Andrea Christian Bertino „Vernatürlichung“
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Mont...
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Andrea Christian Bertino „Vernatürlichung“
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) · Werner Stegmaier (Greifswald)
Band 58
De Gruyter
„Vernatürlichung“ Ursprünge von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder von
Andrea Christian Bertino
De Gruyter
Gedruckt mit Hilfe der Förderung der Trebuth-Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Werner Stegmaier Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6−7, D-17487 Greifswald
ISBN 978-3-11-025581-2 e-ISBN 978-3-11-025582-9 ISSN 1862-1260 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Bertino, Andrea Christian. „Vernatürlichung“ : Ursprünge von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder / by Andrea Christian Bertino. p. cm. − (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, ISSN 1862-1260) Originally presented as the author’s thesis − Universität Greifswald, 2010. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-025581-2 (hardcover : alk. paper) 1. Nietzsche, Friedrich Wilhelm, 1844−1900. 2. Herder, Johann Gottfried, 1744−1803. 3. Philosophical anthropology. 4. Language and languages − Philosophy. 5. History − Philosophy. I. Title. B3318.M27B47 2011 128.09212−dc22 2011013722
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Den Menschen als natrliches Kulturwesen zu verstehen ist eine klassische Option des philosophischen Denkens. Sie luft leicht Gefahr, zum Reduktionismus zu werden. Ihre epistemische Grenze und ihr praktisches Interesse muss darum auch heute noch sorgfltig reflektiert werden. Herder und Nietzsche ermçglichen das auf je verschiedene, aber verwandte Weise. Ihre Denkanstze sind bis heute kaum aufeinander bezogen und miteinander verglichen worden. Herder und Nietzsche wurden beide lange und werden zum Teil bis heute nicht als ernstzunehmende Philosophen wahrgenommen. Ihr bewusst nicht systematisches Denken und ihre Absicht, sich nicht auf eine technische Sprache der Philosophie einzulassen und sie sogar zu parodieren, hat oft dazu gefhrt, sie als bloße Schriftsteller, Dichter, Prediger, Moralisten anzusprechen, ohne von ihnen einen maßgeblichen Beitrag zur philosophischen Forschung zu erwarten. Inzwischen hat sich das Selbstverstndnis des Philosophierens jedoch gendert, und zu dieser nderung – das wird diese Arbeit zeigen – haben sie selbst maßgeblich beigetragen: indem sie die Philosophie selbst aufgrund ihrer natrlichen, moralischen und religiçsen Bindungen skeptisch in Frage gestellt haben. Fr ihre Reflexion der Philosophie hat ihre Reflexion der Sprache doppelte Bedeutung: als Untersuchung ber die Grenzen des Wissens und als Anfang einer Neuorientierung des Menschen in seiner Kraft, sich historisch zu verstehen und kulturell neu zu schaffen. Statt lediglich weitere Argumente in einen traditionellen Diskurs einzubringen, beschreiben sie den Menschen von Grund auf neu vom natrlichen Ursprung seiner Sprache her. Es geht ihnen um Heuristik und die Erweiterung der Horizonte des philosophischen Denkens berhaupt. Sie lassen die Sprache im lebendigen Umgang des Menschen mit der Natur entstehen, so dass das Denken von Anfang an nicht auf eine rein geistige Operation reduziert werden kann. Nietzsche bezieht in die Genealogisierung ausdrcklich das genealogisierende Subjekt mit ein und will es so dazu bringen, sich selbst in Frage zu stellen und sich anderen Lebensentwrfen, vergangenen und knftigen, erprobten und unerprobten, zu çffnen. Das Letztere war schon Herders Absicht und Werk, bei ihm jedoch noch von religiçsem Vetrauen getragen. Nietzsche sucht sich auch davon zu lçsen und das Leben der Menschen ganz ihrer autonomen und individuellen Gestaltung zu berantworten. Beide, Herder und Nietzsche, verstehen die Wahrheit pragmatisch. Pragmatisch ist auch ihre Betrachtung der Historie. Sie soll dem Leben dienen. Wie sie das kann, hngt von Werten und fr Philosophen von der redlichen Re-
VI
Vorwort
flexion dieser Werte und der besonnenen Verantwortung fr sie ab. Der Historiker ebenso wie der Philosoph muss darber entscheiden, was der Mensch, die Kultur, die Geschichte und die Gesellschaft sein kçnnen und sein sollen, um dadurch Orientierung geben zu kçnnen. Mit Herder und Nietzsche wird die Philosophie in ihren Ansprchen auf sicheres Wissen und letzte Begrndungen zurckhaltender; sie macht auch misstrauischer gegen Ideologien und Prophezeiungen. Will Herder nach den aufklrerischen rationalistischen Verunsicherungen wieder Mut zum christlichen Glauben machen, so kann nach Nietzsche das Individuum letzlich Sicherheit nur aus sich selbst gewinnen – es muss sich selbst trauen. Dieses Buch ist die leicht berarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2010 von der Philosophischen Fakultt der Universitt Greifswald angenommen wurde. Vor allem danke ich meinem Doktorvater Werner Stegmaier, ohne dessen Hilfe diese Arbeit nie mçglich geworden wre. Ich verdanke ihm nicht nur entscheidende intellektuelle Anregungen, die er mir als Philosoph und nicht nur als Nietzsche-Experte gab, sondern auch fr den großen Ernst und die tiefe Menschlichkeit seiner Betreuung. Fr seine aufmerksame und wohlwollende Begleitung von Anfang an und fr die Erstellung des Zweitgutachtens bin ich Domenico Venturelli sehr verbunden. Sehr dankbar fr hilfreiche Anregungen und kritische Bemerkungen bin ich auch Hartwig Frank und Konrad Ott. Das internationale Nietzsche-Forschungskolloquium am Lehrstuhl von Werner Stegmaier brachte eine Flle fruchtbarer Auseinandersetzungen mit anderen jungen Nietzsche-Forscherinnen und –Forschern. Ich danke den Freunden herzlich. Zu danken habe ich auch dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragenen Graduiertenkolleg 619 „Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum“, dem ich als Kollegiat und Stipendiat angehçren durfte. Mit seinen Mitgliedern und seinem Leiter Michael North wurden ausdauernde interdisziplinre Diskussionen auch von Aspekten meiner Arbeit mçglich. Ebenfalls bedanke ich mich beim Deutschen Akademischen Austauschdienst fr ein kurzfristiges Forschungsstipendium und fr die Ermçglichung der sprachlichen Betreuung meiner Arbeit. Die Sprachbetreuung wurde vom Akademischen Auslandsamt der Universitt Greifswald unter der so umsichtigen Leitung von Gesine Roth organisiert. Fr oft mhsame, aber immer sorgfltige Korrekturen meines Textes danke ich Eva Treiß, Juliane Bethmann, Steffi Otten und Benjamin Alberts. Dem Verlag de Gruyter und den Herausgebern Gnther Abel, Josef Simon und Werner Stegmaier danke ich fr die Aufnahme der Arbeit. Der Trebuth-Stiftung im Stifterverband fr die deutsche Wissenschaft danke ich fr ihre großzgige Fçrderung des Drucks dieses Buches.
Vorwort
VII
Meine Familie in Genua und meine Frau Sofia haben mich immer in jeder denkbaren Hinsicht untersttzt. Fr meinen Dank an sie braucht es keine weiteren Worte. Greifswald, den 1. September 2010
Andrea Christian Bertino
Inhalt Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.1. Ursprnge von Nietzsches Entidealisierung des Menschen bei Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.2. Nietzsches Diskurs ber Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.3 Stand der Forschung und Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.4. Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen . . . 1.1. Verschiedene Formen der Vernatrlichung des Menschen . . . . . . 1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen . . 1.2.1. Nietzsche: „Entmenschung der Natur“ und „Vernatrlichung des Menschen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Herder: Der Mensch in der Gott-Natur . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Gegenbewegung von Vereinfachung und Vernatrlichung als „Trieb des Geistes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Vom Nutzen und Nachteil der Naturwissenschaften fr die Vernatrlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Herder: Religiçses Vertrauen in den Wert der Naturwissenschaften fr die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2. Nietzsche: Kritische Begrenzung und Erweiterung der Philosophie durch die Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . 1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1. Nietzsche: „Entnatrlichung der Moral“ und Entmoralisierung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2. Herder: Die Entintellektualisierung des natrlichen moralischen Gefhls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Die Methodik der Vernatrlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1. Das Prinzip des Funktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2. Heuristik des Funktionalismus: Analogie-Bildung . . . . . . 1.6.3. Vernatrlichung zwischen Naturgeschichte und Genealogie der Semantik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 2 10 21 24 24 36 36 44 48 52 53 55 59 59 65 72 73 81 101
X
Inhalt
2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Am Ursprung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Herder: „Besonnenheit“ und „Besinnung“ . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Nietzsche: „Intellekt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung . . . . . . . 2.2.1. Herder: Vom Bewusstsein zur Sprache . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Nietzsche: Von der Sprache zum Bewusstsein . . . . . . . . . . 2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Herder: Die Ursprache ist mehr als Musik . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Nietzsche: Die Musik der Sprache ist die Musik des Lebens 2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Anthropologische Voraussetzungen der tropischen Genealogie des Begriffs: Semiotik des Triebes bei Herder und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2. Metaphorisierung oder Allegorisierung der Begriffe? . . . . 2.4.3. Die unbewusste Seite der Verbegrifflichung . . . . . . . . . . . 2.4.4. Philosophie und Dichtung bei Herder und Nietzsche . . . 2.5. „Der Mensch schon als Tier“: Ursprung der Sprache als Ursprung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Herder: Die Unterscheidung zwischen Tier und Mensch durch die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Nietzsche: Die berwindung der Anthropologie zugunsten der Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Das Mngelwesen, das noch nicht festgestellte Tier und die Moral
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3. Entidealisierung der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Vergessen und die Formen des historischen Diskurses . . . . . 3.1.1. Herder: Zwischen objektivierender Geschichtsschreibung und humanisierender Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . 3.1.2. Nietzsche: Narrative Geschichtsschreibung in sich entziehenden Horizonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Leistungen der Historie fr das Leben nach Nietzsche und bei Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Monumentalische Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Antiquarische Geschichtsphilosophie: Der Ursprung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Kritischer Gebrauch der Geschichtsphilosophie: Die Gegenwart des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Herder: Fortschritt der Vçlker zum Glck . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Nietzsche: Fortschritt des Einzelnen in der Selbstberwindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219 221
172 175 183 198 203 204 207 210
223 230 236 237 239 242 246 246 255
Inhalt
3.3.3. Voltaire: Zerstçrerischer Skeptiker fr Herder, erster freier Geist fr Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults . . . . 3.4.1. Herder: Das Genie zwischen Naturkrften und Sittlichkeit 3.4.2. Nietzsche: Das Genie als Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“ . . . . 3.5.1. Herder: Befçrderung vs. Begrndung der Humanitt in der Welt jenseits des Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2. Nietzsche: Freisetzung des guten, antinationalistischen Europertums in Europa: die halb-barbarische Genesung des historischen Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI 264 274 275 279 287 288 298
4. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Begriffs- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Siglen Herder Falls nichts anders angegeben, werden Herders Texte aus der folgenden Ausgabe zitiert: FHA Gnter Arnold, Martin Bollacher, Jrgen Brummack, Christoph Bultmann, Ulrich Gaier, Gunter E. Grimm, Hans Dietrich Irmscher, Rudolf Smend, Rainert Wisbert, Thomas Zippert (Hg.), Johann Gottfried Herder. Werke 10 in 11 Bdn., Frankfurt am Main 1985 – 2000. Briefe Herders werden aus der folgenden Ausgabe zitiert: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe, 9 Bde, hg. v. Wilhelm Dobbek u. Gnter Arnold, Weimar 1978. Abhandlung Abhandlung ber den Ursprung der Sprache Angeborne Lge ber die dem Menschen angeborne Lge Auch eine PhiloAuch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der sophie Menschheit Bild ber Bild, Dichtung und Fabel Briefe Briefe zu Befçrderung der Humanitt Die Lyra Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst Fragmente ber die neuere deutsche Literatur; Erste Sammlung von Fragmenten, zwote Sammlung und dritte Sammlung von Fragmenten Gott Gott. Einige Gesprche Ideen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Journal Journal meiner Reise im Jahr 1769 Kritische Wlder Kritische Wlder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schçnen betreffend Metakritik Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft SWS Berhard Suphan (Hg.), Herders smmtliche Werke, 33 Bde., Berlin 1877 – 1913 ber den Fleiss ber den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen ber die ersten ber die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechts. Urkunden Einige Anmerkungen Ursachen Ursachen des Gesunknen Geschmacks bei den Verschiednen Vçlkern, da er geblhet
XIV Vernderung des Geschmacks Versuch Vom Erkennen Von Baumgartens Denkart Wie die Philosophie
Siglen
Von der Vernderung des Geschmacks Versuch ber das Sein Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und ntzlicher werden kann
Nietzsche AC BA CV DW EH FW GD GM GMD GT JGB KGW
Der Antichrist Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fnf Vorreden zu fnf ungeschriebenen Bchern Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die frçhliche Wissenschaft Gçtzen-Dmmerung Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragçdie Jenseits von Gut und Bçse Kritische Gesamtausgabe Werke (= Nietzsche, Werke, Kritische Gesamtausgabe, begrndet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergfhrt von Wolfgang Mller-Lauter und Karl Pestalozzi, ab Abt. IX von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Mller-Lauter und Karl Pestalozzi, Berlin / New York 1967 ff. (geplant 50 Bnde) KSA Kritische Studienausgabe (= Friedrich Nietzsche, Smtliche Werke, Kritische Studienausgabe), 15 Bnde, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mnchen / Berlin / New York 1980 KSB Kritische Studienausgabe Briefe (= Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe. Kritische Studienausgabe), 8 Bnde, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mnchen / Berlin / New York 1986 M Morgenrçthe MA Menschliches, Allzumenschliches (I und II) (MA) VM Vermischte Meinungen und Sprche (MA) WS Der Wanderer und sein Schatten N Nachlass NW Nietzsche contra Wagner PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
Nietzsche
SGT UB WA WL Za
Sokrates und die griechische Tragoedie Unzeitgemsse Betrachtungen (I, II, III und IV) Der Fall Wagner ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinn Also sprach Zarathustra
XV
0. Einleitung 0.1. Ursprnge von Nietzsches Entidealisierung des Menschen bei Herder Mit der Wendung zur Sprache im 20. Jahrhundert ist klar geworden, dass Anthropologie und Geschichtsphilosophie, um die es im Folgenden gehen soll, ihre Fragen immer auch im Horizont einer Reflexion der Sprache stellen mssen, in der sich ihre Probleme artikulieren. Anthropologie und Geschichtsphilosophie kçnnen niemals einen Standpunkt jenseits der Sprache einnehmen, sei es der alltglich gebrauchten oder einer eigens entwickelten wissenschaftlichen Sprache. Dass die Fragen nach dem Menschen, der Geschichte und der Sprache nur im Verbund miteinander erçrtert werden kçnnen, lsst einen neutralen theoretischen Standpunkt jenseits der conditio humana berhaupt als Illusion erscheinen, die den genealogischen Prozess, aus dem er entstanden ist, unsichtbar gemacht hat. Ohne einen solchen theoretischen Standpunkt kçnnen die Fragestellungen von Anthropologie und Geschichtsphilosophie in ihrer Abhngigkeit von einer bestimmten Sprache nur in ihrer Verflechtung miteinander behandelt werden. Sie sind nicht getrennt voneinander zu identifizieren, aber auch in ihrem Geflecht nicht scharf zu unterscheiden. So muss dieses Geflecht von Anfang an methodisch rekonstruiert, muss entfaltet werden, wie sich die Fragestellungen in der Tradition miteinander fortentwickelt, wie sie einander dynamisch vorangetrieben haben. Das schließt scheinbar berzeitliche systematische Theorien ber den Menschen, die Geschichte und die Sprache aus. Der gemeinsame Ursprung und die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Sprachphilosophie kann nur noch ein focus imaginarius, ein heuristisches Postulat sein. Stattdessen kommen konkrete Werke der Tradition in den Blick, mit denen sie sich verschrnkt haben. Wir werden in dieser Arbeit so vorgehen, dass wir zunchst einen exemplarischen Fall einer Philosophie des Menschen im Horizont einer Philosophie der Sprache rekonstruieren, nach der sich der Mensch als Naturwesen durch die Sprache in der Geschichte entwickelt – die Philosophie Johann Gottfried Herders. Seiner Verflechtung von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Sprachphilosophie stellen wir Schritt fr Schritt die Alternative Friedrich Nietzsches gegenber. Herder entwickelt seine Anthropologie und Geschichtsphilosophie von einer einschneidenden Sprach- und Erkenntniskritik aus – die Letztere schließt die Erstere wie in einem Nukleus ein. Dies wiederholt sich ziemlich genau hundert Jahre spter bei Nietzsche auf radikalere Weise.
2
0. Einleitung
Nietzsche hat die Bedingungen aufgezeigt, unter denen sich philosophische Theorien von ihren menschlich-allzumenschlichen Bedingungen isolieren und wie sie wieder in diese einzulassen sind. Sein neuer meisterlicher Zugriff bietet uns die Mçglichkeit, die theoretischen Mechanismen und praktischen Bedrfnisse, die die Beziehung zwischen Sprachphilosophie einerseits und Anthropologie und Geschichtsphilosophie andererseits bestimmen, klarer zu unterscheiden und einander genauer zuzuordnen. Nietzsche klrt im Zuge seiner Sprachkritik anthropologische und geschichtsphilosophische Wertsetzungen auf, die Herder noch selbstverstndlich plausibel und darum auch fraglos legitim schienen. Dabei geht es nicht einfach darum, dass Nietzsche Herders moralischen und theologischen Horizont durchbricht, sondern, wie angedeutet, vielmehr darum, dass Nietzsche den Zirkel, in dem sich die sprachphilosophischen Voraussetzungen und anthropologischen und geschichtsphilosophischen Wertsetzungen bewegen, bewusst macht und weit strker noch als Herder an spezifische Lebensbedrfnisse bindet. Er vertieft das philosophische Projekt einer „Vernatrlichung des Menschen“, indem er auch Herders metaphysische Reste – unter anderem die Autonomisierung der Vernunft gegenber dem Instinkt, die Immaterialitt des Geistes und die Unsterblichkeit der Seele – und seine letzten Plausibilitten – Gottes Schçpfung einer wohlgeordneten Natur und die Steigerung der Humanitt in der Geschichte – in Frage stellt. Herder hatte die anthropologischen und geschichtsphilosophischen Denkmçglichkeiten noch enger beschrnkt und beschrnken mssen, um zu seiner Zeit berhaupt die Vernatrlichung des Menschen anbahnen zu kçnnen. Was er noch nicht denken konnte, hat Nietzsche – hundert Jahre spter – entschieden zu denken gewagt.
0.2. Nietzsches Diskurs ber Herder So erfhrt der Name Herders im Gesamtwerk Nietzsches – Publikationen und Nachlass ohne Briefe – explizit 9 Erwhnungen, der von Schiller 128, der von Kant 174 und der von Goethe gar 343. Es nimmt mithin nicht sonderlich wunder, dass die Forschung sich bisher kaum mit dem Verhltnis Nietzsches zu Herder, von einigen Spezialproblemen einmal abgesehen, beschftigt hat.1
In seinen Schriften hat Nietzsche Herder nur wenig und dann eher mit polemischer Aufmerksamkeit bedacht. Lessing ist „der ideale Gelehrte“, Herder „der ideale Dilettant“ (N 1869/70, KSA 7, 2[12]), „Goethe konnte Mrchen erzhlen, Herder war Prediger“ (N 1872/73, KSA 7, 19[233]).2 Im ein1 2
Wolfert von Rahden, „,Nie wirklich satt und froh…‘ Nietzsches Herder“, in: Sabine Groß / Gerhard Sauder (Hg.), Der frhe und der spte Herder: Kontinuitt und/oder Korrektur, Saarbrcken 2004, S. 459 – 477, S. 460. Vgl. N 1873, KSA 7, 27[68]: „Lessing scheint gemß dem theatralischen Lustspieldialog. Herder pastoral, Goethe Lust zu fabuliren, frauenhaft.“
0.2. Nietzsches Diskurs ber Herder
3
zigen Aphorismus, den Nietzsche vçllig Herder gewidmet hat, stellt er ihn mehr als ehrgeizigen und ahnungsvollen denn als schçpferischen Autor dar: He rd e r. – Herder ist Alles das nicht, was er von sich whnen machte (und selber zu whnen wnschte): kein grosser Denker und Erfinder, kein neuer treibender Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft. Aber er besass in hçchstem Maasse den Sinn der Witterung, er sah und pflckte die Erstlinge der Jahreszeit frher, als alle Anderen, welche dann glauben konnten, er habe sie wachsen lassen: sein Geist war zwischen Hellem und Dunklem, Altem und Jungem und berall dort wie ein Jger auf der Lauer, wo es Uebergnge, Senkungen, Erschtterungen, die Anzeichen inneren Quellens und Werdens gab: die Unruhe des Frhlings trieb ihn umher, aber er selber war der Frhling nicht! – Das ahnte er wohl zu Zeiten, und wollte es doch sich selber nicht glauben, er, der ehrgeizige Priester, der so gern der Geister-Papst seiner Zeit gewesen wre! Diess ist sein Leiden: er scheint lange als Prtendent mehrerer Kçnigthmer, ja eines Universalreiches, gelebt zu haben und hatte seinen Anhang, welcher an ihn glaubte: der junge Goethe war unter ihm. Aber berall, wo zuletzt Kronen wirklich vergeben wurden, gieng er leer aus: Kant, Goethe, sodann die wirklichen ersten deutschen Historiker und Philologen nahmen ihm weg, was er sich vorbehalten whnte, – oft aber auch im Stillsten und Geheimsten n i c h t whnte. Gerade wenn er an sich zweifelte, warf er sich gern die Wrde und die Begeisterung um: diess waren bei ihm allzu oft Gewnder, die viel verbergen, ihn selber tuschen und trçsten mussten. Er hatte wirklich Begeisterung und Feuer, aber sein Ehrgeiz war viel grçsser! Dieser blies ungeduldig in das Feuer, dass es flackerte, knisterte und rauchte – sein St i l flackert, knistert und raucht – aber er wnschte die g r o s s e Flamme, und diese brach nie hervor! Er sass nicht an der Tafel der eigentlich Schaffenden: und sein Ehrgeiz liess nicht zu, dass er sich bescheiden unter die eigentlich Geniessenden setzte. So war er ein unruhiger Gast, der Vorkoster aller geistigen Gerichte, die sich die Deutschen in einem halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreichen zusammenholten. Nie wirklich satt und froh, war Herder berdiess allzu hufig krank; da setzte sich bisweilen der Neid an sein Bett, auch die Heuchelei machte ihren Besuch. Etwas Wundes und Unfreies blieb an ihm haften: und mehr als irgend einem unserer sogenannten Classiker geht ihm die einfltige wackere Mannhaftigkeit ab. (MA II, WS 118)3
Nietzsche fhrt Herders intellektuelles Werk nicht als ein rein geistiges Phnomen, sondern vor dem Hintergrund seines Charakters und seiner Lebensumstnde vor. Die psychologisch-physiologische Fokussierung, so abschtzig sie ausfallen mag, entspricht Herder insoweit, als er Menschen und Kulturen aus dem Zusammenhang ihrer historischen Umstnde zu verstehen und sich in sie einzufhlen sucht. Herder wird stark typisiert, geradezu karikiert, besonders durch die Hervorhebung seiner durch Ehrgeiz und Neid motivierten Reaktionen – man denke nur an seine Polemiken gegen Kant. Seine geistige Leistung erscheint als Produkt eines, wie Nietzsche spter in Zur Genealogie der Moral sagen wird, Menschen des Ressentiments. Er war – wie Nietzsche – oft krank 3
Noch schrfer sind Nietzsche Formulierungen in einer Vorstufe (N IV 1) von diesem Aphorismus. Vgl. KGW IV/4, S. 324.
4
0. Einleitung
und wurde, wie er selbst eingestand, zum Hypochonder.4 Doch anders, als es Nietzsche fr sich selbst in Anspruch nehmen wird, thematisiert Herder die Krankheit nicht explizit als Gelegenheit zur ,Selbstberwindung‘, so dass aus Nietzsches Perspektive an ihm, als einem ,reaktiven Denker‘, stets „Etwas Wundes und Unfreies […] haften“ bleibt. In Nietzsches Augen ist er ein noch gebundener Geist, der sich nicht zu einem schçpferischen Ja-Sagen durchringt.5 „Die Erstlinge der Jahreszeit“, die Herder nach Nietzsche frher „pflckte“, verdienten nach Martin Bollacher, der seinerseits Nietzsches Aphorismus zu Herder kommentiert, freilich mehr Aufmerksamkeit als die psychologischphysiologischen Umstnde von Herders Schaffen. Nietzsche habe Herders neue Sensibilitt fr die potentielle Entartung der Kultur seiner Zeit nicht hinreichend geschtzt, „sein Gespr fr die Kehrseite der Verselbstndigung des sthetischen, der Verfachlichung der Humaniora, der Sprachvergessenheit der Philosophie“, fr „die Folgenlosigkeit der sthetischen Humanittsidee und die Notwendigkeit ihrer politisch-sozialen Ergnzung“. Nietzsches Urteil mangele es an historischer Gerechtigkeit; er lege, indem er Herder an Kant, Goethe und den bahnbrechenden deutschen Historikern und Philologen messe, insgeheim „Kriterien“ des wohlbegrndeten „,Systems‘“, des abgeschlossenen „,Werks‘“ und der „strengen Fachlichkeit der neuen Geisteswissenschaften“ zugrunde und setzte sie „ganz unhistorisch absolut“. Die „Entlarvungspsychologie“, mit der er 4
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Auch die neue Biographie von Michael Zaremba, Johann Gottfried Herder – Prediger der Humanitt. Eine Biografie, Kçln 2002, betont diesen Aspekt. Die Bedeutung der persçnlichen Krankheiten fr das Philosophieren Nietzsches hat besonders klar Karl Jaspers in seiner klassischen Monographie dargestellt: Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens, Berlin / New York 1981, S. 91 – 116. Das entspricht auch dem negativen Urteil Schopenhauers: „Man kann nmlich die Denker eintheilen in solche, die zunchst fr sich, und solche, die sogleich fr A n d e r e denken. Jene sind die chten, sind die S e l b s t d e n k e r , im zwiefachen Sinne des Worts: sie sind die eigentlichen P h i l o s o p h e n . Denn ihnen allein ist es Ernst mit der Sache. Auch besteht der Genuß und das Glck ihres Daseyns eben im Denken. Die andern sind die S o p h i s t e n : sie wollen s c h e i n e n , und suchen ihr Glck in Dem, was sie dadurch von Andern zu erlangen hoffen: hierin liegt ihr Ernst. Welcher von beiden Klassen Einer angehçre, lßt sich bald merken, an seiner ganzen Art und Weise. L i c h t e n b e r g ist ein Muster der ersten Art: H e r d e r gehçrt schon der zweiten an.“ (Arthur Schopenhauer, „Parerga und Paralipomena“, in: Schopenhauers Smtliche Werke, hg. v. Paul Deussen, Mnchen 1911 – 1926, Bd. V, S. 543). Auch Jean Paul vertritt eine hnliche Meinung ber Herder. Nach ihm war Herder „kein Stern erster oder sonstiger Grçße […], sondern ein Bund von Sternen, aus welchem sich dann jeder ein beliebiges Sternbild buchstabiert.“ (Jean Paul, „Vorschule der sthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig ber die Parteien der Zeit (1804)“, in: Jean Paul, Smtliche Werke. 10 Bde., hg. v. Norbert Miller, Mnchen 1959 ff., Bd. 5, S. 443). Zu Jean Pauls Rezeption von Herder vgl. Wulf Kçpke, „Jean Pauls Auseinandersetzung mit Herder als Kritiker des Zeitalters“, in: Tilman Borsche (Hg.), Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektre, Mnchen 2006, S. 165 – 193.
0.2. Nietzsches Diskurs ber Herder
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hier Herder traktiere, bleibe insofern „unspezifisch“ und „trivial, als sie aufs Persçnlich-Charakterologische reduziert“ werde.6 Man kçnnte ergnzen, dass Nietzsche hier verleugnet, dass Herder durchaus einige seiner eigenen Intuitionen und Motive der Vernatrlichung des Menschen vorwegnimmt.7 In einem weiteren Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches, berschrieben „Giebt es ,deutsche Classiker‘“, charakterisiert Nietzsche Herder als unglcklich unzeitgemßen Denker, der entweder zu frh oder zu spt kam: Herder hatte das Unglck, dass seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; fr die feineren und strkeren Kçpfe (wie fr Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herder’s Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. (MA II, WS 125)
Immerhin wrdigt Nietzsche spter Herder fr seine „Schulung“ der Deutschen „zur Historie“, allerdings nur in einem Nachlass-Notat (N 1885/86, KSA 12, 2[188]) und in einer Vorstufe zum Aphorismus 209 von JGB, wo Nietzsche eben an Herder auch als einen der Vorbereiter eines neuen deutschen Geistes denkt: Die schçne verwegene Rasse der Lessing, Herder, Kant, Friedrich August Wolf, Niebuhr, und wie alle diese Tapferen heißen, gehçren [sic!] unter die Merkmale einer erwachenden deutschen Mnnlichkeit und Mannhaftigkeit, zu der die Soldaten Friedrich des Großen das physiologische Vorspiel abgeben: ja es sind Merkmale einer neuen Rasse, welche Langsam hervorkommt und stark wird. (W 1 5. Vgl. KSA 14, S. 363)
Außer dieser spteren Wrdigung von Herders Schulung zur historischen Bildung, die im Vergleich zum Nietzsche von UB II sicher ambivalent klingt, da Nietzsche sich dort direkter mit den Gedanken Herders auseinandersetzt, scheint es sich um eine eindeutige Ablehnung zu handeln, wie aus dem kurzen ersten Kapitel Vom Ursprung der Sprache am Anfang von Nietzsches Vorlesungsaufzeichnungen fr einen Kurs ber die lateinische Grammatik (WS 6 7
Martin Bollacher, Kommentar, in: FHA, 4.805. Auch die Frage, „inwiefern seine weitreichende Polemik gegen Herder auf solider Textkenntnis basiert, muß offen bleiben“ (Matthias Politycki, Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 21), Berlin / New York 1989, S. 214). Kein Werk von Herder ist in Nietzsches Bibliothek zu finden. Die Ausleihliste der Basler Bibliothek zeigt auch keinen Titel von Werken Herders, die Nietzsche entliehen htte. Vermutet wird nur eine Lektre von Herders Poem Der Cid in den ersten Jahren Schuljahren. Vgl. Thomas H. Brobjer, „Nietzsche’s education at the Naumburg Domgymnasium 1855 – 1858“, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 302 – 322, Appendix B. In Herders Briefen zur Befçrderung der Humanitt, einer Standardlektre seiner Zeit, kçnnte Nietzsche immerhin die Formel ,frçhliche Wissenschaft‘ gefunden haben: „Ihre [der Trobadoren] Kunst hatte den Namen der frçhlichen Wissenschaft (gay saber, gaya ciencia) so wie auch ihr entschiedner Zweck frçhliche angenehme Unterhaltung war.“ (Briefe zu Befçrderung, 7.472)
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0. Einleitung
1869/70) zu ersehen ist. Hier scheint Nietzsche keinen Zweifel ber den Ursprung der Sprache als Produkt des Instinkts zu haben: Es bleibt also nur brig, die Sprache als Erzeugniß des Instinktes zu betrachten, wie bei den Bienen – den Ameisenhaufen usw. Instinkt ist aber n i c h t bewußte berlegung, nicht bloße Folge der kçrperlichen Organisation, nicht Resultat eines Mechanismus, der in das Gehirn gelegt ist, nicht Wirkung eines dem Geiste von außen kommenden, seinem Wesen fremden Mechanismus, sondern eigenste Leistung des Individuums oder eine Masse, dem Charakter entspringend. (KGW II/2, S. 186)
Nach einer knappen Ablehnung der Ursprungstheorien von Maupertuis, Platon, Rousseau, De Brosses und Monboddo widerlegt er auf der Basis einer teleologischen Auffassung des Instinktes mit besonderer Emphase Herders Position: In Deutschland hatte die Berliner Akademie – vor hundert Jahren – eine Preisfrage ,ber den Ursprung der Sprache‘ gestellt. 1770 erhielt He rd e r s Schrift den Vorzug. Der Mensch sei zur Sprache geboren. ,So ist die Genesis der Sprache ein so inneres Drngniss, wie der Drang des Embryos zur Geburt beim Moment seiner Reife.‘ Aber mit seinen Vorgngern theilt er die Anschauung, wie die Sprache aus sich ussernden Lauten sich verinnerlicht. Die Interjektion die Mutter der Sprache: whrend sie doch eigentlich die Negation ist. Die richtige Erkenntniß ist erst seit K a n t gelufig, der in der Kritik der Urtheilskraft die Teleologie in der Natur zugleich als etwas Thatschliches erkannte, andrerseits die wunderbare Antinomie hervorhob, dass etwas zweckmassig sei ohne ein Bewusstsein. Dies das Wesen des Instinktes. (KGW II/2, S. 186)8
Doch wenn auch Herders Betonung der Rolle der Reflexion am Ursprung der Sprache im Kontrast zu Nietzsches Auffassung eines teleologischen Instinkts zur Sprache steht, lsst sich auch bei Herder die sprachschçpferische Besinnung nie vollkommen frei vom Druck der Triebe und Instinkte denken. Die Freiheit der Ur-Reflexion ist auch bei ihm schon eine Freiheit in Spielrumen, die die Schwachheit der Instinkte erçffnet; sie impliziert keine absolute, metaphysische und willkrliche Arbeit mit sinnlichen Zeichen. Der Mensch empfngt bei Herder nicht einfach die Zeichen, sondern er „kommt aus sich selbst heraus zu diesem Zeichen, und eben an und in ihm erfasst er das Ding, indem er
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Cordula Neis, Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache, Berlin / New York 2003, gibt eine detaillierte Rekonstruktion des intellektuellen und institutionellen Kontexts des Preisschrift Herders. Dabei werden auch Hauptmomente der Sprachursprungdiskussion vom Altertum bis Herder rekonstruiert, andere zur Berliner Akademie gesendete Manuskripte dargestellt und die Topoi und die Argumentationsstrategien („Tiersprache“, „neugeborene / Kleinkinder“, „wilde Kinder“, „exotische Vçlker“, „Taubstumme“, „Ursprachen“, „Sprachwandel“, „Wort-Ding-Relation“, „Rousseau“), von denen diese Schriften Gebrauch machten, przise analysiert. Zu Herders Preisschrift vgl. Kap IV, S. 550 – 604.
0.2. Nietzsches Diskurs ber Herder
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gleichzeitig von dem Ding selbst durch sein Zeichen ergriffen wird.“9 Ferner fhrt Nietzsche seinen Angriff gegen Herder nicht im Kontext einer philosophischen Untersuchung ber die Sprache; in einer Einfhrungs-Vorlesung zur lateinischen Grammatik ist keine ernsthafte Problematisierung des Themas zu erwarten.10 Spter jedoch, als sich Nietzsche tiefer und kritischer mit dem Problem der Sprache auseinandersetzt, rckt er deutlich an Herder heran. Nach Ernst Behler hat sich Nietzsches Auffassung der Sprache nicht nur unter dem Einfluss Gustav Gerbers,11 der seinerseits stark von Herder geprgt ist,12 zwischen 1872 und 1873 so entwickelt: Im Gegensatz zur anthropomorphen, nicht-reprsentativen, nicht auf die ,Wirklichkeit‘ als Referenz bezogenen Sprachtheorie von ber Wahrheit und Lge ist Die Geburt der Tragçdie von einer metaphysischen, absoluten Reprsentationstheorie bestimmt, insofern es dem Menschen sogar mçglich ist, den letzten Grund der
9 Yoshimori Shichiji, „Herders Sprachdenken in seinen frhen Schriften“, in: Brigitte Poschmann (Hg.), Bckeburger Gesprche ber Johann Gottfried Herder 1979, Bçsendahl 1980, S. 140 – 146, S. 146. 10 Nach Heide Schlupmann, Friedrich Nietzsches sthetische Opposition. Der Zusammenhang von Sprache, Natur und Kultur in seinen Schriften von 1869 – 1876, Stuttgart 1977, ist auch diese Kritik an Herder im weiteren Sinne zu verstehen, denn sie trifft „implizit auch die Romantik“ (S. 38). Thomas Bçning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frhen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 20), Berlin / New York 1988, S. 173, hat bemerkt, dass die in der Aufzeichnung ber den Ursprung der Sprache ausgedrckte Position mit der von Carl Wilhelm Ludwig Heyse, Autor des „Systems der Sprachwissenschaft“, bereinstimmt und also von ihm stammen kçnnte. 11 Vgl. Martin Stingelin, „Nietzsches Wortspiel als Reflexion auf poet(olog)ische Verfahren“, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 336 – 349; Anthonie Meijers / Martin Stingelin, „Konkordanz zu den wçrtlichen Abschriften und bernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in ,Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne‘“, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 350 – 368; Anthonie Meijers, „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frhen Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 369 – 390. 12 Laut Gustav Gerber kann man nur mit Humboldt einer inkonsequenten Konzeption der Sprachentstehung entkommen, die schon ein menschliches Bewusstsein voraussetzt (Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, Bromberg 1871, Bd. 1, S. 119). Dabei hat fr ihn „Herders schçnere Bemhung in seiner Preisschrift“ (Gerber, Die Sprache als Kunst, S. 119) einen besonderen Wert. Er nimmt Herders Beschreibung des Menschen als sensorium commune auf (Gerber, Die Sprache als Kunst, S. 155), ebenso seine Semiotik der Merkmale der Besinnung (Gerber, Die Sprache als Kunst, S. 164). Die Notwendigkeit einer empirisch orientierten Kritik der Sprache, die die Kritik der Vernunft ersetzen sollte, belegt er (Gerber, Die Sprache als Kunst, S. 245) er mit den Worten Herders: „ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat“ (Ideen, 6.347). Mit Herder teilt Gerber auch das Konzept einer umweltgebundenen, natrlichen Vernunft. So kçnnte Gerber wichtige Ideen Herders an Nietzsche bermittelt haben.
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0. Einleitung
Dinge, das „Ur-Eine, auf direkte Weise zum Ausdruck zu bringen. Dies vermag es freilich nicht durch die Sprache, sondern nur durch die Kunst, genauer die Musik.13
Auch Herders Sprachphilosophie ist eine absolute Reprsentationstheorie fremd. Die Begriffe, durch die die Reprsentation der Welt sich bildet, sind nach Herder in der Zeit entwickelte Abstraktionen von mit Affekten verbundenen Bildern, also etwas, das keine wesentliche Beziehung zu den bezeichneten Objekten hat. Nietzsche lçst sich in WL bewusst von Schopenhauers metaphysischem Bild der Sprache, ohne damit schon an die ffentlichkeit zu gehen. In der spten Vorrede zu MA II bemerkt er dann, wie „ein geheim gehaltenes Schriftstck ,ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne‘“ in der Zeit entstand, in der er bereits „,an gar nichts mehr‘, wie das Volk sagt,“ und auch 13 Ernst Behler, „Die Sprachtheorie des frhen Nietzsche“, in: Tilman Borsche, Federico Gerratana, Aldo Venturelli (Hg.), „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 27), Berlin / New York 1994, S. 99 – 111, S. 102. Nach Behler gibt es zwischen den beiden sprachtheoretischen Positionen Nietzsches keinen Bruch, wie noch Philippe Lacoue-Labarthe, „Friedrich Nietzsche, Rhtorique et langue. Textes traduits, prsents et annots par Philippe Lacoue-Labarthe et Jean-Luc Nancy“, in: Potique 5 (1971) S. 99 – 142, dachte, sondern eine graduelle Entwicklung. Dies belegt Behler aus zahlreichen Notaten des Nachlasses, insbesondere dem „ber das Verhltnis von Sprache und Musik“ (N 1871, KSA 7, 12[1]). Fr die Bedeutsamkeit dieses Notats im Kontext dieser Thematik vgl. auch Hans Gerald Hçdl, Nietzsches frhe Sprachkritik. Lektren zu „ber Wahrheit und Lge im außermoralischen Sinne“ (1873), Wien 1997, S. 31 – 35, der auch die verschiedenen Etappen der Entwicklung des Notats N 1869 – 70, KSA 7, 2[10], und der Vortrge ber Das Griechische Musikdrama und Die dionysische Weltanschauung rekonstruiert. Ernst Behler, „Nietzsches Sprachtheorie und der Aussagecharakter seiner Schriften“, in: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 64 – 86, S. 68, differenziert die frhe Sprachkritik Nietzsches weiter in vier Momente aus: „Die erste Phase besteht in den Vorlesungen ber lateinische Grammatik aus dem WS 1869/79; die zweite in der Schrift Die Geburt der Tragçdie aus dem Geist der Musik von 1872; die dritte in den Vorlesungen ber Rhetorik aus dem WS 1872/1873; und die vierte schließlich in der Schrift ber Wahrheit und Lge im außermoralischen Sinne von 1873.“ Im Blick auf Nietzsches sthetisierung der Wissenschaft konstatiert Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Quellenkritische Untersuchungen, bers. a. d. Ital. v. Leonie Schrçder, redaktionelle Zusammenarbeit von Silke Richter (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 47), Berlin / New York 2003, eine Kontinuitt zwischen der Geburt der Tragçdie und ber Wahrheit und Lge. Diese sei die „kohrenteste Darlegung des sthetischen Charakters jeder Erkenntnisform und zugleich der vollendete Realisierungsversuch jenes Umschlagens der Wissenschaft in Kunst, das in der Geburt der Tragçdie in Gestalt des musiktreibenden Sokrates formuliert worden war“ (S. 63 f.). Zugleich bemerkt er jedoch, dass in dem unverçffentlichten Text die Kunst sich nicht „im Rahmen einer der rationalen Wahrnehmung entzogenen reinen Sprache des Instinkts und des Unbewussten“ ußert (S. 65). Bereits Paul de Man, Allegorien des Lesens, bers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt am Main 1987, S. 124 ff., erkannte in GT noch Reste einer logozentrischen Tradition, die Nietzsche hier zu dekonstruieren beginnt.
0.2. Nietzsches Diskurs ber Herder
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nicht mehr an Schopenhauer glaubte (MA II, Vorrede 1). Er verstand das als Emanzipation von der Romantik. Doch dies ist, wie Behler bemerkt hat, sehr problematisch: „Paradoxerweise rckte Nietzsche aber mit dieser berwindung der Romantik der eigentlichen Frhromantik nicht nur nher, sondern aktualisierte auch viele Themen aus einer neuen historischen Situation heraus, nicht zuletzt das Thema der „Sprache als Kunst“.14 Nietzsches frhe Distanzierung von Herder in Fragen des Sprachursprungs darf also nicht verdecken, dass er Herder in vielem folgt. Das gilt auch, sofern Nietzsche sich spter strker fr das Problem des Sprachstils als fr das Wesen der Sprache interessiert;15 auch hier geht ihm Herder mit seinen Reflexionen ber die rhetorische Natur der Sprache und der darauf begrndeten Kritik traditioneller Formen des Philosophierens, der Geschichtsschreibung und der Zivilisation voraus. Die frhe Periode des Schaffens beider zeigt eine hnliche Entwicklung, die kaum zufllig sein kann. Sie kommen beide vom Sprachproblem – Herders Abhandlung ber den Ursprung der Sprache (1770 eingerichtet, 1772 publiziert), Nietzsches unverçffentlichter Text ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (1873) – zur Reflexion ber die Historie – Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), Nietzsches Zweite Unzeitgemße Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben (1874). Fr Herder bleibt die spekulative Geschichtsphilosophie im Zentrum, wie die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 – 1791), seine „grçßte und durchgearbeitetste schriftstellerische Leistung, der weder an Umfang noch an durchgehaltener Formvollendung irgend eine andre gleichkommt“, zeigt.16 Nietzsche macht seine frhe Sprachkritik und sein Drngen auf einen kritischen Gebrauch des historischen Wissens dagegen fr eine genealogische Infragestellung von Moral, Religion, Philosophie und Mythen der Moderne produktiv, die vom Ende der 70er Jahre an sein Werk charakterisiert.
14 Ernst Behler, „Die Sprachtheorie des frhen Nietzsche“, in: Tilman Borsche, Federico Gerratana, Aldo Venturelli (Hg.), „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 27), Berlin / New York 1994, S. 111. 15 Vgl. Stefan Sonderegger, „Friedrich Nietzsche und die Sprache. Eine sprachwissenschaftliche Skizze“, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), S. 1 – 30, S. 28. 16 Rudolph Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd. 2, Berlin 1880, Nachdr. 1954, S. 221.
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0. Einleitung
0.3 Stand der Forschung und Ziele der Arbeit Man hat schon frher versucht, trotz Nietzsches Distanzierung von Herder hnlichkeiten zwischen ihren Anstzen festzustellen. Man sttzte sich dabei freilich auf berholte Periodisierungen von Nietzsches Schaffen.17 Da scheint ein biographisch-psychologischer Zugang plausibler, nach dem Herder fr Nietzsche als autobiographische Projektionsflche erscheint: Er dient gleichsam als Objekt der Aggressionsabfuhr zur Abwehr jener Eigenschaften und psychophysischen Zustnde, die Nietzsche an sich selbst beunruhigen und qulen – seine hartnckigen Krankheiten, seine wiederkehrenden mentalen Schwankungen.18
In diesem Sinne kçnnte sogar das Urteil Nietzsches, Herders Werke seien entweder veraltet oder zu neu fr seine Zeit, mit Nietzsches Wunsch nach eigener ,Unzeitgemßheit‘ zu tun haben. Nietzsche sei mit Herder polemisch umgegangen, weil er fr ihn „bedrohlicher erscheinen kçnnte als etwa Kant oder Schiller“,19 – er konnte, da er hnlich schwer einzuordnen war, leichter mit ihm ,verwechselt‘ werden als der entschiedene Philosoph Kant oder der entschiedene Knstler Schiller. Dass Herder, anders als Schiller und Kant, auch Theologe war, kçnne fr Nietzsche die Distanzierung noch dringlicher gemacht haben. Herder habe Nietzsche Gelegenheit gegeben, sich negativ zu definieren, „die massiven Attacken des Pastorensohns gegen den „Pastor“ Herder kçnnten „vor allem auch als eine indirekte Abrechnung mit dem eigenen protestantischen Sozialisationsmilieu gedeutet werden“.20 In der Lust an der Polemik als solcher sind Herder und Nietzsche einander wiederum hnlich. Bereits Karl Hillebrand wies 17 So hat Carl Siegel, Herder als Philosoph, Stuttgart / Berlin 1907, S. 63 – 64, mit Auch eine Philosophie und den Ideen Einschnitte in Herders Schaffen gesehen und bei Nietzsche im Anschluss an Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, der Knstler und der Denker, 1897, eine romantische, eine intellektualistische und eine metaphysische Periode unterschieden. Bei Herder sei die Reihenfolge lediglich anders: einer intellektualistischen folge eine romantische und eine metaphysische Periode. Daran schließe sich noch die vierte Periode der Briefe zur Befçrderung der Humanitt und der metakritischen Reflexion an. 18 Wolfert von Rahden, „,Nie wirklich satt und froh…‘ Nietzsches Herder“, in: Sabine Groß / Gerhard Sauder (Hg.), Der frhe und der spte Herder: Kontinuitt und/oder Korrektur, Saarbrcken 2004, S. 473. 19 Wolfert von Rahden, „,Nie wirklich satt und froh…‘ Nietzsches Herder“, S. 474. 20 Wolfert von Rahden, „,Nie wirklich satt und froh…‘ Nietzsches Herder“, S. 474. In „,chte Weimaraner‘. Zur Genealogie eines Genealogen“, in: Ein gross vnnd narhafft haffen. Festschrift fr Joachim Gessinger, hg. v. Elisabeth Berner, Manuela Bçhm und Anja Voeste, Potsdam 2005, S. 43 – 54, geht von Rahden auf Nietzsches Versuch zur „Selbstnobilitierung“ ein, indem er eine Verwandtschaftsbeziehung zum Weimarer Kreis herstellt. Obwohl sein Großonkel Krause erst 16 Jahre nach dem Tod Herders nach Weimar kam, stellte ihn Nietzsche als den Nachfolger Herders dar. Vgl. Nietzsche an Georg Brandes, 10. April 1888, KSB 8, S. 288: „Meine Großmutter gehçrte zu dem Schiller-Goethe’schen Kreise Weimars; ihr Bruder wurde der Nachfolger Herders in der Stellung des Generalsuperintendenten Weimars.“ Vgl. auch KSA 14, S. 472.
0.3 Stand der Forschung und Ziele der Arbeit
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in seiner Rezension zu UB II auf das Revolutionre beider Denker und und dabei auf die eher ressentimentgeladene Natur der Kritik Nietzsches hin.21 Unsere Frage nach Gemeinsamkeiten zwischen Herder und Nietzsche bei ihrer Verbindung von Sprachkritik und Interpretation der Geschichte im Horizont eines schwachen, methodischen Naturalismus scheint in der Forschung weitgehend neu zu sein; eine systematische Betrachtung des ganzen Spektrums der philosophischen Themen, die fr dieses Verhltnis von Belang sind, ist noch nicht versucht worden. Fast alle der wenigen Arbeiten, die sich mit einer Auseinandersetzung zwischen Herder und Nietzsche befassen, fokussieren nur einzelne Aspekte ihres Denkens, so dass jeweils der Akzent auf Kontaktpunkte in ihrer Sprachkritik, in ihren Menschenbildern, in ihrer Auffassung der Geschichte oder in ihrer Kulturkritik gesetzt wird, ohne der fr beide entscheidenden Verflechtung von Sprache, Anthropologie und Geschichte systematisch nachzugehen. Eine wichtige Ausnahme macht der 1935 erschienene Aufsatz von Arvid Brodersen und Walter Jablonsky, die Herder und Nietzsche als Vertreter der Philosophie des Goethe-Jahrhunderts interpretieren, diese als ein Gedankenstrom verstanden, der „das echt geborene Kind griechischer Weisheit“ sei.22 Der gemeinsame Hintergrund sei eine neue Wrdigung des Leibes, aus ihm ergben sich eine Reihe wichtiger Analogien, deren wichtigste die Auffassung der Sinnlichkeit und der Sprache, die Schçnheitslehre und die Verurteilung des Nationalismus und Antisemitismus seien.23 Jedoch werden kaum die Unterschiede zwischen den beiden Standpunkten und die je besondere Natur ihres Naturalismus reflektiert. Mçglicherweise im Blick auf die allzu versçhnliche 21 „Es ist wieder eine Schaar von Strmern und Drngern im Anzug, wie im Jahre 1770, und Herr Nietzsche ist einer ihrer geistvollsten und muthigsten Huptlinge; aber – der Herder ist er doch nicht, der dem buntlen Drange der Mitstrebenden Richtung und Ziel wiese: er lßt es frs erste beim Niederreißen bewenden.“ Nietzsche sei Vertreter eines Sturms und Drangs, von „der Verneinung, der Reue, der regrets“ charakterisiert. (Karl Hillebrand, „ber historisches Wissen und historischen Sinn (1874)“, in: ders., Zeiten, Vçlker und Menschen, Wlsches und Deutsches, Straßburg 1892, Bd. 2, Wlsches und Deutsches, S. 300 – 326, S. 303 – 304). S. auch Jakobus A.L.J.J. Geijsen, Geschichte und Gerechtigkeit. Grundzge einer Philosophie der Mitte im Frhwerk Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 39), Berlin / New York 1997, S. 75. Zu Hillebrands Annherung Nietzsches an Herder vgl. auch Johannes Heinßen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im spten 19. Jahrhundert, Gçttingen 2003, S. 533 ff. 22 Arvid Brodersen / Walter Jablonsky, Herder und Nietzsche oder die philosophische Einheit des Goethejahrhunderts (Det Kongelige Norske Videnskabers Sleskabs Skrifter 10), Trondheim 1935, S. 45. 23 Eine Zusammenfassung gibt Richard Frank Krummel, unter Mitwirkung von Evelyn S. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. 3: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1919 – 1945 (Monographien und Texte zur NietzscheForschung, Bd. 40), Berlin / New York 1998, S. 522.
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0. Einleitung
Perspektive dieser Schrift bemerkt Frithjof Rodi, Herders Kulturkritik werde „hundert Jahre spter noch einmal merkwrdig genau wiederholt, nmlich von Nietzsche“: Die „Vielzahl der Parallelen zwischen den beiden ist ein Thema, ber das vielleicht bisher allzu pauschal in der Darstellung des deutschen Irrationalismus geschrieben worden ist.“24 Nach David Williams wurden Herder und Nietzsche zu Unrecht des Irrationalismus geziehen.25 Nach ihm kann weder Herder noch Nietzsche eindeutig etikettiert werden, und fr beide htte Rousseau eine ambivalente Bedeutung, im Kontext ebenso ihres naturalistischen Ansatzes wie ihres Strebens nach Erneuerung der Dichtung. Wenig berzeugend ist bei Williams jedoch die recht pauschale Annherung von Herders Ideals der ,Humanitt‘ an Nietzsches ,bermenschen‘, noch weniger plausibel die Idee, dass der Hauptunterschied zwischen beiden Autoren darin liege, dass Herders Denken historisch-genetisch, Nietzsches Denken dagegen unhistorisch sei, was er mit einer berholten metaphysischen Interpretation der ewigen Wiederkunft des Gleichen belegen will. Wir werden dagegen zeigen, dass trotz der offensichtlichen Unterschiede Herders ,Humanitt‘ bei Nietzsche ein Pendant hat, jedoch nicht im Allgemeinen beim ,bermenschen‘, sondern spezifischer beim ,guten Europer‘, der Herders historistischen Ansatz nicht nur nicht negiert, sondern im Gegenteil eine gesteigerte Fhigkeit besitzt, mit historisch-genetischem Denken umzugehen. Auch Dietrich Harth betont die Kontinuitt zwischen Herder und Nietzsche, vor allem im Bereich der frhen Reflexion ber die Historie, ohne dass er wie Rodi auf einen angeblichen Irrationalismus verweist. Er zeigt, dass Herders und Nietzsches Kritik der Historie als Wissenschaft „sich gegen die Selbstberschtzung methodischen Denkens und gegen die falsche Applikation der Erkenntnis auf Fragen, die andern als wissenschaftlichen Normierungen unterliegen, [richtete].“26 Da die wissenschaftliche Normierung, so kann man hinzufgen, nicht die einzige Form von Rationalitt sein muss, kann man das Pldoyer fr das Leben als kulturkritisches Pldoyer fr eine hçhere Form von Rationalitt interpretieren.27 Diese grndet in der zeitlichen Situativitt aller 24 Frithjof Rodi, Provokation – Affirmation. Das Dilemma des kritischen Humanismus, Stuttgart / Berlin / Kçln / Mainz 1970, S. 51. 25 David Williams, „Herder and Nietzsche“, in: Rex William Last (Hg.), Affinities. Essay in German and English Literatur, London 1971, S. 256 – 269. 26 Dietrich Harth, „Kritik der Geschichte im Namen des Lebens. Zur Aktualitt von Herders und Nietzsches geschichtstheoretischen Schriften“, in: Archiv fr Kulturgeschichte 68 (1986), S. 407 – 456, S. 451. Spter konstatiert eine hnliche Kontinuitt in der Beurteilung der Geschichte im Namen des Lebens auch Peter Zusi, „Toward a Genealogy of Modernism: Herder, Nietzsche, History“, in: Modern Language Quarterly 67:4 (2006), S. 505 – 525, der die Arbeit von Harth nicht zu kennen scheint. 27 Auch Ulrich Schçdlbauer, „Der ,Schreckliche Zug‘. Lesarten des Irrationalen bei Goethe“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie 117, 4 (1998), S. 497 – 515, betrachtet Herder
0.3 Stand der Forschung und Ziele der Arbeit
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menschlichen Erkenntnis; nach Josef Simon beruht Herders und Nietzsches gemeinsame Sicht hier auf „einer gemeinsamen Vertrautheit mit dem alttestamentlichen Zeitbewußtsein“.28 Beider Auffassung der Historie bleibt Teil einer breitgefcherten Kulturkritik, die letztlich immer auf die Vorstellung des Menschen als eines sprachlichen, sich ausdrckenden Wesens verweist. Die scheinbar nur oberflchlichen bereinstimmungen zwischen den beiden Denkern bekommen erst dann eine tiefere und przisere Bedeutung, wenn die sprachkritische Dimension ihres Denkens untersucht wird. Selbst wenn ein direkter Einfluss Herders auf Nietzsche nicht zu belegen ist, hat die Nietzsche-Forschung doch gesehen, dass Nietzsche „vor allem von Hamann, Herder und Humboldt gelernt“ hat, dass „der richtige Ort fr die Kritik der Vernunft die Kritik der Sprache sei.“29 Daneben wurde eine weitere gemeinsame sprachphilosophische Entwicklungslinie vorgeschlagen: „Hamann, Herder, Humboldt, das ist die eine Linie in der Geschichte der Sprachphilosophie, die bekannte. Hamann, Lichtenberg, Herder, Novalis, Nietzsche und Hofmansthal, das ist die andere Linie, die weniger bekannte.“30 Von Herder ber Novalis zu Nietzsche berzugehen, heißt auf die und Nietzsche als Denker, die die Irrationalitt denken, ohne jedoch irrational zu sein. Ihre Kulturkritik ist auch der Schwerpunkt des Aufsatzes von FranÅois Guery, „Nietzsche, Herder et l’ide d’un peuple“, in: Philosophie politique: revue internationale de philosophie politique 8 (1997), S. 199 – 207, der vor allem die Kontinuitt im Volksbegriff gegenber jenem Kants profiliert. Sehr problematisch bleibt jedoch die recht oberflchliche Annherung von Herder und Nietzsche im Namen einer eudmonistischen Vorstellung der Geschichte, die fr Nietzsche kaum haltbar ist. Die Konvergenz von Ideen Herders und Nietzsches in Bezug auf die Themen Volk und Historie kçnnte auch der Einfluss besttigen, den sowohl Herder als auch Nietzsche auf den franzçsischen Dichter und Nobelpreistrger Frdric Mistral hatten, wie Marcel Decremps, De Herder et de Nietzsche Mistral, Toulon 1974, zeigt. 28 Josef Simon, „Herder und Kant. Sprache und ,historischer Sinn‘“, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 1 – 13, S. 13. 29 Mihailo Djuric´, Nietzsche und die Metaphysik (Monographien und Texte zur NietzscheForschung, Bd. 16), Berlin / New York 1985, S. 43. Vgl. dazu auch Jçrn Albrecht, „Nietzsche und das ,Sprachliche Relativittsprinzip‘“, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 225 – 244. 30 Rudolf Jung, „Sprachkritik bei Lichtenberg und Herder“, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, Neue Folge der Chronik, 70 (1966), S. 36 – 51, S. 51. Zwei Thesen isoliert Schlpmann, Friedrich Nietzsches sthetische Opposition. Der Zusammenhang von Sprache, Natur und Kultur in seinen Schriften 1869 – 1876, Stuttgart 1977, S. 154, in Nietzsches Schrift ber den Ursprung der Sprache, „zum einen [die] der Sprachvermitteltheit allen Denkens, zum anderen von der negativen Einwirkung der Entwicklung des bewußten Denkens auf die Sprache“. Danach knpfte Nietzsche nur mit der ersten These „an die Sprachphilosophie von Herder, Hamann und Humboldt“ an, whrend er mit der zweiten „eigentlich seine eigene Philosophie“ anfange. Wir werden zeigen, wie Herder auch eine Kritik des Begriffsdiskurses ausfhrt, die in ihren Grundzgen diesem zweiten Moment der Sprachkritik Nietzsches nicht fremd ist. Rainer Thurnher, „Sprache und
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0. Einleitung
gemeinsame stilistische Vorliebe fr das Fragment, den Aphorismus, auf den bewussten Rekurs auf rhetorische Mittel statt auf systematische begriffliche Unterscheidung zu setzen. Herders und Nietzsches Betrachtung des Ursprungs der Sprache zeigt in dieser Perspektive ihre Besonderheit in ihrer Distanz zur Position Humboldts. Herders Frage nach dem Ursprung kennt nmlich nicht jenen transzendentalen Standpunkt, den noch Humboldt einnimmt, der seinerseits bewusst Herders diachronischen Ansatz wegen seines Mangels an empirischer berprfbarkeit vermeidet.31 Eine Ablehnung jenes transzendentalen Horizonts ist auch fr Nietzsches Philosophie charakteristisch, weswegen seine Sprachkritik nicht an die Position Humboldts assimiliert werden kann.32 Welt bei Friedrich Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 8 (1980), S. 38 – 60, geht auf die erste der zwei Linien zurck: „Nietzsches Auffassung der Sprache ist nicht die des Nominalismus, sondern wurzelt vielmehr in Humboldts Gedanken der sprachlichen Weltansicht und der damit verbundenen Bestimmung des Wesens der Sprache und ihres Verhltnisses zur Vernunft, wie sie bereits von Hamann und Herder vorbereitet wurde.“ (S. 38). 31 Fr die unterschiedlichen Einstellungen hinsichtlich des Problems des Ursprungs der Sprache bei Herder und Humboldt vgl. Jrgen Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt am Main, 1990: „Humboldts Auffassung vom Sprachursprung ist damit, grosso modo, eine transzendentalphilosophische Version der Herderschen Sprachphilosophie.“ (S. 107) Herder von Humboldt zu distanzieren, scheint auch aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen der reflektierenden Subjektivitt mçglich, wie Martha B. Helfer, „Herder, Fichte and Humboldt’s ,Thinking and Speaking‘“, in: Kurt MuellerVollmer (Hg.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 367 – 381, S. 373, zeigt: „in contradistinction to Herder, who defines reflection in terms of recognizing sensations, Humboldt locates ,reflecting‘ is a purely intellectual domain“. S. u. Kap. 2.1.1. Auch das Urteil Georg W. Bertrams, „Herders antireduktionistische Sprachphilosophie“, in: Borsche, Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektre, Mnchen 2006, S. 227 – 247, ist in diesem Punkt ganz klar: „Die Anthropologie der zweiten Natur, die die Basis von Herders Philosophie abgibt, ist eine Anti-Transzendentalphilosophie. Sprache gilt dieser Philosophie nicht als das summum transcendentale. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als ein Aspekt einer komplexen Entwicklung sinnlicher und geistiger Krfte und intersubjektiver Bindungen, die insgesamt fr den Menschen charakteristisch ist.“ (S. 245). 32 Nach Josef Simon, „Grammatik und Wahrheit. ber das Verhltnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition“, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 1 – 26, ist Nietzsche von der Sprachphilosophie Humboldts und Hegels deshalb weit entfernt, weil Nietzsche „einem bestimmten Sprachbegriff verhaftet bleibt, der im wesentlichen an dem Begriff einer Grammatik der Bildung einzelner Stze orientiert ist.“ (S. 23) Damit bleibe Nietzsche der Gedanke fremd, „daß gerade die besondere Grammatik einer hoch entwickelten Sprache von einem geschichtlich gewordenen Reichtum ihrer formalen Entwicklung her individuellem Denken einen Raum produktiven Sprachgebrauchs gewhren kçnnte“ (S. 24). Fr Humboldt sei hingegen das Verstndnis der Individuen durch die Verdeutlichung der Begriffe nicht unbedingt eine Form von Nivellierung der individuellen Sprachen. Auch in diesem Sinne scheint es mçglich, die Nhe Nietzsches zu Herder zu betonen, fr den die Sprache der Wissenschaft letztlich nur eine Form von Verlust an Individualitt ist. Zur Kritik an Simon vgl.
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Dennoch hat die Nietzsche-Forschung, wohl wegen Nietzsches frher Positionierung gegen Herders Theorie des Ursprungs der Sprache und wegen des Mangels an Beweisen fr eine unmittelbare Lektre Herders, eher den Einfluss anderer Autoren auf die Sprachkritik Nietzsches betont. Im Besonderen hat man die Bedeutung von Langes Geschichte des Materialismus fr seine frhe Sprachphilosophie betont, dessen Rezeption bei Nietzsche gut dokumentiert ist,33 zusammen mit der Sprachphilosophie Schopenhauers und der Antike.34 Whrend Antony Meijers und Martin Stingelin den Einfluss von Gustav Gerbers Sprache als Kunst (1871) auf WL und auf die Vorlesungen ber die Rhetorik nachwiesen,35 hat Claudia Crawford mit guten Argumenten gezeigt, dass Nietzsches frhe Auffassung der Sprache nicht nur von Schopenhauer, Lange und Gerber, sondern auch von Eduard von Hartmann stark beeinflusst wurde.36 Ohne Hartmann habe Nietzsche keine Sprachtheorie formulieren kçnnen, „[which] conceives of two separate languages, 1) an unconscious formal language arising as the product of the instincts and 2) the translation of this unconscious language into the conscious language of fixity according to con-
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Gerold Ungeheuer, „Nietzsche ber Sprache und Sprechen, ber Wahrheit und Traum“, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 134 – 213, nach der Nietzsche nicht an eine traditionelle Vorstellung der Sprache als etwas, das auf eine universale und rationale Grammatik verweise, gebunden bleibe, denn er „spricht von Fakten, von dem, was kontingent vorkommt, und damit natrlich auch von dem, was nach den Behauptungen einiger Selbstbewusstsein und Subjektivitt ausmacht und das transzendentale Ego konstituiert.“ (S. 200 – 201) Simon scheint spter sein Urteil teilweise zu revidieren, indem er bemerkt, dass „Nietzsches Denken keine Tiefengrammatik hinter der Grammatik historischer Sprachen ansetzt. Diese sind schon hypothetische Setzungen von Regeln zur Erklrung einer postulierten allgemeinen Verstndigungsmçglichkeit. […] Diese Annahme wre die Verabsolutierung des ,Glaubens‘ an die Grammatik und die Ausblendung der individuellen Sprachkunst. […] Grammatik ist fr Nietzsche nicht transzendental, sondern einzelsprachlich variant.“ (Simon, „Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche und der traditionelle Bewusstseinsbegriff“, in: Mihailo Djuric´ / Josef Simon (Hg.), Zur Aktualitt Nietzsches, Bd. 2, Wrzburg 1984, S. 17 – 33, S. 30 – 31). Vgl. George J. Stack, Lange and Nietzsche (Monographien und Texte zur NietzscheForschung, Bd. 10), Berlin / New York 1983; Jçrg Salaquarda, „Nietzsche und Lange“, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236 – 260; ders., „Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche“, in: Studi Tedeschi XXII (1979), S. 133 – 160; ders., „Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie“, in: M. Lutz-Bachmann (Hg.), ber Friedrich Nietzsche. Eine Einfhrung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 27 – 61. Vgl. Reinhard Lçw, Nietzsche. Sophist und Erzieher, Weinheim 1984. Vgl. Darstellung der antiken Rhetorik [WS 1872 – 1873], KGW II/4, S. 413 – 520, und dazu Glenn Most / Thomas Fries, „Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung“, in: Josef Kopperschmidt / Helmuth Schanze (Hg.), Die Sprache ist Rhetorik. Nietzsche und die Rhetorik, Mnchen 1994, S. 17 – 38. Claudia Crawford, The Beginning of Nietzsche’s Theory of Language (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 19), Berlin / New York 1988.
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vention.“37 Die Rezeption Gerbers durch Hartmann fhrt Nietzsche nach Crawford weg von Rousseau, Herder und von Schopenhauer: „the development of conscious language out of unconscious instinctual artistry is a continuing process, not something left behind as conscious languages take place.“38 Inzwischen wurde auch die Bedeutung Max Mllers und Ludwig Noirs fr Nietzsches Sprachkritik gewrdigt.39 Da sich eine direkte Rezeption Herders durch Nietzsche historisch nicht nachweisen lsst, setzen wir systematisch bei der gemeinsamen naturalistischen Einstellung beider zum Problem von Sprache und Kultur an und untersuchen den besonderen Status ihrer Diskurse. Erzhlungen ber den Ursprung der Sprache und des Begriffsdiskurses, wie sie Herders Abhandlung und Nietzsches WL anbieten, sind weder empirisch noch historisch begrndbar. Herder oszilliert laufend zwischen verschiedenen argumentativen Strategien, und 1772 scheint er seine Schrift selbst zu verleugnen, wenn er sie in einem Brief an Hamann die „Schrift eines Witztçlpels“ nennt.40 Bei Nietzsche ist, so Walter Gebhard, in WL ein Missbrauch insbesondere der transzendentalen Philosophie zu beobachten; zugleich werde bewusst paradox die Unmçglichkeit der Theorie angekndigt.41 Beide, Herder und Nietzsche, wollen mit ihren Diskursen ber 37 Crawford, The Beginning of Nietzsche’s Theory of Language, S. 202. Zitate von Hartmann im ersten Teil der Vorlesungen ber die lateinische Grammatik wurden in Beitrgen zur Quellenforschung von Hubert Thring, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 480 – 489, belegt. 38 Crawford, The Beginning of Nietzsche’s Theory of Language, S. 205. 39 Benedetta Zavatta, „Die in der Sprache versteckte Mythologie und ihre Folgen frs Denken. Einige Quellen von Nietzsche: Max Mller, Gustav Gerber und Ludwig Noir“, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 269 – 298. 40 „An Hamann, 1. 8. 1772“, in: Johann G. Hamann, Briefwechsel, hg. v. W. Ziesemer / A. Henkel, Bd. III, Wiesbaden 1957, S. 11. Vgl. dazu Ulrich Gaier, „Herders Abhandlung ber den Ursprung der Sprache als ,Schrift eines Witztçlpels‘“, in: Gottfried Gabriel und Christiane Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 155 – 165, S. 158 – 159: „Den Begriff des Witztçlpels kann man als Formulierung der docta ignorantia im Kontext des von Hamann und Herder bewusst gebten Sokratismus sehen wie auch im Kontext von Sternes Narrenbegriff in dem von Hamann und Herder intensiv studierten ,Tristram Shandy‘. Herder bernimmt Hamanns Begriff, weil er mit seiner Abhandlung vor einer Akademie auftrat, die beweisende Argumentation erwartete, whrend er der berzeugung war, daß ein solcher Selbstbeweis der Vernunft a priori unmçglich ist.“ 41 Nach Walter Gebhard, Nietzsches Totalismus. Philosophie der Natur zwischen Verklrung und Verhngnis (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 8), Berlin / New York 1983, S. 119, bedient sich „Nietzsches Skizze der Wort- und Sprachbegriffsentstehung […] umgangssprachlicher und trivialer Vereinfachungen der transzendentalistischen Erkenntnislehre, bei welchen jede Prdizierung auf bloße, weder sprachtheoretisch noch erkenntniskritisch begrndete ,Subjektivitt‘ zurckfllt.“ In der Tat geht, wie Mejiers und Stingelin gezeigt haben, Nietzsches Sprachkritik ber Gerber zu Humboldt und dessen noch transzendental begrndeten Sprachphilosophie zurck.
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den Ursprung der Sprache bewusst keine ußere Wirklichkeit mehr darstellen, sondern geben sich als fiktive Konstrukte. Deswegen kann man mit Tilman Borsche in ihnen philosophische Mythen sehen. Auch wenn Nietzsche in WL seine Ursprungsgeschichte in einer strker „naturwissenschaftliche[n] Diktion“ erzhle als Herder und seine Zeitgenossen, drfe man sie nicht als wissenschaftliche Theorie nehmen, zumal Nietzsche in WL den rhetorischen Status der naturwissenschaftlichen Wahrheit betone.42 Hingegen sei die naturwissenschaftliche Genealogie der Sprache […] ein Mythos im platonischen Sinn des Wortes. Sie erhebt nicht den Anspruch, wahr zu sein – wie sollte ein Text wahr sein wollen, der selbst erklrt, daß Wahrheit Lge ist? Der Mythos spricht jenseits von Wahrheit und Lge, die dem Logos angehçren, der aus dem Vergessen wchst.43
Hierfr spricht laut Borsche bereits der Anfang von WL: Die mythische Qualitt des Textes wird schon in den ersten Zeilen offen kundgetan. Denn es wird eine „Fabel“ erzhlt, die ,Jemand erfinden kçnnte‘, jemand, der erklren will, was Sprache und Erkenntnis, was Wahrheit, Irrtum und Lge sei, und zwar fr solche, die das alles schon wissen, aber noch nicht oder, genauer gesagt, nicht mehr begreifen kçnnen. […] In diesem Sinn erscheint es durchaus sinnvoll, Nietzsches Sprachtheorie in die Tradition Herders und Humboldts zu stellen und alle drei gegenber frheren und gleichzeitigen (auch spteren) stoisch inspirierten Sprachauffassungen abzugrenzen, die eher zeichentheoretisch argumentieren; sinnvoll bleibt das, auch wenn die textphilologische Suche nach „Einflssen“ von Herder und Humboldt auf Nietzsche weiterhin nur negative Befunde ergeben sollte.44
,Mythische‘ Darstellungen des Ursprungs der Sprache wirken als sinnliche Bilder, operieren mit unbegreifbaren, vorargumentativen Inszenierungen, die dem philosophischen Denken dennoch heuristische Hinweise und grundlegende Orientierungen bieten kçnnen. So mssen der Untersuchung entsprechend andere Kategorien zugrunde gelegt werden: Mythos ist nicht die Frage nach seiner Wahrheit, sondern die Frage nach seinem Sinn und seinem Zweck. Wozu dient und taugt ein Mythos, was erklrt er mir, uns, 42 Tilman Borsche, „Natur-Sprache. Herder – Humboldt – Nietzsche“, in: Borsche, Gerratana, Venturelli (Hg.), „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 27), Berlin / New York 1994, S. 126. 43 Borsche, „Natur-Sprache. Herder – Humboldt – Nietzsche“, S. 127. 44 Borsche, „Natur-Sprache. Herder – Humboldt – Nietzsche“, S. 127 – 128. Vgl. auch Stefan Kaiser, „ber Wahrheit und Klarheit. Aspekte des Rhetorischen in ,Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne‘“, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 65 – 78: „die Geschichte der Sprache ist selbst eine Narration. Indem Nietzsche ber Wahrheit und Lge schreibt, schafft sich die Illusion eines philosophischen Diskurses ihren Raum, die als Begehren der Rezeption ein semantisches Korrelat im Text erzeugt.“ (S. 70).
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der Zeit? Welche erlçsende Macht liegt in ihm, welche Krfte setzt er frei? Das sind Fragen, die ber seinen ,Wert fr das Leben zuletzt entscheiden‘. […] Philosophische Mythen hingegen treffen Sprachregelungen, indem sie versuchen, Begriffe deutlich zu machen; sie erweisen sich als fruchtbar und stark bzw. als schwach und nutzlos. Sie werden auf ihre Erklrungsmchtigkeit hin befragt und nach ihrer Notwendigkeit frs Leben angenommen oder verworfen.45
Die erste Funktion dieser Mythen ist es, die absolute außerzeitliche Identitt der Bedeutung zu verneinen, die zweite, nach ihrer Fruchtbarkeit fr die Schçpfung neuer Bedeutungen und das heißt auch neuer Wertsetzungen zu fragen. Beide kommen in den frhen Werken zum Zug und schaffen Spielraum fr eine Geschichtsphilosophie und Moralkritik, die auch spter noch ihre berzeugungskraft durch den Hinweis auf mythische Ursprnge der Sprache und der Kultur gewinnt. Diese dichte Verflechtung von Sprache und Mythos war auch schon Ernst Cassirer klar, der in seinem Aufsatz Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Gçtternamen von 1925 die epistemischen Schwierigkeiten darlegte, die sich bei jedem Diskurs ber den Ursprung der Sprache ergeben. Nicht nur Herders Erklrung des Ursprungs bewegt sich fr ihn in einem Zirkel, „denn das Ende und Ziel der Sprachbildung, die Setzung und Bestimmung von Merkmalen, muß zugleich als ihr Anfang angesehen werden“, sondern auch diejenige Humboldts.46 Selbst wenn es „nicht mehr um das ,Woher‘ der Sprachbegriffe, sondern um ihr reines ,Was‘“47 geht, entsteht ein Zirkel, denn auf der einen Seite erscheint die Sprache als das Vehikel fr die Gewinnung jeglicher geistigen Weltansicht, als das Medium, durch welches der Gedanke hindurchgehen muß, ehe er sich selbst finden, ehe er sich eine bestimmte theoretische Form geben kann – auf der anderen Seite aber muß ebendiese Form, muß eine bestimmte theoretische Weltansicht schon vorausgesetzt werden, um die Besonderheit einer bestimmten Sprache, um die Art ihres Bemerkens und Benennens verstndlich zu machen.48
Wenn der Zirkel konstitutiv fr die Struktur der Erzhlungen ber den Ursprung der Sprache ist, muss man nach Cassirer, „wenn wir die Form der primren Sprachbegriffe, statt die der Form der logischen Begriffe zu vergleichen, vielmehr mit der Form der mythischen Begriffe zusammenfassen.“49 Wie die ersten akustischen Merkmale der Natursprache zu einer Sprache bedeutsa45 Borsche, „Natur-Sprache. Herder – Humboldt – Nietzsche“, in: Borsche, Gerratana, Venturelli (Hg.), „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, S. 127 f. 46 Ernst Cassirer, „Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Gçtternamen,“ in: Ders., Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Band 16, S. 227 – 311. 47 Cassirer, „Sprache und Mythos“, S. 255. 48 Cassirer, „Sprache und Mythos“, S. 255 f. 49 Cassirer, „Sprache und Mythos“, S. 255 f.
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mer Wçrter werden konnten, lsst sich nach Cassirer nicht rein wissenschaftlich und empirisch erklren, sondern nur durch die Analogie mit der „Genesis der primren mythischen Gestaltungen“ und insbesondere „der Augenblicksgçtter“: Auch das Wort ist, wie der Gott oder Dmon, den Menschen kein Geschçpf, das er sich selbst erschaffen hat, sondern es tritt ihm als ein an sich Seiendes und an sich Bedeutsames, als ein objektiv Reales gegenber. Sobald einmal der Funke bergesprungen ist, sobald die Spannung und der Affekt des Augenblicks sich im Wort oder im mythischen Bilde entladen hat, setzt gewissermaßen eine Peripetie des Geistes ein. Die Erregung als bloß subjektiver Zustand ist erloschen, ist im Gebilde der Sprache aufgegangen. Und nun kann eine immer weitergehende Objektivierung einsetzten.50
Diese Verflechtung von Mythos und Sprache des Ursprungs scheint wenig zu tun zu haben mit Borsches Vorstellung, nach der die Erzhlung ber den Ursprung der Sprache ein philosophischer Mythos sei. Dennoch kommt auch bei Cassirer die Unangemessenheit zum Ausdruck, den Ursprung der Sprache durch die Sprache des Begriffs zu erfassen, wenn doch die Versprachlichung der Welt nicht mit dem Gebrauch von Begriffen beginnen kann. Der Rekurs auf den Mythos wird durch den Vorrang des Mythos vor dem Logos methodisch plausibel. In ihrem Kern sind die konstruierten ,philosophischen Mythen‘ radikale Metaphern, die auch fr Cassirer eine unentbehrliche Bedingung der Entstehung eines Mythos sind. Was Josef Simon zu Nietzsche bemerkt, kann auch fr Herder gelten: Nietzsche spricht auch „ber“ Metaphern nicht „theoretisch“ im Sinne einer Metapherntheorie. Sein Sprechen ber Metaphern ist „notgedrungen“ selbst metaphorisch [Kursiv A.B.]. Es drckt ein „Urerlebnis“ aus, das nicht notwendig allen mitteilbar ist.51
Die Metapher, ein Begriff der Rhetorik und der Sprachwissenschaft, wird bei diesen Ursprungsdiskursen auf eine quasi physikalische Dimension zurckgefhrt, sie wird zum Zeichen fr die Bewegung eines nicht unmittelbar ausdrckbaren X, das von der Welt ber unseren Leib zur Sprache kommt. Nietzsches und Herders Metapher der Metapher – der Metapher, nach der die Metapher eine „bertragung“ ist – kçnnte mit Blumenberg eine ,absolute Metapher‘ genannt werden, eine Metapher, „welche eine[r] Welt Struktur [gibt], 50 Cassirer, „Sprache und Mythos“, S. 259. Cassirer entwickelt hier Intuitionen von Max Mller, Lectures on the science of language, London 1861 – 1864, weiter. ber die Verbindung von Sprachentstehung und Mythenentstehung hnlich auch Gerber, Die Sprache als Kunst, Bromberg 1871, S. 228 f. 51 Josef Simon, „Der Name ,Wahrheit‘. Zu Nietzsches frher Schrift ,ber Wahrheit und Lge im außermoralischen Sinne‘“, in: Manfred Riedel (Hg.), „Jedes Wort ist ein Vorurteil“, Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken, Kçln / Weimar / Wien 1999, S. 77 – 93, S. 90.
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das nie erfahrbare, nie bersehbare Ganze der Realitt [reprsentiert]“.52 Als absolute Metapher des Ursprungs der Sprache leuchtet die Metapher der Metapher als der Beweglichkeit des Mediums unserer sprachlichen Artikulation der Welt ein, ohne dass damit ein physikalisches Substrat der Informationen, die bertragen werden, empirisch festgestellt wrde. Die Metapher der Metapher plausibilisiert als absolute Metapher das Bild einer Bewegung ohne Materie, einer fließenden Verwandlung der Form unserer Weltinterpretation, einer Auffassung des Seins als eines Werdens, der Natur als Geschichte, des Menschen als sich stndig neu zu bestimmenden, zu gestaltenden Wesens. Die absolute Metapher der Ursprnglichkeit der Metaphern legitimiert den Gebrauch einer allegorischen und metaphorischen Sprache wie der des Mythos. Auch die Schdlichkeit des Zirkels ist nur scheinbar. Denn es geht nicht um einen theoretischen Begrndungs-, sondern um einen praktischen berzeugungsProzess. Mit anderen Worten: In unserer Arbeit lsst sich mit dem Topos der metaphorischen bertragung ein Diskurs ber die Sprache artikulieren, bei dem es um pragmatische Wirkungen geht, der die Wahrheit der Sprachkritik pragmatisch beweisen will. Herders und Nietzsches sprachphilosophische Mythen sind naturalistische Mythen. Sie verweisen auf einen hypothetischen Naturzustand, der von beiden Autoren sehr unterschiedlich inszeniert und genutzt wird. Die Nervenreize und die Triebe, die bei Herder und Nietzsche eine so große Rolle beim Ursprung der Sprache spielen, sind nur scheinbar naturwissenschaftliche Tatbestnde und haben vor allem eine rhetorische Funktion. Der Mythos des Ursprungs der Sprache aus der Natur wird damit Teil eines methodischen Vorgehens, eines Naturalismus, der drei Hauptcharaktere zeigt, einen a) heuristisch-analogischen, b) funktionalistischen und c) genealogischen. Fr dieses methodische Vorgehen gebrauchen wir Nietzsches Ausdruck ,Vernatrlichung‘, um ihn von anderen starken Formen des Naturalismus zu unterscheiden. Der natrliche Ursprung der Sprache wird Ausgangspunkt fr eine Form des selbstkritischen Naturalismus, der darauf hinausluft, „dass der Mensch die Natur vollstndig verkannte und falsch benannte“ (N 1876/77, KSA 7, 23[24]). Aber auch schon Herder hatte gesehen, was Nietzsche dazu notiert: „wir sind die Erben dieser Benennungen der Dinge, der menschliche Geist ist in diesen Irrthmern aufgewachsen, durch sie genhrt und mchtig geworden“ (N 1876/77, KSA 7, 23[24]). Beide versuchen, mit ihrer Auffassung der Sprache die fiktive Distanz zwischen Natur und Kultur zu tilgen. Dies bedeutet nicht, den Menschen auf die bloße Natur zu reduzieren. Das gilt nicht nur fr Herder, der an einem religiçsen Gefhl der Sonderstellung des Menschen im Kosmos festhlt, son-
52 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 20.
0.4. Einteilung
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dern auch fr Nietzsche, der sich jenseits jeder ontologischen Trennung von Materie und Geist bewegt.53 „Die Entmythisierung“, so Blumenberg, „ist zu einem guten Anteil nichts anderes als Remetaphorisierung: das punktuelle Kerygma strahlt auf einen Hof von Sprachformen aus, die nun nicht mehr beim Wort genommen zu werden brauchen.“54 Die Vernatrlichung von Mensch und Sprache bringt eine neue Mythologisierung mit sich; die Entlarvung anthropomorpher und insofern phantastischer Interpretationen von Mensch und Natur ist nmlich eine Entmythisierung, die aber neue Mythen schafft und damit Natur, Kultur und Geschichte einen neuen Sinn gibt. Diese neuen Mythen ersetzen die alten und setzen sich im Namen ihrer wissenschaftlichen und naturalistischen Inszenierung durch. Die Mythen ber den Ursprung der Sprache stellen einen Versuch dar, einerseits den traditionellen philosophischen Begriffdiskurs zu destruieren und andererseits neue Krfte der mythopoietischen Ttigkeit zu wecken. Herders und Nietzsches Ziel bei der Vernatrlichung des Menschen ist nicht eine bestimmte Form der anthropomorphen Artikulation der Welt, sondern Spielrume fr einen Wechsel der Vermenschlichungen offen zu halten. Sie wollen Bedingungen schaffen, unter denen der Mensch neu dazu fhig wird, individuelle Vermenschlichungen zu realisieren und so neue Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft anzustoßen. Dabei handelt es sich nicht um eine logisch begrndbare Notwendigkeit, sondern um eine letzte Plausibilitt, von der beide ausgehen.55
0.4. Einteilung Fr den systematischen Vergleich der Anstze Herders und Nietzsches im historischen Kontext mssen ihre Grundbegriffe nicht eigens noch einmal eingefhrt werden. Die Forschung hat hier umfassend vorgearbeitet. Wir kenn53 Fr Peter Heller, „,Chemie der Begriffe und Empfindungen‘. Studie zum 1. Aphorismus von ,Menschliches, Allzumenschliches I‘“, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 210 – 233, zeigt Nietzsches Rckfhrung des Hçheren auf das Niedrigere, d. h. des Spirituellen auf das Physiologische, eine reduktionistische Tendenz, die dennoch immer zugunsten der Dekonstruktion zu verstehen ist. Er bemerkt aber auch, dass Nietzsches Reduktionismus bei Nietzsche sich selbst in eine Form der „perspektivischen Bedingtheit“ (S. 223) aufhebe. 54 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1979, S. 87. 55 Vgl. zum Begriff ,Plausibilitt‘ Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin / New York 2008, S. 19: „Von Plausibilitten, soweit sie artikuliert, aber nicht mehr begrndet und definiert werden, Begrndungen und Definitionen bei ihnen enden, kann man wohl, wie man sagt, ,einen Begriff haben‘ im Sinn von ,sich mit ihnen auskennen‘, ,mit ihnen hinreichend sicher umgehen kçnnen‘, aber eben keine logisch definierten Begriffe.“
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0. Einleitung
zeichnen lediglich, wo wir vom Stand der Forschung abweichen bzw. ber sie hinausgehen. Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil „Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen“ wird das naturalistische Philosophieren Herders und Nietzsches im jeweiligen historischen Kontext erçrtert, systematisch auf gemeinsame Grundzge hin befragt, aber auch die Distanz zwischen beiden herausgearbeitet, besonders, was Nietzsches radikalere Moralkritik betrifft. Der Sinn ihres Rekurses auf die Natur liegt, fern jedem Reduktionismus, in der Dekonstruktion der metaphysischen Tradition und der Plausibilisierung kultureller Einstellungen. Es geht um einen methodischen, selbstkritischen Naturalismus mit drei Hauptcharakteren, einem a) heuristischanalogischen, b) einem funktionalistischen und c) einem genealogischen. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche und Herder ermçglicht so eine breitere Reflexion ber den Gebrauch des Konstrukts ,Natur‘ im philosophischen Diskurs. Sie vermeiden jede abstrakte Definition von Natur und sind sich der kulturellen Dimension jeder Vorstellung der Natur deutlich bewusst. Danach hat der Gebrauch des Zeichens ,Natur‘ niemals nur eine theoretische, sondern vor allem auch eine rhetorische Funktion. Dabei bleibt fraglich, ob die Philosophie als Arbeit am Begriff sich von dessen rhetorischem Gebrauch jemals vçllig lçsen kann. Nicht nur weil der Philosoph auf ein Publikum wirken will, hat er die pragmatischen und kommunikativen Aspekte seines Philosophierens zu bercksichtigen; auch die Natur der Sprache als solche zwingt ihn dazu. Mit Herder und Nietzsche treten Philosophen auf, die sich darber nicht mehr tuschen und tuschen lassen wollen. Beide bieten keine wissenschaftliche Theorie der Sprache; sie entwerfen ein sthesiologisches und metaphorologisches Bild ihres Ursprungs. Dieser Ursprung ist als Prozess zu verstehen, der keinen letzten Ausgangspunkt kennt und nicht historisch, sondern in Nietzsches Sinn genealogisch zu erfassen ist. Im zweiten Teil „Vernatrlichung und Sprachlichkeit“ wird die Versprachlichung der Welt als solche zum Thema und in ihren anthropologischen Implikationen als Naturphnomen analysiert. Sprache, Herders und Nietzsches Unterscheidungskriterium von Tier und Mensch, wird von der Menschheit nach und nach erworben und fortgebildet. Fr ihr Verstndnis werden metaphysische Kriterien berflssig, ebenso die Anthropologie eines zeitlosen Wesens des Menschen. Das ist auch von praktischem Belang: denn damit wird auch normativen Moraldiskursen ein ontologisches Fundament entzogen. Im dritten und letzten Teil „Die Entidealisierung der Geschichte“ wird gezeigt, wie Herder und Nietzsche das dekonstruktive Potential der naturalistisch orientierten Sprachkritik fr das Problem der Geschichtsschreibung und der Kultur fruchtbar machen. Wie die Sprache betrachten sie auch die Geschichte pragmatisch, in ihren kulturellen Auswirkungen. Beide distanzieren sich von der Fortschrittsideologie als allgemeinem Wertmaßstab. Zur Motiva-
0.4. Einteilung
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tion des Individuums zu einem aktiven Gebrauch der eigenen geistigen Krfte dient beiden das Vorbild des Genies, das sie jedoch in seiner nicht reduzierbaren Individualitt jenseits jeden naiven Kults verstehen. Jede noch so geniale Praxis steht in Wechselwirkung mit der Gemeinschaft und ihrer kulturellen Tradition. Zwar betonen Herder und Nietzsche mit dem ,Genie‘ die kreative Kraft des Individuums, Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“ des guten Europers bindet es aber auch in eine Kultur ein, und Kulturen werden dabei auch nach ihrer politischen ,Gesundheit‘ befragt. Beide verurteilen ,kleine‘, nationalistische Politiken. Herder hat dafr noch religiçse Grnde, sieht aber auch schon, wie dann vor allem Nietzsche, die negative Wirkung des Nationalismus auf das Denken und Schaffen des genialen Individuums. Herders Humanittsdiskurs und Nietzsches Pldoyer fr den guten Europer negieren einander nicht; der erste entwickelt sich in vielem im zweiten weiter. Derselbe historische Sinn, der Herder den Wert anderer Kulturen und Epochen anerkennen ließ, zwingt Nietzsche zur Verabschiedung von der Religion der Humanitt. Auch ,der gute Europer‘ ist nicht ohne die ,historische Krankheit‘ des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Mit Herder und Nietzsche verliert der traditionelle Gegensatz von Anthropologie – als Reflexion ber die Konstanten der Menschennatur – und Geschichtsphilosophie – als philosophische Interpretation des Menschen als werdendem – seine Bedeutung. Die philosophische Vernatrlichung verbindet Mensch, Sprache und Geschichte zugleich kritisch, pragmatisch und konstruktiv, indem sie sie entidealisiert.
1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen 1.1. Verschiedene Formen der Vernatrlichung des Menschen Das Problem des Ursprungs der Sprache ist aus der umfassenderen Frage nach dem Unterschied zwischen Natur und Kultur zu verstehen. Sowohl Herder als auch Nietzsche wollen die Genealogie der Sprache und damit der Kultur als natrlichen Prozess darstellen. Die menschliche Praxis ist darin menschlich, dass sie sich von naturgegebenen Ablufen unterscheidet; dennoch entsteht sie aus der Interaktion des natrlichen Organismus mit der Umwelt. Es ist insbesondere Nietzsche, der die „Vernatrlichung“ eigens zum Forschungsprogramm macht, und von hier aus kann auch Herders Ansatz methodisch reflektiert werden. Herder hat als erster eine Geschichtsphilosophie entwickelt, deren berzeugungskraft in der sprachtheoretisch motivierten Verknpfung von Menschen- und Naturgeschichte liegt. Er geht davon aus, dass „die ganze Menschengeschichte eine reine Naturgeschichte menschlicher Krfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit“ ist (Ideen, 6.568). Damit war er „der erste Geschichtsphilosoph, dessen Geschichtsverstndnis das Ganze der Natur umfasste.“1 Auf die von der Berliner Akademie der Wissenschaften gestellten Fragen – „En supposant les hommes abandonns leurs facults naturelles, sont-ils en tat d’inventer le langage? Et par quel moyens parviendront-ils cette invention? On demande une hypoth se qui explique la chose clairement et qui 1
Klaus-Michael Meyer-Abich, Praktische Naturphilosophie, Mnchen 1997, S. 262 – 263. Man muss dennoch daran erinnern, dass Herders frhe berlegung ber die Geschichte „diesen kosmischen Hintergrund und die Einbettung der Geschichte in Naturzusammenhnge noch nicht kennt (Wolfgang Dsing, „Die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit in Herders ,Auch eine Philosophie der Geschichte‘“, in: Brigitte Poschmann (Hg.), Bckeburger Gesprche ber J.G. Herder 1983, Rinteln 1984, S. 33 – 55, S. 33). Die kenntnisreiche Studie von Lucas Marco Gisi, Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschrnkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin / New York 2007, bes. S. 318 – 357, zeigt, dass die Naturalisierung der Geschichte eine allgemeine Tendenz der Sptaufklrung darstellt, die zu Fontenelles Ideal einer „anthropologischen Historie“ (S. 321) zurckgeht, sich bei Humes „Parallelisierung von Anthropologie und Menschheitsgeschichte“ (S. 326) manifestierte und letztlich nicht nur Herder sondern auch Rousseau, Iselin, Lessing, Adelung, Kant, Johann Reinhold Forster und Georg Forster zur „Parallelisierung von Onto- und Phylogenese in der Geschichtsphilosophie“ fhrte“ (S. 334 ff.).
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satisfait toutes les difficults“ – antwortet Herder von einem naturalistischen Standpunkt aus. Seine Philosophie der Sprache hingegen geht von dem Begriff der Reflexion aus, der in der neuzeitlichen Philosophie eine Sonderstellung einnimmt und den Walter Schulz folgendermaßen charakterisiert: Die neuzeitliche Philosophie ist bestimmt durch das Bemhen, die in sich zentrierte Subjektivitt in das Zentrum zu stellen und diese Subjektivitt von Seienden abzulçsen. Freilich gibt es in dieser Epoche auch Denker, die zwar die Gebrochenheit, die offenbar unabdingbar zur Reflexion gehçrt, als wesentliches Merkmal des Menschen ansetzten, aber nicht im eigentlichen Sinne eine Philosophie inaugurieren, deren Wesen es ist, den Reflektierenden auf sich zu stellen. Zu diesen Denkern gehçrt vor allem Herder. Herder hat den Menschen als ganzes durch den Vergleich mit dem Tier zu bestimmen gesucht. Whrend das Tier durch „Kunsttriebe“ geleitet ist, ist der Mensch durch die Reflexion, d. h. die vernnftige berlegung ausgezeichnet, in der die Kraft seiner Seele „frei wirkt“. Daß Herder die Reflexion im Zusammenhang mit der menschlichen Sprache bringt, ist bedeutsam, denn in der Sprache – und nur der Mensch hat Sprache im eigentlichen Sinne – zeigt sich eine eigentmliche Reflexionsdialektik: die Sache ist im Wort da, aber das Wort ist doch nicht mit der Sache identisch. Herder sieht diese dialektische Gebrochenheit, die die Reflexion bedeutet, als bestimmend fr den Bezug des Menschen zum Seienden an. Aber eben dieser Ansatz Herders stellt – blickt man auf die Gesamtentwicklung der neuzeitlichen Philosophie – nicht deren wesentliche Tendenz dar, denn das eigentliche Grundanliegen der neuzeitlichen Metaphysik ist es, den Menschen als in sich zentrierte Subjektivitt, als seiner selbst bewußtes Ich zu verstehen und sein Wesen mit der sich auf sich beziehenden Reflexion zu identifizieren.2
Wenn Herder nach Schulz vermied, die Identitt des Menschen auf seine Selbstreflexion zu reduzieren, heißt das noch nicht, dass er keine Einheit des Subjekts mehr annimmt. Auch wenn seine ganzheitliche Auffassung des Menschen Nietzsches Kritik des Subjekts als einer leiblosen Vernunft vorbereitet, bleibt er von einer Destruktion des Subjekts berhaupt noch weit entfernt. Stattdessen erweitert er in seiner Anthropologie zunchst den Subjektbegriff zu einer komplexeren Einheit von Reflexion und Sinnlichkeit, der so freilich eine nur partielle Alternative zur traditionellen Subjektmetaphysik sein kann. Sein Subjektbegriff erçffnete sogar Wege, bei aller Bindung des Geistes an den Leib dem ersteren wieder einen Vorrang vor dem letzteren zu geben und den Geist schließlich erneut als fhig zu betrachten, sich ganz vom triebhaften Leib zu emanzipieren, wenn er diesen erst einmal hinreichend reflektiert hat.3 Erst nach dem Abklingen des Transzendentalismus und Idealismus in der Philosophie ließ sich der eigentmliche Naturalismus Herders wieder aufneh2 3
Walter Schulz, Vernunft und Freiheit, Stuttgart 1981, S. 7 – 8. Die neue quasi-dualistische Metaphysizierung des Menschen kommt etwa bei Max Scheler zur Geltung, dessen Philosophische Anthropologie durch Herder inspiriert ist. Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), Bonn 1995.
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men – und Nietzsche nahm ihn komplexer und radikaler wieder auf. Bei Kant hatte die sprachliche Bedingtheit des Geistes keine entscheidende Bedeutung. Er macht die Vernunft nicht von der Entstehung der Sprache abhngig, der sinnliche Teil der Sprache berhrt nicht die Reinheit der Vernunft. Die Idee der Vernunft wird stattdessen dadurch plausibel, dass sie sich gegenber der Natur autonom setzt und ihr von sich aus Grenzen zieht; der natrliche Ursprung des vernnftigen Subjekts wird ausgeschlossen. Fichtes Ich-Philosophie wurde von Herder auch wegen solcher metaphysischer Implikationen klar abgelehnt.4 Schelling dagegen spricht bereits von der Philosophie als einer „Naturlehre unsers Geistes“.5 In ihr werden der Geist und das Werden des Geistes genetisch betrachtet. Nach Schelling soll „die Natur der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn“ und die Philosophie in „der absolute[n] Identitt des Geistes in uns und der Natur außer uns“ bestehen.6 Indem er Geist und Natur zusammendenkt, fasst er den Kosmos als Organismus auf. Das unterscheidet sein Bild von der Natur nicht nur von dem Nietzsches – die Natur ist Chaos –, sondern auch von Herders heuristischer Auffassung der Natur als Organismus nach dem Prinzip der Analogie und der unvermeidbaren Anthropomorphizitt unserer Erkenntnisse.7 Bei Schelling bedrfen Sprache und Kultur keiner Erklrung durch eine Analogie zur Naturgeschichte, Naturgeschichte und Geistesentwicklung sind nach ihm nicht zu unterscheiden. So wird auch eine Vernatrlichung im Sinne Herders und Nietzsches berflssig: Schelling greift schlicht auf Spinozas Unterscheidung von natura naturans und natura naturata zurck, mit der sich die „Produktivitt der Natur“ als bloße Projektion der „Produktivitt des Geistes“ und umgekehrt begreifen lsst. Die natrlichen Prozesse werden, so Nietzsche, als Momente der „Selbstbespiegelung des Geistes“ betrachtet.8 Eben darin sieht er den Grundzug des Idealismus.
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Vgl. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., Berlin 1880, S. 684. Friedrich W. J. Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. H. M. Baumgartner, W. G. Jacobs, H. Krings und H. Zeltner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff., Bd. 5, S. 93. Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 107. Dass Herder jedoch eine anthropozentrische Vorstellung der Natur vertritt, zeigt berzeugend Wolfgang Dsing, „Anthropozentrische Elemente in Herders Naturbegriff“, in: Wilhelm-Ludwig Federlin (Hg.), Sein ist im Werden. Essays zur Wirklichkeitsstruktur bei Johann Gottfried Herder anlsslich seines 250. Geburtstages (Theion, Bd. 6), Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1995, S. 49 – 58, auf der Basis des ersten Teils (Buch 3, Kap. 6) der Ideen. Dsing unterstreicht auch die Modernitt von Herders Anthropozentrismus: „Der Anthropozentrismus ist eine Form teleologischen Denkens; er hat allerdings mit der naiven Teleologie der Aufklrung nichts mehr zu tun. Herder geht es nicht um die Erklrung einzelner Naturprozesse und –phnomene, die mit den absichten Gottes begrndet werden, sondern um die Ordnung der Natur im Ganzen und die Stellung des Menschen in ihr.“ (S. 55) Vgl. N 1884, KSA 7, 26 [374] und [432].
1.1. Verschiedene Formen der Vernatrlichung des Menschen
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Doch der Monismus Spinozas muss nicht notwendig in den Idealismus mnden. Denn nach Spinoza sind unsere Erkenntnisse ber die Natur, da wir selbst nur deren beschrnkte modi sind, ihre stets defizienten Widerspiegelungen. Die Natur ist fr Menschen niemals vçllig adquat zu erfassen; adquate Erkenntnis bleibt als philosophische Forderung ein nur regulativer Focus; Spinozas Naturbegriff hat einen strategischen, nicht einen reduktiven Sinn. Spinoza stellt wohl sub specie aeternitatis dem Menschen adquate, wahre Erkenntnis der Zusammenhnge der Gott-Natur in Aussicht. De facto jedoch kçnnen Menschen nur mit der Zeit und nie vçllig zur wahren Erkenntnis kommen und kçnnen darum letztlich auch keine haltbaren ontologischen Feststellungen ber sie treffen. Hier schließt Herder an: Sein Beitrag zum Verstndnis des Menschen als Teil der Natur liegt in einer entschiedenen Verzeitlichung von Spinozas Ansatz. Menschen sind zeitlich und kçnnen nur in der Zeit Erkenntnis gewinnen. Nietzsche geht diesen Weg konsequent weiter: Seine Vernatrlichung des Menschen lsst sich als eine Radikalisierung von Herders Temporalisierung des Spinozismus verstehen. Herders Spinoza-Rezeption ist breit dokumentiert.9 Schon vor seinen spteren Dialogen ber Gott10 hat Herder in seinem berhmten Brief an Friedrich Heinrich Jacobi seine Stellung zur Philosophie Spinozas klar definiert.11 Obwohl er sein System „nie Spinozismus nennen wrde“, da es mehr zu dem cartesischen tendiere, biete Spinozas monistisches System mit Gott als „ens entium“12 einen Ausweg aus dem zu abstrakten und leeren Begriff Gottes. Spinozas, wie ihm scheint, emphatischer Gottesbegriff ermutigt ihn, ber die 9 Die Sonderstellung von Herders Interpretation in der Rezeption des Spinozismus im 18. Jahrhundert in Deutschland betont schon Emil Adler, Herder und die deutsche Aufklrung, bers. v. Irena Fischer, Wien / Frankfurt / Zrich 1968, S. 272 ff. Fr eine genauere Dokumentation vgl. Rdiger Otto, Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1994, insb. S. 232 – 298. Obwohl es nicht mçglich ist, die Zeit von Herders erster SpinozaLektre genau zu bestimmen, ist man sich weitgehend sicher, sie bereits in die Bckeburger Zeit verlegen zu kçnnen. Dass Herder sich mit der Philosophie Spinozas schon seit 1769 beschftigt haben kçnnte, also noch vor der Schrift ber den Ursprung der Sprache, behaupten Wilhelm Vollrath, Die Auseinandersetzung Herders mit Spinoza. Eine Studie zum Verstndnis seiner Persçnlichkeit, Darmstadt 1911, S. 11 ff., Herbert Lindner, Das Problem des Spinozismus im Schaffen Goethes und Herders, Weimar 1960, S. 68 f., und Regine Otto, „Herder auf dem Weg zu Spinoza“, in: Weimarer Beitrge 14 (1978), S. 166 – 177, S. 167. 10 Vgl. Gott, in: FHA, Bd. 4. 11 „Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 6. Februar 1784“, in: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe, hg. v. Wilhelm Dobbek u. Gnter Arnold, Weimar 1978, Bd. 5, S. 27 – 29. 12 „Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, 6. Februar 1784“, in: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe, hg. v. Wilhelm Dobbek u. Gnter Arnold, Weimar 1978, Bd. 5, S. 27.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
vertraute Annahme einer creatio ex nihilo hinauszugehen.13 An der monistischen Perspektive hlt er fest. So, wie Herder sie mit Spinoza versteht, werden darin aus allen Dualismen nur scheinbare Unterscheidungen eines unvollkommenen Intellekts. Aus Descartes’ ontologischer Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa wird bei Spinoza eine epistemologische Unterscheidung, eine Unterscheidung unserer Betrachtung der Natur. Res cogitans und res extensa sind nur zwei von unendlich vielen mçglichen Attributen der einen Substanz; wir Menschen als beschrnkte modi unterscheiden solche Attribute, sie stellen die Einheit der Substanz nicht in Frage. Auch das principium individuationis, die Annahme von einzelnen modi des Erkennens, ist keine Modalitt des Seins, sondern des Erkennens. Fluchtpunkt des Erkennens aber ist der letztlich unbegreifliche Gott. Darum kann es nicht um eine Reduktion alles Seienden auf die reine Materie gehen, sondern eine lebendige gçttliche Kraft differenziert sich aus im Zug ihrer eigenen Selbsterkenntnis. In dieser Sicht ist der Mensch auch als Vernunftwesen immer schon Natur gewesen. Doch sofern auch die Zeit eine menschliche Unterscheidung ist, kennt die Natur als solche keine Temporalitt. Das wird unmittelbar zu Beginn von Spinozas Ethik deutlich. Das Konzept der causa sui schließt die Zeit aus; es ist die Start-Paradoxie der Ethik.14 Wenn etwas Ursache seiner selbst ist, ist es zugleich Ursache und Wirkung und wird dadurch paradox. Was aber zugleich, also ohne zeitliche Differenz, Ursache und Wirkung ist, ist nur Grund und Folge; sieht man von der Zeit ab, werden Ursache und Wirkung zu Grund und Folge.15 So wird ein rein logisches, nicht zeitliches Verstndnis des Daseins Gottes, freilich unter Einschluss einer Paradoxie, mçglich. Auch Gottes Schçpfung der Natur ist dann kein zeitliches Ereignis. Sie ist von Gott nicht zu trennen, und Gott ist unmittelbar seine Schçpfung, die Natur. Die logisch paradoxe Anlage der Ethik mndet schließlich in den amor intellectualis Dei, dem letzten Ziel der Erkenntnis. In ihm wird aus dem intuitiven und beschrnkten Verstndnis Gottes ein einsichtiges Verstndnis, in ihm gehen Gott, Natur und Mensch ineinander auf. Damit ist bei Spinoza das wahre Wesen des Menschen erreicht. Die Diskontinuitt zwischen Natur und Vernunft erweist sich als nur vorlufig, und auch die Geschichte ist nur eine illusorische Vernderung der Substanz, die an sich immer dieselbe bleibt. Spinozas Monismus erscheint bei Herder in verzeitlichter Gestalt. Die epistemologischen Unterscheidungen von Kçrper und Seele und von Natur und Geschichte kommen dadurch wieder voll in Geltung, das Werden ist nicht mehr 13 Vgl. „Brief an Friedrich Heinrich Jacobi“, 6. Februar 1784, S. 29. 14 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin / New York 2008, S. 65 ff. 15 Umgekehrt hat dann Kant in der Kritik der reinen Vernunft Grund und Folge (das hypothetische Urteil) im Horizont der reinen Anschauungsform der Zeit als Ursache und Wirkung gedeutet. Vgl. Kant, KrV, A 70 / B 95 u. A 80 / B 106.
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nur ein Scheinphnomen der Ur-Einheit von Gott und Natur, sie werden wieder ontologisch: Der Grundcharakter des Seins selbst ist fr Herder zeitlich, ist Werden. Auf der Suche nach einem res cogitans und res extensa vermittelnden Begriff bettet Herder die naturalistische Metaphysik Spinozas in den Horizont der Temporalitt ein.16 Spinozas Monismus schien ihm zu naiv, insofern er Descartes’ Dualismus nur zugunsten einer Verabsolutierung der res extensa berwunden htte. Herder schrieb dies der beschrnkten Naturerkenntnis Spinozas zu: Spinoza’s Zeiten waren die Kindheit der Naturkunde, ohne welche die Metaphysik Luftschlçsser baut oder im Finstern tappet. Je mehr man die Materie der Kçrper physisch untersuchte, desto mehr entdeckte man auch in ihr wirkende oder gegenwirkende Krfte und verließ die leere Definition der Ausdehnung. Schon Leibnitz, in dessen Geist sich aus allen Naturreichen und Wissenschaften fruchtbare Begriffe gesellten, drang darauf, daß man auch im Begriff der Kçrper notwendig zuletzt auf einfache Substanzen kommen msse, von denen er unter dem Namen der Monaden so manches erzhlte. (Gott, 4.708 f.)
Neben Leibniz17 ist fr Herders dynamische Auffassung der Natur auch Boscovich entscheidend, ein Autor, der auch fr Nietzsches Verstndnis der Natur eine große Rolle spielen wird.18 Boscovich ließ Herder Leibniz’ Monaden in der Gestalt, wie Wolff sie begriffen hatte, nur noch „als ein witziges Mrchen“ betrachten und nun neu ansetzen, eben nach Boscovich, der, „obwohl ganz von einer andern Seite, auf eben dergleichen unteilbare wirkende Elemente gekommen [ist], ohne welche sich die Natur der Kçrper selbst physisch nicht erklren lsst.“ (Gott, 4.708 f.) Der Mittelbegriff, den Spinoza vergeblich gesucht habe, wird in Herders Dialog die ,substantielle Kraft‘.19 Dabei ist zunchst die theologische Bedeutung der Verwandlung der Substanz in eine unendliche Pluralitt von Krften wichtig: 16 Vgl. Adler, Herder und die deutsche Aufklrung, bers. v. Irena Fischer, Wien / Frankfurt / Zrich 1968, S. 271 – 286. 17 Vgl. Beate Monica Dreike, Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leibniz’ Philosophie, Wiesbaden 1973. 18 Vgl. Greg Whitlock, „Roger Boscovich, Benedict de Spinoza and Friedrich Nietzsche: The Untold Story“, in: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 200 – 220; Pietro Gori, La visione dinamica del mondo. Nietzsche e la filosofia naturale di Boscovich, Napoli 2007. S. dort auch die weitere Literatur. 19 Herders Wiederanknpfung „an die originale Leibnizsche Philosophie – im Gegensatz zu dem im 18. Jahrhundert verzopften, in den Formen der Wolfschen Schulphilosophie erstarrten Leibnizianismus“ erkannte bereits Carl Siegel, Herder als Philosoph, Wien 1907, S. XV, als großes Verdienst. Hugh Barr Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge 1970, S. 134, stellt jedoch einen Unterschied im Gebrauch des Begriffs der Kraft bei Herder und Boscovich fest. Fr Letzteren ist wie fr Kant nur ein deskriptiver Gebrauch dieses Begriffs annehmbar, „without substantivising it as Herder did“. Wir werden versuchen zu zeigen, dass Herder sprachkritisch genug war, die Krfte gegen den Augenschein nicht zu substantialisieren.
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So haben wir nicht mehr zwo Eigenschaften des Denkens und der Ausdehnung zu setzen, die nichts mit einander gemein htten: wir lassen das anstçßige, unpassende Wort Eigenschaft (Attribut) berhaupt gar weg und setzen dafr, daß sich die Gottheit in unendlichen Krften auf unendliche Weisen offenbare. (Gott, 4.708 f.)
Daraus folgt wiederum die Bedeutung der Dynamisierung der Substanz fr die Anthropologie und die Geschichtsphilosophie. Krfte, die eine zeitliche Entfaltung kennen, werden nur als Prozesse erkannt. So begreift man, wenn man nur einen isolierten Zustand betrachtet, die Krfte nur teilweise. Das gilt auch fr den Menschen und die Geschichte. Der Mensch ist als Naturwesen ein dynamisches historisches Wesen. Seine Erkenntnis darf nicht auf einen besonderen Moment seines Werdens reduziert werden, sondern man muss seine zeitliche Entfaltung nachvollziehen. So ist die Erkenntnis des Menschen und seiner Kultur als Naturphnomen – seiner Vernatrlichung – immer auch eine Rekonstruktion seiner Geschichte, und weil dabei die Unterscheidungen zwischen Natur und Kultur, Naturzustand und historischer Entwicklung der Menschheit pragmatisch als bloße Konstruktionen des Denkens verstanden werden, liegt darin auch keine Reduktion des Menschen – weder hin zur Natur noch zur Geschichte. Menschen sind dann nicht mehr modi einer berzeitlichen Substanz, sondern Produkte einer Naturgeschichte, die von Anfang an auch Kulturgeschichte ist. Wohl ist das Konzept einer ursprnglichen Einheit, die sich in modi ausdifferenziert, in Herders Vorstellung einer gemeinsamen Humanitt, die sich in den Vçlkern vielfltig ausprgt, noch lebendig, aber nur so, dass die modi, als Vçlker oder Individuen verstanden, nicht schon auf zeitlose logische Begriffe zu bringen sind. Die verschiedenen individuellen Formen der Menschheit sind nicht mehr Phnomene der ewigen Gott-Natur, sondern entstehen nacheinander in der Zeit und nebeneinander unter verschiedenen geographischen und klimatischen Bedingungen und bestimmen einander in dauernder Wechselwirkung. Ihr Wesen zeigt sich nur in dieser Wechselwirkung. Wenn die Totalitt der Geschichte die Stelle der zeitlosen Natur einnimmt, Rckkehr zur Natur also Rckkehr zur zeitlichen Natur bedeutet, muss zuletzt auch die Stelle, die der amor intellectualis Dei eingenommen hat, vom Ideal der vollkommenen Besinnung auf den historischen Prozess in jedem Geist besetzt werden. Auch Nietzsches Philosophieren am ,Leitfaden des Leibes‘20 kann man als eine leibnizianische und boscovichianische Korrektur von Spinozas System interpretieren. Wie Herder findet auch er in Leibniz’ Begriff der Monaden die wichtigste Anregung fr den Aufbau einer Weltansicht, die als ein dynamischer Monismus beschrieben werden kann.21 Gnter Abel hat bereits die Nhe zwi20 S. u. 1.4.2. und 1.6.2. 21 Abel, „Bewußtsein – Sprache – Natur. Nietzsches Philosophie des Geistes“, in: NietzscheStudien 30 (2001), S. 1 – 43, spricht von einer „adualistischen Sicht“ Nietzsches, um
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schen den monadischen Krften und den Willen-zur-Macht-Krften in vielerlei Hinsicht deutlich gemacht.22 Ihm geht es vor allem um die Pluralisierung der spinozistischen Substanz.23 Dennoch bleibt Spinozas Philosophie fr ihn maßgebend wie wenige andere. In seinem berhmten Brief an Overbeck vom 30. Juli 1881 aus Sils-Maria hat Nietzsche Spinoza als „einen Vo r g n g e r und was fr einen!“ ausgerufen.24 Er entdeckt nicht nur eine mit Spinoza gemeinsame „Gesamttendenz“, nmlich „die Erkenntniß zum mchtigsten Affekt zu machen“, sondern auch Analogien in „fnf Hauptpunkten seiner Lehre“, nmlich der Negation der Willensfreiheit, der Zwecke, der sittlichen Weltordnung, des Unegoistischen und des Bçsen. Hatte Herder Spinoza noch gegen Jacobi als Pantheist interpretiert und schließlich selbst eine quasi-pantheistische Form des Glaubens vertreten, so betont Nietzsche nun im Sinne Jacobis die entmoralisierende Wirkung von Spinozas Einbettung des Menschen in die Natur. Nietzsche hlt im Anschluss an Spinoza jede ontologische Trennung von Leib und Seele und von Immanenz und Transzendenz fr scheinbar und illusorisch und entwickelt auf dieser Basis einen dem amor intellectualis Dei entsprechenden amor fati, und zugleich dringt er noch weit strker auf die unendliche Perspektivitt der Erkenntnis der Natur. Spinozas sub specie explodiert bei Nietzsche.25 Vor allem der enge Anschluss an Spinoza unterscheidet Herders und Nietzsches ,vernatrlichende‘ Anthropologien von anderen. Ludwig Feuerbach etwa, der erste erklrte Anthropologe in der Philosophie, kommt in seiner Gegenstellung zum Idealismus zu einer neuen Ontologie des Menschen und entfernt sich darin von Herders und Nietzsches nur heuristischen Anstzen der
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dessen Position besser von Formen des materialistischen Reduktionismus zu unterscheiden. Nietzsche „geht von einem kontinuierlichen Spektrum dessen aus, was auf die eine oder andere Weise existiert bzw. geschieht, vom ußersten Rand des Anorganischen ber das Organische bis zu mentalen Zustnden, Bewußtsein, Sich-bewußt-werden, kognitiven und anderen geistigen Aktivitten und zu Handlungsentwrfen und deren Ausfhrung.“ (S. 6) Gnter Abel, Nietzsche. Die Dynamik, der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 15), Berlin / New York 1984, S. 15 – 28. Vgl. dazu bereits Werner Stegmaier, Substanz. Grundbegriff der Metaphysik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 151. Nietzsche an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, KSB 6, Nr. 135, S. 111. Zum Verhltnis Nietzsches zu Spinoza vgl. Werner Stegmaier, „,Philosophischer Idealismus‘ und die ,Musik des Lebens‘. Zu Nietzsches Umgang mit Paradoxien“, in: Nietzsche Studien 33 (2004), S. 90 – 128, insb. S. 109 – 120. S. dort auch Hinweise auf weitere Literatur zum Thema. Nach Andreas Herz, Dunkler Spiegel-helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg 1994, S. 89, vollzieht Nietzsche Herders „Einsicht in die radikale Perspektivitt jeder Erkenntnis“.
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Vernatrlichung des Menschen. Er definiert ein neues „Wesen“ des Menschen, das dem geschichtlichen Werden entzogen und insofern metaphysisch ist: Wenn die alte Philosophie zu ihrem Ausgangspunkt den Satz hatte: Ich bin ein abstraktes, ein nur denkendes Wesen, der Leib gehçrt nicht zu meinem Wesen, so beginnt dagegen die neue Philosophie mit dem Satz: Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen, der Leib gehçrt zu meinem Wesen: ja, der Leib in seiner Totalitt ist mein Ich, mein Wesen selber. 26
Feuerbachs Vernatrlichung des Menschen fhrt nicht zu einem offenen und nur perspektivisch zu erfassenden Prozess, sondern erhebt erneut einen universalistischen Anspruch: Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und hçchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft. 27
Wie wir noch sehen werden, steht die Anerkennung der Natrlichkeit des Menschen bei Herder und Nietzsche in enger Verbindung mit einer Philosophie der Sprache, die die Herkunft des Begriffs in der Metapher sieht und damit von einer niemals adquaten Wiedergabe der Wirklichkeit ausgeht. Eine solche Lehre von der Vernatrlichung des Menschen kann und will keinen Anspruch auf allgemeine Gltigkeit erheben. In Feuerbachs „neuer Philosophie“ spielt der historische Sinn ersichtlich keine Rolle. Feuerbach teilt, so Nietzsche, den „Erbfehler aller Philosophen“, den Menschen „als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge“ zu betrachten, whrend das, was er „ber den Menschen aussagt, […] im Grunde nicht mehr [ist], als ein Zeugniss ber den Menschen eines sehr beschrnkten Zeitraumes“ – seiner Gegenwart.28 Als neue Grundwissenschaft habe die Anthropologie „die Aufgabe, die bisher die Metaphysik leistete, zu bernehmen“.29 So unterscheiden sich Nietzsches und Feuerbachs Wege der Rehabilitierung von Leib und Sinnlichkeit trotz der oft bemerkten Gemeinsamkeiten30 schon im Ansatz. Whrend bei Feuerbach der Leib einen festen Ausgangspunkt darstellt, fungiert er bei Nietzsche nur als Leitfaden, mit dessen Hilfe zugleich die Kultur analog betrachtet wird. Wohl kennt auch Feuerbach die Zeitlichkeit des Leibes und der Seele, doch nur als „Mçglichkeit des Empfindens“.31 Sie betrifft das innere Leben des Menschen als Abfolge von physischen Ereignissen und psy26 27 28 29 30
Ludwig Feuerbach, Entwrfe zu einer Neuen Philosophie, Hamburg 1996, § 37, S. 78. Ludwig Feuerbach, Entwrfe zu einer Neuen Philosophie, Hamburg 1996, § 55, S. 95. Vgl. MA I 2. Walter Schulz, Philosophie in der vernderten Welt, Pfullingen 1972, S. 372. Vgl. Wolfgang Wahl, Feuerbach und Nietzsche: Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und des Leibes in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Wrzburg 1998. 31 Ludwig Feuerbach, „Gedanken ber Tod und Unsterblichkeit“, in: L. F., Gesammelte Werke, hg. von Werner Schuffenhauer u. a., Berlin2 1981 ff., Bd. 1, S. 245.
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chischen Erlebnissen, doch nicht den Menschen in seinem Wesen – sie verndert es nicht. Auch Schopenhauers Vernatrlichung des Menschen, in der die Vernunft eng an den Leib gebunden wird, beruht noch auf einem metaphysischen Prinzip, dem ,Willen‘. Auch Marx scheint den Menschen noch metaphysisch angesetzt zu haben: Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er theils mit natrlichen Krften, mit Lebenskrften ausgerstet, ein thtiges Naturwesen, diese Krfte existiren in ihm als Anlagen und Fhigkeiten, als Triebe. 32
Durch den Begriff ,Naturwesen‘ wird eine Ontologie des Menschen insinuiert. Sie erschçpft jedoch das Wesen des Menschen nicht. Es entfaltet sich stets im Lauf historischer Prozesse.33 Fr Marx bilden, so Alfred Schmidt, „Natur- und Menschengeschichte […] eine Einheit in der Verschiedenheit. Dabei lçst sich weder die Menschengeschichte in pure Naturgeschichte auf noch die Naturgeschichte in Menschengeschichte“.34 Nach Marx habe „der Mensch immer eine geschichtliche Natur und eine natrliche Geschichte“,35 und „solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig“.36 Wie Nietzsche kennt auch Marx „keine starren Gegebenheiten, weder solche der geistigen noch solche der biologisch-materiellen Natur des Menschen.“37 Marx versucht nicht mehr, eine ontologisch-essentielle Anthropologie zu begrnden, sondern betreibt die Vernatrlichung des Menschen und der Geschichte als Ideologiekritik. So wie Herder der natrlichen Entstehung der Kultur nachgeht, um die geschichtliche Realisierung des kulturellen Ideals der Menschheit plausibel zu machen,38 und Nietzsche den Menschen im Blick auf eine ethische berwindung der Moral vernatrlichen will, hat die Vernatrlichung des Menschen auch bei Marx ein praktisches Interesse.39 Der Mensch als Naturwesen steht fr die Notwendigkeit einer dialektischen Vernderung 32 Karl Marx, „konomisch-philosophische Manuskripte“, in: MEGA 1/II S. 296. 33 Vgl. Domenico Venturelli, L’antropologia filosofica di Marx, Firenze 1976, S. 23 – 25. 34 Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre Marx, Frankfurt am Main 1962, S. 36. 35 Karl Marx/Friedrich Engels, „Die deutsche Ideologie“, MEGA 1/V, S. 41. 36 Karl Marx/Friedrich Engels, „Die deutsche Ideologie“, MEGA 1/V, S. 567. 37 Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre Marx, Frankfurt am Main 1962, S. 38. 38 Verbindungen zwischen Menschenbild und Bildungslehre werden bereits bei Friedrich Berger, Menschenbild und Menschenbildung, Stuttgart 1933, dargestellt, der jedoch die heuristische Natur der herderschen Konstruktion der Natrlichkeit von Menschen und Sprache noch nicht bercksichtigt. 39 Benedetta Giovanola, Critica dell’uomo unilaterale. La ricchezza antropologica in K. Marx e F. Nietzsche, Macerata 2007, stellt als gemeinsames praktisches Interesse der Anthropologie von Marx und Nietzsche das Streben heraus, die Komplexitt des Menschlichen nicht zu reduzieren.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
seiner selbst und der Gesellschaft. Fr Marx ist die dialektische Einheit von Mensch und Natur durch die Arbeit bestimmt, einen ,Stoffwechselprozess‘, der dafr sorgt, „dass die Natur humanisiert [und] die Menschen naturalisiert werden“.40 Nach Schmidt sieht der Marx der Pariser Manuskripte in der Arbeit einen Prozeß fortschreitender Humanisierung der Natur, einer Humanisierung, die zusammenfllt mit der Naturalisierung des Menschen, in der von Arbeit geprgten Geschichte, also die sich immer deutlicher herstellende Gleichung Naturalismus=Humanismus.41
Bei Nietzsche ist die Humanisierung der Natur nicht so sehr ein materieller als ein sprachlich-semiotischer Prozess, sein natrlicher Ursprung fllt wie schon bei Herder mit dem Ursprung der Sprache zusammen. Bei Marx hingegen treten Sprachlichkeit und Kultur hinter konomie und Gesellschaft zurck. Die Vernatrlichung verndert fr ihn die materiell-çkonomische Wirklichkeit, whrend Nietzsche sie als ethische und damit persçnliche Aufgabe versteht. Gegenber diesen Entwicklungen der Anthropologie bei Feuerbach und Marx lassen sich – wir fassen nun zusammen und geben zugleich einen Vorblick auf die anschließenden Ausarbeitungen – bei Herder und bei Nietzsche in den Grundzgen zunchst folgende bereinstimmungen und Differenzen erkennen. 1. Herder und Nietzsche betrachten die Natur des Menschen in moralischen Dimensionen. Nach Herder hat die Natur als gçttliche Schçpfung und ,Mutter‘ der Menschen einen fraglosen moralischen Wert. Ihre moralische Frbung entspringt dem religiçsen Glauben. Die rationale Erkenntnis nutzt diese Sinngebung als Anfangsplausibilitt, an die auch die Sprachkritik – im vollen Bewusstsein, dass das unvermeidlich anthropomorphe Denken einer solchen moralischen Anfangsplausibilitt bedarf – nicht mehr heranreichen kann und soll. Nietzsche dagegen durchbricht sie. Nach ihm haben die Menschen ebenso eine „,bçse Natur‘“ wie eine „,gute Natur‘“ erfunden (M 17).42 2. Herder und Nietzsche nhern sich der Natur berhaupt und der Natur des Menschen – auch wenn sich ihr Naturbegriff unterscheidet – nicht ontologisch, sondern heuristisch unter praktischen Perspektiven. Sie betrachten den Menschen, als ob er Natur wre, ohne zu sagen, dass er Natur ist. Ihre Vernatrlichungen haben den Sinn, eine neue Perspektive auf die Geschichte und die Kultur zu erçffnen. 3. In Herders Abhandlung ber den Ursprung der Sprache und in Nietzsches ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne wird die Entstehung der Sprache im Allgemeinen, einschließlich der Begriffssprache, von einem „natrlichen Zustand der Dinge“ (WL, S. 887) her erklrt. Natrliche Lebensbe40 Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre Marx, Frankfurt am Main 1962, S. 65. 41 Schmidt, Der Begriff der Natur, S. 63. 42 Vgl. schon N 1874, KSA 7, 32[67], wo Nietzsche bewusst sagt: „Die Natur ist nicht gut“ – als „Gegendogma gegen die falsche schwchliche Meinung und Verweltlichung.“
1.1. Verschiedene Formen der Vernatrlichung des Menschen
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drfnisse determinieren die sprachliche Entwicklung von der ersten Lautgebung bis zur begrifflichen Fixierung interindividueller Wahrheiten. Sie verluft ber die Bildung von Metaphern, deren ,unsgliche‘ Komplexitt auf fassbare Begriffe reduziert wird, die dann wie ,Gesetze‘ der Kultur und der Natur wirken kçnnen. So fallen Naturgeschichte und Kulturgeschichte zusammen. 4. Herder unterscheidet die sinnlich-poetische Sprache, die fhig ist, ,Empfindungen‘ zum Ausdruck zu bringen, von der abstrakt-theoretischen, in der ,Gesetze‘ formuliert werden kçnnen. Nietzsche personalisiert die Unterscheidung – mehr noch als Herder – als Unterscheidung des ,vernnftigen‘ bzw. ,theoretischen‘ und ,intuitiven Menschen‘. Beide charakterisieren danach geschichtsphilosophisch ganze Zeitalter, Herder – im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit Rousseau – vorzivilisatorische Epochen, in denen hçchste mytho-poetische Kreativitt mçglich ist, von zivilisatorischen, in denen die Sprache ,zivilisiert‘, also konventionell festgelegt wird, Nietzsche analog das ,tragische‘, ,dionysische‘ Zeitalter der Griechen von der ,sokratischen‘ Zeit der ,Theorie‘, die noch immer andauert. 5. In der religiçsen Dimension scheinen Herder und Nietzsche am strksten zu differieren. Man kçnnte von einer Vernatrlichung des Menschen vor und nach dem ,Tod Gottes‘ sprechen. Wenn der ,Tod Gottes‘ die Bedingung fr die Vernatrlichung des Menschen bei Nietzsche ist – mit dem Glauben an einen Gott entfllt die Voraussetzung auch fr jede berhçhende Konzeption des Menschen ber seine Leiblichkeit hinaus –, ist zu fragen, wie Herder ohne diese Bedingung zu seiner Vernatrlichung des Menschen kam und wie sich seine Vernatrlichung des Menschen dann von der Nietzsches unterscheidet. Sie geht sicherlich nicht so weit wie die Nietzsches, sofern Herder noch von einer theologischen und metaphysischen Ordnung der Natur ausgeht. Andererseits kann eine religiçse Orientierung zu einer skeptischeren Einschtzung der Erkenntnismçglichkeiten des Menschen fhren (Gegenbeispiele wren dann Feuerbach und Marx) und dadurch gerade auf dessen natrliche Bedingungen verweisen. Auch sie schlçsse dann die Negation einer ,wahren Welt‘ ein, und in der Tat steht eine solche schon nach Herder der menschlichen Vernunft nicht mehr zur Verfgung. So ist auch von hier aus der Weg zu ,unendlichen Interpretationen‘ offen. Nietzsche aber hat unleugbar mit seinem anti-metaphysischen und anti-ontologischen Denken auch eine starke religiçse Sensibilitt verbunden. So kommen in seiner Vernatrlichung des Menschen anti-theologische und religiçse Motive zusammen.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen 1.2.1. Nietzsche: „Entmenschung der Natur“ und „Vernatrlichung des Menschen“ Der Begriff der „Vernatrlichung des Menschen“ erscheint bei Nietzsche fnf Mal, stets in Nachlass-Notizen und zuerst 1880/81. Nietzsche stellt sich die „Vernatrlichung des Menschen“ dort als seine „Aufgabe“: Meine Aufgabe: Entmenschung der Natur und dann die Vernatrlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff ,Natur‘ gewonnen hat. (N 1881/82, KSA 9, 11[211])
Die Vernatrlichung stellt einen Prozess dar, einen bergang von einem Menschenbild zu einem anderen. Sie setzt voraus, dass der Mensch nicht definitiv festgestellt ist.43 Als „Aufgabe“ hat die Vernatrlichung auch ein praktisches Interesse, d. h. einen ethischen Zweck. Dieser soll im Anschluss an die Behandlung der Struktur der Vernatrlichung diskutiert werden. Die Aufgabe der Vernatrlichung des Menschen stellt sich, sobald man „de[n] Glaube[n] an das All als Organismus“ (N 1881, KSA 9, 11[201]) und den Glauben, „daß das All eine Tendenz habe“ (N 1881, KSA 9, 11[205]), als eine Art von „Vermenschung der Natur“ erkennt (N 1881, KSA 9, 11[201]). In FW 109 fhrt Nietzsche diese Gedanken mit weiteren zusammen und sucht nun alle traditionellen anthropomorphen Bilder der Welt als „Vermenschlichungen“ zu bercksichtigen: Hten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nhren? Wie kçnnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefhr, was das Organische ist: und wir sollten das unsglich Abgeleitete, Spte, Seltene, Zufllige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene thun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir. Hten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort „Maschine“ eine viel zu hohe Ehre an. Hten wir uns, etwas so Formvolles, wie die kyklischen Bewegungen unserer NachbarSterne berhaupt und berall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstrasse lsst Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen giebt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermçglicht: die Bildung des Organischen. Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schçnheit, Weisheit, und wie alle unsere sthetischen Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglckten Wrfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind 43 Vgl. N 1884, KSA 11, 25[428]; N 1885/86, KSA 12, 2[13]; JGB 62.
