiden restlichen Spanier aus der Luvposition. Bill, runter vom Mars!“ Der Moses enterte ab. Im selben Augenblick rollte dröhnend der Donner der ersten Breitseite über das Wasser. Querab von der „Isabella“ hatten sich die „Hoek van Holland“ und die „San Cristobal“ ineinander verbissen. Jetzt endlich, fast zu spät, ließ der Capitan der „Esperanza“ anluven. Hinter ihm ging
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auch die „Sevilla“ über Stag. Die beiden Galeonen lösten sich aus dem Verband und kämpften sich hart am Wind auf die „Isabella“ zu, die raumschots wie ein zorniger Schwan durch die Dünung pflügte. Der Capitan der „Esperanza“ verließ sich darauf, daß er im entscheidenden Moment blitzschnell abfallen und ausweichen konnte. Hasard zog die Lippen von den Zähnen. Ein Blick zeigte ihm, daß am Steuerbordschanzkleid zwei Brandsätze feuerbereit waren. Dan O'Flynn und Ferris Tucker bedienten die Bronzerohre, Blacky und Smoky hielten sich mit weiteren Raketen bereit. Hasard wartete. Die Sekunden schienen sich zäh wie Leim zu dehnen. Ein knapper Befehl! Die „Isabella“ luvte um eine Kleinigkeit an und bewegte sich knapp außerhalb des Schußbereichs der Gegner. „Feuer!“ befahl der Seewolf. Zischend und funkensprühend lösten sich zwei der kleinen Raketen aus den Bronzerohren. Im Bogen flogen sie durch die Luft, senkten sich über den beiden feindlichen Galeonen und fanden mit tödlicher Präzision ihr Ziel. Ein vielstimmiger Entsetzensschrei klang herüber. Als die Brandsätze explodierten und ihr mörderisches, unlöschbares Feuer in alle Richtungen schleuderten, hatten Dan und Ferris bereits die Bronzerohre nachgeladen. „Feuer!“ befahl Hasard mit steinernem Gesicht. Zwei neue Raketen zogen zischend ihre Bahn. Wieder trafen sie, entflammten die Segel der Galeonen und entfachten Dutzende von Brandnestern, die sich mit rasender Geschwindigkeit durch Planken und Mastholz fraßen. Auf den beiden spanischen Galeonen brach helle Panik aus. Brennend trieben sie in der Dünung. Die „Isabella“ fiel ab und ging mit dem Heck durch den Wind. Wie das leibhaftige Verhängnis rauschte sie auf den kläglichen
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Rest des Verbandes zu - und die beiden spanischen Kapitäne verloren die Nerven. Panisches Entsetzen diktierte das Manöver, mit dem sie halsten und ihre Schiffe vor den Wind brachten. Die zerraufte „Isabella“ hatte keine Chance, sie einzuholen. Doch das war nicht der einzige Grund, sie ziehen zu lassen. Hasard beging nicht den Fehler, seine Gegner zu unterschätzen. Die „Esperanza“ und die „Sevilla“ standen in hellen Flammen, aber Wind und Strömung drückten sie herum, und noch waren ihre Backbordgeschütze feuerbereit. Die Heckdrehbassen der „Isabella“ hämmerten los. Stenmark und Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, jagten Kugel um Kugel ins Schanzkleid der brennenden „Sevilla“, um ihr die Zähne zu ziehen. Auf dem Achterkastell fuchtelte der spanische Capitan verzweifelt mit den Armen. Die Geschützmannschaften, starr vor Entsetzen, besannen sich auf ihre Aufgabe, doch auch diesmal war die „Isabella“ schneller. „Anluven“, befahl Hasard. Etwas schwerfällig schwang die Galeone nach Backbord herum, aber noch rechtzeitig. Mit halbem Wind lief sie aus dem Schußbereich der „Sevilla“, und als die Breitseite donnerte, klatschten die schweren Eisenkugeln wirkungslos ins schäumende Kielwasser. „Spart eure Munition, Al und Sten!“ rief der Seewolf. „Achtung, Backbordkanonen! Wir mischen jetzt da oben ein bißchen, klar? Wenn's geht, möchte ich den Spanier mit acht sauber gestanzten Löchern in der Wasserlinie auf Tiefe gehen sehen!“ Ein paar Männer hoben die Köpfe und grinsten. „Acht sauber gestanzte Löcher in die Wasserlinie, habt ihr's gehört, ihr Rübenschweine?“ tobte der Profos. „Luke Morgan, du Affe, paß auf, wo du mit der verdammten Lunte herumfuchtelst! Wer auch nur einen Zoll zu hoch oder zu tief hält, kriegt von mir persönlich den Hintern tätowiert, ist das klar, ihr Heringe?“ Hasard grinste ebenfalls.
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Neben ihm beobachtete Ben Brighton mit schmalen Augen die „Hoek van Holland“, die von dem Spanier in die Leeposition gedrängt worden war. Jetzt lief sie hart am Wind und machte klar zur Wende. Ben warf dem Seewolf einen raschen Blick zu, und Hasard zog die Lippen von den Zähnen. „Nicht schlecht, der Holländer“, stellte er fest. „Er wird schön langsam wenden, am Bug des Spaniers vorbeischeren und ganz schnell anluven, wenn es Zunder gibt ...“ „…und wir schlagen zu, ehe die Dons wieder feuerbereit sind“, sagte Ben zufrieden. Genauso geschah es. Der Spanier, schon ohne Bugspriet und mit einem Loch im schlappen Besan, suchte der feindlichen Galeone mit den Bugdrehbassen die Takelage zu zerfetzen. Die „Hoek van Holland“ ging gelassen auf Abstand und wendete gemächlich, als müsse der Kapitän erst noch überlegen, was jetzt zu tun sei. Die gesammelte Aufmerksamkeit der Spanier richtete sich nach Norden. Was sollte hinter ihnen, im Süden, auch schon groß passieren? Da hatte es eine vom Sturm beschädigte Galeone mit vier kampfstarken, schwer armierten Kriegsschiffen zu tun, die ihre Beute systematisch zu Treibholz verarbeiten würden. Daß dem nicht so war, bemerkten die Männer der „San Cristobal“ zu spät. Die „Hoek van Holland“ ging durch den Wind, fiel ab, und wurde ganz plötzlich bedrohlich schnell. Ihrer Backbordbreitseite wandte die „San Cristobal“ den schmalen Bug zu. Dumpf dröhnten die Kanonen, die Spanier erhielten zwei Treffer ins Vorkastell, doch das trübte nicht die triumphierende Gewißheit, daß der Gegner schutzlos ihrer eigenen Breitseite ausgeliefert war. Der Feuerbefehl des spanischen Capitans und das blitzartige Anluven der Holländer fielen zusammen. Rauch wölkte, donnernd entluden sich die Kanonen der „San Cristobal“. Tod und Verderben heulten über das Wasser, doch
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da hatte sich die „Hoek van Holland“ längst aus der Gefahrenzone gemogelt. Der Wutschrei der Spanier schallte bis zur „Isabella“ herüber. Eine Wut, die schon Sekunden später in Entsetzen umschlug. Denn da entdeckte der Capitan die Galeone, die unbemerkt von achtern aufgesegelt war — und auch der letzte Mann an Bord der „San Cristobal“ begriff, daß nichts und niemand das Verhängnis mehr aufhalten konnte. Acht Siebzehnpfünder-Culverinen krachten — acht Löcher klafften in Höhe der Wasserlinie in der Bordwand der „San Cristobal“. „Arwenack!“ schrie der Schiffsjunge Bill irgendwo mit vor Begeisterung überschnappender Stimme. Die anderen fielen ein und stimmten den alten Schlachtruf an, daß es ihren Gegnern in den Ohren gellte: „Arwenack! Ar-we-nack !“ Ein ohrenbetäubendes Krachen fuhr dazwischen. Sekunden später folgte die zweite schmetternde Detonation. Auf den brennenden spanischen Galeonen hatte das Feuer die Pulverkammern erreicht. Die Schiffe flogen auseinander, regnende Trümmer verdunkelten den Himmel, dann war nur noch das Klatschen zu hören, mit dem Planken, Spieren und Spanten ins Wasser prasselten. Die überlebenden Spanier hatten es noch geschafft, eine unbeschädigte Pinasse abzufieren. Auch auf der rasch absackenden „San Cristobal“ arbeiteten Männer in fieberhafter Hast an den Booten. Die Seewölfe ließen sie gewähren. Sollten sich die Überlebenden an die nahe Küste retten. Sie würden auf Rache sinnen und alles tun, um die Scharte auszuwetzen, aber es war nun einmal Hasards Sache nicht; über Wehrlose herzufallen, die keine Chance mehr hatten. Sein Blick wanderte zu der holländischen Galeone hinüber, die ihnen geholfen hatte. Er sah den großen, hageren Mann auf dem Achterkastell, der grüßend die Hand hob. Er sah auch den runden, in der Sonne
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funkelnden Gegenstand auf der Brust des Mannes, eine Art Münze an einer dünnen Kette, und jetzt wußte er plötzlich, mit wem er es zu tun hatte. 3. Die beiden Galeonen, die der Katastrophe entkommen waren, segelten in Dwarslinie nach Norden und hatten sich einander auf Rufweite genähert, was nicht bedeutete, daß sich die beiden Schiffsführer etwa mündlich verständigten. Ein Capitan seiner Allerkatholischsten Majestät schrie nicht. Das besorgten der Bootsmann auf der „Ysobel“ und der stimmgewaltige Profos der „Princesa Anna“. „Ich schlage vor, zurück nach Portugalete zu laufen und Verstärkung abzuwarten“, ließ der Capitan der „Ysobel“ wissen. Der Capitan der „Princesa Anna“ runzelte heftig die Stirn. „Warum das?“ knurrte er auf spanisch. „Warum das?“ gab der Profos getreulich weiter. Weil man sich um die Überlebenden der drei versenkten Galeonen kümmern müsse, wurde geantwortet. Außerdem gelte es, Meldung zu erstatten und dafür zu sorgen, daß die dreckigen Engländer und die holländischen Bastarde verfolgt und in Fetzen geschossen würden. Und dann sei es ja auch nicht unbedingt nötig, ein Risiko einzugehen. Der Capitan der „Princesa Anna“ zog verächtlich die Mundwinkel herab. Feigling, dachte er. Die „Ysobel“ hatte zuerst abgedreht. Das lag zwar nur daran, daß die Mannschaft etwas schneller an den Brassen gewesen war und der Rudergänger besser reagierte, doch darüber legte sich der Capitan der „Princesa Anna“ im Moment keine Rechenschaft ab. „Wir haben einen Auftrag”, erklärte er mit Würde. „Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig eintreffen wollen. Eine Chance, wie sie uns dieser holländische Bastard verschaffte, als er unter der Folter redete, erhalten wir so schnell nicht wieder.“
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Das sah auch der Capitan der „Ysobel“ ein. Vor allem, da er sich inzwischen ausgerechnet hatte, daß sie nicht die einzigen Jäger waren und daß sie noch vor dem Ziel mit Verstärkung durch einen Verband rechnen konnten, der von Gijon aus unterwegs war. Unter diesen Umständen ließ sich der Verlust der drei Galeonen verschmerzen. Mochten die Überlebenden selber sehen, wie sie die rettende Küste erreichten. Der Capitan der „Ysobel“ signalisierte sein Einverständnis. Wenige Minuten später ließ sich die „Princesa Anna“ etwas zurückfallen, und die beiden Schiffe folgten in Kiellinie ihrem Kurs nach Norden. * Heiß brannte die Sonne auf die Klippen vor dem kahlen, nur mit hartem gelbem Gras und etwas Dornengestrüpp bewachsenen Eiland. Friso Eyck, der flachshaarige holländische Steuermann, kniete am Boden und hatte seinen Arm unter den Kopf des sterbenden Kapitäns geschoben. Mit brennenden Augen starrte er in das fahle, schweißbedeckte Gesicht. Meerens' Lippen zuckten. Der Steuermann mußte sich tief über ihn beugen, um das heisere Flüstern zu verstehen. _.Marius-- du mußt — Marius warnen — ein Boot — ist wenigstens — ein Boot heil geblieben?“ „Die Pinasse.“ Friso Eyck konnte nicht verhindern, daß seine Stimme zitterte. „Wir werden versuchen, van Helder rechtzeitig zu erreichen, das schwöre ich.“ „Gut, Friso — gut — ich dank ...“ Mitten im Wort versagte die Stimme. Kapitän Meerens' Glieder erschlafften, sein Kopf fiel zur Seite, und über die weit offenen Augen schob sich der stumpfe Schleier des Todes. Sacht ließ ihn der blonde Steuermann zu Boden gleiten. „Fahre wohl, Kapitän“, flüsterte er erstickt. „Gott sei deiner Seele ...“ „Friso!“
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Ein heiserer Aufschrei. Eyck fuhr herum, sprang auf die Füße, sein Blick zuckte zum Wrack der Fleute, die in zwei Teile zerbrochen zwischen den Klippen hing. Aufgeregt winkten die Männer herüber, und während Friso Eyck über die Klippen turnte, sah er bereits, was die Leute alarmiert hatte. Schiffe! Spanische Schiffe, wie ihm ein Blick durch das Spektiv zeigte. Von Süden her segelten sie rasch auf. Friso Eyck knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. Er wußte, es blieb keine Zeit mehr, sich zu verstecken und den Spaniern vorzuspielen, daß das Wrack verlassen sei. Sie hatten sie gesehen. Stolz und unangreifbar rauschten sie heran, in Kiellinie gestaffelt, und wenig später wurden rasselnd die Stückpforten geöffnet. Friso Eyck fuhr sich mit der Hand über das flachsblonde Haar. Einen Augenblick schwankte er vor Erschöpfung, drohten Trauer und Bitternis ihn zu überwältigen. Dann wurde ihm bewußt, daß er jetzt, nach dem Tod des Kapitäns, der ranghöchste Offizier und damit der Kommandant der „Anneke Bouts“ war und die Männer auf seine Entscheidung warteten. Entscheidung! Als ob es noch etwas zu entscheiden gäbe! Sie waren ihren Gegnern hilflos ausgeliefert, sie konnten nur noch versuchen, ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. „Volle Deckung!“ befahl der Steuermann heiser. „Taucht zwischen den Klippen dahinten unter! Sobald die Dons einen Fuß an Land setzen, bereiten wir ihnen einen heißen Empfang!“ „Verdammt! Wir hätten eine Kanone in Stellung bringen sollen oder ...“ „Hätten, hätten! In Deckung jetzt!“ Hastig turnten die Männer über die Felgen. Friso Eyck dachte daran, daß es wirklich gut gewesen wäre, sich auf einen Angriff vorzubereiten. Aber da waren Bewußtlose und Verletzte zu bergen gewesen, Wunden zu verbinden, gebrochene Knochen zu schienen - und vielleicht war Kapitän Meerens einfach nicht mehr in der Lage gewesen, an so viele Dinge -gleichzeitig zu
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denken, vielleicht hatte er sich zu sehr an den Gedanken gekrallt, daß sie Marius van Helder warnen mußten, dessen Kurier in die Hände der Spanier gefallen war und unter der Folter geredet hatte. Friso Eyck duckte sich tief in eine Mulde zwischen den Klippen, als die erste Breitseite donnerte und in das Wrack der „Anneke Bouts“ schlug. Hilflos mußten die Holländer mit ansehen, wie die Fleute systematisch in Fetzen geschossen wurde. Eyck sah die Trümmer der Pinasse fliegen. Die restlichen Boote waren schon vorher auf den Klippen zerschellt. Von der „Anneke Bouts“ würde nichts übrigbleiben, aus dem man noch einen schwimmfähigen Untersatz bauen konnte, ganz davon abgesehen, daß überhaupt keine Chance bestand, die beiden Galeonen zu überholen. Eycks Ohren dröhnten, als der Kanonendonner verstummte. Vorsichtig spähte der Steuermann über die Felsen und wartete darauf, daß Rahen ausschwingen und Boote aufs Wasser klatschen würden. Aber die Männer der „Ysobel“ und „Princesa Anna“ zeigten keine Anstalten, an Land zu gehen. Sie schienen keinen Wert auf Gefangene zu legen - und Friso Eyck wußte genau wie die anderen, was das bedeutete. „Die Dreckskerle wissen genau, daß wir hier langsam an Hunger und Durst krepieren“, knurrte einer der Fockgasten bitter. „Na und?“ murmelte der Bootsmann. „Würdest du lieber in einer spanischen Folterkammer sterben?“ Schweigen. Friso Eyck zog die Schultern hoch, als friere er. Seine blauen Augen brannten, während er den davonziehenden Galeonen nachstarrte. „Bei Gott, ja“, sagte er mit einer Stimme, die kaum zu verstehen war. „Selbst die Folter kann nicht schlimmer sein, als hier zu sitzen und zu wissen, daß sich die halbe Armada auf die ‚Oranje' stürzen wird und wir nichts dagegen tun können.“ *
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Der Vorhang aus Perlenschnüren klirrte. Drei Männer betraten die Schenke, blieben abwartend stehen und ließen die Augen aufmerksam in die Runde gleiten. Jetzt, am Nachmittag, hielten sich in der „Linterna Roja“ nur zwei schläfrige Betrunkene auf, die den Neuankömmlingen kaum einen Blick widmeten. Lediglich das Mädchen hinter dem niedrigen Schanktisch zuckte zusammen. Miranda Lleones war die siebzehnjährige Tochter des Wirts — und sie würde die Schenke in Zukunft allein führen müssen, wenn sie nicht verhungern wollte. Mit einer fahrigen Geste strich sie sich das volle schwarze Haar zurück. Ihre Ohrringe klirrten leise. „Buenos dias, Senores“, flüsterte sie. „Vino?“ „Ja, Wein ...“ Die Gäste traten an den Schanktisch. Alle drei trugen die runden Tellermützen der Basken, einfache Kniehosen und dunkle, staubige Umhänge. Das Mädchen blickte in das hagere, zerfurchte Gesicht des kleinsten der Männer. Er war mager, aber breit in den Schultern, von einer sehnigen Zähigkeit, die seiner nicht gerade hünenhaften Gestalt die Ausstrahlung von Kraft gab und sich als granitene Härte in den schwarzen, tiefliegenden Augen spiegelte. Das Mädchen schluckte, griff nach einem Weinkrug und begann, die Becher zu „Mein Vater“, murmelte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen. „Sie haben ihn verhaftet.“ „Ich weiß, Muchacha“, sagte der kleine Mann ebenso leise. Für einen Moment wurde der Ausdruck seiner Augen fast weich, dann preßten sich die spröden Lippen zusammen. „Sie morden unsere Väter, unsere Brüder, unsere Söhne. Gian wurde gefangen ...“ „Gian?“ Mirandas Kopf ruckte hoch. „Still!“ zischte der kleine Mann. Ein Funkeln zuckte in seinen Äugen auf und erlosch wieder. „Ja, Gian“, sagte er mit einer Stimme, die vibrierte von der Anstrengung, Schmerz und Wut zu
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unterdrücken. „Sie haben ihn in die Feste von Portugalete geworfen, schwer verletzt, wie er war. Dort ist auch dein Vater. Dort wird man sie foltern, bis sie tot sind. Oder bis sie Weib und Kind, Vater und Bruder verraten.“ „Mein Vater nicht“, flüsterte Miranda erregt. „Nein, dein Vater nicht. Und mein Bruder nicht. Und Guzo und Dario auch nicht. Aber sollen wir sie sterben lassen?“ Das Mädchen schluckte. „Du hast einen Plan, El Vasco?“ flüsterte sie. „Ja. Und ich brauche deine Hilfe, Muchacha mia. Hör zu ...“ Selbst sein Flüstern klang kalt wie Eis, als er erläuterte, was er vorhatte. Miranda wurde bleich. Mit großen, flackernden Augen sah sie von einem zum anderen. „Aber — die Geusen sind unsere Freunde“, stieß sie hervor. „El Vasco, du kannst doch nicht wirklich ...“ „Que va! Willst du, daß sie deinem Vater die Daumenschrauben anlegen?“ „Nein!“ stöhnte Miranda auf. „Nein! Der Herr stehe ihm bei!“ „Der Herr wird ihn nicht vor den Folterknechten bewahren. Er könnte seinem Schöpfer danken, wenn sie ihn nur auf dem Marktplatz von Bilbao hinrichten würden, aber das werden sie nicht. Willst du ihn retten, Miranda, oder sind dir ein paar verdammte Geusen mehr wert als der eigene Vater?“ Das Mädchen senkte den Kopf. Tränen standen in ihren schönen schwarzen Augen. „Ja“, flüsterte sie. „Ja - ich will ihn retten, El Vasco ...“ 4. „Hool weg! - Hoool weg ...“ Ferris Tuckers Stimme schallte über das Wasser. Die Rudergasten, die das Beiboot ' der „Isabella“ zur „Hoek van Holland“ hinüberpullten, zogen die Riemen gleichmäßig und kräftig durchs Wasser. In ihren Gesichtern spiegelten sich deutlich Spannung und Neugier.
