Vampirova – eBooks Spannungsliteratur aus drei Jahrhunderten
Vampirova-Produkt # 53 30. 10. 2002
Vampirovas Halloween Special 2002 mit Erzählungen von Bram Stoker, Saki und Martin Clauß
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ich bin sicher, du wirst dich nicht verspäten." An dieser Stelle lächelte er und fügte hinzu: "Denn du weißt ja, was für eine Nacht es ist." Johann antwortete mit einem nachdrücklichen "Ja, mein Herr". Er berührte seinen Hut und fuhr rasch davon. Als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, meinte ich, nachdem ich ihm bedeutet hatte anzuhalten: "Sag mir, Johann, was ist heute?" Er bekreuzigte sich, als er lakonisch antwortete: "Walpurgisnacht." Dann nahm er seine Uhr hervor, ein sperriges, altmodisches deutsches Silberding, so groß wie eine Rübe, und warf mit eng zusammengezogenen Augenbrauen und einem ungeduldigen kleinen Zucken seiner Schultern einen Blick darauf. Ich verstand, daß dies seine Art und Weise war, respektvoll gegen die unnötige Verzögerung zu protestieren, und ich sank zurück in die Kutsche, gab ihm nur einen Wink weiterzufahren. Er preschte eilig
Draculas Gast von Bram Stoker (Übersetzung von Martin Clauß) Als wir zu unserer Fahrt aufbrachen, schien die Sonne hell auf München herab, und die Luft war gefüllt von der Ausgelassenheit des Frühsommers. Gerade als wir uns zur Abfahrt anschickten, kam Herr Delbruck, der Wirt des Hotels Vier Jahreszeiten, wo ich wohnte, ohne Kopfbedeckung herab zur Kutsche, und nachdem er mir eine angenehme Reise gewünscht hatte, meinte er zum Kutscher, noch mit der Hand auf der Klinke der Kutschentür: "Denk daran, bu bist bis Einbruch der Dunkelheit zurück. Der Himmel sieht klar aus, aber etwas Frostiges am Nordwind sagt mir, es könnte einen plötzlichen Sturm geben. Doch
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los, wie um die verlorene Zeit aufzuholen. Ab und an schienen die Pferde ihre Köpfe nach oben zu werfen und die Luft mißtrauisch zu beschnuppern. Bei solchen Gelegenheiten sah ich mich des öfteren irritiert um. Die Straße war recht öde, denn wir überquerten ein windiges Hochplateau. Während wir fuhren, entdeckte ich eine Straße, die wenig befahren aussah und in ein kleines, gewundenes Tal einzutauchen schien. Sie wirkte so einladend, daß ich, auf die Gefahr hin, ihn zu kränken, Johann zum Anhalten aufforderte - und als wir zum Stehen gekommen waren, ihm mitteilte, daß ich gerne diese Straße nehmen würde. Er brachte die unterschiedlichsten Entschuldigungen hervor und bekreuzigte sich ständig während des Sprechens. Dies reizte irgendwie meine Neugier, und so stellte ich ihm verschiedene Fragen. Er antwortete ausweichend und sah immer wieder protestiertend auf seine Uhr. Schließlich sagte
ich: "Gut, Johann, ich will diese Straße nehmen. Ich werde dich nicht dazu zwingen, wenn du es nicht möchtest. Aber sag mir, warum du sie nicht befahren willst – das ist alles, was ich verlange." Als Antwort warf er sich vom Kutschbock und stand im Handumdrehen auf der Erde. Dann streckte er seine Arme aus und flehte mich an, mich von der Straße fernzuhalten. Es war gerade genug Englisch in seinem Deutsch, um mich die Essenz seiner Rede verstehen zu lassen. Er schien ständig kurz davor zu sein, sich über etwas zu äußern, dessen bloßer Gedanke ihm offensichtlich Angst einflößte, doch jedes Mal riß er sich zusammen und sagte, sich bekreuzigend: "Walpurgisnacht." Ich versuchte mit ihm zu diskutieren, doch es ist schwierig, mit einem Menschen zu diskutieren, dessen Sprache man nicht kennt. Der Vorteil lag eindeutig auf seiner Seite, denn obwohl er mit ei-
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nem rauhen und gebrochenen Englisch begonnen hatte, geriet er oft in Aufregung und fiel zurück in seine Muttersprache - und jedesmal, wenn er das tat, sah er auf seine Uhr. Dann wurden die Pferde unruhig und schnupperten die Luft. Davon wurde er sehr blaß, sah sich ängstlich um, sprang nach vorne, nahm sie am Zaumzeug und führte sie etwa zwanzig Fuß weiter. Ich folgte ihm und erkundigte mich, warum er das getan hatte. Als Antwort bekreuzigte er sich, deutete auf den Ort, den wir verlassen hatten, zog seine Kutsche in Richtung zur anderen Straße hin und meinte, auf ein Kreuz zeigend, zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch: "Es begraben – es, das sich selbst tötet." Ich erinnerte mich an den alten Brauch, Selbstmörder an Wegkreuzungen beizusetzen: "Ah, ich verstehe, ein Selbstmörder. Wie interessant!" Um nichts in der Welt wollte mir einleuchten,
wovor sich die Pferde fürchteten. Während unseres Gesprächs hörten wir eine Art Geräusch, zwischen einem Jaulen und einem Bellen. Es war weit entfernt, doch die Pferde wurden unruhig, und Johann hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Er war bleich geworden und sagte: "Es klingt wie ein Wolf..." "Ein Wolf?" fragte ich. "Liegt es nicht lange zurück, seit die Wölfe so nahe an die Stadt heran kamen?" "Lange, lange", antwortete er, "im Frühling und Sommer. Aber bei Schnee sind die Wölfe nicht so selten." Während er die Pferde streichelte und sie zu beruhigen suchte, zogen dunkle Wolken schnell über den Himmel. Der Sonnenschein schwand dahin, und der Hauch eines kalten Windes schien an uns vorüberzuwehen. Doch es war nur ein Hauch, mehr eine Warnung als eine Tatsache, denn die Sonne kam wieder strahlend hervor. Johann blickte hinter seiner
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erhobenen Hand in Richtung Horizont und meinte: "Der Schneesturm, er kommt in nicht allzu langer Zeit." Dann sah er wieder auf seine Uhr und packte die Zügel fest – denn die Pferde scharrten noch immer unruhig und schüttelten ihre Köpfe – er kletterte auf den Kutschbock, als ob die Zeit gekommen wäre, die Reise fortzusetzen. Ich blieb für einen Moment stur und stieg nicht sofort in die Kutsche. "Erzähl mir", sagte ich, "über diesen Ort und wohin die Straße führt", und ich deutete hinab. Wieder bekreuzigte er sich und murmelte ein Gebet, bevor er erwiderte: "Es ist unheilig." "Was ist unheilig?" "Das Dorf." "Dann ist da also ein Dorf?" "Nein, nein. Niemand lebt dort seit Hunderten von Jahren." Meine Neugier war entfacht. "Aber du sagtest, da sei ein Dorf."