1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen
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nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf, – und zuletzt ist selbst das Wort „verunglckter Wurf“ schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schliesst. Aber wie drften wir das All tadeln oder loben! Hten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegenstze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schçn, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer sthetischen und moralischen Urtheile getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und berhaupt keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze. Hten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. (FW 109)
Das im Aphorismus gebrauchte Wort „Vermenschlichung“ schließt im Unterschied zu dem im Nachlass-Notat verwendeten Wort „Vermenschung“ eine moralische, humanitre Komponente ein. Danach ist die (angenommene) Ordnung der Natur nicht nur anthropomorph, sondern außerdem moralisch gut. Spter wird „Vermenschlichung“ bei Nietzsche auch zu einem Synonym von „Civilisation“ (JGB 242) und zur Unterscheidung von Mensch und Tier durch die Moral (GM II 4) gebraucht. Nietzsche versucht, mit dem Wort einen typischen europischen Prozess zu fassen (vgl. GM II 7), in dessen Fortgang der moderne Mensch „eine sptere Beschaffenheit, eine schwchere, zrtlichere, verletzlichere“ gewinnt, „aus der sich nothwendig eine r c k s i c h t e n r e i c h e Moral erzeugt“ (GD, Streifzge 37). Die Vermenschlichung ist auch eine „Verschçnerung“ (M 427, FW 24 u. ç.), soweit eben die Interpretation der Natur mit sthetischer Lust verbunden ist. Dabei wird freilich der Mensch, das Menschliche selbst schon als schçn vorausgesetzt, und so fragt dann Nietzsche skeptisch in GD: „ist wirklich damit die Welt verschçnt, dass gerade der Mensch sie fr schçn nimmt? Er hat sie vermenschlicht: das ist Alles. Aber Nichts, gar Nichts verbrgt uns, dass gerade der Mensch das Modell des Schçnen abgbe.“ (GD, Streifzge 19)44 Nietzsche verbindet mit der Vernatrlichung des Menschen keine Theorie, sondern einen Gegenglauben, durch den er die traditionellen Anthropomorphismen ihrerseits als Glauben entlarven will. Positive Argumente fr eine realistische, nicht-anthropomorphe Weltbeschreibung bringt Nietzsche nicht. 44 Auf seine Weise hat diesen Gedanken schon Kant in der Kritik der Urteilskraft vorgetragen. Er spricht dort von der „Gunst“, die wir, die erkennenden Menschen, der Natur zeigen: „Denn in einer solchen Beurtheilung [der Natur als zweckmßig fr die menschliche Erkenntnis] kommt es nicht darauf an, was die Natur ist, oder auch fr uns als Zweck ist, sondern wie wir sie aufnehmen. Es wrde immer eine objective Zweckmßigkeit der Natur sein, wenn sie fr unser Wohlgefallen ihre Formen gebildet htte; und nicht eine subjective Zweckmßigkeit, welche auf dem Spiele der Einbildungskraft in ihrer Freiheit beruhte, wo es Gunst ist, womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt.“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, § 58, AA V 350). Vgl. Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin / New York 2003, 216 f.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Eine wahre Ordnung der Natur und selbst einen Mangel an einer solchen Ordnung aufzuweisen wre nur mit Hilfe einer neuerlichen Metaphysik mçglich. Nietzsche will mit seinem sieben Mal wiederholten „Hten wir uns“ beim Leser vielmehr kritische Aufmerksamkeit, Skepsis, hervorrufen, er will vor einer bisher unerkannten Gefahr warnen. Vermenschlichungen verleiten als Schatten Gottes zu metaphysischen Verblendungen und bergen dadurch nihilistische Gefahren. Doch eben als Schatten lassen sie sich nicht direkt thematisieren, sondern nur indirekt ber ihre Lichtquelle. Als Formen der Selbsttuschung kçnnen sie auch nicht einfach durch Argumente widerlegt werden. So kann man nur warnen. Entgegen der menschlichen Tendenz, die Komplexitt der Natur durch Bilder, Schemata und Begriffe jeder Art abzukrzen,45 negiert Nietzsche alle angeblich vorgegebenen Ordnungen der Natur, sei es ein Mechanismus oder ein Organismus, und setzt den Grundcharakter der Welt als Ordnungslosigkeit, als Chaos an. Im Kontext seines ausschließlich kritischen Duktus darf dies nicht als positives Statement, als neuerliche ontologische These ber die Natur verstanden werden. Nietzsche sieht, dass der Begriff ,Chaos‘ seinerseits moralisch belastet ist, sofern schon eine bloße Ausnahme von einer vermeintlich naturgegebenen Ordnung als „verunglckter Wurf“ – eine neuerliche „Vermenschlichung“ – betrachtet wird. Jede Moral strubt sich gegen vollkommene Ordnungslosigkeit, und eben ihr sich zu stellen fordert Nietzsche auf. Die Forderung wird noch schwerer dadurch, dass diese Ordnungslosigkeit ihrerseits nicht festzustellen, sondern nur zu unterstellen ist. Nietzsche warnt selbst vor dem Begriff ,Gesetze‘, sei es, dass man sie annimmt, sei es, dass man sie leugnet. Denn sie legen einen Gesetzgeber und bei diesem Gesetzgeber gute, moralische Zwecke nahe. Schon in MA hatte Nietzsche geschrieben: „ Na t u r g e s e t z “ e i n Wo r t d e s Ab e r g l a u b e n s . – Wenn ihr so entzckt von der Gesetzmssigkeit in der Natur redet, so msst ihr doch entweder annehmen, dass aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle natrlichen Dinge ihrem Gesetze folgen – in welchem Falle ihr also die Moralitt der Natur bewundert —; oder euch entzckt die Vorstellung eines schaffenden Mechanikers, der die kunstvollste Uhr, mit lebenden Wesen als Zierrath daran, gemacht hat. – Die Nothwendigkeit in der Natur wird durch den Ausdruck „Gesetzmssigkeit“ menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Trumerei. (MA II 9)
Aber da ist, wie es in FW 109 heißt, „Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der bertritt“. Weil der Begriff „Gesetzmssigkeit“ schon „menschlicher“ erscheinen lsst, dass in der Natur „jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht“ (JGB 22), ersetzt ihn Nietzsche durch den Begriff der 45 Vgl. zur „Abkrzung der Ausdrucksmittel“ JGB 12, 186; GM III 24; N 1884/85, KSA 11, 38[2], 38[13]; N 1885/86, KSA 12, 5[16], u. ç., und dazu Werner Stegmaier, „Weltabkrzungskunst. Orientierung durch Zeichen“, in: Josef Simon (Hg.), Zeichen und Interpretation, Frankfurt am Main 1994, S. 119 – 141.
1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen
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„Nothwendigkeit“ (FW 109). Dieser Begriff der Notwendigkeit als Negation jeglicher Finalitt (Zwecke) und Moralitt (Werte) und sogar der Kausalitt der Natur (Ursache und Wirkung, vgl. JGB 21) ist noch radikaler als der Demokrits, der noch an die Kausalitt als eine allgemeine Gesetzmßigkeit des Seins glaubte. Wenn nach Nietzsche selbst Determinismus und Materialismus noch allzumenschlichen Neigungen folgen, die Natur moralisch zu beurteilen, ist auch an die außermoralische Notwendigkeit, von der er spricht, die Frage zu stellen, ob es sich nicht auch bei ihr noch um ein moralisch-metaphysisches Prinzip handelt. Martin Heidegger hat ihm das unterstellt, indem er Nietzsches Rede vom Willen zur Macht als Gipfel der europischen Metaphysik interpretierte.46 Wolfgang Mller-Lauter hat dagegen jedoch gezeigt, dass Nietzsche nicht von einem Willen zur Macht spricht, der allem brigen zugrunde lge, sondern von unbegrenzt vielen Willen zur Macht, die in unablssiger Auseinandersetzung miteinander stehen, so dass weder eine erste noch eine letzte Einheit im Sinn der Metaphysik entstehen kann.47 So ist auch nicht von einer Notwendigkeit auszugehen, mit der „jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht“ (JGB 22), sondern von unbegrenzt vielen solchen Notwendigkeiten. Ihre Vielheit ist nicht ontologisch, sondern kritisch zu verstehen, nicht metaphysisch, sondern alle Metaphysik abweisend. Nietzsches Rede von Notwendigkeit oder unbegrenzt vielen Notwendigkeiten ist gegen alle menschlich-allzumenschlichen Metaphysiken gerichtet, auch wenn klar ist, dass Menschen sich diesen kaum entziehen kçnnen; sie ist die Aufforderung, gegen alle Versuchungen der Metaphysik anzukmpfen. Nietzsche weiß sehr wohl: „wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und kçnnen diesen Kopf nicht abschneiden“ (MA I 9). Der Versuch, die „Vermenschung“ der Weltauslegung „entmenschen zu wollen“, mag, wie Heidegger schrieb, „aussichtslos“ sein und zu einer „Vermenschung in der Potenz“ ausarten;48 dennoch drngt Nietzsche darauf, ihn zu machen.49 46 Martin Heidegger, „Nietzsche“, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 6.1 und 6.2, Frankfurt am Main 1996. 47 Wolfgang Mller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegenstze und die Gegenstze seiner Philosophie, Berlin / New York 1971, und ders., „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1 – 60. 48 Heidegger, „Nietzsche I“, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 6.1., Frankfurt am Main 1996, S. 320. 49 Klaus Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 24), Berlin / New York 1992, S. 46, unterscheidet zwei „Deanthropomorphisierungstendenzen“, eine positivistisch-reduktionistische und eine reflektiert-kritische. Der Physiker Max Planck habe wie zuvor Nietzsche in kritischer Absicht versucht, fern positivistischer und reduktionistischer Versuche einer objektiv allgemeinen, nur aufgrund von Tatsachen anstelle von Interpretationen gebildeten Erkenntnis der Natur einen neuen Weg einzuschlagen, da auch nach ihm die berwindung des Anthropomorphismus nur partiell
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Wohl bleibt die Frage brig, „was von der Welt noch da wre, wenn man ihn [den Menschenkopf ] doch abgeschnitten htte.“ (MA I 9). Aber dies ist dann „ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen“, kein Problem, von dessen Lçsung man „Glck, Heil und Leben […] abhngen lassen drfte“: Denn man kçnnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugngliches, unbegreifliches Anderssein; es wre ein Ding mit negativen Eigenschaften. – Wre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stnde doch fest, dass die gleichgltigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wre: noch gleichgltiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss. (MA I 9)50
Nietzsche weiß jedoch, dass die Natur, „von welcher man unser Subjekt abzieht“, etwas „sehr Gleichgltiges, Uninteressantes, kein geheimnißvoller Urgrund, kein enthlltes Weltrthsel“ ist, „je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer bedeutungsloser wird sie fr uns“ (N 1876 / 1877 KSA 23[150]). Schon deswegen darf die Entmenschlichung nur als strategische Vorbereitung einer Rckfhrung des Menschen zur Natur verstanden werden, an deren Ende die schçpferischen Krfte des Menschen, als ,Naturkrfte‘ verstanden, neuen Antrieb bekommen kçnnen.51 Die „Entmenschung“ der Natur fhrt letztlich mçglich sei. So bleibt nach Spiekermann nur, sich den anthropomorphen Charakters jeder Erkenntnis ber den Menschen und die Natur strker ins Bewusstsein zu rufen. 50 Vgl. N 1880/81, KSA 9, 10[D82]: „Eine Welt ohne Subjekt – kann man sie denken? Aber man denke sich jetzt alles Leben auf einmal vernichtet, warum kçnnte nicht alles andere ruhig weiter sich bewegen und genau so sein, wie wir es jetzt sehen? Ich meine nicht, daß es so sein wrde, aber ich sehe nicht ein, warum man es sich nicht denken kçnnte. Gesetzt die Farben seien subjektiv – n i c h t s sagt uns, daß sie nicht o b j e k t i v z u d e n k e n w r e n . Die Mçglichkeit daß die Welt der hnlich ist, die uns erscheint, ist gar nicht damit beseitigt, daß wir die subjektiven Faktoren erkennen. Das Subjekt wegdenken – das heißt sich die Welt ohne Subjekt vorstellen wollen: ist ein Widerspruch: ohne Vorstellung vorstellen! Vielleicht giebt es hunderttausend subjektive Vorstellungen. Unsere menschliche wegdenken – da bleibt die der Ameise brig. Und dchte man sich alles Leben fort und nur die Ameise brig: hienge wirklich an ihr das Dasein? Ja, der Werth des Daseins hngt an den empfindenden Wesen. Und fr die Menschen ist Dasein und werthvolles Dasein oft ein und dasselbe.“ 51 Nietzsches Kritik an einem rein entmenschlichten Naturbild hat wohl Friedrich Kaulbach, „Nietzsches Interpretation der Natur“, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 442 – 464, zuerst bemerkt. „[N]icht die Principia mathematica philosophiae naturalis Newtons geben von hier aus gesehen das Stichwort fr das gltige Denken der Natur, sondern die Prinzipien der frei bildenden und gestaltenden Naturkrfte, zu denen auch die Einbildungskraft des Menschen gerechnet werden muß.“ (S. 448) Der produktive Charakter der Entmenschlichung ist hervorzuheben, indem diese Spielrume fr neue Vermenschlichung schafft und Kaulbach erkennt gerade bei Nietzsches Wiederkunftslehre eine solche positive Sinngebung. Nachdem die Sinnlosigkeit des Ganzen erkannt wurde, wir verwandeln „die Sinn-losigkeit in Sinn dadurch, daß wir in Freiheit die Welt des ewigen Wiederkehrens zu der unserigen machen und im Sinne des Amor fati Stellung zu ihr nehmen.“ (S. 462). Interessante Kontaktpunkte zwischen der hinter dem Projekt
1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen
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nicht zu einer nicht-anthropomorphen, rein ontologischen Bestimmung der Realitt – es sei denn, diese Ontologie wre ihrerseits nicht menschlich. Jeder positive Naturalismus wre auch bei Nietzsche ein neuer „-ismus“, der sich nicht prinzipiell von den alten Schatten des alten Gottes (Organismus, Materialismus, Mechanismus usw.) unterschiede. Daher existiert – fr uns – so etwas wie die Natur an sich gar nicht. Nietzsche notierte fr sich: Unsere Aufgabe ist, die richtige Empfindung d. h. die welche wahren Dingen und richtigen Urtheilen entspricht zu Pflanzen. Nicht die natrlichen wiederherstellen: denn sie haben nie existirt. Man lasse sich durch das Wort „natrlich“ oder „wirklich“ nicht tuschen! Das bedeutet „volksthmlich“ „uralt, „allgemein“ – mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. […] (N 1880, KSA 9, 5[25])
Die Aufgabe der „Entmenschung der Natur“ und der „Vernatrlichung des Menschen“ hat fr Nietzsche regulativen und methodischen Charakter. Sein methodisches Leitprinzip ist die „Principien-Sparsamkeit“, das ockhamsche konomieprinzip.52 Dabei drfen beide Seiten nicht getrennt werden, sie machen fr Nietzsche eine Aufgabe aus. Zugleich aber unterscheidet er sie als Phasen (die „Entmenschung der Natur und dann die Vernatrlichung des Menschen“; Hervorhebung A.B.). Wir fassen ihre Einheit als begriffliche und zeitliche oder dialektische und prozessuale oder als Einheit von Gegenbewegungen.53 Danach bedeutet „Entmenschung der Natur“, alles Menschliche, Anthropomorphe aus der Natur herauszuziehen, um sie als Chaos oder Notwendigkeit von Willen zur Macht freizulegen, von denen jeder sich auf seine Weise auswirkt,54 und „Vernatrlichung des Menschen“, den Menschen zu dieser freigelegten Natur in ein ebenfalls freies und in diesem Sinn natrliches Verhltnis zu setzen, in ein Verhltnis, in dem er sich unvoreingenommen durch eine bestimmte Moral und Metaphysik unter seinen natrlichen Bedingungen und nach seinen natrlichen Bedrfnissen mit der Natur auseinandersetzt. In einem solchen entmoralisierten und entmetaphysizierten Verhltnis wird er selbst, wenn man so will, zur „natrlichen Natur“ (JGB 257). Diese Vernatrlichung des Menschen ist nur, so Nietzsche, mçglich, „nachdem er den reinen Begriff „Natur“ gewonnen hat“ (N 1881, KSA 9, 11[211]), also in einem der Vernatrlichung stehenden Naturauffassung und fernçstlichen Naturbildern zeigt Ryogi Okochi, „Nietzsches Naturbegriff aus çstlicher Sicht“, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 108 – 124. 52 Vgl. JGB 13 und dazu Gnter Abel, „Nominalismus und Interpretation. Die berwindung der Metaphysik im Denken Nietzsches“, in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Wrzburg 1985, Bd. 2, S. 35 – 90, S. 47. 53 Zum Sinn des Dialektischen bei Nietzsche (in Differenz zu Hegel) vgl. Werner Stegmaier, „Die Substanz muss Fluktuanz werden. Nietzsches Aufhebung der Hegelschen Dialektik“, in: Berliner Debatte Initial 12.4 (2001), Themenheft „Unaufhçrliche Dialektik“, S. 3 – 12. 54 Vgl. N 1881, KSA 9, 11[197]: „C h a o s s i v e n a t u r a : , v o n d e r E n t m e n s c h l i c h u n g d e r Na t u r ‘.“
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
zeitlichen Abstand („dann“, N 1881, KSA 9, 11[211]), aber zugleich begrifflich unauflçslich mit ihr verbunden: Die „Entmenschung der Natur“ vollzieht sich im Prozess der „Vernatrlichung des Menschen“; der Mensch kann die Natur um so eher nicht-anthropomorph sehen, je mehr er sich selbst in einem moralisch-metaphysisch unvoreingenommenen Verhltnis zur Natur sieht.55 Sofern Menschen aber auch diese „natrliche Natur“ sich nur anthropomorph in ihrer „Oberflchen- und Zeichenwelt“ (FW 354), d. h. als „Text“ vergegenwrtigen kçnnen, spricht Nietzsche von der entmoralisierten und entmetaphysizierten Einheit von Mensch und Natur als „Grundtext homo natura“, der fr alle, die auf eine bestimmte Moral und Metaphysik angewiesen sind, „schrecklich“ ist (JGB 230). In seinen Notaten fhrt Nietzsche die Formel „Homo natura“ unmittelbar im Kontext seiner Moralkritik ein. Nach einem Entwurf von 1885/86 zu seinem geplanten (jedoch nie ausgefhrten) Werk Der Wille zur Macht 56 sollte es im ersten Buch (unter anderem) um die „‘Rckkehr zur Natur‘“ gehen. Im Plan zum zweiten Buch erscheint dann die Formel „Homo natura“ zusammen mit der Formel „Der ,Wille zur Macht‘ – als Schluss einer “ E n t s t e h u n g u n d K r i t i k der moralischen Werthschtzungen“ (N 1885/86, KSA 12, 2[131]). Auch hier taucht Spinoza auf, mit seiner Moralkritik („Versuch, die moralische Weltordnung loszuwerden, um ,Gott‘, eine vor der Vernunf t bestehende Welt brig zu behalten…“) und seiner 55 Auch Christoph Cox, Nietzsche: Naturalism and Interpretation, Berkeley / Los Angeles 1999, S. 241 – 242, sieht in der Interpretation der Natur als Wille zur Macht einen antiepistemologischen und anti-ontologischen Standpunkt. Claudia Rosciglione, Homo Natura. Autoregolazione e caos nel pensiero di Nietzsche, Pisa 2005, dagegen deutet die Vernatrlichung zwar als einen nicht-reduktionistischen Physiologismus, nach dem der Mensch einen Teil des komplexen und dynamischen Ganzen der Natur ausmacht, aber zugleich im Lichte einer spezifischen Naturphilosophie oder Ontologie, in der das naturalisierte Bild des Kosmos in klassischen Antinomien verhaftet bleibt. In diesem Sinne ist es unverstndlich, wenn Rosciglione zuerst bemerkt, dass „wollen und mssen gleichwertig sind, weil das Wollen, von dem Nietzsche redet, ein Mssen und nicht ein Sollen ist“ (S. 61), und sie daraus eine natrliche Notwendigkeit, „fr die eine Sache nicht anders ist, als sie sein kann“ folgert, ohne dass diese Feststellungen in einen passiven Fatalismus mnden sollen (S. 196). Nur wenn die Vernatrlichung epistemologisch und ontologisch offen bleibt, wird es mçglich, das menschliche Handeln als verschieden von einem bloßen Spiel der Naturgesetze zu denken. Michael Thalken, Ein bewegliches Heer von Metaphern. Sprachkritisches Sprechen bei Friedrich Nietzsche, Gustav Gerber, Fritz Mauthner und Karl Kraus, Frankfurt am Main / Berlin / New York / Paris / Wien 1999, S. 99, unterstreicht dagegen schon den sprachlichen und damit subjektgebundenen Charakter von Nietzsches Vernatrlichung, wenn er den „Grundtext Homo Natura“, in den Nietzsche den Menschen zurckbersetzen will, nicht als einen entsprachlichten Zustand versteht, sondern als „das von ideologischen und dogmatischen Wertungen freie Sprechen selbst“. Damit sei der Grundtext Homo Natura mit der Poesie im Sinne Hamanns als „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“ zu identifizieren. 56 Vgl. Montinari, „Kommentar“, KSA 14.735, mit dem Verweis auf KSA 12, 2[100].
1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen
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Formel „‘deus sive natura‘“ (N 1885/86, KSA 12, 2[131]). Nietzsches Analogie „Homo natura“ spielt offenbar darauf an, dass die Natur nicht mehr Gott, sondern dem Menschen entspricht bzw. dass der Mensch nun die Stelle Gottes einnimmt. Nietzsches neuer Gesichtspunkt ist „Die bersehene Grundthatsache: Widerspruch zwischen dem „Moralischer-werden“ und der Erhçhung und Verstrkung des Typus Mensch“ (N 1885/86, KSA 12, 2[131]) – seine Erhçhung und Verstrkung eben durch seine Vernatrlichung, die sich der Kritik der Moral und Metaphysik verdankt. Der affirmative Charakter dieser Vernatrlichung tritt noch klarer in den Skizzen fr das dritte Buch des geplanten Werks hervor, das dessen positiven Kern enthalten sollte. Es sollte bestimmen, wie „die Menschen beschaffen sein mssten, welche diese Umwerthung an sich vornehmen“, und da heißt es dann: „Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur, das Schwchste Klgste Wesen sich zum Herrn machend, die dmmern Gewalten sich unterjochend“ (N 1885/86, KSA 12, 2[131]). Dies, sich in der Natur zum Herrn ber die Natur zu machen, aber wird dem Menschen nur mçglich sein, wenn er zu einem unvoreingenommenen, natrlichen Verhltnis zur Natur findet. Doch gerade, wo es um positive Bestimmungen geht, ist daran zu erinnern, dass ,homo‘ wie ,natura‘ nur Zeichen, nur orientierende Anhaltspunkte im Zusammenhang der neuen Wertsetzung sind. Sie ihrerseits zu hypostasieren, hieße der „Verfhrung der Worte“ zu erliegen (JGB 16).57 Ist die Natur aber nichts als Chaos und Notwendigkeit, so lsst sich von ihr aus wohl eine Moral kritisieren, die sich auf die Natur berufen zu kçnnen glaubt, aber keine Moral, kein Sollen aus ihr begrnden. Nietzsche erweist damit jeden moralischen Naturalismus als unmçglich – er besteht auf der Vermeidung dessen, was seit David Hume als falsche Deduktion des Sollens aus dem Sein bekannt ist. Die Ethik muss stattdessen bei der „Entmenschung der Natur“ und der entsprechenden „Vernatrlichung des Menschen“ ansetzen, die gerade keine Ordnungen der Natur voraussetzen, auf die die Ethik bauen kçnnte. Sie muss den Begriffen von Mensch und Natur einen neuen Sinn geben. Dies, Mensch und Natur neuen Sinn geben zu kçnnen, ist (in diesem Zusammenhang) der Sinn von Nietzsches Begriff des bermenschen, den er seinen Zarathustra zum „Sinn der Erde“ ausrufen lsst (Za, Vorrede 3), Erde verstanden als chaotische ,natrliche Natur‘. Da das Chaos in stndigem Werden begriffen ist, steht der Mensch als bermensch vor etwas unablssig sich Vernderndem und damit Unbestimmtem, immer nur neu Bestimmbarem, er ist ber Bestimmungen und Festlegungen insoweit hinaus, als er sie nicht unwillkrlich trifft, als er die Natur nicht spontan anthropomorphisiert. Mensch und bermensch sind insofern 57 Vgl. auch FW 354; JGB Vorrede 1; JGB 20, 21, 24, 34, 54, und GD, Die „Vernunft“ in der Philosophie, 9 („Ich frchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“).
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
nicht verschiedene Personen, sondern begriffliche Unterscheidungen des Menschen im Hinblick auf seine Kraft, sich der ,natrlichen Natur‘ zu stellen. Die Anthropomorphisierung oder Vermenschlichung der Natur ist die Ttigkeit des Menschen par excellence. bermensch ist er dann gerade insoweit, als er mit dem Vermenschlichen auch innehalten, es zumindest auf Zeit suspendieren kann, um es zu reflektieren. Denn er erkennt die Natur als unsinnig und chaotisch nur, solange er jede positive Sinngebung vermeidet und sich zu ihr in ein rein kontemplatives Verhltnis setzt. Er erfhrt dann sein Vermenschlichen gerade nicht als seine Bestimmung, seinen Sinn, sondern als Zeichen seiner Endlichkeit. Das fhrt noch einmal zu FW 109 zurck, nun zum Abschluss des Aphorismus. Die erste praktische Folge der Reflexion der sich aufdrngenden Anthropomorphisierungen, deren der Mensch zum Leben bedarf, ist die Verunsicherung des Erkennenden, des spontan nach positiven Bestimmungen und Festlegungen der Natur Greifenden. Sie verlangt ihm „Vorsicht und Obhut“ ab, die unentwegte Arbeit der Kritik von bestimmten Menschenbildern, die sich zugleich mit bestimmten Naturanschauungen ausbilden. Zum Abschluss des Aphorismus formuliert Nietzsche vier mit „wann“ beginnende Fragen, von denen zumindest drei aber gar keine echten Fragen zu sein scheinen – Nietzsche schließt sie mit Ausrufungs- statt mit Fragezeichen. Es sind keine sogenannten rhetorischen Fragen, auf die die Antworten schon bekannt sind, sondern Aufforderungen, Imperative, die fraglich bleiben, deren Aussicht auf Erfllung in der endlichen Zeit fraglich bleibt, es sind – vor Einfhrung des Begriffs in Also sprach Zarathustra – Imperative des Menschen, sich als bermenschen zu begreifen, indem er sich von spontanen unwillkrlichen Anthropomorphisierungen lçst und damit sich und die Natur, der er zugehçrt, erlçst: Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgçttlicht haben! Wann werden wir anfangen drfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlçsten Natur zu v e r n a t r l i c h e n ! (FW 109)
1.2.2. Herder: Der Mensch in der Gott-Natur Nietzsches Forderung der ,Prinzipien-Sparsamkeit‘ scheint im Gegensatz zu Herders religiçs inspiriertem Naturalismus zu stehen. Nach Herder hat Gott „in der Natur Alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ und das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und Verknpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet“ (Ideen, 6.14). Herder setzt offenbar fraglos voraus, dass „die verstandreiche Natur“ (Ideen, 6.167) kein sinnloses Spiel treibt. Das rechtfertigt ihn, durchgehend teleologisch zu argumentieren und berempirische Entitten wie
1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen
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ein „Reich unsichtbarer Krfte“ (Ideen, 6.167) einzufhren. Aber auch diese religiçs inspirierte Rede von der Natur hat ihre philosophische Dynamik, sie fhrt zu ihrer Selbstaufhebung. Denn gerade das religiçs inspirierte Denken ist, wie schon erwhnt, sich seiner Schranken stndig bewusst und muss darum als sich kritisch reflektierendes ber sich hinausfhren. Der Gebrauch des Wortes ,Natur‘ ist auch fr ihn schon metaphorisch zu verstehen: „Niemand irre sich daher auch daran, daß ich zuweilen den Namen der Natur personifiziert gebrauche. Die Natur ist kein selbststndiges Wesen; sondern Gott ist Alles in seinen Werken.“ (Ideen, 6.17) Natur wird ein Zeichen fr ein Unsichtbares und Unsagbares: „Wem der Name „Natur“ durch manche Schriften unsres Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmchtige Kraft, Gte und Weisheit, und nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag.“ (Ideen, 6.17) So ist die Natur als gute und sinnvolle Totalitt alles Lebendigen so wenig wie Gott objektiv zu erfassen, ihre Begriffe kçnnen auch fr Herder nur anthropomorphe sein. Und er thematisiert auch den unvermeidlichen und immer nur vorlufig zu berwindenden Anthropomorphismus der menschlichen Erkenntnis: Mit ihm setzt ein, was Nietzsche die ,Vernatrlichung des Menschen‘ genannt hat. Das zeigt sich schon bei seiner Suche nach dem Ursprung der Sprache, in der er selbstverstndlich Gott als Schçpfer voraussetzt, ohne ihn als – anthropomorphes – Erklrungsprinzip nutzen zu wollen. Im Gegensatz zu dem Theologen Johann Peter Sßmilch und seinem Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schçpfer erhalten habe (1766), lehnt er die Idee eines gçttlichen Ursprungs der Sprache entschieden ab: ber gçttliche Produktionen lßt sich gar nicht urteilen, und alles Philosophieren darber jat4amhqypom wird mißlich und unntz: wir mssen sie doch immer als menschliche betrachten, insgeheim immer einen menschlichen Urheber voraus setzen, der nur auf hçherm Boden stehet, und mit hçhern Krften wirket. (Abhandlung, 1.608)
Auch dort, wo er eine „allgemeine Betrachtung der menschlichen Erkenntniss in Anspruch nimmt“ (Fragmente, 1.557), gibt er nur einer „negativen Philosophie“ Raum.58 Eine solche „negative Weltweisheit“ sollte den Menschen auf die Grenzen seiner Erkenntnis aufmerksam machen, sollte eine Art von sokratischem Nicht-Wissen sein, das nur zu einer Reinigung der Metaphysik und der rationalen Theologie beitragen konnte:
58 Fr eine Interpretation von Herders negativer Philosophie als „point of discursive rupture between classical knowledge and modernity“ und die Bedingung der Entstehung der modernen „human sciences“ vgl. Robert S. Leventhal, „Herder’s Foundation of the Human Sciences“, in: Mueller-Vollmer (Hg.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 173 – 189, S. 187 f.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
so wrden sich alsdenn aus unserer ganzen Metaphysik von der Ontologie bis zur natrlichen Gottesgelahrtheit Ideen wegschleichen, denen bloß die Worte Eintritt und ein falsches Brgerrecht gegeben – und eben sind es die, ber die der meiste Streit gewesen. (Fragmente, 1.557 f.)
Folgt man Herder, dann kçnnte man, solange man ,Gott‘ nur als Zeichen fr ein bermenschlich produktives Prinzip gelten lsst, niemals objektiv urteilen, da alles von Gott geschaffen ist. Das lsst sich jedoch auf zweifache Weise interpretieren. Einerseits kçnnte es eine radikale Skepsis ber die menschliche Erkenntnis zum Ausdruck bringen. Die Theorie ber den Ursprung der Sprache wre dann nur ein Spiel – was Herder auch tatschlich in einem berhmten Brief an Hamann schreibt. Er spricht dort von seiner Abhandlung als von der „Schrift eines Witztçlpels“.59 Dann freilich kçnnte man fragen: Warum das Spielen dieses Spiels? Die Antwort kçnnte lauten: Es geht nun um eine neue performative und nicht mehr um eine rein theoretische Auffassung der Wahrheit. Andererseits kçnnte man auch eine Unterscheidung machen zwischen Dingen, die direkt, und solchen, die indirekt von Gott geschaffen wurden, fr die letzteren eine menschliche Mitschçpfung in Anspruch nehmen und damit Vicos Prinzip des verum ipsum factum besttigen (den Herder gelesen haben kçnnte).60 Dies bedeutete, dass der Mensch wohl in der Lage wre, zur Wahrheit zu kommen, aber nur ber das von ihm selbst Geschaffene, nur ber die eigene Kultur. Auch dies entspricht zum Teil Herders Position, sofern er spezifische Gesetze der Geschichte aus dem Prinzip der menschlichen Produktivitt ableitet. Doch im Diskurs ber den Ursprung der Sprache kann dann keine Wahrheit in Anspruch genommen werden, denn die Natur, in der dieser Ursprung liegt, gilt als etwas, das der Mensch nicht produziert hat. Die Notwendigkeit der ,Entmenschung der Natur‘ und der ,Vernatrlichung des Menschen‘ als entidealisierende und metaphysikkritische Denkbewegung kçnnte so auch in Herders Sinn gewesen sein. Anthropomorphismus bedeutet auch bei ihm keine absolute Verflschung der Wirklichkeit, da sich eine solche nur gegenber einer anderen wahren objektiven Weltdarstellung zu erkennen geben wrde, die dem Menschen nicht gegeben ist. Und auch Herder scheint spter in der Kalligone in dieser Weise vom Chaos zu sprechen: 59 „An Hamann, 1. 8. 1772“, in: Johann G. Hamann, Briefwechsel, hg. v. W. Ziesemer und A. Henkel, Bd. 3, Wiesbaden 1957, S. 10. 60 Zur Frage, ob und inwieweit Vico Herder beeinflusst hat, vgl. Vanessa Albus, Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert, Wrzburg 2001, Kap. 1.8. Obwohl Herder sicher Vico studiert hat, ist „von einer Beeinflussung Herders durch Vico […] kaum auszugehen. Herder erfuhr ber Vicos Lehren mehr durch das Studium der kritischen Literatur als durch direkte Einsicht in Vicos Werke. Dies geschah außerdem erst im ausgehenden 18. Jahrhundert, als Herders Lebenswerk beinahe vollendet war, und alle an Vico erinnernden Thesen niedergeschrieben waren.“ (S. 128)
1.2. Der Begriff der Vernatrlichung der Natur und des Menschen
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Das Chaos der Natur sah niemand; absolut genommen ists ein Unbegriff: denn Chaos und Natur heben einander auf. Die Dichter schildern es also nur als einen bergang zur Ordnung. Nicht anders denkts unsre Seele. Alle Wesenheiten und Eigenschaften der Dinge waren in ihm schon vorhanden; ungeregelt ußerte jede schon ihren Trieb, und bestrebte sich ihren Platz einzunehmen; also ward Ordnung. (Kalligone, 8.866)
Auch fr Herder kann das Chaos niemals als Objekt der Erfahrung gegeben sein. Wir erfahren die Natur immer schon als Reich geregelter Ordnung, die wir nicht ohne moralisches Pathos ,Gesetze‘ nennen. Und selbst ,Chaos‘ als Gegenbegriff dazu ist als solcher Gegenbegriff noch ein Anthropomorphismus. Herder htte keine Probleme gehabt, seine organizistische Metaphysik gleichzeitig als ,Schatten Gottes‘ und Schatten der Menschen zu verstehen, da ihm klar war, dass wir zu nichts anderem imstande sind als zu dieser Produktion von Schatten, dass alle erkennende Ttigkeit des Menschen nur eine Ur-Produktion von Schatten ist, mit der er die Ur-Produktion Gottes, die Schçpfung, nachahmt. Wenn aber die einzig mçgliche berwindung des Anthropomorphismus wieder ein Anthropomorphismus ist, dann ist der natrliche Ursprung der menschlichen Sprache und der Kultur immer durch sprachlich verfasste kulturelle Prinzipien zu erklren, die jenen Ursprung schon hinter sich haben. So lsst sich Herder auch in dieser Hinsicht durchaus als Vorlufer der ,Vernatrlichung‘ im Sinn Nietzsches betrachten. Bei ihm verbindet sich darin religiçs und sprachkritisch motivierte Skepsis. Die religiçse Skepsis aber hat ihren Anlass und zugleich ihre Grenze im religiçsen Glauben. Das religiçse Vertrauen in die Wahrheit der eigenen Perspektiven begleitet den Theologen bei seiner Vernatrlichung der Anthropologie und der Kultur. Mag Nietzsche darin wiederum eine Grenze des Denkens gesehen haben, so ist Herder doch schon vor ihm das Projekt einer ,Entmenschung der Natur‘ angegangen und hat eine Naturbetrachtung im stndigen Bewusstsein ihrer subjektiven und leiblichen Determinanten versucht. Die ,Schatten Gottes‘, die Nietzsche gerade durch die ,Vernatrlichung des Menschen‘ vermeiden will, sieht Herder als Mçglichkeit zu einer metaphorischen Erhellung der Wahrheit des Glaubens, und dazu gehçrt dann auch die – von Nietzsche abgelehnte – Auffassung der Natur als Organismus. Wenn aber keine Vernatrlichung die letzte sein kann, weil sie nie die von Gott geschaffene Natur erreicht, so wird Gott zum Zeichen der Grenze der Vernatrlichung selbst. Die Rckfrage an Nietzsche kçnnte dann lauten, ob die Vernatrlichung des Menschen nicht auch unter Voraussetzung eines religiçsen Glaubens weitergefhrt werden kann – wenn Gott gerade das Zeichen fr die Fehlbarkeit und damit der unendlichen Unfertigkeit der menschlichen Erkenntnis ist und Herder es bereits gefunden hat. Nietzsches Antwort darauf kçnnte dann sein: ja, jedoch nur, solange der religiçse Glaube nicht daran
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hindert, das Individuum als schaffendes zu interpretieren.61 Denn er weiß ja sehr wohl, dass wir nicht annehmen kçnnen, durch eine bloße Negation der Anthropomorphismen „die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte ,W i r k l i c h k e i t ‘ , […] v e r n i c h t e n “ zu kçnnen, sondern „nur als Schaffende“ (FW 58). Das bedeutet aber fr Nietzsche, was es auch fr Herder bedeutete, nmlich „neue Namen und Schtzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen“, d. h. eine Arbeit der Sprache an der Sprache, die keine letzte Versicherung in einer ußeren Realitt mehr sucht und braucht.
1.3. Gegenbewegung von Vereinfachung und Vernatrlichung als „Trieb des Geistes“ Auf den „Grundtext homo natura“ fhrt Nietzsche in JGB 230 ber einander entgegengesetzte ,Willen‘ oder ,Triebe‘ des ,Geistes‘ hin, der eine zur Vereinfachung und Abkrzung der unendlich komplexen ,natrlichen Natur‘, der andere eben zur Erkenntnis dieser Veroberflchlichung und damit zur ,Vernatrlichung‘ der Natur und mit ihr des Menschen. Die Einheit beider nennt er mit dem „Volk“, also ohne sich vorab auf wissenschaftliche oder philosophische Definitionen einzulassen, „Geist“, bestimmt sie bzw. ihn lediglich als das „befehlerische Etwas“, das „in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fhlen“ will. Das heißt: Menschen sind ihm ausgesetzt, folgen ihm, wie man einem Befehl folgt, sei es unwillkrlich oder aus Einsicht, sei es willig oder widerstrebend. Oder aus alldem zugleich: Geist, wie Nietzsche ihn versteht, ist eine Einheit von Gegenbewegungen, kann einander entgegengesetzte ,Willen‘ oder ,Triebe‘ des ,Geistes‘ auslçsen.62 Beide gehçren zur ,Natur‘ des Menschen. Den einen, den Trieb zur Vereinfachung, bringt Nietzsche auf physiologische Metaphern. Der Geist wirke wie „alles, was lebt, wchst und sich vermehrt“, beweise die „Kraft“, „Fremdes sich anzueignen, offenbar[e] sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuhnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gnzlich Widersprechende zu bersehen oder wegzustossen: ebenso wie er bestimmte Zge und Linien am Fremden, an jedem Stck „Aussenwelt“ willkrlich strker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht flscht“. Mit dem „Gefhl des Wachsthums“ steigere sich auch „das Gefhl der ver61 Wenn also auch der Umkehrschluss des berhmten Zarathustra-Wortes gilt: „wenn es Gçtter gbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Gçtter.“ (Za II, Auf den glckseligen Inseln) Wenn ich schaffen kann wie Gott, halte ich es auch aus, dass es Gçtter gibt. 62 Nietzsches Begriff des Geistes kann und muss hier nicht ausfhrlich expliziert werden, was vor allem in Differenz zu Hegels Begriff des Geistes geschehen msste. Vgl. dazu Werner Stegmaier, „Geist. Hegel, Nietzsche und die Gegenwart“, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 300 – 318.
1.3. Gegenbewegung von Vereinfachung und Vernatrlichung als „Trieb des Geistes“
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mehrten Kraft“ (JGB 230). Kein wirklicher, nur ein scheinbarer Gegensatz dazu sei der „Trieb des Geistes“ „zur willkrlichen Abschliessung“, „eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit“: Er wirke wie ein einverleibender „Magen“ mit seiner das Vertrgliche dem Leib anverwandelnden, das Unvertrgliche aber ausscheidenden „,Verdauungskraft‘“. Beides, die Anverwandlung des Vertrglichen und die Ausscheidung des Unvertrglichen, wirken in der ,Zurechtflschung‘ der ,natrlichen Natur‘ zusammen. Und der Geist kann sich dessen, so Nietzsche, sogar „gelegentlich[]“ bewusst sein, „eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit“ entwickeln, einen „Selbstgenuss an der willkrlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrçsserten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschçnerten, ein[en] Selbstgenuss an der Willkrlichkeit aller dieser Machtusserungen.“ Denn er entdeckt dabei auch die Mçglichkeit, „andere Geister zu tuschen und sich vor ihnen zu verstellen,“ und steigert mit der „Masken-Vielfltigkeit und Verschlagenheit“ „das Gefhl seiner Sicherheit“ (JGB 230). Damit ist die semantische Dimension der Physiologie verlassen. Der wirklich entgegengesetzte ,Trieb des Geistes‘ zum Erkennen seines Triebs seiner teils unwillkrlichen, teils beabsichtigten, teils raffiniert gesteigerten Veroberflchlichungen und Maskierungen, der Trieb zur ,Vernatrlichung‘, also der Aufdeckung der komplexen und widerstrebenden, jedenfalls nicht in eine bersichtliche Ordnung zu bringenden Krfte der Natur (einschließlich des Menschen und seines Geistes) lsst sich denn auch nicht mehr in physiologische Metaphern fassen – Nietzsche fasst sie zumindest nicht so, er spricht nun in zunchst psychologisch, dann pdagogisch getçnten Begriffen von einem „sublime[n] Hang des Erkennenden“, „der die Dinge tief, vielfach, grndlich nimmt und nehmen will“, „eine[r] Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebhrt, sein Auge fr sich selbst lange genug gehrtet und gespitzt hat und an strenge Zucht, auch an strenge Worte gewçhnt ist“, also von geistiger Disziplin. Auch hier bieten sich wieder Oberflchen und Masken an, „schçne glitzernde klirrende festliche Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung fr die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen“ – mit der „Liebe zur Weisheit“ wird die ,Philosophie‘ als solche zur Oberflche und Maske. Aber „hart geworden in der Zucht der Wissenschaft“ (und nur so) kann sie sich dann eben auch der „Aufgabe“ der ,Vernatrlichung des Menschen‘ stellen, im Bewusstsein, dass sie auch selbst immer wieder auf Vereinfachungen und Veroberflchlichungen angewiesen ist und ihrer Gegenbewegung niemals vçllig entgehen kann. Sie kann jederzeit ihren kritischen Charakter wieder verlieren und in eine neue Moralisierung der Natur verfallen, durch die die Orientierung leichter und bequemer wird. So muss sie die Kraft und den Mut zur „Grausamkeit“ gegen sich selbst haben.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Nur indem er sich auf die stndige Gegenbewegung von Vereinfachung und Vernatrlichung einlsst, kann der Geist (und kann auch die Philosophie, wie Nietzsche sie versteht) vor den „den schreckliche[n] Grundtext homo natura“ kommen. Aber was veranlasst den Erkennenden berhaupt dazu? Was nçtigt ihn zu immer neuer Grausamkeit gegen sich selbst? Nietzsche scheint die Antwort in JGB 230 zuletzt offen zu lassen, er endet mit Auslassungspunkten: Warum wir sie whlten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt: „warum berhaupt Erkenntniss?“ – Jedermann wird uns darnach fragen. Und wir, solchermaassen gedrngt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere Antwort… (JGB 230)
Vorlufige Antworten sind in vorbereitenden Notaten und anderen Stellen in Nietzsches Werk zu finden. Nach einem Notat von 1885 wirkt der Trieb zur Vereinfachung auch schon in der sinnlichen Wahrnehmung, Nietzsche nennt ihn dort „Instinkt“, auch hier kann er nicht mehr sagen, als dass die Natur des Menschen zur Vereinfachung zwingt: Unsere Lust an Einfachheit, bersichtlichkeit, Regelmßigkeit, Helligkeit, woraus zuletzt ein deutscher „Philosoph“ so etwas wie einen kategorischen Imperativ der Logik und des Schçnen entnehmen kçnnte – davon gestehe ich einen starken In s t i n k t als vorhanden zu. Er ist so stark, daß er in allen unseren Sinnesthtigkeiten waltet und uns die Flle wirklicher Wahrnehmungen (der unbewußten —) reduzirt, regulirt, assimilirt usw. und sie erst in dieser zurechtgemachten Gestalt u n s e r e m B e w u ß t s e i n v o r f h r t . Dies „Logische“, dies „Knstlerische“ ist unsere fortwhrende Thtigkeit. Wa s hat diese Kraft so souverain gemacht? Offenbar, daß ohne sie, vor Wirrwarr der Eindrcke, kein lebendes Wesen lebte. (N 1885, KSA 11, 34[49])
So ist die philosophische Kritik der Vereinfachung und Veroberflchlichung, ihre grausame Erkenntnis, der ,Trieb des Geistes‘ zur ,Vernatrlichung‘ zugleich unnatrlich und damit paradox, sie verunsichert. Soweit die Suspendierung der Vermenschlichung der Welt bermenschlich ist, ist sie zugleich unmenschlich – und der Ausweg aus diesem unmenschlich bermenschlichen scheinen dann Idealisierungen jeder Art zu sein, sei es in Gestalt von Morallehren oder von Metaphysiken. Beide aber sind, wie gezeigt, selbst in die Gegenbewegung verwickelt und also keine Auswege. Nietzsche bescheidet sich stattdessen mit seinem „Phnomenalismus und Perspektivismus“ (FW 354). Es bleibt unvermeidlich bei der anthropomorphen Scheinbarkeit, aber man kann innerhalb ihrer unter Perspektiven wechseln und sich die Scheinbarkeit so kritisch bewusst halten. So kommt innerhalb der unvermeidlichen anthropomorphen Scheinbarkeit der Wahrnehmung und Bewusstmachung der Welt eine dialektische Selbstregulierung des ,Geistes‘ zustande, in der er zwischen Vereinfachung und Vernatrlichung oszilliert. Dabei wird, in aktuellen Begriffen, aus der Welt jeweils eine Umwelt, eine Welt in der spezifischen Sicht eines spezifischen Lebendigen in einer spezifischen Situation seiner Orientierung, eine jeweils auf
1.3. Gegenbewegung von Vereinfachung und Vernatrlichung als „Trieb des Geistes“
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einen jetzt relevanten spezifischen Lebensumkreis beschrnkte Welt, kurz: eine perspektivische Selektion der Welt. Sie ermçglicht es ihm, jeweils in „geschlossenen Horizonten“ (GD, Streifzge 59) zu leben, aber auch, wo es mçglich und nçtig wird, Horizonte zu erweitern oder zu wechseln, also Weltoffenheit zu gewinnen. In der Mçglichkeit zur Lçsung von spezifischen Umwelten kann man dann auch das spezifisch Menschliche sehen. Es machte dann den Menschen zum Menschen, dass er der spontanen Tendenz zur Vereinfachung der Welt auch widerstehen kann. Und sofern dieser Widerstand grausame Zge annehmen kann, bemisst sich, so Nietzsche in JGB 39, „die Strke eines Geistes darnach […], wie viel er von der „Wahrheit“ gerade noch aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdnnt, verhllt, verssst, verdumpft, verflscht nçthig htte.“ Die Frage danach, wie viel Wahrheit ein Mensch ertragen kann, wird im Rahmen von Nietzsches „Phnomenalismus und Perspektivismus“ zur Frage, wie leicht er seine Horizonte erweitern, verschieben und umstellen oder in welchem Maße das natrliche Bedrfnis des Menschen, sich selbst zu beschrnken, unterdrckt werden kann, ohne seinem Leben zu schaden oder dieses Gleichgewicht von Vereinfachung und Weltoffenheit zu zerstçren. Besonders befhigt, ja geradezu dafr ausgebildet ist nach Nietzsche die Kunst. Die „Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuss an der willkrlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrçsserten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschçnerten, ein Selbstgenuss an der Willkrlichkeit aller dieser Machtusserungen“, von der Nietzsche in JGB 230 spricht, ist gerade auch ein Charakteristikum der Kunst. Sie trgt zur neuen Belebung der immer problematischen Ur-Komplexitt des Lebens – eines der Hauptthemen von Nietzsches Philosophie63 – bei, sie ist zunchst und vor allem die Aufgabe des Knstlers. Vom Knstler wird erwartet, dass er sich von spezifischen Perspektiven in engen Bindungen des Lebens lçsen kann, um (mehr oder weniger) ungebunden neue 63 Unter den wichtigen Arbeiten ber das Thema vgl. Walter Schulz, „Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie“, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 1 – 31; Volker Gerhardt, „Von der sthetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst“, in: NietzscheStudien 13 (1984), S. 374 – 393; Diana Behler, „Nietzsches Versuch einer Artistenmetaphysik“, in: Mihailo Djuric´ / Josef Simon (Hg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Wrzburg 1986, S. 130 – 149; Bçning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frhen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 20), Berlin / New York 1988; Sigridur Thorgeirsd ttir, Vis creativa. Kunst und Wahrheit in der Philosophie Nietzsches, Wrzburg 1996; Salim Kemal / Ivan Gaskell / Daniel W. Conway, Nietzsche, Philosophy and the Arts, Cambridge 1998; Gerhard Schweppenhuser / Jçrg H. Gleiter, Nietzsches Labyrinthe. Perspektiven zur sthetik, Ethik und Kulturphilosophie, Weimar 2001; Gnter Seubold (Hg.), „Man ist viel mehr Knstler als man weiß“. Bilder und Bildner: Werk- und Lebenskunst bei Friedrich Nietzsche, Bonn 2001; Harald Seubert (Hg.), Natur und Kunst in Nietzsches Denken, Kçln u. a. 2002.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
zu schaffen. Er kann sich in besonderem Maß auf das einlassen, worin die ,Natrlichkeit‘ der Natur, ihre chaotische Ungesetzlichkeit, besonders erfahrbar wird, auf berraschungen. In einem frheren Notat von 1881 hat Nietzsche die Vernatrlichung eben dadurch bestimmt. Es setzt mit einer kosmischen Perspektive ein und lenkt von da aus ber die alltgliche Lebenswelt des Menschen bis hinein in die physiologischen Intima: Wir kçnnen uns nur wenig im Großen schtzen: ein Komet kann jeden Augenblick die Sonne zertrmmern, oder eine elektrische Kraft kann auftreten, in der mit Einem Male das Sternensystem zerschmilzt. Was ist „Statistik“ in diesen Dingen! Wir haben fr Erde und Sonne vielleicht ein Paar Millionen Jahre, in denen so etwas n i c h t geschehen ist: es beweist gar nichts. – Zur Vernatrlichung des Menschen gehçrt die Bereitschaft auf das absolut Plçtzliche und Durchkreuzende. Die p l ç t z l i c h e n Dinge haben den Menschen an einen falschen Gegensatz gewçhnt, sie nennen es dauernd regelmßig, usw. – aber Plçtzliches ist fortwhrend im Kleinsten da, ja in jedem Nerv; und es ist eben regelmßig, ob es auch in der Zeit u n s unberechenbar erscheint. D a u e r n d ist das, dessen Vernderungen wir nicht sehen, weil sie zu allmhlich und zu fein fr uns sind. (N 1881, KSA 9, 11[228])
So gehçrt eine bleibende Sensibilitt fr plçtzliche Ereignisse zur Vernatrlichung des Menschen. Die sich aufdrngenden vertrauten Schemata, mit denen der Mensch die Einheit seines Selbst zusammen mit einem Bild der Natur konstruiert, werden nur fragwrdig, wenn etwas, das nicht in diese Schemata passt, erfahren wird. Aber eben solches wird in der ,natrlichen Natur‘, wenn sie nicht schon durch Schemata und Bilder verstellt wird, erfahren, und so liegt eben im Unvermuteten, in der Plçtzlichkeit, in der Ereignishaftigkeit der ,natrlichen Natur‘ der Anlass und die Chance zur Gegenbewegung gegen die spontanen Tendenzen zu Vereinfachung, Schematisierung und Routinierung. Doch da auch das Plçtzliche so rasch wie mçglich schematisiert, das Fremde wieder auf Bekanntes und Gewohntes zurckgefhrt wird (vgl. FW 355), ist auch in dieser Sicht die Vernatrlichung nie wirklich festzustellen; sie behlt einen methodologischen und regulativen Charakter.
1.4. Vom Nutzen und Nachteil der Naturwissenschaften fr die Vernatrlichung Wenn die Vernatrlichung des Menschen dessen „Bereitschaft auf das Plçtzliche und Durchkreuzende“ voraussetzt, kann darauf keine neue Ontologie gebaut und keine wissenschaftliche oder philosophische Theorie begrndet werden. Auch wenn Nietzsche den „Grundtext homo natura“ nicht nur den „schrecklichen“, sondern auch „ewigen“ nennt (JGB 230), kçnnen aus ihm keine ewigen Tatsachen fr eine Metaphysik, sondern nur Anhaltspunkte fr die Kritik der Metaphysik erhoben werden. Die Vernatrlichung der Natur bietet auch kein
1.4. Vom Nutzen und Nachteil der Naturwissenschaften fr die Vernatrlichung
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ontologisches Fundament fr eine Chemie, Biologie oder Physik, noch kann sie ein solches fr eine Naturphilosophie sein. Chemie, Biologie oder Physik kçnnen nur Perspektiven auf die unendlich komplexe ,natrliche Natur‘ sein – in einer unbestimmten Pluralitt von Perspektiven.64 Hier soll nicht Nietzsches Beitrag zu den Naturwissenschaften und der Naturphilosophie diskutiert werden,65 sondern sein Verhltnis zu ihnen in seiner Zeit zu Herders Verhltnis zu ihnen in dessen Zeit in Beziehung gesetzt werden. Denn beide orientierten sich stark an den Naturwissenschaften und der Naturphilosophie ihrer Zeit. 1.4.1. Herder: Religiçses Vertrauen in den Wert der Naturwissenschaften fr die Philosophie Hundert Jahre vor Nietzsche stellt Herder eindeutig die Notwendigkeit heraus, philosophische Probleme auch vom Standpunkt der Physik aus zu betrachten: „Das unentdeckte Land, was wir suchen, ist kein Metaphysisches Wortgeschwtz: es ist innere Physik des Geistes“ (Viertes Wldchen, 2.343) Die HerderForschung hat klar gezeigt, dass fr ihn die Ergebnisse der Naturwissenschaften gleichwohl von großer Bedeutung sind, auch fr die Philosophie und Theologie.66 Das macht auch das Urteil Gehlens plausibel, nach dem Herder die Tradition der biologisch orientierten Philosophischen Anthropologie begrndet hat.67 Die Erweiterung des spekulativen Horizonts durch Beitrge der empirischen Wissenschaften setzt eine „gesunde Zuversicht“ – wie in das „allgemeine Mittel der Sprache“, auf die wir im Zweiten Teil eingehen werden, – so auch in
64 Vgl. Eric Blondel, Nietzsche, the body and culture. Philosophy as a philological genealogy, bers. v. Sen Hand, Stanford 1991, S. 204: „He [Nietzsche] committed himself to the Path of Versuch: a metaphorical plurality in which language, he thinks, instead of simplifying, can try to regain a multiciplity of perspectives on life.“ 65 Nietzsches Relevanz als Naturphilosoph ist ausfhrlich untersucht worden. Vgl. vor allem Alwin Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952, und Alistair Moles, Nietzsche’s philosophy of nature and cosmology, New York [u.a.] 1990. 66 Vgl. die immer noch maßgebliche Darstellung von Hugh Barr Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge 1970. 67 Vgl. Arnold Gehlen, „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“, in: Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, hg. v. Karl Rehberg, Bd. 3.1, Frankfurt am Main 1993, S. 94. Eine przise historische Rekonstruktion der Bedeutung Herders fr die philosophische Reflexion ber Sprache und Anthropologie zwischen 1850 und 1940, mit besonderer Rcksicht auf die Genesis des Denkens Arnold Gehlens, bietet Mario Marino, Da Gehlen a Herder. Origine del linguaggio e ricezione di Herder nel pensiero antropologico tedesco, Bologna 2008. Analogien zwischen Herders und Nietzsches Verflechtung von Sprachkritik, Anthropologie und kulturkritischer Geschichtsphilosophie werden jedoch nicht untersucht.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
den Wert der Empirie fr die philosophische und theologische Erkenntnis voraus: Lasset uns also die gtige Vorsehung anbeten, die durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache im Innern die Menschen einander gleicher machte, als es ihr ußeres zeiget. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben ans Wort der Vter. Wie nun der ungelehrigste Sprachschler der wre, der vom ersten Gebrauch der Worte Ursach und Rechenschaft foderte: so muß ein hnlicher Glaube an so schwere Dinge als die Beobachtung der Natur und die Erfahrung sind, uns mit gesunder Zuversicht durchs ganze Leben leiten. Wer seinen Sinnen nicht traut, ist ein Tor und muß ein leerer Spekulant werden; dagegen wer sie trauend bt und eben dadurch erforscht und berichtigt, der allein gewinnet einen Schatz der Erfahrung fr sein menschliches Leben. (Ideen, 6.352)
Die Zuverlssigkeit der sinnlichen Wahrnehmung beruht wie die der Sprache auf einem Glauben, der sich nicht weiter begrnden lsst und der fr Herder darum einen religiçsen Hintergrund hat. Auch wenn man gewçhnlich annimmt, Sprache und Erkenntnis gben die Wirklichkeit wieder, weiß man doch, dass das, was man erkennt und zur Sprache bringt, niemals die wahre und ganze Wirklichkeit ist. Auch und gerade die Wissenschaften, die ihre Theorien auf Empirie grnden, wissen oder kçnnen nach Herder doch wissen, dass das, was sie sprachlich artikulieren, keine letztgltige Beschreibung der Realitt bietet. Aber eben dadurch kçnnen sie als Gegenmittel gegen berschießende Idealisierungen in Philosophie und Theologie dienen. Eine naive bertragung empirischer Ergebnisse in philosophische Spekulationen verbietet sich, ebenso ihre schlichte Systematisierung nach einem vorgreifenden abstrakten philosophischen Schema. Der Beitrag der Naturwissenschaften zur Philosophie (und Theologie) ist stets heuristischer Art. So will Herder die z. B. die „vergleichende Anatomie“ in eine „philosophische Naturgeschichte“ einbeziehen, die „den Bau des Tiers von innen und außen“ untersucht, „um ihn mit seiner Lebensweise zu vergleichen und den Charakter und Standort des Geschçpfs zu finden“. Er will damit den Menschen nicht einfach als Tier betrachten. Vielmehr bekommt der Mensch dadurch „natrlicher Weise an sich selbst einen Leitfaden, der ihn durchs große Labyrinth der lebendigen Schçpfung begleite“ (Ideen, 6.75). Auf diesem Weg lsst sich aus empirischen Naturgegebenheiten eine philosophische und theologische Ordnung der Natur konstruieren, die aufgrund der Endlichkeit der menschlichen Vernunft dennoch keine metaphysische Gewissheit erreicht. Metaphysisch ist dabei nur noch die Voraussetzung einer gçttlichen Naturordnung, gegenber der Herder hingegen seine Darstellungen der Natur als nur menschliche und damit als nur unvollkommene Versuche verstanden wissen will. Er betrachtet dabei die Natur als Werk eines gçttlichen Knstlers, der wohl Regeln folgt, aber ebenso
1.4. Vom Nutzen und Nachteil der Naturwissenschaften fr die Vernatrlichung
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auch signifikant von ihnen abweichen kann, so dass beide, die Regeln und die Ausnahmen, stets im Blick behalten werden mssen: wenn man bei irgend einer Methode sagen kann, daß unser Geist dem durchdenkenden vielumfassenden Verstande Gottes nachzudenken wage, so ists bei dieser. Bei jeder Abweichung von der Regel, die uns der oberste Knstler als ein Gesetz Polyklets im Menschen darstellte, werden wir auf eine Ursache gefhrt: warum er hier abwich? zu welchem Zweck er dort anders formte? und so wird uns Erde, Luft, Wasser, selbst die tiefste Tiefe der belebten Schçpfung ein Vorratshaus seiner Gedanken, seiner Erfindungen nach und zu Einem Hauptbilde der Kunst und Weisheit. (Ideen, 6.75)
Auch Herders Rekurs auf Gott in der Zusammenfhrung von naturwissenschaftlicher Empirie und philosophischer Spekulation hat nicht ontologischen, sondern methodologischen Sinn. 1.4.2. Nietzsche: Kritische Begrenzung und Erweiterung der Philosophie durch die Naturwissenschaften Nietzsche hat, was Herder anbahnte, explizit als These notiert: Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19tes Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode ber die Wissenschaft (N 1888, KSA 13, 15[51]).
Wo Herder noch, Systematisierungen bewusst vermeidend, Ergebnisse der empirischen Naturwissenschaften und spekulatives Denken fallweise zusammenfhrte, schlgt Nietzsche eine gezielte Strategie der Kritik der unerkannten Metaphysik in der Philosophie und in den Naturwissenschaften durch Ergebnisse eben der Naturwissenschaften ein. Sie dienen ihm ebenfalls erklrtermaßen als „Leitfaden“ einer perspektivischen Erkenntnis.68 Nietzsche empfiehlt sich selbst in mehreren Notaten aus den Jahren 1884 und 1885, stets methodisch am „Leitfaden des Leibes“, also der Komplexitt und Kohrenz der Physiologie, zu philosophieren:
68 Gegen Mittasch und Moles (vgl. Fußnote 65), die Nietzsche als Vertreter einer Naturphilosophie im eigentlichen Sinne verstehen, hat bereits Kaulbach, „Nietzsches Interpretation der Natur“, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 442 – 464, bemerkt, dass „Nietzsches Absicht nicht in die Richtung einer Ontologie der Natur, erst recht nicht in die einer Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften weist.“ (S. 442). In die Richtung Kaulbachs bewegen sich auch Walter Gebhard, Nietzsches Totalismus. Philosophie der Natur zwischen Verklrung und Verhngnis (Monographien und Texte zur NietzscheForschung, Bd. 8), Berlin / New York 1983, und die neu erschienene Dissertation von Wolfgang Jordan, Friedrich Nietzsches Naturbegriff zwischen Neuromantik und positivistischer Entzauberung, Wrzburg 2006.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Aus der Selbstbespiegelung des Geistes ist noch nichts Gutes gewachsen. Erst jetzt, wo man auch ber alle geistigen Vorgnge sich am Leitfaden des Leibes zu unterrichten sucht z. B. ber Gedchtniß, kommt man von der Stelle. (N 1884, KSA 11, 26[374]) […] daß ich alles Ausgehen von der Selbstbespiegelung des Geistes fr unfruchtbar halte und ohne den Leitfaden des Leibes an keine gute Forschung glaube. Nicht eine Philosophie als Do g m a , sondern als vorlufige Regulative der Fo r s c h u n g . (N 1884, KSA 11, 26[432])69
Doch er weiß zugleich, dass die Naturwissenschaft und insbesondere die Physik, die sich „auf den Glauben an die Sinne stellt“, „auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine WeltErklrung ist“ (JGB 14). Schon sehr frh hatte er sich notiert: Alle Naturwissenschaft ist nur ein Versuch, den Menschen, das Anthropologische zu verstehen: noch richtiger, auf den ungeheuersten Umwegen immer zum Menschen zurckzukommen. Das Aufschwellen des Menschen zum Makrokosmos, um am Ende zu sagen „du bist am Ende, was du bist“. (N 1872/73, KSA 7, 19[91])
Wenn aber die Naturwissenschaften nur „das Anthropologische zu verstehen“ geben, kçnnen sie keinen direkten Beitrag zur Vernatrlichung des Menschen leisten. Die Wissenschaft an sich ist in dieser Perspektive keine letzte und neutrale Naturlehre: Nietzsche macht sie ihrerseits zum Gegenstand einer tiefen kritisch-philosophischen Auseinandersetzung. Dabei spielen wiederum die Sprache und besonders die Metaphern, auf die auch die Naturwissenschaften angewiesen sind, eine bedeutsame Rolle.70 In den Metaphern und Begriffen der Naturwissenschaften findet Nietzsche von Fall zu Fall vorlufigen Halt im Prozess der Vernatrlichung der Natur und des Menschen, um sie dann genealogisch zu destruieren. Er anerkennt, wie schon Spiekermann bemerkt hat,71 die Kraft der Naturwissenschaften, den Glauben an allgemeine metaphysische Wahrheiten in Frage zu stellen, und zugleich ihre unvermeidliche Angewiesenheit auf die Sprache der Metaphysik und der Ontologie, wenn sie eine allgemeine Gltigkeit in Anspruch nimmt, und oszilliert zwischen beidem. Josef 69 Vgl. N 1884, KSA 11, 27[27], und N 1885, KSA 11, 36[35], und zur weiteren Auslegung 1.6.2.2. – Die nach wie vor wertvolle Darstellung von Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologie und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975, entfaltet die Zusammenhnge bei Nietzsche ausfhrlich. Die Verbindung zwischen diesem heuristischen Leitfaden und dem Problem des Anthropomorphismus wird von Jçrg Salaquarda, „,Leib bin ich ganz und gar…‘- Zum ,dritten Weg‘ bei Schopenhauer und Nietzsche“, in: Nietzscheforschung 1 (1994), S. 37 – 50, S. 48 besttigt: „Positiv lßt sich die Wendung zum Leib als Weg eines bewußt eingesetzten Anthropomorphismus verstehen.“ 70 Vgl. Gregory Moore, Nietzsche, Biology, and Metaphor, Cambridge 2002, und Christian J. Emden, Nietzsche on Language, Consciousness, and the Body, Urbana / Chicago 2005. 71 Vgl. Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin / New York 1992, S. 26.
1.4. Vom Nutzen und Nachteil der Naturwissenschaften fr die Vernatrlichung
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Simon hat festgestellt: „Nietzsche hlt die Einsicht in eine ,ontologische‘ Relativitt nicht immer durch“, und „er setzt noch eine Realitt, ber die man dann allerdings nichts mehr sagen kann, hinter alle Schemata, in denen man ,etwas‘ sagen kann und in denen somit etwas berhaupt als etwas ist oder nicht ist.“ Diese Realitt wre dann etwas, „in dem der naturwissenschaftliche Realittsbegriff absolut, d. h. abgelçst von der Sprache der Naturwissenschaften, gilt.“72 Sie bleibt problematisch. Nietzsche gebraucht fr die Schwierigkeit, die positiven Setzungen der Naturwissenschaften von ihrer kritischen Funktion zu trennen, in MA I 251 die Metapher der Trennung von „zwei Hirnkammern“ oder eines „Doppelgehirn[s]“. Er erçffnet den Aphorismus mit der Unterscheidung des großen „Vergngen[s]“ an der methodischen Seite der Wissenschaft und des geringen Vergngens an ihren Ergebnissen, die bald zu alltglichen und selbstverstndlichen wrden. Da sie aber auch „durch Verdchtigung der trçstlichen Metaphysik, Religion und Kunst“ „Freude“ nehme, drohe die „Lust“ an ihr (und gemeint ist offensichtlich die Lust des Philosophen an ihr) ganz zu versiegen. Darum bedrfe es einer hçheren Kultur der Wissenschaft, einer philosophischen Kultur, die er spter auf den Begriff einer ,frçhlichen Wissenschaft‘ bringen wird. Eine solche „hçhere Cultur“ msse dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hlfe der erkennenden Wissenschaft muss den bçsartigen und gefhrlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden. (MA I 251)
Nach Lage der Dinge kann die Vernatrlichung der Natur und des Menschen nur in einem solchen perspektivischen Wechsel zwischen ,Hirnkammern‘, der positiv und niemals vçllig haltbar setzenden und der kritischen, die Setzungen wieder in Frage stellenden, vorankommen. So wie die Natur berhaupt keine Zwecke hat und dennoch „gelegentlich Dinge von der hçchsten Zweckmssigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die chte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fçrdern und das Zweckmssige erreichen, – aber ebenfalls ohne es gewollt zu haben.“ (MA I 38). Wissenschaft dient der Vernatrlichung der Natur und des Menschen weniger durch ihre Ergebnisse als durch ihre Disziplin.73 Ohne die Kultivierung 72 Josef Simon, „Ein Geflecht praktischer Begriffe. Nietzsches Kritik am Freiheitsbegriff der philosophischen Tradition“, in: Ders. (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Wrzburg 1995, S. 106 – 122, S. 121 f. 73 Vgl. Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche’s Theory of Knowledge (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 4), Berlin / New York 1977, S. 135: „As a means of mental discipline, as a means of creating more potent and more sublime illusions,
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
dieser Disziplin oder, wie Nietzsche spter formulieren wird, das „asketische Ideal“ (GM III 1 u. ç.) der wissenschaftlichen Methode fhrten die Philosophie und ebenso die Wissenschaft selbst im Glauben an ihre Ergebnisse in eine solipsistische Flucht in Richtung des Metaphysischen. Gerade wenn man wissenschaftliche Ergebnisse nicht als absolute Wahrheiten nimmt, sondern als vorlufige und plurale Standpunkte, die sich im Prozess der Vernatrlichung der Natur und des Menschen entfalten, kann man durch sie schrittweise die Perspektiven erweitern, ohne „in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein fr alle Mal aus[zu]ruhen“ (N 1885/86, KSA 12, 2[155]). Rckblickend auf seine frheren Schriften notierte sich Nietzsche ebenfalls 1885/86: Man bemerkt, bei meinen frheren Schriften, einen guten Willen zu unabgeschlossenen Horizonten, eine gewisse kluge Vorsicht vor berzeugungen, ein Mißtrauen gegen die Bezauberungen und Gewissens-berlistungen, welche jeder starke Glaube mit sich bringt; mag man darin zu einem Theile die Behutsamkeit des gebrannten Kindes, des betrogenen Idealisten sehen – wesentlicher scheint mir der epikureische Instinkt eines Rthselfreundes, der sich den nigmatischen Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs nehmen lassen will, am wesentlichsten endlich ein aesthetischer Widerwille gegen die großen tugendhaften unbedingten Worte, ein Geschmack, der sich gegen alle viereckigen Gegenstze zur Wehr setzt, ein gut Theil Unsicherheit in den Dingen wnscht und die Gegenstze wegnimmt, als Freund der Zwischenfarben, Schatten, Nachmittagslichter und endlosen Meere. (N 1885/86, KSA 12, 2[162])
Im V. Buch der FW aus dem Jahr 1887 stellt Nietzsche dann in der Wissenschaft „vorlufige[] Versuchs-Standpunkte[]“ „Ueberzeugungen“ gegenber (FW 344) und definiert die Welt berhaupt als das, was „unendliche Interpretationen in sich schliesst“ (FW 374). In GM aus demselben Jahr bestimmt er die „,Objektivitt‘“ dadurch, dass mçglichst viele „Affekte“ und „Augen“ mit ihren Perspektiven und Interpretationen in der Erkenntnis beteiligt sind: „Je m e h r Affekte wir ber eine Sache zu Worte kommen lassen, j e m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns fr dieselbe Sache einzusetzen Nietzsche thought very highly of science. Insofar as science attempts to discover ,facts‘ and ,explain‘ the world, it is pernicious. Yet as a means of destroying our fossilized preconceptions about the world and revealing to us new creative possibilities, science is invaluable.“ Erich Heintel, „Philosophie und organischer Prozeß“, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 61 – 104, S. 70, drfte dagegen Nietzsches Strategie verkannt haben, wenn er schreibt: „Es ist Nietzsche ja nicht eigentlich gelungen, dem auch wiederum notwendig zu bedenkenden Unterschied von Assimilation und Interpretation, von organischer Entwicklung und freiheitlicher Selbstbestimmung des Menschen in der Geschichte ein philosophisches Fundament zu geben. So resultiert sein oft grober Naturalismus im Anschluß an zeitgençssische naturwissenschaftliche Theorien, der philosophisch schlechthin unhaltbar ist.“ Konrad Hilpert, „Die berwindung der objektiven Gltigkeit. Ein Versuch zur Rekonstruktion des Denkansatzes Nietzsches“, in: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 91 – 121, zeigt, dass Nietzsches Begriff der Wahrheit die Verabsolutierung sowohl der historistischen als auch der naturwissenschaftlichen Methode vermeidet.
1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung
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wissen, um so vollstndiger wird unser ,Begriff‘ dieser Sache, unsre ,Objektivitt‘ sein.“ (GM III 12).
1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung 1.5.1. Nietzsche: „Entnatrlichung der Moral“ und Entmoralisierung der Natur Die unbewusste Vermenschlichung der Natur liefert ein verzerrtes Bild von ihr und damit einen Verlust an Natrlichkeit. Nietzsche beobachtet diesen Verlust an Natrlichkeit vorwiegend im Bereich der Moral. Die Vernatrlichung des Menschen hat daher fr ihn immer auch eine moralisch-moralkritische Seite. Sie msste sich ebenfalls in einer Gegenbewegung zusammen mit einem Trieb zur Vereinfachung, hier der moralischen Vereinfachung vollziehen. Die moralischmoralkritische Gegenbewegung erweist sich in Nietzsches Denken sogar als grundlegend. Auch die scheinbar nicht-moralische „Entmenschung der Natur“ und „Vernatrlichung des Menschen“ vollzieht sich auf dem „Boden der Moral“ (FW 344). Nietzsche spricht in AC von der „E n t n a t r l i c h u n g der NaturWerthe“ (AC 25), die sich beispielhaft in der Geschichte Israels vollzogen und die europische Kultur mitgeprgt habe. Der Begriff „Entnatrlichung“ erscheint erst in den Notaten seit Herbst 1887 und dann mehrfach bis Ende 1888, bis Nietzsche ihn dann in AC auch im verçffentlichten Werk gebraucht. Er taucht zunchst im Programm einer „Geschichte der Moral-Entnatrlichung“ auf, die Nietzsche als Thema einer fnften Abhandlung „Zur Genealogie der Moral“ vorsah (N 1887, KSA, 9[83]). Bald darauf legt er sich „Schritte der ,Entnatrlichung der Moral‘ (sog. ,Idealisirung‘)“ zurecht „als Weg zum Individual-Glck / als Folge der Erkenntniß / als kategorischer Imperativ, losgelçst von – — – / als Weg zur Heiligung / als Verneinung des Willens zum Leben“ und resmiert: „die schrittweise Lebensfeindlichkeit der Moral.“ (N 1887, KSA 12, 9[86]). Darauf folgen weitere Plne zu „Abhandlungen“ unter den Stichworten „Die Entnatrlichung der Moral auch des Gewissens (auch der Asketik) (auch der Vernunft, Scholastik, Staat[)]“ (N 1887, KSA 12, 9[95]), zur „Entnatrlichung der Werthe“ (N 1887, KSA 12, 9[96] u. [107]), Notate „Zur Entnatrlichung der Moral“ unter der Perspektive, „[d]aß man die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die ,Snde‘ wendet; daß man glaubt, es gbe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind“ (N 1887, KSA 12, 10[46]), zum „Christenthum als eine[r] Entnatrlichung der Heerden-Thier-Moral“ (N 1887, KSA 12, 10[77] und [80]), zur „Schopenhauersche[n] Entnatrlichung des
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Genies“ („,ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt‘ „) (N 1887, KSA 12, 10[99]) und zur „Form der ,Entnatrlichung‘: das Gute um des Guten, das Schçne um des Schçnen, das Wahre um der Wahrheit willen —“ (N 1888, KSA 13, 12[1]). Zuletzt folgen noch die Bemerkungen „Kurz, die Entnatrlichung der Moralwerthe hatte zur Consequenz, einen entartenden Typus des Menschen zu schaffen – ,den Guten‘, ,den Glcklichen‘, ,den Weisen‘“ (N 1888, KSA 13, 14[111]) und „Reinigen wir jetzt die g egnerische Werthung von der Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie uns allen bekannt ist. / Theorie ihrer Entnatrlichung und Wiederherstellung der Natur : moralinfrei“ (N 1888, KSA 13, 14[138]) und „Moral: Zhmung oder Zchtung – Die Realitten hinter der Moral. / der Kampf mit den Passionen und deren Vergeistigung. / Naturalismus der Moral und Entnatrlichung.“ (N 1888, KSA 13, 16[73]). Danach will Nietzsche der „Entnatrlichung der Moral“, also ihrer Idealisierung, eine Entidealisierung entgegensetzen. Das kann nur auf dem Weg der Entmoralisierung der Natur geschehen. In der Moral, die Nietzsche kritisiert, wird der Natur eine Moral unterstellt, nach der in der Natur etwas ,natrlich‘, ,unnatrlich‘ oder ,widernatrlich‘ sein kann. In der ,natrlichen Natur‘, wie Nietzsche sie denkt, kann jedoch nichts unnatrlich oder widernatrlich sein, sie hat keine Normen und Werte, gegen die sie selbst verstoßen kçnnte. Wenn Nietzsche in seinen spten Notaten und Werken darum immer nachdrcklicher von „Widernatur“ spricht, gebraucht er den Begriff gerade gegen diese Annahme einer Moral in der Natur – der Natur eine Moral zu unterstellen ist widernatrlich. So schafft erst eine Entmoralisierung der Natur den Spielraum fr eine „Vernatrlichung der Moral“. Nietzsche nennt in einem ebenfalls spten Notat so das Programm: „An Stelle der m o r a l i s c h e n W e r t h e lauter n a t u r a l i s t i s c h e Werthe“ (N 1887, KSA 12, 9[8]). Er bedient sich dabei weiterhin des moralischen Begriffs des Werts. Die naturalistischen, also natrlichen oder vernatrlichten Werte kçnnen aber als Gegensatz zu den moralischen Werten nur vor- oder außermoralische Werte sein, die Werte einer ,natrlichen Natur‘. Doch weil diese ,natrliche Natur‘ als solche nicht greifbar ist und darum auch ,naturalistische‘ oder ,natrliche Werte‘ nicht positiv zu benennen sind, fhrt er diese als antimoralische Werte ein. Bei der Vernatrlichung der Moral kann es nur um Distanznahme zur tradierten Moral, die vorgab, die natrliche Moral zu sein, und ihren Voraussetzungen gehen. Ihre Aufgabe besteht fr Nietzsche darin, das moralische Bild des Menschen durch ein ,natrliches‘ zu ersetzen, nicht, eine neue Moral einzufhren. Der Mensch soll nicht durch die Moral, sondern von der Moral geheilt werden, der Moral als eine in das Bild des Menschen eingeprgte ,Widernatur‘. In GD, Moral als Widernatur, operiert Nietzsche mit der „Formel“ „Naturalismus in der Moral“. Dort heißt es:
1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung
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Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede g e s u n d e Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von „Soll“ und „Soll nicht“ erfllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit beiseite geschafft. Die w i d e r n a t r l i c h e Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade g e g e n die Instinkte des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Ve r u r t h e i l u n g dieser Instinkte. Indem sie sagt „Gott sieht das Herz an“, sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Fe i n d d e s L e b e n s … (GD, Moral als Widernatur 4)
„Instinkte des Lebens“ sind, auch bei Menschen, ,natrliche‘ Bindungen des Verhaltens, lebensnotwendig, evolutionr bewhrt und gnzlich selbstverstndlich geworden. Sie leiten, so Nietzsche, auch die Ausbildung von Moralen an, geben jeweils einen „bestimmten Kanon von ,Soll‘ und ,Soll nicht‘“ vor. Moralen kçnnen sich aber auch aus anderen Quellen speisen und gegen jene „Instinkte des Lebens“ gerichtet werden – dann sind sie ,widernatrlich‘. Nietzsche macht daraus jedoch nicht wieder eine dogmatische, fr jeden in gleicher Weise gltige Moral. Es geht ihm lediglich um eine „gesunde Moral“ des Einzelnen, die den natrlichen Instinkten Raum lsst, statt sie nach einer herrschenden Moral zu verdchtigen. Der frhe Nietzsche versteht die Vernatrlichung der Moral noch nicht als bloße Moralkritik, sondern besetzt sie ihrerseits mit moralischen Werten. Das zeigt sich in Homer’s Wettkampf, einer der Fnf Vorreden zu fnf ungeschriebenen Bchern: Wenn man von Hu m a n i t t redet, so liegt die Vorstellung zu Grunde, es mçge das sein, was den Menschen von der Natur a b s c h e i d e t und auszeichnet. Aber eine solche Abscheidung giebt es in Wirklichkeit nicht: die „natrlichen“ Eigenschaften und die eigentlich „menschlich“ genannten sind untrennbar verwachsen. Der Mensch, in seinen hçchsten und edelsten Krften, ist ganz Natur und trgt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befhigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanitt, in Regungen Thaten und Werken hervorwachsen kann. (Homer’s Wettkampf, KSA 1, S. 783)
Die Vernatrlichung der Moral besteht hier in der Wertschtzung der griechischen Humanitt, wie sie Nietzsche neu zu verstehen suchte, einer Humanitt, die auch bei den „humansten Menschen“, den Griechen „der alten Zeit“, „einen Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust an sich“ einschließt. Um die Griechen zu verstehen, msse man „davon ausgehen, daß der griechische Genius den einmal so furchtbar vorhandenen Trieb gelten ließ und als b e r e c h t i g t erachtete“ (Homer’s Wettkampf, KSA 1, S. 785 f.). Nietzsche verbindet, wie bekannt, mit dem Ziel, das Bild von den alten Griechen zu entidealisieren, eine Kritik der Kultur seiner Zeit. Wenn die griechische Kultur eine Kultur des Wettkampfs, des Agons war, musste in ihr der Ehrgeiz, das
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Streben nach Auszeichnung vor den andern, eine herausragende Rolle spielen und darum als gut gelten. Der Ehrgeiz wurde selbstverstndlich – und lebensnotwendig fr die Polis im Ganzen, sie konnte sich nur erhalten, wenn sich alle das ußerste abverlangten. Aber „die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft“, musste dabei stets im Auge behalten werden, sie war „das Ziel der agonalen Erziehung“. Dieses Ziel ging – in Bezug auf den Ehrgeiz – nach Nietzsche in der Moderne verloren, und so wurde er in modernen Gesellschaften mehr und mehr als bloße „Selbstsucht“ und diese wiederum „als ,das Bçse an sich‘“ gefrchtet: Jede Begabung muß sich kmpfend entfalten, so gebietet die hellenische Volkspdagogik: whrend die neueren Erzieher vor Nichts eine so große Scheu haben als vor Entfesselung des sogenannten Ehrgeizes. Hier frchtet man die Selbstsucht als „das Bçse an sich“ – mit Ausnahme der Jesuiten, die wie die Alten darin gesinnt sind und deshalb wohl die wirksamsten Erzieher unserer Zeit sein mçgen. Sie scheinen zu glauben, daß die Selbstsucht d. h. das Individuelle nur das krftigste Agens ist, seinen Charakter aber als „gut“ und „bçse“ wesentlich von den Zielen bekommt, nach denen es sich ausreckt. Fr die alten aber war das Ziel der agonalen Erziehung die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. (Homer’s Wettkampf, KSA 1, S. 789)
Die moralische Bindung des Ehrgeizes an das Wohl der Polis ließ ihn nicht „in’s Ungemessene und Unzumessende“ wachsen, „wie meistens der moderne Ehrgeiz“ (Homer’s Wettkampf, KSA 1, S. 789), und mit der Lockerung dieser Bindung setzte, so Nietzsche zum Schluss der kleinen Schrift, denn auch der Niedergang der Polis ein. Die Vernatrlichung des Ehrgeizes, seine Befreiung von der moralischen Abwertung als bloßer Selbstsucht, steht so ihrerseits noch unter einer moralischen Vorgabe, der Aufwertung der griechischen Humanitt unter Einschluss der Bejahung der (sonst ihrerseits moralisch abgewerteten) Grausamkeit. Der Natur des (griechischen) Menschen wird eine (bisher abgewertete, jetzt aufzuwertende) Moral zugeschrieben. Nietzsche tut hier noch selbst, was er dann in Frage stellt: Er konstruiert eine moralische Natur, vergisst ihren konstruierten Charakter und begrndet darauf eine (Gegen-) Moral. Eben dafr greift er im spteren Werk die Stoiker an:74 „Gemss der Natur“ wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrgerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgltig ohne Maass, ohne Absichten und Rcksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und çde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie kçnntet ihr gemss dieser Indifferenz leben? Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschtzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ „gemss der Natur leben“ bedeute im Grunde soviel als „gemss dem 74 Vgl. Verf., „Nietzsche und die hellenistische Philosophie. Der bermensch und der Weise“, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 95 – 130.
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Leben leben“ – wie kçnntet ihr’s denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein msst? (JGB 9)
Die „edlen Stoiker“ lebten nach einer Natur, die sie in ihrem Sinn moralisiert hatten, nach einer Natur, die ein nach der Vernunft geordneter Kosmos sein sollte, whrend die lebendige ,natrliche Natur‘ doch, jedenfalls nach den neuen Einsichten zu Nietzsches Zeit, etwas ganz anderes ist, etwas Immer-Anderes, durch und durch Maßloses, Gleichgltiges, Vernunftloses, auf das man sich nun neu einzustellen hat. Nietzsche fhrt fort: In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzckt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie „der Stoa gemss“ Natur sei und mçchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen – als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so hypnotisch-starr, die Natur falsch, nmlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht mehr anders zu sehen vermçgt, – und irgend ein abgrndlicher Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhusler-Hoffnung ein, dass, weil ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht – Stoicismus ist Selbst-Tyrannei —, auch die Natur sich tyrannisiren lsst: ist denn der Stoiker nicht ein Stck Natur?…. (JGB 9)
Zuletzt zieht Nietzsche einen historisch-systematischen Schluss auf die Philosophie berhaupt: Aber dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfngt, an sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt“, zur causa prima. (JGB 9)
Indem er die Natur, soweit sich Philosophen auf sie zur Begrndung einer Moral berufen, als moralisierte Natur entlarvt, delegitimiert er solche Begrndungen. Weil die ,natrliche Natur‘ gar nicht zu begreifen ist, weil sie vor allem Begreifen liegt, verliert jedes Ideal eines Lebens ,gemß der Natur‘ seine Plausibilitt – es ist ein bloßer moralischer Selbstbetrug. Im Kontext des Perspektivismus liegt der Selbstbetrug in einer nicht erkannten oder nicht anerkannten Perspektivitt, im Anspruch auf eine allgemeine Gltigkeit der eigenen, lebensbedingten Perspektive. Gleichwohl konstatiert Nietzsche in einem Notat von 1887 eine wachsende „Vernatrlichung des Menschen im 19. Jahrhundert“, zumindest in den Augen derer, die er mit „wir“ anspricht und die er im verçffentlichten Werk als „meine Freunde“ anzusprechen pflegt. Diese Vernatrlichung betrifft alle wesentlichen Themenfelder seiner Philosophie, und Nietzsche konkretisiert sie hier so sorgfltig, wie es im verçffentlichten Werk nicht mehr geschieht:
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Nicht „Rckkehr zur Natur“: denn es gab noch niemals eine natrliche Menschheit. Die Scholastik un- und w i d e r -natrlicher Werthe ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe – er kehrt nie „zurck“ … Die Natur: d. h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur. Wir sind grçber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefhle, selbst wenn wir ihnen unterliegen. Natrlicher ist unsere erste G e s e l l s c h a f t , die der Reichen, der Mssigen: man macht Jagd auf einander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hinderniß und einen Reiz abgiebt; man unterhlt sich und lebt um des Vergngens willen; man schtzt die kçrperlichen Vorzge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt Natrlicher ist unsere Stellung zur E r k e n n t n i ß : wir haben die libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergçtzen uns am Verbotensten, wir wßten kaum noch ein Interesse der Erkenntniß, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen htten. Natrlicher ist unsere Stellung zur Mo r a l . Principien sind lcherlich geworden; niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner „Pflicht“ zu reden. Aber man schtzt eine hlfreiche wohlwollende Gesinnung ( – man sieht im In s t i n k t die Moral und dedaignirt den Rest – ) Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe. Natrlicher ist unsere Stellung in p o l i t i c i s : wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen. Natrlicher ist unsere Schtzung g r o ß e r Me n s c h e n u n d Di n g e : wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir concipiren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalbstellen in Bezug auf Moral. Natrlicher ist unsere Stellung zur Na t u r : wir lieben sie nicht mehr um ihrer „Unschuld“ „Vernunft“ „Schçnheit“ willen, wir haben sie hbsch „verteufelt“ und „verdummt“. Aber statt sie darum zu verachten, fhlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt n i c h t zur Tugend: wir achten sie deshalb. Natrlicher ist unsere Stellung zur Ku n s t : wir verlangen nicht von ihr die schçnen Scheinlgen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher constatirt, ohne sich zu erregen. In s u m m a : es giebt Anzeichen dafr, daß der Europer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schmt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natrlichkeit d. h. seine Unmoralitt einzugestehn, ohne Erbitterung: im Gegentheil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten. (N 1887, KSA 12, 10[53] (182))
Es handelt sich bei dem, was Nietzsche an Vernatrlichung der Moral beobachtet, nur um einen Schritt, aber „einen guten Schritt“, und dieser Schritt besteht auch hier nicht im Entwurf oder der Begrndung einer neuen Moral, sondern in der Zurcknahme von moralischen zugunsten natrlicher Bindungen – „unbedingte Natrlichkeit“ wird versuchsweise schlichter „Unmoralitt“
1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung
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der Natur gleichgesetzt. „Dies klingt“, fgt Nietzsche hinzu, „in gewissen Ohren, wie als ob die Corruption fortgeschritten wre“ (N 1887, KSA 12, 10[53] (182)); Menschen, die auf eine stark bindende Moral angewiesen sind, um sich im Leben der Gesellschaft halten zu kçnnen, werden die Lockerung der Bindungen der Moral, die die Gesellschaft sich nun im 19. Jahrhundert nach Nietzsches Beobachtung leisten konnte,75 als Sitten-Verderbnis und WerteVerfall wahrnehmen und aus ihrer Perspektive so auch wahrnehmen mssen. Aber Nietzsche will nicht la Rousseau wieder zu einer Natur jenseits der Gesellschaft und ihrer Zivilisation zurck, sondern eine Vernatrlichung der Moral in der Gesellschaft. Er fhrt fort: „und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der „Natur“ angenhert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der Civilisation gemacht hat, welche er perhorreszirte.“ (N 1887, KSA 12, 10[53] (182)) Die Natur, die durch eine Vernatrlichung der Moral erreicht wird, ist keine vorzeitige oder utopische, sondern eine sich mit der Zeit sich wandelnde und immer neu wandelnde Natur. Die Vernatrlichung der Moral besteht eben darin, sich wie die Natur selbst immer neu mit der Zeit wandeln, immer anders werden zu kçnnen. 1.5.2. Herder: Die Entintellektualisierung des natrlichen moralischen Gefhls Auch bei Herder ist die Vernatrlichung des Menschen ein Moment der Moralkritik, auch bei ihm erbrigt sie die Begrndung einer neuen Moral, bei ihm jedoch noch aufgrund seiner religiçsen Orientierung.76 Soweit die Moral religiçs sanktioniert ist, gilt sie ihm als unproblematisch. So denkt er, wiewohl die Vernatrlichung auch ihn gegenber der moralischen Autoritt der Vernunft misstrauisch werden lsst, die Natur weiterhin unter moralischen Voraussetzungen. Seine Natur ist eben die, die – nach Nietzsche – „um ihrer ,Unschuld‘ ,Vernunft‘ ,Schçnheit‘ willen“ geliebt wurde. Dennoch steht auch fr ihn der Mensch in ungebrochener Kontinuitt mit der Natur. Nach Herder liebt die Natur die Menschen wie eine Mutter. Mçgen den Menschen auch Mngel anhaften – die mangelnde Sicherheit seiner In75 Vgl. N 1886/87, KSA 12, 5[71] 3 (Lenzer Heide-Entwurf vom 10. Juni 1887). 76 Bei Herder erkennt Ulrich Gaier, „Nemesis und natrliche Ethik“, in: Regine Otto / John H. Zammito (Hg.), Vom Selbstdenken. Aufklrung und Aufklrungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, Heidelberg 2001, S. 25 – 36, „eine Ethik der Natrlichkeit, eine Ethik, die ihn nicht exzentrisch aus der Natur und gegen die Natur stellt wie bei Kant, sondern eine Ethik, die ihn auf unendlichem Weg der Geschichte der Humanitt in die Natur zurckfhrt und eine je natrliche Sittlichkeit, eine unvollkommene Form der Humanitt, in jedem Augenblick und Individuum mçglich und zu erstreben verpflichtet. Eine solche Ethik kann gefordert werden, weil Gott der Zusammenhang aller Dinge und die Natur deshalb selbst moralisch ist. (S. 32)
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
stinkte und die mangelnde Schrfe seiner Sinne –, so machen sie doch nicht sein Wesen aus.77 „Lcken und Mngel kçnnen doch nicht der Charakter seiner Gattung sein: oder die Natur war gegen ihn die hrteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die liebreichste Mutter war.“ (Abhandlung, 1.715) Sie hat ihm, so Herders Vermutung, die er, um ihren Charakter als Vermutung zu unterstreichen, geradezu als eine idiosynkratische darstellt, zum Ausgleich die Sprache gegeben: Man lasse mich also einen menschlichen Ursprung der Sprache voraus setzen, sollte es auch nur meiner leidigen Philosophie, und des bessern Teilnehmens halber, kurz! meines schwachen Magens wegen sein. Was ist fr Menschen wrdiger und wichtiger, als Produktionen menschlicher Krfte, die Geschichte menschlicher Bemhungen, und die Geburten unseres Verstandes zu untersuchen? Und wie interessant wird die Philosophie ber die Kindheit der Sprache, wenn ich in ihr zugleich die menschliche Seele sich entwickeln, die Sprache nach sich, und sich nach der Sprache bilden sehe! (Abhandlung, 1.608)
Im Sinn Nietzsches behilft sich Herder mit einer bloßen Vermutung, um nicht in eine Metaphysik verfallen zu mssen, und diese Vermutung darf dann auch ein Anthropomorphismus sein. Er handelt kreativ wie die Natur, deren Schçpfungskraft sich bei der Sprache des Menschen gezeigt hat. Die Inanspruchnahme der mtterlich guten Natur lsst Herder nicht nur metaphysische, sondern berhaupt philosophische Abstraktionen kritisch zurckweisen. Das wird in der noch stark von Rousseau beeinflussten frhen Schrift Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und ntzlicher werden kann von 1765 deutlich.78 Die philosophischen Wissenschaften kçnnen das Volk nicht wirklich belehren, weil dessen „gesunder Verstand“ es weit besser leitet. Philosophische Abstraktionen irritieren es nur. Die „philosophische Vernunft schafft sich erst, wie Ddalus Labyrinthe, um sich einen Leitfaden zu machen“, sie „knpft Knoten, um sie auflçsen zu kçnnen“ (Wie die Philosophie, 1.113 f.). Menschen des Volks dagegen denken „auf dem Pfade der Natur, gesund […], ohne sich in das Labyrinth unendlicher Zweifel, und Irrtmer zu verlieren“. Sie sind „redlich […], ohne hundert Grnde, und eben so viel Zweifel, und unter den hundert Zweifeln tausend Irrtmer zu haben“ (Wie die Philosophie, 1.118). Sie verfgen ber eine natrliche Disposition zum Guten, sie folgen einem natrlichen moralischen Gefhl, das Herder mit Shaftesbury und Hutcheson voraussetzt, und der gesunde Verstand wird sich wiederum an dieses Gefhl halten. Die Philosophie msse versuchen, „dem menschlichen Geiste seine natrliche Strke in voller Lebhaftigkeit zu erhalten, und auf jeden 77 Arnold Gehlen stellt dies anders dar, vgl. Gehlen, Der Mensch, S. 91. Vgl. Teil II, Kap. 1.5. 78 Die ambivalente Mischung aus Bewunderung und kritischer Distanzierung der Position Herders gegenber Rousseau wird ausfhrlich von Patricia Rehm, Herder et les Lumiers. Essai de biographie intellectuelle, Hildesheim / Zrich / New York 2007, bes. S. 65 – 68, dargestellt.
1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung
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Fall anwenden zu kçnnen“ (Wie die Philosophie, 1.115, Hervorhebung A.B.). Die Moralphilosophie sei nicht befugt, „Vorurteile und ble Grundstze“ zu zerstçren und die Menschen dadurch zu verbessern: denn der meiste Teil von ihnen handelt in der Tat nach keinen Grundstzen im strengsten Verstande. Wornach? der Zaum, der ihn leitet – Dank der Natur! die uns schuf – sind nicht Kenntnisse, sondern Empfindungen, und diese sind alle gut: sie sind Stimmen des Gewissens, unsres Fhrers, von Gott gesandt; sie sind schwcher zu machen, aber nicht zu verdunkeln. Ich schließe weiter. Alles, was die Grundsze und Maximen der Moral sagen, weiß ein jeder, eingewickelt und dunkel. Man zeige mir eine Regel der Moral, die ich, als Mensch, nicht weiß; das beste Kennzeichen: sie kommt mir nicht zu. Aber dunkel? ja allerdings dunkel; aber diese Dunkelheit ist ein Schatten ihrer Wrde, sie ist unzertrennlich von dem, was rhrend ist; – Alles Licht, was ihr der Philosoph gibt, macht eine Sache deutlich, die mir vorher gewiß war. (Wie die Philosophie, 1.115)
Ansonsten liefere die Moralphilosophie nur eine „Metaphysik des Willens“ (Wie die Philosophie, 1.117). Herder bestreitet – wie spter Nietzsche – den Vorrang des Bewusstseins ebenso im Theoretischen wie im Praktischen, und auch fr ihn ist das Theoretische durch das Praktische bedingt. Die „Unwissenheit“ kçnne nicht – hier stimmt Herder mit Rousseau berein – „die Laster zeugen – sonst wrde die Natur eine Stiefmutter gewesen sein“ (Wie die Philosophie, 1.116). Wenn die Natur den Menschen schon moralisch geprgt hat, ist es an der Philosophie, die natrliche Entfaltung seiner guten Anlagen nicht durch berflssige Theoretisierung zu behindern: „Statt Logik und Moral bildet sie mit philosophischem Geist den Menschen im Selbstdenken, und im Gefhl der Tugend“ (Wie die Philosophie, 1.122). So bekommt das ganze philosophische Unternehmen einen neuen Sinn. Auch Herder will ihm auf seine Weise eine kopernikanische Wende geben – „unsre ganze Philosophie“ soll „Anthropologie“ werden: Alle Philosophie, die des Volks sein soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ndert, wie aus dem Ptolomischen, das Kopernikanische System ward, welche neue fruchtbare Entwickelungen mssen hier nicht zeigen, wenn unsre ganze Philosophie Anthropologie wird (Wie die Philosophie, 1.134)79
Erst die „Einziehung der Philosophie auf Anthropologie“ (Wie die Philosophie, 1.132) mache sie brauchbar und wertvoll fr die Erziehung des Volkes. Hierin liegt fr Herder zuletzt ihr praktischer Sinn. 79 Whrend Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., Berlin 1880, Bd. 1, S. 93, dieses Projekt noch als eine nur thematische Vernderung von Herders Philosophie, nicht als grundlegende Neukonzeption betrachtete, betont Friedrich Korn, Das Problem der menschlichen Philosophie bei J. G. Herder, Coburg 1930, S. 143, dass Herder schon vor Gehlen alle bisherigen Disziplinen der Philosophie in der Frage zentriert, was der Mensch sei.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
In der Philosophie seiner Zeit „fechten“, so Herder, „alle Feinde der Metaphysik unter zwei großen Haufen“ (Wie die Philosophie, 1.105). Den einen bilden Theologen, die die „Wahrheiten der Philosophie“ bestreiten (Wie die Philosophie, 1.106), den andern Mathematiker, die „den Gebrauch und die Anwendung derselben“ angreifen. Der Pastor Herder, der der „Sekte der Theologen“ kein Vorrecht ber das Religiçse zugesteht, neigt dagegen einer dritten „Gattung von Widersprechern der Philosophie“, den Physici, zu (Wie die Philosophie, 1.107). Es seien deren leider zu wenige, die es gewagt die Phnomene der Abstraktion, gleich den Merkwrdigkeiten der Natur zu erforschen etc., aus Erfahrungen nicht aus Hypothesen, zu urteilen – statt der mathematischen Synthese, den Geist der physischen Analyse in die Philosophie berzutragen: kurz eine Zergliederung der Produkte unsres Geistes, es mçgen Irrtmer oder Wahrheiten sein, zu versuchen. In der Physik folgte auf Kartesius Hypothesen ein Newton; mçchte in der Philosophie auf die mathematische Aeone die physische folgen: – stat palma in medio, qui poterit, rapiat! (Wie die Philosophie, 1.106 f.)
Im Anschluss an den franzçsischen Sensualismus, von dem er starke Anregungen erhielt, rckt Herder die leibliche Bedingtheit des Menschen in das Zentrum des philosophischen Interesses und gibt der sinnlichen Erfahrung eine neue philosophische Wrde. Er lsst – wie dann auch Nietzsche – das Ideal eines reinen, leibentbundenen Philosophierens fallen, ohne darum die Richtung eines materialistischen Reduktionismus einzuschlagen. Denn die Philosophie als Anthropologie hat mit der Sprachlichkeit des Menschen einem Phnomen gerecht zu werden, das nicht ohne weiteres materialistisch und physiologisch erklrt werden kann. Auch wenn die Abhandlung ber den Ursprung der Sprache den Eindruck erweckt, dass fr Herders Sprachkritik vor allem empirische, naturalistische und ethnologisch vergleichende Beobachtungen maßgebend sind, liegen ihre Motive doch tiefer, in der Unzufriedenheit mit den Ausdrucksmçglichkeiten der philosophischen Sprache und damit im Verlust des Glaubens an die Adquatheit der begrifflichen Reprsentation der Wirklichkeit. Auch hier schließt Herder an die Philosophie seiner Zeit an, besonders an den englischen Empirismus mit seiner Betonung des konventionellen Charakters der Sprache. Doch er spitzt das Problem zugleich auf ganz eigene Weise zu. Sein an der Sinnlichkeit orientiertes Philosophieren will weniger bestimmte philosophische Theorien aufgrund empirischer Beobachtungen destruieren, als an die Ungreifbarkeit des Sinnlichen berhaupt erinnern und damit auch an die Grenze der abstrakten philosophischen Sprache, derer sich auch die Empiristen noch bedienen. Und eben hierin sieht er die anthropologischen Bedingungen des Philosophierens. Die Hauptaufgabe der Philosophie ist darum, Sensibilitt fr diese Bedingungen zu wecken. Im Mittelpunkt stehen dabei die Moralitt der Natur und die Unrechtmßigkeit, sie in Frage zu stellen. Die religiçs motivierte Intuition,
1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung
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dass die Natur gut ist, motiviert ihrerseits, ihren moralischen Wert darzulegen. Dessen Kern ist fr Herder die „Teilnehmung“: „die Natur hat den Menschen unter allen Lebendigen zum teilnehmendsten geschaffen, weil sie ihn gleichsam aus allem geformt und jedem Reich der Schçpfung in dem Verhltnis hnlich organisiert hat, als er mit demselben mitfhlen sollte.“ (Ideen, 6.155) Teilnehmung bzw. Mitgefhl wird vor allem „durch Stimme und Sprache“ geweckt (Ideen, 6.157). Sie wird darum auch nicht so sehr durch moralische Normen, sondern vor allem durch eine sthetische Erziehung gefçrdert, die in der Poesie einen Widerhall der Natursprache hat. Moralische Kommunikation legt auf diese Weise weniger fest, als sie berhrt.80 Das Mitgefhl ist kein moralisches Prinzip, das begrndet werden kann oder aus dem Begrndungen abgeleitet werden kçnnten; solche Forderungen nach Begrndung widersprchen dem Gefhl als solchem.81 Man kann es auch nicht einfordern. Die verbale Sprache steht in enger Beziehung zum Mitgefhl aufgrund einer bestimmten Ordnung der Sinne, nach welchen „das Gehçr so viel mehr als das Gesicht beitrgt, dies Mitgefhl zu erwecken und zu verstrken“ (Ideen, 6.157). Herder schrieb schon in der Abhandlung: „Das Gehçr ist der mittlere der menschlichen Sinne, an Sphre der Empfindbarkeit von außen. Gefhl empfindet alles nur in sich, und in seinem Organ; das Gesicht wirft uns große Strecken weit aus uns hinaus: Das Gehçr steht an Grad der Mitteilbarkeit in der Mitte.“ (Abhandlung, 1.746) Das Gefhl verinnerlicht, das Hçren nhert an, das Sehen distanziert. Dass man sich darber nicht mehr im Klaren ist und dass man nicht mehr so stark mitfhlen kann, ist ein Ergebnis der Zivilisierung: „Nur der unersttliche Durst nach Ruhm und Wissenschaft konnte allmhlich dies organische Mitgefhl betuben.“ (Ideen, 6.156) Herder bettet die Vernatrlichung wie die Stoiker in ein kosmisches Konzept ein, nun aber auf dem Boden der „Sinnlichkeit“ und der „Energie des Herzens“ – die geistige und moralische Vereinigung sind Oberflchenerscheinungen: Unser Verstand ist nur ein Verstand der Erde, aus Sinnlichkeiten, die uns hier umgeben, allmhlich gebildet: so ists auch mit den Trieben und Neigungen unsres Herzens; eine andre Welt kennet ihre ußerlichen Hlfsmittel und Hindernisse wahrscheinlich nicht. Aber die letzten Resultate derselben sollte sie nicht kennen? 80 Der Gedanke, dass Sprache zuerst berhrt, bevor sie etwas wiedergibt, wird – in neuen Zusammenhngen – bei Emmanuel Levinas wiederkehren. Vgl. Emmanuel Levinas, „Sprache und Nhe“, in: Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phnomenologie und Sozialphilosophie, bers., hg. u. eingel. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg im Breisgau 1983, S. 260 – 294. 81 Heiko Joosten, Selbst, Substanz und Subjekt. Die ethische und politische Relevanz der personalen Identitt bei Descartes, Herder und Hegel, Wrzburg 2005, sieht dagegen bei Herder eine „Ontologisierung des Mitempfindens“ (S. 115). Seine Ethik wre dann eine „ontologisch pantheistisch begrndete Ethik“ (S. 116).
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Gewiß! alle Radien streben auch hier zum Mittelpunkt des Kreises. Der reine Verstand kann berall nur Verstand sein, von welchen Sinnlichkeiten er auch abgezogen worden; die Energie des Herzens wird berall dieselbe Tchtigkeit d. i. Tugend sein, an welchen Gegenstnden sie sich auch gebet habe. Also ringet wahrscheinlich auch hier die grçßeste Mannigfaltigkeit zur Einheit und die allumfassende Natur wird ein Ziel haben, wo sie die edelste Bestrebungen so vielartiger Geschçpfe vereinige und die Blten aller Welt gleichsam in einen Garten sammle. Was physisch vereinigt ist; warum sollte es nicht auch geistig und moralisch vereinigt sein? da Geist und Moralitt auch Physik sind und denselben Gesetzen, die doch zuletzt alle vom Sonnensystem abhangen, nur in einer hçhern Ordnung dienen. (Ideen, 6.128)
Da die „Energie des Herzens“ aber immer die eines Herzens ist, das mit anderen durch „Teilnehmung“, nicht durch verstandesmßige und allgemeingltige Prinzipien verbunden ist, ist die kosmische Einheit widerum eine perspektivische. In den Briefen zur Befçrderung der Humanitt heißt es dann: „Jeder fhlt die bel der Welt nach seiner eigenen Lage; er hat also die Pflicht auf sich, sich ihrer von dieser Seite anzunehmen, dem Mangelhaften, Schwachen, Gedruckten an dem Teil zu Hlfe zu kommen, da es ihm sein Verstand und sein Herz gebiete.“ (Briefe, 7.130 f.) Der Perspektivismus der Sinnlichkeit und des Herzens schließt aber den Verstand in Erkenntnis und Moral nicht aus, sondern braucht ihn zur Berichtigung und Ordnung. Darauf hatte Herder schon in seiner Akademie-Abhandlung Einfluss der schçnen Wissenschaften von 1779 bestanden: Sinne und Leidenschaften, Phantasie und Neigung kçnnen, in gewissem Verstande, die grçßten Feinde des Guten und der Wahrheit werden. Sind sie berwunden, und zu tchtigen Freunden geordnet, so ist die Sache gemacht: die hçhern Wissenschaften triumphieren auf ihren Schilden. Das ist wahre Weltweisheit, die durchaus den Sinnen nicht nur nicht widerspricht, sondern sie vielmehr berichtigt, ordnet und besttigt. (Einfluss der schçnen Wissenschaften, 4.223)
Hier wird nun aber auch die Rolle der Religion zwiespltig. Sie kann fr die Vernatrlichung des Menschen auch eine hinderliche Rolle spielen. So habe man an den weichen Hindu’s […] einen Mangel an Mitgefhl bemerket, der wahrscheinlich die Folge ihrer Organisation, noch mehr aber ihrer tiefen Ergebenheit ans ewige Schicksal ist; ein Glaube, der den Menschen wie in einen Abgrund wirft und seine ttigen Empfindungen abstumpfet. (Ideen, 6.456)
Bedenklich ist aber auch die christliche Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, nmlich soweit sie die Trennung von Seele und Leib im Sinn des platonischen Dualismus voraussetzt. Herder blieb ihr gegenber immer skeptisch und trat schon frh gegen Moses Mendelssohns Argumente fr die Unsterblichkeit der Seele in seinem Phdon an.82 Er widerspricht ihnen nicht rundweg, was die 82 „Brief an Moses Mendelssohn, Anfang April 1769“, in: Johann Gottfried Herder, Briefe.
1.5. Die moralische und moralkritische Dimension der Vernatrlichung
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„Unzerstçrbarkeit der menschlichen Seele durch den Tod“ betrifft, doch die Idee einer Seele ohne Leib will er nicht akzeptieren. Wenn nach Mendelssohn die „denkende Substanz“ nach dem Tod ohne den Kçrper weiterleben kann, fragt Herder, „wie sie bleiben sollte“, da wir doch „von einer ohne Kçrper bestehenden menschlichen Seele“ nichts wissen.83 Er leugnet nicht wie Hobbes die Denkbarkeit von immateriellen Substanzen berhaupt, sondern vermisst bei einer Seele ohne Leib die fr ihn wesentliche Bedingung ihrer Erfahrbarkeit, die Empfindbarkeit. Die „geistige Vollkommenheit der Seele“ als absolute Befreiung von „sinnlichen Begriffen“ ist uns, wenn all unsere Begriffe aus der sinnlichen Erfahrung entstehen, niemals gegeben. Die Grenzen unserer Sprache sind auch die Grenzen unserer Anthropologie. Man kann den platonischen Dualismus weder beweisen noch widerlegen, weil er jenseits der Bedingungen unserer Erfahrung liegt. Sicher ist fr Herder aber, dass der Dualismus nicht im praktischen Interesse des Menschen ist. Denn auf Erden wre eine entleibte Seele – auch hier ist Herder wieder Nietzsche sehr nah – eine missgebildete Seele: Wenn wir diesen knftigen, vermeinten himmlischen Zustand hier auf der Welt antizipierend vorausnehmen: er ist nicht mehr Vollkommenheit, sondern gerade das Gegentheil. Eine von Sinnlichkeit befreiete Seele ist, was auch die Pythagorer u. Platonicker u. Spaldingianer sagen mçgen, eine Mißbildung; diese Befreyung u. Entkçrperung kann hier nicht Zweck seyn, da sie nicht Glckseligkeit ist. Es ist eine aufs disproportionierteste ausgebildete menschliche Natur, es ist seiner Bestimmung nach ein Monstrum.84
Ein Mensch mit einer vollkommen entsinnlichten Seele wre ein „Unmensch“. Stattdessen ist „in unserer Natur […] gleichsam mehr spezifische Masse von einer Tiernatur als von einem reinen Geist“. Es kommt in ihr nicht auf eine berwindung der Instinkte, Affekte und Leidenschaften an, sondern auf eine harmonische Entwicklung der eigenen „Natur“ und „Krfte“, die jene auf fçrderliche Weise einbindet. Der Wert des irdischen Lebens soll nicht nur nach einem berirdischen und berindividuellen Maßstab bestimmt werden. Wenn Mendelssohn argumentierte, dass „der Tod noch immer meine Pflicht [wird], wenn das Leben vieler damit erkauft wird“, die Gewissheit der Unsterblichkeit also die Selbstopferung erleichtert, so ist das nach Herder eine „politische, nicht menschliche Pflicht“, eine Pflicht, die den Menschen als Glied einer Gemeinschaft angeht, aber nicht sein natrliches Streben nach eigenem Glck. Das praktische Interesse an Begriffen des Menschen geht Herder – wiederum wie Nietzsche – aber vor ihrer mçglichen theoretischen Wahrheit, und die Lehre von Gesamtausgabe, hg. v. Wilhelm Dobbek u. Gnter Arnold, Weimar 1978, Bd. 1, S. 137 – 143 83 „Brief an Moses Mendelssohn“, Anfang April 1769, S. 138. 84 „Brief an Moses Mendelssohn“, Anfang April 1769, S. 138.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
der Unsterblichkeit der Seele fçrdert das harmonische Heranreifen des Individuums nicht: Dies Ziel [die Realisierung der Humanitt] ausschließend jenseit des Grabes setzen, ist dem Menschengeschlecht nicht fçrderlich, sondern schdlich. Dort kann nur wachsen, was hier gepflanzt ist, und einem Menschen sein hiesiges Dasein rauben, um ihn mit einem andern außer unsrer Welt zu belohnen, heißt den Menschen um sein Dasein betrgen. (Briefe, 7.129)
Fassen wir zusammen: Der Versuch zur Vernatrlichung des Menschen geht bei Herder von einem religiçsem Vertrauen in die Vollkommenheit der Natur berhaupt und die Natur des Menschen aus, und sie ist geleitet von der Intuition des moralischen Werts der ,Teilnehmung‘ alles Natrlichen aneinander und des ,Mitgefhls‘ freinander. Das macht ihn misstrauisch gegen alle abstrakten Erklrungen und Begrndungen von Ordnungen der Natur und fhrt ihn stattdessen zu einem Perspektivismus der Sensibilitten fr die Natur. Und dieses Misstrauen lsst ihn schließlich auch, um einer Befreiung des Individuums und seiner Entwicklung nach eigenen Maßstben willen, philosophischtheologische Dogmen wie das der Unsterblichkeit der Seele kritisch beurteilen.
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung Herder und Nietzsche haben mit dem Konzept der Vernatrlichung der Natur und des Menschen eine Methodik verbunden, die philosophisch bis heute wegweisend sein kann. Beide haben sie jedoch nicht eigens dargelegt. Wir versuchen ihre Grundzge herauszuheben. Wie sich in den vorigen Abschnitten gezeigt hat, vermeiden beide jeden Reduktionismus, die Rckfhrung des den Menschen Betreffenden auf letzte ontologische Prinzipien, insbesondere auf an sich gegebene Substanzen. Stattdessen folgen sie, ohne es so zu nennen, dem Prinzip des Funktionalismus – ,Prinzip‘ wiederum nicht als einfacher und letzter Ursprung alles Gegebenen, sondern lediglich als nicht mehr weiter zu begrndender Ausgangspunkt verstanden. Was die Strategien ihres Funktionalismus betrifft, so ragt bei Herder das Prinzip der Analogie, bei Nietzsche das der Genealogie heraus. Wir schließen den ersten Teil mit einem Fazit zu Begriff und Methodik der Vernatrlichung, die sich bei Herder wie bei Nietzsche zwischen einer Naturgeschichte und einer Genealogie der Semantik der Natur bewegt.
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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1.6.1. Das Prinzip des Funktionalismus Funktionalismus gilt allgemein als ein „Forschungsprogramm empirischer Sozialwissenschaften, in dem das Funktionieren von als strukturierte Ganzheiten betrachteten Systemen nicht durch Aggregation isolierter Kausalerklrungen von Teilaspekten, sondern aus der Interdependenz der auf die ermittelten Strukturelemente bezogenen, fr die Bestandserhaltung notwendigen Funktionen erklrt werden soll.“85 Funktionen sind im Sinn Herders und Nietzsches Abhngigkeitsbeziehungen, durch die bloße Verhltnisse zwischen dem, was sich zueinander verhlt, erfasst werden, ohne dass das, was sich zueinander verhlt, schon außerhalb dieser Verhltnisse bestimmt wre. Sie sind Beziehungen zwischen Bezogenem, das seinerseits nicht schon als fest vorausgesetzt wird; das Bezogene wird erst durch seine jeweilige Beziehung bestimmt.86 Bei Herder und Nietzsche darf man im spezifischen Sinn von Funktionalismus sprechen, da sie kulturelle Entitten methodisch als abhngig von natrlichen Prozessen betrachten und daher vermeiden, sie zu substantialisieren. Bei ihnen steht Funktionalismus so im Gegensatz zu jedem Reduktionismus, da fr sie weder die Natur noch die Kultur letzte Erklrungsprinzipien sind. Es geht ihnen um Mensch-Umwelt-Beziehungen, in denen Mensch und Welt wechselseitig voneinander abhngig sind. Diese Abhngigkeitsbeziehungen lassen sich dann unterschiedlich ausbuchstabieren, z. B. biologisch, physiologisch, psychologisch, soziologisch oder ethnologisch.87 85 Herbert R. Ganslandt, „Funktionalismus“, in: Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie, S. 694 – 695. 86 Das entspricht auch dem Gebrauch des Begriffs ,Funktion‘ in den Naturwissenschaften: „Eine physikalische Erscheinung heißt Funktion einer anderen, die ihr entsprechende Meßwerte von denen der anderen ausgehend in Form eines ›physikalischen Gesetzes‹ berechenbar macht.“ (Christian Thiel, „Art. Funktion“, in: Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. Jrgen Mittelstraß, Bd. 1, S. 691 – 692) Fr eine ausfhrliche Betrachtung der Bedeutung von Funktion und Funktionalismus, insbesondere in Bezug auf die Sozialwissenschaften, vgl. auch „Art. Funktion (sozialwissenschaftlich) / Funktionalismus“, in: Hans Jçrg Sandkhler (Hg.), Europische Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Hamburg 1990, S. 205 – 211. 87 So hat der Ethnologe und Anthropologe Bronislaw Malinowski eine funktionalistische Theorie der Kultur auf den bestndigen Austausch von Natur und Kultur begrndet (Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur [1941], bers. v. Fritz Levi, Frankfurt am Main 2006). Der Zoologe Jakob Johann von Uexkll, der Begrnder der Umwelttheorie, schlgt einen „Funktionskreis“ vor, in dem der Mensch nicht als isoliertes Subjekt, sondern in Wechselbeziehungen mit seiner Umwelt existiert (Jakob Johann von Uexkll und Georg Kriszat, Streifzge durch die Umwelten von Tieren und Menschen [1934], Frankfurt am Main 1973, S. 11 ff.). An diese Theorie hat Arnold Gehlen angeschlossen, der wiederum die Bedeutung Herders fr ihre Entstehung betont (vgl. Gehlen, „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“, in: Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, hg. v. Karl Rehberg, Bd. 3.1, Frankfurt am Main 1993, S. 79 – 93). Auch Luhmanns
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1.6.1.1. Herder: Organische Funktionen Herder erschließt die Entstehung und Entwicklung der Kultur und insbesondere der Sprache stets von Lebensbedrfnissen aus, die sich in unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weisen geltend machen kçnnen.88 So ist das Sprechen fr ihn kein apriorisches Vermçgen des Geistes, sondern eine Leistung des Menschen, die ‘seiner Sphre von Bedrfnissen und Arbeiten, der Organisation seiner Sinne, der Richtung seiner Vorstellungen und der Strke seiner Begierden angemessen ist‘ (Abhandlung, 1.714); die ,schleunige[n] Bedrfnisse‘, die die ersten Menschen hatten, kamen, fhrt Herder an anderer Stelle fort, ,durch kurze und heftige Akzente des Geschreies‘ zum Ausdruck, unter dem unmittelbaren Druck des Lebens, der kaum Zeit lassen kann zu atmen: ,der Othem wird sich nicht Zeit nehmen, Lunge und Perioden auszudehnen‘ (Fragmente, 1.610). Insbesondere in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit kann man Herders groß angelegten Entwurf einer Rekonstruktion der Entwicklung der ,Menschheit‘ als Interaktion von natrlichen Krften, Trieben und Bedrfnissen verfolgen. Sein Funktionalismus zeigt sich dort exemplarisch in der Auseinandersetzung mit Hermann Samuel Reimarus’ Allgemeinen Betrachtungen ber die Triebe der Thiere, hauptschlich ber die Kunsttriebe. Zum Erkenntnis des Zusammenhanges der Welt, des Schçpfers und unserer selbst von 1760. Reimarus hatte seiner einflussreichen biologisch angelegten Anthropologie den Begriff des Triebes zugrunde gelegt und damit den Menschen von den Tieren wegen der hçheren Plastizitt des dennoch instinktgebundenen menschlichen Verhaltens unterschieden.89 Problematisch scheint Herder jedoch, dass Triebe nicht weiter erklrt werden kçnnen: Nach gelehrten und Ordnungsvollen Betrachtungen ber die mancherlei Arten der tierischen Triebe, sucht er [Reimarus] dieselbe aus Vorzgen ihres Mechanismus, ihrer Sinne und ihrer innern Empfindung zu erklren; glaubt aber noch, insonderheit bei den Kunsttrieben, besondere determinierte Naturkrfte und natrlich angeborne Fertigkeiten annehmen zu mssen, die weiter keine Erklrung leiden. Ich glaube das letzte nicht; denn die Zusammensetzung der ganzen Maschine mit solchen und keinen andern Krften, Sinnen, Vorstellungen und Empfindungen, kurz die Organisation des Geschçpfs selbst war die gewisseste Richtung, die vollGrundunterscheidung von System und Umwelt ist in diesem Sinn funktionalistisch zu verstehen. Vgl. Ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990. 88 Ulrich Gaier, „Kommentar“, in FHA, 1.1298, kommentiert Herders „funktionale Theorie“ des Geistes so: „Das Bedrfnis bildet sich mit Hilfe der vorhandenen Krfte (z. B. Vorstellungskrfte) im vorgegebenen Lebensraum Triebe, Fhigkeiten und Werkzeuge aus; bestimmte und unbestimmte Sphre unterscheiden dabei Tier und Mensch. Vernderungen der Lebensrume und dadurch der Bedrfnisse aktivieren den Organismus zur Anpassung.“ 89 Fr die Bedeutung Reimarus’ so wie Condillacs und Rousseaus fr Herders Instinkttheorie vgl. Astrid Gesche, Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen, Wrzburg 1993, S. 105 – 126.
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kommenste Determination, die die Natur ihrem Werk eindrcken konnte. (Ideen, 6.100)90
Danach schiene es Herder wiederum reduktionistisch, die „Triebe“ isoliert zu erklren und fr die „Kunsttriebe“ „determinierte Naturkrfte und natrlich angeborne Fertigkeiten“ vorauszusetzen. Er sieht dagegen „die vollkommenste Determination“ in der „Zusammensetzung“, der „Organisation des Geschçpfs“. Die Distanz zu Reimarus scheint marginal, die Anstze scheinen kaum zu differieren. Reimarus operiert mit scheinbar letzten empirischen Gegebenheiten, Herder mit von Gott geschaffenen funktionalen Ordnungen aus interdependenten Gegebenheiten. Nach ihm ist die Natur, als Organisation oder Organismus verstanden, nur in ihrer Ganzheit selbststndig. Triebe sind dann ebenso Ergebnisse wie Anstçße einer Entwicklung und modifizieren sich laufend in ihr. Dieser Funktionalismus Herders ist auch „die implizite Voraussetzung der historischen und kulturgeographischen Differenzierung“,91 seiner Hochschtzung einer Vielfalt von Kulturen. Auf seiner Basis sind Differenzen kein notwendiges bel einer immer unvollkommen bleibenden Menschheit, sondern Zeichen der reichen und harmonischen natrlich-gçttlichen Kreativitt, die Vorbild sowohl fr einzelne Menschen wie fr Vçlker sein kann. Soweit Herder das Harmonische und Gçttliche dieser Kreativitt religiçs unterstellt, wird Nietzsche ihn leicht treffen kçnnen. Fr Herder liegt darin aber weit eher eine moralische Wertschtzung als ein Rekurs auf ein transzendentes Erklrungsprinzip. Zwei Triebe der Natur stellen die Kontinuitt zwischen den niedrigeren Stufen der Pflanzen und Tiere und dem Menschen her, „der Trieb der Nahrung und Fortpflanzung“ (Ideen, 6.101). Herder setzt sie nicht als Entitten, sondern als Prinzipien an, die es erlauben, Phnomene miteinander zu verknpfen. Aber auch sie, die Triebe, sind nicht elementar, sondern lassen sich wiederum aus dem Prinzip des Reizes verstehen: „Das Resultat der Reize wird Trieb“, so wie dann 90 Schon in der Abhandlung zum Ursprung der Sprache hat Herder klar gemacht, dass es ihm in der Auseinandersetzung mit Reimarus hauptschlich darum geht, ein Bild der Natur zu vermeiden, nach der sie mechanisch determiniert und nicht organisiert ist: „Die Erklrung dieser Kunsttriebe [ist] bisher den meisten und noch zuletzt einem grndlichen Philosophen Deutschlands missglcket […], so hat auch die wahre Ursach von der Entbehrung dieser Kunsttriebe in der menschlichen Natur noch nicht ins Licht gesetzt werden kçnnen“ (Abhandlung, 1.711). Gaier, „Kommentar“, in: FHA, 1.1298, hat dazu treffend bemerkt, dass Herder mit der Idee der Sphre der Triebe „nur wieder eine neue Art von Determination“ einfhrt, so aber „die Ablçsung des noch bei Reimarus herrschenden mechanischen Modells durch ein funktionales Modell des „organischen“ (,werkzeuglichen‘) Kçrpers, seiner Triebe, Ttigkeiten und Sprache“ bewerkstelligt. Zur Bedeutung Reimarus’ fr Herder und fr eine przise Interpretation von Reimarus’ Trieblehre vgl. Mario Marino, „Vita dell’animale e antropologia in Reimarus e Herder con un corollario sulla questione dell’essere carente“, in: Gian Franco Frigo (Hg.), Bios e Anthropos. Filosofia, Biologia e Antropologia, Milano 2007, S. 51 – 82. 91 Gaier, „Kommentar“, in: FHA, Bd. 1, S. 1298.
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auch „das Resultat der Empfindungen, Gedanke“ wird. So kann Herder von „ein[em] ewige[n] Fortgang von organischer Schçpfung, der in jedes lebendige Geschçpf gelegt ward“ (Ideen, 6.82), sprechen: Die Triebe leiten auch noch das menschliche Handeln, ohne dass es sich schon auf die ußerung der Triebe beschrnkte. In stndiger Beziehung auf Reize gedacht, hngt es von der Interaktion mit der Umwelt ab und verndert sich darum laufend mit ihr. Der Reiz ist nichts an sich, sondern lediglich eine Abhngigkeitsbeziehung oder funktionale Einheit von Lebewesen und Umwelt. Soweit er beim Menschen sich in Sprache ausdrckt, wird der Druck der sinnlichen Eindrcke geschwcht und die Orientierung damit entlastet, verliert er den von Reimarus postulierten quasi-mechanistischen Charakter. Die deterministische Kette von Ursache und Wirkung wird durch ihre Semiotisierung aufgebrochen, da man Triebe nur als Zeichen des anthropologischen Diskurses erfhrt. Fr Herder gibt es nmlich eine Symbolik, die allen Menschen gemein ist – eine große Schatzkammer, in welcher die Knntnisse aufbewahrt liegen, die dem ganzen Menschengeschlechte gehçren. Der wahre Sprachweise, den ich aber noch nicht kenne, hat zu dieser dunkeln Kammer den Schlssel: er wird sie, wenn er kommt, entsiegeln, Licht in sie bringen, und uns ihre Schtze zeigen – Das wrde die Semiotik sein, die wir jetzt bloß dem Namen nach in den Registern unsrer philosophischen Enzyklopdien finden: eine Entzieferung der menschlichen Seele aus ihrer Sprache. (Fragmente, 1.553)92
Herders strkstes Argument gegen den deterministischen Reduktionismus ist das Klima, das sptestens seit Montesquieus L’esprit des lois als maßgeblicher Anhaltspunkt fr die Abhngigkeit der Kultur von der Umwelt galt.93 Das Klima fhrt, so Herder, schon zu unterschiedlichen Bildungen einer Tierart: Ein europisches Schaf bekam am Vorgebrge der guten Hoffnung einen Schwanz von 19 Pfunden: in Island treibt es bis 5 Hçrner: im Oxfordschen in England wchst es bis zur Grçße eines Esels und in der Trkei ists getigert. So gehen die Verschiedenheiten bei allen Tieren fort und sollte sich der Mensch, der in seinem Muskeln und Nervengebude großenteils auch ein Tier ist, nicht mit den Klimaten verndern? nach der Analogie der Natur wre es ein Wunder, wenn er unverndert bliebe. (Ideen, 6.70)
Das Klima beeinflusst aber auch die sprachliche Dimension der Kultur, wie Herder schon in der Abhandlung ber den Ursprung der Sprache bemerkt: 92 In Bezug auf Herders Semiotik bemerkt Pierre Pnisson, „Semiotik und Philosophie bei Herder“, in: Mueller-Vollmer (Hg.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 292 – 303, S. 302 f., dass es hierbei um eine „endlose Produktion des Sinns, eine Sermose“ und um eine „philosophia non perennis“ geht. 93 Zu Herders Rezeption der franzçsischen Klimatheorie des 18. Jahrhunderts vgl. Gonthier-Louis Fink, „Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europischer Perspektive“, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 156 – 176.
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„Klima, Luft und Wasser, Speise und Trank, werden auf die Sprachwerkzeuge und natrlich auch auf die Sprache einfließen“ (Abhandlung, 1.792). In einer Auseinandersetzung mit Winckelmann im lteren kritischen Wldchen stimmt Herder zu, dass das Klima eine Rolle auch in der sthetik spielt, weist aber wiederum einen klimatologischen Reduktionismus zurck: Das Klima wird hiebei als ein Medium betrchtlich, in dem die bildende Schçnheit wrket, und sich offenbaret, das aber nicht selbst ausschließende Ursache derselben sein mçchte. Daher kçnnen in einerlei Gegend zwei Menschengeschlechter ganz widerwrtig sein in der Bildung, eben weil sie zwei Geschlechter sind, und auch immer unter demselben Klima zwei Geschlechter bleiben: so selbst in Griechenland bekannte Beispiele. Daher, daß ein Geschlecht auch unter verschiednen Himmelsgegenden, unvermischt und in Lebensart ungendert. (lteres kritisches Wldchen, 2.50)
Auch wenn sich beim Menschen sichtlich Kçrper und Kultur in Abhngigkeit von den klimatischen Umstnden verndern, wirken dabei „immer zuviel und zum Teil gegenseitige Krfte neben einander.“ (Ideen, 6.265): „nicht Hitze und Klte ists allein, was aus der Luft auf uns wirket; vielmehr ist sie nach den neuern Bemerkungen ein großes Vorratshaus andrer Krfte, die schdlich und gnstig sich mit uns verbinden.“ (Ideen, 6.266). Das Klima stellt als Umwelteinfluss eine in sich hçchst vielfltige und außerdem nur eine Variable unter anderen dar und kann darum nicht als ein einheitliches Erklrungsprinzip dienen. Die Auswirkungen vieler klimatologischer Effekte auf den Menschen sind zudem ungeklrt; z. B. ist, so Herder, der Einfluss des „elektrischen Feuerstroms“ (Ideen, 6.266) und „der Balsam“ der Luft als „unsre Lebensspeise […] uns ein Geheimnis“. Die Erkenntnis, dass „das Klima ein Chaos von Ursachen [ist], die einander sehr ungleich, also auch langsam und verschiedenartig wirken, bis sie etwa zuletzt in das Innere eindringen“ (Ideen, 6.282), macht es auch zu einem hochkomplexen epistemologischen Problem: „Wie viel mangelnde Vorarbeiten werden wir inne, ehe wir an eine physiologisch-pathologische, geschweige an eine Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskrfte kommen kçnnen“ (Ideen, 6.282). Anthropologie, Geschichts- und Kulturphilosophie kçnnen darum nur von miteinander verwobenen ,Neigungen‘ und ,Dispositionen‘, nicht von isolierbaren Faktoren sprechen: „Das Klima zwinget nicht, sondern es neiget: es gibt die unmerkliche Disposition, die man bei eingewurzelten Vçlkern im ganzen Gemlde der Sitten und Lebensweise zwar bemerken, aber sehr schwer, insonderheit abgetrennt, zeichnen kann“ (Ideen, 6.270). Herders Hauptinteresse liegt darum nicht beim Klima, sondern bei den „lebendigen Krften“, die wiederum das Klima beeinflussen. Aber auch die „lebendige organische Kraft“, um die es Herder geht, ist im Kontext seines Funktionalismus ein bewusst heuristisches Konstrukt:
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Ich weiß nicht, woher sie [die Kraft] gekommen? noch was sie in ihrem Innern sei? aber daß sie da sei, daß sie lebe, daß sie organische Teile sich aus dem Chaos einer homogenen Materie zueigne, das sehe ich, das ist unleugbar. (Vom Erkennen, 1.271) – Ich sage nicht, daß ich hiermit was erklre; ich habe noch keine Philosophie gekannt, die, was Kraft sei, erklre, es rege sich Kraft in Einem oder in zween Wesen. Was Philosophie tut, ist bemerken, unter einander ordnen, erlutern, nachdem sie Kraft, Reiz, Wirkung schon immer voraussetzt. (Vom Erkennen, 1.337)94
1.6.1.2. Nietzsche: Semiotische Funktionen Auch Nietzsche nhert sich den Problemen von Mensch, Sprache und Kultur im beschriebenen Sinn funktionalistisch. Wir geben dafr nur noch wenige Anhaltspunkte aus seinen Werken und Notaten an. Auch nach Nietzsche hngen kulturelle Leistungen und zuletzt auch das Philosophieren selbst von physiologischen Bedrfnissen ab. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Frçhlichen Wissenschaft von 1887 kommt er zu dem Ergebnis: Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedrfnisse unter die Mntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher berhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Mi s s v e r s t n d n i s s d e s L e i b e s gewesen ist. (FW, Vorrede 2).
In Jenseits von Gut und Bçse von 1886 gebraucht er im verçffentlichten Werk zum ersten Mal den Begriff der „organischen Funktionen“ fr „unser gesammtes 94 Hannsjçrg A. Salmony, Die Philosophie des jungen Herder, Zrich 1949, S. 140, betrachtete Herders Begriff der Kraft noch als dunkel, Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, S. 10 ff., hob den vielfltigen Gebrauch des Begriffs bei ihm hervor; vgl. dazu auch Brigitte Leondaris, „Bemerkungen zu Herders ,Kraftdialektik‘“, in: Herder-Kolloquium 1978: Referate und Diskussionsbeitrge, hg. v. Walter Dietze, HansDietrich Dahnke u. a., Weimar 1980, S. 157 – 163. Robert E. Norton, „Herder’s Concept of ,Kraft‘ and the Psychology of Semiotic Functions“, in: Wulf Koepke (Hg.), Johann Gottfried Herder, Academic Disciplines and the Pursuits of Knowledge, Columbia 1996, S. 22 – 31, hat dann gezeigt, dass der Begriff der Kraft bei Herder keineswegs unbestimmt und unklar ist, sondern in seiner Theorie der Gedichte eine einheitliche Bestimmung findet. Ulrike Zeuch, „,Kraft‘ als Inbegriff menschlicher Seelenttigkeit in der Anthropologie der Sptaufklrung (Herder und Moritz)“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 99 – 122, S. 110, hat die przise Funktion des Begriffs in Herders Seelentheorie aufgezeigt. Er sei der Begriff fr „die unbestimmte Fhigkeit der menschlichen Seele, sich Vorstellung zu verschaffen“. Wenn in der Seele aber alles Vorstellung ist, komme „auch die noch als Denken bezeichnete Ttigkeit […] ber die Dimension der beliebig vom Subjekt erzeugten bzw. durch ein wie auch immer geartetes Außen stimulierten Vorstellungen nicht hinaus“ (Ulrike Zeuch, „Herders Begriff der Humanitt: aufgeklrt und aufklrend ber seine Prmissen? Zur Bestimmung des hçchsten Zwecks des Menschen in den Ideen und in der Oratio von Giovanni Pico dela Mirandola“, in: Regine Otto / John H. Zammito (Hg.), Vom Selbstdenken. Aufklrung und Aufklrungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, Heidelberg 2001, S. 111).
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Triebleben“, um fr sie zugleich die Formel des „Willens zur Macht“ einzufhren: organische Funktionen sind wie Willen zur Macht nur in Beziehung aufeinander, nur in Abhngigkeit voneinander bestimmt.95 Nietzsche hat sich die „Eigenschaf ten des Organismus“ in menschlichen Verhltnissen schon in einem langen Notat von 1881 so zurechtgelegt: 1) Selbstregulirung: in der Form von Fu r c h t vor allen fremden Eingriffen, im H a ß gegen den Feind, im Maaßhalten usw. 2) berreichlicher Ersatz: in der Form von H a b s u c h t Aneignungslust Machtgelst 3) Assimilation an sich: in der Form von Loben Tadeln Abhngigmachen Anderer von sich, dazu Verstellung List, Lernen, Gewçhnung, Befehlen Einverleiben von Urtheilen und Erfahrungen 4) Sekretion und Excretion: in der Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich, die ihm n i c h t m e h r ntzen; das berschssige mittheilen Wohlwollen 5) metabolische Kraft: zeitweilig verehren bewundern sich abhngig machen einordnen, auf Ausbung der anderen organischen Eigenschaften fast verzichten, sich zum „Organe“ umbilden, dienen-kçnnen 6) Regeneration: in der Form von Geschlechtstrieb, Lehrtrieb usw. (N 1881, KSA 9, 11[182])
In menschlichen Verhltnissen aber spielt immer die Kommunikation in Zeichen und Sprache mit, die organischen Funktionen bersetzen sich in semiotische Funktionen. Und auch sie lçsen sich nicht von spezifischen Umweltbedingungen, von Kommunikationssituationen und den ihnen zugehçrigen Kommunikationsbedrfnissen. Sie interpretieren diese Bedrfnisse, zugleich aber auch die physiologischen Bedrfnisse, die in ihnen nachwirken.96 Sofern auch die physiologischen Bedrfnisse nur aufgrund von Kommunikationsbedrfnissen erschlossen und dann in ihrem Horizont interpretiert werden, werden sie wie schon fr Herder nur in heuristischen Konstruktionen zugnglich.97 1883/84 notiert Nietzsche: Kurz: gesetzt, es gelnge, das Zweckmßige im Wirken der Natur zu erklren ohne die Annahme eines zweckesetzenden Ich’s: kçnnte zuletzt vielleicht auch u n s e r Zweckesetzen unser Wollen usw. nur eine Z e i c h e n s p r a c h e sein fr etwas Wesentlich-Anderes – nmlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes? Nur der feinste 95 Fr eine pluralistische und antimetaphysische Interpretation des Willens zur Macht vgl. Mller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, in: Ders., ber Werden und Wille zur Macht, Berlin / New York 1999, S. 25 – 95. 96 S. u. 2.2. 97 Vgl. Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin / New York 1992, Kap. V, S. 73 – 92, und Johann Nepomuk Hofmann, Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 28), Berlin / New York 1994, passim.
