C.H.GUENTER
Verzeih, daß Ich nicht weine
VERLAGSUNION ERICH PABEL - ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Havanna 5. Se...
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C.H.GUENTER
Verzeih, daß Ich nicht weine
VERLAGSUNION ERICH PABEL - ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Havanna 5. September, vormittags. Die Hitze in dem alten Bus war nicht auszuhalten. Und das schon morgens um neun Uhr. Es lag daran, daß seit einem Monat in Kuba kein Regen gefallen war. Nicht die kleinste Wolke schob sich als Schattenspender vor die Sonne. Sie haben, dachte der Mann im weißen Leinenanzug, bei der Revolution die Hälfte der Busse kaputtgeschossen, und in den dreißig Jahren, die seitdem vergangen sind, haben sie den Rest verkommen lassen. Sie haben das Land so heruntergewirtschaftet, daß sie nicht einen einzigen neuen Bus kaufen können, nicht einmal die billigen aus Rußland. Sie haben keine Ersatzteile und begehen technischen Kannibalismus, indem sie zwei Busse ausschlachten, um einen am Laufen zu halten. Aber ohne die verdammten Scheiben in den Fenstern könnte man es wenigstens aushallen. „Haben Sie was gesagt?“ fragte der Schaffner. „Warum öffnen Sie kein Fenster?“ „Geht nicht. Alles verkittet, Senor.“ „Schlag sie doch ein.“ „Das ist Beschädigung von Staatseigentum und kostet Gefängnis. Wir braten hier ja auch, Genosse Rosolito.“ 3
Sie kannten sich. Ramirez Rosolito fuhr jeden Tag, mit Ausnahme von Sonntagen und zu den Zeiten, wo er beruflich im Ausland war, mit dem Bus von der Plaza Major zum Außenministerium. „Nicht zu fassen“, schimpfte er. „Nicht einen Topf Farbe, aber Glas in Hülle und Fülle.“ „Was es gibt, muß verarbeitet werden, Seno r Rosolito, und sei es für solchen Blödsinn wi e Busfenster im Sommer.“ „Kam mal wieder ein Schiff mit Glas an, he?“ „Statt mit Benzin“, spottete der Busschaffner, ein ausgehungertes Kerlchen, dem die Knochen aus der Schulter ragten. „Kürzlich schickten sie uns zwei Dampfer voll sibirischer Kaninfelljacken anstelle von Autoreifen. Damit wir im Winter nicht frieren. Wo man hier im Dezember noch baden kann. Aber unsere Freunde in Moskau, die wissen besser, was wir brauchen. Die lassen uns nicht im Stich.“ „Und dich sperrt man noch ein wegen deines losen Mundwerks“, sagte der Beamte Rosolito. „Dann könnte ich ebensogut die Scheibe einschlagen.“ Grinsend rief der Busschaffner die nächste Station aus: „Ministerio. Estacion Norte und Parque Antonio umsteigen.“ Der Bus bremste schlingernd. Der Mann im weißen Anzug sprang ab. * Wegen Stromsperre war der Lift außer Betrieb. Auf der Treppe traf Ramirez Rosolito einen anderen Mann in ähnlich zerknittertem Leinenanzug. „Weißt du schon das Neueste?“ fragte der kleinere. „Ich schwitze wie eine Sau“, antwortete Rosolito. 4
„Du mußt nach Moskau. Wichtige Dokumente. Transport nur per Kurier.“ Rosolito wischte sich mit dem Taschentuch erst die Stirn, anschließend die Augen, dann den Hals trocken. „Wann?“ „Heute mittag mit der Direktmaschine.“ „Kurierdienst nach Übersee ist laut Vorschrift einen Tag vorher anzukündigen.“ Der andere senkte die Stimme. „Man merkt, daß du eine Woche nicht im Büro warst. Alle Vorschriften sind außer Kraft gesetzt.“ Rosolito spürte, wie sich in seinem Magen etwas zusammenzog. – Sollte man das speziell seinetwegen beschlossen haben? – Hatten sie sich auf ihn eingeschossen? – Hatten sie etwas bemerkt? – Nein. Er hielt es für ausgeschlossen. „Welche Vorschriften?“ „Kurierflüge nach Moskau nur noch mit Direktmaschinen. Ohne Zwischenlandung. Kuriereinteilung erfolgt erst drei Stunden vor Abflug. Verschluß der Dokumente durch den Ressortchef in die gepanzerten Kurierkoffer. Begleitung, wenn möglich, durch Genossen aus der Abteilung Abwehr.“ „Und warum das alles?“ Der andere flüsterte jetzt. „Wegen undichter Stellen. Spionage. Angeblich gelangten gewisse Dokumente schneller nach Washington als nach Moskau. Aber das Schönste kommt noch. Es ist absolut erniedrigend.“ „Mich kann nichts mehr erschüttern“, stöhnte Rosolito. „Es wird dich beschämen, als Mann zutiefst erniedrigen“, bemerkte der Kollege. „Jeder Kurier hat sich vorher untersuchen zu lassen, sowohl Kleidung wie Körper, 5
total nackt vor der Vertrauensärztin.“ Rosolito errötete unter seiner tiefen Bräune. Doch er überspielte seine Bestürzung mit einem Witz. „Mist, verdammter“, sagte er. „Und ich habe keine frische Unterhose an.“ * Nach der peinlichen Untersuchung, bei der selbst Uhr und Ringe abzulegen waren, alle Zähne auf Hohlräume abgeklopft und sogar eine Darmspiegelung vorgenommen wurde, durfte Ramirez Rosolito sich wieder anziehen. Wenig später empfing ihn, unfreundlich und herablassend wie immer, der Ressortchef. „Hätte große Lust, das ganze Kurierteam auszuwechseln und euch zur Zuckerrohrernte zu schicken.“ Jetzt ist schon alles egal, dachte der Kurier und pumpte sich die Brust voll Luft. „Und warum tun Sie es nicht, Genosse? Weil Sie wissen, daß wir zuverlässige Kommunisten sind, treue Diener des Staates, daß wir alle diese Verräterschweine und Spione aufs tiefste verabscheuen und daß wir nichts mit ihnen zu tun haben. Außerdem braucht man uns; Kurierdienst ist Spezialistenarbeit. Leute wie wir, mit Sprachkenntnissen, Umgangsformen, trainierte Schützen und Karatekämpfer, die schwimmen nicht auf der Wassersuppe daher. Obwohl in unserer geliebten Heimat Kuba wahrlich kein Mangel an Wassersuppe herrscht und es bald nur noch Wassersuppe geben wird.“ „Halten Sie Ihr lasterhaftes Maul, Rosolito“, rief der Ressortchef, ein feister Parteibonze, dessen grüne Zigarre im Ascher glomm. „Hier ist Ihr Koffer. Bestätigen 6
Sie den Empfang.“ Die Formalitäten wurden erledigt. Der Kurier befestigte den stahlgefütterten Koffer mit Handschelle und Ketten am Gelenk. „Worauf warten Sie?“ fragte der Ressortchef noch. „Auf den Wagen.“ „Der kommt erst in zwei Stunden. Sie nehmen die Mittagsmaschine der Aeroflot.“ „Und in der Zwischenzeit? Soll ich so in der Kantine rumsitzen?“ Der Ressortchef drückte den Klingelknopf. Ein Uniformierter der Wache erschien. „Bringen Sie den Genossen Kurier in den Warteraum“, sagte der Ressortchef. „Warteraum?“ fragte Rosolito erstaunt. „Sie würden es natürlich eine Gefängniszelle nennen. Ab sofort kein Kontakt mehr nach Übernahme der Akten. Ebenfalls eine neue Vorschrift. Buenos dias.“ „Feine Aussichten“, kommentierte Rosolito. „Wenn das so weitergeht, mü ssen wir vorher noch aufs Töpfchen.“ * Er wußte, daß nur Frechheit einen Mann unverdächtig machte. Es ging auf Mittag. Der Dienstwagen sollte ihn längst zum Flugplatz gebracht haben. Aber der Kurier saß noch immer im Warteraum, wie sie die Kerkerzelle nannten. Draußen hörte er Schritte. Die eiserne Tür wurde aufgesperrt. Mit allem hatte Rosolito gerechnet, aber nicht mit der Ärztin. Die Hände in die Taschen des weißen Mantels ge7
bohrt, das Haar streng nach hinten gekämmt, musterte sie ihn mit kühlem Blick unter der Brille hervor. „Mit der Urinprobe was nicht in Ordnung, Doktorchen?“ „Hatten Sie mal den Tripper, Rosolito?“ „Viermal“, prahlte der Kurier. „Man kommt viel herum.“ Sie war unbedingt häßlich. Brauen und Kinn wi e ein Kerl, Nase sogar wie ein Boxer. Sie war so häßlich, daß er schon wieder den Wunsch verspürte, sie gelegentlich zu vernaschen. Aber was, zum Teufel, wollte das Weib von ihm? „Der Abflug verzögert sich. Irgend etwas Technisches an der Iljuschin“, erklärte sie. „Von mir aus.“ Rosolito steckte sich eine Zigarette an. Wenigstens die gab es noch in Kuba, wenn auch stinkende. Die besseren Tabake wickelten sie zu den berühmten feinen Nikotintorpedos. Je mehr er nachdachte, desto weniger verstand er diesen Besuch. Warum kam die Vertrauensärztin zu ihm in den Warteraum? Wenige Sekunden später wußte er es. Sie nahm die rechte Hand aus der Kitteltasche und hatte seine Armbanduhr darin. Die Goldimitation blitzte im Sonnenstrahl. ,,Das haben Sie bei mir vergessen.“ Sie schaute ihm dabei in die Augen. – Im selben Moment wußte er alles. Die Ärztin gehörte dazu. Sie mußte zu ihnen gehören. Also war die Uhr jetzt scharf geladen. „Gracias, Genossin Doktor“, sagte er höflich. „Ein Kurier braucht wohl einen Zeitmesser, oder?« „Wie die tägliche Ration Rum.“ Sie versuchte zu lächeln. Das machte sie auch nicht 8
hübscher. „Was Rum betrifft“, bemerkte sie, „würde ich an Ihrer Stelle den Konsum einschränken. Ihre Leberwerte sind nicht die besten, und Sie sollen uns doch erhalten bleiben.“ Sie drehte sich um und ging. „Sie auch, Doktor“, rief der Kurier hinter ihr her. Wenig später stand der Wagen bereit. Sie eskortierten ihn zur Fahrbereitschaft. 2. Washington 5. September, mittags. „Der Funkspruch nach Kuba ist raus“, wurde Lacy Hemmer telefonisch gemeldet. Der Boß der Kuba-Abteilung des CIA legte auf und wandte sich an seine Mitarbeiter. „Hoffentlich reicht die Zeit.“ „Unser Mann am Airport Havanna ist Chefmechaniker und genießt das Vertrauen der Russen.“ Lacy Hemmer, ein Mann der Kontraste – trotz niedriger Stirn nicht unintelligent, trotz we icher Züge voll Tatkraft, trotz der roten Haare wuchsen ihm schwarze Brauen – wandte sich an den zweiten Mitarbeiter: „Um was für ein Flugzeug geht es überhaupt?“ „Für echte Langstrecken – und Havanna-Moskau ist mit elftausend Kilometern als solche zu bezeichnen – können sie nur zwei Typen einsetzen. Die ältere Iljuschin-62 oder die moderne Iljuschin-86. Von beiden Typen gibt es eine gestreckte Version für etwa zweihundert Passagiere und Zusatztanks. Die Distanz Havanna-Moskau schaffen sie knapp. Unterwegs darf 9
allerdings nicht viel passieren.“ „Zum Beispiel?“ wollte der Abteilungsleiter genau wissen. „Zum Beispiel schlechtes Wetter, starke Gegenwinde, technische Pannen, Ausfall eines Triebwerks et cetera. In so einem Fall kommen sie treibstoffmäßig rasch unter das Minimum und müssen zwischenlanden.“ „Wo landet ein sowjetisches Düsenverkehrsflugzeug, falls nötig, auf dem Weg nach Moskau zum Zwischentanken?“ „In Ost-Berlin oder in Warschau“, antwortete der Befragte, ohne zu überlegen. Lacy Hemmer daraufhin: „Das liegt alles hinter dem Eisernen Vorhang und nützt uns so wenig wie Mäusedreck in Corn-flakes. – Nächste Frage: Was könnte unser Mann in Havanna, der Chefmechaniker, tun, um die Aeroflot-Maschine auf einen Flugplatz im Westen herunterzuzwingen?“ Die beiden Agenten blickten sich an. „Ihm wird schon etwas einfallen, Sir. Er ist ein hochqualifizierter Bursche.“ „Und wird entsprechend bezahlt“, fügte Hemmer hinzu, stand auf und trat an die Weltkarte. Mit dem Finger zog er eine in Richtung Nordpol ausgebuchtete Linie von Kuba in die Hauptstadt Rußlands. „London, Paris, Frankfurt kämen in Frage.“ „Auch Lissabon, Madrid und Rom.“ „Dort verfügen wir nicht über die nötige Infrastruktur. Will sagen, dorthin kann ich nicht auf Knopfdruck die erforderlichen Leute delegieren. London wäre mir am liebsten. Paris geht noch. Frankfurt zur Not.“ Die Experten rechneten hin und her. „Mit Sicherheit läßt sich das nicht vorausbestimmen, Sir. Natürlich liegt London dicht am Kurs.“ 10
„Dann soll unser Herr Top-Mechaniker in Havanna gefälligst etwas tun, damit die Düsenmaschine es gerade noch bis London schafft, aber nicht weiter. Unter keinen Umständen darf sie vo r Lissabon oder schon auf den Azoren heruntergehen. Dort haben wir überhaupt kein Team verfügbar, und ich bringe so schnell auch keines hin.“ Die Agenten, die den Kontakt mit Havanna hielten, hatten verstanden. Fast gleichzeitig schauten sie auf die Uhr. „Den Start hat unser Mann schon verzögert. Kleiner Schaden in der Avionik, im Kompaßsystem oder so. Er wartet. Länger als bis vierzehn Uhr wird sich der Start aber nicht verzögern lassen.“ Lacy Hemmer hatte sich wieder in seinen Drehsessel fallen lassen, dessen Rückenlehne wie ein Liegestuhl geformt war und seinen Kopf überragte. „Gentlemen“, sagte er. „Tun Sie nicht nur, was Sie können, sondern mehr, nämlich alles. Ich will nicht übertreiben, aber diesmal geht es um die Wurst. Ein Kurier an Bord dieses Flugzeugs führt etwas mit sich, das wir in die Hand bekommen müssen, egal wie, Ist er erst in Moskau, dann dürfte das Material für uns verloren sein. – Halten Sie mich auf dem laufenden. – Danke, Jim. Danke, Harry.“ * Während es Lacy Hemmer, dem Leiter der KubaAbteilung im amerikanischen Geheimdienst, schwerfiel, das Auffangnetz für den Kurier Roso-lito in London und Paris notdürftig zu knüpfen, wurde ihm von dem zuständigen Kollegen erklärt, daß dies in Frankfurt so gut wie unmöglich sei. 11
Hemmer wollte sein sorgfältig eingefädeltes Spiel aber nicht verlieren. Er wurde ausfallend. „Wenn man euch einmal braucht, dann geht es angeblich nicht.“ „In der Bundesrepublik fehlt es einfach an den nötigen Spitzenleuten“, wurde ihm erklärt. „Und der Flughafen Frankfurt ist morgens um diese Stunde überwachungsmäßig kaum in den Griff zu kriegen.“ „Nach unseren Berechnungen wäre in zehn Stunden plus sieben Stunden Zeitverschiebung mit Beginn der Operation zu rechnen.“ „Das entspricht für den Flughafen Frankfurt/ Main etwa fünf Uhr morgens deutscher Sommerzeit. Zu dieser Stunde ist wenig, eigentlich so gut wie gar nichts los. In leeren Flughäfen läßt sich eine solche Aktion nur schwer durchführen. Zweifellos sitzen an Bord der Iljuschin Sicherheitsbeamte, Russen und Kubaner.“ Lacy Hemmer versuchte, Druck zu machen. Er drohte und schob dem Deutschlandchef die Verantwortung zu, für den Fall, daß er nichts auf die Beine bringe. Der Kollege in Frankfurt kannte solche Töne. „Die Zeit ist zu kurz, Hemmer.“ „Wir erfuhren erst vor wenigen Stunden, daß es losgeht.“ „Überstürzte Maßnahmen führen meist in die Katastrophe. Ich kann nichts garantieren, nicht mal was versprechen.“ Daraufhin steckte Hemmer grollend zurück. „Na schön, aber zu entsprechenden Gegendiensten finden Sie mich natürlich jederzeit gerne bereit.“ Er hängte ein, und der andere wußte, wie es gemeint war. Hemmer hatte aber nur deshalb aufgegeben, weil ihm während des Telefonats ein Gedanke gekommen war. 12
Warum sollte er zum Grobschmied gehen, wenn es ein Fall für den Uhrmacher war. Er wählte die Nummer der Telefonzentrale. „Ein Fernblitz“, meldete er an. „Transatlantik. Deutschland West. München Pullach. Headquar-ters Bundesnachrichtendienst. Voranmeldung Robert Urban, Codenummer achtzehn.“ Die Telefonistin wiederholte. Hemmer sagte, er würde warten. * Aus gemeinsamen Kämpfen an der Geheimdienstfront in Ostasien und Australien kannte der CIA-Sektionschef Colonel Lacy Hemmer den deutschen Agenten recht gut. Männer wie sie fragten nicht lange, wie es mit der Verdauung stand. Hörte man die vertraute Stimme, nahm man an, daß der andere noch lebte. Deshalb konnte Hemmer schnell zur Sache kommen. Er weihte Urban soweit wie unbedingt nötig ein. Allerdings durfte er nicht mit Bla-bla oder heißer Luft kommen. „Hör zu, Bob“, sagte er. Jahrelang habe ich an dem Turm gebaut, jetzt setzen wir den letzten Stein oben auf die Spitze. Aber wie es aussieht, könnte der Turm einfallen. Er wankt schon.“ „Was erzählst du mir da von Türmen“, unterbrach Urban ihn. „Bin ich Architekt?“ „Ich will nur unsere verzweifelte Lage damit demonstrieren. Der Turm steht für eine äußerst wichtige Information aus Castros Safe. Nicht nur aus dem Safe, sondern aus dem innersten Safe im Tresor im Panzerschrank im Betongewö lbe seines Regierungssitzes. Endlich kriegen wir den Film, und nun ist der Kurier 13