"Da war eines." "Wo ist es jetzt?" Daraufhin verfiel er in eine lange Geschichte auf Deutsch und Englisch, so verworren, daß ich nicht ganz verstand, was er sagte, aber in groben Zügen schloß ich, daß vor langer Zeit, vor Hunderten von Jahren, hier Menschen zu Tode gekommen und begraben worden waren, und daß Geräusche von unter der Erde zu vernehmen gewesen waren. Und als man die Gräber geöffnet hatte, fand man die Männer und Frauen mit rosigen Wangen und ihre Münder voller Blut. Und so, um ihr Leben und ihre Seelen zu retten, flohen diejenigen, die übrig waren, an andere Orte, wo die Lebenden lebten und die Toten tot waren und nicht - nicht irgend etwas. Er hatte offensichtlich Angst davor, die letzten Worte auszusprechen. Als er mit seiner Erzählung fortfuhr, wurde er erregter und erregter. Seine Vorstellungskraft schien Besitz von
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ihm ergriffen zu haben, und er geriet in einen Taumel der Angst - leichenblaß, schwitzend, zitternd und sich umsehend, als erwarte er, daß sich eine fürchterliche Erscheinung mitten im hellen Sonnenschein der offenen Ebene manifestieren würde. Zuletzt, im Schmerz seiner Verzweiflung, rief er: "Walpurgisnacht!" und bedeutete mir, in die Kutsche zu steigen. All mein englisches Blut wallte auf und ich sagte, zurücktretend: "Du hast Angst, Johann – du hast Angst. Fahr nach Hause, ich werde alleine zurückkehren. Der Spaziergang wird mir gut tun." Die Tür der Kutsche stand offen. Ich nahm meinen Spazierstock vom Sitz, den ich immer auf Urlaubsreisen mit mir führe, und schloß die Tür, zeigte zurück nach München und sagte: "Fahr nach Hause, Johann – Walpurgisnacht interessiert einen Engländer nicht." Die Pferde waren nun störrischer denn je, und Johann versuchte sie zurückzuhalten, während er mich
halten, während er mich aufgeregt beschwor, keine solche Dummheit zu begehen. Ich empfand Mitleid mit dem armen Kerl, es war ihm zutiefst ernst, aber trotz alldem konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen. Sein Englisch war nun weitgehend verschwunden. In seiner Furcht hatte er vergessen, daß meine Sprache zu sprechen der einzige Weg war, sich mir gegenüber verständlich zu machen, und so plapperte er weiter in seinem ursprünglichen Deutsch. Es fing an mich zu langweilen. Nachdem ich ihm nochmal die Richtung nach Hause gewiesen hatte, wandte ich mich um, um die Querstraße ins Tal hinabzugehen. Mit einer Geste der Verzweiflung zerrte Johann seine Pferde in Richtung München. Ich lehnte auf meinem Stock und sah ihm nach. Er fuhr eine Weile die Straße entlang, dann kam ein großer, hagerer Mann über den Kamm des Hügels. So viel konnte ich aus der Entfer-
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nung erkennen. Als er sich den Pferden näherte, begannen sie zu springen und auszuschlagen, dann vor Schrecken zu brüllen. Johann konnte sie nicht halten sie stürzten die Straße hinunter und rannten wie von Sinnen. Ich sah ihnen nach, bis sie aus meiner Sicht verschwunden waren, dann suchte ich nach dem Fremden und fand, daß auch er nicht mehr zu sehen war. Sorglos schlug ich die Seitenstraße durch das tiefe Tal ein, gegen die Johann protestiert hatte. Ich sah nicht den geringsten Grund für seinen Protest, und ich kann sagen, ich wanderte einige Stunden lang, ohne an Zeit und Entfernung zu denken, und ohne einen Menschen oder eine Behausung zu sehen. Was diesen Ort betrifft, so war er die Verlassenheit schlechthin. Doch dies fiel mir erst wirklich auf, als ich nach einer Biegung der Straße an einen ausgefransten Waldrand kam. Da spürte ich, daß mich die Ein-
samkeit dieser Region beeindruckt hatte, ohne daß es mir bewußt gewesen war. Ich setzte mich nieder, um zu rasten, und begann mich umzusehen. Mir fiel auf, daß es deutlich kälter geworden war als zu Beginn meines Spaziergangs - eine Art seufzender Ton war in meiner Umgebung zu vernehmen, und ab und an, weit über meinem Kopf, ein gedämpftes Brüllen. Mit einem Blick nach oben erkannte ich, daß schwere, dicke Wolken rasch in großer Höhe von Nord nach Süd über den Himmel zogen. Es gab Zeichen eines herannahenden Sturmes in großer Höhe. Ich fror ein wenig, und da ich annahm, dies rühre von dem stillen Sitzen nach der körperlichen Betätigung des Spaziergangs her, setzte ich meine Reise fort. Die Gegend, die ich nun durchquerte, war wesentlich malerischer. Es gab keine auffälligen Dinge, an denen das Auge verweilte, doch in allem lag ein Zauber von Schönheit. Ich achtete wenig auf die
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Zeit, und erst als sich mir die fortschreitende Dämmerung entgegenstellte, begann ich mir Gedanken zu machen, wie ich rechtzeitig nach Hause finden sollte. Die Helligkeit des Tages war hinfort, die Luft kalt, und das Ziehen der Wolken über mir war nun deutlicher. Ein ferner, rauschender Klang begleitete sie, durch den bisweilen jener geheimnisvolle Ruf drang, den mein Kutscher einem Wolf zugeschrieben hatte. Für eine Weile zögerte ich. Ich hatte angekündigt, mir das verlassene Dorf anzusehen, also ging ich weiter und gelangte unmittelbar an einen weiten Abschnitt offenen Landes, zu allen Seiten von Hügeln umgeben. Ihre Hänge waren von Bäumen bedeckt, die in Gruppen bis auf die Ebene herabreichten und die sanfteren Hänge und Senken besprenkelten, die sich hier und dort zeigten. Ich folgte mit meinen Augen den Windungen der Straße und sah, daß sie sich hinter eine dieser Baumgruppen bog
und dahinter verschwand. Als ich dorthin blickte, kam ein kalter Hauch in die Luft, und es begann zu schneien. Ich dachte an die Meilen über Meilen kargen Landes, die ich durchwandert hatte, und beeilte mich, den Schutz des Wäldchens vor mir zu erreichen. Dunkler und dunkler wurde der Himmel, und schneller und schwerer fiel der Schnee, bis die Erde vor mir und um mich ein weißer glitzernder Teppich war, dessen Enden sich in nebliger Verschwommenheit auflösten. Die Straße war an dieser Stelle äußerst primitiv, und ihre Abgrenzungen hier auf der Ebene nicht so deutlich wie auf dem Weg durch die Täler. Nach einer Weile merkte ich, daß ich mich von ihr entfernt haben mußte, denn ich vermisste die harte Oberfläche unter meinen Schritten, und meine Füße sanken tiefer in Gras und Moos. Dann wurde der Wind heftiger und blies mit ständig wachsender Kraft, bis ich da-
