KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
OTTO ZIERER
DIE STADT IN DER LAGU...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
OTTO ZIERER
DIE STADT IN DER LAGUNE
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU - M Ü N C H E N - I N N S B R U C K - Ö L T E N
VENEDIG — letztes Märchen Europas, ein Traum aus „Tausendundeiner Nacht" inmitten der technischen Zeit, Insel vergangener Größe, entthronte Königin der Meere . . . Alle Reiseprospekte verkünden den Ruhm dieser Stadt, keine Kunst- oder Kulturgeschichte des Abendlandes vergißt ihren Namen, Lieder besingen ihre Romantik, Romane und Filme wählen Venedig als bezaubernden Hintergrund. Und doch ist der Reisende, der Venedig zum ersten Male besucht, zunächst enttäuscht. Kommt er mit der Eisenbahn aus der geschäftigen lombardischen Ebene über den Brückendamm, der vier Kilometer lang den Strandsee der Lagune überquert, in die moderne, aus Stahlbeton und Glas gebaute Halle des Bahnhofs der Inselstadt, oder kommt er mit dem Auto über den Straßendamm zum Hochbau der Riesengarage gegenüber dem Bahnhof, so sieht er zurückblikkend an der Festlandseite des Strandsees Rauch, unschönes Ziegelgemäuer von Fabriken, Öltanks und Schornsteine, Motorboote und brackiges, mit Ölflecken vermischtes Gewässer. Wo aber ist das Märchen ? Nähert sich der Reisende zu Schiff, vom offenen Adriatischen Meer kommend und die Nehrung, den Lido, passierend, der Stadt, so kündigt sich Venedig durch weite Schlickbänke, durch Bojen, mit Pfählen abgesteckte Fahrrinnen, verschilfte Inseln und flache, vorgelagerte Dünen an. Verfallene Festungswerke aus dem 19. Jahrhundert, modische Hotelblocks auf dem Lido, armselige Häuschen auf den niederen Inselchen und da und dort der einsame Glockenturm einer Kirche oder eines Klosters hinter Zypressen gleiten an dem von Lotsen geführten Schiff vorüber und versinken. Es ist wie ein jählings auftauchendes Märchenbild, sobald sich hier und dort einmal der Blick auf den Kern der Stadt öffnet, mit ihren Palästen, Kirchen und Kuppeln. Das Bild verschwindet wieder, das Schiff des Besuchers nimmt langsame Fahrt an der Wasserstraße der Giudccca vorbei zum Hafen, der mit tristen Ziegelbauten, Lagerhäusern, Becken, Kränen und Gleisen am westlichen Ende Venedigs liegt. Wo aber ist die Romantik? 2
Vaporettas — motorisierte Schiffe, die in Venedig die Rolle der Straßenbahn spielen —, pendeln vom Hafen oder vom Bahnhof zur Innenstadt. Aber das alles ist nicht die Stadt, die wir erträumt haben; wie angeschwemmtes Treibgut, das die neue Zeit in die sterbende Lagune der Stadt San Marcos geflutet hat, kommen uns diese modernen Zutaten vor. Ein Hauch ihrer wahren Seele weht den empfindsamen Reisenden an, der eines Abends im Frühling ankommt, eine der schwarzen, mit schöngeschweiften Bugmessern geschmückten Gondeln mietet, sich in die Polster zurücklehnt und langsam den Canal Grande hinabgleitet, während der gleichförmige Schritt des stakenden Gondoliere hinter ihm über das Heck geht. Wie eine Schlange windet sich der große Kanal durch das Herz der Stadt. Treppen steigen aus den dunkelgrünen, oft achatschwarzen Wassern leuchtend empor zu feingeschwungenen Marmorportalen, schmiedeiserne Gitter öffnen sich, Spitzbögen tragen die Obergeschosse mit ihrem Steinfiligran, den Loggien und Pergolas; an buntbemalten Pfählen, unter alten Laternen tanzen Gondeln im leicht bewegten Wasser. Paläste, Kirchen, uralte Handelskontore ziehen vorüber, manchmal hängen Hibiskus- oder Glockenblumen aus winzigen Hausgärtchen über hohe Mauern. Aus den offenen Fenstern eines Palastes, spitzbogigem, schön durchbrochenem Mauerwerk wehen purpurne Vorhänge. Man sieht glitzernde Kristall-Lüster mit Kerzen, alte bemalte, schwer vergoldete Balkendecken, Gobelins-im Dämmerschein, düster funkelnde Waffen an den Wänden und davor festlich gekleidete Menschen. Der Gondoliere flüstert ehrfürchtig den Namen des Geschlechtes, dessen Palazzo dies ist, altehrwürdige Namen, die ihre Abkunft bis auf Römertage ,zuriickleiten: Mocenigo, Foscari, Dandolo oder Cornaro. Mündet ein Seitenkanal — einer der rund 160 Kanäle Venedigs —, aus dunkler Häuserschlucht kommend, in die Wasser des Canal Grande, oder gleitet die Gondel unter die hochgeschwungenen Bogen einer Brücke — einer der rund 390 ,Ponti' Venedigs —, so stößt der Gondoliere einen melodischen Warnruf aus. Denn es queren ständig andere Boote den Weg: schwere Kähne, die Früchte, Berge von Blumen, Fische oder andere Ware von den Markthallen fortführen; Motorboote mit schäumendem Bug, klingelnde, men3
schenüberfüllte Dampf boote, deren Kielwellen nagend und ewig hämmernd an die bröckeligen Fundamente der alten Paläste schlagen. Der Mond steht wie eine riesige rote Scheibe über den dunklen Schatten der Glockentürme, Kuppeln und zinnengekrönten Häuser. Aus der düsteren Enge eines Seitenkanals lodern rötliche Fackeln, Gondeln schaukeln vor einer Loggia, und ein Sänger bringt zur Laute mit schmelzendem Tenor eine Serenata. Da verstummt das Gelärm und wirre Leben des Kanals, Gondolieri, heimkehrende Schiffer und Lastträger auf den schmalen Ufergäßchen verharren und lauschen. Und wehe, welch ein Hohngelächter, welcher Schwall von nachäffendem Gesinge würde losbrechen, wäre der „Tenorio" brüchig oder der Vortrag ohne Kunst! Aber der Sänger erwirbt sich den Beifall dieser sachverständigen Zuhörer. Als seine Serenata verklingt, braust Beifall aus dem Dunkel der Höfe, Balkone und Kanäle, und — schönster Lohn der Kunst — ein unsichtbarer Chor nimmt den Kehrreim des Liedes auf und wirbelt ihn überschwenglich in die milde Nacht. Und wieder ziehen Paläste vorbei: die Palazzi Venier, Gritti, Corner, Loredan, Barbaro, Franchetti und drüben die Akademie. Der Reisende, der die Landessprache beherrscht und mit dem Gondoliere oder irgendeinem der dürftig gekleideten Gepäckträger spricht und erkennen läßt, daß er um den Inhalt dieser Namen, um Venedigs Größe und Schätze weiß, kann Wunderliches — nur in Italien zu Erlebendes — erfahren. Der Gondelschiffcr läßt das Boot treiben, der „Facchino" stellt das Gepäck zu Boden und wirft überschwenglich die Arme empor, das Loblied auf die geliebte Stadt anstimmend: , , 0 Venezia, innamorata mial — O meine Stadt Venedig, meine Geliebte! Keine Stadt hat eine Vergangenheit wie diese, keine birgt Kunstschätze gleich meinem Venedig!" Wie so häufig in Italien, entdeckt man, daß auch der einfache Mann aus dem Volke vertraut ist mit der Geschichte, mit den besonderen Kostbarkeiten seiner Stadt. Er ist stolz darauf, und der kürzeste Pfad zur Freundschaft mit diesem liebenswürdigen und lebensklugen Volk führt über die Kenntnis dessen, was an so' vielen „Schnellreisenden" nur wie eine bunte, verwirrende Kulisse vorübertreibt. Venedig öffnet sich einzig dem, der in seine Vergangenheit horcht. Ihm allein erschließt sich seine Seele. 4
Der Lagunensee (Haff) von Venedig, 550 qkm groß, ist durch die 25 km lange Nehrung des Lido zwischen Chioggio und Burano vom offenen Meer getrennt. Inmitten der Lagune liegt die Stadt der Iiundertzwanzig Inseln, Venedig
Torcello und Murano . .-. Die Geschichte Venedigs begann im Jahre 452 n. Chr. in Torcello, auf einer kleinen Insel bei Burano, nordöstlich der zentral gelegenen Inselstadt. Ringsum dehnt sich die 550 Quadratkilometer große Wasserfläche der Lagune, die sich im Kampf zwischen den Ablagerungen der Alpenflüsse und den Meereswellen als Haff gebildet und allmählich mit dem 16 Kilometer langen natürlichen Dünendamm des Lido gegen das offene Adriameer abgesperrt hat. Die Wasser sind nicht tief, ihr Spiegel steht beinahe reglos unter der glastenden Sonne, und hier und dort stößt das Graugrün von Schilfbänken aus dem hellen Blau hervor. Viele Inselchen sind in die Flachsee ausgestreut, die dort, wo Ebbe und Flut sie erreicht, Laguna viva — lebende Lagune — und dort, wohin die Flut nicht mehr dringt, Laguna morta — tote Lagune — genannt wird. An fünf Stellen verbinden schmale Durchlässe durch die langgestreckte Nehrung den Lagunensee mit dem Meer. 5