gefährdet.“ „Der Kurier ist also der letzte Stein auf der Turmspitze.“ Der einschlägig erfahrene Robert Urban fragte nicht, was es mit dem Stein auf sich hatte. Er hätte es nie erfahren, nicht einmal andeutungsweise. Schließlich ging es um die Politik der USA mit Kuba und war für Westeuropa nicht von lebenserhaltender Bedeutung. „Wir müssen den Burschen in Sicherheit bringen, bevor ihn die anderen…“ „Natürlich ist haben besser als hätten. Er kommt also in Frankfurt an.“ „Oder in London oder in Paris. Dort besteht ein einigermaßen brauchbares Netz.“ „Das in Frankfurt sollen wir aufspannen.“ „Wir müssen mit allem rechnen. Frankfurt stellt eine dreiunddreißig-Prozent-Möglichkeit dar.“ Urban bekam den Mann beschrieben. Mittelgroß, dunkles Haar, Haut mit olivem Schimmer, Mäusegesicht, Narbe schräg zur Stirn. „Es geht um die Politik der nächsten hundert Jahre“, glaubte Hemmer hinzufügen zu müssen. „Unsere Sicherheit und Zukunft ist auch irgendwi e die eure.“ „Danke, ich weiß darüber einiges“, erwähnte Urban. „Wir zählen auf euch“, betonte Hemmer. „Du kannst“, versprach Urban. Dem deutschen Agenten war durchaus Mär, worauf er sich da einließ. Meist waren es die harmlosen Sachen, die ganz böse endeten. Einer sagte, bring mir den Apfel, und der Apfel war nicht nur vergiftet, sondern eine Bombe. „Auf was kommt es bei diesem Rosolito besonders an?“ wollte Urban noch wissen. Der Amerikaner rückte nicht damit heraus. Vielleicht 14
wußte er es auch nicht. „Wahrscheinlich hat er es auf Mikrofilm. Aber wo der Film steckt – keine Ahnung. Vielleicht ein Punkt auf der Haut, eine Kapsel im Darm, ein langer Faden in seinem Anzug, magnetisiert mit digitaler Information. Er wird ein ausgefallenes Versteck wählen, denn er kassiert eine Menge Dollar dafür. Solche Typen sind geldgierig wie Bankiers.“ „Man muß ihn also lebend kriegen.“ „Besser lebend als tot, aber besser tot als gar nicht. Auch Tote können sprechen. Oder stellte man an Napoleons mumifizierter Leiche nicht etwa fest, daß er mit Strychnin vergiftet wurde?“ „En äußerst komplizierter Job“, bemerkte Urban. „Sind wir nicht darauf trainiert? Ist unsere Arbeit nicht abhängig von jeder Änderung der politische n Gegebenheiten, dem Umschwung der Interessen und Stimmungen, gefährdet durch Mißtrauen?“ „Und der Angst vor Verrat“, ergänzte der BND-Agent Robert Urban, den sie auch Mister Dynamit nannten. 3. Havanna Airport Montag, 14.00 Uhr. Der sowjetische Flugkapitän zeichnete die Reparaturmeldung ab. Nur so wurde die Rechnung vo n Aeroflot auch bezahlt. „Alles in Ordnung, Salarez?“ fragte er. Der Chefmechaniker des kubanischen Bodenservice nickte und übergab dem Russen eine Kopie des Reparaturauftrags. „Kompaß, Blindfluginstrumente wieder okay.“ „Woran lag es?“ 15
„Wie üblich. Vergammelte Kontakte.“ „Gracias, Salarez“, sagte der Russe mit den vier goldenen Streifen am blauen Uniformärmel. Da der Mechaniker noch zögerte, fragte er: „War sonst noch was, Salarez?“ „Fürchte, Sie sind noch immer nicht startklar.“ Der Kubaner nahm den Russen am Arm und zog ihn von der Gangway weg unter die Maschine, die einen Schatten warf wie tausend Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Sowohl ihre Spannweite wi e die Länge betrugen etwa fünfzig Meter. Sie war hoch wie ein mehrstöckiges Haus. Unter dem Rumpf konnte man mit dem Auto durchfahren. Zwischen den Fahrwerkkabinen des einhundertachtzig Tonnen schweren Vogels glänzte ein dunkler Fleck auf dem Beton. Der Chefmechaniker deutete darauf. „Na und?“ fragte der Flugkapitän. Von seiner fünfzehn Jahre alten Maschine war er Schlimmeres gewöhnt. „Es tropft, Kapitän.“ „Es tropft immer irgendwo. Die Dichtungen werden hart und rissig. Dann kann es leicht mal tropfen. Hauptsache, es rinnt nicht.“ Der Kubaner riß ein weißes Blatt Papier vo n seinem Notizblock, blickte nach oben in den Fahrwerkschacht und hielt das Blatt über der Lache in die Linie, in der die Tropfen fallen mußten. Es machte Flopp… plopp… plopp. Im Abstand von etwa zehn Sekunden. „Nur Schmierstoff“, entschied der Pilot. „Bei der Sauhitze hier kein Wunder.“ Salarez hielt das Blatt schräg. „Ist aber nicht schwarz, sondern rot.“ „Aus der Hydraulik, meinen Sie?“ 16
„Ich bin sicher.“ Noch einmal tat es der Kapitän mit lässiger Handbewegung ab. „Na wenn schon. Sechs Tropfen in der Minute gibt in der Stunde nicht mal einen Liter. Wissen Sie, wieviel der Vorratsbehälter faßt? Beinah einen halben Kubikmeter. Fünfhundert Liter.“ „Eine undichte Stelle“, vermutete der Mechaniker, zunächst ohne weiteren Kommentar. „Vergessen Sie es, Salarez.“ „Aber wenn Sie Druck geben, ich meine, wenn sich der Pumpendruck für die Bewegung vo n Klappen und Rudern aufbaut, dann tropft es nicht nur, dann strömt es.“ „Bis nach Hause werden wir schon kommen.“ „Zwölf Stunden“, zweifelte der Kubaner. Er war nicht irgendwer. Die Russen schätzten seine Zuverlässigkeit und seine Fachkenntnis. Aus Leichtsinn eine Maschine zu verlieren, das bedeutete auch bei der Aeroflot Rauswurf und lebenslängliche n Lizenzentzug, Der Pilot wurde nachdenklich und fluchte leise. „Verdammt! Ich kann mir keine Startverzögerung mehr leisten. Wie lange wird es dauern, Salarez?“ „Kommt darauf an, ob es nur eine gelockerte Mutter ist, ein defekter Nippel oder ein poröser Schlauch, eine undichte Leitung. Kommt eben darauf an, Käptn.“ „Los, schauen Sie nach, Mann. Aber Beeilung um Gottes willen.“ Daß ein Russe den Namen Gottes berief, klang ein wenig fremdartig, drückte aber aus, unter welchem Streß sie standen. Der Chefmechaniker bugsierte seinen Reparaturwagen rückwärts unter den Fahrwerkschacht, stellte die Aluleiter auf und kletterte in die Höhle aus Aluminium, 17
Stahl und Kunststoff hinein. Die Hydraulikleitung tropfte genau an der Stelle, wo er eine der Muttern vom Druckbehälter zum Verteiler gelockert hatte. Nun lockerte er sie noch ein wenig mehr, bis ein feiner roter Ölstrahl herauskam. Diesen lenkte er aber so, daß er in eine Senke der Innenversteifung floß und das Tropfen für eine Weile aufhörte. Nach seiner Berechnung würde es ungefähr acht Stunden dauern, bis die hydraulischen Systeme der Iljuschin hübsch nacheinander ihren Geist aufgaben und sich verabschiedeten. Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert. „War eine Überwurfmutter“, meldete er. „Habe sie nachgekontert. Aber die Schläuche sind verdammt porös. Sie schwitzen schon.“ „Danke, Salarez“, sagte der Flugkapitän. „Zu Hause muß die Mühle ohnehin zum Tausend-Stunden-Check in die Werft.“ Die vierdüsige Iljuschin startete um 14.34 Uhr mittelamerikanischer Zeit von Havanna International Airport zu ihrem Transatlantikflug nach Moskau. * Über dem östlichen Nordatlantik kam der Jet in schweres Wetter. Ständig mußten die Piloten mit Ruderausschlägen die Böen abfangen. Höhenstürme schüttelten das Flugzeug mit gigantischen Fäusten. Die heftigen Ruderbewegungen führten zu starken Druckschwankungen in den Hydraulikleitungen. Der Strahl spritzte stärker aus dem Leck, und der Vorrat schwand schneller als berechnet. Nach fünf Stunden Flug, noch weit draußen über der See, flackerte die erste Warnlampe auf. 18
Der Flugingenieur nahm die Sache nicht sonderlich ernst. Falschmeldungen kamen häufig vor. Die Kabelbäume so alter Maschinen hatten oft Scheuerstellen, es kam zu Stromüberschlägen, und Signale liefen in falsche Richtungen. Trotzdem meldete er e s nach vorne. „Reststand in Hydraulik eins.“ „Schalten Sie um auf Notsystem.“ Es dauerte nicht lange, und auch von dort flackerte Rotlicht. Noch funktionierten die Seiten-, Höhen- und Querruder einwandfrei. Aber das taten sie stets bis zum vorletzten Liter. Der Ingenieur wurde unruhig. Er nahm seine Stablampe, denn inzwischen war es dunkel geworden, hängte die Werkzeugtasche am Riemen um die Schulter und rollte den Teppich im hinteren Cockpitraum zur Seite. 19 Ich steige mal runter.“ „Muß das sein?“ , Ich will es genau wissen.“ Wenn man die Luke zum Frachtraum und zum Fahrwerkschacht öffnete, kam es zu Druckverlust im Cockpit. Sie richteten sich darauf ein. Sie gingen tiefer und setzten ihre Sauerstoffmasken auf. Es zischte böse, als der Ingenieur die Luke Öffnete. In den Ohren knackte es schmerzhaft. Es war erst vorbei, als die Luke wieder geschlossen war. Unbeirrt flogen sie weiter. Die Sterne kamen heraus. In der Tiefe zog ein Schiff dahin. Der Navigator rechnete noch vierzig Minuten bis zur irischen Küste. Dann hatten sie den Nordatlantik hinter sich. „Wo bleibt Boris?“ fragte der Kapitän ungeduldig. Es dauerte nicht mehr lange, dann kroch der Flugingenieur aus dem Schacht und machte Meldung. Er wirk19
te blaß und erschöpft „Beide Behälter, Haupt- mit Reserve eins und Reserve zwo fast leer.“ „Wie leer?“ , Hydraulikausfall steht bevor.“ „Ursache?“ „Ein geplatzter Schlauch.“ „Scheiße“ sagte der Kapitän leise und so beherrscht, wie man es von ihm erwartete. Er wandte sich an den Funker. „Rufen Sie Dublin Airport.“ ,,Dublin ist zu. Nebellage.“ „Dann London. Melden Sie Notfall. Bitten um vordringliche Landeerlaubnis bis…“ Der Navigator hatte alles schon parat. „In siebzig Minuten.“ „Ab Null zwei Uhr Greenwi ch Zeit.“ „Mit Mayday?“ fragte der Funker. „Nein, Mayday senden wir erst, wenn es nicht mehr anders geht.“ Der Copilot wandte sich an den Chef. „Wir müssen die Passagiere verständigen.“ „Wozu das?“ fragte der Kapitän. „Die merken es noch früh genug. Aber das Kabinenpersonal soll Gratisdrinks bereithalten.“ * Der IIjuschin-Kapitän, ein Pilot mit der Erfahrung von neuntausend Flugstunden, brachte seine defekte Vierdüsige glatt auf London Heathrow herunter. Be i Nacht, bei dem Dunst, der über London lag, und mit nahezu null Druck auf den Rudern war es eine Meisterleistung. 20
Nach einem endlosen Ausrollen ohne Bremsen ließ er sich vom Schlepper auf den Haken nehmen. Während die Iljuschin zum Abstellplatz rollte, ergriff der Copilot das Mikrofon und gab über die Kabinenlautsprecher eine Erklärung ab. Indem er das Probleme abschwächte, erklärte er, daß man aus Gründen der Sicherheit eine Zwischenlandung in London vorgenommen habe. Es handle sich nicht um eine Reparatur, nur um eine technische Kontrolle, die leider nur am Boden vorgenommen werden könne. Die Passagiere würden gebeten, auf ihren Sitzen zu bleiben. Die Gurte könnten gelöst werden, Rauchen sei gestattet. Man rechne mit einem Aufenthalt von maximal zwei Stunden. Das Kabinenpersonal sei angewiesen, Drinks und Sandwiches zu servieren. Für den Fall, daß sich der Aufenthalt in London hinziehe, sei vorgesehen, daß ein Transitraum reserviert werden würde. „Wir danken für Ihr Verständnis.“ Der Copilot hängte das Mikrofon an den Haken. Der Kapitän wandte sich an den Bordingenieur. „Wie lange kann es dauern, Boris?“ „Das ist eine Ersatzteilfrage. Die Briten verwenden Zoll – , wir benutzen metrische Systeme.“ Der Kapitän beauftragte den Copiloten, in Moskau anzurufen, damit man in der nächsten Linienmaschine die Teile mitschickte. Der Ingenieur fertigte eine Liste an. „Und wenn wir nur öl nachfüllen und die Risse mit Klebeband abdichten?“ schlug der Kapitän vor. „Das hält bei dem Arbeitsdruck von mehreren Atü nicht lange.“ „In drei Stunden sind wir zu Hause.“ „Mal hören, was die Zentrale sagt. Wenn die es verantworten, von mir aus.“ 21
„Wie lange dauert es dann?“ „Auch vier Stunden.“ „Dann müssen wir die Passagiere rauslassen. Die kriegen sonst den Koller. Außerdem sind die Abwassertanks voll.“ Als feststand, daß sie nicht vor dem frühen Nachmittag wieder starten konnten, riefen sie vo m Tower einen Zubringerbus ab, um die Fahrgäste erst einmal von Bord zu bringen. Der Copilot sagte über Kabinenlautsprecher: „Es wird noch einige Zeit dauern, Herrschaften. Vertreten Sie sich die Beine. Der Waschraum, die Cafeteria stehen zu Ihrer Verfügung, und britische s Television wird Ihnen die Zeit verkürzen.“ Die Gangway wurde herangerollt. Die Busse kamen und brachten die Passagiere zum Transitraum im Hauptgebäude. Die Frühmaschine aus Moskau brachte die Ersatzteile mit. Die Crew machte sich an die Arbeit An Sabotage dachte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. 4. London 6. September, vormittags. Endlich hatte der Amerikaner den Kurier unter zweihundertvierzig Passagieren aussortiert. Oliv-häutig sollte er aussehen, hatte man ihm gesagt. Aber das waren sie fast alle. Was ihn aus der Masse heraushob, war die Narbe, die über dem linken Auge begann, schräg zur Stirnmitte verlief und in dem dichten schwarzen Haar verschwand. Eine Narbe, hell wi e ein Kreidestrich, 22
beiderseits mit Punkten, wie sie die Stiche der Chirurgennadel hinterließen. Dieser Mann saß eingeklemmt zwischen zwe i Herren mit scharfem Blick, Typ Mittelgewichtsboxer. Auf seinen Oberschenkeln lag ein eckige s Gepäckstück, ein Mittelding zwischen Koffer und Aktenmappe, Rindsleder, dunkelbraun, doppelt vernäht, mit Metallecken und Metallbügel. Vo m Bügel lief eine Kette zur Handschelle am Handgelenk des Kuriers. Kein Zweifel, es war Ramirez Rosolito, der Mann, auf den es ankam. Deckname: Havanna-Expreß. Der CIA-Agent hatte das Problem, in den Transitraum zu gelangen, bereits an dem Abend, als der Befehl von der Zentrale eingelaufen war, gelöst. Bei einem Kostümverleih in Chelsea hatte er sich mit einer Pilotenjacke in Dunkelblau, auf der Schulterklappe drei goldene Streifen, ausstaffiert. Dazu gehörte eine Uniformmütze. Unter dem weißen Bezug klemmte das Emblem von Finnland Airways. Damit war er in den Transitraum eingedrungen. Einen Notizblock unterm Arm ging er durch die Reihen der Passagiere, stellte hier und da eine Frage, schrieb auf, ging zur nächsten Gruppe. Neben dem Kurier und seinen Aufpassern fragte er einen Mann mit Tochter: „Für Fluggäste, die von Moskau nach Helsinki Weiterreisen, haben wir sieben Plätze frei.“ Er sprach erst englisch, wiederholte dann einigermaßen mühsam auf spanisch. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Kurier. Der schaute in die andere Richtung. Trotzdem ließ er das Kennwort fallen. »Ihr Havanna-Expreß geht erst am Nachmittag weiter, Senor.“ „Danke, wir wollen nach Kiew“, erhielt er als Ant23
wort. Der CIA-Agent wandte sich mit der gleichen Frage an die drei Herren in weißen Leinenanzügen. „Helsinki Direktflug, Gentlemen?“ Sie winkten ab. „Ihr Havanna-Expreß hat Verspätung, Gentlemen.“ Dabei blickte er dem Kurier in die Augen. Er hatte nicht mit der Wimper gezuckt, aber seine Ms vergrößerte sich. Also hatte er verstanden. „Keinen Bedarf“, antwortete der Kurier. „Was haben Sie in dem Koffer? Geschmuggelte Havannas?“ Es sollte ein Scherz sein. „Hier ist Rauchen nur auf dem Klo gestattet.“ „Machen sie, daß Sie weiterkommen“, zischte einer der Leibwächter unfreundlich. Der CIA-Mann fragte noch andere Passagiere und ging dann zum Waschraum, Dort schaute e r auf die Uhr. Allmählich wurde er nervös. Der Kurier mußte ihn verstanden haben. Havanna-Expreß lautete der Code, und das mit dem Waschraum war wohl auch deutlich gewesen. Eine Viertelstunde verging, ohne daß Ramirez Rosolito kam. Der CIA-Agent verließ das WC und sah Rosolito noch auf seinem Platz sitzen. Hastig rauchte er eine Zigarette. * Und plötzlich sah er den Kurier nicht mehr. Im Korridor zum WC stießen sie beinahe zusammen. „Havanna-Expreß“, bestätigte Rosolito. „War verdammt schwierig. Nur drei Minuten Zeit. Was jetzt?“ „Wo ist der Koffer?“ „Bei den Vigilantes. Sie bestanden darauf, daß ich ihn 24
dort ließ.“ Der Amerikaner fluchte gepreßt. „Wozu dann das Ganze?“ Um den Mund des Kuriers zuckte ein Lächeln. „Es ist nicht im Kurierkoffer.“ Der Amerikaner schob ihn in das WC für Herren. Nur ein Mann stand am Pissoir. „Wo dann?“ „Zug um Zug“, sagte der Kubaner. Der Amerikaner wußte, wie es gemeint war, nämlich Geld gegen die Dokumente. „Nicht hier. In der City. Wir müssen rasch weg.“ „Unsere Pässe wurden eingesammelt.“ Der dritte Mann im WC wusch sich die Hände und hielt sie unter den Trockner. Jeden Augenblick konnten andere hereinkommen. Der CIA-Agent riß zwei WC-Türen auf. In die erste Kabine schob er den Kurier, in die andere trat er selbst und flüsterte nahe der Trennwand: „Tür zu. Ausziehen. Hosen und Sakko.“ Der Kurier warf seine verschwitzten Leinenklamotten herüber und bekam dafür die Pilotenuniform des Amerikaners. „Ein Paß und Geld stecken innen. Autoschlüssel sind in der Hose. Ein weißer Rover mit abgeknickter Antenne. Parkplatz in der Nähe der Ausfahrt. Machen Sie es gut, Companero.“ „Und wie kommen Sie heraus?“ „Keine Sorge. Treffpunkt US-Botschaft. Fragen Sie nach Colonell Hemmer. Dann weiß man Bescheid.“ Der Anzug des Kubaners war dem Amerikaner um Nummern zu weit. Aber bis zum Taxi würde es gehen. Er hörte, wie der Kubaner fluchend die Schuhe anzog. „Viaja con dios“, sagte er, zog die Spülung und ging 25