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zu überging, mit ihm zu laufen. Die Luft war eiskalt geworden, und obgleich ich gut trainiert war, begann sie mir zuzusetzen. Der Schnee fiel nun so dick und wirbelte um mich in solch rasenden Strudeln, daß ich kaum meine Augen offenzuhalten vermochte. Von Zeit zu Zeit wurde der Himmel von hellen Blitzen zerrissen, und in ihrem Licht erkannte ich vor mir eine große Masse von Bäumen, vorwiegend Eiben und Zypressen, alle schwer mit Schnee beladen. Bald hatte ich den Schutz der Bäume erreicht, und hier, in verhältnismäßiger Stille, konnte ich das Rauschen des Windes hoch über mir vernehmen. Die Schwärze des Sturmes war mit der Dunkelheit der Nacht verschmolzen. Nach und nach schien der Sturm sich zu entfernen – er kam nun nur noch in einzelnen heftigen Böen und Stößen. In solchen Momenten schien das seltsame Rufen des Wolfes von ähnlichen Geräuschen
in meiner Umgebung erwidert zu werden. Bisweilen stach ein Strahl Mondlicht durch die schwarze Masse der ziehenden Wolken, der die Fläche erhellte und mir verriet, daß ich mich am Rand einer dichten Masse von Zypressen und Eiben befand. Als es zu schneien aufgehört hatte, verließ ich meine Zuflucht und sah mich genauer um. Mir fiel ein, daß unter all den alten Fundamenten, an denen ich vorbeigekommen war, noch ein Haus stehen mochte, meinetwegen auch eine Ruine, in der ich für eine Weile Schutz finden konnte. Als ich mich am Rande des Wäldchens entlangbewegte, entdeckte ich, daß es von einer niedrigen Mauer umgeben war, und als ich ihr folgte, kam ich rasch an eine Öffnung. Hier formten die Zypressen eine Allee, die zu dem viereckigen Klumpen einer Art von Gebäude führten. Gerade als ich das wahrnahm, verdunkelten allerdings die ziehenden Wolken den Mond, und ich ging
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den Pfad in Finsternis entlang. Der Wind mußte kälter geworden sein, denn ich fühlte, wie ich schauderte, während ich lief, aber ich hatte Hoffnung auf einen Unterschlupf, und ich tastete mich blind vorwärts. Ich hielt an, denn da war eine plötzliche Stille. Der Sturm war vorüber, und – vermutlich in Einklang mit dem Schweigen der Natur – schien mein Herz das Schlagen aufzugeben. Doch dies währte nur einen Augenblick, denn mit einem Mal brach das Mondlicht durch die Wolken und enthüllte mir, daß ich mich in einem Friedhof aufhielt und daß das viereckige Objekt vor mir eine massive Marmorgruft war, so weiß wie der Schnee, der sie und ihre Umgebung bedeckte. Mit dem Mondlicht kam ein heftiges Ächzen des Sturmes, das sich in ein langes, dunkles Heulen aufzulösen schien, wie das von Hunden oder Wölfen. Ich war eingeschüchtert und entsetzt und fühlte, wie die Kälte
sich spürbar auf mir ausbreitete, bis sie mein Herz zu umklammern schien. Dann, während das Mondlicht noch immer auf die Marmorgruft fiel, zeigte der Sturm weitere Anzeichen eines Wiederauflebens, als ob er auf seiner Spur zurückkehrte. Getrieben von einer Art Faszination näherte ich mich der Grabstätte, um zu sehen, was das war und warum ein solches Ding alleine an einem solchen Ort stand. Ich ging um sie herum und las, über der dorischen Tür, in deutscher Sprache: Gräfin Dolingen von Graz in der Steiermark, gesucht und tot vorgefunden, 1801. Oben auf dem Grab, anscheinend durch den soliden Marmor getrieben – denn die Struktur setzte sich aus riesigen Steinblöcken zusammen – steckte ein großer eiserner Stachel oder Pfahl. Als ich zur Rückseite ging, sah ich in großen russischen Lettern eingraviert: Die Toten reisen schnell.
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Etwas so Eigentümliches und Unheimliches lag über dem Ganzen, daß es mich erschreckte und mich schwindeln ließ. Ich wünschte mir erstmals, ich hätte Johanns Rat angenommen. Da traf mich ein Gedanke wie ein Schlag: Dies war die Walpurgisnacht! Die Walpurgisnacht, in der, nach dem Glauben von Millionen Menschen, der Teufel umging, in der die Gräber geöffnet wurden und die Toten hervorkamen und umherwandelten. In der die bösen Dinge der Erde, der Luft und des Wassers ein Fest abhielten. Diesen Ort hatte der Kutscher gemieden. Dies war das verlassene Dorf von vor Jahrhunderten. Hier war es, wo die Selbstmörderin lag, und hier war ich alleine, unbewaffnet, zitternd vor Kälte unter einem Schleier von Schnee, mit einem Sturm, der sich um mich herum zusammenbraute! Es brauchte alle meine Philosophie, alle Religion, die mir beigebracht worden war, all meinen Mut, um
nicht vor Angst zusammenzubrechen. Und nun fuhr ein echter Tornado über mich her. Die Erde bebte, als ob Tausende von Pferden darüber hinwegdonnerten, und dieses Mal trug der Sturm auf seinen eisigen Schwingen nicht Schnee, sondern große Hagelkörner, die mit solcher Gewalt prasselten, daß sie von den Riemen balearischer Schleudern zu stammen schienen - Hagelkörner, die Laub und Äste zerschlugen und den Schutz der Zypressen zunichte werden ließen, als wären ihre Stämme nichts als Maispflanzen. Zuerst war ich zum nächsten Baum gestürzt, doch schon bald verließ ich ihn und suchte den einzigen Ort auf, der Zuflucht zu bieten schien - der tiefe dorische Eingang der Marmorgruft. Dort fand ich, an der massiven Bronzetür kauernd, einen gewissen Schutz vor den Einschlägen der Hagelkörner, denn nun erreichten sie mich nur, wenn sie vom Boden und von den Seiten des Marmors
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abprallten. Als ich mich gegen die Tür lehnte, bewegte sie sich ein wenig und öffnete sich nach innen. Sogar der Schutz eines Grabes war mir willkommen inmitten dieses gnadenlosen Sturmes, und ich war im Begriff hineinzugehen, als ein gespaltener Blitz die ganze Fläche des Himmels erleuchtete. In diesem Moment sah ich, so wahr ich hier stehe, als sich meine Blicke der Dunkelheit der Gruft zuwandten, eine wunderschöne Frau mit runden Wangen und roten Lippen, auf einer Totenbahre ruhend. Als der Donner folgte, wurde ich wie von der Hand eines Giganten gepackt und in den Sturm hinausgeschleudert. Das ganze geschah so plötzlich, daß, ehe ich noch den Schlag geistig und körperlich fühlte, ich von den Hagelkörnern niedergedrückt wurde. Gleichzeitig hatte ich das starke, beherrschende Gefühl, daß ich nicht allein war. Ich sah zur Gruft hinüber. Genau dort gab es einen weite-
ren gleißenden Blitz, der den über dem Grab ragenden eisernen Pfahl zu treffen und sich durch die Erde zu entladen schien, den Marmor spregend und zerschmetternd, wie in einer Stichflamme. Die tote Frau bäumte sich für einen Augenblick in ihrer Pein auf, eingehüllt in die Flamme, und ihr entsetzlicher Schmerzensschrei ertrank in dem Donnerschlag. Das letzte, was ich hörte, war diese Mixtur schrecklicher Geräusche, als ich wieder von dem Gigantengriff gepackt und fortgeschleift wurde, während die Hagelkörner auf mich einprasselten, und die Luft ringsherum schien mit dem Heulen von Wölfen zu vibrieren. Der letzte Anblick, an den ich mich erinnere, war eine vage, weiße, sich bewegende Masse, als ob all die Gräber um mich Phantome ihrer in Laken gehüllten Toten ausgesandt hätten, und daß ihr Kreis sich durch die weißen Wolken des Hageltreibens um mich schloß.
