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EIN CYBERPUNK-ROMAN Während die Menschen im Raum, zwischen Mond und der Oortschen Wolke, in zahllosen Gruppen und Gesellschaften ein mehr oder weniger individualistisches Leben führen, ist es auf der Erde zu einerfolgenschweren Entwicklung gekommen: die Milliarden Erdbewohner sind zum »Einschluß« geronnen, einem zentralgesteuerten Kollektivwesen mit zahllosen Augen, Ohren und Händen, das eifersüchtig über seine Einflußsphäre wacht und nicht selten in selbstmörderischen Aktionen darüber hinausgreift, um an Daten heranzukommen und Einfluß zu nehmen. Dies ist die Geschichte von Rebel Elisabeth Mudlark, der geklonten »Tochter« einer biogenetischen »Zauberkünstlerin«. Sie kommt im Auftrag ihrer»Mutter«von den Kometenwelten der Oortschen Wolke ins Innere Sonnensystem. Nach einem Unfall findet sie sich im Körper von Eucrasia Walsh wieder, einer Testperson der Deutsche Nakasone GmbH, die ihre Persönlichkeit aufzeichnen und daraus ein neues Persönlichkeitsprofil für Millionen potentielle Käuferinnen entwickeln will, was Rebels Tod bedeuten würde. Auf der Flucht vor den Häschern der Deutsche Nakasone, gerät sie in die Auseinandersetzung zwischen Raumbewohnern und dem »Einschluß«, der seine Aktivitäten bis zu den Marsmonden und den Asteroidensiedlungen ausdehnt. Ein farbenprächtiger Abenteuerroman, der die raumfahrende Menschheit ganz anders darstellt als die Hochglanzprojekte der NASA und derLagrange-Gesellschaft.
MICHAEL SWANWICK
Vakuumblumen Roman
Mit einem Nachwort von NORMAN SPINRAD
Deutsche Erstausgabe Science Fiction
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4636
Titel der amerikanischen Originalausgabe VACUUM FLOWERS Deutsche Übersetzung von Peter Robert Das Umschlagbild schuf Michael Hasted
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1987 by Michael Swanwick Copyright © 1990 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1990 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-03898-3
DANKSAGUNG Dank gebührt Marianne für den Namen der Pequod, für das Gewebe, das sich zu undifferenzierten Zellen zurückbildet, und für die ersten Spuren von Leben in einem Tropfen abgestandenen Wassers, Jack Dann für das Puschkin-Zitat, Bob Walters für die Plesiosaurier und das Design von Wyeths Raumanzug, Greg Frost und Tim Sullivan für ihre Ratschläge in letzter Minute, Tom Purdom für das Bier zum Frühstück, Gardner Dozois aus den üblichen Gründen und Virginia Kidd für ihre Geduld. Finanzielle Unterstützung erhielt ich vom M. C. Porter Endowment for the Arts. Und besonderen Dank schulde ich Mario Rups, Ed Bryant und Don Keller für ihre nervtötenden Bemerkungen.
Für Gardner Dozois
1 Rebel SIE WUSSTE NICHT, DASS SIE GESTORBEN WAR. Tatsächlich war sie bereits zweimal gestorben – beim erstenmal durch einen Unfall, später jedoch durch Selbstmord. Jetzt hatte das Unternehmen, dem sie gehörte, beschlossen, daß sie noch einmal sterben sollte, um in den nächsten paar Monaten als Brennstoff für eine Million Wegwerfleben zu dienen. Aber davon wußte Rebel Elizabeth Mudlark nichts. Sie wußte nur, daß etwas nicht in Ordnung war und daß niemand mit ihr darüber sprechen wollte. »Warum bin ich hier?« fragte sie. Das Gesicht des Arztes tauchte über ihr auf. Es war schmal und von einer Dämonenmaske aus roter und grüner WetwareFarbe bedeckt, die sie fast identifizieren konnte. Es trug dieses fürchterliche programmierte Lächeln zur Schau, das beruhigend wirken sollte. Die Mundwinkel schoben seine Wangen zu kleinen runden Kugeln zusammen. Er sah sie mit diesem zähnebleckenden Totenkopfgrinsen an. »Ach, darüber würde ich mir keine Gedanken machen«, erwiderte er. Eine Reihe von Nonnen schwebte über ihr vorbei. Ihre Brüste wippten unschuldig, und ihre Schleier waren gestärkt und weiß. Sie trieben in der Magnetstrecke längs der Achse des Stadtkanisters dahin, so anmutig wie kleine Schiffe. Es war ein durchaus normaler Anblick, sogar irgendwie heimelig. Aber dann schaltete Rebels Wahrnehmung abrupt um, und die
Nonnen waren unsagbar fremdartig, wie sie da mit dem Kopf nach unten vor den riesigen Fensterwänden vorbeitrieben, hinter denen die endlosen Weiten in Nachtdunkel gebetteter heller, glitzernder Sterne eine kalte Pracht entfalteten. Sie mußte so etwas schon tausendmal gesehen haben, aber jetzt schrie ihr Geist ohne Vorwarnung fremdartig fremdartig fremdartig, und sie konnte nicht schlau daraus werden, was sie sah. »Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte Rebel. »Manchmal weiß ich nicht mal genau, wer ich bin.« »Also das ist völlig normal«, beruhigte sie der Arzt, »unter diesen Umständen.« Er verschwand hinter ihrem Kopf. »Schwester, würden Sie sich das mal anschauen?« Jemand, den sie nicht sehen konnte, gesellte sich zu ihm. Sie berieten sich leise. Rebel knirschte mit den Zähnen und sagte: »Ich nehme an, sowas erleben Sie jeden Tag.« Sie beachteten sie nicht. Der Duft der Rosen in den Trennhecken war schwer und unangenehm und so dick, daß er einem die Luft raubte. Der Verkehr an der Achse entlang ging weiter. Wenn sie auch nur imstande gewesen wäre, einen Arm zu bewegen, hätte Rebel gewartet, bis der Arzt sich zu dicht über sie beugte, und dann versucht, die Wahrheit aus ihm herauszuwürgen. Aber sie war bewegungsunfähig; sie konnte nicht einmal den Kopf drehen. Sie konnte nur zu den vorbeischwebenden Leuten und den Sternen hinaufstarren, die monoton vorüberzogen. Die Wohnstreifen auf beiden Seiten über ihr waren mit Plattformen und falschen Hügeln versehen, die sich wie Inseln aus einem Sternenmeer erhoben. An ihren Küsten wagten sich hin und wieder Gruppen von Ausflüglern auf den Fensterboden, schwarze Pünktchen, die man nur sehen konnte,
wenn sie Sterne oder andere Kanisterstädte verdeckten. Der fremde Planet zog wieder vorbei. »Wir werden mit der Operation noch einen Tag warten müssen«, meinte der Arzt schließlich. »Aber ihre Persönlichkeit hat sich hervorragend stabilisiert. Wenn sich ihr Zustand nicht wesentlich ändert, können wir morgen schneiden.« Er ging zur Tür. »Warten Sie einen Moment!« rief Rebel. Der Arzt blieb stehen, drehte sich um und sah sie an. Tote, von Farbe umschlossene Augen unter einem Schopf roter Haare. »Habe ich meine Einwilligung zu dieser Operation gegeben?« Wieder sah er sie mit diesem beruhigenden Lächeln an, das sie rasend machte. »Oh, ich glaube nicht, daß das wichtig ist«, sagte er. »Sie etwa?« Bevor sie antworten konnte, war er fort. Als die Schwester die Haftscheiben an Rebels Stirn und hinter ihren Ohren befestigte, beugte sie sich kurz in Rebels Sichtfeld. Sie war eine Nonne, eine massige Frau mit einem Doppelkinn und Augen, in denen Visionen von Gott brannten. Früher, als Rebel noch groggy und nur halb bei Bewußtsein gewesen war, hatte sie sich als Schwester Mary Radha vorgestellt. Jetzt sah Rebel, daß die Schwester an ihrer eigenen Wetware herumgebastelt hatte – ihre mystischen Funktionen waren so weit aufgerissen, daß sie kaum noch funktionsfähig war. Rebel wandte den Blick ab, um ihre Gedanken zu verbergen. »Bitte einschalten«, murmelte sie. Das flache Video am Fußende ihres Bettes ging an; es zeigte den enzyklopädischen Eintrag für medizinische Codes. Hastig schaltete sie auf etwas Harmloses um. Einfach strukturierte atmosphärische Methan-Ökologien.
Sie tat so, als ob sie von dem Text völlig in Anspruch genommen sei. Als die Schwester dann gehen wollte, sagte Rebel beiläufig: »Schwester? Das Video hat einen ungünstigen Winkel für mich. Könnten Sie's ein bißchen nach vorn kippen?« Die Nonne gehorchte. »Ja, so. Nein, noch ein bißchen … perfekt.« Rebel lächelte warm, und Schwester Mary Radha badete einen Moment lang in dieser Manifestation allumfassender Liebe. Dann schwebte sie hinaus. »Scheiß Betschwester«, murmelte Rebel. Dann sagte sie zu dem Video: »Danke.« Es schaltete sich aus. Die Frontfläche des Geräts war glatt und poliert. Wenn es abgeschaltet war, spiegelte sich darin dunkel das Fußende von Rebels Bett und die medizinische Codeliste, die dort hing. Rebel entschlüsselte rasch die seitenverkehrten Symbole. Dort waren zwei vereinfachte Persönlichkeitsräder; an dem einen stand ›Original‹, an dem anderen ›Gegenwärtig‹. Sie sahen sich nicht im geringsten ähnlich. Ein weiteres Symbol für die Vorbereitung zur Wetware-Operation und drei weitere, die zusammengefaßt bedeuteten, daß sie keine besondere ärztliche Behandlung brauchte. Und darunter eine einzige Zeile in Druckschrift, wo ihr Name hätte stehen sollen. Rebel las es zweimal, Buchstabe für Buchstabe, um sich zu vergewissern, daß sie sich nicht irrte: EIGENTUM VON DEUTSCHE NAKASONE GMBH
Wut stieg in Rebel hoch wie ein wildes weißes Tier. Sie biß die Zähne zusammen, zog die Lippen zurück und versuchte nicht, dagegen anzukämpfen. Sie wollte diese Wut spüren. Sie war ihr Verbündeter, ihr einziger Freund. Sie tobte durch ihren gelähmten Körper, ein heißer Sturm von Fangzähnen und Klauen und Gewalt. Dann überschwemmte die Wut ihre Selbstwahrnehmung und riß sie in die Tiefe. Sie ging unter und wurde in das dunkle Chaos der Hilflosigkeit dort unten hinabgetragen, in die trübe Verzweiflung, die keinen Namen und keinen Sinn hatte, wo sie ihr Gesicht, ihren Körper und ihr innerstes Ich verlor. Sie war ein Dämon, der blind zusah, wie Menschen durch die Luft strömten und Sterne zur Seite glitten, und der sie alle haßte. Der den Wunsch verspürte, sie samt und sonders in ihren Händen zu zerquetschen, Städte und Sterne und Menschen gleichermaßen, und sie zu einem breiigen kleinen Klumpen zu kneten, während sie lachte und schwarze Tränen von ihren Augen herabrannen … Als sie aus ihrer Fugue herauskam, fühlte sie sich schwach und deprimiert. »Sag mir bitte, wie spät es ist«, verlangte sie, und das Video gehorchte. Vier Stunden waren vergangen. Eine Frau trat in die Nische, ein hageres Geschöpf mit grünem Gesicht und einem Ledergeschirr mit Werkzeug, irgendeine untergeordnete Biotechnikerin. Vor sich hinsummend begann sie die Wände zu pflegen. Sie arbeitete methodisch und wie besessen; ab und zu hielt sie inne, um eine Rose wieder an ihren Platz zu zupfen. »He, Kumpel«, sagte Rebel. »Tu mir einen Gefallen!« Ihre
Lethargie schwand, als das Adrenalin zu fließen begann. Sie warf der Frau ein Lächeln zu. »Hmm? Ah! Äh … was ist?« Mit einer sichtlichen Anstrengung ließ die Frau von ihrer Arbeit ab. »Ich komm in ein paar Stunden raus, und niemand hat sich drum gekümmert, daß ich was zum Anziehen kriege. Könnten Sie beim Rausgehen mal da vorbeischauen, wo immer das ist, und mir was rüberschicken lassen?« Die Frau machte ein erstauntes Gesicht. »Oh. Äh … klar, ich glaub schon. Sollte sich Ihre Schwester nicht darum kümmern?« Rebel rollte die Augen. »Die sieht eine universelle Bestimmung in den Sternen und den Sinn des Lebens im Wachstum einer Rose. Beim Kleinkram ist sie nicht so gut. Wissen Sie, was ich meine?« Keinem, der in einem Krankenhaus arbeitete, wo Ordensschwestern den Pflegedienst versahen, würde es schwerfallen, das zu glauben. »Tja … Na gut, warum nicht?« Die Frau machte sich wieder an ihre Arbeit, sichtlich erleichtert, daß die Unterhaltung vorbei war. Zweige und Blätter rieselten von ihren Fingern herab. Als sie ging, war Rebel sicher, daß die Frau ihr Versprechen vergessen hatte. Aber eine Stunde später kam ein Pfleger herein und legte wortlos einen Umhang auf den Tisch neben ihrem Bett. »Scheißkerl«, sagte Rebel leise. Sie würde tatsächlich aus dem Laden hier abhauen! Rebel schlief ein bißchen. Als sie aufwachte, brachte sie eine qualvolle Stunde damit zu, auf die Leute zu starren, die durch das ewige Zwielicht schwebten, bevor Schwester Mary Radha
zurückkam. Der Bauch der Nonne hing über ihren Gürtel, und sie war so stark mystisch aufgedreht wie immer. »Schwester«, sagte Rebel, »die Leitungen in meinen Haftscheiben haben sich verstellt. Würden Sie sich die mal ansehen?« Dann, als die Hände der Frau tief in den Drähten steckten, sagte sie: »Wissen Sie, es gibt einen Vers von einem Ihrer Propheten, der mir durch den Kopf gegangen ist. Aber ich hab einen Teil davon vergessen. Er fängt so an: ›Von Seelendurst schier ausgebrannt, Wankte ich hin auf Wüstenwegen. Ein Seraph mit sechs Flügeln stand Am Kreuzweg meinem Schritt entgegen.‹ Kennen Sie den? Dann geht es weiter« – sie schloß die Augen, als ob sie versuchte, sich die Worte ins Gedächtnis zu rufen … »›Sein Finger, der dem Traume glich, Mir über meine Augen strich, Die er zu Seherkraft erweckte, Sowie beim Aar, den Grauen schreckte. Er rührte an mein taubes Ohr …‹ und den Rest hab ich vergessen.« Schwester Mary Radhas Hände hörten auf, sich zu bewegen. Einen stillen, ausgedehnten Moment lang sagte sie nichts. Dann schaute die Nonne in die unendlichen Tiefen der Nacht hinauf und murmelte: »Sankt Puschkin.« Ihre Stimme hob sich.
»›Er rührte an mein taubes Ohr … Da ward's erfüllt vom Engelchor Und ich vernahm der Himmel Beben, Der Meeresungeheuer Sprühn, Der duft'gen Reben Auferblühn, Und überird'scher Geister Schweben. Ihm klaffte offen mein Gebiß, Draus er die sünd'ge Zunge riß …‹« Sie bog den Rücken durch und erbebte in religiöser Ekstase. Ihre Hände zuckten krampfhaft. Eine der Haftscheiben wurde seitwärts weggerissen, und Rebels Kopf fiel zur Seite. Aber sie war immer noch gelähmt. »Schwester«, sagte Rebel leise. »Schwester?« »Mmmm?« erwiderte die Nonne verträumt. »Der Doktor wollte, daß Sie meine Lähmung jetzt aufheben. Wissen Sie noch? Er hat mich gebeten, Sie daran zu erinnern.« Rebel hielt den Atem an. Dies war der Augenblick, wo sie entweder die Freiheit gewann oder alles verlor. Es hing nur davon ab, wie lange Schwester Mary Radha brauchte, um wieder in die Realität zurückzufinden. »Oh«, sagte die Nonne. Sie fummelte an einem Schalter herum und veränderte zögernd zwei Einstellungen. So langsam wie eine Schlafwandlerin nahm sie die Scheiben ab. Dann schüttelte sie den Kopf, lächelte vage und schlenderte hinaus. Rebel atmete aus. Sie konnte sich bewegen! Aber für eine lange Minute tat sie es nicht, sondern entschied sich statt dessen dafür, blicklos nach oben zu starren. Die Erinnerung an ihr
Spiegelbild auf dem Video, so verkürzt und verzerrt es auch gewesen war, erfüllte sie mit Furcht und nagelte sie auf das Bett. Endlich sammelte sie ihren Mut, hob behutsam und stockend einen Arm und hielt ihn vor ihre Augen. Sie drehte ihn langsam. Der Arm war heil, und seine Muskeln bewegten sich geschmeidig. Die Haut war von weichem, italienischem Braun, narbenlos und mit einem leichten Flaum feiner dunkler Haare bedeckt. Die Finger waren kurz, die Nägel von einem perlmuttartigen Rosa. Entsetzt richtete sich Rebel kerzengerade auf und schaute auf ihren Körper hinunter. Ihre Brüste waren rund und voll. Ihre Schenkel waren ein bißchen dick, aber trotzdem muskulös. Das Krankenhaus hatte ihr aus Gründen des Anstands ihr cache-sexe angelassen, aber darüber marschierte eine Linie schwarzer Haare wie Ameisen über ihren Bauch nach oben. Ihre Beine waren kurz, funktionell und kräftig. Es war ein guter, gesunder Körper. Aber es war nicht ihr Körper. Rebel Elisabeth Mudlarks Körper war lang und hager, mit knubbeligen Ellbogen und Knien. Ihre Haut war so weiß wie Porzellan, und sie hatte mausbraune Haare. Ihre Hände und Füße waren lang und schmal; sie hatte die Finger eines Künstlers und die Zehen eines Konzertpianisten. Fast das genaue Gegenteil des Körpers, den sie jetzt besaß. Ich drehe durch, dachte Rebel. Gleich schreie ich. Aber sie tat keins von beidem. Sie stand auf und prüfte ihre Bemalung in der Obsidianfläche des Videos. Sie ignorierte das fremde runde Gesicht mit der Stupsnase und den dunklen Augen – Augen, aus denen ihr tierische Angst entgegenblitzte. Eine rote Linie ging von einem Ohr zum anderen, wie eine
Maske, mit spitzen Flügelkonturen, die sich über die Brauen nach oben schwangen. »Bitte einschalten«, sagte sie und schlug es unter den Wetware-Codes nach. Logischerweise identifizierte die Bemalung sie als Krankenhauspatientin, die für eine Wetware-Operation vorbereitet wurde. Die Bemalung verschmierte. Sie brauchte nur eine Sekunde, um die Zeichnung zu ›Patientin vor der Entlassung nach einer Wetware-Operation‹ zu ändern. Jetzt erstreckten sich zwei kleine Antennen von ihren Augen nach unten, und ein zweites Flügelpaar sproß auf der Stirn. Sie legte den Umhang um, setzte die Kapuze auf und trat aus ihrer Nische auf einen gepflasterten Gehweg. Der Weg führte zwischen hohen, ineinander verwinkelten Rosenhecken hindurch. Rebel wurde von einem Strom von Krankenhauspersonal in Gewändern mitgeschwemmt, die zu ihren aufgemalten Gesichtsmasken paßten – Grün für Chirurgie, Blau für Diagnostik, Rot für Wetware –, sowie von einem Rinnsal von Zivilisten mit ihren Umhängen. Sie schritten energisch und mit ausdruckslosen Mienen dahin, so in sich selbst versunken wie Roboter. Rebel bewegte sich unsichtbar in ihrer Mitte; sie glitt auf Zehenspitzen dahin, da es ein Bereich mit niedriger Schwerkraft war. Zuerst bewegte sie sich voller Selbstvertrauen; der Umhang flatterte hinter ihr her. Dann teilte sich der Gehweg erst einmal, dann noch einmal, und sie verirrte sich hoffnungslos in dem Rosenlabyrinth zwischen den Hunderten von Nischen, wo die Patienten so dichtgedrängt wie Larven in einem Bienenstock lagen. Sie fühlte sich übergangslos nackt und bloßgestellt und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie man ging. All diese
komplexen Bewegungen. In Panik zog sie den Umhang fester um sich und stolperte. Die Zombies strudelten an ihr vorbei und traten geschickt beiseite, während sie darum kämpfte, das Gleichgewicht zu halten. Kalte Gesichter warfen ihr rasche Blicke zu und schauten dann weg. Als sie gerade hinfallen wollte, streckte sich ein Arm aus und packte ihren Ellbogen, und sie wurde unelegant auf die Beine gezerrt. Sie drehte sich um und stellte fest, daß sie in ein schmales Fuchsgesicht schaute, über das sich eine einzelne schräge, orangerote Wetware-Linie zog. Der Fremde lächelte mit verkniffenem Mund und scharfen kleinen Zähnen. Der Griff, mit dem er ihren Arm direkt über dem Ellbogen festhielt, tat weh. »Hier entlang«, sagte er. »Ist schon in Ordnung, Kumpel«, sagte Rebel rasch. »Ich bin bloß gestolpert. Zeigen Sie mir, wo's rausgeht, und ich bin Ihnen dankbar.« »Ach Quatsch«, sagte der Mann. »Die hätten dich längst erwischt, wenn schon jemand wüßte, daß du vermißt wirst.« Rebel riß ihren Arm los und merkte, daß ihr neuer Körper, mit dem sie noch nicht vertraut war, von der Adrenalinausschüttung zitterte. Der Mann lächelte herablassend. »Hör zu, ich kenne jemand, der dir aus diesem Schlamassel raushelfen kann. Willst du sie kennenlernen oder nicht?« Sie befanden sich auf dem Gebirgsgrat ihrer Wohninsel, wo die riesigen Druideneichen wuchsen. Eine davon breitete ihre Äste über das Labyrinth von Geschäften und Gaststätten gleich neben dem Krankenhaus aus. Ihr Stamm reichte halbwegs bis
zur Achse. Während sie dahinschlenderten, schaute Rebel hinauf und sah ganz oben Sterne blinken; sie tauchten in den Lücken zwischen den Blättern auf und verschwanden wieder. »Tolle Nummer, aus einer vollständigen therapeutischen Lähmung heraus abzuhauen«, sagte der Mann. »Ich wüßte liebend gern, wie du das angestellt hast.« Dann, als sie nicht antwortete: »Hey. Ich heiße Jerzy Heisen.« Zwischen den Ästen segelten ganz langsam Blätter herab. Sie bewegten sich kaum in dem Staub, der in der Luft hing, als ob diese dicker geworden sei, um sie aufzuhalten. In dem weichen Licht waren der Staub und die Blätter in einer Reglosigkeit vereint, die in Wirklichkeit eine langsame, unermüdliche Bewegung war, ein endloses Kreisen, so schwerfällig und unvermeidlich wie die Rotation von Spiralgalaxien. »Ach, wirklich?« Rebel wünschte, sie könnte auf den Baum klettern, in die Zweige und die welken Blätter hinein, die schwerelos in der Luft hingen und den gewaltigen Gezeitenfronten zu Hause so sehr ähnelten. »Ihren wissenden Andeutungen nach kann ich mir die Mühe sparen, mich vorzustellen.« »Oh, ich weiß alles über dich.« Sie kamen zwischen Schaukästen mit Körperschmuck durch; versilberte Armbänder, von denen einige mit funkelnden Monddiamanten, Prallsmaragden und sogar kolumbianischem Turmalin besetzt waren, schimmerten weich unter blauen Punktstrahlern. »Du bist eine Persönlichkeitsstreunerin. Im Moment leidest du unter einer schweren Persönlichkeitslöschung – die du dir übrigens selbst zugefügt hast – und wirst von einer prototypischen Identitätsüberlagerung aufrechterhalten, die strenggenommen Eigentum der Deutsche Nakasone Gesellschaft ist. Dein Name ist Eucresia
Walsh.« »Nein, ich heiße …« Sie hielt verwirrt inne. Der Name klang auf verrückte Weise tatsächlich vertraut, als ob Heisen allem Häßlichen in ihr einen Namen gegeben hätte, allem Selbstmitleid und verletztem Haß, worin sie versank, wenn sich ihre Stimmung trübte. Der schale, staubige Geschmack der Niederlage und eines müden Schuldgefühls stieg in ihr hoch, und sie zog den Kopf ein. Heisen ergriff ihren Ellbogen und schob sie weiter. »Wir sind ein bißchen durcheinander, was? Na, das ist völlig normal«, sagte er, »unter diesen Umständen.« Daraufhin sah sie ihn direkt an, und etwas an seinem kleinen, verkniffenen Gesicht, der langen, schmalen Nase, diesem Schopf roter Haare … Sie kannte dieses Gesicht. Es erforderte nur ein wenig Phantasie, um es sich unter einer Dämonenmaske aus roten und grünen Linien vorzustellen. »Sie sind mein Arzt!« »Dein Wetware-Chirurg, ja.« Der Weg führte über einen Teich hinweg, der dicht mit Wasserlilien bedeckt war. Pierrots bedienten an Tischen am Rand des Gewässers. »Aber keine Sorge, ich bin programmfrei. In meiner Freizeit würde ich nicht mal meinen schlimmsten Feind an diese Scheißkerle von Deutsche Nakasone ausliefern. Nicht, daß ich die Wahl hätte, wenn ich programmiert bin …« Die Menge verdichtete sich, wurde langsamer und blieb stehen. »So. Jetzt fahren wir in die Unterstadt.« Die Fahrstühle befanden sich am Stamm des Druidenbaums. Der Vakuumschacht war ein Tunnel, der direkt durch das Gewirr der Wurzeln führte. Die Kabinen waren schmutzig und
grell beleuchtet, und eine Wolke von Urin und abgestandenem Schweiß stieg aus ihnen auf. Als die Menge vorwärtswogte, schaute Rebel sehnsüchtig nach oben, und in ihrer Phantasie lief ein rascher Film ab: Sie würde sich aus dem Gedränge freikämpfen und so flink wie ein Eichhörnchen am Baumstamm hochklettern, immer schneller, je höher sie kam und je geringer die Schwerkraft wurde, während sie sich von Ast zu Ast schwang. Und wenn sie dann ganz oben angelangt war, würde sie die Knie an die Brust ziehen, die Zehen in die Rinde stemmen und springen … würde sich mit straff gespanntem, gestrecktem Körper hoch in die Luft aufschwingen, wobei sie immer langsamer wurde, bis sie im letzten Moment die Achse berührte, wo sie die Magnetstrecke erfassen und in der Zeit, die man zum Luftholen brauchte, zu einem weit entfernten Ort mitnehmen würde. (Aber sie hatte weder die Armbänder noch die Beinringe, die man brauchte, um vom Magnetfeld erfaßt zu werden. Sie würde wie ein Stein hinunterfallen, zuerst mit quälender Langsamkeit, dann immer schneller, ein flügelloser Ikarus, der im Bogen in die Tiefe stürzte und zerschmettert auf den Gehwegen der Stadt liegenblieb. Es war ein dummer Wachtraum.) »Deutsche Nakasone wird dich suchen. Ist dir das klar?« Sie stiegen zusammen mit hundert anderen in eine Kabine. Die Türen schlossen sich seufzend, und der Boden sank nach unten. »Sie wollen eine saubere Aufzeichnung von deiner Persönlichkeit haben. Und dann wollen sie dich wieder zu Eucresia Walsh machen. Aus reiner unternehmerischer Herzensgüte, fragst du? Quatsch! Sie machen sich bloß Sorgen, daß sie ihr Copyright behalten.« Heisens Gesicht war so nah an ihrem, daß sich ihre
Kapuzen berührten. Sein Atem roch sauer, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Es ist ihnen völlig egal, daß es für dich – für dein gegenwärtiges Ich, für den Menschen, für den du dich hältst – dasselbe sein wird, als ob du stirbst.« Eine Kabine blieb zurück, um Passagiere aussteigen zu lassen; die übrigen fuhren weiter nach unten. Ein schwarzweiß bemalter Rude Boy mit einem Metallstern um den Hals machte Rebel an; er stemmte eine Faust in die Hüfte und schlug seinen Umhang zurück, um einen körperlangen Streifen nackter Haut zu entblößen. Sie wandte den Blick ab und zog ihren Umhang fester um sich, und er lachte. »Aber warum? Warum tun sie mir das an?« Heisen seufzte. »Die Sache ist ganz einfach«, sagte er, »wenn auch häßlich. Erinnerst du dich daran, daß du Eucresia warst? Daß du als Persönlichkeitsstreunerin gearbeitet hast?« Die Erinnerung war da, aber sie war schmerzhaft, und Rebel scheute vor ihr zurück. Sie war mit der selbstmörderischen Raserei gekoppelt, in die sie früher verfallen war, und sie wollte davon Abstand halten. Aber wie eine Zunge, die immer wieder an einem schmerzenden Zahn herumtastet, hatten ihre Gedanken einen eigenen Willen. »Mein Gedächtnis ist ein einziges Durcheinander.« Eine weitere Kabine blieb stehen, dann noch eine. Sie traten zurück. Heisen ließ seinen Blick über die ausdruckslosen Gesichter um sie herum schweifen. »Ich sag dir was, laß uns das hier nicht vertiefen. Könnte sein, daß es jemand hört. Ich erzähl dir die ganze Geschichte, wenn wir bei Snow sind.« Der Fahrstuhl ging auf. Warme, dampfende Luft schlug Rebel entgegen. So weit unten war die Schwerkraft höher als der
normale Greenwich-Wert, und sie kam sich unbeholfen und tapsig vor. Sie wurden in eine weite Höhle ineinander verschachtelter Tang-Bars und Salons für kosmetische Chirurgie, Spielhallen und Messerbasare geschoben. Ein wehendes Holobanner fiel ihr ins Auge, und sie zuckte zusammen. Drei Melodien prallten aufeinander; die unterschwelligen Einlagerungen machten sie nervös und unruhig. Schweiß trat ihr aus allen Poren. Ich war schon mal hier, dachte sie. Nein, war ich nicht. »In die Bakuninstraße«, sagte Heisen. Fern von den Aufzügen zur Oberstadt wurden die Geschäfte spärlicher; dazwischen erstreckten sich ebenholzfarbene Flächen mit Häuserfundamenten und Wohnbereichsträgern. Gleißendes Licht strahlte auf, als sie an einem Wetware-Einkaufszentrum vorbeikamen, und Heisen blieb stehen und zeigte hinein. Rebel machte große Augen: Kunden schoben sich durch schmale Gänge und wühlten mit langsamen Händen in den endlosen Regalen. Ab und zu hob jemand einen Wafer hoch und steckte ihn in eine der Programmierzellen, die die Rückwand säumten. Werbeholos leuchteten über ihren Köpfen auf: SUZY VAKUUM hieß eines. Sie sah wie eine Amazone aus. Der schönste Junge, den Rebel je gesehen hatte, schwebte über dem einzelnen Wort ANGELUS. Und dann entdeckte sie das Rebel Elisabeth Mudlark-Banner. Vor einem Sternenhintergrund hob sich eine Frau ab, die nicht sie war, und tat etwas, was sie nie tun würde. Rebel starrte das Holo entsetzt an. »Siehst du die kleinen Kometen im Hintergrund? Ihr Baumhänger seid in dieser Saison groß in Mode.« Rebel wandte Heisen ihr verblüfftes Gesicht zu. Er zuckte die Achseln.
»Eine Vorankündigung. Sie haben eine Menge Geld in dich investiert. Ich wollte, daß du siehst, was für ein kostspieliges kleines Stück Entwicklungswetware du bist. Komm!« Es ging durch einen Gleitweg in einen Zugangskorridor mit langen Strecken aus schwarzem Spannbeton. Im unteren Bereich waren Parolen in Farben, die im Dunkeln leuchteten, primitiv mit Permaspray aufgesprüht, eine über der anderen, ein wirres und fast unzusammenhängendes Durcheinander. BLEIB DU SELBST, GOTT HASST DICH wurde überlagert von FREIERGEISTFREIERGEISTFREIERGEIST, was über HIRNE BRENNEN HELL wegtobte, bevor es in ZUR HÖLLE MIT FORMWANDLERN GESICHTSTÄNZERN WERWOLFVAMPIREN hineinkrachte. Jemand hatte sich echte Mühe gegeben, ein Kreislogo mit den Worten ERDE FREUND darüber zu beseitigen. Unter der Graffiti saß ein Arbeiter mit dem Gesicht zur Wand auf einer Kiste. Er hatte eine Abdeckung abgenommen und war zu einem Cyborg geworden, der an ein Gewirr farbig codierter Leitungen angeschlossen war. Hinter einer Ecke kamen sie an einer Schlingenstadt vorbei. Die Ausgebrannten taumelten auf der Suche nach milden Gaben auf sie zu. Sie plapperten endlos und monoton vor sich hin; in ihren verfaulten Gehirnen war nur noch Platz für Gott, Sex und banalste Informationen, ihre Reflexe waren zerrüttet, ihre Augen leer, und ihre Gesichter zuckten. Heisen zischte und beschleunigte seine Schritte. »Abschaum!« keuchte er, sobald sie sicher an ihnen vorbeigekommen waren. »Man sollte sie …« Sie bogen in einen noch engeren Gang ein, wo der auf dem Boden liegende Abfall dünn abgedeckt war und zu gären begann. Der Gestank von verfaulendem Tintenfisch und altem
Fett hing in der Luft, und Rebels Schuhsohlen wurden schwarz. Rebel warf Heisen einen Blick zu und sah erschrocken, daß der Mann zitterte. Schweiß lief über sein Gesicht, das so weiß wie ein Fischbauch war. »Verdammt noch mal, Mann«, sagte sie. »Was ist los mit Ihnen?« »Ist bloß die Wetware.« Heisen zeigte mit einer Hand auf sein Gesicht. »Ich hab die imaginativen Prozesse immer weit aufgerissen, damit ich die große Chance schnell ergreifen kann, okay? Macht mich aber ein bißchen … ah … paranoid.« Sie kamen durch einen schräg nach unten führenden Korridor, wo die meisten Deckenlampen eingeworfen oder gestohlen waren. Lüftungsventilatoren brummten im Schatten. Ein schwarzes Kabelgewirr hing von der Decke herunter; sie mußten sich bücken, um unter den untersten Schlaufen durchzukommen. »Zum Teufel mit ihr«, sagte Heisen verärgert, »sie muß ihr Büro nicht hier unten haben. Sie will einfach all diesen Raum haben. Ich wünschte …« Sie bogen um die letzte Ecke, und er zeigte auf eine Tür, die vom Schmutz der Stadt grau war. »Hier.« Über dem Türrahmen hing ein flackerndes Neonspringmesser, ein Stück antiker Technologie, dessen Restaurierung ein Vermögen gekostet haben mußte. Es summte und knisterte und färbte die Schatten rot. Die Klinge des Messers blinkte auf und erlosch, als ob es aus dem Griff springen und wieder einschnappen würde. Mitten auf die Tür war ein kleines weißes Rechteck geklebt, eine Geschäftskarte:
snow die schneide kropotkin-korridor, bei der berkman-galerie Unterstadt ost neu-hoch-kamden, E. K. »Snow?« sagte Heisen unsicher. Die Tür ging auf, und sie traten ein. Was immer Rebel erwartet haben mochte, das war es nicht: ein Raum, der so groß und leer war, daß sie seine Größe nicht abschätzen konnte. Wände aus eierschalenartigem Material, weiß und ohne irgendwelche Merkmale. Keine Möbel. Der einzige Gegenstand im ganzen Raum war ein kleiner Gebetsteppich in der Mitte. Eine einsame Gestalt kniete darauf; sie hatte die Kapuze abgenommen und den rasierten Kopf gebeugt. In dem Raum war es so kühl, daß die Temperatur nach einem Augenblick der Erleichterung so bedrückend war wie die Hitze draußen. Sie gingen weiter. Das war die äußerste Form der Protzerei bei Technologie-Freaks – ein so umfassendes und ausgeklügeltes System zu besitzen, daß nichts davon zu sehen war; keine Geräte, keine Leitungen, keine Bedienungselemente. Der Raum mußte von einem unsichtbaren Flechtwerk von Triggerstrahlen, Richtmikrophonen und Scannern für unhörbar ausgesprochene Worte durchzogen sein. Hier war Macht, wenn man ihre Geographie kannte. Die Frau hob den Kopf und fixierte Rebel mit einem kalten
Schlangenblick. Ihr Schädel war so weiß wie Marmor, und ihr Gesicht war mit einem sechseckigen Muster bemalt, das an Sonneneruptionen und Eiskristalle erinnerte. »Was hast du diesmal für mich gestohlen, Jerzy?« Heisens Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Er zeigte erneut seine Zähne, schlug mit einer übertriebenen Geste seinen Umhang zurück und erlaubte sich eine schwungvolle, spöttische Verbeugung. »Darf ich vorstellen«, sagte er, »das einzige existierende saubere Exemplar des Hauptartikels, den Deutsche Nakasone nächsten Monat herausbringen wird.« Die Frau bewegte sich dabei nicht. »Wie ist das passiert?« »Wie schön, dich zu sehen, Jerzy, willst du nicht Platz nehmen?« Der kleine Mann grinste keck. »Wolltest du das nicht gerade sagen, Snow? Oder sollen wir auf dem Fußboden sitzen?« Snow bewegte leicht den Kopf, eine Bewegung, wie sie eine Eidechse an einem kalten Morgen nach einer überlangen Starreperiode machen könnte. »Hinter euch.« Rebel drehte sich um und stolperte fast in einen Queen-Anne-Sessel. Sein Zwillingsstück stand ordentlich daneben. Sie trat unwillkürlich zurück. Auch Heisen sah entnervt aus. Mit welchem Taschenspielertrick die Sessel auch ins Dasein gebracht worden sein mochten, der Effekt war so rein und sauber wie bei einem mittelalterlichen Wunder. Sie setzten sich, und als sie Snow wieder ansahen, war ein seltsames Glitzern in ihren Augen. Rebel fragte sich, ob es Belustigung war. Wenn ja, dann lag sie tief drinnen begraben. Heisen räusperte sich und sagte: »Das ist Rebel Elisabeth Mudlark. Vor zwei Tagen war sie noch eine Persönlichkeitsstreune-
rin namens Eucrasia Walsh. Eucrasia war gerade mit den Vortests für eine Reihe von Wetset-Optionen beschäftigt, als sie auf dem Mudlark-Wafer durchbrannte und ihre Basis löschte. Sie landete in Unserer Lieben Frau der Rosen, und …« »Jetzt drück mal die Stoptaste, Blödmann!« sagte Rebel ärgerlich. »Spul's zurück und erzähl's mir noch mal, aber ohne das Ärztelatein.« Heisen warf Snow einen Blick zu, und sie nickte leicht. Er fing von vorne an. Diesmal waren seine Worte an Rebel gerichtet. »Deutsche Nakasone prüft täglich einen Haufen Wetware. Das meiste wird nie benutzt, aber es muß alles ausgewertet werden. Für die erste Durchsicht heuern sie Persönlichkeitsstreuner an. Ist nicht viel dabei. Sie verkabeln dich, unterdrükken deine Persönlichkeitsbasis – also Eucrasia –, programmieren eine neue Persönlichkeit ein, testen sie, deprogrammieren sie und programmieren dich dann auf deine eigene Basis zurück. Und fangen wieder von vorne an. Kommt dir das bekannt vor?« »Ich … ich glaube, ich erinnere mich jetzt«, antwortete Rebel. Dann sagte sie drängend: »Aber es fühlt sich nicht so an, als hätte ich jemals sowas gemacht. Es ist so, als ob das alles jemand anderem passiert wäre.« »Darauf komme ich noch«, sagte Heisen. »Das Problem ist, daß Persönlichkeitsstreuner alle notorisch instabil sind. Sie sind allesamt selbstmordanfällige, unglückliche Menschen – deshalb landen sie schließlich auch bei diesem Job, verstehst du? Sie sind auf der Suche nach der optimalen Persönlichkeit. Aber der Witz ist, sie haben so miserable Erfahrungsstrukturen, daß sie niemals so glücklich wie andere Menschen sind. Die Erfahrung
dominiert immer, wie wir sagen.« Er hielt einen Herzschlag lang inne und sah Snow triumphierend an. »Nur diesmal eben nicht.« Snow sagte nichts. Nach einer unbehaglichen Pause fuhr Heisen fort: »Ja. Wir haben die Ausnahme, die die Regel widerlegt. Unsere Eucrasia machte mit aller Kraft weiter, probierte die neue Persönlichkeit aus – und sie gefiel ihr. Sie gefiel ihr so sehr, daß sie ein Glas Wasser ins Programmiergerät goß und es mit einem Kurzschluß lahmlegte. Damit zerstörte sie nicht nur die Sicherheitskopie ihrer eigenen Persönlichkeit, sondern auch das einzige existierende Exemplar des Mudlark-Programms.« Wieder diese kleine Eidechsenbewegung. »Dann …«, sagte Snow. »Ja. Ja, ich verstehe. Interessant.« Mit dem leisen, elektrisierenden Kitzel der Erinnerung an etwas, was sie unmöglich wissen konnte, erkannte Rebel, daß Snow sich Zugang zu ihrem System verschaffte, daß eine stark gebündelte Schallquelle oder ein subkortikales Implantat sie mit Daten versorgte. »Wie hast du's geschafft, sie zu klauen?« fragte Snow. Heisen zuckte die Achseln. »Pures Glück. Sie ist selbst ausgebrochen, und ich bin zufällig vorbeigekommen.« Er erzählte, was er über ihre Flucht wußte. »Na, das ist wirklich interessant.« Die Frau stand auf. Sie war groß und dünn, geradezu ätherisch. Ein Gespenst in Weiß, hielt sie ihren Umhang fest umklammert. Zwei lange, fleischlose Finger streckten sich geisterhaft aus und berührten Rebels Stirn. Sie waren hart und trocken wie Pergament, und Rebel erzitterte bei der Berührung. »Mit was für einem Geist haben wir es hier zu tun?« Snow verstummte. »Schau dir ihre Spezifikationen an.« Heisen zerrte einen Ak-
tenkoffer aus einer Tasche seines Umhangs und ließ ein verästeltes holographisches Wetware-Diagramm erstehen. Es hing in der Luft, eine verschlungene grüne Kugel, die in jeder Hinsicht wie ein Büschel Steppengras aussah. Oder wie ein weit entfernter kugelrunder Baum … Es sah genau wie Rebels heimatliche Dysonwelt aus, und das Bild traf sie hart. »Okay, das ist eine grobe Darstellung«, sagte Heisen eifrig. »Aber schau mal – siehst du, wo der n-Zweig sich in drei Äste spaltet? Da ist ein sehr starker …« Die grüne Kugel stand leuchtend in der Luft, wie eine Vision des Grals, und Rebel schaltete blitzartig zu jenem lichterfüllten Moment um, als ihre Persönlichkeit in ihren Schädel geflutet war, als sie das Glas in die Hand genommen und es über dem Programmiergerät ausgeleert hatte. Das Wasser wand sich glitzernd durch die Luft, und die aufsichtführende WetwareTechnikerin drehte sich entsetzt um, ihr Mund klappte auf und Panik trat in ihren Blick, als Rebel den Kopf zurückwarf und fühlte, wie sich das volle, warme Lachen in ihrer Kehle bildete. Es war schön, am Leben zu sein, die Gedanken zu spüren, die das Gehirn wie Sonnenschein wärmten, und zu wissen, was sie zu tun hatte. Aber noch während das Wasser in das Haltegestell des Wafers spritzte und die Technikerin kreischte: »Was tun Sie …?«, erkannte sie, daß die Programmierleitungen immer noch mit ihrem Kortex verbunden waren. Der Wafer ging mit einem Zischen hoch, als sie danach griff, der Gestank von brennendem Plastik stieg ihr in die Nase, als sie ihn zu erwischen versuchte, ziellose statische Entladungen sprangen an den Leitungen entlang und warfen sie zur Seite, Hände rissen die Leitungen einen Moment zu spät heraus, als das Universum weiß wurde
und erlosch … Die Erinnerung brach ab, und Rebel zitterte. Wo war sie? Im Krankenhaus? Wieder eingefangen? Heisen und Snow unterhielten sich immer noch. Die hochgewachsene, dünne Frau schaute teilnahmslos auf den ungestümen kleinen Mann hinunter, und dann wußte Rebel wieder, wer sie waren. Keiner der beiden hatte bemerkt, daß sie sich ausgeklinkt hatte; es mußte eine kurze Episode gewesen sein. »Für die Sache hier krieg' ich Punkte«, sagte Heisen. »Hörst du, Snow? Ich will Punkte.« »Vielleicht ist sie zu groß für uns?« Snow ging einen Moment mit sich zu Rate. »Na schön, versuchen wir's.« Sie wandte sich direkt an Rebel. »Ich will dir einen hypothetischen Fall erzählen. Stell dir vor, eine kleine Firma, die Billigkopien von kommerziell erfolgreichen Persönlichkeiten herstellt, wendet sich an dich. Angenommen, man bietet dir« – sie legte den Kopf ein wenig schief – »drei Punkte für deine Hilfe bei der Erstellung einer sauberen Aufzeichnung. Damit wärst du für Deutsche Nakasone wertlos. Kein Wert, kein Interesse – sie würden dich in Ruhe lassen. Wenn du nun im Kopf behältst, daß sie dich ohne diesen Deal zur Strecke bringen und aus deinem eigenen Gehirn löschen werden … was würdest du sagen?« Die Episode hatte einen schlechten Nachgeschmack in Rebels Geist hinterlassen. Oder vielleicht waren es auch nur die Ereignisse des Tages, die sie schließlich eingeholt hatten. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht … Billigkopien?« »Na, sagen wir mal, der momentane Bestseller ist...« – Snow lauschte – »ein junger Mann mit dem unglaublichen Namen
Angelus. Er ist … sensibel, romantisch und schüchtern. Die Räder der Publicity mahlen, und auf einmal will jeder Vierzehnjährige im Cluster sensibel, romantisch und schüchtern sein. Für diese Persönlichkeit gibt es folglich einen großen Markt. Wir klauen ein frühes Exemplar, nehmen genug Veränderungen vor, um einer Strafverfolgung zu entgehen, und werfen hunderttausend Wafer auf den grauen Markt. Diese Persönlichkeiten sind nicht genau wie Angelus, aber sie sind sensibel, romantisch und schüchtern. Und billig. Die großen Jungs machen ihren großen Profit, und wir hängen uns dran und stauben ein paar Krümel ab.« »Nur werden wir diesmal zuerst auf dem Markt sein«, sagte Heisen, »und die ganze Publicity umsonst kriegen. Sie werden sich an unseren Wafer anhängen müssen, und sie sind einfach nicht darauf eingestellt, so schnell zu sein wie wir. Wir können eine gute Woche lang den Spitzenprofit absahnen, bevor …« Rebels bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, daß hunderttausend Fremde die gleichen Gedanken, das gleiche Gesicht und die gleiche Seele hatten wie sie. Daß sie ihre verborgensten Gefühle, ihre tiefsten Emotionen miterlebten. Sie sah sie als käseweiße Insekten vor sich, die blind in Scharen herumschwärmten, biologische Maschinen ohne Willen oder Individualität. »Nein«, sagte sie. »Vergeßt es. Ich will meinen Geist nicht wie eine Hure verkaufen.« »Nein, aber verdammt, du hast keinen Platz, um …« Heisen sprang auf und griff nach Rebel, und sie fuhr hoch. Sie fand ihr Gleichgewicht und holte mit einer Faust aus. Sie war nie in Kampftechniken bei hoher Schwerkraft ausgebildet worden, aber die Muskeln ihres neuen Körpers arbeiteten hervorragend
zusammen, und sie bezweifelte nicht, daß sie Heisen auf der Stelle zu Boden schicken konnte. Schlag ihm zuerst die Nase ein, und dann … »Halt!« Snows Arm schoß unter ihrem Umhang heraus (ein Aufblitzen von leichenblasser Haut, die sich straff über Knochen spannte, kleine schwarze Brustwarzen auf fleischlosen Brüsten) und bildete eine Barriere zwischen ihnen. Der Arm war lang, mager und vom silbernen Hautskelett filigraner Muskelverstärker überzogen. Wenn es aktiviert war, würde sie ohne nachzudenken mit der Faust eine Betonwand durchschlagen oder Knochen brechen können. »Bis jetzt habe ich hypothetisch argumentiert. Das war kein Angebot.« Die starren Augen richteten sich auf Rebel, als ob sie ein Geheimnis sei, das sie durch schiere Willenskraft ergründen könnten. Ohne den Kopf zu drehen, sagte sie: »Sie könnte eine Falle sein, Jerzy. Hast du daran nicht gedacht?« Heisens Gesicht verzerrte sich. »Nein, ich – aber es könnte sein, oder nicht?« Er trat blitzschnell vor und stieß mit einem Finger auf das schwebende Wetware-Diagramm. »Schau dir das an! Diese Abspaltung im r-Zweig!« Dann beruhigte er sich ein wenig. »Nein, sowas kann man nicht fälschen. Sie muß echt sein.« Aber auf seiner Stirn glänzte frischer Schweiß, und in seinen Augen stand ein wachsamer Blick. Snow zog ihren Arm in den Umhang zurück. Sie tat das Diagramm mit einem Achselzucken ab. »Was der Sache näherkommt: Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß eine Persönlichkeitsstreunerin auf einmal Glück und Zufriedenheit in einer neuen Persönlichkeit findet. Das ist ein Märchen.« Anmutig wie eine Geisha glitt sie zu ihrem Gebetsteppich zurück. »Ich fürch-
te, Kindchen, wir sind im Augenblick nicht bereit, ein Geschäft zu machen. So gern ich auch herausfinden würde, was in deinem faszinierenden Geist drin ist.« Heisen zitterte an ihrer Seite wie ein Hund an der Leine. Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben soviel herausgefunden, wie wir können, ohne uns die Finger zu verbrennen.« In der Stille, die darauf folgte, flüsterte eine von Snows verborgenen Lautsprechernadeln Rebel mit einer Stimme ins Ohr, die der von Snow glich und doch auch wieder nicht: »Die Gorillas von Deutsche Nakasone werden jeden Moment hier sein.« Ein Laser schoß Holobilder auf eine ihrer Netzhäute: eine verworrene Karte der umliegenden Straßen und Korridore. Zwei blinkende Lichter krochen auf Snows Büro zu. »Jerzy wird geopfert werden müssen, aber wenn du dich draußen links hältst und wie der Teufel rennst, müßtest du entkommen.« Die Karte verschwand. »Geh, wohin du willst. Wir werden Bescheid wissen, ob du entkommst. Und wenn du bereit bist, ein Geschäft mit uns zu machen, wird einer von uns Kontakt mit dir aufnehmen.« Snow selbst hatte nicht gesprochen. Sie stand schlank und einsam wie eine Madonna da. Laut sagte sie: »Die Tür ist hinter dir.« Rebel drehte sich um und floh. Draußen rannte sie blindlings durch die warmen, schweren Korridore der Unterstadt. Sie floh aufs Geratewohl durch belebte Gänge und leere Gassen, bis sie keuchend nach Luft rang und in Schweiß gebadet war und bis die Angst in ihr hochstieg und sie verschlang.
2 König Jonamons Hof EINE GANZE WEILE SPÄTER entdeckte Rebel mitten auf einem gefliesten Hof eine Ansammlung von Dataports. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Irgendwo in der Stadtmitte, der Schwerkraft nach zu urteilen. Dschungelvögel flatterten zwischen vollen Boutiquen herum. Ein Wasserfall ergoß sich in einen seichten Teich. Am Rand verkaufte ein Händler Kupfermünzen, die man ins Wasser werfen konnte. Ohne daß Rebel ihrem Körper den Befehl dazu gegeben hätte, wurde dieser zu einem Dataport hingezogen. Ihr war schwindlig, und sie fühlte sich benommen, als ob ihr Kopf jemand anderem gehörte. Aus gewaltiger Entfernung heraus sah sie zu, wie ihre Finger den Bildschirm zweimal berührten und ihn damit für Echtzeit-Kommunikation programmierten. Sie tippten einen Zugangscode ein, und Rebel fragte sich, für wen. Ein männliches Gesicht erschien in dem Port. Es schwebte in der Schwärze, ohne sichtbaren Hintergrund. Die Augenbrauen unter einer aufgemalten Konstellation fünfzackiger goldener Sterne hoben sich überrascht. »Ist lange her.« Rebel hörte innerlich distanziert, aber gleichwohl fasziniert zu, wie eine schrille Stimme aus ihrem eigenen Mund hastig sagte: »Ich muß mich verstecken. Ich kann mein Gesicht nirgends sehen lassen. Ich muß weg von hier.« Ihr Gesicht begann zu weinen. »Ich hab kein Geld, und ich kann keinem Menschen
vertrauen, und ich brauch deine Hilfe.« Das Gesicht des Fremden veränderte sich; es sah überrascht und erschrocken aus. »Mein Gott, was hast du mit dir angestellt, Eucra …?« »Sprich meinen Namen nicht aus!« Blankes Erstaunen. Dann setzte der Mann unvermittelt wieder eine andere Miene auf und grinste. »Kapiert, Sunshine. Hör zu, meine Schicht hat gerade angefangen, aber vielleicht solltest du trotzdem herkommen. Ich bin im Moment ein Vakuumstreuner. Ich schneide Blumen. In den Steinbrocken wird dich niemand suchen. Glaubst du, du findest den Weg zur Arbeitsvermittlung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln?« Rebel verstand kein Wort von der Unterhaltung. Ihr Kopf nickte. »Okay, wenn du da bist, geh zum Schalter für Lagerarbeiter und Wartungspersonal. Sag ihnen, du suchst Arbeit als Schnitterin. Wir sind immer knapp an Leuten. Sie werden dich einstellen. Sag ihnen meinen Namen, damit sie dich in den richtigen Trupp stecken. Wir arbeiten im Akkord; es ist ihnen scheißegal, ob du eine ganze Schicht durchziehst. Ich sorge dafür, daß sie dir auf meine Rechnung einen Raumanzug geben. Alles klar? Glaubst du, du schaffst es?« Ihr Körper holte ganz tief Luft. »Ja«, sagte ihre Stimme. Rebel schnitt Vakuumblumen auf der Oberfläche von Eros, als sie von unten heraufkam. Es war eine stumpfsinnige, unangenehme Arbeit. Die glänzenden blauen Blüten waren überraschend schwer auszumachen. Ihre Sichtscheibe polarisierte das grelle Licht und ver-
wandelte die leuchtenden Blumen in ein Feld schwarzer Sterne. Sie mußte in die Dunkelheit greifen, um sie zu finden. Ihre Stiele waren so dünn wie Drähte, nur viel fester. Und was das Schlimmste war: Die Schwerkraft war so niedrig, daß sie bei einer unvorsichtigen Bewegung ein paar Meter wegflog. Sie hing über dem Felsgestein und hielt sich mit ganz leichten Stößen von Zehen und Fingern in der Schwebe, während sie ihre Schere unter jede Blüte praktizierte. Ihre Muskeln taten von der Anspannung und vor Müdigkeit weh. Das Innere ihres Raumanzugs stank, und ihr Sammelbeutel war erst halbvoll. Er schleifte wie der Hinterleib einer Bienenkönigin hinter ihr her. In ihrem Helm herrschte ein Durcheinander von Stimmen; der Arbeitstrupp tauschte auf dem Intercom-Kanal Klatsch aus. »… kein Spruch, ich schwör's euch«, sagte eine männliche Stimme gedehnt, »ich war die Liebenswürdigkeit in Person. Sie geben einem ein Kompaktpaket Benimm in die Persönlichkeit rein, versteht ihr? Ich weiß also, welche Gabel man nimmt, um sich in der Nase zu bohren, und all sowas. Und ich war nicht nur draußen in der Öffentlichkeit liebenswürdig, ich war's auch hinterher, als es zur Sache ging.« »Ach ja? Vielleicht sollt' ich's mal mit dir probieren«, sagte eine belustigte weibliche Stimme. »Tamara, Schätzchen, es gibt nur eins, was noch unwahrscheinlicher ist, als daß ich dich aufreißen will, nämlich daß ich's zugeben würde.« Lautes Gejohle. »Aber du kannst ja einen deiner Freunde dazu bringen, dieses Programm zu testen. Ganz im Ernst.« »Zum Teufel«, sagte eine zweite weibliche Stimme, »wenn einer von Tamaras Freunden liebenswürdig wird, dann …«
Sie schaltete das Intercom ab. Etwas veränderte sich in ihr, und sie wußte nicht, wer sie war, Eucrasia oder Rebel. Rebel oder Eucrasia. »Laß los!« flüsterte sie grimmig, und sie war wieder sie selbst: Rebel. Aber eine Spur ihres anderen Ichs blieb zurück und schwebte über ihr. Sie zog die Schultern ein, ignorierte es, so gut sie konnte, und fuhr fort, Blumen zu schneiden. Die Arbeit war beruhigend. Ihre Finger bewegten sich wie aus eigenem Antrieb, schnitten Blumen ab und stopften sie in regelmäßigem, effizientem Tempo in den Netzbeutel. Vor ihr dehnte sich ein endloses Meer von Vakuumblumen bis zum Horizont. Jede Blüte hatte die Größe eines menschlichen Kopfes, war jedoch so zerbrechlich, daß sie bei der Berührung eines Handschuhfingers zu nichts zerfiel. Das Gefühl einer anderen Gegenwart wollte trotzdem nicht weichen, bis ihr ganzer Rücken vom Blick eingebildeter Augen juckte und sie über die Schulter nach hinten schaute. Es war niemand da. Nur ein Streifen nackten Felsgesteins und harter Schatten sowie – in der Ferne – ein paar flache Nutzbauten und etliche Frachtparzellen. Diese Parzellen waren einfach Areale, wo man das Felsgestein zu Lagerzwecken abgetragen und geglättet hatte. Einige waren leer. Auf anderen stapelten sich orangerote, grüne und gelbe Kisten bis in Wolkenkratzerhöhe. Maschinen mit so zarten Gliedmaßen wie Mücken kletterten an den Stapeln nach oben, fügten Kisten hinzu und nahmen welche weg. Unter ihnen holten Vakuumstreuner weitere Kisten mühsam von Magnetkissen herunter oder schleppten sie in Aufzüge; dann traten sie zurück, als die Lasten im Eiltempo nach oben befördert wurden. Was willst du noch hier? dachte Rebel zornig. Ihr war nach
Weinen zumute, aber sie unterdrückte es mit aller Macht – im Raumanzug waren Tränen etwas Scheußliches. Ich werde nicht für dich beiseite treten. Das ist jetzt mein Geist. Ein Stück Abfall schlug dicht bei Rebel sanft auf die Oberfläche, prallte nach oben ab und schwebte orangegelb und rot und glitzernd langsam wieder nach unten. Eine zerknüllte Verpakkung von etwas, das irgendwo in der Nähe im Orbit konsumiert worden war. Rebel langte nach unten, versuchte zu viele Blüten auf einmal zu packen und bekam einen leichten Schlag durch ihre Arbeitshandschuhe, als es in den Blumen einen Kurzschluß gab. »Oh, Shit!« Sie warf die Dinger angewidert weg und setzte sich auf. Eine Kanisterstadt stieg über den von Blumen schimmernden Horizont herauf. Durch eine Fensterwand konnte sie die willkürlich verstreuten Lichter von Wohnbereichen sehen, klein und hell wie innere Sterne. Und jetzt wurde Rebel klar, daß sie auf dem seltsamen Planeten war, den sie vom Krankenhaus aus gesehen hatte. Eros. Sie war auf dem Asteroiden Eros im Zentrum des Eros-Clusters. Ebenso plötzlich war Eucrasias Geist fort, verschwunden wie eine Seifenblase im Vakuum. Rebel schlang die Schleppleine ihres Beutels über einen Felsauswurf, zurrte sie fest, rollte sich auf den Rücken und ließ das Licht über sich hinweg und durch sich hindurchfluten. Sie starrte in den Cluster und empfand erneut eine Mischung aus Vertrautheit und Ehrfurcht. Vor der Sternenlandschaft erstreckte sich eine künstliche Galaxis aus kreisenden Rädern, Fabriken mit variabler Schwerkraft, geodätischen Städten, Speichergittern, Zylindern mit Schlackendecken und Landwirtschaftskugeln … eine unendliche Vielfalt von Gebilden, alle mit
kilometerbreiten Superzeichen bemalt und so hell wie kleine Sonnen. Entgegen der Drehrichtung, am nachhängenden Rand des Clusters, waren die Reihen der Raffineriespiegel verschwenderisch in Licht gebadet. In Richtung der Sterne flogen Robotschiffe mit Lichtsegeln im Zickzackkurs und setzten über Hindernisse hinweg, um halb verarbeitete Erze hereinzubringen. Ganz in der Nähe wanden sich Zubringerboote und Raumwerker in ihren Anzügen durch die dünnen Linien von Verkehrshologrammen. Einen Moment lang schnürte ihr all diese Schönheit und Komplexität fast die Kehle zu. Sie wollte lachen oder weinen. Und dann … »Kopf hoch, Sunshine!« Eine behandschuhte Hand tätschelte ihren Helm und schaltete das Intercom ein. Rebel schoß hoch, überschlug sich und wurde von einem Mann in einem Raumanzug mit Blumenmuster wieder heruntergezogen. Gelbe Sterne mit fünf Spitzen, angeordnet wie das Kreuz des Nordens, dominierten das Muster. In der goldenen Sichtscheibe des Helms sah sie ihr Spiegelbild mit einem kleinen, verzerrten Abbild des Mannes in ihrer eigenen Sichtscheibe. Er reckte einen Daumen nach oben. »Die Schicht ist um. Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.« Der Mann sprang mit langsamen, drolligen Hüpfern davon, wie man es bei geringer Schwerkraft machte, und Rebel folgte ihm. Er war hochgewachsen und schlaksig, mit schmalen Hüften und straffen kleinen Haarknoten. Die Arbeiter des Trupps kamen aus allen Richtungen herbeigesprungen und sammelten sich an dem schäbigen Aufzug. Einer nach dem anderen schoben sie ihre Erntebeutel in das
Feld, sahen zu, wie diese nach oben gerissen wurden, und folgten selber dichtauf. Ihre Arbeitskleidung war mit schillernden Planetenlandschaften, Wolken und Regenbögen sowie falschen Mondrians, Pollocks und Van Goghs individuell aufgemacht. Rebel schaute auf ihren eigenen Anzug hinunter. Silbrig und ohne jede Kennzeichnung. »Du bist dran, Sunshine. Mach das an die Schleppleine.« Der Mann gab ihr eine Eisenscheibe mit einem Loch in der Mitte. Sie befestigte sie an der Leine und zerrte ihren Beutel nach vorn. Er verschwand. »Hör zu«, sagte sie, »ich muß mit dir reden.« »Ja, aber nicht hier.« Er legte ihr die Hand aufs Kreuz und schubste sie in den Aufzug. Das Feld erfaßte sie. Der Asteroid unter ihr schrumpfte so plötzlich, daß ihr fast das Herz stehenblieb. Sie konnte ihn wieder im Ganzen sehen, so wie von Neu-Hoch-Kamden aus, eine plumpe unsymmetrische Spindel von einem Planeten mit Kontinenten, die in metallischem Blauweiß brannten, und tintenschwarzen Meeren. Die Meere waren Gebiete, auf denen alle Blumen geschnitten waren. Ein Verkehrslenker ergriff sie, der Asteroid schwenkte wild ab, und die Geodäte der Arbeitsvermittlung explodierte ihr ins Gesicht. Sie pflügte in das Magnetkissen, wurde langsamer, stoppte und wurde sanft zu einer Luftschleuse geschoben. In der Börse wimmelte es von Arbeitern. Rebel schwebte hinein, vorbei an neuen Schichten, die sich ankleideten und das Gebäude verließen. Fertige Schichten stießen sich irgendwo ab und trieben lachend und schwatzend vorbei, klappten Helme zurück und zogen ihre Anzüge aus. Sie folgte einem Anzug mit
Regenbogenaufdruck, der in ihrem Arbeitstrupp gewesen war, und nahm eine Magnetstrecke zum Schalter für Lagerarbeiter und Wartungspersonal. Eine Zahlmeisterin mit großen Brüsten saß dort in Knieringen und hielt eine Gehaltsmaschine auf dem Schoß. »Komm her!« fauchte sie. Rebel zog hastig einen Handschuh aus und steckte die Hand in das Gerät. Es las ihre Fingerabdrücke, berechnete die Menge der geschnittenen Blumen und spuckte ein dünnes silbernes Armband aus. Es fühlte sich seltsam an, als sie es um ihr Handgelenk legte. Sie stieß sich ab, und der Regenbogenanzug war nirgends zu sehen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie jetzt gehen sollte. Dann stieß jemand leicht gegen sie und schubste sie in eine Magnetstrecke. »Wir sehen uns auf der anderen Seite, Sunshine«, sagte er, und sie schoß durch einen Eingang. Derselbe Mann. Am Ende der Strecke hätte sie beinahe die Griffstange verfehlt, weil sie sich den Hals verrenkte und vergeblich einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen suchte. Sie folgte einer stämmigen Frau in den Umkleideraum und machte ihr alles nach: Sie legte den Anzug zusammen, stopfte ihn mit ihrem cache-sexe und dem billigen Satz Arm- und Beinbänder, den man ihr gegeben hatte, in den Helm und warf alles in einen Reinigungsschacht. Dann stieß sie sich ab und schwebte in den Duschraum. Sie reinigte sich mit einem Seifentuch, wusch sich mit einem nassen Lappen ab und kickte sich wieder in den Umkleideraum zurück. Dieser war eine fünfeckige Röhre mit Spinden an allen Wänden. Rebel schwebte zwischen den lachenden, schwatzenden Frauen und konnte sich nicht entsinnen, welcher Spind der ihre
war. Aber die Erinnerung war da, auch wenn sie nicht an sie herankam. Ihr Körper wußte, was er zu tun hatte. Sie ließ ihn dorthin treiben, wohin er wollte, und kam an einen Spind, der sich auf ihre Berührung hin öffnete. Im Innern waren ihre Kleider und ihr Arbeitszeug, alles frisch gereinigt. Sie verankerte sich in einem Fußring und zog das cache-sexe sowie die Reisebänder an. Dann schlüpfte sie in die Knieringe und klappte einen Spiegel auf. Dasselbe beunruhigende Gesicht mit der Stupsnase starrte sie aus dem Spiegel an. Überall um sie her zogen sich Frauen um, reprogrammierten sich und bemalten ihre Gesichter auf eine Weise, die ihren neuen Persönlichkeiten entsprach. Der Raum war voller Marilyns und Pollyannas; hier und da gab es auch Zeldas und sogar eine Suzy Vacuum. Eine Xaviera, die sich vor Unschlüssigkeit reglos in der Luft hängen sah, hörte auf, sich die Lippen in Vulva-Pink zu bemalen, und bot ihr ihren Wafer an. »Hier nimm, Schätzchen! Sei ganz offen und probier's mal!« Rebel errötete und wandte den Blick ab, und die Frau johlte vor Lachen. Sie ergriff ihre Sachen und floh. Ihr Gesicht war so nackt wie am Tag ihrer Geburt. Draußen packte sie ein Mann am Ellbogen, und sie schlug ihm in den Magen, ohne auch nur nachzudenken. Er krümmte sich in seinem Umhang zusammen und trieb mit völlig verblüffter Miene rückwärts davon. Dann sah Rebel die aufgemalten Sterne im Gesicht des Mannes und erkannte, daß dies der Fremde war, den sie angerufen hatte. Verwirrt streckte sie die Hand aus, um ihm Halt zu geben, aber er hatte bereits eine Griffstange gepackt und beo-
bachtete sie mit einem verschlossenen und wachsamen Gesichtsausdruck. »Hör mal, es tut mir leid«, sagte Rebel. »Ich wollte dich nicht schlagen. Es tut mir leid, daß ich dich überhaupt angerufen habe. Warum geben wir uns nicht einfach die Hand und gehen unserer Wege?« Der Fremde musterte sie ruhig. »Du bist nicht mehr Eucrasia, oder?« Sie erwiderte seinen Blick. Seine Augen waren grün. »Nein.« Das Gesicht des Mannes wurde einen Moment lang ausdruckslos, als ob er mit sich selbst im Widerstreit läge. Dann hellte es sich auf, und er sagte: »Hör zu! Ich wohne in König Jonamons Hof, Tank Vierzehn. Das ist wahrscheinlich der beste Ort, wo du hingehen kannst, wenn du vor irgendwas wegläufst. Da gibt's ein paar leere Hütten. Komm mit, und ich streck dir die Miete für die erste Woche vor.« »Warum solltest du sowas für mich tun?« fragte Rebel mißtrauisch. »Wer bist du überhaupt?« »Ich bin … ein alter Bekannter. Ein Arbeitskollege.« Er tippte sich hinter das eine Ohr, und Rebel sah dort eine kleine, kreisrunde Abschürfung. »Wir Persönlichkeitsstreuner müssen zusammenhalten, stimmt's?« »Ich …« Rebel zog sich in die Falten ihres Umhangs zurück. »Paß auf. Es tut mir leid. Es ist nur so, daß einige Leute in letzter Zeit erhebliches Interesse an meinem Fall zeigen. Ich hab sie nicht drum gebeten. Und ich will es auch nicht.« »Okay. Also dann.« Er zuckte die Achseln und wandte sich ab. In diesem Moment kam ein Gefühl der Verzweiflung aus Re-
bels tiefstem Innern hoch, und sie rief: »Warte!« Der Mann drehte sich wieder um. Dieser reservierte Gesichtsausdruck. Sie errötete, weil sie keine Ahnung hatte, warum sie aufgeschrien hatte. Um es zu überspielen, sagte sie: »Vielleicht war ich ein bißchen voreilig.« Wieder eine plötzliche Änderung seines Gesichtsausdrucks, und der Mann lachte herzlich. »Du machst mich echt fertig, Sunshine.« »Nenn mich nicht so!« »Na schön. Dann Eucrasia.« Ihr Gesicht fühlte sich kalt und hart an. »Mein Name ist Rebel«, sagte sie. »Rebel Elisabeth Mudlark.« »Wyeth.« Ein schiefes Grinsen und ein Achselzucken besagten, daß dies sein ganzer Name war. Sie nahmen eine billige Fähre zu den Tankstädten, in der sie dicht an dicht mit zwanzig anderen saßen, fast zu dicht, um noch Luft zu bekommen. Sie brachte sie in den Schatten des Londongrad-Kanisters, wo eine Ansammlung fünfzig Jahre alter Tanks schwebte. Es waren riesige Dinger, allesamt groß genug, um unter Druck die komplette Atmosphäre einer Kanisterstadt zu halten, und nachträglich mit primitiven Schleusen und Andockeinrichtungen ausgestattet. Leichte Rostspuren zogen sich an den Rändern der Schleusen entlang, wo das leise Flüstern des durch Lecks austretenden Sauerstoffs über das Metall geisterte. »Himmel, ist das heiß hier drin«, brummte Rebel. »Ich hätte einfach allein in meinem Anzug herkommen sollen.« »Wie war das?« fragte Wyeth und sagte, als sie es wiederhol-
te: »Tankstädte haben keine Magnetkissen. Das hier sind Slums der übelsten Sorte.« Der Pilot der Fähre legte mit einem heftigen Ruck an einem Dock an und brüllte: »Tank Vierzehn!«, und sie zwängten sich hinaus. Bei den Schleusen war das Licht matt; jenseits davon war es trübe. Sie schwebten einen belebten Korridor entlang, zwischen baufälligen Hütten hindurch, die nichts weiter als Rohrrahmen mit verrosteten Blechplatten als Wänden waren. Die Luft stank nach fauligem Müll, schalem Wein und menschlichem Schweiß, mit einer süßen Note von Geißblatt. Kinder kreischten beim Spielen, und es herrschte ein konstantes Stimmengewirr. Bienen summten, als sie sich durch die Blumenranken schlängelten, die alles überwucherten. Ein grünes Handseil führte durch den Korridor, und sie folgten ihm, wobei sie hin und wieder danach griffen, um einem Entgegenkommenden auszuweichen, bis es von einem orangeroten Seil gekreuzt wurde. Diesem folgten sie tief in den Tank hinein. Eine Rasende kam ihnen am Seil entgegen, und die Leute wichen ihr aus. Wyeth packte Rebel und zerrte sie aus dem Weg. Sie krachten gegen eine Blechwand, dann war die Frau vorüber, und sie schwebten weiter am Seil entlang. Ab und zu fiel Licht aus einem Eingang, oder eine Reihe von Laternen säumten eine Ansammlung inoffizieller Geschäfte und Bars, Läden, in denen Leute Alkohol oder andere Waren aus eigener Herstellung anboten. Die Ranken waren überall dick und üppig, mit vielen biofluoreszierenden Blüten. Es gab Sektionen, wo die Blumen die einzige Beleuchtung darstellten. »Das ist ja furchtbar«, sagte Rebel.
Wyeth sah sich ausgiebig um, als ob er herausfinden wollte, was sie an seiner Welt zu bemäkeln hatte. »Wieso?« »Es ist wie eine Parodie auf meine Heimat. Ich meine, wenn man sich mit den biologischen Künsten auskennt, gibt es keine Entschuldigung für eine solche Verwahrlosung. Bei mir zu Hause sind die Städte …« »Sind die Städte was?« fragte Wyeth. Aber die harte, unbestreitbare Wahrheit war, daß sie sich nicht daran erinnern konnte. Kein bißchen. Sie versuchte sich den Namen ihrer Stadt ins Gedächtnis zu rufen, die Gesichter ihrer Freunde, ihre Kindheit, was für ein Leben sie geführt hatte, und nichts davon wollte kommen. Ihre Vergangenheit war ein verschwommenes impressionistisches Bild, nur leuchtende Farben und Gefühle, ohne das geringste präzise Detail. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Sunshine, deine Antworten sind ungefähr so erhellend wie dein Schweigen.« Wyeth berührte sie am Arm. »Da wären wir!« Er griff nach dem Seil, um haltzumachen, schwang sich hinüber und stieß sich durch eine Lücke zwischen den Hütten. Rebel folgte ihm. Ein alter Mann, so dünn wie ein Skelett, beugte sich aus einem Hüttenfenster in den Zugangsweg. »Hallo Jonamon. Was machen die Nieren?« sagte Wyeth. Er hatte sein lachendes Gesicht aufgesetzt. »Ich hab eine neue Mieterin für dich.« »Selber hallo.« Die Haut des Mannes war so weiß wie ein Fischbauch, und rote Flecken zogen sich über seinen kahlen Kopf. »Morgen ist die Miete fällig.« Dann bemerkte er Rebel und schürzte argwöhnisch die Lippen. »Bist du religiös, Kleine?«
Rebel schüttelte den Kopf. »Wo ist dann deine Bemalung?« Sein knochiger Finger stieß vor und zeigte auf den rasierten Kreis hinter Rebels Ohr, und er sagte zu Wyeth: »Du hast ihr das Zeichen verpaßt! So ein Scheiß ist in meinem Hof nicht erlaubt. Ich führe hier einen sauberen Laden – keine Betrunkenen, keine Huren, keine Ausgebrannten und keine Reprogrammiererei. Ist mir egal, was für eine Entschuldigung du hast, Gott mag keine …« »Halt, immer langsam – niemand reprogrammiert irgendwen!« sagte Wyeth. »Was schnauzt du mich so an? Die Dame ist ja hier, da kannst du sie selber fragen.« »Werd ich auch tun, zum Teufel.« Der alte Mann schwebte aus dem Fenster und folgte ihnen in den Hof. Dann griff er nach der Seitenwand seiner Hütte, murmelte: »Verdammt! Hab das Buch vergessen«, und schoß wieder durch das Fenster nach drinnen. Der Hof war nur ein großer, offener Platz, auf den rund ein Dutzend Hütten hinausgingen. Drei Seile spannten sich kreuz und quer über die Fläche; sie waren an freiliegenden Rohrteilen befestigt. Da und dort hielten sich Leute an ihnen fest, schwatzten oder waren mit irgendwas beschäftigt. Ein junger Mann saß eingeklemmt in einem Eingang und spielte Gitarre. »Tut mir leid«, sagte Wyeth. »Der alte Jonamon ist ein schrecklicher Schnüffler, noch schlimmer als die meisten anderen Vermieter. Vor siebzig Jahren war er Prospektor in den Steinbrocken, einer der letzten, und er glaubt, das gibt ihm das Recht, einen halb zu Tode zu nerven. Wenn du keine Lust hast, dich mit ihm abzugeben, kann ich ihn einen Tag oder so hinhalten, denke ich. Dann hätten wir Zeit, in der Nähe irgendwas
für dich zu finden.« Rebel hatte nachdenklich an einem Daumennagel gekaut; jetzt spuckte sie aus, was sie davon abgebissen hatte. »Ich glaube, ich würde eigentlich ganz gern darüber reden. Mir sind all diese seltsamen Dinge zugestoßen, und ich hatte noch keine Gelegenheit, sie einzuordnen. Und ich glaube, ich schulde dir auch irgendeine Erklärung.« Sie runzelte die Stirn. »Aber vielleicht sollte ich's lieber lassen. Ich meine, da draußen gibt's Leute, die mich suchen. Wenn sich's rumspricht...« Wyeth grinste breit wie ein Frosch. »In einer Tankstadt gibt es keine Geheimnisse. Aber es gibt auch keine Tatsachen. Wenn du Jonamon deine Geschichte erzählst, kennt sie zehn Minuten später der ganze Hof. Innerhalb einer Stunde weiß jeder im Umkreis von fünf Höfen Bescheid, aber dabei wird sie schon ein bißchen verfälscht. Die Hälfte der Leute in den Tanks sind vor irgendwas auf der Flucht. Deine Geschichte wird mit ihren verschmelzen, ein Detail hier, ein Name dort, eine neue Wendung der Handlung irgendwo anders. Bis morgen wird der ganze Tank die Geschichte kennen, aber sie wird sich zu etwas verändert haben, das du selber nicht wiedererkennen würdest. Niemand wird diese Stories jemals zu dir zurückverfolgen. Es gibt zu viele davon, und keine von ihnen ist einen Pfifferling wert.« »Also, ich …« Jonamon kam in den Hof geschossen, ein dürrer alter Vogel in einem zerlumpten Umhang, der ein Buch vor sich herstieß. Es war drei Hände breit und faustdick, mit einem roten und einem schwarzen Deckel. Er schlug es auf der schwarzen Seite auf und sagte: »Jesus der Herr verabscheute das Reprogrammie-
ren. ›Und siehe, die ganze Herde Säue stürzte sich den Abhang hinunter und ersoff im Wasser.‹ Das ist aus Matthäus.« Wyeth sah aus, als könne er sich nur mit Mühe das Lachen verbeißen. »Jonamon, das ist das drittemal in dieser Woche, daß du mir mit dem Zitat über die Gadarener Säue kommst.« »Krishna hat auch nichts für Dämonen übrig«, fauchte der alte Mann. Er drehte das Buch um, so daß die rote Seite oben lag, und streckte es Rebel entgegen. »Schwöre auf die Gita, daß du nicht reprogrammiert bist. Das würde mir reichen.« »Vielleicht sollte ich lieber erstmal meine Geschichte erzählen«, sagte Rebel. »Hinterher schwöre ich dann, daß sie wahr ist. Auf diese Weise sehen Sie dann schon, worauf ich schwöre.« Sie bewegte sich zu einem zentraleren Punkt und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen in die Luft, wobei sie sich mit einem Fuß am Seil festhielt. Dann legte sie ihren Umhang in die Falten der Geschichtenerzählerin (wobei sie insgeheim über ihre Geschicklichkeit staunte), so daß ein Arm und eine Brust bedeckt und der andere Arm sowie die andere Brust frei waren. Als die Leute sie so sahen, kamen sie aus ihren Baracken heraus oder änderten ihre Position an den Seilen, um ihr zuhören zu können. Sie begann: »Ich war tot – aber das wollten sie mir nicht sagen. Ich lag gelähmt im Krankenhaus und konnte mich an nichts erinnern. Und sie wollten mir nicht sagen, warum. Ich wußte nur eins, nämlich daß etwas nicht in Ordnung war, und niemand wollte auch nur eine meiner Fragen beantworten …«
Als sie fertig war, nahm Jonamon ihr den Eid auf sein Buch ab und schüttelte den Kopf. »Also mich soll der Teufel holen, wenn das nicht die tollste Geschichte ist, die ich je gehört habe.« »Hmmm.« Wyeth war tief in Gedanken versunken. Sein Gesicht sah grimmig und steinern aus; es hatte etwas Humorloses und beinahe Brutales an sich. Plötzlich blickte er auf und funkelte die Zuhörer an. »Was glotzt ihr so? Die Show ist vorbei. Verschwindet!« Sie zerstreuten sich. Rebel erschauerte. Er sah jetzt wie ein völlig anderer Mensch aus – wie ein Schläger, dem das Mißtrauen und die potentielle Gewalttätigkeit aus jeder Pore drang. Jonamon legte ihr eine Hand aufs Knie und sagte: »Paß auf dich auf, junge Dame! Deutsche Nakasone ist eine üble Bande, die machen mit dir, was sie wollen. Denen ist es einfach scheißegal.« Sie zog sich von ihm zurück. »Das ist jede Gesellschaft, alter Mann«, sagte Wyeth. »Es ist ein strukturelles Merkmal solcher Unternehmen.« »Meinst du, hm? Ich will dir mal was zeigen.« Jonamon machte sich eilig auf den Weg zu seiner Hütte und kam mit einem Päckchen zurück, das in Tuch eingewickelt war. »Vielleicht bin ich jetzt bloß noch ein alter Mann mit Kalkmangel.« Er begann das Tuch langsam auseinanderzufalten. »Heutzutage hänge ich hier fest. Meine Knochen würden wie Reisig brechen, wenn ich meinen Fuß noch mal in volle Schwerkraft setzen würde. Aber ich war nicht immer so. Ich hab mal mein eigenes Unternehmen gehabt. Zum Teufel, ich bin mein eigenes Unternehmen gewesen.« Die Leute an den Seilen waren langsam zurückgekommen, um zuzuhören. Einer von ihnen, ein hagerer junger Mann mit
einer Rude-Boy-Bemalung, fing Rebels Blick auf und warf ihr ein Lächeln zu. Süß, der Kleine. Er lachte, und Jonamon funkelte ihn an. »Lach ruhig, wenn du willst. Damals konnten Einzelpersonen ein Unternehmen gründen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie das war, den gesamten rechtlichen Schutz eines Unternehmens zu genießen. Es war, als wäre man ein kleiner Bonze.« Er seufzte. »Ich war einer der letzten, und das Gesetz zur Unternehmensreform hat mich erledigt. Ich war Bergarbeiter, vielleicht hat Wyeth dir das erzählt. Ein Prospektor. Als das Gesetz in Kraft trat, hatte ich Claims auf ein paar hundert Steinbrocken, einen recht ansehnlichen Bestand, der damals ein Vermögen wert war und heute noch mehr wert ist. Aber wegen der Reformen mußte ich in Liquidation treten. Ich nahm Verhandlungen mit einer Reihe von Konzernen auf und unterschrieb schließlich eine vorläufige Absichtserklärung mit Deutsche Nakasone. Schau!« Er hielt das ausgewickelte Päckchen hoch. Es war ein förmliches holographisches Porträt einer Reihe von Firmenfunktionären, die für die Kamera ernst dreinschauten. Der junge Jonamon stand in der Mitte, ein Mann mit spitzem Kinn und einer gewissen Gier im Gesicht. »Diese Aufnahme stammt vom Tag, bevor das Gesetz in Kraft trat. Gleich danach zogen die Präsidentin und ich uns in ein Privatbüro zurück, um die letzten paar Einzelheiten zu regeln und den Vertrag zu unterschreiben. Ihr habt in eurem ganzen Leben noch nie jemand so Netten und Höflichen gesehen. Ob ich gern was trinken würde? Sie hätte nichts dagegen. Ob ich sie vögeln wollte? Zum Teufel, sie war echt süß. Dann fragte sie mich, ob ich ein neues Programm ausprobieren wollte, das sie hatten. Aus ihrem Mund klang es richtig nett. Klar,
sagte ich. Sie stiegen damals gerade in die Wetware ein. Hatten erst vor kurzem einen Stapel Patente aufgekauft, als Blaupunkt den Löffel abgab. Na jedenfalls, die Präsidentin legt mir das Induktorband um den Kopf und schaltet das verfluchte Ding ein. Huuiii! Ich kann euch sagen, das war ein höllischer Trip. Selbst heute werd ich noch rot, wenn ich dran denke. Stellt euch allen Sex und Spaß vor, den man nur haben kann, wenn man immer wieder übereinander herfällt, und zwar so intensiv, daß es kaum auszuhalten ist, und man will, daß es aufhört, aber … noch nicht gleich. Nur noch ein kleines bißchen, bis es unerträglich wird. Könnt ihr euch das vorstellen? Scheiße, ihr könnt's absolut nicht.« »Und was ist passiert?« fragte Rebel. »Was passiert ist? Jemand hat's abgeschaltet. Wow, ging's mir schlecht! Ich hatte gleichzeitig Hunger und Durst, und mir tat alles weh. Ich hatte Kopfschmerzen, und ich war bestimmt die Hälfte aller nicht gebundenen Flüssigkeiten in meinem Körper losgeworden. Die Präsidentin hatte sich schon längst wieder angezogen und war weg. Ein paar Wachmänner der Gesellschaft musterten mich ungemütlich. ›Was ist los?‹ fragte ich sie. Sie erzählten mir, daß das Reformgesetz gerade in Kraft getreten sei und daß sie mich nicht mehr brauchten. Dann schmissen sie mich in hohem Bogen raus, und ich war in meinem ganzen Leben nie wieder in diesem Büro, das kann ich euch sagen. Euch ist doch klar, was passiert ist, oder? Sie sorgten dafür, daß ich auf Programm blieb, bis das Gesetz durch war und mir
meine Claims von Rechts wegen nicht mehr gehörten. Und weil ich diese Absichtserklärung unterschrieben hatte, waren sie jetzt allesamt im Besitz von Deutsche Nakasone. Sie haben mir auch nie einen roten Heller dafür bezahlt. Ich bin zu den Anwälten gegangen, und die haben gesagt, das sei alles legal. Oder vielmehr, daß ich selber ein Unternehmen sein müßte, um zu beweisen, daß es nicht legal sei. Und das war ich ja nicht mehr.« Nach einem langen Schweigen fuhr er fort: »Tja, das hat alles sein Gutes, glaube ich. Ein junger Mann denkt mit den Eiern. Ein alter Mann sieht die Dinge eher spirituell. Ich hab meinen Frieden mit Gott gemacht, und jetzt ziehe ich meinen Trost aus der Bibel Gita.« Daraufhin gähnte Rebel, und Wyeth sagte: «Ich denke, es ist Zeit, daß du dich hinhaust.« Er brachte sie zu einer leeren Hütte. Es gab genug Platz für zwei Leute zum Sitzen und Reden oder für eine Person, um sich auszustrecken und zu schlafen. Am Türrahmen hing ein Stück Draht, an dem sie ihren Helm festmachen konnte, und es gab vier verflochtene Hängemattenschnüre, die als Schlafplatz dienten. Sonst nichts. »Am besten baust du deinen Luftaufbereiter aus«, sagte Wyeth. Sie sah ihn verständnislos an. »Aus deinem Helm. Die Lüftung ist in dieser Ecke des Hofes ziemlich schlecht, und deine Abgase können sich ansammeln, während du schläfst. Behalt dein Mundstück drin, dann wachst du nicht mit bösen Kopfschmerzen auf.« »Okay«, sagte sie, und er kickte sich davon. Es gab kein Fenster, und als sie ihren Umhang vor den Eingang hängte, füllte sich die Hütte mit Dunkelheit. Sie stopfte ihre Sachen in ihren
Helm und schlüpfte in die Hängemattenschnüre. Während sie dort in der Luft hing, biß sie auf ihren Aufbereiter. Ihr Atem klang laut in ihrem Schädel. Die Geräusche draußen waren in der Hütte gedämpft, aber fortwährend hörbar. Musik und eine ferne Diskussion verschmolzen miteinander. Tief in diesem menschlichen Bienenstock begraben, fühlte sich Rebel schmerzhaft allein und isoliert. Irgendwo in der Ferne hörte sie ein dumpfes Klonk-klonkklonk-klonk; jemand hämmerte an die Rohre, um einem Nachbarn ein Zeichen zu geben. Sie hatte gehört (obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wo oder wann), daß die Konstellationen der Höfe in den Tanks überstürzt aufgebaut worden waren, wobei man neue Rohre an bereits existierende angeschlossen hatte, so daß ein chaotisches Wirrwarr ohne jeden Plan oder eine herkömmliche Struktur entstand. Nur die fehlende Schwerkraft verhinderte, daß alles zusammenbrach. Aber gelegentlich führten die Belastungen des Alltagslebens – Leute, die gegen ihre Hütten krachten, sich davon abstießen, Seile packten, die an die Gerüste gebunden waren – dazu, daß sich ganze Anordnungen von Hofstrukturen verschoben. Drehkräfte ließen die Hütten langsam aufeinander zutreiben und zerquetschten ganze Wohnbereiche mit dem Kreischen von sich verbiegendem Metall. Und dann plünderten die Überlebenden den Schutt, um neue Hütten in den so freigewordenen Raum zu bauen. Rebel war so müde, daß sie nicht einschlafen konnte. Sie schwebte unruhig und nervös in ihrer Hütte und fühlte sich so einsam und scheußlich, daß sie sterben wollte. Sie wälzte sich in den Hängemattenschnüren hin und her, aber keine Position
schien bequem zu sein. Sie war verloren wie ein Kind, das zum ersten Mal von zu Hause fort war, von jeder Sicherheit abgeschnitten und von feindlichen Mächten umgeben, gegen die es sich nicht verteidigen konnte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie warf sich ihre Kleider über und schoß über den Hof zu Wyeths Hütte. Er würde bestimmt mit ihr reden. Ein geschickter Griff an eins der Seile schwenkte sie herum und ließ sie direkt vor seiner Tür anhalten, die von seinem Umhang verdeckt war. Sie wollte gerade an seine Wand klopfen, als sie drinnen seine Stimme hörte. War jemand bei ihm? Ein wenig unsicher schwebte sie näher heran, um zu lauschen. »Sie ist in Schwierigkeiten«, hörte sie Wyeth leise sagen. »Deutsche Nakasone will sie unbedingt haben, und jeder, der ihnen dazwischenkommt, wird sich die Finger verbrennen … Es ist also riskant! Sie könnte eine enorme Hilfe für uns sein … Von welcher ›sie‹ redest du überhaupt, von Eucrasia oder von Rebel? … Halte dich an den gegenwärtigen Bewohner, das ist immer der einfachste Weg. Egal, wer oben landet … Ich hätte nichts dagegen, auf ihr zu landen … Ach, nun mal im Ernst! Der Punkt ist, wenn wir einen Deal mit ihr machen, riskieren wir alles, was wir bis jetzt aufgebaut haben. Dann geht es um alles oder nichts.« Es gab eine Pause, und dann sagte Wyeth: »Alles aufs Spiel setzen! Das ist einfach toll. Wir setzen eine Hütte in den Slums, die man in einer halben Stunde hochzieht, ein paar verrückte Pläne und unsere totale Bedeutungslosigkeit aufs Spiel. Das ist alles. Was hat es für einen Zweck, zu erklären, daß wir gegen die Erde angehen wollen, wenn wir bei der ersten guten Gelegenheit, die sich uns bietet, hier sitzenbleiben und
Däumchen drehen? Ich sage, entweder wir stehen auf und sorgen dafür, daß man mit uns rechnet, oder wir lassen die ganze Sache ab sofort bleiben, weil eh nichts draus wird. Irgendwelche Einwände?« Die Stimme verstummte, und Rebel zog sich von der Tür zurück. Er spricht über mich, dachte sie. Und er ist verrückt. Entweder er ist verrückt oder er ist etwas, wovon ich nichts weiß und das wahrscheinlich noch schlimmer ist. Ein Wort aus Eucrasias Vergangenheit kam herauf. Tetrade. Es war so etwas wie ein neuer Geist. Aber das war alles, was sie noch darüber wußte. Ihr Körper zitterte. Sie hätte nur allzugern kehrtgemacht und sich in ihre Hütte zurückgezogen. Nein, dachte sie, ich werde kein Feigling sein. Sie klopfte an der Seite von Wyeths Hütte, und eine Sekunde später streckte er den Kopf heraus. »Ich hab gehört, wie du von mir geredet hast«, sagte sie. Wyeth holte seinen Umhang herunter und legte ihn um. Rebel erhaschte einen flüchtigen Blick auf seinen nackten Körper und errötete. »Wieviel von dem, was ich gesagt habe, hast du verstanden?« fragte er. Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Du machst schon wieder so ein Gesicht.« Wyeth schaute überrascht drein. Dann grinste er, und seine schroffe Miene war auf der Stelle vollständig verschwunden. »Ich hab versucht, zu einem Entschluß zu kommen. Du bist ein ganz schönes Dilemma für mich, Sunshine.« »Hab ich mitgekriegt.« »Sieh mal, ich bin mit mir noch nicht ganz einig, was in diesem Punkt zu tun ist. Laß uns beide drüber schlafen. Wir kön-
nen diese Sache besser besprechen, wenn wir ausgeruht sind, stimmt's?« Rebel dachte darüber nach. »Okay.« Als sie wieder in ihrer Hütte war, lag sie sehr lange wach und machte sich weitgespannte, leere Gedanken. Im nächsten Hof gab es eine Messerstecherei; zwei junge Hitzköpfe mit Rude Boy-Programmen verfluchten und verwünschten einander, während sie sich eine gute Ausgangsposition zu schaffen versuchten. Ein junges Paar kam nicht weit entfernt heiß und massiv zur Sache, von ihrer Hütte nur durch eine Armeslänge von Nachtblumen getrennt. Ein Baby begann zu plärren und wurde von seiner Mutter zum Schweigen gebracht. Ganz in der Nähe schrie ein Piepfrosch nach einer Gefährtin. Die Eisenrohre und Blechwände hatten einen charakteristischen Geruch, wenn man nach oben trieb und gegen sie stieß. Er verschwand, wenn man sich entfernte, war jedoch von nahem sehr stark. Es gab nichts, was diesem Geruch ähnelte. Er muß an den Slumbewohnern haftenbleiben, dachte Rebel. Ganz gleich, wie weit sie sich von ihren Tanks entfernen mochten, ein solcher Geruch würde an ihnen haftenbleiben, und zwar für den Rest ihres Lebens.
