Jennifer Justin
VERBOTENES RENDEZVOUS
Das Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe Mark Farraday läßt der Modedesignerin Alex...
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Jennifer Justin
VERBOTENES RENDEZVOUS
Das Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe Mark Farraday läßt der Modedesignerin Alexandra O'Neill den Atem stocken. Dieser Mann, der inzwischen zu den reichsten und bekanntesten in der Gegend gehört, übt noch immer eine derart sinnliche Anziehungskraft auf sie aus, daß Alexandra instinktiv um ihre Beziehung zu Jason fürchtet. Mit Recht, wie sich schnell herausstellt, denn ein einziger Kuß genügt, Alexandra alle Bedenken über Bord werfen zu lassen und sich erneut an Mark zu verlieren. Doch so klar sie erkennt, daß Jason nicht der Richtige für sie ist, so deutlich wird auch, daß Sex allein für einen neuen Anfang mit Mark nicht reicht. Die Nachricht vom Tod ihres Vaters entreißt Alexandra vorübergehend dem quälenden Karussell ihrer Gedanken. Gleichzeitig aber ist es gerade dieser neuerliche Kummer, der es ihr fast unmöglich macht, Mark zu widerstehen…
LOVE AFFAIR erscheint 14täglich in der (£ CORA VERLAG GmbH & Co, Berlin Redaktion und Verlag: Kaiser-Wilhelm-Straße 6, 2000 Hamburg 36, Telefon 040/347 (1). FS 0 Geschäftsführung: Hans Sommer Geschäftsführender Redakteur: Claus Weckelmann (verantwortlich für den Inhalt) Textredaktion/Lektorat: Ilse Bröhl (verantwortlich) Redaktionelle Produktion: Karin Dickhaut (verantwortlich), L.-L. Stripling, Marianne Schmidt Gestaltung: Traute Bentel Grafik: Otto Dövle-Moe, Renate Lehrke Foto: WEFEGE © Cora Verlag Herstellung: Jürgen Brühl (verantwortlich), Peter Urbanczyk Vertrieb: Gerhard Bergmann (verantwortlich) Anzeigen: Norbert Büttner (verantwortlich) Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste. © by: Jennifer Justin Unter dem Originaltitel: ,Passion's Victory“ erschienen bei Silhouette Books, a Simon & Schuster Division of Gulf & Western Corporation, New York. Übersetzung: Ruthild Rabius © Deutsche Erstausgabe in der Reihe LOVE ÄFF AIR Band 30 (21 2), 1984 by CORA VERLAG GmbH & Co, Berlin Alle Rechte vorbehalten. LOVE AFFAIR-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden, Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Satz: Ehapa Verlag GmbH, Stuttgart Druck: Ebner Ulm Printed in Western Germany
1. KAPITEL Der braune Junghengst jagte die Bahn hinunter, Erde flog auf von seinen Hufen. Die letzte Kurve vor dem Ziel nahm er nach klassischer Manier, seine Bewegungen drückten gezügelte Schnelligkeit aus. Alexandras Hände umspannten fest die oberste Stange des weißes Zauns, der die Koppel von der Übungsbahn trennte. Ihr Pulsschlag stieg spürbar, als Pferd und Reiter in die Zielgerade einbogen. Neben ihr stand Jason Randolph. In der Hand hielt er eine große goldene Stoppuhr, womit er bereits die zwei Derby-Sieger des Randolph-Gestüts im Trainingsdurchlauf gestoppt hatte. Jetzt preßte er auf die Zehntelsekunde genau den Knopf seiner Uhr auf „stop“ und notierte ohne Begeisterung die Zeit. „Vier Achtelmeilen in fünfundvierzig Sekunden“, sagte er, mehr zu sich selbst als zu seiner Begleiterin. Alexandra sah ihn forschend an. Dies war eine sehr gute Zeit für eine halbe Meile. Jede Zeit unter siebenundvierzig Sekunden wäre ein Grund zum Feiern. Jason aber schien dies nicht zu beeindrucken. „Das ist ausgezeichnet, Jason.“ Irgend etwas verdroß ihn, sie spürte es schon den ganzen Morgen über. „Bullet ist nur morgens gut. Nachmittags läßt er nach.“ Dies klang fast wie ein Tadel, als ob sie etwas Dummes gesagt hätte. Alexandra wandte sich abrupt von ihm ab. Zum Abkühlen führte der Pf erde junge den Hengst in gemächlichen Kreisen auf der Koppel herum. Sie beobachtete das edle Tier, dessen kraftvolle Muskeln sich bei der Bewegung unter den glänzenden Flanken abzeichneten. „Es ist ein wunderbares Pferd, Jason. Du hast schon andere trainiert, die wie er waren. Hab doch etwas Geduld.“ „Aber ich hab' nun mal keine Geduld mehr“, fuhr er sie an. „Ja, das merke ich, es ist nicht zu übersehen.“ Ihre grünen Augen funkelten vor Zorn. Sie haßte diesen schneidenden Ton. Er war ihr bereits aufgefallen, aber nie zuvor hatte er so zu ihr gesprochen. Eine Strähne ihres rotbraunen Haares fiel ihr ins Gesicht. Mit einer ärgerlichen Handbewegung strich sie sie zurück und wandte sich ihrem Verlobten zu. Er hatte hellgraue Augen, die meist nachdenklich wirkten, manchmal aber auch kalt, so wie jetzt. Sein hellbraunes feines Haar war glatt nach hinten gekämmt. Jasons Bewegungen drückten lässige Überlegenheit aus. Jason Morris Randolph III. stammte schließlich aus einer der angesehensten Familien Kentuckys, in der sich im Laufe von Generationen die erfolgreichsten Tabakanbau- und Pferdezuchthäuser des Landes durch Heirat vereinigt hatten. Ein typischer Kentucky-Aristokrat. Dennoch hatte er kein Recht, ihr gegenüber so arrogant zu sein. „Ich will dieses Derby gewinnen, ich muß es gewinnen, Alexandra.“ Seine Stimme klang eindringlich. „Du wirst es gewinnen, Jason.“ Sie wußte jetzt, daß seine innere Anspannung nichts mit ihr zu tun hatte. „Du gewinnst immer.“ Ihr Ärger legte sich. Jason nahm ihre Hand, drückte sie entschuldigend und führte Alexandra weg von der Bahn. Kein Zweifel, er liebte sie wirklich. Er hatte sie gebeten, seine Frau zu werden und Kinder mit ihm zu haben. Doch manchmal konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, daß Pferde seine einzige große Leidenschaft waren. Er schien wie besessen von dem Wunsch, den größten Triumph der Randolphs zu wiederholen: das Triple-Crown-Rennen zu gewinnen. Alexandra versuchte, sich an ihre künftige Stellung an seiner Seite zu gewöhnen
und nicht zu vergessen, Jason nur nach seinem sozialen Umfeld zu beurteilen. Er war der letzte einer langen Ahnenreihe von Randolphs, ein typischer Repräsentant der Südstaatengesellschaft also, deren Ansichten über die Rolle der Frau sich seit dem 19. Jahrhundert kaum geändert hatten. Für ihn war es daher ganz natürlich, daß eine körperliche Beziehung nicht vor der Hochzeitsnacht begann. Eigentlich war sie ganz froh, daß er an dieser altmodischen Sitte festhielt, denn es war ihr noch nicht gelungen, jenen anderen Mann aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, der sie körperlich und seelisch geprägt hatte. Seit fünf Jahren versuchte sie vergeblich, sich ihre Gefühle für ihn auszureden. In drei Monaten nun würden Jason und sie heiraten, doch der Gedanke, mit ihm zu schlafen, war ihr noch immer fremd. Sie beobachtete Jason, der dem Pferdejungen einige Anweisungen gab. Nein, es war nicht seine Leidenschaft für den Rennsport, die zwischen ihnen stand, sondern es waren die Erinnerungen. Aus dem gleichen Grund war ihr in diesem Sommer die Chance ihres Lebens entgangen. Während ihrer zweijährigen Lehrzeit im Modeatelier bei Fabio und Fratelli Conti hatte sie alle anfallenden Arbeiten, die boshaften Seitenblicke und die Kniffe in den Po mit dem gleichen freundlichen Lächeln ertragen. Schließlich war Fabio, der ältere der Conti-Brüder, auf ihr Talent aufmerksam geworden. Sie allein sollte die Modelle für die Wintersportbekleidung entwerfen und die Verantwortung für die gesamte Kollektion übernehmen. Alexandra war bereit. Nach all den Monaten harter Arbeit für das italienische Modehaus, in denen sie unzählige Entwürfe lieferte, Stoffe zuschnitt und nächtelang nähte, hatte sie sich diese Chance redlich verdient. Sie hatte sogar das lukrative Angebot abgelehnt, als Mannequin zu arbeiten, nur, um ihr Können als Modedesignerin unter Beweis zu stellen. Das Angebot war aber an eine Bedingung geknüpft. Jede andere ehrgeizige Designerin wäre sicher mit Fabio ins Bett gegangen, um diesen Auftrag zu bekommen. Sie aber hatte ihn abgewiesen und das nächste Flugzeug nach Hause genommen. Dabei war Fabio weder alt noch unattraktiv. Die Mannequins lagen ihm zu Füßen. Alexandra hätte alles dafür gegeben, diesen Auftrag zu erlangen, doch die lächerlichen Erinnerungen an Mark hinderten sie daran. Zum Teufel mit dir, Mark Farraday, dachte Alexandra, während sie mit Jason über die Koppel zu seinem Wagen ging. Du wirst mir nicht noch einmal dazwischenkommen. Jason und ich passen zusammen. Er hat seine Pferde, ich habe die Mode. Ich werde eine gute Frau und unseren Kindern eine gute Mutter sein – und eine gute Designerin. Sie gab Jason, der ihr die Wagentür aufhielt, einen Kuß. „Reg dich nicht so auf, Liebling. Du hast es schon vorher geschafft, und du wirst es auch diesmal schaffen.“ „Ja, du hast recht, ich werde gewinnen.“ Sein Blick verlor sich in der Ferne. „Aber das Pferd wird nicht Bullet heißen.“ Er hob den Kopf und atmete tief die frische Oktoberluft ein. „Glückstreffer.“ Er betonte den Namen wie eine Zauberformel. „Mein nächster Sieger heißt Glückstreffer.“ „Glückstreffer?“ Der Name war ihr neu. Sie hatte lange nichts mehr mit der Pferdezucht zu tun gehabt. „Ist er wirklich so gut?“ Jason warf seinen Notizblock auf den Rücksitz und setzte sich hinter das Steuer. „Er ist ein ,Maiden', ein auf der Rennbahn noch unerprobtes Pferd. Es wird derzeit viel von ihm geredet. Am Mittwoch fliege ich nach Kalifornien, um ihn mir
anzusehen. Wenn er wirklich so gut ist, wie man hört, werde ich dem Besitzer mein Angebot unterbreiten.“ „Kalifornien?“ Alexandras Stimme klang ungläubig. „Wie kommt ein Vollblut nach Kalifornien?“ Wie Jason war sie im Zentrum der Pferdezucht von Kentucky, dem Fayette-Bezirk, geboren und aufgewachsen und war von klein auf mit der Pferdezucht vertraut. Es gab feste Regeln und eine besagte, daß man ein gutes Vollblut nur im Osten der USA oder in Europa fand. „Du bist wirklich lange weg gewesen. Der Wettbewerb hat sich zwischenzeitlich auf die gesamten Staaten ausgedehnt. In Santa Anita, Kalifornien, beispielsweise geht es um 250.000 Dollar. Die Rennstrecke ist erstklassig, und die Pferde sind es auch.“ Während Jason den Wagen über den Kiesweg steuerte, dachte Alexandra über das Gehörte nach. Vielleicht wäre es eine gute Idee, zusammen mit Jason zu verreisen. Sie könnten sich dabei endlich näherkommen. Und nachdem sie zwei Jahre ihres Lebens dem Entwerfen von Sportbekleidung gewidmet hatte, war es höchste Zeit, Kalifornien, das Mekka der Sport- und Freizeitmode, kennenzulernen. „Großartig“, sagte sie, zog die Beine auf den Sitz und sah Jason erwartungsvoll von der Seite an. „Ich werde dich begleiten.“ Er blickte finster auf die Straße. „Unmöglich.“ Alexandra traute ihren Ohren nicht. Sonst wollte er sie immer um sich haben. Mehr als einmal hatte er scherzhaft gesagt, er trainiere sie auf seinen Lebensstil. Schon bevor er ihr den Verlobungsring schenkte, hatte er besitzergreifend über ihre Zeit verfügt. Sie reagierte nicht auf sein Nein und ließ sich die Angelegenheit schweigend durch den Kopf gehen. Der Wagen bog in einen schmalen Feldweg ein, der den Weg zur Randolph-Villa abkürzte. „Du würdest dich sicher langweilen. Es ist nur eine Geschäftsreise, und wir hätten keine Zeit, irgend etwas zu unternehmen.“ Sie passierten einen Pappelhain. Das Herbstlaub leuchtete rotgolden, und Alexandra wurde bewußt, daß sie vergessen hatte, wie schön Kentucky im Herbst war. „Ich mich langweilen? Bestimmt nicht!“ Sie lachte. „Meine Güte, ich kenne doch das Geschäft. Wenn sich die Verhandlungen zu lang hinziehen, miete ich mir ein Auto und gehe allein auf Erkundungstour.“ Er parkte den Wagen auf dem Platz vor dem Haus. „Es gibt genug, was ich mir gern ansehen möchte.“ Alexandra bemerkte seinen grimmigen Gesichtsausdruck. „Jason, was ist los?“ Blicklos schaute er durch die Windschutzscheibe auf die Kolonialstilfassade des Hauses. „Alexa“, begann er und holte tief Luft, „der Mann, dem Glückstreffer gehört, heißt Mark Farraday.“ „Wie bitte?“ flüsterte sie fassungslos. „Er ist der Besitzer von Vista del Lago, einem der bedeutendsten Zuchtställe an der Westküste.“ „Das ist unmöglich, Jason. Er war bettelarm, nur ein Farmgehilfe.“ Automatisch sprach sie die Worte, während ihre Gedanken ganz woanders weilten. „Das ist erst fünf Jahre her. Vom Tellerwäscher zum Millionär in so kurzer Zeit, so etwas gibt es nicht mehr.“ Jason zuckte mit den Schultern und beobachtete sie. Alexandra versuchte, sich mit dem Gedanken anzufreunden und meinte, Marks Stimme wiederzuhören: „Ich bin so arm, ich besitze nicht einmal einen Namen.“ Die Farradays, seine
Pflegeeltern, bewirtschafteten als Pächter das Land der Randolphs. Seine richtigen Eltern kannte er nicht. Erst als sie die Farm der Farradays gesehen hatte, verstand Alexandra, was er meinte. Das war, als er verschwand. Sie hatte tagelang auf ihn gewartet, bis sie es nicht mehr länger aushielt und nach Windermere hinüberritt. Auf dem Pachtland fand sie schließlich Marks Zuhause. Das Dach der ärmlichen Behausung bestand aus verrostetem Wellblech, die Stufen, die sie zu einer niedrigen Tür hinauf eilte, waren ausgetreten. „Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist“, hatte ihr Mrs. Farraday durch das Fliegengitter der Tür gesagt. „Aber er ist ein guter Junge. Was immer er tut, es wird schon das Richtige sein.“ Viele Wochen später – Alexandra stand kurz vor ihrer Abreise nach Livorno – erfuhr sie, daß Mr. Farraday in der Nacht vor Marks Verschwinden einen Schlaganfall hatte und seither gelähmt war. Inzwischen waren die beiden alten Leute, die Mark aufgezogen hatten, gestorben. Ob Mrs. Farraday wohl bis zu ihrem Tod von Marks Rechtschaffenheit überzeugt gewesen war? Alexandra kämpfte in Gedanken mit der Vorstellung, daß Mark Farraday mit so viel Geld aufgetaucht war. Was steckte dahinter? Eine reiche Frau? Wie kam ein mittelloser Niemand zu einem Pferd, das in den Vereinigten Staaten als absoluter Geheimtip galt? Jason schien mit den gleichen Fragen beschäftigt zu sein. Deprimiert saß er neben ihr, zog den Schlüssel aus dem Zündschloß und ließ ihn auf die Ablage fallen. „Ich habe keine Ahnung, wie er zu seinem vielen Geld gekommen ist. Bei einem Typ wie ihm kommen natürlich die verschiedensten Möglichkeiten in Betracht. Natürlich gibt es viel Gerede, wie beispielsweise vom Spielerglück in Las Vegas. Auch soll vor kurzem jemand eine Glückssträhne bei Pferderennen gehabt haben. Man spricht ebenfalls von Grundstücksspekulationen. Wahrscheinlich trifft ein wenig von allem zu. Ich glaube nicht, daß jemand wie Mark Farraday sehr wählerisch ist.“ Aus seiner Stimme sprach Bosheit. So hatte sie ihn noch nie reden hören. „Doch eines ist sicher: Es ist derselbe Mann. Ich habe sein Bild in der Zeitung gesehen.“ Jason blickte Alexandra an. „Ein Kerl wie dieser Mark Farraday findet immer einen Weg zu bekommen, was er will.“ Wieder fragte sie sich, wieviel Jason über ihre Affäre mit Mark wußte. Natürlich war sie ihm bekannt, aber wie tief diese Liebe sie körperlich und seelisch mit Mark verbunden hatte, konnte sie ihm nie sagen, weil er es nicht hören wollte. Dabei hätte sie diese Angelegenheit gern mit ihm ins reine gebracht. Vielleicht war es gut, daß er nicht alles wußte. Möglicherweise aber ahnte er die Wahrheit. Jedenfalls würde das Jasons starke Abneigung gegen Mark erklären, der schließlich nur ein kleiner Landarbeiter auf Windermere gewesen war. Nur mit einem hatte sie über das ganze Ausmaß der Demütigung gesprochen, mit ihrem Vater. Sie fand es rührend, daß Jason sie trotz allem wie eine jungfräuliche Braut behandelte. Plötzlich verspürte sie Zärtlichkeit für ihn. Wie schön wäre es, wenn mehr Klarheit zwischen ihnen herrschen würde. Sie wollte doch eine gute Ehe mit ihm führen. Andererseits, warum sollte sie ihn mit der Vergangenheit belasten? „Du verstehst jetzt hoffentlich, warum du unmöglich mitkommen kannst“, sagte Jason. Alexandra legte ihre Hand an seine Wange. „Es ist doch vorbei, Liebling, schon lange vergessen.“
Jason ergriff ihre Hand und preßte sie, bis es weh tat. „Ist es das wirklich?“ „Bitte, Liebling, tu dir das nicht an. Ich war siebzehn damals, fast noch ein Kind. Seit fünf Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen.“ Um Jasons Mund zeigte sich ein harter Zug. „Die Idee gefällt mir trotzdem nicht.“ „Ich verstehe nicht, warum die Vergangenheit nicht endlich ruhen kann.“ Wen fragte sie, Jason oder sich selbst? „Weil es nicht notwendig ist, ihn wiederzusehen.“ Doch plötzlich wußte sie, daß diese Begegnung entscheidend für sie war. Sie mußte Mark noch einmal gegenübertreten, ihm und sich selbst beweisen, daß sie es überstanden hatte. Erst dann würde sie wirklich zur Ruhe kommen. „Hör mir bitte zu, Liebling“, sagte sie entschlossen. „Es gab eine Zeit, in der Mark Farraday der Inhalt meines Lebens war. Ich will das gar nicht leugnen. Aber ich war damals sehr jung, naiv und unglaublich verletzlich. Heute ist das völlig anders, und ich möchte es dir und mir beweisen.“ Jason schloß die Augen. „Warum mußt du überhaupt etwas beweisen?“ „Weil ich mit deinen Zweifeln nicht leben kann. Ich wäre nicht glücklich und könnte auch dich nie glücklich machen. Sage nicht, du hättest keine Zweifel. Sieh dich doch an. Den ganzen Morgen über bist du verschlossen, und jetzt zerquetschtst du mir auch noch die Hand!“ Er ließ ihre Hand los. „Es geht hier nicht um meine Gefühle, sondern um deine. Wird er für den Rest des Lebens zwischen uns im Ehebett liegen?“ Sie fröstelte und wünschte, Jason würde sie fest in die Arme nehmen und all die quälenden Zweifel vertreiben. Aber wenigstens sprachen sie jetzt offen darüber. „Ich gebe zu, daß ich hin und wieder an ihn gedacht habe.“ „Und?“ Jason faßte ihr Kinn und näherte sich ihrem Gesicht. „Auf diese Weise werde ich am ehesten mit der Vergangenheit fertig. Ich muß mich ihm stellen, damit die Zweifel für immer begraben sind.“ Zärtlich fuhr sie mit dem Finger über die Falten auf seiner Stirn. „Bitte, laß uns zusammen hinfahren, damit wir das Kapitel Mark Farraday ein für allemal abschließen können.“ Jason blieb einen Augenblick lang bewegungslos sitzen. Dann öffnete er abrupt die Wagentür. Bevor er ausstieg, sagte er noch mit unpersönlicher Stimme: „Packe für zwei Wochen. Unsere Maschine geht am Mittwoch um acht Uhr fünfzehn ab Lexington.“ Thomas O'Neill saß vor seinem abgenutzten großen Schreibtisch aus Kirschbaumholz, der sein Arbeitszimmer beherrschte. Als Alexandra eintrat, blickte er von seinen Papieren auf, und sie bemerkte einen Anflug von Verzweiflung im Gesicht ihres Vaters. Doch sofort wich der Ausdruck einem erfreuten Lächeln. Er schob die Briefe beiseite, als wären sie bedeutungslos, stand auf und breitete die Arme aus, um seine Tochter zu begrüßen. Sie umfingen sich in einer herzlichen Umarmung. „Immerhin bekomme ich doch noch meinen Kuß. Du mußt sehr früh aus dem Haus gegangen sein. Ich habe gar nichts gehört.“ „Jason holte mich. Du schliefst noch. Er wollte mir Windermeres größte Attraktion vorführen, den zweijährigen Hengst Bullet.“ Sie schnippte ein paar Tabakreste von seinem Tweedjackett. Dabei fiel ihr der müde Zug um seinen Mund auf. „Ich habe dich letzte Nacht noch lange auf und ab laufen hören. Hast du noch immer Schwierigkeiten mit dem Einschlafen?“ „Nein, nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Wen man älter wird, braucht man weniger Schlaf.“ Immer noch lächelnd ließ er sich in seinen Schreibtischsessel sinken. Sie setzte sich ihm gegenüber, wenig überzeugt von seiner Antwort.
„Ich dachte schon, daß du drüben in Windermere bist“, sagte er. „Und wie geht es meinem künftigen Schwiegersohn an diesem schönen Tag? Wie geht es meinem Jungen?“ Alexandra zuckte bei dem fast anbiedernden Ton zusammen. Seine Stimme klang immer so, wenn er von Jason sprach – sehr zu ihrem Mißfallen. Dabei konnte sie es verstehen, denn für ihren Vater war diese Heirat die letzte Rettung. Sie bewahrte ihn und seinen Besitz „Laurelwood“ vor dem finanziellen Ruin. Als Alexandra nach fünf Jahren im Ausland nach Hause zurückgekommen war, hatte sie mit Entsetzen den Zustand von Laurelwood wahrgenommen. Ihre teure Erziehung und Ausbildung in der Eliteschule von Louisville, dem Schweizer Internat, und am Institut für Angewandte Kunst in Italien hatte sie bislang als selbstverständlich betrachtet. Nach einer behüteten Kindheit unter Aufsicht einer englischen Gouvernante schien dies die einzige angemessene Fortsetzung und nichts Außergewöhnliches für das einzige Kind des alteingesessenen Pferdezüchters. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, daß der Lebensstandard, den ihr Vater trotz schwindender Einkünfte mit selbstzerstörerischer Sturheit aufrechterhielt, Laurelwood an den Rand des Ruins bringen könnte. Alexandras Mutter war früh gestorben. Sie kannte sie nur von den vergilbten Bildern im Fotoalbum und dem gerahmten Porträt auf dem Schreibtisch ihres Vaters. Thomas O'Neill hatte versucht, Alexandra für den Mangel an Geborgenheit durch Liebe und Aufmerksamkeit zu entschädigen. Er verwöhnte sie mit allem, was Geld ermöglichte. Dann war sie nach Rom aufgebrochen, um dort eine Karriere als Modedesignerin zu beginnen. In keinem seiner Briefe erwähnte er je die finanziellen Schwierigkeiten. Doch als sie im Juni nach Hause zurückkehrte, waren die Folgen nicht mehr zu übersehen. Das Gestüt bestand nur noch aus zwei mittelmäßigen Zuchtstuten und einem alternden Hengst, der kaum noch Deckgelder einbrachte. Inzwischen war es so weit, daß sie sich scheute, Telefonanrufe anzunehmen, aus Angst, es könnten Gläubiger sein. Doch auch jetzt noch weigerte sich ihr Vater, offen über die Probleme zu sprechen. Er verharmloste die Situation als vorübergehenden Rückschlag infolge von Fehlinvestitionen. Aber Alexandra kannte die Wahrheit: Verlorene Wetteinsätze bei Pferderennen und ihre aufwendige Erziehung hatten das Kapital der O'Neills aufgezehrt. Ihr Vater handelte oft unüberlegt und spontan, doch er war alles, was sie hatte, und sie liebte ihn abgöttisch. Sie stöhnte innerlich, als sie daran dachte, wie sie vor vier Monaten nach Hause gekommen war: Gekleidet in ein 1000 Dollar teures Modellkleid, eröffnete sie unbeschwert ihrem Vater, daß sie ihren Job gekündigt hatte. Dies mußte ein ziemlicher Schock für ihn gewesen sein. Wie durch die Vorsehung bestimmt schien ihr Wiedersehen mit Jason gewesen zu sein. Sofort hatte er ihr auf galante Weise den Hof gemacht. Wenn sie ihn heiratete, würde sie nur wenige Kilometer von ihrem Vater entfernt leben und könnte alles gutmachen, was sie in den Jahren seiner Einsamkeit versäumt hatte. Auch war es tröstlich zu wissen, daß Jason die Schulden tilgen würde. Angesichts seines beträchtlichen Vermögens bedeutete dies nur eine Kleinigkeit. Und ein Randolph würde nie zulassen, daß es zu einer Zwangsversteigerung käme, weil die Hypothek auf den Besitz der Familie seiner Frau nicht eingelöst werden konnte. Dies würde einem öffentlichen Skandal gleichkommen. Alexandra warf einen Blick auf die zahlreichen Papiere auf dem Schreibtisch: Rechnungen, Zahlungsaufforderungen, dritte und vierte Mahnungen, verhüllte
und weniger verhüllte Drohungen. „Jason geht es prima, Vater. Am Mittwoch fliegt er nach Kalifornien, und ich begleite ihn.“ „Aber wie sieht denn das aus? Eine so weite Reise, wo ihr noch gar nicht verheiratet seid!“ „Vater, du wirst doch nicht daran zweifeln, daß dein Junge ein perfekter Gentleman ist?“ „Nein, ich möchte nur nicht, daß irgend etwas deine Pläne durcheinanderbringt. Weiß Gott, Alexandra, ich freue mich für dich. Ich habe immer darauf gehofft und wünsche von Herzen, daß du ein glückliches und zufriedenes Leben führst.“ „Und Laurelwoods Hypothek bezahlst?“ Am liebsten hätte sie diese Worte sofort zurückgenommen, aber es war zu spät. Die Röte stieg in sein Gesicht. Umständlich suchte er nach seiner Pfeife. „Ich möchte nur dein Bestes. So wie ich es immer wollte“, verteidigte er sich. „Wenn Jason es sich leisten kann, mir über dieses kleine Problem hinwegzuhelfen, warum sollte ich es ablehnen? Sähest du Laurelwood lieber in den Händen eines Grundstücksmaklers? Weißt du, was dann daraus wird?“ Sein Mund wurde schmal. „Man würde den Besitz in viele Parzellen aufteilen und Fertighäuser darauf bauen.“ „Vater, du weißt, daß ich diesen Gedanken genauso hasse wie du.“ Das war ihr nie so klar geworden wie jetzt. „Aber ich heirate Jason nicht, nur um unsere Schulden loszuwerden.“ „Natürlich nicht. Außerdem sind es meine und nicht deine Schulden, Liebes.“ Plötzlich erhellte ein unwiderstehliches Lächeln seine Miene. „Ich bin einfach dem sprichwörtlichen Glück der Iren dankbar, daß du dich diesmal in den Richtigen verliebt hast. Du kannst mir doch deshalb nicht böse sein?“ Er drückte liebevoll ihren Arm. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß du nicht weit von mir dein Leben einrichten wirst.“ Sie lächelte ihn an. „Ja, auch ich freue mich darüber.“ Voll Wehmut registrierte sie, wie stark er in den letzten Jahren gealtert war. „Wir werden am Mittwoch schon sehr früh abreisen. Ich rufe dich an, sobald wir das Gestüt ,Vista del Lago' erreicht haben.“ Sein Gesicht nahm wieder den gequälten Ausdruck an, der ihr schon beim Eintritt in sein Arbeitszimmer aufgefallen war. Heftig schüttelte er den Kopf. „Nein, das lasse ich nicht zu. Farraday hat in deinem Leben nichts mehr zu suchen. Ich will nicht, daß er es wieder in Unordnung bringt.“ Alexandra erstarrte und wurde bleich. Es war ihm also bekannt, wo Mark sich aufhielt, aber er hatte nicht ein Wort darüber zu ihr gesagt. Warum nur, wo er doch wußte, wieviel Mark ihr bedeutet hatte. Ihr Vater sah, welchen Schock seine Worte ausgelöst hatten. Sanft fuhr er fort: „Hör zu, Alexandra. Dieser Kerl hätte fast das Leben meines Mädchens ruiniert. Gib ihm keine zweite Chance! Laß die Vergangenheit ruhen. Bald bist du Jasons Frau.“ „Seit wann weißt du, wo Mark ist?“ Mit zitternden Händen umklammerte sie die Armlehnen ihres Stuhls. „Schon seit geraumer Zeit.“ „Wie lange?“ „Etwa zwei Jahre. Ich habe im ,Racing Digest' etwas über ihn gelesen. Damals warst du in Rom. Du meinst wohl, ich hätte es dir sagen müssen?“ Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. „Nur über meine Leiche! Der Kerl hätte es nur wagen sollen, mein Mädchen auch nur noch einmal anzusehen!“ „Du hattest kein Recht, mir das zu verschweigen. Ich bin kein Kind mehr,
sondern eine erwachsene Frau.“ „Dann benimm dich auch wie eine“, erwiderte er und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Du mußt dich damit abfinden, daß Mark Farraday nie jemanden geliebt hat außer sich selbst.“ „Woher willst du wissen, was Mark Farraday für mich empfunden hat?“ Er ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. „Denkst du, er hätte dich so einfach ohne ein Wort der Erklärung verlassen, wenn du ihm irgend etwas bedeutet hättest? Du glaubtest, diese Beziehung sei für immer und ewig und bist fast aus Liebe für diesen Nichtsnutz eingegangen.“ Vor Wut knirschte er mit den Zähnen. „Kannst du dir vorstellen, daß Jason je so etwas tun würde?“ Trotzig schaute Alexandra ihren Vater an. Sie achtete nicht auf die Tränen, die ihr plötzlich über das Gesicht liefen und sagte: „Ich werde dennoch verreisen, ob du damit einverstanden bist oder nicht.“ Sie stand auf und ging zur Tür. „Ich begleite Jason und werde ihn in drei Monaten heiraten – so wie du es wünschst. Und was Mark Farraday anbelangt, der mag in Kalifornien oder auf dem Mond leben, das ist mir völlig gleichgültig.“
2. KAPITEL „Mr. Jason Randolph.“ Alexandras Blick fiel auf das handgeschriebene Schild, als sie mit Jason die Auskunftshalle des Flughafens von Los Angeles betrat. Die riesige Halle war nicht sehr voll; nur entlang der Absperrung, hinter der die Fluggäste zum Ausgang strebten, drängten sich Menschen. Sie zupfte Jason am Ärmel und machte ihn auf den kleinen, dunkel gekleideten Mann mit dem Schild aufmerksam, der ein wenig abseits stand. Als sie sich ihm näherten, senkte er das Schild, und sichtbar wurden seine japanischen Gesichtszüge. „Mein Name ist Randolph“, stellte sich Jason vor und setzte seinen Aktenkoffer ab. „Ich bin Aoki, Sir, Mr. Farradays Chauffeur.“ Der kleine Mann verbeugte sich auf typisch asiatische Weise. Jason übergab ihm den Gepäckschein. Wenige Minuten später saßen sie in einem Rolls-Royce vor dem Flughafengebäude und warteten auf Aoki, der ihr Gepäck abholte. Alexandra unterdrückte ein Gefühl der Enttäuschung. Sie hatte erwartet, daß Mark sie abholen würde, und sich innerlich darauf eingestellt. Durch die Scheibe des Wagens beobachtete sie das bunte Treiben. Hier in Los Angeles herrschte eine besondere Atmosphäre, geprägt von einzigartigen Menschen, die vom Show-Geschäft, dem stets angenehmen Klima und dem unkonventionellen Lebensstil anzogen wurden. Aoki kam zurück und verstaute ihre Koffer im Gepäckraum. Geschickt steuerte er den Wagen durch den dichten Flughafenverkehr und bog in den breiten CenturyBoulevard ein. Riesige Werbetafeln säumten die Straße; dahinter reihten sich die verschiedenartigsten Gebäude aneinander, von der Baracke bis zum futuristischen Wohnsilo. Alexandra streifte ihre Schuhe ab und lehnte sich zurück in die teuren Lederpolster. Jason, der bereits im Flugzeug ein wenig geschlafen hatte, saß neben ihr und hatte die Augen geschlossen. Sie wünschte, sie könnte sich auch entspannen, aber die Vorstellung, Mark in weniger als zwei Stunden wiederzusehen, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Schon als Siebzehnjährige hatte sie gespürt, daß er ein erfahrener Liebhaber war. Er mußte schon vor ihr viele Frauen gehabt haben und so war es sicher auch nach ihr. Jason erwachte und suchte schläfrig nach ihrer Hand. Leicht küßte er ihre Finger und sagte: „Es dauert jetzt nicht mehr lang.“ „Liegt das Hotel am Meer?“ „Wir wohnen nicht im Hotel.“ Er blickte an ihr vorbei, als ob ihm diese Frage unangenehm wäre. „Ja, aber wo…“ Ein schrecklicher Gedanke ließ sie abbrechen. „Jason, das soll doch nicht etwa heißen, daß wir auf seiner Ranch wohnen.“ „Es gibt nichts Anständiges in der Nähe von Vista del Lago. Das nächste richtige Hotel ist Meilen weit weg, und ich wollte dich nicht in irgendeiner billigen Absteige unterbringen.“ „Und San Diego? Du sagtest doch, es sei ganz nah.“ „Ganz unmöglich. Die Fahrerei würde mich einen halben Tag kosten. Außerdem will ich das Morgentraining beobachten.“ „Unvorstellbar, wir werden bei Mark Farraday wohnen.“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
„Du wolltest ja unbedingt mitkommen, Alexandra. Also bitteschön. Jetzt hast du die Gelegenheit, all deine Zweifel loszuwerden.“ Er wandte sich abrupt ab und hüllte sich erneut in Schweigen. Auf einer schier endlosen Ausfallstraße fuhren sie an Autowerkstätten und Ölraffinerien vorbei, bis sie endlich das offene Land erreichten und ausgedehnte Orangenplantagen und Erdbeerfelder passierten. Bald wichen die Felder goldfarbenen Hügeln. Die sechsspurige Schnellstraße machte eine langgezogene Kurve, und plötzlich lag der Pazifik vor ihnen. Fasziniert blickte Alexandra aus dem Fenster: Meterhohe Wellen rollten auf die Küste zu und brachen sich weiß schäumend am Strand. Surfer balancierten ihre Bretter auf den Wellen, schlanke Palmen säumten die Klippen. Der Anblick erfüllte Alexandra mit atemraubender Erregung. Nur mit Mühe konnte sie sich zurückhalten, Aoki zu bitten, für einen Augenblick anzuhalten. Wie gern wäre sie die steilen Stufen hinuntergeeilt und in das silbrig schimmernde Wasser gewatet. Sie fühlte sich wieder wie ein kleines unschuldiges Mädchen. Kleines Mädchen hatte Mark sie genannt, um die zehn Jahre Erfahrung hervorzuheben, die er Alexandra voraus hatte. „Alles in Ordnung, kleines Mädchen?“ Sie war siebzehn Jahre alt gewesen und hatte erst zwei Wochen zuvor die exklusive Kennington-Privatschule für höhere Töchter verlassen. Obgleich Mark in ihrer Umgebung als Farmgehilfe arbeitete, war er ihr in jeder Beziehung fremd: seine rauhe Arbeitskleidung, seine kurz angebundene Art und seine grobe Direktheit. Doch an jenem Morgen, als sein Lastwagen zurücksetzte, ihr Pferd scheute und sie plötzlich zu Boden fiel, hatte er sich fürsorglich um sie gekümmert. Sie wußte vage, daß er für die Randolphs arbeitete, aber nicht zu der unterwürfigen Sorte Farmarbeiter gehörte. Benommen hatte sie auf der harten, schmutzigen Straße gelegen. Er beugte sich über sie, und ihr Blick war langsam über seine verwaschenen Jeans nach oben gewandert, bis er seinen tiefblauen Augen begegnete. Durch den Schock war sie unfähig gewesen, zu sprechen und zu protestieren, als Mark sie aufhob und schnell zum Wagen trug. Aber kurze Zeit später schon konnte sie ihm versichern, daß ihr nichts passiert sei. Da hatte er sie mit beiden Händen an den Schultern gepackt und mit gerunzelter Stirn gefragt: „Bist du ganz sicher? Ich dachte schon, du hättest dich bei dem Sturz schwer verletzt. Du bist einfach zu hübsch, um unsere schöne Welt schon jetzt zu verlassen!“ Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl im Hals gespürt, fühlte aber instinktiv, daß es nicht mit ihrem Sturz zusammenhing. Jetzt aber war sie kein kleines Mädchen mehr. Sie war vorsichtiger geworden. Alexandras Verhältnis zu Jason war nicht von leidenschaftlichen Empfindungen geprägt. Damit hatte sie sich abgefunden. Mit Jason würde sie leben, wie sie es gewohnt war, bevor Mark ihre Gefühle durcheinanderwirbelte – ein Leben, das ihr gemäß war. Die Geschichte mit Mark wollte sie ein für allemal begraben. Nur aus diesem Grund war sie ja mit nach Kalifornien gekommen! Sie bemerkte, daß sie die Schnellstraße verließen und in einen Privatweg einbogen. Vor ihnen tauchte eine große Villa im spanischen Landhausstil auf; die weiße Stuckfassade hob sich hell von dem wolkenlosen Himmel ab. Die Auffahrt war flankiert von hohen Bäumen mit purpurroten Blüten, vom Boden dazwischen leuchteten langstielige bunte Blumen. Hier war an Herbst nicht zu denken. Der Wagen hielt vor dem Haus, und ein junger Mann lief ihnen über die breiten Stufen des Aufgangs entgegen. „Mein Name ist Scott Maddox, Mr. Randolph“,
stellte er sich vor. „Miss O'Neill, ich heiße Sie auf Vista del Lago willkommen.“ Während sie sich die Hand gäben, fügte er hinzu: „Mark erwartet Sie in seinem Büro.“ Eine Böe erfaßte sie und ließ Alexandra schnell nach ihrem breitrandigen Hut greifen. „Das ist der Santa Ana“, erklärte Scott Maddox. „Ein heißer Wüstenwind. Die Indianer nennen ihn Teufelshauch. Er bringt die Pferde außer Rand und Band. Manchmal auch die Menschen“, fügte er lächelnd hinzu. „Aber er reinigt die Luft. Morgen werden Sie die Berge sehen können.“ Scott Maddox war ein gutaussehender Mann mit tiefbraunem Gesicht unter sonnengebleichtem Haar. In seinen verwaschenen Jeans wirkt er wie die wandelnde Reklame für den unbeschwerten Lebensstil Kaliforniens, dachte Alexandra, als sie hinter ihm die Stufen hinaufschritt. Hinter der massiven Eichentür erstreckte sich ein langer, dunkler Bogengang. Seinem sicheren Auftreten nach scheint Scott Maddox Marks rechte Hand zu sein, dachte Alexandra. Der Gang endete vor einem imposanten Arbeitszimmer. Streng sachlich, aber dennoch bequem eingerichtet, wirkte der Raum durch das dunkle Rosenholz und die schwarzen Lederbezüge fast düster. Nur der Ausblick auf den gepflegten Rasen und einen See, den ein riesiges Panoramafenster gewährte, milderte diesen Eindruck. Scott schien überrascht zu sein, den Raum leer zu finden, und griff nach dem Haustelefon. „Mr. Randolph und Miss O'Neill sind eingetroffen“, kündigte er an. „Wir erwarten dich im Büro.“ „Mark läßt seine Verspätung entschuldigen“, wandte er sich an die Gäste. „Er kam gerade erst aus Europa zurück und hat noch Schwierigkeiten mit der Zeitverschiebung.“ Alexandra sah Jasons Gesichtsausdruck an, daß diese Europareise nur eines für ihn bedeuten konnte: Mark kaufte neue Vollblutpferde. Für sie selbst klang die Information wie eine willkommene Entschuldigung, um sie absichtlich warten zu lassen. Scott bot ihnen einen Drink an, und Alexandra nahm einen Scotch mit Soda. Gedankenverloren nippte sie an ihrem Glas. Am liebsten wäre sie geflohen, um Mark Farraday nie wiedersehen zu müssen, besonders jetzt, wo sie Schritte hörte, die sich dem Büro näherten. Als die Tür aufging, blickte sie wie gebannt auf den Mann am anderen Ende des Zimmers. Ja, das war Mark Farraday: Unverkennbar seine athletische Figur, seine blauen Augen und seine entschlossene Miene. Und dennoch war es nicht der Mark, den sie gekannt hatte. Vor ihr stand ein selbstsicherer, äußerst gelassen wirkender Unternehmer. Sein glattes schwarzes Haar glänzte noch feucht vom Duschen. Zu einer eleganten hellen Hose trug er ein teures Strickhemd. Er blieb vor ihnen stehen und begrüßte sie mit einer knappen Verbeugung: „Mr. Randolph“, und zu ihr gewandt: „Alexandra.“ Sein Benehmen war so kühl und distanziert, daß Alexandra froh war, durch ihre Kleidung einen geschäftsmäßigen Eindruck zu machen. Sie trug ein elegantes helles Leinenkostüm. Ihr Haar hatte sie streng aus dem Gesicht gekämmt und hochgesteckt. Sie wußte, daß sie sachlich und kühl wirkte. Aufgrund der zahlreichen bewundernden Blicke, die ihr auf dem Flughafen gefolgt waren, wußte sie aber auch, daß sie Eindruck machte. Dies gab ihr das Gefühl von Sicherheit, ebenso unbeeindruckt zu wirken wie er.