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Anschein jener natrlichen Zweckmßigkeit des Organischen, aber nichts Verschiedenes davon? (N 1883/84, KSA 10, 24[16])
Im berhmten Aphorismus Nr. 11 von FW ordnet Nietzsche das Bewusstsein im Ganzen in die „Entwicklung des Organischen“ ein: „Die Bewusstheit ist die letzte und spteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkrftigste daran.“ Sie ist nicht die „Einheit des Organismus“, sondern eine „Gefahr des Organismus“, solange sie ihm nicht hinreichend einverleibt und zum Instinkt geworden ist (FW 11). Zuvor hatte sich Nietzsche notiert: „Wir bedeuten uns selber da s, als was wir im hçheren Organismus gelten – allgemeines Gesetz. / Die Empfindungen und die Affekte des Organischen sind alle lngst fertig entwickelt, bevor das Einheits-gefhl des Bewußtseins entsteht.“ (N 1881, 11[316]). Weil aber „das Einheits-gefhl des Bewußtseins“ auch die physiologischen Bedrfnisse anders wahrnehmen lsst und dadurch verndert, ist ein Reduktionismus nach beiden Seiten ausgeschlossen: physiologische Bedrfnisse und Bewusstsein sind Funktionen freinander, sind wechselseitig voneinander abhngig. So bleibt nur die Heuristik vom Nachwirken des Organischen im ,Geist‘: Das, was gemeinhin dem Geiste zugewiesen wird, scheint mir das Wesen des Organischen auszumachen: und in den hçchsten Funktionen des Geistes finde ich nur eine sublime Art der organischen Funktion (Assimilation Auswahl Secretion usw.) / Aber der Gegensatz „organisch“ „unorganisch“ gehçrt ja in die Erscheinungswelt! (N 1884, KSA 11, 25[356])
Nietzsche hat, wie man sieht, die Interpretativitt auch der Vernatrlichung weit strker betont als Herder und vor allem auch das Philosophieren selbst in sie einbezogen. Jedes „menschliche Begreifen“ ist „zuletzt nur ein Auslegen nach uns und unseren Bedrfnissen“ (N 1885, KSA 11, 39[14]). Auch Nietzsches „Bedrfniß […] die Welt zu entmoralisiren“, versteht er selbst noch aus physiologischen Bedrfnissen: „sonst kçnnte man nicht mehr leben“ (N 1883/84, KSA 10, 24[7]). Im Ergebnis ist ebenso nach Herders wie nach Nietzsches Funktionalismus eine Beschreibung der Welt nicht mehr mçglich, die von den physiologischen Funktionen unabhngig wre – da sie sich auch ins Geistige bersetzen und selbst die Rede von physiologischen Funktionen wieder von solchen abhngig ist. Unterscheidungen wie physiologisch und nicht-physiologisch, organisch und unorganisch, natrlich und unnatrlich werden im Zug physiologisch bedingter Interpretationsprozesse gemacht, die zugleich jedoch von ihrer kommunikativen Wirksamkeit abhngig sind. Erst wenn sie Wertsetzungen plausibel machen kçnnen, gelten sie als gltig oder ,wahr‘, bekommen sie die Funktion, als wahr zu gelten.
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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1.6.2. Heuristik des Funktionalismus: Analogie-Bildung Der Begriff der Heuristik gewann seine Bedeutung fr die Philosophie in der Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem bei Alexander Baumgarten und Karl Friedrich Flçgel, die ihn zur Reflexion der Bedeutung des Gebrauchs heuristischer Hypothesen fr die Erweiterung der philosophischen Erkenntnis nutzten.98 Kant gab ihm fr seine Kritik eine systematische Bedeutung. Nach der Kritik der reinen Vernunft sind die Vernunftbegriffe „bloße Ideen und haben freilich keinen Gegenstand in irgend einer Erfahrung, aber bezeichnen darum doch nicht gedichtete und zugleich dabei fr mçglich angenommene Gegenstnde. Sie sind bloß problematisch gedacht (als heuristische Fictionen), regulative Principien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu grnden.“ (KrV A 771 / B 799). Kant ebnete den Weg fr Herder und Nietzsche, den spekulativen Gebrauch der Vernunft durch ihren praktischen zu ersetzen. Von Kants berhmten vier Fragen „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“99 setzen die drei letzteren „heuristische Fiktionen“ voraus und sind nur in praktischer und pragmatischer Hinsicht zu beantworten. Der Heuristik bedient sich nach der Kritik der Urteilskraft auch die Urteilskraft in der Konzeption von Ideen zweckmßigen Verhaltens, nach denen allein die Ordnungen der lebendigen Natur zu erfassen sind. Mit dem entschiedenen bergang zur Heuristik (und, wie sich zeigen wird, vom Begriff zur Metapher) bei Herder und dann bei Nietzsche verndert sich das Selbstverstndnis des Philosophierens. Die philosophische Argumentation verlagert sich – auch schon bei Kant – von der Wahrheit auf das ,Frwahrhalten‘, vom Begrnden von Wahrheiten auf die praktischen Folgen unterschiedlichen Frwahrhaltens. Die philosophische Heuristik geht nicht zum Grund zurck, sondern weiter zum Handeln. Auch dort, wenn sie einen theoretischen Zugewinn gewhrt, setzt sie schon pragmatische Annahmen der Ntzlichkeit des Frwahrhaltens voraus und ordnet auch das Ideal der absoluten Wahrheit noch solchen Annahmen unter.
98 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, Frankfurt an der Oder 1750 – 1758 [ND Hildesheim 1961]; Carl Friedrich Flçgel, Einleitung in die Erfindungskunst, Breslau / Leipzig 1760. Zum Thema vgl. auch H. Schepers, „Art. Heuristik, heuristisch“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie Bd. 3, S. 1115 – 1120, und speziell fr Herder Hans Dietrich Irmscher, „Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 64 – 97, S. 90 – 93. 99 KrV, B 832 f./ A 804 f.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
1.6.2.1. Herder: Analogien am Leitfaden der Natur Herder thematisiert den Begriff der Heuristik vor allem im Kontext einer poetologischen Reflexion ber den Wert der griechischen Mythologie fr die gegenwrtige Dichtung. In der dritten Sammlung von Fragmenten ber die neue deutsche Literatur handelt der II. Teil Von neuern Gebrauch der Mythologie. 100 Um zu veranschaulichen, „wie wir die Mythologie zur Bildung unsrer Erfindungskraft nutzen kçnnen“ (Fragmente, 1.447), nimmt Herder an, dass „ein großer Teil der Mythologie […] Allegorie! personifizierte Natur, oder eingekleidete Weisheit“ ist (Fragmente, 1.449). Nur unter dieser Voraussetzung kçnne man lernen, „die Kunst zu allegorisieren“. Unter diesem pragmatischen Interesse solle man „als poetische Heuristik die Mythologie der Alten studieren, um selbst Erfinder zu werden“, auch wenn man (wie spter Herder selbst) erkennt, dass „die ganze genetische Art der griechischen Kunst […] wir nie erreichen“ werden (Ideen, 6.537).101 Nichtsdestotrotz werden durch die Erhellung der mythischen Tradition neue Spielrume fr poetische Kreativitt gewonnen: Eine Gçtter- und Heldengeschichte in diesem Gesichtspunkt durcharbeitet, – einige der vornehmsten alten Schriftsteller auf diese Weise zergliedert, – das muß poetische Genies bilden, oder nichts in der Welt. […] / Da diese Erfindungskunst aber zwei Krfte voraussetzt, die selten beisammen sind, und oft gegen einander wrken: den Reduktions- und den Fiktionsgeist: die Zergliederung des Philosophen und die Zusammensetzung des Dichters: so sind hier viele Schwierigkeiten, uns gleichsam eine ganz neue Mythologie zu schaffen. (Ideen, 1.449 f.)
Eine neue Mythologie zu erschaffen, ist nicht nur die Aufgabe der Poesie. Schon die Geschichtsphilosophie mit ihren khnen Analogien, ihrer Erzhlung ber den Ursprung der Sprache als einen Ursprung der Menschheitsgeschichte und der kulturellen Tradition sowie einem religiçsen Pathos fr die Menschheit ist eine neue Mythologie. Die Entscheidung fr eine heuristische Methode hat gerade mit den Schwierigkeiten, die in einer Rede ber den Ursprung der menschlichen Erfindungen enthalten sind, zu tun, wie bereits in der zweite Ausgabe der Fragmente zu bemerken ist. Es ist das große nigma der Sprache, das eine solche Form schwacher Rationalitt nahe legt: 100 Vgl. Irmscher, „Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981),, S. 84. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen ber die Neue Mythologie, Frankfurt am Main 1982, S. 123 – 152, S. 131, weist darauf hin, „daß Herders Idee einer historischen Fundierung der Mythologie und der Allegorie sich in der Grammatik der Aufklrung nur widersprchlich artikulieren kann“. 101 Harro Mller-Michaels, „,ich bin Epimetheus‘. Der Mythos der Bildung“, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Wrzburg 1994, S. 167 – 176, S. 170, hat gezeigt, dass dieser Gebrauch der Mythologie an Lessings Verfahren in Von einem besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen erinnert.
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Nicht war sie gleich, was sie ward, und ist. Denn siehe! diesen majesttischen Fluß: er entsprang – aus einer Quelle, die an sich unbekannt geblieben wre, htte sie nicht diesen Sohn geboren. Und die Quelle selbst? das ist schwerer! Aus dem Verborgenen quoll sie hervor: entstand nach und nach: ihren Ursprung hat niemand bemerken wollen, und man hat gnug, zu erklren, wie sie hat entstehen kçnnen. So ists mit den grçßten Dingen, sie waren elende Versuche, wurden Spiele – Handgriffe – Knste – regelmßige Knste – und spt gnug eine Wissenschaft. So auch mit der Sprache. (Fragmente, 1.604)
Im Kontext eines quasi-atomistischen Weltbildes, das vielleicht auf Herders Interesse fr Lucretius zurckzufhren ist, wird der heuristische Weg zur einzigen Mçglichkeit, eine Rede ber den Ursprung zu artikulieren, welche allerdings in einem zu komplexen und nicht linearen System keine plausiblen Anhaltspunkte finden kçnnte: Htten wir eine Geschichte der menschlichen Erfindungen: wie wrden wir Erzeugungen finden, die nach der Kosmogonie des Epikurs, durch ein Zusammentreffen der Atomen entstanden! Reihen von Ursachen wirkten zusammen, gegen und nach einander: Rad griff in Rad: eine Triebfeder gegen die andere: ohne Plan und Regel drngte eins das andere: feurig und schnell vernderten sich die Wrfe: das Ungefhr hatte seine schlechte Lose fast erschçpft, ehe bessere fielen. – Nun entwerfe man nach einer philosophischen Heuristik Plane: wie eine Sache htte entstehen kçnnen? htte entstehen sollen? man wird mit allen Grundstzen a priori ein Tor! Nicht, wie die Sprache entstehen sollte? entstehen konnte? sondern entstanden ist? das ist die Frage! (Fragmente, 1.604)
Instrument der heuristischen Erweiterung der Erkenntnis werden bei Herder Analogien zwischen natrlichen und kulturellen Phnomenen. Ausgehend von seiner generellen Vorstellung eines lebendigen organischen Seins bertrgt er vorwiegend Eigenschaften des lebendigen Organismus auf kulturelle Einheiten. Er verwendet natrliche Metaphern, um die natrliche Bedingtheit der kulturellen Institutionen darzustellen und Elemente der menschlichen Praxis als quasi-natrliche und lebendige Phnomene plausibel zu machen. Analogien kçnnen entweder strukturell oder funktionalistisch konstruiert, d. h. hnlichkeiten in Strukturen von Systemen oder in Funktionen von einzelnen Elementen dargestellt werden.102 Charakteristisch an Herders analogisierender Argumentation ist aber vor allem, dass er eine große „Analogie der Natur“ voraussetzt – Natur stets gedacht als Totalitt der von Gott geschaffenen organischen Prozesse –, sie ist, wenn man so will, das ontologische und religiçse Prinzip der ebenso funktionalistischen wie strukturellen hnlichkeiten, die Herder herstellt. „Nach aller Analogie der Natur“ (Abhandlung, 1.715) geht er schon von Anfang an vor, um seine Hypothesen ber den Ursprung der Sprache zu belegen. Die Gottheit hat nmlich nach ihm „in der ganzen Analogie der 102 Vgl. Christian Thiel, „Art. Analogie“, in: Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. Jrgen Mittelstraß, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 2004, S. 98 – 99.
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Natur“ nicht anders „als durch Natur gehandelt“ (Auch eine Philosophie, 4.48). Dass Gott Schçpfer der Natur ist, schließt nicht aus, dass Naturprozesse auch immanent geregelt sind, ohne dass Gott eingreift. Damit ist nicht gemeint, dass die Gottheit weniger gçttlich wre, wenn sie „so all ergossen, einfçrmig und unsichtbar durch alle ihre Werke wrkt“. Da Herder glaubt, dass „durch die ganze belebte Schçpfung unsrer Erde das Analogon Einer Organisation herrsche“ (Ideen, 6.76), eine „Hauptform“ (Ideen, 7.73) hinter allen Lebensformen stehe, wird es mçglich, dass „ein Exemplar das andre erklre.“ (Ideen, 7.73) So wird auch die Formulierung gesetzlicher Beziehungen mçglich. Man darf dann schließen: „Wo Wirkung in der Natur ist, muß wirkende Kraft sein“ und „wo Reiz sich in Bestrebungen oder gar in Krmpfen zeigt, da muß auch Reiz von innen gefhlt werden“ (Ideen, 6.87 – 88). Und schließlich darf man von den Gesetzen des Organismus aus auch Analogien zum bewussten Ich ziehen. Denn auch hier sind Kraftprozesse am Werk. So ist die charakteristische Leistung der Besonnenheit, die „Aneignung“ von Fremdem durch die Sprache, ebenso unter die organischen Leistungen zu rechnen (Metakritik, 8.388). Und das gilt auch fr alle anderen Krfte: und da diese Funktion alle Naturkrfte haben, solche auch in allen Organen, jede auf ihre Art, unablssig ben; so entdeckt sich hiedurch jene große Homologie der Natur, im Kleinsten und Grçßesten ein allenthalben neu entspringendes Eins in Vielem, das Geschft aller Organisationen. (Metakritik, 8.388)
Selbst Hoffnungen auf Unsterblichkeit der Seele lassen sich fr Herder so begrnden: Wollen wir uns also in dieser wichtigen Frage [der Unsterblichkeit der Seele] nicht mit sßen Worten tuschen: so mssen wir tiefer und weiter her anfangen und auf die gesamte Analogie der Natur merken. Ins innere Reich ihrer Krfte schauen wir nicht; es ist also so vergebens als unnot, innere wesentliche Aufschlsse von ihr, ber welchen Zustand es auch sei, zu begehren. Aber die Wirkungen und Formen ihrer Krfte liegen vor uns; sie also kçnnen wir vergleichen und etwa aus dem Gange der Natur hienieden, aus ihrer gesamten herrschenden hnlichkeit Hoffnungen sammeln. (Ideen, 6.165)
Erkenntnis verliert sich so nicht in leere Abstraktionen, sondern geht stets mit konkreten Vernderungen und, so darf man hoffen, Verbesserungen des Lebens einher, sie bleibt eine anthropologisch orientierte Erkenntnis. In sie sind auch sozio-politische Entwrfe eingeschlossen: Was als Individuum, als Stand, fr sich allein, andern zum Nachteil figurieren wollte, muß der Analogie der Natur zufolge frher oder spter untergehn; nur als ein mitwirkendes, lebendiges Glied im Staate kanns fortdauern. Im großen Gange der Zeit werden ihm seine breiten Ecken notwendig abgerieben, seine leeren Hçhlen gefllt; das Individuum und Geschlecht muß sich zum Ganzen fgen. (Briefe, 7.769)
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Nach Irmscher, der diese Zusammenhnge schon ausfhrlich dargestellt hat, ist fr Herder die Analogie das Instrument „weniger der Erkenntnis selbst, als der Entdeckung neuer Gebiete des Erkennens und der geschichtlichen Selbstverwirklichung des Menschen“.103 Herder folgt damit wohl einer alten Tradition – schon Platon suchte ja durch Analogien die Erkenntnis in Richtung der Transzendenz zu erweitern. Sein Gebrauch der Analogie zielt aber nicht mehr einfach auf theologische Erkenntnis. War bei der Scholastik das Prinzip der analogia entis ein erklrtes Mittel, durch das der Mensch von seiner Erkenntnis der Natur sich zu Gott erheben konnte, will Herder vor allem von der Natur zum Menschen kommen. Den wichtigsten Anstoß fr seine Methodik bekam Herder weder von Platon noch von der Scholastik, sondern von Kant und seiner Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebudes nach newtonischen Grundstzen abgehandelt (1755). Kant seinerseits kritisierte freilich spter Herders Analogie-Denken als dogmatisch. Herder habe den Fehler gemacht, wie Irmscher es formuliert, „die heuristische Idee, die allenfalls zu neuen Erkenntnissen hinfhren kann, mit diesen selbst verwechselt zu haben. Er ist daher in die vorkritische Epoche der philosophischen Reflexion zurckgefallen, und dies – wie man hinzufgen muß – wider sein eigenes besseres Wissen um den vorlufigen Charakter jeder Analogie.“104 Er habe unkritisch geglaubt, weil „erfahrene und interpretierte Wirklichkeit […] eine Einheit bilden“, auch schon „objektiv die Wirklichkeit als eine menschliche zu entdecken“.105 Ob Herder wirklich dachte, es sei mçglich, die Realitt ,objektiv‘ zu erfassen, ist allerdings fraglich. Denn mit seinem anthropomorphischen Verstndnis der Erkenntnis erhebt er gar keinen kantischen Anspruch auf Objektivitt. Und gegen Kant kçnnte man einwenden, dass Herder nur einen grçßeres Vertrauen in den praktischen, d. h. zur Realisierung der Humanitt motivierenden Wert der analogischen Erkenntnis hatte. Bereits der Rekurs selbst auf die Analogie beweist die Komplexitt der Erkenntnis, besonders in der Reflexion ber die Geschichte. Der heuristische Gebrauch der Analogie zwischen Naturprozessen und kulturellen Phnomenen muss so nicht nur darin seinen Wert zeigen, dass neue Ergebnisse ber die Geschichte und der Struktur von kulturellen Phnomenen gewonnen werden, sondern auch in einer Steigerung des Bewusstseins der Komplexitt des Studi103 Irmscher, „Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 65. Vgl. dazu auch Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge 1970, S. 32 f. 104 Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, S. 94. 105 Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, S. 95.
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ums von historischen Phnomenen.106 Selbstverstndlich werden kulturelle Institutionen als pflanzliche Organismen betrachtet, die Wurzeln und Sfte haben und Frchte bringen: „Rom reifte die griechische Blte zur Frucht, und erhob sie durch die Kolonien ihrer Sprache zum Baum, unter dessen Schatten die Nationen die Erde Samenkçrner der Literatur pflanzten.“ (ber den Fleiss, 1.24) Auch evident ist fr Herder, dass wer „auf die Geschichte des Geschmacks wrken will“, „den Baum nicht am Gipfel, oder an der Blte, sondern in der Wurzel“ (Ursachen des gesunknen Geschmack, 4.142) pflegen muss. Gleichzeitig ermçglicht aber dieser Gebrauch der Analogie auch einen Gewinn von neuen Erkenntnissen auf einer Metaebene, d. h. Erkenntnisse ber den erkenntnistheoretischen Status des kulturphilosophischen Diskurses ber den Ursprung. Der Vergleich mit den Pflanzen ist nicht einfach dogmatisch gebraucht als Muster fr die Darstellung der Kulturen in ihrer historischen Entwicklung, sondern reflektiert die Schwierigkeit, ber die Ursprnge einer Kultur oder einer Nation berhaupt zu sprechen. Diese mssen sich, als Keime, in etwas anderes verwandelt haben: Natrlich, daß diese ersten Entwickelungen so simpel, zart und wunderbar waren, wie wir sie in allen Hervorbringungen der Natur sehen. Der Keim fllt in die Erde 106 berhaupt kritisch gegen eine zu große Betonung des Wertes der Analogie fr die Erkenntnis bei Herder ist Walter Dentzels: „Hlt man das mechanistische und das organische Denkmodell gegeneinander, so fllt natrlich sofort ein eklatanter Unterschied auf: Newtons hat ein logisch gesichertes axiomatisches Fundament, eine eindeutige Begrifflichkeit, klar definierte mathematische Deduktionsprozesse und ein experimentell gesichertes Verifikationsverfahren. Aus der richtigen Analyse des jetzigen Zustands lßt sich jeder Vergangene rekonstruieren und jeder zuknftige vorausberechnen, weil die Gesetzte der Mechanik allgemein, d. h. fr alle Zeiten gltig sind. Was hat man aber eigentlich gesagt, wenn man sagt, etwas sei gewachsen, es sei wie ein Organismus gewachsen? Man versuche das auf die herdersche Sprachtheorie, seine Kunsttheorie, seine Geschichtsphilosophie anzuwenden, und man wird zugeben mssen, daß solange nicht konkret bekannt ist, was Wachstum im organischen Bereich ist, eigentlich nicht viel, wenn berhaupt etwas gesagt worden ist. Der Heuristische Wert des Organismusmodells scheint, so gesehen, sehr gering zu sein, wenn er berhaupt existiert.“ (Walter D. Wetzels, „Herders Organismusbegriff und Newtons Allgemeine Mechanik“, in: Gerhard Saudner (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 177 – 185, S. 182). Fr die Bedeutung der organistischen Metaphorik fr die Entwicklung des Naturbilds des Sturm und Drang vgl. Edgar B. Schick, Metaphorical Organicism in Herder’s early Works. A study of the relation of herder’s literary Idiom to his World-view, Mouton 1971: „Herder’s Metaphoric organicism is of central importance to his work both intrinsically und extrinsically. Internally, we shall observe his use of organicistic imagery to provide beauty and force, and even to become virtually a structural principle within a single work or among several essays in his early period. Externally, we shall note how his imagery, which expresses an organic feeling, can, at times, reveal more about his mind ,than‘ the content of his writings alone and disclose his position in Geistesgeschichte as an important forerunner of a new and influential Weltanschaung“ (S. 23).
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und erstirbt: der Embryon wird im Verborgnen gebildet, wie’s kaum die Brille des Philosophen a priori gutheißen wrde, und tritt ganz gebildet hervor: die Geschichte der frhesten Entwicklungen des menschlichen Geschlechts, wie sie uns das ltste Buch beschreibt, mag also so kurz und apokryphisch klingen, daß wir vor dem philosophischen Geist unsers Jahrhunderts, der nichts mehr als Wunderbares und Verborgnes hasset, damit zu erscheinen erblçden: eben deswegen ist sie wahr. (Auch eine Philosophie, 4.11)
Die Analogie scheint damit im historischen Kontext hauptschlich ein performatives Ziel zu verfolgen. Der ganze Diskurs der Geschichtsphilosophie gewinnt durch die Pflanzenmetaphorik an Linearitt und Homogenitt. Die Metaphorik wird systematisch so gebraucht, dass die Rede zu einer breit angelegten Allegorie wird. Die Allegorie ist der Klarheit und Eindeutigkeit der begrifflichen Sprache nher, insofern sie eine schon in Begriffen formulierte Wahrheit voraussetzt, die die Allegorie nur malen soll. Herder kann sich, heißt das, von seinem Gebrauch der Analogie theoretisch distanzieren und damit ihren Erkenntniswert kritisch reflektieren; er folgt nicht einfach einem naiven Dogmatismus. Am Anfang der Schrift Vom Erkennen und Empfinden thematisiert er sogar die subjektiven Bedingungen der Konstruktion von Analogien. Eine unbewusste „Vermenschung“ der Welt charakterisiert den Umgang des Menschen mit der Welt von Anfang an: Je mehr wir indes das große Schauspiel wrkender Krfte in der Natur sinnend ansehn, desto weniger Kçnnen wir umhin, berall hnlichkeit mit uns zu fhlen, alles mit unsrer Empfindung zu beleben. Wir sprechen von Wrksamkeit und Ruhe, von eigner oder empfangener, von bleibender oder sich fortpflanzender, toter oder lebendiger Kraft vçllig aus unsrer Seele. Schwere scheint uns ein Sehnen zum Mittelpunkte, zum Ziel und Ort der Ruhe: Trgheit die kleine Teilruhe auf seinem eignen Mittelpunkte, durch Zusammenhang mit sich selbst: Bewegung ein fremder Trieb, ein mitgeteiltes fortwrkendes Streben, das die Ruhe berwindet, fremder Dinge Ruhe stçret, bis es die Seinige wieder findet. Welche wunderbare Erscheinung ist die Elastizitt? Schon eine art Avtomat, das sich zwar nicht Bewegung geben, aber wieder herstellen kann: der esrte scheinbare Funke zur Ttigkeit in edlen Naturen. Jener griechische Weise, der das System Newtons im Traum ahndete, sprach von Liebe und Haß der Kçrper: der große Magnetismus in der Natur, der anziehet und fortstçßt, ist lange als Seele der Welt betrachtet worden. (Vom Erkennen, 4.329)
Die Analogisierung ist in diesem Sinne schon eine anthropologische Notwendigkeit, bevor sie zu einer methodologischen Entscheidung wird.107 Herder spricht von einem „Trieb in uns, Analogien zu schaffen, mit innerem Vergngen sie anzuerkennen und jedesmal dadurch seine Begriffe zu erweitern, zu ben, zu strken“ (Bild, 4.672). Der Mensch htte ansonsten keinen alternativen Zugang zur Beschreibung der Naturphnomene. Man kann auch vom ursprnglich figurativen und analogischen Charakter der Begriffe absehen, jedoch wird dieser 107 S. u. 2.4.
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auf jeden Fall immer durch Analogien sprechen. Irmscher betont, dass Herder „die Frage nach der Objektivitt einer perspektivisch so eingeschrnkten Erkenntnis mit dem nicht weiter begrndbaren Vertrauen auf Gott [beantwortet], der den Menschen so geschaffen hat und ihn nicht tuschen kann“,108 und zitiert aus demselben Werk Herders: Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schçpfer. Soll ich also dem nicht trauen, der mich in diesen Kreis von Empfindungen und hnlichkeit setzte, mir keinen andern Schlssel, in das Innere der Dinge einzudringen, gab, als mein Geprge oder vielmehr das wiederglnzende Bild seines in meinem Geiste; wem soll ich denn trauen und glauben? (Vom Erkennen, 4.330)
Es scheint jedoch, dass Herder hier nicht prinzipiell meint, dass bei Gott die Objektivitt durch Analogie zum gewonnenen Wissen begrndet werden kann, sondern dass die Notwendigkeit dieser Begrndung leer und dieses Problem damit ein falsches Problem ist. Er geht lediglich davon aus, dass nur der religiçse Glaube den Wert unserer Erkenntnis besttigen kann. Durch den Glauben kçnnten wir auch eine scheinbare Objektivitt des Wissens bekanntmachen, aber unsere menschliche Erkenntnis bleibt an sich unvollkommen. In diesem Sinne liegt die Distanz zu Nietzsche eher in der Tendenz, in Gott den Garanten des Wertes unserer allzumenschlichen Erkenntnis finden zu wollen als in der Erlçsung vom Problem des Perspektivismus. Vor dem von Irmscher zitierten Text bemerkt Herder nmlich: Ist in dieser „Analogie zum Menschen“ auch Wahrheit? Menschliche Wahrheit gewiß, und von einer hçhern habe ich, so lange ich Mensch bin, keine Kunde. Mich kmmert die berirdische Abstraktion sehr wenig, die sich aus allem, was „Kreis unsres Denkens und Empfindens“ heißt, ich weiß nicht auf welchen Thron der Gottheit setzet, da Wortwelten schafft und ber alles Mçgliche und Wrkliche richtet. Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schçpfer. Soll ich also dem nicht trauen, der mich in diesen Kreis von Empfindungen und hnlichkeit setzte, mir keinen andern Schlssel, in das Innere der Dinge einzudringen, gab, als mein Geprge oder vielmehr das wiederglnzende Bild seines in meinem Geiste; wem soll ich denn trauen und glauben? (Vom Erkennen, 4.330)
Vom Standpunkt der Notwendigkeit des Analogisierens scheint eine Neutralisierung der Affekte, die die Philosophie traditionell als Bedingung fr die Erkenntnis der Seele voraussetzt, absurd, da das Material, mit dem die Philosophie operiert, von Anfang ein Produkt des Empfindens ist. Wenn man nicht wie die Philosophie einfach „bemerken, unter einander ordnen, erlutern [will], nachdem sie Kraft, Reiz, Wirkung schon immer voraussetzt“ (Vom Erkennen, 4.337), kann man Kraft, Reiz usw. nur als affektiv charakterisierte Zeichen fr eine 108 Irmscher, „Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 86.
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fließende, an sich nicht erreichbare Einheit betrachten. Wie Nietzsches Vernatrlichung vermeidet auch Herders heuristische Erkenntnis jede naturalistische Reduktion. Herder denkt seine Methode nicht als einheitlichen neutralen Weg, sondern als Kooperation verschiedener Perspektiven. Zur Methode der Analogie gehçrt die Annahme eines bestimmten Menschenbildes: Die Analogie zum Menschen ist die Analogie zu einem sinnlichen Wesen. Auch weil der menschliche Geist durch Analogie seine Produktivitt entfaltet, sollen Analogien zwischen geistigen und physischen Prozessen, nicht aber reine spekulative Begriffe die Dynamiken der Seele besser erfassen: Vor solchem Abgrunde dunkler Empfindungen, Krfte und Reize graut nun unsrer hellen und klaren Philosophie am meisten: sie segnet sich davor, als vor der Hçlle unterster Seelenkrfte und mag lieber auf dem Leibnitzischen Schachbrett mit einigen tauben Wçrtern und Klassifikationen von dunkeln und klaren, deutlichen und verworrenen Ideen, vom Erkennen in und außer sich, mit sich und ohne sich selbst u. dgl. spielen. (Vom Erkennen, 4.340)
Die reine Philosophie kennt nur allgemeine, „taube Wçrter“ (Vom Erkennen, 4.340), durch die sie etwas von der „Vollkommenheit der Mathematik“ gewinnt, die aber fr den „gesunden Kopf“ nichts anderes als „Allgemeinworte“ sind, die nichts zu denken enthalten. Um diese Seelenkrfte zu veranschaulichen, muss sich dagegen die „Psychologie“ mit der „Physiologie“ verbinden: „Meines geringen Erachtens ist keine Psychologie, die nicht in jedem Schritte bestimmte Physiologie sei, mçglich.“ (Vom Erkennen, 4.340) Dies bedeutet aber keine Reduktion des Geistes auf die Physiologie, da sich die Dynamiken der Seele nicht nur auf einem rein naturwissenschaftlichen Weg nachvollziehen lassen: Drei Wege weiß ich nur, die hiezu fhren mçgten. Lebensbeschreibungen: Bemerkungen der rzte und Freunde: Weissagungen der Dichter – sie allein kçnnen uns Stoff zur wahren Seelenlehre schaffen. (Vom Erkennen, 4.340)
Die Seele soll somit durch Analogien beschrieben werden, die durch eine pluriperspektivische Methode gewonnen werden. Erlebnisse aus der Perspektive der ersten Person ergnzen sich mit Bemerkungen aus der Perspektive der dritten – diese sowohl in Form naturwissenschaftlicher und rztlicher Berichte als auch in den Bemerkungen von Freunden, die „eben die Absicht [haben], die jene haben, dazu noch in den Umstnden mehrerer Vertraulichkeit und Handlung.“ Letztlich ist es die eindrucksvolle Reprsentation menschlicher Charaktere durch die literarische Kunst, die ein tieferes Verstndnis des menschlichen Wesens ermçglicht. Dies spricht fr einen Gebrauch von Analogien im Kontext einer hochkomplexen Dynamik des Wissens, den der Rekurs auf die Analogie der Natur wohl theologisch legitimiert, der aber dennoch große Spielrume fr eine pluralistische, nicht reduktionistische Artikulation des Diskurses ber Menschen, Sprache, Kultur und Geschichte bewirkt.
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1.6.2.2. Nietzsche: Analogien am Leitfaden des Leibes Analogien werden auch fr Nietzsche zu entscheidenden Erkenntnismitteln im Kontext einer Auffassung des philosophischen Unternehmens als Verfahren heuristischer Konstrukte.109 Das Wort ,Heuristik‘ wird nur an drei Stellen von Nietzsche genutzt, zuerst nur im Nachlass. 1884 notiert er fr sich die Notwendigkeit einer heuristischen Vorstellung eines berindividuellen Willens als Bedingung eines Philosophierens, das sich auf keinen Glauben mehr sttzen kann: 1 Gr u n d s a t z . Alle bisherigen Werthschtzungen sind aus falschem vermeintlichem Wissen um die Dinge entsprungen: – sie verpflichten nicht mehr, und selbst wenn sie als Gefhl, instinktiv (als Gewissen) arbeiten. / 2 Gr u n d s a t z . Anstatt des Glaubens, der uns nicht mehr mçglich ist, stellen wir einen starken Willen ber uns, der eine vorlufige Reihe von Grundschtzungen festhlt, als heuristisches Princip: um zu sehn, w i e w e i t man damit kommt. Gleich dem Schiffer auf unbekanntem Meere. In Wahrheit war auch all jener „Glauben“ nichts Anderes: nur war ehemals die Z u c h t d e s G e i s t e s zu gering, um unsere g r o ß a r t i g e Vo r s i c h t aushalten zu kçnnen. (N 1884, KSA 11, 25[307])
Im selben Jahr notiert er aus Goethes Nachlass: Archimedes beim Baden ein Grundgesetz der Hydraulik findend / Goethe: „mein ganzes inneres Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine unbekannte geahnete Regel anerkennend, solche i n d e r Au ß e n w e l t z u f i n d e n u n d – i n d i e Au ß e n w e l t e i n z u f h r e n t r a c h t e t . (N 1884, KSA 11, 25[473])
Wenn Goethe sein inneres Leben als heuristischen Leitfaden gebrauchen wollte, um die Natur zu erforschen, musste er, im Sinne Herders, auch eine Produktivitt des Geistes durch Analogie voraussetzen. Auch vom Standpunkt Nietzsches scheint dieser Leitfaden legitim zu sein, da er weiß, dass die Erkenntnis der Natur von einer Bewusstwerdung unseres atavistischen Vermenschlichens begleitet werden muss. In diesem Sinn wird in JGB 15 auch der Sensualismus „als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip“ dargestellt, da unsere Sinnlichkeit fr ihn kein Anfang einer neutralen Widerspiegelung sein kann. Auch bei Nietzsche scheint es mçglich, zwischen einem heuristischen Gebrauch von Analogien und einem Moment der Reflexion ber diese Operation selbst zu unterscheiden, obwohl er diesem epistemologischen Moment keinen 109 „Selten hat ein Denker so khn und gleichzeitig so konsequent, ausgehend von der Prmisse der Wesenseinheit von Einzelmensch und Naturganzem, den ,Zauberstab der Analogie‘ (Novalis) zu handhaben gewußt“. (Jochen Kirchhoff, „Zum Problem der Erkenntnis bei Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 16 – 44, S. 43) Nach ihm rekurriert Nietzsche auf Analogien, da fr ihn der Mensch nur Teil der Natur ist: „Der Philosoph Nietzsche schließt nun; ich bin Teil des Ganzen, Teil der Welt; was ich in mir so lebendig-intensiv beobachte, muß analog auch fr das Werden schlechthin gelten“ (S. 43).
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allzu großen Raum zugesteht, und wenn doch, dann fast nur in nachgelassenen Texten. Es ist jedenfalls klar, dass der Rekurs auf Analogien auch fr ihn in Funktion einer Erweiterung der Erkenntnis steht, da bereits jede „Conjektur“ auf einem „Vergleichen“, d. h. auf einem „Entdecken irgend einer Analogie“ beruht (N 1872/73, KSA 7, 19[75]). Besonders dort, wo das Forschungsfeld einer evidenten Teilnahme des kreativen Subjekts an der Entstehung der kulturellen Instanzen gegeben ist, zeigt sich eine analogische Methode als sehr ntzlich: Fast alle griechischen Gottheiten sind angesammelte, eine Schicht wieder ber der andern, bald verwachsen, bald nothdrftig verkittet. Dies wissenschaftlich auseinanderzuklauben scheint mir kaum mçglich: denn dafr kann es keine gute Methode geben: der elende Schluß der Analogie ist hier schon ein sehr guter Schluß. (N 1875, KSA 8, 5[113])110
Nietzsche scheint damit auch klar zu sein, dass eine einzelne, gute Methode fr die geisteswissenschaftliche Forschung nicht existiert. Der Rekurs auf Analogien, der an sich, sobald man ohne intellektuelle Redlichkeit naiv Analogien konstruiert und die Notwendigkeit der Entmenschung vergisst, „elend“ ist, wird jedoch „gut“, wenn das Objekt der Erkenntnis, wie im Falle des Ursprungs der Mythologie, nicht empirisch erforscht werden kann. In diesem Sinne ist die Methode der Analogie eine außermethodische Methode, d. h. eine Methode, die keine unpersçnliche und neutrale Prozedur darstellt. Dieselbe spontane Tendenz zur Analogie, die Herder im Menschen bereits erkannte, gilt auch fr Nietzsche, der in PHG bemerkt, dass „der Mensch sich das Dasein andrer Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine unlogische bertragung, vorstellt“ (PHG 11, KSA 1, S. 847). Whrend Herder noch in der Struktur der Schçpfung die Bedingung der Mçglichkeit des Entdeckens durch Analogie finden kann, ist Nietzsche sich darber definitiv im Klaren, dass Analogien konstruiert, nicht einfach gezeigt oder gefunden werden kçnnen. Die Geschichtsschreibung beweist dies deutlich. In Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben sind bereits Analogien der Produkte eine Strategie der monumentalen Geschichte, die gerade „durch Analogien [tuscht]“ (UB II, 2, KSA 1, S. 262). Die „Historische Erklrung“ berhaupt wird auch spter als eine „Reduktion auf ein uns gewohntes Aufeinander: durch Analogie“ (N 1885, KSA 11, 34[55]) anerkannt. 110 Volker Gerhardt, „Die Perspektive des Perspektivismus“, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 260 – 281, hat einleuchtend bemerkt, dass sich Nietzsche bewusst ist, dass ein „Analogieschluß“, „mit dem der Mensch von sich auf nicht menschliche Wesen schließt“, auf der Basis seiner Aussage steht, jeder Wille zur Macht habe seine eigene Perspektive. „Ja, es gehçrt zu den logischen Voraussetzungen des Perspektivismus, soll er die „Spezifizitt“ eines jeden Wesens zum Ausdruck bringen, daß er strenggenommen nur fr das Wesen gelten kann, das mit dem Begriff der „Perspektive“ einen Sinn verbindet. Dieses Wesen ist der Mensch.“ (S. 279)
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Die Analogie zwischen Mensch und Natur kann deswegen absichtlich konstruiert werden, indem bestimmte Charaktere des menschlichen Daseins auf die Natur projiziert werden, um bestimmte Rckwirkungen auf das Selbstverstndnis des Menschen und seiner damit verbundenen Selbstgestaltung zu haben: „Die Natur muß nach Analogie des Menschen vorgestellt werden, als irrend, versuchend, gut und bçse – als kmpfend und sich berwindend. (N 1883, KSA 10, 16[1]) Die Konstruktion des Begriffs ,Wille zur Macht‘ selbst braucht noch einen solchen Gebrauch der Analogie: man muß alle Bewegungen, alle „Erscheinungen“, alle „Gesetze“ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen. Am Thier ist es mçglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle. (N 1885, KSA 11, 36[31])
Die „historische-Methodik“ (GM II 13, S. 316), die Nietzsche zu einem „Haupt-Gesichtspunkt“ in Zur Genealogie der Moral erhebt, braucht ebenfalls die Analogie. Unter der Perspektive des Willens zur Macht wird eine allgemeine Interpretation der sozialen Handlungen angeboten und danach, „per analogiam“ (GM II 13, S. 316), diese Interpretation beim Sonderfall ,Strafe‘ angewendet. Selbst wenn bei Nietzsche Analogien zwischen menschlichen und nicht menschlichen Lebensprozessen nicht so oft wie bei Herder gebraucht werden, spielen diese dennoch eine wichtige Rolle. Die Analogien zu Pflanzen und insbesondere zum Baum benutzt er z. B., um komplexe geistige Prozesse des Menschen darzustellen. Die Wirkung der antiquarischen Historie etwa wird so beschrieben: Der Baum fhlt seine Wurzeln mehr als dass er sie sehen kçnnte: dies Gefhl aber misst ihre Grçsse nach der Grçsse und Kraft seiner sichtbaren Aeste. Mag der Baum schon darin irren: wie wird er erst ber den ganzen Wald um sich herum im Irrthum sein. (UB II 3, KSA 1.267)
In Also sprach Zarathustra wird noch der Baum genutzt, um die Dynamik der Selbsterhçhung des Menschen allegorisch anzunhern. So wird auch spter „das souveraine Individuum“ zur Frucht eines Baumes, d. h. zum Produkt seiner „Societt und ihre[r] Sittlichkeit der Sitte“ (GM II 2). Auch Tiere prgen den symbolischen Horizont Nietzsches und veranschaulichen wichtige Momente seines Denkens. Also sprach Zarathustra macht bekannterweise stndig von tierischen Symbolen Gebrauch, d. h. von abgekrzten Analogien zwischen Tieren und Menschen bzw. zwischen Tieren und Begriffen. Damit ergibt sich aber der Gebrauch der Analogie viel weniger mit vorausgesetzten strukturellen hnlichkeiten zwischen den zwei verglichenen Termini verbunden als bei Herder. Die Analogien sind oft ungewçhnlich, so dass die Produktivitt einer philosophischen Schule auch jener einer Spinne gleichen kann:
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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Dr e i D e n k e r g l e i c h e i n e r Sp i n n e . – In jeder philosophischen Secte folgen drei Denker in diesem Verhltnisse auf einander: der Erste erzeugt aus sich den Saft und Samen, der Zweite zieht ihn zu Fden aus und spinnt ein knstliches Netz, der Dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen – und sucht von der Philosophie zu leben. (MA II, VM 194)
An diesem Beispiel wird klar, wie die Analogie bei Nietzsche nicht einfach eine Erweiterung der Erkenntnis sucht, sondern auch eine kritische Anwendung. Hier wird tatschlich die Selbstinszenierung der Philosophie als reine theoretische Praxis in Frage gestellt und ihre Abhngigkeit vom Leben betont, indem die Verhltnisse zwischen den unterschiedlichen Generationen einer philosophischen Schule durch eine quasi biologische Geworfenheit mehr als durch eine rein intellektuelle Auseinandersetzung des Schlers mit dem Meister charakterisiert werden. Bei der Parallelisierung geistiger und leiblicher Prozesse findet aber der Gebrauch der Analogie eine quasi-systematische Anwendung und erinnert eher an Herders Methodik. Nietzsches Analogisieren ist aber noch einmal komplexer und dynamischer, indem er sich nicht einfach darauf beschrnkt, einen Parallelismus zwischen beiden Dimensionen aufzubauen, sondern eine als Symptom der anderen betrachtet: Es lßt sich eine vollkommene Analogie fhren zwischen dem Vereinfachen u n d Zusammendrngen zahlloser Erfahrungen auf General-Stze u n d dem Werden der Samenzelle, welche die ganze Vergangenheit verkrzt in sich trgt: und ebenso zwischen dem knstlerischen Herausbilden aus zeugenden Grundgedanken bis zum „System“ u n d dem Werden des Organismus als einem Aus- und Fortdenken, als einer R c k e r i n n e r u n g des ganzen vorherigen Lebens, der Rck-Vergegenwrtigung, Verleiblichung. / Kurz: das s i c h t b a r e organische Leben und das u n s i c h t b a r e schçpferische seelische Walten und Denken enthalten einen Parallelismus: am „Kunstwerk“ kann man diese zwei Seiten am deutlichsten als Parallel demonstriren. – In wiefern Denken, Schließen und alles Logische als Au ß e n s e i t e angesehen werden kann: als Symptom viel innerlicheren und grndlicheren Geschehens? (N 1885/86, KSA 12, 2[146])
Die Sperrungen des Wortes ,und‘ in der zweiten und vierten Zeile dieses Zitates sind bedeutend. Sie heben die besondere Natur des Parallelismus hervor: Es geht nicht um ein Projekt der Reduktion des Geistes auf den Leib, sondern um den Versuch einer Veranschaulichung geistiger Prozesse auf Basis ihrer Analogien mit denjenigen des Leibes. Die Analogie wird plausibel, nicht einfach weil Leib und Geist als dasselbe dargestellt werden, sondern aus dem Grunde, dass ersterer als Symptom des zweiten verstanden wird. Symptom bedeutet erneut nicht einfaches Verhltnis direkter Abhngigkeit, weil die Registrierung der Symptome der Anfang eines Prozesses der Rckwirkung des Geistes auf den Leib ist. Damit ist eine Wechselwirkung angedeutet, die die Rolle der Analogie noch komplexer macht. Die Analogie wird auf eine oszillierende Weise produktiv, indem beide Termini des Vergleichs allmhlich und gegenseitig inter-
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pretiert werden. Anders als bei Herder ist also nicht nur die menschliche, geistige oder soziale Dimension durch die Analogie mit den organischen Prozessen besser verstndlich, sondern auch umgekehrt. So wird es auch plausibel, die Erkenntnis biologischer Organismen durch einen Vergleich mit sozio-politischen Entitten zu erweitern: Die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen (Vçlker Staaten Gesellschaften), mssen zur Belehrung ber die ersten Organismen benutzt werden. Das Ich-bewußtsein ist das letzte, was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungirt, f a s t etwas berflssiges: das Bewußtsein der E i n h e i t , jedenfalls etwas hçchst Unvollkommenes und Oft-Fehlgreifendes im Vergleich zu der wirklich eingeborenen einverleibten arbeitenden Einheit aller Funktionen. Unbewußt ist die große Hauptthtigkeit. (N 1881, KSA 9, 11[316])
Auch impliziert der Gebrauch physiologischer Termini wie „Selbstregulirung“, „Assimilation“, „Sekretion“ und „Excretion“ sowie „metabolische Kraft“ und „Regeneration“ (N 1881, KSA 9, 11[182]) keine zu engen Analogien oder gar eine schlichte Identifikation von Organischem und Geist, Geschichte oder Kultur. Noch weniger kann man das innere Leben eines Individuums an einem materiellen Substrat identifizieren: „Nun wrde man irren, diese organischen Eigenschaften zuerst bei dem Menschen vorauszusetzen: vielmehr bekommt er diese alle zuletzt, als freigewordener Mensch.“ (N 1881, KSA 9, 11[182]) Organische Eigenschaften sind nicht rein biologische Eigenschaften, sondern immer auch vom Einfluss der Gesellschaft geprgt, eine zweite Natur. Der Mensch begann „als Theil eines Ganzen, welches seine organischen Eigenschaften hatte und den Einzelnen zu seinem Organe machte“, (N 1881, KSA 9, 11[182]) seine Affekte waren zunchst die der Gesellschaft selbst. Er ist so noch nicht „Organismus“, sondern zunchst nur „Organ“: Er verwandelt sich zum Organ im Dienste seiner Gesellschaft durchaus und macht von allen Eigenschaften nur den dadurch e i n g e s c h r n k t e n Gebrauch: r i c h t i g e r : er h a t jene anderen Eigenschaften noch nicht und erwirbt sie erst als Organ des Gemeinwesens: a l s O r g a n b e k o m m t e r d i e e r s t e n Re g u n g e n d e r s m m t l i c h e n E i g e n s c h a f t e n d e s O r g a n i s c h e n . (N 1881, KSA 9, 11[182])
Affekte, Triebe, aber auch Organismen und Individuen werden in der Erkenntnis isoliert, dennoch stehen sie weiterhin in funktionalen Abhngigkeiten zu einem Ganzen, das jedoch, wenn es seinerseits erkannt wird, unvermeidlich wieder isoliert wird. Weil Affekte und Triebe auch beim Menschen immer interagieren, sind sie nie als etwas „Ursprngliches“ zu unterscheiden, sie haben „keinen ,Naturzustand‘“. Sie werden im Kontext „gelernt“, d. h. „einverleibt“ (N 1881, KSA 9, 11[182]).111 Das gilt auch fr den Kontext der Gesellschaft. Man
111 Dass Nietzsche Gebrauch von ,Trieben‘ und ,Instinkten‘ nicht biologistisch bzw. physikalistisch ist, beweist berzeugend Abel, Nietzsche. Nietzsche. Die Dynamik, der Wille
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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wird erst Individuum, wenn „das Band der Gesellschaft zerfllt“, da Triebe und Instinkte, die zuvor gesellschaftliche Funktionen hatten, jetzt freigesetzt werden und in Kampf miteinander geraten. Wenn aber Affekte und Triebe in Konflikt miteinander geraten, ist der bisherige Platz in der Gesellschaft nicht mehr selbstverstndlich, es wird eine neue innere Strukturierung bzw. Selbstgestaltung gesucht. Der Mensch muß in sich die Nachwirkungen des gesellschaftlichen Organismus ausleiden, er muß das Unzweckmßige von Existenzbedingungen Urtheilen und Erfahrungen, die f r e i n G a n z e s paßten, abbßen und endlich kommt er dahin, seine Existenzmçglichkeit als Individuum durch Ne u ordnung und Assimilation Excretion der Triebe in sich zu schaffen. Meistens gehen diese Ve r s u c h s - In d i v i d u e n zu Grunde. Die Zeiten, wo sie entstehen, sind die der Entsittlichung, der sogenannten Corruption d. h. alle Triebe wollen sich jetzt persçnlich versuchen und nicht bis dahin jenem persçnlichen Nutzen a n g e p a ß t zerstçren sie das Individuum durch bermaaß. (N 1881, KSA 9, 11[182])
Individuum und Gesellschaft lassen sich als organische Phnomene interpretieren, als solche stehen sie in wechselseitiger Abhngigkeit. Der heuristische Charakter der Analogie mit dem organischen Leben verhindert, den Gegensatz von freien Individuen und Herdentieren als etwas rein Biologisches misszuverstehen. In der Gesellschaft als organischem Lebewesen sind die Individuen in ihrer Art nicht festgelegt, sondern verwandeln sich stndig. Interindividuelle Differenzen sind nichts Absolutes, sondern das Produkt eines dauernden Prozesses, in dessen Verlauf immer neue Identitten festgestellt werden. Auch ein Individuum, das nach Freiheit strebt, kçnnte zuvor ein Herdentier gewesen sein: Unvermeidlich berwiegen bei einem, der frei werden will, die Funktionen an Kraft, mit denen er (oder seine Vorfahren) der Gesellschaft gedient haben: diese hervorragenden Funktionen lenken und fçrdern oder beschrnken die brigen – aber a l l e hat er nçthig, um als Organism selber zu l e b e n , es sind L e b e n s b e d i n g u n g e n ! / Aber wir sind lange Mi ß g e s t a l t e n , und dem entspricht das viel g r ç ß e r e Mi ß b e h a g e n der frei werdenden Individuen – im Vergleich zur lteren abhngigen Stufe und das massenhafte Zugrundegehen. (N 1881, KSA 9, 11[182])
Die Analogie ist so lange hilfreich, wie sie den Parallelismus von Organismus und Geist als fließenden beibehlt, diese also nicht als getrennte Instanzen betrachtet. Das Risiko der Verdinglichung und sogar der metaphysischen Reduktion des Seins zum organischen Prozess besteht immer. Gerade dieselbe funktionalistische Art des Denkens, die auch Nietzsche verwendet, kann hier nach Nietzsche zu einer falschen Verwendung der Metaphorik des Organismus fhren: Aus dem Geiste der Funktion heraus denken jetzt die Philosophen darber nach, die Menschheit in Einen Organism zu verwandeln – es ist der Gegensatz m e i n e r zur Macht und die ewige Wiederkehr (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 15), Berlin / New York 1984, S. 55 f.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Tendenz. Sondern m ç g l i c h s t v i e l e w e c h s e l n d e v e r s c h i e d e n a r t i g e Organismen, die zu ihrer Re i f e u n d F u l n i ß gekommen ihre Frucht fallen lassen; die Individuen, von denen zwar die meisten zu Grunde gehen, aber auf die Wenigen kommt es an. (N 1881, KSA 9, 11[222])
Die Metaphorik des Organismus hat, als Produkt der Sprache, hier ihre Grenze: Als einheitlicher Organismus widerspricht die Menschheit der Besonderheit jedes einzelnen Menschen und kann damit kein kulturelles, politisches oder ethisches Ideal fr Nietzsche werden. Auch besteht die Gefahr, die Termini des Vergleichs zu hypostasieren, da Sprache und Grammatik schon zur Verdinglichung fhren. Die Physiologie kann ebenso wenig ursprnglicher, nicht weiter interpretierbarer Pol der Analogie sein, wenn man einen metaphysischen Naturalismus vermeiden will. Die physiologischen Analogien sind stattdessen Teil eines semiotischen Prozesses, in dessen Verlauf auch das Physiologische pragmatisch definiert wird. Die traditionellen Antithesen des philosophischen Diskurses verlieren angesichts von Nietzsches Sensualismus ihre Bedeutung: Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf halten, dass die Sinnesorgane n i c h t Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie: als solche kçnnten sie ja keine Ursachen sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip. – Wie? und Andere sagen gar, die Aussenwelt wre das Werk unsrer Organe? Aber dann wre ja unser Leib, als ein Stck dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber dann wren ja unsre Organe selbst – das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie mir scheint, eine grndliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der Begriff causa sui etwas grndlich Absurdes ist. Folglich ist die Aussenwelt nicht das Werk unsrer Organe —? (JGB 15)
Nietzsche reflektiert vor diesem Hintergrund im Nachlass den Leib als Leitfaden der Erkenntnis des Menschen; man kçnnte fast von einem esoterischen Gebrauch der Formel „am Leitfaden des Leibes“ sprechen. Wahrscheinlich wollte er damit materialistische oder sensualistische Missverstndnisse seines Philosophierens verhindern. Der Leib ist fr ihn ein semiotisches, interpretatives Konstrukt, keine biologische Gegebenheit. Auch ist er nicht dualistisch vom Geist getrennt, ist kein Gegenstand einer rein empirischen Beobachtung. Der Vorrang des Leitfadens des Leibes wird auch hinsichtlich der Selbstspiegelung des Geistes als regulative Hypothese bei der Untersuchung der Plausibilitt anderer Werte interpretiert: Wenn ich an meine philosophische Genealogie denke, so fhle ich mich im Zusammenhang mit der antiteleologischen, d. h. spinozistischen Bewegung unserer Zeit, doch mit dem Unterschied, daß ich auch „den Zweck“ und „den Willen“ i n u n s fr eine Tuschung halte; ebenso mit der mechanistischen Bewegung (Zurckfhrung aller moralischen und aesthetischen Fragen auf physiologische, aller physiologischen auf chemische, aller chemischen auf mechanische) doch mit dem Unterschied, daß ich nicht an „Materie“ glaube und Boscovich fr einen der großen Wendepunkte halte, wie Copernicus; daß ich alles Ausgehen von der Selbstbespiegelung des Geistes fr unfruchtbar halte und ohne den Leitfaden des Leibes an
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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keine gute Forschung glaube. Nicht eine Philosophie als Do g m a , sondern als vorlufige Regulative der Fo r s c h u n g . (N 1884, KSA 11, 26[432])
Nicht zufllig schreibt Nietzsche hier Boscovich mehr als Kant eine kopernikanische Wende zu. Die Entscheidung, einer solchen Heuristik wie dem Leitfaden des Leibes zu folgen, kann nicht weiter begrndet werden, sondern folgt nach Nietzsches Begriff einem Glauben. Dieses Ausbleiben einer letzten Begrndung, diese Entscheidung fr den Glauben bleibt nicht folgenlos fr die Art der Erkenntnisse, die man damit gewinnen kann. Der provisorische Glaube muss sich anhand von plausiblen Ergebnissen erst beweisen lassen. Wohl ist er „besser festgestellt als der Glaube an den Geist“, er verweist auch auf „das viel reichere Phnomen, welches deutlichere Beobachtung zulsst“ (N 1885, KSA 11, 40[15]). Dennoch ist auch er ein Glaube. Leib und Geist sind als Gegenstnde der Erkenntnis niemals als Dinge an sich erfassbar. Ausschlaggebend scheint fr Nietzsche zu sein, dass aufgrund des Erlebnisses des eigenen Leibes an dessen Existenz weniger Zweifel aufkommen als an der Existenz des Geistes als eines substantiellen Vermçgens des Menschen. Nietzsche stellt Leib und Geist bewusst als Konstrukte heraus, um idealistische Tendenzen in der philosophischen Tradition zu kritisieren. Er geht so weit, zu fragen, ob die „Philosophie bisher berhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverstndniss des Leibes gewesen ist“ (FW, Vorrede 2). Danach kann der Leib auf vielerlei Weisen ausgelegt werden, und die Seele ist nur eine dieser Auslegungen – die ber Jahrtausende hinweg, wie nun auf dem Stand der empirischen Wissenschaften erkennbar, zu Missverstndnissen gefhrt hat. So stellt die Ausrichtung des Philosophierens am Leitfaden des Leibes eine Alternative zur Seelenmetaphysik dar, eine bewusste Entscheidung fr eine Heuristik, die sich ihrer Grenzen bewusst bleibt: Der Glaube an den L e i b ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus den Aporien der unwissenschaftlichen Betrachtung des Leibes (N 1885/86, KSA 12, 2[102]).
Auch deshalb ist der Leitfaden des Leibes vorzuziehen, weil er ein strkeres philosophisches thaumazein hervorruft. Das Ziel der Vernatrlichung scheint somit auch zu sein, die Beweglichkeit des Denkens anhand der Irritation des Leibes zu steigern, whrend die Seele wie jede metaphysische Verdinglichung eine Beruhigung des Denkens mit sich bringt. Der Leib lsst mehr staunen als die Seele: Wir halten es fr eine Voreiligkeit, daß gerade das menschliche Bewußtsein so lange als die hçchste Stufe der organischen Entwickelung und als das Erstaunlichste aller irdischen Dinge, ja gleichsam als deren Blte und Ziel angesehen wurde. Das Erstaunlichere ist vielmehr der Leib: man kann es nicht zu Ende bewundern, wie der menschliche Leib mçglich geworden ist: wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhngig und unterthnig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eignem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
und eine Zeit lang bestehen kann —: und dies geschieht ersichtlich n i c h t durch das Bewußtsein! (N 1885 KSA 11, 37[4]) Gesetzt, daß „die Seele“ ein anziehender und geheimnißvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben – vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnißvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nchste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, ber den hinweg und hinaus ein ungeheurer unhçrbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte „Seele“. (N 1885, KSA 11, 36[35])
Aus diesem neuen Erstaunen entsteht der Anstoß zu einer philosophischen Umgestaltung des Menschenbildes. Statt Einheit und fester Identitt, die der Seele des Menschen zugeschrieben wurde, wirken nun Wettbewerb, Kampf und Selektion als anthropologische Grundfaktoren. In einem etwas frheren Notat heißt es: Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kmpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkrlich auch das Ganze bejahen./ Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in hçherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg./ Die Gesammtheit des Menschen hat alle jene Eigenschaften des Organischen, die uns zum Theil unbewußt bleiben ‹zum Theil› in der Gestalt von Tr i e b e n bewußt werden. (N 1884, KSA 11, 27[27])
Wenn der Leib seinerseits als einheitlicher und harmonischer Organismus aufgefasst wird, kann auch der Leitfaden des Leibes irrefhren. Dennoch, solange man ihn als nicht reduzierbare Vielfalt versteht, bleibt er ein komplexerer Ausgangspunkt der Erkenntnis als das Bewusstsein: Wenn unser „Ich“ uns das einzige Se i n ist, nach dem wir Alles s e i n machen oder verstehen: sehr gut! dann ist der Zweifel sehr am Platze ob hier nicht eine perspektivische I l l u s i o n vorliegt – die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure V i e l f a c h h e i t ; es ist methodisch erlaubt, das besser studirbare r e i c h e r e Phnomen zum Leitfaden fr das Verstndniß des rmeren zu benutzen. (N 1885/ 86, KSA 12, 2[91])
Man kann sich von Fall zu Fall entscheiden, etwas als Einheit oder Vielheit zu sehen. Die Einheit gilt auch als das Einfache, die Vielheit als das schwer zu bersehende. Im Fall des Leibes zeigt Nietzsche jedoch etwa anderes: Er ist auch in seiner Vielfalt deutlicher, als es die vermeintliche Einheit der Seele, des Bewusstseins, des Ich, die immer nur Abstraktionen sind, jemals sein kann. Der Leib erscheint auch in seiner Einheit als etwas Hochkomplexes: Alles, was als „Einheit“ ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complizirt: wir haben immer nur einen A n s c h e i n v o n E i n h e i t . / Das Phnomen des L e i b e s ist
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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das reichere, deutlichere, faßbarere Phnomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen ber seine letzte Bedeutung. (N 1886/87, KSA 12, 5[56])
Am Leitfaden des Leibes erçffnet sich – wenn nicht nur auf seine Einheit geachtet wird, sondern zugleich auf die funktionalen Abhngigkeiten zwischen ihm und der Umwelt, zwischen ihm und dem Bewusstsein und damit auf die Vielfalt seiner Perspektiven – der Spielraum fr die Entmenschung der Natur und fr die Vernatrlichung des Menschen, die Nietzsche sich zur Aufgabe gemacht hat. Die Vernatrlichung am Leitfaden eines vielfltigen und immer „unsglich anders complicirt[en]“ Leibes (N 1885, KSA 11, 34[249]) wirkt so der spontanen Neigung der Erkenntnis entgegen, Fremdes auf Bekanntes zurckzufhren. Die ganze Philosophie wird, so Nietzsche, durch eine verborgene Urangst vor dem Fremden bedrngt: Und wir Philosophen […] – wie? ist unser Bedrfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedrfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewçhnlichen, Fragwrdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der In s t i n k t d e r Fu r c h t sein, der uns erkennen heisst? (FW 355)
In dieser Disposition beruhigt sich die Erkenntnis beim volkstmlichen „Was bekannt ist, ist erkannt“, sie fragt also nicht weiter, und „auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als das Fremde“. So erklrt sich auch, warum nicht am Leitfaden des Leibes, sondern an dem des Ich philosophiert wurde: weil die innere als „die uns bekanntere Welt“ galt (FW 355). Man folgte darin der Perspektive der „kleinen Vernunft“, fr die die „große Vernunft des Leibes“ (Za I, 4 Von den Verchtern des Leibes) ein Abgrund blieb, in dem sie zu versinken drohte. Nietzsche dagegen entschließt sich zu einer Erkenntnisperspektive, die die Rolle der Sinne betont. Dazu bedarf es dann aber auch einer Strkung der Sinnlichkeit und dazu wiederum einer neuen, reicheren Gesundheit: „Aller philosophische Idealismus war bisher Etwas wie Krankheit“, wo er nicht, wie im Falle Plato’s, die Vorsicht einer berreichen und gefhrlichen Gesundheit, die Furcht vor b e r m c h t i g e n Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. – Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato’s Idealismus n ç t h i g z u h a b e n ? Und wir frchten die Sinne nicht, weil – — (FW 372)
Hier wre zu ergnzen: Weil unsere Sinne schon so schwach geworden sind, dass sie bei der Erkenntnis schon gar nicht mehr stçren. Nietzsches Streben nach einem Philosophieren am Leitfaden des Leibes ist dann zwar schon das Symptom einer neuen Gesundheit, aber eben ein Symptom. Die Vernatrlichung verlangt darum Philosophen, die gesnder sind als die neuen Idealisten und selbst noch als Platon. Sie bedrfen „einer neuen Gesundheit, einer strkeren gewitzteren zheren verwegneren lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren“ (FW 382).
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
Die Philosophen, die sich fr den Leitfaden des Leibes entscheiden, mssen dazu fhig sein, ihren Rekurs auf den Leib nicht wieder zu metaphysisieren. Dies geschieht durch eine Ironisierung der eigenen Methodik, nach der die Analogie mit dem Leib genealogisch verstanden wird. Bei der Rede vom Leitfaden des Leibes drohen immer Hypostasierungen. In einem langen Notat, das vor JGB und vor dem V. Buch von FW entstand, dort aber nicht einbezogen wurde und an dessen Ende unvermutet Ariadne auftritt, deren Mythos die Metapher des Leitfadens berhmt gemacht hat, rekapituliert Nietzsche die Schwierigkeiten, die das Philosophieren am Leitfaden des Leibes aufwirft: Die prachtvolle Zusammenbindung des vielfachsten Lebens, die Anordnung und Einordnung der hçheren und niederen Thtigkeiten, der tausendfltige Gehorsam welcher kein blinder, noch weniger ein mechanischer sondern ein whlender, kluger, rcksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam ist – dieses ganze Phnomen „Leib“ ist nach intellectuellem Maaße gemessen unserem Bewußtsein, unserem „Geist“, unserem bewußten Denken, Fhlen, Wollen so berlegen, wie Algebra dem Einmaleins. (N 1885, KSA 11, 37[4])
Darin wird auch das moralische Problem der Heuristik am Leitfaden des Leibes hervorgehoben: Vielmehr wird eine solche ungeheure Synthesis von lebendigen Wesen und Intellekten, welche „Mensch“ heißt, erst leben kçnnen, wenn jenes feine Verbindungsund Vermittlungs-System und dadurch eine blitzartig schnelle Verstndigung aller dieser hçheren und niederen Wesen geschaffen ist – und zwar durch lauter lebendige Vermittler: dies aber ist ein moralisches, und nicht ein mechanistisches Problem! (N 1885, KSA 11, 37[4]).
Die Heuristik lsst erkennen, dass der Ursprung der Moral, verstanden als moralische Interpretation der Phnomene, in einer dem Leib selbst eingeschriebenen Neigung zur Interpretation liegt: Am Leitfaden des Leibes wie gesagt, lernen wir daß unser Leben durch ein Zusammenspiel vieler sehr ungleichwerthigen Intelligenzen und also nur durch ein bestndiges tausendfltiges Gehorchen und Befehlen – moralisch geredet: durch die unausgesetzte bung vieler Tu g e n d e n – mçglich ist. Und wie drfte man aufhçren, moralisch zu reden! (N 1885, KSA 11, 37[4])
Das Notat endet unerwartet damit, dass dem Leser deutlich wird, dass der fingierte Sprecher sich lngst in einem Dialog mit Ariadne befand: — – Dergestalt schwtzend gab ich mich zgellos meinem Lehrtriebe hin, denn ich war glckselig, Jemanden zu haben, der es aushielt, mir zuzuhçren. Doch gerade an dieser Stelle hielt Ariadne es nicht mehr aus – die Geschichte begab sich nmlich bei meinem ersten Aufenthalte auf Naxos —: „aber mein Herr, sprach sie, Sie reden Schweinedeutsch!“ – „Deutsch, antwortete ich wohlgemuth, einfach Deutsch! Lassen Sie das Schwein weg, meine Gçttin! Sie unterschtzen die Schwierigkeit, feine Dinge deutsch zu sagen!“ – „Feine Dinge! schrie Ariadne entsetzt auf: aber das war nur Positivismus! Rssel-Philosophie! Begriffs-Mischmasch und -Mist aus hundert Philosophien! Wo will das noch hinaus!“ – und dabei spielte sie ungeduldig
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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mit dem berhmten Faden, der einstmals ihren Theseus durch das Labyrinth leitete. – Also kam es zu Tage, daß Ariadne in ihrer Philosophischen Ausbildung um zwei Jahrtausende zurck war. (N 1885, KSA 11, 37[4])
Die Hypostasierung, die jede bewusste sprachliche Artikulation mit sich bringt, wenn das ,Außerbewusste‘ des Leibes ausgedrckt werden soll, kann in einem Positivismus enden. Ariadne erinnert daran, dass der durch die Artikulation erstarrende Text des bewussten Ich anti-positivistisch wieder in Bewegung gebracht werden muss. Sie beweist damit eine interessante ,Unzeitgemßheit‘, in der sie von „Positivismus“ spricht, obwohl ihre „philosophische Ausbildung um zwei Jahrtausende zurck war.“ Was zwei Jahrtausende zurckliegt, ist die vortheoretische, noch nicht sokratische Perspektive, die noch keine objektivierende Auffassung des Leiblichen zulsst.112 So ergibt sich: Nietzsches Verneinung des Vorrangs des Bewusstseins hat mit der Schwierigkeit zu kmpfen, dass sie ebenfalls in einer begrifflichen Sprache formuliert werden muss und dadurch in die Gefahr des Positivismus gert. Ariadne hat auch hier den Leitfaden, dass man dem Leitfaden des Leibes nicht auf dem Weg des Begriffs nachspren kann. Herder, wo er die Geltung der Analogie von Leib und Geist, Natur und Kultur, Menschengeschichte und Geistesgeschichte in der Ordnung des Kosmos plausibel zu machen sucht, oszilliert dagegen noch ungewollt zwischen der heuristischen und der ontologischen Dimension. Damit die begriffliche Sprache das Heuristische nicht ontologisiert, sind periodische Aufenthalte in Naxos nçtig, wo Ariadne Dionysos empfing. 1.6.3. Vernatrlichung zwischen Naturgeschichte und Genealogie der Semantik der Natur Die Leistungsfhigkeit imaginrer Genealogien liegt darin, daß sie den Gedanken der Funktion dort ins Spiel bringen, wo man nicht unbedingt damit rechnen wrde, und daß sie mit einfacheren Mitteln erklren, worin die Funktion besteht.113
Durch den Begriff ,Funktion‘ ließ sich das Abgeleitete der Kultur darstellen, eine genealogische Kritik auch kultureller Instanzen wurde so mçglich. Wir 112 Adrian Del Caro, „Symbolizing Philosophy. Ariadne and the Labyrinth“, in: NietzscheStudien 17 (1988), S. 125 – 157, liest das Fragment als eine Form von Selbstkritik Nietzsches und bemerkt auch: „Ariadne is the one to utter this criticism because, being behind some two thousand years in her philosophical development, she remains Dionysian.“ (S. 148) 113 Bernard Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, bers. v. Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2003, S. 55. Interessant ist fr die Vernatrlichung auch die Bemerkung, dass „ebenso wie evolutionstheoretische Erklrungen […] sie das Funktionale aus dem Nichtfunktionalen oder aus einer Funktionalitt niedrigerer Stufe ab[leitet].“ (S. 58)
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
wollen dazu nun abschließend zeigen, dass nicht nur bei Nietzsche, bei dem die Vernatrlichung zu einer Variante eines breiter angelegten genealogischen Diskurses wird, sondern auch bei Herder der strategische Verweis auf natrliche Ursprnge, sei es der Sprache, sei es, in weiterem Sinne, des Menschen als historischen Kulturwesens, bestimmte genealogische Zge trgt. Auch Herders vernatrlichender Zugang zur Beziehung von Mensch und Kultur hat insofern eine genealogische Form, als er Reduktionen auf nur einen Ursprung vermeidet und auch nicht von einer allgemeingltigen, objektiven Wahrheit ausgeht. Er rechnet nur mit performativen Wirkungen der Vernatrlichung. Bei Nietzsche macht die Vernatrlichung – als Rckgang auf die çkologischphysiologischen Bedrfnisse der Moral, der Metaphysik, der Religion und der Kultur im Allgemeinen – den Teil der Genealogie aus, der zunchst die ,Natur‘ ins Auge fasst und andere Ursprnge unserer Begriffe und Ideale vorlufig vernachlssigt.114 Der Ansatz einer ,natrlichen Natur‘ kann als grundlegendes Moment der Genealogie betrachtet werden. Die Verknpfung der Vernatrlichung mit der ,Entmenschung der Natur‘ besttigte zudem, dass es nicht um einen naiven Naturalismus geht. Nietzsches Erinnerung daran, dass Menschen unvermeidlich die ,natrliche Natur‘ vermenschlichen, und sein eigenes Bestehen auf der Entmenschung der Natur mahnt, die Gesetze der Vernatrlichung nicht als absolut aufzufassen, da sie nur sprachliche Artikulationen der mit der Natur umgehenden Menschen sind. Die ,Entmenschung der Natur‘ ist die Voraussetzung eines genealogischen Sinns der ,Vernatrlichung des Menschen‘. Wenn die Genealogie keine ,Geschichte‘ darstellt, ist zu fragen, in welchem Sinn Nietzsche von ,Naturgeschichte‘ im Kontext seines vernatrlichenden Philosophierens spricht. Dabei ist zu bercksichtigen, dass ,Naturgeschichte‘ bei Herder und Nietzsche einen unterschiedlichen Sinn hat. Fr Herder bedeutet ,Naturgeschichte‘ noch die Disziplin, die, ausgehend von Aristoteles, die Gesamtheit der Lebewesen zu erfassen, zu schematisieren und in einer ,großen Kette des Seins‘ zu ordnen suchte.115 Wenn Buffons Naturgeschichte sich noch in einer statischen Beschreibung der Natur erschçpfte,116 war Herder, fr den 114 Als Interpretationsprozess hat die Genealogie nach ric Blondel zwei „metaphorical axes: medicine (natural history, semiotic/symptomatology, physiology) and philology (interpretation, psychology, history, translation, etymology).“ (Eric Blondel, „The Question of Genealogy“, in: Richard Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality, Berkeley / Los Angeles / London 1994, S. 314). Jedoch nach Blondel, „these two axes, evoking the two ,sides‘ genealogy tends to unite (i. e., the body and the text of the ideal), come together again in philology’s unique metaphoric, which wants to incorporate physiology as a reading of the body.“ 115 Vgl. dazu Arthur Lovejoy, The Great Chain of Being: A Study of the History of an Idea, Cambridge 1936. 116 George Louis Leclerc Comte de Buffon, Histoire naturelle, gnrale et particulire, 1749, dt.: Allgemeine Historie der Natur, 1756. Fr die Geschichte des Begriffes s. den Artikel „Naturgeschichte“, in: HWPh, Bd. 6, S. 526 f.
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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Buffons Forschungen noch maßgebend waren, besonders durch Kant klar geworden, dass sie es mit zeitlichen Gegenstnden zu tun hat und im ganzen auch zeitlich verstanden werden muss.117 Und fr Herder war auch, wie dargestellt,118 die Menschengeschichte nicht ohne die Naturgeschichte zu verstehen. Die Naturgeschichte hat fr ihn hauptschlich die Aufgabe, eine empirisch fundierte, darum menschlich erfassbare und so erst plausible Darstellung der gçttlichen Schçpfung zu bieten, die freilich nur als Schçpfung, d. h. aufgrund eines religiçsen Glaubens, akzeptabel ist. Die Naturgeschichte, die Menschen zustande bringen und die die Natur darum unvollkommen zeigen kann, wird von Glubigen dennoch im Bewusstsein geschrieben, dass es „anatomisch und physiologisch wahr“ ist, „daß durch die ganze belebte Schçpfung unsrer Erde das Analogon Einer Organisation herrsche“ (Ideen, 6.76), dass es sich also um eine vollkommene gçttliche Schçpfung handelt. Die unendliche Distanz zwischen dem Wesen der gçttlichen Schçpfung und den Mçglichkeiten der menschlichen Erkenntnis fhrt dazu, dass der Rekurs auf die Naturgeschichte wohl ein hervorragender „Leitfaden“ sein kann und doch nicht wie bei Nietzsche der Leitfaden des Leibes: Die mnnliche und philosophische Naturgeschichte suchet den Bau des Tiers von innen und außen, um ihn mit seiner Lebensweise zu vergleichen und den Charakter und Standort des Geschçpfs zu finden. Bei den Pflanzen hat man diese Methode die natrliche genannt und auch bei den Tieren muß die vergleichende Anatomie Schritt vor Schritt zu ihr fhren. Mit ihr bekommt der Mensch natrlicher Weise an sich selbst einen Leitfaden, der ihn durchs große Labyrinth der lebendigen Schçpfung begleite und wenn man bei irgend einer Methode sagen kann, daß unser Geist dem durchdenkenden vielumfassenden Verstande Gottes nachzudenken wage, so ists bei dieser. (Ideen, 6.75)
Nach Herder ,denkt‘ man Gott ,nach‘, wenn man dem Leitfaden der Analogie durch das ,große Labyrinth‘ der Natur folgt, bei Nietzsche ist dieses Vertrauen verloren. Bei Nietzsche zerstreut sich die Naturgeschichte in eine Pluralitt von Diskursen, statt einer werden viele Naturgeschichten mçglich. Das gilt dann auch fr die naturgebundene Entstehung kultureller Institutionen. Neben einer Naturgeschichte von Pflicht und Recht (M 112), der Moral (JGB, Fnftes 117 Die Dynamisierung der Naturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts bleibt jedoch nach Wolfgang Proß, „Herder und Vico: Wissenssoziologische Voraussetzungen des historischen Denkens“, in: Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 88 – 113, S. 103, nur scheinbar vollstndig realisiert: „Man hat das Signum der berwindung der Aufklrung in einer ,Verzeitlichung‘ oder ,Temporalisierung‘ der zeitlosen historia naturalis erblicken wollen, dabei aber eines zu wenig bedacht: dieser scheinbare Prozeß der Dynamisierung […] ist ganz stark an eine Vorstellung des ,Immutabilismus‘ der Lebewesen oder der sozialen Systeme bzw. der naturgeschichtlichen Klassen innerhalb des lukrezischen statischen Weltbildes gebunden.“ 118 S. 1.1.
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Hauptstck), des Gelehrten (N 1885/86, KSA 12, 1[187]) und des freien Geistes (N 1885/86, KSA 12, 2[40] u. a.) entwirft Nietzsche auch noch die des „hçheren Menschen“ (N 1885/86, KSA 12, 2[41] u. a.).119 Naturgeschichte in Nietzsches Sinn ist in doppelter Hinsicht kritisch: Das scheinbar berhistorische wird als historisch betrachtet, das scheinbar rein Geistige physiologisch. So aber ist die Naturgeschichte fast nicht von der Genealogie zu unterscheiden. Beide Termini drfen dennoch nicht miteinander identifiziert werden. Nietzsche verndert weniger seine Methode, als dass er sie zuspitzt. Er bricht dabei mit traditionellen Formen des Wissens und betont die Diskontinuitt seines eigenen kritischen Philosophierens mit dem frheren. Die Genealogie geht nicht von Ursprngen aus, sondern fhrt zu ihnen hin und dies nicht unter Voraussetzung einer durchgehend erfassbaren Kontinuitt und nicht in der Gewissheit, zu ersten Ursprngen oder gar zu einem ersten Ursprung zu kommen. Die Genealogie im Sinn Nietzsches bleibt sich stets bewusst, dass sie nur von ihrem Standpunkt aus in ihrer Perspektive diese Perspektive in die Geschichte hinein zu erweitern versuchen kann. Am Beispiel der Entwicklung seiner Moralkritik kann das veranschaulicht werden. Nietzsches Moralkritik vollzieht sich zuerst als eine „Geschichte der moralischen Empfindungen“ (MA I), dann als eine „Naturgeschichte der Moral“ (JGB) und endlich, in GM, als eine echte „Genealogie“.120 Die Moralkritik vereint freilich ihre physiologisch und psychologisch inspirierte Kritik und historische Betrachtung der Moralphnomene auch schon mit einer desorientierenden Inszenierung der Herkunft der Moral aus ihrem Gegensatz, einem amoralischen Reich der Natur und der sozialen Interaktion. Eine Beschrnkung auf den Sprachgebrauch von MA kçnnte dahingehend missverstanden werden, dass es das Ziel Nietzsches sei, eine lineare Darstellung der historischen Entwicklung der Moral zu geben. Nur von einer ,Geschichte der Moral‘ zu sprechen, kçnnte eine einseitige, falsche Vorstellung von der kritischen Aufgabe evozieren. Es ließe daran denken, dass es bei der Entwicklung der moralischen Gefhle um einen rein geistigen und kulturellen Prozess gehe, bei dem die physiologischen Bedrfnisse eine immer ge119 Paul van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik: Studie zu „Jenseits von Gut und Bçse“, Bonn 1989, S. 54 f., hat gezeigt, wie der Ausdruck ,Naturgeschichte der Moral‘ mindestens fnf verschiedene Bedeutungen gewinnt: Erstens meint Naturgeschichte der Moral „Kritik der Moral als einer Sache bernatrlichen Ursprungs und ihrer Immunisierung, indem sie dem Gebiet wissenschaftlicher Erkenntnis entzogen wird“; zweitens als Sammlung und Klassifikation von verschiedenen Materialen; drittens im Sinn von Hume, The Natural [kursiv] History of Religion and Lecky, History of European Morals; viertens ist sie ein Begriff, der neue Bedeutung gewinnt in Verbindung mit anderen Naturgeschichte, z. B. die des feinen Geistes oder des hçheren Menschen; fnftes weist sie zurck zur deutschen Tradition der Naturphilosophie, insbesondere zu Goethe. 120 Das hindert Nietzsche jedoch nicht daran, von der Genealogie als der „wirklichen Historie der Moral“ zu sprechen (GM, Vorrede 7, KSA 5, S. 254).
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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ringere Rolle spielten. Das Wort ,Naturgeschichte‘ in JGB betont schon strker die leibliche Bedingtheit der Moral und ihrer Geschichte. Nietzsche gebraucht dann das Wort ,Genealogie‘, um sich noch deutlicher vom traditionellen Gebrauch von ,Naturgeschichte‘ zu distanzieren, wie ihn auch Herder pflegte.121 Die Unterscheidung von Naturgeschichte und Genealogie macht, sowohl im Hinblick auf Nietzsche als auch auf Herder, noch einige Differenzierungen notwendig. Dabei verringert sich die Distanz bei Nietzsche selbst und auch im Blick auf Herder. Die Distanzierung ist zunchst wichtig, weil auch das, was Nietzsche ,Naturgeschichte‘ nennt, anders als die traditionelle Naturgeschichte vermeidet, auf ihrer eigenen Wahrheit zu bestehen.122 Darin ist sie ,Genealogie‘, sie ist gerade dann konsistent, wenn sich die Wahrheit, auch die ihre, nicht in Gestalt objektiver Reprsentation der Wirklichkeit als mçglich erweist. Um sich nicht in neue Widersprche zu verstricken, darf sie sich nur als ein Experiment darstellen. Nietzsche nennt sie in MA eine ,Erzhlung‘, und in diesem Sinn bleibt auch die Genealogie von GM eine Erzhlung. Die Erzhlung kann dann, je nach Situation, verschiedene Funktionen haben und lsst weite Spielrume. Dabei sind stets auch pragmatische Aspekte der Kommunikation zu bercksichtigen, d. h. es muss in so einer Sprache erzhlt werden, die den Leser berzeugt: Die Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegsgeschichte der sittlich-geistigen Kraft im Widerstande gegen Angst, Einbildung, Trgheit, Aberglauben, Narrheit, sollte so erzhlt werden, dass Jeder, der sie hçrt, zum Streben nach geistig-leiblicher Gesundheit und Blthe, zum Frohgefhl, Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-Bedrfniss unaufhaltsam fortgerissen wrde. Bis jetzt hat sie ihre rechte Sprache noch nicht gefunden, weil die spracherfinderischen und beredten Knstler – denn deren bedarf es hiezu – gegen sie ein verstocktes Misstrauen nicht los werden und vor Allem nicht grndlich von ihr lernen wollen. (MA II 184)
Die Suche nach einer passenden Sprache fr die Naturgeschichte weist auf eine besondere Beziehung zwischen der Sprache der Kunst und der Sprache der Wissenschaft hin, auf die wir im nchsten Teil eingehen werden. Der performative Charakter der Erzhlung der Naturgeschichte distanziert sie von anderen nicht-genealogischen Formen von Geschichte. In Zur Genealogie der Moral sind 121 Seit Michel Foucault, „Nietzsche, la gnalogie, l’histoire“, in: Suzanne Bachelard (Hg.), Hommage Jean Hyppolite, Paris, 1971, S. 145 – 172, ist die genealogische Methode Nietzsches ein Thema von konstantem Interesse fr die Nietzsche-Forschung. Vgl. dazu Marco Brusotti, „Die ,Selbstverkleinerung des Menschen‘ in der Moderne. Studie zu Nietzsches Zur Genealogie der Moral“, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 81 – 136; Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“. Werkinterpretation, Darmstadt 1994; Daniel W. Conway, „Genealogy and Critical Method“, in: Richard Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality, Berkeley / Los Angeles 1994, S. 318 – 333. 122 Conway, „Genealogy and critical Method“, spricht von dem „parasitic“ Charakter und von einer „relative validity“ der Genealogie (S. 319 f.).
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Paul Re und die von Darwin inspirierten englischen Naturgeschichtler der Moral Beispiele einer fr Nietzsche unbefriedigenden Genealogie, der es an historischem Sinn und philologischer Genauigkeit fehle: Mein Wunsch war es jedenfalls, einem so scharfen und unbetheiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen Hi s t o r i e d e r Mo r a l zu geben und ihn vor solchem englischen Hypothesenwesen i n’s Bl a u e noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe fr einen Moral-Genealogen hundert Mal wichtiger sein muss als gerade das Blaue: nmlich d a s Gr a u e , will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit! – (GM, Vorrede 7, KSA 5, S. 254)
Dass Nietzsche in seiner Genealogie doch von ,urkundlich‘ und in einem emphatischen Sinn von ,wirklich‘ spricht, ist irritierend und erklrungsbedrftig. Es zielt performativ darauf, das, was andere Genealogien, etwa die Res, als wirkliche Ursprnge der Moral darstellen, noch immer als von der Moral selbst diktiert und damit noch lange nicht ,wirklich‘ gelten zu lassen: „das WirklichFeststellbare, das Wirklich-Dagewesene“ mssen außermoralische Ursprnge der Moral sein, die der Moral wehtun, die sich nicht mehr nach Normen der erklrten Moral erklren lassen. Nach Nietzsche wren von der erklrten Moral selbst erklrte Ursprnge weiterhin von ihr infiziert und darum ohne Erklrungswert; „das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene“ gibt es in Nietzsches „Phnomenalismus und Perspektivismus“ (FW 354) nicht. In Res Genealogie bleibt das natrliche menschliche Streben nach Nutzen in der Entwicklung der kulturellen Praxis eine nicht hinterfragte anthropologischontologische Konstante, bei Nietzsche kçnnen die in der Genealogie hypothetisch angesetzten Krfte ihre Richtung nicht nur ndern, sondern auch auf den genealogischen Prozesses selbst zurckwirken. Die Moral, als System physiologischer Krfte, die die kulturellen Leistungen bestimmen, wirkt kulturell auf die Physiologie zurck. Nach dieser Rckkopplung verhalten sich die ursprnglichen (bzw. hypothetisch als ursprnglich angesetzten) physiologischen Krfte anders: Das asketische Ideal z. B. ist ein Resultat von Lebensbedrfnissen und wirkt zugleich als ein kulturelles Werkzeug auf die Lebensbedrfnisse zurck und gestaltet sie so, dass Wissenschaftler und Philosophen unter ihren Bedingungen operieren kçnnen. Nietzsches ,chromatisches‘ Kriterium (das Blaue/das Graue) reicht fr die Unterscheidung zwischen der eigenen und den anderen Genealogien sicherlich nicht schon hin. Worin „das Graue“ in Nietzsches Genealogie besteht, ist nicht ohne weiteres klar.123 Grau ist zunchst „alle 123 Alan D. Schrift, „Between Perspectivism and Philology“, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 91 – 111, S. 109, bemerkt: „in responding to what ,gray‘ documents ,present‘, however, Nietzsche refuses to univocally determine their ,meanings‘ while acknowledging both that his response comes from a particular perspective and that other perspectives are possible.“ Michael Amhon, Foucault’s Nietzschean Genealogy. Truth, Power, and the
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Theorie“ im Sinne Mephistos aus Goethes Faust und so auch Nietzsches Genealogie, soweit sie ihrerseits eine Theorie ist und sich als solche bekennt. Grau ist aber auch die undeutlichste Farbe: Die Genealogie handelt stets von nur Hypothetischem, nur Vermutbarem, letztlich Ungewissem. Grau sind schließlich alte Urkunden. Was Nietzsche als genealogische Faktoren einfhrt, Priester, Sklaven und Herren, das Ressentiment, die Gesundheit oder Krankheit eines bestimmten Menschentypus, all das ist kaum urkundlich zu belegen. Das „Urkundliche“ kann darum wie „das Wirklich-Festellbare und das WirklichGewesene“ nur so gemeint sein, dass es allen moralischen Interpretationsbemhungen widersteht, der Text vor der Interpretation.124 Wenn nun Herder von Urkunden und Ursprngen im traditionellen Sinn spricht, ist seine Naturgeschichte der Kultur dennoch nicht schon blauugig in Nietzsches Sinn. Herders und Nietzsches Naturgeschichte lassen sich nicht einfach als ,grau‘ und ,blau‘ unterscheiden. Zunchst einmal arbeitet auch Nietzsche zu Beginn der ersten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral im Blick auf die Unterscheidung von ,gut‘ und ,schlecht‘ wie Herder mit Etymologien als ,Urkunden‘ im traditionellen Sinn. Fr beide spielen Etymologien im Ursprungsdiskurs eine entscheidende Rolle: „In mehr als einer Sprache hat also auch Wort, und Vernunft, Begriff und Wort, Sprache und Ursache einen Namen, und diese Synonymie enthlt ihren ganzen genetischen Ursprung.“ (Abhandlung, 1.733) Andererseits handelt Herder zwar von Ursprngen im traditionellen zeitlich-historischen Sinn, aber keineswegs naiv. Wenn er in seiner Untersuchung ber den Ursprung der Sprache von „historische[n] Nachrichten“ spricht, so ist er sich doch dessen bewusst, dass solche Nachrichten durch „Kunst“ vermittelt sind, die vielfache „Revolutionen“ durchlaufen haben: Der sicherste Weg zu Knntnissen ber die Kindheit der Sprache, wren historische Nachrichten; allein daß diese Nachrichten mçglich, daß sie sicher sind, daß sie bis auf uns reichen – dazu wird selbst eine der schwersten und sptesten Erfindungen erfodert [sic!]: die Kunst – Ich will nicht sagen, die Kunst zu denken : sonst kme ich in das Labyrinth: wie weit hat die Kunst zu denken, die Kunst zu sprechen, und diese jene gebildet und ausgebildet? – Ich bleibe also bloß bei der Kunst zu schreiben: zu schreiben, was man will: ewig zu schreiben. Und wie viel spter ist diese Erfindung, als die Kunst zu sprechen , und zu sprechen was man will? Und wie viel Revolutionen hatte die Sprache berlebt, ehe man so weit kam? und ehe man an eine schriftliche Nachricht dachte? Und wie viel Jahrhunderte gilt diese letzte Kunst, so wie sie da war, nichts? (Fragmente, 1.603)
Herders Vertrauen in den Erklrungswert eines Ursprungs als wichtigster Teil einer Naturgeschichte mag ungebrochen sein, wie z. B. die folgende Stelle belegt: Subject, Albany 1992, S. 86, legt ausfhrlich den wissenschaftsmethodischen Charakter der Genealogie Nietzsches dar, problematisiert das Graue aber nicht. 124 Vgl. JGB 22, 38, 47; N 1888, KSA 13, 15[90].
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Mit dem Ursprunge einer Sache entgeht uns ein Teil ihrer Geschichte, die doch so viel in ihr erklren muß, und meistens der wichtigste Teil. Wie der Baum aus der Wurzel: so wchset Kunst, Sprache und Wissenschaft aus ihrem Ursprunge herauf. In dem Samenkorn liegt die Pflanze mit ihren Teilen; im Samentier das Geschçpf mit allen Gliedern: und in dem Ursprung eines Phnomenon aller Schatz von Erluterung, durch welche die Erklrung desselben genetisch wird. (Fragmenten, 1.602)
Die Distanz zwischen Herder und Nietzsche scheint grçßer zu werden, wenn man Herders besonderes Interesse fr den ,Ursprung‘ und nicht fr die ,Herkunft‘ hervorhebt. Folgt man Foucault, erscheint dieser Diskurs eindeutig im Kontrast zu Nietzsches genealogischem Verfahren, in welchem es um ,Herkunft‘, ,Entstehung‘ und ,Erfindung‘ geht. Dennoch ist der theoretische Status des Ursprungsdiskurses zu beachten, sofern Herder sich „der youngschen Kategorie des ,Originalen‘ bedient“, „den Originalittsbegriff aus[weitet]“ und seine Resultate weit entfernt von einer „bloße[n] Sehnsucht nach vergangenen Ursprngen“ sind.125 Ferner, wenn Herder von Ursprung spricht, denkt er an 125 Bertold Heizmann, Ursprnglichkeit und Reflexion. Die poetische sthetik des jungen Herder im Zusammenhang der Geschichtsphilosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main / Bern 1981, S. 32. Auch bei Wolfgang Proß, Johann Gottfried Herders Abhandlung ber den Ursprung der Sprache, Mnchen 1980, wird die Besonderheit von Herders Ursprungsdiskurs gegen die Idee, dieser Diskurs wrde sich noch als eine lineare Geschichte verstehen, deutlich profiliert: „Die Neuheit der ,Abhandlung‘, ja des gesamten Werkes, liegt demnach in der synthetisierenden Kraft Herders, die zwar – und dies ist das Relikt des logischen Ordnungsdenkens – die Suche nach ,Einheit in der Vielfalt‘ fortsetzt, empirisch aber in der Betonung der Vielfalt der historischen Erscheinungen trotz des einheitlichen Prinzips dieses Ordnungsdenkens relativiert.“ (S. 165) Ansell Pearson erinnert kritisch gegenber Foucault daran, dass gerade bei Herder das Wort ,Ursprung‘ als Synonym zu ,Herkunft‘ auftritt: „In the german tradition which derives from Herder, for example, Ursprung denotes dialectical tension and confrontation, and Entstehung denotes unbroken continuity. […] It is thus neither Herkunft nor Entstehung, but Ursprung which identifies the site where competing values come into conflict and give rise to human institutions. Ursprung should not be taken to denote a undifferentiated unity […]. (Keith Ansell-Pearson, Nietzsche contra Rousseau, Cambridge 1991, S. 123). Bereits John Pizer, The Use and Abuse of „Ursprung“: On Foucault’s Reading of Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 462 – 478, kritisiert Foucaults Interpretation von Nietzsches Gebrauchs des Wortes ,Ursprung‘. Eben in GM findet Pizer Beispiele fr einen recht traditionellen Gebrauch von ,Ursprung‘: „the locus of the eruption of the clash of contrasting moralities, the site where Nietzsche superimposes the antitheses of good and evil, is not a site of ,Entstehung‘, but of ,Ursprung‘“. (S. 465) Vgl. GM II 2, KSA 5, S. 259. Foucault habe die Relevanz des klassischen Begriffs ,Ursprung‘ fr Nietzsche nicht bemerkt, weil er die Bedeutung des Vergessens fr die Fixierung von Ursprngen nicht erkannt habe: „Foucault’s genealogies seek to overcome such forgetting; in exploring the historical foundations of such institutions as the clinic, the prison and the asylum, Foucault acts to jog the memory by painstakingly documenting these institutions’ marginal ,lowly‘ origins for our conscious consideration. In this sense, Foucault is, of course, a far more traditional chronicler of
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ein Zusammenwirken vielfltiger Elemente, die nicht linear rekonstruiert werden kçnnen.126 Das folgt nicht wie bei Nietzsche daraus, dass er keinen letzten Deutungshorizonts htte – er hat ihn, wie dargestellt –, sondern ergibt sich aus seiner Nhe zur leibnizschen Metaphysik, die vielfltige Perspektiven zulsst. Gerade der Ursprung der Sprache setzt sich in der Abhandlung aus verschiedenen zusammenwirkenden Ursprngen zusammen. Nicht nur die Besonnenheit als innere Disposition geistiger Krfte, sondern auch die Gesetze der Sinnlichkeit, die die Interaktion zwischen Mensch, Umwelt und Gesellschaft regulieren, tragen zur Entstehung der sprachlichen Konventionen bei. Herders Gebrauch der Begriffe ,Besonnenheit‘ und ,Besinnung‘ ist bei seiner Konstruktion des Ursprungs der Sprache nicht vorschnell als einem genealogischen Diskurs unzugnglich misszuverstehen, so als ob in diesen Begriffen eine deutliche, intelligible, feste arch einer linearen Geschichte der Sprache und der Kultur gefunden werden kçnnte, whrend fr Nietzsche gilt: „Je weiter die Genealogie zurckgeht, desto mehr ist sie auf Vermutungen angewiesen und verliert sich schließlich irgendwo in Dunkeln“.127 Die Besonnenheit bleibt, wie wir spter sehen werden, wegen ihrer Verflechtung mit der Sinnlichkeit ein nicht unproblematischer geistiger Wesenszug des Menschen und verhindert damit bereits eine Reduktion des genetischen Prozesses auf die Einheit eines klaren und leicht erfassbaren Prinzips. Die Besonnenheit des Menschen und seine durch sie ermçglichte Besinnung lassen sich nicht als rein geistige Phnomene definieren, weil sie, wie in der genealogischen Naturgeschichte Nietzsches, auch vom Standpunkt der Physiologie aus beschrieben werden.128 Wenn Herder demnach zwar von Nietzsche durch den Glauben an die Existenz eines ,ersten Punktes‘ oder ,erster Punkte‘ der Geschichte getrennt ist, so ist dieser Glaube dennoch einer regulativen Idee hnlich, da der Ursprung auch bei ihm niemals vollkommen erkannt werden kann. Herder entwirft sogar eine Genealogie des genealogischen Diskurses. Er fragt nach den unterschiedlichen intellektuellen Interessen hinter der Suche
events than Nietzsche ever was. Foucault’s own ,forgetfulness‘ regarding Nietzsche’s establishment of ,das Vergessen‘ as a dynamic principle in human history is thus understandable, since his essay seeks to establish Nietzsche as a methodological ally.“ (S. 478) Anders lautet die Position von Aldo Lanfranconis, Nietzsches historische Philosophie, Stuttgart / Bad Cannstatt 2000, S. 148: „[I]ch halte die von Foucault formulierte Abhebung nach wie vor fr fruchtbar, auch wenn eine entsprechende begriffliche Differenzierung von ,Ursprung‘ und ,Herkunft‘ bei Nietzsche, wie Foucault selbst einrumt, nicht nachweisbar ist.“ 126 Ulrich Gaier, Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 75 ff., hat in der Sprachursprungsschrift Herders sechs unterschiedliche Ursprungtheoreme erkannt, die sich etwa dialektisch verbinden lassen. 127 Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, S. 64. 128 S. Kap. 2.1.
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1. Der Begriff und die Methodik der Vernatrlichung des Menschen
nach dem Ursprung, allerdings ohne dabei die notwendige Pluriperspektivitt dieses Diskurses zu erkennen: den Ursprung selbst wissen zu wollen: ihn entweder historisch zu erfahren, oder philosophisch zu erklren, oder dichterisch zu mutmaßen. Das letzte ist freilich nur fr die Einbildungskraft befriedigend: fr den Verstand hçchstens eine Spur von Fußtritten, um zu der Hçhle zu kommen, wo der Riese selbst schlummert; aber auch in dieser Absicht voll Reiz. (Fragmente, 1.601)
Die Rede ber den Ursprung soll auch bei Herder helfen, die eigenen Perspektiven mangels historischen Sinns zu nivellieren. Wie Nietzsche bezglich der Genealogie der ,Englnder‘, so sieht auch Herder als Folge des Mangels an historischem Sinn die Mçglichkeit einer Hypostasierung des jeweiligen gegenwrtigen Zustands: Woher sind so viel Verwirrungen entstanden, als weil man den sptern Zustand einer Sache, einer Sprache, einer Kunst fr den ersten nahm, und den Ursprung vergaß? Woher so viel Irrtmer, als weil ein einiger Zustand, in dem man alles betrachtete, nichts anders als einseitige Bemerkungen, geteilte und unvollstndige Urteile geben mußte? Woher so viel Zwist, als weil jeder diese seine Begriffe und Regeln, so einseitig sie waren, fr die einzigen ansahe, sie zu Lieblingsgedanken machte, nach ihnen alles entschied, und außer ihnen alles fr nichts, fr Abweichung erklrte? Woher endlich so viel Selbstverwirrung, daß man aus einer Sache, die nicht immer dieselbe blieb, immer verndert erschien, endlich nichts zu machen wußte – woher alles, als weil man den ersten Punkt nicht hatte, von dem sich das Gewebe der Verwirrung entspann, den Anfang nicht hatte, von dem sich nachher der ganze Knuel so leicht abwickeln lßt, und den Ursprung nicht wußte, auf welchem die ganze Geschichte und Erklrung, wie auf einer Grundfeste ruhet. (Fragmente, 1.602)
Die Erinnerung, dass das Vergessen des Ursprungs unhaltbare Erkenntnisse nach sich zieht, verweist also auch bei Herder nicht auf eine neuerliche metaphysische Sehnsucht nach einem definitiven ersten Anfang des Seins und der Erkenntnisse. Das Beispiel des Diskurses ber die Sprache verdeutlicht seine Absicht, die endliche Natur unserer Erkenntnisse zu betonen. So bemerkt er im Anschluss an die oben zitierte Passage ber die Sprache: „[n]icht war sie gleich, was sie ward, und ist“ (Fragmente, 1.604). Er fasst die Sprache metaphorisch als Fluss, dessen Quelle „an sich unbekannt geblieben wre, htte sie nicht diesen Sohn geboren.“ (Fragmente, 1.604) Die ,Quelle‘ eines ,Flusses‘ kann unbekannt bleiben; in ihn kann sich eine Vielzahl von Quellen und Flssen und Nebenflssen ergießen. So wird eine feste identische Entitt als Ursprung der Sprache ausgeschlossen. Auch impliziert die stndige Evolution des Mediums der Erkenntnis – die Sprache – die Unmçglichkeit einer objektiven Erkenntnis des Ursprungs. In der unablssig sich wandelnden Sprache sind niemals abschließende Erkenntnisse mçglich. Selbst wenn die Erkenntnis eines Ursprungs als regulatives Ideal vorausgesetzt wird, bleibt er notwendig unzugnglich. Denn
1.6. Die Methodik der Vernatrlichung
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das Mittel des Zugangs zu ihm ist ja gleichzeitig sein Produkt, die Erkenntnis bleibt so immer in einem wie auch immer heuristischen Zirkel. Anders gesagt: Die Sprache muss sich schon entwickelt haben, ihre Ursprnge schon verndert haben, um von ihren Ursprnge sprechen zu kçnnen. So kann Herder den pluralistischen Diskurs ber den Ursprung der Sprache einen „Witz“ nennen, ein geistiges Experiment, das hypothetisch bleiben muss.129 Schließlich taucht auch bei Herder, wiewohl er nicht wie Nietzsche die Historisierung der Begriffe mit einer Dekonstruktion des moralischen Subjekts verbindet, der Verdacht einer „pudenda origo“ unserer hçchsten kulturellen Institutionen auf: So ists mit den grçßten Dingen, sie waren elende Versuche, wurden Spiele – Handgriffe – Knste – regelmßige Knste – und spt gnug eine Wissenschaft. So auch mit der Sprache: lies den großen Homer, den Inbegriff aller Sprache der Gçtter, und gehe auf den Ursprung dieser gçttlichen Sprache zurck: du wirst ihn in den Hllen menschlicher Notdurft, in einer Wiege der Kindheit, in Windeln erblicken, deren du dich schmen mßtest. (Fragmente, 1.604)
Doch whrend bei Nietzsche die „ Einsicht in den Ursprung“ mit der Einsicht in die „Bedeutungslosigkeit des Ursprungs“ (M 44) einhergeht, bleibt fr Herder der Glaube an den gçttlichen Plan unberhrt und alles, was seine Erkenntnis und Realisierung trben kann, geht zu Lasten des Menschen. Mit seiner religiçsen Sensibilitt demtigt der Ursprungsdiskurs den anthropozentrischen Hochmut. Genealogie hat so bei Herder hauptschlich die Funktion, den menschlichen Stolz auf die eigene schçpferische Ttigkeit zu begrenzen, ohne den Menschen am Wert der Kultur und der Zivilisation berhaupt verzweifeln zu lassen. Dieser Wert bleibt bei Herder durch das Dach des Glaubens geschtzt, sicher vor allen dekonstruktiven Angriffen der Genealogie. Diese grundlegende Wertschtzung vor allem unterscheidet ihn letztlich von Nietzsche, nicht die konkrete Form ihrer genealogischen Diskurse.
129 Vgl. den schon zitierten „Brief an Hamann, 1. 8. 1772“, in: Johann G. Hamann, Briefwechsel, hg. v. W. Ziesemer und A. Henkel, Bd. 3, Wiesbaden 1957, S. 10
2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit 2.1. Am Ursprung der Sprache Dadurch, dass Herder und Nietzsche eine Szenerie entwerfen, nach der die menschliche Sprache sich aus natrlichen Anfngen entwickelt haben kçnnte, gewinnt ihr Ziel, die metaphysische Trennung von Natur und Kultur zu berwinden, ihre berzeugungskraft. ,Ursprung der Sprache‘ (vgl. Abhandlung) bzw. ,Genesis der Sprache‘ und ,Entstehung der Sprache‘ (vgl. WL, S. 877 u. 879) sind Namen fr die Darstellung eines Urzustandes, in dem ,Natur‘ und ,Kultur‘ sowie ,Naturgeschichte‘ und ,Menschengeschichte‘ ihre ursprngliche Einheit und die Bedingungen ihrer ersten Differenzierung finden sollen. Im Entwurf dieses Urzustands wird unvermeidlich wieder auf mehr oder weniger explizite Annahmen ber die Natur des Menschen als Trger der Sprache rekurriert, so dass zwischen der Konzeption der Sprache und der Anthropologie ein logischer Zirkel entsteht. Bei Herder und Nietzsche, fr die der Mensch vor der Entwicklung der Menschensprache nicht denkbar ist, nimmt der Zirkel eine kritische Gestalt an, die auch kulturkritische Ansprche ermçglicht. Dass ihre Menschenbilder trotz ihres gemeinsamen Rekurses auf die ,Natur‘ im Kontext des pragmatisch orientierten Diskurses der Vernatrlichung Unterschiede aufweisen, spricht fr den strategischen Charakter jeder Rckfhrung des Menschen auf die Natur, die unterschiedliche Wege einschlgt, sofern sie unterschiedliche praktische Ziele hat. Im Verlauf dieses zweiten Teils sollen die ethischen Interessen klar werden, die sich bei beiden Autoren hinter der naturalistischen, anthropologisch orientierten Sprachkritik verbergen. Die „Besonnenheit“, durch die Herder das Wesen des Menschen charakterisiert, entspricht einem dynamischen Verhltnis von physiologischen Krften; die Frage, ob diese Grundbestimmung des Menschen noch einen substantialistischen Charakter hat, d. h. ob sie nur eine andere Form einer ontologischen Seelenlehre ist, bleibt jedoch legitim.1 Den ambivalenten Status dieser Auffassung des menschlichen Geistes werden wir im Verlauf des nchsten Kapitels 1
Die subjektkritische Bedeutung der Hervorhebung der Metaphorizitt der Sprache hat exemplarisch Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidaritt, bers. v. Christa Krger, Frankfurt am Main 1992, S. 41, bemerkt: „Die Geschichte der Sprache und damit der Knste, Wissenschaften und Moral als Geschichte der Metapher betrachten heißt, das Bild zu verabschieden, in dem das menschliche Bewusstsein oder die menschlichen Sprachen sich immer besser fr die Zwecke eignen, die Gott oder die Natur ihnen zugedacht haben – zum Beispiel die Fhigkeit, immer mehr Bedeutungen auszudrcken oder immer mehr Tatsachen darzustellen.“
2.1. Am Ursprung der Sprache
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anhand einer Auseinandersetzung mit Nietzsches Begriff des Intellekts darstellen, der wie die Besonnenheit bei Herder eine entscheidende Rolle in seinem Diskurs ber den Ursprung der sprachlichen Artikulation der Welt spielt. 2.1.1. Herder: „Besonnenheit“ und „Besinnung“ Eine besonnene Natur des menschlichen Geistes ist bei Herder unmittelbare Folge der Schwche und Unspezialisiertheit seiner Instinkte, die letztlich nicht von seiner relativ unscharfen Sinnlichkeit zu trennen ist: Und nun folgt, daß wenn der Mensch Sinne hat, die fr einen kleinen Fleck der Erde, fr die Arbeit und den Genuß einer Weltspanne den Sinnen des Tiers, das in dieser Spanne lebet, nachstehen an Schrfe: so bekommen sie eben dadurch Vorzug der Freiheit (Abhandlung, 1.716)
Dass Herder statt ,Reflexion‘ das Wort ,Besonnenheit‘ gebraucht, das bereits etymologisch auf die ,Sinne‘ verweist, ist von hoher Bedeutung.2 Jenseits der klassischen Entgegenstellungen von Instinkt und Vernunft sowie von Leib und Seele zeigt die Besonnenheit eine Abhngigkeit der Vernunft von den Sinnen auf, die ber die Instinkte mit dem Leib verbunden wird. Wie das Zeichen ,Sprache‘ beim Begriffspaar Tier-Mensch zugleich Kontinuitt und Differenz schafft, indem es den Menschen als Tier vom Tier unterscheidet, so bewirkt dies die ,Besonnenheit‘ bei Leib und Geist. Dass die Schwche der Instinkte die Bedingung der Entstehung der Vernunft ausmacht, verhindert bereits eine Reinheit der Vernunft. Der Vorrang von Freiheit und Reflexion ist in diesem Sinne nur relativ: „Wenn der Mensch Sinne der Tiere, er keine Vernunft htte“ (Abhandlung, 1.718), bedeutet also nicht, dass der Mensch in der Lage sei, sich frei von Sinnlichkeit und Instinkten zu verhalten. Er besitzt nur andere Sinne und andere Instinkte, die Spielraum fr ein besonnenes Handeln lassen, der aber wegen „der starken Reizbarkeit“ der tierischen Sinne nie sicher ist, „eben die durch sie mchtig andringenden Vorstellungen mßten alle kalte Besonnenheit ersticken.“ (Abhandlung, 1.718) Das reflektierte Verhalten fllt eine Leere aus und hngt damit von den Instinkten ab, insofern es eine besondere gemilderte Organisation dieser Instinkte braucht, ohne jedoch das Produkt eines spezifischen Instinkts oder eine Negation der Instinkte zu sein. Bei Herder findet man keinen spezifischen Instinkt fr bestimmte geistige Leistungen; der Zustand der 2
Helfer, „Herder, Fichte, and Humboldt’s ,Thinking and Speaking‘“, in: Kurt MuellerVollmer (Hg.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 367 – 381, zeigte auf der Basis dieser terminologischen Unterscheidung bereits die Distanz zwischen Herder und Humboldt, welcher die Rede vom „Reflektieren“ bevorzuge. Sie erinnere zugleich daran, dass gerade Humboldt versucht habe, Fichtes Sprachphilosophie mit Herders Auffassung zu versçhnen.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Besonnenheit ist nur etwas Erworbenes, nicht aber im Sinne einer Manifestation eines Instinkts zur Reflexion: Der Zustand unsrer kalten Besonnenheit ist ein knstlicher, durch Erfahrung, Lehre, und Gewohnheit allmhlich erworbener Zustand, dessen Besitz uns in vçllig-unerwarteten Fllen zu erhalten oft schwer wird. (Bild, 4.643) Dass die Besonnenheit des menschlichen Geistes nicht ohne den Begriff der ,Sphre des Thiers‘, die die Verbindung von Instinkten, Sinnen, Vernunft und Sprache denkbar macht, zu verstehen ist, spricht fr einen methodischen Rekurs Herders auf heuristische Mittel in seinem anthropologischen und sprachkritischen Diskurs, auch wenn dieser Begriff kein Gegenstand von Erfahrung oder von Intuition, sondern eine Konstruktion ist. Unabhngige Variablen sind die Sinne, die die Sphre enger oder breiter machen kçnnen: ,je schrfer die Sinne der Tiere, und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk‘ (Abhandlung, 1.712). Dagegen haben Tiere, deren ,Verrichtungen […] vielfacher sind‘, deren ,Aufmerksamkeit […] auf mehrere Gegenstnde zerstreuter‘ und deren ,Lebensart unstter‘ ist (Abhandlung, 1.712), eine verteilte und schwache Sinnlichkeit. Die Instinkte wiederum hngen wie die Vernunft von der Form der Sinnlichkeit ab. Sie sind keine arch einer anthropologischen Erklrung, sondern das Produkt der dynamischen Interaktion eines empfindenden Organismus mit seiner Umwelt. Die Qualitt der Empfindung steht im Verhltnis zu der Vorstellungskraft und kann sie durch die Konzentration der Aufmerksamkeit auf wenige Gegenstnde beschrnken, was eine Intensivierung der Instinkte mit sich bringt. Wenn unendlich feine Sinne in einen kleinen Kreis, auf ein Einerlei eingeschlossen werden, und die ganze andre Welt fr sie nichts ist: wie mssen sie durchdringen! Wenn Vorstellungskrfte in einen kleinen Kreis eingeschlossen, und mit einer analogen Sinnlichkeit begabt sind, was mssen sie wrken! Und wenn endlich Sinne und Vorstellungen auf Einen Punkt gerichtet sind, was kann anders, als Instinkt daraus werden? (Abhandlung, 1.713)
Eine Schwchung der Instinkte durch Schwchung der Sinnlichkeit ist Bedingung fr die freie Verwendung von Zeichen einer komplexen Sprache, die bei den Tieren allerdings nur ein „lebendiger Mechanismus, herrschender Instinkt“, der „wenig sprechen darf“ (Abhandlung, 1.714), bleibt. In einem antiidealistischen Sinn behlt in diesem Bild die Sinnlichkeit dennoch eine positive Rolle in der Entstehung der menschlichen Kultur. Sie muss nicht verneint, sondern nur beschrnkt, harmonisiert werden, so dass die Reflexion Selbstreflexion des wahrnehmenden Organismus sein kann. Als ganze Disposition der Natur des Menschen, d. h. auch ihrer sinnlichen Natur, gewinnt die Besonnenheit den Charakter einer „freiwirkenden positiven Kraft seiner Seele“ (Abhandlung, 1.719). „Kraft der Seele“ – eine Kraft, die Herder hier als ,positiv‘ bezeichnet, gerade um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, sie bestehe in einer einfachen Negation der Instinkte – ist ein Ausdruck, zu dem er nicht nur ber die philosophische Tradition gelangt. Obwohl Leibniz’ Monade eine wichtige Rolle zukommt, legt Herder im Einklang mit dem Verfahren der Vernatrlichung den
2.1. Am Ursprung der Sprache
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Einfluss der naturwissenschaftlichen Beobachtungen der Zeit dar.3 Abstrahiert man aber von der konkreten historischen Entstehung dieses Begriffs fr einen Moment und fragt nach dessen innerer Logik, so wird klar, dass er einem neoplatonischen Modell entspricht, nach welchem sich eine ursprngliche Einheit allmhlich ausdifferenziert, ohne jedoch die anfngliche Einheit definitiv aufzuheben. Die Vervielfltigung der Krfte der Seele ist nur ein scheinbares Ergebnis der Sprache, welches fr Herder nicht den qualitativen Unterschied zwischen der Struktur des menschlichen Geistes und der des Tieres zugunsten einer einfachen quantitativen Unterscheidung vernachlssigen darf: Man nenne diese ganze Disposition seiner Krfte, wie man wolle, Verstand, Vernunft, Besinnung u.s.w. Wenn man diese Namen nicht fr abgesonderte Krfte, oder fr bloße Stufenerhçhungen der Tierkrfte annimmt: so gilts mir gleich. Es ist die „ganze Einrichtung aller menschlichen Krfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur“ oder vielmehr – Es ist „die Einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Kçrpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfhigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt, und bei den Tieren Instinkt wird.“ Der Unterschied ist nicht in Stufen, oder Zugabe von Krften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswickelung aller Krfte. Man sei Leibnitzianer oder Lockianer, Search oder Knowall, Idealist oder Materialist, so muß man bei einem Einverstndnis ber die Worte, zu Folge des Vorigen, die Sache zugeben, „einen eignen Charakter der Menschheit“, der hierin und in nichts anders bestehet. (Abhandlung, 1.717)
Herder weiß, „Alle Krfte unser Seele sind nur Eine Kraft, wie unsere Seele nur Eine Seele ist“ (Einfluss der Schçnen Wissenschaften, 4.221). Die Verdinglichung verschiedener Vermçgen der Seele ist nur als Resultat einer „Gewohnheit, die die Apperception in verschiedene Vermçgen zergliedert“, zu verstehen.4 Ein substantialistisches Missverstndnis einer lediglich funktionalistischen Pluralitt 3
4
Auch Ernst Cassirer, „Freiheit und Form: Studien zur deutschen Geistgeschichte“, in: Reinold Schmcker / Birgit Recki (Hg.), Ernst Cassirer. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 7, Hamburg 2001, S. 73 – 79, unterstreicht die Abhngigkeit Herders von Leibniz in diesem Punkt. So formuliert Herder 1775 in der zweiten Fassung von Vom Erkennen und Empfinden: „Man ist gewohnt, der Seele Unterkrfte zu geben, Einbildung, Voraussicht, Gedchtniß, Dichtungsgabe: es sei! Ihre innere Kraft aber ist gewiß nur Eine: Apperception ists, innere sich selbst erblickende Thtigkeit, Gçttliches Bewustseyn, mit der so denn selbst Freiheit, Gewissen, Verstand, Wille, (Modifikationen von außen) im Grunde Eins sind.“ (SWS 290) Ulrich Gaier, „Poesie als Metatheorie, Zeichenbegriffe des frhen Herder“, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 202 – 224, S. 213, spricht von drei „Leitvermçgen“ der Erkenntnis bei Herder, nmlich Empfindung, Einbildungskraft und Verstand, und zeigt, wie bei Herder die Entstehung eines Bildes der menschlichen Seele als ein in Krfte und Vermçgen zergliedertes Wesen auf die Logik der Einbildungskraft zurckzufhren sei.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
der Seelenkraft fhrt zu einem metaphysischen Menschenbild, das nicht die Realitt des Geistes wiedergibt, sondern nur die Grenze unseres Sprechens ber den Geist zeigt: Man hat sich die Vernunft des Menschen als eine neue, ganz abgetrennte Kraft in die Seele hinein gedacht, die dem Menschen als eine Zugabe vor allen Tieren zu eigen geworden, und die also auch, wie die vierte Stufe einer Leiter nach den drei untersten, allein betrachtet werden msse; und das ist freilich, es mçgen es so große Philosophen sagen, als da wollen, philosophischer Unsinn. Alle Krfte unsrer und der Tierseelen sind nichts als metaphysische Abstraktionen, Wrkungen! sie werden abgeteilt, weil sie von unserm schwachen Geiste nicht auf einmal betrachtet werden konnten: sie stehen in Kapiteln, nicht, weil sie so kapitelweise in der Natur wrkten, sondern ein Lehrling sie sich vielleicht so am besten entwickelt. (Abhandlung, 1.717)
Herders anthropologisches Philosophieren setzt sich nicht nur mit dem Problem der Sprache im Allgemeinen auseinander, sondern auch mit dem Problem der eigenen Sprache, der Sprache, durch die er ein berzeugendes nicht-dualistisches Menschenbild artikulieren kann. Durch das Wort ,Besonnenheit‘ versucht Herder so, die verschiedenen Vermçgen der menschlichen Seele ursprnglicher zu erfassen, um damit den Unterschied zwischen Mensch und Tier genauer zu verstehen: „Alle die Wçrter Sinnlichkeit und Instinkt, Phantasie und Vernunft, [sind] doch nur Bestimmungen einer einzigen Kraft“ (Abhandlung, 1.719). Auf dieser Basis wird es mçglich, auch im Falle einer Behinderung oder Unterentwicklung einzelner menschlicher Vermçgen noch von einem ,Menschen‘ und nicht von einem ,Tier‘ zu sprechen. Die sprachliche Artikulation unseres Selbst erzeugt ein Bild einer durch verschiedene Krfte und Vermçgen zergliederten Seele. Diese Unterteilung der Seele ist jedoch, die nçtige sprachkritische Skepsis vorausgesetzt, nur im funktionalistischen Sinne plausibel. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Krften geht hier mit verschiedenen Funktionen der Seele einher.5 Dadurch wird es noch plausibler, die Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft jenseits jedes Dualismus zu denken: Die Kraft der Seele wirkt „mehr sinnlich, so weniger vernnftig: vernnftiger, so minder lebhaft: heller, so minder dunkel – das versteht sich ja alles“ (Abhandlung, 1.721). Dieselbe Kraft kennt eine unendliche Nuancierung, sie ist die Voraussetzung der intellektuellen Ttigkeit, in deren Verlauf die Kraft selbst artikuliert und ausdifferenziert wird. Bereits 1763, in dem stark durch Hume, Kant und Crusius beeinflussten Versuch ber das Sein, verstand Herder den Begriff ,Kraft‘ zusammen mit ,Raum‘ und ,Zeit‘ nur als eine menschliche, subjektive und begriffliche Zergliederung des Seins, welches 5
Vgl. Ulrich Gaier, „Stellenkommentar“, in: FHA, Bd. 1, S. 1305: „Dieser Wechsel von Passivitt zu Aktivitt bezeichnet przise die Wechselwirkung zwischen Geist und Zeichen, Vernunft und Sprache, von denen nach Herders Meinung keines vor dem andern gegeben ist, sondern die immer nur als Relation und Funktion voneinander gefasst werden kçnnen, ohne daß sie identisch wren“.
2.1. Am Ursprung der Sprache
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dagegen „der allersinnlichste“ und „total unzergliederliche“ (Versuch, 1.20) Begriff sei. Die Ausdifferenzierung des Seins, dessen einheitliche Realitt fr Herder eine intuitive Evidenz ausmacht, kommt durch die Sprache zustande. Im menschlichen Geist wird das Sein durch die Kraft der Seele ersetzt, in der Anthropologie ist die Kraft also das Sein des Menschen, d. h. die Kraft spielt die Rolle eines ersten einheitlichen, durch die Sprache weiter differenzierbaren Elements. Kraft ist fr Herder eine erste Evidenz, die nicht weiter durch Begriffe analysiert werden kann. Eine Erklrung der Kraft ist nicht mçglich, zumindest nicht in der Philosophie: Ich sage nicht, daß ich hiemit was erklre; ich habe noch keine Philosophie gekannt, die, was Kraft sei, erklre, es rege sich Kraft in Einem oder in zween Wesen. Was Philosophie tut, ist bemerken, unter einander ordnen, erlutern, nachdem sie Kraft, Reiz, Wrkung schon immer voraussetzt. (Vom Erkennen, 1.337)
Damit wird die Natur der philosophischen Psychologie Herders deutlich. Sie arbeitet mit Begriffen, deren abgeleiteten Charakter der Autor erkennt. Wenn er von dem menschlichen Geist spricht, ist stets zu beachten, dass er nicht definitiv erklrbar ist, denn auch er verweist auf den Begriff ,Kraft‘. Der an den Ursprung der Sprache gesetzte Zustand der Besonnenheit gehçrt einem semiotischen Prozess zu, dessen Sinn in der Kommunikation des Individuums mit sich selbst und mit anderen Individuen besteht. Sie ist ein Zeichen fr eine Verdeutlichung des Verstehens, die wegen ihrer pragmatischen Wirkungen erwnscht ist. Dass die Kraft der Seele als besonnen charakterisiert wird, soll der Klarheit dienen: die Entscheidung fr das Wort ,Besonnenheit‘ als weiteres spezifisches Merkmal der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch will „den Verwirrungen mit eignen Vernunftkrften u.s.w. […] entkommen“ (Abhandlung, 1.719). ,Besonnenheit‘ scheint somit vor allem eine letzte Sanktionierung der menschlichen Sonderstellung zu sein, die seiner Natur eine moralische Wrde gibt. Als Kraft ist aber auch die Besonnenheit stets von einer Dualitt in der Einheit gekennzeichnet. Dies fhrt Herder notwendigerweise zur Unterscheidung zwischen der Besonnenheit als einem Zustand und einer Reflexionsleistung, fr die er das Wort ,Besinnung‘ gebraucht. Das Denken ist fhig zur Selbstreflexion, denn der Mensch ist ein Tier, das „nicht bloß erkennet, will und wrkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und wrke.“ (Abhandlung, 1.719) Die Selbstreflexion ist entscheidend fr den Ursprung der Sprache: „Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei wrkend, hat Sprache erfunden.“ (Abhandlung, 1.722) Die Reflexion taucht so im Verlauf eines Prozesses auf, der die Sprache voraussetzt und gleichzeitig konstituiert. Einerseits ist sie es, die die Menschensprache ermçglicht, aber andererseits wre sie selbst ohne die tçnenden Merkmale der Natursprache unmçglich:
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei wrket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. (Abhandlung, 1.722)
Danach entsteht in der isolierten Welle der Empfindung eine Assoziation zwischen Gegenstand und Merkmal: Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. (Abhandlung, 1.722)
Abschließend werden diese Merkmale bei der Besinnung als Begriffe verwendet, Begriffe, die nicht mehr die konkrete Assoziation von empfundenem Gegenstand und Merkmal, sondern eine Abstraktion bezeichnen: Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften, lebhaft oder klar erkennen; sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis giebt deutlichen Begriff; es ist das Erste Urteil der Seele – und – Wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! lasset uns ihm das euqgja zurufen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden. (Abhandlung, 1.722 – 723)
Auf seine Unterscheidung zwischen Besonnenheit (Status) und Besinnung (Leistung) kçnnte man auch Herders Skepsis gegenber einer Ausdifferenzierung der Kraft der Seele nach verschiedenen Vermçgen beziehen. Insbesondere die Trennung zwischen Besonnenheit und Besinnung ist das Ergebnis eines przisen Sprachspiels, das man ,Erklrung-einer-mentalen-Leistung-untervorausgesetzten-mentalen-Bedingungen‘ nennen kçnnte. Die Struktur der Seele wird von der Form dieses Sprachspiels geprgt. Sie ist so gedacht, dass das Erklren immer in zwei logischen Momenten besteht, in einem ,Zu-Erklrenden‘ und einem ,Schon-Erklrten‘, das zum ersten in logischer Verbindung stehen soll. Wenn Herder die Besonnenheit als „die Mßigung aller seiner [des Menschen] Krfte“ (Abhandlung, 1.720) bestimmt und dennoch die Scheinbarkeit der Unterscheidung zwischen verschiedenen Krften voraussetzt, sucht er vorrangig ein rhetorisches Mittel, um die Selbstbestimmung des Menschen vor dem Hintergrund der Mensch-Tier-Unterscheidung zu untersttzen. Der Mensch ist seither immer Mensch und kann dennoch mehr oder weniger Mensch sein – wie auch die Besonnenheit stets da ist, aber sich durch mehr oder weniger raffinierte intellektuelle Leistungen realisieren lsst: der sinnlichste Zustand des Menschen war noch menschlich, und also wrkte in ihm noch immer Besonnenheit, nur im minder merklichen Grade: und der am wenigsten sinnliche Zustand der Tiere war noch tierisch, und also wrkte bei aller
2.1. Am Ursprung der Sprache
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Klarheit ihrer Gedanken nie Besonnenheit eines menschlichen Begriffs. (Abhandlung, 1.721)
Dass der Mensch ein Kulturwesen ist, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass er ohne reflektiertes Verhalten kein Mensch wre: „Nicht jede Handlung der Seele ist unmittelbar eine Folge der Besinnung; jede aber eine Folge der Besonnenheit: Keine, so wie sie beim Menschen geschiehet, kçnnte sich ußern, wann der Mensch nicht Mensch wre, und nach solchem Naturgesetz dchte.“ (Abhandlung, 1.774) In ihren pluralen Funktionen braucht die Seele eine innere Organisation, eine innere Harmonie, um funktionieren zu kçnnen: „Mit Absicht angelegt und verteilt! Einheit und Zusammenhang! Proportion und Ordnung! Ein Ganzes! Ein System! Ein Geschçpf von Besonnenheit und Sprache, von Besinnung und Sprachschaffung!“ (Abhandlung, 1.750) Der gute Wille des Schçpfers hat dies vorherbestimmt, aber nur so, dass das System von Krften sich selbst regulieren kann, ohne dabei auf gçttliche Hilfe angewiesen zu sein. Das naturalisierende Erklren braucht so nicht in die Transzendenz zu flchten, wenn es die genetische Verbindung von Sprache und Besonnenheit aufzeigt. Gleichzeitig wird aber der Mensch als sprachliches Wesen, das eine komplexe Harmonie der Seele voraussetzt, zu einem kosmologischen Beweis der Existenz Gottes. Die Wirkung der gçttlichen Vorsehung bençtigt Zeit, um sich zu zeigen. Wre das Wesen des Menschen unzeitlich, kçnnte man die vielfltige Entwicklung des Menschen in der Geschichte fr fiktiv halten oder als eine dauernde Abweichung von der gçttlichen Schçpfung, als eine Entartung von einer ursprnglichen Perfektion interpretieren. Das Wesen des Menschen muss von der Schçpfung an fr die Zeitlichkeit offen sein, so dass auch die Geschichte des Menschen als Teil eines gçttlichen Projekts erscheinen kann. Auch wenn die Besonnenheit, als Ur-Disposition und als gemßigter Charakter der Seele, letztlich unzeitlich ist, artikuliert sich ihre Leistung in der Zeit, so dass man von einem Eintritt der Besonnenheit in die Geschichte durch die Besinnung sprechen kann: Man lasse ihm zu dieser ersten deutlichen Besinnung so viel Zeit, als man will: Man lasse, nach Buffons Manier (nur philosophischer, als er) dies gewordne Geschçpf sich allmhlig sammlen: Man vergesse aber nicht, daß gleich vom ersten Momente an kein Tier, sondern ein Mensch, zwar noch kein Geschçpf von Besinnung aber schon von Besonnenheit ins Universum erwache. (Abhandlung, 1.770)
Besonnenheit und Besinnung sind damit die zwei zeitlichen Momente in der Ausdifferenzierung der einheitlichen „Kraft der Seele“. Man kçnnte dennoch fragen, warum sich die sprachphilosophisch begrndete Skepsis nur an die spteren Ausdifferenzierungen der Vermçgen der Seele wendet und nicht auch an die „Kraft der Seele“ selbst, die eine Abstraktion der Sprache darstellt. Die Kraft bleibt fr Herder, wie erwhnt, ein nicht weiter erklrbares Zeichen, das
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
willkrlich, wenn auch nicht beliebig gewhlt wurde. Dank ihrer logischen Struktur ist sie, wie nun deutlich geworden ist, das adquatere Zeichen fr eine metaphorische Annherung an das Sein. Auch dessen nur intuitiv erfasste Einheit, die sich durch die Sprache differenzieren und artikulieren lsst, ist keine neue arch, die die Einheit der Vielfalt reprsentiert und verdinglicht. Die Kraft bringt eine sich immer wieder aktualisierende Dualitt mit sich. Ihre Struktur, stets untrennbar mit ihrer Wirkung verbunden, verneint bereits eine mçgliche Reduktion der Vielfalt des erfahrenen Seins auf ein einzelnes Prinzip, insofern sie ein Zeichen ist, das immer auf etwas anderes, nmlich ihre ußerung verweist. ,Kraft‘ ist ein Zeichen, das niemals allein, an sich denkbar ist, das sich nicht als festes Wesen hypostasieren lsst, da eine Kraft immer zusammen mit ihrer konkreten Wirkung gedacht wird. Trotz seines relationalen, strukturellen und dynamischen Charakters wird der Geist bei Herder nicht als reine Kraft gedacht, weil die Unterscheidung hinsichtlich einer Struktur von Krften (Besonnenheit) und Leistung (Besinnung) eine marginale Verdinglichung der Kraft mit sich bringt. Die Besonnenheit behlt damit einen ambivalenten Charakter. Bereits Hamann kritisierte Herders Sprachtheorie, „weil er mit dem neologischen Kunstwort der Besonnenheit, als einem ,einzelnen Puncte und leuchtenden Funken des vollkommenen Systems‘ ausgeht“.6 Wahrscheinlich ist es aber gerade die Sehnsucht nach einer theologischen Begrndung der Sonderstellung des Menschen, die Herder daran hindert, die ußersten Schlussfolgerungen aus der Dynamisierung und Verflssigung der Anthropologie durch die radikale Anwendung des Begriffes ,Kraft‘ auf die menschlichen Seele zu ziehen; und so versteht sich denn auch Herders Ursprung der Sprache in der Natur nicht als ein Ausschluss Gottes aus dem Sprachursprung.7 Der Unterschied zwischen Tier und Mensch kann vor 6 7
Johann Georg Hamann, „Philologische Einflle und Zweifel“, in: Josef Nadler (Hg.), Johann Georg Hamann, Smtliche Werke, Wien 1949 – 1953, Bd. 2: Schriften ber Philosophie, Philologie und Kritik: 1758 – 1763, S. 47. Herder nimmt mit Hamann an, dass das, was menschlich ist, schon von Gott stammt: „Was ich von Hamanns Schriften verstehe, ist dies daß er zufçrderst die ganze Frage fr Wortspiel hlt: was menschlich ist, ist gçttlich u. wenn Gott durch den Menschen wrkt, wrkt er Menschlich, So fern hat er Recht, davon war aber auch die Frage nicht“ („Brief an Christoph Friedrich Nicolai, 2. Juli 1772“, in: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe, hg. v. Wilhelm Dobbek u. Gnter Arnold, Weimar 1978, Bd. 2, S. 186 – 188, S.188). Bleibt fr Hamann Gott der Schçpfer der Sprache, kann jedoch auch fr ihn die Beschreibung dieses Ursprungs, als Produkt eines Menschen, nicht anders als menschlich und in diesem Sinn nicht fern von der Position Herders sein: „Weil die Werkzeuge der Sprache wenigstens ein Geschenk der alma mater Natur sind, […] und weil […] der Schçpfer dieser knstlichen Werkzeuge auch ihren Gebrauch hat einsetzen wollen und mssen: so ist allerdings der Ursprung der menschliche Sprache gçttlich. Wenn aber ein hçheres Wesen, oder ein Engel, wie bey Bileams Esel, durch unsre Zungen wirken will; so mssen alle solchen Wirkungen, gleich den redenden Thieren in
2.1. Am Ursprung der Sprache
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der reinen Sprachlichkeit festgemacht werden, die Sprache scheint bei der Suche nach der menschlichen Besonderheit nur eine erste und nur kurzfristig zufriedenstellende Antwort zu sein. Die letzte Begrndung stammt aus einer Trieblehre, die auf eine von Gott erschaffene und gut geordnete menschliche Form verweist und die eine leichter nachzuvollziehende Unterscheidung des Menschen vom Tier durch Sprache ermçglicht. Die noch teilweise ontologische Frbung, die der Begriff ,Besonnenheit‘ der Anthropologie und Sprachphilosophie Herders gibt, droht so trotz ihres heuristischen und hypothetischen Milieus wieder in eine der traditionellen Formen metaphysischer, auf Einheit reduzierender und auf feste, zeitlose Unterschiede zwischen Tier und Mensch aufbauender Anthropologie zurckzufallen. Aufgrund der ursprnglichen Natur der Besonnenheit scheint Herders Sprachauffassung die Sprache als reines Produkt der menschlichen Reflexion zu betrachten. So sprt z. B. Cassirer in dem Modell einer Abstraktion durch ,innerliche Merkwçrter‘ „den Nachklang jener Theorien, die er [Herder] bekmpft – den Nachklang der Sprachtheorien der Aufklrung, die die Sprache aus bewußter Reflexion hervorgehen, die sie „erfunden“ sein lassen“.8 Der Gebrauch von Begriffen wie ,Besonnenheit‘, die die Dynamik des Geistes verdinglichen, ist jedoch wahrscheinlich unvermeidbar, da der philosophische Diskurs eine marginale Stufe der Verallgemeinerung und Reduktion auf feste Prinzipien aus Grnden der Verstndlichkeit nicht vermeiden kann. Auch wenn die konstitutive Ursnde des Philosophierens – der Verlust des individuellen Erlebens durch den Gebrauch von Allgemeinbegriffen – zu Formen des mystischen Skeptizismus eines Hamann fhren kann, nimmt Herder bewusst das Risiko auf sich, Begriffe zu verwenden, die eine Steigerung der praktischen und performativen Wirkung des Diskurses versprechen, da er weiß, dass die Menschen seiner Zeit noch Begriffe brauchen und durch Begriffe besser berzeugt werden kçnnen. Die Besonnenheit frbt zugleich in Anspielung auf die griechische sophrosyne die Sprachtheorie mit einem moralischen Pathos. Durch die Sprache muss der Mensch nicht nur aufgrund seiner Instinktorganisation Mensch werden, sondern soll es durch eine weitere kulturelle Selbstbestimmung auch. Der Mensch sprt durch dieses Zeichen den Druck einer Tradition auf sich, die seit Sokrates in der Mßigung der Instinkte eine Ver-
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Aesops Fabeln, sich der menschlichen Natur analogisch ußern, und in dieser Beziehung kann der Ursprung der Sprache noch weniger ihr Fortgang anders als menschlich seyn und scheinen. Daher hat bereits Protagoras den Menschen mensuram omnium rerum genannt.“ (Johann Georg Hamann, „Des Ritters von Rosenkreuz letzte Willensmeinung ber den gçttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache“, in: Josef Nadler (Hg.), Johann Georg Hamann, Smtliche Werke, Wien 1949 – 1953, Bd. 3: Schriften ber Sprache, Mysterien, Vernunft: 1772 – 1788, S. 27). Ernst Cassirer, „Aufstze und kleine Schriften (1922 – 1926)“, in: Reinold Schmcker / Birgit Recki (Hg.), Ernst Cassirer. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 16, Hamburg 2003, S. 255.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
feinerung und Kultivierung der Vernunft erkennt, die zur Bedingung des Erlangens von Wrde und Glck wird. 2.1.2. Nietzsche: „Intellekt“ In WL wird eine philosophische Hypothese ber die Natur der Sprache und der sprachlich artikulierten Funktion des Intellekts durch eine Fabel eingefhrt, die den Menschen als „kluges Tier“ charakterisiert. Vor einem naturalisierenden Horizont, in dem der Mensch als Tier neben anderen Lebenswesen erscheint, wird sein Intellekt – wie auch spter im Nachlass der Achtzigerjahre – in Abgrenzung zum Tier als „Abstractions-Apparat“ dargestellt.9 An dieser Stelle schimmert die Kontinuitt mit Herders Besinnung durch, obwohl kein Zweifel darber besteht, dass bei Nietzsche die Klugheit des Tiers ,Mensch‘ nicht mehr mit einer solchen Vernunft zu tun hat, die eine direkte Verbindung mit Wahrheit und Gte aufweist. Klugheit ist keine Form praktischer Weisheit, sondern entfaltet sich wie die rein kalkulierende Vernunft bei Hobbes in einer nur instrumentellen und formellen Leistung. Von einer geistigen Struktur, die die Abstraktion erst ermçglicht, ist auch hier nicht die Rede. Die Abstraktionen sind an sich nicht wahr oder falsch, sondern semiotische Abkrzungen, die aufgrund ihrer Wirksamkeit im Verlauf des kommunikativen Prozesses ausgewhlt werden. Nicht zufllig spricht Nietzsche von Intellekt und nicht z. B. von Verstand, um ein typisches Merkmal des Menschlichen zu gewinnen, durch das die Versprachlichung der Welt in Analogie zu einem organischen Naturphnomen erfasst werden kann. Mit dem Wort ,Intellekt‘ will Nietzsche sich von jeder metaphysischen Darstellung des menschlichen Erkenntnisvermçgens distanzieren und damit eine logische Basis fr die Sprachkritik gewinnen. ,Intellekt‘ haben bei Nietzsche auch Tiere. Wie ein Intellekt bei Herder ohne Leib nicht zu denken ist, so hat auch bei Nietzsche die Zergliederung des Geistes in verschiedene Vermçgen keine ontologische Bedeutung. Wie schon bei Herder kommt die Entfaltung der Funktion des Intellekts nicht ohne die Sprache aus. Das neue, vor allem durch Schopenhauer, der diesem Begriff nach dem Deutschen Idealismus neue Bedeutung im Kontext seiner Willensmetaphysik gegeben hatte,10 aber auch durch evolutionre Denkweisen beeinflusste Bild des 9 Vgl. N 1884, KSA 11, 25[409]. 10 „Jedes Thier hat […] seinen Intellekt offenbar nur zu dem Zwecke, daß es sein Futter auffinden und erlangen kçnne; wonach dann auch das Maß desselben bestimmt ist. Nicht anders verhlt es sich mit dem Menschen, nur daß die grçßere Schwierigkeit seiner Erhaltung und die unendliche Vermehrbarkeit seiner Bedrfnisse hier ein viel grçßeres Maß von Intellekt nçtig gemacht hat“ (A. Schopenhauer, „Parerga und Paralipomena II“,
2.1. Am Ursprung der Sprache
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Intellekts als „Erhaltungsmittel“ fhrt Nietzsche jedoch auch von dem metaphysischen Residuum der herderschen Anthropologie weg, der Idee einer unvernderlichen Grundstruktur des menschlichen Geistes. Bei Parmenides fand er bereits das erste und entscheidende Missverstndnis ber die Natur des Intellekts, das bei diesem ein von der Sinnlichkeit getrenntes substantialistisches Erkenntnisvermçgen geworden sei. Parmenides hat nach Nietzsche damit „den Intellekt selbst zertrmmert und zu jener gnzlich irrthmlichen Scheidung von ,Geist‘ und ,Kçrper‘ aufgemuntert, die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt.“ (PHG, KSA 1, S. 843). Dass der Intellekt fr ihn „Mittel zur Erhaltung des Lebens“ geworden ist, spricht zweifach gegen Parmenides’ Vorstellung. Der Intellekt ist nicht nur Funktion des Kçrpers, solange er dem Leben dienen muss, sondern er beweist eine werdende, dynamische Natur, die der sich stets verndernden Konstellation von Lebensbedrfnissen entspricht und jeden Anspruch auf absolute, allgemeine Gltigkeit der eigenen Produkte problematisch macht. Es habe nmlich, so Nietzsche noch in WL, wo er ihm am Ursprung der sprachlichen Artikulation der Welt eine wichtige Funktion gibt, „Ewigkeiten, in denen er nicht war“ (KSA 1, S. 875), gegeben. Diese Behauptung ist sicher hochproblematisch, insofern sie einen Standpunkt zur Entwicklung der menschlichen Gattung voraussetzt, der dem Menschen eo ipso nicht verfgbar ist. Einen Menschen ohne Intellekt kann man nur als negativen Begriff konstruieren und diese Negation aufgrund der Annahme plausibilisieren, dass der Intellekt, als Teil eines langen evolutionren Prozesses, langsame, aber radikale Vernderungen kennt, die es nicht zulassen, von etwas wie einem festen Wesen zu sprechen. In diesem Sinn wre der Intellekt bis zu einem bestimmten Moment seiner Entwicklung so anders, dass man ihn aus der Sicht des entwickelten Intellekts gar nicht als solchen verstehen kçnnte. Um das Entstehen der Differenz zwischen Intellekt und Leib verstndlich zu machen, rekurriert Nietzsche auf Begriffe, die nicht nur zur philosophischen, sondern auch zur empirischen Naturbetrachtung gehçren; um die Verflechtung von Kçrper und Geist, von Leben und Denken, von Mensch in: Ders., Smtliche Werke, hg. v. Wolfgang Freiherr von Lçhneysen, Darmstadt 1968, Bd. 5, S. 117). Im Einklang mit Schopenhauer macht Nietzsche in dem folgenden Notat der siebziger Jahre die lebensnotwendige Funktion des Intellekts als eines Mittels des Willens klar: „Wir haben uns hier zu erinnern, daß der Intellekt nur ein Organ des Willens ist und somit in allem seinem Wirken auf das Dasein, mit nothwendiger Gier, hindrngt und daß es sich bei seinem Ziele nur um verschiedene Formen des Daseins, nie aber um die Frage nach Sein oder Nichtsein handeln kann. Fr den Intellekt giebt es kein Nichts als Ziel, somit auch keine absolute Erkenntniß, weil diese dem Sein gegenber ein Nichtsein wre. Das Leben untersttzen – zum Leben verfhren, ist demnach die jeder Erkenntniß zu Grunde liegende Absicht, das unlogische Element, welches als der Vater jeder Erkenntniß auch die Grenzen derselben bestimmt.“ (N 1870/71, KSA 7, 7[125])
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
und Umwelt denkbar zu machen, gebraucht er dynamische Zeichen wie ,Trieb‘ oder ,Instinkt‘ bei der Darstellung des Intellekts. An den Ursprung der Sprache hatte Nietzsche in dem Abschnitt der Vorlesungen ber die lateinische Grammatik, in dem er Herder kritisiert, einen ,Instinkt‘ gesetzt und bei diesem Instinkt den „innersten Kern eines Wesens“ (KGW II/2, S. 186) erkennen wollen. Das zeigt, dass das Thema des Sprachursprungs fr Nietzsche ein unlçsbares Problem blieb. Er ußerte selbst, dass „der Ursprung der Sprache nicht zu denken ist“ (KGW II/2, S. 185) und dass ihm nur bleibt, „die Sprache als Erzeugniß des Instinktes zu betrachten, wie bei den Bienen – den Ameisenhaufen usw.“ (KGW II/2, S. 186), und er spricht hier der Natur beim Begriff ,Instinkt‘ noch einen Teleologismus zu, dessen Annahme ihn mit Kant und Schelling eint.11 In WL scheint er dagegen gerade wegen des ,Intellekts‘ jedem Finalismus der Natur zu widersprechen. Nur zufllig erhlt nmlich der Intellekt die Gattung, da er selbst „zwecklos und beliebig“ (WL, S. 874) ist. Er ist nur zufllig ntzlich fr das Leben, und sein scheinbarer Finalismus verspricht keinen Beitrag zu einem kosmologischen Beweis eines transzendenten Prinzips. „Es giebt fr jenen Intellekt keine weitere Mission, die ber das Menschenleben hinausfhrte“ (WL, S. 874). Damit ist sofort auch jedes theologische Programm des spezifischen Unterschieds zwischen Mensch und Tier ausgeschlossen, nach welchem der Intellekt oder die Besonnenheit den letzten Grund in der Erkenntnis Gottes htten. Dass Nietzsche in WL nicht einen Instinkt, sondern einen Trieb, nmlich einen „Trieb zur Metapher“ ins Spiel bringt, um die Sprachgenesis darzustellen, zeigt, wie er die Perspektive seines Diskurses ndert. Die Vernatrlichung der Sprache ersetzt hier einen naiven Naturalismus, der Instinkte als biologische Befunde nutzt, um Sprache und Kultur auf sie zu reduzieren. Im heuristischen Spiel der Vernatrlichung wird ein Begriff der Physiologie (,Trieb‘) mit einem der Rhetorik (,Metapher‘) in einem bewusst fiktiven Prinzip verbunden. Mit dem ,Trieb zur Metapher‘ kommt Nietzsche so wieder in die Nhe jener Funktion, die schon im Ursprungsdiskurs bei Herder vorkam: auch er will bestimmte kulturelle Wertsetzungen plausibilisieren, aber ohne Anspruch auf Widerspiegelung der biologischen Realitt. So formuliert er auch spter die Abhngigkeit des Intellekts von den Trieben: „Der Intellekt ist das Werkzeug unserer Triebe und nichts mehr, er wird nie frei. Er schrft sich im Kampf der verschiedenen Triebe, und verfeinert die Thtigkeit jedes einzelnen Triebes dadurch.“ (N 1880, KSA 9, 6[130]) Die Grnde fr eine solche Beschreibung des Menschen sind nicht in der Mçglichkeit einer eher objektiven, ,wahren‘ Widerspiegelung der Realitt, sondern 11 Dass Nietzsche hier mit seiner Annahme von Kants Auffassung des Instinkts als bewusstlose Zweckmßigkeit noch ein „zu oberflchliches Bild“ des Instinkts liefert, merkt bereits Albert Vinzens, Friedrich Nietzsches Instinktverwandlung, Basel 1999, S. 136, an.