hinaus. Der CIA-Agent wartete noch kurze Zeit, dann verließ auch er das WC. Hoch oben gab es ein Klappfenster. Wenn überhaupt, dann war es nur für einen trainierten Mann erreichbar. Er war immer ein guter Turner gewesen. Er lief an, drei Schritte, abfedern, ein harter Aufprall an den Wandfliesen, aber er konnte den Rand des gemauerten Simses fassen. Er krallte sich fest, zog sich hinauf, faßte zum Griff am Rahmen und riß das Fenster auf. – Eine verdammt schmale Öffnung. Er hörte Leute kommen, aber sie blieben vorn im Waschraum. Ein Klimmzug, halb war er mit dem Oberkörper durch. Seine Hände fanden Halt. Draußen ging es zwei Meter abwärts. Aber auf einen Grasstreifen. Er ließ sich fallen. Drüben bei der Cargo-Halle kam ein Polizeiposten mit Hund um die Ecke. Wegen der ständigen Bombendrohungen hatten sie die Wachen verschärft. Auf dem Rollfeld standen Panzerspähwagen, umgeben von Soldaten mit Helmen, kugelsicheren Westen und Maschinenpistolen. Der Amerikaner hastete weiter, sprang vor einem Elektrokarren, auf dessen vier Anhängern sich Koffer türmten, in Deckung. Hinter dem letzten Wagen wischte er in die Gepäckverteilung und glitt auf einer Rutsche in den Keller. An den Bändern arbeiteten nur ein paar Sortierer, fast alles ging automatisch. Er sah einen Transportlift, fuhr hinauf und war in einer der Abfertigungshallen. Er schaute sich um. Der Kubaner war nicht zu sehen. Aber die zwe i Vigilantes Seguridad, die Sicherheitsbeamten. De r eine hatte 26
den Kurierkoffer mit der Kette am Handgelenk. – Sie waren hinter Rosolito her, Wenn sie ihn erwischten, dann gab es Zores. Der CIA-Agent sah jetzt nur noch seinen Auftrag: Dem Kurier von Havanna-Expreß war Schutz zu leisten. Egal mit welchen Mitteln. * Ramirez Rosolito wurde kontrolliert. Beim Verlassen der Transiträume machten sie auch bei Flugpersonal Stichproben. „Beschäftigen die Finnen jetzt schon Kanaken“, hörte der Kurier die Polizisten spotten. Er zog den Paß aus dem Sakko. Sie winkten ihn durch. „Ein Karibe“, sagte der andere, „und amerikanischer Bürger als Copilot bei Finnland Airways. Sachen gibt’s.“ „Mich wundert gar nichts mehr.“ So rasch es ging, eilte der Kubaner durch die weiten Hallen hinüber zum Abflugterminal, nahm die Rolltreppe und den verglasten Übergang zu den Oberdeckparkplätzen. In der Nähe der Ausfahrt, hatte der Amerikaner gesagt. Aber bei welcher? – Die Autos standen in Zwölferreihen. Allein auf diesem Karree waren es vielleicht fünfhundert Fahrzeuge. Deshalb orientierte er sich nach der Farbe. Weiß. Es gab viele Rover in Weiß. Aber nur einen mit einer abgeknickten Antenne. Er versuchte aufzusperren, ging nicht. – Nächster Schlüssel. Der häkelte ebenfalls. Der dritte paßte. Er schob sich hinein. Rechtslenkung war er nicht gewohnt. Welcher war der Zündschlüssel? Wie ließ man einen 27
Rover an? Gab es Choke, gab man Vollgas? – Herumtasten, Zündung, Anlasser. Ein helles Sirren. Der Motor kam. Der Ganghebel links war völlig ungewohnt. – Erster hinein, falsch, das war der dritte. Wieder heraus. Kupplung treten. Einschlagen. Er schaute nach hinten, um nicht zu kollidieren. Die Autos standen verdammt eng. Als er wieder nach vorn blickte, standen die zwe i Gorillas von der Sicherheitsabteilung da. Der Dicke hatte den Kurierkoffer unter den Arm geklemmt, in der Rechten hielt er den Dienstrevolver. „Stop! Motor abstellen, aussteigen, du Hundesohn, oder es knallt.“ Blitzschnell erfaßte der Kurier seine Lage. Es ging um alles. Er war abgesprungen. Also mußte er durchbrechen. Entweder fuhr er sie um und tötete sie, oder sie töteten ihn. Wenn sie ihn lebend bekamen, war er ebenfalls erledigt. Dann würden sie ihn foltern, bevor er starb. Erster Gang. Vollgas. Er ließ die Kupplung einfach springen. Die Räder drehten durch. Der zweite Sicherheitsbeamte hielt die Waffe mit beiden Händen in seine Richtung, auf die Frontscheibe, genau zwischen seine Augen. Dabei ging er in die Hokke. Seine Züge verzerrten sich zu wilder Entschlossenheit. Noch drei Meter. – Im letzten Moment sprang er nach links. Nun nahmen sie ihn von beiden Seiten unter Feuer. Glas splitterte, eine Kugel sirrte durch den Fond. Der Kotflügel schrammte einen Wagen. Sie schössen hinter ihm her – und dann mit einemmal nicht mehr. Ein dritter Mann war aufgetaucht. Er trug einen viel zu weiten Leinenanzug. Der CIA-Agent. – Er machte einen Satz, holte aus und schlug den Leibwächter mit 28
dem Kurierkoffer nieder. Der andere schoß auf den Amerikaner. Den hatte es offenbar erwischt. Er faßte sich an den Leib und taumelte über die Motorhaube eines Austin. – Der zweite Kubaner raffte sich auf. Ein roter Spitfire kam, eine Lücke suchend, herein. Die Kubaner hielten ihn an. Wortwechsel, Handgemenge. Der Fahrer des offenen Sportwagens flog heraus, wehrte sich, wurde niedergeschlagen. Die Leibwächter nahmen mit dem Spitfire die Verfolgung des Kuriers auf. Rosolito hatte es im Augenwinkel beobachtet. Er überholte einen LKW und zwängte sich in die Lücke zwischen zwei Bussen. Dann kam die Unterführung, dahinter der Zubringer für die Autobahn. Dort herrschte dichter doppelreihiger Kolonnenverkehr. Man konnte sich nur schwer einordnen. An überholen war nicht zu denken. Für den Augenblick hielt sich Rosolito für gerettet. * Der rote Wagen der Verfolger war gut zu erkennen. Sie rückten näher. Wie Wahnsinnige überholten sie und stießen in die Lücken. Nur noch ein Taxi fuhr zwischen dem Kurier und den Sicherheitsbeamten. Rosolito wurde jetzt, wo es um seine Haut ging, kühl und professionell. Er kalkulierte seine Chancen und wußte sofort, was er in diesem oder jene m Fall tun würde. Am besten, er ließ sie kommen. Erst vergrößerte er den Abstand zum Vordermann. Dann holte er mit einem Gasstoß auf, so daß zwischen ihm und dem Taxi eine Distanz von etwa fünfundzwanzig Metern entstand. Die Verfolger bemerkten es und 29
fielen darauf herein. Mit aufheulendem Motor überholten sie das Taxi, rissen vo r ihm das Steuer wieder nach links und waren jetzt dicht hinter Rosolitos weißem Rover. Als der Rote noch mit Power beschleunigte, trat Rosolito scharf auf die Bremse. So schnell konnte der Vigilante am Lenkrad nicht reagieren und knallte auf das Roverheck. Blechernes Scheppern. Der Limousine machte das wenig, nur der Kofferraumdeckel wurde eingebeult. Aber bei dem Spitfire wölbte sich das Haubenblech hoch. Wasserdampf verbreitete sich. Es hatte ihm den Kühler aufgerissen. Hinter den Verfolgern ertönte wildes Hupen. Reifen kreischten, Karosserien krachten ineinander, Lampengläser barsten. Ungerührt fuhr Rosolito weiter. Bei der nächsten Ausfahrt bog er Richtung Uxbridge ab und ließ nach ein paar Meilen den Rover stehen. Mit der Piccadilly-Linie der U-Bahn fuhr er in die City. Von dort telefonierte er mit der US-Botschaft. „Mitteilung für Mister Hemmer“, sagte er und wurde weiterverbunden. „Der Colonel weilt nicht in London“, hieß es dann. „Hemmer ist mein Kontakt.“ „Wer sind Sie?“ „Kennwort Havanna-Expreß. Ich werde verfolgt Vermutlich warten meine Jäger schon vor der USEmbassy. Sie sind wie hungrige Tiger. Ich verlasse die Stadt. Übermitteln Sie Colonel Hemmer, der HavannaExpreß rollt weiter. Ich melde mich vo m Kontinent. Paris oder anderswo. Ende.“ Ramirez Rosolito nahm ein Taxi, Mir zur Victoria Station und löste ein Ticket nach Ramsgate. Vo n dort flog er mit dem Luftkissenboot in vierzig Minuten nach Calais. 30
In Frankreich fühlte er sich ein wenig sicherer. Aber nicht sicher genug. Der kubanische Geheimdienst würde alle erreichbaren Agenten mobilisieren, um seine Spur aufzunehmen und ihn zu killen. Ramirez Rosolito aber wollte den Havanna-Expreß ans Ziel bringen, den verdienten Lohn kassieren und den Rest seines Lebens in Ruhe und Luxus genießen. 5. München Mittwoch, 7. September Kaum hatte der BND die Beschreibung laut Verteiler Inland/B durchackern lassen, als Lacy Hemmer wieder anrief. Diesmal aus London. – Um näher an der Stelle zu sein, von der das heiße Gefühl ausging, wie er es nannte. „Wir haben alles wunschgemäß veranlaßt“, erklärte Robert Urban. „Der Verfassungsschutz, die Landeskriminalämter und die Grenzpolizei, wo immer man in die Bundesrepublik einreisen kann, sind alarmiert.“ „Fehler am Anfang“, sagte der CIA-Mensch, „bedeutet den Tod am Ende.“ „Euch muß eine Menge an dem Kubaner liegen.“ Der Amerikaner versuchte es noch einmal zu erklären. „Sagt dir der Code Seelöwe etwas?“ Urban erinnerte sich. Es war vor seiner Geburt gewesen. So lange lebte er noch gar nicht. Zweiter Weltkrieg, zweites Jahr. Vierzig also. „Unternehmen Seelöwe“, fiel ihm dazu ein. „Hitler wollte seinen Erfolg im Frankreichfeldzug fortsetzen und plante eine Invasion auf die britische Insel: das Unternehmen Seelöwe.“ 31
„Gut aufgepaßt“, lobte Hemmer. „Und warum wohl blies er den ganzen Riesenzirkus von heute auf morgen ab?“ Urban wußte nur, was die Militärhistoriker ausgegraben hatten. „Die Marine konnte den erforderlichen Transportraum nicht stellen, konnte die Sicherheit der Operation sowie den Nachschub nicht garantieren. Und die Luftwaffe sah sich außerstande, den vo m Hauptquartier geforderten eisernen Schirm über dem Kampfgebiet aufzuspannen.“ „Falsch“, unterbrach der Amerikaner ihn. Urban hatte es erwartet. Sie wußten immer alles einen Dreh besser und hatten auch besseren Zugang zu geheimen Akten. Tatsache war aber auch, daß sie die Fakten gern verdrehten, wenn es in ihr Konzept paßte. „Du machst mich verdammt neugierig, Lacy.“ „Verrat war im Spiel“, sagte Lacy Hemmer. „Es lag nicht an den Garantien der Marine oder de r Luftwaffe, sondern der Termin wurde verraten.“ Urban fragte sich, worauf der Amerikaner hinauswollte. Er erfuhr es umgehend. „Dieser Verrat von Hitlers Unternehmen Seelöwe hat möglicherweise den Zweiten Weltkrieg entschieden. Und der Havanna-Expreß ist mindestens zehnmal so wichtig, wenn man davon ausgeht, daß künftige Kriege nicht nur Europa, sondern die ganze Welt in Brand stecken.“ ,,Das ist“, bemerkte Urban, „eine klare Aussage.“ Damit war aber noch nicht begründet, warum Hemmer ausgerechnet ihn wieder anrief. „Donnert der Havanna-Expreß weiter nach Osten?“ fragte Urban also. „Er fährt bereits durch Deutschland.“ 32
„Ohne daß wir den Burschen – mittelgroß, olivbraun, mit Stirnnarbe – ins Netz bekamen?“ „Wer Angst um sein Leben hat, verfällt auf abartige Tricks.“ „Und woher stammt dein Wissen, großer Bruder?“ „Rosolito rief aus Stuttgart an. Ich wetzte sofort hinterher.“ „Habt ihr nicht ein eigenes Netz in diesem unserem Lande?“ Es war kein Geheimnis, daß die CIA von Berchtesgaden bis Lübeck sehr aktiv war. „Was sind zwei Dutzend Agenten gegen eure zigtausend Polizisten, Fahnder, Beobachter, Beschatter.“ „Gekauft“, sagte Urban. „Das nehme ich dir ausnahmsweise sogar ab.“ „Der Kurier wird versuchen, in Süddeutschland mit einem US-Konsulat Kontakt aufzunehmen.“ „Ihm bleibt noch Österreich, bevor er an den Eisernen Vorhang stößt“, wandte Urban ein. „Versucht, ihn zu kriegen“, bat Hemmer. „Er wird durch München kommen. Da wette ich das Weiße Haus drauf.“ „Aber nicht das Hofbräuhaus, bitte“, sagte Urban. „Das wird hier noch gebraucht.“ * Diskret wurde die Beschreibung des Lokomotivführers des Havanna-Expreß an alle in Frage kommenden Pensionen und Hotels verteilt. Aus Erfahrung wußte Urban, daß dies mit einer Sicherheit von neunhundertneunundneunzig zu eins nichts brachte. – Und dann kam dieser Anruf mitten in der Nacht. 33
„Wenn einer nach vierundzwanzig Uhr erst beim fünften Durchläuten abnimmt, hat er geschlafen“, sagte sein Kontaktmann bei der Münchner Kripo. „Du irrst“, antwortete Urban. „Es war das achte Mal, und ich stand unter der Dusche.“ Das schien den bayrischen Kommissar zu irritieren. „Du badest vor dem Schlafen?“ „Wie die Chinesen“, scherzte Urban. „Die waschen sich auch die Hände im WC. Aber immer vorher.“ „Was treibt ihr dort bloß, du und die Chinesen“, bemerkte der Kommissar launisch. Was Urban an dem Anruf mißfiel, war die Tatsache, daß dieser Mann in einer Abteilung saß, die sich mit Menschen erst dann befaßte, wenn sie tot waren. „Bekam da vor zwei Stunden eine Meldung vo n der Sittenpolizei“, fuhr der Kommissar fort. „Sie kämmten einige der einschlägigen Hotels durch. Ich möchte die Worte Razzia und Puff nicht verwenden, aber mit einschlägig meine ich Prostitution und Drogen.“ „Und was hat das mit Mord zu tun?“ fragte Urban aus reiner Höflichkeit. „Uns liegt da ein Fahndungshilfeersuchen des BKA vor. Geht um einen Kubaner, mittelgroß, besonderes Kennzeichen Stirnnarbe. Der Mann benutzt einen amerikanischen Paß, trägt eventuell Pilotenuniform. Ist es richtig, daß die Suche durch den BND ausgelöst wurde?“ „Auf Wunsch der Amerikaner“, bestätigte Urban. „Mit der US-Bundeskripo haben wir wenig zu tun.“ „Also Geheimdienst.“ „Was ist mit dem Kubaner? Habt ihr ihn gefunden? Dann rufe ich sofort in Frankfort an. Soll sich die QA um ihren Schrott selbst kümmern. Haltet ihn eine Weile fest.“ 34
„Schrott ist die richtige Bezeichnung“, bestätigte der Kommissar. „Aber festhalten ist nicht nötig. Schrott hat keine Beine und läuft nicht weg. Der Bursche ist tot.“ Urban stieß Luft über die Zähne. Er sah die Komplikationen kommen. „Auf welche Weise starb er?“ „Er stellte einfach das Atmen ein, meint der Arzt, wie einer, der keine Lust mehr hat. Natürlich gefiel mir das nicht. Der Staatsanwalt wird auf Obduktion bestehen. Wenn der Kubaner im Vierjahreszeiten umgefallen wäre, na schön, in Luxushotels nennt man das Herzinfarkt oder Kreislauflähmung, aber in einem Bumsschuppen?“ Urban ließ sich den Namen des Hotels geben. „Spuren einer Gewalttat?“ „Keine Spuren.“ „Hinweise?“ „Wir verhören noch.“ Urban bedankte sich. Statt ins Bett zu steigen, stieg er in den Anzug. Bevor er sein Schwabinger Penthouse verließ, rief der Golonol Lacy Hemmer an. Hemmer war nicht in Frankfurt, wurde dort aber erwartet. Sie wollten es ihm ausrichten. * Der BND durfte im Bundesgebiet nicht aktiv werden. Urban ermittelte auch nicht. Er wollte nur an einige Leute ein paar Fragen richten. – Dies aus mehreren Gründen. Der erste war unermeßliche Neugier. Der Tod eines Geheimkuriers in Deutschland war immer einschlägig. Zumindest einschlägiger als der Tod eines Schneiders beim Bügeln von Hosen. Wenn also etwas Unkeusches 35
lief, sollte man von Anfang an dabei sein. Der zweite Grund waren die Amerikaner. Urbans Erfahrungsschatz, was die Bedeutung amerikanischer Geheimoperationen betraf, war enorm. Wenn etwas schiefging, wiesen sie gern anderen die Schuld zu. Und wenn sie Verbündete um Hilfe baten, dann waren die wirklichen Gründe meist andere als die genannten. Um zwei Uhr morgens, also noch bei totaler Dunkelheit, betrat Urban das Hotel. Die Kripo hatte sich unter Mitnahme der Leiche zurückgezogen. Die Hotelangestellten waren für den Vormittag ins Präsidium beordert worden und diskutierten noch bei Bier und Schnaps. „Am schönsten wäre“, sagte Urban, „wenn er wirklich an Herzversagen starb. Aber wann geht es in unserem Geschäft mal schön nach Wunsch?“ Er trank mit ihnen und vermittelte ihnen das Gefühl, daß er nicht von der Polizei sei, aber doch mit der Sache zu tun habe. „Du bist nicht von der Zeitung“, sagte einer. „Ich kenne dein Gesicht.“ „Ich kenne deines auch“, sagte Urban, „und du bist auch nicht von der Zeitung.“ Damit deutete er an, daß er wußte, was der Junge tagsüber so trieb. Urban hielt ihn für einen kleinen Dieb. Brieftaschen, Koffer, Autos, wenn es hochkam. Mit seinen grauen Augen fixierte er den Siebzehnjährigen und seine viel zu teure Lederjacke . Der Junge hielt seinem Blick nicht stand. „Wann kam der Kubaner?“ fragte Urban. „Gestern mittag. Mit ‘nem Taxi.“ „Wie lange wollte er bleiben?“ „Eine Nacht“, sagte eine Frau mit starken Kurven und rotgefärbten Haaren. Sie rauchte ohne Unterbrechung und hatte gelbe Finger. „Er fragte mich, wie man an 36