Mark trug einen schmalen Aktenkoffer. Nach der kurzen Begrüßung ging er an seinen Schreibtisch, legte den Koffer ab und setzte sich in seinen Drehsessel. Dann griff er nach einem Stapel noch ungeöffneter Post. „Wie ich sehe, hat Scott sich schon um die Getränke gekümmert“, sagte er, wobei er schnell die Briefe durchblätterte. „Möchten Sie sich zunächst ein wenig frisch machen oder sofort zu den Stallungen hinunterfahren?“ „Gehen wir doch gleich zu den Ställen“, antwortete Jason schnell. „Ich möchte mir Glückstreffer ansehen, noch ehe es dunkel wird.“ „Das dachte ich mir.“ Marks Lächeln wirkte fast boshaft. „Und du, Alexandra? Wenn ich mich recht erinnere, interessierst auch du dich für Pferde. Lernten wir uns nicht auf diese Weise kennen?“ „Ich bleibe lieber hier“, antwortete sie kühl. Mark drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch, und kurze Zeit später trat Aoki ins Zimmer. „Führe Miss O'Neill zur Gästesuite im Ostflügel, Aoki. Dann bringe Mr. Randolphs Koffer in das Gästehaus am Swimming-pool.“ Mark wandte sich an Jason. „Ich denke, Sie werden mit Ihrer Unterbringung zufrieden sein.“ „Vielleicht zufrieden, aber nicht einverstanden, Farraday“, erwiderte Jason entschlossen. Alexandra spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Eine Auseinandersetzung schien sich zusammenzubrauen. „Tatsächlich?“ Mark lächelte nachsichtig. „Übrigens, mein Name ist Mark. Sicher erinnern Sie sich daran, Jason.“ Wütend sprang Jason auf. „Farraday, wenn Sie glauben, ich lasse Alexandra unter Ihrem Dach wohnen, während ich selbst in irgendein abgelegenes Gästehaus abgeschoben werde, irren Sie sich!“ „Ich entscheide, wo meine Gäste schlafen, nicht Sie, Randolph.“ Alexandra erhob sich und legte ihre Hand beruhigend auf Jasons Arm. Einen Augenblick lang ruhte Marks kalter Blick auf ihr, dann wandte er sich wieder Jason zu. „Sie sind natürlich nicht verpflichtet, auf Vista del Lago zu bleiben, wenn es Ihnen hier nicht gefällt.“ Der beißende Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Sie haben ganz recht. Es gefällt mir hier nicht.“ Jason griff nach seiner Aktenmappe. „Wir gehen in ein Hotel.“ Er war schon auf dem Weg zur Tür, als Marks Stimme ihn zum Halten zwang. „Wenn Sie jetzt gehen, können Sie Glückstreffer vergessen.“ „Was sagen Sie?“ Jason traute seinen Ohren nicht. „Außer Ihnen gibt es noch andere Bieter.“ Marks Stimme klang sachlich. Jasons graue Augen wurden dunkel vor Zorn, die Knöchel an seinen Händen traten weiß hervor, und sein Körper spannte sich, als wolle er jeden Moment zuschlagen. Instinktiv verstärkte Alexandra den Druck ihrer Hand auf seinem Arm. „Alexandra, du mußt nicht hierbleiben, wenn du es nicht willst. Verstehst du mich?“ Jason schob also ihr die Entscheidung zu. „Es wird schon gehen“, antwortete sie schnell. „Gut“, sagte Mark, als ob nichts vorgefallen wäre. Alexandra begegnete seinem spöttischen Blick. Ihr Ansehen gegen ein Pferd – darauf hatte sich Jason soeben eingelassen. Als sie mit Jason zur Tür hinausging, rief Mark ihnen nach: „Was soll die Aufregung, Randolph. Trauen Sie ihr nicht, wenn sie mit mir unter einem Dach wohnt?“ Blitzschnell drehte sich Alexandra zu ihm herum. „Hör auf damit, Mark!“ Es
waren die ersten Worte, die sie direkt an ihn richtete. „Ich werde sie heiraten“, entgegnete Jason beherrscht. „Natürlich traue ich ihr.“ Dann bist du ein Narr, Mann. Mark sagte kein Wort, aber sein amüsierter Blick, der von ihr zu Jason wanderte, verriet, was er von dieser Antwort hielt. Jason machte sich in Begleitung von Mark zu den Ställen auf. Scott besprach kurz etwas mit Aoki und ergriff dann Alexandras Koffer, um ihr die Gästesuite zu zeigen. Er war jetzt nicht so gesprächig wie zuvor. Wahrscheinlich war es ihm peinlich, daß er die Szene zwischen Jason und Mark miterlebt hatte. Doch Alexandra war für die Stille dankbar, zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Mark hatte sich überhaupt nicht verändert, nur seine Lebensumstände. Sie hatte sich täuschen lassen durch die exklusive Umgebung, die teure Kleidung und die Macht, die er ausstrahlte. Die straffe Muskulatur seines Körpers war ihr ebensowenig entgangen wie der ihr bekannte raubtierartige Gang. Er war noch immer der gleiche, ob er nun Kaschmir trug oder geflickte Jeans, in einem vornehmen Büro residierte oder neben ihr im Gras lag. Seine sexuelle Anziehungskraft war unverändert und sein Wunsch, sie zu besitzen, unverhüllt. Sie hatte es mit jeder Faser ihres Körpers gespürt. Alexandra lächelte Scott zu, der immer noch verlegen wirkte. „Mark und ich kennen uns von früher. Jason und er sind schon damals immer aneinander geraten“, sagte sie leichthin. „Es tut mir leid, daß Sie diese Auseinandersetzung mitanhören mußten.“ Scott lachte. „Ich habe schon oft miterlebt, wie sich Gefühle wegen eines exzellenten Vollbluts erhitzten.“ Er zuckte mit den Schultern und erwähnte wieder den Wüstenwind, der die Gemüter aufreize. Über einen großzügigen Treppenaufgang führte er sie zu einem kleinen Rundgang durch das Haus. „Übrigens, heute abend findet eine Party statt“, sagte er. „Die High-Society des Rennsports versammelt sich. Mark veranstaltet immer ein solches Treffen vor dem Oak-Tree-Rennen. Die Party beginnt um acht Uhr dreißig. Ich lasse Ihnen das Abendbrot um sieben Uhr nach oben bringen, wenn Sie sich bis dahin ausruhen wollen.“ „Das klingt vielversprechend“, antwortete sie. Doch der Gedanke an eine Party mit Mark als Gastgeber ließ sie innerlich erschauern. Scott erklärte ihr, das Haus sei aus Lehm und Stein gebaut und habe zu einem einst riesigen spanischen Landbesitz gehört. „Das Originalgebäude war über hundertzwanzig Jahre alt“, fuhr er fort. „Als Mark das Haus fand, war es halb verfallen und von Termiten durchlöchert. Es wäre ihn viel billiger gekommen, wenn er es abgerissen und ein modernes Fertighaus darauf gebaut hätte. Aber er liebte das Haus, wie es war, und gab für die Renovierung ein Vermögen aus. Sie sehen, was daraus geworden ist.“ Bewundernd betrachtete Alexandra die hell verputzten Nischen, in denen kleine Skulpturen oder alte Vasen mit frischen Gartenblumen standen, die verzierten Rundbögen und den Boden aus schweren Eichenbohlen, auf dem handgeknüpfte Brücken lagen. „Dies ist Ihr Zimmer“, sagte Scott und öffnete eine Tür. Alexandra war beeindruckt. Die Einrichtung war in blaßblauem Lavendel und zartem Grau gehalten. Ihre Füße versanken fast in dem weichen silbergrauen Teppich. Ein großes Himmelbett beherrschte den Raum. Durch das Fenster blickte man auf hohe Zypressen, Blumenbeete und den gleißenden See. Ein Rundbogen am anderen Ende des Zimmers führte in einen kleinen
Aufenthaltsraum. Scott überließ es ihr, das Badezimmer allein zu erkunden und verabschiedete sich. Es war geräumig und kühl; durch einen Ankleideraum gelangte man in den Aufenthaltsraum. Warum sollte sie diese luxuriöse Umgebung nicht genießen? Alexandra ließ ein Bad ein und glitt in das warme Wasser. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, sich zu entspannen. Ihre Gedanken kehrten jedoch zu Mark zurück. Sie hatte ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Obgleich sie sich nicht berührt hatten – nicht einmal zur Begrüßung – , flammten in ihr Gefühle auf, die sie längst erloschen glaubte. Wütend stieg sie aus der Wanne und stellte die Dusche an. Das eiskalte Wasser ließ sie keuchen. „Vergiß ihn, du mußt ihn endlich vergessen!“ sagte sie laut zu sich selbst. „Ich werde Jason heiraten und ihn glücklich machen.“ Und auch ich werde glücklich sein, dachte sie im stillen. Sie trocknete sich ab, zog ein zartes Nachthemd an und legte sich zwischen die kühlen Laken. Ihre Uhr zeigte kurz vor fünf. Sie fühlte sich total erschöpft und mußte sich erst erholen, bevor sie wieder unter Menschen gehen konnte. Fröstelnd erwachte sie. Sie war noch zu müde, um die Augen zu öffnen, aber sie spürte, daß sie unbedeckt war. Alexandra streckte die Hand aus, um die Decke hochzuziehen, und berührte etwas Warmes. Eine Hand! Sofort war sie hellwach. Die Nachttischlampe beleuchtete den dunklen Raum. Am Fußende des Bettes stand Mark Farraday und betrachtete neugierig ihren nur spärlich bekleideten Körper. Ihr war sofort klar, daß er die Decke weggezogen haben mußte, um sie anzuschauen. „Du bist noch immer eine schöne Frau“, stellte er nüchtern fest. „Sogar noch schöner als früher.“ Alexandra erholte sich von ihrem Schreck, sprang aus dem Bett und griff nach ihrem Morgenmantel. Doch Mark war schneller. Mit einer angedeuteten Verbeugung hielt er ihr den Mantel auf und ließ sie hineinschlüpfen. Seine Arme umfaßten sie von hinten und preßten sie leicht an seinen Körper. Sie spürte seine Wärme. Streichelnd fuhr seine Hand über ihren Nacken und glitt liebkosend über ihre Schulter. „Glaube nicht, daß ich jemals vergessen habe, was damals war“, flüsterte er. „Dafür habe ich es vergessen“, erwiderte Alexandra und entwand sich ihm. „Alles, bis auf die Tatsache, daß du noch nie ein Gentleman warst.“ „Einer wie Jason Randolph III?“ fragte er zurück. Ihr Spott hatte ihn offensichtlich getroffen. „Genau. Was fällt dir eigentlich ein, dich in mein Zimmer zu schleichen?“ „Das Mädchen wollte dir etwas zu essen bringen, aber du schliefst noch.“ Mit ausdruckslosem Gesicht fuhr er fort: „Sie hat es schon zweimal versucht. Scott sagte mir, daß du um halb neun herunterkommen wolltest. Als dein Gastgeber habe ich mir Sorgen um dich gemacht.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Du warst doch sonst immer superpünktlich.“ Sie ärgerte sich über diese Anspielung. Ja, er hatte nur Ort und Zeit nennen zu brauchen, und sie war immer zuerst dagewesen. „Seit wann machst du dir Gedanken über mein Wohlergehen, Mark?“ Die Worte klangen eisig, aber ihre Stimme zitterte ein wenig. Er streckte die Hände aus und vergrub seine Finger in ihrem zerzausten Haar. Dann zog er sie an sich und legte ihren Kopf sanft an seine Brust. Sie hörte seinen rasenden Herzschlag. „Alexandra, es war nie meine Absicht…“ Er stockte, seine Stimme wurde rauh. „Ich habe nie zu hoffen gewagt, daß ich noch einmal
die Möglichkeit hätte…“ „Mich zu benutzen?“ unterbrach sie ihn. „Die wirst du nicht haben, nie wieder.“ Doch ihr Verlangen verunsicherte und schockierte sie. Nur mit äußerster Willenskraft war sie in der Lage, ihn von sich zu stoßen. „Du warst ein erwachsener Mann, der ein unerfahrenes Schulmädchen ausnutzte und ihr wohlbehütetes Leben zerstörte. Nein, Mark, so eine Chance bekommst du nie wieder.“ Sie zwang sich, weiter zu sprechen. „Ich bin erwachsen geworden und keine leichte Beute mehr für irgendeinen Mann. Nicht einmal für einen, der sich an jede erogene Zone meines Körpers erinnert. Also schlag es dir aus dem Kopf.“ „In meiner Erinnerung sieht das zwar anders aus, aber darum geht es nicht.“ Seine Miene war hart geworden. „Es gibt noch andere Gäste in meinem Haus, deinen Verlobten inbegriffen. Er erwartet, daß du unten erscheinst, und ich erwarte dasselbe“, schloß er ruhig, aber bestimmt, und verließ das Zimmer. Alexandra ließ sich auf das Bett sinken. In einem Punkt mußte sie Mark recht geben: Um wenigstens den äußeren Schein zu wahren, mußte sie sich anziehen und sich zu den Gästen gesellen. Das war das Mindeste, was sie für Jason tun konnte. Die Kleiderwahl kam ihr unendlich schwer vor. Sie probierte hin und her und entschied sich schließlich für ein Modell aus silbergrauer Seide, das sie selbst entworfen hatte. Es war ganz schlicht geschnitten, aber durch das tiefe Rückendekollete besonders wirkungsvoll. Während sie sich anzog, hörte sie von unten gedämpfte Stimmen eintreffender Gäste. Doch sie ließ sich Zeit. Zum Schluß legte sie ihre tropfenförmigen Smaragdohrringe an und betrachtete sich ausgiebig im Spiegel. Sie fand nun keinen Vorwand mehr, noch länger auf dem Zimmer zu bleiben, und ging zögernd hinaus. Am besten halte ich mich von Mark so fern wie möglich, überlegte sie, während sie die Treppe hinunterging. Gleich morgen würde sie ihre Freundin Carla Minton in Los Angeles anrufen, um für die nächste Zeit bei ihr zu wohnen. Sie mußte nur eine plausible Erklärung für Jason finden. Auf der geräumigen Gartenterrasse unterhielten sich die Gäste angeregt. Alexandra schlängelte sich durch die elegante Gesellschaft und hielt nach Jason Ausschau. Sie blickte sich unter den Gästen um und mußte feststellen, daß es kaum eine Frau gab, die nicht phantastisch aussah. Für ein Findelkind, das von armen Farmersleuten aufgezogen worden war, hatte Mark Farraday es weit gebracht. Er wirkte wie ein moderner König, der hofhielt. Angesichts des festlichen Aufwands wäre niemand auf den Gedanken gekommen, nach seiner Herkunft zu fragen. Der Lichthof erstreckte sich über zwei Ebenen. Die untere ging in einen großen Swimming-pool über, der wie eine natürliche Grotte wirkte. Poröser Tuffstein und ausgehöhlter Fels bildeten eine Wand, über die ein kleiner Wasserfall herabstürzte. Über die obere Ebene ragten die schweren Eichenbalken des Daches hinaus und bildeten ein Gerüst für den emporrankenden wilden Wein. Dazwischen hingen Blumenampeln mit üppigen Gewächsen. Jason stand in der Nähe der Bar und unterhielt sich mit einer jungen Frau, deren hellblondes langes Haar mehr von ihrem wohlgerundeten Oberkörper verbarg als ihr weißes, paillettenbesetztes Kleid. „Da bist du ja, Alexandra“, sagte Jason. „Ich machte mir schon Gedanken darüber, was dich wohl so lange aufhielt.“
„Nur die Eitelkeit, mein Lieber.“ Die Blondine reichte ihr zum Gruß die Hand. „Tanja Dodd“, stellte sie sich vor und schenkte Alexandra ein strahlendes Lächeln. „Angenehm. Alexandra O'Neill.“ „Ich habe schon viel von Ihnen gehört“, erwiderte Tanja. Sie blickte Alexandra mit großen blauen Augen erwartungsvoll an. „Tatsächlich? Das überrascht mich.“ Alexandra nahm Jasons Arm und lächelte. „Und es schmeichelt mir. Jason spricht normalerweise nur über Pferde.“ „Leider machte er auch heute abend davon keine Ausnahme. Es war jemand anderes, der mir ausführlich von Ihnen erzählte.“ Ob Mark diesem blonden Sexy-Girl von ihr erzählt hatte? Der Gedanke war entwaffnend, und plötzlich kam ihr die Luft lauer und weniger bedrückend vor. „Es war Scott Maddox“, fuhr Tanja fort. „Ach ja?“ Alexandras Stimme klang matt. „Enttäuscht Sie das?“ Tanja blickte sie forschend an. Mit einem Seitenblick auf Jason, der überhaupt nichts bemerkt zu haben schien, entgegnete Alexandra bestimmt: „Nein, überhaupt nicht, warum sollte es?“ „Ich wüßte auch keinen Grund zu nennen“, sagte Tanja mit unschuldigem Blick und wandte sich lächelnd an Jason. „Ich bin völlig ausgedörrt, mein Lieber, würden Sie mir etwas zu trinken holen?“ „Mit Vergnügen!“ Fragend blickte er sie an. „Sie sehen aus, als wäre Champagner das Richtige für Sie.“ Tanja warf den Kopf zurück, die blonde Mähne fiel locker über ihren gebräunten Rücken. „Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, Jason Randolph, daß Sie nicht so viel von Frauen verstehen, wie Sie denken.“ Alexandra gestand sich ein, daß Tanja eine tolle Frau war, etwas extravagant zwar, aber ausgesprochen attraktiv. Jason stand völlig in ihrem Bann. Dabei konnte er Frauen, die sich so aggressiv wie Tanja benahmen, gewöhnlich nicht ausstehen. Aber sie hatte Charme und strahlte eine Sinnlichkeit aus, die jeden Mann faszinieren mußte. „Ich trinke Scotch“, sagte sie. „Pur bitte. Ich mag harte Getränke und harte Männer.“ Während Tanja sprach, glitt ihr Blick suchend über die Terrasse. Alexandra folgte ihrer Blickrichtung und sah Mark aus einer der französischen Glastüren treten. Sie war also eine seiner Verehrerinnen. „Alexandra mag Champagner.“ Sie fand Jasons Bemerkung unpassend; sie klang, als vergleiche er sie mit dieser blonden Sexbombe. Albern, ich scheine allmählich durchzudrehen, tadelte sie sich selbst. Doch der bewundernde Ausdruck, mit dem Tanja Mark betrachtete, verwirrte sie. „Ihr Jason ist ein netter Typ“, sagte Tanja, als er gegangen war, um die Drinks zu holen. „Wahrscheinlich ein echter Südstaaten-Gentleman. So etwas gibt es heute nur noch sehr selten beim Rennsport. Man findet dort eher den Jet-set-Typ, den rührigen Unternehmer, den Sensationslüsternen.“ „Die Randolphs betreiben schon seit sechs Generationen Pferdezucht. Sie sind eine alte traditionsreiche Familie aus Kentucky, fast ein Relikt aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg.“ Dies war humorvoll, fast ein wenig ironisch gemeint. „Mit echtem blauem Blut also!“ Aus Tanjas Stimme sprach Zynismus. „Das ist ja umwerfend! Mein Stammbaum hat seine jungen Wurzeln in Cleveland, erst seit einer Generation. Aber nicht im Nobelviertel, nein im Armenviertel. Haben Sie schon mal von ,Dodd's Discountläden' gehört?“ Alexandra nickte. Wer kannte den Namen nicht! Dodd's Discountläden gab es
überall, in jeder großen Einkaufsstraße. „Dodd's Discount, das ist mein Papa.“ Tanjas Lächeln wirkte nicht besonders stolz. „Ihm gehört das Ganze. Er baute das Geschäft nach dem Krieg auf, und man könnte seinen Aufstieg als typisch amerikanische Erfolgsgeschichte bezeichnen.“ „Da hat Ihr Vater ja eine riesige Ladenkette aufgebaut. Sehr beeindruckend!“ „Letzteres nehme ich Ihnen nicht ab.“ Tanjas Lächeln verschwand. „Woher wollen Leute wie Sie und Jason wissen, was es heißt, sich hochzuarbeiten? Ihnen ist doch von Anfang an alles in den Schoß gefallen. Mir übrigens auch“, gab sie mit einem Achselzucken zu. „Aber ich habe miterlebt, wie mein Vater bei Null anfing und wie er sich dabei gesundheitlich ruinierte. Das ist der Unterschied zwischen uns. Leute wie mein Vater und Mark Farraday – die müssen bezahlen für das, was sie erreichen.“ Alexandra mußte sich beherrschen, um nicht zu protestieren. Der Gedanke, daß Mark, ausgerechnet Mark, irgend etwas bezahlt haben sollte für das, was er besaß, war lächerlich. Doch was geht es mich an, dachte sie, als sie Jason mit den Drinks näher kommen sah. „Roger Petty ist hier“, verkündete Jason aufgeregt. Alexandra folgte seinem Blick zur Bar wo, ein kleiner Mann saß, von zahlreichen Bewunderern umgeben. Der vierzigjährige Jockey hatte Renngeschichte gemacht, indem er mehr Rennen hintereinander gewann als jeder andere vor ihm. Doch seine Erfolgsserie währte nur ein Jahr. Auf lange Sicht würden Johnny Longden und Willie Shoemaker ihren Platz im Rennsport behaupten. Aber Pettys Rekordzeiten waren noch in aller Munde, und es wurde gemunkelt, er beabsichtige seinen eigenen Rennstall zu gründen. Wieder wanderte Alexandras Blick zu Mark, der sich jetzt mit einem vornehmen älteren Herrn unterhielt. Sie erkannte den Filmstar Steve Mitchell, der Besitzer zweier Spitzen-Rennpferde war und mit ihnen innerhalb kurzer Zeit mehr Geld verdient hatte als in seiner gesamten Filmkarriere. Offensichtlich hatte Mark die richtigen Leute um sich versammelt. Nicht weit von ihr stand ein Industrieller, dessen Gesicht ihr von den Magazinen „Time“ und „Fortune“ vertraut war. An einem Tisch saß ein Komponist, dessen Musicals überall in der Welt erfolgreich gespielt wurden. Zwar war nicht jeder der etwa siebzig Gäste eine internationale Berühmtheit, aber sie strahlten alle Reichtum und Erfolg aus. Und sie waren alle durch etwas verbunden, das sich nur die Reichen leisten konnten – die Leidenschaft zum Rennsport. Bewundernd betrachtete Alexandra Steve Mitchells Profil. Da drehte sich Mark plötzlich um, und ihre Blicke trafen sich. Nur einen Augenblick lang meinte sie etwas in seinen Augen zu erkennen, das an ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre Gefühle füreinander erinnerte. „Entschuldigen Sie mich bitte, Mark wird sich schon wundern, wo ich bleibe.“ Tanja schenkte ihnen noch ein Lächeln und ging davon. Jason bemerkte es kaum, er schien in Gedanken bei dem Jockey zu sein. „Alexandra, ich würde Petty gern für ein paar Minuten in Beschlag nehmen und mit ihm über…“ „Glückstreffer sprechen“, beendete sie seinen Satz. Wahrscheinlich wollte er Petty dafür gewinnen, für ihn zu reiten. „Geh schon, Jason“, sagte sie lächelnd. „Ich werde mich unter die Menge mischen.“ „Möchtest du ihn nicht kennenlernen?“ fragte Jason höflich. „Geh ruhig allein und rede mit ihm. Ich komme schon zurecht.“ Jason umarmte sie kurz. „Du würdest es mir doch sagen, wenn du etwas gegen Geschäftsgespräche auf einer Party hättest, nicht wahr?“
„Aber natürlich, Jason.“ Sie hatten schon oft darüber diskutiert, daß jeder sein eigenes Leben führen sollte, auch über das Problem, daß sie ihre Karriere nicht für immer aufgeben wollte. Es fiel Jason schwer, dies zu akzeptieren. Aber er gab sich Mühe, und das wußte sie zu schätzen. Sie hob den Kopf, um seinen Kuß entgegenzunehmen und zupfte dann seine Krawatte zurecht. „Viel Glück, Jason.“ Alexandra fühlte, daß sie beobachtet wurde. Kaum war Jason gegangen, blickte sie zur Seite und entdeckte Mark, der sie finster betrachtete. Sie wandte sich ab und nahm ein Schnittchen vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners. Wahrscheinlich hatte sie sich geirrt. Warum sollte er etwas dagegen haben, wenn sie ihren Verlobten küßte? Sein Blick war so direkt gewesen, so unverhüllt! War es möglich, daß er doch noch etwas für sie empfand? Du machst dir etwas vor, sagte sie sich, und beobachtete, wie sich Tanja Mark näherte. Dieser legte besitzergreifend seinen Arm um ihre Taille und zog sie mit einer Geste an sich, die große Vertrautheit ausdrückte. Welchen Kontrast doch Tanjas blonde Zartheit zu Marks dunkler, zäher Männlichkeit bildete. Sie würden hübsche Kinder miteinander haben. Es gab einmal eine Zeit, in der sie in Marks Armen gelegen und sich spielerisch vorgestellt hatte, wie ihre Kinder sein würden. Du wirst zu sentimental, dachte sie. Am besten nichts wie weg von hier. Sie setzte abrupt ihr Glas auf ein Tablett und floh von der Terrasse in die hübsch angelegte Gartenanlage. Im Schutz der Dunkelheit wurde Alexandras Schritt langsamer. Sie entspannte sich allmählich und genoß die friedvolle Stille. Sie war kaum fünfhundert Meter dem Kiesweg gefolgt, da tauchte vor ihr die dunkle Gestalt eines Mannes auf. „Miss O'Neill, sind Sie das?“ Es war Scott Maddox. „Ja“, antwortete sie. „Ich gehe ein wenig spazieren.“ „Ist die Party kein Erfolg? Ich wollte gerade dazukommen.“ „Ganz im Gegenteil. Sie ist eine perfekte Gala-Show“, erwiderte Alexandra. „Wirklich, die Gäste genießen den Abend.“ „Sie nicht?“ Scotts besorgter Tonfall war nicht zu überhören. „Ich wollte nur ein bißchen…“ „Frische Luft schnappen?“ Sie lachten beide über die willkommene Ausrede. Alexandra hätte es zwar vorgezogen allein zu bleiben, aber sie fand Scott ausgesprochen sympathisch. Er strahlte weder Macht noch Charme aus, sondern war in der ihm eigenen Natürlichkeit wirklich besorgt. „Kommen Sie“, sagte er. „Ich begleite Sie zurück. Wir wollen doch nicht, daß Sie von Kojoten gefressen werden.“ Er faßte sie leicht am Ellbogen. „Gibt es hier wirklich Kojoten?“ Er lachte. „Aber natürlich. Hier in Kalifornien gibt es ebensoviel Natur und Tradition wie in Kentucky. Es gibt Kojoten, Füchse, ehemalige Missionsstationen, spanische Schätze und – wie Sie sicher schon bemerkt haben“, er deutete mit dem Kopf zum Haus, „auch einige Exemplare der berüchtigten kalifornischen Wölfe.“ Sie blickte zum Haus hinüber. Seine Anspielung erinnerte sie an Mark, die laszive Art, wie er Tanjas Hüften gestreichelt hatte. „Tut mir leid, wenn ich keinen besonders kontaktfreudigen Eindruck mache, aber ich möchte lieber noch etwas hier draußen bleiben.“ „Warum?“ Er ließ nicht locker.
Alexandra seufzte. „Also gut, wenn es unbedingt sein muß. Ich möchte nicht zurück, weil da jemand ist, den ich lieber nicht treffen möchte.“ „Mark?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Einfach erraten.“ Er blickte sie vielsagend an. „Ich machte mir einen Reim darauf, wie Sie beide bei Ihrer ersten Begegnung im Arbeitszimmer aufeinander reagierten. Zwischen Ihnen war eine solche Spannung, daß einem die Haare fast zu Berge standen.“ „Nun übertreiben Sie mal nicht.“ „Miss O’Neill…“ „Sagen Sie Alexandra, bitte.“ „Also gut. Alexandra. Sie müssen wissen, daß ich nicht nur für Mark arbeite, ich bin auch sein Freund. Ich kenne ihn wie mich selbst und würde alles für ihn tun.“ Diese Wendung gefiel ihr nicht. Sie war hierher gekommen, um sich endgültig von Mark zu trennen. „Das glaube ich Ihnen ja, ich habe jedoch jetzt keine Lust, über ihn zu sprechen. Bitte entschuldigen Sie mich.“ „Aber wir müssen über ihn reden.“ Er folgte ihr. Alexandra blieb stehen. „Und warum?“ „Mark benimmt sich wieder so merkwürdig.“ Aus Scotts Gesichtsausdruck sprach tiefe Besorgnis. „Wahrscheinlich wissen Sie nichts davon, aber er hatte sehr ernste Probleme. Er war ständig deprimiert, aß und schlief nicht mehr, arbeitete aber wie ein Verrückter und fuhr wie ein Wilder mit dem Auto. Es war ganz so, als wolle er sich unbedingt selbst zerstören.“ Es fiel ihr schwer zu glauben, daß Mark Farraday ein Problem haben könnte, mit dem er nicht fertig wurde. Er wirkte auf sie so selbstgerecht, so frei von Gewissensbissen, Schuldgefühlen oder gar Sorge um andere Menschen. „Wann fing das an?“ „Vor ungefähr zwei Jahren. Irgend etwas nagte an ihm. Aber er wollte nicht darüber sprechen. Ja, er gab nicht einmal zu, daß etwas nicht stimmte.“ Gedankenverloren rieb Scott sich den Nacken. „Es begann, als er alles erreicht hatte, was er wollte – zumindest nach außen hin.“ Bedächtig schüttelte er den Kopf. „Nach Monaten kam er allmählich wieder aus diesem Tief heraus. Ich jedenfalls dachte, er hätte es überstanden.“ Er brach ab und seufzte. „Als er erfuhr, daß Sie hierherkommen, wurde er wieder launisch und reizbar. Er ist der stärkste Mann, den ich kenne, und ihn kann nichts so leicht aus der Bahn werfen. Gerade deshalb mache ich mir solche Sorgen.“ „Tut mir leid, aber was hat das mit mir zu tun?“ „Alexandra, bitte!“ Ihre Ungerührtheit schockierte ihn. „Es tut mir wirklich leid, Scott. Es hörte sich so an, als könne ich etwas daran ändern.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er hat doch genug Freunde, die ihn verehren. Ich bin nur eine Bekannte aus seinen Zeiten in Kentucky, mehr nicht.“ „Ja, ja.“ Er ließ sich von ihr tatsächlich nicht zum Narren halten. Warum nur war sie immer so ungeheuer leicht zu durchschauen? „Scott, das, was Sie heute nachmittag zwischen Mark und mir zu spüren meinten, existiert nur in Ihrer Phantasie. Seit fünf Jahren habe ich weder von diesem Mann etwas gehört noch gesehen. Wir kannten uns nur flüchtig.“ „Nur flüchtig?“ fragte er sarkastisch. „Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten“, erwiderte sie zornig. „Vor diesem Problem können Sie nicht einfach weglaufen, Alexandra. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Sie kennen ihn sehr gut, ich glaube, sogar besser als ich. Ich möchte Mark helfen, aber ich kann es nur, wenn ich weiß, was ihn quält. Was
ist es?“ „Ich weiß es wirklich nicht“, antwortete sie eisig. „Mark ist ein anderer Mensch geworden. Damals, als ich ihn kannte, ging es ihm längst nicht so gut.“ „Und was hat das mit dem Problem zu tun?“ Jetzt wurde Scott ärgerlich. „Wenn Sie auch nur ein bißchen für ihn übrig haben, könnten Sie ihm sicherlich helfen.“ „Aber ich habe nichts für ihn übrig. Er ist mir völlig gleichgültig. Schluß jetzt!“ Sie drehte sich um und ging entschlossen zur Terrasse zurück. Jason war immer noch mit Petty im Gespräch. Er legte den Arm um Alexandra und stellte sie dem Jockey vor. „Roger hat mir gerade von seinem letzten Rennen mit Sudden Force erzählt. Eine tolle Geschichte!“ Am anderen Ende der Terrasse tanzte Tanja eng umschlungen mit Mark zu verführerischen lateinamerikanischen Klängen der Fünf-Mann-Band. Alexandra lächelte den Jockey an. „Mr. Petty, es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Bitte verzeihen Sie, wenn ich mich schon zurückziehe. Aber wir haben eine lange Reise hinter uns.“ Sie gab Jason einen Kuß auf die Wange. „Bist du mir böse, wenn ich schon gehe? Ich bin so müde.“ Jason küßte sie zärtlich auf die Stirn. „Nein, Darling“, versicherte er rasch und wandte sich dann zu Petty. „Bitte warten Sie einen Augenblick auf mich. Ich bin gleich wieder zurück.“ „Du brauchst mich nicht zu begleiten, Jason.“ Sie hatte bemerkt, daß er den Jockey nur ungern verließ. Jason nahm ihre Hand. „Meinst du wirklich?“ „Natürlich, Jason.“ Sie wünschten sich eine gute Nacht, und Alexandra ging zurück ins Haus. Auf ihrem Weg zur Treppe wurde sie mehrfach zum Tanzen aufgefordert, aber sie lehnte jedesmal dankend ab. Erleichtert atmete sie auf, als sie schließlich den zweiten Stock erreichte. Diesmal verschloß sie die Zimmertür. Sie ging ins Badezimmer, schminkte sich ab und erfrischte sich mit kaltem Wasser. Während sie ihr Gesicht abtupfte, blickte sie sich forschend im Spiegel an. Seit ihrer letzten Begegnung mit Mark hatte sie sich verändert, ihr Gesicht war schmaler geworden. Sie war nun eine erwachsene junge Frau, kein unerfahrenes Mädchen mehr. Wieder mußte sie an ihre Unterhaltung mit Scott Maddox denken. Woher wohl Marks Depressionen, seine Launen kamen? War er seines Erfolgs müde geworden? Gab es nichts mehr, wonach er streben konnte? Sie bürstete ihr Haar, bis die Kopfhaut schmerzte. Launen! Melancholie! Darüber hätte sie Scott viel erzählen können. Sie ließ die Hand mit der Bürste sinken und sah ihren eigenen anklagenden Blick auf sich gerichtet. Doch mit Mark war sie noch nicht fertig; seine Anziehungskraft wirkte ungebrochen auf sie. Jason hatte recht gehabt. Sie hätte nicht mitkommen sollen. Aber jetzt mußte sie sehen, wie sie mit dem Chaos ihrer Gefühle und der wieder entflammten Leidenschaft fertig wurde.
3. KAPITEL Langsam zog Alexandra sich aus. Sie nahm ein hauchdünnes schwarzes Neglige aus dem Koffer und streifte es über. Durch das Fenster ihres Zimmers sah sie, wie sich die Lichter des Hauses in der dunklen Seeoberfläche spiegelten. Hier war es ruhig. Die Party fand auf der anderen Seite des Hauses statt. Alexandra setzte sich in einen bequemen Lehnstuhl und schaute in die dunkle Nacht. Sie bemühte sich, nicht an Mark zu denken. Sie mußte eingenickt sein. Als sie durch das Klopfen an der Tür geweckt wurde, ging sie verschlafen zur Tür und schloß auf. Sicher war es Jason. Doch es war Mark, der hereinkam und die Tür hinter sicher ins Schloß fallen ließ. Bevor Alexandra etwas dagegen tun konnte, hatte er sie schon eng an sich gezogen. „Alexandra“, flüsterte er und preßte sein Gesicht in ihr Haar. Der Klang seiner Stimme war wie eine Liebkosung, die sie erwidern wollte, so als habe er sie geküßt. Doch sie sagte: „Nein, Mark. Bitte nicht.“ „Ich mußte kommen. Ich konnte nicht anders.“ „Aber es ist nicht recht“, erwiderte sie, auf Verständnis hoffend. Doch sie vermochte nicht, sich ihm zu entziehen. „O doch“, antwortete er hitzig und zog sie noch näher an sich. Seine Lippen wanderten dabei liebkosend über ihren zarten Nacken. Sie beugte sich zurück und suchte seinen Blick. Im Mondlicht wirkten seine tiefblauen Augen fast schwarz. „Jason könnte kommen.“ „Dann soll er kommen.“ Alexandras Haltung wurde abwehrend. Sie fürchtete sich vor ihrem Begehren, sehnte sich aber zugleich danach, im Bannkreis der Leidenschaft zu bleiben. Außerhalb davon herrschten kühle Vernunft und Berechenbarkeit – die Welt ihres Verlobten. In Marks Armen aber hörte die Vernunft auf. Sie zitterte, denn sie begehrte ihn so stark, daß sie fast geschrien hätte: Nimm mich, liebe mich, aber verlaß mich nicht, nie wieder. Ihre Arme waren schwer wie Blei, als sie ihn schließlich von sich stieß. Wieviel innere Kraft war doch notwendig, um sich von Mark zu befreien! Und das würde nie anders werden, wenn sie sich dem Kampf nicht endlich stellte. Sie wandte sich Mark zu und sagte so kühl sie konnte: „Jason ist mein Verlobter, und ich werde ihn heiraten. Wie könnte ich meine Selbstachtung bewahren, wenn ich dies zulassen würde?“ „Wenn du zulassen würdest, daß ich mit dir schlafe?“ Begehrlich ließ er seine Blicke über ihren nur spärlich bekleideten schlanken Körper wandern. Ein schneller Schritt, und sie spürte seine Erregung, als er sie voller Begehren an sich preßte. „Nein!“ wehrte sie sich. „Doch, Alexandra. Hör auf mit deinen Vernunftspielchen.“ „Es sind keine Spiele“, protestierte sie. „Natürlich sind es Spiele, mein Liebling.“ Ihre Abwehr zerschmolz unter seinem Blick. „Ich muß es doch wissen. Schließlich habe ich sie fünf Jahre lang selbst gespielt, diese Vernunftspielchen. Ich weiß, wie es ist, wenn man sich vormacht, daß man nicht fühlt, was man eigentlich doch fühlt, wenn man sich einredet, daß man nicht haben will, wonach man sich von ganzem Herzen sehnt.“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er die Erinnerung loswerden. „Aber es funktioniert nicht.“ Er fuhr mit dem Finger leicht über den Ansatz ihrer Brust. Seine Stimme war rauh,
als er flehte: „Bitte, heirate ihn nicht, Alexandra. Bitte nicht.“ Es ist genau wie damals, dachte sie und bemerkte, daß sie ihre Arme um seinen Nacken geschlungen hatte. Wenn er sie berührte, wenn er so zu ihr sprach, wurde sie zu seiner Marionette und genoß jeden Augenblick des Zusammenseins. Selbst der Schmerz kam ihr dann süß vor. „Tu mir das nicht an, Mark. Hör auf, mich zu überreden. Ich bin völlig durcheinander und weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist.“ „Ist das so richtig?“ fragte er und legte sanft seine Lippen auf ihren Mund. Sie fühlte, wie ihn ein Zittern durchlief. Dann riß sie sein wildes, lang unterdrücktes Begehren mit sich. Sie vergaß, wer sie war, fühlte nur noch ein übermächtiges Verlangen. Mark nahm sie auf die Arme und legte sie auf das Bett. Sie sah zu, wie er sich auszog, Tränen stiegen ihr in die Augen, so sehr liebte sie ihn. Er legte sich neben sie und fuhr mit den Fingern zärtlich über ihr Gesicht und ihren Körper, als wolle er sich vergewissern, daß sie wirklich da war. Sie legte ihre Arme um seinen Nacken und zog Mark eng an sich. Ihre Lippen berührten sich in einem endlosen Kuß, und für eine Weile lagen sie so umschlungen, glücklich, sich in den Armen zu halten. „Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben“, gestand sie schließlich. Ihre Worte schienen ihn aus seiner Regungslosigkeit zu reißen. Die Leidenschaft überflutete ihn, sein Körper spannte sich. Seinem Mund entrannen leise, drängende Worte: „Alexa, Alexandra… noch nie habe ich dich so begehrt.“ Seine Zunge glitt warm und feucht über ihre Haut und umkreiste ihre Brustwarze. Er hob den zarten Stoff ihre Negliges und entblößte ihre Schenkel. Alexandra stöhnte, als er sie berührte. Der Wunsch, sich ihm ganz hinzugeben, wurde immer heftiger. Sie schmiegte sich an ihn und erwiderte seinen Kuß mit wilder Leidenschaft. Während er ihren Namen schrie, drang er in sie ein. Erschöpft lag Alexandra neben ihm und hörte, wie sein Atem ruhiger wurde. Marks breite Brust glänzte feucht. Sie fühlte, daß ein Zauber gebrochen war und sie wehrte sich dagegen, doch das Geschehene kam ihr jetzt schon weniger wirklich, fast wie ein Traum vor. Sie legte den Kopf auf Marks Brust. Seine Augen waren geschlossen. „Mark, ich liebe dich“, sagte sie ganz leise, um ihn nicht zu wecken. Aber er hatte nicht von Liebe gesprochen; hatte nur gesagt, daß er sie begehrte. Dieses Bewußtsein schmerzte Alexandra. Sie erhob sich und blickte auf seine im Schlaf entspannten Züge. Du bist gefährlich, Mark Farraday, dachte sie. Abrupt wandte sie sich ab. Was bin ich doch für eine Närrin, dachte sie, während sie sich duschte und anzog. So dumm, so unverzeihlich naiv! Alexandra setzte sich ans Fenster und wartete auf Marks Erwachen. Er war nicht zu verurteilen, wenn er das Leben von einer anderen Warte anging als sie. Er war eben so. Und er hatte es verdeutlicht, indem er sie vor fünf Jahren verließ. Warum sollte er ihren Körper nicht begehren, wenn sie sich ihm anbot? Sie allein war schuld an ihrer erneuten Selbsttäuschung. Vom Bett her kam ein Geräusch, und sie schaute hinüber. Mark bewegte sich, öffnete langsam die Augen. Als er sie am Fenster sitzen sah, setzte er sich abrupt auf. „Du solltest jetzt besser gehen“, sagte Alexandra kühl. Mark runzelte die Stirn. „Was ist los, Alexa, was hast du?“ Mit einer Hand griff er nach seinen Kleidern. Der Kummer schnürte Alexandra fast die Kehle zu, als sie Mark beim Anziehen
beobachtete. „Es war ein Fehler. Am besten, wir vergessen das Ganze.“ Im Dämmerlicht des herannahenden Morgens bemerkte sie die Verwirrung in seinen Augen. Er näherte sich ihr und packte sie bei den Schultern. „Was sagst du da? Ich verstehe dich nicht. Wir haben uns doch gerade erst…“ Er brach ab und blickte noch einmal auf das Bett, als müsse er sich vergewissern, daß er nicht geträumt hatte. „Ich weiß. Wir hatten Sex miteinander.“ „Was hatten wir?“ Schockiert fuhr er zurück und schaute sie entsetzt an. „Alexa, wir haben uns geliebt.“ Dies klang vorsichtig, fast wie eine Frage. Sie zuckte die Schultern. In dem Bemühen, das Schluchzen zu unterdrücken, kamen ihre Worte abgehackt und hart. „Bitteschön, wenn dir dieser Ausdruck lieber ist.“ „Alexa, ich will endlich wissen, was in deinem Kopf vorgeht!“ „Bitte, geh, Mark. Bitte!“ Geh doch endlich. Um Himmels willen, geh, bevor ich hier zusammenbreche, flehte sie in Gedanken. „Ich werde nicht gehen, Alexandra, nicht bevor du mir erklärt hast, was das alles soll“, erwiderte er leise, aber bestimmt. Wie sollte sie das ertragen? Und was sollte sie ihm sagen? Was wußte er schon von diesem beglückenden Gefühl, das sie hatte, wenn sie nur seine Stimme hörte? Für ihn war lediglich ihr Körper begehrenswert für ein vorübergehendes Vergnügen. Mit letzter Kraft beherrschte sie sich und sagte mit eiserner Entschlossenheit: „Ich will nicht, daß Jason uns hier findet.“ Es war, als hätte sie ihn geschlagen. Mark schien zu wanken, doch er faßte sich sofort wieder. Sie sah, wie der Ausdruck sensibler Verletzlichkeit granitharter Unnachgiebigkeit wich. Er verzog spöttisch die Lippe. „Aha, Jason“, echote er. „Meinst du wirklich, ein bißchen Sex würde alles verändern?“ sagte sie betont gleichmütig. „Auch vor fünf Jahren hat Sex unsere Beziehung nicht retten können.“ Marks Augen blitzten sie an. „Großartig“, sagte er. „Alexandra und Jason. Altes Kentucky-Blut, Hochzeit, Ehebett und Tod. Bis daß der Tod uns scheidet. Aber es werden kalte Arme sein, die dich umschlingen, Alexandra.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber Jason wird mir treu sein, Mark, und mich nicht loslassen. Denn er liebt mich.“ „Ach ja, er liebt dich?“ Mark schien den Gedanken sachlich zu prüfen, während er in sein Hemd schlüpfte und es zuknöpfte. „Ich dachte, wir beide wüßten, was Jason liebt. Er liebt Windermere. Er liebt es, ein Randolph zu sein. Und er liebt das Pferd, das er hier kaufen will. Für eine Frau bleibt da nicht mehr viel Leidenschaft übrig.“ Alexa fror. „Darin unterscheiden wir uns von Jason“, fuhr er ungerührt fort. „Wir brauchen Leidenschaft. Es liegt in unserer Natur, so wie es in Jasons Natur liegt, gewinnen zu müssen. Dieser Tatsache mußt du dich stellen, Alexa. Aber in Jasons Bett wirst du nicht viel Leidenschaft finden. Er ist kalt wie ein Fisch.“ Alexandra hatte Angst, er könnte recht haben. „Möchtest du damit andeuten, daß ich die Leidenschaft in diesem Bett suchen soll?“ fragte sie und deutete verächtlich auf die zerwühlten Bettücher. Mark blickte sie einen Augenblick an. „Das kann ich nicht beantworten. Du mußt selbst wissen, was du wirklich willst.“ Verzweiflung stieg in ihr hoch. Jason mochte Leidenschaft fremd sein, aber was
wußte Mark schon von Liebe? „Ich möchte, daß du gehst“, sagte sie barsch. Mit dem Jackett in der einen, den Schuhen in der anderen Hand stand er vor ihr. „Nein, in Wirklichkeit willst du es nicht.“ „Geh, Mark, bitte, geh endlich!“ „Du hast großes Glück, Alexandra“, sagte er, die Hand auf der Türklinke. „Du bist reich, jung und siehst sehr gut aus. Du kannst es dir leisten, deine Meinungen zu ändern und deine Spielchen zu treiben, wie es dir paßt. Aber ich bin kein armer Farmarbeiter mehr. Ich bin nicht mehr auf Almosen angewiesen.“ Es war schon nach zehn Uhr, als Alexandra schließlich den Mut aufbrachte, hinunterzugehen. Sie wanderte von Zimmer zu Zimmer und dachte schon, es sei niemand im Hause. Da entdeckte sie Scott, der an einem zierlichen runden Tisch im sonnigen Innenhof saß und Kaffee trank. „Guten Morgen! Ich befürchtete schon, man hätte mich allein gelassen.“ „Hallo!“ Scott warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Sie haben aber gut geschlafen.“ „Ausgezeichnet.“ Sie war überrascht, mit welcher Leichtigkeit ihr diese Lüge über die Lippen kam. Er legte den Block beiseite, auf dem er gerade etwas notiert hatte, und nahm eine Tasse von einem Tablett. „Kaffee?“ Sie nickte, und er schenkte ihr aus einer silbernen Kanne ein. „Die anderen wollen dabeisein, wenn Glückstreffer sich selbst übertrifft.“ „Ja, natürlich, Jason war schon ganz wild darauf.“ „Das Frühstück haben Sie leider verpaßt, aber Mrs. Gonzales bereitet Ihnen gern noch etwas“, sagte er ihr. Alexandra schüttelte den Kopf. Scott lächelte. Dann blickte er sie fragend an. „Sie sind wieder dabei, Gedanken zu lesen, stimmt's?“ Er schenkte sich noch etwas Kaffee nach. „Auf jeden Fall haben Sie sehr sprechende Augen. Sie sollten nie Poker spielen.“ „Danke für den Hinweis.“ Kurze Zeit lang herrschte bedrückende Stille. „Vielen Dank, Alexandra“, sagte Scott schließlich. „Wofür?“ Scott lächelte vergnügt. „Mark ist heute früh aufgestanden und hatte vor neun Uhr schon mehr erledigt als in den letzten Monaten. Auch gab er mir endlich die Erlaubnis, Vorbereitungen für den Bau einer neuen Stallung zu treffen. Über ein Jahr lang hatte er mich vertröstet. Deshalb möchte ich Ihnen danken.“ Er lächelte ihr freundlich zu. „Sie haben einem Mann, der nur noch halb am Leben schien, neue Hoffnung gegeben.“ „Ich fände es sehr schmeichelhaft, wenn ich das mir zuschreiben könnte, aber ich habe damit leider nichts zu tun.“ „Ganz im Gegenteil!“ Scott hatte sich erregt vorgebeugt. „Was mit Mark zu tun hat, hat auch mit Ihnen zu tun.“ Kühl wandte sie sich ab. „Auch für Sie gibt es Grenzen, Scott, ganz egal, wieviel er Ihnen bedeutet. Ob es Ihnen paßt oder nicht, lassen Sie mich da bitte heraus. Ich habe mit Marks Leben nichts zu tun. Haben Sie mich verstanden?“ Ungerührt blickte er sie an. „Wirklich?“ „Nur wegen Jason bin ich hierhergekommen. Ich werde ihn heiraten.“ Sie bemühte sich, entschlossen zu klingen. „Verdammt noch mal, warum haben Sie dann letzte Nacht mit Mark geschlafen?“ Alexandra spürte, wie sie blaß wurde, und holte tief Luft. „Sie brauchen es nicht abzustreiten, ich weiß, daß Sie zusammen waren. Ich
weiß es.“ „Hat er Ihnen das gesagt?“ Mark konnte also nicht warten, von seinem Erfolg zu berichten. „Glauben Sie das wirklich?“ Scott war offensichtlich schockiert. „Es würde sehr gut zu dem Mann passen, den ich kenne.“ „Sie kennen ihn verdammt schlecht, wertes Fräulein.“ Es klang so hart, daß sie zusammenzuckte. „Ich suchte ihn, nachdem die letzten Gäste gegangen waren. Er machte am Abend einen so niedergeschlagenen Eindruck. Wie üblich versuchte er zwar, es zu überspielen, aber so leicht lasse ich mich nicht täuschen. Ich dachte, ich könnte ihn mit dem neuesten Partyklatsch ein wenig aufheitern.“ Der Kaffee schmeckte ihr plötzlich bitter. „Meine Güte, was Sie für diesen Mann tun, geht ja weit über Ihre Pflichten hinaus. Hoffentlich bezahlt er Ihnen genug.“ Ihre Worte klangen bissig, aber es schien Scott nicht zu berühren. „Wie ich Ihnen schon sagte, Mark ist für mich mehr als nur Chef. Er ist mein Freund.“ „Schön, das ist gut für Sie und Mark.“ Abrupt stand sie auf. „Ich werde einen kleinen Spaziergang machen.“ Scott ergriff ihr Handgelenk. „Bitte, Alexandra, ich wollte Sie nicht beleidigen.“ „Das haben Sie aber.“ „Es tut mir leid. Mark hat zu mir kein Wort über letzte Nacht gesagt. Das ist die Wahrheit. Ich ging zu seinem Zimmer, doch er war nicht da. Überall suchte ich nach ihm, es fehlte auch kein Pferd und kein Auto. Also gab es nur eine Möglichkeit, wo er sein konnte: bei Ihnen.“ „Wie wär's mit jemand anderem, wie beispielsweise Tanja Dodd?“ Scott zuckte zusammen. Sie schien eine empfindliche Stelle getroffen zu haben. „Nein, Tanja nicht, jedenfalls nicht diesmal. Außerdem kam sie gestern nacht zu mir, um nach Mark zu schauen.“ „Aha, also weiß Tanja auch Bescheid“, sagte Alexandra bedrückt. „Ich habe keine Ahnung, wieviel sie weiß.“ Alexandra suchte nach einer Erklärung, irgendeiner Rechtfertigung. „Scott, hören Sie, ich weiß, was Sie jetzt denken.“ „Sparen Sie sich die Worte. Ich bin nicht hier, um zu urteilen“, sagte er müde. „Aber ich habe genug gesehen. Sie betrügen sich selbst, ich weiß nur nicht, warum.“ „Aber ich weiß es. Übrigens ist es absolut kein Selbstbetrug.“ „Sie lieben Mark“, erwiderte er eigensinnig und sah sie an. „Ich möchte Sie etwas fragen, Scott“, sagte Alexandra nach längerem Schweigen. „Mit wie vielen Frauen hat Mark etwas gehabt, seit Sie ihn kennen?“ Gleichgültig zuckte Scott die Schultern. „Mit einigen.“ „Ziemlich vielen, nicht wahr.“ „Nun ja, er ist kein Mönch.“ „Und Tanja Dodd gehört auch dazu?“ Er zögerte. „Weiß ich nicht.“ „Bitte, Scott. Das sind Sie mir schuldig.“ „Also gut – sie hatten etwas miteinander.“ Alexandra wandte ihr Gesicht ab, damit dieser Mann nicht wieder darin lesen konnte. „Sie hatten etwas miteinander“, wiederholte sie monoton. Sie war schockiert, wie weh ihr diese Kenntnis tat. Sicher hatte sie gewußt, daß sie weder die erste noch die letzte seiner Geliebten war, aber es war noch schmerzlicher, wenn sie die Frau kannte. Mit größter Selbstbeherrschung wandte sie sich wieder Scott zu.
„Warum heiratet er Tanja nicht?“ Scott schwieg. „Vielleicht, weil sie ihm schon alles gegebenen hat, was er will? Sie ist verrückt nach ihm. Das ist nicht zu übersehen. Sie würde ihn auf der Stelle heiraten.“ Es dauerte einige Zeit, ehe Scott reagierte. „Ist es das, was Sie von ihm wollen, daß er Sie heiratet?“ „Ich will nichts von ihm. Jetzt nicht mehr.“ Und nie wieder! „Was letzte Nacht anbelangt“, sie hob gleichgültig die Schultern, „es geschah einfach, mehr nicht.“ „Und es bedeutet Ihnen nichts?“ „Nichts, absolut nichts.“ Scott nickte schweigend. Aber sie war nicht sicher, ob sie ihn überzeugt hatte. „Oh, das hätte ich fast vergessen.“ Scott tippte sich an die Stirn. Dann zog er einen schmalen hellbraunen Briefumschlag aus der Tasche. „Für Sie.“ Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Alexandra den Brief. Er enthielt eine ziemlich kurze Nachricht von Mark, die sie schnell überflog. „Liebe Alexa, ich verstehe mich nicht auf große Worte, doch ich möchte mich entschuldigen. Auch bin ich manchmal zu direkt und gehe einfach zu weit. Aber wie konnten wir uns so mißverstehen? Wir gehören doch zusammen. Ich weiß, Du hast Schwierigkeiten wegen Jason. Ich schlage vor, wir treffen uns um vier Uhr bei mir in Del Mar. Dort können wir in Ruhe miteinander reden. Nimm den weißen Kombiwagen.“ Darunter stand die Adresse sowie eine kurze Wegbeschreibung. Der Autoschlüssel lag im Kuvert. Ihre Hand zitterte, als sie den Brief wieder in den Umschlag steckte. Wie konnte er es wagen! War er sich ihrer so sicher, daß er glaubte, sie würde hinter Jasons Rücken zu ihm kommen, wenn er nur mit dem Finger schnippte? Der Zorn mußte sich in ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Scott sagte: „Was immer darin steht, es scheint Ihnen nicht zu gefallen. Mark konnte sich noch nie fein ausdrücken. So wie er aufgewachsen ist.“ „Hören Sie bloß auf damit!“ unterbrach sie ihn scharf. „Guten Morgen!“ Die Tür zum Innenhof öffnete sich. Fast gleichzeitig drehten sich Alexandra und Scott um. „Immer noch beim Frühstück? Ihr beiden seid ja richtige Faulpelze.“ Bekleidet mit hautengen weißen Jeans, kam Tanja Dodd schwungvoll an ihren Tisch. Sie wirkte frisch und unternehmungslustig. „Ich bin schon seit dem Morgengrauen auf den Beinen“, erzählte sie. „Mark weckte mich zu einer unmenschlichen Zeit. Er beauftragte mich, beim Architekten vorbeizufahren, um die Pläne für die neuen Stallungen zu holen.“ Strahlend schwenkte sie eine Rolle Fotokopien. „Scott, es geht los.“ Er lachte zurück. „Ich weiß. Mark hat es mir bereits gesagt.“ So war das also – ein gemeinsames Projekt! Tanja mußte Mark mehr bedeuten, als sie gedacht hatte. „Ich habe schon genug Zeit vertrödelt“, entschuldigte sich Alexandra und erhob sich. „Einer Freundin in Los Angeles habe ich versprochen, vorbeizuschauen und heute ist genau der richtige Tag dafür. Es war nett, Sie zu sehen, Tanja.“ Tanja blickte kurz von den Plänen auf, die sie inzwischen auf dem runden Tisch ausgebreitet hatte. „Ich denke, wir werden uns in den nächsten Tagen noch öfter sehen, nicht wahr?“ Alexandra nickte. „Möchten Sie eine Nachricht für Jason hinterlassen?“ fragte Scott. „Ja, natürlich“, antwortete Alexandra nach kurzem Zögern. „Sagen Sie ihm, es täte mir leid, daß ich ihn verpaßt habe und daß ich gegen Abend zurück sein werde.“ Sie warf einen Blick auf Tanja. „Und alles Liebe für ihn.“
Als sie an Scott vorbei ins Haus ging, begegnete sie seinem Blick. Er war voller Zynismus.