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oder ohnmächtig gewesen sein. Dann kam eine Art Abscheu, wie die erste Stufe der Seekrankheit, und ein wildes Verlangen, sich von irgend etwas zu befreien – ich wußte nicht, von was. Eine große Stille hüllte mich ein, als sei die Welt um mich in Schlaf oder Tod versunken – nur unterbrochen von einem tiefen Atmen wie von einem Tier in meiner Nähe. Ich spürte ein warmes Kratzen an meiner Kehle, und dann kam das Bewußtsein einer schrecklichen Wahrheit, die mich bis ins Innere meines Herzens schaudern und das Blut zu meinem Hirn wogen ließ. Ein großes Tier lag auf mir und leckte meinen Hals. Ich wagte nicht, mich zu rühren, denn eine instinktive Vorsicht riet mir, regungslos dazuliegen, doch die Bestie schien zu merken, daß eine Veränderung in mir vorgegangen war, denn sie hob ihren Kopf. Durch meine Wimpern sah ich die beiden großen flammenden Augen eines gigantischen Wolfes. Seine scharfen
Stufenweise kam eine Art erstes Bewußtwerden, dann ein schreckliches Gefühl von Schwäche. Eine Zeitlang erinnerte ich mich an nichts, doch allmählich kehrten meine Sinne zurück. Meine Füße wurden eindeutig von Schmerzen geplagt, doch ich vermochte sie nicht zu bewegen. Sie schienen taub. Eine eisige Empfindung begann in meinem Nacken und reichte meine Wirbelsäule hinab, meine Ohren waren, wie meine Füße, tot, und schmerzten doch. Doch in meiner Brust war ein Gefühl von Wärme, das im Vergleich dazu wundervoll war. Es war ein Alptraum – ein körperlicher Alptraum, wenn man einen solchen Ausdruck benutzen darf – denn ein schweres Gewicht auf meiner Brust machte es für mich schwierig zu atmen. Diese Phase der teilweisen Lethargie schien lange anzuhalten, und als sie dahinschwand, muß ich geschlafen haben
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weißen Zähne glommen in dem klaffenden roten Maul, und ich konnte seinen heißen Atem streng und beißend auf mir spüren. Für eine weitere Zeitlang erinnere ich mich an nichts anderes. Dann wurde ich eines tiefen Knurrens gewahr, gefolgt von einem Jaulen, wieder und wieder. Dann, anscheinend aus weiter Ferne, hörte ich ein "Holla! Holla!" wie von vielen Stimmen, die im Chor riefen. Behutsam hob ich meinen Kopf und spähte in die Richtung, aus der die Laute kamen, doch der Friedhof versperrte meine Sicht. Der Wolf jaulte weiterhin seltsam, und ein rotes Glühen begann sich um den Zypressenhain herum zu bewegen, als folge es dem Ton. Als die Stimmen näherkamen, jaulte der Wolf schneller und lauter. Ich fürchtete mich davor, ein Geräusch oder eine Bewegung zu machen. Näher kam das rote Glühen, über das weiße Sargtuch, das sich in die Dunkelheit um mich erstreck-
te. Dann kam plötzlich im Trab eine Truppe Reiter mit Fackeln hinter den Bäumen hervor. Der Wolf sprang von meiner Brust und stob in Richtung Friedhof. Ich sah, wie einer der Reiter (Soldaten, nach ihren Mützen und ihren langen Militärmänteln zu urteilen) seinen Karabiner hob und zielte. Ein Kamerad schlug seinen Arm nach oben, und ich hörte die Kugel über meinen Kopf hinwegpfeifen. Er hatte meinen Körper offenbar für den eines Wolfes gehalten. Ein anderer machte das Tier aus, als es sich davonschlich, und ein Schuß folgte. Dann, im Galopp, ritt die Truppe weiter – eine in meine Richtung, andere folgten dem Wolf, der unter den schneebedeckten Zypressen verschwand. Als sie näherkamen, versuchte ich mich zu bewegen, aber ich war kraftlos, obwohl ich alles sehen und hören konnte, was um mich herum vor sich ging. Zwei oder drei der Soldaten sprangen von ihren Pferden und knieten neben
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mir nieder. Einer von ihnen hob meinen Kopf an und legte seine Hand auf mein Herz. "Gute Nachrichten, Kameraden!" rief er. "Sein Herz schlägt noch." Dann schüttete jemand etwas Brandy in meine Kehle. Er gab mir Kraft, und ich schaffte es, die Augen ganz zu öffnen und mich umzusehen. Lichter und Schatten bewegten sich zwischen den Bäumen, und ich hörte, wie sich die Männer gegenseitig etwas zuriefen. Sie gingen aufeinander zu, und die Lichter blitzten, als die anderen aus dem Durcheinander des Friedhofs strömten, wie Besessene. Als sie näherkamen, fragten jene, die um mich herumstanden, sie eifrig: "Und, habt ihr ihn gefunden?" Die Antwort wurde hastig hervorgestoßen: "Nein, nein! Kommt schnell weg von hier – schnell! Dies ist kein Ort zum Verweilen, nicht in dieser einen Nacht!" "Was war es?" lautete die Frage, die in
den unterschiedlichsten Tonlagen gestellt wurde. Die Antwort kam in verschiedenen Varianten und ungenau, als ob die Männer von einem gemeinsamen Impuls zum Sprechen angetrieben wurden und sie dennoch eine gemeinsamen Furcht davon abgehielt, ihre Gedanken zu verraten. "Es – es – wirklich", plapperte einer, dessen Sinne ihn in diesem Moment einfach im Stich ließen. "Ein Wolf – und doch kein Wolf!" warf ein anderer schaudernd ein. "Sinnlos, ihn ohne eine geweihte Kugel zu jagen", bemerkte ein dritter in eher belangloser Weise. "Der Herr schütze uns, daß wir heute nacht hier herausgekommen sind. Unsere tausend Mark haben wir uns wirklich verdient" waren die Ausrufe eines vierten. "Da war Blut auf dem zerbrochenen Marmor", sagte ein weiterer nach einer Pause. "Der Blitz hat es nicht dorthin gebracht. Und was ist mit ihm? Ist er in Si-
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cherheit? Schaut euch seine Kehle an! Seht, Kameraden, der Wolf hat auf ihm gelegen und sein Blut warmgehalten." Der Offizier besah sich meinen Hals und erwiderte: "Er ist in Ordnung, die Haut ist nicht durchstochen. Was hat dies alles zu bedeuten? Wir hätten ihn nie gefunden ohne das Jaulen des Wolfes." "Was ist aus dem geworden?" fragte der Mann, der meinen Kopf hielt und von allen am wenigsten von Panik ergriffen schien, denn seine Hände waren ruhig und zitterten nicht. Auf seinem Ärmel war das Abzeichen eines niedrigen Offiziers. "Er ist in sein Zuhause zurückkehrt", antwortete der Mann, dessen langes Gesicht blaß war und der vor Schrecken förmlich bebte, während er sich furchtsam umsah. "Hier gibt es genügend Gräber, in denen er liegen könnte. Kommt, Kameraden, kommt schnell! Laßt uns diesen verfluchten Ort verlassen." Der Offizier brachte mich in eine sit-
zende Position, gab einen Befehl, und einige Männer setzten mich auf ein Pferd. Er sprang in den Sattel hinter mir, hielt mich in seinen Armen, gab die Anweisung zum Aufbruch, und abgewandt von den Zypressen ritten wir in einer raschen militärischen Formation davon. Noch immer versagte mir meine Zunge den Dienst, und ich war zum Schweigen gezwungen. Ich muß eingeschlafen sein, denn das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist daß ich stand, zu beiden Seiten von einem Soldaten gestützt. Es war beinahe hellichter Tag, und im Norden spiegelte sich ein roter Streifen Sonnenlicht wie ein Weg aus Blut, auf der Einöde aus Schnee. Der Offizier wies die Männer an, nicht über das zu sprechen, was sie gesehen hatte, außer daß sie einen Fremden aus England gefunden hatten, der von einem großen Hund bewacht wurde. "Hund! Das war kein Hund", unterbrach
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der Mann, der solche Angst gezeigt hatte. "Ich erkenne einen Wolf, wenn ich einen sehe." Der junge Offzier antwortete ruhig: "Ich sagte: ein Hund." "Hund!" wiederholte der andere ironisch. Es war offensichtlich, daß sein Mut mit dem Steigen der Sonne wuchs, und auf mich zeigend, meinte er: "Sehen Sie sich diesen Hals an. Ist das das Werk eines Hundes, Meister?" Instinktiv führte ich meine Hand an meine Kehle, und als ich sie berührte, schrie ich vor Schmerzen auf. Die Männer sammelten sich um mich, um mich anzusehen, einige beugten sich aus ihren Sätteln herab, und wieder kam die ruhige Stimme des jungen Offiziers. "Ein Hund, wie ich sagte. Wenn wir etwas anderes behaupten, wird man nur über uns lachen." Man setzte mich hinter einen Soldaten, und wir ritten in die Vororte Münchens.