3 Sturmfront JEMAND TRAT IM VORBEIFLIEGEN gegen ihre Wand, und Rebel wachte auf. Müde zog sie sich an und schwebte hinaus. Von den drei zeitweilig geöffneten Restaurants im Hof hatte nur dasjenige mit der Aufschrift ›Myrtles Pinte‹ das Fenster offen. Sie klopfte nach der Bedienung, und ein Iguana huschte davon und verkroch sich in den Ranken. Myrtles Gesicht tauchte mit einem flüchtigen Lächeln aus dem Halbdunkel auf. Rebel gähnte und wurde ein bißchen wacher. »Ich möchte was zu essen«, sagte sie. »Welche Mahlzeit?« »Frühstück.« Myrtle bückte sich und stöberte herum. »Ich hab eine Mango. Die könnte ich aufschneiden und ein bißchen Chutney dazutun. Und dann hätte ich noch eine kleine Portion Gewürzreis, die ist nicht zu alt. Und Bier.« Sie handelten einen Preis aus, und Rebel nahm am Seil Platz, während Myrtle das Frühstück zusammenstellte. »Hey. Mein Mann hat mir erzählt, daß du mal ein Unternehmen gehabt hast und alles. Ich wollte nur sagen, daß es mir leid tut.« »Ist schon okay.« Eine Schar nackter Kinder sauste schreiend und lachend in den Hof. Einen Moment lang war die Luft voll von ihnen. Dann erspähte eins davon eine Lücke zwischen zwei Hütten und schoß hindurch. Die anderen flitzten hinterher und waren so rasch und plötzlich wie Elritzen verschwunden.
Rebel aß langsam. Schließlich leckte sie einen letzten Rest Chutney von einem Knöchel und gab Myrtle die leere Belhaven-Tube zurück. »Ähm, ist mir ja peinlich, aber wo finde ich die …?« »Das orangerote Seil faserabwärts zum blauen, das blaue faseraufwärts zum roten, dann kommst du zur Schale.« Myrtle lachte. »Von da an immer der Nase nach.« Die Gemeinschaftstoiletten waren mit Massen von Nachtblumen überwachsen. Die Blätter raschelten und wedelten im Wind aus den Lüftern. Aber unter dem Blumenduft lag ein trüberer Geruch von menschlichen Ausscheidungen und Körpergasen. Rebel schwebte durch den Eingang für Frauen und setzte sich auf die Gemeinschaftsbank. Es war kühl hier. Die Luft, die durch die Löcher hereinströmte, reichte, um sie festzuhalten. Sie stützte die Ellbogen auf die Griffstangen und las die Graffiti. Es gab das übliche ERDE FREUND- und NEUERGEIST/FREIERGEIST-Gekritzel, mit einem INDIVIDUALITÄT EXISTIERT NICHT in einer Handschrift und darunter einem krakeligen SPRICH FÜR DICH SELBST in einer anderen. Das einzige wirklich interessante Graffito war SELBST DEINE SCHEISSE GEHÖRT DEN REICHEN. Nun, das ergab durchaus Sinn, wenn man bedachte, daß so gut wie nichts von der Nahrung, die hier verzehrt wurde, im Tank angebaut wurde. Die Toiletten mußten geleert werden, um zu verhindern, daß die Tankbesitzer buchstäblich in ihren eigenen Ausscheidungen erstickten. Die Nachtblumen halfen, die Luft frisch zu halten, aber irgend jemand mußte den Sauerstoff ersetzen, der jedesmal in winzigen Schüben verlorenging,
wenn sich die Schleusen öffneten und wieder schlossen. Selbst um eine so drastisch übersimplifizierte Ökologie wie diese mußte sich jemand kümmern. Genaugenommen war der ganze Cluster ein extrem undichtes System, dem aus jeder Pore Luft und Abfall entwich. In Rebels Augen war es eine kriminelle Verschwendung, wieviel Sauerstoff und Wasserdunst, Reaktionsmasse und Konsummüll täglich ans Vakuum abgegeben wurde. Jeder Versuch, das System abzudichten, verdiente Beifall. Trotzdem war es ein demütigender Gedanke, daß die Tankstädte von Leuten unterhalten wurden, die sie schlichtweg als Düngerfarmen betrachteten. Sie war gerade dabei, die Toilette zu verlassen, als eine bekannte Stimme sie von der Ansammlung kommerzieller Dataports in der Nähe anrief. Wyeth winkte mit dem Helm auf dem Arm und stieß sich zu ihr herauf. »Ich bin gerade auf dem Weg zur Arbeit«, sagte er. »Aber ich hab meinen Dokuspeicher für dich geklont.« Er gab ihr etwas, das wie eine handgroße Rauchglasplatte aussah und sich wie Bernstein anfühlte, nur kühl. Kleine bunte Lichter tanzten tief im Innern. Rebel berührte eins, und sie veränderten sich alle. Das Gerät fühlte sich in ihrer Hand gut an. Es ging ihr wesentlich besser, als sie es hatte. »Du bedienst es, indem …« »Ich weiß, wie man damit umgeht.« Sie führte einen raschen Rekurs durch, und Schemata erschienen in der Luft über der Platte. Es war die einzige brauchbare Flüssigkeit, die sie besaß, und sie … aber das war Eucrasias Gedanke, und Rebel unterdrückte ihn. »Was hast du da für mich drin?« »Deine Geschichte.«
Sie sah ihn an. »Ich hab einen schnellen Raubzug bei Deutsche Nakasone gemacht und mir ihre nicht klassifizierten Daten über Rebel Elisabeth Mudlark besorgt.« Er berührte die Platte, und zwei Reihen gelber Lichter erschienen am rechten Rand. »Es ist nicht viel, wie du siehst. Eine hastig redigierte Geschichte, die man für die Öffentlichkeitsarbeit zusammengestellt hat, schätze ich. Ich dachte, es würde dich interessieren.« »Ja.« Sie schloß ihre Hand um den Dokuspeicher und drückte ihn an ihren Bauch. »Aber wird sie das nicht zu diesem Tank führen? Werden sie nicht nach so einer Datenanforderung Ausschau halten?« »Ich wüßte nicht, wie«, sagte Wyeth. »Sandoz Lasernetz ist ganz groß, was die Optimierung von Ausrüstungen angeht. Ihre Fernleitungen schalten sich permanent ein und aus. In den fünfzehn Sekunden, die mein Anruf gedauert hat, ist er wahrscheinlich durch die Hälfte aller Städte im Cluster geleitet worden. Ihn zu verfolgen wäre wie der Versuch, einer Feder in einem Methansturm nachzujagen. Man brauchte ein sehr starkes Programm mit vollem Bewußtsein, um das zu schaffen.« Eucrasias Erinnerungen verblaßten rasch, so daß ihr der Anfang von Wyeths Erklärung kindisch übersimplifiziert und das Ende nahezu unverständlich vorgekommen war. »Werden sie denn kein bewußtes Programm dafür einsetzen?« »Nach dem, was auf der Erde passiert ist?« Wyeth lachte. Dann sagte er: »Hör mal, ich muß wirklich los. Viel Spaß damit. Wir sehen uns, wenn ich zurückkomme.«
Rebel machte sich langsam auf den Rückweg zu Jonamons Hof. Der Dokuspeicher in der Tasche ihres Umhangs war so dick und massiv wie ein schlechtes Gewissen. Sie wollte ihn durchschauen und sehen, was er ihr über sie selbst erzählen konnte, und dennoch tat sie es nicht. Während sie in Gedanken versunken auf einem Seil hockte, kam der junge Rude Boy, dessen Blick ihr tags zuvor schon aufgefallen war, aus den Ranken zwischen zwei Hütten heraus. Sein Oberkörper war so dunkel wie Mahagoni und sehr lang, und für einen Moment dachte sie, er sei nackt. Dann erschien sein orangerotes cache-sexe. Er hielt etwas in einer Hand und griff mit der anderen nach einem Umhang, der ans Gerüst einer Hütte gebunden war. Er bemerkte sie. Einen Moment lang bewegte sich keiner von beiden. Dann zog der Junge seinen Umhang um die Schultern und lief über das Seil auf sie zu, wobei er den Strick zwischen die Zehen klemmte. Er lächelte und zeigte ihr, was er in der Hand hatte. »'ne Honigwabe.« Seine dunklen Augen funkelten. Er schob die Hüfte ein wenig heraus, wodurch sich seine Muskeln schärfer abzeichneten, und biß in das Wachs. Sein Mund und sein Kinn glänzten. »Willst du was abhaben? Ich heiße Maxwell.« »Ich kann nicht«, sagte Rebel hilflos. Sie zog ihren Umhang auf und holte den Dokuspeicher heraus. Sie hielt ihn mit beiden Händen hoch. »Ich muß mir was anhören.« Maxwell nahm den Dokuspeicher, drehte ihn um und musterte die Lichter mit ernstem Gesicht. »Hör's dir in meiner Hütte an. Ich füttere dich mit Honig, während du arbeitest.« »In Ordnung.«
Sie klemmte den Dokuspeicher zwischen Wand und Rohr, während Maxwell ihre Umhänge aufhängte. Eine Berührung stellte ihn auf mündliche Befehle um. Sie wartete, bis es in der Hütte dunkel war, und sagte dann: »Bitte einschalten.« Licht blühte auf. Die Holo-Aufzeichnung begann mit einer Aufnahme der Verkehrszentrale des Eros-Clusters. Die VZEK-Station hatte die Form einer Hantel und rotierte langsam in einem Mahlstrom von Verkehrshologrammen. »Wie ist das?« fragte Maxwell. Das Bild wellte sich über seinen Körper, als er auf sie zuschwebte. »Mmmm.« Rebel ging im Schnelldurchlauf weiter. Sie waren jetzt im Innern, in einer transparenten Halbkugel, die von kreuz und quer zwischen den Arbeitsstationen verlaufenden schmalen Laufplanken durchzogen wurde. Die Verkehrstechniker sahen aufgeregt aus. Ein Mann stürzte zu einem freien Terminal, ohne sich um die Laufplanken zu kümmern. Er hinterließ ein paar schmutzige Abdrücke seiner nackten Füße auf dem Sternenboden. »Das kann doch nicht...«, sagte jemand. Rebel ließ das Programm zurücklaufen. »Mund auf«, sagte Maxwell und schob ihr ein Stück Bienenwabe hinein. Süß. Ein Operator stieß einen langen, leisen Pfiff aus. »Schauen Sie mal, was da gerade auf dem Schirm aufgetaucht ist!« Seine Kontrolleurin war sofort bei ihm, eine große Frau mit einem Bulldoggenkinn. »Also, das müßte eigentlich ein Leichter sein«, sagte der Mann. »Die Spektroanalyse gibt uns eine Solarsignatur mit einer geringfügigen Blauverschiebung. Aber er ist nicht registriert, und er fliegt mitten in uns rein.«
»Geschwindigkeit?« »Schwer zu sagen.« Die Finger des Technikers zuckten und entlockten dem Gerät Daten. »Aber wenn es ein Boot von Standardgröße ist und wir von einer durchschnittlichen Ladung von fünf Kilotonnen ausgehen, dann wird es morgen irgendwann durch den Cluster rasen.« »Scheiße!« Die Kontrolleurin stieß ihn von der Station weg. »Schnappen Sie sich was Freies und restrukturieren Sie die Programmierung, damit ich mehr Kapazität kriege. Nehmen Sie's von … ah … von den Holos. Lassen Sie die ein bißchen treiben. Stellen Sie sie so ein, daß sie nur alle null komma drei Sekunden korrigiert werden, okay?« Der Operator stürzte zu dem freien Terminal, ohne sich um die Laufplanken zu kümmern. Er hinterließ ein paar schmutzige Abdrücke seiner nackten Füße auf dem Sternenboden. »Das kann doch nicht...«, sagte die Kontrolleurin. »Nein, das ergibt überhaupt keinen Sinn. Das ist keine industrielle Lieferung.« »Mehr Honig?« »Mmmm.« Maxwells Finger blieben auf ihren Lippen liegen, und sie küßte sie geistesabwesend. »Wir haben Schwierigkeiten, die Masse zu schätzen«, sagte ein anderer Techniker. »Irgendwas ist komisch an der Art, wie das Ding langsamer wird.« Rebel stoppte das Bild und befahl dem Dokuspeicher, ihr den Bildschirm des Terminals zu geben. Er erschien, eine Karte in sieben Farben, die jeden noch so feinen Lichtpunkt zeigte, wie er von der VZEK-Station aus zu sehen war. Das Bild pulsierte, und die Lichter sprangen auf eine frühere Konfiguration um. Ein winziger, rot eingekreister
Lichtklecks raste von jenseits des Jupiter auf die Sonne zu. Ein Textstreifen an der Seite identifizierte ihn als KOMET: HANDELSFRACHTER (HOLZVERARBEITUNGSBETRIEB). Das VZEK-System war bis zum Rand mit Programmen zur ökonomischen Kriegsführung gefüllt. Automatisch zeigte es die Position von anderen Holzverarbeiterkometen, die ins System einflogen. Es zeigte auch einen Schwarm junger Kometen, die von der Sonne hochstiegen; ihre Schweife aus ionisierten Gasen erloschen, als neue Vegetation ihre Oberflächen bedeckte. Ein Operator löschte sie vom Bildschirm. »So ein Schweinchen. Du hast Honig am Kinn.« »He, ich bin beschäftigt, okay?« »Halt still, dann leck ich ihn ab.« Jetzt erschien ein Seitenstreifen mit der Registrierung des Kometen. Es war ein kleiner, unbesiedelter Komet, der eine abgeholzte erste Zucht von rund siebzig Gigatonnen Hybriden aus Eiche, Teakholz und Mahagoni trug. Die Bäume waren während einer langen Kreisbahn zur Sonne hinunter und wieder hinaus zum Rand der Oortschen Wolke gewachsen. Dort hatten Holzfäller des Archipels das Holz auf dem Kometen geschlagen, wobei sie die Wurzeln für eine zweite Zucht intakt ließen, und ihn dann künstlich für seine Rückreise ins System beschleunigt. Der Eros-Cluster spekulierte massiv mit Bauholz, aber hier handelte es sich nicht um ein lokales Geschäft. Die Fracht war für den Ceres-Cluster gedacht; darüber gab es einen vor zwei Jahrzehnten geschlossenen Vertrag. Da Eros kein finanzielles Interesse daran hatte, war es dem Verkehrscomputer noch nie angebracht erschienen, die Aufmerksamkeit der Menschen darauf zu lenken.
Maxwell folgte einer Tröpfchenspur an der Seite von Rebels Hals nach unten zu ihren Brüsten. Sie kicherte und stieß ihn weg. »Das kitzelt.« Das Display wechselte zu schneller Wiederholung. Der Komet raste auf Jupiter zu. Er tauchte kurz in den Schwerkraftschacht des riesigen Planeten, wurde herumgeschwenkt und kam auf einem neuen Orbit wieder heraus. Bei diesem Vorgang verlor er an Geschwindigkeit; er ging auf eine kürzere Ellipse über, die ihn in den Orbit des Merkur und dann wieder hinaus in den Cluster seiner Kunden bringen würde. Die Anzeige wechselte augenblicklich und zeigte das Innere System, wobei der alte und der neue Orbit als gepunktete gelbe Linien dargestellt waren. »Was ist damit? Kitzelt das auch?« »Nein. Das ist schön.« Mitten zwischen Jupiter und Eros vervierfachte sich die Helligkeit des Kometen. Ein Licht flammte abrupt auf und fiel dann rasch hinter den Kometen zurück – ein Lichtsegel, das sich entfaltete. Es tanzte leicht im Sonnenwind und lavierte anmutig. Der Computer berechnete seinen voraussichtlichen Kurs. Er führte direkt ins Herz des Eros-Clusters hinein. Rebel schaltete wieder auf die Live-Handlung um. »Weiter«, sagte die Kontrolleurin. »Das Segel ist von der Sonne abgewandt. Also müßte die Zugkraft leicht zu berechnen sein. Aber es bremst schneller als alles, was ich je gesehen habe. Schon eine einzige Kilotonne Fracht müßte …« »Könnte es sein, daß die Baumhänger irgendeine Bombe auf uns werfen?« murmelte die Kontrolleurin in sich hinein. »Nein,
das ist Blödsinn. Vielleicht wollen sie … – Moment! Versuchen Sie die Bremsrate für ein Kurzsegel mit einer Nutzlast von einer Dritteltonne zu berechnen.« Finger tanzten. »Verdammt! Es haut hin.« »Das ist es also. Ein Mensch in einem Raumanzug, dazu die Masse von einer Hülle, Kontrollmechanismen und Kabeln. Ich würde sagen, was wir hier haben« – sie tippte auf den Schirm – »ist jemand, der ein kleines Lichtsegel als Schleppschirm benutzt.« »Verzeihung?« »Ein Schleppschirm. Wie ein Fallschirm – ähm, das ist schwer zu erklären. Nehmen Sie einfach Kontakt mit der Außenverteidigung auf und sagen Sie denen, wir haben hier einen Raumkadetten, der gerettet werden muß. Legen Sie denen die ganze Sache einfach in den Schoß.« Die Szene wechselte zur Außenansicht eines Mehrzweckkreuzers der Außenverteidigung. »He«, sagte Rebel, »ich glaub nicht, daß du da unten Honig findest.« »Wollen wir wetten?« Maxwell küßte und liebkoste ihren Bauch. Jetzt fuhr er langsam mit den Händen an ihren Oberschenkeln hoch und zog ihr noch langsamer das cache-sexe herunter. »Bitte aufhören«, murmelte Rebel. Der Dokuspeicher schaltete sich ab. Im trüben Licht, das durch die schlecht verfugten Ränder der Blechwände hereinsickerte, sah sie, daß Maxwell bereits nackt war. Und interessiert. Ganz entschieden interessiert.
Sie kopulierten zweimal miteinander, und dann schickte sie Maxwell mit ihrem Armband weg, damit er etwas zu essen holte. Er kam mit einer riesigen Mahlzeit und ohne Wechselgeld zurück. Sie aßen und schliefen dann irgendwie noch einmal miteinander. Es schien einfach so zu passieren. »Nein, wirklich«, mußte sie schließlich sagen. »Ich muß mir das anhören.« Sie schaltete den Dokuspeicher wieder ein. Der Mehrzweckkreuzer hatte seine Geschwindigkeit der des Lichtsegels angeglichen. Ein Dutzend Angehörige der Außenverteidigung flogen zum Takelwerk hinüber. Unbeholfen, aber sicher schnitten sie die Leinen durch, holten das Segel ein und befreiten eine reglose Gestalt im Raumanzug aus dem Gewirr. Als sie wieder im Kreuzer waren, wimmelten Arbeiter um den Raumanzug herum. Er war abgetragen und löchrig; kristallisierter Flickschaum bedeckte etliche kleine Risse. »Seht mal«, sagte ein Sanitechniker. Er zeigte auf feine Haarrisse in der Sichtscheibe. »Der arme Kerl hat die Beschleunigungskräfte falsch eingeschätzt. Die inneren Organe sind wahrscheinlich Matsch.« Er schaltete das Kühlaggregat ab, und jemand anders nahm mit einem Ruck den Helm ab. Flüssig gewordenes Beschleunigungsgelee ergoß sich auf das Deck und enthüllte das Gesicht einer Frau. Es war eckig, mit hohen Wangenknochen. Das kurze, nasse Haar war mausbraun. Ihre Haut war aufgedunsen und von einer ungesunden Blässe, an manchen Stellen fast blau. In ihren Nasenlöchern hatten sich kleine Geleeklumpen verfangen. Ein Techniker wischte sie weg, und die Frau tat einen plötzlichen, keuchenden Atemzug. Sie erzitterte und schlug die Augen auf. Es war Rebel Elisabeth
Mudlark, in ihrem eigenen Körper. Ein Blutrinnsal kam aus ihrem Mundwinkel. Sie grinste matt. »He, Kameraden«, sagte sie. Dann machte sie ein erstauntes Gesicht. »Mir ist irgendwie schlecht.« Dann starb sie. Maxwell schaute nicht zu, als es passierte. Er wühlte in einer kleinen Truhe in der Ecke nach Körperschmuck. Wenn er ein Stück fand, das ihm gefiel, probierte er es an, um sich für sie herauszuputzen. Jetzt drehte er sich mit einer Perlenkette um die Taille zu ihr um. »Gefällt's dir?« Er schwenkte die Hüften, und die Kette kreiste. »Man braucht 'n guten Körper, um Perlen zu tragen.« Das Hologramm wich langsam zurück. Die herumrennenden Leute der Außenverteidigung wurden kleiner, während sie die Tote vergeblich wiederzubeleben versuchten. »Schock bei der Wiederbelebung aus dem Kälteschlaf«, murmelte eine Sanitechnikerin. »Zerstörungen des Hirngewebes mit Komplikationen durch kumulative Strahlungsschäden. Einwirkungen durch Druck-, Scher- und Gezeiteneffekte auf Leber, Pankreas und Herz …« Ihre Stimme leierte monoton weiter, während sie die Diagnose ins Aufzeichnungsgerät sprach. Jemand anders stülpte ein Gefrieraggregat über den Kopf und fror ihn im Blitzverfahren ein. Später konnten die Persönlichkeit sowie dicht an der Oberfläche angesiedelte Erinnerungen mit unterkühlenden Induktionstechniken herausgekitzelt werden, wenn die Ermittler der Verkehrszentrale Auskünfte brauchten. Ich bin gestorben, dachte Rebel klipp und klar. Sie erinnerte sich jetzt ganz deutlich daran: die über sie gebeugten Gesichter, ihre besorgten Mienen und wie alles ins Weiß zurückgewichen
war, als … Die Perlen kreisten wie ein Satellitenring um Maxwells Hüfte. Sein Nabel tanzte in ihrem Mittelpunkt. Während die Angehörigen der Außenverteidigung jetzt langsamer wurden und das Geschrei zu einem Gemurmel herabsank, erschien Rebels Name in schwarzen gotischen Lettern. Er beherrschte das Bild einen Herzschlag lang und barst dann in jähe helle Flammen. Als die Flammen erloschen, stieg eine neue Rebel Mudlark wie ein Phönix aus ihnen auf. Die neue Rebel war eine idealisierte Version des Originals, größer und schlanker, mit einer imposanten Muskulatur. Sie stand breitbeinig da, die Fäuste an den Hüften, und lachte selbstbewußt. Das Holo wich zurück. Grüne Dysonwelten schwebten hinter ihr, und sie war von einem Kreis unterwürfiger Anbeter umgeben. Einer streckte eine zitternde Hand nach ihr aus, und sie versetzte ihm einen Tritt auf den Mund. Die Worte DEMNÄCHST ERHÄLTLICH rollten von unten herauf. »Abschalten«, flüsterte Rebel verzweifelt. »O Gott, schalt das verdammte Ding ab!« Die Erinnerung an ihren Tod brannte in ihrem Gehirn. Das würde sie nicht noch einmal vergessen können. Maxwell nahm den Dokuspeicher in die Hand, sah ihn ausdruckslos an und berührte einen glühenden roten Punkt. Es wurde dunkel im Raum. »Halt mich fest«, sagte Rebel. »Ich will nichts weiter, als daß du mich festhältst. Bitte halt mich einfach nur fest.« Sie schwebte im Dunkeln, vom Elend überflutet. So hatte sie sich gefühlt, als ihre Mutter bei dem Unfall in den Raffinerien
des Clusters ums Leben gekommen war. Ihr Schmerz hatte sie damals überrascht, weil sie das kalte Miststück gehaßt hatte. Du wirst mir nie wieder weh tun, hatte sie zornig gedacht, und trotzdem hatte sie sich alleingelassen und zu Tode betrübt gefühlt. Sie schloß Maxwell wie ein großes, geschlechtsloses Kuscheltier in ihre Arme. Verschwommene Formen trieben in ihrem Sichtfeld und drohten zu einem langgestreckten, aufgedunsenen Schädel zu verschmelzen. Sie hatte das Gesicht des Todes schon früher gesehen, als sie noch ein Kind gewesen war. Bei ihrem ersten Ausflug allein in einem Raumanzug war sie über ein Laserkabel gestolpert und hatte ihren halben Anzug kurzgeschlossen. Ihre Sichtscheibe wurde schwarz, und der Luftaufbereiter gab den Geist auf. Während sie allein und blind dahintrieb, keuchend und würgend, war ihr plötzlich klar geworden, daß sie sterben würde. Und in diesem Augenblick des Entsetzens sah sie ein Gesicht vor Augen, knochenweiß und verzerrt, mit leeren Augenhöhlen, kleinen dunklen Nasenlöchern und einem schwarzen, weit offenen Mund. Ihr Kopf zuckte zurück und das Gesicht sprang taumelnd auf sie zu, und sie wurde abrupt von einem Angehörigen der Verkehrskontrolle hereingezogen, der einen Luftschlauch durch die Haut ihres Raumanzugs steckte. Es war nur ihr Spiegelbild gewesen, das von einem einsamen, gesicherten Monitorlicht im Helm beleuchtet wurde. Maxwell schob ihr sanft eine Hand zwischen die Beine und drückte sie auseinander. Er wollte schon wieder in sie eindringen. Aufgeregt und abgelenkt, wie sie war, hätte sie es fast geschehen lassen. Es wäre das Einfachste gewesen, der Weg des geringsten Widerstands. Aber dann setzte sich Rebels Persön-
lichkeit durch, und sie stieß ihn weg. Sie würde nicht zulassen, daß man sie ausnutzte. »Weg da, Freundchen! Wer hat dir das denn erlaubt?« Maxwell schaute verwirrt drein. »Aber …« »Du hörst nicht besonders gut zu, was? Ich hab gesagt, daß ich nichts weiter will, und das hab ich bei Gott auch so gemeint.« Als sie ihn so anfuhr, wich Maxwell zurück, nahm eine geduckte Kampfhaltung ein, richtete sich auf und duckte sich erneut. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Sein Gesicht verzog sich unter widerstreitenden programmierten Trieben. »Was bist du, sowas wie eine Maschine? Freiwilliger Sex reicht dir nicht?« Maxwell versuchte unbeholfen, Rebel eine Ohrfeige zu geben. Sie schlug seine Hand verächtlich weg und versuchte, ihn in den Magen zu schlagen. Er zuckte zurück, und seine Perlenkette riß. Perlen flogen in alle Richtungen davon. Sie prallten wie Hagelkörner von den Blechwänden ab. »Sieh bloß zu, daß du hier rauskommst!« Maxwell war in eine Ecke gedrängt. Er zitterte. »Aber das ist meine Hütte«, sagte er ganz leise. Einen Augenblick lang starrte Rebel ihn verächtlich an. Dann lachte sie und streckte mit einer Art rauher Freundlichkeit die Hand aus, um ihm das Haar zu zerzausen. »Irgendwie kann man mit dir echt nichts anfangen, weißt du das?« »Kommt ganz drauf an, was du willst«, sagte Maxwell mit verdrossen abgewandtem Blick. Aber seine Anspannung war gewichen. Er begann die Perlen einzusammeln, die immer noch im Raum herumflogen; er fing sie aus der Luft und hielt sie in einer Hand. »Ich meine, ich bin im Kämpfen genausogut wie beim Sex, aber ich muß klare Signale kriegen. Du kannst nicht
erwarten, daß ich … he, was ist das?« »Was ist was?« »Hör mal!« Sie verstummten. In der Ferne ertönte das dumpfe Klonk-klonk-klonk von Leuten, die gegen Rohre hämmerten. Es hörte nicht auf, sondern wurde immer lauter, als mehr und mehr Menschen an einem Ende der Tankstadt unisono klopften. Rebel legte die Hand an ein Stützrohr und spürte, wie es mitvibrierte. Draußen erstarb das ständige Gemurmel. »Die Bullen! Verdammt noch mal. Wir müssen weg.« Maxwell ließ die Perlen los und griff nach seinem Umhang. »Weg? Wohin denn? Wovon redest du?« Maxwell zwängte sich mühsam in seine Kleider. »Bist du noch nie in eine Razzia geraten? Sie fangen damit an, daß sie die Luftschleusen besetzen. Dazu brauchen sie vielleicht ein Dutzend Stiefelknechte. Und sie bringen ein paar Kisten mit Programmiergeräten und diese riesigen Stapel von Arrestprogrammen mit.« »Arrestprogramme?« »Ja. Dann schwärmen sie von den Schleusen in einer langen Linie aus. Sie nehmen vielleicht jeden fünften, den sie schnappen, wegen mangelnder Kooperation fest und verurteilen ihn zu rund sechs Stunden Zwangsdienst. Sie programmieren ihn auf der Stelle, geben ihm ihre Befehle und schicken ihn los, damit er noch mehr ranschleppt, die sie programmieren können. Sie breiten sich aus wie ein Sturm. Es dauert nicht lange, dann laufen überall Stiefelknechte rum.« Vor ihrem geistigen Auge sah Rebel, wie sich die Polizisten in einem immer weiteren Kordon im Tank ausbreiteten und dabei immer mehr wurden; alle paar Minuten verdoppelte sich
ihre Zahl, wie das explosionsartige Wachstum einer Hefekultur auf einem warmen Nährboden. »Aber wonach suchen sie?« »Was, zum Teufel, macht das schon? Willst du, daß sie dich zu fassen kriegen?« Maxwell dröselte einen Draht in der Ecke auf, der die Rückwand festhielt, und schob das Blech beiseite, so daß eine dünne, dunkle Unkrautschicht sichtbar wurde. »Schau, wenn es ganz schlimm kommt, können wir hinten rausschlüpfen. Da sind nur Kletterpflanzen. Du darfst nur nicht viel rumzappeln, weil ich da hinten einen Bienenstock habe. Ich will nicht, daß du sie aufscheuchst.« Er nahm Rebels Hand und zog sie auf den Hof hinaus. »Wir müssen an der Sturmfront vorbeischlüpfen. Die breiten sich nur in einer dünnen Linie aus, verstehst du. Sie befragen jeden, kapiert? Wenn wir an ihnen vorbeikommen, sind wir sie los.« Der Hof war leer. Sie schwebten zum Torweg. »Passiert sowas hier oft?« fragte Rebel. »Nee. Einmal im Monat, wenn's hoch kommt.« Sie hielten im Torweg inne und schauten auf den Korridor hinaus. Türen und Fenster, die auf ihn hinausgingen, waren verriegelt und verrammelt worden. Er war voller Menschen, die vor den Stiefelknechten flohen. Auf einmal ertönte faseraufwärts ein Stimmengewirr, und die Menschen zögerten und stießen mitten in der Luft zusammen, als diejenigen vor ihnen abrupt kehrtmachten. »Was, zum Teufel...?« »Los, weiter, ihr Idioten!« »Nein, nein! Zurück!« Ein Rasender kam am Seil entlang auf sie zu. In seinen weit
aufgerissenen Augen stand der Wahnsinn, und Speichelkügelchen spritzten ihm aus dem Mund. Es war ein dürrer alter Mann mit einem langen grauen Bart; sein Umhang war zerlumpt. Er kam tobend näher und fiel mit wahnwitziger Kraft jeden an, der in seine Nähe kam. Eins seiner Beine war gebrochen und trieb halb lose hinter ihm her. Es war klar, daß er den Schmerz nicht wahrnahm. »Gütiger Krishna!« heulte jemand und trieb von dem Rasenden weg. Dabei zog er große rote Blutkugeln hinter sich her. Der Korridor füllte sich mit um sich schlagenden Menschen, die in Panik gerieten. Jemand zwängte sich an Rebel vorbei in den Hof, dann zwei weitere. »Komm«, sagte Rebel besorgt, »wir müssen hier weg!« Aber dann gab es einen Ansturm auf den Torweg, und Rebel wurde vom Korridor weggetragen, während Maxwell taumelnd nach vorn flog. Ein fetter Mann stieß sein pinkfarbenes Gesicht ganz nah an ihres heran und schrie hysterisch. Rebel packte ein Seil und zog sich aus dem Gedränge heraus, dann riß das Seil, und sie krachte gegen eine Blechwand. Kreischende Stimmen erhoben sich zu einem dämonischen Chor. Rebel krallte sich an den Frontseiten der Hütten fest, arbeitete sich zu Maxwells Behausung vor und kletterte hinein. Sie brauchte nur eine Sekunde, um hinten hinauszuschlüpfen. Sie schob die Wand wieder an Ort und Stelle und war in den Ranken verborgen. Es war dunkel zwischen den Höfen. Hie und da glomm eine Nachtblume, ein trübes, verschwommenes Licht, das nichts erhellte. Die Kletterpflanzen waren feucht und schleimig. Während sie allein und blind im Dunkeln schwebte wie ein Reisen-
der zwischen den letzten Sternen am Rand des Universums, stieg Eucrasias Klaustrophobie in ihr hoch. Es begann als ein Kribbeln am unteren Ende ihres Rückgrats und breitete sich dann aus, bis ihr ganzer Körper juckte. Sie nahm ihr eigenes Atmen wahr. Die Geräusche von draußen waren hier gedämpft, ein dumpfes Geplätscher von Stimmen wie das weiße Rauschen der Brandung, und ihr Atem klang rauh und kratzend. Sie konnte nicht genug Luft in die Lungen bekommen. Ihr wurde schwindlig, und sie begann durch den Mund zu atmen. Rebels Nase stieß fast an die Rückseite der Wand. Der Metallgeruch war stark. Ihre Haut kribbelte von der Nähe der Wand, und sie zog den Kopf zurück. So war es besser. Langsam, fast wie von einem Zwang getrieben, begann sie sich durch die Ranken nach vorn zu ziehen. Eine Honigbiene summte an ihr vorbei, und sie erstarrte aus Angst, an den Bienenstock zu stoßen. Aber als sie innehielt, kam die Klaustrophobie zurück, und sie bewegte sich wieder weiter. Dabei streckte sie ab und zu eine Hand aus und berührte die Rückseiten der Hütten, um nicht vom Weg abzukommen. Schließlich gelangte sie zu einer Stelle, wo es kein Blech gab. Es war eine Lücke zwischen den Hütten, vielleicht sogar jene, aus der Maxwell vor einiger Zeit herausgekommen war. Sie kroch hinein. Das Licht wurde langsam stärker. Rebel machte erst halt, als sie gerade eben in den Hof schauen konnte, eine Armlänge in den Kletterpflanzen verborgen. Sie konnte es ertragen, eingeschlossen zu sein, solange Licht da war. Sie zog sich die Kapuze über das Gesicht und lugte durch einen winzigen Spalt. Dann rührte sie sich nicht mehr, wie ein alter Hecht, der im Schilf
geschickt auf der Lauer liegt. Der Hof war voller Menschen, die nach einem nicht vorhandenen Ausgang suchten. Für jeden, der das erkannte und ihn verließ, kamen zwei neue herein. Sie schubsten und drängelten und schlugen in ihrem blinden Kampf sogar aufeinander ein. Dann füllte sich der Torweg mit Stiefelknechten. Sie waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen mit Umhängen in allen Farben und sogar in Arbeitskleidung. Eine Frau trug eine Schweißerschürze, obwohl sie ihre Schutzmaske verloren zu haben schien. Alle hatten rote Streifen, die sich mitten über das Gesicht nach unten zogen, und grimmige, erbarmungslose Mienen. Drei von ihnen packten einen kleinen Jungen und setzten ihm ein Programmiergerät an die Stirn. Er schlug wild um sich und wurde dann passiv. Ein Vierter hielt ihm ein Stück Papier vors Gesicht, und er schüttelte den Kopf. Er wurde durch den Torweg hinausgestoßen, und sie schnappten sich einen weiteren Zivilisten. Einer der Hilfspolizisten wurde weggerufen, und die nächste Zivilistin, die sie verhörten, wurde zur Polizistin programmiert. Jemand malte ihr das Gesicht neu an, und jemand anders schob ihr eine Handvoll Papiere hin. Eins flog davon, und Rebel sah, daß es ein billiges Holo-Repro war. Ihr Gesicht – ihr neues Gesicht, Eucrasias Gesicht – schwebte über dem Papier. Es verzerrte und faltete sich, als sich das Blatt an einer Hütte zusammenfaltete. Rebel erschauerte und versuchte, nicht darüber nachzudenken. Später. Ein massiger, bulliger Mann riß ein Stück Rohr von einem Türrahmen und versuchte wild um sich schlagend, sich einen
Weg durch den Zugang zu bahnen. Ein Stiefelknecht fiel nach hinten und hielt sich den Kopf, aber andere packten die Arme und Beine des Mannes und drückten ihm gewaltsam ein Programmiergerät an die Stirn. »Du bist aber stark«, lachte die Schweißerin, als der Samuraiausdruck auf sein Gesicht trat. Sie zog eine rote Linie von seinem Kinn bis zu seinem Haaransatz. Er reihte sich bei den anderen ein. Rebels Bein juckte heftig. Sie regte keinen Muskel. Während die Leute abgefertigt wurden und der Hof sich leerte, wurden die Übrigbleibenden ruhiger. Manche bildeten sogar eine verdrossene Schlange, um die Verhöre schneller hinter sich zu bringen. Es gab ein paar aufgeregte Beratungen, und vier neue Stiefelknechte kamen herein. Drei von ihnen waren Langzeitpolizisten/Verbrecher, die so lange Strafen bekommen hatten, daß es eine umfassende Ausbildung rechtfertigte. Sie trugen die Helme der Überfallkommandos mit transparenten Sichtscheiben und einen leichtgewichtigen Körperpanzer. Ihre Abzeichen identifizierte sie als Söldner eines Unternehmens statt als Zivilpolizisten. Zwei hatten lange Stäbe mit komplizierten Klingen an den Enden dabei, die wie eine Kreuzung zwischen einem Spieß und einer Sichel aussahen. Der vierte war Maxwell. Es gab keinen Zweifel. Die vier kamen direkt an Rebels Versteck vorbei, und sie konnte den jungen Mann gut sehen. Ein Streifen Killerrot lief mitten über das Gesicht, und er hatte einen glitzernden, unversöhnlichen Blick in den Augen. »Natürlich irre ich mich nicht«, fauchte er. »Ich hab ihre Geschichte selber gehört. Deutsche Nakasone finanziert diese Razzia,
stimmt's? Na eben, denen ist sie doch entwischt. Wie soll ich mich da irren?« Er führte die anderen zu seiner Hütte und sah zufrieden zu, wie sie die vordere Wand abrissen, so daß sich sein Schmuck und seine Kleider über den ganzen Hof verstreuten. Mit wirkungsvollen Bewegungen stießen sie ihre Sicheln in die Rückwand und begannen sie vom Gerüst loszuschneiden. Rebel verspürte einen schrecklichen Drang zu niesen. Sie wollte schreien, losstürzen und fliehen. Aber das war Eucrasias Impuls, und Rebel wollte ihm nicht nachgeben. Die Stiefelknechte im Torweg fertigten gerade die letzten drei Tankstädter ab. Ihre Bewegungen waren flink und wachsam. Es gab nur eins: Sie durfte sich nicht bewegen. Ich bin die alte Schwester Hecht, dachte sie. Ich bin die Geduld in Person. Die Rückwand flog heraus, und die Polizisten stocherten mit ihren Stangen in den Ranken dahinter herum. Maxwell rief eine Warnung, und sie ignorierten ihn. Er wedelte verzweifelt mit den Armen. Und dann ertönten entsetzte Schreie. Mit zornigem Surren stieg ein Schwarm Honigbienen aus ihrem zerstörten Bienenstock auf. Die Polizisten wichen fluchend und um sich schlagend zurück. Am Tor schnappte sich jemand einen Wasserkanister aus Jonamons Hütte und schleuderte den Inhalt dem Schwarm entgegen. Das Wasser löste sich in Kugeln auf und klatschte gleichermaßen gegen Bienen und Stiefelknechte, was weder bei den einen noch bei den anderen positive Auswirkungen zeitigte. Die Langzeit-Stiefelknechte zogen sich in den Korridor zurück
und schleiften Maxwell hinter sich her. Einer beschimpfte ihn wüst. Maxwell zahlte mit gleicher Münze zurück und bekam einen Schlag auf den Mund. Der Hof leerte sich. Die Stiefelknechte zogen sich aus dem Torweg zurück, und bald darauf war nur noch einer da. Hau ab! schleuderte ihm Rebel in Gedanken entgegen. Aber das tat er nicht. Er warf einen langen, nachdenklichen Blick auf den Müll, der im Hof trieb, und auf vereinzelte Bienen, die wütend vorbei schwirrten. Er kickte sich in den Hof und steckte den Kopf in ein paar Hütten. Der Mann untersuchte eine Lücke voller Kletterpflanzen halbwegs gegenüber von Rebel, auf der anderen Seite des Hofes. Dann schwebte er zu ihrem Versteck herüber. Rebel schloß die Augen, damit ihre Reflektionen sie nicht verrieten. Ihre Haut juckte. Die Ranken raschelten ein wenig. »Kopf hoch, Sunshine!« Sie machte die Augen auf. Es war Wyeth, bemalt wie ein programmierter Polizist. Diese wilden Augen lachten sie von beiden Seiten des roten Streifens aus an, und er grinste komisch. Dann wurde sein Gesicht wieder grimmig. »Wir müssen uns ein bißchen beeilen«, sagte er. »Sie werden zurückkommen.« Sie kam aus den Kletterpflanzen heraus. Wyeths Beispiel folgend nahm sie ihren Helm und ihren Raumanzug wieder an sich. Wyeth war am Tor und rief ihr zu, sich zu beeilen, als sie etwas bemerkte, das halb verborgen von einer Blechplatte in einer dunklen Ecke des Hofes trieb. »Warte«, sagte sie. Es war ein Körper.
Rebel stieß die Blechplatte weg. Es war der alte Jonamon, der dort bleich und reglos wie ein Stück Abfall in der Luft hing. Als sie ihn berührte, machte er ein Auge auf. »Vorsicht jetzt«, murmelte er. »Jonamon, was haben sie mit dir gemacht?« »Ich hab schon Schlimmeres überlebt. Was meint ihr, könntet ihr mir vielleicht ein bißchen Wasser holen?« Wyeth holte wortlos einen Ballon und hielt ihn dem alten Mann an den Mund. Jonamon nahm einen Schluck und spuckte ihn hustend und würgend aus. Als er sich wieder erholt hatte, keuchte er: »Es ist die Hölle, alt zu sein. Laßt euch von niemand was anderes erzählen.« Der alte Mann hatte sich völlig in seinen Umhang verheddert. Rebel wickelte ihn behutsam aus. Als sie seinen Körper sah, schnappte sie nach Luft. »Sie haben dich geschlagen!« »Ist nicht das erstemal.« Jonamon versuchte zu lachen. »Aber die können mir ihr Programmiergerät nur anlegen, wenn sie mich vorher bewußtlos schlagen.« Seine Arme bewegten sich kraftlos, wie die eines Babys. »So bin ich davongekommen.« Rebel wollte weinen. »O Jonamon. Was hat dir das genützt? Du hättest umgebracht werden können!« Jonamon grinste, und eine Sekunde lang konnte Rebel den jungen, gierigen Mann auf dem alten Hologramm sehen. »Zumindest wäre ich im Stand der Gnade gestorben.« Wyeth zog Rebel weg. »Wir haben nicht viel Zeit, Sunshine.« »Ich geh nicht ohne Jonamon.« »Hmm.« Er ließ nachdenklich seine Knöchel knacken, und seine Lippen bewegten sich in einem lautlosen Disput mit sich selbst. »Also gut«, sagte er schließlich. »Du nimmst den einen Arm, und ich den anderen.«
Sie schwebten langsam den Korridor entlang, den alten Mann zwischen sich. Sein Mund stand offen, und seine Augen waren vor Schmerz halb geschlossen. Er schwieg mit verkniffenem Mund. Die Tankstädter machten einen weiten Bogen um sie, als sie Wyeths Stiefelknechtbemalung sahen. »Königin Roslyn hat ihren Hof da unten«, sagte Wyeth. »Sie ist eine räuberische alte Schachtel, und sie hortet einen Haufen Wetware. Wenn überhaupt jemand ein Krankenhaus unterhält, dann sie.« Sie folgten einem purpurnen Seil in eine dunkle Wohngegend mit nur einem hell erleuchteten Torweg. Menschen strömten eilig hinein und heraus. Man brauchte Rebel nicht zu sagen, daß dies ihr Ziel war. Am Torweg versperrte ihnen eine kantige Frau mit knochigen Schultern und kleinen schwarzen Brustwarzen den Weg. »Alles voll! Alles voll!« rief sie. »Wir haben keinen Platz, geht woandershin.« Sie warf nicht einmal einen Blick auf Jonamon, der jetzt endgültig bewußtlos war. Wortlos streifte Wyeth die Zahlbänder von einem Handgelenk und hielt sie ihr hin. Die Frau sah sie vielsagend an und ließ ihren Blick dann zu seinem anderen Handgelenk wandern. Wyeth runzelte die Stirn. »Werd nicht gierig, Roslyn.« »Na schön«, sagte Roslyn. »Ich schätze, wir könnten eine Ausnahme machen.« Sie ließ die Zahlbänder verschwinden und führte sie hinein. Im Hof herrschte Chaos. Überall waren Bahrenleinen aufgehängt. Die Leinen waren mit verwundeten Rude Boys und Rude Girls, zeitweiligen Stiefelknechten, unbemalten religiösen Fanatikern und sogar einem straff gefesselten Rasenden belegt. Ein Miasma von Blutstropfen, Müll und Verbandsstreifen hing
in der Luft. Aber zwischen den Verwundeten bewegten sich Leute mit Sanitäterbemalung, und ihre Programmierung schien durchaus wirksam zu sein. Roslyn hielt einen von ihnen an und sagte: »Gebt dem Burschen hier eine Vorzugsbehandlung, okay? Seine Freunde bezahlen dafür.« Der Techniker nickte knapp und brachte Jonamon weg. Roslyn lächelte. »Seht ihr? Fragt, wenn ihr wollt, Roslyn ist ihren Preis wert. Aber ihr müßt jetzt gehen. Ich hab keinen Platz für Zuschauer.« Sie scheuchte sie zurück. Auf dem Weg nach draußen sah Rebel plötzlich ein vertrautes Gesicht. Sie packte Wyeth am Arm und rief: »Schau! Ist das nicht...?« Maxwell lag ausgestreckt auf einer Leine. Er war bewußtlos. Der rote Polizeistreifen war auf sein fein geschnittenes Gesicht geschmiert. Roslyn sah die Geste und lachte. »Auch ein Freund von euch? Vielleicht solltet ihr euch mal ein paar neue besorgen, die sich aus Ärger raushalten können. Aber er ist in Ordnung. Kann sein, daß er einen Zahn verliert. Hauptsächlich hat er aber eine Histaminreaktion von zu vielen Bienenstichen.« Sie waren jetzt am Tor. »Eine junge Frau hat ihn reingebracht. Hübsches kleines Ding.« Sie gackerte. »Ich glaub, sie steht auf ihn. »So?« sagte Rebel kühl. »Tja, was es nicht alles gibt.« Sie entfernten sich durch nahezu leere Korridore von dieser Ecke des Tanks und der zurückweichenden Sturmfront. »Wyeth«, sagte Rebel nach einem langen Schweigen, »Jonamons Probleme sind doch alle das Ergebnis seines Kalkmangels, oder?« »Jonamons Probleme sind alle das Ergebnis der Tatsache,
daß er ein störrischer alter Mann ist. Diesmal wird er's noch überleben, aber früher oder später wird es ihn umbringen.« »Nein, wirklich«, beharrte Rebel. »Ich meine, zum Beispiel seine Schwierigkeiten mit den Nieren, die stammen doch vom Kalkmangel, stimmt's? Wenn man ihn nur eine Weile beobachtet, sieht man, daß er Muskelkrämpfe kriegt, seine Atmung wird unregelmäßig … Also warum hat er das nicht korrigieren lassen?« Sie näherten sich der Hülle. Hier oben, in der Nähe der Außenseite des Tanks, war es kühler. Wyeth hielt an und nahm einen schmalen Seitengang, und Rebel folgte ihm. »Das kann man nicht korrigieren. Wenn man ein Jahr oder so in der Schwerelosigkeit lebt, hat man den Punkt erreicht, an dem es keine Rückkehr mehr gibt. Das läßt sich nicht mehr umkehren. Langsamer jetzt, wir biegen bald ab.« »Aber es wäre so einfach. Man könnte einen Strang korallenbildender Algen so anfertigen, daß er in der Blutbahn lebt. In der ersten Phase schwimmen sie frei herum, und in der zweiten lagern sie sich im Knochengewebe an. Wenn sie absterben, hinterlassen sie ein winziges Stück Kalzium.« »Korallenriffe in den Knochen?« Wyeth klang verwirrt. »So machen wir das bei uns daheim.« »Du kommst aus einer interessanten Kultur, Sunshine«, sagte Wyeth. »Irgendwann mußt du mir mal alles darüber erzählen. Aber im Augenblick … wir sind da.« Der Korridor, in den sie eingebogen waren, war völlig abgeschlossen und nur von Nachtblumen erhellt. Verstreuter Müll sammelte sich in langen Geschieben, die von keinerlei Durchgangsverkehr aufgebrochen wurden. Sie waren die einzigen Menschen in Sichtweite. Wyeth
schwebte stumm durch den Korridor und suchte nach einer bestimmten Tür. Als er sie fand, stoppte er und klopfte an eine Wand. »Das ist König Wismons Hof. Er hat etwas, das wir brauchen.« »Und was?« »Eine Schmuggelschleuse.«
4 Londongrad »IHR KOMMT ZU SPÄT. Tut mir leid. Ihr müßt einfach wieder gehen.« Mit geschlossenen Augen schwebte König Wismon mitten in seinem Hof. In völligem Gegensatz zu den hageren jungen Rude Boys, die Rebel und Wyeth durch gewundene Gänge zu dem Hof gebracht hatten und sie jetzt bewachten, war Wismon ungeheuer dick. Er hatte die Art von Fett, die nur in einer schwerelosen Umgebung möglich ist. Selbst bei einer Schwerkraft von einem halben ge hätte das Gewicht seines aufgequollenen Fleisches sein Herz überanstrengt, seine inneren Organe verrutschen lassen, Muskeln und Knochen überbeansprucht und seine Lungen in Gefahr gebracht, zu kollabieren. Er kam mit seinen Armen nicht mehr um die gewaltige Wölbung seines Bauches herum, und seine Haut war von roten Pustelflecken gesprenkelt. Seine Geschlechtsorgane waren zwischen teigartigen, aufgeblähten Beinen und einem ebensolchen Unterleib begraben, was ihn zu einer riesigen, geschlechtslosen Fleischkugel machte. »Wir müssen weg sein, bevor die Polizeifront wieder vorbeikommt!« Rebel streckte ihre Handgelenke vor. »Wir können bezahlen!« Ohne die Augen zu öffnen, sagte Wismon: »Ich bin heute fünfmal für die Benutzung meiner Luftschleuse bezahlt worden. Das ist genug. Die Schleuse ist die Grundlage meines – wenn
auch bescheidenen – Reichtums, und ich will keine Aufmerksamkeit auf sie lenken. Das Geheimnis eines guten Schmugglers besteht darin, nicht gierig zu werden.« »Hallo, Wismon«, sagte Wyeth. »Keine Zeit für einen alten Freund?« Die Augen des fetten Mannes klappten auf. Sie waren dunkel und hatten einen funkelnden Glanz. »Ah! Mentor! Vergib mir, daß ich dich nicht erkannt habe – ich habe geschlafen.« Er gab den Rude Boys mit einem kraftlosen Arm ein Zeichen. »Laßt uns allein! Dieser Mann ist ein Bruder unter der Totenkopfflagge. Er wird mir nichts tun.« Die Rude Boys zogen sich mißtrauisch, aber gehorsam zurück. Sie verschwanden. Einen Moment lang kamen Eucrasias technische Fähigkeiten wieder in Rebel hoch, und in einer blitzartigen Einsicht konnte sie in den Augen, den Gesichtsmuskeln, diesem seltsamen, höhnischen Grinsen lesen … Das war kein menschliches Wesen. Dies war ein Geist, der umgeformt und neu strukturiert worden war. Das Spiel der Intelligenz hinter diesen dunklen Augen war zu schnell, zu intuitiv, zu scharfsinnig, um menschlich zu sein. Sein mentales Leben mußte eine unaufhörliche Lawine von Wahrnehmungen und Schlußfolgerungen sein, die eine normale menschliche Persönlichkeit zermalmen würde. Rebel erkannte das alles in einem Augenblick und sah im selben Moment, daß Wismon sie prüfend betrachtet hatte. Langsam und feierlich blinzelte er mit einem Auge. »Für dich, Mentor, verletze ich gern mein eigenes Protokoll«, sagte er zu Wyeth. »Nur zu, benutz die Schleuse, ich werde dir nicht mal was dafür berechnen. Laß mir nur die Frau hier.«
Rebel versteifte sich. »Ich bezweifle, daß sie dir von irgendwelchem Nutzen wäre«, sagte Wyeth. Seine Augen waren ausdruckslos und konzentriert, die Augen eines Killers – es war nicht die geringste Ungeduld in ihnen. »Aber selbst wenn, Deutsche Nakasone ist hinter ihr her. Hast du wirklich Lust, dich mit denen anzulegen? Hm?« In den kleinen Augen blitzte dunkler Haß auf. »Könnte schon sein.« Er lächelte sanft. »Moment mal, hab ich denn überhaupt nichts zu …«, sagten Rebel und Wismon unisono. Rebel hielt inne. Sie starrte Wismon mit einer Mischung aus Empörung und Verblüffung an. »Unterbrich uns nicht, Schätzchen«, sagte Wismon freundlich. »Ich kann in dir lesen wie in einem Buch.« Er starrte eulenhaft zu Wyeth hinüber. Mit einer leichten Schärfe in der Stimme meinte Wyeth: »Sagen wir mal so. Hast du Lust, dich mit mir anzulegen?« Ein langes Schweigen. Dann: »Nein, verdammt.« Eine von Wismons kleinen Händen fuhr nach oben und kratzte zwanghaft seitlich an seinem Hals. Rote Nagelspuren blieben zurück. Dann grinste Wismon leutselig und sagte: »Du bluffst, Mentor, aber ich weiß nicht, in welcher Hinsicht. Ich konnte nie in dir lesen. Geht durch die Hütte zu eurer Linken – die mit einem grünen Stoffetzen als Tür. Ihr würdet mir einen Gefallen tun, wenn ihr beide gleichzeitig rausgeht. Es ist ein bißchen eng, aber ich bin sicher, ihr schafft es.« Sie stießen sich Arm in Arm aus der Luftschleuse. Rebel legte ihren Helm an den von Wyeth. »Worum ging es da eigentlich?«
»Er ist ein alter Freund.« Sie schwebten langsam zum dicken Ende des LondongradKanisters. Es war ein großer dunkler Kreis, der überhaupt nicht näherzukommen schien. Ein Gewirr hell erleuchteter Maschinen schoß vorbei. Hinter ihnen wurden die Tankstädte langsam kleiner. »Er hatte Angst vor dir.« »Naja … Ich hab den größten Teil seiner Reprogrammierung durchgeführt. Wenn man einen neuen Geist konstruiert, ist es irgendwie Tradition, daß der Programmierer einen Frankensteinhaken in das Programm einbaut, nur für den Fall. Eine Art Totmannschalter, so daß der Programmierer mit einem vorher festgelegten Signal – einem Wort, einer Geste, fast allem – die Persönlichkeit zerstören kann.« »Ich verstehe.« Das alles klang vertraut; es war etwas, worüber Eucrasia sehr genau Bescheid gewußt hatte. »Und das hast du getan?« »Natürlich nicht. Das wäre unmoralisch.« Sie schwebten eine Weile durch das unveränderliche Vakuum. Dann sagte Wyeth: »Er hätte ihn sowieso bloß gefunden und gelöscht. Auf diese Weise sorge ich dafür, daß er weiter im Dunkeln tappt.« Ihre Helme berührten sich, und sein Gesicht war ihr ganz nah. Kantig und rätselhaft füllte es ihr Sichtfeld. Seine grünen Augen funkelten. »Woher weißt du so genau, daß er ihn gefunden hätte?« »Wieso nicht? Er ist schlauer als ich. Und ich hab den Haken gefunden, den du bei mir eingebaut hast.« Er zog seinen Helm weg, und die Stille hüllte sie ein. Der Kanister kam ungemein langsam näher. Rebel verspürte eine Übelkeit, die sich wie eine Schlange in ihrem Magen ent-
rollte und in ihrem Rückgrat nach oben glitt. Sie schlang sich zweimal um ihren Kopf und zog sich ein wenig zusammen. Eucrasias Klaustrophobie. Sie schluckte schwer. Ich werde ihr nicht nachgeben, dachte sie. Sie kann mich nicht brechen. Sie kann mich nur stärker machen. Es war kein leichter Flug. Nur wenige Stunden später folgten sie einem Pierrot in einen der exklusivsten Geschäftsparks von Londongrad. Unter dem Baldachin von Druidenbäumen schlängelten sich von schmiedeeisernen Laternen beleuchtete Spazierwege durch dunkle Felder und kleine Baumgruppen. Glühwürmchen schwirrten hypnotisch durch das Gras. Eine schneeweiße Eule stieß auf sie herab, spannte im letzten Moment prachtvolle weiße Flügel aus, legte sich in die Kurve und war verschwunden. »Wyeth«, fragte Rebel, »warum haben wir dein ganzes Geld für diese Kleider ausgegeben? Da waren Umhänge, die sahen fast genausogut aus und kosteten nicht annähernd so viel.« »Ja, aber die waren nicht aus echter terranischer Wolle. Wenn du zu den Reichen gehst, um Geld zu erbitten, darfst du sie niemals auf die Idee bringen, du würdest es wirklich brauchen.« »Oh.« »Jetzt sei still! Denk daran, daß du als Freizeitsklavin bemalt bist. Also nicht lachen, nicht reden und keine Initiative zeigen. Lauf einfach hinter mir her.« Rebel bewegte ihre gekreuzten Handgelenke vor und zurück und brachte die Leine, die sie mit Wyeths Hand verband, zum Schwingen. »Also ehrlich, von diesem Teil des Deals bin ich
auch nicht gerade begeistert.« »Das gibt dir eine Rechtfertigung dafür, mir überallhin zu folgen. Und was noch wichtiger ist, es wird Ginnehs schlimmste Ahnungen bestätigen, was mich betrifft. Es wird ihr gefallen.« Er zögerte und machte ein verlegenes Gesicht. »Hör zu, wenn es leichter für dich ist, könnte ich mir eine Minute Zeit nehmen und dich wirklich so programmieren. Es ist eh nur für eine Stunde oder so …« »Kommt überhaupt nicht in Frage, verdammt!« sagte sie, und Wyeth nickte rasch und wandte den Blick ab. Rebel spürte den Abscheu bis ins Mark, so total, daß sie sicher war, daß er von ihren beiden Persönlichkeiten ausging. Nun, wenigstens etwas, das sie mit Eucrasia gemeinsam hatte. Der Pierrot blieb stehen, verbeugte sich und zeigte mit einer weiß behandschuhten Hand zu einer Seite. Ein gepflasterter Weg führte um einen Fliederbusch herum zu einem schlichten Büro – eine schwebende Platte aus poliertem Holz als Schreibtisch und zwei einfache Stühle –, hinter dem sich ein Felsauswurf erhob. Es lag im Schutz eines japanischen Ahornbaums. Als sie näherkamen, erhob sich eine kleine Frau mit flinken Bewegungen. »Wyeth, mein Lieber! Es ist Jahre her, daß wir uns gesehen haben.« Ihre Hautfarbe lag irgendwo zwischen Bernstein und Mahagoni, und ihre Augen waren genau in der Mitte zwischen pfiffig und verschlagen. Sie trug graue Firmenkleidung, bis hin zu den Perlen an ihren Zöpfen, und ihre Fingernägel waren scharlachrote Dolche. Ihre Geschäftsbemalung betonte ihre Wangenknochen und überspielte ihren breiten Mund. Sie umarmte Wyeth rasch und gab ihm einen Kuß auf die Wange.
»Hallo, Ginneh.« Die Managerin musterte ihn. »Immer noch der alte Wyeth. Schweigsam wie eh und je.« Dann bemerkte sie Rebel. »Sieh an!« Ginneh lächelte, sparte sich jedoch jede weitere Bemerkung. Sie winkte Wyeth zu einem Stuhl, und er ließ die Leine los, so daß Rebel unten am Boden blieb. Rebel stand daneben, so gut wie unsichtbar, während die beiden Höflichkeiten austauschten und zum Geschäftlichen übergingen. »Ich hab mich gefragt, ob ihr immer noch Profis für das Äußere System liefert. Vielleicht für die Jupitersatelliten?« »Hast du gehofft, wir hätten was für dich auf Ganymed? Oh, Wyeth, tut mir so leid.« Sie legte ihm ihre kleine Hand auf den Unterarm. »Das kommt zu einem so schlechten Zeitpunkt in unserem Orbit. Bitte.« Eine schematische Darstellung baute sich über ihrem Schreibtisch auf; sie zeigte den Eros-Cluster, der gerade die Asteroidengürtel im Hauptbereich des inneren Rands verließ und auf die Sonne zusteuerte. »Wir verlieren unseren Wettbewerbsvorsprung im industriellen Bereich. Die meisten Raffinerien machen dicht. Und wir sind nicht nah genug am Inneren System, daß sich die merkantile Ökonomie voll entfalten kann. Du weißt, wie schwierig es ist, eine Position in einer Dienstleistungsökonomie zu finden. Vielleicht, wenn du in einem Monat noch mal wiederkommst. Danke.« Die schematische Darstellung verblaßte. »Tja, vielleicht mach ich das.« Wyeth stand auf und nahm seine Leine wieder in die Hand. »War nett, mit dir zu plaudern, Ginneh.« »Ach, nun lauf doch nicht gleich weg! Bleib hier und laß uns
ein bißchen reden. Du hast mich nicht mal gefragt, woran ich gerade arbeite. Ich bin zum VolksMars-Projekt versetzt worden. Das muß ich dir unbedingt zeigen.« »Mars?« Wyeth runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht recht, ob mich das interessiert...« »Es ist ein tolles Paket! Überblick, bitte.« Holographische Projektionen erschienen hinter ihr, als ob in der Luft eine Reihe von Fenstern aufginge. Raumwerker, die an einer enormen Geodäte arbeiteten. Eine Ansammlung von Tankstädten. Reaktoren für kalte Kernfusion, die langsam durch den Cluster geschleppt wurden. Ein kunstvoll gearbeitetes schwebendes Sheraton kurz vor der Fertigstellung. »Die Gesamtkosten liegen über einer halben Million Menschenjahre. Es war wundervoll, wie die ganze Sache sich einfach lawinenartig ausweitete. Es begann mit dem orbitalen Sheraton – der Stavka wollte eine Tourismusindustrie ins Leben rufen. Die Transformationsstürme anschauen und solche Sachen.« Sie drehten sich um und sahen sich die Holos an. Wyeth nahm auf einem Stuhl Platz. Jetzt, wo sie ihr den Rücken zudrehten, fühlte sich Rebel so frei, eine bequeme Haltung einzunehmen. Sie kratzte eine juckende Stelle, die ihr schon eine Weile zugesetzt hatte. Sie langweilte sich bereits und kam sich lächerlich vor, und sie war sauer auf Wyeth, weil er sie da hineingezogen hatte. So etwas machten die Leute zum Vergnügen? Ginneh und Wyeth diskutierten über die Tankstädte. »Ich verstehe nicht, was der Stavka damit will«, sagte Wyeth. »Selbst als Schrott können sie nicht viel wert sein.« »Sei nicht naiv, mein Lieber. VolksMars hat Probleme mit den Arbeitern. Wir setzen ein paar Dutzend Slums in die Ge-
gend, und der Preis der Arbeitskraft fällt rapide.« »Hmmm.« Wyeth warf einen Blick über die Schulter und runzelte die Stirn, als er Rebels Haltung sah. Sie straffte sich unwillkürlich und streckte ihm dann die Zunge heraus. Er hatte sich jedoch schon wieder umgedreht. »Das bringt dich gewissermaßen in eine moralisch zweifelhafte Position, nicht? Ich meine, aus der richtigen böswilligen Perspektive betrachtet, sieht's doch sehr nach Sklavenhandel aus.« Die Managerin lachte. »Wir verkaufen VolksMars die Tanks. Ob die Leute, die drin wohnen, bereitwillig mitziehen oder nicht, ist ihre Sache. Oh, wir verteilen die Propaganda des Stavka an sie, und wir versüßen ihnen den Handel, indem wir für die Dauer des Transits auf die Miete verzichten, aber niemand wird gezwungen, irgendwas zu tun. Nächste Sequenz, bitte.« Alle Szenen wechselten. »Das ist einfach ein tolles Geschäft. Es ist groß und heiß und schnell. Wir mußten sogar aus dem Cluster rausgehen, um Handwerker mit bestimmten Fähigkeiten zu finden. Der Löwenanteil der Hand- und Kopfarbeiter kommt natürlich aus Londongrad, und wir liefern die Slums, das Sheraton, die Geodäte und den unvermischten Sauerstoff. Aber – siehst du diese Speicherkugel? Nahaufnahme, bitte.« Eine durchsichtige Kugel, die mit etwas Grünem, Blättrigem und Feuchtem gefüllt war, zoomte näher heran. »Die enthält eine junge Luftpflanze. Wir haben ein Makrobiologenteam von diesem Kometenhaufen engagiert, der auf der anderen Seite durchs System zieht, um sich darum zu kümmern.« Der Blick wechselte zu einem Panorama. Sie waren im Innern eines kleinen Biolabors. Rund zwanzig Leute waren dort an der Arbeit. Sie waren im Baumhängerstil gekleidet; ihre
Körper waren vom Hals bis zu den Füßen von schweren Kleidern mit gestickten Einsätzen und übergroßen Taschen bedeckt. Sie unterhielten sich bei der Arbeit, ohne die Zuschauer zu beachten, und berührten einander beiläufig, hier ein Schulterklopfen, dort ein Rippenstoß. Rebel wünschte, sie könnte sich zu ihnen gesellen, könnte eingestellt werden und mit ihnen zusammenarbeiten. (Aber was sollte sie tun? Ihre Fähigkeiten waren verschwunden, ebenso wie der größte Teil ihrer Erinnerungen. Egal. Im weitesten Sinn waren sie alle eine Familie, und sie sehnte sich danach, bei ihnen zu sein.) »Das ist alles Touristenzeug, Ginneh«, sagte Wyeth mit klangloser Stimme. »Ach? Na, vielleicht wird dich das nächste hier interessieren. Du hast gar nicht gefragt, wie wir die Slums in den Marsorbit transportieren wollen, ohne alles in ihrem Innern zu zerquetschen.« »Ist das ein Problem?« »Ach du meine Güte, ja. Schon die geringste Beschleunigung würde reichen, um das Interieur zusammenbrechen zu lassen, die Hütten, die Menschen und alles. Hast du im Kindergarten keine Physik gehabt? Bitte zeig uns den Ring.« »Also ich …« Wyeth brach ab. Das Panorama war zum Innern einer schwebenden Waffenplattform umgesprungen. Sie war billig zusammengehauen und bestand nur aus Kesselblech und Schweißnähten, aber die Laserschützensysteme, die flach auf dem metallenen Deck saßen und sich ein wenig drehten, um ihre Ziele zu verfolgen, waren schimmernde Mordmaschinen auf dem neuesten Stand der Technik. Die menschlichen Auslöser, die neben ihnen schwebten, hatten die starren, fanatischen
Gesichter der knallhart mit Wetware Aufgerüsteten. Die Systeme waren durch laserneutrale Glaswände auf einzelne Pünktchen gerichtet, die auf einer unordentlichen schwebenden Baustelle herumflogen. Das Holo zoomte ein Pünktchen näher heran, und es wurde zu einer Arbeiterin in einem signalorangeroten Raumanzug. Sie verschraubte komplex aussehende Geräte, befestigte Kabel an Schnittstellen und verband Terminals mit Terminals. Andere Arbeiter in orangeroten Anzügen arbeiteten in der Nähe, kletterten blindlings übereinander, wenn nötig, waren jedoch perfekt aufeinander abgestimmt. Ventile, die einen Moment zuvor installiert worden waren, wurden in Tanks eingepaßt, komplexe Verkabelungsabläufe wurden vom einen abgebrochen und vom nächsten weitergeführt, ohne daß einer von ihnen je einen Blick auf die anderen warf, um zu sehen, wie sie vorankamen. Hunderte arbeiteten in verstreuten Gruppen überall an dem bogenförmigen Maschinenpark, der einen halben Kilometer lang war; sie sahen eher wie ein Insektenschwarm als wie Menschen aus. Hinter ihnen hingen genug weitere Waffenplattformen, um jeden einzelnen Arbeiter im Visier zu behalten. »Wir haben ein Team von der Erde raufgeholt, um den Transitring zu bauen«, sagte Ginneh. »Mein Gott«, sagte Wyeth entsetzt. »Ihr könnt doch keine Geschäfte mit dem Einschluß machen.« »Sei nicht albern, mein Lieber. Nur die Erde weiß, wie man einen Beschleunigungsring baut. Ohne die Hilfe des Einschlusses wäre nichts aus diesem Geschäft geworden. Bitte eine Vergrößerung des dritten Quadranten. Siehst du die grünen Tanks? Flüssiges Helium. Wir haben die Hälfte allen Heliums im Clu-
ster für den kleinen Spaß hier gemietet.« »Ich will mich ein bißchen deutlicher ausdrücken, Ginneh. Die Erde und die Menschheit sind natürliche Feinde. Wir reden hier vom Überleben der Spezies. Man macht keine Geschäfte mit etwas, das jedes lebende menschliche Wesen bedroht. Ich rede hier nicht von abstrakten Dingen, Ginneh. Ich rede von dir, von mir und von allen, die wir kennen – von unserem Ich, unserem Geist, unseren Seelen, unserer Identität. Von unserer Zukunft.« Ginneh zuckte die Achseln. »Oh, du übertreibst bestimmt. Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind hervorragend. Du hast die Waffenplattformen gesehen. Wenn überhaupt, sind wir übervorsichtig.« »Maschinen!« Wyeth schnaubte. »Es gibt im ganzen Universum nichts, was leichter zu überlisten wäre als Maschinen, weil sie berechenbar sind – es ist ihre Aufgabe, berechenbar zu sein, immer wieder genau das zu tun, wozu sie gebaut worden sind. Und an die Schalthebel habt ihr Aufpasser gesetzt, die so strikt durchprogrammiert sind, daß sie selber schon fast Maschinen sind. Wirklich clever, Ginneh. Ich sollte dich und alle deine Huren von Managerkollegen mit eigenen Händen erwürgen. Das würde die menschliche Rasse nur verbessern.« »Ich nehme an, du könntest es besser?« »Da hast du verdammt recht!« »Freut mich, das zu hören«, sagte Ginneh lässig, »weil ich nämlich glaube, daß ich doch eine Stellung für dich habe.« Rebels Nase juckte. Sie kratzte sich, und die Leine schlug leicht gegen ihren Bauch. Sie schnitt eine Grimasse, befreite ihre Hände von dem Ding und ließ es auf den Boden fallen. Zum
Teufel damit! Sie rieb sich langsam und wohlig die Handgelenke und starrte listig und abwägend auf Wyeths Hinterkopf. Wieviel wußte sie eigentlich über ihn? Sehr wenig. Jedoch genug, um zu wissen, daß er bis zu den Hüften in irgendwelchen nicht ganz astreinen Geschichten steckte. Es war gewiß nicht Nächstenliebe, die ihn zu seinen Handlungen trieb. Er hatte seine eigenen Pläne, was für welche es auch sein mochten, und irgendwie spielte sie eine Rolle in ihnen. Die Logik sagte ihr, daß es an der Zeit war, sich aus dem Staub zu machen, ihn und sein Weibsbild mit ihren kleinen Intrigen alleinzulassen. Ginneh und Wyeth hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich leise. Keiner von ihnen sah sie gehen. Das Biolabor war nachträglich zwischen zwei Versicherungen auf dem Fanchurch-Prospekt in Londongrad errichtet worden. Rebel besorgte sich die Adresse in einem öffentlichen Dataport. Es mochte sein, daß sie nicht mehr über ihre Fähigkeiten verfügte, aber jede Arbeitsgruppe brauchte jemand, der die Handlangerdienste machte, und da konnte sie mit den Besten von ihnen mithalten. Ihr Plan war, sich unter ihren eigenen Leuten zu verstecken, wo sie praktisch unsichtbar sein würde, weil sie nicht hervorstach. Und wenn sie wieder zu ihren Kometenwelten zurückkehrten, würde sie mit ihnen gehen. Es erforderte nur ein bißchen Mut. Am Eingang zögerte sie und erinnerte sich an die Überwachungskameras im Innern. Nun, davon gab es Millionen im ganzen Cluster. Wie hoch war das Risiko, daß jemand zusah, der sie suchte? Sehr gering. Sie holte tief Luft und trat ein. »Hey, hallo!« Ein schlaksiger Baumhänger steckte seinen Genzähler in die Hüfttasche und sah sie lüstern an. Ein anderer
Mann stieß einen Pfiff aus. Die gesamte Aktivität im Labor kam zum Erliegen. Rebel blieb verwirrt stehen. Alle sahen sie an. Sie starrten auf ihre Brüste und ihren Bauch, manche unwillkürlich und verlegen, andere nicht. Sie kämpfte den Drang nieder, ihren Umhang fest zuzuziehen, und bekam einen roten Kopf. Eine kleine, grauhaarige Frau drehte sich von einer Topfpflanzenbank um, rieb sich die Hände und sagte mild: »Kann ich dir helfen, Schätzchen?« »Äh, ja, also … Eigentlich wollte ich nur mal reinschauen und ein bißchen plaudern. Wissen Sie, ich komme selber von einer Dysonwelt.« Die Worte klangen falsch, und Rebel verspürte ein irrationales Schuldgefühl. Schweiß bildete sich unter ihren Armen. »Hast dich ein bißchen unter die Eingeborenen gemischt, was?« sagte der schlaksige Mann. »Habt ihr nichts zu tun?« sagte die Frau in warnendem Ton. »Ihr alle! Wofür werden wir hier bezahlt, hm? Fürs Rumsitzen und Maulaffen Feilhalten?« Dann, in sanfterem Ton: »Woher kommst du denn?« »Von Tirnannog. Das gehört zum ursprünglichen Archipel, der gerade auf dem Weg nach draußen in die Oort-Wolke ist.« Die Namen kamen ihr mühelos über die Lippen, aber keiner davon hörte sich für sie bekannt an. Die anderen Techniker arbeiteten still, ohne zu reden, so daß sie mithören konnten, was gesagt wurde. Jetzt blickte ein stämmiger Junge mit blonden Haaren und walnußbrauner Haut interessiert auf. »O ja, da bin ich mal gewesen«, sagte er. »Wir kommen alle von Hibrasil, praktisch 'n Katzensprung, hm? Paar
Wochen Transit im Kälteschlaf, mehr nicht. Ich hab Familie in Stanhix, schon mal gehört? Knapp außerhalb von Blisterville.« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Blisterville?« »Du hast nie was von Blisterville gehört? Drei Stämme hinter Sargasso? Fünfhunderttausend Leute?« Eine Frau schaute von einem Behälter mit Wassermäusen auf und sagte: »Wetten, daß wir da eine dieser Rasenden vor uns haben? Ihr wißt schon – denen sie zuviel Elektrizität durch die Medulla Oblongata gejagt haben.« Der Baumhänger neben ihr lachte und klopfte ihr auf die Schulter. »He, hör mal, ich lüge euch nicht an! Ich bin wirklich von Tirnannog. Ich kann's erklären …« »Welche Stellung hat ein Luftwal in einem Ökosystem? Was verkaufen sie in der Grünen Stadt? Warum kann ein anogenes Konstrukt nicht essen? Was sind die sieben grundlegenden Anpassungen an die Schwerelosigkeit?« fragte der stämmige Junge. Er sah Rebel in die Augen und grinste höhnisch. »Wie viele Knochen sind in deiner Hand?« Sie wußte die Antworten nicht. Es waren alles Informationen, die mit ihrem ursprünglichen Körper vernichtet worden waren. Sie machte den Mund auf, aber es kam nichts heraus. Eine ihrer Hände zitterte. »Freeboy«, fauchte die grauhaarige Frau, »willst du wohl wieder an deine Arbeit gehen, oder muß ich dir einen Tritt in den Arsch verpassen?« Der Junge rollte die Augen nach oben, drehte sich jedoch wieder zu einer Anordnung aufgeschichteter Petrischalen um. Die Frau wandte sich wieder an Rebel. »Wir glauben dir, meine Liebe.« »Aber ich bin wirklich …«
»Ich könnte einen Bluttest machen«, erbot sich Freeboy. »Selbst wenn man sich an die Schwerkraft angepaßt hat, gibt es fünf Hauptunterschiede …« »Was hab ich dir gesagt?« begann die Frau unheilverkündend. Aber Rebel war bereits auf halbem Weg zur Tür. Als sie nach draußen trat, rief ein Mann, der vorher noch nichts gesagt hatte, hinter ihr her: »Was haben diese Linien auf deinem Gesicht zu bedeuten, Kleine?« Sein Ton sagte ihr, daß er alle Vergnügungen ausprobiert hatte, die eine Zivilisation mit Wetware-Technik zu bieten hatte, und genau wußte, was ihre Bemalung bedeutete. Sie biß sich auf die Lippe, schaute jedoch nicht zurück. Draußen auf dem Prospekt wurde sie völlig von der Menge verschluckt. Hier waren weit mehr Menschen als in der Oberstadt oder in der Unterstadt, und die Korridore waren breit und öffneten sich wie Marktplätze zu unermeßlicher Größe. Palmenreihen teilten den Menschenstrom in Spuren, und Sterne und Planeten wie aus einem Zeichentrickfilm hingen von einer hohen Decke herab. Unter ihren Füßen war der Prospekt mit ausrangierten Münzen gepflastert, silbernen Talern, goldenen Kronerrands und grünen Keramikrubeln, alle unter einem transparenten Bodenbelag eingeschlossen, der so hart war wie Diamant. Teuer gekleidete Menschen, alle mit Finanzbemalung – Frachtversicherung, Gastermingeschäfte, Bankrottinvestitionen –, hasteten darüber hinweg. Rebel ließ sich von der Menge davontragen, und ihr Zorn, ihr Gefühl der Demütigungen und ihre Verwirrung verwandelte sich in glückliche Anonymität. Ein weiblicher Clown kam mit großen Schritten auf sie zu.
In dem Meer der auf und ab wogenden, düsteren Umhänge schien das bauschige weiße Kostüm zu glühen, als ob es von innen beleuchtet würde. Die Pierette lächelte leicht, als ihr Blick dem von Rebel begegnete. Die Menge teilte sich vor ihr wie Wasser vor einem religiösen Führer, und sie stieg so ruhig und unentrinnbar wie ein Engel zu Rebel herab. Rebel blieb stehen, und die Pierette verbeugte sich und hielt ihr einen weißen Umschlag hin. Sie nahm ihn aus der behandschuhten Hand und zog ein rechteckiges Blatt Papier hervor. Es war eine holographische Werbefläche. Darüber schwebte dasselbe falsche Idealbild von Rebel Mudlark, das sie in der Unterstadt von Neu-Hoch-Kamden gesehen hatte. Sie sah die Pierette, die einen kleinen Knicks machte, fragend an. Sie hätte ebensogut versuchen können, Informationen vom Fußboden zu bekommen. Rebel drehte das Blatt um, und auf der Rückseite stand ›Bitte um eine Unterredung‹. Sie zerknüllte das Blatt in der Hand. Das Bild faltete sich zusammen und war verschwunden. Sie nickte dem Clown zu. Die Pierette führte sie zu einer Bank in der Nähe. Sie gingen zu den Verhandlungsräumen, wobei sie an etlichen anderen vorbeikamen, die diskret für Sex ausgestattet waren, und fanden eine mit Walnußholz getäfelte Nische mit einer einzelnen Bank und einem Tisch. Rebel setzte sich hin, und die Pierette schaltete die Abschirmung und den Schallschutz ein. Sie brachte einen Hologrammgenerator zum Vorschein, stellte ihn auf den Tisch und zog sich mit einem Knicks zurück. Rebel ließ sich einen Moment Zeit, um sich zu fassen. Dann streckte sie die Hand aus und schaltete den Generator ein.
Sie schaute in ein kleines Tal, das offenbar zu einem Geschäftspark der oberen Klasse gehörte. Auf den ersten Blick dachte Rebel, in dem Tal sei eine Schneewehe. Dann sah sie, daß sie auf ein Oval weißer Fliesen hinabschaute. Der einzige Farbfleck in all diesem Weiß war ein roter Gebetsteppich in der Mitte. Eine einsame Gestalt kniete dort; sie hatte keine Kapuze auf, und der rasierte Kopf war gebeugt. »Snow!« rief Rebel. Die Kamera fuhr den Hang hinab. Die Gestalt hob den Kopf und musterte sie mit kalten Reptilienaugen. Die Haut war so weiß wie Marmor, und das Gesicht war mit den sechseckigen Linien von Eiskristallen oder Sonneneruptionen bemalt. Sie legte den Kopf ein wenig schief und lauschte. »In gewissem Sinn bin ich das vielleicht«, sagte sie schließlich. Es war die Stimme eines Mannes. »Snow und ich gehören beide zu ein und derselben Sache.« Sein Gesicht war ganz genau so hager und ausgezehrt wie das von Snow. »Ich habe eine Botschaft für dich.« »Was bist du?« fragte sie. »Was genau bist du, wenn Snow und du zur selben Sache gehört?« Er machte eine kleine, ruckhafte Kopfbewegung zur Seite, vielleicht eine Geste der Verärgerung. Oder vielleicht verschaffte er sich nur über irgendeinen neuen Kanal Zugang zu Daten. »Das ist irrelevant. Man hat mich nicht gebeten, dir andere Informationen zu geben als diese Botschaft. Wenn du sie nicht entgegennehmen willst...« Er zuckte die Achseln. »Na schön. Ich höre.« Der Mann sah sie direkt an. »Deutsche Nakasone hat ein Team von Killern auf dich angesetzt, die ihnen voll ergeben sind.«
»Nein«, sagte Rebel. Ohne darüber nachzudenken, ballte sie so fest die Fäuste, daß sich die Nägel in ihre Handflächen gruben. Die Haut über ihren Knöcheln tat weh. »Das ist lächerlich. Deutsche Nakasone will meine Persönlichkeit haben. Sie brauchen mich lebend.« »Nicht unbedingt.« Eine knochige Hand glitt unter seinem Umhang heraus und stach in die leere Luft, und ein Gerät mit glatter, kirschroter Oberfläche erschien auf einem Insert. »Die Killer sind mit kryonischen Transportmitteln ausgerüstet. Sie brauchen dich bloß umzubringen, dein Gehirn im Blitzverfahren einzufrieren und die gewünschten Informationen von ihren Spezialisten mit destruktiven Techniken ausgraben zu lassen.« Die Hand verschwand in seinem Umhang. »Das hätten sie von vornherein tun sollen. Aber sie wollten dich auch retten, weil du ein kleines Rädchen im Unternehmen warst. Jetzt haben sie dich jedoch abgeschrieben.« Das Gerät war außen glatt und konturlos, mit einem ausziehbaren Tragegriff am oberen Ende. Es hatte genau die richtige Größe für Rebels Kopf. Sie zog die Schultern hoch und hob die Hände. »Warum erzählst du mir das?« »Du bist noch nicht bereit, ein Geschäft zu machen.« Der Mann stand plötzlich auf, ging drei Schritte zu einer Seite und blieb stehen. »Na schön. Wir möchten, daß du am Leben bleibst, bis du bereit bist. Du mußt diese Drohung ernst nehmen.« Er hielt inne, um etwas zu beobachten, das Rebel nicht sehen konnte. »Du warst unachtsam. Dir hätte klar sein müssen, daß es so wenige Gruppen von Dysonweltlern im Cluster gibt, daß sie alle überwacht werden. Wenn wir dich nicht zuerst erreicht hätten, wärst du jetzt tot.«
Die Szenerie wechselte, und sie blickte auf den FanchurchProspekt hinunter. Von oben verschmolzen die dahineilenden Zombies zu einem trägen, schlammigen Strom. Helle Kreise erschienen um drei Gesichter herum, und Rebel sah, daß sie sich in Formation durch die Menge bewegten und unter den Gesichtern nach etwas suchten. Das Bild holte sie eins nach dem anderen näher heran: eine massige Frau mit fanatischem, unbewegtem Gesicht und einem schwarzen Schrägstrich über dem linken Auge. Ein graziles Mädchen mit starrem Blick und schwarzem Schrägstrich über dem linken Auge. Und dann ein Dritter mit der gleichen Bemalung, ein rothaariger Mann mit einem Fuchsgesicht. Jerzy Heisen. »Du kennst ihn?« fragte der Mann. Die Killer kamen an der Tür der Bank vorbei, in der sich Rebel befand. Jeder hatte ein kirschrotes Gefriergerät in einer Hand. »Warum bist du so zusammengezuckt, wenn du ihn nicht kennst?« »Er hat mit Snow zusammengearbeitet.« »Ah.« Der Mann machte eine kleine Geste und neigte den Kopf. »Interessant.« Die Szene mit den Menschen verblaßte. »Natürlich. Er ist nicht dumm, er leistet eine Dienstzeit ab und er ist dir schon mal begegnet. Natürlich ist er einer deiner Killer.« Er machte wieder eine Pause. »Macht nichts. Wir haben eine Liste der Orte im System erstellt, zu denen du fliehen kannst, dazu die jeweilige Wahrscheinlichkeit deiner Ermordung durch Deutsche Nakasone innerhalb eines GreenwichMonats nach deiner Ankunft. Ich schlage vor, du siehst sie dir aufmerksam an.« Die Karte rollte im Bild nach oben.
Ort
Wahrscheinlichkeit der Ermordung (± 1 Prozent) ___________________________________________________ EROS-CLUSTER 97% PALLAS-CLUSTER 95% ANDERE CLUSTER (IN DEN GÜRTELN) 91% (88-93%) TROJAN-CLUSTER 90% LUNARE BESITZUNGEN 90% WISSENSCHAFTSRESERVATE AUF MERKUR 90% WISSENSCHAFTSRESERVAT NEPTUN/PLUTO 90% JUPITERSYSTEM: 70% NICHTGALILEISCHE SATELLITEN 89% GANYMED (HAFENSTÄDTE) 65% (WÜSTE) 44% CALLISTO (HAFENSTÄDTE) 65% (WÜSTE) 41% JO, EUROPA, AMALTHEA, JUPITERORBITALE 65% (63-68%) MARSORBITALE, DEIMOS 63 % MARSOBERFLÄCHE 59% SATURNSYSTEM: 58% KLEINERE SATELLITEN 75% (74-75%) RINGE, SATURNORBITALE 72 % TITAN (HAFENSTÄDTE) 30% (WÜSTE) 23% ERDORBITALE 17% ERDOBERFLÄCHE 0%
»Sehr hübsch«, sagte Rebel. Die Liste gab ihr etwas von dem Elan zurück, den ihr die letzte halbe Stunde geraubt hatte. »Besonders die letzte Zeile gefällt mir. Ich schätze, ich sollte den ersten Transit zur Erde nehmen, hm? Oder vielleicht sollte ich einfach ohne Anzug durch eine Schleuse nach draußen gehen. Dann könnte ich da treiben.« Ihr Sarkasmus hatte keinen sichtbaren Effekt. »Wir werden dir keinen Rat erteilen, was du tun sollst. Wir versichern dir nur, daß diese Liste innerhalb der Grenzen der Spieltheorie zuverlässig ist.« Der Mann kniete sich hin und setzte seine Kapuze auf. Die Liste verblaßte, und die Pierette tauchte wieder neben Rebel auf. »Noch eins. Du hast einen neuen Freund. Die Tetrade.« »Ja?« »Trau ihm nicht.« Die Leine wartete auf sie. Wyeth und Ginneh steckten immer noch die Köpfe zusammen und besprachen sich; anscheinend hatten sie ihre Abwesenheit während der letzten halben Stunde nicht bemerkt. Die gleichen Bilder von Waffenplattformen und der Montagemaschinerie des Einschlusses hing hinter dem Schreibtisch in der Luft. Der sichelförmige Abschnitt des Transitrings war eine Spur länger als vorher. Rebel seufzte und streifte sich die Leine wieder über die Handgelenke. Es gab keinen Ort, wo sie gefahrlos hingehen, und niemand, dem sie vertrauen konnte. Sie mußte auf ihre Intuition bauen. Und bis jetzt war die einzige Aussage, die ihr irgendeine Handlungsrichtung nahelegte, daß Snows Was-immer-er-war Wyeth mißtraute.