4. KAPITEL Alexandra war froh, daß sie einen Wagen zur Verfügung hatte. Die mechanische Tätigkeit des Fahrens wirkte beruhigend. Hinter dem Lenkrad zu sitzen, die unendlich erscheinende Überlandstraße vor sich, gab ihr das Gefühl zurück, ihr Leben unter Kontrolle zu haben. Eigentlich bin ich jetzt nicht in der Stimmung, mich mit Carla Minton von Frau zu Frau zu unterhalten, dachte sie plötzlich. Sie fuhr also an der nördlichen Ausfahrt, die nach Los Angeles abzweigte, vorbei und bog in die südliche, Richtung mexikanische Grenze ein. In weniger als einer Stunde würde sie dort sein. Der Gedanke, Kalifornien, ja selbst die USA hinter sich zu lassen, kam ihr verführerisch vor. Allmählich wurde ihr leichter zumute. Sie spürte den warmen Wind, der durch die offenen Fenster wehte, und genoß den Anblick der goldbraunen Hügel und des glitzernden Meeres. Der Ort am Grenzübergang mit dem hochtrabenden Namen „National City“ bestand aus einer Ansammlung von Bürobaracken, einem verschmutzten Parkplatz und ein paar mit grellen Reklamezeichen versehenen Geschäftsgebäuden. Alexandra passierte die Grenzkontrolle und folgte den Wegweisern in Richtung Tijuana. Nachdem sie einen Parkplatz gefunden hatte, begann sie ihren Stadtbummel. Straßen verkauf er sprachen sie in gebrochenem Englisch an und riefen ihr anerkennende Bemerkungen hinterher. An fast jeder Straßenecke standen eine Frau oder ein Kind und verkauften farbenfrohe Papierblumen, die wie riesige Ballons von langen Drahtstengeln nickten. In einem der Gäßchen fand sie ein nettes Speiselokal und bestellte ein „Burrito“. Die knusprig gebackene Tortilla mit den fein geschnittenen Rindfleischscheiben, den grünen Bohnen und der würzigen Sauce schmeckte ausgezeichnet. Frisch gestärkt bummelte sie weiter und betrachtete die Auslagen mit allerlei Krimskrams, den verschiedensten Lederwaren, Kupferkrügen und -topfen. An einem Kleiderstand feilschte sie um ein weißes handbesticktes Kleid. Nach zehn anstrengenden Minuten gehörte es ihr. Drei Läden weiter jedoch sah sie das gleiche Kleid, vierzig Pesos billiger. Das bunte Leben im Wirrwarr der Gassen und Straßen von Tijuana zerstreute sie für Stunden. Überrascht stellte sie mit einem Blick auf die Uhr fest, daß es schon vier war. Alexandra verspürte ein gewisses Triumphgefühl: Über vier Stunden lang hatte sie nicht an Mark gedacht! Wie es ihm wohl gefiel, in Del Mar auf sie zu warten? Wahrscheinlich hatte er die Möglichkeit, sie könne nicht erscheinen, überhaupt nicht einkalkuliert. Ob er verletzt war? Während sie sich auf der Rückfahrt durch den Verkehr in Richtung San Diego schlängelte, stellte sie sich vor, wie er einsam und verlassen am Fenster stand und ins Leere blickte. Oder war er wütend? Er war es sicher nicht gewöhnt, daß man etwas gegen seinen Willen tat. Jetzt war sie nur noch eine Meile von der Ausfahrt zur Del-Mar-Rennbahn entfernt. Sie nahm den Fuß ein wenig vom Gaspedal. Marks Apartment war nicht weit. Sie zögerte. Warum sollte sie nicht mitspielen, solange sie bekam, was sie wollte. Wo stand geschrieben, daß für Frauen auf diesem Bereich andere Gesetze galten als für Männer? Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, da wurde ihr heiß vor Scham. Jason! Hier ging es nicht um eine neue Moral oder um die Befreiung der Frau,
sondern um Vertrauen, Treue und auch um Verpflichtung. Ihre Hände fühlten sich feucht an, als sie an der Ausfahrt vorbeiraste. Auch den Rest des Weges zur Ranch legte sie mit hoher Geschwindigkeit zurück. Es war, als versuche sie durch den Rausch der Geschwindigkeit ihr Begehren zu verdrängen. Um halb fünf war sie zurück und ging sofort auf ihr Zimmer, um zu duschen und sich umzuziehen. Da klopfte es. „Ich bin's, Jason. Kann ich vielleicht einen Moment hereinkommen?“ Schnell zog Alexandra den Reißverschluß ihres Hausanzuges zu und öffnete die Tür. Jason stürzte ins Zimmer. „Sag, wo warst du? Ich bin fast verrückt geworden vor Sorge um dich.“ „Ich habe eine Spazierfahrt gemacht“, antwortete sie und schloß die Tür. Er hatte sie nicht einmal angesehen. „Hat Scott dir nichts gesagt?“ „Nein, oder vielleicht doch?“ Aufgebracht wandte er sich ihr zu. „Ich weiß nicht mehr genau, hatte den Kopf voll mit anderen Dingen.“ Alexandra setzte sich an den Frisiertisch und begann, ihr Haar zu bürsten. Im Spiegel beobachtete sie, wie Jason näher kam. Seine Augen glänzten wie im Fieber, er wirkte unruhig und nervös. „Was ist mit dir los, Jason?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Mir ist es nie bessergegangen.“ Er barst fast vor Energie, blieb einen Moment bei ihr stehen und lief dann mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Alexandra schüttelte den Kopf. „Wie wär's, wenn du mir endlich sagtest, was vorgefallen ist?“ „Alles, worauf ich hingearbeitet habe, scheint zu glücken.“ Also das Pferd. Was sonst könnte ihn so in Aufregung versetzen? Für einen Augenblick tauchte vor ihrem geistigen Auge Mark auf, der auf ihrem Bett saß und Jasons Fehler mit aller Unerbittlichkeit aufzählte. „Sprichst du von dem Pferd, Jason?“ „Ja. Von Glückstreffer. Was für ein Tier! Und es wird mir gehören.“ „Wie schön für dich.“ Sie wünschte, es würde ihr mehr bedeuten. „Schön für uns, Alexa.“ „Ja“, sagte sie leise, „schön für uns.“ „Wir werden es schaffen“, sagte Jason und schlug sich mit der Faust in die flache Hand. „Du weißt sicher, daß es auf Windermere nicht mehr so gut steht wie zu Großvaters Zeiten. Ich erlebte diese langsame Veränderung von klein auf mit. Aber ich werde das ändern. Windermere soll wieder im alten Glanz erstrahlen.“ Jason blieb hinter ihrem Stuhl stehen und musterte kritisch ihr Spiegelbild. „Du bist eine sehr schöne Frau, Alexandra. Eine vollkommene Schönheit. Ich möchte, daß du so bleibst und alles dafür tust, ganz gleich, wieviel es kostet. Denke daran, daß du eine Randolph sein wirst. Doch das brauche ich dir nicht erst zu sagen.“ Er lächelte zufrieden. „Die O'Neills verstehen, was das heißt. Und du bist die Tochter deines Vaters.“ Ich habe dich sehr gut verstanden, dachte Alexandra. Ich werde mein Leben lang eine bestimmte gesellschaftliche Rolle zu erfüllen haben. Von meinem Stand und meiner Erziehung her bin ich dafür wie geschaffen. Ihre Hand zitterte, und der Diamantring strahlte in kaltem Glanz. Ein schrilles Klingeln riß Alexandra aus ihren Gedanken. Sie wußte, wer am Telefon sein würde. „Warum bist du nicht gekommen, Alexa, warum nicht?“ Als sie seine dunkle Stimme hörte, wurde ihr ganz flau zumute. Aber sie fühlte Jasons Blick auf sich gerichtet und unterdrückte ihre Erregung.
„Wo bist du? Kannst du frei sprechen? Bist du in deinem Zimmer?“ fragte er. „Ja.“ „Bitte, Alexa, wir müssen uns sehen. Um Himmels willen, sag warum…?“ „Oh, hallo“, unterbrach sie ihn kurz angebunden, „Jason ist gerade hier.“ „Ach, tatsächlich?“ Der drängende Ton wich aus seiner Stimme. „Jason – bei dir im Schlafzimmer? Dann verstehe ich natürlich, warum du nicht kommen konntest.“ Sie hörte, wie er verächtlich die Luft ausstieß. „Du bist eine Dame voller Überraschungen. Ich habe dich wohl unterschätzt, oder sollte ich besser sagen überschätzt?“ Sie hatte das Bedürfnis, sich zu verteidigen, aber Jason stand neben ihr und hörte zu. „Das ist keine Art, mich so…“ „Gib mir Jason“, unterbrach er sie. Schweigend hielt sie Jason den Hörer hin. Dann ging sie ins Badezimmer und ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Als sie zurückkam, erwartete Jason sie sichtlich erregt. „Farraday hat tatsächlich Glückstreffer zum Verkauf freigegeben. Er nimmt ab heute schon Angebote entgegen“, sagte er mit gerunzelter Stirn. „Du meinst, schon jetzt?“ Alexandra war bestürzt. Eigentlich hätte ein Treffen der potentiellen interessierten Käufer anläßlich eines formellen Rennens des Pferdes stattfinden sollen. Danach würde noch die Gelegenheit geboten, es ein paar Tage lang bei den bevorstehenden Ausscheidungskämpfen zu beobachten. „Irgend etwas muß ihn veranlaßt haben, seine Pläne zu ändern. Er teilte mir gerade mit, daß er schon heute abend die ersten beiden Angebote erwartet.“ „Armer Jason.“ Sie konnte sich gut vorstellen, wie ihm jetzt zumute war. Jason handelte ungern spontan. Jetzt war er jedoch gezwungen, eine überstürzte Entscheidung zu treffen. „Die Sache gefällt mir nicht. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzuspielen.“ „Dann wirst auch du heute abend dein Angebot unterbreiten?“ „Ich habe keine andere Wahl.“ Alexandra ging zum Fenster und öffnete es. In der Ferne sah sie dunklen Rauch zum Himmel steigen. „Man hat immer die Wahl“, erwiderte sie ruhig. „Nicht in diesem Fall. Ich muß tun, was Farraday will, sonst verliere ich Glückstreffer.“ Alexandra brachte es nicht über sich, Jason anzusehen. Auf diese Weise also rächte sich Mark, weil sie nicht zu ihm gekommen war. Aber das konnte sie Jason nicht sagen. Es würde seinen Stolz verletzen, ihre Beziehung zerstören. Jetzt hatte Mark sie da, wo er sie haben wollte. „Ich kann nicht selbst hinfahren“, sagte Jason plötzlich. „Bitte, fahr du hin und überbringe ihm mein Angebot. Er besitzt eine Wohnung in der Nähe der Rennbahn.“ Als sie sich umdrehte, war Jason schon dabei, in einer Schublade nach Briefpapier zu suchen. „Ach bitte, Jason. Ich bin so kaputt. Wie du weißt, bin ich heute den ganzen Tag in der Gegend herumkutschiert.“ „Es wird nicht lange dauern.“ Er schrieb ein paar Ziffern auf ein Blatt Papier. „Schicke doch Aoki hin.“ Jason runzelte ärgerlich die Stirn. „Meinst du, ich überlasse so etwas Wichtiges einem von Farradays Leuten? Das mußt du schon machen.“ „Warum kannst du eigentlich nicht selbst hinfahren?“ Sie war entschlossen, Mark
nicht wegen dieses Auftrags aufzusuchen. Er hielt einen Augenblick im Schreiben inne. „Ich traf heute Ross Phillips auf der Rennbahn. Erinnerst du dich an ihn?“ „Nein.“ Im Augenblick konnte Alexandra sich an nichts und niemanden erinnern. Sie dachte nur daran, wie dumm sie gewesen war, Mark nicht zu besuchen. Sie hätte ihm klarmachen können, daß es mit ihnen beiden ein für allemal vorbei war. Jason wurde lebhafter. „Er arbeitete als Trainer für die Greenlade Farms in Winchester und kann Farraday auch nicht leiden. Wir treffen uns um sechs Uhr zu einer interessanten kleinen Unterredung beim Abendessen.“ „Und deswegen willst du dein Angebot nicht selbst überbringen?“ Verständnislos schaute sie Jason an. Jason lächelte hämisch. „Das ist mehr als ein simples Gespräch unter Geschäftsfreunden. Er weiß einiges über Farradays Vergangenheit, wie er zu seinem Reichtum gekommen ist. Die Sache steht so: wenn ich etwas gegen Farraday in der Hand habe, kann ich ihn unter Druck setzen. Die anderen Angebote fallen dann nicht ins Gewicht. Er wird mir Glückstreffer geben müssen – und zwar zu meinen Bedingungen.“ Alexandra kämpfte gegen ein Ekelgefühl an. „Das ist doch Erpressung.“ „Ich werde ihm ein faires Angebot machen“, erwiderte Jason ungerührt. „Das nennst du fair, ihm seine Vergangenheit vorzuhalten?“ „Was willst du?“ Er zog amüsiert die Mundwinkel hoch. „Hast du vor, ihn zu verteidigen?“ „Nein, natürlich nicht.“ , „Geschäft ist Geschäft. Wie, glaubst du denn, ist er zu diesem Reichtum gekommen?“ „Was weiß ich.“ „Nun, du wirst es bald wissen. Heute abend werde ich es erfahren.“ Alexandra ballte die Fäuste. „Jason, ist es wegen des Pferdes, oder gibt es da noch einen anderen triftigen Grund, daß du nicht davor zurückschreckst, Mark mit Schmutz zu bewerfen?“ Jason übertrug die Zahlen, die er zuvor auf einem anderen Blatt Papier berechnet hatte, auf einen neuen Briefbogen. Noch einmal überprüfte er alles, setzte seine Unterschrift darunter und versiegelte den Umschlag. „Ich könnte sagen, es geht dich nichts an, aber ich besitze mehr Achtung für dich. Ja, es ist das Pferd… und noch etwas anderes.“ Jason stand auf und sah ihr in die Augen. „Farraday und ich haben vor ein paar Jahren ein Abkommen getroffen. Aber er scheint die Abmachung nicht halten zu wollen.“ „Was für eine Abmachung?“ „Das ist meine Sache“, antwortete er bestimmt. „Wir wollen Partner fürs Leben werden, Jason. Zählt das nicht?“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu und hielt ihr den Brief hin. „Das mußt du schon selbst beantworten, Alexandra. Was zählt es denn bei dir? Meine Eltern waren Lebenspartner. Besonders meiner Mutter bedeutete dies sehr viel. Sie stand immer an Vaters Seite, war ihm stets treu ergeben. Er konnte sich auf sie verlassen. Sie kümmerte sich um das, was man ihren Teil der partnerschaftlichen Pflichten nennen könnte.“ Alexandra erinnerte sich, daß sie erst an diesem Morgen beschlossen hatte, Jason all das zu sein, was er von ihr erhoffte. Versagte sie schon jetzt? „Was war denn exakt ihr Teil?“ Überrascht zog Jason die Augenbrauen in die Höhe. „Sie war Ehefrau, Mutter und natürlich auch Gastgeberin.“ Er musterte sie kritisch. „Es überrascht mich, daß
du fragst.“ „Jason, ich habe nie in dieser Weise darüber nachgedacht. Ich meine, wir sollten einmal darüber reden.“ „Wir müssen das Gespräch verschieben.“ „Auf wann?“ „Meine Güte, Alexa!“ „Also, auf wann?“ wiederholte sie. „Du solltest mir vielleicht besser einen Termin geben, da du ja laufend unterwegs bist und Rennen beobachtest oder Zeiten stoppst… oder Marks Vergangenheit erforschst.“ „Alexa, was ist in dich gefahren? Diese Überempfindlichkeit paßt nicht zu dir.“ „Überempfindlichkeit!“ Sie hätte schreien mögen vor Empörung. Sollte sie sich das gefallen lassen? Was sollte sie tun? Plötzlich jedoch war ihr Ärger wie weggeblasen, und sie schämte sich. Sie benahm sich so unmöglich, nur weil sie sich über ihre Gefühle für Mark immer noch nicht klar geworden war. Sie suchte die Fehler bei Jason, um ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu verbergen. Sie war mit sich selbst unzufrieden und ließ dieses Gefühl an Jason aus. „Es tut mir leid, Jason.“ Er schenkte ihr ein kurzes befreites Lächeln. „Ist schon verziehen.“ Dann gab er ihr einen leichten Klaps auf die Wange. „Jetzt muß ich aber gehen.“ „Jason, liebst du mich?“ fragte sie plötzlich, als er schon in der offenen Tür stand. „Alexa, das habe ich dir doch schon gesagt“, erwiderte er leicht gereizt. „Aber ich erinnere mich nicht mehr.“ Sie dachte angestrengt nach. Für sie war Liebe untrennbar mit Leidenschaft verbunden. Doch Jason war in fast allem ein kühler Verstandesmensch – außer, wenn es um Pferde ging. „Natürlich liebe ich dich, du dummes Mädchen.“ Er preßte kurz ihren Arm. „Ich komme heute abend noch kurz herein, um zu hören, wie alles lief. Drück mir die Daumen.“ „Viel Glück, Jason.“ An seinem Blick sah sie ganz klar, daß er mit seinen Gedanken längst bei dem Pferd war. Alexandra trat aus dem Aufzug und fand sich in einer geräumigen getäfelten Eingangshalle einer großen Wohnungstür aus Nußbaum gegenüber. Tief atmete sie ein, bevor sie auf den Klingelknopf drückte. Mark Farradays Apartment schien das gesamte oberste Stockwerk der sechsstöckigen Luxuswohnanlage einzunehmen. Einige Zeit verging, bis Mark die Tür öffnete. Er blickte sie überrascht an. „Jason bestand darauf, daß ich ihn dir selbst überbringe“, sagte sie rasch und zeigte ihm den Brief. „Es ist das Angebot, mit dem du es plötzlich so eilig hattest.“ Ein Geräusch hinter Mark verriet, daß noch jemand in der Wohnung war. „Hallo, Alexandra.“ Tanjas Stimme traf sie völlig unvorbereitet. „Was für eine Überraschung!“ „Möchtest du hereinkommen?“ fragte Mark. Sie schüttelte den Kopf und reichte ihm den Brief. „Ich will nur dieses Angebot loswerden.“ „Wie du möchtest. Interessiert dich das Ergebnis nicht?“ Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. „Aber natürlich, wenn du die Entscheidung sofort fällst.“ Mark ging in seine Wohnung zurück, ließ aber die Tür für sie weit offen. Alexandra folgte ihm. Auf einem Tisch lagen die Fotokopien, die sie bereits am Morgen gesehen hatte.
Mark rollte sie zusammen und sagte zu Tanja: „Du kennst die Pläne genauso gut wie ich. Ich habe morgen früh eine wichtige Verabredung. Bitte verhandle du in meinem Auftrag mit Colfax.“ „Wie du wünschst, Boß.“ Sie lächelte ihn bewundernd an. „Also, dann will ich mal gehen.“ Etwas widerstrebend klemmte sie die Rolle mit den Plänen unter den Arm und ging langsam zur Tür. „Ich bin zu Hause, falls du noch etwas mit mir zu besprechen hast.“ „Danke, vielleicht komme ich drauf zurück“, erwiderte Mark. Er wartete, bis die Tür hinter Tanja ins Schloß gefallen war, und wandte sich dann Alexandra zu. Kühl abschätzend blickte er sie an. „Jason geht aber unvorsichtig mit seinem Eigentum um.“ „Ich bin niemandes Eigentum.“ Alexandra bemühte sich, distanziert zu wirken. „Jason hat heute abend ein wichtiges Arbeitsessen und wollte seinen Brief keinem anderen anvertrauen.“ Marks Mundwinkel umspielte ein amüsiertes Lächeln. „Dir kann er natürlich vorbehaltlos vertrauen.“ Achtlos warf er den Brief auf ein Tischchen und ging zur Bar am anderen Ende des Zimmers. Die modern eingerichtete Wohnung wirkte ziemlich kühl: Glas war kombiniert mit Teak und Leder mit Chrom. Ihr Blick wurde wie magisch angezogen von einem auffallenden Gemälde, das sie sofort als Original von Jackson Pollock klassizifizierte. Mark kehrte mit zwei Gläsern Sherry zurück, Alexandra zögerte, ihr Glas anzunehmen. „Komm, komm“, neckte er sie, „selbst die Russen trinken bekanntlich mit den Amerikanern hin und wieder ein Gläschen.“ Sie errötete leicht. Verglichen mit ihrem Verhalten in der vergangenen Nacht mußte ihm ihre Zurückhaltung direkt lächerlich vorkommen. Sie nahm das Glas und nippte daran. „Wie steht es mit den anderen Angeboten, hast du sie schon?“ Er nickte. Offensichtlich schien es ihm Spaß zu machen, sie ein wenig auf die Folter zu spannen. „Ja und?“ „Ich habe noch nicht nachgesehen.“ Er nahm zwei versiegelte Briefe von seinem Schreibtisch und warf sie neben Jasons Umschlag auf den Tisch. Er schwenkte lässig den Sherry im Glas. „Das hat Zeit. Eigentlich solltest du von Jason wissen, daß man derartige Geschäfte nicht überstürzt.“ Alexandra setzte ihr Glas ab und blickte Mark offen an. Sie war des Katz-undMaus-Spiels überdrüssig. „Was für eine Abmachung hast du mit Jason getroffen?“ Zum erstenmal sah Mark irritiert aus. Er versuchte es zu verbergen, indem er seinen Sherry auf einen Zug leerte. Als sie schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, warf er den Kopf in den Nacken und lachte. „Er hat dir also erzählt, wir hätten ein Abkommen. So, so. Was für eine Überraschung!“ Doch er wurde ernst, als er zur Bar zurückging und sich einen doppelten Scotch eingoß. „Jason behauptet, du hättest die Abmachung nicht eingehalten.“ „Ganz im Gegenteil, und zwar viel zu genau und viel zu lange.“ Er stand neben ihrem Sessel und nahm einen kräftigen Schluck. „Was bedeutet er dir eigentlich? Nein, laß mich raten.“ „Da ist zuerst die gesellschaftliche Position der Randolphs, und dann sein Geld. Viel Geld. Trotzdem überrascht es mich, daß dies einer Frau wie dir reicht. Ich glaubte immer, du hättest zu viel Temperament, um dich damit zufrieden zu
geben.“ „Was soll das heißen?“ Alexandra verschränkte abwehrend die Arme. „Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, kann das behaupten.“ „Das liegt einzig und allein daran, daß niemand dich so kennt, wie ich dich kenne.“ Er wollte sie nicht quälen, seine Stimme verriet, daß es ihm ernst war. Heute morgen war sie sich benutzt vorgekommen, aber hatte sie ihn nicht ebenso benutzt? Es war höchste Zeit, ihm ihre Position unmißverständlich klar zu machen. „Sieh mal, Mark, was letzte Nacht passiert ist…“ „Bitteschön, was ist denn letzte Nacht passiert? Ich bin mir selbst nicht mehr ganz klar darüber.“ „Es war ein Augenblick der Schwäche“, sagte sie mit fester Stimme. „Es soll nicht wieder vorkommen.“ „Du hast recht, es wird auch nicht wieder vorkommen“, erwiderte er schneidend. „Ich bin froh, daß du das verstehst und die Dinge akzeptierst, wie sie sind.“ „Gut, ich verstehe das, aber ich kann nicht akzeptieren, daß du Jason heiratest.“ Sie hörte Bedauern in seiner Stimme, und es rührte sie seltsam. „Du mußt es akzeptieren, Mark“, sagte sie langsam. „Du hast keine andere Wahl.“ Mark ließ sich Alexandra gegenüber auf dem Sofa nieder. Er stützte den Kopf in die Hände und blickte nachdenklich vor sich hin. „Wie wär's, wenn wir einmal über unsere Möglichkeiten reden?“ So wie er das sagte, klang es wie ein Rätsel oder ein Frage-und-Antwort-Spiel. „Was meinst du damit?“ „Die vielen alltäglichen Situationen, in denen man eine Wahl trifft, sich so oder so zu entscheiden. Das mag für sich genommen nicht bedeutsam erscheinen, aber im Ganzen gesehen geben diese Entscheidungen unserem Leben eine bestimmte Richtung.“ „Worauf willst du hinaus?“ „Ich versuche nur, mich zivilisiert mit dir zu unterhalten.“ Er runzelte die Stirn. „Nein, das ist es eigentlich auch nicht. Man könnte sagen, ich versuche herauszubekommmen, was in deinem Kopf vor sich geht.“ Er blickte sie halb traurig, halb belustigt an. „Denn alles andere ist ja von heute an für mich strengstens verboten.“ „Also gut, spielen wir die Möglichkeiten durch.“ Erwartungsvoll, aber immer noch ein wenig argwöhnisch sah sie ihn an. „Du hast die Wahl getroffen, Jason auf dieser Reise zu begleiten, sicher nicht, weil er es unbedingt wollte. Warum also bist du mitgekommen?“ Sie zögerte, formulierte im Geiste, was sie sagen wollte: weil Jason der Mann ist, den ich heiraten werde, weil ich bei ihm sein will. Nein, ihr Bedürfnis, die Wahrheit zu sagen – mehr um ihrer selbst als um Marks Willen – war zu stark. „Ich wollte dich wiedersehen“, sagte sie schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte. „Danke, daß du so ehrlich bist“, antwortete er, jedoch ohne ersichtliche Freude. „Und wie findest du mich, jetzt wo du mich gesehen hast?“ Alexandra blickte auf den Teppich. „Deine Lebensumstände haben sich zwar geändert, aber ich glaube, daß du im Grunde immer noch derselbe bist.“ „Und deine Entscheidung herzukommen – war sie nicht der Beginn weiterer Entscheidungen?“ Es war also doch ein Fehler gewesen, diesem Kreuzverhör zuzustimmen. „Ich weiß nicht, was du damit sagen willst.“ „O doch, Alexa.“
Gedankenverloren blickte sie auf ein Gemälde an der Wand. Sie wollte nicht weiter nachdenken und wünschte dieses Spiel zu beenden. „Du bist hergekommen, weil du dir nicht sicher bist, ob du Jason heiraten willst. Das ist der wirkliche Grund für dein Kommen.“ „Unsinn, ich bin mir ganz sicher. Das Datum steht fest, und alle Festlichkeiten sind bis ins letzte Detail geplant.“ „Hast du das alles geplant?“ Sie zögerte etwas. „Mein Vater hat sich um die Hochzeitsvorbereitungen gekümmert, falls du das meinst. Da es ihm so viel Freude brachte, ließ ich ihn gewähren. Ich glaube, er hatte diese Hochzeit in seinen Träumen schon vor langer Zeit durchgespielt.“ „Ja, ich weiß auch genau, seit wann“, sagte Mark leise und ging zurück zur Bar, um sich ein Eiswasser zu holen. Als er sich wieder setzte, seufzte er tief. „Wahrscheinlich hat er dir nie gesagt, daß ich einmal angerufen habe, nachdem ich Kentucky verlassen hatte.“ Ihr Herzschlag schien einen Moment auszusetzen. „Ich sprach mit deinem Vater. Er sagte mir, du seist nach Italien verreist.“ Die Erinnerung schien ihn zu bekümmern. Vater hätte es ihr sagen sollen. Alles wäre anders gewesen, wenn sie das gewußt hätte. Wirklich? Hatte Mark ihr nicht deutlich genug gezeigt, daß es nur Leidenschaft war, was sie miteinander verband? „Mein Vater sagte dir die Wahrheit“, erwiderte sie trotzig. „Ja, das stimmte. Aber er sagte mir außerdem, du seist mit Jason verlobt. Ich glaube, das entsprach jedenfalls damals nicht der Wahrheit. Nicht nach den Gefühlen, die uns beide verbanden.“ „Du mußt wahnsinnig selbstsicher gewesen sein, Mark.“ „Das hatte ich auch nötig. Damals dachte ich, unsere Gefühle füreinander würden auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich hätte mich nie einer anderen Frau zuwenden können.“ Es war die Wahrheit. Alexandra konnte es an Marks Augen sehen. „Aber warum – warum hast du nicht noch einmal angerufen? Warum hast du nie geschrieben?“ „Weil ich meiner gar nicht so sicher war, wie es den Anschein hatte, Alexa. Weil ich bei deinem Vater immer das Gefühl hatte, der letzte Dreck zu sein, ein lästiger Störenfried, der deinen erfolgreichen Aufstieg im Leben nur behinderte.“ Er stand auf und kam auf sie zu, blieb vor ihr stehen. „Alexa, Alexa“, sagte er kopfschüttelnd, „es ist, als kämen wir von verschiedenen Planeten. Du hast nur die schöne Seite des Lebens kennengelernt. Von Kindheit an wurde dir alles wie auf einem silbernen Tablett serviert.“ Unruhig ging er durch das Zimmer, blieb immer wieder stehen und berührte die teuren Möbel, als müsse er sich ihrer Existenz vergewissern. „Ich kann nichts für meine Herkunft, Mark.“ „Das habe ich nicht gemeint. Aber du hattest Augen und Ohren und einen Kopf zum Denken.“ Ein Ausdruck stiller Verzweiflung stand auf seinem Gesicht, als er sich ihr zuwandte. „Du betrügst dich um das, was du wahrnimmst“, flüsterte er. Das war nicht fair. Sie hatte die Schulen besucht, die ihr Vater für sie wählte, aber was blieb einem Kind anderes übrig? Ihre Freunde, die aus der Schule oder der Umgebung, waren natürlich nur Kinder aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht gewesen. „Mark, das ist Unsinn, was du sagst. Mein Vater war allein. Er hat sein Bestes für mich getan.“ „Er hat dein ganzes Leben vorausgeplant.“
„Wirklich? Aber das tun doch alle Eltern.“ „Aber man sollte ein Kind so erziehen, daß es eine selbständige Persönlichkeit werden kann.“ „Ich denke, das bin ich.“ „Nicht, wenn du Jason heiratest.“ Marks Gesicht war jetzt dicht vor dem ihren. „Du hast Jason nicht gewählt, Alexa. Dein Vater tat es für dich, genauso wie er die Schule für dich aussuchte und sich um die passende Karriere für dich kümmerte. Doch diese Entscheidung ist endgültig. Und es sollte deine eigene Entscheidung sein.“ „Das hört sich an, als müßte ich auf den elektrischen Stuhl.“ Seine Miene wurde finster. „Hör auf zu spotten, Alexa. Du liebst diesen Mann nicht.“ Sie stand auf und entfernte sich einige Schritte von ihm. „Woher willst du wissen, wie es in meinem Herzen aussieht?“ Mark packte sie hart am Arm und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. „Vielleicht werde ich es nie wissen, aber nach dem, was letzte Nacht geschah, weiß ich, daß du ihn nicht liebst. Erzähl mir nicht, es war nur eine vorübergehende Laune von dir. Du wolltest es, du wolltest es genauso, wie ich es wollte.“ Ja, dachte sie. Soweit war es richtig. Aber es bedeutete für jeden etwas anderes. Er wollte sie nur körperlich besitzen. Nichts anderes hatten auch seine Liebesbeteuerungen vor fünf Jahren gemeint. „Laß es damit gut sein, Mark.“ Mark ließ sich erschöpft auf das Sofa sinken. Plötzlich wirkte sein Gesicht müde. „Also gut, Alexandra. Dann spielen wir jetzt Glückstreffer. Ist dir das lieber?“ „Ausgezeichnet. Deswegen bin ich ja hergekommen“, erwiderte sie entschlossen und setzte sich ihm gegenüber. Sie schwiegen einen Augenblick. Dann endlich begann Mark, die drei Briefe zu öffnen. Er las die Angebote genau durch, eins nach dem anderen, und ließ sie achtlos auf den Tisch flattern. „Na, und? Wer hat am meisten geboten?“ „Lies selbst.“ Er deutete auf die Briefe. Alexandra las die Angebote. „Jason hat am wenigsten geboten.“ Mark blickte sie ohne Triumph an und nickte bestätigend. „Er hat verspielt.“ Alexandra versuchte sich vorzustellen, was das für Jason bedeutete. Der Gedanke, das Pferd zu kaufen, hatte ihn völlig beherrscht. Doch die anderen Angebote waren von astronomischer Höhe. „Es gibt andere gute Pferde“, sagte Mark und zuckte gleichgültig die Schultern. „Andere Pferde… und andere Frauen.“ Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Für Jason gibt es nur dies eine Pferd. Das weißt du ganz genau.“ „Alexandra, ich traue meinen Ohren nicht. Du scheinst wirklich besorgt um ihn zu sein. Sollte ich mich die ganze Zeit über getäuscht haben?“ „Bitte, Mark, gib ihm noch eine zweite Chance.“ „Das wäre den anderen gegenüber nicht fair. Aber nun gut – angenommen, ich gebe ihm eine zweite Chance. Was springt für mich dabei heraus? Was, glaubst du, könnte mich dazu bewegen?“ Alexandra antwortet nicht. „Du vielleicht?“ Sein Blick war verächtlich. „Würdest du dich anbieten, damit Jason sein Pferdchen an den Start schicken kann?“ „Nein, das würde ich nie tun.“ „Nicht einmal, um den Randolph-Rekord aufrecht zu erhalten? Könnte die letzte Nacht etwas damit zu tun haben, daß Jason dieses Pferd unbedingt haben will?
Würdest du so weit gehen, um ihm dabei zu helfen?“ „Selbstverständlich nicht!“ protestierte Alexandra entrüstet. „Tut mir leid“, beeilte er sich zu sagen. Er wirkte beschämt. „Bitte sag mir, was Jason tun kann, um eine zweite Chance zu bekommen. Was möchtest du als Gegenleistung?“ „Ganz direkt und ohne Umschweife?“ Er lächelte. „Dazu genügt ein Wort: dich.“ Seinen Augen sah sie an, daß er es ernst meinte. „Mein Gott, das meinst du wirklich!“ „Natürlich. Wie oft soll ich dir noch sagen, daß ich dich will? Warum sollte ich diese Chance, dich zu bekommen, ungenutzt lassen?“ „Ja, das könnte dir so passen“, stieß sie hervor. „Es Jason einmal so richtig zu zeigen, daß du ihn besiegt hast.“ Mark gab keine Antwort. Er stand auf und ging an seinen Schreibtisch, der vor einer holzgetäfelten Wand stand. „Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte er und drückte auf einen Knopf, so daß die Täfelung beiseite glitt. Eine Karte der Vereinigen Staaten, in der viele rote und grüne Fähnchen steckten, wurde sichtbar. Alexandra war ihm gefolgt und stand jetzt neben ihm. „Jedes Fähnchen markiert ein Industrieunternehmen, an dem ich beteiligt bin. Einige davon besitze ich ganz, bei anderen bin ich Teilhaber.“ Er ließ die Täfelung wieder zurückgleiten. „Wie du siehst, habe ich es nicht nötig, Jason Randolph zu übervorteilen. Was mich betrifft, gehört er der Vergangenheit an.“ „Vielen Dank für die Lektion, Herr Professor.“ Alexandra nahm ihre Handtasche und ging zur Wohnungstür. „Ich werde es Jason ausrichten. Wir reisen morgen früh ab.“ „Alexandra!“ Doch sie drehte sich nicht um. „Alexandra, ich möchte nicht, daß du wegen Jason zu mir zurückkommst. Du sollst kommen, weil du selbst es so willst. Entscheide dich, ehe es zu spät ist, und tu endlich einmal das, was du wirklich willst, und nicht das, was dein Vater oder Jason wollen.“ Alexandra hatte die Tür geöffnet. „Du tust, als wärst du eine selbständige Frau. Warum versuchst du nicht, wirklich eine zu sein, Alexandra?“ Mit lautem Knall fiel die schwere Wohnungstür hinter Alexandra ins Schloß.
5. KAPITEL Auf der Ranch war alles still, als Alexandra zurückkam. Sie war froh darüber. Aoki fragte, ob sie in ihrem Zimmer essen wolle, da Mr. Farraday nicht zum Abendessen erwartet werde und auch Mr. Randolph und Mr. Maddox auswärts äßen. Wenig später stocherte sie lustlos in einer frisch gebackenen Forelle und einer Portion jungem Spargel herum. Schon bald stellte sie das Tablett wieder auf den Servierwagen vor ihrem Zimmer, denn ihr Appetit war verflogen. Auf der Suche nach Ablenkung durchstöberte sie später die überraschend gut sortierte Bibliothek ein Stockwerk tiefer. Doch sie fand nichts, was sie über längere Zeit hinweg fesseln konnte. Sie schenkte sich einen Brandy ein und ging wieder auf ihr Zimmer. Die Unterhaltung mit Jason, die vor ihr lag, lastete schwer auf ihrem Gemüt. Jason hatte Glückstreffer verloren, und sie mußte es ihm mitteilen. Sie fürchtete seine Reaktion, da sie wußte, wie verrückt er nach diesem Pferd war. Aber darüber nachzudenken war immer noch besser, als sich über Marks Vorwürfe den Kopf zu zerbrechen. Es war kurz vor Mitternacht, als Jason endlich an die Tür klopfte. Er küßte sie leicht auf die Wange, als Alexandra ihm öffnete. Noch während er seine Jacke aufs Bett warf, begann er zur sprechen: „Phillips hat ausgepackt. Jetzt habe ich den Hebel, mit dem ich ansetzen kann.“ Er schwieg und sah sie erwartungsvoll an. Sie brachte nur ein unsicheres Lächeln zustande. „Jason… dein Angebot…“ „Verdammt, das hätte ich fast vergessen. Kaum zu glauben.“ Er war bester Stimmung, fast ein wenig exaltiert. Vielleicht half ihm das, die schlechte Nachricht besser zu verkraften. „Jason“, begann sie mit weicher Stimme, „von allen drei Angeboten war deines das niedrigste.“ Er lächelte abwesend. „Es tut mir sehr leid für dich, Jason.“ Es war, als hätte er sie nicht gehört. „Ja, zu schade…“ Gedankenverloren brach er ab. „Zu schade, daß es nicht geklappt hat“, wiederholte er. Nachdenklich strich er sich übers Kinn, wie er es oft tat, wenn er etwas ausbrütete. „Aber das ist jetzt unwichtig und berührt mich nicht mehr, nach dem, was ich heute abend erfahren habe.“ Seine Augen leuchteten. „Ich weiß jetzt genug über Farraday, um ihn festzunageln, ja um ihn zu ruinieren, Alexandra. Er wird es nicht wagen, das Pferd einem anderen zu verkaufen.“ Alexandra konnte förmlich sehen, wie es in Jasons Kopf arbeitete. Sie spürte seinen Triumph, schreckte aber instinktiv davor zurück. Zum erstenmal fand sie ihn abstoßend und fröstelte unwillkürlich. Sie mußte sich da heraushalten. Es war ihr völlig gleichgültig, was mit dem Pferd geschah. Das sollten Mark und Jason miteinander abmachen, die besser wußten, warum sie das Pferd gegeneinander ausspielten. Warum habe ich mich überhaupt schon so weit in diese Angelegenheit verwickeln lassen, fragte sie sich angewidert. „Es wird ein paar Tage dauern, bis der Kaufvertrag abgeschlossen sein wird“, sagte Jason. „Diese Zeit reicht für meine Pläne.“ „Für welche Pläne?“ Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. „Morgen früh um sechs Uhr fliege ich nach Chikago. Ich muß also gleich packen, und den Rest der Nacht werde ich dann in Los Angeles in der Nähe des Flughafens verbringen.“ „Chikago!“ Er konnte sie doch nicht einfach hierlassen, aber er hatte nichts davon
erwähnt, daß sie mitfahren sollte. „Ich werde mich dort mit einem Mann treffen, der verschiedene Transaktionen in Zusammenhang mit Farradays Aktien getätigt hat.“ Alexandra blickte ihn schweigend an. Sie versuchte, ein dumpfes Übelkeitsgefühl zu unterdrücken. „Es geht um große Geldgeschäfte“, fuhr Jason fort. „Ich habe erfahren,“ – er machte eine effektvolle Pause – „daß Farraday dem Aufsichtsrat von Kenicrest Mills angehört.“ Der Name war ihr vertraut. Kenicrest war eine bekannte Firma. Jason wartete auf eine Reaktion von ihr. „Das ist doch nicht ungesetzlich, oder?“ Ungeduldig stieß Jason die Luft aus. „Nein, aber er ist dort als Aufsichtsratsmitglied nicht registriert. Offensichtlich benutzt er seine Mitgliedschaft als Deckmantel. Ich muß herausfinden, warum er die Verbindung verheimlicht. Schließlich weiß jeder, daß gewisse widerwärtige Elemente ihre Finger in der Stahlindustrie haben.“ Unerklärlicherweise fühlte Alexandra sich auf einmal irgendwie erleichtert. Jasons Worte klangen in ihren Ohren so absurd. „Falls du von organisierter Wirtschaftskriminalität redest, dann solltest du jedes größere Industrieunternehmen in deine Untersuchungen miteinbeziehen. Du hältst dich an Gerüchte, an unbegründeten Blödsinn und hast keinen Beweis dafür, daß Mark in illegale Geschäfte verwickelt ist.“ „Bist du wirklich so naiv, oder tust du nur so?“ Verzweifelt rang Jason die Hände. „Wie zum Teufel glaubst du, kommt ein Mann so schnell zu Geld?“ Jason lockerte seine Krawatte und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Alexandra, du bist so behütet aufgewachsen, daß du die Welt durch eine rosa Brille siehst. Ich werde mein Bestes tun, um dich vor der harten Realität des Lebens zu schützen, wenn wir verheiratet sind, aber du mußt allmählich lernen, daß du nicht in einem Luftschloß lebst.“ „Du hast kein Recht, so etwas zu sagen,“ schrie sie ihn an. Zum zweitenmal an diesem Abend warf man ihr vor, sie lebe an der Wirklichkeit vorbei. „Ich habe in den letzten Jahren auf eigenen Füßen gestanden, ich habe gearbeitet, mir meinen Lebensunterhalt selbst verdient. Ich weiß sehr wohl, wie es in der Welt zugeht.“ Jason lächelte herablassend. „Darauf möchte ich wetten.“ Feindselig standen sie einander gegenüber und beobachteten sich. „Tut mir leid, Alexandra“, sagte Jason schließlich. Es klang weniger entschuldigend als belehrend. „Wir hätten schon früher darüber sprechen sollen. Ich habe es schleifen lassen, denn ich dachte, das Thema ließe sich vermeiden. Tatsache ist jedoch, daß du dein ganzes bisheriges Leben lang behütet und beschützt wurdest. Natürlich liegt der Fehler nicht bei dir. Wenn ich dein Vater gewesen wäre, hätte ich es genauso gemacht. Und wenn wir einmal eine Tochter haben, möchte ich sie nicht anders aufwachsen lassen,“ fügte er schnell hinzu. Er schwieg einen Augenblick. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Aber daß du immer noch behauptest, du hättest deinen Lebensunterhalt selbst verdient, und dabei so tust, als hättest du mühsam die Leiter des Erfolgs erklommen, ist absolut lächerlich.“ „Ich habe gearbeitet“, entgegnete sie eiskalt. „Meine Rechnungen und meine Kleider bezahlte ich von meinem eigenen Geld.“ „Du konntest die teuersten Schulen besuchen und bekamst die bestmögliche Ausbildung. Mit dieser Grundlage hätte dich jede Firma automatisch genommen.“ „Ich habe Talent.“
„Nein, weil du privilegiert bist.“ Sie wandte sich von ihm ab, um seinem verächtlichen Blick zu entgehen. Die Tränen traten ihr in die Augen. „Du bist nur zu unsicher, um eine unabhängige Frau neben dir ertragen zu können.“ „Da irrst du dich leider“, erwiderte er ruhig, „ich will nur keine Frau, die an der Realität vorbeilebt.“ „Also gut! Dann sage mir bitte, was deine Vorstellung von Realität ist.“ Sie war aufgestanden und hatte kämpferisch die Arme vor der Brust verschränkt. Da packte Jason sie an den Schultern. „Der Grund, aus dem ich hier bin, das ist für mich die Realität. Ich will dieses Pferd haben, nein, ich muß es haben.“ Er sprach langsam und mit Überlegung, als müßte er einem ABC-Schützen das Lesen beibringen. „Ich war der Ansicht, ich hätte dir das schon vor ein paar Stunden deutlich erklärt. Hast du mir nicht zugehört? Verstehst du nicht, was ich meine?“ „Offenbar nicht. Du mußt es mir wohl noch einmal erklären“, erwiderte sie kühl. Jason umklammerte nervös die Stuhllehne. „Der Unterhalt von Windermere kostet eine Menge Geld. Verglichen mit der Zeit, als mein Vater noch jung war, sind die Kosten ins Unermeßliche angestiegen. Meinem Vater geht es nicht anders als deinem: mit einem Bein steht er noch in der traditionsreichen Vergangenheit, mit dem anderen aber in der harten Realität der Gegenwart. Immerhin hatten sie noch die Möglichkeit, die letzten Reserven des Familienvermögens in das Gut zu stecken. Ich aber muß sehen, wie ich das Geld beschaffe. Wenn du Wert darauf legst, daß unsere Kinder so aufwachsen wie wir, werde ich darum kämpfen müssen. Und das bedeutet, ich muß alles daransetzen, um mir die sicherste Geldquelle, die es derzeit gibt, zu verschaffen: Glückstreffer.“ „Vielen Dank für die Aufklärung.“ Alexandra entzog sich Jasons Griff, ging ans Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Jason war seit jeher dagegen gewesen, ernsthafte Dinge mit ihr zu bereden. Über Geldsachen hatte er nie gesprochen, als wäre das Thema zu vulgär für ihre Beziehung. Es hatte sie abwechselnd geärgert und amüsiert. Jetzt aber wußte sie, warum er es nicht tat: Er hielt sie für eine verwöhnte, dumme Pute, die von nichts eine Ahnung hatte. Auch ihr Vater enthielt ihr die Wahrheit über Laurelwoods Finanzen vor. Erst ihr Vater… dann Mark… und jetzt Jason. Sie konnten nicht alle Unrecht haben! „Ich weiß es zu schätzen, Jason, daß du offen mit mir geredet hast“, begann sie mit ruhiger Stimme und wandte sich ihm zu. „Aber ich behaupte auch weiterhin, daß ich auf eigenen Füßen stehen kann und glaube trotz allem an mein Talent. Ich weiß auch, daß du es nicht so gemeint hast. Eines zumindest habe ich jetzt verstanden: warum dieses Pferd so wichtig für dich ist. Ich hatte geglaubt, du wolltest es aus einer Art Selbstbestätigung heraus. Jetzt verstehe ich deine Gründe. Trotzdem glaube ich nicht, daß es die Angelegenheit wert ist, einen anderen deshalb zu erpressen. Dieser Preis ist zu hoch.“ Jason ging auf sie zu. „Das solltest du mich entscheiden lassen.“ „Nein. Schließlich müßte ich als deine Frau ebenso mit den Konsequenzen leben.“ Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken und blickte sie durchdringend an. „Ist es wirklich das, was dir Kummer macht?“ „Natürlich, was denn sonst?“ „Du hast Angst, die Wahrheit über Farraday zu erfahren.“ „Damit habe ich nichts zu tun. Es kann mir egal sein.“ „Ist es aber nicht. Du hast ihn immer als eine Art Held betrachtet, und du
möchtest nicht, daß dieses Bild zerstört wird. Du wirst dich entscheiden müssen, Alexandra. Entweder du wirst meine Frau und stehst auch zu mir oder…“ Er sprach nicht weiter. Dann fügte er hinzu: „Du kannst nicht auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen.“ Er hatte recht. Schuldgefühle und Reue überkamen sie. „Jason, du weißt doch, daß ich auf deiner Seite stehe.“ Sie hätte jetzt zu ihm gehen und ihre Arme um seinen Nacken legen sollen. Diese Geste hätte gezeigt, daß sie wirklich zusammengehörten. Aber sie brachte es nicht über sich, ihn zu berühren. „Dann hilf mir jetzt. Bleibe du hier und kümmere dich um Farraday, während ich nach Chikago reise.“ Alexandra hob den Kopf, um zu sehen, daß er das nicht ernst meinte. „Nein, Jason, ich möchte mit dir kommen.“ „Bitte, Alexandra, versteh doch.“ Seine Finger krampften sich um ihren Arm. „Ich brauche dich hier. Daß Farraday sich immer noch für dich interessiert, weiß ich, aber ich vertraue dir. Es wird ihn sicher ablenken, wenn er dich ständig um sich hat. Und das paßt sehr gut in meine Pläne.“ Sie war zu schwach, sich länger zu wehren. Jason lächelte sie an. Er hielt ihre Schwäche für Zustimmung. „Du kannst Farraday ruhig erzählen, wohin ich gefahren bin und warum. Sag ihm auch, daß er vor meiner Rückkehr besser nichts entscheidet, was das Pferd betrifft. Sonst könnte ich dem 'Wall Street Journal' etwas über seine Verbindung mit den Kenicrest-Werken erzählen.“ „Jason, ich käme mir wie eine Komplizin vor. Ich möchte mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben.“ „Aber damit tust du doch gar nichts Unrechtes, Alexandra“, erwiderte er müde. „Du erzählst Farraday nur die Wahrheit – zu seinem eigenen Besten. Mehr will ich gar nicht von dir. Ist das schon zuviel?“ „Wann kommst du zurück?“ „Sobald ich alles erledigt habe.“ Als er ging, warf er einen Blick auf seine Uhr und seufzte. „Viel Zeit bleibt mir jetzt nicht mehr.“ Alexandra fröstelte. Was war nur mit dem charmanten, höflichen jungen Mann geschehen, mit dem sie bei Kerzenlicht diniert und einsame Spaziergänge am Windermere-Seeufer unternommen hatte? Er konnte hart, entschlossen, ja sogar rücksichtslos sein. Sie erkannte ihn kaum wieder. Und Mark. Was wußte sie schon von ihm? Wußte sie denn überhaupt etwas? Vielleicht war sie wirklich die verzogene unerfahrene Gutsbesitzertochter, die ihr beide zum Vorwurf machten. Plötzlich sah alles ganz anders aus. Sie war nach Kalifornien gekommen, um ihre Vergangenheit zu bewältigen und ihren inneren Frieden zu finden. Statt dessen sah sie die Grundvoraussetzungen ihres Lebens in Frage gestellt. Sie wurde gezwungen, darüber nachzudenken, wer sie wirklich war. Tau lag noch auf dem Gras, als Alexandra das Haus verließ, um Mark zu suchen. Sie war nicht gerade begeistert von der Aussicht auf die Begegnung, aber sie mußte ihre Botschaft überbringen. So oft schon hatte sie Jason im Stich gelassen, daß sie diesmal ihre Pflicht nicht versäumen wollte. In den Ställen traf sie Scott, der einen Apfelschimmel absattelte. Seine Stirn war feucht von Schweiß. „Schon so harte Arbeit am frühen Morgen?“ „Das kann man wohl sagen. Aber ich werde ihn zureiten, und wenn es das letzte ist, was ich tue.“ Er legte den Sattel auf eine Bank und inspizierte seine Unterseite. Dann ging er zurück zu dem Schimmel und gab ihm einen leichten Klaps auf den Rumpf. „He, Miguel, laß ihn raus“, rief er einem Stallburschen zu, der weiter hinten die Boxen säuberte.