Hier kamen wir zu einer herrenlosen Kutsche, in die ich verfrachtet wurde, und sie wurde zu den Vier Jahreszeiten gefahren - der junge Offizier begleitete mich, während ein Soldat uns auf dem Pferd folgte und die anderen zur Kaserne zurückkehrten. Als wir eintrafen, hastete Herr Delbruck so eilig die Stufen herunter, daß es klar war, daß er die Straße von innen beobachtet haben mußte. Er ergriff meine beiden Hände und führte mich besorgt hinein. Der Offizier grüßte mich und wandte sich zur Rückkehr, als ich seine Absicht eben noch erkannte und darauf bestand, daß er uns in meine Räumlichkeiten begleitete. Über einem Glas Wein dankte ich ihm und seinen Kameraden herzlich für meine Rettung. Er erwiderte nur, er sei mehr als froh, daß Herr Delbruck die ersten Schritte eingeleitet hatte, um alle Mitglieder der Suchmannschaft zufriedenzustellen. Angesichts dieser schwammigen Äußerung lächelte der
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Wirt, während der Offizier sich entschuldigte und uns verließ. "Aber Herr Delbruck", hakte ich nach, "wie und warum kam es, daß die Soldaten mich überhaupt suchten?" Er zuckte die Schultern, wie als Abwertung seiner eigenen Tat, als er erwiderte: "Ich hatte das Glück, von dem Kommandeur des Regiments, in dem ich gedient habe, die Erlaubnis zu erhalten, um Freiwillige zu bitten." "Aber woher wußten sie, daß ich mich verirrt hatte?" "Der Kutscher kam mit den Resten seiner Kutsche hierher. Sie war umgestürzt, als die Pferde durchgingen." "Aber sie werden doch nicht aufgrund dessen einen Suchtrupp von Soldaten losschicken!" "Oh nein", antwortete er, "doch noch bevor der Kutscher zurückkam, erhielt ich dieses Telegramm von dem edlen Herrn, dessen Gast Sie sind." Und er zog aus
seiner Tasche ein Telegramm, das er mir reichte, und ich las: "Bistritz... Passen Sie auf meinen Gast auf – seine Sicherheit ist für mich höchst wertvoll. Sollte ihm etwas zustoßen oder sollte er sich verirren, scheuen Sie keine Mühe, ihn zu finden und seine Sicherheit zu garantieren. Er ist Engländer und daher abenteuerlustig. Es gibt viele Gefahren durch Schnee und Wölfe bei Nacht. Zögern Sie keinen Augenblick, wenn Sie annehmen, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte. Ich belohne Ihren Eifer aus meinem Vermögen... Dracula." Als ich das Telegramm in meiner Hand hielt, schien sich der Raum um mich zu drehen, und hätte der aufmerksame Wirt mich nicht aufgefangen, ich wäre zu Boden gestürzt. Etwas so Merkwürdiges lag in alldem, etwas so Seltsames und Unvorstellbares, daß in mir die Ahnung wuchs, ich sei in gewisser Weise der Spielball streitender Mächte – der bloße
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Gedanke daran schien mich zu lähmen. Ich befand mich mit Sicherheit unter einer Art geheimnisvollen Schutzes. Aus einem fernen Land war, im allerletzten Moment, eine Nachricht gekommen, die mich der Gefahr des Schlafes im Schnee und der Kiefer des Wolfes entrissen hatte.
Mehr noch als die Großmutter war es meine Großtante die nervös wurde bös zusammenzuckte und erblaßte wenn der gottverhaßte unerkannte leicht geduckte Kerl seine rare Runde machte Und lachte. Dann erwachte ich und dachte:
------Wenn der Zahnmesser kommt (die inneren Strumente) Ein Horror-Rap von Martin Clauß
Wenn der Zahnmesser kommt dann Kopf runter duck dich und guck nicht. Don’t make a sound. And don’t you look around Hold your head down To the floor.
In den späten Abendstunden meiner frühen fetten Tage hört ich manchmal vage eine böse Kunde ein Zahnmesser Kinderfresser mache seine Runde.
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Viele Jahre hört ich nur die Spüle von ihm sprudeln Ravioli von ihm nudeln die Wecker von ihm ticken und die Murmeln von ihm klicken die Brezeln von ihm laugen sah ihn nie mit eignen Augen eignen Blicken fühlte nie spürte nie seine inneren Strumente.
