Vergebung leben Freiheit erfahren
Johann Christoph Arnold
Der Originaltext erschien im Jahr 2000 unter dem Titel “Wh...
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Vergebung leben Freiheit erfahren
Johann Christoph Arnold
Der Originaltext erschien im Jahr 2000 unter dem Titel “Why Forgive“ im Verlag Plough Publishing House t/a The Bruderhof Foundation, Inc., Farmington, PA 15437 USA and The Bruderhof Communities in the UK, Robertsbridge, East Sussex, TN32 5DR, UK www.bruderhof.com
Übersetzungs-Copyright © 2002 Edition Anker Verlag im Christlichen Verlagshaus GmbH, Stuttgart ISBN 3-7675-7062-9; Best.-Nr. 297.062 Aus dem Englischen von Agneta Szegedi und Beate Maier Lektoreat: Tilmann Klare, München All Rights Reserved www.edition-anker.de
CIP Eintrag der Deutschen Bibliotek Arnold, Johann Christoph www.ChristophArnold.com Vergebung leben - Freiheit Erfahren / Johann C. Arnold - Stuttgart: Christliches Verl.- Haus, 2002 (Edition Anker: Horizonte) Einheitssacht.:Why Forgivve
ISBN 3-7675-7062-9
Umschlaggestaltung: Dieter Betz, Friolzheim ISBN 3-7675-7062-9; Best.- Nr. 297.062
Inhalt Prolog
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1. Der Krebs der Bitterkeit
6
2. Der Glaube an Wunder
14
3. Ausbruch aus dem Kreis des Hasses
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4. Segne deine Verfolger
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5. Vergebung und Gerechtigkeit
51
6. Die Werke der Barmherzigkeit
69
7. Wenn Versöhnung unmöglich ist
84
8. Vergebung im alltäglichen Leben
94
9. Vergebung und Ehe
111
10. Den Eltern vergeben
123
11. Gott beschuldigen
140
12. Vergebung für uns selbst
151
13. Verantwortung übernehmen
160
14. Kein Schritt, sondern eine Wanderung 170
Prolog
Eines Morgens im September 1995 saß ich da, trank Kaffee und las die Zeitung. Einige Schlagzeilen schockierten mich, die von der Entführung eines siebenjährigen Mädchens aus dem Ort am helllichten Tag berichteten. Innerhalb einer Woche gestand der Hauptverdächtige, ein Bekannter der Familie des Kindes, das Verbrechen. Nachdem er das Mädchen in eine bewaldete Gegend in der Nähe ihres Hauses gelockt hatte, vergewaltigte er sie, prügelte sie zu Tode und versteckte sie. Die Reaktion der Öffentlichkeit war vorhersehbar: Dieser Mann verdiente den Tod. Nach dem neuen Gesetz des Bundesstaates zur Todesstrafe galt er als vornehmlicher Kanditat. Zuerst versprach der Bezirkstaatsanwalt, eine maximale Strafe von 20 Jahren zu fordern, als Gegenleistung für Informationen, die zur Auffindung der Leiche des Mädchens führten. Aber er brach sein Wort, als die Leiche gefunden worden war,
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und erklärte, er hätte sogar einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um das Kind zu finden. Er sagte auch, er hoffe, er werde der erste Bezirksstaatsanwalt in der jüngeren Geschichte des Staates New York sein, der einen Mörder in die Todeszelle schicke. Anwohner, die von den örtlichen Medien befragt wurden, schlugen sogar vor, den Mörder zu entlassen, damit sie sich „um ihn kümmern“ könnten. Obwohl diese Wut verständlich war, fragte ich mich, wie sie der trauernden Familie des Opfers je Trost bringen könnte. Als Pastor war ich ziemlich sicher, wie meine Reaktion aussehen sollte: Ich sorgte dafür, dass jemand aus meiner Gemeinde zu der Beerdigung ging und ich schickte den Eltern des Kindes Blumen. Ich versuchte auch (erfolglos), die Familie zu besuchen. Doch mir war immer noch das Herz schwer. Irgendwie fühlte ich, dass ich den Mörder – zu diesem Zeitpunkt noch ein gesichtloses Monster – besuchen sollte, um ihn mit dem schrecklichen Ausmaß seiner Taten zu konfrontieren. Ich wollte ihm helfen zu erkennen, dass er nur durch lebenslange Reue Frieden mit sich selbst finden könnte, nachdem er ein so abscheuliches Verbrechen gegangen hatte. Ich wusste, dass die Leute einen solchen Besuch in merkwürdigem Licht sehen würden, falls sie ihn nicht sogar völlig falsch interpretierten. Aber ich war überzeugt, dass dies meine W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Aufgabe war. So fand ich mich einige Monate später im Bezirksgefängnis wieder – allein dasitzend, von Angesicht zu Angesicht mit dem von seinen Handschellen befreiten Mörder. Die Stunden, die ich in dieser Zelle verbrachte, haben mich tief erschüttert und sie ließen manche Fragen unbeantwortet – tatsächlich Fragen, die mich schließlich dazu führten, dieses Buch zu schreiben. Weniger als drei Monate nach meinem Besuch stand der Mörder der Familie des Opfers vor Gericht gegenüber. Der Raum war bis zum letzen Platz gefüllt, und man konnte eine Woge der Feindseligkeit spüren. Als erstes wurde das Urteil – lebenslänglich ohne Bewährung – verlesen und der Richter fügte hinzu: „Ich hoffe, dass die Hölle, die sie jetzt im Gefängnis erwartet, nur ein Vorgeschmack ist auf die Hölle, die sie in der Ewigkeit erwartet.“ Der Angeklagte bekam dann die Möglichkeit, ein paar Worte zu sagen. Mit einer lauten, schwankenden Stimme sagte er den Eltern des Mädchens, dass ihm der Schmerz, den er ihnen zugefügt habe, „wirklich Leid tue“ – und dass er täglich um Vergebung bete. Während eine Welle von wütendem Gemurmel durch die Zuhörer ging, stellte ich mir die Frage: Wie kann einem solchen Menschen je vergeben werden?
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Der Krebs der Bitterkeit Wer sich für Vergeltung entscheidet, sollte zwei Gräber graben. Chinesisches Sprichwort
Vergebung ist eine Tür zu Frieden und Glück. Es ist eine kleine, enge Tür, durch die man nur in gebückter Haltung eintreten kann. Auch ist es schwierig, sie zu finden. Aber wie langwierig die Suche auch sein mag, diese Tür kann gefunden werden. Das ist es, was die Männer und Frauen in diesem Buch entdecken konnten. Beim Lesen ihrer Geschichten werden auch Sie vielleicht an diese Tür der Vergebung geführt werden. Sobald Sie davor stehen, denken Sie daran, dass nur Sie allein sie öffnen können. Was bedeutet eigentlich Vergebung? Es geht dabei um etwas, das offensichtlich wenig zu tun hat mit menschlicher Gerechtigkeit, die Auge um Auge fordert; aber es hat genau so wenig zu tun mit einer
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Entschuldigung, die etwas wegwischen soll. Das Leben ist niemals gerecht, und es ist voller Dinge, für die es keine Entschuldigung gibt. Wenn wir jemandem wegen eines Fehlers oder einer absichtlichen Verletzung vergeben, sehen wir diese dennoch als solche an; doch statt zurückzuschlagen, versuchen wir darüber hinaus zu sehen, um die Beziehung zu der verletzenden Person wiederherzustellen. Vergebung wird uns unseren Schmerz wahrscheinlich nicht nehmen - sie wird vielleicht nicht einmal anerkannt oder angenommen - doch die Bereitschaft dazu bewahrt uns davor, in den Sog der Verbitterung hinein gerissen zu werden. Sie bewahrt uns auch vor der Versuchung, unseren Ärger oder unsere Verletzung an einem anderen auszulassen. Wenn wir verletzt sind, ist es nur natürlich, an den Ursprung dieser Verletzung zurückgehen zu wollen. Es ist nichts Falsches dabei. Es sei denn, wir tun dies, um dem anderen die Schuld anzukreiden; dann verwandelt sich unser Schmerz in kurzer Zeit in Groll. Dabei ist es unwichtig, ob unser Schmerz wirklich ist oder eingebildet: die Wirkung ist die gleiche. Sobald wir diesen Groll spüren, wird er an uns zehren, bis alles um uns zu wanken beginnt und zerstört wird. Wir alle kennen verbitterte Menschen. Sie besitzen ein erstaunliches Gedächtnis für die winzigsten Einzelheiten W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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und sie schwelgen in Selbstmitleid und Groll. Sie merken sich jede Beleidigung und sind ständig bereit, anderen zu zeigen, wie sehr sie verletzt wurden. Nach außen mögen sie ruhig und gelassen wirken, aber innerlich bersten sie fast vor aufgestauten Gefühlen. Verbitterte Menschen verteidigen stets ihren Groll: Sie haben das Gefühl, allzu tief und allzu oft verletzt worden zu sein, und das befreit sie sozusagen von der Notwendigkeit der Vergebung. Aber genau diese Menschen sind es, die es am meisten nötig haben, zu vergeben. Ihr Herz ist manchmal so voller Hass, dass sie die Fähigkeit verloren haben zu lieben. Es ist fast zwanzig Jahre her, dass mein Vater und ich von einem Kollegen gebeten wurden, eine Bekannte zu besuchen, die angeblich nicht mehr lieben konnte. Janes Ehemann lag im Sterben und sie sehnte sich danach, ihn zu trösten; doch etwas in ihrem Inneren schien sie zurückzuhalten. Jane war in jeder Hinsicht eine untadelige Person: sie war nett, ordentlich, geschickt, tüchtig und ehrlich - doch im Gespräch mit ihr wurde klar, dass sie gefühllos war wie ein Stein. Sie konnte tatsächlich nicht lieben. Nach Monaten der Seelsorge wurde die Ursache von Janes Gefühlskälte endlich klar: sie war unfähig zu vergeben. Sie konnte auf keine einzelne große Verletzung hinweisen, aber sie war emotional gehemmt W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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- ja sogar fast völlig gelähmt - durch das aufgestaute Gewicht tausender kleiner Verletzungen. Voller Dankbarkeit war Jane später in der Lage, sich selbst zu überwinden und zu neuer Lebensfreude zu finden. Das gelang nicht im Fall von Brenda, einer anderen verbitterten Frau. Jahrelang wurde sie von ihrem Onkel sexuell missbraucht und ruhig gestellt durch ihre Alkoholsucht, die ihr Peiniger unterstützte, indem er ihr täglich Wodka gab. Schließlich entkam sie ihm, doch litt noch anschließend unter seinem Einfluss. Als ich Brenda traf, hatte man ihr intensive psychiatrische Betreuung angeboten. Außerdem hatte sie eine gute Stelle und ein ausgedehntes Netz an Freunden, die sie unterstützten und keine Mühe scheuten, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. Trotzdem hatte es den Anschein, dass sie keine Fortschritte machte. Ihre Gefühle schwankten stark, vom nervösen Lachen bis hin zum hemmungslosen Weinen. An einem Tag übertrieb sie es mit dem Essen, um am anderen zu fasten und sich zu kasteien. Und sie trank - eine Flasche nach der anderen. Brenda war zweifellos das unschuldige Opfer eines äußerst verdorbenen Mannes. Doch je besser ich sie kennenlernte, um so mehr hatte ich den Eindruck, dass sie ihr eigenes Elend weiter nährte. Indem sie sich weigerte, den Hass auf ihren Onkel abzulegen, erlaubte W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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sie ihm, weiterhin Macht über sie auszuüben. Brenda war einer der schwierigsten Menschen, denen je ich versucht habe zu helfen. Wieder und wieder bemühte ich mich, mit ihr den Punkt zu erreichen, an dem sie erkennen konnte, wie die Dinge standen: Solange sie ihrem Onkel nicht vergeben konnte, oder zumindest über den geschehenen Missbrauch nicht hinaus sehen konnte, würde sie weiterhin das Opfer ihres Onkels bleiben. Doch meine Bemühungen waren vergeblich. Zunehmend verärgert und verstört, trieb sie sich selbst immer tiefer hinein in einen Dschungel der Verzweiflung. Schließlich versuchte sie, sich zu erhängen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die durch sexuellen Missbrauch entstandenen Wunden benötigen viele Jahre, um zu heilen; oft hinterlassen sie bleibende Narben. Trotzdem müssen sie nicht lebenslange Qual oder gar Selbstmord zur Folge haben. Für jeden Fall wie den Brendas kann ich ein Gegenbeispiel nennen, wo die Opfer durch Vergebung Freiheit und neues Leben gefunden haben. Vergebung bedeutet nicht, Unrecht zu vergessen oder gutzuheißen. Fest steht, dass Vergebung nicht abhängig ist von einer persönlichen Begegnung mit der verantwortlichen Person; zumindest im Falle von sexuellem Missbrauch wäre dies eher nicht ratsam. Vergebung bedeutet aber, den bewussten Entschluss zu W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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fassen, seinen Hass zu überwinden, weil Hass niemals helfen kann. Bitterkeit ist mehr als eine negative Lebenseinstellung. Sie ist eine zerstörerische und zugleich selbstzerstörerische Kraft. Wie ein gefährlicher Schimmel oder Keim, gedeiht sie in den dunklen Nischen des Herzens und ernährt sich von jedem neuen Gedanken des Grolls oder des Hasses. Und wie sich ein Geschwür durch Sorgen oder eine Herzkrankheit durch Stress verschlimmert, so kann Bitterkeit sowohl zu physischer als auch zu emotionaler Schwäche führen. Anne Coleman, eine Frau aus Delaware, die ich vor mehreren Jahren bei einer Konferenz traf, machte diese Erfahrung aus erster Hand: Eines Tages im Jahre 1985 nahm ich den Hörer auf, um meine Nichte aus Los Angeles sagen zu hören: „Anne, Frances ist erschossen worden. Sie ist tot.“ Ich kann mich nicht erinnern, geschrien zu haben, aber ich habe geschrien. Ich plante, sofort nach Kalifornien zu fliegen. Während des Fluges dachte ich darüber nach, ob ich wirklich bin, jemanden zu töten. Hätte ich eine Waffe gehabt und den Mörder getroffen, hätte ich das wahrscheinlich in die Tat umgesetzt. Als die Landung des Fluges näher kam, war ich zunehmend damit beschäftigt, wie ich meinen Sohn
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Daniel begrüßen würde, der von Hawaii einfliegen sollte. Daniel war ein Unteroffizier der Armee und geschult worden, zu töten. Als wir am nächsten Morgen zum Polizeirevier gingen, sagte man uns nur, dass meine Tochter tot wäre und dass alles Weitere nicht unsere Sache wäre. Leider blieb dies so während der nächsten Tage, die wir in Los Angeles verbrachten. Der für Gewaltverbrechen zuständige Beamte sagte mir, falls innerhalb von vier Tagen niemand verhaftet würde, sollte ich nicht mehr mit einer Verhaftung rechnen: „Wir haben einfach zu viele Mordfälle in diesem Stadtteil - wir verwenden nicht mehr als vier Tage für Mordfälle.“ Das brachte meinen Sohn Daniel auf. Als er merkte, dass die Polizei nicht wirklich daran interessiert war, den Mörder seiner Schwester zu finden, wollte er losgehen, um sich eine Pistole zu kaufen und Menschen niederzuschießen. Man hatte uns nicht darauf vorbereitet, was wir sehen würden, als wir den Wagen von Frances vom Verwahrplatz abholten. Frances war in ihrem Wagen verblutet. Die Kugeln waren durch Aorta, Herz und beide Lungen gedrungen. Sie erstickte an ihrem eigenen Blut. Frances starb früh am Sonntagmorgen, wir holten den Wagen spät am Dienstagnachmittag ab. Der Wagen stank. Der Geruch prägte sich für immer in Daniels Gedächtnis ein. Er dachte an Rache der schlimmsten Art. Er erwartete, dass jemand etwas tun würde, eine Art Gerechtigkeit für seine Schwester.
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Über die nächsten zweieinhalb Jahre sah ich zu, wie es mit Daniel bergab ging, um dann neben dem Grab seiner Schwester zu stehen und zu sehen, wie er in die Erde hinabgelassen wurde. Er hatte schließlich Rache genommen - an sich selbst. Ich sah, was Hass anrichten kann: er fordert den höchsten Tribut von Körper und Geist.
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Der Glaube an Wunder
Die Geschichte sagt: Hoff nie Diesseits des Grabs. Doch Mut: Einmal im Leben kann sie, Die lang ersehnte Flut Der Gerechtigkeit, doch steigen, Geschichte Hoffnungen zeugen. So hoff auf die Gezeitenwende, Auf aller Rachsucht Ende, Glaub, daß die grauen Wellen Doch zu durchqueren sind. Glaub also an Wunder, Kind, An Heil- und Hoffnungsquellen Seamus Heaney
Gordon Wilson hielt die Hand seiner Tochter, während sie unter einem Schuttberg gefangen lagen. Es war
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1987. Marie und er besuchten gerade eine friedliche Gedenkfeier in Enniskillen in Nordirland, als eine Terroristenbombe explodierte. Vor Tagesende waren Marie und neun weitere Zivilisten tot und dreiundsechzig wegen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Erstaunlicherweise lehnte Gordon den Gedanken an Vergeltung mit der Begründung ab, dass böse Worte weder das Leben seiner Tochter noch den Frieden für Belfast zurückbringen könnten. Nur wenige Stunden nach der Explosion erklärte er vor BBC-Reportern: Ich habe meine Tochter verloren und sie wird uns fehlen. Doch ich hege keine Feindschaft. Ich trage keinen Groll mit mir...Das wird sie nicht zurückbringen...Fragt mich bitte nicht nach einem Sinn... Ich habe keine Antwort...Aber ich weiß, dass es einen Plan geben muss. Hätte ich diese Gewissheit nicht, würde ich meinem Leben ein Ende bereiten. Das Geschehene gehört zu einem größeren Plan... und wir werden uns wiedersehen.
Später erklärte Gordon, dass seine Worte nicht als theologische Antwort auf den Mord an seiner Tochter gedacht waren. Sie waren unmittelbar aus der Tiefe seiner Seele gekommen. In den Tagen und Wochen nach der Explosion bemühte er sich, im Einklang mit seinen Worten zu leben. Es war nicht einfach, doch sie gaben W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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ihm einen Halt, an den er sich klammerte und der ihn in den dunklen Stunden des überwältigenden Kummers über Wasser hielt. Er wusste, dass die Terroristen, die den Tod seiner Tochter verschuldet hatten, alles andere als Reue empfanden, und er hielt es für gerechtfertigt, dass sie bestraft und verhaftet werden sollten. Dennoch lehnte er es ab, nach Vergeltung zu trachten. Die Verantwortlichen für diese Tat werden vor Gottes Gericht stehen müssen, das weit jenseits meiner Vergebung liegt...Es wäre falsch, wenn ich je den Eindruck erweckte habe, dass sich Schützen und Bombenattentäter frei auf den Straßen bewegen dürften...Jedoch...ob sie nun von einem irdischen Gericht verurteilt werden oder nicht... ich tue mein Bestes, Vergebung als Ausdruck von Menschlichkeit anzubieten. Das letzte Wort liegt bei Gott.
Gordon wurde wegen seiner Haltung von vielen falsch verstanden und verspottet; doch er behauptet, ohne den Entschluss zur Vergebung hätte er nie die Tatsache hinnehmen können, dass seine Tochter nicht mehr zurückkehren wird. Auch hätte er die Freiheit nicht gefunden, seinen Weg weiter zu gehen. Seine Vergebung hatte auch über sein persönliches Leben hinaus eine positive Wirkung.
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Zumindest zeitweise durchbrachen seine Worte den Teufelskreis von Mord und Vergeltung: die Führer der örtlichen protestantischen Paramilitärs waren so überwältigt von seinem Mut, dass sie darauf verzichteten, Vergeltung zu üben. Wie bewundernswert Gordons Fähigkeit so schnell zu vergeben auch sein mag, so ist sie zugleich auch ungewöhnlich. Für die meisten von uns ist Vergebung gar nicht so einfach - wie auch für Piri Thomas, den die Leser durch seine Autobiographie „Down These Mean Streets“ vielleicht kennen: So oft ich die Worte „vergeben und vergessen“ höre, wandern meine Gedanken zurück in die vierziger und fünfziger Jahre, zu den Ghettos von New York. Da, wo Gewalt Teil des Lebens war und noch ist, habe ich so viele Male gehört, wie Leute, denen Unrecht getan wurde, sich weigerten zu vergeben, auch wenn sie darum gebeten wurden. Oder sie gingen einen Kompromiss ein, der lautete: „Ja, ja, ich vergebe dir, aber vergessen werde ich auf keinen Fall.“ Ich selbst war einer der Unzähligen, die den gleichen, zornigen Kompromiss eingegangen waren. Ich erinnere mich an das schmerzhafte Trauma, das ich erlebte, als meine Mutter Dolores starb. Sie war 34, ich war 17. Ich wurde sehr wütend über Gott, weil er meine Mutter nicht mehr leben ließ; ich W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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weigerte mich, Gott zu vergeben, dass er so unbedacht gehandelt hatte. Mit der Zeit vergab ich Gott, doch vergessen konnte ich lange nicht, weil der große Schmerz in meinem Herzen weiterlebte. Im Alter von 22 Jahren ließ ich mich zusammen mit drei Männern in eine Reihe von bewaffneten Diebstählen verwickeln. Während dem letzten bewaffneten Raubzug kam es zu einem Schusswechsel mit der Polizei. Ich wurde von einem der Beamten getroffen, auf den ich wiederum zurückschoss. Der Polizist erholte sich. Andernfalls würde ich diesen Artikel nicht schreiben können, weil ich dem Tod auf dem elektrischen Stuhl von Sing Sing nicht entgangen wäre. Während meiner Genesung auf der Gefängnisstation im Bellevue Krankenhaus sagte einer der drei Männer, ein Mann namens Angelo, als Kronzeuge gegen mich aus. Angelo war wie ein Bruder für mich gewesen. Beide waren wir im gleichen Häuserblock der Straße 104 aufgewachsen. Angelo verriet mich wegen einigen früheren unbewaffneten Diebstählen, weil Detektive vom Bezirk 23 ihm gedroht hatten, ihn so zusammenzuschlagen, dass nicht einmal seine Mutter ihn wiedererkennen könnte. Angelo hielt durch, solange er konnte, doch dann gestand er nicht nur Dinge, die geschehen waren, sondern auch solche, die sich niemals ereignet hatten. Als ich vom Bellevue Krankenhaus entlassen wurde, kam ich nach Manhattan Tombs, um das Urteil zu erwarten; dort erfuhr ich, dass alles was Angelo gestanden hatte, mir zur Last gelegt wurde...
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Um eine lange Geschichte kurz zu fassen: Ich wurde zu einer zeitgleich laufenden Strafe von fünf bis zehn und fünf bis fünfzehn Jahren Schwerarbeit verurteilt, zuerst in Sing Sing und anschließend im Comstock. Von Zeit zu Zeit kam meine Wut über Angelos Verrat zum Kochen, da er mir zwei Haftbefehle wegen bewaffnetem Diebstahl in South Bronx eingebracht hatte. Nachts in meiner Zelle ertappte ich mich dabei, wie ich über Möglichkeiten phantasierte, ihn zu töten oder ihn wenigstens so schwer zu verletzen, dass er bitten würde, sterben zu dürfen. Angelo und ich waren enge Brüder von der Straße. Ich liebte ihn als solchen, doch jetzt im Gefängnis hasste ich ihn und wollte nichts anderes, als auf die schlimmste Art mit ihm abzurechnen. Um ehrlich zu sein, habe ich während all der Jahre gegen diese Mordgedanken angekämpft und sogar gebetet, die Gedanken an Gewalt loszuwerden. Manchmal vergaß ich für längere Zeit Angelo, doch wenn ich am wenigsten damit rechnete, überkam mich der Gedanke an seinen Verrat. Schließlich wurde ich 1957 entlassen und erhielt die Anweisung, mich jede Woche beim Aufsichtsbeamten und beim Bewährungshelfer vorzustellen. Zurück auf den Straßen, konnte ich dem Gedanken nicht wehren, was wohl geschehen würde, sollte ich Angelo zufällig treffen. Ich habe ihn nie bewusst gesucht, weil ich ihn eigentlich gar nicht finden wollte. Ich besuchte eine kleine Kirche in der Straße 118, halb zum Vorwand, weil sie mir Schutz
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gegen die Gefahr auf den Straßen bieten sollte. Von Zeit zu Zeit dachte ich an Angelo und fühlte noch immer Wut in meinem Herzen brennen. Ich begegnete ihm nie, dafür entdeckte ich bessere Dinge, die meinen Sinn beschäftigten: ich arbeitete an einem Buch, das ich im Gefängnis angefangen hatte, ich traf mich mit einer jungen Frau, namens Nelin, und ich erlebte die Freude, verliebt zu sein und wieder geliebt zu werden. Angelo begann unwichtiger zu werden und in meiner Erinnerung zu verblassen. An einem lauen Sommerabend spazierten wir durch die Third Avenue. Nelin und ich bummelten glücklich durch die Juwelierläden und begutachteten die Preise von Verlobungs- und Eheringen. Als wir einen Juwelierladen verließen, um in den nächsten einzutreten, hörte ich jemanden sanft meinen Namen rufen: „Oye, Piri“. Ohne den geringsten Zweifel wusste ich, dass die Stimme zu Angelo gehörte. Ich drehte mich um, damit ich ihn sehen konnte. Sein einst junges Gesicht zeigte jetzt tiefe Sorgenfalten, die wahrscheinlich dadurch entstanden waren, dass er zu oft über die Schulter spähen musste. Ich fühlte das Rumoren einer alten Wut, die versuchte, wie Galle aus meinem Inneren aufzusteigen. Ich unterdrückte jedoch den Ausbruch und wartete geduldig, um zu hören, was Angelo zu sagen hatte. Nelin zupfte an meinem Arm, um sich bemerkbar zu machen und mit ihrem Blick fragte sie mich, ob das der Mann wäre, den ich mit solchem Zorn erwähnt hatte. Sie flüsterte, „Por favor, Piri, vergiss nicht, was wir besprochen haben.“
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Ich nickte und wandte mich Angelo zu, der schwer schluckte, nicht so sehr aus Angst, sondern eher als ob er lange darauf gewartet hätte, etwas los zu werden. Seine Stimme war weich. „Piri, ich habe alle verletzt, die mir lieb waren dich sicherlich auch. Auf der Polizeistation wurde ich so übel geschlagen, dass ich es nicht aushalten konnte. Ich bitte dich, kannst du mir verzeihen, dass ich dich verraten habe, Bruder?“ Ich starrte ihn an und fragte mich dabei, wie er den Mut aufbringen konnte, mich Bruder zu nennen, nachdem er mich verraten hatte. Zugleich war ich aber glücklich, wieder von ihm Bruder genannt zu werden. „Ich habe Verständnis, wenn du es nicht tust, doch ich brauchte so lange Zeit, um Mut zu fassen. Auch wenn du es nicht tust, ich musste es dennoch versuchen; also, por favor, was meinst du, Piri?“ Ich starrte Angelo an und antwortete erst, als ich fühlte, wie Nelin meine Hand drückte. Die Worte, die aus meinem Herzen kamen, nahmen mir eine große Last von der Seele und ich fühlte, wie ich innerlich frei wurde. „Klar, Bruder, ich vergebe dir. Man sagt, jeder Mensch hat eine Grenze - auch ich. Also, bei Gottes Wahrheit, Angelo, ich vergebe dir nicht nur, Bruder, sondern es ist auch vergessen und das schwöre ich beim Grab meiner Mutter.“ Angelo und mir kamen die Tränen gleichzeitig. „Gracias, Piri, jahrelang habe ich mich selbst gehasst, weil ich es nicht fertig brachte, den Verrat an dir zu
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verweigern. Wenn ich alles noch einmal erleben könnte, würde ich eher gestatten, dass sie mich zu Tode prügeln, als dich zu verraten. Gracias, Bruder, dass du mir vergibst und vergisst, und das sage ich aus ganzem Herzen.“ Angelo streckte seine Hand aus, wollte sie aber auch gleich wieder zurückziehen, als ob er seinem Glück nicht vorauseilen wollte. Meine rechte Hand schnellte hervor und ich schüttelte seine Hand mit ungespielter Aufrichtigkeit; dabei fühlte ich, wie Angelo wiederum meine Hand drückte. Wir umarmten uns kurz und er nickte mir und Nelin lächelnd zu und sagte: „Man sieht sich, Bruder“, dann ging er. Ich legte meinen Arm um Nelins Schultern, sie schob ihren um meine Taille und beide sahen wir Angelo nach, als er um die Ecke verschwand. Ich konnte nicht anders, als an die Worte zu denken, die Nelin einmal gelesen hatte: „Irren ist menschlich, vergeben ist göttlich.“ Sicherlich ist es schwer zu vergeben, doch wie mein Vater Juan zu sagen pflegte: „Alles ist schwer bis es gelernt ist, danach ist es einfach.“ Ich hatte gelernt. Ich hatte nicht nur meinem Straßenbruder Angelo vergeben, ich hatte auch gelernt, mir selbst zu vergeben, dass ich den Wunsch nach Rache so viele Jahre in meinem Herzen getragen hatte. Ich fühlte die Sonne in meinem Herzen aufgehen. Ich nahm Nelins Hand in meine und wir gingen lächelnd auf den nächsten Juwelierladen zu. Die Liebe in mir war endlich frei von der Last des Hasses. Ich sah Bruder Angelo nie wieder, denn er zog in
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eine andere Stadt und es bereitete mir Kummer, als ich ein paar Jahre später erfuhr, dass er ermordet wurde, weil er bei einem Geldhai Schulden hatte. Doch ich werde immer froh sein, dass ich Angelo vergeben habe. Ich habe erfahren, dass das grausamste Gefängnis von allen das Gefängnis einer Wesensart ist, die nicht vergeben kann. Manchmal sind wir versucht, uns einzureden, dass wir nicht vergeben können, obwohl wir die bestehende Notwendigkeit erkennen. Es ist einfach zu hart, zu schwer - etwas für Heilige vielleicht, aber nicht für uns andere. Wir meinen, man hätte uns einmal zu oft verletzt oder falsch verstanden. Unsere Version der Geschichte wurde nicht richtig angehört.
Für mich besteht das Erstaunliche an Gordon und Piris Geschichte darin, dass sie ihre Entscheidungen nicht gegenseitig abgewogen haben, sondern dass sie augenblicklich den Entschluss fassten, einander zu vergeben, und zwar aus dem tiefsten Grund ihres Herzens. Hätten sie es nicht getan, wären sie vielleicht nie wieder in der Lage gewesen, zu vergeben.
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Ausbruch aus dem Kreislauf des Hasses
Wenn es einfach nur böse Menschen gäbe, die irgendwo hinterhältig böse Taten vollbringen und es genügte, sie von uns anderen zu trennen und sie auszurotten! Doch die Trennlinie zwischen Gut und Böse verläuft mitten durch das Herz eines jeden menschlichen Wesens. Wer ist schon bereit, einen Teil seines eigenen Herzens zu zerstören? Alexander Solschenizyn
Das Vaterunser, von Millionen seit ihrer Kindheit gesprochen, enthält die Bitte: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“ Bekannt wie es ist, frage ich mich oft, ob wir auch wirklich meinen, was wir sagen, wenn wir diese Worte wiederholen und ob wir ihre Bedeutung genügend
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bedenken. Für mich ist der Gedanke mit eingeschlossen: Sobald wir erkennen, dass wir Vergebung brauchen, sind wir auch selbst fähig, zu vergeben. Diese Erkenntnis fällt den meisten von uns nicht leicht, weil sie Demut voraussetzt. Doch ist nicht die Demut das Wesentliche der Vergebung? In den Seligpreisungen sagt uns Jesus, dass die Schwachen gesegnet sein werden und dass sie die Erde besitzen werden. In dem Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht warnt er uns davor, andere rücksichtsloser zu behandeln als wir selbst behandelt werden möchten. Ein reicher Mann wollte mit seinen Knechten abrechnen. Einer von ihnen wurde vor ihn gebracht, da er mehrere tausend Pfund schuldete und sie nicht bezahlen konnte. Weil er seiner Schuld nicht nachkam, befahl der reiche Mann, den Knecht samt Frau und Kindern als Sklaven zu verkaufen, um die Schuld zu tilgen. Obwohl der reiche Mann das Recht hatte, so zu handeln, bat der Knecht ihn um Aufschub. Der reiche Mann hatte Erbarmen mit ihm. Er erließ ihm die Schuld und ließ ihn gehen. Doch der Vorfall hatte den Knecht tief erschüttert und er machte sich Sorgen wegen seiner finanziellen Lage; so kam es, dass er kurz nach seiner Rückkehr zu seinem Freund ging, der ihm noch eine kleine Geldsumme schuldete, und von diesem das Geld zurückforderte. Sein Freund konnte auch nicht
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zahlen und er bat den Knecht, Geduld zu haben, doch dieser weigerte sich. Stattdessen ließ er seinen Freund ins Gefängnis werfen. Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und erzählten dem reichen Mann alles. Dieser wurde zornig und ließ den Knecht kommen, damit er Rechenschaft ablege für seine Tat: „Du hast mich gebeten, dir deine Schuld zu erlassen, also tat ich es. Warum konntest du deinem Freund nicht das gleiche Maß an Erbarmen erweisen, das ich dir erwiesen habe?“ In seinem Zorn überließ ihn der reiche Mann den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er schuldig war.