Der Junge Meß, seinen Besen fallen und führte das Tier über den Hof zu einer umzäunten Koppel. Kaum hatte er das Gatter geöffnet, warf der Schimmel den Kopf zurück und galoppierte hinaus auf die Weide. „Ein eigensinniges Tier“, sagte Scott, „aber es ist der Mühe wert.“ „Wissen Sie, wo Mark ist?“ fragte sie. „Er ist zusammen mit dem Architekten auf dem Gelände, wo die neuen Ställe gebaut werden“, antwortete Scott und überprüfte die Sattelgurte. „Danke.“ Alexandra wollte schon gehen, da fiel ihr etwas ein. „Scott, wissen Sie etwas über die beiden anderen Kaufgebote für Glückstreffer?“ „Wie, Mark hat schon Angebote entgegengenommen?“ Überrascht blickte Scott auf. „Das ist mir neu. Vor Ablauf dieser Woche wollte er die Verkaufsverhandlungen noch nicht eröffnen. Auch steht noch die Pferdeschau an und – er hat wirklich schon Angebote entgegengenommen?“ „Ja, von Murchison und Feliz.“ Scott lachte auf. Alexandra sah ihn fragend an. „Warum lachen Sie? Jason fand das gar nicht so lustig.“ „Diese Burschen!“ Scott lachte noch immer und schüttelte den Kopf. „Hochstapler sind das, alle beide, sie verfahren immer nach der gleichen Masche.“ „Was soll das heißen?“ „Manipulationen. Sie versuchen durch ihr überhöhtes Angebot das Vorkaufsrecht zu erwerben. Oft sind die Pferdebesitzer so davon begeistert, daß sie sofort darauf eingehen. Aber dann kommt immer etwas dazwischen, das den Verkaufsabschluß hinauszögert. Die beiden haben das schon fein heraus. Sie halten den Verkäufer so lange hin, bis die anderen Interessenten abgesprungen sind. Dann schlagen sie zu. Der Verkäufer ist zwischenzeitlich so mürbe geworden, daß er froh ist, wenn er das Pferd nur noch von hinten sieht. Er verkauft das Tier meist für die Hälfte dessen, was er durch ein angemessenes Angebot hätte bekommen können.“ „Aber warum gibt sich Mark mit solchen Leuten ab, wenn er weiß, daß sie ihn nur hinters Licht führen wollen?“ Scott begleitete sie über den Hof. „Er will sie aus dem Weg haben. Wenn das ernstliche Bieten beginnt, können sie nicht so tun, als hätten sie keine Chance bekommen. Das ist auch einer ihrer Tricks. Sie glauben nicht, wieviel Schaden solche Typen in unserem Geschäft anrichten können. Mark läßt einfach ihre Kreditwürdigkeit überprüfen, und damit hat sich's.“ „Aber die anderen Pferdebesitzer könnten doch genauso verfahren. Wie kommt es, daß die beiden immer wieder Erfolg mit dieser Masche haben?“ „Diese Schwindler sind Profis. Die verstehen sich darauf, ihre Spuren zu verwischen. Es ist nicht gerade leicht, die richtigen Angaben über ihre Solvenz zu bekommen. Aber Mark kennt da Mittel und Wege.“ Scott zwinkerte bedeutungsvoll. Doch Alexandra war nicht zum Lachen zumute. Marks Leben erschien zu geheimnisvoll, um nicht doch etwas zu verbergen. „Was soll das heißen, er kennt da Mittel und Wege?“ fragte sie ziemlich scharf zurück. Scott antwortete nicht gleich, und sie dachte schon, er wolle sich vor einer ehrlichen Antwort drücken, aber er suchte nur nach den richtigen Worten. „Mark ist ein kluger Geschäftsmann. Er pflegt viele nützliche Geschäftsbeziehungen und unterhält umfangreiche Aufzeichnungen. Er entwickelte sein eigenes Datensystem, nach dem er arbeitet.“ Alexandra blickte ihn aufmerksam an. „Das verstehe ich nicht ganz.“ Scott nahm sie beim Arm. „Warum fragen Sie ihn nicht selbst? Da kommt er
schon.“ Sie sah Mark und Tanja Seite an Seite über die Koppel auf sie zukommen. Mark trug Arbeitskleidung, seine Ärmel waren bis über die Ellbogen hochgerollt. Tanja war wie üblich ziemlich extravagant gekleidet, diesmal in cremefarbene Reiterhosen aus weichem Twill. Die beiden waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie Alexandra erst bemerkten, als sie den Hof betraten. Alexandra registrierte, daß Marks Gesichtsausdruck von offensichtlicher Überraschung über deutliche Bewunderung – sie trug ein trägerloses Sommerkleid – zu einer Art verächtlicher Belustigung wechselte. „Hallo. Wir fahren nach Santa Anita. Glückstreffer wird dort beim Rennen starten. Ich dachte, Jason würde sich das ansehen, aber ich hörte, er ist abgereist.“ „Ja, wichtige Geschäfte riefen ihn nach Chikago“, erwiderte Alexandra. „Aber er wird bald wieder zurück sein.“ Tanja schien nicht vorzuhaben, von Marks Seite zu weichen. Also mußte sie mit ihrer Botschaft warten, bis sie ihn allein sprechen konnte. „Das ist wirklich schade“, antwortete Mark arglos. „Jason hätte seine Freude an dem Rennen gehabt.“ Plötzlich stieg Ärger in ihr auf über Marks herablassende Belustigung und Tanjas Gegenwart. Warum nur war sie wieder dazu ausersehen, schlechte Nachrichten zum Nutzen anderer zu überbringen? „Mark, ich möchte dich allein sprechen, wenn du erlaubst“, begann sie abrupt. „Ich habe dir etwas mitzu…“ „Ich muß die Pläne noch zurück in mein Büro bringen“, unterbrach er sie und schwang die zusammengerollten Kopien. Er wandte sich zum Gehen, als hätte es es plötzlich sehr eilig. „Danach vielleicht?“ drängte sie, obwohl ersichtlich war, daß er nicht mit ihr allein sein wollte. „Anschließend fahre ich nach Santa Anita.“ Er blickte auf die Uhr. „Könnte ich dich nicht jetzt gleich in deinem Büro sprechen? Es dauert nicht lange.“ Ihr Ton klang knapp und unpersönlich. Mit einem Mal wurde sie sich der beiden Zuhörer bewußt, die gespannt die Auseinandersetzung verfolgten. Mark zögerte noch und antwortete dann widerwillig: „Okay, aber mach's kurz. Ich bin sowieso schon spät dran.“ Mit riesigen Schritten eilte er voraus, während Scott mit Tanja plaudernd zurück in den Stall ging. Alexandra folgte Mark in einiger Entfernung und machte keinen Versuch, ihn einzuholen. Sie wollte nur Jasons Botschaft loswerden und sich auf keine weitere Auseinandersetzung mit ihm einlassen. Der lebhafte sachliche Klang ihrer Schritte erfüllte die kühle schattige Eingangshalle. Automatisch lief Alexandra schneller, da die Entfernung zwischen ihnen immer größer wurde. Marks Arbeitszimmer war nicht das Büro, in dem er sie und Jason bei ihrer Ankunft empfangen hatte. Er war ein kleinerer Raum auf der anderen Seite des Hauses. „Warum hast du zwei Büros?“ fragte sie und sah sich in dem Zimmer um. Ohne auf ihre Frage einzugehen, öffnete Mark die Tür einer riesigen eingebauten Schrankwand mit Regalen und Ablagefächern. Er nahm etwas heraus, ging dann zum Fernschreiber hinüber und riß die gedruckte Nachricht heraus. Er warf nur einen kurzen Blick darauf, faltete das Papier und steckte es dann in die Hüfttasche seiner Jeans. „Mehrere Sekretärinnen arbeiten in den angrenzenden Räumen meines anderen Büros. Dies ist mein privates Arbeitszimmer. Also was kann ich für dich tun?“
Seine Stimme klang so kalt und förmlich, daß sie zu stottern anfing. „Jason – er – er – möchte, daß – daß ich…“ „Hör zu, ich habe weder Zeit noch Lust, mit dir jetzt über Jason zu reden. Wenn du etwas Geschäftliches auf dem Herzen hast, dann komm endlich zur Sache. Ich muß mich noch umziehen, ehe ich zum Rennplatz fahre.“ Er wandte ihr den Rücken zu und versuchte, die Pläne in einer überfüllten Schublade unterzubringen. Er hatte recht, also heraus damit. Alexandra war so aufgeregt, daß sie kaum sprechen konnte. Während sie ihn dabei beobachtete, wie er diverses Papier durchging, formulierte sie in Gedanken genau die Worte, die sie ihm sagen wollte. Sie wollte gerade beginnen, da flog die Tür auf, und Tanja kam atemlos ins Zimmer gelaufen. „Bei ,Sonnenreif' haben die Wehen eingesetzt.“ Mark griff sofort zum Telefon. „Scott hat den Tierarzt schon benachrichtigt.“ „Okay. Dann können wir ja gehen.“ Auf dem Weg zur Tür blieb er plötzlich stehen und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Santa Anita. Verdammt, das habe ich völlig vergessen. Tanja, würde es dir was ausmachen…? Ich kann da nicht einfach wegbleiben.“ „Nur keine Aufregung, Mark“, beruhigte ihn Tanja. „Scott ist bei ihr und der Tierarzt schon auf dem Weg. Wir schaffen das schon.“ Mark legte seinen Arm um sie und drückte sie kurz. „Ich weiß, wieviel dir diese Stute bedeutet.“ „Nicht nur mir, auch Scott. Sie gehört ihm ebenso wie mir.“ Mark grinste. „Habt ihr schon einen Namen?“ Tanja nickte. „Das soll eine Überraschung sein.“ Sie wandte sich lächelnd an Alexandra. „Sonnenreif gehört mir. Sie ist hier eingestallt und bekommt ihr erstes Fohlen. Ich bin so aufgeregt, als bekäme ich selbst ein Baby.“ Sie schüttelte den Kopf. „Für Sie ist das wahrscheinlich nichts Besonderes, Alexandra. Aber ich kann mich kaum beruhigen. Und Sie sollten erstmal Scott sehen, wie ein werdender Vater!“ Zum ersten Mal hatte Alexandra das Gefühl, Tanja näherzukommen. „Ich habe viele Geburten miterlebt“, antwortete sie. „So etwas gehört auf einem Gestüt fast zur Tagesordung. Aber trotzdem ist es jedesmal wieder etwas Besonderes.“ Tanja sah sie strahlend an. „Wo ich aufgewachsen bin, wurden neue Rabattgutscheine und verkaufsfördernde Werbeslogans in die Welt gesetzt.“ Sie hob grüßend die Hand und stürzte aus dem Raum. „Hey, bringt sie auf jeden Fall in der neuen Doppelbox unter!“ rief Mark ihr nach, aber sie war schon außer Hörweite. Er lief ihr nach und rief Alexandra über die Schulter zu: „Bin gleich wieder zurück.“ Doch Mark blieb lange weg. Alexandra wurde allmählich ungeduldig und begann, auf- und abzugehen. Sie studierte dabei die Bücherregale. Das eine war vollgestopft mit Wirtschafts- und Finanzkompendien und Werken über Pferdezucht. Wie überrascht aber war sie, als sie entdeckte, daß die zweite Bücherwand völlig andere Werke enthielt: klassische Literatur, Biographien, geschichtliche Studien, Bücher und Bildbände über Musik und Kunst. Hatte Mark sich diese Bücher in den Schrank gestellt, um einen gebildeten Eindruck zu machen? Nein, dieses Zimmer war sein Allerheiligstes und wurde gewöhnlich von niemand außer ihm selbst betreten. Alexandra betrachtete die umfangreiche Sammlung. Insgesamt gesehen wirkte sie fast wie ein umfassender Kurs der bildenden Künste. Sie vermittelte die Art von geistiger Bildung, die sonst nur den Reichen zugänglich war. Mark schien sich selbst mit viel Mühe das
Wissen anzueignen, das sie auf der Schule mit größter Selbstverständlichkeit erworben hatte. Der Gedanke rührte sie. Im nächsten Regal standen lederbezogene Alben, die gewissenhaft beschriftet waren: Gunny's Engine, Power House, Black Wind, Lucky Lady. Nacheinander zog sie einige heraus und blätterte in Stammbäumen, Fotografien, Dokumenten über Siege und Niederlagen. Jedes Album enthielt die Lebensgeschichte eines Rennpferdes. Ganz unten im Regal stand ein älteres Album mit abgegriffenem rotem Ledereinband. Es trug keine Aufschrift und erweckte Alexandras Neugier. Sie zog es heraus. Das Buch enthielt Zeitungsausschnitte aus Kentucky, insbesondere aus dem „Clarion“, dem Lokalblatt ihrer Heimatstadt, und der wöchentlich erscheinenden „Times“ des Fayette County. Ihr Blick fiel auf ein Datum; es lag fast fünf Jahre zurück. Fasziniert betrachtete sie die grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos: eine Weidelandschaft im Sommer, auf der nächsten Seite eine Ansichtskarte des „Cumberland Gap“ im Schnee, daneben, sorgfältig gefaltet und aufgeklebt, Kolumnen über die Tagesereignisse ihrer Heimatstadt. Interessiert überflog sie die Texte, hier und da waren Laurelwood, ihr Vater und sie selbst erwähnt. Langsam blätterte sie die Seiten um. Mark mußte Heimweh gehabt haben, zumindest hatte er sie vermißt. Hätte er sonst dieses unbedeutende Blättchen abonniert? Weiter hinten fand sie einen Zweispalter mit der Überschrift: Ab nach Italien. Darunter lächelte sie auf einem kleinen Foto etwas steif in die Kamera. Sie erinnerte sich plötzlich, wie unangenehm ihr dieser angeberische Artikel über die begabte Tochter und die berühmten O'Neills gewesen war, und daß ihr Vater diese Informationen und das Foto dem „Clarion“ selbst geliefert hatte. Und Mark hatte das gelesen! Was war ihm wohl dabei durch den Kopf gegangen? Sie blätterte weiter, aber die folgenden Seiten waren leer. Mark warf einen Blick auf die Uhr, als er zurück in sein Arbeitszimmer stürzte. Er bemerkte das Buch in ihren Händen und erblaßte. „Mark, warum hast du mich verlassen? Warum bist du damals verschwunden, als dein Vater, als ich dich so sehr brauchte?“ Sein Körper spannte sich, und er blickte wie gebannt auf das Album, seine Knöchel waren vor Anspannung weiß. Wahrscheinlich schämt er sich seiner Sentimentalität, dachte sie; es mußte eine Demütigung für ihn sein, daß ich dieses Buch entdeckt habe. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er ihr das Album aus der Hand. Vor dem Papierkorb blieb er mit zusammengepreßten Lippen stehen, doch dann ging er ans Regal und stellte das Buch zurück an seinen Platz. Er stand mit dem Rücken zu ihr, und sie konnte die Anspannung seiner Muskeln durch das Hemd hindurch sehen. „Es wäre besser, wenn du jetzt packst, Alexandra. Am besten auch Randolphs Sachen. Rufe ihn an und sag ihm, es hätte keinen Sinn, wiederzukommen.“ „Mark, bitte verzeih mir. Ich wollte nicht herumschnüffeln. Ganz ehrlich“, entschuldigte sie sich mit rauher Stimme. „Schon gut. Es ist sowieso sinnlos, in der Vergangenheit zu schwelgen. Das bleibt den alten Leuten überlassen. Uns wäre beiden gedient, wenn du Vista del Lago so schnell wie möglich verläßt.“ Er verließ den Raum, ehe sie etwas antworten konnte. Alexandra schaute gedankenverloren auf das Häufchen schmutziger Wäsche, das sie aus Jasons Unterkunft geholt hatte. Das Schrillen des Telefons neben ihrem Bett schreckte sie auf. Sie ließ das Kleidungsstück in ihrer Hand fallen und griff
nach dem Hörer. Es war Aoki. „Ihr Flug ist für vier Uhr gebucht, Miss O'Neill. Seien Sie bitte so freundlich und klingeln Sie, wenn sie gepackt haben, damit ich die Koffer holen kann. Ich fahre Sie dann zum Flughafen.“ Schon wieder eine Anweisung! All die Ermahnungen und Befehle, die sie in den letzten Stunden von der sie umgebenden Männergesellschaft erhalten hatte, jagten ihr durch den Kopf, wiederholten sich, bis sie ihr immer sinnloser und leerer vorkamen. So einfach war das: Die Männer zogen die Fäden, und sie sprang. Widerstand bäumte sich in ihr auf. Nur wenige Minuten später sprach sie erneut mit Aoki. „Ich bin so weit. Sie brauchen sich nicht um die Koffer zu kümmern. Ich komme sofort hinunter.“ Sie hängte auf, bevor er Einspruch erheben konnte, und verließ das Zimmer. Aoki erwartete sie neben der Limousine. „Wo sind Ihre Koffer, Miss?“ fragte er verwirrt, als sie die Treppe hinuntereilte. „Ich werde sie nicht brauchen“, antwortete sie und stieg ein. Sie waren noch nicht weit gefahren, da öffnete sie die Trennwand und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Übrigens, wir fahren nicht zum Flughafen, sondern zum Rennen nach Santa Anita.“ „Aber Mr. Farraday trug mir heute morgen etwas anderes auf“, wandte Aoki ein und zog einen Notizzettel aus der Tasche. „Meine Pläne haben sich geändert.“ Damit war die Diskussion beendet. An der Rennbahn angekommen, entließ Alexandra Aoki und kaufte eine Eintrittskarte. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, daß es schon zwei war. Die Veranstaltung hatte vor eineinhalb Stunden begonnen. Der Rennklub von Santa Anita residierte in einem luxuriösen Restaurant und war nur für Mitglieder zugänglich. Der hohe Klubbeitrag ermöglichte den Mitgliedern, die Rennen im Kreise einer illustren Gesellschaft zu verfolgen, die sich aus Pferdebesitzern, berühmten Trainern und Filmstars zusammensetzte. Hier half kein Reden, auch Alexandra blieb der Zutritt verwehrt. Jedoch als sie nach Mr. Farraday fragte, teilte man ihr mit, daß er vor zehn Minuten zu den Stallungen gegangen sei. Diese Welt war ihr bekannt. Als junges Mädchen hatte sie ihren Vater oft auf das Gelände hinter der Rennbahn begleitet. Diese einzigartige Welt der Trainer und Stallburschen hatte sie immer fasziniert und tief berührt. Die Unterkunfts- und Arbeitsbedingungen für das niedrige Personal waren stets äußerst schlecht, die Löhne für die unzähligen Stunden, die in diese Arbeit investiert wurden, erbärmlich niedrig gewesen. Doch ihr Einsatz wurde verständlich, wenn man davon ausging, daß die Leute, die es hier aushielten, „Pferdeblut in den Adern“ hatten. Wenn ihr Pferd den Sieg errang, hatte all die Mühe und Plage ihren Sinn und sie fühlten sich für kurze Zeit als Teil der schillernden Welt ihrer Herren. Die Sicherheitsvorkehrungen waren äußerst streng. Aber der Name ihres Vaters bedeutete noch immer etwas in den Rennkreisen. Schon nach kurzem Wortwechsel und der Aufforderung, sich auszuweisen, konnte sie die Schranke passieren. Auf dem Gelände hinter der Rennbahn standen riesige Stallungen mit unzähligen Boxen, Scheunen und Unterkunftshäuser. Hunderte von Pferden und etwa zweitausendfünfhundert Mann Betreuungspersonal konnten hier untergebracht werden. Auch jetzt war der Hof von geschäftigen Menschen bevölkert. Alexandra eilte an Heuhaufen und Wäscheleinen voll Arbeitskleidung vorbei und hielt Ausschau nach Mark. Sie kam an den Stallungen vorbei, in denen das Zaumzeug neben der Wäsche
des Pferdepflegers hing, der im gleichen Raum in einer kleinen primitiven Koje untergebracht war. Viele der Arbeiter waren Mexikaner. Sie bemerkte auch ein paar junge Frauen, die schweißnasse Tiere zurück in ihre Boxen führten und sich um sie kümmerten. Alexandra hatte dieses Treiben schon seit Jahren nicht mehr miterlebt, aber ihr war noch alles gut vertraut, wie ihr in einem Anflug von Sehnsucht nach den alten Tagen plötzlich klar wurde. Nach einem Rennen mußte das Pferd zunächst abkühlen, was bis zu einer Stunde dauern konnte. Zuerst bekam es einige Schluck Wasser, dann wurde es sorgfältig mit einer Tinktur aus Alkohol und Liniment abgerieben, um die Muskelspannung zu lockern. Auf einer Art Laufmaschine mußte es sich dann so lange bewegen, bis sich seine Körpertemperatur wieder normalisiert hatte. Natürlich gab es in dieser Gemeinschaft auch eine bestimmte Hackordnung. Pferdebesitzer wie Mark und Jason standen an der Spitze. Die Leiter abwärts kamen Trainer, Pferdepfleger und ganz unten Stallburschen und Lehrlinge. Besitzer sprachen niemals mit Pflegern über ihre Tiere; dabei kannten diese das Pferd meist besser als jeder andere. Aber laut Etikette hatten sie sich nur mit dem Trainer zu beraten. Doch wenige Schritte vor ihr wurde gegen diese Etikette verstoßen. Mark Farraday kniete auf dem Boden und hielt das bandagierte Bein eines Fohlens in der Hand. Dabei unterhielt er sich lebhaft mit einem dunkelhäutigen Pfleger. Als sie sich kurz darauf trennten, lächelten beide. Marks Lächeln erlosch, als er Alexandra erblickte. „Ich dachte, du seist auf dem Weg zum Flughafen“, sagte er. „Ich wollte dich noch einmal sprechen, bevor ich abreise.“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen entschlossenen Ton zu geben. „Wir haben genug geredet“, erwiderte Mark überdrüssig. „Bitte, Mark!“ Sie ergriff seinen Arm. „Du kannst mich nicht einfach abschieben. Warum können wir nicht einmal sachlich miteinander reden?“ Er schüttelte den Kopf, als sei sie ein hoffnungsloser Fall. „Du bist genau wie Jason, du kannst einfach nicht verlieren. Ihr werdet wunderbar zueinander passen.“ Alexandra schluckte. „Wie soll ich etwas verlieren, das ich niemals wirklich besaß?“ Mark warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Da magst du recht haben. Hör zu, Alexa, wir haben es beide nicht leicht. In wenigen Minuten läuft ein wichtiges Rennen, ich kann dich also nicht nach Los Angeles zum Flughafen bringen. Rufe dir bitte vom Klub aus ein Taxi, dann schaffst du es noch bis zum Abflug.“ „Aber ich will diesen Flug nicht nehmen.“ „Ich bleibe dabei, du mußt abreisen. Mir wird das alles zuviel. Es ist nur zum Besten aller Beteiligten.“ „Mark, ich bin es leid, immer nur das zu tun, was andere wollen. Jetzt bin ich an der Reihe. Und ich bin hergekommen, um mit dir zu reden.“ Für einen Augenblick entspannten sich Marks Züge. „Jason ist nach Chikago geflogen“, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. „Er bat mich, dir etwas mitzuteilen.“ Mark zuckte die Schultern. „Es interessiert mich nicht, was er mir zu sagen hat. Auf Wiedersehen, Alexandra.“ „Aber du mußt es wissen, Mark.“ Doch er drehte sich um und ging. Da rief sie ihm nur ein Wort hinterher: „Kenicrest!“ Mark blieb wie angewurzelt stehen. „Was hast du gesagt?“
„Jason weiß von deiner Verbindung zu Kenicrest, und er will es gegen dich verwenden, wenn du Glückstreffer verkaufst, bevor er zurückkommt.“ Marks Gesicht wurde eisig. In geschäftsmäßigem Ton antwortete er: „Wie schön für ihn. Und vielen Dank für die Nachricht, Alexa.“ Mit eiligen Schritten ging er davon, so daß sie Mühe hatte, ihn einzuholen. „Hör doch“, begann sie bittend, „ich habe keine Ahnung, worum es geht, und es interessiert mich auch nicht. Ich habe nur ausgerichtet, was Jason mir auftrug.“ „Ausgezeichnet.“ „Es war meine Pflicht, aber meine letzte.“ Mit unbewegtem Gesicht blickte Mark geradeaus. „Was willst du damit sagen?“ „Ich habe noch einmal darüber nachgedacht, was du mir gestern vorgehalten hast. Von diesem Standpunkt aus hatte ich mich noch nie betrachtet. Du hast recht, ich war privilegiert und verwöhnt. Aber es war gar nicht so leicht zu merken, was da mit mir geschah und was schließlich aus mir geworden ist.“ Sie hielt inne und suchte nach Worten. „Ich habe immer nach jedermanns Pfeife getanzt. Ich muß jetzt endlich beginnen, meinen eigenen Weg zu gehen.“ „Nun, das freut mich für dich. Ich hoffe, du findest dein Glück. Aber warum erzählst du mir das alles?“ „Ich wollte, daß du es weißt“, antwortete sie zerknirscht. Mark stieß einen Laut aus, der vage Ähnlichkeit mit einem Lachen hatte. „Warum?“ Auf einmal war es ihr nicht mehr klar. Noch heute morgen hatte sie das Gefühl gehabt, ihm unbedingt sagen zu müssen, daß sie etwas über sich gelernt hatte. Doch jetzt erschienen ihr die Beweggründe unerklärlich. „Willst du Unabhängigkeit, Alexa? Dann nimm sie dir. Sie gehört dir“, sagte er und machte eine weit ausholende Handbewegung. „Willst du dich von Jason trennen? Bitteschön. Was hindert dich daran? Ich glaube zwar nicht, daß du so weit gehen würdest, wie dem auch sei, mit mir hat das nichts mehr zu tun.“ Er blickte wieder auf seine Uhr. „Du kannst das Flugzeug noch erreichen.“ „Glaube ich nicht“, erwiderte sie. „Ich habe noch nicht gepackt. Meine Sachen sind alle noch bei dir.“ Mark blickte sie ungläubig, dann aber mit wachsender Erbitterung an. Er hob ihr Kinn auf und zwang sie, ihn anzusehen. „Du scheinst dir deiner Sache verdammt sicher zu sein.“ Über ihre Schultern hinweg lächelte Mark plötzlich. Sie drehte sich um. Ein prächtiger junger Hengst wurde vorbeigeführt. „Ist das Glückstreffer?“ fragte sie. Mark nickte. „Ich fahre dich nach dem Rennen zurück“, sagte er, ohne seinen Blick von dem schönen Tier zu wenden. Dann wandte er sich dem Pferdepfleger zu. Es war, als existierte sie nicht mehr für ihn. Der Anblick seines abgewandten Rückens verschwamm vor ihren Augen, die sich langsam, aber unaufhaltsam mit Tränen füllten. Die gemeinsame Rückfahrt stellten Alexandras Nerven auf eine harte Probe. Mark raste mit seinem weißen Ferrari wie ein Verrückter über die Schnellstraße. Daß er so schlechte Laune hatte, lag nicht an Glückstreffer. Das Pferd hatte mit Leichtigkeit den Sieg davongetragen. Nach dem Rennen saß sie noch eine Stunde lang allein im Klub und wartete auf Mark, der zahlreiche Glückwünsche und einen hohen Rennpreis entgegennahm. Als er dann schließlich kam, hatte er nur „Wir können gehen!“ gemurmelt. Wenn sie zu Mark hinüberblickte, konnte sie aus seinen versteinerten Gesichtszügen schließen, daß es keinen Sinn hatte, mit ihm zu reden. Außerdem machte schon der Lärm des Motors eine Unterhaltung unmöglich. Und, wie um
sicherzustellen, daß sie ihn nicht erreichte, schob er eine Kassette in den Rekorder und drehte auf volle Lautstärke. Dieser ohrenbetäubende Lärm – seine Trommelfelle mußten aus Stahl sein! Sie schloß die Augen und versuchte, sich klarzumachen, daß sie neben dem Mann saß, der sie einst in den Armen gehalten und ihr ewige Liebe geschworen hatte. Ein Mann, für den Integrität alles bedeutete. Mehr als einmal hatte er gesagt: „Glaube mir, Alexa, wenn ein Mensch nichts besitzt, dann kann er sich nur an seiner Integrität, seiner persönlichen Ehre festhalten.“ Sie glaubte ihm noch immer. Deshalb nahm sie auch Jasons Verdächtigungen nicht ernst. Ein schier endloses Fortissimo dröhnte aus den Lautsprechern. Alexandra hielt es nicht mehr aus. Mit letzter Energie schaltete sie das Gerät aus. Die plötzliche Stille war eine große Erleichterung. Mark reagierte nicht auf den Abfall des Geräuschpegels. Er hatte sich tief in sein Schneckenhaus verkrochen. Die Stille jedoch war nicht viel besser als der Lärm zuvor. Immerhin konnte sie jetzt zusammenhängend denken. Nach einer Weile begann sie ziellos zu plaudern, als wolle sie demonstrieren, daß sie, ein menschliches Wesen mit der Fähigkeit zu sprechen, überhaupt anwesend war. „Dein Apartment in Del Mar unterscheidet sich sehr von der Ranch.“ Sie dachte an das kantige Portrait eines Frauenkopfes in Pop Art. „Du besitzt einige sehr moderne Gemälde. Woher hast du denn deine Vorliebe für Warhol?“ Mark blickte stur geradeaus und antwortete nach einiger Zeit unwahrscheinlich mürrisch: „Wer weiß, vielleicht mag ich ihn gar nicht. Vielleicht beauftragte ich einfach einen Innenarchitekten, der mir sagte, welche Bilder dort eigentlich hängen müßten.“ Alexandra glaubte ihm nicht. Mark ließ sich nicht gerne vorschreiben, was er zu tun hatte, schon gar nicht, wie seine Wohnung einzurichten sei. „Gefallen dir die Bilder?“ fragte er. „Um die Wahrheit zu sagen – ich finde sie kalt.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Wahrscheinlich magst du eher die sanften ländlichen Szenen. Wenn ich mich recht erinnere, hängt so ein Bild in deinem zukünftigen Heim in Windermere.“ Er hatte vollkommen recht. Das Gemälde hing in Jasons Bibliothek. „Du hast mehr wahrgenommen, als ich dachte“, erwiderte sie ziemlich überrascht. „Ja, gnädiges Fräulein, das habe ich. Sie müssen wissen, manche von uns Hilfsarbeitern haben Augen, groß wie Suppenteller. Wir sehen 'ne ganze Menge, und sei's auch nur von der Hintertür aus“, sagte Mark in gespielter Unterwürfigkeit. „Hör auf, Mark. So war das bestimmt nicht“, entgegnete sie verärgert. „Die Randolphs waren immer gut zu ihren Leuten. Sie behandelten sie als Gleichgestellte.“ „Tatsächlich? Dumm, daß mein Vater das nicht wußte. Ich kann mich nicht erinnern, daß er je zum Herrschaftshaus gerufen wurde, oder daß mich dein Verlobter auf einen Brandy hereingebeten hätte. Ich durfte die heiligen Hallen nur dann betreten, wenn Jason zu bequem war, zum Hintereingang zu kommen. Und dann stand ich da mit dem Hut in der Hand unter deinem wertvollen Gemälde und wartete auf Jasons Aufträge.“ Er sprach ohne Bitterkeit, eher humorvoll. „Was hast du denn anderes erwartet? Du hattest einen Job, und Jason war dein Arbeitgeber.“ „Ich hatte erwartet, was auch meine Angestellten von mir erwarten, ein bißchen mehr menschliche Beachtung. Ich erwartete, wofür die Gewerkschaften dieses Landes fünfzig Jahre lang gekämpft hatten: Minimale Sicherheit für die Zeit, in
der man nicht mehr stark und jung genug ist, um sich für die da oben abzurackern. Eine Art Rente als Ausgleich für ein Leben voll erschöpfender Arbeit.“ „Das sind doch nur schöne Gewerkschaftsparolen“, warf sie ein. „Das ist die Wahrheit.“ Ziemlich scheinheilig, dachte sie, für jemand, der seinen sterbenden Vater im Stich gelassen hat und jetzt selbst zum verachteten Landadel gehört. „Und wie bist du dahin gekommen, wo du jetzt bist?“ fragte sie in verächtlichem Ton. „Durch pure Menschenliebe?“ Ungeduldig ließ Mark den Motor aufheulen, während sie langsam durch den zähflüssigen Verkehr fuhren. „Wie oft hast du mit Jason geschlafen?“ fragte er beiläufig. „Das geht dich überhaupt nichts an.“ „Und wie ich zu meinem Geld kam, das geht dich nichts an.“ „Das ist doch etwas ganz anderes, und das weißt du auch“, erwiderte sie hitzig. „Jeder würde doch gerne erfahren, wie ein Mann innerhalb von fünf Jahren so viel Reichtum ansammeln kann. Ich bin sicher nicht die erste, die dich das fragt. Stellst du bei jedem diese Gegenfrage?“ „Nein, aber ich rate jedem, seine Phantasie zu benutzen. Und das tust du bereits, auch ohne meinen Rat. Ich weiß genau, was du denkst.“ „Du hast nicht die leiseste Ahnung, was ich denke.“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er selbstgefällig lächelte. „Du denkst, ich verdiene mein Geld auf unehrliche Weise. Ein solcher Gedanke von einer Reichen, das will schon etwas heißen.“ Erstaunen breitete sich auf Alexandras Gesichtszügen aus. Wollte er ihr damit etwa unterstellen, sie sei unehrlich? Sie würde kein Wort mehr sagen. Vielleicht schwieg auch er dann wieder. „Überhaupt ist Ehrlichkeit ein faszinierendes Thema. Ist es beispielsweise wirklich ehrlich, einen Mann zu heiraten, den du nicht liebst? Ist es andererseits unehrlich, mit einem Mann zu schlafen, den du eigentlich…“ Abrupt brach er ab und legte den zweiten Gang ein, da sich die Wagenkolonne wieder langsam vorwärts bewegte. „Du brauchst mir darauf nicht zu antworten. Entschuldige bitte. Das geht mich ja nichts mehr an.“ Alexandra streckte die Hand aus, schob die Kassette wieder in den Recorder und schaltete ein. Den Rest der Fahrt über vertrieb die Musik jeden unangenehmen Gedanken. Der weiße Ferrari hielt mit kreischenden Bremsen vor dem Haus. Alexandra bemerkte, daß die Auffahrt zum Schauplatz reger Aktivitäten geworden war. Natürlich hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihr mitzuteilen, daß an diesem Abend eine weitere Party stattfinden sollte. Aber sie wäre ja, auf dem Rückweg nach Kentucky, wenn sie die Anweisungen befolgt hätte. Drei Kleintransporter des Partyservice standen mit geöffneten Schiebetüren aufgereiht vor dem Haus, Bedienstete im Kellnerfrack trugen große zugedeckte Tabletts eilfertig in das Haus. Direkt vor dem Eingang entluden zwei Männer Tische und Stühle. Sie hielten kurz inne, um zwei Bediensteten Platz zu machen, die einen riesigen Kuchen vorbeitrugen, auf dessen Spitze etwas stand, was sie nicht erkennen konnte. Tanja mußte nach Marks Wagen Ausschau gehalten haben, denn sie kam die Stufen heruntergelaufen, als Mark ausstieg. Sie sah sehr niedergeschlagen aus, ihre Augen waren rotumrändert. „Ist mit Sonnenstreif etwas schiefgelaufen?“ fragte Mark schnell. Tanja schüttelte den Kopf. „Es geht ihr gut. Sie hat ein wunderschönes Fohlen
bekommen. Mark, ich muß unbedingt mit dir reden.“ Alexandra ging etwas langsamer, um diskret ein wenig Abstand zu schaffen. Tanja schien etwas Wichtiges auf dem Herzen zu haben. Doch kaum waren sie an der Haustür angelangt, klopfte Mark ihr nur freundschaftlich auf die Schulter und verschwand im Haus. Tanja machte einen so niedergeschlagenen Eindruck, daß Alexandra Mitleid mit ihr bekam. „Also so schlimm kann's doch nicht sein“, begann sie vorsichtig. „Schlimm?“ Tanja vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Schlimm ist dafür noch gar kein Ausdruck.“ „Kann ich irgend etwas für Sie tun?“ Tanja schüttelte den Kopf. Ihre Wimperntusche war verschmiert, und unter ihrer Bräune wirkte sie blaß. Verzweifelt und hilfesuchend blickte sie Alexandra an. Ihre Unterlippe zitterte, ihr Gesicht verzog sich, Tränen liefen über ihre Wangen. „Letzte Woche hat Mark sein Gebot für ein Pferd abgegeben“, erklärte sie unter Schluchzen. „Für ,Carry-On'. Er hätte es gewinnen müssen, aber er verlor es.“ Also auch Mark kann verlieren, hätte Alexandra am liebsten laut gesagt. Aber Tanja war so außer sich, daß eine solche Bemerkung jetzt wirklich nicht angebracht schien. „Oh“, sagte sie nur bedauernd. „Nein, nein, es ist noch schlimmer. Ich habe den Zuschlag für das Pferd erhalten.“ Alexandra nahm sie am Arm und geleitete sie zu einer kleinen Bank in einer Nische. Hier standen sie den eilfertigen Angestellten nicht mehr im Weg. „Ich möchte für einen ernst zu nehmenden Käufer gehalten werden, deshalb habe ich ziemlich hoch geboten“, sagte Tanja und tupfte sich die Augen. „Aber ich hätte nie gedacht…“ Wieder brach sie in Tränen aus. „Mark ist zur Zeit in ziemlich schlechter Stimmung, und Sie bekommen das jetzt voll zu spüren“, sagte Alexandra mitfühlend. „Aber er kann Ihnen ein faires Gebot nicht verübeln. Er ist Geschäftsmann und gewonnen ist gewonnen.“ „Aber das ist es ja gerade. Es war nicht fair.“ Sie schien sich etwas zu beruhigen und stand auf. „Ich wußte genau, wieviel Mark für ,Carry On' bieten würde.“ „Ach so“, erwiderte Alexandra, verblüfft über dieses Geständnis. Der plötzliche verzerrte Ausdruck aus Tanjas Gesicht veranlaßte Alexandra, sich umzudrehen. Mark näherte sich ihnen. „Bitte“, flüsterte Tanja, „laß es mich erklären.“ „Spar dir deine Erklärungen. Die Lust auf die Party ist mir vergangen. Ich habe keinen Grund zum Feiern – es ist dein Fest!“ Er machte auf dem Absatz kehrt und raste wenige Sekunden später mit quietschenden Reifen die Auffahrt hinunter. „Eins zu null für mich“, sagte Tanja und fing wieder an zu weinen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, dachte Alexandra voll Mitgefühl. „Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, Tanja. Zu bekommen, was man meinte unbedingt haben zu müssen, ist manchmal eine Strafe.“ Hilflos beobachtete sie, wie Tanja sich mit dem Handrücken über das Gesicht wischte. Alexandra erfuhr, daß es einen doppelten Anlaß für die Party gab. Das erste Rennen von Glückstreffer sollte gefeiert werden und – was offensichtlich noch wichtiger war – die Neuerwerbung von ,Carry On'. Mark war sicher gewesen; beides zu gewinnen, vertraute ihr Scott an, während sie ihm bei den letzten Vorbereitungen half. „Was werden Sie tun, wenn Mark nicht auftaucht?“ fragte sie ihn. Scott zuckte die Achseln. „Die Gäste kommen innerhalb der nächsten Stunde.
Was kann ich da noch tun? Die Show muß beginnen, fürchte ich.“ „Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?“ Scott schüttelte verneinend den Kopf, und sie entschuldigte sich für den Rest des Abends. Sie hatte an diesem einen Tag schon mehr als genug erlebt. Sie duschte und setzte sich dann in ihrem Schlafzimmer ans Fenster. Sie war zu erschöpft, um noch zu packen. Die Laute, die von unten zu ihr drangen, gaben ihr das Gefühl, unendlich einsam zu sein. Sie hörte, wie Scott Marks Abwesenheit mit der plötzlichen Erkrankung eines engen Verwandten erklärte. Was für eine treue Seele er doch war! Immer ergriff er für Mark Partei; er ging sogar so weit, für ihn zu lügen. Es klopfte an ihrer Tür. Sie ließ Scott ein, der trotz seines makellosen Dinner-Jackets ziemlich mitgenommen wirkte. „Alexandra, ich bin das Theater da unten leid. Ich lächle und rede immerzu, dabei weiß ich nicht einmal, wo mir der Kopf steht.“ „Mark war schon immer ein Problemfall“, erwiderte Alexandra. „Ich möchte zwar nicht gleichgültig erscheinen, aber er ist Ihr Problem, nicht meines.“ „Es geht mir nicht nur um Mark, sondern auch um Tanja. Ich bin wirklich besorgt um sie. Sie hat sich eine Menge Ärger eingehandelt, und ich bin nicht ganz unschuldig daran.“ „Sie?“ Überrascht drehte Alexandra sich um. Sein jungenhaftes Gesicht blickte bekümmert drein. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Sie Mark sabotieren könnten.“ „Das habe ich auch nicht, jedenfalls nicht direkt. Aber ich bin schuld daran, daß Tanja so wild auf das Pferd wurde, weil ich ihr von seiner Leistungsfähigkeit vorschwärmte.“ Alexandra wäre ihm am liebsten mit der Hand begütigend durchs Haar gefahren, so sehr wirkte er wie ein zerknirschter Chorknabe. „Aber das ist doch kein Grund, sich schuldig zu fühlen!“ „Das ist noch nicht alles.“ Sie lächelte. „Ich höre – falls es Ihnen hilft, sich das Ganze von der Seele zu reden.“ Sie merkte, daß Scott weiter erzählen wollte. „Tja, eigentlich ist es gar nicht meine Geschichte.“ „Tanjas vielleicht?“ Scott nickte. „In Wirklichkeit ist sie nicht besonders zäh. Diesmal hat sie zwar gewonnen, aber sie könnte niemals für sich selbst sorgen, so wie Sie das tun.“ „Wie ich?“ Alexandra lachte, wie sie seit Wochen nicht mehr gelacht hatte. Verständnislos beobachtete Scott, wie sie sich auf das Bett setzte und lachte, bis ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Entschuldigen Sie, Scott“, begann sie, als sie wieder in der Lage war zu sprechen. „Sie können nicht wissen, warum ich so lache. Nur, in den letzten Tagen warf man mir immer wieder vor, ich sei alles andere als stark und selbständig. Laut diesen Personen habe ich kein Rückgrat, bin unbeholfen, verhätschelt und verwöhnt und außerdem völlig unfähig, etwas zu entscheiden.“ Scott zog sichtlich erstaunt die Augenbrauen hoch. „Klingt, als brauchten Sie Unterstützung. Ich kenne Sie ja noch nicht lange und kann nur von dem ausgehen, was ich sehe. Aber bei Ihnen habe ich das Gefühl, Sie hätten so etwas wie innere Stärke. Sie ist zwar noch verborgen, aber durchaus vorhanden.“ „Das sind ja ganz neue Töne. Und sie gefallen mir.“ Sie lächelte. „Also gut, Sie silberzüngiger Schlingel – Sie haben mich überredet. Ich werde für Sie hinuntergehen und Gastgeberin spielen.“
Erleichtert atmete Scott auf. „Vielen Dank, Alexandra. Ich werde nicht lange wegbleiben. Ich will nur nachsehen, warum Tanja nicht ans Telefon geht.“ „Lassen Sie sich ruhig Zeit, Scott.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu und sagte ironisch: „Denken Sie immer daran, daß ich hier bin. Ich werde die Fahne schon hochhalten, stark wie ich bin.“ Scott wandte sich zum Gehen, kam aber noch einmal zurück und umarmte sie herzlich. „Danke, Alexandra. Sie sind wundervoll.“ Er konnte ihr seine Gefühle nicht verbergen, genausowenig wie sie. Er war hoffnungslos in Tanja verliebt. „Wie wäre es, Scott, wenn Sie die ganze nacht wegbleiben? Ich schaffe das schon allein“, schlug sie vor. „Ich habe den Eindruck, Sie könnten das gebrauchen.“ Scott wurde rot. „Jaaa, man sieht es mir also an!“ Nur einer, dem es selbst so geht, dachte sie, und sagte laut: „Das war nur geraten. Viel Glück, Scott.“
6. KAPITEL Alexandra erwachte vom Lärm auf der Terrasse. Stühle wurden gerückt, zerbrochenes Glas wurde aufgekehrt; das Hauspersonal diskutierte die Party der vergangenen Nacht. Die Aufräumungsarbeiten waren also in vollem Gange. Der Abend war ihr noch lebhaft im Gedächtnis. Sie war hinuntergegangen, um Scott zu vertreten, und war dieser Aufgabe voll gewachsen gewesen. Als sei sie die Dame des Hauses, hatte sie sich um die Gäste gekümmert, mit ihnen geplaudert und gelacht, um die Abwesenheit des Gastgebers zu überspielen. Alexandra streckte sich wohlig und ließ sich entspannt auf die Kissen zurücksinken. Sie genoß das Gefühl, wenigstens für einige Stunden nützlich gewesen zu sein. Auf der Party waren Takt, Erfindungsgabe und Inspiration nötig gewesen, um die Gäste zu unterhalten und abzulenken. Sie wußte, daß sie ihre Sache gut gemacht hatte. Im Grunde war es nicht verwunderlich, denn schließlich war sie ja dazu erzogen worden, die „Dame des Hauses“ zu spielen. Alexandra ließ sich Zeit mit dem Aufstehen. Bis auf ihr Nachtzeug und die Toilettenartikel hatte sie gestern nacht noch alles gepackt. Es gab nicht mehr viel zu tun bis zur Abfahrt zum Flughafen. „Herein“, antwortete sie auf ein schüchternes Klopfen an der Tür und zog sich den Hausmantel über. Wahrscheinlich wollte Aoki die Koffer holen. Doch es war nicht der Chauffeur. „Bitte, Alexandra“, sagte Mark und hob beschwörend eine Hand hoch, „bevor du mich wegschickst, laß mich dir danken, daß du gestern für mich eingesprungen bist.“ Mark wirkte frisch und gepflegt. Sein höfliches Auftreten hielt Alexandra davon ab, ihm ins Wort zu fallen. „Ich rechne es dir hoch an, daß du mich vertreten hast “, fuhr er fort, ohne sie jedoch anzusehen. „Es ist einfach unverzeihlich, daß ich meine Gäste im Stich gelassen habe. Ich will dieses Verhalten erst gar nicht entschuldigen. Eigentlich drücke ich mich sonst nie vor einer Verantwortung.“ Immerhin hat er so viel Anstand, sich bei mir zu bedanken, dachte Alexandra. Doch das mit der Verantwortung wollte sie überhört haben… Eine innere Stimme befahl, besser nicht darauf einzugehen. „Ich habe dir gern geholfen“, erwiderte sie freundlich. „Wie ich hörte, warst du eine großartige Gastgeberin.“ Schweigend und mit gesenktem Kopf nahm Alexandra das Kompliment entgegen. Mark stand verlegen wie ein Schuljunge da, der nicht weiß, was er mit seinen Händen anfangen soll. „Der Grund für die Szene mit Tanja war nicht, daß ich das Pferd verloren habe, sondern vielmehr dieses schreckliche Gefühl von…“ „Verrat?“ Mark nickte, dankbar, daß sie ihn verstand. „Vielleicht hast du verdient, daß man dich verrät, Mark. Vielleicht hast du es sogar herausgefordert.“ Gedankenverloren fummelte sie an ihrem Koffer. „Es ist alles gepackt.“ „Ich werde Aoki Bescheid sagen.“ Seine Stimme klang sanft. „Der gleiche Flug wie gestern?“ fragte sie, während sie ihre Toilettenartikel zusammensuchte. „Ja, der gleiche Flug, zur gleichen Zeit.“ „Und für mich ist ein Platz gebucht?“ „Ja – natürlich. Ist gebucht.“ Er schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Als sie sich schließlich zu ihm umdrehte, um von ihm Abschied zu nehmen, starrte Mark auf die Gepäcktaschen auf dem Teppich.