Die alte römische Provinz Venetien auf dem Festland stand in jenem Frühjahr 452 -wieder einmal in Flammen. Aber grausiger als je zuvor in den Tagen der Völkerwanderung drohte das Unheil. Die Hunnen, im vergangenen Jahr auf den Katalaunischen Feldern vor Paris von der vereinten Macht des sterbenden Römerreichs und der Germanen besiegt, stürmten nun gegen die Julierpässe, um Oberitalien heimzusuchen. An der Küste der Adria lag Aquileja, blühende Handelsstadt im Lande der Veneter; ein Patriarch residierte dort und ein römischer Procurator. Es gab uralte Familien, deren Stadthäuser auf Grundmauern standen, die in den Tagen des Augustus gelegt worden waren, manche leiteten die Stammbäume bis auf die Zeiten Scipios und Caesars zurück. Aber nun nahte das Ende. Man wußte, was es bedeutete, wenn diese von Asien ausgespienen Horden wie Heuschreckenschwärme über die Alpenpässe herüberkämen, über den Provinzen Pannonien und Noricum, die an Venetien grenzten, lag es wie ein einziger Aufschrei, die langen Züge der Flüchtenden berichteten genug. Der Senat Aquilejas faßte einen heldenmütigen Entschluß, andere Städte des Festlandes folgten ihm. Man würde das Leben und die beweglichen Kostbarkeiten retten und die Städte aufgeben, * in denen jahrhundertelang Römergeist und griechische Bildung gewirkt, in denen man christliche Kirchen auf heidnischen Tempelfundamenten gebaut und die Ahnen begraben hatte. Es gab in diesen Zeiten voller Mord, Gewalt und Raub nur die Flucht in das Meer; denn die Barbaren bauten keine Schiffe, um dorthin zu folgen. Die Bürger der Städte Venetiens packten ihre Schätze, ihr Werkzeug, die Reliquien und geweihten Geräte auf Karren, brachten sie an den Fluß Piave und luden alles auf flache Kähne. Dann fuhren sie flußabwärts in den Strandsee (vgl. die Karte Seite 5). Die Lagune breitete sich wie ein metallener Spiegel, Schilf rauschte im Winde, Schwärme von Vögeln schwirrten auf, und Fische sprangen aus der trägen Flut. Man würde nicht verhungern, das Meer bot Nahrung genug. Sie setzten über auf die niedrigen Eilande in der Lagune und gründeten kleine Orte, Ansammlungen von Schilfhütten, Zelten und Schanzen. Es geschah in Heraclea, Pelestrina und Torcello, in Malamocco und Chioggia. Vereinzelt fanden sich auch Hausreste 6
von Villen, die in der frühen Kaiserzeit von venetischen Kaufherren als Sommersitze auf den Inseln erbaut worden waren. Auf Torcello errichteten die Geflüchteten aus diesem Trümmergestein die erste Kirche, ein kleines Gotteshaus im byzantinischen Stil. Zur Erinnerung an die furchtbare Flucht nannten sie den steinernen Sitz ihres Bischofs „Attilas T h r o n " ; denn während sie hier bauten und hinter den Palisaden wachten, war unter wehenden Rauchfahnen und feurigen Standarten Attila, der Herrscher der Hunnen, am Ufer des Festlandes vorübergezogen. Die armseligen Dörfer auf den Laguneninseln boten nicht mehr das satte, behäbige Dasein wie einst die Paläste und Häuser an der Küste. Die einstigen Kaufherren und Handwerker ernährten sich nun von Fischfang, Vogel jagd und Salzhandel; Not und Armut waren mit ihnen geflohen, ihr Reichtum lag im Schutt der verlorenen Städte in Oberitalien. Doch sie waren zäh und von uralter Rasse. Als das West-Römerreich dahinging und vom Weltreich der Römer nur Ostrom, das mächtige Byzanz, verblieb, begannen sie in Heraclea, Torcello und Malamocco Seeschiffe zu bauen und Handel zu treiben. Sie wurden Vermittler zwischen Byzanz und den neugegründeten Staaten der Barbaren in Italien, sie trugen Ware aus dem Orient an das italische Ufer, wodie Langobarden 568 ein Reich gegründet hatten. Dann aber kamen die kriegsmächtigen Franken, und der große Karl schmiedete das neue Reich. Die Inseln in der Lagune erschienen ihm wie ein Pfahl im Fleische des Frankenreichs, und so sandte er seinen Sohn Pippin, um die Inseln unter das Gesetz des j u n gen fränkischen Kaisertums zu zwingen. Die Not schmiedete die zerstreuten Inselgemeinden zusammen. Wohl brannten Chioggia und Malamocco —, aber es hielten sieh Torcello und Palestrina. Angelo Partecipacio, ein Bürger von Heraclea, wurde zum Führer einer zweiten Flucht. Auf Schiffen setzte er die Einwohner der weitverstreuten Inseln auf ein a b gelegenes, hohes Eiland — Ripa alta (später Rialto) — über und sammelte hier die Insel-Veneter. Pippin, Karls Sohn, erlag dem Fieber, das fränkische Heer verlor sich in Sümpfen und verschilften Ufern. Die Freiheit war gerettet, zum Dank bauten die Bürger auf der Insel Murano bei Ripa alta dem Heiligen Donato eine steinerne Kirche.
Den neuen Sammelpunkt aber nannten sie Venedig, Angelo Partecipacio wurde zum ersten Dux, zum Führer der Gemeinde, gewählt. Die weiche Sprache der Veneter verwandelte den Amtstitel Dux in Doge. Um ihn gruppierten sich die alten Patriziergeschlechter: die Candiani, Orseoli, Pisani, Loredan, Morosini, Mocenigi, Falieri und Contarini. Sie trieben Handel mit OstromByzanz, bauten seetüchtige Schiffe und Paläste aus Holz; die Handwerker erinnerten sich uralter römischer Künste und begannen auf Murano, im Schatten der Basilika von San Donata, wie einst auf dem Festland gläserne Gefäße, Schalen und Kelche herzustellen; die Goldschmiede hämmerten Ringe, Ketten und Armreife. Zugleich begannen die Bürger auf Ripa alta den Bau einer größeren Kirche — des ersten Domes für den Patriarchen von Venedig (830).
Die Kapelle San Zeno im Markusdom Immer schon haben Künstler Venedigs die Legende dargestellt, wie die Lagunenstadt zu ihrem Schutzheiligen, dem Evangelisten St. Markus, gekommen ist. Die Mosaiken der Fassade des Markusdomes stellen die Markuslegende dar, die Gemälde Tintorettos und die Reliefs am Hochaltar, unter dem heute der Reliquienschrein des Heiligen ruht, wählten dieses Thema. Die älteste Dberlieferung der Dbertragungslegende aber hat sich an den Deckenmosaiken der Cappella di San Zeno, einer Seitenkirche des Domes, erhalten. Byzantinische Meister des 11. Jahrhunderts haben die Geschichte des heiligen Evangelisten hier in bunten Steinen niedergeschrieben . . . Damals — im Jahre 836 und kurz nach dem mißglückten Anschlag der Franken auf die Inseln der Veneter — legte ein Handelsschiff aus Ripa alta an der Mole von Alexandria an. Diese große Stadt war noch nicht allzulange in den Händen der Araber, noch lebten — zwar ringsum bedroht, aber immer noch durch ihre Zahl geschützt — Christen und ihre Priester in der ägyptischen Stadt. In einem Kloster ruhte die hochheilige Reliquie des Leichnams San Marcos. Der heilige Markus, so ging die Sage, hatte einst in Alt-Venetien das Evangelium gepredigt. Nun sollte er Venedigs Schutzpatron werden. Schon hatte die Stadt die Reliquien des heiligen Theodor, 8
Sankt Stephans und des heiligen Donatus, aber sie strebte nach Höherem. Die venezianischen Unterhändler wußten den Abt des alexandrinischen Klosters zu überzeugen, daß die heilige Reliquie in Gefahr sei, von den Sarazenen entweiht zu werden. So gab er endlich, von Furcht bestimmt, den Leichnam heraus. Die Venezianer bedeckten den Sarg mit sehr profanen Waren und kamen unbehelligt durch die Hafenkontrolle auf die Galeere. Die überfahrt war ruhig. Als sie in Ripa alta landeten, läuteten alle Glocken, Teppiche wurden gebreitet, Rlumen gestreut, und der Senat, vom Dogen geführt, gab San Marco das Geleit in den Dom. Dort wurde der heilige Leichnam in eine Pfeilerstütze der Krypta gemauert. Nur der Doge wußte, wo er verborgen war. Der Dom hieß fortan San Marco. Das Zeichen des Heiligen — der geflügelte Löwe — wurde zum Staatswappen der Republik.