Meiner Erfahrung nach liegt der stärkste Antrieb zur Vergebung in dem Wissen um selbst erfahrene Vergebung, oder - wenn uns das fehlt - in der Erkenntnis, dass wir fehlerhaft sind wie jedes andere menschliche Wesen auch und Dinge getan haben, für die wir Vergebung nötig haben. Jared, ein afroamerikanischer Student aus Boston, berichtet, wie diese Einsicht gerade in seinem Fall zutrifft: Ich war sechs Jahre alt, als ich die Wirklichkeit des Rassismus kennenlernte: Aus der behüteten Umgebung meines Elternhauses wurde ich hinausgestoßen in die Welt - eine örtliche Grundschule in derselben Straße, in der auch unser Haus steht. Schon nach einem Monat verlangte eine Stadtverordnung, dass ich zu einer anderen Schule wechseln sollte. Dahin musste ich mit dem Bus durch den ganzen Ort fahren. Meine Eltern W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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waren nicht erfreut darüber; sie wollten, dass ich eine Schule besuchte, wo man mich kannte und mochte. Sie besaßen draußen auf dem Land eine Farm und wir zogen dorthin... Mein Vater, ein Veteran der Bürgerrechtsbewegung, lehrte mich Liebe und Respekt für jedermann - weiß oder schwarz. Sie versuchten mir beizubringen, im Leben nicht nach rassistischem Gedankengut zu urteilen. Ich war das einzige schwarze Kind in meiner neuen Schule und viele von den anderen Kindern hatten gelernt, zu hassen. Kinder können brutal sein, wenn es um Unterschiede unter ihnen geht. Das kann vielleicht mit einer harmlosen Frage beginnen: „Warum ist deine Hautfarbe braun?“, doch dann fangen sie an, dich auszulachen und zu verspotten, weil man sie zu irgendeinem Zeitpunkt gelehrt hat, dass etwas mit dir nicht stimmt, wenn du anders bist - also nicht „normal“ bist. Ich fühlte mich wie ein Fisch an Land. Diese Kinder machten es mir nicht leicht. Niemals werde ich ein besonders schmerzliches Erlebnis vergessen: Eines Tages machte ich im Bus einen meiner weißen Freunde mit einem anderen weißen Kind bekannt und seitdem saßen die beiden immer zusammen und ließen mich links liegen. Später wechselte ich die Schule. Als ich in der siebten Klasse war, hatte sich das Blatt gewendet. Unsere Klasse war jetzt ganz schwarz, außer einem einzigen weißen Jungen, Shawn, der auch der einzige Weiße in der ganzen Schule war. Wir behandelten ihn
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wie einen Ausgestoßenen, verhöhnten ihn mit rassistischen Sprüchen und verletzten ihn körperlich. Wir ließen unseren Hass gegen die Weißen an ihm aus, obwohl er nichts getan hatte, was uns verletzt hätte. Ich konnte mich nie mehr bei Shawn entschuldigen, denn als ich so weit war, meinen Rassismus als solchen zu erkennen, hatten sich unsere Wege getrennt. Aber ich bat Gott um Vergebung für das, was ich Shawn angetan hatte, und ich beschloss, den Kindern zu vergeben, die kein Herz für mich hatten, als ich das einzige schwarze Kind unter ihnen war.
Hela Ehrlich, eine jüdische Freundin, hat Ähnliches zu berichten. Hela wuchs in Nazi-Deutschland auf; auch wenn
ihre
nächsten
Familienangehörigen
den
Todeslagern entkamen, indem sie kurz vor Ausbruch des II. Weltkrieges aus dem Land flohen, kamen ihre Großeltern beiderseits wie auch alle ihre Freunde aus der Kindheit im Holocaust um. Bei vielen Leuten lindert die Zeit den seelischen Schmerz; bei Hela geschah das Gegenteil. Langsam, fast unmerklich, verwandelte sich ihre Verletzung in Bitterkeit und ihr Schmerz in Groll. Es war nicht Helas Wunsch, verbittert zu sein; sie wollte frei sein, um zu leben und zu lieben. Eigentlich kämpfte sie die ganze Zeit, um zu verhindern, dass sich ihr Herz verhärtete. Doch vergeben konnte sie nicht. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Eines Tages aber dämmerte es ihr: sie würde niemals den Henkern ihrer Familie verzeihen können, wenn sie nicht einsehen könnte, dass diese trotz ihrer Schuld auch Menschen waren wie sie selbst. Zitternd erkannte ich bei einem Blick in mein eigenes Herz, dass auch da Keime des Hasses zu finden waren. Arrogante Gedanken, Ärger über andere, Kälte, Zorn, Neid und Gleichgültigkeit - das sind die Wurzeln der Geschehnisse in Nazi-Deutschland. Und diese Wurzeln sind in jedem menschlichen Wesen vorhanden. Als ich - klarer als je zuvor - erkannte, dass ich selbst dringend Vergebung brauchte, war ich fähig, anderen zu vergeben und endlich fühlte ich mich frei.
Ein anderer Freund, Josef Ben-Eliezer, machte eine ähnliche Erfahrung. Er wurde 1929 in Frankfurt als Sohn polnischer Juden geboren, die vor Verfolgung und Armut aus ihrem Heimatland geflohen waren, jedoch in Deutschland wenig Besserung dieser Nöte fanden: Meine erste Erinnerung an Antisemitismus stammt aus der Zeit, als ich drei Jahre alt war. Ich stand am Fenster unseres Hauses in der Ostendstraße, als eine Formation der Hitlerjugend vorbei marschierte und dabei das Lied „Wenn Judenblut vom Messer spritzt“ sang. Ich kann mich noch an das Entsetzen in den Gesichtern meiner Eltern erinnern. Unsere Familie fasste bald den Entschluss, das
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Land zu verlassen und noch vor Ende des Jahres 1933 waren wir nach Rozwadow in Polen zurückgezogen. Die meisten Einwohner dort waren Juden: Handwerker, Schneider, Zimmerleute und Kaufleute. Es gab viel Armut, doch gemessen an den Umständen, zählten wir zum Mittelstand. Wir lebten in den nächsten sechs Jahren in Rozwadow. 1939 begann der Krieg und nach wenigen Wochen besetzten die Deutschen unsere Stadt. Mein Vater und mein älterer Bruder versteckten sich auf dem Dachboden, und jedes Mal, wenn jemand an der Tür klopfte und nach ihnen fragte, sagten wir, sie wären nicht zu Hause. Dann kam die befürchtete öffentliche Bekanntmachung: Alle Juden mussten sich auf dem Marktplatz der Stadt versammeln. Man gab uns nur wenige Stunden Zeit. Wir nahmen mit, soviel wir in Bündeln auf dem Rücken tragen konnten. Die SS-Leute zwangen uns, vom Marktplatz bis zu einem Fluss zu marschieren, der mehrere Kilometer entfernt war. Uniformierte Männer fuhren mit Motorrädern neben uns her. Einer von ihnen hielt an und schrie, dass wir uns beeilen sollten; dann ging er auf meinen Vater zu und schlug auf ihn ein. Am Flussufer warteten andere uniformierte Männer auf uns. Sie durchsuchten uns nach Geld, Schmuck und Uhren - doch sie konnten das Geld nicht finden, das meine Eltern in den Kleidern meiner Schwester versteckt hatten - danach forderten sie uns auf, den Fluss zu überqueren, hinüber ins Niemandsland. Sie gaben uns auch keine Anweisung, was wir
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anschließend tun sollten und so fanden wir Unterkunft in einem nahegelegenen Dorf. Einige Tage später hörten wir, dass auch das Gebiet diesseits des Flusses von den Deutschen besetzt werden sollte. Von Panik ergriffen und mit dem bisschen Geld, das wir versteckt hatten, kauften meine Eltern zusammen mit zwei weiteren Familien ein Pferd und einen Wagen für den Transport der Kinder und der wenigen Habseligkeiten, die wir auf unseren Rücken gebracht hatten. Wir reisten in Richtung Osten auf Russland zu und hofften, die Grenze noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Die Nacht brach herein, als wir uns in einem großen Wald befanden. Während der Nacht wurden wir von bewaffneten Raubmördern überfallen, die von uns forderten, was wir besaßen. Es war eine Schreckensstunde. Glücklicherweise gelang es den Männern unserer Karawane, sie mutig abzuwehren und schließlich entfernten sich unsere Angreifer, nachdem sie ein Fahrrad und ein paar Kleinigkeiten mitgenommen hatten.
Josef verbrachte die nächsten Jahre in Sibirien, von wo aus er 1943 nach Israel floh. Nach dem Krieg traf er Juden, die in den Konzentrationslagern überlebt hatten: Als die ersten aus Bergen-Belsen und Buchenwald befreiten Kinder 1945 in Palästina eintrafen, erfuhr ich mit Entsetzen, was sie durchlebt hatten. Es waren Jungen - zwölf, dreizehn und vierzehn Jahre alt - doch sie sahen wie alte Männer aus. Ich war erschüttert und
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hasserfüllt gegenüber den Nazis... Dann begannen die Briten, die Einwanderung der Holocaust-überlebenden einzuschränken, und Hass ergriff mich auch gegen sie. Wie andere Juden auch, gelobte ich mir, nie wieder wie ein Schaf zur Schlachtbank zu gehen, nicht ohne mich wenigstens kämpfend zu wehren. Es war uns, als ob wir in einer Welt voll wilder Bestien lebten, und wir konnten nicht begreifen, wie wir überleben sollten ohne ihnen gleich zu werden. Als das britische Mandat in Palästina zu Ende ging, mussten wir nicht mehr gegen die Engländer kämpfen, dafür hatten wir die Araber, die „unser“ Land wollten. Das war der Zeitpunkt, als ich in die Armee eintrat. Ich konnte es nicht länger ertragen, dass andere auf mir herumtrampelten... Während eines Einsatzes zwang meine Einheit eine Gruppe von Palästinensern, ihr Dorf innerhalb von Stunden zu verlassen. Wir ließen sie nicht in Frieden ziehen, sondern belästigten sie einfach aus bloßem Hass. Während wir sie ausfragten, schlugen wir sie auf brutale Art und töteten sogar einige. Es gab keinen Befehl, so zu handeln, sondern wir taten es aus eigener Initiative. Unsere niedrigsten Instinkte waren freigesetzt. Plötzlich flammte in mir die Erinnerung an meine Kindheit im Polen der Kriegszeit auf. Ich durchlebte noch einmal meine Erfahrungen als Zehnjähriger, der von zu Hause vertrieben wurde. Hier gab es auch Menschen, - Männer, Frauen und Kinder - die auf der Flucht waren und mitnahmen, was sie konnten. In
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ihren Augen saß die Angst, eine Angst, die ich nur zu gut kannte. Ich war untröstlich, doch ich gehorchte dem Befehl und durchsuchte sie weiter nach Wertsachen ...
Josef war kein Opfer mehr, doch seine neue Position auf der Seite der Macht brachte ihm keinen Frieden. Eigentlich brachte sie ihm das Gegenteil. Immer wieder nagte die Erinnerung an sein eigenes Leiden an ihm und brachte neue Wellen von Schuldgefühlen mit sich. Josef verließ die Armee, trotzdem wurde er nicht glücklich. Den jüdischen Glauben gab er auf und danach die Religion überhaupt. Er versuchte, die Welt zu verstehen, indem er das Böse in ihr vernunftmäßig erklärte. Aber auch das schien nicht zu helfen. Erst als er nach eigener Aussage den „wirklichen“ Jesus entdeckte - „den, der wenig zu tun hat mit all der Gewalt, die in seinem Namen verübt wurde“, erkannte er die Freiheit eines Lebens, in dem es keinen Hass gibt. In meinem Herzen hörte ich Jesu Worte: „Wie oft wollte ich euch versammeln, doch ihr habt nicht gewollt.“ Ich spürte die Kraft dieser Worte und wusste, sie könnte Menschen über alle Grenzen hinweg zusammenführen, Menschen aus allen Nationen, Rassen und Religionen. Es war eine überwältigende Erkenntnis. Dadurch wurde mein Leben umgekrempelt, denn ich begriff, dass in diesen
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Worten die Heilung vom Hass und die Vergebung der Sünden lag. In meinem neuen Glauben habe ich die Wirklichkeit der Vergebung erfahren. Also frage ich mich: „Wie solltest du den anderen dann nicht vergeben können?“
Jared, Hela und Josef hatten Grund genug, ihre Vergebung zu verweigern. Die Lasten, die sie zu tragen hatten, waren zumindest am Anfang nicht die Folge eigener, sondern die Folge fremder Vorurteile und Hassgefühle. In gewissem Sinne hatten sie durchaus das Recht, solche Gefühle zu hegen. Sobald sie jedoch soweit waren, sich selbst als fehlbare menschliche Wesen zu erkennen, konnten sie ihre Selbstgerechtigkeit ablegen. Indem sie bewusst den Entschluss fassten, den Kreislauf des Hasses zu durchbrechen, konnten sie ihre Fähigkeit entdecken, zu vergeben.
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Segne deine Verfolger Vor manch einem Gedanken bleibt man in Ratlosigkeit stehen, namentlich beim Anblick der Sünden des Menschen, und man fragt sich: “Soll man es mit Gewalt anfassen, oder mit demütiger Liebe?” Entscheide dich immer so: “Ich will es mit demütiger Liebe versuchen.” Hast du dich ein für allemal dafür entschieden, dann wirst du auch imstande sein, die ganze Welt zu besiegen. Liebevolle Demut ist eine gewaltige Macht, die stärkste von allen, und es gibt keine andere, die ihr gleichkäme. Fjodor M. Dostojewskij
In dem bekannten Abschnitt der Evangelien, der Bergpredigt, lehrt uns Jesus, unsere Feinde zu lieben die zu „segnen“, die uns fluchen. Doch es war nicht nur einfach eine Predigt. Wie seine unmissverständlich barmherzige Fürbitte am Kreuz zeigt - „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ - hat er auch
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praktisch vorgelebt, was er gepredigt hat. So auch Stefanus, der erste christliche Märtyrer, der ähnlich betete, als er zu Tode gesteinigt wurde: „Vater rechne ihnen das nicht an.“ Viele Leute missbilligen eine solche Haltung als selbstzerstörende Torheit. Wie und weshalb sollten wir jemanden „umarmen“, der uns verletzen oder gar töten möchte? Warum nicht in Notwehr kämpfen? Als ich ein älteres Manuskript dieses Buches dem afroamerikanischen Schriftsteller Mumia Abu-Jamal zeigte, reagierte er genau auf diese Art: Es ist für mich undenkbar, jemals von den Unterdrückten - ob Juden, amerikanische Eingeborene, oder andere notleidende Völker in der Geschichte Vergebung für ihre Unterdrücker zu erwarten. Wer kann das wagen? Ich höre dich antworten: „Jesus!“ Aber wenn ich an die Juden denke, merke ich, dass es gerade die Nachfolger Jesu, die sogenannten Christen waren, die ihre Todfeinde wurden, die sie in den Ghettos Europas zusammenpferchten, und als die Ghettos voll waren, trieben sie sie in die Gaskammern von Auschwitz, während Millionen von Christen schweigend zusahen. Was die Eingeborenen Amerikas betrifft, hat diese Nation sie an den Rand des Aussterbens gebracht, sie in Reservaten, auf kargsten Böden, zusammengepfercht. Es ist einfach für Leute, die gewissermaßen
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paradiesisch leben, die genug zu essen haben, die Farmen, Ländereien, hübsche Häuser, ein Geschäft usw. besitzen, über Vergebung zu predigen. Aber ist das den Menschen gegenüber gerecht, die in Löchern hausen, ohne Arbeit, vom Hungertod bedroht, die „Elenden dieser Erde“, wie Frantz Fanon sie nennt. Sollten sie den feisten, wohlgenährten Millionen vergeben, die ihre Aushungerung gewollt haben? Wer hat den Krieg gewollt? Wer hat die Gefängnisse gewollt? Wer hat ihre ständige Unterdrückung gewollt? Wer wünscht sich in der Tiefe seines Herzens, niemals geboren zu sein? Sollten diese Elenden ihnen für die kommende Unterdrückung vergeben? Für den Völkermord, der nicht ausbleiben wird? „Vater, vergib ihnen ihre Taten, auch wenn ihre Vorfahren sie seit fünfhundert Jahren begehen?“ Kann dein Herz solch ein Gebet aussprechen? Genau aus diesem Grund fühlte ich mich in meinem Inneren zu politischem Handeln berufen: um „höllische“ Zustände zu ändern, und um zu versuchen, diese Welt als Hölle, zu der sie für Millionen ihrer Einwohner geworden ist, zu verändern. Ändere diese Bedingungen, dann kann vielleicht Vergebung entstehen.
Mumias Worte mögen für einige zu hart klingen, doch sie sind bemerkenswert, denn sie spiegeln eine Perspektive wider, die sich von all den anderen in diesem Buch unterscheidet. Während der letzten W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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achtzehn Jahre hat er in der Todeszelle Pennsylvaniens eingesessen, um einen Mord abzubüßen, von dem ich nicht glaube, dass er ihn verübt hat (so wie es noch Tausende nicht glauben, sowohl in den USA als auch im Ausland). Wie für Mumia ist Unterdrückung auch für den palästinensischen Anwalt für Menschenrechte, Raja Shehadeh, nichts Unbekanntes; doch seine Sicht der Dinge ist eine völlig andere: Für mich liegt im Vergeben eine ungeheure Macht. Es geht um die Bestätigung der eigenen Würde, die Mittel und die Fähigkeit der Vergebung zu besitzen... Es mag schwierig sein, das zu verstehen, denn die herkömmliche Logik wird auf den Kopf gestellt; doch ich denke, wenn Frieden herrschen soll idealistisch gesprochen - geht es nicht ohne Vergebung...
Trotz Missverständnis und Verspottung, ist Rajas Verständnis von der Vergebung nicht ungewöhnlich Hunderte von Minderheiten haben sich diese Vergebung zu eigen gemacht, beginnend mit den frühen Christen, bis zu den Täufern der Radikalen Reformation und den Tolstoi-, Gandhi- und Martin Luther King-Anhängern unseres Jahrhunderts. Die beste Erklärung liefert vielleicht folgender Abschnitt aus Kings Buch, „Strength to Love“ (Kraft zu lieben): W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Es gibt kaum ein anderes Gebot Jesu, das schwerer zu befolgen ist, als der Auftrag, unsere Feinde zu lieben. Manche haben die Erfahrung gemacht, dass es ihnen nicht möglich ist, das in die Praxis umzusetzen. Sie sagen, es ist einfach, die zu lieben, die uns auch lieben, aber wer kann schon solche lieben, die ganz offen oder hinterhältig darauf aus sind, uns zu schaden? Weit davon entfernt, die fromme Eingebung eines utopischen Träumers zu sein, ist der Auftrag, seine Feinde zu lieben, für unser Überleben absolut notwendig. Liebe, gerade für unsere Feinde, ist der Schlüssel zur Lösung der Probleme in unserer Welt. Jesus ist kein unpraktischer Idealist; er ist der praktische Realist... Hass auf Hass steigert den Hass und bringt noch tieferes Dunkel in die Nacht, die schon sternenlos ist. Finsternis kann die Finsternis nicht beseitigen; nur das Licht kann es. Hass kann den Hass nicht beseitigen; nur die Liebe kann es. Hass steigert den Hass, Gewalt steigert die Gewalt, und Härte steigert die Härte in einer abwärtsstrebenden Spirale der Zerstörung... Liebe ist die einzige Kraft, die es fertigbringt, einen Feind in einen Freund zu verwandeln. Wir werden niemals einen Feind los, indem wir Hass mit Hass beantworten; wir werden den Feind los, indem wir die Feindschaft loswerden. Durch seine Wesensart zerstört Hass und reißt in die Tiefe; durch ihre Wesensart schafft die Liebe Neues und wirkt aufbauend. Liebe verwandelt durch ihre befreiende Kraft.
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Kings Bekenntnis zur Liebe als politischen Waffe wuchs aus seinem Glauben, doch es gab auch einen beachtlichen Teil an Pragmatismus in seinem Denken. Er wusste, dass er und andere Afro-Amerikaner aus der Bürgerrechtsbewegung noch mehrere Jahrzehnte mit den Menschen zusammenleben mussten, mit denen sie sich jetzt auseinander zu setzen hatten. Wenn sie sich durch deren Handlungsweise verbittern ließen, würde das bald zu Gewalt führen, die wiederum zu einem neuen Kreislauf von Unterdrückung und Verbitterung führen würde. Eher würden die Mauern des Rassenhasses höher wachsen als dass sie abgebrochen würden. Nur indem sie ihren Unterdrückern vergeben, sagte King, könnten die Afro-Amerikaner die abwärtsführende Spirale der Zerstörung beenden. Nur Vergebung könnte dauernde Veränderung bringen: Wir müssen die Fähigkeit zu vergeben fördern und erhalten. Wem die Kraft zur Vergebung fehlt, dem fehlt auch die Kraft zur Liebe. Es ist gar nicht möglich anzufangen, seine Feinde zu lieben, ohne im Vorfeld immer wieder einzusehen, wie notwendig es ist, denen zu vergeben, die uns Böses und Leid zufügen. Es ist auch notwendig zu erkennen, dass die Vergebung als solche immer von der Person ausgeht, die verletzt wurde, vom Opfer einer tiefen Verwundung, vom Dulder einer schmerzhaften
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Ungerechtigkeit oder einer Unterdrückung. Die Übeltäter mögen vielleicht um Vergebung bitten. Sie besinnen sich vielleicht und machen sich auf den Weg über eine staubige Straße, wie der verlorene Sohn, mit klopfendem Herzen, das sich nach Vergebung sehnt. Aber nur der verletzte Nachbar, der liebende Vater zu Hause, kann tatsächlich das warme Wasser der Vergebung ausgießen. Vergebung bedeutet nicht, das Geschehene zu ignorieren oder eine bösen Tat gut zu heißen. Sie bedeutet vielmehr, dass die böse Tat einer Beziehung nicht länger als Hindernis im Wege steht. Vergebung ist wie ein Katalysator, der die geeignete Atmosphäre für einen frischen Start und einen Neuanfang schafft. Unseren hartnäckigsten Gegnern sagen wir: Eurer Fähigkeit, Leiden zu verursachen, setzen wir unsere Fähigkeit entgegen, Leiden zu erdulden. Eurer körperlichen Stärke treten wir mit unserer seelischen Stärke entgegen. Ihr könnt uns antun was ihr wollt, und wir werden nicht aufhören, euch zu lieben. Wir können nicht mit gutem Gewissen eure ungerechten Gesetze befolgen, weil das NichtMitwirken zum Bösen genauso eine moralische Pflicht ist wie das Mitwirken zum Guten. Werft uns ins Gefängnis und wir werden euch trotzdem lieben. Sendet eure verhüllten Gewalttäter zur Mitternachtsstunde in unsere Gemeinde und schlagt uns halb tot und wir werden euch trotzdem lieben. Aber wir versichern euch, dass wir euch brechen werden mit unserer Fähigkeit zu leiden.
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Eines Tages werden wir unsere Freiheit gewinnen, aber nicht nur für uns selbst. Wir werden euer Herz und Gewissen so anrühren, dass wir gemeinsam den Konflikt gewinnen, und unser Sieg wird ein doppelter Sieg sein.
Im Frühjahr 1965 begleitete ich King in Marion, Alabama, und erlebte seine Haltung der tiefen Liebe und Demut angesichts der Ungerechtigkeit. Ich besuchte das Tuskegee Institut mit Kollegen aus New York, als wir von Jimmie Lee Jacksons Tod erfuhren - ein junger Mann, der vor acht Tagen erschossen wurde - als eine Kundgebung in einer Kirche in Marion von der Polizei unterbrochen wurde. Bewaffnete Polizisten aus ganz Zentral-Alabama kamen in der Stadt zusammen und prügelten mit Schlagstöcken auf die Protestierenden ein, während diese sich in den Straßen verteilten. Anwesende beschrieben später eine Szene des totalen Chaos: weiße Zuschauer zerschmetterten Kameras und zerschossen Straßenlaternen, während Polizeibeamte schwarze Männer und Frauen brutal angriffen, obwohl manche von ihnen auf den Stufen ihrer Kirche knieten und beteten. Jimmies Verbrechen bestand darin, dass er einen bewaffneten Polizisten angriff, der seine Mutter grausam schlug. Seine Strafe: W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Bauchschuss und Stockhiebe auf den Kopf, bis er fast tot war. Die Aufnahme im Ortskrankenhaus wurde verweigert, so dass er nach Selma gebracht werden musste, wo er noch den Reportern seine Geschichte erzählen konnte. Ein paar Tage später starb er. Als die Nachricht von Jimmies Tod kam, fuhren wir sofort nach Selma. Man konnte ihn in der Brown Chapel aufgebahrt sehen, doch obwohl die Leichenbestatter ihr Bestes getan hatten, um seine Verletzungen unsichtbar zu machen, konnten die Wunden an Jimmies Kopf doch nicht verdeckt werden. Drei mörderische Striemen, ein Zoll breit und drei Zoll lang, zeichneten sich oberhalb seines Ohres, an der Schädelbasis und am Oberschädel ab. Zutiefst
erschüttert
wohnten
wir
dort
einer
Gedenkfeier bei. Im Raum drängten sich mehr als dreitausend Menschen (noch mehr standen draußen); wir saßen weit hinten auf einem Fensterbrett. Wir konnten während der Feier kein Wort des Zornes oder der Rache hören. Stattdessen strömte ein Geist des Mutes von den Männern und Frauen der Glaubensgemeinde aus, besonders als sie sich erhoben und das alte Sklavenlied „ain´t gonna let nobody turn me `round“ sangen. Später, während einer zweiten Feier in Marion, war die
Atmosphäre
merklich
gedämpfter.
Auf
der
gegenüberliegenden Straßenseite, aufgestellt vor der Veranda des Landgerichtes, stand eine lange Reihe W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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bewaffneter Polizisten mit den Händen an ihren Stöcken und den Blicken auf uns gerichtet. Es waren die gleichen Männer, die die Schwarzen aus Marion ein paar Tage zuvor angegriffen hatten. Die in der Nähe des Rathauses versammelte Menge der Weißen war nicht weniger einschüchternd. Bewaffnet mit Ferngläsern und Kameras, beobachteten und fotografierten sie uns so sorgfältig, das wir das Gefühl hatten, jeder einzelne würde überwacht. Anschließend sprach King auf dem Friedhof über Vergebung und Liebe. Er bat seine Leute, für die Polizei zu beten, dem Mörder zu vergeben und denen zu vergeben, die sie misshandelten. Dann hielten wir uns an den Händen und sangen: „We shall overcome.“ Es war ein unvergesslicher Augenblick. Wenn es irgendwo einen Grund für Hass und Rache gegeben hat, dann hier. Aber nichts davon war zu spüren, auch nicht bei Jimmies Eltern. Nicht lange davor las ich einen Artikel über die eindrucksvolle Vergebung der Kinder aus Selma in jenen Tagen des Frühjahrs 1965. Örtliche Schüler hatten eine außerschulische friedliche Kundgebung organisiert, als der berüchtigte Sheriff Clark dazukam. Als Clarks Leute begannen, die Kinder zu drängen und zu stoßen, fingen diese bald an zu laufen. Anfangs dachten die Mädchen und Jungen, der Sheriff würde sie dem Gefängnis zu treiben, aber bald wurde es klar, dass W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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das Ziel ein Gefängniscamp war, das mehr als fünf Kilometer außerhalb der Stadt lag. Die Männer blieben hartnäckig, bis die Kinder anfingen sich zu übergeben. Später hieß es, sie hätten Selma das „Marschfieber“ für immer austreiben wollen. Einige Tage nach diesem Vorfall wurde Sheriff Clark mit Schmerzen in der Brust ins Krankenhaus eingeliefert. Kaum zu glauben, aber die Schulkinder aus Selma organisierten einen zweiten Marsch in der Nähe des Gerichtsgebäudes, sangen dabei Gebete für seine Genesung und trugen Schilder mit der Aufschrift „Gute Besserung“. Der bekannte Kinderpsychiater Robert Coles beobachtete die gleiche außergewöhnliche Haltung der Vergebung unter Kindern, als er 1960 in einem Krankenhaus in New Orleans arbeitete. Weiße Eltern als offene Gegner einer Bundesgerichtsentscheidung, die die Rassentrennung in den Schulen der Stadt beenden sollte, zogen nicht nur ihre Kinder aus allen Schulen zurück, die auch Schwarze annahmen, sondern besetzten sie sogar mit Streikposten. Eines der Kinder, die sechsjährige Ruby Bridges, war die einzige afroamerikanische Schülerin ihrer Schule, was zugleich bedeutete, dass sie für eine Weile die einzige Schülerin überhaupt war. Wochenlang musste sie von Aufsichtsbeamten zur Schule begleitet werden. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Eines Tages fiel es ihrem Lehrer auf, wie sie mit den Lippen Worte formte, als sie an den Reihen weißer Eltern vorbeikam, die ihr Schimpfworte entgegenwarfen. Als der Lehrer Coles davon berichtete, wurde er neugierig: Was hatte sie gesagt? Als sie gefragt wurde, antwortete Ruby, sie habe für die Eltern ihrer weißen Mitschüler gebetet. Coles war bestürzt. „Aber wieso?“ „Weil sie es nötig haben, dass man für sie betet“, antwortete sie. Sie hatte in der Kirche von Jesu letzten Worten gehört, „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“, und hatte sie sich zu Herzen genommen. Durch James Christensen, Prior eines TrappistenKlosters in Rom,hörte ich vor kurzem eine ungewöhnliche Geschichte über jemanden, der seinen Verfolgern nicht nur vergeben hat, sondern dies tat, noch bevor das Verbrechen überhaupt begangen wurde. Im Mai 1996 kidnappte die GIA, eine radikal-islamische Gruppe aus Algerien, sieben Mitglieder von James‚ Trappisten im Atlas-Gebirge und drohte, sie als Geiseln gefangen zu halten, sollte Frankreich nicht bereit sein, mehrere ihrer gefangenen Landsleute frei zu lassen. Als die französische Regierung sich weigerte, schnitten sie den Mönchen die Kehle durch. Ganz Frankreich war entsetzt und alle katholischen Kirchen in Frankreich ließen zum Gedenken an die Mönche ihre Glocken zugleich läuten. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Was mich am meisten an der Geschichte beeindruckt hat, ist etwas, das ihr zwei Jahre still vorausgegangen war. Der Prior des algerischen Klosters Cherge hatte eine ungewöhnliche Vorahnung, dass er bald eines gewaltsamen Todes sterben würde, und er schrieb einen Brief, in dem er seinen zukünftigen Mördern vergab. Er versiegelte den Brief und überließ ihn seiner Mutter in Frankreich. Erst nach seinem Tod wurde er geöffnet. In einem Teil heißt es wie folgt: Falls es eines Tages geschehen sollte - und das könnte heute sein - dass ich ein Opfer des Terrorismus werde, der jetzt alle in Algerien lebende Ausländer zu bedrohen scheint, möchte ich, dass meine Gemeinde, meine Kirche, meine Familie, daran denken, dass mein Leben für Gott und für Algerien gegeben wurde; und dass sie akzeptieren, dass dies nicht ohne das Wissen des Herrn über das Leben geschah. Ich wünsche mir, wenn es so weit ist, einen Raum der Klarheit zu finden, der es mir ermöglicht, Gott und meine Mitmenschen um Vergebung zu bitten, und zugleich aus ganzem Herzen demjenigen zu vergeben, der mich niederstrecken wird. Ich wünsche mir einen solchen Tod nicht; es scheint mir wichtig, diese Aussage zu machen: Wie könnte ich Freude daran haben, wenn das algerische Volk, das ich liebe, ohne Unterschied für meinen Mord angeklagt würde? Mein Tod wird scheinbar diejenigen bestätigen, die mich voreilig als naiv oder idealistisch beurteilt W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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haben: „Jetzt soll er uns sagen, was er davon hält!“ Aber sie sollten wissen, dass ich Gott für dieses verlorene Leben danke. In diesem „Danke“, gesprochen für alles, was noch in meinem Leben sein wird, schließe ich auf jeden Fall dich, meinen Freund der letzten Minute ein, der du wahrscheinlich nicht weißt, was du tust... Ich befehle dich dem Gott an, in dessen Antlitz ich deines erkenne. Und mögen wir uns, wenn Gott, unser beider Vater es will, im Paradies als demütige Sünder wiederfinden, wie einer der beiden Schächer am Kreuz.