Alexandra holte tief Luft, um das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Mark es tut mir leid, wenn ich dir weh getan habe. Ich scheine in meinem Leben viel falsch zu machen…“ Mark warf einen Blick auf seine Uhr. „Ja, so ist das eben, man lernt nie aus. Gute Reise.“ Leise verließ er den Raum; ohne einen Kuß, ohne einen Händedruck oder ein paar Worte des Abschieds. „Man lernt nie aus.“ Nichts als eine abgedroschene Phrase. So war das also. Sie konnte ihre Affäre zu den Akten legen. Es gab weder Vorwürfe noch Bitterkeit. Das Ende war still, die Leidenschaft erloschen, und zurück blieb nichts als eine große Leere. Ein plötzlicher Impuls trieb sie, die Tür aufzureißen. Aber der Flur war leer. Da, wo er eben noch gestanden hatte, war – nichts. Am liebsten hätte sie laut geschrien: „Halt mich fest, Mark, und hab mich lieb.“ Aber aus ihrem Mund kam absolut kein Laut. „Was wollen Sie damit sagen, Aoki? Sind Sie verrückt geworden?“ Wütend stand Alexandra vor dem Chauffeur in der Eingangshalle. Ihre Stimme überschlug sich fast vor Zorn, aber der kleine Orientale blickte sie ungerührt an. „Ich habe keine Anweisung, Sie zum Flughafen zu bringen“, wiederholte er mit ruhiger Stimme. „Aber das ist ganz unmöglich. Mr. Farraday hat es mir noch vor einer Stunde bestätigt.“ Sie war den Tränen nahe. „Die Koffer stehen gepackt in meinem Zimmer. Er hat sicher nur vergessen, es Ihnen zu sagen.“ „Mr. Farraday vergißt nichts, Miss O'Neill“, erwiderte Aoki mit aufreizender Sicherheit. Alexandra holte tief Luft. „Sie haben ganz recht, Mr. Farraday vergißt nichts.“ Sie griff nach dem Telefon. „Tut mir leid“, kam es durch die Leitung, „aber Ihr Name steht nicht auf unserer Buchungsliste.“ „Na schön, dann setzen Sie ihn bitte drauf“, wies Alexandra das Fräulein an. „Tut mir außerordentlich leid“, klang es freundlich zurück, „der Flug ist bedauerlicherweise ausgebucht.“ Hilflos knallte sie den Hörer auf die Gabel. Nur eine Kleinigkeit, versuchte sie sich zu beruhigen, das läßt sich sicher ändern. Doch das Gefühl, in einem Netz aus Manipulation und Verschwörung gefangen zu sein, wurde immer stärker. Einen Augenblick lang glaubte sie sogar, die Fluggesellschaft stecke mit Mark unter einer Decke. Aoki stand noch immer vor ihr, den Hut in der Hand, und wartete darauf, entlassen zu werden. „Schluß jetzt!“ schrie sie ihn an. „Sie wissen ganz genau, was hier gespielt wird. Aber Sie stehen da wie ein Buddha, während ich langsam aber sicher verrückt werde. Und daran ist niemand anderes als Ihr Boß schuld, das wissen Sie genauso gut wie ich.“ „Vielleicht würde es Ihnen guttun, Miss O'Neill, den Kombi zu nehmen und ein bißchen die Küste entlang zu fahren. Das beruhigt die Nerven.“ Plötzlich wurde es Alexandra klar, daß dieser friedfertige kleine Mann genauso verzweifelt war wie sie, weil er nicht wußte, wie er diesen verrückten Gast loswerden sollte. Er hielt ihr die Autoschlüssel hin. „Wenn man mit sich allein ist, findet man meist eine weise Lösung“, sagte er ernst. Als sie die Schlüssel entgegennahm, konnte er seine Erleichterung nur schwer verbergen. Er machte eine kurze Verbeugung und ging schnell davon. Getrieben von dem Wunsch, diesen ganzen Wahnsinn hinter sich zu lassen, raste sie die Privatstraße hinunter, als säße sie in Marks Ferrari.
Alexandra beobachtete ihre Freundin Carla, die mit lebhaften dunklen Augen über den Rand der Menükarte spähte und die Leute an den Tischen des überfüllten Restaurants in Beverly Hills unter die Lupe nahm. Es war eine Augenblicksentscheidung gewesen, Carla zu besuchen, und sie war froh, sie angetroffen zu haben. „Du siehst wie eine Agentin aus“, sagte Alexandra, „aber wie eine ziemlich auffällige.“ „Menschenskind, ist es nicht phantastisch, in Gesellschaft von Hollywoods Stars und Sternchen zu speisen?“ Carla ließ die Menükarte sinken. „Schau dich mal um, lauter Berühmtheiten.“ Alexandra folgte dem Blick ihrer Freundin. „Ach so.“ Sie war so erleichtert, Carla anzutreffen, daß sie den Stars und Sternchen keine Beachtung geschenkt hatte. „Du kennst dich wohl nicht so gut aus in Hollywoods Glitzerwelt?“ „Ich fürchte nein“, erwiderte Alexandra bedauernd. Carla schwenkte ihren Martini. „Das braucht dir doch nicht leid zu tun. Wenn ich deine Begabung, deinen Hintergrund und was sonst noch für dich spricht, gehabt hätte – vielleicht würde ich dann dem Glanz meines eigenen Lebens auch mehr Aufmerksamkeit widmen.“ „Was du wieder für einen Unsinn redest!“ Alexandra hob ihr Glas und stieß mit Carla an. „Auf deine großartige Karriere! Und jetzt hör auf mit der falschen Bescheidenheit.“ Carla lächelte ein wenig verlegen. „Was soll ich dazu sagen? Du hast recht, ich hab's geschafft, bis an die Spitze zu kommen. Es ist zwar nicht Paris oder Rom – aber was soll's. Das Klima könnte nicht besser sein, ich verdiene mein eigenes Geld und…“ „Und dein Leben gehört dir“, beendete Alexandra mit Nachdruck. „Das kannst du wohl glauben! Aber das gleiche gilt doch auch für dich.“ „Nicht ganz.“ Alexandra legte die Stirn nachdenklich in Falten. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, fuhr sie mit monotoner Stimme fort: „Ich bin von Conti weggegangen – zurück nach Kentucky. Es ist geplant, daß ich in zwei Monaten heirate.“ Carla sagte nichts. Sie schien auf mehr zu warten. „Na? Du sagst nichts? Nicht mal ein erstauntes Ah oder Oh? Keine Glückwünsche?“ „Ich warte noch“, antwortete Carla und setzte mit ernstem Gesicht wieder ihre Brille auf. „Ja, das merke ich. Aber worauf wartest du? Ich habe meinen Job halt an den Nagel gehängt und heirate. Normalerweise wird das mit großer Begeisterung entgegengenommen.“ „Es ist geplant, daß du heiratest. Solch eine Äußerung soll einen begeistern? Du hast noch nicht die richtigen Worte gesagt, Kindchen.“ Alexandra umklammerte fest ein Brötchen und begann, es langsam zu zerpflücken. „Nein, wahrscheinlich wohl nicht“, meinte sie. Sie schwiegen. Der Kellner brachte die Salate. Plötzlich stieg Beklemmung in Alexandra auf, und sie fürchtete, hysterisch zu werden. „Oh, Carla“, sagte sie, als der Kellner verschwunden war, „ich glaube, ich breche zusammen.“ „Tatsächlich? Auf mich wirkst du noch ziemlich gut in Form. Du siehst aus, als könntest du noch ein paar Meilen vertragen“, scherzte Carla. Doch dann blickte sie die Freundin besorgt an. „Also gut, du mußt ja am besten wissen, wie es dir geht. Wenn du meinst, du brichst zusammen, dann wird es auch so sein. Ich nehme an, es hängt mit deiner Ankündigung zu heiraten zusammen, besser
gesagt, mit der Art, wie du es sagtest. Kein Name, kein Glanz in den Augen, keine glühende Beschreibung… nichts. Ich würde sagen, du hast Probleme, Kindchen.“ Sie nickte. „Bist du denn in der Stimmung…?“ „Komm schon, schieß los, Alexa. Was ist mit dieser Heirat?“ „Das ist eine lange Geschichte, Carla, man könnte fast sagen, meine Lebensgeschichte.“ Und dann begann sie zu erzählen. Während sie sprach, breitete sich ein Gefühl der Erleichterung in ihr aus. Sie ging zurück bis zu ihrer Affäre mit Mark, als sie siebzehn war, erzählte, wie er sie verlassen hatte und sie jahrelang versuchte, ihn zu vergessen; erklärte, wie die finanziellen Probleme ihres Vaters durch die Heirat mit Jason gelöst sein würden, und gestand schließlich, daß sie ihren künftigen Mann körperlich nicht lieben konnte. Als sie geendet hatte, lehnte sie sich erschöpft zurück und blickte auf den noch unberührten Salat. Sie hatte keinen Hunger mehr. „Vielen Dank, daß du mir zugehört hast, Carla.“ Carla lächelte. „Die Aussprache war ja wohl mal nötig.“ „Aber wie geht es jetzt weiter?“ „Das wirst du wohl selbst herausfinden müssen. Schließlich geht es um dein Leben, nicht um meines.“ „Aber du weißt genau, was ich tun sollte. Das sehe ich deinen Augen an.“ „Ich fürchte, da siehst du nur Wimperntusche und Lidschatten.“ Sie schwieg. Offensichtlich dachte sie über etwas nach. Als sie wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme sanft und ernst. „Ich verstehe ja, daß du völlig durcheinander bist. Ich könnte dir auch alle möglichen Ratschläge geben. Aber das würde dir nicht weiterhelfen. Du mußt selbst herausfinden, was du willst, und danach handeln. Und ich glaube, du weißt schon selbst, was das ist.“ „Mark riet mir fast dasselbe: Ich solle auf mich selbst hören und endlich mein eigenes Leben führen.“ Carla zog gekonnt eine Augenbraue hoch. „Ein kluger Mann! So schlecht kann er also gar nicht sein. Meine Güte, ich komme mir vor wie eine Wahrsagerin.“ „Himmel, was war ich doch für ein Dummkopf“, sagte Alexandra heftig. „Das sind wir alle einmal. Der Heilungsprozeß beginnt, sobald man es erkannt hat.“ Carla zwinkerte ihrer Freundin aufmunternd zu. „Ich habe immer nur getan, was andere von mir erwarteten oder mir beibrachten, von mir selbst zu erwarten. Ich ging durchs Leben, als hätte ich eine automatische Steuerung in mir. Und daran bin ich so gewöhnt, daß ich nicht einmal genau weiß, was ich eigentlich will. In Rom glaubte ich jemand zu sein, während ich meine Karriere inmitten von Parties, Hektik und Schein weit aufbaute. Aber was tat ich, als das erste Problem auftauchte? Ich setzte mich nicht damit auseinander, versuchte erst gar nicht, es zu lösen. Nein, ich warf alles hin und rannte davon.“ Carla seufzte tief. „Genug der Selbstanklagen. Du sagtest, du willst Rat? Dann sollst du ihn auch haben. Ich glaube, du weißt nicht, was du willst, weil du dir nicht mehr sicher bist, wer dir in Zukunft vorschreiben soll, was du zu tun hast. Wenn du diesen Jason heiratest oder auch irgendeinen anderen, wird das deine Probleme nicht lösen.“ Spontan ergriff Alexandra ihre Hand und drückte sie. „Danke. Vielleicht werde ich eines Tages erwachsen und bin dann genauso wie du.“ „Gott bewahre!“ Mit komischem Entsetzen riß Carla die Augen auf. „Wir bleiben auf jeden Fall in Verbindung, okay?“ sagte Carla, während sie am Eingang des Restaurants auf ihre Wagen warteten.
Alexandra umarmte sie, halb lachend und halb weinend. Carla erwiderte die herzliche Umarmung, stieg dann in ihren kleinen grünen Sportwagen. „Ich habe das Gefühl, du hast gerade eine Entscheidung getroffen. Mir war, als hätte es klick gemacht.“ Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. „Komm schon, erzähl's mir gleich. Ich kann Spannung nicht ertragen. Was wirst du tun?“ „Ich werde nach Hause reisen und einen großen Hausputz starten. Mit Papas kleinem Töchterlein ist es dann vorbei, ebenso mit der perfekten Verlobten des Südstaaten-Gentleman, von der perfekten Hausfrau ganz zu schweigen. In dem Raum, der damit frei wird, kann sich dann vielleicht die echte Alexandra O'Neill ausbreiten – wer immer sie sein mag.“ Carla stieß einen begeisterten Laut aus. „Hört sich an, als hättest du einen riesigen Besen nötig. Na, denn mal los, Kleines!“ Sie ließ den Motor an, schaltete ihn gleich darauf wieder ab. „He, warte. Einen Namen hast du ausgelassen.“ „Mark.“ Alexandra wurde ernst. „Wer immer das war, der sich in Mark Farraday verliebt hat, mein wahres Ich war es sicher nicht. Das einzige, was von der Beziehung zu Mark noch übrig blieb, ist das Sexuelle. Ich reagiere auf ihn – das wird wahrscheinlich immer so bleiben. Aber es ist nicht genug, Carla. Weder für mich noch für ihn.“ „Das muß jeder selbst entscheiden, Alexa“, murmelte Carla und startete ihren Sportwagen. Sie winkte noch einmal und verschwand. Als Alexandra endlich nach Vista del Lago zurückkam, war es schon nach zehn Uhr. Auf Carlas Empfehlung hin hatte sie sich am Nachmittag das Landesmuseum für Kunst der Stadt Los Angeles angesehen und mehrere Stunden in der Abteilung für historische Trachten verbracht. Anschließend war sie durch KleinTokio gebummelt und hatte in einem ruhigen Sushi-Restaurant zu Abend gegessen. Ruhig und gelassen war sie dann zurück zur Ranch gefahren. Das Haus schien schon für die Nacht verschlossen zu sein, kein Fenster war erleuchtet, selbst die Eingangsstufen lagen im Dunkeln. Sie beschloß, erst die Verandatüren zu überprüfen, bevor sie läutete, denn sie wollte niemand unnötig wecken. Leise ging sie um das Haus, aber alle Türen waren verschlossen, bis auf die zu Marks Arbeitszimmer. Vorsichtig drückte sie die Tür ganz auf und trat in das Halbdunkel des vom Mondlicht nur spärlich beleuchteten Raumes. Sie vernahm ein Geräusch und hielt erschrocken den Atem an. Doch da flammte schon ein Licht auf. „Ich dachte mir, daß Sie das sind“, sagte Scott Maddox. „Scott!“ Erleichtert sank sie in den nächststehenden Sessel und wartete darauf, daß sich das wilde Klopfen ihres Herzens wieder beruhigte. „Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe“, sagte er. „Es war dumm von mir, diesen Weg zu nehmen. Aber ich wollte nicht das ganze Haus wachklingeln.“ Scott sah mitgenommen aus. Er machte ein Gesicht, als hätte er gerade seinen besten Freund verloren. „Was machen Sie hier überhaupt, so ganz allein im Dunkeln?“ „Ich denke nach.“ Alexandra lächelte verständnisvoll. „Es scheinen aber keine besonders glücklichen Gedanken zu sein.“ Scott zog die Mundwinkel herunter. So hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. „Nein, nicht besonders.“ „Hat es etwas mit Mark zu tun?“ Er stand auf und ging ziellos im Zimmer umher. „Ja“, antwortete er schließlich. „Ich versuchte, ihm Vernunft beizubringen. Aber dieser Kerl hat manchmal einen
entsetzlichen Dickschädel.“ „Haben wir den nicht zuweilen alle?“ gab sie zu bedenken. „Wahrscheinlich ja. Aber Mark ist ein besonders harter Brocken, und ich habe jeden Tag mit ihm zu tun.“ Verzweifelt schüttelte er den Kopf. „Ich habe alles getan, was ich konnte.“ Er ließ sich ihr gegenüber in einen Sessel fallen und seufzte. „Warum engagieren Sie sich überhaupt so stark für ihn?“ fragte Alexandra, denn sie fühlte, daß sein Kummer echt war. Scott blickte nachdenklich auf seine Fingernägel. „Ich kenne Mark noch keine fünf Jahre, meinen Bruder kenne ich seit dreiundzwanzig Jahren. Aber er bedeutet mir längst nicht so viel wie Mark.“ Der unverhüllte Schmerz in seinem Gesicht ging ihr unter die Haut. „Wir haben hart gearbeitet, um die Ranch aufzubauen, er und ich. Er hat mir immer das Gefühl gegeben dazuzugehören, mehr Partner als Angestellter zu sein. Ich weiß, die Ranch, seine Zucht hier – das sind nur kleine Fische für ihn. Er hat andere Ressourcen, an denen gemessen Vista del Lago nur ein Tropfen im Ozean ist. Aber die Ranch hier scheint ihm besonders am Herzen zu liegen. Das war schon von Anfang an so. Deshalb bin ich auch bei ihm geblieben. Aber jetzt…“ Alexandra beugte sich aufmerksam nach vorn und hörte zu. Es war schwer für Scott darüber zu sprechen, aber sie drängte ihn nicht. Er fuhr sich mit den Händen durch das dichte blonde Haar und sprach weiter, den Kopf in die Hände gestützt. „Ich bin an einem Punkt angekommen, wo ich nicht mehr weiter weiß. Hat er seine schrecklichen Launen, dann kann er so verletzend sein. Und dann gibt es Zeiten, da komme ich überhaupt nicht mehr an ihn heran. Die verletzenden Worte, die machen mir nichts aus. Viel schlimmer ist, was er sich selbst antut. Manchmal ist er wie ein wandelnder Toter.“ Er stand auf und streckte die steifen Glieder. Er mußte schon Stunden hier gesessen und vor sich hingebrütet haben. Dann stieß er die Fäuste in die Hosentaschen, ging zum Fenster und starrte hinaus in die Nacht. „Der Mann hat alles, was das Herz begehrt. Schauen Sie sich allein diese Ranch an. Was kann er denn noch wünschen?“ „Vielleicht etwas Neues, das er erst erobern muß“, schlug Alexandra vor. Scott verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Fensterrahmen. „Das habe ich auch schon gedacht. Aber davon bin ich abgekommen. Es muß etwas anderes, weniger Greifbares sein. Vielleicht sucht er inneren Frieden?“ Er blickte Alexandra mit leicht vorgeschobenem Kinn an. „Ich weiß, daß Ihnen das nicht gefällt, aber ich glaube immer noch, sein innerer Friede hat sehr viel mit Ihnen zu tun.“ Unwillkürlich mußte sie über ihn lächeln, wie er sie halb trotzig, halb abwartend ansah. „Schon gut, Scott, diesmal bin ich nicht so kratzbürstig. Wenn da noch irgend etwas zwischen Mark und mir war, so ist das jetzt vorbei. Er sagte es selbst, und er bat mich abzureisen.“ Verzweifelt blickte Scott an die Decke. „Er ist sehr kompliziert, Alexandra. Ich kann es nicht genau erklären, aber ich weiß, er hat seine Grundlagen verloren und ist am Ertrinken.“ Er trat einen Schritt näher. „Sagte er wirklich, Sie sollten abreisen und zwischen Ihnen sei alles aus?“ „Ja. Er tat so, als sei es das Vernünftigste. Und damit hat er sicher recht.“ Scott nickte. „Vernünftig! Vernünftig und praktisch! Nichts als dummes Gerede!“ Er gab sich einen Ruck und begann wieder, mit nervösen Schritten durch das Zimmer zu gehen. „Natürlich! Das erklärt auch seinen letzten Gefühlsausbruch.“ Besorgt lehnte er sich über ihren Sessel.
„Er war heute abend so niedergeschlagen und depressiv. Ich beginne allmählich mir Sorgen zu machen, ob er sich etwas antun könnte.“ „Selbstmord?“ Alexandra sprang auf. „Oh, Scott, das meinen Sie doch nicht ernst?“ Er schwieg. Sein Gesicht war ernst. „Ich will damit nicht sagen, er würde sich eine Kugel durch den Kopf jagen. Aber er raste schon früher wie ein Irrer mit dem Wagen und flog dabei manchmal aus der Kurve. Wäre das nicht in der Wüste geschehen, er wäre sicher nicht so unbeschadet davongekommen. Er geht sehr leichtfertig mit seinem Leben um.“ „Dann suchen Sie ihn, Scott, und sprechen Sie mit ihm.“ Er machte eine ärgerliche Handbewegung. „Das habe ich ja versucht, aber es gab nur Streit. Und dann begann er, über Tanja und das neue Pferd zu reden. Er steigerte sich regelrecht in den Glauben hinein, ich hätte gemeinsame Sache mit ihr gemacht.“ „Das meint er doch sicher nicht ernst?“ „Nein, natürlich nicht. Das weiß ich“, antwortete er zögernd. „Er wollte mich nur auf jede erdenkliche Art vom eigentlichen Grund seines Ärgers ablenken – von dieser Verzweiflung, die an ihm nagt und ihm, wie uns anderen auch, das Leben schwermacht.“ Scott ließ sich in einen Sessel fallen. Vor Besorgnis und Angst war seine Stimme laut geworden, als er wieder zu sprechen begann, klang sie leise und mutlos. „Alexandra, ich versuchte, mit ihm über Sie zu reden.“ Alexandra schloß für einen Moment die Augen. „Und das hat alles nur noch verschlimmert.“ „Ja. Er wollte nichts davon hören, sagte, es sei aus und vorbei. Aber das ist es nicht, kann es nicht sein, denn er schafft es nicht, davon loszukommen.“ „Er wird es aber müssen.“ „Haben Sie denn überhaupt nichts mehr für ihn übrig?“ „Doch, natürlich. Aber ich finde, Mark hat recht. Zu viel ist geschehen; wir verletzten uns gegenseitig zu tief.“ Scott nickte traurig, als wäre die Wahrheit eine bittere Pille für ihn. „Er ist weggeritten“, sagte er und blickte in das Dunkel hinaus. „Das beunruhigt mich im Augenblick am meisten, denn für heute nacht ist ein schweres Unwetter angesagt. Manchmal werden große Teile des Landes überflutet und es entstehen Erdrutsche.“ Alexandra lachte kurz auf. „Wollen Sie damit andeuten, daß er es nicht schafft, allein nach Hause zu reiten? Soll das heißen, ich soll ihn holen?“ „Würden Sie das für mich tun? Sie wissen ja nicht, wie gleichgültig er mit seiner eigenen Sicherheit umgeht, wenn er in dieser Verfassung ist.“ Er sah sie bittend an. „Ich ginge ja selbst, aber er ist zu wütend auf mich. Er würde nie auf mich hören.“ „Er wird auch über mein Erscheinen nicht besonders erfreut sein,“ kommentierte sie mit nüchterner Stimme, während sie zur Tür ging. „Was meinen Sie, wohin ist er geritten?“ Scott schaute angestrengt in Richtung Berge. Der Mond schien, aber dunkle Wolken zogen mit großer Geschwindigkeit an ihm vorbei. „Ich möchte fast wetten, daß er zur Hütte geritten ist. Ein ziemlich verwilderter Ort, wo er sich gern versteckt hält.“ Er lächelte. „Mark denkt, daß ich nichts davon weiß. Sie steht am äußersten Ende des Grundstücks in einer Senke, auf einer von Felsen umgebenen Lichtung.“ Versteckt sich in einer Hütte, dachte Alexandra. Es schien schwer für ihn zu sein, die Vergangenheit aufzugeben.
„Es gibt einen Pfad dorthin. Wenn Sie eines der Pferde nehmen, sind Sie in weniger als zwanzig Minuten dort.“ „In Ordnung“, sagte sie. „Für Sie tu ich es gern.“ „Danke. Mir fällt ein Stein vom Herzen.“ Er legte voll Dankbarkeit die Hand auf ihre Schulter. „Aber in Wirklichkeit tun Sie's nicht für mich, sondern für diesen Dickschädel.“ „Schon gut, Scott“, sagte sie und winkte ab. „Ich weiß, wo die Ställe sind. Gehen Sie ruhig schlafen und machen Sie sich keine Sorgen mehr. Ich erledige das schon.“ Ich habe noch nicht oft die Gelegenheit gehabt, das zu sagen, dachte sie, während sie zu den Ställen ging. Der Wind hatte die Stalltür aufgerissen. Sie schwang leise quietschend hin und her. Eine Box war leer. Alexandra erinnerte sich schwach, einen Schimmel dort gesehen zu haben. Mark mußte ihn genommen haben. Sie nahm einen Sattel vom Haken und legte ihn auf die grau gefleckte Stute, die Scott ihr empfohlen hatte. Dann blickte sie an sich hinunter auf den engen Rock. Sie war für den Rückflug nach Hause gekleidet. Das leichte graue Kostüm wirkte trotz des langen Tages noch immer kühl und glatt – wie eine zerbrechliche Hülle aus Disziplin, die sie zusammenhielt. Sie zog schnell die Jacke aus und hängte sie an einen Haken. Dann griff sie mit einem tiefen Seufzer des Bedauerns nach dem Rock und riß die Seitennaht so weit auf, daß sie genug Beinfreiheit zum Reiten hatte. In kurzem Galopp ritt sie in Richtung Hügel und fand im Mondlicht sofort den Pfad, von dem Scott gesprochen hatte. Der heiße Wind peitschte die Sträucher und Bäume, die Luft knisterte vor elektrischer Aufladung. Wie hatte Scott den Santa Ana genannt? Teufelshauch! Ein Gefühl von Heiterkeit durchlief sie. Der Name paßte. Plötzlich endete der Pfad in hohem Gras und dürrem Gestrüpp. Alexandra hielt das Pferd an und lauschte. Aber sie hörte nichts als das Raunen des Windes und das Rascheln von Kaninchen und Mäusen im Unterholz. Vor ihr zeichnete sich eine sanfte Hügelkette ab. Sie entdeckte, daß das Gras an einigen Stellen niedergedrückt war. Also mußte hier schon jemand geritten sein. Sie spornte ihr Pferd an und folgte der Spur. Ihr Haar wogte auf und nieder, peitschte ihr ins Gesicht, wenn der Wind sich drehte. Die Stute wieherte nervös, als sich der Himmel verdunkelte. Tief treibende Wolkenfetzen verdeckten den Mond. Alexandra verlangsamte das Tempo, als die Spur sie in eine steile, enge Felsenschlucht führte. Hinter der Senke öffnete sich wieder das flache Buschland bis hin zu den fernen Hügeln. Sie zog die Zügel an und ließ den Blick über die öde Landschaft schweifen, aber sie fand kein Anzeichen für eine Behausung. Die Stute stampfte nervös mit den Hufen. Plötzlich drang ein vertrauter Ton an Alexandras Ohr, und sie entdeckte einen dunklen Schatten. Ihr Pferd machte einen Satz und galoppierte wiehernd darauf zu. Es war der graue Schimmel, der im Stall gefehlt hatte, gesattelt, aber' ohne Reiter. Freudig erregt sprang er um die Stute herum, doch mit einem Mal brach er aus in einen wilden Galopp und verschwand in Richtung Ranch. Getrieben von der Vorstellung, Mark sei gestürzt und liege irgendwo verletzt im Gebüsch, wendete Alexandra ihr Pferd und ritt in die Richtung, aus der der Schimmel gekommen war. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ließ sie zusammenfahren. Die Stute bäumte sich auf, wieherte und begann, sich um sich selbst zu drehen. Alexandra stieg ab und streichelte beruhigend den Hals des Tieres. Dann nahm sie die Zügel fest in die Hand und lockte das aufgeregte Tier langsam vorwärts.
Jetzt kamen sie an dem Ausläufer eines Felsens vorbei, der eine kopfhohe Wand bildete. Plötzlich wieherte das Pferd erschreckt auf, machte einen Satz, der ihr die Zügel aus der Hand riß und jagte davon. Alexandra erblickte gerade noch einen dunklen Schatten, der sich davonschlängelte. Ein Salamander? Eine Schlange? Vielleicht auch nur ein Eichhörnchen? Das Licht war so trügerisch, daß sie es nicht erkennen konnte. Was immer es auch war, sie hatte ihr Pferd verloren. Für kurze Zeit blieb sie wie angewurzelt stehen. Das Gefühl, daß Mark in der Nähe war und Hilfe brauchte, beruhigte sie allmählich. Sie folgte dem Pfad entlang der Felswand, bis das Gelände sich allmählich verbreiterte. Eine Baumgruppe wurde sichtbar und daneben die dunklen Umrisse einer Hütte. Aus einem kleinen Fenster drang Licht und als sie näherkam, hörte sie Geräusche von innen. Mit vor Erleichterung schwachen Knien näherte sie sich der Tür. Alexandra war schockiert, wie sehr sich Marks Gesicht seit dem Morgen verändert hatte. Im Schein des gelblichen Lichts, das aus der Hütte drang, sah er hohläugig und hager aus. Seine Gesichtsmuskulatur wirkte angespannt, als hätte er eine unruhige schlaflose Nacht hinter sich. Er stand in der geöffneten Tür und brachte vor Erstaunen, sie zu sehen, kein Wort zustande. „Ein Unwetter zieht auf, Mark. Komm mit mir zurück zur Ranch.“ Mark blickte sie immer noch an, als sei sie eine Erscheinung. Allmählich aber registrierte er, was sie gesagt hatte, und sah zum Himmel hinauf. Das ferne Donnergrollen ließ ihn zusammenfahren. „Maddox hat dich wohl hergeschickt?“ Er drehte sich um, und sie folgte ihm ins Innere der Hütte. Auf einem rostigen alten Ofen in der Ecke dampfte ein Kessel. Die übrige Einrichtung bestand aus einem einfachen Holzregal, einem rohen Tisch mit zwei Stühlen und einem Feldbett. Mark ging an das Regal, in dem ein paar Dosen und einige Grundnahrungsmittel standen. „Kaffee?“ fragte er und nahm ein Glas Instant Kaffee und zwei Becher vom obersten Bord. „Mark, können wir nicht einfach gehen?“ Er suchte nach einem Plastiklöffel und kam mit den beiden Bechern an den Tisch. „Habe ich denn gesagt, daß ich mitkomme?“ Er goß das kochende Wasser ein und löste mit einem umständlichen Ritual das Kaffeepulver auf. „Nein, hast du nicht, aber Scott sagte, das Wasser könne sehr plötzlich kommen und alles überfluten.“ „Ach, laß doch, Alexa.“ Er hatte aufgehört zu rühren und warf den Löffel auf den Tisch. „Darauf bist du reingefallen?“ „Er macht sich ernstlich Sorgen um dich, Mark. Er…“ „Er will uns nur wieder zusammenbringen.“ Alexandra wollte widersprechen, doch plötzlich war ihr alles klar, und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Mark reichte ihr mit beredtem Gesichtsausdruck den dampfenden Becher. „Wahrscheinlich hat er dir erzählt, daß wir Streit hatten. Manchmal rührt er wirklich an den Nerv der Dinge und – ich bin wohl etwas zu weit gegangen. Aber das ist typisch für ihn, unbedingt das letzte Wort haben zu müssen und dich dann als seine Fürsprecherin herzuschicken.“ Wieder donnerte es, diesmal etwas näher. „Aber das Gewitter ist echt“, trotzte sie und stellte den Kaffee zurück auf den fleckigen Tisch. „Daran zweifelt auch niemand“, erwiderte Mark, während er sich rittlings auf seinen Stuhl setzte und die Arme auf die Lehne stützte. „Marble nahm mir den letzten Zweifel. Ich band ihn los, als er scheute, und gab ihm noch einen Klaps auf sein Hinterteil. Er kennt seinen Weg zurück zum Stall.“ „Mein Pferd scheute auch. Ich fürchte, ich werde zurück laufen müssen, und ich
habe nicht vor, allein zu gehen“, sagte sie mit fester Stimme. „Dann solltest du dich lieber aufs Hierbleiben einrichten.“ Er grinste. „Das würde Scott bestimmt eine unheimliche Freude bereiten.“ Steckte hinter Scotts Besorgnis wirklich nichts anderes als der Gedanke, sie zu verkuppeln? Sie fühlte sich nicht wohl bei dieser Vorstellung. Doch dann sah sie, wie die alte Bitterkeit wieder auf Marks Gesicht zum Vorschein kam. Auch wenn Scott sich hier als Vermittler betätigen wollte, zu seinem eigenen Vergnügen hatte er es sicher nicht getan. Mark machte einen sehr verlorenen Eindruck. „Du bist wohl hierhergekommen, um dich zu verstecken und um der Wirklichkeit eine Zeitlang zu entfliehen. Aber wozu soll das gut sein?“ Mark stand auf, ging zur Tür und warf einen Blick nach draußen. Ein Windstoß durchfuhr den Raum und trieb ein paar trockene Blätter über den Boden. „Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen, Mark“, sagte sie leise. Sie spürte seine stumme Verzweiflung. Er wandte sich um und schloß die Tür. „Wenn ich hierherkomme, dann stelle ich mich den Tatsachen und laufe nicht davor weg.“ Er ließ seinen Blick durch den kargen Raum schweifen. „Woran erinnert dich diese Hütte?“ „An dein Zuhause in Kentucky.“ Er nickte bestätigend. „Früher brachte ich ein paar Pferde in der Nähe von Vista unter. Manchmal ritt ich durch diese Gegend, und eines Tages stieß ich dabei auf die Hütte. Das war lang, bevor ich Vista del Lago kaufte. Falls es dich interessiert – ich habe die Ranch nur deshalb gekauft.“ Nur wegen dieser halb verfallenen Behausung hatte er ein so riesiges Stück Land gekauft? Aber er hatte doch Armut immer verachtet! Plötzlich flogen Alexandras Gedanken zurück in die Vergangenheit. Sie meinte, den Duft der Löwenmäulchen und des feuchten Grases wieder zu riechen, in dem sie mit Mark lag. Sein Gesicht sah wie getüpfelt aus von dem Licht, das durch die Blätter einer Buche fiel. „Eines Tages werde ich es schaffen und hier herauskommen, Alexa. Wir werden in einem Haus mit weißen Marmorböden wohnen – Marmorböden, so weiß und glänzend, daß du kaum hinschauen kannst…“ „Meinst du nicht auch, daß die Hütte etwas Besonderes an sich hat?“ Seine von ihr so geliebte Stimme brachte sie auf den Boden der Wirklichkeit zurück und zu Marks bitterem ironischen Lächeln. „Sie strahlt, sagen wir, eine Art primitive Ehrlichkeit aus.“ Wie in Trance ging er durch den Raum und berührte die billigen Möbel mit einer seltsamen Mischung aus Verachtung und Zuneigung. Er hatte sich in eine Welt zurückgezogen, wo ihn niemand erreichen konnte. „Wir hatten zu Hause einen ganz ähnlichen Tisch“, sagte er. „Und nur drei Stühle. Das reichte aus, denn viel Besuch gab es bei uns nicht.“ Er blickte auf. Also schien er ihre Gegenwart doch nicht vergessen zu haben. „Manchmal stellte ich mir vor, du würdest mich besuchen, du, die schöne, faszinierende, sehr reiche Alexandra O'Neill.“ Sein Gesicht wirkte jetzt ruhiger, aber seiner Stimme merkte sie die innere Zerrissenheit an. „Hör auf, Mark“, sagte sie. „Dieser Abschnitt deines Lebens ist vorbei. Du bist jetzt selbst reich.“ „Ich wußte, daß du die Hütte, in der wir lebten, sehen würdest, nachdem ich dich verlassen hatte“, murmelte er. „Was hieltest du eigentlich von der Baracke, die ich mein Zuhause nannte?“ „Was soll diese Frage? Es ging doch um dich, nicht um dein Zuhause.“ „Ich hatte immer Angst davor. Wir haben uns stets auf eurem Land getroffen; unsere ganze Beziehung war auf deiner Welt aufgebaut.“
„Hör endlich auf, Mark. Wir sind doch alle Menschen.“ „Stimmt.“ Mit gespreizten Beinen, die Daumen in den Gürtel gehakt, stand er vor ihr – wie ein trotziges Kind, innerlich verängstigt, aber nach außen voll Widerstand. „Ja, wir sind alle Menschen. Aber es gibt reiche Menschen und die anderen. Damals gehörte ich weder zu den einen noch zu den anderen. Ich war noch drunter. Mein Bett sah aus wie dieses hier.“ Er drehte sich um und setzte sich auf das Feldbett. Die primitive Drahtbespannung quietschte unter seinem Gewicht. „Manchmal, wenn ich von einem Treffen mit dir nach Hause kam, versuchte ich, mir das Erlebte noch einmal vorzustellen, aber ich verlegte es in mein Bett. Ich kniff die Augen fest zusammen, um deine weichen weißen Schultern vor mir sehen zu können, deine seidige Haut und die Wärme deines Körpers unter mir zu spüren. Aber es ging nicht. Es war einfach unmöglich.“ „Mark“, unterbrach sie ihn mit bittender Stimme, „warum quälst du dich so. Jetzt besitzt du doch alles, was du willst. Millionen von Menschen werden in Armut geboren, und nur wenige schaffen es.“ „Ich habe nichts“, sagte er lakonisch. „Mein Gott, willst du behaupten, dieser herrliche Besitz sei nichts?“ „Oh, Alexa, bist du wirklich so blind, daß du nicht siehst, was mit mir los ist? Glaubst du wirklich, mich quälen materielle Dinge?“ Ihre Gedanken überstürzten sich. „Ein riesiges Landhaus nur für uns, mein Liebling. Ein Swimming-pool im Garten und die teuersten Pferde im Stall, im eigenen Stall…“ Dieser Traum hatte ihm fünf Jahre lang Kraft gegeben. Jetzt besaß er alles, wovon er geträumt hatte, sogar noch mehr. Was wollte er denn noch? „Wie ein Besessener warst du hinter den materiellen Gütern her. Wenn sie dir in Wirklichkeit nichts bedeuten, warum hast du dich dann darum gekümmert?“ Mark beugte sich vor, sein Kopf geriet in den Lichtkreis der Petroleumlampe, die über dem Tisch hing. Sie sah, wie es unter seiner Schläfe zuckte. „Es war deinetwegen, Alexa. Du solltest nie in einem Bett wie diesem hier schlafen müssen. Ich wollte dich heiraten, du solltest Mutter meiner Kinder werden – du weißt schon, dieser ganze romantische Quatsch. Das wollte der Träumer in mir. Der Realist aber wußte, daß es hoffnungslos war. Ich quälte mich, weil der Realist in mir etwas wußte, was der Träumer nicht wahrhaben wollte. Ich wußte, daß du jedesmal, wenn ich dich küßte, jedesmal, wenn wir zusammen schliefen, nur mit mir spieltest. Du warst eine Jugendliche, die ihrer perfekten Kinderstube überdrüssig geworden war; noch zu jung, um ganz perfekte Frau zu sein. Diese Beziehung zu mir war für dich nur ein pikantes Abenteuer, das du ausgiebig genießen wolltest, bevor du mit dem erstbesten Randolph, der dir über den Weg lief, einen Hausstand gründen würdest.“ Fassungslos schaute Alexandra ihn an. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, in der sie sich liebten. Wie konnte er auch nur einen Augenblick lang glauben, sie habe mit ihm nur gespielt. Wie konnte er ihr so etwas unterstellen? Sie wollte widersprechen, aber da kamen ihr Carlas Worte in den Sinn. Alexandras Realitätsbewußtsein wankte gefährlich. Wer weiß, vielleicht hatte Mark sogar recht. Sich selbst zu finden – war das nicht ein gängiger Spruch, den sie seit ihrer Rückkehr aus Europa überall gehört hatte? Würde sie es jemals schaffen, sie selbst zu sein, genau zu wissen, was sie wollte und wer sie eigentlich war? Marks rauhes, spöttisches Lachen riß sie aus den Gedanken. „An Liebeskummer ist noch niemand gestorben, ich weiß. Aber es gab Zeiten, Alexa, da schien der Schmerz unerträglich.“
Unwillkürlich streckte Alexandra ihm ihre Hand entgegen. Verwundert und zugleich voll Mitleid erkannte sie den Schmerz in seinen Augen, der über Jahre hinweg in ihm verborgen gewesen war. Nicht nur sie hatte fünf lange Jahre gelitten. „Mark, ich habe dich geliebt“, flüsterte sie. „Mich geliebt?“ Ein bitteres Lächeln zog über sein Gesicht. „Nein, mich begehrt – das hast du. Ich war die erste – eine besondere Art von Trophäe. Wenn ich bei dir geblieben wäre, hätte ich es bald zu spüren bekommen.“ „Das ist unfair“, sagte sie, aber im stillen dachte sie, daß er vielleicht doch recht hatte. „Ich kenne dich, Alexa.“ Seine Stimme klang ein wenig spöttisch, als er fortfuhr: „Ob ich dich und deine halbseidene Art zu leben jemals wirklich begreife? Selbst dein Traumjob in Rom ist dir leid geworden – unvorstellbar. Und warum? Hattest du Probleme? Hast du deshalb alles hingeworfen und kamst zurück ins warme Nest, um das Leben zu führen, zu dem du erzogen wurdest? Sage du mir doch nicht, was unfair ist!“ Alexandra hatte die Augen niedergeschlagen und versuchte, die unausweichliche Wahrheit seiner Worte zu verdrängen. Aber es war nicht die ganze Wahrheit, denn sie hatte ihn wirklich geliebt. „Bitte beantworte mir eine Frage, Alexa. Und sei ganz ehrlich, nur dieses eine Mal. Wenn du die Wahl gehabt hättest zwischen dieser Hütte hier und Windermere, wofür hättest du dich entschieden?“ Der Wind hatte plötzlich nachgelassen, und es war unheimlich still im Raum. Nur eine Grille zirpte. Die Wahrheit, erforschte sie sich, wie sah sie aus, als ich siebzehn Jahre alt war? „Ich glaube…“, sie sprach langsam und stockend, „wenn ich damals hätte wählen müssen, vermutlich hätte ich Jason genommen. Aber ich weiß nicht genau. Ich hatte Jason nie unter diesem Aspekt gesehen. Er war ein Nachbar, mehr nicht. Sicher, mein Vater hätte es gern gesehen, und ich war so erzogen, daß ich tat, was man von mir erwartete. Ich war fast noch ein Kind, gewohnt, den leichteren Wegzugehen.“ „Und mein Weg war nicht leicht“, sagte Mark sanft. „Ich glaube, das hätte mich völlig aus der Bahn geworfen. Du warst zäh, hart, faszinierend für mich. Aber wenn ich dich damals geheiratet hätte… es wäre gegen meine ganze Erziehung, gegen meine Vorstellung vom Leben gewesen.“ Sie schwieg. Ob das wohl die Wahrheit war? Und woher wußte sie das auf einmal? „Ich liebte dich hoffnungslos; aber ich spielte nie mit dir.“ Ihre Stimme wurde bitter. „Aber was soll das Ganze, Mark? Ich stand nie vor der Wahl. Diese Möglichkeit hast du mir nie gegeben.“ Er ging auf ihre Anspielung nicht ein; sein eigener Schmerz hatte ihn taub gemacht für das Leid, das er ihr angetan hatte. „Mein Gott, du warst alles für mich. Ich blickte zu dir auf. Alles, was ich seitdem getan habe, war nur…“ Er brach ab und wandte den Kopf zur Seite. „Was soll das jetzt noch?“ murmelte er. Hilf mir, lieber Gott, dachte sie. Ich liebe ihn noch immer. Sie ging einen Schritt auf ihn zu und wünschte, ihn in die Arme zu schließen, ihn zu trösten. „Mark, wir haben etwas Wunderbares verpaßt, wenn auch nur knapp. Ich war zu jung und zu verwöhnt. Du warst zu anders, und du kamst zu früh für mich. Aber bitte glaube mir, ich habe dich geliebt, und ich liebte dich immer weiter.“ Eine plötzliche Leichtigkeit schien seinen Körper zu beleben und veränderte sein Gesicht. „Laß uns von vorn anfangen, Alexa. Hier und jetzt.“ Mark stand auf und nahm Alexandra stürmisch in die Arme, hob sie hoch, drehte sich jauchzend mit ihr im Kreise. Als er sie wieder auf die Füße gestellt hatte, legte er sanft seine Hände um ihr Gesicht und sah sie zärtlich an. „Du liebst mich
– du liebst mich wirklich. Zur Hölle mit Jason, zur Hölle mit der ganzen Welt. Alexa, du gehörst zu mir.“ Sie küßte zärtlich seine Augen, seine Nasenspitze und legte dann ihre Lippen sanft auf die seinen. Bin ich das jetzt, fragte sie sich. Weiß ich, was ich will? Ich liebe ihn mehr als mein Leben. Und es ist alles so gut, so richtig… Langsam begann sie, sein Hemd aufzuknöpfen. Auch als sie nackt voreinander standen, rührte er sich nicht. Er sah ihr ununterbrochen in die Augen. „O, Alexa, ich liebe dich so sehr.“ „Ja, mein Geliebter, ja.“ Sie nahm seine Hand und führte ihn zum Bett. Mark kniete sich neben sie auf den Boden und ließ seinen Blick in kindlicher Bewunderung über ihren Körper schweifen. Dann streckte er vorsichtig die Hand aus und begann, sie zu streicheln. Er beugte den Kopf, und sein Mund folgte der Spur seiner Finger. Schließlich nahm er sie mit einer Behutsamkeit und Zartheit, als wären sie zum erstenmal zusammen. Erst später wurde ihre Liebe leidenschaftlich und wild. Jeder Höhepunkt brachte eine glückliche Entspannung, die das Gefühl, das Richtige zu tun, noch verstärkte. Auch im Schlaf hielten sie sich eng umschlungen, bis sie ein Donnerschlag aufweckte. Ein Blitz gefolgt von einem Nachleuchten erhellte den Raum. Die Lampe über dem Tisch brannte noch. Alexandra meinte die Elektrizität in der Luft zu spüren. Marks Haar knisterte, als sie darüberstrich. Sie mußte unwillkürlich lächeln, denn von jetzt an würden Gewitter eine ganz neue Bedeutung für sie haben. Mark öffnete die Augen und blickte sie an. Er legte zärtlich seine Hand auf ihre Brust, ließ sie nach unten über ihren Bauch zu den wohlgerundeten Hüften gleiten und folgte leicht ihren Kurven mit dem Finger. Sie spürte, wie ihr Körper auf seine Liebkosungen reagierte. „Du bist mein“, flüsterte er, während er zärtlich an ihrem Ohrläppchen knabberte. „Meine Geliebte, meine Frau, die Mutter meiner Kinder. Du gehörst zu mir. Alexa, laß uns…“ „Nein“, sagte sie und entzog sich ihm. „Nein, Mark.“ Sie riß sich los von der warmen Geborgenheit seines Körpers und stand auf. Aber sie hatte sich das doch gewünscht, mehr als alles andere. Warum sagte sie jetzt nein? Was in ihr war das gewesen? Woher kamen diese störenden Gedanken? Mark stand auf und kam auf sie zu. Bestürzung und Verwirrung spiegelten sich in seinen Zügen. „Aber ich liebe dich, Alexa. Das, was wir vorhin teilten, war mehr als nur Sex. Und ich will auch mehr von dir, Liebes. Alles will ich, mit dir leben, für dich sorgen und immer bei dir sein.“ Alexandra schüttelte heftig den Kopf und versuchte, ihrer inneren Erregung Herr zu werden. „Mark, bitte laß mich. Ich kann nicht; ich kann nicht sein, was du willst.“ „Um Gottes willen, Alexa, spiel nicht wieder mit mir“, bat er mit vor Enttäuschung halb erstickter Stimme. „Ich bitte dich, meine Frau zu werden. Denn ich liebe dich“, schrie er verzweifelt. „Auch ich liebe dich“, schrie sie zurück und versuchte, den Donner und das Getöse in ihrem Kopf zu übertönen. „Aber ich werde, ich kann dich nicht heiraten.“ Sie war nicht mehr Herr ihrer Bewegungen und kämpfte unbeholfen mit dem Anziehen. Dennoch war es, als gäbe ihr dieser simple Vorgang Halt, als sei er ihre Verbindung mit der Realität. Mark saß zusammengesunken auf der Bettkante. Seine Hände hingen schlaff zwischen den Knien. „Ich begreife es nicht“, sagte er dumpf. „Ich begreife überhaupt nichts mehr. Ich dachte, was heute nacht zwischen uns geschah, würde alles ändern. Wir gehören doch zusammen, Alexa. Es muß doch auch für
dich mehr gewesen sein, nicht nur Spaß.“ Schweigend zog sich Alexandra fertig an. Dann ging sie zum Bett hinüber und legte ihre Hände auf seine gebeugten Schultern. „Ja, es war mehr für mich“, sagte sie, und ihre Stimme kam ihr noch immer fremd vor. „Es war nicht nur zum Spaß. Aber das solltest du eigentlich wissen. Es ist mehr als körperliches Verlangen, was mich zu dir zieht, Mark.“ „Warum gehst du dann?“ Er sah sie mit einem Blick an, der ihr fast das Herz zerriß. Sie wandte sich ab. „Liebling, irgend etwas in mir sagt, daß ich erst einmal lernen muß, mir selbst zu gehören und mein eigenes Leben zu meistern. Bislang habe ich immer jemand anderem gehört – meinem Vater, einer bestimmten Kultur und einer mir anerzogenen Vorstellung von mir selbst. Ich weiß jetzt, daß ich niemandem gehören kann, sonst gehe ich zugrunde.“ Allmählich schien er zu verstehen, was sie sagen wollte. Zugleich aber flammte Zorn in ihm auf. Er sprang auf die Füße und ballte die Fäuste. „Nein“, brüllte er. „Nein, nein, nein! Das ist nicht recht. Du hast nach jedermanns Vorstellung gelebt, jetzt bin ich an der Reihe. Und mir kannst du vertrauen. Spürst du das nicht selbst? Zum ersten Mal in deinem ganzen Leben würdest du das Richtige tun.“ Er verlor die Beherrschung, packte sie und küßte sie mit verzweifelter Wildheit, als könne er so ihre Worte auslöschen und die feindliche Stimme in ihr zum Schweigen bringen. Seine Hände wanderten über ihren Körper und krallten sich in ihr Fleisch, als wolle er sie nie wieder hergeben. Alexandra kämpfte mit sich, wehrte sich gegen das eigene Verlangen, nachzugeben und sich seiner Liebe zu überlassen. Noch gestern hätte sie sich ihm überglücklich anvertraut. Doch sie verspürte etwas Neues in sich, eine unbekannte Kraft, die ihr Innerstes bloßzulegen schien und die sie stark genug machte, sich ihm zu entziehen. Sie trat einige Schritte zurück, so daß er sie nicht mehr erreichen konnte. Mark blieb stehen, streckte nur stumm die Arme nach ihr aus. „Nein, Geliebter“, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. „Ich liebe dich, und ich werde dich immer lieben. Trotzdem sage ich nein.“ Sie öffnete die Tür und rannte hinaus in den Sturm. Im grellen Licht der Blitze leuchteten die Felsbrocken auf wie unförmige, klobige Trolle. Der schnelle Wechsel von gleißender Helligkeit und tiefschwarzer Nacht raubten Alexandra die Orientierung. Wie blind rannte sie immer weiter, von Sturmböen gepeitscht und vom Donner halb betäubt. Es regnete nicht, nur der unbarmherzige Sturm, der Atem des Teufels, fegte ihr heiß und trocken aus der Wüste entgegen. Er peitschte das hohe Steppengras gegen ihre Beine und wirbelte Sand und dürre Zweige auf, die ihr hart gegen Gesicht und Arme schlugen. Ihre Augen brannten vom Staub, sie konnte kaum sehen, wohin sie lief. Aber sie durfte nicht zu Mark zurückgehen. Sie fürchtete, nachzugeben und den kleinen Schritt nach vorn, den sie gerade gemacht hatte, wieder zurückzunehmen. In der Hoffnung, beim nächsten Blitz einen Baum oder eine Felsgruppe zu erkennen, die ihr den Weg zur Ranch zurück weisen könnten, lief sie immer weiter. Dann begann es zu regnen. Riesige Tropfen fielen auf ihr Haar und ihre Schultern. Alexandra legte den Kopf in den Nacken, um ihr erhitztes Gesicht zu kühlen. Doch in wenigen Sekunden verwandelte sich der leichte Schauer in einen Regenguß, als hätten sich plötzlich die Schleusen des Himmels geöffnet. Die Erde bebte unter ihren Füßen, als ein Blitz nicht weit von ihr einschlug. Sie kämpfte sich vorwärts durch eine Schlucht, die sie als Weg zur Ranch ansah. Bis auf die
Haut durchnäßt, schmutzbedeckt und zitternd vor Kälte folgte sie dem schmalen Pfad durch die Schlucht, die sich allmählich mit Wasser zu füllen begann. Aufgeweichter Lehmboden rutschte von den Hängen, vermischte sich mit dem gurgelnden Wasser, wirbelte um ihre Füße und bildete einen dickflüssigen Strom, der immer schneller anstieg. Die Rinne, in der sie lief, war nicht genau zu erkennen. Während sie sich noch fragte, ob sie auf dem richtigen Pfad sei, überfiel sie eine schmerzhafte Erschöpfung. Mühsam kletterte sie einen schlüpfrigen Felshang hinauf und kauerte sich zwischen zwei riesige Steine, die ihr ein wenig Schutz gewährten. Doch wenige Minuten später drehte der Wind, und der Regen prasselte auf sie herab. Sie versuchte, sich noch weiter unter den überhängenden Felsen zu schieben. Als sie aber mit der Handfläche in etwas Spitzes griff, machte sie eine unglückliche Bewegung, verdrehte sich das Handgelenk und verlor den Halt. Sie rutschte ab und überschlug sich. Erst als sie mit Kopf und Schultern gegen einen Felsen stieß, blieb sie liegen. Der Aufprall war ziemlich hart gewesen, aber hier war es wenigstens trocken. Sie zog die Knie an, umschlang sie mit den Armen und legte ihren Kopf darauf. Während sie darauf wartete, daß der Regen aufhörte, überkam sie das seltsame, widerliche Gefühl, ihr Gehirn hätte sich in wirbelnden Schlamm verwandelt. Helles Tageslicht drang durch ihre geschlossenen Lider, und Alexandra vernahm Stimmen, Worte… „…wie eine nasse Katze… Glück, daß sie keine Lungenentzündung…“ Sie versuchte, den Kopf zu drehen, und öffnete die Augen. Tanja stand mit sorgengefurchter Stirn neben ihrem Bett. Überall im Zimmer standen Vasen mit herrlichen Blumen. Allmählich kehrte ihr Bewußtsein ganz zurück. Sie spürte ein schmerzliches Pochen in ihrem linken Handgelenk und einen dumpfen Schmerz in Kopf und Schultern. Wohlige Wärme umgab sie, und voll Freude bemerkte sie, daß sie in einem sauberen und trockenen Bett lag. „Hallo“, begrüßte Tanja sie, „Sie haben aber lange geschlafen! Fühlen Sie sich besser?“ Alexandra nickte und zuckte zusammen. Ihr Kopf fühlte sich an wie Blei. Tanja lächelte mitleidig. „Wir haben Sie stundenlang wachgehalten. Der Arzt meinte, Sie hätten nur eine Gehirnerschütterung. Scott sagte, Sie seien bei Bewußtsein gewesen, als er Sie fand, aber Sie hätten ziemlich konfus dahergeredet. Erinnern Sie sich daran?“ „Hmm.“ Sie erinnerte sich nur vage, daß Scott irgend etwas von einem reißenden Schlammfluß gesagt hatte, der dicht an ihrem Unterschlupf vorbeifloß. Egal, sie war in Sicherheit, war unverletzt und angenehm trocken. Wieder mußten mich die Arme eines starken Mannes retten, dachte sie bitter. Mark kam ihr in den Sinn und zugleich drehte sich wieder alles in ihrem Kopf. Sie hatte ihn zurückgewiesen, weil… richtig, weil sie sich selbst finden wollte, aber… Die Wände des Zimmers schienen sich zu bewegen. Sie konnte sich jetzt nicht mit diesen seelischen Problemen befassen. Die simplen Dinge des Lebens waren jetzt wichtiger – der schmerzende Kopf, das Handgelenk und das bequeme Bett. Behutsam setzte sie sich auf, als Tanja ihr eine dampfende Tasse Tee reichte. Ihr Mund fühlte sich trocken an, und sie hatte noch immer den Geschmack von Staub auf der Zunge. Der Tee schmeckte aromatisch und anregend. „Mark macht sich Vorwürfe wegen Ihres Zustands“, sagte Tanja. „Jedesmal, wenn jemand aus Ihrem Zimmer kommt, stürzt er sich auf ihn, um zu hören, wie es Ihnen geht, ob Sie schon etwas gesagt haben und so weiter. Er macht sich völlig verrückt – und uns auch.“
„Warum kommt er nicht rein und schaut selbst nach?“ fragte Alexandra und versuchte, sich nur auf den heißen Tee zu konzentrieren. „Das müßten Sie selbst am besten wissen.“ „Wahrscheinlich ist er zu stolz“, sagte Alexandra vor sich hin. „Er weiß, daß es mit uns keinen Sinn mehr hat.“ Tanja schnaubte verächtlich. „Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe. Euch beiden sieht man doch an, daß ihr euch liebt.“ Wieder begannen die Wände sich zu neigen und zu verschieben. Alexandra umklammerte fest ihre Teetasse. Sie konnte sich einfach noch nicht mit Mark befassen. Es war noch zuviel. Als ihr Bett sich wieder stabilisierte, versuchte sie, sich an das Vergangene zu erinnern. Eine Party. Und sie war aus irgendeinem Grund als Gastgeberin eingesprungen. Ja, richtig. „Tanja, Sie haben mir nie gesagt, warum Sie Mark bei diesem Pferd überboten haben. Wie wär's, wenn Sie mir das jetzt erklärten?“ Tanja errötete. „Ich fürchte, ich bin Ihnen das schuldig, nachdem ich Sie in diesen Ärger mit Mark hineingezogen habe.“ Sie ging zum Fenster und blickte hinaus. Dann fuhr sie fort: „Ich hatte immer viel Geld zur Verfügung und konnte nichts anderes damit anfangen, als Parties zu geben.“ Sie lächelte abwertend. „Klingt eigentlich nicht schlecht, oder? Aber ich konnte mein Gesicht im Spiegel nicht mehr ertragen. Ich hatte immer nur genommen, stets auf anderer Leute Kosten gelebt. Ich wollte endlich selbst etwas leisten, etwas tun, von dem ich sagen konnte: Das habe ich allein geschafft. Ich wollte stolz auf mich selbst sein.“ Sie kam ans Bett zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. „Nicht weit von hier kaufte ich ein Stück Land, das für meine Zwecke wie geschaffen ist. Ich plante, dort meine eigenen Pferde zu züchten. Mark wußte lange nichts davon. Er dachte, Sonnenstreif sei nur mein Lieblingspferd und ich hätte sie so lange hier untergebracht, bis mein eigener Stall fertig sei. Sie ist keine berühmte Zuchtstute, aber an ihr habe ich gelernt. Ich wollte dieses Geschäft von der Pike auf erlernen.“ „Wußte Scott davon?“ fragte Alexandra. „Er kam bald dahinter und ermutigte mich. Zuerst half er mir nur, dann arbeitete er sogar mit mir zusammen – wohlgemerkt: mit mir! Er übernahm nicht das Kommando, wie Mark es getan hätte. Scott ist anders, er respektiert mich und meine Entscheidungen. Aus dieser gemeinsamen Arbeit ist eine echte Partnerschaft erwachsen. Wahrscheinlich verliebte ich mich auch deshalb in ihn.“ „In Scott?“ fragte Alexandra erstaunt. Sie hatte immer geglaubt, Scotts Liebe bliebe unerwidert. „Zugegeben, Mark und ich hatten mal was miteinander“, sagte Tanja schnell, „schließlich hat der Bursche eine Menge Sex-Appeal. Meine wahren Gefühle für Scott entdeckte ich erst, als es um dieses Pferd und das Angebot ging. Ich mußte es unbedingt haben, um mir einen Namen zu machen in der Zuchtbranche. Auch wollte ich, daß Scott auf mich stolz ist, und zwar auf mich als Person, nicht auf meine Figur oder mich als reiche Erbin.“ Alexandra lächelte. „Ich glaube nicht, daß Scott jemals an Ihrem Geld interessiert war.“ „Das weiß ich. Genau darum ging es mir ja.“ „Ich verstehe“, sagte Alexandra und suchte sich eine bequemere Position. Allmählich ging es ihr besser. „Das Pferd haben Sie also, und wie steht's mit Scott?“ „Ja und nein.“ Tanja setzte sich und fuhr mit betrübter Stimme fort: „Was ich an Scott am meisten liebe ist, daß er sehr gefühlvoll, treu und nicht nachtragend ist.