sah ich seine inneren Strumente. ------Das geöffnete Fenster von Saki (Übersetzung von Martin Clauß) “Meine Tante wird jeden Moment herunterkommen, Mr. Nuttel“, sagte eine sehr beherrschte junge Dame von fünfzehn Jahren. „In der Zwischenzeit müssen Sie versuchen, mit mir auszukommen.“ Framton Nuttel bemühte sich, das richtige Etwas auszusprechen, um der Nichte des Augenblicks angemessen zu schmeicheln, ohne die Tante, die noch kommen würde, unangemessen abzuwerten. Bei sich zweifelte er mehr denn je, ob diese Besuche in Folge bei völlig fremden Menschen irgend etwas Gutes zu der Nerven-
Viele Jahre sah ich nur die Lamas von ihm spucken die Leute von ihm gucken die Möbel von ihm rucken und die Gullis von ihm schlucken und manchmal dann in mondklaren Nächten Großmutters Zähne, nicht die echten, Und aufgestülpte Locken von ihm rokken. Doch nie nie nie nie nie
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kur beitragen würden, der er sich zu unterziehen hatte. “Ich weiß, wie es sein wird”, hatte seine Schwester bemerkt, als er sich für die Reise an seinen ländlichen Zufluchtsort vorbereitete, „du wirst dich da unten vergraben und zu keiner lebendigen Seele ein Wort sagen. Und deine Nerven werden von der Trübsalblaserei schlimmer werden als je zuvor. Ich werde dir Vorstellungsbriefe für alle Leute schreiben, die ich dort kenne. Einige davon waren, soweit ich mich erinnern kann, ganz nett.“ Framton fragte sich, ob Mrs. Sappleton, die Dame, der er nun einen dieser Briefe übergab, wohl in die Kategorie „nett“ fiel. „Kennen Sie viele Leute hier?“ erkundigte sich die Nichte, als sie entschied, daß sie genug stille Gemeinschaft genossen hatten. „Kaum eine Seele“, sagte Framton. „Meine Schwester war einmal hier, im
Pfarrhaus, weißt du, vor ungefähr vier Jahren, und sie hat mir ein paar Briefe gegeben, um mich einigen Leuten hier vorzustellen.“ “Dann wissen Sie praktisch nichts über meine Tante?” hakte die beherrschte junge Dame nach. “Nur ihren Namen und ihre Adresse”, gestand der Besucher. Er fragte sich, ob Mrs. Sappleton verheiratet oder verwitwet war. Irgend etwas Undefinierbares in diesem Raum schien einen männlichen Bewohner anzudeuten. „Ihre große Tragödie trug sich vor gerade drei Jahren zu“, sagte das Kind. „Das muß gewesen sein, nachdem Ihre Schwester hier war.“ „Ihre Tragödie?“ fragte Framton. An diesem ruhigen ländlichen Ort schienen Tragödien irgendwie fehl am Platze. “Sie werden sich vielleicht fragen, weshalb wir dieses Fenster weit offenstehen lassen, an einem Oktobernachmittag“,
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meinte die Nichte und wies auf ein großes französisches Fenster, das sich zum Rasen hinaus öffnete. “Es ist ziemlich warm für die Jahreszeit”, sagte Framton, “aber hat dieses Fenster vielleicht etwas mit der Tragödie zu tun?” „Durch dieses Fenster verschwanden – auf den Tag genau vor drei Jahren – ihr Mann und ihre beiden jüngeren Brüder zu ihrer täglichen Jagd. Sie kehrten niemals zurück. Als sie auf dem Weg zu ihrem Liebingsplatz fürs Schnepfen-Schießen das Moor überquerten, wurden sie alle drei von einem trügerischen Stück Sumpf verschlungen. Es war dieser schreckliche verregnete Sommer, wissen Sie, und Stellen, die in anderen Jahren sicher waren, gaben plötzlich ohne Vorwarnung nach. Ihre Leichen hat man nie gefunden. Das war das schlimme an der Sache.“ Hier verlor die Stimme ihren beherrschten Klang und wurde zitternd menschlich.
„Meine arme Tante denkt immer, daß sie eines Tages zurückkommen, sie und der kleine braune Cockerspaniel, der mit ihnen verschwand, und daß sie durch dieses Fenster kommen, wie einst. Deshalb wird das Fenster jeden Abend bis zum Dunkelwerden offengehalten. Meine liebe arme Tante, sie hat mir oft erzählt, wie sie hinausgegangen sind, ihr Mann mit seinem weißen wasserdichten Mantel über dem Arm, und Ronnie, ihr jüngster Bruder, ein Lied singend, um sie zu ärgern, wie immer, weil sie sagte, daß ihr das auf die Nerven ging. Wissen Sie, daß ich manchmal, an stillen, ruhigen Abenden wie diesem fast das unheimliche Gefühl habe, sie könnten alle durch dieses Fenster hereinkommen...“ Sie brach mit einem leichten Schaudern ab. Framton war erleichtert, als die Tante mit einem Wirbel an Entschuldigungen für ihre Verspätung in den Raum eilte.
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“Ich hoffe, Vera hat Sie unterhalten”, meinte sie. „Sie war sehr... kurzweilig“, sagte Framton. „Ich hoffe auch, es stört Sie nicht, wenn das Fenster offensteht“, meinte Mrs. Sappleton munter. „Mein Mann und meine Brüder werden direkt von der Jagd nach Hause kommen, und sie kommen immer auf diesem Weg. Sie waren heute auf Schnepfen aus, in den Sümpfen, und sie werden einen schönen Dreck auf meinen Teppich machen. Wie Männer eben so sind, nicht wahr?“ Sie plapperte fröhlich weiter über das Schießen und den Mangel an Vögeln, und über die Aussichten auf Enten im Winter. Für Framton war dies alles schlichtweg grauenvoll. Er unternahm einen verzweifelten, aber nur teilweise erfolgreichen Versuch, das Gespräch auf ein weniger unheimliches Thema zu lenken; er war sich bewußt, daß seine Gastgeberin ihm
nur einen Bruchteil ihrer Aufmerksamkeit widmete. Ihre Augen schweiften ständig an ihm vorbei zu dem offenen Fenster und dem Rasen dahinter. Es war freilich ein unglücklicher Zufall, daß er ihr an diesem tragischen Jahrestag einen Besuch abstattete. „Die Ärzte verordnen mir übereinstimmend völlige Ruhe, Fernhalten von geistiger Aufregung und das Vermeiden von allem, was starker körperlicher Betätigung gleichkommt“, erklärte Framton, der unter der verhältnismäßig weitverbreiteten Illusion litt, daß völlig fremde Menschen und Zufallsbekanntschaften hungrig seien nach dem kleinsten Detail über die eigenen Gebrechen und Beschwerden, ihre Ursachen und Behandlungen. „Was die Diät anbelangt, sind sie nicht so sehr einer Meinung“, fuhr er fort. „Ach nein?” sagte Mrs. Sappleton mit einer Stimme, die im allerletzten Moment ein Gähnen ersetzte. Dann erwachte sie
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plötzlich zu heller Aufmerksamkeit – aber nicht gegenüber dem, was Framton sagte. „Da sind sie endlich!” rief sie. „Gerade noch rechtzeitig zum Tee, und sehen sie nicht aus, als wären sie voll Schlamm bis zu den Augen?!“ Framton schauderte leicht und wandte sich der Nichte zu, mit einem Blick, der mitleidiges Verständnis ausdrücken sollte. Das Kind starrte, benommen vor Grauen, durch das geöffnete Fenster. Mit einem eisigen Schock namenloser Furcht schwang Framton auf seinem Stuhl herum und sah in die gleiche Richtung. In dem fortgeschrittenen Zwielicht kamen drei Gestalten über den Rasen auf das Fenster zu. Sie alle trugen Gewehre unter den Armen, und einer von ihnen trug zusätzlich einen weißen Mantel über den Schultern. Ein erschöpfter brauner Cockerspaniel hielt sich nahe an ihrem Fersen. Ohne einen Ton näherten sie sich
dem Haus, und dann sang eine rauhe junge Stimme in der Dämmerung ein Lied. Framton griff wild nach seinem Stock und Hut; die Eingangstür, der Kiesweg, das vordere Tor waren kaum wahrgenommene Stationen seines überstürzten Rückzuges. Ein Radfahrer, der die Straße entlang kam, mußte sein Rad in die Hekken lenken, um den drohenden Zustammenstoß zu vermeiden. „Hier sind wir, Liebling“, sagte der Träger des weißen Regenmantels und trat durch das Fenster. „Ziemlich schmutzig, aber das meiste ist trocken geblieben. Wer war das, der da nach draußen schoß, als wir auftauchten?“ “Ein höchst ungewöhnlicher Mann, ein Mr. Nuttel“, sagte Mrs. Sappleton. „Konnte nur über seine Krankheiten reden, und stürzte hinaus ohne Verabschiedung oder ein Wort der Entschuldigung, als ihr kamt. Man könnte meinen, er hätte einen
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Geist gesehen.“ „Ich denke, es war der Cockerspaniel“, meinte die Nichte ruhig. „Er erzählte mir, daß er panische Angst vor Hunden habe. Er wurde einmal von einem Rudel ausgesetzter Hunde in einen Friedhof gejagt, irgendwo an den Ufern des Ganges, und mußte eine Nacht in einem frisch ausgehobenen Grab zubringen, während die Bestien direkt über ihm knurrten und grinsten und schäumten. Grund genug, jeden Menschen nervös zu machen.“ Spontane Fantastereien waren ihre Spezialität.