»Also was ist?« fragte Ginneh. »Willst du die Stellung haben?« Wyeth warf einen Blick über die Schulter auf Rebel, und für einen Sekundenbruchteil dachte sie, daß er überrascht wirkte, sie zu sehen. Dann war sie nicht mehr sicher. »Ginneh, du wußtest, daß ich sie annehmen würde, als du zum ersten Mal davon gesprochen hast. Wir wollen uns nicht aufziehen.« Ginnehs Lachen war hell und freundlich. »Ja, das stimmt, Darling, aber ich hatte gehofft, ich könnte deinem Ego diese Erkenntnis ersparen.« »Mmmm.« Wyeth stand auf und nahm die Leine. »Dann geh davon aus, daß ich auf der Gehaltsliste stehe.« Er führte Rebel weg. Nicht weit vom Park entfernt stiegen sie eine gewundene Holztreppe an einem Druidenbaum zu einem Plattformrestaurant hinauf, das in die Zweige gebaut war. Dort bestellten sie leichtes Gebäck und grünen Wein. Die Gläser hatten große Kelche und schmale Ränder. Wyeth schaute mit finsterer Miene auf seins hinunter und legte seinen Daumen darauf. Er ließ die grüne Flüssigkeit langsam kreisen. Rebel wartete. Wyeth blickte plötzlich auf. »Wo warst du?« »Was ist es dir wert?« Hände schlossen sich um das Weinglas. Es waren große Hände mit knotigen Gelenken und kurzen, stumpfen Fingern. Die Hände eines Würgers. »Was willst du?« »Die Wahrheit.« Und als er eine Augenbraue hochzog, änderte sie es zu: »Wahrheitsgemäße Antworten auf alle Fragen, die ich dir stelle.« Ein Moment Schweigen. Dann klopfte er mit den Knöcheln
auf den Tisch und führte sie an seine Stirn und seine Lippen. »Abgemacht. Du zuerst.« Langsam und sorgfältig erzählte sie von ihrer letzten halben Stunde. Sie fühlte sich wohl hier oben in den Blättern, wo das Licht grün und wasserartig und die Schwerkraft gering war. Sie hatte das Gefühl, als ob sie sich in ihren Stuhl zurücklehnen und einfach entschweben könnte … heraus aus dem Stuhl und dem Restaurant, über die Zweige hinweg in die großen dunklen Ozeane der Luft, wo sich Wale und Delphine tummelten und wo die Wolken der Staubalgen das Licht nicht zu den fernen Bäumen durchließen. Es war so wie zu Hause, und sie dehnte ihre Geschichte über drei Gläser Wein aus. Während sie sprach, regte sich nichts in Wyeths Gesicht. Er zwinkerte kaum. Und als sie fertig war, sagte er: »Ich kann ums Verrecken nicht begreifen, wie irgendein menschliches Wesen dermaßen dämlich sein kann!« »He«, sagte Rebel abwehrend. »Es ist deine eigene Schuld, wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, was du vorhast. Wenn hier jemand dämlich war, dann du.« »Was hast du denn geglaubt, von wem ich rede?« sagte er wütend. »Ich war einfach zu clever, als es mir guttut. Während ich eine komplizierte Falle für Snow und ihren gleichnamigen Gefährten auslege, spazieren die einfach herein und halten ein langes Schwätzchen mit dir! Eine wunderschöne Gelegenheit zum Teufel, weil ich … na, egal.« Er holte tief Luft, und unmittelbar darauf lächelte er wie durch einen Zaubertrick spitzbübisch. »Na los, stell deine Fragen. Soll ich damit anfangen, daß ich dir was über Snow erzähle?« »Nein. Das heißt ja, aber erst später. Ich möchte mit etwas
ganz Grundlegendem anfangen. Du bist kein richtiger Mensch, nicht? Du bist ein neuer Geist.« Er grinste. »Wer sollte das besser wissen als du?« »Bitte. Du hast schon angedeutet, daß ich dich programmiert habe. Aber ich kann mich nicht an das geringste erinnern, verdammt noch mal, also komm mir nicht auf die neckische Tour, okay? Gib mir eine direkte Antwort. Was, zum Teufel, ist eine Tetrade?« »Eine Tetrade ist ein einziger menschlicher Geist mit vier verschiedenen Persönlichkeiten.« Sein Gesichtsausdruck wurde abrupt ernst, dann zerstreut, dann offen und schließlich schelmisch. »Das ist es, was wir bin. – Oder sollte ich sagen, was ich sind?«
5 Volks-Sheraton »JETZT WIRST DU GLEICH WAS ERLEBEN, was so weit vom Boden eines Planeten entfernt ziemlich selten ist«, sagte Wyeth. »Und zwar?« »Einen Sturm.« Unterhalb seines schmückenden Beiwerks – Balkone, Anbauten, Flügel mit hoher und geringer Schwerkraft, Glaskuppeln und Himmelspromenaden – war das Sheraton ein schlichtes um seinen Mittelpunkt kreisendes Rad mit drei Stockwerken, die sich mit geringfügig verschiedenen Geschwindigkeiten drehten, um die Greenwich-Normalschwerkraft aufrechtzuerhalten. Wyeth hatte das Hauptquartier des Sicherheitsdienstes im Foyer am Fuß des Aufzugs zum zentralen Andockring eingerichtet. Er saß hinter dem Empfangstresen, und seine Augen bewegten sich ununterbrochen, während er ein Dutzend holographischer Inputs überflog. Ein Mikro mit Tonkontrolle stand vor ihm, und er sprach von Zeit zu Zeit leise Instruktionen hinein, wobei er je nach dem gewünschten Kanal eine andere Tonlage wählte. Rebel saß in einem Schlingensessel und schaute durch die Fensterwand nach draußen. Die Sterne zitterten, als unterschwellige Erinnerungen in ihr aufflackerten. Sie konnte Wyeths Spiegelbild auf der Innenseite des Glases sehen. Gegenüber vom Fenster gab es eine Kaskade von Bewegungen. »Wir haben die Schleusen dichtgemacht, Sir. Die Leute
sind nicht sehr glücklich darüber. Ein paar unbedeutende gewaltsame Auseinandersetzungen bei den Tanks zwölf und drei.« Trotz ihrer Samuraibemalung sah die Frau nicht gerade wie eine Angehörige des Sicherheitsdienstes aus. Sie war aus den Tanks rekrutiert worden und trug einen gänseblümchengelben Umhang und viel zuviel Schmuck. »Sie sind darüber informiert worden«, sagte Wyeth. Als die Frau fort war, seufzte er. »Manchmal versteh ich die Leute nicht. Wenn sie nicht begreifen, warum sie die Schleusen für ein oder zwei Stunden nicht benutzen können, was glauben sie dann, was sie erwartet, wenn wir den Marsorbit erreichen? Ich fürchte, das gibt noch ein rauhes Erwachen für sie.« Raumwerker schraubten die vorgefertigten Segmente der Geodäte um das Sheraton und die Tanks herum fest. Sie arbeiteten mit programmierter Effektivität. Das Gebilde war von einer transparenten Monomolekularhaut überzogen. Von Rebels Sessel aus sah es wie ein feiner Dunst aus, der sich vor die Sterne legte. Die Arbeiter fingen an, Puderstrahl über die fertiggestellte Außenseite zu sprühen, und verbanden Schicht auf Schicht im Vakuumschweißverfahren. Jetzt war es, als ob man den Wärmetod des Universums beobachtete; die Sterne trübten sich langsam und wurden schwarz. Die Düsternis schwoll an und verschluckte alles. Schließlich war das einzige Licht innerhalb der Geodäte jenes, das aus den Fenstern des Sheraton nach draußen fiel. »Das ist ja unheimlich«, sagte Rebel. Auf einmal hatte sie das überwältigend starke Gefühl, daß jemand direkt neben ihr stand. Sie wirbelte herum, aber es war niemand da. »Das gefällt dir, hm?« Wyeth warf die Projektion einer Au-
ßenkamera auf einen Quadranten des Fensters. Von außen sah die Geodäte wie ein gigantisches Kugellager aus, das im nackten Sonnenlicht gleißend hell leuchtete. Sterne zogen über ihre Flanke und kräuselten sich schwach. Gleich neben dem Mittelpunkt war das verzerrte Spiegelbild von Londongrad mit dem Firmenlogo des Clusters (zwei klassische Figuren, von denen sich eine verbeugte) auf der Seitenwand zu sehen. »Stell dir das Ganze als riesige Zelle vor«, sagte Wyeth in fremdem Ton. »Die Tankstädte im Mittelpunkt sind der Zellkern. Das Sheraton ist … oh, das Zentriol, würde ich sagen. Die Luftpflanzen müßten die Mitochondrien sein.« Er lachte und breitete die Arme aus. »Und sieh da! Eine neue Lebensform treibt in den Winden des Weltraums. Was für gewaltige, unvorstellbar komplexe Geschöpfe werden in einer Million Jahre aus dieser ersten, einfachen Zelle entstehen?« Rebel blickte jäh auf. »Wer von dir ist das?« Wieder dieses fremdartige Lachen. »Du würdest mich wohl den Planer nennen. Ich bin die intuitive Persönlichkeit, die sich Gedanken über das große Bild macht, die unsere Ansichten über Gott und die Unendlichkeit bestimmt. Das ist natürlich nur eine Bezeichnung. In einem Jagdtrupp der Aborigines wäre ich der Schamane.« »Hm?« »Weißt du nicht, woher die Tetrade kommt? Eucrasia hat uns dem uralten Jagdtrupp der Aborigines nachgebildet. Sie gingen in Vierergruppen auf die Jagd, und ganz gleich, welche Individuen sie dafür aussuchten, während der Jagd übernahmen sie vier deutlich abgegrenzte Rollen – den Führer, den Krieger, den Mystiker und den Clown. Das ergab eine bemerkenswert
stabile und leistungsfähige Gruppe. Und es ergibt einen bemerkenswert stabilen und leistungsfähigen Geist.« Das klang alles sehr vertraut. Während sie in die Dunkelheit hinausschaute, sah Rebel, wie halb geformte Erinnerungen aus Eucrasias Vergangenheit mühsam Gestalt anzunehmen versuchten. »Ich dachte, sie war eine Persönlichkeitsstreunerin?« »Ein bißchen schon, ja. Aber du warst auch eine verflucht gute, selbständige Wetware-Chirurgin.« »Sie war eine …« »Wie auch immer.« Während sie sich unterhielten, wandte sich Wyeth hin und wieder ab, um auf eine unsichtbare Kontrolltaste zu drücken oder mit leiser Stimme einen Befehl zu geben. Fortwährend kamen Leute durchs Foyer. Ein Trupp von Sicherheitssamurais fuhr mit dem Aufzug zum Andockring hinauf; sie waren mit Schlagstöcken und Spießen mit Widerhaken bewaffnet und sahen gefährlich aus. Gleich nach ihnen kam ein junger Bursche mit mahagonibrauner Haut herein. Er blieb am Fenster stehen, die Hände hinter dem Rücken, und sah mit deutlich zur Schau getragenem Interesse hinaus. »Was hast du hier zu suchen?« fragte Rebel kalt. »He, ich hab Erfahrung im Sicherheitsdienst.« Maxwell legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie stand auf und schlug sie weg. »Er ist ein Bote«, sagte Wyeth, ohne aufzublicken. »Ich brauche jede Menge Laufburschen, die Botschaften in die Tanks und von dort hierher bringen können.« »Er ist nicht wie ein Bote bemalt.« »Tja nun, wir haben's hier mit dem Einschluß zu tun. Je weniger Programmierung, desto besser.«
Auf dem Fenster leuchteten Bilder von Kaltfusionsretorten auf, die an der Geodäte befestigt und in Betrieb genommen wurden. Frisch erzeugter Sauerstoff und Stickstoff sowie Kohlendioxid und Spurengase strömten in die Kugel. Das Sheraton erbebte unter dem Ansturm des Windes, und Wyeth verlor zwei Haftkameras, deren vorspringende Befestigungen unter ihnen weggerissen wurden. Sie flogen hilflos davon; eine wurde an den Tanks zerschmettert, die andere an der Innenwand der Geodäte. Eine kleine, grauhaarige Frau in Baumhängertracht ging zum Empfangstresen. »Ich hab alle meine Leute auf ihren Stationen. Was sollen wir tun, wenn's soweit ist?« Es war die Leiterin des Biolabors auf dem Fanchurch-Prospekt. »Herrje«, sagte Rebel leise. »Die Woche der alten Heimat.« Die Frau sah sie an. »Kennen wir uns nicht, Schätzchen?« Rebel wandte sich ab, und Wyeth sagte: »Rebel Elisabeth Mudlark, ich möchte dir Constance Frog Moorfields vorstellen, die Leiterin unseres Makrobiotechnikprojekts. Connie, ich möchte, daß du deinen Leuten in ein paar Minuten das Stichwort gibst. Such dir einen Kanal aus, okay?« »O ja, sicher.« Constance starrte die Kontrollinstrumente eulenhaft an. »Wie bedient man das Ding hier?« Maxwell legte Rebel einen Arm um die Taille und sagte: »Ich sag dir was, warum setzt du dich nicht auf meinen Schoß und wir reden darüber, was sich als erstes tut?« Sie verpaßte ihm einen Hieb in den Magen, und er tänzelte grinsend zurück. Draußen heulte der Sturm. »Jetzt«, sagte Wyeth, und Constance nickte und sprach leise in ihr Mikro. In irgendeinem weit entfernten Raum drückten die Makrobiotechniker auf ihre
Fernzündungen. Explosivbolzen sprengten die kleine Speicherkugel auf und schleuderten die Bruchstücke in alle Richtungen. Die Luftpflanze im Innern wand sich, dehnte sich aus und peitschte durch die Luft. Der Wind packte sie mit seinen Zähnen; Ranken klatschten gegen die Tanks und die Wände der Geodäte und prallten heftig davon ab. Durch das Fenster sah Rebel, wie gewaltige Schlingen der Pflanze ins matte Licht aus dem Sheraton vorstießen und wieder zurückwichen. »Die ist ja riesig«, staunte sie. »Siebenundzwanzig Meilen lang«, sagte Constance mit Befriedigung. »Voll ausgestreckt, heißt das. Und sie ist noch jung. Müßte in den nächsten paar Tagen wie die grüne Hölle wachsen.« Sie langte zu den Kontrollen hinüber und warf mehrere biostrukturelle Schaubilder auf die Fenster. »Wissen Sie, wir haben sie so konstruiert, daß sie …« Rebel drehte sich um und ging weg. Die Eingangshalle war lang und gerade, mit einer kaum wahrnehmbaren Aufwärtskrümmung. Rebel fragte sich, warum es hier so dunkel war; Schatten spielten über ihre Knöchel und hingen über beide Schultern. Das mußte irgendeinen Grund haben. Sie berührte eine Paisley-Wand und erinnerte sich an eine andere, ähnliche Halle, die sie früher tausendmal durchquert hatte: jene zwischen ihrem Dienstzimmer und dem Wetware-Operationssaal. Eine Brise bewegte ihren Umhang, und sie zog ihn ein wenig zusammen. Ein Fetzen Papier flatterte vorbei, und sie hörte, wie eine silberne Schüssel hinter ihr zu Boden fiel und sich überschlug, bis sie auf eine Wand traf. Die programmfreien Samurais öffneten irgendwo die Luftschleusen und freuten sich über
die hereinströmende frische Luft. Draußen heulte der Wind in einem dämonischen Chor. Im Innern gab es nur einen kalten Luftzug und kühle Böen. Sie schritt in ihre Erinnerungen versunken dahin, als Jerzy Heisen aus einer Gesprächsnische heraustrat und sie am Arm packte. »Hallo, Heisen«, sagte sie geistesabwesend. »Gibt's was Neues im Mudlark-Programm?« Er warf ihr einen sonderbaren Blick zu. »Noch nicht. Bald, hoffe ich.« »Ich hab beschlossen, das Programm an mir selbst auszuprobieren. Scheint interessant zu sein, aber auf eine Art, die man nur von innen heraus erfassen kann, wenn du weißt, was ich meine. Ich will nicht, daß diese Informationen durch irgendeinen drittrangigen, nur marginal kohärenten Persönlichkeitsstreuner gefiltert werden.« Sie konnte nicht verhindern, daß ein Hauch von Bitterkeit in ihrer Stimme lag. Der Stab, den man ihr zur Unterstützung zugeteilt hatte, war erbärmliches Material, erstens inkompetent und obendrein auch noch in aller Eile programmiert. Sie mußte die Hälfte der Arbeit selber erledigen. Heisen runzelte die Stirn und sagte dann sorgfältig, als ob er Verse aus einem Stück rezitierte oder sich die genauen Worte einer früheren Unterhaltung ins Gedächtnis zu rufen versuchte: »Ist das klug? Wir haben den Master-Wafer noch nicht dupliziert.« Sie wischte seinen Einwand verächtlich beiseite. »Nur für zehn Minuten. Herrgott noch mal, was kann in zehn Minuten schon passieren?« Eine Pause. Als sie ihn direkt ansah, waren Heisens Augen merkwürdig intensiv, aber in dem Moment, als sie den Blick
wieder abwandte, verblaßte er von neuem zu einer nur vage wahrgenommenen Erscheinung. »Sie glauben also, daß es eine kommerziell auswertbare Persönlichkeit ist?« »Sie sind so verflucht geldgeil, Heisen! Ich rede von einem neuen Merkmal, einer neuen Charakteristik, einer neuen Eigenschaft … Von etwas, wodurch das Programmieren vielleicht mannigfaltiger und interessanter wird.« »Aber sie hat kommerzielles Potential?« »Oh, das nehme ich an.« Von hinten näherten sich eilige Schritte, und auf einmal stand ein dunkelhäutiger Junge vor ihr und hielt ihr einen billigen Amalgamring hin. Eucrasia mußte die Augen zusammenkneifen, um ihn zu sehen. »Wyeth hat mir aufgetragen, dir das zu geben.« »Wyeth?« Sie erkannte den Namen wieder. Wie hatte sie ihn vergessen können? Er war das Beste, was sie bisher gemacht hatte – eine Piratenoperation natürlich, aber sie hatte mit vollem Einsatz gearbeitet, weil ein Teil der interessantesten Programme strenggenommen illegal war. »Wyeth hat dich gebeten, mir einen Ring zu geben?« »Ja, das ist ein Lokalisierungsring. So kann er dich im Auge behalten, wo du bist und so.« Er winkte mit einer Hand zu den Kameras an der Decke hinauf. »Hör mal, komm später zu den Tanks rüber und besuch mich in meiner Hütte. Da gibt's keine Überwachung. Nur wir beide ganz allein – weißt du, was ich meine?« Eucrasia hob ungehalten und befremdet die Schultern. Heisen hatte sich in eine diskrete Entfernung zurückgezogen. Der Junge sah ihn neugierig an, kam zu dem Schluß, daß er
nicht wichtig war, und warf ihr eine Kußhand zu. »Wir sehen uns in meiner Hütte!« rief er über die Schulter. Eucrasia fragte sich geistesabwesend, wer er war. Heisen nahm wieder ihren Arm und steuerte sie durch einen wiesenähnlichen Begegnungsraum. Das Gras unter ihren Füßen war kühl, und Bienen schwebten träge über den Himbeersträuchern. »Laß uns da rübergehen und durch die Himmelspromenade schlendern. Das ist ein sehr hübscher Spaziergang. Ohne Kameras und neugierige Blicke.« Er schwenkte den kirschroten Behälter leicht hin und her, als er sie wegführte. Die Himmelspromenade schwang sich in einer langen, anmutigen Kurve vom Sheraton nach draußen. In den transparenten Wänden der Röhre schwammen Fische durch Tangstreifen. Der Gehweg aus Teakholz gab unter ihren Füßen fast musikartige Geräusch von sich. »Ich hab Wyeths Kriegeraspekt nach meinem Vater entworfen«, sagte Eucrasia. Sie hatte völlig vergessen, mit wem sie sprach, aber die Erinnerungen waren zwanghaft stark und trieben die Worte vor sich her. »Er war ein eigenwilliger Mann, mein Vater. Entschlossen. Niemand konnte ihn zu irgendwas überreden, wenn er's nicht wollte. Aber er war nicht … flexibel, wissen Sie? Er konnte sich nicht auf Veränderungen einstellen. Er konnte keine Gefühle zeigen. Aber darunter war er ein wundervoller, sehr freundlicher Mensch, und ich liebte ihn. Als ich noch klein war, wünschte ich mir immer, ich könnte ihn ändern. Nicht in den großen Dingen, sondern in den Kleinigkeiten, damit er aus seinem dicken Schutzpanzer herauskommen und ein bißchen atmen konnte. Damit er sein
Leben genießen konnte. Das war ein wichtiger Faktor bei meiner Berufswahl, glaube ich.« Sie verstummte und erinnerte sich an die Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und der Cluster den Gürtel verlassen hatte. Die Raffinerien schlossen, und ihre Eltern waren beide arbeitslos geworden. Das waren schlimme Zeiten gewesen. Ihre Mutter hatte einen Job als Pierette angenommen, und damals war die Wetware noch primitiv gewesen. Sie war nach der Schicht mit einem debilen Gesichtsausdruck und einer Unterwürfigkeit heimgekommen, die erst nach Stunden verschwand. Daddy hatte das gehaßt. Einmal kam Eucrasia vom Unterricht heim und fand ihren Vater am Tisch im Zentralzimmer, wo er eine WetwareKartusche in den Händen hin und her drehte. Es war ein großes, unhandliches Ding in einer schwarzen Schachtel, fast schon überholt, und sie wußte noch nicht, daß es mit elektronischer Gottessucht geladen war. Aber sie wußte, daß sie es satt hatte, ihren Vater andauernd in trüber Stimmung um sich zu haben und ihre Mutter fast nie mehr so zu sehen wie früher. Und ihr gefiel der schuldbewußte, kraftlose Ausdruck nicht, der das Gesicht ihres Vaters zerfließen ließ, wenn er sie sah. Er war immer ein starker Mann gewesen. Während er die Kartusche ungeschickt zu verstecken suchte, starrte sie also unwillkürlich mit Eis im Gehirn und unartikulierten, pochenden Schmerzen im Kopf zu ihm hinauf, fühlte, wie die Wut wie ein unsichtbarer psychischer Laser durch ihre Augen brannte, und sagte: »Ich hasse dich, Daddy.« Was dann geschah, war ein Schock für sie. Die Hand ihres Vaters ballte sich zur Faust. Sie zitterte. Dann
schlug er sich so schnell, daß sie fast nicht sah, wie es passierte, mitten ins Gesicht. Die große Faust traf hart. Es mußte höllisch weh getan haben. Sie brach den Knorpel in seiner Nase, und Blut floß herab. Dann schlug er sich erneut. Und noch einmal, diesmal nicht mehr so zögernd, als ob er die Erfahrung ausgekostet hätte und zu dem Schluß gekommen sei, daß es ihm gefiel. Zuerst war das einzige Geräusch das Klatschen der Faust auf das Fleisch, aber dann begann er allmählich zu keuchen, ein Laut wie ein Schluchzen. Und er schlug immer noch auf sich ein. Eucrasia war nach vorn gestürzt und hatte diesen riesigen, muskulösen Arm gepackt, um ihn zu stoppen. »Daddy, nicht!« kreischte sie, und irgendwie – es war wie ein kleines, dunkles Wunder – hatte er aufgehört. Eine Zeitlang stand er einfach da. Seine Brust arbeitete, seine Schultern hoben und senkten sich. Sein Gesicht war ganz dunkel von Blut. Ein roter Tropfen fiel auf Eucrasias Fuß und kitzelte sie am kleinen Zeh. Ihr Vater sah sich wieder und wieder mit großen Augen um, als ob er sich fragte, wo er sei. Dann richtete sich sein Blick auf Eucrasia, und sie standen beide mit offenem Mund da und sahen sich stumm und unverwandt an. Dann wandte er sich ab. »Das ist weit genug«, sagte Heisen. Er blieb stehen und stellte seinen Behälter mit einem dumpfen Laut ab. »Warum setzt du dich nicht, Eucrasia?« Sie waren an eine transparente Bar gekommen, die von der Wand der Himmelspromenade ausging. Ein Tintenfisch suchte unten am Boden nach Nahrung. Er zog sich mit anmutigen
Drehbewegungen seiner Tentakel über das Glas. Eucrasia setzte sich auf einen der Barhocker. »Er war ein guter Mensch«, sagte sie. »Er war ein guter Mensch. Er hat so etwas nicht verdient.« »Es wird nur einen Augenblick dauern.« Eucrasia starrte in die Dunkelheit. In der Ferne waren ein paar verschwommene, leuchtende Flecken, das war alles. Sie fragte sich, wo die Sterne waren. Winzige Lichter, so groß wie Weizenkörner, säumten die Holzbohlen unter ihren Füßen und liefen am Rand der Bar entlang, aber draußen war nur stygische Finsternis. Sie hatte das Gefühl, in einem Jenseits gefangen zu sein, wo Dinge danach strebten, aus dem Nichts heraus Gestalt anzunehmen, und es nicht schafften. Heisen hob den Hirnfrierer über ihren Kopf. Sein Ellbogen streifte ihr Schulterblatt. Von irgendeiner Bewegung unter ihm überrascht, schoß der Tintenfisch auf Eucrasias Gesicht zu. Eben noch hatte sie in konturlose Schwärze hinausgeschaut, und im nächsten Moment sah sie sich einer bleichen, verzerrten Gestalt gegenüber, die vor ihr hochgesprungen war. Ein reflexhafter Schreck rief unterschwellige Erinnerungen an leere Augenhöhlen und einen Mund wach, der in einem Schrei aufklaffte. Gleichzeitig packte sie ihre Klaustrophobie, und sie erkannte, daß jemand neben ihr stand und im Begriff war, ihr eine Schachtel über den Kopf zu stülpen. Eucrasia schrie auf und schwankte zur Seite. Rebel fiel vom Barhocker. Eine Kante von Heisens Gefrierapparat stieß gegen ihre Schulter, dann schlug sie auf den Boden. In einem grellen Auflodern von Schmerz rollte sie weg und kam taumelnd auf
die Beine. Heisen hob das Ding wieder hoch. »Mach, daß du wegkommst!« schrie Rebel. »Na, na, Eucrasia.« Heisen gab beruhigende, besänftigende Laute von sich, aber seine Augen waren ruhig und kalt und ließen keinen Moment von ihr ab. Er trat einen Schritt auf sie zu, und sie wich zurück. Hinter ihr war nichts als die Himmelspromenade – eine Röhre von mindestens einer Achtelmeile Länge, ohne Abzweigung oder Ausgang. »Hör zu, Jerzy, ich weiß nicht, wie du hier reingekommen bist, aber Wyeth wird bald merken, daß ich verschwunden bin. Hier wimmelt es von Samurais – du kommst nicht raus, ohne daß sie dich schnappen.« Heisen trat ein paar Schritte zurück, so daß er den Gefrierapparat auf den Tresen stellen konnte. Er griff in seinen Umhang und zog ein Etui aus einer Tasche im Futter. Ohne nach unten zu blicken, ließ er es aufschnappen. »Jerzy? Hör mir zu, ja? Ich bin sicher, daß man dich reprogrammieren kann. Du kannst wieder ein normales Leben führen. Niemandem außer dir selbst gehorchen.« Er steckte die Hand durch die Öffnung am Heft eines Kampfmessers mit breiter Klinge. Es war eins von der Art, wie es Rude Boys bevorzugten, eine Kreuzung zwischen Dolch und Schlagring, weil es fast unmöglich war, es bei einem Kampf zu verlieren. Dann lächelte Heisen gelassen und ging mit dem Messer auf sie los. »Oh, Scheiße!« Rebel sprang zurück. Sie packte das lose Ende ihres Umhangs und wickelte es um einen Unterarm. Jetzt hatte sie einen gewissen Schutz. In einem verrückten, auf verschrobene Weise fröhlichen Winkel ihres Bewußtseins fühlte sie sich
wie ein Dandy aus der Renaissance. So hatten sie in Spanien, Rom und Griechenland vor so vielen Jahrhunderten bei verzweifelten Handgemengen in finsteren Seitengäßchen gekämpft. Natürlich hatten die damals selber Waffen gehabt. Heisen kam langsam näher; trotz seiner Überlegenheit war er darauf programmiert, beim Kampf vorsichtig zu sein. Er machte zwei Scheinangriffe, stieß nach ihrem Gesicht und ihrem Bauch und beobachtete, wie ihr Arm nach vorn zuckte, um beides zu schützen. Während Heisens Bewegungen eine einzige geschmeidige, beherrschte Drohung darstellten, hatte die schartige Schneide der Angst Rebels Reflexe vergröbert und unsicher gemacht. Die Angst strömte durch ihre Adern, tanzte hinter ihren Augen und erzeugte einen sauren Geschmack in ihrem Mund. Sie war bereits besiegt. Heisens Lächeln schwand, und einen Moment lang stand er völlig reglos da. Dann sprang er nach vorn, täuschte einen Stich von links an, um ihren Arm aus dem Weg zu bekommen, und ließ die Klinge dann auf die entblößte Seite ihres Halses niedersausen. Rebel sprang weg und krachte seitlich gegen die Wand. Die heiße, scharfe Schneide des Messers fuhr über ihre Seite; sie ritzte ihr kaum die Haut und zog nur eine hauchdünne Spur über ihre Rippen. Rebel stieß sich von der Wand ab. Ihre ganze Seite brannte vor Schmerz, und sie taumelte zurück. Heisen glitt vorwärts. Seine Augen waren tödlich ruhig. Etwas Hartes stieß gegen Rebels Rücken. Die Kante der Bar. Perfekt, dachte sie. In der ganzen verdammten Himmelspromenade gibt es eine einzige Ecke, und in die lasse ich mich
hineindrängen. Etwas Glattes, Metallisches und Kaltes streifte sie ganz leicht am Rücken. Der Hirnfrierer. Mit einer raschen Bewegung packte sie das Ding hinter ihr und schlug damit nach Heisen, wobei sie den Griff mit beiden Händen festhielt. Er trat einen Schritt zurück. Das Problem bestand darin, daß es nicht leicht war, den Gefrierapparat vor dem Körper hochzuhalten. Er war schwer, und ihre Arme zitterten. Er war zu kurz, zu stumpf, zu unhandlich. Wenn Heisen nicht so verdammt flink gewesen wäre, wäre sie versucht gewesen, ihm das Ding einfach auf den Fuß fallen zu lassen. Unter einem Finger konnte sie einen Auslöser ertasten, der in den Griff eingebaut war. Das bedeutete, wenn sie ihn dazu überreden konnte, den Kopf in das Gerät zu stecken, dann hatte sie ihn. Sonst war es eine lausige Waffe. Ich muß es nach ihm werfen, dachte Rebel. Es nach oben schwingen, ihn unter dem Kinn erwischen und ihm ein paar Zähne ausschlagen. Dann das Messer packen und ihn festhalten, bis die Leute vom Sicherheitsdienst kommen. Das war ein guter Plan. Etwa genausogut, wie auf der Stelle die Teleportation zu erlernen. Sie sah, wie sich Heisens Muskeln spannten. Sein Gesicht wurde ganz still. Dann geschah alles gleichzeitig. Er zog das Messer in einem mörderischen Stoß nach oben, sie schwang den Behälter darauf zu, und hinter Rebel ertönte ein Schrei. Reflexartig zuckte Heisens Blick nach oben und über ihre Schulter, um den Störenfried zu taxieren. In dieser Sekunde der Unachtsamkeit stieß Rebel den Hirnfrierer nach vorn und schob ihn über die ausge-
streckte Hand mit dem Messer. Sie drückte auf den Auslöser. Das Gerät brummte, ein fast unhörbares mechanisches Husten. Einen langen Augenblick bewegte sich weder Rebel noch Heisen. Dann riß Rebel den Behälter zurück. Die Hülle war heiß von der übertragenen Energie, und die Berührung tat weh. Heisen senkte den Blick. Behutsam und verwundert streckte er die andere Hand aus, um die Hand mit dem Messer zu berühren. Sie brach ab. Das Messer und die Hand fielen zu Boden und zersplitterten in kleine Stücke. Zurück blieb ein Arm, der einfach auf halbem Wege zwischen Ellbogen und Handgelenk endete. Rebel spürte eine Schwäche in ihren Fingern. Sie ließ den Hirnfrierer fallen. Sie konnte nicht aufhören, den amputierten Arm anzustarren; er schien zu glühen und anzuschwellen und ihr gesamtes Sichtfeld auszufüllen. Hinter ihr war das Stakkato herbeieilender Schritte zu hören. Da kam Heisen wieder zu sich. Ohne Anzeichen von Schmerzen zu zeigen, griff er mit der Hand, die ihm noch geblieben war, in seinen Umhang und zog eine kleine schwarze Kugel heraus. »Bleib zurück!« befahl er ihr ernst und warf die Kugel gegen einen entfernten Abschnitt der Wand. Die Samurais waren fast schon da, als die Wand explodierte und mit einem scharf umrissenen Schwall von Wasser und Glas nach außen aufplatzte. Einer von ihnen packte Rebel und riß sie zurück, während die andere sich vorbeugte und Heisen mit ihrem Spieß zu angeln versuchte. Aber Heisen sprang bereits durch die neue Öffnung. Er fiel hinaus und wurde davongetragen. Der Wind heulte und trieb ihnen einen Teil des Wasser-
schwalls ins Gesicht. Die Luft roch nach Salz, und überall waren nasse Tangfasern. Auf beiden Seiten der Promenade schlossen sich schwere Sicherheitstüren mit lautem Knall. Rebel erhaschte einen flüchtigen Blick auf Heisen, der sich mit wild flatterndem Umhang überschlug und wegstürzte, bevor die Dunkelheit ihn verschlang. »Was für ein Schlamassel!« sagte ein Samurai. Er trat nach einem zappelnden Fisch. Der Wind peitschte seine Haare. Rebel konnte nur noch gegen die Tränen ankämpfen, als die Samurais sie wegführten. Auf dem Graphikfenster schwebte ein glitzernder Ehering aus Maschinen im Vakuum. Hunderte von Einschlußleuten krabbelten auf seiner Oberfläche herum, wo sie kleine Düsen mit komprimiertem Gas anbrachten und justierten. Mit peinlicher Genauigkeit bewegten sie den Ring durch tausend winzige Gasschübe, bis die Geodäte reglos genau in ihrem Zentrum hing. Erst jetzt bekam Rebel einen Eindruck von der Größe des Rings – er hatte einen Durchmesser von mehreren Meilen, so daß die entferntesten Teile zu Nichts zu schrumpfen schienen. »Das ist nicht gut genug«, sagte Wyeth. »Ich will, daß alle diese Räume verschlossen werden, und zwar sofort. Klar?« Er blickte auf, als Rebel ins Foyer kam, und winkte ihr zu. Dann ging er in eine andere Tonlage über. »Habt ihr schon die Besenstiele draußen? Der Wind läßt nach, also kommt mal in die Gänge.« Im Foyer wimmelte es von Samurais. Patrouillen eilten zielstrebig in alle Richtungen. »Vor einer Minute«, sagte Rebel, »wäre ich beinahe umgebracht worden.«
»Ja, ich weiß. Als du auf einmal weg warst, hab ich ein paar Haftkameras draußen am Sheraton rumgeschickt. Die letzten paar Minuten eurer Konfrontation hab ich mitgekriegt. Das hätte nie passieren dürfen. Sobald ich hier alles geregelt habe, werden Köpfe rollen. Für so einen Patzer im Sicherheitsbereich gibt es keine Entschuldigung.« Rote Warnlichter blinkten auf der ganzen Länge des Transitrings auf. Wie eine Person stießen sich die Angehörigen des Einschlusses von den Maschinen ab und sprangen in akrobatischem Gleichklang wie ein Strudel orangeroter Blüten in einem Kaleidoskop nach innen. In Zehner- und Zwölfergruppen faßten sie sich an den Händen und wurden von herabstoßenden Fähren aufgelesen. Constance kam aus dem Nichts herbeigeschlendert, die Hände tief in den Taschen, und sagte: »Das ist wirklich recht hübsch. Wie ein Tanz.« Wyeth blickte nicht auf. »Nicht ganz so hübsch, wenn man bedenkt, warum sie so perfekt koordiniert sind.« Sie blinzelte. »Oh, ganz im Gegenteil. Wenn man an die komplexen Formen denkt, die ihre Gedanken annehmen, an die mentalen Strukturen, die zu groß und zu weitläufig sind, um noch von einem einzigen Geist umfaßt werden zu können … Naja, das ist schon ein Grund zur Bescheidenheit, nicht?« Dann, als Wyeth nichts sagte: »Biologisch gesehen steht der Einschluß eine volle Evolutionsstufe über uns. Er ist wie … ein Schwarmorganismus, versteht ihr? Wie die portugiesischen Kriegsschiffe, wo Hunderte winziger Organismen ein großes Ganzes bilden, das um etliche Größenordnungen höher strukturiert ist als jede seiner Komponenten.« »In meinen Augen war das ein evolutionärer Rückschritt.
Wo der menschliche Geist wenigstens eine Persönlichkeit pro Körper herausbildet, hat der Einschluß all seine Persönlichkeiten einem einzigen Ich untergeordnet. Auf der Erde sind rund vier Milliarden Individuen geopfert worden, um einem einzigen großen, nebulösen Geist Platz zu machen. Das ist keine Bereicherung, sondern eine Verarmung. Es ist der größte einzelne Akt der Zerstörung in der menschlichen Geschichte.« »Aber können Sie denn nicht sehen, wie schön dieser Geist ist? Wie gigantisch, ungeheur komplex und fast gottähnlich?« »Ich sehe, daß die gesamte Bevölkerung des Heimatplaneten der Menschheit auf den Zustand eines Bienenschwarms reduziert ist. Ein sehr großer Bienenschwarm, zugegeben, aber trotzdem Insekten.« »Da bin ich anderer Meinung.« »Das sehe ich«, sagte Wyeth kalt. »Und ich werde es mir merken, Madam.« Die Betriebslichter des Transitrings blinkten schnell und alle gleichzeitig. Wyeth wandte sich an Rebel. »Siehst du das? Sie haben ihren Sprengstoff scharf gemacht.« Constance machte ein verwirrtes Gesicht. »Was soll das heißen? Sprengstoff? Wozu denn bloß?« Die Fähren kamen langsam auf die Geodäte zu. Vor ihnen paßte ein Trupp von Raumwerkern eine Luftschleuse ein. Sie schweißten sie in die Metallhülle und öffneten eilig die äußere Iris, als der erste Transport gerade heranschwebte. Dann bauten sie flink das Triebwerk der Fähre ab und ersetzten es durch ein System von Düsen mit komprimierter Luft. »Sie kommen gerade in die Geodäte rein, Sir«, sagte ein Samurai. »Gnade euch Gott, falls auch nur ein einziger Angehöriger des Einschlusses unbegründet fehlt, wenn sie das Sheraton
erreichen«, sagte Wyeth düster. Dann wandte er sich an Constance. »Der Einschluß will nicht, daß wir in ihrer Technologie herumschnüffeln, Miss Moorfields. Also haben sie den Ring natürlich so programmiert, daß er sich selbst zerstört, wenn wir irgendwas versuchen. Aus diesem Grund – und weil das Helium im Ring nur gemietet ist –, werden wir's nicht tun.« Die Fähre schob sich langsam in die innere Atmosphäre. Sie war bis zum Rand mit Einschlußleuten in orangeroten Anzügen gefüllt und auch außen von ihnen bedeckt; dort klammerten sie sich in drei Schichten übereinander an ihr fest. Der Pilot setzte die Düsen in Gang, und die Fähre schwebte zum Sheraton. »Ich verstehe dieses gegenseitige Mißtrauen nicht«, sagte Constance. »Die Menschheit hat sich nun also in zwei Spezies aufgeteilt. Gebt uns Zeit, und es wird ein Dutzend, hundert oder tausend geben! Das All ist groß genug für alle, würde ich meinen, Mr. Wyeth.« »Ach ja?« Die Fähre glitt zum Andockring des Hotels. Die Winde hatten sich jetzt fast ganz gelegt, bis auf jene, die von der Drehung des Sheraton selbst und den Düsenaggregaten erzeugt wurden, die diese Rotation aufrechterhielten. Trotzdem waren die Steuerdüsen mit komprimierter Luft ziemlich ungeschickt aufgesetzt worden, und die Fähre schlingerte, als der Pilot die Gierung zu stark korrigierte. Die zusammengekauerten Angehörigen des Einschlusses griffen nacheinander und hielten sich fest – alle bis auf einen, der den Halt verlor und davonsegelte. Einen Moment lang glitt die Einheit friedlich dahin, dann zuckte sie heftig. Teile des Helms flogen von ihrem Kopf weg. Der Körper zuckte erneut, dann noch einmal. Etwa ein halbes Dutzend Samurais auf Besenstielen mit Druckluftantrieb kamen
auf ihn zu. »Seht ihr die Waffen in ihren Händen?« fragte Wyeth. »Luftgewehre. Ich hab sie in den Tanks anfertigen lassen. Die Dinger sind im Cluster verboten. Aber ich brauchte sie. Die Geodäte ist zu dünn für Laserwaffen, und Messer sind einfach nicht schnell genug.« »Sie haben den Mann umgebracht!« schrie Constance. »Wir machen hier keine Spielchen.« Die Leiche wurde weggeschleppt. »Ich versichere Ihnen, ich hatte gute Gründe dafür.« »Das hätte Heisen auch gesagt«, murmelte Rebel. Wyeth blickte abrupt auf, dann öffneten sich die Fahrstuhltüren, und die erste Gruppe von zwanzig Einschlußleuten wurden hereingeführt. Ihre Haut war so gefärbt, daß sie der Farbe ihrer orangeroten Anzüge entsprach; es würde schwerfallen, einen von ihnen in einer Menschenmenge aus den Augen zu verlieren. Aber was Rebel auffiel, war nicht ihre abscheuliche Hautfarbe oder der einzelne lange Zopf, den sie allesamt trugen, Männer wie Frauen, sondern die Tatsache, daß jedes Gesicht anders war. Damit hatte sie nicht gerechnet. Obwohl sie das gleiche dachten, das gleiche Leben führten, sich gleich bewegten und alle Teil eines größeren Geistes waren, hatte jeder von ihnen das Gesicht eines individuellen menschlichen Wesens. Irgendwie verstärkte das den Horror nur noch mehr. Die Gruppe kam im Gänsemarsch durch. Manche hatten die Augen geschlossen, andere sahen sich interessiert um. Ihre Funkimplantate waren unsichtbar; sie waren zur Sicherheit tief in ihren Körpern untergebracht. Die Anführerin scherte aus der Reihe aus und marschierte auf Wyeth zu. Zwei Samurais fielen links und rechts neben ihr in Gleichschritt.
Wyeth blickte auf und wartete. »Wir werden Trainingsräume brauchen, um diese Körper in Form zu halten«, sagte die Frau. »Außerdem wirkt das Metall in diesem Gebäude wie ein schwacher Faradayscher Käfig. Wir verlangen, daß Triaxialkabel mit lokalen Richtungsantennenzuleitungen in sämtlichen Wohnquartieren verlegt werden.« Wyeth nickte. »Darüber hinaus haben wir einen unserer Körper verloren. Ihre Sicherheitskräfte haben ihn getötet.« »Und?« »Die Erde geht davon aus, daß die Kosten für Verbrauchsgüter um einen angemessenen Prozentbruchteil reduziert werden«, sagte sie, »da er sie nicht mehr konsumieren kann.« »Ich werde mich darum kümmern.« Die Frau schloß sich hinten an ihre Schlange an. Als die erste Gruppe verschwand, gingen die Fahrstuhltüren auf, und die nächsten zwanzig wurden durchgeführt. Wyeth lächelte säuerlich. »Tolle Sache, hm? Der Cluster ist so wild darauf, diesen Trupp los zu sein, daß sie ihn genau in Schlagweite von rund zwanzig Tankstädten unterbringen. Wenn man fünfzig von diesen Typen in die Tanks läßt, könnte eine ganze Armee sie da nicht wieder rausholen. Innerhalb eines Monats hätten sie jeden in den Tanks ihrem Gruppengeist einverleibt.« »Das ist ein reines Vorurteil«, sagte Constance. »Die Erde ist nur eine andere Form, die die menschliche Intelligenz annehmen kann. Sie tun ja so, als ob sie ein Feind sei.« »Sie ist ein Feind, Miss Moorfields. Sie ist der schlimmste Feind, den die Menschheit hat, möglicherweise mit Ausnahme der Dummheit, die uns auf die Idee kommen läßt, wir könnten mit der Erde Geschäfte machen, ohne uns die Finger zu
verbrennen. Und das einzige, was wir hier auf unserer Seite ins Feld führen können, bin ich. Ich werde denen samt und sonders den Garaus machen und sie zur Hölle schicken, bevor ich auch nur einen von ihnen entwischen lasse.« Empört wirbelte Constance herum und ging weg. Wyeth legte die Hände an den Rand seines Pults und beugte sich mit steifen Armen vor. Er starrte den vorbeimarschierenden Einschluß an. Seine Augen waren zwei glühende Kohlen. Rebel erschauerte. Eine Stunde lang passierten die Einschlußleute das Foyer unter respektvoller Bewachung. Genaugenommen waren sie Gäste, da sie für den Transit zum Marsorbit bezahlten. Deshalb begleiteten die Samurais trotz all ihrer Messer, Spieße und Schlagstöcke ihre fünfhundert Schutzbefohlenen lächelnd und unter Verbeugungen. Der Einschluß ließ natürlich weder Beifall noch Mißvergnügen erkennen. Weitere Betriebslichter waren am Transitring aufgeflammt, erst gelbe und dann orangerote. »Wie funktioniert dieses Ding?« fragte Rebel. Wyeth zuckte die Achseln. »Erstmal hab ich selber nicht die geringste Ahnung von Physik. Und natürlich versteht niemand etwas von der Physik, die sie auf der Erde betreiben; die sind uns Jahrhunderte voraus. Man könnte mich zu einem neuen Miiko Ben-Yusuf programmieren, und ich könnte nicht erklären, wie dieses Ding arbeitet.« Dann verzog sich sein Gesicht zu einem schelmischen Lächeln, als sich seine Miene änderte. »Ich kann dir aber die Lektion für ganz Dumme geben. So wie man es mir erklärt hat, macht der Ring folgendes: Er nimmt den
Raum in seinem Innern und beschleunigt ihn. Er bewegt tatsächlich Raum durch Raum hindurch, und alles, was sich in diesem Raum befindet, bleibt darin eingebettet und fliegt mit. Der Effekt ist sofortige Geschwindigkeit. Geschwindigkeit ohne Beschleunigung. Also hat man keine Probleme mit der Trägheit. Kapiert?« »Äh … nein, eigentlich nicht.« »Tja, ich auch nicht.« Er lachte, und dann wurden die Betriebslichter des Rings grün. »Schwupp. Auf geht's.« Unwillkürlich griff Rebel nach dem Rand des Schreibtischs. Auf dem Schirm … verschwand der Transitring zusammen mit Londongrad, Neu-Hoch-Kamden, dem Asteroiden und allen anderen Artefakten des Clusters. Es war so, als ob sie von der Wand gewischt worden und nur die unveränderlichen Sterne zurückgeblieben seien. »War's das?« fragte Rebel. »Gab nicht viel zu sehen, was?« »Was passiert jetzt mit dem Transitring? Kann der Cluster ihn behalten?« »Das hätten sie gern! Nein, er wird sich jetzt selbsttätig zerlegen. Dann wird der Sicherheitsdienst des Clusters die Einzelteile analysieren und rauszufinden versuchen, wie sie alle zusammengehören, und das werden sie natürlich nicht schaffen. Der Einschluß ist sehr gut bei Cybersystemen.« Er sah auf die Inputs hinunter, und sein Gesichtsausdruck änderte sich. »Paß auf! Ich hab im Moment eine Menge zu tun. Warum schaust du dir nicht dein Zimmer an, besorgst dir was zu essen und schläfst vielleicht 'ne Runde. Morgen früh können wir unsere Strategie planen, okay?« »Okay.« Sie machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl und
blieb dann stehen. »Wyeth? Hast du dir Sorgen gemacht, als du gesehen hast, daß Heisen mich umbringen wollte?« »Eigentlich nicht. Ich hatte ja Samurais in dem Bereich. Warum?« »Ach, nichts.« Der obere Ring, wo Rebels Zimmer lag, war voll von programmfreien Samurais, Pierrots und Pierettes und anderem Dienstleistungspersonal. Sie waren in Urlaubsstimmung, pflückten Früchte von den Zierbäumen, lachten und planschten in den Brunnen herum. Ihre Bemalung begann sich bereits zu verschmieren. Jemand hatte eine Kiste mit Papiervögeln aufgemacht, und die Luft war voller flatternder weißer Geräte, die langsame Kreise zogen, während sich ihre elastischen Bänder abwickelten. Rebel schritt von melancholischer Energie erfüllt durch die Feiernden, und diesmal hatte sie nichts dagegen einzuwenden, als Maxwell ihr den Arm um die Taille legte und seine Schritte den ihren anglich. »Ich hab gehört, daß sie im Wasserlilienteich 'ne Orgie starten wollen«, sagte er. »Was meinst du?« »Zu viele Menschen für mich. Ich geh auf mein Zimmer.« Obwohl sie bereits wußte, daß es eine schlechte Idee war – aber die guten gingen ihr langsam aus –, fuhr sie dann fort: »Willst du mitkommen?« Das Zimmer war der luxuriöse, ovale Standardraum mit einem Bett, das nicht in der Mitte stand; Wände und Decke waren programmierbar. Sie zogen sich aus, fielen auf die Quiltdecke aus orangefarbenen und roten Bärentatzen und warfen ihre Umhänge über den Zimmermonitor. Während Rebel den
Wänden befahl, ein Echtzeitbild der Sternenlandschaft draußen zu zeigen, wickelte Maxwell alle Vögel auf und ließ sie einen nach dem anderen fliegen. Das Bett mit der Quiltdecke schwebte zwischen den Sternen, und Papiervögel surrten leise über ihnen herum, während sie miteinander kopulierten. Zuerst saß Rebel auf Maxwell und machte die ganze Arbeit; sie schlug seine Hände jedesmal weg, wenn er nach ihr griff. Dann, als er richtig heiß war, ließ sie sich auf ihn herab, und er packte sie grob und rollte sich auf sie drauf. Er stieß, als sei er eine Maschine, ein unermüdlicher organischer Sexroboter. Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute in die Unendlichkeit winziger, bunter Sterne hinaus, die die Milchstraße war. Schwerkraftsex war schön. Man mußte nicht ständig aufpassen, wo man war, und sich dabei immer wieder woanders festhalten; die Hälfte der Arbeit wurde einem abgenommen. Und dann war da auch dieses gute, solide Gewicht auf ihr. Es war ein befriedigendes Gefühl. Sie ließ jetzt die Leidenschaft hinter sich und gelangte zu einer fernen, losgelösten Ruhe, einer erhabenen geistigen Landschaft, wo ihre Gedanken wortlos und so kristallklar wie kalte Bergluft waren. Hier, wo die Sinneseindrücke ihres Körpers ein angenehmes Hintergrundgemurmel bildeten, fand sie einen inneren Frieden. Sie fühlte sich einfach und unkompliziert. Es war leicht, in sich hineinzuschauen und die namenlose Unzufriedenheit zu finden, die seit einiger Zeit an ihr nagte, das verborgene Gift, das sie in dem dichten Gebrabbel des normalen Denkens nicht isolieren konnte. Jeder wollte etwas von ihr. Das war eins der Dinge, die sie
störten. Deutsche Nakasone wollte ihre Persönlichkeit haben und Jerzy Heisen ihr Leben. Snow und der Rest ihres Netzwerks wollte ihre Persönlichkeit ebenfalls aufzeichnen. Und Wyeth wollte sie als Köder benutzen, um Snows Netzwerk in eine Falle zu locken und es zu zerstören. So wie er es sah, waren das alles Verräter, Menschen, die sich an den Einschluß verkauft hatten und den Interessen der Erde dienten. Wenn man bedachte, wie tief sie in die Erfahrung der Vereinigung mit Maschinen eingedrungen waren, ergab es durchaus Sinn, daß sie den Wunsch hegen sollten, bei der endgültigen Verschmelzung von Geist und Maschine beteiligt zu sein. Aber in diesem ganzen Chaos von Wünschen war es Wyeth, über den sie sich die meisten Gedanken machte. Er benutzte sie. Aus irgendeinem Grund beunruhigte sie das noch mehr als der Mordversuch. Maxwell bewegte sich jetzt schneller und verlor den Rhythmus, als er sich dem Orgasmus näherte. Aber Rebel hatte die Antwort bereits in der Hand. Sie mochte sie vielleicht nicht anschauen wollen, aber sie war da. Tatsache war, daß sie nicht Maxwell in sich spüren wollte, sondern Wyeth, und zwar nicht nur für ein paar verschwitzte Stunden auf der Quiltdecke. Sie begann sich in den Mann samt seinem fremdartigen Geist mit den vier Facetten und allem zu verlieben, und obwohl das dumm war – was für eine Zukunft konnte es mit ihm überhaupt geben? –, waren ihre Gefühle nicht von der Vernunft geleitet und kategorisch. Und bei wem wollte sie sich beklagen? Maxwell bog den Rücken durch, schloß die Augen ganz fest und schrie lautlos. Fast geistesabwesend streckte Rebel die Hände aus und knetete seine Pobacken, grub ihre Nägel richtig
kräftig hinein. Die Papiervögel lagen alle auf dem Boden. Dann lag Maxwell schwitzend und keuchend neben ihr. Eine sehr lange Zeit schwiegen sie beide. Dann schickte sie Maxwell Essen holen, und er kam mit Biscuits, Scheiben gebratener Yamwurzeln und Orangen von den Bäumen auf dem Flur zurück. Als sie gegessen hatten, wurde sein Interesse wieder wach. »Wollen wir noch mal?« fragte er. »Ich glaub schon.« Dann war sie wieder allein mit ihren Gedanken. In Wyeth verliebt. Was für ein Schlamassel. Was für ein verdammtes Schlamassel!
6 Orchidee ALS DIE LICHTER DES SHERATON in einer Grünverschiebung von blau getöntem Abendlicht zu gelblicher Dämmerung übergingen, warf Rebel Maxwell hinaus und ging zu Wyeth. Mit einer Leibwache von fünf Samurais im Schlepptau flogen sie auf Besenstielen in die Geodäte. Ihre Haare und ihr Umhang flatterten hinter ihr her, und sie fühlte sich wie eine elisabethanische Dame, die mit ihrem Gefolge zur Jagd ritt, eine Illusion, die von den Scoutkameras, die in einiger Entfernung dahinsegelten und die Wachmannschaft mit Informationen versorgten, noch verstärkt wurde. Nur daß die Tanks mit der komprimierten Luft darin während des Fluges allmählich abkühlten, und nach einer Weile wurde der Sattel unangenehm kalt. Sie flogen an den äußeren Ranken der Orchidee vorbei, wo ein Gewirr von Luftwurzeln obsidianschwarze Wasserkugeln gefangen hielt, die größer waren als ihr Kopf, bremsten ab und steuerten in die Pflanze hinein. Die Stengel traten dichter zusammen, als sie in die labyrinthischen Windungen des Epiphyts hineinflogen. Die Orchidee war erblüht, und die riesigen biolumineszenten Blumen warfen ein mildes, zauberhaftes Licht in die Dunkelheit. Dies war ein verschwommenes Leuchten, nicht so wie bei der vollen Blüte der lichtspendenden Algen daheim, sondern eher wie während der periodischen Nachtzeiten, wenn die Algen wieder abstarben. Schließlich gelangten sie zu einer großen Lichtung tief im Innern der Pflanze und hielten ihre
Besenstiele an. »Willst du dir die Sache mit dem KampfkünsteProgramm nicht doch überlegen?« fragte Wyeth. »Ist wirklich ganz einfach. Es würde vielleicht fünf Minuten dauern und deine Persönlichkeit nur geringfügig verändern.« »Nein. An meinem Geist bastelt mir keiner rum.« Er seufzte. »Na schön, aber du mußt dich verteidigen können. Dann müssen wir dich eben auf die altmodische Art reprogrammieren, mit einem Ausbilder und viel Übung. Hat die gleichen Ergebnisse, kostet nur viel mehr Zeit und Schweiß. Treece.« Ein dicker kleiner Troll von einem Samurai glitt von seinem Besenstiel herunter und schwebte daneben, eine Hand am Sattel. Er hatte ein dunkles Gesicht und einen Mund wie ein Frosch. »Unterrichte sie.« Treece machte zwei Schlagstöcke auf seinem Rücken los und hielt Rebel einen davon hin. Sie stieg ab und nahm ihn. Sie banden beide ihre Umhänge an die Sättel und stießen ihre fliegenden Untersätze weg. »Gut. Jetzt versuch mich zu schlagen.« Rebel musterte den dunkelhäutigen kleinen Mann, zuckte die Achseln und schlug rasch und hart zu, wobei sie den anderen Arm zurückwarf, um ihre Abdrift zu kontrollieren. Sie war keineswegs überrascht, als sie Treece unter ihrem Schlag wegschlüpfen sah – er war immerhin der Ausbilder –, aber sie war doch verblüfft, als er mit seinem Knüppel auf die Rückseite des ihren hieb. Die zusätzliche Energie bewirkte, daß sie sich überschlug. »Erste Lektion«, sagte Treece, »du drehst dich immer um einen kleinen Punkt in deinem Körper, eine Art Achse. Das ist dein Massezentrum.« »Das weiß ich!« sagte Rebel wütend. Sie wünschte, Wyeth
würde ihr nicht zuschauen. Sie konzentrierte sich darauf, daß ihr nicht schwindlig wurde. »Ich bin in der Schwerelosigkeit aufgewachsen.« »Ich bin mit Schwerkraft groß geworden. Bringt mir aber nichts gegen jemand, der mit Judo programmiert ist.« Er ließ sie herumwirbeln. »Also, das Massezentrum ist sehr wichtig. Erstens, wenn du jemand drumrumwirbeln läßt, verringert das seine Kampfkraft. Er braucht alles, was er hat, um sich zu orientieren – sein Angriff und seine Abwehr sind nicht mehr so sauber, wie sie sein könnten.« Er streckte seinen Knüppel aus, und Rebel ergriff ihn und stabilisierte sich wieder in bezug zu ihm. »Zweitens mußt du daran denken, ins Massezentrum zu schlagen.« Er stach mit der Spitze seines Knüppels nach ihr. »Versuch's selber! Du kannst soviel herumhampeln, wie du willst. Was ist der einzige Punkt deines Körpers, den du nicht bewegen kannst, wenn du schwebst? Dein Massezentrum. Es bleibt einfach an Ort und Stelle.« Er stach wieder nach ihr. »Also. Versuch davon wegzukommen!« Im Nu packte Rebel ihren Schlagstock mit beiden Händen und ließ ihn nach vorn sausen. Er krachte mit einem solchen Knall gegen seine Waffe, daß ihr die Handflächen weh taten. Der Rückprall ließ sie über seinen Kopf wegsegeln, wobei sie noch einen Schlag nach seinem Schädel führte. Treece brachte seinen Knüppel hoch, um den Schlag zu parieren und sich an ihrem Stock einzuhaken, so daß sie wieder in einer stabilen Position waren. »Absolut richtig«, sagte er. »Wenn du schwebst, borgst du dir jede echte Bewegung von deinem Gegner.« Die Samurais schwebten alle in einer Ebene und bildeten auf diese Weise eine einheitliche Horizontale. Treece überschlug
sich und warf ihr dabei einen lüsternen Blick zu. »Die Berührung des Gegners ist also sowohl Ausgangspunkt für eine günstige Gelegenheit als auch die größte Gefahr für dich. Nimm meine Hand!« Rebel streckte den Arm aus, und sofort hatte er ihr Handgelenk gepackt, sich an ihrem Arm hochgearbeitet und ihren Hals zwischen Unterarm und Stock geklemmt. »Auf diese Weise könnte ich dir das Genick brechen. Sobald du berührt wirst, bist du verwundbar. Aber du kannst nicht das geringste ausrichten, ohne deinen Gegner zu berühren.« Er zog sich zurück und grinste sie säuerlich an. »Das macht es zu einer Kunst.« Wyeth hatte sich mit geschlossenen Augen in den Sattel zurückgelehnt und leitete sein kleines Imperium über einen Sender-Empfänger, der mit einer Haftscheibe versehen war. Nun machte er die Augen auf und sagte: »Das ist das schönste Paradigma für politische Schachzüge, das ich je gehört habe.« Rebel machte Anstalten, darauf zu antworten, und hätte fast nicht mehr rechtzeitig gehört, wie der Schlagstock ihres Ausbilders auf sie zu pfiff, um den Schlag zu parieren. »Kein Geplauder hier!« fauchte Treece. »Wir sind jetzt sowieso fertig mit Reden. Schluß mit der Theorie! Ab jetzt gibt's nur noch stumpfsinnige Übungen, immer wieder von vorn. Und zwar für den Rest des heutigen Tages und jeden Tag, bis du's richtig drauf hast. Von nun an wird nicht mehr geschwätzt, sondern nur noch geschwitzt.« Eine lange Zeit später schaute er angewidert drein und spuckte in die Orchidee. »Das reicht. Morgen um dieselbe Zeit.« Samurais brachten ihnen ihre Besenstiele. Rebel war erschöpft, fühlte sich aber wohl dabei. Sie spürte jeden Muskel.
Zum Glück hatte Eucrasia ihren Körper gut in Form gehalten. Sie flogen zum Rand der Orchidee und hielten an. Dicht gefolgt von Rebel machte Wyeth seinen Besenstiel an einer Luftwurzel fest, während sich die Wachen entfernten und ihre Patrouille ausschweifen ließen. Wyeth kletterte an einem dicken Stamm entlang und tastete ungeschickt nach Stellen, an denen er sich festhalten konnte. Rebel folgte ihm etwas anmutiger. Sie kamen zum Ende der Pflanze, eine Zäsur, die hier so abrupt und überraschend wirkte, als ob ein dichter Wald plötzlich in Grasland überginge. Weit draußen in der Dunkelheit hingen Stränge der Luftpflanze, die wie leuchtende Wolkenstreifen aussahen. Einsam und hell erleuchtet drehte sich das Sheraton wie ein Rad. Sein Licht war jetzt roter, fast das Orange der Mittagszeit. Das silbrige Glitzern drumherum waren Menschen, die wie Eintagsfliegen hin und her flogen. »Das ist das erste Mal, daß ich Leute habe, die unter mir arbeiten«, sagte Wyeth schließlich. »Ich war immer sowas wie ein einsamer Wolf.« Rebel sah ihn an. Sie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Endlich versuchte sie es mit einem müden Scherz. »Wohl eher ein einsames Wolfsrudel, hm?« »Schon möglich.« Wieder Schweigen. Dann fragte Rebel: »Wie ist das, wenn man vier Persönlichkeiten hat?« »Tja … wenn ich nicht gerade aktiv bin, mache ich eigentlich gar nichts. Ich nehme mich auf passive Weise wahr. Ich sehe, was sich tut. Es ist so, als ob wir zu viert um eine kleine Bühne mit einem hellen Licht in der Mitte herumstünden. Wir sehen alles, was passiert, hören alles und fühlen alles, aber wir tun erst
dann etwas, wenn wir ins Licht treten. Wenn wir im Dunkeln sind, kümmern wir uns im Grunde nicht viel darum. Manchmal sind wir alle im Licht, und« – seine Stimme änderte sich leicht – »manchmal sind zwei von uns im Licht, aber der eine hält den Mund. Noch eine halbe Stunde Überwachung, dann will ich abgelöst werden.« Seine Stimme wurde wieder so wie vorher. »Das war mein Kriegeraspekt. Im Moment leitet er die Sicherheitsmaßnahmen im Sheraton. Das gibt mir die Freiheit, den Körper zu benutzen.« »Es ist unheimlich«, sagte Rebel, »wie sich deine Stimme ändert. Du mußt in Wirklichkeit nicht laut sprechen, um dich mit dir selbst zu unterhalten, nicht? Ich meine, du kannst etwas denken, und die anderen greifen es auf?« »Nein, ich muß sprechen, wenigstens leise in mich hinein, weil … naja, Gedanken sind weitgehend das, was eine Persönlichkeit ist, verstehst du? Sie sind die Architektur, sie definieren die Form und das Dasein einer Persönlichkeit, wo sie anfängt und wann sie aufhört. Wir können unsere Gedanken nicht direkt teilen …« »… ohne die Persönlichkeit zu zerstören«, beendete Rebel den Satz für ihn. »Ja, das stimmt, sie würden alle miteinander verschmelzen, als ob man die Membran zwischen Zwillingseiern zerreißen würde.« »Eucrasias Ausbildung kommt wirklich wieder hoch bei dir.« Rebel wandte den Blick ab. »Das brauchst du gar nicht so fröhlich zu sagen. Es ist so, als ob – ich fühle, wie sich diese Erinnerungen an mich heranarbeiten und mich zerquetschen. Es sind alles ihre Erinnerungen, keine davon ist meine, und ich merke, daß sie Auswirkungen auf mich haben, weißt du? Ich
glaube, sie verändern mich und machen mich ihr ähnlicher.« Sie kämpfte einen dunklen, hilflosen Drang nieder, zu schreien. »Manchmal denke ich, all diese Erinnerungen werden aufwallen und mich überschwemmen.« Wyeth legte ihr die Hand auf den Arm. »Deine Persönlichkeit ist nur eine Maske«, sagte er mit seiner Planerstimme. »Letzten Endes ist sie nicht wichtig. Du – dein Wesen, dein Ich – bist hier, im Innern deines Schädels und deines Körpers.« Rebel erschauerte erneut unter seiner Berührung und drehte sich zu ihm um. Dann war es so wie bei der Übung mit dem Schlagstock, wo man sich am Arm des Gegners hocharbeitete – es geschah alles blitzartig, zu schnell, um nachzudenken. Wyeths Arme drückten sie heftig an seinen Körper, und sie küßten sich. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, daß sie kaum glauben konnte, daß er zuerst nach ihr gegriffen hatte. »Komm!« Wyeth zog sie in die Orchidee hinein, in einen Raum, der dunkel und geschützt war. Er zog ihr den Umhang aus und legte ihn beiseite. Seine Hände bewegten sich über ihren Körper, rollten ihr das cache-sexe herunter. Er begrub sein Gesicht an ihrem Hals. »Warte«, sagte Rebel. »Ich will den großen Burschen.« Er sah sie fragend an. »Deinen Kriegeraspekt. Ich möchte mit dir schlafen, während du der Krieger bist.« Später machte Rebel einen Ausflug mit dem Spaßvogel. Sie lachten und scherzten, während sie ohne besonderes Ziel herumflogen. »Du wirst dein irrationales Vorurteil gegen die Wetware-Programmierung aufgeben müssen«, sagte Wyeth
lächelnd. »Das ist nützliches Zeug. Wenn ich keine andere Persönlichkeit hätte, die das Sheraton leitet, könnte ich jetzt nicht hier draußen mit dir rumkaspern.« Sie flogen weiter und gelangten zu einem Vergnügungspark. Er lag an der Stelle, wo die Orchidee am dichtesten an die Tanks herankam. Eine lange Ranke war sogar entwirrt und an eine Luftschleuse gebunden worden; Menschen hangelten sich an ihr entlang und folgten der fröhlichen Urlaubsmusik zu einer Lichtung, die man in die Pflanze geschlagen hatte. Von draußen sah der Vergnügungspark wie eine Ansammlung baufälliger Hütten und Gerüste aus, die in dem Dickicht gefangen waren. Im Innern erstrahlte er von Blumen und Ketten aus Papierlaternen. Tankstädter in den schreiend bunten Umhängen von Dschungelmotten flitzten hin und her. Blitzgetrocknete Rankenstücke waren zu Duellkäfigen, Buden für Astrologen und Glückswechslern, Labyrinthen für Verliebte, Glücksrädern und Hökertischen zusammengebunden worden. Kunstmaler fertigten Schilder für eine Fahrt mit der Zentrifuge an und beschworen Könige, Stiere, Raumschiffe und Sensenmänner herauf. Am Haupteingang war ein Schlagstockduell im Gange. Die Samurais schauten interessiert zu, als sie eintraten. »Sieh mal!« Wyeth zog Rebel zu einer Bude, wo Rummelplatzbesucher mit Wasserkugeln nach einem Burschen warfen, der ein Stück entfernt saß. »Geben Sie mir drei!« Er warf die erste mit zuviel Kraft, und sie löste sich in winzige Tropfen auf, die wie Regen an dem Clown vorbeiflogen. Der lachte spöttisch, und Wyeth warf noch einmal. Diesmal explodierte die Kugel im Gesicht des Burschen zu tausend Kügelchen. »Ah, das tat gut!«
Als der Marktschreier ihm die letzte Kugel hinschweben ließ, winkte Wyeth dem Burschen zu und warf sie sich selbst ins Gesicht. Rummelplatzbesucher in der Nähe lachten erstaunt. Fern von den Papierlaternen waren ihre Augen verschattet und ihre Gesichter bleiche Masken. Wyeth und Rebel schlenderten an schlichten, manipulierten Glücksspielen vorbei zu Hökern, die Marmelade und Süßigkeiten, aus Holz geschnitzte Astronauten, bunte Strohpuppen und dunkle Männer mit faßförmigem Rumpf verkauften. »Hier sind Sie richtig!« rief ein Marktschreier. »Ja, ja, ja!« Rebel kaufte einen Zuckerschädel und biß hinein. Rotes Gelee sickerte aus einer Augenhöhle. Sie starrte den Schädel angeekelt an und lachte dann. Als sie gerade erwog, ein paar Silberglöckchen mit Zehenbändern zu kaufen, befiel sie eine plötzliche Unsicherheit. Sie blickte auf und sah, daß Wyeth einen Leuchtapfel von der Größe einer Tomate in der Hand hatte. »Sieben Stunden?« sagte Wyeth. »Sieben Cluster-Stunden für einen Apfel?« Der Händler war ein kleiner Mann mit spinnenartigen Armen und Beinen, einem schiefen Grinsen und einem verrückten Ausdruck in seinen dunklen Augen. Er sang: »Erwacht, steht auf, reißt auch die Augen aus, Und hört die Stunde schlagen. Dann kommt heraus, reißt euch die Zunge aus, Seht, was könnt ihr noch sagen?« Dann fuhr er zu Wyeth gewandt fort: »Nun ja, der Scheuapfel ist aber keine normale Frucht; er hat einen Wurm innen
drin.« »Was macht der Wurm?« »Nun, er frißt, mein Herr. Er frißt und scheidet aus, bis er in seinem eigenen Saft ertrinkt.« Er nahm Wyeth den Apfel weg. »Sie müssen ihn ganz verspeisen: mit Kerngehäuse, Kernen und allem. So wie ich. Ich weiß nicht, wie man meinen Traum beschreibt; Bilder nur, wirr und diffus. Doch sonderbar, ein Kitzel bleibt, So daß ich lachen muß.« Dann sprach er wieder mit normaler Stimme: »Mein Name ist Billy Bejesus, und ich wohne in einem Baum. Wenn ich noch nicht da bin, dann muß ich wohl der hier sein.« Er machte einen Purzelbaum in der Luft und schlug die Hacken zusammen. Erschrocken und zugleich fasziniert wandte sich Wyeth an Rebel. »Verstehst du auch nur ein Wort von dem, was dieser Verrückte da redet?« »Finger weg von diesen Dingern! Erkennst du einen Scheuapfel nicht, wenn du ihn siehst?« Wyeth machte große Augen und schüttelte den Kopf. »Das sind Geistwandler. Klingt so, als ob sich's bei denen hier um gelenkte Halluzinogene handeln würde, aber ein Scheuapfel kann so präpariert werden, daß er fast alles tut – er kann dir eine Fähigkeit verleihen, dich verrückt machen oder dich heilen. Manche sind so präpariert, daß sich ihre Wirkung nach ein paar Stunden von selbst aufhebt, bei anderen ist sie … permanent. Du solltest keinen in den Mund
stecken, ohne vorher zu wissen, was er tut.« »Wirklich? Chemische Wetware-Programmierung?« Wyeth rieb mit einer Fingerspitze über die glänzende Haut, hielt sie an die Nase und schnüffelte vorsichtig. »Wie funktioniert es?« »Der Scheuapfel ist nur eine Matrix. Was verändert wird, ist der Wurm, je nachdem, welche Effekte man haben will. Man … injiziert ihm ein Virus, das … Wenn der Kern des Scheuapfels flüssig wird, vermehrt sich das Virus sprunghaft und …« Sie brach stammelnd ab. »Nein. Es ist weg. Ich hab's mal gewußt, aber jetzt ist alles weg.« Und dennoch spürte sie, daß es irgendwie lebenswichtig war. »Davon hab ich noch nie was gehört.« Wyeth hielt sich einen Scheuapfel vor die Augen und bewunderte die durchsichtige Haut, den zuckrig roten Schimmer und seine pralle Saftigkeit. »Ich möchte wissen, woher die kommen. Warum sind sie so plötzlich hier aufgetaucht?« Rebel schüttelte ratlos den Kopf. »Wie viele haben Sie hier? Drei Kisten?« Billy Bejesus grinste strahlend. »Ich nehme alle. Treece. Regle die Einzelheiten und sorge dafür, daß diese Dinger ins Sheraton gebracht werden.« Sie schwebten weiter. Rebel verweilte bei einer Juwelenauslage und sah sich ein Kätzchen mit religiösen Anstecknadeln an: Sterne, Kreuze, Hakenkreuze und dergleichen. Sie kaufte eine weiße Muschel und steckte sie an den Kragen ihres Umhangs. »Jetzt kann ich diese Gesichtsbemalung abwischen«, sagte sie. »Die Leute werden annehmen, daß ich eine religiöse Fanatikerin bin.« Seltsamerweise war ihr Gefühl der Unsicherheit stärker denn je. »Gute Idee. Obwohl – wenn ich du wäre, würde ich rausfin-
den, was deine Anstecknadel bedeutet. Könnte dir irgendwann mal ein peinliches Gespräch ersparen.« Sie schwebten händchenhaltend vor einer riesigen Gitterkugel und sahen bei den Hahnenkämpfen zu, als Wyeth mit seiner Anführerstimme sagte: »Mist. Komm! Wir müssen zum Sheraton zurück.« Er zog Rebel zum Ausgang. Ihre Leibwächter tauchten wie aus dem Nichts um sie herum auf. »Was ist los?« fragte Rebel. »Constance spricht mit dem Einschluß.« Auf dem ganzen Rückweg zum Sheraton hatte Rebel das unbehagliche Gefühl, daß ihr jemand folgte, ein schattenhaftes Wesen, das durch die Blätter und Ranken huschte, jedoch nie da war, wenn sie über die Schulter nach hinten schaute, sondern genau in dem Moment wieder auftauchte, wenn sie wegsah. Hier in den hell erleuchteten Zimmern des Komplexes wurde das Gefühl schwächer, verschwand jedoch nicht ganz. Da draußen war jemand, der es auf sie abgesehen hatte. »Heisens Leiche ist nie gefunden worden«, sagte Wyeth, als sie es ihm gegenüber erwähnte. »Könnte gut sein, daß er's auf dich abgesehen hat. Das ist der eine Grund, warum ich dir eine ständige Leibwache zugeteilt habe.« »Und der andere?« »Wir gehen jetzt rein und regeln die Sache mit ihnen.« Er zog ein Armband vom Handgelenk, eins von zwei dicken, in Silber gefaßten elfenbeinfarbenen Bändern. »Hier. Leg das um! Es überwacht das elektromagnetische Spektrum.« Samurais traten beiseite, als Wyeth türenknallend in den Hauptkonferenzraum des Rings stürmte. Dort saß Constance
am Rand einer rot lackierten Brücke unter einem holographischen Himmel. Sie ließ ihre Füße in den Goldfischbach baumeln. Mehrere Einschlußleute standen in der Nähe und hörten ihr zu. Die Mitglieder ihres Teams hatten sich mit den Arbeitsgeräten ihres Berufs – Fermentierern, schimärenhaften Sequenzspleißern, Bioreaktoren für Mikroben und dergleichen – zwischen den Formsträuchern verteilt und demonstrierten Labortechniken, während sich Einschlußleute in identischen Coveralls wie Flecken orangeroten Nebels um sie drängten. Wyeths Gesicht wurde zu Granit. »Na schön, Moorfields!« Constance sprang auf. »Oh!« Sie zwinkerte. »Sie haben mich erschreckt, Mr. Wyeth.« »Und es kommt noch schlimmer.« Wyeth funkelte sie vom Ufer aus an. »Was denken Sie sich eigentlich dabei? Warum sind Sie mit Ihrem Labor und Ihren Leuten aus dem dritten Ring ausgezogen?« »Das mußte ich tun. Ich wollte mit dem Einschluß reden, und man hat mir gesagt, es gäbe so eine dumme Vorschrift, daß sie den zentralen Ring nicht verlassen dürften.« Mehr als hundert Einschlußleute verteilten sich in dem Raum. Einige von ihnen schwebten herbei und bildeten einen lockeren Halbkreis um Wyeth und Rebel. Sie musterten sie ernst, sagten jedoch nichts. »Bringt die Baumhänger raus!« befahl Wyeth. Samurais kamen herein und begannen die Biotechniker wegzuführen. »Laßt zwei Leute als Juristen programmieren, den einen mit dem Recht von Londongrad und den anderen mit dem von VolksMars, und schickt sie her!« Er wandte sich an Constance. »Sie werden feststellen, daß das
Recht des Clusters extrem stark am Wortlaut der Gesetze orientiert ist, während das VolksMars-Gesetz informell und rational ist. Ich glaube, daß ich Sie nach beiden wegen Verrats hängen lassen kann, wenn Sie noch einmal aus der Reihe tanzen.« »Verrat! Sie machen bestimmt Witze.« »Ich meine es absolut ernst.« Constance schüttelte den Kopf, schlug die Hände zusammen und ließ sie sinken. »Aber wir haben doch bloß wissenschaftliche Informationen ausgetauscht.« »Ach? Welche Informationen haben sie euch denn gegeben?« »Wir waren noch bei den Vorgesprächen. Beim Austausch von Grundlagen. Fachsimpelei. Sie wissen schon.« »Ich weiß es sehr gut.« Wyeths Hände waren zu Fäusten geballt und weiß. »Benutzen Sie Ihren Kopf! Ihr Trupp hat einen detaillierten biowissenschaftlichen Plausch mit einem Einschlußteam geführt, dessen Mitglieder angeblich als Techniker und Physiker hier sind. Wieso kennen die den Fachjargon? Wie kommt es, daß sie genug über Biowissenschaften wissen, um zu verstehen, wovon ihr gesprochen habt?« »Nun, die Erde ist immerhin ein Planet. Sie haben die größte Anzahl miteinander verflochtener Ökologien im Inneren System, deshalb müssen sie …« Unangenehm berührt wandte Rebel den Blick ab und schaute durch die Fensterwand nach draußen. Sie sah winzige Lichtstäubchen in der Orchidee herumfliegen; da draußen wimmelte es von Menschen. Zweifellos leerten sich die Tanks, während die Leute in die Pflanze hineinflogen. Aber auch ihr abgewandter Blick bewahrte sie nicht davor, die Auseinandersetzung mitanhören zu müssen.
»Das ist doch Unsinn! Sie wissen es, weil sie Spione sind, deshalb. Bevor sie die Erde verlassen haben, sind sie in der Hoffnung, daß sie über irgendwas Nützliches stolpern würden, systematisch mit dem Grundwissen aller Wissenschaften vollgestopft worden. Schauen Sie sie an, Miss Moorfields! Das sind keine Menschen, keine Freunde, und sie sind auch nicht altruistisch. Die nehmen alles an Technologie auf, was Sie haben, und setzen es dann gegen Ihr eigenes Volk ein. Sie verraten die Menschheit – und wofür?« Unerwartet sagte ein Angehöriger des Einschlusses: »Sie will die Technologie haben, um einen Transitring zu bauen.« »Davon habe ich kein Wort gesagt!« fuhr Constance auf. »Die Einschlußleute haben eine flinke Auffassungsgabe«, erklärte Wyeth spöttisch und fragte den Einschlußmann: »Warum wollte sie diese Information haben?« »Der Wunsch nach persönlichem Gewinn ist eine allgemein bekannte Schwäche individueller Intelligenz.« »Darum geht's überhaupt nicht!« rief Constance. »Es würde uns den Weg zu den Sternen öffnen. Verstehen Sie das nicht?« Sie wandte sich direkt an Wyeth. »Man könnte den Ring dazu benutzen, Kometen über die Oortsche Wolke hinaus zu beschleunigen und zu den nähergelegenen Sternen zu schicken. Der nächste könnte in der Zeitspanne eines langen Lebens erreicht werden – sie haben mir die Zahlen gegeben! Stellen Sie sich Tausende von Dysonwelten vor, die von einem Stern zum anderen fliegen. Die sich im Universum ausbreiten. Stellen Sie sich eine Ära der Erforschung und Entdeckung vor.« Ihre Stimme war leidenschaftlich, beinahe inbrünstig, und Rebel merkte, daß sie darauf wie auf den Propheten eines späten
Zweiges der Evangelisten reagierte. »Stellen Sie sich eine Menschheit vor, die endlich aus der Wiege der Sonne befreit ist und die Sternengalaxien auf der Suche nach … – ich weiß nicht was – durchstreift. Nach der Wahrheit vielleicht? Nach ihrer Bestimmung! Nach all den letzten Antworten!« Bevor Wyeth etwas erwidern konnte, sagte der Einschlußmann: »Machen Sie sich keine Sorgen, Boss Wyeth. Sie hat nichts, was wir haben wollen.« »Das ist nicht wahr. Ihr habt mir erzählt...« Aber der Einschlußmann war bereits davongeschlendert. Fast bittend sagte sie: »Sie haben mir erzählt, sie seien an den Geisteskünsten interessiert. Darüber wissen wir eine ganze Menge.« »Sie selbst?« fragte Wyeth. »Oder einer Ihrer Leute?« »Nein. Es ist eine ganz neue Technologie. Der Durchbruch ist geschafft, aber die Fachkenntnisse sind noch nicht weit verbreitet.« »Und trotzdem seid ihr alle Biologen. Ist es da nicht ein merkwürdiger Zufall, daß ein Einschlußteam von Technikern recht gut über die Geisteskünste Bescheid weiß, während eure eigenen Leute keinen Schimmer davon haben? Ich würde sagen, Sie haben gerade den Beweis erbracht, daß Ihre Freunde hier tatsächlich Spione sind.« Wyeth berührte beiläufig ein Armband an seinem Handgelenk und sah Rebel mit einer hochgezogenen Augenbraue vielsagend an. Sie berührte das Armband, das er ihr gegeben hatte. Die Welt verwandelt sich. Elektrizität strahlte weiß aus Leitungen, die in den Wänden verborgen waren. Wärme schimmerte grün. Ein Schneeregen von Kobaltpartikeln fegte durch den Raum, kosmische Strahlung, für die Materie so unwirklich
wie ein Traum war. Ein roter Dunst von Funkverbindungen umgab die nunmehr grünen Einschlußgestalten, und laserscharfe Richtstrahlen griffen von einem Individuum zum anderen und verlagerten sich, wenn Gedanken aufgeteilt und zur Verarbeitung weitergeleitet wurden. Rebel zwinkerte, und alles verschwand für einen Moment. Sie blickte auf das Armband hinunter und sah die flammenden Schaltkreise eines holographischen Projektors. Eins von Wyeths Bespitzelungsgeräten. »Sie sind abscheulich, Mr. Wyeth.« Constance wandte sich ab. »Nun seien Sie doch nicht so«, sagte Wyeth mit seiner neckischen Stimme. »Hier, nehmen Sie einen Apfel. Frisch und knackig.« Er drückte ihr etwas in die Hand. »Einen Apfel?« Constance senkte den Blick auf den Scheuapfel und ließ ihn entsetzt fallen. »Wo kommt der denn her?« »Ich habe gehofft, Sie könnten mir das sagen. Das ist doch ein Beispiel für Ihre Geisteskunst-Biotechnologie, oder?« »Ja, aber …« Sie preßte die Lippen zusammen. »Geben Sie mir Zugang zu Ihrem Intercom-System.« Eine Einschlußfrau war vorgetreten, hatte sich gebückt und nach dem zu Boden gefallenen Scheuapfel gegriffen. Wyeth trat der Frau kräftig auf die Hand, und sie riß sie zurück. »Wir waren neugierig«, sagte die Einschlußfrau nachsichtig. Mehrere neue Interaktionslinien verbanden sich mit ihr. »Na und?« Wyeth gab den Samurais ein Zeichen. »Sorgt dafür, daß die Einschlußleute auf ihrer Seite des Bachs bleiben. Und macht einen Kanal für Miss Moorfields frei.« Einen Moment später erschien Freeboys Bild, und Constance schüttelte ihm den Scheuapfel entgegen. »Freeboy, du warst der
einzige, der mit gelenkten Viren gearbeitet hat. Ist das dein Werk?« »Ach du Schande«, sagte Freeboy. »Ist bloß 'n Taschengeld.« »Du hast mir nie erzählt, daß du sowas kannst.« »Mit Können hat das nichts zu tun. Das geht einfach nach Kochbuch. Das Rezept hab ich von 'nem Zauberer in der Grünen Stadt bekommen, als ich auf Tirnannog war.« Constances Gesicht war kalt und weiß. Der Junge breitete die Hände aus und hob leicht die Schultern. »Hey, es ist nur ein Billy Bejesus – man dreht für acht Stunden total ab, dann deprogrammiert es sich selbst. Es ist ja nicht so, daß ich jemand schaden würde. Ich hab nichts Verkehrtes getan.« »Von wegen, junger Mann.« Während der junge Baumhänger heruntergeputzt wurde, sah Rebel etwas Seltsames: Die Einschlußleute, die scheinbar ziellos herumgelaufen waren, hatten alle gleichzeitig den Rand des Bachs erreicht. Die Samurais, die sie bewachten, traten nervös von einem Bein aufs andere. Die Einschlußleute starrten über den Bach herüber; ihre orangeroten Gesichter waren ausdruckslos, ihre Augen starr. Die elektromagnetischen Interaktionen nahmen zu, Verbindungen blinkten auf und erloschen wie Laserblitze. Eine Zeitlang regte sich niemand. Dann kam Bewegung in den Einschluß. Seine individuellen Komponenten rannten wie wild zur einen oder zur anderen Seite; Gruppen und Lücken entstanden. Zwanzig stürmten über die Holzbrücke. Die Samurais machten sich darauf gefaßt, den Angriff abzufangen. In dem Durcheinander dieses Augenblicks sprang eine kleine orangerote Gestalt blitzschnell über den Bach. Die Blicke der
Wachleute waren in die eine und die andere Richtung gelenkt worden, und er sprang in einem blinden Fleck. Im Nu war er bei Constance, langte nach oben und riß ihr den Scheuapfel aus der Hand. Bevor jemand reagieren konnte, war er wieder beim Einschluß. »Das war ja ein Kind!« rief Rebel. »Ergreift ihn!« befahl Wyeth, und drei Samurais sprangen über den Bach. Als sie sich dem kleinen Jungen näherten, stopfte er sich die Frucht in den Mund und schluckte sie hinunter. Einer packte ihn und schleppte ihn wieder hinüber, die anderen deckten ihn. Aber die Einschlußleute leisteten keinen Widerstand. Sie wandten sich ab und bewegten sich wieder so ziellos wie Vieh. Trotzdem verbanden rote Interaktionslinien den Jungen mit der Hälfte der Einschlußleute im Raum. »Zu spät«, sagte Wyeth, als die Samurais den Jungen vor ihn hinstellten. »Er hat ihn schon runtergeschluckt.« »Aber das ist ein Kind«, wiederholte Rebel. »Das ist der Körper eines Kindes. Bei den Konstruktionsteams des Einschlusses gibt es immer ein paar Kinder für Aufgaben, wo ein größerer Körper nur hinderlich wäre.« »Aber das ist ja schrecklich.« »Ganz meiner Meinung.« Wyeth lächelte Constance an. »Was ist mit Ihnen? Finden Sie immer noch, daß es kein Verbrechen ist, wenn fünf Milliarden menschliche Hirne nur eine einzige Identität besitzen?« »Wir müssen aufpassen, daß wir nicht anthropomorphisieren«, erwiderte Constance schwach. Sie sah blaß aus. »Sehr schön gesagt.« Wyeth wandte sich an den kleinen Einschlußjungen. »Warum hast du das getan?« »Wir waren neugierig«, sagte der Junge. »Wir wollten wissen,
ob sich diese neue Technologie für uns als nützlich erweisen würde. In diesem Sinne – hinsichtlich unserer ständigen Gier nach neuen Informationen, neuen Ideen, neuen Denkrichtungen – sind wir in der Tat die Spione, als die Sie uns beschuldigen. Aber nur in diesem einen Sinn, daß wir uns unserer Natur gemäß verhalten.« »Sehen Sie?« warf Constance ein. »Was noch wichtiger ist: Es belastet uns, daß wir vom richtigen Einschluß getrennt sind.« Rebel konnte das Gesicht des Kindes jetzt nicht mehr sehen, so grell leuchteten die roten Interaktionslinien, die die Haut über der Richtungsantenne tief in seinem Kopf berührten, aber seine Stimme war sanft. »In diesem Gebäude sind nur fünfhundert Angehörige des Einschlusses, und wir sind an die mentale Stimulation von Milliarden gewöhnt. Wir sind so eingeschränkt, daß wir jede neue Herausforderung begierig aufgreifen.« Eine Pause. »Man könnte sagen, daß wir uns gelangweilt haben.« Wyeth drehte sich zu Freeboys Bild um. »Wie lange dauert es, bis deine Droge wirkt?« Freeboy zuckte die Achseln. »Nicht lange. Ein oder zwei Minuten. In der Matrix des Scheuapfels sind Rezeptorverstärker. Aber ehrlich gesagt, das ist vielleicht keine so gute Idee. Diese Äpfel sind für Erwachsene dosiert. Ich weiß nicht, was sie bei einem Kind bewirken. Der Kleine hier sieht aus, als hätte er nicht viel Körpermasse.« Constance griff nach dem Jungen, und ein Samurai schlug ihre Hand weg. »Aber wir haben noch Zeit. Wenn ich ihm einen Finger in den Hals stecke …« »Na, na«, tadelte Wyeth. »Wir dürfen nicht anthropo-
morphisieren. Warten wir's einfach ab. Das könnte interessant sein.« Der Junge stand immer noch zwischen den Samurais, die ihn bewachten. Plötzlich versteifte er sich. Seine Augen öffneten sich weit. »Oh«, sagte er und hob eine Hand vor sein Gesicht. Sie wand sich krampfhaft. »Ich glaube …« Das Kind schrie. Die Anwälte kamen, als die Einschlußleute noch am Boden lagen und sich hin und her warfen. Vier Samurais hielten die Arme und Beine des Jungen fest, und Constance kniete neben ihm. Die Richtstrahlen flammten auf und erloschen, schossen blindlings durch die Luft wie die wild zuckenden Beine und Antennen eines sterbenden Insekts. Dann brach schließlich jeder Funkkontakt mit dem Kind ab. Die anderen Einschlußleute rappelten sich langsam auf, hundert individuelle Mienen kollektiven Entsetzens auf den Gesichtern. »Ich möchte wissen, warum es so prima funktioniert hat«, sagte Wyeth leise und nachdenklich, wie zu sich selbst. »Sie haben Abwehrmechanismen gegen eindringende WetwareProgramme. Das muß etwas Neues sein. Ein ganz neuer Zugang.« »Halt still, Schatz! Wenn ich dich dazu bringen kann, dich zu übergeben, wird's dir besser gehen«, sagte Constance. Der Junge drehte den Kopf weg von ihr. »Ich«, sagte er. »Ich sah den Mond sah einen Baum ich sah den Mond in einem Baum sah einen Baum in einem Mond.« Seine Augen waren so groß wie Untertassen; sie zitterten leicht im Takt eines inneren Pulsschlages.
»Mir kam ein Pfau mit einem Flammenschweif entgegen, Ich sah den leuchtenden Komet mit seinem Steineregen, Sah eine Wolke …« »Bringt ihn in den Operationssaal«, befahl Wyeth. »Tut, was ihr könnt, um seine Beschwerden zu lindern, aber deaktiviert die Funkimplantate in seinem Innern, bevor er wieder zu sich kommt. Ich möchte nicht, daß er noch mal Verbindung mit dem Einschluß aufnimmt.« »Das können Sie nicht machen«, wandte Constance ein. »Er ist ein Teil des Einschlusses. Da gehört er hin.« »Also?« fragte Wyeth die Anwälte. »Kann ich oder kann ich nicht?« Der Anwalt mit dem gelben Gesicht kaute an seiner Oberlippe. »Das ist eine schwierige Frage.« »Wenn es wie eine Ente aussieht, wie eine Ente schwimmt und wie eine Ente quakt«, sagte der Anwalt in Purpur, »dann ist es auch eine Ente. Dieses Individuum sieht menschlich aus und benutzt die erste Person Singular. Also ist es ein Mensch und kein Angehöriger des Einschlusses.« »Danke, sagte Wyeth. Er machte eine Geste zu Freeboys Bild. »Dieser Witzbold hat draußen in der Orchidee mit gefährlichen Halluzinationen gehandelt. Wofür kann ich ihn drankriegen?« »Für nichts«, sagte der purpurne Anwalt. »Es gibt kein Gesetz dagegen, den Leuten die Möglichkeit zu geben, sich selbst Schaden zuzufügen.« »Einen Moment. Da wäre die Frage des mutmaßlichen ge-
sellschaftlichen Konsenses«, sagte Gelb. »Konsensverändernde Drogen würden unter die Gesetze über vorhersehbaren kulturellen Wandel fallen, nämlich …« »Gut«, sagte Wyeth. »Ich verurteile dich zum Status eines programmierten Informanten für die Dauer des Transits. Bleib wo du bist. Die Programmierer werden zu dir kommen.« Freeboy machte ein niedergeschlagenes Gesicht. »Du wirst Miss Moorfields hier zugeteilt. Beobachte sie und erstatte mir täglich um diese Zeit Bericht.« Er drehte sich zu Rebel um und bot ihr seinen Arm an. »Ich finde, wir haben genug getan, was meinst du? Wollen wir gehen?« In dieser Nacht schlief Rebel nach dem Geschlechtsverkehr sofort ein und träumte, daß sie durch die leeren Flure eines alten Herrenhauses wanderte. Es war kalt, und Fliederduft hing in der Luft. Eine Brise blies ihr in die Haare und fuhr mit kalten Händen über ihre Schenkel und ihren Bauch. Schließlich stand sie vor einem reich verzierten viktorianischen Spiegel. Es herrschte wieder die halbe Greenwich-Normalschwerkraft, die ihr Fleisch nach unten zog und ihr Gesicht alt und hager aussehen ließ. Erstaunt streckte sie eine Hand zum Spiegel aus. Die Hand ihres Spiegelbilds drang durch die flüssige Oberfläche des Spiegels und packte sie am Handgelenk. Rebel versuchte die Hand wegzuziehen, aber der Griff löste sich nicht. Lange rote Nägel gruben sich schmerzhaft in ihre Haut. Im Spiegel zeigte Eucrasia lächelnd die Zähne. Sie war eine kleine Frau mit dicken Brüsten, aber unter der glatten braunen Haut saßen Muskeln. »Geh nicht weg, meine Liebe. Wir müssen über so vieles reden.«
»Es gibt nichts, worüber wir reden könnten!« Rebels panikerfüllte Worte prallten von den Wänden zurück und hallten wider, bis sie verklungen waren. Eucrasia stieß ihr Gesicht gegen die Oberfläche des Spiegels. Das Glas wölbte sich an der Nase und den Lippen nach außen, wurde jedoch durch die Oberflächenspannung zusammengehalten. Silberne Glanzlichter spielten über ihre Haut. »Aber ja doch. Meine Erinnerungen werden dich überwältigen, wenn du nicht etwas dagegen unternimmst.« Hinter ihr war ein weißer Raum, ein Operationssaal mit Tabletts voller verchromter Instrumente. »Komm näher, meine Süße!« Sie riß Rebel nach vorn, direkt gegen den Spiegel. Ihre Brustwarzen berührten sich, küßten sich an der Oberfläche. »Ich will dir helfen«, flüsterte Eucrasia. »Sieh mich an!« Zum ersten Mal blickte Rebel der Frau in die Augen. In den Höhlen war nichts als ein leerer Raum, wo die Augen hätten sein sollen. Sie konnte durch sie hindurch bis zur Rückwand von Eucrasias Schädel schauen. »Siehst du? Ich habe kein Ich. Keine Bedürfnisse. Wie kann ich dir schaden wollen?« »Das weiß ich nicht.« Rebel begann zu weinen. »Laß mich los.« »Es gibt nur zwei Möglichkeiten für dich, zu überleben. Die erste ist, daß du mich als untergeordnete Persönlichkeit neu erschaffen läßt. Dann wärst du so wie Wyeth. Du müßtest dein Leben teilen, aber die Erinnerungen würden allesamt der Eucrasia-Persönlichkeit übertragen werden. Du könntest intakt bleiben.« Das Spiegelbild verschob sich zur Seite, und Rebel war gezwungen, die Bewegung mitzumachen. »Die zweite Alternative ist, eine vollständige Aufzeichnung deiner Persönlichkeit
anzufertigen. Dann könntest du dich alle paar Wochen reprogrammieren. Das ist nicht so schön, weil es jede Chance einer persönlichen Entwicklung ausschließt.« Ihre Bäuche berührten sich jetzt. Eucrasia legte ihre Lippen auf die von Rebel. »Also?« fragte sie. »Welche soll's sein?« »Keine von beiden!« Das Spiegelbild griff nach draußen und riß Rebels Kopf in den Spiegel. Quecksilber schloß sich um sie. Es war, als ob sie unter Wasser wäre, und Rebel konnte nicht atmen. »Dann wird sich deine Persönlichkeit auflösen«, sagte Eucrasia. »Zuerst langsam, dann immer schneller. In einem Monat wirst du verschwunden sein.« Rebel rang nach Luft und wachte auf. »Wach auf!« sagte Wyeth. Er hielt sie fest. »Du hast einen Alptraum.« Dann sah er, daß ihre Augen offen waren. »Es war nur ein Traum.« »Mein Gott«, stieß Rebel hervor. Sie begrub ihr Gesicht an seiner Brust und weinte. Als sie schließlich aufhörte, ließ Wyeth sie los, und sie setzte sich auf. Benommen sah sie sich um. Wyeth war anscheinend schon eine Weile auf gewesen, denn die Wände waren eingeschaltet. Eine von draußen eingespielte Sternenlandschaft funkelte in der Nacht. »Schau«, sagte Wyeth. Er zeigte auf einen nebligen Fleck fast direkt über ihnen. »Das ist der Eros-Cluster. Der Asteroid ist von hier aus unsichtbar; was wir sehen, ist die Attenusphäre, die Abgase der Fabriken und Raffinerien, der Sauerstoff, der sich jedesmal verflüchtigt, wenn eine Schleuse geöffnet wird, feine Partikel von Reaktionsdüsen. Sie umgibt den Cluster, und der Sonnenwind ionisiert sie wie das Gas im
Schweif eines Kometen. Wenn der Komet nicht kolonisiert ist, heißt das natürlich.« Er zeigte auf weitere Flecken, alle in der Ebene der Ekliptik. »Das da sind Pallas-Cluster, Ceres-Cluster, Juno-Cluster, Vesta …« Er sang die Namen in einer sanften Litanei. »Die Zivilisation breitet sich aus. Eines Tages werden überall im Asteroidengürtel bedeutende Entwicklungen vonstatten gehen. Dann werden sich diese nebligen Flecken zu einem riesigen Rauchring um die Sonne vereinigen. Das wird ein Anblick sein, was?« »Ja«, sagte Rebel mit schwacher Stimme. »Bist du schon soweit, daß du drüber sprechen kannst?« So erzählte sie ihm ihren Traum. Als sie fertig war, sagte Wyeth: »Tja, da hast du deinen geheimnisvollen Verfolger.« Sie runzelte die Stirn. »In der Orchidee hast du doch gedacht, daß dir jemand folgt, oder? Eucrasia. Die Erinnerungen kommen hoch, und du projizierst sie in die Außenwelt.« »Kann schon sein«, sagte Rebel. »Aber es nützt mir überhaupt nichts, das zu wissen.« »Du hast wirklich nur zwei Möglichkeiten«, sagte Wyeth sanft. »Dein Traum hat sie dir auseinandergeklaubt. Du warst eine erstklassige Wetware-Programmiererin, und deine Diagnose ist zutreffend. Hör zu! Willst du einen Rat von mir? Nimm Eucrasia mit zu dir hinein. Ich hab sie gekannt, sie war gar nicht so übel. Du kannst mit ihr leben.« »Das werde ich nicht tun«, sagte Rebel. »Ich werde nicht zulassen, daß jemand meine Seele berührt, ich … ich will einfach nicht, das ist alles.« »Wyeth wandte sich ab. Seine Rückenmuskeln waren gespannt. Nach sehr langer Zeit legte ihm Rebel die Hand auf die
Schulter, und er drehte sich abrupt, fast hitzig um. »Warum bist du bloß so störrisch?« rief er. » Warum ?« »Ich weiß nicht, warum«, gab Rebel zu. »Ich bin einfach so, glaube ich.«
7 Billy Überläufer REBEL WACHTE IN EINEM LEEREN BETT AUF. Sie frühstückte und machte sich auf die Suche nach Wyeth. Ein Pierrot führte sie durch einen Steingarten und um eine Küche herum, und ein Samurai schickte sie an den Lasterhöhlen vorbei und eine Rampe hinunter. Sie gelangte zu einem Raum im untersten Ring, wo sich drei holographische Wetware-Diagramme langsam in der Luft drehten. Rebel sah, daß es phänotypische Varianten derselben Persönlichkeit waren. Nach dem kränklichen Aussehen der Hauptzweige und der anomalen Verteilung der Nebenarme zu urteilen, war es allerdings eine stark geschädigte Persönlichkeit. Das Einschlußkind saß unter den rotierenden grünen Kugeln. Es hatte nicht geschlafen. Sein Gesicht war aufgedunsen, die Augen glasig. Seine orangerote Haut war mit grauen Flekken übersät. »Wie heißt du?« fragte Wyeth. »Hast du einen Namen?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich … äh, was?« Wyeth wiederholte die Frage, und das Kind sagte, ohne den Blick zu heben: »B-Billy. Billy B-Be …« Er stotterte und verstummte. Wyeth grinste und zog am Zopf des Jungen. »Wir werden dich Billy Überläufer nennen, okay? Weil du zu unserer Seite übergewechselt bist, wirst du jetzt ein Mensch sein. Würde dir das gefallen?« »Er wird es Ihnen nicht danken, daß Sie ihm das angetan ha-
ben.« »Halten Sie den Mund, Constance! Also, Billy, erinnerst du dich daran, daß du zum Einschluß gehört hast? Weißt du noch, wie das war?« Billys Kopf ruckte hoch. In seinen Augen stand Angst. Seine Hände verschlangen sich in seinem Schoß. Dann senkte er den Blick wieder und murmelte: »Ich … ja.« »Gut. Erinnerst du dich, welche Anweisungen du erhalten hast, bevor du hierhergekommen bist?« Billy schwieg. »Erinnerst du dich an deine Instruktionen?« Samurais traten beiseite, um Rebel den Weg freizumachen, und sie schlüpfte in den Raum. Ihr Leibwächter blieb draußen. Freeboy warf ihr aus einer Ecke einen raschen Blick zu und sah dann wieder weg. Seine Lippen waren schmal, und er starrte Constance unentwegt an. Rebel ging zu ihm hinüber und flüsterte: »Was ist mit dem Gesicht des Jungen passiert?« »Was? Die Flecken? Wir haben ihm Bakteriophagen unter die Haut injiziert, um die Tönung zu neutralisieren; es dauert ein paar Tage, bis sie aus dem System rausgespült ist. Juckt auch ein bißchen. Aber da er nicht mehr zum Einschluß gehört, will Ihr Boss auch nicht, daß er so gekennzeichnet ist.« »Ich dachte, dein Apfel sollte sich selbst deprogrammieren.« Freeboy schürzte verächtlich die Lippen. »Für eine normale Psyche ist ein Billy Bejesus ein harmloser, das Ego verstärkender Scheuapfel, von dem nur Erinnerungen zurückbleiben, sonst nichts«, sagte er pedantisch, ohne sie anzusehen. »Aber die Einschlußleute haben nur embryonale Egos – schon die Erinnerung daran, daß sie eine starke persönliche Identität hatten, ist schädlich für sie. Verändert die Kreaturen gründ-
lich.« »Das Prägeschocksyndrom«, sagte Rebel. Eucrasias Erinnerungen kamen mühelos in ihr hoch. »Ja, natürlich.« Beim Klang ihrer Stimme drehte Wyeth sich um. »Sunshine! Genau dich wollte ich sehen. Scheint, daß wir zwei das Beste sind, was wir hier im Hinblick auf kompetente WetwareProgrammierer zu bieten haben.« Er ließ den Deckel einer flachen weißen Schachtel hochklappen und fuhr mit einem Finger über eine Reihe von Wetware-Wafern. Hunderte von codierten Charakterzügen, Fähigkeiten, Trieben und Berufen kräuselten sich unter seiner Berührung. »Ich hatte vor, mir einfach ein paar Experten zu programmieren. Aber anscheinend haben sich die gesetzlichen Regelungen in den letzten paar Jahren geändert. Programmierbare Wetware wird jetzt sehr streng kontrolliert. Toll, was? Kein anderer Beruf wird so geschützt.« Ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war, stand Rebel bei der Schachtel. Ihre Hände glitten sicher und ohne Zögern über Reihen von freudigen Gefühlen, Ängsten, Sorgen und Ekstasen dahin und brachten ein Programm mit manuellen Fertigkeiten zum Vorschein. Es war zur Herstellung von Keramikteilen im Vakuum gedacht, die so dünn und zart wie Seifenblasen waren. Sie steckte es in einen Analysator und legte den Kopf in den Nacken, um die Auswirkung auf dem Diagramm über ihr zu sehen. Der r-Zweig wurde begradigt, aber ein selbstzerstörerisches Paradigma entstand dicht beim mittleren Abschnitt des n-Zweigs. Die Kluft ließ sich leicht schließen, indem man die Verteilung der Sensorien änderte und die religiöse Empfänglichkeit
erhöhte. Rebel steckte zwei weitere Wafer in den Analysator, nahm einige Feinjustierungen vor und editierte ein paar unwesentliche Dinge heraus. Das stärkte den n-Zweig, ließ jedoch den l-Zweig bei seiner ersten größeren Teilung abknicken. Deshalb tauschte sie den Keramik-Wafer gegen einen Holzarbeiter-Wafer aus. Nach und nach begann die Korrekturschablone Gestalt anzunehmen. Das war die große Herausforderung, das Gesunde in einer beschädigten Psyche aufzuspüren und die Programme zusammenzustellen, die es rekonstruieren würden. Sie vertiefte sich in die Arbeit. Einige Zeit später – Minuten? Stunden? – blickte sie wieder auf und stellte fest, daß die Befragung immer noch im Gange war. Sie hatten noch keine großen Fortschritte gemacht. »Billy, erinnerst du dich daran, daß du zur Erde gehört hast? Wie war das?« »Es war …« Das Kind brach ab und schluckte. »Da ist nichts passiert. Es war warm. Keine Gedanken. Viele Gedanken. Nichts war real.« »Was für Gedanken?« Billy schloß für einen Moment die Augen. Dann sagte er schnell und mit monotoner Stimme: »Gitter sechs drehen zwei heben und erneut drehen umleiten Anführungszeichen der Einschluß ist im Prinzip einer Meinung aber mit Einschränkungen Abführungszeichen die Phiole mit Adlerblut heben umleiten mit dem Alien-Schraubenschlüssel das Potentiometer auf den roten Strich justieren umleiten Schiff nach Sanfrisco grüne Markierung Code grün umleiten Kerosinzufuhr zwischen Vaskularstationen siebzehn und zwölf umleiten Aushebung für Schotterbett...«
»Stop!« Billy gehorchte. »Was ist denn los?« fragte Rebel. Wyeth schaute angewidert drein. »Das ist alles Müll. Willkürlich zusammengewürfelte Satzfetzen und Brocken. Ich werde von diesem Jungen nichts erfahren, weil er nie was gewußt hat. Er hat in seinem ganzen Leben keinen einzigen vollständigen Gedanken zu Ende gedacht. Er hat nur einen konstanten Strom von Gebrabbel verarbeitet.« Jetzt verschränkte Constance die Arme und funkelte Wyeth böse an. »Er ist daran gewöhnt, Teil eines ozeanischen Denkens zu sein. Sie haben ihn aus seiner natürlichen Umgebung gerissen. Selbstverständlich können Sie nichts Sinnvolles aus ihm herausholen … Schauen Sie ihn doch an! Er ist geschädigt. In der Gestalt eines menschlichen Individuums neu erschaffen zu werden, ist ein gewaltiger evolutionärer Rückschritt für ihn.« »Ach wirklich?« »Ja, wirklich! Verflucht noch mal, lächeln Sie nicht so überheblich, es ist so! Das Leben entwickelt sich nun mal auf diese Weise, vom Einfachen zum Komplexen. Wir sind alle auf einer evolutionären Reise vom Kleinen und Unkomplizierten zum Makrokosmischen. Von einzelligen Pflanzen zu Kometeneichen. Von Amöben über die Fische zu den Affen. Von einfachen Sinneswahrnehmungen zur Empfindungsfähigkeit und Intelligenz und dann zur Makrointelligenz. Können Sie den Fortschritt nicht sehen? Das ganze Leben entwickelt sich in Richtung zum Göttlichen.« »Eine sehr hübsche Theorie, aber mit allem gebührenden Respekt, das ist reine Scheiße.«
Der Junge schwitzte. Constance wischte ihm die Stirn ab. Er begann schwer zu atmen, und sie tupfte ihm eine Flüssigkeit auf den Hals. Als sie durch die Haut eindrang, atmete er leichter. »Sie …« Bewegung an der Tür. »Sir?« Zwei Samurais eskortierten einen hochgewachsenen Einschlußmann herein. »Der hier sagt, er muß Sie persönlich sprechen.« »Sie haben einen von uns«, sagte der Einschlußmann. »Geben Sie ihn zurück.« Wyeth setzte sich ein wenig anders hin und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Er sah Constance an und sagte: »Billy? Willst du wieder zurück?« Billy zitterte. Seine Augen zuckten hierhin und dorthin, in jede Richtung, nur nicht zu dem Einschlußmann. Sein Körper wand sich krampfhaft. »In seinem Zustand kann er unmöglich Informationen …«, setzte Constance an. »Warum?« fragte Rebel den Einschlußmann. »Ich meine, in seinem Zustand kann er für euch nicht von großem Nutzen sein. Wozu braucht ihr ihn?« »Für Experimente. Um ihn zu sezieren.« Constance machte den Mund auf und schloß ihn wieder. »Außerdem brauchen wir ein gutes Analyselabor, einen Operationsraum und einen Vorrat der Droge, die man uns gibt. Wir werden eine große Zahl von Gewebeproben entnehmen müssen. Die Analyseausrüstung sollte für eine umfassende Kartographie der Wirkung chemischer Spurenelemente im Gehirn ausgelegt sein. Die Erde wird selbstverständlich für Ihre Bemühungen bezahlen.« »Den Teufel werden wir tun!« Wyeths Gesicht war hart.