Wie so viele auf beiden Seiten des arabisch-israelischen Konfliktes, hatte auch Bishara Awad, ein palästinensischer Bekannter, Ungerechtigkeit zu erdulden. Als er neulich über seinen lebenslangen Kampf sprach, vergeben zu können, erzählte er mir Folgendes: 1948 starben während des grausamen Krieges zwischen den Arabern und den jüdischen Siedlern tausende von Palästinenser und noch mehr wurden heimatlos. Unsere Familie blieb nicht verschont. Mein Vater wurde von einer Streukugel tödlich verletzt; es gab keinen geeigneten Platz für das Grab. Keiner konnte das Gebiet verlassen wegen der Gefahr, von beiden Seiten beschossen zu werden; es gab keinen Priester und keinen Geistlichen, um ein Gebet zu sprechen. Also las Mutter uns aus der Bibel, und die anwesenden Männer beerdigten meinen Vater im Hof. Es gab keine Möglichkeit, ihn in die
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Stadt zum Friedhof zu bringen. Mutter wurde auf diese Weise mit neunundzwanzig Jahren Witwe und blieb mit sieben Kindern zurück. Ich war erst neun Jahre alt. Wochenlang hielt uns das Kreuzfeuer gefangen und wir konnten unseren Kellerraum nicht verlassen. Dann zwang uns die jordanische Armee eines Nachts, in die Altstadt zu flüchten. Damals sahen wir unser Haus und unsere Möbel zum letzten Mal. Wir flüchteten mit nichts als unseren Kleidern am Leib, einige von uns in Schlafanzügen... In der Altstadt waren wir Flüchtlinge. Wir wurden in einem alten Lagerraum für Kerosin untergebracht, wo es keine Möbel gab. Eine muslimische Familie gab uns einige Decken und etwas zum Essen. Das Leben war sehr schwer; Ich erinnere mich noch an Abende, an denen wir ohne Essen schlafen gingen. Mutter hatte eine Ausbildung als Krankenschwester und sie fand eine Stelle im Krankenhaus, für 25$ im Monat. Sie arbeitete nachts, tagsüber lernte sie für ihre Weiterbildung. Wir Kinder kamen in Waisenhäuser. Meine Schwestern wurden in einer muslimischen Schule aufgenommen und uns Jungen brachte man in einem Heim unter, das von einer britischen Frau geleitet wurde. Für mich war das ein harter Schlag. Erst hatte ich meinen Vater verloren, und nun wurde ich von meiner Mutter und meiner Familie getrennt. Wir durften einmal im Monat nach Hause; ansonsten lebten wir in den nächsten zwölf Jahren in dem Waisenhaus für Jungen. Hier musste ich weiter leiden, zusammen mit zwei Brüdern und achtzig
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anderen Jungen. Wir hatten nie genug zu essen. Das Essen schmeckte scheußlich und die Behandlung war hart.
Als Erwachsener besuchte Bishara die Schule in den Vereinigten Staaten und wurde amerikanischer Staatsbürger. Später kehrte er nach Israel zurück und nahm eine Stelle als Lehrer in einer christlichen Schule an. Rückblickend sagt er: Im ersten Jahr war ich sehr enttäuscht und unzufrieden. Ich erreichte nicht viel und ich fühlte mich besiegt...Der Hass gegen die jüdischen Unterdrücker war groß: meine Schüler waren Palästinenser und alle hatten in der gleichen Weise gelitten wie ich...Ich konnte meinen Schülern wegen dem maßlosen Hass in mir nicht helfen. Ich hegte ihn seit meiner Kindheit, ohne es überhaupt zu merken. Eines Nachts betete ich unter Tränen zu Gott. Ich bat um Vergebung, weil ich die Juden hasste und weil ich erlaubt hatte, dass der Hass mein Leben bestimmte... Sofort erfuhr ich Befreiung von meiner Unzufriedenheit und von meinem Hass; stattdessen erfüllte mich Liebe.
In einer Kultur, die Selbsterhaltung und Individualismus überbetont, wird über Vergebung gewöhnlich gespottet, so dass die meisten Leute nie innehalten, um zu überlegen, was Vergebung für ein Potential hat, solche Wunden zu W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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heilen, wie sie von Bishara beschrieben wurden. Doch sie bedenken auch nicht die Früchte ihres Gegenteils, nämlich der Bitterkeit. Naim Ateek, ein bekannter palästinensischer Priester aus Jerusalem, dessen Vater 1948 seinen ganzen Besitz an die israelische Armee verloren hatte, sagt Folgendes: Wenn Leute hassen, nimmt sie der Hass gefangen und sie werden ganz davon verzehrt...Hört nicht auf, den Hass und die Bitterkeit zu bekämpfen. Zeitweise werdet ihr die Übermacht haben, zeitweise werdet ihr euch niedergeschlagen fühlen. Auch wenn es äußerst schwierig ist, lasst es niemals zu, dass der Hass euch ganz überwältigt... Hört nie auf, bestrebt zu sein, das Gebot der Liebe und der Vergebung zu befolgen. Lasst die Kraft der Botschaft Jesu nicht verwässern; weicht ihr nicht aus; lehnt sie nicht als unwirklich und unpraktisch ab. Passt sie nicht eurem Maß an, in dem Versuch, sie besser anwendbar zu machen für das reale Leben in der Welt. Ändert sie nicht, so dass sie euch besser passt. Bewahrt sie, wie sie ist, richtet euer Bestreben und Verlangen nach ihr und setzt euch ein für ihre Erfüllung.
Weit davon entfernt, uns zu schwachen und verletzlichen Menschen zu machen, ist Vergebung stärkend, sowohl für die Person, die Vergebung schenkt als auch für die, die sie empfängt. Sie bringt echte Annäherung in die W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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schwierigsten Verhältnisse und erlaubt uns, die Rätsel der Vergeltung und der menschlichen Gerechtigkeit beiseite zu legen und den wahren inneren Frieden zu erleben.
Schließlich
setzt
sie
eine
positive
Kettenreaktion in Bewegung, die die Früchte unserer Vergebung an andere weitergibt.
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Vergebung und Gerechtigkeit
Wahrheit ohne Liebe tötet, doch Liebe ohne Wahrheit trügt. Eberhard Arnold
David, ein israelischer Bekannter, erlebte ähnliche Schwierigkeiten wie Hela und Josef, doch schildert er diese aus einem unterschiedlichen Gesichtspunkt. Davids Geschichte wirft eine uralte Frage auf, die von Generationen von leidenden Männern und Frauen im Laufe der Menschheitsgeschichte gestellt wurde: kennt die Vergebung keine Grenzen? Ich wurde 1929 in Kassel geboren, im schicksalhaften Jahr des finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs, das einen entscheidenden Einfluss auf die Weltlage hatte und dazu beitrug, die Nazis in Deutschland an die Macht zu bringen... Mein Vater war Journalist und meine Mutter Erzieherin. Unsere
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Familie war wohlhabend und wir lebten glücklich, bis sich die Wolken des Faschismus zusammenbrauten. Wie viele andere Juden im ganzen Land, nahm Vater die Nazis anfangs nicht richtig ernst. Wie konnten die gediegenen, gebildeten Deutschen einem solchen Unsinn verfallen? Doch als Hitler Kanzler wurde, rieten wohlmeinende Freunde meinen Eltern, Deutschland zu verlassen. Also verabschiedete sich mein Vater von seinem geliebten Vaterland, wo er geboren wurde und aufgewachsen war, und für das er im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte. Mutter und ich folgten kurz darauf und wir trafen uns in Straßburg wieder, unweit der französischen Grenze. Wir nahmen nur wenige unserer Besitztümer mit. Es war das Ende unseres normalen gewohnten Lebens; wir waren heimatlose, wandernde Juden Nationalität und ohne Rechte.
geworden,
ohne
Für mich als dreijähriges, neugieriges Kind war das eine aufregende Zeit. Ich lernte schnell neue Sitten und eine neue Sprache und ich lernte neue Freunde kennen. Doch ein Jahr später mussten wir wieder umziehen; als deutsche Flüchtlinge galten wir als Gefahr für die Sicherheit in den Grenzgebieten. Wir zogen in ein Dorf in den Vogesen - ein neuer Wechsel. Meine Eltern mussten andere Berufe und eine andere Sprache lernen, sich an eine neue Kultur anpassen, mit viel weniger Annehmlichkeiten als in ihrem früheren Lebensstil auskommen und vor allem den Lebensunterhalt unter schwierigen Umständen bestreiten.
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Ein Jahr später brannte die Fabrik nieder, in der meine Mutter beschäftigt war, was einen neuen Ortswechsel zur Folge hatte, dieses Mal nach Marseille. Wieder versuchten meine Eltern sich durchzuschlagen und sie bauten eine ziemlich wackelige Existenz auf. Wir wechselten die Wohnung oft, was zugleich bedeutete, dass ich Schule und Freunde wechseln musste. Ich hatte nie die Möglichkeit, bleibende Beziehungen aufzubauen. Dann brach der Zweite Weltkrieg aus und alles ging in die Brüche. Wieder war ich ein Fremdling und dazu ein ausländischer...Frankreich wurde überfallen und von der deutschen Armee besetzt; bald fing die Gestapo an, Verhaftungen vorzunehmen. Unsere Wohnung und das Geschäft meiner Eltern wurden beschlagnahmt, doch mit der Hilfe französischer Freunde konnten wir uns verstecken. Schließlich beschlossen meine Eltern, dass die Flucht nach Spanien über die Pyrenäen unsere einzige Hoffnung zu überleben war. Nach drei Tagen Fußmarsch durch die schneebedeckten Berge fing uns die Guardia Civil (Grenzpolizei) ein. Glücklicherweise ließen sie uns durch - so wie sie es mit fast 10.000 Juden gemacht hatten, die illegal nach Spanien hinüber geflüchtet waren. Hätte man uns zurück nach Frankreich verfrachtet, hätte das den sicheren Tod bedeutet. Es kam so, dass wir auf der Polizeistation in Gerona auseinander gerissen wurden. Vater wurde in ein Lager nach Miranda-del-Ebro geschickt und Mutter kam in das örtliche Gefängnis. Ich wurde
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allein zurückgelassen. Ich verbrachte die elendste Nacht meines Lebens in einer eisigen Zelle und dachte, ich hätte meine Eltern für immer verloren. Am nächsten Tag landete ich im Waisenhaus von Gerona, was wenig dazu beitrug, meine Stimmung zu bessern. Dort wurde ich dreizehn (das Alter in welchem jüdische Jungen in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen werden) - und ich vermisste mein BarMizwa... Nach etlichen Monaten wurde ich zu meiner Mutter geschickt; zusammen wurden wir in ein Gefängnis nach Madrid gebracht. Später wurde die ganze Familie wieder zusammengeführt und im Jahr 1944 konnten wir mit Hilfe des Wohltätigkeitskomitees für Zusammenführung der Juden nach Palästina ausreisen. Trotz all der Leiden, die die Deutschen meiner Familie und meinem Volk zufügten, fühle ich mich doch ihrer Geschichte und ihrer Kultur verbunden, die ich durch meine Eltern in mich aufnahm. Ich habe mein Bestes getan, um mit anständigen Deutschen wieder Kontakt zu haben. Trotzdem kann ich niemals die sechs Millionen Juden vergessen - darunter 1,5 Millionen unschuldige Kinder - die von den Nazis und ihren Helfern gequält und ausgerottet wurden. Wenn Vergebung bedeutet, blinden Hass und Rachegefühle abzulegen - ja, dann ist es möglich zu vergeben. Ich vergebe denen, die hilflos dabeistanden und denen, die keinen Mut hatten zu reden. Ich weiß, wieviel Mut erforderlich ist, um sich gegen Autorität zu erheben und dem Terror Widerstand zu leisten, den die Nazis ausübten. Aber wie steht es mit den
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Monstern, die die schlimmsten Gräueltaten seit menschlichem Gedenken verübt haben? Ist es möglich, Hitler und seinen Henkern zu vergeben, seinen SS-Kommandanten und Soldaten, seinen Wächtern in den Todeslagern, seinen GestapoBeamten? Ist es möglich, Folterknechten und Mördern zu vergeben, die Hunderttausende von hilflosen Männern, Frauen und Kindern durch Aushungern, mit Maschinengewehren und in Gaskammern getötet haben? Sind der Vergebung keine Grenzen gesetzt?
Ich denke, der Beweggrund für Davids Frage liegt nicht in der Empörung gegenüber den Mördern seines Volkes, sondern in der Sorge, dass Vergebung als Entschuldigung missdeutet werden könnte. Als Person, die sich verpflichtet fühlt, alles dafür zu tun, dass solche Gräueltaten nie wieder geschehen, kann er sie nicht aus Verantwortung und Schuld entlassen. Das ist auch richtig so. Wer könnte es wagen, einen Menschen wie Hitler zu entschuldigen? Aber Vergebung bedeutet nicht, Menschen zu entschuldigen oder zu entlasten, auch ist sie nicht dafür da, das Moralische oder das Unmoralische ihrer Handlungen abzuwägen. C.S. Lewis schrieb 1947, als das ganze Ausmaß der Holocaust-Gräuel ans Licht gekommen war: „Es ist ein
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gewaltiger Unterschied zwischen Vergeben und Entschuldigen.“ Er wies darauf hin, dass die meisten Menschen ihre Verfehlungen nicht zugeben möchten, also erfinden sie Entschuldigungen für ihre Taten. (Im Falle der Nazis, sagten Tausende Deutsche nach dem Fall des Dritten Reiches, dass sie „nur Befehle befolgt hätten“). Statt um Vergebung zu bitten, bemühen sie sich darum, dass die anderen ihre Entschuldigungen und „mildernden Umstände“ akzeptieren und einsehen, dass sie eigentlich nicht schuldig sind. Aber Lewis fährt fort, „wenn jemand nicht wirklich schuldig ist, gibt es nichts zu vergeben“. In diesem Sinne wären Vergebung und Entschuldigung fast als Gegensätze zu verstehen. Echte Vergebung bedeutet, ständig auf die Sünde zu schauen, die Sünde die übrig bleibt, ohne jede Entschuldigung, nachdem jede Rücksicht geübt wurde und diese in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit, Schmutz, Gemeinheit und Boshaftigkeit zu sehen und dabei doch vollständig versöhnt sein mit der Person, die sie verübt hat. Das, und nur das ist Vergebung.
Als er Zeuge wurde, wie ein junger Mann von den Auftragsleuten des Polizeireviers von Los Angeles verprügelt wurde, entschloss sich Roberto Rodriguez, sie zu fotografieren. Bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde er von den gleichen stockschwingenden Beamten
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angegriffen. Wegen Schädelbruchs wurde er ins Krankenhaus eingeliefert und anschließend wegen des Versuches verhaftet, den Beamten zu töten, der ihn fast um sein Leben gebracht hätte. Roberto, jetzt ein landesweit anerkannter Kolumnist, wehrte sich und nach sieben langen Jahren gewann er sowohl die Freisprechung als auch einen Zivilprozess. Zwischenzeitlich haben ihn seine Versuche, das System anzugreifen, zu einem bekannten Mann gemacht: Während dieser Zeit wurde ich einmal auf der Polizeistation mit Handschellen an eine Bank gefesselt; darüber war mein Bild und ein Artikel ausgehängt worden, der ausführlich über meinen Kampf mit der Polizei berichtete. Jeder vorbeigehende Beamte wurde darauf hingewiesen, sich gut zu merken, wer ich wäre. Anscheinend haben sie es nicht vergessen, denn ich wurde während der nächsten sechs Jahre ständig verfolgt - und ungefähr sechzigmal verhaftet.
Fragen Sie Roberto, was er von Vergebung hält, und er hat Antworten parat. Aber er hat auch eine Menge Fragen. Sie fragen mich nach Vergebung? Muss ich den Polizeibeamten vergeben, die mich verprügelt haben, die mir - mitten in der Nacht - das Gefühl gaben, mich zu meinem letzten Ziel zu fahren? Muss ich den Polizisten vergeben, die mich fälschlicherweise W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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verhafteten und mich hartnäckig verfolgten, dem Bezirksstaatsanwalt, der Klage gegen mich erhob, den Staatsanwälten, die versuchten, mich zu beseitigen? Muss ich den Politikern vergeben, die nichts mit zu tun haben wollten, als ich sie um Hilfe bat, den Reportern die mich als Verbrecher darstellten? Und wie ist es mit meinem Anwalt, der meinen Fall zwei Tage vor der Urteilssprechung abgab? Ich gebe zu, dass wir nicht ganz menschlich sind, solange wir Hass in uns hegen - wenn Zorn uns verzehrt oder Groll in uns ist. Diese Emotionen prägen unser Leben. Besonders in dem Fall, wo jemand Gewalt erlitten hat und seines Menschseins beraubt wurde, ist es grundlegend für die Heilung, diese Art von schwächenden Emotionen loszuwerden. Das bedeutet zugleich etwas zu suchen, das die Leere ausfüllt: die Suche nach der eigentlichen Bedeutung des Menschseins. Ich begann
diese
Suche
1998,
an
meinem
Geburtstag, als ich zum ersten Mal in fast dreißig Jahren sang. Einige Monate später fing ich an zu malen und dann zu schreiben. Ich hatte begonnen, zu meinem Menschsein zurückzufinden. Ich habe mich von meinem Trauma noch nicht erholt, aber wenigstens bringe ich es fertig zu lächeln, zu lachen und das Leben wieder zu lieben, und ich kann andere zum Lachen und zum Lächeln bringen. Ich singe in Erholungs- und Altenheimen. Das ergab sich durch mein Suchen nach Gerechtigkeit, aber auch durch Gebet und Meditation.
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Obwohl Tausende von Minderheiten ähnliche Misshandlung erdulden, haben die meisten nicht so viel Glück wie Roberto. Die meisten erleben den Sieg der Gerechtigkeit nie. Sollte man auch von ihnen erwarten, dass sie ihren Verfolgern vergeben? Roberto ist der Meinung, dass auch sie vergeben müssten und zwar nicht nur um ihrer selbst willen: Weil diese Missstände über Jahre fortdauern, gibt es so viel Bitterkeit auf den Straßen Amerikas, besonders unter denen, die Gewalt erlitten haben und irrtümlicherweise verhaftet wurden. Manche sind krasse Gestalten. Wieder andere sind lebende Zeitbomben, voller Hass und nahe daran zu explodieren. Und sie explodieren tatsächlich. Man denke daran, was in Los Angeles 1992 nach dem Urteil von Rodney King geschah. Tragischerweise verletzt eine solche Gewalttat gerade die Menschen, denen sie Genugtuung schaffen sollte: Familie, Freunde, Nachbarn. Das alles ist keine persönliche Tragödie, sondern eine gesellschaftliche. Es ist wie eine unkontrollierbare Krankheit. Weit entfernt davon Heilmittel zu sein, ist Vergebung auf diesem Gebiet im besten Fall ein Luxus. Trotzdem, gerade weil solche groben Ungerechtigkeiten nicht aufhören, ist es notwendig, dass diejenigen Vergebung üben, die ihres Menschseins beraubt wurden, - um von sich aus zu heilen, ohne auf Entschuldigungen zu warten. Vergebung erfordert keine Entschuldigungen.
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Sicherlich bedeutet das nicht, einfach seine Hände zu falten, fröhlich nach Hause zu gehen und dabei zu vergessen, dass weiter Unrecht geschieht. Es bedeutet einfach: wenn man kämpft, um seine Menschlichkeit wieder zu gewinnen, wenn man für seine Rechte kämpft, so kann man es ohne Zorn, Hass und Bitterkeit tun. Um genauer zu sein: Indem man seinen Gewalttätern vergibt, kann man ihnen helfen, menschlicher zu werden. Doch das ist nur ein Bruchteil der Lösung. Als Gesellschaft haben wir gelernt, dass Menschen, die Gewalttaten ausüben, die andere quälen oder töten, mehr als Vergebung benötigen, wenn sie davor bewahrt werden sollen, ähnliche Verbrechen zu wiederholen. Sie müssen behandelt werden. Ein Gewalttäter wird niemals wahren Frieden finden, bevor er nicht seine eigenen Dämonen austreibt.
Nachdem der Geschäftsmann Bill Chadwick aus Louisiana seinen Sohn Michael durch die Schuld eines betrunkenen Fahrers verlor, wollte er „sehen wie Gerechtigkeit geübt wurde“. Wie auch Roberto, fand er jedoch heraus, dass ihm Gerechtigkeit allein nicht den Frieden brachte, den er suchte. Mein einundzwanzigjähriger Sohn Michael wurde am 23. Oktober 1993 bei einem Verkehrsunfall getötet. Sein bester Freund, der sich auf dem Rücksitz befand, wurde auch getötet. Der Fahrer, der zuviel getrunken hatte und rücksichtslos raste, kam mit kleinen W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Verletzungen davon; er wurde daraufhin wegen zweifacher Tötung durch Verkehrsunfall angeklagt. Michael hatte nur eine Spur Alkohol im Blut, sein Freund gar keinen. Die Räder der Justiz mahlen sehr langsam. Das Gericht benötigte länger als ein Jahr, um den Fall gegen den Fahrer aufzurollen. Wir wohnten einem Verhör nach dem anderen bei, jedes Mal wurde der Fall aufgeschoben. Es gab sogar einen Versuch seines Anwalts, die Ergebnisse des Alkoholtestes zu diskreditieren, jedoch ohne Erfolg. Schließlich bekannte sich der Angeklagte schuldig und wurde zu einer Strafe von sechs Jahren verurteilt. Wir wiesen den Bewährungsbeamten darauf hin, dass eine Entziehungsmaßnahme für ihn nützlich wäre - dabei hatten wir wirklich nicht die Absicht, ihn zu beleidigen, doch waren wir der Überzeugung, dass er büßen müsse für das, was er angerichtet hatte. Trotzdem erhielten wir einen ziemlich hässlichen Brief von seiner Mutter, in dem sie andeutete, dass wir irgendwie die Höchststrafe erzwungen hätten. Sie meinte, wenn ihr Sohn gestorben wäre und Michael der Fahrer gewesen wäre, hätte sie keinen Groll gehegt. Ich riet ihr, nicht darüber zu reden, was sie tun oder lassen würde, bevor ihr Sohn nicht tatsächlich tot wäre. Ihr Sohn wurde schließlich zu sechs Monaten Entziehungskur verurteilt, der Rest seiner sechsjährigen Strafe wurde unter strengen Auflagen zur Bewährung ausgesetzt. Nach sechs Monaten würde ihr Sohn nach Hause kommen. Unserer nicht.
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Ich nehme an, dass ich irgendwie zu dem Glauben gekommen war, die Dinge würden sich ändern, nachdem der Fahrer verurteilt wurde. Ich denke, das meinen die Leute, wenn sie über „inneren Frieden“ sprechen. Wir meinen, wir könnten die Sache ablegen, sobald der Schuldige gefunden wurde, weil dem Opfer dann sozusagen Gerechtigkeit widerfährt und der Schmerz irgendwann aufhören wird. In den Jahren, die auf Michaels Tod folgten, habe ich unzählige Berichte von ähnlich betroffenen Leuten gelesen, die einen Frieden dieser Art suchten. Ich habe sie auch im Fernsehen gesehen, in Oprahs Talkshow, wie sie laut die Todesstrafe forderten, als ob der Tod des Täters helfen würde. Sicher, ich war empört über den Fahrer. Aber ich war auch über Michael verärgert. Schließlich hatte er an dem Abend wirklich ungute Entscheidungen getroffen; er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt. Ich musste durch diesen Ärger hindurch, um Ordnung in meine Gefühle zu bekommen. Doch ich konnte auch nach der Urteilssprechung keinen Frieden finden. Was ich fand war eine große Leere in meiner Seele - und nichts, womit ich sie ausfüllen konnte. Es war einige Monate später, als es mir plötzlich klar wurde: solange ich dem Fahrer nicht vergeben konnte, würde ich niemals den Frieden finden, den ich suchte. Vergeben bedeutete etwas anderes als jemanden aus Verantwortung entlassen. Der Fahrer war noch immer verantwortlich für Michaels Tod, doch ich musste ihm vergeben, bevor ich das Geschehene überwinden konnte. Kein Ausmaß an
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Strafe würde jemals die Rechnung begleichen. Ich musste bereit sein, zu vergeben, ohne dass die Rechnung beglichen würde. Und in diesem Prozess der Vergebung ging es nicht um den Fahrer - es ging um mich. Es war ein Prozess, durch den ich gehen musste; ich musste mich ändern, unabhängig davon, was er tat. Der Weg zur Vergebung war lang und schmerzhaft. Ich hatte mehr zu vergeben als dem Fahrer allein. Ich musste Michael vergeben und Gott (weil er das Geschehene zugelassen hatte) und mir selbst. Letzten Endes war es am schwierigsten, mir selbst zu vergeben. Es war mehrmals in meinem Leben vorgekommen, dass ich Michael an verschiedene Orte gefahren hatte, während ich selbst unter Alkoholeinfluss stand. Das war eine schwerwiegende Erkenntnis: die Notwendigkeit, mir selbst zu vergeben. Meine Empörung über andere Leute war nichts als die eigene Angst nach außen gekehrt. Ich hatte meine eigene Schuld auf andere übertragen auf den Fahrer, auf die Gerichte, auf Gott, auf Michael - so dass ich nicht auf mich schauen musste. Erst als ich meinen Schuldanteil erkennen konnte, änderte sich mein Standpunkt. Dieses habe ich gelernt: dass der Friede, den wir suchen, mit der Vergebung kommt. Und dieser Friede liegt eigentlich in uns, weil die Kraft zur Vergebung nicht außerhalb unserer Person, sondern in uns selbst liegt.
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In einer Gesellschaft wie der unseren, wo die Rechte der Opfer zunehmend als unantastbar angesehen werden, sind Bills Ansichten nicht beliebt. Für viele Menschen ist sogar die Rechtfertigung vor Gericht nicht mehr ausreichend. Sie wollen eine persönliche Rolle im Akt der Vergeltung. In mehreren Staaten der USA werden den Familien der Opfer Plätze in den Zeugenräumen von Hinrichtungskammern angeboten; oder es wird ihnen die Gelegenheit geboten, Aussagen bei der Urteilssprechung zu machen. Nicht vor langer Zeit las ich, dass bei der Verurteilung von Kip Kinkel, einem Fünfzehnjährigen, der 1998 in Springfield, Oregon, eine Schießerei anzettelte, einige Familienangehörige der Opfer so wütend wurden, dass der Richter sie ausschließen und den Saal zur Ruhe auffordern musste. In einem besonders niederdrückenden Augenblick sprach die Mutter eines Opfers über ihre Seelenqual. Mit offensichtlicher Verbitterung sagte sie, sie hoffe, dass Kip genauso von dieser Seelenqual für den Rest seines Lebens gepeinigt würde wie sie selbst. „Das ist für mich die höchste Gerechtigkeit.“ Wie gerechtfertigt die Forderung dieser Mutter auch immer sein mag, sie ist fruchtlos. Blind vor Kummer und entschlossen, den Urheber ihres Kummers zu zwingen, diesen mit ihr zu teilen, sucht sie Trost an einem Ort, wo sie ihn nie finden wird: in der Rache. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Trotzdem sie mir leid tut, ist mir klar, dass sie niemals Heilung finden wird, sondern nur weiteren Herzenskummer und tiefe Enttäuschung. Auch wenn der Weg zur Vergebung entmutigend und steil sein kann, bedeutet es nicht, dass Vergebung unmöglich ist. Im Frühjahr 1998 reisten Freunde aus Pennsylvania, Carroll und Doris King, mit einer Menschenrechtsdelegation in den Irak, um die Auswirkungen der UNO-Sanktionen dort zu prüfen. In Bagdad trafen sie Ghaidaa, eine Frau, die mehr erlitten hat als jede andere Mutter die ich kenne, und die trotzdem bereit war, denen zu vergeben, die ihr den Schmerz zugefügt hatten. Ghaidaa verlor neun Kinder bei der Zerstörung von Al Amariyah, einen massiv verstärkten Betonbunker in Bagdad,
der
von
amerikanischen
„intelligenten
Bomben“ während des Golfkrieges durchdrungen wurde. Mehr als eintausend irakische Zivilisten verbrannten bei diesem Bombeneinschlag, die meisten davon Frauen und Kinder. Heute führt Ghaidaa Touristen durch die Ruinen des Bunkers, in der Hoffnung, dass die, die die Schreckensbilder sehen - unter anderem, geisterhafte Silhouetten, die übrigblieben, wo menschliche Körper die Wände vor extremer Hitze schützten - ihre Stimme gegen zukünftige Bombardierungen erheben werden. Nach einem Rundgang unter Ghaidaas Führung waren W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Carroll und Doris so betroffen, dass sie Ghaidaa baten, ihnen für das zu vergeben, was Amerika ihr und ihrem Volk angetan hatte. Als ehemaliger Offizier der Luftwaffe, der im II. Weltkrieg Angriffe über Europa geflogen hatte, fühlte besonders Carroll, dass er mitschuldig war. Indem sie ihm die Hand drückte, Doris umarmte und in Tränen ausbrach, rief Ghaidaa: „Ich vergebe euch“. Ghaidaa wird niemals Gerechtigkeit nach menschlichen Maßstäben finden. Wie kann man jemals neun tote Kinder ersetzen? Sie wird sie sicher niemals vergessen können. Aber indem sie zu den Herzen zweier Menschen fand, die sie um Vergebung baten, hat sie etwas viel Größeres gefunden.
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Die Werke der Barmherzigkeit Suchst du um Recht schon an, erwäge dies: Daß nach dem Lauf des Rechtes unser keiner Zum Heile käm‘; wir beten all‘ um Gnade, Und dies Gebet muß uns der Gnade Taten Auch üben lehren. William Shakespeare
In seinem Roman „Too Late the Phalarope“ erzählt Alan Paton von einem angesehenen Mann, der eine in seiner Gesellschaft als unverzeihlich geltende Sünde begeht: Ehebruch. Als die Affäre aufgedeckt wird, erweist sich die Wirkung auf die Familie als verheerend. Seine Freunde verlassen ihn, seine Verwandten wenden sich von ihm ab und sein Vater stirbt in Schande. Ein Nachbar jedoch beklagt den Vorfall mit folgenden Worten: „Ein Missetäter kann bestraft werden,“ sagt er. „Aber zu bestrafen und nicht wiedergutzumachen ist das größte
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aller Vergehen... Wenn ein Mensch sich Gottes Vorrecht zu strafen aneignet, dann muss er auch Gottes Versprechen wiedergutzumachen wahrnehmen.“ Wenn es etwas gibt, das die scheinbaren Widersprüche des Geheimnisses enthüllt, das wir Vergebung nennen, dann ist es diese „dornige“ Verletzung. Den meisten von uns fällt es schwer, verhältnismäßig kleine Ärgernisse zu vergeben, und doch fordert Wiedergutmachung oder Versöhnung - wie auch immer sie genannt wird - nicht nur das, sondern auch den Versuch, auf Menschen zuzugehen, die wir viel lieber meiden möchten. Als der aus Miami stammende Chris Carrier zehn Jahre alt war, wurde er von einem früheren Mitarbeiter der Familie entführt, misshandelt, in den Kopf geschossen und in den Everglades in Florida liegen gelassen. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte: Freitag,
der
20.
Dezember
1974,
war
kein
gewöhnlicher Tag. Es war der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien und wir wurden früher entlassen. Ich stieg um 13.15 Uhr aus dem Bus und trat meinen Heimweg an. Mir entgegen kam ein älter aussehender Mann, der mich scheinbar kannte. Nur zwei Häuser von unserem entfernt, stellte er sich als Freund meines Vaters vor: Er erzählte mir, dass er ein Fest für meinen Vater veranstaltete und er fragte mich, ob ich ihm bei der Dekoration helfen könnte. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Ich stimmte zu und lief mit ihm die Strecke wieder zurück bis zum Jugendzentrum, wo er sein Wohnmobil geparkt hatte. Im Fahrzeug legte ich meine Sachen ab und machte es mir bequem. Die Stadt Miami, die ich kannte, verschwand bald, als er in Richtung Norden fuhr. In einem Gebiet weitab vom Vorstadtverkehr hielt er am Straßenrand an. Er gab vor, eine Abzweigung verpasst zu haben. Er gab mir eine Karte mit der Anweisung, eine bestimmte Nummer zu suchen; dann verschwand er im Fonds des Wohnmobils, um „etwas zu holen“. Während ich die Karte studierte und wartete, fühlte ich in meiner Schulter einen scharfen Stich gefolgt von einem zweiten. Ich wandte mich um und sah ihn mit einer Spitzhacke hinter mir stehen. Dann zerrte er mich vom Sitz weg auf den Boden. Über mir kniend stach er mehrmals in meine Brust ein. Ich flehte ihn an, aufzuhören und versprach ihm, nichts zu sagen, wenn er mich nur gehen ließe. Ich war unendlich erleichtert, als er aufstand. Er sagte, er würde mich irgendwo liegen lassen und danach meinem Vater die Stelle nennen, wo ich mich befand. Ich durfte im Fonds des Wohnmobils sitzen, während er weiterfuhr. Dennoch war es mir schmerzhaft bewusst, dass diese Situation außerhalb meiner Kontrolle war. Als ich ihn nach dem Grund seines Handelns fragte, sagte er, mein Vater hätte ihn „viel Geld gekostet“. Nachdem er etwa eine Stunde lang gefahren war, bog er in eine staubige Nebenstraße ein. Er meinte, von dort würde mein Vater mich abholen. Wir gingen gemeinsam ins Gebüsch und ich
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setzte mich hin an der Stelle, die er mir zeigte. Als Letztes erinnere ich mich nur, dass ich sah, wie er wieder fortging.
Sechs Tage später, am Abend des 26. Dezember, wurde Chris von einem Jäger des Ortes gefunden. Sein Kopf war blutig und seine Augen waren schwarz. Er hatte einen Kopfschuss erlitten. Es war wie ein Wunder, dass er keinen Gehirnschaden davon trug. In den darauffolgenden Jahren hatte Chris täglich mit der bangen Unsicherheit zu kämpfen, dass sein Entführer noch auf freiem Fuß war. Wohin ich auch ging, verfolgte mich die Angst vor dem, was hinter der Ecke war, was im Schatten lauerte. Ich war alarmiert von jedem Geräusch und jeder Bewegung. War das ein Hund? Was war das ist es wirklich nur der Wind? Was war das Knarren im Raum nebenan? Kam jemand durch die Hintertür? Drei Jahre lang verbrachte ich jede Nacht im Schlafsack am Fußende des Elternbettes.