2.1. Am Ursprung der Sprache
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in seiner praktischen Wirkung zu suchen. Die Vergeistigung des Menschen und die damit verbundene Entwertung der Instinkte sind gerade problematisch wegen ihrer praktischen Wirkungen. Bereits aufgrund einer „allgemeine[n], chronisch gewordene[n] bernervositt“ (M 38), die die Vergeistigung mit sich bringt, scheint sie dysfunktional zu sein: berall, wo die Lehre von der r e i n e n G e i s t i g k e i t geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstçrt: sie lehrte den Kçrper geringschtzen, vernachlssigen oder qulen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber qulen und geringschtzen; sie gab verdsterte, gespannte, gedrckte Seelen, – welche noch berdiess glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefhls zu kennen und sie vielleicht heben zu kçnnen! „Im Kçrper muss sie liegen! er blht immer noch zu sehr!“ – so schlossen sie, whrend thatschlich derselbe gegen seine fortwhrende Verhçhnung durch seine Schmerzen Einsprache ber Einsprache erhob. (M 38)
Das Verhltnis zwischen den Trieben und dem Intellekt ist nicht deterministisch, zumal der Intellekt auf die Triebe zurckwirkt. Die Triebe sind bei Nietzsche nichts rein Biologisches, sondern „ungeheure Zeitrume hindurch in Gesellschaf ts- und Geschlechtsverbnden gezchtet worden“ (N 1881, KSA 9, 11[130]). Durch die Sprache und die Kommunikation wird die Selbstregulierung der Triebe nach Nietzsche in eine bestimmte Richtung gesteuert, ohne dass er damit aufs neue eine freie, autonome und somit moralisch legitimierte asketische Selbstbeherrschung der Triebe rechtfertigen wollte. Die Sprache objektiviert die Instinkte, die Kommunikation verstrkt bestimmte Formen des Verhaltens – jedoch ohne bewusste Zwecke zu verfolgen. Die Darstellung der Abhngigkeit des Intellekts vom Leib scheint damit in erster Linie eine therapeutische Bedeutung zu haben: sie hilft zur Bewahrung einer Nervenkraft, die idealistische Menschenbilder nicht zu kultivieren wissen. Sogar die Einheit und die Individualitt eines intellektuellen Vermçgens stehen fr Nietzsche in Frage. Sie sind lediglich Produkt eines semiotischen Prozesses, in dessen Verlauf das Zeichen ,Intellekt‘ das Selbstverstndnis des organischen Lebenswesens ermçglicht. Als Produkt einer Vielzahl von Trieben lsst sich der Intellekt aber nicht ontologisch zu einer Einheit außerhalb der sprachlichen Dimension stilisieren. Die Einheit bleibt Fiktion: Es ist das Zusammenspiel s e h r v i e l e r In t e l l e k t e ! berall, wo ich Leben finde, finde ich schon dies Zusammenspielen! Und auch ein Herrscher ist in den vielen Intellekten da. – Sobald wir aber uns die organischen Handlungen als m i t H l f e v i e l e r In t e l l e k t e ausgefhrt denken: werden sie uns ganz unverstndlich. Vielmehr mssen wir den Intellekt selber als eine letzte Consequenz jenes Organischen denken. (N 1883, KSA 10, 12[37])
So gehen sowohl Herder als auch Nietzsche von einem nicht-ontologischen Charakter des Erkenntnisvermçgensdiskurses aus. Whrend Herder aber die unterschiedlich konstruierten Vermçgen des menschlichen Geistes auf eine
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
einheitliche Kraft der Seele zurckzufhren will, ohne die semiotisch konstruierte Einheit dieser Kraft vollstndig erfassen zu kçnnen, bleibt bei Nietzsche auch diese Einheit noch kommunikative Fiktion. Nach Nietzsche sind die differenzierenden Wçrter fr Erkenntnisfunktionen nichts anderes als perspektivische Substantialisierungen, die Philosophen vornehmen. Die geistige Dimension, die die Sprache ausdifferenziert und artikuliert, ist nun nicht mehr die der neoplatonischen Schemata Herders, in denen eine vor-sprachliche UrEinheit der geistigen Krfte vorausgesetzt wird. Nietzsche sieht die Differenz als etwas Ursprnglicheres an als die Identitt. Die Sprache artikuliert, differenziert und fixiert eine ursprnglich flssige, chaotische und pluralistische Realitt des Geistes. Diese Pluralitt ist aber nicht so zu verstehen, als ob es nur um den Ersatz einer monistischen Ontologie durch eine pluralistische gehe, sondern im Sinne einer Pluralitt, hinter die wir, weil die Sprache sie erst schafft, nicht zurckkçnnen. Wir kçnnen uns nur mit Produkten der Sprache befassen, und so ist die Pluralitt von Trieben und Krften, die der Organismus in sich zu erfahren scheint, auch nur eine Manifestation der Urproduktivitt der Sprache. Selbst das Chaos in uns ist, wie die spter konstruierte Einheit des Intellekts, ein Produkt der menschlichen Sprache. Nicht nur sind die unterschiedlichen Vermçgen des Geistes eine Manifestation sprachlicher Ausdifferenzierung, auch die Einheit der Kraft der Seele, die Herder postulierte, ist eine solche. Mit seiner Pluralisierung der Krfte des Geistes will Nietzsche nicht zu Seelenlehren zurckkehren, die vor Herder die Anthropologie prgten, sondern einen vorsprachlichen geistigen Kern des Menschen, der trotz der Sprachlichkeit unserer Erkenntnisse noch reflexiv erreichbar wre, nun definitiv ausschließen. Herders Kraft der Seele, aus der die Sprache entspringen sollte, bleibt ein Produkt der Sprache, wenn auch ein ,natrlicheres‘ als andere Konstruktionen der Philosophie des Geistes, insofern sie ermçglicht, den Geist durch weniger Prinzipien darzustellen. Diese positive Kraft der Seele lsst sich als eine Form der anthropomorphen Vereinfachung durch die wichtigste Heuristik der Vernatrlichung, die Analogie mit dem Organischen, dekonstruieren. Gerade die Analogie mit der phylogenetischen Entwicklung der Sinne ermçglicht ein Bild des Intellekts, nach dem er nicht nur etwas Gewordenes ist, sondern auch etwas, das in einer Pluralitt von kleinen Anfngen entstanden ist: Die Entwicklung des Organischen ergiebt eine große Wahrscheinlichkeit, daß der Intellekt aus sehr kleinen Anfngen gewachsen ist, also auch g e w o rd e n ist: die Sinnesorgane sind nachweisbar entstanden, vor ihnen gab es noch keine „Sinne.“ (N 1884, KSA 11, 26[80])
Herder legte die Sinne fest und hierarchisierte sie, Nietzsche reduziert sie nur auf Funktionen bestimmter Organe. Wie der Begriff ,Intellekt‘ ist auch ,Sinn‘ ein Ergebnis der Versprachlichung. Herder gelang es noch, mit der Darstellung des Menschen als „denkendes sensorium commune“ die Einheit hinter den ver-
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schiedenen Sinnen zu retten. Nach seinem Misstrauen gegen die erkenntnistheoretische Zergliederung der Seele sucht Nietzsche neue Formulierungen, um die Pluralitt der geistig-leiblichen Krfte dennoch auszudrcken. Er kann damit auch den Intellekt, zusammen mit den Sinnen, als einen Apparat betrachten, aber nur derart, dass dieser Apparat ein fiktives Konstrukt sein soll, das bestimmte praktische Bedrfnisse befriedigt: Der Intellekt und die Sinne sind ein vor allem v e r e i n f a c h e n d e r Apparat. Unsere falsche, verkleinerte, l o g i s i r t e Welt der Ursachen ist aber die Welt, in welcher wir leben k ç n n e n . Wir sind soweit „erkennend“, daß wir unsere Bedrfnisse befriedigen kçnnen. (N 1885, KSA 11, 34[46])
Es wre ein Missverstndnis, diese Apparate als etwas vom Prozess der Vereinfachung selbst Unabhngiges betrachten zu wollen. Die Schwierigkeit besteht darin, ber den Intellekt etwas zu sagen, ohne ihn zu verdinglichen. Nicht zufllig spricht Nietzsche, wie schon Herder, von ,Kraft‘ im Kontext seiner Vorgeschichte der Versprachlichung der Welt, die er in WL konstruiert. Nicht aber eine Kraft der Seele, sondern eine „Kraft des Erkennens“ (WL, KSA 1, S. 875) tritt hier in die Diskussion.12 Diese Kraft scheint, verbunden mit dem Intellekt, keine einfache Form von Besinnung mehr zu sein, sondern eine Form von ,Verstellung‘, in der der Intellekt „seine Hauptkrfte“ (WL, KSA 1, S. 875) entfaltet. Diese Verstellung des Intellekts betrifft sowohl die Selbsteinschtzung des Individuums und die damit verbundene Einschtzung des Werts der Existenz als auch seine interpersonellen Verhltnisse: Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Tuschung, das Schmeicheln, Lgen und Trgen, das Hinter-dem-Rcken-Reden, das Reprsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhllende Convention, das Bhnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwhrende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. (WL, KSA 1, S. 875, S. 876)13
Nietzsche beschreibt den Intellekt auf zwei verschiedenen Ebenen. Zuerst stellt er auf fast phnomenologische Weise als Grundstimmung, die unsere Thema12 Fr beide ist Leibniz’ Einfluss beim Gebrauch des Begriffs ,Kraft‘ entscheidend. Fr Nietzsche vgl. Abel, Nietzsche. Die Dynamik, der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin / New York 1984, insbesondere Kapitel 1. 13 Dass die Verstellung das Wesen des Intellekts ausmacht, ist nach Kaiser, „ber Wahrheit und Klarheit. Aspekte des Rhetorischen in ,ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne‘“, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), auch fr Nietzsches rhetorisches Vorgehen in WL von Bedeutung: „Wird Obscuritas bestimmt als die Klarsicht auf den Text, ist in der Bonisierung der Verstellung als Lizenz zum Lgen ein poetologisches Verfahren benannt, das zum Grundsatz von Nietzsches Artistenmetaphysik fhrt. Die Philosophen lgen, weil sie schreiben, und weil sie schreibend nie die Welt haben, drfen sie es auch.“ (S. 77)
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tisierung des Intellekts begleitet, eine Form von „Hochmuth“, dann von einem pragmatischen und kommunikativen Standpunkt aus fest, wie die menschlichen Verhltnisse von einem dauerhaft stabilen gegenseitigen Betrgen geprgt sind. Als Erfahrung des Unterschieds zu anderen Tieren wird die Entdeckung des Intellekts notwendig zum Stolz auf die menschliche Sonderstellung: „Menschlich ist er [der Intellekt], und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.“ (WL, S. 875) Damit greift Nietzsche nicht nur konkrete Formen anthropozentrischer Selbstbesttigung des Geistes an, sondern vor allem die Rekonstruktion des Erlebnisses, das jeder Philosoph – auch Nietzsche – beim Philosophieren ber den Intellekt erlebt.14 Der Mensch sieht sich in Abgrenzung zum Tier nicht nur als Besitzer eines Intellektes, sondern auch als ein Wesen, das darber sprechen kann. Auch den Kritiker des Anthropozentrismus begleitet noch eine Art des Hochmuts, solange er weiß, dass er seine Kritik nur als Mensch artikulieren kann. Nicht zufllig ist fr Nietzsche der Philosoph „der stolzeste Mensch“ (WL, S. 876), denn er glaubt, „von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.“ (WL, S. 876) Nietzsche versteht dennoch, dass der mit dieser perspektivischen Deformierung verbundene Stolz bedeutsam fr das Leben sein muss, wenn eine falsche „Rangordnung zu Thier und Natur“ (FW 115) ein Irrtum ist, den die Menschheit durch die Illusion einer eigenen speziellen Wrde gefçrdert hat: „jener mit Erkennen und Empfinden verbundene Hochmuth, verblendende Nebel ber die Augen und Sinne des Menschen legend, tuscht sie also ber den Werth des Daseins, dadurch dass ber das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Wertschtzung in sich trgt.“ (WL, S. 876)15 Das Leben bençtigt so den 14 Fr Geijsen, Geschichte und Gerechtigkeit. Grundzge einer Philosophie der Mitte im Frhwerk Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 39), Berlin / New York 1997, S. 188, hat dagegen dieser Hochmut mit einem „inneren Spannungsverhltnis im Philosophen“ zu tun. Bei ihm finde ein „Kampf zwischen dem knstlerischen Zug und der Tendenz auf Erkenntnis“ statt. Ein Gleichgewicht, eine Balance zwischen beiden Tendenzen findet Nietzsche in der Kunst, whrend „durch den Hochmut gegen die Gerechtigkeit verstoßen“ wird, „denn mit seinem Herrschaftsanspruch setzt das Erkennen sich selbst absolut.“ Wichtig fr Nietzsches Verstndnis von Stolz und Eitelkeit ist Wolfgang Mller-Lauter, ber Werden und Wille zur Macht. Nietzsche Interpretationen I, Berlin / New York 1999, Kap. 4, insb. S. 150 – 173, der sich jedoch auf den mittleren und spteren Nietzsche konzentriert und nicht ber WL spricht. 15 In Zur Genealogie der Moral erkennt Nietzsche explizit bei einer Entwicklung dieses Stolzes, nmlich bei dem Pathos der Distanz, einen mçglichen Ursprung der Sprache: „Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefhl einer hçheren herrschenden Art im Verhltniss zu einer niederen Art, zu einem ,Unten‘ – das ist der Ursprung des Gegensatzes ,gut‘ und ,schlecht‘. (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtusserung der Herrschenden zu fassen:
2.1. Am Ursprung der Sprache
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Intellekt nicht nur als Quelle von Abstraktionen, die eine technische Beherrschung der Natur ermçglichen. Er begrndet auch diesen Stolz, der lebensbegnstigende Wertsetzungen hervorbringt. Evolutionr gesprochen gehçrt der Stolz zum Menschen, da Menschen ohne dieses wenn auch schwach ausgebildete Gefhl nicht berleben kçnnen. Wenn aber eine irrationale berschtzung des Werts des Intellekts fr die Erhaltung des Lebens nçtig ist, dann ist auch klar, dass der Intellekt allein das Leben nicht erhalten kann. Um seine Funktion zu erfllen, braucht er einen Stolz, der auf einem Irrtum beruht, d. h. das, was die Philosophie traditionell als die Sphre des Intellekts auszuschließen versucht. Derselbe anthropozentrische Stolz findet sich spter sogar am Ursprung der Entstehung der Wissenschaft, und die Sprache ist auch hier wie in WL das Medium, durch das diese Stimmung wchst und die die Bedingungen der wissenschaftlichen Arbeit schafft: Die Bedeutung der Sprache fr die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er fr so fest hielt, um von ihm aus die brige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an a e t e r n a e v e r i t a t e s durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich ber das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drckte vielmehr, wie er whnte, das hçchste Wissen ber die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemhung um die Wissenschaft. (MA I 11)
Die mangelnde Bescheidenheit wird zur Bedingung dafr, dass von Wahrheit gesprochen wird, wie auch des Glaubens an eine objektive Widerspiegelung der Realitt durch unsere Erkenntnis. Wenn der Mensch nur durch die Versprachlichung der Welt Zugang zu einer festen, nicht fluktuierenden Dimension des Seins gewinnt, beginnt er, an eine metaphysische, nichtzeitliche Identitt der Bedeutungen zu glauben. Auch ,Menschennatur‘ kann als solch ein fester, immer gleich bleibender Begriff verstanden werden. Wenn man nicht mehr von festen Wesen sprechen kann, bleibt nur die Mçglichkeit einer dynamischen Typologie. Der intuitive und der vernnftige Mensch von WL lassen sich nur durch ihren Gebrauch der Sprache unterscheiden. Man kann nicht sagen, sie seien versie sagen ,das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.)“ (GM I 2) Auch Herder war es klar, dass eine bestimmte bertriebene Einschtzung der Bedeutung der Vernunft fr das Leben des Menschen ntzlich sein konnte: „Nicht nur Philosophen haben die menschliche Vernunft, als unabhngig von Sinnen und Organen, zu einer ihm ursprnglichen, reinen Potenz erhoben; sondern auch der sinnliche Mensch whnet im Traum seines Lebens, er sei alles, was er ist, durch sich selbst worden. Erklrlich ist dieser Wahn, zumal bei dem sinnlichen Menschen. Das Gefhl der Selbstttigkeit, das ihm der Schçpfer gegeben hat, regt ihn zu Handlungen auf und belohnt ihn mit dem sßesten Lohn einer selbstvollendeten Handlung“ (Ideen, 6.336).
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
schieden, sondern nur, dass sie verschieden kommunikativ handeln. Solange die Metaphern in Begriffen erstarren und diese wieder als Metaphern gebraucht werden kçnnen, kann man stndige Bewegungen vom intuitiven zum vernnftigen Typus vermuten. Ersterer muss allerdings noch an einige feste Bedeutungen glauben, um leben zu kçnnen, und damit ist der spezifische Unterschied kaum feststellbar. Die „Tuschung, das Schmeicheln, Lgen und Trgen“, die Nietzsche in der Ttigkeit des Intellekts erkennt, zeigen sich nicht nur in diesem Stolz, sondern auch in der kommunikativen Praxis, allerdings nicht in dem Sinne, dass damit bereits ein selbstbewusstes Subjekt gegenber anderen Subjekten vorausgesetzt wre. Das Bewusstsein entsteht, wie wir sehen werden,16 erst im Verlauf des kommunikativen Prozesses selbst, ist damit also nicht etwas vor der interpersonellen Verstellung Gegebenes. Dagegen zeigt Nietzsches Sprachkritik, dass Subjekt und Objekt Funktionen der Grammatik sind und als solche Ergebnisse und nicht Quelle der Verstellungsdynamik. In dieser Urverstellung geht es um einen gegenseitigen, unreflektierten Austausch von perspektivischen Konstruktionen der Wirklichkeit, der eine interindividuell gltige Wirklichkeit konstituiert, die dem Leben ntzlich ist. Bei diesen Urformen des Verstellens kann man deshalb nicht von ,betrgen‘ sprechen, die Grundstruktur des Betrgens ist hier nicht plausibel: Ein Ich, das weiß, was fr es wahr ist und gleichzeitig andere Ichs erkennt, die es vom Gegenteil davon, was es fr wahr hlt, berzeugen will. Diese Ur-Ttigkeit des Intellekts ist nur eine metaphorische Form von Betrug, ein Synonym fr den perspektivischen Charakter jeder Realittsbeschreibung. Als Unbewusstes, nicht als etwas wesentlich teleologisch zu Erklrendes, ist die Verstellung des Intellekts etwas Verschwenderisches, das auch Irrtmer produziert, die keine Bedeutung fr das Leben gewinnen, wie etwa auch in der biologischen Evolution alle Vernderungen des genetischen Erbes dem puren Zufall unterliegen und nicht immer der Gattung von Vorteil sind: Der Intellect hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthmer erzeugt; einige davon ergaben sich als ntzlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kmpfte seinen Kampf fr sich und seinen Nachwuchs mit grçsserem Glcke. Solche irrthmliche Glaubensstze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind zum Beispiel diese: dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Kçrper gebe, dass ein Ding Das sei, als was es erscheine, dass unser Wollen frei sei, dass was fr mich gut ist, auch an und fr sich gut sei. (FW 110)
Die Entfernung zu Schopenhauer ist hier eindeutig: Als ,Verstellung‘ hat der Intellekt schon die transzendentale Struktur der ,Vorstellung‘ verloren. Seine Leistung entspricht nicht mehr berindividuellen, transzendentalen Gesetzen, 16 S. 2.2.2.
2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung
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und die „wahre Wirklichkeit“ entsteht nicht dank eines Filters allgemeiner Kategorien, sondern als vorlufige bereinstimmung von Perspektiven, die sich an gegenseitiger Verstellung und eigener Selbsterhaltung orientieren.
2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung Das klassische metaphysische Modell Bewusstsein!Sprache!Kommunikation wird durch den Begriff ,Instinkt‘ radikal verunsichert. ,Triebe‘ und ,Instinkte‘ bezeichnen eine Dimension des Menschlichen, die das Bewusstsein vorbestimmt, dem Bewusstsein selbst jedoch unzugnglich bleiben muss, d. h. Instinkte und Triebe werden zu Zeichen fr die Bedingtheit des Bewusstseins und seiner nicht vollstndigen Selbstbezglichkeit. Herder und Nietzsche wollen aus den Instinkten nicht das Wesen des Menschen machen, sie bleiben stattdessen, im Einklang mit dem heuristischen Verfahren der Vernatrlichung, zunchst Arbeitshypothese. Der ,schwache‘, nicht ontologische Naturalismus bei Herder und Nietzsche impliziert kein reduktionistisches, sondern ein semiotisches und sprachpragmatisches Verstndnis der Instinkte. Sie sind Teil einer Selbstinterpretation des Menschen, die aufgrund der Kritik des Begriffs, die wir in Kapitel 2.4. darstellen, ihre eigenen Ergebnisse nicht als adquat reprsentativ, sondern als vorlufige Vereinfachung eines nie zu erfassenden Werdens nimmt. Es ist ein solches Modell zu verfolgen, in dem die Instinkte, als Zeichen fr eine unerfassbare Dimension, anders als in einer einfach biologistischen Reduktion des Bewusstseins als Epiphnomen des Unbewussten, in Klammern geschrieben werden: (Instinkte)!Bewusstsein!Sprache!Kommunikation. Vom Altertum bis Herder und von Herder bis Nietzsche waren unterschiedliche Bilder fiktiver Naturzustnde bekannt. Die spezifischen Charaktere eines Naturbilds, das die Entstehung der Sprache als etwas mehr oder weniger Instinktgebundenes darstellt, beeinflussen unvermeidlich die Sprachkonzeption selbst.17 Die Rolle des Mitmenschen ist hier von entscheidender Bedeutung. Skizziert man das Bild eines Naturzustandes einsamer Tiere, wird die Sprache zum Medium des Denkens, das dem Menschen als Menschen vor jeder Interaktion mit anderen Menschen zur Verfgung steht; wird der Mensch im Naturzustand nicht als von seinen Mitmenschen getrennt dargestellt, so kann man die Bedeutung der sympathetischen Interaktion fr die Entwicklung der Sprache kaum unterschtzen. Das Modell einer in Einsamkeit entwickelten Sprache, 17 Nietzsches neuartige Bestimmung des Naturzustands hat auch mit der Entwicklung vieler ethnologischer Forschungen des 18. Jahrhunderts zu tun, die von ihm stark rezipiert wurden. Vgl. Andrea Orsucci, Orient – Okzident, Nietzsches Versuch einer Lçsung vom europischen Weltbild (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 32), Berlin / New York 1996, S. 45 – 49.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
die erst spter zur Kommunikation gebraucht wird, steht einem solchen gegenber, in dem die Kommunikation von Anfang an die Sprache prgt. Bereits von einem trivialen Standpunkt aus scheint das Bild eines Menschen ohne MitMenschen sehr konstruiert zu sein, da es die Rolle der Lebensbedrfnisse vernachlssigt. Eine Vernatrlichung des Menschen und der Sprache, die gerade diese Lebensbedrfnisse nicht einfach ignorieren darf, muss deswegen auf die Unterscheidung zwischen einer Sprache vor der Kommunikation und einer Sprache fr die Kommunikation verzichten. Dieser Unterschied bleibt nur ein ordnungsstiftendes Produkt des theoretischen Diskurses, der damit noch einmal seine Distanz zur Lebenswelt beweist. Wenn eine Dimension interpersoneller Verhltnisse vor der Gesellschaft als ursprnglich gedacht wird, dann muss in Anspruch genommen werden, dass alle mit der Sprache verbundenen kognitiven Leistungen auch als etwas vom Druck des Anderen, d. h. von Kommunikationsbedrfnissen Bestimmtes zu denken sind. Besonders diese Einsicht scheint Nietzsche von Herder zu trennen, da Nietzsche sogar die Entstehung des Bewusstseins von der Kommunikation abhngig macht. 2.2.1. Herder: Vom Bewusstsein zur Sprache Herder geht gegenber dem oben schematisierten Modell einen Schritt weiter, indem er die zeitliche Distanz zwischen Instinkten und Bewusstsein tilgt, da sich fr ihn die Besonnenheit in den Leerrumen der Instinktkonstellation entfalten muss. Das Schema kann fr ihn so umformuliert werden: (Instinkte)-Bewusstsein!Sprache!Kommunikation. Herder entscheidet sich fr eine Genesis der Sprache, die in der Innerlichkeit des einzelnen, isolierten Individuums ansetzt. Sprache wird bei ihm mit dem ersten „Merkmal der Besinnung“, d. h. mit dem ersten „Wort der Seele“ erfunden (Abhandlung, 1.722). Dass der Mensch Besonnenheit hat, bedeutet unmittelbar, dass er auch Sprache besitzt, da „nicht das simpelste Urteil einer menschlichen Besonnenheit ohne Merkmal mçglich sei“ (Abhandlung, 1.726). Durch den bewussten Gebrauch von Merkmalen werden die Vielfalt der sinnlichen Empfindungen reduziert und Werte von Dingen durch Ur-Teilen konstruiert, ohne dass Mitmenschen ursprnglich Teil dieser Konstruktion sind. Herders Trennung der kognitiven und kommunikativen Momente der Sprache macht sich vor allem negativ im Verlauf seiner Kritik anderer Autoren bemerkbar. Er profiliert seine Haltung z. B. klar gegen die Condillacs, dessen Beschreibung des Naturzustands er in der Abhandlung als unwahrscheinlich beurteilt.18 Condillacs berhmtes Gedankenexperiment der zwei Kinder in einer 18 Proß, Johann Gottfried Herders Abhandlung ber den Ursprung der Sprache, Mnchen 1980, hat den Einfluss Condillacs auf Herder, der hingegen fr Hans Aarsleff, „The
2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung
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Wste scheint ihm widersprchlich vor allem, weil einerseits ursprnglich keine Sprache vorausgesetzt und dann plçtzlich kommuniziert wird: Seine beiden Kinder kommen ohne Knntnis jedes Zeichens zusammen, und – siehe da! Im ersten Augenblicke (§. 2.) „sind sie schon im gegenseitigen Kommerz.“ Und doch bloß durch dies gegenseitige Kommerz lernen sie erst, „mit dem Geschrei der Empfindungen die Gedanken zu verbinden, deren natrliche Zeichen jene sind.“ Natrliche Zeichen der Empfindung durch das Kommerz lernen? Lernen, was fr Gedanken damit zu verbinden sind? Und doch gleich im ersten Augenblick der Zusammenkunft, doch vor der Knntnis dessen, was das dummste Tier kennet, Kommerz haben? Lernen kçnnen, was mit gewissen Zeichen fr Gedanken zu verknpfen sind? – davon begreife ich nichts (Abhandlung, 1.768).
Herders eigenes Sprachursprungsmodell kann nicht rein kognitivistisch verstanden werden.19 Interessant ist die Anmerkung Trabants, nach der „auf der kommunikativen Dimension Sprache wohl“ ruht, „aber sie entstammt ihr nicht“; „sobald aber die Sprache als kognitive erfunden ist, wird [sie] allerdings von Herder sofort wieder in die Dimension der anderen entlassen.“20 Durch die Unterscheidung Trabants zwischen ,aufruhen‘ und ,entstammen‘ scheinen zwei Momente der Entwicklung der Sprache voneinander isolierbar, nmlich eine rein kognitive Abstammung der Sprache und eine sptere Gestaltung des Resultates dieser Abstammung unter dem Druck der Kommunikation. Diese Konstruktion ist jedoch zu ,substantialistisch‘ fr Herders Sprachbild, da hier eine Sprache und ein Denken vor dem Sprechen konstruiert werden, die es bei Herder so nicht zu geben scheint. Dass sich fr ihn von Anfang an die Sprache an der Kommunikation orientiert, kçnnte schon dadurch belegt werden, dass alle Menschen nach einem „Naturgesetz“ ihre Tçne hnlich ausstoßen: „deine Empfindung tçne deinem Geschlecht Einartig, und werde also von allen, wie Tradition of Condillac: the Problem of the Origin of Language in the Eighteenth Century and the Debate in the Berlin Academy before Herder“, in: Ders., From Locke to Saussure. Essays on the Study of Language and Intellectual History, Minneapolis 1982, S. 146 – 209, außer Frage bleibt, stark relativiert zugunsten der Bedeutung von Bonnet, Mendelssohn, Vico, Montesquieu und Pufendorf. 19 Erich Ruprecht, „Vernunft und Sprache“, in: Johann G. Maltusch (Hg.), Bckeburger Gesprche ber Johann Gottfried Herder 1975, Rinteln 1976, S. 58 – 84, S. 71, zeigt, dass Vernunft und Sprache bei Herder einen gemeinsamen Ursprung haben. Vgl. dagegen Jrgen Trabant, „Ethische Momente in Sprachursprungstheorien“, in: Josef Simon (Hg.), Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt am Main 1997, S. 225 – 244, S. 230: Mit seiner Kritik an Condillac verwerfe Herder die Idee, „daß die Spracherfindung berhaupt der Lçsung eines kommunikativen Problems diene“, „in seinem Gegenvorschlag lçst er den eigentlichen Sprachursprung daher aus der kommunikativ-pragmatischen Dimension und setzt ihn radikal in die kognitiv-semantische Dimension.“ Auch Salmony, Die Philosophie des jungen Herder, Zrich 1949, S. 86, betont die kognitiven Momente bei Herders Konzept Sprachgenesis strker als die pragmatischen, d. h. dass „Herder die Sprache aus der Vernunft entstehen lsst“. 20 Trabant, „Ethische Momente in Sprachursprungstheorien“, in: Josef Simon (Hg.), Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt am Main 1997, S. 230.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
von Einem mitfhlend vernommen!“ (Abhandlung, 1.698) Selbstverstndlich kçnnen diese ersten durch die Tçne der Empfindung geschaffenen Kontakte nicht als das, was wir unter verbaler Kommunikation verstehen, aufgefasst werden. Sie verursachen in diesem Moment nur unwillkrliche Kontakte. Jedoch wird die weitere Artikulation der Natursprache in Menschensprache von diesem ,Urkontakt‘ grundlegend geprgt, so dass man zuletzt sagen kann, dass sich die Menschensprache auch bei Herder unter dem Druck der Kommunikation entwickelt. Die reflektierte Abstraktion der Merkmale fr die Kennzeichnung hnlicher Empfindungen ist damit auch schwer vom Kontakt mit Mitmenschen zu trennen: die Besinnung, die von der menschlichen und besonnenen Triebdisposition ermçglicht wird, entwickelt sich zusammen mit der Verwendung von Tçnen zu „Merkmalen der Besinnung“. Die Tçne, die die Besinnung zu Merkmalen weiter entwickelt, werden niemals als etwas von der Wirkung Getrenntes erlebt, die sie auf uns (man denke nur an die Lallationen des Kindes) und auf andere Menschen haben.21 Der bewusste Gebrauch von Tçnen reflektiert die Reaktion, die wir bei anderen Menschen hervorrufen und gleichzeitig beobachten. Das Ausstoßen von Tçnen gewinnt damit im Kontext dieses Bildes eines Naturzustands der Sprache eine multimediale Natur: Das Erlebnis des ausgestoßenen Tons ist direkt mit visuellen Erfahrungen gekoppelt. Ein Ton wird nicht nur als Ton, sondern auch als Ausdruck des Gesichts eines anderen Menschen, seiner Gebrde erlebt. Sein Reagieren auf Empfindungen durch verbale Zeichen wird von Beginn an wahrgenommen; auch wenn keine bestimmte Wirkung bei einem bestimmten Zuhçrer beabsichtigt wird, kann sich der Mensch den Folgen seiner eigenen Reaktion auf Zeichen nicht entziehen. Er wird immer Effekte, die sein Gebrauch von Zeichen auf andere Individuen hat, erfahren.22 Herder scheint sich gegen Condillac darum gerade in 21 Ralf Simon, Das Gedchtnis der Interpretation. Gedchtnistheorie als Fundament fr Hermeneutik, sthetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998, S. 187, schlgt sogar eine Analogie zwischen der sympathetischen Natur der Kommunikation bei Herder und der Dynamik der doppelten Kontingenz Luhmanns vor: „Sofern nach Herder menschliches Sprechen an sich die Fortschreibung der individuellen Differentialitt betreibt und aufgrund der immer basal bleibenden Sympathetik des Tones die Saiten eines Anderen anrhrt, der diese Affektion wiederum nach Maßgabe der Fortschreibung seiner Differenzen rekonstruiert, ist es nur unter der Voraussetzung dessen zu verstehen, was Luhmann mit dem Begriff der doppelten Kontingenz bezeichnet hat.“ Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1988, S. 148 – 190. 22 Obwohl er keinen neuen Ursprung der Sprache skizzieren will, thematisiert Humboldt die Bedeutung der gesellschaftlichen Dimension des Individuums fr die Artikulation der Sprache hnlich: „Die Sprache ist kein bloßes Verstndigungsmittel, sondern der Abdruck des Geistes und der Weltansicht der Redenden, die Geselligkeit ist das unentbehrliche Hlfsmittel zu ihrer Entfaltung, aber bei weitem nicht der einzige Zweck, auf den sie hinarbeitet, der vielmehr seinen Endpunkt doch in dem einzelnen findet,
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Bezug auf die Idee eines Ursprungs der Sprache aus der Konvention zu distanzieren: Am wenigsten ists Einverstndnis; willkrliche Konvention der Gesellschaft; der Wilde, der Einsame im Walde htte Sprache fr sich selbst erfinden mssen; htte er sie auch nie geredet. Sie war Einverstndnis seiner Seele mit sich, und ein so notwendiges Einverstndnis, als der Mensch Mensch war. (Abhandlung, 1.725)
Mit der Metapher des Einverstndnisses der Seele ist die Dualitt der Selbstreflexion in die Annahme der Ursprnglichkeit der inneren Sprache eingefhrt.23 Bei dieser ersten reflektierten Verwendung akustischer Zeichen erkennt man so etwas wie einen Dialog, der jedoch nicht nur in der Innerlichkeit des Individuums zu denken ist. Die Dialogizitt der Seele ist von Beginn an auch eine Dialogizitt mit dem Mitmenschen: Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken, nicht das erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere, oder zu dialogieren strebe; der erste menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit andern dialogieren zu kçnnen! Das erste Merkmal, was ich erfasse, ist Merkwort fr mich, und Mitteilungswort fr andre! (Abhandlung, 1.733)
Der gesellschaftliche Charakter des Sprachursprungs taucht auch in dem zweiten Naturgesetz auf, das Herder so formuliert: „Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschçpf der Herde, der Gesellschaft: die Fortbildung einer Sprache wird ihm also natrlich, wesentlich, notwendig“ (Abhandlung, 1.783). Dies schließt nicht nur das Bild einer vor der Kommunikation als unpersçnliches Medium ausgearbeiteten Sprache aus; die Sprache muss auch in der Tiefe der grammatikalischen Strukturen kommunikativ geprgt sein. So kann Herder, der fr konkrete empirische Belege auf andere Autoren verweist, den zeitlichen Vorrang des Prteritums ber das Prsens bei den verbalen Formen der ltesten Sprachen funktionalistisch erklren:
insofern der einzelne von der Menschheit getrennt werden kann.“ (Wilhelm von Humboldt, „ber den Dualis“, in: Ders., Schriften zur Sprache, Stuttgart 2007, S. 21 f.). 23 Anscheinend widerspricht sich Herder spter in den Ideen (6.344 ff.), wenn er von einem gçttlichen Ursprung der Sprache spricht und sogar eine reine Willkrlichkeit in der Verbindung von Sprache und Wçrtern andeutet, die die natrliche Notwendigkeit der ersten Verbindung von Wçrtern und Dingen leugnet. Ralf Simon, „Polemik und Argument. Das kurze Kapitel zur Sprachphilosophie in Herders Ideen (9. Buch, 2. Kapitel)“, in: Regine Otto / John H. Zammito (Hg.), Vom Selbstdenken. Aufklrung und Aufklrungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, Heidelberg 2001, S. 145 – 156, erklrt diesen Widerspruch mit der Polemik gegen Kant. Herder verkrze die komplexere Sprachphilosophie der Abhandlung dort, „wo auch nur die kleinste Anknpfungsmçglichkeit fr eine kantische Position zu finden sein kçnnte.“ (S. 148). Diese Anknpfung kçnnte in seiner Vorstellung einer Sprache der Seele liegen, die etwa die Reinheit der kantischen Vernunft – die Reinheit, die durch Herders Verknpfung von Sprache und Denken fragwrdig geworden ist – aufweist.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Das Wort, was unmittelbar auf den Schall der Natur, nachahmend, folgte: folgte schon einem Vergangnen: „Praeterita sind also die Wurzeln der Verborum, aber Praeterita, die noch fast fr die Gegenwart gelten. A priori ist das Faktum sonderbar und unerklrlich, da die gegenwrtige Zeit die erste sein mßte, wie sie es auch in allen sptergebildeten Sprachen geworden; nach der Geschichte der Sprachenerfindung konnte es nicht anders sein. „Die Gegenwart zeigt man; aber das Vergangne muß man erzhlen.“ Und da man dies auf so viel Art erzhlen konnte, und anfangs im Bedrfnis Worte zu finden es so vielfltig tun mußte: so wurden „in allen alten Sprachen viel Praeterita, aber nur ein oder kein Praesens.“ (Abhandlung, 1.763)
Herders Oszillation zwischen einer kognitivistischen und einer kommunikativen Interpretation des Sprachursprungs hat mit den praktischen Interessen seiner Vernatrlichung der Sprache zu tun. Einerseits muss er einen Menschen konzipieren, der allein mit seiner Seele die Sprache entwickeln kann, um die Sonderstellung des Menschen noch behaupten zu kçnnen; andererseits gbe ein rein kognitivistisches Bild des Ursprungs der Sprache keinen natrlichen Boden fr die Plausibilisierung altruistischer Werte ab. Dieselbe diskursive Strategie brachte sehr unterschiedliche Ergebnisse bei Rousseau und motivierte eine Kritik Herders, die nicht nur eine sprachtheoretische Bedeutung hatte. Beide rekurrieren auf zwei verschiedene Menschenbilder im Kontext einer hnlichen Strategie der Plausibilisierung moralischer Wertsetzungen durch Konstruktion eines Ursprungs der Sprache,24 aber jeder auf seine Weise. Zunchst schreibt Herder Rousseau einen paradoxen Anthropomorphismus zu. Er stelle sich die Tiere menschlich und die Menschen tierisch vor, wenn er „mtterliche Liebe, Liebe und Mitleiden“ (Abhandlung, 1.788) nicht den Menschen, sondern den Tieren zuschreibt. Auch deswegen sei Rousseau wahrscheinlich gezwungen gewesen, die menschliche Sonderstellung in einer Fhigkeit zur Reflexion zu sehen, was Herder jedoch nicht berzeugt: Der neuere franzçsische Philosoph, der diese rflexion en puissance, diesen Scheinbegriff so blendend gemacht, hat, wie wir sehen werden, immer nur eine Luftblase blendend gemacht, die er eine Zeitlang vor sich hertreibt, die ihm selbst aber unvermutet auf seinem Wege zerspringt. (Abhandlung, 1.720)
Zweitens wird der Theorie des Rivalen Irrealitt und verdeckte Widersprchlichkeit zugeschrieben: Der Mensch Rousseaus ist nach Herder ein „Phantom“, ein „entartete[s] Geschçpf“. Whrend er den Menschen „auf der einen Seite mit der Vernunftfhigkeit abspeiset, wird [er] auf der andern mit der Perfektibilitt und zwar mit ihr als Charaktereigenschaft, und zwar mit ihr in so hohem Grade belehnet, daß er dadurch von allen Tiergattungen lernen kçnne“ (Abhandlung, 24 Dass die Leugnung der rousseauschen Anthropologie hinter Herders Kritik der ebenfalls naturalistischen Sprachursprungtheorie Rousseaus steht, bemerkt auch Pierre Pnisson, „Le ’Trait sur l’origine de la langue’ et Rousseau“, in: Pierre Pnisson / Norbert Waszek (Hg.), Herder et les lumires: L’Europe de la Pluralit culturelle er linguistique, Paris 2003, S. 101 – 108.
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1.730). Rousseaus Menschenbild ist fr ihn nicht stimmig, da ihm die Besonderheit des Menschen verloren geht: Der Mensch scheint in einem bestimmten Moment seiner Naturgeschichte auf Sprache und Kultur verzichten zu kçnnen, so dass der Wilde Rousseaus als hypostasiertes Ideal des moralischen Diskurses eine leere, naive Idee ist. Die Moralitt des glcklichen, vor-zivilisatorischen Naturzustandes impliziert eine Ungeselligkeit, die sie fr Herder fragwrdig macht. Rousseau reflektiert auch im Diskurs ber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) den Ursprung der Sprache und zeigt sich ebenfalls nicht ganz zufrieden mit Condillacs Lçsung des Problems, die der Gesellschaft eine grundlegende Rolle zuerkannte.25 Condillac setze voraus, was er „in Frage stelle – nmlich daß eine Art von Gesellschaft unter den Erfindern der Sprache bereits etabliert war“.26 Er bleibt skeptisch: „was ist das Notwendigere gewesen – eine zuvor gebildete Gesellschaft fr die Einfhrung der Sprachen, oder zuvor erfundene Sprachen fr die Errichtung der Gesellschaft?“27 Er hlt die Idee fest, dass die Menschen im Naturzustand „keine Verbindung untereinander hatten noch irgendein Bedrfnis danach, eine solche zu haben“.28 Wichtig ist, dass gerade die Schwierigkeit, den Ursprung der Sprache aus der Natur logisch zu begrnden, fr ihn die Unbegrndbarkeit einer natrlichen Geselligkeit impliziert, fr die die Sprache unentbehrlich sei: Wie immer es mit diesen Ursprngen stehen mag, an der geringen Mhe, die sich die Natur gegeben hat, die Menschen durch wechselseitige Bedrfnisse einander anzunhern und ihnen den Gebrauch der Sprache zu erleichtern, sieht man zumindest, wie wenig sie deren Soziabilitt vorbereitet hat und wie wenig sie zu all dem, was die Menschen getan haben, um die gesellschaftlichen Bande zu knpfen, das Ihrige beigetragen hat. In der Tat ist es unmçglich, sich vorzustellen, weshalb in jenem anfnglichen Zustand ein Mensch eines anderen Menschen eher bedrfen sollte als ein Affe oder ein Wolf seinesgleichen, noch, dieses Bedrfnis vorausgesetzt, welcher Beweggrund den anderen dazu veranlassen kçnnte, fr es Sorge zu tragen,
25 Jean-Jacques Rousseau, Diskurs ber die Ungleichheit / Discours sur l’ingalit, bers. u. hg. v. Heinrich Meier, Paderborn 1997, S. 117 ff. Trotz des 1781 posthum erschienenen Werks „Essay ber den Ursprung der Sprachen, worin auch ber Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird“ (in: Ders., Musik und Sprache. Ausgewhlte Schriften, bers. v. Dorothea Glke u. Peter Glke, Wilhelmshaven 1984) scheint er eine andere Richtung zu nehmen: „Sobald ein Mensch von einem anderen als fhlendes, denkendes, als ein ihm hnliches Wesen erkannt wird, veranlassen ihn der Wunsch oder das Bedrfnis nach Mitteilung seiner Gefhle und Gedanken, nach Mitteln hierfr zu suchen. Diese Mittel kçnnen nur dem Bereich der Sinne entstammen, als den einzigen Instrumenten, mithilfe derer ein Mensch auf einen anderen einwirken kann. Daher rhrt die Einfhrung sichtbarer Zeichen, die Gedanken auszudrcken vermçgen.“ (S. 131). 26 Rousseau, Diskurs ber die Ungleichheit / Discours sur l’ingalit. 27 Rousseau, Diskurs ber die Ungleichheit / Discours sur l’ingalit, S. 131. 28 Rousseau, Diskurs ber die Ungleichheit / Discours sur l’ingalit, S. 119.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
nicht einmal, wie sie in diesem letzteren Fall untereinander ber die Bedingungen bereinkommen kçnnten.29
Fr diese natrliche Ungeselligkeit bringt Rousseau keine konkreten Beweise, und deshalb lsst sich auch die Wahrheit dieser Vorstellung des Naturzustandes nicht nach ihren praktischen Wirkungen beurteilen, d. h. nach ihrer Kraft, das Ideal von Glck ohne Kultur und gemeinschaftliches Leben zu strken. Doch bei diesem gegenanthropozentrischen, naturalistischen Versuch geht jede Besonderheit des Menschen verloren, da der Mensch im Naturzustand tierisch und glcklich leben kann. Selbsterhaltung und Mitleid sind die einzigen Krfte, die die Menschen im Naturzustand bestimmen. Anders als bei Herder scheint das Mitleid jedoch nicht unbedingt zum Sprechen zu bringen. Wenn unter dem Druck der Einbildungskraft eine artikulierte Sprache von Abstraktionen der Vernunft dienlich sein kann,30 tritt fr den Menschen auch die Mçglichkeit eines gesellschaftlichen Lebens auf, das Unglck und moralisch Bçses kennt. Dass der Mensch in einer Gesellschaft ohne „Sprache“, „Wohnsitz“, „Krieg“ und „Verbindung“ „ohne jedes Bedrfnis nach seinen Mitmenschen“ und letztlich ohne „Erziehung“ und ohne „Fortschritt“ glcklich leben kçnnte,31 ist vom Standpunkt einer in der Geschichte zu realisierenden Humanitt nicht anzunehmen. Herders Kritik an Condillac und Rousseau ist nicht ohne sein moralisches Pathos zu verstehen: „Condillac und Rousseau mußten ber den Sprachursprung irren, weil sie sich ber diesen Unterschied so bekannt und verschieden irrten: da jener die Tiere zu Menschen, und dieser die Menschen zu Tieren machte“. (Abhandlung, 1.711) Fr Herder sind hingegen die Naturgesetze, die den Menschen zur Sprache bringen, dieselben, die aus ihm auch ein moralisches Wesen machen, und das eben weil er durch die Sprache kommunizieren kann. Das zweite Naturgesetz kann sogar als Art eines praktischen Imperativs gesehen werden: „Empfinde nicht fr dich allein: sondern dein Gefhl tçne“ (Abhandlung, 1.698), und das hauptschlich aus dem Grund, dass die Naturgesetze Formen einer „muetterliche[n] Hand der Natur“ (Abhandlung, 1.698) sind. Diese Gesetze setzen den Menschen als zur Kommunikation fhig voraus, wenn sie ihn als „ein empfindsames Wesen“ schaffen, „das keine seiner lebhaften Empfindungen in sich einschließen kann; das im ersten berraschenden Augenblick, selbst ohne Willkr und Absicht, jede in Laut ußern muß“ (Abhandlung, 1.698). Die Verbindung zwischen der solipsistischen privaten Sprache und der Sprache der Kommunikation sowie der Erzhlung ist damit gleichzeitig die Verbindung des Glcks eines egoistischen, selbstzufriedenen Individuums mit dem Glck eines Lebens 29 Rousseau, Diskurs ber die Ungleichheit / Discours sur l’ingalit, S. 131. 30 Vgl. dazu die Analyse von Jacques Derrida, Grammatologie, aus dem Franzçsischen von Hans-Jçrg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main 1983. 31 Derrida, Grammatologie, S. 161.
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in der Gesellschaft. Diese Verbindung wird durch das Zeichen ,Gefhl‘ plausibel gemacht, das sinnliche Phnomen, an dem sich die ganze Erkenntnistheorie Herders orientiert.32 ,Gefhl‘ ist ein Zeichen fr etwas, das nicht vollkommen durch Abstraktionen begreifbar ist, sondern nur individuell und subjektiv; wegen der hnlichen Struktur der Sinnlichkeit sind jedoch Gemeinsamkeiten im Fhlen unterschiedlicher Individuen denkbar. Das Gefhl behlt eine wesentliche Verbindung zur Sprache, die zuerst Sprache der Empfindung ist. Nur weil die Menschen fhlende Wesen und die Gesetze dieses Fhlens hnlich sind, ist das Erzhlen eine konstitutive Funktion der Sprache des Ursprungs. Man erzhlt nicht nur, um zu informieren, sondern auch, um zu unterhalten, d. h. Gefhle zu erregen. Allerdings bewirkt nur die berhrende Wirkung der Sprache, dass dem Menschen die Menschlichkeit des anderen Menschen immer bewusster werden und er damit zu ihm in ein sympathetisches Verhltnis eintreten kann. Durch die verursachte Berhrung kann man eine gemeinsame Sensibilitt zu seinem Mitmenschen erkennen, da der Andere sich in der Lage zeigt, auf meine Erzhlung, d. h. auf mein Wirken-Wollen auf ihn, nach meinen Erwartungen zu reagieren. So kommt man bereits infolge einer „Mechanik fhlender Kçrper“ zur Kommunikation, „auch ohne das Bewusstsein fremder Sympathie“ (Abhandlung, 1.697), da das Bewusstsein hiervon im Moment der rein privaten Sprache nicht gegeben ist. Die Sympathie ist nicht da als eine vorausgesetzte, vor der Sprache realisierte Eigenschaft des Miteinanderseins, sondern entsteht in der Kommunikation und wird durch die gegenseitige Berhrung sprbar. Die Vernatrlichung der Sprache macht ein natrliches Ethos des Miteinanderseins plausibel, in dem der Mensch immer mehr Mensch wird, also sein sprachliches Wesen entwickelt, und das vor allem wegen seiner Mitmenschen. Das Mitleiden gewinnt eine moralische Bedeutung, gerade weil es fr die Sprachbildung unentbehrlich ist. Schon die Mutter spricht zum Kind, um eine Ur-Spannung zu lçsen, um sich von dem mit-leidenden Mitfhlen zu entlasten: „Eben die Schmerzen und Ungemchlichkeiten vermehren die mtterliche Liebe! Eben das Bejammerns- und nicht Liebenswrdige des Suglings, das Schwache, Hinfllige seines Temperaments, die beschwerliche, verdrießliche Mhe der Erziehung verdoppelt die Regungen seiner Eltern.“ (Abhandlung, 1.784) Außer das „Werkzeug der Erziehung“ und „Medium unsrer besten Vergngungen“ ist die Sprache auch „das Band der Seelen“, das „Eltern mit Kindern, Stnde mit Stnden, den Lehrer mit seinen Schlern, Freunde, Brger, Genossen, Menschen“ (ber die Fhigkeit zu sprechen und zu hçren, 9/2.707) verbindet. Die Qualitt des sozialen Lebens hngt so auch von der Sprache ab. 32 Dass die Gnoseologie Herders sthetisch, d. h. auf der sinnlichen Erkenntnis fundiert ist, zeigt Hans Adler, Die Prgnnz des Dunklen. Gnoseologie – sthetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990.
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Herder macht ein Ideal aus der Sprachbildung, in dem aber die ursprngliche kommunikative Disposition wieder in Form einer Betonung der Disposition des Anderen auftauchen soll. Das Erlernen deutlicher, richtiger und vernnftiger Sprache ist, wegen der dialogischen und kommunikativen Natur der Ursprachen, nicht mçglich, ohne dass man lernt, gut zu hçren: Um aber sprechen zu lernen, muß man hçren kçnnen und hçren dçrfen. Viele Menschen verstehen diese Kunst zu hçren gar nicht; manchen Vçlkern wird sie ber gewisse Gegenstnde nicht vergçnnet; ihre Seelen mssen also von diesen Seiten ungeschliffen und ungelenk bleiben. Daher sehen wir, daß Mnner, in denen ein großer Trieb war, die Wahrheit von allen Seiten kennen zu lernen, den Umgang der Menschen suchten, die frei zu sprechen wagten. (ber die Fhigkeit zu sprechen und zu hçren, Bd. 9/2, S. 740)
Zusammenfassend ist bei Herder eine Oszillation zwischen einem privaten, rein kognitiven und einem gesellschaftlichen, kommunikativen Ursprung der Sprache zu erkennen. Wenn innere Dialogizitt und Kommunikation den Ursprung der Sprache beeinflussen, bleiben bei Herder wohl die anthropologischen Denkstrukturen, die denselben Ursprung ermçglichen, selbst wenn sie als etwas Dynamisches und Gewordenes vorstellbar sind, der kommunikativen Dynamik immer einen Schritt voraus. Nicht nur der Gebrauch von Merkmalen, der, wie gesagt, eine kommunikative Interaktion ermçglicht, setzt eine Besonnenheit voraus, die schon vor dem Ankommen des Anderen besteht. Auch das Gefhl kann diese Funktion eines metaphysischen Urgrundes gewinnen. Der Mensch als Tier hat schon eine „dunkle Idee seines Ichs, so dunkel als sie nur eine Pflanze fhlen kann“ (Viertes Wldchen, 4.274). Wie ein Baum aus einem Keim, so entwickeln sich aus diesem Pflanzengefhl alle „Ideen des Menschen“ und „alle Empfindungen“ (Viertes Wldchen, 4.274). Wenn Empfindungen und Ideen Objekte der Kommunikation werden und auf den Geist zurckwirken, so kçnnte man sich eine kommunikative Prgung des Geistes vorstellen, von der aber Herder nur bis zu einem bestimmten Punkt ausgeht. Dieser Rekurs auf das Gefhl ist weit entfernt von Descartes’ Reduktion der Subjektivitt auf ein selbstreflexives Ich und verweist auf eine leibnizsche Vorstellung des Bewusstseins. Es wre infolgedessen konsequent gewesen, das Gefhl explizit an den Ursprung der Sprache zu setzen und die Besonnenheit als spteres Produkt der Versprachlichung darzustellen. Das geschieht bei Herder wegen der Notwendigkeit, gegen die rousseausche Zivilisationskritik Position zu beziehen, jedoch nicht. So bleibt eine Spannung in Herders Sprachbild, die auf metaphysischen Resten beruht – der moralische Wert der Sinnlichkeit, der Vernunft, der Natur und der zivilisierten Gesellschaft sollen gerettet werden. Jenseits dieser spezifischen moralischen Bedrfnisse kann Nietzsche einen weiteren Schritt der Vernatrlichung von Geist und Denken vollziehen, der das ganze Phnomen der Bewusstheit pragmatisch aus der kommunikativen Dimension des menschlichen Daseins versteht.
2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung
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2.2.2. Nietzsche: Von der Sprache zum Bewusstsein Herders Verbindung von Sprache und Geist, die sich in der Form „dunkles Gefhl des Ich!(Instinkte)-Bewusstsein !Sprache-Kommunikation“ schematisieren lsst, wird von Nietzsche maßgeblich weiterentwickelt.33 In dem frhen Fragment Vom Ursprung der Sprache hat er die Sprache als Erzeugnis des Instinkts definiert und dabei bemerkt, dass „jedes bewusste Denken erst mit Hlfe der Sprache mçglich“ wird (KGW II/2, S. 185). Nach WL bleiben diese Instinkte, im Kontext der skeptischen Sprachkritik, nur als Zeichen verstndlich, die ohne eine feste außersprachliche Referenz innerhalb eines Netzes von Zeichen wirken. Sie nehmen nicht mehr in Anspruch, eine biologische Dimension der Sprache auszudrcken, sondern sie zeigen die Bedingtheit der Sprache aus einer nicht-sprachlichen Dimension an, einer Dimension, die aber wiederum nur als Sprache zu erfassen ist. Deswegen kçnnen wir in Nietzsches Schema die Instinkte in Klammern setzen. Die konsequentere methodische Vernatrlichung bei Nietzsche radikalisiert die funktionalistische Perspektive des anthropologischen und sprachphilosophischen Diskurses, so dass auch der letzte Rest der Substantialitt des Bewusstseins in Frage gestellt werden kann. Sie wird zu einem semiotischen Resultat einer dynamischen Interaktion zwischen Individuen, der Kommunikation. Nietzsches Modell kann dann so schematisiert werden: (Instinkte)!Sprache-Kommunikation!Bewusstsein. Das Bewusstsein verliert als Produkt, nicht mehr als originale Dimension des Menschlichen nicht nur jede Ursprnglichkeit und Zentralitt im Leben des Geistes,34 sondern auch jede normative Bedeutung. Es kann als Beginn einer Nivellierung des Individuums entlarvt werden, das unter dem Druck der Gemeinschaft steht, zu der der Mensch als sprachlicher Tter gehçrt. !
33 Dass diese Distanzierung von Herders Position auch mit dem Einfluss Eduard von Hartmanns zu tun hat, zeigt Crawford, The beginning of Nietzsche’s theory of language, Berlin / New York 1988, S. 133 f. 34 Das polemische Ziel von Nietzsches berlegungen ber Sprache und Geist wird exemplarisch von Abel, „Bewußtsein – Sprache – Natur. Nietzsches Philosophie des Geistes“, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 1 – 43, zusammengefasst: Seine „Kritik des Reflexions-Modells des Bewußtseins und Selbstbewußtseins […] ist vor allem eine Kritik des Cartesianischen Modells, fr das […] die folgenden Positionen charakteristisch sind: (a) es sei von einer ,reinen inneren Erfahrung‘ auszugehen; (b) das Ich des Bewußtseins habe auf dem Wege der Introspektion einen direkten und transparenten Zugang zu seiner inneren Welt und Erfahrung, zu sich selbst ebenso wie zu den Inhalten des Bewußtseins; (c) das Bewußtsein habe einen zentralen und lokalisierbaren Sitz im Gehirn; (d) das Subjekt des Bewußtseins kçnne sich auf einen hçchsten und fixen Standpunkt hinaufreflektieren; (e) das Ich sei als Substanz aufzufassen; und (f ) das Selbstbewußtsein stelle fr das Ich des Bewußtseins diejenige Struktur dar, an der es sein Interesse an einer fundamentalistischen Selbstvergewisserung durchfhren und ins Ziel bringen kann.“
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
In Kontinuitt zu Herder konstruiert Nietzsche in WL eine Art Naturzustand, wenn auch nicht derart offensichtlich. Vor diesem Hintergrund versucht er, die Ursprnglichkeit der kommunikativen Interaktion unter Individuen plausibel zu machen. In der Situation, die er emphatisch „natrliche[n] Zustand der Dinge“ (WL, S. 877) nennt, wird der Mensch als egoistischer, jedoch nicht isolierter sprachlicher Tter bezeichnet, der im Kampf um Selbsterhaltung „den Intellekt zumeist nur zur Verstellung“ (WL, S. 877) nutzt.35 Dabei geht es weniger um die adquate Widerspiegelung der ußeren Realitt als um den Betrug anderer Menschen. Im Naturzustand bilden die Menschen noch keine Gesellschaft, und so gibt es auch noch keine bereinstimmung ber die Kriterien von wahr und falsch und keine allgemeinen Gesetze fr die Regelung der interpersonellen Beziehungen. Der Naturzustand Hobbes’, das bellum omnium contra omnes, ist danach einer der intellektuellen Verstellung, nicht einfach der rein physischen Gewalt. In einem solchen Urzustand der Zivilisation scheint auch eine Gebrdensprache im Sinne Condillacs wieder denkbar, und sptere Bemerkungen ber die Gebrdensprache lassen tatschlich erkennen, dass Nietzsche, anders als Herder, kein Problem damit hatte, die Tradition Condillacs, mehr oder weniger bewusst,36 mit hobbesschen Motiven zu verbinden: G e b rd e u n d Sp r a c h e . – Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebrden, welches unwillkrlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurckdrngung der Gebrdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen kçnnen (man kann beobachten, dass fingirtes Ghnen bei Einem, der es sieht, natrliches Ghnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebrde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurck, welche sie im Gesicht oder Kçrper des Nachgeahmten ausdrckte. […] Sobald man sich in Gebrden verstand, konnte wiederum eine Sy m b o l i k der Gebrde entstehen: ich meine, man konnte ber eine Tonzeichensprache sich verstndigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebrde (zu der er symbolisch hinzutrat), spter nur den Ton hervorbrachte. (MA I 216)
35 Fr Nietzsche, der vom Trieb des Lebens zur Selbststeigerung ausgeht, ist Selbsterhaltung kein ausschließliches Erklrungsprinzip des Lebens. Bei Herder hingegen, der Spinoza folgt, scheint dies der Fall zu sein: „Selbsterhaltung ist das erste, wozu ein Wesen da ist: vom Staubkorn bis zur Sonne strebt jedes Ding, was es ist, zu bleiben; dazu ist den Tieren Instinkt eingeprgt: dazu ist dem Menschen sein Analogon des Instinkts oder der Vernunft gegeben.“ (Ideen, 6.313) Zu Nietzsches Kritik der Selbsterhaltung vgl. Gnter Abel, „Nietzsche contra ,Selbsterhaltung‘. Steigerung der Macht und Ewige Wiederkehr“, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 367 – 384. 36 Fr die Bedeutung von Condillacs Theorie des Ursprungs der Sprache fr Nietzsche vgl. Hubert Treiber, „Zur ,Logik des Traumes‘ bei Nietzsche. Anmerkungen zu den Traumaphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches“, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 1 – 41, S. 31.
2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung
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Aus dem Zustand einer groben Natursprache ohne Gesellschaft kommt der Mensch nach Nietzsche aus ,natrlichen‘ Grnden heraus: „weil aber der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens den allergrçbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde.“ (WL, S. 877) Der Mensch als „Geschçpf der Herde“ (Abhandlung, 1.783) ist bei Nietzsche ganz anders als bei Herder zu denken. Die Grundsituation des Menschen in diesem Naturzustand ist bei ihm, etwa im Sinne Rousseaus, durch eine problematische Spannung zwischen einer natrlichen Einsamkeit und einer Disposition zum Leben in Gesellschaft charakterisiert, so dass die Ursprnglichkeit der Kommunikation zwischen Individuen nicht automatisch, wie fr Herder, einer Moralisierung der elementaren sympathetischen Tendenzen unterliegt. Bei Herder unterstreichen die Naturgesetze die Bedeutung der Sozialisierung und Versprachlichung des Menschlichen. Fr Nietzsche hingegen ist es nicht widersprchlich zu sagen, dass der Mensch „gesellschaftlich und heerdenweise existiren will [Hervorhebung A.B.]“. Mit diesem ,will‘ scheint er einen Spielraum fr die menschliche Freiheit erçffnen zu wollen, fr ein mehr oder weniger individuelles, mehr oder weniger herdenmßiges Verhalten des Menschen. Etwas von der rhetorischen Kraft einer naturalistischen Rckfhrung des Handelns auf die Instinkte geht hier verloren, gerade an der Stelle, an der es um die Rettung moralischer Anhaltspunkte geht, um die Idee der Mçglichkeit eines souvernen Individuums, das, trotz aller sozialen Bedingtheit, die Aufgabe der Selbstgestaltung als sinnvoll anerkennt. Dieses Wollen kann in einem schopenhauerschen Sinne als ein unbewusster, irrationaler Drang verstanden werden, ist also nicht weit entfernt von dem Begriff des Instinkts, den Nietzsche spter wieder nutzt, um die sozialen Tendenzen des Menschen zu bezeichnen und dabei die gewordene und einverleibte Natur dieser Tendenzen zu unterstreichen: Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheuere Zeitrume hindurch in G e s e l l s c h a f t s - und G e s c h l e c h t s v e r b n d e n gezchtet worden (vorher wohl in Affen-H e e rd e n ): so sind sie als sociale Triebe und Leidenschaften strker als individuelle, auch jetzt noch. (N 1881, KSA 9, 11[130])37
Im Text von WL gibt es gengend Anhaltspunkte dafr, das Wollen nicht als ein freies, bewusstes und rationales Wollen zu interpretieren, wenn in diese Dynamik der Vergesellschaftlichung des einsamen Urmenschen „Noth und Langeweile“ einbezogen werden. Not beschrnkt die Spielrume des Wollens und spricht fr einen physiologischen Druck, der das Individuum zur Gesellschaft als Mittel einer effizienteren Bedrfnisbefriedigung bringt.
37 Vgl. auch 11[182].
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Der hobbessche Naturzustand wird durch die Integration von Schopenhauers Menschenbild weiter przisiert, nach dem das Dasein zwischen Schmerz und Lust oszilliert und durchschnittlich in Langeweile verbracht wird. Der Verweis auf die Langeweile wirkt jedoch fast als ironische Relativierung der bereits versuchten und sehr traditionellen Begrndung der Gesellschaft in den materiellen Bedrfnissen des Einzelnen. Das deterministische Verhltnis individueller Bedrfnisse wird dabei aufgebrochen und die Basis fr eine hçhere Komplexitt der Gesellschaft gelegt, da in dieser der Mensch jetzt auch ein ,Unterhaltungsbedrfnis‘ zu befriedigen sucht.38 Auch ,die Langeweile vermeiden zu wollen‘ beeinflusst die Entwicklung der Sprache in der Gesellschaft, wie auch schon bei Herder die Notwendigkeit des Erzhlens die grammatikalischen Strukturen der Sprache tief prgte. Auf diese Weise differenziert sich die Dynamik des Verstellens der sprachlichen Wesen weiter aus. Whrend ein Verstellen unmittelbar aus der Not des Lebens kommt und sich in einem blinden Kampf um Selbst-erhaltung, um ,Erhaltung des Lebens seiner selbst‘ ohne Bercksichtigung des anderen auswirkt, fhrt die Langeweile zu einem Verstellen mit der Funktion der Unter-haltung, einem ,sich im Leben halten‘, hier aber in Kooperation mit anderen Menschen. Man kann darin die verdeckte Wurzel der Trennung zwischen einem kalkulierenden und einem sthetischen Gebrauch der Sprache sehen, die Nietzsche in WL plausibel machen will; die unmittelbar zur Selbsterhaltung gehçrenden Urverstellungen des Intellekts scheinen spter zu einer Begriffssprache der an der wissenschaftlichen Konstruktion der Welt orientierten Sprachspiele zu fhren, whrend die Urverstellungen der Unterhaltung den Ursprung der knstlerischen Gestaltung des Seins darstellen kçnnten. In demselben Instinkt, der zum Begriffsdiskurs fhrt, wird Nietzsche den Ursprung einer Moral erkennen, nach der „der Einzelne […] angeleitet wird, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben.“ (FW 116) Wenn das Gewissen als ein „Heerden-Gewissensbiss“ (FW 117) interpretiert wird, beeinflusst dies auch die in WL skizzierte Grundsituation des Menschen, in der Einsamkeit und Langeweile ihn belasten: „Selbst sein, sich selber nach eigenem Maass und Gewicht schtzen – das gieng damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu wrde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und jede Furcht verknpft.“ (FW 117) Die Darstellung der Gesellschaft sprachlicher Wesen im Hinblick auf diese Flucht aus Einsamkeit und Lange38 Spter fhrt Nietzsche auch die Bequemlichkeit dafr an, dass die Menschen zu Herdentieren werden: „Aber was ist es, was den Einzelnen zwingt, den Nachbar zu frchten, heerdenmssig zu denken und zu handeln und seiner selbst nicht froh zu sein? Schamhaftigkeit vielleicht bei Einigen und Seltnen. Bei den Allermeisten ist es Bequemlichkeit, Trgheit, kurz jener Hang zur Faulheit, von dem der Reisende sprach.“ (UB III, 1)
2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung
145
weile wird fr Nietzsches spte Moralkritik entscheidend. Die „Vereinsamung“ wird zum „Argument“ des moralischen Diskurses (FW 50), so dass die Unterwerfung unter die Moral noch Ausdruck dieser Ureinsamkeit ist: „Was wird da eigentlich gefrchtet? Die Vereinsamung! als das Argument, welches auch die besten Argumente fr eine Person oder Sache niederschlgt! – So redet der Heerden-Instinct aus uns.“ (FW 50) Wenn der Mensch durch die Sprache der Gesellschaft zum Gewissen gelangt, muss er nach Nietzsche so auch zum Bewusstsein gekommen sein. Nietzsche sieht: „zur Entstehung des menschlichen Bewußtseins kçnnte man die Entstehung des Heerden-Bewußtseins benutzen“ (N 1884, KSA 11, 26[157]). Diese Entstehung vollzieht sich im Horizont der Sprachlichkeit. Die Feststellung von Bedeutungen zugunsten der Selbsterhaltung und Unterhaltung ist fr Nietzsche gleichbedeutend mit der Nivellierung des Individuums, da es nur durch die standardisierte Sprache der Gemeinschaft sein eigenes inneres Leben erfassen kann: Worte sind Tonzeichen fr Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen fr oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, fr Empfindungs-Gruppen. Es gengt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch fr die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander g e m e i n haben. (JGB 268)
Die bereinstimmung unterschiedlicher Menschen ist auch hier im Sinn der Vernatrlichung in Bezug auf die Verbindung von Zeichen und Gefhlen zu gemeinsamen, konkreten Lebensbedingungen „des Klima’s, des Bodens, der Gefahr, der Bedrfnisse, der Arbeit“ zu verstehen. Die Sprache wird so zu einem Abkrzungs-Mittel, ihre Geschichte „Geschichte eines Abkrzungs-Prozesses“ (JGB 268). Die ganze Fhigkeit zur Empfindung wird dadurch sozial strukturiert oder, so Nietzsche, simplifiziert: Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenhert hat, welche mit hnlichen Zeichen hnliche Bedrfnisse, hnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte Mi t t h e i l b a r k e i t der Noth, dass heisst im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche ber den Menschen bisher verfgt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die hnlicheren, die gewçhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verstndlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfllen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkrfte anrufen, um diesen natrlichen, allzunatrlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s hnliche, Gewçhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s G e m e i n e ! – zu kreuzen. (JGB 268)
berhaupt scheint jede Verallgemeinerung der Moral nur mçglich aufgrund einer Entpersonalisierung der interpersonalen Kommunikation durch das Bewusstsein, das eine vereinfachte Sprache ermçglicht: „in’s Gemei ne“ hat
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Nietzsche gesperrt. Er deutet damit an, dass die Notwendigkeit der Verstndigung eine Nivellierung mit sich bringt, die die Menschen, indem sie sie in einen moralischen Horizont einschließt, gleichzeitig bewusst und moralisch selbstbewusst macht. Sofern sie die Grenzen der eigenen Moral dabei nicht beobachten kçnnen, sind sie unmoralisch, gemein im abschtzigen Sinn. In ihrem gemeinsamen Horizont verachten sie die, die anders fhlen. Wird von der Kommunikation ausgegangen, ist der Diskurs des Bewusstseins von dem des Gewissens nicht zu trennen. Die Mçglichkeit einer vorkommunikativen Selbstreflexion des Geistes, die die Besonnenheit bieten wollte, wird ausgeschlossen, da die Wçrter, die Mittel dieser Selbstreflexion, schon mit Rcksicht auf die Funktionen des Lebens in der Gemeinschaft herangezogen wurden. Nach FW 354 begnstigt das Bewusstsein die Selektion, weil es die Kommunikation unserer Bedrfnisse und damit ihre Befriedigung erleichtert.39 Nietzsche stellt die Frage nach seinem Ursprung vom Standpunkt der „Physiologie und Thiergeschichte“ aus; diese sollten „zwei Jahrhunderte nçthig gehabt haben, um den vorausfliegenden Argwohn Leibni tzens einzuholen“. Josef Simon hat auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass Nietzsche hier die auf Leibniz’ Unterscheidung zwischen petites perceptions und perceptions releves begrndete Auffassung des Bewusstseins als „das Hervorheben bestimmter Perzeptionen aus deren unbewußtem Kontinuum, in dem sie miteinander unmittelbar zusammenhngen“, weiterentwickelt.40 Doch schon Herder bewegte sich im Horizont dieser Vorstellung, und auch Nietzsche spricht in einem Notat der siebziger Jahre, das den Gedanken von FW 354 vorbereitet, noch in einer herderschen Sprache.41 Nicht nur die Sprache im Allgemeinen 39 Zur Stellung dieses Aphorismus in Nietzsches Moralkritik vgl. Karl Dieter, Sprache und Moral. Untersuchungen zu Nietzsches Theorie von Genese und Entwicklung der Sprache, insbesondere im Zusammenhang seiner spten Moralphilosophie, Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1991, Teil II. Zur Verbindung zwischen Nietzsches frher und spter Moralkritik, diese als Pldoyer fr eine Form des ethischen Relativismus gemeint, vgl. Djavid Salehi, „Nietzsches Kritik der Sprache und Metaphysik und ihre moralischen Implikationen. Ein Versuch, Nietzsche als ethischen Relativisten zu lesen“, in: Volker Gerhardt / Renate Reschke (Hg.), Nietzscheforschung 7 (2000), S. 187 – 196. 40 Simon, „Das Problem des Bewußtseins bei Nietzsche und der traditionelle Bewusstseinsbegriff“, in: Mihailo Djuric´ und Josef Simon (Hg.), Zur Aktualitt Nietzsches, Bd. 2, Wrzburg 1984, S. 17. 41 FW 354 kann auch als eine Aktualisierung der Idee Schellings gesehen werden, an die Nietzsche in seinen Vorlesungen ber die lateinische Grammatik (KGW II/2, S. 188) erinnert: „Zum Schluß Worte von Schelling Abth. II. Bd. I S. 52 ,Da sich ohne Sprache nicht nur kein Bewusstsein denken lsst, so konnte der Grund der Sprache nicht mit Bewusstsein gelegt werden; und dennoch, je tiefer wir in sie eindringen, desto bestimmter entdecket sich, daß ihre Tiefe die des bewußtvollsten Erzeugnisses noch bei weitem bertritt. Es ist mit der Sprache, wie mit den organischen Wesen; wir glauben diese blindlings entstehen zu sehen und kçnnen die unergrndliche Absichtlichkeit ihrer Bildung bis ins Einzelnste nicht in Abrede ziehen.‘
2.2. Bewusstsein als Ursprung oder Ergebnis der Mitteilung
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ermçglicht das Lesen „in der Seele des andern“ und damit jeden „Verkehr unter Menschen“, sondern gerade die Sprache als „der tçnende Ausdruck einer gemeinsamen Seele“. So wird Sprechen „im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat“. Durch Tçne entsteht ein „Nachklang jenes ltesten Fragens der Seele an sich selbst, aber in einem andern Gehuse“ (N 1874, KSA 7, 37[6]), d. h. eine interindividuelle Dimension, in der die Trennung zwischen einzelnen Subjekten berwunden ist. So scheinen auch fr Nietzsche die Menschen eine hnlich fhlende Natur aufzuweisen, die gleichzeitig und auf hnliche Weise auf dieselben Tçne reagieren kann. FW 354 setzt lediglich pragmatischer an, fragt nicht mehr nach dem Sein des Bewusstseins, sondern nach seinem Wozu: „Wozu berhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache b e r f l s s i g ist?“ berflssig ist das Bewusstsein, solange der Mensch „einsiedlerisch[] und raubthierhaft[]“ lebt, spontan seine Lebensbedrfnisse befriedigt, notwendig ist es fr Menschen als gesellschaftliche Wesen: Nun scheint mir, wenn man meiner Antwort auf diese Frage und ihrer vielleicht ausschweifenden Vermuthung Gehçr geben will, die Feinheit und Strke des Bewusstseins immer im Verhltniss zur Mittheilungs-Fhigkeit eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mi t t h e i l u n g s - F h i g k e i t wiederum im Verhltniss zur Mi t t h e i l u n g s - B e d r f t i g k e i t : letzteres nicht so verstanden, als ob gerade der einzelne Mensch selbst, welcher gerade Meister in der Mittheilung und Verstndlichmachung seiner Bedrfnisse ist, zugleich auch mit seinen Bedrfnissen am meisten auf die Andern angewiesen sein msste. Wohl aber scheint es mir so in Bezug auf ganze Rassen und Geschlechter-Ketten zu stehn: wo das Bedrfniss, die Noth die Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung da, gleichsam ein Vermçgen, das sich allmhlich aufgehuft hat und nun eines Erben wartet, der es verschwenderisch ausgiebt. (FW 354)
Danach hat „das Bewusstsein berhaupt si ch nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedrfnisses entwickelt“, „die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand.“ So ist Vernunft ohne Sprache unmçglich; als Zeichen einer Hermeneutik des Selbst entwickelt sie sich spter. Bewusstsein ist nicht mehr als ein Zeichen; dramatisch bleibt die Spannung zwischen der Ntzlichkeit dieses Zeichens fr das Leben und der moralischen Nivellierung, die Nietzsche auch hier unterstreicht. Wenn sich der Mensch nur „als sociales Thier“ seiner selbst bewusst werden kann, gehçrt das Bewusstsein nicht „zur Individual-Existenz des Menschen“, sondern zu dem, „was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist“ (FW 354). Fr Nietzsche ist das Bild einer Sprache, die „aus keinen willkrlichen, oder gesellschaftlichen Krften, sondern aus der allgemeinen tierischen konomie“ (Abhandlung, 1.716) entsteht, nur eine Form von Selbstverstellung des stolzen Intellektes. Tatschlich ist die Sprache fr ihn nicht willkrlich, die ,allgemeine
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
tierische konomie‘ hingegen ist von Anfang an ,gesellschaftlich vermittelt‘. Vermittelt ist immer auch das Verstellen des Intellekts, von dem Nietzsche in WL sprach, im Rckblick gewinnt es nun neue Bedeutung. Das Zustandekommen von Regeln des Sprechens stellt eine Nivellierung der individuellen Formen der Verstellung zugunsten einer gemeinsamen Form der Verstellung dar. Bedingung hierfr ist eine Selbstvergessenheit der Verstellung. Dass wir unsere subjektive Perspektive als objektiv, interpersonal gltig und mitteilbar betrachten, bedeutet nur, dass wir ihren subjektiven Charakter vergessen haben. Der „einsiedlerische und raubthierhafte Mensch“ aus FW 354 ist derselbe, der in WL durch Verstellung seinen Krieg gegen andere Individuen vor einem Friedensschluss kmpft. Um andere menschliche Tiere zu betrgen, muss er sich der Ziele und Absichten der anderen Individuen zumindest minimal bewusst sein, er hat also schon ein sozial vermitteltes Bewusstsein. Sein Egoismus ist ein Produkt der Gesellschaft, da er sich als wichtiger als andere Menschen einschtzt, und die Maßstbe dieses Schtzens sind die seiner Gemeinschaft: Durch die Sprache ist das verstellende Wesen zum gemein(sam)en Glauben ,jeder ist fr sich selbst der Wichtigste‘ gekommen. Abweichungen von Konventionen der Sprache werden verurteilt, da sie sie und damit die Gemeinschaft in Gefahr bringen; ein rein individueller Gebrauch der Sprache ist damit ausgeschlossen. Selbst der Lgner folgt den „festen Conventionen“, missbraucht sie aber „durch beliebige Vertauschungen oder gar Umkehrungen der Namen“ (WL, S. 875), nutzt die Regeln also nur anders, zumindest solange, wie er verstanden werden will. Er kann jedoch zu einer Infragestellung der standardisierten Sprachspiele einladen, da er die „gleichmssig gltige und verbindliche Bezeichnung der Dinge“ und die „Gesetzgebung der Sprache“ als willkrlich und beliebig erscheinen lsst. Herders Drngen auf ein Bewusstsein vor der Sprache bietet hier Einhalt.
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik Die Vorstellung einer ursprnglichen Verflechtung von Sinnlichkeit und Sprache schafft bei Herder und Nietzsche eine besondere Sensibilitt fr das Verhltnis von Musik und Sprache. Sie lsst sich auf eine Tradition von Vico bis Hamann zurckfhren, die in der poetischen Sprache die lteste erkennt. Die musikalische Natur der Sprache wird bei Herder und Nietzsche auf unterschiedliche Weise thematisiert: Herder setzt nicht mehr auf den Vorrang der Musik vor der verbalen Sprache, sondern nhert sich der ursprnglichen Sprache auf dem Weg der wçrtlichen Artikulation an; fr Nietzsche hingegen bleibt die Musikalitt der Sprache, auch nachdem er sich von der metaphysischen Darstellung der Musik von GT verabschiedet hat, der Kern der Kommunikation berhaupt: Die ,Musik‘ bedingt immer die zwischenmenschliche
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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Verstndigung, auch bei abstrakterem und verfeinertem Sprachgebrauch, und bereitet somit den Weg fr eine Kommunikation jenseits der Standardisierung der Sprache des Bewusstseins. 2.3.1. Herder: Die Ursprache ist mehr als Musik In der grçßeren oder geringeren Fhigkeit einer Sprache, Gefhle auszudrcken, sieht Herder auf der Basis seiner Anthropologie42 ein Kriterium, um die Ursprnglichkeit einer Sprache zu bestimmen: „je ursprnglicher die Sprache, desto weniger Abstraktionen, desto mehr Gefhle“ (Abhandlung, 1.758): Gefhl ist der Mensch ganz: der Embryon in seinem ersten Augenblick des Lebens fhlet wie der Junggeborne: das ist Stamm der Natur, aus dem die zrtern ste der Sinnlichkeit wachsen und der verflochtne Knuel, aus dem sich alle feinere Seelenkrfte entwickeln. Wie entwickeln sich diese? Wie wir gesehen, durchs Gehçr, da die Natur die Seele zur ersten deutlichen Empfindung durch Schlle wecket – Also gleichsam aus dem dunkeln Schlaf des Gefhls wecket: und zu noch feinerer Sinnlichkeit reifet. (Abhandlung, 1.749)
Von Anfang an weist Herders Sprachphilosophie einen ,phonozentrischen‘ Charakter auf,43 vor allem auf der Basis seiner Umstellung der traditionellen Sinneshierarchie und der neuen Vorstellung der Nhe des Gehçrs zum Gefhl: „Das Bild des Auges ist mir zwar in der Seele; aber der Gegenstand des Bildes schwebt mir doch außer mir klar vor. Das Ohr ist der Seele am nchsten – eben weil es ein inneres Gefhl ist.“ (Kritische Wlder, 2.355)44 Als „der mittlere der menschlichen Sinne“ (Abhandlung, 1.746) spielt das Gehçr im Verlauf der Sprachgenese die Hauptrolle, die Sprache der Natur weist einen akustischen und rhythmischen Charakter auf, wobei die Menschensprache, als ihre Weiterentwicklung, stets nur eine niedrigere ,Musikalitt‘ innehaben kann. Herder kann die Ursprache zur Sprache der Poesie und Musik in Analogie setzen, weil er davon ausgeht, dass der Naturmensch auf sinnliche Reize hin Tçne ausstçßt: 42 Zu Herders Anthropologie des Gefhls vgl. die Skizze Zum Sinn des Gefhls (4.233 – 242) und dazu Marion Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder, Hamburg 1994, Kap. IV, S. 81 – 102. 43 Jrgen Trabant, „Herder’s discovery of the ear“, in: Kurt Mueller-Vollmer (Hg.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 345 – 366. 44 Zu Herders Umstellung der traditionellen, aristotelisch inspirierten Sinneshierarchie vgl. Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der Frhen Neuzeit, Berlin / New York 2000, wo vor allem Herders Einschtzung des Gefhls dargestellt wird. Spezifisch zur Genesis von Herders Vorstellung des Verhltnisses zwischen Gefhl und Gehçr vgl. Joachim Gessinger, „,Das Gefhl liegt dem Gehçr so nahe‘: The Physiological Foundations of Herder’s Theory of Cognition“, in: Wulf Koepke (Hg.), Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuits of Knowledge, Columbia 1996, S. 32 – 52.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
„Alle heftigen und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Kçrpers, alle starke Leidenschaften seiner Seele ußern sich unmittelbar in Geschrei, in Tçne, in wilde, unartikulierte Laute.“ (Abhandlung, 1.697) Der Mensch, der als Tier schon eine unartikulierte Sprache besitzt, ist zu Beginn der Abhandlung der leidende „Held Philoktet“ (Abhandlung, 1.697). Die physiologische Verbindung von Ton und Empfindung in der Natursprache entlastet den Menschen von Schmerzgefhlen, als ob „er freier atmete, indem es dem brennenden, gengstigten Hauche Luft gibt“ (Abhandlung, 1.697), „als obs einen Teil seines Schmerzes verseufzte, und aus dem leeren Luftraum wenigstens neue Krfte zum Verschmerzen in sich zçge, indem es die tauben Winde mit chzen fllet.“ (Abhandlung, 1.697)45 Fr Herder sind bereits „diese Seufzer, diese Tçne“ Sprache, eine „Sprache der Empfindung“ (Abhandlung, 1.698), eine Sprache „sehr einfach und buchstabierbar als Interjektionen“ ohne „Willkr und Absicht“ (Abhandlung, 1.698), d. h. weder bewusst geregelt noch beliebig, da Empfindungen und Tçne notwendigerweise miteinander verknpft sind. „Ursprnglich mit den Tieren gemein“ (Abhandlung, 1.698), ist die Sprache der Empfindung durch ihre besondere Einfachheit charakterisiert: Diese Tçne „reden nicht viel, aber stark“ (Abhandlung, 1.700). Diese Sprache der Empfindung ist nicht einfach eine Konstruktion des Sprachphilosophen anhand der Beobachtung des anthropologischen Grundphnomens der Interjektion. Ihre Annahme setzt voraus, dass die alten Sprachen „Sprachen des Ursprungs“ sind, die nach Herder zwar keine Sprachen der Empfindung, keine Natursprachen mehr sind und diesen dennoch nherstehen als die sptere Menschensprache. Die Kontinuitt zwischen Natur- und Menschensprache gewinnt durch diese Unterscheidung neue berzeugungskraft, da sie ein historisches Medium findet, das der Entwicklung von der Natur- zur Menschensprache eine bestimmte Konkretheit und Kontinuitt verleiht: Die Sprache der Natur und die des Menschen sind dann keine heterogenen Organismen, wenn es eine Sprache des Ursprungs gibt, die die virtuelle historische Entwicklung der Natursprache und den natrlich tçnenden Charakter der Menschensprache in einer Instanz vereinigt. Das Werden der Sprache aus der Natur ist jedoch – wie brigens jedes Werden – schwer und nur unvollstndig durch Begriffe zu erfassen. Nach der Strategie der Vernatrlichung darf der Denker lediglich versuchen, mithilfe von Metaphern einen Schritt weiter in der Darstellung dieses Prozesses zu gehen. Tçne der Natursprache werden dann zu 45 Natrlich weiß Herder, dass die Naturtçne auch Freude mitteilen kçnnen: „Wenn die ersten Bedrfnisse schmerzhafte Empfindungen sind: so ist die erste Sprache ein Geschrei unartikulierter Tçne; und wenn die Befriedigung dieser Bedrfnisse Freude gebiert: so ist die Sprache derselben eben so wohl Sprache der Empfindung, unartikulierte Tçne“ (Viertes Wldchen, 2.360). Dennoch scheint er in der Abhandlung anhand des Beispiels Philoktets den Ursprung der Sprache vorwiegend mit schmerzlichen Empfindungen verbinden zu wollen.
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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„Wurzeln“ (sowohl in grammatikalischem als auch metaphorischem Sinn) der Sprachen des Ursprungs: In den genannten Sprachen, in ihren Interjektionen, in den Wurzeln ihrer Nominum und Verborum wie viel aufgefangene Reste dieser Tçne! Die ltesten morgenlndischen Sprachen sind voll von Ausrufen, fr die wir sptergebildeten Vçlker oft nichts als Lcken, oder stumpfen, tauben Mißverstand haben. (Abhandlung, 1.701)
Auch wenn „in allen Sprachen des Ursprungs noch Reste dieser Naturtçne“ nachklingen (Abhandlung, 1.701), sind sie „nicht die eigentlichen Wurzeln, aber die Sfte, die die Wurzeln der Sprache beleben“ (Abhandlung, 1.701). Herder verwendet hier eine Metapher, die nicht mehr als solche wahrgenommen wird, die der lexikalischen Wurzeln, und reaktiviert sie in einem neuen metaphorischen Spiel. Die Wurzeln, die die Sprache ernhren und am Leben erhalten, ndern sich mit ihr. Ernhrende Sfte brauchen Wurzeln, aus denen sie kommen, und zugleich werden auch die Wurzeln von den Sften ernhrt: Die organizistische Metapher stellt die Sprache nicht mehr metaphysisch als mit sich selbst identische Substanz dar. Eine arch der Sprache gibt es nicht; es geht von Anfang an um eine dynamische Interaktion eines Lebewesens mit seiner (Um)Welt. Nach dieser Metapher gibt es nur Funktionen, nicht Substanzen.46 Sie suggeriert andauernde Umwandlung. Die Sprache artikuliert sich allmhlich, und je nach dem Grad ihrer Artikulation bestimmt sich die Nhe zu ihrem Ursprung: „Was ist unschreibbarer, als die unartikulierten Tçne der Natur?“ fragt Herder rhetorisch und antwortet, dass „die Sprache je nher ihrem Ursprunge desto unartikulierter ist.“ (Abhandlung, 1.705) Die Artikulation ist die Aufhebung einer Natursprache in eine Menschensprache. Tçne werden erhalten und gleichzeitig negiert, wenn sie Eingang in neue Wortformen finden. Reine Tçne berleben nur als ,Interjektionen‘ – und sind als solche doch erst in der Menschensprache erkennbar, nachdem sie ihre unmittelbare Kommunikationsfunktion verloren haben und nun grammatikalisch kategorisiert werden kçnnen. Vorher sind Tçne nur Tçne: 46 Nach Marion Heinz, „Historismus oder Metaphysik? Zu Herders Bckeburger Geschichtsphilosophie“, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Wrzburg 1994, S. 75 – 85, setzt Herders Gebrauch der Baum- und Strommetaphorik die Analogie zwischen Individuum und Menschheit voraus und begrndet sich auf zwei metaphysische und grundlegende Prinzipien, „die Annahme, daß die menschlichen Seelen in ihrem ,Grundstoff‘ gleich sind“ und „daß die ußerungen der Seelen in einem Wirkungszusammenhang stehen“ (S. 83). Dennoch dient nach Heinz „das metaphysische Fundament nur als Ausgangspunkt fr die Totalittsvorstellung der Geschichte der Menschheit […], ohne eine Erkenntnisfunktion fr diese zu besitzen“. Damit sei die historische Interpretation Herders, „die sich allein an die Phnomene hlt und die Voraussetzungen aus dem Auge verliert, berechtigt, weil nach Herders eigenen Prmissen unvermeidlich.“ (S. 85).
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
wenn kein Verstand dazu kommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen: so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetz je menschliche, willkrliche Sprache werde? Kinder sprechen Schlle der Empfindung, wie die Tiere; ist aber die Sprache, die sie von Menschen lernen, nicht ganz eine andre Sprache? (Abhandlung, 1.707)
Im Sinn der Vernatrlichung des Menschen ist bei der Urphonetik der Sprache die Sinnlichkeit, die sie konstituiert, nicht thematisierbar. Dass in einer ,tçnenden Natur‘ das Ohr und nicht Gott „der erste Lehrmeister der Sprache“ (Abhandlung, 1.734) ist, schließt einen Ursprung der Sprache ein, der durch einen „Stufengang der menschlichen Sinnlichkeit“ (Abhandlung, 1.737) und nicht von der „Logik des hçhern Geist“ bestimmt ist. Dies besttigt, dass die Besonnenheit nicht als reiner Geist verstanden werden kann. Wenn Tçne in Herders Sprachphilosophie die Elemente der Sprache sind, stehen sie nicht wie Atome von Anfang an als feste Substanzen zur Verfgung, sondern werden unbewusst produziert und spter artikuliert, wobei der Mensch nicht entscheidet und entscheiden kann, mit welchen Tçnen er eine Empfindung ausdrckt. Damit ist das Bild einer historischen Welt der Kultur im Zusammenwirken einer unkontrollierten, spontanen Kreativitt des Individuums mit einer bewussten Gestaltung entworfen. In einer durch die Sprache konstruierten symbolischen Welt liegt eine unberwindbare Geworfenheit; die Herrschaft der Vernunft ist unter den Bedingungen der Sinnlichkeit auch der Sprache nicht absolut. Sie bençtigt stets akustische Merkmale, um die Welt durch Abkrzungen in Zeichen zu beherrschen, die Naturtçne lassen sich nicht durch eine reine, formalisierte, von der Sinnlichkeit abstrahierte Sprache in eine Theorie zwingen. Auch dazu bedrfte es noch sinnlicher Zeichen. So kann die Beobachtung der Poesie der Sprachen des Ursprungs mehr ber die Natur der Sprache lehren – zumindest dann, wenn man bereit ist, die traditionelle Analogie zwischen Poesie und Natursprache zu akzeptieren:47 Nachahmung der tçnenden, handelnden, sich regenden Natur! Aus den Interjektionen aller Wesen genommen und von Interjektionen menschlicher Empfindung belebt! Die Natursprache aller Geschçpfe von Verstande in Laute gedichtet, in Bilder von Handlung, Leidenschaft und lebender Einwrkung! […] Also eine bestndige Fabeldichtung mit Leidenschaft und Interesse! – Was ist Poesie anders? (Abhandlung, 1.740)
Da bei der Urdichtung der Natursprache „der Mensch aber alles auf sich bezog“ (Abhandlung, 1.738), schuf er zusammen mit der Sprache eine personifizierte Mythologie. In den „Sprachen der Kindheit“ war das „ganze Wçrterbuch […] 47 Vgl. dazu den fr Herder hier wichtigen Satz Hamanns in „Aesthetica in Nuce“, in: Ders., Schriften zur Sprache, Einl. u. Anm. v. Josef Simon, Frankfurt am Main 1967, S. 105, 127: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“ (S. 107), ferner A. Earl of Shaftesbury, „Soliloquy or advice to an author“, in: Characteristics of men, manners, opinions, times, London 1900, Bd. 1, S. 208.
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
153
noch sinnlich“ (Fragmente, 1.182), und „bei den Gegenstnden frs Auge mußte die Geberdung noch sehr zu Hlfe kommen, um sich verstndlich zu machen“. Spter beginnt der Mensch weniger zu „schreien“, „man sang also“, – die sinnlichen und rhythmischen Elemente der Sprache sind fr die Kommunikation hier noch entscheidend. So zeigen die Sprachen des Ursprungs eine quasi-musikalische Natur, auch wenn ihr dichterischer Charakter nicht einer festen Prosodie folgt, sondern eine lebendige Mimesis der Naturklnge durch Laute ist: Mehr als alle tote Proportion der Buchstaben, und alle knstliche Struktur der Silbenmaße geben kann: giebt uns der lebende Wohllaut, der in unserer Sprache liegt, und ihr das hçchste Lob einer ursprnglichen Sprache giebt. Alle Wurzeln derselben, sie mçgen Verba, oder Nomina sein, malen: sie lassen das Wesen und die Beschaffenheit der Sache im Klange hçren: sie sind im lebendigen Anschauen derselben gebildet. (Fragmente, 1.579)48
Der Ausdruck des Gefhls ist bei der spteren poetischen Sprache, auch wenn sie lebendig, pathetisch und mythopoietisch bleibt, nicht so unmittelbar wie bei der Natursprache. Die Identifikation von Poesie und Natursprache ist ebenfalls Teil der umfassenden Strategie einer metaphorischen Annhrung an den Ursprung. Eigenschaften der poetischen Sprache werden auf die Urdichtung bertragen, ohne dass beide identifiziert wrden. Die Poesie lsst, da sie Gefhle ausdrcken kann, am ehesten eine Natursprache denken. Sie drckt aus, was Herder spter „Sprache des Herzens“ nennt, sie kann wenig sagen und doch sagt sie gnug; ja gewissermaßen ist unsre menschliche Sprache mehr fr das Herz, als fr die Vernunft geschaffen. Dem Verstande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache selbst zu Hlfe kommen; die Empfindungen unseres Herzens aber blieben in unserer Brust vergraben, wenn der melodische Strom sie nicht in sanften Wellen zum Herzen des andern hinber brchte. Auch darum also hat der Schçpfer die Musik der Tçne zum Organ unsrer Bildung gewhlt; eine Sprache fr die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freundessprache. (Ideen, 6.352)
In den Entwrfen fr die nicht verçffentlichte Abhandlung Von der Ode wird diese Diskrepanz zwischen der Poesie als Natursprache und der Poesie als Kunstprodukt, also zwischen der Ode als Form von Urdichtung und der Ode als literarischer Gattung, thematisiert. Die Ode „ist die vollkommen sinnlichste Sprache einer unvermischten Empfindung“, Horaz zeigt, wie der Autor der Ode „die wirklichen Affekten bloß als mçglich [schildert]“ (Ode, 1.65). Damit wird ein sthetisches Ideal fr die Lyrik vorgeschlagen, die in ihrem Wert nach der Nhe oder Entfernung von der Natursprache bemessen wird. Wenn „ein Ge48 Zum Verhltnis von Musikalitt der Sprache und Ausdruck des Gefhls bei Herder vgl. u. a. Hartmut Krones, „Johann Gottfried Herder, die Affektenlehre und die Musik“, in: Peter Andraschke / Helmuth Loos (Hg.), Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West, Freiburg im Breisgau 2002, S. 71 – 88.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
dicht jetzt desto vollkommener je mehr wirklich“ ist (Ode, 1.65), also mehr Naturaffekte ausdrcken kann, so wird eine vollkommene bertragung natrlicher Affekte in die Poesie unmçglich und zwar wegen der inneren Natur der menschlichen Sprache selbst: Empfindungen drckt sie aus? sie ein knstliches Zeichen, die Sprache? durch das Knstliche der Sprache ein Gedicht, durch das vielleicht knstlichste Gedicht, die Ode? Daß Worte Gedanken, Beziehungen ausdrcken, weiß ich wohl, aber Empfindungen? Nein! eigentlich zu reden auch nicht eine einzige: eine ausgedrckte Empfindung ist ein Widerspruch: Selbst unser Lexikon vor die Empfindungen kann kein einziges eigentliches Wort. (Ode, 1.65)
Da auch die Ode aus Wçrtern besteht, akzeptiert Herder die Idee nicht, es sei mit ihr die literarische Form gefunden, die Empfindungen unmittelbar ausdrcken kçnne.49 Empfindungen und Worte sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm, durchbraust unsre ganze Brust inwendig eingeschlossen. Sein erstes Wort, ist ein Begriff; er schwcht sich, wlzt zu klaren Begriffen, zum Selbstgefhl, zum Bewußtsein, zur Vernunft herunter; und die wird jetzt wortreich, sie sagt, was sie nicht mehr empfindet. (Ode, 1.66)
Kulturelle Institutionen mssen bei der Konstruktion einer „Original-Ode“ (Ode, 1.69), die zwischen der Natur-Ode und ihren zeitgençssischen Nachahmungen steht, am Maßstab ihrer Entfernung zu ihrem natrlichen Urzustand eingeschtzt werden. Die Natur-Ode des Naturmenschen stellt eine „Abstufung von wenigen Worten“, „Naturakzenten“ dar und wird, wegen des notwendigen Rekurses auf den Affekt als Mittel der Leidenschaft, zu einem „Pantomimentanz“. Sie hat damit „nichts von Nachahmung“ (Ode, 1.72), da in diesem Moment keine Selbstreflexion zum Spiel dazukommt. Vielmehr steht diese jetzt in Analogie mit der Musik: „Eine Ode der Natur, die nicht die Nachahmung sondern der Ton des Wtenden ist wird also ein lebendiges Geschçpf, da unsere Ode mit Musik eine maschinenmßige Statue, und bloß hingeschrieben ein elendes Gemlde ist.“ (Ode, 1.67) Der Versuch, eine Natur-Ode, die dennoch keine Nachahmung ist, wiederzuschaffen, ist zum Scheitern verurteilt. Durch die knstliche Entwicklung der Natur-Ode geht eine Ausdrucksmçglichkeit verloren, und die Spielrume unserer Empfindung der Natur werden eingeschrnkt: Ein rasender Naturmensch, wird hpfen, unartikuliert tçnen, deklamieren mit den natrlichen Akzenten, und eben durch dies Unregelmßige rhren. Unser Wohlstand hat nicht den Zeichen der Empfindung bloß Ketten angelegt, da das Gehpf ein Tanz, die Tçne der Natur, Musik, die Akzente und Geberden, Deklamationen im Air geworden sind, sondern auch wirklich unsre Empfindung der Natur 49 Vgl. dazu auch Adler, Die Prgnnz des Dunklen. Gnoseologie – sthetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, S. 140 – 142.
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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phantastisch eingeschrnkt, daß wir sie nie zu ihrer vorigen Lebhaftigkeit zurckfhren kçnnen. – (Ode, 1.67)
Die Ode als Dichtungsart ist „ein knstlerischer Ausdruck einer knstlichen Empfindung durch die Sprache“ (Ode, 1.69). Wenn die Empfindung sich eigentlich nur „durch Zeichen“ ausdrcken kann, dann sind die „knstlichen Wçrter“ Medium eines uneigentlichen Ausdrucks der Empfindungen, da sie „eine knstliche Empfindung der Einbildungskraft“ (Ode, 1.69) voraussetzen. „Naturausdrcke der Empfindung“, d. h. die „unartikulierte[n] Akzente, den empfindenden Wesen, den Tieren und Kindern gemein“, drcken Empfindungen nicht „an sich“ aus, sondern nur „ihre Beziehung auf das Selbstgefhl“ und damit „einen kltern Grad“ (Ode, 1.69). Sobald die Ode zum Produkt eines reflektierten knstlerischen Verfahrens wird, drckt sie nur „Empfindung der Kunst aus: denn aus der Empfindung der Natur wird doch wohl nie eine Ode fließen“ (Ode, 1.69). Sobald die Lebendigkeit der ersten sprachlichen Ausdrcke fr immer verloren ist, bleibt dem Menschen nur eine mimetische Annherung an die Form der Urkommunikation. Wenn die Ode keine Empfindungen mehr direkt mitteilen kann, dann soll sie sie zumindest erregen. Sie kann wie schon die Natur-Ode eine emotionale Wirkung erzielen, die Empfindungen aber nicht adquat ausdrcken. So wie sich die Natur-Ode stets in einem sympathetischen Verhltnis des Naturmenschen zu seinen Mitmenschen bewegt, versucht sie „durch ihre poetische Empfindung eine Sympathie zu erschaffen“ (Ode, 1.70). Wenn eine solche unmittelbare Kommunikation ein ideales Konstrukt ist, das sich unserem Wissen entzieht, kçnnte die Musik das Medium sein, durch das sie am besten nachgeahmt wird. Sie scheint Herder auch den Wçrtern in ihrem Ursprung unausweichlich, aber problematisch verbunden zu sein: „Wie schwer es der Musik worden sei, sich von ihren Schwestern, Worten und Gebrden zu trennen, und fr sich selbst als Kunst auszubilden, erweiset der langsame Gang ihrer Geschichte.“ (Kalligone, 8.818) Nach dieser Logik luft die knstliche Ode Gefahr, in ihrer Annherung an die Natur-Ode allmhlich eine Nicht-Ode, eine andere Kunstform zu werden. Von der „Tradition des Altertums“, nach der „die erste Sprache des menschlichen Geschlechts Gesang gewesen sei“ und „die Menschen diesen Gesang wohl den Vçgeln abgelernt haben“ kçnnten, nimmt Herder auch deswegen teilweise Abstand. Ein echtes Musizieren ist zu komplex fr den Naturmenschen. Selbst wenn eine Sprache durch musikalische Tçne mçglich wre (ein Gedanke, auf den auch Leibniz gekommen war), sei diese Sprache „fr die ersten Naturmenschen […] nicht mçglich, so knstlich und fein ist sie.“ (Abhandlung, 1.741) Fr Herder ist vor allem der Glaube an den Ursprung durch Imitation anderer Tiere fragwrdig, nicht aber die singende Natur der Ursprache. Die erste, tçnende Sprache des Menschen war Gesang, „der ihm so natrlich, seinen
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Organen, und Naturtrieben so angemessen war, als der Nachtigallen Gesang ihr selbst, die gleichsam eine schwebende Lunge ist“. Letztlich geht es wie bei der Ode um eine Unterscheidung zwischen dem Gesang im eigentlichen Sinne und einem sogenannten Urgesang.50 Von diesem kçnnen wir vor allem sagen, was er nicht ist: „Es ward Gesang, aber weder Nachtigallenlied, noch Leibnitzens musikalische Sprache, noch ein bloßes Empfindungsgeschrei der Tiere: Ausdruck der Sprache aller Geschçpfe, innerhalb der natrlichen Tonleiter der menschlichen Stimme!“ (Abhandlung, 1.741) Der Urgesang war aber ein unmçglicher Gesang vor der Artikulation des sprachlichen Verstandes. Da sang und tçnte also die ganze Natur vor: und der Gesang des Menschen war ein Konzert aller dieser Stimmen, so fern sie sein Verstand brauchte, seine Empfindung faßte, seine Organe sie ausdrcken konnten – […] Selbst da die Sprache spter mehr regelmßig, eintçnig und gereihet wurde, blieb sie noch immer eine Gattung Gesang, wie es die Akzente so vieler Wilden bezeugen; und daß aus diesem Gesange, nachher veredelt und verfeinert, die lteste Poesie und Musik entstanden, hat jetzt schon mehr, als einer bewiesen. (Abhandlung, 1.741 f.)
Da die ersten Tçne unartikuliert sind, kçnnen sie fr Herder nicht Musik im eigentlichen Sinne sein. Mit der Artikulation, einem ,Verbinden durch Unterscheiden‘, konstituiert sich erst etwas und wird zugleich in einen Kontext eingeordnet. Hat so die erste Sprache etwas von einem Gesang, wird dennoch die Entwicklung der Musik als Kunst erst durch die verbale Sprache ermçglicht; erst sie lsst eine ,Kultivierung‘, einen bewussten und absichtlichen Gebrauch der Tçne zu. Der Gesang ist noch immer Sprache. Diese mssen die Menschen erst, sie mssen Gedanke, Empfindung, Bedrfnis zu bezeichnen einige Augenblicke vergessen, Ton als Ton und Tonfolge als solche zu kultivieren; von dem Augenblick an wre der Schritt getan zur Tonkunst. (Kalligone, 8.810)
Nach der spteren Abhandlung Die Lyra hat die Sprache dieselben Ausdrucksmçglichkeiten wie die Musik: Denn was kann der Gesang zu diesem Allen hinzutun. Nichts als daß er die Tçne erhebe und daurend mache, daß er sie klar und schçn in harmonischen Intervallen dem Ohr zuzhle. Hierin muß auch Er dem Gange der Empfindungen, so wie den Gesetzen der Sprache folgen; Er deklamiert nur hçher, bestimmter, pathetischer, 50 Herders Position hnelt darin der Rousseaus im „Essay ber den Ursprung der Sprachen“, in: Ders., Musik und Sprache. Ausgewhlte Schriften. bers. v. Dorothea Glke u. Peter Glke, Wilhelmshaven 1984, den er nicht gelesen haben konnte. Bei Rousseau ist die Musik nicht vor der Sprache mçglich, obwohl der ursprngliche und der musikalische Gesang sich voneinander unterscheiden. Vgl. auch Derrida, Grammatologie, aus dem Franzçsischen von Hans-Jçrg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main 1983, Teil II, Kap. 3, nach dem der Gesang bei Rousseau wie die Oralitt zur Schrift entartet.
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rhrender. […] Kann also durch den Gesang auch ohne Instrumente die Sprache ein solcher Ausdruck der Empfindungen, eine solche Bezeichnung lebendiger Bilder und Gesinnungen, im reinsten Umriß, im schçnsten Wohllaut werden; so sind Worte Gesang, wenn sie gleich nicht gesungen wurden; gnug, daß eine Musik der Empfindungen, der Bilder, der Sprache ihr Kçrper und Geist ist. Was komponiert die Musik nicht? Sie kann ein Zeitungsblatt komponieren. Und wie sie dies tun kann, so kann ohne ihre Beihlfe auch eine Rede Musik sein; ja sie muß dies vorher und durch sich selbst sein, damit sie ihrer Beihlfe wert werde. (Die Lyra, 8.123 f.) Die Musik im eigentlichen Sinne ist nicht mehr die Urmusikalitt der Sprache und kann daher die Urformen der Kommunikation nicht vollkommen wiederherstellen. Die uneigentliche Musik des Ursprungs ist nur ,ein Geschrei unartikulierter Tçne‘. Musik ist ,dem Menschen als Sprache nicht so natrlich‘ wie die Ttigkeit, ,seine ersten Bedrfnisse, seine Sprachwerkzeuge dieser Bedrfnisse auszudrcken, seine Analogie mit andern unmusikalischen Tieren, und die Geschichte aller Vçlker‘ zu zeigen (Viertes Wldchen, 2.360).
Mit dieser Relativierung der Bedeutung des Gesangs fr den Ursprung der Sprache wird die Rolle der Nachahmung noch weiter eingeschrnkt: die Nachahmung selbst ward ihm also beschwerlich und nicht befriedigend. Je mehr wir ihm Gefhl an dem Annehmlichen der Vçgeltçne beilegen; desto mehr mußte er das Unannehmliche seiner Stimme fhlen; desto weniger wird der Ursprung der Musik als solcher Nachahmung begreiflich. (Viertes Wldchen, 2.362)
Die Leidenschaften, die der Mensch mit der ersten, uneigentlichen Musik, „eine Wundermusik aller Affekte, eine neue Zaubersprache der Empfindung“, ausdrcken wollte, findet er „nicht in den fr die Menschen toten Vogelgesngen, sondern in den singenden Tçnen seiner Zunge.“ (Viertes Wldchen, 2.363) Aber wie die verbale Sprache die Erstarrung der ersten lebendigen Interjektionen, die Fixierung der Metaphern in Begriffe und den berschuss an Abstraktion kennt, so entsteht auch die eigentliche musikalische Kunst erst im Verlauf der historischen Intellektualisierung der Urmusikalitt bzw. der Urdichtung. Da die Naturtçne nicht mehr zur Menschensprache gehçren, muss die Reproduktion der Urdichtung mit der rhythmischen Komponente der Sprache zu tun haben. Herder sucht wie bei dem Ursprung der Sprache auch fr die Musik ein historisches Medium, das die Entwicklung der Ur-Musik kenntlich macht. So charakterisiert die „Musik der Alten“ durch einen fr uns nicht mehr verstndlichen Rhythmus, so dass sie in den Ohren des zivilisierten Menschen wie Nicht-Musik klingt: Diese Musik der Alten war nichts, was unsre ist: sie war lebende tçnendere Sprache. Ihre Hauptteile also Rhythmik, Metrik, Poetik, Harmonik, wie sie dazumal waren, finden bei der unsern durchaus nicht statt und von manchen haben wir kaum bestimmte Begriffe. Jene war Vokalmusik im hçchsten edelsten Verstande; die Instrumentalmusik ward spter, nur nach und nach, erfunden. (Viertes Wldchen, 2.362)
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
So ist auch „die Tanzkunst der Alten […] nichts, als ihre sichtbar gemachte Musik“. Wenn die Tonkunst der Alten die Energie der Leidenschaften „in der Folge von Tçnen“ ausdrckte, so erreichte ihre Tanzkunst dasselbe durch „Bewegungen“. Wie erfahren sie inzwischen als „fremde Sache“ (Viertes Wldchen, 2.366). Das wird in musikalischen Auffhrungen außereuropischer Vçlker deutlich; wo aber Musik fr europische Knstler „unbrauchbar“ wird, weckt sie gerade das Interesse des Philosophen: Schade nur daß aus zu zrtlichem Geschmack die meisten Reisenden uns diese kindlichen Tçne fremder Vçlker versagen. So unbrauchbar sie dem Tonknstler sein mçgen; so unterrichtend sind sie fr den Forscher der Menschheit: denn die Musik einer Nation auch in ihren unvollkommensten Gngen und Lieblingstçnen zeigt den innern Charakter derselben d. i. die eigentliche Stimmung ihres empfindenden Organs tiefer und wahrer, als ihn die lngste Beschreibung ußerer Zuflligkeiten zu schildern vermçchte. – (Ideen, 6.293)
Die Ursprungserzhlung nimmt dem Fremden seine Fremdheit; auch die Musik fremder Vçlker kann in die eigene Sprache und Musik eingehen. Das erweckt bei Herder ein fast ethnologisches Interesse an der griechischen Kultur. Wie die außereuropischen Vçlker werden auch die Griechen mit ihrer Musik und ihrem Tanz zu einem Moment der natrlichen Entwicklung derselben menschlichen Kultur. In ihrer Musik sind die einzelnen Tçne wichtiger als die Melodie, und so bleibt sie nher an der ursprnglich tçnenden und rhythmischen Natursprache: Bei der Griechischen Musik war harmonisch wissenschaftliche Kunst nichts; und lebendiger Ausdruck alles. Aus der Sprache der Leidenschaft geboren, blieb sie dieser ewig getreu: eine sehr einfache Melodie; eine fr uns unausstehliche Einfçrmigkeit in dem, was bloß Kunst der Verhltnisse und Gelehrsamkeit heißt: vielleicht sehr unregelmßige und khne Gnge – auf der andern Seite aber, starke Akzente, sehr reiche und feine Verschiedenheit der Tonarten, große Abwechselungen der Modulation – das waren die Eigenschaften jener Musik der Leidenschaften, wie die unsre eine Tonkunst der Verhltnisse, und der Vernunft ist. (Viertes Wldchen, 2.365)
In ihrer Musik sei Musik, Tanz und Sprache noch tief verschmolzen: Bei den Griechen nmlich hatte Tonkunst die Poesie, ihr dienend, meistens also nur rezitativisch, geleitet; an Arten des Vortrages gewann sie dadurch viel, aber nur als Dienerin unter der Herrschaft des Dichters. Im Tanz, wo sie die Gebieterin schien, gebot ihr das Fest, der Kreis, die Gestalt und Gebrdekunst der Menschen. (Kalligone, 8.818)
Fassen wir zusammen: Die Vorstellung einer Unmittelbarkeit des Ausdrucks der Empfindung ist ein ,focus imaginarius‘ der Vernatrlichung von Mensch und Kultur. Herder drngt bei seinem Entwurf des Ursprungs der Sprache die Nachahmung zurck, um desto mehr das schçpferische Handeln des Menschen zum Zug kommen zu lassen. Die Sprache und die Medien der Knste des
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Menschen kommen Gottes Schçpfungsprozessen nahe. Auch wenn die Sprache eine natrliche Geschichte hat, bleibt Gott in ihr als Schçpfer anwesend, er belebt das Natrliche wie das Kulturelle.51 Herders Pldoyer fr die Belebung der menschlichen Produktivitt wendet sich gegen die historisch-kulturelle Steigerung der Strukturierung der Kommunikationsmedien, die einen Verlust an Spontaneitt und an expressiver Intensitt mit sich bringt. Dabei zeigt sich jedoch ein Paradox: es sollen spontanere, natrlichere Ausdrucksform nachgeahmt werden, in vollem Bewusstsein dessen, dass alle solchen Nachahmungen unnatrlich sind. Der Knstler soll das sthetische Ziel eines spontanen und unbewussten Verfahrens bewusst verfolgen. Am Beispiel der Ode und ihres problematischen sthetischen Status wird die unberbrckbare Distanz zwischen Wçrtern und Empfindungen klar. 2.3.2. Nietzsche: Die Musik der Sprache ist die Musik des Lebens Nietzsche nhert sich Herders Intuitionen schon in seiner frhen, nicht verçffentlichten Schrift Das Griechische Musikdrama an. Er stellt dort die griechische Musik als eine „allgemein verstndliche Sprache“ dar, in der „das natrliche Band der Wort- und Tonsprache […] noch nicht zerrissen“ ist (GMD, KSA 1, S. 529). Sie ist, wie fr Herder, durch „ihre Einfachheit, ja Armuth in der Harmonie, ihr[en] Reichthum an rhythmischen Ausdrucksmitteln“ bestimmt (GMD, KSA 1, S. 530). Wie Herders „Sprache des Herzens“52 ist die Musik die „wahre allgemeine Sprache, die man berall verstehet“ und die „das Herz unmittelbar“ trifft (GMD, KSA 1, S. 529); ihre begrifflose Natur ermçglicht ein
51 So auch Walter Benjamin mit hamannschen Akzenten: „Die Sprache eines Wesens ist das Medium, in dem sich sein geistiges Wesen mitteilt. Der ununterbrochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott. Der Mensch teilt sich Gott durch den Namen mit, den er der Natur und seinesgleichen (im Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfngt, denn auch die ganze Natur ist von namenlosen stummen Sprachen durchzogen, dem Residuum des schaffenden Gotteswortes, welches im Menschen als erkennender Name und ber dem Menschen als richtendes Urteil schwebend sich erhalten hat.“ (Walter Benjamin, „ber die Sprache des Menschen“, in: Ders., Sprache und Geschichte, Stuttgart 2005, S. 30 – 49, S. 48 f.) Whrend fr Herder der mimetische Charakter der Sprache, wie bereits angemerkt, immer eine sinnliche Dimension (die Interjektion) hat, gilt bei Benjamin die Idee einer unsinnlichen Mimesis als Wesenscharakter der Sprache. (Vgl. Ullrich Schwarz, „Walter Benjamin: Mimesis und Erfahrung“, in: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart VI, Gçttingen, 1992, S. 43 – 77, S. 57). 52 Vgl. u. a. Adrastea, 10.802, wo das Lied so definiert wird.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
unmittelbares und grenzenloses Mitempfinden.53 Auch fr Nietzsche ist die Musik (hier auch als rhythmisches Tonspiel) der Urdimension der Sprache verwandt: Die Musik jedes Volkes beginnt durchaus im Bunde mit der Lyrik, und lange bevor an eine absolute Musik gedacht werden kann, durchluft sie in jener Vereinigung die wichtigsten Entwicklungsstufen. Verstehen wir diese Urlyrik eines Volkes, wie wir es ja mssen, als eine Nachahmung der knstlerisch vorbildenden Natur, so muß uns als ursprngliches Vorbild jener Vereinigung von Musik und Lyrik die von der Natur vorgebildete Do p p e l h e i t i m We s e n d e r Sp r a c h e gelten. (N 1871, KSA 7, 12[1], S. 360)
Wort und Ton sind ,natrlich‘ miteinander verbunden.54 Natrlich ist die lebendige Artikulation der Welt durch Zeichen berhaupt; sie entspricht einem inneren Drang des Lebewesens, so dass „mit dem Organischen auch das Knstlerische beginnt.“ (N 1872/73, KSA 7, 19[50]). Man kann dieses Urverhltnis von Sprache und Musik anhand der Erfahrung des Singens verstehen: „Zwischen Musik und Sprache ist eine Verbindung mçglich, die wirklich organisch ist: im Lied“ (N 1874, KSA 7, 32[27]). Nicht nur die Nhe der Musik zu einer Ursituation der sprachlichen Artikulation der Welt und der Kommunikation von Gefhlen erinnert an Herder, auch Nietzsches Interesse am Ursprung der Tragçdie gleicht Herders Interesse am Ursprung der Ode; bei beiden wird die Reflexion ber die konkreten literarischen Gattungen zum Anlass einer tieferen und breiteren Spekulation ber das Problem der Ursprnglichkeit der Musik. Nietzsche verliert dann jedoch das Interesse an der Ur-Dimension der Verflechtung von Musik und Sprache, wie er sie in seiner Reflexion ber den Ursprung der Tragçdie thematisiert; stattdessen befasst er sich mehr und mehr mit den aktuellen Grenzen unserer Kommunikation berhaupt. Geht Herder vor allem der Entwicklung der uneigentlichen Urmusik zur eigentlichen Musik als Kunstform nach, so Nietzsche der uneigentlichen Musik, die unsere alltgliche Kommunikation regelt. Die Musik fhrt bei ihm nicht zum Ursprung der 53 „Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fhig ist. / Die Sprache deutet nur durch Begriffe, also durch das Medium des Gedankens entsteht die Mitempfindung. / Dies setzt ihr eine Grenze. Dies gilt nur von der objektiven Schriftsprache, die Wortsprache ist tçnend: und die Intervalle, die Rhythmen, die Tempi’s, die Strke und Betonung sind alle symbolisch fr den darzustellenden Gefhlsinhalt. Dies ist zugleich alles der Musik zu eigen. Die grçßte Masse des Gefhls aber ußert sich nicht durch Worte. Und auch das Wort deutet eben nur hin: es ist die Oberflche der bewegten See, whrend sie in der Tiefe strmt. […] Die Dichtung ist hufig auf einem Wege zur Musik: entweder indem sie die allerzartesten Begriffe aufsucht, in deren Bereich das Grobmaterielle des B e g r i f f s fast entschwindet – – –“ (N 1869/70, KSA 7, 2 [10]). 54 Vgl. dazu Rudolf Fietz, Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Wrzburg 1992, insb. Teil II.