Und gerade diese Eigenschaften machen es ihm zur Zeit so schwer. Er will Mark jetzt nicht allein lassen. Er hat die verrückte Idee, ,seines Bruders Hüter' sein zu wollen. Wenigstens so lange, bis Mark diese depressive Phase überstanden hat.“ „Er ist Marks bester Freund. Aber Sie sind das Wichtigste in seinem Leben. Ich verstehe jedoch nicht, warum sich das gegenseitig ausschließen muß.“ „Mark verachtet mich seit dem Ärger mit dem Pferd, und Scott meidet dieses Thema zur Zeit lieber.“ „Sie verachten? Bestimmt nicht, Tanja. Das ist doch völlig abwegig. Er mag Sie sehr. Er wird schon darüber hinwegkommen.“ „O, nein. Er hat mir sogar das Haus verboten. Der einzige Grund, warum ich überhaupt hier bin, ist…“ Sie stand auf mit Tränen in den Augen. Alexandra spürte Angst in sich aufsteigen. „Warum? Was ist geschehen?“ „Sie wollten, daß ich es Ihnen sage – vielleicht, weil ich auch eine Frau bin. Männer können ja so feige sein.“ Sie schwieg. Alexandra machte sich auf das Schlimmste gefaßt. „Sie müssen so bald wie möglich abreisen. Der Doktor meint, daß Sie unter den gegebenen Umständen schon morgen fahren könnten.“ Tanja ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte versucht, stark zu sein und Alexandra schonend vorzubereiten. Aber sie brachte es nicht über das Herz, die ganze Wahrheit zu sagen. Alexandra nahm ihre Hand und fragte mit fester Stimme: „Unter welchen Umständen? Kommen Sie, Tanja, sagen Sie es mir.“ „Es geht um Ihren Vater, Alexandra. Er hatte einen Herzinfarkt. Letzte Nacht ist er gestorben.“ Schluchzend legte sie die Arme um Alexandra. Starr vor Entsetzen blickte Alexandra über Tanjas Schulter auf die weißen Rosen im Zimmer, die rostbraunen Chrysanthemen… Kränze, dachte sie – Kränze für sein Grab. „Ich werde mitkommen“, flüsterte Tanja, „und mich um Sie kümmern.“ Alexandra nickte nur dankbar. Sie war wie betäubt. Am Nachtmittag kam Tanja mit einem Rezept vom Arzt zurück. „Das ist gegen die Schmerzen, damit du schlafen kannst, Alexandra. Sie schlafen können“, verbesserte sie sich. Aber Alexandra nickte freundlich und sagte: „Bleiben wir ruhig beim Du. Leid verbindet…“ Nur widerwillig nahm sie die Tabletten entgegen. „Muß das sein?“ „Du hast bei dem Sturz einige Schrammen abbekommen, einen Muskel gezerrt und das Handgelenk verstaucht. Nichts Ernstes, gewiß, aber du mußt schnell wieder zu Kräften kommen.“ „Ich mag meine Gefühle nicht mit Tabletten betäuben“, erwiderte Alexandra. „Wo ist eigentlich Mark?“ fragte sie plötzlich. Verlegen fuhr sich Tanja durchs Haar. „Also, er… hm…“ „Ach du lieber Himmel!“ fiel ihr Alexandra gereizt ins Wort. „Wozu diese Umschweife? Na gut, ich bin gestürzt, habe mir das Handgelenk verstaucht und mir eine kleine Gehirnerschütterung zugezogen. Aber meinen Verstand habe ich zum Glück nicht verloren. Der Tod meines Vaters ist ein Schock für mich – und ein großer Verlust. Ich fühle mich zwar sehr elend, aber ich kann damit fertig werden und brauche niemand als Vermittler. Wenn Mark wütend ist oder vor Selbstmitleid vergeht, werde ich das auch noch verkraften.“ Sie unterbrach sich, da sie eine furchtbare Ahnung befiel. „Tanja, es geht ihm doch gut, oder?“ „Er ist unten in seinem Büro“, antwortete Tanja schnell. „Rein körperlich geht es ihm ausgezeichnet.“ Alexandra war erleichtert. „Tut mir leid, daß ich dich so angefahren habe“, sagte sie und hielt Tanja die Hand zur Versöhnung hin. Tanja drückte sie kurz.
Entschlossen stand Alexandra auf, zog sich den Hausmantel über und suchte nach ihren Pantoffeln. „Ich gehe jetzt hinunter.“ „Jason ist bei ihm.“ „Jason? Warum ist er denn nicht…“ Doch sie wußte schon, warum er nicht zuerst zu ihr gekommen war. Glückstreffer war wichtiger für ihn. Eine Welle von Bitterkeit durchlief sie. Doch sie hatte sich schnell wieder gefaßt. Schließlich zählte das jetzt nicht mehr. Sie würde ihn sowieso niemals heiraten. Zwar trug sie noch seinen Ring, aber auch das würde sie bald in Ordnung bringen, nur nicht jetzt, in Gegenwart von Mark. Ihr würde das nichts ausmachen, im Gegenteil, für sie wäre es eine Erleichterung. Aber um Jasons willen wollte sie warten, bis sie zu Hause in Kentucky waren. Also mußte sie diese Last noch ein bis zwei Tage mit sich herumschleppen. Sie hielt sich sehr gerade, als sie die Treppe hinunterstieg. Doch innerlich hatte sie das elende Gefühl, mit jedem weiteren Schritt ein Stück ihres bisherigen Lebens auszuradieren. Jason stand neben einer Vitrine mit Renn-Trophäen, Mark an der Bar. Beide hielten ein Glas Whisky in der Hand und schauten sie an wie eine Erscheinung. „Guten Abend, meine Herren“, sagte Alexandra und schloß die Tür hinter sich. „Darf ich davon ausgehen, daß der geschäftliche Teil beendet ist, Jason? Oder störe ich?“ Ihr Blick strich über Mark hinweg. Sie konnte ihn nicht ansehen, ohne daran zu denken, wie glücklich sie in seinen Armen gewesen war. „Ich bin froh, daß es dir gut geht, Alexa“, sagte Mark mit ruhiger Stimme und kam auf sie zu. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“ „Vielen Dank. Ich komme schon durch.“ Die Art, wie er sie ansah, rührte sie. „Alexandra, was machst du hier unten? Du solltest dich ausruhen.“ Jason griff behutsam nach ihrem Arm, als würde sie gleich zusammenbrechen, und küßte sie leicht auf die Stirn. „Wie dumm von dir, noch zu so später Stunde spazierenzugehen.“ „Überanstrenge dich nicht, Jason“, erwiderte sie kühl, ohne seinen Kuß zu erwidern. „Den besorgten Verehrer nehme ich dir sowieso nicht ab. Du wußtest doch, wo ich zu finden war, oder? Wenn du wirklich so besorgt wärst, hättest du ohne Zögern an mein Bett kommen können, und zwar vor deinen Geschäften!“ Jason errötete. Alexandra wandte sich Mark zu. Sein Gesicht hatte jenen steinernen Ausdruck, den er bis zur Perfektion kultiviert hatte. „Tanja erzählte mir alles. Schon merkwürdig, daß mir ein relativ fremder Mensch diese traurige Nachricht überbringen mußte. Jason war wohl zu sehr mit Glückstreffer beschäftigt, und du, Mark… Hast du vor, dein Verhalten – dich vor Unannehmlichkeiten zu drücken – zu deinem Markenzeichen zu machen?“ Die beiden Männer sahen sie verwirrt an. Ihr gutes Recht. Sie wußte selbst nicht, warum sie sich auf einmal so kratzbürstig gebärdete. War das wirklich die echte Alexandra? Sie wußte es selbst nicht mehr. Sie hatte genug damit zu tun durchzuhalten. Es war, als müßte sie, gerade unter diesen Umständen, ihre totale Unabhängigkeit vor beiden unter Beweis stellen. „Der Tod deines Vaters tut mir sehr leid“, sagte Mark. „Danke.“ „Wenn du mich brauchst, Alexandra, du weißt, ich bin immer für dich da.“ Jason kam einen Schritt näher. Er war wieder ganz Kavalier. „Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen.“ „Danke, Jason.“ Sie warf einen Seitenblick auf Mark. „Wahrscheinlich wird es nicht nötig sein, daß Tanja mich nach Hause begleitet. Jason fliegt sicher zurück, und ich bin schon wieder recht gut zu Fuß, wie ihr seht. Ich möchte Tanja nicht
unnötig beanspruchen, jetzt, wo ich einen Reisebegleiter habe.“ Jason wurde nervös, sagte aber kein Wort. Alexandra wartete. Sie war fest davon überzeugt, er würde darauf bestehen, sie anläßlich der Todesnachricht selbst nach Hause zu begleiten. Abgesehen davon, daß sie gemeinsam nach Kalifornien geflogen waren und er sich immer noch mit ihr als verlobt betrachtete, war er ein Randolph, der Nachkomme einer alten Familie – wie die O'Neills. Es stand außer Frage, daß er an der Beerdigung ihres Vaters teilnehmen würde. „O je, Alexa…“ Jason räusperte sich verlegen. „Ich kann leider unmöglich mit dir zurückfliegen. Es geht wirklich nicht. Tut mir leid.“ „Aha.“ Sie nickte kurz. „Bitte, Alexa, entschuldige, aber ich habe dringende Geschäfte zu erledigen.“ Er warf Mark einen Blick zu, der nichts Gutes bedeutete. „Bitteschön, wie du willst. Ich hatte nur geglaubt, du seist ein Freund meines Vaters.“ „Und Glückstreffer?“ stieß Jason hervor, als würde der Name alles rechtfertigen. „Ach ja, natürlich“, sagte sie kühl. „Das erklärt alles.“ Sie blickte Mark an. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern. „Das ist einzig und allein Jasons Entscheidung.“ „Alexa, sei doch vernünftig“, trumpfte Jason auf. „Die Angelegenheit ist von größter Wichtigkeit für mich. Für uns, für unsere Zukunft.“ „Ich verstehe schon, du brauchst dich nicht zu ereifern.“ Sie konnte es kaum erwarten, das Zimmer zu verlassen, doch an der Tür blieb sie kurz stehen. „Deine Reise nach Chikago muß ja sehr erfolgreich gewesen sein, Jason.“ Bevor sie die Tür hinter sich schloß, sah sie noch, wie er einen großen Schluck Whisky nahm. Als sie schlafen ging, schloß sie die Zimmertür ab. Und obgleich Jason kam und sie bat, sie möge ihn hereinlassen, blieb sie hart. „Laß mich in Ruhe, Jason“, sagte sie, „es gibt nichts mehr zu erklären.“ Sie zog die Decke über den Kopf, während er unablässig an die Tür klopfte und ihren Namen rief. Doch sie empfand eine solche Erbitterung ihm gegenüber, daß sie kein Wort mehr mit ihm sprechen wollte. „Es ist aus mit uns, Jason, ein für allemal aus“, flüsterte sie unter ihrer Decke. Sie brachte aber nicht die Kraft auf, es ihm noch an diesem Abend zu sagen und sich seinen endlosen Argumenten zu stellen. Schließlich gab er auf, und sie fiel in einen ziemlich unruhigen Schlaf, aus dem sie kurz vor Morgengrauen völlig erschöpft erwachte. Eine stille Kraft durchströmte sie, während sie am Fenster saß und den Sonnenaufgang über den Hügeln beobachtete. Ihren Flug ab Los Angeles hatte sie umgebucht. Sie wollte gleich morgens ab San Diego fliegen. Geduldig wartete sie, bis der erste Sonnenstrahl das Fenster traf und Lichtflecken auf den grauen Teppich warf. Ja, es war alles bestens arrangiert. Zu gut, dachte sie und stand auf. Sie warf noch einen Abschiedsblick auf die taufeuchte Wiese und lächelte traurig. Es wurde Zeit, daß sie ihr Leben selbst in die Hand nahm. Scott machte einen munteren Eindruck, als er sie zum Flughafen nach San Diego fuhr. Es war erst neun Uhr, als sie ankamen, genügend Zeit also bis zum Abflug der Verkehrsmaschine um Viertel vor zehn. Die Änderung ihrer Reiseroute bedeutete zwar, daß sie in Chikago umsteigen und eine Wartezeit von zwei Stunden in Kauf nehmen mußte, aber sie hatte auch ihre Vorteile. Alexandra wollte Scott noch einmal allein sehen, bevor sie abflog, und die fünfundzwanzig Minuten Fahrt nach San Diego brachten seinen Tagesablauf nicht so durcheinander wie die weitaus längere Fahrt nach Los Angeles. Auch vermied sie so, Jason und Mark noch einmal gegenüberzutreten. Aber das
Wichtigste für sie war, daß sie diese Änderung selbst arrangierte. Nicht länger als zehn Minuten hatte es gedauert und einige Telefonate mit der Fluggesellschaft gekostet, bis der Flug umgebucht war. Von jetzt an nahm sie ihr Leben selbst in die Hand! Während sie in der Abflughalle warteten, blickte Scott Alexandra an. „Tanja wird sich Sorgen machen. Sie packte schon vergangene Nacht, und wenn sie sieht, daß der Vogel schon ausgeflogen ist, wird sie sich wundern, warum ich ihr nichts von den geänderten Plänen gesagt habe.“ „Es war aber auch höchste Zeit, daß ich flügge werde!“ ereiferte sich Alexandra. „Sagen Sie ihr die Wahrheit, Scott. Ich brauche kein Kindermädchen mehr. Ich mußte endlich damit beginnen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie wird das verstehen. Ich weiß es.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. Doch einer plötzlichen Eingebung folgend umarmte sie ihn. „Wahrscheinlich verdanke ich Ihnen mein Leben. Ich kann nur schlicht ,danke' sagen.“ „Sagen Sie lieber nichts, Alexandra. Hätte ich Sie beide nicht unbedingt zusammenbringen wollen, wären Sie nicht in dieses Unwetter geraten.“ „Trotzdem – Sie retteten mir das Leben.“ Sie lächelte. „Außerdem, Sie meinten es gut, Scott. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich so um Mark kümmern.“ Sanft schob er sie von sich. Sie blieb noch einmal stehen und drehte sich um. „Was wird nun aus ihm, Scott?“ „Ich weiß es nicht.“ Sein Lächeln verschwand. „Aber er hat ja noch mich, und früher oder später wird er sein inneres Gleichgewicht wiederfinden.“ Er lächelte zuversichtlich und winkte ihr nach, bis sie in der Menge verschwunden war.
7. KAPITEL John Harvey Soames trug einen schwarzen Schlips. Auf seinem wohlgenährten, nicht unattraktiven Gesicht lag ein Ausdruck, der Alexandra an Sargträger erinnerte. Doch als er sie begrüßte, brachte er sogar ein Lächeln zustande. „Meine liebe Alexandra“, sagte er und schüttelte ausdauernd ihre Hand. „Was für ein Verlust! Es tut mir ja so leid. Lassen Sie mich Ihnen mein tiefstes Beileid ausdrücken.“ Er legte seine Hand sanft auf ihre Schulter und geleitete sie an der Sekretärin vorbei in sein Anwaltsbüro. Er bot ihr einen Sessel an und nahm selbst hinter einem riesigen Schreibtisch Platz. Betrübt schüttelte er sein Löwenhaupt. „Thomas O'Neill war ein wahrhaft großer Mann Kentuckys.“ „Danke“, sagte Alexandra und bewunderte seine geschliffenen Redewendungen. Doch plötzlich wurde ihr klar, daß das alles war, was er zu bieten hatte – kultivierten Kentucky-Charme. Dahinter war nichts, am wenigsten Aufrichtigkeit. „Natürlich werden Mrs. Soames und ich an der Beerdigung teilnehmen.“ Er faltete die Hände und legte sie auf den Schreibtisch. „Mein Vater ist gestern eingeäschert worden, Mr. Soames.“ „Eingeäschert?“ Er zog die buschigen grauen Augenbrauen hoch, senkte sie dann mißbilligend. „Mrs. Farley und ich waren die einzigen Anwesenden beim Gedächtnisgottesdienst meines Vaters. Fast dreißig Jahre lang arbeitete sie als Haushälterin für uns und gehörte schon fast zur Familie.“ „Ach so – nun ja. Aber Ihr Vater war ein bedeutender Mann in Kentucky. Er hatte viele Freunde, die ihm sicher gern das letzte Geleit gegeben hätten.“ „Mr. Soames – bitte! Ich hatte nicht die Absicht, irgend jemanden vor den Kopf zu stoßen, aber ich hatte meine Gründe.“ Sie merkte, daß er sie gern gehört hätte. „Persönliche Gründe“, fügte sie mit fester Stimme hinzu. „O ja, natürlich.“ Leichte Enttäuschung klang aus seiner Stimme. „Dann können wir jetzt also zu Ihrer Zukunft übergehen.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit einer Akte zu, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Daraus entnahm er ein Schriftstück, betrachtete es prüfend und reichte es ihr. Während Alexandra das Testament ihres Vaters las, redete Soames ununterbrochen auf sie ein. „Selbstverständlich hat Thomas alles Ihnen vermacht. Jetzt sind Sie versorgt, wie er es immer gewünscht hat. Die Pferdezucht, das Haus, die Ländereien, Aktien – alles gehört jetzt Ihnen, meine Liebe.“ Alexandra sank der Mut angesichts der Verantwortung, die auf sie zukam. „Das wäre wohl alles, Mr. Soames. Oder muß ich noch irgend etwas unterzeichnen?“ „Ich kümmere mich persönlich um die Änderung der Besitzrechte. Sie müssen natürlich mit der Bank in Kontakt bleiben, den Rest können Sie getrost mir überlassen. Reine Formalitäten, dafür bin ich ja da, meine Liebe.“ „Und Ihr Honorar, Mr. Soames?“ Er lächelte wohlwollend. „Belasten Sie Ihr hübsches Köpfchen vorerst nicht damit. Das hat Zeit. Ich lasse Ihnen Mitte nächsten Monats eine genaue Kostenaufstellung zuschicken. Normalerweise dauern Eigentumsübertragungen ziemlich lange, wenn es um viel Grundbesitz geht“, fuhr er fort, während er sie zur Tür begleitete, „aber es beruhigt mich zu wissen, daß in Ihrem Fall gut vorgesorgt ist. Und natürlich werden Ihnen die Randolphs in dieser schweren Zeit beistehen. Eine wirklich feine Familie. Und eine glänzende Partie. Es waren Männer wie Jason Randolph, die Kentucky zu dem machten, was es heute ist.“ Alexandra verabschiedete sich schnell, um dem leeren Gerede zu entgehen. In
dem dunkelblauem Cadillac ihres Vaters fuhr sie ins Geschäftsviertel der Stadt, um noch einiges zu erledigen. Es wurde schon dunkel, als sie nach Laurelwood zurückkam. Mrs. Farley war zu ihrer Tochter gezogen, ohne Alexandra mitzuteilen, daß ihr noch für drei Monate Gehalt zustanden. Erst die Tochter hatte es ihr an diesem Morgen telefonisch und mit großer Verlegenheit gestanden. Doch für Alexandra war die Situation weitaus peinlicher. Mrs. Farley hatte in Laurelwood ihr halbes Leben lang den Haushalt geführt, doch jetzt bekam sie weder eine Rente noch sonst eine Unterstützung, noch nicht einmal ihr laufendes Gehalt. Alexandra hatte versprochen, das Geld zu überweisen, sobald sie dazu in der Lage war. In ein leeres Haus zu kommen, war ein ungewohntes Gefühl. Alexandra bedauerte, kein Licht angelassen zu haben. In der Eingangshalle war es dunkel, und die Wände warfen den Klang ihrer Schritte hohl zurück. Zum erstenmal empfand sie das ganze Ausmaß ihres Verlustes. Bislang war sie zu beschäftigt gewesen, um sich der Bedeutung des Todes ihres Vater wirklich zu stellen. Doch jetzt wurde ihr bewußt, daß sie nie wieder seine dröhnende Stimme hören würde, nie wieder sein herzhaftes Lachen vernehmen und seinen irischen Witzen lauschen konnte. Nie mehr würde er sie in die Arme nehmen und küssen. Kindheitserinnerungen erwachten in ihr. Als das Telefon klingelte, dauerte es eine Weile, bis ihr klar wurde, daß weder ihr Vater noch Mrs. Farley abheben konnten. Doch kaum hatte sie das Telefon erreicht, hörte das Klingeln auf. Alexandra knipste die Schreibtischlampe an, um die Schwermut zu vertreiben. Sie spürte, daß sie auf ein zusammengeknülltes Papier trat. Es war ein Brief, der zusammengedrückt auf dem Boden lag. Da erinnerte sie sich, daß Mrs. Farley ihren Vater neben dem Schreibtisch auf dem Boden gefunden hatte, und ihr wurde klar, daß er diesen Brief in der Hand gehalten haben mußte, als ihn der Schlag traf. Es war das Letzte, was er berührt hatte. Gedankenverloren glättete sie das Papier. Sie wünschte, sie hätte ihren Vater noch einmal umarmen können. Geistesabwesend schaute sie das Schreiben an und erstarrte, als ihr sein Zweck bewußt wurde: Beschluß der Zwangsvollstreckung. Hastig überflog sie die zwei Seiten. Sie sank erschöpft in den Sessel ihres Vaters. Armer, stolzer, verschwenderischer Thomas O'Neill! Jetzt wußte sie, was den Schlaganfall ausgelöst hatte. Laurelwood war sein Erbe, sein Lebenswerk. Und mit einem Schreiben der Bank sollte dies alles verloren sein! Das Telefon riß sie aus ihren Gedanken. Automatisch hob sie den Hörer ab. „Sind Sie's, Alexandra? Hier spricht Scott.“ „Oh, hallo.“ Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. „Ich bin ja erleichtert, Sie endlich zu erreichen. Wir sorgten uns schon um Sie. Ist alles in Ordnung?“ Alexandra zwang sich, nicht ständig auf den Brief zu blicken, und antwortete: „Ja, mir geht's gut, Scott. Tut mir leid, daß Sie sich Sorgen um mich machten. Seit ich hier bin, war ich dauernd unterwegs. Es war so viel zu erledigen im Zusammenhang mit der Bestattung. Ich hätte Ihnen kurz mitteilen sollen, daß ich gut angekommen bin, aber ich kam einfach nicht dazu.“ Scott schwieg einen Augenblick. „Ist die Bestattung denn schon vorbei? Tanja und ich hätten gern Blumen geschickt.“ Absolut kein Wort von Mark. Zum erstenmal seit einigen Tagen dachte sie wieder an ihn, und der Schmerz war schier unerträglich. Sie ließ den Kopf sinken und spürte, wie etwas auf das Papier vor ihr tropfte: sie weinte.
„Wie geht es Mark?“ fragte sie, denn sie hatte das dringende Bedürfnis, seinen Namen auszusprechen. „Ich bin nicht mehr bei ihm“, antwortete Scott. „Tanja und ich heiraten und werden selbst Pferde züchten.“ „Oh, Scott, das freut mich für Sie beide.“ Sie meinte es ehrlich. Diese Nachricht war wie ein Lichtstrahl in der Finsternis. „Halten Sie immer zu ihr, Scott. Ihre Treue Mark gegenüber war bewundernswert, aber ich wußte, daß Sie früher oder später einsehen würden, daß Sie Ihr persönliches Glück nicht durch diese Freundschaft belasten durften.“ „Es war zwar sehr hart für mich, aber die Trennung mußte sein.“ Der Raum verschwamm vor Alexandras Augen. Sie wischte die Tränen mit dem Handrücken ab. „Und wer nimmt jetzt Ihre Stelle ein, Scott?“ Es folgte eine lange Pause, bevor Scott antwortete. „Niemand. Hier ereignete sich inzwischen einiges. Mark will die Ranch verkaufen. Er übergab alles an einen Makler. Solange Mark weg ist, übernimmt der Stallmeister die Leitung der Ranch.“ „Er ist weg? Wohin?“ Scott seufzte. „Das haben wir uns auch schon gefragt. Er ist einfach verschwunden. Ich glaube, er hat Kalifornien verlassen, vielleicht sogar die Staaten – wer weiß.“ Er war also wieder auf der Flucht. Alexandra spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte. „Er wird schon durchkommen, Scott. Mark fällt immer auf die Füße, das weiß ich. Verletzt werden immer nur die Menschen seiner Umgebung.“ „Ja, das ist richtig. Ich hatte auch nicht vor, seinetwegen noch eine schlaflose Nacht zu verbringen.“ Scotts Stimme klang nicht sehr überzeugend. „Grüßen Sie Tanja von mir. Und – würden Sie mich bitte benachrichtigen, falls Sie etwas von Mark hören?“ „Aber selbstverständlich! Das hätte ich sowieso getan. Aber es freut mich, daß Sie drum gebeten haben, wirklich.“ Mr. Birkhoven ist ein netter, absolut durchschnittlicher Mann, sagte sich Alexandra. Sie wunderte sich, was mit ihrer Wahrnehmung geschehen war. Der freundliche, sanfte Soames ihrer Kindheit erschien ihr plötzlich wie seine eigene Karikatur und Mr. Birkhoven, der Bankier, kam ihr vor, als sei er einem ManagerHandbuch entstiegen. Lloyd Birkhoven ließ seinen Blick über ein Blatt mit Tabellen wandern, das ihm seine Sekretärin hereingereicht hatte. „Das ging schon eine ganze Weile so, Miss O'Neill. Ihr Vater ignorierte einfach die Bescheide über den Stand seines Vermögens. Es lag wahrscheinlich an seinem schlechten gesundheitlichen Zustand.“ „Mein Vater ignorierte nichts, Mr. Birkhoven“, erwiderte Alexandra erregt. Thomas O'Neill war erst achtundfünfzig Jahre alt gewesen. Diese kaltschnäuzige, beleidigende Anspielung, ihr Vater sei ein hinfälliger, unzurechnungsfähiger alter Mann gewesen, war unerhört. „Er wußte ganz genau Bescheid über den Stand seiner Finanzen.“ Und er ist daran gestorben, fügte sie in Gedanken hinzu. „Er gab mir kaum Anhaltspunkte, wie er seinen Verbindlichkeiten nachzukommen gedachte.“ Alexandra bemühte sich, weniger feindselig zu sein. Damit würde sie kaum weiterkommen, das wußte sie. Also lächelte sie und fragte: „Wieviel Zeit können Sie mir geben, um die Schulden meines Vaters zu tilgen?“ Mr. Birkhoven warf noch einmal einen Blick auf die vor ihm liegenden Papiere. Das letzte Blatt sah aus wie Kopie des Zwangsvollstreckungsbefehls. „Drei Wochen, von gestern an gerechnet. Haben Sie diese Ankündigung gelesen?“
„Selbstverständlich.“ Ihr Blick wanderte betont langsam über die Portraits der Gründer und ersten Aufsichtsratsmitgliedern der Bank, die an der ebenholzgetäfelten Wand hingen. „Die O'Neills sind seit der Gründung dieser Bank mit diesem Haus verbunden. Ich denke, daß man noch etwas Entgegenkommen zeigen könnte. Eine angemessene Frist ließe sich doch unter diesem Gesichtspunkt aushandeln?“ Mr. Birkhoven war ihrem Blick gefolgt, doch jetzt warf er die Papiere, die er in der Hand hielt, mit vielsagender Geste auf den Schreibtisch. „Ich würdige durchaus den Einfluß Ihrer Familie zum Wohle dieser Stadt. Er begünstigte auch stets meine Verhandlungen mit dem Vorstand. Tatsache jedoch ist, daß ich die Frist schon bis zum äußersten Termin verlängert habe. Doch das Defizit ist geblieben. Bei allem guten Willen – eine Bank ist nicht dazu da, um Geld zu verlieren.“ Alexandra sah ihre Hoffnungen schwinden. Unfähig noch ein Wort zu sagen, nickte sie kurz und stand auf. „Miss O'Neill!“ Mr. Birkhoven war von seinem Sessel aufgesprungen. „Bitte verzeihen Sie, aber in den Bankkreisen ist Ihre Verbindung zur Familie Randolph bekannt. Wenn das Gut von solch großer Bedeutung für Sie ist, vielleicht… nun, vielleicht ließe sich mit Hilfe der Randolphs eine Lösung finden.“ „Die Randolphs haben mit dieser Angelegenheit nichts zu tun“, erwiderte Alexandra. Der Bankier lächelte mit besserwisserischer Überheblichkeit. „Kommen Sie, Miss O'Neill. Ihre Unabhängigkeit in Ehren, aber hier geht es um Fakten. Sie stehen kurz davor, eine Randolph zu werden, und das ändert die Sachlage erheblich. Das ist auch der Hauptgrund, warum wir Ihrem Vater so weit entgegengekommen sind. Angenommen, Ihre beiden Familien verbinden sich…“ „Niemand hat das Recht, irgendwelche Mutmaßungen über meine Zukunft anzustellen“, unterbrach sie ihn wütend. „Nein, natürlich nicht. Aber in Anbetracht Ihres Namens und der Ehre Ihrer Familie dachte ich natürlich, daß Sie Ihrer moralischen Verpflichtung in dieser Angelegenheit nachkommen.“ Alexandras Stimme klang eisig. „Ich wage zu bezweifeln, daß diese Institution einen Treuhandvertrag über meine Seele hat, Mr. Birkhoven.“ „Kein Grund, sarkastisch zu werden, Miss O'Neill“, sagte er vorwurfsvoll. „Es war keine unrealistische Annahme – unter den gegebenen Umständen. Ihr Herr Vater…“ „Mein Vater kann seinen geschäftlichen Verpflichtungen nun leider nicht mehr nachkommen. Und meine moralische Verpflichtung ist allein meine Angelegenheit, Mr. Birkhoven.“ Die Geduld des Bankiers war erschöpft. „Entweder Sie zahlen, oder Sie sind Ihren Besitz los. Stichtag ist der fünfzehnte des nächsten Monats und kein Tag später. Ich bin für diese Angelegenheit verantwortlich und kann es mir nicht leisten, dafür meinen Namen aufs Spiel zu setzen. Im Hinblick auf das Angebot, das uns vorliegt, waren wir bislang mehr als großzügig mit unserer Stundung.“ Er wandte sich um und nahm eine großformatige Fotografie aus einer Schublade. „Bitte“, sagte er und hielt sie ihr entgegen. Es war die Aufnahme einer Bungalow-Modellanlage. Alexandra blickte es flüchtig an, ohne das Foto selbst in die Hand zu nehmen. „Die ,Sunrise-Landerschließungsgesellschaft' ist bereit, Laurelwood am Tag der Zwangsvollstreckung zu unseren Bedingungen zu übernehmen. Ein Vertrag über das Darlehen für die erste Bauphase ist bereits ausgearbeitet. Der Vorstand ist vom Aufteilungsplan äußerst angetan. Sobald er genehmigt ist, werden
dreihundert Bungalows gebaut. Wir ziehen sogar in Betracht, uns an dem Projekt zu beteiligen. Angesichts dieser Sachlage sollten Sie uns für die letzte Fristverlängerung besonders dankbar sein. Wenn wir das Angebot ein oder zwei Tage früher bekommen hätten, stünden Ihnen jetzt keine drei Wochen mehr zur Verfügung. All das erklärte ich auch Ihrem Herrn Vater.“ „Am Tag, als er starb, Mr. Birkhoven? War dieses Projekt vielleicht das letzte Thema, über das Sie mit ihm sprachen?“ Der Bankier dachte kurz nach. „Das kann schon sein. Ich erinnere mich nicht mehr genau“, antwortete er peinlich berührt. „Wie dem auch sei, vergessen Sie nicht, daß ich die nächsten drei Wochen noch Eigentümerin von Laurelwood bin. Es ist mein Heim und ich gedenke nicht, es je zu verkaufen. Sie können sicher sein, daß ich da ganz im Sinne meines Vaters handel. Und diese moralische Verpflichtung gedenke ich zu erfüllen.“ Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, dachte sie, während sie die Sperrholzplatte vorsichtig auf die Zeichenmaterialien in den Kofferraum legte. Dieser Bankier Birkhoven hatte etwas an sich, das den irischen Kampfgeist in ihr herausforderte. Dieses Bauprojekt schließlich hatte auf sie wie ein rotes Tuch gewirkt. Zu Hause angekommen, schloß sie das Tor und versah es mit einem Vorhängeschloß. Noch bevor sie den Wagen entlud, ging sie ins Arbeitszimmer und legte den Telefonhörer beiseite. Mrs. Farley hatte das Haus sauber hinterlassen, es aber nicht über sich gebracht, das Arbeitszimmer zu betreten. Alexandra warf einen Blick auf das dort herrschende Chaos. Sie hatte nicht genügend Zeit, gründlich aufzuräumen. Also nahm sie sich fürs erste nur den Schreibtisch vor. Alle Ordner und Papiere stapelte sie auf den Fußboden, entlang der Bücherregale. Innerhalb von dreißig Minuten sah das Arbeitszimmer halbwegs wie ein DesignStudio aus. Auf dem Schreibtisch lag ihr Zeichenbrett im Winkel von fünfundvierzig Grad, drei Stehlampen beleuchteten den Arbeitsbereich. Ihren eleganten Leinenanzug hatte sie gegen Jeans und ein altes Arbeitshemd eingetauscht. In der Küche stand eine dampfende Kanne Kaffee bereit. Alexandra wickelte das Paket aus und legte ein Dutzend großer Skizzenbogen und eine Schachtel Zeichenkohle zurecht. Fünf Monate lang war sie nicht weitergekommen auf dem Weg zu ihrer Unabhängigkeit, weil „starke Männer“ ihre Energie absorbierten. Es wurde also Zeit, die Arbeit wieder aufzunehmen. Da es jetzt nichts mehr gab, was sie noch ablenkte, fühlte sie ihre kreativen Kräfte zurückkehren. Sie nahm einen Kohlestift und begann zu zeichnen. Die Ideen, die sie monatelang unterdrücken mußte, formierten sich ohne viel Dazutun zu ersten Linien und schließlich zu gelungenen Skizzen. Die wirkliche Alexandra O'Neill beginnt ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, dachte sie. Als Alexandra vom Postamt nach Hause zurückkehrte, fühlte sie sich, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Ohne Pause hatte sie achtundvierzig Stunden lang gearbeitet, sich nur ab und zu frischen Kaffee aufgebrüht. Völlig erschöpft sank sie nun in einen Sessel und legte die Beine über die Armlehne. Noch nicht einmal die Kleider hatte sie gewechselt, bevor sie zum Postamt eilte, um „die Früchte ihrer Arbeit“ aufzugeben. Sie reckte ihren schmerzenden Nacken. Die Arbeit einer ganzen Saison in nur achtundvierzig Stunden! Die Entwürfe waren gut, jeder einzelne – sie hatte ein Gespür dafür. Sie lächelte stolz. Der Postbeamte hatte ihr versichert, daß die Expreßbriefe schon am nächsten Tag in Los Angeles, beziehungsweise am übernächsten in Rom sein würden.