Chris musste auch mit den körperlichen Behinderungen zurechtkommen, die er von den Verletzungen davongetragen hatte: er war jetzt auf einem Auge blind und konnte nicht mehr an Kontaktsportarten teilnehmen. Wie jeder andere Teenager auch, sorgte er sich um sein Aussehen.
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Chris sträubte sich dagegen, dass öffentlich über sein Überleben geredet wurde; er erinnert sich, wie er sich fragen musste, wieso er sich nach diesem „Wunder“ so unglücklich fühlte. Dann, im Alter von 13 Jahren, erlebte er eine Veränderung: Er fing an, seinen Alptraum mit anderen Augen zu sehen. Es wurde ihm bewusst, dass seine Verletzungen viel schlimmer sein könnten, dass er eigentlich hätte sterben können. Er sah auch ein, dass er nichts mehr ändern würde, auch wenn er weiter grollte. Er beschloss, aufzuhören mit dem Selbstmitleid und statt dessen mit seinem Leben zurechtzukommen. Dann erhielt Chris am 3. September 1996 einen Anruf, der sein Leben nochmals veränderte. Es war ein Detektiv vom Polizeirevier Coral Gables. Er rief an, um ihn zu benachrichtigen, dass ein älterer Mann aus einem örtlichen Pflegeheim, David McAllister, gestanden hatte der Entführer zu sein. (Er war es tatsächlich, doch lagen nicht ausreichend Beweise vor, um ihn vor Gericht anzuklagen). David hatte als Hilfskraft für einen älteren Onkel aus der Carrier Familie gearbeitet, doch er war aufgrund seiner Alkoholprobleme entlassen worden. Chris besuchte David am nächsten Tag. Es war ein heikler Augenblick, als ich sein Zimmer betrat,doch als ich ihn sah, überkam mich das Mitleid.
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Der Mann, den ich fand, war kein bedrohlicher Kidnapper, sondern ein gebrechlicher Siebenundsiebzigjähriger, der in dem letzten halben Dutzend seiner Lebensjahre blind gewesen war. Davids Körper war vom Trinken und Rauchen ruiniert - er wog weniger als sechzig Pfund. Er hatte keine Familie, oder wenn ja, wollten sie nichts mit ihm zu tun haben, und er hatte keine Freunde. Die einzigen materiellen Besitztümer die er hatte, waren ein paar Bilder, die Kinder aus einer Schule in der Nähe für ihn gemalt hatten. David hatte einen Zimmergenossen, doch sie kannten sich nicht einmal und sprachen auch nicht miteinander. Hier war ein Mann, der dem Tod entgegensah und keinen Beistand hatte außer seinen Reuegefühlen. Als ich das erste Mal mit David sprach, war er eher gleichgültig. Ich nehme an, er hielt mich für einen Polizeibeamten. Ein Freund, der mich klugerweise begleitete, stellte ihm ein paar einfache Fragen, die ihn dazu führten zu gestehen, dass er mich entführt hatte. Er fragte dann: „Haben Sie je den Wunsch gehabt, dem Jungen zu sagen, dass Sie bereuen, was Sie ihm angetan haben?“ David antwortete emphatisch: „Ich wünschte, ich könnte das“. Das war der Augenblick, als ich mich vorstellte. Ohne mich sehen zu können, ergriff David meine Hand und beteuerte, dass er bereute, was er mir angetan hatte. Während er sprach, sah ich auf ihn nieder und es überkam mich wie eine Welle. Warum sollte jemand den Tod erwarten ohne Familie, ohne Freunde, ohne Lebensfreude - ohne Hoffnung? Ich
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konnte nicht anders als ihm meine Vergebung und meine Freundschaft anzubieten.
In den Tagen nach dieser dramatischen Begegnung begann Chris, David zu besuchen, so oft er konnte; gewöhnlich brachte er seine Frau Leslie und ihre zwei Töchter mit. Die zwei Männer verbrachten Stunden miteinander im Gespräch, lesend, und auch betend, und dabei schmolz die Härte des alten Mannes allmählich dahin. Die ganze Woche über erzählte ich ihm von den Fortschritten meiner Genesung und über mein Leben nach dem schrecklichen Tag, als er versucht hatte mich zu töten. Ich hatte das Gymnasium und die Hochschule abgeschlossen. Ich hatte geheiratet, habe eine hübsche Frau und eine Familie. Ich ließ ihn teilhaben an diesen Dingen, damit er begreifen konnte, wie auch einst der Israelit Josef versucht hatte, seinen Brüdern klar zu machen, nachdem sie ihn verlassen hatten: „Das was ihr böse gemeint habt, hat Gott gut gemacht.“ Ich ließ ihn wissen, dass er mein Leben schließlich nicht zerstört hatte, und dass jetzt nichts mehr zwischen uns stand.
Drei Wochen später, gerade als Chris seinen leidenden Freund für die Nacht zurecht machte, starb David. Chris meint, es sei ihm nicht schwer gefallen zu vergeben, obwohl die Reporter, die sich später für die
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Geschichte interessierten, nicht verstehen konnten, wie oder warum er vergeben konnte. Sie bewunderten seine Fähigkeit zu vergeben, doch das was ihn dazu bewegte, konnten sie nicht verstehen. Er berichtet, wie sie jedes Mal sprachlos seien, wenn es um das Thema Vergebung geht, und dass sie sich anscheinend wohler fühlen, wenn sie sich auf das Drama seiner Entführung und die Einzelheiten seiner erlittenen Qualen begrenzen. Aber Chris weiß, warum er David vergab: Es gibt einen sehr pragmatischen Grund zu vergeben. Haben wir Unrecht erlitten, eröffnen sich zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Entweder wir wollen Rache oder wir können vergeben. Wenn wir Vergeltung wählen, wird unser Leben vom Zorn verzehrt. Wo Vergeltung geübt wurde, bleibt eine innere Leere zurück. Der Zorn ist ein Drang, der nur schwer zu befriedigen ist, und daraus kann sich eine Gewohnheit entwickeln. Doch Vergebung macht uns frei, weiter zu leben. Es gibt einen noch zwingenderen Grund zu vergeben. Vergebung ist ein Geschenk - sie ist Gnade. Sie ist ein Geschenk, das ich empfangen habe. In beiden Fällen hat sich Vergebung als Erfüllung erwiesen.
Als die berüchtigte Spitzhackenmörderin Karla Faye Tucker am 3. Februar 1998 in Huntsville, Texas, hingerichtet wurde, hielten kleine Gruppen von Gegnern
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der Todesstrafe ein Mahnwache mit Kerzen ab. Doch eine weit größere Zahl von den Hunderten, die außerhalb
des
Gefängnisses
versammelt
waren,
begrüßten ihren Tod. Ein Plakat, das von einem Mann getragen, wurde sagte alles: „Möge der Himmel dir helfen. Es ist todsicher, dass wir es nicht tun.“ Drinnen im Gefängnis jedoch betete ein Mann namens Ron Carlson für Karla, nicht in dem für die Familien der Opfer bestimmten Zeugenraum, wohin er eigentlich gehörte, sondern in demjenigen, der für die Familie der Mörderin bestimmt war. Es liegt zwei Jahre zurück, als ich Ron kennenlernte und von seinem erstaunlichen Wandel hörte: weg vom Hass, hin zur Versöhnung. Doch was er mir damals erzählte, hat sich mir eingeprägt, als sei es gestern gewesen. Kurz nachdem ich eines Tages um 17 Uhr nach einem schweren Arbeitstag nach Hause kam, es war am 13. Juli 1983, klingelte das Telefon. Es war mein Vater. Er sagte, „Ronnie, du musst sofort in den Laden kommen. Wir haben Gründe zu glauben, dass deine Schwester ermordet wurde.“ Ich war bestürzt. Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte es auch nicht glauben, als ich im Fernsehen sah, wie man ihren Leichnam aus einer Wohnung wegbrachte. Deborah war meine Schwester und sie hatte mich groß gezogen. Meine Mutter und mein Vater ließen sich scheiden, als ich sehr jung war, und meine
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Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Ich hatte keine Brüder, nur diese eine Schwester - so war Deborah etwas ganz Besonderes. Etwas sehr Besonderes. Deborah sorgte dafür, dass ich Kleider zum Anziehen hatte und dass es Essen auf dem Tisch gab. Sie half mir bei den Hausaufgaben und klopfte mir auf die Hand, wenn ich etwas Schlechtes getan hatte. Sie wurde meine Mutter. Nun war sie tot, und trug Dutzende von Einstichwunden am ganzen Körper, und die Tatwaffe, die dies verursachte, wurde in ihrem Herzen zurückgelassen. Deborah war nicht jemand, der Feinde hatte. Sie hatte sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort befunden. Die Mörder waren gekommen, um Motorradteile aus dem Haus zu stehlen, wo sie wohnte. Als sie Jerry Dean entdeckten, den Mann mit dem sie zusammen lebte, hackten sie ihn zu Tode. Sie waren im Drogenrausch. Dann entdeckten sie Deborah, also mussten sie auch sie töten.
Houston war in Aufruhr. Schlagzeilen verkündeten die blutigen Details des Mordes, die ganze Stadt lebte in Angst. Einige Wochen später wurden die Mörder - zwei Drogenabhängige namens Karla Faye Tucker und Daniel Ryan Garret - von Verwandten angezeigt. Sie wurden angeklagt und überführt, und zum Tod durch die Giftspritze verurteilt. (Daniel starb später im Gefängnis). Trotzdem verspürte Ron keine Erleichterung:
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„Natürlich war ich froh, dass sie festgenommen wurden, aber ich wollte sie selbst töten. Ich war von purem Hass erfüllt und ich wollte mich rächen. Ich wollte die Spitzhacke in Karlas Herz stoßen, so wie sie diese in das Herz meiner Schwester gestoßen hatte.“
Ron berichtet, er wäre schon vor dem Tod seiner Schwester ein Trinker und Drogenkonsument gewesen, doch nachdem sie beerdigt war, verschlimmerten sich seine Probleme. Dann, ungefähr ein Jahr später, wurde sein Vater erschossen. Ich war oft betrunken und berauschte mich mit LSD, Marijuana, was immer mir in die Hände kam und so oft ich konnte. Ich hatte auch oft Streit mit meiner Frau. Ich war sehr böse. Ich wollte mir sogar das Leben nehmen. Dann, eines Nachts konnte ich es einfach nicht mehr ertragen. Ich schätze, ich hatte den Punkt erreicht, an dem ich wusste, dass ich etwas tun musste gegen den Hass und die Wut, die sich in mir aufstauten. Es wurde so schlimm, dass ich nur noch Sachen zerstören und Menschen töten wollte. Ich steuerte auf den gleichen Weg zu, wie die Menschen, die meine Schwester und meinen Vater ermordet hatten. Jedenfalls öffnete ich eine Bibel und fing an, zu lesen. Es war wirklich eigenartig: Ich rauchte Joints und las Gottes Wort! Doch als ich zu der Stelle kam, wo sie Jesus kreuzigten, schlug ich das Buch zu. Aus
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irgendeinem Grund traf es mich wie nie zuvor: mein Gott, sie töteten sogar Jesus! Dann fiel ich auf meine Knie - ich hatte das noch nie getan - und bat Gott, in mein Leben zu kommen und mich in die Person umzuwandeln, die er haben wollte, und der Herr meines Lebens zu sein. Das ist es, was im Grunde genommen in der Nacht geschah. Später las ich mehr und ein Vers aus dem Vaterunser - „vergib uns wie auch wir vergeben“ - fiel mir plötzlich auf. Die Bedeutung schien klar zu sein: „Dir wird nicht vergeben solange du nicht vergibst“. Ich erinnere mich, wie ich mit mir selbst stritt: „Ich kann das nicht tun, niemals könnte ich es tun“ und Gott schien darauf zu antworten: „Gut Ron, du kannst es nicht. Aber durch mich kannst du es.“ Nicht lange danach sprach ich am Telefon mit einem Freund, und er fragte mich, ob ich wüsste, dass Karla in der Stadt wäre, im Gefängnis Harris County. „Du müßtest hingehen und ihr deine Meinung sagen“, sagte er. Nun wusste dieser Freund nicht, welchen geistlichen Weg ich eingeschlagen hatte und ich sagte es ihm nicht. Aber ich entschloss mich, tatsächlich zu gehen und Karla zu sehen. Dort angekommen, ging ich auf sie zu und sagte ihr, dass ich Deborahs Bruder wäre. Ich sagte zunächst nichts Weiteres. Sie sah mich an und sagte: „Wer sind Sie?“ Ich wiederholte und sie starrte mich an, als ob sie nicht glauben könnte, was sie hörte. Dann fing sie an zu weinen. Ich sagte: „Karla, was auch immer dabei heraus kommt, müssen Sie wissen, dass ich Ihnen vergebe
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und keinen Groll wider Sie habe.“ An diesem Punkt war all mein Hass und Zorn wie weggeblasen. Es war als ob eine schwere Last von meinen Schultern weggenommen wurde.
Ron erzählt, er habe lange mit Karla gesprochen und während des Gespräches herausgefunden, dass sie auch vor kurzem zum Glauben an Gott gekommen war und dass der Glaube ihre ganze Lebensanschauung verändert hatte. Er entschloss sich darauf, wieder zu kommen und mehr über sie zu erfahren. Zuerst wollte ich nur hingehen, ihr vergeben und wieder gehen, doch nach dem ersten Besuch musste ich wieder zurückkehren. Ich wollte herausfinden, ob das wirklich stimmte mit dem christlichen Glaubensweg, auf den sie sich nach eigener Aussage begeben hatte. Ich wollte auch herausfinden, weshalb Menschen töten, sich gegenseitig ermorden. Das konnte ich nicht herausfinden, aber ich fand heraus, dass Karla es ehrlich meinte. Durch sie fand ich auch heraus, dass sich Menschen ändern können und dass Gott wirklich lebt. Karlas Mutter war eine Prostituierte und Drogenabhängige und sie hatte ihre Tochter in all das eingeweiht, als sie noch sehr jung war. Karla fing an, sich Drogen zu spritzen, als sie zehn war. Erst im Gefängnis machte sie eine Kehrtwendung in ihrem Leben - dank eines Pastors aus dem Gefängnis
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Harris County, der sich um die Frauen kümmerte, ihnen kostenlose Bibeln gab und ihnen half, einen Lebenssinn zu finden.
Ron besuchte Karla jeden zweiten Monat während der folgenden zwei Jahren in der Todeszelle und schrieb ihr auch Briefe. Sie wurden bald enge Freunde. Er erinnert sich: Die Leute konnten es einfach nicht begreifen. Sie meinten, mit mir würde offensichtlich etwas nicht stimmen - ich sollte die Person hassen, die Deborah getötet hatte und nicht Erbarmen mit ihr haben. Jemand aus der Verwandtschaft sagte, mit meiner Art zu handeln würde ich das Andenken meiner Schwester entehren und sie würde sich wahrscheinlich im Grab wenden. Jemand anders machte eine öffentliche Aussage an dem Tag als Karlas Hinrichtung stattfinden sollte, die deutlich machte, wie glücklich er und seine Familie darüber waren, zu wissen dass sie bald tot sein würde. Er sagte: „Wir haben ein Sprichwort in Texas: ´Was du getan hast, geschehe dir auch´“.
Karla selbst war verblüfft über Rons Haltung ihr gegenüber. Während einem Interview mit einer dänischen TV-Mannschaft kurz vor ihrer Hinrichtung sagte sie: „Es ist unglaublich. Erstaunlich. Vergebung ist das eine. Aber noch weiter zu gehen
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und Erbarmen mit mir zu haben - mich wirklich zu lieben...?“ Wie auch immer, sie fand es leichter, Tausende von Texaner zu verstehen, die ihren Tod wollten: Ich kann ihre Wut verstehen. Wer könnte das nicht? Sie ist ein Ausdruck ihrer Verletzung und ihres Schmerzes. Und ich weiß, dass die Leute nicht glauben, ich würde Vergebung verdienen. Doch wer verdient sie wirklich? Ich habe ein neues Leben empfangen und die Hoffnung - die Zusage, dass dies nicht das Ende ist.
Karla ging mutig in ihren Tod und sie lächelte, als sie ihre letzten Worte sprach: „Es tut mir so leid...Ich hoffe, Gott gibt euch allen Frieden dadurch“ - sie summte als man sie festschnallte und ihr das tödliche Mittel einspritzte. Was Ron betrifft, beharrt er auf seiner Meinung, dass es sinnlos war, sie hinzurichten: „Es bringt nichts Gutes, jemanden zu töten. Unsere Straßen werden dadurch nicht sicherer. Es gibt nur noch mehr Opfer. Sicher vermisse ich meine Schwester. Doch ich vermisse Karla auch.“
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Wenn Versöhnung unmöglich ist
Es ist vielleicht unendlich schlimmer, sich weigern zu vergeben als zu töten, denn Letzteres könnte der Drang eines hitzigen Augenblickes sein, während Ersteres eine kalte und bewusste Entscheidung des Herzens ist. George McDonald
Als Marietta Jaegers siebenjährige Tochter während eines Camping-Urlaubs in Montana aus ihrem Zelt entführt wurde, war ihre erste Reaktion ein Wutausbruch: Ich schäumte über vor Hass, verzehrt vom Verlangen nach Rache. „Auch wenn Susie lebend und wohlauf in dieser Minute zurückgebracht werden sollte, könnte ich den Mann töten“, sagte ich zu meinem Mann und ich meinte es auch mit jeder Faser meines Wesens.
Verständlich wie ihre Reaktion auch war, meint Marietta, sie hätte bald begriffen, dass kein Hass ihre
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Tochter wieder zurückbringen konnte. Nicht dass sie bereit gewesen wäre, dem Entführer ihrer Tochter zu vergeben: sie redete sich ein, das zu tun würde Verrat an ihrer Tochter bedeuten. Jedoch tief in ihrem Inneren spürte sie, dass Vergebung der einzige Weg war, um ihren Verlust zu überwinden. Es war dieses Gefühl - und die nackte Verzweiflung was sie dazu bewegte, nicht nur für die gesunde Rückkehr ihrer Tochter zu beten, sondern auch für ihren Kidnapper. Während sie betete, Wochen und dann Monate hindurch, wurden ihre Gebete leichter und ernsthafter zugleich. Sie musste einfach die Person finden, die ihr geliebtes Kind weggenommen hatte. Ja, sie fühlte sogar ein merkwürdiges Verlangen, von Angesicht zu Angesicht mit dieser Person zu sprechen. Dann eines Abends, auf die Minute ein Jahr nachdem ihre Tochter entführt wurde, erhielt Marietta einen Anruf. Es war der Entführer. Marietta hatte Angst - die Stimme war selbstgefällig und höhnisch - doch sie war auch überrascht von ihrem seltsamen, doch echte Gefühl von Mitleid für den Mann am anderen Ende der Leitung. Und sie erkannte, als sie sich beruhigte, dass es ihm genau so ging. Sie sprachen mehr als eine Stunde miteinander. Glücklicherweise konnte Marietta ihr Gespräch auf Band aufnehmen. Das geschah Monate bevor das FBI W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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ihm schließlich auf die Spur kam und ihn verhaftete; erst damals wusste sie, dass ihre Tochter nie wieder nach Hause kommen würde. Die Ermittler hatten die Wirbelsäule eines Kindes unter den Sachen des Entführers gefunden. Das Landesgesetz bot die Todesstrafe an, aber Marietta war nicht auf Rache aus. Sie schreibt: „ Zu dem Zeitpunkt hatte ich schließlich gelernt, dass wahre Gerechtigkeit nicht durch Strafe, sondern durch Versöhnung und Rehabilitierung geschieht.“ Später forerte sie ein alternatives Urteil auf lebenslange Haft mit psychiatrischer Begleitung für den Mörder ihrer Tochter. Der aufgewühlte junge Mann beging bald Selbstmord, doch sie bereute ihren Entschluss nicht, Hilfe angeboten zu haben. Ihre Bemühungen, Frieden herzustellen, endeten damit nicht. Heute ist sie Mitglied einer Gruppe, die für Aussöhnung zwischen Mördern und den Familien ihrer Opfer tätig ist. Kelly, eine langjährige Bekannte, verlor ihren Verlobten, als er sie zehn Tage vor ihrem Hochzeitstag verließ. Das war das letzte Mal, dass sie ihn sah. Sie waren seit mehr als einem Jahr verlobt, und obwohl die Beziehung gelegentlich gewankt hatte, war sie dieses Mal sicher, dass alles gut gehen würde. Sie war sehr verliebt und sehr aufgeregt. Sie hatte endlich die Schwesternschule abgeschlossen und ihr Brautkleid war fast fertig. Dann brach alles zusammen: W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Mein Verlobter gestand, dass er unehrlich zu mir war: Es gab Dinge in seiner Vergangenheit, die noch immer unserer Heirat im Weg standen. Um alles noch zu verschlimmern, wollte er davonrennen, statt die Dinge zu bereinigen. Ich war erschüttert. Ich weinte tagelang und mein Herz war jahrelang gebrochen. Ich suchte die Schuld für seine Unehrlichkeit bei mir und ich wurde verbittert.
Dreißig Jahre später ist Kelly noch immer alleinstehend, aber sie ist nicht mehr verbittert. Auch wenn sie ihm es nicht sagen kann, hat sie ihrem Verlobten wirklich und vollständig vergeben. Trotzdem sie noch manchmal leidet wegen der Heirat, die nie stattfand und der Liebe, die sie verlor, hat sie eine andere Art von Erfüllung gefunden, indem sie anderen Menschen, den Alten und den Kranken, den werdenden Müttern und den behinderten Kindern hilft. Glücklich und voller Tatkraft, ist sie zu sehr beschäftigt, um Selbstmitleid zu nähren und wenige von ihren Freunden - wenn überhaupt welche - wissen Bescheid über ihre Vergangenheit: Weil ich alleinstehend bin, kann ich Dinge tun, die eine beschäftigte Ehefrau und Mutter niemals tun könnte. Ich kann mich zur Verfügung stellen, wann immer und wo immer ich gebraucht werde. Und ich habe für eine größere Kinderschar gesorgt und sie geliebt, als es sonst möglich gewesen wäre. Aber bevor ich all das tun konnte, musste ich aufhören, an mich und an meinen Verlust zu denken. Zuerst musste ich vergeben.
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Als Julie entdeckte, dass ihr Mann Mike ihre Tochter belästigte, war sie außer sich vor Schock und Empörung. Nachdem sie ihn zur Rede gestellt und Maßnahmen ergriff hatte, um sicher zu stellen, dass er sein Verhalten nicht fortsetzte, entschloss sie sich trotzdem, bei ihm zu bleiben. Einerseits wollte sie ihm glauben, als er fest versprach, dass es nie wieder vorkommen würde; andererseits konnte sie den Gedanken, ihn fortzuschicken, nicht ertragen. Doch die Familie zerbrach trotzdem. Ich sank bis zum Rand der Verzweiflung. Mike war für mich ein Fremder geworden und ich konnte nicht länger in der Hölle dieser Ehe leben. Wir blieben ungefähr ein Jahr zusammen und bemühten uns, unsere Beziehung wiederaufzubauen - oder wenigstens davor zu bewahren, weiter zu zerfallen - doch es war zwecklos. Schließlich verließ ich Mike und zog mit meinen Kindern zurück in meine Heimatstadt. Ich war empört, verletzt, hasserfüllt, verschmäht, beleidigt, gedemütigt - und auch diese lange Reihe von Eigenschaftswörtern könnte nicht ausdrücken, was ich fühlte. Ein Kampf tobte in meinem Herzen. Der eine Teil von mir wollte Mike vergeben, doch der andere Teil wollte es ihm heimzahlen und ihm wehtun. Das war besonders der Fall, als er sich von mir trennte und wieder heiratete. Jedes Mal, wenn ich an seine neue Frau dachte, entfachte sich mein Zorn von neuem.
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So sah mein Kampf aus: Tief in mir hatte ich das Gefühl, ich müsste Mike vergeben und ich wollte es auch tatsächlich. Doch wie sollte ich meine Vergebung praktisch ausdrücken? Und wie konnte ich, wenn er so wenig Reue zeigte? Ich wollte keineswegs vertuschen, was er getan hatte und als ich ihn verließ, stellte ich klar, dass ich niemals einwilligen würde, unsere Kinder bei ihm zu lassen. Doch abgesehen davon, schien es nichts mehr zu geben, was ich tun konnte, außer einzusehen, dass unsere Ehe für immer aus war und in die Scheidung einzuwilligen. Es war und ist auch weiterhin kein leichter Kampf, wenn ich die Wirkung des Missbrauchs und der Trennung auf unsere fünf Kinder beobachte. Ich habe auch entdeckt, dass Vergebung keine einmalige Sache ist - sie muss immer wieder bestätigt werden. Manchmal zweifle ich, ob ich Mike überhaupt jemals vergeben habe und ich habe damit zu kämpfen, doch ich weiß letztendlich, dass mich die Kränkungen, die er mir zugefügt hat, nicht zerstören können.
Anne Coleman, die Frauen deren Geschichte ich im ersten Kapitel erzählte, kam nach der Ermordung ihrer Tochter Frances und dem darauf folgenden Tod ihres Sohnes Daniel, der den Tod seiner Schwester nicht bewältigen konnte, zu einem ähnlichen Schluss. Trotzdem diese doppelte Tragödie jeden Anschein eines „normalen“ Lebens für ihre Mutter zunichte machte,
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war sie entschlossen, stark zu bleiben und die Niederlage nicht hinzunehmen. Anstatt sich um ihre eigenen Verletzungen zu kümmern, pflegt sie heute die Wunden ihrer Mitmenschen. Eigentlich tut sie noch viel mehr in ihrer Arbeit als freiwillige Betreuerin der Männer in der Todeszelle von Delaware. Annes Engagement für die Gefängnisinsassen begann, nachdem sie Barbara Lewis kennenlernte, eine Frau, deren Sohn zum Tode verurteilt worden war. Nachdem sie ihn gemeinsam besucht hatten, begannen sie damit, auch andere Insassen zu besuchen: Auf diese Weise lernte ich Billy kennen. Er hatte keine Besucher und war sehr einsam. Ich muss weinen, wenn ich daran denke, wie er gehängt wurde; wie er am Galgen warten musste, mehr als fünfzehn Minuten lang im heulenden Wind, bis die Zeugen kamen. Nach seiner Hinrichtung dachte ich, so könnte ich nicht weitermachen. Dann lernte ich einen kleinen Jungen namens Marcus kennen. Sein Vater war auch in der Todeszelle. Er hatte keine Mutter; er hat beide Schwestern verloren und jetzt hat er Alpträume, weil er seinen Vater auch verlieren soll... Ich weiß, der Hass gegen jemanden wird meine Tochter nicht zurückbringen. Zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich ja doch nicht, ob ich jemals die Person finden werde, die sie ermordet hat. Aber irgendwie muss man Heilung finden und ich habe sie gefunden, indem ich
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Menschen wie Barbara und Marcus helfe. Indem ich ihnen half, habe ich mehr Heilung gefunden, als ich mir je vorstellen konnte.
Am 20. April 1999 verloren Brad und Misty Bernall aus Littleton, Colorado, ihre Tochter Cassie in einer Schulschießerei,
die
sie
und
vierzehn
weitere
Mitschüler das Leben kostete. Wie auch Anne, werden die Bernalls wohl niemals den Tod ihrer Tochter ganz überwinden können. In gewisser Weise wäre das auch unnatürlich, weil das Andenken an ein Kind etwas ist, das Eltern für immer aufrecht erhalten wollen. Sie sind auch noch nicht bereit, aus der Tiefe ihres Herzens zu sagen „ich vergebe“. Jedoch „arbeiten sie daran“, statt nach Vergeltung zu trachten, wie Misty sagt. Brad und Misty sind verbittert von der Erkenntnis, dass man den Mord an ihrer Tochter hätte verhindern können, wenn Eltern, Gesetzeshüter und Schulverwaltung früher eingegriffen hätten. Trotzdem haben sie den Einladungen nicht gefolgt, sich an dem Streit zu beteiligen, den viele Familien der Opfer überall im Land führen, indem sie Anwälte engagiert haben, Prozesse eingeleitet haben und sich in heftige und lautstarke Streitigkeiten eingelassen haben über die Frage nach den wirklich Schuldigen am Tod ihrer
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Kinder. In dem Buch, das Misty über ihre Tochter sechs Monate nach deren Tod schrieb, hat sie sich folgendermaßen ausgedrückt: Zorn ist eine zerstörerische Emotion. Er vernichtet jede Art von Frieden, den man hat, und zum Schluss verursacht er nichts als noch größeren Schmerz, als man anfangs schon hatte. Er macht es auch anderen viel schwerer, einem Trost zuzusprechen, wenn man sich nur damit beschäftigt, den eigenen Groll zu pflegen. Es ist nicht so, dass ich all die Keime nicht in mir hätte, ich weiß, dass ich sie habe, aber ich habe nicht vor, anderen Leuten zu gestatten, diese zu begießen. Da ist auch die Frage nach Vergeltung. Ich glaube, es ist normal, Vergeltung zu suchen, entweder durch eine Klage vor Gericht oder durch andere Mittel. Doch im Fall von Cassies Mördern könnten wir niemals ihre Familien angreifen. Auch wenn wir sie gerichtlich verfolgen und einen Prozess gewinnen würden, keine Geldsumme könnte unsere Tochter zurückbringen.
Es ist klar, dass nicht jede Geschichte ein gutes Ende hat. Manchmal, wie es in Littleton geschah, nehmen sich die Mörder das Leben. Manchmal, wie im Fall von Annes Tochter, werden sie niemals festgenommen. Verlobte (und sogar Verheiratete) verschwinden einfach, gehen auf und davon, ohne jemals von sich hören zu lassen. Marietta versuchte den Mann zu W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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erreichen, der ihre Tochter entführt hatte und fand ihn allzu tief verzweifelt, als dass ihm noch zu helfen wäre. Dann gibt es solche wie Julie, die ihren Mut zusammennehmen und der Peson entgegentreten, der sie vergeben möchten, nur um zu erkennen, dass der Täter keine Spur von Reue für seine Taten empfindet. Jeder, dessen Wunden auf so schmerzhafte Weise weiterbluten, muss zwangsweise für den Rest seines Lebens daran leiden. Unglücklicherweise erfahren am Ende vielleicht die, die sich am meisten Mühe geben, Vergebung zu finden, dass sie ihnen verwehrt wird; die, die Jahr für Jahr vor Sehnsucht brennen, dass endlich Gerechtigkeit geübt wird, werden am Ende vielleicht enttäuscht. Die Glut der Bitterkeit wird immer vergeblich verbraucht. Doch auch das Gegenteil ist wahr. Die Liebe eines vergebenden Herzens ist niemals verschwendet. Sie kann die tiefste Leere füllen und die tiefste Wunde heilen.
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Vergebung im alltäglichen Leben Lieben heißt verletzlich sein. Außerhalb des Himmels gibt es nur einen einzigen Ort, wo man vor allen Gefahren und Unruhen der Liebe geschützt ist - die Hölle. C.S. LEWIS
Die meisten von uns werden wahrscheinlich nie in die Lage versetzt, einem Mörder oder Vergewaltiger zu vergeben. Doch wir alle kommen täglich in die Lage, einem Partner, einem Kind, Freund oder Kollegen vergeben zu müssen - vielleicht Dutzende Male am Tag. Wenn letzteres auch weniger schwierig sein mag als ersteres, ist es in beiden Fällen gleich wichtig. In seinem Gedicht „A Poison Tree“ zeigt William Blake, wie der kleinste Groll Blüten treiben und tödliche Früchte tragen kann.