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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Sprache, sie bleibt nur ihr stetiger Grund, der die Dynamik des sprachlichen Verstehens berhaupt ermçglicht. Nietzsches neue Sensibilitt fr die Bedeutung der Musik zeigt sich in unterschiedlichen Formen seiner schriftstellerischen Ttigkeit. Unter dem Einfluss Wagners hatte er zuerst geglaubt, durch die Kunst einen Zugang zu einer unmittelbaren Kommunikationsform zu finden. Nietzsche erkennt zunchst eine Krankheit der Sprache, die sich im Prozess der Zivilisation vom unmittelbaren Gefhlsausdruck entferne, sobald sie versuche, „mçglichst ferne von der starken Gefhlsregung, der sie ursprnglich in aller Schlichtheit zu entsprechen vermochte, […] das Reich des Gedankens zu erfassen“. Wenn die Sprache zum bloßen Werkzeug eines entsinnlichten Denkens werde, verliere sie die Fhigkeit, das Individuelle hervorzubringen. Im Zivilisationsprozess, so Nietzsche weiter, wende sich die Sprache gegen ihren Ursprung aus der interindividuellen Kommunikation, insofern sie konventionalisiert wird und „gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um ber die einfachsten Lebensnçthe die Leidenden miteinander zu verstndigen.“ (UB IV, S. 455) Wird dem Menschen – auch durch Sprachkritik – bewusst, dass, was er als rein geistig betrachtet, einen lebensnotwendigen, natrlichen Ursprung hat, wird er leichter eine Sprache entwickeln kçnnen, in der Wçrter und Gefhle einander entsprechen, so dass ein tieferes interindividuelles Verstndnis mçglich wird: sobald sie mit einander sich zu verstndigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklnge, und in Folge dieser Unfhigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schçpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nçthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der C o n v e n t i o n hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefhls. (UB IV, S. 455)
Die Musik Wagners, glaubt der frhe Nietzsche, kçnnte eine Art „Rckkehr zur Natur“ sein, eine „Feindin aller Convention, aller knstlichen Entfremdung und Unverstndlichkeit zwischen Mensch und Mensch“ (UB IV, S. 456). Whrend es bei Herder keinen unmittelbaren Ausdruck von Empfindung und Gefhl jenseits der Natursprache gibt und sie in ihrer Reinheit damit nicht mitteilbar sind, scheint beim frhen Nietzsche die musikalische Kunst die metaphysische Ureinheit des Seins zum Ausdruck bringen zu kçnnen: Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Strke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen des Dinges symbolisirt, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung des Wesens. Die Symbole kçnnen und mssen vielerlei sein; sie wachsen aber instinktiv und mit großer und weiser Gesetzmßigkeit. Ein gemerktes Symbol ist ein Begriff: da bei dem Festhalten im Gedchtniß der Ton ganz verklingt, ist im Begriff nur das Symbol der begleitenden
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Vorstellung gewahrt. Was man bezeichnen und unterscheiden kann, das „begreift“ man. In der Steigerung des Gefhls offenbart sich das Wesen des Wortes deutlicher und sinnlicher im Symbol des Tones: darum tçnt es mehr. Der Sprechgesang ist gleichsam eine Rckkehr zur Natur: das im Gebrauche sich abstumpfende Symbol erhlt seine ursprngliche Kraft wieder. (DW, KSA 1, S. 572)
Die Abgrenzung zu Herder scheint evident: Bei Herder ist die Musik ein versptetes Produkt der Sprache und nicht fhig, die vollkommenen, unmittelbaren, nur fr die Natursprache mçglichen Gefhlsausdrcke zu wiederholen. Die Musik ist, als Form artikulierter Sprache, zu verfeinert, zu intellektualisiert. Die Poesie kann sich zwar der ursprnglichen Kommunikation annhern, aber nur so, dass sich Wort und Musik verbinden, nicht so, dass das Wort der Musik untergeordnet wird, wie es bei Nietzsche der Fall ist. Herders Ansatz kennt die metaphysischen Akzente nicht, die der frhe Nietzsche in Bezug auf die Macht der Musik setzt: Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschçpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphre symbolisirt, die ber alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sp r a c h e , als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlsst, nur in einer usserlichen Berhrung mit der Musik, whrend deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt nher gebracht werden kann. (GT 6, KSA 1, S. 51)
Nach Ernst Behler vertritt die GT eine „Mythisierung der Musik als einer Art Ursprache, noch vor der Poesie“; diese Sprache sei mit ihrer Fhigkeit, das „UrEine“ zu reprsentieren, noch Teil einer „metaphysischen, absoluten Reprsentationstheorie.“55 Aber obwohl Tçne direkter als Begriffe sind, sind auch sie letztlich nicht vollkommen reprsentativ: wie das unsagbare Sein nach Nietzsche konkret gefasst werden kann, bleibt unklar. In GT hofft er, in der Musik einen Zugang zum Ding an sich zu finden, aber schon dort erweist sich das als schwierig. Die Musik „erscheint als Wille“, jedoch nur „im Spiegel der Bildlichkeit der Begriffe“.56 So kann sie selbst kein Wille sein, „weil sie als solcher 55 Behler, „Die Sprachtheorie des frhen Nietzsche“, in: Tilman Borsche, Federico Gerratana, Aldo Venturelli (Hg.), „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 27), Berlin / New York 1994, S. 102. 56 Zur Aufnahme von Schopenhauers Metaphysik in GT vgl. Friedhelm Decher, „Der eine Wille und die vielen Willen. Schopenhauer – Mainlnder – Nietzsche“, in: NietzscheStudien 25 (1996), S. 110 – 125. Distanz zeige Nietzsche vor allem gegen die „pessimistische Grundstimmung“ (S. 125) der Philosophie Schopenhauers. Vgl. dazu auch Charles S. Taylor, „Nietzsche’s Schopenhauerianism“, in: Nietzsche-Studien 17 (1988),
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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gnzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wre“ (GT 6, KSA 1, S. 50), in den nach Schopenhauer nur Formen der Objektivierung des Willens gehçren, nicht der Wille selbst.57 Die Verbindung der Musik mit dem Willen ist schon ein Produkt der begrifflichen Sprache, die nach Schopenhauer das Wesen des Willens nicht begreifen kann. So ist sie schon eine Selbsttuschung. Daher kann Nietzsche nicht daran festhalten, dass die Musik das Ureine reprsentiere; spter wird fr ihn Dionysos den Platz von Schopenhauers Willen einnehmen.58 Seine Hintergedanken zu einer Metaphysik der Musik ußert Nietzsche schon vor GT im wichtigen Notat 12[1] aus dem Jahre 1871. Er notiert, dass der Wille, den die Musik erreicht, nicht derselbe ist wie derjenige am Ursprung der Musik. Wir haben keinen Zugang zu unseren Gefhlen und Empfindungen als Wille: Nur als Vorstellungen kennen wir jenen Kern, nur in seinen bildlichen ußerungen haben wir eine Vertrautheit mit ihm: außerdem giebt es nirgends eine direkte Brcke, die uns zu ihm selbst fhrte. Auch das gesammte Triebleben, das Spiel der Gefhle Empfindungen Affekte Willensakte ist uns – wie ich hier gegen Schopenhauer einschalten muß – bei genauester Selbstprfung nur als Vorstellung, nicht seinem Wesen nach, bekannt: und wir drfen wohl sagen, daß selbst der „Wille“ Schopenhauers nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns brigens gnzlich Unentzifferbaren ist. (N 1871, KSA 7, 12[1], S. 360 f.)
Als Erzeugnis einer Sprache aus Wçrtern, die nur ,Symbole von Vorstellungen‘ sind, wird der ,Wille‘ selbst zu einem Symbol, zu einer Vorstellung. Er ist ein Zeichen, um eine „allgemeinste Erscheinungsform“ festzuhalten. Die Sprache kann diesen „Willen“ nur durch „Tçne des Sprechenden“ symbolisieren, womit S. 45 – 73; Manfred Riedel, „Ein Seitenstck zur ,Geburt der Tragçdie‘. Nietzsches Abkehr von Schopenhauer und Wagner und seine Wende zur Philosophie“, in: Nietzsche-Studien 24 (1995), S. 45 – 61. Christoph Kalb, Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 2000, erkennt in der Zeit von GT eine sprachphilosophische Transformation der „bewusstseinsphilosophische[n] Problematik Schopenhauers“ (S. 38). 57 Zum Unterschied zwischen Schopenhauers Auffassung des Verhltnisses von Musik und Willen zu der Nietzsches im Nachlass der frhen 70er Jahre vgl. Hçdl, Nietzsches frhe Sprachkritik. Lektren zu „ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne“ (1873), Wien 1997, S. 31 – 35, und Domenico Venturelli, Nobilt e sofferenza. Musica, religione e filosofia in F. Nietzsche, Genova 2006, S. 53 f. Vgl. zu Nietzsches Skepsis ber Schopenhauers Willensmetaphysik auch N 1870/71, KSA 7, 5[80]: „Die Trennung von Wille und Vorstellung ist ganz eigentlich eine Frucht der Nothwendigkeit im Denken: es ist eine Reproduktion, eine Analogie nach dem Erlebniß, daß wenn wir etwas wollen, uns das Ziel vor Augen schwebt. Dies Ziel aber ist nichts als eine reproduzierte Vergangenheit: in dieser Art macht sich die Willensregung verstndlich. Aber das Ziel ist nicht das Motiv, das Agens der Handlung: obwohl dies der Fall zu sein s c h e i n t .“ 58 Auch Nietzsches Gedanke des Dionysischen kçnnte Herder verpflichtet sein, fr den „Dionysos der Inbegriff einer neuen, ekstatischen Dithyramben- und Nationaldichtung“ wird (Max L. Baeumer, „Das Moderne des Dionysischen und seine ,Entdeckung‘ durch Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 123 – 153, S. 135).
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
jeder Diskurs ber die Musik und ihre angenommene Fhigkeit, den Willen zu erreichen, zum Scheitern verurteilt ist. Durch Zeichen vermittelt ist der Wille, von dem wir sprechen kçnnen, die Negation des Willens, den wir beschreiben wollen. Mit dem Zeichen ,Wille‘ ist nur „die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen“ zu erfassen (GT 6, KSA 1, S. 50). So steht der Ursprung der Musik nicht in einem direkten Verhltnis zum Willen: Was dagegen den Ursprung der Musik betrifft, so habe ich schon erklrt, daß dieser nie und nimmer im „Willen“ liegen kann, vielmehr im Schooße jener Kraft ruht, die unter der Form des „Willens“ eine Visionswelt aus sich erzeugt: d e r Ur s p r u n g d e r Mu s i k l i e g t j e n s e i t s a l l e r In d i v i d u a t i o n , ein Satz, der sich nach unsrer Erçrterung ber das Dionysische aus sich selbst beweist. (N 1871, KSA 7, 12[1], S. 365)
So lsst sich mit Schopenhauers Willensbegriff die Ursprungsfrage der Musik nicht klren da der Wille als solcher nach Nietzsche nicht Gegenstand der Musik sein kann: Hier mçchte man mir etwa erwiedern, daß ich ja selbst so eben vom „Willen“ ausgesagt habe, er komme in der Musik zu einem immer adquateren symbolischen Ausdruck. Meine Antwort, in einen aesthetischen Grundsatz zusammengefaßt, ist diese: d e r „ W i l l e “ i s t G e g e n s t a n d d e r Mu s i k , a b e r n i c h t Ur s p r u n g d e r s e l b e n , nmlich der Wille in seiner allergrçßten Allgemeinheit, als die ursprnglichste Erscheinungsform, unter der alles Werden zu verstehn ist. (N 1871, KSA 7, 12[1], S. 364)
Dass die Musik wie in GT „die ursprnglichste Erscheinungsform, der Wille, mit seiner Scala der Lust- und Unlustempfindungen“ (N 1871, KSA 7, 12[1], S. 362) ist, die einen „immer adquateren symbolischen Ausdruck“ finden kçnnen, heißt darum nicht, dass sie die Wirklichkeit adquat wiedergibt, sondern selbst Erscheinung ist. Wenn die Musik nur den Willen „in seiner allergrçßten Allgemeinheit, als die ursprnglichste Erscheinungsform, unter der alles Werden zu verstehn ist“ (N 1871, KSA 7, 12[1], S. 364), erreicht, unterscheidet sie sich jedoch nicht von verbalen Sprachen. Als symbolische kçnnen die verbalen Sprachen nicht die wahre Welt wiedergeben. Der Zugang der Musik zum Ur-Einen, einem metaphysischen Kern der Welt, erweist sich fr Nietzsche vor allem deshalb als problematisch, weil er versucht, Schopenhauers Philosophie weiterzuentwickeln. In seinem fließenden, unbegreiflichen und auch durch die Musik nicht symbolisierbaren Charakter hat das Ur-Eine keine feste Identitt: „wenn das Ureine den Schein braucht, so ist sein Wesen der Widerspruch.“ (N 1870/71, KSA 1, 7[151])59 Erkennt man 59 Nach Rudolf Fietz, „Am Anfang ist Musik“, in: Tilman Borsche, Federico Gerratana, Aldo Venturelli (Hg.), „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 27), Berlin / New York 1994, S. 144 – 166, S. 152, ist das Ur-Eine weit entfernt von der „metaphysischen-hierarchischen Opposition zwischen Ding-an-sich und Erscheinung“.
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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aber, dass „die Geburt der empirischen Welt aus dem werdend-wirkenden Widerspruch [des Ur-einen]“ bei Nietzsche einen „knstlerischen Prozess“60 darstellt, ist der Abstand zu Nietzsches anfnglicher Auffassung der Musik als Sprache und der Auffasung der Sprache als Kunst in WL verschwindend gering: „Der Urprozess, die produktive, Gestalten generierende Bewegung am negativen Ursprung der Welt ist musikalische Bewegung“, die Musik „als freies Signifikantenspiel ist eine Wiederholung dieses Urprozess[es]“.61 Danach ist die Sprache die „ursprnglich[e] differentiell[e] (musikalisch[e]) Bewegung“,62 durch feste Signifikanten, durch Begriffe zu erstarren. Die Musik kann diese paradoxe, in sich widersprchliche Bewegung nachahmen – doch dann kann von Wiedergabe der Wirklichkeit nicht mehr die Rede sein. Die Musik ermçglicht dann keine adquate, anschauliche Erkenntnis, sondern eine Kommunikation, zu der die standardisierte Sprache nicht fhig ist: Einmal hat sie [die Musik] ein Verhltniß zur Sprache, als eine universal vorwortliche Sprache zu der ganz ausgeraubten entkrfteten rhetorisch und poetisch verntzten Sprache: die allgemeine Erkrankung aller Sprechenden, die Unfhigkeit, sich noch wirklich mit einander zu verstndigen: wenn schon die Poesie fr jeden jetzt dichtet, so denkt jetzt die Sprache fr jeden, er ist der Sklave derselben und niemand hat noch Individualitt in diesem ungeheuren Zwang. (N 1875, KSA 8, 12[24])
Die Sprache der Musik scheint auch spter die einzige Mçglichkeit einer nichtgemeinen Kommunikation zu sein: „Im Verhltni ß zur Musik ist alle Mittheilung durch Worte von schamloser Art; das Wort verdnnt und verdummt; das Wort entpersçnlicht: das Wort macht das Ungemeine gemein.“ (N 1887, KSA 12, 10[60]) Nietzsche fhrt das nicht zu einer Romantisierung der Musik, sondern zu einer hçheren Sensibilitt fr die Verflechtung von Musik und Sprache, die er jetzt auf einer neuen Ebene reflektieren kann, ohne damit eine Metaphysik der Musik oder Sprache aufbauen zu wollen. Das Problem eines metaphysischen Kerns der Welt bzw. der Sprache und seiner Erreichbarkeit durch die Musik erscheint vor diesem Hintergrund zweitrangig. Die Musik ist nicht mehr das Medium eines Wissens von etwas Ursprnglichem, sondern ein 60 Fietz, „Am Anfang ist Musik“, S. 154. 61 Fietz, „Am Anfang ist Musik“, S. 154. 62 Fietz, „Am Anfang ist Musik“, S. 154. Dass schon in GT die Konzeption der Sprache angelegt ist, die spter in WL wirksam wird, behauptet auch Diana Behler, nach der in GT „die Synsthesie als ein Darstellungsmittel verwandt wird, das im Sinne von nebeneinander gestellten, metonymischen Querverbindungen verfhrt, ein grundloses Gleiten auf der Oberflche darstellt, das aber nicht der Darstellung eines Prinzips dienen soll, nicht die Beziehung auf einen Grund oder einen letzen Sinn bezweckt“. (Diana Behler, „Synsthesie in Nietzsches Die Geburt der Tragçdie“, in: Tilman Borsche / Federico Gerratana / Aldo Venturelli (Hg.), „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 27), Berlin / New York 1994, S. 131 – 143, S. 139).
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Grundelement kommunikativer Prozesse. Sie befreit auch nicht von der Entpersonalisierung und Entsinnlichung der Kommunikation, die unberwindbar sind, solange der Mensch sein Bewusstsein durch die Sprache einer Gemeinschaft entwickeln muss, sondern wird zur Metapher der nicht-verbalen Bedingungen unserer verbalen Mitteilungen. So hat das musikalische Element des Rhythmus pragmatische Bedeutung fr den Ursprung der Poesie.63 Die Poesie ist fr Nietzsche keine „wildschçne Unvernnftigkeit“; der Rhythmus gewinnt eine „aberglubische Ntzlichkeit“, sofern er nicht nur auf die Menschen wirkt, sondern auch auf die Gçtter wirken kann. Er habe primr einen mnemotechnischen Nutzen, da man „einen Vers besser im Gedchtniss behlt, als eine ungebundene Rede“. Aber man meinte auch, so Nietzsche, sich durch „das rhythmische Tiktak ber grçssere Fernen hin […] hçrbar zu machen“ und damit Gott beim Beten besser erreichen zu kçnnen. Die Wirkung des Rhythmus lasse sich unmittelbar beobachten: Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwltigung haben, welche der Mensch an sich beim Hçren der Musik erfhrt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Fsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Gçtter! (FW 84)
Die Antike hatte sich schon frh mit dem Rhythmus befasst. Schon „lngst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik“. Spter erlangte der Rhythmus einen erzieherischen Wert in den philosophischen Schulen, z. B. bei den Phythagoreern. Die Philosophen wollten die Macht des Rhythmus neutralisieren, konnten sich seinem Einflusses auf ihr Denken nicht entziehen. Trotz „Jahrtausende langer Arbeit in der Bekmpfung solchen Aberglaubens“, der dem Rhythmus eine magische Macht, ein erzieherisches, therapeutisches, religiçses Potenzial zuschreibt, „wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empf indet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem gçttlichen Hopsasa daher kommt.“ (FW 84) Dass der Rhythmus so faszinieren kann, liegt an der sinnlichen Natur der Sprache selbst. Die Musikalitt ist ihr wichtigster Ausdruck, aber eben nichts 63 Zu Nietzsches Rhythmusbegriff bis 1876 vgl. Friederike Felicitas Gnther, Rhythmus beim frhen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 55), Berlin / New York 2008. Sie versteht Nietzsches ,Rhythmus‘ nicht nur als sthetischen Begriff: „Der Rhythmus bewegt sich wie die Sprache in Nietzsches Bild vom Begriffsdom zwischen den Polen der architektonischen Erstarrung und der Auflçsung, zwischen ,Columbarium‘ der Begriffe und Verflssigung aller Bedeutungsgrenzen, zwischen Ketten und Entfesselung. Aus diesem Grund bezeichnet er bei Nietzsche grundstzlich kein ausschließlich poetologisches, sondern ein anthropologisches Phnomen.“ (S. 183)
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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Metaphysisches, sondern einen bloße Bedingung der Verstndigung. In FW 372 spricht Nietzsche von einer „Musik des Lebens“, um die außerbegriffliche Dimension der Sprache zu bezeichnen, und kann die Beziehung zwischen Sprache und Musik so tiefer verstehen. Werner Stegmaier erlutert sie durch eine weitere, von Nietzsche nicht explizit gebrauchte Metapher: die ,Musik des Leibes‘, die kçrperlichen Zeichen z. B. des Stimmklangs, der Gebrden und der Mimik. Sie wird, obwohl oder gerade weil sie „die Sprache der Begriffe leichter verstndlich“ macht, nicht thematisiert. Sie ist zugleich eine „Musik des Vergessens“ (FW 367), da sie „weder gehçrt noch bewusst berhçrt“ werden darf, sondern „,unbewußt‘ gehçrt werden“ muss.64 Wenn Nietzsche die akustische Natur der Sprache des Ursprungs bzw. der Musik des Lebens betont, so bertreibt er doch nicht den sthetischen Wert der Kommunikation von Gefhlen und Leidenschaften. Er rt im Gegenteil, behutsam mit dem Ausdruck von Gefhlen umzugehen: Sp r a c h e u n d G e f h l . – Dass die Sprache uns nicht zur Mittheilung des G e f h l s gegeben ist, sieht man daraus, dass alle einfachen Menschen sich schmen, Worte fr ihre tieferen Erregungen zu suchen: die Mittheilung derselben ussert sich nur in Handlungen, und selbst hier giebt es ein Errçthen darber, wenn der Andere ihre Motive zu errathen scheint. Unter den Dichtern, welchen im Allgemeinen die Gottheit diese Scham versagte, sind doch die edleren in der Sprache des Gefhls einsilbiger, und lassen einen Zwang merken: whrend die eigentlichen GefhlsDichter im praktischen Leben meistens unverschmt sind. (MA II 105) 64 Stegmaier, „,Philosophischer Idealismus‘ und die ,Musik des Lebens‘. Zu Nietzsches Umgang mit Paradoxien“, in: Nietzsche-Studien 33 (2004), S. 127 f. Barbara Naumann, „Nietzsches Sprache ,Aus der Natur‘. Anstze zu einer Sprachtheorie in den frhen Schriften und ihre metaphorische Einlçsung in ,Also sprach Zarathustra‘“, in: NietzscheStudien 14 (1985), S. 126 – 163, hat gezeigt, dass Nietzsches Hervorhebung der UrMusikalitt der Kommunikation vor allem der Remetaphorisierung der Sprache dient: „Wenn auch sicherlich musikalische Stilmittel in vielfltiger Weise in der Sprache Nietzsches ihre Anwendung finden, so liegt doch in dieser lautlichen Konkretion nicht die Einlçsung dessen, was Nietzsche mit dem musikalischen Hintergrund der Sprache, auch in der GT, meint. Es geht ihm nicht um formale Analogien zwischen beiden Medien, sondern um die Frage, wie die Sphre des Dionysischen mit seinen Qualitten inhaltlich berfhrt werden kann in eine (neue) Sprache. In den Metaphern wie z. B. der Anthropomorphisierung der Seele Zarathustras als Weinstock liegt eine dialektischanalytische Verbindung vor, in der die Sprache im Rahmen ihrer Bildlichkeit die musikalische Seite umsetzt.“ (S. 160) Benjamin Biebuyck, „,Eine Gleichnis- und Zeichensprache, mit der sich vieles verschweigen lsst‘. Figurations- und Metapherntheorie des spten Nietzsche“, in: Roland Duhamel / Erik Oger (Hg.), Die Kunst der Sprache und die Sprache der Kunst, Wrzburg 1994, S. 121 – 151, zeigt, dass der sptere Nietzsche „nicht fr die Abschaffung, die Beseitigung der existierenden Sprachmittel pldiert, sondern eine Erneuerung, eine Verlebendigung der Sprachkonzeption vorschlgt, die zu einer Flexibilisierung der sprachlichen Interaktion fhren soll“ (S. 149). Dabei verweist Biebuyck auch kurz auf Nietzsches Gebrauch der Musikmetaphorik im Kontext seiner spteren Thematisierung der figurativen Natur der Sprache (S. 151).
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Auch hier verbindet Nietzsche mit der sinnlich gebundenen Natur der Sprache eher eine kritische Funktion als ein neues sthetisches Ideal. Wie Herder versteht er die Kunst, auch wo es um die Mitteilung von Gefhlen und Leidenschaften geht, nicht als spontan und naiv, sondern als knstlich und eben darin als wirkungsvoll. Auch er macht das an der dramatischen Kunst deutlich. Wenn Nietzsche in M 157 von einem „Cultus der ,Naturlaute‘“ spricht, knpft er wie Herder an eine vexata questio ber den sthetischen Wert von Sophokles’ Tragçdie Philoktet an: Wohin weist es, dass unsere Cultur gegen die Aeusserungen des Schmerzes, gegen Thrnen, Klagen, Vorwrfe, Gebrden der Wuth oder der Demthigung, nicht nur geduldig ist, dass sie dieselben gut heisst und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet? – whrend der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Nothwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato – das heisst: keiner von den unmenschlichsten Philosophen – von dem Philoktet der tragischen Bhne redet. Sollte unsrer modernen Cultur vielleicht „die Philosophie“ fehlen? Sollten wir, nach der Abschtzung jener alten Philosophen, vielleicht sammt und sonders zum „Pçbel“ gehçren? (M 145)
Die tragische Figur des Philoktet ist ein Topos der sthetischen Reflexion des 18. Jahrhunderts. Nietzsche greift ihn auf, um einen bertriebenen Kultus der Leidenschaften in der modernen Kultur aufzuzeigen.65 Er schtzt eine dramatische Kunst wenig, die im Zuschauer Leidenschaften durch ihre direkte, d. h. pantomimische und onomatopoetische Reprsentation, hervorruft. Inwiefern ist dennoch das Schreien und Weinen des Philoktet mit der hoch angesehenen Gattung der tragischen Kunst vertrglich? Um eine Antwort auf diese Frage bemhten sich schon Winckelmann und Lessing, spter nahm sich auch Herder im ersten der Kritischen Wlder von 1768 dieses Themas an.66 War Philoktet als schreiende Figur fr Lessing Zeugnis einer ungnstigen Verschmelzung von darstellender Kunst und Dichtkunst, so trat Herder dem polemisch entgegen, 65 Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918), Bonn 1985, Kapitel „Philoktet“ (S. 135 – 151) hat bei Nietzsche eine „Metaphysik aus der Sicht Philoktets“ und einen „Kult der Passion“ (S. 138) gefunden. 66 Philoktet wird, wie gesehen, auch in der Abhandlung (1.697) und an anderen Stellen erwhnt. Interessant fr die Verwendung der Figur des Philoktet ist eine Bemerkung von Roland Borgards, „Herders Philoktet. Schmerz zwischen Physiologie und sthetik“, in: Andraschke / Loos (Hg.), Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West, Freiburg im Breisgau 2002, S. 89 – 121, S. 117: Die „Insel-Situation des Philoktet“ interessiere Herder, weil sie „sich als Szene ohne Beobachter und insofern als natrliche Szene [prsentiert]. Das heißt zunchst: Natur ist, wenn keiner hinschaut bzw. hinhçrt. Das heißt sodann: All das, was Herder dort, wo er hinschaut bzw. hinhçrt, sieht bzw. hçrt, ist nicht einfach da, sondern verdankt sich einem konstruktiven Akt. Deshalb heißt es schließlich: Es gibt keine Natur, nur Effekte von Natur: Entnaturalisierung oder Naturalisierung“. Borgards verweist dabei auf Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, Mnchen 1993.
2.3. Die Sprache zwischen Akustik und Musik
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ohne Lessings Kategorie grundstzlich zu verabschieden. Er hlt mit Winckelmann daran fest, dass eine pantomimische Darstellung von Leidenschaften tatschlich eher negativ wre, und versucht im Gegenzug zu zeigen, dass dies in Sophokles’ Philoktet nicht der Fall sei. Philoktets Schreie, sein Klagen kommen im Text des Dramas kaum vor; es wird nur davon berichtet. Eine direkte Inszenierung der Leidenschaften findet nach Herder bei Sophokles nicht statt. Vielleicht htte Aischylos „freilich hieraus mehr Hauptton gemacht“, „bei einem bertriebenen neuen Tragikus wrde Philoktets Gebrlle gewiß schon hinter den Szenen anfangen, und er sich mit wstem, wildem Geschrei aufs Theater strzen“ (Erstes Wldchen, 2.71). Die Originalitt von Herders Position besteht zunchst darin, dass er in die sthetische Debatte eine neue Unterscheidung „einfhrt: es ist eines, einen Schmerz zu empfinden; es ist anderes, einen Schmerz zu beobachten.“67 Ihm konnte, was Nietzsche spter kritisch „Cultus der Naturlaute“ benennt, schon bewusst gewesen sein. Als es diesen Kultus noch nicht gab, konnte es nicht Sophokles’ Ziel gewesen sein, die konkreten Ursachen der Schmerzen Philoktets auf die Bhne zu bringen, denn das htte die geringste Wirkung auf die Zuschauer gehabt: Der Eindruck des kçrperlichen Schmerzes ist viel zu verworren und kçrperlich gleichsam, als daß er z. E. der Frage Platz ließe: wo sitzt der Schmerz? außen oder innen? wie sieht die Wunde aus? was fr ein Gift wirkt darinnen? Wre die Vorstellung des kçrperlichen Schmerzes so schwach, um durch solche Sachen verstrkt werden zu mssen, so ist die Wirkung des Theaters verloren: so ists besser, daß ich hingehe, um die Wunde selbst chirurgisch zu besichtigen. (Erstes Wldchen, 2.100)
Was Herder ber die Kçrpersprache aussagt, kann auf die sinnliche Ursprache erweitert werden: Man kann nicht in Anspruch nehmen, eine solche Sprache nachzuahmen, um Leidenschaften besser auszudrcken. Nietzsches erkennt die leibgebundene Natur der Sprache; dass unser alltgliches Sprachverstndnis die Sinnlichkeit, die Musik des Lebens braucht, bedeutet jedoch auch fr ihn nicht, dass Naturlaute ein sthetisches Ideal sein kçnnten.
67 Borgards, „Herders Philoktet. Schmerz zwischen Physiologie und sthetik“, S. 117. Die Arbeit Borgards rekonstruiert ausfhrlich Herders Rezeption philosophischer und naturwissenschaftlicher Theorien ber die Natur des Schmerzes, die er in seine Deutung der Figur Philoktets einbringt.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs Herder und Nietzsche beziehen beide in ihre Sprachkritik Metaphern ein.68 Nietzsches Formeln: „bevor ,gedacht‘ wurde, muß schon gedichtet worden sein“ und „der formende Sinn [ist] ursprnglicher als der denkende“ (N 1885, KSA 11, 40[17]) fgen sich der Tradition ein, der auch Herder angehçrt. Diese kennt einen logischen und zeitlichen Vorrang der Metapher vor dem Begriff, unterscheidet zwischen einer poetischen und einer prosaischen Phase in der Entwicklung der Menschensprachen, macht aus der Metapher das entscheidende Merkmal der Sprache der ersten Phase und deutet dadurch eine Abhngigkeit der ,eigentlichen‘ Formen des Ausdrucks von den ersten, uneigentlichen, tropischen Formel an. Die Hervorhebung der Urmetaphorizitt der Sprache wird bei Herder und Nietzsche zu einem Mittel, den Anspruch der Philosophie als Wissenschaft des Begriffs in Frage zu stellen, den sie auf absolute Gltigkeit erhebt. Diesen Aspekt ihrer Metaphorologie wollen wir hier vor allem diskutieren. Die Vernatrlichung des Begriffsdiskurses nutzt die Metapher als Focus imaginarius einer genetischen Rekonstruktion der Verbegrifflichung, die dadurch als Leistung eines sinnlichen, organischen Lebenwesens verstanden wird. Als etwas, das unter dem Druck des Lebens entsteht, kçnnen Begriffe kein fester Anfang des Denkens sein, sondern nur besondere Zeichen, die so lange als Begriffe gelten, wie sich ihr Abstrahieren von sinnlichen Elementen der Sprache kommunikativ ntzlich auswirkt. Abstraktion ist typisch fr das Menschliche, 68 Zu den metaphorologischen Aspekten in Herders Sprachdenken vgl. vor allem Gebhard Frst, Sprache als metaphorischer Prozess. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988. Er stellt nicht nur den Gebrauch bestimmter Metaphoriken bei Herder dar, sondern rekonstruiert auch systematisch Herders Reflexionen ber die Metapher und ihre Bedeutung fr seine Philosophie und Theologie. S. auch Albus, Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert, Wrzburg 2001, Kap. 1.7, S. 87 – 121 u. Kap 2.4, S. 288 – 399, die Herders Metaphernkonzeption zusammen mit jenen Vicos, Wolffs und Leibniz’ darstellt und nach den darin implizierten Weltbildern fragt. – Zu Nietzsches metaphorologischer Kritik der Philosophie vgl. Bernard Pautrat, Versions du soleil. Figures et systme de Nietzsche, Paris 1971; Sarah Kofman, Nietzsche et la mtaphore, Paris 1972; Philippe Lacoue-Labarthe, „Le dtour (Nietzsche et la rhtorique)“, in: Poetique 5 (1971), S. 53 – 76; Jacques Derrida, perons. Les styles de Nietzsche, Paris 1972; Ders., „La Mythologie blanche, la mtaphore dans le texte philosophique“, in: Marges de la philosophie, Paris 1972; Paul de Man, „Nietzsche’s Theory of Rhetoric“, in: Symposium: A Quarterly Journal in Modern Foreign Literatures (1974), S. 33 – 51; Ders., Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven 1979; Karl Heinz Bohrer, Plçtzlichkeit. Zum Augenblick des sthetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981. Eine kritische Darstellung der Diskussion gibt Lutz Ellrich, „Rhetorik und Metaphysik. Nietzsches ,neue‘ sthetische Schreibweise“, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 241 – 272.
2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs
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verweist aber auch auf eine Transzendenz jenseits der Sprache, die die Grenze des menschlichen Konzeptualisierens darstellt. Der Ursprung des Begriffs aus der Metapher bleibt nach Herder und Nietzsche weiter lebendig, wird aber durch einmal entstandene Begriffe beschrnkt, die aus guten praktischen Grnden die Vieldeutigkeit der Metaphern steuern sollen. Nietzsche und Herder regen an, nach Sinn und Nebenwirkungen dieser Beschrnkung zu fragen. Solange die Sprache als ein leiblicher, natrlicher Prozess verstanden wird, kann sie nach Wittgenstein wie jedes „gute Gleichnis“ ,den Verstand erfrischen‘.69 Im Zug der Erneuerung der Kultur soll die Sprachkritik, die auf eine Vernatrlichung der Sprache zielt, die individuelle Kreativitt gegenber den standardisierten und technisierten Formen des Denkens wieder geltend machen. Wenn aber die Sprache der Begriffe derart vernatrlicht werden muss, wird der Diskurs der Vernatrlichung selbst noch unsicherer. Denn er artikuliert sich ebenfalls durch Begriffe, deren nicht reprsentativer und abgeleiteter Charakter nun klar ist. Begriffe kçnnen so die lebendige, organische Entwicklung der Sprache und Kultur nicht wirklich gewhrleisten. Darum gebrauchen Herder und Nietzsche Metaphern, die keine absolute und zeitlose Widerspiegelung des Werdens in Anspruch nehmen. Wenn die Begriffe einmal Metaphern waren, ist es auch plausibel zu sagen, dass das Werden der Begriffe sich durch Metaphern darstellen lsst. Die Erkenntnis wird dann insgesamt als sprachliche Leistung und damit als metaphorische Bewegung verstanden, und das ist selbst wiederum eine Metapher.70 Nur solange der Diskurs ber die Metaphorizitt der Begriffe sich selbst als strategisches Spiel und nicht als endgltig wahr versteht, kommt es nicht zum Selbstwiderspruch. Nietzsche ist sich dessen strker bewusst geworden als Herder, da er, anders als Herder, darauf verzichtet, seine Genealogie der begrifflichen Sprache noch mit einer sinnvollen Naturordnung zu verknpfen und damit ein unmetaphorisches Sein vorauszusetzen. Die strategische Meta69 Ludwig Wittgenstein, „Vermischte Bemerkungen“ (1929), in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt am Main 1984, S. 451. Blumenberg zitiert den Passus und bringt dann das Verhltnis zwischen dem theoretischen Gebrauch der Sprache und der Metapher prgnant auf den Punkt: „Die in der rigorosen Selbstverschrfung der theoretischen Sprache verchtlich gewordene Ungenauigkeit der Metapher entspricht auf andere Weise der oft so eindrucksvollen hçchsten Abstraktionsstufe von Begriffen wie ,Sein‘, ,Geschichte‘, ,Welt‘, die uns zu imponieren nicht nachgelassen haben. Die Metapher jedoch konserviert den Reichtum ihrer Herkunft, den die Abstraktion verleugnen muß.“ (Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1979, S. 78) 70 Udo Tietz, „Phnomenologie des Scheins. Nietzsches sprachkritischer Perspektivismus“, in: Volker Gerhardt / Renate Reschke (Hg.), Nietzscheforschung 7 (2000), S. 215 – 241, S. 219, ist der Meinung, Nietzsches „Metapher“ msse als eine „absolute Metapher“ im Sinne Blumenbergs gelesen werden. Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1998, u. ders., Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt am Main 2007.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
phorisierung erbrigt eine selbstwidersprchliche Theorie der Metapher bzw. ,metaphorische Theorie‘ der Sprache und bleibt bei einer kritischen Dekonstruktion. Herder fhrt sie gleichsam noch gebremst durch, Nietzsche beschleunigt sie.71 2.4.1. Anthropologische Voraussetzungen der tropischen Genealogie des Begriffs: Semiotik des Triebes bei Herder und Nietzsche Herder und Nietzsche setzen in ihrer Rckfhrung des Begriffs auf die Metapher ein unbewusstes Prinzip im menschlichen Geist voraus; sie machen sie so anthropologisch plausibel. Herder spricht von einem „Trieb, in uns Analogien zu schaffen“ (Bild, 4.673), Nietzsche spter von einem „Trieb zur Metaphernbildung“ als einem „Fundamentaltrieb des Menschen“. Nietzsche gilt dieser Fundamentaltrieb explizit als Charakteristikum des Menschen, so dass seine Verleugnung bedeutete, dass „man damit den Menschen selbst wegrechnen wrde“ (WL, S. 887). Wie schon bei den anderen Trieben im Diskurs der Vernatrlichung72 erheben Herder und Nietzsche auch fr die Triebe zu Analogie und Metapher keinen Anspruch auf naturwissenschaftliche Beweisbarkeit, sondern verstehen sie heuristisch. Die nicht-biologistische Physiologisierung der Begriffe zeigt sich schon daran, dass jene Triebe zu Metapher und Analogie vorwiegend in Diskussionen auftauchen, die sich mit poetologischen und sprachkritischen, nicht mit biologischen oder gar naturwissenschaftlichen Themen befassen: Herder spricht von ihnen in einer berlegung ber Bild, Dichtung und Fabel, Nietzsche in seiner Schrift Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne, die mit einer Fabel beginnt. Mit einem Trieb zu beginnen, hat vor allem die Funktion, die Verfgung eines autonomen und selbstbewussten Subjekts ber seine Begriffe kritisch zu hinterfragen. 71 Die dekonstruktive Bedeutung der Metaphorologie Nietzsches taucht auch bei Peter Gasser, Rhetorische Philosophie. Leseversuche zum metaphorischen Diskurs in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Bern / Berlin / Frankfurt am Main / New York / Paris / Wien 1992, auf: „Das rhetorische Selbstverstndnis berschreitet die Reflexionsttigkeit, die Philosophie schon immer betrieben hat: die Reflexion ber Sprache. Philosophie ist Darstellung durch Rede. Diese grundstzliche These des ,linguistic turn‘, auf die sich die neuere Hermeneutik und der Poststrukturalismus gleichermassen berufen […], bestreitet das Verfahren der logozentrischen Philosophie, die sich, ihrer Wissenschaftlichkeit zuliebe und um der Sache willen, von der Sprache, in der sie sich ausdrckt, dispensiert.“ (S. 8). Die Entfaltung des sich sthetisch erneuernden Potentials der frhen Metaphorologie in Za zeigt Claus Zittel, Das sthetische Kalkl von Friedrich Nietzsches ,Also sprach Zarathustra‘, Wrzburg 2000, und Ders., „Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher. Nietzsches relationale Semantik“, in: Volker Gerhardt / Renate Reschke (Hg.), Nietzscheforschung 7 (2000), S. 273 – 286. 72 Vgl. Kap 2.2.
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Dass bei beiden Autoren Instinkte und Triebe mit Unspezialisiertheit, Schwachheit und Unsicherheit assoziiert werden, macht sie fr das metaphorische Spiel besonders geeignet. Wenn Triebe sich nur auf immer unsicheren, nicht festgestellten Wegen befriedigen lassen, dann sind Metaphern bewegliche, nicht eindeutige Formen des Ausdrucks, eben weil sie aus einem Trieb hervorgehen. Genetisch wird auch ihre Fragilitt verstndlich: die Schwche des Metapherntriebes verlangt nach einem Begriff, einer Strukturierung in einem Netz fester Relationen, das das Handeln des Menschen von der Unsicherheit des Trieblebens entlastet. Als Ausgangspunkt des metaphrein, also des bertragens, gewinnt so das Zeichen ,Trieb‘ eine starke berzeugungskraft; sein Begriff zeigt die Grenzen des Begriffs an. Weil ,Trieb‘ aufgrund seiner relationalen Natur – ein Trieb ist immer ein Trieb zu etwas und ist ohne dieses etwas, das etwas anderes als der Trieb selbst ist, nicht zu fassen – durch einen Begriff nicht vçllig fassbar ist, macht das Wort die Beweglichkeit der Sprache, d. h. ihr Oszillieren zwischen Metaphern und Begriffen, plausibel. Es deutet die unkontrollierbare Nçtigung zum metaphorischen bertragen an. Es macht den metaphysischen Dualismus von potentia und actus hinfllig und zeigt, dass die Sprachkritik keinen festen ontologischen Hintergrund hat. ,Trieb‘ lsst sich auch nicht durch die Begriffe von Ursache und Wirkung fassen; auch diese scheinbar objektiv gltige Unterscheidung gert mit ihm ins Wanken. Weil unsere Vernunft nicht „Sachen“, sondern nur „Merkmale von Ihnen“ ausdrcken kann, so Herder, sehen wir unmittelbar „keinen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung“, „da wir weder das, was wirkt, noch was gewirkt wird, im Innern einsehn und vom Sein eines Dinges durchaus keinen Begriff haben“ (Ideen, 6.349). Sprachkritisch motiviert ist auch Nietzsches Skepsis gegenber den Begriffen von Ursache und Wirkung: Ein empfundener Reiz und ein Blick auf eine Bewegung verbunden, ergeben die Kausalitt zunchst als Erfahrungssatz: zwei Dinge, nmlich eine bestimmte Empfindung und ein bestimmtes Gesichtsbild erscheinen immer zusammen: daß das Eine die Ursache des Andern ist, i s t e i n e Me t a p h e r, e n t l e h n t a u s W i l l e u n d T h a t : e i n A n a l o g i e s c h l u ß . (N 1872 – 73, KSA 7, 19 [209])
Ein Trieb wird anhand seiner ußerung erkannt. Zwischen beiden ist keine feststellbare Distanz. So wird mit der Rede vom Trieb das deterministische Verstndnis unseres Verhaltens problematisch und zugleich keine Willensfreiheit des Menschen unterstellt. Da wir nicht wissen kçnnen, wo die einzelnen Triebe beginnen und enden, kçnnen wir sie auch nicht wirklich voneinander trennen. Der Gebrauch des Wortes ,Trieb‘ entkrftet die Tendenz, unterschiedliche Vermçgen des metaphrein zu unterscheiden, zu hypostasieren und zu substantialisieren. Es steht fr eine fließende, nur funktionalistisch ausdifferenzierte Pluralitt von Krften
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in uns. Herder verknpft den Trieb zur Analogie mit einem „innere[n] Vergngen sie [die Analogie] anzuerkennen und jedes Mal dadurch seine Begriffe zu erweitern, zu ben, zu strken“ (Bild, 4.673), so dass der Trieb Teil einer komplexeren Lustempfindung bei der Erkenntnis wird. Das entspricht auch seinem anthropologischen Modell des sensorium commune, nach dem keine Wahrnehmung nur einem einzelnen Sinn zugehçrt, da zwar ihr Anfang bei einem Sinn liegen mag, sie dann aber auf die anderen Sinne ausstrahlt. Dass man eine Wahrnehmung an einen einzelnen Sinn bindet, ist dem Denken des Menschen geschuldet, der mit seiner Sprache unterscheidet; die Ausdifferenzierung der Sinnlichkeit ist eine theoretische Konstruktion im Zug der sprachlichen Selbstreflexion. Herder scheint hier radikaler als Gerber und als der Nietzsche von WL zu sein, da nach ihm nicht nur bertragungen von Reizen zu Bildern, sondern auch synsthetische bertragungen von Formen der Empfindung auf andere Formen der Empfindung mçglich sind.73 Auch Nietzsche atomisiert den Trieb zur Metapher nicht. Er trennt ihn nicht vom „Trieb zur Wahrheit“, nach dessen Ursprung er ebenfalls in WL fragt, macht ihn nicht zum zeitlosen Moment einer Naturanlage, die dann zu einem zweiten Trieb, dem Trieb zur Wahrheit fhrt, sondern denkt ihn in stndiger Wechselwirkung mit dem zweiten: der Trieb zur Metapher wird vom Trieb zur Wahrheit in der sozial-kommunikativen Praxis gebremst und diszipliniert. Herders Muster des sensorium commune entspricht weitgehend Nietzsches synsthetische Darstellung der Natur des Nachahmens als anthropologisches Grundphnomen, das das metaphrein begleitet: „Ein ganz allgemeines Phnomen“ ist dieses „bersetzen des einen Sinneseindrucks in den andern […]: manche sehen etwas oder schmecken etwas bei bestimmten Tçnen.“ (N 1872/ 73, KSA 7, 19[227]). Der Trieb zur Nachahmung ist noch wichtiger, nhert sich noch mehr an Herders Idee der Tendenz zur Analogisierung an. Dabei setzt zwar das Nachahmen bei Nietzsche keine „große Analogie der Schçpfung“ (Vom Erkennen, 4.360) voraus, nach der „alles […] sich und Seinesgleichen“ fhlt. Aber beiden geht es darum, „[]berall hnlichkeit mit uns zu fhlen“ und „alles mit unsrer Empfindung zu beleben“ (Vom Erkennen, 4.329). Wenn fr Nietzsche auch „unsere Sinne die Natur [nach]ahmen, indem sie mehr dieselbe abkonterfeien“, ist ihm klar, dass „das Nachahmen ein Aufnehmen [voraussetzt] und dann ein fortgesetztes bertragen des aufgenommenen Bildes in tausend Metaphern, alle wirkend.“ (N 1872/73, KSA 7, 19[226]) So soll der ,Trieb zur Metapher‘ den Gebrauch der Begriffe problematisch machen und die Erkenntnis als Widerspiegelung der Realitt verunsichern: „Das N a c h a h m e n ist darin der Gegensatz des Erkennens“, weil „das Erkennen eben keine bertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten 73 Vgl. dazu auch Frst, Sprache als metaphorischer Prozess. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988, S. 289 – 291.
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will und ohne Consequenzen“. Dabei weiß Nietzsche: „nun aber giebt es keine ,eigentlichen‘ Ausdrcke und k e i n e i g e n t l i c h e s E r k e n n e n o h n e M e t a p h e r.“ Erkennen ist nmlich „ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen“ (N 1872/73, KSA 7, 19 [228]), der Begriff „eine Nachahmung der Zeit- Raum- und Zahlenverhltnisse auf dem Boden der Metaphern.“ (WL, Bd. 1, S. 886) Die durch die Kategorien von Zeit, Raum und Ursache erfassten Verhltnisse sind keine Begriffe an sich, sondern „nur Erkenntnißm e t a p h e r n , mit denen wir die Dinge uns deuten.“ (N 1872/73, KSA 7, 19[210]). Fr die anthropologischen Voraussetzungen des metaphrein ist es entscheidend, dass das Nachahmen einen rckwirkenden Effekt auf die Instinkte haben, die Wirkung der Instinkte selbst also modifizieren kann. Nachahmung ist fr Nietzsche tatschlich das „Mittel aller Kultur, dadurch wird allmhlich der Instinkt erzeugt“ (N 1872/73, KSA 7, 19 [226]). Nachahmen kann zwar vom Bewusstsein beeinflusst werden, es entsteht jedoch unter dem Einfluss eines verborgenen Drangs. Auf die Frage, „welche Macht zwingt zur Nachahmung“, antwortet Nietzsche: „Die Aneignung eines fremden Eindrucks durch Metaphern“ (N 1872/73, KSA 7, 19 [227]). Es scheint sich somit um einen prototypischen Willen zur Macht zu handeln, der einen heuristischen Leitfaden fr die Interpretation von Phnomenen abgibt, die sich von der organischen bis zur kulturellen Dimension erstrecken. 2.4.2. Metaphorisierung oder Allegorisierung der Begriffe? Im folgenden Kapitel werden wir, ohne Herders und Nietzsches Metaphernkonzeption ausfhrlich darzulegen, zeigen, was Metaphern bzw. Allegorien fr ihre Dekonstruktion des Begriffsdiskurses bedeuten. 2.4.2.1. Herder: Ursprngliches Allegorisieren und Verbegrifflichung der Metapher Der Trieb zur Analogie ußert sich schon vor dem poetischen Gebrauch einer Sprache, die bereits eine eigentliche Bedeutung der Wçrter voraussetzt. Er verweist auf den Ursprung der Sprache: „Die Metapher des Anfangs war Drang zu sprechen“ (Abhandlung, 1.755). Dieser Drang wirkt schon, bevor die Menschen in den Besitz einer echten Menschensprache gekommen sind. Danach herrscht in der ursprnglichen Versprachlichung der Welt, wie die „Durchwebung der Ideen in den Wurzeln der Wçrter“ (Abhandlung, 1.752) zeigt, eine Durchkreuzung von Gefhlen. Fr das denkende sensorium commune entstehen Wçrter in der Fixierung fließender, synsthetischer Prozesse. Die Urmetapho-
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rizitt der Sprache ist bei Herder, wie schon angedeutet, zunchst eine bertragung von einer Sphre des Empfindens in eine andere: Wie der Erfinder Ideen aus Einem Gefhl hinaus riß und fr ein anderes borgte! wie er bei den schwersten, kltesten, deutlichsten Sinnen am meisten borgte! wie alles, Gefhl und Laut werden mußte, um Ausdruck zu werden! Daher die starken khnen Metaphern in den Wurzeln der Worte! daher die bertragungen aus Gefhl in Gefhl (Abhandlung, 1.752).
Dass die Fhigkeit zur Abstraktion nichts Ursprngliches ist, macht die Analogie einer Pluralitt von Sinnen plausibel, die durch das Gehçr einen Weg zum wçrtlichen Ausdruck finden: „Da alle Sinne zusammen wrken, sind wir, durchs Gehçr, gleichsam immer in der Schule der Natur, lernen abstrahieren, und zugleich sprechen“. Als „Gabe der Bezeichnung“ (Abhandlung, 1.750 f.) ordnet die Vernunft die Empfindungen durch den bewussten Gebrauch von Merkmalen. Die lteren Formen der Versprachlichung bleiben jedoch unvermeidlich Teil unseres mentalen Horizonts; so wird die Sprache eine „Schatzkammer menschlicher Gedanken“, „in welcher die Knntnisse aufbewahrt liegen, die dem ganzen Menschengeschlechte gehçren.“ (Fragmente, 1.553) Gerade in der ersten Phase der Versprachlichung entwickelt das „sinnliche[] Volk[]“ einen „Vorrat von Metaphern“ (Fragmente, 1.615), der spter die Sprache beleben wird. Diese Metaphern sind wie „erste Wçrter, die wir lallen, sind die Grundsteine aller unsrer Erknntnis“ (Fragmente, 1.394), d. h. auch des Begriffsdiskurses. Es geht, das ist festzuhalten, bei der Entstehung der Abstraktionsvermçgen um eine besondere Gabe, nicht einfach um einen Verlust an sinnlicher Kommunikativitt. Bei aller Betonung der Sinnlichkeit hat die Abstraktion fr Herder ihre eigene Bedeutung. Die Betrachtung der Sinne als unabhngige Quellen des Empfindens sind sptere Abstraktionen der Vernunft, die Herder gleichwohl beibehlt. So kann er die Unterscheidung zwischen den Sinnen anders, als man von seinem Bild des Menschen als sensorium commune her erwarten wrde, auch als etwas Festes, klar Definiertes betrachten: Jede Kunst hat ihre Originalbegriffe, und jeder Begriff gleichsam sein Vaterland in Einem Sinne. So wenig diese zu vergleichen sind, so wenig Auge und Ohr und Gefhl einerlei ist: so kann es auch nicht gleich viel sein, wo ich jeden Begriff herhole und zergliedere: jeder wird nur in seinem Hauptsinn, in seiner Hauptkunst deutlich (Viertes Wldchen, 2.373).
Die Begriffe der Sinne so zu gebrauchen, widerspricht der tropischen Natur der Sprache nicht. Herder will die begriffliche Sprache nicht zugunsten einer poetischen aufgeben, sondern nur ihre Geltungsansprche beschrnken. Herder will in der sthetik nicht wie andere Philosophen vorgehen, die „tadeln, was sie nicht verstehen, und reden, wo sie nichts von wissen, dogmatisieren in Metaphern und metaphorisieren in Ausdrcken“ (Viertes Wldchen, 2.373) Die
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Begriffssprache ist fr ihn nicht einfach eine Entartung der ursprnglichen, kreativen und poetischen Sprache, sondern Ergebnis eines Prozesses der Reduktion von Komplexitt, der von der Sinnlichkeit ausgeht. Dabei bleibt sich die Vernunft allerdings nicht immer der Unterscheidung zwischen den Dingen und ihren Merkmalen fr sie bewusst. Sie muss, ohne es zu wissen, mit „Pfennigen“ rechnen, weil sie nur mit Merkmalen arbeiten kann: womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog, so unvollkommen und unwesenhaft diese auch sein mçgen? Nichts minder! Diese Merkmale werden abermals in willkrliche, ihnen ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rechnet also mit Rechenpfennigen, mit Schllen und Ziffern (Ideen, 6.349).
Herder nutzt wie spter auch Nietzsche die Metaphorik des Geldes, dessen Bedeutung von der sozialen Interaktion abhngt, um die Entstehung von Begriffen zu charakterisieren. Sie sind, wie er an Moses Mendelssohn schreibt, ontologisch nichts an sich Bestehendes: Nichts in der Welt, glaube ich, hat mehr Meinungen und vielleicht auch mehr Irrtmer, als daß man abstrakte Begriffe als individuelle Existenzen betrachtet und realisirt hat. So realisiren wir das Wort Natur, Tu g e n d , Re a l i t t , Vollkommenheit. Ursprnglich waren diese Begriffe nichts als Abstraktionen, Verhltnisse von dem auf dies, gleichsam Schatten und Farben von Dingen; wir machen sie zu Dingen selbst und denken uns also Fertigkeiten, die die Seele wie Geldstcke sammle, Realitten, die ursprnglich nur Relationen waren und die wir uns als Positionen gedenken, Vollkommenheiten, die wir individualisieren und der Seele also mitgeben. Lassen Sie uns, mein Herr, durch Zergliederung der Begriffe auf den Ursprung dieser Worte zurckgehen, und wir werden in ihnen phaenomena substantiata sehen.74
Was sich in der Seele verfestigt, und dazu gehçren auch die Begriffe, betrachtet Herder als Verdinglichungen von Prozessen. Daraus ergeben sich dann unterschiedliche Bilder der Seele: fr Mendelssohn dauern die Erwerbungen der Seele beim Lernen und Erfahren nach dem Tod fort, fr Herder ist das ausgeschlossen. Fr ihn vergisst die Seele schlicht das Dynamische, Fließende ihrer Erwerbungen. Die Mnzen der Seele haben ihren Nominalwert verloren – Nietzsche nennt Wahrheiten dann „Mnzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Mnzen in Betracht kommen.“ (WL, KSA 1, 74 „Brief an Moses Mendelssohn, 1. Dezember 1769“, in: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe, hg. v. Wilhelm Dobbek u. Gnter Arnold, Weimar 1978, Bd. 1, S. 177 – 181, S. 179 f. Herder setzt die Geldmetaphorik mehrfach kritisch ein: „Kunstwçrter: brgerliche Ausdrcke: Redensarten des Umganges sind die hufigsten Scheidemnzen im mndlichen und Bcherkommerz: die Alten hingegen wechselten mit Goldstcken: sie sprachen durch Bilder; wir hçchstens mit Bildern, und die bildervolle Sprache unsrer schildernden Dichter verhlt sich zu den ltesten Poeten, wie ein Exempel zur Allegorie, wie eine Allegorie zum Bilde in einem Zuge.“ (Fragmente, 1.195) Vgl. auch Fragmente (2. Ausgabe), 1.597, und ber Thomas Abbts Schriften, 2.566.
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S. 880 f.) Philosophen sollten darum neue Metaphern schaffen, ,neues Gold‘ produzieren, tun aber das Gegenteil: Die Weltweisen, die gegen die Bildersprache deklamieren, und selbst lauter alten, oft unverstandnen Bildgçtzen dienen, sind wenigstens mit sich selbst sehr uneinig. Sie wollen nicht, daß neues Gold geprgt werde, da sie doch nichts tun, als aus eben solchem oft viel schlechtern Golde ewig und ewig dieselbe Fden spinnen. (Vom Erkennen, 4.330)
In ber Bild, Dichtung und Fabel erlutert Herder das anhand einer Reflexion ber die Natur der mentalen Vorstellungen. Der Mensch bringt nicht alles bewusst zur Sprache, was er wahrnimmt. Herder fhrt eine Leibniz’sche Definition des Bildes an als „Vorstellung eines Gegenstandes mit einigem Bewusstsein der Wahrnehmung verbunden“ (Bild, 4.634). Sinnliche Gegenstnde sind erst „unser“, wenn sie durch Merkmale bezeichnet wurden und wir vergessen haben, dass sie anders als diese Merkmale sind: „Alle Gegenstnde unsrer Sinne nmlich werden nur dadurch unser, daß wir sie gewahr werden, d. i. sie mit dem Geprge unsres Bewusstseins, mehr oder minder hell und lebhaft, bezeichnen“ (Bild, 4.634). Das impliziert, dass die sinnlichen Gegenstnde niemals als solche zu Bewusstsein gelangen. Wir haben nur Bilder, die aus einem Chaos von Empfindungen entstanden sind: In dem Walde sinnlicher Gegenstnde, der mich umgibt, finde ich mich nur dadurch zurecht und werde ber das Chaos der auf mich zudringenden Empfindungen Herr und Meister, daß ich Gegenstnde von andern trenne, daß ich ihnen Umriß, Maß und Gestalt gebe, mithin im Mannigfaltigen mir Einheit schaffe und sie mit dem Geprge meines inneren Sinnes, als ob dieser ein Stempel der Wahrheit wre, lebhaft und zuversichtlich bezeichne. (Bild, 1.635)
In demselben Werk nimmt Herder eine wichtige Unterscheidung vor. Sofern unsere Versprachlichung der Welt bewusstes Denken impliziert, ohne die Wirklichkeit adquat zu reprsentieren, spricht er statt von Analogisieren von Allegorisieren. Daraus ergeben sich neue Nuancen im Prozess der Verbegrifflichung:75 Unser ganzes Leben ist also gewissermaßen eine Poetik: wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder. Die Gottheit hat sie uns auf einer großen Lichttafel vorgemalt; wir reißen sie von dieser ab und malen sie uns durch einen feinern, als den Pinsel der Lichtstrahlen in die Seele. Denn das Bild, das sich auf der Netzhaut deines Auges zeichnet, ist der Gedanke nicht, den du von seinem Gegenstande dir zueignest; dieser ist bloß ein Werk deines innern Sinnes, ein Kunstgemlde der Bemerkungskraft deiner Seele. […] Hieraus ergibt sich, daß unsre Seele, so wie unsre 75 Dies ist auch fr die Kunsttheorie von Bedeutung, da ebenso wie die Seele auch die Kunst allegorisiert. Die „bildende Kunst“ ist „eine bestndige Allegorie […], denn sie bildet Seele durch Kçrper, und zwei grçßere akka kanns wohl nicht geben“. Der Knstler, der „das Vorbild von Geist, Charakter, Seele in sich [hat, schafft] diesem Fleisch und Gebein“ (Plastik, 4.319).
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Sprache, bestndig allegorisiere. Indem sie nmlich Gegenstnde als Bilder sieht oder vielmehr nach Regeln, die ihr eingeprgt sind, solche in Gedankenbilder verwandelt; was tut sie anders, als bersetzen, als metaschematisieren? Und wenn sie diese Gedankenbilder, die bloß ihr Werk sind, jetzt durch Worte, durch Zeichen frs Gehçr sich aufzuhellen und andern auszudrcken strebet; was tut sie abermals anders, als bersetzen, als allosieren? Der Gegenstand hat mit dem Bilde, das Bild mit dem Gedanken, der Gedanke mit dem Ausdruck, das Gesicht mit dem Namen so wenig gemein, daß sie gleichsam nur durch unsre Wahrnehmung, durch die Empfindung eines viel-organisierten Geschçpfs, das durch mehrere Sinne Mehreres auf Einmal empfindet, an einander grenzen. (Bild, 1.635)
Herder bleibt – wie Nietzsche spter mit dem Wort ,Metapher‘ – nahe an der Wortbedeutung, wenn er von dem Allegorisieren der Sprache spricht: Wie anders spricht die Natur Jedem, der in ihrer Ansicht, in ihrem Genuß und Gebrauch Verstand und Herz verbindet! Kein Naturkçrper ist ihm ohne Geist, kein Geist in der Natur ohne Kçrper. Seine Gestalt stellet ihn dar; seine Ereignisse und Wirkungen sind Ausdrcke Seiner. Wie nun nennen wir dies Bedeutsame aller Bilder der Schçpfung? Nach Quintilian und den Griechen kçnnten wir es nicht anders als Allegorie nennen: denn ein Andres wird durch ein Andres bedeutet. In diesem Verstande ist die ganze Natur, die ganze menschliche Sprache Allegorie; denn wie ein Andres sind Dinge und Gedanken, Gedanken und Worte! (Adrastea, 10.292)
Im oben zitierten Text aus ber Bild, Dichtung und Fabel ist die Rede vom ,Gegenstand‘ dennoch problematisch; sie zeigt noch immer eine vorsprachliche Referenz an.76 Ist das noch nicht in Bildern erfasste Sein so etwas wie ein undifferenziertes, fließendes Chaos wie das Ur-Eine aus Nietzsches Geburt der Tragçdie, so kann man nicht von Gegenstnden zu sprechen, die vor der allegorisierenden geistigen Ttigkeit bestnden. Herder scheint hier noch eine vorkritische Position einzunehmen. Das kçnnte auch bei der Entscheidung fr das Wort ,Allegorie‘ der Fall sein. Mit der Metapher einer ,vorgemalten Lichttafel‘, aus der wir die Bilder reißen, scheint Herder die Natur als ein Reich fertiger Gegenstnde zu betrachten, die der menschliche Intellekt nur noch aktualisieren, nur noch zur Vorstellung bringen muss. Das beschrnkt jedoch die Spielrume der Produktivitt des menschlichen Allegorisierens: Wie ein Kind muss der Mensch nur noch Farbe auftragen, wo die Formen schon vorgezeichnet sind, vorgezeichnet von einem von Gott geschaffenen Wesen, das das sinnlich Wahrgenommene stets in passende Umrisse bringt. Gott hat mit dem Buch der Natur auch die Bedingungen und Regeln 76 In Bezug auf die analogisierende Struktur der Sinnlichkeit bei Herder hat Nisbet bemerkt, dass Herder „in the problem of subject and object […] takes up a position between subjectivism and sensationalism. The mind and the objective world are poles of equal status, and through their interaction, perception and mental development become possible.“ (Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge 1970, S. 29)
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
geschrieben, es zu lesen. Er garantiert so, dass die Allegorisierung, die Verwandlung der umrissenen Gegenstnde in subjektive Bilder, nicht zu weit entfernt vom ,buchstblichen Text‘ der Natur vollzogen wird. Metaphrein und allegore n scheinen sich wenig zu unterscheiden; bei beiden geht es um das bertragen einer semantischen bzw. ontologischen Dimension in eine andere. Allegorien bestehen jedoch lnger als Metaphern und entwickeln Metaphern erst in einem komplexeren, aber einheitlichen Text, dessen ,wahre‘ Bedeutung nicht die literarische ist. Sie geben Regeln fr die Interpretation, einen Schlssel zur Lektre, der deutlich macht, auf welcher Ebene der Text gelesen werden soll, und trennen damit diese Ebene vom Text. Sie zeigen, mehr als Metaphern, eine vorgegebene, nicht im sprachlichen Text selbst sich zeigende Einheit des Sinns, eine organisierte und sinnvolle Struktur des gesamten Spiels der bertragungen von Reizen in Wçrter. Sie verweisen so auf einen wahren Sinn des Seins hinter dem Schein, der vielleicht nicht auszusprechen, aber immerhin vorauszusetzen ist. Metaphern dagegen sind als „Ort des selbst noch begriffslosen bergangs von einem Zeichen zu einem anderen“ zu verstehen, d. h. als Zeichen, das „den Begriff vom Zeichen als einem Zeichen fr ,etwas‘ [desavouiert]“.77 Wenn Herder also aus dem metaphrein ein allegore n macht, lsst er dem Begriffsdiskurs immer noch Raum (sei es auch nur als regulatives Ideal der Objektivitt unserer Versprachlichung der Welt), hebt er die metaphysische Vorstellung einer gegenber der Sprache transzendenten Wirklichkeit nicht vçllig auf. Dennoch bleibt die Wechselwirkung der Sinne am Ursprung auch der abstrahierenden Sprache, die darum – im Sinn der menschlichen Perfektibilitt – nicht als Entartung der Sprache und der Kultur betrachtet werden darf: Bloß die Mitteilbarkeit die Kommunikabilitt unsrer mehreren Sinne gegen einander und die Harmonie zwischen ihnen, auf welcher diese Mitteilung ruhet; nur sie macht die innere Form oder die sogenannte Perfektibilitt des Menschen. Htten wir nur Einen Sinn und hingen mit der Schçpfung gleichsam nur von Einer Weltseite zusammen, wre kein Umsatz der Sachen in Bilder, der Bilder in Worte oder andre Zeichen fr uns mçglich: so lebe wohl, Vernunft des Menschen! Mit einer zehnfach grçßeren Intuition, wenn sie bloß einseitig und von keinen andern Sinnen untersttzt wre, bliebe das anschauende Wesen ein viel unvollkommeneres Geschçpf, als jetzt, da es seinen sparsamen Reichtum so hufig umsetzen kann und dabei sich immer die Mhe geben muß, ihn frisch zu bearbeiten, ihm eine neue Gestalt zu geben. Er passiert durch das Tor eines andern Sinnes und bekommt nach andrer Landesart und zu anderm Gebrauch auch ein anderes Geprge. (Bild, 4.636)
77 Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin / New York 1989, S. 265.
2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs
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2.4.2.2. Nietzsche: Nicht-allegorische Metaphorisierung der Metapher Anders als Herder bevorzugt Nietzsche in der Genealogie von Sprache und Denken aus der Natur explizit die Semantik der Metapher. Dass er in WL die bertragung von Reiz zu Bild und von Bild zu Begriff als Metapher darstellt, geht vor allem auf den bekannten Einfluss Gerbers zurck, der den rhetorischen Charakter der Sprache schon vorwiegend durch Figuren der Synekdoche und der Metapher erfasst hatte. Das Wort ,Allegorie‘ gebraucht schon der frhe Nietzsche dagegen kritisch. Wie vertrgt sich das mit seiner Auffassung der Sprache als metaphorischem Prozess, wenn doch unsere Wçrter nichts anderes als erstarrte Metaphern sind und also doch so etwas wie Allegorien? Nietzsche hat die sprachlichen bertragungen vermutlich als Metaphern und nicht als Allegorien beschrieben, weil die Allegorie die Beweglichkeit der Metapher verloren hat und den Sinne der Worte wie in Begriffen erstarren lsst. Nietzsche beobachtet in PHG in der griechischen Kultur Metaphern und Allegorien als Grundmçglichkeiten des Sprechens ber die Natur. Das Sprachmittel des ersten Philosophen, Thales, ist die Metapher.78 Seine Aussage „alles ist Wasser“ versteht Nietzsche ausdrcklich nicht als Allegorie. Thales vermeidet wohl mythische Redeformen, erreicht jedoch noch nicht die reine Abstraktion des Begriffs: Ich meine natrlich nicht, daß der Gedanke, in irgend einer Beschrnkung oder Abschwchung, oder als Allegorie, vielleicht noch eine Art „Wahrheit“ behalte: etwa wenn man sich den bildenden Knstler am Wasserfalle stehend denkt, und er in den ihm entgegenspringenden Formen ein knstlerisch vorbildendes Spiel des Wassers mit Menschen- und Thierleibern, Masken, Pflanzen, Felsen, Nymphen, Greisen, berhaupt mit allen vorhandenen Typen sieht: so daß fr ihn der Satz „alles ist Wasser“ besttigt wre. Der Gedanke des Thales hat vielmehr gerade darin seinen Werth – auch nach der Erkenntniß, daß er unbeweisbar ist – daß er jedenfalls unmythisch und unallegorisch gemeint war. Die Griechen, unter denen Thales plçtzlich so bemerkbar wurde, waren darin das Gegenstck aller Realisten, als sie eigentlich nur an die Realitt von Menschen und Gçttern glaubten und die ganze Natur gleichsam nur als Verkleidung Maskerade und Metamorphose dieser GçtterMenschen betrachteten. Der Mensch war ihnen die Wahrheit und der Kern der Dinge, alles andre nur Erscheinung und tuschendes Spiel. Ebendeshalb machte es ihnen unglaubliche Beschwerde, die Begriffe als Begriffe zu fassen: und umgekehrt wie bei den Neueren auch das Persçnlichste sich zu Abstraktionen sublimirt, rann bei ihnen das Abstrakteste immer wieder zu einer Person zusammen. Thales aber sagte: „nicht der Mensch, sondern das Wasser ist die Realitt der Dinge“, er fngt an, der Natur zu glauben, sofern er doch wenigstens an das Wasser glaubt. Als Mathematiker und Astronom, hatte er sich gegen alles Mythische und Allegorische erkltet, und wenn es ihm nicht gelang bis zu der reinen Abstraktion „Alles ist Eins“ 78 Detlef Otto, „(Kon-)Figurationen der Philosophie. Eine metaphorologische Lektre von Nietzsches Darstellungen der vorplatonischen Philosophen“, in: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 119 – 152, liest PHG tropologisch, diskutiert die Unterscheidung Allegorie / Metapher jedoch nicht.
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ernchtert zu werden, und er bei einem physikalischen Ausdrucke stehen blieb, so war er doch, unter den Griechen seiner Zeit, eine befremdliche Seltenheit. Vielleicht besaßen die hçchst aufflligen Orphiker die Fhigkeit, Abstraktionen zu fassen und unplastisch zu denken, in einem noch hçheren Grade als er: nur daß ihnen der Ausdruck derselben allein in der Form der Allegorie gelang. Auch Pherekydes aus Syros, der Thales in der Zeit und in manchen physikalischen Conceptionen nahe steht, schwebt mit seinem Ausdrucke derselben in jener Mittelregion, in der der Mythus sich mit der Allegorie gattet: so daß er zum Beispiel wagt, die Erde mit einer geflgelten Eiche zu vergleichen, die mit ausgebreiteten Fittigen in der Luft hngt, und der Zeus, nach berwltigung des Kronos, ein prachtvolles Ehrengewand umlegt, in das er mit eigner Hand die Lnder Wasser und Flsse eingestickt hat. Solchem kaum in’s Schaubare zu bersetzenden dster-allegorischen Philosophiren gegenber ist Thales ein schçpferischer Meister, der ohne phantastische Fabelei der Natur in ihre Tiefen zu sehen begann. (PHG, KSA 1, S. 814 – 816)
Thales ist Grieche und Philosoph. Seine arch, wie Aristoteles sie dann nannte, ist wie das Allegorische und das Mythische weder rein empirisch, noch ist sie logisch beweisbar; weil er aber sein Denken durch Astronomie und Mathematik diszipliniert hat, die zu einer konomie der Erklrungsprinzipien und zu einer stndigen Auseinandersetzung mit der Empirie zwingen, kann er diese Metapher fr wahr halten. Wie die anderen Griechen hat er Schwierigkeiten, „die Begriffe als Begriffe zu nehmen“, d. h. Abstraktionen fr wahr zu halten. Doch er teilt auch ihren naiven Anthropomorphismus nicht mehr. Seine Formel ist zwar noch eine Metapher, aber kein bloßes poetisches Mittel, mit dem man eine abstrakte Wahrheit veranschaulicht. Sie ist fr Nietzsche eine „ungetreue bertragung“, eine Wortschçpfung, die sehr persçnlich das Werden zu einem sprachlichen Ausdruck bringt, ohne dahinter ein festes Wesen vorauszusetzen. Mit dem ,Wasser‘ des Thales wird eine neue Bedeutung des Wortes geschaffen, so dass es nach ihm nicht mehr dasselbe bedeutet. Die Metapher ,Wasser‘ entspricht der ursprnglichen Metaphorizitt der Sprache eben wegen ihres konkreten Inhalts; die Artikulation des Seins als Wasser steht dem fließenden Werden der Sprache nahe. Die allegorische und mythische Beschreibung der Natur hat sich hingegen schon von der ursprnglichen Beweglichkeit der Metapher entfernt; sie erklrt eine vermenschlichte Welt durch menschliche Bilder. Auch Thales setzt bei der anthropomorphisierten Natur an, reduziert sie aber auf das am wenigsten vermenschlichte Element, das er finden kann, das Wasser. Die Entscheidung fr die Metapher ist bei Thales natrlich noch nicht das Resultat einer solchen sprachkritischen berlegung, sondern, eher im Sinn Herders, die lebendige Sprachschçpfung eines lebendigen Zeitalters der Menschheit, mit der fr Nietzsche ein Philosoph intellektuell die Welt beherrschen will. Dabei belebt er die Sprache neu, ahmt er die metaphorischen Urprozesse nach, die in Allegorien und Mythen zu erstarren drohen. Nietzsche gilt die traditionelle Allegorie als „Fabelei“, als Form religiçs inspirierter Vermenschung der Natur, aus der dann unpersçnliche Wahrheiten
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abgezogen und die durch Mythen wieder sinnlich evident gemacht wird. Danach dient Allegorie der Ordnung, nicht der Beweglichkeit des Denkens. Obwohl auch sie aus Metaphern besteht, schafft sie einen stabilen Text der Natur mit festen Bedeutungen, auch wenn diese nicht direkt zugnglich sind: sie setzt eine transzendente, wahre, literarische Bedeutung voraus. Wie dann die Abstraktion sediert sie das Denken, bietet eine Gesamtinterpretation des Textes der Natur an und lsst keine Spielrume fr weitere Sinngebungen mehr. Eine allegorische, mythische Darstellung der Natur kann man nicht in Frage stellen, sondern nur glauben oder nicht. Der Sinn von Metaphern kann sich dagegen stndig verschieben, wie schon die sich fortentwickelnde Bestimmung der arch bei den nachfolgenden vorsokratischen Philosophen zeigt. Der Sinn der Metaphern aber, von denen die Allegorie Gebrauch macht, ist schon in einem Sinnrahmen fixiert, so dass die Metaphern das Verstehen lediglich erleichtern. So kçnnen Allegorien individuellen metaphorischen Wortschçpfungen entgegenwirken, mehr noch als Begriffe, da sie verfhrerischer wirken. So wird fr Nietzsche die Allegorie zur Hauptform der metaphysischen Erklrung: Pn e u m a t i s c h e E r k l r u n g d e r Na t u r. — Die Metaphysik erklrt die Schrift der Natur gleichsam p n e u m a t i s c h , wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehçrt sehr viel Verstand dazu, um auf die Natur die selbe Art der strengeren Erklrungskunst anzuwenden, wie jetzt die Philologen sie fr alle Bcher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen d o p p e l t e n Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in Betreff der Bcher die schlechte Erklrungskunst keineswegs vçllig berwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwhrend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stçsst: so steht es auch in Betreff der Natur – ja noch viel schlimmer. (MA I 8)
Die Natur als Text zu betrachten, wird nur mçglich durch ihre Allegorisierung, und allegorisch ist jede metaphysische Lektre des Buches der Natur, da sie hinter ihrem Schein einen Sinn der Natur hypostasiert. Da aber auch Nietzsches ,Philologie der Natur‘ einen Text der Natur unterstellt, hat auch sie unvermeidlich schon Allegorien vor sich. So kann sie nur dekonstruktiv vorgehen. Das Buch der Natur buchstblich zu lesen, bedeutet dann, durch neue Metaphern wieder Spielrume fr die Verschiebung des Sinns in einem allegorisierten Text zu schaffen. 2.4.3. Die unbewusste Seite der Verbegrifflichung Herder und Nietzsche beschreiben, wie sich das Sprechen durch Begriffe im Namen der Wahrheit der Begriffe entwickelt, und stellen damit seine Ansprche auf absolute Allgemeingltigkeit in Frage. Herder entwirft dazu eine Geschichte der Sprache in Analogie zu organischen Prozessen, in deren Mitte der Mensch
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steht, Nietzsche hebt im Diskurs der Begriffe das unbewusste Vergessen hervor und relativiert so die Teilnahme des menschlichen Subjekts an diesen Prozessen. Herder setzt dieses Vergessen nur voraus, erst Nietzsche thematisiert es. Das Vergessen ist die Bedingung, unter denen Begriffe als Begriffe erscheinen kçnnen. 2.4.3.1. Herder: Die Naturgeschichte der Sprache und das Schicksal des Begriffs Herder entwirft keine Theorie des Gedchtnisses im eigentlichen Sinne, sondern schließt an den Gedchtnisdiskurs des 18. Jahrhunderts an, nach dem das Gedchtnis die Grundlage jeder geistigen Ttigkeit ist.79 Nach den Naturgesetzen der Empfindung kçnnen ihm zufolge Tçne zu Merkmalen, sprachlichen Zeichen, werden, wenn sie mehr als nur etwas Akustisches sind. Dazu muss unbewusst von anderen mçglichen kennzeichnenden Charakteren der erfahrenen Dinge abgesehen werden; auch das Abstrahieren der Besinnung wird nur so mçglich. Dass ein Ton als Zeichen fr etwas verstanden werden kann, setzt ferner voraus, dass der individuelle Ursprung des Zeichens vergessen wird und es so zum Mittel der Verallgemeinerung werden kann. Die Naturlaute, als reine Tçne genommen, kçnnten ohne dieses Vergessen nur unmittelbare Gefhle ausdrcken; man muss vergessen, dass die Tçne nur Tçne sind, um sie als Signifikanten fr Referenzen auf Dinge nutzen zu kçnnen. Schließlich macht auch die zeitliche Struktur des Gehçrs das Vergessen nçtig. Es steht in „Betracht der Zeit, in der es wrkt“, in der Mitte der brigen Sinne. Whrend „das Gefhl alles auf einmal in uns hin[wirft]“ und „das Gesicht uns alles auf einmal vor[stellt]“, zhlt uns das Gehçr „nur einen Ton nach dem andern in die Seele“ (Abhandlung, 1.748). Ein Ton muss (wie spter Husserl ausfhrlich gezeigt hat) in den Hintergrund treten, damit man weitere Tçne hçren kann. Nur so kçnnen Melodien und Stze entstehen. Außerdem setzt die Entstehung von Abstraktionen und Begriffen das Vergessen des Urallegorisierens voraus. Herder griff bei ihrer Beschreibung auf das Schema der menschlichen Lebensalter zurck, das er bei Iselin fand und das auch fr seine Darstellung der weltgeschichtlichen Epochen maßgeblich bleibt.80 Bei den Sprachen des Ursprungs ist nach Herder ein strkerer Gebrauch von Metaphern zu beobachten, hier im Sinne von rhetorischen Figuren. Sie artikulieren eine Naturgeschichte des Begriffs, die von Anfang an auch Menschengeschichte ist; denn auch gesellschaftliche Bedingungen spielen dabei eine Rolle. Die „Sprache der Kindheit“ wird immer reifer, die Befriedigung der 79 Ralf Simon, Das Gedchtnis der Interpretation. Gedchtnistheorie als Fundament fr Hermeneutik, sthetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998, Teil I, rekonstruiert systematisch die historischen Hintergrnde von Herders Auffassung des Gedchtnisses. 80 Vgl. Isaak Iselin, ber die Geschichte der Menschheit, Hildesheim / New York 1976, Bd. 1, S. 155.
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ersten dringenden Lebensbedrfnisse ruft neue Kommunikationsbedrfnisse und damit eine feinere Sprache hervor: Das Kind erhob sich zum Jnglinge: die Wildheit senkte sich zur politischen Ruhe: die Lebens- und Denkart legte ihr rauschendes Feuer ab: der Gesang der Sprache floß lieblich von der Zunge herunter, wie dem Nestor des Homers, und suselte in die Ohren. Man nahm Begriffe, die nicht sinnlich waren, in die Sprache; man nannte sie aber, wie von selbst zu vermuten ist, mit bekannten sinnlichen Namen; daher mssen die ersten Sprachen bildervoll, und reich an Metaphern gewesen sein. Und dieses jugendliche Sprachalter, war bloß das poetische: man sang im gemeinen Leben, und der Dichter erhçhete nur seine Akzente in einem fr das Ohr gewhlten Rhythmus: die Sprache war sinnlich, und reich an khnen Bildern: sie war noch ein Ausdruck der Leidenschaft, sie war noch in den Verbindungen ungefesselt: der Periode fiel aus einander, wie er wollte – Seht! das ist die poetische Sprache, der poetische Periode. Die beste Blte der Jugend in der Sprache war die Zeit der Dichter (Fragmente, 1.182 f.).
Die Sprache verndert sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Mensch kommuniziert. Die Poesie lsst zuerst der weniger bilderreichen Prosa Raum, Idiome („Idiotismen“) werden berwunden und Stze strker nach syntaktischen Regeln strukturiert; in sozialen Ordnungen steigert sich generell die Regelhaftigkeit. „Das mnnliche Alter der Sprache“ kommt mit der Reifung des jungen und leidenschaftlichen Menschen, wenn „ernste Weisheit und politische Gesetztheit seinen Charakter bildet“ (Fragmente, 1.184). Sittlichkeit, Leidenschaften und Sprache hngen daher eng zusammen: „Je eingezogener und politischer die Sitten werden, je weniger die Leidenschaften in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie [die Dichtkunst] an Gegenstnden“ (Fragmente, 1.183). Bei gesteigerter sozialer Stabilitt und Sicherheit erschçpft sich die Sprache nicht mehr in unmittelbaren Schreien der Not, und die kommunikative Ungenauigkeit der Poesie wird problematisch. Die Sprache muss nun auch durch Argumente berzeugen; damit ist der Weg zu „brgerliche[n] und abstrakte[n] Wçrter[n]“ geebnet (Fragmente, 1.183); ,brgerlich-abstrakt‘ steht ,wild-sinnlich‘ gegenber, aus Schçnheit wird Richtigkeit: Das hohe Alter weiß statt Schçnheit bloß von Richtigkeit. Diese entziehet ihrem Reichtum, wie die lazedmonische Dit die attische Wohllust verbannet. Je mehr die Grammatici den Inversionen Fesseln anlegen; je mehr der Weltweise die Synonymen zu unterscheiden, oder wegzuwerfen sucht, je mehr er statt der uneigentlichen eigentliche Worte einfhren kann; je mehr verlieret die Sprache Reize: aber auch desto weniger wird sie sndigen. (Fragmente, 1.184)
Gesteigert wird von Zeitalter zu Zeitalter nicht nur die Reflexivitt des Menschen im Allgemeinen, sondern auch die Reflexion ber die Sprache. Die Sprache wird zum Problem fr sich selbst. Die „Grammatici“ fixieren ihre Regeln, wohl deshalb, weil – so kann man den Text ergnzen – komplexere gesellschaftliche Bedingungen prziserer Kommunikationsmittel bedrfen. Ein Gebot, ein Befehl muss viele unmissverstndlich erreichen, sie setzen Allge-
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meinverstndlichkeit und -gltigkeit voraus. Die hçhere berindividuelle Macht, die sich in einer allgemeingltigen Sprache ausdrckt, weckt Ehrfurcht vor dem, der sie fixiert; der Leviathan legitimiert sich durch eine radikal nominalistische Sprache. Wer Begriffe nach fixierten Regeln gebraucht, die Sprache des Allgemeinen spricht, kann Wahrheiten ußern, die nicht nur fr einzelne Individuen in einzelnen Situationen gelten, hçchste Wert in theoretischem und moralisch-politischem Sinn. Zugleich darin wird aber von Individuen eines zuvor natrlichen und kreativen Volks auch Ohnmacht erfahren. Die Begriffssprache, wenn sie einmal entwickelt ist, kann nicht mehr zur Natursprache der Kindheit zurck: Wenn bei sinnlichen Begriffen, bei Erfahrungsideen, bei einfachen Wahrheiten, und in der klaren Sprache des natrlichen Lebens der Gedanke am Ausdrucke so sehr klebt: so wird fr den, der meistens aus dieser Quelle schçpfen muß, fr den, der gleichsam der Oberherr dieser Sphre gewesen, (wenigstens in der alten sinnlichen Zeit der Welt) fr ihn, muß der Gedanke zum Ausdrucke sich verhalten, nicht wie der Kçrper zur Haut, die ihn umziehet; sondern wie die Seele zum Kçrper, den sie bewohnet: und so ists fr den Dichter. Er soll Empfindungen ausdrcken: – Empfindungen durch eine gemalte Sprache in Bchern ist schwer, ja an sich unmçglich. (Fragmente, 1.402)
Auch in dem von einem vorwiegend dichterischen Gebrauch der Sprache charakterisierten Zeitalter ist der Gebrauch von Begriffen wohl mçglich. Entscheidend ist aber, dass sie da sinnlich ausgedrckt werden. Die ersten Sprachen und die Dichter nutzen Begriffe so, dass ein mimetisches Verhltnis zwischen dem sinnlichen Teil eines Wortes und dem abstrakten Begriff entsteht. Der Dichter kommt zum Begriff, indem er „mit dem anschauenden Blicke zugleich den Namen verbindet“ (Fragmente, 1.421): dies ist aber nicht der Weg der Philosophie, zumindest solange diese sich nicht „unter qualitates occultas“ verirren will. Dies wre eine Philosophie, die „mit dem Verstande empfinden will, und das Empfundene mit einem von ihm unabtrennbaren Namen umgibt.“ (Fragmente, 1.421) Das Ergebnis wren bloße „Scheinbegriff[e]“. Das hngt auch damit zusammen, dass der Denker die sprachlichen Schemata des eigenen Erkennens nicht erkennen kann und sich damit notwendig ber die Natur der eigenen Begriffe irrt. Nach Herder haben schon Bacon, Locke und Leibniz versucht, uns aus „dem Labyrinth unerklrlicher Worte, wo der Gedanke am Ausdruck haftet“ (Fragmente, 1.422), zu befreien, und der sprachlichen Entwicklung dadurch zu mehr Kontinuitt verholfen: Nichts aber in der Natur gehet Sprungweise, und so ist auch aus dem Zustande der barbarischen Mythologie zur erstern heitern Philosophie kein Sprung gewesen. Wenn eine Menschliche Seele mit Begriffen von einer starken, rohen, sinnlichen Art ihre ganze Jugend durch genhret ist, und alle ihr Denken nach solchen gebildet: so verarbeitet sie noch immer, auch wenn sie frei denken will, diese Materialien. (ber die ersten Urkunden, 5.12)
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Whrend so in der Dichtkunst „der sinnlich lebhafte Ausdruck alles ist“, hat die Philosophie ein anderes Problem: inwiefern „kann und muß“ der „Gedanke am Ausdruck haften“? Herder will durch die Verunsicherung der Adquatheit sprachlicher Reprsentationen nicht „die Weltweisheit, dem Boden der Beobachtung, entwenden“ (ber die ersten Urkunden, 1.421). Er mçchte lediglich metaphysische Phantastereien und „scholastische Wortkrmerei“ vermeiden (ber die ersten Urkunden, 1.381). Er befolgt konsequent das ,Sparsamkeitsprinzip‘, eine der grundlegenden Legitimationsstrategien des Vernatrlichungsdiskurses.81 Sofern Begriffe gut und schlecht gebildet werden kçnnen, strebt Herder eine Reinigung der Begriffe an. Die Philosophie hat eine Zukunft als Wissenschaft der Begriffe, wenn sie sich einmal ber den Status der Begriffe und der Methode ihrer Konstruktion klar geworden ist. Man kçnne, so Herder, unterschiedlichen Methoden folgen, um Begriffe zu bilden, aber die „eigentlich philosophische Methode“ ist nur eine (ber die ersten Urkunden, 1.421). Zunchst soll vermieden werden, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die rein sprachliche Natur des Begriffs zu konzentrieren: Man kann zu einem Begriffe kommen, wçrtlich, wenn der Name genetisch und aus dem Wesen der Sache hergenommen ist. So sind aber bloß Worterklrungen, wo ich willkrlich zusammengesetzte Gedanken gemeiniglich auch durch einen Ausdruck gleichsam darstelle. (ber die ersten Urkunden, 1.422)
Dieser Methode fehlt, um wirklich philosophisch zu sein, die innere Notwendigkeit in der Verbindung von Wort und Gedanke, da diese hier nur „unter der Gewalt ihres Erfinders stehen mssen, der sie beide schuf und paarte“ (ber die ersten Urkunden, 1.422). Herder setzt also eine bestimmte Notwendigkeit in der Verbindung von Wort und Bedeutung, von Wort und Begriff voraus, die die Sprache der echten Philosophie charakterisieren soll. Problematisch ist, dass der Denker beim Aufbau von Begriffen auch jene Wçrter nutzt, deren Entstehung nicht unbedingt mit einer notwendigen Verbindung von Wort und Gedanke zu tun hat: So sind nicht die Worte des gemeinen Lebens; denn die Erfinder der Sprache waren selten Philosophen, sondern meistens die eigentlichen Kunstwçrter, die daher offenbar als Zwecke nichts gelten; weil der Erfinder nichts anders im Sinne hatte, als mit ihnen, wie mit Werkzeugen, hçhere Endzwecke zu erreichen. (ber die ersten Urkunden, 1.422)
Unpassend sind dann „grammatische Entzieferungen“ (ber die ersten Urkunden, 1.422) der Begriffe, da sie sich auf die Etymologie der Wçrter konzentrieren und die entscheidende Frage nach dem Gebrauch des Wortes vernachlssigen. Die alleinige Methode der Philosophie muss fr Herder die analytische sein, die 81 S. Kap. 1.2.1.
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Gedanken zergliedert, um Klarheit zu gewinnen. Man msse sich jedoch dessen bewusst bleiben, dass wir schon immer eine gemeine, alltgliche Sprache haben, bei der die Begriffe „sinnlich klar an den Worten kleben“. Die „Begriffe des gesunden Verstandes“ (ber die ersten Urkunden, 1.424) bleiben der Ausgangspunkt jedes Philosophierens, das jedoch immer mehr als nur sinnliche Klarheit beansprucht. Die Philosophie nimmt so die Gegenstnde, die wir schon durch Hlfe der Worte sinnlich klar kennen, setzt die bekanntesten Ideen auseinander, die in ihnen liegen, jeder begreifen und niemand leugnen kann, steigt zu denen immer feinern, bis sie endlich zur Definition kçmmt: jetzt erkennen wir in dem Begriffe jeden Teilbegriff, und da wir vorher bloß unterschieden, so fern wir mit dem Wort einen klaren Begriff verbanden: so erkennen wir jetzt den Unterschied, weil wir uns der Merkmale bewußt sind, die beide Sachen unterschieden. (ber die ersten Urkunden, 1.423 f.)
Nur so kann man nach Herder die Garantie haben, dass auch in der Philosophie der Gedanke am Wort „klebt“. Bestimmte Grundbegriffe lassen sich jedoch nicht weiter analysieren. Wie wir schon im Versuch ber das Sein gesehen haben, sind fr Herder die Begriffe ,Sein‘, ,Zeit‘, ,Raum‘ und ,Kraft‘ weder Kategorien noch einfache Abstraktionen, sondern erste anschauliche Begriffe, die die menschliche Erfahrung der ußeren Welt voraussetzen. Nach Herder hat die Philosophie zu versuchen, „die bloß verstndlichen Worte so lange umzusetzen, und zu wechseln, bis sie deutlich werden“ (Fragmente, 1.424). Jedoch neigt sie auch hier oft dazu, sich „hinter barbarische[n] Kunstwçrter[n]“ zu verstecken und den gesunden Menschenverstand zu verachten. So riskiert der Begriffsdiskurs, eine Metaphysik leerer Wçrter zu bleiben, „ein abgezognes, geordnetes Namenregister hinter Beobachtungen der Erfahrung“ (Ideen, 6.348). Metaphysik ist zwar als ordnende Disziplin brauchbar, aber ihre Begriffe kçnnen „das Innere der Existenz keines einzigen Dinges berhren“. Die wahre Philosophie macht stattdessen aus der Verdeutlichung der Sprache kein selbstbezgliches Spiel, sondern ein Mittel, das man hinter sich lassen muss, sobald das Ziel erreicht ist. Ziel ist die Leitung des „sinnlichen Verstand[es]“, so dass die Philosophie „sich zu seiner Sprache herablßt, mit ihm gehet, ihn nach und nach mehr erhebet, und ihm endlich in der Sphre der Vernunft mit allem Glanz der Deutlichkeit erscheinet, und verschwindet.“ (Ideen, 6.348) Eine solche Philosophie der alltglichen Sprache ist aber auch „schwer“, weil sie nicht ber eine rein konstruierte Sprache verfgt: „sie kann nicht mit Worten spielen, wie die Arithmetik mit Zeichen“ (Ideen, 6.348). Sie arbeitet stattdessen mit einer Sprache, die eine historische Entwicklung durchlebt und mit jedem individuellen Sprechakt mehr oder weniger verndert wird. So soll die wahre Philosophie den Begriff eben von seiner Hlle absondern, in der man ihn zu sehen gewohnt ist, und von Jugend auf zu sehen gewohnt war. Er strubt sich, und wenn wir ihn mit Gewalt entkleiden: so entwischt er, und lßt uns das Kleid in der Hand; oder wir
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verunstalten ihn, haben ihm mit seinem Gewande zugleich seine Haut zerrissen: da steht er unkenntlich und verwundet in philosophisch-barbarischen Hllen. In der Tat, die Mhe ist nicht so leicht, immer den Gedanken zum Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder spricht: das ist er! und genau sagen kann: warum ers ist? (Fragmente, 1.425)
Die ideale Verdeutlichung der verworrenen Begriffe des Menschenverstandes wird so quasi zu einer platonischen Anamnesis. Der Philosoph muss sich an etwas erinnern, das er als Mensch bereits deutlich erfassen konnte, das er aber im Verlauf der Entwicklung seiner Sprache, sowohl als Individuum als auch als Gattung, vergessen hat.82 Die Artikulation des Begriffsdiskurses ist, wie sich erneut zeigt, mit Vergessen verbunden. Bei der echten Weltweisheit wird das wieder ans Licht gebracht, was schon einmal klar war. Die unentbehrliche Voraussetzung des analytischen Philosophierens ist damit die Klarheit der ersten Sprachprodukte des menschlichen Geistes und ihre Aktualisierbarkeit durch eine Sprache, die allerdings nicht mehr die ursprngliche ist. Wenn die Deutlichkeit etwas Ursprngliches ist, dann ist das Vergessen, das zu den ersten sinnlichen Begriffen fhrt, ein Verdecken durch Stratifikation von Wçrtern und Bedeutungen. Der „Actus der Anerkenntnis“, der einen „deutlichen Begriff“ geben kçnnte (Abhandlung, 1.722), ist derselbe wie bei der ersten Reflexion, die der Mensch bewies, der „nicht bloß alle Eigenschaften, lebhaft oder klar erkennen; sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann“. Diese ursprngliche Anerkennung anhand eines Merkmals wird somit zum Vorbild fr die Bildung neuer Begriffe, weil sie das ursprngliche Geflecht von Sinnlichkeit, Gedanke und Sprache unmittelbar ausdrckt. Doch das erste „Urteil der Seele“, die Uranerkennung durch ein sinnliches Merkmal, ist nicht direkt wiederholbar. In dem aufschlussreichen frhen Essay Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften 83 stand fr Herder bereits fest, dass eine 82 Vgl. zu dieser besonderen Analyse der Begriffe, die eine komplexe Natur der Sinnlichkeit voraussetzt, Ralf Simon, Das Gedchtnis der Interpretation. Gedchtnistheorie als Fundament fr Hermeneutik, sthetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998, S. 72: „Sowenig also Individualitt je logisch auflçsbar ist und sowenig der aus der Ausdifferenzierung eines Monismus resultierende ursprngliche Synkretismus der Sinne je auf einen Nullzustand vor der Vermischung zurckzubringen ist, sowenig wird Analysis von Begriffen an ein logisches Ende kommen. Sie wird zu relativen Enden gelangen: zu solchen, wo die Begriffe als evidente undemonstrabel und zu Gegenstnden aisthetisch-sthetischer Reprsentationen werden. Und vor allem wird sie in ihrem Gang in das aisthetische Dunkel die jeweils individuellen Synkretismen der Sinne erinnern und sich auf diese Weise als Teil der Herderschen Gedchtnistheorie konstituieren. Denn der Inhalt einer so verstandenen Analysis ist die archologische Rekonstruktion vergangener Geschichten der Onto- wie der Phylogenese.“ 83 In FHA ist nur ein Teil publiziert. Da aber die fr uns relevante Passage schon in dieser Ausgabe vorliegt, werden wir weiterhin daraus zitieren.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
„vçllig philosophische Sprache“ eine Sache von Gçttern, nicht aber von Menschen ist (Von Baumgartens Denkart, 1.655). Whrend es nmlich von einem gçttlichen Standpunkt aus mçglich wre, „die Wesen in ihrem Zustande des Werdens und Entstehens“ zu erblicken und damit „jeden Name[n] der Sache genetisch und materiell [zu] erschaffen“, kçnnen die Menschen nur einen momentanen Zustand der Dinge kennen, ihr „Erscheinen“. Die Sprache des Gelehrten, der unfhig ist, das Wesen der Dinge zu erreichen, schließt „leere Benennungen“ ein und ist auch oft „mißlich“. Die Tendenz zur Systematisierung scheint dem Sprechen berhaupt inhrent zu sein. Aber fr Herder wie fr Nietzsche liegt der Wert des Philosophierens woanders: „Es liegt in der Schwche der menschlichen Natur, immer ein System errichten zu wollen; vielleicht liegt es auch in der Schwche derselben, es nie errichten zu kçnnen. Wer diese letzte zeigt, wird ntzlicher, als wer drei Systeme errichtet“ (Von Baumgartens Denkart, 1.657). Eine Systematisierung des Denkens durch abstrakte Begriffe kann fr das Denken schdlich sein, da die Begriffe das Denken routinieren und damit „sehr bald Schranken der Erkenntnisse werden“ kçnnen (Von Baumgartens Denkart, 1.658). Die analytische Methode des Philosophierens scheint an sich schon ambivalent, wenn sie einen berschuss von „Worteinteilungen“, „Eckel“ und „rgernis“ produziert (Von Baumgartens Denkart, 1.658), und schließlich widerspricht sie sich auch selbst, da sie den Willen zur Erkenntnis, der am Ursprung des Philosophierens steht, behindert. Die Schwierigkeiten der philosophischen Arbeit an der Verdeutlichung der Begriffe werden auch in der Metakritik auf die Urmetaphorizitt der Sprache zurckgefhrt, hier in Form einer Kritik der Funktion des Schemas der Erkenntnisse. Wo Kant von Schema spricht, will Herder von „Denkbildern des menschlichen Verstandes“ (Metakritik, 8.418) reden. Fr Herder sind die kantischen Schemata leer und kçnnen keine „verstndliche[n] Wortformeln geben“; „dagegen, Eindruck des Gegenstandes wird dem Organ, und dadurch dem anerkennenden Sinn sofort ein geistiger Typus. Durch eine Metastasis, die wir nicht begreifen, ist uns der Gegenstand ein Gedanke.“ (Metakritik, 8.418) Die bertragung von Empfindung in Vorstellung wird von Herder hier „Metastasis“ genannt und als Moment eines Metaschematisierens verstanden. Dies spricht erneut fr den unsicheren epistemischen Status von Begriffen, die immer aus der Erfahrung entstehen: „Wie diese sich im Nerv des Organs fortpflanzen, wie sie materiell aufbehalten werden u. f., wissen wir nicht.“ Herder weiß, „das Bild, das meine Seele empfngt, ist ganz ihrer Art, nicht das Bild auf der Netzhaut des Auges; es ist von ihr empfangen, in ihre Natur metaschematisieret“ (Metakritik, 8.418.).84 Auch deswegen wird ein mimetisches Verhltnis zwischen Bildern und 84 Fr die Kontingenz der Begriffe im Blick auf ihre Abhngigkeit von sinnlichen Merkmalen spricht sich auch Kant, der sich bekanntlich sehr kritisch zu Herders Metapherngebrauch in den Ideen ußert, deutlich aus: „Man bedient sich gewisser Merkmale
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Gegenstnden unplausibel: nur „sofern ein geistiges Bild einem kçrperlichen hnlich sein kann, ist es ihm hnlich.“ (Metakritik, 8.418) Eine erste Verallgemeinerung des Wahrgenommenen fhrt zu ,Typen‘, die unterschiedlich je nach Organ sind. Ihre Verflechtung nach der Vorstellung des sensorium commune ist auch hier entscheidend fr die Entstehung des Begriffs. Zwischen dem Gesicht, das die Wahrnehmungen nebeneinander versammelt, und dem Gehçr, das die Tçne nacheinander empfindet, besteht im Verstand eine Wechselwirkung: unser Verstand kann auch nicht anders als in beiderlei Kunstformen seine Begriffe unverrckt und zu gleicher Zeit gestalten. Durchs Nacheinander wird von ihm das Nebeneinander, Dies durch Jenes zu einer helleren Ordnung bestimmt; entfernte Gegenstnde drcken sich durch Tçne sukzessiv in uns; dunkle, mit Augenblicken verschwundne Laute bleiben vor uns durch Gestalten. (Metakritik, 8.419)
Die Tçne kçnnen ihrerseits die Begriffe nicht analogisch reprsentieren, weil diese „gedacht, nicht empfunden“ werden. Sie haben eine evokatorische Funktion, d. h. sie rufen „Begriffe und Empfindungen“ hervor. „Beide soll die Sprache nur wecken, daß die Seele sie sich aus eigner Kraft hervorbringe, nicht an den Wortbildern hafte“ (Metakritik, 8.421). Die allegorisierende Natur der Seele spricht aber nicht fr eine reine Identitt von Begriffen und Metaphern. Dass die Begriffe durch das Vergessen ihrer Metaphorizitt entstehen, bedeutet nicht, dass ein metaphorischer Gebrauch der Sprache von einem begrifflichen nicht zu unterscheiden ist. Natrlich verweisen das ,Erfassen‘ der Hand und das ,Erfassen‘ des Geistes auf dasselbe Allegorisieren der Seele, sie sind aber nicht dasselbe: In diesem Verstande ist die ganze Sprache Allegorie: denn jederzeit drckt in ihr die Seele ein Andres durch ein Andres aus, (allo agoreuei, allo noei,) Sachen durch Zeichen, Gedanken durch Worte, die im Grunde nichts mit einander gemein haben. Mit demselben Recht sie also das Begreifen mit der Hand ein Erfassen nennen konnte. (Metakritik, 8.421)
Nicht zwischen Metaphern und Begriffen unterscheiden zu wollen, nur weil beide einen gemeinsamen Ursprung haben, wre fr Herder eine Behinderung des Verstandes. Seine Sprachkritik darf man darum nicht als Nivellierung des Unterschieds zwischen Begriff und Metapher verstehen: Ein grober Sinn ists, der, wenn die Seele begreift oder erfaßt, wenn sie anschauet, findet, erfindet, jedesmal ans Begreifen und Erfassen der Hand, ans Anschauen und Finden durch ein Glas denken mag, unter dem Vorwande, daß diese Ausdrcke ursprnglich Bilder, Metaphern gewesen. (Metakritik, 8.421)
nur so lange, als sie zum Unterscheiden hinreichend sind; neue Bemerkungen dagegen nehmen welche weg und setzen einige hinzu, der Begriff steht also niemals zwischen sicheren Grenzen“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 728 / B 756).
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Bilder nutzt man dazu, „den Gedanken an[zu]deuten“. Und „Trgheit oder Hohlsinn ists, in Bezeichnungen solcher Art am Bilde zu haften oder Bilder zu fliehen, als ob sie den Gedanken widerstnden“. Menschen machen sich Begriffe von Bildern, um vom jeweils sinnlich Gegebenen loszukommen; diese kçnnen aber auch nur bis zu einem bestimmten Punkt abstrakt werden: „je abgezogner ein Begriff ist, sich das Bildhafte seines Ausdrucks mindere, bis es zuletzt ganz zu verschwinden scheinet“. Die Unterscheidung zwischen Begriff und Metapher ist zuletzt pragmatisch. Ob und wie er gemacht wird, hngt jeweils vom Kontext ab. Im ganzen schließt Herder die Mçglichkeit eines reinen Begriffs aus, „weil auch der helleste Begriff“ immer „noch ein Eins im Mehreren darstellen muß, mithin eine Anschauung hçherer Art gibt“, und „so kann ihm das Bildhafte nie ganz entnommen werden.“ Der Begriff ist problematisch, weil er wesentlich Negation ist: er negiert seinen Ursprung aus dem Sinnlichen und aus der Metapher, von denen er gleichwohl abhngig bleibt, um sich manifestieren zu kçnnen. Diese sinnliche ,Unreinheit‘ des Begriffs erklrt aus einer anderen Perspektive die Gedankenverwirrung, die „die metaphysische Sprache solange zum babylonischen Dialekt gemacht hat.“ (Metakritik, 8.421) Bei den Verbindungen zwischen Merkmal und Begriff, die ganz unterschiedlich ausfallen kçnnen, spielt auch das Gedchtnis eine Rolle: Da man sich nmlich bei spekulativen Begriffen keine grobe Bilder der Erfahrung denken konnte, nahm man, wie der Zufall sie gab, aus dem Zusammenhang der Sprache, aus Erinnerungen, wo und wenn man das Wort zuerst gehçrt hatte, oft aus dem Schalle des Worts selbst Zge zusammen, und formte daraus eine Nebelgestalt (Metakritik, 8.421).
Um dem Nebel der Sprache zu entkommen, msste man nach Herder von Begriff und Wort die Sache unterscheiden kçnnen: Auf keine andre Weise ist diesem bel [die Leere der kantischen Schemata] zu entkommen, als wenn man drei Dinge, Sache, Begriff und Wort rein unterscheidet. Unser Begriff macht die Sache nicht, weder mçglich noch wirklich; er ist nur eine Kunde derselben wie wir sie haben kçnnen, nach unserm Verstande und unsern Organen. Das Wort macht sie noch weniger; es soll nur aufrufen, sie kennen zu lernen, ihren Begriff festhalten und reproduzieren; Begriff und Wort sind also auch nicht Eins und Dasselbe. (Metakritik, 8.424)
Die Unterscheidung von Sache, Wort und Begriff entspricht noch dem traditionellen Schema85 und zeigt eine Grenze von Herders skeptisch und nominalistisch orientierter Sprachkritik an; er schließt hier ein Verhltnis der Sprache zu einem sprachlosen Sein nicht kategorisch aus. Was bleibt, ist jedoch die 85 Herder kennt auch eine frhere, nicht sprachkritisch orientierte Skepsis gegenber allgemeinen Begriffen. Im Versuch ber das Sein bemerkt er, dass die Unerklrbarkeit des Begriffs des Seins nicht mit der Armut unserer Sprache zu tun hat, „sondern es liegt in der Sache selbst.“ (Versuch, 1.12).
2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs
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perspektivische Natur des Verhltnisses von Begriff und Sache („wie wir sie haben kçnnen“), und dies besttigt, was ihm schon klar war, nmlich: „keine Sprache drckt Sachen aus, sondern nur Namen“. Herder leugnet auch hier nicht die unaufhebbare Differenz zwischen der Sprache und der Wirklichkeit einerseits und dem Denken andererseits: „keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet“ (Ideen, 6.348). Dafr spricht die alltgliche Erfahrung: „wer seinen Sinnen nicht traut, ist ein Tor und muß ein leerer Spekulant werden; dagegen wer sie trauend bt und eben dadurch erforscht und berichtigt, der allein gewinnet einen Schatz der Erfahrung fr sein menschliches Leben.“ (Ideen, 6.352) Der Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit bleibt fr uns offen.86 Einerseits mssen wir darauf vertrauen, dass unserer Sprache eine Wirklichkeit entspricht. Aber: „daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet“ (Ideen, 6.349). Fr Herder bleibt das Sein jedoch noch in der religiçsen Erfahrung, einem Wissen ohne Begriffe zugnglich. In seiner ,Kindheit‘ war der Mensch ganz „Sinne und Gefhl“, brauchte keine Demonstration des Daseins Gottes. Die Gçttlichkeit der Schçpfung war ihm von sich aus evident: „Die ganze Welt ein dunkles Geheimnis: Aufschluß, Erste Sprache Gottes zu diesem Geheimnis – Licht! Licht das allweite, feine, schnelle, wunderbare, ewig unergrndliche Organ der sich den Menschen offenbarenden Gottheit!“ (lteste Urkunde, 5.250) Die Demonstrationen der Philosophen liefern dagegen nur einen „Wortwechsel“, ein „Verhltnis gewisser Begriffe“, nur „Wçrter“. Herder weiß, „Evidenz und Gewißheit muß also in den Sachen liegen, oder sie liegt nirgends! Worte sind abgesonderte, willkrliche, wenigstens zerteilende, unvollkommne Zeichen: sie muß also im ganzen, unzerstckten, tiefen Gefhl der Sachen liegen, oder sie liegt nirgends –“. Beweise der Existenz Gottes, wie jene Christian Wolffs, scheinen Herder „ein Schattenspiel gewisser Begriffe unter sich, nur fr die Seele, die feine Oberflche gnug ist, sich an dem Schattenspiel zu begngen“ (lteste Urkunde, 5.251). Die berwindung der Trennung von Wort und Sein ist nur der „sich enthllende[n] menschliche[n] Seele“ mçglich. Diese „sieht Bilder! sinds Bilder? sinds Sachen? trumt sie, oder ists außer ihr? und was heißt außer ihr? was heißt ist Sache! Dasein! Gegenwart! wer zeigt, wer lehrt, wer erklrt diese? – das Licht! Licht, das Vorbild der allenthllendsten Demonstration Gottes.“ (lteste Urkunde, 5.252) Dass die Sprache immer abstrakter wird, hat so 86 Es bleibt fraglich, ob Herder sein Glaube an die Treue der Sinne anders als Nietzsche dazu fhrt, so Frst, Sprache als metaphorischer Prozess. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988, S. 302, die Wahrheit der Sprache als die „Wahrheit der Sachen“ anzuerkennen. Die ,Wahrheit der Sache‘, wenn es sie denn gibt, scheint uns auch bei Herder fr die Sprache unerreichbar zu bleiben.
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auch die gefhrliche Folge, dass die unmittelbare, unproblematische Sicherheit des religiçsen Glaubens verloren gehen kann. Dass man einmal sagen kçnnen wird, Gott sei tot, ist auch der schlichten Tatsache geschuldet, dass die Sprache immer abstrakter wird. Wenn die Sprache auf Außersprachliches referiert, ohne dass man dessen sicher sein kçnnte, bleibt nur ein ,mehr oder weniger‘ von Referenz bzw. Distanz. Zur Minimierung der Distanz kann die Philosophie durch Verdeutlichung der Begriffe beitragen. Ganz ist sie nur durch gçttliche Offenbarung aufzuheben, auf die Herder zuletzt noch setzt. Diesseits der Offenbarung ist die Sprache, das hat Herder klar herausgearbeitet, zugleich die Bedingung des Vergessens und des Erinnerns. Dabei vernachlssigt er jedoch das Vergessen bei der Wiederbelebung der Sprache, die die Entsinnlichung der Kultur kompensieren soll. Herder sieht die Erfahrung durch Gedchtnis und Abstraktion vor allem geschwcht, er betont, dass „wir uns nun durch Abstraktion schwchen, Sinne absondern und verteilen, mit Erinnerung und Vernunftgeschfte[n] unser ganzes Gefhl in kleine Fden auflçsen, die nichts mehr ganz und rein fhlen“ (lteste Urkunde, 5.253). Doch zugleich bleibt fr seine Sprach- und Kulturkritik die Vorstellung eines selbstbewussten, autonomen Subjekts des Erinnerns notwendig, das die Lebendigkeit der Urmanifestationen von Sprache und Kultur, die Urmetaphern in der Schatzkammer der Sprache, wiedergewinnen kann. 2.4.3.2. Nietzsche: Das Vergessen als Bedingung der Begriffssprache Auch bei Nietzsche sind Begriffe Rckstnde eines semiotischen Prozesses. Er selbst spricht vom „Residuum einer Metapher“ (WL, S. 882). Danach entstehen die Begriffe als Moment einer tieferen, dem Bewusstsein nur begrenzt zugnglichen Dynamik des Vergessens: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht fr das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich fr zahllose, mehr oder weniger hnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Flle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. (WL, S. 879 f.).87
Das „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“, das am Ursprung der Abstraktion steht, setzt bei Nietzsche ein „Vergessen[] des Unterscheidende[n]“ und ein „[]bersehen des Individuellen und Wirklichen“ voraus, das die Begriffe als wirklich Seiende erscheinen lsst, obwohl „die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein fr uns unzugngliches und undefinirbares X“ (WL, S. 880). Die Begriffe weisen immer eine ,schwarze 87 Zum Verhltnis zwischen rhetorischer Natur der Sprache und Gedchtnis bei Nietzsche vgl. Hubert Thring, Geschichte des Gedchtnisses, Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert, Mnchen 2001, insb. Kap. 11 und 15.
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Seite‘ auf, die nicht bewusst erfassbar ist, da sie nur so lange als Begriffe genommen werden kçnnen, wie ein blinder Fleck der Aufmerksamkeit ihre metaphorische Natur verdeckt. Als Manifestation des Vergessens ist auch die von der Aufmerksamkeit vernachlssigte relationale Natur unserer Erkenntnisse zu verstehen: „nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu whnen: er besitze eine Wahrheit“ (WL, S. 878). Das gilt zumindest dann, „wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie“ beschftigt. Die Welt, die „uns wirklich etwas angeht“, ist nicht immer schon da, stattdessen „haben wir Menschen [sie] geschaffen – und haben es v ergessen.“ (N 1881, KSA 8, 14[8]) Zu der Welt, die uns wirklich angeht, scheinen gerade Tautologien nicht zu gehçren. Urteile in Begriffen von Bedeutung fr das Leben drfen Subjekt und Prdikat nicht als identisch darstellen, und dann bleibt, was wir Wahrheit nennen, nur ein „bewegliches Heer von Metaphern“, d. h. „eine Summe von menschlichen Relationen“ (WL, S. 880). Die Naturgesetze kçnnen wir an sich nicht erkennen, sondern nur ihre „Wirkungen, d. h. [ihre] Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als Relationen bekannt sind“ (WL, S. 883). Dann aber stellt sich die Frage, wie man sich den Relationen als Relationen annhern sollte, ohne sie als Dinge zu betrachten und ohne ihre Relationalitt zu vergessen. Relationen setzen die Anerkennung von Differenzen voraus. Ihre Elemente kçnnen nicht als etwas Isoliertes erfahren werden, sie werden nur zusammen erkennbar. Versucht die Sprache aber die differentielle Natur des Werdens auszudrcken, so geht diese durch die Begriffe verloren, die den Fluss des Werdens in festen Zeichen erstarren lassen. Metaphern als Formen des bertragens kçnnen stattdessen der Relationalitt nher kommen, ohne sie sogleich verschwinden zu lassen. Daher schildert Nietzsche auch die Entstehung der Begriffe in Metaphern. Hier setzt auch seine sprachkritische Skepsis ein: es „giebt […] keine ,eigentlichen‘ Ausdrcke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher“, „das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen.“ (N 1872/73, KSA 7, 19[228]) Das Sprechen in Metaphern ist epistemisch legitim, weil es einer vergessenen Urdynamik des Erkennens folgt. Nietzsche unterscheidet zwischen mehr oder weniger reflektierten Hervorbringungen von Begriffen; alle setzen das Vergessen voraus: „An dem Bau der Begriffe arbeitet ursprnglich, wie wir sahen, die Sprache, in spteren Zeiten die Wissenschaf t.“ (WL, S. 886). Bevor man zum reflektierten, theoretischen Gebrauch des Begriffs kommt, veranlasst das alltgliche Vergessen Verdinglichungen von Relationen und bertragungsprozessen: man „vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst“ (WL, S. 883). Die Wissenschaft als Praxis, die die „Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur“ anstrebt (N 1884,
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KSA 11, 26[170]), realisiert nur systematischer und bewusster spontane Tendenzen der Empfindung und der Grammatik: Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie [die philosophischen Begriffe] immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie mçgen sich noch so unabhngig von einander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fhlen: irgend Etwas in ihnen fhrt sie, irgend Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rck- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind: – Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus hçchsten Ranges. Die wunderliche Familienhnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklrt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Fhrung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein Alles fr eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Mçglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. (JGB 20)
Die bewusste, autonome, freie Vernunft als Subjekt von Begriffen wird so erneut fraglich; die Grenzen der Verbegrifflichung sind auch die Grenzen der Selbstreflexion. Als Grunddynamik des Geistes kann das Vergessen daher nicht vollstndig konzeptualisiert werden: Ve r g e s s e n . – Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorlufig haben wir in diese Lcke unserer Macht jenes Wort „Vergessen“ gesetzt: gleich als ob es ein Vermçgen mehr im Register sei. Aber was steht zuletzt in unserer Macht! – Wenn jenes Wort in einer Lcke unserer Macht steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lcke unseres W i s s e n s u m u n s e r e Ma c h t stehen? (M 126)
Jede Behauptung, es gebe so etwas wie ein Vermçgen des Vergessens, wre dogmatisch; man berschritte mit ihr die erfahrbare Grenze unseres Erkennens. Auch ,Vergessen‘ ist, wie andere Wçrter, die geistige Leistungen beschreiben, Teil eines Sprachspiels, in dem Wçrter fr Abwesendes gebraucht werden. Das Vergessen wird nur negativ reflektiert, dann wenn das Erinnern an seine Grenzen stçßt; es wird nur indirekt bewusst, weil man sich immer an etwas erinnern muss, um zu erkennen, dass man etwas vergessen hat. Man erinnert dann aber nur das „Gewusst-haben“ und „Wieder-wissen“, nicht den Prozess des Vergessens. Diese Grenze unserer Sprache am Vergessen verunsichert zugleich die ganze Philosophie von Vermçgen des Geistes, da auch andere Worte, mit denen wir den Geist beschreiben, einem Mangeln an Wissen ber die Grenze unseres Wissens entstammen kçnnten. Auch Nietzsches sptere Rede vom positiven Vermçgen des Vergessens zu Beginn der zweiten Abhandlung der GM ist nur eine semiotische Annherung an einen Prozess, der sich nicht verdinglichen lsst:
2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs
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Ve r g e s s l i c h k e i t ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflchlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermçgen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man drfte ihn „Einverseelung“ nennen) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze tausendfltige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernhrung, die sogenannte „Einverleibung“ abspielt. (GM II 1, S. 291)
Vergessen ist hier aktive Isolierung, Selektion und Aneignung, doch nicht aktiv im Sinne einer bewussten Ttigkeit, sondern als quasi-physiologische Funktion einer „starken Gesundheit“, einer Steigerung des Lebensgefhls: es kçnnte „kein Glck, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben […] ohne Vergesslichkeit“ (GM II 1, S. 292). Damit kann das Vergessen des Metaphorischen der Metapher genauer gefasst werden. Es bleibt negativ und selektiv, obwohl es das Leben fçrdert. Besteht aber der Unterschied zwischen Begriff und Metapher nur in einem Verschwinden einer Erinnerung, kommt er ins Schwanken, wird der bergang zwischen ihnen fließend. So ist auch die Metapher schon eine Form der Verallgemeinerung und damit eine elementare Form des Begriffs: „Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als hnlich erkannt hat“ (N 1872/73, KSA 7, 19[249]). Dennoch bleiben die Metaphern und die, die sich in ihnen bewegen, fragil: Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprnglich in hitziger Flssigkeit aus dem Urvermçgen menschlicher Phantasie hervorstrçmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, d i e s e Sonne, d i e s e s Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als k n s t l e r i s c h s c h a f f e n d e s Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz; wenn er einen Augenblick nur aus den Gefngnisswnden dieses Glaubens heraus kçnnte, so wre es sofort mit seinem „Selbstbewusstsein“ vorbei (WL, S. 883 f.).
Werden Metaphern in Begriffen festgestellt, bekommt das Leben eine gewisse Stabilitt, und so kann die Rckfrage nach der ursprnglichen Metaphorizitt der Begriffe das Leben des Individuums und der Gesellschaft verunsichern. Andererseits will auch der, der sie stellt, auf seine Weise die Wahrheit. Wie jede Erkenntnis ist auch die Sprachkritik an das Leben gebunden. Sie hat daher ihrerseits den Maßstab ihrer Wahrheit nicht mehr in einem rein theoretischen Standpunkt, sondern in dem, was sie einverleibt hat und einverleiben kann: „Inwieweit vertrgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment“ (FW 110). Damit ist auch die Metaphorisierung der Begriffe keine reine theoretische Operation mehr: „nicht im Erkennen, im Schaffen liegt unser Heil!“ (FW 110) Und einverleiben und dadurch schçpferisch werden kann man wiederum nur mit Hilfe des Vergessens, dem Vergessen der eigenen Skepsis, die dann freilich das Einverleiben erschwert. So muss man auch sie von
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Zeit zu Zeit aussetzen, um etwas ernst zu nehmen und einverleiben zu kçnnen: „wir mssen ber diese Skepsis hinaus, wir mssen sie v ergessen !“ (N 1872/ 73, KSA 7, 19[125]). So liegt die Herausforderung fr die philosophische Sprachkritik darin, ein Gleichgewicht zwischen Erinnern und Vergessen zu finden: der Philosoph muss an der Anamnesis der Versprachlichung arbeiten und dabei vorbergehend die eigene Skepsis vergessen. 2.4.4. Philosophie und Dichtung bei Herder und Nietzsche Auch Nietzsche geht davon aus, dass die erste Versprachlichung eine Form von Dichtung ist. Seine Bemerkung, dass „die Sprache das Urgedicht eines Volkes ist“ und „die ganze anschauliche empfundene Welt die Urdichtung der Menschheit“ (N 1881, KSA 9, 14[8]), ist Herder sehr nahe. Fr Herder beginnt die Urdichtung schon bei den Sinnen, die die Menschen mit den Tieren teilen; auch Nietzsche verschiebt mit der Bemerkung „schon die Thiere haben hier angefangen zu dichten“ (N 1881, KSA 9, 14[8]) die Dichtung in den Bereich der elementaren, tierischen Empfindung. Sein Bild eines toten ,Columbariums‘ von abstrakten, unpersçnlichen und verwissenschaftlichten Begriffen entspricht dem, was Herder in seiner Rezension von Lavaters physiognomischen Fragmenten die tote Wissenschaft nennt: „Sobald eine lebendige Sache Wissenschaft, Scienz, geschlossenes Kompendium mit Klausuren und Paragraphen wird: so ist sie todt; sie wchst nicht weiter, was sie als lebendiges Studium immer thte.“ (SWS, 9.413) So stellt sich fr beide die Frage nach einem produktiven Verhltnis zwischen dem Sprechen in Begriffen bzw. in Metaphern. Beide leugnen nicht den Sinn der Begriffe. Wie das Verhltnis zu denken ist, ob als ,philosophische Poesie‘, in der die poetischen Metaphern zu Supplementen der rationalen Begriffe werden, oder ob es nur um eine Schçpfung von Begriffen in Analogie zu Kunstprozessen geht, ist zunchst offen. Dass Dichtung das Sprechen in Begriffen erneuern kann, scheint fr Herder auf den ersten Blick ausgeschlossen: Ich habe zeigen wollen, daß eine Sprache, wie sie die hçchste Dichtkunst, und die strengste Philosophie fodert [sic!], zween Endpunkte sein, und mitten inne Platz zu allen Gattungen bleibe, die ich unter den Namen einer behaglichen, bequemen Sprache setze. (Fragmente, 1.643)
Begriffliches und dichterisches Sprechen bleiben hier Alternativen, wie Frst richtig bemerkt, zwei voneinander unabhngige Sprachspiele.88 Herder stelle damit den alleinigen Anspruch der Aufklrung in Frage, das Sprechen auf das 88 Frst, Sprache als metaphorischer Prozess. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Mainz 1988, S. 74.
2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs
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rationale zu beschrnken und damit aus der Sprache eine formale, systematische und unpersçnliche Institution zu machen, in der die Menschen passiv werden und ihre individuelle Kreativitt verlieren. Frst schreibt ihm denn auch das Programm einer „Therapie der Sprachsklerose und der sprachbildenden Krfte“ zu,89 die jedoch nicht in einer Poetisierung der Philosophie bestehen sollte, sondern in einer Verortung der Sprache in der Gestalt und Qualitt ihres Ursprungs. Aus dem Verstehen ihres Ursprungs, ihrer Entwicklungsgeschichte und der diese bestimmenden Prozesse gewinnt die Sprache des denkenden und sprechenden Menschen ihre Identitt zurck. Uns bleibt die Frage zu stellen, was das fr den Begriffsdiskurs bedeuten muss und welche Analogie dies hat mit dem Interesse Nietzsches fr eine Erneuerung der philosophischen Sprache.90
Herder selbst gibt einmal ein Beispiel, in dem er ausdrcklich Metaphern gebraucht, um den philosophischen Diskurs fortzufhren: als er darber reflektiert, wie er Wçrter fr Begriffe finden kann, die in einer anderen sprachlichen Tradition entstanden und darum fremd sind. Hier fordere „die Armut unserer Sprache, sich durch Metaphern deutlich zu machen“ (ber Thomas Abbts Schriften, 2.594). Es geht um griechische Weisheit: In Griechenland wurde die Weisheit gemeinschaftlich mit der Sprache gebildet: beide gingen in gleichem Schritt fort: und jene wuchs in dieser, wie auf eignem Grund und Boden. So aber nicht mit den neuern: so nicht mit unsrer Sprache. Hier bekommen wir Begriffe aus fremden Gegenden, in unsre Sprache zu verpflanzen: sie kommen ber Meer und Land, um bei uns Wohnplatz zu nehmen. Kann es hier nicht sein, daß ich neue Worte schaffen, daß ich Metaphern zu Hlfe nehmen muß, um mich deutlich zu machen? Niemand kann dies leugnen, der die Eigenheit, oder den Eigensinn jeder Sprache, oder ihre Drftigkeit fhlet (ber Thomas Abbts Schriften, 2.594).
Da Begriffe einer Sprache stets eng miteinander vernetzt sind, kann ein fremder Begriff nur schwer durch andere Begriffe verdeutlicht werden. Hier kçnnen Metaphern helfen, da sie dem ursprnglich bildlichen Gebrauch der Wçrter nherstehen. Das gilt jedoch nicht nur fr die bersetzung griechischer philosophischer Begriffe. Die ganze philosophische berlieferung wird dann zu einer Kette von Metaphorisierungen, die flschlicherweise als bersetzungen von Begriffen in Begriffe interpretiert wurden. Die philosophische Begriffsarbeit, die sich Herder vor allem als „Analyse“ darstellt, bençtigt stets Metaphern, um neue Begriffe zu schaffen. Die Trennung zwischen dem Sprechen in Metaphern und dem bewusst Metaphern vermeidenden Sprechen in Begriffen wre damit stark zu relativieren. „Dichtungen und Fabeln, Allegorien und Symbole“ sind nicht nur als „Sprachformen des Dichters, in denen er Gedanken abbildet, 89 Frst, Sprache als metaphorischer Prozess, S. 74. 90 Frst, Sprache als metaphorischer Prozess, S. 114.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
mit denen er Empfindungen weckt oder bezeichnet“ (Kalligone, 8.782), denkbar, sondern auch als Sprachformen des Philosophen. Homer und Shakespeare sind fr Herder bereits Philosophen, Leibniz ein Dichter, der wie andere „gute Seele[n]“ „Witz und Gedchtnis, Einbildung und Dichtungsgabe so verstndig gebraucht ha[t], daß [sein] großer Verstand gewiß nicht ohne jene weitfassende Wurzeln htte erwachsen kçnnen.“ (Vom Erkennen, 4.356) Leibniz habe fr die Artikulation seiner Gedanken die Poesie bençtigt: er war ein „sehr witziger Kopf, bei dem meistens eine Metapher, ein Bild, ein hingeworfnes Gleichnis die Theorien erzeugte, die er auf ein Quartblatt hinwarf und aus der die Weberznfte nach ihm dicke Bnde spannen.“ (Vom Erkennen, 4.356).91 Herders Darstellung des Verhltnisses zwischen dichterischer und philosophischer Sprache ist also ambivalent. Einerseits mssen die beiden Sprechweisen klar voneinander getrennt bleiben, andererseits ist die philosophische aber oft auf die Hilfe der dichterischen angewiesen, um authentisch produktiv werden zu kçnnen. In WL macht Nietzsche diese Ambivalenz stark, nun aber nicht mehr theoretisch, sondern bildlich. Er reprsentiert die beiden Sprechweisen durch Menschentypen, den intuitiven und den vernnftigen Menschen, und fragt nach ihrer Interaktion als Lebensformen. Als Idealtypen sind beide nicht vorzufinden und nur im kulturphilosophischen Diskurs zu trennen. Nietzsches Beispiel fr eine Epoche, in der die zwei Typen bzw. Sprechweisen noch getrennt waren und in der der intuitive Mensch den Vorrang vor dem vernnftigen hatte, die Zeit der alten Griechen, ist selbst ein Kulturideal. Auch fr Nietzsche ist das Sprechen in Metaphern symptomatisch fr den dichterischen Sprachgebrauch. Zumindest fr den „chten Dichter“ ist die Metapher „nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt“ (GT 8, S. 57). Der Sprachgebrauch des ,vernnftigen‘ Menschen mit seinem philosophischen und wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe versteht die „originalen Anschauungsmetaphern“ nicht mehr „als Metaphern“, er „nimmt sie als die Dinge selbst“ (WL, S. 883). Der intuitive Mensch hingegen redet noch „in lauter verbotenen Metaphern und unerhçrten Begriffsfgungen, um wenigstens durch das Zertrmmern und Verhçhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mchtigen gegenwrtigen Intuition schçpferisch zu entsprechen.“ (WL, S. 889) Das Zusammenleben der beiden Idealtypen scheint zunchst problematisch, da der dichterische Sprachgebrauch des intuitiven Menschen den vernnftigen Menschen in seinen Begriffen verunsichert. Der intuitive Mensch wirft „mit schçpferischem Behagen […] die Metaphern durcheinander und verrckt die Grnzsteine der Abstraktion.“ Der „freigewordene Intellekt“ des intuitiven Menschen 91 Zur Bedeutung der metaphorischen Sprache als Mittel der Bildung und der Belebung der Sprache im Allgemeinen vgl. Frst, Sprache als metaphorischer Prozess, S. 342 – 376.
2.4. Der tropische Ursprung des Begriffs
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ist frei in dem Sinne, dass er die sozialen Sprachkonventionen nicht mehr unbesehen annimmt, und wirkt darum auf den vernnftigen beunruhigend: Jenes ungeheure Geblk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedrftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerst und ein Spielzeug fr seine verwegensten Kunststcke: und wenn er es zerschlgt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nchste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedrftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird. (WL, S. 889)
Mit dem berwiegend dichterischen bzw. begrifflichen Sprachgebrauch verbindet Nietzsche auch antithetische Weltanschauungen und Wertsetzungen. Danach bereiten die „Moral und die Civilisation“ dem Menschen „weniger Schmerz“, aber nicht „mehr Glck“ (N 1880, KSA 9, 3[25]). Der BegriffsMensch und derjenige, der in Metaphern spricht, schtzen Glck und Leiden unterschiedlich ein: Whrend der von Begriffen und Abstractionen geleitete Mensch durch diese das Unglck nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glck zu erzwingen, whrend er nach mçglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels eine fortwhrend einstrçmende Erhellung, Aufheiterung, Erlçsung. Freilich leidet er heftiger, w e n n er leidet; ja er leidet auch çfter, weil er aus der Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fllt, in die er einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso unvernnftig wie im Glck, er schreit laut und hat keinen Trost. (WL, S. 889 f.)
Beide Idealtypen haben jedoch gemein, dass sie mit unterschiedlichen Mitteln „ber das Leben zu herrschen [begehren]“. Der vernnftige Mensch schafft sich Sicherheit fr das Leben, „indem er durch Vorsorge, Klugheit, Regelmssigkeit den hauptschlichsten Nçthen zu begegnen weiss“, whrend der intuitive Mensch „jene Nçthe nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schçnheit verstellte Leben als real nimmt“ (WL, S. 889). Die Lebensweise des vernnftigen Menschen ist durch die Konvention gesichert; aber auch die vom Dichter ausgehende Verunsicherung dient der Beherrschung des Lebens. Denn der Dichter verunsichert nur, um sich selbst als Trger einer neuen Wahrheit zu inszenieren und damit seinen sozialen Status zu legitimieren. Er macht so mit seiner Verunsicherung eine neue Beruhigung notwendig, die nur die Poesie, nicht die Philosophie erreichen kann. Die Dichter gehen absichtlich darauf aus, Das, was fr gewçhnlich Wirklichkeit genannt wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren, Unchten, Snd-, Leid- und Trugvollen umzubilden; sie bentzen alle Zweifel ber die Grnzen der Erkenntniss, alle skeptischen Ausschreitungen, um die faltigen Schleier der Unsicherheit ber die Dinge zu breiten: damit dann, nach dieser Umdunkelung, ihre Zauberei und Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur „wahren Wahrheit“, zur „wirklichen Wirklichkeit“ verstanden werde. (MA II, VM 32)
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Entscheidend fr die Interaktion zwischen Dichtung und Philosophie ist, dass der dichterische Sprachgebrauch nicht nur zur Strkung der Lebensbedingungen des Dichters, sondern eben auch der Philosophen von Nutzen ist, sofern sie eine aktive Rolle in ihrer Gemeinschaft behalten wollen. Abstraktionen kçnnen leicht fixiert und hypostasiert werden und so, wiewohl sie zur Beherrschung der Natur dienen kçnnen, sich leicht vom Leben lçsen. Eine gesunde Kultur ist deshalb darauf angewiesen, dass die fixierten Bedeutungen wieder durch Metaphern in Bewegung gebracht werden. Nietzsche erwartet von der Philosophie nicht mehr wie Herder in erster Linie eine Verdeutlichung der Begriffe des gesunden Menschenverstands, sie soll stattdessen zur Schçpfung von Begriffen fhig, d. h. eine Art Kunst sein: Was am letzten den Philosophen aufdmmert: sie mssen die Begriffe nicht mehr sich nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen berreden. Bisher vertraute man im Ganzen seinen Begriffen, wie als einer wunderbaren Mitgift aus irgendwelcher Wunder-Welt: aber es waren zuletzt die Erbschaften unserer fernsten, ebenso dmmsten als gescheitesten Vorfahren. Es gehçrt diese Piett gegen das, w a s s i c h i n u n s v o r f i n d e t , vielleicht z u d e m m o r a l i s c h e n Element im Erkennen. Zunchst thut die absolute Scepsis gegen alle berlieferten Begriffe noth (wie sie vielleicht schon einmal Ein Philosoph besessen hat – Plato: natrlich (hat er) das Gegentheil gelehrt – — ) (N 1885, KSA 11, 34[195])
Damit entwertet Nietzsche aber den zivilisatorischen Abstraktionsprozesses nicht.92 Die Skepsis der Dichter gegen Begriffe erçffnet Philosophen Spielrume fr die Schçpfung neuer Begriffe. Die „Philosophen der Zukunft“ werden zwar „Skeptiker“, „Kritiker“ und „Menschen der Experimente“ sein, solange sie sich ihre Sensibilitt fr den poetischen Sprachgebrauch bewahren, als „Befehlende und Gesetzgeber“ werden sie aber auch Begriffe brauchen, da Gesetze nur in ihnen formuliert werden kçnnen (JGB 210 f.).
92 Nach Slobodan Zˇunjic´, „Begrifflichkeit und Metapher. Einige Bemerkungen zu Nietzsches Kritik der philosophischen Sprache“, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 149 – 163, bençtigt auch die Dekonstruktion des Begriffsdiskurses Begriffe: „Die begriffliche Sprache durchaus zu berwinden, hieße infolgedessen, ber Philosophie hinauszugehen, so daß diese ,berwindung‘ keinen Bezug zur Philosophie mehr aufrechterhlt. Das Metaphorische vçllig zu vergessen, hieße andererseits die Kritik und Reflexion dogmatisch und unverbesserlich zu entkrften. Mit Nietzsches Worten gesagt, stellt Begrifflichkeit die unvermeidliche Perspektivitt oder Schemagebundenheit unseres Denkens dar. Metaphorizitt verweist dagegen auf mçgliche, allerdings wieder perspektivische, berschreitung der vorhandenen Perspektiven.“ (S. 162) Man kann jedoch fragen, ob Nietzsche nicht doch ohne Begriffe einen philosophischen Diskurs aufrechtzuerhalten versucht, vor allem in Za. Vgl. dazu Naumann, „Nietzsches Sprache ,Aus der Natur‘. Anstze zu einer Sprachtheorie in den frhen Schriften und ihre metaphorische Einlçsung in ,Also sprach Zarathustra‘“, in: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 126 – 163.
2.5. „Der Mensch schon als Tier“: Ursprung der Sprache als Ursprung des Menschen
203
Der Philosoph kann ber seinen Gebrauch von Begriffen hinaus Bedingungen schaffen, unter denen sie durch Metaphern verschoben werden kçnnen, und so zu einer neuen Kultur beitragen. Stçsst er bei seiner Sprachkritik an die Grenze seiner Macht, kann er doch das eigene Machtgefhl steigern, indem er geeignete Bedingungen fr Dichter schafft, ber die Grenze des Begriffsdiskurses hinauszugehen. Er kann das, indem er die negative Arbeit an der Verunsicherung seiner Begriffe fortsetzt und durch seine philosophische Sprachkritik das Spiel der Metaphern legitimiert, indem er mit seiner Reflexion auf den Ursprung der Sprache eine Kommunikation plausibel macht, die auf der paradoxen Sicherheit eines verunsichernden Prinzips beruht und so die Gesellschaft beweglich und gesund hlt. Mit der Herleitung der Sprache aus der Schwche und Unsicherheit der menschlichen Triebe entsteht das Bild einer dynamischen, aber auch unsicheren Kultur als zweiter Natur des Menschen. Sie zeigt sich in der Kraft, die Unsicherheit, die bleibt, doch immer neu zu berwinden. Dies ist nun nher zu zeigen.