einen Wagen käme.“ „Wie fragte er? Kubanisch?“ „Englisch. ich verstehe es. Hier steigen auch Amis ab.“ „Ging er mal weg?“ „Er hat das Zimmer nicht verlassen.“ „War auch nicht nötig“, sagte ein hohlwangiger unrasierter Mann. „Was er brauchte, kam ins Haus.“ Urban bohrte in dieser Richtung weiter. „Eine Frau?“ „Wer sonst.“ „Frau oder Mädchen?“ „Dame. Dreißig. Elegant. Dunkelhaarig. Was Besseres.“ „Der Polizei habt ihr das verschwiegen?“ „Die bezahlt auch nicht für Auskünfte.“ Urban hatte es getan, sonst hätten sie erst gar nicht mit ihm geredet. Er machte noch einen Hunderter lokker. „Wann kam sie, und wann ging sie?“ „Sie ging nach dem Western im Fernsehen.“ Urban entdeckte noch eine Ungereimtheit. „Wie habt ihr bemerkt, daß er tot ist?“ Alle Augen richteten sich auf den Jungen. Der stand langsam auf, ging rückwärts zur Tü r und wollte blitzartig abhauen. Urban hechtete hinter ihm her, fing sein Handgelenk, ehe er mit der Faust zuschlug, und drehte ihm den Ann nach hinten. „Und du bist doch ein Bulle“, zischte der Junge. „So wenig wie du ein Mörder bist.“ Urban tastete die Taschen von Jeans und Jacke ab. Er fand nur eine Ledergeldbörse. Sie war leer, bis auf eine Kupfermünze und ein Foto. Urban hielt die Münze ans Licht. 37
„Ein Viertelpeso. Sozialistische Republik Kuba.“ „Die Tür war halb offen“ stotterte der Junge. „Ich sah ihn liegen. Er atmete nicht mal mehr. Da ging ich rein und nahm was von seinem Geld. Nicht alles. Auch den Paß nicht. Aber die Börse. Ist Juchtenleder.“ Urban drehte das Foto um. Hinten standen zwe i Worte und ein Buchstabe: – In Liebe O. – auf spanisch. Er steckte das Foto ein. Dann packte er den Jungen vorn und drehte ihm das T-Shirt zusammen. „Was hast du noch alles geklaut? Leichenfleddern nennt man das, du Ratte.“ „Er hatte ‘ne Uhr“, gestand der Junge. „Ich sah sie, als er ankam.“ „Was für eine Uhr?“ ,,’ne goldene, so Gold mit Silber verarbeitet. Ziemlich protzig, ‘ne Imitation von was Echtem. Da kenne ich mich aus.“ „Rund, eckig?“ bohrte Urban weiter. „Metallband oder Leder? Schmal, breit?“ „Die Zuhälter hier tragen so was. Sie war rund, mit schwarzem Ziffernblatt und schwerem Gliederband. „ „Und wo ist die Uhr? Schon verscherbelt, he?“ Der Junge war echt fertig. „Okay, ich war scharf auf den Wecker. Ehrlich. Und das erste, wo ich hinschaute, war sein linker Arm. Aber die Uhr war weg. – Verdammt, dachte ich, die hat diese Braut, diese Mutter mitgehen lassen. An seinem Gelenk sah man nur noch den hellen Hautstreifen. Ich schwöre, so ist es. War ‘ne echte Scheiße.“ Rein gefühlsmäßig glaubte Urban ihm. Nachdenklich steckte er sich eine von seinen Montechristos an. „Ich war niemals hier“, sagte er. „Ihr wißt von nichts, 38
und ich weiß auch von nichts. Servus dann.“ Als Urban aus dem verqualmten Hinterzimme r ins Freie trat, regnete es. Der Asphalt der Goethestraße schimmerte wie Japanlack. * „Wo ist die Uhr?“ fragte Colonel Hemmer. Sie hatten sich in einem Schwabinger Bistro getroffen. Was ihre Kleidung unterschied, war die Kombination. Urban trug wie immer zum hellen Glenchecksakko eine dunkelblaue Hose. Der Amerikaner hingegen einen dunkelblauen Blazer zu heller Glencheckhose. Sie waren etwa gleich groß, einsfünfundachtzig, und beide sportlich, fast athletisch. Urban hatte dichte, dunkle Haare, der Amerikaner graue mit Blautönung. Er war auch zwanzig Jahre älter als Urban, also Mitte Fünfzig. Sie tranken Bourbon im Stehen an der Bar. Hemmer gab keine Ruhe. „Wo die Uhr ist, habe ich gefragt.“ „Damit hast du schon die Kripo genervt . Dreimal.“ „Wer hat sich die Uhr unter den Nagel gerissen?“ formulierte der CIA-Mann seinen Vorwurf. „Wie immer war es der dicke Sheriff von Dakota“, gab Urban ironisch zurück. „Rosolito hatte keine Uhr.“ Lacy Hemmer war von beherrschter Nervosität. Der Druck wuchs. Irgendwann würde bei ihm die Sicherung durchbrennen. „Nur auf die Uhr kommt es an.“ „War der Havanna-Expreß ein Uhrentransportunternehmen?“ reizte Urban ihn. Der Amerikaner trank, und sein Blick verspritzte Galle. 39
„Der Bourbon schmeckt auch beschissen. Made in Bavaria, he?“ „Die Uhr ist weg“, bedauerte Urban. „Entweder es gab keine, oder der Tä ter nahm sie mit.“ „Was für ein Täter?“ Urban erwähnte, was er von der Polizei gehört hatte. „Die Spurensicherung stellte in den Zahnputzgläsern Reste von Zuckerrohrschnaps fest.“ „Zum Teufel, warum nennst du ihn nicht Rum?“ „Weil es auch bayrischen Rum gibt, der auf dem Wege seiner Herstellung nie Zuckerrohr zu Gesicht bekam. Er ist so verfälscht wie dieser Bourbon hier, den ich übrigens für vorzüglich halte, weil ich im Gegensalz zu dir nicht wütend bin.“ „Wollen wir über Schnaps streiten?“ „Wir tun es bereits“, stellte Urban fest. „Also okay. Dieser Kubaner liegt bald, wie wi r alle eines Tages, unter Granit.“ „Oder in einer Blechbüchse, falls er verbrannt wird.“ „Und was war in den Resten von Zuckerrohrschnaps in den Mundgläsern?“ „In einem davon etwas Zyanid.“ Der Amerikaner blickte hinaus auf die Leopoldstraße, als würde er den Mädchen nachschauen. Aber danach stand ihm nicht der Sinn. „Glaub mir“, sagte er. „Ich denke wirklich an alles andere als an Bumsen, Der Kubaner wurde umgebracht, Also hatte er Besuch.“ „Von einer Frau“, berichtete Urban. Colonel Hemmer fragte nicht, woher Urban das wußte. „Unser Kurier Ramirez Rosolito hatte eine Freundin. Keine Ehefrau, nein, eine Freundin, und nur die eine. Hübsche Person. Zierlich, aber sportiv. Herzförmiges 40
Gesicht, hohe Wangenknochen, dunkle Augen, schwarzbraunes Haar, straff nach hinten gekämmt, Mund wie eine…“ „Kirsche“, ergänzte Urban. „Erdbeere“, schwärmte Hemmer. „Engländerin. Sie hat einen Job bei BBC, Rundfunk oder Fernsehen.“ „Und ausgerechnet die soll ihn in München gefunden, ihm Zyankali verabreicht und ihm die Uhr abgenommen haben?“ „Besuchte ihn eine Frau oder nicht?“ erinnerte Hemmer. Urban fragte: „Wie heißt sie?“ „Olga.“ Urban nahm die Kopie einer Fotographie aus seiner Sakkotasche. „Ist sie es?“ Die Brauen des Colonel zuckten hoch, ehe sich seine Augen verengten. „Das ist sie. Woher hast du das?“ „Von einem kleinen Taschendieb. Eine ganz private Ermittlung.“ Jetzt brauste der Amerikaner auf wie Natron. „Zum Teufel, du mit deinen privaten Machenschaften. Offiziell weiß vom BND keiner davon. Feige Bande. Auch du kneifst deinen Hintern schon so weit zusammen, daß du immer in jeden Sessel hineinpaßt.“ „Wir dürfen im Bundesgebiet nicht ermitteln, großer Bruder.“ „Und uns geht der wichtigste Kurier aller Zeiten über den Jordan. Eine Affenschande ist das.“ Es klang nicht nur wie ein bitterer Vorwurf, es war auch einer. Urban überlegte, ob er Hemmer noch ein wenig mehr 41
sagen sollte oder ob er es besser für sich behielt. Da von den Amerikanern nur Vorhaltungen über die Unfähigkeit der westdeutschen Geheimdienste und ihr Kompetenzgerangel übe r das, was sie durften und nicht durften, geäußert wurden, schwieg Urban lieber. Er klebte sich den Mund quasi mit Leukoplast zu. „Olga also“, nahm Hemmer den Faden auf. „Dann treibt sie ein doppeltes Spiel. Ich muß es kriegen, dieses Satansweib.“ „Wir überwachen alle Grenzen“, sagte Urban. „Seit wann?“ „Seit heute morgen.“ „Doch nicht wegen eures schlechten Gewissens.“ „Nur aus unverbrüchlicher Bündnistreue und Loyalität.“ „Ihr habt versagt, und es ist allein euer schlechtes Gewissen.“ Sie tranken noch einen letzten und danach einen allerletzten. Urban bezahlte die Rechnung. „Danke für die Einladung“, sagte Hemmer. „Es ist nur das schlechte Gewissen“, spottete Urban, „und nicht, weil du ein angenehmer Zeitgenosse bist.“ 6. Wien Freitag, 9. September Sie nannte sich Olga McLister. Den leichten Akzent im Englischen erklärte sie mit einer irischen Abstammung. Ihre Reise nach Wien war nicht vorgesehen und brachte sie vom eigentlichen Ziel so weit ab, wi e einen Mann, der Kaviar wollte und ein Klavier bekam. Aber alle bekannten Wege erwiesen sich als nicht 42
gangbar. Bis auf diesen einen. – Die Grenze zwischen Deutschland und Österreich war noch passierbar gewesen, ohne daß sie der Polizei in die Hände fiel. Sie hatte mit Ost-Berlin telefoniert, mit Prag und Belgrad. In der DDR wie in der CSSR hatte man sie gewarnt. Es gab Anzeichen dafür, daß man sie suchte. Die Abfertigung an den Grenzübergängen von West nach Ost verzögerte sich auf eine Weise, die man von Fahndungsaktionen her kannte. Nur aus Belgrad kam grünes Licht, auch wenn es bereits flackerte. „Über Österreich können Sie es versuchen, Genossin“, hatte ihr Vertrauensmann gesagt. „Aber wohl nicht mehr lange. Vermeiden Sie die Straßenübergänge, nehmen Sie einen der Schnellzüge um die Mittagszeit. Sie sind meist voll. Brechend voll. Sind Sie erst in Wien, haben Sie die Jäger abgeschüttelt.“ Nach diesem Rat hatte sie gehandelt. Sie hatte ein Erster-Klasse-Billet für den Intercity München-Wien gelöst Die Beamten in Freilassing hatten nur einen kurzen Blick auf ihren britischen Paß geworfen. Gegen Abend nahm sie in Wien ein Zimmer in einer Pension in der Himmelpfortgasse. Über Barmittel verfügte sie in ausreichender Menge. Was ihr zu schaffen machen würde, war ihr Aussehen. Das mußte sie ändern. Kaum auf dem Zimmer, telefonierte sie mit einer Kontaktperson. „Olga“, sagte sie und dazu eine Codenummer. „Ich brauche einen Friseur, der abends geöffnet hat, und einen Begleiter, der mich über die Grenze in die CSSR schleust“ Das mit dem Friseur sei kein Problem, versicherte 43
man ihr, auch Kleidung sei zu beschaffen, immer und jederzeit, nur an der Grenze gäbe es wohl Schwierigkeiten. „Seit wann“, fragte sie, „macht sich ein neutrales Land wie Österreich zum Büttel der Nato?“ „Man sucht Sie wegen Mordes, Olga“ „Es lag in meinem Ermessen, es zu tun, und innerhalb des Spielraums, um meinen Auftrag durchzuführen. Er war Westagent. Wie können Sie es Mord nennen.“ „Ich sagte ja nur, weshalb man Sie sucht“, erwiderte der Kontaktmann, „Es war zweifellos notwendig, Genossin. Aber die Fahndungsbehörden haben ihre eigene Terminologie.“ „Sie sollen es bezeichnen, wie sie wollen“, erwiderte Olga unfreundlich. „Warum, zum Teufel, gibt es überall nur Schwierigkeiten? Warum heißt es immer, nein, es geht nicht, anstatt, ja, das machen wir?“ „Ihrer Sicherheit wegen. Man hat Sie uns ans Herz gelegt.“ „Danke, wenn ich auf etwas verzichten kann, dann ist es, an irgendein Herz gelegt zu werden. Helfen Sie mir rüber. Und das sofort. Jetzt!“ forderte sie. Sie verabredeten einen Treffpunkt. Der Kontaktmann wartete am Schubertring in der Nähe des Stadtparks. Er fuhr Olga sofort in einen Salon, der von einer Ungarin geführt wurde. Olga opferte ihr langes, hinten geknotetes Haar der Schere. Sie verließ den Friseursalon gegen 21.0 0 Uhr mit einem Bubikopf á la Mireille Mathieu, das nußbraune Haar blond gesträhnt. Sie benutzte ein anderes Make up, einen hellen Lippenstift und anderen Lidschatten. Für alle Fälle hatte sie außer der Sonnenbrille noch eine Brille mit Fenstergläsern in der Tasche. Der Kontaktmann staunte. 44
„Schon viel besser so.“ „Wohin jetzt?“ „Ich soll Sie fragen, ob Sie es haben, Genossin Hauptmann.“ „Was haben?“ ,,Keine Ahnung. Nur, ob Sie es haben.“ „Melden Sie“, erwiderte sie verschlüsselt, wi e unter Kollegen üblich, „der Havanna-Expreß ist entladen. Der Container befindet sich in meine m Besitz.“ Der KGB-Kollege wiederholte. „Wörtlich so?“ „Nichts hinzufügen, nichts weglassen“, wünschte sie. „Und wann gehe ich über die Grenze?“ „Ich konnte Prag noch nicht erreichen.“ „Wann erreichen Sie Prag endlich?“ „Der Mann ist unterwegs und kommt erst übermorgen.“ Sie fluchte auf Slawisch. „Sonntag also.“ „Eher Montag.“ „Bis dahin haben sie mich. Soviel Zeit bleibt mir nicht.“ „Wir verstecken Sie, Genossin.“ Es war dunkel, die Autos fuhren mit Licht. Hinter ihnen hing ein Wagen mit gelben Scheinwerfern. Olga, mit ihrem Gespür für das Besondere, merkt e sofort, daß mit diesem Auto etwas nicht stimmte. „Was will der Franzose hinter uns?“ „Franzose?“ „In Europa fahren nur die Franzosen mit gelbem Licht. Los, hängen Sie ihn ab, Mann!“ Der Kollege tat mit seinem Fiat, was er konnte. Er fuhr zur unteren Donau. Radetzkystraße, Franzensbrücke, Praterstern. Immer wieder tauchten die 45
gelben Lampen hinter ihnen auf. Olgas Kollege kam ins Schwitzen, „Wohin? Wieder zurück in die Stadt?“ „Nein. Prater“, entschied sie. Am Stern bog der Fahrer rechtwinklig nach Osten ab. „Dort bei den Bäumen, ja, bei den Holunderbüschen, halten sie. Ich steige aus. Sie fahren sofort weiter. Spielen Sie Katz und Maus mit ihm.“ „Und wenn ich die ganze Nacht unterwegs bin“, versprach der Kontaktmann. Der Verfolger mochte hundert Meter zurückliege n oder etwas mehr. Olgas Kontaktmann überholte einen Fiaker und setzte sich vor ihn. Hinter der Kurve bremste er scharf und fuhr sofort wieder an. Die Sekunde hatte Olga genügt, den Fiat zu verlassen und in den Büschen zu verschwinden. Durch die Blätter hindurch sah sie den Verfolger. Es war ein Citroen BX. Am Lenkrad saß ein Mann mit Hut. Mehr ließ sich nicht erkennen. Olga McLister nahm ein Taxi. Aber nicht zu ihrem Hotel in der Himmelpfortgasse. * Jahrelanges Training, theoretische Schulung ebenso wie praktische Erfahrung und nicht zuletzt Begabung, die für diesen Beruf Voraussetzung war, versetzten Olga in die Lage, das Notwendige zu planen und durchzuführen. Wie fast alle in ihrem Job erreichte sie selten die Hundertprozentmarke. Aber achtzig Prozent Dauerleistung waren schon optimal. Jeder Normalbürger hätte sich in Grinzing dem Heurigen und der Stimmungsmusik hingegeben. Olga streif46
te durch die Weinlokale und suchte etwas Bestimmtes. Nämlich eine weibliche Person, die aussah wie sie, möglichst Ausländerin, möglichst allein, und die mit dem eigenen Wagen da war, Dafür hatte sie einen Instinkt wie der Hai, der eine Blutspur meilenweit roch. Ihr Weg führte sie stundenlang durch die Gärten der Weinbeizen, zu den Parkplätzen, in die Keller, durch die Gassen und wieder zurück. Sie fühlte, daß sie hier die Chance hatte, und sie suchte sie mit der ihr angeborenen Verbissenheit. – Immer wenn es so ausgesehen hatte, als wäre sie am Ende, war es ihr gelungen, durch äußersten Einsatz und Energie auf die Siegerstraße einzukurven. Um Mitternacht hatte sie noch nichts gefunden. Um ein Uhr sah es nicht besser aus. Verdammt, dachte sie, jetzt leeren die Beize n sich, und du stehst da wie vor vier Stunden. Längst hatte sie an den Parkplätzen die Autos aufs Korn genommen, speziell einen Escort, eine n Golf und einen Fiat Uno. Zwei deutsche Autos und einen Italiener. Wenn sie sich nicht irrte, gehörten die Fahrzeuge zu alleinstehenden weiblichen Personen. Es gab untrügliche Anzeichen dafür. Aber die Wagen standen so, daß man sie nicht ständig im Auge behalten konnte. Olga rotierte also zwischen den Parkplätzen. Al s erster war der Uno weg. Wenig später schlenderte ein Pärchen auf den Golf zu. Offenbar hatte sich die Lady einen Mann angelacht. Sie sperrte auf, und er schob sich rechts neben sie. Sie fuhr los. Fortan konzentrierte sich Olga auf den weißen Ford aus Gelsenkirchen. Es dauerte noch gut eine halbe Stunde, bis eine pummelige Blondine den Weinkeller an der Ecke verließ 47