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Die Samen von Blakes Baum sind die kleinen Ärgernisse des alltäglichen Lebens. Oft sind sie so klein, dass sie zuerst kaum erkennbar sind. Doch wenn wir uns nicht bewusst darum kümmern, werden sie mit der Zeit Keime treiben. Deshalb ist es so wichtig, auch die unbedeutendsten auszurotten, sobald sie in uns Wurzeln schlagen - bevor sie wachsen können. Ich musste früh in meinem Leben lernen, nicht an Ärgernissen festzuhalten. Meine Kindheit war zum größten Teil glücklich, doch ich hatte meinen Anteil an schmerzlichen Erfahrungen. Ich war ein kränkliches Kind, bei dem bald nach der Geburt eine Wasseransammlung in den Gehirnhöhlen diagnostiziert wurde und ein Arzt sagte meiner Mutter, ich würde niemals gehen können. Auch wenn das sich nicht bewahrheitet hat - ich fing mit zweieinhalb Jahren an zu gehen begannen Mitschüler, die meinen Zustand erkannten, mich „Wasserkopf“ zu nennen. Obwohl meine Eltern dadurch stärker verletzt waren als ich, ärgerte mich der Spitzname erheblich. Als ich sechs war, musste ein großes Geschwür an meinem Bein entfernt werden. Es war der erste Eingriff von vielen während der folgenden drei Jahrzehnte. Die Operation dauerte zwei Stunden und die Gefahr der Entzündung hing tagelang über mir - das war noch vor der Zeit der Antibiotika und wir lebten im Hinterland W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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von Paraguay. Nachdem mein Bein zugenäht war, musste ich vom Krankenhaus nach Hause laufen; niemand bot mir Krücken an, geschweige denn einen Wagen. Ich sehe noch das erschrockene Gesicht meines Vaters vor mir, als ich humpelnd in unser Haus eintrat, auch wenn er kein Wort sagte. Das war typisch für meine Eltern. Wir hörten sie nie Schlechtes über andere sagen noch durften wir so etwas sagen. Wie alle anderen Eltern auch, kämpften sie gegen ihre Gefühle an, wenn sie merkten, dass eines von den Kindern entweder durch den Lehrer oder von einem anderen Erwachsenen misshandelt worden war. Doch sie bestanden darauf, dass der einzige Weg, die kleinen Ärgernisse des Lebens zu bewältigen, darin lag, sich über diese hinwegzusetzen. Als ich vierzehn war, zogen wir in die Vereinigten Staaten um. Der Wechsel von einem Dorf der südamerikanischen Wildnis in ein staatliches Gymnasium in New York war beachtlich. Die englische Sprache war vielleicht das größte Hindernis für mich, doch es gab auch andere Hindernisse beim Einleben: Ich fühlte mich fehl am Platz und ungeschickt und obendrein war ich vom Wesen her scheu. Kurz, ich hatte ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Jedes Kind möchte von seinen Altergenossen anerkannt werden und ich war nicht anders. Ich wollte verzweifelt anerkannt werden und ich tat alles, um W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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meinen Mitschülern zu gefallen. Anfangs wurde ich abgelehnt, besonders vom Klassenstärksten. Dann fing ich an, es ihm heimzuzahlen, indem ich ihn hinter seinem Rücken gegen ihn stichelte; ich lachte ihm ins Gesicht, wenn er versuchte herauszufinden, was ich gesagt hatte. Es war nicht verwunderlich, dass ich öfters blutende Nasen davontrug. Als ich älter als zwanzig Jahre alt war, machten mir noch schlimmere Gefühle der Abweisung zu schaffen, als die Frau, mit der ich verlobt war, mir den Rücken kehrte und unsere Beziehung auflöste. Ich hatte Mühe, meine verletzten Gefühle zu überwinden und ihr zu vergeben, um so mehr, weil ich keine Ahnung hatte, aus welchem Grund die Beziehung in die Brüche gegangen war. Später sah ich ein, dass es meine Schuld war, dass alles falsch lief, weil ich so ungeschickt war und ich musste auch mir selbst vergeben. Einige Jahre später wurden meine Hoffnungen wieder zerstört, als eine andere Frau unsere Beziehung nach mehreren Monaten beendete. Meine Welt brach zusammen, als ich versuchte zu verstehen, was geschehen war. Was hatte ich falsch gemacht? Das zweite Mal dauerte es noch länger, gegen meine Gefühle zu kämpfen und mein Vertrauen wiederherzustellen. Doch mein Vater versicherte mir, dass ich mit der Zeit die richtige Frau finden würde - und ein paar Jahre danach stellte sich heraus, dass er Recht hatte. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Vielleicht ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen gegenüber den Menschen, die wir am besten kennen, das Schwierigste, wenn wir Vergebung im alltäglichen Leben ausüben wollen. Es ist schwierig genug, einem Fremden zu vergeben, den wir vielleicht nie mehr sehen, doch es ist viel schwerer, einem Menschen zu vergeben, den wir lieben und dem wir vertrauen. Unsere Familie, unsere Freunde, die Menschen, die uns am Arbeitsplatz am nächsten sind, sie kennen nicht nur unsere Stärken sondern auch unsere Schwächen, unsere Marotten. Wenn sie uns verraten, kommen wir oft ins Wanken. Zumindest machte diese Erfahrung Clare Stober, eine ehemalige Geschäftsfrau, die jetzt ein Mitglied meiner Kirchengemeinde ist: Bevor ich aus der Werbeagentur ausstieg, an der ich zehn Jahre lang beteiligt war, und in einen anderen Staat umzog, musste ich die Angelegenheiten mit meinem Geschäftspartner regeln. Das wurde dadurch erschwert, dass er und seine Frau mir einmal sehr nahe gestanden hatten und in den letzten fünfzehn Jahren zur gleichen Kirchengemeinde gehörten. Mit der Zeit hatten wir uns voneinander entfernt und ich fühlte, dass ich nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten konnte. Keiner von unseren Beratern wollte mir sagen, wie wir unsere Anteile am besten teilen sollten. Ich wollte mehr als fair sein, ich wollte mein Gewissen
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durch nichts belasten und ich machte ein entsprechendes Angebot. Ich meinte, dass es eine sehr großzügige Aufteilung wäre. Doch mein Partner sah die Sache ganz anders und ab dem Tag, als ich ihm von meinem Wunsch erzählte, das Geschäft zu verlassen, sprach er nicht mehr mit mir. Unglücklicherweise dauerte es noch zwei weitere Monate, bis ich das Gefühl hatte, meine Aufgaben vollständig übergeben zu haben; die Übergabe war langwierig, schweigsam, distanziert, begleitet manchmal auch von ärgerlichen Worten. Wir hatten noch immer keinen Vertrag unterschrieben, als ich fortging. Beide Parteien hatten Anwälte eingeschaltet, doch diese machten die Dinge nur komplizierter. Ich hatte eine Drittperson angefordert, die schiedsrichterlich über das Angebot urteilen sollte; doch mein Partner entließ den Schiedsrichter und suchte stattdessen bei einem Buchhalter Rat, mit dem wir sieben Jahre lang zusammengearbeitet hatten. Der Buchhalter erkannte bald, dass seine Zukunft bei dem Partner lag, der das Geschäft weiterführte und half ihm, meinen Ausstieg sehr schwierig zu gestalten. Es waren viele Angebote und Gegenangebote notwendig, um zu einem abschließenden Vertrag zu kommen. Ich möchte hier nicht in Einzelheiten gehen, doch das Ergebnis ihrer Forderungen war, dass ich für das letzte volle Jahr, in dem ich mit ihnen zusammen war, von Januar bis Dezember, für die eine Hälfte der Firmeneinnahmen haften musste, obwohl ich meine Einnahmen nur bis Juni erhielt. Die Sache
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ging so aus, dass ich 50.000 $ Steuern für sie zahlen musste. Als ich erkannte, was sie getan hatten, und dass sie es vorsätzlich und wohlüberlegt getan hatten, war ich so empört, dass ich lange nicht mehr schlafen konnte. Ich hatte das Gefühl, sie hätten sich miteinander gegen mich verschworen, um mich zu vernichten. Ich habe viele schwierige Zeiten in meinem Leben mitgemacht, doch nie so viele schlaflose Nächte erlebt, in denen ich mich hin und her wälzte, gequält von Wut und tiefer Beleidigung. Wenn ich tagsüber daran dachte, was geschehen war, wurden die Zorneswogen, die in mir aufwallten, so heftig, dass ich danach zitterte. Um es noch schlimmer zu machen, fragte mich ein Freund: „Warum bist du verärgert? Es geht doch nur um Geld.“ Das machte mich nur noch ärgerlicher. Sicher ging es „nur ums Geld“ und ich brauchte es damals eigentlich nicht. Aber es ging um „viel“ Geld und es war mein Geld und sie hatten mich betrogen. Offensichtlich konnte die Zahlung trotzdem nicht aufgeschoben werden und so schrieb ich den Scheck und hoffte auf einen Gott der Vergeltung. Mein Weg der Vergebung dauerte Jahre. Es war, als ob man einen Fluss überquert und dabei von einem Stein zum anderen springt. Den ersten Schritt machte ich, als ich eines Nachts alleine im Auto fuhr; das Radio war angeschaltet und es wurde ein Lied über Vergebung gesendet. Der Sänger erklärte den Text, bevor er ihn sang. Er sprach darüber, dass wir unsere Verletzungen wie in einem Schrank in unseren
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Herzen hüten und sie immer aufs Neue hervorholen, um sie zurückzuspulen und wieder abzuspielen. Wir betrachten dann unsere Wunden und pflegen unser Selbstmitleid. Am Ende des Liedes wartete eine Überraschung: Es ging darum, dass wir meinen, die, die uns verletzt haben, gefangenzuhalten, indem wir ihnen nicht vergeben, doch wenn wir das Gesicht des Gefangenen im Turm ansehen, merken wir, dass es unser eigenes ist. An dem Punkt wusste ich, zumindest verstandesmäßig, dass Vergebung der Schlüssel zu einem zufriedenen Leben war. Ich machte einen zweiten Schritt, als ich anfing, meine eigenen Gefühle zu betrachten und erkannte, dass ich eher durch den Geldbetrug meines Partners gekränkt war, als durch seine Verleumdung. Ich fing an mich zu sorgen, weil ich zugelassen hatte, dass Geld in solchem Maße über mein Leben und meine Gefühle bestimmte. Ein anderer Schritt folgte ungefähr ein Jahr später, als ich ein neues Kapitel meines Lebens in einem neuen Ort anfing. Ich sprach mit einer Freundin, die meinen ehemaligen Partner kannte und sie fragte mich, ob ich ihm schon vergeben hätte. Schnell sagte ich „sicher“. Sie gab sich damit nicht zufrieden und forschte weiter, indem sie mir erklärte, wie wichtig Vergebung für unser beider Zukunft sei, auch wenn wir nicht mehr zusammen arbeiteten. Sie sagte, dadurch dass ich mich weigerte, ihm zu vergeben, würde ich ihn irgendwie gebunden halten und hindern, sein Leben zu bewältigen, ganz zu schweigen davon, dass ich meiner
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Zukunft in gleicher Weise schadete. Ich fragte meine Freundin: „Wie funktioniert denn Vergebung?“ Sie beschrieb sie als ein Geschenk - wir können uns zwingen zu vergeben, soviel wir wollen, doch letztendlich muss sie uns geschenkt werden. Ungern fing ich an, mich zum Vergeben durchzuringen, obwohl ich rückblickend erkenne, dass ich noch immer das Gefühl hatte, mein Partner wäre derjenige, der um Vergebung bitten müßte und nicht ich. Der letzte Schritt folgte später, während einer Zeit tiefer geistlicher Einkehr. Ich versuchte, alles in meinem Leben zu überdenken, alles was schief gegangen war, um vor Gott reinen Tisch zu machen. Um ehrlich zu sein, ich kam nicht weiter - ich dachte, es gäbe nichts zu bereinigen. Dann traf es mich mit voller Wucht. Natürlich hatte ich Unrecht erlitten - doch ich hatte mehr als das gleiche Maß an Fehlern in meinem Leben begangen meinem Partner und anderen gegenüber. Ich setzte mich hin und schrieb ihm einen Brief, in dem ich ihm erzählte, wie viel Bitterkeit ich mit mir getragen hatte und ich bat ihn um Vergebung. Ich fühlte eine große Erleichterung, als ich den Briefumschlag zuklebte und ihn zum Briefkasten brachte. Wie auch immer die Antwort lautete, ich konnte jetzt frei von Groll sein. Ungefähr einen Monat später, rief mich die Freundin an, die mir geraten hatte zu vergeben und fragte mich, ob es mir gelungen wäre. Ich konnte es bestätigen und sagte ihr, dass ich mich nun frei fühlte. Sie sagte: „Ich habe es mir gedacht. Ich habe auch bei ihm eine neue Freiheit bemerkt.“
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Schon als Teenager war mein Vater bekannt für seine Fähigkeit, zuzuhören, und für seine Neigung, das Beste über Leute zu denken. Als er in den Gemeinderat kam, waren ihm diese Eigenschaften von großem Nutzen. Selten gab er öffentlich Ratschläge oder äußerte überdeutlich seine Meinung in der Öffentlichkeit (er lernte Englisch auch erst als Erwachsener). Vielmehr nahm er sich der Probleme eines Menschen ruhig an und half anschließend durch eine persönliche Ansicht oder ein ermutigendes Wort. Wo immer Papa auch hinging, wollten die Leute mit ihm reden. Viele waren mit Dingen beschäftigt, die sie loswerden wollten, andere brauchten nur ein Ohr zum Zuhören. Egal wie der Fall war, sie wussten, er würde Zeit für sie haben. Unglücklicherweise brachte ihm genau das, was die Leute zu ihm hinzog, die Kritik neidischer Kollegen ein, die sein Vertrauen missbrauchten und sich gegen ihn wandten. Papa bekam ein Nierenleiden ungefähr zu der Zeit, als ich geboren wurde; als ich aufwuchs, wurde dieses Leiden schlimmer. Rein äußerlich war das Leben hart in der ländlichen Gemeinde, in der wir lebten: tropische Krankheiten nahmen überhand und die Kindersterblichkeit war hoch. Dazu kam, dass es Spannungen in unserer Siedlung gab eine enge Gemeinschaft, die ursprünglich aus Einwanderern bestand, die vor dem Krieg aus Europa geflohen waren. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Unter den gegebenen Umständen wog die Last der Verantwortung so schwer auf Papas Schultern, er war ein gewählter Leiter der Gemeinde, dass es seiner Gesundheit schadete. Einmal, nach mehrwöchigem körperlichen Abbau, sagten seine Ärzte sogar, dass er nur noch vierzig Stunden zu leben hätte. Das Schlimmste befürchtend, versammelte er die ganze Gemeinde um sein Bett und übertrug seine Pflichten an drei andere Männer; einer von ihnen war sein Schwager. Es kam so, dass Papa wie durch ein Wunder gesund wurde, doch anstatt ihm seine Aufgaben zurückzugeben, sagten ihm die neuen Leiter der Gemeinde, dass seine Arbeitstage vorbei wären: Der Arzt hätte ihn für zu schwach erklärt, um seine Aufgaben weiter erfüllen zu können. Eigentlich hatte der Arzt nur ein paar Wochen Ruhezeit empfohlen. Doch das „Missverständnis“ war absichtlich - die Amtskollegen meines Vaters wollten ihn aus dem kirchlichen Amt entlassen. Als Argument für ihren Plan erinnerten sie ihn an die emotionale Instabilität, die er auf dem Höhepunkt seiner Krankheit gezeigt hatte, als er sonderbare Dinge gesehen und bizarre Träume gehabt hatte. Was sollten sie von alledem halten, fragten sie ihn. (Dreißig Jahre später entdeckte ein anderer Arzt den Grund für seine Halluzinationen: es handelte sich um eine Nebenwirkung der primitiven W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Brom-Medikamente, die er zur Behandlung einnahm). Da er niemals zu dem Typ Menschen gehörte, der Widerstand leistet, gab Papa nach und nahm eine Stelle im örtlichen Missionskrankenhaus an. Nicht lange danach erschienen neue Probleme. Besorgt darüber, dass sich die Gemeinde von ihrer ursprünglichen Grundlage entfernte - Glaube, gegenseitige Hilfestellung und brüderliche Liebe - und sich zu einer von einem Komitee geleiteten Bürokratie entwickelte, die von Regeln und Gesetzen getragen wurde, versammelten meine Eltern eine Handvoll anderer Mitglieder, um ihre Besorgnis auszusprechen. Doch sie wurden nicht angehört. Anstatt ihre Fragen zu begrüßen, beschuldigte die Leitung sie wegen des Versuchs, eine Spaltung herbeizuführen, und mehrere Mitglieder, einschließlich Papa, wurden ausgeschlossen. Papa war ein geschickter Gärtner - er hatte in Zürich Landwirtschaft studiert - trotzdem konnte er keine Arbeit finden. Als bekennender Nazi-Gegner wurde er von den Deutschen unseres Ortes, die mit Hitler sympathisierten, misstrauisch betrachtet. Die Verbannten aus England und Amerika fürchteten ihn, weil er deutsch war. Schließlich fand er eine Stelle als Farmverwalter in einer Lepra-Kolonie. In den frühen 40ern gab es keine Heilmittel für Lepra; Papa wurde deshalb gewarnt, dass er seine Frau und seine Kinder vielleicht nie wiedersehen würde, wenn er W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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die Stelle annahm (zu der Zeit galt die Krankheit als ansteckend). Doch was konnte er tun? Er musste seinen Unterhalt irgendwie verdienen, und so nahm er die Stelle an. Nach vielen Monaten durfte er endlich wieder in die Gemeinschaft zurückkehren. Am Tag seiner Rückkehr war ich so aufgeregt, dass ich es fast nicht mehr aushielt. Als ich ihn sah, sprang ich in seine Arme. Er nahm mich auf seine Schultern und ich rief jedem Vorbeigehenden zu: „Papa ist zu Hause!“ Merkwürdigerweise traf meine Freude auf eisige Blicke. Erst Jahre später konnte dies ich verstehen. Ja, Papa durfte zurückkehren. Aber vergeben hatte man ihm nicht. Trotzdem die Seelenqual, die meine Eltern in den Jahren durchlebten, ihnen beiden sehr zu schaffen machte, waren sie nicht verbittert. Tatsächlich habe ich erst Jahrzehnte später erfahren, was sie erlebt hatten nicht von ihnen selbst, sondern von Freunden. Als ich sie fragte, weshalb sie sich nicht gerechtfertigt hätten, sagte mein Vater einfach: „Es spielt keine Rolle, wie oft man verraten wurde, es ist immer besser zu vergeben, als mit Groll und Misstrauen zu leben.“ Ich war tief beeindruckt von seiner Haltung, doch ich war zugleich auch entsetzt. Wie würde ich reagieren, wenn ich auf solche Art behandelt würde?
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1980 fand ich es heraus. Meine Kirche verlangte plötzlich, dass ich von meinem Amt als stellvertretender Ältester an der Seite meines Vaters zurücktreten sollte eine Aufgabe, die mir fast zehn Jahre davor übertragen worden war. Bis zu diesem Tag ist es mir nicht klar, wieso diese Dinge geschahen. Am wahrscheinlichsten handelte es sich um die gleiche Art von Eifersucht, die vierzig Jahre zuvor die Ausweisung meines Vaters bewirkt hatte. Was auch immer der Grund war, genau die gleichen Menschen, die mich immer gelobt und ermutigt hatten - einschließlich Freunde, Kollegen, ja sogar nahe Verwandte - fingen an, das zu bemängeln, was ich je getan hatte. Verwirrt und verärgert war ich versucht, mich zu wehren. Mein Vater war damals Ältester über vier große Gemeinschaften und er brauchte mich mehr denn je: nur wenige Wochen davor war meine Mutter an Krebs gestorben. Hinzu kam, dass ich nicht verstand, was ich falsch gemacht hatte. Es ist wahr, dass ich für die Offenheit meiner Gefühle bekannt war, besonders wenn ich den Eindruck hatte, dass Freundlichkeit und Diplomatie den wahren Inhalt verbergen würden; nicht jeder in unserer Kirche schätzte das. Trotzdem hatte ich immer versucht, demütig und besonnen zu bleiben. Und jetzt das! Verzweifelt wünschte ich mir, meine Position zu verteidigen und meinen „rechtmäßigen“ Platz wieder einzunehmen. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Papa weigerte sich jedoch, mich im Streit zu unterstützen. Stattdessen verwies er mich auf die Bergpredigt, in der Jesus davon spricht, anderen ihre Verfehlungen zu vergeben, so dass uns auch vergeben wird. Er erinnerte mich daran, dass wir zuletzt nicht dafür Verantwortung tragen, was andere uns antun, sondern dafür, was wir ihnen antun. Plötzlich erkannte ich, dass ich nicht so schuldlos war, wie ich gedacht hatte. Ich begann zu verstehen, dass ich tief in meinem Inneren gegen verschiedene Kirchenmitglieder Groll gehegt hatte und, statt mich selbst zu rechtfertigen, mich beugen und Gott auf den Knien um Vergebung bitten müsste. Erst dann würde ich die Kraft finden, um zu vergeben. Ich tat das und plötzlich war es mir, als ob ein Damm tief in meinem Herzen eingebrochen wäre. Vorher hatte sich mein Kampf auf meinen verletzten Stolzes begrenzt; jetzt konnte ich die Dinge aus einer neuen Perspektive sehen und alles schien eher bedeutungslos zu sein. Mit einem Entschlus, die Dinge klarzustellen und die Schuld für jegliche Spannungen auf mich zu nehmen, ging ich zu jedem einzelnen, den ich in der Vergangenheit verletzt haben konnte und bat um Vergebung. Indem ich von einem Menschen zum andern ging, war es, als ob sich in meinem Herzen eine Knoten nach dem anderen löste; am Schluss fühlte ich mich wie ein neuer Mensch. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Jenes Jahr war für mich nicht nur ein sehr schmerzvolles, sondern auch ein sehr bedeutendes, weil ich mehrere Lektionen lernte, die ich nie wieder vergessen sollte. Erstens, dass es nicht zählt, wenn man von Menschen missverstanden oder zu Unrecht verurteilt wird. Was zählt ist, mit Gott im Reinen zu sein. Zweitens, auch wenn der Entschluss zur Vergebung immer aus dem Inneren hervorgehen muss, geht es dabei niemals um Willenskraft allein. Die stärkste Kraftquelle liegt immer im Persönlichen - im Bekenntnis der Schwachheit und der Erfahrung empfangener Vergebung. Schließlich, wenn Vergebung Früchte tragen soll, muss der Boden ringsum der Boden des Herzens - weich genug dafür sein. Wenn er nicht weich ist, wenn man nicht bereit ist, demütig und verletzlich zu sein, wird Vergebung nichts als eine fruchtlose Geste sein. Demut und Verletzlichkeit sind keine Tugenden, die man leicht erwerben kann. Meiner Erfahrung nach stellen sie sich nur durch harte Arbeit, Übung, Geduld und Mühe ein. Trotzdem ist das Leben ohne sie ärmer. Wie M. Peck schreibt: Es gibt keinen Weg, ein erfülltes Leben zu leben, wenn wir nicht immer wieder bereit sind, zu leiden und durch Trauer und Verzweiflung, Angst, Kummer und Trübsal, Ärger und durch den Kampf
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des Vergebens, durch Verwirrung und Zweifel, Kritik und Ablehnung zu gehen. Ein Leben ohne diese emotionalen Tiefen ist nicht nur für uns selbst nutzlos, es ist auch für andere nutzlos. Wir können nicht genesen, ohne die Bereitschaft, uns verletzen zu lassen.
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Vergebung und Ehe
Wenn die Leute um einen Rat für ein verheiratetes Paar in seinen Beziehungsnöten bitten, gebe ich jedes Mal zur Antwort: Beten und Vergeben. Auch Jugendlichen aus schwierigen Familienverhältnissen sage ich: betet und vergebt. Und auch für die alleinstehende Mutter, die keine Unterstützung durch die Familie hat, gilt: Beten und Vergeben. Mutter Teresa
Während jahrelanger Eheberatung habe ich immer wieder beobachtet, wie eine Ehe zur wahren Hölle werden kann, wenn Mann und Frau einander nicht täglich vergeben. Ich habe auch erlebt, wie die heikelsten Probleme oft durch wenige Worte wie ‚es tut mir leid‘ gelöst werden können. Es ist immer schwierig, den Partner um Vergebung zu
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bitten, weil dazu Demut, Verletzlichkeit und Eingestehen von Schwäche und Versagen vorausgesetzt werden. Dennoch gibt es kaum etwas, das heilsamer für die Ehe ist. Dietrich Bonhoeffer, der von Hitler wegen seiner Opposition zum Nazi-Regime verhaftete deutsche Pastor, pflegte die Mitglieder der kleinen, von ihm gegründeten Gemeinde auf „die Notwendigkeit der Vergebung im Zusammenleben“ hinzuweisen, weil keine menschliche
Gemeinschaft ohne Vergebung
überleben kann - am wenigsten eine Ehe. „Besteht nicht auf eurem Recht“, schrieb er einmal. „Beschuldigt euch nicht gegenseitig, richtet und verurteilt einander nicht, habt nichts auszusetzen aneinander, sondern nehmt euch an, wie ihr seid und vergebt einander jeden Tag von ganzem Herzen.“ In dreiunddreißig Jahren Ehe hat es meiner Frau Verena und mir nicht an Gelegenheiten gefehlt, unsere Vergebungsbereitschaft zu erproben. Schon eine Woche nach unserer Heirat hatten wir unsere erste Krise. Wir hatten meine Eltern und Geschwister zum Abendessen in unsere neue Wohnung eingeladen und Verena hatte den ganzen Nachmittag mit Kochen verbracht. Meine Schwester, eine Künstlerin, hatte ein Tafelservice für uns getöpfert und ich deckte den Tisch damit. Meine Familie kam und wir setzten uns zu Tisch. Plötzlich kippten die beiden Tischenden herab - ich W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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hatte die zusammenklappbaren Verlängerungsteile nicht richtig befestigt. Essen und Scherben lagen auf dem Boden und meine Frau floh weinend aus dem Zimmer. Es dauerte Stunden bis sie mir vergeben konnte und über die Katastrophe lachte, die seit damals zur Familienanekdote geworden ist. Bis wir acht Kinder hatten, gab es eine Menge Gelegenheiten zu Unstimmigkeiten. Jeden Abend badete Verena die Kinder und zog ihnen die Schlafanzüge an; danach durften sie mit ihrem Lieblingsbuch auf dem Sofa auf mich warten. Sobald ich von der Arbeit nach Hause kam, wollten jedoch alle wieder ins Freie um mit mir zu spielen, und so kam es oft vor, dass wir schließlich im Hof tobten. Nachher musste Verena die Kinder wieder sauber machen; sie tat es, doch nicht ohne ein gerechtfertigtes Murren. Die meisten unserer Kinder litten an Asthma und als sie klein waren, weckten sie uns fast jede Nacht mit ihrem Husten und Keuchen. Dadurch kam es auch gelegentlich zu Spannungen, besonders, wenn Verena mich erinnerte, dass ich genauso gut wie sie aufstehen könnte um ihnen behilflich zu sein. Es gab auch wegen meiner Arbeit Auseinandersetzungen. Als Geschäftsreisender für unser Verlagshaus, war ich unzählige Tage unterwegs. Weil mein Gebiet sich über den westlichen Teil von New York erstreckte W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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- Buffalo, Rochester und Syracuse - war ich oft sechs oder acht Fahrstunden von zu Hause entfernt. Später führte mich meine Arbeit nach Kanada, Europa, Afrika und sogar nach Australien. Es endete immer damit, dass ich solche Reisen als lebenswichtig verteidigte, doch das konnte Verena kaum besänftigen, die meine Koffer packte und mit den Kindern daheim blieb. Dann gab es da die New York Times. Nach einem harten Tag unterwegs fand ich es in Ordnung, wenn ich mich für ein paar Minuten mit der Zeitung auf dem Sofa ausstreckte, während die Kinder rings um mich spielten, und das sagte ich meiner Frau. Erst später sah ich ein, dass es nett gewesen wäre anzuerkennen, dass auch sie den ganzen Tag gearbeitet hatte. Zu jener Zeit neigte ich dazu aufzubrausen, wenn sie mich daran erinnerte. Oft denke ich nach, was aus unserer Ehe geworden wäre, hätten wir nicht gelernt, gleich von Anfang an uns gegenseitig täglich zu vergeben. So viele Paare teilen Bett und Haus und bleiben innerlich meilenweit voneinander entfernt, weil sie eine Mauer der Verbitterung zwischen sich aufgebaut haben. Die Bausteine in dieser Mauer mögen sehr klein sein - ein vergessener Geburtstag, ein Missverständnis, ein geschäftliches Treffen, das Vorrang hatte vor einem lang ersehnten Ausflug mit der Familie. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Viele Ehen könnten einfach durch die Erkenntnis gerettet werden, dass es die perfekte Ehe nicht gibt. Allzu oft erwarten Ehepaare, dass eine gesunde Beziehung frei von Unstimmigkeiten sein müßte. Unfähig einer solchen unrealistischen Erwartung gerecht zu werden, verschließen sie entweder ihre wahren Gefühle füreinander oder sie geben enttäuscht auf und trennen sich, weil sie „nicht zusammenpassen“. Menschliche Unzulänglichkeit bedeutet, dass wir dauernd Fehler machen und einander verletzen, bewusst und sogar unbewusst. In meinem persönlichen Leben habe ich festgestellt, dass die einzige unfehlbare Lösung die ist, zu vergeben, siebzig mal sieben, wenn nötig. C.S. Lewis schreibt: In den unaufhörlichen Herausforderungen im alltäglichen Leben zu vergeben - der herrschsüchtigen Schwiegermutter, dem tyrannischen Ehemann, der nörgelnden Ehefrau, der selbstsüchtigen Tochter, dem betrügerischen Sohn - wie können wir das erreichen? Ich denke einzig und allein, indem wir uns darauf besinnen, wo wir stehen, indem wir die Worte auch meinen, die wir jeden Abend in unseren Gebeten aussprechen, „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“.
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Die Macht der Vergebung wird wunderbar veranschaulicht durch die Geschichte der Eltern meiner Frau, Hans und Margrit Meier. Hans war ein Mann mit einem starken Willen; sein Eigenwille verursachte mehr als nur eine Trennungsphase in ihrer Ehe. Als überzeugter Antimilitarist war Hans nur wenige Monate nach ihrer Heirat 1929 verhaftet worden, weil er den Militärdienst in der Schweizer Armee verweigerte. Kurz nach seiner Entlassung wurde das Paar wieder getrennt. Sie hatte den Bruderhof entdeckt (die Glaubensgemeinschaft, die meine Großeltern gegründet hatten) und wollte ihr beitreten, während ihr Mann kein Interesse daran hatte. Da sie erst vor kurzem ihr erstes Kind bekommen hatte, bat Margrit Hans, sie zu begleiten, doch er ließ sich nicht leicht beeinflussen. Erst nach mehreren Monaten überzeugte sie ihn dazu. Dreißig Jahre und elf Kinder später, trennten sie sich ein drittes Mal, wieder wegen Meinungsverschiedenheiten bezüglich ihrer Zugehörigkeit zum Bruderhof. Hans zog nach Buenos Aires, wo er die nächsten elf Jahre verbrachte. Margrit und die meisten ihrer Kinder, einschließlich Verena, zogen in die Vereinigten Staaten. Es gab keine äußerlichen Zeichen von Zwist, doch es gab auch keine Zeichen der Versöhnung. Langsam baute sich eine Mauer der Bitterkeit auf, die drohte, sie für immer auseinander zu halten. Als Verena und ich im W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Jahr 1966 heirateten, kam Hans nicht einmal, um bei der Trauung dabei zu sein. 1972 reiste ich mit Verenas Bruder Andreas nach Buenos Aires, um einen Versuch zur Versöhnung mit Hans zu unternehmen, doch er war nicht interessiert, wenigstens nicht am Anfang. Er wollte eben nur seinen Teil der Geschichte wiederholen und uns noch einmal wissen lassen, wie oft er verletzt worden war. Am letzten Tag unseres Aufenthaltes schien sich jedoch etwas geändert zu haben. Er erklärte, er würde uns in den Vereinigten Staaten besuchen. Er betonte, dass er nur für ein paar Wochen kommen würde und dass er eine Rückfahrkarte hätte, doch es war immerhin ein Anfang. Als der Besuch endlich zustande kam, waren wir enttäuscht. Hans konnte einfach nicht vergeben. Alle gaben wir uns Mühe, vergangene Missverständnisse aufzuklären und bekannten unsere Schuld an den Ereignissen, die zu seiner Entfremdung geführt hatten, doch wir kamen zu keinem Ergebnis. Mit dem Verstand wusste Hans, dass nichts außer seiner Unfähigkeit zu vergeben zwischen uns stand. Trotzdem konnte er sich nicht zur Vergebung durchringen. Dann kam der Wendepunkt. Mitten in einem Gespräch, das nirgendwohin führte, nahm mein Onkel Hans-Hermann, der mit Lungenkrebs im Sterben lag, W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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all seine Kraft zusammen, erhob sich, ging hinüber zu Hans, klopfte ihm auf die Brust und sagte: „Hans, die Änderung muss hier geschehen.“ Diese Worte kosteten ihn einen unwahrscheinlichen Kraftaufwand: meinem Onkel musste zusätzlich Sauerstoff über die Nase zugeführt werden und er konnte zu jener Zeit kaum sprechen. Hans war restlos entwaffnet. Seine Kälte schmolz dahin und er entschied sich, sofort an Ort und Stelle zu vergeben und zu seiner Frau und seiner Familie zurückzukehren. Nach der Rückreise nach Argentinien, wo er seine Angelegenheiten regelte, zog er zu ihnen, um für immer zu bleiben. Glücklicherweise waren die Bande zwischen Hans und Margrit in all den Jahren ihrer Trennung nie ganz zerrissen: Hans hatte nie eine andere Frau angerührt und Margrit hatte täglich für die Rückkehr ihres Mannes gebetet. Dennoch brauchten sie Zeit, um ihre Beziehung wiederaufzubauen und der Schlüssel dazu war sicher ihre Bereitschaft zu vergeben. Am Ende wurde ihre Ehe mit tiefer Liebe und Freude aneinander gesegnet. Sie dauerte bis zu Margrits Tod sechzehn Jahre später. Die Geschichte meiner Schwiegereltern macht deutlich, dass eine von einer langen Trennung unterbrochene Ehe geheilt werden kann. Doch wie steht es mit einer Ehe, die durch Ehebruch zerstört wurde? Ist es zumutbar, von W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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einer betrogenen Ehefrau oder einen betrogenen Ehemann zu erwarten, genügend Mut aufzubringen, um zu vergeben und neu anzufangen? Vor drei Jahren betreute ich Ed und Carol, ein Ehepaar, dessen Ehe in die Brüche gegangen war. Schon vor ihrer Heirat war Ed ein Trinker gewesen; dadurch gab es von vornherein Spannungen in ihrem Haus. Abgesehen davon, ging es im übrigen ziemlich gut und bald hatten sie Kinder: erst einen Jungen, dann ein Mädchen. Für jeden Außenstehenden schien das die perfekte Ehe zu sein. In ihrem Inneren jedoch entfernten sich Ed und Carol immer mehr voneinander. Dann begann Ed eine Beziehung mit einer Nachbarin. Ed und Carol traten unserer Kirche ein paar Jahre später bei und ungefähr zu jener Zeit bekannte Ed seinen Seitensprung, zuerst seiner Frau und danach mir. Wie er später gestand, ließ ihm sein Gewissen keine Ruhe und er konnte den Druck nicht länger ertragen, solch ein Geheimnis zu wahren und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Carol war sprachlos. Sie hatte seit langer Zeit das Gefühl, dass irgend etwas nicht stimmte, doch sie hatte eine solche Enttäuschung nie erwartet. Wütend erklärte sie Ed, dass ihre Ehe vorbei wäre und dass sie ihm nie vergeben würde. Obwohl es nicht schwierig war, Carols Ärger zu verstehen, hatte ich das Gefühl, dass ihre erste Reaktion W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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- „Ich werde dir niemals vergeben“ - weniger mit der Schwierigkeit, Ed zu vergeben, zu tun hatte, als mit dem Gedanken des „Heimzahlens“. Ich bin mir sicher, dass sie tief in ihrem Inneren nichts anderes wünschte, als eine heile Beziehung mit dem Mann, den sie liebte dem Vater ihrer Kinder. Doch wegen der Art, wie er mit ihr umgegangen war, erst mit seinem Trinken und dann mit seinem Ehebruch, konnte sie mit ihrer Empörung nicht zurückhalten. Ed verdiente keine andere Chance, und so würde sie ihm auch keine geben... Es war mir klar, dass sowohl Ed als auch Carol Zeit und Raum brauchten, um ihre Probleme alleine zu verarbeiten. Einerseits waren sie nicht in der Lage, zusammen zu wohnen; und es würde keine schnelle Lösung geben. Eine neue Beziehung musste von Grund auf aufgebaut werden und dieser Prozess würde lang und schmerzhaft sein. Zum anderen fühlte ich, dass eine vorläufige Trennung ihnen die Objektivität geben würde, die sie brauchten, um einander mit neuen Augen zu sehen, und die ihnen vielleicht helfen könnte, ihre ursprüngliche Liebe zueinander neu zu entdecken. Ed und Carol trennten sich und in den folgenden Monaten betreute ich sie einzeln. Ed brauchte Unterstützung, um die Schwere seiner Untreue zu erkennen, was er auch selbst wünschte. Carol brauchte Hilfe, um zu erkennen, dass ihre tiefen Wunden erst dann heilen W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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würden, wenn sie ihm vergeben könnte. Wie sie selbst gestand - nachdem sie von Eds Affäre erfahren hatte war ihre größte Angst die Befürchtung, dass er sie für immer verlassen würde; das wollte sie nicht, also musste sie ihm deutlich machen, dass sie bereit war, ihn wieder anzunehmen. Später fingen sie auf Carols Wunsch hin an, miteinander zu telefonieren. Nachdem ihre Gespräche länger und entspannter wurden, beschlossen sie, es mit einer persönlichen Begegnung zu versuchen. Carol schwankte noch immer, doch mit der Zeit wurde es ihr bewusst, dass sie einem Leben mit Ed noch einmal eine Chance geben wollte - nicht nur wegen den Kindern, die bei ihr geblieben waren, als sie ausgezogen war, sondern auch ihretwegen. Noch wichtiger, sie sah ein, dass Eds Untreue nicht allein sein Fehler war und dass auch sie mitschuldig war an ihrer Entfremdung. In der Zwischenzeit hatte Ed aufgehört zu trinken Er versicherte Carol, dass er die Absicht hatte, das Beste aus ihrer Ehe zu machen. Schließlich zogen Ed und Carol nach zehn Monaten der Trennung wieder zusammen. In einer besonderen Feier, die gehalten wurde um ihren Neuanfang zu feiern, vergaben sie einander öffentlich und erneuerten ihren Ehebund. Dann, mit strahlenden Gesichtern, wechselten sie neue Ringe. In einer Gesellschaft wie der unseren, in der jede W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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zweite Ehe mit einer Scheidung endet, ist es verlokkend, solche Paare zu verurteilen, die nicht zusammenbleiben. Natürlich hat niemand das Recht dazu. Doch nachdem ich die heilende Wirkung der Vergebung in Dutzenden von Ehen beobachten konnte, einschließlich scheiternde wie die von Ed und Carol, finde ich es unmöglich, die Hoffnung zu unterdrücken, dass noch Hunderttausende anderer Ehen gerettet werden könnten.