2.5. „Der Mensch schon als Tier“: Ursprung der Sprache als Ursprung des Menschen Nach Erwin Schlimgen besteht der Unterschied zwischen den Auffassungen des metaphorischen Charakters der Sprache bei Herder und Nietzsche darin, dass bei Herder die Sprache ein Ersatz fr die Mngelwesenheit, bei Nietzsche dagegen deren Symptom sei.93 Beides, Ersetzung und Erkrankung, erscheint jedoch bei beiden Autoren. Die Sprache ist fr Herder keine neutrale, unproblematische zustzliche Gabe des Tieres Mensch, sondern auch die Bedingung von Erstarrungen im Kulturleben. Auch er weiß, dass das Kulturwesen Mensch durch die Versprachlichung entarten kann. Auf der anderen Seite stellt Nietzsche die Vermoralisierung des Raubtiers durch die Entwicklung einer interindividuellen Sprache und eines Bewusstseins nicht nur als eine Krankheit dar, die die Gesellschaft einem zuvor ,gesunden‘ Individuum beibringt, sondern als zur Menschwerdung berhaupt gehçrig. Sprache und Kultur sind nicht nur Krankheitssymptome, sondern auch Heilmittel fr die ursprngliche Schwche menschlicher Instinkte: es ist die Sprache, die die Begriffe erstarren lsst, sie aber auch wieder verlebendigt. Diese Ambivalenz der Sprache ist zugleich die Ambivalenz jeder Definition der Menschennatur. Herders und Nietzsches Reflexionen ber die Natur der Sprache spielen eine entscheidende Rolle fr den anthropologischen Diskurs. Sie geben nicht einfach eine neue Version des Diskurses ber den Menschen als animal rationale, sondern verndern die Logik 93 Erwin Schlimgen, Nietzsches Theorie des Bewußtseins (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 41), Berlin / New York 1999, S. 34 f.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
dieses Diskurses selbst tiefgreifend. Herders Verzeitlichung der Sprache schließt eine Verzeitlichung der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch ein; bei Nietzsche verliert die Anthropologie an Bedeutung zugunsten einer Typologie des Menschlichen. Die Unterscheidung zwischen intuitiven und rationalen Menschen am Ende von WL ist ein gutes Beispiel hierfr. 2.5.1. Herder: Die Unterscheidung zwischen Tier und Mensch durch die Sprache Der Anfang von Herders Abhandlung – „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“ – stellt eine explizit sprachphilosophische Annahme dar, die mit einer implizit anthropologischen Voraussetzung einhergeht: Der Mensch ist ein Tier. Die Ambivalenz des ,schon‘ weist dennoch auf einen mçglichen Interpretationsspielraum hin. „Schon als Tier“ ist zunchst von epistemologischer Bedeutung, d. h. der Mensch wird so betrachtet, als ob er ein Tier wre, ohne damit seinen ontologischen Status zu hinterfragen. Mit dieser Auslegung bleiben Anthropologie und Sprachphilosophie im Horizont der Vernatrlichung, die eine heuristisch-analogische Betrachtung des Menschen und seiner Kultur versucht. Das hypothetische Menschenbild bringt eine Sprachphilosophie mit sich, die sich ihrerseits als hypothetisch versteht. Die Sprache ist das erste Kriterium des Menschlichen, und insofern kann man Herders Eingangssatz als nahezu wçrtliche bersetzung der aristotelischen Definition des Menschen als f_om k|com ]wom betrachten. Diese folgt noch dem Schema der Definition von genus proximum und differentia specifica. Doch wenn Aristoteles Tier und Mensch durch die Sprache logisch und ontologisch trennt, schafft Herder einen kontinuierlichen bergang zwischen ihnen. Darauf verweist das ,schon‘: es erinnert an den zunchst tierischen Zustand des Wesens, das sich erst zum Menschenwesen entwickelt. Wenn die Sprache ihrerseits ein natrliches, lebendiges, nicht vollstndig zu begreifendes Phnomen ist, wird die Natur des Menschen nicht verdinglicht, sondern in die ,Kette des Seins‘ eingefgt, um an Leibniz’ und Buffons Bild – zwei Autoren, die fr Herder eine große Rolle spielen – zu erinnern.94 Mit dem Wort ,Sprache‘ anstelle von ,logos‘ wird der Mensch anders bestimmt: er ist zunchst ein sich ausdrckendes Wesen – und dann erst nimmt mit der Zeit dieses Sich-Ausdrcken die Form eines rationalen, vernnftigen Diskurses an. Auch die Vernunft, das traditionelle anthropologische Merkmal, ist auf Sprache angewiesen; Herders Sichtweise ist darin innovativ, dass er diese Angewiesenheit zuspitzt und mit einem Sprachbegriff arbeitet, der den der ,Vernunft‘ umfasst. Das philosophische Denken 94 Vgl. dazu Lovejoy, The Great Chain of Being: A Study of the History of an Idea, Cambridge 1936, insb. Kap. VI, S. 183 – 208.
2.5. „Der Mensch schon als Tier“: Ursprung der Sprache als Ursprung des Menschen
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muss sich jetzt mit seinem problematisch gewordenen Medium, der Sprache, auseinandersetzen, wenn es nicht unreflektiert erscheinen will. Philosophieren wird damit eine Arbeit der Sprache an der Sprache, in ihr gibt es sich zu erkennen. Der Satz: „mit dem Menschen ndert sich die Szene ganz“ (Abhandlung, 1.714) bedeutet dann, dass die Kette des Seins mit dem Menschen nicht einfach quantitativ verlngert wird, sondern eine qualitative Differenz eintritt. Mit dem Menschen kommt die Differenz zwischen Lebewesen berhaupt erst zum Bewusstsein und zu sprachlichem Ausdruck. So ist die Sprache der Menschen auch nicht einfach deren Natursprache wie fr die anderen Tiere, sondern sie differenziert sich in der historischen Entwicklung aus. In der Kontinuitt zwischen Tier und Mensch ereignet sich so gnzlich Neues. Herder schiebt zwischen Natur- und Menschensprache „Sprachen des Ursprungs“ ein und vermittelt jene dadurch historisch; in diesen „tçnen noch Reste dieser Naturtçne“ (Abhandlung, 1.701), aber sie artikulieren schon nicht mehr eine reine Natursprache. Damit ist die Sprache zugleich Brcke und Bruch zwischen der menschlichen und tierischen Dimension. Die ,tçnenden‘ Merkmale der Natursprache, die der Mensch schon als Tier hat, stellen das Handwerkszeug der Selbstreflexion bereit und erçffnen so den Spielraum fr die menschliche Sprache. Als zeitliche gedacht, grenzt die Sprache Mensch und Tier nicht immer auf dieselbe Weise ab. Die Sprache als Natursprache unterscheidet Gattungen, die verschiedene Tçne nutzen gemß dem Naturgesetz, das da lautet: „Deine Empfindung tçne deinem Geschlecht Einartig, und werde also von allen, wie von Einem mitfhlend vernommen!“ (Abhandlung, 1.698) Die Natursprache kann so bereits aufgrund ihrer Tonqualitt ein Tier zum Menschen machen, ohne dass er schon eine vollkommene ,menschliche Sprache‘ htte. Dennoch wird die menschliche Natursprache im Verlauf ihrer Entwicklung so komplex und differenziert, dass sie das Menschenreich vom Tierreich im ganzen und zugleich Menschen von Menschen unterscheiden kann: sprachlich treten auch Individualitt und Persçnlichkeit hervor. Ein Volk kann wie jeder Einzelne wiederum in seiner Geschichte bzw. Entwicklung einen immer wieder anderen Gebrauch seiner Sprache entwickeln und wird daran kenntlich. So ist die Sprache eine jeweilige Leistung, kein vorgegebenes Vermçgen. Eine von der Sprache als jeweiliger Leistung ausgehende Anthropologie legt den Menschen dann nicht mehr auf eine bestimmte und zeitlose Identitt fest; stattdessen werden solche Festlegungen als bloße theoretische Konstruktionen erkennbar. Vor dem Hintergrund einer Pluralitt von Ursprngen von Sprachen kann Herder vielfltige Weisen unterscheiden, in denen Menschen ihre Sprachlichkeit umsetzen, wenig oder andersartig entwickelte Sprachlichkeit schließt dann Menschlichkeit nicht mehr aus. Der Mensch kann seine Sonderstellung in der Natur darum nur historisch bestimmen: wir sind nie Mensch gewesen, „bis wir zu ende gelebt haben“,
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
whrend „die Biene Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete“. Philosophische Anthropologie wird damit als solche problematisch: Herder akzeptiert in den Ideen, dass „wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern tglich werden.“ (Ideen, 1.773) Herder sagt nicht ausdrcklich, dass die Vorstellung einer zeitlosen ,Menschennatur‘ fragwrdig wird. Er fasst den Menschen als ,natrliches Kulturwesen‘, dessen Natur schon jenseits der Natur und dessen Ursprung nicht mehr ursprnglich ist. Auch wenn die Morphologie des menschlichen Organismus nach Herder den Menschen schon vor der Sprache von der Natur unterscheidet, ist die Sprache das den Ausschlag gebende Unterscheidungskriterium; sie erst erçffnet den neuen Spielraum fr kulturelle Leistungen, die den Menschen als Menschen weiter bestimmen. Dass „die Gestalt des Menschen […] aufrecht ist“ (Ideen, 6.111), dass „der aufrechte Gang […] ihm einzig natrlich ist“ (Ideen, 6.114), ist dann die Vorbedingung der Bestimmung des Menschentiers zu Sprache und Vernunft. Die „feinere Denkungskraft des Geschçpfs“ (Ideen, 6.123) muss zwar „physiologisch“, d. h. von einer bestimmten Gehirnstruktur, gefçrdert sein, doch ist sie damit noch nicht von Natur aus vorgegeben, andernfalls htte das Streben des Menschentiers nach Humanitt, das Herder als historischen Befund betrachtet, keinen Sinn. Die biologische Anlage dient auch der Differenzierung, ist aber von einem praktischen Standpunkt aus gesehen nicht ausschlaggebend. Als offene, noch zu bestimmende Differenz erwartet die menschliche Sonderstellung noch ihre Umsetzung und kann als Aufgabe aufgefasst werden. Der Mensch kann mehr oder weniger Mensch sein. Der aristotelische bios theoretikos als hçchste Realiserung des menschlichen Wesens ist nicht mehr ohne weiteres plausibel. Herder kann fr jede Epoche und jedes Volk unterschiedliche Lebensformen und Lebensideale zulassen. Wer sagt, dass „die Natur des Menschen immer dieselbe“ bleibt, dass er „im zehntausendsten Jahr der Welt mit Leidenschaften geboren [wird], wie er im zweiten derselben mit Leidenschaften geboren ward und durchluft den Gang seiner Torheiten zu einer spten, unvollkommenen, nutzlosen Weisheit“ (Ideen, 6.628), ebnet dem Nihilismus den Weg. Eine zeitlose Feststellung des Wesens des Menschen wrde alle Anstrengungen seiner Arbeit an sich sinnlos machen: Wozu also die unselige Mhe, die Gott dem Menschengeschlecht in seinem kurzen Leben zum Tagwerk gab? wozu die Last, unter der sich jeder zum Grabe hinabarbeitet? Und niemand wurde gefragt, ob er sie ber sich nehmen, ob er auf dieser Stelle, zu dieser Zeit, in diesem Kreise geboren sein wollte. (Ideen, 6.628)
Umgekehrt kçnnte die Temporalisierung der Sprache und des Wesens des Menschen jede feste Naturordnung verabschieden und so ebenfalls nihilistisch verunsichern. Die Kette des Seins im Ganzen und auch ihre Gesetze kçnnen dann als zeitliche gedacht werden; alle berhistorische Strukturen der Natur und der Geschichte verlieren dann ihre Plausibilitt. Doch so weit geht erst
2.5. „Der Mensch schon als Tier“: Ursprung der Sprache als Ursprung des Menschen
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Nietzsche; Herder hlt hier inne. Er lsst auf der einen Seite die Natur als berzeitliche bestehen und fhrt auf der andern weiterhin auf eine jenseitige Dimension hinaus, eine Verwirklichung des Menschen nicht nur in der Geschichte, sondern ber die Geschichte hinaus. Der Mensch bleibt fr ihn ein „Mittelring zwischen zwei in einander greifenden Systemen der Schçpfung“ (Ideen, 6.342). Geschichtsphilosophie und Sprachphilosophie bedrngen die Anthropologie. Aber der Mensch darf nicht zu einem Sisyphos werden – das kçnnte Gott, der nicht nur die Natur geschaffen hat, sondern auch ber die Geschichte richtet, nicht zulassen. Herder glaubt noch an eine bei aller Dynamik geordnete Natur. Auch wenn er nicht mehr von einer festen Menschennatur spricht, bleibt er bei der vorevolutionren Vorstellung von bleibenden Gattungen in der Natur (vgl. Ideen, 6.278); auch wenn er psychologisch typisiert, sind die Typen bestndig. Die „Charaktere“ der sopischen Fabeln gelten ihm als „lebendig-fortwhrende ewige Typen“ (Adrastea II, 10.236). Im Typus hlt Herder in jeder Spezies, auch der menschlichen, ein ideales Wesen in allen zeitlichen Variationen fest. „Warum“, fragt Herder, „sonderte die schaffende Mutter Gattungen ab? Zu keinem andern Zweck, als daß sie den Typus ihrer Bildung desto vollkommener machen und erhalten kçnnte.“ (Ideen, 6.278) Er weiß auch, „weder ein Centaur also, noch ein Satyr, weder die Scylla noch die Meduse kann nach den innern Gesetzen der schaffenden Natur und des genetischen wesentlichen Typus jeder Gattung sich erzeugen.“ (Ideen, 6.279) Typen sind fr Herder die Produkte einer teleologisch geordneten Natur, die keinem kulturellen Fortschritt unterliegen. So steht hinter der geschichtlichen Aktualisierung des Menschen wieder ein fester Typus, der die Mçglichkeit seiner Selbstbestimmung zwar nicht ausschließt, aber eingrenzt: In jener Periode, da sich Alles bildete, hat die Natur den Menschen-Typus so vielfach ausgebildet, als ihre Werkstatt es erforderte und zuließ. Nicht verschiedene Keime, (ein leeres und der Menschenbildung widersprechendes Wort,) aber verschiedne Krfte hat sie in verschiedner Proportion ausgebildet, so viel deren in ihrem Typus lagen und die verschiednen Klimate der Erde ausbilden konnten. (Briefe, 7.699)
2.5.2 Nietzsche: Die berwindung der Anthropologie zugunsten der Typologie Herders Typologie bezeichnet die Grenze seiner Verflssigung der Anthropologie. Denkt man jedoch die Dynamisierung der Menschennatur konsequent weiter, wird die philosophische Anthropologie als solche problematisch. Fr Nietzsche wird in WL das Interesse an der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch nachrangig, und um so mehr treten in vielfltigem Sprachgebrauch vielfltige Menschentypen hervor. Seine Sprachkritik erçffnet eine kulturelle
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Typologie anstelle der Anthropologie. Die einzige anthropologische Konstante ist nun die Typisierbarkeit des Menschen selbst, seine Fhigkeit, unterschiedliche Sprachspiele zu spielen und damit unterschiedliche Typen bilden. Man kann daher bei Nietzsche von einer Umwandlung der philosophischen Anthropologie in eine kulturelle oder historische sprechen.95 Obwohl Nietzsche den intuitiven und den rationalen Menschen in WL nicht explizit als ,Typen‘ benennt, gehçren sie zu der langen Galerie von Idealtypen, die er im Verlauf seines Werkes entwirft. Seine Art der Typisierung ist der Herders noch nahe, wo er noch im Bann Schopenhauers steht: Das sind jene wahrhaften Menschen, jene Ni c h t - m e h r - T h i e r e , d i e P h i l o s o p h e n , K n s t l e r u n d He i l i g e n ; bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung, denn sie fhlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nmlich, wo sie begreift, dass sie verlernen msse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe. (UB III, S. 380)
Selbst wenn es nur verschiedene Kommunikationsmittel sind, die Philosophen, Knstler und Heilige unterscheiden, ist die Vorstellung einer Negation der Tierheit im Menschen durch diese Typen etwas Metaphysisches. Mit Schopenhauer sieht Nietzsche den ,natrlichen‘ Charakter des Menschen darin, „sinnlos zu leiden“; er kann dann nur frei werden, wenn er „mit mehr Bewusstsein“ will, „was das Thier im blinden Drange sucht“ (UB III, S. 378). Aber dabei bilden sich doch vielfltige kulturelle Typen aus. Die ganze philosophische Tradition wird fr Nietzsche schon frh zu einer Geschichte von Typen; in GT stellt er mit großem Nachdruck neben den dionysischen und den apollinischen Knstler den „Typus des theoretischen Menschen“, Sokrates (GT 15). Auch sein traditioneller Gegner, der Sophist, ist ein Typus, der „Typus des Gelehrten“ (N 1870/71, KSA 7, 7[42]), ebenso etwa Stoiker (vgl. N 1880, KSA 9, 7[275]). Es beweist die Beweglichkeit dieser Typisierung, dass der Typus des Stoikers in einem Typus wie Napoleon wieder auf- und weiterleben kann. Fr den spteren Nietzsche stellen die Skeptiker „den einzigen ehrenwerthen Typus unter dem so zwei- bis fnfdeutigen Volk der Philosophen“ dar (EH, Warum ich so klug bin 95 hnliches geschah, wie Gerd Schank, „Rasse“ und „Zchtung“ bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 44), Berlin / New York 2000, S. 261 f., gezeigt hat, mit dem Rassendiskurs. Mit seiner an Idealtypen orientierten Anthropologie kann Nietzsche, der explizit von Gehlen als Vorlufer seiner eigenen philosophischen Anthropologie reklamiert wurde (s.u.), auch als Vorlufer jener philosophischen Anthropologie betrachtet werden, die Bernhard Groethuysen im Sinne Diltheys zu entwickeln versucht hat. Groethuysen macht die physiologischen Bedingungen des menschlichen Daseins und Ergebnisse der Naturwissenschaften fr eine historische und psychologische Typologie fruchtbar. Fr die Rede von Idealtypen in den Geisteswissenschaften bleibt natrlich das Werk von Max Weber maßgeblich. Vgl. Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, S. 88 – 91.
2.5. „Der Mensch schon als Tier“: Ursprung der Sprache als Ursprung des Menschen
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3). Mit dem Umreißen von Typen sucht er eine Alternative zur traditionell verallgemeinernden Form des Philosophierens ber den Menschen. Er schtzt dies auch bei anderen Autoren, etwa dem von ihm hoch geschtzten Thukydides: „Er hat die umfnglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunf t gehçrt“ (M 168). Er stilisiert historische Figuren zu Typen, neben Sokrates, Caesar (GD, Streifzge 38) und Jesus, „den psychologischen Typus des Erlçsers“ (AC 29), vor allem Napoleon, „ein vollkommen zu Ende gedachter und ausgearbeiteter Typus Eines Triebes“ (M 245), auch auch generelle soziale Figuren wie „Bildungsphilister“ (UB III, S. 164), „Heilige“ (MA I 334), Freunde (MA I 368). Berhmt geworden ist auch der „Verbrecher-Typus“, nmlich „der Typus des starken Menschen unter ungnstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch.“ (GD, Streifzge 45) Auch die Geschlechter typisiert Nietzsche: „Das vollkommene Weib ist ein hçherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres“, wie man gerade von der „Naturwissenschaft der Thiere“ (MA I 377) lernen kçnne. Usw., usw. In Bezug auf die nachsokratische Philosophie trifft der frhe Nietzsche eine wichtige Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Typisierung, nmlich zwischen Typus und Karikatur: Auch als Mensch vermischt Plato die Zge des kçniglich abgeschlossenen und allgenugsamen Heraklit, des melancholisch mitleidsvollen und legislatorischen Pythagoras und des seelenkundigen Dialektikers Sokrates. Alle spteren Philosophen sind solche Mischcharaktere; wo etwas Einseitiges an ihnen hervortritt, wie bei den Cynikern, ist es nicht Typus, sondern Carikatur. (PHG, KSA 1, S. 809)
Eine Karikatur ist die Deformation eines Typus durch Verschrfung eines Zuges oder mehrerer Zge; das einheitliche Bild, die Harmonie geht verloren. Bei Platon vermutet Nietzsche dabei Sokrates‘ Einfluss: „Es ist keine mssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen noch hçheren Typus des philosophischen Menschen gefunden htte, der uns auf immer verloren ist.“ (MA I 261) Derartige Typen sind offenkundig nicht zeitlos, sondern entstehen und wandeln sich im Verlauf kultureller Prozesse. Ob nun neue Typen entstehen, hngt von einer komplexen Interaktion zwischen ,schwachen‘ und ,starken Naturen‘ ab, die fr Nietzsche ebenfalls keine rein biologischen Begriffe sind, sondern ihre Bedeutung im Leben der Gesellschaft haben: „Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwchung vorhergehen. Die strksten Naturen halten den Typus f e s t , die schwcheren helfen ihn f o r t b i l d e n .“ (MA I 224) Auch die Erhçhung des Typus ,Mensch‘ berhaupt, von der Nietzsche allenthalben spricht, ist nicht vorab generell festgelegt. Die Typologie soll gerade die spontane und vielfach differenzierte Selbstgestaltung der Menschen offenhalten und im Gegensatz zu anthropologischen Definitionen der Menschennatur durch Begriffe anregen, die
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
eigene Selbstgestaltung auf eine weniger verallgemeinerte und konventionalisierte Weise durchzufhren, eine feinere, individuellere, differenziertere Selbstbestimmung zu realisieren.96
2.6. Das Mngelwesen, das noch nicht festgestellte Tier und die Moral Wenn der Mensch als Wesen, das sich durch Sprache bestimmt, nicht zeitlos definiert werden kann, entzieht das auch normativen Diskursen in der Moralphilosophie den Boden. Herders Besonnenheit betont den Wert moralischer Haltungen, begrndet aber keine Moral. Der religiçse Glaube bietet ihm hinreichende moralische Orientierung. Eine Letztbegrndung der Moral aus einer Anthropologie wrde Herders Idee einer „negativen Philosophie“ sowie seiner skeptischen Sprachkritik widersprechen. Sein Ansatz bei der sogenannten natrlichen Mngelwesenheit des Menschen ließe sie gar nicht zu.97 Herder geht beim Beginn der Entwicklung des Menschen als sprachlichem Kulturwesen gar nicht von positiven Charakteren aus: Das neugeborene Kind […] ußert weder Vorstellungen noch Triebe durch Tçne, wie doch jedes Tier in seiner Art; bloß unter Tiere gestellet, ists also das verwaisetste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und drftig, schchtern und unbewaffnet: und was die Summe seines Elendes ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt. – Mit einer so zerstreuten geschwchten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fhigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedrfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt – und doch so verwaiset und verlassen, daß es selbst nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mngel zu ußern – Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. (Abhandlung, 1.715)
96 Man kçnnte mit Rorty fragen, ob Herders und Nietzsches Typologien ein konstruktives und systematisches Programm zugrundeliegt: „Und wenn wir sagen, es ist unser Wesen, kein Wesen zu haben, so entkommen wir dann nicht dem Platonismus, wenn wir diese Einsicht zur Grundlage eines konstruktiven und systematischen Forschungsprogramms machen, das weitere Wahrheiten ber den Menschen zu ermitteln sucht.“ (Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, aus dem Engl. v. Michael Gebauer, Frankfurt am Main 1981, S. 410). Nicht nur die skeptische Haltung gegenber der Begriffssprache und der Theorie, sondern auch die ,bildende‘ Natur ihres Philosophierens sprechen dagegen. Herder und Nietzsche vermeiden eine Theorie des Menschen, um seiner autonomen und individuellen Selbstgestaltung Raum zu geben. 97 Vgl. zur Mngelwesenheit im allgemeinen Marino, „Vita dell’animale e antropologia in Reimarus e Herder con un corollario sulla questione dell’essere carente“, in: Gian Franco Frigo (Hg.), Bios e Anthropos. Filosofia, Biologia e Antropologia, Milano 2007, insb. S. 71 ff.
2.6. Das Mngelwesen, das noch nicht festgestellte Tier und die Moral
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Wenn die Ur-Mngel ohne ihr kulturelles Supplement gedacht werden, wird die Gte der Schçpfung fraglich. Die Idee einer mtterlichen, auf den Vorteil des Menschen bedachten Natur schließt aus, dass das Mngelwesen schon das wirkliche Wesen des Menschen ist, und zwingt dazu, den Menschen als historisches Wesen zu fassen. Im Kontext von Herders methodologischem, aber noch religiçs fundiertem Naturalismus ist die Mngelwesenheit nur ein hypothetisches Anfangskonstrukt. Statt irgendwelche qualitates occultae vorauszusetzen, geht Herder (und dann auch Nietzsche) von negativen Eigenschaften der menschlichen Natur aus, die sich dann um so mehr kulturell berwinden und gestalten lassen. Die Mngelwesenheit ist ein heuristischer Leitfaden, um die Multiplizierung unnçtiger ontologischer Annahmen zu vermeiden. Der Ansatz bei der Mngelwesenheit entspricht so der Methode ,çkonomischer‘ PrinzipienSparsamkeit (vgl. JGB 13). Es handelt sich nicht wie bei Arnold Gehlen um ontologische Aussagen, der Herder hier nicht ganz zu Recht zu seinem Vorlufer erklrt.98 An erster Stelle beruft sich Gehlen in seinem Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt jedoch auf Nietzsche. In der Einleitung bemerkt er, dass seine Wendung „,das noch nicht festgestellte Tier‘“ „richtig und exakt doppelsinnig“ sei. Erstens gebe es „noch keine Feststellung dessen, was der Mensch eigentlich ist, und zweitens: das Wesen Mensch ist irgendwie ,unfertig‘, nicht ,festgerckt‘. Beide Aussagen sind zutreffend und kçnnen bernommen werden.“99 Nietzsche fhre allerdings nur Herders Ansatz fort, nach dem die philosophische Betrachtung des Menschen keine wesentlichen Fortschritte mehr gemacht habe. Gehlen zitiert wiederholt aus der Abhandlung, um seine Auffassung zu belegen. Der Mangel an sicherer Handlungsleitung durch Instinkte mache den Menschen, so Gehlen mit Herders Worten, „nicht mehr [zu] eine[r] unfehlbare[n] Maschine in den Hnden der Natur“, sondern er werde „sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung.“ (Abhandlung, 1.771) So biete Herder auch „eine hçchst interessante Unterscheidung von Tier und Mensch von verschiedenen Seiten aus“, obwohl seine Auffassung einer „Sphre der Thiere“ nicht durch „den deutlichen Begriff der Organspezialisierung“ entwickelt werden kçnne. In der Abhandlung findet Gehlen gerade seine Ideen zur Relation zwischen Umwelt und Struktur der Empfindung antizipiert.100 Ausgehend von 98 Arnold Gehlen, „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“, in: ArnoldGehlen-Gesamtausgabe, hg. v. Karl Rehberg, Bd. 3.1, Frankfurt am Main 1993, und dazu Verf., „Vom Nutzen und Nachteil der Feststellung des unfestgestellten Tieres durch die Kultur. Nietzsche zwischen Herder und Gehlen“, in: Andreas Urs Sommer (Hg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin / New York 2008, S. 113 – 124. 99 Gehlen, „Der Mensch“, S. 4. 100 Wenn die Kultur nach Gehlen ein „anthropo-biologischer Begriff“ ist und „der Mensch von Natur ein Kulturwesen“, so ist Herder der, der „das geleistet [hat], was jede philosophische Anthropologie, auch die, welche einen theologischen Begriff des Menschen
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Herders Begriff des Wirkungskreises schließt er, Herder definiere „den Menschen als Mngelwesen“,101 obwohl Herder betont, dass der Mensch gerade nicht ein Mngelwesen sein kann; das Wort ,Mngelwesen‘ kommt bei Herder tatschlich nicht vor. Herder wird hier klar missdeutet.102 Gehlen verschweigt zugunsten der Kohrenz seiner Interpretation schlicht, was in der Abhandlung folgt: „Lcken und Mngel kçnnen doch nicht der Charakter seiner Gattung sein: oder die Natur war gegen ihn die hrteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die liebreichste Mutter war.“ (Abhandlung, 1.715) Herder betrachtet den Menschen nur so, als ob er ein Mngelwesen wre, ohne etwas darber auszusagen, was der Mensch tatschlich ist. 103 Er vermeidet gerade die Gehlensche ontologische Festlegung. Die zivilisatorische Kompensation als bio-ontologischen Prozess zu verstehen, rechtfertigt fr Gehlen eine Zucht des Menschen, die von individuellen Unterschieden absieht und anerkennt, so Gehlen in Moral und Hypermoral, dass „sich von den Institutionen konsumieren zu lassen […] einen Weg zur Wrde fr jedermann frei gibt.“104 Fr Herder dagegen bedeutet, den Ursprung der Sprache und Kultur mit der Mngelwesenheit des Menschen zu verbinden, bei ihm eine schçpferische Haltung jedes Individuums vorauszusetzen. Die Institutionalisierung der Sprache, die bersetzung der ersten Metaphern in abstrakte, unpersçnliche Begriffe, stellt keine absoluten Werte dar, vielmehr einen unvermeidlichen Verlust an Sensibilitt und kreativem Schwung. Die Kultur wird hier nicht als einfacher biologischer, berhistorischer Ersatz gesehen, sie bildet sich nicht nur aus ,organischen Krften‘, sondern auch aus ,Tradition‘, und diese Tradition soll die Philosophie der Geschichte verfolgen, um die
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voraussetzt, zu leisten verpflichtet ist: die Intelligenz des Menschen im Zusammenhang seiner biologischen Situation, seiner Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bedrfnisstruktur zu sehen, d. h. die gnzliche Bestimmung seiner denkenden Krfte im Verhltnis seiner Sinnlichkeit und Triebe.“ (Gehlen, „Der Mensch.“, S. 84) Die von Gehlen zitierten Stellen finden sich in Abhandlung 1.718. Gehlen, „Der Mensch“, S. 91. Von einer „Strapazierung des Herderschen Begriffs vom Mangelwesen“ bei Gehlen spricht auch Helmuth Plessner im Vorwort zur zweiten Auflagen von: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin / New York 1975, S. XIV. Vgl. dazu Wolfgang Pross, „Nachwort“, in: J.G Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Wien 2002, S. 1038 ff. Zur Differenz zwischen Gehlen und Herder s. auch Heiko Joosten, Selbst, Substanz und Subjekt. Die ethische und politische Relevanz der personalen Identitt bei Descartes, Herder und Hegel, Wrzburg 2005, S. 96. Einige Jahre nach Der Mensch wird auch Gehlen die heuristischen, regulativen Zge des Mngelwesens akzeptieren. 1969 stellt er heraus, dass der Begriff „Mngelwesen keine strenge wissenschaftliche Bezeichnung sein soll, […] nur eine Denkhilfe fr sehr komplexe Zusammenhnge.“ (Brief an Tomeslav Volek am 24. 7. 1969, zitiert von K. Rehberg im seinem Nachwort zu „Der Mensch“, in: Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, hg. von K. Rehberg, Bd. 3.2, Frankfurt am Main 1993, S. 765. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, Wiesbaden 51986, S. 75.
2.6. Das Mngelwesen, das noch nicht festgestellte Tier und die Moral
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„goldene Kette der Bildung“ (Ideen, S. 344) nachzuverfolgen und ein darin verwurzeltes Menschenideal als Sinn jeder zuknftigen Erziehung plausibel zu machen. Herders Interpretation der menschlichen Mangelnatur ist als pdagogischer Entwurf zu verstehen, der sich niemals vollstndig umsetzen lsst, weil er ein offener Prozess bleibt. Auch Gehlens Bezug auf Nietzsche offenbart eine Sehnsucht nach einer metaphysischen Begrndung der Moral, die seinem empiristischen anthropologischen Programm widerspricht. Er beschrnkt die Nicht-Festgestelltheit des Menschen auf den Begriff der Mngelwesenheit, so dass sie auch hier als moralische, wiederum auf die Begriffe von Zucht und Zchtung gerichtete Wertung fungiert. Doch wenn solche ontologischen und berhistorischen Bestimmungen des Wesens des Menschen schon an Herder vorbeigehen, entfernen sie ihn noch weiter von Nietzsche, der sich klar gegen ein nicht-historisches Philosophieren ber den Menschen ausgesprochen hat. Das historische Philosophieren, „welches gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist“ (MA I 1), hat eine Anthropologie zur Folge, die jede berzeitliche Hypostasierung bestimmter menschlichen Eigenschaften und ihre Subsumtion unter einen allgemeinen Begriff einer menschlicher Natur vermeidet. Entgegen der metaphysischen Philosophie zeigt so die historische gerade, dass der Mensch ein immer nur vorbergehendes Resultat eines fortlaufenden Prozesses sein kann. Auch Gehlen macht, was Nietzsche in MA I 2 den „Erbfehler der Phi losophen“ genannt hat: Der „Mangel an historischem Sinn“ der metaphysischen Philosophie in Verbindung mit ihrer Einsicht, dass „alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen ist“, bringt ihn dazu, den Menschen „als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maas der Dinge“ zu betrachten. Er geht also nicht davon aus, dass es „keine ewigen Thatsachen“ und „keine absoluten Wahrheiten giebt.“ (MA I 2)105 105 Herbert Schndelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt am Main 1983, S. 278, hat darauf hingewiesen, dass Nietzsches bermensch in der spteren philosophischen Anthropologie „unter dem Einfluß empirischer humanbiologischer Untersuchungen in das Theorem vom Menschen als ,Mngelwesen‘ umgedeutet“ wird. Seine eigene Einschtzung von Nietzsches Anthropologie verbindet er jedoch mit einer metaphysisch verstandenen Wiederkunftslehre, was nicht nur auf Basis des oben zitierten Aphorismus von MA, sondern schon in Bezug auf den heuristischen Charakter des gesamten Projekts der Vernatrlichung fr unsere Interpretation nicht plausibel ist. Auch im Blick auf das Thema der Verantwortung, zeigt sich nach Werner Stegmaier, Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit, in: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 69 – 95, eine deutliche Distanz zwischen Nietzsche und Gehlen: „Nietzsche will mehr als Gehlens Anthropologie, er will nicht nur das Bewusstsein entlastet sehen, um es in seiner Weltoffenheit lebensfhig zu halten, sondern ,einen hçheren Leib sich bilden lassen‘ (VII 24[16]), ein ,souvernes Individuum‘, dem sich das ,stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Ve r a n t w o r t l i c h k e i t […] bis in seine unterste Tiefe hin-
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Weil Nietzsche, anders als Herder, die konstitutive Unsicherheit des Menschseins nicht durch einen theologischen Sinnhorizont auffngt, bleibt er sensibler fr den ambivalenten Status des noch-nicht-festgestellten Tiers. Er anerkennt die unvermeidliche kmpferische Auseinandersetzung mit anderen Lebensformen, die die noch-nicht-festgestellte Natur des Menschen mit sich bringt, als tragisch, nach dem „Grundsatz: das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefhrliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Thier.“ (N 1884, KSA 11, 25 [428]) Die Nicht-Festgestelltheit ist, so Nietzsche in GM, lebensgefhrlich: Denn der Mensch ist krnker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist d a s kranke Thier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle brigen Thiere zusammen genommen: er, der grosse Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesttigte, der um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Gçttern ringt, – er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zuknftige, der vor seiner eignen drngenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart whlt: – wie sollte ein solches muthiges und reiches Thier nicht auch das am meisten gefhrdete, das am Lngsten und Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren sein? … (GM III 13)
Was den Vorrang des Menschen in der Natur ermçglicht, seine Entspezialisierung, lsst ihn zugleich erkranken: er wird „das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefhrlichsten abgeirrte.“ (AC 14) Die Fragilitt des Menschen, seine konstitutionelle biologische Krankheit, ist Bedingung seiner immer neuen Selbstschçpfung; in den meisten Fllen, so Nietzsche, bleibt sie unproduktiv: Es giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen berschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden; die gelungenen Flle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e T h i e r ist, die sprliche Ausnahme. (JGB 62)
Die konstitutive Krankheit des Menschen als des noch nicht festgestellten Tiers erçffnet Spielrume fr eine individuelle Selbstbestimmung, die jedoch selten gelingt. Das Krankwerden und Missraten ist dennoch kein rein biologisches abgesenkt‘ hat (GM II 2)“ (S. 88). Auch Pavel Kouba, „Die Vernunft als moralisches Phnomen“, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 20 – 29, unterstreicht die Distanz zwischen der idealen Vorstellung einer moralischen Entlastung des Individuums durch die Institutionen bei Gehlen und dem neuen Ruf Nietzsches nach der Verantwortung des Einzelnen. Er zeigt, dass Nietzsches Immoralismus eine „differenziertere Verantwortung“, eine „Verantwortung vor dem Leben“ ist. Seine „Optik des Lebens“ erlaube nicht, „sich unwiderruflich an eine Perspektive zu binden, sie erzwingt sich immer wieder die Bercksichtigung der Spannung, die von der Perspektive in die konkrete Situation eingebracht wird.“ (S. 25)
2.6. Das Mngelwesen, das noch nicht festgestellte Tier und die Moral
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Phnomen, sondern wird als solches erst unter kulturellen Erwartungen einer idealen Verwirklichung des menschlichen Lebens relevant. Die Oppositionen ,krank‘ bzw. ,noch-nicht-festgestellt‘ vs. ,gesund‘ bzw. ,auf gelungene Weise festgestellt‘ entsprechen nicht einfach der Opposition von ,schlecht‘ und ,gut‘.106 Krank ist das noch-nicht-festgestellte Tier nur vom Standpunkt des rein biologischen Lebens aus, das sich erhalten und fortpflanzen will – doch das lsst sich so allgemeinen wiederum gar nicht feststellen –; vom Standpunkt des kreativen Lebens, der fr Nietzsche der maßgebliche ist, kann die konstitutive Krankheit, der Mangel an Bestimmung des Menschen, und kçnnen auch konkrete physiologische Krankheiten gerade Chance und Anreiz fr schçpferische Arbeit sein. Die konstitutive Krankheit des Tiers Mensch kann zu einer existentiellen und damit zur Beschrnkung der kreativen und individuellen Selbstbestimmung werden – eben wenn der Mensch sein Wesen hypostasiert. Wenn der Mangel an Festgestelltheit den Menschen bestimmt, scheint der Mensch seine Wesenhaftigkeit nur dadurch realisieren zu kçnnen, dass er weiterhin jede allgemeine Bestimmung seines Wesens negiert. Jede feste moralische Normierung, die mit einer Feststellung des Wesens des Menschen einhergeht, widerspricht dann der natrlichen Unbestimmtheit und Instabilitt des Menschen. So ignoriert der Mensch, wenn er seine Natur zugunsten der Begrndung einer Moral bestimmt, die eigene spezifische Unterscheidung vom Tier. Sagt er: ,Als Mensch soll ich das und das tun‘, und bergeht dabei, dass er ,Mensch‘ anders definieren und so auch ein anderes Sollen begrnden kçnnte, besttigt er seine Bestialitt eben dadurch, dass er sie (scheinbar) berwindet. Er gewinnt dadurch die Lebensfestigkeit eines Tieres – selbst wenn er als moralischer Tter keines ist. Insofern erscheinen ethische Fragen nach festen moralischen Bindungen riskant und nihilistisch;107 denn sie verunsichern moralische Selbstverstndlichkeiten, die der Mensch unter dem Zeitdruck des Lebens bençtigt. Die moralische Stabilisierung nimmt eine Abblendung der ethischen, feste moralische Bindungen reflektierenden Sensibilitt in Kauf, so dass der Kompromiss zugunsten der Moral das ethische „noch nicht“ in ein unpersçnliches, von einer Gemeinschaft geteiltes „schon“ verwandelt. Die Moral stabilisiert Menschen in einer Gemeinschaft „durch Ausbildung aller der Tugenden, vermçge deren eine Heerde gedeiht, und durch Zurckdrngung jener andren und entgegengesetzten, welche einer neuen hçheren strkeren h e r r s c h a f t l i c h e n Art den 106 Zum problematischen Charakter der Feststellung des Tieres ,Mensch‘ bei Nietzsche vgl. Van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik: Studie zu „Jenseits von Gut und Bçse“, Bonn 1989, S. 77 f. 107 Vgl. zur Differenz ethisch-moralisch Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin / New York 2008, S. 591 – 604, der darin seinerseits an Nietzsche, Luhmann, Levinas und Derrida anschließt.
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Ursprung geben.“ Moralische Normen orientieren den Menschen dadurch, dass sie „das Heerdenthier im Menschen entwickeln und vielleicht das Thier ,Mensch‘ damit feststellen“ (N 1885/86, KSA 12, 2[13]). Die Entwicklung der Moral bringt so eine progressive Nivellierung mit sich; denn um allgemeine moralische Gesetze zu begrnden, muss man auf eine universelle, von individuellen Unterschieden absehende Natur des Menschen verweisen. Die Demokratisierung Europas fhrt in diesem Sinn nach Nietzsche konsequent zu einer Art „Verthierung“, einer „Verthierung des Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprche“ (JGB 203). Die Angleichung und Demokratisierung des Individuums zeitigt freilich politische Gefahren, sofern sie tendenziell geistig verarmte Menschen schafft, „die des Herrn, des Befehlenden bedrfen wie des tglichen Brod“ (JGB 242). So entsteht eine gefhrliche Dialektik: „die Demokratisierung Europas ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Zchtung von Tyrannen – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.“ (JGB 242) Wie schon die ,Wahrheit‘ der Begriffe in WL so ist danach auch die Moral eine ,Lge‘, jedoch „eine „Nothlge“, ohne welche „der Mensch Thier geblieben“ (MA I 40) wre. Wie der Intellekt, der die Komplexitt der Welt mittels Begriffen reduziert, fllt damit auch die Selbstregulierung der Triebe unter die Moral: in beiden Fllen geht es um eine hierarchische Subsumtion einer Pluralitt unter ein einzelnes Element. Das macht aus dem Menschen im rein biologischen Sinn zwar ein ,gesnderes‘, d. h. stabileres Tier. Doch die Notlge der Moral muss nun ebenfalls ,im außermoralischen Sinne‘ verstanden werden, als bloße Perspektive einer Gruppe, die daran Interesse hat. So gesehen, wird der Mensch durch die Notlge der Moral zunchst nur ein „Ueber-Thier“ (MA I 40), ein moralisch stabilisiertes Tier, sofern eben Moralen „Ausdruck lokal beschrnkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe [sind]: so daß an ihren Widersprchen der Mensch nicht zu Grunde geht.“ (N 1884, KSA 11, 27[59])108 Die ,Lge‘ ist als ,Notlge‘ jedoch keine bewusste Lge eines freien Subjekts; denn zum freien Subjekt wird der Mensch ebenfalls erst in der Sprache
108 Vgl. auch N 1880, KSA 9, 6[158], wo Nietzsche das Risiko der Verallgemeinerung des Individuums deutlich reflektiert: „Sobald wir den Zweck des Menschen bestimmen wollen, stellen wir einen Begriff vom Menschen voran. Aber es giebt nur Individuen, aus den bisher bekannten kann der Begriff nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle abstreift, – also den Zweck des Menschen aufstellen hieße die Individuen in ihrem Individuellwerden verhindern und sie heißen, allgemein zu werden. Sollte nicht umgekehrt jedes Individuum der Versuch sein, e i n e h ç h e r e G a t t u n g a l s d e n Me n s c h e n z u e r r e i c h e n , vermçge seiner individuellsten Dinge? Meine Moral wre die, dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu n e h m e n und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverstndlicher fr die Anderen zu machen (und damit zum Gegenstand der Erlebnisse, des Staunens, der Belehrung fr sie)“.
2.6. Das Mngelwesen, das noch nicht festgestellte Tier und die Moral
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der Moral, die dem ,Tier Mensch‘ mittels des Begriffs ,Gewissen‘ eine ,einfache‘ Seele zulegt und damit das komplexe Spiel der Instinkte reduziert: Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, knstliches und undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft als durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als e i n f a c h zu geniessen; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Flschung, vermçge deren berhaupt ein Genuss im Anblick der Seele mçglich wird. (JGB 291)
Danach kçnnte man den ,bermenschen‘ als ,ber-ber-Tier‘ und damit so verstehen, dass mit dieser Formel das Individuum gezielt an seinen konstitutive Nicht-Festgestelltheit erinnert werden soll – wenn immer es sich in der Sicherheit wiegt, sich ,gut‘ und definitiv bestimmt zu haben. Der hypothetische Naturzustand des Menschen, als Zustand der Nicht-Festgestelltheit, bleibt dabei weiterhin der Erfahrung unzugnglich. Er ist, wie der ,bermensch‘ auf der andern Seite, lediglich Fluchtpunkt einer Genealogie, die der nicht festgestellte Mensch entwirft, wenn immer ihm der Sinn seiner Kultur fragwrdig wird. Eine Notlge zugunsten der ambivalenten Feststellung des Menschen bietet auch die Religion. Sie hat nach Nietzsche eine noch gefhrlichere Rolle gespielt. Die durch sie in die abendlndische Kultur eingebrachte moralische Wertsetzung hat die Krankheit des Menschen als etwas Gottgewolltes dargestellt und sie zum Wesen des Menschen fixiert. Damit hat sie ihn jedem autonomen Versuch der Selbstgestaltung entzogen: Das Christenthum war bisher die verhngnissvollste Art von Selbst-berhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um a m Me n s c h e n als Knstler gestalten zu drfen; Menschen, nicht stark und fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbst-Bezwingung, das Vordergrund-Gesetz des tausendfltigen Missrathens und Zugrundegehns walten zu l a s s e n ; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgrndlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen: – s o l c h e Menschen haben, mit ihrem „Gleich vor Gott“, bisher ber dem Schicksale Europa’s gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lcherliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Krnkliches und Mittelmssiges, herangezchtet ist, der heutige Europer… (JGB 62)
Zuvor weist Nietzsche auf die Mçglichkeit hin, dass zuknftige Philosophen die Religion als Erziehungsinstrument benutzen, nun jedoch mit neuen Zielen und auf differenziertere Weise. „[D]en starken, Unabhngigen zum Befehlen Vorbereiteten und Vorbestimmten“ kçnnen sie Religion als eine zustzliche Strategie lehren, um Widerstnde zu berwinden, um herrschen zu kçnnen: als ein Band, das Herrscher und Unterthanen gemeinsam bindet und die Gewissen der Letzteren, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das sich gerne dem Gehorsam entziehen mçchte, den Ersteren verrth und berantwortet. (JGB 61)
Fr „die langsam heraufkommenden Klassen und Stnde“ bietet sich die Religion als eine „Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und
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2. Vernatrlichung und Sprachlichkeit
Befehlen vorzubereiten“; die große Masse des Volkes soll sie hingegen einfach glcklich und zufrieden machen: Den gewçhnlichen Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen und zum allgemeinen Nutzen da sind und nur insofern dasein d r f e n , giebt die Religion eine unschtzbare Gengsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams, ein Glck und Leid mehr mit IhresGleichen und Etwas von Verklrung und Verschçnerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. (JGB 61)
Nietzsche greift die Leugnung der typologischen Hierarchie an, die folgt, wenn man alle Menschen als gleich vor Gott anerkennt. Gerade die christliche Religion nivelliert die Menschen zu einem einzigen Typus, den Leidenden. Dass Religionen „zu viel“ von dem erhalten, „was zu Grunde gehn sollte“ (JGB 62), darf hier nicht als Kritik jeder religiçs inspirierten humanitren Politik missverstanden werden. Wenn Nietzsche sagt „zu viel“, geht es ihm um Versteifungen von moralischen Kodices, nicht um humanitre Maßstbe berhaupt. Er verurteilt nicht, schwachen und kranken Leuten zu helfen, sondern das onto-theologische Bestreben, die Schwachheit und Krankheit des Menschen als seine wesentlichen Charakterzge anzusehen. Wir fassen zusammen: Nietzsche deckt exemplarisch die moralkritische Relevanz eines Philosophierens auf, das die Mçglichkeit einer philosophischen Anthropologie in Frage stellt. Macht man sich bewusst, unter welchen Hypostasierungen menschlicher Eigenschaften sich Moralsysteme rechtfertigen, erkennt man sie als ,Notlgen‘ und kann dann auch andere Moralen ins Auge fassen. Herder wie Nietzsche betrachten die anthropologischen Mngel nicht (wie spter Gehlen) als Tatsachen, sondern gehen lediglich heuristisch von ihnen aus, um dadurch ihre Kultur- und Moralkritik und mit ihr neue praktische Haltungen plausibel zu machen. Beide begrnden Moral nicht in einer biologistischen, ,natrlichen‘ ,Mngelwesenheit‘ des Menschen. Herder entwickelt den Ursprung der Sprache und Kultur aus der natrlichen Unspezialisiertheit des menschlichen Wesens, doch ohne nun aus der Spezialisierung ein hçchstes Ideal der Kultur zu machen. Nietzsche bestimmt den Menschen als ,noch nicht festgestelltes Tier‘, nachdem er mit seiner (und Herders) metaphorologischen Sprachkritik aller Anthropologie den Boden entzogen hat, um den Menschen nun gerade in seiner krankhaften Nicht-Festgestelltheit auf die Notwendigkeit seiner Selbstschçpfung zu verweisen. Der Mensch muss sich selbst berwinden und hat dabei nur die Alternative, nach dem ,bermenschen‘ zu streben, d. h. sich immer neue Selbstberwindungen offenzuhalten, oder ein ,krankes Tier‘ zu bleiben.
3. Entidealisierung der Geschichte Lsst man die Sprache aus der Natur entspringen, wird der Begriffsdiskurs und die objektive Realitt, die er widerspiegeln soll, fragwrdig. Lsst man die Sprache metaphorisch arbeiten, so ist es nicht sinnvoll, ihr eine objektive Realitt zu unterstellen. Reflektieren dann eventuell andere Diskurse die natrlichen, menschlichen Lebensbedrfnisse besser, wie etwa der geschichtliche? Die Historie schafft ihre Realitt, wie andere Diskurse, durch Selektion. Auch sie vergisst, anders als sie gewçhnlich glaubt. Wenn sich der Historiker Subjekte, Ereignisse und Epochen vor Augen fhrt, muss er andere beiseitelassen, er unterbricht das zeitliche Kontinuum, isoliert – und vergisst, dass er vergisst. Nietzsche fragt nach diesem Vergessen und wozu es – ber die Historie hinaus – lebensnotwendig ist. Das naturalistische und metaphorische Verstndnis der Sprache macht auch die Unterscheidung zwischen Geschichte als Geschehen und als Geschichtsschreibung, also zwischen dem Performativen und dem Narrativen, problematisch. So wenig man bei den Ereignissen res gestae und historia rerum gestarum1 unterscheiden kann, ist auch zwischen Letzterem, dem Diskurs der Geschichte, und dem Diskurs ber die Geschichtsschreibung nicht wirklich zu unterscheiden. Und das gilt ebenfalls fr die Unterscheidung von Geschichtswissenschaft (Historie) und Geschichtsphilosophie, an der Jacob Burckhardt, den Nietzsche so hoch schtze, noch festhalten wollte: nach ihm war Geschichtsphilosophie „ein Centaur, eine contradictio in adjecto; denn Geschichte, d. h. das Koordinieren, ist nicht Philosophie und Philosophie, d. h. Subordinieren, ist Nichtgeschichte.“2 Diese Trennung zwischen Geschichtsphilosophie und Historie gilt 1
2
Die Unterscheidung ist hingegen bei Hegel noch maßgeblich. Vgl. Georg W. F. Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, Hamburg 1955, S. 164 – 167. Fr die Unterscheidung Geschichte-Historie und die Geschichte dieser Unterscheidung vgl. den Artikel „Geschichte, Historie“ von Reinhart Koselleck, in: Reinhart Koselleck / Werner Conze / Otto Brunner (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexicon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 593 – 717. Nach Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (1972), bers. v. Peter Kohlhaas, Franfurt am Main 2008, der sich auf die narrative Struktur der historischen Diskurse konzentriert, ist die Unterscheidung zwischen geschichtsphilosophischen und historischen Erzhlungen nebenschlich. Er interpretiert Autoren wie Voltaire, Herder, Hegel, Michelet, Ranke, Tocqueville, Burckhardt, Marx, Nietzsche und Croce nach denselben Kategorien. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Mnchen 1978, S. 2. Jedoch ist man nach Burckhardt auch „dem Centauren den hçchsten Dank schuldig und begrßt ihn
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3. Entidealisierung der Geschichte
jedoch insofern nicht, als ja beide auswhlen und interpretieren mssen. Schon Herder pldiert fr eine Verschmelzung von Geschichte und Philosophie um einer hçheren, bildenden Wirkung willen: „wenn die Philosophie von der Geschichte gefhrt, und die Geschichte durch Philosophie belebt wird: so wird sie doppelt unterhaltend und ntzlich.“ (Von der Vernderung des Geschmacks, 1.159) Beide Diskurse bleiben fr ihn prinzipiell unterschiedlich, kçnnen aber verbunden werden. Nietzsche kritisiert „jenen Historismus“, „der die Geschichte als Einheit des Werdens und sinnvollen Ausdruck der Vorsehung begreift“ und damit „nicht nur die Positionen Rankes und der ,Preußischen Schule‘, sondern auch die Vorstellungen Herders“.3 Auch bei ihm, der keine Geschichtsphilosophie im Sinne Herders mehr schreiben will, sind jedoch Zge eines geschichtsphilosophischen Diskurses zu erkennen. Denn er konstruiert Kulturepochen, beschreibt Kontinuitten und Brche in der historischen Kulturentwicklung, entscheidet ber den Wert bestimmter Kulturen und benutzt auf eine sehr persçnliche Weise die Kategorie ,Fortschritt‘. Den historischen Sinn, als dessen „Entdecker“ Herder gilt,4 woran auch Gadamer erinnert, interpretiert
3
4
gerne hie und da an einem Waldesrand der geschichtlichen Studien. Welches auch sein Princip gewesen, er hat einzelne mchtige Ausblicke durch den Wald gehauen und Salz in die Geschichte gebracht.“ (S. 4) Burckhardts Auffassung der Geschichtsphilosophie entsprach noch einem aufklrerischen Modell, von dem sich Herder schon teilweise distanziert hatte: „Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten.“ (S. 3) Harth, „Kritik der Geschichte im Namen des Lebens. Zur Aktualitt von Herders und Nietzsches geschichtstheoretischen Schriften“, in: Archiv fr Kulturgeschichte 1986 (68), S. 422. Der Autor belegt jedoch das gemeinsame pragmatische Interesse in der Betrachtung der Historie. Andererseits erkennt Hartmuth Schrçter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Mittenwald 1982, insb. Teil II, Kap. 1 und 2, Nietzsches polemisches Ziel vor allem in Hegel und zeigt Kontaktpunkte zu Droysens Auffassung der Geschichte auf. Gemeinsam sei Nietzsche und Droysen die Subjektivierung der angeblichen Objektivitt des historischen Wissens, obwohl „Nietzsches Kritik des Interesses an den Wirkungszusammenhngen […] sich gegen das bei Droysen praktizierte Verfahren, den faktischen Verlauf der Geschichte als Bedingung eines ideellen Fortschritts zu rechfertigen“, richtet (S. 169). Zu Nietzsches Kritik des Historismus vgl. auch Christian Lipperheide, Nietzsches Geschichtsstrategien. Die rhetorische Neuorganisation der Geschichte, Wrzburg 1999, Kap. 1.3, u. Katrin Meyer, sthetik der Historie, Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben“, Wrzburg 1999, insbes. S. 66 – 91. Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main. 1967, S. 157. Fr Herder als Vater des Historismus vgl. die bekannten Arbeiten von Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (1936), Mnchen 1965, Kap. 9, S. 355 – 444, und Rudolph Stadelmann, Der historische Sinn bei Herder, Halle 1928, S. 28. Vor einer zu pauschalen Identifikation von Herders Position mit dem Historismus Rankes, Droysens und Burckhardts warnt Andreas Herz, Dunkler Spiegel – helles Dasein: Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg 1996, S. 164. Fr eine allgemeine Orientierung ber das Problem des Historismus bleibt die Arbeit von Herbert Schnadelbach,
3.1. Das Vergessen und die Formen des historischen Diskurses
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Nietzsche im Rahmen seiner Reflexion der gesamten europischen Kulturgeschichte. Es wird infolgedessen in diesem Teil der Arbeit diskutiert werden mssen, inwiefern Nietzsches Kritik der historischen Erkenntnis auch eine Kritik von Herders Geschichtsphilosophie ist und ob seine Rehabilitierung des historischen Sinns auch als indirekte Aktualisierung Herders verstanden werden kann. Wird von den historischen Diskursen keine absolute, objektive Wahrheit mehr erwartet und rckt ihre narrative und pragmatische Funktion ins Zentrum der Aufmerksamkeit, so wird es legitim, die Kategorien, in denen Nietzsche die historische Narration fasst, auf Herders Betrachtung der Historie anzuwenden und eben die Bedeutung seiner Geschichtsphilosophie fr das Leben zu diskutieren. Beide Geschichtsdiskurse haben nicht nur gemeinsam, dass sie fr die eigene Plausibilisierung eine bestimmte Vorstellung ber die Urversprachlichung brauchen; sie betrachten bestimmte Gebruche des historischen Wissens kritisch und wollen kulturelle Ideale plausibilisieren. Durch ihre unterschiedliche Kritik aufklrerischer Fortschrittsideologien wird das Streben nach guter Humanitt bzw. nach gutem Europertum untersttzt.
3.1. Das Vergessen und die Formen des historischen Diskurses Die im 18. Jahrhundert entstehende Geschichtsphilosophie kann „als eine theoriegeleitete Konzeptualisierung historischen Erinnerns“ gedacht werden; Herder nimmt an den unterschiedlichen Gedchtnisdiskursen teil, deren gemeinsamer Fluchtpunkt „die Idee eines ihnen zugrundeliegenden oder vielleicht auch erst durch sie zu schaffenden Archivs“ ist.5 Die Produktivitt des Vergessens, d. h. die Bedeutung des unbewussten Selektierens bei der Konstruktion von historischen und metahistorischen Erzhlungen, scheint dennoch von Herder nicht adquat thematisiert. Das Subjekt der Geschichtsschreibung wird dabei produktiv, indem es auf jenes Archiv, auf den Thesaurus seiner Erinne-
5
Geschichtsphilosophie nach Hegel – Probleme des Historismus, Mnchen 1974, maßgeblich. Zur aktuellen Diskussion ber die Bedeutung Herders fr den Historismus, krzlich in der historiographischen Forschung stark relativiert, vgl. Wolfgang Proß, „Die Ordnung der Zeiten und Rume. Herder zwischen Aufklrung und Historismus“, in: Claudia Taszus (Hg.), Vernunft – Freiheit – Humanitt. ber Johann Gottfried Herder und einige Zeitgenossen, Eutin 2008, S. 9 – 78. Zur bersicht ber die Probleme des Historimus vgl. Fulvio Tessitore, Contributi alla Storia e alla Teoria dello Storicismo, 7 Bde., Roma 1995 – 2008. Ralf Simon, Das Gedchtnis der Interpretation. Gedchtnistheorie als Fundament fr Hermeneutik, sthetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998, S. 1. ber die Quelle der Geschichtstheorie Herders, nicht nur in Bezug auf das Problem des Gedchtnisdiskurses, informiert ausfhrlich Ralph Hfner, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre, Hamburg 1995, insb. S. 175 – 265.
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3. Entidealisierung der Geschichte
rungen zugeht, nicht indem es von bestimmten Erinnerungen abstrahiert und aus dem Kontinuum des Gedankenflusses diskrete Bilder gewinnt. Eine solche Vorstellung muss jedoch schon der von Herder selbst fr die historische Erkenntnis vorgeschlagenen Methode der Einfhlung in das seelische Leben andersartiger Vçlker und Individuen widersprechen: die Inkommensurabilitt zwischen Einfhlenden und denen, in die sie sich einfhlen, muss im Moment der Einfhlung vernachlssigt werden, man muss die individuelle Natur des einzelnen Menschen vergessen, um von Einfhlung sprechen zu kçnnen.6 Bei Herder spielt zwar das Vergessen im Allgemeinen eine ntzliche Rolle, aber nur als Negation, als Vernichtung der Erinnerung. Dadurch gewinnt es z. B. bei der Bildung eine quasi therapeutische Bedeutung. Vergessen ermçglicht die Befreiung von unntzlichem, nur in reinen Abstraktionen konstruiertem Wissen, das durch Bildung erlangt wurde: Der erste abstrakte unverstandne Begriff ist ihnen [den Kindern] Gift: ist wie eine Speise, die durchaus nicht verdaut werden kann, und also wenn die Natur sich ihrer nicht entledigt, schwcht und verdirbt. Hier eben so, und was wrden wir, wenn die Natur nicht noch die Gte htte, uns dessen durch Vergessenheit zu entledigen (Journal, 9/2.117).
Außerdem ist fr Herder die Entwicklung von Gewohnheiten sinnvoll, die ihrerseits eine Form von Vergessen durch Automatisierung darstellen.7 Durch Routinierung kann der Mensch z. B. ein schlechtes Leben unter einem despotischen Regime ertragen: „Aber auch in der rgsten Entartung verlßt die unermdlich-gtige Mutter ihre Kinder nicht und weiß ihnen den bittern Trank der Unterdrckung von Menschen wenigstens durch Vergessenheit und Gewohnheit zu lindern“ (Ideen, 6.367). Bei Nietzsche, wie in Kapitel 2.4. gezeigt, ist das Vergessen nicht einfach die Verneinung des Erinnerns oder der Verlust von einem zuvor Gewussten. Das Vergessen kommt nicht einfach vor dem Erinnern, sondern begleitet es stndig, 6
7
Hierfr ist die Bemerkung von Gerhard vom Hofe, „,Weitstrahlsinnige‘ Ur-Kunde. Zur Eigenart und Begrndung des Historismus beim jungen Herder“, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 364 – 382, S. 369, wichtig: „Herders hermeneutischer Imperativ der Einfhlung in Geist und Werke vergangener Zeiten grndet zwar in der Voraussetzung einer transhistorischen Identitt der ,Natur der Seele‘, die alles durchherrsche und sympathetisches Verstehen berhaupt erst ermçgliche, aber dieser Appell der Einfhlung ins Vergangene ist stndig auch begleitet von Reflexionen der Unvollkommenheit und Unzulnglichkeit dieser Methode historischer Erkenntnis. […] Herder rechnet mit der Mçglichkeit des Scheiterns historiographischer Arbeit.“ Vgl. dazu Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin / New York 2008, S. 303 – 306, der das Verhltnis zwischen Entstehung von Routinen und Vergessen hervorhebt. Stegmaier zeigt anhand von Ergebnissen der Hirnforschung, dass orientierende Prozesse auf einem Wirken des Gedchtnisses als Form von Selbstvergessenheit der Orientierung basieren (S. 307).
3.1. Das Vergessen und die Formen des historischen Diskurses
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es trgt zur Produktion des Objekts der Erinnerung bei, zur Abschattung der Konturen im ungebrochenen, fließenden Kontinuum des Gedchtnisses.8 Aus pragmatischen Grnden ist es unentbehrlich, wenn, wie bereits fr Goethe, „zu allem Handeln […] Vergessen [gehçrt]“ (UB II, S. 248) und – in der Sprache der Vernatrlichung ausgedrckt – „zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehçrt.“ Gerade durch das Vergessen kann der Mensch sich von dem unhistorischen Tier unterscheiden. Der Mensch betrachtet sich als Kultur- und Historientrger, indem er bestimmte „Urerfahrungen“ seiner Vorgeschichte in seinem „civilisierte[n] Zustand“ (M 312) vergisst. Das Vergessen des Menschen ist so, im Vergleich mit jenem des Tiers, mehr selektiv und weniger radikal. Man darf nicht zu schnell von einer „radikale[n] Dichotomie von Erinnerung und Vergessen“ in UB II sprechen, auch nicht von einem „Vermçgen des Vergessens“, das „den Menschen vom nihilistischen Effekt des ,historischen Sinns‘, indem Erinnerung und Gedchtnis außer Kraft gesetzt wird“, befreit.9 Bei solch einer ontologischen Trennung wird es schwer, mit der komplexeren Verflechtung von Erinnern und Vergessen zurechtzukommen, und es wird eben denkbar, Nietzsches Historienkritik als irrationalistische Rechtfertigung des Vergessens zu verstehen. Diese Kritik ermçglicht gerade neue Historisierungen; der Mensch bleibt zur Historie, zur immer neuen Gestaltung der eigenen Vergangenheit verurteilt, da Erinnern und Vergessen fr sein Dasein konstitutiv sind.10 3.1.1. Herder: Zwischen objektivierender Geschichtsschreibung und humanisierender Geschichtsphilosophie Auf den ersten Blick bewegt sich Herder noch im Horizont einer selbstverstndlichen Trennung zwischen Geschichte und Historie sowie zwischen Historie und Geschichtsphilosophie, ohne damit fr den narrativen und perspektivischen Charakter der historischen Erkenntnis unempfindlich zu bleiben. In 8 Zur Bedeutung des Vergessens in der Auffassung der Geschichte bei Nietzsche vgl. auch White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (1973), bers. v. Peter Kohlhaas, Frankfurt am Main 2008, S. 446 – 460. 9 Meyer, sthetik der Historie, Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben“, Wrzburg 1999, S. 91 – 92. 10 Diese unberwindbare Spannung bemerkt auch Meyer: „Insofern Erinnerung aber auch das Bewusstsein des Nihilismus beinhaltet, kann das Leben nicht Negation der Erinnerung sein, ohne damit sein Eigenstes – das Selbstbewusstsein – zu verlieren. Diese reflexive Komplexitt des Erinnerungsbegriffs definiert die Spannung, der das unhistorische Leben und das Vergessen unterworfen sind. Die Frage zu beantworten, wie eine nicht nihilistische Bewusstseinsform mçglich sei, gehçrt zu den Herausforderungen der Historienschrift.“ (Meyer, sthetik der Historie, S. 91 – 92)
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dem frhen, nur fragmentarischen Werk lteres kritisches Wldchen kritisiert er Winckelmanns Anspruch, die Geschichte der griechischen Kunst als ein Lehrgebude darzustellen, und macht dabei wichtige Bemerkungen ber die unterschiedlichen Formen von Historie. Winckelmanns Identifizierung von Historie und seine systematische Darstellung beruhe auf einer unzureichenden Beachtung der Etymologie des Wortes Historie. Selbst wenn die Historie in der griechischen Sprache Synonym fr „Besichtigung, Kenntnis, Wissenschaft“ (lteres kritisches Wldchen, 2.11) ist, soll sie zuerst nur „eine rechte Erzhlung geschehener Dinge“ sein. Deswegen bezweifelt Herder die Mçglichkeit, Anspruch auf Systematizitt in der Geschichte auf Basis ihrer ursprnglichen Natur zu erheben. „Geschichte“ und „Lehrgebude“ kçnnen nur knstlich in demselben Werk zusammenfallen. Sind „Annalisten“, „Memoirsschreiber“ und „Zeitungsschreiber“ nur „bloße Erzhler“ (lteres kritisches Wldchen, 2.15), bleibt auch „der Vernnftler ber die einzelne Erzhlung“ nur ein „historischer Raissonneur“, kein vollkommener Systematiker, obwohl beide nach Systematizitt streben. Der Annalist kann keine systematische Darstellung der Historie geben, da er kein vollstndiges Bild eines geschichtlichen Gegenstandes hat. Ihre Beschreibung soll uns eine Sache „von allen Seiten zeigen“ (lteres kritisches Wldchen, 2.12), aber letztlich hat man nur seinen „einzelnen Verstande“, einen „bloß einseitige[n] Gesichtspunkt“. Die Unmçglichkeit eines ganzheitlichen Verstehens ist entscheidend, um den Unterscheid zwischen Historiker und Geschichtsphilosophen zu verstehen: Sein historisches Datum sei ihm ein Gebude, um welches er von allen Seiten umgehe, das er von allen Seiten zeichne. Ich wollte aber den Geschichtsschreiber sehen, der auch nur hierin alle Vollkommenheit erreichen kçnnte. So unmçglich ein ganzer Kçrper ohne Projektion aus einem Gesichtspunkt wahrgenommen, auf einer Flche vorgestellet werden kann, wie er ist: so unmçglich fr den Annalisten und Memoirschreiber, aus seiner Sache, und wenn es auch die wichtigste wre, und wenn auch seine Auseinandersetzung des Details nichts minder, als weitschweifiger berfluß wre, ein historisches Lehrgebude machen zu kçnnen. (lteres kritisches Wldchen, 2.12 – 13)
Jeder Geschichtsschreiber, sogar der Annalist, fge notwendigerweise eine Einordnung und Konstruktion von Zusammenhngen in seine Erzhlung ein. Selbst wenn er sich dessen nicht bewusst ist, erfasst er niemals so etwas wie objektiv gegebene Tatsachen. Er arbeitet mit einzelnen Ereignissen, aber „jede Begebenheit endlich ist bloß ein Glied einer Kette“ (lteres kritisches Wldchen, 2.12), die er nur aus der eigenen Perspektive erfassen kann.11 Er hat ein per11 Die noch in Auch eine Philosophie gebrauchte Metapher der Kette, die die Geschichte erfassen helfen soll, wird von Nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil erneut verwendet, vgl. UB II, S. 248. Dass es bei Nietzsche jedoch eher um eine Belastung durch diese Kette geht, bemerkt Meyer, sthetik der Historie, Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben“, Wrzburg 1999, S. 7.
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spektivisches Wissen, ist sich aber nicht im Klaren ber die Perspektivitt der eigenen historischen Erzhlung: Gnug fr uns einseitig sehende Menschen: aber nicht gnug fr seine vielseitige Sache; und wie weniger gnug fr das Innere derselben, fr die Ursachen ihrer Entstehung, fr den Zustand des Wesens! Hier hçrt das historische Sehen auf, und das Weissagen gehet an. Da ich Ursache als Ursache und Wrkung als Wrkung nie sehen; sondern immer schließen, mutmaßen, erraten muß: da in dieser Schlußkunst nichts als die hnlichkeit der Flle meine Zeugin, und also mein Scharfsinn, oder mein Witz, diese hnlichkeit zwischen einander, diese Folge durch einander zu finden, mein einziger Gewhrsmann der Wahrheit ist: da dieser Gewhrsmann aber nichts als mein Scharfsinn, mein Witz, fçlglich ein trglicher Zeuge, und eine Prophet der Wahrheit vielleicht nur fr mich, und einige meine Brder sein kann: so siehet man, daß der Geschichtsschreiber und der Philosoph der Geschichte nicht vçllig auf einem Boden stehen. (lteres kritisches Wldchen, 2.13)
Eine systematische Darstellung der Historie ist so nur jene des Geschichtsphilosophen, der ber die einfache Historiographie hinausgeht und absichtlich das eigene Schema fr die Konstruktion einer Philosophie der Geschichte whlt. Seine Arbeit gewinnt sogar einen knstlerischen Zug, indem er bewusst schafft, was in der Tat nicht existiert: Der bloße Erzhler ist ein Annalist, ein Memoir- ein Zeitungsschreiber: der Vernnftler ber die einzelne Erzhlung ist ein historischer Raisonneur; aber der Zusammenordner vieler Begebenheiten zu einem Plan, zu einer Absicht: der ist, sagt unsre historische Kunst, der ist der wahre historische Knstler, Maler eines großen Gemldes von der trefflichsten Komposition: der ist historisches Genie, der ist der wahre Schçpfer einer Geschichte! Und ist das, so ist Geschichte und Lehrgebude eins! (lteres kritisches Wldchen, 2.15)
Das schließt jedoch eine ideale Identifikation der Geschichte mit der Geschichtsphilosophie aus. Die guten Historiker sollen „Geschichtsschreiber“ bleiben. Die Flle, in denen die Historiker auch Geschichtsphilosophen waren, haben nach Herder nicht besonders zu ihrem Ruhm als Historiker beigetragen. Herodot habe ein „zusammengeordnetes Gebude“ und damit etwas Knstliches zwischen einer „historische[n] Epopee“ und einem „historische[n] Lehrgebude“ (lteres kritisches Wldchen, 2.16 – 17) geschaffen, Hume hingegen sei mit seiner History of England eher ein „Philosoph der britischen Geschichte“ (lteres kritisches Wldchen, 2.21) als ein Historiker gewesen. Diese Tendenz sei bei Thukydides, der „kein Lehrgebude ber den Peloponnesischen Krieg“ baute, und bei Xenophon, bei dem Geschichte und Lehrgebude voneinander getrennt blieben, nicht zu finden. Herder denkt dennoch, dass die Historie objektiver sein kçnnte, solange sie „Erfahrung und Urteil“ bzw. „Geschichte und Urteil“ (lteres kritisches Wldchen, 2.14) nicht verwechselt. Der ideale Historiker soll den reinen Ereignissen keine Systematik zugrunde legen und sich nur auf die Erfahrung und den gesunden Menschenverstand verlassen. Er soll aber somit nach einer unpersçnlichen und objektiven Erkenntnisform suchen, die
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Herder eigentlich nach seiner frhen Sprachkritik schon htte problematisch werden mssen. Der Widerspruch wird deutlicher, wenn man bedenkt, dass Herder gerade in der Wirkung auf die praktische Haltung der Menschen das Kriterium fr das Gelingen der Geschichte selbst erkennt. Von der Geschichte erwartet er nicht nur eine einfache Synthesis von Erfahrung und common sense, sondern auch die Forderung der Humanitt des Menschen: nicht nur Studium der Sprachen, Poesie und Rhetorik, sondern auch die Geschichte werden „Humaniora“ genannt, weil sie „das Gefhl der Menschlichkeit in uns bilden.“ (Einfluss der schçnen Wissenschaften, 4.231) Mehr noch ist sogar die Einheit der humanistischen Disziplinen, also auch von Poesie und Geschichte, erwnscht, um eine solche Wirkung zu erreichen: bei den alten „Dichter[n], Redner[n], Geschichtsschreiber[n] und Philosophen“ war „alles noch glcklicher Weise eins“, wie es nur bei einigen Genies der Fall zu sein scheint. Es ist aber klar, dass ein solches Ideal des Intellektuellen nicht mehr mit dem des reinen Geschichtsschreibers bereinstimmen kann. Die Geschichte kann den Menschen nur berhren und auf ihn wirken, wenn sie mit der Dichtung verschmilzt; sie vermehrt dadurch die Lebendigkeit der poetischen Sprache des Ursprungs und verringert jene Abstumpfung der Sensibilitt, die die abstrakte Sprache verursacht.12 Nur so kann der Historiker einen sensus humanitatis entwickeln und pdagogisch wirksam werden: Also kçnnen wir uns vom Menschengefhl nicht trennen, indem wir die Geschichte schreiben oder lesen; ihr hçchstes Interesse, ihr Wert beruhet auf dieser Menschenempfindung, der Regel des Rechts und Unrechts. Wer bloß fr Klugheit schreibt, gert 12 Fr den poetischen Charakter der Geschichtsschreibung bei Herder vgl. Hinrich C. Seeba, „Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur sthetisierung der Geschichtsschreibung“, in: Storia della Storiografia 8, 1985, S. 50 – 72; Heinz Meyer, „berlegungen zu Herders Metaphern fr die Geschichte“, in: Archiv fr Begriffsgeschichte 25, 1981, S. 88 – 114. Ulrich Gaier, „Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntnistheoretische Antwort auf Kant“, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Wrzburg 1994, S. 1 – 18, S. 15, distanziert sich von Kants Polemik gegen Herders Gebrauch von Metaphern in seiner Betrachtung der Historie. Nach Gaier sei dies nicht naiv, sondern Resultat einer bewussten methodologischen Entscheidung: „zwischen individuellem Bild und allgemeiner Struktur“ entscheidet sich Herder fr ein drittes erkenntnistheoretisches Modell, das „die analogische Erfindungskraft als Dichtung bereitstellt“, so dass das kantische „Trilemma Historie oder Dichtung oder Geschichtsphilosophie“ fr Herder „unbefriedigend ist.“ Hans Dietrich Irmscher, „Aspekte der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders“, in: Marion Heinz (Hg.), Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, Amsterdam / Atlanta 1997, S. 5 – 47, S. 18 – 20, betont jedoch den Unterschied zwischen Herders Absicht in Auch eine Philosophie, eine poetische Geschichtsphilosophie aufzubauen, und dem Anspruch auf eine systematischere, wissenschaftlich-philosophische Betrachtung der Geschichte in den Ideen.
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leicht in Dnkel; wer nur fr die Neugierde schreibt, schreibt fr Kinder. (Briefe zu Befçrderung, 7.733)
Der Geschichtsphilosoph muss sich außerdem fr ein Schema entscheiden, durch das er die Geschichte darstellt, so dass sie wirksam werden kann. Die Frage nach der Wahl des Schemas bei der Erzhlung der Historie beherrscht bereits das frhe Werk Auch eine Philosophie, in dem nach der praktischen Bedeutung unterschiedlicher Schemata der Historie gefragt wird. Traditionelle Modelle sind fr Herder unbefriedigend, ohne dass er jedoch nach einer Geschichtsphilosophie sucht, die von wertenden Vorurteilen frei ist. Aus einer pragmatischen Perspektive ist fr Herder jeder Rekurs auf Schemata problematisch fr die Konstruktion der Vergangenheit, weil dies stets eine Verallgemeinerung und Nivellierung von Unterschieden impliziert, die dem Spektakel der menschlichen Ereignisse Lebendigkeit und Reizbarkeit entzieht und damit auch die Humanisierung des Menschen durch die Historie erschwert: Niemand in der Welt fhlt die Schwche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Vçlker und Zeitlufe, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat man gemalt? wen hat das schildernde Wort getroffen? – Endlich man faßt sie doch in Nichts, als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fhlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung! wie kann man mißverstanden werden! – (Briefe zu Befçrderung, 4.32)
Ein Schema der historischen Erzhlung bringt die Einordnung des Einzelnen in eine vorbestimmte zeitliche Ordnung mit sich, die er nicht modifizieren kann, und stellt die Vorstellung seiner nicht weiter reduzierbaren Individualitt in Frage, wenn seine Handlungen auf allgemeine Gesetze der Geschichte zurckgefhrt werden.13 Eine Geschichtsphilosophie, die die Verteidigung des Individuellen vor dem nivellierenden Druck des Allgemeinen sucht, riskiert also, gerade durch ihre eigenen Mittel – den Gebrauch von Schemata – zu scheitern. Dies scheint bei Herder aber das ,kleinere bel‘ zu sein, da eine chaotische Darstellung der Historie noch demtigender wre. Ein Chaos in der Natur bzw. 13 Die Frage bleibt legitim, ob die Konstruktion einer Geschichtsphilosophie, deren Gesetze sich in Analogie zu jenen der Natur darstellen, eine Gefahr fr die Selbstinterpretation des Menschen als freier Tter und damit fr ein aktives Hervorbringen seiner Humanitt sein kçnnte: „Die Analogie zwischen der Entfaltung des Potentials der Natur bis zu seinem Hçhepunkt in der Entstehung des Menschen und der Entfaltung der Humanitt in der Geschichte bis zu einem Hçhepunkt, der in einer unbekannten Zukunft liegt, lßt das Problem eines Determinismus aufkommen, das unlçsbar bleibt. Dies ist der Preis, den Herder fr die Naturalisierung der Geschichte und ihre vçllige Unterwerfung unter ,Naturgesetze‘ bezahlt.“ (Wolfgang Proß, „Die Begrndung der Geschichte aus der Natur: Herders Konzept von ,Gesetzen‘ in der Geschichte“, in: Hans E. Bçdeker / Peter H. Reill / Jrgen Schlumbohm (Hg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750 – 1900, Gçttingen 1999, S. 187 – 226, S. 226)
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in der Geschichte zu sehen wrde das religiçse Vertrauen auf den Sinn der Natur und der Geschichte verunsichern. Doch nicht nur die Vorstellung eines unendlichen und linearen Fortschritts, einer „allgemeinfortgehenden Verbesserung der Welt“ (Auch eine Philosophie, 4.40), wird abgelehnt, sondern auch jene „Philosophie, die unter-ber mischt, nur immer hie und da, bei einzelnen Verwirrungen auf, um alles zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Neigungen und Krfte ohne Zweck, zum Chaos zu machen, in dem man an Tugend, Zweck und Gottheit verzweifelt“ (Auch eine Philosophie, 4.42). Der Mangel an Sinn ist fr Herder so gefhrlich wie die Zuschreibung eines falschen, d. h. nicht humanisierenden Sinns fr Geschichte. Auch eine zu naive und optimistische Beschreibung der Historie ist ,falsch‘. Als Darstellung einer unproblematischen Steigerung der menschlichen Glckseligkeit wird die Geschichte zu einem unglaubwrdigen „Roman“, der wieder zu einer Leugnung des Sinns der Geschichte zurckfhren kçnnte. Ein sinnvolles und glaubwrdiges Schema der Geschichtsinterpretation ist fr den herderschen Geschichtsphilosophen nur noch der Rekurs auf die Einfhlung, die ein schwieriges Gleichgewicht zwischen Verallgemeinerung und Verteidigung des Individuellen anbietet. Gelten Empfindung und Erkennen als gegenstzliche Tendenzen des Denkens, Empfindung als synthetische Anschauung und Erkennen als abstrahierende Ausdifferenzierung, scheint die Einfhlung gerade als Vermittlerin zwischen beiden Tendenzen.14 Einfhlung vereinbart individuell und allgemein, sie bleibt aber immer das Produkt eines Individuums, das jedoch eine allgemeine Struktur des Gefhls, die hnlich auch bei anderen Individuen wirkt, voraussetzt. So msste man nach Herder erst mit „der Nation sympathisieren, um eine einzige ihrer Neigungen und Handlungen, alle zusammen zu fhlen, Ein Wort finden, in seiner Flle sich alles denken – oder man lieset – ein Wort.“ (Auch eine Philosophie, 4.33). Die Wçrter kçnnen fr ihn durch Einfhlung eben die ursprngliche Expressivitt der ersten Sprachen wiedergewinnen. Als ob man am Ursprung der Sprache wre, entstehen die Wçrter dadurch natrlich, direkt aus der Dimension der Sinnlichkeit, nicht als Produkte der Abstraktion, wenn man eine mitfhlende Einstellung annimmt. Durch Einfhlung kann die historische Erzhlung das Menschheitsgefhl jedes Menschen und jeder Epoche so mitteilen, dass der Mensch zur Steigerung der Menschheit 14 Vgl. „Vom Erkennen und Empfinden der Menschlichen Seele“, in: Bd. 4 von FHA. Friedrich Kaulbach, „Nietzsche und der monadologische Gedanke“, in: Nietzsche-Studien 8 (1980), S. 127 – 156, S. 132, sieht in dieser herderschen Auffassung des Denkens wie auch in seinem Verweis auf eine „Elastizitt der Seele“ wichtige Parallelen zu Nietzsches Vorstellung, dass eine apollinische Kraft des Denkens mitwirkt, die „eine Vielheit von Perspektiven, Beziehungen, Gedanken und Gestalten des Bewusstseins zur Entschiedenheit einer machtvollen und festen Lebenskonzeption in einer Bewegung der Konzentration“ vereinigen kann, und eines dionysischen Motivs der „Ausweitung und Entschrnkung“.
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beitragen kann. Solange man durch Einfhlung zum Schema gelangt, entmutigt der Gebrauch von Schemata den Menschen nicht an der Teilnahme an der Geschichte: Wenns mir gelnge, die disparatsten Szenen zu binden, ohne sie zu verwirren – zu zeigen wie sie sich aufeinander beziehen, aus einander erwachsen, sich in einander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken – welch ein Anblick! welch edle Anwendung der menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts, oder nicht alles sieht (Auch eine Philosophie, 4.42).
Der gute Historiker darf somit die Differenzen nicht leugnen, aber sie auch nicht als rein inkommensurabel betrachten. Differenzen zwischen Vçlkern und Epochen entsprechen dem Reichtum einer Schçpfung, die hinter den einzelnen Manifestationen einen einheitlichen Sinn garantiert. Durch die historische Einfhlung kann diese Einheit hinter den Differenzen erkannt und untersttzt werden. Nur so scheint die Betrachtung der Historie den Menschen ntzlich zu sein: Wir werden Zeiten schtzen lernen, die wir jetzt verachten – das Gefhl allgemeiner Menschheit und Glckseligkeit wird rege werden: Aussichten auf ein hçheres, als menschlich Hiesein wird aus der trmmervollen Geschichte das Resultat werden, uns Plan zeigen, wo wir sonst Verwirrung fanden: Alles findet sich an Stelle und Ort – Geschichte der Menschheit im edelsten Verstande – du wirst werden! (Auch eine Philosophie, 4.89 – 90)
Der gute Historiker muss auf jenes Menschengefhl achten, von dem „wir uns […] nicht trennen kçnnen, indem wir die Geschichte schreiben oder lesen“ (Briefe, 7.733) Die Geschichte findet dabei ihr „hçchstes Interesse, ihr[en] Wert“, „d[ie] Regel des Rechts und Unrechts.“ Wenn man dieser sympathetischen Methode folgt, wird es auch unmçglich, „die Menschheit nur als eine Linie“ zu betrachten, „die man nach Gefallen zu einem Zweck krmmen, schneiden, verlngern und verkrzen darf“ (Briefe, 7.733), wie es, so Herder, z. B. Machiavelli tat. Die pragmatische Vorstellung von Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie bei Herder grndet sich auf eine selbstverstndliche Identitt des Mittels der Konstruktion der historischen Erzhlung und ihrem Ziel: nur durch den Gebrauch von Menschengefhl beim Schreiben kann dasselbe Gefhl bei dem Publikum erweckt werden. Weil er nicht fragt, ob dieses Empfinden einen moralischen Wert hat, wird es fr ihn unmçglich, die pragmatische Bedeutung der Betrachtung der Geschichte weiter auszudifferenzieren. Historische Erzhlungen sollen gerade moralisch erbauen, und dabei werden die spezifischen Leistungen fr das Leben nicht thematisiert, die die Historie, wie Nietzsche klar ist, ebenfalls erbringt.
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3. Entidealisierung der Geschichte
3.1.2. Nietzsche: Narrative Geschichtsschreibung in sich entziehenden Horizonten Fr Nietzsche ist, wie auch fr Herder und Schopenhauer, der ihn hier stark beeinflusst, die Geschichte als „reine Wissenschaft“ (UB II, S. 257) nicht denkbar, sondern nur als selektive und schçpferische Konstruktion der Vergangenheit unter dem Druck der Lebensbedrfnisse. Nietzsche interessiert sich bekanntlich in UB II fr „die historische Krankheit“, „das Uebermaass des Historischen“ (UB II, S. 330). Gerade das Missverstndnis ber die Natur der Historie, sie als „reine Wissenschaft“ zu verstehen und sie als solche zu betreiben, ohne ihren Einfluss auf das Leben zu reflektieren, habe Nietzsche zufolge zu dieser Krankheit gefhrt. Bei Nietzsche gewinnen, wie Lemm bemerkt, die unterschiedlichen Arten von Historie ihre Bedeutung nur in Bezug auf die Zukunft des Lebewesens: „[they] stand for a future oriented involvement of memory with forgethfulness“ „[and] use those portions of the past that can be transfigured into future life.“15 Das Leben gewinnt aber bei Nietzsche, anders als bei Herder, keinen besonderen Wert durch eine Verbindung zur gçttlichen Transzendenz. Leben ist hier eine berindividuelle Kraft, die den Spielraum des bewussten Handelns stark beschrnkt und es erschwert, Geschichtsschreibung als Produkt eines selbstbewussten Subjekts zu betrachten, das im Namen eines moralischen Interesses ber das Schema des eigenen Erzhlens entscheidet. Herders Vorstellung des Geschichtsschreibers ist so fr Nietzsche nicht mehr haltbar. In UB II kçnnen eben die ersten Schritte in Richtung jener berwindung der Subjektmetaphysik beobachtet werden, die Nietzsche spter durchgehend beschftigen wird. Es ist hier eine „Desubjektivierung der menschlichen Erinnerung“ beobachtbar, in welcher der Mensch „nicht nur als das Tier, das nicht im Augenblick aufgeht und sich hilflos der Zeit ausgeliefert sieht“, vorkommt, sondern als ohnmchtig, nicht autonom und in seinem Erinnern auch nicht bewusst, so dass eben die Zeit zum „Subjekt der Erinnerung“ wird.16 Deswegen ist der Einfluss des Historikers auf sein Publikum nicht so direkt und voraussehbar: Fa c t a ! Ja Fa c t a f i c t a ! – Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese haben g e w i r k t . Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen ber vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen 15 Vanessa Lemm, „Animality, Creativity, and Historicity: a Reading of Friedrich Nietzsche’s Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben“, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 168 – 200, S. 184. 16 Achim Geisenhanslke, „Der Mensch als Eintagswesen. Nietzsches kritische Anthropologie in der Zweiten Unzeitgemßen Betrachtung“, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 125 – 140, S. 131.
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und Handlungen geben, deren Realitt aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf w i r k t , – ein fortwhrendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen ber den tiefen Nebeln der unergrndlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzhlen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung. (M 307)
Die Selektion des Historikers kann keine rein bewusste und willkrliche sein, weil das Material, mit dem er arbeiten muss, im Verlauf der Zeit bereits seligiert wurde. Der Historiker produziert Dampf, d. h. eine fließende Energieform, deren Wirkung schwer zu errechnen ist. Er kann nicht ber das Wirken dieser Energie entscheiden, doch er weiß, dass ihre Auswirkungen das Leben der Menschen verndern. Eine Trennung zwischen Erkenntnis der Wirklichkeit durch Erfahrung und common sense einerseits und fiktiver Arbeit des Historikers andererseits lsst sich nicht wirklich machen. Unsere Erkenntnis im Ganzen ist fr Nietzsche von Anfang an ganz an die Arbeit des Gedchtnisses gebunden. Nicht nur ist die Philosophie „die allgemeinste Form der Historie, als Versuch das heraklitische Werden irgendwie zu beschreiben und in Zeichen abzukrzen“ (N 1885, KSA 11, 36[27]); so ist eben bereits unsere Erfahrung „nur mçglich mit Hlfe von Gedchtniß“, und Gedchtnis ist seinerseits „nur mçglich vermçge einer Abkrzung eines geistigen Vorgangs zum Zeichen.“ (N 1885, KSA 11, 38[2]).17 Bei Nietzsches Reflexion ber die historische Erkenntnis spielt eine entscheidende Rolle die Metaphorik des Horizontes. In UB II zeigt diese sofort ihre praktische Relevanz, indem Nietzsche erkennt: „jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden.“ (UB II, S. 252) Bereits die Vorstellung einer irgendwie naturgebundenen Konstitution des historischen Horizontes verunsichert auch noch einmal die Unterscheidung zwischen Tier und Mensch, selbst wenn die Schrift ber die Historie mit dem Bild eines dem Menschen radikal fremden Glcks des unhistorischen Tiers beginnt. Alle Lebewesen hngen von demselben „allgemeinen Gesetz“ ab, nmlich dem, durch einen Horizont begrenzt zu sein. Das Tier hat nur einen andersartigen Horizont, den Herder bereits als Kreis erkannte. Seine Idee eines menschlichen, der „Sphre der Tiere“ (Abhandlung, 1.712) entgegensetzten Horizonts, die Nietzsches Idee vorwegnimmt, lautete folgendermaßen:18 17 Martin Stingelin, „Historie als ,Versuch, das Heraklitische Werden […] in Zeichen abzukrzen‘. Zeichen und Geschichte in Nietzsches Sptwerk“, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 28 – 41, hat auf die rhetorische Natur dieser ,Abkrzung durch Zeichen‘ und auf die praktische Bedeutung der Historie aufmerksam gemacht. Die Historie sei eine Form von Rhetorik, „(wie die Kritik, die Skepsis und der Dogmatismus) nur ein Werkzeug im Dienst der philosophischen Aufgabe, Werte zu schaffen.“ (S. 40) 18 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Volk und Geschichte im Denken Herders, Frankfurt am Main 1942, S. 13: „Herder nimmt darin eine Einsicht vorweg, die uns aus Nietzsches zweiter unzeitgemßer Betrachtung […] gelufig ist“.
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Gut hat auch hier die gute Mutter gesorgt. Sie legte Anlagen zu der Mannigfaltigkeit ins Herz, machte jede aber an sich selbst so wenig dringend, daß wenn nur einige befriedigt werden, sich die Seele bald aus diesen erweckten Tçnen ein Konzert bildet, und die unerweckten nicht fhlet, als wiefern sie stumm und dunkel, den lautenden Gesang untersttzen. Sie legte Anlagen von Mannigfaltigkeit ins Herz, nun einen Teil der Mannigfaltigkeit im Kreise um uns, uns zu Hnden: nun mßigte sie den menschlichen Blick, daß nach einer kleinen Zeit der Gewohnheit ihm dieser Kreis, Horizont wurde. (Auch eine Philosophie, 4.39)
Die Unterscheidung zwischen Naturkreis und Horizont ist nicht sofort klar, ebensowenig die Natur des Prozesses, die ,durch Gewçhnung‘ zur Entstehung des Horizontes fhrt. Der Kreis wird zum Horizont, indem er in seiner orientierenden, pragmatischen Funktion zum Bewusstsein kommt und dennoch durch Routinierung sicher wird. Dies impliziert Sprache und Reflexion; durch die sprachliche Artikulation wird der Kreis immer komplexer, da abstrakte Vorstellungen unser Verstehen und Handeln eingrenzen und mitbestimmen, z. B. in Form von Werten und Vorurteilen. Das Horizontwerden des Kreises ist bei Herder von Natur bzw. von Gott geplant und deswegen unbedingt sinnvoll: es macht die Menschen relativ unempfindlich fr das Fremde und hlt sie so gesund: Nicht drber zu blicken: kaum drber zu ahnden! alles was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sie assimiliert werden kann, beneide ich, strebs an, mache mirs zu eigen; darber hinaus hat mich die gtige Natur mit Fhllosigkeit, Klte und Blindheit bewaffnet; – sie kann gar Verachtung und Ekel werden – hat aber nur zum Zweck, mich auf mich selbst zurckzustoßen, mir auf dem Mittelpunkt Gnge zu geben, der mich trgt. (Auch eine Philosophie, 4.39)
Spontane, unreflektierte Abneigungen oder Zuneigungen regeln fr Herder unsere Tendenz zur Assimilation, Nietzsche wrde sagen zur ,Einverleibung‘. Wir assimilieren nach Herder nur das, was eine bestimmte hnlichkeit mit uns hat. Das, was wir assimilieren kçnnen, muss sich aber bereits innerhalb unseres Horizontes befinden. Solange das Fremde jenseits unseres Horizonts liegt, ist es einfach unerfahrbar. Der Gegenstand von potentieller Assimilation muss hingegen noch Teil unseres Horizontes sein; nur seine Zugehçrigkeit zu dem Horizont muss in momentaner Vergessenheit liegen. Der Horizont strukturiert so eine Erfahrung des Fremden, die immer mit einem „Zurckstoßen“ „auf mich selbst“ endet. Die Assimilation ist nach diesem Modell so gleichzeitig eine Form von Selbsterkenntnis, da wir uns bei der Assimilation eines angeblich Fremden ber etwas bewusst werden, das immer schon zu uns gehçrt. Assimilation scheint so, weniger als die ,Einverleibung‘ Nietzsches, die rckwirkenden Effekte des Assimilierten auf den Assimilierenden hervorzuheben, wenn in Nietzsches Metaphorik auf eine Erweiterung des Leibes hingedeutet wird, die das Assimilieren selbst modifiziert. Zur heuristischen Vertiefung dieser Dynamik benutzt Nietzsche auch eine andere Metapher, die den naturwissenschaft-
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lichen Begriff ,Kraft‘ mit der traditionell sthetischen Kategorie ,Plastizitt‘,19 vereinigt. Als Produkt einer ,plastischen Kraft‘ beschreibt der Horizont ein kulturelles Phnomen, das aber in der leiblichen, sinnlichen und unbewussten Dimension seine Herkunft hat: Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht zum Todtengrber des Gegenwrtigen werden soll, msste man genau wissen, wie gross die plastische K r a f t eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen. (UB II, S. 251)
Diese Kraft zeigt sich noch einmal in Form eines Vergessens: „das was sie [die Natur eines Menschen] nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen“, und das heißt, „der Horizont ist geschlossen“ fr diese Sache (UB II, S. 251). Der Horizont vereinigt die einverleibten Regeln unseres instinktiven und selektiven Vergessens der gewordenen Natur unserer kulturellen Institutionen. Ob ein Horizont weiter oder enger ist, hngt auch nicht von dem Willen eines bewussten Subjekts ab. Als Ausdruck eines Volkes oder einer Nation ist die Dimension des Horizontes bereits berindividuell bestimmt. Das Zeichen ,Kraft‘ schließt die Vorstellung eines selbstbewussten Subjekts der Horizonterschließung aus und stuft den Grad von Definition, Sicherheit und Breite des Horizontes selbst ab: „Es giebt Menschen die diese Kraft so wenig besitzen dass sie an einem einzigen Erlebniss, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse unheilbar verbluten.“ (UB II, S. 251) Wenn Nietzsche behauptet, dass, wenn das Individuum „unvermçgend einen Horizont um sich zu ziehen“ ist, „es matt oder berhastig zu zeitigem Untergange dahin [siecht]“ (UB II, S. 251), thematisiert er schon jenen Spielraum bei der Erschließung des Horizontes. Nach jeder neuen Einverleibung wird die Kraft eben ,unterschiedlich plastisch‘, ,unterschiedlich gestaltend‘, da ihre Wirkung als organisches Phnomen durch das neu im Organismus Assimilierte modifiziert wird. Der Horizont gewinnt so bei Nietzsche den Charakter einer Grundstruktur des Menschlichen, der sich aber nur im Verlauf der Existenz konkret bestimmen lsst. Die Grenzen der menschlichen Erfahrung und der reflektierte Umgang mit diesen Grenzen sind so nicht fixiert. Nietzsche betont nicht nur deutlicher als Herder, dass der Horizont als organisches Konstrukt fluktuant und hoch individuell ausdifferenziert ist, sondern er widmet seine Aufmerksamkeit mehr dem zarten Gleichgewicht 19 Andeutungen ber Kontaktpunkte und Diskontinuitten am klassizistischen und vor allem winckelmannschen Begriff von ,Plastik‘ findet man bei Franz-Hubert Robling, „Plastische Kraft. Versuch ber rhetorische Subjektivitt bei Nietzsche“, in: NietzscheStudien 25 (1996), S. 87 – 98, insb. S. 88 – 90.
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3. Entidealisierung der Geschichte
zwischen dem Unhistorischen und dem Historischen, die „gleichermaassen fr die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes oder einer Cultur nçthig“ sind (UB II, S. 253). Gegenhistorische Diskurse kçnnen dem Menschen dabei helfen, die Unsicherheit zu berwinden, die die Erfahrung der Zeitlichkeit des Seins impliziert, und damit aktiv zu werden. Entweder wird der Horizont punktfçrmig, und man vergisst momentan, dass alles wird, oder man fingiert sich Begriffe, die ber den zeitlichen Horizont hinaus gehen; dazu schafft der Mensch, nicht als Historiker, sondern mit den Krften der Kunst und der Religion, ein ,Sein‘ und ewige Wertsetzungen. Die gefhrliche Verwissenschaftlichung der Historie ist gerade durch eine falsche Einstellung gegenber dem Vergessen charakterisiert: die wissenschaftliche Betrachtung, welche berall ein Gewordnes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges sieht […] lebt in einem innerlichen Widerspruche ebenso gegen die aeternisirenden Mchte der Kunst und Religion, als sie das Vergessen, den Tod des Wissens, hasst, als sie alle Horizont-Umschrnkungen aufzuheben sucht und den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes LichtwellenMeer des erkannten Werdens hineinwirft. (UB II, S. 330)
Wenn der Horizont wegen der unterschiedlichen Intensitt der plastischen Kraft Spielrume kennt, sind auch instabile und deswegen krank machende Horizonte denkbar. Dass der Mensch unfhig sein kann, „einen Horizont um sich zu ziehen“ (UB II, S. 251), muss nicht fr ein Leben ohne Horizont – an sich ein Paradox – sprechen, sondern kann zu einer stndigen Verschiebung des Horizontes selbst fhren. Deswegen ist es nicht nur mçglich, spontan Ekel und Verachtung fr das Fremde – so war es bei Herder – zu empfinden, sondern auch Ekel und Verachtung des Menschen fr sich selbst. Der junge Mensch, dessen Routinierung des Horizontes noch nicht vollstndig sein kann, riskiert vor allem dies: Wo ein feineres und strkeres Bewusstsein zu Grunde lag, stellt sich wohl auch eine andere Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiss er es: in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. (UB II, S. 3299)
War bei Herder der Horizont vom Kreis mittels einer Bewusstseinssteigerung zu unterscheiden, ist in der Perspektive Nietzsches gerade ein berschuss an Bewusstsein eine Ursache dieses Ekels. Als „Erkennende[s] Wesen“ ist zuerst der Mensch in der Lage, die „unhistorische Atmosphre“ (UB II, S. 254), die „umhllende Atmosphre […], in der sich Leben allein erzeugt (UB II, S. 253), „auszuwittern und nachzuathmen“ (UB II, S. 254) und sich „auf einen berhistorischen Standpunkt zu erheben“. Gerade aber die Perspektive des berhistorischen Menschen impliziert ein Wissen, das noch eine Form von „Ekel“ (UB II, S. 256) produzieren kann, dessen Bedeutung fr das Leben nicht eindeutig ist:
3.1. Das Vergessen und die Formen des historischen Diskurses
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Ueberhistorisch wre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil Einer, der auf ihm steht, gar keine Verfhrung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspren kçnnte, dadurch dass er die Eine Bedingung alles Geschehens, jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden, erkannt htte; er wre selbst davon geheilt, die Historie von nun an noch bermssig ernst zu nehmen (UB II, S. 254).
Der berhistorische Mensch lebt also problematisch, da er das Leben tiefer versteht, Illusionen zerstçrt, damit aber auch das Handeln erschwert. Der Denker, der einen solchen Standpunkt einnehmen kann, hat sicher mehr Weisheit „als wir“ (UB II, S. 257), d. h. als die Menschen, die, wie Nietzsche selbst, in einem komplizierten Netz von unhistorisch und historisch, Illusion und Kritik zu leben versuchen; die berhistorischen Menschen haben dennoch weniger „Leben“, so dass „unsere Unweisheit mehr Zukunft haben [wird] als ihre Weisheit“ (UB II, S. 257). Die Beschrnktheit des Horizontes stellt keinen Wert an sich dar, sondern nur darin, dass sie zur Stabilitt des Horizontes beitrgt: Das historische Wissen und Empfinden eines Menschen kann sehr beschrnkt, sein Horizont eingeengt wie der eines Alpenthal-Bewohners sein, in jedes Urtheil mag er eine Ungerechtigkeit, in jede Erfahrung den Irrthum legen, mit ihr der Erste zu sein und trotz aller Ungerechtigkeit und allem Irrthum steht er doch in unberwindlicher Gesundheit und Rstigkeit da und erfreut jedes Auge; whrend dicht neben ihm der bei weitem Gerechtere und Belehrtere krnkelt und zusammenfllt, weil die Linien seines Horizontes immer von Neuem unruhig sich verschieben, weil er sich aus dem viel zarteren Netze seiner Gerechtigkeiten und Wahrheiten nicht wieder zum derben Wollen und Begehren herauswinden kann. (UB II, S. 252)
Nietzsche pldiert gegen einen berschuss an historischem Wissen, aber nicht zugunsten einer einfachen Beschrnkung des kulturellen Horizontes. Der Vorteil des Alpental-Bewohners liegt hauptschlich darin, dass kein berschuss an Reizen und neuen Erfahrungen die Stabilitt seines Horizontes bedroht. Eine Beschrnkung des Horizontes kann an sich dennoch gefhrlich sein. Dadurch wre der Mensch mit seinem kulturellen Milieu identifiziert und wieder ,festgestellt‘, so dass seine nicht allgemein bestimmbare Individualitt verloren ginge. Spter ist es fr Nietzsche die Moral, die den wichtigsten Beitrag zur Beschrnkung des Horizonts leistet, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedrfniss nach beschrnkten Horizonten, nach nchsten Aufgaben pflanzt, – welche die Ve r e n g e r u n g d e r Pe r s p e k t i v e , und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt. (JGB 188)
Die „historische Krankheit“ will so kein Heilmittel im tierischen, unhistorischen Zustand finden. Nietzsches Historie im Dienste des Lebens bençtigt eine komplizierte Verfeinerung unserer spontanen Tendenzen zum Erinnern und Vergessen. Die Heilung von der Historie bençtigt, von Anfang an, Historie:
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3. Entidealisierung der Geschichte
der Ursprung der historischen Bildung […] m u s s selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie m u s s das Problem selbst auflçsen, das Wissen m u s s seinen Stachel gegen sich selbst kehren – dieses dreifache Mu s s ist der Imperativ des Geistes der „neuen Zeit“, falls in ihr wirklich etwas Neues, Mchtiges, Lebensverheißendes und Ursprngliches ist. (UB II, S. 306)
Herder konnte den berschuss an historischer Gelehrsamkeit nicht als Gefahr fr das Leben thematisieren; er fhrte den Missbrauch der Historie nur auf den Gebrauch eines falschen historischen Schemas zurck. Die Aufgabe des guten Geschichtsschreibers und des Philosophen der Geschichte konnte nur der Kampf gegen das Vergessen sein, aber gerade das musste wieder jenen Ekel verursachen, den Nietzsche sowohl bei der historischen als auch bei der berhistorischen Betrachtung der Vergangenheit erkannte. Nietzsche versucht hingegen die schçpferischen Krfte des Menschen zu reaktivieren, indem er die Rolle des Vergessens bei der Geschichtsschreibung bewusst macht. Das Vergessen entlastet das Individuum von der Verantwortung und macht es damit freier und schçpferischer. So kann man mit White sagen, Nietzsches Ziel war die Autoritt aller berkommenen Geschichtsauffassungen abzuschaffen und das Geschichtsdenken wieder an einem poetischen, genauer: metaphorischen Weltverstndnis zu orientieren, was bedeutet, das kreative Vergessen zu fçrdern, so dass Denken und Einbildungskraft unmittelbar auf jene Welt reagieren kçnnen, die da vor ihnen im Chaos liegt, und mit ihr anzufangen, was gegenwrtige Bedrfnisse und Wnsche gebieten.20
3.2. Die Leistungen der Historie fr das Leben nach Nietzsche und bei Herder Historische Erkenntnis und Geschichtsphilosophie nutzen laut Herder der Menschheit, da sie diese menschlicher machen; fr Nietzsche kann die Historie das Leben auf drei unterschiedliche Weisen fçrdern, nmlich antiquarisch, monumental oder kritisch.21 Dieser ausdifferenzierte Blick widerspricht Herders Position nicht, sondern entwickelt sie weiter. Die drei Gebrauchsweisen der Geschichte werden zu Strategien seines gleichfalls am Leben orientierten geschichtsphilosophischen Diskurses, selbst wenn er sie nicht ausdrcklich thematisiert. 20 White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (1973), bers. v. Peter Kohlhaas, Frankfurt am Main 2008, S. 481. 21 Diese drei Arten von Historie entsprechen nach White den drei tropologischen Formen Metonymie, Synekdoche und Ironie. Die monumentalische Historiographie begreift „die Welt in den Kategorien der Begrenzung und Teilung.“ Die antiquarische Historiographie versteht Geschichte als Synekdoche. „Demgegenber ist die kritische Historiographie Geschichte im Zeichen der Ironie.“ (White, Metahistory, S. 452 f.)
3.2. Die Leistungen der Historie fr das Leben nach Nietzsche und bei Herder
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3.2.1. Monumentalische Geschichtsphilosophie Die monumentale Geschichtsschreibung ist auf die Zukunft gerichtet. Sie dient dem „Thtigen und Mchtigen, der einen großen Kampf kmpft, der Vorbilder, Lehrer, Trçster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag“ (UB II, S. 258). Sie spricht einzelne Individuen an, um sie durch Nachahmung zum Handeln zu motivieren. Einzelne Figuren werden als exemplarische Sonderflle dargestellt, und zugleich wird eine Analogie zwischen dem aktuellen Zustand und der Epoche, aus der diese Vorbilder stammen, hergestellt, um damit die Wiederholbarkeit großer Beispiele der Vergangenheit denkbar zu machen. Auch wenn die monumentale Historie berhistorische, zeitlose Werte zu setzen scheint, ist gerade das Bewusstmachen des Werdens eine Bedingung neuer großer Handlungen: aktiv zu sein heißt sich selbst und die eigene Welt zu verndern. Diese Art Historie erinnert nach Nietzsche daran, dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal m ç g l i c h war und deshalb auch wohl wieder einmal mçglich sein wird; er geht muthiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwcheren Stunden anfllt, ob er nicht vielleicht das Unmçgliche wolle, aus dem Felde geschlagen. (UB II, S. 260)
Monumental ist auch Herders Darstellung von Vçlkern; er vereinfacht und stilisiert ihr Bild stark – stellt die einen als friedlich, die andern als kriegerisch dar – und sucht zu zeigen, wie sie die Humanitt der Menschheit im ganzen steigern; es ist aber vor allem das Gesamtbild, das wirken soll. Monumental wirken vielfltige Vçlker, wenn sie, obwohl sie nicht kooperieren und einander sogar bekmpfen, an einem gemeinsamen Projekt mitwirken: Siehest du diesen Strom fortschwimmen: wie er aus einer kleinen Quelle entsprang, wchst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlngelt und weiter und tiefer bohret – bleibt aber immer Wasser! Strom! Tropfe immer nur Tropfe, bis er ins Meer strzt – wenns so mit dem menschlichen Geschlechte wre? Oder siehest du jenen wachsenden Baum! jenen emporstrebenden Menschen! er muß durch verschiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben auf einander in Kontinuitt! (Auch eine Philosophie, 4.41)
Ein guter Geschichtsphilosoph stellt den „Geist der Vernderungen“, den Kulturwandel, als „Kern der Geschichte“ dar (Von der Vernderung des Geschmacks, 1.158). Dabei nimmt er freilich einen distanzierten, bernationalen Standpunkt ein, von dem aus die konkreten historischen Figuren verblassen zugunsten der berhistorischen, etwa gçttlichen, Instanz der Menschheit, in die die Kulturen zusammenstrçmen sollen.22 Historisch aber sind nur die Mani22 Emil Adler, „Pantheismus – Humanitt – Promethie. Ein Beitrag zur Humanittsphilosophie Herders“, in: Johann G. Maltusch (Hg.), Bckeburger Gesprche ber Johann Gottfried Herder 1971, Bckeburg 1973, S. 77 – 90, hat das Verhltnis des Humani-
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3. Entidealisierung der Geschichte
festationen der Humanitt in der Geschichte, nicht die Idee der Humanitt selbst; an sie muss jeweils eigens erinnert werden. So sollen z. B. „die fleißigen Aegypter, die sinnreichen Griechen und die handelnden Phçnicier“ (Ideen, 6.640) eine „gtige Naturordnung“ im Menschengeschlecht beweisen, in dem es „weit weniger Zerstçrer als Erhalter“ gebe. Auch die Zerstçrer als antagonistische Krfte tragen noch zur Monumentalisierung des Human-Werdens der Menschheit bei. Herder vermeidet eine naiv optimistische Interpretation der Historie, schon weil auf friedliche Vçlker auch wieder kriegerische folgen kçnnen und so die Vernunft in der Geschichte nicht einfach fortlaufend gesteigert wird. Gerade die Feinde des Friedens berzeugen den Zuschauer von der dynamischen Natur der Geschichte, die nach jeder Zerstçrung wieder ein neues Gleichgewicht schaffen kann. So hngt alles von der Selektion der Historiker ab: das Andenken jener blhet noch in Ruhm und ihre Wirkung auf Erden ist mit wachsender Kraft unsterblich; dagegen die Verwster mit ihrer dmonischen bermacht nichts anders erreichten, als daß sie auf dem Schutthaufen ihrer Beute ein ppiges, elendes Volk wurden und zuletzt selbst den Giftbecher einer rgern Vergeltung tranken. (Auch eine Philosophie, 4.640)
Nach Nietzsche kann jede Art der Historie missbraucht werden. So kann ein bermaß der monumentalen Historie zum Fanatismus fhren und in den Hnden von aktiven und mchtigen Menschen gefhrlich werden. Noch gefhrlicher aber wre die Lhmung der schçpferischen Krfte, die eintrte, wenn die Historie in die Hnde von kraftlosen Menschen gert, die nichts Neues schaffen kçnnen und nur versuchen, sich selbst zu monumentalisieren und dadurch zu verteidigen. Dann wird die Historie zum Instrument des Ressentiments: Die monumentalische Historie ist das Maskenkleid, in dem sich ihr Hass gegen die Mchtigen und Grossen ihrer Zeit fr gesttigte Bewunderung der Mchtigen und Grossen vergangener Zeiten ausgiebt, in welchem verkappt sie den eigentlichen Sinn jener historischen Betrachtungsart in den entgegengesetzten umkehren; ob sie es deutlich wissen oder nicht, sie handeln jedenfalls so, als ob ihr Wahlspruch wre: lasst die Todten die Lebendigen begraben. (UB II, S. 264)
Herder scheint dieser Gefahr zu entgehen, nicht nur weil er in seiner Geschichtsphilosophie allen drei Arten der Geschichtsschreibung Raum gibt, ttsideals zum Pantheismus untersucht. Auf der Basis der Verbindung von Gott und Humanitt sei es mçglich, dem Menschen, als Teil des gçttlichen Alls, einen unhistorischen Wert zu geben. Hierzu ist auch die Bemerkung von Hans Adler, „Grenzen des historischen Denkens oder: Wie historisch ist J. G. Herders Geschichtsphilosophie?“, in: Peter Andraschke / Helmuth Loos (Hg.), Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West, Freiburg im Breisgau 2002, S. 33 – 43, S. 43, wichtig: „Das Denken dieser Geschichtsphilosophie kann mit den Mitteln des eigenen Diskurses nicht legitimiert werden. Enthistorisierung ist somit eine der systematischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie Herderschen Typs.“
3.2. Die Leistungen der Historie fr das Leben nach Nietzsche und bei Herder
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sondern auch, weil bei ihm das Werden der Vçlker monumental wirken soll. So kçnnen nicht einzelne Momente monumental verabsolutiert werden. Da jedes Volk „den Mittelpunkt seiner Glckseligkeit in sich selbst“ hat (Auch eine Philosophie, 4.41), kann kein einzelnes Stadium des einen Volks ein Monument fr ein anderes Volk werden, nur sein Werden als Ganzes im Verlauf der Menschengeschichte kann beispielhaft sein. 3.2.2. Antiquarische Geschichtsphilosophie: Der Ursprung des Menschen Antiquarisch betrachten die Historie nach Nietzsche diejenigen, die etwas von der Vergangenheit „verehren“ und „bewahren“ wollen (UB II, S. 265). Der antiquarische Historiker verteidigt die Erinnerung der „Bedingungen, unter denen er entstanden ist“; er erinnert an die Ursprnge seiner Gemeinschaft, seiner Stadt, um ein bestimmtes Gefhl der Zugehçrigkeit zu beleben. „Das Wohlgefhl des Baumes an seinen Wurzeln“, so kçnnte man hinzufgen, ist eine erste, naive Form des amor fati. Man lernt durch die antiquarische Geschichte, dass das eigene Dasein als Entfaltung einer Tradition zu verstehen ist, die die eigene Identitt versichert. Hierfr ist erneut die Funktion des Vergessens entscheidend. Vergessen werden die anderen mitwirkenden Ursprnge bzw. vorherigen Zustnde der geschichtlichen Entwicklung des historischen Subjekts. Weil das Vergessen aber auch bedrohlich sein kann, braucht man Antiquare. Antiquarisch ist Herder in seiner Sensibilitt fr den kulturellen Wert der Volkstraditionen; seine Sammlungen von Volksliedern sind beispielhaft dafr. Aber auch als Geschichtsphilosoph arbeitet er antiquarisch, nicht nur, indem er die Ursprnge der einzelnen Vçlker in einen Plan der Menschengeschichte einordnet und dabei in Erinnerung bewahrt, sondern noch mehr dadurch, dass er, die Grenzen der Geschichte einzelner Vçlker berschreitend, nach einem zu bewahrenden Ursprung des Menschengeschlechts berhaupt sucht. Der Geschichtsphilosoph muss entscheiden, was zu unserer Vergangenheit gehçrt und was nicht. So ist eine Untersuchung der ersten Urkunden der Nationen wichtig, damit sie den Wert der Urproduktivitt des Menschen als eines sprachlichen Wesens bewahren kçnnen und damit die Kultur beleben: Der Denkart der Nationen bin ich nachgeschlichen, und was ich ohne System und Grblerei herausgebracht, ist: daß jede sich Urkunden gebildet, nach der Religion ihres Landes, der Tradition ihrer Vter und den Begriffen der Nation: daß diese Urkunden in einer dichterischen Sprache, in dichterischen Einkleidungen und poetischen Rhythmus erschienen: also „Mythologische Nationalgesnge vom Ursprunge ihrer ltesten Merkwrdigkeiten“. (ber die ersten Urkunden, 5.15 – 16)
Antiquarisch bewahrt man, was immer schon zum Menschen gehçrt, seine kulturelle Identitt ausmacht, aber dennoch vergessen wurde. Der wahre An-
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3. Entidealisierung der Geschichte
tiquar kann die Bedingung der Entstehung eines historisch-kulturellen Horizonts erfassen, seine sinnliche Einbildungskraft: Die wahre Gestalt des sinnlichen Menschen, das ganze Gymnasium der Einbildungskraft und der Dichtung, die erste und starke Politik des Witzes und Scharfsinns, die einfachen Triebfedern der Leidenschaften und Nationalvorurteile – alles, was wir vom Menschen in unsern verfeinerten Zeiten nur in schwachen dunkeln Zgen finden, lebet in den Urkunden dieses Weltalters. Unser Jahrhundert ist zu fein, zu Politisch, und Philosophisch: oder eine andere Gattung von Menschen sind nichts als Zusammenschreiber und Gedankenlose Antiquarien, als daß wir schon eine Philosophische Geschichte dieses Poetischen Zeitpunkts htten haben kçnnen: denn wie viele Menschen gibts wohl, die in ihren weltweisen, Staatskundigen, reifen Jahren sich der Kindheit ihrer Jahre nicht schmen? und wie viel wre doch aus diesen zu lernen? (ber die ersten Urkunden, 5.15 – 16)
Antiquarisch wird das Forschungsfeld der Geschichtsphilosophie bewusst eingeschrnkt. Wo Herder im vierten Teil der Ideen die Ursprnge des christlichen Europas isoliert, um der Identitt des Europers des 19. Jahrhunderts ein festes Fundament zu geben, lsst er der historischen Betrachtung außereuropischer Vçlker und Kulturen bewusst wenig Raum. Sich zu sehr mit der Geschichte von Asiaten und Afrikanern zu beschftigen, kçnne dem Leben nicht dienlich sein, „wenn man seine Meinung ber Vçlker und Zeiten verhllen mßte, die uns so viel nher angehn, als alles, was jenseits der Alpen und des Taurus lngst im Staube lieget“ (Ideen, 6.676). ber die „Europische Republik“ sagt er: „lasset uns zuerst die Vçlker kennen lernen, die zu dem Bau dieses großen Riesentempels ttig oder leidend beitrugen.“ (Ideen, 6.678) Besonders muss in der Erinnerung an den Ursprung der europischen Identitt die Bedeutung des Christentums hervorgehoben werden. Zwischen dem ersten „lebendigen Entwurf [Jesu Christi] zum Wohl der Menschen“ (Ideen, 6.710) und dem aktuellen Zustand Europas besteht fr Herder eine ungebrochene Kontinuitt, der auch der Verlust der Kirchen an moralischer Autoritt vor der Reformation nicht widersprechen kann. Obwohl das Christentum zu einem „trben Abfluß“ der „reinen Quelle“ Christi geworden und den germanischen Vçlkern als eine „gedankelos[e] Anbetung“ (Ideen, 6.710) vermittelt worden sei, gebe das Bild Christi vor der Geschichte der ganzen Historie Sinn und Orientierung: „vor der ganzen Geschichte, die von Dir abstammt, stehe Deine stille Gestalt allein.“ Die gleichzeitige Monumentalisierung und Antiquarisierung Christi ist die unhistorische Bedingung eines historischen Diskurses, der die Menschen auch durch eschatologische Erwartungen zum Handeln motivieren will. In einem noch tieferen und wirksameren Sinne antiquarisch ist Herders Geschichtsphilosophie in der Vorstellung eines einheitlichen Menschengeschlechts, das sich in der Geschichte erst ausdifferenziert. Der Titel eines Kapitels des zweiten Teils der Ideen drckt dies am deutlichsten aus: „Das eine Menschengeschlecht hat sich allenthalben auf der Erde klimatisiert“ (Ideen,
3.2. Die Leistungen der Historie fr das Leben nach Nietzsche und bei Herder
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6.256). Der Mensch, weiß Herder, ist „keine unabhngige Substanz“ und steht „mit allen Elementen der Natur in Verbindung“; sein ganzer „Lebenslauf“ ist „Verwandlung“ (Ideen, 6.252). Herders Geschichtsphilosophie kennt eine gçttliche Schçpfung, die in den Naturprozessen weiter fortwirkt; sie betont die Ausdifferenzierung der Vçlker unter dem Druck einer bestimmten Umwelt und durch Interaktion untereinander. Aber die Vorstellung einer ursprnglichen, natrlichen, unhistorischen, idealen und undifferenzierten Ureinheit hinter der Vielfltigkeit der Menschentypen und Vçlker ist es, die den letzten Halt in der Suche nach Identitt bietet: Da indessen der menschliche Verstand in aller Vielartigkeit Einheit sucht und der gçttliche Verstand, sein Vorbild, mit dem zahllosesten Mancherlei auf der Erde berall Einheit vermhlt hat: so drfen wir auch hier aus dem ungeheuren Reich der Vernderungen auf den einfachsten Satz zurckkehren: nur Ein’ und dieselbe Gattung ist das Menschengeschlecht auf der Erde. (Ideen, 6.253)
Die Unterscheidung von Rassen befriedigt nach Herder nur das wissenschaftliche Bedrfnis der Wissenschaften nach Rubrizierungen: Endlich wnschte ich auch die Unterscheidungen, die man aus rhmlichem Eifer fr die berschauende Wissenschaft, dem Menschengeschlecht zwischengeschoben hat, nicht ber die Grenzen erweitert. So haben einige z. B. vier oder fnf Abteilungen desselben, die ursprnglich nach Gegenden oder gar nach Farben gemacht waren, Rassen zu nennen gewaget; ich sehe keine Ursache dieser Benennung. Rasse leitet auf eine Verschiedenheit der Abstammung, die hier entweder gar nicht statt findet, oder in jedem dieser Weltstriche unter jeder dieser Farben die verschiedensten Rassen begreift. Denn jedes Volk ist Volk […]. : es hat seine NationalBildung, wie seine Sprache; zwar hat der Himmelsstrich ber alle bald ein Geprge, bald nur einen linden Schleier gebreitet, der aber das ursprngliche Stammgebilde der Nation nicht zerstçret. […] Kurz, weder vier oder fnf Rassen, noch ausschließende Varietten gibt es auf der Erde. Die Farben verlieren sich in einander: die Bildungen dienen dem genetischen Charakter; und im Ganzen wird zuletzt alles nur Schattierung eines und desselben großen Gemldes, das sich durch alle Rume und Zeiten der Erde verbreitet. (Ideen, 6.255 – 256)
Das Bewusstsein der Einheit der Menschen steigert zugleich die Sensibilitt fr unterschiedliche Fremdheiten: weder der Pongo, noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrcken, nicht morden, nicht stehlen: denn er ist ein Mensch, wie du bist (Ideen, 6.255).
Nach Nietzsche entartet die antiquarische Historie „in dem Augenblicke, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert“. Und „auch wenn jene Entartung nicht eintritt“, neigt sie dazu, „allein Leben zu bewahren, nicht zu zeugen“ (UB II, S. 268). Doch soll ja gerade das bewahrt werden, was unendliche Vernderung bewirkt. Antiquarische Geschichtsschreibung stellt vorhistorische Maxima kultureller Plastizitt dar, die immer neuen Ausdruck finden kçnnen. Den Ursprung bewahren zu wollen impliziert, dass
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3. Entidealisierung der Geschichte
das Menschengeschlecht plastisch bleiben kann, dass neue kulturelle Experimente riskiert werden, neue Lebensformen entstehen kçnnen. So hat die antiquarische Geschichtsschreibung nur noch den Sinn, die lebendigen Mçglichkeiten des historischen Daseins des Menschen in Erinnerung zu behalten. So dient sie dem Leben. 3.2.3. Kritischer Gebrauch der Geschichtsphilosophie: Die Gegenwart des Menschen Die Geschichtsphilosophie kann kritisch sein, auch wenn sie Gesetze der Geschichte feststellt, die ihrerseits nicht geschichtlich sein sollen: sie kann kulturelle Institutionen unterschiedlich fassen, Institutionen als Momente eines Entartungsprozesses darstellen, ihren Wert nur als Funktion anderer Institutionen interpretieren oder sie als zu wenig ,naturgemß‘ verurteilen. Außerdem tritt sie stets kritisch gegen andere Geschichtsphilosophien an, stellt deren Schemata ihre eigenen entgegen. Fr Nietzsche ist ein Gebrauch der Historie kritisch, wenn er fhig ist, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulçsen, um leben zu kçnnen.“ (UB II, S. 269) Es geht dann nicht um ,Gerechtigkeit‘, auch nicht um ,Gnade‘, sondern um das Leben selbst, das sich wechselnden Umstnden und Bedrfnissen anpassen kçnnen muss. Dabei kçnnen sowohl die Bedingungen der Anpassungen wie die Anpassungen selbst der Vergessenheit anheimfallen. Reflektiert werden sie nur, wenn unter ihnen gelitten wird: Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. (UB II, S. 269 – 270)
Was die kritische Historie zerstçrt, beschreibt Nietzsche auch als eine „erste Natur“, der eine zweite folgen soll. Beide werden zur ,Natur‘ durch das Vergessen ihrer Nicht-Natrlichkeit, ihrer Historizitt, und weisen somit letztlich einen historischen Charakter auf. Auch der Natur, zu der die ,Vernatrlichung‘ den Menschen zurckfhrt, ist man sich als historischem Produkt des Menschen bewusst. Darin hat die kritische Historie fr Nietzsche ihre hçhere Bedeutung; sie bereitet, wie schon gezeigt wurde, ein historisches Philosophieren vor, das zu einer neuen Form des Kritizismus wird.23 Dass auch sie einen unhistorischen Standpunkt voraussetzt, ist evident; auch ,das Leben‘ ist eine berhistorische Instanz. Wird die kritische Historie konsequent weiter betrieben, wird auch 23 Vgl. Aldo Lanfranconi, Nietzsches historische Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000.
3.2. Die Leistungen der Historie fr das Leben nach Nietzsche und bei Herder
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dieser berhistorische Anhaltspunkt als eine Illusion entlarvt. Nietzsche vollzieht diesen Schritt spter mit seiner Genealogie, und auch seine Rekonstruktion der Entstehung des historischen Sinns, die wir spter diskutieren werden, zeigt, wie er auch die Genese der eigenen Kritik noch als problematisch darstellt. Herders philosophische Betrachtung der Historie ist besonders gegenber der Geschichtsphilosophie seiner Zeit kritisch, deren selbstlegitimierende Tendenzen er angreift.24 Die „Philosophie des Jahrhunderts“ wirkt auf Herder als „kalte Philosophie“ (Auch eine Philosophie, 4.16). Sie lsst die lebendige Energie der Menschen durch eine Form falscher Kulturkritik erfrieren, die in der „Kindheit der Menschheit“ nur Fehler und kein „Vehikulum alles Guten“ (Auch eine Philosophie, 4.16) sieht. Die Geschichte wurde im 18. Jahrhundert so rekonstruiert, dass sie hauptschlich eine allmhliche „Hervorbringung menschlicher Autonomie“ darstellte.25 Dies implizierte, dass der Mensch geschichtsphilosophisch „in jene Stelle des Subjekts und Tters der Geschichte eintritt, die geschichtstheologisch – also mindestens von Augustinus bis Bossuet – Gott innehatte.“26 Nach dem Maßstab der Autonomie fr den Fortschritt der Geschichte blieben „Unwissenheit und Bewundrung“, „Einbildung und Ehrfurcht“, „Enthusiasmus und Kindessinn“ (Auch eine Philosophie, 4.16) nur Zeichen niedrigerer Kulturen. Wenn die abstrakte, allgemeine Vernunft das Wesen des Menschen bestimmt, gelten alle anderen Manifestationen des Menschlichen als unvernnftig und unmenschlich. Dazu gehçren dann auch die (menschliche) Idee einer gçttlichen Vorsehung mit den Menschen und alle unaufgeklrten Traditionen und Vorurteile, die fr Herder gerade den menschlichen Horizont ausmachen.27
24 Es wurde bereits betont, dass „der berwiegende Teil von Herders Schriften polemischen Charakters [ist]“ (Hans Dietrich Irmscher, „Methodische Aspekte in Herders Schriften“, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Wrzburg 1994, S. 19 – 38, S. 20). Dies hat nach Irmscher nicht nur rhetorische Grnde, da auch die „antithetische Redeform“ Zugang zur „widersprchlichen Struktur der Wirklichkeit“ sei. Nietzsches und Herders Kritik und Polemik haben nur scheinbar dieselbe Herkunft. Herder betont wohl im Spiel der organischen Krfte wie im historischen Werden eine dialektische Struktur, will aber auf Harmonie hinaus, Nietzsche in seinem Heraklitismus nicht, seine Dialektik bleibt ohne Synthesis, und insofern ist seine Kritik radikaler. Zu den dialektischen Zgen in Herders Geschichtsphilosophie vgl. insbes. die Beitrge von Heinrich Scheel, „Herder und die Geschichte“, S. 28 – 47, u. Wolfgang Heise, „Realistik und Utopie in Herders Humanittskonzept“, S. 73 – 114, im Sammelband: Walter Dietze (Hg.), Herder-Kolloquium 1978. Referate und Diskussionsbeitrge, Weimar 1980. 25 Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1973, S. 67. 26 Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 68. 27 Dies bedeutet nicht, dass Herder zu einem Leben unter Vorurteilen ermutigen wollte. Vorurteile entfalten ihre positive Funktion nur so lange, wie sie nicht als Vorurteile erkannt werden. Sind sie einmal als Vorurteile erkannt, werden sie problematisch und kçnnen das Leben bzw. das Glck nicht mehr fçrdern. Sie dann noch festhalten zu wollen, wre eine Form von Ideologie, die man dann instrumentell einsetzen kann, was das Programm der Bildung der Menschheit aber gerade ausschließt.
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3. Entidealisierung der Geschichte
Auch Nietzsche greift die thermische Metaphorik auf: das „ehrwrdigste Exemplar der Gattung Mensch“ wolle die Wahrheit „nicht nur als kalte folgenlose Erkenntniss“ (UB II, S. 285 f.), es werde, anders als die „historisch[en] Virtuosen der Gegenwart“ nicht zu einem „kalten Dmon der Erkenntniss“ (UB II, S. 288). Die ,warme‘, das Leben belebende historische Erkenntnis verfolgt auch fr ihn ein Ideal der Gerechtigkeit: Wahrlich, niemand hat in hçherem Grade einen Anspruch auf unsere Verehrung als der, welcher den Trieb und die Kraft zur Gerechtigkeit besitzt. Denn in ihr vereinigen und verbergen sich die hçchsten und seltensten Tugenden wie in einem unergrndlichen Meere, das von allen Seiten Strçme empfngt und in sich verschlingt. Die Hand des Gerechten, der Gericht zu halten befugt ist, erzittert nicht mehr, wenn sie die Wage hlt; unerbittlich gegen sich selbst legt er Gewicht auf Gewicht, sein Auge trbt sich nicht, wenn die Wagschalen steigen und sinken, und seine Stimme klingt weder hart noch gebrochen, wenn er das Urtheil verkndet. Wre er ein kalter Dmon der Erkenntniss, so wrde er um sich die eisige Atmosphre einer bermenschlich schrecklichen Majestt ausbreiten, die wir zu frchten, nicht zu verehren htten: aber dass er ein Mensch ist und doch aus lsslichem Zweifel zu strenger Gewissheit, aus duldsamer Milde zum Imperativ „du musst“, aus der seltenen Tugend der Grossmuth zur allerseltensten der Gerechtigkeit emporzusteigen versucht, dass er jetzt jenem Dmon hnelt, ohne von Anbeginn etwas Anderes als ein armer Mensch zu sein, und vor Allem, dass er in jedem Augenblicke an sich selbst sein Menschenthum zu bssen hat und sich an einer unmçglichen Tugend tragisch verzehrt (UB II, S. 286).
Gute Historie ist fr Nietzsche eine „ordnende und strafende Richterin“ (UB II, S. 287), die Werte setzt und so dem Handeln Anhaltspunkte bietet. Sie schafft eine Rangordnung – wie die „neue Gerechtigkeit“ (FW 289) eines neuen Philosophen, die „eine philosophische Gesammt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken“ (FW 289) darstellt. Die Wahrheit des gerechten Historikers darf keine „der viele[n] gleichgltige[n] Wahrheiten“ (UB II, S. 287 – 288) sein, und so kostet sie „Ueberwindung“ und „Aufopferung“. Sie ist von bloßer Toleranz weit entfernt: Wie niedrig steht, an ihr gemessen, schon die Grossmuth auf der Stufenleiter der Tugenden, die Grossmuth, welche die Eigenschaft einiger und seltener Historiker ist! Aber viel Mehrere bringen es nur zur Toleranz, zum Geltenlassen des einmal nicht Wegzulugnenden, zum Zurechtlegen und maassvoll-wohlwollenden Beschçnigen, in der klugen Annahme, dass der Unerfahrene es als Tugend der Gerechtigkeit auslege, wenn das Vergangene berhaupt ohne harte Accente und ohne den Ausdruck des Hasses erzhlt wird. Aber, nur die berlegene Kraft kann richten, die Schwche muss toleriren, wenn sie nicht Strke heucheln und die Gerechtigkeit auf dem Richterstuhle zur Schauspielerin machen will. Nun ist sogar noch eine frchterliche Species von Historikern brig, tchtige, strenge und ehrliche Charaktere – aber enge Kçpfe; hier ist der gute Wille gerecht zu sein eben so vorhanden wie das Pathos des Richterthums: aber alle Richtersprche sind falsch, ungefhr aus dem gleichen Grunde, aus dem die Urtheilssprche der gewçhnlichen Geschwo-
3.2. Die Leistungen der Historie fr das Leben nach Nietzsche und bei Herder
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renen-Collegien falsch sind. Wie unwahrscheinlich ist also die Hufigkeit des historischen Talentes! (UB II, S. 288 – 289)
Eine solche Gerechtigkeit wollte auch Herder, wenn er als Richter ber die Aufklrung und seine Geschichtsphilosophie auftrat. Er wollte selbst urteilen, er jedoch vom Standpunkt der Humanitt aus, aber ohne das blinde Vertrauen auf die hçhere Humanitt, die hçhere Moralitt der eigenen Epoche. Dass die eigene Epoche die jeweils letzte ist, macht aus ihr nicht die Krçnung der Geschichte. Auch wenn die Tçne der Aufklrung menschenfreundlicher als die frherer Zeiten klingen, verraten sie die Lust, sich zum strafenden Richter derer zu erheben, die nicht an ihr teilhaben: Und der allgemeine, philosophische, Menschenfreundliche Ton unsres Jahrhunderts gçnnet jeder entfernten Nation, jedem ltesten Zeitalter der Welt, an Tugend und Glckseligkeit so gern „unser eigen Ideal“? ist so alleiniger Richter, ihre Sitten nach sich allein zu beurteilen? zu verdammen? Oder schçn zu dichten? (Auch eine Philosophie, 4.40)
Er bemerkt ironisch, die europische Kolonie wolle eine allgemeine Erleuchtung der Welt, durch die „alle Menschen wie wir“ werden sollen: „gute, starke, glckliche Menschen“ (Auch eine Philosophie, 4.71). In ihrem Glauben an die berlegenheit ihrer „Knste“ verberge sie sich ihr reales çkonomisches Interesse, was ihr ihre Legitimitt entzieht: Alle Knste, die wir treiben, wie hoch gestiegen! Kann man sich etwas ber jene Regierungskunst, das System! Die Wissenschaft zur Bildung der Menschheit denken? die ganze einzige Triebfeder unsrer Staaten, Furcht und Geld. Ohne Religion (die kindische Triebfeder!) ohne Ehre und Seelenfreiheit und Menschenglckseligkeit im mindsten zu brauchen. Wie wissen wir, den einzigen Gott aller Gçtter, Mammon, als zweiten Proteus zu erhaschen! Und wie zu verwandeln! Und wie alles von ihm zu erzwingen, was wir nur wollen! – hçchste glckselige Regierungskunst! (Auch eine Philosophie, 4.72)
Im modernen Staat habe sich lediglich der Spielraum fr freie und verantwortliche moralische Handlungen verengt: „Ob man nicht she, daß wir alle Laster und Tugenden der vergangenen Zeit nicht haben, weil wir – durchaus nicht ihren Stand, Krfte und Saft, Raum und Element haben“ (Auch eine Philosophie, 4.79). Nur weil der Staat „poliziert“ ist, scheinen die Brger weniger kriminell. Die gegenwrtigen Europer tuschen sich ber die realen Grnde nun ausbleibender Brgerkriege: Haben wir „keine brgerlichen Kriege“, weil wir alle so zufriedene, allgesttigte, glckliche Untertanen sind? Oder ists nicht eben aus Ursachen, die oft das Gegenteil begleiten? Kein Laster – weil wir alle so viel hinreissende Tugend, Griechenfreiheit, Rçmerpatriotism, Morgenlandsfrçmmigkeit, Ritterlehre, und alle im grçßten Maße – oder ists nicht gerade weil wir den allen keine haben, und leider also auch ihre einseitige verteilte Laster nicht haben kçnnen? (Auch eine Philosophie, 4.79 f.)