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Philip Hasard Killigrew saß im Heck des Bootes. Er fand, daß er dem Kapitän der holländischen Galeone Dank schuldete. Erstens stand noch lange nicht fest, was passiert wäre, wenn die Spanier die „Isabella“ tatsächlich in die Zange genommen hätten, zweitens hatten die Holländer nicht wissen können, welch ungeheuer wirkungsvolle Waffen die Brandsätze waren. Für die „Hoek van Holland“ war es ein tollkühnes Unterfangen gewesen, einem fremden, beschädigten Schiff im verzweifelten Kampf gegen eine erdrückende Übermacht beizustehen. Hasards Blick glitt über die Männer, die sich am Steuerbordschanzkleid der Galeone drängten. Harte, verwegene Männer, von Wind und Wetter gebräunt, von der salzigen See zurechtgeschliffen. An dünnen Ketten hingen Münzen um ihren Hals, einige frei auf der Brust, andere unter Jacken und Hemden verborgen. Aber sie alle trugen ihn, jenen legendären „Geusenpfennig“ mit dem Bildnis Philipps des Zweiten auf der Vorderseite und dem Bettelsack auf der Rückseite, dem Abzeichen ihres Freiheitskampfes. Geusen, Bettler - so hatten die Spanier die holländischen Edelleute genannt, die sich dem Terror nicht beugen wollten. Geusen nannten sie sich jetzt selbst. Und deshalb lag ein makabrer Doppelsinn in der Aufschrift der Münze: „En tout fidelles au roy -Jusques a porter la besace. Stets treu dem König — bis zum Tragen des Bettelsacks“. Zu Lande bekämpfte der Geusenbund immer noch zäh und beharrlich die spanische Herrschaft. Und die Schiffe der Wassergeusen verunsicherten sogar die spanischen Küsten: Vagabunden zur See, die sich keinem Joch beugten, die für ihre Freiheit und ihr Vaterland kämpften, genau wie es die Seewölfe taten. Sie waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, die Männer der „Isabella“ und der „Hoek van Holland“. Und das war ein hartes, ein verdammt
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hartes Holz, an dem sich die Spanier schon mehr als einmal die Zähne ausgebissen hatten. Hasard enterte als erster auf und schwang sich über das Schanzkleid. Der Kapitän der „Hoek van Holland“ erwartete ihn an der Jakobsleiter. Ein großer, hagerer Mann, nicht so breitschultrig und stämmig wie die meisten anderen Holländer, die die Seewölfe kannten. Braunes, dichtes Haar kräuselte sich um den schmalen Kopf. Aus dem kühnen Gesicht mit der scharf gebogenen Nase blickten hellwache Augen. Aufmerksam sah er den Seewolf an, dann streckte er lächelnd die Hand aus. „Willkommen auf der ,Hoek van Holland', Kapitän“, sagte er in akzentfreiem Englisch. „Man nennt mich Jan Joerdans. Ich gratuliere Ihnen und Ihren Männern zu der hervorragenden Aktion. Ohne Ihr Eingreifen wäre es uns kaum gelungen, die ,San Cristobal' zu versenken.“ „Und der Himmel allein weiß, wie es uns ohne Ihre Hilfe ergangen wäre. Mein Name ist Philip Hasard Killigrew. Wir schulden Ihnen Dank, Kapitän Joerdans.“ „Schuldet man einander Dank, wenn man die eigenen Feinde bekämpft? Kein Meergeuse wird je einen Spanier ungeschoren lassen ...“ Er stockte, und die klugen braunen Augen verengten sich. „Philip Hasard Killigrew? Ihr seid der Seewolf?“ „So nennt man mich, ja ...“ „Dann ist es uns eine doppelte Ehre, Sie und Ihre Männer begrüßen zu können. El Lobo del Mar, den die Spanier wie den Teufel fürchten! Kommen Sie, geben Sie uns die Ehre, einen Becher mit uns zu leeren. Dies mein Steuermann, Pieter Ameland. Dies hier Marten Routs, Rogier van de Kerkhove ...“ Die Männer schüttelten sich die Hände, machten sich miteinander bekannt. Hier gab es kein Mißtrauen und keine Vorbehalte. Die Seewölfe spürten, daß sie unter Freunden waren, und die Männer mit den glänzenden Abzeichen an der Brust
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traten ihnen mit der gleichen selbstverständlichen Herzlichkeit entgegen. Fast eine Stunde blieben Hasard und seine Männer an Bord der „Hoek van Holland“. Sie sprachen über ihre Ziele, über das Cadiz-Unternehmen, das offenbar alle Aussichten hatte, zur Legende zu werden, über die Frage, ob und wann die spanische Armada England angreifen würde. Jan Joerdans und Philip Hasard Killigrew waren sich einig darüber, daß das Husarenstück auf der Reede von Cadiz die ehrgeizigen Pläne Philipps II. wohl um eine ganze Weile verschieben würde. Nachdenklich blickte der Holländer in sein Glas, in dem dunkelroter andalusischer Wein funkelte. „Vielleicht ist die Zeit jetzt günstig“, sagte er leise. „Der feige Mord an Wilhelm von Oranien hat die Niederlande gelähmt. Antwerpen ist gefallen, Allessandro Farnese drängt schon lange darauf, die aufständischen Nordprovinzen zurückzuerobern. Jetzt hat sich gezeigt, daß Spanien verwundbar ist. Und es waren schon einmal die Wassergeusen, die den Freiheitskampf entschieden haben.“ Hasard hatte aufmerksam zugehört. Langsam führte er das Glas an die Lippen und nahm einen Schluck. „Und jetzt?“ fragte er. „Planen die Wassergeusen einen neuen Schlag gegen Spanien?“ Ein schnelles Lächeln huschte über Jan Joerdans' Gesicht. „Die Wassergeusen haben nie aufgehört; diesen großen Schlag zu planen. Heute sind wir Vagabunden zur See, aber morgen kann sich das schon ändern. Westlich von hier liegt eine Insel, die zu klein und unbedeutend ist, um von den Spaniern angelaufen zu werden. Aber es gibt dort eine Bucht, die ein ausgezeichnetes - Versteck bietet. Schon morgen werden wir uns dort mit der ‚Oranje' und der ,Anneke Bouts` treffen. Marius van Helder hat immer noch einen Namen, bei dessen Klang das Herz jedes Niederländers höher schlägt. Vielleicht können wir die spanischen Schiffe aus den südlichen Häfen treiben. Vielleicht bedarf
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es nur dieses Funkens, und wir werden Allessandro Farnese aus dem Land jagen.“ Hasards Augen funkelten. „Wir wünschen euch Glück, Kapitän Joerdans!“ „Ah! Trinken wir darauf! Auf Englands Sieg und die Freiheit der Niederlande!“ Klirrend stießen die Becher aneinander. Auf der Kuhl nahmen die übrigen Männer die Worte auf, sprangen auf die Füße und schwenkten mit blitzenden Augen gefüllte Mucks und Rumflaschen. „Auf Englands Sieg! Auf die Freiheit der Niederlande!“ Es dämmerte bereits, als die Seewölfe die „Hoek van Holland“ wieder verließen. Die „Isabella“ segelte nordwärts davon. Hasard stand auf dem Achterkastell, blickte über das dunkle Wasser und warf einen letzten Blick auf das stolze Geusenschiff, das hoch am Wind nach Westen rauschte. Er konnte nicht ahnen, wie schnell er Jan Joerdans, den Geusenkapitän, und die „Hoek van Holland“ wiedersehen würde. * Um dieselbe Zeit lag der Viermaster „Oranje“ beigedreht in der Dünung.. Fieberhaft arbeiteten die Männer an Deck Männer, die ebenfalls den Geusenpfennig um den Hals trugen. Der Sturm hatte sie den achteren Mast gekostet, um den der Schiffszimmermann ohnehin seit einem Treffer beim letzten Gefecht im Kanal voller Mißtrauen herumgeschlichen war. Und dann hatte der Mast, als er außenbords ging und in die tückischen Kreuzseen geriet, das Vorschiff leckgeschlagen. Das Leck war bereits abgedichtet. Aber die Mannschaft mußte einen neuen Mast aufriggen, denn ohne Besan war selbst die stolze „Oranje“ flügellahm. Marius van Helder stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und starrte nach Süden. Sein braunes, kantiges Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. Das helle Haar war von Sonne, Salzwasser und Wind weiß gebleicht wie das eines alten Mannes. Van Helder hatte den ganzen langen, harten und
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ruhmreichen Freiheitskampf mitgemacht. Zwei seiner Brüder waren von Herzog Albas berüchtigtem „Blutrat“ zum Tode verurteilt worden. Vergeblich hatte er mit einer Gruppe tollkühner Verschwörer den Grafen Hoorn zu befreien versucht, war zweimal gefangengenommen und gefoltert worden und nur knapp entkommen. Im Bunde mit Wilhelm von Oranien und den Wassergeusen hatte er Holland, Zeeland und Utrecht von Albas Tyrannei befreit und sich unter den letzten Unbeugsamen befunden, die sich Allessandro Farneses Rückeroberung der Südprovinzen widersetzten - und im Laufe der Zeit war Marius van Helder zu einer fast legendären Gestalt geworden. Jetzt war er unterwegs, um sich mit jenen Vagabunden zur See zu treffen, die Spanien dreist an seinen eigenen Küsten heimsuchten. Jan Joerdans mit der „Hoek van Holland“. Die „Anneke Bouts“ unter Willem Meerens. Ein verlorener Haufen, ohne Chance gegen den übermächtigen Gegner. Und doch hatte sich nicht oft genug gezeigt, daß auch Wenige entschlossene Männer eine Menge in Bewegung bringen konnten? Marius van Helder fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ein versonnenes Lächeln kerbte sich um seine Lippen. In Gedanken segelte er an der Spitze der Wassergeusen durch die grauen Wogen der Nordsee, sah die spanischen Galeonen in den holländischen Häfen brennen, hörte die wilden Geusenlieder, die die Helden des Freiheitskampfes besangen. „Schiff ho! Schiff genau voraus!“ Die Stimme aus dem Großmars wirkte wie ein Peitschenhieb und riß van Helder jäh aus seinen Gedanken. Spanier! Eine der Kriegsgaleonen, von denen er längst schon ahnte, daß sie ihn jagten. Eine? Es war ein ganzer Verband, der von Süden heransegelte. Ein Verband, der wußte, was er wollte, der das Wild kannte, das er jagte. Mit einem schmerzlichen Lächeln dachte
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Marius van Helder an den Mann, der das Wagnis eingegangen war, auf einer spanischen Galeone als Kurier nach Bilbao zu segeln. Mit einem tiefen Atemzug straffte der Geusenkapitän die Schultern. „Klar Schiff zum Gefecht!“ hallte seine Stimme über die Decks. Dabei ahnte er bereits, daß die „Oranje“ am Ende ihrer Reise angelangt war. 5. Mondlicht glänzte auf dem Wasser wie flüssiges Silber. Der Wind hatte um ein paar Strich gedreht, wehte jetzt genau von Westen und trieb die „Isabella“ auch ohne Marssegel zügig vorwärts. Ferris Tucker, der hünenhafte rothaarige Schiffszimmermann, arbeitete zusammen mit Big Old Shane und Smoky im Schiffsinneren, um eine neue Fockmarsrah zuzurichten. Morgen wollte er sie aufriggen, wenn sie die gefährlichen spanischen Küstengewässer hinter sich gelassen hatten. Luke Morgan hatte Wache im Großmars. Auf der Kuhl hockten Dan O'Flynn, Bill und der weißhaarige Segelmacher Will Thorne mit den Zwillingen zusammen und erklärten den gebannt lauschenden Jungen in einem Gemisch aus englischen Brocken und Zeichensprache, was es mit den Wassergeusen auf sich hatte. Hasard betrachtete nachdenklich die glänzenden Augen und angespannten Gesichter seiner Söhne. Ihre leichtsinnige Eskapade im Sturm war durchaus nicht vergessen worden. Dan O'Flynn, der Onkel der beiden, müßte ihnen eine sehr nachdrückliche Predigt gehalten haben. Der Kutscher wußte von einer tadellos aufgeklarten Kombüse zu berichten, was ihm eine echte Hilfe gewesen war, da die gesamte Crew auf diese Weise nach den Strapazen des Sturms und des Gefechts viel schneller zu der wohlverdienten heißen Mahlzeit kam, und Hasard hatte es dabei belassen. Die beiden Jungen lernten schnell.
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Vielleicht lag es daran, daß sie unter Gauklern und Artisten gelebt hatten - ein freies, ungebundenes Leben, das dennoch die Notwendigkeit strikter Disziplin kannte. Hasard machte sich klar, daß er im Grunde immer noch sehr wenig von seinen Söhnen wußte. Es mußten abenteuerliche Umstände gewesen sein, die sie aus dem Palast des syrischen Scheichs zu der Gauklertruppe verschlagen, die sie schließlich bis nach Tanger geführt hatten. Luke Morgans Stimme aus dem Großmars unterbrach seine Gedanken. „Land ho! Klippen Steuerbord vor. aus!“ Der Seewolf enterte ein Stück in die Besanwanten und zog das Spektiv auseinander. Tatsächlich hoben sich Steuerbord voraus im silbern überglänzten Wasser ein paar schwarze Buckel ab. Eine winzige, vermutlich unbewohnte Insel mit ein paar vorgelagerten Klippen. Hasard wollte das Spektiv absetzen - da entdeckte er die weißen Flecken auf den dunklen Felsen und erkannte ein paar Sekunden später, daß es sich um zerfetzte Segel handelte. „Deck!“ rief Luke Morgan. „Da liegt ein Wrack, eine Fleute, glaube ich. Muß beim Sturm auf die Klippen geschleudert worden sein.“ Hasard runzelte die Stirn. Eine Fleute - das war ein holländisches Schiff. Hatte Jan Joerdans nicht davon gesprochen, daß er sich auf jener Insel mit einer Fleute treffen wollte, der „Anneke Bouts“? Der Seewolf zögerte einen Moment, dann ließ er den Kieker sinken. „Abfallen!“ befahl er. „Wir gehen etwas näher heran. Gei auf Blinde und Großsegel! Blacky - ab auf die Back, Tiefe loten!“ Unter Fock und Besan pirschte sich die „Isabella“ näher an die gefährlichen Untiefen heran. Minuten später war das Bild der Verwüstung auf den Klippen deutlich zu erkennen. Und im Mondlicht konnten die Seewölfe sogar den Namenszug auf einem Teil des zerfetzten Bugs entziffern. „Anneke Bouts“!