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Den Eltern vergeben
Es ist befreiend festzustellen, dass wir nicht Opfer unserer Vergangenheit sein müssen und dass wir neue Wege der Annäherung lernen können. Doch über diese Erkenntnis hinaus gilt es, einen Schritt zu tun...Es ist der Schritt der Vergebung. Vergebung bedeutet Liebe zu üben unter Menschen, die wenig lieben. Sie macht uns frei, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Henri J.M. Nouwen
In einer Welt, in der unzählige Menschen an den Folgen von Kindesmissbrauch leiden - psychologischer, physischer oder sexueller Art - ist es kein Wunder, dass Fernsehen und Rundfunk, Zeitungen und Zeitschriften dieses Themas nie müde werden, sondern eine schockierende Geschichte nach der anderen finden, und das Tag für Tag. In einer Talkshow nach der anderen
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offenbaren die Opfer ihre Leiden vor einem neugierigen, doch letztendlich überdrüssigen und teilnahmslosen Publikum. Es scheint jedoch, dass ihnen kein Ausmaß an Seelenentblößung die Heilung bringt, die sie suchen. Wie und wo können sie diese finden? Es ist eindeutig zwecklos, allgemeine Ratschläge oder Anweisungen zu erteilen, angesichts der einzelnen Familiendynamik und der Gegebenheiten des jeweiligen Falles von Missbrauch. Trotzdem lassen die folgenden Geschichten erkennen, dass man die Möglichkeit der Versöhnung niemals ausschließen sollte, auch nicht, wenn es um die grausamsten Eltern geht. Sie machen auch die Widerstandskraft des menschlichen Geistes deutlich, gerade auch in der Niederlage, und die Hoffnung, die aus der geheimnisvollen Kraft hervorgeht, die wir Liebe nennen, so oft wir bereit sind, daraus zu schöpfen. Don wuchs auf einer Appalachen-Farm in einer Großfamilie von ungefähr vierzig Angehörigen auf. Alle lebten im gleichen Haus und erarbeiteten ihren Lebensunterhalt auf dem gleichen Flecken Land. Seine Kindheit war grausam: er erzählt von Vettern, die versuchten, sich gegenseitig zu erhängen und von einer Großmutter, die eine mit Salz geladene Schrotflinte benutzte, um damit auf unfolgsame Kinder zu schießen. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Als Don ungefähr zehn Jahre alt war, fand sein Vater eine neue Arbeitsstelle und nahm seine Frau samt den Kindern mit nach Long Island. Dort verbesserte sich die finanzielle Lage der Familie, doch nicht ihre Beziehungen. Bald nach dem Umzug verließ Dons Mutter ihren Mann und die Kinder, die nun ihrem Vater ausgeliefert waren. Er schlug sie regelmäßig, so dass sie in ständiger Angst vor ihm lebten. Für Don ist das Gefühl der Übelkeit noch gegenwärtig, das er jeden Nachmittag in seinem Magen fühlte, wenn er aus dem Schulbus stieg und daran dachte, was der Abend wohl bringen mochte. Dann wurde Dons Vater eines Tages bei einem Verkehrsunfall ernsthaft verletzt, dass er vom Halswirbel abwärts gelähmt war. Der einstige Haustyrann saß jetzt im Rollstuhl und war in seinen täglichen Bedürfnissen vollständig auf die Hilfe anderer angewiesen. Die meisten Leute aus einem solchen Zuhause würden so schnell wie möglich weglaufen, außer Don. Er hatte allen Grund der Welt, seinen Vater zu verlassen, doch er blieb jahrelang an seiner Seite, reichte ihm das Essen, wusch ihn, zog ihn an, übte mit den leblosen Gliedmaßen, die ihn einmal erbarmungslos, ja bis zur Grenze der Bewusstlosigkeit geschlagen hatten. (Inzwischen ist Don verheiratet und hat eine Pflegerin eingestellt, die seinen Vater 24 Stunden am Tag versorgt; doch er
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wohnt noch immer in der Nähe und besucht seinen Vater oft). Auf die Frage nach einer Erklärung hat Don wenig zu antworten. Er hat seinen Entschluss, zu Hause zu bleiben, niemals als heldenhafte oder aufopferungsvolle Tat angesehen. Er hat nie wirklich darüber nachgedacht. Doch welche andere Möglichkeit hätte es gegeben? Wie könnte er von zu Hause weggehen, wenn der Mann, der ihm das Leben gab - sein eigener Vater - hilflos wie ein kleines Kind war und niemand da war, der für ihn sorgte. „Vater brauchte mich, also blieb ich“. Gelegentlich wird Don von bösen Erinnerungen an die Vergangenheit verfolgt und er berichtet, dass sein Vater noch immer mit seinen Dämonen zu kämpfen hat. Das Leben ist keinesfalls nur rosig. Doch wenigstens können sie miteinander reden und die Last der emotionalen Kämpfe miteinander tragen. In der Fürsorge für seinen Vater habe er endlich einen Teil des Glücks gefunden, nach dem er sich in seiner Kindheit gesehnt hatte, sagt Don. „Nennen Sie es Vergebung, wenn Sie möchten“, meint er. Was immer es ist, es hat ihm Erbauung und Heilung gebracht. Karl Keiderling, ein Familienfreund, der vor ein paar Jahren im Alter von über achtzig Jahren starb, hatte eine ähnlich harte Kindheit. Er war der einzige Sohn W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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einer deutschen Familie aus der Arbeiterklasse; seine frühen Lebensjahre wurden vom Ersten Weltkrieg und der darauffolgenden Wirtschaftskrise überschattet. Seine Mutter starb, als er vier Jahre alt war und seine Stiefmutter, als er vierzehn war. Hinzu kam, dass sein Vater in ihm eine Last für die Familie sah. Als dieser nach dem Tod der Stiefmutter eine Anzeige in der Hoffnung aufsetzte, eine neue Mutter für seine Kinder zu finden, schloss er Karl absichtlich aus: „Witwer mit drei Töchtern sucht Haushälterin, spätere Heirat möglich.“ Mehrere Frauen bewarben sich und am Ende entschloss sich eine zu bleiben. Erst nachher erfuhr sie von der Existenz eines Jungen im Haus, worüber sie nie richtig hinwegkam. Karls Essen war immer geringer als das der übrigen Familie und sie beklagte sich tagaus tagein über ihn. Was Karls Vater betraf, blieb er still in Gegenwart seiner neuen Frau und unternahm nichts, um seinen Sohn zu verteidigen. Eigentlich stellte er sich sogar auf ihre Seite durch die Misshandlunges des Jungen. Sein Vater schlug ihn oft. Sein Lieblingsinstrument war ein in Messingringen eingefasster Lederriemen. Gelegentlich versuchte Karl sich zu schützen, doch das machte seinen Vater nur noch wütender und brachte ihm zusätzliche Schläge ins Gesicht und auf den Kopf. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Im Gegensatz zu Don verließ Karl das Elternhaus so früh er konnte. Angezogen von der Jugendbewegung, die sich damals über Europa ausbreitete, schloss er sich einer Gruppe von Blaukragen-Sozialisten an, die sich die Veränderung der Welt zum Ziel gemacht hatten. Schließlich führte ihn seine Wanderschaft zum Bruderhof (eine junge Kommune zu jener Zeit), wo ihn mein Großvater mit einer Umarmung und mit den folgenden Worten willkommen hieß: „Wir haben auf dein Kommen gewartet.“ Karl fühlte sich auf Anhieb wie zu Hause und beschlss zu bleiben. Er stürzte sich tatkräftig in die Arbeit, hackte Holz, schöpfte Wasser und pflegte den Garten. Doch die Leiden seiner Kindheit und die Gefühle der Bitterkeit seinem Vater und seiner Stiefmutter gegenüber verließen ihn nicht. Tag um Tag nahm seine Bitterkeit zu und hing wie eine schwere Wolke über ihm, die das Gute auszugrenzen drohte. Schließlich ging Karl auf meinen Großvater zu und klagte ihm seine Not. Die Antwort, die er erhielt, erstaunte ihn: „Schreib deinen Eltern und bitte sie um Verzeihung für jeden Anlass, bei dem du ihre Gefühle vielleicht verletzt hast oder ihnen auf andere Weise Kummer bereitet hast. Und schau nur auf deine Schuld, nicht auf ihre.“ Karl war so erstaunt, dass es einige Zeit dauerte, bis er so weit war, um schreiben zu können. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Doch schließlich tat er es und erstaunlicherweise beantwortete sein Vater den Brief. Er entschuldigte sich mit keinem Wort für die Art und Weise, wie er Karl als kleinen Jungen geschlagen hatte und er bekannte auch keine eigene Schuld. Doch für Karl spielte das keine Rolle mehr. Durch seine Vergebung hatte er selbst Befreiung gefunden von dem Groll, der schwer auf seinen Schultern gelastet hatte und ein tiefes Gefühl des Friedens erfüllte ihn. Karl klagte nie wieder über seine Kindheit. Maria, eine Verwandte aus der Familie meiner Frau, überwand den Groll über ihren jähzornigen Vater auf ähnliche Weise: Meine Mutter starb im Alter von zweiundvierzig Jahren und ließ meinen Vater mit acht Kindern im Alter von einem bis neunzehn Jahren zurück. Der Tod meiner Mutter war für die ganze Familie verheerend, besonders aber für meinen Vater, der einen emotionalen Zusammenbruch erlitt, gerade als wir ihn am meisten brauchten. Eine Folge davon war ein Mangel an Selbstbeherrschung; er versuchte, meine Schwester und mich zu belästigen. Ich fing an, ihn zu meiden und dann zu hassen. Bald danach zog mein Vater weg und ich verließ SüdAmerika, um in Deutschland die Schule zu besuchen. Ich sah ihn in den nächsten sieben Jahren nicht mehr.
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Doch ich behielt meinen Hass und er wuchs in meinem Inneren. Später kehrte ich aus Europa zurück und verlobte mich mit einem Freund aus der Kindheit. Mein Vater fragte mich, ob wir uns sehen könnten. Ich lehnte das entschieden ab. Ich hatte keinen Wunsch, ihn zu sehen. Als mein Verlobter davon erfuhr, konnte er nicht verstehen, wie ich diese Begegnung ablehnen konnte. Wenn mein Vater den Wunsch nach Versöhnung geäußert hatte, war es nicht meine Pflicht, darauf einzugehen? Es kostete mich nicht wenig, um zu dem Standpunkt meines Verlobten zu kommen, doch er war hartnäckig und ich stimmte zu. Wir trafen meinen Vater in einem Cafe, suchten einen Tisch aus und setzten uns. Bevor ich Gelegenheit hatte etwas zu sagen, wandte er sich zu mir und bat mich um Vergebung. Entwaffnet, wurde ich weich und sagte ihm auf der Stelle meine Vergebung zu. Es war einfach unmöglich, sie ihm vorzuenthalten.
Trotz der scheinbaren Leichtigkeit, mit der Don und Maria ihren Vätern vergeben konnten, gehört Kindesmissbrauch zu den Leiden, von denen es am schwierigsten ist, sich zu erholen. Angesichts der kräftemäßigen Ungleichheit zwischen dem Erwachsenen (als Täter) und dem Kind (als Opfer) ist die Schuld immer einseitig gelagert. Wieso sollte denn der Unschuldige dem Schuldigen vergeben? W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Unglücklicherweise
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glauben
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viele
Opfer
von
Kindesmissbrauch irrtümlich, dass sie mitschuldig sind. Sie befürchten, dass sie die Geschehnisse irgendwie herbeigeführt haben oder denken sogar, dass sie das, was ihnen angetan wurde, verdient haben. Dass der Täter auch nach der physischen Misshandlung Macht über sein Opfer hat, liegt größtenteils an dieser Vorstellung, mitschuldig zu sein. Auch das ist ein Teil des Missbrauchs. Hinzu kommt, dass einige Leute folgender Meinung sind: wenn nun ein Opfer einem Übeltäter vergibt, würde das zwangsläufig bedeuten, dass das Opfer zumindest mitschuldig ist. Selbstverständlich ist das sehr weit von der Wahrheit entfernt.. Vergebung ist einfach notwendig, weil Peiniger und Opfer - die sich in den meisten Fällen kennen (oder sogar miteinander verwandt sind) - beide Gefangene einer gemeinsamen Dunkelheit sind, in welcher beide so lange verharren, bis jemand die Tür öffnet. Vergebung ist der einzige Ausweg, und auch wenn ein Täter es vorzieht, in der Dunkelheit zu bleiben, sollte sich das Opfer nicht zurückhalten lassen. Kate, eine etwa fünfzigjährige Nachbarin, wurde von ihrer alkoholabhängigen Mutter jahrelang misshandelt, doch nun ist sie mit ihr versöhnt. Wie auch in anderen Fällen hat sich gezeigt, dass die Wandlung des Opfers W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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zur Vergebungsbereitschaft auch den Täter berühren und verändern kann. Ich wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als das älteste von fünf Kindern in einer kleinen kanadischen Stadt geboren. Vaters Stelle als Bauarbeiter war fünfundzwanzig Meilen entfernt und er verbrachte zwischen den Fahrten und einem Zwölf-StundenTag sehr wenig Zeit zu Hause. Geld war immer ein Problem, es gab aber auch andere Spannungen in unserer Familie, obwohl ich mir sie nicht erklären konnte. Ich weiß nur, dass sich alles zu verschlimmern schien, je älter ich wurde, ganz besonders aber nach der Geburt des jüngsten Bruders; damals war ich selbst gerade neun Jahre alt. Rückblickend ist es sehr klar, was damals geschah: Mutter hatte angefangen zu trinken.
Nachdem Kates Mutter anfing, betrunken nach Hause zu kommen, ließen sich die Eltern scheiden. Ein Familienleben gab es so gut wie gar nicht; das Haus war vernachlässigt und die Wäsche war nie gewaschen. Alles hing an der dreizehnjährigen Kate. Als Jamie, das jüngste Kind, in die Schule kam, war Mutter fast nie zu Hause. Es gelang mir nie, Hausaufgaben zu machen und ich lernte nicht viel. Ich hatte die neunte Klasse nicht bestanden und musste sie im folgenden Jahr wiederholen.
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Später zogen zwei meiner Schwestern aus, fanden Arbeit und mieteten eine Wohnung in der Stadt. Doch ich blieb. Jemand musste sich um die Kleinen kümmern. Auch wenn ich es nur unzulänglich tat, hatten sie wenigstens etwas zu essen. Dann erfuhr Mutter von einer neuen Quelle zusätzlicher Einnahmen: in einem Versuch, Überbelegung im örtlichen Krankenhaus für geistig und körperlich Behinderte zu überbrücken, bezahlte die Regierung Leute, die „überzählige“ Patienten in ihren eigenen Wohnungen unterbrachten. Mutter holte zwei Männer und eine Frau zu uns. Ich musste mein Bett an einen der Männer abgeben und ein Doppelbett mit der Frau teilen, die selten schlief. Als ich Mutter sagte, dass ich es so nicht aushielt und dass die Frau ins Krankenhaus zurückgehen sollte, wollte meine Mutter nichts davon wissen, denn letztlich ging jeden Monat ein Scheck ein. Mutter sagte, sie würde abends heim kommen und mir helfen und eine Weile tat sie es auch. Doch in welchem Zustand der Trunkenheit sie heimkam! Dann sagte sie noch, dass sie wegen mir in einem solchen Zustand wäre. Zuerst konnte ich nicht verstehen, was sie meinte, doch später erfuhr ich es: Meine Eltern mussten heiraten, weil ich unterwegs war. Manchmal wurde Mutter handgreiflich. Wenn sie mich morgens nach den Beulen in meinem Gesicht fragte und ich ihr sagte, dass sie es gewesen war, meinte sie, ich würde lügen.
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Mit sechzehn verließ Kate die Schule, um sich ganz den Geschwistern zu widmen. Zu jener Zeit traf sie ihren Mann, Tom, den sie zwei Jahre später heiratete. Sie erinnert sich noch an die Schuldgefühle, als ihre Mutter sie anklagend fragte: „Wer soll die Arbeit hier übernehmen?“ Trotzdem zog sie aus und bald gründete sie mit Tom eine eigene Familie. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich einfach meine Mutter vergessen. Ich hatte meine eigene kleine Familie und ich hatte Toms Eltern, die meine Kinder liebten. Doch dann wollte meine Mutter plötzlich wieder den Kontakt aufnehmen. Ich lehnte ab. Endlich hatte ich ein wenig Einfluss und ich wollte heimzahlen. Damals war die Scheidung meiner Eltern abgeschlossen und meine Mutter hatte aufgehört zu trinken. Sie war klug genug, um zu erkennen, dass die Kombination von Alkohol und blutdrucksenkenden Mitteln, die sie einnehmen musste, tödlich sein würde. Trotzdem hatte ich nicht den Wunsch, sie zu sehen. Ich konnte ihr einfach nicht trauen.
Einige Jahre später, nach der Geburt eines weiteren Kindes, erfuhr Kate, dass ihr Mann einen Anruf ihrer Mutter beantwortete hatte, in welchem sie gebeten hatte, auf Besuch kommen zu dürfen. Tom hatte zugesagt.
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Ich spielte verrückt. Ich sagte zu Tom: „Du rufst sie sofort zurück und sagst ihr, dass sie nicht kommen kann. Sag ihr, was du willst. Das ist mein Kind und ich will sie daran keinen Anteil haben lassen.“ Ich war sehr gemein. Später jedoch hatte ich ein schlechtes Gefühl und ich suchte den Pastor auf, um mit ihm zu sprechen. Ich dachte, vielleicht hätte er eine Lösung. Während ich ihm von meinem Dilemma erzählte, saß er da und hörte mir zu. Ich schloss ab, doch er sagte nichts. Ich wartete. Ich fühlte mich voll und ganz im Recht, so gehandelt zu haben, doch ich wollte seine Zustimmung. Ich erhielt keine. Alles was er zu sagen hatte, war: „Sie müssen mit Ihrer Mutter Frieden schließen.“ Ich sagte, „Sie kennen meine Mutter nicht.“ Er antwortete: „Das hat nichts damit zu tun“. In der Zwischenzeit kam meine Mutter ohnehin. Es ging ihr nicht gut, als sie ankam, und sie brauchte viel Fürsorge. Ich machte es ihr nicht einfach. Dann, während der letzten Tage ihres Aufenthaltes, spürte ich, dass sie mir etwas zu sagen hatte. Sie schien auch bereit zu sein, darauf zu hören, was ich zu sagen hatte. Während wir redeten, erkannte ich, dass Mutter eine neue Beziehung wünschte (dasselbe wünschte auch ich mir sehr) und dass sie entschlossen war, alles wegzuräumen was im Weg stand. Damals erkannte ich, dass es an der Zeit war, ihr zu vergeben und ich tat es. Sofort überkam mich eine Welle der Erleichterung und der Heilung. Es war unbeschreiblich, und das Gefühl begleitet mich bis heute.
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Nicht alle Eltern-Kind-Beziehung sind so schwarzweiß. Susan, eine Frau aus Kalifornien und aus ganz anderen Verhältnissen, hatte nie unter wirklicher Misshandlung durch ihre Eltern zu leiden. Trotzdem war sie über Jahre durch die Persönlichkeit ihrer Mutter verbittert, die sie als distanziert und gefühllos empfand. Wie auch Kate, entdeckte sie, dass der einzige Weg zu beidseitiger Heilung darin bestand, ihre eigene Lieblosigkeit zu erkennen und den Entschluss zu fassen, zu vergeben. Seit ich mich erinnern kann, hatte ich eine schwierige Beziehung zu meiner Mutter. Ich fürchtete ihre Wutausbrüche, ihre beißende, sarkastische Zunge und ich fühlte mich unfähig, ihr etwas recht zu machen. Infolgedessen begann ich einen tiefsitzenden Groll gegen sie zu hegen - einen schwelenden, versteckten Groll, der dazu führte, dass ich mich vor ihr verschloss. Ich hortete Erinnerungen an Ungerechtigkeiten seit meiner frühen Kindheit, an scharfe Worte und einige (harmlose) Schläge. Ich reagierte extrem empfindlich auf ihren Tadel und fühlte mich schnell abgelehnt. Irgendwie gab es nie eine offene, vertrauensvolle Beziehung zwischen uns. Stattdessen galt meine Hinwendung anderen Erwachsenen in meinem Leben, besonders meinen Lehrern. Meiner Mutter missfiel diese Zuneigung, doch sie konnte es nicht ausdrücken. Ich erinnere mich, dass ich den Wunsch
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hatte, aus meiner Familie herausgenommen zu werden, um von einem meiner Lehrer adoptiert zu werden. Ich erinnere mich auch an ein starkes physisches Gefühl des Nichtdazugehörens, das mich in Wellen überkam. Doch in meinem Wunsch, akzeptiert zu werden, versuchte ich „lieb“ zu sein und verbarg meine wahren Gefühle. Die Lage verschärfte sich noch mehr als ich ins Jugendalter hineinwuchs. Ich fand immer neue Wege, um meinen Groll auf subtile Art rauszulassen und das zu tun, was ich wollte. Ich „rächte“ mich sogar an ihr, indem ich eine geheime Beziehung mit unserem Gemeindepriester hatte, der oft in Gesellschaft meiner Eltern war. Diese Beziehung ging schließlich zu Ende und ich zog in einen anderen Ort, um das College zu besuchen. Dann heiratete ich. Trotzdem kam ich nicht gut aus mit meiner Mutter. Es war in der Tat eine sehr eigenartige Beziehung, weil ich noch immer den verzweifelten Wunsch hatte, ihr es recht zu machen. Mutter ging während jener Zeit durch größere körperliche und emotionale Krisen, doch es fiel mir nicht leicht, mit ihr zu fühlen oder viel Interesse zu zeigen. Schließlich wandte ich mich ihr zu, als sie eine Zwölf-Schritte-Therapie für Alkoholabhängige machte. Wir verbrachten eine wundervolle Woche mit Gesprächen und gemeinsamer Zeit, doch dann schlossen sich die Türen plötzlich wieder. Ich meinte, es würde an ihr liegen, obwohl ich keinen Grund dafür nennen konnte.
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Schließlich wurde mir klar, dass ihr starkes, selbstbewusstes, beherrschtes Äußeres nichts als eine Hülle für die sehr unsichere Person darunter war und dass sie eine Menge Verletzungen aus ihrer eigenen Kindheit mit sich trug. Beide versuchten wir, jede auf ihre Art, einander näher zu kommen, doch wir fürchteten uns gleichermaßen vor Ablehnung, so dass wir nicht aufrichtig miteinander sein konnten. Unsere Anstrengungen waren bestenfalls oberflächlich. Der Durchbruch kam einige Jahre später, als ich von einer Freundin überredet wurde, eine Kassette mit der Rede eines Schriftstellers namens Charles Stanley anzuhören. Ich hatte noch nie etwas von ihm gehört, doch ich war zu der Zeit auf der Suche nach Antwort auf einige größere Fragen, also hörte ich sie an - vorsichtig. Ich kann mich nicht genau an den Inhalt erinnern, doch es ging um Beziehungen und es war genau das, was ich zu jener Zeit brauchte. Es half mir zu verstehen, dass meine Mutter und ich einen Teil der Schuld trugen, solange meine Mutter und ich entfremdet waren. Solange nicht eine von uns die andere um Vergebung bat, würde der Riss nie überbrückt werden. Nicht lange danach besuchte ich meine Eltern. Als ich mit meiner Mutter allein war, bat ich sie, mir mein Verhalten aus der Vergangenheit ihr gegenüber zu vergeben und ich sagte ihr, dass ich ihr auch vergab. Ich gestand, dass ich mein ganzes Leben lang Groll gegen sie empfunden hatte, obwohl ich nicht wusste wieso. Sie konnte nicht verstehen, weshalb ich diesen Ärger hegte, doch sie entschuldigte sich auch für die
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Verletzungen, die sie mir zugefügt hatte. Sie meinte: „Was geschehen ist, ist geschehen und wir können es nicht ändern. Doch wir können vorwärts gehen.“
Für jeden, der sich im Sumpf einer schwierigen Beziehungen gefangen fühlt, sind diese Worte genauso wichtig
wie
auch
einfach.
Keiner
kann
die
Vergangenheit ungeschehen machen. Doch jeder von uns hat die Wahl zu vergeben und vorwärts zu gehen.
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Gott beschuldigen
Es ist nicht gut zu versuchen, Leiden ganz wegzunehmen, noch ist es gut, es stoisch zu ertragen. Leiden kann man nutzen und zum Guten wenden. Was ein Leben glücklich oder unglücklich macht, sind nicht die äußeren Umstände, sondern unsere innere Einstellung diesen gegenüber. Eberhard Arnold
Meistens, wenn es um das Thema Vergebung geht, denken wir daran, ob wir bereit sind oder nicht, damit aufzuhören eine Person zu beschuldigen, die uns verletzt hat. Manchmal hat eine Verletzung jedoch keine menschliche Ursache und so sehr wir uns auch bemühen, können wir doch niemanden finden, der dafür verantwortlich wäre.
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Für diejenigen, die nicht an Gott glauben, ist die Wirkung oft ein allgemeines Gefühl des Ärgers über das Leben schlechthin. Für diejenigen, die glauben, ist die Wirkung oftmals Ärger über Gott. Enttäuscht von der eigenen Unfähigkeit, eine Ursache für unser Leiden ausfindig zu machen, ein Leiden das wir gar schnell als ungerecht und unverdient ansehen, lehnen wir uns dagegen auf und machen Gott verantwortlich. „Wie kann ein barmherziger Gott das zulassen?“ Schließlich kann sich unsere Enttäuschung in Bitterkeit oder sogar in Wut verwandeln. In vieler Hinsicht ist es einfacher (auch für jemanden, der nicht an eine höhere Gewalt glaubt) , Gott verantwortlich zu machen, als die Möglichkeit zu akzeptieren, dass es tatsächlich niemanden geben könnte, der die Schuld trägt. Ärger ist eine legitime Phase des Kummers, auch wenn es kein offensichtliches und bestimmtes Ziel dafür gibt. Den Ärger muss man nach außen kehren, man muss sich damit auseinandersetzen, wenn man hofft, Heilung zu finden und sein Leben zu bewältigen. Dennoch ist es sinnlos, im Ärger über Gott stehen zu bleiben. Wir können ihn für zugefügten Schmerz verantwortlich machen, doch er kann sich nicht entschuldigen. Das Einzige was man tun kann, um unliebsame Umstände zu ändern, die sich nicht ändern lassen, ist dieses: sie auf angemessene Weise anzunehmen. Wenn wir das tun, können wir erfahren, dass W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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auch aus dem größten Hindernis eine Gelegenheit zum Wachstum werden kann. Jedes Mal, wenn ich versucht bin, Gott die Schuld zuzuweisen, erinnere ich mich an eine Zeit großer Enttäuschung, durch die ich vor einigen Jahren gehen musste und ich besinne mich auf die Lehre, die ich daraus gezogen habe. Alles fing auf dem Nachhauseweg von einem Angelausflug oberhalb von New York an eine willkommene Gelegenheit, dem Arbeitsdruck für einige Tage zu entgehen - als ich bemerkte, dass ich meine Stimme verlor. Zuerst ignorierte ich es, in der Erwartung, dass es nach ein paar Tagen besser würde. Doch es wurde nur schlimmer. Schließlich überwies mich mein Arzt zu einem Facharzt. Die Diagnose: ein gelähmtes Stimmband. Der Facharzt versicherte mir, dass sich meine Stimme wieder erholen würde, doch es vergingen Wochen und Monate und es änderte sich nichts. Seine Anweisung lautete absolutes Sprechverbot (ich durfte nicht einmal flüstern); auch wenn es noch so frustrierend war, hielt ich es strengstens ein. Trotzdem gab es keine Besserung. Ich fragte mich, ob ich je wieder sprechen könnte.
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Es kam noch schlimmer, weil gerade zu dieser Zeit meine Gemeinde in eine größere Krise geriet, bedingt durch einen Streit zwischen mehreren langjährigen Mitgliedern. Bei jedem Treffen wurde ich als Ältester und Pastor um meinen Beitrag gebeten, doch anstatt antworten zu können, musste ich still dabeisitzen und die wichtigsten Dinge aufschreiben, die ich sagen wollte. Wenn uns eine Fähigkeit wie das Sprechen - oder sonst etwas, das wir als selbstverständlich betrachten abhanden kommt, haben wir die Wahl, diese Fähigkeit mit neuer Dankbarkeit zu betrachten, als die Gabe, die sie ist. Doch ich war zu besorgt und zu traurig, um das zu tun. Um ehrlich zu sein, ich war verärgert. Auch wenn Gott mich prüfen wollte, so sagte ich mir, hätte er keine schlechtere Zeit wählen können. Erst mit der Zeit konnte ich die ganze missliche Lage aus einem anderen Blickwinkel betrachten: Ich fing an zu erkennen, dass mir dadurch eine wichtige Gelegenheit geboten wurde, eine flexiblere Lebensanschauung zu entwickeln, mich selbst weniger ernst zu nehmen und das Beste aus einer unangenehmen Situation zu machen. Drei Monate später kam meine Stimme langsam zurück; jetzt, sieben Jahre später, ist sie wieder normal. Doch ich habe die zwölf Wochen nie mehr vergessen.