Riva degli Schiavoni. . . Von der Piazetta, jenem kleinen Platz, der sich vom Markusplatz zur Lagune öffnet, zieht längs der Hauptfront des Dogenpalastes in Richtung zum Arsenalgebiet eine breite Uferstraße die „Riva degli Schiavoni", der ,Kai der Slawen', hin. Dieser Kai ist ein Tummelplatz des Volkes, Kastanienröster, Eisverkäufer, Andenkenhändler und Straßensänger warten heute auf die Fremden aus allen Nationen; die Gondolieri haben hier ihren Hauptstandplatz, hier am Molo, dem Kai, legen die Motorboote an, welche' die Verbindung zu den Inseln und zum Lido herstellen, weiter abwärts zum Arsenal hin liegen auch größere Seeschiffe vor Anker. Diese Straße war einst der Anlegeplatz der Dalmatiner, von denen sie ihren Namen ,Kai der Slawen' erhielt. Dem aufstrebenden Venedig genügten die um „Ripa a l t a " zusammengedrängten Inselchen bald nicht mehr. Sümpfe und Sanddünen in der nächsten Umgebung hemmten die Ausdehnungsmöglichkeit der Stadt. Steinbrucharbeiter wurden ausgeschickt und brachen aus den Felsen der Voralpen das Material zur Aufschüttung von Steindämmen. Kähne brachten auf den bei der Lagune 9
einmündenden Flüssen Etsch und Brenta die Brocken heran. Gewaltige schützende Mauerzüge — Murazzi — entstanden und sicherten neuen Baugrund für Venedig. Insel reihte sich an Insel, durch schmale Kanäle von einander getrennt. Den Saum der Kanäle entlang aber sollten die mächtigeren Lagerhäuser und c\ie neuen Stadtburgen der Kaufherren liegen. Steine hatten für ein größeres Venedig den Grund gelegt — Steine sollten künftig das Bauelement der Lagunenstadt sein. Als man daran ging, die Holzbauten der Stadt zunächst bei den Palästen durch Steinbauten zu ersetzen, ergib sich, daß der Untergrund auch im Schutze der ,Murazzi' wegen des Grundwassers unsicher geblieben war. Da begannen die Venezianer ihre Bauwerke auf Roste zu stellen, wie sie es schon bei dem Dom San Marcos getan hatten. Jenseits der Adria, auf den Höhen des Karstgebirges Dalmatiens, rauschten immer noch weitgedehnte Eichen- und Eschenwälder. Zwar hatten schon Griechen und Römer als seefahrende Nationen jahrhundertelang das Holz für den Schiffsbau rücksichtslos und ohne nachzuforsten aus den anscheinend unerschöpflichen Waldungen der dalmatinischen Küstenländer geschlagen, aber in den Jahrhunderten der Völkerwanderung waren die Wälder wieder nachgewachsen. Nun entdeckte Venedig das Holz auf den dalmatinischen Bergen. Am ,Kai der Slawen' legten die Käne und Flöße an, lammfellbekleidete Männer, die aus Istrien oder der Markgrafschaft Friaul stammten, brachten die gewaltigen Stämme. Eiche und Esche sind, in den Seegrund getrieben, unter Luftabschluß beinahe unzerstörbar. Arbeiter rammten die Säulen aus Holz in den Schlick bis zur festen Tonmergelschicht des Lagunengrundes hinab — fünf bis zwanzig Meter tief, 10 bis 20000 oft für ein einziges Bauwerk. Roste entstanden, auf denen neue Paläste und Kirchen erbaut werden konnten. Es gab nur zwei größere Plätze in der Stadt: das schöne Rechteck vor dem Dom, die Piazza, und mit ihr verbunden die kleine Piazza, die Piazetta; alle anderen freien Plätze blieben winzig und waren oft nur öffentliche Höfe. Viel Raum beanspruchten vor jeder Kirche die Friedhöfe, die nach der Verlegung der Begräbnisstätten auf die Toteninsel San Michele als „ C a m p i " von der Be10
bauung ebenfalls freigehalten wurden. Die Häuser der Kaufherren und Adeligen blieben stets dicht am Wasser. Halb Venedig ruhte auf den Wäldern Dalmatiens. Während der Karst kahl wurde, während Regengüsse die letzte Erde von den der Wälder und Moose beraubten Höhen schwemmten, blühte Venedig empor. Die Eichen der Gebirge trugen die Paläste oder verwandelten sich in die Planken und Masten der Galeeren. Der Ruhm Venedigs verzehrte den Wald und machte Dalmatien arm; hier entstand eine große Stadt, dort blieben nur Hirten, Schafe und Ziegen zurück . . .
Der Saal des Großen Rates Im Großrats-Saal des Dogenpalastes, hinter den gotischen Maßwerkfenstern, die zur Lagune auf der einen Seite und zum prächtigen Innenhof mit der „Treppe der Giganten" auf der anderen blicken, erzählen die Wandgemälde und Tafelbilder vom alten
Der Dogenpalast: Baukünstlerische Kühnheit und morgenländische Phantasie verhinden sich hier zu einem Märchen. Der Palast war Zentrum des Seereiches
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Ruhme Venedigs: von diplomatischen Verhandlungen, Kriegen, Aufzügen und Triumphen. An der Stirnwand des gewaltigen Saales dunkelt Titorellos berühmtes Gemälde „Paradiso", das über 22 Meter lang und 7 Meter hoch ist, Hunderte von Figuren zeigt und als das größte Gemälde der Welt gilt. Die rechte Wand trägt eine Reihe von Bildern, die den Friedensschluß von Venedig im Jahre 1177 verherrlichen. Damals war die große Stadt schon mächtig genug, um Schiedsrichterin zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und den aufständischen Lombardenstädten und Papst Alexander III. zu sein. Auf purpurnen Teppichen schritt der Rotbart mit seinem stahlgepanzerten Gefolge deutscher Fürsten von der Lände an der Piazzettä herauf. Buntgekleidetes Venezianervolk, Bürgerherren in Samt, Seide und zobelverbrämten Schauben, Damen mit Spitzhüten und weitgebauschten Röcken säumten seinen Weg, und die Stadtwehr, die Sbirren San Marcos, salutierte mit blitzenden Lanzen. Auf den Freitreppen vor San Marco erwarteten Papst und Doge die Ankunft des Rotbarts. Hinter der Szene ragte der neue Campanile — der freistehende Glockenturm —, der schon imJahre 888 begonnen und nun zur Feier des Kaiserbesuches vollendet worden war. Die Glocken der Kirchen dröhnten mit erzenem Klang über die Kanäle und Buchten. Venedig, die mächtige und unabhängige Seestadt, fügte die Hände von Papst und Kaiser ineinander, Friede kehrte wieder ein in die Christenheit.
Die Rosse von San Marco über dem mittleren der fünf Erzportale der Markuskirche, über Säulengalerien und Bögen, goldflimmernden Mosaiken und vor dem Hintergrund der bleibelegten Kuppeln, stehen vier Bronzerosse. Grüne Patina überzieht sie — einst waren sie vergoldet. Diese vier Pferde sind eine lange Straße getfabt, ehe sie ihren Platz im Angesicht des Markusplatzes gefunden haben. Die Legende erzählt, daß sie in der hellenistischen Zeit als makedonisches Siegesdenkmal auf dem Feld von Chäronea gestanden hätten, um die Erinnerung an das Ende griechischer Freiheit (338 v. Chr.) zu bewahren. Wahrscheinlicher ist, daß sie einen alt-
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römischen Triumphbogen geziert haben, und als sicher gilt, daß sie Kaiser Justinian um die Mitte des 6. Jahrhunderts beim Neubau der Rennbahn von Konstantinopel über seiner Kaiserloge aufstellen ließ. Später — als Napoleons Truppen in Venedig standen (1801) — wurden die Bronzerosse nach dem Pariser Louvre gebracht, aber der Wiener Kongreß führte sie nach San Marco zurück. Am abenteuerlichsten aber war der Sprung der Quadriga von Konstantinopel nach Venedig. Man schrieb das Jahr 1204 . . . Lange hatte Venedig den Handel mit dem Osten allein beherrscht. Zwar besaß das goldene Byzanz-Konstantinopel für Waren des Orients das Stapelrecht, aber venezianische Kaufherren gingen als Einkäufer in den Bosporuspalästen ein und aus, sie bestimmten die Preise, weil sie die einzigen Käufer von Bedeutung waren. Seitdem die Kreuzzüge auch andere Kaufleute in den reichen Osten geführt hatten, waren zwei unangenehme Konkurrenzen im Osthandel aufgetaucht: Pisa und Genua. Das Monopol Venedigs war bedroht, die händlerischen Byzantiner verstanden es sehr gut, Venedig und Genua gegeneinander auszuspielen und die Preise zu treiben. Es begann der Kampf der genuesischen und venezianischen Galeeren in den Wassern der Adria und Ägäis, aber das Zentrum der Bedrohung lag in der Kaiserstadt Byzanz. Wieder zog sich ein Heer burgundischer, lothringischer, lombardischer und französischer Ritter zur Kreuzfahrt zusammen. Sie strömten zu Tausenden nach Venedig und erwarteten die ü b e r fahrt ins Heilige Land. Vierzigtausend warteten an den Kais, vierzigtausend verbrauchten ihre letzten Silberlinge, schliefen an den Molos und schauten sehnsüchtig auf das ferne Meer. Auf sie fiel das habichtsscharfe Auge des neunzigjährigen Dogen Enrico Dandolo. Wir wollen sie hungern und warten lassen, sagte er, wir wollen sie reif machen für unsere Zwecke! Und sie wurden reif. Sie schätzten sich glücklich, als ihnen die Republik San Marco endlich freie überfahrt gegen Waffendienst anbot — freie überfahrt wohin?