und erst in die falsche Richtung ging, ehe sie den Irrtum bemerkte. Dann aber steuerte sie ihren Ford an. Sie hatte einiges an Heurigem getankt und suchte lange in der Umhängetasche herum. Lautlos wie eine Katze trat Olga hinter sie, bereit, eine n Präzisionsschlag zu landen. Da hörte sie Männerstimmen. Wegtauchen war nicht mehr möglich. „Hallo, Schätzchen!“ rief sie in ihrem bestmöglichen Deutsch. „Hast du mal Feuer?“ „Nichtraucherin“, zischte die Blondine. Die Männer kamen näher. Eine Horde von vier Angetrunkenen. Sie sangen und alberten. Sie blieben stehen und versuchten, die zwei Frauen anzumachen. Einer tatschte an der Blonden herum. „Hau ab“, zischte Olga, „oder ich trete dir ins Eingemachte!“ Die Männer gröhlten, rissen Zoten und trotteten weiter. Olga hatte pro forma eine Zigarette im Mund. „Kein Feuer also“, sagte sie. „Aber vielleicht gibt es in deinem Escort ‘nen Anzünder, Schätzchen.“ „Das ist kein Escort, sondern ein Fiesta. Und ich bin nicht Ihr Schätzchen“, lallte die Deutsche. Endlich hatte sie den Schlüssel gefunden und sperrte auf. Im Schein der Innenbeleuchtung deutete sie auf das Armaturenbrett. „Bitte sehr, kein Anzünder, ein stubenreines Auto.“ Olga versuchte es anders. „Nimmst du mich mit in die Stadt, Schätzchen?“ „Nein“, erklärte die resolute Deutsche, zog das linke Bein nach innen und versuchte, die Tür zu schließen. Aber Olga hielt sie fest. Sie hatte sich umgesehen, der Augenblick war günstig. „Dann nehm ich dich mit, Schätzchen.“ Ihre Hand48
kante traf schneller, als ein Henkersbeil fallen konnte. Die Deutsche sackte über das Lenkrad. Olga schob sie weiter, rückte nach und zog ihr den Gürtel aus dem Rock. Damit fesselte sie ihre Handgelenke. Die Deutsche drohte, aus der Kurznarkose zu erwachen. Olga beugte sich über sie hinweg, entriegelte das Schloß auf der rechten Seite, stieg dann aus, lief herum, riß die Tür auf und brachte die Touristin in eine Position, die es ihr erlaubte, ihr die Strumpfhose auszuziehen. In das Oberteil des Nylongebildes schlug Olga einen Knoten. Den stopfte sie der Blonden in de n Mund. Die Strumpfhosenbeine schlang sie ihr ums Genick, damit der Knebel festsaß, und überkreuz wieder nach vorn. Dort band sie die Strumpfhosenbeine über den Augen der Touristin zusammen. Damit war zweierlei erreicht: Sie konnte nicht mehr als ein Stöhnen von sich geben, und sehen konnte sie auch nichts. Olga zog sie nun ganz aus dem Wagen heraus, klappte den Sitz vor und stopfte sie regelrecht nach hinten. Der Schlüssel war der Deutschen aus den Fingern geglitten. Olga fand ihn vor den Pedalen. Sie fummelte ihn ins Schloß, startete und fuhr los. * Olga verließ Wien auf der Südautobahn. Ihre Absicht war, von Klagenfurt aus nach Süden über den Loibl-Paß nach Jugoslawien zu gelangen. Dort glaubte sie sich relativ sicher, Sie war schon vier Stunden unterwegs, und es dämmerte hinter den Bergen, als sie tanken mußte. Die Umhängetasche der Deutschen, die hinten unter der Reisedecke lag, enthielt alles, was sie brauchte. DMark, Schilling, italienische Lira, sogar eine Hotelbu49
chung für zwei Wochen. Sie ließ den Tank mit Super füllen. Als der Tankwart das Öl kontrollierte, versuchte die Deutsche, sich bemerkbar zu machen. „Hör zu, Schätzchen“ zischte Olga. „Du hältst den Schnabel, oder es geht dir dreckig.“ „Noch was?“ fragte der Tankwart. „Danke“, sagte Olga und folgte dem Tankwart in sein Büroschapp, bezahlte und kaufte zwei Tüten Fruchtsaft. „Wie kommt man schneller nach Jugoslawien?“ fragte sie. „Über den Paß oder durch den Tunnel?“ Der Tankwart gähnte erst, dann sagte er: „Im Moment gar nicht. Bei einem Unwetter heute nacht gingen einige Muren herunter.“ „Ich will nach Ljubljana.“ „Das geht nur über Villach und Italien. Oder Sie kehren um und versuchen es über Graz-Maribor.“ „Oder Dravograd“, fügte sie hinzu. „Sie können es versuchen.“ Sie schaute sich die Karte an und fuhr weiter. Der Tankwart hatte recht. Am schnellsten kam sie aus Österreich heraus, wenn sie über Villach und den Wurzenpaß nach Italien reiste. Es ging auf sieben Uhr. In zwei Stunden konnte sie in Italien sein. Aber erst mußte sie diese unruhige Ziege loswerden. An der Grenze konnte sie Ärger machen. Schon auf der Serpentinenstraße zum Paß bog sie von der Hauptroute ab und nahm, auf der Suche nach einer Ahnhütte, einen schmalen gewundenen Weg steil bergauf. Oberhalb eines Tannenwaldes stand ein Heuschober. Er war offen. Sie zerrte die Deutsche heraus und schleifte sie unter das Dach. Mit einem Kälberstrick fesselte sie ihr vorsichtshalber noch die Füße. Die Touristin keuchte und gebärdete sich, als würde 50
sie abgestochen. Sie versuchte zu schreien. Ohne Knebel hätte es bis ins Tal gehallt. „Tut mir leid, Schätzchen“, sagte Olga. „Vielleicht findet dich ein Älpler. Wenn nicht, dann nicht. Ich weiß, den Friedensnobelpreis bekomme ich nicht dafür, aber Krieg ist eben Krieg.“ Sie schob den hölzernen Riegel von außen vor, stieg in den Fiesta und ließ ihn zu Tal rollen. Um zehn Uhr frühstückte sie in Tarvisio in Italien in einer Bar an der Piazza. 7. Rimini Montag, 12. September Ganz gegen seine Gewohnheit, auf freier Autobahn den Motor des BMW tief durchatmen zu lassen, ging der BND-Agent Nr. 18 die Dienstfahrt an die Adria eher ruhig an. Denn aus einer vollen Flasche war gut trinken. Selten hatte er mehr und besseres Material gehabt als diesmal. Man konnte sagen, er war optimal vorbereitet. So gut, daß es geradezu einschläferte und den Killerinstinkt betäubte. Er brauchte vom Hauptquartier in Pullach bis Rimini glatt sechs Stunden. Normalerweise schaffte man das mit einem Viertel der 250 PS. In Rimini verließ er die Autostrada, warf sich in den Nach-Siesta-Verkehr, gelangte irgendwie zu der kilometerlangen Strandpromenade und rollte Richtung Ricdone, bis er das Hotelschild entdeckte. Er parkte. An der Rezeption bekam Urban die Antwort, die er erwartet hatte und machte sich auf die 51
Suche. Erst zu Fuß, später per Auto graste er alle Straßen und Hotels, alle Parkplätze und Tiefgaragen am Meer zwischen Miramare und Viserbella ab. Das dauerte bis zum Abend. Er fand nicht, was er suchte, war aber sicher, daß er kaum die Hälfte der Möglichkeiten abgehakt hatte. Im Grand-Hotel mietete er sich ein. – Nach dem Abendessen machte er bis Mitternacht weiter. Hundemüde ging er zu Bett. Am Morgen war er schon auf den Beinen, als die Sonne gerade aus der Adria tauchte. Überzeugt, daß das Objekt sich im Umkreis vo n wenigen Kilometern befand, nahm er diese Ochsentour auf sich. Wieder und wieder umrundete er die Hotelblocks. Er suchte einen weißen Fiesta mit Gelsenkirchener Kennzeichen. Es wurde warm, dann heiß. Er zog den Sakko aus. Erst hängte er ihn um, später nahm er ihn über den Arm. Im Strandbereich von Rimini mochten zehntausend Autos geparkt sein. Auf alles, was heller als cremefarbig war, stach Urban zu wie ein blutrünstiger Moskito. Dabei rechnete er immerzu. Wieviel Stunden blieben ihm, falls er richtig kombinierte, noch? Am Mittwoch ging das Tragflügelboot nach Jugoslawien. Noch einen Tag. Zweiundzwanzig Stunden vielleicht Der Himmel dunstete zu. Es wurde schwül. Gewitterwolken zogen auf, entleerten sich aber nicht. Urban pumpte sich mit Espresso voll und legte kilometerlange Pflasterstrecken zurück. In jede Sackgasse, in jeden Hinterhof schaute er. Er hatte den roten Faden. Deshalb gab er nicht auf. Es gab Momente, da dachte er, daß es Domestikenarbeit für 52
Tagelöhner sei. Andererseits war da die klare Order. Also suchte er verbissen weiter. Bald kannte er jede Bar, jeden Club, jedes Risto-rante, das kleinste Hotel. Und dann war es ihm auf einmal, als träumte er. Er wischte sich den Schweiß von den Augen, schaute wieder hin und noch einmal. Da stand er, in der Lücke zwischen einer siennabraunen Hauswand und einem grünen Müllbehälter hinten im Hof eines Albergo, verstaubt, verdreckt, mit Laub und Vogelkot auf dem Blech – der Ford mit dem Gelsenkirchener Kennzeichen. Er winkte einem Kochlehrling, der im Schatten Gemüse putzte. „Das kleine weiße Auto dort.“ „Si, Signore.“ Urban steckte ihm einen Zehntausender in die Schürzentasche und zeigte ihm das Foto. Der Junge nickte. „Che bella ragazza!“ „Wohnt sie bei euch?“ Der Junge deutete auf die Uhr. , Aber jetzt ist sie am Wasser.“ Urban gab ihm einen Klaps. „Du bist der Größte. Aber Mund halten, ca-pisci?“ „Wie ein Grab.“ Der Koch hob drei Finger zum Schwur. Urban bezog Warteposition. Wie es aussah, hatte sich die Mühe gelohnt. * Selten war an einem Wochenende mit soviel Nachdruck gearbeitet worden wie an dem letzten. Erst war es die EDV-Abteilung, die Überstunden bis spät in den Morgen machte. Aber schließlich, nach 53
mehrmaligem Kreuz- und Querfüttern, warf der Archivcomputer ein Dossier aus. Urban stand dabei, als der Drucker auf das Papier hämmerte: OLGA LYSENKOW – DECKNAMEN DESINA – MARKOVSKY – MCLISTER – ALTER CA. ZWO SECHS JAHRE – MITTELGROSS – ZARTWIRKEND – ABER TRAINIERT – SPRICHT MINDESTENS VIER EUROPÄISCHE SPRACHEN – HAAR SCHWARZBRAUN – GESICHT OVAL – AUSGEPRÄGTE BACKENKNOCHEN – SEIT UNIVERSITÄTSABGANG FÜR KGB TÄTIG – DIENSTRANG HAUPTMANN – CODE W-60/ 22 – FÜHRUNGSOFFIZIER DECKNAME PETROW Der Drucker hämmerte leer. Nichts kam mehr. Urban riß das Blatt ab. Drüben in seinem Büro machte er sich an die Auswertung, als das Telefon ging. Der CIAKuba-Chef Colonel Lacy Hemmer tobte sich aus. „Dieses Aas hat unseren Mann in Wien abgehängt.“ „Mit Aas meinst du gewiß die schöne Olga.“ ,,Diese Giftmischerin aus München.“ „Aus der Ukraine“, verbesserte Urban ihn. Daraufhin hatte Hemmer einen Moment Funk-pause. „Ist das wahr?“ „Da wir unsere Archive in der Regel nicht mit falschen Daten füttern, geben sie auch meist zuverlässige Antworten. An einigen berüchtigten KGBAktionen war Olga erfolgreich beteiligt Fixe Person.“ „Eine Mörderin“, keuchte Hemmer heraus, und dies mit so heftiger Abscheu, als ob CIA-Agenten noch nie einen Gegner liquidiert hätten. Urban fand solche Töne verlogen. „Sind wir Profis oder Moralisten? Ich meine, we r das Schwert erhebt, kommt durch das Schwert um. Oder 54
kennst du einen von uns, um den es schade wäre?“ Hemmer gehörte zu denen, die es wußten, es aber nicht hören wollten, weil sie es verdrängten. Jeden Tag mindestens dreimal. „Sie hat meinen Mann in Wien abgehängt“, wiederholte Hemmer. „Verstehst du das? Er hatte allen Grund, sich zu bewähren. Nachdem er in London versagt hatte, schickte ich ihn nach Wien und gab ihm eine Chance.“ „Wieso Wien?“ fragte Urban. Weder der BND noch BKA oder Interpol hatten gewußt, daß Olga nach Wien unterwegs war. Sie hatten eher auf Salzburg getippt. „Österreich war das einzige Loch, das offenstand. Und Wien ist ein Paradies für Spione und Agenten.“ Urban nahm an, daß Hemmer noch Quellen hatte, über die er nicht sprechen wollte. „Na schön. Wien, Wien, nur du allein. Und was nun?“ „Sie besitzt, was der Havanna-Expreß an uns liefern sollte. Wenn sie eine KGB-Frau ist, hat es bald ihr Boß im Kreml.“ „Das wäre euch peinsam.“ „Es käme knüppeldick auf uns nieder. Die Russen würden es so hindrehen, daß unsere ganze Entspannungspolitik in Frage stünde.“ „Wie die der Russen schon von Anfang an“, ergänzte Urban. „Dann befinden wir uns alle wieder auf dem Boden der Realität.“ „Klugscheißer!“ schimpfte Hemmer. „Ihr Deutschen bohrt mit Leidenschaft die Bretter des Kahns an, in dem wir alle sitzen. Kann man von euch noch Hilfe erwarten?“ „Derzeit steht hier nur ein Name auf dem Programm: Olga Lysenkow.« „Hoffentlich“, äußerte der Amerikaner grimmig. Nach diesem wenig angenehmen Gespräch kam erst 55
eine Weile gar nichts. Dann rief das Bundeskriminalamt an. „Auf die gesuchte weibliche Person“, übermittelte einer in BKA-Deutsch, „Die in München möglicherweise mit dem ermordeten Kubaner in Kontakt stand, paßt eine Beschreibung aus Kärnten.“ „Bis Wien haben wir sie verfolgt. Ist sie in Kärnten aufgetaucht?“ „Sie nicht, aber eine gewisse Rita Brucker aus Gelsenkirchen. Die Brucker war auf der Reise vo m Ruhrgebiet zur Adria. Sie wollte sich Wien ansehen und wurde in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend – in Bayern heißt das, glaube ich, Samstag in Grinzing nach Besuch eines Weinlokals überfallen. Man hat sie gefesselt und geknebelt in einer Berghütte am Wurzenpaß ausgesetzt. Sie konnte sich befreien und kam bis zur nächsten Gendarmeriestation. Ihre Täterbeschreibung lautet: Weiblich, mittelgroß, Bubikopffnsur, ovales Gesicht Mehr konnte sie nicht erkennen. Die Täterin spricht Deutsch mit polnischem oder tschechischem Akzent. Da dachten wir uns… nein, eigentlich dachten wir gar nicht, denkt ihr euch etwas. Und das war’s dann schon,“ Urban kombinierte hörbar. „Olga kam bis Wien und nahm dort Kontakte auf. Man wird ihr erklärt haben, daß alle Grenzen dicht sind. Sie wurde von einem CIA-Agenten verfolgt, konnte ihn zwar abschütteln, aber das warnte sie. Daß sie Wagen und Papiere einer deutsche n Touristin an sich brachte, ist der nächste folgerichtige Schritt.“ „Eine Professionelle also.“ Urban hakte bei einem bestimmten Punkt, den der BKA-Kollege erwähnt hatte, nach. „Diese Rita Brucker wollte an die Adria.“ 56
„Das ist ihr vergangen, schätze ich.“ „Wohin an die Adria?“ „Sie hatte in einem Hotel in Rimini für zwe i Wochen gebucht.“ Urban bekam den Namen des Hotels. Außer Zweifel stand für ihn, daß ein Geheimdienstprofi wie Olga Lysenkow nicht in dem gebuchten Hotel absteigen würde. Aber die Adriaküste war als Absprungbasis für Jugoslawien vorzüglich geeignet. Sie konnte ein Boot chartern oder auch an sich bringen wie den Ford aus Gelsenkirchen. Urban rief hinunter zum BND-Reisebüro. „Gibt es“, lautete seine Frage, „von Rimini aus Dampferlinien hinüber nach Jugoslawien?“ Sie wollten es sofort überprüfen. Wenig später stand dann fest, daß es von Rimini keine Fährverbindung über die Adria gab, ebensowenig wie eine Flugverbindung. Aber Rimini hatte einen Sportflugplatz. Zur Ausbildung einer KGB-Agentin gehörte es, daß sie mindestens einmotorige Maschinen fliegen konnte. Olga Lysenkow konnte sich also ein Boot mieten oder beschaffen oder ein Flugzeug chartern oder es sich beschaffen. Die hundertzwanzig Kilometer offenes Meer waren irgendwie zu überwinden. Drüben auf dem Balkan hatte sie keine Probleme mehr zu erwarten. Urban beschloß, nach Rimini zu fahren. Sein Programm sah wie folgt aus: Den Fiesta suchen und die Lysenkow finden. Wenn das nicht gelang, im Bootshafen und am Flugplatz nachzufassen. Bevor er sich auf den Weg machte, hatte das Reisebüro etwas herausgefunden. „Jeden Dienstag kommt von Pula ein Tragflügelboot herüber. Ein Jugoslawe. Mittwoch fährt er wieder zu57
rück.“ Das ist es, dachte Urban. Jetzt saß er draußen vor der Cafeteria neben dem Albergo, in dem Olga Lysenkow wohnte. Er trank einen Vino bianco, in den er sich einen Schuß Cincerino hatte geben lassen, und wartete. 8. Havanna 12. September „Bloß keine Panik, Senores“, bat der Minister und konnte die eigene kaum verbergen. Er schwitzte, sein Atem ging fliegend, seine Hände zitterten, als ob er an der Parkinsonschen Krankheit leide n würde. „Also, noch mal von vorne.“ Die zwei Beamten folgten der Aufforderung, Platz zu nehmen, nicht. Der mit der Brille begann, und der mit dem Revolver unter dem Leinenjackett hing an seinen Lippen, als gelte es, jedes Wort zu unterstreichen. „Wie immer nach einer Sitzung im Obersten Revolutionsrat wurden die Stenoprotokolle in Reinschrift übertragen und im Safe abgelegt. Al s wir heute zufällig den Safe öffneten, fiel es Major Gonzales auf.“ Der für die Sicherheit in der Staatskanzlei Verantwortliche nickte mehrmals. Der Minister wandte sich nun direkt an ihn. „Sie können nur gemeinsam an den Safe, Senores?“ „Vorschrift, Genosse Exzellenz.“ „Wer hat den Schlüssel?“ „Der Schlüssel befindet sich im Schlüsseltresor. Dieser wiederum geht nur mit zwei Schlüsseln auf. Einen 58