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Andrea, eine Frau aus meiner Kirche, hatte mit einer viel schwereren Last zu kämpfen: Sie hatte drei Fehlgeburten, bevor sie ein gesundes Kind zur Welt brachte. Anders als in meinem Fall ging es in Andreas Geschichte nicht darum, Gott verantwortlich zu machen oder ihm „zu vergeben“. In ihrem Kampf ging es darum, den Verlust ihrer Babys hinzunehmen, ohne der Angst zu unterliegen, dass Gott sie dadurch irgendwie bestrafen wollte. Doch ähnlich wie ich musste auch sie sich durch eine Welle von Gefühlen durchkämpfen, um schließlich Frieden zu finden. Neil und ich waren glücklich festzustellen, dass ich schon sechs Monate nach unserer Heirat schwanger war. Doch eines Nachts, kurz vor Weihnachten, fühlte ich große Schmerzen, die in sehr kurzer Zeit schlimmer wurden. Unser Arzt wollte mich ins Krankenhaus schicken und unsere Nachbarin, eine Krankenschwester, blieb bei mir, bis wir in die Stadt fuhren. Sie bestätigte meine schlimmste Befürchtung - ich würde wahrscheinlich mein Baby verlieren. Der emotionale Schmerz war mindestens so groß wie der physische. Warum, Gott? Warum ich? Warum musst Du diese zarte Seele so früh wegnehmen? Was habe ich falsch gemacht? Eine Operation war erforderlich, um mein Leben zu retten. Das Baby war verloren und ich brauchte Wochen, um mich zu erholen. Was für ein ganz anderes Weihnachtsfest es wurde!
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Wir beklagten unseren Verlust und fühlten uns in unserem Schmerz allein gelassen. Wenn einer von unseren Verwandten zu uns sagte: „Nur Mut! Vielleicht habt ihr nächstes Mal mehr Glück“, fühlte ich mich, als hätte man mich geohrfeigt. Glück? Wir hatten gerade ein Baby verloren, eine echte Person, ein Kind! Jemand schickte mir eine Karte, auf der stand, „Der Herr gibt und der Herr nimmt wieder, gelobt sei der Name des Herrn“. Das machte mich ganz traurig. Wie konnte ich Gott danken für diese furchtbare, schmerzhafte Erfahrung? Ich konnte es nicht. Und ich musste immer daran denken, dass Gott mich bestrafte, obwohl ich nicht verstehen konnte wofür. Unser Pastor tröstete mich mit den Worten: Gott ist ein Gott der Liebe, nicht der Strafe, und er ist bei uns, um unseren Schmerz zu lindern. Ich fasste nach seinen Worten wie ein Ertrinkender nach einer Stange fasst, die ihm vom Ufer entgegen gestreckt wird. Die liebevolle Unterstützung durch Neil schien ein sichtbares Zeichen dieser Liebe zu sein, und wir stellten fest, dass unser Schmerz uns auf neue Weise enger verband. Die Worte: „Das Weinen währet in der Nacht, doch Freude kommt mit dem Morgen“, trösteten mich auf besondere Weise, auch wenn ich die Freude noch nicht fühlen konnte, weil es schien, dass die Dämmerung nicht mehr anbrechen würde. Langsam, mit der Zeit und mit der liebevollen Hilfe meiner Mitmenschen, konnte ich fühlen, dass mir diese zutiefst schmerzhafte Erfahrung eine
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Ahnung der Liebe Gottes gegeben hatte, der sich um die Leiden der Menschen kümmert und der - davon bin ich überzeugt - gerade auch in meinem Schmerz bei mir war. Gott wurde wirklicher für mich und ich begann, seiner Liebe zu vertrauen. Doch dann, einige Monate später, als ich wieder ein Baby erwartete und fieberhaft hoffte, dass alles gut gehen würde, wiederholte sich alles. Starker Schmerz, Notfallfahrt zum Krankenhaus und eine Operation, um mein Leben zu retten. Wieder der Verlust eines kostbaren kleinen Menschenlebens unmittelbar nachdem es entstanden war. Tiefer Schmerz zerriss mein Herz. Ich schrieb in mein Tagebuch: „Ich kann nicht verstehen warum; vielleicht niemals. Ich brauche Bestätigung im Glauben - helft mir!“ Neil blieb treu an meiner Seite. Er hatte einige Jahre früher eine Schwester durch Krebs verloren und was er damals geschrieben hatte, diente als große Stütze: „Wir sind von Gott nur durch physische Distanz getrennt, und diese Entfernung ist vielleicht nicht groß“. Ich klammerte mich mit all meiner Kraft daran. Mit den Wochen und Monaten ließ der Schmerz über den Verlust langsam nach, auch wenn er nicht ganz verschwand. Ungefähr ein Jahr später verlor ich wieder ein ungeborenes Kind. Noch einmal war ein tiefer Schmerz in meiner Seele, doch dieses Mal stellte ich keine verzweifelte Warum-Frage.
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Heute ist Andrea Mutter einer hübschen sechsjährigen Tochter. Trotzdem die Erinnerung an ihre ersten drei Schwangerschaften immer wieder eine Flut von Emotionen zurückbringt, ist sie nicht verbittert. Eigentlich gelingt es ihr sogar, ihrem Leiden etwas Gutes abzugewinnen: eine tiefere Liebe zu ihrem Mann, der „mit mir durch die Hölle ging“ und grenzenlose Dankbarkeit für ihr einziges Kind. Wie Andrea erwarteten auch Jon und Gretchen Rhoads ein junges Paar aus einer benachbarten Gemeinde ungeduldig die Geburt ihres ersten Kindes. Alan wurde nach einer scheinbar normalen Schwangerschaft geboren und anfangs schien alles in Ordnung zu sein. Doch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus fiel den Eltern auf, dass etwas verdächtig war. Sehr verdächtig sogar. Alan trank nicht gut. Sein Muskeltonus war schwach. Er lag sehr ruhig da, fast bewegungslos, und wenn er atmete, machte er gelegentlich sonderbar glucksende Laute. Alan wurde bald in einem nahegelegenen Universitätskrankenhaus aufgenommen. Doch erst als drei Monate alt war, wurden seine Behinderungen klar erkennbar: Er würde wahrscheinlich niemals gehen oder sprechen können; er war blind und er hatte deutliche Anomalien der Hüften, des Hirns, der Ohren und des Magens.
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Jon und Gretchen waren verzweifelt. Sie hatten seit langem den Verdacht gehegt, dass etwas nicht in Ordnung war, doch sie hatten nicht damit gerechnet, dass es so schlecht um ihr Kind stand. Sofort fingen sie an, die Schuld bei sich selbst zu suchen und es dauerte nicht lange, bis sie anfingen, Gott die Schuld zuzuweisen: Warum wir? Jon war verärgert, obwohl er nicht wirklich sagen konnte über wen. Über sich selbst? Über Gretchen? Über Alans Ärzte? Über Gott? Ja, vielleicht über Gott, doch er konnte es nicht begründen. Dennoch wehrte er sich dagegen, verbittert zu werden und zog stattdessen folgenden Schluss: Entweder liebt uns Gott nicht, oder genau so sollte Alan eben sein. Wir werden niemals wissen warum, doch wenn wir über Alans Zustand verbittert wären, würden wir jede Freude verlieren, die wir mit ihm haben können.“ Sowohl Jon als auch Gretchen bejahen, dass es einfacher ist, über Annahme zu reden als sie wirklich zu praktizieren. Es kam oft genug vor, dass sie am liebsten weggelaufen wären, wenn Besucher ihnen bedeutungslose Worte des Mitleids anbot. Während manche Tage Fortschritt und neue Hoffnung bringen, gibt es wiederum Tage, die Rück-schläge und Prüfungen bringen. Allein in seinem ersten Lebensjahr hatte Alan eine Tracheotomie und verschiedene andere W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Operationen, einschließlich einer Appendektomie. Wie viel Leiden wird er noch ertragen müssen? In einer Welt, die schnell „frühe Diagnosen“ und Abtreibung anbietet als Antwort auf unvollkommene Babys, weigern sich Alans Eltern, ihn als eine Last anzusehen. „Er hat uns viel zu sagen“, schrieb Gretchen als er ein Jahr alt war, „und wir sind nicht bereit ihn aufzugeben“. Seine kleine Hand streckt sich empor durch ein Wirrwarr aus Drähten, um meine Wange zu finden. Während ich mich bücke, um ihn von seinem Bett hochzuheben, öffnen sich seine Augenlider leicht und er schenkt mir ein schläfriges Lächeln... In den elf Monaten seit seiner Geburt war Alan fünfmal im Krankenhaus; wir haben seit langem aufgehört, die nichtstationären Termine zu zählen. Jedes Mal kommen wir mit mehr Fragen als Antworten nach Hause; mit mehr Tränen und weniger Sicherheit. Doch während er sich an mich kuschelt und neugierig um sich blickt, lächelt er. Sein Lächeln ist Balsam für meine Seele. Wieviel Schmerz kann Alan noch ertragen? Was für neue Hürden erwarten uns? Seine Tracheotomie hat uns die wenigen Abenteuerweggenommen, auf die wir uns gefreut hatten: Fläschchen und die Möglichkeit, feste Nahrung auszuprobieren. Auch keine Freudengluckser mehr und keine Schreie der Unzufriedenheit mehr.
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Wenn er überlebt, könnte es nach Meinung der Ärzte sein, dass er die Röhrchen mit der Zeit nicht mehr braucht. Wenn er überlebt. Die Worte schneiden mir ins Herz, und doch gibt mir sein Lächeln weiterhin Hoffnung. Er lehrt mich jeden Tag, ihn anzunehmen.
Schließlich ist es diese Annahme, über die Gretchen schreibt, die uns erlaubt, Gott „zu vergeben“. Ohne sie bleibt uns nur die Auflehnung gegen unser Schicksal im Leben und der Kampf gegen jedes Kreuz, das uns unserer Meinung nach zu Unrecht auferlegt wurde. Mit ihr gewinnen wir die Fähigkeit, unsere Mühsal im Verhältnis zu dem Leiden anderer zu sehen, wie auch die Kraft, sie zu tragen.
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Vergebung für uns selbst
Wenn wir einem Menschen, der uns verletzt hat, versichern, dass wir ihm nichts mehr nachtragen, müsste er nichts weiteres tun, als unsere Güte anzunehmen - zumindest ist es das, was wir uns erhoffen. Doch das ist oft einfacher gesagt als getan; für viele Menschen kann die Schuldfrage nicht mit der Vergebung des anderen gelöst werden; sie kann vielleicht gar nicht mit irgendwelchen äußeren Mitteln gelöst werden. Für solche Menschen ist innerer Friede erst möglich, wenn sie sich selbst vergeben können. Ich traf Delf Fransham zum ersten Mal 1953. Es war in dem Jahr, als er aus den Vereinigten Staaten in ein abgelegenes südamerikanisches Dorf auszog, wo ich aufwuchs und wo er anfing, an der örtlichen Schule zu unterrichten. Wir waren elf Schüler in seiner Klasse, lauter Jungen, lauter Raufbolde, und wenige Tage W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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nachdem er anfing zu unterrichten, beschlossen wir, ihn auf die Probe zu stellen. An einem typisch Morgen in Paraguay(feucht und sehr warm) boten wir ihm eine Führung an. Offiziell wollten wir ihm die Sehenswürdigkeiten zeigen. Insgeheim wollten wir sehen, wie viel er durchhalten konnte. Nachdem wir ihn mindestens zehn Kilometer durch Dschungel, Prärie und Sumpfland geführt hatten, kehrten wir schließlich zurück. Kurz nachdem wir zu Hause ankamen, brach er mit einem Herzanfall zusammen. Delf blieb tagelang im Bett, doch uns kümmerte es kaum. Wir hatten genau das erreicht, was wir wollten - ihn als Schwächling bloßzustellen. Doch uns erwartete eine kleine Überraschung. An dem Tag, als er wieder zur Schule kam, sagte er: „Jungs, lasst uns den Ausflug nochmals probieren.“ Wir konnten es nicht glauben! Wir legten die gleiche Route zurück und dieses Mal ließ er sich nicht von der Hitze in die Knie zwingen. Delf gewann unseren Respekt und unsere Herzen an diesem Tag, und von da an vertrauten wir ihm. (Es gab noch etwas: er war ein guter Sportler, der uns beibrachte, Fußball zu spielen). Jahrzehnte später und rein zufällig erfuhr ich, warum Delf soviel Liebe und Energie aufbrachte, um seine Schüler zu erreichen. Er hatte eins seiner eigenen Kinder verloren. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Nicholas wurde geboren, als die Familie Fransham noch in den Vereinigten Staaten lebte; eines Tages, als Delf mit einem Lastwagen voll Brennholz rückwärts in ihre Einfahrt fuhr, spielte der zweijährige Nicholas draußen und rannte los, um seinen Vater zu begrüßen. Delf erblickte ihn erst, als es zu spät war und der Lastwagen rollte über ihn. Katie, Delfs Frau, war im Haus beschäftigt, als er ihren kleinen Jungen, leblos in seinen Armen hängend, hineintrug. Sie erinnert sich: Ich war außer mir - ganz wild - doch Delf beruhigte mich. Wir brachten Nicholas zu unserem Arzt, der zugleich amtlicher Leichenbeschauer war und erklärten ihm, was geschehen war... Es ging nicht darum, meinem Mann zu vergeben, weil ich wusste, dass ich gleichermaßen schuld an dem Geschehenen war. Ebensowenig beschuldigte er mich, sondern suchte die Schuld ausschließlich bei sich selbst. Wir hielten in unserem Schmerz zusammen.
Doch sich selbst konnte Delf nicht vergeben und der Unfall verfolgte ihn über Jahre. Von da an war er bemüht, sich Zeit für die Kinder zu nehmen - die Zeit, die er nicht mit dem Sohn verbringen konnte, den er getötet hatte. Zurückblickend, erinnere ich mich, wie seine Augen oft tränenfeucht glänzten, und ich fragte mich, was wohl der Grund dafür sein könnte. Sah er W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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vielleicht in uns seinen Sohn? Was auch immer der Grund sein mag, es scheint, dass Delfs Entschluss, anderen Liebe zu erweisen, sein eigener Weg der Wiedergutmachung für das Leid war, das er sich und seiner Familie zugefügt hatte, indem er unbeabsichtigt ein Leben ausgelöscht hatte. Ich bin überzeugt, dass es ihn vor dem Grübeln und dem Kreisen um seine Schuldgefühle bewahrt hat. Indem er andere liebte, konnte er sich selbst vergeben und ein Gefühl
der
Erleichterung
und
des
Friedens
wiedererlangen. John Plummer führt heute als methodistischer Pastor ein ruhiges Dasein in einer verschlafenen Stadt in Virginia, doch das war nicht immer so. Als Hubschrauberpilot im Vietnamkrieg leistete er seinen Beitrag dazu, den Angriff mit Feuerbomben auf das Dorf Trang Bang 1972 zu organisieren - eine Bombardierung, die durch die preisgekrönte Fotoaufnahme eines der Opfer, Phan Thi Kim Phuc, verewigt wurde. Für die nächsten vierundzwanzig Jahre wurde John von der Fotoaufnahme verfolgt - ein Bild, das für viele Menschen das Wesen des Krieges darstellte: ein nacktes neunjähriges Mädchen mit schwersten Verbrennungen, das in Richtung Kamera läuft, während sich im Hintergrund schwarze Rauchwolken türmen. Vierundzwanzig Jahre lang plagte John sein Gewissen.
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Er wollte unbedingt das Mädchen finden, um ihr zu sagen, dass es ihm leid tat, doch es war nicht möglich. Er zog sich zurück und wurde zunehmend depressiv (das Ende zweier Ehen verschlimmerte seine Situation) und er begann zu trinken. Doch dann traf John durch einen unglaublichen Zufall Kim während einer Feier beim Vietnamkrieg-Denkmal am Veteranentag 1996. Kim war nach Washington D.C. gekommen, um einen Kranz für den Frieden niederzulegen: John war mit einer Gruppe ehemaliger Piloten gekommen, die ebenfalls mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit nicht zurechtkamen und beschlossen hatten, deshalb zusammenzuhalten. In einer Rede an die versammelte Menschenmasse stellte sich Kim als das Mädchen in dem berühmten Bild vor. Sie leide noch immer
unter den Folgen der
Verbrennungen, sagte sie, doch sie sei nicht verbittert und sie wolle den Menschen mitteilen, dass andere noch mehr gelitten hätten als sie selbst: „Hinter mir, im Hintergrund des Bildes, starben Tausende von Menschen. Sie verloren Körperteile. Ihr ganzes Leben wurde zerstört und niemand fing das in Bildern ein.“ Kim fuhr fort und meinte, obwohl sie die Vergangenheit nicht ändern könnte, habe sie den Männern vergeben, die das Dorf bombardiert hatten und sie fühlte sich berufen, Frieden zu stiften, indem sie das Verständnis zwischen W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Amerika und Vietnam förderte. John, außer sich vor Aufregung, drängte sich durch die Menschenmenge; es gelang ihm, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, bevor sie von einer Polizei-Eskorte weggebracht wurde. Er stellte sich als ehemaliger Pilot in Vietnam vor und sagte, dass er sich verantwortlich fühlte für die Bombardierung ihres Dorfes vor vierundzwanzig Jahren. Er berichtet: Kim sah meinen Kummer, meine Qual, meinen Schmerz... Sie breitete ihre Arme aus und drückte mich an sich. „Es tut mir leid, es tut mir leid“, das war alles was ich immer wieder sagen konnte. Gleichzeitig sagte sie: „Es ist gut, ich vergebe dir“.
John meint, es sei lebenswichtig für ihn gewesen, Kim persönlich zu treffen und ihr zu sagen, dass er jahrelang wegen ihren Verletzungen gelitten hatte. Ohne die Gelegenheit, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, hätte er sich selbst niemals vergeben können. Es stellte sich allerdings heraus, dass er weit mehr erhielt, als er sich erhofft hatte: Kim hatte ihm vergeben. Beim Nachdenken über die Wende in seinem Leben, die dieser Vorfall herbeigeführt hat, kommt John zu dem Schluss, dass Vergebung „weder erworben noch verdient wird, sondern ein Geschenk ist“. Außerdem ist sie ein Geheimnis. Er kann es noch immer nicht W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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begreifen, wie ein kurzes Gespräch einen vierundzwanzigjährigen Alptraum beenden konnte. Pat, auch ein Veteran des Vietnamkrieges, ist ein freundlicher, stiller Mann, der Kinder und Pferde liebt. In den sieben Jahren seit ich ihn kenne, habe ich jedoch gemerkt, dass er auch eine dunkle Seite hat - die mit seiner Unfähigkeit verbunden ist, sich selbst zu vergeben: In Gedanken bin ich sehr oft mit dem Tod beschäftigt. Die Tode, die ich verursacht habe - und die Sehnsucht zu sterben - begleiten mich jeden Tag. Ich scherze oft mit den Leuten, mit denen ich arbeite. Ich muss es tun, um meinen Schmerz zu verdecken und mich vom Nachdenken abzulenken. Ich brauche das Lachen. Lachen hält den Trübsinn fern. Doch ich kann nicht lieben. Ein Teil meiner Seele fehlt mir, und es scheint, dass ich ihn nie mehr zurückgewinnen werde. Ich weiß nicht, ob ich mir je selbst alle meine Fehler vergeben kann. Ich lebe von einem Tag zum anderen, aber ich bin ständig müde müde. Wird es jemals ein Ende haben? Ich sehe nicht wie. So geht es mir nun seit über fünfundzwanzig Jahren.
Leuten wie Pat wird geraten, eine Beratungsstelle aufzusuchen, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen
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oder an Gruppentherapien teilzunehmen, um sich mit anderen austauschen zu können, die ähnliche Erlebnisse hatten. Er hat das alles getan und trotzdem keinen Frieden gefunden. Vielleicht wünscht er sich, wie John, die Familien derer kennenzulernen, die er getötet hat eine unwahrscheinliche Möglichkeit - oder die Opfer wieder ins Leben zu rufen, um sie um Vergebung zu bitten, was ohnehin nicht möglich ist. Also was sollte er tun? Ein Gespräch, das Robert Coles einmal mit der Psychoanalytikerin Anna Freud hatte, mag auf eine Antwort hindeuten. In einem Bericht über eine ältere Patientin mit einer langen und bewegten psychologischen Vorgeschichte schloss Freud plötzlich mit den folgenden Worten: Wissen Sie, bevor wir uns von dieser Dame verabschieden, sollten wir uns nicht nur fragen, was wir darüber denken - das tun wir ohnehin die ganze Zeit - sondern was wir ihr wünschen würden. Oh, ich meine nicht Psychotherapie; davon hatte sie genügend. Ich befürchte, die Jahre, die ihr der Herr gegeben hat, würden für die Psychoanalyse nicht ausreichen. Nein, sie hat uns nicht nötig, auch wenn sie es nicht weiß. Diese arme alte Dame braucht uns gar nicht... Was sie braucht ist Vergebung. Sie muss mit ihrer Seele Frieden schließen und nicht darüber reden, was sie denkt. Irgendwo muss es einen Gott geben, der ihr
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hilft, der sie hört, der sie heilt...und in der Hinsicht sind wir bestimmt nicht die, die ihr zu helfen vermögen!
Freuds Aussage bewahrt ihre Gültigkeit auch für jemanden, der angeblich nicht an Gott glaubt. Auf einer bestimmten Ebene müssen wir alle zurecht kommen mit den Seiten unseres Ichs, die wir am liebsten auslöschen möchten. Wir alle sehnen uns nach der Freiheit eines Lebens ohne Schuld. Auf einer bestimmten Ebene sehnt sich jeder von uns nach Vergebung. Trotzdem können wir sie nicht erwerben, auch nachdem alles gesagt und getan wurde. Manchmal ist der Mensch, den wir verletzt haben, unfähig oder nicht bereit, uns zu vergeben. Manchmal sind wir nicht fähig oder bereit, uns selbst zu vergeben. Auch die beste Psychoanalyse, auch die ernsthafte Einsicht von Schuld reicht vielleicht nicht aus, um uns bleibende Erleichterung oder Heilung zu bringen. Dennoch gibt es die Macht der Vergebung und sie kann Wunder wirken, wie John Plummer feststellte, auch wenn wir sicher sind, dass wir sie weder erworben noch verdient haben. Vergebung wird uns geschenkt, oft sogar, wenn wir uns dafür nicht würdig fühlen. Schließlich kann sie wie jedes andere Geschenk angenommen oder abgelehnt werden. Was wir damit anfangen, liegt an uns.
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Verantwortung übernehmen
Im Bekenntnis konkreter Sünden stirbt der alte Mensch unter Schmerzen einen schmachvollen Tod vor den Augen des Bruders. Weil diese Demütigung so schwer ist, meinen wir immer wieder, der Beichte vor dem Bruder ausweichen zu können. Doch in dem tiefen geistlich-leiblichen Schmerz der Demütigung vor dem Bruder, das heißt ja: vor Gott, erfahren wir ... unsere Rettung und Seligkeit. Dietrich Bonhoeffer
Kein Leser, der bis zu dieser Stelle gelesen hat, wird verneinen, dass Vergebung Heilung bringen kann, auch, wo Heilung unmöglich schien. Die Macht der Vergebung ist ein Geheimnis, doch sie ist unverkennbar da und sie ist so groß, dass Menschen manchmal entgegen ihren Willen von ihr mitgerissen werden. Dennoch ist es gefährlich,
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leichtfertig mit Vergebung umzugehen - so zu handeln, als ob sie vom nächsten Baum abgepflückt werden könnte. Gewiss ist es manchmal einfach, Vergebung zu schenken oder zu empfangen; oder sie wird manchmal gebraucht, um die hässliche Seite des Lebens zu übertünchen. Auch die
aufrichtigste
Zusage
von
Vergebung
wirkt
fadenscheinig, wenn sie nicht von einem entsprechenden Herzenswandel beider Beteiligten begleitet wird. Mit anderen Worten, sie muss etwas kosten, wenn ihre Wirkung von Dauer sein soll. Darüber hinaus ist es von geringem Wert, Vergebung zu suchen, wenn wir uns nur momentan davon berühren lassen, um anschließend in das gleiche Verhalten zurückzugleiten, das ursprünglich eine Entschuldigung erforderlich gemacht hatte. Es ist wahr, dass Vergebung ein Geschenk ist, das an keinerlei Bedingungen gebunden ist. Doch sie ist ein vergebliches Geschenk, sofern wir uns dadurch nicht zur Besserung bewegen lassen. Mark und Debbie, zwei meiner Freunde, die zu einer kleinen Hauskirche an der Westküste gehörten, erfuhren diese harte Wirklichkeit aus erster Hand: Jahrelang beobachteten wir die verheerenden Auswirkungen einer Haltung, die Unrecht ignoriert oder verheimlicht. Wir lebten in einer kleinen städtischen Gemeinde, bestehend aus mehreren Mitgliedern: einer davon war alleinstehend und er
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verliebte sich in eine verheiratete Frau aus der Gruppe. Einige von uns versuchten, sie von ihrer Beziehung abzubringen, indem wir getrennt mit ihnen sprachen. Doch keiner getraute sich, offen darüber zu reden. Aus der Vorsicht
heraus,
nicht
richtend
aufzutreten, begnügten wir uns zu glauben, dass es sich um keine ernsthafte Angelegenheit handelte, zumindest nicht ernsthaft genug, um sie aufzudecken. Begingen wir denn nicht alle Fehler? Wer waren wir schon, um zu richten? Wir redeten uns ein, dass eine offene Aussprache nicht nur ihr Gefühl der Scham und der Selbstverurteilung verstärken würde, sondern auch diesen Kreislauf von Fehlern begünstigen würde. Schließlich versuchten wir, ihr Fehlverhalten zu entschuldigen und vermieden, weiter darüber zu sprechen. Jetzt erkennen wir, dass dieses sogenannte Verständnis die Sache eigentlich nur verschärft hat. Der Mann zog schließlich weg; zwei Jahre später ließ die Frau sich von ihrem Mann scheiden, um dem Mann zu folgen, mit dem sie ein Verhältnis hatte.
Weit davon entfernt, ein Einzelfall zu sein, sind solche Begebenheiten eher weit verbreitet. Auf den ersten Blick scheint es, dass sie wenig mit Vergebung zu tun haben, da es keine klare Erkenntnis von Schuld gibt, und demzufolge auch keine Notwendigkeit zur Wiedergutmachung. Doch bei näherem Betrachten gibt es einiges,
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das sehr wohl in Frage kommt. Hätte es in dem oben geschilderten Fall eine offene Auseinandersetzung gegeben, wer weiß, wie anders das Ende gewesen wäre? So eindeutig es auch klingt, es ist überaus wichtig zu bedenken, dass wir keine echte Vergebung empfangen können, solange wir nicht unser Bedürfnis danach anerkennen; das geschieht, indem wir unsere Fehler vor der Person bekennen, die wir verwundet haben, oder (wenn das nicht möglich ist) vor einer Person unseres Vertrauens. Einige Leute missbilligen diese Art zu handeln als „Beichte“, die für altmodische Katholiken geeignet ist. Andere bestätigen, dass es hilfreich sein kann, doch sie behaupten, dass Schuld genau so einfach gelöst werden kann, indem die Missetat als solche erkannt wird und der Entschluss gefasst wird, diese nicht wieder zu begehen. Doch das ist ausgesprochene Torheit: es ist gerade diese Erkenntnis, die die Schuldgefühle auslöst. Deshalb schreibt auch Tolstoi, dass der von einer solchen Selbstvergebung bewirkte innere Friede nichts weiter ist als „Totsein der Seele“. Er ist nicht vergleichbar mit dem echten Frieden, der die Menschen erfüllt, wenn sie demütig und ehrlich genug sind, um Vergebung zu bitten, wo sie schuldig geworden sind.
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Die Schuld wirkt im Verborgenen und sie verliert ihre Kraft erst, wenn sie offen gelegt wird. Oft hält uns unser Wunsch, gerecht zu erscheinen, davon ab, unsere Fehler zu bekennen. Warum sollte man eine törichte Entscheidung oder einen dummen Fehler aufdecken? Doch je mehr wir versuchen, solche Gedanken zu verdrängen, um so mehr plagen sie uns, wenn auch unbewusst. Schließlich häuft sich Schuld auf Schuld und wir werden verkrampft und niedergedrückt. Über den Frieden, der sich einstellt, wenn man seine Fehler eingestanden hat, sagt mein alter Freund Steve Folgendes: Auf meiner Suche nach dem inneren Frieden forschte ich in verschiedenen Religionen und studierte Psychologie, doch finden konnte ich nur Teilantworten. Erst als ich sah, was für ein Chaos aus meinem persönlichen Leben geworden war, konnte ich erkennen, wie dringend ich mich ändern musste und wie sehr ich Vergebung nötig hatte. Die Schlüsselerfahrung kam auf unerklärliche Weise und unerwartet: Mir wurde plötzlich bewusst, was für einen Berg von Unrecht ich zurückgelassen hatte. Vorher war diese Tatsache durch Stolz und dem Wunsch verdeckt, vor anderen gut zu erscheinen. Doch jetzt brachen die Erinnerungen an alle begangenen Fehler wie ein Fluss aus Galle aus mir hervor. Was ich wünschte, war frei zu sein, nichts Dunkles und Verborgenes in mir zu tragen; ich wollte
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begangene Fehler wiedergutmachen, wo immer es möglich war. Ich suchte mir keine Entschuldigungen - Jugend, Umstände, oder schlechte Freunde. Ich selbst war verantwortlich für meine Taten. Seite um Seite füllte ich, um alles bis in die letzte Einzelheit aufzuschreiben. Es war mir, als ob mich ein Racheengel mit dem Schwert ins Herz traf, so groß war der Schmerz. Ich schrieb Dutzende von Briefen an Personen und Organisationen, die ich betrogen, bestohlen und belogen hatte. Endlich fühlte ich mich wirklich frei.
In dem Buch „Die Brüder Karamasow“ beschreibt Dostojewski diese Art von Freiheit, die eine Person erlebt, nachdem sie einen Mord gesteht, den sie jahrzehntelang verschwiegen hat: „Ich erlebe zum ersten Mal Freude und Frieden nach so vielen Jahren. In meinem Herzen ist der Himmel...“ Für den Mörder aus dem wirklichen Leben mag der Himmel nicht so einfach einziehen.
Trotzdem
sollte
man
ihn
niemals
ausschließen. Vor mehreren Jahren begann ich mit Michael Ross, einem Cornell-Absolventen, zu korrespondieren, der ein Serien-Vergewaltiger und Mörder geworden war. Gemessen an dem Ausmaß seiner Morde, an der Todesangst seiner Opfer in ihren letzten Minuten und an dem Kummer ihrer Familien, ist die Verachtung, mit
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der die meisten Menschen Michael behandeln, kaum erstaunlich. Etwas anderes zu tun als ihn zu hassen, würde in ihren Augen bedeuten, das große Leid zu schmälern, das er verursacht hat. Doch was ist mit Michaels Leiden? (Nach meinem ersten Besuch bei ihm brach er zusammen und weinte, als ich ihn umarmte und mich verabschiedete. Niemand hatte ihn seit zwei Jahrzehnten umarmt). Was ist mit der Tatsache, dass er seit Jahren tiefe Reue empfand? So schrieb er in einem seiner Briefe an mich: Ich habe ein tiefes Schuldgefühl: eine intensive, überwältigende und alles verderbende Schuld, die meine Seele in dunkle, quälende Wolken des Selbsthasses, der Reue, und der Sorge einhüllen. Versöhnung ist, was ich mir am meisten wünsche: Versöhnung mit dem Geist meiner Opfer, mit ihren Familien und Freunden und schließlich mit mir selbst und mit Gott.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Familien der Opfer Michael jemals vergeben werden. Es ist auch so gut wie unmöglich, dass die Gerichte seine Todesstrafe in lebenslängliche Haft umändern werden. Trotzdem habe ich versucht, ihm zu zeigen, dass sein vom Gesetz auferlegtes Schicksal nicht das letzte Wort haben muss. Unabhängig von der Tiefe seiner Seelenqual ist ein Mensch wie Michael, der bereit ist, seine Schuld zu W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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bekennen, viel näher daran, Befreiung zu finden, als jemand, dem das Schuldbekenntnis durch Überredung und Drohungen abgerungen wurde. Auch wenn ihm die Vergebung bis zum Tag seines Todes verwehrt wird, müssen wir hoffen und glauben, dass ihre Macht ihn berühren kann - wenn auch allein deshalb, weil er sich so verzweifelt danach sehnt, und weil er so entschlossen ist, sich dafür würdig zu erweisen. Während es offensichtlich ist, dass Vergebung das Leben auf persönlicher Ebene verändern kann, sollten wir nicht vergessen, dass sie auch Geschehnisse in einem größeren Maßstab beeinflussen kann. Eigentlich kann die Kraft, die den Einzelnen verändert, auf die Menschen seiner Umgebung wirken, so dass sie immer weitere Kreise zieht und sich von einem Menschen zum anderen fortsetzt. Ungefähr vor hundertfünfzig Jahren hat in Möttlingen, einem Dorf im Schwarzwald, eine solche Bewegung stattgefunden. Zuvor hatte der Pastor Johann Christoph Blumhardt oft über „den Nebel der Apathie“ geseufzt, der über seiner Gemeinde lag. Heutzutage scheint der Ort genauso verschlafen, abgesehen von dem Strom neugieriger Besucher, die sich drängen, um seine Kirche zu besichtigen. Doch eine Platte auf der Fachwerkmauer eines alten Hauses bezeugt die bedeutenden Ereignisse, W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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die einst das Dorf wachgerüttelt hatten: „Mensch: denke an die Ewigkeit und verachte nicht die Zeit der Gnade, denn das Gericht ist nahe!“ Die „Erweckung“ in Möttlingen, wie sie heute genannt wird, begann am Neujahrsabend des Jahres 1843; ein als ausgelassener Zecher und Schläger bekannter junger Mann klopfte an die Tür des Pfarrhauses. Er bat, Blumhardt sprechen zu dürfen und nachdem er eingelassen wurde, bekannte er, dass er eine ganze Woche lang nicht geschlafen hatte und Angst hatte, sterben zu müssen, wenn er sein Gewissen nicht befreite. Erst war Blumhardt vorsichtig und betrachtete alles mit Abstand, doch als der Mann begann, einen Schwall von großen und kleinen Missetaten aufzuzählen, erkannte er, dass es eine ernst gemeinte Beichte war. Auf diese Weise begann eine noch nie dagewesene Welle von Beichten, bei der ein Dorfeinwohner nach dem anderen kam, um seine verborgenen Sünden zu bekennen und Erlösung zu suchen, um mit einem reinen Gewissen neu anzufangen. Bis zum Januar 1844 waren sechzehn Menschen zum Pfarrhaus gekommen. Drei Tage später war die Zahl auf fünfunddreißig gestiegen. Zehn Tage später waren es mehr als hundertfünfzig. Bald darauf kamen die Leute auch aus benachbarten Dörfern in Scharen. In Möttlingen war wenig von der Gefühlsbetonung der meisten religiösen Erweckungen zu spüren - es gab keine übertriebenen Bekenntnisse von Bosheit und keine W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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öffentliche Buße. Was da vor sich ging war dafür zu still und zu nüchtern. Im Herzen betroffen, konnten Menschen aller Lebensstile sich plötzlich in ihrer ganzen Schäbigkeit sehen und den inneren Drang fühlen, aus den alten Verhaltensweisen auszubrechen. Bezeichnend für diese Bewegung war, dass sie sich jenseits von Worten und Gefühlen vollzog und sich in konkreten Formen von Buße und Vergebung bemerkbar machte. Gestohlene Güter wurden erstattet, Feinde versöhnten sich, Untreue und Mord (einschließlich ein Fall von Kindsmord) wurden bekannt und zerbrochene Ehen wurden wieder zusammengeführt. Sogar die Trunkenbolde des Ortes fühlten sich betroffen und blieben dem Wirtshaus fern. Während der Jahre reiste ich mehrmals nach Möttlingen, um die Nachkommen Blumhardts zu besuchen (meine Eltern, die beide von seinen Schriften stark beeinflusst waren, benannten mich nach ihm). Dabei habe ich mich oft gefragt, ob die Erweckung, die dort stattgefunden hat, nur ein einzelnes Ereignis war. Doch ich bin mir sicher, dass dies nicht der Fall war. Wenn die Vergebung, die ein bußfertiger Mensch gefunden hat, solch weitreichende Auswirkungen in seinen Tagen haben konnte, warum sollten wir nicht glauben, dass sie auch in unseren Tagen die gleiche Kraft haben kann?