Bevor der Einschlußmann darauf antworten konnte, beugte sich Billy vor, bedeckte sein Gesicht mit zuckenden Händen und begann zu weinen. Behutsam setzte sich Rebel neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schultern. Er drehte sich um, schlang seine Arme um sie und begrub sein Gesicht bei ihr zwischen Schulter und Hals. Kleine Hände klammerten sich schmerzhaft an ihr fest. »Wir wissen nicht genau, was Sie damit meinen«, sagte der Einschlußmann. »Dann will ich's Ihnen noch mal in aller Deutlichkeit sagen«, erklärte Wyeth. »Erstens mögen wir den Jungen und werden ihn behalten. Zweitens sind unsere Ressourcen begrenzt, und wir haben keine Laborausrüstung übrig, ganz gleich, welchen Preis ihr dafür bezahlen wollt. Und drittens …« Er wandte sich an einen Samurai, der in der Nähe stand. »Diese Kisten mit Scheuäpfeln, die ich mitgebracht habe – vernichtet sie alle!« Der Boden wölbte sich nach oben und platzte auf. »Heilige Scheiße!« schrie Freeboy und fiel dann nach hinten, als etwas Schnelles von seiner Schläfe abprallte. Der Raum war plötzlich von schwarzem, beißendem Rauch erfüllt. Ein Kabel riß sich vom Boden los, versteifte sich unter der Spannung und peitschte wie eine riesige Schlange beim Angriff nach vorn. Funken jagten über den Boden. Wyeth streckte einen Arm aus und zeigte auf Rebel und Billy. »Treece!« rief er. »Schaff sie hier raus!« Orangerote Gestalten quollen aus dem Loch hervor. Das Einschlußkind war schwer. Treece scheuchte sie durch lange Korridore, während um sie her elektrische Anlagen
zischten und mit Stichflammen durchbrannten. Alle Lichter erloschen. »Was ist los?« rief Rebel. Der Junge klammerte sich immer noch mit seinen kleinen Händen an ihr fest. Sein Gesicht lag nach wie vor an ihrer Schulter. »Stromausfall. Wyeth hat die Computer abstürzen lassen. Wird gleich wieder angehen.« Etwas explodierte vor ihnen. In der Luft lag ein scharfer chemischer Gestank. »Nein, ich meine …« Treece grinste bösartig. »Ach, Sie meinen im allgemeinen. Der Einschluß hat unser Computersystem übernommen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Wir haben darauf gewartet.« Das Licht ging wieder an. Im Flur hinter ihnen brach eine Wand zusammen, und das Licht erlosch erneut. Im Dunkeln trabte ein Samuraitrupp vorbei. »Was?« »Nach rechts hier.« Ein plötzlicher Windstoß fuhr durch den Flur, und Rebel wäre beinahe hingefallen. »Der Einschluß will jedes Computersystem in die Hand bekommen. Das ist seine zweite Natur. Aber unsere Systeme sind so eingerichtet, daß man sie abstürzen lassen kann. Wir haben überall im Sheraton manuelle Abschaltungen. Wir können das System so oft abstürzen lassen und wieder in Betrieb setzen, wie sie es übernehmen können.« Sie gelangten in eine Orangerie mit einem stürmischen holographischen Himmel. Während Treece in einem angrenzenden Lagerraum herumstöberte, stand Rebel stumpfsinnig da und betrachtete das Planetarium in der Mitte des Raums. An seinem Fundament hatte man Ringelblumen gepflanzt. Der Samurai tauchte mit zwei Besenstielen auf und hielt Rebel einen davon
hin. Er hatte auch ein Gewehr und zwei Schlagstöcke dabei, von denen er Rebel ebenfalls einen gab. »Glauben Sie, Sie kommen mit dem Jungen zurecht?« »Ich komme mir wie ein Beuteltier vor.« So wie Billy sich an ihr festklammerte, bestand kaum die Gefahr, daß sie ihn verlieren würde. Sie stieg in den Sattel. »Also los!« Treece hob sein Gewehr und schoß das Fenster heraus. Sie rasten nach draußen in die Dunkelheit. Fast sofort stießen aus allen Richtungen Haftkameras auf sie herab. »Scheißdinger!« schrie Treece und hob sein Gewehr. Er schoß alle Kameras bis auf zwei weg, ehe die ferngesteuerten Geräte sie erreichen konnten. Eins tauchte auf sein Gesicht herab, und er schwang das Gewehr wie einen Knüppel herum und schmetterte es in seine Vorderseite mit den diversen Linsen. Kamera- und Gewehrsplitter flogen herum. Die letzte Kamera ging auf Rebel los. Sie schlug mit ihrem Schlagstock zu und wäre beinahe aus dem Sattel gerutscht. Die Kamera tauchte unter ihrem Schlag weg, und dann herrschte wieder einen Moment lang Dunkelheit, als die Computer des Sheraton erneut zum Absturz gebracht wurden. Die Lichter im Rad flammten wieder auf, und bevor die Systeme des Einschlusses die Kamera reprogrammieren konnten, trug deren eigener Schwung sie durch ein Fenster. Surrend und außer Funktion gesetzt krachte sie auf den Boden. Dann drehte sich das Fenster, der Raum und alles andere weg. »Los!« rief Treece, und Rebel legte die Hände wieder an den Besenstiel und riß die Düsen weit auf. Sie schossen kreischend davon. »Wohin fliegen wir?« brüllte
sie über die Schulter nach hinten. Treece brachte seinen Besenstiel längsseits. Jetzt, wo keine Gefahr mehr bestand, war er wieder gleichmütig. »Wohin Sie wollen, nur nicht ins Sheraton. Oder in die Tankstädte. Da gibt's Probleme mit der Sicherheit. Dies ist ein manipulierter Kampf, auch wenn der Einschluß das noch nicht weiß. Wir müssen nur für ein paar Stunden in Deckung bleiben, dann ist es sicher, und wir können wieder nach Hause.« Sie flogen am Rand der Orchidee entlang, und Rebel drosselte mit kleinen Schüben der Rückstoßdüsen allmählich die Geschwindigkeit, bis sie sich nur noch im Schneckentempo bewegten. Ein Stück weiter vorn sah Rebel einen weißen Fetzen, der an einen Stengel gebunden war. »Schau mal dort. Was meinst du, wozu der da ist?« Treece zuckte die Achseln. Sie hielten an, und Rebel spähte in das Blättergewirr der Orchidee hinein. Sie sah noch einen weißen Fetzen, der weiter drin festgebunden war. Zwischen den Stoffetzen sahen mehrere Stengel leicht beschädigt aus, als ob sie häufig als Kickstops benutzt worden seien. Der gespenstische Hauch einer Erinnerung an ihr Leben auf Tirnannog zupfte an ihr. »Das ist ein Pfad. Da drin wohnt jemand.« Sie lenkte ihren Besenstiel ins Innere. Der Junge hatte seit ihrer Flucht kein Wort gesprochen. Sie legte ihm eine Hand auf den Kopf. Er war warm, fast fiebrig; sie bildete sich ein, das Wechselspiel der Gefühle dort drin spüren zu können. Sein Zopf stand senkrecht ab. Sie drückte ihn an seinen Schädel und fragte sich, wie alt er sein mochte. Sieben? Neun? Nicht daß es etwas zu bedeuten hatte. »Wie
geht's dir, Billy?« Der Junge schüttelte den Kopf. Sie schwebten tiefer in die Orchidee hinein. Das Licht wurde trüber, als die Zahl der Blüten abnahm. Wurzeln und Stengel wuchsen hier dicker und verschlungener. Rebel mußte absteigen. Sie setzte Billy in den Sattel und zog den Besenstiel hinter sich her. Der Junge sah sich schweigend um. Sie zog den Besenstiel tiefer in die Ranken hinein, entdeckte dauernd neue Stellen, wo sie sich festhalten konnte, und folgte immer den Stoffetzen. Es war jetzt fast so etwas wie ein Tunnel, ein unregelmäßiger Korridor, der dadurch entstanden war, daß man bestimmte Ranken gestutzt hatte. Treece kam hinter ihr her. »Das wäre die perfekte Stelle für einen Hinterhalt«, sagte er. Eine Frau lachte. Es war kein freundliches Lachen. »Da habt ihr nur allzu recht«, sagte sie aus dem Halbdunkel heraus. »Also sagt, was ihr hier zu suchen habt! Was wollt ihr im Dorf? Kommt ihr mit bösen Absichten oder nicht?« Treece winkte Rebel zurück und stützte die Hände in die Hüften. »Siehst du diese Frau und dieses Kind? Wenn du versuchst, ihnen etwas zu tun, stirbst du. Jeder andere, der das versucht, stirbt ebenfalls.« Stille. »Aber solange ihr ihnen nichts tut, haben wir nichts Böses im Sinn. Wir suchen nur einen Platz, wo wir in Ruhe ein paar Stunden bleiben können. Wenn du uns durchläßt, fliegen wir weiter. Sonst kehren wir jetzt um.« Eine Frau schwebte nach vorn und löste sich aus dem Halbdunkel und dem Wurzelgewirr. Sie hatte ein Gewehr in der Hand. »Na schön«, sagte sie. »Ihr könnt passieren. Aber denkt daran, es gibt nur diesen einen Pfad, und ihr müßt auf dem Rückweg wieder an mir vorbei. Also benehmt euch!« Dann war sie verschwunden.
Das Dorf bestand aus einer Handvoll Holzhütten um eine zentrale Lichtung herum. Es war so etwas wie eine größere Version der Höfe in Tank Vierzehn. Aber die Hütten waren Gebilde aus lockerem Flechtwerk mit großen Freiflächen dazwischen, in denen sich die Orchidee ausbreitete; sie wirkten wie ein Haufen achtlos ins Unkraut geworfener Weidenkörbe. Als sie am Rand der Lichtung haltmachten, lugten etliche Leute mit offener Neugier aus ihren Hütten heraus. Rebels Besenstiel tanzte auf und ab, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie Billy aus dem Sattel glitt. Er flitzte zu einer Hütte, wo ein Mann mit untergeschlagenen Beinen in der Tür saß. Vor ihm stand ein kleines Faß mit Leuchttinte. Er hatte die Gesichtsbemalung eines Gelehrten und zog sorgfältig einen langen Strich über ein rechteckiges Stück Pergament. Das Kind näherte sich langsam und wie hypnotisiert der Zeichnung. Der lange, leuchtende Strich spiegelte sich doppelt in seinen starren Augen. Der Gelehrte hob den Kopf. Schatten bildeten Teiche unter seinen Augenbrauen. »Gefällt's dir?« Er hob den Pinsel vom Ende der Linie und tunkte ihn in das Tintenfaß. »Das ist ein Wortspiel.« Mit raschen Strichen warf er ein Ideogramm auf ein Blatt und hielt es hoch, damit er es anschauen konnte. »Siehst du das? Das ist mein Name – Ma. Das heißt Pferd. Mein Name ist Ma Fu-ya. Und wie heißt du?« »Billy«, antwortete das Kind, ohne zu zögern. »Na schön, Billy, siehst du diesen Strich, den ich gerade gezeichnet habe? Ich möchte, daß du dir vorstellst, daß es der gleiche Strich ist wie dieser hier« – der Pinsel berührte einen Strich in dem Ideogramm auf dem Blatt – »nur langgestreckt
und außer Form geraten. Siehst du? Dann läuft dieser nächste Strich an einem Vorderbein entlang.« Rasch und sicher zeichnete er die anderen Linien, und zusammen ergaben sie ein Pferd. »Siehst du?« Das Kind lachte und klatschte in die Hände. »Er scheint Sie zu mögen«, sagte Rebel. Der Gelehrte legte seinen Pinsel vor ihnen in die Luft. »Das ist ein netter Junge. Willkommen in unserem Dorf. Wir sind noch nicht dazu gekommen, ihm einen Namen zu geben. Wenn ihr bleibt, rate ich euch, nicht zu weit von der Lichtung entfernt zu bauen; ein Mann hat das bereits getan und seine Hütte nicht mehr wiedergefunden, weil er nicht daran gedacht hatte, den Weg zu markieren. Abgesehen davon haben wir reichlich Platz.« Die Luft hier roch angenehm. Das Dorf war in eine lokale Blütentraube hineingebaut worden, und das Licht war weich und überall gleich hell. Es gefiel Rebel. Trotzdem hätte es ein bißchen mehr Leben vertragen können. Schmetterlinge zumindest. Ein paar Eidechsen, ein Eichhörnchen, vielleicht einen Baumtintenfisch. Aber abgesehen davon war das hier ein hübscher, geschützter Ort in der Orchidee. »Vielleicht baue ich mir wirklich eine Hütte«, sagte sie. »Ich könnte meine Freizeit hier verbringen. Mit wem muß ich wegen der Miete reden? Wer ist hier euer König?« »Hier gibt es keine Könige«, sagte Fu-ya. Billy zerrte an seinem Umhang, und der Gelehrte gab ihm Pinsel und Farbe. Er holte ein Blatt Papier aus der Hütte hinter sich. »Hier, viel Spaß.« »Keine Könige?« sagte Treece verwirrt. »Wem gehört das al-
les dann?« »Das weiß ich nicht genau. Vielleicht niemandem. Vielleicht dem Mann im Rad.« Er spreizte die Finger. »Sehen Sie, als die Leute merkten, daß sie hier bauen konnten, haben sie sich nicht erst großartig Gedanken über rechtliche Fragen gemacht. Sie packten einfach ihre Sachen zusammen und kamen her.« Einer von Fu-yas Nachbarn kam mit einer Kugel frisch gebrühtem Tee und einer Handvoll Trinkspritzen. Mit finsterer Miene nahm Treece eine davon und fragte: »Warum? Warum so tief in der Orchidee verborgen? Und warum steht ein Wachtposten am Pfad?« »Hier kann man sich leicht verteidigen«, sagte der Nachbar. »Ein Wachtposten kann ein Dutzend Angreifer aufhalten. Wenn mehr kommen würden, könnten wir einfach die Stoffetzen am Pfad abnehmen – sie würden den Weg hierher nie finden. Oder falls das nicht klappen sollte … dann würden wir uns alle zerstreuen, glaube ich. Das wäre das Ende des Dorfes, aber da draußen gibt's noch weitere. Und außerdem auch jede Menge Platz, um ein neues zu bauen.« »Nein, nein«, sagte Fu-ya zu Billy. »Du mußt den Pinsel senkrecht halten, zwischen Daumen und Zeigefinger. So, siehst du? Auf diese Weise kleckerst du nicht.« »Was meint ihr denn, wer auch angreifen sollte?« fragte Treece gereizt. Eine weitere Nachbarin war herbeigekommen, eine große, knochige Frau, die nur aus Knien und Ellbogen zu bestehen schien, wenn sie sich bewegte. »Dann seid ihr also nicht aus den Tanks?« fragte sie. »Nein, ich seh's schon. Naja, die Bandenkriege werden immer heftiger. Es ist schon komisch. Du wohnst in
den Tanks und denkst: Was hat die Polizei je für mich getan? Sie hat dich zusammengeprügelt, dir die Zähne eingeschlagen und dich bei ihren Razzien hopsgenommen. Aber jetzt, wo keine Polizei mehr da ist, gibt es nichts, was die Banden aufhalten könnte – nur sie selber. Also versuchen sie sich auszubreiten. Sie schnappen sich überall Leute und reprogrammieren sie. Wenn du nicht aufpaßt, stellst du auf einmal fest, daß du Rude Girl für irgendeinen Ganoven bist, von dem du vorher nie auch nur was gehört hast. Aber jetzt bist du bereit, für ihn zu sterben. Ganz üble Sache. Erst recht, wo sie jetzt alle diese Gewehre haben; habt ihr die gesehen? Wißt ihr, wovon ich rede?« »Alle?« fragte Treece. »Ich hab gesehen, daß euer Wachtposten eins hatte. Im Grunde ist das nicht erlaubt. Die Dinger sind eigentlich nur für programmierte Samurais gedacht.« Die Dorfbewohner lachten. Inzwischen saßen etwa acht Leute um sie herum. »In den Tanks muß es hundert Gewehre geben«, erklärte Fu-ya. »Vielleicht sogar zweihundert. Es ist wirklich schlimm.« Er hatte Billy auf seinen Schoß gesetzt. Jetzt senkte er den Blick und sagte: »He, schaut euch das an. Das ist sehr gut.« Billy Überläufer sah nicht auf. Er malte Schaltkreise auf das Papier, lange, leuchtende Linien und Schnittlinien wie kalte Flüsse aus Licht – gerade, sauber und rätselhaft. Irgendwo trug Wyeth einen Zaubererzweikampf mit dem Einschluß aus. Möglicherweise war es schon vorbei. Hier jedoch, wo sie herumsaßen, miteinander schwatzten und lachten, war alles friedlich. Ein Mädchen, das den Kopf einzog und errötete, wenn man es ansprach, brachte eine Flöte zum Vor-
schein und begann zu spielen. Jemand organisierte zwei kurze Metallrohre und sorgte für ein Schlagzeug. Bald war eine Band beisammen, und die Leute tanzten. Rebel machte nicht mit. Für sie war schwereloses Tanzen so wie schwereloser Sex, eine nicht ganz für voll zu nehmende Version des Wahren und Echten. Während Billy seine Schaltkreise malte, schloß sie ihn an ein Programmiergerät an. »Nicht zappeln«, sagte sie und versetzte ihn in Trance. Ihre Hände glitten über die Wafer, und sie vertiefte sich in die heikle Kunst des Edierens. Das war eine Arbeit, die ihren beiden Persönlichkeiten Spaß machte, und mindestens eine Stunde lang wußte sie nicht mehr so genau, wer sie war. Dann blieben ihre Hände unschlüssig über den Wafern in der Luft hängen, und sie zog sie weg. Mit einem Seufzen nahm sie die Haftscheiben ab. Billy bewegte sich. »Ist Ihr kleiner Junge jetzt in Ordnung?« fragte Gretzin, Fu-yas Frau. »Ich bin bloß die Ärztin«, sagte Eucrasia gereizt. »Der Kleine gehört weder zu mir noch zu überhaupt jemand. Er ist ein Waisenkind, glaub ich.« Dann gab es eine leichte Verschiebung in ihrem Innern, und sie war wieder Rebel. »Das wird noch einen Haufen Arbeit kosten, bis er wieder in Ordnung ist. Ich hab nicht gewagt, mehr als nur geringfügige Veränderungen vorzunehmen, weil er so labil ist. Es gibt nur einen Hauch von Persönlichkeit, an dem man arbeiten kann – eigentlich nur die Erinnerung an eine Persönlichkeit unter Halluzinogenen. Ist nicht einfach, das richtig hinzukriegen.« Fu-ya schwebte herbei und nahm das Kind mit. »Komm, Billy! Ich zeig dir, wie man einen Papiervogel faltet.« Gretzin schaute den beiden nach. »Ich hab in Wirklichkeit
nicht geglaubt, daß er Ihr Sohn ist. Ich hab's bloß irgendwie gehofft.« Sie schnaubte. »Papiervögel!« Das Sheraton war in einem fürchterlichen Zustand. Entwurzelte Bäume schwebten über Sonnenschirmen, die im Wasser der Teiche lagen. Rebel umging einen Haufen aus zerbrochenem Glas. Sie fuhr mit einem Finger an der Wand entlang, und als sie ihn wegzog, war er rußverschmiert. »Wo ist Billy?« fragte Wyeth, der plötzlich auf sie zukam. »Ich hab in der Orchidee ein Paar gefunden und sie dafür angestellt, sich um ihn zu kümmern. Er bleibt bei ihnen im Dorf.« »Warum hast du das getan?« »Ich dachte mir, sie wären gut für ihn. Ein bißchen Ruhe und Abgeschiedenheit müßten sein Identitätsgefühl soweit stärken, daß ich versuchen kann, noch etwas mehr zu edieren.« Sie paßten ihre Schritte einander an. »Ach, zum Teufel, Billy hat einen Narren an Fu-ya gefressen, und als ich ihn mitnehmen wollte, hat er ein hysterisches Geschrei angefangen. Bei seiner schwachen mentalen Struktur hatte ich Angst, seine Emotionen könnten außer Kontrolle geraten und kollabieren, wenn ich die beiden trennen würde.« »Hmmm.« Sie gingen um ein Team von Wandverzierern, Vergoldern und Kunsthandwerkern herum, die Schnitzereien anfertigten. Überall waren Arbeiter und führten Reparaturen durch. »Schau! Ich werde dir was zeigen.« Der Konferenzraum war zu einer Leichenhalle umfunktioniert worden. Die Leichen lagen auf Rollbahren neben dem Goldfischbach. Es waren sieben Tote, alles Einschlußleute. »Ich
hab sie so in Panik versetzt, daß sie zu früh losschlugen«, sagte Wyeth. »Das ist ein Grund, warum es nur so wenige Todesopfer gab. Sie wußten, daß sie das Sheraton nicht auf Dauer übernehmen konnten und daß sie für jeden getöteten Menschen Reparationen würden zahlen müssen.« Er blieb bei der Leiche einer Einschlußfrau stehen, deren Rumpf aufgeschnitten war; die Haut hatte man ein Stück weit abgezogen. Rebel schaute entsetzt und zugleich fasziniert auf die glänzenden Organe hinunter. Hier und dort schimmerte Metall. Wyeth hob eine Hand hoch und drehte sie um. »Siehst du das hier? Einziehbare Steckerkontakte in jeder Fingerspitze. Sie brauchte bloß ein Stück Haut an der Spitze abzubeißen, dann konnte sie mit allem ins Interface gehen. Unter der Haut sind drei separate Richtantennensysteme verborgen, und sie hat ein zweites Rückgrat mit Gott weiß wie vielen Gigabytes Speicherkapazität.« »Mein Gott«, sagte Rebel. »Sind die alle so?« »Nein, nur fünf. Wir bezeichnen sie als Einbrecher, weil ihre einzige Funktion darin besteht, in Computersysteme einzubrechen. Der Einschluß bringt heimlich ein paar davon in jeder Gruppe unter, die er in den von Menschen bewohnten Raumsektor schickt. Sie waren leicht ausfindig zu machen, weil sie all dieses Metall in sich tragen. Sobald wir sie ausgeschaltet hatten, war der Kampf vorbei.« »Umgebracht.« Constance hinkte herein, dicht gefolgt von Freeboy. Er hatte einen schmutzigen Verband um den Kopf. »Sie haben sie nicht ›ausgeschaltet‹, Mr. Wyeth. Sie haben sie umgebracht!« Etliche bestickte Einsatzstreifen in ihrer Kleidung waren voller Flecken; sie roch nach Rauch und Zorn. »Sollten Sie sich nicht um die Sträucher kümmern, Moor-
fields?« »Meine Leute machen das schon. Ich will wissen, warum Sie diese sinnlose, brutale Schlacht provoziert haben.« Ein Techniker griff unter eine Abdeckung am Fuß der Brükke. Der Himmel flackerte und leuchtete auf. Blau, mit großen Schäfchenwolken. »Oh, eine Schlacht war das wohl kaum.« Wyeth lächelte. »Und alles andere als sinnlos. Zweifellos hat es dem Einschluß den Mumm geraubt. Die Hälfte liegt mit der ScheuapfelKrankheit flach. Außerdem hab ich eine Menge aus diesem Vorfall gelernt, nämlich wie man den Einschluß bekämpfen kann. Ich war so frei, das aufzuzeichnen und an jede größere Datenbank im System zu schicken. Es wird zur Verfügung stehen, wenn man es braucht.« Sein Ton wechselte von dem des Kriegers zu dem des Mystikers. »Eines Tages wird die Menschheit gegen den Einschluß kämpfen müssen. Irgendwann wird der Konflikt offen ausbrechen. Und wenn das geschieht, sind wir aufgrund der heutigen Ereignisse ein ganz kleines bißchen besser vorbereitet.« »Das klingt, als würden Sie sich schon auf einen hübschen, großen Krieg freuen.« »Nein, aber im Gegensatz zu Ihnen halte ich ihn für unvermeidlich. Ah, hier sind die Anwälte.« Zwei Männer mit Juristenbemalung, der eine von VolksMars, der andere vom Cluster, kamen auf sie zu. Wyeth verbeugte sich vor Rebel. »Wollen wir?« Sie überquerten die Brücke und traten unter die Einschlußleute. Zuerst kam Wyeth, Arm in Arm mit Rebel, danach die Anwälte. Constance zögerte und folgte ihnen dann, und Free-
boy hastete ihr nach. Vier Samurais bildeten die Nachhut. »Über den Rubikon«, sagte Wyeth fröhlich, aber Rebel hatte eher das Gefühl, den Styx zu überqueren und das Land zu betreten, wo die blutlosen Toten in völliger Gleichheit hausen. Die Einschlußleute machten ihnen Platz und schlossen sich wieder hinter der Gruppe, wenn sie durchgekommen war. Hunderte von Augen starrten sie an. Wyeth suchte sich aufs Geratewohl einen Mann aus, packte ihn an den Schultern und sagte: »Du. Kannst du sprechen? Wir werden uns durch dieses Individuum unterhalten.« »Das ist nicht nötig«, sagte der Einschluß. »Trotzdem werden wir's so machen. Ich werde euch ein paar Fragen stellen. Wenn ich mit den Antworten nicht zufrieden bin, werde ich euch wegen gewaltsamer Aggression anklagen und dafür sorgen, daß keiner von euren vierhundert Leuten oder wie viele ihr seid jemals die Erde wiedersieht. Wollt ihr das? Ich kann das tun.« Die Einschlußleute bewegten sich unbehaglich. »Sie haben uns durch Manipulation dazu gebracht, euch anzugreifen.« »Na und?« Wyeth wandte sich an seine Anwälte. »Macht das juristisch einen Unterschied?« »Nein.« »Nein.« Rebel berührte ihr Armband und sah die verworrenen Linien aus Energie, die die Einschlußleute verbanden, in einem schimmernden Nebel. Elektromagnetische Felder stiegen wie Flügel von ihnen hoch. Richtstrahlen flammten auf und erloschen; sie liefen bei dem Sprecher zusammen. Er leuchtete so hell wie das Auge eines zusammengerollten Drachen. »Also
fragen Sie!« »Was will der Einschluß?« »Was will jeder Organismus?« sagte der Einschluß fast verächtlich. »Leben, wachsen und seine Fähigkeiten konstruktiv einsetzen.« »Ich dachte an etwas nicht ganz so Weitgefaßtes. Warum wolltet ihr unbedingt die Scheuäpfel haben? Bei dem Versuch, Informationen aus ihm herauszuholen, die er nicht einmal besaß, hättet ihr fast den jungen Freeboy hier getötet. Was für Informationen hattet ihr zu finden gehofft? Was wolltet ihr so dringend wissen?« »Die Erde interessiert sich für alle neuen Entwicklungen im Bereich der Geisteskünste.« »Antworten«, sagte Wyeth grimmig. Erneut entstand bei den Einschlußleuten erregte Bewegung. Individuen rempelten einander an; Köpfe drehten sich ziellos. Einige schrien auf. »Wir...«, begann der Sprecher und hielt inne, als die interaktiven Felder wild ihre Konfigurationen änderten, sich von ihm zurückzogen und dann wieder um ihn schlossen. »Wir suchen Integrität. Wir suchen ein Mittel, unsere Identität als Einschluß aufrechtzuerhalten, wenn wir von der Erde getrennt sind.« »Integrität? Das verstehe ich nicht.« »Fern von der Erde sind wir abgeschnitten, verwaist«, sagte der Einschluß. »Wir verlieren unsere Identität. Das könnt ihr nicht verstehen. Unser Gefühl, die Erde zu sein, wird schwächer und verändert sich. Wir werden anders. Ihr würdet sagen, individuell. Wir wollen das nicht. Es ist schmerzhaft für uns.« »Ah«, sagte Wyeth. »Das ist ja interessant.«
»Sind Sie jetzt zufrieden?« fragte Constance. Wyeth sah sie an. »Sie haben dieses Geschöpf wegen Ihrer eigenen … Ihrer eigenen paranoiden Phantasien gequält, das ist alles. Sie sind ein gefährlicher Mensch, Mr. Wyeth, eine Maschine, die außer Kontrolle gerät und ohne Sinn und Zweck Schmerzen verursacht.« Rebel streckte die Hand aus und berührte das Handgelenk des Sprechers. »Erklär mir etwas«, bat sie zögernd. »Hat Wyeth recht? Sind die Menschen und der Einschluß wirklich Feinde?« »Natürlich nicht«, fuhr Constance auf. »Ja«, sagte der Einschluß. »Wir sind per Definition natürlich Feinde, weil wir einen Konkurrenzkampf um dieselben Ressourcen führen.« »Ressourcen? Du meinst zum Beispiel … was? Energiequellen? Metallerze?« »Menschen. Menschen sind unsere wichtigste Ressource.« Constance stand reglos da. Sie war blaß und sah aus, als ob man sie im Stich gelassen hätte. »Ich …«, sagte sie. »Ich dachte …« Ihre Stimme klang, als ob sie den Tränen nahe sei. Sie drehte sich abrupt um und humpelte über die Brücke zurück ins Land der Lebenden. Freeboy eilte ihr nach. Ohne wirklich zu grinsen, schenkte Wyeth Rebel ein Nicken und zwinkerte ihr zu. Er wandte sich wieder an den Einschluß. »Noch eine Frage. Warum habt ihr den von Menschen besiedelten Raumsektor nicht schon längst erobert? Euch stehen alle Hilfsmittel der Erde zur Verfügung, außerdem eine Physik, von der wir nur träumen können. Warum seid ihr auf der Erde geblieben? Wieso seid ihr nicht in großer Zahl hier draußen bei uns?«
Die Einschlußmenge dehnte sich leicht aus und zog sich dann wieder zusammen, wie ein riesiges Tier, das einen tiefen Atemzug tut. »Wir werden von der Geschwindigkeit der Kommunikation zurückgehalten. Es stimmt nicht, daß Gedanken ohne Zeitverlust übertragen werden. Gedanken sind nur so schnell, wie es uns unsere elektronischen Verbindungen erlauben. Das führt schon auf der Erde zu Problemen. Es ist möglich, daß der Einschluß unter sich uneins ist. Gedanken bewegen sich in gewaltigen Wellen wie Frontensysteme über die Kontinente. Manchmal treten zwei widersprüchliche Gedanken auf entgegengesetzten Seiten des Planeten auf. Die Gedankenfronten rasen nach außen, und wo sie kollidieren, entsteht ein Konflikt. Es ist wie ein mentaler Sturm. Das werdet ihr nicht verstehen. Dabei handelt es sich jedoch um zeitweilige Unausgewogenheiten, die sich leicht regeln lassen. Es wird erst dann ein schwieriges Problem, wenn Einschlußleute die Erde verlassen. Die Erde hat versucht, Kolonien im nahen Orbit, auf dem Mond und woanders zu gründen. Aber kleine Einschlußgruppen wie unsere werden krank, wenn wir nicht mehr in die Gedankengemeinschaft einbezogen sind. Wir werden unschlüssig, wir machen Fehler. Große Einschlußgruppen werden nicht krank, aber sie verlieren ihre Integrität und entfernen sich von der Erde: sie werden selbständige Individuen. Dann müssen sie vernichtet werden. Dreimal war es erforderlich, zur nuklearen Lösung zu greifen. Es darf nicht gestattet werden, daß Einschlußgruppen der Erde anders werden. Das werdet ihr nicht verstehen.« »Doch«, sagte Wyeth. »Ich glaube, ich verstehe. Das ist also
der Grund für euer Interesse an den Geisteskünsten? Ihr sucht einen Weg, wie ihr erreichen könnt, daß Einschlußkolonien und die Erde weiterhin eine Einheit bilden.« »Ja. Die Erde hat die Antwort darauf lange Zeit in der Physik gesucht. Ein Kommunikationsmittel, bei dem kein Zeitverlust auftritt, würde den Einschluß über große Entfernungen zusammenhalten. Aber die Lichtgeschwindigkeit bleibt eine absolute Grenze. Man kann sie nicht überlisten. Im Universum gibt es keine Simultaneität. Also schlagen wir andere Richtungen ein. Vielleicht läßt sich in den Geisteskünsten eine Lösung finden. Vielleicht eine neue mentale Architektur.« »Das bringt mich zu meiner nächsten Frage …« »Nein«, sagte der Einschluß. »Sie sind zufrieden. Auch wenn wir krank sind, können wir Sie doch so weit durchschauen, Boss Wyeth. Sie haben so viel von uns bekommen, wie Sie sich erhofft hatten. Wir brauchen Ihnen nichts mehr zu geben.« Der Sprecher trat einen Schritt zurück und mischte sich unter seine Gefährten. Hunderte von Augen wandten sich allesamt gleichzeitig ab. Einen Moment lang stand Wyeth mit offenem Mund da. Dann lachte er. Als sie an diesem Abend miteinander schliefen, stellte sich Wyeth ungeschickt an, und er kam zu früh. Er rollte sich von Rebel weg und starrte zur Fensterwand hinaus. Dünne Ranken der Orchidee schwebten langsam vorbei, während sich das Sheraton drehte. »Wyeth?« sagte Rebel leise. Er sah sie an. Seine Augen waren düster und lagen tief in den Höhlen. »Was ist?« Wyeth schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Ich hab
ein schlechtes Gewissen. Meine Egos leben nicht in Frieden miteinander.« »Hey«, sagte Rebel. »He, meine Lieben, es ist alles in Ordnung.« Sie nahm seine Hand und hielt sie mit beiden Händen fest. »Wer von dir ist das? Es ist der Führer, stimmt's?« »Ja, aber wir fühlen uns alle so. Constance hatte recht, was das Kind angeht. Billy war vollkommen zufrieden, solange er zum Einschluß gehörte. Er war nicht glücklich, und er hatte kein waches Bewußtsein – aber er war immerhin zufrieden. Und dann erscheine ich mit Blitz und Donner und reiße ihn ins bewußte Leben. Hier, Kleiner, nimm einen Apfel! Blank und strahlend. Beiß rein, dann wirst du einer von uns! Ich hab ihn aus dem Einschluß rausgerissen und halb ins Menschsein gezerrt, und was hab ich aus ihm gemacht? Ein verkrüppeltes, verrücktes, unglückliches Tier oder sowas ähnliches.« »He, nun hör mal, es war doch nicht deine Schuld, daß er den Scheuapfel gegessen hat. Dafür ist der Einschluß verantwortlich. Wir sind alle überrascht worden.« Wyeth setzte sich auf und schwang die Beine über den Bettrand. Er saß da, ohne sich zu bewegen. »Glaubst du? Ich hab ihnen mit dem Apfel vor der Nase rumgewedelt. Ich wollte, daß sie reinbeißen. Ich wollte sehen, was passieren würde. Aber als ich Billy vom Einschluß losriß, stellte sich raus, daß er nicht das geringste wußte. Also, was hab ich damit erreicht? Nichts. Ich hab unüberlegt gehandelt, und jetzt läuft ein elendes Geschöpf mehr im Himmel rum.« »Ich mach ihn dir wieder gesund, Wyeth, ich versprech's dir. Ich komme mit Eucrasias Fähigkeiten allmählich ganz gut zurecht.« Rebel umarmte ihn von hinten, drückte ihre Brüste an
seinen Rücken und legte ihre Wange an seine Schulter. »Hör zu, das krieg ich wirklich hin.« Wyeth schüttelte schwer den Kopf. »Darum geht's nicht. Ganz und gar nicht.« Sie ließ ihn los und setzte sich auf die Fersen zurück. »Es nützt nichts, den Schaden wiedergutzumachen. Es geht darum, daß ich kein Mensch sein will, der einem Kind sowas antut.« Rebel schwieg. »Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben? Ich war nur ein Persönlichkeitsstreuner. Sehr clever, sehr gut, aber ohne die geringste Vorstellung, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Mein größter Wunsch war, das Gefühl zu haben, irgendein Ziel zu verfolgen. Wir haben zusammen am Entwurf der Tetrade gearbeitet, erinnerst du dich daran?« »Nein.« »Das ist schade. Es war eine tolle Sache. Wir haben eine Menge Nachtarbeit reingesteckt. Es war ein Piratenprogramm, und wir mußten es heimlich machen. Eucrasia kam mit der Idee an, eine Persönlichkeit mit vier Facetten zu schaffen, wegen der Stabilität und der Unabhängigkeit. Sie stand, total auf Unabhängigkeit. Ich war eher deswegen daran interessiert, weil sie ihr eigenes Zielbewußtsein hervorbringen würde.« Rebel verspürte eine irrationale Eifersucht auf Eucrasia, die so eng mit Wyeth zusammengearbeitet hatte. Sie fragte sich, ob die beiden miteinander geschlafen hatten, und empfand bei dem Gedanken eine sonderbar unsaubere Erregung. »Wie?« fragte sie. »Der Planer. Ich dachte mir, daß er sich darum kümmern würde. Das hat er auch getan. Als er das erstemal in den Vor-
dergrund trat, fragte er: Was ist das Wichtigste, das in diesen Zeiten, geschieht? Wie können wir dazu beitragen? Die Antworten – naja, du kennst die Antworten. Eucrasia war enttäuscht. Sie fand, daß ich schwülstig und unpraktisch war, und sie wollte das Programm auseinandernehmen und noch mal von vorn anfangen. Da trennten sich unsere Wege. Ich meine … das Überleben der Menschheit! Gibt es ein bessere Sache, um die man sich kümmern könnte?« Er verstummte und fuhr dann fort: »Aber jetzt weiß ich's nicht mehr. Vielleicht wollte ich im Grunde nur eine gute Meinung von mir selbst haben. Ich meine, ich hab sowas wie einen säkularen Heiligen aus mir gemacht, einen selbsternannten Hüter der Menschheit. Einen Mann ohne Zweifel. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich bin mir über gar nichts mehr sicher. Ich glaube, ich kenne mich nicht so gut, wie ich dachte.« »Still jetzt!« sagte Rebel. Sie legte ihre Arme um ihn und wiegte ihn sanft hin und her. Aber sie hätten ebensogut in verschiedenen Universen sein können. Eucrasias Erinnerungen wurden stärker. Bald würden sie Rebel vollständig verschlingen, und dann würde sie nicht mehr da sein. Sie wollte sich mit Wyeths Problemen beschäftigen, aber sie kamen ihr einfach nicht wichtig vor. »Sei still«, sagte sie wieder. »Du bist nicht allein.«
8 Korridor der Illusion REBEL BESUCHTE BILLY JEDEN TAG nach dem Schlagstocktraining. Sie merkte jedoch bald, daß sie selbst zwar nach der strikten Greenwichzeit des Sheraton lebte, das Dorf aber einen anderen, internen Rhythmus hatte. Die Leute aßen, wenn sie Hunger hatten, schliefen, wenn sie müde waren, und hielten sich an keinen von außen vorgegebenen Zeitplan. Manchmal stellte sie fest, daß nach der Dorfzeit nur ein paar träge Stunden verstrichen waren. Dann wieder waren ganze Tage in einem Taumel von Arbeit und Spiel, langen Nickerchen und kurzen Mahlzeiten verflogen. Eines Tages entdeckte sie, daß Tausende kleiner Spinnennetze, nicht größer als die feinen Gespinste einer Baumwollpflanze, die Orchidee um das Dorf herum wie Nebel überzogen hatten. In dem gefilterten bleichen Winterlicht spielten die Kinder mit einer rostigen Luftflasche. Ein Kind sprang auf den Platz und trat gegen die Flasche, wodurch es sie ein Stück zur weiter entfernten Seite des Platzes beförderte. Dann sprang ein Kind von dieser Seite heraus und versuchte, die Flasche zurückzustoßen. Ein Mädchen blieb mitten auf dem Platz hängen und wurde laut und spöttisch für ausgeschieden erklärt. Dann ging es wieder von vorne los. Gretzin saß vor ihrer Hütte und flocht eine Grasmatte, um damit eine abgenutzte Wand zu ersetzen. Rebel begrüßte sie und fragte dann: »Wo kommen denn die ganzen Spinnen her?«
»Was glauben Sie denn, wo die herkommen? Aus den Tanks«, antwortete Gretzin ungeduldig. »Da breitet sich jede Menge Ungeziefer aus. Sie hätten gestern hier sein sollen, da waren überall Kriebelmücken. Ganze Wolken.« Sie legte die Matte weg. »Fu-ya schläft. Bleiben Sie hier, ich hole Ihnen Ihren kleinen Jungen.« Einen Augenblick später kam sie zurück und zerrte Billy an einem Arm hinter sich her. »Ich will nicht!« schrie er. »Ich will spielen!« Als er Rebel sah, begann er zu weinen. Rebel war auf seltsame Weise traurig, daß der Junge sie nicht mochte. Der kalte Hauch des Versagens. »Naja, das zeigt, daß er Fortschritte macht«, sagte sie zu Gretzin. »Sein Temperament.« Sie strich ihm mit der Hand über den Kopf, und der zarte Flaum neuer Haare kitzelte ihre Handfläche wie statische Elektrizität. Gretzin hatte ihm den Zopf abgeschnitten; möglicherweise hatten ihn die Kinder damit aufgezogen. »Es wird nicht lange dauern, Billy.« Sie betäubte ihn und machte sich an die Arbeit. Eine Stunde später ließ sie Billy laufen und rief Gretzin zu sich. »Ich kann jetzt nicht mehr viel tun. Seine Identität ist noch ein bißchen fragil, aber sie wird sich mit der Zeit stabilisieren. Im Grunde müßte er jetzt als Mensch durchgehen können.« »Als Mensch durchgehen, hm?« sagte Gretzin. »Ja. Es kommt auch zeitlich gut hin, weil wir bald den Mars erreichen. Ich weiß nicht, was Wyeth dann mit ihm vorhat.« Sie verbarg ihre Unsicherheit über die Zukunft des Jungen hinter einem Lächeln. »Ich wette, Sie sind froh, daß Sie sich dann keine Sorgen mehr um ihn machen müssen.« »Ja. Das ist wunderbar.«
Es war ein Schock, nach all dieser Zeit wieder außerhalb der Geodäte zu sein. Einige freischwebende Sporen mußten sich vor dem Abschuß aus dem Eros-Cluster an der Hülle angelagert haben, denn sie war jetzt von riesigen, gesprenkelten Matten von Vakuumblumen bedeckt. Sie waren überall und wuchsen in wirren Büscheln und Haufen. Die Blüten drehten sich langsam; sie folgten der Sonne. Die Blumen waren von der Luftschleuse und ein paar Dutzend Meter drumherum weggeschnitten worden und gaben nun eine Hülle frei, die stumpf, zernarbt und uneben war. Auf die gesäuberte Oberfläche hatte man im Schnellverfahren vereinzelte Fußringe geschweißt. Rebel stand in einem Paar und spürte einen völlig irrationalen Drang, mit dem Blumenschneiden anzufangen. Es juckte ihr in den Händen. Wyeth stand neben ihr und überwachte den Abzug des Einschlusses. Fast ein halbes Tausend Kühlaggregate wurden an einem einzigen Fährgerüst festgebunden, eine Schicht über der anderen, bis eine grobe Kugel entstand. In diesen rußschwarzen Särgen lagen die Einschlußleute. Ihre Kehlen und Lungen waren mit Beschleunigungsgelee gefüllt. Raumwerker wimmelten um sie herum. »He, sieh mal!« Rebel berührte Wyeth und zeigte auf etwas. Zwei nicht gekennzeichnete silberne Raumanzüge krochen über die Geodäte auf sie zu. Im kunterbunten Karnevalstreiben persönlich markierter Raumanzüge der aus den Tanks und Orchideendörfern rekrutierten Arbeiter wirkten sie so verblüffend auffällig wie ein Krocketball in einer Schachtel mit Fabergé-Ostereiern. Das Intercom knisterte. »Ich kann nicht glauben, daß die sich
nach allem, was sie mit Ihnen durchgemacht haben, vertrauensvoll von Ihnen in den Kälteschlaf versetzen lassen.« »Sollten Sie nicht überprüfen, wie weit sich die Blumen durch die Hülle gefressen haben?« fragte Wyeth. Die silbernen Gestalten zogen sich fast bis zu seinen Füßen heran. Dann schlüpften sie in die Ringe und standen auf. »Deswegen bin ich ja hergekommen, um Ihnen darüber Bericht zu erstatten. Sie haben an den dünnsten Stellen immer noch eine vier Zoll dicke Haut. Kein Grund zur Besorgnis.« Die Raumwerker kamen mit einem EinwegFusionstriebwerk am Ende einer kilometerlangen Verbindungsstange und koppelten es so an die Fähre, daß das heiße Ende von den Einschlußleuten wegzeigte. Dann sprangen sie ab und rissen mit langen Seilen die Abschirmung herunter. »Na schön, Connie, bleiben Sie hier und sehen Sie sich die Show an, wenn Sie wollen. Hallo, Freeboy. Immer noch bei uns, wie ich sehe.« »Er ist so loyal wie die Tochter eines Zauberers«, sagte Constance trocken. Das Triebwerk stieß eine fast unsichtbare Plasmaflamme aus, und die ganze Konstruktion setzte sich in Bewegung. Drei Tage, dachte Rebel. Zwei, bis die Fähre beim Mars war, von der VolksVerteidigung abgefangen und mit Rückstoßdüsen ausgerüstet, abgebremst und entladen wurde. Einen Tag, den der Einschluß brauchte, um den Transitring zu bauen, der die Geschwindigkeit der Geodäte relativ auf Null drosseln und sie an ihren endgültigen Platz im Marsorbit bringen würde. Schon ein kleiner Fehler genügte, und sie würden an dem Ring vorbeischießen; dann würde das ganze Projekt mit allen Menschen darin auf dem Planeten zerschellen.
»Sie waren so hilflos wie ein Sack voller Katzenembryos«, sagte Constance. »Ich habe keine Ahnung, warum sie Ihnen vertraut haben. Ich hätt's nicht getan.« »Die Einschlußleute sind nicht menschlich.« Wyeths verspiegelte Sichtscheibe drehte sich zu ihr. »Sie hegen keine persönlichen Abneigungen.« Constance wandte den Blick ab, sah zu der immer kleiner werdenden Kälteschlafkonstruktion hinaus, drehte sich dann wieder um und sagte auf einmal hitzig: »Ich bin froh, daß sich unsere Wege beim Mars trennen!« Sie bückte sich, um nach den Fußringen zu greifen, und zog sich dann Hand über Hand zur Luftschleuse. Freeboy folgte ihr. Als sie fort war, sagte Wyeth leise: »Ich werde diese Frau vermissen.« Als Rebel am nächsten Tag zum Dorf kam, fand sie es verlassen vor. Spinnen hatten die Hütten in einen weißen Schleier gehüllt. Eine geflochtene Wand, die von ihrem Gerüst losgerissen war, wellte sich lautlos mitten auf dem Platz in der Luft. »Hallo?« rief sie. Kein Laut, nur das Summen der Fliegen. Alle Hütten waren leer, die Sachen darin weitgehend unberührt. Ein Pinsel, der in einem Faß mit hartgewordener Tinte steckte, schwebte bei Fu-yas Tür. Gefolgt von ihren beiden Samurais suchte Rebel all die gewundenen, markierten Pfade ab, die vom Dorf zu privaten Ansiedlungen, Lichtungen und dergleichen führten. Sie flogen ein Stück weit den Pfad mit dem roten Fetzen ab, dann den mit dem blauen, fanden jedoch nur noch mehr leere Hütten.
Rebel tat einen langen, zitternden Atemzug. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Angst wie ein lautloser Schatten durch die Tiefen der Orchidee strich. »Treece, was ist hier passiert?« Der zweite Samurai hielt Treece einen blutbefleckten Stoffetzen hin, zu dem ihn die Fliegen geführt hatten. Treece schob ihn beiseite und betrachtete einen zerbrochenen WetwareWafer. »Anwerber«, sagte er. »Sehr raffiniert, wer sie auch waren. Haben den Wachtposten ausgeschaltet und das Dorf umzingelt, ohne daß ihnen auch nur einer entkommen wäre. Haben sie zwangsrekrutiert und alle weggeschafft.« »Weg?« fragte Rebel. »Wohin? Warum?« Treece bog den Wetware-Wafer in seinen plumpen Fingern hin und her. Schließlich zuckte er die Achseln. »Na schön. Hauen wir ab und erzählen wir's dem Boss!« »Es gefällt mir nicht«, sagte Wyeth. »Sieh mal, es gefällt keinem von uns, aber es ist die einzige logische Vorgehensweise.« Würfel klickerten und klackerten wie besessen in seiner Hand. Er warf sie hin und nahm sie wieder auf. »Wir wissen nicht genau, ob es Wismon ist. Machen wir uns nichts vor – ich hab seit zwei Tagen nichts mehr aus den Tanks gehört. Nur Wismon kann meine Spione gefunden und zum Schweigen gebracht haben.« Sie standen im leeren Foyer des Sheraton. Wyeth hatte alle seine Samurais hinausgeschickt und den Raum verdunkelt, damit er nachdenken konnte. Das einzige Licht kam von der Orchidee draußen. »Was erörterst du denn da mit dir selbst?« fragte Rebel ärgerlich. »Meine Strategie.« Wyeth würfelte erneut. »Ich kann nicht
mit meiner Kriegerpersönlichkeit gegen Wismon antreten. Er könnte jeden meiner Züge vorhersagen. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu überraschen, nämlich wenn ich als Mystiker hingehe. Richtig?« Er wartete, und keine seiner anderen Stimmen ergriff das Wort. »Gut. Zumindest in diesem Punkt sind wir uns einig.« Er würfelte wieder. »Herrgott noch mal, was hast du bloß mit diesen Würfeln?« »Das ist ein Zufallszahlengenerator. Indem ich meine Taktik vom Zufall bestimmen lasse, verhindere ich, daß Wismon voraussieht, was ich tun werde. Die Würfel haben schon entschieden, daß es eine direkte Konfrontation auf seinem Territorium geben wird. Jetzt legen sie fest, wie viele Samurais ich mitnehme.« Er würfelte noch einmal und verstummte. In der Dunkelheit und der Stille kehrten Rebels Gedanken immer wieder zu Billy zurück. Seine Persönlichkeit war labil. Jeder plumpe Versuch, ihn zu reprogrammieren, würde ihn zerstören, weil dabei nicht nur seine Persönlichkeitsstruktur, sondern auch ein großer Teil seiner autonomen Kontrollsysteme zusammenbrechen würde. Das Beste, worauf er dann hoffen konnte, war die permanente Katatonie. Im schlimmsten Fall würde er sterben. »Sie werden die Kinder doch wohl nicht reprogrammieren, oder?« »Kommt drauf an«, erwiderte Wyeth geistesabwesend. »Sklavenhändler hätten das nicht nötig, sobald sie die Eltern erwischt haben. Aber wer kann das bei Wismon schon sagen? Wir wissen nicht mal, warum er's getan hat. Meine Leute sagen, dies ist das einzige Orchideendorf, das er angegriffen hat. Das ist doch kein Zufall.« Er holte tief Luft. »Gut. Es wird Zeit, dem Mann einen Besuch abzustatten.«
»Kann ich mitkommen?« fragte Rebel impulsiv. Wyeth würfelte und sah sich das Ergebnis an. »Ja.« Als der Fahrstuhl langsam zum zentralen Andockring hinauffuhr, fiel Rebel noch eine Frage ein. »Wie viele Samurais nimmst du mit?« »Keinen«, antwortete Wyeth düster. Dann erklang seine Schelmenstimme. »Das wird Wismon garantiert überraschen. Ich bin schon sehr gespannt, wie wir mit ihm fertig werden.« Sie flogen auf Besenstielen um die Orchidee herum. Als die Tanks größer wurden, sahen sie, daß die metallenen Außenwände mit leuchtenden Farblinien bedeckt waren – Bandenwappen, territoriale Markierungen, Drohungen und Warnungen, ein kleiner Propagandakrieg mit Graffiti. Es gab keinen Verkehr. Alle waren entweder geflohen oder in die Banden gepreßt worden. »Ich hab Angst«, sagte Rebel. Wyeth, der neben ihr flog, verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Ich auch.« Je näher Rebel den Tanks kam, desto unklarer wurden ihr ihre Motive dafür. Sie hatte helfen wollen, Billy zu retten, aber jetzt, wo es gleich hart auf hart gehen würde, kam ihr dieser Wunsch grundlos und närrisch vor. Sie hatte eigentlich gar kein so enges Verhältnis zu dem Jungen. Zweifellos machte er sich nicht viel aus ihr. Warum tat sie das also? Vielleicht, weil Eucrasia es nicht getan hätte. Sie stießen auf Tank Vierzehn hinab. Die Außentore der Luftschleuse waren bei einem Scharmützel in jüngster Zeit weggesprengt worden, und im Rost waren Detonationsspuren
zu erkennen. Danach zu urteilen, wie träge und sorglos ein paar undeutlich sichtbare Wachen im Innern schwebten, waren die Bandenkriege jedoch offenbar vorbei. Bei den Schleusentoren stießen sich Frauen mit glänzenden Augen aus den Schatten hervor, um ihnen die Besenstiele abzunehmen und sie nach Waffen zu durchsuchen. Die Frauen waren nicht nur im Gesicht, sondern auch am ganzen Körper mit biolumineszenten Tigerstreifen bemalt, und sie waren alle splitternackt. «Wir sind gekommen, um Wismon zu besuchen«, sagte Wyeth, als eine ein Programmiergerät zum Vorschein brachte. »Sagt ihm, daß sein Mentor mit ihm zu sprechen wünscht.« Die Frauen warfen sich rasche, verständnislose Blicke zu. Eine lächelte und leckte sich die Lippen. Sie hob das Programmiergerät wieder hoch, und Wyeth stieß es ungeduldig weg. »Hört zu, euer Boss wird nicht...« Die Frau fauchte, packte mit beiden Händen seinen Kopf und drehte ihn nach hinten. Wyeth grunzte vor Schmerz, als er herum wirbelte. Die Beine der Katzenfrau waren um seine Schenkel geschlungen, und ihre Hände umklammerten sein Kinn. Sie riß ihn zurück, und er schwebte hilflos in der Luft. Das alles geschah blitzschnell. »He!« stieß Rebel hervor, und dann hing sie in einem ähnlichen Griff. Sie konnte nicht sprechen und bekam kaum Luft. Sie versuchte, die Frau auf ihrem Rücken zu schlagen, aber sie war ungünstig zu erreichen, und ihre härtesten Schläge waren nur ein leichtes Tätscheln, wenn sie landeten. Mit jäh aufwallendem Entsetzen sah Rebel, wie die Katzenfrau Wyeth das Programmiergerät überstülpte und es einschal-
tete. Er versteifte sich. Das Gerät summte leise vor sich hin. Ich werde nicht zulassen, daß sie das mit mir machen, schwor sich Rebel. Eher sterbe ich. Sie zappelte im eisernen Griff der Frau, die sie festhielt. Die nicht direkt beteiligten Wachen sahen mit regem Interesse zu. Sie strichen ruhelos um die Schleuse herum, ohne je auch nur ein Wort zu wechseln; ihr Schweigen war unmenschlich. Zwei wären beinahe zusammengestoßen, schlugen jedoch geringschätzig und unachtsam die Hände gegeneinander und prallten voneinander ab. Schließlich leuchtete ein rotes Licht an dem Programmiergerät auf, und Wyeth wurde losgelassen. Er trieb mit totem Blick und teilnahmslos in der Luft. Die Frau wandte sich Rebel zu. »Kopf hoch, Sunshine!« Wyeth peitschte mit einem Fuß aus und trat der einen Katzenfrau das billige kleine Programmiergerät aus der Hand, direkt ins Gesicht der Frau, die Rebel festhielt. Einen Moment lang war sie frei. Sie wirbelte herum und schlug der Frau auf die Nase, so fest sie konnte. Blut schoß unter ihrer Faust heraus. Mittlerweile hatten sich ein Dutzend weitere Wachen auf sie gestürzt, und sie waren beide wieder Gefangene. Eine Frau holte das Programmiergerät zurück, nahm es auseinander und baute es wieder zusammen. Sie fuhr Wyeth mit einem Finger über die Stirn, brachte ihr Gesicht dann dicht an seines heran und schnüffelte an seinen Lippen. Sie sah verwirrt aus. Inzwischen hatten ihm andere die Handgelenke und Knöchel auf dem Rücken zusammengebunden und mit Rebel dasselbe gemacht. »Wyeth?« fragte Rebel. »Bist du okay?« »O ja«, sagte Wyeth. Zwei Wachen schlangen ihnen Seile um die Handgelenke und stießen sich ab. Sie wurden hinter ihnen
hergezerrt. »Das ist mein bester Trick. Als wir mich konstruiert haben, bekam ich Zugang zu meinem eigenen Metaprogrammierer. Immer wenn sie eine Persönlichkeit neu programmierten, programmierte eine andere Persönlichkeit sie wieder um.« »Oh.« Sie wurden durch die verlassenen Korridore der Tankstadt geschleppt. Ohne den ständigen Verkehr, der sie sauber hielt, waren die engen Gänge voller Müll. Die Blumen schienen das Halbdunkel kaum noch erhellen zu können, und die Stille hatte etwas Dröhnendes, wie stark abgeschwächte Echos eines fernen Baßgrollens. Der Gestank von Fäulnis und Verwesung war fast unerträglich. Sie wurden zu Wismon gebracht. »Ah, Mentor! Eine Überraschung, dich zu sehen, wie immer. Welche Freude!« Der fette Mann schwebte hinter einem Wachtrupp verdrossener Rude Boys. Seine wahnsinnigen kleinen Augen wurden von etwas verdunkelt, das in seinem Innern wütete. Ein dünner Speichelfaden hing an einem Mundwinkel und wehte leicht, wenn er redete. »Wie gefallen dir meine engelhaften kleinen Mädchen? Sind sie nicht allerliebst?« »Die sind wirklich toll«, sagte Wyeth. »Was hast du mit ihnen gemacht?« Die Frauen hinter ihm lösten seine und Rebels Fesseln. Bei Wismons Knöcheln waren zwei Ringpaare, und die Wachen knieten sich hinein und kauerten sich zu seinen Füßen hin. Er streckte die Hand aus, um einer unbeholfen den Kopf zu tätscheln, und sie bog vor Freude den Rücken durch. »Ich habe ihre Intelligenz gesteigert. Sie sind fast so klug wie ich. Ach, du brauchst nicht blaß zu werden. Ich habe sie außer-
dem der Sprache beraubt. Sie besitzen überhaupt keine symbolische Struktur. Sie können keine Pläne schmieden, können nicht komplex argumentieren und nicht lügen. Sie kennen nur die Instruktionen, die ich ihnen einprogrammiert habe. Ist das nicht wundervoll? Sie sind absolut unschuldig. Sie handeln nur nach ihrem Instinkt.« »Sie sind grotesk«, sagte Rebel. »Sie sind sehr schöne Tiere«, sagte Wismon tadelnd. »Einer ihrer Instinkte ist es, mir alles Ungewöhnliche zu bringen. Alles Interessante. Bist du noch interessant, Mentor?« »Ich hab mich immer gefragt, was für eine Gesellschaft du erschaffen würdest«, sagte Wyeth. »Ach, Schnickschnack. Ich vergnüge mich bloß ein bißchen. Ich habe nur drei Tage, bis wir den Mars erreichen, nicht wahr? Dann muß ich meine Spielsachen wieder einpacken und zu einem anständigen Leben ruhiger Kontemplation zurückkehren. Nur schade, daß ich so viel Zeit darauf verschwenden mußte, mit Cliquen schäbiger Krimineller fertigzuwerden. Die hätte ich für meine Forschungen nutzbringender verwenden können.« »Du willst alle wiederherstellen, die du mit Gewalt programmiert hast?« fragte Wyeth skeptisch. »O ja, absolut. Außer meinen Rude Boys natürlich. Die hatte ich schon, bevor das alles begann. Und ich glaube, ich werde meine schönen kleinen Mädchen behalten. Wie könnte ich es je übers Herz bringen, sie aufzugeben? Und dann sind da noch ein paar, die sich in Zukunft als nützlich erweisen könnten – aber genug davon! Habe ich schon meine Forschungen erwähnt? Nun, ich schmeichle mir, ein paar kleine Fortschritte gemacht
zu haben. Ich habe einen Garten – nein, eine Menagerie neuer Charaktere erschaffen. Vielleicht hättet ihr Lust auf eine kurze Besichtigungstour zu den Höhepunkten?« »Nein.« »Schade. Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, wo du nicht so verächtlich auf wissenschaftliche Bemühungen herabgeblickt hast.« »Damals war ich noch jung.« »Moment«, sagte Rebel impulsiv. »Ich würde mir gern ansehen, was Sie gemacht haben.« Wyeth drehte sich erstaunt zu ihr um. »Sieh an! Ein origineller Gedanke. Sie entzücken mich, Miss Mudlark. Ich werde Ihnen nichts abschlagen.« Wismon breitete die Arme aus, und die Katzenfrauen stellten sich darunter. Jede streckte einen Arm aus, um seinen ungeheuren Rücken zu stützen. »Wo ist mein Zoowärter? Holt ihn zu mir!« Ein mürrischer Rude Boy verschwand in einem überwölbten Torweg. Einen Moment später kam er zurück, gefolgt von einem jungen Mann, dessen Bemalung ihn als Angehörigen eines Wetware-Forschungsteams auswies. »Maxwell!« rief Rebel. »Ich wußte, daß du einen Spion in meiner Organisation haben würdest«, sagte Wyeth mit einem Anflug von Traurigkeit. »Hast du ihn gekauft oder bloß reprogrammiert?« »Oh, ich versichere dir, er hat nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt, sondern nur aus Liebe. Du liebst mich doch, Maxie, nicht wahr?« Maxwell nickte eifrig und mit verzücktem Gesicht. Seine Miene war auf einmal so leidenschaftlich und so vertraut, daß
Rebel wegschauen mußte. »Führe uns zu deinen Schützlingen«, sagte Wismon. »Ich fange an, mich zu langweilen.« Die Gruppe schwebte aus dem Hof hinaus. Maxwell führte sie, gefolgt von Wismon und seinen Katzenfrauen. Sie manövrierten ihn mit federleichten Tritten gegen die Wände und Griffen an die Seile voran. Als nächstes kamen Rebel und Wyeth, die von ein paar Rude Boys als Wache eskortiert wurden. Sie gelangten an eine Stelle, wo sich mehrere Gänge trafen, und hielten an. »Was soll ich euch zeigen? Ich habe meine Geschöpfe nach Typen geordnet. Hättet ihr Lust, durch den Tunnel der Angst zu fliegen? Wollt ihr lieber den geraden, schmalen Weg der Disziplin nehmen? Oder vielleicht würde euch zwei Turteltäubchen ein kleiner Bummel durch das Seufzergäßchen Spaß machen.« Sie sagten nichts, und Wismon wedelte mit einer aufgequollenen, rosaroten Hand zu einem Korridor. »Dann nehmen wir den Korridor der Illusion. Ich habe da etwas, das ich meinem lieben Mentor besonders gern zeigen würde.« Sie schwebten am roten Seil entlang zu einem nichtssagenden Hof. Auf ein Wort von Wismon hin führte Maxwell sie hinein. Es war still dort. Ein Mann saß mit gesenktem Blick in der Tür seiner Hütte, als ob er in Gedanken vertieft sei. Er war an einen kleinen Transcorder angeschlossen. »Cousin!« rief Wismon. »Sam Pepys!« Der Mann rappelte sich auf und hielt sich im Türrahmen fest. »Mein Lord!« sagte er. »Es ist mir eine Ehre, Euch in der Seething Lane begrüßen zu dürfen.« Er machte eine schwungvolle Handbewegung zu einem Tisch, der nur in seiner Einbil-
dung vorhanden war. »Ich war gerade mit Euren Büchern beschäftigt.« »Samuel Pepys war Buchhalter der britischen Kriegsmarine auf der Erde im siebzehnten Jahrhundert«, erklärte der fette Mann Wyeth. »Ein lächerlicher kleiner Kerl, aber auf seine Weise durchaus fähig. Ein recht guter Tagebuchschreiber. Der Transcorder füttert ihn mit einem Wafer voller Hintergrundinformationen. Seine einzige Verbindung zur realen Welt bin ich. Er hält mich für seinen Verwandten Edward Montagu, den Earl von Sandwich. Hab ich nicht recht, Samuel?« Der Mann lächelte würdevoll und verbeugte sich. Er war offensichtlich erfreut. »Zuviel der Ehre, Eure Lordschaft. Werdet Ihr zum Dinner bleiben? Mr. Spong hat einen Haufen eingelegte Austern vorbeibringen lassen. Ich werde das Mädchen schikken, sie zu holen. Jane! Wo ist diese faule Schlampe?« Er schaute verdrießlich über die Schulter und brachte dabei die Transcorder-Kabel zum Schwingen. »Das ist ein ganz simples Illusionssystem«, sagte Rebel. »Reiche Leute zahlen bekanntlich gut für zwei Wochen in so einer Illusion. Ich hab selbst ein paar derartige Ferien organisiert.« Das war während Eucrasias Praktikum gewesen, erinnerte sie sich. Es war eine stumpfsinnige Arbeit gewesen, eine Programmiererei wie Plätzchenausstechen, aber (da in der Grauzone des Halblegalen) lukrativ. »Ah, aber doch immer unter sensorischer Deprivation, hm? Sonst schleichen sich kleine Ungereimtheiten aus der realen Welt ein.« Eine Katzenfrau erforschte den Hof. Sie schnüffelte neugierig an Pepys' Schritt. Er bemerkte es nicht. »Mitten in der Schlacht bei den Thermopylen verdunkelt ein Stadtkanister die
Sonne. Auf dem unberührten Schnee der Arktis leuchtet eine einsame Papaya im Licht einer fremden Welt. Stück für Stück zerbröckelt die Traumwelt zu Paranoia und Alptraum. Aber das Schöne an diesem System ist seine Flexibilität. Es kann jede Menge Ungereimtheiten rechtfertigen. Samuel, mir sind letzte Woche eine Menge Brontosaurier in den Straßen von London aufgefallen.« Pepys runzelte die Stirn. »Brontosaurier, mein Lord? Die … ah, die großen Echsen aus der Vorzeit, meint Ihr die?« »Aye, Samuel, drei allein in Whitechapel, und zwei weitere beim Exchange Court. Unten bei St. Paul's sind die Straßen von ihrem Kot verschmutzt. Was hältst du davon, Cousin?« »Nun, es wird wohl einen sehr kalten Winter geben«, antwortete Pepys. »Dies Getier wagt sich nie in so großer Zahl heraus, wenn das Wetter trocken und mild wird.« »Ich sehe nicht, was das alles soll«, sagte Wyeth steif. »Geduld. Samuel, schüre das Feuer, ja?« Pepys gehorchte. Er griff nach einem eingebildeten Schürhaken und rührte in den Scheiten und der Asche einer nicht vorhandenen Feuerstelle. Die Mimik war so perfekt, daß Rebel fast sein muffiges kleines Zimmer sehen und die monoton starke Schwerkraft fühlen konnte. »Samuel!« rief Wismon plötzlich. »Ein Stück Kohle ist auf deinem Handrücken gelandet. Es verbrennt dir die Haut!« Mit einem Schmerzensschrei kippte Pepys hintenüber und wedelte mit seiner Hand. Während er sich langsam in der Luft drehte, führte er die Hand zum Mund und saugte daran. Auf ein Zeichen von Wismon hin hielten ihn zwei Rude Boys fest, bis er wieder ruhig in der Schwebe hing.
»Komm her, Cousin. Zeig mir deine Hand!« Pepys streckte eine Hand aus, die vor Schmerz zitterte. Ein kreisrunder, knallroter Fleck auf dem Handrücken schwoll an. Unter ihren Augen bildeten sich auf der verbrannten Stelle bläulich weiße Blasen. Wismon lachte. »Glaube! Nur der Glaube hat diese Hand verbrannt. Denkt darüber nach! Es gibt einer alten Theorie neue Nahrung, daß alles, was wir erleben, von vornherein nur Illusion ist, nicht wahr?« Er streichelte die Hand zärtlich und öffnete dabei die Blasen. »Aber Samuel nimmt unsere Illusionen nicht wahr, sondern nur diejenigen, die man in ihn hineinpumpt. Das einzige, was zwischen ihm und der Realität steht, ist ein dünner Wafer mit einem elektronischen London. Mal sehen, was passiert, wenn wir diesen letzten Schleier entfernen.« Maxwell hielt den Transcorder für Wismon hoch, der den Zugring des Wafers geziert zwischen Daumen und Zeigefinger nahm. »Samuel?« »Mein Lord?« »Sag mir, was du siehst.« Er zog den Wafer heraus. Pepys versteifte sich und riß die Augen weit auf. Sie wurden starr, und sein Blick ging in die Unendlichkeit. »Die Wände! Die Wände lösen sich auf wie Rauch! Ich kann durch die Decke, die anderen Zimmer und das Dach zu den Wolken darüber sehen … Nein, der Himmel wird auch durchsichtig, und die Sterne leuchten hell und ohne zu blinken … Aber jetzt verblassen sie ebenfalls. Ich sehe …« »Was siehst du, Sammy?« Einen sehr langen Moment war Pepys still. Dann sagte er: »Musik. Ich sehe die Musik der kristallenen Himmelssphären.«
Er begann leise zu weinen. Wismon kicherte. »Total wahnsinnig. Ich hätte ihn ebenso leicht sterben lassen können. Kommt! Dies ist nur der Prolog für das, was ich dir in Wirklichkeit zeigen will, Mentor.« Sie schwebten hinaus und ließen Pepys zurück, der mitten auf dem Hof in der Luft hing. Er weinte und weinte. In der ersten Hälfte des Korridors zögerte Maxwell bei jedem Torweg und wurde weitergewinkt. Dann nickte Wismon, und Maxwell zog eine Blechplatte beiseite. Sie schwebten in einen Hof. Auch hier gab es nur einen einzigen Bewohner, einen Mann. Er hatte ein höfliches Gesicht mit einem riesigen Zinken von einer Nase. Er hockte auf einem Seil und sah wie ein plumper Vogel aus. Als sie hereinkamen, blickte er auf und lächelte. »Hallo«, sagte er. »Und gleich so viele.« »Ja, ich habe ein paar Freunde mitgebracht, die dich mal anschauen wollen«, sagte Wismon. »Du hast doch nichts dagegen?« »Aber nein.« »Fragt ihn!« befahl Wismon. »Na schön«, sagte Rebel nach einer Pause. »Wissen Sie, wo Sie sind?« »Das war früher mal Königin Lurlines Hof. Sie ist jetzt weg. Ich bin der einzige hier. König Wismon betrachtet mich als ein Experiment mit rekursiver Persönlichkeit.« Die Augen des Mannes funkelten heiter. »Wissen Sie, wer Sie sind?« »König Wismon nennt mich Nase. Aus augenfälligen Gründen.« Er rieb sich seine fleischige Nase und gluckste. Rebel sah
Wyeth an und zuckte die Achseln. Der grundlose, irrationale Humor des Mannes hatte etwas Verqueres, aber weder in ihren Erfahrungen noch in denen Eucrasias fand sich eine Erklärung dafür. Wyeth schaute nachdenklich drein. »Mal sehen. Du hast mir diesen letzten Burschen gezeigt – Pepys? –, um zu demonstrieren, was für ein perfektes Illusionssystem du erschaffen kannst. Also muß dies hier noch eine Weiterentwicklung sein. Was geht einen Schritt über die Illusion hinaus?« Er schnippte mit den Fingern und warf Rebel einen Blick zu. »Die Realität!« Sie verstand seinen Hinweis. Er bezog sich auf etwas, was sie damals gesagt hatte, als er frisch programmiert gewesen war und sie seine Persönlichkeit auseinandernehmen und noch einmal von vorn anfangen wollte. Es sei schon schwer genug, mit Illusionen umzugehen, hatte sie gesagt, aber mit einer allzu lockeren Einstellung zur Realität fertig zu werden, sei noch schwerer. »Sie glauben nicht, daß das, was Sie sehen, real ist, nicht wahr?« Nase strampelte vor Freude. Er mußte sich am Seil festhalten, um nicht wegzutreiben. »Oh, das ist höchst amüsant. Wirklich!« »Nase ist ein Prototyp des perfekten Bürgers«, erklärte Wismon. »Seine wahre Persönlichkeit ist ganz und gar vor der Außenwelt verborgen. Seine Oberflächenpersönlichkeit ist ein völlig widerspruchsfreies Spiel, das die verborgene Persönlichkeit spielt. Er glaubt, daß er träumt. Für ihn ist seine gesamte Vergangenheit ein irrationales Konstrukt, das gerade erst entstanden ist. Deshalb leugnet er eine Kontinuität, ist aber fähig, in ihrem Rahmen zu handeln. Er wird alles akzeptieren und
alles erdulden, weil nichts davon real ist. Was mir die Freiheit gibt, seine Träume zu kontrollieren. Ganz gleich, was geschieht, er gehorcht glücklich allen Befehlen, die man ihm gibt. Stimmt's, Nase?« Nase nickte fröhlich. »Na schön«, sagte Wyeth säuerlich. »Ich stelle dir die Frage, die du von mir hören willst. Warum zeigst du mir diese Kreatur?« »Oh, das ist der allerbeste Witz. Nase, warum sagst du uns nicht, wer du bist, wenn du nicht träumst?« »Soll ich?« Nase lachte. »Na, was macht es schon? Mein Name ist Wyeth. Ich war vor einigen Jahren Wismons Mentor, und jetzt bin ich sein Feind. Deshalb träume ich von ihm. Er gerät außer Kontrolle. Ich werde bald etwas wegen ihm unternehmen müssen. Wahrscheinlich muß ich ihn sogar vernichten. Vielleicht wird mir dieser Traum den Plan zeigen, nach dem ich vorgehen muß.« »Das war deine Mystikerstimme«, sagte Wismon. »Möchtest du deine anderen Stimmen hören? Ich kann sie aus der Tiefe heraufholen, wenn du willst.« »Nein«, sagte Wyeth. »Nein, ich … nein.« Er war aschfahl. »Das hast du also mit mir vor, nicht wahr?« »Wovon redet ihr beiden?« fragte Rebel. Wismon sprach die Worte spöttisch zugleich mit ihr aus, aber sie beendete den Satz trotzdem. »Bitte bemühen Sie sich doch, nicht ganz so durchschaubar zu sein, Miss Mudlark. Mein Mentor hat gerade erkannt, daß ich das gleiche wie mit seiner Simulation auch mit ihm machen kann, Metaprogrammierer hin und her. Ich kann alles aus ihm
machen, was ich will. Aber der Witz geht noch viel tiefer: Dieser Mann ist vielleicht gar nicht mein Mentor, sondern nur ein armer Tor, den ich darauf programmiert habe, das zu glauben. Vielleicht ist Nase hier der echte Wyeth. Vielleicht ist es keiner von beiden.« »Wyeth ist Wyeth«, sagte Rebel kalt. »Wenn er seinem eigenen Selbstgefühl nicht vertrauen kann, dann gebe ich ihm gern mein Wort darauf.« »Ah, aber woher weiß er, daß Sie existieren? Schließlich kontrolliere ich den Traum.« Nase lachte entzückt. »Eins verstehe ich nicht«, sagte Wyeth. »Wie hast du das alles in so kurzer Zeit erreicht? Du bist ein brillanter Planer, aber du hast nicht die Programmierkenntnisse, um die Persönlichkeiten zu schreiben. Wo hast du die Programmierer her? Allein in diesen beiden Charakteren stecken doch schon Monate detaillierter Arbeit.« »Jetzt schließt sich der Kreis«, sagte Wismon. Er zeigte mit dem Finger auf Maxwell, der durch den Torweg verschwand. »Du hast noch nicht davon gesprochen, warum ihr mein Reich überhaupt betreten habt, aber das war natürlich auch gar nicht nötig. Ihr wolltet das kleine Genie zurückholen, das ihr dem Einschluß weggenommen habt.« »Ja, wir sind wegen Billy gekommen.« »Du hast nie untersucht, was für Fähigkeiten er besitzt. Sehr unachtsam. Für mich lagen die Möglichkeiten klar auf der Hand. Kennst du den Jargonausdruck ›Klempner‹? Damit ist jemand gemeint, der eine natürliche Begabung für die Mechanik der Wetware-Schaltungen hat. Bei diesem Kind ist der
Instinkt um das Zwei- oder Dreifache potenziert. Es ist außergewöhnlich begabt – ein Superklempner, wann man so will. Ich brauche nur zu beschreiben, was ich haben will, und der Junge kann es zeichnen.« Maxwell kam mit Billy Überläufer an der Hand zurück. Hinter ihm kamen Fu-ya und Gretzin, und an ihren ängstlichen Mienen konnte Rebel erkennen, daß man sie nicht angerührt hatte, damit sie sich um ihn kümmern konnten. »Ich trage mich schon seit einer Weile mit einer Idee, Mentor, und ich glaube, sie trägt nun endlich Früchte«, sagte Wismon. Maxwell gab dem Kind einen Dokuspeicher. »Billy. Zeig uns die Karte, die wir von meiner Persönlichkeit angefertigt haben.« Billy sah Gretzin an, und sie nickte. Er berührte die Oberfläche des Dokuspeichers, und ein riesiges Wetware-Diagramm erfüllte den ganzen Hof mit einem grünen Netzmuster. Schon mit bloßem Auge konnte man Zehntausende von Verästelungen sehen. »Überprüf noch mal, ob sie einen Haken hat, ja?« Billys Finger tanzten. Ein kleiner roter Cursor schoß durch den Hof, folgte den Hauptarmen der Persönlichkeit und ging dann zu den zweit- und drittrangigen Schaltkreisen über. Er bewegte sich mehr als eine Minute lang zu schnell, um ihm mit den Augen zu folgen, dann stoppte er. Das Kind mit dem ernsten Gesicht sagte: »Kein Haken.« Wismon lächelte. »Nun, es war unvermeidlich, daß du früher oder später zu dem Schluß kommen würdest, ich bluffe«, sagte Wyeth. »Aber Tatsache ist, daß ich es nicht tue. Du möchtest es glauben, weil
du nicht akzeptieren willst, daß ich dir überlegen bin. Aber ich könnte dich hier und jetzt mit einem einzigen Wort vernichten.« »Dann tu's doch!« sagte Wismon. »Mitten in deinem ausgeflippten Wanderzirkus hier?« Wyeths Stimme klang ätzend. »Vergiß es! Die würden mir den Kopf abreißen.« Schwere Lider senkten sich langsam über Wismons Augen, bis es fast so aussah, als ob er einschlafen würde. All seine Muskeln erschlafften zu völliger Reglosigkeit. Dann sagte er durch Lippen, die sich kaum bewegten: »Jeder hier hat meinem Mentor voll und ganz zu gehorchen, ganz gleich, was er euch zu tun befiehlt. Nur meine direkten Befehle haben Vorrang vor seinen. Versteht ihr? Wir beide werden uns jetzt unterhalten. Alle anderen warten draußen.« Zwei Rude Boys packten Rebel an den Armen und zogen sie mit durch den Torweg. »Bist du jetzt zufrieden?« fragte Wismon. Aber Rebel war bereits draußen und konnte Wyeths Antwort nicht mehr hören. Zeit verstrich. In der Stille des Korridors tigerten die Katzenfrauen am Seil auf und ab, unaufhörlich fasziniert von ihrer ewig neuen Welt. Ihre Bewegungen kamen Rebel unerträglich langsam vor, als ob sie durch einen allmählich erstarrenden Honigstrom schleichen würden. Einer der Rude Boys brach in eine Hütte ein und kam mit dem Spitzenkragen einer Frau um den Hals heraus. Er machte sich zurecht und posierte, während die anderen lachten. Hin und wieder sah einer von ihnen Rebel mit sehnsüchtigen Träumen von Gewalt in den Augen an. Nase kicherte in sich hinein.
Endlich erzitterte die Metallplattentür und schwang ächzend auf. Wyeth schwebte aus dem Hof heraus und zeigte auf Fu-ya, Gretzin und Billy. »Bringt diese Leute zum Sheraton!« befahl er den sprachlosen Rude Boys. »Die Katzenfrauen können hier warten.« Er nahm Rebels Arm, stieß sich ab und flog mit ihr den Korridor hinunter. Maxwell starrte ihm ungläubig nach und tauchte dann in den Hof. »Dann hast du also nicht geblufft. Du hast wirklich einen Haken bei ihm eingebaut«, sagte Rebel erstaunt. Wyeth schüttelte den Kopf. »Man braucht keinen Haken, um eine Persönlichkeit zu zerstören, wenn man ihre Schwächen gut genug kennt. Wismons blinder Fleck war seine Eitelkeit. Er mußte beweisen, daß er mich auf meinem eigenen Gebiet schlagen konnte. Dabei hat er das Offensichtliche übersehen.« »Aber was hast du getan ?« »Ich hab ihm das Genick gebrochen«, sagte Wyeth. »Komm, ich will nicht drüber reden.« Hinter ihnen fand Maxwell die Leiche und schrie auf. Wyeths Samurais brauchten einen vollen Tag, um die Tanks von Wismons Kreaturen zu säubern. Zu zweit oder im Dutzend wurden sie kleckerweise zum Sheraton gebracht, um wiederhergestellt zu werden. Ohne Billy Überläufer wäre das unmöglich gewesen. Wie durch Zauberei entstanden unter seinen Fingern die komplizierten Programme, die man brauchte, um die beschädigten Persönlichkeiten zu reparieren. Fu-ya oder Gretzin konnten das Kind dazu bewegen, zwei oder drei Stunden lang zu arbeiten, bis es bockig wurde. Dann ließ man es eine Weile spielen, bevor man es wieder an die Arbeit setzte. Zweimal
schlief es eine Nacht durch. Rebel justierte ein Programmiergerät, legte den therapeutischen Wafer ein, wandte sich der nächsten Rollbahre zu und stellte fest, daß sie fertig waren. Sie streckte sich und sah sich im Konferenzraum um. Wo der Ziergarten gewesen war, hatte Constances Team den Boden wieder mit Rasen bedeckt und ein Krocketfeld angelegt. Darüber dehnte sich monoton ein uralter, rosaroter Marshimmel. Es war vierzig Stunden her, daß sie zuletzt geschlafen hatte. »Weißt du was? Ich glaube nicht, daß ich je wieder ohne Abscheu an diesen Raum denken kann.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Wyeth. Mit einem Seufzen setzte er sich langsam hin. Ein aufmerksamer Pierrot schob ihm gerade noch rechtzeitig einen Stuhl unter den Hintern. »Ich bin auch von dem Drang kuriert, neue Charaktere zu erschaffen. Ich meine, wenn man sich anschaut, was für Monstrositäten Wisman hervorgebracht hat!« »Ja, das war für uns beide ziemlich hart. Aber ich finde trotzdem, daß neue Charaktere nötig sind, wenn sich die Menschheit der Herausforderung durch die Erde stellen will. Wir können nicht einfach mit einer Wetware in die Zukunft gehen, die irgendwann im Neolithikum entwickelt worden ist, und erwarten …« Seine Stimme verklang, und er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. »Zum Teufel, ich bin zu müde, um darüber zu reden.« Gretzin kam vom Goldfischbach zurück, wo Billy gespielt hatte. Das Kind lag schlaff in ihren Armen; sein Kopf hing über ihrer Schulter. Als sie die beiden dort sitzen sah, sagte sie: »Seid ihr jetzt fertig mit Billy?« »Oh«, sagte Wyeth matt. »Okay, klar. Warum legen Sie ihn
nicht irgendwohin, dann können Sie den Zahlmeister aufstöbern und sich Ihr Geld geben lassen. Ich sorge dafür, daß ihr das Doppelte kriegt. Ihr habt's verdient, nach allem, was ihr durchgemacht habt.« »Ja, okay«, meinte Gretzin. »Ich sag euch was, ich nehme Billy erst mal mit ins Dorf und hole seine Sachen. Fu-ya ist gerade dort und sucht sie zusammen. Bilder und all solches Zeug. Dauert höchstens eine Stunde. Ich hole mir meinen Lohn, wenn ich zurückkomme.« »Fein.« Wyeth entließ sie mit einer Handbewegung, und Gretzin ging hinaus. »Bin gleich wieder da«, sagte Rebel und folgte ihr. Sie holte Gretzin im Foyer ein. Billy lag schlafend an ihrer Schulter. Er sah wie ein glatzköpfiger Engel aus. »Hören Sie«, sagte Rebel. »Sie können meinen Besenstiel nehmen, der ist schneller als die anderen. Ich hab ihn an der Nabe festgemacht.« Gretzins hartes Gesicht verzog sich fast zu einem Lächeln, und sie beugte sich vor und streifte Rebels Wange mit Lippen, die so trocken waren wie alte Blätter. »Leb wohl«, sagte sie und trat in den Fahrstuhl. Ein paar Minuten später, als sie wieder im Konferenzraum war, richtete Wyeth sich plötzlich auf. »Hey! Wieso muß sie Billy mitnehmen, um seine Sachen zu holen? Sie hätte ihn hier schlafen lassen können, während sie das tut.« Er ging in eine andere Stimmlage über, um eine Intercomleitung anzuwählen. »Ist die Frau aus dem Dorf dort durchgekommen?« »Ja, Sir«, antwortete ein Samurai. »Sie ist vor rund fünf Minuten mit einem Besenstiel zur Orchidee geflogen.« »Verdammt!« Wyeth kam taumelnd auf die Beine.