hat der Bürochef, einen habe ich. Heute morgen also holten wir aus dem Schlüsseltresor de n Haupttresorschlüssel. Kaum steckte ich ihn hinein, dachte ich mir – nanu.“ „Was nanu?“ unterbrach der Minister ihn. „Da ist ein Grat, dachte ich. Der Schlüssel flutschte nicht so geölt wie sonst. Da mußte einer gefummelt haben, mit einem Dietrich, einem Nachschlüssel oder mit wer weiß was.“ „Und?“ Der Minister hörte es jetzt zum zweiten Mal, aber mit mehr Einzelheiten verziert. Jedes Wort tat ihm weh. „Ich prüfte das Schloß durch das Steckloch mit Lampe und Lupe und stellte Metallabrieb fest. Ich bin sicher, es war einer dran.“ Der Bürochef, der auch das Staatsarchiv leitete, fuhr nun fort: „Wir überprüften sofort den Tresorinhalt. Er enthält alle geheimen Sitzungsprotokolle der letzten zehn Jahre. Also pro Jahr mindestens vier Stück. Nach dieser Zeit werden die Protokolle auf Mikrofilm fotografiert, die Originale im Reißwolf zerkleinert und dann verbrannt. Jedes Protokoll hat ein Datum, das auch als Code dient. Und daran haben wir gemerkt, daß sich einer am Safe zu schaffen gemacht hatte.“ „Wie bemerkten Sie es?“ „Ganz einfach. Exzellenz“, erklärte der Bürochef. „An der Reihenfolge. Der Revolutionsrat tritt vierteljährlich zusammen, meist im Februar, Mai, August und November. Daraus ergibt sich ein natürlicher Code, gebildet durch die Monatsnummer. Also römisch Zwei, Fünf, Acht und Elf. Diese Ordnung war durchbrochen. Acht lag unter Fünf, also August hinter Mai.“ 59
„Das Augustprotokoll lag also unter dem Maiprotokoll.“ „So ist es“, bestätigten die Beamten, „Und Sie sind sicher, daß nicht Sie es waren, die das durcheinanderbrachten?“ Die Beamten blickten sich so entsetzt an, als hätte man sie beschuldigt, heimlich Haschisch zu rauchen. „Unmöglich, ausgeschlossen, Exzellenz. Das wird immer doppelt überprüft. Mai lag über August. Mit Sicherheit hat ein Unbefugter den Vorgang in der Hand gehabt.“ Der Minister gab sich noch nicht zufrieden. „Wann waren Sie das letzte Mal am Tresor, Senores?“ „Bei der Ablage der Augustprotokolle. Das dürfte drei Wochen her sein.“ Nun stellte der Minister noch einmal die Frage, deren Beantwortung ihn in Panik versetzt hatte. „Und die Maiakte, die nicht an ihrem angestammten Platz lag, enthält die geheime Ansprache des Maximo Leader?“ „Des Premierministers, des großen Führers, des Movimiento Fidel Castro“, bestätigte der Major. Offenbar wußte der Minister, was in dem Protokoll stand. „Das ist“, sagte er leise, „allerdings die größte Scheiße seit Erfindung des Cuba libre.“ * Mit der Aufklärung des Spionagefalles wurden die besten Kriminalisten Kubas, und von ihnen wiederum nur die Geheimnisträger der Stufe vier, denen das Regime absolutes Vertrauen entgegenbrachte, betraut. Dabei war es unumgänglich, daß sie die Dokument en60
mappe kriminaltechnisch prüften und zwangsläufig die eine oder andere Textpassage lasen. Allerdings hatte der Minister die brisantesten Seiten vorher entfernt. Binnen weniger Stunden lag das Ergebnis vor. Der Polizeichef, ein Mann, der noch beim amerikanischen FBI seine Ausbildung durchlaufen hatte, erstattete Bericht. „Mit Sicherheit wurden die Mai-Protokolle nach der Reinschrift dem Safe noch einmal entnommen.“ „Fingerabdrücke?“ fragte der Minister vorschnell. „Der Täter wußte das zu vermeiden. Solche Leute arbeiten mit Handschuhen, Exzellenz. Wir fanden nur die Fingerabdrücke der Sekretärin, die die Reinschrift vo rnahm. Ihre Fingerabdrücke sind allerdings verwischt. Typisch für einen weichen Baumwollhandschuh, der darüberstrich, während er die Bogen einzeln aus der Lochung nahm, sie hinlegte und glattstrich, um sie zu fotografieren.“ „Das ist schrecklich“, sagte der Minister, „führt uns aber nicht weiter.“ „Vielleicht doch“, erwiderte der Polizeichef, „wenn auch auf Umwegen. Wenn diese Geheimakte fotografiert wurde, dann wohl im Auftrag einer fremden Macht. Also muß der Film außer Landes gebracht worden sein. Wer bringt so wichtige Dokumente außer Landes? Am besten ein dafür ausgebildeter Kurier. Zwischen der Ablichtung und dem Transport liegt nach unseren Schätzungen bestenfalls eine Woche. Vor sieben Tagen verließ ein Kurier Havanna Richtung Moskau. Sein Name ist Ramirez Rosolito, ein bisher als zuverlässig geltender Mann, der durch nichts auffiel. Zumindest zählte ihn die Spiongeabwehr nicht zu jener Gruppe von Kurieren, denen man Verkauf von Geheimmaterial zutraute.“ 61
„Sie meinen damit die undichten Stellen“, wandte der Minister ein. Der Polizeichef fuhr fort und kam damit schon zum Schluß. „Wir haben die Sicherheitsmaßnahmen in Verbindung mit der Abwehr verschärft. Rosolito wurde von zwei mitfliegenden Terror-Abwehr-Spezialisten im Auge behalten. Doch dann ereigneten sich merkwürdige Dinge. Das Düsenflugzeug der Aeroflot mußte wegen eines technischen Defekts i n London landen.“ „Liegt Sabotage vor?“ „Der Mechaniker wurde diesbezüglich verhört.“ „Was passierte in London?“ „In London sprang der Kurier Rosolito ab. Er entkam seinen Aufpassern mit Hilfe eines CIAAgenten. Und wieder zwei Tage später wurde er in München tot aufgefunden.“ Der Minister, der dies alles dem Staatsrat vorzutragen hatte, sackte regelrecht zusammen. „Und der Koffer mit den geheimen Kaderakten?“ „Den hatten die Sicherheitsbeamten zum Glück zurückbehalten.“ Der Minister wollte schon aufatmen, doch nun folgte der eigentliche KO-Schlag. „Wir, das heißt einer unserer Kontaktleute, konnte sich in das Protokoll der Mordkommission München Einblick verschaffen. Der Tod Rosolitos trat durch Zyankali ein. Letzter Besucher war eine Frau. Bekannt als die Engländerin Olga McLister, eine Freundin des Kuriers. Bei der Leiche fehlte einiges. Mit Sicherheit aber eine Armbanduhr.“ „Möglicherweise wurde er beraubt, ehe die Polizei eintraf.“ „Es ist die Uhr, die Rosolito gemäß Zeugenaussagen 62
bei der Körperkontrolle im WC vergaß und die ihm die Ärztin in den Warteraum brachte.“ Der Minister schien regelrecht geschrumpft zu sein. Er starrte vor sich hin und sagte: „Nehmt euch dieses Doktorweib vor.“ * Als Verdächtige hatten sie den Chefmechaniker Salarez am Flughafen und die Vertrauensärztin im Ministerium festgenommen. Dem Mechaniker war nichts nachzuweisen. Angeblich hatte er den Druckölverlust der Iljuschin beseitigt. Allerdings nicht mit Originalersatzteilen. Die standen nicht zur Verfügung. Er erklärte dies mit den ruhigen Worten eines Technikers, legte auch die nötigen Reparaturprotokolle vor und war in der Lage, Zeugen zu benennen. Die Behauptung, daß Sabotage verübt wurde, um die Iljuschin zur Landung in London zu zwingen, entkräftete er durch handfeste Argumente. De r Druckölverlust hätte sowohl zum Absturz über dem Atlantik wie zur Zwischenlandung auf den Azoren, in Irland, in Lissabon oder Paris führen können. „Ebensogut hätte die Iljuschin aber auch Moskau erreichen können. Druckölverluste lassen sich niemals präzise vorausberechnen. Tut mir leid, Genossen“, resümierte Salarez. „Ich fürchte, hier begeben Sie sich in eine Sackgasse.“ Also machten sie dort weiter, wo sie sich Erfolg erhofften, um wenigstens das Ausmaß des angerichteten Schadens abmessen zu können. Die Vertrauensärztin leugnete ebe nso wie der Mechaniker. Aber nicht so geschickt. Sie schlossen sie an 63
einen Lügendetektor an. Als man Zeugen vorführte, die die Übergabe der Uhr an den Kurier beobachtet haben wollten, und man die Ärztin fragte, ob Rosolito die Uhr wirklich im Waschraum vergessen hätte, wiederholte sie ihre Aussage. Aber die Detektornadel schlug weit aus. – Sie hatte gelogen. Auf die Frage, wie sie mit ihrem Normalgehalt in der Lage sei, Auslandsreisen zu unternehmen und sich ein Automobil zu halten, lieferte sie höchst unzureichende Erklärungen. Man durchsuchte ihre Wohnung und entdeckte einen in Kuba auch für Ärzte kaum erreichbaren Lebensstil. Sie besaß eine Stereoanlage, ein Videogerät, modernste Haushaltsmaschinen, kostbaren Schmuck und ein Dollarkonto in Miami. Angeblich hatte sie eine Tante in den USA beerbt. Aber gegen Abend brach sie heulend zusammen. Schon bei Folterungen zweiten Grades und der Androhung von Verhörverschärfung, verriet sie weitere Mitglieder ihrer Spionagezelle. Man legte ihr ein Foto von Olga McLister vor. „Das ist Rosolitos Freundin. Sie besuchte ihn als BBC-Reporterin mehrmals in Havanna“, sagte die Ärztin aus, um ihren Kopf zu retten. „Eine amerikanische Spionin wie Sie also?“ „Sie gehört nicht zu uns.“ „Bedeutet das, daß sie für einen anderen Geheimdienst arbeitet?“ hielt man ihr vor. Binnen zwölf Stunden nach den ersten Hinweisen auf einen Spionageakt war es den Kubanern gelungen, die ersten Maschen des Netzes in die Hände zu bekommen. Sie zogen es aus der unsichtbaren Tiefe und erhofften sich darin manchen großen Fisch. „Zunächst“, äußerte der Stellvertreter des Präsidenten, als man ihn informiert hatte, „geht es aber um etwas 64
ganz anderes. Sind die Kopien der Protokolle noch unterwegs, oder befinden sie sich schon in den Händen des Auftraggebers? Und wer ist der Auftraggeber?“ „Die USA?“ wurde als nächste Rage aufgeworfen. „Die Ärztin und ihre Freunde arbeiten offensichtlich für Amerika.“ „Aber diese Olga McLister hat wohl die Uhr. Und die Dokumente sind in der Uhr.“ „Die McLister arbeitet nicht für den CIA. Warum sollte sie sonst Rosolito in München vergiften und ihm den Container, die Uhr also, wegnehmen?“ Da nur wenige der Anwesenden die Brisanz der Dokumente kannten, klang die nächste Bemerkung des Ministerratsvorsitzenden für die meisten unverständlich. „Washington wäre mir fast lieber als Moskau.“ „Wollen Sie etwa sagen, Olga McLister sei KGBAgentin?“ „Ich sagte nur, wenn dieser Film in den Kreml gelangt, dann tritt damit die schlimmste aller denkbaren Situationen ein. Dann wäre Castro nicht nur erpreßbar, wie zum Beispiel durch Washington, sondern den Russen völlig ausgeliefert. Das könnte bis zur Gegenrevolution führen, zum Bürgerkrieg, zum Umsturz im eigenen Lande.“ „Nicht vorstellbar!“ stöhnte einer der Generäle. „Es nur eine Katastrophe zu nennen, ist lachhaft wi e der Furz einer Maus gegen einen Orkansturm.“ Der Vorsitzende faßte das Problem in einem einzigen Satz zusammen. Und auch seine Lösung. „Wir müssen diese Olga kriegen.“ „Jetzt, nach einer Woche?“ „Sie hat den Film erst vier Tage.“ „Den trägt sie doch nicht am Busen spazieren, oder.“ „Sie wird in ganz Europa wegen Mordes gesucht.“ 65
Der Polizeichef wollte sich sofort über den Stand der Fahndung nach Olga McLister erkundigen. Das sei über Interpol jederzeit möglich. Er wü rde von seinem Büro aus mit Paris telefonieren. „Olga ist der Schlüssel“ betonte der Vorsitzende. „Das geht auch daraus hervor, wie man hinter ihr her ist. Nicht wegen jedes Mordfalls ziehen sie in Europa so ein grandioses Fahndungsbrimborium auf.“ Vor Mitternacht erschien der Polizeichef wieder. Wortlos reichte er dem Vorsitzenden einen Zettel. Der las ihn buchstabierend. „R-i-m-i-n-i.“ Er blickte auf. „Was ist das?“ „Ein Badeort an der italienischen Adria. Olga McLister soll in Wien eine Touristin überfallen haben und mit deren Auto und Gepäck nach Rimini geflüchtet sein.“ ,,Dann müssen wir sie dort finden.“ „Delegieren Sie Ihre besten Agenten“, riet der Polizeichef dem Innenminister, dem der Geheimdienst unterstand. „Wie man hört, haben auch CIA und BND Leute auf diese Olga angesetzt. Aber nicht irgendwelche, sondern ihre Koryphäen.“ „Motivieren Sie Ihre Leute auf Sieg“, forderte der Vorsitzende. „Jedes Mittel ist recht, wenn es nur Erfolg hat. Benutzen Sie Feuer und Schwert.“ Feuer und Schwert war die Textzeile eines roten Revolutionsliedes. – Wen das Schwert nicht tötet, den macht das Feuer zu Asche, und wer dem Feuer entgeht, den trifft das Schwert. „Ich habe da ein paar stahlharte Burschen“, bot der Geheimdienstchef an. „Ex-Fallschinnjäger, Ledernakken. Sie sind derzeit in Angola und können binnen vierundzwanzig Stunden in Europa eingreifen.“ „Veranlassen Sie es“, befahl der Vorsitzende. „Feuer 66
und Schwert, Senores. – Wie ich höre, ist eine Uhr durch Hitze schmelzbar.“ 9. Rimini 12. September, abends Zwei Dinge zogen Urbans Blicke an wie eine bunte Blüte einen Honigsauger. – Ihr Biniki und die Uhr. Der schwarzseidene Mini-Tanga war mindestens ein Modell von Balenciaga, die Uhr hingegen keine Rolex, sondern eine billige Hongkong-Imitation. Urban faltete die auf rosa Papier gedruckte Sportzeitung zusammen und folgte der schönen Russin. Auf den Stufen zur Hotelhalle holte er sie ein. Sie fixierte ihn mit Augen wie Laserstrahlwaffen. Höflich öffnete er die Glastür. Sie fand ihn wohl aufdringlich. Auf italienisch giftete sie ihn an. „Warum verfolgen Sie mich?“ „Ich muß Sie sprechen, Gnädigste“, antwortete er, ebenfalls auf italienisch. „Wüßte nicht, daß wir uns kennen.“ „Noch nicht“, bedauerte er. Sie gingen hinein. Drinnen war es marmorkühl und leer. Sie beugte sich über den Tisch der Rezeption und angelte nach ihrem Zimmerschlüssel. Sie war klein, ihr Arm nicht allzulang. Ihre Fingerspitzen reichten nicht bis zum Schlüsselfach. Urban half ihr. „Signora“, sagte er, ihr den Schlüssel reichend, „ich muß Ihnen ein Geständnis machen.“ Nicht das geringste Zucken im Mundwinkel mäßigte ihre abweisende Haltung. 67
„Ich weiß, Sie finden mich wunderbar. Sie liebe n mich unsäglich. Die alte idiotische Aufreißertour.“ „Scusi, ich habe nur Ihren Fiesta angebumst“, erklärte er. Sie stellte den Kopf schräg und zweifelte an dem, was er sagte. „Eine ganze neue Masche, wie?“ „Beim Wenden im Hof.“ Nun musterte sie ihn von oben bis unten. Er sah es an den Bewegungen ihrer Pupillen. Offenbar fand sie ihn nichtssagend. „Vergessen Sie es.“ „Eine reine Versicherungssache.“ „Geben Sie es mir schriftlich.“ „An welche Adresse?“ Sie marschierte zum Lift, blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. „Lassen Sie mich in Ruhe. Capito?“ „Es wäre unfair gewesen, Fahrerflucht.“ Er konnte nichts dafür, er mußte lächeln. Es war ihm angeboren. Er lächelte auch, wenn ihm der Teufel gegenüberstand. Ein angeborener Muskelschaden, geringfügig, aber nicht heilbar. „Sie sollen es vergessen“, wiederholte sie. „Vergessen?“ sagte er. „Das kann ich nicht. Es raubt mir den Schlaf.“ „Va bene, dann bleiben Sie wach, Signore.“ Sie drückte auf den Knopf. Der Lift kam. Ihre Haut strömte noch die Hitze des Sonnenbades aus und duftete nach gutem Öl. Der Lift war unten, die Schiebetür schob sich auf. „Darf ich Sie wenigstens…?“ „Nein.“ „… zum Essen einladen“, ergänzte er. 68
Sie trat in den Lift und drückte den Etagenknopf. Die Rolex-Imitation war nur einen Meter von ihm entfernt in Griffnähe. Mit Gewalt hätte er sie an sich gebracht. Aber Gewalt erregte Aufsehen, und das war nicht sein Stil. „Hauen Sie endlich ab“, zischte sie. „Es gibt ein wirklich erstklassiges Restaurant drüben an der Piazza.“ Sie musterte ihn und schüttelte den Kopf, als sei sie sprachlos über soviel Frechheit. Und dann sagte sie etwas, womit er nicht gerechnet hatte. „Wann?“ fragte sie. „Alle otto e mezzo.“ „Das ist?“ „Halbneun.“ „In der Halle“, sagte sie. Die Türelemente gingen zu. Der Lift zog an. Urban hatte einen Plan. Er hatte ihn von Anfang an gehabt, aber jetzt nahm der Plan Formen an, so als würde man beginnen, das dürre Geäst eines Baumes im Winter mit Blättern und Blüten zu behängen. Er hatte noch drei Stunden Zeit. In Rimini gab es Juweliere und andere, die allen möglichen Talmikram verkauften. * Sie speisten bei flackerndem Kerzenlicht. Die Russin hatte sich rausgeputzt wie zu einer Galavorstellung ihrer selbst. Sie hatte zartbraunes Make-up aufgelegt, Schwarze Lidstriche vergrößerten ihre Augen, dunkelrote Konturen gaben den hellgeschminkten Lippen etwas Orchideenhaftes, – Das Kleid, das sie trug, war schlicht, aber 69