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Die Fleute des G eusenkapitäns Willem Meerens. Hasard kniff die Augen zusammen, und neben ihm bestätigte Ben Brightons ruhige Stimme, was auch der Seewolf im selben Moment entdeckt hatte. „Die sind nicht nur auf die Klippe gebrummt. Da muß hinterher noch jemand systematisch das Wrack in Fetzen geschossen haben.“ „Und hat vermutlich die Überlebenden gefangengenommen“, sagte Hasard grimmig. „Trotzdem sollten wir nachsehen, ob sich noch jemand auf der Insel herumtreibt.“ Er straffte die Schultern und warf das Haar zurück. „Fier weg Fock und Besan! Klar bei Jolle! Fallen Anker!“ Fünf Minuten später schwoite die „Isabella“ um die Trosse. Hasard ließ zusätzlich einen Heckanker ausbringen, damit Wind und Strömung das Schiff hier in der Nähe der Klippen nicht herumdrücken konnten. Schnell und exakt wurde das Beiboot abgefiert. Der Seewolf wandte sich Ben Brighton zu. „Laß vorsichtshalber eine Bugdrehbasse bemannen. Aber keine übereilten Aktionen. Wenn es hier noch Überlebende gibt, kann man es ihnen nicht verübeln, wenn sie erst mal nervös reagieren.“ „Aye, aye, Sir.“ „Dann los! Sten, Matt, Carberry, Blacky und Smoky!“ Die Angesprochenen enterten über die Jakobsleiter ab. Hasard folgte ihnen und schwang sich auf die Ducht der kleinen Jolle. Neben ihm schob Matt Davies die stählerne Hakenprothese um den Riemen, die ihm die rechte Hand ersetzte. Und sie ersetzte sie ihm sehr gut: Es gab keine seemännische Arbeit, die Matt mit dieser Prothese nicht bewältigen konnte und vor einem Kampf pflegte er mit Liebe und Sorgfalt den Stahlhaken zu schleifen, bis er zu einer wahrhaft mörderischen Waffe wurde. Das Wasser plätscherte. Zu Carberrys gedämpftem „Hol weg!“ legten sich die Männer in die Riemen, im Bug kauerte der blonde Schwede Stenmark und lotete, damit sich die Jolle nicht an einem Felsen den Bauch aufschlitzte. Die
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Klippen rückten näher. Überall lagen Trümmer verstreut. In der Mulde zwischen zwei mächtigen rundgewaschenen Blöcken entdeckte Hasard die Reste verkohlten Treibholzes, über denen die Luft leicht flimmerte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte dort noch ein Feuer gebrannt. Also gab es Überlebende. Jetzt waren sie in volle Deckung gegangen —kein Wunder nach dem, was ihnen geschehen war. Vorbeisegelnde Galeonen mußten das Wrack und die Klippen mit einem mörderischen Feuerhagel eingedeckt haben. Hasard fragte sich, warum die Spanier nicht versucht hatten, die überlebenden Geusen gefangen zu nehmen, doch er kam nicht dazu, lange darüber nachzudenken. Jäh sah er eine Bewegung zwischen den Klippen. Grelle Feuerblumen flammten in der Dunkelheit auf, und im nächsten Moment zitterte die Luft vom Krachen der Musketen und Arkebusen. * Drei weitere Galeonen waren zu der „Ysobel“ und der „Princesa Anna“ gestoßen. Die „Maria de Navarra“ hatte die Führung übernommen. Capitan Juan Mendez stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells, hatte das Spektiv an die Augen gehoben und spähte nach Norden. „Caramba!“ knirschte er. „Das ist nicht die ‚Oranje', zum Teufel!“ „Wieso nicht, Capitan?“ fragte der muskulöse, im Denken etwas schwerfällige Steuermann. „Die ‚Oranje ist ein Viermaster. Die da vorn führen nur drei Masten.“ „Caramba!“ schloß sich der Steuermann der Meinung seines Kapitäns an. Juan Mendez' Augen verengten sich zu schmalen, wutglänzenden Schlitzen. Enttäuschung ließ seine Zähne aufeinander knirschen. Er hatte sich in Gedanken schon den Orden an die Brust geheftet, den man ihm zweifellos verleihen würde, wenn es
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ihm gelang, Marius van Helder gefangen zu nehmen. Die verdammten Geusen, diese Bastarde, die die Bezeichnung „Bettler“ wie einen Ehrennamen trugen, planten etwas. Und vor allem stellten die Wassergeusen immer noch einen Machtfaktor dar, der sich Allessandro Farnesess ehrgeizigen Eroberungsplänen in den Weg stellte. Marius van Helder gehörte zu den führenden Köpfen der niederländischen Rebellen und Ketzer. Er wußte über alles Bescheid. In den Folterkammern der Festung von Bilbao würde er über kürz oder lang sein Wissen preisgeben, das stand für Juan Mendez so fest wie der Felsen von Gibraltar. Nur, daß das Schiff dort voraus eben nicht die „Oranje“ war, sondern irgendein verdammter Dreimaster. Mendez fuhr sich ungeschickt mit der Hand durchs Gesicht und biß auf das gezwirbelte Ende seines Schnurrbarts, als er erneut die Zähne zusammenpreßte. Er fluchte - lästerlich und sehr leise. Letzteres, weil sich Fluchen für einen Capitan Seiner Allerkatholischsten Majestät natürlich nicht gehörte. Zehn Minuten später vergaß er das Fluchen und grinste breit. Da nämlich meldete der Ausguck im Großmars eine Beobachtung, die schlagartig die gute Laune wiederherstellte. Das Schiff, das sie genau voraus gesichtet hatten, war die „Oranje“. Ihr Besanmast fehlte. Er bestand nur noch aus einem zersplitterten Stumpf - ein Mißgeschick, das ihr vermutlich bei dem knüppelharten Sturm zugestoßen war. Marius van Helder mußte nicht nur gegen eine erdrückende Übermacht kämpfen, er mußte auch noch mit einem Schiff ins Gefecht gehen, das keine Höhe mehr laufen konnte. Capitan Mendez lächelte. Es war ein Lächeln von so bösem Triumph, daß selbst sein dickfelliger Steuermann unbehaglich die Schultern rollte. *
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Im Beiboot der „Isabella“ reagierten die Rudergasten schneller, als Hasard ein Kommando hätte geben können. Die Backbordriemen flogen hoch. Die Steuerbordriemen wurden einmal mit voller Kraft durchgezogen - und die Jolle drehte mit fast elegantem Schwung aus der Gefahrenzone. Kugeln klatschten wirkungslos ins Wasser. „Pullt, ihr Affenärsche!“ zischte Edwin Carberry durch die Zähne. „Pullt, oder der Teufel holt euch lotweise, ihr lahmen Rübenschweine, ihr vom Klabautermann mit einer triefäugigen Gewitterziege gezeugten Salzheringe, ihr von einem räudigen Esel im Linksgalopp ...“ „Na, na, na“, sagte Hasard, während das Boot in die Deckung einer Klippe glitt. Der Profos kriegte rote Ohren, als ihm bewußt wurde, daß er seinen mitpullenden Kapitän soeben als Affenarsch, Rübenschwein und Nachkommen eines wenig ehrenwerten Großelternpaars bezeichnet hatte. Hasard grinste flüchtig, aber er wurde sofort wieder ernst. Die Schüsse waren verstummt. Zwischen den Klippen herrschte jetzt verstohlene Bewegung. Wenn die Männer dort drüben geschickt ihre Position wechselten, konnten sie die Jolle leicht in Fetzen schießen, also wurde es Zeit, das Mißverständnis aufzuklären. Hasard richtete sich auf und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund. „Kapitän Meerens!“ rief er. „Lassen Sie das Feuer einstellen! Wir sind Freunde!“ Stille. Zwei, drei Sekunden lang — dann erläuterte eine Stimme, die rauh vor Verbitterung und Wut klang. „Den Teufel werden wir! Kapitän Meerens ist tot, und die Geusen haben hier keine Freunde.“ „Ich bin Philip Hasard Killigrew ...“ „Und ich bin Friso Eyck, du heuchlerischer Bastard! Ich habe schon mehr Spanier gefressen, als du Haare auf dem Kopf hast! Ich habe gegen den blutigen Alba und gegen Requesens gekämpft, ich war dabei, als wir euch bei Leyden zu Paaren trieben und ...“
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„Mann, redet der kariert“, murmelte Stenmark. „Wir sind Engländer!“ rief Hasard. „Wir haben heute mittag drei spanische Galeonen versenkt und in Cadiz ein paar Galeeren zerschossen, aber bestimmt nicht Leyden belagert.“ Ein amüsiertes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. „Außerdem soll ich euch einen Gruß von Jan Joerdans ausrichten. Er erwartet euch und Marius van Helder auf einer Insel südwestlich von hier.“ Diesmal dauerte das Schweigen länger. Stimmen flüsterten durcheinander. Dann meldete sich wieder der Mann mit dem Namen Friso Eyck. „Wenn du wirklich Engländer bist, dann komm an Land! Allein und ohne Waffen!“ Carberry schnaufte. „Der hat wohl Kakerlaken im Hirn, der ...“ „Einverstanden!“ rief Hasard. „Ich komme!“ Carberry öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, als er einen Blick aus den eisblauen Augen des Seewolfs auffing. Statt zu protestieren, dirigierte der Profos das Boot etwas näher an die Landzunge, und Hasard konnte trockenen Fußes auf die Klippen hinüberspringen. Er warf Carberry den Radschloß-Drehling und die sächsische Reiterpistole zu, ließ aber den Degen in der Scheide. Mit wenigen Schritten erreichte er einen scharfen Gesteinsgrat, glitt auf der anderen Seite die Schräge hinunter und turnte noch ein paar Schritte über Geröll und Schiffstrümmer, um zu zeigen, daß er tatsächlich allein war. „Hier herüber!“ forderte eine Stimme hinter einem hochragenden Felsblock. Hasard ging achselzuckend weiter. Er umrundete die Klippe, blieb am Rand einer flachen Steinplatte stehen, und dort erwartete ihn ein halbes Dutzend Männer mit schußbereiten Musketen und Arkebusen. Zwei trugen blutige Kopfverbände, einer hatte offenbar den Arm gebrochen. Voll kampffähig waren nur noch drei - und deren Gesichter verrieten die verzweifelte
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Entschlossenheit, sich notfalls bis zum letzten Blutstropfen zu wehren. Sie starrten auf den großen, schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen und der Narbe im braungebrannten, verwegenen Gesicht. „Friso!“ zischte einer der Verletzten. Der breitschultrige, flachshaarige Bursche, den der Seewolf für den Anführer hielt, wandte sich halb um. Der Mann mit dem Kopfverband redete rasch und erregt auf holländisch. Vorhin, wurde Hasard bewußt, hatten die Geusen auf englisch geantwortet, obwohl sie die Männer im Boot doch angeblich für Spanier hielten. Als der flachshaarige Friso Eyck wieder das Wort ergriff, benutzte er die gleiche Sprache. „Er glaubt, dich zu kennen“, sagte er langsam. „Er meint, daß auf dich alles zutrifft, was man sich über El Lobo del Mar, den Seewolf, erzählt.“ „Stimmt“, sagte Hasard trocken. „Dann bist du ...“ „Philip Hasard Killigrew, Kapitän der ‚Isabella VIII.'. Es ist keine zwei Stunden her, daß ich mit Jan Joerdans auf England und die Freiheit der Niederlande getrunken habe. Er wartet auf die ,Anneke Bouts`. Aber wie ich sehe, wird er vergeblich warten.“ „Wir sind im Sturm gescheitert“, sagte der Blonde durch die Zähne. „Kapitän Meerens ist tot.“ „Sie haben das Kommando übernommen?” „Ja ...“ Friso Eyck biß sich auf die Lippen. „Ich - ich glaube Ihnen. Tut mir leid, daß wir auf euch geschossen haben.“ „Wir hatten ohnehin nicht erwartet, daß ihr in der Stimmung sein würdet, irgendjemanden mit offenen Armen zu empfangen. Ich lasse ein Boot herüberkommen, das euch aufnimmt.“ Der blonde Holländer nickte nur. Eine Viertelstunde später enterte er mit seinen wenigen Männern die Jakobsleiter an der Steuerbordseite der „Isabella“ hoch. Während der Überfahrt hatten sie verwirrt und verbissen gewirkt, hatten geschwiegen, weil sie wohl noch Zeit brauchten, den Schock der Ereignisse zu
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überwinden. Jetzt, als sie sich auf die Kuhl schwangen, wo fast die vollzählige Crew versammelt war, malte sich Verwunderung in den Gesichtern der Geusen, und Hasard lächelte in sich hinein. Es war ja auch kein ganz alltägliches Bild, das sich den Fremden bot. Nicht nur, daß die „Isabella“ mit dem schlanken Rumpf und den überlangen Masten an sich schon ein ungewöhnliches Schiff war. Da schaukelten auch noch zwei siebenjährige Jungs auf den Webleihen des Steuerbordhauptwants, seemännisch gekleidet und mit kleinen Entermessern an den Gürteln. Da hockte neben ihnen ein leibhaftiger Schimpanse und keckerte, als wolle er gegen den ungewohnten Umtrieb protestieren. Und hoch oben aus den Toppen löste sich ein bunter Schatten, entpuppte sich als prächtiger Ara-Papagei und ließ sich auf der breiten Schulter des Profos nieder. „An die Brassen und Fallen!“ kreischte Sir John. „Hopp-hopp, ihr Rübenschweine! Gebt den Dons Zunder. Hopp-hopp!“ Friso Eyck grinste. Er konnte nicht anders. Ein Papagei, der auf englisch gegen die Spanier wetterte, das war wohl der schlagendste Beweis dafür, daß sich die Überlebenden der „Anneke Bouts“ hier unter Freunden befanden. Hasard ließ eine Ration Rum ausgeben und wies den Kutscher an, sich um die Verletzten zu kümmern. Wenig später saßen sie in der Kapitänskammer zusammen: der Seewolf, Ben Brighton und Big Old Shane die beiden O'Flynns, Friso Eyck und ein langer, schweigsamer Seeländer mit Namen Johan Barend. Hasard wußte inzwischen genauer, was der Fleute zugestoßen war. In tappen Worten berichtete er von seinem eigenen Zusammentreffen mit Jan Joerdans, der die „Anneke Bouts“ und die „Oranje“ auf der Insel erwartete. Bei der Erwähnung der „Oranje“ verhärtete sich Friso Eycks Gesicht, und seine Zähne knirschten aufeinander.
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Marius van Helder wurde verraten“, sagte er heiser. „Wir hatten zufällig davon erfahren und wollten ihn warnen. Die ‚Oranje' muß in der Nähe sein. Und das wußten auch die Spanier, deshalb begnügten sie sich damit, uns auch noch die Pinasse und die letzten heilen Planken in Fetzen zu schießen.“ „Zwei spanische Galeonen? ,Princesa Anna' und ,Ysobel'?“ „Inzwischen werden es mehr sein“, sagte Eyck erbittert. „Auf Marius van Helder sind die Spanier fast genauso wütend wie auf El Lobo del Mar.“ „Und die ‚Oranje' kommt von Norden?“ „Sie wollte von der Bretagne quer durch den Golf segeln. Aber der Sturm dürfte sie nach Osten verschlagen haben, genau wie uns.“ „Dann werden wir ihr ohnehin begegnen“, stellte Ben Brighton fest. „Und den verdammten Spaniern ebenfalls! Überholen können wir den Verband nicht, aber ...“ Er schwieg abrupt. Auch die anderen hoben ruckartig die Köpfe. Fern, aber deutlich rollte Kanonendonner über die See, und Friso Eyck wurde bleich bis in die Lippen. „Die ‚Oranje'!“ flüsterte er. „Van Helder ist verloren!“ 6. Wie Raubvögel stießen die fünf spanischen Galeonen auf ihre Beute zu. Die „Oranje“ hatte jeden Fetzen Tuch gesetzt, aber ohne Besan konnte sie nicht hoch genug an den Wind gehen, um die tödliche Umklammerung zu sprengen und die Gegner aus der Luvposition zu nehmen. Aus demselben Grund gab es auch keine Chance zum Ausweichen. Die „Oranje“ hätte sich schon platt vor 'den Wind legen müssen - und der Wind wehte von Westen, so daß die Flucht sehr schnell vor der französischen Küste zu Ende gewesen wäre. Marius van Helder blieb nur eine Wahl: sich zu stellen und kämpfend unterzugehen.
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Er ließ anluven: ein schwerfälliges Manöver, aber es würde ihm später gestatten, blitzschnell nach Süden abzufallen, wo nur zwei Gegner heranrauschten. Die Culverinen und Drehbassen der „Oranje“ waren feuerbereit, die Männer verharrten in grimmiger Spannung. Van Helder stand auf dem Achterkastell, die Hände so hart um die Schmuckbalustrade gelegt, daß die Knöchel hervortraten. Seine Augen hatten die Farbe von grauem Granit, und in seinem versteinerten Gesicht zuckte kein Muskel. Die „Ysobel“ eröffnete das Gefecht. Etwas zu früh - die Kugel, die heranjaulte, klatschte wirkungslos ins Wasser. Van Helder wartete. Er hatte nicht viel auszuteilen, aber er wollte seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. „Bugdrehbassen Feuer!“ befahl er Sekunden später. Die Drehbassen in ihren Gabellafetten wummerten. Kugeln schlugen in Blinde und Bugspriet der heranrauschenden „Ysobel“. Jetzt war sie fast auf gleicher Höhe mit der „Oranje“ - und blitzartig ließ Marius van Helder abfallen. Die Breitseite der „Ysobel“ richtete keinen Schaden an. Schwerfällig ging die „Oranje“ wieder an den Wind, aber der Capitan der „Ysobel“ reagierte noch schwerfälliger, weil er die Überraschung nicht so schnell verdauen konnte. „Steuerbordkanonen Feuer!“ rief Marius van Helder. Donnernd entluden sich die schweren Geschütze. Zwölf siebzehnpfündige Eisenkugeln zerfetzten die Bordwand der „Ysobel“ in Höhe der Wasserlinie. An Deck herrschte Zustand. Kein Zweifel, daß die Galeone binnen Minuten in die Tiefe fahren würde, aber die „Oranje“ konnte auch das nicht mehr retten. Die sinkende „Ysobel“ behinderte die beiden in ihrem Kielwasser segelnden Galeonen und gab den Geusen eine Galgenfrist, um die Steuerbordgeschütze wieder zu laden. An Backbord schoben sich die „Princesa Anna“ und die „Maria
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de Navarra“ heran. Immer noch hämmerten die Bugdrehbassen der „Oranje“, um den Gegnern mit dem gehackten Blei die Takelage zu zerfetzen. Aber die Spanier revanchierten sich, die Blinde der „Oranje“ ging in Fetzen - und jetzt lag die „Maria de Navarra“ genau querab. „Backbordkanonen Feuer!“ Ein ohrenbetäubender Krach, als sich zwei Breitseiten gleichzeitig entluden. Der „Maria de Navarra“ wurde das Vorkastell zertrümmert, der Fockmast neigte sich ‚knirschend und krachte mitsamt dem Rigg auf das Schanzkleid. Aber auch die „Oranje“ hatte es erwischt. Sie schüttelte sich, dröhnte und vibrierte in ihren Verbänden - und fast augenblicklich konnte van Helder das unheimliche Gurgeln und Ziehen aus dem Schiffsbauch hören. „Wassereinbruch mittschiffs!“ schrie eine Stimme. „Wasser im Vorschiff!“ tönte es gellend von der Back. „Steuerbordkanonen Feuer!“ Marius van Helders Stimme klirrte wie brechender Stahl. Es war sinnlos, die Männer noch an die Pumpen zu scheuchen. Die „Oranje“ hatte den Todesstoß erhalten, daran ließ sich nichts mehr ändern. Aber zwischen sie und die rasch absackende „Ysobel“ hatte sich eine der spanischen Galeonen geschoben -und die empfing jetzt noch eine volle Breitseite. Die Kugeln zerfetzten nur das Rigg, da die „Oranje“ nach Backbord krängte. Van Helder kniff die Augen zusammen. Die „Maria de Navarra“ war aus dem Kurs gelaufen. Jetzt geriet sie bedrohlich nah an den zerschossenen Viermaster heran, und der Capitan fuchtelte wild mit den Armen, weil er ahnte, was dieser rasende Teufel von einem Geusenkapitän als nächstes tun würde. Da kam es auch schon. „Abfallen!“ rief Marius van Helder. „Wir gehen längsseits und entern!“ Geschrei brandete auf.