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3. Entidealisierung der Geschichte
Als Richter ist Herder intolerant gegenber der Intoleranz der Aufklrung. Er beansprucht damit wie Nietzsche eine hçhere Gerechtigkeit, die dem Leben durch Selbstkritik dienen soll.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt Herder bestreitet den Fortschritt als Maßstab der Beurteilung der Vçlker und Nationen und vermeidet doch nicht vçllig, von einem Fortschritt der Menschengeschichte zu sprechen. Wie kann man noch von ,Fortschritt‘ sprechen, wenn man es nur noch mit unterschiedlichen Entwicklungsprozessen individueller Kulturen zu tun hat? Riskiert er nicht, wenn er sie nach seinem eurozentrischen Humanittsideal beurteilt, eine Relativierung ihres Werts? Macht es einen Unterschied, dass Herder anders als Nietzsche nie von Kulturen im Plural, sondern immer im Singular spricht?28 Der Unterschied liegt darin, dass Nietzsche sich von der Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts lçst und nur noch von persçnlichen Fortschritten spricht. Dem fllt dann auch Herders eudmonistischer Horizont zum Opfer. 3.3.1. Herder: Fortschritt der Vçlker zum Glck Herder geht in der Abhandlung noch von der Idee eines linearen Fortschritts des ganzen Menschengeschlechts aus, wenn er das vierte Naturgesetz der Sprachentwicklung so formuliert: „So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das menschliche Geschlecht Ein progressives Ganzes von Einem Ursprunge in Einer großen 28 „Erst gut 100 Jahre, nachdem das Singularetantum Kultur eine wichtige Rolle fr die Neufassung der Geschichte der Menschheit bei Herder spielte, wurde der Plural Kulturen zuerst bei Jacob Burckhardt in die Sprache der Geisteswissenschaften eingefhrt und von Nietzsche aufgenommen und verbreitet. […] Beim frhen Nietzsche wird das, was Herder in dem immer wieder zitierten Satz ,jede Nation hat ihren M i t t e l p u n k t der Glckseligkeit i n s i c h , wie jede Kugel ihren Schwerpunkt‘ zum Ausdruck bringt, grundstzlich mit den Worten Kultur und Kulturen verbunden. War bei Herder mit dem Singularetantum Kultur noch vor allem der Vorgang der Bildung und Aufklrung gemeint, so ist die einzelne Kultur im Gegensatz zu anderen Kulturen beim frhen Nietzsche insbesondere durch das Maß ihrer Einheitlichkeit bestimmt.“ (Rolf Ebersfeld, „Durchbruch zum Plural. Der Begriff der ,Kulturen‘ bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, 38 (2008), S. 115 – 142, S. 116 u. S. 123 f.). Nach Marion Heinz, „Kulturtheorien der Aufklrung. Herder und Kant“, in: Regine Otto (Hg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Wrzburg 1996, S. 139 – 152, S. 141, denkt Herder gleichwohl an einen Pluralismus der Kulturen. Vgl. auch Ulrich Gaier, „Herder als Begrnder des modernen Kulturbegriffs“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. 57, Heft 1 (2007), S. 5 – 18.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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Haushaltung ausmacht: so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bildung“. (Abhandlung, 1.799) Er spricht von einem „genetischen Beweis“ der „wahre[n] Richtung der Menschheit“ (Abhandlung, 1.716), die evident werde, wenn man „in der Hçhle jener großen Entbehrung von Kunsttrieben den Keim zum Ersatze“ erkenne. Indem der Mensch die ,Besonnenheit‘, die ,Vernunftmßigkeit‘ in sich realisiere, schreite er fort. Fortschritt ist dann im Sinne der Aufklrung Steigerung der Vernnftigkeit. Dennoch ist Herders Vernunft an nicht vollkommen rationalisierbare Krften des Lebens, vor allem an den Leib und seine Triebe gebunden. Das lsst wiederum an einen Fortschritt als Harmonisierung von Vernunft und Trieben denken, die im Naturzustand schon einmal harmonisch waren. Bildung soll das ausbilden, was im Menschen schon angelegt ist und was die Zivilisation mit ihrem Verlust an lebendiger Expressivitt der Sprache unterdrckt hat. Tino Markworth hat schon gezeigt, dass sich Herders Geschichtsphilosophie in den Jahren zwischen 1770 und 1773 entscheidend vernderte und damit auch seine Auffassung des Fortschritts.29 „Fortgang und Entwicklung“ in der Geschichte sind in Auch eine Philosophie „in einem hçhern Sinne“ (Auch eine Philosophie, 4.40) gemeint. Es geht nun um den Versuch, das, was in der Perspektive eines linearen Fortschritts als sinn- und wertlos betrachtet wird, in eine Theodizee der Geschichte zu reintegrieren: in ihr soll jede Manifestation der Menschengeschichte ihren eigenen Wert haben.30
29 „Die von Herder in der Sprachschrift favorisierte Auffassung von der Geschichte als kontinuierlichem, progressivem Wirkungszusammenhang hlt sich bis mindestens Mitte 1771 durch und wird im ersten Entwurf des Shakespeare-Aufsatzes 1771 durch neue Akzente (Beschreibung der geschichtlichen Totalitt in Analogie zum Drama Shakespeares) ergnzt. Sptestens im Februar 1772 kommt es dann zu einem Bruch mit diesem Modell. Herder sieht zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Mçglichkeit einer Konstruktion von Geschichtsphilosophie als gegeben an. Erst im August 1772, bzw. im Herbst 1772, ndert sich erneut die geschichtsphilosophische Konzeption Herders, indem der bereits in der Sprachschrift implizierte funktionale Anspruch an eine sinnetablierende Geschichtsphilosophie, nmlich Geschichte als ganzen, kontinuierlichen Wirkungszusammenhang zu interpretieren, wieder als einlçsbar erachtet wird. Diese Neukonzeption ist allerdings inhaltlich insofern anders gefllt, als das kulturelle Fortschrittsmodell aus der Sprachschrift aufgegeben und durch ein auf positiver ontologischer Grundlage operierendes Entwicklungsmodell ersetzt wird, dessen Funktionstchtigkeit durch gçttlichen Einfluß abgesichert ist.“ (Tino Markworth, „Unterwegs zum Historismus. Der Wandel des geschichtsphilosophischen Denkens Herders“, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Wrzburg 1994, S. 51 – 60., S. 58 – 59). 30 Herders Verwandlung der Geschichtsphilosophie in Theodizee bereitet die idealistische Geschichtsphilosophie vor, so Dsing, „Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit in Herders Auch eine Philosophie der Geschichte“, in: Brigitte Poschmann (Hg.), Bckeburger Gesprche ber Johann Gottfried Herder 1983, Rinteln 1984, S. 50.
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3. Entidealisierung der Geschichte
Herder argumentiert nun nicht nur theologisch, sondern auch eudmonistisch gegen eine lineare Auffassung des Fortschritts.31 Eine unbeschrnkte Erweiterung der Rolle der Vernunft im Leben des Menschen wird ihm nun fragwrdig: gerade die Vernunft kçnnte das Glcksstreben frustrieren, das fr Herder eine berhistorische Konstante der Menschheit bleibt. Der Mensch ist „ein Sohn des Glcks“ (Ideen, 6.327), der durch das Streben nach Glck, „das ihn hie oder dahin setzte“, zu einer bestimmten Lebensform gebracht wird. Hauptfehler der Aufklrung war gerade, ein fr alle gleiches Glck anzunehmen: Ist nmlich wiederum menschliche Natur kein Gefß einer absoluten, unabhngigen, unwandelbaren Glckseligkeit, wie der Philosoph sie definiert: sie zieht aber berall so viel Glckseligkeit an, als sie kann: ein biegsamer Ton, sich in den verschiedensten Lagen, Bedrfnissen und Bedrckungen auch verschieden zu formen: selbst das Bild der Glckseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche – (denn was ist dies je anders als die Summe von „Wunschbefriedigungen, Zweckerreichungen und sanftem berwinden der Bedrfnisse“, die sich doch alle nach Land, Zeit und Ort gestalten?) im Grunde also wird alle Vergleichung misslich. (Auch eine Philosophie, 4.38)
Herder veranschaulicht das mit der naturalistischen Metaphorik eines wachsenden Baumes: Oder siehest du jenen wachsenden Baum! jenen emporstrebenden Menschen! er muß durch verschiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben auf einander in Kontinuitt! Zwischen jedem sind scheinbare Ruhepltze, Revolutionen! Vernderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glckseligkeit in sich selbst! (Auch eine Philosophie, 4.40)
Es „wre unsinnig-stolz die Anmaßung, daß die Bewohner aller Weltteile Europer sein mssten, um glcklich zu leben“ (Ideen, 6.327). Das Glck ist „klimatisch und organisch“ bestimmt. Es ist „ein Kind der bung, der Tradition und Gewohnheit“; „nach dem Lande, der Zeit, der Organisation, den Umstnden“ ndert sich „auch die Fhigkeit seines Genusses, die Art und das Maß seiner Freuden und Leiden“ (Ideen, 6.327) So liegt „das Maß und die Bestimmung des Glcks nicht außer, sondern in der Brust eines jeden einzelnen Wesens“. Darum ist jede normative Verallgemeinerung individueller Glckserlebnisse illegitim: niemand „hat so wenig Recht, mich zu seinem Gefhl zu zwingen, als es ja keine Macht hat, mir seine Empfindungsart zu geben und das 31 Dass bei Herder nicht nur die Geschichtsphilosophie, sondern auch die Anthropologie eine eudmonistische Bedeutung gewinnt, hat Josef Simon, „Herder and the problematization of metaphysics“, in: Mueller-Vollmer (Hg.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 108 – 125, S. 123, gezeigt: „For Herder it is important to think of oneself, of man and of history in such a way, that as a thinking being one cannot only live with such thoughts in one’s time, but can also be happy in the realization of the particular concept of oneself.“
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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Meine in Sein Dasein zu verwandeln“ (Ideen, 6.327). Gegen normative Verallgemeinerungen des Glcks spricht letztlich die unvollkommene Natur des Menschen, die immer nur ein beschrnktes Glck zulsst: „schon der Name Glckseligkeit deutet an, daß der Mensch keiner reinen Seligkeit fhig sei, noch sich dieselbe erschaffen mçge“ (Ideen, 6.327). Motor der Geschichte ist so nicht die Vernunft, sondern das Glcksgefhl. Dies ist immer von einem Gefhl der eigenen aktiven Lebendigkeit begleitet, das durch die bung der eigenen Krfte entsteht. Denn der Organismus empfindet und entwickelt von Natur aus die eigenen „Sinne[] und Glieder[] […] zum Gebrauch, zur bung“ (Ideen, 6.328). Das bloße Lebensgefhl reizt zu einer Aktivitt, die fr Herder Bedingung jeder Gesundheit ist. Und diese Gesundheit ist dann wieder „die erste unentbehrliche Grundlage der Glckseligkeit“ (Ideen, 6.328). Dabei soll sowohl eine bertriebene Verfeinerung der Sinnlichkeit als auch eine einseitige Entwicklung der intellektuellen Krfte vermieden werden: Der wachende, gesunde Gebrauch der Sinne, ttiger Verstand in wirklichen Fllen des Lebens, muntere Aufmerksamkeit mit reger Erinnerung, mit schnellem Entschluß, mit glcklicher Wirkung begleitet; sie allein sind das, was wir Gegenwart des Geistes, innere Lebenskraft nennen, die sich also auch mit dem Gefhl einer gegenwrtigen wirksamen Kraft, mit Glckseligkeit und Freude selbst belohnet. (Ideen, 6.329)
Nicht die „unzeitige, maßlose Verfeinerung oder Ausbildung“, nicht die „tote Nomenklatur aller Wissenschaften“, nicht der „seiltnzerische Gebrauch aller Knste“ (Ideen, 6.329 – 330) schaffen Gesundheit und Glckseligkeit, sondern „auf dem Gebrauch der ganzen Seele, insonderheit ihrer ttigen Krfte ruhet der Segen der Gesundheit.“ (Ideen, 6.330). Auch wenn Herder schreibt, es seien „weit mehr die Empfindungen des Herzens als die Wirkungen einer tiefsinnigen Vernunft, die uns mit Liebe und Freude am Leben lçhnen“ (Ideen, 6.330), wird man Glck bei ihm nicht als ein rein irrationales Gefhl, eine reine Empfindung betrachten drfen. Glck, „mehr ein stilles Gefhl als ein glnzender Gedanke“ (Ideen, 6.330), bedeutet viel eher ein Gleichgewicht der Leidenschaften: Kurz, das menschliche Gefhl hat alle Formen erhalten, die auf unsrer Kugel in den verschiednen Klimaten, Zustnden und Organisationen der Menschen nur statt fanden; allenthalben aber liegt Glckseligkeit des Lebens nicht in der whlenden Menge von Empfindungen und Gedanken, sondern in ihrem Verhltnis zum wirklichen innern Genuß unseres Daseins und dessen, was wir zu unserm Dasein rechnen. (Ideen, 6.331 – 332)
Ein ,Verhltnis‘ herzustellen, ,etwas zu unserm Dasein zu rechnen‘ setzt Reflexion voraus: man muss eine Vorstellung vom guten Leben haben, um von sich sagen zu kçnnen, dass man glcklich sei. Die Reflexion hat hier jedoch die Gestalt individueller Selbstbesinnung. Ist der Mensch „noch nicht vernnftig“,
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3. Entidealisierung der Geschichte
so ist er doch „einer bessern Vernunft fhig, wenn noch nicht zur Humanitt gebildet, so doch zu ihr bildbar.“ (Ideen, 6.146) Um Glck kann es bei dieser Vernunft nur gehen, wenn es nicht allein auf logische Begrndbarkeit ankommt, sondern ein Spielraum fr Sitten und Gebruche bleibt. Das Vorurteil ist dann nicht nur ein „Vehikulum von Bildung“ (Auch eine Philosophie, 4.22), sondern „das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glcklich.“ (Auch eine Philosophie, 4.39). Des Glckes wegen drfen daraus dennoch keine Dogmen gemacht werden; dass ,die Vorurteile ihre Zeit haben‘, heißt gerade, dass sie keine berhistorische und berkulturelle Gltigkeit in Anspruch nehmen kçnnen.32 Werden sie als Vorurteile erkannt, mssen sie auch schon aufgegeben werden, denn wenn sie nicht mehr selbstverstndlich sind, leisten sie auch nichts mehr fr das Leben. So entspringt auch fr Herder Wahrheit aus ihrer berwindung, und darin liegt wiederum ein Fortschritt: Will ich mir die Menschheit hienieden als lauter Licht, Wahrheit, leidenschaftlose Gte u. dgl. denken: so ist’s ein falsches Ideal; das Licht kann nur aus berwundnen Schatten, die Wahrheit aus besiegtem Vorurteil, die Leidenschaft fr Gott und das Gute nur aus besiegten und gebndigten Leidenschaften der Sinnlichkeit, (die den Stoff dazu geben mssen,) werden. Nur aus Schwachheit wird Kraft, nur im Gefhl der Armut kann und wollte sich Gott offenbaren. Lex contrariorum also, oder opposita juxta se posita, divergentia in unum redacta waren das, worauf Christus gen Himmel stieg, und wir alle ihm nachklimmen mssen. Alle Reinigkeit der Engel, welche kein Mensch gesehen hat, zusamt der Immutabilitt alles Fortschreitens in gerader Linie ist nicht Menschenlos hienieden: es ist ein Abstrakt, wie die Strke der Stoiker und die Wollust der Epikurer. Eben die Kontrariett im Menschen ist das Siegel Gottes in unsrer Natur, der Baum, der Erkenntnis Guts und Bçses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt. (ber die dem Menschen angeborne Lge, 4.402 – 403)
Wenn es bei der Entwicklung der Kultur darum geht, Vorurteile zu berwinden, setzt der Kampf der Vernunft Vorurteile voraus. Mit bloßer Vernunft kçnnte man auch „ble Sitten“ erben; Vorurteile ohne Vernunft, aber auch bloße Vernunft ohne Vorurteile wren unmenschlich. So ist fr Herder Religion, „die hçchste Humanitt des Menschen“ (Ideen, 6.163), denn auch eine natrliche Ergnzung der Krfte der Vernunft: Die erste und letzte Philosophie ist immer Religion gewesen. Auch die wildesten Vçlker haben sich darin gebt: denn kein Volk der Erde ist vçllig ohne sie, so wenig 32 Auch Wulf Koepke, „Kulturnation and its Authorisation through Herder“, in: Wulf Koepke (Hg.), Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuits of Knowledge, Columbia 1996, S. 177 – 198, S. 181, hat diesen Aspekt von Herders Verteidigung der Vorurteile unterstrichen: „The important part is, of course, that Herder says ,zu seiner Zeit‘ and means: there can be stages of development of nations where their inner cohesion requires the branding of other nations as different, even inferior. This may not be desiderable in our enlightened age, but it happened throughout history and should be understood, not condemned.“
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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als ohne menschliche Vernunftfhigkeit und Gestalt, ohne Sprache und Ehe, ohne einige menschliche Sitten und Gebruche gefunden worden. Sie glaubten, wo sie keinen sichtbaren Urheber sahen, an unsichtbare Urheber und forschten also immer doch, so dunkel es war, Ursachen der Dinge nach. (Ideen, 6.160)
Selbst kausales Erklren, die Hauptmethode der Naturwissenschaften, setzt Religion voraus, sofern man Ursachen und Wirkungen nicht an sich in der Natur sehen kann, sondern an sie glauben muss. Eine „Art religiçsen Gefhls unsichtbarer wirkender Krfte im ganzen Chaos der Wesen“ ermçglicht die „Vorstellung des Unsichtbaren im Sichtbaren“. Es muss „jeder ersten Bildung und Verknpfung abgezogner Vernunftideen vorausgehn und zum Grunde liegen.“ (Ideen, 6.375 – 376) Die Vorurteil-Vernunft-Dynamik, die wir heute als hermeneutischen Zirkel kennen, lsst keinen linearen Fortschritt zu und kommt auch nicht zu einem Ende: Der Mensch ist schon als Kind in demselben und soll, außer einigen notdrftigen Trieben, alles was zur Vernunft und Humanitt gehçrt, erst lernen. Er lernets also unvollkommen, weil er mit dem Samen des Verstandes und der Tugend auch Vorurteile und ble Sitten erbet und in seinem Gange zur Wahrheit und Seelenfreiheit mit Ketten beschwert ist, die vom Anfange seines Geschlechts herreichen. (Ideen, 6.189)
Statt dessen wird Fortschritt als Abfolge von Zeiten glcklichen Gleichgewichts plausibel, die freilich die ,natrliche‘ Arbeit der Vernunft und der Moral an der Stabilisierung der Gemeinschaft voraussetzen. Im 15. Buch der Ideen formuliert Herder dafr drei Naturgesetze. Nach dem ersten ist bewiesen, „daß zum Beharrungszustande eines Dinges jederzeit eine Art Vollkommenheit, ein Maximum oder Minimum erfordert werde, das aus der Wirkungsweise der Krfte dieses Dinges folget.“ (Ideen, 6.647) In diesem Maximum – so das zweite Naturgesetz – liegt „alle Vollkommenheit und Schçnheit zusammengesetzter, eingeschrnkter Dinge oder ihrer Systeme“. Entscheidend fr den Fortschritt der Geschichte ist aber das dritte Prinzip: wenn ein Wesen oder ein System derselben aus diesem Beharrungszustande seiner Wahrheit, Gte und Schçnheit verrckt worden, es sich demselben durch innere Kraft, entweder in Schwingungen oder in einer Asymptote wieder nhere, weil außer diesem Zustande es keinen Bestand findet. (Ideen, 6.648)
Die Krfte der Gesellschaft laufen „so lange gegen einander, bis nach unfehlbaren Gesetzen der Natur die widrigen Regeln einander einschrnken und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Bewegung werden“, wobei jedes Gleichgewicht, jede Harmonie der Krfte der Gesellschaft nur „ein Punkt in der Linie der Zeit“ ist (Ideen, 6.649 f.), sich einer bestimmten geographischen und historischen Situation verdankt. So verlaufen Entwicklungsprozesse in der Natur wie in der Kultur als Bewegung von einem Gleichgewicht zu einem anderen,
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3. Entidealisierung der Geschichte
von einem Maximum der Krfte zu einem anderen. Die Maxima der Nationen sind von „allerlei Art“; Vernunft und Billigkeit ermçglichen bei allen dauernde Hçhepunkte, auch wenn sie sich inhaltlich unterscheiden kçnnen: brigens beruhet sowohl die Vernunft als die Billigkeit auf Ein- und demselben Naturgesetz, aus welchem auch der Bestand unsres Wesens folget. Die Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der Dinge, daß sie solche zum daurenden Ebenmaß ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts gegen einander strebender Krfte, auf dessen Harmonie der ganze Weltbau ruhet. Ein und dasselbe Gesetz also erstrecket sich von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung: was alle Wesen und ihre Systeme erhlt, ist nur Eins: Verhltnis ihrer Krfte zur periodischen Ruhe und Ordnung. (Ideen, 6.655 – 656)
Ist Glck aber die Manifestation eines Gleichgewichts, so wird sich die Lebendigkeit der Krfte gerade darin zeigen, dass auch Stçrungen des Gleichgewichts – Dekadenz und Revolutionen – eintreten kçnnen. Dennoch beobachtet Herder eine fortschreitende Steigerung der Vernunft in der Geschichte und eine Minderung der zerstçrerischen Krfte: Der Verfolg der Geschichte zeigt, daß mit dem Wachstum wahrer Humanitt auch der zerstçrenden Dmonen des Menschengeschlechts wirklich weniger geworden sei; und zwar nach innern Naturgesetzen einer sich aufklrenden Vernunft und Staatskunst. (Ideen, 6.640)
Humanitt33 meint nun das Geflecht kultureller Haltungen, die Einheit und Stabilitt in das Leben eines Individuums oder einer Nation bringen kçnnen: Und, darf ich dies edle Bild weiter hinausprgen: so liegt im Menschengeschlecht eine unendliche Verschiedenheit von Empfindungen, Gedanken, Bestrebungen zur Einheit eines wahren, wirksamen, rein-moralischen Charakters, der dem ganzen Geschlecht gehçret. Wie jede Klasse von Naturgeschçpfen ein eignes Reich ausmacht, auf andre Reiche bauend, in andre hineingreifend: so das Menschengeschlecht mit dem besondern und hçchsten Abzeichen, daß die Glckseligkeit Aller von den Bestrebungen Aller abhngt und in ihm bei der grçßesten Verschiedenheit in dieser sehr erhabnen Einheit allein statt finde. (Briefe, 7.750)
Humanitt ist eben da erkennbar, wo eine andere Vernunft und eine andere Moral gelten, auch in Nationen, bei denen „verdorbenste Einrichtungen“ (Ideen, 6.651) zu beobachten sind. Herder schreibt von Vçlkern, bei denen „die Vernunft unter der Tierheit gefangen“ bleibt, aber zweifelt auch daran, dass jemand sagen kçnne, „das reine Bild der Menschheit“ (Ideen, 6.187) erreicht zu haben. Weil die Natur des Menschen nicht feststellbar ist, nicht auf ein letztes Ziel hinausluft, bleibt gerade er in der Geschichte „dem Ziel seiner Bestimmung am meisten fern“, whrend jedes ,festgestellte‘ Tier „erreicht, was es in seiner Organisation erreichen soll.“ Perfektion wird dann zum bloßen Ideal: 33 Vgl. u. 3.6.2.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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„Entweder irrte sich also der Schçpfer mit dem Ziel, das er uns vorsteckte und mit der Organisation, die er zu Erreichung desselben so knstlich zusammengeleitet hat: oder dieser Zweck geht ber unser Dasein hinaus und die Erde ist nur ein bungsplatz, eine Vorbereitungssttte.“ (Ideen, 6.188)
Auch Herder kann dann von ,Aufklrung‘ sprechen, verwendet das Wort nun aber fr den schrittweisen Wandel des Menschen in einer langen Traditionskette, seine „zweite Genesis“: Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklrung nennen: so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklrung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. Auch der Californier und Feuerlnder lernte Bogen und Pfeile machen und sie gebrauchen: er hat Sprache und Begriffe, bungen und Knste, die er lernte, wie wir sie lernen; sofern ward er also wirklich kultiviert und aufgeklret, wiewohl im niedrigsten Grade. Der Unterschied zwischen aufgeklrten und unaufgeklrten, zwischen kultivierten und unkultivierten Vçlkern ist also nicht spezifisch; sondern nur Gradweise. Das Gemlde der Nationen hat hier unendliche Schattierungen, die mit den Rumen und Zeiten wechseln; es kommt also auch bei ihm, wie bei jedem Gemlde, auf den Standpunkt an, in dem man die Gestalten wahrnimmt. (Ideen, 6.340)
Die „Kette der Kultur“, die „durch alle gebildeten Nationen“ (Ideen, 6.650) hindurchgeht, verluft nicht linear, sondern „in sehr abspringenden krummen Linien“. Auch das Modell der Lebensalter wre schon eine zu lineare Metapher: berhaupt zeigt der ganze Gang der Kultur auf unsrer Erde mit seinen abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln fast nie einen sanften Strom, sondern vielmehr den Sturz eines Waldwassers von den Gebrgen; dazu machen ihn insonderheit die Leidenschaften der Menschen. Offenbar ist es auch, daß die ganze Zusammenordnung unsres Geschlechts auf dergleichen wechselnde Schwingungen eingerichtet und berechnet worden. Wie unser Gang ein bestndiges Fallen ist zur Rechten und zur Linken und dennoch kommen wir mit jedem Schritt weiter: so ist der Fortschritt der Kultur in Menschengeschlechtern und ganzen Vçlkern. Einzeln versuchen wir oft beiderlei Extreme, bis wir zur ruhigen Mitte gelangen, wie der Pendul zu beiden Seiten hinausschlgt. In steter Abwechselung erneuen sich die Geschlechter und Trotz aller Linear-Vorschriften der Tradition schreibt der Sohn dennoch auf seine Weise weiter. […] So gehet wie in der Maschine unsers Kçrpers durch einen notwendigen Antagonismus das Werk der Zeiten zum Besten des Menschengeschlechts fort und erhlt desselben daurende Gesundheit. (Ideen, 6.655)
Gesundheit als Metapher eines bio-kulturellen Gleichgewichts34 bringt das Spannungsvolle und Konfliktreiche in der Entwicklung der Kultur besser zum Ausdruck. Sie macht auch plausibel, dass glckliche Gleichgewichte kaum politisch planbar sind. Staaten, zumal wenn sie groß sind, kçnnen nach Herder 34 Sie erinnert an den Gebrauch der Sprache der Biologie in Nietzsches spter Kulturkritik. Vgl. Wolfgang Mller-Lauter, „Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189 – 223. „Diskussion“, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 224 – 253.
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3. Entidealisierung der Geschichte
Menschen nicht glcklich machen, weil sie von deren wirklichen Bedrfnissen zu weit entfernt sind. Es sei eher so, dass „mit der Grçße der Staaten und mit der feinern Kunst ihrer Zusammensetzung notwendig auch die Gefahr, einzelne Unglckliche zu schaffen, unermeßlich zunimmt“ und der Einzelne riskiert, wie „in einer Maschine als ein Gedankenloses Glied mitzudienen“ (Ideen, 6.334). Das Glck liegt fr Herder nicht im Politischen.35 Der Staat soll das natrliche Streben des Menschen nach Glck lediglich so wenig wie mçglich behindern; es werde nicht durch Revolutionen, sondern durch wachsende Achtung gegenber dem Fremden gefçrdert. Im 24. Brief der ersten Sammlung der Briefe zur Befçrderung der Humanitt wird aber auch ein zu naiver Glaube an die moralische Vervollkommnung des Menschen in der Geschichte kritisiert; entsprechend orientiert sich Herder mçglichst an Naturprozessen.36 Der Fortschritt wird schon dadurch eingeschrnkt, dass neue Menschen jeweils wieder neu anfangen: Das menschliche Geschlecht besteht nur in einzelnen Menschen. Werden wir vollkommner geboren, als unsre Vorfahren? vollkommner erzogen? Und wenn dies auch wre; der einzelne Mensch wchst, kulminiert und geht rckwrts. Ein andrer tritt an seine Stelle, wchst, kulminiert und geht rckwrts. Er nimmt, was er etwa erworben hatte, ins Grab; der andre hat neue Mhe im Erwerben, und eben den Ausgang. (Briefe, 7.124)
Empirisch beweisen lsst sich ein Fortschritt in der Humanitt ohnehin nicht. So wird schon der bloße Begriff der Vervollkommnung fragwrdig: 35 Zu Herders politischen Entwrfen s. Horst Dreitzel, „Herders politische Konzepte“, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 267 – 298. Dreitzel erkennt drei politische Hauptprojekte bei Herder. Schon 1769, im Journal meiner Reise, finden sich Ideen ber „eine grundlegende Verfassungsreform der Stadt“ (S. 267). Spter, 1787, antwortet er auf den von Markgraf Friedrich Karl von Baden 1787 abgesegneten Entwurf einer „Akademie fr den Allgemeingeist Deutschlands’“ (S.268), einer Institution, die nach Herder auch einen Beitrag zur Diskussion ber politische Reformen leisten sollte. Nach diesem gescheiterten Projekt folgte ein drittes, diesmal realisiertes, politisches Projekt in den Briefen zur Befçrderung der Humanitt, sofern diese vom Standpunkt der Humanitt aus die „zeitgençssische Politik und ihre Vorgeschichte prfen“ (S. 269). „Herders Fortgang von Gedankenspielen einer Erziehungs- und Grndungsdiktatur im Sinne eines idealisierten Aufklrungsabsolutismus zur Konzeption des humanistisch begrndeten politischen Nationalismus und der Staatsreform durch Entfaltung der nationalen Kultur des Erziehungs- und Wissenschaftswesens muß als ein Prozeß zunehmender Wirklichkeitsnhe seiner politischen Projekte verstanden werden.“ Nicht zu vergessen sei auch, dass seine „politische Haltung […] fr den deutschen Liberalismus des Vormrz kennzeichnend wurde“ (S. 296). 36 Wie weit dies mit Kants Kritik am schwrmerischen Ton der Ideen zu tun hat, kann hier nicht untersucht werden. Vgl. Immanuel Kant, „Rezension zu Johann Gottfried Herders Ideen“, in: Ders., Werkausgabe in zwçlf Bnden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1995, Bd. 12, S. 779 – 806.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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Was heißt Vervollkommung? Heißts Vermehrung der Krfte? Diese bleiben in dem den Menschen von der Natur bestimmten Maß und Kreise. Der Mensch, so oft man ihn auch einen Gott, oder einen Engel nennete, kann nie ein Gott oder ein Engel werden. Oder wre Vervollkommung eine Vermehrung von Werkzeugen und Mitteln zum Gebrauch menschlicher Krfte? So kommt es immer doch darauf an, ob sie gut gebraucht werden: denn in den Hnden des Bçsewichts sind vermehrte Mittel, vermehrte bel. (Briefe, 7.124)
Wenn Fortschritt als rein natrlicher Prozess keine moralische Relevanz hat, bleibt nur, ihn als Produkt eines performativen Diskurses zu fassen. Der Sinn, von Fortschritt zu sprechen, ist zuletzt dann eben der, zu ihm aufzurufen, ihn zu befçrdern: Vergçnnen Sie also, daß ich mit Lessing den ganzen Traum von wachsender Vollkommenheit unseres Geschlechts fr einen heilsamen Trug annehme. Der Mensch muß nach etwas Hçherem streben, damit er nicht unter sich sinke. Er muß vorwrts getrieben werden, damit er nur von der Stelle komme, und nicht in Trgheit ermatte. Der Wahn einer Perfektibilitt und der Trieb dazu scheinet ihm nur als Verwahrungsmittel gegen die Unttigkeit und Verschlimmerung gegeben. [Hervorhebung durch A.B.] Er geht wie in der Mhle das blinde Pferd, oder wie die kletternde Ziege. (Briefe, 7.124)
Fortschritt als Perfektibilitt des Menschen ist so eine konstruierte Triebfeder. Die Entscheidung fr eine solche Motivationsstrategie scheint aber nur unter Voraussetzung des Glaubens an das Gute des „Geistes der Vernderung“ plausibel – d. h. unter Voraussetzung des Glaubens, Vernderung sei zugleich menschlich wie gçttlich.37 3.3.2. Nietzsche: Fortschritt des Einzelnen in der Selbstberwindung Nietzsche distanziert sich klar von Ideologien eines linearen Fortschritts, nun mit starken gegenaufklrerischen Akzenten.38 Seine frhe Kritik des Sokratismus wandte sich zugleich gegen jeden aufklrerischen Optimismus, der auf eine
37 Samson B. Knoll, „Herder und die Utopie“, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Wrzburg 1994, S. 87 – 96, zeigt, dass „ein utopischer Grundton alle seine Werke durchdringt“ (S. 92); dennoch werde „Utopie Zielsetzung und damit nicht statisch wie etwa bei Thomas Morus, sondern dynamisch, immer wieder neu geprgt nach Zeit und Ort menschlicher Existenz“ (S. 93). 38 Nach Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 17), Berlin / New York 1987, kam der mittlere Nietzsche, nach seiner frhen Kritik der Forschrittsideologie, zu einem aufklrerischen Bild des Fortschritts; doch hier ist vor allem der Fortschritt zum Freigeist gemeint (vgl. S. 31, 64 und 175).
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3. Entidealisierung der Geschichte
Verbesserung der Menschheit in der Geschichte setzte.39 Auch das Streben nach Glck hatte fr ihn eine andere Bedeutung in der Menschengeschichte; findet Herder in der Glckseligkeit, die er noch „als Zustand, nicht wie Aristoteles als Ttigkeit“ versteht,40 einen positiven Maßstab der Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, lehnt Nietzsche die Aufklrung und den englischen Utilitarismus ab, gerade wegen ihres Eudmonismus. Ein natrliches Streben nach Glck wird zwar auch von Nietzsche in der Menschengeschichte anerkannt, aber zunchst nur als Zeichen der tragischen Konstitution des Menschen interpretiert; dieser kann das Glck des Tiers – so in UB II – nie erreichen.41 Auch Nietzsches Wahrnehmung der Geschichtsschreibung verrt jedoch einen eudmonistischen Aspekt. Denn er glaubt an die Ntzlichkeit eines Vergessens, das glcklich machen kann: Bei dem kleinsten aber und bei dem grçssten Glcke ist es immer Eines, wodurch Glck zum Glcke wird: das Vergessen-kçnnen oder, gelehrter ausgedrckt, das Vermçgen, whrend seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgçttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glck ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glcklich macht. (UB II, S. 249 – 250)
Ein Glck, das man durch Vergessen erreicht, kann kein normativer Maßstab und kein Ziel der Zivilisation werden. Auch wenn Nietzsche zunchst einer Heuristik des Glcks fr die Interpretation des menschlichen Handelns folgt, lehnt er die Vorstellung eines „hçchsten Glck[s]“ als Gegenstand des menschlichen Strebens spter explizit ab. In der Morgenrçthe erinnert manches deutlich an Herder: Es ist nicht wahr, dass das u n b e w u s s t e Zi e l in der Entwickelung jedes bewussten Wesens (Thier, Mensch, Menschheit u.s.w.) sein „hçchstes Glck“ sei: vielmehr giebt es auf allen Stufen der Entwickelung ein besonderes und unvergleichbares, weder hçheres noch niederes, sondern eben eigenthmliches Glck zu erlangen. Entwickelung will nicht Glck, sondern Entwickelung und weiter Nichts. (M 108)
39 Vgl. Wolf Gorch Zachriat, Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik, Berlin 2001, S. 39 – 86. 40 Ulrike Zeuch, „Herders Begriff der Humanitt: aufgeklrt und aufklrend ber seine Prmissen? Zur Bestimmung des hçchsten Zwecks des Menschen in den Ideen und in der Oratio von Giovanni Pico dela Mirandola“, in: Regine Otto / John H. Zammito (Hg.), Vom Selbstdenken. Aufklrung und Aufklrungskritik in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, Heidelberg 2001, S. 187 – 198, S. 190. 41 Vgl. Heinrich Scharrenbroich, Nietzsches Stellung zum Eudmonismus, Bonn 1913, der Nietzsche rundweg als Antieudmonisten darstellt. Nuancierter ist das Urteil von Ursula Schneider, Grundzge einer Philosophie des Glcks bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 11), Berlin / New York 1983. Sie zeigt, dass Nietzsche durchaus Glck kennt, allerdings kein objektivierbares, zuletzt im amor fati.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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Glck nicht als Ziel, sondern als Erreichen eines neuen Entwicklungsstands – Nietzsches sptere Formel dafr ist ,Wille zur Macht‘: „Was ist Glck? – Das Gefhl davon, dass die Macht wchst, dass ein Widerstand berwunden wird.“ (AC 2) So kann Glck kein geschichtsphilosophischer Maßstab sein.42 Auch Herders Identifikation von Lebensgefhl und Glcksgefhl ist fr Nietzsche nicht mehr akzeptabel – das ist „englisches Glck“, „comfort und fashi on“ (JGB 228). Die Intensitt des Lebensgefhls ist zwar ein positives Merkmal einer gesunden Kultur, geht darum aber nicht unbedingt mit Glck einher. Fr Nietzsche liegt, wie er immer neu betont, „das einzige Glck im Schaffen“ (N 1882/83, KSA 10[476]); Zarathustra lsst er „Glck“ und „Werk“ zuerst entgegensetzen und dann das Glck im Werk aufgehen (Za IV, Das Honig-Opfer, S. 294). Fr ,Erkennende‘ ist Glck schon gar kein Maßstab: Niemand wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glcklich macht, oder tugendhaft macht, deshalb fr wahr halten: die lieblichen „Idealisten“ etwa ausgenommen, welche fr das Gute, Wahre, Schçne schwrmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und gutmthigen Wnschbarkeiten durcheinander schwimmen lassen. (JGB 39)
Auch zum Fortschritt als solchem geht Nietzsche auf Distanz, nun zur hegelianischen Vorstellung „de[s] sich selbst realisierende[n] Begriff[s], mit nachweisbarer Notwendigkeit und zu immerwhrendem Fortschritt“ (N 1873, KSA 7, 29[64]). Seit Hegel habe man sich daran gewçhnt, „von ,Weltprozess‘ zu reden und die eigne Zeit als das notwendige Resultat dieses Weltprozess zu rechtfertigen“ (UB II, S. 308). So habe man sich auf das Historische fixiert und am Schaffen gehindert. Das treffe besonders „alle werdenden grossen Menschen“ (UB III, S. 407), die jetzt eine unglaubliche Kraft verschwenden mssen, um sich nur selbst durch diese Verschrobenheit hindurch zu retten. Die Welt, in die sie jetzt eintreten, ist mit Flausen eingehllt; das brauchen wahrhaftig nicht nur religiçse Dogmen zu sein, sondern auch solche flausenhafte Begriffe wie „Fortschritt“, „allgemeine Bildung“, „National“, „moderner Staat“, „Culturkampf“ (UB III, S. 407).
Solche Ideale schaffen ein ungnstiges Klima, indem sie eine tragische Weltanschauung verhindern und damit auch die kreative geistige Spannung, die diese Weltanschauung schaffen kçnnte. Die Fortschrittsideologie zelebriert den sozialen Erfolg der Menschen, der ein Maß fr die Grçße des Handelns sein soll. Aber: „Die Grçsse soll nicht vom Erfolge abhangen“. Erfolg bei den Menschen kann große Menschen nicht reizen, ,und Demosthenes hat Grçsse, ob er gleich keinen Erfolg hatte.‘ (UB II, S. 321) 42 Hier macht sich auch der Einfluss Jacob Burckhardts geltend. Vgl. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Mnchen 1978, Kap. VI, ber Glck und Unglck in der Weltgeschichte.
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3. Entidealisierung der Geschichte
Dennoch darf die Illusion des Fortschritts nicht einfach als Aberglaube abgetan werden; sie wirkt auf unterschiedliche Menschentypen unterschiedlich. In einem Notat, das die Reflexionen ber den historischen Sinn in UB II vorbereitet, unterscheidet Nietzsche zwischen zwei Zielen der historischen Bildung. Zum einen gehe es darum, „jemanden ber den Sinn des Erdenlebens aufzuklren“, zum andern aber darum, „jemanden im Erdenleben festzuhalten und mit ihm zahlreiche kommende Generationen (wozu es nçthig ist, ihm die erste Betrachtung vorzuenthalten)“ (N 1873, KSA 7, 28[87]). Alle suchen „nach einem Quietiv fr das Wollen“, das der eine „in der nchsten Nhe findet“ und dabei „bald satt am Dasein“ wird, whrend der andere „unersttlich“ ist, er „schweift in jede Ferne“. Fr den letzteren kann der Glaube an den Fortschritt eine hilfreiche Selbsttuschung sein. Dabei wird er die Vergangenheit schlechtmachen — um nmlich die Gegenwart relativ ertrglich zu finden. Jedoch wieder nicht so pessimistisch, dass sie jene erste Lehre von der Werthlosigkeit gbe, sondern so, dass sie zwar schlechter ist als die Gegenwart, und der Gegenwrtige mit ihr nicht tauschen mag, aber doch einen F o r t s c h r i t t in sich zeigt, eben zur Gegenwart hin, damit der Glaube bekrftigt werde, dass das Glck bei einem weitern Fortschreiten zu erreichen sei. Je nachdem also eine Zeit ihr eignes Elend erkennt, um so dunkler wird sie die Vergangenheit zeichnen, je weniger, um so heller.
Dagegen werden die Glcklichen d. h. die Behaglichen […] alles Vergangene im frçhlichen Lichte sehn, die Gegenwart aber im frçhlichsten. […] Bei uns ist nun der historische Trieb ausserordentlich stark wie noch nie: und trotzdem ist die berzeugung von dem Glck der Gegenwart eben so stark. Ein Widerspruch! (N 1873, KSA 7, 29[87])
Nietzsche hat danach auch Vçlker und Kulturen unterschieden: wir fordern gerade Unersttlichkeit in der Betrachtung des Geschehenden und nennen die Vçlker, die mit diesem unersttlichen Drange weiter leben und, wie man sagt, immer „fortschreiten“, im ehrenden Sinne die „geschichtlichen“ Vçlker; ja wir verachten die andersgesinnten, z. B. die Inder, und pflegen uns ihre Art aus heissem Clima und allgemeiner Trgheit, vor allem aus der sogenannten „S c h w c h e d e r Pe r s ç n l i c h k e i t “ abzuleiten: als ob unhistorisch leben und denken immer das Zeichen der Entartung und der Stagnation sein msse. (N 1873/74, KSA 7, 30[2]).
Als Alternative zum linearen Fortschritt bleibt auch fr Nietzsche das Modell einer Reihe immer neuer und immer anderer Gleichgewichtszustnde, in der es nie zum Stillstand kommt: Ein labiles Gleichgewicht kommt in der Natur so wenig vor, wie zwei congruente Dreiecke. Folglich auch kein Stillstand der Kraft berhaupt. Wre der Stillstand m ç g l i c h , so wre er eingetreten! (N 1881, KSA 9, 11[190]) Wre ein Gleichgewicht der Kraft irgendwann einmal erreicht worden, so dauerte es noch: also ist es nie eingetreten. (N 1881, KSA 9, 11[245])
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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Das gilt auch bei Nietzsche fr Natur- und Kulturprozesse gleichermaßen: In Wahrheit gehçrt berall ein starker A n t a g o n i s m u s hinein, in Ehe Freundschaft Staat Staatenbund Kçrperschaft gelehrten Vereinen Religionen, damit etwas Rechtes wachse. Das Widerstreben ist die Form der K r a f t – im Frieden wie im Kriege, folglich mssen verschiedene Krfte und nicht gleiche dasein, denn diese wrden sich das Gleichgewicht halten! (N 1881 KSA 9, 11[303])
Dagegen spielt Herders moralisierende Unterscheidung zwischen zerstçrenden und erhaltenden Krften (vgl. Ideen, 15. Buch) fr Nietzsche keine Rolle mehr und schon gar nicht die Einfgung der gesellschaftlichen Antagonismen in einen hçheren Plan. Stattdessen propagiert er einen Fortschritt ohne Notwendigkeit als neuen Humanismus des Menschen als eines schaffenden. Es gibt die „Mçglichkeit des Fortschritts“, aber nur so, dass die Menschen mit B e w u s s t s e i n beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, whrend sie sich frher unbewusst und zufllig entwickelten: sie kçnnen jetzt bessere Bedingungen fr die Entstehung der Menschen, ihre Ernhrung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes çkonomisch verwalten, die Krfte der Menschen berhaupt gegen einander abwgen und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tçdtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben gefhrt hat; sie tçdtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, er ist m ç g l i c h . Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt n o t h w e n d i g erfolgen msse; aber wie kçnnte man leugnen, dass er mçglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort „Fortschritt“ von ihren Zielen (z. B. abgeschlossenen originalen VolksCulturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalitt. (MA I 24)
Der neue Glaube an einen Fortschritt in der çkonomischen Verwaltung der Erde scheint zunchst nicht weit von den positivistischen und utilitaristischen Ideologien entfernt zu sein. Doch er folgt gerade nicht moralischen Vorstellungen: die „abartenden Naturen sind berall da von hçchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll“, weil „jedem Fortschritt im Grossen eine theilweise Schwchung vorhergehen [muss]“ (MA I 224). Soziale und kulturelle Vernderung braucht Unzeitgemße. Es gibt gar einen „Nutzen der zurckgebliebenen Standpuncte“ (N 1876/77, KSA 8, 23[184]) derer, die sich nicht einfgen, sondern „die nçthige Reibung [erzeugen] und fr die neuen Bestrebungen Kraftquellen [sind]“ (N 1876/77, KSA 8, 23[184]). (Dies kçnnte dann auch fr Vertreter des notwendigen Fortschritts gelten, sofern ihr zurckgebliebener Standpunkt gerade zum eigenen Schaffen herausfordert.) Die gesellschaftliche Entwicklung braucht Nicht-Angepasste, Nicht-Integrierte, die ihren gegenwrtigen Stand hinterfragen, lockern und aufbrechen kçnnen: „Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwcheren Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen hngt: es sind die Menschen, welche Neues und berhaupt Vielerlei versuchen.“ (MA I 224) So wie bloße
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3. Entidealisierung der Geschichte
sittliche Orthodoxie ihren Wandel verhindert, bringt auch eine vollkommene Entartung der Sittlichkeit fr Nietzsche kein wirkliches „Fortschreiten“ hervor; es wrde die Stabilisierung und die berlieferung der Vernderungen verhindern. So mssen die „strksten Naturen“, die „den Typus“ festhalten, „die schwcheren“ begleiten, die ihn „fortbilden“ helfen; denn die Kultur kennt eine „allmhlich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilitt wie ihr Schatten folgt.“ (MA I 224) Im Sinn der Vernatrlichung wird dieses Modell des Fortschritts zudem durch biologische Rhetorik plausibilisiert: „Ein Volk, das irgendwo anbrçckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben.“ (MA I 224) Vor allem in der Erziehung geht es fr Nietzsche noch um ein dynamisches Gleichgewicht zwischen der Verunsicherung eines stabilen, ,gesunden‘ Zustandes durch die ,Inokulierung‘ von etwas Krankem und dem Erreichen von neuen, hçheren Gesundheitszustnden des Organismus. Dessen Kraft „muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren“ (MA I 224). Auch beim Staat erkennt Nietzsche – der sich hier auf Machiavelli bezieht – dieselbe Dynamik: „Nur bei sicher begrndeter und verbrgter grçsster Dauer ist stetige Entwickelung und veredelnde Inoculation berhaupt mçglich. Freilich wird gewçhnlich die gefhrliche Genossin aller Dauer, die Autoritt, sich dagegen wehren.“ (MA I 224) Das Neue ist niemals eine totale Zerstçrung, sondern eine Aufhebung des Alten, die berwindung seiner Schwchen. Damit wird jedoch kein normativer Diskurs erçffnet. Denn auch jeder Fortschrittsdiskurs, auch der vom bewussten, von der romantischen Ideologie befreiten Menschen, hat noch etwas Perspektivisches: „Wonach soll der Begriff ,Fortschritt der Cultur‘ gemessen werden! Jeder meint, er sei auf der Hçhe und s e i n Ideal sei das Ideal der Menschheit.“ (N 1881, KSA 9, 11[96]) Die Frage, ob eine Interpretation der Geschichte als Fortschritt legitim ist, muss somit pragmatisch durch die Frage danach ersetzt werden, wozu von Fortschritt gesprochen werden soll. Fortschritt manifestiert sich fr Nietzsche als Lob der Vernderungen. Er weiß: „wenn man den Fortschritt rhmt, so rhmt man damit nur die Bewegung und die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen“ (M 554). Wenn man „Fortschritt“ sagt, meine man „Entwicklung, d. h. Werden und Vergehen“ (N 1880, KSA 9, 6[225]) und lasse so beim Zuhçrer eine angenehme Vorstellung entstehen, denn alle Entwicklung „ist mit Lust verknpft“; selbst das Vergehen kçnne man „nur als ein Fortschreiten empfinden“ (N 1880, KSA 9, 6[225]). Das moderne Ideal des Fortschritts lebe von dieser Lust, aber gerade deswegen werde es fr die Europer gefhrlich. Eine Idealisierung des Fortschritts habe nur dort einen Sinn, wo die Kulturen und die Vçlker „Bewegung“ brauchen, z. B. „unter gyptern“, aber die europische Kultur ist fr Nietzsche bereits „beweglich“ genug (M 554), was auch die modernen und verfeinerten Formen des Hera-
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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klitismus wie Hegels Dialektik und Darwins Evolutionstheorie zeigen (vgl. FW 357). Das Beispiel des lebendigen Organismus zeigt, dass ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Altem und Neuem, Stabilem und Beweglichem, Gesundem und Krankem nçtig ist. Die Philosophen sollten Europa also eher ein strkeres Bewusstsein fr die Notwendigkeit und Vernnftigkeit der Stabilitt, nicht der Bewegung bereitstellen. Nach der Metaphorik des dynamischen Gleichgewichts muss der Geschichtsphilosoph eigentlich zu neuen dynamischen Gleichgewichten beitragen, um die notwendige Spannung fr eine lebendige und kreative Kultur zu erhalten. Die Ideologie des Fortschritts, die das Werden und die Beweglichkeit lobt, macht paradoxerweise die Gesellschaft selbstsicherer und selbstzufriedener, konserviert sie und behindert ihre Selbstberwindung – weil sie das aktuelle Selbstbild des Europers fixiert. Den Fortschritt zu loben, ist in Nietzsches Europa eine Selbstzelebrierung, die zur Entspannung und Herabsetzung des Lebensgefhls fhrt. So besteht fr ihn das Problem darin, eine adquate Form des performativen Gebrauchs des Worts ,Fortschritt‘ fr das schon bewegliche Europa zu finden: Im beweglichen Europa aber, wo sich die Bewegung, wie man sagt, „von selber versteht“ – ach, wenn wir nur auch Etwas davon verstnden! – lobe ich mir den Vo r s c h r i t t und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurcklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt. „Wo ich Halt mache, da finde ich mich allein: wozu sollte ich Halt machen! Die Wste ist noch gross!“ – so empfindet ein solcher Vorschreitender. (M 554)
Er sagt versuchsweise ,Vorschritt‘ statt ,Fortschritt‘ und will dadurch die Selbstgeflligkeit des ,Fortschritts‘ vermeiden.43 Die Vorschreitenden, die wirklich vorangehen und nicht nur einer Ideologie huldigen, umgibt unvermeidlich schwer ertrgliche Einsamkeit – die sie wiederum zum Schaffen zwingt. Sie besinnen sich auf ihre Selbstberwindung und wollen nicht die Gesellschaft ndern. Die zeitgençssische Zelebrierung des Fortschritts dagegen fçrdert das Individuum nicht, sondern folgt dem „Imperativ der HeerdenFurchtsamkeit“: Wer das Gewissen des heutigen Europers prft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: „wir wollen, dass es irgendwann einmal Ni c h t s m e h r z u f r c h t e n giebt!“ Irgendwann einmal – der Wille und Weg d o r t h i n heisst heute in Europa berall der „Fortschritt“. (JGB 201)
Die moderne Rhetorik des Fortschritts unterdrckt individuelle Unterschiede, indem sie die Geschichte einem einheitlichen Plan unterwirft. In der Moderne wird ,Fortschritt‘ synonym mit „Civilisation“ und „Vermenschlichung“, ein 43 Zur Unterscheidung Vorschritt-Fortschritt vgl. Karen Joisten, Die berwindung der Anthropozentrizitt durch Friedrich Nietzsche, Wrzburg 1994, S. 226 f.
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3. Entidealisierung der Geschichte
Moment der „Demokratisirung Europa’s“ (JGB 242). Nietzsche entlarvt psychologisch durch das Bedrfnis Ohnmchtiger, an eine bessere Zukunft zu glauben: Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen – das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht –, der Glaube und das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mchtigen; und wenn umgekehrt die Menschen der „modernen Ideen“ beinahe instinktiv an den „Fortschritt“ und „die Zukunft“ glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr ermangeln, so verrth sich damit genugsam schon die unvornehme Herkunft dieser „Ideen“. (JGB 260)
Damit wird die moderne Idee des Fortschritts unplausibel – sie will die Steigerung des Typus Mensch gar nicht: Die Menschheit s t e l l t nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Strkeren oder Hçheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der „Fortschritt“ ist bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee. Der Europer von Heute bleibt, in seinem Werthe tief unter dem Europer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings n i c h t mit irgend welcher Nothwendigkeit Erhçhung, Steigerung, Verstrkung. (AC 4)
Die der Herden-Furchtsamkeit entspringenden Geschichtsphilosophien, die die Massen beruhigen, sind fr die Menschheit langfristig lebensgefhrlich, denn eine „Abnahme der feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte“, die „ja unser ,Fortschritt‘ [wre]“ (GD, Streifzge 9), ist auch eine „Abnahme der Vitalitt“ (GD, Streifzge 37). Nietzsche greift die Demokratie nicht als politisches System und den Darwinismus nicht als wissenschaftliche Theorie,44 sondern als Legitimationshintergrund einer bestimmten Kultur- und Lebensform an. Auch eine Interpretation der Evolution als Fortschritt scheint Nietzsche aus unterschiedlichen Grnden fragwrdig. Denn zum einen ist fr ihn der Mensch nicht als Gattung „im Fortschritt“, denn „[h]çhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht“, „[d]as Niveau der Gattung wird nicht gehoben.“ Zum andern stelle der Mensch als Gattung „keinen Fortschritt im Vergleich zu irgend einem anderen Thier dar.“ (N 1888, KSA 12, 14[133]) Der Glaube, „daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen“, sei „die unvernnftigste Behauptung von der Welt“ und entstamme der Skularisierung theologischer Denkweisen: 44 Vgl. Werner Stegmaier, „Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution“, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 264 – 287. Michael Skowron, „Nietzsches ,AntiDarwinismus‘“, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 160 – 194, S. 163, hat im Anschluss an Stegmaier krzlich gezeigt, dass „sich Darwinismus und Antidarwinismus bei Nietzsche ebenso wenig wie andere Gegenstze einfach ausschließen, sondern komplementr ergnzen und zusammengehçren und auf einer weiteren Ebene sogar berwunden werden.“
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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Nachzudenken: In wiefern immer noch der verhngnißvolle Glaube an die gçttliche Providenz – dieser fr Hand und Vernunft l h m e n d s t e Glaube, den es gegeben hat – fortbesteht; in wiefern unter den Formeln „Natur“, „Fortschritt“, „Vervollkommnung“, „Darwinismus“, unter dem Aberglauben einer gewissen Zusammengehçrigkeit von Glck und Tugend, von Unglck und Schuld immer noch die christliche Voraussetzung und Interpretation ihr Nachleben hat. (N 1887 KSA 12, 10[7])
Zur Illusion des Fortschritts der Gattung trgt schließlich unser schlichtes Zeitbewusstsein bei, das ein kollektives Subjekt der fortwhrenden Bewegung unterstellt: „Die Zeit luft vorwrts, – wir mçchten glauben, daß auch Alles, was in ihr ist, vorwrts luft … daß die Entwicklung eine Vorwrts-Entwicklung ist …“. Dagegen Nietzsche: „Die ,Menschheit‘ avanciert nicht, sie existirt nicht einmal.“ (N 1888, KSA 13, 15[8]) Wenn die ,Menschheit‘ nur eine Abstraktion des Geschichtsphilosophen ist, so bleibt es doch sinnvoll, von einem Fortschritt des Individuums zu sprechen. ,Fortschritt‘ ist dann ein Name fr die Selbstberwindung der „Heimatlosen“ (FW 377), die keine feste Identitt in Anspruch nehmen. Sie lassen sich nicht durch die herkçmmlichen Kategorien der Geschichtsphilosophie und der Politik erfassen, vor allem nicht durch den Gegensatz konservativ-progressiv: „Wir ,conserviren‘ Nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurck, wir sind durchaus nicht ,liberal‘, wir arbeiten nicht fr den ,Fortschritt‘ (FW 377). Entgegen den „Zukunfts-Sirenen“ „gleiche Rechte“ und „freie Gesellschaft“, die nur „Vermittelmssigung“ und „Chineserei“ bringen, will Nietzsche solche gesellschaftlichen Vernderungen, die die Einzelnen unter neue herausfordernde Spannungen setzen: wir freuen uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, versçhnen und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken ber die Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei – denn zu jeder Verstrkung und Erhçhung des Typus „Mensch“ gehçrt auch eine neue Art Versklavung hinzu – nicht wahr? (FW 377)
Die neue Art der Sklaverei darf nicht als Aktualisierung alter sozioçkonomischer Muster verstanden werden; denn dann wrde das individuelle ,Vorschreiten‘ gerade hinter den gesellschaftlichen ,Fortschritt‘ zurcktreten. Sie fordert vielmehr die Selbstdisziplinierung des Individuums: der „Fortschritt in meinem Sinne“ (GD, Streifzge 48) ist eine „Rckkehr zur Natur“ im Sinn der Fhigkeit, große Aufgaben anzugehen. Mit ihm wird das Individuum „tiefer, mißtrauischer, ,unmoralischer‘, strker, sich-selbst-vertrauender – und insofern ,natrlicher‘“ (N 1887, KSA 12, 9[185]). „Natrlicher“ zu werden heißt dann einfach, zunchst zu fragen, „,was man kann ?‘ und erst daraufhin, was man soll ?“ (N 1887 KSA 12, 9[121], korr.).
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3. Entidealisierung der Geschichte
Bestimmte Interpretationen der Welt, die auf zu starke Gegenstze verzichten kçnnen, erkennt Nietzsche wohl als Manifestationen von kulturellem Fortschritt; jedoch ist er sich im klaren darber, dass auch seine Interpretation des Fortschritts nicht ohne „Vermenschlichung“ auskommt: „Wenn irgend etwas unsre Vermenschlichung, einen wahren thatschlichen Fortschritt bedeutet, so ist es, dass wir keine excessiven Gegenstze, berhaupt keine Gegenstze mehr brauchen […].“ (N 1888, KSA 13, 15[60]). Da „die Zerstçrung einer Illusion noch keine Wahrheit ergiebt, sondern nur ein Stck Unwissenheit mehr“ (N 1885, KSA 11, 34[194]), kann auch er nicht auf eine neue Wahrheit pochen. Sofern die „eigentlichen“ Philosophen als Gesetzgeber neue Werte schaffen (JGB 211) und der Gedanke der ewigen Wiederkehr ein solcher Wert ist, kçnnte sie auch fr den Fortschrittsdiskurs Bedeutung haben, auch wenn Wiederkehr und Fortschritt auf den ersten Blick einander zu widersprechen scheinen. Denn steigert sich das Individuum durch die Einverleibung der neuen, tragischen Auffassung der Zeitlichkeit, dann ist das ein individueller Fortschritt. Es wird durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr ,tiefer‘ und ,strker‘, gerade dann, wenn es den Glauben an einen allgemeinen, berindividuellen Fortschritt ablehnt. 3.3.3. Voltaire: Zerstçrerischer Skeptiker fr Herder, erster freier Geist fr Nietzsche Wenn Herder ein bestimmtes geschichtsphilosophisches Modell der Aufklrung tadelt, betreibt er damit noch keine totale Gegenaufklrung, schon deshalb nicht, weil auch fr ihn die Steigerung der Humanitt des Menschen den Gebrauch der Vernunft einschließt.45 Aufklrung soll nach ihm „nie Zweck, sondern immer Mittel“ sein (Journal, 9/2.77 f.). hnliches gilt auch fr Nietzsche, der eine Art Aufklrung der Aufklrung beabsichtigt.46 Dennoch gibt
45 Ein klassisches Beispiel der Interpretation Herders als eines radikalen „Gegenaufklrers“ gibt Isaiah Berlin, Vico and Herder. Two Studies in the Theory of Ideas, London 1976. Sein Urteil wird deutlich relativiert u. a. von Wolfgang Proß, „Herder und Vico: Wissenssoziologische Voraussetzungen des historischen Denkens“, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 1744 – 1803 (Studien zum 18. Jahrhundert), Hamburg 1987, S. 88 – 113. 46 Nach Vivetta Vivarelli, „Nietzsche als Verknder einer neuen Aufklrung“, in: Nietzsche. Radikalaufklrer oder radikaler Gegenaufklrer? (Nietzscheforschung Sonderband 2), hg. v. Renate Reschke, Berlin 2004, S. 55 – 65, S.65, entwirft Nietzsche das „Projekt einer neuen Aufklrung“, die „das tragisch-dionysische Zeitalter der Experimente und die post-nihilistische Experimental-Philosophie des Willens zur Macht einfhren wird.“ Vgl. auch die brigen Beitrge des Sammelbands.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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es deutliche Unterschiede zwischen beiden. Das lsst sich besonders gut an ihrer Voltaire-Rezeption ablesen. Herder und Nietzsche schtzen zunchst einmal die franzçsische Kultur im ganzen anders ein, was sie auch ihrer jeweiligen Zeit verdanken. Als Herder Auch eine Philosophie schreibt, ist Frankreich eine bedrohliche politische Macht, doch seine Kultur wird fr die deutsche immer bedeutsamer: „Schon jetzt alle Regenten Europa’s, bald werden wir alle die franzçsische Sprache reden!“ (Journal, 9/2.75) War franzçsisch zu sprechen und franzçsisch zu denken zu Herders Zeit en vogue, so berwog zur Zeit Nietzsches die politische Feindseligkeit zwischen beiden Lndern, und auch die Kultur des andern sah man im Licht des nationalistischen Stolzes. Doch eben dagegen stellte sich Nietzsche: Frankreich war fr ihn „der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks“ (JGB 254).47 Noch zuletzt schrieb er: „ich glaube nur an franzçsische Bildung und halte Alles, was sich sonst in Europa ,Bildung‘ nennt, fr Missverstndniss, nicht zu reden von der deutschen Bildung“ (EH 2, Warum ich so klug bin 3). So waren beide, Herder und Nietzsche, unzeitgemß zu ihrer Zeit, waren aber auch nicht einfach frankophil, sondern ließen sich von den bernationalen Idealen der Humanitt bzw. des europischen Freigeists leiten. Fr Herder konnte keine Kultur – auch die franzçsische nicht – ein bernationales Muster der immer historisch und geographisch ausgeprgten Humanitt sein, und ebenso liebte Nietzsche die franzçsischen Kultur, weil sie ihm exemplarisch europisch schien. Sicherlich ging ihre berlegenheit fr ihn zurck auf ihre „Fhigkeit zu artistischen Leidenschaften“ und „zu Hingebungen an die ,Form‘“, so wie, auf ambivalente Weise, auf eine „alte, vielfache moralistische[] Kultur“, die eine „Reizbarkeit und Neugierde“ hervorgebracht hat, die den Deutschen fremd blieb. Ausschlaggebend aber war fr ihn ihre halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Sdens […], welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge thun heisst, die ein Englnder nie begreifen wird; ihr dem Sden periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provenÅalische und ligurische Blut berschumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, – unsrer d e u t s c h e n Krankheit des Geschmacks, gegen deren bermaass man sich augenblicklich mit grosser Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die „grosse Politik“ verordnet hat (gemss einer gefhrlichen Heilkunst, welche mich warten und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt –). Auch jetzt noch giebt es in Frankreich ein Vorverstndniss und ein Entgegenkommen fr jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfnglich sind, um in irgend einer Vaterlnderei ihr Genge zu finden und im Norden den Sden, im Sden den Norden zu lieben wissen, – fr die geborenen Mittellndler, die „guten Europer“ (JGB 254). 47 Zu Nietzsches franzçsischen Lektren vgl. Giuliano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, Paris 2001.
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3. Entidealisierung der Geschichte
Dies hinderte Nietzsche nicht, in den Franzosen eine „arme, kranke, willenskranke“ Nation (GD, Streifzge 2) zu sehen. So kçnnte Frankreich gerade deshalb ein idealer Ort fr den europischen kulturellen Fortschritt sein, weil es politisch schwach ist und nicht mit derselben „Entschlossenheit“ wie Deutschland auf „grosse Politik“ setzt. Herder erwartete von seiner Reise, die ihn 1769 auch nach Frankreich brachte, keine radikale Erneuerung seines Temperaments durch den Kontakt mit der lebendigen sdlndischen Kultur; er wollte aber immerhin, wie er im Journal seiner Reise notierte, Franzçsisch lernen, um die franzçsische Nation besser verstehen zu kçnnen. Er will seinen Horizont erweitern, aber nicht gleich sein Denken ndern; denn die damalige franzçsische Kultur hielt er fr dekadent. Darin schloss er auch die vielleicht wichtigsten Errungenschaft der Aufklrer, die Encyclopdie, ein: Jetzt macht man schon Enzyklopdien: ein D’Alembert und Diderot selbst lassen sich dazu herunter: und eben dies Buch, was den Franzosen ihr Triumph ist, ist fr mich das erste Zeichen zu ihrem Verfall. Sie haben nichts zu schreiben und machen also Abregs, Dictionaires, Histoires, Vocabulaires, Esprits, Encyclopedien, u. s. w. Die Originalwerke fallen weg. (Journal 9/2.78)
In der Weltliteratur scheint Herder die Epoche Frankreichs schon vorber, und so fragt er: „was wollen jetzt die Heroidensnger und kleinen Komçdienschreiber und Liederchenmacher sagen?“ (Journal, 9/2.79) Auch ihr frherer Beitrag zur Literatur bleibt ihm verdchtig: es „ist nur eine gewisse Annherung an die kltere gesunde Vernunft, die die Franzosen den Werken der Einbildungskraft gegeben haben: das ist Geschmack und ihr Gutes. Es ist aber auch Erkltung der Phantasie und des Affekts, die sie ihm damit haben geben mssen“ (Journal, 9/2.82). Entsetzlich sei besonders die Lage der franzçsischen Philosophie, in der „jener glaubt sich immer schon unterschieden zu haben, und verficht sich bloß durch Witz“; fr Rousseau z. B. gehe es nicht um die „Richtigkeit, Gte, Vernunft, Nutzbarkeit seiner Gedanken“, sondern um „Grçße, Außerordentliche[s], Neue[s], Frappante[s]“. Deswegen htten „die Franzosen auch so wenig Philosophen, Politiker und Geschichtsschreiber; denn diesen drei Leuten muß es bloß an Wahrheit gelegen sein. Was aber opfert nun nicht Voltaire einem Einfall, Roußeau einer Neuigkeit, und Marmontel einer Wendung auf.“ (Journal, 9/2.91) Dazu kommt, als Konsequenz von Herders Sprachkritik, im Blick auf die Philosophie der Vorwurf der Knstlichkeit und Unwahrhaftigkeit: wo ist Genie? Wahrheit? Strke? Tugend? Die Philosophie der Franzosen, die in der Sprache liegt, ihr Reichtum an Abstraktionen, ist gelernt; also nur dunkel bestimmt, also ber und unter angewandt: also keine Philosophie mehr! Man schreibt also auch immer nur beinahe wahr: man mßte auf jeden Ausdruck, Begriff, Bezeichnung Acht geben, sie erst immer selbst erfinden, und sie ist schon erfunden: man hat sie gelernt: weiß sie praeter propter: braucht sie also, wie sie andre verstehen und
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ungefhr brauchen: schreibt also nie sparsam, genau, vçllig wahr. Die Philosophie der Franzçsischen Sprache hindert also die Philosophie der Gedanken. […] Hieraus werde beurteilt, ob die Franzçsische Sprache Philosophische sei? Ja sie kanns sein, nur Franzosen mßten sie nicht schreiben! nicht sie fr Franzosen schreiben! sie als tote Metaphysische Sprache schreiben! […] Aber freilich in Sachen lebendigen Umgangs mit etwas Teinture der Philosophie keine besser, als die Franzçsische! Sie hat einen Reichtum an feinen und delikaten Abstraktionen zu Substantiven, eine große Menge Adjektiven zur Bezeichnung insonderheit Dinge des Geschmacks, eine Einfçrmigkeit in Konstruktionen, die Zweideutigkeiten verhtet, eine mehrere Krze von Verbis als die Deutsche: sie ist zur lebendigen Philosophie die beste. (Journal, 9/2.93)
Mit solchen Vorbehalten las Herder die Werke franzçsischer Denker der Aufklrung,48 und gerade Voltaire begegnete er in Auch eine Philosophie polemisch und sarkastisch. So verurteile er zu Unrecht die Welt der Patriarchen, die „voll Kraft und Gefhl Gottes“ (Auch eine Philosophie, 4.14) sei, nach „unsern europischen Begriffen“ als eine Form von Despotismus. Er merke nicht, dass er dabei einem psychologischen Abwehrmechanismus des modernen Menschen zum Opfer fllt: „so trçstet man sich, ihn von sich selbst ab, in Umstnde zu bringen, wo er gewiß nicht das schreckliche Ding war, das wir uns aus unserm Zustande an ihm traumen.“ (Auch eine Philosophie, 4.15) „Zweifel“ sei das Symbol fr Voltaires Jahrhundert, und gerade er, als Geschichtsphilosoph, mache der Geschichte eine „penelopische Arbeit“ (Auch eine Philosophie, 4.40), er werde zu einem „Allanzweifler“ (Auch eine Philosophie, 4.41), der jeden Wert vergangener Kulturen zerstçre. Zugleich mache er sich zum Frsprecher der großen Ideale seiner Zeit, d. h. „brgerliche Klugheit, philosophischer Deismus, leichte Tndelei, Umlauf in alle Welt, Toleranz, Artigkeit, Vçlkerrecht“ (Auch eine Philosophie, 4.24), nehme dadurch aber dem menschlichen Leben seine Sicherheit: was fr elenden Leichtsinn, Schwche, Ungewißheit und Klte! was fr Seichtigkeit, Planlosigkeit, Scepticism an Tugend, Glck und Verdienst! – was mit seinem Witze weggelacht, ohne es zum Teil weglachen zu wollen! – sanfte, angenehme und notwendige Bande mit frevelnder Hand aufgelçset, ohne uns, die wir nicht alle au Chateau de Fernay residieren, das mindeste an die Stelle zu geben? (Auch eine Philosophie, 4.104)
Sein brillanter Stil mache die Sache nur noch schlimmer: „wie weit gehen jetzt ihre Strahlen! Wo wird nicht was Voltre schreibt, gelesen! Die ganze Erde leuchtet beinahe schon von Voltrs Klarheit“ (Auch eine Philosophie, 4.70 f.). Auch wenn Herder spter Voltaires Pldoyer fr die Toleranz bewundert und ihn als „Friedensengel“ neben „John Locke, William Penn, Shaftesburi, Bayle,
48 Vgl. Patricia Rehm, Herder et les Lumiers. Essai de biographie intellectuelle, Hildesheim / Zrich / New York 2007.
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Leibnitz, Spinoza“ (Briefe, 7.292) stellt, ndert sich sein Gesamturteil nicht, nach dem Voltaire bei dem hellesten Kopf und der schlauesten Gewandtheit doch nur ein witziger Satyr war, und zwar im Grunde nur in Einer Manier des Witzes, die er tausendfach zu verndern und nach dem Geschmack seines Zeitalters, ja wo mçglich jeder Person in demselben zu modifizieren wußte. (Briefe, 7.557)
Seine Ironie machte, kçnnte man vorgreifend sagen, sein Denken nihilistisch, ohne dass er sich der Folgen bewusst gewesen wre.49 Ist so Herders Voltaire Skeptiker und Ironiker, der der Geschichte ihren Sinn nimmt, andere Zeiten und Kulturen entwertet und lediglich das eigene Jahrhundert feiert, wird das Bild bei Nietzsche facettenreicher: fr ihn stellt Voltaire nicht nur als Aufklrer, sondern auch als Franzose ein Modell dar. Mit seiner Widmung von MA, dem „Denkmal einer Krisis“, in deren Verlauf er sich ber die antiidealistischen Zge seines Denkens und die Aufgabe des Freigeists klar wird – „Dieses monologische Buch, welches in Sorrent whrend eines Winteraufenthaltes (1876 auf 1877) entstand, wrde jetzt der Oeffentlichkeit nicht bergeben werden, wenn nicht die Nhe des 30. Mai 1878 den Wunsch allzu lebhaft erregt htte, einem der grçssten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine persçnliche Huldigung darzubringen.“ (MA I, KSA 2, S. 10) —, drckt er Voltaire seine Bewunderung aus und stellt eine ideale Kontinuitt zwischen dessen und dem eigenen Philosophieren her. Voltaire wird fr Nietzsche zu einer Maske seiner Selbstdarstellung und Selbstinterpretation. Er betrachtete ihn spter als Moment seines Werdens zu dem, was er wurde, als er ihm half, sich von Schopenhauer und Wagner ab- und einer an den Methoden der Naturwissenschaften und des historischen Wissens orientierten radikaleren Skepsis zuzuwenden: „Der Name Voltaire auf einer Schrift von mir – das war wirklich ein Fortschritt – zu mir…“ (EH, MA 1). Nietzsche skizziert ein dif-
49 Mit White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (1973), bers. v. Peter Kohlhaas, Frankfurt am Main 2008, S. 69, kann man diese Ironie als die tropische Hauptform des aufklrerischen historischen Diskurses betrachten: Die Aufklrung „kritisierte die Gesellschaft im Lichte eines wertenden moralischen Ideals, gab jedoch vor, die Kritik auf eine rein kausale Analyse der geschichtlichen Ereignisse zu sttzen. Infolgedessen vertrug sich der Zweck, dem die historische Darstellung gengen sollte, nicht mit den Mitteln, die bei der Gestaltung der historischen Erzhlungen tatschlich verwendet wurden. Das Resultat dieses Konfliktes zwischen den Mitteln der historischen Darstellung und dem Zweck, dem sie dienen sollte, drngte das Nachdenken ber die Geschichte in eine offenkundige und streitbare Ironie.“ Gerade Herder musste nach White mit seiner organizistischen und religiçs inspirierten Betrachtung der Historie gegen die Aufklrung ankmpfen.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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ferenzierteres Bild der Aufklrung, mit zwei Seelen, einer voltaireschen und einer rousseauschen,50 die unterschiedlich zu beurteilen sind: Nicht Vo l t a i r e’s maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern Rousseau’s leidenschaftliche Thorheiten und Halblgen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: „Ecrasez l’infame!“ Durch ihn ist der G e i s t d e r Au f k l r u n g u n d d e r f o r t s c h r e i t e n d e n E n t w i c k e l u n g auf lange verscheucht worden: sehen wir zu – ein Jeder bei sich selber – ob es mçglich ist, ihn wieder zurckzurufen! (MA I 463)51
Rousseau, zusammen mit Epikur, Montaigne, Goethe, Spinoza und Platon, ist einer der Autoren, mit denen Nietzsche sich „auseinandersetzen muss“ und von denen er sich „Recht und Unrecht geben lassen“ will (MA II, VM 408). Aber seine Zivilisationskritik scheint Nietzsche bereits in M nicht mehr zu berzeugen: G e g e n Ro u s s e a u . – Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbrmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschließen „diese erbrmliche Civilisation ist Schuld an unserer s c h l e c h t e n Moralitt“ oder gegen Rousseau zurckzuschließen „unsere g u t e Moralitt ist Schuld an dieser Erbrmlichkeit der Civilisation. Unsere schwachen, unmnnlichen gesellschaftlichen Begriffe von gut und bçse und die ungeheuere berherrschaft derselben ber Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbstndigen, unabhngigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer s t a r k e n Civilisation, zerbrochen: wo man der s c h l e c h t e n Moralitt jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trmmer dieser Pfeiler“. So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmçglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie berhaupt auf einer von beiden? Man prfe. (M 163)52
Seine Distanzierung von Rousseau bringt Nietzsche noch in die Nhe Herders, der in seiner Geschichtsphilosophie zwar viel von Rousseau aufgreift, aber andere Schlsse zieht.53 Dadurch, dass er Rousseau die strategische Konstruktion 50 Vgl. dazu Heller, „Von den ersten und letzten Dingen“. Studien und Kommentare zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 1), Berlin / New York 1972, S. 277 – 294. 51 Auf diesen Gegensatz sind viele sptere Notate bezogen, die sich mit dem Problem der Zivilisation befassen. Er wird so etwas wie ein Archetypus der Kulturkritik Nietzsches. Besonders interessant sind dafr N 1887, KSA 12, 9[184] und [185]: „das Pr o b l e m d e r C i v i l i s a t i o n , der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760“. Zur Beziehung Rousseau-Voltaire vgl. Peter Heller, „Nietzsche in his Relation to Voltaire and Rousseau“, in: Ders., Studies on Nietzsche, Bonn 1980, S. 51 – 89. 52 Zu Nietzsches Rousseau-Kritik vgl. Ansell-Pearson, Nietzsche contra Rousseau, Cambridge 1991. 53 Dass auch Herder „nicht nur die Aufklrung, sondern ebenso ihr Gegenspiel, den Rousseauismus“ berwindet, bemerkte bereits Gadamer in Volk und Geschichte im Denken Herders, Frankfurt am Main 1942, S. 10). Wolfgang Harich, „Herder und die brgerliche Geisteswissenschaft“, in: Johann Gottfried Herder, Zur Philosophie der Geschichte. Eine Auswahl in zwei Bnden, hg. v. W. Harich, Bd. 1, Berlin 1952, S. 67, fasste
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eines vorzivilisatorischen Naturzustands des Menschen unterstellt, tadelt er auch seine Zivilisationskritik, die sich noch im Horizont traditioneller moralischer Werte bewege – Rousseau habe den vorzivilisatorischen Zustand des Menschen vermoralisiert, um sein Gleichheitsideal plausibel zu machen: Aber Rousseau – wohin wollte d e r eigentlich zurck? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und canaille in Einer Person; der die moralische „Wrde“ nçthig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zgelloser Eitelkeit und zgelloser Selbstverachtung. Auch diese Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte „Rckkehr zur Natur“, – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurck? – Ich hasse Rousseau noch in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck fr diese Doppelheit von Idealist und canaille. (GD, Streifzge 48)
Voltaire dagegen schien Nietzsche „ein grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin“, „eine gewisse Geistigkeit vornehm en Geschmacks scheint sich bestndig gegen eine leidenschaftlichere Strçmung auf dem Grunde obenauf zu halten.“ (EH, MA I) Gerade seine Souvernitt, bei Herder nur als spçttische Ironie wahrgenommen, war fr Nietzsche vorbildlich. Voltaire, nicht Rousseau kçnne zusammen mit Petrarca und Erasmus die „Fahne der Aufklrung“ weitertragen (MA I 26). Die Aufklrung wird fr Nietzsche nun aber komplexer. Hatte Schopenhauer „unsere Empfindung zeitweilig in ltere, mchtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen“ zurckgezwungen, „zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad fhren wrde“, ohne seine Kritik des Christentums schon von metaphysischen Elementen befreit zu haben, so hatte Nietzsche „die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklrung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigiert“ (MA I 26). Nun kam fr ihn die Zeit einer antichristlichen, aber auch antidogmatischen, sich nicht mehr selbst verabsolutierenden Aufklrung.54 Das moralische Pathos auch des Aufklrers Voltaire in seiner Kritik des Christentums ist nach Nietzsche selbst ein Produkt des spter zusammen: „Wo Rousseau den Unschuldszustand natrlicher Lebensverhltnisse rhmte, zeigte Herder, daß sich nicht in der Primitivitt der Naturvçlker, sondern in ihren Kulturschçpfungen der Genius der Humanitt offenbare. Der Bildungsfeindschaft Rousseaus stellte Herder den Gedanken einer humanistischen Volkspdagogik entgegen, und seiner Kritik der Zivilisation antwortete er mit der Erklrung, daß der Niedergang der Kultur in der ,Trennung der Stnde‘ seine Ursache habe. Herder berwand Rousseau, indem er seine besten Tendenzen in eine kulturphilosophische Synthese einbezog, die gleichzeitig das Vermchtnis des Voltairianismus fortsetzte. Er knpfte an beide Richtungen der franzçsischen Aufklrung an und ging ber beide hinaus.“ 54 Die Aufklrung ist „fr Nietzsche europisch, und insofern ist sie selbst etwas HistorischBesonderes, das sich nicht absolut setzen kann, ohne dem Leben zu schaden.“ (Josef Simon, „Der Begriff der Aufklrung bei Kant und Nietzsche“, in: Nietzsche. Radikalaufklrer oder radikaler Gegenaufklrer? (Nietzscheforschung, Sonderband 2), hg. v. Renate Reschke, Berlin 2004, S. 113 – 122, S. 118).
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Christentums; es muss nun berwunden werden.55 Das christliche Ideal der Nchstenliebe wurde in einen „Kultus der Menschenliebe“ (M 132) aufgehoben, die von der Aufklrung bis zum Positivismus propagiert wurde: Hierin hinter dem christlichen Ideale nicht zurckzubleiben, sondern es womçglich zu b e r b i e t e n , war ein geheimer Sporn bei allen franzçsischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berhmten Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum berchristlicht. (M 132)
Im Kampf gegen das Christentum ist, so Nietzsche, Voltaires Aufklrung noch gebunden. Sie wiederhole lediglich den sokratischen Optimismus, d. h. den Glauben „an den nothwendigen Verband von Tugend und Wissen, von Glck 55 Heinz Rçttges ordnet den frhen Nietzsche in die „Dialektik der Aufklrung“ ein, denn „es entspricht der auf der Dialektik der Aufklrung beruhenden zweiten Aufklrung, den Mythos gegen die durch die erste Aufklrung verabsolutierte Wissenschaft auszuspielen“ (Nietzsche und die Dialektik der Aufklrung, Berlin / New York 1972, S. 31). Die zweite Aufklrung Nietzsches sei keine irrationalistische Bewegung, sondern sie versuche, „die theoretische berlegenheit des Mythos der Wissenschaft gegenber – im Sinne der ersten Aufklrung – aufzuzeigen.“ Mit MA habe Nietzsche dennoch die philologische Rehabilitierung des Mythos aufgegeben, wahrscheinlich, weil er sich der auch von Horkheimer und Adorno aufgezeigten Aporie dieser Aufklrung der Aufklrung bewusst war: „diese Bestimmung des Verhltnisses von Mythos und Wissenschaft ist nmlich selbst das Resultat einer aufgeklrten, reflektierten, historisch-philologisch gebildeten Bewusstseinsstufe.“ (Rçttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklrung, S. 32) Nachdem „jener Antagonismus von Mythos und Aufklrung […] sich bei Nietzsche als Unvereinbarkeit von Leben und Wahrheit“ herausgestellt hatte und die Funktion des Mythos fr das Leben kein Argument seiner Wahrheit mehr sein konnte, habe das mythologisierende Verfahren des frhen Nietzsche einer skeptischen und nihilistischen Metaphysikkritik Platz gemacht. (Rçttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklrung, S. 34) Dass der Mythos fr Nietzsche stets eine Rolle spielt, betont Ernst Behler, „Friedrich Schlegels ,Rede ber die Mythologie‘ im Hinblick auf Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 182 – 209, S. 185. Er zieht dort starke Parallelen zwischen Schlegels philosophischer Interpretation der Funktion der Mythologie in seiner ,Rede ber die Mythologie‘ und Nietzsches Gebrauch von Mythen in seinem spteren Werk. Ein Beispiel dafr ist der Mythos der ewigen Wiederkehr. Wie der frhe Friedrich Schlegel „seine neue Mythologie als das ,knstlichste aller Kunstwerke‘ aus der ,tiefsten Tiefe des Geistes‘ herausarbeiten wollte und aus der damaligen Wissenschaft, vor allem der Physik, die krftigsten Impulse fr ihr Entstehen erwartete“, suchte auch Nietzsche, nach Behler, „eine wissenschaftliche Beweisbarkeit“ seiner Mythen. So erçffnet er mit seiner Kritik der Aufklrung neue Spielrume fr die mythopoetische Praxis. Nietzsches Aufklrung der Aufklrung kçnnte man als Zerstçrung der Mythen der Aufklrung verstehen – im Bewusstsein dessen, dass Mythen weiterhin nçtig sind, um schçpferisch zu sein, wie schon im Fall seines eigenen philosophischen Mythos ber den Ursprung der Sprache, der bestimmte Sprachspiele legitimieren sollte. Nach Peter Ptz, „Nietzsche im Lichte der Kritischen Theorie“, in: Nietzsche-Studien 3 (1974) S. 175 – 191, S. 182 – 183, hat Nietzsche schon in GT „die Dialektik der Aufklrung erkannt“ und damit verstanden, wie die Aufklrung „den alten Mythos zerstçrt, aber in einen neuen zurckfllt“, indem sie weiterhin an die Vernunft glaubt.
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und Tugend“ (Sokrates und die Tragçdie, KSA 1, S. 533). Der „Verband von Moral, Wissen und Glck“ blieb auch das „Hauptmotiv der Seele der grossen Franzosen (wie Voltaire)“ (FW 37). Also geht es nun um einen „Fortschritt der Freigeisterei“ (MA II, VMS 4), einer Aufklrung auch noch Voltaires und damit auch Nietzsches selbst:56 Man kann den Unterschied der frheren und der gegenwrtigen Freigeisterei nicht besser verdeutlichen, als wenn man jenes Satzes gedenkt, den zu erkennen und auszusprechen die ganze Unerschrockenheit des vorigen Jahrhunderts nçthig war und der dennoch von der jetzigen Einsicht aus bemessen, zu einer unfreiwilligen Naivett herabsinkt, – ich meine den Satz Voltaire’s: „croyez-moi, mon ami, l’erreur aussi a son mrite.“ (MA II, VMS 4)
Auch die Zielscheiben der Ironie Voltaires und die vieler anderer Autoren des 18. Jahrhunderts mssen an die neue Zeit angepasst werden. Das gilt besonders fr Ehe und Kirche. „Jetzt fragt man nach den Ursachen“, „es ist das Zeitalter des Ernstes“, der Spott Voltaires und seiner Zeit ist „versptet“, trivial, etwas, das nur noch „Kufer begehrlich machen“ kann (MA I 240). Die Kritik darf nicht mehr nur auf Institutionen bezogen, sondern muss selbstbezglich auch auf die Erkennenden zurckgewendet werden, die sich ber ihr eigenes Verfahren klar werden mssen: „Je grndlicher Jemand das Leben versteht, desto weniger wird er spotten, nur dass er zuletzt vielleicht noch ber die ,Grndlichkeit seines Verstehens‘ spottet.“ (MA I 240) Auch dem ,Ernstnehmen‘ selbst muss die Ironie gelten, der neue Freigeist muss das alte, bei Voltaire noch vorherrschende Pathos der Wahrheit aufgeben, nachdem die Unterscheidung wahr-falsch nur noch performative Bedeutung hat: „Oh Voltaire! Oh Humanitt! Oh Blçdsinn! Mit der ,Wahrheit‘, mit dem S u c h e n der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt – ,il ne cherche le vrai que pour faire le bien‘ – ich wette, er findet nichts!“ (JGB 35) So verwandelt Nietzsche den Voltaire, dem er ein hundert Jahren spter folgen will, in einen Idealtypus, der sich von den alten Glaubensartikeln befreit hat – und darum nicht mehr der Voltaire ist, den Herder angegriffen hat. Herders Voltaire hat in Nietzsches Interpretation der Kulturgeschichte Europas, die auch eine Interpretation seiner eigenen intellektuellen Entwicklung ist, dennoch ihre Bedeutung. Nietzsche weiß, dass es eine „Feindschaf t der Deutschen fr die Auf klrung“ (M 197) gab, die zum romantischen Kult des Gefhls „an Stelle des Cultus der Vernunft“ fhrte. Mit seiner Polemik gegen Voltaire kçnnte Herder fr Nietzsche durchaus dieser deutschen Reaktion angehçrt und dabei den Versuch Kants, „dem Glauben wieder Bahn zu ma56 Die Aufklrung Nietzsches ist „Selbstaufklrung und Selbsterziehung und sonst nichts“ Henning Ottmann, „Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklrung“, in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 2, Wrzburg 1985, S. 9 – 34, S. 14.
3.3. Die Erzhlung vom Fortschritt
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chen“, untersttzt haben. Aber die im Ergebnis irrationalistische Kritik der Aufklrung hat ihre eigene Dialektik entwickelt: gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwçrer am schdlichsten geworden, – die Historie, das Verstndniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung fr das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefhls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hlfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwrmenden, zurckbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flgeln an ihren alten Beschwçrern vorber und hinauf, als neue und strkere Genien eben j e n e r Au f k l r u n g , wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklrung haben wir jetzt weiterzufhren – unbekmmert darum, dass es eine „grosse Revolution“ und wiederum eine „grosse Reaction“ gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher wir treiben und treiben wollen! (M 197)
Herder war einer von denen, die die Bedeutung von Historie, Ursprung, Entwicklung und Mitempfinden betonten, und mit seinem Historismus kçnnte er dazu beigetragen haben, in Nietzsches Denken jene neue, auch Voltaire noch treffende Aufklrung reifen zu lassen. Nietzsches Kritik der deutschen Romantik wre ohne die intellektuellen Werkzeuge protoromantischer Denker wie Herder nicht denkbar, so wie sein neuer, idealtypischer Voltaire ohne Herders Kritik des alten Voltaire nicht denkbar ist. So wird es fr Nietzsche wieder mçglich, die von Herder in Auch eine Philosophie verspottete Metaphorik der „Erhellung“ zu verwenden, um die eigene philosophische Aufgabe gegenber jeder Form von Idealismus zu illustrieren: Eine Fackel in den Hnden, die durchaus kein „fackelndes“ Licht giebt, mit einer schneidenden Helle wird in diese Un t e r w e l t des Ideals hineingeleuchtet. Es ist der Krieg, aber der Krieg ohne Pulver und Dampf, ohne kriegerische Attitden, ohne Pathos und verrenkte Gliedmaassen – dies Alles selbst wre noch „Idealismus“. Ein Irrthum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – e s e r f r i e r t … (M 197)
Auch das Erfrieren produziert Verbrennungen, die sich lediglich nicht so unkontrollierbar verbreiten wie das Brennen eines Feuerbrandes. Die Erhellung der Lumires – eine Erhellung durch Feuer – hat sich durch (die franzçsische) Revolution verbreitet; Nietzsche bevorzugt nun eine chirurgische, selektive und kontrollierte ,Kryotherapie‘ des Idealismus, die nicht mit einem politischen Projekt verbunden ist; sie gilt Individuen, nicht Gruppen.
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3. Entidealisierung der Geschichte
3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults Das Hinterfragen der Fortschrittsideologien fhrt zu neuen Interpretationen der Kulturgeschichte. Herder und Nietzsche erwarten in ihrem kulturkritischen Diskurs vor allem von genialen Persçnlichkeiten Anregungen zu originalem und individuellem Handeln.57 Die menschliche Kreativitt wird ins Zentrum der historischen Erzhlung und der Aufmerksamkeit des Publikums gerckt. Die Bekrftigung der Genialitt macht rhetorisch Gebrauch vom Bild der ursprnglichen Kreativitt des Menschen vor der Entnaturalisierung der Kultur. Herder und Nietzsche gehen davon aus, dass Sprache und Kultur, die dem Menschen helfen, vom Leben Distanz zu nehmen, das Gleichgewicht in der Distanzierung verloren haben. Mit dem Genie scheint es neu mçglich zu werden. Im Schaffen des Genies erscheint die Mçglichkeit einer kulturellen Praxis, die die Spontaneitt der Natur mit der Reflexion des Geistes bzw. die Sinnlichkeit der Natursprache und ihre Nhe zu den Lebensbedrfnissen mit dem verfeinerten Gebrauch der Abstraktion verbindet. Geschichte wird so als Kontinuum zwischen natrlichen Erzeugungsprozessen und knstlicher Schçpfung, zwischen organischer Gestaltung und Bildung denkbar. Als naturgebundener, aber nicht einfach natrlicher Prozess ist das geniale Schaffen einerseits ein zielbewusstes Handeln eines freien, selbstbewussten Subjekts, andererseits aber kontingent, nie vçllig bewusst steuerbar, im ganzen also nicht deterministisch berechenbar. So wird das Publikum in seinem kreativen Handeln nicht entmutigt; indem ihm der nicht weiter begrndbare Wert kreativer und aktiver Lebensformen nahegebracht wird, wird es auf die Genialitt hingefhrt, ohne dass der Weg dorthin gelehrt werden kçnnte. Da so der Ursprung des Genies weder vçllig durchsichtig wird noch ganz unsichtbar bleibt, kann sich ihm gegenber eine quasi-religiçse Achtung entwickeln, wie beim Glubigen gegenber der Vorstellung einer nicht-menschlichen Macht, deren Wirkungen er beobachten kann, ohne ihren Ursprung zu sehen. Dem Philosophen kme dabei zu, zivilisatorische Hindernisse bei der Verwirklichung der Genialitt zu beseitigen; dabei ist wiederum besonders der ideologische Kult der Genialitt gefhrlich, da er die Entstehung des Genies als ganz schicksalhaft darstellt und es so unerreichbar distanziert. Statt das Genie als schlicht bermenschliches, von allen Einflssen seines kulturellen Milieus freies, nur von ihm selbst abhngiges Ereignis darzustellen, drngen beide Autoren auf die Bindung auch des Genies an eine kulturellen Tradition, mit der es sich mhevoll auseinandersetzen muss. 57 Zum kulturellen Milieu von Herders Genie-Gedanken vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, 2 Bnde, Darmstadt 1988, Bd. 1, S. 120 – 148; zu Nietzsche Bd. 2, S. 129 – 168.
3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults
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3.4.1. Herder: Das Genie zwischen Naturkrften und Sittlichkeit Wenn Sprache zur Drehscheibe von Natur und Kultur wird, kann Genialitt fr sie der Motor ihrer Reform sein. Nachdem sie aufgrund des berschusses an Abstraktion und Reflexion allmhlich ihre ursprngliche Lebendigkeit verloren hat, braucht die Sprache fr die Erneuerung der Kultur neue geniale Impulse. Nach Herder ist dabei der poetische Gebrauch einer Muttersprache vorrangig. Nach seinen im Journal skizzierten Plnen fr eine Reform des Schulsystems will er dafr die Lateinstunden beschrnken und die Mode des Franzçsischen zurckdrngen. Die Muttersprache bietet die grçßten Mçglichkeiten kreativen Sprechens, das sich, als natrlicher Prozess, jedoch nicht erzwingen lsst: „Rednerische und dichterische Genies st die Natur nur sparsam unter Zeiten und Nationen aus; wir kçnnen uns wider ihren Willen nicht dazu umschaffen“ (ber den Fleiss, 1.28). Das besttigt auch die Preisschrift Ursachen des Gesunknen Geschmacks bei den Verschiednen Vçlkern, da er geblht: „Genie“, heißt es dort, „ist eine Sammlung Naturkrfte: es kommt also auch aus den Hnden der Natur und muss vorausgehen, ehe Geschmack werden kann.“ (Ursachen, 4.113) Es ist ein „Funke von Gçttlichkeit“ (Ursachen, 4.117) und darf zugleich „mit [dem] Instinkt der Tiere, die vielleicht im Grunde eins sind, verglichen werden“ (Ursachen, 4.117). Die natrliche, nicht weiter erklrbare Fhigkeit des Genies zur kreativen Disposition stellt Herder dem Geschmack entgegen als dem schon routinierten und kanonisierten Teil des schçpferischen Aktes, der nur ursprnglich rein genial war. Wo der Geschmack den Anschluss an die spontane Urkreativitt des Genies verliert, wird er ein „Schall in der Luft“ (Ursachen, 4.114). Andererseits ist ein Genie ohne Geschmack nicht denkbar. Ist „Geschmack nur Ordnung im Gebrauch der Geniekrfte und […] ohne Genie Unding“, so ist ein Genie ohne Geschmack eine unproduktive Macht: „je mehr Krfte ein Genie hat, ja rascher die Krfte wrken, desto mehr ist der Mentor des guten Geschmacks nçtig, damit sich die Krfte nicht selbst einander berwltigen, zerrtten, und im Falle der bermacht auch andre gute Krfte zertrmmern.“ (Ursachen, 4.114) So stehen Genie und Geschmack nicht einfach in einem genetischen Verhltnis. Ohne die Disziplinierung durch den Geschmack wird das Genie nicht wirksam, der Geschmack ist „das Steuerruder der Krfte“ des Genies „auf dem wsten Meer des Zufalls“ (Ursachen, 4.117). Der Geschmack aber ist wiederum mit Vernunft verbunden, und darum ist Herders Begeisterung fr das Genie keineswegs irrational: „je edler ein Genie ist, in je wrdigerer Sphre es strebt und je wrdiger es sein Streben vollendet, desto mehr muß es treffende umfassende Vernunft zeigen, im schnellsten Flammenstrom der Ttigkeit und Empfindung.“ (Ursachen, 4.117) Auch die Vernunft hat dann jedoch ihre Zeit, wie das Beispiel der griechischen Kultur zeigt. Denn durch Geschmack haben „die Griechen an Vernunft und durch ihre
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3. Entidealisierung der Geschichte
leichte Vernunft an Geschmack gewonnen.“ (Ursachen, 4.119) Auch die Philosophie verdankt sich ihm: Wo noch Alles Genie, rohe Kraft und Sturm der Handlung ist, hat die Philosophie noch keine Sttte; wo ein Volk zuerst erwacht und sich aus dem mchtigen Traum sammlet, da wird Geschmack, und er in seinem schnellen richtigen Urteile Vorlufer der berlegung ber die unsinnlichsten Begriffe. (Ursachen, 4.119)
So kann es keine berzeitliche Theorie des Genies geben. Das Genie operiert ursprnglich nicht mit Begriffen, wie Herders Bild des Ursprungs der Sprache vorgab. So kann eine historische Wissenschaft der Genialitt nur „das Phnomenon von Krften des Genies, Verstandes und sittlicher Triebe“ beschreiben, d. h. die Bedingungen der Genialitt, nicht die Genialitt selbst. Beim Geschmack ist zwar besser zu beobachten und zu beschreiben, wie er in einer Epoche aufkommen, eine andere Epoche berdauern konnte und unter welchen Umstnden er in dcadence umschlug; aber auch er ist etwas, das „nie an einem Ort unter der Gestalt wiedergekommen, in der er vorher gewesen“ ist (Ursachen, 4.121). Zu den Entstehungsbedingungen des Genies gehçrt nach Herder auch die Sittlichkeit einer Nation (ohne dass das Genie deshalb eine Moral lehren msste). Als Manifestation von Naturkrften kann das Schaffen des Genies gerade nicht immer schon „moralisch“ sein; berhaupt ist „Geschmack und Tugend […] nicht Einerlei“, „gewisse „Werke kçnnen endlich wrklich eine Leidenschaft der Art fordern, die denn knstlich- aber nicht moralisch-gut ist“ (Ursachen, 4.120). Auch die Sittlichkeit ist lediglich eine Ordnungsinstanz, Disziplinierung „der sinnlichen Krfte[] zu oder in einem Kunstwerk“ „in all unsern Krften zum großen Werk des Lebens“. Kunst und Lebenskunst sind Momente einer gemeinsamen Praxis. Das klassische Vorurteil gegen die Leidenschaften findet sich bei Herder noch so weit, wie er zwischen moralisch guten und bçsen Leidenschaften zu unterscheiden sucht. Auch das Genie bençtige noch ein Mindestmaß an Sittlichkeit, eine Bezwingung der Leidenschaften durch soziale Sitten: Wo ppigkeit, Schande, Schwche, Knechtschaft, Lsternheit herrschen: da hat keine Kraft der Seele mehr edle Zwecke, oder edle Mittel. Man setzt abscheuliche Gottheiten auf den Altar, denen man auch abscheulich opfert. Die Ordnung der Krfte wird zerrttet, die Krfte selbst nehmen ab, weil man sie nicht, oder verstimmt und unwrdig brauchet. Geschmack sollte das Bild und Kleid der Tugend sein; wo sie gar nicht ist, ist auch ihr Bild und Kleid nicht mehr. So fern ists also gewiß, daß Geschmack die guten Sitten mit anhlt, aber nicht als gute Sitten, sondern als schçnen Anstand, als Wohlordnung. Und gute Sitten in gewissem Grade befçrdern den Geschmack, so fern sie ihm Materie, Beispiel, Triebfedern zu wrken reichen. Fllt die schçne Hlle so gar weg: so ist Alles verloren. (Ursachen, 4.120)
Mit Nietzsche kçnnte man das als Pldoyer fr das asketische Ideal verstehen, aus Nietzsches Perspektive ist aber auch schwer zu sagen, inwiefern die – fr ihn
3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults
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immer schon – nivellierenden Sitten der Gemeinschaft noch ein wirklich originelles Schaffen zulassen. Fr Herder ist die gestaltende Funktion der Moral berhaupt wichtiger als bestimmte moralische Werte. Darum lassen sich fr das Genie auch keine abstrakten moralischen Normen formulieren: „Genies kçnnen und mssen Genies bilden und rckbilden zur Ordnung, Schçnheit und dem Gleichmaße ihrer erkennenden oder fhlenden oder ausbenden Krfte: denn auch hier wrkt Wahrheit und Schçne nur durch Gleichgefhl und Nachahmung“ (Ursachen, 4.115). Um den Genie den Weg zu bereiten, kann man ihm lediglich gnstige soziokulturelle Bedingungen schaffen: Wer die Geschichte des Geschmacks verndern will, muss – als nietzschescher ,Arzt der Kultur‘58 – auf „seine Veranlassungen wrken“ (Ursachen, 4.142). Nach Herder darf man jedoch auch hier auf die gçttliche Schçpfungsordnung vertrauen: „Genies schafft der Schçpfer, und aus Genies bildet sich der Geschmack von selbst. Wir mssen nur, wie rzte oder Hebammen (nach Sokrates Gleichnis), der immer schaffenden, bildenden, regelnden und wieder zerstçrenden Natur folgen.“ (Ursachen, 4.143) Im spteren Werk Kalligone setzt sich Herder intensiv mit Kants Konzept des Genies in der Kritik der Urteilskraft auseinander. Er kritisiert dessen Definition „als Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt“,59 nimmt aber nicht wirklich von ihr Abstand. Fr Herder ist ein Genie der, der „nach Regeln [arbeitet], nach Regeln [erfindet], und sich selbst Regel [ist], gesetzt, daß jeder Dritte ihm diese auch nicht vorzhlen kçnnte“ (Kalligone, 8.830); das Genie beweist „Originalitt“ in dem Sinne, dass es „ein Werk seiner Krfte darstellt, nicht nachgeahmt, nirgend erborget“. Es ist Genie, selbst wenn es, anders als nach Kant, kein Modell fr andere wird. Neu an Herders Thematisierung des Genies ist, dass er nun zwischen der tatschlichen Funktion des Genies fr die kulturelle und historische Vernderung und dem bloßen Geniekult unterscheidet. Denn der Geniekult gerade in Deutschland fhrte dazu, dass, weil einige freche Jnglinge den Namen des Genies mißbrauchten, die Deutschen sich dies Wort selbst zum Spott und Ekel machten, und in solcher Bedeutung von Geniemnnern, Geniestreichen, er ist ein Genie u. f., nicht oft und nicht verchtlich gnug sprechen kçnnen, als ob ihnen nichts entbehrlicher wre, als diese Himmelsgabe; dieser Alemannismus hat der benachbarten Nationen Hochachtung gegen sie nicht vermehret. (Kalligone, 8.834)
Die Alten, so Herder weiter, „sprachen vom Genie weniger, ehrten aber und kultivierten es vielleicht mehr als wir.“ (Kalligone, 8.835) Etymologisch verweise ,genius‘ auf eine „hçhere Macht, die einen Menschen zu Hervorbringung seines Werks belebet“ (Kalligone, 8.835); Genius und Daimon schlçssen in der Antike darum „Kultur, Kunst“ und „Fleiß“ nicht aus. Die neueren Sprachen verstnden 58 Vgl. N 1873 – 74, KSA 7, 30[8]. 59 Immanuel Kant, KU, § 46.
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3. Entidealisierung der Geschichte
dagegen ,Genie‘ lediglich als „Talent“ und konnten so das Geniale von seinen sozialen Bedingungen allzu leicht trennen. Als Synonym fr „das große belebende Principium aller unsichtbaren Wirksamkeit, Geist“ (Kalligone, 8.836) wird ,Genie‘ mit ,Begeisterung‘ verbunden und als etwas lediglich „Angeborenes“ verstanden: „Weder erkauft noch erbettelt, weder erstritten noch erstudiert kann es werden.“ Der Genius „schaffet, erzeuget, stellt sich selbst dar“, doch damit sind noch keine Bedingungen der Anerkennung seiner Genialitt gegeben. Genialitt muss sich im Lauf der Zeit als solche erweisen: „Wie er [der Genius] sich in der Menschennatur erweise, zeigt die Geschichte unsres Geschlechts in allen seinen Erfindungen, Ttigkeiten und Produktionen; seine knftige Geschichte wird es zeigen.“ (Kalligone, 8.837) Die Geschichte wird zum Schauplatz und zur Bewhrung des Genies, und das gilt dann nicht nur wie nach Kant fr Werke der Kunst, sondern fr alles, was die Menschheit kreativ verndert: Unglcklich, wenn hiezu nur Bildhauerei und Dichtkunst, Redner- und Malerei gehçrte, als ob diese Werke des Namens Genie allein wert wren. Was irgend durch menschliche Natur genialisch hervorgebracht oder bewirkt werden kann, Wissenschaft und Kunst, Einrichtung oder Handlung ist Werk des Genius, der jede Anlage der Menschheit zu erwecken und zu ihrem Zweck zu fçrdern, eben Genius ist. Jeder Mechanismus erfodert Geist, der ihn ins Werk stelle; alles Geistige, damit es ins Werk gestellt werde, erfordert Mechanismus. (Kalligone, 8.838)
Genies sind kreative Krfte, die die Geschichte verndern. „Ein großer heiliger Genius der Menschheit“ wirkt in der Geschichte, in Vçlkern – „Der Genius der Menschen-Naturgeschichte lebt in und mit jedem Volk, als ob dies das einzige auf Erden wre“ (Briefe 7.700) – und in großen Individuen.60 „Genien der Menschheit“61 sind „die Erfinder und Stifter aller Ordnung und Harmonie“ (Kalligone, 8.834), „Freunde und Retter“, „Bewahrer und Helfer“ des Menschengeschlechts (Kalligone, 8.838 f.). Sie schaffen immer neue dynamische Gleichgewichtszustnde, operieren „mit stillem Schritt“, ohne Revolutionen.62 Diese sanfte und doch tiefe Vernderung der „Ordnung der Dinge“ wird 60 Herder macht oft Gebrauch von Ausdrcken wie ,Genius der Zeit‘, ,Genie der Zeit‘ ,Geist des Jahrhunderts‘ und spricht auch vom ,Genius‘ eines Volkes. Sie sind nach Dietrich Walter Jçns, Begriff und Problem der historischen Zeit bei Johann Gottfried Herder, Gçteborg 1956, S. 57 ff., als Synonyme des Begriffs ,Zeitgeist‘ und ,Geist der Zeit‘, die ebenfalls bei ihm vorkommen, zu lesen. 61 Zum Ausdruck ,Genien der Menschheit‘ vgl. auch Vom Geist der Ebraischen Poesie, 5.1015, und ber die menschliche Unsterblichkeit, 8.210. Herder unterscheidet das individuelle ,Genie‘ vom ,Genius der Menschheit‘ als einem berpersçnlichen Prinzip der Geschichte. Der Genius der Menschheit wird jedoch nie ohne das individuelle Genie wirksam. 62 Darum kçnnen die „wahren Akteure auf der Bhne der Weltgeschichte“ fr Herder nicht nur, wie Schndelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt am Main 1983, S. 64 f., annimmt (die „Individuen sind nur insofern historisch bedeutsam, als sie ein Allgemeines handelnd verkçrpern“) die „Volksgeister“ sein.
3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults
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mçglich, weil sie ber die Nachahmung wirkt: „Eine schçne Tat, zu der sie begeistern, wirkt unauslçschlich in die tiefste Ferne. Menschliche Seelen sind ihr Reich; da bilden und fçrdern sie, ungesehen und unabsehlich, stille Entschlsse, lange Gedanken“ (Kalligone, 8.839). So wie das Genie in den schçnen Knsten eine Orientierung fr seine Nachfolger bietet, ist das ,Genie der Geschichte‘ dazu fhig, „Geist zu erwecken, Krfte zu beleben“. Weil eben dies durch den Zivilisationsprozess immer strker behindert wird, braucht die Menschheit auch immer mehr oder immer wirkungsvollere Genies: „Je weiter die Menschheit rckt, je mehr und feiner sich ihre Angelegenheiten und Gefahren verflechten, desto hçhere und immer hçhere Genien hat sie nçtig.“ (Kalligone, 8.839) Aber der Verlust an Neuerungen wird mit dem Fortschritt der Zivilisation zunehmend weniger empfunden. So muss in der Menschheit erst ein neuer Hunger nach schçpferischen Erfahrungen und damit nach Genies erweckt werden – das ist der Sinn des Geniediskurses: Geschmeckt und geschmeckt haben wir lange; das Angenehmste ist uns zum Ekel worden; beinah in Allem sogenannt Schçnen, leiden wir an bermaß, an berdruß, am Mangel des Triebes, Gefhls und Genusses […]. In Musik und bildender Kunst, in Dichtung und Rede, noch mehr in Tat und ordnenden Gedanken jhnen wir dem Genius zu, hçchst ungenialisch. Wer erweckt Hunger in uns, damit wir nicht nur schmecken, sondern auch Lebenssaft empfangen? wer weckt in uns Neigungen, Krfte? (Kalligone, 8.840)
3.4.2. Nietzsche: Das Genie als Schicksal Auch fr Nietzsche soll nicht nur das Genie als solches, sondern auch der philosophische Diskurs ber die Genialitt die zeitgençssische Kultur steigern. Die Krankheit der Zeit ist fr ihn gerade der Mangel an Genialitt; er diagnostiziert ihn bereits in den Vortrgen zu den deutschen Bildungsanstalten.63 Pathetisch besteht er darauf, dass neue Genies notwendig sind. In den Schulen und in der Universitt herrsche eine „pdagogische Geistesarmut“ (BA, KSA 1, S. 672), ein Mangel „an wirklich erfinderischen Begabungen“ bei „wahrhaft praktischen Menschen“. Wahrhaft praktische Menschen seien die, welche gute und neue Einflle haben und welche wissen, daß die rechte Genialitt und die rechte Praxis sich nothwendig im gleichen Individuum begegnen mssen: whrend den nchternen Praktikern es gerade an Einfllen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt. (BA, KSA 1, S. 672)
63 Zum Genie-Gedanken beim frhen Nietzsche vgl. Bçning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frhen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 20), Berlin / New York 1988, S. 152 – 166.
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3. Entidealisierung der Geschichte
Der Genius im Sinn des frhen Nietzsche kann nur vor dem Horizont der schopenhauerschen Metaphysik von Wille und Vorstellung verstanden werden: „Das U r e i n e schaut den Genius an, der die Erscheinung rein als Erscheinung sieht“ (N 1870/71, KSA 7, 7[157]).64 Dem Genie liegt noch eine metaphysisch gedachte Natur zugrunde. In ihm hebt sich die Tierheit des Menschen auf, und zwar eben dann, wenn der Mensch mit der tierischen Suche nach Glck aufhçrt. Hat in UB II die Selbstreflexion und das Gedchtnis den Menschen von einer reinen Glckserfahrung ausgeschlossen, soll nun die Vertiefung der Selbstreflexion, zu der auch der historische Sinn gehçrt, die Tierheit berwinden: so lange jemand nach dem Leben wie nach einem Glcke verlangt, hat er den Blick noch nicht ber den Horizont des Thieres hinausgehoben, nur dass er mit mehr Bewusstsein will, was das Thier im blinden Drange sucht. Aber so geht es uns Allen, den grçssten Theil des Lebens hindurch: wir kommen fr gewçhnlich aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst sind die Thiere, die sinnlos zu leiden scheinen. Aber es giebt Augenblicke, w o w i r d i e s b e g r e i f e n : dann zerreissen die Wolken, und wir sehen, wie wir sammt aller Natur uns zum Menschen hindrngen, als zu einem Etwas, das hoch ber uns steht. (UB III, S. 378)
Als „Vollendung der Natur“ (UB III, S. 382) ist der Philosoph, der Knstler und der Heilige eine Gestalt des Genius. Nach der Metaphysik der Natur werden sie teleologisch verstanden: bei ihnen kommt „der Wille zu seiner Erlçsung“ (N 1870/71, KSA 7, 7[162]). Bloße Menschen der Erkenntnis kçnnen nicht Genies sein, da sie allein vom „Trieb zur Wahrheit“ bewegt sind, der zu einer „kalten, reinen, folgenlosen Erkenntniss“ (UB III, S. 394) fhrt, derselben, die in UB II eine lebensfeindliche Art Historiographie ausmachte (vgl. UB II, S. 285). Genies schaffen dagegen neue lebensfçrdernde Illusionen: Die Einwirkung des Genius ist gewçhnlich, daß ein neues Illusionsnetz ber eine Masse geschlungen wird, unter dem sie leben kann. Dies ist die magische Einwirkung des Genius auf die untergeordneten Stufen. Zugleich aber giebt es eine aufsteigende Linie zum Genius: diese zerreißt immer die vorhandenen Netze, bis endlich im erreichten Genius ein hçheres Kunstziel erreicht wird (N 1870, KSA 7, 6[3]),
Nietzsche versteht die Geschichte als Geschichte genialer Figuren: „eine unsichtbare Brcke von Genius zu Genius – das ist die wahrhaft reale ,Geschichte‘ eines Volkes, alles andere ist schattenhafte unzhlige Variation in schlechterem Stoffe, Kopien ungebter Hnde.“ (N 1872/73, KSA 7, 19[1]) Ohne diese Brcken ist fr Nietzsche keine Kontinuitt des historischen Prozesses denk-
64 Vgl. auch N 1871, KSA 7, 10[1].
3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults
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bar.65 Der Genius im Handeln großer Menschen nimmt bei Nietzsche die Rolle ein, die Herder dem ,heiligen Genius der Menschheit‘ zusprach. Eine utilitaristische Einstellung gegenber der Kultur – „eine Art von missbrauchter und in Dienste genommener Kultur“ (UB III, S. 383) – verfehlt die „Erzeugung des Genius“, das „Ziel der Kultur“ (UB III, S. 358). Wo die kulturelle Praxis das Genie nicht als einen Zweck an sich betrachtet, bleibt sie abhngig von blinden Lebenstrieben, in deren Emanzipation Nietzsche zu dieser Zeit den Sinn der Kultur sucht. Gegen die Entwicklung von genialen Persçnlichkeiten wirken insbesondere „die Selbstsucht der Erwerbenden, die Selbstsucht des Staates und die Selbstsucht aller derer, welche Grund haben sich zu verstellen und durch die Form zu verstecken“, und dazu gehçre auch „die Selbstsucht der Wissenschaf t und das eigenthmliche Wesen ihrer Diener, der Gelehrten“ (UB III, S. 393). Sofern dem Genie nach Nietzsche hier noch die moralische Aufgabe zukommt, die Menschheit von der Sinnlosigkeit des Leidens zu befreien, entspricht seine Idee von ihm in etwa der Herders, nach der das Genie die Sittlichkeit wahren muss. Die frhe Begeisterung Nietzsches fr das Genie66 trug wiederum zu einem Missbrauch des „Namen[s] des Genies“ (vgl. Kalligone, 8.834) bei, den, wie frher Herder, spter auch Nietzsche verurteilt. Nietzsche berwindet den Geniekult, als er sich von Schopenhauer verabschiedet. In der „Schwrmerei vom Genie“ wird Nietzsche nur eine der „mystischen Verlegenheiten und Ausflchte Schopenhauer’s“ (FW 99) sehen; er spricht ausdrcklich von der „Schopenhauersche[n] Entnatrlichung des Genies“ (N 1887, KSA 12, 10[99]).67 Das vernatrlichte Genie ist an die Natur gebunden, vollzieht aber nicht mehr einen Plan der Natur nach. Als Aufgipfelung natrlich gestaltender Krfte fasst er, wie Herder, das Genie nicht als bloßes Subjekt, das mit seiner Einbildungskraft Kunst schafft. Schon der frhe Nietzsche kannte Beispiele 65 Zur Kontinuitt als Grundkategorie der historischen Vernunft vgl. Hans Michael Baumgartner, Kontinuitt und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt am Main 1972. 66 Vgl. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, Bd. 2, Darmstadt 1988, S. 139. 67 Schopenhauers Auffassung der „Genialitt“ wird auch indirekt ad absurdum gefhrt. „— Wenn Genialitt, nach Schopenhauer’s Beobachtung, in der zusammenhngenden und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte besteht, so mçchte im Streben nach Erkenntniss des gesammten historischen Gewordenseins – welches immer mchtiger die neuere Zeit gegen alle frheren abhebt und zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und Thier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat – ein Streben nach Genialitt der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Historie wre kosmisches Selbstbewusstsein.“ (MA II, VM 185) Nietzsche scheint hier stillschweigend anzunehmen, dass es eine Genialitt der Menschheit als ganzer nicht gebe, sondern nur eine Genialitt des Individuums; deswegen ist fr ihn Schopenhauers Prmisse nicht berzeugend.
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3. Entidealisierung der Geschichte
etwa der Genialitt im Politischen, wie bei Themistokles, mit seiner der „merkwrdigen rein instinktiven Genialitt seines politischen Handelns“ (BA, KSA 1, S. 783).68 Spter erweitert er die Palette noch: „Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialitt, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen, dieselbe niedriger zu schtzen, als irgend eine philosophische, politische oder knstlerische Genialitt“ (MA I 636). Auch die „Entstehung des vollkommenen Freigeistes“ ist ein „specielle[r] Fall“ der „Entstehung des Genies“ (MA I 231); spter ist auch von einer „religiçse[n] Genialitt“ (N 1885/86, KSA 12, 2[23]) die Rede. Nietzsche wollte gelegentlich sogar das Wort ,Genie‘ ganz vermeiden – „An Stelle des Genies setzte ich den Menschen, der ber sich selber den Menschen hinausschaff t“. (N 1883, KSA 10, 16[14]) –,69 machte aber, wie beim ,Fortschritt‘, weiterhin Gebrauch davon. Im Gegensatz zum Idealisten, dem „Fanatiker eines Ideals“, der sich eine Person „so in die Ferne [stellt], dass er sie nicht mehr scharf sehen kann“ (M 298), will Nietzsche das Wort ,Genie‘ „ohne allen mythologischen und religiçsen Beigeschmack“ verwenden (MA I 231). Er hat nun das angebliche Genie ebenso wie das Individuum, das Genialitt zuschreibt, psychologisch grndlich entlarvt, und so wird ihm nun die Verbindung zwischen Leiden und Genialitt verdchtig. Er sieht nun, dass das Bewusstsein und die Zuschreibung von Genialitt nicht mit dem Wesen des Daseins, sondern mit „Ehrgeiz“ und „Neid“ zu tun hat (MA I 157). Er hebt hervor, dass von ,Genies‘ immer aus einem bestimmten Interesse heraus geredet wird: In ganz seltenen Fllen, – dann, wenn im selben Individuum der Genius des Kçnnens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen – kommt zu den erwhnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausserund berpersçnlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem 68 Nietzsche schrieb den Griechen im allgemeinen eine gewisse Genialitt zu: „Die Eigenschaften des Genialen ohne die Genialitt treffen wir bei dem Durchschnittshellenen, im Grunde alle die gefhrlichsten Eigenschaften des Gemths und des Charakters.“ (N 1875, KSA 8, 5[129]) 69 „Zur berwindung der bisherigen Ideale (Philosoph, Knstler, Heiliger) that eine Entstehungs-Geschichte. / An Stelle des Heiligen-Liebenden stellte ich den, der alle Phasen der Cultur liebevoll-gerecht nachempfindet: den h i s t o r i s c h e n Me n s c h e n d e r h ç c h s t e n Pi e t t . An Stelle des Genies setzte ich den Menschen, der ber sich selber d e n Me n s c h e n h i n a u s s c h a f f t (neuer Begriff der Kunst, gegen die Kunst der Kunstwerke) / An Stelle des Philosophen setzte ich den freien Geist, der dem Gelehrten, Forscher, Kritiker berlegen ist und ber vielen Idealen noch leben bleibt: der ohne Jesuit zu werden, trotzdem die unlogische Beschaffenheit des Daseins ergrndet: der E r l ç s e r v o n d e r Mo r a l .“ (N 1883, KSA 10, 16[14]) Man kçnnte fragen, ob auch die Vorstellung der genialen Idealtypen in UB III fr Nietzsche, sofern er den illusionkritischen Blick von WL nicht verloren hat, zu jenen Illusionen gehçrt, die Genies schaffen, und ob also UB III nicht selbst eine Illusion wre, die das Genie (Nietzsche) schafft, um das Leben ertrglicher zu machen.
3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults
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leidenden Dasein zugewandten-Empfindungen: welche ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). – Aber welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es fr deren Aechtheit? Ist es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von Empfindungen dieser Art bei sich r e d e n ? (MA I 157)
Geniekult entsteht auch „aus Eitelkeit“. Wir sind in bestimmtem Maß darauf angewiesen, andere als genial darzustellen, sie Genie zu nennen und sie damit so weit wie mçglich von uns abzurcken, um nicht an der eigenen Unfhigkeit zu leiden, etwas Großes zu schaffen, „denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum, verletzt er nicht“. Man spricht auch dort von ,Genius‘, wo „die Wirkungen des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen“. Dabei wird der Entstehungsprozess des Kunstwerks bewusst ignoriert, man missversteht notorisch die schlichte Natur auch des genialen Schaffens: „Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thtigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie’s: aber keine ist ein ,Wunder.‘“ Vor allem der Knstler ist anfllig fr den Geniekult, denn gerade bei einem knstlerischen Werk ist es, anders als bei wissenschaftlichen Fortschritten, schwer mçglich zu sehen, „wie es geworden ist.“ (MA I 162). Mit dem Geniekult verliert der Knstler jenen „tchtigen Handwerker-Ernst“ (MA I 163), den auch er braucht, so dass er nie „aufhçrt, Kritik gegen sich selbst zu ben“. Seinem „Gefieder“ fllt „eine der Schwungfedern nach der anderen aus: jener Aberglaube grbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist.“ Ntzlicher fr große Menschen scheint es hingegen, sich der „rein menschlichen“ Bedingungen ihrer Grçße bewusst zu werden: Fr grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich ntzlicher, wenn sie ber ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glcksumstnde hinzutraten: also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser persçnlicher Muth, sodann das Glck einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frhzeitig darbot. (MA I 164)
Letztlich, so Nietzsche, war der Geniekult ein „Nachklang“ einer „GçtterFrsten-Verehrung“, eine pathetische Verstrkung des Abstands zum ,Volk‘: „Ueberall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.“ (MA I 461) Doch eine solche scheinbar fraglose berlegenheit hindert das große Individuum eben daran, auf die Bedingungen seiner Selbstgestaltung zu achten, und damit auch das Genie in ihm. Stattdessen betont Nietzsche die Distanz unter den Indivi-
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3. Entidealisierung der Geschichte
duen und den Vergleich mit ihnen; sie reizten zur Ausbildung der eigenen Fhigkeiten. Viele „Arten von großen Menschen“, notiert er spter, schienen ihm nicht mehr mçglich“, „der Heilige“, „[v]ielleicht auch der Phi losoph“ und „[e]ndlich das Genie“, eben weil sie das ,Pathos der Distanz‘ verloren htten. Die „ungeheuren Distanz-Verhltnisse zwischen Mensch und Mensch“ htten deutlich abgenommen, „[m]indestens hat das Gefhl dieser Distanz abgenommen, und das bringt als Wirkung eine weniger schroffe Haltung und Zucht mit sich, vermçge deren es der Mensch auch nicht mehr so hoch bringt, wie ehedem.“ Der Ausgleich der Sitten und der Verhltnisse unter den Menschen stehe dem Streben nach hçheren Formen des Menschlichen entgegen: deswegen bedrfen wir „eines neuen Begriffs der Grçße des Menschen; welcher wir fhig sind, und von der die Meisten von uns tief abgetrennt sind.“ (N 1885, KSA 11, 35[25]) Genial zu werden bedeutet schlicht: Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde vçllig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in’s Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalitt nachrhmt. (MA I 231)
Das Genie stellt, so Nietzsche mit betonter physiologischer Nchternheit, den lebendigen Beweis dafr dar, dass „eine Verstmmelung, Verkrppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs hufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewçhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Funktion und noch eine andere zu versehen hat.“ (MA I 231) So wird gerade das Widersprchliche im Menschen Bedingung der Genialitt: Im sogenannten Genie ist ein physiologischer Widerspruch: es besitzt einmal viele wilde, unordentliche, unwillkrliche Bewegung und sodann wiederum viele hçchste Zweckthtigkeit der Bewegung, – dabei ist ihm ein Spiegel zu eigen, der beide Bewegungen neben einander und in einander, aber auch oft genug wider einander zeigt. In Folge dieses Anblicks ist es oft unglcklich, und wenn es ihm am wohlsten wird, im Schaffen, so ist es, weil es vergisst, dass es gerade jetzt mit hçchster Zweckthtigkeit etwas Phantastisches und Unvernnftiges thut (das ist alle Kunst) – thun muss. (M 263)
Je mehr der Geniekult das kreative Zurechtkommen mit den eigenen Lebensbedingungen und Widersprchen lhmt, desto mehr muss der neue Geniediskurs die Arbeit an der Genialitt herausstellen, den „Cultus der Cultur“ des Genies: Dem Cultus des Genius’ und der Gewalt muss man, als Ergnzung und Heilmittel, immer den Cultus der Cultur zur Seite stellen: welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommenen, Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bçsen und Furchtbaren, eine verstndnissvolle Wrdigung und das Zugestndniss, d a s s d i e s s A l l e s n ç t h i g s e i , zu schenken weiss; denn der Zusammen- und Fortklang alles Menschlichen, durch
3.4. Das Genie als Anfang von Neuem – Kritik des Geniekults
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erstaunliche Arbeiten und Glcksflle erreicht, und eben so sehr das Werk von Cyklopen und Ameisen als von Genie’s, soll nicht wieder verloren gehen: wie drften wir da des gemeinsamen, tiefen, oft unheimlichen Grundbasses entrathen kçnnen, ohne den ja Melodie nicht Melodie zu sein vermag? (MA II, VM 186)
,Kultur‘ ist hier als Totalitt aller berindividuellen traditionellen und institutionalisierten Gesetze, zu denen auch Geschmack in Herders Sinn gehçrt und die das Kunstschaffen regeln, zu verstehen. In M 548 bekrftigt Nietzsche nicht nur, dass er im Genie ebenfalls nicht lediglich irrationale und spontane Krfte am Werk sieht, sondern er fordert dort zugleich einen neuen Gebrauch des Wortes Vernunft, eine „Vernunf t in der Kraf t“ zur Selbstgestaltung: Ach, um den wohlfeilen Ruhm des „Genie’s“! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der Kraft auf den Knieen – nach alter Sclaven-Gewohnheit – und doch ist, wenn der Grad von Ve r e h r u n g s w rd i g k e i t festgestellt werden soll, nur d e r Gr a d d e r Ve r n u n f t i n d e r K r a f t entscheidend: man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Hçheres berwunden worden ist und als ihr Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht! Aber fr ein solches Messen giebt es noch gar zu wenig Augen, ja zumeist wird noch das Messen des Genie’s fr einen Frevel gehalten. Und so geht vielleicht das Schçnste immer noch im Dunkel vor sich und versinkt, kaum geboren, in ewige Nacht, – nmlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie n i c h t a u f We r k e , sondern a u f s i c h a l s We r k , verwendet, das heisst auf seine eigene Bndigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zustrçmen von Aufgaben und Einfllen. (M 548)
Doch Nietzsche gibt der Selbstgestaltung des Genies, anders als Herder, keinen moralischen Kodex vor, im Gegenteil: der „Genius der Kultur“ sei als ein „bçses Dmonisches“ vorstellbar, das unmoralische Mittel wie „die Lge, die Gewalt, den rcksichtslosesten Eigennutz“ einsetzt (MA I 241). Mit der naturalistischen Rhetorik bertrgt er das Modell der dynamischen Gleichgewichte des Lebendigen auf den genialen Organismus. Auch das geniale Schaffen ist ein Resultat von Spannungen und Konflikten, nicht einer friedlichen sozialen Ordnung. Die Geschichte zeige, dass die „Erzeugung des Genius“ Misshandlungen und Qualen voraussetze, einen Umgang unter Menschen „bçse und rcksichtslos wie die Natur“ (MA I 233). Und die neuen „Gefahren, Schmerzen und Auskunftsmittel“ Europas htten „eine intellectuale Reizbarkeit erzeugt“, „welche beinahe so viel, als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genie’s ist.“ (FW 24) Dagegen behindere ein vom Staat vollkommen geregeltes Leben „die Erzeugung des Genius’“ (MA I 234): denn wenn „das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet [ist], so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es wrden allein die zurckgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer Unwirklichkeit verlangten.“ Soweit der Staat darauf aus ist, nach eudmonistischen Vorstellungen „fr mçglichst Viele ein Wohlleben herzustellen“, also den Prozess der Vermoralisierung der Individuen zur Herde bestrkt, stnden „Geni us und i dealer Staat in
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3. Entidealisierung der Geschichte
Widerspruch“. Die Menschheit wrde dann „zu matt“, „um den Genius noch erzeugen zu kçnnen“ (MA I 235). Nietzsche schlgt seinerseits keine andersartige gesellschaftliche Organisation vor, um Genies hervorzubringen – jede solche Organisation wrde die (mçglicherweise genialen) Individuen nivellieren. Stattdessen setzt er auf Beispiele, die die Dichter geben – Vielmehr wird er [der Dichter], wie frher die Knstler an den Gçtterbildern fortdichteten, so an dem schçnen Menschenbilde f o r t d i c h t e n und jene Flle auswittern, wo m i t t e n in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede knstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schçne grosse Seele noch mçglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmssige Zustnde einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft. (MA II, VM 99)
– und auf den glcklichen Zufall. Da man die Bedingungen des Genies nicht im voraus kennen kçnne, sei es unmçglich, „Genies absichtlich zu fçrdern“ (N 1880, KSA 9, 6[111]). Letztlich komme es auf den gnstigen Augenblick an: „Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fnfhundert Hnde, die es nçthig hat, um den jaiq|r, ,die rechte Zeit‘ – zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!“ (JGB 274) So kann Nietzsche seinen „Begriff vom Genie“ in die Metapher des Explosiven fassen: Grosse Mnner sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so gengt der zuflligste Reiz, das „Genie“, die „That“, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist“, an „çffentlicher Meinung“! […] Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhltniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung: die Zeit ist relativ immer viel jnger, dnner, unmndiger, unsicherer, kindischer. […] Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: d a s s e s s i c h a u s g i e b t , ist seine Grçsse … Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehngt; der bergewaltige Druck der ausstrçmenden Krfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das „Aufopferung“; man rhmt seinen „Heroismus“ darin, seine Gleichgltigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung fr eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles Missverstndnisse … Er strçmt aus, er strçmt ber, er verbraucht sich, er schont sich nicht, – mit Fatalitt, verhngnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses ber seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art h ç h e r e r Mo r a l … Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie m i s s v e r s t e h t ihre Wohlthter. – (GD, Streifzge 44)
Die Metapher des Explosiven – Nietzsche hat sich bekanntlich auch selbst „Dynamit“ genannt (EH, Warum ich ein Schicksal bin, 1)70 – akzentuiert die 70 Vgl. Werner Stegmaier, „Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschtzung als
3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“
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Unvorhersehbarkeit des Genies. Aber natrlich bleiben fr ,geniale Explosionen‘ die ,Energien‘ der Einzelnen und der historischen Bedingungen, unter denen sie sich entznden kçnnen, maßgeblich. So entmutigt Nietzsche mçgliche Genies ebenso, wie er sie ermutigt. Sein Geniediskurs wendet sich zuletzt eher an die ihrer selbst nicht Sicheren unter ihnen; wirkliche Genies bedrfen seiner nicht, und noch weniger wrden sie einer ausgearbeiteten Theorie des Genies bedrfen. Die ihrer selbst nicht Sicheren aber werden um so mehr fr den Geniekult anfllig sein und sich mit ihm beruhigen und lhmen. Nietzsche setzt sie bewusst dieser Probe aus. Im Ergebnis gebrauchen beide, Herder und Nietzsche, den Begriff Genie so, dass es eine Kultur im ganzen verndern kann. Es ist auf sich selbst gestellt, bei Herder jedoch an die Sittlichkeit der Gemeinschaft gebunden, bei Nietzsche dagegen gerade nicht. Beide wollen es nicht definieren, sondern arbeiten mit der Wirkung des Wortes ,Genie‘ auf den Willen zur Steigerung der Kultur. Sie zeigen aber auch, wie ein bloßer Geniekult dem Genie selbst und der Kultur schaden kann, solange jedenfalls der Kult nicht durch einen Gegenkultus des Geschmacks bzw. der Kultur ausgeglichen wird. Die gezielt naturalistische Sprache ihres Geniediskurses ist Teil einer Gegenbewegung ebenso gegen den Kult der Genialitt wie gegen die Nivellierung der Kultur.