* Die Flotte Venedigs, beladen mit vierzigtausend gepanzerten Kreuzfahrern, kriecht die dalmatinische Inselküste entlang. Sie 13
stürmen die Festung Zara und nehmen das Konkurrenznest Ragusa, sie pflanzen das Banner mit dem Markuslöwen auf Korfu und Zante, sie nehmen die Insel Cerigo an der Südspitze Griechenlands und werfen die Genuesen aus Chios: Alle eroberten Stützpunkte sind Trittsteine für den geflügelten Löwen, der sich der größeren Beute naht. Die Flotte stößt mit purpurnen Segeln und den silbrigen Spionenbeinen ihrer Ruder aus dem Ägäischen Meer in die Bläue des Marmarameeres; die Terrassen und Kuppeln, die weißen Marmorpaläste von Byzanz ragen empor. Hier ist das Ziel! Die Gepanzerten landen und brechen gegen die Theodosianische Mauer vor, Enrico Dandolo, der Doge, lenkt indes die Flotte zum Angriff wider die nördlicher gelegene Bucht, das Goldene Hörn. Er selber steht in schimmernder Rüstung, das Banner San Marcos in der gepanzerten Faust und die rote, goldbortierte Dogenmütze auf den schneeweißen Locken, am Bug des „Bucentaur", des Staatsschiffes der Republik. Sie sprengen mit erzenem Rammsporn die Sperrketten an der Hafeneinfahrt zum Goldenen Hörn, fallen wie Raubvögel in die Stadt und stürmen Byzanz.
Der letzte Kaiser des Ostens — Alexius — wird geblendet von einer Säule gestürzt, Enrico Dandolo legt San Marco ein Kaiserreich zu Füßen. Seine Galeeren tragen die Kunstschätze davon: marmorne Figuren, goldene Leuchter und Kronen, die Bronzerosse von der Rennbahn und die vier uralten Königsfiguren aus Syrien, die die Wand vor der Porta della Carta am Dogenpalast schmükken sollen; sie entführen Säulen, Kapitelle, Reliefs und Friese, sie tragen den Kunstgeschmack von Byzanz und seinen Glanz nach Venedig. Enrico Dandolo hat seine Aufgabe erfüllt, er stirbt in Byzanz und findet sein Grab in der Sophienkirche. Es gab in der Folge einen hochgespannten Augenblick für die Geschichte Venedigs, als der Große Rat den Gedanken erwog, die Stadt aus dem versteckten Winkel der Adria-Lagune herauszuführen und sie samt ihren 200 000 Einwohnern an die Meerengen von Byzanz zu verlegen. Hart prallten die Meinungen aufeinander — mit einer Stimme Mehrheit wurde der Plan abgelehnt. Die Republik San Marco erkannte, daß sie ein Staat ohne ein 14
festes Staatsgebiet und ein Reich ohne die festgefügte Verwaltungseinheit anderer Reiche war. Sie begnügte sich mit dem Handelsmonopol und den Handelsplätzen am Meer, die der Vorstoß auf Byzanz dem Seereich von Venedig erneut gesichert hatte.
Der Dogenpalast Auf einer offenen Halle mit 36 kurzen, stämmigen Säulen und figurengeschmückten Kapitellen, die das bürgerliche Leben in vielerlei Szenen darstellen, erheben sich über weiten Spitzbogen eine „Loggia" mit prachtvollem Rosettenmaßwerk und auf diesem eleganten Untergeschoß der wuchtige Würfel des rotweiß-gefleckten Oberbaus. Vom Dogenpalast, dem „Palazzo Ducale", diesem einzigartigen, trotz seiner Stilwidersprüche prächtig harmonierenden Gebäude aus wurden die Schicksale der Republik San Marco gelenkt (Abb. Seite 11). Der Handel mit dem Osten — Einfuhr von Gewürzen, Seide, Juwelen, Zucker, Färbstoffen und Edelmetallen —, der Verdienst durch die überfahrt von Kreuzfahrerheeren, hatte ungeheueren Reichtum in die Lagune gebracht. Der Doge nannte sich ,,Herr von drei Achteln des Oströmischen Reiches". Aber der Reichtum brachte auch die Gegensätze zwischen Herrschenden und Beherrschten zur Entladung. Die Dogen suchten ihre Macht über das Volk zu festigen und zu erweitern, der Adel neidete den Dogen die Gewalt, die Schiffer, Kleinbürger, Handwerker, Händler und Werftleute forderten das Recht der Mitregierung. Als 1172 ein Doge bei einem Volksauf lauf ermordet worden war, wurde die Verfassung im Sinne der Mitbestimmung geändert. Künftig sollte alljährlich aus den sechs Quartieren der Stadt eine Vertretung von 480 Adligen als „Großer R a t " gewählt werden. Diese Vertretung der Stadt stand dem Dogen und der ..Signoria" — einem Kollegium von sechs Räten — zur Seite. Daneben gab es noch die „Quarantia" — den Rat der Vierzig —, ein städtisches Gericht, dem drei „ C a p i " vorstanden. Als Byzanz unter die Tatze des geflügelten Löwen geraten war und der goldene Strom überwältigend nach Venedig floß, als en 15
den venezianischen Flotten gelang — nach der von der genuesischen Konkurrenz betriebenen Wiederherstellung des Oströmischeii Kaisertums im Jahre 1261 —, eben diese Konkurrenz im Seekrieg zu schlagen und eine Genueserflotte im Jahre 1298 fast gänzlich aufzureiben, schienen Macht und sicherer Reichtum der Stadt unerschütterlicher denn je. Eine kleine Gruppe herrschender Adelshäuser und Geldleute, geführt vom Dogen Pietro Gradenigo, betrieb nun die Schließung des Großen Rates und die Umwandlung der bisher freigewählten Vertretung der Stadt in eine Versammlung von Häuptern weniger Adelsfamilien, deren Name im „Goldenen Buche" verzeichnet werden sollte. Die Venezianer antworteten mit Aufständen und Verschwörungen. Zur Abwehr bestellten die Adelsfamilien den furchtbaren „Rat der Zehn" (1335) —• eine Staatsinquisition mit fast unbeschränkten Vollmachten —, die jeden Umsturzversuch im Keime zu ersticken wohl imstande war. In diesen stürmischen Jahren beschloß der Adel Venedigs den Neubau des Dogcnpalastes, um ihn zu einem „Palast aller Paläste" zu machen. Pietro Baseggio und sein Vetter Filippo Calendario begannen die Ausführung des Planes. Unter ihren Händen erstand ein Palastbau von solch byzantinisch-gotischer Pracht, daß der Große Rat feierlich beschloß, jeden, der es jemals wagen sollte, einen weiteren Umbau oder gar Neubau vorzuschlagen, mit der gewaltigen Strafsumme von 1000 Goldstücken zu belegen. Aber im Jahre 1422 eröffnete der Doge Thomaso Mocenigo eine Ratssitzung damit, daß er schweigend tausend Golddukaten auf den Tisch des Hauses legte. Da begriff jedermann, daß er den großartigen Bau noch großartiger machen wolle. Und abermals, wurde — in den Tagen der Renaissance — der Palazzo Ducale erneuert und ihm die Schönheit gegeben, die wir heute bewundern. Neben der Markuskirche wurde das gotische Portal „Porta della C a r t a " (1438—1443) als Abschluß des prächtigen Frührenaissancehofes errichtet. Vor diesem „Tor der Urkunden" verkündete die regierende Aristokratie der Stadt dem Volke durch den Mund der Sbirren Staatsverträge, neue Gesetze und staatswichtige Neuigkeiten. Oben im Riesensaal des „Großen Rates" — der fast 25000 Kubikmeter Luftraum umschließt — verläuft ein Fries über den Wandbildern, der die 76 Dogen der venezianischen Geschichte bis 16
Die Grabkirche des hl. Markus, über dem Mittelportal die Vier Rosse; im Hintergrund links der Dogenpulast, davor die Plazzetta mit den Säulen des geflügelten Löwen und des hl. Theodor, des frühesten Patrons der Stadt.