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Ein wildes, triumphierendes Geschrei, das sich mit dem Klirren der Waffen und dem Knirschen der umschlagenden Rahen mischte. Die _Oranje“ fiel ab, wie eine Woge stürzten Männer mit Beilen, Entermessern und Handspaken ans Backbordschanzkleid. Sie wußten, daß sie keine Chance hatten. Aber sie würden entern und kämpfen, dort drüben auf der „Maria de Navarra“ die Hölle loslassen und die Spanier noch einmal das Fürchten lehren. Marius van Helder war der erste, der auf die Kuhl der feindlichen Galeone setzte. Wie eine Sturzflut folgten ihm die anderen - verzweifelte Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten. Ein mörderischer Kampf entbrannte, ein Kampf, den die Geusen mit dem wilden, bedenkenlosen Mut der Todgeweihten führten, doch es dauerte nur wenige Minuten, bis die restlichen Spanier ihren bedrängten Landsleuten zur Hilfe eilten. Von zwei Seiten flogen Enterhaken. Die Kuhl, die die Geusen im ersten Ansturm fast leergefegt hatten, wurde überrannt. Schreie gellten, Männer brachen zusammen. Marius van Helder schlug verbissen um sich und stürzte sich ins dickste Getümmel. Er wollte nicht lebend in die Hände seiner Gegner fallen, aber er hätte sich schon in seinen eigenen Degen stürzen müssen, da die Spanier ihn unter allen Umständen lebend haben wollten. Das Ende kam, als er einen riesigen Krummsäbel mit der Parierstange des Degens abfing und gleichzeitig von einer Spake getroffen wurde, die ihm das Handgelenk brach. Er taumelte. Urgewalten rissen ihm den Degen aus den Fingern, er fiel vornüber. Ein wilder Aufschrei entrang sich seiner Kehle, als die gebrochene Hand unter seinem eigenen Körper begraben wurde, und für einen Augenblick hüllte der Schmerz ihn ein wie eine feurige Lohe. Dann fühlte er nur noch einen harten Schlag an der Schläfe, und sein Bewußtsein versank in einem Strudel
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wohltuender, empfindungsloser Schwärze. * Die „Isabella“ erschien zu spätLängst war der Kanonendonner verstummt, bevor sie auch nur eine Mastspitze von den kämpfenden Schiffen sichteten. Als sie den Schauplatz des Gefechts erreichten, trieben nur noch ein paar Trümmer in der grauen Dünung des Atlantik. Friso Eyck und seine Mannen standen mit versteinerten Gesichtern am Schanzkleid und starrten über das Wasser. Hasard konnte sich vorstellen, wie ihnen zumute war. Der Crew ging es genauso, selbst die sonst immer munteren Zwillinge spürten die lastende Stille und drängten sich unbehaglich aneinander. Die „Oranje“ war in die Tiefe gefahren, daran gab es keinen Zweifel. Aber der Gefechtslärm hatte den Seewölfen verraten, daß sie sich lange und zäh zur Wehr gesetzt hatte. Zwischen den anderen Trümmern tanzte ein großes hölzernes Kreuz auf den Wellen —Zeichen dafür, daß die spanischen Galeonen zumindest nicht heil aus dem Kampf hervorgegangen waren. Friso Eyck fuhr sich mit der Hand über die Augen. Ruckartig wandte er sich ab — und im selben Moment klang Bills helle Stimme aus dem Großmars. „Deck! Verwundeter Mann querab Steuerbord!“ Mit drei Schritten stand Hasard am Schanzkleid des Achterkastells. Sein Blick suchte die graue, bewegte Wasserfläche ab, dann entdeckte auch er den blondhaarigen Mann, der jetzt mit einer matten Bewegung zu ihnen herüberwinkte. Er hatte sich auf ein zerfetztes Querschott gezogen. Blut lief von der Schulter her an seinem Arm herunter, ein Schnitt klaffte an seiner Stirn. Aber die Verletzungen konnten nicht allzu schwer sein, denn er brachte es noch fertig, sich auf dem schwankenden Schott hochzustemmen und den gesunden Arm zu schwenken. „Es ist Henk!“ schrie einer der Geusen. „Henk Bakker!“
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„Klar bei Jolle!“ befahl Hasard knapp. „Backbrassen, die Fahrt aus dem Schiff!“ Das Boot wurde ausgeschwenkt und abgefiert. Hasard wollte nicht riskieren, den Mann über die Jakobsleiter aufzunehmen: Er war verletzt, und in der Dünung konnte es nur zu leicht passieren, daß er sich den Kopf an der Bordwand einschlug. Friso Eyck enterte selbst ab, zusammen mit Stenmark und dem rothaarigen Ferris Tucker, und Minuten später hatten sie den Verletzten geborgen. Der hünenhafte Schiffszimmermann grinste matt, als er den Mann an Deck hievte. Der Holländer war zusammengebrochen und hatte das Bewußtsein verloren: die unausweichliche Reaktion auf alles, was hinter ihm lag. Aber er kam rasch wieder zu sich, stemmte sich taumelnd hoch und starrte aus flackernden Augen die Männer an, die ihn umstanden. An dem flachshaarigen Steuermann der „Anneke Bouts“ blieb sein Blick hängen. „Friso?“ murmelte er. „Friso Eyck?“ „Ja, Henk. Wir sind unter Freunden, Engländern. Dies ist das Schiff Philip Hasard Killigrews, des Seewolfs.“ „Aber - eure ,Anneke` - Meerens...“ „Kapitän Meerens ist tot. Wir liefen im Sturm auf ein Riff, und die Engländer halfen uns. Was ist geschehen, Henk? Was ist mit van Helder?“ Einen Moment schien der Blick des Verwundeten durch alles hindurchzugehen. Seine Lippen zuckten, die Kiefermuskeln traten wie Stränge hervor. „Fünf spanische Galeonen“, stieß er hervor. „Und wir hatten im Sturm den Besanmast verloren. Einen der Dons konnten wir auf Tiefe schicken, und die anderen wissen jetzt auch, wer die Meergeusen sind.“ Er biß die Zähne zusammen und sog scharf die Luft ein. „Es waren zu viele. Die ‚Oranje' sank. Einen der Spanier haben wir noch geentert. Ich schwöre dir, Friso, da sind die Fetzen geflogen. Marius hat allein sechs oder sieben von den Kerlen niedergeschlagen, bevor er gefangengenommen wurde.“
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„Er ist gefangen? Er lebt?“ Scharf und atemlos stieß der blonde Steuermann die Frage hervor, und in seine Augen trat jäh ein Hoffnungsschimmer. „Ja, er lebt, das weiß ich genau. Er und sechs oder sieben andere. Ich war ein Stück ins Steuerbordhauptwant geklettert, um da einen Don herunterzuholen, der Marius von oben in den Nacken springen wollte, aber Marius nutzte es nichts mehr. Die letzten von uns gingen mit fliegenden Fahnen unter. Ich war als einziger noch bei Bewußtsein, und sie hatten mich nicht bemerkt. Da bin ich außenbords gesprungen... Er verstummte abrupt. Ein langes Schweigen folgte seinen Worten. Friso Eyck hatte die Hände geballt, und in seinen blauen Augen brannte ein wildes Feuer. „Wir holen ihn heraus“, flüsterte er. „Wir werden Marius van Helder befreien. Jan Joerdans ist noch da. Wir haben noch die ,Hoek van Holland' ...“ „Und wie willst du sie erreichen? Schwimmend?“ „Auf dem abgerissenen Schott, wenn es sein muß! Ich schwöre dir ...“ „Ich schlage vor, daß Sie die Planken der ‚Isabella' vorziehen“, sagte Hasard trocken. „Die ist nämlich schneller als das Schott. Und viel Zeit wird Ihnen nicht bleiben.“ Friso Eyck wandte sich um. Seine hellen Augen brannten. „Das - wollen Sie wirklich für uns tun?“ fragte er leise. „Ja“, sagte Hasard nur. „Wir schulden den Geusen etwas.“ Dabei wanderte sein Blick nach Süden, wo er weit hinter der Kimm die spanische Küste wußte. In ein paar Stunden konnten sie die Insel erreichen, wo Jan Joerdans mit der „Hoek van Holland“ wartete. Aber der Seewolf ahnte bereits, daß die Sache damit noch nicht vorbei sein würde. *
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Feuer flackerten auf der unübersichtlichen, wild zerklüfteten Hochfläche in den Kantabrischen Bergen. Zikaden schrillten, Wind strich durch das niedrige Gestrüpp und die Kronen der Korkeichen. In einer Mulde zwischen den Felsen drängte sich ein Dutzend Zelte, und in einiger Entfernung waren die raschelnden Schritte von Wachtposten zu hören, die sich ablösten. Hier in seinem versteckten, unzugänglichen Felsennest fühlte sich El Vasco völlig sicher. Der baskische Rebellenführer kauerte am Feuer, hob ab und zu den Weinschlauch und ließ einen dünnen Strahl der roten, funkelnden Flüssigkeit in seine Kehle rinnen. Neben ihm hockte ein graubärtiger alter Mann auf den Fersen, dessen Gesicht wie aus dunkler Baumrinde geschnitzt wirkte. Ein junger Bursche zupfte gedankenverloren an den Saiten einer baskischen Soinua, doch das war eher Ausdruck nervöser Spannung und bestimmt nicht der Fröhlichkeit. „Ein guter Plan“, sagte der Alte in seinem Eskuara-Dialekt. „Aber ein Plan voller Verrat. Machst du nicht deine Feinde stark, El Vasco?“ Das Saiteninstrument gab einen schrillen Ton von sich. Der Junge hob ruckartig den Kopf. „Was scheren uns die Geusen? Kümmern sie sich um uns? Haben sie nicht immer nur genommen? Vorräte und Ausrüstung und unser Schweigen?“ Der Alte schüttelte den Kopf. „Sie kämpfen gegen die Spanier wie wir! Sie trauen uns. Es ist Verrat.“ „Nicht, wenn wir den Handel nur zum Schein abschließen“, sagte El Vasco langsam. „Ich lasse meinen Bruder nicht in den Händen Uvaldes, dieses blutigen Henkers. Entscheidet euch! Wir haben nicht viel Zeit, denn was immer passiert, wird bald geschehen. Es heißt, daß mehr als ein Dutzend Kriegsgaleonen die Anführer der Meergeusen jagen. Sie werden in der Zapato-Bucht Schutz suchen, wenn ihnen der Weg aus dem Golf verlegt wird. Und dann werden sie über
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kurz oder lang in der ,Linterna Roja` auftauchen. Wir haben nur diese eine Chance.“ „Auf was warten wir dann?“ fragte der Junge mit der Soinua heftig. „Ich stimme dafür“, meldete sich einer der Männer. „Ich auch!“ „Ich ebenfalls!“ „Und ich ...“ Erregung, färbte die Stimmen. Hände wurden geballt, Augen entbrannten im Feuer jäher Entschlossenheit. Es war der Name gewesen, der ihre Zweifel besiegt hatte — der Name Benito Uvaldes, des Hafenkommandanten von Bilbao. Im Geiste sahen sie die mächtige graue Feste vor sich, die die Flußmündung bewachte und das Bild des Außenhafens Portugalete beherrschte. Kaum einer war unter ihnen, der in diesen Kerkern nicht einen Bruder, Vater, Sohn oder Freund wußte. Und der lange Kampf; dieser zermürbende, aussichtslose Kleinkrieg, hatte sie hart werden lassen. Hart gegen sich selbst, aber auch hart und gnadenlos gegen andere. El Vascos tiefliegende dunkle Augen glühten. Langsam stand er auf und blickte über das zerklüftete Plateau. Seine kleine, sehnige Gestalt erinnerte an federnden Stahl, und selbst die dunkle, verwitterte Haut schien sich straffer über den Wangenknochen zu spannen. „Holà, sagte er mit einer leisen, vibrierenden Stimme. „Wir brechen auf, sofort! Manuelo, die Pferde!“ 7. Mondlicht übergoß die See mit Silberglanz. Die Sterne funkelten wie Brillanten auf schwarzem Samt am Himmel, als die „Isabella“ gegen den Wind nach Westen kreuzte. Die neue Vormarsrah war geriggt, das hatte Zeit gekostet, doch dafür würde die Galeone nicht mehr mit einem Handikap ins Gefecht gehen müssen, falls sie Spaniern begegnete. Und mit so einer Begegnung mußten sie hier im Golf von
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Biscaya, in gefährlicher Nähe der baskischen Küste, jederzeit rechnen. In solchen Fällen hatten sich die Seewölfe sonst bisweilen als spanische Kauffahrer getarnt, doch das wäre hier vergebliche Mühe gewesen. Die Kunde von dem Gefecht, bei dem drei Galeonen Seiner Allerkatholischsten Majestät versenkt worden waren, mußte längst die Runde gemacht haben. Vielleicht wußten die Spanier sogar schon, wer da in ihren Gewässern aufräumte. Die „Isabella“ war kein alltägliches Schiff, und sicher gab es eine Menge Leute, die die Galeone von El Lobo del Mar auch einer bloßen Beschreibung nach sofort erkannten. Ferris Tucker hatte die Wache auf dem Achterkastell übernommen. Hasard saß zurückgelehnt auf einem in seiner Kammer, die blauen Augen leicht zusammengekniffen. Prüfend wanderte sein Blick über die Gesichter von Dan O'Flynn, Old Donegal, Big Old Shane, Ben Brighton und Edwin Carberry. Noch war kein Wort gefallen. Aber sie wußten auch so, um was es ging. Schließlich hatten sie Augen im Kopf, um zu sehen, was Jan Joerdans, Friso Eyck und ihre Wassergeusen für Kerle waren. Ohren hatten sie auch, und was der Rest der Crew von der Sache hielt, war nicht geflüstert worden. Der Gedanke, daß die Spanier aufrechte Männer wie Marius van Helder in ihre Kerker schleppen würden, um sie langsam zu Tode zu foltern, damit sie ihre Kameraden verrieten - dieser Gedanke stank einfach zum Himmel. „Gegen Cadiz ist Bilbao doch nur ein Drecknest“, knurrte Old O'Flynn nach einem langen Schweigen. „Stimmt“, gab Dan seinem Vater ausnahmsweise recht. „Und vier von den verdammten spanischen Waschzubern sind schon Treibholz“, merkte Ed Carberry an. „Himmelarsch, wer sind wir eigentlich? Vielleicht Memmen, die vor den krummen Dons den Schwanz einziehen, was, wie?“ „Wir wollen nach England“, stellte Hasard fest. „Und wir haben schon zu viel Zeit verloren.“
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„Aber das Cadiz-Unternehmen hat die Spanier um Monate zurückgeworfen“, wandte Ben Brighton in seiner ruhigen, sachlichen Art ein. „Sie werden England nicht morgen und auch nicht übermorgen 'angreifen.“ „Und auch nicht nächsten Monat!“ Dan O'Flynn hatte sich vorgebeugt, seine blauen Augen blitzten. „Hasard, ich habe mich mit diesem Henk Soundso unterhalten, der mit der ‚Oranje' aus der Nordsee gekommen ist. Der Statthalter der spanischen Niederlande, Allessandro Farnese heißt er, soll dem alten Philipp schon lange damit in den Ohren liegen, die aufständischen Provinzen zurückzuerobern. Bis jetzt hat man ihn nicht von der Leine gelassen, weil er die Armada mit einer Invasionsarmee gegen Old England unterstützen soll. Aber wenn der Allerkatholischste Philipp nun zum Beispiel seinen Raubzug um ein halbes oder ein ganzes Jahr verschiebt ...“ „... dann könnte es gut sein, daß sich die Spanier die Utrechter Union wieder unter den Nagel reißen“, vollendete Hasard. „Ich weiß das, Dan. Ich weiß auch, daß ein starker Geusenbund im Interesse Englands liegt und die Königliche Lissy die englischen Häfen für die Wassergeusen geöffnet hat.“ „Na also!“ brummte der Profos zufrieden. „Wozu reden wir dann noch?“ fragte Old O'Flynn und stampfte ungeduldig mit dem Holzbein. „Wir gabeln die ,Hoek van Holland' auf und legen mal eben Bilbao in Trümmer.“ „Ihr könnt es wohl nicht mehr abwarten, was?“ fragte Hasard sarkastisch. Dan O'Flynn nickte ungerührt. Edwin Carberry hob die Faust, als nehme er in Gedanken schon bei einem Spanier Maß. Big Old Shane strich über seinen struppigen grauen Bart, blickte den Seewolf an und lächelte auf die gewisse Art, die Hasard immer an die alten Zeiten auf der Feste Arwenack erinnerte. Da hatte er notfalls jedem ein Schnippchen schlagen können -nur dem knorrigen alten Schmied nicht.
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„Und du?“ fragte der bärtige Riese gelassen. „Willst du mir vielleicht erzählen, daß du anderer Meinung bist? Das glaubt dir vielleicht des Teufels Großmutter, aber dem alten Shane kannst du nichts vorerzählen.“ Hasard grinste schief. Nein, er war durchaus nicht anderer Meinung, er war es von Anfang an nicht gewesen. Die Geusen hatten den Seewölfen geholfen, jetzt würden die Seewölfe den Geusen helfen. Gemeinsam mußte es ihnen gelingen, Marius van Helder aus den Händen der Spanier zu befreien - und wenn sie dazu die Hölle mit einem Eimer Wasser angreifen mußten. „Wie ihr wollt“, sagte Hasard gelassen. „Legen wir also mal eben Bilbao in Trümmer. Aber so einfach wird das nicht, das kann ich euch flüstern. Ganz davon abgesehen, daß uns die Trümmer in Bilbao nichts nutzen, weil wir uns um die Festung in Portugalete kümmern müssen ...“ * Klatschend landete der Körper des Holländers im Wasser. Juan Mendez sah ungerührt zu. Die „Maria de Navarra“ segelte am Wind Kurs SüdSüdwest, um Bilbao zu erreichen. Sieben Gefangene waren an Bord, und Capitan Mendez war zufrieden. Die Männer der „Oranje“ standen auf der Kuhl, bewacht von Spaniern, die vor Haß keuchten und sich nur mit Mühe davon zurückhalten konnten, auch noch die letzten ihrer Gegner niederzumachen. Sie hatten ein Schiff und zwei Dutzend Männer verloren, völlig unbeschädigt war einzig die „Princesa Anna“ geblieben. Glühende Augen starrten auf die gefesselten, blutbesudelten Gestalten, und jeder Schrei aus dem Vorschiff, wo Feldscher die verwundeten Spanier behandelten, verstärkte die Wut in den Gesichtern der Bewacher. Marius van Helder schwankte und hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Trotz des gebrochenen Gelenks hatte man ihm die Hände auf den Rücken gebunden, von
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einem Schnitt rann Blut über seine Brust. Neben ihm kämpfte ein braunhaariger, kaum siebzehnjähriger Junge mit den Tränen: Der Mann, den die Spanier über Bord geworfen hatten, war sein Vater gewesen. Fünf weitere Geusen erwiderten trotzig die haßerfüllten Blicke der Spanier. Van Helders Augen glitten über die schwankenden, abgekämpften Gestalten. Kein einziger war unverletzt geblieben. Erschöpfung zeichnete ihre Gesichter, die Kleider hingen ihn in Fetzen vom Körper, aber sie zeigten keine Furcht, obwohl sie nur zu genau wußten, was ihnen bevorstand. „Du bist van Helder?“ Juan Mendez' Stimme klang wie ein Peitschenhieb. Der Geusenkapitän spuckte aus und warf das fast weiße Haar zurück. Einer seiner Männer lachte - ein schnelles, hartes Lachen. „Welche Ehre!“ stieß er auf spanisch hervor. „Sie halten uns für van Wilders .Höllenhunde! Weißt du nicht, daß dessen Schiff ,Wappen von Oranien` hieß und im Kanal sank, Spanier?“ Unsicherheit malte sich in den Zügen des Capitans. Marius van Helder warf seinem n blonden Stückmeister einen raschen Blick zu und lächelte. Aber er bezweifelte, daß die freche Lüge die Spanier täuschen konnte. Juan. Mendez biß die Zähne zusammen. Er starrte die Gefangenen an. War es möglich, daß er sich getäuscht hatte? Daß sie alle auf ein Märchen hereingefallen waren - ein Märchen, das ein Mann unter der Folter erfunden hatte, um der unerträglichen Qual ein Ende zu bereiten? Mendez fauchte vor Wut. Er mußte es wissen! Er mußte genau wissen, wer dieser stolze, unerschrockene Mann mit dem ausgebleichten Haar und der silbernen Münze auf der Brust war: irgendein Geusenkapitän - oder der legendäre Marius van Helder. Mit einem Ruck riß der Spanier den Degen aus der Scheide. Die nadelscharfe Spitze berührte die Haut an van Helders Kehle. Kein Muskel zuckte in dem harten, kantigen Gesicht. Juan
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Mendez sog scharf die Luft durch die Zähne. „Wer bist du?“ fauchte er. „Nenn deinen Namen, holländischer Bastard!“ Van Helder schwieg. Er rührte sich nicht und verriet mit keinem Wimpernzucken den Schmerz, der von der gebrochenen Hand durch seinen Körper tobte. Erst als Mendez auf ihn zutrat, warf er den Kopf in den Nacken und spie seinem Gegner mitten ins Gesicht. Der Capitan hielt den Atem an. Mit dem Handrücken wischte er den Speichel weg. Er zitterte vor Haß. Aber er beherrschte sich, denn er wußte, daß sein Opfer nur darauf wartete, einen raschen Tod zu finden. „Pedro! Diego!“ zischte er. „Nehmt euch den Jungen vor! Vielleicht fällt seinen Freunden die richtige Antwort ein, wenn er an der Rahnock baumelt.“ Stille. Der Junge straffte trotzig den Rücken und trat einen Schritt vor. Er war bereit zu sterben. Zwei der Spanier machten Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, doch die ruhige Stimme des Geusenkapitäns ließ sie innehalten. „Hört auf! Habt ihr keinen Funken Menschlichkeit mehr in euch, daß ihr euch an einem halben Kind vergreift? Ich bin Marius van Helder...“ 8. „Land ho! Land genau voraus!” Der Morgen dämmerte bereits, als Bills Stimme durch das Plätschern der Wellen und das Knirschen der Rahen und Blöcke schnitt. Hasard hatte keine Minute geschlafen - zu groß war die Gefahr, auf Feinde zu treffen, zufällig oder weil die Spanier bereits die „Isabella“ jagten. Die überlebenden der „Anneke Bouts“ und der Verwundete der „Oranje“ hätten ihren Schlaf nötig gebraucht, doch bei ihnen waren es Erregung und neu erwachte Hoffnung, die sie an Deck hielten, in endlose Gespräche mit den Seewölfen vertieft. Hasard hatte zugehört und die hundert Fragen vernommen, die die
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Geusen zu dem fast schon legendären Cadiz-Unternehmen stellten. Und auch sie selbst hatten erzählt, auch bei ihnen gab es Legenden dieser Art, Berichte, die düstere, faszinierende Bilder beschworen. Die Entsetzung der Stadt Leyden war eine solche Legende. Schiffe, die bei Nacht über das Wattenmeer segelten, was kein Spanier je gewagt oder auch nur für möglich gehalten hätte. Dunkle Schatten, von Fischern und ortskundigen Lotsen geführt, den wenigen Prielen folgend, tief ins Land hinein. Ein überflutetes Land, denn die Holländer hatten ihre Deiche durchstochen, um die verhaßten Spanier zu ersäufen. Wo die Schiffe nicht weitergelangten, stiegen die Männer mit den Geusenpfennigen auf der Brust in schnelle, wendige Flachboote um. Sie kannten das Land und tauchten überall auf, wo der Feind sie am wenigsten erwartete. Marius van Helder und Friso Eyck sprengten ein spanisches Munitionsdepot in die Luft, und das Krachen schien die ganzen Niederlande zu erschüttern. Schleusen wurden zerstört, Befestigungen niedergebrannt. Kanonendonner erfüllte die Häfen - und wenn die spanischen Galeonen die Geusenschiffe verfolgten, verschwanden sie wieder zwischen den Inseln, in den Schlupf winkeln einer wilden, zerrissenen Küste, die den Gegnern unüberwindliche Hindernisse entgegenstellte. Erst im Bunde mit den Wassergeusen gelang es Wilhelm von Oranien, die bedrängte Stadt Leyden zu befreien und den Nachfolger des blutigen Alba zurückzuwerfen. Friso Eyck war dabei gewesen. Auch Marius van Helder. Aber das lag lange zurück. Noch hielten die Generalstaaten stand, doch wenn es Philipp II. gelang, mit der Armada England zu besiegen, würde auch den freien Niederlanden die Stunde schlagen. Der Ruf aus dem Ausguck beendete schlagartig die murmelnden Gespräche. Hasard enterte in die Besanwanten und spähte mit dem Spektiv nach Westen.