Sie griff nach dem Telefon und wählte. „Alessandra, carissima.“ Fabio klang ein wenig beleidigt. „Du enttäuschst mich. Ich dachte, du hättest es dir inzwischen anders überlegt und würdest zu uns nach Rom zurückkommen.“ Sie antwortete auf italienisch, da Fabio Geschäftsgespräche lieber in seiner Muttersprache führte. „Ich werde mir die Entwürfe ansehen“, sagte er vorsichtig. „Für einen guten Designer habe ich immer Zeit. Du rufst wieder an, ja? Mach's gut.“ Carla war viel ermutigender. „Wenn die Sachen auch nur annähernd so raffiniert sind wie die Garderobe damals in St. Moritz, nehme ich sie gern. Der europäische Einfluß bei der Skibekleidung ist auf dem amerikanischen Markt zur Zeit sehr gefragt. Ich rufe dich an, sobald ich mir die Entwürfe angesehen habe. Morgen, sagtest du, sollen sie ankommen?“ Alexandra blickte aus dem Fenster ihres Schlafzimmers. Ein feiner blauer Dunstschleier legte sich über das Gras. Selbst die Bäume wirkten bläulich im Dämmerlicht des Abends. Laurelwood strahlte eine geheimnisvolle Schönheit aus. Alexandra wandte sich ab und versuchte zu schlafen, aber es war hoffnungslos. Sie war überdreht von der inneren Anspannung und den Unmengen starken Kaffees. Sie ging zurück ans Fenster. Der Duft des Spätherbstabends stieg aus den Wiesen auf. Schatten bewegten sich im dämmrigen Licht und einen Augenblick lang glaubte sie Mark unter dem Magnolienbaum am Ende des Gartens zu sehen. Doch die Erscheinung löste sich in Nebel auf und verschwand. Mark hatte sie verlassen, genauso unwiderruflich verlassen wie ihr Vater. Alexandra schüttelte energisch den Kopf. Kein Selbstmitleid mehr, die Zeit heilt alles! Sie rieb sich die Augen, fühlte sich überreizt, müde und hungrig. Entschlossen ging sie die Treppe hinunter in die Küche, um sich ein paar Brote zu machen und aufzuräumen. Danach wollte sie heiß duschen und lange, lange schlafen. Sechzehn Stunden später stand Alexandra wieder am Zeichenbrett. Ein Haufen unbrauchbarer Skizzen lag neben ihr auf dem Teppich, auf dem Aktenschrank wuchs der Stapel mit fertigen Entwürfen von Badebekleidung und Strandmoden. Nur widerstrebend legte sie die Kohle aus der Hand, um zu schauen, wer so hartnäckig an die Haustür klopfte. Sie hatte das Tor absichtlich mit dem Vorhängeschloß versehen, um nicht gestört zu werden, und war wütend, als sie Jason sah. Er blickte sich gequält um. Sein Kragen war verdreht, die Krawatte hing schief, und der Ärmel seines Jackets hatte einen Riß. „Ich wäre sicher zur Beerdigung gekommen, Alexa, aber wie ich hörte, gab es gar keine. Dadurch standen wir ziemlich schäbig da. Du warst wohl zu durcheinander, um klar zu denken und zu entscheiden, was richtig war.“ Alexandra war in Gedanken noch ganz bei ihrem Entwurf, bei einer bestimmten Linie, mit der sie noch nicht zufrieden war. Wie unsagbar dumm, daß Jason ausgerechnet jetzt auftauchte! „Ich tat, was ich für richtig hielt“, erwiderte sie. „Tut mir leid, wenn es dir nicht gefallen hat. Ich stand noch immer unter dem Schock der Nachricht. Mein Vater war nicht alt. Niemals hatte ich daran gedacht, daß so etwas einmal eintreten könnte.“ „Ich habe das Gefühl, daß du mir immer noch böse bist, Alexa.“ Jason berührte ihren Arm mit einer versöhnlichen Geste. Doch Alexandra wandte sich ab und ging zurück ins Arbeitszimmer. „Ich will jetzt nicht darüber reden; ich habe keine Zeit dafür.“
„Um Himmels willen, wann denn? Was soll das heißen, du hast keine Zeit?“ Er folgte ihr in das improvisierte Studio. „Was ist denn das?“ Er bückte sich und stopfte das herumliegende Papier in den Papierkorb. Dann blätterte er die fertigen Entwürfe durch. „Oh, Alexa! Du bist ebenso weit von der Realität entfernt wie dein Vater. Du verschließt dich einfach der Wirklichkeit und flüchtest dich in diese Phantasiewelt. Bei Thomas waren es die Pferde, und bei dir sind es diese Puppenkleider. Und wie du hier lebst…“ Er machte eine weit ausholende Armbewegung. „Das ist ein Alptraum! Weißt du eigentlich, daß ich über das Tor klettern mußte, um hereinzukommen? Und dein Telefon…“ Er hob den Hörer auf und knallte ihn auf die Gabel. „Rom brennt, und du malst hübsche Bilder.“ „Diese hübschen Bilder, wie du sie zu nennen beliebst, werden das Feuer löschen, Jason.“ Sie bemühte sich, gelassen zu bleiben. Ihre Kreativität verschwand, wenn sie sich ärgerte. Das hatte sie schon früher erfahren. „Ich verschließe mich nicht der Wirklichkeit, im Gegenteil. Ich beabsichtige, Laurelwood zum Zentrum einer ganz neuen Welt zu machen.“ Er lachte. „Also gut, wie du willst. Es geht um deine Karriere. Du bist deprimiert und stürzt dich in die Arbeit, um für eine Weile zu vergessen. Das ist ja alles schön und gut, aber das, was ich hier habe, bedeutet, daß du in drei Wochen an die Luft gesetzt wirst, wenn du nichts dagegen unternimmst.“ Er zog ein Bündel Bankauszüge und Dokumente aus der Tasche und hielt sie ihr vor die Nase. Alexandra schlug mit der Faust auf den Tisch. „Die hat dir wohl Birkhoven gegeben. Er hat kein Recht, mit dir über meine Finanzen zu reden.“ Sie blickte auf das Zeichenbrett. Sie spürte, daß sie kurz davor war, die Lösung für das Modell zu finden. Jason mußte verschwinden, bevor sich das Bild wieder auflöste, das in ihrer Vorstellung allmählich Gestalt annahm. „Er hat jedes Recht dazu. Du weißt genau, daß ich es nicht zulassen würde, daß auch nur der Hauch eines Skandals…“ „Jason, bitte nicht jetzt! Ich will jetzt nicht darüber reden.“ Sie hielt sich die Ohren zu. „Ich will nicht, daß der Name meiner künftigen Frau mit irgendeinem Makel behaftet ist“, sagte er und zog ihr die Hände weg. „Du wirst mir jetzt zuhören.“ „Wenn es darum geht, brauchst du dir keine Gedanken zu machen“, rief sie, „denn ich heirate dich nicht.“ Jason stutzte, doch dann lächelte er beschwichtigend. „Also schön, Alexa. Es tut mir leid, daß ich deine Arbeit schlechtgemacht habe. Aber das ist kein Grund, gleich mit Kanonen zu schießen. Vergessen wir deinen Koller. Ich kenne das irische Temperament, und ich bin auch darauf eingestellt, mit deiner künstlerischen Ader zu leben. Trotzdem, wir müssen jetzt über diese Bankgeschichte reden.“ „Ich liebe dich nicht, Jason.“ Er schien in sich zusammenzusinken. Sein Gesicht war aschfahl. Sie war nicht mehr böse auf ihn und kam sich ganz erbärmlich vor. Diese unvermeidliche Szene hatte sie solange verschieben wollen, bis sie in der Lage war, ihre Gefühle besser unter Kontrolle zu haben. Sie haßte die Brutalität, mit der sie ihm die Wahrheit gesagt hatte, haßte, ihn verletzt zu haben. Jason schob die Hände in die Hosentaschen und blickte starr über den Schreibtisch hinweg durch das Fenster. „Es ist wegen Farraday, nicht wahr?“ fragte er leise. „Nein, es ist wegen mir, Jason.“ „Ich weiß, deine Gefühle waren nie so stark wie meine, Alexa. Ich habe es immer gewußt. Du hast ihn nie wirklich vergessen können.“
Sie berührte sanft seine Schulter. „Das glaubte ich auch lange Zeit, Jason. Aber jetzt bin ich frei von allen Bindungen. Allmählich taucht mein wirkliches Ich auf. Die Entscheidung traf ich für mich allein, ohne Rücksicht auf dich oder meinen Vater, Mark oder gar Mr. Birkhoven. Was ich hier tue, ist meine Arbeit. Und dies ist mein Zuhause.“ „Du wirst es unter diesen Umständen verlieren“, sagte er gleichmütig. „Ich werde es retten, wenn ich kann“, erwiderte sie leise. Jason wandte sich vom Fenster ab und baute sich mit spöttischem Lächeln vor ihr auf. „Fünfunddreißigtausend Dollar – diese Summe willst du in zwei Wochen mit diesen Zeichnungen verdienen? Du bist eine Närrin!“ Alexandra ging zur Tür und öffnete sie mit einer unmißverständlichen Geste. „Ich habe es nicht nötig, mir das anzuhören. Geh! Bitte!“ „Heirate mich!“ Er kam auf sie zu und verstellte den Eingang. „Das ist die einzige Möglichkeit, aus deiner Misere herauszukommen. Warum siehst du das nicht ein? Dein Vater ist für diesen Besitz gestorben, und du willst ihn wegwerfen, nur weil du dir in den Kopf gesetzt hast, deinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Weißt du denn nicht, daß Laurelwood ihm mehr als alles andere bedeutete. Ist dir das nicht wert, dich der Wahrheit zu stellen, um den Besitz zu retten?“ Er zog sie in die Arme und küßte sie. „Wenn du mich nächste Woche heiratest, werden diese Schulden in weniger als vierundzwanzig Stunden getilgt sein, das schwöre ich dir, Alexa. Ich werde dir alle Mittel zur Verfügung stellen, damit du das Haus so instand setzen kannst, wie es dein Vater gewollt hätte.“ Mit wilder Entschlossenheit befreite sich Alexandra und sagte mit sanfter Stimme: „Es tut mir leid, Jason. Das kann und will ich nicht tun.“ In Jasons Gesichtsausdruck und Haltung spiegelte sich unheilvolle, stille Wut. „Wenn du dich weigerst, werde ich persönlich dafür sorgen, daß jeder Magnolienbaum, jeder Grashalm und jede Blume auf diesem Besitz von Planierraupen niedergewalzt und der Grund in unzählige Parzellen aufgeteilt wird. Ich werde es persönlich überwachen, denn die Randolphs besitzen zu fünfundsechzig Prozent die ,Sunrise-Landerschließungsgesellschaft'.“ Alexandra fröstelte. Sie lehnte am Türrahmen und blickte Jason an, dessen Zorn sich in Bedauern und Scham verwandelte. „Entschuldige bitte, Alexa. Nur – ich will, ich muß dich haben. Zwing mich nicht noch einmal, so etwas zu sagen.“ „Würdest du Laurelwood tatsächlich dem Erdboden gleichmachen, nur um deinen Willen durchzusetzen?“ Er blickte sie herausfordernd und ziemlich unerschrocken an. „Warum nicht?“ antwortete sie für ihn. „Um Glückstreffer zu erhalten, bist du ja auch so weit gegangen. Ich nehme doch an, du besitzt inzwischen den Hengst?“ Er nickte. „Dann mußt du etwas ungemein Belastendes ausgegraben haben. Mein Glückwunsch!“ Wortlos steckte Jason die Bankpapiere zurück in die Tasche und seufzte. Doch die Erwähnung von Glückstreffer schien ihm wieder Auftrieb zu geben. „Du bist müde und überarbeitet, Liebling. Schlafe eine Nacht darüber, und du wirst alles mit anderen Augen sehen. Ich bin morgen den ganzen Tag zu Hause. Wenn du wieder einen klaren Kopf hast, kannst du mich ja besuchen.“ Kaum war Jason gegangen, flogen Alexandras Gedanken zurück zu ihrer Arbeit. Seine Drohungen nahmen ihr nicht den Mut – im Gegenteil, sie entzündeten ihren Eifer nur noch mehr. Nach drei Versuchen hatte sie endlich die Linie für den Badeanzug gefunden. Während sie die endgültige Skizze anfertigte, fiel ihr plötzlich ein, daß der Telefonhörer stundenlang neben der Gabel gelegen hatte.
Vielleicht versuchte Carla sie zu erreichen? Sie mußte das Expreßgut inzwischen erhalten haben. In Kalifornien war es jetzt fast vier Uhr nachmittags. „Hast du sie bekommen?“ fragte sie ungestüm, als Carla sich meldete. Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dauerte eine Ewigkeit. Alexandra fühlte, wie ihre Zuversicht zusehends schwand. „Carla? Bist du noch dran?“ „Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, Alexa, sie sind sehr einfallsreich.“ Alexandras Herz klopfte laut. Sie spürte, wie Freude in ihr aufstieg. Nervös umklammerte sie den Hörer. „Carla, ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber ich brauche das Geld möglichst schnell.“ „Ich kann dir zehntausend Dollar Vorschuß geben, wenn ich mit zehn Prozent am Verkaufserlös der Produktion beteiligt werde.“ „Wann kann ich das Geld bekommen?“ „Sagen wir – sobald die Bank morgen früh geöffnet wird.“
8. KAPITEL Die Hoffnung gab Alexandra neue Kraft und belebte ihre Kreativität. Bis zum Abend konnte sie ein Dutzend weiterer Entwürfe vollenden. Diesmal fand sie sofort ruhigen erholsamen Schlaf. Frisch gestärkt stürzte sie sich am nächsten Tag wieder in die Arbeit. Carla hatte ihr inzwischen das Geld telegraphisch angewiesen. Zehntausend Dollar würden sie zwar noch nicht retten, aber es war immerhin ein Anfang. Und es zeigte ihr, daß sie sich tatsächlich wieder hocharbeiten konnte. Außerdem stand noch Fabios Antwort aus. Die Nacht war kurz gewesen, als sie Fabio um fünf Uhr morgens anrief. In Rom war es bereits später Vormittag. Fabio würde bei seiner zweiten Tasse Expresso sitzen und die Morgenpost studieren. Mit ihm würde sie härter verhandeln müssen. Die Entwürfe gefielen ihm. Fabios Stimme klang noch etwas unentschlossen. „Du weißt doch, daß ich nicht allein entscheiden kann, wenn es darum geht, einen neuen Modetrend zu lancieren.“ Natürlich kannst du, dachte sie. „Ich muß sie erst Guido zeigen. Und was das Honorar anbelangt, du weißt doch, so etwas läuft bei uns über die Buchhaltung.“ Er hatte angebissen! „Nun ja, wo die Saison bald anfängt und du eine feste Antwort brauchst, biete ich dir einen Vorvertrag an – weil du es bist.“ Die Unterredung hatte dreißig Minuten gedauert. In Alexandras Kopf drehte es sich. Sie bekam zwar nur fünftausend Dollar als Anzahlung bis entschieden ist, ob Conti die gesamte Kollektion übernimmt, dann aber würde sie noch eine Nachzahlung erhalten. Ihr Anteil am Verkaufserlös allerdings würde dann niedriger angesetzt werden. Fabio hatte versprochen, das Geld sofort telegraphisch anzuweisen. Vielleicht konnte sie unter Hinweis auf ihr künftiges Einkommen ein Darlehen aufnehmen oder den Bankier überreden, die Frist noch etwas zu verlängern. Mr. Birkhoven jedoch blieb hart. „Die Bedingungen für die Zwangsvollstreckung werden durch Ihre Einzahlungen nicht geändert, Miss O'Neill. Die Schulden müssen in voller Höhe abgedeckt werden.“ Die Hoffnung, die Alexandra zwei Tage lang aufrecht gehalten hatte, schwand. Zurück blieben ein seltsames Gefühl der Leere und Kopfschmerzen. Wenigstens konnte sie jetzt einige kleine Verbindlichkeiten regeln. Sie schrieb eine Überweisung an Mrs. Farley aus und fuhr dann zum Bestattungsinstitut. Hier erfuhr sie, daß die Kosten für die Bestattung ihres Vaters bereits in voller Höhe beglichen seien. Man konnte ihr allerdings nicht sagen, wer die Zahlung getätigt hatte. Die gleiche Überraschung erlebte sie nacheinander bei der Telefongesellschaft, den Gas- und den Elektrizitätswerken. Alexandra überkam eine dumpfe Ahnung, die sich allmählich zur Überzeugung steigerte. Wütend steuerte sie den Cadillac über die Schnellstraße und bog nach Windermere ein. „Was für eine Frechheit“, schrie sie Jason an. „Wie kommst du dazu, dich in meine Angelegenheiten einzumischen?“ „Wovon redest du eigentlich“, antwortete Jason kühl. „Ich will dein Geld nicht. Ich will dir nicht verpflichtet sein. Alle meine Rechnungen hast du bezahlt, stimmt's? Sag mir sofort, wieviel das war!“ „So dumm bin ich nun auch wieder nicht.“ Jason war sichtlich verärgert. „Wenn
du unbedingt ertrinken willst – bitteschön. Ich werde dich nicht daran hindern. Ich versichere dir, daß ich nicht einen Pfennig für dich bezahlt habe.“ Alexandra fiel der Verlobungsring ein, den sie noch immer in ihrer Handtasche mit herumtrug. Sie holte eine kleine Schachtel hervor, nahm den Ring heraus und legte ihn auf eine Kommode. „Er gehört dir“, sagte sie sanft. „Es tut mir leid, daß ich ihn dir nicht eher zurückgegeben habe.“ Mit kalter Mine nahm Jason den Ring zurück. „Ich bin immer noch ein Randolph und du eine O'Neill. Wir sind Nachbarn. Du brauchst nicht hier in der Halle zu stehen, nur weil wir jetzt nicht mehr verlobt sind.“ Er geleitete sie in die Bibliothek und bot ihr einen Sherry an. Er behandelte sie so formvollendet, daß sie sich fast wie ein Trampel vorkam. „Jason“, sagte sie und blickte nachdenklich in die goldbraune Flüssigkeit, „ich glaube dir, daß du es nicht warst. Aber irgend jemand bezahlte doch meine Rechnungen. Hast du eine Ahnung, wer es sein könnte?“ Jason leerte sein Glas mit einem Zug. Ohnmächtige Wut verzerrte sein Gesicht. „Na, wer war das wohl? Er ist zurückgekommen, zum Teufel noch mal.“ Mark! Nur Mark konnte einen solchen Gefühlssturm in Jason entfesseln. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, legte er den Ring mit einer zornigen Geste auf ein Tischchen, ging zu seinem Mahagonischreibtisch, wo das Telefon stand und wählte eine Nummer. „Randolph am Apparat. Ist mein Pferd schon da? Ja, ja, ich habe die Bedingungen nicht vergessen. Morgen also. Ich werde da sein.“ Er warf den Hörer auf die Gabel. Dann drehte er sich um und ließ seinen Blick geistesabwesend über die Bücherregale schweifen. Schließlich blickte er Alexandra wieder an. Er wirkte jetzt ruhiger. „Entschuldige mich einen Augenblick, Alexa. Ich möchte dir etwas zeigen.“ Er kehrte mit einer kleinen antiken Schatulle zurück und setzte sich neben sie aufs Sofa, das Kästchen auf den Knien. Er öffnete den Deckel und enthüllte ein kostbares Diamantkollier auf schwarzem Samt. „Dieser Schmuck ist ein Vermögen wert, Alexandra. Er ist schon über hundert Jahre im Besitz unserer Familie. Damit könntest du Laurelwood nicht nur vor der Zwangsversteigerung retten, sondern auch wieder in seinem alten Glanz erstehen lassen.“ Er nahm den Verlobungsring vom Tisch und legte ihn neben das Kollier. „Sie gehören zusammen, Alexa. Wenn du diesen Ring trägst, gehört auch die Kette dir. Du kannst damit machen, was du willst – Laurelwood oder ein Modegeschäft – ich werde dir nicht hineinreden.“ Er nahm das Kollier und ließ es in ihren Schoß fallen. Es lastete schwer auf ihren Beinen; einen Augenblick lang erinnerte sie der Druck an die Beineisen der Sklaven. „Mag sein, daß ich mich dir gegenüber unvernünftig verhalten habe, Alexa. Es war ein schweres Jahr für dich, ich weiß. Ich will gar nicht darauf bestehen, daß du mich schon nächste Woche heiratest oder im Dezember, wie wir geplant hatten. Wir haben Zeit. Wir brauchen nicht einmal einen Termin festzulegen. Streif nur diesen Ring wieder über und ich weiß, daß dein Vater in Frieden ruhen kann.“ Der Hieb saß, Alexandra zuckte zusammen. Ihr Schuldbewußtsein würde bis zum Ende ihrer Tage auf ihr lasten, wenn sie Laurelwood nicht retten konnte. Ihre Hand zitterte, als sie das Kollier auf den Samt zurücklegte. „Ich bleibe bei dem, was ich bereits sagte, Jason. Ich liebe dich nicht, ich werde dich nicht heiraten. Es tut mir außerordentlich leid, wenn ich dir falsche Hoffnungen gemacht habe, aber es geschah nicht vorsätzlich.“ Jasons Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten, sein Gesicht gefror zur
Maske. Er rührte sich nicht und sprach auch kein Wort, als sie sich verabschiedete. Sie wußte, wie sehr er sie wollte – mit der gleichen Intensität, mit der er auch Glückstreffer gewollt hatte. Armer Jason, wie haßte er es doch, zu verlieren. Als sie abfuhr, sah sie einen jungen Mann in Jeans über die Koppel gehen. Sein Körper war geschmeidig und von der Arbeit gestählt, sein dunkles Haar zerzaust. Er erinnerte sie an Mark. Eine Welle von Sehnsucht durchflutete sie, fast wie ein körperlicher Schmerz. Das ist der Preis für die Unabhängigkeit, dachte sie. Sie hätte nie geglaubt, daß er so hoch sein würde. Der Gedanke, daß Mark ihre Schulden bezahlte, rührte Alexandra und erfüllte sie zugleich mit Trotz. Er versuchte, ihr Leben unter seine Kontrolle zu bringen – genau wie Jason. Doch sie hatte sich für die Unabhängigkeit entschieden. Sie würde nicht zulassen, daß er sich in ihr Leben einmischte. Die Zielstrebigkeit jedoch, mit der sie bei Jason vorgegangen war, würde sie bei Mark nicht aufbringen können. Offensichtlich hielt sich Mark irgendwo in der Umgebung auf. Sie mußte ihn suchen, ihm das Geld zurückgeben und ihm klarmachen, daß sie seine Hilfe nicht annehmen wollte. Es dürfte nicht schwer sein, ihn zu finden, dachte sie, als sie in Richtung Stadt fuhr. Es gab nur drei Hotels, die für ihn in Frage kamen. Doch kein Gast mit Namen Farraday hatte sich in der letzten Zeit in diesen Hotels angemeldet. Alexandra ging zum Wagen zurück und trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad. Wo konnte er nur untergekommen sein? Plötzlich hatte sie eine Idee. Das Bild seines alten Zuhause tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Er hing sehr an dem Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Beweis dafür war die Hütte bei Vista del Lago. Alexandra wendete den Wagen und brauste über die Schnellstraße zum verlassenen Grundstück der Farradays. Inmitten wild wuchernden Unkrauts stand die Hütte. Doch sie war leer, kein Zeichen eines Besuchers war zu erkennen. Die Tür fehlte, und durch den morschen Rahmen warf sie einen Blick in das völlig verwahrloste Innere. Das Mondlicht drang durch die zerbrochenen, mit Spinnweben verhangenen Fenster. In einer Ecke lag zertrümmert ein Tisch und daneben ein alter Schaukelstuhl. Sie verspürte das Bedürfnis, ihn aufzustellen. Dabei bemerkte sie, daß er handgearbeitet und kaum beschädigt war, in der Rückenlehne fehlten nur zwei Querhölzer. Mit dem Finger fuhr sie über die verstaubte Armlehne, und ein Stück des polierten Holzes wurde sichtbar. Mark hatte einmal erwähnt, daß er einen Schaukelstuhl für seine Mutter baute. Sie mußte dieses Stück mit nach Laurelwood nehmen und es wieder instandsetzen! Es war zwar eine närrische Idee, aber schon trug sie den Stuhl vorsichtig aus dem Haus und verstaute ihn im Kofferraum ihres Wagens. Er war ein wohlbehütetes Stück gewesen – jetzt wollte sie ihn hüten. Zu Hause wischte sie ihre „Beute“ mit einem alten Lappen ab und schaffte sie nach oben in ihr Schlafzimmer. Das Holz hatte ein paar Kratzer und Kerben abbekommen. Alexandra nahm sich vor, sie am nächsten Tag mit Sandpapier auszuschmirgeln. Liebevoll strich sie über das glänzende, glatte Holz. Sie duschte und zog frische Kleider an. Danach ging sie in die Küche und bereitete sich ein Omelett. Während sie aß, überdachte sie noch einmal ihre Situation. Laurelwood war noch immer bedroht und mit Mark mußte sie noch reden. Sie hatte inzwischen schon eine schöne Summe verdient, aber ihr blieben nur noch wenige Tage, um sich etwas einfallen zu lassen, wie sie Laurelwood retten konnte. Wenn sie doch nur länger Zeit hätte!
Auf einmal fühlte sie sich klein und hilflos. Sie war den Tränen nahe. Eigentlich hatte sie vorgehabt, noch ein paar Modelle zu entwerfen, aber dazu fehlten ihr jetzt die Ideen. Der Schaukelstuhl in ihrem Schlafzimmer sah einladend aus. Sie setzte sich und schaukelte ein wenig. Es war so beruhigend und tröstlich, als gäbe er etwas von der Zuneigung, mit der er gefertigt wurde, an sie weiter. Plötzlich überfiel sie die Lust, den Stuhl noch jetzt zu reparieren. Ausgerüstet mit einer Taschenlampe, durchsuchte sie den Werkzeugschuppen nach Schleifpapier, Hammer und Nägeln. Mit einem Karton voll Werkzeug unter dem Arm eilte sie wieder die Treppe hinauf. Sie hatte sogar feines Sandpapier und ein Holzpflegemittel gefunden. Gerade hatte sie den oberen Treppenabsatz erreicht, da klingelte es an der Haustür. Ärgerlich lief sie die Treppe wieder hinunter. Wieder ein Grundstücksmakler? Doch nicht so spät am Abend. „Hoffentlich ist es nicht Jason“, sagte sie leise vor sich hin. Doch es war Jason. Mit tropfendem Schirm stand er in der Vorhalle. Er roch nach feuchtem Harris-Tweed, und sein Anblick verdroß sie unsagbar. „Entschuldige, daß ich dich noch so spät am Abend störe, Alexa, aber es ist außerordentlich wichtig“, sagte er und schloß die Eingangstür hinter sich. „Rein geschäftlich.“ Alexandra dachte sofort an seine Beteiligung an der Landerschließungsgesellschaft. „Ich will jetzt kein Wort über dieses Bauvorhaben hören…“ „Nein, nein.“ Er ergriff ihren Arm, und erst jetzt sah sie, wie blaß er war. „Die Drohung habe ich nicht ernst gemeint, Alexa. Ich war nur so verzweifelt.“ „Bist du ganz in Ordnung, Jason?“ Widerstrebend führte sie ihn ins Arbeitszimmer. Dort ließ er sich sofort in einen Sessel sinken. „Eigentlich müßte Brandy im Haus sein“, sagte sie und öffnete die Bar ihres Vaters. „Ja, hier ist er. Möchtest du ein Glas?“ Er nickte. Dann saß er schweigend da, hielt den Stiel seines bauchigen Glases umfaßt und schwenkte die goldgelbe Flüssigkeit, ohne zu trinken. Alexandra stand gegen den Schreibtisch gelehnt und wartete. Fast körperlich spürte sie die seltsame Mischung aus Erregung und Widerstreben, die Jason ausstrahlte. „Du willst mich geschäftlich sprechen?“ Sie versuchte, ihre Ungeduld hinter einer ruhigen Stimme zu verbergen. „Was bedeutet dir Mark Farraday?“ fragte er schließlich mit abgewandtem Gesicht. Seine Hände zitterten vor Nervosität. Sie sah, wie sich der Brandy in seinem Glas unaufhörlich bewegte. Warum wollte Jason das wissen? Ihre Verlobung war gelöst, nichts verband sie mehr. Aus Mitleid verschluckte sie die Antwort, die sie ihm eigentlich geben wollte. Schließlich hatte er ihr großzügig den Familienschmuck angeboten, um ihr zu helfen. Sie hätte niemals zustimmen dürfen, ihn zu heiraten. Durch ihre Weltfremdheit und Unreife hatte sie ihn unnötig verletzt. Eine Zeitlang waren sie immerhin Partner gewesen, und sie schuldete ihm jetzt Aufrichtigkeit und Großmut. „Mark bedeutet mir sehr viel. Aber zu deinem Trost möchte ich dir sagen, daß er mich zwar bat, seine Frau zu werden, ich aber seinen Antrag abgelehnt habe.“ „Und wie würdest du jetzt antworten, da unsere Verlobung gelöst ist?“ drängte er. „Immer noch mit nein!“
Jason erhob sich und kam auf sie zu. „Alexa, ich verstehe zwar nicht, was dich so verändert hat; aber eines weiß ich, es war dumm, dich mit nach Kalifornien zu nehmen. Bis dahin war alles in Ordnung zwischen uns. Können wir nicht einfach vergessen, was vorgefallen ist?“ Alexandra schüttelte den Kopf. „Ohne die Ereignisse der letzten Tage hätten wir geheiratet, und unsere Ehe wäre für uns beide die Hölle geworden.“ „Für mich nicht, Alexa“, sagte er und ergriff heftig ihren Arm. „Für mich nicht.“ „Jason, wolltest du nicht über etwas Geschäftliches…“ Wieder ertönte die Türglocke. „Es hat geklingelt, Jason“, sagte sie, und er ließ die Hände sinken. Sein Gesicht war leichenblaß. „Warum setzt du dich nicht und trinkst deinen Brandy?“ Sie wollte gerade das Zimmer verlassen, da läutete es noch einmal ungeduldig. Wer auch immer es war – Alexandra war dankbar für diese Störung. Sie eilte zur Eingangshalle. „Die Tür stand offen“, sagte Mark. „Ich sehe seinen Wagen vor dem Haus. Wo ist er? Hat er dir alles erzählt?“ Wasser rann ihm aus den Haaren und über sein Gesicht. Sein Mantel war vom Regen völlig durchnäßt. Es schien ihm erst jetzt bewußt zu werden. Er wischte sich über das Gesicht und strich mit dem Handrücken das Haar aus der Stirn. „Hat er dir alles erzählt?“ wiederholte er seine Frage. Sie blickte ihn überrascht an. Wie konnte man nur gleichzeitig glücklich und betrübt sein, fragte sie sich. „Was – alles?“ Seine Hände ballten sich. „Alexa, bring mich zu ihm.“ Sie spürte etwas Kaltes an ihrem Arm. Es war sein nasser Ärmel. Er war näher gekommen und hatte ihren Ellbogen umfaßt. Seine Hand aber war warm. „Alexa, wo ist er?“ Alexandra deutete mit dem Kopf in Richtung Arbeitszimmer und geleitete ihn den Flur entlang. Als er den beleuchteten Raum erblickte, eilte er ihr voran. „Randolph hat noch eine Schuld zu begleichen“, sagte er und betrat das Arbeitszimmer. Alexandra kam sich vor wie in einem zusammenhanglosen Traum. Sie hatte nur die Stehlampe neben Jasons Sessel eingeschaltet. Doch der Sessel war jetzt leer. Die beiden Männer standen sich wortlos im Halbdunkel des Raumes gegenüber. Aus irgendeinem Grund schienen diese beiden nicht die Männer zu sein, die sie schon so lange kannte. „Sie muß es erfahren, Randolph. Alles! Und zwar jetzt sofort.“ Marks Stimme bebte vor Zorn. Alexandra mußte sich setzen. Sie sank in den Sessel und beobachtete die beängstigende Szene wie aus weiter Ferne. Die beiden Gegner standen sich gegenüber wie in einem Kampf auf Leben und Tod: Mark hoch aufgerichtet wie ein rächender Erzengel, Jason umgeben von einem Panzer aus glühendem Haß. War sie wach, oder plagte sie ein Alptraum? Allmählich beruhigte sich ihre überreizte Phantasie. Sie kauerte sich in ihren Sessel und verfolgte gespannt die Szenerie. Jason begann zu sprechen. „Du glaubst immer, ich hätte nichts von eurem Verhältnis gewußt. Aber da täuschst du dich; ich wußte sogar, daß ihr miteinander geschlafen habt.“ Aus seiner Stimmer klang fatalistische Ruhe; sie erinnerte an einen Angeklagten im Verhör, der aufgegeben hatte. Sein leerer Blick lag auf dem Foto eines preisgekrönten Pferdes, das an der Wand hing, und seine Lippen bewegten sich mechanisch. „Dieses Wissen machte mich verrückt und reizte mich zugleich. Ich begehrte dich auf meine Art. Die Vorstellung, daß er bei dir war und deinen Körper mit seinen
schmutzigen Händen berührte, trieb mich immer tiefer in Wut und Raserei. Doch am schlimmsten war dieses unerträgliche Gefühl der Ohnmacht, Alexa. Ich konnte nichts tun, um dich daran zu hindern, immer wieder zu ihm zu gehen.“ Ein Lächeln zog über sein Gesicht. „Bis sein Vater krank wurde.“ Erst jetzt schien er sich der Anwesenheit Alexandras wirklich bewußt zu werden. Er schwieg kurz und sah sie an. Doch an seinem Blick erkannte sie, daß er immer noch weit weg war. Drei Schritte entfernt von ihm stand Mark, hochaufgerichtet und bewegungslos. Jetzt lehnte er sich ein wenig vor, als wollte er Jason zum Weiterreden zwingen. „Der alte Farraday war in einem sehr kritischen Stadium, und Mrs. Farraday wußte nicht mehr, wie sie ihm noch helfen konnte. Es war ein schwerer Schlaganfall gewesen, und der Doktor gab ihm keine großen Chancen zu überleben. Die Krankenhausrechnungen konnten sie auch nicht mehr bezahlen.“ Gedankenverloren strich sich Jason über das Kinn. Dann neigte er seinen Kopf ein wenig in Marks Richtung. „Als er schließlich kam, um Geld von mir zu leihen, trafen wir eine Abmachung: Ich versprach, alle Krankenkosten zu übernehmen und einen Spezialisten aus Houston kommen zu lassen. Dafür mußte er dich verlassen, aus der Stadt verschwinden und versprechen, nie mehr zurückzukommen. So war das, Alexa. Ich habe es für dich getan. Aber eine solche Vereinbarung kann man nur zwischen wirklichen Gentlemen treffen“, fügte er bitter hinzu und zeigte damit zum erstenmal wieder, daß er Gefühle besaß. Alexandra sah Mark an. Leidenschaftliche Gefühle schienen ihn zu erfüllen, doch er bemühte sich, sie nicht zu zeigen. Sie dachte an die langen einsamen Jahre, die sie in Haß, Liebe und Kummer verbracht hatten. Jasons Irreführung war lange erfolgreich gewesen. Kaum fähig zu sprechen, fragte sie nur: „Warum erzählst du mir das gerade jetzt?“ Jasons Gesicht verzog sich zu einer trotzigen, fast triumphierenden Grimasse. „Wir trafen eine neue Abmachung: Glückstreffer – gegen die Wahrheit.“ Alexandra wandte sich Mark zu. „Warum hast du nie etwas davon gesagt? Warum hast du mich in dem Glauben gelassen…?“ Er sah sie undurchdringlich an, nur sein Kinn und seine Fäuste bewegten sich leicht. Aber Alexandra verstand. Nur ein Mann wie Mark unterwarf sich so unbarmherzig dem Diktat der Ehre. Diese ungeheuerliche, egoistische, ja überholte Ehrauffassung! Jason hatte von einem Gentlemen's Agreement, einem Kavaliersabkommen gesprochen und mit untrüglicher Sicherheit Marks schwache Stelle erkannt. Mark handelte nach der kompromißlosen Moral der japanischen Samurai: Wenn es um seine Ehre ging, würde er sich sogar selbst umbringen. Alexandra fühlte ein hysterisches Lachen in sich aufsteigen. Jason hatte sich wieder beruhigt. Da war wieder die gewohnte Andeutung von Arroganz in der Art, wie er seine Schultern straffte. „Ich bedaure nicht, was geschehen ist. Ich bedaure nur, daß du es schließlich doch erfahren hast. Ich würde es wieder tun, aber dann ginge ich auf Nummer Sicher.“ Er steuerte auf die Tür zu, drehte sich aber noch einmal zu Mark um. „Es hat sich viel geändert in den vergangenen fünf Jahren, Farraday, aber etwas blieb: Sie waren ein Bastard und werden immer einer sein, ganz gleich wie reich Sie auch immer sind.“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ Jason den Raum. Mark machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts, als er hörte, wie die Haustür zuschlug. „Alles in Ordnung, Alexandra?“ fragte er, sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu berühren. „Ja.“
„Übrigens, ich hatte dir geschrieben. Allerdings nehme ich nicht an, daß man dir den Brief gab.“ Fast gleichgültig fuhr er fort: „Er hätte wahrscheinlich auch nicht viel geändert; nur, du hättest gewußt, wo ich zu erreichen war.“ Er ging an ihr vorbei zur Tür. Sie durfte ihn jetzt nicht einfach gehen lassen! „Mark?“ „Ja?“ Er stand schon im Halbdunkel des Flures. „Ich… ich möchte dir danken. Zu wissen, warum du damals weggingst, ändert vieles. Ich dachte immer… Jason hätte mir sicher niemals davon erzählt, wenn du nicht zufällig vorbeigekommen wärst…“ „Ich bin nicht zufällig vorbeigekommen, falls du das sagen wolltest“, unterbrach er sie barsch. „Jason und ich hatten heute abend unsere eigene Unterredung. Er war nur hier, weil er dir die Wahrheit sagen mußte. Sie ist Teil des Preises, den er für Glückstreffer zahlen muß. Mir kam plötzlich der Gedanke, er könnte sich drücken.“ Er lächelte grimmig. „So allmählich lerne ich, wie man mit euch Kentucky-Aristokraten umzugehen hat.“ Alexandra begann zu ahnen, was für ein Mensch Mark Farraday wirklich war. Sein unbarmherziges Verhalten sich selbst und ihr gegenüber, sein fanatischer Ehrenkodex wurzelten in einem tiefgreifenden Minderwertigkeitsgefühl. „Mark.“ Sie erhob sich und ging auf ihn zu. „Ich habe nie mit Jason geschlafen; nie mit einem anderen Mann geschlafen als mit dir“, stieß sie hervor und blieb kurz vor ihm stehen. „Falls ich jemals den Eindruck erweckt habe, daß es anders war…“ Dann war es mein Stolz, meine Verletzlichkeit. Ich wollte dir weh tun. Das war die einzige Möglichkeit, mich gegen dich zu wehren, dachte sie. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, doch es blieb undurchdringlich. „Mach dir keine Gedanken“, sagte er leichthin. „Du bist dabei, deinen Lebensstil von Grund auf zu ändern. Diese Einstellung wird sich dann sicher auch ändern. Die emanzipierte Frau hat ein Recht auf ein freies Sexualleben.“ „Hör auf damit. Was ist daran falsch, wenn ich mein Leben selbst in die Hände nehme? Du hast mir doch dazu geraten!“ Sie hörte einen leichten Seufzer. „Es gibt eine Unabhängigkeit, die jeder besitzen sollte. Aber darunter verstehe ich nicht gerade das, was du entwickelst.“ Er ging. Erst jetzt wurde Alexandra klar, daß sie ihn indirekt gebeten hatte, mit ihr zu schlafen. Sie hatte sich so danach gesehnt, ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu geben, die bitteren Jahre der Mißverständnisse durch Küsse auszulöschen und ihn tröstend zu umarmen. In der Gewitternacht hatte sie ihm gestanden, wie sehr sie ihn liebte. Und er hatte geschworen, daß er für sie genauso fühle. War er jetzt zu stolz, sich daran zu erinnern? Oder genügte es ihm nicht, daß sie ihn liebte, wollte er sie auch besitzen – total und unwiderruflich? Eine Stunde lang saß sie brütend an ihrem Arbeitstisch und dachte darüber nach, warum Mark sie so leicht und mit solcher Souveränität allein lassen konnte, während sie sich nach ihm verzehrte und zugleich bitter um jeden Schritt kämpfen mußte, der sie sich selbst näherbrachte.
9. KAPITEL Am nächsten Morgen stürzte sich Alexandra in die Arbeit und verdrängte jeden Gedanken an Mark. Jetzt ging es für sie nur noch ums Überleben. Mit Notizblock und Bleistift saß sie im Arbeitszimmer vor einem von Stoß Papieren und versuchte, sich Klarheit über ihre Situation zu verschaffen. Die Aussichten waren trübe. Für die Tiere war gesorgt. Die beiden Stuten hatte der frühere Besitzer aus Virginia zurückgenommen, und der altersschwache Hengst verdiente sich sein Gnadenbrot in der Reitschule. Aber die Liste der Schulden war endlos und wuchs, je länger sie in den Papieren ihres Vaters stöberte. Sie fühlte sich von Gläubigern umringt. Durch den Besuch der Grundstücksmaklerin Lola Carpenter, die das Alleinverkaufsrecht auf Laurelwood erhalten wollte, war sie an die Schulden erinnert worden. Fast eine Stunde lang hatte sie die Maklerin durch das Haus und die Ställe geführt, ihr alles gezeigt und erklärt. Sie war inzwischen bereit, den Besitz einem Käufer – der auf Laurelwood leben wollte – zu überlassen, wenn sie das Gut damit vor der Aufteilung in einzelne Baueinheiten retten konnte. Von Mrs. Carpenter erfuhr sie auch, daß Mark einen stilvollen Landsitz in der Umgebung erwarb und Kaufangebote für angrenzende Ländereien unterbreitete. Doch Alexandra dachte nicht weiter über diese Nachbarschaft nach. Sie war zu sehr damit beschäftigt, die vielen Schwelbrände, die ihre Existenz bedrohten, zu löschen. Mark war nur ein Gläubiger mehr auf der Liste und mußte warten, bis sie etwas Ordnung in ihr Leben gebracht hatte. Laurelwood war ihr Hauptproblem. In einem letzten verzweifelten Versuch, die Lücke zwischen den bisher eingegangenen Zahlungen und der Hypothek von fünfunddreißigtausend Dollar zu schließen, konsultierte sie einen Anwalt. Nach zwei langen Sitzungen gründete sie eine Aktiengesellschaft, die O'NeillUnternehmungsgesellschaft, die unter dem amtlichen Handelsnamen „Alessandra“ eingetragen wurde. Zwei Tage lang führte sie unzählige Ferngespräche mit allen möglichen Leuten aus der Modebranche und versuchte, sie zu überreden, Anteile an ihrer neu gegründeten Firma zu erwerben. Drei Tage später gingen die ersten Antworten ein, kleinere Beträge, aber auch einige größere von zwei- bis fünftausend Dollar. Sechs Tage vor der Stunde Null summierten sich die Investitionsgelder auf neuntausend Dollar. Sie eröffnete ein Geschäftskonto in einer kleinen unabhängigen Bank in Lexington. Sie war zwar kein Renner auf dem Aktienmarkt, aber wenn alle mündlichen Zusagen eingehalten wurden, konnte sie den Rest der Hypothek abdecken. Voraussetzung dafür war allerdings auch, daß ihre diversen Gläubiger bereit waren, mit ihren Forderungen zu warten. Die meisten waren sehr entgegenkommend. Einige konnte sie auf spätere Zahlungstermine vertrösten, mit anderen vereinbarte sie Ratenzahlungen. In ihren Verhandlungen erfuhr Alexandra oft, wie beliebt ihr Vater trotz seiner sorglosen Art, mit Geld umzugehen, gewesen war. Allmählich wich der Druck von ihr. Das Gefühl, ein wandelnder Rechencomputer zu sein, ließ nach. Das wurde ihr bewußt, als ihre Gedanken wieder zu Mark wanderten, so sehr sie sich auch dagegen wehrte. Wenn sich ein reicher Fremder in einer Kleinstadt niederläßt, freut das die ortsansässige Wirtschaft. Ein paar der Alteingesessenen erinnerten sich noch an ihn und wunderten sich, daß er so viel Geld ausgeben konnte. Er hatte eine exklusive Innenarchitektin engagiert und war mit ihr in „La Cuisine“, dem besten Restaurant der Stadt, gesehen worden.