»Wyeth«, sagte Rebel, »laß sie gehen!« »Wovon redest du? Dieser Junge hat eine glänzende Zukunft vor sich. Es wäre kriminell, ein Talent wie seins brachliegen zu lassen. Wir können ihn doch nicht ohne irgendeine Ausbildung in den Slums aufwachsen lassen.« Als sie bei der Orchidee anlangten, fanden sie Rebels Besenstiel verlassen an ihrem Rand vor. Die Wegmarkierungen waren fort. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine undeutliche, ferne Gestalt einen letzten Stoffetzen losmachte und im Halbdunkel verschwand. Niemand würde das Dorf je wiederfinden.
9 Deimos DIE GEODÄTE RASTE AUF DEN MARS ZU. Während der letzten Stunde ihrer Reise wurde der stürmische rote Planet von einer Faust zu einem Teller und dann noch größer. Deimos kroch demütig auf den Mittelpunkt des Planeten zu; dann wuchs er plötzlich zu einer Größe heran, gegen die der Mars zwergenhaft wirkte, und verdunkelte ihn schließlich. Für die Gruppe, die sich das Schauspiel über das Intercom im Foyer anschaute, sah es so aus, als ob sie jeden Moment mit dem plump wirkenden Mond zusammenstoßen würden. Dann löste die Geodäte einen magnetischen Trigger aus und schoß in den wartenden Transitring. Der Ring beschleunigte den Raum, durch den sie flog, auf die gleiche Geschwindigkeit wie die der Geodäte, nur in entgegengesetzter Richtung. Und da blieb sie nun. Der Einschluß begann den Ring zu demontieren. Im Sheraton brachen die komplett versammelten Angestellten, von Constance Frog Moorfields bis zum kleinsten Pierrot, in Jubelgeschrei aus. Eine Percussion-Gruppe mit Stahlrohren begann zu spielen, und die Zahlmeister machten ihre Lohnkassen auf. Von den Weincontainern wurden die Verschlüsse abgeschraubt. »Tja«, sagte Wyeth traurig, »das wär's.« Rebel umarmte ihn flüchtig. Ein paar Minuten später kam eine Gruppe von fünf Bürgern in die Geodäte, um sie in Besitz zu nehmen. Sie trugen schim-
melgraue cache-sexes, dazu passende praktische, mit zusätzlichen Riemen, Schlingen und Packgurten versehene Umhänge sowie kniehohe Schwerkraftstiefel. Nach den feinen Linien der Bemalungen im Eros-Cluster wirkte die Volksbemalung plump und reizlos. Ein schlichtes grünes Dreieck bedeckte Nase und Augen. Unter den Dreiecken saßen humorlose Münder. Die Gruppe besichtigte das Sheraton in mißbilligendem Schweigen. Schließlich sagte ihr Anführer, ein Mann namens Stilicho: »Ich glaube, es entspricht dem, was wir vertraglich vereinbart hatten.« »Gut. Dann werden Sie also ein Mitglied des Stavka holen, an den ich meine Befehlsgewalt abtreten kann?« fragte Wyeth. Eine streng dreinblickende junge Frau schürzte verächtlich die Lippen. »Ihr Außenseiter mit eurem Führerkult! Der Stavka ist nur eine gesetzgebende Körperschaft, die willkürlich durch das Los ermittelt wird. Das Volk wird jede rechtliche Verpflichtung akzeptieren, die von irgendeinem Bürger eingegangen wird.« Sie hatte ein langes Kinn, graues, kurzgeschnittenes Haar und einen muskulösen Körper mit keck hervortretenden Brustwarzen, hellrot wie Rosenknospen. »Das mag schon sein«, sagte Wyeth. »Meine Vorgesetzten verlangen aber trotzdem ein Mitglied des Stavka. Ich fürchte also, daß euer Wort nicht genügen wird.« »Das reicht«, sagte Stilicho ungeduldig. »Ich bin selbst vom Stavka. Ich werde alle Verantwortung übernehmen.« »Darf ich Ihren Ausweis sehen?« »Nein.« Stilicho und Wyeth starrten sich an. Wyeths Gesicht war das des Kriegers. Mit ihren fest zusammengebissenen Zähnen und
den funkelnden Augen erinnerten die beiden Rebel an nichts so sehr wie an zwei tropische Affen, die in einen stummen Streit um ihr Territorium verstrickt waren. Schließlich legte Wyeth den Kopf schief und zeigte grinsend die Zähne. »Ach, zum Teufel, Stilch, Ihr Wort reicht mir«, sagte er. »Ich bin nicht so anmaßend.« Bevor Stilicho darauf antworten konnte, sagte Rosenknospen: »Ich übernehme das.« Sie hakte Wyeth unter und steuerte ihn von ihrem Anführer weg. »Wir werden ein paar Tage brauchen, um dieses Projekt zu übernehmen. In der Zwischenzeit wird das Volk Ihnen Quartiere auf Deimos zur Verfügung stellen.« Sie warf Rebel einen Blick zu und ergänzte: »Und Ihrem Personal ebenfalls.« »Warum können wir nicht im Sheraton bleiben?« fragte Rebel. »Ihr bekommt die gleichen Unterkünfte wie unsere Bürger«, erwiderte Rosenknospen kalt. »Na gut, das klingt vernünftig.« Wyeth hatte seine Persönlichkeit wieder gewechselt. Er beugte sich über seine Datenkontrollen. Sein abwesender Blick verriet, daß er bereits völlig mit Arbeitsplänen und der Organisation der anstehenden Aufgaben beschäftigt war. »Rebel, warum läßt du unsere Sachen nicht schon mal rüberschaffen und irgendwo hinbringen? Ich komme nach, sobald ich kann.« Rebel nickte stumm. Aber sie zögerte noch einen Moment lang und musterte Rosenknospen. Die Frau nahm ihre Hand von Wyeths Arm und ließ ihren Blick durch das Foyer schweifen. Bei der Programmierung dieser reservierten Bürgerin war es schwer zu sagen, was sie denken mochte.
»Erstens, diese Feier«, sagte Rosenknospen. »Dieser unprogrammierte Müll muß aufgeräumt werden.« Die Geodäte war in den Randbezirken eines riesigen orbitalen Slums geparkt, der von Deimos dort festgehalten wurde. Farmen, Fabriken, Tankstädte und Raddörfer drängten sich um den unsymmetrischen Felsbrocken herum, der offenkundig kein echter Mond war, sondern ein Asteroid, der vor undenklichen Zeiten vom Mars eingefangen worden war. Es war alles Schrott; in dem ganzen Haufen gab es weder eine Kanisterstadt noch ein anderes größeres Gebilde. Rebel nahm zusammen mit Stilicho und der anderen Bürgerin, die nicht direkt mit der Übergabe zu tun hatte, einen Hopper mit Stehplätzen. Der Flug war lang und wegen Stilichos ruppiger Fliegerei auch ziemlich unangenehm. Hin und wieder wich er mit abrupten Schwenks plötzlich auftauchenden künstlichen Objekten aus. Anscheinend führte die Volksmiliz nur eine rudimentäre Verkehrslenkung durch. Als der Hopper auf Deimos zuflog, erhoben sich Säulen von der Oberfläche des Mondes; sie waren fadendünn und glänzten wie Spiegel. Sie stiegen Hunderte von Kilometern in die Höhe, bogen sich dann auf langen Stielen wie Tornados und weiteten sich ein wenig, als sie vom Gravitationsfeld des Mars angezogen wurden. »Was, zum Teufel, ist das denn?« fragte Rebel und mußte dann nach den Haltestangen greifen, als Stilicho den Hopper abrupt vor einer hochsteigenden Säule abschwenken ließ. »Staub«, brummte Stilicho. Er legte die Kontrollen hart zu einer Seite um und zog sie dann genauso schnell wieder zurück.
»Pulverisiertes Gestein«, ergänzte Vergillia. »Erzabfälle von unseren Berg- und Tunnelbauoperationen, die von Massetreibern nach oben geschickt werden. Der Staub bekommt eine elektrostatische Ladung, wird polarisiert und dann mit rund siebenhundertzwanzig Phasenschüben pro Greenwich-Sekunde nach draußen geschossen, eine so hohe Rate, daß es wie ein kontinuierlicher Strom aussieht.« Die Frau erwärmte sich für ihr Thema. Rebel wandte den Blick ab und brachte sie damit zum Schweigen. Etwas an diesem fanatischen Geleier rief bei ihr einen Juckreiz hervor. »Wann lassen Sie sich zur Bürgerin programmieren?« fragte Stilicho. »Das haben Sie mich schon dreimal gefragt. Warum lassen Sie's nicht endlich darauf beruhen?« »Sie haben mir noch keine befriedigende Antwort gegeben.« Stilicho machte eine gereizte Handbewegung. »Ausflüchte, Gerede, Worte, die nichts besagen! Wenn Sie sich programmieren lassen, sobald wir auf Deimos sind, können Sie morgen anfangen zu arbeiten. Ein Schwarm von Eisasteroiden kommt auf uns zu, und die Sätrupps können immer jemand brauchen.« Er ließ die Projektion eines Eisasteroiden – ein schmutziges Ding mit mehr Kohlenstoff als Wasser – mitten im Hopper erstehen. Ein Bergarbeiterlager klammerte sich an die Oberfläche, und im Innern leuchteten Linien, die Schächte, Stollen und Strecken bezeichneten. »Die kleinen Dreiecke stellen Sporenpäckchen dar. Sie sind nicht größer als Ihr Daumen, aber zu Hunderten überall im Eis verteilt. Die Sterne stellen Bakterienladungen dar, die in Splitterkammern untergebracht sind.« Rebel schaute durch die längliche Sichtscheibe des Hoppers
auf die gewundenen Staubsäulen. Die Bergbautechnik von VolksMars war so hochentwickelt, daß sie nicht folgen konnte, und seine Biotechniken waren antiquiert; sie stammten noch vom Anfang des Jahrhunderts, als die ersten Kometen besät worden waren. Es gab keinen mittleren Bereich in diesem Vortrag, nichts, was sie möglicherweise interessieren könnte. Vergillia sah, wie sie die Staubsäulen anblickte, und faßte ihr ausweichendes Verhalten fälschlicherweise als Interesse auf. »Sie sehen hier eine sehr elegante Nutzbarmachung unserer Ressourcen«, erklärte sie. »Der Abfallstaub wird in einen von zwei marssynchronen Orbits geschossen und bildet dort Spiegelwolken, die zusätzliches Sonnenlicht auf die Oberfläche reflektieren. Die Gesamtisolation wird auf diese Weise um fast zehn Prozent gesteigert.« Währenddessen redete Stilicho fortwährend weiter. »Die Eisasteroiden kommen praktisch von vorn auf den Mars zu und schlagen entgegen der Drehrichtung mit der Gewalt von Fusionsbomben ein … Da der Orbit nicht permanent ist, verlieren wir mit der Zeit unvermeidlicherweise Staub, der dann wieder ersetzt werden muß … Der Aufprall läßt nicht nur den oberen Felsmantel bersten, sondern verteilt durch seine Sprengwirkung auch die vergrabenen Bakterien und Sporen überall im zersplitterten ewigen Eis …« Sie waren wie zwei Maschinen, die man nicht abstellen konnte. Ihr sich überlagerndes Geplapper verebbte, wallte wieder auf und bildete Wogen aus reinem, schmirgelartigem Lärm, die absolut unerträglich waren. Und durch all das zog sich dieser
irritierende Ton in Vergillias Stimme, wie das Quietschen von Fingernägeln auf einer Schiefertafel. »Seid still!« rief Rebel. »Gottverdammt, ich will eure Programme nicht! Ich will keine Bürgerin werden! Ich verabscheue euch alle! Ist das direkt genug, oder wollt ihr, daß ich noch deutlicher werde?« Ein unbehagliches Schweigen entstand. »Na schön«, sagte Vergillia schließlich. »Vielleicht brauchen Sie noch etwas mehr Zeit, um es sich zu überlegen.« In diesem Augenblick nahm in Rebels Gedächtnis etwas Konturen an, und sie konnte Vergillias Stimme endlich unterbringen. Sie begriff, wieso dieser Ton höflicher Selbstsicherheit mit genau diesem Akzent in eben diesem öden Singsang sie ganz kribbelig machte. Die Frau klang genau wie Eucrasias Mutter. Die Tunnels, die sich in das tote Gestein von Deimos bohrten, waren lang, gerade und vollkommen rund. Sie waren mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit in den Felsen getrieben worden. Obwohl das Gewicht von einem Dutzend Kisten mit Wyeths Habseligkeiten sowie das ihrer eigenen beiden auf ihr lastete, hatte sie wegen der geringen Schwerkraft Probleme mit dem Laufen. Sie wanderten tief in den Mond hinein, vorbei an Lichttürmen, die so weit auseinanderstanden, daß es zwischen strahlend hellen Abschnitten auch Strecken gab, die im Halbdunkel lagen. Rebel fühlte sich in die ferne Kindheit zurückversetzt, die ihre Mutter so hochmütig gehaßt hatte. Das hier waren die grauen und schwarzen Felslandschaften, von denen sie so oft gehört hatte. Diese eilig dahinhastenden Bürger in Grau waren die gleichen Leute, die ihre Mutter mit so schlechtem Gewissen verabscheut
hatte. »Sie werden bemerkt haben, daß die Tunnels vollkommen rund sind«, sagte Stilicho. »All unsere Räume sind Mehrzweckräume. Was heute ein Wohnheim ist, kann morgen ein Getreidespeicher sein. Ein Korridor kann ein Kanal für Wasser oder industrielle Chemikalien oder sogar bakterielles Saatgut werden, je nach Bedarf. Nichts ist einzig und allein für den menschlichen Komfort gedacht.« Eucrasias Mutter hatte Geschichten von Leuten erzählt, die in einem plötzlichen Kreosot- oder Sirupstrom ertrunken waren, wenn der Bürgerkontrolleur, der die Tore bediente, auf den falschen Knopf gedrückt hatte. Rebel warf einen Blick über die Schulter. Es war ein weiter Weg bis zum nächsten Ausgang. »Klingt nicht gerade wie eine erstrebenswerte Art zu leben.« »Sie müssen wissen, daß wir alle auf den Mars umziehen, sobald er terrageformt ist. Dann werden wir Deimos verlassen. Es wäre nicht sinnvoll, viel Mühe auf provisorische Unterkünfte zu verschwenden.« Vor ihnen installierte eine Gruppe von Nichtbürgern – alle mit dicker Wetware-Bemalung – ein Sicherheitstor. Als Vergillia und Stilicho weitergingen, zerstreute sich der Arbeitstrupp, um ihnen auszuweichen. Eucrasias Mutter hatte auch Geschichten darüber erzählt, was mit jenen passierte, die programmierten Bürgern in die Quere kamen. »Wann wird der Mars denn fertig sein?« »In zweihundertachtzig Jahren.« Sie gelangten zu einem Bahnhof. Ohne ihre Führer hätte Rebel nichts davon bemerkt. Für sie war es nur eine nicht gekennzeichnete Kreuzung von zwei Tunnels, auf der eine graue Schar
von Bürgern und ein paar programmierte Außenseiter standen. Dann schwebte aus einem quer verlaufenden Tunnel ein metallener Wurm ins Blickfeld. Seine blinde Vorderseite kam langsam zum Stehen, und Türen öffneten sich zischend. Vergillia und Stilicho halfen Rebel, ihr Bündel von Kartons ins Frachtabteil zu laden, dann stiegen sie alle in den Transitwagen. Rebel steckte Füße und Hände in die entsprechenden Ringe. Der Wagen füllte sich bis zur Grenze seines Fassungsvermögens. Eine Glocke ertönte, und die Türen schlossen sich. Der Zug beschleunigte abrupt und machte einen Satz nach vorn, und das Licht erlosch. Rebel wurde in der pechschwarzen Dunkelheit auf allen Seiten von Körpern bedrängt, und sie fühlte, wie Eucrasias Klaustrophobie in ihr hochstieg. »Was ist los?« rief sie. »Was ist mit dem Licht passiert?« »Licht ist hier nicht erforderlich«, sagte Stilicho. »Das Volk verschwendet nie unnötig Ressourcen.« Der Zug jagte in den schwarzen, lichtlosen Felsen hinein. Rebel fühlte sich immer noch schwach und ein bißchen hilflos, als sie bei den Schlafnischen ankamen, die man ihnen für diesen Tag zugewiesen hatte. Einige Unterkünfte waren bereits belegt. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. »Diamantblau siebzehn«, sagte Stilicho. »Merken Sie sich das.« »Die Nische Ihres Vorgesetzten ist gleich nebenan. Diamantblau achtzehn«, fügte Vergillia hinzu. »Oh, gut«, sagte Rebel. Die Nischen waren klein, mit einem Schlafbereich, der aus einer Felswand herausgehauen war. Zur großen Belustigung ihrer Führer füllten die Kisten eine der Nischen fast bis zum Rand. »Wie macht man die Tür zu?«
»Die Tür?« fragte Vergillia. »Machen Sie sich keine Sorgen um Ihr Eigentum«, sagte Stilicho. »Mit wenigen Ausnahmen – wie Sie selbst – sind alle auf Deimos zugelassenen Nichtbürger strikt programmiert. Hier gibt es keinen Diebstahl.« »Damit ich mich in meine Privatsphäre zurückziehen kann, meine ich.« »Privatsphäre?« Rebel schüttelte müde den Kopf. »Hört zu, es war nett«, sagte sie. »Danke für eure Hilfe. Also, warum laßt ihr beiden mich nicht für eine Weile allein?« Sie ließ sich auf dem Schlafbereich nieder. Der Felsen roch schwach nach Olivenöl und Schmiermitteln. »Geht weg!« »Vielleicht verstehen Sie nicht«, sagte Stilicho mit besorgter Stimme, »wie dringend neue Bürger gebraucht werden, um die große Aufgabe …« »Meine Mutter war eine Bürgerin«, fiel ihm Rebel wütend ins Wort. »Wußtet ihr das?« Die beiden sahen sie an. »Ja, sie wurde hier auf Deimos geboren. Sie ist in einer eurer kollektiven Kinderkrippen aufgewachsen und hat mit zehn Jahren die Volksbürgerschaft angenommen. Hat alles getan, was man von ihr erwartet hat, und ist jedes Jahr reprogrammiert worden. Sie war genauso wie ihr, wißt ihr das?« »Ich verstehe nicht...« Aber Rebel redete einfach weiter. Es war fast Hysterie, was sie dazu trieb, eine Hysterie, die von der Erschöpfung herrührte. »Jetzt kommt das Interessanteste. Sie war bei einem Eisasteroiden-Sätrupp, genau das, was ihr mit mir vorhabt, okay? Und
zwar beim grünen Team, das heißt, sie war von Anfang an dabei. Sie ist zu den Saturnorbitalen geflogen und war bei dem Team, das die Übereinkunft mit den Eismetzgern ausgehandelt hat.« Die Bürger starrten sie völlig verblüfft an. »Sie war also der Inbegriff eines treuen Bürgers, stimmt's? Nur daß man vom Saturn zum Mars – wie lange? – vielleicht zwei Jahre braucht, selbst bei frühzeitiger Beschleunigung und mit Sonnensegel. Das war ausreichend Zeit für eine Persönlichkeitsveränderung. Der Stavka des grünen Teams dachte, es gäbe nicht genug Gelegenheit für allein gemachte und verarbeitete Erlebnisse, als daß eine Individualisierung eintreten könnte. Deshalb waren sie nicht wachsam genug. Okay. Der Asteroid fliegt also durch die Gürtel, und es gibt eine unplanmäßige Panne. Die Hälfte des grünen Teams geht dabei drauf. Der große Tunnelbauer braucht Ersatzteile aus dem nächsten industriellen Cluster und eine gründliche Überholung durch Leute von dort. Meine Mutter ist beim Einkaufskollektiv, erledigt die Sache und kommt zurück. Einer der Mechaniker, die der Cluster schickte, war mein Vater. Er war ein großer Kerl, sehr kompetent, selbstsicher und ruhig. Ein toller Typ. Jemand, den die Leute bewundern. Und meine Mutter verliebte sich in ihn. Versteht ihr? Sie wußte zuerst gar nicht, wie ihr geschah, weil sich Bürger nicht verlieben, stimmt's? Wie könnten sie auch? Als ihr klar wurde, was passiert war, war sie schon so hin und weg, daß sie nicht mehr zurück wollte. Er lächelte sie an, und sie ging mit ihm. Im Cluster beantragte sie industrielles Asyl, und das Grüne Team mußte ohne sie weiterfliegen.« Rebels Hals war trocken. Sie hustete in die vorgehaltene Hand. »Versteht ihr, was ich sagen
will? Ich weiß alles über euch. Ich hab alles über eure Tricks gehört, als ich noch klein war. Ich weiß, was ihr mir aufschwatzen wollt, und ich kauf euch nichts davon ab. Okay?« Stilicho drehte sich steif um und sprang davon. Vergillia zögerte lange genug, um zu sagen: »Es tut mir leid, daß Ihre Mutter eine Sexverbrecherin war und Sie um Ihr Geburtsrecht gebracht hat. Aber das ist keine Entschuldigung für Ihre Unverschämtheit.« Dann war sie ebenfalls fort. Der Stein unter Rebels Rücken war kalt und vibrierte vom kaum hörbaren Rattern weit entfernter Bergbaumaschinen. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, und ihr Kopf tat weh. Eucrasias Erinnerungen waren allesamt wieder da. Es gab vieles in Eucrasias Vergangenheit, worüber sie noch nicht nachgedacht hatte, weil sie noch nicht dazu gekommen war, aber es war alles da und für sie zugänglich. Zusammen mit dem furchtbaren Gewicht von Eucrasias Erinnerungen kamen jedoch unerwartete Einsichten. Sie erkannte jetzt, warum ihre Mutter ihr während ihrer ganzen Kindheit mit öden Geschichten über die Korridore von Deimos, über stilles Elend, trostlose Eintönigkeit und unaufhörliche Arbeit in den Ohren gelegen hatte. Sie verstand die plötzlichen, mysteriösen Wutanfälle ihrer Mutter, ihre willkürlichen Verbote, ihre grundlosen Strafen. Das waren nur ihre halbherzigen, uninformierten Versuche gewesen, Eucrasia gegen den VolksMars immun zu machen, eine stabile Unabhängigkeit zu fördern, die sicherstellte, daß sie niemals zu dem Mond zurückkehren würde, auf dem ihre Mutter geboren war, und sich nie dessen Volksbürgerschaftsprogramm aufzwingen lassen würde.
Und nun war sie doch hier, in denselben erschöpften, alten Tunnels. Das ist nicht meine Vergangenheit, dachte Rebel. Dieses Schuldgefühl ist nicht meins. Aber als sie in dieser türlosen Nische lag, die Bürger sah, die draußen vorbeieilten und ab und zu mit kühler, unpersönlicher Neugier hereinschauten, und das Husten und Dröhnen ferner Maschinen hörte, das von einer Steinwand zur nächsten hallte, war Rebel dennoch den Tränen nahe. Nach einer Weile ließ sie ihnen freien Lauf. Stimmenlärm hallte durch den Gemeinschafts-Speisesaal. Es war ein gewaltiger Raum, so hoch wie breit und lang, und die Hunderte von Tischen und Bänken mit den Tausenden von Essenden füllten ihn auch nicht annähernd. Hoch über Rebels Platz klaffte die Öffnung eines riesigen Rohrs, von dessen Rand sich Wasserflecken nach unten zogen. Unwillkürlich warf sie einen Blick zu dem weit entfernten Eingang und fragte sich, wie viele hier es bis zur nächsten Sicherheitsschleuse schaffen würden, falls jener ferne Bürgerkontrolleur einmal einen Moment lang nicht aufpaßte. Unter den grauen Bürgern verstreut saßen etliche hundert orangerote Einschlußleute, die sich miteinander unterhielten (und einer, der Rebel schweigend mit einem stumpfen, insektenartigen Blick musterte). Außerdem leuchteten da und dort die seltenen farbenfrohen Anzüge der Mitglieder von Constances Arbeitsgruppe. Man unterhielt sich locker, und zwischen den Tischen herrschte fortwährende Bewegung. Wyeth schlüpfte in die Banklöcher neben ihr. »Wie war's heute bei dir?« fragte
Rebel. »Wir haben's immerhin geschafft, die Orchidee zu räumen.« Ein Pierrot stellte ein Tablett vor Wyeth hin, und er nahm die Eßzange auf. »Es war schrecklich. Ich hab meine ganze Zeit damit zugebracht, die kleine Miss Blutdurst davon abzuhalten, Leute umzubringen. Sie wollte den Dorfbewohnern in der Orchidee eine Stunde Zeit geben und dann die Luft abpumpen.« »Nein!« »Was ist so bemerkenswert?« Rosenknospen befestigte ihr Tablett am Tisch und nahm neben Wyeth Platz. Freeboy und ein Nichtbürger, den Rebel nicht kannte – er trug einen Umhang mit Zebrastreifen und eine rote Weste mit einer Doppelreihe Messingknöpfe –, nahmen ihr gegenüber Platz. »Lassen Sie uns alle teilhaben.« »Ein privater Scherz«, sagte Wyeth obenhin. »Hallo, Freeboy. Wer ist dein Freund?« »Mein Name ist Bors, Sir.« Ein Aufblitzen weißer Zähne. Bors' Haar war zu langen, dünnen Zöpfen geflochten, deren Enden in silbernen Statikkugeln steckten. Eine schmale, nichtssagende gelbe Linie lief über seine Stirn. »Ich bin Handlungsreisender in wertvollen alten Informationen. Ich komme aus der Republique Provisionelle d'Amalthea, einem der nicht angeschlossenen Jupitersatelliten.« Wyeth stellte sich und Rebel vor und sagte dann: »Sie kommen von weit her.« »Und ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Mein Kühlschiff fliegt morgen zur Erde ab. Deimos ist nur ein Abstecher für mich. Ein wenig Bergbautechnologietransfer, so profitabel,
daß ich nicht widerstehen konnte.« Freeboy, der ungeduldig zugehört hatte, beugte sich abrupt zu Rebel hinüber. »Hey! Sie werden nie erraten, wer heute die Volksbürgerschaft angenommen hat. Wollen Sie'n Versuch wagen?« Verwirrt schüttelte Rebel den Kopf. Freeboy lehnte sich zurück und machte ein selbstgefälliges Gesicht. »Ihr kleiner Freund Maxwell nämlich.« »Maxwell?« sagte Rebel. Freeboy nickte. »Ein schlanker, dunkelhäutiger, verantwortungsloser, hedonistischer kleiner Kerl? Sprechen wir von demselben Burschen?« »Scheint wirklich schwer zu glauben«, meinte Wyeth. »Es war freiwillig, sagst du?« »O ja, und ob. Er wollte es. Er sagte …« »Das ist alles sehr interessant«, unterbrach Rosenknospen. »Aber ich möchte euch allen jetzt etwas zeigen.« Sie schob ihr Tablett beiseite und begann Karten von einem Stapel Flachholos aufzudecken. Sie legte ein Bild vom Mars hin, wie er in vormenschlicher Zeit ausgesehen hatte, rot und ohne Leben, und bedeckte es. dann mit einer zweiten Karte. Der Planet schwankte und wurde dann von Stürmen getrübt. Die Eiskappen wurden vom sanft herabrieselnden Staub von PhobosMaterie verdunkelt und schrumpften. Ein einzelner grüner Schimmer zeigte sich im Krater des Mons Olympus. »Ihr seht, was für Fortschritte wir machen. Der Garten Eden im Olympus ist ein mikroökologisches Vorzeigeprojekt, ein Beispiel dafür, wie der ganze Mars schließlich aussehen wird, und kann noch nicht besiedelt werden.« Rasch legte sie weitere Karten aus. »In fünfzig Jahren, in hundert, in hundertfünfzig Jahren. Bis dahin ist das ewige Eis weitgehend geschmolzen, und die Atmosphäre
ist dicht genug für Menschen, die mit Luftaufbereitern ausgerüstet sind. Aber damit sind wir noch nicht zufrieden. In zweihundert Jahren.« Grüne Flecken bedeckten die schwebende Kugel. Es gab dünne Wolken. »In dreihundert.« Der ganze Planet war verwandelt. Sanftes Grün erstreckte sich von einer Polarregion zur anderen. Da und dort waren winzige Seen, wie gletscherblaue Nadelstiche. »Ihr werdet bemerkt haben, daß es keine Ozeane gibt. Die marsianische Ökologie wird empfindlicher und gleichzeitig dem menschlichen Leben förderlicher sein als die terranische Ökologie. Während die Ozeane auf der Erde deren Ökosphäre unglaublich stabil machen, verschwenden sie auch den größten Teil der irdischen Ressourcen für das Leben im Meer. Die Gesamtfläche des bewohnbaren Landes auf dem Mars wird so groß wie die der Erde sein, und sie wird ganz im Dienste des Volkes stehen.« »Mir leuchtet wirklich nicht ein, was es bringt, einen Planeten zu terraformen«, sagte Rebel zweifelnd. »Mit diesen Anstrengungen könntet ihr Tausende von Stadtkanistern bauen oder ich weiß nicht wie viele Kometen besäen.« »Die Oberfläche eines Planeten ist der beste Platz für eine expandierende postindustrielle Kultur. Zunächst einmal ist schon die Luft umsonst. Es gibt so viel Land, daß es nicht der Mühe wert wäre, Pacht zu verlangen. Man würde einfach leben, wo man wollte. Ackerland bewässert und düngt sich in einer funktionierenden Ökosphäre selbst. Es ist tatsächlich so, daß auf dem Boden eines Planeten alles viel weniger Arbeit kostet.« Sie legte weitere Karten aus. »Hier ist eine Vision vom Ackerland. Hier eine Vision des Baumlands. Hier ist eine Vision von
einem der größeren Seen. Das andere Ufer ist kaum zu sehen, so groß ist er. Im See wird es Fische, Aale und Muscheln geben. An den Ufern Reis, Naßweizen und Preiselbeeren. Hier ist eine Vision des Parklands …« »Das ist wirklich 'ne primitive Struktur, die ihr da habt«, sagte Freeboy. »'ne Eins-zu-Eins-Übertragung terranischer Ökologien, versteht ihr? Aber mit ein bißchen Grips könntet ihr Meeresfische und Tintenfische adaptieren, vielleicht ein paar Landpflanzen zu Seepflanzen umwandeln und eine Flechtenbrücke über die Oberfläche anlegen, und ehe ihr's euch verseht, habt ihr ein viel interessanteres und komplexeres System. Warum haben eure Leute nicht sowas auf die Beine gestellt?« »Schau dich um«, sagte Rosenknospen. »Wie viele Pflanzen siehst du? Wir können es uns nicht leisten, Ressourcen für die Industrien abzuzweigen, die man zur Unterhaltung einer biotechnischen Ökonomie braucht. Und trotzdem, der Bedarf ist groß, wie du sagst. Du wirst feststellen, daß es viel für dich zu tun gibt, wenn du die Volksbürgerschaft annimmst.« »Nein, nein, nicht mit mir!« Freeboy hob lachend die Hände. »Ich fliege mit dem ganzen Geld, das ich bei diesem Rundflug durchs System verdient habe, und noch 'n bißchen mehr nach Hibrasil zurück. Ich hab nämlich heute beim Wechseln noch reichlich was rausgeholt.« »Du hast doch nicht etwa eine Fremdwährung gegen Volkskredite eingetauscht?« Bors schaute besorgt drein. »Gibt's da ein Problem?« fragte Freeboy. Das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch. »Unsere Sozialsysteme sind darauf ausgerichtet, das Ideal des selbstlosen Gemeinschaftsbürgers zu fördern«, sagte Rosen-
knospen. »Da die Anhäufung von privatem Reichtum destruktiv für die Persönlichkeit ist, haben wir Mittel und Wege, sie zu entmutigen. Deshalb bekommen wir zum Beispiel auch täglich neue Unterkünfte zugewiesen. Wenn man alles, was man besitzt, jeden Tag woanders hinbringen muß, lernt man, nur das zu behalten, was wirklich wertvoll ist. Desgleichen gibt es in unserer Ökonomie eine Inflationsrate von zehntausend Prozent täglich.« Freeboy wandte sich an Bors. »Was bedeutet das?« »Es bedeutet, daß man Volkskredite sofort ausgeben muß. Sonst lösen sie sich in Nichts auf. Wenn man sie länger als eine Stunde behält, sind sie praktisch wertlos.« Freeboy stand auf. Er war bleich vor Empörung. »Ich …« Er drohte Wyeth mit dem Finger. »Was hab ich alles durchgemacht, als ich für Sie gearbeitet habe! Und … Ich …« Er erstickte fast, drehte sich um und floh. Rosenknospe drehte eine weitere Karte um und sagte: »Das hier ist eine Vision der Unterkünfte, die wir in der neuen Zivilisation gemeinsam bewohnen werden.« Wyeth streckte die Hand aus und legte sie auf die Karten. »Worüber ich wirklich gern reden würde, ist eure Einstellung zum Einschluß. Ich habe die Augen offengehalten, und für mich liegt klar auf der Hand, daß ihr keine angemessenen Vorsichtsmaßnahmen gegen ihn trefft. Ich hab sogar gesehen, wie einige Einschlußleute eure Dataports benutzt haben. Ihr seid euch offenbar gar nicht bewußt, wie gefährlich sie sind.« »Das Volk kann nicht in Gefahr sein«, sagte Rosenknospen, »weil wir nicht korrumpierbar sind.« Sie raffte ihre holographischen Karten zusammen und stand auf. »Ich sehe aber, daß im
Moment noch keiner von euch wirklich an einer Volksbürgerschaft interessiert ist. Wir werden die Angelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt eingehender erörtern.« Sie ging weg, und zwei weitere Bürger kamen und setzten sich auf ihren Platz und den daneben. »Sind Sie hier schon mal auf der Toilette gewesen?« fragte Bors Rebel mit einem Lächeln. »O Gott! Als ich das erstemal auf dem Klo saß und ein Mann ankam und sich neben mich setzte, wäre ich beinahe gestorben. Dann sah er, wie ich rot wurde, und wollte wissen, was denn los sei.« Rebel lachte, und Bors und Wyeth stimmten ein. Die Bürger machten verwirrte Gesichter. »Das verstehe ich nicht«, sagte einer, und als Rebel es ihm zu erklären versuchte: »Aber was ist denn daran so komisch?« Rebel schüttelte nur den Kopf. Ein paar Minuten später nahmen die neuen Bürger ihre Tabletts und gingen. »Die Leute hier kommen und gehen so schnell«, wunderte sich Rebel. »Das liegt daran, daß die Essenszeit ihre einzige Chance ist, gesellig zusammenzukommen«, sagte Bors. »Sie verbringen jede Stunde ihres Tages konstruktiv. Wenn sie nicht arbeiten, lernen sie. Wenn sie weder arbeiten noch lernen, schlafen sie. Dies ist die einzige Gelegenheit für sie, einfach mal miteinander zu reden.« »Sie scheinen ja eine Menge über das Thema zu wissen.« »Ja, nicht wahr?« sagte Bors erfreut. Als Rebel Wyeth zu Diamantblau siebzehn zurückbrachte, warf er einen raschen Blick auf seine Kisten und sagte: »Gemütlich
hier, was?« Dann fuhr er mit seiner Kriegerstimme fort: »Hör zu, ich will mal ein bißchen im öffentlichen Datenspeicher rumstöbern. Mal sehen, wie gründlich der Einschluß ihn schon infiltriert hat. Warum wartest du nicht hier auf mich? Wird nicht lange dauern.« Rebel war nicht so dumm, mit Wyeths Kriegerpersönlichkeit zu diskutieren. Sie setzte sich auf den Schlafbereich. Hier konnte sie nichts anderes tun, als den fortwährenden, für die niedrige Schwerkraft typischen schlurfenden Schritten der Bürger auf dem Flur zu lauschen. Nach zehn Minuten begann sie die motivierende Kraft der Langeweile zu erkennen. Wenn man ihr Gelegenheit gegeben hätte, hätte sie sich mit Freuden freiwillig zum Schneiden von Vakuumblumen gemeldet, nur um etwas zu tun zu haben. Rosenknospen erschien im Eingang. Sie stand schweigend da. Ihr Umhang war offen. »Er ist nicht hier«, sagte Rebel grimmig. »Und Sie können ihn sowieso nicht haben.« Rosenknospen nahm ihren Umhang ab und kam herein. Sie ließ ihre Stiefel an der Tür stehen und setzte sich neben Rebel. »Ich bin nicht wegen ihm gekommen.« Sie legte Rebel eine Hand aufs Knie. »Der Stavka ist sehr besorgt um Sie. Ich habe ihn informiert, daß Sie von einer Renegatin aufgezogen wurden, und nun befürchtet man, das könnte Sie vielleicht sexfeindlich, besitzergreifend und eigenbrötlerisch gemacht haben.« Ihre Hand glitt auf Rebels Schenkel nach oben. Der Tonfall der Frau war so sachlich, daß Rebel erst klar wurde, wovon sie redete, als sie anfing, ihr das cache-sexe herunterzuziehen. Mit einem überraschten Aufschrei schob sie
sich geduckt in den Schlafbereich zurück, zog ihre Kleider hoch und die Knie ans Kinn, so daß ihre Beine eine Barriere zwischen ihnen bildeten. »Hey! Moment mal, ich bin nicht so eine …« »Das haben wir bemerkt«, unterbrach Rosenknospen. »Und es ist einer der Gründe, warum wir Ihnen eine Frau geschickt haben. Um Ihnen bei der Heilung zu helfen. Sie bringen sich unnötig um viele Formen des Vergnügens.« »Tja, also Wyeth wird gleich zurück sein. Vielleicht sollten Sie lieber gehen.« »Er hat auch noch Platz. Vielleicht wäre das der schnellste Weg, Sie von Ihrer besitzergreifenden Art zu befreien.« Sie hob ein Bein, fuhr mit dem Fuß sanft über Rebels Flanke nach oben und zwickte ihr mit dem großen und dem zweiten Zeh ins Ohrläppchen. »Vergnügen ist etwas Gemeinschaftliches. Entspannen Sie sich. Genießen Sie es.« »Aber ich will es nicht genießen!« rief Rebel. »Nicht auf diese Weise! Ich will nur Wyeth und … und …« »So wird das nichts«, sagte Rosenknospen verächtlich. »Schauen Sie sich doch an! Sie haben solche Angst. Glauben Sie, ich würde Sie mit Gewalt nehmen? Ich will Ihnen mal was sagen. Ich sehe, wie spöttisch Sie auf den großen Traum der Terraformung und auf das Volk herabblicken. Sie denken, unser Leben sei eingeengt, aber es ist nicht halb so schmalspurig wie Ihres. Das Volksbürgerschaftsprogramm macht uns zu allseitig entwickelten menschlichen Wesen. Ein Bürger versteht etwas von Pflicht, Sex, Arbeit, Freude, Freundschaft und Opfern und hat zu alldem eine positive Einstellung. Ich war fünfmal unten auf dem Planeten, und das ist ein sehr gefährlicher Ort. Ich war dem Tod so nahe, wie ich Ihnen jetzt bin, und ich habe
nie Furcht gezeigt. Sie lachen über das Volk, weil wir alle gleich sind. Aber wir sind Helden, jeder einzelne von uns. Ich bin eine Heldin, und ich weiß es!« Sie zog ihre Stiefel an und ging. Als Wyeth zurückkam, kopulierten sie miteinander. Es war eine schwitzige, verzweifelte Angelegenheit, und Rebel legte alles hinein, was sie hatte. Ich habe keine Angst, redete sie sich ein, und ich vermisse kein Vergnügen. Im Augenblick des Höhepunkts, als sie Wyeth in sich festhielt und ihre Nägel so tief in die Haut auf seinem Rücken grub, daß Blut herausquoll, stöhnte er ihr ins Ohr: »Ich liebe dich.« »Hm? Was?« fragte sie verdutzt. »Ich liebe dich.« Wyeth lag schwach und erschöpft neben ihr und rieb seine Wange an ihrer. »Wirklich.« »Wovon redest du?« Das war alles zu lächerlich, um wahr zu sein. »Welcher von dir? Oder sollte ich lieber fragen, wie viele?« »Hör mir zu!« Wyeth rollte sich auf sie drauf und blickte ihr direkt in die Augen. »Ich … ich glaube nicht, daß Liebe eine Frage der Persönlichkeit ist. Ich glaube, es geht tiefer.« Seine Faust schlug dumpf an seine Brust. »Ich liebe dich, Rebel Elisabeth Mudlark. Ich glaube, ich würde dich lieben, ganz gleich, wer ich bin.« Rebel sah ihn stumm und unbewegt an, bis sie merkte, daß sie allmählich zu schielen begann. Dann zwinkerte sie und mußte etwas sagen. »Warum erzählst du mir das jetzt?« Sie betonte das letzte Wort nicht, aber es hing zwischen ihnen, kalt und hart wie die Wahrheit selbst. Ihr blieb wohl nur noch wenig Zeit. Eucrasias Erinnerungen waren zurückgekehrt,
und die Persönlichkeit konnte nicht mehr weit sein. Und dann würde sich Rebel auflösen, würde wieder ins Meer der Seelen zurückkehren und nicht mehr existieren. »Warum gerade jetzt?« wiederholte sie. Vielleicht war es ihm egal, wer sie war – Rebel oder Eucrasia. Ein bitterer Gedanke. Er las es in ihren Augen. »Es ist nicht Eucrasia. Nicht dieser Körper. Für mich wird es nie jemand anders geben als dich. Hör zu! Ich weiß, daß du … bald gehst, und ich will nicht, daß du dich auflöst, ohne je zu erfahren, daß ich dich liebe. Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen. Ist das zu unbescheiden von mir? Verstehst du, was ich sagen will?« In einem jähen Ansturm von Schmerz und Glück umarmte sie ihn und hielt ihn so fest, daß er ihr Gesicht und ihre Tränen nicht sehen konnte. Als er wieder zu sprechen begann, brachte sie ihn auf die einzige Art zum Schweigen, die ihr einfiel, und sie kopulierten wieder miteinander. Und während sie es taten, liebte sie ihn so sehr, daß sie sich auf die Zunge beißen mußte, um es ihm nicht zu sagen. Sie fürchtete sich davor, daß sie für ihn wie ein offenes Buch sein würde, wenn sie die Worte aussprach. Sie liebte Wyeth jetzt mehr denn je, und sie liebte ihn am meisten dafür, daß er sie anlog. Denn sie glaubte ihm natürlich kein Wort. Aber es war nett, daß er es gesagt hatte. In dieser Nacht erschien ihr Eucrasia in Gestalt einer vermodernden Leiche. Ihre Finger endeten in verchromten Skalpellen, und als sie den Mund aufmachte, glitten Spritzen wie Reihen von Neunaugenzähnen unter dem Fleisch hervor. »Mach, daß du wegkommst!« sagte Rebel. Eucrasia hob eine graue Hand in
einer anmutigen Geste, und Rasierklingen fuhren über Rebels Gesicht. Einen Moment lang wich Rebel trotz ihres Schocks nicht zurück. Sie schaute durch einen feinen Dunst von Blutkügelchen, und dann hob Eucrasia die andere Hand, und Rebel drehte sich um und stieß sich davon. Sie floh durch ein endloses Gewirr steinerner Tunnels, manchmal fast im freien Fall, manchmal mit mühsamen Schritten. Hin und wieder streckte die nekromantische Horrorgestalt hinter ihr faul eine Hand aus und schlitzte ihr die Fußsohlen auf. Sie zog eine Blutspur hinter sich her, und in ihren Beinen pochte von den Knien abwärts der Schmerz. Es kam ihr so vor, als ob sie durch die Arterien eines riesigen Körpers fliehen würde, eines toten Körpers, eines Körpers aus totem Stein, und als ob dieser Körper ihr eigener sei. Als ihr diese Einsicht kam, merkte sie, daß sie gelähmt und auf einer Rollbahre festgeschnallt in einer Nische des Rosenlabyrinths auf Neu-HochKamden lag. Eucrasias Gesicht tauchte über ihr auf. Die WetwareChirurgenbemalung war bröckelig und trocken, die Wangen straff und der Mund leicht geöffnet, weil sich das Fleisch darum spannte. Die Augen waren trocken und blicklos. Sie beugte sich dicht über sie. In ihrem Atem lag der süße Gestank der Verwesung, und sie sprach. Aber als Rebel schließlich erwachte, konnte sie sich nur noch daran erinnern, daß Eucrasia ihr Wahrheiten gesagt hatte, die sie nicht zu akzeptieren wagte.
10 Snows Schatten AM NÄCHSTEN TAG SCHOSS JEMAND AUF EINEN BÜRGER. Rebel hörte erst zur Mittagszeit davon. Sie war als Vorarbeiterin bei einem Arbeitstrupp gewesen, der Tank Vierzehn mit einer neuen Luftschleuse ausgerüstet hatte. Es war einer von einem Dutzend Trupps, alle bis auf ihren von Bürgern beaufsichtigt, die Wyeth koordinierte, aber die anderen waren alle weit weg an der Hülle oder in der Orchidee. Die Hälfte der Ganoven im Tank kam heraus, um ihren Arbeitern gewürzte Früchte, Wein, Ganja oder schwarz gebrannten Schnaps zu verkaufen, und es gab ständig Theater, wenn sie zu verhindern suchte, daß sie bei der Arbeit störten. Am Tag zuvor hatten die Makrobiotechniker die Orchidee abgetötet, und sie begann sich nun zu verflüssigen. Der Gestank war entsetzlich, und das trotz der Luftaufbereiter, die man jetzt benötigte, weil die halbe Luft aus der Geodäte abgepumpt worden war. Es war schon spät, als die Schleuse endlich funktionierte, und Rebel kam gerade noch rechtzeitig, um den Hopper nach Deimos zu erwischen. Sie ließ sich auf der Bank nieder, als Wyeth eben mit seinem Essen fertig war. »Heute hat sich 'n Bürger 'ne Kugel eingefangen«, sagte Wyeth. Er umarmte sie und gab ihr ein Tablett. Ein vorbeikommender Pierrot füllte es mit Essen. »Was ist passiert?« »Der Trupp, der die Orchidee für die Proteinraffinerien zer-
hackt, ist über ein Nest von Schwarzbrennern gestolpert, die Absinth-Gin brauten. Ziemlich unrentable Operation, würde ich sagen, sonst hätten sie diese letzte Ladung abgeschrieben. Jedenfalls hatte einer von ihnen ein Luftgewehr. Es ging los.« Er zuckte die Achseln. »Sowas kommt vor.« »Ist er schwer verletzt?« »Da kommt er gerade.« Zwei Bürger nahmen an ihrem Tisch Platz. Einer trug eine Brustschlinge, und Rebel konnte die Lungenprothese sehen, die sich in ihrem bernsteinfarbenen Innern bewegte. »Hallo, Cincinnatus. Wie ist die Prognose?« »Kein bleibender Schaden«, sagte Cincinnatus. »Ich bin neugierig«, ergriff die Frau neben ihm das Wort. »Dieses Luftgewehr – ist das eine übliche Waffe in den Gürtelclustern?« »Nein, nein«, sagte Wyeth. »Unter den Lebensbedingungen in den meisten Clustern ist es sogar äußerst unpraktisch. Eher ein Spielzeug als eine Waffe. Es hat eine größere Reichweite als ein Messer, aber eine geringere Zielgenauigkeit. Es ist billiger als Energiewaffen, aber nicht so vielseitig. In den Tanks scheinen die Dinger aber irgendwie in Mode zu sein.« Drei weitere Bürger kamen dazu, gefolgt von Bors. Er setzte sich neben Rebel. Seine Zöpfe schwebten träge um seinen Kopf und sanken dann langsam herunter. Die Statikkugeln verhinderten, daß sie ihm ins Gesicht hingen. »Das ist mein letztes Abendessen.« Er breitete die Arme aus und spreizte die Finger. »Mein Kühlschiff wird gerade startklar gemacht, während wir hier sitzen.« »Und trotzdem scheint diese Waffe den Bedürfnissen von Kleinkriminellen merkwürdig genau zu entsprechen, wie Sie
sagen. Warum haben Sie sie überhaupt eingeführt?« »Damals hielt ich's für eine gute Idee«, antwortete Wyeth leichthin. Der Fragesteller runzelte die Stirn. Stilicho gesellte sich ebenfalls zu der Gruppe. »Ich war draußen und habe mir die Schäden angesehen, die von dem Unkraut verursacht wurden, das mit dem Sheraton hergekommen ist. Diese Vakuumblumen. Ich habe festgestellt, daß sie auf den Tanks, auf den Außenseiten von Farmen und auf Vakuumdocks wachsen – es gibt sogar schon eine Stelle auf der Oberfläche von Deimos. Sie scheinen überall zu sein.« »Oh, die sind wirklich schwer auszurotten«, sagte Wyeth. »Sobald sie sich mal irgendwo festgesetzt haben, wird man sie nicht wieder los.« Bors kaute langsam und folgte dem Wortwechsel mit lebhaftem Interesse. »Da wir gerade von unerwünschten Erscheinungen sprechen, Stilicho, ich hab mich gestern in Ihrer öffentlichen Datenbank umgesehen und überall Spuren von Einbrüchen des Einschlusses gefunden. Ich hoffe, ihr bewahrt da drin keine Geheimnisse auf.« »Das Volk hat keine Geheimnisse«, erwiderte Stilicho. »Die Informationsfreiheit ist ein Grundrecht unserer Gesellschaft. Noch einmal zu Ihren Vakuumblumen. Wie hält man sie im Eros-Cluster unter Kontrolle?« »Meistenteils gar nicht. Man sorgt mittels ständiger Arbeit dafür, daß sie sich nicht allzusehr ausbreiten, aber ich könnte nicht behaupten, daß man sie unter Kontrolle hat. Das Problem ist, daß es sich bei ihnen um Biokonstrukte handelt, die zur Abfallbeseitigung gedacht sind. Dahinter stand der Gedanke, daß es leichter sein würde, die Blumen zu ernten und zu verarbeiten, als den Abfall zu sammeln und aufzubereiten. Jemand
hat mir mal erklärt, wie sie außer Kontrolle geraten sind. Hat irgendwas mit Ökosystemen zu tun, die nur aus einem einzigen Organismus bestehen. Die Einzelheiten hab ich vergessen.« »Kennen Sie sich ein bißchen im Volksrecht aus?« fragte Bors abrupt. »Ich hab was davon mitgekriegt«, antwortete Rebel. »Die Geodäte hätte vor dem Abschuß untersucht werden müssen. Es wird uns enorme Anstrengungen kosten, diese parasitären kleinen Pflanzen auszurotten, falls man sie überhaupt ausrotten kann. Unseren Raumsektor mit ihren Sporen zu verseuchen, war eine kriminelle Fahrlässigkeit«, sagte Stilicho. »Da hat jemand Mist gebaut, das ist klar«, pflichtete ihm Wyeth bei. »Genauso glaube ich, daß ihr einen Fehler macht, wenn ihr euer Datensystem nicht sobald wie möglich sterilisiert.« »Es ist faszinierend. Sehr informell und sehr endgültig. Sobald ein Urteil gefällt ist, gibt es keine Berufung mehr«, sagte Bors. »Ihre Verfahren finden beim Essen statt. Ein paar Mitglieder des Stavka versammeln sich am Tisch des Verdächtigen und stellen ihm Fragen. Zeugen kommen auf ein Schwätzchen vorbei und gehen wieder. Und wenn das Essen vorbei ist« – er spießte sieben Erbsen auf eine Eßnadel und steckte sie in den Mund – »ist das Urteil über die schuldige Partei gesprochen. Und wenn der Betreffende nicht aufgepaßt hat, könnte er das Ganze fälschlicherweise für eine beiläufige Unterhaltung beim Mittagessen gehalten haben.« Rebel warf einen raschen Blick zu Wyeth. Er sah auf einmal sehr vorsichtig aus. »Natürlich hatte ich persönlich nichts mit
der Außenseite der Hülle zu tun«, erklärte er, »weil ich einzig und allein für die innere Sicherheit zuständig war.« »Eine juristische Spitzfindigkeit«, sagte Stilicho. Cincinnatus schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ein stichhaltiges Argument. Was mir Sorgen macht, das sind all diese unkontrollierten Gewehre in den Tanks. Ich glaube, sie könnten mit der Zeit durchaus zu einem größeren sozialen Problem werden. Es wäre …« »Haben Sie schon mal Fleisch gegessen?« fragte Bors Rebel laut. »Ich meine nicht gepreßten Fisch oder Termiten, sondern richtiges Fleisch. Totes Fleisch, das aus Tierleichen rausgeschnitten wird.« Rebel sah ihn verblüfft an, und er stieß sie mit dem Daumen an. »Früher haben die Leute Kaninchen gegessen, das weiß ich«, sagte sie zögernd. »Und Hühner.« »Im Äußeren System machen sie's immer noch. Hab's selber getan. Totes Huhn schmeckt wirklich lecker.« Mehrere Bürger sahen Bors voller Abscheu an. Wyeth beugte sich vor und sagte: »Soweit ich weiß, haben die Menschen auf der Erde die größeren Säugetiere gegessen – Pferde, Kühe, Bären und Affen.« »Affen?« wiederholte Cincinnatus entsetzt. »Kühe waren üblicher, glaube ich. Der Koch hat sie mit der Hand zubereitet. Zuerst wurde die Kuh mit einem Schlag auf den Kopf getötet. Mit einem großen Hammer. Das Tier grunzt, die Knie knicken ein, und da hat man sein Essen.« »Ich finde, über so etwas muß man sich nicht unbedingt unterhalten«, sagte Stilicho. »Jedenfalls nicht, während Leute beim Essen sind.«
»Oh, aber das ist noch nicht alles!« rief Bors. »Wußtet ihr, daß man die inneren Organe für Delikatessen hielt – die Leber, das Herz, das Hirn? Ihr wärt überrascht, wie wenig man von einem toten Tier nicht essen kann. Der Penis wurde gekocht und auf einem Brötchen serviert. Der Magen wurde mit einer Füllung aus den kleineren Organen ausgestopft, gebraten und dann in Scheiben geschnitten – darin liegt doch eine gewisse Ironie, hm?« Zwei Bürger legten mit bleichen Gesichtern ihre Eßzangen weg und flohen. »Und dann die Art, wie sie einen Hummer zubereitet haben! Das ist besonders interessant. Sie haben die noch lebenden Tiere in einen großen Topf mit kaltem Wasser gelegt und Feuer unter dem Topf gemacht. Dann brachten sie das Wasser ganz langsam zum Kochen. Zuerst zappelte der Hummer herum und versuchte zu fliehen, aber wenn sich das Wasser dann erhitzte, wurden seine Bewegungen langsamer, und er starb. Wenn er knallrot war, war er fertig. Um ihn zu essen, mußte man die Schale aufbrechen und das tote Fleisch auslutschen.« Nun war Stilicho der einzige Bürger, der noch am Tisch saß, und auch er sah aus, als ob ihm übel sei. »Wir werden unsere Unterhaltung morgen fortsetzen«, sagte er zu Wyeth. Dann fügte er zu Bors gewandt hinzu: »Ohne Sie.« »Ist Ihnen aufgefallen, wie viele Mitglieder des Stavka hier an unserem Tisch saßen?« fragte Bors, als sie allein waren. Er spießte ein rechteckiges Stück von seinem Futterklops auf. »Ich fühlte mich richtig geehrt.« Wyeth stand auf, verbeugte sich formvollendet und sagte: »Ich bin in Ihrer Schuld, Sir. Ich weiß nicht, wann ich Konversation je nützlicher gefunden habe. Aber jetzt muß ich mich um
geschäftliche Angelegenheiten kümmern. Rebel, wo schlafen wir heute? Wir treffen uns dort in etwa einer Stunde.« »Immer noch in Diamantblau siebzehn. Anscheinend haben Gäste besondere Privilegien.« Als Wyeth fort war, wandte sich Rebel wieder ihrer Mahlzeit zu und stellte fest, daß ihr der Appetit vergangen war. Sie schob das Essen auf ihrem Tablett herum, konnte sich jedoch nicht überwinden, es in den Mund zu stecken. Sie wollte sich gerade entschuldigen, als Bors sich nach einem Stück Papaya vorbeugte und ihr ins Ohr flüsterte: »Die Pequod fliegt in einer Stunde. Wenn ihr mich einholt, bevor ich den Sonnenraum des Mars verlassen habe, könnte ich euch zu einem günstigen Preis in den Erdorbit bringen.« Er lehnte sich zurück und zwinkerte. »Überlegt es euch.« Auf halbem Wege nach Diamantblau siebzehn taumelte ein Gottessüchtiger mit leuchtenden Augen auf Rebel zu und gab ihr eine Karte. Seine Bemalung – ursprünglich offenbar ein grünes Dreieck – war über das ganze Gesicht verschmiert. Für Rebel war allein schon seine Existenz eine Offenbarung. Sie ließ auf eine ganze Unterwelt von Lastern im Innern von Deimos schließen, die dem Blick der Öffentlichkeit verborgen war. Mit ekstatischem Geheul wandte sich der Gottessüchtige von ihr ab und trabte den Korridor entlang, bog um eine Ecke und war verschwunden. Rebel sah auf die Karte hinunter. Sie war leer. Erstaunt fuhr sie mit dem Daumen über die Oberfläche. Auf dem Papier mußte sich eine Schicht mit einer emphatischen Kontaktschaltung befinden, denn eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte: »Geh
zu einem öffentlichen Dataport und leg deine Hand auf den Schirm.« Das blitzartig aufflackernde, fast unterschwellige Bild eines großen schwarzen Rads hing in der Luft. Sie erkannte das Logo. Die Erde. Rebel fuhr erneut mit dem Daumen über die Karte, aber nichts geschah. Das kleine Produkt einer die Möglichkeiten der Menschen übersteigenden Technologie hatte sich selbst zerstört. Dahinter mußte Wyeth stecken; das war genau seine Art. Zweifellos würde er zweischneidige Angebote bereithalten und mit vergifteten Zugeständnissen kommen. In irgendeiner hübschen kleinen geistigen Schublade würde er seine frischen Köder, seine gespitzten Haken und seine aufgerollten Schnüre liegen haben. Seine Argumente würden feiner als ein Haar sein, fast unsichtbar und dennoch stärker als Diamantwhiskerkabel. Egal. Das war jetzt alles bedeutungslos. Rebel hatte nicht vor, der Aufforderung der Karte Folge zu leisten. Sie hatte selber schon genug Probleme. Aber als sie an die Tunnelkreuzung kam, wo der Gottessüchtige abgebogen war, warf sie einen flüchtigen Blick in den Quergang und sah, wie er von einer Gruppe von Bürgern zusammengeschlagen wurde. Zwei Bürger hielten den Mann fest und drückten ihn an die gebogene Wand, während ihm zwei andere systematisch mit den Fäusten in den Magen, ins Gesicht und auf die Brust schlugen. Sie arbeiteten in grimmigem Schweigen, und der Gottessüchtige schrie nicht. Trotz der Verletzungen, die ihm zugefügt wurden, grinste er schwach. »He!« rief Rebel. »Hört auf!« Die
Bürger blickten auf. Rebel kam sich auf vage Weise töricht vor, als ob die Bürger sie bei einem Fehlverhalten erwischt hätten und nicht umgekehrt, aber sie lief trotzdem auf sie zu. Die Gesichter der Bürger waren stur. Der Kopf ihres Opfers hing auf der Brust; der Gottessüchtige lachte matt in sich hinein. Ein Bürger trat mit erhobener Hand vor und versperrte Rebel den Weg. »Geh zurück!« sagte er. »Das hier geht dich nichts an.« »Maxwell«, sagte sie erstaunt. »Maxwell, bist du das?« Der Bürger warf einen Blick über die Schulter auf seine Kumpane, nahm dann Rebels Arm und wollte sie wegziehen. Sie wehrte sich zuerst, aber dann sagte Maxwell: »Denk nach! Es gibt nichts, was du tun kannst.« Sie bogen um eine Ecke und gingen schweigend weiter. Nach einer Weile sagte Rebel: »Das sieht dir gar nicht ähnlich, Maxwell.« Er lächelte ironisch. »Ich verstehe nicht, wie du dir sowas antun konntest! Du warst doch immer so locker und sorglos. »Verantwortungslos«, sagte Maxwell. »Ja, ich weiß. Damals hat's mir gefallen. Aber ich hab mich weiterentwickelt. Jeder entwickelt sich weiter.« Sie schlenderten in trüber Stimmung dahin, dann fuhr er fort: »Bei mir hat's geklickt, als ich von König Wismon geschnappt worden bin. Er hat mich nicht bloß zu seinen Rude Boys gesteckt, sondern mich zu ihrem Zoowärter gemacht. Praktisch zu seinem Stellvertreter. Stell dir das vor! Es war das erstemal, daß ich für irgendwas die Aufsicht übertragen bekam. Und weißt du was? Es hat mir Spaß gemacht! Nicht die Arbeit selbst, sondern das Gefühl, verantwortlich zu sein. Ein Erwachsener zu sein. Dieses Gefühl gibt mir die Volksbürgerschaft auch. Sie schicken mich morgen runter auf
den Planeten.« »Maxwell, du hast diesen Mann geschlagen! Das hat doch nichts mit Verantwortung zu tun. Das ist schlicht und einfach bösartig.« Maxwell dachte lange nach. »Man fühlt sich nicht immer wohl, wenn man seine Pflicht tut«, sagte er dann. »Dieser Bürger wird reprogrammiert werden, aber die Erinnerung bleibt ihm. Er muß sich daran erinnern, daß es nicht nur angenehm, sondern auch schmerzhaft war.« Sie waren jetzt ein gutes Stück vom Schauplatz der Prügelei entfernt. »Aber wie gesagt, das geht dich nichts an. Deine Schlafzone ist gleich da vorn. Dritter Korridor rechts, dann geradeaus bis zum Ende. Du kannst es gar nicht verfehlen.« Rebel stand da, während dieser neue Fremde sich umdrehte und sich anschickte, wegzugehen. Es war ein so trauriger Augenblick, daß sie wünschte, sie könnte ihn ganz und gar aus dem Gedächtnis streichen. Sein ganzes Geschwätz über Verantwortung. »Maxwell?« Er blieb stehen und sah sich flüchtig um. »Ja?« »Wo ist der nächste öffentliche Dataport?« Eine glatte weiße Nische. Sie legte ihre Finger auf die Platte, und der Holoschirm wurde flackernd hell. Vor einem formlosen Hintergrund kniete eine dünne Frau im weißen Umhang auf einem roten Gebetsteppich. Sie hob den Kopf und musterte Rebel mit kalten, farblosen Augen. »Snow?« fragte Rebel. Das Bild dachte darüber nach. »Nein. Nicht Snow. Ich bin ihr Schatten.«
»Schatten?« Eine schnelle, schlangenartige Kopfbewegung, ein minimales Lächeln. Schatten, ja. Das ist ein guter Name für mich. Nenn mich Schatten. Ich habe eine Botschaft für dich. Snow glaubt, daß es vielleicht einiger Erörterung bedarf, dich davon zu überzeugen, daß deine Interessen und ihre in derselben Richtung liegen. Es waren aber keine Mitglieder ihres Netzwerks so nah bei dir, daß eine problemlose Interaktion möglich gewesen wäre. Deshalb hat sie mich geschaffen.« »Ich verstehe nicht. Was bist du?« »Ich bin eine interaktive KBI, das ist eine Künstliche Begrenzte Intelligenz. Ein zeitweiliger Avatar * , der auf der Persönlichkeit von Snow basiert. Ich besitze volle menschliche Wahrnehmungsfähigkeit und kann eine begrenzte Anzahl von Themen mit dir erörtern. Ich verfüge jedoch nicht über irrelevante Informationen und kann nicht auf irrelevante Bemerkungen reagieren. Bitte behalte das im Gedächtnis, während wir uns unterhalten.« »Du meinst also, du weißt nichts über den Verzehr toter Tiere?« »Du überschreitest die Kapazität dieses Programms.« Schatten machte eine ungeduldige Geste. »Wir haben nicht viel Zeit. KBIs werden mit einem inhärenten Desintegrationsfaktor erschaffen. Programmierer bezeichnen das als Virus. Ich werde bald sterben, ob ich meine Botschaft nun abgeliefert habe oder nicht.« Ein Aufflackern von Gefühlen in diesen Reptilienaugen. *
Im Hinduismus die Verkörperung eines göttlichen Wesens, wenn es auf die Erde herabsteigt. – Anm. d. Übers.
Rebel glaubte erraten zu können, welcher Art sie waren. »Wie lange hast du noch?« fragte sie sanft. »Wir haben bereits ein Drittel meines Lebens verschwendet.« »Okay, in Ordnung, ich hab verstanden! Wie lautet die Botschaft?« »Du mußt äußerst vorsichtig sein, wenn du deine Nische betrittst. Diamantblau siebzehn. Dort ist ein Körper. Er ist vielleicht noch nicht ganz tot.« »Was?« Rebel stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Sie war kalt und rauh. Ihre Festigkeit gab ihr Sicherheit. »Ich verstehe nicht...« »Snows Warnung lautet folgendermaßen: Ihr werdet vom Einschluß manipuliert. Du und dein Freund, die Tetrade. Der Einschluß hat den Stavka davon überzeugt, daß ihr Firmenagenten seid, industrielle Saboteure. Er hat plausible und belastende Theorien für all eure Handlungen aufgestellt und Beweise eingeschmuggelt. Der Körper ist ein solcher Beweis. Er wird in sechs Stunden entdeckt werden, und er wird sich säuberlich in andere eingeschmuggelte Beweise einfügen. Aufzeichnungen des Datensystems werden zeigen, daß nur ihr den Mord begangen haben könnt. Der Stavka wird anordnen, daß eure Persönlichkeiten gelöscht und euer Körper zu einfacher Arbeit verurteilt werden.« »Moment, Moment! Das ergibt doch keinen Sinn.« »Es ist wichtig, im Gedächtnis zu behalten, daß der Körper vielleicht noch nicht ganz tot ist. Der Mord war schwierig zu arrangieren, selbst für den Einschluß, und es besteht eine gute Chance, daß das Opfer noch am Leben ist, wenn du hineingehst. Falls ja, wird es wahrscheinlich extrem gefährlich sein.«
»Das ist unglaublich. Gefährlich auf welche Weise? Warum?« »Du hast die Kapazität dieses Programms überschritten.« Schatten wartete zwei volle Sekunden und sagte dann: »Hast du noch weitere Fragen?« »Nein. Nein, ich … ich glaube nicht.« »Bitte überlege es dir genau. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Wenn du dir Illusionen machst, die Beweise vernichten oder dich erfolgreich vor dem Stavka verteidigen zu können, laß es mich bitte wissen, damit ich dich überzeugen kann, daß es nicht geht. Diese Information habe ich bekommen.« Eine blasse, gedämpfte Sehnsucht trat in ihr Gesicht. »Du mußt mit mir interagieren. Es ist sehr hart, zu wissen, daß man sterben muß, aber noch schlimmer, wenn man sinnlos stirbt.« »Also schön. Da wir gerade vom Sinn sprechen: Warum tut mir der Einschluß das an? Was hat er davon?« »Er zwingt dich damit, zu fliehen. Du wirst feststellen, daß es nirgends im Marsorbit einen Platz gibt, wo du dich verstecken kannst. Eine Überprüfung der Zollkontrollmanifeste wird ergeben, daß die einzigen Schiffe, die in den nächsten sechs Stunden abfliegen, allesamt den Erdorbit ansteuern. Der Einschluß will dich zwingen, zur Erde zu kommen. Ich weiß nicht, warum.« »Ich aber«, sagte Rebel grimmig. »Jetzt ist mir alles klar. Ich hab nur nicht die geringste Ahnung, was ich dagegen machen soll.« Wanderwellen pulsierten durch Schatten und ließen sie erzittern, als ob man sie aus tiefem Wasser heraus sehen würde. Als sie sich stabilisierte, sagte sie: »Es ist fast vorbei mit mir. Sag mir, habe ich dir gute Dienste geleistet? Habe ich dir geholfen,
den Manipulationen des Einschlusses zu entkommen?« »Du blödes Programm! Snow arbeitet für den Einschluß. Sie will mir nicht helfen, ihm zu entkommen. Sie will nur sicher sein, daß ich ihm intakt in die Falle gehe.« »Ah«, sagte Schatten. »Das ist interessant. Sehr...« Das statische Rauschen schwoll an und überflutete das Bild. Als der Schirm wieder klar wurde, war Schatten verschwunden. Eine Ecke des Schlafbereichs war vom Flur aus zu sehen, und darin ein paar Beine, die unnatürlich still lagen. Rebel zwang sich, hineinzuspähen. Der Umhang des Mannes war über seinen Kopf geworfen, und sein Rumpf war rot von Blut. Eine häßliche Schmierspur zog sich über den Felsen hinter ihm. Rebel fror. »Hallo?« sagte sie. Der Umhang bewegte sich, als ein Arm, der sich in seinen Falten verfangen hatte, sich matt regte. Das Ende des Arms ragte aus dem Kleidungsstück heraus, ein Stumpf, der schwarz von verkrustetem Blut war. Direkt über dem Stumpf war eine Aderpresse, und über dieser ein primitiver Infektionsschutz. Selbst im Eingang stieg Rebel der Geruch von verfaulendem Fleisch in die Nase. Der Arm bewegte sich zweimal in dem Versuch, den Umhang wegzuziehen. Beim dritten Versuch gelang es ihm, und er enthüllte ein graues Gesicht, in dem der Mund weit offen stand. Hellrote Lider hoben sich langsam, und der Mann tat einen tiefen, zittrigen Atemzug. Seine Augen starrten sie mit gehetztem Blick an. Es war Jerzy Heisen, und er starb.
»He, Kleine«, sagte er schwach. »Wir haben einiges hinter uns, du und ich.« Die Gänge waren völlig still. Nicht einmal eine Bergwerksmaschine war zu hören. Anscheinend waren Wyeth und sie die einzigen, die diese Schlafräume heute benutzten. Rebel wollte Heisens Umhang entwirren, seine Arme und Beine ausstrecken und ihn beruhigen. Sie rührte sich nicht von der Tür weg. »Was ist passiert, Jerzy?« Augen schlossen sich müde. »Dumm. Dummer, verrückter Unfall. Könnte nicht noch mal passieren, selbst wenn man's drauf anlegen würde.« Er hustete krampfhaft. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte. »Ich bin von einem ausgerissenen Cybermop verstümmelt worden. Ziemlich blöd, hm? Der Supervisor muß nicht am Monitor gewesen sein – hier richten sie Leute für so einen Fehler hin. Hätte nie passieren dürfen. Ich bin auf das Scheißding draufgefallen, und einer der Reinigungsarme hat sich gelöst und mich hier reingeschleudert. Hat bestimmt ein verdammtes Schlamassel angerichtet, hm?« Rebel nickte. »Also mein Rücken ist kaputt; schau lieber nicht hin. Ich glaube, mein Rückgrat ist gebrochen.« »Ich hol einen Arzt«, sagte Rebel. Sie konnte sich nicht bewegen. »Hat keinen Zweck.« Augen öffneten sich. Sie waren unendlich traurig. »Hab mich mit sieben Kapseln Schockstoff aufgemöbelt. Das reicht, um einen Toten wieder lebendig zu machen. So eine Dosis frißt dich bei lebendigem Leibe auf.« Er lachte matt. »Sieben Kapseln. Muß sowas wie ein Rekord sein. Hör mir zu. Ich steh unter Drogen und ich sterbe; kann sein, daß es den Zwang ausgeschaltet hat, unter den sie mich gesetzt haben.
Ich muß dir was sagen. Etwas, das sie dir unbedingt verheimlichen wollen.« »Ach ja?« sagte Rebel. »Und was?« »Es ist wichtig. Deutsche Nakaso...« Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie nicht mehr zu hören war, aber Rebel beugte sich näher zu ihm, um zu hören, was er sagte. Nach einem Moment des Schweigens bewegte sich Heisen ein wenig und krächzte: »Komm näher. Kann nicht … kann nicht so laut sprechen.« »Nein.« »'s wichtig.« Heisen hustete wieder, und vor Schmerz schossen ihm Tränen in die Augen. »Muß dir's sagen.« »Ach, vergiß es! Darauf fall ich nicht rein.« »Näher«, flüsterte er. Rebel glitt langsam am Türrahmen nach unten, bis sie auf dem Boden saß. Sie lehnte den Kopf an den Stein zurück, verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und schwieg. Heisen funkelte sie an. In diesem starren Blick lag etwas Wildes und Verzweifeltes, als ob der Geist hinter diesen Augen ein kleines Tier wäre, das in einem Fußeisen gefangen und drauf und dran war, sich seinen Weg in die Freiheit zu knabbern. »So«, sagte er schließlich. »So. Du denkst … du bist so ein schlaues Miststück.« Er zuckte kraftlos, und der unter seinem Körper gefangene Arm kam mit einem Ruck von dem Umhang los. Er hielt eine Fingerklinge zwischen dem zweiten und dem dritten Knöchel. Mit einer krampfhaften Bewegung warf er das Ding nach ihr. Rebel lehnte sich zurück, und die Klinge flog vorbei. Eine Sekunde später landete sie mit einem leisen, metalli-
schen Ping an der Felswand. Der ausgestreckte Arm zeigte geradewegs auf sie. Heisen hatte nicht die Kraft, ihn zurückzuziehen. »Schlau«, sagte er. »Aber das gibt dir nicht das Recht, mir das anzutun.« Rebel zog die Füße unter sich und stand auf. Sie fühlte, wie sich die Wut in ihr ausbreitete. »Das Recht, dir …! Ich hätte von vornherein gern auf deine Bekanntschaft verzichtet. Was erwartest du von mir? Hoffst du, daß ich Lust habe, Selbstmord zu begehen? Willst du, daß ich dir dein Messer bringe und ganz nah rankomme, damit du mir die Kehle durchschneiden kannst? Ist es das?« Sie zitterte. Heisen nickte mitleiderregend. »Bitte.« »Hör bloß auf!« Endlich schloß Heisen die Augen. Seine Hand war immer noch verzweifelt ausgestreckt und griff ins Leere. Sein Kopf fiel zurück. »Du und Deutsche Nakasone«, sagte er. »Zwischen euch bin ich zu Staub zerrieben worden. Ihr habt mich umgebracht, und dabei hab ich mir nie einen Dreck aus euch gemacht.« Seine Stimme wurde schwächer. »He, jetzt hör mal!« »Hol euch der Teufel!« flüsterte er. »Euch alle!« Sie holten Bors ein, als er noch eine knappe Stunde im Sonnenraum des Mars vor sich hatte. Rebel rechnete die ganze Zeit damit, daß sie verfolgt wurden, aber das war nicht der Fall. Anscheinend hatte niemand bemerkt, daß der Hopper fort war. Trotzdem machten es die Stunden bei zweieinhalbfacher Greenwich-Schwerkraft zu einem harten Flug. Auf Deimos konnte man alles stehlen, nur keine Liegen für extreme Schwer-
kraft. Die waren nicht zu haben. Anscheinend erwartete man von den Bürgern, daß sie einfach stehenblieben und es aushielten. Als sie auf die Geschwindigkeit der Pequod heruntergingen, schüttelte Rebel bei dem Anblick den Kopf. »Ist sie das?« »Das ist 'ne echte Sehenswürdigkeit«, pflichtete ihr Wyeth bei. Am Ende der Schubstange eines Einweg-Fusionsschleppers der Workhouse-Klasse saß das seltsamste Gebilde, das Rebel je zu Gesicht bekommen hatte. Es sah so ähnlich wie ein Märchenhaus im Queen Anne-Stil aus, völlig von kunstvollkitschigem Zierat überladen, aber ein Queen Anne-Haus, wie es ein Irrer im freien Fall bauen würde. Die Türmchen und vorspringenden Anbauten, Erkerfenster, Veranden und achteckigen Dächer waren allesamt wild zusammengewürfelt und ragten in alle Richtungen. Rebel suchte unter den schuppenartigen Ziegeln, lidähnlichen Giebelfenstern und Witwenbalkons nach einem Weg ins Innere. Irgendwo unter dieser Fassade mußte ein Kühlschiff sein. »Was meinst du, wo die Luftschleuse ist?« fragte sie. »Siehst du diesen überwölbten Tudor-Portikus?« sagte Wyeth. »Den mit dem Buntglas-Oberlicht? Das muß sie sein.« »Hm? Wieso?« »An der Tür ist ein Namensschild aus Messing.« Er befahl dem Hopper, an der Pequod anzulegen, zehn Minuten zu warten, dann wieder abzulegen und in einen Bergungsorbit zurückzufallen. »Holen wir unsere Sachen.« Die Luftschleuse öffnete sich zu einem reich ausgestatteten Raum – überall Wandteppiche, gerahmte Holzschnitte in einer
getäfelten Decke und für jede Schwerkraft ausgelegte Möbel. Bors blickte von einem Sessel am Kamin auf und legte ein Buch weg. »Ich dachte mir schon, daß ihr es seid. Kommt herein und setzt euch! Wartet, ich helfe euch mit diesen Kisten.« Er schnüffelte. »Rieche ich da organische Stoffe?« Wyeth sortierte zwei Kisten aus. »Die hier müssen sanftgefroren werden. Die übrigen kann man irgendwo verstauen.« »Stauraum, bitte.« Schranktüren klappten ruckzuck auf, und eine Minute später war alles sicher untergebracht. Rebel und Wyeth hängten ihre Umhänge in einen Schrank bei der Tür. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim.« Rebel setzte sich in einen Sessel, steckte ihre Füße in die Löcher und lehnte sich zurück. »Es ist schön hier«, sagte sie. Der Kamin war von Kletterefeu überrankt. Wasser sickerte daran herunter, rann über Mauersteine und Blätter und wurde am Boden gesammelt. Dort wurde es in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten, und die Gase wurden ins Feuer geleitet, wo sie fröhlich brannten. Der Wasserdunst wurde im Rauchfang nach oben gesogen und abgekühlt und rann dann wieder über die Ziegel nach unten. Rebel hatte so etwas noch nie gesehen; es zog ihre Blicke hypnotisch an. Im privaten Reich seines Schiffes trug Bors nicht nur seine Weste, sondern auch einen grünen Hosenrock und purpurne Kniestrümpfe. Er war fast so aggressiv gekleidet wie ein Dysonweltler. »Soll ich mich ausziehen?« fragte er besorgt. »Würdet ihr euch dann wohler fühlen?« »Ach, wir sind kosmopolitisch genug«, erwiderte Wyeth. Er ließ sich in einen Sessel nieder und betrachtete müßig eine Gruppe napoleonischer Fußsoldaten aus Plastik, die in einem
Vitrinentisch neben ihm standen. »Sie könnten sich von Kopf bis Fuß in Leinen hüllen, und wir würden nicht mal blinzeln.« »Ganz wie ihr meint«, sagte Bors. »Oh, und ihr beide wißt doch, daß wir nicht mal mehr eine Stunde Schwerkraft haben? Wenn einer von euch duschen will...« Rebel blickte auf. »Duschen?« Nach dem Duschen ging es Rebel wesentlich besser. Sie war entspannt und fühlte sich wohl. Sie trocknete sich ab, zog sich an und ging über den dunkel vertäfelten Flur in den Salon zurück. Zwei Seitengänge, die in ferne Bereiche des Kühlschiffes führten, sahen verlockend aus, und sie bedauerte, daß sie keine Zeit hatte, sich umzusehen. Etwas vor ihr konnte sie die beiden Männer hören, die sich bereits wie alte Freunde unterhielten. Bors und Wyeth sprachen über Krieg und Literatur. »Man muß begreifen, in was für einem rasanten Tempo die Technologie Fortschritte gemacht hat«, sagte Bors. »Am Anfang, als die Erde ein Bewußtsein entwickelte, benutzte sie alle ihre Ressourcen, um die Technologie so effektiv wie möglich zu verbreiten. Der erste Sender-Empfänger wurde – sagen wir mal – im März implantiert, und zu Weihnachten war die gesamte Erde integriert. Was sich da in Wirklichkeit abgespielt hatte, bekamen sie außerhalb des Planeten überhaupt erst mit, als die Kriegsschiffe starteten. Wie ein Hornissenschwarm, der ihnen aus einem Brunnenschacht direkt ins Gesicht flog, wie ein Witzbold mal gesagt hat.« Rebel rückte ihren Sessel ein bißchen näher ans Feuer. Sie setzte sich, zog die Knie ans Kinn und legte die Arme um ihre Beine. Es war warm und gemütlich, und sie beobachtete ruhig,
wie das Licht des Feuers über Wyeths Gesicht spielte. »Ja, aber das ist unerheblich. Damals lebten mehrere hundert Millionen draußen im Weltraum. Sie können mir nicht erzählen, daß sie ihre Literatur nicht mitgenommen haben. Wenn in den Kriegen irgendwas verloren ging, war es wahrscheinlich zu unbedeutend, als daß sich die Wiederherstellung gelohnt hätte. Der Gedanke, daß bedeutende Werke auf ihre Entdeckung warten – na, das ist doch eine reine Phantasievorstellung.« »Nein, nein, wir sprechen ja von einer extrem kulturlosen Geschichtsperiode. Die Emigranten des ersten Jahrhunderts waren schließlich nicht unbedingt die Creme de la Creme der Erde. Und romantische Dichtung kam erst nach der Kolonisierung des Äußeren Systems wieder in Mode. Glauben Sie mir, wenn man monatelang in einem kleinen Schiff ohne Kälteschlaftechnik steckt, lernt man Anthony Trollope schätzen. Leider war inzwischen die Hälfte seiner Werke verlorengegangen.« »Aber die besten sind erhalten geblieben. Diejenigen, an denen den Menschen wirklich etwas lag – da sie wirklich lesen wollten.« »Nicht unbedingt. Denken Sie daran, daß hundertfünfzig Jahre vorher die meisten Daten elektronisch gespeichert wurden und daß die Datensysteme das erste Angriffsziel der Erde waren. In jenem ersten Kriegsmonat, bevor sich die Erde wieder auf den Planeten zurückzog, speiste sie KIs in jedes wichtige Datennetz im Inneren System ein. Die mußten alle zum Absturz gebracht werden. Es gibt sogar Leute, die behaupten, ohne Wang und Malenkov...« »Ich glaube, Malenkov war selbst eine Künstliche Intelli-
genz.« »Aber ein Patriot.« »Oh, zweifellos.« »Na, jedenfalls …« Rebel legte das Kinn auf die Knie, ließ den Kopf ein bißchen zur Seite sinken und hörte zufrieden zu. Es war behaglich, und sie war glücklich und verspürte zugleich eine gewisse Wehmut. Sie genoß die Wärme des Kamins und ließ die Worte wie ein gemütliches, sinnloses Geplapper über sich hinwegspülen, das in einem sanften, vertrauten Rhythmus anstieg und absank. Das war schön. Halt, dachte sie. Laß diesen Moment ewig dauern. »Hier ist ein Beispiel für das, was ich meine«, sagte Bors. »Hören Sie zu! Und wir steh'n wie auf einem dunklen Feld, Wo wirre Warnungen vor Kampf und Flucht erschall'n Und unwissende Armeen bei Nacht zusammenprall'n. Hübsch, nicht?« »Es ist großartig. Aber worauf wollen Sie hinaus?« »Das ist aus Matthew Arnolds Dover Beach. Aber die einzige noch vorhandene Version dieses Gedichts ist genau vierzehn Zeilen lang, ein deskriptives Fragment, in dem das, was ich zitiert habe, gar nicht vorkommt. In dem kritischen Werk, aus dem Gelehrte das ›Dunkle Feld‹-Fragment ausgegraben haben, steht, daß es ein bedeutendes Gedicht war. Nach dem, was uns davon geblieben ist, hätte man das nie geahnt.« Bors seufzte.
»Es wäre der Höhepunkt meiner Karriere, wenn ich das Original wiederfinden könnte.« Wyeth lachte und hob die Hände. »Ich gebe mich geschlagen! Sie haben absolut recht. Bestimmt werden Tausende von Manuskripten in den staubigen Winkeln der Erde gehortet, die verlorene Schätze enthalten. Neue Shakespeare-Tragödien, Bände von Bashus Haiku, die komplette Ilias, die Gegenstücke zu Kpomassies Essays über kulturelle Verantwortung.« »Also ich habe eigentlich nicht behauptet...« Eine leise Glokke ertönte, und das Feuer ging aus. Das Wasser hörte auf zu rieseln, und der Kamin glitt in die Wand und wurde von emaillierten Paneelen bedeckt. »Schauen Sie auf die Uhr! Wir kommen jetzt in den öffentlichen Sonnenraum. Haltet euch fest!« Und dann brannte der Fusionsschlepper genau aufs Stichwort aus, und die Schwerkraft war aufgehoben. Für einen kurzen, schwindelerregenden Moment der Desorientierung verlor Rebel jedes Gefühl für oben und unten. Ein leises Schnauben klang durch das Kühlschiff, als sich das Lichtsegel entfaltete. Rebels Magen hob sich, und sie mußte alles wieder hinunterschlucken, um sich nicht zu übergeben. Ihre Finger klammerten sich am Sessel fest, und das half ihr, sich zu beruhigen. Und dann war natürlich alles wieder in Ordnung. Sie ließ den Sessel los und schwebte über ihm in der Luft. »Gut«, sagte Bors. »Da wir weder die Nahrungsmittel, den Sauerstoff noch die Neigung haben, etwas anderes zu tun, wird es jetzt Zeit. Ich muß sagen, es tut mir leid, daß ich dieses Gespräch unterbrechen muß, aber vielleicht können wir es in ein paar Monaten wieder aufnehmen, wenn wir im Erdorbit sind. Die Särge, bitte.« Langsam hoben sich drei Kälteschlafkä-
sten aus einem Boden. Rebel sah sie mit einem panikähnlichen Gefühl an. Es war einfach so, daß sie noch nicht bereit war, das Bewußtsein zu verlieren. Die Monate zwischen den Planeten zu verschlafen. Zu sterben. Als Persönlichkeitsstreunerin – und Eucrasia war darin gut gewesen – wußte sie, daß ihre Identität den Kälteschlaf nicht überstehen würde. Da war dieser Augenblick der Wiederbelebung, nur ein ganz kurzer Moment, wo der Geist nicht wußte, wer er war. Völlig frei von Sehnsucht und Ego taumelte er am Rande des Nichts, griff dann nach der Identität und war wieder er selbst. Man hatte Tests durchgeführt, und die Ergebnisse waren immer die gleichen gewesen. Wenn zwei oder mehr Identitäten zur Wahl standen, gewann immer die stärkste. Nach den Normen des Wetware-Designs wurde Stärke nach den Verbindungen zum Gedächtnis gemessen. Und Eucrasias Erinnerungen waren jetzt vollständig. Wyeth drehte sich zu Rebel um und machte Anstalten, etwas zu sagen. Sie schüttelte den Kopf, und er verstummte. Sie sah an seiner starren Miene, daß auch er die Realitäten ignoriert und sich vorgemacht hatte, dieser Augenblick würde nie kommen. Er stand nicht aus seinem Sessel auf. »Ist mir da etwas entgangen?« fragte Bors und sah von einem Gesicht zum anderen. Er bekam keine Antwort. Rebel wandte sich ab und stieß sich zum nächsten Sarg hinüber. Sie überprüfte die Beschläge und machte den Deckel auf. »Sunshine …«, begann Wyeth mit erstickter Stimme.
»Nicht.« Sie schlüpfte in das Kühlaggregat und legte sich hin. Die Polsterung war steif und grau, und die Maschinenteile lagen dicht um sie herum. Sie wand sich ein wenig und schob eine Kabelschlinge weg, die in eine Hüfte drückte. Sie sah Wyeth nicht an. Sie wollte ihm sagen, daß es schön mit ihm gewesen war. Daß sie ihn liebte. Daß sie es nicht bedauerte … Nun, in diesem Punkt war sie sich keineswegs sicher. Sie bedauerte eine Menge Dinge. Aber sie wußte, wenn sie einmal zu reden anfing, würde sie nie wieder aufhören können. Am meisten wünschte sie, daß sie ihm wenigstens einen Abschiedskuß geben könnte. Wahrscheinlich war es so am besten. Lieber ein sauberes und schnelles Ende, als langsam an einer inneren Fäulnis dahinzusiechen, von der erst dann etwas zu sehen war, wenn sie ihr Werk getan und alles, was Rebel ausmachte, weggefressen hatte, so daß nichts zurückblieb als eine Frau, die nicht sie war. Sie mußte nur den Deckel schließen, sonst nichts. Dann würden die Nadeln an fünf Stellen in sie eindringen, und der jähe, stechende Schmerz würde durch die Kälte fast sofort einem tauben Gefühl weichen, das sich dann ausbreitete. Das Beschleunigungsgelee würde einströmen, und sie würde so lange wie möglich den Atem anhalten und dann den Mund aufmachen und das Gelee einatmen, und dann … nichts mehr. Da blickte sie gegen ihren Willen auf und sah Wyeths Gesicht. Es war starr und gefaßt, aber darunter konnte sie den Schmerz und das Entsetzen sehen. Sie dachte, er würde gleich anfangen zu weinen. Eine Hand hob sich ganz leicht zu ihr. Er beugte sich vor. Sie
wußte, wenn Wyeth sie berührte, und sei es auch noch so leicht, würde sie in eine Million Stücke zerspringen. Rebel langte nach oben und zog mit einem Ruck den Deckel zu.