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Schroffe Felsen ragten über die Kimm, ein unregelmäßig geformter, flach auslaufender Buckel. Hinter der Klippe, die wie ein aufwärts gebogenes Horn in den grauen Dunst ragte, mußte die versteckte Bucht liegen, von der Jan Joerdans gesprochen hatte. Eine knappe Stunde noch. Hasard ließ über Stag gehen, straff blähten sich die Segel, als der Wind sie über den anderen Bug faßte. Die _Isabella“ lag mit Steuerbordhalsen auf Nordwestkurs und pflügte mit schäumender Bugwelle durch den grauen Atlantik. Der Profos tobte über die Kuhl und fluchte abwechselnd über den krächzenden Sir John und die „müden Heringe“, denen er die Haut streifenweise von einem gewissen edlen Körperteil zu ziehen drohte, der in der Anatomie der Heringe gar nicht vorkam. Noch einmal nahm das Wendemanöver die Aufmerksamkeit der Wache in Anspruch — und mit dem letzten Kreuzschlag glitt die „Isabella“ auf die abenteuerlich schmale Einfahrt zu. Zwischen den Felsen glänzte das Glas eines Spektivs im Morgenlicht. Minuten vergingen, dann richteten sich Gestalten in ihren Deckungen auf, winkten und schwenkten die Arme. Jan Joerdans' Meergeusen hatten die Galeone des Seewolfs erkannt. Schon schallten Rufe herüber war die Wiedersehensfreude aus den Stimmen herauszuhören. Aber Hasard nahm es kaum wahr, da er gespannt die schmale Einfahrt zwischen den Felsenriffen anpeilte. „Mann, Mann“, murmelte Ben Brighton neben ihm. „Und da sollen wir durch?“ „Die ,Hoek van Holland' ist auch durchgesegelt, oder?“ „Na ja ...“ Hasard zuckte mit den Schultern und kniff die Augen zusammen. Wenn der Wind nicht drehte, und das würde er sicher nicht, konnten sie den verdammten Felsspalt da drüben gut anliegen. Von den paar Gischtfahnen am Strömungsluv abgesehen, war das Wasser dunkel und glatt — keine Untiefen, keine Klippen, an denen sich die
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Galeone den Bauch aufschlitzen konnte. Es war eine regelrechte Fahrrinne, die in die Bucht führte, und Hasard stieß erleichtert die angehaltene Luft aus. „Etwas abfallen“, befahl er. „Gei auf Fock, Großsegel und Blinde! Fier weg Besan!“ „Frage Kurs?“ ertönte Pete Ballies Stimme aus dem Ruderhaus. „Recht so! Bill, bist du augenkrank, oder hat's dir die Sprache verschlagen?“ „Meine Augen sind in Ordnung, Sir!“ rief der Schiffsjunge etwas vorwitzig. „Nur die Felsen sind nicht durchsichtig.“ „Und die Marswanten haben sich in Luft aufgelöst, was?“ „N-nein, Sir.“ Das klang schon etwas kleinlauter. Hastig richtete sich Bill auf der Plattform auf und enterte ein Stück höher, um besser sehen zu können. „Die ,Hoek van Holland' liegt hinten in der Bucht mit der Breitseite zur Einfahrt“, meldete er. „Wir haben Platz genug, Sir.“ „Na also! Marssegel weg, sobald wir durch sind! Pete, du hältst etwas nach Backbord und dann nach Steuerbord. Wir fahren einen Halbkreis und legen uns schräg hinter die ,Hoek van Holland`.“ „Aye, aye, Sir.“ Langsam glitt die „Isabella“ unter Fockund Großmarssegel auf die Bucht zu. „Gei auf Marssegel!“ hallte Hasards Kommando. Das letzte Tuch wurde weggenommen, die Enge zwischen den hochragenden Klippen schien die Galeone aufzusaugen wie ein gieriger Rachen. Dann erweiterte sich die Einfahrt zu einer großen, fast kreisrunden Bucht, die völlig geschützt lag. Pete Ballie legte Ruder. Seine grauen Augen- kniffen sich zusammen. Unter dem struppigen blonden Haar wurde das Gesicht zur Maske und entspannte sich wieder, als die „Isabella“ herumschwang und in einem perfekten Halbkreis dahin lief, wo der Seewolf sie haben wollte. „Fallen Anker!“ rief Hasard. „Gut gemacht, Pete!“ Der Rudergänger wurde rot und strahlte. Auf der Back brüllte Ed Carberry die Ankergasten an, in drei Teufels Namen
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endlich mehr Lose zu geben. Der Anker faßte Grund, die Trosse kam steif und zeigte dann voraus, als die „Isabella“ etwas achteraus sackte. An Deck der „Hoek van Holland“ sah die Ankerwache dem Manöver zu, an Land erschienen Jan Joerdans' Männer auf dem breiten Sandstreifen zwischen den Felsen. Der Geusenkapitän blieb ruckartig stehen; als er Friso Eyck und die anderen erkannte. Hasard sah die hellen Augen aufflackern, die Hände zu Fäusten werden. Jan Joerdans begriff sofort, was die Anwesenheit seiner Landsleute auf der „Isabella“ bedeutete, aber damit kannte er noch nicht die ganze Wahrheit. Die erführ er erst, als sich die Männer am Strand gegenüberstanden. Henk Bakker berichtete, der Mann von der „Oranje“. Seine Stimme zitterte, obwohl er die Katastrophe jetzt schon mehrmals geschildert hatte. Die Worte tropften eigentümlich tonlos in die tiefe Stille. Jan Joerdans wurde bleich, und die Gesichter seiner Männer versteinerten. „Marius“, murmelte der Geusenkapitän. „Mein Gott ...“ „Er lebt“; sagte Henk Bakker. „Ich bin ganz sicher, daß er lebte, als die Spanier ihn gefangen nahmen.“ „Bist du auch sicher, daß er einen schnellen Tod im Kampf nicht vorgezogen hätte?“ Die Worte klangen bitter. Wut und Schmerz zuckten über das hagere Gesicht, und Hasard hob beschwichtigend die Hand. „Auch die Spanier bauen ihre Festungen nur aus Steinen“, sagte er ruhig. „Solange van Helder lebt, können wir ihn wieder herausholen.“ Joerdans' Kopf ruckte herum. „Wir?“ echote er tonlos. Hasard lächelte. Seine Zähne blitzten. „Wir“, bestätigte er. „Bilbao ist bekanntlich ein Zentrum des spanischen Schiffsbaus. Und es liegt eindeutig im Interesse Englands, die Armada ein bißchen zu dezimieren..“ Jetzt huschte auch über Jan Joerdans' bleiches Gesicht ein Lächeln.
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„Was zweifellos gelingen wird! Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen wie diese - diese chinesischen Raketen.” „Raketen?“ echote Friso Eyck, der das Gefecht gegen die fünf spanischen Galeonen nicht miterlebt hatte. „Unlöschbares Feuer!“ „Ein Teufelszeug ...“ „Es war wie die Hölle. Nichts kann ein Schiff mehr retten, das von so einem Ding getroffen wird. Ihr hättet es sehen sollen.“ Von allen Seiten prasselten Erklärungen auf Henk Bakker, Friso Eyck und die Überlebenden der „Anneke Bouts“ ein. Aufgeregt gingen die Stimmen durcheinander. Augen funkelten, Hände wurden geballt - jäh war die Verzweiflung in neue, wilde Entschlossenheit umgeschlagen. Das Bild eines brennenden Hafens, einer zusammenstürzenden Festung befeuerte die Phantasie der Männer, und ihre Stimmen senkten sich zum verschwörerischen Flüstern, während sie dem Lagerplatz der Geusen an einer geschützten Stelle der Insel zustrebten. Im Osten ging die Sonne auf und übergoß Felsen, Sträucher und wildes Gras mit strahlender Helligkeit. Bis auf die Ankerwachen hatten sich die beiden Crews um ein kleines, rauchloses Feuer versammelt. Der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, sah neugierig dem holländischen Smutje zu, der zerlegte Fische und alle möglichen Wurzeln in einen Kessel mit kochendem Wasser warf. Hasard, Ben Brighton, Big Old Shane und Jan Joerdans lehnten etwas abseits an den Klippen. Friso Eyck hockte auf einem Steinbrocken und zeichnete mit einem Stöckchen Figuren in den sandigen Boden. Nach und nach gesellten sich noch ein paar andere dazu: Joerdans' Steuermann Pieter Ameland, Henk Bakker, der sich fast völlig von seinen Verletzungen erholt hatte, Old O'Flynn und der rothaarige Ferris Tucker. Hasards Blick wanderte zu den Klippen, wo seine Söhne in Gesellschaft von Dan und Bill herumturnten - wahrscheinlich auf Entdeckungen aus.
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„Bilbao liegt ziemlich weit oberhalb der Nervion-Mündung, nicht wahr?“ fragte Ben Brighton. „Fast zehn Meilen“, bestätigte Joerdans. „Die Flußmündung wird von der Festung in Portugalete kontrolliert.“ „Ist es sicher, daß die Gefangenen dorthin gebracht werden?“ erkundigte sich Hasard mit gerunzelter Stirn. „Nicht völlig sicher.“ Jan Joerdans lächelte flüchtig. „Aber wir können es in Erfahrung bringen, wir haben Freunde in Portugalete.“ „Freunde unter den Spaniern?“ fragte Ferris Tucker ungläubig. „Sie sind Basken. Sie hassen die Spanier nicht weniger als wir, jedenfalls viele von ihnen. Die baskischen Provinzen haben immer Sonderrechte genossen, aber jetzt fürchten sie, daß der Machtanspruch des spanischen Königs auch über ihre Eigenständigkeit hinwegrollen wird. Es gibt, eine Rebellenbewegung, die für die Loslösung des Baskenlandes von Spanien kämpft -nach dem Vorbild der niederländischen Generalstaaten.“ „Und diese Rebellen werden die Geusen unterstützen?“ „Sie haben es immer getan. Und sie sind immer gut informiert und haben eine Menge Rückhalt unter der Bevölkerung. Auf jeden Fall werden sie wissen, in welchen Kerker die Spanier ihre Gefangenen geworfen haben. Es gibt da sogar einen Geheimgang, durch den man in die äußere Festungsanlage gelangen kann.“ „Hört sich an wie die Einfachheit selber“, sagte Ferris Tucker mißtrauisch. „Die Einfachheit selber? Das werden Sie nicht mehr glauben, wenn Sie erst einen Blick auf die Festung geworfen haben.“ Jan Joerdans wischte sich das krause braune Haar aus der Stirn und kniff die Augen zusammen. „Zuerst müssen wir herausfinden, wo genau die Gefangenen stecken, das heißt, daß wir nach Portugalete hineinmüssen. In den inneren Festungsbereich kann man nur eindringen, wenn man vorher ein Loch in die Mauer schießt. Und selbst damit sind wir noch längst nicht in den Kerkern oder
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Folterkammern. Wie wir das anstellen sollen, ob es überhaupt möglich ist - ich weiß es nicht.“ „Nichts ist unmöglich“, sagte Ferris Tucker schlicht. „Und was nicht geht, wird gehend gemacht“, erklärte Old O'Flynn und klopfte beziehungsreich auf sein Holzbein, um zu dokumentieren, daß es für jedes Problem eine passende Lösung gäbe. „Auf Stützen werden wir sowieso stehen”, sagte Hasard trocken. „Ich schlage vor, wir warten die Dunkelheit ab, verholen uns in eine Bucht in der Nähe der Flußmündung und schicken erst mal einen Spähtrupp an Land. Oder hat jemand eine bessere Idee?“ Niemand hatte Einwände. Die Blicke der Männer wanderten nach Süden, wo irgendwo im Sonnenglast die spanische Küste lag. Noch hatten sie einen ganzen Tag vor sich - und im Augenblick erschienen ihnen diese endlosen Stunden des Wartens als der schlimmste Teil des ganzen tollkühnen Unternehmens. * Bei Einbruch der Dämmerung glitten die „Isabella“ und die „Hoek van Holland“ aus der Bucht, fielen ab und rauschten mit halbem Wind genau nach Süden. Die Geusen übernahmen die Führung, da sie in der Bucht, die sie anlaufen wollten, schon öfter Vorräte und Wasser von den baskischen Rebellen übernommen und gegen Waffen eingetauscht hatten. Die „Isabella“ segelte im Kielwasser der „Hoek van Holland“. Hasard stand auf dem Achterkastell und warf ab und zu einen Blick zum Niedergang hinunter, wo sich Big Old Shane wie ein urzeitlicher Riese vor den Zwillingen aufgebaut hatte. Im roten Widerschein der sinkenden Sonne schien sein grauer Bart zu flammen. Er hatte beide Hände in die Hüften gestemmt und dehnte den mächtigen Brustkasten. Der Seewolf fragte sich unwillkürlich, wie es eigentlich kam, daß dieser gewaltige Kerl trotz seines wilden Äußeren nie wirklich zum Fürchten aussah.