Alexandra saß vor dem Zeichenbrett und blickte unzufrieden auf die groben Kohlestriche, die ein Sommerkleid andeuteten. Der Entwurf gefiel ihr nicht so richtig. Da klingelte das Telefon. Am Apparat war ihr neuer Anwalt, Mel Zeigler. „Die Geschäftsunterlagen sind eingetroffen und müssen unterschrieben werden“, sagte er. Seine Stimme klang erleichtert. „Die Firma ist jetzt rechtsgültig. Sie waren ein bißchen voreilig, Gelder anzunehmen, bevor die Firmengründung offiziell anerkannt war. Aber es ist ja alles gutgegangen. Können Sie schnell vorbeikommen und die Papiere unterzeichnen?“ „Mel, ich habe zu tun“, antwortete sie zerstreut. „Wie war's mit Montag?“ „Sie müssen verstehen, als Ihr Rechtsanwalt fühle ich mich erst wohl, wenn Ihre Unterschrift auf den Papieren steht.“ Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: „Wie ich Sie kenne, haben Sie noch nicht zu Abend gegessen. Wie wäre es mit einem Dinner in ,La Cuisine'? Ich würde die Papiere mitbringen.“ Ob Mark wohl oft dorthin zum Essen ging? Sie stellte sich vor, Mark sähe sie in Begleitung des gutaussehenden Mel heute abend im Restaurant. „Vielen Dank, Mel“, sagte sie nach kurzem Zögern. „Wie war's in ein bis zwei Stunden? Ich muß noch ein paar Entwürfe fertig zeichnen.“ Als sie den Hörer wieder auf die Gabel legte, schämte sie sich in ihrer Hintergedanken. Wollte sie Mark etwa eifersüchtig machen? Eine halbe Stunde später gab sie das Zeichnen auf. Sie holte ihren Taschenrechner hervor und einen großen Briefumschlag, auf den sie „Schulden bei Mark“ geschrieben hatte. Die Gesamtsumme belief sich auf eintausendachthundertsiebenundvierzig Dollar und sechsundneunzig Cent. Lola Carpenter, die Maklerin, kannte die Adresse des Brierson-Hauses, das Mark gekauft hatte. Alexandra rief bei ihr an und ließ sie sich durchgeben, denn sie wollte Mark einen Scheck über besagte Summe schicken. Der Gedanke, Mark an diesem Abend zu sehen und noch in seiner Schuld zu stehen, war ihr unerträglich. Auf dem Weg zum Restaurant, wo sie sich mit Mel treffen wollte, warf sie den Brief in den Kasten. Mark würde ihn zwar erst ein paar Tage später erhalten, aber es befriedigte sie zu wissen, daß sie ihm jetzt nicht mehr verpflichtet war. Mark war tatsächlich da! Mit innerer Genugtuung nahm sie Mels Arm und rauschte an Marks Tisch vorbei. Sie nickte ihm kurz zu und warf schnell einen Blick auf die Frau, die neben ihm saß. Erleichtert atmete sie auf: Die Frau war um die fünfzig und hielt ein Stück Mustertapete in der Hand. Ihre Tasche quoll über von bunten Einrichtungsmagazinen und Katalogen. Sie mußte die von Mark angestellte Innenarchitektin sein. Alexandra war froh, daß sie ihre Kleidung für diesen Abend sorgfältig ausgewählt hatte. Das grüne Wollkostüm paßte sehr gut zu ihrer Augenfarbe und die cremefarbene Rüschenbluse mit hochgeschlossenem Kragen wirkte sehr feminin. Sie trug das Haar hochgesteckt und in weichen Wellen aus dem Gesicht gekämmt, passend zum viktorianischen Stil der Bluse. Doch warum bedeutete ihr das so viel? Was wäre gewesen, wenn er sich nicht zu einem Arbeitsessen, sondern zu einem Rendezvous getroffen hätte? Wo blieb sein Recht, so zu leben, wie er wollte? Während der Mahlzeit redete Mel ununterbrochen über Steuergesetze, Kleingedrucktes in Verträgen und vieles mehr. Sie versuchte zuzuhören, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem Tisch gegenüber. Als sie das Restaurant betreten hatten, wurden an Marks Tisch gerade die Getränke serviert, und fast zur gleichen Zeit wie ihr Kalbssteak kam auch seine Bestellung. Alexandra befürchtete, ein Zusammentreffen beim Verlassen des
Lokals würde sich nicht vermeiden lassen. Als der Kellner auch die Rechnungen fast zur gleichen Zeit präsentierte, wurde aus ihrer Befürchtung Gewißheit. „Ich bedanke mich für Ihr Kommen“, sagte Mel. „Jetzt kann ich beruhigt schlafen gehen.“ Er erhob sich und klopfte leicht auf die Aktenmappe mit den unterzeichneten Dokumenten. Mark und die Innenarchitektin waren auch aufgestanden. Eigentlich wolltest du es ja nicht anders, sagte sie sich, während sie zur Tür gingen. „Wie geht es dir, Mark?“ fragte sie strahlend. „Ausgezeichnet, danke.“ Er lächelte höflich, doch seine Augen blieben kalt. „Wie ich hörte, hast du das Brierson-Haus gekauft?“ „Ja. Fran, darf ich dir Alexandra O'Neill vorstellen, und das ist…“ „Entschuldige – Mel Zeigler“, sagte Alexandra schnell. „Fran Johnson“, sagte Mark. „Sie ist dabei, das Innere des Hauses umzugestalten.“ „Es wird bestimmt sehr schön“, sagte Alexandra, während Mel sie sanft in Richtung Ausgang schob. „War nett, dich zu sehen.“ Mel blickte sie amüsiert an, als er sie zu ihrem Wagen begleitete. „War das ein alter Freund von Ihnen? Sie sind doch tatsächlich rot geworden.“ „Unsinn, Mel. Das haben Sie sich nur eingebildet.“ „Hm“, meinte er nur und beobachtete, wie sie langsam davonfuhr. Wirre Gedanken jagten wie Kobolde durch Alexandras Kopf, als sie versuchte einzuschlafen. Ihr Leben schien vom Kalender beherrscht zu werden: nur noch vier Tage und sie würde Laurelwood verlassen müssen, es sei denn, weitere Schecks trafen ein. Sollte sie schon anfangen zu packen, oder sollte sie besser nach neuen Wegen der Geldbeschaffung suchen? Vielleicht brachte morgen die Post die ersehnte Lösung. Schließlich fehlten ihr nur noch zehntausend Dollar, nein, zwölftausend. Wie dumm von ihr, Mark den Scheck zu schicken und ihr Konto auf diese Weise um fast zweitausend Dollar zu erleichtern! Sie'gab es auf, jetzt noch Schlaf zu finden, und ging die Treppe hinunter in ihr provisorisches Zeichenstudio. Sie mußte mehr Alessandra-Modelle entwerfen, doch ihr fehlten die Ideen. Sie zwang sich zu zeichnen, aber heraus kam nur ein mittelmäßiges Nichts von Kleid. Zornig riß sie das Blatt vom Block und warf es in den Papierkorb. Sie versuchte es noch einmal mit schnellen, gewagten Strichen. „Nein, nein und nochmals nein“, stieß sie hervor, als ihr Marks Gesicht durch die Kohlezeichnung entgegengrinste. „Laß mich in Ruhe!“ „Ich lasse nicht mehr Katz und Maus mit mir spielen!“ Sie starrte auf die Skizze. „Ich stehe jetzt auf eigenen Füßen – so gut ich kann. Natürlich habe ich manchmal das Verlangen, mit einem Mann zu schlafen. Aber das heißt nicht, daß es mit einem ganz bestimmten sein muß. Es gibt so viele Männer auf der Welt, Mark, genug, um mir einen davon auszusuchen. Genau das werde ich tun und mich nicht länger in mein Kämmerlein zurückziehen und dir nachweinen.“ Es war zwei Uhr, als sie schließlich zurück in ihr Schlafzimmer ging. Durch ihren lautstarken Gefühlsausbruch fühlte sie sich von Mark befreit. Kaum aber lag sie in ihrem Bett, erschien sein Gesicht wieder vor ihrem geistigen Auge. Ihr wurde bewußt, daß alle Tricks, alle Gedankenspiele nichts an der Tatsache ändern konnten, daß sie Mark liebte. Am Morgen traf ein zweiter Scheck von Conti ein, so daß sich ihre Schulden um weitere fünftausend Dollar verringerten. Das Gefühl, es könnte doch noch klappen, wurde wieder stärker. Gegen elf Uhr rief Mr. Birkhoven an und bestellte sie zu einem Gespräch in die
Bank. Er tat sehr geheimnisvoll und war nicht zu bewegen, am Telefon zu verraten, worum es ging. In der Bank ließ sie sich zunächst den Scheck gutschreiben. Sie wandte sich eben vom Schalten ab, als sie Mark aus dem Büro des Bankiers kommen sah. Er trug eine Dokumentenmappe und zwei Umschläge in der Hand. Zufrieden lächelnd tauchte Mr. Birkhoven hinter ihm auf. Alexandras Hand umklammerte instinktiv die Handtasche. Doch als Mark sich ihr näherte, rutsche sie ihr aus der Hand und landete, zusammen mit dem Bankbrief, vor seinen Füßen. Mark bückte sich und hob beides auf. „Danke“, brachte sie nur mühsam hervor. Als sie Tasche und Brief entgegennahm, errötete sie wie ein Teenager. „Was macht das Haus?“ fragte sie hastig. „Alles bestens.“ Wie dumm ich doch daherrede, dachte sie. „Und dein neues Unternehmen? Wie ich hörte, hast du dich selbständig gemacht.“ Sein Interesse wirkte oberflächlich. „Danke. Läuft ausgezeichnet.“ Mark murmelte eine Höflichkeit und eilte in Richtung Ausgang. Mr. Birkhoven lächelte noch immer selbstzufrieden. „Vielen Dank, daß Sie sofort gekommen sind, Miss O'Neill. Ein unverhoffter Glücksfall ist tatsächlich eingetreten. Gestern abend erhielten wir ein interessantes Kaufangebot für Ihren Besitz. Jemand mit einer großen Familie möchte ihn insgesamt übernehmen und auch das Haus bewohnen. Der Käufer ist sogar dazu bereit, sofort mit den Kaufverhandlungen zu beginnen und die Hypothek noch vor Freitag zurückzuzahlen.“ Jetzt noch nicht, dachte sie, wo ich noch Hoffnung habe, Laurelwood selbst zu halten. Sie blickte nur kurz auf das Schriftstück, das ihr der Bankier reichte, und sagte spontan: „Ich bin nicht bereit, zu verkaufen.“ Damit gab sie das Dokument zurück. Mr. Birkhovens Reaktion überraschte sie. Aus irgendeinem Grund schien er persönlich sehr daran interessiert, daß sie das Angebot annahm. Er suchte nach allen möglichen überzeugenden Argumenten und fügte schließlich noch hinzu: „Ich bin sicher, das würde genau den Wünschen Ihres Herrn Vater entsprechen.“ „Vater hätte gewollt, daß Laurelwood in der Familie bleibt“, sagte Alexandra ruhig. „Natürlich, aber seien Sie doch realistisch, Miss O'Neill. Die Hälfte der Summe fehlt noch, und es verbleiben nur noch drei Tage.“ Sein gönnerhafter Ton ärgerte Alexandra. „Ich sehe mich in keiner Weise dazu verpflichtet, zum jetzigen Zeitpunkt irgendwelche Angaben über meine Gelder zu machen, Mr. Birkhoven. Und Ihre Bank ist nicht die einzige in diesem Bezirk. Und bin nicht bereit dieses Angebot schon jetzt zu akzeptieren.“ „Wie Sie wünschen. Für den Käufer gibt es auch noch andere interessante Objekte. Ich glaube kaum, daß er auf Sie wartet.“ Alexandra seufzte und nahm das Schriftstück noch einmal zur Hand. „Also gut. Ich werde es mir überlegen. Darf ich es mitnehmen?“ „Aber selbstverständlich, meine Liebe“, antwortete Mr. Birkhoven erfreut und geleitete sie beschwingt aus seinem Büro. Alexandra wunderte sich. Offensichtlich sprang bei dieser Transaktion einiges für ihn heraus. Wenn ich Laurelwood aufgeben muß, so ist ein privater Käufer immer noch das angenehmere von zwei Übeln, dachte Alexandra auf der Heimfahrt. Sie bog in ihr Grundstück ein und erkannte sofort das Auto, das vor ihrem Haus parkte.
Mark lief die Eingangstreppe herunter und öffnete ihr die Wagentür. „Ich war drauf und dran aufzugeben.“ „Ich hatte noch einiges zu erledigen“, erwiderte sie und schloß die Haustür auf. „Komm herein.“ Sie legte Handtasche und Papiere auf ein Tischchen in der Eingangshalle. „Es sieht überall ziemlich unordentlich und vernachlässigt aus“, sagte sie entschuldigend, während er an ihr vorbeiging. „Aber ich hatte keine Zeit, um nach einer Haushälterin zu suchen.“ „In diesem Zimmer bin ich nie gewesen“, sagte Mark, als sie ihn in das geräumige Wohnzimmer führte. „Es gefällt mir.“ Er betrachtete die Familienportraits an der Wand. Auf einmal bedauerte Alexandra, ihn in dieses Zimmer geführt zu haben. Vom Kronleuchter bis zur verstaubten antiken Uhr auf dem marmornen Kaminsims roch es förmlich nach vergangener Pracht. Während Mark von einem Portrait zum anderen ging, sagte er: „Ich hörte, du suchst Kapitalanleger für deine Firma.“ „Du scheinst ja eine Menge über meine Privatangelegenheiten zu wissen“, gab sie spitz zurück. Mark drehte sich zu ihr um, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken. „Die Stadt ist nicht sehr groß. Und da du, um die Geschäftsbilanz zu erhalten, verpflichtet bist, die Gründung deiner Firma im Amtlichen Mitteilungsblatt zu veröffentlichen, kann man kaum von Privatangelegenheiten sprechen.“ Sie kam sich sehr dumm vor. Schließlich war die Bekanntmachung schon dreimal in der Tageszeitung erschienen. „Ja, ich nehme Kapital auf“, gab sie betont gleichmütig zu. „Ich würde meinen Namen gern auf die Liste deiner Kapitalanleger setzen.“ Er klang sehr geschäftsmäßig, aber sie durfte diese Geldquelle nicht in Anspruch nehmen. „Ich fürchte, das ist nicht möglich.“ Ihre Stimme klang kalt und ablehnend. „Warum nicht?“ „Ich habe den Kreis der Kapitalgeber auf Personen beschränkt, die direkt mit der Bekleidungsindustrie zu tun haben.“ Er gab vor, über ihre Antwort nachzudenken. „Das ist aber eine ungewöhnlich strenge Einschränkung.“ * „Es ist meine Entscheidung.“ „Sehr gut.“ Er blickte sie merkwürdig an. Alexandra war nicht sicher, ob verächtlich oder amüsiert. „Sehr gut“, wiederholte er, „aber vollständig unsinnig unter den gegebenen Umständen.“ „Unter welchen Umständen?“ Sie wappnete sich. „Ich weiß nicht, was du damit sagen willst.“ Ungeduldig warf Mark den Kopf in den Nacken. „Ach, hör doch auf, Alexa. Es ist ein offenes Geheimnis, daß für dieses Grundstück eine Zwangsvollstreckung beantragt wurde. Ich weiß, daß du getan hast, was du konntest. Aber es ist zu spät. Warum willst du dir von mir nicht helfen lassen?“ „Du weißt genau warum, Mark. Ich möchte mich nicht manipulieren lassen durch das, was man mir als Gegenleistung für irgendwelche Gunstbezeugungen anbietet.“ Marks Augen blitzten zornig auf. „Das einzige, was dich manipuliert, ist dein lächerlicher falscher Stolz. Du bist von einem Extrem ins andere geraten.“ „Ich tue, was ich für richtig halte“, unterbrach sie ihn. „Dann solltest du besser darüber nachdenken, was richtig ist“, murmelte er, knöpfte seinen Mantel zu und ging zur Tür, „oder dir bleibt zum Schluß nichts übrig als dein Stolz.“
Du hast genau das Richtige getan, sagte Alexandra traurig zu sich selbst, als sie am darauffolgenden Tag durch den Regen von der Bank nach Hause zurückfuhr. Sie hatte ihre Entscheidung noch einen ganzen Tag hinausgezögert. Weitere Schecks aber waren nicht eingetroffen. Warum sollte sie also die Qual der Entscheidung noch verlängern? Sie hatte nur die Wahl zwischen einem privaten Käufer und der Landerschließungsgesellschaft. Wenigstens die Pläne dieser Gesellschaft konnte sie vereiteln. Mr. Birkhoven hatte ihre Entscheidung freudig begrüßt und ihr versichert, daß der Besitz in gute Hände käme. Am nächsten Tag sollte sie noch einmal vorbeikommen, um die Papiere zu unterschreiben. Erst dann wäre der Verkauf perfekt. Zu Hause angekommen, ging sie trotz des Regens noch einmal über die Koppel in die Ställe und durch den verwilderten Rosengarten, um ein letztes Lebewohl zu sagen. Wenn es weiter so regnet, werde ich Laurelwood nicht mehr im Sonnenschein sehen, dachte sie traurig und hing ihren Regenmantel in die Garderobe. Sie griff nach den Briefen, die sie am Tag zuvor auf den Tisch in der Eingangshalle gelegt hatte. Darunter war auch der Umschlag von Fabios zweitem Scheck und der Bankbrief mit dem Einzahlungsbeleg. Sie legte ihn oben auf die anderen Papiere und nahm alles mit in ihr Arbeitszimmer. Entgegen ihrer Gewohnheit sah sie heute nicht die Post durch; sie hatte das Bedürfnis, etwas Anstrengendes zu tun, etwas, das sie voll in Anspruch nahm. Stunde um Stunde wütete sie im Haus und sortierte die wenigen Familienstücke aus, die sie behalten wollte. Sie verstaute ihre persönlichen Gegenstände in große Kisten und verpackte Bücher und Geschirr in Kartons. Bald stapelten sich Kisten und Kästen in der Eingangshalle. Wenn ich das antike Mobiliar versteigern lasse, wird der Erlös sicher ausreichen, um alle Gläubiger zufriedenzustellen, dachte sie. Aber der Gedanke brachte wenig Trost. Später packte sie auch ihre Zeichenutensilien zusammen und nahm sich vor, am nächsten Tag in Lexington eine Wohnung zu suchen. Sie hoffte, ein Apartment mit einem großen Nordfenster zu finden, wo sie ihr Studio einrichten konnte, bis sie sich ein separates Atelier leisten konnte. Ja, Lexington war die richtige Stadt für sie; weit genug entfernt, um nicht ständig an ihr Scheitern erinnert zu werden. Aber ein totaler Fehlschlag waren ihre Bemühungen dennoch nicht. In den letzten Monaten hatte sie mehr geleistet als in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren. Das Unternehmen machte sich zwischenzeitlich bezahlt. Es reichte zwar nicht, um Laurelwood zu retten, aber sie hatte bewiesen, daß sie etwas wert war und sich ihr Talent verkaufen ließ, selbst an einen Geizhals wie Fabio. Wo lag nun die Post? Jetzt war sie soweit, die Bankauszüge zu ordnen und die Briefe zu bearbeiten. Sie fand sie auf dem Tischchen neben dem Sessel. Alexandra griff sich den ersten Umschlag und las erstaunt die Anschrift: An Mark Chandler, Jr. Merkwürdig – wie kam sie an die Post für Mr. Chandler? Nachdenklich wendete sie den Brief. Plötzlich erinnerte sie sich an den Vorfall in der Bank. Ihre Handtasche und die Briefe waren zu Boden gefallen, und Mark hatte sie aufgehoben. Er mußte sie dabei irrtümlich mit seinen eigenen Briefen vertauscht haben. Warum Mark allerdings die Post von Mr. Chandler mit sich herumtrug, wollte ihr nicht einleuchten. Noch immer betrachtete sie den Briefumschlag in ihrer Hand. Irgendwie kam ihr der Name Chandler bekannt vor. Plötzlich stieß sie einen kleinen Schrei aus und zog das Kaufangebot aus dem großen Umschlag, den sie von der Bank erhalten hatte. Ihre Hand zitterte, als sie den Namen des Käufers auf dem Briefkopf las… Mark
Chandler, Jr. Das Kaufangebot war an Lloyd Birkhoven, Erste Handelsbank von Kentucky, gerichtet. Die Adresse auf dem mysteriösen Geschäftsbrief lautete Grange Meadows, Waverley Lane. Sie erinnerte sich, diese Anschrift schon selbst geschrieben zu haben. Das alte Brierson-Haus! Deshalb also hatte Mark die Post von Mr. Chandler. Er gab nicht auf: Unter irgendeinem hochtrabenden Namen versuchte er, sie auszubooten und Laurelwood zu kaufen; versuchte er, sie zu besitzen, indem er ihr Zuhause besaß. Tränen der Entrüstung stiegen ihr in die Augen. Mit einem Federstrich machte er ihre fast übermenschlichen Anstrengungen der letzten Tage lächerlich. „Ein unverhoffter Glücksfall“, murmelte sie verbittert in Erinnerung an die Worte des Bankiers und steckte das Kaufangebot zurück in den Umschlag. Diese Angelegenheit mußte sofort und ein für allemal erledigt werden. Sie war nun mal keine Südstaaten-Lady, die es nötig hatte, ihre Ehre von einem Ritter mit hochtrabendem Namen retten zu lassen. Sie öffnete den Brief an Mark Chandler und fand eine Einladung zur Aufsichtsratversammlung, die vom Bevollmächtigten der Kenicrest-Werke gezeichnet war. Mißbilligend runzelte Mark die Stirn, als Alexandra den Raum betrat, und erhob sich vom Sofa, wo er mit Frau Johnson gesessen hatte. „Siehst du nicht, daß ich gerade eine Besprechung habe?“ fragte er abweisend. „Das ist mir egal“, gab Alexandra wütend zurück. Sie hatte den Diener, der auf ihr stürmisches Klopfen hin geöffnet hatte, aufgefordert, sie sofort zu Mr. Farraday zu bringen. Als dieser jedoch zögerte, war sie einfach an ihm vorbei ins Haus gegangen und hatte so lange Türen geöffnet und geschlossen, bis sie Mark fand. Jetzt war sie nicht mehr zu bremsen. „Du und ich – wir haben etwas miteinander zu bereden“, verkündete sie laut und unmißverständlich. „Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen, Fran?“ „Ein Augenblick wird nicht reichen, fürchte ich. Du schuldest mir ein paar Erklärungen.“ Mark schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Er sah aus, als wollte er sie am liebsten hinauswerfen. Er wandte sich wieder Miss Johnson zu und bat sie, die Besprechung auf morgen zu verlegen. Die Frau schaute etwas verdutzt, nahm aber ihren Mantel und verließ das Haus. „Wer bist du nur eigentlich?“ forderte Alexandra zu wissen. „Und mit welchem Recht greifst du in mein Privatleben ein?“ „Was soll das schon wieder heißen?“ Er ging zur Bar und holte ein Glas. „Du siehst mitgenommen aus – vielleicht arbeitest du zu viel. Offensichtlich bist du leicht verwirrt. Ein Drink gefällig?“ „Nein.“ Sie war ihm gefolgt und stand mit verschränkten Armen vor ihm. „Ich verlange eine Antwort. Wer zum Beispiel ist Mark Chandler?“ Mark ließ sich Zeit. Langsam schenkte er sich einen Scotch mit Soda ein. „Ich bin nicht bereit, Geld von dir für Laurelwood anzunehmen. Wie konntest du es wagen, mich auf diese Weise auszuspielen? Jason sagte schon immer, daß du dich auf krumme Touren verstehst, aber ich glaubte ihm nicht. Doch jetzt ist mir alles klar…“ „Klar ist nur, daß du keine Ahnung hast, wovon du sprichst“, sagte Mark sanft und nahm einen großen Schluck. „Wirklich?“ Alexandra warf triumphierend die beiden Briefe auf die Bar. „Diesen Brief“, sie deutete auf den an Mark Chandler adressierten Umschlag, „gabst du mir aus Versehen, als du meine Sachen in der Bank aufhobst. Aber das hier“, sie
schlug mit der flachen Hand auf den zweiten Umschlag, „kann man kaum ein Versehen nennen!“ „Setz dich!“ befahl er mit rauher Stimme und zeigte auf einen Sessel. „Und halte bitte den Mund, bis ich geendet habe. Eine Erklärung willst du. Bei Gott, die sollst du haben. Und dann wirst du ebenso viel über Mark Chandler wissen wie ich.“ Er ließ sich auf das Ledersofa fallen. „Vor zwei Jahren erhielt ich einen Brief von einer Bostoner Anwaltskanzlei…“, begann er und holte tief Luft. „Die Familie Chandler war eine alte Bostoner Unternehmerdynastie, anerkannt durch ihre solide Finanz- und Firmenpolitik. Bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs beherrschte ein starres Standesbewußtsein die Welt des Chandler-Imperiums. Martin Chandler war der einzige Sohn eines Mannes, der seine Unternehmen wie ein König regierte. Er genoß nicht nur die Vorteile seiner Abstammung, sondern war zugleich Opfer der erbarmungslosen Etikette. Als er im Alter von siebzehn Jahren seine Männlichkeit in den Armen einer irischen Magd entdeckte, war der Skandal perfekt. Mit den Dienstboten anzubändeln sei zwar nicht ganz unbekannt in der Familie, erklärten ihm seine Eltern geduldig, aber ein uneheliches Kind von einer solchen Frau war undenkbar. Martins Einwände nützten nichts. Seinem romantischen Abenteuer wurde ein plötzliches Ende bereitet. Die hübsche junge Katherine Mary erhielt ein Empfehlungsschreiben und einen Briefumschlag mit Geld. Zugleich machte man ihr aber unmißverständlich klar, daß sie sich nie wieder blicken lassen sollte. Doch für Martin war es mehr als ein Abenteuer. Er litt unter der Trennung, wie es sich für einen Chandler eigentlich nicht gehörte. Seine Eltern schrieben dies der Unerfahrenheit und dem Trotz seiner Jugend zu und meinten, er würde schon darüber hinweg kommen. Doch er gab nicht nach und begann, nach dem Mädchen zu suchen. Katherine Mary jedoch war und blieb verschwunden und mit ihr sein ungeborenes Kind. Sieben Jahre später, sein Kummer war inzwischen verblaßt, heiratete er ein Mädchen der besten Bostoner Gesellschaft. Er bekannte seiner Frau die Jugendsünde und investierte viel Geld, um Katherine Mary zu finden und sie und ihr Kind zu unterstützen. Seine Frau gab sich alle Mühe, ihm standesgemäße Erben zu schenken, aber die Ehe blieb kinderlos. Im Alter von fünfzig Jahren verstärkte Martin Chandler noch einmal seine Nachforschungen. Er wußte, daß seine Tage gezählt waren – er hatte Krebs. Mit Hilfe eines Waisenhauses und Dutzender Privatagenturen fand er schließlich nach mehr als zwanzig Jahren Mark Purdy, Sohn von Katherine Mary Purdy, inzwischen verstorben, Adoptivsohn von Jake Farraday und seiner Ehefrau Gertrude. Ein findiger Detektiv war bis ins ferne Kentucky vorgedrungen. Am selben Tag, an dem ihn der Schlaganfall niederstreckte, hatte Jake Farraday ihm die langgesuchte Antwort gegeben. Der Detektiv berichtete seinem Auftraggeber, daß der Gesuchte unter dem Namen Mark Farraday registriert sei, aber unglücklicherweise den Bundesstaat ohne eine Nachsendeanschrift verlassen habe. In der Anlage übersandte er die Abschrift der Geburtsurkunde und ein drei Jahre altes Foto. Für Martin Chandler genügten diese Beweise. Wenige Wochen vor seinem Tode konnte er endlich verwirklichen, was er so lange angestrebt hatte: Er setzte mich als rechtmäßigen Erben ein und vermachte mir sein gesamtes Vermögen und alle Beteiligungen des Chandler-Imperiums. Allerdings knüpfte er eine Bedingung an das Erbe: Ich muß das Unternehmen unter dem mir zustehenden Namen, Mark Stanford Chandler, weiterführen. Nur die Anwaltskanzlei kennt die Identität von Mark Chandler, Jr.“
Mark streckte sich und stand auf, um sein Glas nachzufüllen. „Ich hoffe, Alexandra, du bist zufrieden mit meinen Enthüllungen“, sagte er mit rauher Stimme. „Also daher stammt das viele Geld.“ „Nicht ganz. Meinen Lebensstandard und alles, was ich mir bislang geleistet habe, erarbeitete ich selbst, sozusagen im Schweiße meines Angesichts.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Aber wahrscheinlich erbte ich etwas, lange bevor mich die Vergangenheit einholte: das Talent der Chandlers, Geld zu machen. Das gesamte Vermögen der Chandlers habe ich festgelegt. Es fließt in einen Fonds für meine eigenen Nachkommen, falls ich je welche haben sollte.“ Marks lange, fesselnde Geschichte seiner Herkunft hatte Alexandra ein wenig gedämpft, aber eigentlich änderte sie nichts an dem Grund ihres Kommens. „Wer auch immer du bist – Industriekapitän oder Kronprinz – es gibt dir nicht das Recht, Laurelwood mit Hilfe eines Täuschungsmanövers zu kaufen. Du weißt genau, was es mir bedeutet, selbständig und ohne Einmischungen mit meinem Leben fertig zu werden.“ Mark sah sie lange an. „Was ist los mit dir, Alexa? Ich will dich doch gar nicht beherrschen. Ich wollte dir nur helfen. Wenn man eine Frau liebt, möchte man nicht zusehen, wie sie verletzt wird. Man würde alles tun, um es zu verhindern. Alles, selbst wenn man damit gegen eine bestimmte Vorstellung von Unabhängigkeit verstoßen muß.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Verstehst du denn nicht, was du mir damit antust, wenn du meine Bestrebungen so unterläufst?“ Mark beugte sich und zog sie zu sich hoch. „Ich verstehe nur eines: daß ich dich liebe.“ Sie entzog sich ihm. „Aber für dich bedeutet diese Liebe, jemanden beherrschen und besitzen wollen.“ Er ließ die Schultern hängen. „Also gut. Ich kann deine Meinung nicht ändern.“ Er gab sich geschlagen. Ein Ausdruck von Gleichgültigkeit überzog sein Gesicht; doch diesmal hatte dies etwas Endgültiges an sich. „Ich werde es nicht noch einmal versuchen, dir zu helfen. Ich habe es klar und deutlich gehört, mein Kaufangebot ist unannehmbar.“ Er griff danach und zerriß es. „Mein Gott, was ist nur mit mir los?“ flüsterte Alexandra vor sich hin, als sie wieder nach Hause fuhr. „Habe ich nicht genau das getan, was ich wollte?“ Eine tiefe Verzweiflung erfüllte sie. Was sollte nun aus Laurelwood werden? Marks Angebot war die einzige Möglichkeit gewesen, den Verkauf an die Landerschließungsgesellschaft zu verhindern, aber auch genau die Lösung, die sie nicht akzeptieren konnte. Nein, sie verachtete ihn nicht; im Gegenteil, sie liebte ihn, liebte ihn so sehr, daß sie in Gefahr war, sich selbst zu verlieren. Schon an der Haustür hörte Alexandra das Telefon klingeln. Es war Carla. „Hallo! Hast du nichts zu meinen Bemühungen zu sagen? Ich habe einen Eilbrief an dich geschickt.“ „Was, um Himmels willen, was hast du mir geschickt, Carla?“ „Hast du denn heute keine Post bekommen?“ „Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht in den Briefkasten geschaut.“ „Um diese Zeit? Es muß jetzt zehn Uhr abends bei euch sein. Ihr Leute vom Land laßt euch ja viel Zeit. Also los, Kindchen, hol dir die Post und ruf dann mich zurück.“ Alexandra schaute zweifelnd auf die kostbaren Papiere in ihrer Hand: Barschecks, ausgestellt auf ihr Unternehmen! Sie rechnete noch einmal nach, als traue sie ihren mathematischen Fähigkeiten nicht. Achtzehntausend Dollar! Sie wagte
nicht, ihren Blick abzuwenden, aus Furcht, sie könnten sich in Luft auflösen. Dann griff sie nach dem Telefon und bedankte sich bei Carla. Es dauerte eine Stunde, bis ihr klar geworden war, was die Schecks für sie bedeuteten. Langsam ging sie von einem Zimmer ins andere und begann, alles wieder auszupacken, die ganze Arbeit des vergangenen Tages rückgängig zu machen. Zwischendurch rannte sie in ihr Arbeitszimmer, um sich zu vergewissern, daß die Schecks auch da waren. Gegen Mitternacht sah das Haus wieder so aus wie zuvor: etwas schäbig und ein wenig vernachlässigt. Aber jetzt gehörte es ihr! Ihr ganz allein! Nicht nur diese Nacht, sondern auch den nächsten Tag, die nächste Woche und das ganze nächste Jahr. Sie hatte es geschafft, das Geld reichte. Sie würde sich die Einlagen zusammen mit einem persönlichen Scheck auf ihrem neuen Geschäftskonto gutschreiben lassen, danach zur Handelsbank fahren und einen Scheck über die gesamte Summe von fünfunddreißigtausend Dollar ausschreiben. Unter der Nase von Mr. Birkhoven könnte sie dann den Vollstreckungsbefehl zerreißen! Mel Zeigler würde zwar die Vermischung von Privat- und Geschäftskonto nicht gutheißen, aber sie wußte, daß die Kapitalgeber bei ihr in guten Händen waren. Sie würde arbeiten wie eine Wilde, damit ihr Unternehmen Gewinn abwarf. Mit dem enormen Einsatz der letzten drei Wochen hatte sie bewiesen, wozu sie fähig war.
10. KAPITEL Auf der Bank ist alles erstaunlich schnell über die Bühne gegangen, dachte Alexandra und riß eine mittelmäßige Skizze unzufrieden von ihrem Block. Nur ein paar Unterschriften, und das Ganze war erledigt gewesen. Birkhoven hatte mit verdrießlichem und zugleich erstauntem Gesicht zugesehen. Jetzt bin ich die rechtmäßige Besitzerin von Laurelwood. Gegen elf Uhr saß sie schon wieder in ihrem Studio und arbeitete am Zeichenbrett, oder besser gesagt, sie versuchte zu arbeiten. Warum bin ich nur so unproduktiv? Ich habe doch allen Grund, frei und unbelastet an die Arbeit zu gehen, fragte sie sich. Nach dem großen Erfolg kam jetzt also der Tiefpunkt. Eigentlich war das nicht verwunderlich, wenn man bedachte, wieviel Anstrengung hinter ihr lag. Sie beschloß, einen freien Tag zum Feiern einzulegen. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, der Himmel sah hell und klar aus. Sie zog eine Lederjacke an und ging spazieren. Die abgefallenen Blätter der Platanen raschelten unter ihren Füßen, als sie an der Koppel entlang zur Weide ging, die ihren Besitz von Windermere trennte. Wie feiert man allein, fragte sie sich. Die Wolken wanderten schnell über den Himmel, und die Sonne kam hervor. Sie war jetzt bei dem Ulmenhain angelangt, an dessen Ende ein kleiner Bach die Nordostgrenze von Laurelwood bildete. Erinnerungen an die Feste ihrer Kindheit, an die Parties in Rom stiegen in ihr auf, alle waren gleich. Eines jedenfalls gehörte immer dazu: mindestens zwei Personen. Alexandra schloß die Augen und hob ihr Gesicht den warmen Sonnenstrahlen entgegen. „Okay“, flüsterte sie „am Anfang werde ich einsam sein, aber es werden andere Männer kommen, nicht so dominierende, die mir genug Raum lassen für meine eigene Persönlichkeit. Doch das braucht Zeit.“ Auch im Haus verfolgte sie die Einsamkeit. Ruhelos ging sie durch die Räume. Am großen Eichenbett ihres Vaters blieb sie lange stehen. Heute morgen wärst du sicher stolz auf mich gewesen, Vater. Ich wünschte, du könntest mit mir feiern. Iren verstehen es zu feiern, hast du mir einmal erzählt. Eine Zeitlang warf ich dir vor, daß du mich durch deine Fürsorge ersticktest. Ich glaubte, du raubtest mir damit meine Kraft. Verzeih! Es war deine Art, Liebe zu zeigen. Du wolltest mich auf diese Weise glücklich machen. Eine besitzergreifende Liebe – aber trotzdem Liebe. Und Liebe kann niemals wirklich verletzen. Deine Liebe ernährte, beschützte und umsorgte mich, aber sie hat mich nie erstickt. Das tat ich mir selbst an. Zweiundzwanzig Jahre brauchte ich, um das zu verstehen. Ihr Gesicht war naß und heiß. Sie erfrischte es mit kaltem Wasser und blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Das also war die neue Besitzerin von Laurelwood: eine eigensinnige, rothaarige Kentucky-Irin, genauso dickköpfig und leichtsinnig wie ihr Vater. Sie hatte endlich herausgefunden, wer sie war, hatte bewiesen, daß in ihr etwas Unantastbares steckte, an das kein Mensch durch Stärke, Liebe oder gar Besitzanspruch heranreichen konnte. Sie hatte gesiegt. Aber was nutzte ihr dieser Sieg ohne Mark? Mark war ein Mensch, der geben mußte, genau wie ihr Vater. Es war seine Art, Liebe auszudrücken. Aus Angst, dadurch vereinnahmt zu werden, und weil sie sich ihrer eigenen Persönlichkeit nicht sicher war, hatte sie diese Liebe mit Füßen getreten. Er hatte ihr seine Liebe angeboten. So einfach war das. Nicht um sie sich auf diese Weise zu verpflichten, um sie zu besitzen oder zu beherrschen. Er hatte es
getan, weil Liebe sich ausdrücken will, sich verschenken will. Auch sie konnte jetzt dieses tiefe Bedürfnis zu geben in sich spüren. Der Gedanke an den Schmerz, den sie ihm durch ihre Suche nach Selbstbewußtsein zugefügt hatte, jagte ihr Angst ein. Sie überlegte, wie sie es wiedergutmachen könnte. Plötzlich kam ihr ein verrückter Gedanke. Nur Mr. Birkhoven wußte, daß sie die Hypothekenschuld selbst aufgebracht hatte; er – und ungefähr achthundert Angestellte der Bank, der Aufsichtsrat und wer weiß, wer noch. Sie stöhnte. Mark wußte es wahrscheinlich noch nicht, aber er würde es sicher herausfinden. Doch dann erinnerte sie sich an die Gleichgültigkeit in seinen Augen, als sie sich gestern abend verabschiedete. Er hatte sie aufgegeben, ein für allemal. Nein, Mark wußte sicher noch nicht, daß sie Laurelwood gerettet hatte, einfach weil es ihn nicht mehr interessierte. Als sie den Motor anließ, war es kurz nach eins, also genug Zeit, um die Einlösung des Schecks zu verhindern. Es war ein letzter Versuch. Aber wenn es ihr gelang, Mark davon zu überzeugen, daß sie ihn brauchte, konnte sie vieles wiedergutmachen. „Was ist nun schon wieder los?“ Mark hatte selbst die Tür geöffnet. Gleichgültig und müde blickte er sie an. Alexandra durfte jetzt nicht lächeln. Ich bin verzweifelt, stehe kurz davor, Laurelwood zu verlieren, sagte sie sich. „Mark, ich war sehr undankbar und dickköpfig. Ich bin völlig durcheinander. Kann ich dich einen Augenblick sprechen?“ Er zögerte, sein Gesicht drückte abwehrende Wachsamkeit aus. Nein, er kannte die Neuigkeit noch nicht. Sonst hätte er sie sicher ironisch beglückwünscht. „Ich möchte nicht unhöflich sein, Alexandra, aber mir ist im Augenblick nicht nach Gesellschaft zumute.“ „Mark, ich brauche deine Hilfe – dringend.“ „Komm herein“, sagte er ausdruckslos. „Ein Drink gefällig?“ Er ging zu einer antiken holzgeschnitzten Vitrine. „Bitte einen Scotch.“ Die Drinks servierte er in kostbaren Gläsern aus venezianischem Glas. Als sich ihre Finger streiften, überkam sie das Verlangen, ihn zu berühren. Sie fragte sich in banger Hoffnung, ob er überhaupt noch etwas für sie empfand. „Möchtest du dich nicht setzen?“ Seine formelle Höflichkeit war entsetzlich. Sie hatte das Gefühl, als schaute er heimlich auf die Uhr. Und dann tat er es wirklich! Sie ließ sich auf dem Sofa nieder. Insgeheim fragte sie sich, ob das alles überhaupt noch Sinn hatte. Aber sie mußte es versuchen, denn es gab nichts, das so wichtig war wie diese Unterhaltung. „Mark, ich weiß jetzt, daß ich auf dem besten Wege bin, das zu verlieren, was ich mir stets am sehnlichsten wünschte. Ich habe zu lange gewartet, und jetzt ist es zu spät. Was war ich doch für ein Dummkopf! Ich war arrogant und erfüllt von falschem Stolz. Du hattest recht mit deiner Meinung über mich. Ich wollte dir sagen, daß ich dich brauche, Mark. Aber ich fürchte, es ist zu spät.“ Sie blickte auf die ungezwungen arrangierten eleganten Möbel und die herrlichen Pflanzen. Ein Mensch, der sich einsam und unglücklich fühlt, umgibt sich nicht mit solch lebensfroher Schönheit. Es muß ihm sehr gut gehen, er lebt jetzt ohne mich weiter, dachte sie wehmütig. „Tut mir leid, daß ich dich belästigt habe“, sagte sie kläglich und stand langsam auf, um zu gehen. „Es muß nicht sein, daß du alles verlierst“, sagte er vorsichtig. „Laurelwood gehört dir, wenn du es willst. Du brauchst nur darum zu bitten.“
Verwirrt schloß Alexandra die Augen. „Laurelwood? Hast du geglaubt, ich spreche von Laurelwood?“ „Ja gibt es denn etwas anderes, weswegen du dich mir verpflichten würdest?“ Sie erkannte kaum ihre Stimme, als sie mit einer Lüge antwortete: „Mark, ich habe mein letztes Geld zusammengekratzt. Aber es reicht nicht ganz. Die Verpflichtung ist mir jetzt einerlei. Ich war verrückt, dein Angebot abzuschlagen. Gilt es noch?“ „Welches Angebot?“ fragte er steif. „Alle deine Angebote – mich zu heiraten, dein Leben mit mir zu teilen und mir finanziell zu helfen. Willst du – möchtest du…?“ Plötzlich drehte sich alles in ihrem Kopf. „Sehr gern“, antwortete er mit einem seltsamen Unterton und eilte zur Tür. Er war schon halb aus dem Zimmer, da rief er ihr über die Schulter zu: „Aber zuerst telefoniere ich mit Birkhoven.“ Alexandra saß zitternd auf dem Sofa und wartete. Warum benahm er sich so seltsam; hatte er sie richtig verstanden? Als er zurückkam, küßte er sie scheu auf den Mund. Dann reichte er ihr die Hand. „Komm mit nach oben“, sagte er lächelnd und erklärte: „Ich möchte meine neue Haushälterin nicht verlieren.“ Alexandra folgte ihm die geschwungene Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. „Mr. Birkhoven ist gerade beim Mittagessen“, sagte er und öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. „Hast du schon gegessen?“ „Nein, doch. Ich habe jetzt keinen Hunger.“ Mit dem Finger fuhr er zärtlich über ihre Lippen und das Kinn. Sanft umfaßte seine Hand ihre Brust. „Ich habe mit seiner Sekretärin einen Termin für uns vereinbart. Nach Geschäftsschluß, um Viertel nach Drei.“ Er hatte gerade zwei Knöpfe geöffnet, dann schloß er sie wieder. Seine Stimme klang unsicher, als er sagte: „Noch zwei Stunden. Sollen wir hier warten?“ Sie spürte, wie auch der letzte Vorbehalt in ihr schmolz. Während er mit seinen Fingern liebevoll durch ihr Haar strich, begann sie, sein Hemd aufzuknöpfen. „Wie dumm bin ich doch gewesen, Mark“, murmelte sie und zog ihn näher an sich heran. Sie bedeckte seine warme Haut mit Küssen, berührte ihn mit der Zunge, streichelte ihn mit den Fingerspitzen und Augenwimpern. Getrieben von dem Bedürfnis, alles zu geben, brauchte sie jetzt ihre Sprache nicht mehr. Das Bewußtsein, diesen schönen, geliebten Mann zu berühren, seine tiefsten Bedürfnisse zu erfüllen und sein wachsendes Verlangen zu spüren, bereitete ihr immense Freude. Sie fühlte ihn in sich und drängte sich ihm entgegen. „Mark, o Mark, ich möchte ganz dir gehören.“ „Alexa, mein Liebling“, meinte sie zu hören; dann erfaßte sie eine Welle der Leidenschaft und trug sie mit sich fort. Marks Worte, die sie daran erinnerten, daß es Zeit sei zu gehen, rissen Alexandra aus ihrer glücklichen Benommenheit. Überrascht fuhr sie hoch und blickte auf die Uhr neben dem Bett. Waren die zwei Stunden etwa schon vorbei? „Aber es ist doch erst halb drei“, sagte sie und drängte sich an ihn. „Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit“, flüsterte sie verführerisch und umschlang ihn mit Armen und Beinen, betrunken vom Verlangen, ihn wieder in sich zu spüren. Doch Mark befreite sich. Mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, sagte er: „Der Besitzer von Laurelwood hat nicht vor, in diesem Aufzug zur Bank zu gehen.“ Sie rieb ihre Wange an seinem Rücken. „Natürlich nicht, Liebling. Ich werde mich selbstverständlich anziehen.“
„Du wirst noch etwas mehr tun, nämlich nach Hause fahren, dich frisch machen und umziehen.“ Er ging zum Bad hinüber. „Wir treffen uns in der Bank.“ Widerwillig begann sie, sich anzuziehen. Doch sie sah ein, daß er recht hatte. In solcher Hast war sie aus der Bluse geschlüpft, daß drei Knöpfe abgesprungen waren. Nur gut, daß sie einen Regenmantel dabei hatte. „Er liebt mich! Er liebt mich immer noch!“ sang sie vor sich hin, als sie nach Hause fuhr. Die vergangene Stunde hatte sie wieder etwas Entscheidendes gelehrt. Die Empfindung, zu geben und sich von Herzen an der totalen Hingabe zu erfreuen, übertraf die rein sinnliche Leidenschaft weit mehr, als sie je geglaubt hätte. Es war wie ein Akt des Versprechens, erhebend und bindend. Jetzt gab es für sie keine Zweideutigkeit mehr. Sie fühlte sich seltsamerweise wie neugeboren, als sie in Laurelwood ausstieg, um sich schnell zu duschen und umzuziehen. Sie hatte nur knapp zwanzig Minuten Zeit, aber das reichte. Als sie in aller Eile ein wenig Make-up auflegte, fiel ihr auf, daß das Zusammensein mit Mark auch ihr Gesicht wiederbelebt hatte: Ihr Haar glänzte, und ihre Augen leuchteten klar und grün. Sie wählte ein bernsteinfarbenes Wollkostüm, das Guido Conti für sie entworfen hatte und das aus einem figurbetonenden Blazer und einem schwingenden Faltenrock bestand. Als sie zur Bank fuhr, fiel ihr ein, daß er nichts von Heiraten erwähnt hatte. War er zu stolz, sie ein zweites Mal zu fragen? Oder wollte er sie gar nicht mehr heiraten? Im Grunde war es ihr jetzt egal. Sie würde ihn nehmen, wie er war, bedingungslos. Eines aber ist sicher, dachte sie, als sie auf den Parkplatz der Bank einbog, meine Gefühle für Mark kennen keine Bedingungen. Karriere, Stolz und Unabhängigkeit waren zweitrangig neben dieser Liebe. Sie hatte ihre Identitätskrise überstanden und war jetzt ein anderer Mensch. Doch ihre Liebe zu Mark war stärker als je zuvor. In Marks Gegenwart verhielt sich Mr. Birkhoven sehr dienstbeflissen, aber sie konnte seine nur mühsam unterdrückte Verwirrung deutlich spüren. Überrascht sah er zuerst Mark, dann sie an, als hätten sie beide den Verstand verloren. „Ich denke, daß jetzt für alles gesorgt ist“, sagte er und übergab ihr das letzte Dokument zur Unterschrift. Mit einer leichten Verbeugung nahm er von Mark den Scheck entgegen. „Deinem Besitz kann jetzt nichts mehr passieren“, sagte Mark, als er sie zum Auto begleitete. „Jetzt müssen nur noch die anderen Schulden beglichen werden.“ „Mark, das eilt nicht.“ „Pst“, sagte er. „Fahr nach Hause, ich komme gleich nach.“ Auf Laurelwood angekommen, gingen sie sofort ins Arbeitszimmer, um die Rechnungen zu sichten. In ihrer Verwirrung, die Marks sinnliche Nähe in ihr auslöste, ließ sie den Rechnungsordner fallen und die Papiere flatterten über den Fußboden. „Hör doch auf, Alexa“, sagte Mark und umfaßte ihre Schultern. „Warum läßt du nicht alles liegen, bis morgen meine Sekretärin kommt und dir hilft? Was glaubst du, wieviel Geld du brauchen wirst, um dies alles zu bezahlen?“ „Ich weiß nicht.“ „Alexa“, sagte er sanft, „laß mich einen Blick in deinen Bankordner werfen, dann kann ich es dir sagen. Ich habe den Eindruck, Zahlen sind nicht gerade deine Stärke.“ „Meinen Bankordner?“ wiederholte sie. Dann würde er das Guthaben über vierzigtausend Dollar entdecken und sofort ihren Trick durchschauen. Sie konnte
ihm das jetzt noch nicht erklären. Und sie war sich seiner auch noch nicht ganz sicher. Plötzlich packte sie eine panische Angst, ihn zu verlieren. „Ja, den Bankordner, Alexandra.“ Seine Stimme klang geduldig, als ob er zu einem kleinen Kind spräche. In der schrecklichen Stille, die folgte, sah sie, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog. „Alexa, ich weiß alles“, sagte er schließlich mit sanfter Stimme. „Mr. Birkhoven hat mir alles über den gesperrten Scheck erzählt, als wir auf dich warteten.“ Sie bedeckte beschämt ihr Gesicht mit den Händen. „Mark, bitte, du darfst auf keinen Fall glauben, daß ich dich hintergehen wollte.“ Er lachte laut auf. „Du Närrin, du schöne, verrückte Närrin!“ Er zog sie vom Stuhl hoch, das Lachen schüttelte ihn immer noch. „Ich hoffe nur, daß du als Geschäftsfrau besser bist… Du hast es getan, weil du mich liebst, Alexa.“ Er stand gegen den Schreibtisch gelehnt, und lächelte sie amüsiert an. „Alexa, hast du wirklich geglaubt, daß ich darauf hereinfallen würde?“ „Es schien mir die einzige Möglichkeit, dich zurückzugewinnen. Ich möchte doch deine Frau werden, Mark. Und ich möchte Kinder mit dir haben. Ich möchte all diesen romantischen Quatsch, wie du es nennen würdest.“ Er zog sie zärtlich an sich und streifte ihr vorsichtig die Jacke von den Schultern. Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Kontur ihrer Brüste. „Anderthalb Stunden waren entschieden zu wenig.“ Er lächelte und zog seine Hand zurück, als er spürte, wie heftig sie auf seine Berührung reagierte. „Laß uns nach oben gehen“, sagte sie atemlos. „Nein, wir fahren zu mir.“ Er nahm ihre Hand und drückte ihren Ringfinger. „Aber zuerst werden wir uns verloben. Es mag zwar zu spät sein, um aus dir noch eine anständige Frau zu machen, aber wenn du dich das nächste Mal ausziehst, sollst du wenigstens einen Verlobungsring tragen.“ „Du hast einen Ring für mich gekauft!“ „In den letzten Jahren kaufte ich verschiedene Ringe. Zuerst einen Smaragd, der genau zu deiner Augenfarbe paßte. Später, als ich mehr Geld hatte, einen größeren. Aber dann fand ich ihn doch zu auffallend und behielt lieber den ersten. Vor einigen Wochen kaufte ich dann einen Brillantring, weil ich dachte, du würdest das Traditionelle vielleicht doch mehr schätzen. Aber als ich hörte, daß Jason dir einen ähnlichen geschenkt hatte, besorgte ich vor zwei Wochen einen Saphir.“ Er legte seine Hände um ihr Gesicht und brachte es dem seinen ganz nahe. „Du hast den Ring doch zurückgegeben?“ Sie nickte stumm. „Du brauchst gar nicht so ein erstauntes Gesicht zu machen“, sagte er, als sie abfuhren. „Habe ich dir nicht gesagt, daß ich weiß, was in deinem Kopf vor sich geht?“ „O, Mark, wie habe ich jemals glauben können, daß ich ohne dich glücklich werden könnte?“ sagte Alexandra, als sie sich in dieser Nacht in den Armen hielten. Sie hatte das Gefühl zu schweben. Alles war so unwirklich. Aber da war Mark und hatte seine Arme fest um sie gelegt. „Ich glaube schon, daß du es geschafft hättest, wenn du wirklich dazu entschlossen gewesen wärst. Deshalb habe ich schließlich auch aufgegeben. Wenn du heute nicht gekommen wärst, Alexa, hätte ich dieses Haus verschlossen und nie wieder versucht, dich zu gewinnen.“ Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen, aber seine Stimme klang ernst. Ein Frösteln überlief Alexandra, als hätte ein kalter Windhauch sie berührt. „Daran möchte ich lieber nicht denken.“ Er küßte leicht ihre Brustwarzen, dann verbarg er sein Gesicht zwischen ihren
Brüsten und murmelte: „Ich weiß ein Mittel, dir solche Gedanken auszutreiben…“ Später lag er erschöpft neben ihr, sein Kinn ruhte auf ihrer Schulter. „Wie wär's, wenn wir morgen früh heiraten?“ brummte er, schon halb im Schlaf. „Versuche mich doch davon abzuhalten.“ Sie ließ ihre Hand, die auf seinem Bauch ruhte, langsam abwärts gleiten. Mark stöhnte leise. „Hoffentlich habe ich noch Kraft für die Hochzeitsnacht. Fünf Jahre an einem Tag aufzuholen, ist ein bißchen viel verlangt. Hör lieber auf… ich kann nicht mehr.“ „Entschuldigung.“ Sie zog ihre Hand zurück. Mark nahm sie und drückte sie liebevoll. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin nur so viel Leidenschaft auf einmal nicht gewöhnt.“ „Das will ich hoffen“, flüsterte sie schläfrig. „Ich übrigens auch nicht.“ Die Morgensonne drang gedämpft durch die Vorhänge. Alexandra ließ ihren Blick langsam durch den Raum schweifen. Es war ein wunderschönes Haus, die alte Brierson-Villa. Sie würde glücklich sein, es ihr Zuhause nennen zu dürfen. Mein Zuhause, dachte sie und streichelte sanft über Marks Haar, der in ihrem Arm schlief. Ein Haus konnte man kaufen und verkaufen oder auch mieten, aber nicht ein Zuhause. Das wußte sie jetzt. Ihr Zuhause war nicht Laurelwood, auch nicht dieses Haus im besonderen. Es war das Gefühl, das sie empfand bei Marks gleichmäßigen Atemzügen an ihrer Seite. Dieses Gefühl war nicht mit Satzungen und Kleingedrucktem zu definieren, und kein Geld der Welt konnte es vor der Zwangsvollstreckung bewahren. Das konnte nur das Herz. ENDE