rung und dem Bewußtsein der Vergänglichkeit. Das alles bewirkte bei ihnen ein einziger Blick in mein Gesicht, und nichts anderes als diese schmerzvolle Mixtur hatte ich erwarten dürfen. Schließlich kehrte ich an den Ort meiner Kindheit zurück, den ich seit annähernd dreißig Jahren nicht mehr betreten hatte. Eine lange Zeit, wahrhaftig. Und wenn ich mir überlegte, daß die Erinnerung an mich sich in den Hirnen einiger Dutzend Menschen über all die Jahre gehalten hatte, ohne zwischen den neuen Informationen zermahlen zu werden, beschlich mich ein seltsames Gefühl. Man hinterließ überall chemische Spuren in den Gehirnzellen der Leute. Meine Frage nach Arville wurde positiv beantwortet. Arville war der Pfarrer meiner Jugend, wiederum unauslöschlich in meine Erinnerung gebrannt. Vermutlich wegen einiger Predigten, die ich nie verstanden hatte. Ganz im Gegensatz zu
------Die gekrümmte Kralle von Martin Clauß Auf den Gesichtern der Menschen lag eine Mischung aus angenehmer Erinne-
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dem, was die Lehrer in der Schule erzählten, prägten sich in anderen Lebensbereichen oftmals gerade jene Dinge tief ein, die man nicht begriff. Man beschrieb mir den Weg zum neuen Pfarrhaus – das alte schien einige Jahre zuvor den Abrißbaggern zum Opfer gefallen zu sein. Verständlich, hatte es doch bereits in meiner Jugend als einsturzgefährdet gegolten und sich nur mit der Hilfe täglicher Gebete noch aufrecht gehalten. Das graue, zur Hälfte von Efeu überwucherte Gebäude, vor dem ich einen Augenblick verweilte, sah bereits beinahe so alt aus wie das ehemalige. Ich ahnte, daß Arville es liebte. Er mochte die dunklen Nischen in Gottes Schöpfung. Vielleicht war er deshalb der richtige Mann für meine Geschichte. Eine Haushälterin mittleren Alters schien den Ankömmling gerochen zu haben. Sie erschien in der Tür, bevor ich
klingeln konnte. Vielleicht hatte sie sogar jemand über ein Handy von meinem Kommen unterrichtet. Ich stellte mir vor, was sich alles verändert haben mochte. Ob der Gemischtwarenhändler, bei dem ich als Kind immer Lutscher erbettelt hatte, wohl ein Fan von Verona Feldbusch geworden war oder sich schmutzige Photos aus dem Internet herunterlud. „Der Herr Pfarrer wird sogleich erscheinen“, versicherte die Haushälterin mir ernst, als spreche sie von einem Spukphänomen. Ihr Mund lächelte freundlich, aber ihre Augen sprachen streng: Er ist ein sehr, sehr alter Herr geworden; haben Sie viel Geduld mit ihm! Geduld war kaum vonnöten. Keine zwei Minuten später begrüßte mich Arville in einer dunklen Wohnstube. In der Ecke stand ein Computer, ein älteres Modell zwar, mit einem kantigen, museumsreifen Nadeldrucker an der Seite, aber immerhin... Er fragte nach dem Grund mei-
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nes Besuchs, während seine knochige Hand die meine drückte. Ich nannte meinen Namen und erklärte, daß ich in diesem Dorf einst zuhause gewesen war. Ich konnte nicht sicher sein, ob er mich erkannte, doch er sagte mit der brüchigen Stimme, die schon vor drei Jahrzehnten kaum anders geklungen hatte: „Die Zeit hat tiefe Wunden in dein Gesicht gegraben, mein Sohn. Willst du mir nicht von deinen Leiden berichten?“ Ich wußte, daß ich mindestens zehn Jahre älter aussehen mußte als ich wirklich war – das rührte von den Schmerzen her. Was man auf einem menschlichen Gesicht als Zeichen des Alters wahrnahm, war in Wirklichkeit das Protokoll der Zeit, die man in Pein verbracht hatte. Soviel hatte ich begriffen. Ich legte das weißgraue Buch zur Seite, in welches ich die Kralle eingewickelt hatte, und begann zu erzählen. Rasch und flüssig berichtete ich, ohne Zögern.
„Sie sehen vor sich einen Menschen, der über die Hälfte seines Lebens auf der Suche nach Schmerzlinderung verbracht hat. Nur soviel zu den Äußerlichkeiten: Quer über meine Brust zieht sich eine tiefrote Narbe, deren Anblick ich Ihnen gerne erspare. Eine längst verheilte Wunde, die mir dennoch schreckliche Pein verursacht. Ich war bei allen erdenklichen Ärzten. Keiner konnte mir helfen, keiner ahnte die Ursache meiner Qualen. Schließlich überwies man mich in psychatrische Obhut. Dort durchlebte ich unter Hypnose meine Jugend noch einmal und stieß auf den Grund der Schmerzen. Alle Behandlungen verliefen ergebnislos, tasteten sie doch den Keim des Unheils, den Kern des Verderbens nicht an.“ Das war es, in aller Kürze. Unser beider Blick fiel wie zufällig auf das Päckchen mit der Kralle. Ich legte meine Hand darauf wie auf eine überdimensionierte Computermaus. Die Kralle hatte keinen
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rechten Button, um ein Kontextmenü aufzurufen. Das war die Crux an der Sache – der Kontext war fest, unveränderlich, keine Chance mehr, ihn abzuändern. Es gab nur den Weg nach vorn, über die Programmleiste, Abteilung „Archaische Prozeduren“. „Begraben Sie es in geweihter Erde!“ platzte ich hervor. Arville musterte mich. Er war so überrascht, wie man es in seinem Alter noch sein konnte. „Dieses... Ding hier? Bitte erzähle mir mehr, mein Sohn!“ Ich begann es auszuwickeln und ordnete meine Erinnerungen an jenes Ereignis vor über dreißig Jahren.