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Die blitzblauen Augen der Kinder jedenfalls waren voller Vertrauen auf ihn gerichtet. „Ihr wißt, wohin wir segeln?“ fragte er sehr langsam und sehr deutlich. „Ja“, sagte der kleine Hasard. „Spanien“, fügte sein Bruder hinzu. „Ihr wißt auch, daß die Spanier unsere Feinde sind und uns deshalb nicht bemerken dürfen? Wenn sie uns kriegen, werden sie ...“ Shane stockte. Wahrscheinlich zögerte er, die kindlichen Gemüter mit blutrünstigen Vorstellungen zu belasten. Aber die kindlichen Gemüter der Zwillinge waren recht realistisch geartet. „Wenn uns Spanier bemerken, holt uns Teufel lotweise“, sagte Hasard junior-. Er mußte ein paarmal zu oft in Ed Carberrys Nähe die Ohren gespitzt haben. „Krrch“, machte Philip und vollführte die Geste des Halsabschneidens, was er zweifellos dem schwarzen Herkules Batuti abgeschaut hatte. „Heiliger Bimbam“, murmelte Shane erschüttert. „Bimbam?“ fragte Philip interessiert. Big Old Shane raufte sich nicht den Bart, sondern zog die Brauen zusammen, was sofort den nötigen Ernst wiederherstellte. „Wir sind uns einig, daß die Spanier die ‚Isabella' nicht bemerken dürfen“, stellte er fest. „Also hat absolute Ruhe zu herrschen. Ihr beiden bleibt in eurer Kammer. Kein Lärm, kein Unsinn, keine dummen Streiche! Ist das klar?“ „Klar“, sagte Philip. „Klar“, bestätigte Hasard. „Dann ab mit euch! Ich komme später und erzähle euch alles genau, in Ordnung?“ „In Ordnung.“ Das erklang zweistimmig. Die Zwillinge wandten sich um und marschierten ins Achterkastell. Hasard lächelte. Wenn er Shane und die beiden Jungen beobachtete, fiel ihm meist seine eigene Kindheit auf Arwenack ein. Und der kurze, markige Kernspruch, mit dem der graubärtige Schmied so oft seine wilde, noch kindlichziellose Auflehnung gegen die Killigrew-
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Sippschaft gezügelt hatte: „Wer gegen den Wind pißt, kriegt nasse Hosen ...“ Der alte Shane hatte schon gewußt, was er tat. Eines Tages war Philip Hasard Killigrew, den Bastard, das Findelkind mit der spanischen Mutter und dem deutschen Vater, dann soweit gewesen, daß er keine „nassen Hosen“ mehr kriegte. Da hatte er nämlich den alten Sir John, als er mal wieder Ohrfeigen austeilte, kurzerhand ins Hirschgeweih über dem Kamin von Arwenack gehängt und die Brüder, von denen er bis dahin stets schikaniert worden war, jämmerlich verprügelt. Der Seewolf grinste in der Erinnerung an jenen denkwürdigen Abend. Sein Blick tastete prüfend über das dunkle Wasser. Die Küste rückte näher, und wenig später glitten die „Isabella“ und die „Hoek van Holland“ auf die versteckte Bucht im Osten von Bilbao zu. Nur ein paar Fischerhütten lagen in der Nähe. Die Fischer, hatte Jan Joerdans versichert, unterstützten die baskischen Rebellen und würden Augen und Ohren verschließen. Die „Hoek van Holland“ rauschte als erste mit gerefften Segeln durch die Einfahrt. Die „Isabella“ folgte ihr, und wenig später lagen die beiden Schiffe so sicher wie in Abrahams Schoß in der Bucht vor Anker. Jan Joerdans und Friso Eyck pullten mit dem Boot herüber. Beide wollten an dem SpähtruppUnternehmen teilnehmen - auch das ein Zeichen dafür, daß sie aus dem gleichen Holz geschnitzt waren wie Philip Hasard Killigrew, der in solchen Fällen ebenfalls selbst in der vordersten Linie stand. Er hatte Sam Roskill und Al Conroy als Begleiter ausgewählt, weil die beiden als Spanier durchgehen konnten. Das war ein Gesichtspunkt, den die Geusen offenbar nicht bedacht hatten, und Friso Eyck fuhr sich etwas unsicher durch das flachsfarbene Haar. „Nuß-Extrakt“, sagte der Kutscher weise. „Dann bist du wenigstens kein blonder Spanier. Komm mit in die Kombüse.“
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Zehn Minuten später zeigte Friso Eycks helles Haar ein tiefes Braun, das niemandem auffallen würde. Die fünf Männer gingen ins Boot. An Bord der „Isabella“ sahen ihnen die Seewölfe nach, von der „Hoek van Holland“ die Geusen. Das Klatschen der Riemen klang durch die Nacht. Sam Roskill, der ehemalige Karibik-Pirat, belegte die Vorleine an einem Felsblock, und Sekunden später standen die Männer zwischen den Klippen. Zwei Meilen mußten sie bis Portugalete, dem Außenhafen von Bilbao, zu Fuß zurücklegen. Was dort auf sie wartete, konnten sie nur ahnen. * Der Hafenkommandant von Bilbao hieß Benito Uvalde und war ein untersetzter, fetter Mann, der die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen wußte. Ihn interessierte es nicht im mindesten, oh jemand Katholik, Calvinist, Hugenotte oder was auch immer war. Ihn scherte auch nicht der Wunsch der Basken, als das selbständige und durchaus nicht spanische Volk zu leben, das sie waren. Benito Uvalde, anerkannter Bastard eines kastilischen Granden, verdankte Spanien seinen Aufstieg, war sich reiner eigenen zweifelhaften Stellung bewußt, was Blut und katholische Moraltheologie betraf, und tat deshalb alles, um sich als getreuer Diener Seiner Allerkatholischsten Majestät zu erweisen. Dazu gesellte sich ein böser Hang zur Grausamkeit, der ihn die Vorführung der holländischen Gefangenen in seinen Räumen in der Festung genießen ließ. Uvalde haßte die niederländischen Rebellen. Er haßte sie vor allem deshalb, weil selbst die Angehörigen des niederen, teilweise ziemlich verschuldeten Adels, die die Spanier so verächtlich als „Geusen“, als Bettler bezeichneten, in der gesellschaftlichen Hierarchie noch über ihm standen. Marius van Helder war ein
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solcher Mann: Graf von Geburt, auf dem Stammsitz seiner Familie in Helder aufgewachsen, geachtet von allem Anfang an – und jetzt ein Vagabund zur See, mit dem man ungestraft umspringen durfte, wie man wollte. Benito Uvalde sah in das starre, stolze Gesicht und malte sich im Geist bereits den Dank der Krone aus, wenn es ihm, Uvalde, gelingen würde, rechtzeitig die zweifellos finsteren Pläne der Wassergeusen zu entschleiern. „Du bist van Helder?“ fragte er. „Ja.“ Mehr kam nicht. Ein knappes Wort, dem Spanier förmlich vor die Füße gespuckt. Marius van Helder stand reglos und fühlte allmählich, wie der Schmerz von der gebrochenen Hand gegenstandslos wurde, weil er seine Sinne abstumpfte. Er wußte, was ihm bevorstand: die Folter, der er irgendwie standhalten mußte. Denn noch war die Sache der Geusen nicht verloren, noch konnten sie sich hier an Spaniens Küsten sammeln, um dem Gegner einen entscheidenden Schlag zuzufügen. Einen Schlag, der dann vielleicht als Funke im Pulverfaß wirken oder zumindest dazu beitragen würde, in den freien Niederlanden den Widerstand gegen Allessandro Farneses Eroberungspläne zu stählen. „Marius van Helder“, wiederholte der Hafenkommandant gedehnt. „Der Mann, der alles über die Pläne der Wassergeusen weiß. Und ihr habt doch Pläne, nicht wahr? Ihr habt etwas vor!“ Van Helder antwortete nicht. Seine grauen Augen gingen ins Leere. Auf einen Wink Uvaldes stürzten sich zwei Spanier auf ihn, doch sie brachten es nur fertig, daß van Helder zurücktaumelte und die Schultern gegen die gekalkte Wand preßte, um nicht zusammenzubrechen. „Du willst nicht reden?“ fragte Uvalde gedehnt. Marius van Helder starrte ihn an. „Ich werde nicht reden“, sagte er hart. Und sein Gesicht glich einer Maske, die den Hafenkommandanten plötzlich begreifen ließ, daß dies alles nicht so
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einfach sein würde, wie er es sich vorgestellt hatte. 9. Der Außenhafen von Bilbao war ein kleines Nest an der tief eingeschnittenen Bucht, in die der Rio Nervion mündete. Die Befestigungsanlage mit ihren Mauern, Türmen und grauen, klotzigen Gebäuden lag auf der Landzunge. Nur noch wenige Häuser drängten sich zwischen der Festung und dem Meer: Fischerhütten, der Turm an der schmalen Brücke — und die Schenke mit dem Namen „Linterna Roja“, die schon vor hundert Jahren ein Stützpunkt der baskischen Strandräuber gewesen war und auch heute nur die Eingeweihten dazu verlockte, den schmalen, gewundenen Saumpfad hinaufzuklimmen, um sich an Porfirio Lleones' Wein zu laben oder etwas von seinen stets vorrätigen Schmuggelgütern zu kaufen. Jetzt allerdings stand nicht der kahlköpfige, massige Porfirio Lleones am Schanktisch, sondern seine glutäugige Tochter Miranda. Sie blickte auf, als die Perlenschnüre des Vorhangs klirrten, und maß Hasard, Jan Joerdans und die drei anderen mit einem kurzen, prüfenden Blick. Mit dem gleichen prüfenden Blick sah sich der Seewolf um und suchte das gute Dutzend Gäste der Schenke abzuschätzen und einzuordnen. Schon von draußen hatten sie die Musik gehört: Alboka und Soinua, alte baskische Instrumente, die die Melodien ebenso alter Kriegstänze intonierten. Im Hintergrund des niedrigen, düsteren Raums klatschte eine Gruppe Männer rhythmisch in die Hände. Zwei junge Burschen tanzten den Espadadantza, ließen Stöcke wirbeln, die ihnen die Schwerter ersetzten, und übten sich in Sprüngen und blitzhaften Zustoßund Ausweichbewegungen, deren spielerische Grazie doch noch alle Elemente des Kampfes enthielt. „Vino, Muchacha!“ Es war Jan Joerdans, der ein paar Goldstücke auf den Schanktisch warf. Er schien das Mädchen mit dem lockigen
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schwarzen Haar und den dunklen Glutaugen zu kennen. Sie starrte ihn an und preßte die Lippen zusammen. In den Bewegungen, mit denen sie den Krug nahm und die Becher füllte, lag etwas Hastiges, Verstohlenes, was der Seewolf auf die Anspannung ihrer Nerven zurückführte. „Ich habe deinen Vater nicht gesehen“, sagte Jan Joerdans halblaut. „Ist er nicht da?“ Das Mädchen schluckte. Miranda hieß sie, wie die Seewölfe wußten, Miranda Lleones. „Er ist verhaftet“, flüsterte sie. „Die Spanier ...“ Joerdans biß die Zähne zusammen. Friso Eyck fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das braungefärbte Haar, Al Conroy und Sam Roskill schnitten grimmige Gesichter. Hasard nahm nachdenklich einen Schluck aus seinem Weinbecher und versuchte, den eigentümlich flackernden Blick der glutäugigen baskischen Schönen zu ergründen. „Gott strafe Spanien!“ sagte das Mädchen leise. „Sie - sind wegen Senor van Helder hier, nicht wahr, Kapitän?“ „Was weißt du davon?“ Miranda Lleones hob die schmalen Schultern. Ihr Blick wanderte zu den Basken, die den Espadadantza tanzten. „Wir hören hier fast alles“, murmelte sie: „Marius van Helder wurde gefangengenommen, und er muß ein wichtiger Mann sein, da sich der Hafenkommandant persönlich um ihn kümmert. Armer Kerl! Es muß furchtbar sein, diesem Bastard Uvalde in die Hände zu fallen.“ Der Haß in ihrer Stimme war echt. Hasards instinktives Mißtrauen legte sich ein wenig, er hörte dem Wortwechsel zu. Die Musik im Hintergrund wurde immer wilder, und ein Blick zeigte ihm, daß jetzt auch die Kartenspieler im Rhythmus mitklatschten. „Und du bist sicher, daß sie ihn in die Festung gebracht haben?“ fragte Jan Joerdans.
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„Ja“, sagte das Mädchen. „In den Kerker, denke ich. Oder in die Folterkammer.“ „Das werden wir herausfinden. Bringst du uns nach unten?“ Miranda Lleones nickte. Sie warf einen prüfenden Blick zu den Tanzenden hinüber, dann wandte sie sich schweigend ab und verschwand durch eine Hintertür. Auch hier gab es einen Vorhang aus Perlenschnüren, der leise klirrte. Jan Joerdans nickte Sam, Al Conroy und Friso Eyck zu, er selbst und Hasard blieben noch für einen Moment zurück, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen. „Sind Sie sicher, daß man ihr vertrauen kann?“ fragte der Seewolf leise. „Ich glaube.“ Joerdans hob die Schultern, eine tief eingekerbte Falte auf der Stirn. „Wessen ist man schon völlig sicher? Es bleibt ein gewagtes Spiel. Und es wäre mir lieber gewesen, keine Unbeteiligten hineinzuziehen.“ „Wir sind nicht unbeteiligt“, stellte Hasard richtig. „Wie sagten Sie neulich? Dafür, daß man denselben Feind bekämpft, schuldet man einander keinen Dank.“ Joerdans lächelte und leerte seinen Becher. „Sie haben recht. Kommen Sie.“ Schweigend traten die beiden Männer durch den Perlenvorhang. Ein Hinterzimmer lag vor ihnen, überhitzt wegen des Feuers auf dem Herdstein, über dem ein eiserner Kessel mit Suppe an einem Dreibein hing. Zwei Schritte rechts davon“ gab es eine Luke im Boden. Die Falltür mit dem eisernen Zugring stand offen, und die Stufen einer Leiter führten in den Keller. Philip Hasard Killigrew und Jan Joerdans kletterten hinunter. Eine blakende Öllampe erhellte den Raum mit den gemauerten Wänden und dem festgestampften Lehmboden. Friso Eyck, Sam Roskill und Al Conroy warteten. Das Mädchen machte sich an der Stirnwand zu schaffen und tastete über das Mauerwerk. Ihre schmalen Finger drückten auf eine bestimmte Stelle -.und wie von Geisterhand bewegt, schwang ein Teil der Mauer zurück. Sam Roskill pfiff durch die Zähne.
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Al Conroy, der Stückmeister, starrte sich fast die Augen aus, weil er sich brennend für den Mechanismus interessierte, doch der war so geschickt angebracht, daß er sich auf den ersten Blick nicht enträtseln ließ. Hinter der Geheimtür tat sich ebenfalls ein gemauerter unterirdischer Gang auf. Miranda Lleones wies schweigend auf die Pechfackeln, die in eisernen Halterungen an der Wand steckten. Hasard fischte Feuerstein und Zunder aus der Tasche, schlug Funken und entzündete nacheinander die Fackeln. Miranda sah ihm zu. Ihre Augen brannten. Wieder glaubte er, etwas in ihrem Blick zu lesen, das er nicht enträtseln konnte, aber jetzt war keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Der Seewolf ging voran. Hinter ihm tauchten Al Conroy, Sam Roskill und die beiden Geusen in die Enge des Gangs. Knarrend schwang die getarnte Tür hinter ihnen zu, und einen Augenblick wirkte die Stille betäubend. Hasard grub die Zähne in die Unterlippe. Er konnte und wollte nicht mehr zurück. Aber er spürte mit jeder Faser, daß er sich auf ein Spiel mit höchst ungewissem Ausgang eingelassen hatte. * „Dein Name?“ „Jan-Willem Hangelaar ...“ Ein steinernes Gesicht unter wirrem blondem Haar, Augen, die durch den Hafenkommandanten hindurch sahen, als sei er nicht vorhanden. Benito Uvalde preßte wütend seine wulstigen Lippen zusammen, und es kostete ihn Mühe, zu dem trügerisch freundlichen Tonfall zurückzufinden, dessen er sich in den letzten Minuten befleißigt hatte. „Du siehst aus wie ein ehrlicher Mann, Jan-Willem Hangelaar“, erklärte er. „Ich hoffe, du siehst ein, daß Seine Allerkatholischste Majestät kein verkommenes, gottloses Piratengesindel an seinen Küsten dulden kann. Aber wir wollen nicht die Schuldigen mit den
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Ahnungslosen und Verführten hängen, verstehst du das? Wer bereit zur Umkehr ist, bei dem werden wir Gnade vor Recht ergehen lassen. Überlege es dir, mein Freund! Du könntest uns beweisen, daß du mit dem Geusengesindel nichts mehr zu tun haben willst.“ Uvaldes Lächeln war so falsch wie die goldenen Ohrringe einer Zigeunerin. Abwartend hob er die Brauen. „Nun?“ fragte er, als es eine Weile still geblieben war. Jan-Willem Hangelaar, Bootsmann der „Oranje“, sah zu seinem Kapitän hinüber. Marius van Helder stand schweigend und erschöpft zwischen seinen Bewachern. Er stand dort, weil der Hafenkommandant ihm vorführen wollte, wie schnell sich Menschen zum Verrat bereit fanden, wenn ihnen Tod und Folter drohten. Aber bis jetzt war aus der Vorführung nichts geworden. Jan-Willem Hangelaar holte tief Luft, straffte die Schultern, dann lachte er laut auf. „Wer ist das, Marius?“ fragte er auf spanisch. „Ein Verrückter? Aus dem Tollhaus von Bilbao entsprungen?“ Uvalde wurde bleich. „Du willst nicht?“ knirschte er. „Und ob ich will!“ Der Bootsmann lachte grimmig. „Ich werde dir beweisen, daß ich nichts mit verkommenem, gottlosem Piratengesindel zu schaffen habe. Ich werde dir beweisen, daß ich ein Geuse bin, daß ich für die Freiheit meines Vaterlands kämpfe und die Freiheit, auf meine Art zu meinem Herrgott zu beten. Gottloses Gesindel begeht Verrat, Spanier. Ein Geuse nicht!“ Uvaldes Zähne knirschten. „Im Kerker wirst du einen Geusen treffen, der Verrat begangen hat!“ zischte er höhnisch. „Weg mit ihm! Bringt den nächsten!“ Der nächste war der siebzehnjährige Junge, den Capitan Mendez auf seinem Schiff hatte hängen wollen. Trotz flammte in seinen Augen. Ein Trotz, der sich zu wilder, verzweifelter Wut steigerte, als er seinen Kapitän erblickte.
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Marius van Helder versuchte, ihm beruhigend zuzunicken. „Dein Name?“ fauchte Uvalde. Der Junge straffte den Rücken. „Jan ...“ „Du bist jung, Jan Martiens. Dein Vater war auf der ‚Oranje', höre ich?“ „Und wurde von Spaniern erschlagen“, stieß der Junge hervor. „Nun, so geht es Piraten, die die_ Gesetze brechen und die gerechte Strafe auf sich herabbeschwören. Aber ich kann mir vorstellen, daß du wußtest, was du tatest, mein Junge. Du möchtest doch sicher auch weiterleben, nicht wahr?“ Jan Martiens' Augen funkelten. Mit einer wilden Bewegung warf er Kopf in den Nacken. „Ja!“ stieß er hervor. „Ich will noch lange leben. Mein Land braucht jeden Mann, um gegen Spaniens Terror zu kämpfen. Ich möchte noch sehen, wie ein vereinigtes Niederland alle Spanier ins Meer wirft! Ich möchte dabei sein, wenn die Wassergeusen eure Schiffe aus unseren Häfen jagen. Ich möchte dabei sein, wenn wir den Blutsauger Farnese ...“ „Aufhören!“ brüllte Benito Uvalde unbeherrscht. „Werft ihn in den Kerker! Und den Kapitän auch! Und holt mir den Henker! Ich werde dieses dreckige Gesindel lehren, was es heißt, Spanien zu beleidigen!“ Sein Gesicht lief puterrot an, er schäumte vor Wut. Sieben Gefangene hatte er mit Drohungen und Versprechungen, mit Heimtücke und falscher Freundlichkeit umzustimmen versucht. Sieben Gefangene hatten ihm entweder überhaupt nicht geantwortet oder ihm ihre Verachtung ins Gesicht geschleudert. Und jetzt wußte der fette Hafenkommandant, daß es mit seinem schnellen, triumphalen Erfolg nichts werden würde. Der junge Jan Martiens wurde hinausgeschleppt. Marius van Helder erhielt einen Stoß in den Rücken und ging stolz und aufrecht vor seinen Bewachern her. Die Tür fiel hinter ihnen zu, und ihre Schritte hallten in den langen, kahlen Gängen.