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Kein Schritt, sondern eine Wanderung
Vergebung ist kein gelegentlicher Schritt. Sie ist eine Dauerhaltung. Martin Luther King, Jr.
Als der New Yorker Polizeibeamte Steven McDonald eines Tages im Jahr 1986 anhielt, um drei Jugendliche im Central Park zu befragen, wurde er angeschossen; seitdem ist er vom Hals abwärts gelähmt. Steve war seit weniger als einem Jahr verheiratet und seine Frau war seit zwei Monaten schwanger. Steven und sein Angreifer Shavod Jones konnten gar nicht unterschiedlicher sein. Steven war weiß, Shavod war schwarz. Steven kam aus der gehobenen Mittelklasse-Vorstadt des Nassau County; Shavod kam aus einer Wohnsiedlung in Harlem. Ihre kurze Begegnung könnte hier auch schon enden. Doch Steven
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verhinderte das. Da er wusste, dass sein Angreifer soeben beider Leben in eine neue Richtung gelenkt hatte, fühlte er sich auf merkwürdige Weise mit ihm verbunden und schrieb ihm einen Brief. Ich war wütend auf ihn, aber ich war auch überrascht, weil ich merkte, dass ich ihn nicht hassen konnte. Am ehesten tat er mir Leid. Ich wünschte für ihn, er könnte sein Leben dazu nutzen, anderen zu helfen und nicht, sie zu verletzen. Er sollte Frieden und Sinn in seinem Leben finden. Deshalb habe ich ihm vergeben. Es war für mich der Weg in die Zukunft, der Weg, auf dem ich dieses schreckliche Ereignis hinter mir lassen konnte.
Shavod antwortete anfangs nicht auf Stevens Brief. Doch als er schließlich antwortete, riss der Kontakt ab, weil Steven ablehnte, seinen Antrag auf Umwandlung in eine Bewährungsstrafe zu unterstützen. Dann, gegen Ende des Jahres 1995, nur drei Tage nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, starb Shavod als Opfer in einem Motorradunfall. Doch Steven bereute es nie, ihm entgegengekommen zu sein. Ich wirkte wie ein Symbol auf den Jungen: Ich trug eine Uniform, die stellvertretend für die Regierung steht. Ich war das System, das den Eigentümern erlaubte, Miete für armselige Wohnungen in abbruchreifen
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Mietshäusern zu erheben. Ich war die Stadtverwaltung, die im Zug der sozialen Aufwertung arme Siedlungen gesäubert und ihre Einwohner verbannt hatte, unabhängig davon, ob es gesetzestreue und verlässliche Bürger waren oder Draufgänger und Kriminelle; ich war der irische Polizist, der bei einem persönlichen Zwist hinzukam und ohne einzugreifen wieder ging, weil kein Gesetz gebrochen worden war. Für Shavod Jones war ich der Feind. Er sah in mir nicht den Menschen, einen Mann mit geliebten Angehörigen, nicht den Ehemann und werdenden Vater. Er hatte sich alle Vorurteile seiner Umgebung angeeignet: die Polizisten sind Rassisten, sie werden brutal, also bewaffne dich gegen sie. Nein, ich konnte Jones nicht beschuldigen. Die Gesellschaft seine Familie, die sozialen Einrichtungen, die für ihn verantwortlich waren, die Menschen, die es seinen Eltern unmöglich gemacht hatten zusammen zu leben - all diese hatten versagt, lange bevor er mich im Central Park traf.
Während der letzten Jahre habe ich Steve mehrere Male gesehen und bei zahlreichen Gelegenheiten mit ihm gesprochen. Ein Höhepunkt unserer Freundschaft war unser Erscheinen im Juni 1999 bei einem Fest in Belfast - ich als Protestant und Steven als Katholik. In einem gemeinsamen Aufruf an die Mitglieder der neuen Regierung ersuchten wir sie, sich für Versöhnung und gegen Rache einzusetzen.
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Wenn ich Steven zu Hause in Long Island besuche, bin ich jedes Mal vom Ausmaß seiner Behinderung betroffen. Sich mit einem Leben im Rollstuhl abzufinden, ist für einen älteren Menschen schwer genug, doch im Alter von neunundzwanzig Jahren herausgerissen zu werden aus einem aktiven, abwechslungsreichen Leben ist verheerend. Dazu stelle man sich noch eine Luftröhrenschnitt zum Atmen vor, dazu eine persönliche Krankenpflegerin für 24 Stunden täglich, an sieben Tagen in der Woche - und einen Sohn, den man noch niemals umarmen konnte, geschweige denn Ball mit ihm zu spielen - dann sieht man Steven McDonald. Trotzdem habe ich niemals irgendwelchen Ärger oder Bitterkeit spüren können. Steven spricht ruhig, fast schüchtern, doch seine Worte enthüllen den Pfeiler seiner Kraft: einen vergebenden Geist, der ihn davor schützt, in Selbstmitleid zu verfallen und ihm erlaubt, seine Einschränkung in einem positiven Licht zu sehen. Als Redner in Grundschulen und Gymnasien aus ganz New York, hat Steven seinem Leiden einen Sinn gegeben, indem er es nutzt, um anderen die Bedeutung der Vergebung deutlich zu machen. Sicher hatte ich meine Höhen und Tiefen. An manchen Tagen, wenn es mir nicht so gut geht, kann ich ärgerlich werden. Ich werde schwermütig. Es gab
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Zeiten, an denen ich mir am liebsten das Leben genommen hätte. Doch es ist mir klar geworden, dass Ärger eine vergeudete Emotion ist...
Trotzdem Stevens Geschichte in vieler Hinsicht außergewöhnlich ist, finde ich, dass seine Aufrichtigkeit bezüglich seiner Höhen und Tiefen am bedeutendsten ist. Steven konnte ziemlich schnell vergeben, wie so viele andere Menschen, deren Geschichten wir schon betrachtet haben. Wie viele andere auch, erklärt er, dass er vergeben hätte, um nach vorne zu schauen, um mit dem Leben zurecht zu kommen. Doch Steven meint auch, dass man diesen Entschluss zu vergeben jeden Tag erneuern muss, unabhängig davon wie aufrichtig er gemeint war. Er gesteht auch, dass die Vergebung ihren eigenen Preis an Ängsten und Schmerzen hat, dass sie bei weitem kein Schlüssel zu Heiterkeit und Erleichterung sei. Um an Dostojewskis oft zitierte Mahnung über die Liebe zu erinnern, ist das Ausüben der Vergebung ein „hartes und mühsames Ding“, verglichen mit der idealisierten Form der Vergebung. Wenn Stevens Beispiel das bleibende Ringen bezeugt, das jedem Entschluss zur Vergebung folgt, zeigt die anschließende Geschichte eines achtjährigen Mädchens, genannt Saira Sher, dass dieser Kampf ohne einen entscheidenden ersten Schritt nicht gewonnen werden kann. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Saira war drei Jahre alt und überquerte mit ihrer Mutter eine Straße in Troy, New York, als sie von einem Auto erfasst wurde. Es folgten Monate in der Chirurgie, in der Rehabilitation und in Therapie, aber sie erholte sich nicht wieder vollständig. Heute ist Saira eine lebhafte Drittklässlerin, die davon träumt, Solistin in der eigenen Rockband zu werden und ein Heim für behinderte Kinder zu gründen, obwohl sie an einen Rollstuhl gefesselt ist und weder fähig ist, zu gehen, noch ihre Arme und Hände zu benutzen (sie schreibt, indem sie einen Stift zwischen den Zähnen hält). „Äußerlich bin ich gefangen doch innerlich bin ich frei“, schrieb sie unlängst in einem Artikel in ihrer Schulzeitung. „Ich mache wahrscheinlich mehr, als jemand, der gehen kann. Alles in allem ist Gelähmtsein gar nicht so schlecht.“ Doch wenn man mit der Großmutter (und Hauptpflegerin) Alice Calonga spricht, erhält man ein anderes Bild: Saira ist eine Inspiration. In ihr ist gar keine Feindseligkeit. Sie ist ein sehr positiver Mensch und beschäftigt sich nicht mit dem, was ihr zugestoßen ist, noch bemitleidet sie sich selbst. Sie ist einfach ein normales Kind, was sie selbst betrifft. Soviel ihr ach weggenommen wurde, hat sie tausendfach in ihrem kurzen Leben an die Menschen aus ihrer Umgebung zurückgegeben. Doch dadurch wird das, was ihr angetan wurde, nicht rückgängig gemacht.
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Ich werde die ersten Tage nach dem Unfall niemals vergessen. Wir waren oben in Albany in der pädiatrischen Klinik und eine Menge Leute tummelten sich dort mit ihren Kindern. Es waren auch zwei junge Männer da, die irgendwie auffielen, denn sie standen die ganze Zeit da und beobachteten mich. Schließlich näherte sich einer von ihnen und fragte mich, ob ich mit dem kleinen Mädchen, das angefahren wurde, verwandt wäre. Ja, sagte ich. Dann fragte er mich, ob ich ihre Großmutter wäre. Ja, sagte ich. An diesem Punkt fragte ich ihn, wer er wäre, und er sagte, er wäre der Mann, der sie angefahren hätte. Ich war sprachlos. Dann fragte er mich, ob ich ihm vergeben könnte. Als ich versuchte, mich in die Lage dieses Fremden zu versetzen, und überlegte, wie betroffen ich mich an seiner Stelle fühlen würde, wusste ich sofort, ich müsste ihm vergeben. So tat ich es auch. Anschließend umarmte ich ihn. Genau in dem Augenblick kam meine Tochter aus der Intensivstation. Sie war bestürzt, dass ich mit dem Mann sprach und wurde sehr wütend über mich. Sie fing an, mir zu berichten, wie der Unfall geschehen war - der Fahrer war sehr ungeduldig und überholte den Wagen, der vor ihm an der Ampel hielt, dabei fuhr er sie und Saira an. Dann, in einem Versuch von der Unfallstelle zu fliehen, beschleunigte er den Motor. Dabei wurde Saira noch einmal verletzt, so dass ihr Halswirbel gebrochen und ihre Wirbelsäule zerquetscht wurde. Zuerst konnte ich es nicht glauben. Ich sagte: „Niemand würde so etwas tun.“ Doch bald stellte ich
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fest, dass meine Tochter nicht übertrieb. Ich war so verletzt, als ob ich vergewaltigt worden wäre. Meine Vergebung wurde mir von einem Mann geraubt, der am wenigsten das Recht dazu hatte.
Alice versicherte, dass sie trotz ihres Schocks und der Wut ihrer Tochter, die ihr vorwarf, sie hätte kein Recht, jemanden für das Geschehene zu vergeben, sicher ist, das Richtige getan zu haben. Wie wütend manche Leute auch sein mögen, in meinem Herzen weiß ich, dass ich dem Fahrer aus dem richtigen Grund vergeben habe, auch wenn ich es aus Instinkt getan habe. Ich kann aufrichtig beteuern, dass ich ihm nie mehr vergeben hätte, wenn ich es nicht in dem einen besonderen Augenblick getan hätte. Es ist mir jetzt sehr klar, dass er es nicht verdient hat. Doch wenn ich an seiner Stelle wäre und das getan hätte, was er getan hat, würde ich dennoch Vergebung brauchen. So dachte ich, als ich ihm vergab. Nun, seit damals habe ich sehr viel mehr über den Fahrer erfahren. Er hat auch weiterhin das Gesetz missachtet und andere Menschen körperlich verletzt, ohne irgend welche Reue zu zeigen. Zuletzt hörte ich, er hätte siebenunddreißig Einträge von Verkehrswidrigkeiten in seinem Führerschein! Als er Saira verletzte, hatte er bereits neunzehn. Gott allein weiß, was er noch alles getan hat.
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Alice berichtet, dass sie täglich neu darum kämpfen muss, um an ihrem ursprünglichen Angebot der Vergebung festzuhalten. Doch sie sagt auch, dass dieser Kampf sie zu einer stärkeren Person reifen ließ. Es hat mich sehr viel Zeit gekostet, um das Gefühl zu verkraften, ausgenutzt worden zu sein. Eine lange Zeit. Doch ich bin darüber hinweggekommen. Ich glaube nicht, dass dieser Fahrer jemals meiner Vergebung würdig sein wird. Trotzdem kann ich meine Lasten jetzt viel leichter tragen, als damals da ich meinen Ärger auch noch zu tragen hatte. Aus diesem Grund kann ich besser leben und meine Energie jemandem geben, der sie verdient - jemand wie Saira.
Indem sie die Macht der Vergebung in ihrem eigenen Leben deutlich machen, geben Leute wie Steven und Alice anderen, die vergeben möchten, ein Beispiel. Doch letztendlich sind sie nur Beispiele. Wenn ihre Geschichten von praktischem Nutzen sein soll, der darüber hinaus geht, als nur den Leser zu erbauen, müssen wir die Punkte finden, an denen sich ihre Erfahrungen mit unseren überschneiden. Es ist selbstverständlich, dass der Weg zur Heilung und Ausgeglichenheit nicht für jeden der gleiche sein kann. Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus und es führen verschiedene Wege zu dem einen Ziel. Einige W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Menschen finden die Kraft zur Vergebung in sich selbst, andere brauchen die Hilfe ihrer Mitmenschen. Einige können nur vergeben, wenn sie ihre eigene Unfähigkeit erkennen und sich an eine höhere Macht wenden. Andere wieder sind niemals fähig zu vergeben. Terry, ein Häftling aus dem örtlichen Gefängnis, mit dem ich im Briefwechsel stehe, ist siebenunddreißig Jahre alt. Neunzehn davon hat er bisher in Gefängnissen, Strafanstalten
oder
geschlossenen
Anstalten
der
verschiedensten Art verbracht. Zwangsweise von den Eltern
durch
Jugendschutzvertreter
getrennt,
die
entschlossen waren, ihn und seine Geschwister vor den elterlichen Übergriffen zu schützen, wurden Terry und seine Brüder über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten von einem Pflegeheim zum anderen geschoben. In einem der Pflegeheime wurde Terry von der zuständigen Pflegerin regelrecht verprügelt; in einem anderen Heim wurde er von älteren Zimmerkollegen wiederholt vergewaltigt. Wieder in einem anderen Heim wurde er vom leitenden Priester belästigt. Mehrmals flüchtete er, wurde gestellt und verbrachte zur Strafe mehrere Tage in Einzelhaft und hinter verschlossener Tür. Das Essen wurde durch eine schmale Öffnung in der Tür gereicht und als Kleidung durfte er nichts als Unterwäsche tragen. Terry hat so viel Zeit seines Lebens an Drogen und Alkohol verschwendet, dass er sich an manche W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Ausschnitte aus seiner Jugend nur verschwommen erinnern kann. Die Zahl seiner Selbstmordversuche ist größer als dass man sie zählen könnte. Trotzdem sehnt er sich danach, den Menschen zu vergeben, die aus seinem Leben die Hölle gemacht haben, die es jetzt ist; er möchte sich selbst vergeben für die „törichten Entscheidungen“, die er gesteht in seinem bisherigen Leben getroffen zu haben und er wünscht sich, Vergebung zu erlangen für die Verbrechen (Diebstahl und
Trunkenheit
am
Steuer),
die
ihm
die
Gefängnisstrafe brachten. Ich werde mich hinsetzen und alle meine Sünden aufschreiben, wovon ich jede einzelne bereue, auch die, die mir nicht bewusst sind. Glaub mir, ich habe ein gutes Herz. Alles was ich habe würde ich hergeben, sollte mich jemand darum bitten. Ich liebe andere Menschen, doch ich hasse mich selbst. Gibt das einen Sinn? Es schmerzt mich, jemanden verletzt zu sehen, doch gleichzeitig habe ich alle verletzt, die ich je geliebt habe. Sind alle meine Gefühle in die falsche Richtung gelenkt worden oder bin ich ein echter Wirrkopf? Um ehrlich zu sein, haben meine Probleme sehr viel damit zu tun, dass ich nachtragend bin. Ich weiß nicht, wie ich meinen Groll loswerden soll. Es gibt so viel aufgestauten Ärger in mir, so viel Hass und Bitterkeit in meinem Inneren, dass ich einfach nicht fähig bin, wirklich zu lieben. Es scheint nichts zu
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geben, was die Dämonen in meinem Kopf eindämmen kann oder den unerklärlichen Schmerz wegnehmen kann, den ich Tag für Tag fühle. Wenn ich mit anderen Leuten zusammen bin, gelingt es mir zu schwindeln. Ich kann scherzen, lachen. Doch sobald ich allein bin, werde ich nüchtern, und alle diese Gefühle überkommen mich und nehmen Besitz von mir: Einsamkeit, Verlassenheit, Rache, Selbstmordgedanken. Ich habe alles durchgemacht - psychologische Beratung, Rehabilitation, Betreuungsheime; ich habe jede medizinische Behandlung durchgemacht, die es gibt. Doch nichts hat Wirkung in meinem Fall. Nichts. Ich habe Jesus so oft gebeten, in mein Leben zu kommen und teilweise hat er es auch getan, sonst würde ich diesen Brief nicht schreiben. Aber wie werde ich all den Kram los, der so viel Platz in meinen Gedanken einnimmt? Ich habe das Gefühl, unfähig zu sein, einen bewussten Entschluss zu fassen, um den Hass abzulegen... Ich weiß, dass meine Kindheit vorbei ist, doch ich bin noch immer verärgert über meine Eltern, weil sie mich und meine Brüder so behandelt haben, als wir Kinder waren. Manchmal liege ich nachts im Bett wach und male mir aus, wie ich ihnen ins Gesicht schlagen würde, wenn ich sie noch einmal sähe. Ich weiß, die Bibel sagt, ehre Vater und Mutter. Doch ich kann nicht. Ich versuche es. Ich gebe mir sehr viel Mühe. Doch ich kann meinen Ärger einfach nicht loslassen. Ich bin so verdorben durch meine Kindheit. Als ich meinen ältesten Bruder zuletzt sah, lag er im
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Sterben - an Aids. Ein anderer Bruder befindet sich schon seit vierzig Jahren in einem Krankenhaus für psychisch Kranke. Ein anderer lebt weiter nördlich und prügelt seine Kinder so wie Vater es mit ihm zu tun pflegte. Ich habe schon mehrere Male den Jugendschutz zu ihnen geschickt... Ich bete um Vergebung. Ich bete für andere Menschen. Ich bete zu Gott um Hilfe, damit aus mir die Person werden kann, die er haben möchte. Ich bete, dass ich alles hinnehmen kann, was mir während des Tages zugemutet wird. Ich bete, dass ich mich akzeptieren kann, so wie ich bin. Ich muss lernen, wie ich mich vom Hass, den ich fühle, befreien kann, denn er zerstört mich. Eine meiner größten Ängste ist die, in diesem Gefängnis sterben zu müssen. Ich fürchte, dass meine Seele hier gefangen bleibt. Ich möchte denen aufrichtig vergeben, die ich hasse - einschließlich meinen Eltern - auch wenn dunkle Gedanken ständig meinen Sinn trüben und ich täglich beten muss, um sie wegzudrängen. Ich erkenne auch mein eigenes Bedürfnis an Vergebung. Ich möchte so gerne ein guter Mensch sein und mein Verhalten ändern. Ich habe in der Bibel gelesen, dass Jesus die Menschen anrührte und ihr Leben veränderte. Sie mussten sich ihm nur genügend nähern, um sein Gewand zu berühren, und schon waren sie geheilt. Ich weiß, dass ich nur ein Staubkorn unter vielen anderen bin, doch ich wünsche mir diese Heilung auch für mich. Oder erwarte ich etwa zu viel?
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Terry wird es vielleicht nie gelingen, sich mit den Menschen
offen
auseinanderzusetzen,
die
seine
Vergebung brauchen, oder mit dem Leiden zurechtzukommen, das er durch ihre Hand erlitten hat. Auch wenn es ihm gelingen würde, könnte er sich nie genügend zusammennehmen und der Vergebung, die er ihnen erweisen möchte, durch Worte Ausdruck verleihen. In einer Lage wie der seinen, in der die Angst, missverstanden oder missbraucht zu werden, sehr groß ist, mag es zu schmerzhaft sein, seine tiefsten Gefühle offen zu legen. Doch am Ende sind es nicht Worte, die zählen. Für Terry wie auch für jeden einzelnen unter uns ist es unsere innerste Einstellung, die zählt. Diese ist es, die den Zeiger unseres Lebens in die Richtung lenkt, in welche wir wirklich gehen wollen, unabhängig davon, wie viele gegensätzliche Emotionen uns aus der Bahn zu werfen drohen. Als Bud Welch seine 23-jährige Tochter Julie verlor, hatte er mit ihr auch den Stolz seines Lebens verloren; bis zum heutigen Tag kann er nicht behaupten, er hätte dem Mann vergeben, der sie ermordet hat. Trotzdem weigert er sich, der Verbitterung und der Verzweiflung die Oberhand zu lassen und versucht stattdessen, ihr Andenken lebendig zu erhalten, indem er seinen Stolz auf sie mit anderen teilt. W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Ich bin als drittes von acht Kindern auf einer Milchfarm aufgewachsen; in den letzten 34 Jahren habe ich eine Tankstelle in Oklahoma City betrieben. Bis zum 19. April 1995 - dem Tag, als Julie und weitere 167 Menschen in dem Bombenanschlag auf das Alfred P. Murrah-Gebäude getötet wurden- war mein Leben sehr einfach. Ich hatte eine kleine Tochter, die ich sehr liebte. Julie hatte einen schweren Start; sie kam zu früh auf die Welt, doch sie überlebte und wurde gesund und stark. Sie hatte gerade das Marquette mit einem akademischen Titel in Spanisch abgeschlossen und trat eine Stelle als Übersetzerin für die Sozialversicherungsverwaltung an. Zur Stunde ihres Todes traf sie sich mit einem Leutnant der Luftwaffe, namens Eric. Am Tag nachdem Julie getötet wurde, erfuhr ich, dass sie beabsichtigten, ihre Verlobung in zwei Wochen bekannt zu geben. Mein ganzes Leben lang habe ich mich gegen die Todesstrafe eingesetzt. Freunde belehrten mich und meinten, wenn jemand aus dem Kreis meiner Angehörigen getötet würde, würde ich meine Meinung ändern. „Was, wenn Julie vergewaltigt und ermordet würde?“ Doch ich antwortete immer, ich würde an meinen Prinzipien festhalten. Bis zum 19. April. Die ersten vier Wochen nach dem Bombenanschlag hatte ich so viel Wut, Schmerz, Hass und Rache in mir, dass ich verstand, weshalb ein mutmaßlicher Schwerverbrecher mit schusssicherer Weste transportiert wird. Es geschieht, weil Menschen wie ich versuchen würden ihn umzubringen.
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Gegen Ende des Jahres 1995 befand ich mich in einem sehr schlechten Zustand; ich trank sehr viel und rauchte drei Packungen Zigaretten am Tag. Emotional war ich am 19. April stehen geblieben. Ich konnte einfach nicht darüber hinweg kommen. Doch ich wusste, dass ich etwas dafür tun musste. Damals begab ich mich zum Schauplatz der Bombenexplosion. Es war an einem kalten Nachmittag im Januar; ich stand da und betrachtete Hunderte von Menschen, die entlang des Drahtzaunes gingen, der den Platz umzäunte, wo das Murrah-Gebäude gestanden hatte. Ich dachte an die Todesstrafe und dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als Timothy McVeigh (und alle anderen, die für den Bombenanschlag verantwortlich waren) „schmoren“ zu sehen. Doch ich fragte mich auch, ob ich mich überhaupt besser fühlen würde, wenn sie erst hingerichtet sein würden. Jedes Mal, wenn ich mir diese Frage stellte, erhielt ich die gleiche Antwort: Nein. Nichts Positives würde dabei herauskommen. Es würde Julie nicht zurückbringen. Letztendlich waren es Hass und Rache, die diesen Wunsch, sie tot zu sehen, hervorbrachten; und genau diese zwei Dinge waren es, die zum Tod Julies und weiterer 167 Menschen führten...
An diesem Punkt der Erkenntnis angekommen, fand Bud zu seinem ursprünglichen Grundsatz zurück, dass die Hinrichtung von Verbrechern nicht richtig war, und seit damals ist er ein führender Gegner der Todesstrafe. Im ganzen Lande begehrt als Redner über die Sinnlosigkeit W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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der Todesstrafe, tritt er in Kirchen und städtischen Versammlungen auf, auf Schulgeländen und Versammlungen von Gegnern der Todesstrafe. Ständig ist er unterwegs. Doch nichts von all dem, was er unternommen hat, erscheint ihm so wichtig wie seine Begegnung mit Timothys Vater: Ein Mensch wie Bill McVeigh ist genau so Opfer wie auch ich es bin, vielleicht sogar in stärkerem Maße. Der Schmerz, durch den er und seine Familie gehen, ist unvorstellbar. Ich habe eine Tochter verloren, und wenn Timothy hingerichtet wird, wird er einen Sohn verlieren. Ich habe selbst einen Sohn und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen würde, wenn er dafür verurteilt würde, 168 Menschen getötet zu haben. Bill muss für den Rest seines Lebens damit leben. Ich sah Bill McVeigh zum ersten Mal im Fernsehen, einige Wochen nach dem Bombenattentat. Er war bei der Arbeit an seinem Blumenbeet und er blickte ein paar Sekunden lang in die Kamera. Damals sah ich einen Vater mit unsagbar tiefem Schmerz in seinen Augen. Ich konnte ihn wahrnehmen, weil ich diesen Schmerz selbst erlebte. Sofort wusste ich, dass ich eines Tages zu ihm gehen müsste, um ihm zu sagen, dass es mich sehr bewegte, wie er sich fühlte. Ich besuchte ihn tatsächlich. Am Tag meines Besuches war er wieder draußen im Garten. Es verging eine halbe Stunde, die wir damit verbrachten, uns einfach kennenzulernen und dabei mit dem Fuß in die Erde stießen und Unkraut zupften. Anschließend
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gingen wir ins Haus, wo ich Jennifer, seine 24jährige Tochter kennenlernte. Als wir eintraten, bemerkte ich ein paar Familienbilder, die an der Wand über dem Küchentisch hingen. Am größten von allen war Timothys Bild. Ich stand da und betrachtete es. Ich wusste, dass sie mich beobachteten, also sagte ich: „Herrgott, was für ein gut aussehender Junge.“ Draußen hatte mir Bill erzählt, dass es ihm sehr schwer fiel, Emotionen zu zeigen - dass er nicht weinen könne. „Das ist Tims Foto vom Schulabschluss“, und eine große Träne rollte seine Wange hinab. Wir redeten noch anderthalb Stunden. Als ich mich zum Fortgehen anschickte, drückte ich Bills Hand, dann hielt ich meine Hand Jennifer entgegen. Sie nahm sie nicht. Sie warf stattdessen ihre Arme um meinen Hals. Ich weiß nicht mehr, wer zuerst anfing zu weinen, als wir uns umarmten, doch beide waren wir tränenüberströmt. Schließlich sagte ich, „Liebling, in diesem Punkt sind wir für den Rest unseres Lebens vereint. Und wir können das Beste daraus machen, wenn wir es nur möchten. Ich möchte nicht, dass dein Bruder stirbt und ich werde alles tun, was in meiner Macht ist, um es zu verhindern.“ Nie in meinem Leben habe ich mich Gott näher gefühlt als in jenem Augenblick. Mir war, als hätte man eine Last von tausend Kilos von meinen Schultern weggenommen.
Trotzdem beteuert Bud, dass er nicht den Wunsch hat, den Mörder seiner Tochter zu sehen. Manchmal zweifelt er sogar, ob er ihm wirklich vergeben hat: W W W . C H R I S T O P H A R N O L D . C O M
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Zumindest denke ich nicht, dass ich ihm vergeben habe. Ich hielt einen Vortrag an der Landesuniversität Oklahoma und der Bischof von Tulsa war dabei. Ich erzählte der Gruppe von meinem Ringen und davon, dass ich das Gefühl hätte, ihm nicht vergeben zu haben. Jedenfalls unterbrach mich der Bischof und sagte, „Doch, ich denke, Sie haben ihm vergeben.“ Und er fing an, Verse aus der Bibel zu zitieren, was ich nicht so gut kann. Doch er ist Bischof und ich nehme an, dass er dafür qualifiziert ist. Ich glaube, er versuchte mich zu überzeugen, dass ich Timothy vergeben hätte und vielleicht stimmt es auch. Trotzdem kenne ich auch Augenblicke der Wut. Ich erinnere mich, wie ich das Schulgelände eines Gymnasiums in Kalifornien überquerte, um vor einer Schulversammlung zu sprechen; ich sah mich um, während ich ging: der Ort erinnerte mich an Julies Gymnasium. Plötzlich traf mich diese Wut. Hier war ich also, um vor einer ganzen Hörerschaft von Jugendlichen über meine Ablehnung der Todesstrafe zu sprechen und ich dachte bei mir: „Der Bastard verdient es gar nicht zu leben.“ Ich weiß, dass ich nicht möchte, dass Timothy getötet wird, denn sobald er tot ist, wird es zu spät sein, ihm vergeben zu können. So lange er am Leben ist, muss ich mit meinen Gefühlen ringen. Doch ich erlebe auch Rückschläge, sogar dann, wenn ich sicher bin, dass ich vergeben möchte. Vielleicht kann ich deshalb nicht mit dem Wort „innerer Friede“ umgehen. Ich kann es nicht mehr hören. Das erste Mal, als mich jemand nach dem inneren Frieden
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fragte, war es an dem Tag nach Julies Beerdigung. Natürlich ging ich damals noch durch die Hölle. Gewissermaßen stecke ich noch immer drin. Wie kann es jemals inneren Frieden geben? Ein Teil meines Herzens wurde weggerissen.
Bud inspirierte mich seit dem ersten Mal, las wir uns begegneten, und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, merke ich bei ihm einen festeren Entschluss, aus der Tragödie, die ihn getroffen hat, das Beste zu machen. Es war noch der Kummer, der ihn trieb, die Familie des Mörders seiner Tochter zu besuchen, jetzt ist es ihr lebensbejahender Geist, der ihn zum Handeln treibt. Auch wenn er die Heilung, die er sich wünscht, noch nicht gefunden hat, ist sein Weg - wie jeder Weg der Vergebung - von Hoffnung geprägt: Es ist ein Kampf, doch es ist ein notwendiger Kampf. Jedenfalls sieht Vergebung nicht so aus: man wacht einfach eines Morgens auf und ist entschlossen zu vergeben. Man muss sich durcharbeiten durch Wut und Hass, so lange diese Gefühle da sind. Man muss versuchen, an jedem Tag sein Leben ein wenig besser zu gestalten als am Tag davor.
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