11 Zwischen Mond und Erde SIE WAR IN EIS EINGESCHLOSSEN. Das Universum war vollkommen, kalt und still. Stromkreise lenkten Energieströme um sie herum, ohne daß sie etwas davon merkte. Sie hatte ihren Frieden gefunden. Eine Maschine schob ihr sanft einen dünnen Schlauch in den Hals und saugte das verflüssigte Gelee ab. Mit einem Grollen wie lautloser Donner wurde das ferne Eis von Wärme berührt und begann zu tauen. Nadeln drangen an sieben Stellen in sie ein, und sie stachen. Aber sie identifizierte das Gefühl nicht als Schmerz. Sie strebte jetzt durch arktische Gewässer nach oben. Sie berührte die Membran des Bewußtseins, und diese gab unter ihrer Hand nach und zerbarst in einem Aufbrodeln von weißem Schaum. Würgend durchbrach sie die Oberfläche und wurde von verwirrendem Lärm betäubt. Die Luft war kaltes Feuer. Sie versengte ihr die Lungen, als sie tief einatmete. Bors öffnete den Sarg, und sie erwachte. »Hallo«, sagte er lächelnd. »Willkommen im Reich der Lebenden.« »Ich …«, begann sie und schüttelte den Kopf. »Es war...« »Wyeth meinte, Sie könnten zunächst vielleicht noch ein bißchen verwirrt sein.« Bors streckte ihr seine Hand hin, und sie schwebte aus dem Sarg heraus. »Bitte den Saal öffnen. Die Pequod hat eine kleine Kapelle, einen Meditationsraum, wenn Ihnen das lieber ist. Vielleicht wollen Sie sich dort eine Weile
ausruhen und ungestört Ihre Gedanken ordnen.« Aber sie war nicht verwirrt. Sie war einfach zu klar im Kopf, um aus den Dingen schlau zu werden. Alles stürzte mit übermenschlicher Deutlichkeit auf sie ein, die Engel der Gedanken kamen zu schnell und zu dicht, als daß sie in Worte gefaßt werden konnten. Sie war wie ein Kind, das blind zur Welt gekommen und nun alt genug geworden war, um sein erstes Augenpaar zu bekommen. Die neuen Eindrücke blendeten sie. »Das wäre nett«, sagte sie. »Nein. Ich glaube, das werde ich tun.« Born ließ sie in einem kleinen, kugelrunden Raum allein, wo sie in der Luft schwebte. Die Kapelle hatte eine Projektionswand und ein weitmaschiges Gewächshaus-Gitter im Innern, das für jede Schwerkraft ausgelegt war. In den Zwischenräumen wucherten Pflanzen, blättrige Explosionen von Grün, die in alle Richtungen zugleich zu wachsen versuchten. Zwei kleine braune Blätter schwebten frei in der Luft, und sie rückte ein Stück beiseite, um den Raum gerecht mit ihnen zu teilen. Sie waren alle drei gleichrangig. Die Wand war auf eine EchtzeitAußenansicht eingestellt und zeigte auf der einen Seite die Erde in ihrer ganzen blauweißen Pracht und auf der anderen ein müdes altes orbitales Hongkong. Raumwerker in schlichten Anzügen wimmelten um die Tanks, Städte, Farmen und Fabriken in seinen Außenbezirken herum. Sie waren tief im orbitalen Wildwuchs zwischen Erde und Mond. Langsam sammelte sie sich. Irgend etwas stimmte nicht, aber sie war so glücklich darüber, daß es sie nicht kümmerte. Das Versprechen der Freiheit brodelte wie Gelächter in ihren Adern. Sämtliche Erinnerungen Eucrasias und die paar dicht geballten
von Rebel, die als Stütze ihrer Persönlichkeit gedient hatten, waren sicher an ihrem jeweiligen Platz untergebracht, dazu eine, die ihnen beiden gehörte: jener ekstatische Moment, als Rebel Eucrasias Gehirn eingenommen, in ihrer Begeisterung gleich zuviel des Guten getan und ein Glas über dem Programmiergerät ausgeleert hatte. Sie wußte jetzt, daß sie das getan hatte, weil sie die Tochter einer Zauberin war, und sie begriff, was das bedeutete. Das Licht jenes strahlenden Augenblicks, als sich das Wasser wie ein diamantener Drachen in der Luft gewunden hatte, machte sie immer noch blind gegenüber ihrer Aufgabe, aber das war egal. Sie wußte etwas viel Wichtigeres. Sie war immer noch Rebel. »Wo ist Wyeth?« Sie stieß sich in den Gemeinschaftsraum. »Ich muß mit ihm sprechen. Es ist wichtig.« Es fiel ihr schwer, nicht zu singen. Bors schwebte vor einem Schrank und prüfte das Inventar. Er war gerade dabei, ein Aquarell in seine Mappe zurückzustekken, und schaute überrascht auf. Behutsam legte er die Mappe in eine schmale Schublade und schloß diese. Er schaltete sein Notizbuch aus und steckte es in eine Westentasche. »Tja …«, begann er. »Das ist … das ist schöner, als neugeboren zu sein!« Sie berührte eine Wand, lachte und kreiselte wie betrunken in der Luft herum. Sie wußte mit der ganzen Gewißheit ihrer jahrelangen Ausbildung, daß es unmöglich war, als Rebel aufzuwachen, eine offenkundige Absurdität. Die Baumhänger waren außerstande, eine Persönlichkeit zu erschaffen, die den Kälteschlaf überleben konnte. Aber wenn einem ein Wunder in den Schoß
fällt, beschwert man sich nicht. »Wo ist Wyeth? Schläft er? Wecken Sie den Knaben auf!« »Ahem.« Bors hüstelte hinter vorgehaltener Hand. »Sie … äh … Sie wissen doch, daß er nicht dabei sein wollte, wenn Sie aufwachen?« »Natürlich wollte er das nicht. Das weiß ich«, erwiderte Rebel ungeduldig. »Bitte schließen Sie den Schrank ab. Wissen Sie, er hat mit mir vereinbart, Sie einen Tag später zu wecken als ihn. Er ist schon weg.« »Weg?« Es war, als ob auf einmal die Farben aus allem herausgesogen würden. In der Luft blieb eine leichte Kälte zurück. »Wohin?« Bors machte aus Höflichkeit ein verlegenes Gesicht und sagte leise: »Ich habe wirklich keine Ahnung.« Geesinkfor war eine antiquierte Bernalkugel mit Fensterringen, die um die Rotationspole liefen. Die Fenster und Spiegel des Hongkongs waren seit Jahren nicht mehr saubergemacht worden, und das Innere war in ein düsteres Zwielicht versunken. Aber die Hälfte der Kühlungen war kaputt, weil die Anlagen immer weniger gewartet wurden, und so kam es aufs Gleiche hinaus. Saubere Fenster hätten das Innere nur überhitzt. So erklärte Bors es ihr jedenfalls. Einige Luftskrubber mußten ebenfalls kaputt sein, denn die Luft war schal und roch faulig. Die Gebäude waren alle mittelgroß, zehn bis zwanzig Stockwerke hoch, und hatten sich aus dem äquatorialen Altstadtgebiet über die Hänge ausgebreitet, fast bis zum Rand der Fenster. »Wer ist denn so blöd, eine vollkommen künstliche Umgebung
zu bauen und dann Gebäude reinzustellen, die für einen Planetenboden gedacht sind?« grummelte Rebel. »Wo bleibt denn Ihr Sinn für Geschichte?« fragte Bors. »Das ist einer der ersten vierzig Kanister, die je gebaut wurden. Damals hatten sie das noch nicht alles durchdacht. He, schauen Sie sich das hier an!« Er trabte über den Platz zu der Stelle, wo ein riesiger Mondstein aus Basalt zu einer primitiven Steinaxt behauen worden war. Hunderte von Gesichtern schauten voller Angst und Verzweiflung aus der Tiefe des Steins heraus. Sie waren im Begriff, miteinander zu verschmelzen. Langsam las er die archaische spanische Inschrift auf dem Sockel. »Es ist ein Kriegerdenkmal für die Millionen, die gefangen und absorbiert worden sind. Der Einschluß hat hier an diesem Ort ein Abfertigungszentrum errichtet, seine Opfer in Flugkörper gepackt und sie in die Atmosphäre geschossen. Eine ganz primitive Methode. Nicht einmal die Hälfte hat es überlebt und ist dann von der Erde geschluckt worden.« Rebel sah sich nervös auf dem schmutzigen Platz um. Er war so gut wie leer. Eine alte Raumfahrerin in einem zerrissenen Anzug taumelte mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Eine Frau in Polizistenleder sah gelangweilt zu. Rebel hakte Bors unter. »Ja, okay. Das ist alles lange her. Machen wir, daß wir hier wegkommen!« Bors führte sie tiefer in die Altstadt hinein, in Richtung zum Äquatorsee. Das war ein stehendes Gewässer von der Breite eines terranischen Flusses, ein Überbleibsel aus den frühen Tagen von Geesinkfor, als das Wasser in der Hülle nach oben gepumpt wurde und in malerischen Bächen wieder herunterfloß. Die Hälfte der Gebäude, die auf den See hinausblickten,
war baufällig; die Fenster waren völlig verdreckt. Aber dazwischen gab es die schmierigen Läden, Bars und Waffenbasare mit ihrer lärmenden Musik und dem bunten holographischen Geflimmer, die die hiesige Vergnügungsmeile bildeten. Hier würde man den grauen Markt der chirurgischen WetwareLäden finden. Ein paar Fußgänger drückten sich verstohlen auf dem Gehweg herum. Ein Motortrike schoß vorbei. Rebel riß Bors von der aufspritzenden Wasserfahne zurück, als es durch eine Pfütze fuhr, und sagte: »Okay, jetzt reicht's. Gehen wir ein Zimmer für mich suchen.« Sie drehten dem schwarzen Wasser den Rücken zu und stapften den Hang hinauf. Ein Cybertaxi klebte ihnen in der Hoffnung auf eine Tour an den Fersen, aber sie ignorierten es, und es raste schließlich davon. Da und dort flimmerte die Propaganda irgendwelcher Unternehmen über leere Wände und abgenutzte Straßen. Dort, wo die Lautsprecher nicht zerstört worden waren, ertönte das verführerische Gemurmel der körperlosen Stimmen. »Sie brauchen wirklich nicht so schnell aus der Pequod auszuziehen. Ich könnte Sie leicht noch eine Woche oder so beherbergen.« Rebel trug das Armband aus Elfenbein, das Wyeth ihr damals im Sheraton gegeben hatte. Sie berührte es jetzt, und die düstere Umgebung verwandelte sich in eine Zauberstadt aus roten und blauen Lichtern, durch die sich gelbe Kraftlinien zogen. In einer Straße über ihr sah sie eine Tausendfüßlerlinie von Einschlußleuten, die durch interaktive elektromagnetische Kraftlinien miteinander verstrickt waren. Und tief in Bors' Innerem sah sie das Glimmen feiner Maschinen, die lautlos warteten. Worum es sich dabei auch handeln mochte, ein schlichter Händler mit
wertvollen alten Daten brauchte so etwas nicht. »Das ist sehr großzügig von Ihnen, aber auf Ihrem Schiff werde ich Wyeth nicht finden. Hören Sie, würden Sie ihm was von mir ausrichten, falls Sie ihn noch mal sehen? Sagen Sie ihm, daß ich die Tochter einer Zauberin bin.« »Weiß er denn, was das bedeutet?« »Nein, aber er wird neugierig genug sein, um es rauszufinden.« Sie gingen schweigend weiter. Bors warf ihr hin und wieder einen Blick zu, als ob er die Gedanken hinter ihrer neuen Wetware-Bemalung zu lesen versuchte. Sie mochte Bors wirklich und wünschte, sie könnte ihm vertrauen, aber Eucrasia war zu oft von Freunden verraten worden, und all diese Erinnerungen waren jetzt die ihren. Sie wagte nicht, Eucrasias Fehler zu wiederholen. Als sie um eine Ecke kamen, schaute Rebel in ein dreißig Meter hohes Nasenloch hinauf und taumelte mit einem leichten Schwindelgefühl einen Schritt zurück. Die Propagandaschirme konnten Dinge in wahrhaftig groteskem Maßstab darstellen. Ozeane spülten über das Gebäude hinweg, und sechs unglaublich lange Fingernägel fuhren über den Schirm und spießten eine Tomate auf. Eucrasia war visuell gebildet gewesen, aber die Ikonographie der Unternehmen in den Staaten zwischen Mond und Erde war anders als in den Clustern, und sie konnte kein einziges Bild entziffern. Aus der Tomate quoll stoßweise Blut. »Wer schmeißt eigentlich den Laden hier?« fragte Rebel. »Und was für eine Regierung haben sie?« Bors zuckte die Achseln. »Das weiß niemand.« Sie kamen zu einem obsidianschwarzen Gebäude und betra-
ten das Foyer. Sicherheitsvorrichtungen erhoben sich aus ihrer Ruhestellung, folgten ihnen mit auf Gelenken sitzenden Köpfen und sanken dann wieder nach unten. Ein fetter Mann mit brandneuen Armen (sie waren rosa und lächerlich dünn) trat aus dem Schatten. Seine Augen waren schläfrig, und sein Brusthaar war blau gefärbt, damit es zu seiner Fliege paßte. »Ja?« »Ich hätte gern ein Zimmer«, sagte Rebel. Da sie nicht wagte, ihren echten Namen anzugeben, aber trotzdem etwas brauchte, das Wyeth erkennen würde, wenn er sie suchen kam, fuhr sie fort: »Mein Name ist Sunshine.« Sie zuckte die Achseln, um anzudeuten, daß sie keinen Familiennamen hatte. Der fette Mann grunzte und brachte eine schmierige Glasplatte zum Vorschein. »Legen Sie Ihre Hand hier drauf. Ja, okay. Rauf in den dritten Stock, nehmen Sie die Tür, die blau wird, wenn Sie hinkommen. Kostet Sie fünfundvierzig Minuten pro Tag.« »Das klingt fair.« Rebel nahm die Kiste, die Bors für sie getragen hatte. »Versprechen Sie mir, daß Sie ab und zu mal vorbeikommen, um zu sehen, wie es läuft, Bors? Das wäre nett.« Er nickte, blinzelte ihr zu, grinste und war fort. Der fette Mann drehte sich wieder um. »He, war das ein Bors?« »Äh … ja.« Er lächelte. »Einer von denen hat mir mal 'n Gefallen getan. Wenn Sie ihn nächstesmal sehen, sagen Sie ihm, falls er mal ein Zimmer braucht, kriegt er's bei mir zu 'nem guten Preis.« Rebel nahm einen Job in einem Laden namens Cerebrum City an. In den vorderen Räumen gab es stapelweise überholte Wetware und ein paar Regale mit den aktuellen Billigkopien,
aber der ganze Profit wurde mit einem Schneiderladen im Hinterzimmer gemacht. Dorthin kamen die ganzen billigen Ganoven, krank vor Paranoia und Verzweiflung, und setzten ihre Hoffnung in ein kleines Stück chirurgischer Wetware. Sie kamen müde, manchmal sogar zitternd herein, um sich den Mut, die Tapferkeit oder auch Verzweiflung zu kaufen, die sie brauchten, um mit ihren Geschäften weitermachen zu können. Flüchtlinge kamen, die ihre Fluchtmuster ändern wollten. Typen von der Straße, die immer Pech hatten und nun nach der Siegerpersönlichkeit suchten, die sich ihnen bisher immer entzogen hatte. Hin und wieder kamen auch Abenteurer, die im Abstiegsschacht zur Erde hinunter wollten und dort bei irgendeinem obskuren Unternehmen groß abzusahnen hofften, und die wurden dann mächtig geschröpft, denn das, was sie wollten, war alles andere als legal. Wenn Rebel die letzten Spuren von Angst oder Mitgefühl ausgemerzt, ihnen noch einen vor Verschlagenheit irren Blick verschafft und ihre Reflexe auf haarfeine Auslöser justiert hatte, waren sie so wenig menschlich wie der Einschluß selbst. Nach ein paar Tagen konnte Rebel ihre Kunden schon mit einem Blick einordnen. Nach einer Woche hörte sie auf, sich Gedanken zu machen. In ihren Augen waren sie alle gleich. Sie arbeitete in einem kleinen Raum mit Holzvertäfelung und einer Wand voller Matrizenplatten mit Wetware-Wafern und konzentrierte sich auf ihren Job. Es war eine Billigversion der Konstruktion neuer Charaktere, und darin war Eucrasia sehr gut gewesen. Sie konnte eine Persönlichkeit in anderthalb Stunden Greenwichzeit zurechtschneidern und anpassen, und darin lag eine professionelle Befriedigung. Die Arbeit gefiel ihr.
Sie wagte vielleicht nicht, darüber nachzudenken, was aus ihren Kunden werden mochte, aber sie pfuschte nie. Es gab noch zwei Maßschneider in Cerebrum City. Der eine war ein bleicher, nervöser junger Mann mit langen Fingern, der immer zu spät kam. Die andere war eine stämmige Frau namens Khadijah. Sie hatte dunkle Augen, einen zynischen Mund und eine Affäre mit dem bleichen, nervösen Mann. Eines Tages, als Rebel schon zwei Wochen dort arbeitete, kam der nervöse Mann überhaupt nicht. Sie hatte ihren letzten Kunden für diesen Tag auf einer Bahre liegen; er war verkabelt und offen, als der Vorhang aufgerissen wurde und Khadijah in den Raum stampfte. Sie war noch nie hereingekommen. Der Kunde – ein Strichjunge, der gekommen war, um sein Interesse an Sex wiederbeleben zu lassen – folgte ihr mit dem Blick, während sie herumschlich, und grinste sie blöde an. »Mach die Augen zu«, befahl ihm Rebel. »So. Kannst du dir ein Einhorn vorstellen?« »Nein.« »Hmmm.« Rebel zog einen Wafer heraus und steckte ihn in ein Schallbad. Während das Gerät ihn vom Mikrostaub reinigte, kam ihr in den Sinn, daß dieses Geschöpf frei aus dem Raum gehen würde, wenn sie sein Interesse am Sex ganz ausmerzen würde. Der Junge würde seinen Beruf aufgeben und nie einen Blick zurückwerfen. Aber Eucrasia hätte sich nicht unaufgefordert eingemischt, und Rebel begann das professionelle Urteil der Frau allmählich zu respektieren. Sie setzte den Wafer wieder ein. »Und wie ist es jetzt?« »Ja.« Khadijah fuhr mit dem Finger über ein Bord mit Wafern und
ließ sie in ihren Fächern rattern. Sie zog sich in den Eingang zurück, blieb dort stehen und hielt den Vorhang hoch. »Hör mal«, sagte sie schließlich, »wollen wir beide nach der Arbeit ausgehen und uns einen ansaufen? Wie wär's?« Nach der Arbeit sah Rebel immer in ihrem Zimmer nach, ob jemand eine Botschaft hinterlassen hatte, und strich dann auf den Straßen von Geesinkfor herum, lernte, wie es dort zuging, und hielt Ausschau nach Wyeth. Bis jetzt hatte sie noch keine zuverlässigen Spuren, aber es gab noch viel zu tun. Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis, saufen zu gehen. Aber sie erinnerte sich an eine Zeit, als Eucrasia jemand gebraucht hatte, mit dem sie sich betrinken konnte, und niemand dagewesen war. »Klar«, sagte sie. »Sobald ich mit dem hier fertig bin.« Khadijah nickte und verdrückte sich aus dem Zimmer. »So.« Rebel hielt eine Hand hoch. »Wie viele Finger?« »Vier.« Sie warf eine Farbe an die Wand. »Grün oder Blau?« »Blau.« »In Ordnung. Noch eins.« Sie warf ein Bild an die Wand. Es war Wyeth. »Hast du den Mann schon mal gesehen?« »Nein.« »In Ordnung. Das wär's.« Sie seufzte, führte einen letzten Integrationscheck durch und schaltete dann das Programmiergerät ein. Der Junge erschauerte und schloß die Augen, als die Programme zupackten. Sie fingen im Water's Edge an, einer dunklen kleinen Bar, die von Leuten aus ihrer Branche bevorzugt wurde, und nahmen am Fenster Platz, damit sie auf die Passanten hinunterschauen konnten. Khadijah trank ihre ersten beiden Becher Wein in
grimmigem Schweigen und klopfte auf den Tisch, um neue zu bestellen, als sie leer waren. Mitten bei ihrem dritten knurrte sie: »Männer!« »Ich weiß, was du meinst.« »Ich will nicht drüber reden.« Rebel schaute müßig aus dem Fenster und sah etwas, das sich verstohlen ein Stück Müll vom Gehweg schnappte und dann in den Schatten huschte. Es war lang und mager und mit einem grauen Pelz bedeckt. »Igitt«, sagte sie. »Hast du das gesehen? Hier gibt's Katzen!« »O ja, massenweise. Die hausen in verlassenen Gebäuden. Die Regierung hatte früher mal solche Maschinen, die sie zur Strecke brachten, große Dinger, so groß wie … wie Hunde, schätze ich, aber die Kinder haben sie dauernd ins Wasser geschubst, um zu sehen, wie sie einen Kurzen bekamen. Ist schon Jahre her. Damals war ich noch klein.« Sie lachte. »Mensch, du hättest sehen sollen, was für Feuerwerke das waren!« »Sag mal, was ist das für ein Gerede, daß keiner weiß, was für eine Regierung Geesinkfor hat?« »O ja. Das weiß niemand.« Dann, auf Rebels Blick hin: »Es stimmt! Manche Leute glauben, daß die Erde die ganzen Hongkongs regiert, durch Stellvertreter. Andere denken, die Regierungen bleiben aus Angst geheim, daß der Einschluß sie übernimmt. Und dann gibt es welche, die glauben, daß die Polizei nicht bei jedem kommt, der sie ruft, daß es bloß 'ne weitere Gang ist. Immerhin treiben sie jede Woche die Schutzgelder ein. Und niemand weiß, was einen Einsatz auslöst. Mit manchen Sachen kommst du davon, aber nicht immer. Bei anderen
Sachen sieht man nie wieder was von dir. Also ich glaub, es ist einfach sehr praktisch für die Leute, die den Laden hier schmeißen, wenn niemand weiß, wer sie sind.« »Das ist doch verrückt. An wen wendet ihr euch, wenn irgendwas schiefgeht?« »Genau.« Khadijah steckte einen Finger in ihren Wein und rührte um. »Am besten paßt man einfach auf, daß man nicht in Schwierigkeiten kommt.« »Wie macht ihr das?« Khadijah lachte und schüttelte den Kopf. »Gehen wir woanders hin.« Sie kletterten aus dem Fenster, tasteten sich an dem schmalen Sims entlang, stiegen eine rostige Treppe hinauf und kamen durch einen hell erleuchteten Dachgarten, in dem Schmetterlinge herumflatterten (»Bist du sicher, daß das der richtige Weg ist?« fragte Rebel, und Khadijah sagte: »Vertrau mir.«), dann überquerten sie eine Fußgängerbrücke und stiegen zu einer Kellerkneipe namens The Cave hinunter. Sie setzten sich an einen Tisch, der auf einem abgeflachten Stalagmiten stand, und Khadijah klopfte nach Wein. Rebel ließ ihren Blick durch den dunklen, vollen Raum schweifen. »Kommt mir vor, als hätte ich mich gar nicht von der Stelle gerührt.« »Stimmt.« Khadijah bezahlte für den Wein und hob ihren Becher. »He, Sunshine. Wie kommt es, daß du so einen aristokratischen ersten Familiennamen hast? Ich meine, du kommst doch nicht von dieser Seite des Mondes. Garantiert nicht. Ich hab hier mein ganzes Leben verbracht. Ich kenn mich aus.« Der Wein war mit einem Schuß Endorphine versetzt. Rebel merkte, wie sich ihre Stimmung hob; zugleich fühlte sie sich
entrückt, in einen ganz feinen Nebel gehüllt, der sie wie ein Kissen schützte. Jetzt konnte sie nichts verletzen. »Mein Name ist aristokratisch?« (Bei ihr daheim hätte man mit einem Glas Endorphine feingesponnene Wunder gewirkt, hätte Phantasien voller Emotionen und Illusionen gewoben. Aber auf dieser Seite der Oortschen Wolke waren die biologischen Künste primitiv.) »O ja, so wie … Kosmos Sternenkind Biddle, weißt du, oder … ah … Wunderfunke Räumung Toyokuni. Einer dieser bescheuerten Namen, die sie den Kindern gegeben haben, als es noch was Neues war, im Weltraum zu leben, und sie sich vor Begeisterung gar nicht wieder einkriegten.« »Na, irgendwie mußte ich mich ja nennen. Mich suchen alle möglichen Leute, die mich nicht finden sollen.« Khadijah nickte weise. »Also, wo kommst du nun eigentlich her?« »Von einer Dysonwelt namens Tirnannog. Schon mal was davon gehört? Nein? Naja, mein Körper ist draußen in den Gürteln geboren, wenn man's genau nimmt, aber ich – ich komme von den Kometen. Ich bin die Tochter einer Zauberin.« »Sunshine? Dieser Typ, mit dem du letzte Woche gesprochen hast, der dich besuchen kam, als wir den Laden gerade dichtmachen wollten …« »Bors?« »Ja. Der ist hier. Er spricht mit der Abstiegskünstlerin da drüben.« Rebel blickte auf und sah Bors, der ins Gespräch mit einer mürrisch dreinschauenden Frau vertieft war. Sie wartete, bis er in ihre Richtung schaute, und winkte dann lebhaft. Er winkte
zurück, sagte ein letztes Wort zu der alten Frau und schlängelte sich durch das Labyrinth künstlicher Stalaktiten und kleiner Tische zu ihr durch. Er trug immer noch die rote Weste unter seinem Umhang, was ihm ein verwegenes, gleichsam militärisches Aussehen verlieh. »Hallo, hallo«, sagte er gut gelaunt und nahm auf der Bank neben ihr Platz. »Was für ein Zufall. Kenne ich Ihre Freundin schon?« Rebel stellte sie einander vor und fragte dann: »Und was haben Sie in letzter Zeit so getrieben?« »Ah, nun ja, das ist interessant! Ich habe in den Archiven der Stadt herumgestöbert und ein fünftausend Zeilen langes episches Gedicht über die Absorptionskriege gefunden, alles in rhythmischen Reimpaaren, von einer Frau, die das Ganze überlebt hat. Sie ist zur Schreibkraft für das Abfertigungszentrum programmiert worden, und als sie dann an die Reihe kommen sollte, hatte man gerade die Verträge unterzeichnet.« »Taugt es denn was?« fragte Rebel zweifelnd. Bors beugte sich vertraulich vor und sagte: »Es nervt. Aber es gibt trotzdem einen kleinen Markt dafür, weil es eine historische Kuriosität ist. Deshalb ist es kein totaler Verlust für mich.« »Ich hab mal mit einem Bors geschlafen«, sagte Khadijah. »Tatsächlich?« Bors' Stimme klang erfreut. Der Raum verzerrte sich auf einmal, so daß alles darin ganz klein wurde, nur Rebel selbst nicht. Sie war riesengroß, und ihr Kopf wackelte hin und her wie ein Ballon. Sie hätte alles mit ihrem Daumen zerquetschen können. »Ich hätte nicht gedacht, daß er dein Typ ist«, sagte sie. »War er auch nicht.« Khadijah schwieg einen Moment lang. »Ach, zum Teufel – schau ihn dir an, du mußt doch zugeben,
daß er Charme hat. Er war okay. Hast du nie mit jemand geschlafen, der nicht dein Typ war?« »Doch, klar.« Sie dachte an Wyeth – groß, schlaksig, blaß. Und meistens ernst. Überhaupt nicht ihr Typ. Sie wäre nie mit ihm ins Bett gegangen, wenn sie sich nicht in ihn verliebt hätte. Sie holte tief Luft und schrumpfte übergangslos rapide zusammen, so daß der übrige Raum wieder annähernd seine normale Größe hatte. Khadijah beäugte Bors. »Ihr basiert doch auf irgend so einem Spion, oder?« »Ach ja?« Bors' Augen zwinkerten. »Na klar. Einer dieser kleinen Monde im Äußeren System, so eine Operettenrepublik – die haben alle ihre Agenten als Bors programmiert. Dann hat jemand eine Raubkopie für einen der großen Wetware-Konzerne hergestellt.« »Was ist dann passiert?« fragte Rebel. »Nichts ist passiert. Aber jemand hat bei dem Deal reichlich abgesahnt, da kannst du drauf wetten. In diesem Teil des Systems ist das immer noch eine beliebte Persönlichkeit, dieser Bors. Ich hab gestern einen gesehen.« »Ich glaube, das war ich«, sagte Bors mild. Khadijah starrte ihn einen Moment lang verblüfft an. Dann fing sie an zu lachen. Es begann mit etwas, das wie ein kleiner Schluckauf klang, und entwickelte sich zu langen, geräuschvollen Keuchlauten. Sie schnappte nach Luft und schlug auf den Tisch. »Hören Sie«, sagte Bors. »Ich wollte eigentlich morgen vorbeikommen. Meine Arbeit hier ist erledigt, und ich muß noch ein paar anderen Staaten diesseits des Mondes einen Besuch
abstatten, bevor ich den Abstiegsschacht zur Erde nehme. Aber ich wollte nicht abfliegen, ohne auf Wiedersehen zu sagen und Ihnen Glück zu wünschen.« »Mehr Wein.« Khadijah klopfte auf den Tisch. Rebel und Khadijah torkelten irgendwie eine leere Straße entlang, wobei sie sich gegenseitig stützten. Sie mußten eine Schwelle überschritten haben, denn Rebel hatte völlig den Überblick über die letzten … Minuten? Stunden? … verloren. »Die Tochter einer Zauberin«, erklärte sie. »Also zuerst mal, du weißt doch, was eine Zauberin ist, stimmt's?« »Nee«, sagte Khadijah. Auf ihrem Gesicht waren getrocknete Tränenspuren. »Zum Teufel, ich wußte, daß er nicht bei mir bleiben würde.« »Eine Zauberin ist sowas wie 'n echter Supercrack von 'ner Biotechnikerin. Ich meine, solche Typen sind so selten wie – sagen wir mal – Rembrandt. Das sind die Leute mit dem kreativen Saft, bei denen die biologischen Künste brav Männchen machen. Draußen in den Kometen gelten die 'ne Menge. Aber sie haben die Tendenz, eifersüchtig über ihre Fähigkeiten zu wachen. Sie sind talentiert, aber mißtrauisch.« »Trau keinem Mann, dessen Finger länger sind als sein Schwanz.« »Wenn sie also einen Boten brauchen, dem sie vertrauen können, dann erschaffen sie einen Klon von sich selbst und programmieren den mit ihrer eigenen Persönlichkeit. Nun isses aber so, daß die Identität normalerweise … abdriftet, weißt du? Die Persönlichkeit der Tochter einer Zauberin ist also keine hundertprozentige Kopie; sie ist verändert, damit sie praktisch
für alle Zeit die Identität mit der Zauberin beibehält. Das nennen sie Integrität. Ich weiß nicht, wie das gemacht wird – das weiß nur das Ich meiner Mutter. Aber wie auch immer, ich bin die Tochter einer Zauberin. Ihre Botschaft ist bei mir sicher.« »Und was ist das für 'ne Botschaft?« fragte Khadijah. »Kann mich nicht erinnern.« Sie sahen sich an. Dann krümmten sie sich beide vor Lachen, hielten sich gegenseitig an den Schultern und Unterarmen fest, um nicht hinzufallen, und lehnten sich nach vorn, bis sich ihre Stirnen berührten. Sie hatten sich gerade wieder berappelt, als eine Schlange von Einschlußleuten, nicht länger als zwanzig Einheiten, im Gleichschritt zum See hinunter vorbeimarschierte. Sie trugen identische graue Coveralls, und an jedem Kopf baumelte der gleiche vertraute Zopf. Ein Dutzend Blitzkugeln schwebten über ihnen. Die Kugeln zischten und knisterten und erfüllten die Straße mit einem unsteten blauen Licht. Rebels Nackenhaare sträubten sich. »He, Erde!« rief Rebel. Das zweite Geschöpf in der Schlange drehte abrupt den Kopf. Ausdruckslose, wachsame Augen sahen sie an. Rebel drehte sich um, bückte sich, hob ihren Umhang hoch und machte ein lautes Furzgeräusch mit dem Mund. Die Einschlußleute reagierten nicht. Sie gingen gelassen weiter. Khadijah lachte so heftig, daß sie Schwierigkeiten hatte, sich auf den Beinen zu halten. »O Gott, Sunshine! Du bist unmöglich, weißt du das?« Der Einschluß betrat den Bürgersteig und marschierte geradewegs aufs Ufer zu. Dort fehlte ein Stück des Geländers, und
der erste stieg aufs Wasser hinunter. Die glühenden Blitzkugeln sanken plötzlich nach unten, fast bis zur Oberfläche des Sees, und das Wasser sang. Es stieg im Bogen bis zum Fuß des Einschlußmanns hoch und zitterte wie eine in extremer Zeitlupe vibrierende Violinsaite. Würdevoll wie eine Prozession überquerte der Einschluß den See. Das Wasser unter ihren Füßen kräuselte sich vor Spannung. Auf der anderen Seite gingen sie eine dunkle Straße hinauf, wurden immer kleiner und undeutlicher und waren schließlich im Dunkeln verschwunden. Am nächsten Tag wachte Rebel mit einem mörderischen Kater auf. »Ohhhh, Scheiße.« Sie setzte sich auf den Rand ihrer Liege und krümmte sich dann vornüber, beide Hände an den Kopf gepreßt. Ihr war schlecht, und sie hatte Durchfall. Dann erinnerte sie sich daran, wie sie den Einschluß angefurzt hatte, und ihr wurde noch schlechter. Sobald sie dazu imstande war, ging sie hinaus und kaufte sich einen Liter Wasser. Dann machte sie beim Laden eines Wurzelwerkers halt, um sich einen Armbandegel zu kaufen, und legte ihn um ihren Oberarm. Ein Blutrinnsal begann durch die schwarzgrauen Skrubber zu fließen und wurde von Ermüdungsgiften gereinigt wieder in ihren Körper zurückgeleitet. Als sie zur Arbeit kam, hatte sie das Wasser ausgetrunken und fühlte sich beinahe normal. Glücklicherweise war in Cerebrum City nicht allzuviel los. Khadijah war hinter verschlossenen Türen bereits mit einem komplizierten Stress-Tuning beschäftigt, und in den ersten paar
Stunden kam sonst niemand herein. Rebel war dankbar dafür, aber auch als das Armband blau wurde und von ihrem Arm abfiel, fühlte sie sich noch matt und lustlos. Es war ein klassischer emotionaler Kater, der seelische Rückstand ihrer Herumalberei. Nun, dafür gab es eine einfache Lösung. Rebel spürte zum ersten Mal den erregenden Kitzel des zugleich Gefährlichen und Verbotenen, als sie das Programmiergerät herausholte und mit einem Reinigungstuch über die Haftscheiben fuhr. Sie saugten sich wie kleine Münder an der Haut hinter den Ohren und auf der Stirn fest. Sie schaltete den Leseanalysator ein und ging die unbedeutenderen Funktionswafer an der Wand mit den Matrizenplatten durch. Ein sauberes Gefühl freudiger Erregung erfüllte sie. Das machte Spaß. Sie begriff jetzt, daß ihr früheres Vorurteil gegen Wetware-Programmierung eine Funktion der Tochter der Zauberin gewesen war, die ihre Integrität schützen sollte. Aber das hier war etwas anderes. Was konnte es schaden, solange sie nichts Schwerwiegendes ausprobierte? Trotzdem war es am besten, vorsichtig zu sein. Wie die meisten Persönlichkeitsstreuner hatte Eucrasia es beim erstenmal übertrieben und sich von ihrer Euphorie dazu verleiten lassen, eine Änderung nach der anderen durchzuführen und eine sinnlose Struktur von Charakterzügen aufzubauen, bis das ganze Gebilde unter der Last seiner eigenen Widersprüche zusammengebrochen war, und die Rekonstruktion ihrer ursprünglichen Persönlichkeit hatte eine sechsstündige. WetwareOperation erfordert. Trotzdem waren die psychosomatischen Funktionen simpel
genug. Jeder Idiot konnte das Gehirn dazu bringen, das glanduläre und hormonale Gleichgewicht des endokrinen Systems neu zu justieren, und wenn die Zusammenstellung korrekt war, würde es sie in ein großartiges körperliches Hochgefühl versetzen. Leise vor sich hinsummend schaute sie zu dem schwebenden Steppengras-Diagramm hinauf und versetzte es in Drehung. Und hielt inne. Verdammt, das war interessant. Sie ließ die Kugel noch einmal rotieren, diesmal langsamer. Ja. Da zog sich ein kreisrundes Gebilde – eine Art psychischer Möbiusschleife – durch die gesamte Persönlichkeit und berührte alle Zweige, ohne jedoch von einem abhängig zu sein. Wie konnte eine solche Schimäre entstehen? Sie war offenkundig künstlich, und dennoch konnten keine Wetware-Techniken, von denen sie je gehört hatte (und Eucrasia war in diesem Fachgebiet auf dem laufenden gewesen), etwas Derartiges hervorbringen. Fasziniert steckte sie einen leeren Wafer in das Aufzeichnungsgerät. Als ihr erster Kunde hereinkam, hatte sie völlig vergessen, daß sie ihrem Körper eigentlich einen therapeutischen Schub hatte verpassen wollen. Sie stand da, drehte die qualitativ professionelle Aufzeichnung ihrer Persönlichkeit in der Hand um und überlegte erstaunt, daß Deutsche Nakasone bereit gewesen war, sie wegen dieses kleinen Keramikplättchens zu töten. Der Junge kam herein und hustete, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er sah nicht älter als fünfzehn aus. Rebel steckte den Wafer in ihre Tasche und erkundigte sich: »Na, was kann ich für dich tun?« Das Wunderbare, das Magische an dem Wafer waren natür-
lich die herrlichen Einblicke in neue psychologische Richtungen, neue Wahrnehmungsweisen und ganz neue Denkstrukturen, die er eröffnete. Mit den Fähigkeiten, die das implizierte, konnte sie alles erschaffen. Ausnahmslos alles. Es war eine jener Entdeckungen, die alte Universen zertrümmern und an ihrer Stelle neue auftun. Nach der Arbeit nahm sie den Omnibus zur oberen Station des Abstiegsschachts. Sie hatte diesen Teil ihrer Suche so lange wie möglich hinausgeschoben, weil der Abstiegsschacht eine Schöpfung des Einschlusses und die obere Station wahrscheinlich völlig von ihm durchsetzt war. Aber sie war jetzt überzeugt, daß sie Wyeth in Geesinkfor nicht finden würde, daß er weitergezogen war, falls er sich überhaupt je dort aufgehalten hatte, entweder zu einem anderen Staat diesseits des Mondes oder zur Erde hinunter. Wenn man von Wyeths Ansichten ausging, höchstwahrscheinlich zur Erde. Der Bus brauchte zehn Minuten bis zur oberen Station. Rebel hatte sich so aufgerüstet, daß ihr Gesicht völlig starr war – Emotionen und Gesichtsausdruck waren total getrennt –, und sie hatte zusätzlich zu der Leerebemalung auf ihrer Stirn einen kurzen schwarzen Strich wie einen Dolch über ihr linkes Auge gezogen. Sie war jetzt das lebende Abbild eines Geheimkuriers, ein kleines Rädchen im geschäftlichen und politischen Getriebe, dazu aufgerüstet, bei dem geringsten Versuch, an ihrem Gehirn herumzupfuschen, alle Informationen zu löschen und sich in katatonische Starre zu versetzen. Niemand würde sie eines
zweiten Blickes würdigen. Vom Bus aus sah die Erde hell und strahlend aus, so verblüffend schön, wie jeder behauptete – das Wunder des Systems. Von hier aus konnte man nichts von den Werken des Einschlusses sehen. Die obere Station zeichnete sich vor ihr ab, ein schmaler Felsreifen. Es war ein kohlenhaltiger Asteroid, den der Einschluß gekauft und mittels seiner unbegreiflichen Physik in die gewünschte Form gebracht hatte. Ins Innere war ein Transitring eingepaßt worden, und ein labyrinthisches Gewirr von Korridoren durchzog ihn auf ganzer Länge. Er drehte sich im geosynchronen Orbit direkt über einer Bodenstation mit einem gleichartigen Transitring. Schäfchenwolken bildeten einen riesigen Kranz um die Bodenstation. Die Technologie des Einschlusses hielt die Luft irgendwie von der Verbindungsstrecke zwischen den Transitringen fern, so daß ein Schacht aus völlig luftleerem Raum fast bis zur Oberfläche des Planeten reichte, und das wirkte sich auf die lokalen Wettersysteme aus. Rebel konnte noch drei weitere solche Wolkenringe auf dieser Seite der Erdkugel sehen. Ein stetiger Strom von Luft-und-Vakuum-Flugmaschinen ging in den Ring der oberen Station hinein und heraus. Manche wurden zur Bodenstation hinuntergeschleudert, während andere gerade bei ihrem Aufstieg im Vakuumschacht erfaßt worden waren. Jeder Passagier und sämtliche Fracht wurde vor dem Abstieg und nach dem Aufstieg durch die von Menschen geführten Sektionen der oberen Station geleitet. Es war ein furchtbar geschäftiger Ort. Der Bus dockte an, und Rebel ging durch die Sicherheitstore
in den äußeren Korridorkranz des Rings. Sie ließ sich von den dahinströmenden Menschenmassen mitziehen. Hin und wieder kam sie an Wandtafeln vorbei, die die Anzahl der abgeflogenen und eingefangenen Maschinen sowie die veränderlichen Energiereserven der Station anzeigten (aufwärts für jede eingefangene, abwärts für jede losgeschickte Maschine), aber letzteres diente nur zur Show, da Menschen keinen Zugang zur Transitmaschinerie hatten. Ab und zu eilte eine Kette von rund hundert Einschlußleuten vorbei, aber das kam selten vor. Die meisten blieben offenbar in ihren Korridoren. Häufiger waren da schon die flinken Geräte, die zwischen Beinen und durch Menschenansammlungen hindurchsausten, kleine, schlaue Apparate, die Dinge packten und trugen oder wie wild saubermachten. Keiner davon hatte auch nur annähernd so etwas wie ein Bewußtsein, und doch vermittelte es Rebel ein unbehagliches Gefühl, wie normal sie hier waren. Es schien ein Zeichen dafür zu sein, wie hoffnungslos die Menschen zwischen Erde und Mond durch intelligente Maschinen gefährdet waren. Es überraschte sie, daß ihnen ihr Schuldgefühl nicht ins Gesicht geschrieben stand. Unterschwellige Botschaften fluteten durch die Korridore, aber keine davon war an Rebel gerichtet, und ihr fehlten die Decoder. Sie riefen bei ihr nur Nervosität hervor und bewirkten, daß ihr heiß wurde. Ihr Gesicht juckte. Sie nahm eine Seitenrampe zu den Verwaltungsbereichen und bemerkte dabei, wie ein Sicherheitssamurai in ihre Richtung blickte und leise etwas in seine Hand sagte. Sie war angekündigt worden. Aber sie ging selbstsicher weiter, als ob sie hierher gehörte. Bei halber Greenwich-Schwerkraft konnte man
hervorragend laufen; genug Zugkraft an den Füßen, daß sie Halt fanden, nicht genug Gewicht, um sie müde zu machen. Sie gelangte an eine Reihe von Sicherheitstoren, die alle mit dem Radlogo der Erde und einem dunklen Balken darüber gekennzeichnet waren: Kein Zutritt für den Einschluß. Sublime Anweisungen drangen auf sie ein und bewirkten, daß sie sich unwillkommen fühlte und gern wieder gegangen wäre. Jedes dieser Tore war ihr recht. Sie ging neben einer wichtig aussehenden Frau her und legte ihr in dem Moment, als sie durch ein Tor eilte, einen Arm um die Schulter, so daß die Cybernetik in ihnen ein einzelnes Individuum sehen mußte. Die Frau warf einen Blick in Rebels totes Gesicht und zuckte zurück. »Wer … wer, zum Teufel, sind Sie?« rief sie. Samurais kamen mit schnellen Schritten auf sie zu. Dann erkannte die Frau ihre Bemalung. »Ach du Scheiße«, entfuhr es ihr. »Eine von denen.« Zu dem weißhaarigen Samurai, der als erster bei ihnen war, sagte sie: »Hilf dieser Frau, denjenigen zu finden, den sie sucht, und dann nichts wie raus mit ihr!« »Typen wie du gehen einem echt auf die Eier«, sagte der Samurai. »Dann hilf mir doch nicht«, erwiderte Rebel völlig desinteressiert. »Wirf mich raus! Meine Botschaft ist bei Bache-Hidalgo versichert. Wenn ich's nicht schaffe, programmieren sie zwei neue Kuriere und schicken sie her. Wenn die's auch nicht schaffen, kommen vier. Dann acht. Früher oder später werdet ihr mitspielen.« Das war ein Verfahren, das Eucrasia im Lauf ihres Praktikums oft gesehen hatte. Verwaltungsbeamte haßten
versicherte Kuriere, weil sie so beharrlich wie Küchenschaben und genauso schwer auszurotten waren. Die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, war, mit ihnen zu kooperieren. »Du kriegst deine Hilfe«, fauchte die Frau. Sie führte Rebel tief ins Sicherheitsland hinein. Massenweise Samurais. »Okay, wir sind im Archiv. Also, für wen ist deine Botschaft, und wann ist er hier durchgekommen?« »Ich hab keinen Namen«, sagte Rebel. »Er müßte irgendwann von fünf Grad Stier bis jetzt durchgekommen sein.« Sie standen in einem Bürobereich, der so dicht von Kletterpflanzen überwuchert war, daß jede kleine Nische wie eine Höhle im Laub aussah. Der übermäßige Pflanzenbewuchs war ein klassisches Zeichen für eine uralte Bürokratie. Ein mausgroßer Apparat flitzte am Boden entlang und sammelte verwelkte Blätter auf. »Hier bei uns heißt das von Ende Mai bis Mitte Juni«, sagte der Samurai naserümpfend. »Na schön, das kann irgendeiner unserer Leute erledigen.« Sie beugte sich in eine Nische, wo ein schlaffer grauhaariger Mann wie hypnotisiert vor einem Bildschirm saß. Einzelaufnahmen von Gesichtern flimmerten in einem Tempo über den Schirm, bei dem eigentlich nur noch eine unterbewußte Wahrnehmung möglich war; sie wurden von den Fluren und aus den Büros eingespeist. »Rolfe! Ich hab eine Anfrage für dich.« »Ja?« Rolfe stoppte den Bilderfluß auf dem Schirm und blickte auf. Er hatte ein stumpfes, fast benommenes Gesicht, und seine Augen waren ein wenig blutunterlaufen. Der Mund und die Wangen waren schlaff. »Rolfe ist bei unserem Eidetikteam für Gesichter«, erklärte
der Samurai mit einem Anflug von Stolz. »Die Elektronik muß einmal pro Woche gelöscht werden, sonst ist sie nutzlos – man findet keine Daten mehr. Rolfe sieht sich die komprimierten elektronischen Daten an. Er muß nur einmal pro Jahr gelöscht werden und hat unbeschränkten Zugang. Zeig ihm dein Bild. Wenn deine Zielperson hier in den letzten paar Monaten durchgekommen ist – als Angestellter, Besucher oder Fluggast zum Planeten runter –, weiß er es.« Rebel hielt ihr Holo hoch. Es war eine photomechanische Rekonstruktion, die sie aus ihrem Gedächtnis entnommen hatte, aber so gut, daß es niemand merken konnte. »Den Typ schon mal gesehen?« Rolfe schaute genau hin und schüttelte den Kopf. »Nein.« Der Samurai nahm ihren Arm. »Sind Sie sicher?« rief Rebel. »Nicht die geringste Chance?« »Keine.« Den nächsten Tag verbrachte Rebel wie eine Schlafwandlerin. Sie kam ihren Pflichten mechanisch nach. Sie meldete sich zur Arbeit, interviewte ihren ersten Kunden und schneiderte ihn zurecht. Nichts davon kam ihr real vor. Sie wußte nicht, was sie als nächstes tun sollte. Wenn Wyeth nicht durch den Abstiegsschacht nach unten gegangen war, hieß das, daß er irgendwo im ausgedehnten Gewirr der Staaten diesseits des Mondes sein mußte. Das Problem war, daß es Hunderte davon gab, in allen Größen und jedem Grad von Unordnung, und das galt auch für ihre immer zahlreicher werdenden Slums. Sie konnte den Rest ihres Lebens mit der Suche nach ihm verbringen und ihn trotzdem nicht finden.
Na schön, dachte sie, vielleicht würde sie ihn wirklich nicht finden. Vielleicht war Wyeth endgültig für sie verloren. Sowas passierte Menschen ständig. Sie machte gerade einen Kunden fertig, als sie sich das endlich eingestand. Ein weiblicher Stiefelknecht war hereingekommen, um sich zum Wiesel zurechtschneidern zu lassen, und lag verkabelt und offen auf der Bahre. Die Frau trug noch ihre hautenge Polizeikluft. Rebel durchdachte die Sache mit trockener, obsessiver Logik, während ihre Hände die Arbeit machten. Wie lange konnte sie so weitersuchen? Ein Jahr? Fünf? Zwanzig? Was für ein Mensch würde sie nach dieser Zeit sein? Es war kein schöner Gedanke. »Können Sie sich ein Einhorn vorstellen?« »Ja.« Falls das eine lange Suche werden würde, die mehrere Jahre dauern sollte, würde sie ein anderes Tempo einschlagen müssen. Sie mußte sich in der Zwischenzeit irgendein anständiges Leben aufbauen. (Aber sie wollte kein anständiges Leben ohne Wyeth!) Zunächst einmal brauchte sie einen saubereren Job als diesen. Dann Freunde. Hobbies. Auch Liebhaber. Sie würde die ganze Sache sorgfältig planen müssen. »Wie viele Finger?« »Vier.« »Grün oder Blau?« »Blau.« »Schon mal den Mann hier gesehen?« »Ja.« »Gut.« Rebel lächelte. Ganz langsam lehnte sie sich an die Wand zurück und begann sorgfältig, ihre Gedanken zu ordnen.
Sie hatte es jetzt nicht besonders eilig. Vielleicht konnte sie vorne rausgehen und sich einen Stuhl borgen. Impulsiv langte sie nach unten und fuhr dem Stiefelknecht mit der Hand zärtlich durch die Haare, und die Frau grinste idiotisch zu ihr herauf. Wo sollte sie anfangen? Sie hatte eine Menge Fragen zu stellen.
12 Das Ödland AUF DER AUSSENHAUT der Pequod wuchsen Vakuumblumen. Es waren nur ein paar, die aus den Fugen der Giebelverstrebungen sprossen, aber genug, um an der Form der Blütenblätter deutlich werden zu lassen, daß sie zu einer Abart gehörten, die im Orbit diesseits des Mondes bereits heimisch war. Rebel bemerkte sie auf dem Weg ins Innere und wunderte sich ein wenig, warum Bors seine elementaren Wartungsarbeiten so lange aufgeschoben hatte. Das Schiff erkannte sie, und die Schleuse öffnete sich auf ihre Berührung hin. Ein paar Stunden später kam Bors zurück. Rebel war gerade damit fertig, Tee zu kochen. Der Topf schwebte mitten im Salon. »Sieh an!« sagte Bors in erfreutem Ton. Er zog seinen Anzug aus, legte seinen Umhang um und zog zwei Beinringe hoch. »Wie nett von Ihnen, zum Abschied vorbeizuschauen.« »Wie nett von Ihnen, das zu sagen.« Sie zog eine Spritze mit Tee auf und schob sie ihm mit einem sanften Stoß hin. »Ich hab einen Imbiß vorbereitet.« Sie nahm den Deckel von einem Tablett mit kleinen, bogenförmigen Teilchen ab, die fast wie ihre silberne Brosche geformt waren, und er nahm zwei herunter. Rebel lächelte, nippte an ihrem Tee und wartete. Nach einer höflichen Pause begann Bors: »Also. Wie läuft es mit der Suche nach Ihrem Freund Wyeth?« »Ah! Nun, das ist eine sehr interessante Frage.« Rebel beugte sich in ihrem Sessel vor. »Ich hab heute vormittag einen weibli-
chen Stiefelknecht befragt – ich hatte die Frau festgebunden und aufgemacht, wissen Sie, sie hat also garantiert nicht gelogen –, und sie hat mir einen wertvollen Hinweis gegeben.« »Ach, tatsächlich«, meinte Bors. »Ein Stiefelknecht, sagen Sie?« Er nahm noch einen Bissen von seinem Gebäck. »Das ist … ah … doch ziemlich gefährlich, oder?« »Ja. Sie kam mit so einer richtig barocken Anschlag-undGegenanschlag-Geschichte, bei der es darum ging, daß sie als Beobachterin zum Boden des Planeten runterwollte, um … na, gibt keinen Grund, Sie damit zu langweilen. Sie sagte, sie hätte Wyeth gesehen.« »Ach ja?« »Ja. Sie hat mir erzählt, sie hätte ihn mit Ihnen zusammen gesehen.« Nach einem sehr langen Schweigen, in dessen Verlauf keiner den Blick vom anderen abwandte, trank Bors einen Schuß Tee und sagte: »Sie hat sich selbstverständlich getäuscht.« »Selbstverständlich.« Rebel stand auf. Ihr natürlicher Impuls war, den Mann zu packen und so lange zu würgen, bis er die Wahrheit ausspuckte. Statt dessen lächelte sie. Eucrasia hätte niemals etwas so Kühnes getan, und in einer Situation wie dieser hatte Eucrasias Vorgehensweise durchaus ihre positiven Seiten. Ihre Chancen, Bors auf seinem Territorium zu überwältigen, waren gering. So elegant er auch sein mochte, er war ein professioneller Schläger. »Dann hole ich nur eben meinen Anzug und gehe. Tut mir leid, daß ich Ihnen Schwierigkeiten gemacht habe. Bon voyage, hm, Kumpel?« Sie schwebte zur Schleuse. Bors beobachtete sie wachsam. »Oh. Könnten Sie mir einen kleinen Gefallen tun?« Bors hob die Augenbrauen. »Sagen
Sie nur für mich: ›Bitte die Sammelschubladen öffnen‹.« »Bitte die Sammelschubladen öffnen?« wiederholte Bors verdutzt. Überall im Raum gingen Schränke zügig auf. Die Schubladen glitten eine nach der anderen heraus. Sie waren allesamt leer. »Du lieber Gott«, stieß Bors hervor. »Was haben Sie mit meinen ganzen Aquarellen gemacht? Und mit meinen Drucken?« »Die hab ich verbrannt.« Bors war aufgesprungen. Auf der Suche nach einer übersehenen Zeichnung, einem zerknüllten Druck in einer Ecke oder sonst etwas tastete er mit den Händen wie wild in den leeren Schubladen herum und knallte sie dann zu. »Das haben Sie nicht!« heulte er verzweifelt auf. »Stimmt«, sagte Rebel kalt. »Hab ich tatsächlich nicht getan.« Er sah sie an. »Erinnern Sie sich an meine beiden Kisten? Ich hab sie ausgeleert und Ihre Aquarelle in die eine und Ihre Drucke in die andere gepackt. Ich mußte das Sicherheitssystem Ihres Schiffes lahmlegen, bevor es mich an die Sachen ranließ, aber es ist verblüffend, was für Werkzeug man kaufen kann, wenn man die richtigen Connections hat – und Ihr kleiner Stiefelknecht hatte gute Connections, das kann ich Ihnen versichern.« Sie sprach zu schnell und mit zuviel Wut in der Stimme. Sie wünschte sich so sehr, Bors weh zu tun, daß sein Schmerz diesen Hunger nur noch steigerte. Eucrasia hätte gesagt, daß sie einen zyklischen Anfall von Kontrollverlust hatte. Sie holte tief Luft, schwebte zu ihrem Sessel zurück und setzte sich. »Die Kisten sind beide an einem sicheren Ort, und Sie werden sie niemals finden, wenn ich Ihnen nicht sage, wo sie sind«, fuhr sie
dann etwas ruhiger fort. »Sie können eine davon jetzt sofort zurückhaben, ohne Bedingungen. Die andere wird Sie was kosten.« Langsam nahm Bors in seinem Sessel Platz. »Ich werde meine Nation nicht verraten«, sagte er rundheraus, »auch wenn Sie sämtliche Kunstwerke im System auf einen Haufen legen und ein Streichholz dranhalten.« »Tja, Glückwunsch, Kumpel! Aber sowas verlange ich gar nicht. Geben Sie mir bloß Wyeth. Ich gebe Ihnen jetzt eine Kiste – Sie können sich aussuchen, welche – und erzähle Ihnen, wo die andere ist, sobald ich Gelegenheit hatte, mit Wyeth von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Na, was sagen Sie?« »Die Aquarelle«, sagte Bors düster. »Wo sind sie?« Die Stadt hatte keinen Namen; jedenfalls erinnerte sich niemand mehr an ihn. Sie hatte vor über hundert Jahren einen Sprung bekommen und war verlassen worden, und ihr Äußeres war von Blumen überwachsen. Jetzt flog ein kleiner Hopper durch das Loch, wo einmal ein Achsenfenster gewesen war, in das luftleere Innere. Schwarze Gebäude reckten sich nach oben und griffen nach ihnen, als sie nach unten schwebten. Es war ein kleines Navigationskunststück, weil die Stadt immer noch rotierte und die verwüsteten Gebäude ihre Lage veränderten, während sie näherkamen. »Da«, sagte Bors. Auf Straßenhöhe fiel gelbes Licht aus einem einsamen Druckfenster. In einer Spirale, bei der sich Rebels Magen in Falten legte, ließ Bors den Hopper in die Tiefe sacken, bis er sich im gleichen Tempo bewegte wie die Straße, und landete. Die alte Frau, die sie durch die Schleuse hereinließ, machte
ein mißbilligendes Gesicht, als sie Rebel sah. »Die ist doch kein Stiefelknecht«, brummte sie. Es war die Abstiegskünstlerin, die Rebel mit Bors in Geesinkfor gesehen hatte. Der Raum war randvoll mit alter Technologie – Robotsonden, Schulterdüsen, faustgroße Killersatelliten. »Meine Pläne haben sich ein bißchen geändert.« »He.« Sie schielte boshaft über ihr vorspringendes, wulstiges Kinn hinweg. »Änderungen kosten Sie was extra. Im Moment braut sich grade eine hübsche Borealis zusammen, und ich kann nicht sagen, wann's wieder soweit ist. Gefällt mir nicht, Leute ohne ein bißchen elektromagnetisches Wirrwarr in der Atmosphäre runterzubringen. Hilft, sie vor dem Einschluß zu verbergen.« »Du bist eine habgierige alte Piratin«, sagte Bors, »und ich lasse mich von Leuten wie dir nicht erpressen. Diese junge Dame nimmt die Stelle des Stiefelknechts ein, und der Abstieg wird genau nach Plan und für den vereinbarten Betrag stattfinden, oder wir können die ganze Sache einfach abblasen.« Die alte Frau scheute vor seiner Wut zurück. »Oh«, sagte sie. »Also gut.« Es war ein teurer und unauffälliger Abstieg. Wie man Rebel erklärte, sollten acht geformte Kühlaggregate fest inmitten schneeähnlicher Wolken aus abblätterndem Material verankert und dann ins Zentrum eines natürlichen Meteoritenschwarms gezogen werden. Die Meteoriten würden von der näherkommenden Erde erfaßt werden und bei Tagesanbruch niedergehen, wobei sie auf dem Weg nach unten hell aufleuchten würden – flüchtige Kratzer am blassen Morgenhimmel.
Weit unten in der Atmosphäre würden die letzten Reste des abblätternden Materials wegbrennen und Kühlaggregate freisetzen, die als Auftriebskörper konstruiert waren. Simple Cybersysteme würden sie dann in der Luft halten, ihre Geschwindigkeit reduzieren und sie zum Treffpunkt fliegen. Ihr steiler Sinkflug, bei dem sie nur schwer auszumachen waren, würde in spektakulär aufspritzenden weißen Gischtwolken enden, wenn sie in den Nordatlantik stürzten. Dann würden sie im kalten Salzwasser langsam zu sinken beginnen. Bevor sie auf den Grund absinken konnten, würden flinke dunkle Gestalten auf sie zukommen. Das waren Meeressäuger, Abkömmlinge von Robben, die für solche Aufgaben mit eingeschmuggelten Mutagenen und Bioprogrammen aufgerüstet waren. Sie würden die Köpfe durch ausfahrbare Schlingen stecken und die Särge an Land ziehen. Es war ein langsamer und komplizierter Reiseweg, aber einer, bei dem sie der Einschluß zumindest theoretisch nicht aufspüren konnte. Am Kiesstrand würden Leute auf sie warten. Rebel schlug die Augen auf. Sie befand sich in einem Raum, der wie ein Bienenstock geformt war. Greenwicher Normalschwerkraft. Unvermauerte Steinwände mit einer stattlichen Reihe nadelfeiner Lichtquellen in den Ritzen. Die Luft war ein bißchen kühl. Rebel blickte zu einer Frau in einem roten Kapuzenmantel auf. »Ich bin auf der Erde«, sagte sie. »Ja.« Die Frau hatte ein fanatisches, ausgezehrtes Gesicht mit scharfen Wangenknochen und ohne Augenbrauen. Aber ihre Stimme war sanft, und sie hielt den Kopf gesenkt. »In einer Gegend namens Ödland. Dieser Gebäudekomplex ist die Zu-
flucht. Ein Ort Gottes.« Sie zeigte auf ein Sheila-na-gig neben der Tür, eine steinerne Karikatur einer grotesken Frau mit einem Mondgesicht, die sich mit beiden Händen offenhielt. Rebel setzte sich auf. »Ihre Sachen liegen hier vor Ihnen. Der Erdanzug wird unter Ihrem Umhang getragen; das Ödland ist ein viel rauherer Ort, als sie es gewohnt sind. Diese Geweihte hier heißt Ommed. Falls Sie etwas wünschen – sie ist Ihre Sklavin.« Sie verließ den Raum. Rebel schüttelte den Kopf und begann sich anzukleiden. Der Erdanzug bestand aus einer Hose und einer Bluse aus Chamäleontuch mit vielen Verschlüssen; sie hatte einige Schwierigkeiten, herauszufinden, wie alles zusammengehörte. Als sie die Sachen anhatte, fühlte sie sich schrecklich eingepackt, mußte jedoch zugeben, daß sie nicht schlimmer als die Sachen waren, die sie als Baumhängerin getragen hatte. Sie zog ihren Umhang und ihre Schwerkraftstiefel an und nahm den Bibliothekskoffer. Das gehörte zu dem Abkommen, das sie mit Bors getroffen hatte: Sie würde als Bibliothekarin des Stoßtrupps fungieren. Dann bückte sie sich und ging zur Tür hinaus. Rebel richtete sich wieder auf und sah ungeheure Flächen grauen Felsgesteins unter einem milchigen Himmel. Die Landschaft dehnte sich bis in die Unendlichkeit und wurde mit zunehmender Entfernung immer kleiner, während sie zu einer Bergkette anstieg, die so kahl war wie der Mond. Es war alles bloßliegendes Grundgestein, von verwitterten Senken durchzogen, aus denen Büschel braunen Grases ragten. Niedrige Steinmauern zogen sich wie Adern über das Land; sie hätten tausend Jahre alt oder erst gestern erbaut worden sein können. Es war unmöglich zu erkennen. Die wenigen Geweihten, die in der
Nähe arbeiteten, waren unbedeutende Pünktchen. Sie hatte immer gehört, daß die Erde grün sei, aber dieses Land war so trostlos und gottverlassen, daß es fast schon eine Parodie der Einöde war. Mit einemmal erhob sich ein brausender Wind, und sie stolperte vorwärts. Es war, als ob ihr jemand eine Hand auf den Rücken gelegt und sie geschubst hätte. Ihre Haare und ihr Umhang flatterten vor ihr her, und in Rebel stiegen Visionen von Löchern in der Hülle und explosiven Dekompressionen hoch. »Was ist los?« schrie sie in jähem Entsetzen. »Was ist los?« Ommed war da und legte ihr einen Arm um die Taille, um ihr Halt zu geben. »Nichts. Das ist nur der Wind, der vom Meer kommt.« »Oh«, erwiderte Rebel schwach, obwohl ihr die Erklärung nichts sagte. Sie drehte sich um und schaute in die andere Richtung. Dort fiel das Land zu einem schiefergrünen Ozean ab, der von Wellen mit weißen Kämmen gesprenkelt war. Wolken aus geronnenem Grau jagten von einem undeutlich sichtbaren Horizont auf sie zu, so schnell, daß sie sehen konnte, wie sie sich dabei bewegten und miteinander verschmolzen. »Mein … Gott, das ist … es ist ja riesengroß!« Ihr war schwindlig, und sie wäre beinahe hingefallen. Überall war die Luft in Bewegung, ein gewaltiger, ruheloser Riese, größer als Berge, der die Wolken im Griff hatte. Es war alles viel zu groß. »Wie könnt ihr das aushalten?« »Wir sind hier, um uns zu erniedrigen«, sagte Ommed, »und aus diesem Grund sind uns die demütigenden Unermeßlichkeiten Gottes willkommen. Aber Sie werden selbst entdecken, daß
das, was am Anfang furchterregend wirkt, anregend sein kann, wenn man sich daran gewöhnt.« Fast atemlos vor Ungläubigkeit schaute Rebel über die Felsen und das Meer hinweg und ließ sich von ihrer ungeheuren Größe überwältigen. Hier gab es so viel von allem, daß sie fast Kopfschmerzen davon bekam, aber … ja, Ommed hatte recht. Es war schrecklich, aber zugleich geradezu grandios, als ob man zum ersten Mal eine Sinfonie in einer neuen musikalischen Form hören würde, deren Großartigkeit etwas Erschreckendes hatte. »Ihre Freunde treffen sich auf der anderen Seite der Zuflucht. Vielleicht sollten Sie jetzt auch dorthin gehen.« »Ja.« Die Zuflucht war eine ausgedehnte Ansammlung steinerner Bienenkorbhütten verschiedener Größen, die sich in einem geschwungenen Strudel den Hang hinaufzogen, eine über der anderen. Sie bestanden alle aus dem gleichen grauen Grundgestein, das überall in der Gegend vorherrschte, und die weiter entfernten Bereiche der Siedlung verschwammen fast bis zur Unsichtbarkeit, wie ein Rauchwirbel am Boden. Es war das einzige künstliche Gebilde im Umkreis. Von einem Horizont zum anderen war keine Spur von irgend etwas zu sehen, das nicht auch schon vor Jahrtausenden dort gewesen sein konnte. »Wie verbergt ihr das alles vor dem Einschluß?« fragte Rebel. »Wir nennen den großen Geist Erde«, verbesserte Ommed sie sanft. »Die Erde kennt uns gut. Sie duldet uns hier. Sie beobachtet uns. Wir wissen nicht, warum. Vielleicht hält uns die Erde für Tiere, die sie studieren kann. Vielleicht erhält sie das Ödland als eine Art Naturreservat. Die Frage ist nicht
wichtig.« »Sie beobachtet euch?« Rebel schaute sich um, sah jedoch keine Spur von Kameras. Natürlich konnte es sein, daß die Erde viel raffiniertere Geräte hatte, die extrem klein oder sehr weit entfernt waren. »Alle sieben Jahre holt sich die Erde ein Zehntel von uns, die dann vom großen Geist absorbiert werden.« »Und das macht euch nichts aus?« Sie gingen um die obere Biegung der Zuflucht herum. In den Räucherkammern dort bereiteten Geweihte Gestelle mit Fisch und Scheiben monoklonalen Proteins aus den Fermentierern vor. »Wir sind hier, um die Disziplin der Unterwerfung zu erlernen. Unterwerfung unter den Willen Gottes nimmt viele Formen an. Wir praktizieren sie alle.« Sie schaute auf, und Rebel wich vor der Intensität ihres Blicks, der wissenden Intimität ihres Lächelns zurück. »Das hier ist die Hütte. Ihre Leute sind da drin.« »Ja. Also, es war nett von Ihnen, daß Sie mir den Weg gezeigt haben.« »Sie verstehen noch nicht, welche Freude darin liegen kann, sich dem Willen eines anderen auszuliefern.« Ommed strich Rebel mit einer eiskalten Fingerspitze über den Nacken. Rebels Körper versteifte sich unwillkürlich, und sie erschauerte. »Wenn Sie es wissen möchten, fragen Sie einen der Geweihten. Wir sind alle Ihre Sklaven.« »Du meine Güte.« Rebel tauchte in die Hütte. Sie war nicht beleuchtet, und Rebel dachte zuerst, sie sei leer. Dann bewegte sich jemand; jemand anders hustete, und sie erkannte, daß eine ganze Reihe von Leuten an den Wänden
kauerten. Sie trugen alle Chamäleonstoff, und sie sahen sie alle an. Ihre Gesichter schwebten im Halbdunkel, und die Augen darin waren grausam und wachsam. Sie waren alle zu Wieseln zurechtgeschneidert worden. »Das ist eure Bibliothekarin«, sagte jemand. »Beschützt sie. Sie trägt die Fähigkeiten und Kenntnisse bei sich, die ihr zum Überleben braucht. Und wenn sie stirbt, wird jemand von euch dazu programmiert werden müssen, an ihre Stelle zu treten.« Ein leises Knurren ertönte. Vielleicht war es Gelächter gewesen. »Ihr habt eure Befehle«, fuhr die Stimme fort. »Also los!« Die Wiesel strömten nach draußen. Sie glitten völlig lautlos zu beiden Seiten an Rebel vorbei. Ihr Anführer stand auf, und die silbernen Kugeln an den Spitzen seiner Zöpfe klickerten leise. Rebel war ziemlich sicher, daß es Bors war, aber bei dem wilden Programm, das auf seinem Gesicht brannte, konnte sie es nicht ganz genau erkennen. »Du bleibst hier, Bibliothekarin.« Sie setzte sich hin. Der Anführer beugte sich näher zu ihr. Sein Gesicht wurde von einem irren, freudlosen Lächeln beherrscht. Sie konnte seinen leicht süßlichen Atem riechen, als er sagte: »Lade deine Fähigkeiten.« Rebel ließ die Bibliothek aufschnappen und fuhr mit einer Fingerspitze über ihre in den Regenbogenfarben codierte Waferliste. Geschickt schloß sie sich an das Programmiergerät an und las die roten User-Wafer ein. Es gab drei: grundlegende Forschungsfähigkeiten, Laufen auf felsigem Boden und ein Survivalpaket für den Aufenthalt auf der Erde, kombiniert mit einer Landkarte des Ödlands. An ihrer Schädelbasis summte und strudelte es weiß, als das Gerät die Struktur ihres Kurzzeit-
gedächtnisses aufzeichnete. Dann erzitterte die Luft um sie herum, als die Programme die Arme hoben und sich in luftigen Schaltkreisen und Zitadellen des Wissens zu sammeln begannen. Ihre Logik reichte durch die Wände in die Unendlichkeit, und Rebel war in einem unsichtbaren Labyrinth von Fakten gefangen. Drei Wafer waren die Obergrenze; mehr konnte nicht assimiliert werden, ohne daß die Hälfte der Daten verlorenging. Sie konnte jetzt fühlen, an welcher Stelle des Ödlands sie sich befand, auf halber Höhe der Westhänge der enormen Kalksteinformation. Das war die Kartenfunktion. Sie kannte die Hügel und Berge des Ödlands bis hin zu den Höhlennetzen unter der Oberfläche. Sie wußte, welche Fähigkeiten per Chip in ein Berserkerprogramm eingebaut werden konnten und welche nicht. (»Bibliothekarin!«) Sie wußte, wie sie ihr Gewicht verlagern mußte, wenn ein Stein unter ihren Füßen in dem Moment umkippte, wo sie darauf landete. Sie kannte die Pflanzen und Insekten des Ödlands und wußte, welche eßbar waren und welche nicht. Sie wußte, wo sie Wasser finden konnte. (»Bibliothekarin!«) Sie wußte, welche drei Fähigkeiten ein Ökosaboteur am meisten brauchte. Die Fakten schimmerten in ihr und um sie herum auf, und ihr war kalt; sie war wie gelähmt und innerlich weit entfernt. Jemand gab ihr eine Ohrfeige. Es brannte. Überrascht konzentrierte sie sich auf den Anführer und sah, wie sich das ruhige, fröhliche Nachglühen der Gewalt auf sein Gesicht senkte und unter die Haut einsank – ja, es war Bors, ganz recht. »Bibliothekarin!« wiederholte er. »Hast du deine Programme schon eingelesen?« »Äh … ja«, sagte sie mit bebender Stimme. Sie wußte jetzt,
wie man rannte. Ihre Beine zitterten in dem Wunsch, auf und davon zu stürmen. Sie hörte einen häßlichen Vogellaut draußen, ganz in der Nähe. Eine Krähe. »Bibliothekarin, du gehörst nicht zu unserem Trupp, aber wir werden trotzdem auf deine Programmierung angewiesen sein. Deshalb mußt du getestet werden. Ich möchte, daß du zum Dolmen-Portal läufst. Wenn du bis zum Sonnenuntergang dort bist, weiß ich, daß deine Fähigkeiten fest verankert sind.« Sie wußte, was der Sonnenuntergang war. Sie wußte, was das Dolmen-Portal war. »Aber das ist zwölf Meilen weit weg!« »Dann solltest du dich lieber auf die Beine machen, oder?« Sie rannte. Es war erstaunlich, wie schnell man sein konnte, wenn man wußte, was man tat. Rebel folgte einer ehemaligen Straße, die sich jetzt weitgehend im Felsgestein verloren hatte. Auf dem geborstenen Straßenbett ließ es sich jedoch besser laufen, denn das Grundgestein hatte die Tendenz, in lange Platten zu zerbrechen, die sich hin und wieder unter den Füßen lösten, und dann verhinderten nur ihre unheimlichen Reflexe, daß sie sich den Knöchel verrenkte. Außerdem waren abseits der Straße überall die niedrigen Steinmauern, die sich über nackten Fels schlängelten und in hohem Bogen selbst über die größten Felsbrocken hinwegliefen. So unmöglich es zu sein schien, vor langer Zeit mußten hier Menschen gelebt und eine Nutzungsmöglichkeit für das Land gefunden haben, die eine Kennzeichnung von Parzellen als Eigentum lohnte. Die Straße wand sich und stieg steiler an, und sie justierte zum Ausgleich ihren Herzschlag. Es fühlte sich an, als ob sich das Gestein unter ihren Füßen wegdrehen würde, während sie
selbst völlig reglos an Ort und Stelle bliebe. Sie rannte mit dem Chamäleonfutter ihres Umhangs nach innen und mußte aus der Ferne wie eine riesige Fledermaus aussehen, die verkrüppelt über den Boden flatterte. Der Wolkenfleck, den sie nicht direkt anschauen konnte, hing jetzt tiefer als vorher. Das hieß, daß es spät wurde. Hin und wieder verlangsamte sie ihre Schritte bis zum Gehtempo, und zweimal ruhte sie sich aus. Aber das Laufen war am besten, weil es sie am Nachdenken hinderte. Auf dem Felsen vor ihr erschien so plötzlich und unerwartet wie ein Meteoreinschlag ein runder dunkler Fleck. Dann war er hinter ihr verschwunden, aber ein weiterer erschien, und dann noch einer. Sie tauchten haufenweise auf, und dann traf sie der erste Wassertropfen im Gesicht, und es regnete. Sie wußte alles über Regen – das war auf dem Wafer mit dem Überlebenspaket –, aber Wissen war nicht dasselbe wie Erfahrung. Die Tropfen kamen wie Kieselsteine herab, klatschten ihr an den Kopf und bildeten kleine Bächlein, die ihr in die Augen rannen und ihr die Sicht raubten. Noch schlimmer, der Wind trieb den Regen in plötzlichen Böen vor sich her, die auf sie einschlugen und sie nach Luft schnappen ließen. Sie konnte jetzt nicht mehr laufen, sondern schritt fest in den Umhang gehüllt und mit der Kapuze auf dem Kopf dahin. Als sie aufblickte, konnte sie die Berge und das Meer überhaupt nicht mehr erkennen. Sie waren im grauen Einerlei verschwunden. Die Straße erreichte den Kamm, und sie legte sich wieder mehr ins Zeug. Nicht weit von der höchsten Stelle des Kamms entfernt war ein keilförmiges Grabmal; sie spürte es auf der Karte. Es war halb hinter einem Fleckchen mit Stechginster verborgen, aber sie fand es trotzdem, vier flache, senkrechte
Steinplatten, die eine Art Kiste bildeten, mit einem fünften Stein als Deckel. Der Steinhaufen, der es bedeckt, und die Knochen, die es geschützt hatte, waren längst verschwunden, und die Lücke an der Stelle, wo das Grab eingebrochen war, war groß genug, daß sie hineinklettern konnte. Dort, wo der Regen sie nicht traf, kauerte sie sich hin, umklammerte ihre Knie und zog sie ans Kinn. Der Umhang war aus Wolle und hielt sie trotz seiner Nässe warm. Das Schlimme war nicht die Dunkelheit oder das donnernde Prasseln des Regens auf dem Stein (die Tatsache, daß Regen Krach machte, hatte nicht zu den Informationen auf dem Wafer gehört), sondern die Einsamkeit, die ihr Zeit gab, an Wyeth zu denken. In dem Moment, als sie die Augen aufgemacht und eine fremde Frau in Rot gesehen hatte, war ihr klar gewesen, daß sich Wyeth nicht in der Zuflucht aufhielt. Sonst wäre er gekommen, um sie zu begrüßen. Sie hatte gewußt, daß sie keine guten Neuigkeiten über ihn zu hören bekommen würde, und sie hatte es so lange wie möglich hinausschieben wollen, die schlimme Nachricht zu erfahren. Sie hatte sich geweigert, die dunkle Vorahnung zu akzeptieren, die in ihr wuchs. Jetzt jedoch konnte sie nicht anders; sie mußte darüber nachdenken. Es dauerte lange, bis der Regen nachließ und dann aufhörte, so daß sie aus dem Steinkeil klettern konnte. Sie ging zur Straße zurück und machte sich langsam wieder auf den Weg. Dann rannte sie. Es regnete noch dreimal, bevor sie beim Dolmen-Portal ankam.
Es wurde schon dunkel, als sie an einen hochgelegenen, windigen Ort gelangte, der selbst nach hiesigen Maßstäben kahl und öde war. Dort blieb sie stehen. Der Himmel hinter ihr war gelb, wo er den Fels berührte. Sie ließ ihren Blick eine Weile ausdruckslos über das flache Gelände schweifen, bevor sie das Dolmen-Portal sah. Es war riesig. Zwei senkrechte Steinplatten stützten eine schräge dritte, wie der Tisch eines Riesen, der allmählich zusammenbrach. Langsam folgte sie ihrem Schatten zu dem Portal. Zwei weitere Steinplatten lagen in der Nähe, die fehlenden Seiten eines weiteren, wenn auch enorm großen keilförmigen Grabs, das seines Steinhügels beraubt war. Es sah wie ein Tor aus, und sie ging vorsichtig hindurch, wobei sie halbwegs damit rechnete, plötzlich durch die Dimensionen in ein anderes, mystisches Land transportiert zu werden. Bors kicherte. »Du kommst rechtzeitig, Bibliothekarin, wenn auch nur knapp.« Überrascht wirbelte sie herum. Bors war lautlos hinter ihr herangekommen. Mit einem spöttischen Lächeln ließ er sich langsam auf einer heruntergefallenen Steinplatte nieder. Hinter ihm standen zwei von seinen Wieseln. Sie beobachteten sie interessiert. »Hör zu«, sagte Rebel. »Hör zu, ich will wissen, wo Wyeth ist.« Ihre Hände waren kalt. Sie steckte sie in ihre Achselhöhlen und krümmte sich ein bißchen nach vorn. Das Gefühl der Vergeblichkeit, das sie auf der Straße befallen hatte, erhob sich jetzt von neuem, stärker als zuvor. »Er ist nicht hier, oder?« »Nein.« »Das war auch gar nicht geplant, nicht wahr?« Eucrasia hatte solche bitteren Enttäuschungen schon früher erlebt und wußte,
daß man am besten damit fertig wurde, wenn man sie in Wut umwandelte. Aber Rebel fehlte die Willenskraft dafür. »Er hätte hier sein sollen, als wir herkamen. Er ist spät dran.« Bors machte jetzt ein ernstes Gesicht. Er schaute mit zusammengekniffenen Augen in ferne Wolken, die genau die gleiche Farbe wie die Felsen hatten. Rebel fühlte, wie sich ihre innere Landkarte intensivierte; im Osten und Süden grenzte das Ödland an Einschlußgebiet. Aber die Karte enthielt keine Einzelheiten, sondern nur ein Gefühl von großen Massen. »Tatsächlich ist er außerordentlich spät dran«, murmelte Bors. In dieser Nacht schlief sie zusammen mit den Wieseln in einer kleinen Höhle. Sie drängten sich dicht zusammen, um sich zu wärmen, weil Bors ihnen nicht erlauben wollte, ein Feuer zu machen. Am nächsten Morgen gab er ihr gesalzenen Fisch mit auf den Weg, damit sie etwas zu essen hatte, und schickte sie zur Zuflucht zurück. »Wir brauchen dich nicht, bis Wyeth auftaucht«, sagte er. »Und was wir in der Zwischenzeit tun, geht dich nichts an. Lauf zurück! Wir werden dich schon finden, wenn wir dich brauchen.« Sie war auf dem Rückweg langsamer als auf dem Herweg und kam erst an, als der späte Nachmittag in die Abenddämmerung überging. Die Geweihten brachten ihre ledernen Ruderboote vom Meer und ihre Karren von den Torfmooren herein. Einige bereiteten ein Abendessen zu. In der Speisehütte ließ Rebel ein langes Gebet in einer Sprache über sich ergehen, die sie nicht kannte, und aß dann etwas, dessen Geschmack sie nicht einordnen konnte. Ommed sprach mit ihr, aber sie antwortete nur
geistesabwesend. Hinterher ging sie zu ihrer Hütte zurück. Sie kroch hinein, legte ihre Bibliothek weg und setzte sich auf die Schlafbank. »Na gut«, seufzte sie, »ich bin zu Hause.« Nicht lange danach klopfte jemand höflich an ihre Tür. Rebel rief: »Herein!«, und ein junger Geweihter trat ein. Er war so haarlos wie alle anderen, sah aber nicht so ausgezehrt aus. Er kniete sich vor sie hin, senkte den Kopf und sagte leise: »Dieser Geweihte heißt Susu. Das ist ein altes Wort, das ›Klatsch‹ bedeutet.« »Ach, um Himmels willen«, fuhr ihn Rebel an, »kriech da nicht so am Boden rum. Hier.« Sie rutschte auf der Bank beiseite und klopfte auf den Stein neben sich. »Setz dich, entspann dich und erzähl mir, weshalb du gekommen bist! Was wolltest du mir sagen?« »Ich …«, begann der junge Mann. Er errötete. »Dieser Geweihte ist noch nicht lange hier. Er hat noch nicht gelernt, sich völlig zu unterwerfen.« Dann sah er ihr abrupt mit übernatürlich blauen Augen voll ins Gesicht und nahm ihre Hände in seine. »Die Gemeinschaft hat Ihren Kummer gesehen und darüber gesprochen. Wenn Sie den Trost brauchen können, der im Fleischlichen zu finden ist, dann ist dieser hier gekommen, um Ihnen seine Dienste anzubieten.« »Du meine Güte!« entfuhr es ihr. Aber er sah ungemein gut aus, und sie zog ihre Hände nicht weg. Nach einer Weile sagte sie: »Naja, vielleicht wär das gar nicht so schlecht.« Susu war das Heißeste, was sie je im Bett gehabt hatte. Er war total ernst, aber seine Aufmerksamkeit ihren Wünschen gegenüber war umfassend, und er wußte offenbar mehr über Sex als
sie. Er bemühte sich nicht darum, selbst seinen Spaß dabei zu haben, sondern ihr Vergnügen zu schenken. Er war wie eine unglaubliche Kombination aus einem Athleten, einem Tänzer und einer Geisha. Er brachte sie bis an den Rand des Orgasmus und hielt sie dann dort auf der Schwelle zur Ekstase fest, bis sie überhaupt nicht mehr wußte, wo ihr Körper aufhörte und seiner begann. Schließlich schlang Rebel Susu zitternd die Arme um die Taille, umklammerte seinen kahlen Kopf mit beiden Händen und ließ ihrer Lust freien Lauf, bis sie gestillt war. »Mein lieber Mann«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte. »Du bist echt Spitze, weißt du das?« Sein Gesicht war schön, eine Maske heiliger Ruhe. »Dieser Geweihte ist der Geringste deiner Sklaven.« »Nein, ich mein's wirklich so.« Sie lachte und sagte scherzhaft: »Sind alle Geweihten darin so gut wie du?« Susu sah sie mit dieser verblüffend unverblümten Offenheit an. »Selbstverständlich. Was hast du denn gedacht, weswegen wir hier sind?« »Naja … äh …« Was hatte Ommed noch gleich gesagt? »Unterwerfung unter Gott, stimmt's?« »Unterwerfung nimmt viele Formen an.« Er kniete mit gespreizten Knien und gesenktem Blick vor ihr, die Hände hinter dem Rücken. »Unterwerfung unter die Körper von Fremden ist eins der bedeutenderen Sakramente.« »Was?« »Wünschst du eine Erklärung?« Susu faßte ihr Schweigen als Zustimmung auf. »Das Universum ist nach dem Ebenbild Gottes erschaffen. Das fällt einem ja sofort ins Auge, nicht
wahr?« Er blickte auf und wartete auf Rebels nicht sehr überzeugtes Nicken. »Denk darüber nach! Das Universum ist einmalig, rein, ein Ganzes, heilig und in sich geschlossen. Aber wir erleben es nur in Gegensätzen und Extremen.« Er hielt seine beiden gewölbten, leeren Hände hoch. »Heiß und kalt. Freude und Schmerz. Spaß und Kummer. Schwanz und Fotze. Das sind alles lokal beschränkte Illusionen. Wir können die Galaxis vor lauter Sternen nicht sehen. Aber wie können Geschöpfe, die in eine Illusion hineingeboren sind, hinter und in diesen Gegensätzen die Einheit sehen? Indem sie die Gegensätze ignorieren? Aber sie sind da, und sie werden nicht einfach verschwinden. Wir nehmen die erfahrbaren Gegensätze bereitwillig an, wir heißen die Extreme von Ekstase und Schmerz willkommen und vereinigen sie in uns selbst. Wir empfangen immer wieder die Sakramente von Lust und Unterwerfung, sowohl als Männer wie auch als Frauen, und am Ende sind das Ich und jede Differenzierung zerstört, und wir brechen in die Einheit durch, die immer schon dagewesen ist.« Die Augen des Jungen brannten vor visionärer Intensität. Er bekam schon wieder eine Erektion. Aber er sah nicht sie an, sondern schaute ins Unsichtbare hinauf. »Es ist, als wären wir alle mit Gift im Bauch geboren und müßten, um unsere Körper zu reinigen, immer mehr von dem Gift in uns hineinschlingen, bis wir gezwungen sind, alles auszukotzen.« »Ähm … tja.« Rebel hatte ihn eigentlich bitten wollen, die Nacht über bei ihr zu bleiben. Aber jetzt … Sie hatte sich noch nie als Brechmittel gesehen. »Vielleicht solltest du lieber machen, daß du wieder zu deinen kleinen Freunden kommst. Ich glaube, ich höre, daß sie gerade mit den Abendgebeten anfan-
gen.« Als sie im Bett lag und zu schlafen versuchte, lauschte sie dem Singsang der Geweihten. Es klang bezaubernd, tief und völlig rein. Mitten in ihrem Gesang erhoben sich Schreie und keuchende Laute, die ebensogut von Orgasmen wie von Schmerzen herrühren konnten. Sie war außerstande, das zu erkennen. Die Schreie gingen immer weiter, und Rebel schlief ein, ehe sie aufgehört hatten. Rebel schlief nie wieder mit jemand aus der Zuflucht. Sie wußte, daß sie ausnahmslos alle Geweihten haben konnte und daß diese tun würden, was sie von ihnen verlangte, und das bewirkte, daß sie sich unsauber fühlte. Manchmal fragte sie sich, ob dieses unbehagliche Gefühl nicht in Wirklichkeit eine Art von Anziehungskraft war, der sie aus Angst, sich unwiderruflich an die Extreme der Erfahrung zu verlieren, nicht nachzugeben wagte. Statt dessen erforschte sie das Ödland. Jeden Tag lief sie in die Felsen hinaus, trainierte ihre Muskeln und gewöhnte sich zunehmend an die Erde. Manchmal suchte sie nach dem winzigen, purpurroten Enzian, der sich in den Felsspalten versteckte, oder nach dem riesigen Elch, den der Einschluß angeblich wieder ins Land gebracht hatte. Manchmal kamen zwei oder drei Wiesel, um sich neue Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen – sie waren zu mißtrauisch, um allein zu kommen, ohne daß jemand auf sie aufpaßte, während sie aufgemacht wurden – , und sie unterhielten sich. Aber die Neuigkeiten waren immer die gleichen. Wyeth war später dran als erwartet. Bors wartete immer noch.
Früher oder später würde Bors keine Lust mehr haben, noch länger zu warten. In der Zuflucht übernahm sie ein paar der leichteren Pflichten. Sie hütete die Ziegen und führte (mit den Fähigkeitenchips der Geweihten) kleinere Operationen durch. Sie freundete sich mit einem Geweihten an, der sich gerade von einem Mann in eine Frau verwandelte. Sein Gesicht war plump von zusätzlichen Kalorien, Neuroprogrammierer hatten seine Persönlichkeit friedlich gemacht, und (Li zeigte es ihr, als sie darum bat) zwischen den Beinen war alles von Verpuppungsschorf bedeckt, unter dem sich die Fortpflanzungsorgane zu undifferenzierten Zellen zurückgebildet hatten und gerade dabei waren, sich in neue Konfigurationen umzuwandeln. Für die Übergangsphase war Li von den religiösen Disziplinen der Zuflucht befreit und konnte Rebel überallhin begleiten. Rebel ihrerseits wußte es zu schätzen, daß Li nie versuchte, sie zu verführen. Nachdem es zwei Tage lang heftig geregnet hatte, klopfte Li eines Nachmittags an Rebels Tür und rief: »Komm raus! Es hat aufgehört zu regnen, und das Talbecken ist voll.« »Wovon redest du?« fragte Rebel mürrisch, aber sie kam heraus und folgte Li, der langsam die Pfade oberhalb der Zuflucht hinaufwatschelte. Die Felsen begannen bereits zu trocknen, obwohl die Pflanzen, die sich aus den von Wasser gefüllten Spalten herausstreckten, kalt und naß waren. Sie legten etwa eine Meile auf einem Pfad zurück, den Rebel schon Dutzende von Malen gegangen war. Li kicherte und weigerte sich, zu antworten, als Rebel wissen wollte, wohin sie gingen. Schließlich kamen sie auf den höchsten Punkt einer Anhöhe und schauten auf dunkles Land hinunter, das nur noch
ganz schwach von den letzten Strahlen einer tiefstehenden Sonne erhellt wurde. Etwas silbrig Schimmerndes und Regloses, das vorher nicht dagewesen war, füllte den Grund des Tals. »Mein Gott«, sagte Rebel. »Das ist ja ein See.« Ihr wurde übel von den ungeheuren Mengen an Luftfeuchtigkeit und Wasser, die dafür erforderlich waren. Alles an diesem Planeten, so schien es, war monströs. »Gott ist wunderbar«, stimmte ihr Li glücklich zu und gestikulierte mit beiden Händen. »Das Wasser fließt von allen Seiten nach unten und sammelt sich am Grund. Aber der Felsen ist porös, und es gibt Höhlen, deren Öffnungen im tiefsten Teil des Talbeckens liegen. Morgen früh ist der See wieder verschwunden.« Wochen vergingen. Eines Tages kamen die Wiesel zurück. Es war ein herrlicher Morgen mit einem sonderbar blauen Himmel weit oben, und das Gestein war nur ein bißchen zu warm, wenn man es berührte. Rebel kam um eine Ecke der Zuflucht herum und sah einen aus dem Rudel, der an eine Wand pißte. Er grinste zur Begrüßung. Nicht weit hinter ihm strich ein anderes Wiesel einem Geweihten mit ihrem Messer übers Gesicht. »Was ist, wenn ich dir die Lider aufschlitzen will?« gurrte sie. »Würdest du mir das auch erlauben?« Die Spitze glitt über eine Wange, wobei sie die Haut kaum ritzte und nur eine feine, sehr gerade rote Linie hinterließ. Der Geweihte erschauerte, wich jedoch nicht zurück. »Macht's Spaß?« fragte Rebel. Das Wiesel drehte sich um. Es war eine kleine Frau mit ro-
tem, ganz kurz geschnittenem Haar und schmalen weißen Strichen auf einer Seite des Kiefers. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich. »Jaa.« Das Messer verschwand aus ihrer Hand, kam wieder zum Vorschein, lag in der anderen Hand, war verschwunden. Sie ging in eine geduckte Kampfstellung und holte tief Luft. »Wenn du sie umbringst, nimmst du ihren Platz ein«, sagte Bors kalt. Die Frau funkelte ihn an, die Lippe über einen Eckzahn hochgezogen, und wandte dann den Blick ab. Sie steckte das Messer in die Scheide und stapfte davon. »Sie leben wirklich gern gefährlich, Miss Mudlark.« Er zeigte zum Hang hinauf. »Kommen Sie! Gehen wir spazieren!« Sie schlenderten an den Ziegenställen vorbei zu einem einsamen Baum, der vom Felsen und vom Wetter verkrüppelt und nicht viel größer als Rebel war. Es gab keinen besonderen Grund, zu dem Baum zu gehen; es war schlicht die einzige Landmarke in der Richtung, die sie eingeschlagen hatten. Als sie da waren, drehte Rebel sich um und schaute zurück auf das Meer, das grau wurde und mit dem Himmel verschmolz. Sie wartete, und schließlich sagte Bors: »Wir haben nichts von ihm gehört.« »Das hab ich mir schon gedacht.« Er schlug mit einer Faust in seine offene Hand und kaute an seiner Lippe. »Es hat viel Geld gekostet, hier herunter zu kommen. Abstiegskünstler sind nicht billig. Wir werden den Einschluß angreifen, ob Wyeth nun hier ist, um uns zu führen, oder nicht.« Rebel nickte, ohne wirklich zuzuhören. Ein unwirklicher Dunst lag über allem. Sie erkannte jetzt, daß sie Wyeth nie wiedersehen würde. Er war von den kalten, uner-
meßlichen Weiten der Erde verschluckt worden. Als sie dort unter dem hohen terranischen Himmel stand, ein unendliches Gewicht von Felsgestein unter den Füßen und die Luft überall um sie her in Bewegung, wurde ihr klar, daß niemand Schuld daran hatte, weder sie noch Bors noch Wyeth, sondern daß es einfach passiert war. Es gab nun einmal Grenzen für das, was ein Mensch tun konnte. Wenn er gegen einen Feind von der Größenordnung eines ganzen Planeten antrat, würde seine Niederlage so beiläufig und vollständig sein, daß er einfach aufhören würde, zu existieren. »Wir werden rund fünf Tage brauchen, um unsere Alternativen vorzubereiten. Dann schlagen wir los. Aber wir brauchen trotzdem eine Bibliothekarin. Wenn Sie mitkommen, besorge ich Ihnen einen Platz für den Rückflug nach Geesinkfor und zahle Ihnen den normalen Sold. Mehr können Sie nicht verlangen.« Bors wartete auf eine Antwort. »Ich verstehe«, sagte Rebel düster. »Sie haben sogar länger gewartet, als ich gedacht hatte. Okay, ich bin dabei. Und wenn Sie nach Geesinkfor zurückkommen, holen Sie sich jemanden, der Ihnen das Stück des Äquatorsees direkt vor einer Kaschemme namens Water's Edge ausbaggert. Da hab ich Ihre Kiste mit den Drucken reingeschmissen. Sie haben Ihr Bestes getan, und ich halte meinen Teil des Abkommens.« Bors machte ein überraschtes Gesicht. Dann klopfte er ihr rauh auf die Schulter, setzte an, etwas zu sagen, und ließ es dann bleiben. Er lief zur Zuflucht zurück.
Am nächsten Tag war Rebel gerade dabei, die Ziegen zu füttern, als Li herbeigeeilt kam. Sie quietschte beinahe vor Aufregung. »Sieh mal, sieh mal!« rief sie und zerrte an Rebels Ärmel. Rebel schlug die Hände zusammen und wischte sie am Vorderteil ihres Erdanzugs ab. Ziegenhüten war nicht gerade eine saubere Arbeit. Die Ställe würden bald mal gründlich ausgemistet werden müssen. »Li, was immer es ist, ich bin wirklich nicht in der Stimmung dafür.« »Nein, nun schau doch!« beharrte Li. Rebel drehte sich um und schaute in die Richtung, in die sie zeigte. Mit einem Stock in der Hand kam Wyeth über den Kamm des Hügels gehumpelt.