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Eine steinerne Wendeltreppe führte in die Tiefe der Festung. Wasser sickerte in dünnen Rinnsalen über die Wände, Tropfen platschten von der steinernen Decke und erfüllten die Gewölbe mit Geräuschen wie von zahllosen verstohlenen Schritten. Kälte strahlte von den schwarzen, massigen Bruchsteinquadern aus, und in der dumpfen, feuchten Moderluft lag die Drohung eines Grabes. Vor den Gefangenen wurde eine schwere eisenbeschlagene Bohlentür geöffnet. Der Kerker lag dahinter. Der berüchtigte Kerker der Festung von Portugalete. Es gab .keine einzelnen Verliese, nur ein weites, finsteres Gewölbe, in dem fauliges Stroh die einzige Bequemlichkeit für die Opfer darstellte. Ein Gitter aus dicken Eisenstäben trennte den Raum für die Bewacher ab, in dem ein roh gezimmerter Tisch und ein paar Stühle standen. Männer in spanischen Uniformen hatten Karten gespielt, jetzt erhoben sie sich und griffen zu ihren Musketen. Fünf schußbereite Waffen zielten durch die Eisenstäbe, um. die Eingekerkerten in Schach zu halten, doch niemand unternahm den selbstmörderischen Versuch, den Moment zu nutzen, in dem klirrend die Gittertür aufgeschlossen wurde. Die meisten waren wohl auch gar nicht mehr in der Lage dazu. Van Helder sah ausgemergelte, zerlumpte Gestalten, zum Skelett abgemagerte Männer, die apathisch im Stroh lagen oder an den feuchten Mauern lehnten, eingefallene Gesichter und erloschene, tief eingesunkene Augen, die zu abgestumpft waren, um sich auch nur den Neuankömmlingen zuzuwenden. Nur in wenigen Augen brannte noch der Funke von Hoffnung, Haß oder Auflehnung. Zu den wenigen gehörten die holländischen Geusen - und ein paar schwarzhaarige, braunhäutige Männer mit wilden Gesichtern, in denen van Helder die baskischen Rebellen erkannte, obwohl er ihnen 'nie persönlich begegnet war. Klirrend schloß sich das Gitter hinter dem Kapitän und dem Schiffsjungen.
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Schritte entfernten sich. Die Bewacher wandten sich wieder ihrem Kartenspiel zu, und niemand achtete mehr darauf, was in dem feuchten, stinkenden Gewölbe vorging. Jan-Willem Hangelaar und zwei weitere Geusen sprangen auf, bereits ihrer Fesseln ledig. Rasch und schweigend führten sie van Helder und den Jungen in eine der tiefen, bogenförmigen Nischen, die sie den Blicken der Bewacher entzog. Hoch oben an der Decke gab es eine winzige, vergitterte Fensterluke, durch die etwas frische Luft hereindrang. Jan-Willem Hangelaar drückte seinen Kapitän auf einen Strohsack und begann behutsam, die Fesseln an seinen Händen aufzuknüpfen. Van Helder spürte den Schmerz des gebrochenen Gelenks kaum noch. Wundfieber hatte eingesetzt und drohte manchmal, seinen Blick zu verschleiern. Er sah sich um, und da entdeckte er im Schatten ein paar Schritte entfernt die jähe Bewegung. Ein blonder Mann lehnte an einem der gemauerten Pfeiler. Vor ihm standen zwei der Geusen, wilde Wut in den Augen, die Hände geballt. Der blonde Mann ließ die Arme hängen. Er wehrte sich nicht -auch nicht, als einer der Angreifer ausholte, um zuzuschlagen. „Nicht!“ rief van Helder scharf. Seine Leute fuhren herum. Sie keuchten. „Kapitän, es ist ...“ „Ich weiß.“ Van Helder schüttelte die lockeren Fesseln ab und stand auf. Er schwankte ein wenig, doch dann ging er mit festem Schritt auf den Mann an dem Pfeiler zu. „Barend“, sagte er ruhig. „Barend van Gemert.“ „Marius ...“ Die Stimme klang erstickt. „Warum hältst du sie zurück? Sie haben recht, sie ...“ „Wir sind Brüder. Wollen wir uns jetzt schon gegenseitig angreifen?“ „Ich habe euch verraten. Ich habe den Spaniern gesagt, wohin du segeln wolltest, ich habe ihnen verraten, daß die ,Hoek van Holland' und die ,Anneke Bouts` im Golf
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von Biscaya sind. Warum hältst du sie zurück? Sie haben recht, wenn sie mich töten wollen.“ Van Helders Blick glitt über die zerlumpte, abgemagerte Gestalt, über die fiebrigen Augen und die Male an dem geschundenen Körper. „Ich war es, der dich nach Spanien geschickt hat“, sagte er ruhig. „Du bist unter falschem Namen auf einer spanischen Galeone gefahren, obwohl du wußtest, daß schon ein Wunder geschehen mußte, um den Plan gelingen zu lassen. Du hast Jan Joerdans und Willem Meerens gefunden, bevor sie auf und davon segelten, und du hast den Treffpunkt nicht verraten. Denn wenn du das getan hättest, würden die Spanier Jan Joerdans nicht immer noch jagen.“ „Die Insel - ich hätte auch die Insel verraten. Aber das brauchte ich nicht mehr, sie waren zufrieden, als sie deinen Namen hörten, Marius.“ „Und jetzt sind wir gefangen und die meisten unserer Kameraden tot.“ Einer der Geusen spuckte wütend aus. „Meineidiger Schuft! Er hat uns verraten, er gibt es ja zu, dieser dreckige ...“ Van Helder fuhr herum. Seine Stimme klirrte. „Er hat unter der Folter geredet, Slip. Keiner von uns kann von sich sagen, ob er nicht noch heute nacht das gleiche tun wird. Er ist Barend van Gemert. Niemand wird ihn noch einmal einen dreckigen Verräter nennen.“ Stille. Van Gemerts Augen brannten. Ein bitteres Lächeln huschte um seine Lippen. „Danke, Marius“, sagte er leise. „Aber ich weiß, was ich getan habe, ich ...“ „Und ich weiß nicht, was ich selbst an deiner Stelle getan hätte. Niemand weiß das, und nur ein Narr kann sich etwas anderes einbilden. Komm jetzt! Ich bin. froh, dich wiederzusehen, Barend.“ Mit einer ruhigen Bewegung griff er nach van Gemerts Arm und zog ihn hinüber zu dem Strohsack. Die anderen zögerten. Unschlüssig sahen sie sich an. Schließlich
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war es Jan Willem Hangelaar, der sich einen Ruck gab. „Wozu reden wir? Ich fürchte, wir werden bald alle aus eigener Erfahrung wissen, ob wir an seiner Stelle standgehalten hätten. Also setzen wir uns.“ Irgendwo aus dem Hintergrund des Gewölbes lösten sich ein paar Gestalten. Schwarzhaarige, braunhäutige Männer, deren Kleider noch nicht so zerfetzt und deren Wunden eben erst verschorft waren. Der Wortführer war ein kleiner, breitschultriger Mann mit schwarzem Kraushaar und verwitterten Zügen. „Ihr seid Marius van Helder?“ fragte er gedehnt. Die Blicke der Geusen wurden hellwach und mißtrauisch. Der Kapitän nickte langsam, und der Schwarzhaarige kauerte sich mit einem matten Grinsen auf die Fersen. „Ich bin Gian Malandrès“, sagte er leise. „El Vascos Bruder. Wir sind Basken, die, für die Freiheit ihres Landes kämpfen — genau wie ihr.“ „Wir kennen euch. Manche von euch ...“ „Das weiß ich. Jan Joerdans ist unser Freund, und wir haben schon oft Waffen und Vorräte getauscht. Aber wenn du eben erst aus der Nordsee gekommen bist, kannst du das natürlich nicht wissen.“ Van Helder schwieg. Der Baske zeigte seine blitzenden Zähne. „Du magst glauben, daß ich ein Spitzel bin, den die Spanier auf dich angesetzt haben“, fuhr er fort. „Ich bin es' nicht, und ich werde nie eine Frage nach den Geusen stellen. Aber vielleicht sollten wir uns hier zusammenschließen. Es wird der Tag kommen, da meine Freunde versuchen, mich und die anderen zu befreien. Werdet ihr dann mit uns kämpfen?“ Van Helder sah ihn an. Sekundenlang bohrten sich die ruhigen grauen Augen des Geusenkapitäns in die schwarzen, funkelnden Augen des Basken. Ihre Blicke schienen sich ineinander zu fressen, dann lehnte sich der Holländer zurück und lächelte. „Du bist kein Spitzel, Gian Malandrès. Wir werden mit euch kämpfen. Aber ich glaube
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nicht, daß es jemandem gelingen kann, uns hier zu befreien.“ „Vielleicht doch. Es gibt eine Chance. Aber ich werde euch unsere Geheimnisse nicht jetzt verraten. Denn Ihr habt recht, Marius van Helder. Niemand kann von sich selbst sagen, ob er der Folter widerstehen wird oder...“ Er hielt inne und wandte den Kopf. Die Gittertür klirrte. Hinter den vier Soldaten, die den Kerker betraten, wurde sie rasch wieder geschlossen. Gian Malandrès preßte die Lippen zusammen und starrte van Helder an. „Jetzt werden sie den ersten holen“, sagte er erbittert. „Versucht besser nicht, euch zu wehren, das gäbe ein Blutbad. Es wäre sinnlos.“ Ja, es war sinnlos. Die Spanier hielten sich in sicherer Entfernung. Mit ihren schußbereiten Waffen würden sie ein Blutbad anrichten, bevor man sie überwältigen konnte. Selbst wenn das gelang — das Gitter war verschlossen, die Soldaten draußen würden keine Rücksicht auf ihre Landsleute nehmen, und daß der Hafenkommandant sich um das Leben eventueller Geiseln scheren würde, war vollends undenkbar. Van Helder spürte die Blicke seiner Kameraden und las die Frage in ihren Augen. Wenn sie sich jetzt auf die Spanier stürzten, würden sie vielleicht einen raschen Tod finden, einen Tod, der gnädiger war als das, was vor ihnen lag. Aber ganz sicher würden sie dabei auch einige andere mit ins Verderben reißen. Die Basken wollten nicht sterben. Sie glaubten daran, daß es ihnen gelingen würde, diese Gruft wieder zu verlassen und weiterzukämpfen. Sie hatten recht. Solange sie lebten, konnten sie hoffen. Das galt nicht nur für sie, sondern auch für die Geusen. Marius van Helder schüttelte unmerklich den Kopf. Die Spanier hatten die Gefangenen nicht aus den Augen gelassen. Der Anführer des Trupps deutete auf den blonden Jungen.
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„Du!“ knurrte er. „Komm mit! Und bereite uns keinen Ärger, sonst werden deine Freunde sterben.“ Jan Martiens schluckte. Sein Blick suchte die Augen des Kapitäns. Das junge Gesicht war blaß und angespannt. „Von mir werden sie kein Wort erfahren“, schwor er leise. Dann stieß er sich von der Wand ab, hob den Kopf und ging mit straffem Rücken vor den spanischen Soldaten her zu der Gittertür. * „Holla! Holla!“ Atemlose Stille, wilde, aufpeitschende Musik. Schweiß lief .über die Körper der beiden jungen Burschen, die nach den leidenschaftlichen Klängen tanzten. Die Saiten der Soinua vibrierten, die alte Hirtenschalmei klang eigentümlich hoch und eintönig, heizte gerade deshalb das Blut an und peitschte die Tänzer zu immer wilderen Bewegungen auf. Miranda Lleones schenkte Wein aus dem Krug in die Becher, bediente die durstigen Gäste und versuchte, sich nichts von der fiebrigen Spannung anmerken zu lassen, die sie beherrschte. Schließlich winkte sie dem Jungen, der sich ab und zu in der „Linterna Roja“ ein paar Pesos verdiente. „Paß auf, ja? Ich bin nur kurz weg und komme gleich zurück.“ „Si, Senorita.“ Der Junge schob sich hinter den niedrigen Tisch, um für eine Weile den Ausschank zu übernehmen. Miranda nickte ihm zu und huschte zum Ausgang. Die Perlenschnüre klirrten leise. Leichtfüßig glitt das Mädchen auf die Gasse, spähte zum Himmel hinauf, an dem der Mond als schmale, scharfe Sichel glänzte, und wandte sich dorthin, wo zwischen ' Dornengestrüpp und Krüppelkiefern ein kaum sichtbarer Pfad zum Meer hinunterführte.
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Die schmale, weit vorgeschobene Landzunge trennte die Mündung des Rio Nervion von der benachbarten Bucht. Fahl glänzte der angeschwemmte Sand im Sternenschein. Miranda blieb stehen und sah sich unsicher nach allen Seiten um. Seevögel schrien. Die Wellen glucksten, Wind strich durch den Strandhafer, sonst war es trügerisch still. „El Vasco?“ rief das Mädchen halblaut. Etwas raschelte. Miranda wandte sich um und starrte zu der Insel aus wucherndem Sanddorn hinüber. Gestalten bewegten sich. Rasch rückten sie heran. Im ungewissen Licht funkelten El Vascos tiefliegende schwarze Augen wie polierte Onyxe. „Nun?“ fragte der baskische Rebellenführer gedehnt. „Sie sind da!“ Miranda schluckte und kämpfte gegen das Gefühl an, einen unverzeihlichen Verrat zu begehen. „Jan Joerdans, der Geuse. Und er hat Freunde mitgebracht, Engländer, glaube ich.“ „Engländer?“ fragte El Vasco überrascht. „Ja, ich glaube. Einen großen schwarzhaarigen Mann mit einer Narbe im Gesicht. Und mit blauen Augen — Augen wie Feuer und Eis ...“ Zwei, drei Sekunden war es so still, daß man nur noch das Glucksen und Rauschen der Wellen hörte. „El Lobo del Mar“, flüsterte der Baske dann. „Der Seewolf ...“ „Was sagst du?“ „Der Seewolf!“ wiederholte El Vasco. „Es gibt nur einen schwarzhaarigen, blauäugigen Engländer mit einer Narbe im Gesicht, der es wagen würde, an einer spanischen Küste an Land zu gehen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. El Lobo del Mar!“ Miranda schwieg verwirrt. Die Basken in ihren runden Tellermützen starrten ihren Anführer an. Er hatte die Lippen zusammengepreßt, in seinem Gesicht arbeitete es. „El Lobo des Mar — das ist eine bessere Geisel als irgendein Geusenkapitän! Die Spanier werden alles tun, um ihn zu schnappen, alles!“
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„Er kämpft gegen Spanien?“ fragte einer der Männer. „Kämpft? Er tut mehr als das! Er räubert unter ihnen wie der Habicht unter den Feldmäusen. Er hat ihnen mehr Schiffe und Schätze abgenommen, als ihr euch vorstellen könnt. Wenn es überhaupt einen einzelnen Mann gibt, in dem die Spanier eine Gefahr sehen, dann ist es El Lobo del Mar.“ Wieder wurde es still. Eine unbehagliche Stille, in der die Männer es vermieden, einander anzusehen. Sie hatten ihre Entscheidung bereits getroffen, aber sie fühlten sich nicht wohl dabei. Genauso wenig wie Miranda, die sich an den Gedanken klammerte, daß der Verrat an den Fremden die Freiheit für ihren Vater bedeutete. Nur El Vascos zusammengepreßte Lippen verrieten eiskalte Entschlossenheit. Aus schmalen; funkelnden Augen sah er von einem zum anderen, seine :Kiefermuskeln spielten. „Wir nehmen sie alle gefangen“, sagte er hart. „Vorwärts jetzt. Wir haben nicht viel Zeit, um die Falle vorzubereiten.“ 10. Schon nach wenigen Schritten ging der gemauerte Gang in eine natürliche Höhle über. Der Fackelschein tanzte über die feucht schimmernden Wände, in einiger Entfernung war ein dumpfes Rauschen zu hören. Hasard fragte sich, ob es einen Ausgang zum Meer gab. Ein paar Minuten später glaubte er, ihn gefunden zu haben, doch der abzweigende Gang war eingestürzt, und dicke Felsblöcke versperrten den Weg. „Ob man das Zeugs da wegräumen könnte?“ überlegte Al Conroy. Der Seewolf kniff die Augen zusammen. „Sieht nicht so aus. Eine direkte Verbindung zum Strand wäre natürlich günstiger für uns. Aber ob wir das schaffen?“ „Die Basken behaupten, der Gang sei in seiner ganzen Länge eingestürzt“, schaltete sich Jan Joerdans ein. „Die Verbindung zur
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Feste konnten sie überhaupt nur schaffen, weil ein Teil der Außenmauer auf einem Erdwall errichtet ist, um die Unebenheiten der Klippen auszugleichen.“ Er hielt inne und zuckte mit den Schultern. „Außerdem würde es nichts nutzen, selbst wenn wir eine ganze Armee hier durchschmuggeln könnten. In die Kerker gelangen wir nur, wenn wir vorher einen der Wehrgänge in Fetzen schießen.“ „Fragt sich, welchen.“ Hasard blieb stehen, weil sich der. Gang vor ihnen zum schmalen Spalt verengte. Aber dafür zweigte auf der linken Seite ein Stollen ab. In mühseliger Arbeit war mit Hacken, Hämmern und Meißeln ein Loch durch die Felsen gebrochen worden. Dahinter führte ein niedriger, mit Holzbrettern und Pfählen abgestützter Gang durch den Erdwall, von dem Jan Joerdans gesprochen hatte. Er endete im Schacht eines ausgetrockneten Brunnens. Rostige Steigeisen waren in die Mauer eingelassen. Die Männer löschten die Fackeln, um sich nicht durch das Licht zu verraten. Einen Augenblick lauschten sie angespannt, dann kletterte der Seewolf als erster aufwärts. Vorsichtig schob er den Kopf über den Brunnenrand. Kein Spanier zu sehen! An die mächtige Außenmauer mit ihren dicken Bruchsteinen waren Gebäude angebaut, Speicher vor allem, darüber hoben sich Bastionen wie schwarze Zähne vom Sternenhimmel ab. Hasard erkannte die Gestalt eines patrouillierenden Wachtpostens, doch der Mann richtete seine Aufmerksamkeit aufs Meer hinaus und rechnete offenbar nicht einmal im Traum mit einer Gefahr in seinem Rücken. Zwischen dem Eckturm und dem angrenzenden Speicher gab es eine tiefe, dunkle Nische, die für den Wächter im toten Winkel lag. Hasard zog den Kopf ein und blickte nach unten. „Wir gehen nach rechts zu dem Eckturm“, flüsterte er. „Aber Vorsicht! Wenn uns der Posten auf der Mauer hört, sind wir geliefert.“ „Aye, aye“, wurde zurückgeflüstert.
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Der Seewolf spähte noch einmal zu der schattenhaften Gestalt auf der Mauer, dann zog er sich hoch und schwang sich mit einem geschmeidigen Sprung über den Brunnenrand. Geduckt huschte er über das Katzenkopfpflaster und tauchte in die Dunkelheit zwischen Turm und Speicher. Jan Joerdans folgte ihm, Al Conroy, Sam Roskill, schließlich Friso Eyck. Die Finsternis deckte sie, und erst jetzt nahmen sie sich Zeit, ihre Umgebung genauer zu betrachten. Joerdans' Baskenfreunde hatten recht: In die eigentliche Festung gelangte man nicht hinein, ohne sie vorher vom Meer aus sturmreif zu schießen. Die äußere Mauer umgab einen Komplex von Gebäuden, die vermutlich den Soldaten als Unterkünfte dienten. Eine Gasse zog sich halbkreisförmig hin, Lichter glommen hinter engen Fensterhöhlen, irgendwo grölten ein paar Betrunkene. Jan Joerdans wies auf ein etwas erhöht liegendes Haus, das neuer und prunkvoller aussah als die anderen. „Da wohnt der Hafenkommandant“, flüsterte er. „Benito Uvalde. Er hat auch noch einen Palacio in der Stadt, aber dort hält er sich selten auf. Seit die Basken offen rebellieren, ist Bilbao für die Spanier beinahe so etwas wie Feindesland.“ Hasard nickte nur. Seine Augen tasteten über die Häuser, die vier Ecktürme der Festung, das breite Tor, das so aussah, als würde es auch einem explodierenden Pulverfäßchen standhalten. Die beiden Wehrgänge, die die innere Festung mit der Außenmauer verbanden, waren vielleicht der einzige schwache Punkt. Aber es gab keine Pforte, die hineinführte, die Mauern waren zu hoch, um mit Enterhaken bezwungen zu werden — man mußte sie schon in Trümmer legen. „Und wie, zum Teufel, kriegen wir jetzt raus, wo die Kerker und die verdammte Folterkammer sind?“ hauchte Sam Roskill. „Es muß Fenster geben, schon wegen der Belüftung. Siehst du die vergitterten Luken in Bodenhöhe? Ich pirsche mich heran und schaue nach, ihr deckt mir den Rücken.“ „Ich komme mit“, flüsterte Jan Joerdans.