zum Jahre 1567 zeigt. Nahe der rückwärtigen linken Ecke ist mitten unter den bunten Bildnissen ein schwarzes Feld, unter dem die Inschrift steht: „Dies wäre der Platz des für seine Verbrechen enthaupteten Marino Falieri." Wir müssen zurückgreifen bis ins Jahr 1355. . . Marino Falieri, der greise Sieger über die Genuesen, das Idol der Schiffer, Matrosen, kleinen Leute, war in jenem Jahr abermals Doge der Republik. Seinem Ehrgeiz genügte es nicht, die Schaufigur des Adels und der Geldleute, die Marionette des „Rates der Zehn" zu sein. Er versuchte den Umsturz. Achtzig Jahre zählte Marino Falieri — er verachtete die Menschen und wollte sie doch beherrschen, er wartete auf den Tod und suchte doch dem Leben seiner Stadt neuen Auftrieb zu geben. 17
Ein Pelzhändler vom Festland, den sie leichtsinnigerweise in die Verschwörung einbezogen hatten, verkaufte sein Wissen an den „Rat der Zehn". In einer einzigen Nacht wurden die Verschworenen ausgehoben, auf lautlosen Kähnen kamen die bewaffneten Boten des „Rates der Zehn", am Morgen hingen die Häupter der Rebellen an den Säulen der Piazzetta. Marino Falieri wurde der Prozeß gemacht. Sie enthaupteten den Alten und ließen seinen Leichnam drei Tage auf den Stufen San Marcos liegen. Sein Bild im „Großen Ratssaal" wurde schwarz übermalt. . .
Der Löwe am Arsenal. .. An einer Ecke des alten Arsenals von Venedig, als Hüter der Werften und Hafenbecken, aus denen einst Flotten von schwerbäuchigen Handelsschiffen und schnittigen Galeerenkreuzern hervorgegangen sind, wacht ein antiker Marmorlöwe, auf dessen Rükken- und Brustseite ein verschlungenes Band mit Runeninschrift eingemeißelt ist. Die Inschrift lautet: ,,In Heeres Mitte ward er gefällt. In diesem Fjord aber ritzten Runen die Männer für Horse, den wakkeren Bauern der Bucht. Schweden gruben dies auf den Löwen ein." Der Löwe ist antike Arbeit und stand einstmals am Hafen p i räus, an der Küste Athens. Seefahrende Normannen, Abenteurer aus Schweden, die dem Lauf der russischen Ströme folgend nach Süden gefahren waren und Dienste am Hof von Byzanz genommen hatten, mochten in der Bucht des Piräus in Kämpfe mit Seeräubern — Sarazenen oder Ägyptern — verwickelt worden sein. Unter dem Löwen begruben sie ihren Kampfgenossen und setzten ihm diese Inschrift. Ein paar Jahrhunderte später kamen die Venezianer. Sie hatten Byzanz — die Märchenstadt am Bosporus — genommen, sie herrschten über die Meerstraßen von Gallipoli bis Kreta, von Nauplia bis Korfu. Der Löwe San Marcos wachte, in Stein gemeißelt, über den Toren vieler Inselkastelle und herrschte über das verstreute Seereich an den östlichen Handelsstraßen. Vielleicht, weil er ein Löwe war, lud ein venezianischer Kreuzer das Standbild am Piräus in seine Luken und brachte es nach Venedig. 18
Jahrhundertelang war der Löwe Sinnbild für die unbestrittene Seemacht San Marcos. Auch Genua und seine Heldenfamilie Doria erfuhren die Gewalt des geflügelten Löwen, als im Januar 1380 eine riesige Genueser Flotte in der Lagune erschien, um Rache für die Niederlage zu nehmen und den tödlichen Ring der Blokkade um das Leben der Republik zu legen suchte. Die Glocken vom Campanile läuteten Gefahr, die Gongs des Arsenals schlugen an. Carlo Zeno war Doge, in seiner Hand lag Venedigs Geschick. Der Seeheld Pisani bemannte die wenigen Schiffe, die eben am Molo lagen. Fischer brachten die alarmierende Kunde, daß Genua Truppen auf der Insel Chioggia — ganz nahe an der Einfahrt zur Lagune — gelandet habe. Bis in den Juni dauerte der tödliche Zweikampf der Flotten. Venedig siegte mit letzter Kraft. Sein Held Carlo Zerio war beim Sturm auf Chioggia gefallen, Pisani starb in Vergessenheit—, aber die Stadt San Marcos hatte den Konkurrenten erneut geschlagen und herrschte weiterhin über die blauen Wasser der See.
Denkmal des Colleoni Auf dem Campo vor der Grabkirche der Dogen, Santi Giovanni e Paolo, steht das schöne Erzdenkmal des Bartolomeo Colleoni, das der Lehrer Leonardo da Vincis, Andrea del Verrocchio, im Jahre 1510 im Auftrage des Rates von Venedig gegossen und bei dessen Guß er sich eine todbringende Krankheit zugezogen hat. Der Regen vieler Jahrhunderte hat die Spuren der einstigen Vergoldung von dem trutzig dahinschreitenden Roß und dem kühn aufgerichteten Reiter abgewaschen, so wie die Zeit den Glanz des Reichtums von der Republik San Marco genommen hat. Dieses 15. Jahrhundert aber, in dem Bartolommeo Colleoni lebte und für den Ruhm Venedigs kämpfte, strahlte wider vom Ruhme San Marcos. Der Sieg in der 130jährigen Auseinandersetzung mit Genua hatte Venedig auf die Höhe seiner Macht gehoben. Zwar rückten in Kleinasien die Türken gegen die erschütterten Bastionen des Byzantinischen Reiches und gegen Konstantinopel bedrohlich vor — aber was bedeutete dies, solange Venedigs Banner über der See wehten? Der Doge Pietro Loredan lief mit einem 19
Kreuzergeschwader aus und vernichtete die Schiffe der meeresungewohnten Türken bei Gallipoli (1416). Dann nahm San Marco auch die dalmatinische Küste von Friaul bis Albanien in Besitz und sicherte die Handelswege zum Osten durch stärkere Kastelle von Korfu bis Kreta und von Cerigo bis Lesbos. Der Geldumlauf der Republik San Marco betrug 10 Millionen Goldstücke, 4 Millionen waren die jährlichen Staatseinnahmen — die des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurden zur selben Zeit auf knapp 200000 geschätzt; 3000 Handelsschiffe fuhren über die Meere und führten das Banner mit dem geflügelten Löwen. 45 Großkampfschiffe beschützten — neben zahlreichen schnellen Kreuzern — die Sicherheit der Stadt. 36 000 Seeleute taten Dienst auf Venedigs Flotte. Der Wert der Paläste Venedigs war mit 7 Millionen Dukaten ver-1 zeichnet, der jährliche Mietertrag der Häuser und Lager betrug % Million Goldstücke, die Ausfuhr hatte einen Wert vonlOMil-i lionen. Es gab 1000 Adlige, deren Jahreseinkommen zwischen 70 und 4000 Goldstücken betrug. 200 000 Menschen wohnten in der Lagunenstadt — in einer Zeit, da Nürnberg 25 000 und Rom knapp 50000 Menschen zählte. Es waren die Tage der Renaissance, der Einzelmensch hatte sich aus der mittelalterlichen Ordnung befreit, Gewaltmenschen standen überall auf, die sich rücksichtslos und ohne Gewissensnot Stadtherrschaften und Staaten zusammenraubten. Die italienischen Tyrannen führten Krieg untereinander, bedeutende Abenteurer — gleich Francesco Sforza in Mailand — schmiedeten an den Kronen der Macht. Das Kriegführen wurde zur Angelegenheit der abenteuernden Mietgeneräle und des Geldes, das Söldnerheere in Bewegung setzte. Das war die Stunde, in der die Republik San Marco ihren Blick der „Terra firma", dem alten Venetien, dem Festlande in ihrem Rücken, und der Sicherung der Hauptverbindungen mit ihren Abnehmern im Norden und Westen Europas zuwandte. Venedig besaß Geld, darum verfügte es auch über Truppen. Dreißis Jahre lang schwelte der Krieg über Oberitalien. Die Banner San Marcos drangen gegen Padua, Mantua, Belluno, Treviso und Verona vor, langsam griff die Tatze des Löwen nach Jer Pforte zu den Alpenpässen am Brenner und Reschen. Brescia, 20
die Waffenschmiede Italiens, fiel. Riva am Gardasee wurde venezianisch. Größe Taten wurden vollbracht. Von der Etsch bei Rovereto bauten Venezianer einen Knüppelpfad über den Nagosee und die Berge bis Torbole, ließen drei Galeeren herüberschleppen und zu Wasser bringen. Mit diesen Schiffen beherrschten sie den Gardasee, nahmen Riva und hielten die Südflanke der Alpenpässe in Händen. In diesen Kriegen war Bartolomeo Golleoni aus Bergamo zuerst in die Dienste der Herzöge von Mailand, später in jene Venedigs getreten. Er wechselte viermal die Fahne. Unter dem Banner San Marcos führte er einen ruhmlosen Feldzug gegen die Med i a in Florenz. Als er starb, hinterließ er der Republik San Marco ein zusammengeraubtes Vermögen von 100000 Goldstücken. Das schöne Reiterstandbild auf dem Campo von Santi Giovanni e Paolo war der Dank, zu dem sich Venedig als Gegengabe für dieses Vermächtnis verpflichtet hatte.