raffiniert. Cremefarbene Seide in losen Falten. Es begann am Busenansatz und endete am Knie. Darüber trug sie eine schlichte goldene Kette mit nur einem einzigen Brillanten. Der aber war ein Solitär und lag genau dort auf, wo Urban gerne gewesen wäre, nämlich zwischen ihren Brüsten. Da sie besser Englisch als Italienisch sprach, hatten sie sich auf diese Sprache geeinigt. Mit jedem Gang kamen sie sich ein Stück näher. „Welches Auto hat meinen Fiesta beschädigt?“ fragte sie. „Nur ein BMW-Coupe.“ „Das geht ja noch“, sagte sie. „Fürchtete schon, ein Bonzenferrari. Und was tun Sie den ganzen Tag, wenn Sie nicht Touristinnen nachstellen?“ „Import-Export“, deutete er an. „Das schließt alles ein und ist ja wohl das Windigste, was man sich vorstellen kann“, lästerte sie. „Es nährt seinen Mann“, sagte er. „Wenn ich auf reiche Damen aus wäre, hätte ich einen Mercedes angefahren.“ „Und worauf sind Sie aus?“ wollte sie wissen. „Auf Sühne“, gestand er. „Aber was kann ich dafür, daß Sie mich faszinieren.“ Sie lehnte sich zurück, hob das Glas. Der Wein schimmerte wie ein Rubin. Sie trank und sagte: „Ich heiße Olga. Olga McLister.“ „Klingt irisch.“ „Ich arbeite aber für ein Immobilienbüro im Ruhrgebiet.“ ,,Darf ich Olga zu Ihnen sagen?“ fragte er höflich. „Gern. Aber wie heißen Sie eigentlich?“ „Roberto.“ „Und wie schreibt sich Ihr Vater mit Nachnamen?“ 70
„Mencini.“ Alles an ihr war aus einem Guß. Nur die Herrenuhr paßte schlecht an ihren Arm. Das hinderte ihn aber nicht daran, sie attraktiv, anziehend, erotisch und etwas rätselhaft zu finden. Offensichtlich beruhte das auf Gegenseitigkeit. „Ich hatte mir vorgenommen“, sagte sie, „mich nie mit einem Italiener einzulassen.“ „Sind Sie etwa im Begriff, es zu tun?“ Die Antwort ließ auf sich warten und begann dann mit einem Fluch. „Verdammt, daß ich immer wieder auf Typen wie Sie reinfalle.“ „Ich finde es ausgezeichnet“, gestand er, „und überhaupt nicht verdammenswert.“ Bei der Nachspeise räumte sie ein, daß er ihr zwar gefalle, aber sich nicht die geringste Hoffnung zu machen brauchte. Die Beule im Fiesta wäre mit dem Abendessen abgegolten. Er sei ein zu charmanter Unterhalter, um ungefährlich zu sein. Noch ein Drink, und dann bitte sie ihn, sie ins Hotel zu bringen. „Sehen wir uns morgen, Olga?“ Sie zögerte. „Wozu?“ „Ich möchte Sie auch bei Tag bewundern.“ „Und es im Bett enden lassen.“ Er blickte ihr in die Augen wie ein ehrlicher, alter Hund und nickte. „Im Bett ja, aber nicht, um es enden, sondern um es beginnen zu lassen.« Sie seufzte, und er wußte nicht recht warum. War es Verstimmung oder Bedauern. „Ich bin nicht mehr lange hier.“ „Ich folge Ihnen, wohin Sie auch gehen,“ 71
Sie lachte zum ersten Mal wirklich locker. „Ich verkaufe am Nordpol Grundstücke.“ „Merken Sie mich vor. Ich möchte eines mit Bäumen rundherum. Ich komme, und wir bauen uns einen Iglu.“ Sie knüllte die Serviette zusammen. „Gehen wir lieber. Sie sind ein kalter, berechnender Heuchler, Roberto.“ „Alle Mencini“, bestätigte er ironisch, „hatten einen hinterhältigen Charakter, den sie mit einer seriösen Fassade umgaben.“ „Und die McLister sind blutrünstig und gewalttätig, besonders in der weiblichen Linie. Also aufpassen.“ Er bezahlte und folgte ihr. „Das paßt doch wunderbar“, sagte er beim Hinausgehen. Ein schräger Blick aus ihren Katzenaugen traf ihn. „Aber nicht zusammen“, ergänzte sie. Da wurde ihm klar, daß es in dieser Nacht nicht mehr weitergehen würde. Am Morgen, als er sie anrief, sagte man ihm, die Signorina unternehme eine Fahrt nach Venedig. * Der Fiesta stand noch hinten bei den Mülltonnen. Sie dachte gar nicht daran, ihn zu benutzen. Ihre Reise fand mit einem anderen Transportmittel statt. – Und Urban wußte auch, mit welchem. Er fuhr zum Hafen. In zwanzig Minuten lief das Tragflügelboot nach Jugoslawien aus. Es lag links gegenüber den Fischrestaurants, dort, wo die Sardinenkutter anlegten. Die Passagiere gingen schon an Bord. Urban wartete im Taxi. 72
Zehn Minuten vor der Auslaufzeit sah er Olga noch immer nicht. Er mußte annehmen, daß sie schon in dem flugzeugförmigen Schnellboot saß. Er schlenderte hinüber und sprach mit dem jugoslawischen Matrosen. Der ließ ihn ohne Fahrkarte nicht an Bord. Also löste er eine. Das Tragflügelboot war zu zwei Dritteln besetzt. Die Passagiere saßen wie in einem Jet in Sesselreihen mit Zwischengang. Im unteren Deck mochten es vielleicht sechzig, oben etwas weniger sein. Urban schaute sich um. Von Olga nichts zu sehen. Als er die Treppe zum oberen Deck nahm, begann im Boot etwas zu rumpeln. Diese Diesel sprangen an. Ihre Vibrationen liefen wie Wellen durch den Rumpf. Oben sah er Olga auch nicht. Er zwängte sich durch den Mittelgang und trat ins Damen-WC. Dort stand sie am Bullauge und schaute Richtung Leuchtturm. Sie fuhr herum, als sie im Glas sein Spiegelbild wahrnahm. „Verdammter Schnüffler, was willst du?“ Noch hatte sie ihre Waffe nicht in der Hand. Aber sie würde blitzschnell und hart zuschlagen, wenn er nicht gleich die richtigen Worte fand. „Hauptmann Olga Lysenkow“, sagte Urban. „Sie sind auf dem falschen Dampfer.“ Ihre Augen wurden schmal wie die einer Chinesin. „Wer, zum Teufel, bist du?“ „Darum geht es jetzt nicht“, antwortete er. „Warum haben Sie sich nicht bei Petrow gemeldet?“ Petrow war ihr vorgesetzter Verbindungsoffizier in der Moskauer Zentrale. „Wer bist du?“ wiederholte sie mit Zischlauten, die sich anhörten, als würde Preßluft aus einem Überdruckventil strömen. 73
„Diese Frage steht Ihnen nicht zu, Code Wsechzig Schrägstrich zweiundzwanzig. Aber wenn Sie die Absicht haben sollten, den Havanna-Expreß in eine andere Station einlaufen zu lassen, werde ich das verhindern.“ „Bist du wahnsinnig?“ Sie reagierte übertrieben. Das verriet ihre Unsicherheit. „Warum hast du dich nicht bei Oberst Petrow gemeldet, Olga?“ „Ich habe es versucht“, erklärte sie stotternd. Er tat, als glaubte er ihr kein Wort. „Offenbar nicht intensiv genug, Genossin.“ „Hat man dich deshalb auf meine Spur gesetzt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Um zu verhindern, daß du in ein offenes Messer rennst, Genossin Hauptmann. Drüben in Istrien, in Pula, warten sie schon auf dich.“ „Wer?“ „Reichlich idiotische Frage. Jugoslawien ist Interpol angeschlossen. Du bist ausgeschrieben wegen Mordes an Ramirez Rosolito. Genügt dir das? Du kannst von Glück reden, daß dich keine r in Rimini entdeckt hat. Nach Rimini führt nämlich die Spur, die ihnen die deutsche Touristin aus Gelsenkirchen wies.“ „Er hat sich also befreit, dieser blonde Dickarsch.“ Urban trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. „Los, gehn wir!“ Offenbar hatte die Vorstellung sie beeindruckt. Sie parierte aufs Wort. Sie verließen das Tragflügelboot, als die Matrosen schon die Gangway einzogen und die Leinen los warfen. „Und das Geld für das Ticket?“ fragte Olga. „Holen wir uns im Reisebüro zurück.“ 74
Im Augenblick war dies das letzte, woran Urban dachte. Es ging ihm darum, die Rolle glaubhaft weiterzuspielen, bis zu dem Wendepunkt, den er anstrebte. – Hoffentlich kam sie nicht auf die Idee, russisch mit ihm zu sprechen. Er beherrschte es nur unzureichend. * Überfallartig bekam Olga Hunger. Sie erklärte dies mit der nachlassenden Spannung. Der Druck hätte sie appetitlos gemacht. Sie betraten die nächste Bar am Strand. Beide bestellten ein Glas Trebbiano. Olga einen Schinkentoast extra. „Und wie geht es weiter, großer Stratege?“ „Petrow hat ein sicheres Transportmittel organisiert. Vermutlich ein Fischerboot. Ich erfahre es heute abend.“ „Das bedeutet, ich muß noch eine Nacht hierbleiben.“ Sie verfiel automatisch ins Russische. Urban schaute sich um und hob die Brauen. „Du flippst wohl aus, Genossin“, sagte er. „Was soll man von uns halten?“ „Keiner versteht hier unsere Muttersprache.“ „Aber daß es Russisch ist, merken sie sofort. Italiener haben musikalische Ohren.“ Sie fragte auf englisch: „Wer bist du?“ „Roberto Mencini“, beharrte er. „Sektion Mailand. Meinundfünfzig nulldrei.“ Sie wußte, wie sich der Code zusammensetzte. „Also schon lange dabei. Dienstrang?“ „Oberst.“ „Wie kommt es, daß wir nie miteinander zu tun hatten?“ 75
Er versuchte, sein angeborenes Lächeln zu mäßigen. „Wir hatten miteinander zu tun.“ Urban zählte einige Details aus ihrem Dossier auf. „Operation Suez, zum Beispiel.“ Ihr Kopfschütteln bestand aus einer zackig kurzen Hin- und Herbewegung, um wenige Grad nach beiden Seiten, mehr einem Schauer ähnlich. „An einen wie dich erinnert man sich“, erklärte sie. „Wir hatten miteinander zu tun“, sagte er, „sind uns aber nie begegnet. Ich muß es wissen, denn ich gebe zu… du hast mich beeindruckt. Zum Teufel, dein Körper, der Bikini, deine Haut haben mich im Traum verfolgt.“ Sie nahm noch ein Glas Wein. Der Alkohol schien ihre Zunge zu lösen. „Ich gebe zu, es ging mir nicht anders. Hol’s ebenfalls der Teufel.“ Sie verließen die Bar und schlenderten zum Hotel. „Man wird fragen, warum ich schon aus Venedig zurück bin. Der Bus kommt erst spät abends zurück.“ „Wir gehen in mein Hotel“, schlug er vor. Es war zwei Kategorien besser als ihres mit Terrasse zum Meer hin. „Wenn du das Material des Kuriers in der Dzerzhinskystraße abgeliefert hast, machen sie dich zum Major. Oberst wirst du dann automatisch.“ Sie kam mit ihrem festen und doch graziösen Schritt von der Terrasse herein. „Wenn ich es überlebe “, sagte sie auf russisch. „Ich hab es auch überlebt“, erwiderte er. „Übrigens, auch Wände haben hier Ohren.“ Wie zur Bestätigung klopfte der Zimmerkellner. Er brachte Spumante, Carpaccio, also Rindfleisch in dünnen Scheiben, Salami, Käse und getoastetes apulisches 76
Brot. „Der Kavier schmeckt hier fürchterlich“, bedauerte er. „Sie machen ihn aus Heringsrogen und blasen die Eier nach irgendeiner raffinierten Methode auf.“ „Diese Italiener!“ „Man fällt immer wieder auf ihre Tricks herein, aber sie sind liebenswert. An italienischen Tricks stirbt man nicht.“ Olga verschwand im Badezimmer. Als sie herauskam, hatte sie seinen Frotteemantel an und noch immer die Uhr am Arm. Sie würde sie wohl auch beim Schwi mmen tragen, obwohl diese Imitation Wasser hereinließ wie eine Konservendose, die man als Zielscheibe benutzt hatte. Sie standen am Kamin. Urban goß von dem Sekt ein. Mit einemmal merkte er, wie sie versuchte, ihren Oberschenkel zwischen seine Beine zu schieben. – Es gelang ihr auch, und sie rieb ihn an der richtigen Stelle. Dabei trank sie mit kleinen Schlucken und sagte: „Du weißt, wie man der Hungersnot beikommt.“ „Ich war mal drei Monate in der Hand von Terroristen.“ Er nahm mit den Fingern ein Stück Käse, wickelte es in eine Salamischeibe und steckte es zwischen die Zähne. Dann machte er dasselbe noch einmal und fütterte sie damit. „Warum machst du es mit den Fingern, Roberto?“ „In Gefangenschaft bei den Terroristen hatten wir keine Gabeln.“ „Aber wohl auch keine Salami, oder?“ Wieder spürte er ihr Knie. „Eine Frage, Roberto. Du weißt, was Hunger und Durst ist, weißt du auch, was Liebesnot ist?“ „Durchaus.“ „Ich war tagelang hinter Rosolito her und dann tage77
lang auf der Flucht. Vorher stand ich tagelang auf Warteposition und wieder vorher wochenlang im Trainingscamp, Und noch länger vorher jahrelang im Einsatz.“ Sie hatte gewiß keine Ahnung, wie ihr kaum verstecktes Angebot seinen Wünschen entgegenkam. Sowohl was sie betraf, als auch den Job. Er dachte an ihren Körper, aber wenn er intensiv an ihn dachte, sah er als Zentrum davon ihr rechtes Handgelenk mit der Uhr des Kubaners. „Kein Wunder“, sagte er. „Und wie stillt man Liebesnot?“ Er deutete aufs Bett. „Dort.“ Sie betrachtete es nachdenklich. In einem spontanen Entschluß ließ sie den Bademantel fallen. Darunter hatte sie nicht einmal mehr soviel Stoff, wie für ihren Bikini verwendet worden war. Sie nahm ihm das Glas aus der Hand, trank und warf sich rückwärts auf das Polster. Als er sich das Hemd aufknüpfte und den Hosengürtel löste, ging es ihr nicht schnell genug. Sie riß ihm die Sachen vom Leib und war, als er sich auf sie legte, dem ersten Höhepunkt schon sehr nahe. Ihre Brüste waren scharf wie Speerspitzen, und ihre Schenkel umfaßten ihn wie ein Schraubstock. Ihr Feuer zehrte sie fast auf. Wie eine Stichflamme loderte es los, brüllte auf und war aus. Dann loderte es wieder und erlosch. Die Flamme zuckte, ein Knall und aus. So ging es Stunden. Aber die Pausen wurden allmählich größer. Wer lange unzureichend ernährt wurde, dessen Magen verkleinerte sich. Bekam er dann große Mengen zu essen, füllte sich der kleine Magen rasch und ein Völlegefühl verbreitete sich. Auf Olga übertragen war es so, daß sie nach dem vielgängigen Menü völlig erschöpft zur Seite rollte und im Nu einschlief. 78
Sie schlief so tief, daß es ihn keine Mühe kostete, die Rolex-Imitation von ihrem Handgelenk zu streifen. Er ging damit ins Badezimmer. Während er noch daran manipulierte, wurde ihm klar, daß er Olga falsch eingeschätzt hatte. Zu spät. Sie stand hinter ihm. Urban spürte die steife Kälte, die der Lauf ihrer Makarow-Pistole in seinem Nacken erzeugte. Dann erst nahm er die Körperwärme, die Vermischung von tierischem Duft mit teurem Parfüm wahr. In umgekehrter Reihenfolge wäre es besser gewesen. „Keine Bewegung, Gospodin“, flüsterte sie. „Nicht einen Atemzug, nicht einen Lidschlag, oder ich drücke ab.“ 10. Moskau 13. September Wie immer ging die Sitzung der Politbüromitglieder erst in den Morgenstunden zu Ende. Die reinen Technokraten hatten sich verabschiedet. Wer noch weiter im Kreml ausharrte, war der harte Kern, jene paar Männer, welche über Wohl und Wehe, über Krieg und Frieden entschieden. Ranghöchster war der Generalsekretär der Partei. Die anderen drei, der Geheimdienstchef, der Marschall und der Minister des Äußeren, seine Stellvertreter, standen in der Hierarchie nur wenig unter ihm. „Ich bat Sie, hierzubleiben, Genossen, Genosse Generalsekretär“, begann der Außenminister. „Es gibt da ein Problem.“ „Raus damit“, drängte der Regierungschef. Er hatte einen Zwanzigstundentag hinter sich und war ziemlich 79
erschöpft. Der Minister, ein Mann, der wußte, wie man ein Thema servierte, brachte es in einem Satz. „Castro springt ab.“ Das wirkte auf alle wie ein belebender Stromstoß. „Gerüchte“, tat der Marschall es ab. „Immer im Spätsommer, wenn auf der internationalen Bühne nichts los ist, kommt derartiges auf. Einmal schert Finnland aus und geht zur EG, dann droht eine Konterrevolution in Ungarn, diesmal ist Castro an der Reihe.“ Der Regierungschef schien der gleichen Meinung zusein. „Ich habe andere Schwierigkeiten, einen Haufen so hoch wie der Berg Ararat. Kommt mir mit Kuba erst, wenn sich etwas konkretisiert.“ „Castro hat Feinde im Land“, gab der Minister zu bedenken. „Die habe ich und Sie ebenfalls, Genossen. Soll das etwa eine neue Erkenntnis sein?“ „Castros Feinde“, fuhr der Minister fort, „behaupten, er sei ein Mann der USA.“ Der Marschall lachte, daß sich das Beben in seinem Doppelkinn fortsetzte. „Davon merkt man allerdings wenig.“ „Wenn die USA zur Invasion auf Kuba antreten, und Castro sie reinläßt, dann wird man auch in unserem Stabsbüro anders darüber denken.“ „Natürlich machen wir längst Planspiele“, räumte der Marschall ein. „Täten wir es nicht, wären wi r schlecht vorbereitete Soldaten. Aber wir machen auch Planspiele für einen Weltraumkrieg, einen Zwischenfall in Nahost, den Abwurf eine r Atombombe über Moskau oder den Angriff der NATO auf die DDR. Wir sind bestens vo rbereitet.“ 80