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„Gut. Daß kein Schuß fallen darf, ist wohl klar. Falls etwas schiefgeht, zieht ihr euch sofort durch den Brunnen zurück.“ Hasard grinste und ließ seine Zähne blitzen. „Notfalls könnt ihr uns ja dann später zusammen mit van Helder und den anderen herausholen.“ „Aber …“ „Kein Aber! Das ist ein Befehl! Noch Fragen?“ Niemand sagte etwas. Hasard nickte Jan Joerdans zu, und gemeinsam huschten sie über den gepflasterten Platz zu der mächtigen Mauer der Festung hinüber. * Marius van Helder war der letzte, den sie holten. Es war schnell gegangen. Gian Malandrès, der neben Barend van Gemert an der Wand kauerte, lächelte bitter. „Sie können ihnen nicht viel angetan haben“, sagte er halblaut. „Zuerst versuchen sie immer herauszufinden, wer das schwächste Opfer ist. Von deinen Leuten war niemand schwach, Geuse, sonst hätte es länger gedauert. Aber trotzdem werden sie dir erzählen, daß die anderen alle geredet hätten.“ „Du weißt gut Bescheid, Gian.“ „Das weiß ich wirklich. Benito Uvalde kenne ich so gut, wie man nur seine besten Freunde und seine Todfeinde kennt. Viel Glück, Geuse.“ Van Helder stand ruhig auf und folgte dem Wink der schwerbewaffneten Soldaten. Er dachte an das, was ihm Gian Malandrès über die Pläne der baskischen Rebellen erzählt hatte. Ja, es gab noch eine Hoffnung. Eine schwache Hoffnung zwar, aber auch dafür lohnte es sich, am Leben zu bleiben und durchzuhalten. Van Helder zögerte nicht, als die Tür der Folterkammer vor ihm aufschwang. Er wurde an die Wand gekettet. Die Frage, ob er freiwillig reden wolle. hörte er kaum. Er schloß die Augen, und seine Gedanken waren bei Barend van Gemert, der eine endlose Zeit in der Gefangenschaft der
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Spanier verbracht hatte, bevor es ihnen gelungen war, seinen Willen zu brechen. Van Helder wußte nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, als das feiste Gesicht des Hafenkommandanten vor ihm auftauchte. Uvalde schnaufte vor Wut. „Halsstarriger Bastard!“ knurrte er. „Hör zu! Deine Freunde haben alle geredet, alle! Wir wissen schon, was wir wissen wollten. Von dir brauchen wir nur noch die Bestätigung der Geschichte. Gib sie uns freiwillig, und wir werden dir die ehrenvolle Behandlung eines Kriegsgefangenen seiner Allerkatholischsten Majestät angedeihen lassen.“ Van Helder spuckte aus. „Keiner von meinen Freunden hat geredet“, sagte er hart. „Und ich werde auch nicht reden. Mit Gewalt bringst du mich nicht dazu, und mit deinen dreckigen Lügen schon gar nicht!“ Wieder einmal lief Benito Uvaldes Gesicht so rot an, als werde ihn im nächsten Moment der Schlag treffen. „Wie du willst!“ fauchte er. „Morgen werden wir weitersehen. Ich denke nicht daran, mir von einem dreckigen Piraten den Schlaf rauben zu lassen.“ „Sollen wir ihn zurück in den Kerker bringen?“ fragte der Henker in seiner roten Kutte. „Nein. Er bleibt hier.“ „Gut, Comandante. Sollen wir uns ein bißchen weiter mit ihm beschäftigen, während Sie ...“ „Nein! Er ist unser kostbarster Gefangener, er muß auf jeden Fall am Leben bleiben, bis er alles gesagt hat. Niemand wird die Folterkammer betreten, ohne daß ich dabei bin. Den Schlüssel! Ich werde ihn mir um den Hals hängen und nicht aus den Augen lassen, darauf könnt ihr verdammten Narren euch verlassen.“ „Aber Comandante ...“ „Tranquilo! Ich will nichts mehr hören. Dieser Kerl ist der beste Fang, den wir je geschnappt haben, auf den werde ich ganz persönlich aufpassen.“
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Benito Uvalde schloß eigenhändig die schwere, eisenbeschlagene Tür ab. Und er erfüllte auch sein Versprechen, sich den Schlüssel um den Hals zu hängen und. ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen. * Hasard biß die Zähne zusammen. Neben ihm hatte Jan Joerdans die Hände geballt, daß die Knöchel hervortraten. Die Männer kauerten an einem bogenförmigen, mit dicken Eisenstäben vergitterten Fenster, durch das Luft wie tagsüber etwas Licht in das Gewölbe drangen. Hilflos hatten sie die Folterung mit ansehen müssen, und die gleiche maßlose Erbitterung zeichnete ihre Gesichter. Inzwischen hatten sie auch herausgefunden, wo die Kerker lagen, in denen die übrigen Geusen mit einem Dutzend anderer Gefangener eingesperrt waren. Hasard wandte den Kopf und spähte aufmerksam zu den Wehrgängen der Außenmauer hinüber. Kein Wachtposten befand sich in Hörweite, also konnten sie zumindest versuchen, mit dem Mann dort unten zu sprechen. Sie verständigten sich mit einem Blick. Jan Joerdans glitt dichter an die Fensterluke heran und beugte sich vor. „Marius!“ rief er flüsternd. Und noch einmal: „Marius! Hier ist Jan Joerdans.“ Ein Ruck ging durch die schlaffe Gestalt in den Ketten. Hasard hatte nicht erwartet, daß der Gefolterte überhaupt noch etwas wahrnahm, aber van Helder mußte tatsächlich ein Mann aus Stahl und Eisen sein. Mühsam hob er den Kopf. Seine Augen flackerten und bohrten sich in die Dunkelheit jenseits des Fensters. „Jan ...“ Die Stimme klang tonlos. „Mein Gott! Also haben sie auch dich ...“ „Noch nicht!“ sagte Joerdans grimmig. „Und dich und die anderen werden sie auch nicht mehr lange haben. Wir holen euch raus, Marius. Aber wir brauchen etwas Zeit. Diese Nacht schaffen wir es wahrscheinlich nicht mehr.“
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„Das ist heller Wahnsinn!“ flüsterte der Gefangene. „Jan, ich kann nicht dulden, daß ihr euch alle ins Verderben stürzt, um ...“ „Wir finden einen Weg. Wir haben Verbündete. Aber jetzt müssen wir verschwinden.“ „Gott schütze euch“, sagte van Helder tonlos. „Und der Teufel hole Spanien! Wir sehen uns wieder ...“ Rasch wandte sich Jan Joerdans ab. Sie konnten nichts tun. Nicht hier und nicht jetzt. Außer vielleicht dem einen: sich so weit wie eben möglich zu beeilen, um vielleicht doch noch in dieser Nacht oder im Morgengrauen zuzuschlagen. Im Schatten der Mauer huschten sie zurück, bis sie Sam Roskill, Al Conroy und Friso Eyck erreichten. Kein Wort fiel. Die Männer warteten, bis sich der patrouillierende Wachtposten auf dem Wehrgang von ihnen entfernte, dann glitt einer nach dem anderen über den gepflasterten Platz und verschwand wieder in dem ausgetrockneten Brunnen. Hasard kletterte als letzter 'abwärts. Erst als sie sich ein paar Schritte in den Stollen zurückgezogen hatten und die Fackeln entzündeten, begann der Seewolf zu berichten. „Diese Dreckskerle!“ flüsterte Friso Eyck erstickt. Joerdans hob beschwichtigend die Hand. „Die. Hauptsache ist, daß er lebt. Und da sie etwas von ihm erfahren wollen, werden sie ihn auch am Leben lassen.“ Er stockte und warf Hasard einen Blick zu. „Die Sache mit dem Schlüssel könnte alles erleichtern, nicht wahr?“ „Allerdings. Aber um die Kanonade kommen wir trotzdem nicht herum. Beeilen wir uns!“ Schweigend folgten sie dem Stollen, bis er auf den natürlichen Felsengang stieß. Knapp zehn Minuten, dann erreichten sie die Mauer, die zum Keller der „Linterna Roja“ gehörte. Von dieser Seite aus ließ sich die Geheimtür leicht mit Hilfe eines Hebels öffnen. Das Licht der Fackeln fiel in den kahlen, düsteren Raum. Rasch
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schlüpften die Männer durch die Öffnung und stemmten sich gegen das Wandstück, um es wieder an seinen alten Platz zu rücken. Hasard kletterte die Leiter hinauf und öffnete mit einem leichten Druck seiner Hand die schwere Luke. Die Hitze des prasselnden Feuers empfing ihn. Während die anderen ebenfalls aus dem Keller kletterten, lauschte der Seewolf gespannt. Irgendetwas war anders als vorher, dann wurde ihm klar, daß die baskischen Musikanten nicht mehr spielen. Na ja, schließlich war es schon ziemlich spät. Vielleicht hatte Miranda Lleones ihre Schenke auch geschlossen, um zu verhindern, daß mehr Leute als unbedingt nötig die Fremden sahen. Das plötzliche Verschwinden der unbekannten Gäste war niemandem aufgefallen. Aber ihr ebenso plötzliches Wiederauftauchen hätte vielleicht doch den einen oder anderen stutzig werden lassen. Hasard glitt an dem Fenster vorbei d schob den Perlenvorhang zur Seite. Tatsächlich, die „Linterna Roja“ war leer. Nur Miranda lehnte am äußersten Ende des langen Schanktischs. Bis auf eine einzige blakende Ölfunzel hatte sie die Lampen gelöscht, und die Dunkelheit lagerte dicht und undurchdringlich im Hintergrund des Gewölbes. Mit einem Schritt glitt Hasard in den Raum. Die Perlenschnüre klirrten, als Sam Roskill, Al Conroy und die beiden Geusen ihm folgten. Über Mirandas Gesicht huschte ein geisterhaftes Lächeln, doch das mochte am unruhigen Flackern der Öllampe liegen. „Ist alles gut gegangen?“ fragte sie tonlos. Jan Joerdans nickte nur. Er stand mit zusammengekniffenen Augen da und schien zu lauschen. Und Hasard wußte, was in ihm vorging, denn auch er selbst spürte die unsichtbar drohende Gefahr mit jeder Faser. „Miranda...“, begann der Geusenkapitän. Ihre Lippen zitterten. „Mein Vater“, flüsterte sie. „Ich mußte es tun ...“
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Und in der nächsten Sekunde überstürzten sich die Ereignisse. * Krachend flog eine Tür auf. Licht fiel aus dem Nebenraum, gleichzeitig wurde es in der Schwärze im Hintergrund des Gewölbes lebendig. Männer stürzten sich aus den Nischen, in denen sie gelauert hatten, schnellten hinter Bänken hoch und fegten Stühle und Schemel beiseite. Messer und Degen blitzten im Fackelschein, der Stahl von Pistolen glänzte. Auch im Eingang der Schenke tauchten Männer auf - und binnen Sekunden sahen sich die Seewölfe und die beiden Geusen von gut zwei Dutzend wilden, bis an die Zähne bewaffneten Kerlen eingekreist, die Schulter an Schulter verharrten und einen dichten Ring bildeten. „Ergebt euch!“ Der Wortführer war ein überraschend kleiner Mann, doch in seinem verwitterten Gesicht lag granitene Härte. „Wir wollen euch nicht töten, also streckt freiwillig die Waffen und ...“ „El Vasco!“ stieß Joerdans hervor. „Ihr seid Basken! Wir kämpfen gegen denselben Feind!“ „Der zweifellos alles daransetzen wird, euch als Gefangene zu sehen“, sagte der Wortführer kalt. „Die Spanier werden froh sein, unsere eingekerkerten Kameraden gegen euch einzutauschen. Hebt eure Hände und ...“ „Verräter!“ schrie Friso Eyck auf. Seine Hand zuckte zum Entermesser, blindlings stürzte er sich auf den kleinen Mann - und damit war der Bann gebrochen. Gefangengenommen und an die Spanier verkauft zu werden - das war das letzte, was die Männer so einfach hinzunehmen gedachten. Ihre Fäuste zuckten zu den Waffen. Die Basken zögerten, ihre Pistolen abzufeuern, weil sie ihre Gegner lebend haben wollten. Außerdem waren sie in der Überzahl und fühlten sich haushoch überlegen. Fast zu spät begriffen sie, daß
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jeder einzelne dieser fünf Männer zwei oder drei Gegner aufwog. Friso Eyck sprang den Anführer der Basken an. Aufschreiend torkelte der kleine Mann zurück. Der Seewolf stand mit einem Sprung mitten unter den Gegnern, packte zwei von ihnen an den Ohren und donnerte ihre Schädel zusammen. Geschmeidig schwang er herum und zog den Degen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jan Joerdans, ebenfalls mit dem Degen, in einem blitzartigen Schlagwechsel die Krummsäbel von drei, vier Basken abwehrte. Al Conroy hieb mit dem Entermesser um sich, Sam Roskill und zwei der Basken wälzten sich ineinander verkrallt über den Boden. Mit einem Rundschlag schaffte sich Hasard Luft und versuchte genau wie die anderen, sich zur Tür durchzukämpfen. Doch von dort erhielt die Übermacht der Gegner jetzt noch weitere Verstärkung. Aus den Augenwinkeln sah der Seewolf, wie ein großer, dürrer Mann Friso Eyck von hinten niederschlug. „Achtung, Joerdans!“ schrie Hasard - zu spät. Der Geusenkapitän hatte der Tür den Rücken gewandt und konnte sich gar nicht umdrehen, da er viel zu heftig von vorn bedrängt wurde. Drei, vier Mann stürzten sich von hinten auf ihn. Der Seewolf schwang den Degen und scheuchte die Angreifer nach allen Richtungen auseinander, doch bevor er sich zu Joerdans durchgesäbelt hatte, ging der Geusenkapitän unter der Flut der Angreifer zu Boden. „Bringt sie nicht um! Ich will sie lebend!“ Die Stimme des Anführers durchdrang den Kampflärm - eine zerquetscht klingende Stimme, die verriet, daß Friso Eycks Kopfstoß es in sich gehabt hatte. Hasard dachte an die Folterkammer der Festung, an den Mann, der dort vergeblich auf Rettung warten würde, und fühlte eine wilde, glutheiße Wut in sich hochsteigen. Einer der Basken brach vor ihm zusammen, ein zweiter torkelte schreiend zurück und wandte sich zur Flucht. Ganz
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kurz konnte Hasard im Getümmel Sam Roskill taumelnd zusammenbrechen sehen. Im nächsten Moment erwischte er selbst einen schweren Hieb. Er ging nicht zu Boden. sondern wirbelte herum. Der Angreifer wurde von der flachen Klinge getroffen und quer durch den Raum vor die Füße seiner anstürmenden Kumpane geschleudert. Hasard fing einen Säbelhieb mit der Parierstange ab, fegte einen bulligen Kerl mit dem Ellenbogen beiseite und setzte mit einem mächtigen Sprung auf den Schanktisch. Irgendwo im Hintergrund des Gewölbes ging Al Conroy mit fliegenden Fahnen unter. Der Anführer der Meute schrie Befehle, auf die im Augenblick niemand hörte. Der Schanktisch zitterte.¬ Ein paar clevere Burschen versuchten, ihn am anderen Ende anzuheben, doch Hasard ließ es gar nicht so weit kommen. Wie ein Panther sprang er über die anstürmenden Gegner weg und landete hinter ihnen. Drei Basken legten sich schlafen, bevor sie überhaupt begriffen, woher der schwarzhaarige Teufel mit den eisblauen Augen so schnell erschienen war. Hasard wirbelte herum und versuchte, sich zu dem kleinen Burschen mit dem verwitterten Gesicht durchzuschlagen. Wenn er es schaffte, dem Anführer der Kerle den Degen an die Kehle zu setzen ...“ Er schaffte es nicht. Bis zu dieser Sekunde hatte sich Jan Joerdans mit letzter Kraft gewehrt, jetzt brach er endgültig zusammen. Hasard stand allein gegen die Meute. Kampffähig war zwar nur noch ein rundes Dutzend, aber das waren selbst für Philip Hasard Killigrew ein paar zuviel. Die Kerle stürzten sich geschlossen auf ihn. Er wehrte sich wie ein Tiger, schlug verzweifelt um sich — und dann wurde er gleich zweimal am Kopf getroffen und fühlte seine Knie weich werden. Schwärze flutete in sein Gehirn.
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Seewölfe 159 44
Er spürte nichts mehr. Keuchend, schwitzend, mit flackernden Augen ließen die Basken schließlich von ihm ab, starrten auf ihn hinunter und sahen aus, als sei ihnen soeben eine völlig neue Spezies Mensch begegnet. „Fesseln!“ befahl El Vasco, der sich immer noch die Stelle rieb, wo ihn Friso Eycks Kopfstoß getroffen hatte. Die Männer beeilten sich, schnürten ihren Opfern die Hände auf den Rücken und fesselten ihnen die Knöchel aneinander. El Vasco überzeugte sich, daß sie alle fünf noch lebten und lediglich Beulen und Kratzer davongetragen hatten. Von seinen eigenen Leuten dagegen waren vier. ziemlich schwer verletzt. El Vasco begriff immer noch nicht, wie es möglich gewesen war, daß dieser verlorene Haufen einer so eindeutigen Übermacht derart zugesetzt hatte.
Vagabunden zur See
Jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Hastig wurden die fünf Bewußtlosen aus der Schenke geschleift, auf einen flachen Bauernkarren geworfen und mit einer Plane zugedeckt. Minuten später setzte sich der Wagen rumpelnd und ächzend in Bewegung und schlug den Pfad ein, der an der Festung vorbei ins Landinnere führte. Miranda Lleones sah dem schwankenden Gefährt nach, bis es in der Dunkelheit verschwand. Sie dachte an die Männer, die ihr vertraut hatten. Männer, die entschlossen gewesen waren, alles zu wagen, um ihre Freunde aus den Kerkern und Folterkammern der Spanier zu befreien - und die nun selbst an die Spanier verschachert wurden Mirandas Herz zog sich zusammen, und in ihren großen dunklen Augen glänzten Tränen...
ENDE