Viele alte Klosterinseln liegen in der Lagune; im Hintergrund der langgestreckte Lido, vorn die Markussäule und die Säule dea hl. Theodor
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Während die Republik sich in Oberitalien ein Festlandreich eroberte, fiel im Jahre 1453 Konstantinopel in die Hände der Türken. Noch war aber San Marco stark zur See, seine Söldner nahmen Zante und Kephalonia wieder, in Gallipoli entstand ein neuer Stützpunkt. Die Türken bequemten sich zu einem Handelsvertrag und erlaubten auch weiterhin den Handel an den Meerengen. Eine starke Stütze wurde für Venedig der Erwerb von Zypern im östlichen Mittelmeer, das ihm nach dem Tode des letzten Inselkönigs als Erbe zugefallen war. Und doch verdüsterte sich der Horizont rings um die Lagune. Der Türke am Bosporus war ein unberechenbarer und bedrohlicher Partner, schon schweiften türkische Reiterhorden bis nach Dalmatien, schon bauten im Auftrag des Sultans griechische Seeleute in den Werften von Konstantinopel Großkampfschiffe nach verratenen Venezianer Plänen; auch von jenseits der Alpen begann der Sturm: Die Großmächte — Frankreich und das Deutsche Reich — stürzten sich auf das zerrüttete Italien. Französische und deutsche Söldnerheere durchzogen sengend und plündernd die „Terra f i r m a " ; sie begehrten Venedigs Besitz und Venedigs Geld. Unter solchen Gefahren drang die seltsam erregende Botschaft, daß die Spanier einen Genuesen namens Christoph Columbus mit Schiffen westwärts nach Indien entsandt und daß die Portugiesen Afrika umrundet und die ostwärts führende Seestraße nach Indien gefunden hätten, beängstigend ins Bewußtsein der Stadt. Vergeblich also hatten Venezianer Dukaten die Taschen der spanischen und portugiesischen Kapitäne gefüllt, damit sie von Entdeckungen Abstand nähmen, deren Folge die Verlagerung der Seewege und des Handels sein mußte. Das Schicksal hatte anders entschieden.
Fondaco dei Tedeschi Von der Insel Ripa alta s.chwingt sich in hohem Bogen — 27 Meter weit und mehr als 22 Meter breit — die steinerne Brücke Rialto über den Canal Grande. 12000 eingerammte Eschenstämme bilden tief in der Erde ihr Fundament. Auf der Treppenbrücke reihen sich heute die Läden der Juweliere und Goldschmiede, die Gasse jenseits mündet am großen Fruchtmarkt. Auf Ripa alta, 22
gleich neben der Brücke, steht der wuchtige Block der heutigen Hauptpost — ein mehrfach erneuertes und nach Bränden wieder erbautes Gebäude, auf dessen Grundmauern sich vordem der Fondaco dei Tedeschi, die Handelsniederlassung der deutschen Kaufleute, erhob. In Mestre auf dem Festland, von wo in dieser Zeit noch kein Brükkendamm nach Venedig führt, laden die deutschen Wagenzüge ihre Waren auf breite Schuten, Gondolieri lotsen die Geleite durch die Untiefen der Lagune. Die Kahne schwimmen den Canal Grande hinauf, der von vielen Booten belebt ist. Am Molo und längs des Kanals liegen Segler und Rudergaleeren vertäut. Vor dem riesigen Kaufhaus reiht sich Schiff an Schiff, weiter aufwärts im Kanal haben die Wein- und ölflotten festgemacht und parallel dazu am Strande, der mit Faschinen befestigt ist, drängen sich die Gewölbe der Händler, die Parfümeriebuden und Wirtshäuser. Weit draußen glänzen die weißen Gebäude der beiden Hospitäler, lebenswichtige Bauten; denn immer wieder gespenstern Typhus, Pest und Cholera durch die Stadt. In den großen Hallen des Fondaco häufen sich Kupfer-, Bleiund Zinnbarren, dazu Holz, Getreide, Mehl vom Balkan und aus Österreich; in den Gewölben lagern Leder, Pelzwerk und Felle, Wachs und Honig aus dem fernen Rußland und Polen, im nächsten Leinwand, Tuchballen, Barchent, Golddraht und Glaswaren, Panzer,. Helme, Schwerter und Papier, fertiggebundene Bücher, wie sie aus Deutschland, Böhmen, Flandern und Burgund kommen. Die Deutschen kaufen hier Ingwer, Pfeffer, Safran, Zucker und Zimt, Rhabarber, Weihrauch, Mandeln, Nüsse, Rosinen, Feigen, öl und Seife, Salpeter zum Pulvermachen, Pergament zum Bücherschreiben und Bücher aus der neuen Druckerei des Venezianers Manutius, bei dem auch Erasmus von Rotterdam drucken läßt. Schließlich erwerben sie noch einen Ballen der schier unerschwinglich gewordenen byzantinischen Purpurseidc. Sic kommt aus dem fast verödeten ,,Fondaco" der Türken am westlichen Ende des Kanals. i Den ganzen Tag gehen die Deutschen von Halle zu Halle und finden kaum Zeit, die goldschimmernden Paläste, die mit byzantinischer Pracht geschmückten Balkone, Gitterwerke und Kielbögen, die geheimnisdunklen Mosaikgewölbe des Domes und die 23
zahlreichen Standbilder auf den Campi zu besichtigen. Eben vor Toresschluß erreichen sie den Fondaco wieder. Vom Uhrenturm auf der Piazza dringt das berühmte Glockenspiel herüber, die Glocken vom Campanile und den vielen Inselkirchen läuten die Abendstunde ein. Die Tore des Deutschen Hauses werden verschlossen und verriegelt, auf Treppen und Gängen brennen Öllampen; die Stadt gebietet Ruhe, nur vom Kanal her schwingen ferne die Rufe der Gondolieri . ..
Accademia di belle Arti. . . Unter den vielen Galerien Venedigs ist die berühmteste — an Rang den Vatikanischen Sammlungen Roms oder den Florentiner Uffizien gleich — die der Accademia di belle arti, die Akademie der schönen Künste. Die klug angeordneten Säle reihen sich aneinander wie die Folge der großen Künstlergenerationen der Venezianer Schule. Es beginnt mit den Gebrüdern Bellini, setzt sich fort über Giorgione zu Tizian, Tintoretto, Paolo Veronese, zu Tiepolo und Canaletto. Als sie Venedig und der Welt ihre Werke schenken, weht der kalte Wind des Schicksals über die Republik San Marco. Im Jahre 1503 hat man angesichts der wühlenden Feindschaft und der Landeinhußen im Rücken des Staates, auf dem Festland, einen üblen Frieden mit den Türken schließen müssen und einige Stützpunkte und Handelsvorteile im Osten eingebüßt. Aber der Druck der Türken, die über den Balkan vordringen und die Seewege mit ihren Seeräuberflotten sperren und die Handelsniederlassungen bedrohen, läßt nicht nach. Schwerwiegend ist auch die Verlagerung der Handelswege nach den Ländern des fernen Westens. Der Atlantische Ozean beginnt seine Rolle als das neue Mittelmeer einer größer gewordenen Menschheit zu spielen. Die Länder, die Häfen am Atlantik besitzen, ziehen den Handel an sich. Das Sterben der Macht hebt an. Doch eben in diesen Tagen, in denen der politische und wirtschaftliche Glanz Venedigs zu verblassen droht, blüht das Herz der Stadt noch einmal in allem Farbenprunk empor. San Marco 24