plattgedrückt. Drei Stunden lang betrachteten wir die alte Wanduhr, bei der der Stundenzeiger klemmte, und hatten den Eindruck, unsere sechswöchigen Sommerferien zerrönnen uns zwischen den Fingern. Kurz bevor wir die Geduld verloren und in den prasselnden Regen hinausgeprescht wären, hellte es sich auf. Endlich schien die Sonne wieder, leidenschaftlich und prall. Von der Erde stiegen dichte Dampfwolken auf – ein urwaldhafter, urwelthafter Nebel bedeckte die Hügel, so weit man nur sehen konnte. Marcel, ich und die anderen Kinder betraten die „Höhle der Piraten“ am frühen Nachmittag. Die Arbeit der letzten Tage hatte sich bezahlt gemacht, denn es war uns gemeinsam gelungen, den Zugang zum verschütteten Tunnel freizulegen. Wenn ich genau überlege, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den Piraten wissen und mußten den Namen für die Höhle folglich erst später er-
Es hatte geregnet, drei endlose Stunden lang. Wir hatten diese Zeit wie immer fluchend, grummelnd und streitend in den Häusern verbracht, unsere Nasen an den vor lauter Regentropfen beinahe undurchsichtig gewordenen Scheiben
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funden haben. Marcel, der unser Anführer war, kroch als erster hinein, an dritter Stelle folgte ich. Zunächst mußten wir hintereinander auf allen Vieren krabbeln. Ich denke oft daran zurück. Heute, mit dem Körper eines leicht übergewichtigen Erwachsenen, würde ich mich nicht mehr durchquetschen können. Warum mußte man als Kind nur so verdammt winzig sein, daß man Orte erreichen konnte, die eigentlich nur für die kleingewachsenen, halbverhungerten Leiber unserer fernen Vorfahren zugänglich gewesen waren? Rasch aber wurde der Gang geräumiger, und wir konnten schon bald zu zweit aufrecht nebeneinander gehen. Es roch nicht viel anders als in unserem Keller zuhause. Unsere beiden Taschenlampen – mehr hatten wir nicht für sieben Kinder – schufen tanzende Scheiben an der Lehmwand, und je mehr von dem Nebel hereindrang, desto authentischere Gei-
sterfinger ergaben sie. Es war wunderschön und unerträglich spannend, als hätte man einen phantastischen, vollfarbigen Eingang direkt in einen dieser Abenteuerfilme gefunden, die viel zu selten im Schwarzweißfernsehen liefen. „Das Grab!“ rief Marcel plötzlich. Vor seinen Füßen gab es einen kleinen Absatz, schon abgebröckelt und formlos. Unterhalb dieses Vorsprungs lag etwas. Lag eine ganze Menge. Skelette. Ich denke, es waren fünf bis sieben, und sie hatten beinahe dieselbe Ockerfärbung wie der Untergrund, auf dem sie ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Eines davon – diesen Anblick vergesse ich niemals – trug anstelle der rechten Hand einen rostigen Haken. Ich war mir fast sicher, daß sie so etwas nicht im Fernsehen zeigen würden. Nicht in dieser schmutzigen, realistischen Form. Die Skelette würden schneeweiß sein, als hätte man
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sie ein Jahr lang mit Zahnweiß geschrubbt. Ich fühlte, wie mir ernsthaft übel wurde, und preßte die Hand vor den Mund. Einen Moment standen wir alle schweigend beieinander. Die hinteren waren nachgerückt und spähten zwischen den Köpfen der vorderen hindurch. Dann spürte ich, daß die Übelkeit sich nicht kontrollieren ließ, nicht, solange ich den Blick nicht abwand. Vielleicht hätte es gereicht, die Augen zu schließen, zumal die Luft, wie bereits erwähnt, nicht nach einer Gruppe ockerfarbiger Skelette roch – irgendwo gab es wohl einen natürlichen Windschacht. Aber ich reagierte heftiger: Ich stieß die anderen beiseite, bahnte mir einen Weg und floh in die Helligkeit des Tages. Wenn man aus dieser Richtung kam, verengte sich die Höhle, und ich hatte den Eindruck, sie würde sich wie der Schlund eines Drachens, der mich verschluckt hatte, vor mir schließen. Auf
allen Vieren entrann ich seinem Biß und krabbelte ins Freie. An dieser Stelle erhob sich Arville mühsam. Er nahm das versilberte Kruzifix von der Wand und legte es auf die ausgewikkelte Kralle – ich nannte den Haken stets „Kralle“, seit damals. Nichts weiter geschah, außer, daß der heilige Gegenstand abrutschte, vom Tisch glitt und auf dem Fußboden liegenblieb. Das Gesetz der Schwerkraft vielleicht. Solange es nicht in geradem Weg nach oben fiel und an der Zimmerdecke kleben blieb, konnte man nicht von übernatürlichen Kräften sprechen. Der Pfarrer setzte sich wieder, ohne das Kreuz aufzuheben. Angestrengt versuchte er, seinen Blick von dem Haken fernzuhalten. „Fahr fort, mein Sohn“, bat er. Ich zählte die Minuten nicht, die ich al-
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leine draußen verbrachte, ein gutes Stück vom Höhleneingang entfernt. Mein Kopf war die ganze Zeit über in meinen Händen verborgen, während ich in einem unordentlichen Schneidersitz hoffte, die Sonnenstrahlen, die meinen Rücken wärmten, könnten das abscheuliche Bild der Skelette auslöschen, aus meinem Hirn waschen. Welchen Sinn, welchen verfluchten Sinn hatte es gemacht, daß meine Eltern mir verboten, die gruseligen Spätfilme zu sehen, wenn ich nun in der harmlos anmutenden Wirklichkeit eines Spätnachmittags einen Anblick einfing, der mir zehntausend und ein paar Alpträume bescheren würde. Niemals, niemals hätte man die Wirklichkeit für jugendfrei erklären dürfen! Die schlimmsten Filme waren ein Abzählreim dagegen. Irgendwann klangen die Stimmen der Kinder zu mir herüber. Ich achtete nicht auf sie und merkte zu
spät, daß einer von ihnen hinter mir stand. „Steh auf, Feigling! Das ist für den Feigling!“ Und ich sprang auf, fuhr herum, nicht, um mir abzuholen, was für den Feigling bestimmt war, sondern um... um... ich weiß es nicht mehr. Da zuckte der Haken über meine Brust, leicht schräg, wie eine gleichmäßig ansteigende Kurve eines Aktienkurses der Pein. Ich spürte in diesem Moment schon: die Schmerzaktien würden gut laufen, würden sauber steigen in den nächsten Jahren. Er zerfetzte mein Hemd und riß eine tiefe Wunde – zunächst schneeweiß, kurz darauf ein langgezogener, roter Blutquell. Jahre später würden die Amerikaner damit beginnen, Comics zu zeichnen, in denen sowas öfters zu sehen war. Ich bekam es schon damals zu Gesicht, lange bevor es in Mode kam. Der knöcherne Unterarm mit dem ro-
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stigen Haken lag in Marcels Händen, die im ersten Moment noch nicht einmal zitterten. Auch daran erinnere ich mich. Sekunden vergingen. Marcel bekam große Augen und begann zu schreien, während ich stumm auf die Wunde starrte. Die Zeit stand ein bißchen still, aber nicht zu sehr. Die anderen Kindern liefen nämlich herbei und starrten mich an. „Einen Arzt!“ keuchte ich irgendwann, als ich das Gefühl hatte, sie hätten genug gesehen. „Schnell, du Idiot!“ Und Marcel warf den Knochenarm ins Gras und rannte weinend los.
© 10/2002 by Martin Clauß Dieser Text erscheint innerhalb des Vampirova Projekts im Martin Clauß Verlag Esslingen. Die unerlaubte, auch auszugsweise Vervielfältigung dieses Textes und der darin enthaltenen Grafiken ist strengstens untersagt. Bitte besuchen Sie www.vampirova.de Mailen Sie Ihre Meinung an
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