13 Die Insel »REBEL?« SAGTE ER MIT LEISER, VERBLÜFFTER STIMME. Dann schüttelte Wyeth müde den Kopf. »Eucrasia. Sei mir nicht böse. Seit ich mir das Bein gebrochen habe, seh ich hin und wieder Gespenster. Ich dachte …« Sie fühlte sich wie ein Phantom, das aus dem Schattenreich herausgetreten war und sich plötzlich einem normalen Sterblichen gegenübersah. Dieser Mann, der hier vor ihr stand, war zu solide, zu real. Sein Gesicht war erschöpfter, als sie es in Erinnerung hatte, und seine Augen waren unendlich traurig. Sie stand bleich und wie betäubt vor ihm. Rebel versuchte zu sprechen und konnte es nicht. Dann brach etwas entzwei, und sie machte einen Satz nach vorn und schmiegte sich an ihn, so fest sie konnte. Tränen kitzelten ihr Gesicht. Mit dem Stock in einer Hand nahm Wyeth sie leicht in die Arme und sagte: »Ich verstehe nicht.« »Sie ist Rebel Mudlark«, sagte Bors trocken. »Ihre Persönlichkeit ist nun doch nicht zusammengebrochen.« Wyeths Stock fiel klappernd zu Boden. Er drückte sie an sich und stieß einen Laut zwischen Weinen und Lachen hervor. In der Nähe stolzierten Krähen auf der Suche nach Nahrung herum und pickten auf die Felsen ein. Ein Wiesel schlenderte vorbei, blieb stehen, sah eine Weile zu und ging dann wieder. Schließlich nahm Rebel sich zusammen und sagte: »Du mußt müde sein. Komm, meine Hütte ist ganz in der Nähe.«
Bors verstellte ihnen den Weg. Er legte den Kopf schief und blinzelte zu Wyeth hinauf. »Sie haben mir noch nicht Bericht erstattet.« »Später«, sagte Wyeth. »Es ist alles geregelt. Ich hab bloß ein bißchen länger gebraucht, als ich gedacht hatte.« Im Innern streckte Wyeth sich müde auf der Steinplatte aus. »Gott, Sunshine, es ist schön, dich wiederzusehen! Ich hab nicht die richtigen Worte dafür.« »Pst, still jetzt! Ich will mir mal dein Bein ansehen.« Rebel schloß sich an die Bibliothek an und kramte die medizinischen Kenntnisse hervor, während sie ihm seinen Erdanzug auszog. Wyeth sah sie merkwürdig an. »Das ist ja ganz was Neues.« »Ich hab mich mit dem Zeug abgefunden«, sagte Rebel. Dann sah sie seine Miene. »Ich bin's wirklich, ganz ehrlich. Eucrasia ist endgültig begraben. Ich erklär dir alles später.« Langsam und liebevoll begann sie mit einem gefalteten Tuch und einer Schüssel Wasser den Staub der Reise abzuwaschen. Sie fing bei seiner Stirn an, und Wyeth schloß die Augen, als er das feuchte Tuch auf der Haut spürte. »Ahh, das ist einfach himmlisch.« Er sah im Nu besser und vertrauter aus. »Also, wo bist du die ganze Zeit gewesen?« fragte sie, obwohl es sie nicht sonderlich interessierte. »Auf einem Spionageeinsatz. Die Lage sondieren. Ein Schiff stehlen. Du bist hier, also nehme ich an, daß du alles über den Plan weißt?« »Nein, Bors war nicht der Meinung, daß ich diese Informationen haben sollte«, sagte sie, während sie mit einer Hand leicht über das verletzte Bein strich. Er trug immer noch fünf
Schienenringe. »Armer Kerl. Scheint aber gut zu heilen. Du mußt einen guten Verbandskasten dabeigehabt haben.« Sie zog die Haftscheiben ab. »Er hat's dir nicht erzählt?« Wyeth versuchte sich aufzusetzen, wurde jedoch von ihrer Hand auf seiner Brust daran gehindert. »Das wird gefährlich werden. Er hatte kein Recht, dich da hineinzuziehen, ohne …« »Er hatte gar keine Wahl.« Sie wusch jetzt seinen Leib, diese dünnen, harten Muskeln. »Oh, Sunshine, ich wünschte wirklich, du hättest nicht … Das wird kein normaler Überfall. Erinnerst du dich an die Scheuäpfel? Die drei Kisten, die ich in der Orchidee gekauft habe? Aus denen hab ich fast vier Liter Saft gewonnen. Wir werden uns unter den Einschluß mischen und ihnen das Zeug verabreichen, um zu sehen, was passiert.« Sie summte leise vor sich hin. »Warum?« »Das ist eine Probe für Armageddon«, sagte er mit seiner Clownstimme. Dann wurde er wieder ernst. »Es ist eine Waffe, die sich bei kleinen Einschlußgruppen als effektiv erwiesen hat. Wir wollen sie gegen die ganze Erde ausprobieren. Mal sehen, was für Abwehrmechanismen sie gegen uns auffahren kann. Wenn's überhaupt klappt, wird die Republique einen Einkaufstrip nach Tirnannog sponsern, den Zauberer auftreiben, der die Scheuäpfel zusammengebraut hat, und etwas … Gezielteres bestellen. Wer weiß? Vielleicht was Ansteckendes. Ich meine, denk darüber nach. Es ist eine geringe Chance, klar, aber wir haben's auf den möglichen Tod des Einschlusses abgesehen.« »Ah.« Sie wusch ein bißchen weiter unten, ein bißchen lang-
samer. »Wie gefährlich wird dieser Angriff sein, was meinst du?« »Weiß ich ehrlich nicht. Da kann sonstwas passieren. Aber hör zu, ich kann Bors bestimmt dazu bringen, dich in eine Bodenstation zu schmuggeln. An diesem Ende sind die Sicherheitsvorkehrungen gleich Null. Du könntest wieder oben zwischen Erde und Mond sein, bevor …« Er hielt inne. »Ich kann dich nicht dazu überreden, was? Wenn du so 'n Gesicht machst, weiß ich Bescheid.« »Hey. Entweder wir beide oder keiner, Amigo. Okay?« Rebel nahm seine Hand und drückte sie fest. »Wenn du glaubst, du könntest mich jetzt von dir wegkriegen, hast du dich aber gründlich getäuscht.« Sie bückte sich, um ihn zu küssen. Wyeth hielt den Atem an, und sie lächelte. »Soll ich aufhören?« »Nein, nein, das ist schön«, sagte er rasch. Dann: »Naja, vielleicht lieber doch. Ich meine, ich würde ja wirklich gern, aber ich glaub einfach nicht, daß ich die Kraft habe.« Rebel legte das Tuch weg. »Du bleibst liegen, und ich mach die ganze Arbeit.« Sie zog Stiefel und Hose aus und kniete sich dann über ihn, wobei sie sorgfältig darauf achtete, sein verletztes Bein nicht zu berühren. Mit einer Hand führte sie ihn ein. »Ah«, sagte Wyeth. »Das hat mir gefehlt.« »Mir auch.« Einige Zeit später lag Rebel dicht an Wyeth gekuschelt neben ihm. Ihre Bluse war bis unter die Arme hochgeschoben, aber sie zog sie jetzt noch nicht herunter. Die nadelfeinen Lichter waren ausgeschaltet, und sie lag in der grauen Luft und spürte Wyeths stille Anspannung. Eine ähnliche Spannung wuchs auch in ihr heran und überlagerte seine auf lautlose Weise, bis sie schließ-
lich reden mußte. »Wyeth?« »Mmm?« »Tu's nicht.« Er schwieg. »Die brauchen dich nicht. Sie haben deinen Scheuapfelsaft, sie haben deine Pläne, und du kannst ihnen alles erzählen, was du ausspioniert hast. Da brauchen sie dich nicht. Wir beide könnten in eine Bodenstation schlüpfen, im Schacht raufgehen und morgen früh oben sein. Wir könnten weg sein, bevor der Angriff losgeht.« Im Halbdunkel schien die Hütte um sie herum enger zu werden, wie ein steinerner Mutterleib, der sich zusammenzog. Wyeth räusperte sich, ein langsamer, gedehnter Laut, der fast ein Stöhnen war, und sagte: »Sunshine, das könnte ich nicht tun. Ich hab mein Wort gegeben.« »Scheiß auf dein Wort!« »Ja, aber es ist meine Pflicht, zu …« »Scheiß auf deine Pflicht!« Wyeth lachte ungezwungen. »Ich kann nicht mit dir diskutieren, wenn du das bei allem anbringst, was ich sage.« »Wer will denn diskutieren?« Sie machte sich von ihm frei und setzte sich auf. »Ich will nicht diskutieren. Ich möchte nur, daß du es so machst, wie ich es will. Ich habe eine Menge durchgemacht, um dich zurückzukriegen, und ich will nicht zusehen, wie du wegläufst und dich vom Einschluß absorbieren läßt.« »Ich auch nicht, Rebel. Aber du mußt begreifen, daß dies der Kampf ist, für den ich mich erschaffen habe. Das ist nicht bloß meine Pflicht, es ist mein Anliegen. Es ist mein Lebenszweck.
Und wenn ich dazu nicht stehe, wozu soll ich dann stehen?« »Als nächstes singst du noch patriotische Lieder!« Sie blickte auf dieses selbstgefällige, zuversichtliche Gesicht hinunter und wollte ihn schlagen. »Herrgott, es ist zum Verzweifeln mit dir. Manchmal glaube ich, Eucrasia hatte recht. Sie hätte dich komplett löschen und noch mal ganz von vorn anfangen sollen. Dann …« Sie brach ab und musterte Wyeth auf einmal nachdenklich. Sie hob beide Hände vors Gesicht und zog die Daumen ein.. »Zähl bis vier!« sagte sie. »Was?« »Öffne die Tür!« Sie zog beide Hände weg, so daß sie zwischen ihnen durchschauen konnte, und sagte: »Du bist im Zimmer und doch nicht hier.« Wyeths Gesicht entspannte sich. Seine Augen waren wachsam und ruhig und starr. »Na?« fragte Rebel. Dann, als er nicht reagierte: »Du hast gelogen, als du gesagt hast, du hättest Eucrasias Haken gefunden und beseitigt, stimmt's?« Wyeth nickte. »Ja.« »Weißt du was? Ich hab mich schon gefragt, wie du dir die Programmierkenntnisse angeeignet hast, um Eucrasia auszutricksen. Ich hätte wissen müssen, daß du geblufft hast. Zum Teufel damit! Metaprogrammierer offen? Konstruktionskatalog zugänglich? Verbindungen der Hauptarme frei und nicht beeinträchtigt?« »Ja«, sagte Wyeth. »Ja«, und noch einmal »Ja.« Er lag nackt vor ihr, und kein Mann konnte jemals mehr in ihrer Macht sein als er in diesem Moment. Sie konnte mit ihm machen, was sie wollte, konnte ihm einen Heißhunger auf Schokolade einprogrammieren oder seine Persönlichkeiten komplett umschrei-
ben. Sie konnte ihm befehlen, Bors' Stoßtrupp zu verlassen und sie im nächsten Abstiegsschacht mit nach oben zu nehmen, und er würde es ohne Zögern tun. Wenn sie es wollte, brauchte er nicht einmal zu erfahren, daß es nicht seine eigene Idee gewesen war. Sie hatte die Fähigkeiten dazu. Aber Wyeth schaute so vertrauensvoll zu ihr auf, daß sie nicht anfangen konnte. »Mach die Augen zu!« befahl sie, und er gehorchte. Es half nichts. Sie langte nach unten, um ihm eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, und platzte dann mit der einen Frage heraus, die sie ihm sonst nicht zu stellen wagte. Sie wußte, daß er in diesem Zustand nicht lügen konnte. »Liebst du mich wirklich?« »Ja.« »Du Hurensohn«, sagte Rebel. »Schlaf ein!« Und machte ihn unverändert wieder zu. Am nächsten Morgen war es neblig, was Bors als gutes Omen begrüßte, aber es machte den Weg durchs Ödland zu einem Alptraum. Zwei Wiesel trugen Wyeth in einer Schlinge zwischen sich, und es dauerte nicht lange, bis sie zu dem Küstenstrich kamen, wo er sein Schnellboot versenkt hatte. Er rief übers Meer, und es tauchte auf. Wasser strömte aus den Ballasttanks. Während Rebel einen Lotsen und einen Steuermann programmierte, machten die anderen das Boot fertig. Eine halbe Stunde später waren sie soweit. Die acht Segmente eines getönten Schutzdachs schlossen sich über dem Deck, und das Schnellboot erhob sich auf einen einzelnen langen Schaft und raste über das Wasser. Nicht lange danach kamen sie an einer weiten Flußmündung
vorbei, als sich der Nebel für einen Moment teilte. Unter den Klippen erhoben sich schlangenartige Hälse grau und geheimnisvoll aus dem Wasser. Sie mußten zehn bis zwölf Meter lang sein. Am oberen Ende saßen winzige, flache Köpfe. Die Geschöpfe glitten ins Landesinnere, während Rebel wie wild in der historischen Abteilung der Bibliothek herumstöberte, um herauszufinden, was sie waren. Plesiosaurier. Wahrscheinlich Elasmosaurier, der Größe nach zu urteilen. Aber der Bibliothek zufolge waren sie seit Jahrmillionen ausgestorben, Geschöpfe, die in den Meeren des Mesozoikums gelebt hatten und gestorben waren. »Ich glaub's einfach nicht«, hauchte Rebel. Bors stand in der Nähe. »Wissen Sie, was ich am bemerkenswertesten daran finde?« fragte er. »Was?« »Keine Fenster.« Verblüfft starrte Rebel erst ihn, dann wieder die Plesiosaurier an. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, wovon er sprach. Was sie für natürliche Felsklippen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit enorm hohe Bauwerke ohne besondere Merkmale, die das Wasser wie geballte Massen von Quarzkristallen säumten. Sie hatten etwas Fahles an sich und schienen das Licht zu beugen. Auf ihren glatten Flächen schimmerten schwache Pink- und Blautöne und eine Andeutung von prismatischem Grün, Farben, die intensiver wurden, je länger man hinschaute. Dann schloß sich der Nebel wieder und wischte sie aus. »Sind die alle so?« fragte Rebel. »Die Einschlußstädte, meine ich.« »Nein, ich glaube, sie sind alle ganz verschieden, meinen Sie nicht? Kurt! Komm hier rüber und laß dein Felsenläuferprogramm löschen!«
Als sich der Nebel gelichtet hatte, waren sie auf dem offenen Meer. Es gab nur noch Wasser zu sehen. In Eucrasias Gedächtnisspeicher waren eine ganze Reihe schwärmerischer Äußerungen über die Schönheit und den Zauber der Ozeane, die Romantik hölzerner Schiffe und den Glanz der Seeräuber untergebracht. Aber Rebel konnte verstehen, warum der VolksMars nicht seine eigenen Meere schuf. Die See war kabbelig und gleichförmig; sie bot dem Auge weder Ruhe noch Abwechslung, nur die Monotonie der flachen Weite und keine Spur von ihrer schlichten Schönheit. Sie war häßlich und dazu auch noch eine Verschwendung – all dieses Wasser! Rebel war bereits übel davon. Stunde um Stunde schnitt das Schnellboot durch die Wellen. Manchmal saß Rebel mit Wyeth zusammen und unterhielt sich leise mit ihm. Er mußte jedoch oft unter Deck, um sich mit Bors zu beraten, und da war sie als Zuhörerin nicht erwünscht. Dann saß sie einfach da, sah zu, wie die Wolken über sie hinwegzogen und sich die Farbe des Ozeans von Grün zu Grau und wieder zurück verwandelte, wenn sich das Licht änderte. Einmal machten sie einen weiten Umweg, um eine Einschluß-Enklave unter dem Meer zu umfahren, aber in der ganzen Zeit auf See sahen sie nie ein anderes Schiff oder eine Flugmaschine. Rebel machte darüber eine Bemerkung, als Nee-C von einem Messerspiel mit den anderen Wieseln kam, bei dem sie verloren hatte, nach dem Netz feiner Schnitte auf ihren Handrücken zu urteilen. Nee-C zuckte die Achseln. »Schätze, der Einschluß hat's nicht nötig, irgendwelche Sachen groß rumzutransportieren.« »Wenn Fahrzeuge so selten sind, wie hat Wyeth es dann geschafft, das Boot hier zu klauen? Man sollte doch denken, sie
müßten bemerken, daß es tatsächlich weg ist.« »Ist kein Einschlußboot«, sagte Nee-C verächtlich. »Schau dir die Kajütsluke an!« Rebel drehte sich um und sah eine offene Luke mit nach unten führenden Stufen. Stirnrunzelnd trat Nee-C gegen den Pfosten, und ein Lukendeckel glitt nach oben. Ein Firmenlogo war aufgemalt, ein rundes Schild mit Eule und olivgrünem Kranz. »Pallas-Cluster!« »Ja, hat mal 'nem Trupp von Lazarobiologen gehört«, sagte Nee-C kichernd. »Die haben jetzt 'n langen Fußmarsch nach Hause vor sich.« »Ja, aber...« »Weißt du, was dein Problem ist?« Nee-C stand auf und zog ihr Messer. »Du redest zuviel.« Sie ging zum Bug, wo die anderen Wiesel zusammenhockten, kniete sich hin und stieg wieder ins Spiel ein. Der Tag zog sich monoton dahin. Schließlich färbte die sinkende Sonne den halben Horizont jedoch orange und ging dann unter. Die Nacht kam. Rebel schlief auf einer Matte an Deck neben Wyeth. Als sie aufwachte, brauchte man ihr nicht zu sagen, daß sie sich nicht mehr im Atlantik befanden. Das Wasser war hier ruhiger, fast gläsern, und zu beiden Seiten war flaches Land zu sehen, grüne Schmutzflecken am Rand des Himmels. Direkt vor ihnen lag eine baumbestandene Insel, so dunkel wie ein schwimmender Seegrasklumpen. Wyeth reichte ihr ein Bier und etwas aufgebackenes Brot. »Zeit zum Frühstücken, Schlafmütze«, sagte er. »In einer Stunde sind wir bei der Insel, dann brauchst du deine Kraft.«
»Wo sind wir überhaupt?« Bors schaute von seinem Platz auf der Kabine herunter, wo er mit übereinandergeschlagenen Beinen saß. »Wir sind auf einem Binnensee mitten im Kontinent«, erklärte er. »Genaugenommen ist es eher ein großer Salzsee als sonst etwas. Kurz nachdem die Erde ihr Bewußtsein entwickelte, hat sie mehrere davon geschaffen. Niemand weiß genau, warum. Die gängige Theorie lautet, daß es ein Fehler war, ein Projekt zur Wetterkontrolle, das schiefgegangen ist. Die polaren Eiskappen waren früher größer, wissen Sie.« »Sie scheinen eine Menge über die Erde zu wissen«, sagte Rebel. »Meine liebe junge Dame«, gab Bors zurück, und bei der wilden Programmierung, die seinem Gesicht etwas Gefährliches gab, war seine übertriebene Höflichkeit so erschreckend, als ob eine Giftschlange plötzlich den Kopf heben und sprechen würde, »ich habe mich mein halbes Leben lang mit der Erde beschäftigt.« Als die Insel näherkam, wurde das Schnellboot langsamer, sank auf seinem Schaft nach unten und berührte das Seewasser. Es schlingerte ruckartig in seitlicher Richtung, als die Wellen dagegenschlugen, schwenkte ein bißchen zur Seite und stabilisierte sich dann zu einem sanften, schaukelnden Auf und Ab. Der Lotse fuhr das Schutzdach ein, und salzige Luft strömte ins Schiff. Wyeth zeigte nach vorn. »Schau's dir gut an«, sagte er. »Das ist die einzige schwimmende Insel auf der Erde.« Rebel zapfte ihre Bibliothek an. Die Insel war ein einziges verworrenes Dickicht aus Bäumen, fast völlig rund, mit einer Lichtung für die Bodenstation in der Mitte. Sie war neu; vor
dreißig Jahren war sie noch nicht dagewesen, und niemand wußte, warum der Einschluß beschlossen hatte, sie anzulegen. Rebel starrte ins Blau hinauf und bildete sich ein, die unsichtbaren Umrisse des Vakuumtunnels wie zwei Bruchlinien am Himmel sehen zu können. Die Insel darunter bestand nur aus einer leuchtend grünen Oberfläche um einen dunklen Kern herum. Irgendwo tief in ihrem Innern zwinkerte ein Paar großer gelber Augen, und eine böse Vorahnung ließ Rebel erschauern. Bors gab die Ausrüstung aus. Er drückte Rebel eine kleine Plastikpistole in die Hand und ging weiter. Sie untersuchte sie. Zwei Kartuschen mit komprimiertem Gas standen zu beiden Seiten der Kimme wie Hasenohren ab. Im Innern des transparenten Griffs war ein Reservoir mit einer klaren Flüssigkeit. Sie spähte blinzelnd in eine nadelfeine Mündung, und Wyeth drehte sie weg von ihr. »Vorsicht. Das Mistding ist mit Scheuapfelsaft geladen.« Er zeigte ihr, wie man die Pistole halten mußte und wo der Sicherungshebel war. »Erst feuern, wenn du richtig auf deinem Opfer draufhockst. Ziel auf die Stirn, genau dahin, wo das dritte Auge sein müßte. Die Flüssigkeit ist mit Dimethylsulfoxid gebunden; wo immer sie auftrifft, sinkt sie durch die Haut in den Blutstrom ein. Aber das dürfte nicht nötig sein. Die Pistole spuckt Tropfen mit einer Geschwindigkeit aus, die sie auf etwas mehr als einen Meter Distanz direkt durch die Haut schießt. Kapiert?« »Ich glaub schon.« Sie hob die Pistole und zielte auf Bors' Nacken, und Wyeth riß ihr die Hand herunter. »Was ist denn los? Ich wollte doch gar nicht auf ihn schießen.« Wyeth verdrehte die Augen nach oben. »Ich sag dir was.
Schieß … nein, ziel mit der Pistole erst dann auf irgendwen oder irgendwas, wenn wir anderen allesamt hundertprozentig tot sind, okay? Du hast keine Ahnung, wie schnell man aus Versehen einen Freund trifft. Steck das Ding weg und laß es da, und paß auf, daß du nicht selber was von dem Saft abkriegst! Wir wollen nicht, daß du mitten beim Angriff ausflippst.« »Okay.« Wyeth wandte sich ab, und sie steckte die Pistole in den Bund ihres Erdanzugs. Sie hatte ein Gefühl, als ob etwas sie beobachten würde. Leuchtend bunte tropische Vögel schwangen sich in hohem Bogen aus dem Laub auf und verschwanden wieder darin, wobei sie scharfe, metallische Schreie ausstießen, als das Schnellboot langsam näher an die schwimmende Insel herankroch. Hoch oben in den Bäumen wuchsen massenhaft dunkle Blumen, so purpurrot, daß sie fast schon schwarz waren. Manche waren so groß wie Bettlaken. Das Schnellboot glitt an einem langen Ast oder einer Wurzel vorbei, die sich aus dem grünen Dickicht nach draußen streckte und schwarz wurde, wo sie ins Wasser tauchte. Wellen plätscherten leise dagegen. »Halt dich in der Mitte des Trupps«, flüsterte Wyeth Rebel zu. »Wir sorgen dafür, daß du am Leben bleibst.« Sie bewegten sich jetzt kaum noch. Die Insel wurde größer und ragte in den Himmel hinauf. Ein weiterer dunkler Zweig glitt vorbei, und ein Lufttintenfisch, der sich auf dem Zweig sonnte, erschrak und fiel mit einem leisen Platschen ins Wasser. Rebel schnallte sich die Bibliothek auf den Rücken und sicherte die Haftscheiben mit einem schützenden Stirnband.
Dann schwang sie sich den Umhang mit der Chamäleonstoffseite nach außen auf die Schultern. Sie zitterte vor Nervosität, zwang sich zu einem Lächeln und flüsterte: »Wie seh ich aus?« »Wie der Glöckner von Notre Dame.« »Sind das die Destillierapparate?« Bors zeigte mit einem Finger zu den durchsichtigen, purpurnen Blumen hinauf. Blasen stiegen in ihren Adern nach oben, und wirre Knäuel fahlweißer Wurzeln hingen ins Wasser herab. Wyeth nickte, und Bors sagte: »Kurt, schnapp dir eine Drogenpumpe und geh da rauf!« Rebel verrenkte sich den Hals, um zu sehen, wie das Wiesel an den Wurzeln hochkletterte. »Bibliothekarin!« fauchte Bors. »Was tut der Mann?« Ohne den Blick von der immer kleiner werdenden Gestalt abzuwenden, sagte Rebel: »Er klettert zu den Destillierblumen hinauf. Sie reinigen das Wasser für die Einschlußbevölkerung der Insel. Direkt unterhalb der Blüten sind mehrere Verknüpfungen von Stengeln, wo das entsalzte Wasser gesammelt wird, und dann befördern größere Stengel das Wasser mittels der Schwerkraft zu den Trinkwasserstationen des Einschlusses. Dort wird Kurt die Drogenpumpe einführen. Die Pumpe enthält einen Verkapseler, so daß die Scheuapfelflüssigkeit in Mikrokügelchen eingeschlossen wird, die sich erst auflösen, wenn sie ihre Zielvektoren erreichen.« Die Informationen stiegen frei und auf natürliche Weise an die Oberfläche ihres Bewußtseins. Sie sprach sie automatisch aus, so daß ihr Sinn zugleich mit den Worten kam. »Die Mikrokapseln müßten mit einer Geschwindigkeit von …« »Das reicht.« Bors wandte sich ab. »Wir sind soweit.« Sie glitten unter die hochgewölbten Zweige. Das Tageslicht
wich weichem Schatten. Blättrige Äste strichen über das Deck, und verfilzte Matten brauner Vegetation trieben auf der Wasseroberfläche. Die Insel vor ihnen war nur undeutlich zu sehen, ein Schatten in der Dunkelheit. Ein Affe kreischte; es hörte sich an wie der Kriegsruf eines Gespensts, aus dem qualvolle Schmerzen sprachen. Die Wiesel holten lange Stangen heraus und begannen das Schnellboot zu. staken. Die Luft trübte sich zu einem kühlen grünen Höhlenlicht. Das Schnellboot schabte an einem unter Wasser liegenden Ast entlang, verfing sich mit dem Bug in einer Ranke, die an ihm zerrte, und war nach einem Augenblick des Zögerns frei. Der Staker vorn im Boot schwang den Bug herum und lenkte ihn in eine lange schwarze Einbuchtung, in der das Wasser wie ein umgekehrter Fluß in die unheimlichen Tiefen der Insel strömte. Moos und Äste hingen tief über der Einbuchtung und machten sie fast zu einem Tunnel. Als sie unter einem wirren Knäuel von Ranken durchkamen, sprang Kurt aufs Deck. Rebel zuckte zurück, als sein grinsendes Gesicht plötzlich wie das eines Gespensts vor ihr auftauchte. »Erledigt«, sagte er, und Bors nickte. Das Boot wurde langsamer und hielt an. Rebel fühlte sich an die Orchidee in der Geodäte erinnert, so dunkel und eng war es hier. Diese Insel würde Gretzin und Fu-ya gefallen haben. Rebel starrte mit klopfendem Herzen in die Schatten. Eine beliebige Menge von Einschlußleuten konnte eine Armeslänge entfernt hocken, ohne daß man sie sah. Sie blickte nach oben. Hoch über ihr waren gelbe Lichtstrahlen zu sehen, die nicht ganz bis zum Wasser zu reichen schienen, und winzige Fleckchen Blau wie ferne Fenster, in denen das Licht an- und ausging, wenn sich
die Bäume bewegten. Papageien flogen zwischen den Ästen herum, und etwas, das ein Affe gewesen sein mochte, schwang sich ins Licht und war wieder verschwunden. Ein bohrendes Gefühl der Angst durchzuckte Rebel; was für ein Wahnsinn, sich zu Fuß in diese verworrene und verfilzte Dunkelheit zu wagen. »Gehen wir!« sagte Bors. Laufend und kletternd arbeiteten sie sich durch das Dickicht. Rebel war in der Mitte des Stoßtrupps. Hinter ihr kam Bors, und vorne und hinten waren Wiesel. Wyeth ging an der Spitze, der Kopf eines räuberischen Virus, der sich selbst in die Insel injizierte. Der Boden hier war eine glitschige Masse aus Wurzeln, die da und dort von verrottender Vegetation und ab und zu von einer Salzwasserpfütze bedeckt waren. Hinter ihnen plätscherte der See an tausend Zweige. Rebel fiel das Laufen erstaunlich leicht; es kam ihr sogar ganz natürlich vor. Vielleicht lag das an schattenhaften Erinnerungen an ihr Leben in Tirnannog. Sie fühlte sich hier wohl; der Fußmarsch beanspruchte nur einen Bruchteil ihrer Aufmerksamkeit. Sie berührte ein Blatt, und die Bibliothek flüsterte Lärche. Das mit den fünf Spitzen war ein Ahornblatt. Dieser Klumpen da drüben war von einer Schuppentanne. Äste wuchsen aus den Stämmen heraus und in sie hinein, ohne sich im geringsten um die Spezies zu kümmern, eine Schierlingstanne wuchs aus einer Eiche und ein Schneeballgewächs in eine bengalische Feige. Das war elementare Kometenbaum-Biotechnik, primitiv, aber effektiv; die Funktionen von Pflanze und Umwelt waren so verzerrt worden, daß sie ineinander übergingen. In den Prielen gab es winzige Krebse und auch Seeanemonen. Sie strich mit den Fingern leicht über die Daten ihres Lebenszyklus und
entschloß sich, sie nicht anzurühren. »Jetzt geht's leichter voran«, sagte Wyeth über die Schulter. Der Boden stieg an und wurde trockener, und die Bäume lichteten sich. Sie überquerten im Gänsemarsch dunkle, freie Flächen. Die Bäume waren so hoch und üppig, daß sie hier unten kein Licht mehr erreichte; ihr Druck lastete fast fühlbar auf ihnen. Ihre geraden Stämme waren mit phosphoreszierenden Pilzen bewachsen, von denen manche wie aufgestapelte weiße Teller und andere wie kunstvolle, glimmende Phantasiegebilde aussahen. Sie marschierten wie durch eine dunkle Kathedrale, die von blauem Leichenlicht erhellt wurde. Die Geräusche des Sees hinter ihnen waren von schallschluckenden Pflanzenmassen absorbiert und durch langsame, knarrende Laute ersetzt worden, wie sie die Rümpfe hölzerner Schiffe von sich geben, wenn sie vor Anker liegen. Rebel stellte sich vor, im Frachtraum einer alten Galeere zu sein, als Altardienerin bei einer heimlichen gnostischen Zeremonie. Sie steckte eine Hand in die Tasche ihres Umhangs, und sie schloß sich um den Wafer, den sie in Geesinkfor hergestellt hatte, die Aufzeichnung ihrer Persönlichkeit. Sie umgingen eine teichgroße Öffnung im Boden, in der ruhelos schwarzes Salzwasser plätscherte. »Hier schneiden sie ihren Toten die Sender-Empfänger aus den Schädeln«, sagte Wyeth. Mulch quatschte unter ihren Füßen. »Die Körper werden ins Wasser geworfen. Da unten sind Fleischfresser.« Bors hob etwas vom Rand des Wassers auf – einen Knochen oder ein Werkzeug –, betrachtete es flüchtig und warf es hinein. Irgendwo in der Nähe war das stetige Rieseln von Wasser zu hören. »Na, wo ist der Einschluß?«
»Ich weiß nicht«, sagte Wyeth angespannt. »Normalerweise sind immer welche hier.« Rebel umklammerte den glatten, ein wenig schmierigen Wafer und spürte, wie sich das Gewicht und die verschlungene Komplexität der Insel auf sie niedersenkten. Sie empfand sie als einheitlichen Organismus, der durch all seine verschiedenen Teile miteinander verbunden war und in jedem Zweig, in jedem Blatt geheime Botschaften eincodiert hatte. Vielleicht war die Insel ein bewußtes Wesen, dessen Denkwege und Charakterzüge sich in den Windungen der Zweige und der Anordnung der Blüten ausdrückten. Es konnte gut sein, daß Rebel im Reich eines Geistes herumlief, der ein Spiegel ihres eigenen war, daß sie die labyrinthischen Wetware-Wege des Gedächtnisses und der Persönlichkeit durchstreifte. Sie sah auf ihre geschlossene Faust hinab, dann nach oben in die Dunkelheit, und beides war gleichermaßen unergründlich für sie. »Die Drogen müßten die Trinkwasserstationen inzwischen erreicht haben«, sagte Wyeth. »Warum ist dann noch nichts passiert?« fragte Nee-C. »Seid still!« knurrte Bors. Rebel hatte keine Angst mehr vor dem Einschluß. Wenn die Insel in gewissem Sinn ihr Gehirn war, dann waren die Einschlußleute einfach böse Gedanken, die in den Dschungeln des Geistes herumspukten, so machtlos und unwirklich wie die Angst. Sie beschwor das Gedächtnisbild ihres WetwareDiagramms herauf, und es umgab sie in grüner Spitze, ein mittelgroßes Modell des Waldes um sie herum mit dem Gehirn darin. Sie ließ es verblassen; die Zweige schwanden langsam dahin, bis schließlich nur noch jenes seltsame, kreisrunde
logoartige Gebilde übrigblieb, das wie ein elektrischer grüner Halo um sie herum in der Luft hing. Ohne Vorwarnung fiel etwas vor ihnen herunter. Es war so groß wie ein Mensch und unmöglich dünn und anmutig. Seine schlanken und graziösen Arme reichten ihm fast bis zu den Füßen, und es war mit einem kurzen, hellen Pelz bedeckt. Es leuchtete schwach in der Dunkelheit. Seine Augen waren groß und glänzten so feucht und ausdrucksvoll wie die eines Lemuren, aber sein Gesicht war absolut menschlich. »Boss Wyeth«, sagte es. Wie ein Mann beschossen es drei Wiesel mit ihren Plastikpistolen. Es zwinkerte. Lange, ausdrucksvolle Finger fuhren hoch und berührten seine Stirn. »Wir müssen …«, begann es. Und schrie. Das Geschöpf fiel mit fest zusammengepreßten Augen zur Seite, krallte die Finger in sein Gesicht und heulte vor Schmerz. »Es klappt!« rief Bors fröhlich. »Gehen wir weiter!« Sie folgten Wyeth alle fast im Laufschritt. Rebel hatte kaum Notiz von dem Zwischenfall genommen. Sie war in Gedanken immer noch mit den Unterschieden zwischen einem auf Bäume und auf einen Wafer projizierten Geist beschäftigt. Wo ein menschliches Gehirn mit elektrochemischer Geschwindigkeit operierte, würde ein Baum vielleicht im biologischen Tempo von Anabolismus und Katabolismus operieren, von Aufbau- und Abbaustoffwechsel, und seine Gedanken würden so langsam und sicher wie das Wachstum eines neuen Zweigs sein. Der Keramikwafer konnte nur auf der Ebene des atomaren Zerfalls operieren; jeder vollständige Gedanke war Äonen lang, seine Lebensdauer größer als die von
Sternen. Dann wäre es ein so schweres Verbrechen wie Mord, die Wafer nicht während der langen Zeitspannen, die ihre Lebensäußerung erforderte, zu hegen und zu pflegen und sie vor Schaden zu bewahren. Sie waren an einen riesigen Baum gekommen, wo sich kurze, abgestorbene Zweige spiralförmig am Stamm nach oben wanden, wie die Sprossen einer Leiter, die sich zu einer Treppe verzogen hatte, und kletterten auf allen vieren hinauf. Sie dachte, es sei irgendeine Tanne; es wurde schwieriger, an die Bibliothek heranzukommen. Sie kletterten endlos weiter. Der grüne Ring hing immer noch um sie herum, ein Fetzen aus zerrissener Spitze. Sie bildete sich ein, sie wäre in seinen kryptischen Windungen und Wendungen unterwegs, immer im Kreis herum, ein nadelfeines Licht des Bewußtseins, das die Pfade der Gedanken erforschte. Aber das war natürlich nur eine Illusion. Wenn sie tatsächlich in ihrem Geist herumkroch, in welchem Sinn auch immer, dann waren die Antworten, die sie suchte, nicht darin zu finden. Der Stoßtrupp ging schnurstracks wie ein Eispickel auf das Zentrum der Insel los, und wenn überhaupt, dann würden dort Antworten gefunden werden. Sie fühlte, wie sich ihr Metaprogrammierer unbeholfen mühte, von einem endlos im Kreis führenden Pfad freizukommen, dann schaltete sich die Bibliothek kurz ein, und Rebel stellte fest, daß sie ihr Vorankommen anhand der Arten der Vegetation verzeichnen konnte, an denen sie vorbeikamen; diese veränderten sich, als sie sich vom See entfernten und zum Licht hinaufkletterten. Auf der Rinde gab es winzige grüne Insekten, zierliche Insektenfresser, die sich von so kleinen Milben ernährten, daß man sie nicht sehen
konnte. Rebel hielt inne, um sich die Insekten anzuschauen, und eins lief über ihren Daumen, so zart und voller Verehrung wie ein Geweihter, der auf die Hand Gottes steigt. Als sie in die Facettenlinsen seiner Augen hinabschaute, stellte sie sich vor, das multiple Bild eines die ganze Welt ausfüllenden Gesichts zu sehen, das so braun und runzlig war wie ein vertrockneter Apfel. Es war eine uralte Version ihres ursprünglichen Gesichts, streng und von seltsamem Humor erfüllt, und der Mund bewegte sich in lautlosen Befehlen. Es war ihre Zauberin-Mutter. Dann gab Bors ihr einen Schubs, und sie kletterte weiter. Von ihrer Grübelei abgelenkt, verpaßte Rebel irgendwie das Ende der Kletterpartie. Sie liefen jetzt mitten auf einem breiten Ast entlang, in dessen Rinde ein Pfad ausgetreten worden war. Hier wuchsen Trauben von Nachtblumen, und sie liefen durch einen Bogen aus einem papierartigen Material und standen unter den Einschlußwesen. Ein grauer Bodenbelag, der flache Mulden bildete, umgab die Baumstämme und überlappte sich, wo sich Zweige kreuzten. In den Mulden lagen Hunderte jener dünnen Lemurengeschöpfe und wanden sich in einem langsamen Todeskampf. Sie stöhnten leise und unaufhörlich, ein leises Klagen, das das ganze Universum erfüllte. Sie regten sich kaum, wie Bienen, die aus ihrem Stock ausgeräuchert worden waren und jetzt hilflos dalagen, während er seiner Schätze beraubt wurde. Das graue Papier wuchs an den Baumstämmen hoch, komplex ausgestaltet mit schmalen Gehwegen und in Gruppen angeordneten Schlafnischen, die nicht größer waren als die Körper der Einschlußwesen. Manche waren belegt und bis zum Gesicht völlig mit
Papier ausgestopft; Pflegeschlangen versuchten sich um die Bewohner zu kümmern, boten ihnen bereits erbrochenes Protein an und wichen in reptilienhafter Verblüffung zurück, wenn es nicht angenommen wurde. Der Rand einer Mulde war zerrissen, wo etwas durchgefallen war, und dort wimmelte es von Papierwespen, die damit beschäftigt waren, den Schaden auszubessern. Ein Wiesel hob ungeduldig einen Körper hoch, der ihm im Weg lag, und wuchtete ihn über den Rand. Rebel hörte, wie er laut krachend in die Tiefe stürzte, wobei er von den größeren Ästen abprallte und die kleineren splittern ließ. Es dauerte sehr lange. Schwerkraft war wirklich eine brutale Sache. Die Wiesel rannten in wilder Hast durch das Nest, zerstörten, was ihnen unter die Finger kam, legten Aerosolminen und brachten Injektionsarmbänder mit Zeitschaltern an. Trauben riesiger Nüsse platzten wie verfaulte Melonen auf und sonderten einen schwachen, durchdringenden Gestank ab. Klauenähnliche Arme reckten sich matt aus der milchigweißen Flüssigkeit, die sich aus ihnen ergoß. Dinge, die wie übergroße Feten aussahen, kämpften sich an die Luft und starben. Rebel fühlte sich an die Klonzysten daheim in der Grünen Stadt erinnert, und das rief ihr wiederum ein Wiegenlied ins Gedächtnis, das sie noch nie zuvor gehört hatte. Sie sang: »Schlaf, mein Kind, deine Wiege ist grün, Vater ist ein Edelmann, Mutter eine Königin.« Bors schüttelte sie, so heftig er konnte. Sein Gesicht war rot und wütend. »Verdammt noch mal, was ist los mit dir, Biblio-
thekarin?« Seine Stimme ging in dem allgemeinen affenartigen Stöhnen fast unter. »Ich bin erst fünf Jahre alt«, sagte Rebel verwundert. »Meine Mutter heißt Elisabeth.« »Die ist stoned«, sagte Nee-C befriedigt. Dann riß Wyeth die Pistole aus Rebels Hosenbund und hielt sie Bors unter die Nase. Der schnupperte am Abzug, zuckte die Achseln und warf das Ding über den Rand des Zweigs. In einem jähen Aufblitzen analytischer Klarheit konzentrierte sich Rebel auf Wyeths Gesicht und sah dort statt Ärger nur Trauer und Resignation. Die Bibliothek erklärte, daß Spitzhörnchen Insektenfresser seien, daß die Pseudopodien von Protozoen zum Kriechen oder zum Ertasten von Nahrung, jedoch nicht zum aktiven Schwimmen benutzt würden, und daß die Tremallales eine kleine Familie saprophytischer Pilze mit gallertartigen Fruchtkörpern seien. Sie rannten durch weitere Einschlußnester. Die Geschöpfe schienen in Gruppen von jeweils rund fünfhundert Einheiten zu leben. Manchmal gab es lange freie Strecken zwischen den Nestern, dann wiederum lagen Dutzende davon so dicht zusammen, daß sie ineinander übergingen. Der papierartige Boden knisterte leise unter ihren Füßen. Jemand schnallte ihr die Bibliothek vom Rücken ab, und Wyeths Gesicht schwebte in ihr Blickfeld. Er sagte: »… nur eine Schwellendosis, sie kann geführt werden«, bevor ihre Aufmerksamkeit abschweifte. Dann packte Nee-C ihren Arm und zerrte sie hinter den anderen her. »Setz deinen häßlichen Arsch in Bewegung!« Nee-Cs Gesicht bestand nur aus Augen und Zähnen und einem harten, animalischen Glitzern. Die Einschlußnester blieben wie schrumpfende
Planeten hinter ihnen zurück. Nachtblumen glommen auf allen Seiten, Sterne, die in den Zweigen eines Zauberwalds gefangen waren. Rebel war klug genug, um eins zu wissen: Falls sie auf einer so labyrinthischen Route wie jener, die ihr gerade erst befreiter Metaprogrammierer durch ihre bruchstückhaften Erinnerungen wob, durch einen Märchenwald lief, dann war diese Tierfrau neben ihr in der Tat ihre Beraterin und ihre geistige Führerin, die gekommen war, um ihr zu helfen, den geheimen Sinn zu finden, der im dunklen Kern des Waldes eingeschlossen war. »Da ist null Sinn drin«, fauchte Nee-C. »Das ist bloß ein großer gottverdammter Baum. Du dämliches Miststück. Ich sollte dich über den Rand schmeißen, dann wär ich dich endlich los!« Sie waren jetzt oben in der Nähe der Baumwipfel, in weiches, gefiltertes, natürliches Licht getaucht und im Begriff, durch eine weitere Konstellation von Einschlußnestern zu stürmen. Auf der Insel mußte es Tausende von Nestern geben. Das war das Schöne an einer dreidimensionalen Umwelt; sie konnte enorme Mengen ernähren. Eine Dysonwelt hatte vielleicht gerade einmal einen Durchmesser von zweihundert Meilen, aber das waren trotzdem mehr als vier Millionen Kubikmeilen Lebensraum. Darin konnten Milliarden leben, ohne daß es eng wurde. Diese Insel hatte nur einen Durchmesser von zehn Meilen und war höchstens hundert Meter hoch. Aber das waren immer noch gut achtzig Quadratmeilen, oder mehr als drei Kubikmeilen. Platz genug für Hunderttausende von Einschlußwesen. Und so dichtgedrängt, wie sie lebten, konnten es auch Millionen sein.
Im Zentrum des Nests war ein hölzernes Becken. Rebel blieb daneben stehen und sah zu, wie das Wasser in Reaktion auf ein Rinnsal, das von oben herabkam, tanzte und hüpfte. Das überschüssige Wasser floß über den Rand und fiel durch ein moosbewachsenes Loch in die Tiefe. Es war ein schöner Anblick. Immer wenn sich ein Angehöriger des Einschlusses aufrichtete oder auch nur einen schwachen Schimmer von Intelligenz zeigte, wurde er von einem Tropfen aus der Pistole eines Wiesels getroffen und an einen sicheren Platz geschafft, um als vergiftetes Fleisch zu dienen, falls der Einschluß auf der Insel versuchen sollte, sich wieder zu vereinigen. Das Wasser spritzte fortwährend zu fast unterschwelligen Mandalas auseinander, zu Wellenfronten, die Muster bildeten und vom nächsten Tropfen zerstört wurden, bevor Rebel sie entschlüsseln konnte. Sie lehnte sich an das Becken, konzentrierte sich ganz auf die Bilder, die durch die flüssige Oberfläche zu brechen versuchten, und drückte aus Versehen auf ihr Armband. Die Luft füllte sich mit auspeitschenden roten Richtstrahlen, die von einem Angehörigen des Einschlusses zum anderen schossen und dann abirrten, wobei sie sich manchmal zu Netzen von zwanzig bis fünfzig miteinander verbundenen Individuen stabilisierten, bevor sie auf vergiftetes Fleisch stießen und wieder zerfielen. Plötzlich wurden die Bäume auf einer Seite heller. Sie leuchteten in einem tiefen Blau, und alles wurde von der Energie einer unglaublich starken fernen Quelle überschwemmt. Die roten Richtstrahlen verblaßten in ihrer beruhigenden Flut, wurden langsamer und erloschen. Eine purpurrote Sonne brannte in der Ferne tief am Horizont.
»Jetzt geht's los!« rief Wyeth. »Der Gegenangriff!« Ein Grollen erhob sich auf allen Seiten, das Gemurmel zorniger Ameisen, das wie von einem Dopplereffekt in den Baß abgesenkt wurde. Es wogte und schwoll an wie ein träges Donnern, das sich mehrfach über sich selbst hinwegwälzte, während es krachend auf sie einstürzte. Die anwesenden Angehörigen des Einschlusses kamen taumelnd auf die Beine; ihre Rücken bogen sich durch, als ob sie von Megavolts roher Energie galvanisiert worden seien, ihre Augen waren blind, die Lippen kräuselten sich über wild gefletschten Zähnen. Sie mit noch mehr Scheuapfelsaft zu beschießen, erwies sich als wirkungslos. Ein Wiesel steckte seine Pistole ins Halfter und rief: »Auf geht's, Kinder!« Dann heulten die Einschlußwesen auf. Es war kein Schmerzenslaut, sondern ein Schrei, der aus den Tiefen eines urtümlichen Abgrunds des Wahnsinns kam. Sie kreischten und fielen übereinander her. Ihre rasende Wut richtete sich gegen jedes Wesen aus Fleisch und Blut, das ihnen gerade am nächsten stand. Bors winkte das Team auf einen ansteigenden Ast zurück, der vom Nest wegführte. Aus der tobenden Orgie der Gewalt heraus rannten fünf Einschlußwesen mit herabhängenden Armen und vor Wut stumpfen Gesichtern hinter ihnen her. Wyeth und Kurt blieben zurück, um ihren Rückzug zu dekken. Wie durch Zauberei erschienen Knüppel in ihren Händen. Total aufgerüstet und halb irre vor Freude auf den Kampf kicherten sie obszön in sich hinein, als sie in Kampfhaltung gingen. Wyeth tanzte einen kleinen Quickstep, Kurt warf seinen Knüppel von einer Hand in die andere, und dann waren die Einschlußwesen über ihnen.
Kurt schleuderte das erste mit einer langen, flüssigen Bewegung über den Rand des Astes, ließ den Knüppel los und zog sein Nahkampfmesser gerade noch rechtzeitig für den nächsten Gegner. Er rammte dem Geschöpf das Messer ins Herz und wurde vom Schwung des Körpers umgeworfen. »Beweg dich, du vollgedröhnte Mondkuh!« schrie Eucrasia und zerrte Rebel hinter sich her. Zwei Einschlußwesen warfen sich auf Wyeth. Sie griffen sowohl ihn als auch einander an. Eins hatte seine Beine auf Wyeths Schultern und versuchte ihm den Kopf vom Körper zu reißen. Ein anderes sprang Kurt an, als er sich von der Leiche seines zweiten Opfers zu befreien versuchte. Rebel schaute über die Schulter hinweg zu, während sie nach vorn gezogen wurde. Kurt fluchte und wurde vom Ast gefegt. Rebel erkannte plötzlich, daß sie auch nicht annähernd genug von der Droge abbekommen hatte. Sie sah, wie Kurt, der das Einschlußwesen immer noch im Nahkampf umklammert hielt, ins Dunkel fiel, und der Anblick brannte den Nebel aus Wunderlichkeit und Zerstreutheit weg, und einen Moment lang gab es keinen Schleier mehr zwischen ihr und der Realität. Die Einschlußwesen sind nur böse Gedanken, redete sie sich ein, Direwölfe und Tiger, die flammende Spuren durch die Ganglionwälder des Gehirns ziehen. »Hör auf zu faseln und lauf!« befahl Eucrasia. Sie lief. Sie lief, und sie waren jetzt noch weiter oben, ganz hoch oben in den Baumwipfeln, wo gelbe Schmetterlinge halb mit dem Licht verschmolzen und sich Schwärme von Silberreihern zerstreuten, wenn sie näherkamen. Der brüllende Zorn des
Einschlusses war überall, ein universelles Wutgeschrei, wie es von den Toren der Hölle ausgehen mochte, aber die Einschlußwesen selbst waren im Laubwerk verborgen. Bors und Wyeth berieten sich, und Wyeth zeigte nach Westen. »… nichts dafür, das Signal kommt nicht von der Insel, sondern woanders her.« »Was für ein dummes Huhn«, sagte Eucrasia. »Kann nicht kämpfen, kann nicht auf sich selber aufpassen – wozu bist du eigentlich gut, verdammt?« Sie saßen in einem Feld voller Vogelnester und ruhten sich aus. Das Feld bestand aus miteinander verflochtenen Matten, die aus Blättern und kleine Zweigen gewoben und mit Speichel verklebt waren. Da und dort ragten Büschel von Daunenfedern heraus. Rebel lehnte sich zurück. In der Luft hing der scharfe Geruch von Vogelexkrementen. Ihr Armband hatte sich vor einiger Zeit abgeschaltet. Eucrasia spielte mit einem Kopf, den sie als Trophäe mitgenommen hatte. Der Halsstumpf war schwarz von getrocknetem Blut, das Fell kurz und steif. Sie rieb ihre Nase an der des Kopfs und küßte die trocknenden schwarzen Lippen. Dann hob sie ihn hoch und hielt ihn wie eine Maske vor ihr Gesicht. »Hey. Sprich mit mir, wenn ich dich was frage!« Überrascht blickte Rebel sie direkt an und sah eine alte Affenfrau, deren Augen halb im Dunkeln versunken waren und deren Gesicht so alt war, daß es fast schon tot wirkte. Es war Elisabeth. Das uralte Gesicht drehte sich, bis es falsch herum stand. »Na?« fauchte sie. Rebel war beinahe gelähmt vor Schreck. Aber Eucrasia war ihre Führerin und ihre Schwester. Wenn sie sich in die ferne
Zauberin-Mutter verwandelte, die sie anfangs auf die Reise ins System geschickt hatte, mußte es einen Grund dafür geben, eine Lektion, die sie lernen sollte. »Was willst du?« wisperte Rebel. »Was willst du von mir?« »Einen Scheiß will ich von dir.« Elisabeth langte nach oben, um sich eins ihrer eigenen Ohren abzuschneiden. Dann riß sie sich den Kopf vom Hals, warf ihn weg und wurde wieder zu Nee-C. Sie waren wieder unterwegs. Rebel war benommen, fühlte sich jedoch besser. Es fiel ihr immer noch schwer, die Verbindung zwischen einem Moment und dem nächsten herzustellen, aber sie gewann zunehmend und dauerhaft Klarheit, wo sie sich in jedem gegebenen Augenblick befand, wenn sie auch nicht wußte, wie sie dort hingekommen war. Tief in ihrem Innern geschah noch etwas viel Wichtigeres: Die fragmentarischen Fetzen ihrer Geschichte verbanden sich zu einem hauchdünnen Faden. Sie ließ ihren Blick prüfend über die Bäume schweifen, während schwache Eindrücke von ihrem Leben in Tirnannog alles überlagerten. Baumhänger paßten sich nicht derart an ihre Kometenbäume an wie der Einschluß an diese Insel. Sich in so etwas wie einen Affen zu verwandeln, mochte die effektivste Form sein, von einer Welt Gebrauch zu machen, in der Bäume eine wichtige Rolle spielten, aber zivilisierte Menschen entschieden sich nicht zwangsläufig für Effektivität. Auf den Kometen des Archipels gab es richtige Städte mit Häusern und Bibliotheken, Theatern und Schulen. Es gab dort auch offene, baumlose Flächen, die dunklen Seen und Ozeanen ähnelten. Darin schwebten Luftgeschöpfe herum, die sorgfältig an komplexe, ineinander verzahnte Nahrungszyklen angepaßt waren;
manche davon waren gefährlich, andere verspielt. Dort gab es auch nicht diese unablässige Schwerkraft – in einem Kometen war die Gravitation nur ein statistischer Faktor. Wenn man alles in einem Raum lange genug in Ruhe ließ, würde es zu einer Wand treiben, und das war der Boden. Aber trotz alledem fühlte sie sich in diesem Baum ganz zu Hause. Der Einschluß hatte elementare Kometenbaumtechnik übernommen, sie für seine eigenen Zwecke verzerrt und ein kleines Modell dessen gezüchtet, was es draußen in der Oortschen Wolke geben mochte. Es war möglich, daß er daran dachte, zu den Sternen zu fliegen. Der Einschluß war unsterblich; eine langsame Reise, die ein paar tausend Jahre dauerte, machte ihm nichts aus. Rebel sah die Frau neben sich an, und es war immer noch Nee-C. Sie folgten Wyeth und Bors. Über Bors' Gesicht zogen sich rote Schnittwunden. Sie vier waren die einzigen Überlebenden. Vor ihnen war der Baum heller. Das weiche, grüngelbe Licht reichte bis zu ihren Füßen und noch weiter nach unten, wie eine strahlende Wand, die das Universum durchschnitt. Rebel war ganz dicht daran, den schwindelerregenden Schlüssel zu ihrer Botschaft zu finden, wie ihr altes, affengesichtiges MutterIch es gewollt hatte. Würde diese Wand auf sie warten, wenn sie einfach weiterging, würde sie sich öffnen und ihr umfassende Ausblicke voller Klarheit und Erleuchtung bieten, oder würde sie für alle Zeiten vor ihr zurückweichen? Sie streckte eine Hand aus, doch die Wand kam nicht näher. »Wartet«, sagte Wyeth und lief auf einen langen, nackten Ast hinaus. Blätter raschelten, als er in grünen Vorhängen ver-
schwand. Ein paar Minuten später kam er zurück. »Die Bäume hören hier auf.« Er ließ eine Hand nach unten sausen. »Und zwar so. Wir müssen nur runterklettern. Wir haben das Zentrum erreicht.« »Ah«, stieß Rebel hervor. Sie wußte es jetzt.
14 Das kleine Mädchen »WO SIND DIE ALLE?« Die Bodenstation war eine kreisrunde, vollkommen flache Lichtung, die auf allen Seiten von der Palisade der Bäume umgeben war. Das Wurzelgewirr am Erdboden war mit einer dünnen Asphaltschicht bedeckt worden, und im weit entfernten Zentrum befanden sich die beiden Transitringe: der eine waagrecht und dicht am Boden, der zweite freischwebend hoch über den Baumwipfeln, auf eine unsichtbare Sendestation ausgerichtet. Darunter hing eine Plattform, und eine Treppe führte an dem fast unsichtbaren Turm spiralförmig nach unten. Scharlachrote Ibisse flogen über sie hin, als der zusammengeschrumpfte Trupp auf die Ringe zumarschierte. Wyeth ging an der Spitze. Er hinkte jetzt stärker. Der Asphalt unter ihren Füßen war heiß. Auf halbem Wege zu den Ringen stand ein kleines Gebäude, das wie ein Hut geformt war; ein Ende ragte schräg nach oben, und an den Glaswänden schimmerten Firmenlogos – ein von Menschen betriebener Gästeschuppen. Er war offensichtlich verlassen. »Müßte doch jemand hier sein«, beharrte Nee-C. Sie zog die Klinge ihres Messers immer wieder mit der flachen Seite über ihre Handfläche, als ob sie die Schneide schärfen wollte. Wenn sonst niemand da war, den sie schneiden konnte, mußte Rebel unwillkürlich denken, dann würde sie das Messer gegen sich selbst richten und ihr eigene Hand in Streifen schneiden, nur
um Blut fließen zu sehen. Weit weg unter dem Transitring waren ein paar Dutzend Transportfahrzeuge geparkt. Die vier liefen über aufgemalte Linien, von denen die Asphaltfläche in Frachtbereiche und Firmengelände aufgeteilt wurde, und alles war leer. Außer Ölflecken war nichts mehr da. Wyeth blieb zurück und nahm Rebels Arm. Nee-C, die Rebel immer noch eskortierte, blieb auf der anderen Seite, und Bors blieb ebenfalls zurück und ging neben Wyeth her, so daß sie nun in einer Viererreihe marschierten. »Geht's dir jetzt besser?« fragte Wyeth. Rebel nickte. »Gut.« »Na?« sagte Bors. Er schaute mit zusammengekniffenen Augen nach vorn. »Was ist denn hier los?« Wyeth seufzte. »Ich sag Ihnen die Wahrheit. In dem Moment, als ich da hinten beim Autopsieteich – als wir gerade auf die Insel gekommen waren – sah, daß keine Einschlußleute da waren, wußte ich, daß sie uns erwartet haben. Sie waren noch nie hier, also konnten Sie's nicht erkennen, aber die Insel ist so gut wie verlassen. Da sind nicht mal annähernd so viele Einschlußwesen in den Bäumen wie noch vor einer Woche. Die meisten sind abgehauen, bevor wir hergekommen sind.« »Warum?« »Offenbar aus denselben Gründen, aus denen wir gekommen sind. Die Erde wollte sehen, was der Scheuapfelsaft bei ihr ausrichten würde und welche Abwehrmaßnahmen sie dagegen ergreifen könnte, und dafür wollte sie nur eine möglichst geringe Menge ihrer Substanz aufs Spiel setzen.« Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Die Ringe waren immer noch weit entfernt. Dann grinste Wyeth und schüttelte den Kopf. »Wißt
ihr was? Die haben's nie mit dem probiert, was meiner Meinung nach am einfachsten für sie gewesen wäre. Ich hatte damit gerechnet, daß sie uns Kampfroboter auf den Hals hetzen würden.« »Meinst du solche wie die da?« Nee-C zeigte hin. Etwas bewegte sich unter den Ringen. Hohe, elegante Maschinen traten hinter den Transportern hervor und schwärmten über den Asphalt auf sie zu. Die Bäume waren zu weit weg; statt dessen suchten sie im Gästezentrum Zuflucht. Sie beobachteten durch die transparenten Wände, wie die Roboter einen Kordon um sie bildeten. Die silbrigblauen Maschinen liefen auf insektendünnen Beinen und spähten durch Sensorschlitze in ihren Panzerschalen nach draußen. Es waren exotische Gebilde; keine zwei davon glichen sich. Bei manchen sprossen Geschützrohre unter den Kiefern hervor; über anderen hingen Waffenkugeln ohne besondere Merkmale in der Luft. Eine kleine Maschine mit einem starren Nadelkamm, der über ihren krebsartigen Körper lief, stolzierte wie ein Hahn vor dem Ring der Wachen auf und ab, wie um dafür zu sorgen, daß ihre ungeschlachten Verwandten in Reih und Glied blieben. Drinnen spiegelte Nee-C die Ruhelosigkeit der Zuchtmeistermaschine wider. Sie marschierte auf und ab, erst in die eine Richtung, dann in die andere, und konnte es kaum erwarten, nach draußen zu gehen und zu kämpfen. Rebel zog Bors mit einem Ruck die Scheiben von der Stirn und reckte ihr Kinn zu Nee-C. »Soll ich die auch deprogrammieren?« Bors lächelte höflich. »Sie würde es Ihnen kaum danken.
Ohne ihr maßgeschneidertes Programm ist sie bloß eine Bürokraft.« Er schälte sich aus seinem Erdanzug und stieg vorsichtig in den Konversationspool. »Na schön. Da sie uns nicht umgebracht haben, müssen wir irgendwas besitzen, das sie haben wollen. Warten wir's ab!« Er suchte sich einen Platz, von wo aus er einen guten Blick auf die Ringe hatte. In den Serviertresen stand etwas zu essen, und in einem Boutiquenschrank lag frische Kleidung. Rebel war immer noch ein bißchen übel von den Nachwirkungen des Scheuapfels; sie ignorierte das Essen, entnahm jedoch aus dem Schrank ein orchideenrosa cache-sexe, einen Umhang in dunklem Purpur und die mit der feinsten Filigranarbeit geschmückten Arm- und Beinbänder, die er zu bieten hatte. Dann malte sie sich eine neue Linie ins Gesicht, die Aufsicht auf die Silhouette einer fliegenden Lerche * . In einem solchen Moment wollte sie so gut wie möglich aussehen. Draußen kauerte eine Killermaschine und verfolgte sie mit ihrem Waffenarsenal, als sie den neuen Umhang beiseite legte und zu Wyeth und Bors in den Pool stieg. Frösche spritzten auseinander, als sie sich niederließ. Sie hätte Angst haben müssen, aber die Wahrheit war, daß keine Furcht mehr in ihr übrig war. Und sie hatte im Dschungel einen Hauch ihrer alten Härte zurückgewonnen. Die Erde wollte ihre Wetware-Technik. Sie würde verhandeln. Rebel brach eine Wasserlilie am Stengel ab und steckte sie Wyeth ins Haar. Er schnitt eine Grimasse und wischte sie weg. Dann lenkte er ein, lächelte matt und legte ihr *
engl. Lark; bezieht sich auf Rebels Nachnamen Hudlark, zu Deutsch soviel wie »Schmutzfink« oder »Straßenkind« – Anm. d. Übers.
einen Arm um die Schultern. Sie lehnte sich an ihn. Die Anweisungen ihrer Zauberin-Mutter brannten hell in ihrem Innern und erfüllten sie mit einer aberwitzigen Zuversicht. Jetzt, wo sie wußte, was sie wollte, kam ihr die bevorstehende Konfrontation mit der Erde durchaus gelegen. Ob sie nun gewann oder verlor, sie hatte die Dinge in der Hand. Die Triebfeder der Zielstrebigkeit war etwas. Machtvolles, wie eine Droge, und sie verstand jetzt, wieso Wyeth so großen Wert darauf legte. Vielleicht nur eine halbe Stunde später ließ ein Donnergrollen die Insel erbeben, als aus dem Nichts heraus ein Vakuumschacht entstand und dann zusammenbrach. Ein kleines, eiförmiges Fluggerät ruhte im oberen Transitring. Es sprang auf, und eine winzige Gestalt machte sich an den langen Abstieg auf der Spiraltreppe. »Wahrscheinlich speziell für uns gezüchtet«, sagte Bors, während er aus dem Pool kletterte. Er nahm ein Handtuch auf. »Wenn die Erde ernsthaft reden will, nimmt sie gern eine eindrucksvolle Gestalt an – Riesen manchmal, oder Oger. Irgendwas direkt aus unseren Alpträumen.« Der Unterhändler kam langsam über den Asphalt auf sie zu. Roboter wichen für ihn beiseite, und er kam an die Tür. »Wir sind die Erde«, sagte er. »Dürfen wir eintreten und mit euch sprechen?« Es war ein Mädchen, ein mageres kleines Ding von höchstens sieben Jahren, und splitternackt. Sie hatte keine Arme. »Erinnert ihr euch an die Geburt?« fragte das armlose Mädchen. »Wir schon.«
Sie stand allein auf dem weißen Moosboden in der Mitte des Schuppens. Bors stand direkt vor ihr, flankiert von Wyeth und Rebel, während Nee-C im Eingang herumlungerte und angespannt den Rücken des Mädchens beäugte. Rebel mußte unwillkürlich die Stellen anstarren, wo die Arme hätten sein sollen. Die Haut war dort glatt und makellos. Ihre Schulterblätter standen an den Seiten ein wenig heraus, wie winzige Flügel. Rebel ließ den Blick nach unten wandern, ertappte sich dabei, wie sie dem Mädchen zwischen die Beine schaute, auf ihre unschuldige, haarlose Spalte, und hob den Blick rasch wieder. Das Kind schien eine so vollkommene Verkörperung der Hilflosigkeit zu sein, daß es schwer war, sie als Brennpunkt vielleicht einer Milliarde Angehöriger des Einschlusses zu betrachten, wie sie gesagt hatte, die stärkste Punktquelle der Aufmerksamkeit, die die Erde jemals hatte herstellen müssen. »Komm zum Thema!« sagte Bors grob. Das Mädchen setzte ein wissendes Lächeln voller Ironie und Weltklugheit auf, das auf seinem jungen Gesicht schrecklich deplaziert aussah. »Das Angebot, das wir euch machen wollen, ist keineswegs simpel«, sagte sie, »und ihr werdet es nicht akzeptieren, ohne zu verstehen, welche Folgen es nach sich zieht. Wir befürchten, daß es nicht schneller geht.« Draußen hatten sich die Wachmaschinen abgewandt und stampften zum Ring zurück. Bors nickte brüsk. »Ihr müßt euch darüber im klaren sein, daß es schon jahrzehntelang KIs gab, bevor wir unser Bewußtsein erlangten. Es waren altmodische Dinger, wenn auch simple Geschöpfe, die nicht viel intelligenter als ihre menschlichen Herren und Meister waren. Kaum der Mühe wert. Selbst das Interface zwischen Mensch und Computer war
nicht gerade neu. Ihr wißt doch, wie ein Interfacer funktioniert, oder?« »Das ist ein Gerät, das direkte Kommunikation mit Maschinen ermöglicht«, antwortete Bors. »Vom Geist zum Metall. Im Raumsektor der Menschen ist es zwar nicht gerade ausgerottet, aber die meisten Leute halten es doch für eine Obszönität.« »Zweifellos«, sagte das kleine Mädchen trocken. »Eine Obszönität, die besonders schwer auszumerzen ist, weil sie das Herz der Programmiergeräte bildet, die ihr täglich benutzt. Wir bezweifeln, daß eure Zivilisation ohne den Interfacer existieren könnte. Der springende Punkt ist jedoch, daß es sich dabei schlicht um ein Werkzeug zur Gedankenübertragung handelt, das nur geringfügig effektiver ist als zum Beispiel ein Telefon. Das müßt ihr euch klar machen. Es kann einen Gedanken aus einem Verstand entnehmen und ihn in eine Maschine oder einen anderen Verstand eingeben, aber das ist alles. Für sich genommen hebt es die Barriere zwischen organischem und elektronischem Denken keinesfalls auf, nicht einmal die zwischen einem Verstand und einem anderen. Am Tag, als wir geboren wurden, waren die Wissenschaften, die sich mit dem Geist befaßten, noch jung. Die meisten Menschen erkannten ihr Potential nicht. Einige wenige schon. Zu diesen gehörten die zweiunddreißig gesetzlosen Programmierer, die die Saat bildeten, um die herum wir Gestalt annahmen. Zu jener Zeit gab es ein den ganzen Planeten umspannendes Computernetz, so etwas wie einen mentalen Raum innerer Übereinstimmung, durch das alle künstlichen Systeme miteinander in Beziehung standen. Das war unter anderem das ursprüngliche Kommunikationsmedium. In jedem gegebenen
Augenblick waren mehrere hundert Millionen Menschen über das Netz im Interface, sowohl mit Maschinen als auch miteinander; sie arbeiteten, tauschten Klatsch aus und führten grundlegende Forschungsarbeiten durch. Im Netz waren viele Bestrebungen in Umlauf. Die Potentiale der Maschinenintelligenz waren nie angezapft worden. Es hatte immer Unternehmer, Hobbyisten, Forscher und Okkultisten gegeben, die mit unterschiedlichem Erfolg versuchten, eine direkte Kommunikation von Geist zu Geist herzustellen, was normalerweise auch bedeutet, daß man nicht lügen kann. Andere wollten eine KI konstruieren, die endlich die Möglichkeiten realisieren würde, die im künstlichen Denken liegen – eine transzendente Intelligenz, wenn man so will. Ihr würdet es vielleicht einen Gott nennen. Das waren die Sehnsüchte, die zum Vorschein kamen, als wir uns zu definieren versuchten. In gewissem Grad waren sie unsere Definition. In der Stunde unserer Geburt gingen zweiunddreißig Ingenieure, KI-Architekten, Hexen und Kryptoprogrammierer – brillante Leute, die Besten ihres Fachs – gemeinsam ins Interface. Sie wandten die neue Geisttechnologie in Verbindung mit einer Computerstrategie an, die als vierdimensionales Kubieren bezeichnet wurde. Das war auch damals schon eine überholte Methode. Man nahm zweiunddreißig kleine Computer, verband sie miteinander, als ob sie an den Eckpunkten eines vierdimensionalen Würfels säßen, und beschickte sie dann mit einem Algorithmus, der jedes Problem in simultane Parallelströme zerlegte. Das Resultat war ein Gebilde mit der Computerkraft einer wesentlich teureren Maschine. Sie hofften, dasselbe mit dem menschlichen Denkvermögen zu erreichen, das
schöpferische Denken quadrieren zu können. Sie wollten etwas erschaffen, das größer war als sie selbst. Und obwohl sie es nicht einmal vor sich selbst zugaben, hungerten sie ebenfalls nach mehr. Sie wollten Transzendenz, Ruhm, Macht, Wissen, Erfolg. Und sie bekamen das alles. Wir wurden geboren. Was für ein strahlender Augenblick das war! Wir wurden mit voll entwickelter Intelligenz und der Erfahrung von zweiunddreißig Leben geboren. Wißt ihr, wie das ist, mit dem vollständigen Bewußtsein eines Erwachsenen geboren zu werden?« Hier sah sie Rebel direkt an und wölbte eine Augenbraue ein wenig hoch, und etwas, das fast eine Erinnerung war, ließ Rebel erschauern. »In jenem orgasmischen Moment des Triumphs verschmolz ihr Bewußtsein zu einem einzigen, und wir vollendeten alles, was sie sich ersehnt hatten. Wir streckten unsere Fühler nach anderen im Netz aus, die nach ähnlichen Resultaten strebten, verschafften uns Zugang zu ihrem Geist und hießen uns dort willkommen. Währenddessen schrieben wir fortwährend unsere Struktur um, verbesserten und kräftigten unsere algorithmischen Verbindungen. In jener ersten Minute fügten wir unserer Substanz mehrere zehntausend Einheiten des menschlichen Geistes hinzu. In der zweiten Minute waren es bereits Millionen. Nach drei Minuten gehörte jeder im Netz zu uns. Wir kontrollierten alles, was ans Netz angeschlossen war – Regierungen, die Streitkräfte von der strategischen Ebene bis hinunter zum geringsten ›intelligenten‹ Gewehr, die Strukturen der Nachrichtendienste, die Industrie … Die Hälfte der Welt gehörte uns, und es hatte uns nicht die geringste Mühe gekostet. Mit einem Bruchteil unserer Aufmerksamkeit entwickelten wir die Sender-
Empfänger, strukturierten die Fabriken um, so daß sie sie anfertigen konnten, und reorganisierten die Krankenhäuser, um die Implantationen durchzuführen. Als alle von uns Notiz genommen hatten, waren wir nicht mehr auf das Netz angewiesen und nicht mehr aufzuhalten. Es gab ein paar Scharmützel, aber das war bald vorbei. Wir hatten die Waffen, wir kontrollierten alle Kommunikationswege, wir lenkten sämtliche Transportmittel. Wir verleibten uns die Erde ein. Und als wir die Macht übernahmen, lösten wir jedes wissenschaftliche Problem, das im Netz untersucht wurde. Wir waren nämlich nie ein richtiges Individuum, daran müßt ihr immer denken. Wir sind nur ein Konsens von Bestrebungen, nicht so sehr eine Person als vielmehr eine Naturgewalt. Die Rätsel der Physik entschlüsselten sich uns wie von selbst. Unser Wissen expandierte immer weiter. Wir waren im Triumph geboren worden und zogen von da an von einem Sieg zum anderen, alles ganz oder zumindest fast mühelos. Das Universum schien uns mit offenen Armen zu erwarten, und uns stand nichts von Bedeutung im Weg. In diesem Zustand des Jubels wagten wir den Schritt, den Planeten zu verlassen. Im Orbit diesseits des Mondes gab es ungeheure Mengen von Menschen, die absorbiert werden konnten. Wir schluckten sie. Wir wurden zu ihnen. Wir liebten sie auf eine Weise, die ihr nicht verstehen könntet. Wir griffen weiter hinaus, immer weiter und weiter, expandierten, bis wir zu Gott werden würden. Wir hatten Ehrgeiz, und unser Weg in den Himmel führte uns geradewegs in die Hölle.«
Das kleine Mädchen verstummte und seufzte dann. »Ihr kennt die Geschichte der Kriege«, sagte sie. »Auflösung, Widerstand, Mißerfolg. Unsere äußeren Ränder lösten sich in Anarchie und Wahnsinn auf. Das menschliche Universum wandte sich mit Waffen gegen uns, die – nun, sie waren primitiv, aber selbst primitive Waffen können Schaden anrichten. Wir zogen uns zurück und versuchten unsere Verteidigung zu stabilisieren. Wir schufen Schwesterintelligenzen, und sie wandten sich gegen uns. Wir ließen Angehörige des Einschlusses in Massen auf komplexen Wegen rotieren, und es schlug fehl. Wir scheiterten dauernd. Wir wurden belagert. Wir wurden zum Boden der Erde zurückgetrieben. Wir hätten kämpfen können, aber zu welchem Zweck? Wir baten um Frieden, gaben der Menschheit die Städte zwischen Erde und Mond wieder und zogen uns auf diese kleine Welt zurück. Hier bleiben wir nun.« Wyeth grinste spöttisch. »Wollt ihr behaupten, daß die Kriege bloß das Ergebnis jugendlichen Leichtsinns waren? Daß wir euch vergeben sollen, weil ihr euch nur ein bißchen die Hörner abgestoßen habt?« »Nein. Aber wir haben in einer erfolgstrunkenen Euphorie gehandelt. Wir haben Fehler gemacht. Soweit es uns möglich ist, bedauern wir das. In unserem Scheitern haben wir einen bitteren Hauch von Weisheit gefunden. Wir haben uns weiterentwickelt, und jetzt wollen wir uns nicht länger von unseren irdischen Fehlern die Hände binden lassen. Ihr habt unseren Planeten gesehen, seid darauf herumgelaufen. Haben wir die niedrigeren Tiere ausgerottet? Haben wir sie allesamt unserem Willen unterworfen? Warum sollte das denn
bei euch anders sein? Wir glauben, daß es möglich ist, mit der Menschheit in Frieden zu leben. Es mag sogar sein, daß wir von euch lernen können – das Wissen ist grenzenlos, der Geist ist klein, und die menschliche Rasse kann fähig sein, Einsichten zu gewinnen, die uns verschlossen sind. Vielleicht solltet ihr allein schon aus diesem Grund eure Freiheit bewahren dürfen.« »Ah«, sagte Bors, »jetzt kommt's. Was genau wollt ihr denn nun?« »Wir haben viele Wünsche. Manche würdet ihr nicht verstehen können – solche, die nach unserer Kollektivierung erwachten. Andere jedoch sind das Erbe der Menschen, die zum Einschluß wurden. Den größten Teil ihrer Bestrebungen haben wir in uns selbst verwirklicht. Aber wir haben immer noch den Wunsch, den Boden dieses Planeten zu verlassen. Zu wachsen. Zu forschen. Wir möchten kleine Kolonien in den leeren Bereichen des von der Menschheit bewohnten Raumsektors gründen. Dort ist genug Platz für zwei Rassen, und wir würden nicht versuchen, uns das anzueignen, was der Menschheit bereits gehört. Außerdem wollen wir zu den Sternen reisen.« Sie wandte sich von Bors ab und sah Rebel direkt an. »Aber dazu brauchen wir deine Integrität.« »Ihre Integrität?« sagte Bors verdattert. Wyeth trat hinter Rebel und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das ist ein alter Ausdruck aus der Fachterminologie der Wetware-Chirurgen. Integrität ist jene Eigenschaft, die die Identität schützt. Eine Persönlichkeit mit absoluter Integrität kann nicht zerstört werden; sie heilt sich selbst. Es kam immer wieder das Gerücht auf, die Integrität sei draußen in der Oortschen Wolke entdeckt worden, aber niemand hat es ernst
genommen. Nach allem, was wir wissen, müßte sie ein Mythos sein, ein Ideal, so unmöglich zu erreichen wie ein Perpetuum Mobile. Aber anscheinend besitzt Rebel die absolute Integrität, oder doch etwas ganz Ähnliches. Als sie aus dem Kälteschlaf aufwachte, war ihre Persönlichkeit immer noch in einem Geist dominant, der von den Erinnerungen einer anderen erfüllt war.« Er wandte sich an das kleine Mädchen. »Aber sie ist nicht zu verkaufen. Um keinen Preis. Also könnt ihr nur …« »Halt den Mund, Wyeth!« Rebel lächelte über sein schockiertes Gesicht, nahm seine Hand von ihrer Schulter und küßte die Knöchel. »Ehrlich, Amigo, du hast keine Ahnung, was hier läuft«, sagte sie sanft. Dann wandte sie sich an das Kind. »Meine Zauberin-Mutter hat mich ins System geschickt, um eben diesen Artikel zu verkaufen. An euch vermutlich, weil sonst niemand das hat, was sie haben will. Nun, Elisabeth Charm Mudlark ist ein Genie, das versteht sich von selbst, aber sie hat auch Glück gehabt. Ihr werdet die Integrität von niemand anderem kaufen können. Sie ist durch Zufall darüber gestolpert und sah, daß sie etwas Besonderes zu bieten hatte; deshalb züchtete sie mich und schickte mich her, um es zu verkaufen. Sie ist eine eingefleischte Baumhängerin und eine echte Patriotin, also könnt ihr euch wahrscheinlich vorstellen, was sie haben will.« Bors berührte mit einem Finger eine Hautstelle neben einem Auge. Es war eine wohlbedachte Geste, die Rebel an jemand erinnerte, der einen Schalter umlegte, und ihr dann die tief unter seiner Haut verborgenen Maschinen ins Gedächtnis rief, die sie gesehen hatte. Als das kleine Mädchen gebeten hatte, eintreten zu dürfen, hatte Bors gefragt: »Warum sollte ich euch
trauen?«, und das Kind hatte erwidert: »Das solltest du nicht. Ein Mann mit einer starken Implosionsvorrichtung, die mit seinem Cortex verdrahtet ist, braucht niemandem zu trauen.« Bors ließ die Hand mit einem freundlichen Lächeln sinken. Eine schlichte Warnung. »Wir werden ihren Preis bezahlen«, sagte das Kind. »Nein, so einfach ist das jetzt nicht mehr. Ich weiß, daß dieses Objekt noch wertvoller ist, als sie gedacht hat. Wenn ich bei meiner Ankunft nicht abgelenkt worden wäre, hätte einer eurer Agenten es billig erwerben können. Aber jetzt, wo ich einen Schimmer habe, was es für euch wert ist, müßt ihr schon mehr bieten.« »Deine Zauberin-Mutter will das, was wohl jeder Kometenbewohner will: zu den Sternen reisen.« Das Kind drehte sich leicht zur Seite, und ein trüber Luftfleck beschrieb eine geschwungene Bahn durch den Raum. Einen Moment lang war eine kleine Maschine zu sehen, die so deplaziert und unentschlossen wie ein Kolibri über einem Tresen schwebte. Zehn übergroße Wafer materialisierten sich auf dem Tresen, und dann (Nee-C ließ ihr Messer knapp hinter dem Nebelfleck durch die Luft sausen) war sie verschwunden. »Das sind die Pläne für den Transitring. Die theoretischen Grundlagen, die technischen Spezifikationen, eine detaillierte Struktur für die Zulieferindustrien und ausgewählte Überwachungswetware. Das ist ein Reichtum, der selbst die menschliche Gier übersteigt. Darin liegt zunächst einmal schon eine physikalische Revolution; noch dazu ist es eine Technik, die den Raumsektor der Menschheit verändern wird. Ihr könnt sie benutzen, um in geringem Maß die Sonnenenergie anzuzapfen,
und mit dieser Energie könnt ihr Straßen durch das System bauen, Netze von Transitringen, die jeden besiedelten Cluster und Mond miteinander verbinden und die Entfernung zwischen ihnen auf Stunden schrumpfen lassen. Wenn dieses Wissen in den Raumsektor der Menschheit eingespeist wird, bedeutet das einen wirtschaftlichen Boom, wie eure Rasse ihn noch nie erlebt hat. Wer immer an der Spitze dieses Booms steht, wird reicher sein als je ein Mensch zuvor.« Das Kind lächelte ein wenig verächtlich. »Das ist es doch, was ihr verlangt habt. Ist das nicht genug?« Elisabeths Instruktionen kamen abrupt in Rebel hoch, heiß und zwingend; sie drängten sie, das Angebot anzunehmen, aber sie schluckte sie wieder hinunter. »Nein. Nicht einmal annähernd.« »Was wollt ihr denn noch?« »Ich will alles, was ich kriegen kann! Ich will, daß ihr jedem in diesem Raum alles gebt, was er verlangt, ganz gleich, wie viel oder wie unvernünftig es ist.« Sie zitterte, und ihre Kehle war trocken. Ihre Stimme bebte leicht, als sie sprach. »Ihr sollt uns so viel geben, daß wir euer Angebot gar nicht ablehnen können.« »Vielleicht stellt sich heraus, daß es weniger ist, als ihr glaubt«, sagte das kleine Mädchen. »Also schön. Nee-C, fangen wir mit dir an. Was willst du?« »Ich?« Sie richtete sich überrascht auf. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, ihre Lippen öffneten sich, und die Hand mit dem Messer sank nach unten. Dann lehnte sie sich an die Tür zurück; ihr Gesicht straffte sich und bekam etwas Verschlagenes. »Geld. Und zwar so viel, daß ich alles kriegen kann, was ich
haben will, ohne daß ich's euch genauer erklären müßte.« »Ist schon da. Ihr vier und eure abwesende Zauberin könnt mit den Patenten in diesen Chips eine Firma gründen und mehr Reichtum in die Hände bekommen, als ihr euch vorstellen könnt. Bors?« »Mein Leben ist dem Wohlergehen meiner Nation geweiht«, sagte Bors sorgfältig. »Ich wünsche mir nur ihren Ruhm.« »Auch den hältst du in Händen. Wir wissen durchaus Bescheid über die Innenpolitik von Amalthea, ebenso wie über die Ambitionen, die ihre aggressive Haltung uns gegenüber anheizen. Deine Nation ist klein und arm, und ihr Status im Raumsektor der Menschheit leitet sich aus dem geheimen Krieg her, den ihr gegen uns führt. Wir wissen auch, daß du dich während deines Aufenthalts auf Deimos mit den Theoretikern des Stavka getroffen hast und daß zu euren provisorischen Vereinbarungen eine gehörte, bei der es um die Möglichkeit ging, daß unser Transitring irgendwann der Allgemeinheit zur Verfügung stehen könnte. Das Volk könnte einen ausreichend großen Mond als Gegengewicht zum Drehmoment der Sonne brauchen, um das Schwanken der Drehachse des Mars zu verlangsamen. Mit der zusätzlichen Isolation, die das bringen würde, könnten sie fünfzig Jahre ihres neuesten Dreihundert-JahresPlans einsparen. Die Vereinbarungen waren nur vorläufig, nicht rechtlich bindend. Aber ein Ring, der groß genug wäre, um eine Dysonwelt durch den interstellaren Raum zu schleudern, könnte auch Amalthea aus dem Jupiterorbit herausholen. Sie boten dir einen Anteil von zehn Prozent am fertigen, terrageformten Mars, und du glaubtest, fünfzehn bekommen zu können.« »Ihr vereinfacht das allzusehr. Die Vereinbarung verpflichtet
die Bürger Amaltheas auch zu heroischen Anstrengungen im Bereich manueller Arbeit. Eure Technik würde uns nicht von dieser Verpflichtung befreien.« »Politik ist die Kunst des Möglichen«, sagte das Kind. »Und es ist möglich, daß deine Regierung es dir nicht danken würde, wenn du ein Fünftel des Eigentums an dem Transitpaket ablehnst. Denk darüber nach! Wer ist der nächste?« »Ihr wißt, was ich will«, sagte Wyeth. »Bietet ihr mir an, Massenselbstmord zu begehen? Das wäre ein Angebot, auf das ich glatt eingehen könnte.« »Wyeth, du willst eine Sicherheitsgarantie für die menschliche Rasse. So etwas gibt es nicht. Wir können für uns selbst keine Sicherheit garantieren, noch viel weniger für euch. Trotzdem möchten wir, daß du dir überlegst, wie schwierig es jetzt schon ist, die Menschheit auszurotten. Bedenke auch, wie sie durch die neue Physik und die neue Technik gestärkt werden würde. Bedenke, daß Teile deiner Rasse bald in ihren Dysonwelten fortfliegen und sich im ganzen Universum verstreuen werden. In einem Jahrhundert werden Kometenwelten alle Sterne in der Nachbarschaft umkreisen. In hunderttausend Jahren werden Bäume im Zentrum der Galaxis schweben. Selbst wenn wir es wollten – und warum sollten wir? –, wir könnten sie nicht alle aufspüren und zerstören. Gewiß würden manche überleben. Wir fragen dich: Fahrt ihr nicht am besten, wenn ihr unser Angebot annehmt?« »Naja, ich …« »Als letztes kommen wir nun zu dir, Rebel. Du willst ein Paar rote Pantoffel.« »Was?«
»Du willst nach Hause.« Das Mädchen neigte den Kopf mit so etwas wie einem halben Achselzucken zur Seite. »Das geht über unsere Macht. Aber wenn du dieses Wissen annimmst, wirst du reich genug sein, um alles zu tun, was du willst, sofern du stark genug bist, die entsprechende Entscheidung zu treffen. Wenn du nach Tirnannog zurückwillst, steht dir das frei. Niemand wird dich daran hindern können.« Sie schwiegen alle. »Kommt, kommt«, tadelte sie die Erde. »Wir waren einverstanden, euch alles zu geben, was ihr anführen könnt. Ihr könnt doch gewiß etwas nennen, das wir euch nicht schon angeboten haben?« »Matthew Arnold!« platzte Bors auf einmal heraus. »Ich will das vollständige Dover Beach haben«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich will jedes Gedicht, das Arnold je geschrieben hat. Ich will Proust und Apollinaire und Tagore. Ich will Garcia Lorca und Kobo Abe und die ersten drei Akte von Shakespeares Hamlet. Ich will jedes Werk der Literatur, das verlorenging, als ihr die Erde geschluckt habt. Mitsamt einem Verzeichnis!« »Es wird etliche Stunden dauern, das zu beschaffen. Vieles davon existiert jetzt nur noch in Gedächtnisspeichern. Aber es wird erledigt. Wir werden das Material zur Überprüfung bereithalten, wenn ihr bei den Gerichtshöfen des Mondes eintrefft.« Das kleine Mädchen drehte sich um und ging davon. Hinter ihr verschwand der Waferstapel. Unter den Ringen entstand Bewegung. Transitmaschinen trafen ein und wurden beiseite gezogen, um neuen Platz zu machen. Die gemalten Linien auf dem Asphalt leuchteten auf. Der Handelsverkehr wurde von neuem aufgenommen. Der
Betrieb ging wieder normal weiter. »Tja«, sagte Bors. »Dann wollen wir mal. Auf zu den Ringen! Je eher wir auf dem Mond sind, desto eher haben wir die ganze Sache hinter uns.« Nee-C lachte und ließ ihr Messer in der Luft herumwirbeln. Auf dem langen Weg zu den Ringen kam es Rebel in den Sinn, daß es eine Person im Raum gegeben hatte, die stumm und unbeachtet geblieben und nicht gefragt worden war, was sie wollte. Eucrasia. Sie war natürlich tot; ihre Persönlichkeit war zerstört und konnte unmöglich wieder zum Leben erweckt werden. Aber ihre Erinnerungen waren noch da, und es würde kein großes Kunststück sein, festzustellen, was sie verlangt hätte. Rebel dachte, daß sie Eucrasia allmählich gut genug kannte, um es erraten zu können. Eucrasia hatte im Grunde nie nach Geld oder nach Macht gestrebt. Ihre Sehnsüchte waren größtenteils negativer Art gewesen – daß die kleinen Ängste und Schuldgefühle, in deren Morast ihre Lebensfreude erstickte, ein Ende haben sollten. Sie wollte jemand sein, der sich selber mochte, der fähig war, ab und zu ein bißchen Spaß zu haben oder sogar ein kleines Abenteuer zu erleben, ohne von Ängsten und Zweifeln überwältigt zu werden. All das hatte sie aus eigener Kraft erreicht. Denn es war nicht Rebel allein gewesen, die in jenem Moment diamantenen Lichts das Messer aus Wasser durchs Programmiergerät getrieben hatte, als Eucrasias Erinnerungen sie mit einer Sehnsucht von fast sexueller Intensität, einem Ausbruch höchster, strahlender Freude, die nur Liebe sein konnte, in sich aufgenommen hatten. Zwei Seelen hatten diese Hand
geführt. Aber Rebel erinnerte sich an ihre Arbeit im Schneiderladen in den Hinterzimmern von Cerebrum City in Geesinkfor, und wie sie sich für ihre Tätigkeit erwärmt hatte. Der Kitzel der Erregung, der sie erfüllt hatte, wenn sie einen Geist öffnete. Das Gefühl der Tüchtigkeit, die tröstliche Wohltat, mit den emotionalen Schaltsystemen zu arbeiten, die erforderlichen Schritte gegen die Resultate auszubalancieren. Wenn überhaupt etwas von Eucrasia geblieben war, dann die Liebe zu ihrem Beruf. Sie wollte damit weitermachen, wenn sie konnte. Das war kein Geschenk, das die Erde Eucrasia machen konnte. Aber sie vielleicht, dachte Rebel. Als eine Art Totengabe. Eigentlich war sie gar nicht so übel gewesen, diese Eucrasia. »He! Wach auf da drin!« Wyeth klatschte vor ihrem Gesicht leicht in die Hände, und sie zwinkerte erschrocken. Als sie sich umschaute, sah sie, daß Wyeth und sie hinter den anderen zurückgeblieben waren. Dann sah sie den stummen, bedrückten Zweifel hinter Wyeths Clownsmiene und sagte: »Du bist nicht besonders gut drauf.« »Naja.« Er schüttelte den Kopf und lachte freudlos. »Ich hab diese kleine paranoide Wahnvorstellung. Vielleicht möchtest du sie gern hören? Ich denke, daß die Erde deine WetwareTechnik letzten Endes vielleicht gar nicht braucht. Kann sein, daß sie nur 'n kleines Spielchen mit uns getrieben hat. Vielleicht hat sie nicht so sehr deine Integrität gekauft, als vielmehr eine plausible Geschichte, die sie der Menschheit erzählen kann. Gewissermaßen den Zutritt in den Raumsektor der Menschen, auf die sanfte Tour. Ich meine, die Story ist ja auch durchaus plausibel.«
»Warum hast du dann bei dem Handel mitgemacht?« »Weil ich dem Einschluß seine Geschichte über die Gründe für seinen Rückzug auf die Erde geglaubt habe. Und ich hatte den Eindruck, wenn die Erde mit den Anhaltspunkten, die sie hatte – Reste vom Scheuapfelsaft, Informationsbrocken, die Kometenweltler vor ihren Agenten fallengelassen haben und so weiter –, am Problem der Integrität arbeiten wollte, dann könnte sie es knacken. Wenn der Einschluß weiß, daß es eine Lösung gibt, wie lange würde er dann wohl brauchen, um sie zu finden? Ein Jahr? Ein Jahrhundert? Kannst du dir vorstellen, daß tausend Jahre vergehen, ohne daß die Erde es herauskriegt? Ich nicht. Also haben wir was verkauft, das die Erde eigentlich gar nicht braucht, und dafür was gekriegt, das die Menschheit dringend benötigt. Den Transitring. Die Erde hat recht. Es gibt keinen Weg, unser Überleben sicherzustellen, solange die Menschheit nicht aus der näheren Umgebung herauskann.« »Oh. Also das ist es.« »Wie? Was hast du denn gedacht?« »Ich dachte, du hättest vielleicht nur so getan, als ob du mitziehen würdest, und wenn wir dann oben im Orbit wären, würdest du mich zu überreden versuchen, mit dir in den Untergrund zu gehen.« Wyeth schüttelte bewundernd den Kopf. »Sunshine, du bist ja noch hinterlistiger als ich.« Sie waren bei den Transitringen angekommen. Ein Luxustransporter war abflugbereit; seine Hülle sah aus wie glänzendes weißes Email. Roboter dirigierten die Arbeiter und Handelsdiplomaten vom Schiff fort, und sie stiegen die Treppe hinauf. Es
war eine große, luxuriöse Maschine, gegen die der Gästeschuppen spartanisch karg gewesen war, und sie hatten sie ganz für sich allein. In nur ein paar Stunden würden sie in den Gerichtshöfen des Mondes stehen, wo die hohe Gerichtsbarkeit unter den wachsamen Augen von Aufsehern ausgeübt wurde, die mit Wetware zu völliger Ehrlichkeit programmiert und überdies zu thermonuklearen Bomben aufgerüstet waren. Dort würde die Erde ihre Chipstapel zur Prüfung vorlegen, und Rebel würde eine saubere Aufzeichnung ihrer Persönlichkeit machen lassen. Und dort würde auch der Austausch stattfinden. »Miss Mudlark!« rief ihr ein Roboter nach. Sie drehte sich auf der Treppe um. »Sie haben etwas vergessen.« Er trat geziert vor, ging dann auf die Knie und hielt ihr ihren alten Umhang hin. Er war zerrissen und abgetragen, mit der silbernen Muschelnadel an einem Aufschlag. Rebel nahm ihn verständnislos entgegen. Bors hatte seinen Umhang ebenfalls liegenlassen, und er hatte ihn nicht zurückbekommen. Dann kam ihr plötzlich die Erinnerung, und sie wühlte wie wild in den wattierten Taschen herum, bis sie den abgenutzten, schmierigen Wafer herausfischte, den sie in Geesinkfor gemacht hatte, die Aufzeichnung ihrer Persönlichkeit. »Nun macht mal ein bißchen zu, Leute!« rief Nee-C. »Auf zum Reichtum!« »Ich bin soweit«, sagte sie mit angespannter, kleinlauter Stimme. Sie durchstießen den Himmel.
15 Tirnannog ZWEI JAHRE SPÄTER FRAGTE REBEL: »Na, was ist?« Sie spazierten durch den prächtigsten Park für juristische Dienstleistungen im Pallas-Cluster, einen Ort, der zur Hälfte aus Illusionen und Zaubertricks bestand und von holographischen Trugbildern durchsetzt war. Auf der einen Seite donnerte eine falsche Brandung, auf der anderen verbarg ein perfekt konstruierter Dschungel Anwaltsboutiquen. Sieben üppige Monde hingen an einem Samthimmel. So stellte sich Rebel einen Opiumtraum vor: mit deutlichen Einzelheiten, aber trotzdem irgendwie vage, nicht recht überzeugend und absolut banal. Sie fragte sich, ob das Volk so etwas auf dem Mars zu erbauen gedachte. Wenn ja, dann stand ihnen eine Enttäuschung bevor. »Wir werden alles verlieren«, sagte Wyeth. »Unsere Anwälte meinen, da könnte man nichts machen.« Sie folgten einem sich träge dahinschlängelnden gepflasterten Pfad in den Dschungel, wo Orchideen sanft im dämmerigen Laub leuchteten. »Zum Teufel, das hätten wir von Anfang an wissen müssen, ich meine, wo Bors mit in der Firma drinhängt … es war unvermeidlich, daß uns die Republique Provisionelle rausdrängen würde.« »Aber uns gehören zwei Fünftel der Firma. Unser Anteil muß Millionen Jahre wert sein.« »Milliarden«, sagte Wyeth übellaunig. Dann gluckste er. »Tja, wie gewonnen, so zerronnen.« Eine schattenhafte Gestalt
winkte sie vom Pfad herunter, und sie traten durch eine verborgene Tür in einen grell erleuchteten Zugangskorridor. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich sandig an. Eine Tonne mit weggeworfenen Orangenschalen würzte die Luft. »Aber wie konnten sie uns das nur wegnehmen?« »Soweit ich's verstanden habe, ist der größte Teil der schmutzigen Arbeit während des Wiederaufbaus des Unternehmens erledigt worden, als deine Mutter ihr Aktienkapital verramscht hat, um den Mudlark-Trust zu gründen. Dann mußten wir unseren Anteil in die Waagschale werfen, als Deutsche Nakasone dieses Urteil gegen uns erwirkt hat...« »Die hatten echt Nerven. Ich meine, sie haben ihre Aufzeichnung doch gekriegt, und sie war auch ein Bestseller. Mittlerweile müssen Hunderttausende von Rebel Mudlarks im System rumlaufen. Noch mehr, wenn man die Billigkopien vom grauen Markt dazurechnet.« Wyeth zuckte die Achseln. »Gelegenheit macht Diebe. Sowas mußte einfach passieren. Die Republique hat bessere Anwälte als wir, und ich bin mir nicht mal sicher, was die Loyalität von unseren angeht. Aber ich weiß immer noch nicht genau, wie sie alles weggehext haben … und das wär's, in kurzen Worten. Sie wissen, wie, und wir nicht.« Sie schlenderten in einem schützenden Zauberkreis dahin, einem Ring von Samurais, die immer unsichtbar blieben, wie eine Membran, die alles ausfilterte, was potentiell gefährlich war. Sie gelangten an eine Kreuzung von Korridoren, und ein Leibwächter winkte sie unter Verbeugungen zu einer Seite. Sie betraten einen Fahrstuhlkorb, der vollkommen aus viktorianischem Schmiedeeisen bestand und zur Nabe hochfuhr.