leistet seinen unsterblichen Beitrag zu den Künsten. Die Gebrüder Bellini: Jacobo (1400—1464), Gentile (1427—1507) und Giovanni (1428—1516), jeder ein Maler von hohem Rang, haben seinen künstlerischen Ruf begründet. Gentile Bellini ist eines Tages von der Stadt Venedig zu Mehemmed, dem Eroberer Konstantinopels, geschickt worden. Er hat ein Porträt des Türken so sprechend ähnlich gemalt, daß ihm der Sultan einen Wunsch freigestellt hat. Der Venezianer Bellini hat nicht für sich, sondern für San Marco gebeten: Erneuerung der Handelsprivilegien und Duldung der Faktorei von Galata. Geehrt und reich beschenkt ist er heimgekehrt, der „Rat der Zehn" und der Doge haben ihn empfangen. Die Stadt hat ihm ein Jahresgehalt von 200 Goldstücken bewilligt. Einer seiner Schüler ist aus der „Terra firma" Venedigs gekommen, aus dem Dolomitengebiet von Castelfranco: Er heißt Giorgione (1478—1511), ein kühner, schwarzumlockter Römerkopf, ein feuriger, stürmischer Jüngling, der seine Bilder in ein geheimnisvolles Braundunkel zu hüllen und manchmal mit einem Hintergrund von Dolomitenbergen zu versehen pflegt. Giorgione ist der Freund des deutschen Malers Albrecht Dürer, der in jungen Jahren in die Lagunenstadt gekommen ist und mit Giorgione die Freude am Leben, an den Künsten und an Venedig teilt. Als 1504 der Fondaco dei Tedeschi durch einen schrecklichen Brand mit allen Waren vernichtet wird, beschließt der Rat, das Gebäude schöner und vollkommener wieder zu erbauen, und beauftragt Giorgione, es mit Fresken zu schmücken. Zu diesem reich bedachten Auftrag zieht Giorgione seinen Freund Dürer hinzu, aber den treibt es bald wieder nach Deutschland zurück. Als die Pest ausbricht, erkrankt Monna Violante, Giorgiones Geliebte, die er als ruhende Venus gemalt hat; der Maler h a r r t verzweifelt bei ihr aus, wird selber krank und stirbt im Alter von dreiunddreißig Jahren. Sein Schüler stammt ebenfalls aus den Dolomiten, aus dem Dorfe Cadore. Er heißt Tizian (1477—1576). Er hat seinem Meister bei den Fresken an dem Fondaco geholfen. Aber als eines Tages Freunde den Giorgione beglückwünscht haben, die Bilder auf der Seite der Hauptstraße seien noch besser geraten als jene an der Kanalseite, ist ein Riß in die Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler gekom25
men; denn eben die Bilder dieser Flächen hat Tizian aus Cadore und nicht Giorgione gemalt. Als Giorgione tot ist, zweifelt niemand daran, daß Tizian der Erste unter den Künstlern Venedigs ist. Er verbindet großen Geschäftssinn mit großartigem Können. Bald malt er alle großen Männer seiner Zeit: die Dogen, den berühmten Pietro Aretino, der in Venedig lebt und dort die Welt mit seinen bissigen Versen beunruhigt, Kardinal Bembo, König Franz von Frankreich und mehrmals Kaiser Karl V. Schließlich beschäftigt der Meister in seinem prunkvollen Atelier einen ganzen Stab von Malern und Gehilfen, seine Einnahmen von Staats wegen und von seinen auswärtigen Aufträgen bringen ihm ein großes Vermögen. In der Werkstatt des Tizian macht sich bald ein kleiner Farbenreiber namens Jacobo Robusti durch sein entschiedenes Malertalent bemerkbar. Tizian nennt ihn spöttisch nur das ,Färberlein' oder ,Tintoretto' (1518—1584). Dieser Tintoretto wird der größte und gefürchtetste Konkurrent des Meisters. Lange Zeit gelingt es dem weltberühmten Maler, das ,Färberlein" klein zu halten, bis eines Tages das Kloster San Rocco ein Preisausschreiben für die Ausmalung seiner Schule veranstaltet. Es soll zunächst nur der Entwurf für ein gewaltiges Deckengemälde geliefert werden. Tizian ist überzeugt, daß er den Auftrag erhalten wird. Tintoretto aber überredet den Bruder Pförtner und bringt in der Nacht vor der Preisverteilung das fertig ausgeführte Bild an der Decke an. Als die Kommission am Morgen zusammentritt, um die Entwürfe zu prüfen, entdeckt sie das vollendete Bild und gibt den Auftrag dem, der die Überraschung besorgt hat. San Rocco wird das Schicksal Tintorettos. Im Laufe seines langen Lebens schmückt er Schule, Kirche und Kloster mit sechzig riesigen Gemälden. Sein Grundsatz ist: die Zeichnung von Michelangelo, die Farbe von Tizian. Aber er versteht sich auch weiterhin nicht mit dem älteren Meister, er gehört der jüngeren Malergeneration an, die kühn nach neuen Wegen sucht und sie findet. Was Tintoretto wagt, ist Eindruckskunst, Wirkung von Farbe, Licht und Schatten — nicht mehr naturgetreue Wiedergabe, wie bei den älteren Künstlern der späten Renaissance. 26
Immer mehr zieht sich unterdessen das Gewitter um das weitverstreute Seereieh Venedigs zusammen. Die neue türkische Flotte der Seeräuber Horuk und Chaireddin Barbarossa und der Eroberungsgeist des Sultans Soliman bedrängen die Kastelle mit dem Markuslöwen. Die Leute auf Kreta und den anderen Inseln fliehen nach dem Westen. Unter den Flüchtlingen trifft im Jahre 1565/66 ein gewisser Domenikos Theotokopulos aus einem venezianischen Kastell auf Kreta in der Lagunenstadt ein. Er lernt bei Tizian, dann aber fühlt er sich mehr zu Tintoretto und dessen kühner impressionistischen Art hingezogen.
Eine der Wasserstraßen Venedigs: 160 Kanäle lühren an den Portalen alter Paläste und den Eingängen der Bürgerhäuser vorüber. Gondeln übernehmen die Beförderung. In Venedig gibt es keine Kraftwagen, Fahrräder und Fuhrwerke
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In späteren Jahren geht er nach Spanien weiter und wird ,eini großer Meister. Sie nennen ihn der Kürze halber ,EI Greco' (1541 bis 1614), den Griechen. Sein künstlerisches Wesen ist in Venedig geformt worden. Die glänzende Reihe setzt sich fort. Es tritt Paolo aus Verona (1529—1588) auf und bedeckt die Wände im Dogcnpalast und in den Privathäusern Venedigs mit seinen Farbwundern; er ist ein Maler der Dekoration, der prunkenden Stoffe, ein Meister der Technik und der überraschenden Einfälle. Die Galerie der Venezianer Meister trägt weitberühmte Namen wie jenen Tiepolos (1692—1769), der in ausgreifenden Wandgemälden die Leichtigkeit des späteren Barock in Kirchen und Paläste zaubert: in Venedig, Würzburg und Madrid. Antonio Canaletto (1697—1768) beendet die große Venezianer Malerschule — ein letzter Künder der Schönheit und Größe seiner Vaterstadt Venedig, die er in hundert Ansichten dargastellt und die Tiepolo mit Figuren ausgestattet hat. Als die Stadt San Marcos — bereits zu einem Traum aus versunkenen Tagen geworden — Angesicht zu Angesicht mit der Vergessenheit und Armut steht, hat sie noch die Größe, einen der Ihren, den jungen Bildhauer Canova (1757—1822), auf Staatskosten nach Rom zu schicken. Canova wird der große Meister der italienischen Klassizistik. Der Senat hat ihm in der Frarikirche zu Venedig, dem Gotteshaus, das die „Assunta", das berühmteste Werk Tizians, und sein Grab birgt, ein Denkmal gesetzt, das der alte1 Bildhauer noch selber ent%vorfen hat. In Kirchen, Palästen und Grabmälern lebt das Herz dieser einzigartigen Stadt bis in die Gegenwart.
Die Grabkirche der Dogen Ja, auch in den Grabmälern lebt die Lagunenstadt weiter — auch Gräber sprechen für Venedig. Das Gotteshaus Santi Giovanni e Paolo am alten Hospital — San „Zanipolo", wie der Venezianer sagt — ist die Ruhestätte der großen Männer San Marcos. In dieser gotischen Domini28
kanerkirche stehen die Denkmäler der Dogen; jeder Name ist ein Stück glanzvoller Geschichte. An der Eingangswand, zur Rechten und nahe dem ersten Altar, steht das Denkmal des Helden Marcantonio Bragadfti. Aber die Urne enthält nicht die Asche des Toten, sondern nur seine gegerbte Haut, die ihm die Türken anno 1571 bei der Einnahme von Famagosta auf Zypern lebendig vom Leibe geschunden haben.