3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“ Der neue Geniediskurs versucht das Streben nach individueller Bildung zu stimulieren. Das Wort ,Genie‘ benennt ein Individuum, das sich selbst als Ausnahme reflektiert und dabei nicht primr seine Position in der Gemeinschaft thematisiert, d. h. nicht ber die ethischen und politischen Implikationen seines Schaffens nachdenkt. Auch wenn Herder, anders als Nietzsche, auf einer objektiven Sittlichkeit als Bedingung der Genialitt besteht, sind Konflikte mit ihr fr ihn unausweichlich. Auch fr ihn bleiben ethisch-politische Einstellungen im Geniediskurs zweitrangig; dessen Sinn ist, fr ihn wie fr Nietzsche, nicht, eine bestimmte Gesellschaftsform, ein bestimmtes Verhltnis des Individuums zu seinen Mitmenschen und eines Volks zu anderen Vçlkern zu propagieren. Dennoch verzichten beide nicht auf soziale und kulturelle Entwrfe. Herders Konzept der Humanitt schließt allgemeine Kriterien einer guten Kulturnation und ihres Zusammenwirkens mit anderen Nationen ein, Nietzsche beschrnkt sich nicht auf das antiperfektionistische Konzept der Selbstberwindung, das sich in der Anti-Lehre des bermenschen niederschlgt,71 sondern Schicksal der Philosophie und der Menschheit (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 1)“, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 62 – 114, hier S. 78 – 80. 71 Zum bermenschen als Anti-Lehre Zarathustras vgl. Werner Stegmaier, „Anti-Lehren. Szene und Lehre in Friedrich Nietzsches ,Also sprach Zarathustra‘“, in: Volker Gerhardt
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3. Entidealisierung der Geschichte
setzt sich zugleich fr ein umfassendes historisches und kulturelles Ideal ein, das des guten Europers, das seinerseits das Zusammenwirken der Nationen verndern muss. Unsere These lautet also: die Konzepte ,Humanitt‘ und ,guter Europer‘ erfllen dieselbe Funktion, beide betreffen den Menschen als soziales Wesen, den Menschen unter anderen Menschen, auch sie jedoch mit dem Ziel, die Selbstbestimmung des Einzelnen zu fçrdern. Der Einzelne ist abhngig von sozialen und politischen Bedingungen und muss sich dessen bewusst bleiben, nur unter ihnen kann er ,werden, was er ist‘. Der humane, gute Europer braucht darum die Kenntnis der Historie und dazu historischen Sinn. Wir fragen nach der Logik, durch die diese Ideale ihre berzeugungskraft gewinnen, und ihrer Kompatibilitt. Beide werden als unmittelbar plausible, intuitive Wertsetzungen und attraktive Lebensformen eingefhrt, die nicht normativ begrndet, sondern nur beschrieben werden kçnnen. Inhaltlich fllt der antinationalistische Sinn beider ins Auge. Auch er ndert sich jedoch von Herder zu Nietzsche, Nietzsche, kçnnte man sagen, wendet hier Herder gegen Herder, kritisiert ihn nach seinen eigenen Prmissen. Nietzsches guter Europer macht von eben jenem historischen Sinn konsequenten Gebrauch, den Herder als maßgeblichen Wert der Kultur erkannt hat. Herders historischer Sinn ermçglicht Nietzsche zu verstehen, dass Herders Humanitarismus den Menschen enthistorisiert und dadurch seine kreative Selbstbestimmung einschrnkt. 3.5.1. Herder: Befçrderung vs. Begrndung der Humanitt in der Welt jenseits des Nationalismus Die Humanittsidee, der wichtigste Anhaltspunkt der Geschichtsphilosophie Herders, bleibt recht unbestimmt.72 Er hielt sie wohl fr so selbstverstndlich, dass er glaubte, sie nicht klar und deutlich bestimmen zu mssen; mit Nietzsche (Hg.), Klassiker auslegen: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, S. 191 – 224. 72 Die Schwierigkeiten einer positiven Formulierung dieses Ideals betont schon Rudolf Lehmann, „Herders Humanittsbegriff“, in: Kant-Studien 24 (1920), S. 242 – 260, S. 242. Er glaubt jedoch nicht wie Haym und Khnemann, dass es nur Ausdruck der persçnlichen Neigungen Herders sei, sondern fhrt seine Entstehung auf den Einfluss Kants, Hamanns und Rousseaus zurck. Vgl. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., Berlin 1880 [Nachdr. 1958]. Hayms Urteil schließt sich wesentlich auch Wilhelm Dobbek, J.G. Herders Humanittsidee als Ausdruck seines Weltbildes und seiner Persçnlichkeit, Braunschweig 1940, S. 8, an. Rudolph Stadelmann, Der historische Sinn bei Herder, Halle 1928, erkennt in der Humanitt einen „absoluten Maßstab“ mit einer „unbestimmten Dehnbarkeit“ (S. 28); die Humanitt sei kein „kategorischer Imperativ“ (S. 29), keine rein „geschichtsphilosophische Abstraktion ber den Sinn der weltgeschichtlichen Entwicklung“ und kein „klassizistisches Bildideal“ (S. 29), sondern ein „allgemeinstes Ziel der Sehnsucht“ (S. 30), die „Skularisierung und Humanisierung einer bestimmten Art der Mystik“ (S. 31). Als mystische Erfahrung
3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“
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kçnnte man sagen: Humanitt ist fr Herder das Bekannte, das als solches nur schwer erkannt werden kann.73 Dass er es nicht positiv und scharf fasste, kçnnte auch an seinem Misstrauen gegenber der Abstraktion liegen. Wenn alle menschliche Weisheit anerkanntermaßen anthropomorph ist, muss gerade der Humanittsbegriff unbestimmt oder zumindest tautologisch bleiben (,der Mensch soll Mensch werden‘).74 Auch vom praktischen Standpunkt aus hat die Unbestimmtheit ihren Sinn: nur wenn die Humanitt nicht schon vorab festgelegt wird, kann sie wirken, der Mensch soll eben deshalb Mensch werden, weil ihm noch gar nicht klar ist, was ,Menschlich-Sein‘ bedeutet. Dabei muss nicht der Mensch an sich berwunden werden, wohl aber alle konkreten Manifestationen des Menschlichen, sofern sie als nicht menschlich genug erkennbar werden. Selbst wenn man versucht, dem 6. und 7. Kapitel des 4. Buches und dem 5. Kapitel des 9. Buches der Ideen eine „universalgltige Grundlage“75 von Herders Humanittsidee zu entnehmen – dies wren nach Anne Lçchte Friedlichkeit, von Liebe gesteuerter Geschlechtstrieb, Mitleidsfhigkeit, die Familie als Ort und Prinzip der Erziehung, die Einheit von Billigkeit und Vernunft, Wohlanstndigkeit und Religion –, ist ihr Spektrum doch so weit, dass man ihre konkrete Realisierung kaum objektiv feststellen kçnnte. Zudem ist bei Herder mit Humanitt immer auch ein Gefhl gemeint, ein „Gefhl der Menschheit“, das wiederum Synonym fr „Verstand, Billigkeit, Gte“ ist (Briefe, verstanden, verlçre das Ideal aber weitgehend seinen praktischen Sinn, den sich Herder von ihm verspricht. Kein bloßer Ausdruck von Herders Charakter, sondern auch des Zeitgeistes ist es fr Emil Adler, „Herders Humanittsidee. Ein Beitrag zur Humanittsphilosophie der deutschen Klassik“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 12:4 (1964), S. 455 – 469. Er betont die Bedeutung des Spinozismus fr es, „der das antitheologische Denken fçrderte“ und „damit zugleich zur Bereicherung der Humanittsidee mit postulativem Inhalt [beitrug]“ (S. 462). Nach Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, 2 Bnde, Darmstadt 1988, S. 136, „schreckt Herder vor dem Abgrund des Relativismus zurck, den das historische Verstndnis von Kulturen und Epochen als autonomer Einheiten mit sich bringt. Deshalb versucht er, einen vagen, religiçs gefrbten berbau zu entwerfen, welcher der Gesamtgeschichte dennoch Richtung und Sinn verleiht.“ Jçns, Begriff und Problem der historischen Zeit bei Johann Gottfried Herder, Gçteborg 1956, S. 73 – 74, macht dagegen die praktischen Bedrfnisse hinter der ,Humanitt‘ stark: Herder wollte „den Menschen als geschichtlichen begreifen, ohne die ungeschichtliche Idee der Humanitt aufzugeben“, er habe „Sein und Sein-Sollen des Menschen zusammenfallen lassen.“ 73 Vgl. FW 355. 74 Auf die tautologische Natur des herderschen Humanittdiskurses hat Gerhart Schmidt, „Der Begriff des Menschen in der Geschichts- und Sprachphilosophie Herders“, in: Zeitschrift fr die philosophische Forschung 8 (1954), S. 499 – 534, bes. S. 500, hingewiesen. 75 Vgl. Anne Lçchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanittsidee der Ideen, Humanittsbriefe und Adrastea, Wrzburg 2005, S. 51 – 53.
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3. Entidealisierung der Geschichte
7.750). Ein Gefhl kann nicht moralisch geboten werden. Schon deshalb lsst sich die natrliche Bestimmung des Menschen zur Humanitt nicht als Fundament allgemeiner Normen und Pflichten fassen.76 Die Vernunft kann hier nicht allein bestimmend sein, sondern muss mit der Billigkeit zusammenwirken, der Sensibilitt fr eine nicht weiter begrndbare Gerechtigkeit: Die Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der Dinge, daß sie solche zum daurenden Ebenmaß ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts gegen einander strebender Krfte, auf dessen Harmonie der ganze Weltbau ruhet. (Briefe, 7.655)
Die Vernunft muss sich ihrer Grenzen bewusst und insbesondere der Bedeutung der Religion fr die zu entwickelnde Humanitt eingedenk bleiben. Sie handelt „eben so wenig willkrlich […], als die Gottheit selbst willkrlich dachte“ (Briefe, 7.666), und kann zur Humanisierung nur so lange beitragen, wie sie sich an ihren eigenen gçttlichen Ursprung erinnert und sich als Erkenntnis jener Ordnung versteht, die sie nicht selbst geschaffen hat. Andererseits kann humanes Handeln, auch wenn es eng mit Religion verbunden ist, keine bloße Realisierung der christlichen Lehre in der Geschichte sein, selbst wenn schon vorausgesetzt wrde, dass das Christentum die wahre Religion sei; denn die Religion als solche, nicht nur die christliche, ist nach Herder Ausdruck der Humanitt. Ihre humanisierende Funktion liegt vor der Formulierung von Dogmen darin, das von Gott geschaffene Naturwesen fr eine kulturelle Wiedergeburt empfnglich zu machen. Herder will so jede Einseitigkeit bei der kulturellen Selbstschçpfung des Menschen berwinden und zu seiner integralen Entwicklung beitragen. Das Wort ,Humanitt‘ soll die Selbstbestimmung des Menschen als eines Kulturwesens im ganzen unterstreichen, jenseits aller besonderen Zielsetzungen. Herder will kein Sollen aus einem Sein ableiten. Stattdessen will er ein großes Bild der Natur- und Kulturgeschichte entwerfen, das die Realisierung von Werten attraktiv macht, die dann keiner Begrndung mehr bedrfen und die Herder dann auch nicht mehr wagt. Er will zur Kultivierung der Individuen und Vçlker beitragen, die jedoch nicht, weder negativ noch positiv, unhistorisch verabsolutiert werden sollen. Er will sie zu einer unablssigen Selbstverbesserung anstacheln: Ja dem ganzen menschlichen Geschlecht, das also verfhrt wird, seinen Endpunkt der Wirkung verrcken, heißt ihm den Stachel seiner Wirksamkeit aus der Hand drehn, und es im Schwindel erhalten. (Briefe, 8.129) 76 Vgl. Konrad Ott, Menschenkenntnis als Wissenschaft. ber die Entstehung und Logik der Historie als der Wissenschaft vom Individuellen, Frankfurt am Main 1991, S. 135: „Der Versuch, aus der Tatsache des aufrechten Gangs normative Bestimmungen und somit ein Sollen aus einem Sein abzuleiten, misslingt. Schon die erste Bestimmung: ,Friedlichkeit, nicht ruberische Mordverwstung‘ (Ideen, 6.154) folgt aus dem aufrechten Gang so wenig wie deren Gegenteil.“
3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“
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Es geht nicht um Perfektion, eine abschließende Vollendung, sondern um Perfektibilitt, eine stndige Verbesserung ber den jeweils erreichten Stand hinaus. Darin ist „die Perfektibilitt keine Tuschung“, „sie ist Mittel und Endzweck zu Ausbildung alles dessen, was der Charakter unsres Geschlechts Humanitt verlanget und gewhret“ (Briefe, 8.131). Perfektibilitt ist nur insofern auch Zweck, als sie zu immer neuer Perfektion motiviert. Es geht somit um einen paradoxen Perfektionismus ohne inhaltlich definierte Perfektion. Denn „unsre Humanitt ist nur Vorbung, die Knospe zu einer zuknftigen Blume“ (Ideen, 6.187), der Mensch ist das „verbindende Mittelglied zweener Welten“ (Ideen, 6.197). Die Menschlichkeit Christi, des „Menschensohn[s]“ (Briefe, 7.130) kann nie vollkommen realisiert werden. So werden Spielrume offengehalten fr vielfltige Entwicklungen von Individuen und Vçlkern und eine geregelte und friedliche Konkurrenz unter ihnen, die den kulturellen Fortschritt der Menschheit im ganzen um so mehr befçrdern kann. Die geregelte und friedliche Konkurrenz braucht wiederum soziale Stabilitt, die Minimierung der destruktiven Tendenzen des Menschen. In Formen des Friedens, der Familie, der Religion, der Billigkeit usw. kommt Humanitt, wie dargestellt, als „Beharrungszustand“ eines Volkes zum Ausdruck. Sie wird explizit nicht als durch „die Willkr eines Beherrschers oder durch die berredende Macht der Tradition“ zu realisierende Aufgabe dargestellt, sondern kommt „durch Naturgesetze, auf welchen das Wesen des Menschengeschlechts ruhe“, zustande (Ideen, 6.651). Der Prozess der Humanisierung kann nach Herder nicht von einer hçheren Instanz gesteuert werden, sondern besteht darin, dass soziale und politische Krfte sich kmpferisch auseinandersetzen und dabei sich schließlich Regeln einspielen – so wie auch die Naturkrfte in ihrem Zusammenspiel zu Gleichgewichten kommen. Glaubt der Staat, die Gesellschaft vçllig regeln zu kçnnen, verfehlt er seine Aufgabe, mindestens solange die Politik sich nicht mit Moral verbindet. Betrachtet nmlich die Politik den Menschen nur als Mittel, so macht die Moral aus ihm einen Zweck. Beide „mssen Eins werden“ (Briefe, S. 130), so dass die Menschheit „wie physisch […] auch moralisch und politisch […] in ewige[m] Fortgange und Streben“ wird.77 Die Anregung zur aktiven Selbstbestimmung lsst die Menschen jeweils fragen, was Humanitt in ihrer Gesellschaft und in ihrer Epoche jeweils bedeutet. Wenn zur Humanisierung des Individuums „Erhaltung, Leben und Ge77 Herders Humanittsdiskurs hat also eine politische Dimension, auch wenn sie recht unbestimmt bleibt. Wilhelm Dobbeck, Johann Gottfried Herders Humanittsidee als Ausdruck seines Weltbildes und seiner Persçnlichkeit, Braunschweig 1949, sieht bei Herder „die Begrndung“ jener „Idee des Kulturstaates, die mindestens seit Shaftesbury im Zuge der Entwicklung lag“. Ein solcher Staat „erscheint als Organisator eines kulturellen Lebens, in dem alle ursprnglichen seelischen und geistigen Krfte seiner Brger in wechselseitiger Befruchtung und spannungsreichem Ausgleich Ausdruck finden.“
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3. Entidealisierung der Geschichte
sundheit“ (Briefe, 7.124) gehçren, braucht das Individuum Gesellschaft, um human werden zu kçnnen, und das gilt noch mehr fr die Ausbildung seiner Kulturkrfte, seine Erziehung: „Durch bung vermehren sich die Krfte, nicht nur bei Einzelnen, sondern ungeheuer mehr bei Vielen nach und mit einander.“ (Briefe, 7.125). In Gesellschaft wird auch die „physische Gewalt der Menschheit“ im ganzen gesteigert, seine „Kunst“ (Briefe, 7.126) wchst durch Verfeinerung von Generation zu Generation, doch nicht in einem linearen Fortschritt: der „Geist der Erfindung“ ist „unbeschrnkt“ und „fortschreitend“, aber dies „nach allen Richtungen, in allen mçglichen Wendungen und Winkeln“ (Briefe, 7.126). Dies aber setzt wiederum Kommunikation und Kooperation voraus, in denen die Individuen und Vçlker wechselseitig zur Abarbeitung ihrer Schwchen beitragen: Wie jeden aufmerksamen einzelnen Menschen das Gesetz der Natur zur Humanitt fhret; seine rauhen Ecken werden ihm abgestoßen, er muß sich berwinden, andern nachgeben, und seine Krfte zum Besten andrer gebrauchen lernen: so wirken die verschiedenen Charaktere und Sinnesarten zum Wohl des grçßeren Ganzen. Jeder fhlt die bel der Welt nach seiner eigenen Lage; er hat also die Pflicht auf sich, sich ihrer von dieser Seite anzunehmen, dem Mangelhaften, Schwachen, Gedruckten an dem Teil zu Hlfe zu kommen, da es ihm sein Verstand und sein Herz gebietet. (Briefe, 7.130)
Das ist kein Pldoyer fr einen naiven Altruismus. Egoismus und Altruismus kommen im Ideal der Humanitt zusammen. Die Humanisierung geht stets vom Einzelnen aus, steigert sich aber im Zusammenwirken mit anderen, das darum auch als solches wertvoll wird: Zum Besten der gesamten Menschheit kann niemand beitragen, der nicht aus sich selbst macht, was aus ihm werden kann und soll; jeder also muß den Garten der Humanitt zuerst auf dem Beet, wo er als Baum grnet, oder als Blume blhet, pflegen und warten. Wir tragen alle ein Ideal in und mit uns, was Wir sein sollten, und nicht sind; die Schlacken, die wir ablegen, die Form, die wir erlangen sollen, kennen wir alle. Und da, was wir werden sollen, wir nicht anders als durch uns und andre, von ihnen erlangend, auf sie wirkend, werden kçnnen: so wird notwendig unsre Humanitt mit der Humanitt andrer Eins, und unser ganzes Leben eine Schule, ein bungsplatz derselben. Was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich ist, was wohllautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dessen befleißigt euch, sagt selbst ein Apostel. (Briefe, 7.164)
Die Harmonisierung der individuellen und sozialen Humanisierung beruht so auf einer ,tiefen‘ Erkenntnis des ,wahren Selbsts‘ jedes Einzelnen, der, wenn er sein wirkliches eigenes Interesse erkennt, auch wollen muss, dass es zugleich die andern und zuletzt die ganze Menschheit fçrdert. Herder stellt es nicht eigens heraus, nimmt aber offensichtlich an, dass jeder, der „sich selbst konstituiert“ (Briefe, 7.153), fr sich wissen muss, was aus ihm werden kann und soll. Wenn es nicht darum geht, die Humanitt festzulegen, sondern die Humanisierung zu stimulieren, kommt vieles auf das Wort an. Herder entscheidet
3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“
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sich fr das Wort ,Humanitt‘ wegen seiner rhetorischen Kraft. Er fragt im berhmten 27. Brief der Briefe zur Befçrderung der Humanitt, ob wir „nicht das Wort ndern kçnnten“ und vielleicht durch „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwrde, Menschenliebe“ ersetzen sollten. Dagegen spreche der alltgliche Gebrauch des Wortes ,Mensch‘, der auch negative Nuancen habe: Leider aber hat man in unserer Sprache dem Wort Mensch, und noch mehr dem barmherzigen Wort Menschlichkeit so oft eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwche und falschem Mitleid angehngt, daß man jenes nur mit einem Blick der Verachtung, dies mit einem Achselzucken zu begleiten gewohnt ist. (Briefe, 7.147)
Interessanterweise bezieht Herder hier auch das Mitleid ein, das fr das Christentum sicherlich keinen negativen Wert darstellt, sondern im Gegenteil die Menschlichkeit wesentlich bestimmt. Das „weiche Mitgefhl mit den Schwchen unsres Geschlechts, das wir gewçhnlicher Weise Menschlichkeit nennen“ (Briefe, 7.163), ist fr ihn nur ein Aspekt der Humanitt unter anderen; er will nicht einfach den christlichen Humanismus reaktivieren. Er nimmt natrlich nicht Nietzsches Kritik des Mitleids vorweg, sieht aber auch schon, dass Humanitt ein komplexeres und differenzierteres ethisches Verhalten ausmacht als nur eine generell wohlwollende Einstellung gegenber den Mitmenschen. Der Gebrauch des lateinischen Fremdworts motiviert, seinen Sinn und seine Etymologie zu reflektieren und so das weitere Spektrum des Menschseins im Auge zu behalten. Auch Herder geht es, wie spter Nietzsche, bei der Perfektibilitt des Menschen darum, dass er, wie er im 25. Brief der 2. Sammlung der Briefe zur Befçrderung der Humanitt schreibt, „im Kontinuum seiner Existenz Er selbst sei und werde“ (Briefe, 8.124). Auch wenn fr ihn das Sein des Menschen von Gott bestimmt ist, bedeutet dies, wie erwhnt, keine Lhmung, sondern gerade eine Herausforderung der kreativen Krfte des Menschen – ebenso wie bei Nietzsche die antichristliche Vergçttlichung des Menschen. Das irdische Leben des Menschen wird ebensowenig durch ein jenseitiges entwertet: Dies Ziel ausschließend jenseits des Grabes setzen, ist dem Menschengeschlecht nicht fçrderlich, sondern schdlich. Dort kann nur wachsen, was hier gepflanzt ist, und einem Menschen sein hiesiges Dasein rauben, um ihn mit einem andern außer unsrer Welt zu belohnen, heißt den Menschen um sein Dasein betrgen. (Briefe, 7.129)
Dennoch schließt Humanitt fr Herder ,bermenschlichkeit‘ aus; die Frage, „ob der Mensch mehr als Mensch, ein ber- ein Außermensch werden kçnne und solle“, beantwortet er eindeutig negativ; der „Fortgang unsres Geschlechts“ wrde dadurch widersprchlich und unvorstellbar, da der „unauslçschliche[] Charakter“ des Menschen dann die Negation seiner Natrlichkeit einschlçsse (Briefe, 7.123). ,bermensch‘ bedeutet fr Herder eine andere Form irdischer
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3. Entidealisierung der Geschichte
Wesen; ein anderes Leben des Menschen nach seinem Tod will er nicht ausschließen. Die fromme Einladung zum – letztlich unrealisierbaren – Streben nach jener „[g]otthnliche[n] Humanitt“ (Ideen, 6.189) setzt die Gçttlichkeit der ganzen Schçpfung voraus. Soweit freilich der Mensch Gottes Schçpfung ist, kann sein Streben nach berirdischer ,bermenschlichkeit‘ ein Streben nach Gott im Menschen sein. Wenn das ,Werden, was man ist‘ nicht allgemein definiert werden kann, der Humanittsdiskurs aber eine pragmatische Wirkung haben soll, kann man ihn am besten durch Beispiele zur Humanitt anregen. Beispiele veranschaulichen Normen und Prinzipien, ohne sie fest vorzugeben. So ist in den Ideen das lebendige Zurechtkommen der Vçlker mit klimatischen Bedingungen und das Auskommen mit anderen Vçlkern Beispiel fr das Streben nach vernnftigen Gleichgewichten. Auch Individuen kçnnen solche Beispiele geben. In den ersten Sammlungen der Briefe findet man sie in so unterschiedlichen Persçnlichkeiten wie Benjamin Franklin, Friedrich II. oder Joseph II. Ihre Persçnlichkeiten machen – wie ehemals die Weisen der hellenistischen Schulen –wnschenswerte praktische Einstellungen und moralischen Werte deutlich, die ohne weitere argumentative Begrndung gesellschaftlich anerkannt werden, im Fall Benjamin Franklins etwa die Werte der Geselligkeit, Menschenliebe, die Anerkennung der Bedeutung der menschlichen Gesundheit fr das Glck, das Streben nach Strkung vernnftiger Haltungen bei sich selbst und anderen. Solche Beispiele sind dann nicht schon zwingend Modelle fr andere. Herders Humanittsdiskurs lsst trotz seiner religiçsen Grundierung durchaus Kritik zu an ,Krankheiten‘ der Gesellschaft, vor allem am Nationalismus. So sehr er die Kulturnation hervorhebt, verurteilt er den Kultus nur der eigenen Nation und ihrer Kultur. Wie beim Individuum mssen auch die Krfte der Nationen in stndiger dynamischer Interaktion miteinander stehen: Hieraus entspringt ein Wettkampf menschlicher Krfte, der immer vermehrt werden muß, je mehr die Sphre des Erkenntnisses und der bung zunimmt. Elemente und Nationen kommen in Verbindung, die sich sonst nicht zu kennen schienen; je hrter sie in den Kampf geraten, desto mehr reiben sich ihre Seiten allmhlich gegen einander ab, und es entstehen endlich gemeinschaftliche Produktionen mehrerer Vçlker. (Briefe, 7.127)
Bei der im Wettbewerb sich humanisierenden Menschheit ist ein „Konflikt aller Vçlker unsrer Erde gar wohl zu gedenken“ (Briefe, 7.127). Er ist nicht anstçßig, solange er zu einer hçheren, friedlicheren und fruchtbareren Organisation der unterschiedlichen nationalen Krfte fhrt. Herders ausdrckliche Distanz zu den kulturimperialistischen Tendenzen seines Jahrhunderts ist gut belegt.78 Die 78 Vgl. Renate Stauf, „,Was soll berhaupt eine Messung aller Vçlker nach uns Europern?‘. Der Europagedanke Johann Gottfried Herders“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. 57, Heft 1 (2007), S. 45 – 60. Man muss bei Herder unterscheiden zwischen
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Ausbildung einer Nation hat ihre Grenze in der Ausbildung anderer Nationen, die ebenso die Menschheit im ganzen verbessern kçnnen; alles andere ist „Nationalwahnsinn“ und ein Zeichen von Schwche. Darin ist schon Herder klar unzeitgemß: „Die schdlichste Krankheit der Geschichte ist ein epidemischer Zeit- und Nationalwahnsinn, zu dem in allen Zeitaltern die schwache Menschheit geneigt ist. Nichts dnkt uns wichtiger als die Gegenwart; nichts seltner und grçßer als was Wir erleben.“ (Adrastea, 10.204) Nationalistische Politik, die Nietzsche die „kleine Politik“ nennen wird (EH, Der Fall Wagner, 2), ist fr Herder in seiner noch strker moralischen Sprache „bçse Politik“. Friedrich II. von Staufen, dem der sptere Herder eine hohe Humanitt zuspricht,79 zwang sie zu ungewollten Hrten: Friedrich tat seinem Lande wohl, wie sein Geist im großen Ganzen es erforderlich und nçtig hielt; aber hart zu sein hatte er wider Willen in einer schweren Schule gelernet. Er sahe die Gefahr seiner Lnder, seiner Krone, die Fortdauer seiner Macht; denn er hatte sie gegen ganz Europa behaupten mssen. Wie anders, als daß er fortan ernst und strenge an die Zukunft dachte? und der von ihm gegrndeten Monarchie wenigstens das zum Schutz ließ, was er ihr lassen konnte, Gerechtigkeit, innere Ordnung, Kriegsheere und Geld. Man verzeihe ihm, wenn er fr diese Dinge auch auf harten Wegen sorgte. Die bçse Politik, die leider das Staatssystem Europa’s ausmacht, zwang ihn dazu; und freilich gingen manche zartere Zweige der Humanitt, die der an sich selbst fhlbare, frçhliche Charakter Friederichs gewiß wrde angebauet haben, dabei verloren. Hat berhaupt die Menschheit in Europa einen grçßeren Feind, als diese Politik der Hçfe in jenem sogenannten großen Staatensystem nebst allem, was dazu gehçret? (Briefe, 7.53)
Wenn Nationen geographische, geschichtliche und kulturelle Ausdifferenzierungen eines Urmenschengeschlechts sind, ist ihre Isolierung und Verabsolutierung gegeneinander fragwrdig; Nationalismus ist dann nur so lange legitim, wie er zum Glck eines Volkes und damit zum Ganzen der Menschheit beitrgt, nicht, wie dargestellt, als kulturelles oder politisches Programm (vgl. Auch eine Philosophie, 4.40); Nationalstolz ist, anders gesagt, nur als Ausdruck der spontanen Suche nach einer kulturellen Identitt und als fester Boden fr das
dem Geist Europas und seiner nur teilweisen Realisierung in der Praxis („Wie weit schreitet der Geist der Europer vorwrts! wie fern zurck bleibt ihre Handlungsweise!“ (Adrastea, 10.867) einerseits und seinem Vertrauen auf die Werte des europischen Humanismus andererseits, die er nie in Frage stellt. 79 Herder hatte Friedrich II. von Staufen zunchst im Sinn Lessings, Winckelmanns und Hamanns mit Zgen eines zynischen Tyrannen ausgestattet, zuletzt aber als aufklrerischen Stifter der Menschheit dargestellt. Vgl. Werner Rieck, „,Fast mit jedem Jahr wchst meine stille Bewunderung des großen Mannes‘ – Friedrich II. im Urteil Herders“, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Wrzburg 1994, S. 289 – 302.
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eigene Handeln gesund.80 Außerdem kann die Nationenbildung einem bergreifenden Despotismus Widerstand leisten: Gtig also dachte die Vorsehung, da sie den Kunstendzwecken großer Gesellschaften die leichtere Glckseligkeit einzelner Menschen vorzog und jene kostbaren Staatsmaschinen, so viel sie konnte, den Zeiten ersparte. Wunderbar teilte sie die Vçlker, nicht nur durch Wlder und Berge, durch Meere und Wsten, durch Strçme und Klimate, sondern insonderheit auch durch Sprachen, Neigungen und Charaktere; nur damit sie dem unterjochenden Despotismus sein Werk erschwerte und nicht alle Weltteile in den Bauch eines hçlzernen Pferdes steckt (Ideen, 6.335).
Sobald aber die Vorurteile ber den Vorrang der eigenen Nation zu Bewusstsein kommen und reflektiert werden, verlieren sie ihren Sinn, untersttzen sie nicht mehr das identittsbildende Handeln, sondern werden im ungnstigen Fall zu Instrumenten einer strategischen politischen Vernunft. Darberhinaus unterdrckt der „Nationalwahn“ auch die individuellen Unterschiede in der jeweiligen Nation selbst: Nationalwahn ist ein furchtbarer Name. Was in einer Nation einmal Wurzel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet und hochhlt; wie sollte das nicht Wahrheit sein? wer wrde daran nur zweifeln? Sprache, Gesetze, Erziehung, tgliche Lebensweise – alle befestigen es, alle weisen darauf hin; wer nicht mitwhnet, ist ein Idiot, ein Feind, ein Ketzer, ein Fremdling. […] wer wird ihm widersprechen wollen? wer nicht lieber aus Hçflichkeit mitwhnen? Selbst durch lose Zweifel des Gegenwahnes wird ein angenommener Wahn nur befestigt. Die Charaktere verschiedener Vçlker, Sekten, Stnde und Menschen stoßen gegen einander; eben destomehr setzt jeder sich auf seinem Mittelpunkt fest. Der Wahn wird ein Nationalschild, ein Standeswappen, eine Gewerksfahne. (Briefe, 7.248)
Doch es ist schwierig, wie Herder in seiner Sensibilitt fr die pragmatischen und kommunikativen Aspekte des Denkens klar sieht, gegen den Nationalwahn zu argumentieren. Als Wahn ist er gar nicht zu widerlegen, wird durch Kritiker im Gegenteil leicht noch verstrkt, die dann als Feinde der Nation gelten. So hilft nur ein Gegenglaube – der Humanittsdiskurs. Wenn der Konflikt natrlich ist, kann „sich selbst zu regieren, einander zur Glckseligkeit zu helfen, […] nicht einander zu sieden, zu braten, und knstlich zu morden“, nur ein solcher Gegenglaube sein (Briefe, 7.117). Er ist berlegen, nicht weil er besser begrndet wre – aus der konflikthafen Natur lsst er sich nicht begrnden –, sondern weil er anziehender, gewinnender, ,humaner‘ ist. So erzeugt er Abscheu
80 Von einem nicht politischen, sondern literarischen und philosophischen Nationalismus bei Herder und beim frhen Nietzsche spricht Elke Emrich, „Der januskçpfige Deutsche. Zum nationalen Selbstverstndnis in der deutschen Literatur von Herder bis Nietzsche (1770 – 1870)“, in: Europa und das nationale Selbstverstndnis. Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. Hugo Dyserinck u. Karl U. Syndram, Bonn 1988, S. 147 – 170.
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vor dem Nationalwahn und vor Versuchen, sich in die Politik anderer Lnder einzumischen: Jede Nation muß es fhlen lernen, daß sie nicht im Auge Andrer, nicht im Munde der Nachwelt, sondern nur in sich, in sich selbst groß, schçn, edel, reich, wohlgeordnet, ttig und glcklich werde; und daß sodann die fremde wie die spte Achtung ihr wie der Schatte dem Kçrper folge. Mit diesem Gefhl muß sich notwendig Abscheu und Verachtung gegen jedes leere Auslaufen der Ihrigen in fremde Lnder, gegen das Nutzlose Einmischen in auslndische Hndel, gegen jede leere Nachffung und Teilnehmung verbinden, die unser Geschft, unsre Pflicht, unsre Ruhe und Wohlfahrt stçren. […] Man muß lernen, daß man nur auf dem Platz etwas sein kann, auf dem man stehet, wo man etwas sein soll. (Briefe, 7.722)
Zu diesem antinationalistischen, den Nationalwahn verabscheuenden Glauben kçnnen Philosophen beitragen. Wenn der Nationalwahn, der nicht nur ein politisches, sondern auch ein kulturelles Phnomen ist, den ganzen Bildungsapparat durchdringen kann, kann er auch durch Bildung abgebaut werden, wenn die Philosophie nur darauf dringt. So ist die berwindung des Nationalwahns ein philosophisches Erziehungsprojekt mit politischer Wirkung – wenn dafr auch die Politik gewonnen werden kann: Was hilft es, gegen die Vorurteile der Erziehung Klage erheben? Man bessre die Erziehung, so fallen die Klagen weg. Philosophie aber kann dies nicht allein tun; sie ist nur der linke Arm, Regierung ist der rechte Arm der Menschheit. Nur mit beiden lßt sich das große Werk, und alsdann sehr leicht vollfhren. Was ntzt es, ber ungeschaffene oder halbgeschaffene Menschen zu klagen, deren Ausbildung ja uns allein berlassen ward? Dem trgen Erdkloß hauche Othem des Lebens ein; er wird sich munter bewegen, und dir frçhlich danken. (Briefe, 7.115)
So wird durch Bildung eine Humanisierung der Menschheit in ihren nationalen Unterschieden denkbar. Es ist dann nur scheinbar paradox, dass Nationen zugleich Mittel und Beschrnkung der Humanitt sind; die Humanitt wird eben dann durch sie bereichert, wenn die Nationen ihre Beschrnkung im Blick auf das Ganze der Menschheit erkennen und einander durch kulturelle Kooperation ergnzen. Herder zeigt das am Beispiel der wechselseitigen Ergnzungsbedrftigkeit der Griechen und der Deutschen: Man kann mit Wahrheit sagen, Gott habe die Welt durch zwei Vçlker klug machen wollen, vor Christi Geburt durch die Griechen, nach Christo durch die Deutschen. Die Griechische Weisheit kann man das alte Vernunfttestament, die Deutsche das neue nennen. Durch zwei Stcke wird vornehmlich ein Volk herrlich, durch Ehrliebe und Verstand zusammen; Tapferkeit und alles andre, was dazu hilft, muß durch jene zwei eingerichtet werden; aus ihnen kommt Reichtum und Macht, aus allen mit einander endlich Ruhm, den alle Welt sucht. Die Deutschen sind aus Mangel der Großmtigkeit und Landesliebe, die brigen Europer, (außer den berhmten fnf Hauptvçlkern,) aus Mangel der Erfinder und großen Weltweisen zurckgeblieben. Verachtung kommt aus Feigheit, Niedertracht oder Dummheit; jede allein kann arm, ohnmchtig und verachtet machen. Verstand aber allein, oder
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Großmtigkeit allein machen nicht berhmt; sie mssen zusammen sein. (Briefe, 7.216)
Zeigt sich die Humanitt stets in der konkreten Form einer Nation, dann werden auch die knftigen ,humaneren‘ Menschen sich noch in Nationen organisieren. bermenschen ohne Nation hat Herder nicht im Blick. Und das wird auch noch fr Nietzsches guten Europer gelten: auch seine bernationale Lebensform lebt noch von der Interaktion nationaler Kulturen. Doch eine Welt von Nationen ohne Nationalismus entsteht, wie Herder erwartet und wie es Nietzsche schon erfahren hat, nicht spontan; sie bedarf fr beide der philosophischen Distanzierung, der Ausbildung und Verbreitung des kultur- und geschichtsphilosophischen Standpunkts. 3.5.2. Nietzsche: Freisetzung des guten, antinationalistischen Europertums in Europa: die halb-barbarische Genesung des historischen Sinns Bei Nietzsche, der stets das bernationale großer Figuren der europischen Kultur betont und so zu seinem Ideal des guten Europers kommt, wird der „Nationalwahn“ zum „Nationalitts-Wahnsinn“ (JGB 256).81 Er ist zunchst Symptom einer verflschten Wahrnehmung der geschichtlichen Tendenzen Europas, die zeitweise selbst große Geister ergreifen konnte: Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitts-Wahnsinn zwischen die Vçlker Europa’s gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hlfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlçsende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur Zwischenakts-Politik sein kann, – Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen bersehn oder willkrlich und lgenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, d a s s Eu r o p a E i n s w e rd e n w i l l . Bei allen tieferen und umfnglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Sy n t h e s i s vorzubereiten und versuchsweise den Europer der Zukunft vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergrnden, oder in schwcheren Stunden, etwa im Alter, gehçrten sie zu den „Vaterlndern“, – sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie „Patrioten“ wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne (JGB 256).
Nach einer Vorstufe dieses Aphorismus – 81 Vgl. Christian J. Emden, Friedrich Nietzsche and the Politics of History, Cambridge 2008, S. 299: „Nietzsche shares much common ground with Herder, who, in the later eighteenth century, developed a European cosmopolitan vision that was ultimately based on the close link between community ans self-determination.“
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die schçne verwegene Rasse der Lessing, Herder, Kant Friedrich August Wolf, Niebuhr, und wie alle diese Tapferen heißen, gehçre [sic!] unter die Merkmale einer erwachenden deutschen Mnnlichkeit und Mannhaftigkeit, zu der die Soldaten Friedrich des Großen das physiologische Vorspiel abgeben: ja es sind Merkmale einer neuen Rasse, welche langsam hervorkommt und stark wird (W 1 5, KSA 14, S. 363)
– kçnnte Nietzsche davon ausgegangen sein, Herder habe zu der kulturellen Atmosphre beigetragen, die die Entstehung bernationaler Figuren begnstigt hat. Doch Herder bleibt fr ihn, anders als Schopenhauer, Goethe, Hegel oder Heine, „bloss ein lokales, ein ,nationales‘“, kein „europisches Ereigniss“ (GD, Streifzge 21). Goethe, nicht Herder „imaginirte“, so Nietzsche, „eine europische Cultur, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanitt macht“ (N 1888, KSA 13, 15[68]); die Wendung „der jetzt noch wthende Sturm und Drang des ,National-Gefhls‘“ (JGB 242) kçnnte Herder als Vorlufer einbeziehen, auch wenn Nietzsche ihn nicht nennt. In der Tat ist sich Nietzsche dessen bewusst, dass die Entstehung des Nationalismus zunchst von der politischen und çkonomischen Geschichte Deutschands abhngt. Er fhrt ihn nicht einfach auf Herder, sondern auf ,die Deutschen‘ insgesamt zurck: Die Deutschen haben endlich, als auf der Brcke zwischen zwei dcadence-Jahrhunderten eine force majeure von Genie und Wille sichtbar wurde, stark genug, aus Europa eine Einheit, eine politische und w i r t s c h a f t l i c h e Einheit, zum Zweck der Erdregierung zu schaffen, mit ihren „Freiheits-Kriegen“ Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon’s gebracht, – sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, diese c u l t u r w i d r i g s t e Krankheit und Unvernunft, die es giebt, den Nationalismus, diese n v r o s e n a t i o n a l e , an der Europa krank ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei Europa’s, der k l e i n e n Politik: sie haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Ve r n u n f t – sie haben es in eine Sackgasse gebracht (EH, Der Fall Wagner, 2).
Die politische Selbstbehauptung Deutschlands hat nach Nietzsche, der hier wohl Burckhardts Modell der drei Potenzen Staat, Religion und Kultur folgt, eine Krankheit der europischen Kultur verursacht. Gegen Bismarcks ,kleine Politik‘ fhrt er freilich, ganz wie Herder, Friedrich II. von Staufen ins Feld. Er stellt ihn als „Atheisten und Kirchenfeind“ (EH, Warum ich so gute Bcher schreibe, 4) und wenn als Deutschen, dann als „wahre[n] deutsche[n] Mephistopheles“ dar, der noch „viel gefhrlicher, khner, bçser, verschlagener und folglich offenherziger“ ist als der Goethesche (N 1885, KSA 11, 34[97]).82 Amoralisch, wie nach Nietzsche jedes Genie, entspreche Friedrich dem psy82 In AC 60 rhmt Nietzsche auch die philoislamische Politik Friedrichs II.: „,Krieg mit Rom auf ’s Messer! Friede, Freundschaft mit dem Islam‘: so empfand, so t h a t jener grosse Freigeist, das Genie unter den deutschen Kaisern, Friedrich der Zweite. Wie? muss ein Deutscher erst Genie, erst Freigeist sein, um a n s t n d i g zu empfinden? – Ich begreife nicht, wie ein Deutscher je c h r i s t l i c h empfinden konnte …“
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chologischen Typus eines Alkibiades oder eines Caesar, jener „zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, […] zum Siege und zur Verfhrung vorherbestimmten Rthselmenschen“, sei er der „erste[] Europer nach meinem Geschmack“ (JGB 200). Er verkçrpere „jene gefhrlichere und hrtere neue Art der Skepsis“ (JGB 209), die die Entscheidungskraft nicht schwcht, und kndige so den guten Europer und Freigeist an.83 Nietzsche rhmt an ihm die Skepsis der verwegenen Mnnlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nchst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergrbt und nimmt in Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie giebt dem Geiste gefhrliche Freiheit, aber sie hlt das Herz streng; es ist die d e u t s c h e Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in’s Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmssigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zhen Manns-Charakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts Kritiker (welche, richtig angesehn, allesammt auch Artisten der Zerstçrung und Zersetzung waren) stellte sich allmhlich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein n e u e r Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur mnnlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Hrte der zerlegenden Hand, als zher Wille zu gefhrlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter çden und gefhrlichen Himmeln. (JGB 209)84
Wie Heine revolutionre Entwicklungen in der europischen Gesellschaft mit der Wirkung der kantischen Philosophie verbindet,85 so Nietzsche Friedrichs freien Geist mit seiner bernationalen Politik. Nach dem ,Tod Gottes‘ wird dieser freie Geist auch politisch ,explosiv‘. Dem guten Europer, wie Friedrich schon einer war, wird nun „die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur“ (MA II, WS 87) zufallen. Auch fr Nietzsche hat der Philosoph hier eine vorbereitende Aufgabe, sofern er „gut europisch gesinnt ist“ und „gut und immer besser schreiben“ gelernt hat. ,Gut schreiben‘ bedeutet nicht nur „gut zu denken“, sondern immer noch etwas „Mitteilenswerteres“ zu erfinden und dabei dafr zu sorgen, dass dies „wirklich mitteilbar“, in andere Sprachen bersetzbar und verstndlich fr „Auslnder“ ist, „welche unsere Sprache lernen“: 83 Andreas Urs Sommer, „Skeptisches Europa? Einige Bemerkungen zum Sechsten Hauptstck: wir Gelehrten (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Aphorismen 204 – 213)“, in: Nietzscheforschung 14 (2007), S. 67 – 78, unterscheidet diese starke Skepsis von einer schwachen, die nach Nietzsche eine europische Willenskrankheit ausmache. Zur Nietzsches Kritik der Skepsis vgl. die hier auf Seite 71 erwhnte Forschungliteratur. 84 Vgl. auch N 1885, KSA 11, 34[148], und N 1887, KSA 12, 9[157]. 85 Vgl. Heinrich Heine, „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)“, Zweites Buch, in: Heinrich Heine, Werke und Briefe, Bd. 5, S. 216 – 257.
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Wer das Gegentheil predigt, sich nicht um das gut-Schreiben und gut-Lesen zu kmmern – beide Tugenden wachsen mit einander und nehmen mit einander ab —, der zeigt in der That den Vçlkern einen Weg, wie sie immer noch mehr n a t i o n a l werden kçnnen: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europer, ein Feind der freien Geister. (MA II, WS 87)
Nietzsche hebt nicht zufllig auf die schriftliche Kommunikation ab. Wer andere Menschen durch das Schreiben – Nietzsche sagt hier nicht ,gut reden‘ – berzeugen kann, rumt dem Leser die Mçglichheit einer kritischeren Betrachtung der eigenen Gedanken ein. Der gute Europer, ein kulturelles Ideal mit politischen Implikationen, ist ein guter Kommunikator; er weiß den Nationalismus durch Kommunikation zu untergraben und zu berwinden: D e r e u r o p i s c h e Me n s c h u n d d i e Ve r n i c h t u n g d e r Na t i o n e n . – Der Handel und die Industrie, der Bcher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller hçheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, – diese Umstnde bringen nothwendig eine Schwchung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwhrender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung n a t i o n a l e r Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwrts, trotz jener zeitweiligen Gegenstrçmungen: dieser knstliche Nationalismus ist brigens so gefhrlich wie der knstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen ber Viele verhngt ist, und braucht List, Lge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Vçlker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Frstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Eu r o p e r ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewhrte Eigenschaft, Do l m e t s c h e r u n d Ve r m i t t l e r d e r V ç l k e r zu sein, mitzuhelfen vermçgen. (MA I 475)
Nietzsche spricht hier, durchaus im Sinn Herders, der zwischen gesundem nationalen Stolz und krankhafter Entartung dieses Stolzes unterschieden hat, von einem knstlichen Nationalismus, der so auch an einen natrlichen, nicht pathologischen Nationalismus denken lsst. Doch seine Kritik des Nationalismus ist weit schrfer, die Entlarvung seiner Quellen weit grndlicher. Nationalwahn ist nicht einfach Resultat einer bçsen Politik, sondern folgt handfesten Klasseninteressen. Die Vereinigung Europas entspricht so auch dem Zusammenwirken von politischen Krften, und der gute Europer kann diesen Prozess nur beschleunigen. Das Schreiben ist das eine, die „Rassenmischung“ (JGB 208) das andere. Die „reingewordene Rasse“ ist fr Nietzsche wohl „strker“ und „schçner“ als die „gekreuzte“ (M 272). Doch ,reingewordene Rasse‘ ist nur ein Grenzbegriff seiner Kulturkritik, denn fr Nietzsche gibt es „wahrscheinlich
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keine reinen“ Rassen.86 Reinheit ist hier vor allem das Zeichen fr die Einheit der Handlungsabsichten, fr die Stabilitt des Horizontes einer Gemeinschaft: Reinheit zeigt sich darin, dass die in einer Rasse vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewhlte Functionen b e s c h r n k t , whrend sie vordem zu viel und oft Widersprechendes zu besorgen hatte: eine solche B e s c h r n k u n g wird sich immer zugleich auch wie eine Verarmung ausnehmen und will vorsichtig und zart beurtheilt sein. (M 272)
Auch die Kommunikation sorgt fr Vermischung, fr die Aufmischung nationalistischer Dogmen. Wer sich auf sie versteht, trgt zur Entstehung einer neuen europischen Kultur bei. Nietzsche unterscheidet hier ,freie‘ und ,gebundene Geister‘ und setzt sie in ein komplexes Verhltnis. Gebundene – das sind die gewçhnlichen – Geister nehmen auch die freien in ihren engen Horizonten wahr und erfahren sie darum als schdlich und feindlich: Weil die gebundenen Geister ihre Grundstze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das fr wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu ntzen scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen ntzt, so nehmen diese an, dass seine Grundstze ihnen gefhrlich sind; sie sagen oder fhlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schdlich. (MA I 227)
Da der freie Geist keinen festen, undiskutierbaren Werthorizont hat, kann er „immer schwach, namentlich im Handeln“ erscheinen (MA I 230). Andererseits ist er der, der „neue Mçglichkeiten des Lebens erfindet und die alten abwgt.“ (N 1877/78, KSA 8, 17[44]) So trgt er wiederum zur Gesundheit auch der gebundenen Geister bei. Er kann den Beweis entnehmen, dass er auch den gebundenen Geistern ntzlich ist: denn er hilft dazu, dass das Product der gebundenen Geister, ihr Staat, ihre Cultur, ihre Moral nicht erstarren und absterben; er lsst in Stamm und Aeste immer von Neuem den belebenden Saft der Verjngung fliessen. (N 1876/77, KSA 8, 20[11])
Doch auch der Freigeist bleibt bis zu einem gewissen Grad gebunden. ,Freigeist‘ ist „ein relativer Begriff“ (MA I 225), nur ein Gegenbegriff zum gebundenen Geist, der von seinen Bindungen nichts weiß. Als solcher bestimmt er sich jeweils anders, je nachdem, was er negiert. So entspricht er mehr der Metapher als dem Begriff. Er ist relativ frei, sofern er jeweils, aber auch nicht grundstzlich anders denken kann. Wenn man fragt: „Wie steht der Freigeist zum activen 86 Dass die Reinwerdung der Rasse mit einer Erhçhung des Menschen zu tun hat, mit einer Synthese unterschiedlicher Qualitten, die den Typus Mensch nicht vereinfachen, sondern komplexer und fruchtbarer machen will, betont bereits Gerd Schank, „Rasse“ und „Zchtung“ bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 44), Berlin / New York 2000, S. 139 – 140. Schank zeigt auch, dass der Begriff ,Rasse‘ bei Nietzsche vor allem die Bedeutung von ,Volk‘ und nur selten die von ,Stand‘, ,Mensch, allgemeine, Menschheit, Menschentyp‘ und ,Moderne‘ gewinnt (S. 148).
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Leben?“, so ist die Antwort nicht: ,ohne Bindungen‘ an das Leben; vielmehr ist er nur „[l]eicht an dasselbe gebunden, kein Sklave desselben.“ (N 1877/78, KSA 8, 17[42]) Der Freigeist und gute Europer weiß, dass er in all seiner Freigeisterei immer noch gebunden sein kann. Er kann „Stunden“ haben, wo er sich „eine herzhafte Vaterlnderei, einen Plumps und Rckfall in alte Lieben und Engen gestatte[t]“; Nietzsche selbst gibt gleich „eine Probe davon“, seine frhere Begeisterung fr Wagner (JGB 241). Auch der Freigeist und gute Europer verdankt sich einer Nation und einer Tradition, von der er sich nun befreien kann, aber doch mit Mitteln, die ihm diese Nation und Tradition zur Verfgung stellt. Er verdankt seine Entstehung der Selbstaufhebung einer Tradition: Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verstndlicher und fr’s „Volk“ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden – denn Christenthum ist Platonismus fr’s „Volk“ – hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europische Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische Aufklrung: – als welche mit Hlfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens es in der That erreichen drfte, dass der Geist sich selbst nicht mehr so leicht als „Noth“ empfindet! (Die Deutschen haben das Pulver erfunden – alle Achtung! aber sie haben es wieder quitt gemacht – sie erfanden die Presse.) Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir g u t e n Eu r o p e r und freien, s e h r freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Zi e l … (JGB, Vorrede, S. 13)
Die Tradition, die sich im europischen Freigeist aufhebt, ist vor allem die des Christentums; es hat in erster Linie zur Vergeistigung Europas beigetragen. Wenn es sich nun in Zeiten des Positivismus und Atheismus erschçpft, muss der gute Europer von sich aus die Gegenbewegung weiter- und so zu einer neuen kulturell produktiven geistigen Spannung beitragen. Gut ist der Europer, so Nietzsche in einer schematischen Skizze von 1884, sofern er „gegen die Gleichheit / gegen die moral Tartfferie / gegen das Christenthum und Gott / gegen das Nationale“ steht (N 1884, KSA 11, 25[524]). Er braucht insbesondere die Gegnerschaft gegen das Christentum, um das Leben in kreativer Spannung halten zu kçnnen, doch so bleibt er auch an das Christentum gebunden. Er negiert es auch nicht, sondern wertet es lediglich um – im Wissen, dass er die Fhigkeit und die Kraft der Umwertung eben dem Umgewerteten, dem Christentum verdankt: Man sieht, w a s eigentlich ber den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralitt selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtvter-Feinheit des christlichen Gewissens, bersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis fr die Gte und Obhut eines Gottes sei; die Ge-
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schichte interpretiren zu Ehren einer gçttlichen Vernunft, als bestndiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fgung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr v o r b e i , das hat das Gewissen g e g e n sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanstndig, unehrlich, als Lgnerei, Femininismus, Schwachheit, Feigheit, – mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben g u t e Europer und Erben von Europa’s lngster und tapferster Selbstberwindung. (FW 357)
Die Natur anzusehen, „als ob sie ein Beweis fr die Gte und Obhut eines Gottes sei“, und die Geschichte „zu Ehren der gçttlichen Vernunft“ zu interpretieren kennzeichnete Herders geschichtsphilosophischen Diskurs. Darber geht Nietzsche nun hinaus und darin sieht er nun sein gutes Europertum. Der Europer wird gut erst durch die Vernatrlichung des Menschen und die Entmenschlichung der Natur, die nun keine Geschichtsteleologie mehr zulsst und jede unkritische Moralisierung der Natur als solche erkennbar macht – als Glaube eines gebundenen Geistes. Sofern aber auch er unvermeidlich einer Moral folgt, ist er gut, wenn er die Moral aus Moralitt angreift, der Gewissenhaftigkeit, die er der christlichen Tradition verdankt (vgl. M, Vorrede 4). So geht er ber jeden bestimmten moralischen Kanon hinaus und erscheint darum vom Standpunkt der jeweiligen Moral aus ,bçse‘. Das ,Gute‘ des guten Europers ist im Sinn der ersten Abhandlung der GM nicht als Gegensatz des ,Bçsen‘, sondern des ,Schlechten‘ zu verstehen. Der gute Europer ist ,gut‘, sofern er sich im Umgang mit der Historie als tchtig und begabt erweist, sofern er mit seiner Interpretation der Historie knftige Entwicklungen der Gesellschaft jenseits der nationalistischen kleinen Politiken abschtzen kann. Seine Distanzierung von den Nationalismen wird so quasi zu einer Manifestation des amor fati, der seinerseits historische Kenntnis, nchterne Beobachtung der Gesellschaft und kritische Reflexion voraussetzt. Er wird gut, wenn er sich dabei seiner eigenen Bindungen immer mehr bewusst wird. Ist ihm das einmal gelungen, kann er mit Nietzsche sagen, „es kostet mich keine Mhe, ein guter Europer zu sein“ (EH, Warum ich so weise bin, 3). Den Prozess dieser Bewusstwerdung beschreibt Nietzsche in der Vorrede, die er 1886 MA II hinzugefgt hat, in der Metaphorik der Genesung: Sollte mein Erlebniss – die Geschichte einer Krankheit und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus – nur mein persçnliches Erlebniss gewesen sein? […] Darf ich sie [meine Wanderbcher] Denen sonderlich an’s Herz und Ohr legen, welche mit irgend einer „Vergangenheit“ behaftet sind und Geist genug brig haben, um auch noch am G e i s t e ihrer Vergangenheit zu leiden? Vor allem aber Euch, die ihr es am schwersten habt, ihr Seltenen, Gefhrdetsten, Geistigsten, Muthigsten, die ihr das G e w i s s e n der modernen Seele sein msst und als solche ihr W i s s e n haben msst, in denen was es nur heute von Krankheit, Gift und Gefahr geben kann zusammen kommt, – deren Loos es will, dass ihr krnker sein msst als irgend ein Einzelner, weil ihr nicht „n u r Einzelne“ seid…, deren Trost es
3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“
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ist, den Weg zu einer n e u e n Gesundheit zu wissen, ach! und zu gehen, einer Gesundheit von Morgen und Uebermorgen, ihr Vorherbestimmten, ihr Siegreichen, ihr Zeit-Ueberwinder, ihr Gesndesten, ihr Strksten, ihr g u t e n Eu r o p e r ! – — (MA II, Vorrede 6)
Die „Gesundheit von Morgen und Uebermorgen“ ist jene „g rosse Gesundheit“, die man laut FW 382 „nicht nur hat, sondern auch bestndig noch erwirbt und erwerben muss“. Sie ist groß, sofern sie durch ihre Negation, die Krankheit, nicht geschwcht, sondern durch deren berwindung noch gestrkt wird.87 Der gute Europer ist also der, der aus einer Krankheit – seinen Bindungen vor allem an die christliche Tradition – eine Gesundheit, aus einer Not eine Tugend macht. Durch seine Genesung wird er offen fr „das Ideal eines menschlich-bermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens“: Ein andres Ideal luft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden berreden mçchten, weil wir Niemandem so leicht das Re c h t d a r a u f zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess; fr den das Hçchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten wrde; das Ideal eines menschlich-bermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug u n m e n s c h l i c h erscheinen wird (FW 382).
Der zunchst noch recht abstrakte Prozess der bermenschlichen Selbstberwindung wird hier konkret, zumindest konkreter und auf dem vorgezeichneten Weg realisierbar. Das Ideal des guten Europers ist ein Stadium auf dem Weg zum bermensch, auch wenn Nietzsche „keine geschlossene Theorie des guten Europers“ liefert.88 Denn die Krankheit des modernen Menschen ist benennbar und sie ist zugleich der Weg zur Gesundheit, die „historische Krankheit“ (UB II 10, S. 329; MA II, Vorrede 1), positiv der „historische Sinn“, die Fhigkeit, die Rangordnung von Werthschtzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der „divinatorische Instinkt“ fr die Beziehungen dieser Werthschtzungen, fr das Verhltniss der Autoritt der Werthe zur Autoritt der wirkenden Krfte. (JGB 224)
Diese Fhigkeit des ,Erratens‘ ist Herders Einfhlung sehr nahe, auch wenn es bei Nietzsche um Wertsetzungen geht. Die Menschen mit historischem Sinn spren, was anderen Epochen wichtig war, sie treten mit ihnen in eine lebendige Auseinandersetzung ein. Daher sind die „Tugenden“ des guten Europers die der „gefhrlichen Neugierde“, der „Vielfltigkeit und Kunst der Verkleidung“, der „mrben und gleichsam versssten Grausamkeit in Geist und Sinnen“. Er ist 87 Vgl. Werner Stegmaier, „Der See des Menschen, das Meer des bermenschen und der Brunnen des Geistes. Fluss und Fassung einer Metapher Friedrich Nietzsches“, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 145 – 179. 88 Ralf Witzler, Europa im Denken Nietzsches, Wrzburg 2001, S. 200.
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3. Entidealisierung der Geschichte
„anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend“ – alles, was „unsre grosse Tugend des historischen Sinns“ ausmacht (JGB 214).89 Der gute Europer ist die Weiterentwicklung des idealen Intellektuellen der historistischen Kultur, die Herder angestoßen hat. Der methodische Gebrauch des historischen Sinns in der Betrachtung kultureller Institutionen, von Herder als Voraussetzung der Humanitt gedacht, ist nun zur feinsten Waffe der Skepsis geworden, sei es im Politischen, wie in Nietzsches Bild von Friedrich II., sei es in der Philosophie, wie in Nietzsches Bild seiner selbst. Der gute Europer des historischen Sinns bereitet eine neue Epoche vor, die „Nachwelt“ nach unserem „Zeitalter der Vergleichung“, in dem „die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Kulturen verglichen und nebeneinander durchlebt werden“ (MA I 23). Er wird sich der vergleichenden Natur seiner Kultur bewusst und kann daher nach ihrem Sinn fragen. Sie kann nur Kulturen als individuelle und historische gelten lassen, riskiert dadurch aber ihre eigene Stabilitt: Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Frchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermçgen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich ber die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als ber die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswrdige Alterthmer mit Dankbarkeit [kursiv A.B.] zurckblickt. (MA I 23)90
Die Kultur des historischen Sinnes ist nach Nietzsche ambivalent und halbbarbarisch. Europa sei nmlich durch eine Mischung von Kulturen, die auch durch den historischen Sinn mçglich wurde, in „bezaubernde[] und tolle[] Halbbarbarei“ gestrzt worden: Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die frher hart neben einander, ber einander lagen, strçmt Dank jener Mischung in uns „moderne Seelen“ aus, unsre Instinkte laufen nunmehr berallhin zurck, wir selbst sind eine Art Chaos —: schliesslich ersieht sich „der Geist“, wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugnge berallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugnge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der betrchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet „historischer Sinn“ 89 Witzler, Europa im Denken Nietzsches, S. 203 – 212, schreibt dem guten Europer „post-moderne Tugenden“ zu, die sich als Formen von Selbstverpflichtungen verstehen und unter „Verantwortlichkeit“, „Vornehmheit“ und „mentale Strke“ subsumieren lassen. 90 Zum Einfluss Burckhardts auf diesen Aphorismus vgl. Peter Heller, „Von den ersten und letzten Dingen“. Studien und Kommentare zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 1), Berlin / New York 1972, S. 233 – 241.
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beinahe den Sinn und Instinkt fr Alles, den Geschmack und die Zunge fr Alles: womit er sich sofort als ein u n v o r n e h m e r Sinn ausweist. (JGB 224)
Indem der historische Sinn alles verstehen lsst, verliert er selbst das Maß und den Halt. So steht er in einem nothwendigen Gegensatz zum g u t e n Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, und wir vermçgen gerade die kleinen kurzen und hçchsten Glcksflle und Verklrungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da einmal aufglnzen, nur schlecht, nur zçgernd, nur mit Zwang in uns nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb —, wo ein berfluss von feiner Lust in der plçtzlichen Bndigung und Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde. Das Ma a s s ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwrts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zgel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren – und sind erst dort in u n s r e r Seligkeit, wo wir auch am meisten – i n G e f a h r s i n d . (JGB 224)91
,Halbbarbarei‘ ist der ,Geschmack fr alles‘ ohne ,guten Geschmack‘. Barbarei kann bei Nietzsche das Fehlen jeglicher Kultur, aber auch ein bestimmter Kulturzustand sein. Im ersten Sinn kçnnte sie eine Therapie fr eine kranke, an einem berschuss an historischem Sinn erkrankte Kultur sein, so dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europer, nicht nur der Kriege, sondern der grçssten und furchtbarsten Kriege – also zeitweiliger Rckflle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubssen. (MA I 477)
Diese Therapie muss aber scheitern, da sie nicht mit dem realen Zustand des Kranken rechnet. Denen, die an der Leidenschaft der Erkenntnis leiden,92 wird diese Barbarei nicht als sinnvolle Alternative erscheinen. Denn sie „frchten und hassen“ gerade eine „Rckkehr zur Barbarei“, die sich mit ihrem einverleibten Willen zum Wissen nicht mehr vertrgt. Ihr Trieb zur Erkenntnis wrde eine Therapie durch diese Barbarei nicht akzeptieren, auch wenn sie wissen, dass „die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntnisse zu Grunde“ gehen kann: Ja, wir hassen die Barbarei, – wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rckgang der Erkenntniss! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer 91 Das hatte auch Herder schon gesehen, allerdings noch nicht kritisch: „Leute, die in der Geschichte unwissend, bloß ihr Zeitalter kennen, glauben, daß der jetzige Geschmack der einzige, und so notwendig sei, daß sich nichts außer ihm denken lasse: sie glauben, daß alles das, was sie durch Gewohnheit und Erziehung unentbehrlich finden, allen Zeitaltern unentbehrlich gewesen, und wissen nicht, daß je bequemer uns etwas ist, desto neuer msse es wahrscheinlicherweise sein.“ (Von der Vernderung des Geschmacks, 1.138) 92 Eine ausfhrliche Betrachtung dieses Motivs unternimmt Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 37), Berlin / New York 1997.
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3. Entidealisierung der Geschichte
L e i d e n s c h a f t zu Grunde geht, so wird sie an einer S c h w c h e zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir fr sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? – (M 429)
Die Halbbarbarei der modernen Menschen kann aber auch gefhrlich in die Richtung einer anderen Art von Barbarei gehen. ,Barbarei‘ bedeutete bereits in UB II keinen bloßen Mangel an Kultur, sondern den „Gegensatz“ zur Kultur im Sinn der „Einheit des knstlerischen Stiles in allen Lebensusserungen eines Volkes“ (UB II, S. 271).93 Dabei handelt es sich nicht um den „von Barbarei und schçnem Stile“ (UB II, S. 271), sondern um eine unharmonische Vielfalt von Stilen. Daher wird auch Bildung fr die Kultur gefhrlich: „Die allerallgemeinste Bildung ist eben die Barbarei“ (BA, KSA 1, S. 651). Ebenso die moderne Rastlosigkeit: Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grçsser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa’s insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, whrend diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die hçhere Cultur ihre Frchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe luft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. (MA I 285)
Der Halt dagegen ist der gute Geschmack, die Sicherheit des sthetischen Urteils, das „sehr bestimmte Ja und Nein“ des „Gaumens“ (JGB 224), fr den nach Nietzsche Homer und Shakespeare Beispiele sind. Der gute Europer weiß wohl, dass sein Geschmack nicht der einzige ist, dass fr ihn eine bestimmte Organizitt des Schaffens, die andere Epochen noch kannten, unmçglich geworden ist; gerade deswegen sieht er die Notwendigkeit einer neuen Selbstgestaltung. Der gute Europer lebt gefhrlich, bleibt der Halbbarbarei ausgesetzt.
93 In diesem Sinne kçnnen wir Elberfeld, „Durchbruch zum Plural. Der Begriff der ,Kulturen‘ bei Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 38 (2008), S. 115 – 142, nur teilweise zustimmen, wenn er bemerkt: Nietzsches „frhe Kulturkritik geht grundstzlich ber in eine Kulturengestaltungsvision, in der die Realitt der verschiedenen Kulturen im Zentrum steht. Nietzsche ist nicht der Kulturkritiker geblieben, der er zu Anfang war. Er hat sich seit 1876 von der einfachen Kulturdefinition verabschiedet, eine Kultur sei ,vor allem Einheit des knstlerischen Stils in allen Lebensußerungen eines Volkes‘. Er hat das Bild von einer einfachen Einheit aufgegeben zugunsten fruchtbarer Vielfalt, die fortlaufend sich neu bildende Gestalten ermçglicht.“ (S.134). Die Pluralitt ist nicht ein Wert an sich geworden, sondern sie ist eine problematische Ausgangssituation, mit der man jetzt aber bewusst zu rechnen hat. Elberfeld bemerkt dazu treffend: „Nietzsche gibt im Zusammenhang mit den verschiedenen Kulturen jeden linearen Fortschrittsgedanken zugunsten einer labyrinthischen Geschichtsphilosophie auf“ (S. 132), bersieht dabei aber, dass Nietzsches Interesse stets eher auf die pragmatischen Wirkungen des Fortschrittsdiskurses als auf eine ,wahre‘ Widerspiegelung des Wesens der Geschichte ausgerichtet ist.
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Dass die Barbarei ,halb‘ ist, hat letztlich wieder mit der unfestgestellten Natur des Menschen zu tun. Die Negation der Halbbarbarei ist riskant, gerade weil sie auch Lçsungen kennt, die nur zur Barbarei, entweder als Negation der Kultur oder als berschuss von Wissen, fhren.94 Beide Barbareien haben gemein, dass es ihnen an der Frage nach dem Sinn der eigenen Kultur fehlt. Der gute Europer kann aber im Raum dieser Halbheit leben. Er ist dann stets bereit, sich von Bindungen zu lçsen und „seinen Willen zur Erkenntnis bis in eine solche Ferne und gleichsam ber seine Zeit hinaus“ zu treiben, „um sich zum berblick ber Jahrtausende Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen“ (FW 380), jedoch im Bedrfnis nach Halt, das auch er hat, immer auch in Gefahr, z. B. in einen Nationalismus zurckzufallen – vor dem ihn dann wieder seine „Rechtschaffenheit“ bewahrt: andererseits sind wir aber auch lange nicht „deutsch“ genug, wie heute das Wort „deutsch“ gang und gbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrtze und Blutvergiftung Freude haben zu kçnnen, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantnen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwçhnt, auch zu gut unterrichtet, zu „gereist“: wir ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, „unzeitgemss“, in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wuth ersparen, zu der wir uns verurtheilt wssten als Augenzeugen einer Politik, die den deutschen Geist çde macht, indem sie ihn eitel macht, und k l e i n e Politik ausserdem ist: – hat sie nicht nçthig, damit ihre eigne Schçpfung nicht sofort wieder auseinanderfllt, sie zwischen zwei Todhasse zu pflanzen? m u s s sie nicht die Verewigung der Kleinstaaterei Europa’s wollen?… Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als „moderne Menschen“, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trgt und die bei dem Volke des „historischen Sinns“ zwiefach falsch und unanstndig anmuthet. Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – g u t e Eu r o p e r, die Erben Europa’s, die reichen, berhuften, aber auch berreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir a u s ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rcksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben. Wir – thun 94 Diesen Aspekt von Nietzsches Begriff der Barbarei hat schon Damir Barbaric´, „,Wir Heimatlosen‘. Nietzsches Gedanken zum Europertum“, in: Nietzscheforschung 14 (2007), S. 53 – 66, S. 66, betont: „Die den Bruch des Lebenshorizontes verursachende Maßlosigkeit des Wissendranges hat das Leben zu einem Grad seiner Schwchung gebracht, dass dem Menschen nach allen Anzeichen ein gleichsam freiwilliges Entgleisen zur Barbarei bzw. zur Tierheit bevorsteht. Das Wesen einer so mit Nietzsche verstandenen Barbarei liegt darin, daß sich der Mensch, in das ,unendlich-unbegrenzte Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens‘ versunken und gleichgltig geworden, in tiefer Unruhe der unablssigen Furcht und der gleichzeitigen Gier nach der immer weiteren Dauer, jetzt als bloßer Zuschauer an den gegenwrtigen Augenblick klebt und alles andere methodisch vergisst.“
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3. Entidealisierung der Geschichte
desgleichen. Wofr doch? Fr unsern Unglauben? Fr jede Art Unglauben? Nein, das wisst ihr besser, meine Freunde! Das verborgne Ja in euch ist strker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr auf ’s Meer msst, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch – ein G l a u b e !… (FW 377)
Nietzsche stellt die guten Europer nicht nur als „reich“ und „berhuft“, sondern auch als die „berreich [V]erpflichteten“ (FW 377) dar. Unter den Tugenden des guten Europers ist nicht zufllig die Dankbarkeit (JGB 224). Mit dem ethischen Erlebnis der Dankbarkeit verbindet sich jetzt ein Verantwortungsgefhl. Nur dank seines historischen Sinns wird er sich der eigenen Bindungen (Christentum, Historismus, nationale Kultur usw.) bewusst, erkennt aber dabei, wie ntzlich diese auch fr sein Heil sein kçnnen: er ist dankbar, weil die kulturelle Tradition Europas ihm mit dem historischen Sinn nicht nur eine Krankheit, sondern auch die Bedingung einer hçheren Gesundheit bietet. Der gute europische Gebrauch des historischen Sinns scheint in einer Historisierung zu bestehen, die fhig bleibt, zu erkennen, dass sie stets einem Glauben, d. h. einem nicht weiter zu historisierenden Etwas Raum lassen muss. Wie der Mensch fr Herder aus der Betrachtung der Geschichte ein Pflichtgefhl fr die Notwendigkeit, anderen bei der Realisierung ihrer Humanitt zu helfen, ableiten konnte, so wird ein guter Europer zu sein oder zu werden, zur Aufgabe, zu einer Verpflichtung, fr die der Erkennende sich in der Verantwortung sieht. Aber damit wird nun auch ein Kult der Humanitt, der ,Menschheit‘, obsolet, der gute Europer Nietzsches braucht ihn nicht mehr und verabscheut ihn darum als bloße Illusion einer „Religion des Mitleidens“: Wir sind keine Humanitarier; wir wrden uns nie zu erlauben wagen, von unsrer „Liebe zur Menschheit“ zu reden – dazu ist Unsereins nicht Schauspieler genug! Oder nicht Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. Man muss schon mit einem g a l l i s c h e n Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet sein, um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit mit seiner Brunst zu nhern… Der Menschheit! Gab es je noch ein scheusslicheres altes Weib unter allen alten Weibern? (— es msste denn etwa „die Wahrheit“ sein: eine Frage fr Philosophen). Nein, wir lieben die Menschheit nicht (FW 377).
Man kann nach Nietzsche die Menschheit nicht lieben, hçchstens konkrete Vçlker: der Unstte, Heimatlose, Wanderer – der sein Volk verlernt hat zu lieben, weil er viele Vçlker liebt, der gute Europer. (N 1884/85, KSA 11, 31[10])
Der gute Europer weiß nun, dass auch der Appell an die Humanitt etwas Europisches ist. Der Humanittsdiskurs ist eben darin eurozentrisch, dass er fr die ganze Welt gelten will und seinen eigenen Ursprung vergisst.95 Auch 95 Vgl. Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, bers. v. A. Garc a Dttmann, Frankfurt 1992.
3.5. Herders Ideal der Humanitt und Nietzsches „andres Ideal“
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wenn Herders Humanitt unbestimmt und unspezifisch bleibt, ist sie doch dem christlichen Humanismus verpflichtet, den sie als globales Ideal darstellt. Von Nietzsches Standpunkt aus ist sie noch das Ideal eines gebundenen Geistes, der in einem Glauben befangen bleibt. Herder ist nach ihm gerade darin eurozentrisch, dass er das Eurozentrische seiner „Kultur der Menschheit“ vergisst: Am wenigsten kann also unsre Europische Kultur das Maß allgemeiner Menschengte und Menschenwertes sein; sie ist kein oder ein falscher Maßstab. Europische Kultur ist ein abgezogener Begriff, ein Name. Wo exsistiert sie ganz? bei welchem Volk? in welchen Zeiten? berdem sind mit ihr (wer darf es leugnen?) so viele Mngel und Schwchen, so viel Verzuckungen und Abscheulichkeiten verbunden, daß nur ein ungtiges Wesen diese Veranlassungen hçherer Kultur zu einem Gesamt-Zustande unsres ganzen Geschlechts machen kçnnte. Die Kultur der Menschheit ist eine andre Sache; Ort- und Zeitmßig sprießt sie allenthalben hervor, hier reicher und ppiger, dort rmer und krger. Der Genius der Menschen-Naturgeschichte lebt in und mit jedem Volk, als ob dies das einzige auf Erden wre. (Briefe, 7.700)
Herder bßt durch diesen Mangel an Reflexion ber den blinden Fleck des Humanittsdiskurses einige berzeugungskraft ein, erscheint leicht naiv oder ideologisch. Nietzsche dagegen spricht bewusst als Europer zu Europern, ldt die Halbbarbarischen unter ihnen ein, durch historischen Sinn sich ihrer Halbbarbarei bewusst zu bleiben. Darin wren sie dann nicht erst „von Morgen und Uebermorgen“; wenn Nietzsche sagt „wir guten Europer“, gibt es sie jetzt schon.96 Auch die Freigeister sieht er „bereits kommen“, obwohl „langsam, langsam“. Er sieht seine Aufgabe darin, „ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehen, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe“ (MA I, Vorrede 2). So kçnnen andere leichter nachziehen. Sofern der gute Europer, halbbarbarisch, halbhistoristisch, halbchristlich, wie er ist, das Zeichen des Widerspruchs in sich trgt, wird das schwer genug sein. Nietzsche hat absichtlich mit seiner philosophischen Schriftstellerei den Widerspruch bewusst vorgelebt und mit dem guten Europer ein Ideal formuliert, das fr eine Epoche berzeugend sein kann, die im Widerspruch ihren Grundcharakter findet: Di e s e g u t e n Eu r o p e r, die wir sind: was zeichnet uns vor den Menschen der Vaterlnder aus? Erstens: wir sind Atheisten und Immoralisten, aber wir untersttzen zunchst die Religionen und Moralen des Heerden-Instinktes: mit ihnen nmlich wird eine Art Mensch vorbereitet, die einmal in unsere Hnde fallen muß, die nach unserer Hand b e g e h r e n muß. / Jenseits von Gut und Bçse, aber wir verlangen die unbedingte Heilighaltung der Heerden-Moral. / Wir behalten uns viele Arten Philosophie vor, welche zu lehren noth thut: unter Umstnden die pessimistische, als Hammer; ein europischer Buddhismus kçnnte vielleicht nicht zu entbehren sein. / Wir untersttzen wahrscheinlich die Entwicklung und Aus96 Vgl. FW 377, JGB Vorrede, S. 13; JGB 241, 243; FW 357; N 1885, KSA 11, 35[9]; N 1887, KSA 12, 8[121].
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3. Entidealisierung der Geschichte
reifung des demokratischen Wesens: es bildet die Willens-Schwche aus: wir sehen im „Socialism“ einen Stachel, der vor der Bequemlichkeit – – – (N 1885, KSA 11, 35[9]).
Er verleibte sich als guter Europer seiner Zeit die Widersprche seiner Zeit ein und lud durch sein Beispiel andere ein, sich diese Widersprche ebenfalls nicht zu verbergen. Nietzsches Herausforderung besteht vor allem darin, ein Ideal voller lebendiger Widersprche zu leben, das illusionre Festlegungen wie den Nationalismus, aber auch Humanittsideale zurcklsst und Halt nur noch in der eigenen Verantwortung zum eigenen Handeln erwartet.
4. Schluss Im Verlauf dieser Untersuchung haben sich klare Berhrungspunkte zwischen Herders und Nietzsches Denken ergeben. Es ist damit unhaltbar geworden, Nietzsches Verhltnis zu Herder als schlicht feindseliges zu betrachten. Gemeinsam ist beiden erstens in der Sache die Rckbindung des Menschen an die Natur, in der Form des Gebrauchs einer entsprechenden naturalistischen Rhetorik zur Plausibilisierung ihres Bildes vom Menschen und der Kultur. Sie heben beide sprachkritisch die Rhetorizitt jedes (philosophischen) Diskurses hervor und sttzen zugleich ihre Strategie der Vernatrlichung auf sie. Zweitens teilen beide miteinander in der Sache die Betrachtung der Historie vom Standpunkt des Lebens aus, in der Form die Suche nach einem adquaten Fortschritts- und Geniediskurs, der die Menschen zu einer individuellen, nicht standardisierten kulturellen und historischen Praxis motivieren kann. In der Sache wie in der Form geht es beiden drittens um Ideale – Herder um die Humanitt, Nietzsche um den guten Europer –, die trotz ihres unpolitischen Ursprungs durch die gemeinsame Kritik des Nationalismus politische Bedeutung gewinnen. Wenn auch in den hundert Jahren, die zwischen beiden Autoren liegen, entscheidende sozio-politische und kulturelle Vernderungen vor sich gehen, ist das Verhltnis von Nietzsches Denken zu dem Herders mehr durch Kontinuitt als durch Revolution bestimmt; am ehesten wird man sagen kçnnen: Nietzsche fhrt Herders Denken radikal fort, radikalisiert seine Fragestellung. Nietzsche ist mehr Erbe Herders, als er wahrhaben mçchte. Er ist es auch in der christlichen Moralitt, deren Dialektik er zum ebenso bitteren wie befreienden Ende gebracht hat. Die offensichtlichen Differenzen liegen dann nicht einfach in einem theologisch bestimmten Philosophieren auf der einen Seite und einem antichristlichen auf der andern, sondern im konsequenten Aufdecken von Illusionen und ungedachten Voraussetzungen, die Herder weit, Nietzsche aber noch weiter treibt. Von Herder zu Nietzsche steigert sich das Bewusstsein der Voraussetzungshaftigkeit von Voraussetzungen, der Nicht-Selbstverstndlichkeit von (scheinbar) Selbstverstndlichem. Herders gegen alle Ansprche auf absolute Wahrheit gerichtete philosophische Erkenntnis der Natur, Sprache und Historie kannte noch Bindungen, die er noch nicht in Frage zu stellen vermochte. Trotz seines skeptischen Misstrauens gegenber der Mçglichkeit einer adquaten Erkenntnis der Realitt hinterfragte er die Idee eines in sich sinnvollen natrlichen Werdens nicht, und so entfaltete seine Art der Naturgeschichte nicht dieselbe kritische Wirkung wie die Genealogie Nietzsches. Herders Idee der Besonnen-
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4. Schluss
heit zeigt trotz ihrer Bindungen an Sinne und Triebe noch metaphysische Reste einer in sich geschlossenen reflektierenden Subjektivitt, die Nietzsche dann in Frage stellte. Und darin liegt auch die Grenze von Herders Kritik des Begriffsdiskurses. Seine Anerkennung der Metaphorizitt aller Begriffe schloss fr ihn noch nicht das Ende der Philosophie als Wissenschaft des Begriffs ein; noch blieb ihm eine ,Selbstreinigung‘ des Begriffsdiskurses durch analytische Arbeit des reflektierenden Subjekts vorstellbar. Seine Kritik der Geschichtsschreibung setzte noch die Idee eines bewussten Subjekts des Erinnerns als Autor der Historie voraus und bekrftigte sie, und damit unterschtzte er, anders als Nietzsche, die Produktivitt des Vergessens in der Geschichtsschreibung. So erwartete er fr die Arbeit des Historikers auch noch immer vorinterpretatorische ,Tatsachen‘, letzte Prfsteine der Wahrheit. Und so konstruierte er eine Geschichtsphilosophie, die zwar im Dienste des Lebens stehen sollte, doch unter der Voraussetzung, dass Leben immer auch als Glck erlebt wird, eine Voraussetzung, die Nietzsche ebenfalls hinterfragt. Und so unterscheidet sich auch seine Idee der Humanitt von Nietzsches Ideal des ,guten Europers‘, dass sie, auch wenn sie den Nationalismus von Grund auf in Frage stellt, unreflektiert eurozentrisch bleibt. Herder gilt erstaunlicher-, aber nicht zuflligerweise zugleich als Vater der (alles verzeitlichenden) Geschichtsphilosophie wie der (den Menschen berzeitlich feststellenden) philosophischen Anthropologie. Der von Odo Marquard formulierte Gegensatz zwischen beiden wird im Blick auf Herder jedoch fragwrdig.1 Herders (und Nietzsches) Skepsis gegenber dem Rationalismus berwindet gerade die Trennung von Naturalismus und Historismus, philosophischer Anthropologie und Geschichtsphilosophie. Die Hinwendung zur Natur ist fr Herder (und Nietzsche) ein Moment der Geschichtsphilosophie und der Anthropologie. Bei Herder bleibt sie wohl mit bestimmten metaphysischen Resten, vor allem mit der Voraussetzung eines Ur-Menschengeschlechts, behaftet, das allen historischen und geographischen Ausdifferenzierungen vorausgehe. Sie sttzt zugleich die Anthropologie und die Geschichtsphilosophie. Doch dieser Begriff des Menschengeschlechts bleibt außerhalb seiner historischen Realisierung leer. Nietzsche erkennt sie als bloße Voraussetzung und destruiert sie. So kann er die Anthropologie zugunsten einer beweglichen Typologie aufgeben und diese fr die Geschichtsphilosophie nutzen. Damit wird auch die (scheinbar ursprngliche) Natrlichkeit des Menschen zu etwas sichtlich Konstruiertem. Die wahre Natur, der sich der Mensch nhern soll, die 1
Vgl. Odo Marquard, „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ,Anthropologie‘ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1973, S. 122 – 144, S. 134: „Wende zur Geschichtsphilosophie ist nur als Abkehr von der Anthropologie, Wende zur Anthropologie ist nur als Abkehr von der Geschichtsphilosophie mçglich“.
4. Schluss
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aber nur Gott kennt, wird bei Nietzsche zu einem bloßen Schein, der auch jene – und sei es noch so endliche und unvollkommene – Annherung zum Schein macht. Nietzsches Verhltnis zu Herder als radikalisierte Kontinuitt zu betrachten trgt zu einem angemesseneren Selbstverstndnis auch des gegenwrtigen Philosophierens bei. Definiert man postmodernes Denken als modernes Denken, das sich der Voraussetzungshaftigkeit des eigenen Diskurses bewusst geworden ist, dann wird es von Herder wenn nicht eingeleitet, so doch vorbereitet.2 ,Humanitt‘ und ,guter Europer‘ sind konstitutive Momente von Metadiskursen, die sich selbst auf unterschiedliche Weise als Konstruktionen verstehen und sich in ihrer Metaphorizitt dazu bekannten, nicht vollstndig in Begriffe bersetzt werden zu kçnnen. Sie sind im Bewusstsein der Kontingenz der Sprache formuliert, die zugleich die Bedingung neuer Sinngebung ist, aber die Geltungsansprche aller Sinngebungen auch relativiert. Herders Entwurf des Ursprungs der Sprache aus der Natur betont zugleich die menschliche Wrde – die Voraussetzung eines humanitren Metadiskurses – und das Misstrauen gegen die Allgemeingltigkeit jedes Diskurses, den ber die Humanitt eingeschlossen. Seine Idee der rationalen Erkenntnis, nach der sie allein aus eigenen Krften Gedanken und Entwrfe hervorbringt wie den eines Ursprungs der Sprache, strebt eine praktische, bildende Wirkung auf das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaft an – fast schon im Sinne Rortys.3 Nietzsche als „Drehscheibe“ fr 2
3
Dies wird unterschiedlich gesehen. Nach Josef Simon, „Herder and the problematization of metaphysics“, in: Kurt Mueller-Vollmer (Hg.), Herder Today, Berlin / New York 1990, S. 108 – 125, S. 124, ist Herder nicht „a precursor of a ,postmodern age‘“: „[one] can see in him an author in whom the consciousness of the problem of metaphysics, which accompanied metaphysics at all times, becomes clear, precisely in his inconsistencies: in the attempt to still say something about everything in the manner of metaphysics, in spite of the consciousness, that everything has its time, including all theories about time, history, and also metaphysics.“ Karl Menges, Erkenntnis und Sprache. Herder und die Krise der Philosophie im spten achtzehnten Jahrhundert, in: Wulf Koepke (Hg.), Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture Vol. 52), Columbia 1990, S. 47 – 70, S. 63, sieht dagegen bei Herder eine sprachphilosophische Variante der Transzendentalphilosophie, die durch Nietzsche zu „einem postmodernen Denken des Individuellen und der Differenz [wird], dessen Hoffnungen nicht mehr in einem einheitsstiftenden Systemgedanken zusammenlaufen, sondern das sich nurmehr im Gedanken der „dissmination“, also der Vielfalt und Unstrukturierbarkeit der menschlichen Lebenswelt und ihrer Sprachspiele, zu sammeln vermag.“ Fr den Begriff einer bildenden Philosophie vgl. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, aus dem Engl. v. Michael Gebauer, Frankfurt am Main 1981, S. 396 – 404. Auch bei Rorty sind Helden und große Dichter diejenigen, die die Geschichte erneuern kçnnen, hnlich den genialen Persçnlichkeiten bei Herder und Nietzsche. Vgl. Richard Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, und Ders., Truth and Progress. Philosophical Papers. Volume 3, Cambridge 1998, Kap. III.
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4. Schluss
den „Eintritt in die Postmoderne“4 wre ohne Herders Entwicklung des historischen Bewusstseins nicht zu denken. Auch bei Nietzsche schließt die Hervorhebung der performativen und selektiven Natur aller Historie nicht aus, eine Gesamtinterpretation der Geschichte und der Kultur, eine Art von Metadiskurs zu versuchen, um zu einer bestimmten menschlichen Praxis zu motivieren. Dieser Metadiskurs, der in der Figur des guten Europers und seines historischen Sinns kulminiert, legitimiert alle Dekonstruktion, auch die dieses Metadiskurses selbst. Irrationalistisch werden beide Diskurse darum jedoch nicht, sondern quasi pragmatistisch: sie legitimieren ihre Ideale und Wertsetzungen im Namen ihres Nutzens fr das Leben. Dies bedeutet nicht schon eine Umwandlung der Philosophie in Rhetorik, sondern eine Steigerung ihres selbstkritischen Potentials. Bei Herder und Nietzsche wird die scheinbare Not, die uneinholbare ,natrliche‘ Bedingtheit des eigenen Sprechens, zu der Tugend, auf die performative Kraft des Sprechens zu setzen und sie bewusst auszubilden. Die ,Selbstschwchung‘ des Philosophierens strkt die kritische Aufmerksamkeit fr Bedingungen, die nicht aufzuheben, aber wirkungsvoll einzusetzen sind. Herder und Nietzsche initiieren ein kommunikatives Philosophieren, rumen ihrem Publikum sprbare Spielrume fr das Verstndnis der Perspektivitt ihrer Diskurse und das heißt auch: fr eine kritische Analyse dieser Diskurse ein. Herder tut dies, indem er an die beschrnkte menschliche Natur jeder Erkenntnis erinnert, Nietzsche, indem er nicht nur diesen sprachkritischen Skeptizismus bernimmt, sondern auch noch mit den Mitteln seiner Psychologie und Genealogie die Bedingungen seines eigenen Philosophierens so weit wie mçglich offenzulegen sucht. Herder und Nietzsche wollen nicht lehren, nicht predigen, sondern sich kompromittieren, um die Leser sich ihrerseits in
4
Vgl. Jrgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwçlf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 104 ff. Nach Gianni Vattimo, La fine della modernit, Milano 1991, Kap X., erwacht die philosophische Postmoderne im bergang von Nietzsches Unzeitgemßen Betrachtungen zu den Werken seiner mittleren Periode, in denen er nicht mehr wie in UB II der historischen Krankheit verewigende, berhistorische Krfte der Kunst und der Religion entgegenzusetzen, sondern sie durch die ,Chemie der Begriffe‘ und ,Naturgeschichte‘ zu heilen versucht. Nach Dieter Borchmeyer, „Nietzsches zweite ,Unzeitgemße Betrachtung‘ und die sthetik der Postmoderne,“ in: Ders. (Hg.), „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben“. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 196 – 217, S. 208 f., kçnnen „die „Kritiker des Postmodernismus zumal beim frhen Nietzsche weit mehr Argumente fr sich verbuchen als ihre Apologeten“, da Nietzsche eine Moderne kritisiere, die eigentlich das sei, was heute unter Postmoderne verstanden wird, wenn „nicht Innovation fr Nietzsche die Signatur der Moderne [ist], sondern die zum Verschwinden der Persçnlichkeit und zur Selbstauflçsung der Kunst fhrende permissive Entgrenzung des sthetischen Horizonts.“
4. Schluss
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ihren Bedingtheiten kompromittieren zu lassen;5 sie wollen nicht einfach ,berzeugen‘, sondern an die Imagination, an das Einfhlungsvermçgen, an die Abstraktionsfhigkeit, an den historischen Sinn des Lesers appellieren. Daher kçnnen sie nicht, selbst wenn Herder dies befrwortet, fr alle sprechen. Sie fordern einen bestimmten Typus Mensch, um verstanden zu werden, den sie wiederum fçrdern, strken wollen. Der Diskurs des guten Europers sucht dadurch berzeugungskraft fr gute Europer zu gewinnen, dass er ihnen ihre eigene Geschichte und ihre eigene Bedingtheit zeigt. Der Diskurs der Humanitt tut das nur beschrnkt; mit Nietzsches radikalerem Ansatz verliert er darum an berzeugungskraft. Er gewinnt sie zurck, wenn man sich in der ,Gte‘ der europischen Humanitt ihrer ,Europizitt‘ bewusst wird und mit Nietzsche deren ,Gte‘ gerade darin erkennt, dass auch sie ber sich hinauswachsen muss. ber Nietzsche und Herder hinaus bleibt die Frage nach dem Umgang des Philosophen mit ,dichten‘ moralischen Begriffen, d. h. mit Begriffen, deren deskriptive und normative Relevanz nicht leicht zu unterscheiden sind.6 Dass der Begriff ,Humanitt‘ fr Nietzsche ,dnn‘ geworden ist, d. h. dass seine Normativitt fr ihn nicht mehr selbstverstndlich ist, bedeutet nicht, dass der Mensch ein Leben ohne dichte moralische Begriffe anstreben sollte. Man kçnnte das gesamte Werk Nietzsches als Versuch betrachten, neue dichte moralische Begriffe berzeugend zu beschreiben. Nicht nur ,guter Europer‘, sondern auch ,Selbstberwindung‘, ,bermensch‘, ,Redlichkeit‘, ,Pathos der Distanz‘ usw. sollen als solche wirken. Die Frage, ob und inwiefern diese auch fr uns heute noch eine moralische Dichte haben, lsst sich nicht rein theoretisch beantworten. Die Antwort – kann man mit Nietzsche sagen – bleibt das lebendige Experiment der Einverleibung, der Versuch, mit diesen Begriffen als Einzelner und in einer Gesellschaft zurechtzukommen.
5 6
Vgl. Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, S. 57 – 59. Vgl. Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge MA 1985, S. 129, 143 – 45, 152, 200.
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Namensregister Aarsleff, Hans 132 Abel, Gnter 6, 30f., 41, 94, 127, 141f., 318 Adelung, Johann Christoph 24 Adler, Emil 27, 29, 154, 237, 289 Adler, Hans 139, 154, 238 Albrecht, Jçrn 13 Albus, Vanessa 46, 170 Amhon, Michael 106 Andraschke, Peter 153, 168, 238 Ansell-Pearson, Keith 108, 269 Aristoteles 102, 182, 204, 256 Baeumer, Max L. 163 Barbaric´, Damir 309 Baumgarten, Alexander Gottlieb 14, 81, 189f. Baumgartner, Hans Michael 26, 281 Beethoven, Ludwig van 298 Behler, Diana 51, 165 Behler, Ernst 7–9, 162, 271 Benjamin, Walter 6, 159 Berlin, Isaiah 4–17, 21, 24, 26–28, 31f., 37, 39, 41f., 45, 51, 55–57, 67, 76, 79, 95, 113, 127f., 131, 133, 141, 149, 162, 164–166, 172, 180, 203, 208, 211f., 215, 222, 248, 255f., 264, 269–271, 279, 288, 302, 306f., 315, 318, 335 Bertino, Andrea C. 7 Bertram, Ernst 168 Bertram, Georg W. 14 Biebuyck, Benjamin 167 Blondel, Eric 53, 102 Blumenberg, Hans 19–21, 171 Bçdeker, Hans E. 227 Bohrer, Karl Heinz 170 Bollacher, Martin 4f., 82, 151, 226, 243, 247, 255, 295 Bçning, Thomas 7, 51, 279 Borchmeyer, Dieter 316 Borgards, Roland 168f. Borsche, Tilman 4, 8f., 14, 17–19, 162, 164f.
Boscovich, Rugjer Josip 29, 96f. Brobjer, Thomas H. 5 Brodersen, Arvid 11 Brosses, Charles de 6 Brusotti, Marco 105, 307 Buffon, George Louis Leclerc Comte de 102f., 119, 204 Burckhardt, Jacob 219f., 246, 257, 299, 306 Campioni, Giuliano 265 Cassirer, Ernst 18f., 115, 121 Conway, Daniel W. 51, 105 Cox, Christoph 42 Crawford, Claudia 15f., 141 Darwin, Charles Robert 106, 261f. De Man, Paul 8, 110, 170, 182, 188, 228, 253, 297, 308 Decher, Friedhelm 162 Decremps, Marcel 13 Del Caro, Adrian 101 Derrida, Jacques 138, 156, 168, 170, 215, 310 Dieter, Karl 146 Dietze, Walter 78, 243 Dilthey, Wilhelm 208 Djuric´, Mihailo 13, 15, 51, 146 Dobbek, Wilhelm 27, 71, 120, 177, 288 Dreike, Beate Monica 29 Dreitzel, Horst 254 Dsing, Wolfgang 24, 26, 247 Elberfeld, Rolf 308 Ellrich, Lutz 170 Emden, Christian J. 56, 298 Emrich, Elke 296 Federlin, Wilhelm-Ludwig 26 Feuerbach, Ludwig 31f., 34f. Fietz, Rudolf 160, 164f. Fink, Gonthier-Louis 76 Flçgel, Carl Friedrich 81 Fontenelle, Bernard de 24
Namensregister
Forster, Georg 24 Forster, Johann Reinhold 24 Foucault, Michel 105f., 108f. Frank, Manfred 6, 82 Franklin, Benjamin 294 Friedrich II. 294f., 299, 306 Fries, Thomas 15 Frigo, Gian Franco 75, 210 Frst, Gebhard 170, 174, 193, 198–200, 283 Gabriel, Gottfried 16 Gadamer, Hans-Georg 220, 231, 269 Gaier, Ulrich 16, 65, 74f., 109, 115f., 226, 246 Ganslandt, Herbert R. 73 Gaskell, Ivan 51 Gasser, Peter 172 Gebhard, Walter 16, 55 Gehlen, Arnold 53, 66f., 73, 208, 211–214, 218 Geijsen, Jacobus A.L.J.J. 11, 128 Geisenhanslke, Achim 230 Gerber, Gustav 7, 15f., 19, 42, 174, 181 Gerhardt, Volker 14, 51, 91, 146, 171f., 287 Gesche, Astrid 74 Gessinger, Joachim 10, 149 Giovanola, Benedetta 33 Gisi, Lucas Marco 24 Gleiter, Jçrg H. 51 Goethe, Johann Wolfgang von 2–4, 10–13, 27, 90, 104, 107, 223, 269, 298f. Gori, Pietro 29 Grimm, Ruediger Hermann 57 Groethuysen, Bernhard 208 Groß, Sabine 2, 10, 64, 74, 253, 297, 305 Guery, FranÅois 13 Gnther, Friederike Felicitas 6, 166 Habermas, Jrgen 316 Hamann, Johann Georg 13f., 16, 42, 46, 111, 120f., 148, 152, 288, 295 Harich, Wolfgang 269 Harth, Dietrich 12, 220 Hartmann, Eduard von 15f., 141 Haym, Rudolph 9, 26, 67, 288
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Hegel, Georg W 14, 41, 48, 69, 212, 219–221, 257, 261, 299 Heidegger, Martin 39 Heine, Heinrich 298–300 Heinßen, Johannes 11 Heintel, Erich 58 Heinz, Marion 149, 151, 226, 246 Heise, Wolfgang 243 Heizmann, Bertold 108 Helfer, Martha B. 14, 113, 278 Heller, Peter 21, 116, 191, 258, 269, 306 Heraklit 209 Herz, Andreas 31, 61, 70, 153, 159, 162, 179, 220, 232, 292, 300, 304 Hillebrand, Karl 10f. Hilpert, Konrad 58 Hçdl, Hans Gerald 8, 163 Hofe, Gerhard vom 222 Hofmann, Johann Nepomuk 79 Humboldt, Wilhelm von 7, 13f., 16–18, 113, 134f. Hume, David 24, 43, 104, 116, 225 Irmscher, Hans Dietrich 226, 243 Iselin, Isaak 24, 184
81f., 85, 88,
Jablonsky, Walter 11 Jaspers, Karl 4 Jean Paul 4 Joisten, Karen 261 Jçns, Dietrich Walter 278, 289 Joosten, Heiko 69, 212 Jordan, Wolfgang 55 Joseph II. 294 Jung, Rudolf 3, 6, 8f., 13, 17f., 78, 108, 133, 149, 162, 164f., 185, 222, 234, 286 Kaiser, Stefan 17, 127, 299 Kalb, Christoph 163 Kant, Immanuel 2–6, 10, 13, 24, 26, 28f., 37, 65, 81, 85, 97, 103, 116, 124, 135, 190f., 226, 246, 254, 270, 272, 277f., 288, 299 Kaulbach, Friedrich 40, 55, 228 Kemal, Salim 51 Kirchhoff, Jochen 90 Knoll, Samson B. 255
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Namensregister
Koepke, Wulf 78, 149, 250, 315 Kofman, Sarah 170 Kopperschmidt, Josef 15 Korn, Friedrich 67 Koselleck, Reinhart 219 Kouba, Pavel 214 Kriszat, Georg 73 Krones, Hartmut 153 Krummel, Richard Frank 11 Khnemann, Eugen 288 Lacoue-Labarthe, Philippe 8, 170 Lanfranconi, Aldo 109, 242 Lange, Friedrich Albert 3, 5, 15, 49, 63f., 79, 87f., 95, 97, 100, 106, 123, 129, 147, 160, 166, 170, 188, 191, 195, 208, 217, 243, 251, 253, 269, 279f., 286, 290, 295, 304, 309 Lehmann, Rudolf 288 Leibniz, Gottfried Wilhelm 29f., 114f., 127, 146, 155, 170, 178, 186, 200, 204 Lemm, Vanessa 230 Leondaris, Brigitte 78 Lessing, Gotthold Ephraim 2, 5, 24, 82, 168f., 255, 295, 299 Leventhal, Robert S. 45 Levinas, Emmanuel 69, 215 Lichtenberg, Georg Christoph 5, 13 Lindner, Herbert 27 Lipperheide, Christian 220 Lçchte, Anne 289 Loos, Helmuth 153, 168, 238, 304 Lovejoy, Arthur 102, 204 Lçw, Reinhard 15 Luhmann, Niklas 73, 134, 215 Lutz-Bachmann, Matthias 15 Malinowski, Bronislaw 73 Maltusch, Johann G. 133, 237 Marino, Mario 53, 75, 210 Markworth, Tino 247 Marquard, Odo 243, 314 Marx, Karl 33–35, 219 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 6 Meijers, Anthonie 7, 15 Meinecke, Friedrich 220 Mendelssohn, Moses 70f., 133, 177 Menges, Karl 315 Meyer, Heinz 226
Meyer, Katrin 220, 223f. Meyer-Abich, Klaus-Michael 24 Michelet, Jules 219 Mittasch, Alwin 53, 55 Moles, Alistair 53, 55 Monboddo, James Burnett Lord 6 Moore, Gregory 56 Mueller-Vollmer, Kurt 14, 45, 76, 113, 149, 248, 315 Mller, Max 16, 19 Mller-Lauter, Wolfgang 14, 39, 79, 128, 253 Mller-Michaels, Harro 82 Napoleon 208f., 298f. Naumann, Barbara 167, 202 Neis, Cordula 6 Nisbet, Hugh Barr 29, 53, 78, 85, 179 Norton, Robert E. 78 Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) 13, 90 Okochi, Ryogi 41 Orsucci, Andrea 131 Ott, Konrad 6, 290, 294 Ottmann, Henning 255, 272 Otto, Detlef 181 Otto, Regine 27, 65, 78, 135, 246, 256 Otto, Rdiger 27 Overbeck, Franz 31 Parmenides 123 Pautrat, Bernard 170 Pnisson, Pierre 76, 136 Philoktet 150, 168f. Pizer, John 108 Plato 6, 85, 99, 123, 168, 202, 209, 269, 303 Plessner, Helmuth 212 Politycki, Matthias 5 Poschmann, Brigitte 7, 24, 247 Proß, Wolfgang 103, 108, 132, 221, 227, 264 Protagoras 121 Ptz, Peter 271 Rahden, Wolfert Ranke, Leopold Rehm, Patricia Reill , Peter H.
von 2, 10 219f. 66, 267 227
Namensregister
Rieck, Werner 295 Riedel, Manfred 19, 163 Robling, Franz-Hubert 233 Rodi, Frithjof 12 Rorty, Richard 112, 210, 315 Rosciglione, Claudia 42 Rçttges, Heinz 271 Rousseau, Jean-Jacques 6, 12, 16, 24, 35, 65–67, 74, 108, 136–138, 143, 156, 170, 266, 269f., 288 Ruprecht, Erich 133 Salaquarda, Jçrg 15, 56 Salehi, Djavid 146 Salmony, Hannsjçrg A. 78, 133 Sandkhler, Hans Jçrg 73 Sauder, Gerhard 2, 10, 13, 76, 103, 115, 222, 254, 264 Schacht, Richard 102, 105 Schank, Gerd 208, 302 Schanze, Helmuth 15 Scharrenbroich, Heinrich 256 Scheel, Heinrich 243 Scheler, Max 25 Schick, Edgar B. 86 Schildknecht, Christiane 16 Schipperges, Heinrich 56 Schlumbohm, Jrgen 227 Schlpmann, Heide 13 Schmidt, Alfred 33f., 281, 289 Schmidt, Gerhart 289 Schmidt, Jochen 274 Schndelbach, Herbert 213, 278 Schneider, Ursula 256 Schçdlbauer, Ulrich 12 Schopenhauer, Arthur 4, 8f., 15f., 33, 56, 122f., 130, 144, 162–164, 208, 230, 268, 270, 281, 298f. Schrift, Alan D. 106 Schrçter, Hartmuth 220 Schulz, Walter 25, 32, 51 Schwarz, Ullrich 159, 194 Schweppenhuser, Gerhard 51 Seeba, Hinrich C. 226 Seubert, Harald 51 Seubold, Gnter 51 Shichiji, Yoshimori 7 Siegel, Carl 10, 29, 129, 250
339
Simon, Josef 6, 13–15, 19, 37f., 41, 51, 57, 133, 146, 152, 180, 248, 270, 272, 315 Simon, Ralf 134f., 184, 189, 221 Skowron, Michael 262 Sommer, Andreas Urs 211, 300 Sonderegger, Stefan 9 Spiekermann, Klaus 39f., 56, 79 Spinoza, Baruch de 26–31, 42, 142, 268f. Stack, George J. 15 Stadelmann, Rudolph 220, 288 Stauf, Renate 294f., 299 Stegmaier, Werner 6, 21, 28, 31, 38, 41, 48, 105, 109, 167, 208, 213, 215, 222, 262, 286f., 305, 317 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 298 Stingelin, Martin 7, 15f., 231 Taszus, Claudia 221 Taylor, Charles S. 162 Tessitore, Fulvio 221 Thalken, Michael 42 Themistokles 282 Thiel, Christian 73, 83 Thorgeirsd ttir, Sigridur 51 Thring, Hubert 16, 194 Thurnher, Rainer 13 Tietz, Udo 171 Tocqueville, Alexis de 219 Tongeren, Paul van 104, 215 Trabant, Jrgen 14, 133, 149 Treiber, Hubert 142 Uexkll, Jakob Johann von 73 Ungeheuer, Gerold 15, 98, 143, 269, 292 Vattimo, Gianni 316 Venturelli, Aldo 8f., 17f.162, 164f. Venturelli, Domenico 33, 163 Vinzens, Albert 124 Vivarelli, Vivetta 264 Vollrath, Wilhelm 27 Voltaire (FranÅois Marie Arouet) 219, 264–273 Wagner, Richard 14f., 161, 163, 268, 295, 298f., 303 Wahl, Wolfgang 32, 227, 269
340
Namensregister
Weber, Max 208 Wetzels, Walter D. 86 White, Hayden 219, 223, 236, 268 Whitlock, Greg 29 Williams, Bernard 12, 101, 317 Winckelmann, Johann Joachim 76f., 168f., 224, 295 Wittgenstein, Ludwig 171 Witzler, Ralf 305f. Wolf, Friedrich August 5, 137, 299, 335
Zachriat, Wolf Gorch 256, 335 Zaremba, Michael 4 Zavatta, Benedetta 16 Zeuch, Ulrike 78, 149, 256 Zittel, Claus 172 Zˇunjic´, Slobodan 202 Zusi, Peter 12
Begriffs- und Sachregister Abkrzung 38, 48, 122, 145, 152, 231 Affekt 8, 19, 31, 58, 71, 80, 88, 94f., 153f., 157, 163, 266 Allegorie 8, 20, 82, 87, 92, 170, 175, 177–183, 191, 199 Analogie 11, 19, 26, 31, 43, 53, 72, 76, 81–96, 100f., 103, 122, 126, 134, 149, 151f., 154, 157, 163, 167, 172, 174–176, 183, 198f., 227, 237, 247 Anthropologie 1f., 6, 11, 14, 22–25, 30–34, 47, 53, 56, 67f., 71, 74, 76–78, 84, 87, 98, 106, 108, 112, 114, 116f., 120f., 123, 126, 136, 140f., 149f., 166, 172, 174f., 203–211, 213, 218, 230, 248, 314 Anthropomorphismus 39, 45–47, 56, 66, 85, 91, 136, 182 Assimilation 58, 79f., 94f., 232 Aufgabe 32, 34, 36, 41, 49–51, 60, 82, 99, 103f., 143, 206, 231, 235f., 263, 268, 273, 281, 285, 291, 300, 303, 306, 310f. Aufklrung 26f., 29, 65, 78, 82, 103, 121, 135, 198, 221, 245–248, 253, 256, 264, 267–273, 303 Aufmerksamkeit 2, 4, 38, 114, 118, 187, 195, 221, 233, 249, 274, 316 Barbarei 307–309 – Halbbarbarei 306–309, 311 Begriff 8, 16, 18f., 21f., 24f., 32–36, 38f., 41, 45, 59, 71, 78, 87, 100–102, 114f., 121, 129, 150, 154, 160–162, 164–167, 170–177, 180–203, 209, 211–213, 216f., 222, 276, 314 – Begriffssprache 34, 144, 177, 186, 194, 210 – Gegenbegriff 47, 302 – Verbegrifflichung 170, 175, 178, 183, 196 Besinnung 6f., 30, 109, 113, 115, 117–120, 122, 127, 132, 134, 184
Besonnenheit 84, 109, 112–114, 116–121, 124, 132, 140, 146, 152, 210, 247, 314 Bewusstheit 80, 140 Bewusstsein 6f., 34, 40, 47, 49, 67, 80, 85, 98f., 101, 103, 112, 130–132, 139–141, 145–149, 159, 166, 175, 178, 194, 197, 203, 205, 208, 213, 223, 228, 232, 234, 241, 261, 271, 280, 282, 296, 313, 315f. Bild 88, 149, 161, 177–180, 190, 198–200 Bildung 5, 9, 14, 35f., 71, 76f., 81f., 94, 146, 153, 189, 200, 207, 213, 220, 222, 236, 241, 243, 245–247, 250f., 257f., 265, 274, 287, 297, 308 Chaos 26, 36, 38, 41, 43, 46f., 77f., 126, 178f., 227f., 236, 251, 306 Christentum 240, 270f., 290, 293, 303, 310 Dekonstruktion 21f., 111, 172, 175, 183, 202, 316 Demokratisierung 216 Determinismus 39, 227 Dialektik 25, 33f., 41, 50, 109, 167, 216, 243, 261, 271, 273, 313 Dichtung 5, 12f., 47, 82, 89, 158, 160, 167, 172, 177–179, 185f., 198–203, 226, 240, 279, 285f., 315 Dualismus 29, 70f., 116, 173 Einfhlung 222, 228f., 305 Empfindung 21, 35, 41, 67, 70, 74, 76, 80, 87–89, 104, 114f., 118, 132–134, 138–140, 142, 145, 149f., 152–159, 161, 163, 173f., 176, 178f., 184, 186, 190f., 196, 198, 200, 205, 211, 228, 234, 249, 252, 270, 275, 283 Entidealisierung 1, 22, 60, 219 Entmenschung 36, 40–43, 46f., 59, 91, 99, 102
342
Begriffs- und Sachregister
Entspezialisierung 214 Entwicklung 13f., 21, 30, 58, 71f., 74f., 80, 86f., 106, 112, 119, 123, 126, 131, 133, 144, 146f., 150, 154, 156–158, 160, 170f., 186, 188f., 196, 203, 205, 210, 214, 216, 222, 239, 247, 249f., 253, 259f., 262f., 272f., 281, 288, 290f., 300, 304, 311 Erinnern 24, 43, 68, 123, 189, 194, 196, 198, 204, 221–223, 230, 235, 314 Erzhlung 16, 18f., 82, 105, 138f., 219, 221, 224f., 227–229, 246, 268, 274 Ethik 28, 43, 51, 65, 69 Eudmonismus 256 Europa 216f., 219, 223, 236, 240, 261f., 265, 268, 272, 285, 295f., 298–301, 303–306, 308–310 – guter Europer 288, 304, 310, 312, 315, 317 Evolution 61, 110, 122f., 129f., 262 ewige Wiederkehr 31, 95, 127, 142, 264, 271, 318 Fortschritt 138, 207, 209, 211, 220, 228, 243, 246–248, 250f., 253–264, 266, 268, 272, 279, 282f., 291f., 313, 335 – Fortschrittsideologie 221 Funktion 18, 20, 22, 51, 57, 72–75, 77–85, 88, 91f., 94f., 101, 105, 111, 116, 119, 122–124, 126, 129f., 139f., 144, 146, 151, 168, 172, 190f., 196f., 221, 232, 239, 242f., 271, 277, 284, 288, 290 Gedchtnis 134, 166, 184, 189, 192, 194, 200, 221, 223, 231, 280 Gefhl 20, 48f., 64–67, 69, 80, 90, 92, 104, 125, 129, 137–141, 145, 149, 153, 157, 160–163, 167f., 175f., 184, 193f., 226, 228f., 239, 248–251, 257, 267, 272f., 279, 284, 289f., 297, 299 – Mitgefhl 69–72 – moralisches Gefhl 65, 66 Gehçr 5, 48, 69, 76, 123, 147, 149, 157, 163, 168, 176f., 179, 184, 191, 195, 208, 243, 281, 292, 299
Geist 2–6, 8, 11, 19–21, 25f., 29f., 48–51, 53, 55f., 64, 66–68, 70f., 74, 80, 87–90, 93–97, 100f., 103f., 112–117, 120–123, 125f., 128, 134, 140f., 146, 152, 157, 168, 172, 178f., 189, 191, 196, 222, 236f., 249, 255, 264, 268–271, 273f., 278f., 281–283, 292, 295, 298, 300–306, 309, 311 – Freigeist 255, 265, 268, 272, 282, 299f., 302f., 311 Gemeinschaft 23, 71, 141, 145–148, 166, 202, 215, 239, 251, 277, 287, 302, 315 Genealogie 3, 10, 17, 24, 59, 72, 92, 96, 101f., 104–111, 128, 171f., 181, 208, 217, 243, 313, 316f. Genie 23, 60, 82, 225f., 266, 273–287, 289, 299f. – Geniekult 274, 277, 281, 283f., 287 Geschichte 1f., 5f., 8f., 11–13, 15, 17, 20–24, 28, 30f., 33f., 46, 58f., 63, 65f., 74, 78, 82f., 85–87, 89, 91, 94, 100, 102, 104f., 108–110, 112, 119, 128, 135f., 138, 145, 151, 155, 157, 159, 171, 183f., 189, 194, 205–208, 212, 219f., 223–231, 235–240, 242f., 245–247, 249, 251f., 254–256, 260f., 267–269, 274, 277–282, 285, 289f., 295, 299f., 304, 307f., 310, 314–317 – Geschichtsphilosophie 1f., 9, 18, 23f., 30, 53, 82, 86f., 108, 139, 151, 154, 207, 219–221, 223, 225–227, 229, 236–243, 245, 247f., 256, 262f., 269, 288, 308, 314 – Geschichtsschreibung 9, 22, 91, 219, 221, 223, 226, 229f., 236–238, 241f., 256, 314 Geschmack 49, 58, 86, 144, 158, 220, 237, 265–268, 270, 275–277, 285, 287, 300, 307f. Gesetzgeber 38, 202, 264 Gesundheit 23, 57, 99, 105, 107, 197, 234f., 249, 253, 292, 294, 302, 305, 310 Glauben 3, 6, 15, 31, 34–37, 43, 47, 54, 56, 58, 62–64, 68, 88, 90, 97, 103, 109, 111, 129f., 146, 148, 181, 183,
Begriffs- und Sachregister
193f., 197, 229, 245, 251, 255, 259, 262–264, 271f., 297, 307, 309–311 Gleichgewicht 51, 128, 198, 228, 233, 238, 249, 251–253, 258–261, 274, 285, 290f., 294 Glck 4, 40, 59, 71, 122, 130, 138, 197, 201, 218, 231, 243, 246, 248–250, 252, 254, 256–258, 263, 267, 271f., 280, 283, 294f., 314 Gott 2, 19, 26–30, 35, 38, 41–48, 55, 61, 65, 67, 75, 82–85, 88, 103, 112, 119–121, 124, 152, 159, 166, 179, 193f., 206f., 217f., 232, 238, 243, 245, 250, 255, 267, 290, 293f., 297, 300, 303f., 315 Grammatik 5, 7f., 14–16, 43, 82, 96, 124, 130, 146, 196 Grausamkeit 49f., 61f., 305 Herkunft 32, 104, 108f., 171, 233, 243, 262, 283 Heuristik 1, 5, 17, 20, 22, 26, 31, 33f., 54, 56, 77, 79–83, 85f., 89f., 95–97, 100f., 111, 114, 121, 124, 126, 131, 172, 175, 204, 211–213, 218, 232, 256 Historie 5, 9, 12f., 24, 91, 102, 104, 106, 219–221, 223–231, 234–240, 242–244, 268, 273, 281, 288, 290, 304, 313f., 316 – antiquarische Historie 92, 241 – historischer Sinn 13, 288, 306 – Kritische Historie 242 – monumentale Historie 237f. – berhistorisch 206, 212f., 234–237, 242f., 248, 250, 316 – unhistorisch 4, 12, 223, 231, 234f., 238, 240–242, 256, 258, 290 Hochmut 111, 128 Horizont 1f., 5, 11, 14, 28f., 49, 51, 53, 58, 79, 92, 122, 145f., 176, 204, 223, 230–235, 240, 243, 246, 266, 270, 280, 302, 316 Humanisierung (s. Vermenschlichung) 34, 227, 288, 290–292, 297 Humanismus 12, 34, 259, 293, 295, 311 Humanitt 2, 4f., 10, 12, 23, 30, 61f., 65, 70, 72, 78, 85, 138, 206, 221, 226f., 237f., 245, 250–252, 254,
343
256, 264f., 270, 272, 287–295, 297–299, 306, 310f., 313–315, 317 Ideal 23, 30, 33, 58, 63, 68, 81, 96, 102, 106, 110, 137f., 140, 153, 168f., 180, 207, 214f., 218, 221, 225f., 238, 241, 244f., 250, 252, 257, 260, 265–268, 271, 273, 276, 282, 285, 287–289, 292, 298, 301, 305f., 311–314, 316 Individuum 6, 23, 48, 65, 72, 84, 92, 94f., 117, 127, 132, 134f., 138, 141, 143, 145, 151f., 189, 197, 203, 212–214, 216f., 228, 233, 236, 252, 261, 263f., 279, 281–283, 287, 291f., 294 Instinkt 2, 6, 8, 50, 58, 61, 64, 66, 71, 80, 94f., 99, 113–116, 121, 124f., 131f., 141–144, 173, 175, 203, 211, 214, 217, 262, 275, 286, 305–307, 311 Intellekt 28, 60, 100, 113, 122–130, 142, 144, 147f., 179, 200f., 216 Ironie 64, 112, 236, 268, 270, 272 Klima 76f., 145, 257 Klugheit 99, 122, 201, 217, 226, 267 Kommunikation 69, 79, 105, 117, 125, 131–135, 138–141, 143, 145f., 148f., 153, 155, 157, 160–162, 165–167, 203, 292, 301f. Komplexitt 33, 35, 38, 51, 55, 85, 144, 177, 216, 223 Kçrper 28f., 71, 75, 77, 87, 115, 123, 125, 130, 139, 142, 150, 157, 178f., 186, 224, 253, 297 Kraft 3, 5, 23, 25, 28f., 44f., 48–50, 52, 56, 77–79, 84, 87f., 92, 94f., 105, 108, 114–120, 126f., 138, 143, 147, 155, 162, 164, 166, 188, 191, 203, 214, 217, 223, 228, 230, 233, 238, 244, 249–251, 257–260, 267, 276, 283, 285f., 293, 302f., 307, 316 – plastische Kraft 233f. Kultur 3f., 6f., 13, 16, 18, 20–24, 26, 30, 32–35, 46f., 57, 59, 61, 73–78, 82, 86, 89, 94, 101f., 107, 109, 111f., 114, 124, 137f., 151f., 158, 168, 171, 175, 180f., 194, 201–204, 211f., 217f., 220, 223, 226, 237,
344
Begriffs- und Sachregister
239f., 243, 246f., 250f., 253–255, 257f., 260–262, 265–268, 270, 274f., 277, 279, 281, 285, 287–289, 294–296, 298f., 302, 306–311, 313, 316 – hçhere Kultur 57, 311 – Kulturkritik 11–13, 194, 243, 253, 256, 269, 301, 308, 335 Kulturwesen 5, 102, 119, 203, 206, 210f., 290 Kunst 5, 7–9, 15, 17–19, 31, 51, 55, 57, 64, 82, 89, 105, 107f., 110, 128, 140, 147, 155–158, 161–165, 167f., 176, 178, 202, 220, 224f., 234, 254, 276–279, 281f., 284, 292, 296, 305, 316 Leben 18, 40, 44, 51, 61–63, 90–95, 100, 123–125, 127–130, 197, 201f., 229–231, 234–236, 240–244, 270–272, 280, 282, 285, 302f. – Lebensgefhl 197, 249, 257, 261 Leib 11, 19, 25, 31–33, 49, 56, 70f., 78, 93, 96–101, 113, 122f., 125, 163, 167, 213, 232, 247, 269, 306 – Leitfaden des Leibes 30, 55f., 90, 96–101, 103 Mngelwesen 203, 210–213, 218 Mechanismus 6, 38, 41, 74, 114, 278 Mensch 1–3, 5–7, 11, 13f., 19–28, 30–37, 39–78, 81, 85, 87–92, 94–100, 102–105, 109, 111–129, 131–150, 152f., 155–159, 161, 166f., 172–176, 178–181, 183, 185, 189f., 192f., 195, 197–218, 222f., 225–245, 247–257, 259f., 262–265, 267, 269f., 272, 274, 277–285, 288–294, 296–298, 301–305, 307–311, 313f., 317 – Menschengeschichte 24, 33, 101, 103, 112, 184, 239, 246f., 256 – Menschennatur 23, 129, 203, 206f., 209, 278 – bermensch 12, 43f., 62, 213, 217f., 287, 293, 298, 305, 317 Merkmal 5, 7, 18, 25, 117f., 122, 132, 134f., 140, 152, 170, 173, 176–178, 184, 188–190, 192f., 204f., 257, 299
Metapher 19f., 32, 35, 42, 46, 48f., 56f., 81, 83, 100, 112, 124, 130, 135, 150f., 157, 166f., 170–176, 178–185, 191f., 194f., 197–203, 212, 224, 226, 232, 253, 286, 302, 305 – Metapher der Metapher 19f. Metaphysik 2, 6–8, 10, 12–14, 22, 25f., 29, 31–33, 35, 38–43, 45–47, 50–58, 66–68, 95–97, 102, 109f., 112, 116, 121–123, 129, 131, 140, 146, 148, 151, 161–165, 167f., 170, 173, 180, 183, 187f., 192, 208, 213, 267, 270, 279f., 314 Mitgefhl 69f., 72, 293 Mitleid 136, 138, 283, 293 Monade 29f., 114 Monismus 27–30, 189 Moral 3, 9, 33, 37f., 41–43, 59–65, 67, 70, 92, 100, 102–107, 109, 112, 128, 144–146, 201, 208, 210, 212f., 215–218, 235, 251f., 262, 272, 276f., 281f., 286, 291, 302–304, 311, 317 – moralisches Gefhl s. oben Gefhl – Moralkritik 18, 22, 42, 61, 65, 104, 145f., 215, 218 Musik 8, 137, 148f., 153–167, 279, 300 – Musik des Lebens 31, 159, 167, 169 Mythos 16f., 19f., 24, 82, 91, 100, 152, 168, 170, 186, 271 Nation 86, 158, 228, 233, 239, 241, 245f., 250, 252f., 266, 275–277, 287f., 294–298, 301, 303 – Nationalismus 11, 23, 254, 288, 294–296, 298f., 301, 309, 312–314 Natur 2, 5–7, 9, 11, 13f., 16–18, 20–22, 24, 26–76, 79, 81–87, 89f., 92–94, 99, 101–104, 110, 112–117, 120–124, 128f., 134, 136–138, 140f., 143, 147–156, 159f., 166–169, 173f., 176–183, 186f., 189–191, 193–195, 202–216, 219f., 222, 224, 227f., 230–233, 238, 241f., 248–252, 255, 258–260, 263, 269, 273–275, 277f., 280f., 283, 285, 289f., 292, 296, 303f., 306, 309, 313–316
Begriffs- und Sachregister
– Naturalismus 11, 20, 22, 25, 34, 41, 43f., 58, 60f., 96, 102, 124, 131, 211, 314 – natura naturans 26 – Naturgeschichte 24, 26, 30, 33, 35, 54, 72, 85, 101–105, 107, 109, 112, 137, 184, 278, 311, 313, 316 – Naturgesetz 38, 42, 119, 133, 135, 138, 143, 152, 184, 195, 205, 227, 246, 251f., 291 – natrliche Natur 41–44, 48f., 52f., 60, 63, 102 – Naturwesen 1, 30, 33, 290 – Naturwissenschaft 17, 20, 39, 52–58, 73, 79, 89, 115, 169, 172, 208f., 213, 233, 251, 268 – Naturzustand 20, 30, 94, 131f., 134, 137f., 142–144, 217, 247, 270 – Rckkehr zur Natur 30, 42, 64, 161f., 263, 270 – Vernatrlichung 2, 5, 20–24, 26f., 30, 32–37, 41–43, 45–50, 52, 56–65, 69f., 72, 80, 89, 97, 99, 101f., 112, 114, 124, 126, 131f., 136, 139–141, 145, 150, 152, 158, 170–172, 204, 213, 223, 242, 260, 304, 313 – Widernatur 60f. Nivellierung 14, 141, 145–148, 191, 216, 227, 287 Notwendigkeit 4, 7, 18, 21, 33, 39, 41–43, 46, 53, 87f., 90f., 135, 140, 144, 146, 187, 218, 257, 259, 261, 308, 310 Ode 153–156, 159f. Ontologie 52, 55f., 126 Organismus 24, 26, 36, 38, 41, 47, 74f., 79f., 83f., 86, 93–96, 98, 114, 126, 206, 233, 249, 253, 260f., 285 Perfektibilitt 136, 180, 255, 291, 293 Perspektive, perspektivisch 63, 65, 70, 76, 79, 88f., 91f., 98, 126, 128, 130, 148, 192f., 214, 216, 223–225, 260 – Perspektivismus 50f., 63, 70, 72, 88, 91, 106, 171 Physiologie 32, 49, 51, 55, 89, 96, 106, 109, 124, 146, 168f. Principium individuationis 28
345
Prinzipien-Sparsamkeit 44, 211 Psychologie 89, 117, 316 Reduktionismus 5, 21f., 31, 39, 42, 68, 72f., 75–77, 80, 89, 131 Reflexion 1, 5–7, 9f., 12, 22f., 25, 44, 53, 81f., 85, 90, 108, 113f., 117f., 121, 136, 141, 160, 168, 170, 172, 178, 185, 189, 202f., 221f., 231f., 249, 258, 274f., 304, 311 Reiz 64, 75f., 78, 84, 88f., 110, 117, 149, 173f., 180f., 185, 235, 257, 286 Religion 5, 9, 20, 23, 34f., 44f., 47, 53f., 57, 65, 68, 70, 72, 75, 82f., 88, 102–104, 111, 163, 166, 182, 193f., 210f., 217f., 228, 234, 239, 245, 250f., 257, 259, 268, 274, 282, 289–291, 294, 299f., 310f., 316 Reprsentationstheorie 7f. res cogitans 28f. Ressentiment 3, 107, 238 Rhetorik 7–9, 14f., 17, 19f., 22, 44, 118, 124, 127, 143, 151, 165, 170, 172, 181, 184, 194, 200, 220, 226, 231, 233, 243, 260f., 274, 285, 293, 313, 316 Rhythmus 157, 161, 166, 185, 239 Sache 4, 25, 42, 58f., 67, 70, 83, 158, 169, 172, 180, 187f., 191–193, 198, 233 Seele 25, 28, 31f., 45, 47, 66, 70f., 76, 78, 87–89, 97f., 113–120, 125–127, 132, 135f., 139f., 147, 149–151, 166f., 177f., 184, 186, 189–191, 193, 196, 200, 217f., 222, 228, 232, 235, 249, 269, 272, 276, 279, 286, 298, 304, 306 Selbst 52, 116, 144, 147 – Selbsterhaltung 131, 138, 142, 144f., 286 – Selbstreflexion 25, 114, 117, 135, 146, 154, 174, 196, 205, 280 – Selbstregulierung 50, 125, 216 – Selbstberwindung 4, 218, 255, 261, 263, 287, 304–306, 317 Selektion 51, 98, 146, 197, 219, 231, 238 sensorium commune 7, 126, 174–176, 191
346
Begriffs- und Sachregister
Sensualismus 68, 90, 96 Sinngebung 44, 183, 315 Skepsis 5, 37f., 46f., 70, 116, 118f., 137, 141, 163, 173, 192, 195, 197f., 201f., 210, 231, 268, 271, 300, 306, 313f. Sprache 1, 5–9, 11, 13–27, 30, 32–35, 37, 45–48, 51, 53f., 56f., 66, 68f., 71, 74–79, 82–84, 86f., 89, 96, 101f., 105, 107–122, 124–126, 128f., 131–142, 144–196, 198–200, 202–206, 210, 212, 216, 218f., 223f., 226, 228, 232, 239, 241, 246f., 251, 253, 265–267, 271, 274–277, 279, 287, 293, 295f., 300, 313, 315 – Gebrdensprache 142 – Natursprache 18, 69, 117, 134, 143, 150–153, 158, 161f., 186, 205, 274 – Sprache des Ursprungs 19, 139, 150–153, 167, 184, 205, 226 – Sprache und Mythos 18f. – Sprachkritik 2, 8f., 11, 13–16, 20, 22, 34, 53, 68, 112, 122, 130, 141, 161, 163, 170f., 173, 191f., 197f., 203, 207, 210, 218, 226, 266 – Sprachursprung s. Ursprung der Sprache Subjekt 5, 25f., 40, 69, 73, 78, 91, 111, 130, 141, 147, 172, 184, 194–197, 212, 216, 219, 221, 230, 233, 239, 243, 263, 274, 281, 314 Substanz 28–31, 41, 69, 71f., 141, 151f., 212, 241 Thaumazein 97f. Theologie 2, 29, 35, 45, 53f., 72, 85, 89, 120, 124, 170, 211, 214, 218, 248, 262, 313 Tier 22, 25, 37, 54, 73–76, 92, 103, 113–122, 124, 128, 131, 133, 136, 138, 140, 142, 148, 150, 152, 155–157, 198, 203–205, 207, 210f., 214–217, 223, 230f., 252, 256, 275 – Krankes Tier 218 – Noch nicht festgestelltes Tier 210f., 214, 218 Ton 134, 142, 150, 152, 154, 156, 160–162, 184, 245, 248, 254
Tradition 82, 212, 239, 243, 248, 253, 274, 291, 303–305, 310 Transzendentalismus 14–16, 25, 130 Trieb 3, 6, 20, 24, 33, 37, 47–50, 61, 63, 69, 74–76, 87, 92, 94f., 98, 124–127, 131, 140, 142f., 172–175, 203, 209f., 212, 216, 244, 247, 251, 255, 258, 276, 279f., 307, 314 – Trieb zur Metapher 124, 172, 174 – Trieb zur Nachahmung 174 – Trieb zur Vereinfachung 48, 50, 59 Typologie 129, 204, 207–210, 314 Typus 43, 60, 130, 190, 207–209, 218, 260, 262f., 300, 302, 317 bertragung 19f., 54, 91, 154, 174, 176, 180–182, 190 Umwelt 24, 50f., 73f., 76, 99, 109, 114, 124, 211, 241 Unsterblichkeit der Seele 2, 70, 72, 84 Unzeitgemßheit 10, 101 Ur-Eine 8, 162, 164, 179 Ursprung 1, 13–22, 24, 26f., 72, 75f., 82f., 85f., 91, 100, 102, 104, 120f., 123f., 131–137, 140–142, 144, 146, 150–153, 155–158, 160f., 163–166, 170f., 174f., 177, 180, 184, 190–192, 194, 199, 203, 206, 216, 236, 239–241, 246, 271, 273f., 276, 290, 310, 313, 315 – der Sprache 5f., 7, 9, 13f., 16, 18–21, 27, 34, 45f., 66, 68, 82f., 107, 109–113, 115, 117, 119f., 121, 124f., 128, 133–135, 137f., 140, 150, 152, 157, 160, 175, 202, 212, 218, 228, 271 Verantwortung 6, 213f., 236, 310, 312 Vergessen 17, 108–110, 148, 156, 167, 178, 184, 189, 191, 194–198, 202, 219, 221–223, 233–236, 239, 242, 254, 256, 314 Vermenschlichung 21, 36–40, 44, 50, 59, 87, 182, 261, 264 Vernunft 2, 7, 13f., 16, 25f., 28, 33, 35–37, 42f., 54, 59, 63–66, 81, 99, 107, 113–116, 121f., 129, 133, 135, 138, 140, 142, 147, 152–154, 158, 173, 176f., 180, 188, 191, 193, 196, 204, 206, 209, 214, 221, 238, 243,
Begriffs- und Sachregister
247–252, 263f., 266, 271f., 275f., 281, 285, 289f., 296, 299, 304 Verstand 9, 11, 30, 38, 40, 43, 54f., 66f., 69f., 72, 75, 93, 100, 103, 110, 115f., 122, 129, 133, 142f., 147f., 151–153, 156f., 170f., 179, 183f., 186, 188, 190–192, 200f., 216, 221, 224, 227, 229, 241, 249, 251, 254, 263, 271, 276, 278, 280, 289, 292, 297, 316f. Volk 7f., 13, 48, 66f., 160, 176, 186, 198, 205f., 208, 218, 227, 231, 233f., 238f., 241, 250, 259f., 269, 276, 278, 280, 282f., 287, 291, 295–297, 302f., 305f., 308–311 Vorsehung 54, 119, 220, 243, 296 Vorstellung 40, 78, 130, 161–163, 178–180, 190f. Vorurteil 19, 67, 227, 232, 243, 250f., 276, 296f. Wahrheit 17, 20, 41, 46f., 49, 51, 58, 60, 63, 68, 71, 81, 87f., 102, 105, 127, 129, 140, 174, 177f., 181–183, 193, 195, 197, 201, 216, 221, 225,
347
235, 244, 250f., 259, 264, 269, 271f., 280, 310, 313f. Wahrnehmung 8, 50, 54, 174, 178f., 191, 212, 256, 298 Weltprozess 257 Widerspiegelung 27, 90, 124, 129, 142, 171, 174, 308 Wille 31, 33, 48, 58, 60, 64f., 72, 90, 96f., 99, 115, 119, 125, 162–164, 172f., 190, 196, 220, 233, 244, 261, 275, 280, 287, 295, 299f., 307, 309 – Wille zur Macht 31, 39, 41f., 63, 79, 91f., 95, 127f., 175, 257, 318 Witztçlpel 16, 46 Wort 4, 6f., 16f., 19–21, 25, 38, 43, 45f., 48f., 54, 58, 62, 84, 93, 115–118, 129, 132, 136, 145f., 154f., 157, 159–162, 165, 167, 173, 176f., 179–182, 185–189, 191–194, 196, 199, 202, 224, 246, 285, 287, 292f. Zivilisation 9, 65, 111, 142, 161, 247, 256, 269f., 279 Zucht 49, 90, 212f., 284