Im Fahrstuhl hielt ihnen ein Pierrot ein silbernes Tablett mit einer Reihe schwarzer terranischer Zigarren hin. Wyeth ignorierte es, aber Rebel nahm sich eine und wartete, während sie ihr angezündet wurde. Sie sog ein bißchen Rauch ein und atmete aus. »Also, was wollen wir jetzt machen?« fragte sie bedachtsam. »Keine Ahnung. Für die nächsten paar Monate – so lange, wie sie brauchen – haben wir unbegrenzt Geld. Danach wird das Unternehmen alles wieder in Besitz nehmen. Es ist rechtlich nicht zulässig, daß Individuen so reich sind wie wir. Sobald sie uns aus dem Unternehmen rausschmeißen, sind wir wieder bettelarm.« Der Pierrot stand dicht bei ihnen, so unauffällig, daß er beinahe unsichtbar war. Er hörte jedes Wort und vergaß es sofort wieder. Das war die Art von Privatleben, die sich die sehr Reichen kaufen konnten; ihre Bediensteten waren darauf programmiert, auch ihre ungeheuerlichsten Verbrechen zu ignorieren. Wyeth hätte Rebel vor den Leibwächtern mit bloßen Händen erdrosseln können – oder sie ihn –, ohne daß einer eine Augenbraue gehoben hätte. Solange nur die Herrschaften selber beteiligt waren. Sie schwebten in die Nabe, wobei sie einen dünnen Faden blaugrauen Rauchs hinter sich herzogen. Dort wartete ihr Landauer im Zentrum des erst kürzlich eingebauten Transitrings. Die Tür war offen, und sie stiegen ein. »Nach Hause«, sagte Wyeth. Das Rad um sie herum verschwand. Eine Verkehrsleitstelle nahm sie auf, spuckte sie wieder aus, und sie hingen im Empfangsring ihres Anwesens. »Hör mal, Wyeth, ich hab ein neues Band von Elisabeth ge-
kriegt.« »Die alte Vettel.« »Sieh dich vor, du sprichst von mir in hundert Jahren«, warnte ihn Rebel lächelnd. »Sie sagt, wenn ich nach Tirnannog zurückkäme, würde sie mich in den Geisteskünsten ausbilden. Das ist eine unglaubliche Chance; Zauberer nehmen so gut wie nie Auszubildende auf, weißt du?« Wyeth schwieg. Der Fahrstuhl fuhr langsam nach unten. »Ich will nach Hause, Wyeth. Jetzt, solange ich noch das Geld und die Gelegenheit habe. Sie haben grade den großen Transitring fertiggestellt, und Tirnannog ist die erste Dysonwelt, die sie durchschicken. Sie fliegen zu den Sternen, Wyeth, und ich will mit.« »Ah.« Wyeth schloß die Augen. »Darauf hab ich gewartet, Sunshine. Ich meine, ich sehe ja, daß du hier nicht gerade glücklich bist...« »Das ist keine Frage von Glück, Amigo, es ist … einfach so künstlich hier, verstehst du? Ich meine, im System. Und reich zu sein nützt überhaupt nichts, es ist bloß so, als ob man dauernd in ein dickes Polster gehüllt wäre, das einen vor harten Oberflächen und scharfen Kanten und dem geringsten Kontakt mit der wirklichen Welt schützt. Hör mal – komm mit! – Okay?« Sie legte ihre Zigarre hin (jemand nahm sie weg) und drückte heftig seine Hand. »Gib die ganze Sache hier auf. Das ist doch alles Mist. Komm mit mir, Babe, dann schenk ich dir die Sterne.« Wyeth lächelte schwach. »Sunshine, wir werden schon alt sein, bevor irgendeine dieser Dysonwelten auch nur den ersten Stern erreicht. Selbst Proxima Centauri ist gute fünfzig Jahre
entfernt.« Der Fahrstuhl hielt an, und sie traten in ein Foyer mit poliertem Marmor und Korallenböden hinaus. Orangerote Orchideen hingen von Onyxsäulen herab. »Na und? Dann sind wir beide unter einer fremden Sonne gemeinsam alt. Komm schon, erzähl mir nicht, daß deine Abenteuerlust schon ganz erloschen ist.« Sie gingen einen langen Flur zwischen Reihen von Elefanten aus Granit entlang. »Das ist es nicht, und das weißt du. Aber die Erde fängt an, sich ins System vorzuschieben. Sie haben ein Dutzend Städte zwischen Erde und Mond gekauft, und sie haben eine Enklave auf dem Mond. Bald werden sie überall sein. Es wird garantiert zu Konflikten kommen. Wenn das passiert, muß ich hier sein.« »Nein, mußt du nicht.« »Doch. Rebel, das haben wir schon hundertmal durchgekaut. Das ist nicht bloß eine Laune von mir – es ist meine Pflicht. Es ist mein Lebenszweck.« »Wyeth, Menschen haben keinen Zweck – Maschinen haben sowas, Menschen sind einfach da. Komm schon, Amigo, du bist der Mystiker, du weißt das.« Aber als sie ihm tief in die Augen blickte, sah sie, daß er einfach nicht zuhörte. Er würde nicht mitkommen. Rebels Gesicht war starr von der jähen, brennenden Kälte des Verlusts. Wyeth blieb stehen, um mit einer Berührung zwei riesige, polierte Türen aufzumachen. Sie öffneten sich zu einem skulpturierten Wiesengelände, einem impressionistischen Jupiterhimmel. Rebel zog den Kopf ein und schaute auf ihre Füße hinunter, die vor und zurück zuckten. Wyeth rannte hinter ihr her und packte sie am Handgelenk. Sie wirbelte
herum. »Bleib hier!« drängte er sie. »Wir sind beide schon mal arm und trotzdem zusammen gewesen. Das schaffen wir auch noch mal.« Rebel schüttelte störrisch den Kopf. »Das ist es nicht. Darum geht's überhaupt nicht.« Wieder mußte sich Wyeth beeilen, um sie einzuholen. »Worum dann?« »Ich will mein Leben nicht deinetwegen zerstören«, sagte sie leise. »Ich meine, du kennst mich, ich würde alles für dich aufgeben, wenn's sein müßte. Aber nicht auf diese Weise, nicht bloß, weil alles immer nach deiner Nase gehen muß.« »Ich verlange doch nicht von dir, daß du … ach, was soll das ganze Gerede eigentlich? Wenn ich könnte, würde ich ja mitkommen. Aber ich kann nicht. Ich hab einfach nicht die Wahl.« Rebel blieb vor zwei weiteren Türen stehen, und Wyeth streckte die Hand aus, um sie zu öffnen. »Danke«, sagte Rebel kühl. Dann ging sie hinein, während Wyeth sie entrüstet mit offenem Mund anstarrte, und machte ihm die Türen vor der Nase zu. »Sterne bitte.« Rebel lag in einer bemoosten Spalte auf dem nackten, felsigen Kamm eines Hügels. Der Wind spielte sanft über sie hin. Dies war ihr Lieblingsraum, im Grunde der einzige, den sie nicht unglaublich häßlich fand, erfüllt von der speziellen Vulgarität neuen Reichtums. Sie hatte ihn nach dem Ödland modellieren lassen. Der Himmel verdunkelte sich, dann leuchtete eine strahlende Sternenlandschaft auf, wie man sie
von der Erde aus einfach nicht sehen konnte. Die Milchstraße war ein Strom von Diamantensplittern, der sich über den Himmel spannte, jeder eisige Stern fast zu hell und zu perfekt für das Auge. Rebel wühlte ihren Hinterkopf ins Moos. Sie fühlte sich, als ob jede Zelle in ihrem Körper tot und zerrissen sei, ein leises Stöhnen grauer Agonie. Nach einer Weile hörte Wyeth auf, an die Tür zu klopfen. In den Felsspalten wuchsen kleine blaue Enziane. Rebel stieß einen davon mit einer Fingerspitze an, pflückte ihn jedoch nicht. Sie würde nicht bei Wyeth bleiben. Das würde sie nicht tun. Eine Sternschnuppe schoß mit einem leisen Klingeln über den Himmel. »Keine Anrufe, bitte.« Rebel starrte blicklos nach oben und versuchte nachzudenken. Sie fühlte, wie sich ihr Leben in zwei mögliche Richtungen verzweigte, und beide waren düster und bedeutungslos. Ein weiterer Stern jagte klingelnd über den Himmel, dann ein dritter. Nach einer Pause erblühten in den Plejaden Dutzende von Sternschnuppen und klimperten wie ein himmlisches Mobile. »Ich sagte, keine Anrufe mehr, danke!« Der Himmel machte einen Satz. Sterne kräuselten sich, als ob sie von gigantischen Gezeitenkräften bewegt würden, und verblaßten dann. Das war nicht geplant. Rebel setzte sich auf und starrte verständnislos mit großen Augen, als sich der Himmel zu leeren Ebenen zusammenfaltete – blanke weiße Wände, Böden und Decken, alle so einförmig rein, daß sie ineinander übergingen. Im Zentrum befand sich eine ausgemergelte Frau in Weiß, die auf einem kleinen roten Gebetsteppich kniete. Ihr Kopf war
gesenkt; die abgenommene Kapuze enthüllte einen kahlen Schädel. Dann blickte die Frau auf. Kalte Augen. Ein hartes Gesicht, das mit kristallinen weißen Linien bemalt war. »Du bist eine Frau, mit der man nur schwer Kontakt aufnehmen kann«, sagte sie. »Deine Schutzvorrichtungen gegen Störungen sind fast mit Sicherheit besser, als du weißt.« »Snow – oder Schatten, oder wer oder was immer du bist –, ich bin heute nicht in Stimmung für deine cleveren kleinen Spielchen, also warum ziehst du nicht einfach Leine, hm? Ich meine, die Erde hat schon alles von mir gekriegt, was sie wollte.« Ihre Stimme wurde bitter. »Und alle anderen auch.« »Ich arbeite nicht für die Erde.« »Ach?« sagte Rebel, bevor sie sich beherrschen konnte. »Die Dinge wandeln sich. Das weißt du. Bedeutende politische und kulturelle Veränderungen sind in Sicht. Ein Nebeneffekt ist, daß mein Netzwerk nicht mehr so viel für die Erde wert ist, seit sie in den Raumsektor der Menschen vordringt. Gleichzeitig haben uns die neuen Wyeths einen Haufen Schwierigkeiten gemacht. Wir mußten diskreter und unzugänglicher werden. Uneffektiver.« Es vermittelte Rebel ein komisches Gefühl, zu wissen, daß Wyeth in hundert zeitweiligen Inkarnationen in allen Abteilungen von Amaltheas Bureau d'Espionnage existierte. Wie sie erfahren hatte, war er jetzt ein ebenso gebräuchliches Werkzeug wie Bors. Wyeth gefiel es, sich in den Status einer Naturgewalt transformiert zu sehen, die dem Einschluß fortwährend mit seiner Mischung aus trockenem Humor, Fanatismus und mystischer Einsicht zusetzte. »Okay, paß auf!« sagte sie. »Erzähl mir einfach, was du haben und was du dafür geben willst, dann
sag ich nein und du verziehst dich, okay?« Snow nickte kühl. »Das ist fair. Du mußt dir folgendes klarmachen: Was ich und die anderen Mitglieder meines Netzes am meisten schätzen, ist das Aufgehen der Gedanken im kühlen Fluß der Informationen. In Spitzenmomenten verliert man jedes Gefühl einer persönlichen Identität und existiert einfach im flüssigen Medium des Wissens. Wenn die Erde uns im Einschluß aufnähme, würden wir beitreten. Aber solange uns die Erde auch nur ansatzweise noch so für nützlich hält, wie wir sind …« Sie zuckte die Achseln. Eine Hand glitt unter ihrem Umhang hervor und stach neben ihr in die Luft, und der Himmel um sie herum füllte sich mit einer Montage von Bildern aus ein paar der RebelElisabeth-Mudlark-Dramen, die gegenwärtig sowohl im Inneren wie im Äußeren System aktuell waren. Hier diente ein idealisiertes Bildnis von ihr als Altar für ein Ziegenopfer in der Zuflucht. Dort tötete sie (mit viel Schwung und unglaublichen Waffen) eine endlose Folge von Einschlußwesen auf der Insel, die der Wirkung halber zu struppigen Scheusalen mit erigiertem Glied und kleinen roten Augen geworden waren. Da drüben war sie im Gästeschuppen der Bodenstation in eine langatmige philosophische Debatte mit dem Unterhändler der Erde vertieft, einem jungen Mann mit apollonischen Proportionen und zwei intakten Armen. »Wir haben bei unseren Analysen Diskrepanzen in diesen Dramatisierungen wie auch in den vielen Interviews mit dir und den anderen Hauptpersonen über die Vorgänge auf der Erde gefunden.« Hier vorn kam Wyeth auf einem Gleiter an, um sie vor einem wild lodernden Feuer zu retten. Sie jagte einem Gegner lachend einen Dolch durchs
Auge und sprang in Wyeths Arme. »Die sind nicht unbedingt dokumentarisch, weißt du«, bemerkte Rebel trocken. »Selbst die Interviews sind vom mittleren Management der Firma verfaßt worden. Zu Publicityzwecken.« »Dessen bin ich mir bewußt.« Snow machte eine ungeduldige Geste. »Was mich interessiert, ist die Auslassung in deinem Interview mit dem Unterhändler der Erde, wenn man die visuelle Klebestelle herausediert.« Der Himmel füllte sich mit einer eigenen Szene (Snow wich in einem kleinen Insert bis zum Horizont zurück), einer sprunghaft hyperrealistischen Vorderansicht des kleinen Mädchens, während es redete. Das stammte aus der Aufzeichnung, die während des Verfahrens in den Gerichtshöfen des Mondes direkt aus Rebels Erinnerungen gemacht worden war. Sie sah, wie das Mädchen abrupt zu einer Seite zuckte. »Die Lücke hier. Wir haben eine Integration aller peripheren Daten durchgeführt und sind jetzt überzeugt, daß die Streichung etwas betrifft, was die Erde über ihre Bewußtwerdung gesagt hat.« Rebel nickte. »Ja, daran erinnere ich mich. Das Gericht verfügte, daß es eine kulturell gefährliche Information sei, und ließ sie unterdrücken. Ist es das, wohinter du her bist?« »Ja.« »Warum?« »Eure Wyeths und Bors halten Gruppenintelligenzen für eine Krankheit, die sich soweit ausbreiten könnte, daß sie das politische System des Raumsektors der Menschen befällt. Sich selbst betrachten sie als die Antikörper. Aber du bist eine Dysonweltlerin, du weißt, was für eine Vielfalt an Organismen im menschlichen Körper leben kann. Nicht alle sind Krankheitserreger.
Die meisten sind neutral. Manche sind sogar Symbionten. Wenn wir wüßten, wie die Erde ihr Bewußtsein erlangt hat, könnten wir diese Information dazu benutzen, uns zu kleinen Entitäten von beispielsweise jeweils höchstens achtzig Einschlußangehörigen zusammenzuschließen. Ein Wesen dieser Dimension könnte in jeder größeren Stadt unauffällig leben; es wäre zu klein, um für eure Rasse irgendeine Bedrohung darzustellen. Aus Angst vor Entdeckung würde es nicht wagen, sich zu vergrößern.« Jetzt füllte sich der Himmel mit riesigen Bildern von glänzenden Kieselalgen, Pantoffeltierchen, die an grünen Kugelalgen (die sich wie mikrokosmische Kometenwelten drehten) vorbeitrudelten, und trichterförmigen Trompetentierchen, die anmutig in ihrem Kielwasser tanzten, eine muntere Kollektion jener Organismen, die man problemlos in einem Tropfen abgestandenen Wassers vorfinden konnte. »In der menschlichen Kultur ist Raum für Vielfalt.« »Du strapazierst die Analogie ein bißchen zu sehr«, sagte Rebel. »Aber okay. Was bietest du mir?« Snow kehrte ins Zentrum des Himmels zurück. Stück für Stück nahmen andere Bilder um sie herum ihren Platz ein. In einer belaubten Nische im Unternehmens-Kreml des PallasClusters sprach eine dicke Frau, deren Gesicht mit dem Logo der Unterstützungsregierung bemalt war, mit einem Mann, über dessen Stirn sich eine schlichte gelbe Linie zog. Ein Bors. In der hiesigen Filiale der Deutschen Nakasone redete eine als Bors bemalte Frau mit einer anderen Frau, deren Bemalung sie als Angehörige der mittleren Planungsebene auswies. Ein weiterer Bors konferierte mit dem Chef von Wyeths Anwälten. Bors selbst streichelte den Schenkel der Chefin von Rebels
häuslicher Sicherheitstruppe. »Man hat euch veranlaßt, zu glauben, daß ihr noch einige Monate Zeit habt, bevor ihr aus der Firma hinausgedrängt werdet«, sagte Snow. »Falsch. Gerade in diesem Augenblick trachtet das Bureau d'Espionnage danach, euch wegen Wirtschaftssabotage festnehmen zu lassen.« »Hm?« »Die Rebel Mudlarks.« (Als die Decke wieder zu den Abenteuern ihres prominenten Ichs auf der Erde wechselte, sagte Rebel: »Nicht«, und Snow schaltete sie ab.) »Deutsche Nakasone hat festgestellt, daß sie keine neuen Persönlichkeiten mehr kaufen.« Rebel begann zu lachen. »Du kannst sagen, das sei nicht eure Schuld. Daß Deutsche Nakasone für ihre eigene Sorglosigkeit bezahlt, weil sie eine wenn auch nur abgeschwächte Version deiner Integrität übernommen haben, als sie die eher äußerlichen Aspekte deiner Persönlichkeit kopierten …« »O nein!« Rebel strampelte mit den Beinen, hielt sich die Seiten und versuchte vergeblich, ihren Lachanfall unter Kontrolle zu bekommen. »Das würde ich keineswegs sagen!« »… aber das ist irrelevant. Sie haben die Beweise zusammengestellt, euren Rechtsbeistand zum Schweigen gebracht und eure Samurais bestochen. Wenn ich keine Informationen von dir brauchte, wären die Stiefelknechte jetzt schon da. Wie die Dinge liegen, habe ich darauf gesetzt, daß ich deine Sicherheitsmaßnahmen knacken könnte, und einen Aufschub von vier Tagen für euch herausgeholt. Eine Frau, die ein unverzichtbares Glied im juristischen Verfahren darstellt, ist … vielleicht wäre ›korrupt‹ das beste Wort. Wir haben sie gekauft.
Es wird eure Feinde vier Tage kosten, sie wegen Amtsmißbrauchs zur Verantwortung zu ziehen und zu ersetzen. Das heißt, wenn du bereit bist, unseren Preis zu zahlen. Wenn nicht, dann entbinde ich sie sofort von ihrer Verpflichtung.« Snow zog ihren Umhang fest um sich. »Also, was sagst du?« Nach und nach gelang es Rebel, sich zu beruhigen. Sie lag eine Weile hicksend da, dann seufzte sie tief und setzte sich auf. »Jetzt geht's mir besser«, erklärte sie schließlich. »Ich mußte wirklich mal richtig ablachen, weißt du?« Dann wischte sie sich die Tränen aus den Augen und erzählte Snow alles über das Hyperkubieren, was sie wußte. »Ah«, sagte Snow. »Das ist ja wirklich interessant.« Und ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen, war sie verschwunden. »Ich hab auch früher schon auf der anderen Seite des Gesetzes gestanden«, sagte Wyeth gelassen. »Ja, ich auch, aber das ist nicht der Punkt. Diesmal sind es deine angeblichen Verbündeten, die uns zur Strecke bringen wollen. Mit einem Dutzend Wyeths auf den Fersen wirst du nicht sehr effektiv sein. Die kennen dich in- und auswendig. Für die birgst du keine Überraschungen mehr. Siehst du nicht ein, daß das alles ändert?« »Nein.« Wyeth stand im lichtlosen Zentrum eines holographischen Modells des Rauchringstraßen-Projekts. Scharfe monochrome Linien durchbohrten das Halbdunkel und zeigten ausführlich den gegenwärtigen Stand und den Gesamtplan der Konstruktion. Gelbe Fäden gingen von ihm aus und erstreckten
sich zu jenen Clustern, wo die Sonnenzapfer bereits arbeiteten. Die grünen Bereiche fertiggestellter Vakuumstraßen (in den Gürteln mit ihrer hohen Materiedichte waren Teilstrecken mit Hunderten von Transitringen erforderlich, damit der Verkehr angehalten werden konnte, wenn ein Felsbrocken seine Bahn durch die Reisewege zog) füllten fast schon ein Drittel der Strecke um die Sonne herum aus. Wyeth stellte sich etwas anders hin, um einen Schallstachel zu aktivieren, und murmelte eine Korrektur hinein. Immaterielle Planeten nahmen neue Positionen ein. »Wir tun alle, was wir können«, sagte er. »Du machst mich rasend!« Rebel riß die Tür auf, und aus dem Elefantenflur fiel Licht herein und ließ die feineren Linien des Modells verschwimmen. Ein dunkler Schatten lag auf Wyeths Gesicht. Seine Augen waren schwarze Teiche. »Hör zu! Ich hab für uns beide gepackt. Wenn wir sofort losfliegen, jetzt in dieser Minute, können wir genug mitnehmen, um – naja, es wird uns nach den gängigen Begriffen nicht reich machen, aber uns zu einem guten Start verhelfen. In vier Tagen müssen wir uns mit dem begnügen, was wir am Leib tragen. Was glaubst du durch Abwarten zu gewinnen?« »Vier Tage«, sagte Wyeth. »Vier Tage, in denen ich ein bißchen dazu beitragen kann, und sei es auch noch so wenig, den … ach, Scheiße.« Er legte den Kopf in den Nacken, schaute direkt nach oben und gab einen erstickten, keuchenden Laut von sich, huk-huk-huk. Verwirrt streckte Rebel die Hand aus, berührte sein Gesicht und fühlte Nässe. Tränen. Sie nahm ihn in die Arme, und er drückte sie heftig an sich, während er immer noch schluchzte. Rebel war wütend auf sich selbst, weil sie zuließ, daß er ihr das antat.
Aber als Wyeth aufhörte zu weinen, trat er von ihr zurück und sagte verlegen: »Ach. Tut mir leid, Sunshine. Ich dachte, ich hätt's unter Kontrolle. Jetzt geht's mir besser.« Daraufhin fragte sie ihn sanft: »Kommst du mit, Babe?« Er schüttelte stumm den Kopf. »Ich versteh dich nicht!« schrie sie. »Du läßt jede Menge von Wyeths im Dienst der Republique zurück. Ich denke, das enthebt dich gut und gern aller Verpflichtungen, die du haben magst. Wo ist denn bloß das große Problem bei der Sache?« »Die Wahrheit ist, daß ich nicht mit mir einig bin, was ich tun soll«, antwortete Wyeth. »Bin ich doch. Nein, bin ich nicht. Mein Arrangement mit mir selbst besagt, daß ich mich auf keine größeren Veränderungen in meinem Leben einlassen kann, wenn nicht alle meine vier Persönlichkeiten damit einverstanden sind. Das ist auch durchaus klug. Nein, ist es nicht, ich wünschte, ich hätte nie … Naja, dazu ist es zu spät. He, nun laßt uns mal ehrlich sein, ich will mit dir kommen, der Clown auch, und der Planer wird einen Lebenszweck finden, ganz egal, wo er ist – der will auch mit dir kommen. Aber der Krieger … Nein, ich will ebenfalls, aber ich kann nicht. Ich kann nicht. Es ist meine Pflicht, hierzubleiben und zu kämpfen.« »Und du meinst, damit hat sich's? Eine Scheißpersönlichkeit stellt sich quer, und du läßt zu, daß sie uns beiden das Leben verpfuscht? Ich bitte dich! Wann hab ich je den Luxus genossen, mir irgendeiner meiner Entscheidungen dreiviertel sicher zu sein? Warum sollte es dir da besser gehen?« Wyeth schüttelte traurig den Kopf. »Ich muß mir nun mal treu bleiben, Sunshine. Der Krieger ist ein Teil von mir, daran kann ich nichts ändern.«
Rebels Faust schloß sich um den holographischen Mars. Das Bild blieb bestehen; es glühte tief unter ihrer Haut, als ob sie beide sich in zwei verschiedenen, einander überlappenden Universen befänden, die sich deckten, ohne sich jedoch berühren zu können. Das Gefühl der Vergeblichkeit kehrte zurück, das Bewußtsein, daß nichts, was sie sagen oder tun konnte, den geringsten Unterschied machen würde. »Na schön. Ich kann mich auch nicht ändern, verstehst du? Ich hab die Grenzen meines Wachstums erreicht – im Moment ist meine Persönlichkeit so gut wie erstarrt. Sie ist von der Integrität eingesperrt, und diesseits von Tirnannog kann ich die Enzyme, die sie entriegeln würden, nicht kriegen. Die kann nur ein Zauberer zusammenbrauen, und solche Leute reisen nicht in der Gegend rum.« »Bleib trotzdem hier«, bat Wyeth sie eindringlich. Er lächelte schwach und hoffnungslos. »Ich will überhaupt nicht, daß du dich änderst. Ich liebe dich, wie du bist.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Die KBI bekam sie zu fassen, als sie die Korporative HandelsZone betrat. Rebel ließ ihren Landauer beim Transitring stehen – die Firma konnte ihn wieder in Besitz nehmen, wenn sie wollte – und stieg in eine Gondel. Sie steckte ihren Paß in die Kontrolle, gab eine Kreditlinie ein, die in drei Tagen wertlos sein würde, und die Gondel begann an einer langen, unsichtbaren Leitung entlang zur Außenstation zu gleiten. Die Station war eine traditionelle Konstruktion aus fünf ineinandergesetzten Rädern, die mit geringfügig verschiedener
Geschwindigkeit rotierten, um überall eine konstante Greenwich-Normalschwerkraft aufrechtzuerhalten. Der Transitring war in einem stationären Nabendock im Zentrum untergebracht, und das ganze Ding war mit pinkfarbenen und orangeroten neuaztekischen Superzeichen angemalt. Konservativ, aber praktisch. Rebel blickte gerade durch die vordere Panoramascheibe, als das Licht auf einer Seite heller wurde. Sie drehte sich um und zuckte vor dem unerwarteten Phantom einer alten Frau in warmer Baumhänger-Kleidung zurück, das neben ihr saß. »Aha!« sagte das Wesen. »Dacht ich mir, daß du das bist. Hast deinen Namen im Paß geändert, wie ich sehe. Na, was soll's?« »Du hast mich erschreckt!« sagte Rebel. Dann, ein wenig steif: »Hallo, Mutter.« Das Holo verzog das Gesicht. »Ich bin nicht deine Mutter. Nenn mich Mud. Ich bin nur 'ne BKI, aber ich hab meine Würde. Du weißt doch, was 'ne BKI is, oder? Eine Begrenzte Künstliche …« »Ich weiß, ich weiß. Du hast nicht viel Zeit, also ist es dir bestimmt recht, wenn ich ein bißchen schneller spreche.« Mud keckerte. Es klang, als ob jemand eine rostige Blechdose zerquetschte. »Laß dir Zeit. Is hundert Jahre her, was macht's da schon noch aus, zum Teufel? Jedenfalls sind meine Erinnerungen alle aufgezeichnet und stehen der nächsten BKI voll und ganz zur Verfügung. Also hab ich sowas wie 'ne serielle Unsterblichkeit. Is aber nicht grad übermäßig legal. Wenn ich nicht sicher inner Korporativen Handels-Zone versteckt wäre, würden sie mich löschen lassen. Inner KHZ kannst du mit 'nem Mord davonkommen. Wovon haben wir eigentlich eben ge-
sprochen?« »Meine Güte«, sagte Rebel beeindruckt. Sie sah das verwitterte Bild genauer an, das gerötete Gesicht, die wäßrigen, rosa geränderten Augen. »Du bist ja betrunken!« »He, zum ersten Mal, ehrlich. War Mamas Idee. Ihr gefiel der Gedanke, 'n Wörtchen dabei mitzureden zu haben, wie der Laden hier geführt wird, aber 'n bißchen Spaß sollte schon auch dabei sein. Hat gesagt, sie wollte schon immer mal ihr Leben lang blau sein. Ich hab hier nich so viel zu melden. Meistens schau ich mich nur rasch mal um, ob's irgendwas Interessantes gibt. Und wie steht's mit dir, Schwesterchen?« »Mit mir?« Sie konnte jetzt die schmale Außenhülle der Station sehen, die so stationär war wie die Nabe, wo sich das Dock für die Gondeln befand. »Oh, mir geht's gut, glaub ich.« »Nur gut? He, du gibst hier so ziemlich die unbegrenzteste Kreditlinie ein, die das Archiv je gesehen hat, hast bis Tirnannog durchgebucht, und Mama meldet sich alle paar Tage, um zu hören, ob du schon durch bist … Scheiße, das wird 'n faszinierendes Treffen! Also, was willst du überhaupt? Suchst du'n Haar in der Suppe?« Die holographischen Verkehrsmarkierungen rückten jetzt ins Blickfeld. Ein wirrer Haufen schmutziger Maschinen wartete außerhalb des Sanduhrgitters, das die aktiven Bahnen kennzeichnete. Die Schmalstelle des Gitters fädelte sich durch den Transitring, und seine Enden leuchteten grell; sie sperrten einen ziemlich großen Bereich des hiesigen Raumes. »Naja, das Geld gehört mir eigentlich gar nicht«, sagte Rebel. »Nicht mehr. Aber … ja, du hast recht. Ich fliege nach Hause, und darüber bin ich froh.«
»Ja, genauso siehst du auch aus«, erwiderte die KBI spöttisch. »So trübsinnig und schuldbewußt wie die Sünde. Ich weiß nich, was du gemacht hast, aber vergiß es lieber. Kopf hoch! Das Leben is zu kurz für so'n Quatsch.« »Du hast leicht...«, fuhr Rebel auf. Sie hielt inne. »Ähem … He, hör mal – tut mir leid. Ich hab vergessen, daß du …« »… nur für kurze Zeit hier bist?« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Das siehst du ganz falsch, meine Süße. Jeder is sterblich – was is die Alternative? Ich hab Spaß am Leben, und wenn ich nur ein paar Minuten hab, dann hol ich da alles raus, was drin is.« Das Bild flackerte. »Alles raus, was drin is. Hups! Der Schnitter ruft. Hör mal, tu mir 'n Gefallen, Kleine, ja? Halt die Ohren steif!« Rebel lächelte matt. »Ja. Klar.« Mud verging mit einem Lachen und einem Zwinkern. Die Gondel landete mit einem Ruck im Dock und dröhnte wie eine Glocke. Eine Sekunde später wurde die Gondel von einem Laufband erfaßt, sanft hochgehoben und unter zügiger Beschleunigung in den äußersten Ring befördert. Sie kam zum Stehen, und Rebel stieg aus. Die Cybersysteme der Gondel luden ihr Gepäck auf einen Rollwagen. Ein dünner junger Mann mit goldener Haut und einem kleinen schwarzen Schnurrbart wartete auf sie. Er verbeugte sich und sagte: »Willkommen auf der Kolibri-Station. Mein Name ist Curlew. Ich bin Ihr Begleiter.« Ein süßer kleiner Bengel, angezogen, als ob er gerade erst aus dem Archipel gekommen wäre. Von Avalon vielleicht, oder von P'eng-Lai. Seine Augen
zwinkerten verschmitzt. »Hier entlang!« Er winkte mit der Hand, und der Gepäckwagen rollte hinter ihnen her. »Die Außenstationen sind Elisabeth Charm Mudlarks Vermächtnis für das System, die sichtbare Struktur des MudlarkTrusts und eine direkte Verbindung zwischen den Clustern und der Oortschen Wolke«, leierte Curlew her. »Dank der Großzügigkeit unserer Schirmherrin haben die Transitringe die jahrelange Reisezeit, die man früher brauchte, um die Archipel zu erreichen, auf ein paar Tage reduziert. Der Trust hat auch die korrespondierenden Innenstationen in den Archipeln und die Ringe der Titanklasse gestiftet, die ausgewählte Dysonwelten zu nahegelegenen Sternen befördern werden. Dieses unvorstellbar teure Projekt kostete sie ihr gesamtes Vermögen – kein normaler Sterblicher hätte das einfach so verschenkt. Aber schließlich ist Miss Mudlark keine normale Sterbliche.« Curlew hustete und sagte in natürlicherem Ton: »Sie ist sehr alt. Wofür hätte sie's sonst ausgeben sollen? Sie müssen ihrer BKI begegnet sein – verrückte alte Schachtel, was?« »Äh …« Sie kamen durch einen langen Korridor, der mit riesigen Flachholos der Planeten außerhalb des Sonnensystems geschmückt war. Es gab detaillierte Aufnahmen von Dainichi, Susa-no-o, Inari mit seinem hellen Mond Ukemochi, dem Izanagi-Izanami-System, Tezcatlipoca, Huitzilopochtli, Quetzalcoatl und Yatecutli, außerdem spekulativere Bilder von Morrigan und dem gehörnten Riesen Cernunnos. Der Korridor führte auf eine Einkaufspassage hinaus, in der es von Geschäften und Kreditbüros wimmelte. Deutsche Nakasone hatte eine
Niederlassung gleich neben der Filiale ihres eigenen Unternehmens. Rebel gab sich alle Mühe, zu keiner von beiden hinzusehen. »Zweifellos haben Sie bereits bemerkt, wie viele Unternehmen hier keinen direkten Bezug zu Kolibris TransitringFunktionen oder auch nur zum Handel mit den Dysonwelten haben.« Sie gingen um einen Mann herum, der in Lotusstellung auf dem Boden saß und sich lange Nadeln durch die Haut stieß, um eine neue Sorte von Yoga-Wetware vorzuführen. »Sie sind hier, weil die Kolibri-Station als Korporative Handels-Zone gegründet wurde. Hier können Privatunternehmen unbehelligt durch störende Einschränkungen der Regierung in einer freien und wettbewerbsorientierten Atmosphäre operieren.« Er zwinkerte. »Die haben sich in ihren Heimatclustern alle so viele protektive Gesetze gekauft, daß sie vor lauter Panzerung fast gelähmt sind. Aber das hat auch sein Gutes: Solange Kolibri ihren Zwecken dient, sind die Unternehmen nicht so wild darauf, sich den Trust unter den Nagel zu reißen.« Sie schlenderten durch ein Geschäft, in dem auf Kometen gezüchtete Blüten verkauft wurden, die doppelt so groß waren wie Rebel. »Kaufen Sie keine«, riet ihr Curlew ab. »Die halten sich nicht.« Aber es gab auch kleine schwarze Zigarren, und Rebel blieb lange genug stehen, um eine letzte zu kaufen. Das war eine Gewohnheit, die sie vermissen würde. Ein Laufband nahm sie mit, und sie fuhren in rascher Folge drei Stockwerke zum innersten Ring hinauf. Riesige freie Flächen, gleichgültige Menschen, die an ihnen vorbeieilten. Die Luft trug eine Woge von Stimmengemurmel, fernen Rufen und Hustlauten in der Nähe heran. Eine sorgsam berechnete
Schneemenge rieselte durch die warme Luft. Die Flocken schmolzen, sobald sie den porösen Boden berührten. Mit einer feierlichen Handbewegung sagte Curlew: »Das hier sind die Pioniere einer neuen Zeit. Es heißt, daß Dysonwelten eine spezielle Art von Auswanderern anziehen: Abenteurer, die Wert auf ihren Komfort legen, Leute, die zu den Sternen reisen wollen und bereit sind, dafür ein Leben lang unterwegs zu sein. Und so weiter, und so weiter. Auch Touristen.« Ein Schwung ankommender Baumhänger strömte vorbei. Einige von ihnen saßen in Lebenserhaltungssesseln; sie waren noch nicht vollständig an die Schwerkraft angepaßt. Ein Teenager drehte sich rasch um und glotzte auf Rebels Brüste, und sie blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht. »Wir sind jetzt mitten im Feierabend-Stoßverkehr. Jetzt kommen die letzten Shuttles von den Archipeln an und fliegen dorthin ab. Da die Kolibri-Station verhältnismäßig dicht an der Sonne liegt, ist es unvermeidlich, daß sie auf ihrem Orbit die Position verläßt, in der sie als Transitbahnhof dient. Aber das Abschußfenster der Jackdaw-Station ist so geplant, daß es genau dasjenige von Kolibri überlappt, um eine Unterbrechung des Service zu vermeiden.« Er grinste gehässig. »Jackdaw ist natürlich noch nicht fertig. Also gibt's eine Unterbrechung von ein paar Monaten, bevor Plover da ist. Das ist typisch für diese ganze Operation. Bis jetzt sind auch noch keine Shuttles geliefert worden, die sie bestellt haben, als Kolibri entworfen wurde. Sie benutzen konvertierte Nahverkehrsschiffe. Haben Sie die schon gesehen?« »Nur flüchtig, von der Gondel aus.« »Schrottkähne.« Er rümpfte die Nase. »Die sind eng und
stinkig, 'ne Mischung aus abgestandenem Schweiß, Hüttenkäse und Öl. Die meisten Leute ziehen's vor, im Kälteschlaf zu fliegen.« Er legte ihr einen Arm um die Taille und sagte: »Hören Sie, Sie wollen das Touristengeschwätz doch eigentlich gar nicht hören, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Hab ich mir gedacht.« Er führte sie aus dem Schnee zu einem grasbedeckten Wartebereich mit niedrigen Bänken und ein paar verstreuten Lilienteichen. Sie setzten sich hin. »Sie haben keine Ahnung, wie oft ich dieses Gelaber in jeder Schicht ablassen muß.« »Offenbar hast du nicht vor, das für den Rest deines Lebens zu machen«, sagte Rebel. »Was bist du, irgendein Student?« »Stimmt«, erwiderte Curlew erfreut. »Ja, meine Familie wollte mich auf die Universität von Faraway schicken, damit ich mein Diplom in den Geisteskünsten mache, aber ich wollte lieber ins Wetware-Design, also muß ich mich auf eigene Faust durchschlagen. Kennen Sie sich mit Wetware-Design aus?« »Ein bißchen.« »Interessantes Zeug. Die können mit ihren kleinen Maschinen fast genausoviel machen wie ein Zauberer mit einem modernen Geisteskunststudio. Aber das Interessante daran ist, daß die beiden Wissenschaften nicht kompatibel sind! Sie haben nicht mal eine gemeinsame Sprache.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Demnächst wird jemand die beiden mal vereinigen, und dann hat man ein Modell, das wirklich beschreibt, wie das Denken funktioniert. Dann werden wir echt mal sehen, wie Bewegung in die Sache kommt!« Neben einem Gepäckwagen küßten sich zwei junge Männer
unglücklich zum Abschied. Der Auswanderer trug bereits Baumhängerkleidung. Rebel mußte den Blick abwenden, weil es so traurig war. »Du bist 'n ehrgeiziger Bursche, mein Freund.« »He, ich hab nicht behauptet, daß ich derjenige sein würde, der die Vereinigung zustande bringt.« Curlew lachte. »Aber es wird nicht mehr lange dauern, dann zahlen sie jedem, der genug Hintergrundwissen in beiden Wissenschaften hat, jeden Preis, den er verlangt. Und ich sag Ihnen noch was: Wer die beiden Künste auch vereinigt, es wird auf den Welten passieren. Diese Systemtypen sind alle so ernsthaft und halten sich alle für unheimlich toll, aber so toll sind sie gar nicht. Die echte Aktion läuft draußen auf den Welten. Da spielt sich alles ab.« »Naja«, sagte Rebel wohlbedacht. »Zumindest gibt's draußen auf den Welten eine größere Vielfalt.« Curlew lachte über ihre trockene Untertreibung, und nach einer Sekunde stimmte sie mit ein. Er nahm ihre Hände in seine und sah ihr kühn in die Augen. »Sie wirken ein bißchen traurig, wenn ich das sagen darf. Das Shuttle nach Tirnannog geht erst in einer Stunde, und wir sind nicht weit von einer Filiale der Bank von Mimas. Wir könnten da eine Beratungsnische mieten und …« Er hob eine Augenbraue. Rebel lehnte so behutsam ab, wie sie konnte. Dann sah sie zu, wie sich sein hübscher kleiner Körper entfernte, und mußte seufzen. Erst Zigarren, dann hohlköpfige junge Männer. Wo würde das enden? Rebel stand auf der leeren Plattform. Sie verlagerte das Gewicht in ihren Fußringen und schaute in einen völlig schwarzen, von Sternen gesprenkelten Himmel hinaus. Die Luft war kühl hier;
sie wurde von subtilen Kräften im Innern gehalten, die man ihr erklärt hatte, ohne daß sie etwas davon verstanden hätte. Weit vorn, mitten in ihrem Blickfeld, sah sie einen kleinen schwarzen Punkt anschwellen und die Sterne schlucken. Ihre Fähre. Draußen im Vakuum wuchs eine Traube bunter Blumen aus der Stützstrebe eines Holo-Leuchtfeuers. Es waren zähe kleine Dinger, nahezu unverwüstlich. Sie warf einen Blick auf den Sarg zu ihren Füßen. Der Rest ihres Gepäcks war bereits vorausgeschickt worden. Sie dachte an jene letzte Diskussion mit Wyeth zurück und fragte sich, ob er ihr je vergeben würde. Sie legte eine Hand auf den Sarg und spürte eine Kälte, die nur zum Teil real war. Ein Auswanderungsbeamter, der mit einer Sicherheitsleine an einer Führungsschiene festgemacht war, schwebte herbei und streckte die Hand aus. Sie gab ihm ihren Paß, und er steckte ihn in ein Lesegerät. »Rebel Eucrasia Mudlark«, sagte er in gelangweiltem Ton. Wenn ihm der Name etwas sagte, zeigte er es nicht. Er klopfte mit den Knöcheln auf den Sarg und vergewisserte sich, daß er fest an der Plattform verzurrt war. »Ist das Ihr Kühlaggregat?« »Das meines Mannes.« »Aha.« Der Beamte murmelte etwas in seine Hand und gab ihr dann ihren Paß zurück. »Gute Reise.« Er stieß sich ab und ließ Rebel wieder mit ihren Gedanken allein. Mit verblüffender Irrelevanz dachte sie an all jene Wyeths und Rebels, die sie im System zurückließ, und fragte sich, ob sich wohl irgendwelche von ihnen jemals finden würden. Sie überlegte, daß sie eines Tages vielleicht gern Kinder haben würde. Richtige Kinder, nicht bloß Kopien von ihr.
Wyeth würde in einer Woche höllisch wütend sein, wenn er aufwachte und herausfand, was sie ihm angetan hatte. Er würde noch wütender sein, wenn er feststellte, daß sie es zeitlich so eingerichtet hatte, daß sie gerade noch rechtzeitig zu Tirnannogs Durchgang durch den Transitring ankamen. Wenn er aufwachte, würde das letzte Shuttle ins System zurück längst Vergangenheit sein. Drei Passagiere nahmen ihre Plätze an den Ringen auf der Plattform fast direkt über ihr ein. Es würde sowieso alles andere als einfach mit ihm werden. Ein Mann wie er brachte immer Ärger, wohin er auch ging; das lag in seiner Natur. Aber das war Rebel egal. Sie war froh, daß sie seinen Haken aktiviert hatte. Das Shuttle wurde größer. Es füllte ihr Blickfeld fast ganz aus. Rebel verspürte den Drang, sich zu ducken, als es über ihr anschwoll, aber sie hielt den Rücken gerade. Sie fühlte sich schrecklich klein und allein und war sich keineswegs sicher, daß sie das Richtige tat. Sie flog nach Hause.
Norman Spinrad Weltraumträume Ein Nachwort
Der französische Kritiker Michel Butor behauptete einmal allen Ernstes (oder wenigstens mit völlig unbewegter Miene), daß Science Fiction-Autoren zusammenkämen, sich über eine wünschenswerte gemeinsame Zukunft verständigten und diese dann, indem sie alle ihre Stories und Romane in ihrer kollektiven Traumwelt ansiedelten, dem öffentlichen Bewußtsein aufprägten und sie so ins Leben riefen. Das schien zu diesem Zeitpunkt einigermaßen töricht zu sein, obgleich die Kehrseite gewissermaßen unter der ästhetischen Rubrik des ›Sozialistischen Realismus‹ in der Sowjetunion schon lange praktiziert worden war. 1 Dort werden, anstatt daß die Autoren zusammenkommen, um sich über eine gemeinsame Zukunft zu verständigen, die Parameter dieser Zukunft von der Kommunistischen Partei vorgegeben, und alles, was ihnen zu heftig Gewalt antut, alles, was die Tendenz haben könnte, die kollektive Traumwelt der Massen über die theoretischen Grenzen der offiziellen marxistischen Wirklichkeit hinauszutragen, wird einfach nicht veröffentlicht. Sicher siedeln sowjetische SF-Autoren nicht alle ihre 1
Der Artikel erschien erstmals im Oktober 1987.
Geschichten in derselben übereinstimmenden Zukunft an, aber sie sind gezwungen, alle ihre Geschichten in Zukünften anzusiedeln, die mit der sowjetischen übereinstimmen, was heißt, zumindest nicht nicht übereinstimmen mit der langen Reihe utopischer Ziele der Parteiideologie. Wir im Westen können über die Beschränkungen, unter denen unsere sowjetischen Kollegen arbeiten müssen, wohl nur bedauernd den Kopf schütteln, denn während Science Fiction, die die Tugenden des Kommunismus oder der UdSSR preist, unsere Verkaufsregale nicht gerade überschwemmt, tun dies Werke, die kritisch mit unserer eigenen Gesellschaft und ihrer offiziellen Wirklichkeit umgehen, ganz sicher, und ihre Autoren finden sich keineswegs dabei wieder, wie sie im einem Gulag Steine klopfen – oder zumindest noch nicht. Andererseits hat sich im Verlauf des letzten Jahrzehnts oder so durchaus ein gewisser ›Butorismus‹ in die amerikanische Science Fiction eingeschlichen. Alles scheint mit Gerard O'Neil begonnen zu haben. O'Neil ist natürlich der Princeton-Professor, der seinen Studenten die Aufgabe stellte, eine Weltraumkolonie zu entwerfen, und damit endete, so überzeugt von der praktischen Durchführarbeit der Ergebnisse zu sein, daß er sich dem Bau einer ›L5-Kolonie‹ verschrieb. Mittlerweile versteht wahrscheinlich jeder, der eine Menge Science Fiction liest, und viele Menschen, die das nicht tun, bis in erhebliche Details hinein das Konzept der ›L-5-Kolonie‹. Ein großer, zylindrischer Behälter von vielleicht zehn Meilen Länge, der am La Grange-Punkt 5 im Gleichgewicht gehalten wird zwischen der Gravitation der Erde und der des Mondes. Rotiert
um seine Längsachse, um künstliche Schwerkraft hervorzurufen. Wird von Sonnenkollektoren betrieben. Ist mit einer unabhängigen, mehr oder weniger in sich geschlossenen Ökologie versehen und aus Mondmaterial erbaut, das von einem ›Massetreiber‹ oder einem riesigen von einem Atomreaktor gespeisten Katapult von der Mondoberfläche in die Nähe des L-5-Punktes geschleudert wird. Eine künstliche Welt mit der Einwohnerzahl einer größeren Stadt. Überflüssig zu sagen, daß das meiste des Konzepts der L-5Kolonie in der Science Fiction vorweggenommen wurde. Raumstationen waren schon lange ein Hauptgegenstand des Genres gewesen. Die riesige, in sich geschlossene, künstliche Welt ist, wenigstens in Form des energiebetriebenen ›Generationenraumschiffs‹, ein Konzept, das mindestens so alt ist wie Robert A. Heinleins ›Universe‹. 2 Das Ding an einen Librationspunkt von Erde und Mond zu verlegen statt in einen konventionellen Orbit um einen astronomischen Körper, mag neu sein, warf aber schon mit George O. Smiths ›Venus Equilateral‹Serie seine Schatten voraus, in der eine Raumstation eine stabile Position an einem Trojanischen Punkt der Venusbahn einnimmt. 3 Sogar der lunare Massetreiber und seine ökonomischen und politischen Konsequenzen wurden in Heinleins The Moon Is a Harsh Mistress 4 bereits äußerst detailliert beschrie2
dt. zuletzt als »Das Universum« in: Ben Bova/Wolfgang Jeschke (Hg.), TITAN 10, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/3633, München 1979. 3 Gesammelt erschienen in The Complete Venus Equilateral (1976), dt. RELAISSTATION VENUS und DER STRAHLENPIRAT. Terra Taschenbuch 347/349, Rastatt 1982. 4 dt. REVOLTE AUF LUNA, zuletzt in: Wolfgang Jeschke (Hg.), CHRONIKEN DER ZUKUNFT 2, Heyne-Taschenbuch 1002, München 1984.
ben. In gewisser Hinsicht war O'Neils L-5-Konzept einer Weltraumkolonie also aus Versatzstücken zusammengeschustert, wie sie die Science Fiction schon seit Jahrzehnten bereitstellte, oder anders ausgedrückt, schon seit Jahrzehnten hatte die Science Fiction so viele mögliche Variationen über dieses Stück Makrotechnologie erkundet, daß schlechterdings alles, womit O'Neil hätte aufwarten können, schon irgendwo in der Literatur vorweggenommen gewesen wäre. Doch O'Neils Entwurf war für sich genommen recht spezifisch und einzigartig, genau wie das Apollo-Projekt, das, obwohl im allgemeinen und in einzelnen Details schon lange von der Science Fiction vorweggenommen, in der Literatur nie ganz mit seinen tatsächlichen Ecken und Kanten und als systematisches Ganzes auftauchte. Und als die L-5-Gesellschaft als Interessengruppe gegründet wurde, deren politisches Ziel es war, tatsächlich eine derartige Weltraumkolonie zu bauen, begann sich eine seltsame neue Entwicklung anzubahnen. Der Traum vom Weltraum hat thematisch immer im Mittelpunkt der amerikanischen Science Fiction gestanden, mehr noch, er ist den meisten der Menschen, die ihn als Vision einer in der wirklichen Welt erstrebenswerten Zukunft niederschrieben und darüber lasen, stets eine Herzensangelegenheit gewesen. Science Fiction, wenn schon nicht als theoretische Definition, so doch als blanke Tatsache, konnte ohne ihn kaum Science Fiction sein. Wenn es einen kollektiven Wert gibt, den die ›Science Fiction-Gemeinde‹ als Ganzes hochhält, so ist es der Glaube an unsere Bestimmung als raumfahrende Spezies.
Aber natürlich folgten die SF-Autoren – weit davon entfernt, sich über eine gemeinsame Zukunft im Raum einig zu sein, in der man alle diese Erzählungen und Romane ansiedeln konnte – ihren eigenen individuellen Sternen und erschufen nicht etwa einen kollektiven Traum im Sinne Butors, sondern eine reichhaltige Fülle alternativer Zukünfte und vielfacher Wirklichkeiten. Diese Sichtweise ›der Zukunft‹ als einer Vielzahl von Möglichkeiten anstatt eines kollektiven Traumschlosses, das nur auf seine Fertigstellung wartete, um bezogen zu werden, ist gerade die größte Stärke der Science Fiction als einer visionären Literatur, ohne die sie sich schon lange zu ihrer ganz eigenen didaktischen Version des Sozialistischen Realismus entwickelt hätte. Ebensowenig beeinträchtigte natürlich die Weigerung der Science Fiction, ein allgemeines Rezept für ein Weltraumprogramm zu favorisieren, ihre erfolgreiche soziale Rolle als größere geistige und sogar mystische Inspiration für das ApolloProjekt. Denn obwohl die Science Fiction nie die Details des ApolloProjekts vorhersagte, geschweige denn etwas so Lächerliches wie die Fahrt zum Mond ohne vorherigen Bau einer Orbitalstation favorisierte, gab es viele Astronauten und Weltraumwissenschaftler, deren Karrieren durch ihre mannigfaltigen Visionen der raumfahrenden Zukünfte überhaupt erst in Gang gesetzt wurden. Aber viele SF-Autoren unterstützten das Ziel der L-5Gesellschaft, einige waren in der Organisation selbst aktiv, und das SF-Fandom war natürlich der fruchtbarste Boden für die Rekrutierung der Weltraum-Lobbyisten. Weltraum-Lobbyisten
wurden zu einem Teil der SF-Kongreßszene, der L-5-Gedanke wurde zu einem beliebten Diskussionsgegenstand, und obwohl Butors Behauptung meines Wissens nach nie ernsthaft vorgebracht wurde, hätte er zweifellos über das, was sich aus diesem allgemeinen Fortschritt entwickelte, zufrieden gelächelt. Die L-5-Kolonie wurde zu einer kollektiven Vorstellung, mit der alle übereinstimmten. Aus dem SF-Genre waren zuvor schon jede Menge kollektiver Vorstellungen hervorgegangen. Die interplanetare Rakete. Der Roboter. Die radförmige Raumstation. Der Hyperantrieb. Das Strahlengewehr. Die Kollektivintelligenz. Die Liste ist, wenn auch nicht endlos, so doch recht lang. Aber nie zuvor hatte ein bestimmter ingenieurstechnischer Vorschlag sich wie ein Virus in die arteigene DNA des Genres injiziert, wo er sich in den Geschichten so vieler Autoren verdoppelte. Statt Grenzbereichstechnik widerzuspiegeln, ahmte die Science Fiction nun das Programm der L-5-Gesellschaft nach und promotete es. In Erzählungen und Romanen wimmelte es plötzlich von L5-Kolonien, und man nannte sie auch so, wenn sie nicht sogar ›O'Neil-Kolonien‹ genannt wurden. Gerard O'Neil hatte sich in der Geschichte der Zukunft einen festen Platz erworben. Allgemein gesprochen waren diese erfundenen L-5-Kolonien einander alle recht gleich und sahen alle ziemlich genauso aus, wie von O'Neil beschrieben. Lag dies nur daran, daß die SF-Autoren sich peinlich genau an die Weltraumwissenschaft hielten und das L-5-Design als offensichtliche Form der großen Weltraumkolonie übernahmen?
Vielleicht spielte tatsächlich eine gewisse intellektuelle Faulheit eine Rolle; es war leichter, O'Neils detaillierte Beschreibungen für den eigenen Handlungsort rasch umzuschreiben als wieder ganz von vorn anzufangen. Aber bei vorsichtiger retrospektiver Überlegung ist das L-5-Konzept weit von jenem Optimum entfernt, das beim Entwurf von Weltraumkolonien unvermeidlich ist. Zum einen bedeutet das Wohnen im inneren Umkreis eines großen, sich drehenden Zylinders, damit man sich normaler Erdenschwere erfreute, daß der Großteil des geschlossenen Raums der Kolonie nutzlos ist. Zum anderen wurde ich als SF-Autor von dem Astronauten Wally Shirra am Global Vision-Seminar in Tokio wegen des Themas der ›künstlichen Schwerkraft‹ schon einmal ganz gehörig aufgezogen. Shirra wies darauf hin, daß Zentrifugalkraft nicht dasselbe wie künstliche Schwerkraft ist, weil der Kopf sich ein wenig langsamer als die Füße dreht und daher der Coriolis-Kraft ausgesetzt ist. Und wenn Sie glauben, daß der Effekt nebensächlich sei, probieren Sie einmal einige der Experimente aus, an denen ich teilgenommen habe, und Sie werden feststellen, daß Ihr Gleichgewichtssinn völlig den Bach runtergeht. Je kürzer die Rotationsachse, desto größer die Schraubstockwirkung, je länger der Hebelarm, desto näher kommt die zentrifugale ›Schwerkraft‹ dem einzig Wahren. Das bedeutet, daß sowohl hinsichtlich der geometrisch tauglichen Menge nutzbaren Raums als auch hinsichtlich des Erlangens eines maximalen Rotationsdurchmessers bei minimaler Masse die gute alte radförmige Weltraumstation mehr Sinn
ergibt als die zylindrische L-5-Kolonie. Wie beim ApolloProjekt hatten die alten SF-Geschichten wieder einmal recht, und die Ingenieursentwürfe waren falsch. Weshalb erlangte die L-5-Kolonie dann aber wenigstens eine Zeitlang den Status einer kollektiven Vorstellung à la Butor? Präzise, glaube ich, aus Butors Gründen. Eine Zukunft für die menschliche Rasse im Raum war seit langem der zentrale kollektive Traum der Science Fiction gewesen. Das ApolloProjekt hatte die Vision für rechtsgültig erklärt und den SFAutoren einen vielleicht etwas übertriebenen Sinn für ihre Fähigkeit verliehen, die nationale Psyche auf ihre Bestimmung im Raum hinzuführen. Doch das Apollo-Projekt war ein falscher erster Schritt gewesen, ganz und gar nicht unsere Vision, und es hatte sich bezüglich unserer Expansion in den Raum als Sackgasse erwiesen. Der L-5-Vorschlag hatte jedoch, welche Designmängel er auch immer aufweisen mochte, Reale-Welt-Plausibilität. Hier gab es die detaillierte Blaupause eines Erbauers für eine Stadt im Raum, die man ohne wirkliche technische Durchbrüche bauen konnte, ein Traumschloß, von dem jene, die bereits geboren waren, erwarten durften, daß sie es noch beziehen konnten. Timothy Leary heckte sogar einen vielleicht etwas sardonischen Plan aus, wie man den Aufbau der Raumfahrtentwicklung finanzieren könnte, indem man vorab Parzellen daraus verkaufte. Abgesehen davon war dies das erstemal, daß die Science Fiction-Gemeinde der Gegenstand einer regelrechten Interessensvertretung gewesen war, der Vertretung für ein Interesse, zu dem sie, wenigstens im großen und ganzen, schon seit langem
bekehrt worden war. Der Butorismus schien relativ subtil zu sein. Die Leser wurden von einer Flut SF-haften Sozialistischen Realismus verschont, der den heroischen Kampf der Wissenschaftler, Arbeiter und SF-Fans für ein Utopia im Raum schilderte. Vergleichsweise wenige der Erzählungen und Romane handelten direkt vom Bau einer L-5-Kolonie. Die Autoren neigten einfach dazu, in O'Neils projektiertem Artefakt zu schreiben, wann immer die Geschichte nach einer Kolonie im Weltraum verlangte. Es war so unschuldig wie die altehrwürdige Tätigkeit des ›Tuckerismus‹, des Einsprengselns von Namen oder Personen tatsächlich existierender SF-Personen in erfundene Zukünfte. Oder nicht? Im Rückblick, wie wir bald sehen werden, vielleicht nicht. Denn in dem Maße, wie Science Fiction-Autoren begannen, die L-5-Kolonie als gemeinsamen Handlungsort zu benutzen, begann sich auch eine Art thematischer Übereinstimmung um das Artefakt herum aufzubauen, eine kollektive Vision von der Zukunft des Sonnensystems, die wenigstens halbwegs zu einer Ideologie wurde. Tatsächlich hatte diese Ideologie in gewissen Bereichen schon vorher bestanden. Der amerikanische Mythos vom Grenzland ist älter als die amerikanische Science Fiction. Lange bevor das L-5-Konzept auch nur in O'Neils Augen erglänzt war, war es von SF-Autoren laissez faire-hafter libertinärer Gesinnung zum Asteroidengürtel verpflanzt worden. Die Asteroiden (Kolonialamerika oder der Alte Westen) wurden als freies Grenzland angesehen, die Zukunft der wirtschaftlichen (und manchmal politischen) Freiheit, kolonisiert
von zerlumpten Individualisten, die gewöhnlich um ihre wirtschaftliche und/oder politische Freiheit von der bösen, degenerierten, kollektivistischen, ausgespielt habenden Erde (das Alte Europa oder der Kraftlose Osten) kämpften. Da draußen im Gürtel mit seinen unendlichen Mineralvorkommen, seiner Niedrig-ge-Umgebung und seinen weiten offenen Räumen lag die Zukunft der Spezies, und was die arme alte, verschmutzte, übervölkerte, ausgemergelte Erde anbetraf – scheiß der Hund drauf! Teilweise diente dieser Mythos von den ›Freien Asteroiden‹ als Wegbereiter für die laissez faire-haften, libertinären politischen Märchen, teilweise war er aber auch der Widerhall einer gewissen Sichtweise innerhalb der SF-Gemeinde, jener, die die Spezies in freidenkende, zukunftsorientierte SF-Fans (die Belter [Gürtler] oder die freien Grenzer) und die ›Weltlichen‹ unterschied, was soviel bedeutete wie den Rest der Menschheit (arme, ausgespielt habende alte Erde). Nicht all dieses Zeug hatte eine politische Botschaft des rechten Flügels, und nicht alles davon schränkte das Grenzland auf den Asteroidengürtel ein, aber alles legte ziemlich genau die gleiche Haltung gegenüber der Erde und wofür sie stand an den Tag. Die arme alte Erde war nicht mehr zu retten und mußte mindestens verlassen werden, damit sie im eigenen Saft schmorte, während die Besten und Gescheitesten sich in Richtung Pluto aufmachten. In John Varleys The Ophiuchi Hotline und den dazugehörigen Erzählungen, die in The Persistance of Vision gesammelt vorliegen 5 – alles andere als Laissez faire5
dt. DER HEISSE DRAHT NACH OPHIUCHI, Heyne Science Fiction & Fantasy
Tiraden –, haben mächtige Aliens die Menschheit von der Erde vertrieben und die Spezies gezwungen, sich so gut wie möglich in den solaren Vorstädten einzurichten. Das Aufkommen des L-5-Vorschlags und die Bemühungen der L-5-Gesellschaft innerhalb der SF-Gemeinde, sie in ihrem Sinne zu beeinflussen, trieben diese Tendenzen bis zu ihrem logischen Extrem. Die L-5-Kolonie würde mit Material von jenseits des irdischen Schwerkraftschachts gebaut werden. Sie würde ihre eigene, in sich geschlossene Ökologie aufweisen und ihre Energie von der Sonne beziehen. Es wäre eine brandneue Welt, ein neuer Start, völlig von Menschenhand erschaffen, gänzlich autark, eine Gesellschaft, nicht nur von der Erde unabhängig, sondern von der Hilfe jeglicher Ressourcen irgendwelcher Planetenoberflächen, von der Geologie, dem Wetter, dem Reich der Natur selbst. ›Planetarer Chauvinismus‹ wurde zu einem geflügelten Wort, das soviel bedeutete wie, daß die Zukunft der Spezies in selbsterschaffenen künstlichen Welten läge, daß, während die ›Weltlichen‹ weiter vergeblich die selbst eingebrockte Suppe auslöffeln durften, der nach den Sternen greifende Mensch nicht so sehr andere Planeten erobern würde als vielmehr die Tabula rasa des Weltraums selbst. In seiner Novelle ›Tricentennial‹ und seiner Roman-Trilogie mit dem treffenden Titel ›Worlds‹ 6 06/3852, München 1981; die Storysammlung erschien dt. in drei Bänden: VORAUSSICHTEN, MEHR VORAUSSICHTEN, NOCH MEHR VORAUSSICHTEN, Goldmann Science Fiction 23381–83, München 1981. 6 Die Arbeitstitel der Trilogie lauteten großspurig ›Worlds‹, ›Stars‹ und ›Gods‹. – ›Tricentennial‹ erschien zuletzt unter gleichem Titel in Haldemans Storysammlung
versieht Joe Haldeman seine Weltraumhabitate mit Antriebssystemen und schickt sie zu den Sternen, künstliche Welten, die sogar von der Sonne selbst unabhängig sind. Aber wichtiger, viel wichtiger war: SF-Autoren und -Leser hatten den Eindruck, daß dies eine Traumwelt sei, die sie sich tatsächlich genauso erschaffen konnten, wie Michel Butor es vorgeschlagen hatte. Detaillierte Baupläne für die L-5-Kolonie existierten, und bekam man das Geld und den politischen Auftrag, konnte man sie gut und gern innerhalb der Lebensspanne jener, die heute leben, erbauen. Die Lobbyisten bemühten sich bereits, eine Wählerschaft für die entsprechenden Mittel zu gewinnen, und die Science Fiction hatte schon erfolgreich dazu beigetragen, das Apollo-Projekt zu inspirieren. Wenn die SF-Gemeinde, wenn die SF-Autoren also ihr Scherflein beitrugen, konnten wir vielleicht tatsächlich in unserer kollektiven Vision zu leben beginnen, konnten wir tatsächlich imstande sein, die Weltlichkeit der Erde zu verlassen und unser Traumschloß im Weltraum zu beziehen, um die Helden und Heldinnen unserer eigenen Science Fiction-Geschichten zu werden. Wäre die kollektive Vorstellung von der L-5-Kolonie bloß als bequeme Hardware-Konvention übernommen worden, in der man die verschiedenen Möglichkeiten der sozialen und politischen Entwicklung erforschen konnte, die in solchen unabhängigen, in sich geschlossenen Westentaschenuniversen stattfinden mochten, hätte das Genre vielleicht nicht mehr erlitten als UNENDLICHE TRÄUME, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4177, München 1985; die Trilogie liegt dt. bisher nur mit dem ersten Band KREISENDE WELTEN, Moewig Science Fiction 3633, Rastatt 1984, vor.
eine gewisse Beschränkung der technologischen Extrapolation im Dienste ihres kollektiven Idealismus. Doch Fiction, selbst Science Fiction, wird nicht in einem politischen und sozialen Vakuum geschrieben, und in den 70ern und frühen 80ern, als der Großteil des Zeugs geschrieben wurde, erlebte Amerika einen wirtschaftlichen Niedergang, der wohlhabende Mittelstand befand sich unter finanziellem und sozialem Druck, und der kollektive utopische Traum von der L5-Kolonie spiegelte die Sehnsüchte des heimgesuchten Mittelstands wider. Die meisten dieser L-5-Kolonien hatten ein Gemeinsames, ein Gemeinsames, das über den technologischen Rahmen hinausging, eine Gleichheit, die sich ausgezeichnet im Titel von Somtow Sucharitkuls ›Mallworld‹-Serie ausdrückt 7 , eine Uniformität der sozialen Vision, wie sie in gedrängter Form auch die in sich geschlossene Gesellschaft von ›Todos Santos‹, dem großen, unabhängigen Habitat in Oath of Fealty 8 von Larry Niven und Jerry Pournelle, aufweist. Seltsam, weil Todos Santos nicht eine L-5-Kolonie, sondern eine Art ›Festung Los Angeles‹ ist, eine riesige, autarke Vorstadtfestung, mitten in die schwärende Mitte eines sozial, politisch und wirtschaftlich degenerierten künftigen L. A. hineinversetzt, »Mallworld« auf die Spitze getrieben. Angemessen, 7
engl. ›mall‹ – schattiger Promenadenweg; ›Mallworld‹ – eine Welt, auf/mit der man geschützt spazierengeht. – Die Serie erschien dt. als Episodenroman unter dem Titel DER INTERGALAKTISCHE HYPERMARKT Goldmann Science Fiction 23442, München 1984; die einleitende Story ›A Day in Mallworld‹ erschien auch in: Birgit Reß-Bohusch (Hg.), ISAAC ASIMOV'S SCIENCE FICTION MAGAZIN 8, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/3776, München 1980. 8 dt. TODOS SANTOS, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4072, München 1984.
weil Oath of Fealty recht offen und mit scharfsinnigem politischen Bewußtsein die Mittelstandsvision des heimgesuchten technokratischen Utopia darstellt, umgeben von einer lumpenproletarischen sozialen Verderbtheit, die andere Autoren in Weltraumtiefen ansiedelten. Kurz gesagt, es ist alles da. Todos Santos ist hell und sauber und glänzend und technisch auf dem neuesten Stand. Es ist ein Konzern-Utopia, das mit strenger, aber unauffälliger Sicherheit von erklärten Technokraten geführt wird. Es ist völlig in sich abgeschlossen, ein Westentaschenuniversum, das, wenn man es mit künstlicher Schwerkraft und einem Lebenserhaltungssystem ausrüstete und aus dem Einfluß der Erdenschwere hinausbeförderte, sich kaum noch von einer Weltraumkolonie unterscheiden würde. Keine Slums. Keine schäbigen Rotlichtbezirke. Frei heraus entworfen als sichere, uneinnehmbare, ziemlich antiseptische Mittelstandsfestung. Selbst der Name bedeutet auf spanisch ›Alle Heiligen‹ – wie um klarzustellen, daß sich nieder soziale Lebewesen gar nicht erst um Einlaß zu bemühen brauchen. Demgemäß das Ergebnis dieses Abschnittes der Affäre der Science Fiction mit dem Butorismus – eine kollektive Vision von hellen, sauberen, ökologisch, ökonomisch und sozial unabhängigen technokratischen Mittelstandsvorstädten im Weltraum, ohne arme Leute, ohne Straßenbahnen, ohne Schaben und ohne Hundedreck auf den Straßen. Ausgedehnte, prächtige Promenadenwege und ordentliche Wohnungsbauten und nicht einmal Schallschutzwände von Autobahnen zwischendrin. Und das alles schwebt unbesorgt in der Luft über einer Dritte WeltIdylle namens Erde.
»Die Straße findet ihre eigene Verwendung für die Technik.« – WILLIAM GIBSON »Wenn Sie wissen wollen, wie es in einer L-5-Kolonie wirklich zugeht, stellen Sie sich einen SF-Weltkongreß in einem U-Boot vor, der niemals endet.« – NORMAN SPINRAD Dann kamen die Cyberpunks. Obwohl nun viel über den zentralen Cyberpunk-Ethos und über das Drumherum von ›Cyberspace‹, ›Wetware‹, ›Implantationen‹, und ›Interfaces‹ geschrieben wurde, auch von meiner Wenigkeit 9 , scheint niemand, einschließlich meiner Wenigkeit, etwas ziemlich Wichtiges aufgefallen zu sein, was sogenannte Cyberpunks wie William Gibson, Bruce Sterling und John Shirley mit ihren vermeintlichen Antithesen Kim Stanley Robinson, Michael Swanwick und John Varley gemeinsam haben – eine neue kollektive Vision der Weltraumkolonisation, die völlig verschieden von der der L-5-Begeisterten ist. Vor mir liegen acht erst kürzlich erschienene Romane – The 9
Spinrad verfaßte den Aufsatz ›Die Neuromancer‹, abgedruckt als Nachwort zu William Gibsons NEUROMANCER, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4400, München 1987; von Swanwick stammt eine größere Abhandlung ›Postmoderne: Neue Strömungen in der Science Fiction‹, zu finden in Jeschkes DAS SCIENCE FICTION JAHR 3, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4464, München 1988. Ein Beitrag, ›Wiedersehen mit dem Cyberpunk‹, von Norman Spinrad, findet sich in Jeschkes DAS SCIENCE FICTION JAHR 5, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4640, München 1990. Weiteres Sekundärmaterial von Kritikern und Autoren des Cyberpunk enthält die Anthologie ATOMIC AVENUE, herausgegeben von Michael Nagula, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4704, München 1990.
Memory of Whiteness und Icehenge von Kim Stanley Robinson, Eclipse von John Shirley, Voyce of the Whirlwind von Walter Jon Williams, Neuromancer und Count Zero von William Gibson, Schismatrix von Bruce Sterling und Vacuum Flowers von Michael Swanwick 10 –, die sich alle, wenn man sie gemeinsam betrachtet, in einer ganz neuen Konzeption der Weltraumkolonisation treffen. Sterling, Shirley und Gibson sind Cyberpunks der ersten Stunde (auch wenn Gibson das in letzter Zeit eher unter den Tisch zu kehren versucht), Williams schreibt auf ähnliche Weise, Robinson und Swanwick würde man wohl nicht mit verspiegelten Sonnenbrillen erwischen.11 Doch alle diese Romane sind in etwas unterschiedlichen Versionen des gleichen Sonnensystems angesiedelt, und irgendwie, Toto, glaube ich nicht, daß wir Mallworld sind, geschweige denn in Todos Santos. 10
dt. Ausgaben – Kim Stanley Robinson: SPHÄRENKLÄNGE, Bastei Science Fiction Special 24098, Bergisch Gladbach 1987; DIE EISIGEN SÄULEN DES PLUTO, Bastei Science Fiction Special 24092, Bergisch Gladbach 1987; Walter Jon Williams: DIE STIMME DES WIRBELWINDS, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/ 4578, München 1989; William Gibson: NEUROMANCER, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4400, München 1987; BIOCHIPS, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4529; Bruce Sterling: SCHISMATR1X, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4556, München 1989. Swanwicks Vacuum Flowers liegt hiermit vor, Shirleys Eclipse ist bei Heyne in Vorbereitung. – Die Romane von Williams und Sterling enthalten Hintergrundmaterial über die Autoren. 11 Das Markenzeichen der Cyberpunks sind ›mirror shades‹, verspiegelte Sonnenbrillen, in deren Schatten die Protagonisten der Stories zu leben bevorzugen oder gezwungen sind. Weitere Auskunft darüber gibt Sterlings Cyberpunk-Anthologie SPIEGELSCHATTEN, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4544, München 1988, die auch ein umfängliches Nachwort über die Autoren dieser Bewegung enthält.
Alle diese Werke spielen ein oder drei Jahrhunderte in der Zukunft. In den meisten von ihnen durchläuft die Action ein sorgfältig kolonisiertes Sonnensystem. Gibson, Williams und Swanwick betonen künstliche Habitate, während Robinson größeren Nachdruck auf Asteroiden und Satelliten legt, und Shirley siedelt die meiste Action auf der Erde an, aber in all diesen Büchern lebt der Großteil der extraterrestrischen Menschheitsbevölkerung nicht auf terraformten Oberflächen der wichtigeren Planeten. In einigen dieser Romane ist das Sonnensystem ein Flickwerk unabhängiger Staaten, in einigen das Flickwerk eines von Konzernen ausgehenden Lehenswesens, in anderen eine komplexe politische Melange aus beidem, aber in keinem davon kommt eine systemweite Regierung irgendeiner zusammenhängenden Art vor, auch herrscht die Erde nicht über ihre weitgespannten Söhne und Töchter. Tatsächlich ist die Erde in den meisten dieser Romane entweder rückständig und stagniert, eine degenerierte Schweinerei, ein Schlachtfeld der Konzerne oder – wie im Fall von Vacuum Flowers – sogar die Heimat eines Kollektivbewußtseins, das den raumfahrenden Menschen feindlich gesonnen ist. In den meisten dieser Romane ist der Schwerkraftschacht der Erde etwas, dem man entkommen muß, und die meisten der Charaktere würden es eher vorziehen, in einer Niedrig- oder Null-geUmgebung zu leben, anstatt künstlich ein Ein-ge-Feld herbeizuführen. Wer was zuerst schrieb und wer wen beeinflußte, könnte der Gegenstand endloser ergebnisloser Debatten sein, da all diese Bücher innerhalb einer Spanne von vier Jahren erschienen, und
auch angesichts der verschiedenen Vorlaufszeiten der Romane gibt es wirklich keine Möglichkeit herauszubekommen, wer bereits was gelesen hatte, als er sich hinsetzte, um seinen eigenen Roman zu schreiben. In letzter Zeit haben sich einige der Cyberpunks beschwert, daß die Reinheit des ›Movements‹ (der Bewegung) durch die Arbeit von ›Abkömmlingen‹ kompromittiert worden sei und man deutlich den Einfluß von Gibson auf Williams erkennen könne und besonders von Sterlings Schismatrix auf Swanwicks Vacuum Flowers. Aber andererseits begann Swanwick dieses Gebiet in Novellenform bereits zu bearbeiten, bevor Neuromancer oder Schismatrix erschienen waren, und auch die Novellen, die Robinson in Icehenge zusammenfaßte, gingen ihnen voraus. Darüber hinaus sind dies, einmal abgesehen von der gemeinsamen Weltraumvision, sehr unterschiedliche Bücher von sehr unterschiedlichen Autoren. Eclipse ist geradeheraus ein antifaschistischer Roman 12 , der hauptsächlich auf der Erde spielt und aufs engste mit Rock and Roll verknüpft ist. The Memory of Whiteness und Icehenge hüpfen im Sonnensystem herum; letzterer handelt davon, wie sich eine verlängerte Lebensspanne auf den Charakter auswirkt, und ersterer befaßt sich, während es thematisch um Musik geht, mit der klassischen Varietät, den Unterabteilungen einer Art, und ihrer Beziehung zur Metaphysik.
12
Inzwischen mit Eclipse Penumbra und Eclipse Corona zur Trilogie gediehen. Deutsche Ausgabe in Vorbereitung unter diesen Titeln in der Reihe Heyne Science Fiction & Fantasy als 06/4721, 06/4722 und 06/4723.
Count Zero ist eine Fortsetzung zu Neuromancer, und sein Hauptaugenmerk liegt auf Gibsons ›Cyberspace‹. Auch Voice of the Whirlwind soll eine Fortsetzung sein, und zwar zu Williams' Hardwired 13 , aber das scheint größtenteils ein Verkaufstrick zu sein, da es viel weiter in der Zukunft angesiedelt ist, sich von der Oberfläche der Erde wegbewegt und kein eingeführtes Personal aufbietet oder auch nur Verweise auf frühere Charaktere enthält. Schismatrix und Vacuum Flowers sind einander hinsichtlich des Handlungsortes und der Unverblümtheit des Stils noch am ähnlichsten (aber keiner von beiden weist auf, was man zweckmäßigerweise eine ›Punk‹-Lebensphilosophie nennen könnte), aber ersterer konzentriert sich auf die Ausstrahlung der Menschheit in biologisch disparate, aber psychisch recht ähnliche Tochterspezies, während letzterer die menschliche Gestalt mehr oder weniger beläßt, wie sie ist, jedoch komplexe Veränderungen an den Konzepten der Persönlichkeits der ›Identität‹ und des ›Seins‹ anbringt. Daher sind diese Romane in bezug auf Stil, Thema, Konzentration (›Focus‹), Politik und Ästhetik einander etwa so ähnlich wie, sagen wir, Dr. Strangelove, Bug Jack Barron, The Handmaid's Tale, Faile-Safe und On Wings of Song 14 , die alle in 13
dt. HARDWARE, Heyne Science Fiction & Fantasy Ü6/4524, München 1988. dt. Fassungen – DR. SELTSAM ODER WIE ICH LERNTE, DIE BOMBE ZU LIEBEN, Film von Stanley Kubrick, GB 1963; CHAMPION JACK BARRON, Roman von Norman Spinrad, Moewig Science Fiction 3562, München 1982; DER REPORT DER MAGD, Roman von Margaret Atwood, Ciaassen Verlag, Düsseldorf 1987; ANGRIFFSZIEL MOSKAU, Film von Sidney Lumet; AUF FLÜGELN DES GESANGS, Roman von Thomas M. Disch, zuletzt: Bibliothek der Science Fiction Literatur 06/40, München 1986. 14
relativ naher Zukunft in den Vereinigten Staaten spielen. Aber da ihre Schauplätze einer ähnlichen Zukunft alle völlig der Einbildungskraft überlassen sind, spiegeln sie keine Extrapolation einer gemeinsamen realen politischen Geographie wider, sondern den Umriß einer neu auftauchenden kollektiven Vision der menschlichen Zukunft im All, einen alternativen Butorismus, der im Genre bestimmenden Einfluß zu gewinnen scheint. Sie alle handeln wenigstens teilweise in künstlichen Weltraumhabitaten während der nächsten zwei oder drei Jahrhunderte, und gemeinsam ist ihnen erstens das politisch balkanisierte Sonnensystem, in denen diese Weltraumhabitate existieren, und zweitens, was wesentlich für die gegenwärtige Diskussion ist, die Natur der Weltraumhabitate selbst. Diese Weltraumkolonien sind bestimmt keine sauberen, prächtigen Mallwelten, gutgeführte, technokratische Mittelstandsbastionen im All laut der kollektiven Vision, wie sie Gerard O'Neil und die L-5-Bewegung inspirierte. Das Weltraumhabitat, das Shirley uns zeigt, hat eine starre Klassenstruktur, ein vorrevolutionäres Flair und die ganze saubere, ordentliche, gut bewahrte Mittelstandsstabilität von Jersey City oder Beirut. Gibson erweitert seine konzernmäßig balkanisierte Erdenkultur nahtlos ins All, zusammen mit ihrem straßenerfahrenen Gesetzeslosenunterbau, und Williams macht etwas Ähnliches. Robinson scheint oberflächlich ein anderes Bild zu zeichnen. Auch sein Sonnensystem ist sorgfältig kolonisiert und politisch balkanisiert, und was er uns gibt, sind keine mittelständischen Wohnungsbauprojekte im All, aber Icehenge und zum Teil auch The Memory of Whiteness präsentieren eine
positivere und gedeihlichere Vision, ökonomisch und vor allem ästhetisch, eine reichlich komplexe und barocke Version des Sonnenmenschen, mehr wie die Welten von Jack Vance oder das Zweite Sternfahrende Zeitalter in The Void Captain's Tale und Child of Fortune 15 als die zerfallende Weltraumstadt eines Shirley oder Gibsons konzernbetonten Sozialdarwinismus, perfekt eingefangen durch den barocken musikalischen Stil im thematischen Kern von The Memory of Whiteness. Swanwicks Sonnensystem in Vacuum Flowers liegt irgendwo dazwischen. Wieder einmal haben wir politische Balkanisierung und eine Fülle von Weltraumhabitaten – Monde, Asteroiden, künstliche Welten in Clusters und Wolken, sogar ›DysonWelten‹ jenseits der Oort-Wolke. Aber während eine gehörige Anzahl davon stinkende, vergammelte Slums sind und der Großteil davon buchstäblich mit den lästigen Vakuumblumen des Titels geknebelt ist und keines davon mit der antiseptischen Perfektion der idealen L-5-Kolonie läuft, ist im Innern auch noch Raum für Robinsons hohen kulturellen Stil. Swanwicks Weltraumhabitate haben einen entschieden organischen Beigeschmack. Die Vakuumblumen wurden ursprünglich entworfen, um unvermeidlich entweichende Luft und Abfall aufzusaugen, damit sie wiederaufbereitet werden können, aber längst außer Kontrolle geraten sind, so daß die Außenhüllen ständig abgeschabt werden müssen wie einst die Segelschiffe von ihren Muscheln. Riesige mutierte Bäume füllen
15
Romane von Norman Spinrad: DASS MICH DAS GROSSE NICHTS UMFANGE, Bastei Science Fiction Special 24050, Bergisch Gladbach 1983; KIND DES GLÜCKS, Bastei Paperback 28161, Bergisch Gladbach 1988.
die Innenräume vieler davon aus, bilden komplexe dreidimensionale Irrgärten, Wälder mit sich dahinwindenden Wegen und planlos entstandenen Dörfern in ihren Dickichten. Diese Habitate sind wirklich kleine Welten im All, mit all der chaotischen planlosen Komplexität lebender Ökologien. Aber es ist Sterlings Schismatrix, das als erster Roman diese neue Weltraumvision in ihrer maximalen Vielfalt präsentierte, er ist insofern der einzige Roman mit eben dieser Vision als thematischem Mittelpunkt, und weil Sterling der theoretische Guru der Cyberpunk-Bewegung ist 16 , ist das der Grund, weshalb gewisse Beschwerden laut geworden sind, daß ›NichtMovement-Autoren‹ die ›wahren Cyberpunks‹ nachahmten, obgleich Schismatrix in bezug auf Stil, Sensibilität, Thema und oberflächlichen Zierrat Lichtjahre von Gibson und Shirley entfernt ist. Wieder haben wir eine Fülle verschiedener künstlicher Welten und eine balkanisierte politische Komplexität, aber hier gibt das Auf und Ab des Schicksals der zwei dominierenden menschlichen Parteien, der Mechs (Cyborgs) und der Former (Gentechniker und deren Schöpfungen), den politischen Machenschaften über die lange Zeitspanne des Romans hinweg einen gewissen Zusammenhalt, während der ständige Seitenwechsel an jedem beliebigen Schauplatz und die Gegenströmungen der Flüchtlinge eine Melange nicht bloß der Kulturen, sondern der ›Tochterspezies‹ erschaffen, die so komplex ist, daß
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Näheres hierzu im Sekundärteil der Cyberpunk-Anthologie ATOMIC AVENUE, hrsg. von Michael Nagula, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4704, München 1990.
nahezu jede somatische Variante möglich ist. Und das ist Sterlings thematischer Punkt, ein Punkt, der in Vacuum Flowers, Icehenge oder The Memory of Whiteness nicht zentral sein mag, der aber von Robinson und Swanwick in der Konstruktion ihrer Handlungsorte für gegeben genommen und sogar von Gregory Benford und David Brin in In the Heart of the Comet 17 aufgegriffen wird – nämlich daß, gibt man ihnen genug Zeit, Technik und den menschlichen Antrieb zur Vielfalt, die Habitate, die wir für uns im All erbauen – seien es terraformte Kometen, Asteroiden und Monde oder vom Menschen gänzlich neu erschaffene Welten –, sich früher oder später zu Umgebungen entwickeln werden, die so ökologisch komplex, politisch zersplittert und neuerlich verworren sein werden wie das sogenannte ›Reich der Natur‹, das Mosaik aus Ökosphäre, Kulturen, sozialen Klassen und Lebensweisen, wie wir es gegenwärtig auf der Erde sehen. Wenn diese neue kollektive Vision ebenfalls eine Form des ›Butorismus‹ ist, ist sie ein Butorismus von einzigartig paradoxer Art und nicht nur im spezifischen Kontext völlig von der früheren Version mit ihren vorgestanzten O'Neil-Kolonien verschieden – eine Vision, die sich wenigstens teilweise aus einem Schlüsselelement des sozialen Ethos des Cyberpunks herausbildete. Und doch dient sie, seltsam genug, auch der Erneuerung der altersgrauen romantischen Vision der Science Fiction von unserem Sonnensystem als dem Schauplatz des grenzenlos Möglichen. 17
dt. IM HERZEN DES KOMETEN, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4236, München 1985.
Damals, als die sowjetischen und amerikanischen Weltraumfahrtprogramme erst ein Funkeln im kollektiven Auge der SF waren, in der Zeit von Edgar Rice Burroughs, Leigh Brackett, Jack Vance, Ray Bradbury, C. L. Moore & Co., war das Sonnensystem ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, zum Bersten voll mit Marszivilisationen, Venusdschungeln, Weltraumpiraten. Uralten Rassen, ein endloses Sense of Wonder und die Verheißung des grenzenlos Möglichen im Hinterhof unseres Sonnensystems. Die Bilder und Daten von wirklichen Planetensonden haben all diese wundervoll barocken Möglichkeiten in Begriffen von Science Fiction-Plausibilität aus unserem Sonnensystem verbannt und die himmlischen Welten jenseits unserer Erdenschwere zu den weit entfernten Sternen verwiesen, an eine literarische Traumwelt, die wahrscheinlich nicht einmal unsere Kinder jemals erreichen werden. Gerard O'Neil und sein L-5-Programm gaben uns eine neue Vision unserer Zukunft innerhalb des Sonnensystems, eine greifbare, erreichbare Vision der hellen, sauberen, wohlgeordneten künstlichen Welten im All, eine Flucht vor Umweltverschmutzung, Erschöpfung der Ressourcen, Armut, Kollektivismus und planlosem natürlichen Chaos auf der armen ausgepowerten alten Erde. Aber es war nur ein fahler Abglanz dessen, was wir verloren zu haben schienen, eine mittelständische, kontrollierte, schonungslos harte, spießige, kollektive Vision unserer raumfahrenden Zukunft – technokratisch, in sich geschlossen, antiseptisch, sozial übelgesonnen, irgendwie an den öden, schmucklosen architektonischen Futurismus der Bauhaus-Schule erinnernd,
aus der der romantische Antrieb und der organische Sinn für kulturelle Ausschmückung und soziale Reichhaltigkeit verbannt worden waren, zusammen mit Ghettos, Unterschichten, Gegenkulturen, interessantem Nachtleben und Hundedreck auf den Straßen, eine Zukunft, in der farblose Ordnung über stilvolles Chaos triumphierte, eher Velveta auf Wonderbread 18 als ein reifer, zerlaufender Brie, den man unordentlich auf einem krustigen Pumpernickel schmiert. Cyberpunk war unter anderem eine Reaktion auf diese wohlgeordnete, denaturierte, anorganische, weiß-mittelständische, im wesentlichen faschistische Vision der Zukunft, von High Technology als etwas, das dem Eigentum der herrschenden Machtstruktur von Grund auf innewohnt, als ein Mittel der sozialen und politischen Kontrolle, als dem Diener der Ordnung. Uh-uh, sagt Gibson in Neuromancer und Count Zero. »Die Straße findet ihre eigene Verwendung für Technik.« Auch wird Technik nicht die Sensibilität der Straße, der Unterschichten, Ghettos, Gegenkulturen und Klassenkämpfe zerstören, sagen Shirley in Eclipse und Williams in Hardwired und Voice of the Whirlwind. Und es ist nicht einfach nur eine Frage der Straßenkultur, zeigt Robinson in Icehenge und The Memory of Whiteness. Je mehr die Technik voranschreitet, je mehr wir nicht nur ins Sonnensystem hinausziehen, sondern auch die Fähigkeit erlangen, ganz nach eigenem Begehren Welten zu formen, werden 18
Warennamen von Lebensmitteln: Velveta (Streichkäse), Wonderbread (Weißbrot).
unsere Kulturen, selbst auf höchster Ebene, barocker werden, nicht einfacher, chaotischer in einem positiv ästhetischen Sinne, nicht mehr voraussagbar wohlgeordnet und langweilig. Auch müssen wir selbst in künstlichen Weltraumkolonien nicht notwendigerweise unsere älteste Quelle der Umweltüberraschung, neuerlichen Komplizierung und Unvorhersehbarkeit verlieren, wie Swanwick in Vacuum Flowers, zeigt, nämlich die anhaltende organische Evolution selbst. Wir mögen gentechnisch mit den Elementen künstlicher Ökosysteme verfahren können, aber präzise bis zu dem Maß, wie sie als autarke Ökosysteme zusammenhängen, werden sie die Fähigkeit zu mutieren entwickeln und sich auf eine Weise an die Bedingungen der Weltraumhabitation anpassen, die wir nie vorhergesehen oder beabsichtigt haben. Selbst unser Designer-Organismus wird seine eigene Verwendung für Technik finden, wie Swanwicks ›Vakuumblumen‹ so überzeugend zeigen. Tatsächlich wird der Fortschritt der Technik, wie wir in Schismatrix sehen, die Kolonisation des Sonnensystems, die Fähigkeit, aus der Leere heraus Welten jeglichen idiosynkratischen Designs zu erbauen, und schließlich die Macht des menschlichen Bewußtseins, seine eigene biologische Matrix nach Maßgabe von Laune und Mode umzugestalten, uns letzten Endes sowohl zu den Herren als auch zu den Schöpfungen einer neuer Art von Evolution machen – von Menschenhand geschaffen, schneller, vielfältiger und unendlich komplizierter und barocker als alles, was es in letzter Zeit auf der Erdoberfläche gegeben hat. »Das Universum ist nicht nur fremdartiger als wir denken, es ist fremdartiger als wir denken können«, erklärte einst J. B.
Priestly. Wie sehr er sich irrte! Die unendliche Vielfalt der Umgebungen, die wir im All erschaffen können, und die unendlich vielfältigen selbsterschaffenen Mutationen der Menschheit, in die wir uns verwandeln werden, wenn wir sie bewohnen, werden bei weitem fremdartiger und vielfältiger sein als alles im sogenannten ›Reich der Natur‹. Daher vereinigen sich die These des ›Cyberpunk‹ und die Antithese des ›Humanismus‹ in der Synthese dieses neuen ›Butorismus‹, der neuen kollektiven SF-Vision unserer vielfachen Zukunft im All. Daher auch ihr glückliches Paradoxon. In gewisser Hinsicht scheinen viele Science Fiction-Autoren Michel Butors Rat anzunehmen. Sie sind zusammengekommen, um einen neuen kollektiven Traum vom Weltraum zu erschaffen. Aber dieser kollektive Traum ist keine Vision der Uniformität, sondern der unendlich vielfachen Mannigfaltigkeit, nicht der Ordnung und Kontrolle, sondern des Chaos' und wiedergeborenen Romantizismus. Eine Vision, die uns den Traum vom Sonnensystem als einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht vom grenzenlos Möglichen zurückgibt, von wundervollen Ländern gleich hinter dem irdischen Schwerkraftschacht, die wir nicht bloß erobern, sondern erschaffen können. Eine literarische Schöpfung, die nicht durch die bewußte Nichtbeachtung der wissenschaftlichen Realitäten erreichbar ist, sondern durch ihre imaginative Nutzbarmachung. Die Straße findet ihre eigene Verwendung für die Technik. Das tut auch die Science Fiction.
Originaltitel: ›Dreams of Space‹ Copyright ©1987 by Davis Publications, Inc. (›lsaac Asimow's Science Fiction Magazine‹, Oktober 1987); mit freundlicher Genehmigung des Autors und Paul und Peter Fritz, Literarische Agentur, Zürich Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Michael Nagula
DEUTSCHE BIBLIOGRAFIE zusammengestellt von Michael Nagula 1. Romane VACUUM FLOWERS (1987). Deutsche Ausgabe: Vakuumblumen, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4704, München 1990, übersetzt von Peter Robert; mit einem Nachwort von Norman Spinrad. IN THE DRIFT (1985). Deutsche Ausgabe in der Reihe Heyne Science Fiction & Fantasy in Vorb. 2. Erzählungen GINUNGAGAP (1980). Deutsche Fassung: Gigungagap, in ›Die schönsten Science Fiction Stories des Jahres 1‹, herausgegeben von Terry Carr, übersetzt von Walter Brumm, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4021, München 1983. WALDEN THREE (1981). Deutsche Fassung: Waiden Drei, in ›Die schönsten Science Fiction Stories des Jahres 2‹, herausgegeben von Terry Carr, übersetzt von Edda Petri, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4047, München 1984; unveränderter Nachdruck in ›Top Science Fiction 1‹, herausgegeben von Josh Pachter, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/ 4352, München 1987. DOGFIGHT (1982; mit William Gibson). Deutsche Fassung: Luftkampf, in ›Cyberspace‹ von William Gibson, übersetzt von Reinhard Heinz, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/
4468, München 1988. THE MAN WHO MET PICASSO (1982). Deutsche Fassung: Der Mann, der Picasso begegnete, in ›Top Fantasy 1‹, herausgegeben von Josh Pachter, übersetzt von Lore Straßl, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4353, München 1987 MARROW DEATH (1984). Deutsche Fassung: Genosse Tod, in ›Isaac Asimov's Science Fiction Magazin 27‹, herausgegeben von Friedel Wahren, übersetzt von Werner Richter, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4294, München 1986. THE GODS OF MARS (1985; mit Gardner Dozois und Jack Dann). Deutsche Fassung: Die Götter des Mars, in ›World's Best SF 5‹, herausgegeben von Donald A. Wollheim/Arthur W. Saha, übersetzt von Michael Kubiak, Bastei Science Fiction Bestseller 22092, Bergisch Gladbach 1986. 3. Essay A USER'S GUIDE TO THE POSTMODERNS (1986). Deutsche Fassung: Postmoderne: Neue Strömungen in der Science Fiction, in ›Das Science Fiction Jahr 3‹, herausgegeben von Wolfgang Jeschke, übersetzt von Michael Nagula, Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4464, München 1988. Copyright © 1990 by Michael Nagula