Es war ein schreckliches Jahr, dieses Jahr 1571. Das Seereich Venedig befand sich auf dem Rückzug. Noch immer kämpften weit im Süden Famagosta und Nicosia auf Zypern gegen die riesigen Belagerungsheere des Wesirs Mustapha. Held Bragadin und seine aus deutschen und italienischen Söldnern bestehende Besatzung wehrten sich und füllten die Breschen der Wälle mit ihren Leibern. Der Hilferuf der Verzweifelten traf ein entzweites Europa. Spanien mißtraute Frankreich, die Genuesen weigerten sich, mit den verhaßten Venezianern zusammenzugehen, der Papst mahnte vergeblich zur Einigkeit. Er ordnete einen Gebetssturm an, in tausend Kirchen des Abendlandes wurde gebetet, aber nur zögernd sammelten sich die Geschwader im Hafen von Messina. Nicosia ergab sich der Übermacht. Mit der Kunde vom Fall Nicosias trafen weitere Schreckensnachrichten ein. Die Türken hatten nach der Einnahme der Stadt Hundertc von Christenmädchen auf eine Galeere geschleppt, um sie zu den Sklavenmärkten zu befördern. Eine Venezianerin entriß einem Janitscharenposten die Fackel, lief in die Pulverkammer und sprengte Schiff und Fracht in die Luft. Die Christenheit betete inbrünstiger —, aber die Diplomaten vermochten sich nicht zu einigen. Man stritt um den Oberbefehl, die Flotte in Messina setzte Muscheln an die Kiele. Im Mai kam die Botschaft vom Fall Famagostas und vom Martyrium des Helden Bragadin nach Venedig. Der türkische Caputan Pascha hatte die Haut des Venezianers als Feldzeichen am Hauptmast gehißt und sie dann ausgestopft und durch das Lager geschleift. Jetzt, da auch Zypern verloren war, tauchten in der Nähe der Lagune von Venedig immer mehr türkische Geschwader auf. Gene29
ralkapitän Venier drängte verzweifelt zur Tat. Es ging um das Leben San Marcos. Endlich einigte man sich auf Don Juan d'Austria, den Halbbruder König Philipps von Spanien, als Anführer der Flotte. Zweihundert türkische Schlachtkreuzer landeten Truppen auf dem Festland. Corcula — vor der Haustüre Venedigs — fiel in die Hand des Moslems. Da befahl Don Juan, die Anker zu lichten. Man hatte Nachricht, daß der Türke in die Bucht von Lepanto zurückgelaufen sei, um Nachschub zu laden. Jetzt oder nie mußte angegriffen werden. Sie liefen aus, von den runS 180 Christenschiffen trugen 93 das Banner San Marcos. Man schrieb den 7. Oktober 1571. Fünf Stunden dauerte die erbitterte Schlacht in d^r Bucht. Meer um Himmel umwölkten sich mit dem Rauch der Geschütze, dem Qualm brennender Galeeren. Am Abend dieses Tages war die türkische Flotte vernichtet, von 48 000 Türken waren 25 000 tot. Venedig trauerte um 5000 Tote und viele große Männer. Sie liegen in Santi Giovanni e Paolo begraben. Im linken Kreuzarm dieser Kirche ist auch die Capeila del Rosario, die der Rat zum Gedenken an die Brechung der türkischen Seemacht bei Lepanto errichten und mit einem Gemälde über die Schlacht ausschmücken ließ.
Santa Maria della Salute Die Kirche liegt am Canal Grande, fast genau gegenüber dem Markusplatz: ihr barocker Kuppelbau mit den beiden Türmen und der breitgeschwungenen Freitreppe, die von den Wassern aufsteigt, ist eines der Wahrzeichen der Stadt (vgl. das Umschlagbild). Der Bau dieser majestätischen Kirche wurde 1631 begonnen; sie ist das Dankgeschenk der Stadt an die Mutter des Heils, die eine Pestepidemie gnädig vorübergehen ließ. 1348 — im großen Pestjahr — waren von 150000 Bürgern 100 000 der Seuche erlegen, 1576 — wenige Jahre nach dem letzten Triumph San Marcos bei Lepanto — starben 60000 Venezianer an der schwarzen Pest. Und dann kam die Krankheit 1630 wieder. Die schwarzverhüllten Doktoren mit ihren Schnabelmasken glitten wie Boten des Todes in den Gondeln durch die engen, ver-* schmutzten Kanäle. Die Leichenträger mit geschwungenen Räueher30
topfen holten die Toten ans den Palästen und Häusern. Der Tod1 von Venedig — der Giorgione und Tizian geholt hatte —, ging um und raffte die Menschen in Massen dahin. Der Handel erlahmte, die fremden Schiffe blieben aus, bleiern lag der Himmel über der Lagune, aus der fiebrige Dünste und, Wolken von Mücken stiegen. Gebete hallten auf den Campi, Prozessionen wallten zu den Madonnen, die von roten Lampen beleuchtet an den Ecken der Gäßchen standen. Der Rat tat ein Gelübde. Die Seuche erlosch. Man baute Santa Maria della Salute. Langsam sank Venedig in den Arm der Stille zurück. Die Macht war dahin, war in die Staatskanzleien neuer, absoluter Großstaaten abgewandert; die Reichtümer der Erde nahmen eine andere Bahn: über den Atlantik oder um Afrikas Küsten in die Häfen Frankreichs, Englands und der Niederlande. Venedig lebte vom Gedanken an die Vergangenheit, von den aufgespeicherten Schätzen seiner Kultur und von der Klugheit seiner Bewohner. Es wurde der gernbesuchte Salon Europas im Rokoko. In dieser Zeit des noch einmal aufbegehrenden Lebens — im Jahre 1797 — trug ein junger General namens Bonaparte das dreifarbige Banner der Französischen Revolution nach Venetien und kehrte sein dräuendes Antlitz der Republik zu. Unter der Drohung entsagte der Rat der Stadt freiwillig den jahrhundertelang bewahrten Vorrechten des Stadtadels und beendete eine fünfhundertjährige Geschichte, indem er sich zur Demokratie der Revolution bekannte. Am 12. Mai 1797 dankte der letzte Doge Ludovico Manin ab, am 16. erschienen französische Truppen und setzten eine demokratische Regierung ein. Das Goldene Buch des Adels wurde auf dem Markusplatz, zu Füßen eines schnell errichteten Freiheitsbaumes, feierlich verbrannt. Aber der Friede, der nach dem Sturze Napoleons kam, brachte nichts anderes als einen Wechsel in der Fremdherrschaft: Venedig und Venetien wurden österreichisch. Das 19. Jahrhundert rebellierte im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker, und so rebellierte auch Venedig annot 1848 und 1859. Im Jahre 1866 hielt der italienische König Viktor Emmanuel seinen Einzug in die Stadt, Venedig schloß sich dem neuen Staate Italien an. 31
Wenige Jahre später gab die Eröffnung des Suezkanals der Stadt einen Schatten einstiger Bedeutung zurück. Wieder verlagerten sich die Wege des Weltverkehrs. Einige Schiffahrtslinien wählten Venedig als Anlegeplatz. Die neue Zeit ließ Fabriken, Öltanks und Hafenanlagen am Festlandufer wachsen und legte einen unschönen Reif moderner Geschäftigkeit um die Lagune, ja selbst an den Saum der Stadt. Der tödliche Kampf mit der Verlandung der Schiffahrtsrinnen, das Ringen mit den Schlammassen, die von den Alpenflüssen alljährlich in die Lagune geführt werden, macht für Venedig alles unendlich schwer. Am Gegenufer ist das betriebsame Triest emporgeblüht; es blieb immer nur ein Almosen, was vom Weltverkehr und Handel an die Lände San Marcos floß. Fremdenverkehr, Filmfestspiele, Bäderbetrieb am Lido und die Ausübung jener uralten Künste, die bis aus Römerzeiten herüberreichen: die Glasbläserei von Murano, die Spitzenklöppelei in Burano, die Filigrankunst der Goldschmiede am Rialto, die Mosaiken der Werkstätten am Canal Grande, erhalten das Leben der Stadt. Viele kommen jedes Jahr in der Großgarage oder am Bahnhof Santa Lucia an, viele gehen über das Fallreep der Schiffe am „Kai der Slawen" oder im neuen Hafen. Nur wenige wissen um das Herz dieser Stadt. Ihnen aber ruft der Gondolieri oder der schlichte Facchino immer wieder das begeisterte Bekenntnis zu: „0 Venezia, innah morata m i a " — ,0 meine Stadt Venedig, meine Geliebte!'
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bild Umschlagseite 2: Glockenturm der Markuskirche. Fotos: R. Löbl, E. N. I. T., Foto Marburg
L u x - L e s e b o g e n 2 0 5 (Geschichte) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (Vierteljahr!. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, Oberbayern, Seidl-Park. — Druck: Buchdruckerei Atier, Donauwörth
Beim Lesen von Zierers abendländischer Geschichte öffneten sich immer wieder Ausblicke in die Räume jenseits der weitgezogenen Grenzen des Abendlandes und ließen die Ausstrahlungen der abendländischen Welt auf die Reiche des Orients, Asiens, Afrikas und Amerikas sichtbar werden. Diesen außereuropäischen Großräumen ist eine neue Buchreihe von Otto Zierer gewidmet, die die Geschichte und Kultur der gelben Rasse, des Islams, Indiens, Afrikas, Ostasiens und des amerikanischen Kontinents farbig und anschaulich schildert. Als erstes abgeschlossenes Werk erscheint, im Umfang den Doppelbänden des Geschichtswerkes „Bild der Jahrhunderte" entsprechend, die
Geschichte Indiens und des Islam 1. Band
„Völker aus Steppen und Wüsten" 2000 vor Chr. bis 700 nach Chr.
2. Band
„Kaiser und Kalifen" 700 bis 1500
3. Band
„Die goldenen Tempel" 1500 bis 1760
4. Band
„Gouverneure und Rebellen" von 1760 bis zur Gegenwart
Jeder Band enthält Kunstdrucktafeln, historische Karten und im Anbang Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen, Zeittafeln, Quellen- und Literaturnachweise. Die Buchreihe entspricht auch im Format den Bänden der abendländischen Serie „Bild der Jahrhunderte", ist aber in der Einbandfarbe und in der Umschlaggestaltung deutlich abgehoben. Jeder Band in Ganzleinen DM 9.—, in LUX-Luxuseinband DM
10.50.
Prospekte in jeder Buchhandlung und beim Verlag
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU
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