„Eine Invasion der USA in Kuba?“ zweifelte der Regierungschef. „Angenommen, sie würde mit Castros Einverständnis stattfinden, dann könnten wir praktisch gar nichts tun. Die Insel liegt nur wenige Meilen vor Florida und in ihrer Hemisphäre.“ Zum ersten Mal meldete sich der Geheimdienstchef zu Wort. „Man könnte schon etwas tun“, meinte er. „Vorher in Kuba landen“, fiel der Marschall, der die meisten Unternehmungen des KGB als militärisch absurd, unnötig, wenn nicht gar utopisch bezeichnete, ihm ins Wort. „Sind ja nur zigtausend Kilometer.“ „Ich dachte an etwas anderes“, äußerte der KGBChef mit einer Stimme, die oft so leise war, daß die nicht mehr taufrischen Gehöre der meist sechzigjährigen Politbüromitglieder Mühe hatten, ihn zu verstehen. „Und was kostet das, bitte?“ „Nicht einen einzigen Soldaten.“ Der Minister lächelte ungläubig. „Der CIA kurbelte in den siebziger Jahren absolute Wahnsinnsobjekte an, um Castro beiseite zu schaffen. Das reichte von Sprengstoff in seinen Zigarren bis zu vergifteter Zahnpasta.“ Daraufhin zog der KGB-Chef sich beleidigt zurück. „Wenn Sie alles besser wissen, Genossen, na schön.“ Der Regierungschef stand ihm bei. „Woran dachten Sie, Genosse?“ Der KGB-Chef zierte sich erst. Dann äußerte er sich doch. „An Liquidation. Im Gegensatz zu den Amerikanern haben wir Leute unseres Vertrauens in Castros Nähe, die er ebenfalls für Leute seines Vertrauens hält.“ Der Staatschef winkte entsetzt ab. „Davon will ich nichts gehört haben. Ich mag Castro. 81
Er ist mein Freund.“ „Und wir haben Verträge“, fügte der Marschall hinzu. „Verträge werden nur geschlossen, um den Partner solange in Sorglosigkeit zu hüllen, bis man sie bricht.“ „Schluß der Debatte“, entschied der Staatschef. „Solchen Blödsinn höre ich mir nicht länger an. Nicht zu später Stunde und nicht zu früher Stunde,“ Der KGB-Direktor hob die Hand und ließ sie wieder auf die mit grünem Filz bezogene Tischplatte sinken. „Es sei denn…“, sagte er. „Die Amerikaner planen eine Invasion“, versuchte der Marschall ihn erneut lächerlich zu machen. „… ich hätte die Beweise.“ „Castro ist so zuverlässig wie ein Gesetz der Physik“, betonte der General. Der KGB-Chef setzte es ihnen nun in winzigen Portionen vor. Er war kein Mann, der Behauptungen aufstellte, für die es keinerlei Anzeichen eines Beweises gab. ,,Der CIA ist hinter gewissen Dokumenten her.“ „Hinter kubanischen?“ „Dem Protokoll einer Staatsratsitzung von Mai diesen Jahres, wo es möglicherweise zu strategischen Beschlüssen kam, die Zukunft Kubas betreffend. Vergessen wir nicht, Kuba hat durch die Revolution so gut wie nichts gewonnen.“ „Seine Freiheit von Battista, dem Blutsauger.“ „Wie oft sind Sie in Kuba gewesen, Marschall, und wie lange? Und gewiß nie inkognito. Uns zeigt man das wirkliche Leben doch gar nicht. Weder hier in der UdSSR noch anderswo. Politiker sehe n immer nur Kulissen, Potemkinsche Dörfer, je nachdem, welche Entscheidungen man von ihnen erwartet. Das wirkliche Kuba ist verarmt, ausgepowert, am Ende. Außerhalb der 82
Funktionärskreise herrscht nur Unzufriedenheit im Land.“ Niemand zollte dem KGB-Chef Beifall. „Welcher Beschluß wurde in Havanna gefaßt?“ fragte der Generalsekretär. „Die Amerikaner kennen ihn nicht und möchten ihn haben. Sie kriegen ihn aber nicht. Wir kennen ihn auch nicht und möchten ihn ebenfalls. Wir bekommen ihn aber, denn wir haben ihn bereits“, deutete der KGBChef an. ,,Dann zeigen Sie ihn uns doch.“ „Er ist unterwegs nach Moskau.“ „In welcher Hand befindet er sich derzeit?“ faßte der Marschall nach, der allem mißtraute, was nicht generalstabsmäßig ausgearbeitet war. „Eine unserer zuverlässigsten Agentinnen brachte die Filme an ach.“ „Und warum ist sie nicht hier?“ „Es gibt einige Probleme. Sie mußte den Mann vom Havanna-Expreß töten. Interpol jagt sie. Das hält sie im Nato-Bereich fest. Aber ich bin zuversichtlich. Wir erwarten Olga in den nächsten Tagen, wenn nicht gar in den nächsten Stunden.“ Der Generalsekretär schaute auf die Uhr. „Genossen.“ Er gähnte unterdrückt. „Damals, zu Stalins Zeiten mitten im Krieg, ging hier die Nacht erst zu Ende, wenn der Tag begann.“ Einer trat zur Stirnwand des Konferenzraumes und Öffnete die Vorhänge. Über Moskau dämmerte es. Sie löschten das Licht, und der Staatschef erklärte: „Nächste Sitzung, sobald die Dokumente aus Kuba vorliegen. Wie lautet der Deckname?“ „Havanna-Expreß“, wiederholte der KGB-Chef. Der Generalsekretär sammelte seine Akten 83
zusammen. „Rufen Sie mich an“, entschied er, „sobald er eingetroffen ist.“ Er verzichtete auf seine gepanzerte SIL-Limou-sine. Es war bereits zu spät, um sich zu seiner Datscha bringen zu lassen. Er würde sich in den Privaträumen hinter seinem Arbeitszimmer hinlegen. In wenigen Stunden schon mußte er am Flugplatz sein, zum Empfang des australischen Premierministers. 11. Rimini 13. September Urban fühlte das kalte Eisen der Makarow im Kreuz. Seine Nackenhaare sträubten sich. „Keine Bewegung, Gospodin“, flüsterte Olga, „nicht einen Atemzug, nicht einen Lidschlag, oder ich drücke ab.“ Sie wird sich hüten, dachte er und drehte sich langsam um. In ihren Augen stand Entschlossenheit, diktiert von Wut, die mit Haß gespickt war wie ein Rehbraten mit Speckstreifen. „Du hast mich schäbig benutzt“, stieß sie heraus. „Bei wem herrschte denn Hungersnot?“ fragte er. „Bei mir etwa?“ „Gib die Uhr zurück.“ Sie faßte danach. Er zog die Hand zurück. Sie faßte wieder danach, den Lauf der KGB-Pistole auf sein Herz gerichtet. Diesmal streckte er die Hand mit der Uhr nach oben. Olga war kleiner als er und hatte kürzere Arme. Sie 84
bohrte den Lauf der Waffe in seine Brust. „Gib mir die Uhr her!“ „Sie ist nicht dein Privateigentum.“ „Wessen denn?“ „Staatseigentum, denn du arbeitest für den Staat“ Sie schien das anders zu sehen. Ihre dunklen Augen begannen, Maß zu nehmen. Unerwartet reckte sie sich auf die Zehenspitzen, erwischte die Uhr, entwand sie ihm und versuchte, ihn mit dem Lauf der Makarow niederzuschlagen. Urban wich aus. Dadurch wurde der Treffer verfälscht. Gewöhnlich betrachtete er Frauen nicht als Gegner, die man niederkonterte wie einen männlichen Killer. Olga steigerte sich jedoch zu einer Form, die lebensgefährlich wurde. Sie bekam den Blick des entschlossenen Jägers. Taumelnd hielt Urban sich an der Wanne fest, versteifte die Handkante und setzte sie ein wie ein Geschoß. Er traf sie unterhalb der linken Kinnlade. Die Wirkung trat sofort ein. Sie öffne te den Mund, in ihr Gesicht trat ein Ausdruck von ungläubigem Staunen. Die Waffe entglitt ihr, sie sackte zusammen. Urban fing sie auf, damit sie nicht mit der Stirn gegen das Bidet schlug. Dann trug er sie aufs Bett und wartete, bis sie die Augen wieder öffnete. „Du bist eine Kanaille“, keuchte sie. „Ich handle nur nach Order.“ „Nach welcher? Mißtraut man mir etwa?“ „Kommt darauf an“, wich er aus. „Mal sehen.“ Er hatte sein Taschenmesser geöffnet und setzte die Schärfe der Klinge hinten in den Deckel der RolexImitation. Beim Original war der Deckelrand fein gezahnt und verschraubt, hier war er ebenfalls gezahnt, 85
aber nur eingeklemmt. Das weiche Blechmaterial zeigte Spuren des Messers und bog sich, aber dann sprang der Decke l auf. Über dem tickenden Billiguhrwerk lag eine dünne Silberfolie. Urban faltete sie auf und entdeckte die wenige Zentimeter langen Filmstreifen. „Super acht, ungefähr zwei Dutzend Aufnahmen“, schätzte er. „Ohne Projektor nicht zu lesen“, ergänzte Olga. Er ließ die Filmstreifen, wo sie waren, und faltete die Folie wieder zusammen. „Was hattest du damit vor, Olga?“ „Abliefern, was sonst?“ „Nicht etwa meistbietend zu verkaufen?“ „Was unterstellt man mir da“, empörte sie sich. „Habe ich euch je Anlaß gegeben, an meiner Loyalität zu zweifeln?“ Urban holte den gläsernen Aschenbecher und Streichhölzer, „Gelegenheit macht Verräter.“ In den Ascher legte er die dünne Folie mit den Filmen und drückte die Streichholzschachtel auf. „Was machst du da?“ fragte sie entsetzt. „Verbrennen“, entschied er. „Das lasse ich nicht zu.“ „Wieviel hat man dir geboten?“ fragte er. „Hunderttausend Dollar, eine halbe Million?“ Sie bäumte sich auf und setzte die Waffe eine r Frau ein: ihre Krallen und ihre Zähne. Er bändigte sie mit Mühe und fesselte sie, indem er das Laken unter der Matratze hervorzerrte, es zusammendrehte und ihr die Hände damit fest an den Körper band. Vor ihren ungläubigen Augen riß er das Wachs86
streichholz an und hielt die Flamme an die untere Ecke der Folie. „Das wagst du nicht“, zischte sie. „Jetzt hat keiner mehr was.“ Die Flamme brachte das Alumaterial der Folie zum Schmelzen. Es wurde schwarz, krümmte sich und runzelte zusammen. Als die Hitze die Filme erreichte, zischte das Ganze auf. Er ließ den Rest in den Ascher fallen, wo er ausbrannte und verkokelte. „Aus, fini, passe.“ „Das kostet dich deinen Kopf“, schwor Olga. „Der saß mir schon immer locker.“ Mit einemmal stieß sie einen Fluch aus, eine sehr langen, ukrainischen. „Jetzt weiß ich, warum wir nicht Russisch sprechen.“ „Hat lange gedauert, Gnädigste.“ „Du kannst überhaupt kein Russisch.“ „Jedenfalls nicht perfekt“, gestand er. „Weil du kein Russe bist.“ „Späte Erkenntnis, Gospodina Lysenkow.“ „Du bist weder Oberst noch für den KGB tätig. Aber woher weißt du, wer mein Führungsoffizier ist, woher kennst du meinen Code und meinen Klarnamen?“ „Wir verfügen über ausgezeichnete Archive “, antwortete er, „bei den Nato-Geheimdiensten.“ „O mein Gott!“ stöhnte sie, den Tränen nahe. „Wie kannst du einen um Hilfe rufen, an den du nicht glaubst“, höhnte er und überzeugte sich, daß die Filme und die Folie nur noch Asche waren. Sicherheitshalber zerbröselte er die Reste zwischen den Fingern. Olga schien mehr als geschockt zu sein. Der Schock riß wohl auch den Nebel auf. „Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne.“ „Wir sind uns nie begegnet.“ 87
„Es war eine Fotographie.“ „Na, hoffentlich war sie gut.“ „Ein Archivfoto. Auch der KGB verfügt übe r erstklassige Unterlagen, speziell von westlichen Topagenten. Du bist… Sie nennen dich Mister Dynamit,“ „Schon möglich.“ „Und auf so einen falle ich rein.“ „Allein das kostet dich Straflager.“ Sie schloß die Augen, als wollte sie ihn nie wiedersehen. „Ich schwör dir, Robert“, sagte sie, „das wirst du büßen.“ „Falls man dir Gelegenheit dazu läßt.“ „Wenn ich je hier rauskomme, werde ich dich töten, Dynamit.“ „Falls“, schränkte er ein. Er schenkte ihr die Reste der Uhr und stopfte ihr ein Knäuel Papiertaschentücher zwischen die Zähne. Dann packte er seine Reisetasche. „Ich hasse dich“, stöhnte Olga knebelgedämpft. „Besser als gar nichts“, bemerkte er. „Ich werde telefonieren. Ein paar Signori der italienischen Spionageabwehr werden kommen und dich abholen. Sei bitte freundlich zu ihnen.“ Er ging hinunter und bat um seine Rechnung. Wenig später war er unterwegs in Richtung Brenner. * Robert Urban hatte die Verfolger längst erkannt. Sie benutzten zwei Autos. Einen Lancia Thema und einen Alfa. Er streifte die Rolex, eine der Imitationen, die er in Rimini gekauft hatte, ans Fußgelenk und beabsichtigte, 88
ihnen eine Chance zu geben. Zwischen Bozen und Brixen verließ er die Autostrada und nahm die Dolomitenroute. Bis St. Ulrich war die Straße stark befahren. Erst hinter der Abzweigung, wo sie links zum Grödner Joch und rechts zum Sellajoch hinaufstieg, war es ruhiger. Ein Nachmittag im Spätsommer mit wolkenlosem Himmel und kräftigen Farben. Die Wiesen waren gemäht und hellgrün, Die Wälder fast blau. Der Langkofel warf schon Schatten, die Nordgrate der Marmolada hatten weiße Hauben aus Neuschnee. Er schaltete in den dritten Gang zurück, in der Serpentine in den zweiten. Der Lancia und der Alfa folgten ihm, wie von einem kilometerlangen Schleppseil gezogen. In etwa 1800 Meter Höhe, auf einem geraden Stück zwischen zwei Haarnadelkurven, vernahm Urban das typische Röhren eines Alfamotors in hohen Drehzahlen. Wahrscheinlich hatten die Verfolger den Alfa als Stoßtrupp vorausgeschickt. Sie griffen also an. Urban fuhr dicht an den Straßenrand und sah weiter unten den Alfa, wie er förmlich bergwärts flog. – Noch wäre es ihm ein leichtes gewesen, unter Einsatz seiner 250 PS den Alfa auf Distanz zu halten, aber er ahnte, um was es ging, und war vorbereitet. Er fuhr langsamer, so als wollte er die Landschaft genießen. Schon nach wenigen hundert Metern tauchte der Alfakühlergrill auf, das auf den Kopf gestellte Dreieck ohne Ecken. Der Abstand verkürzte sich zusehends. Der Alfa-Fahrer hupte. Urban machte ihm Platz. Der Alfa überholte mit so rasantem Tempo, daß die Körner aus dem Asphalt prasselten. Auch der schwere Lancia hatte aufgeschlossen. Ihre Absicht war also, ihn in die Zange zu nehmen. Vermut89
lich würde der Alfa oben eine Sperre bilden Den Gefallen, daß er auf die Sperre auffuhr und sie alle gegen sich hatte, tat Urban ihnen nicht. Kaum war der Alfa vor ihm um die nächste Haarnadelkurve gebogen, rollte Urban in eine Ausweichstelle und hielt. Handbremse fest, Tü r auf. Den Motor ließ er laufen, weil bergheiße Maschinen es gerne hatten, noch einige Minuten zu drehen. Er stieg aus, trat auf die Talseite hinter den BMW und wartete. Oben röhrte der Alfa gipfelwärts. Der Lancia kam unten aus der Kurve. Sie mußten ihn sofort gesehen haben, denn sie nahmen Tempo weg und rollten deutlich langamer. Unmittelbar hinter dem BMW bremsten sie scharf. Von den vier Türen schwangen drei auf. Aus jeder stieg einer mit einer Waffe in der Hand. Urban musterte sie, besonders ihre Gesichter. Er sah es auf zehn Meter Abstand deutlich. Zweifellos Südländer. Russen kaum. Deren Südländer, die Georgier, hatten andere Köpfe. Der Mann ganz vorn sprach englisch. „Legen Sie langsam die Hände auf den Kotflügel, Sir.“ Er hatte einen so gräßlichen Akzent, daß Urban sich fragte, warum er nicht gleich spanisch sprach. Mit einer Bewegung des Revolverlaufs teilte er seine Leute ein. Der eine nahm Urban ins Visier, der andere legte den Revolver auf den Kofferraumdeckel und suchte Urban ab. Als erstes streifte er ihm den Sakkoärmel Richtung Ellbogen. „Die Uhr! „rief er. „Marke?“ „Rolex.“ 90
Ihr Capo schüttelte den Kopf. „Nur Stahl, nicht aus Gold. Sucht weiter.“ Der Mann, dessen Waffe auf Urban gerichtet war, näherte sich ihm und stieß ihm den Lauf ins Kreuz. „Die Uhr. Du weißt welche. Gib sie raus.“ Kubaner, dachte Urban. Teufel, sind die Burschen schnell zur Stelle. Inzwischen warf ihr Anführer einen Blick ins Innere des Coupes. Er stellte den Motor ab, faßte in die Türtaschen, nahm Karten, Zigaretten und Handschuhe aus der Ablage am Getriebetunnel. Er öffnete das Handschuhfach, warf mit gekonntem Griff den Inhalt zu Boden, tastete unter die Sitze, klappte sie vor, suchte hinten. „Kofferraum öffnen!“ Er entdeckte den Bowdenzug für den Deckel. Inzwischen hatte der zweite Mann Urban abgetastet und an seinem linken Bein, dicht über de m Fußgelenk, etwas gefunden. Er zog ihm die Hose hoch. „Da ist sie.“ „Fußbanduhr“, spottete der Capo. „Schlaues Kerlchen. Aber dafür ist er ja berühmt.“ Sie zwangen Urban, sich hinzusetzen. Er mußte den Slipper ausziehen, dann streiften sie ihm die Uhr vom Fuß. Trotz des federnden Metallbandes hing sie an der Ferse fest. „Er hat sie drauf gebracht“, sagte der Capo, „also geht sie auch wieder runter. Und wenn wir ihm die Haxe abhacken.“ Der zweite Mann riß kräftig daran und hatte die Uhr in der Hand. Der Capo wog sie. „Zu leicht. Imitation. Das ist sie. – Ein Messer.“ Er bekam es. Im Nu war der Deckel offen. Zwischen Deckel und Uhrwerk sah er die Alufolie. Er 91
zupfte sie heraus, öffnete sie, nahm das Ende eines Schmalfilmstreifens zwischen die Finger und hielt ihn gegen die Sonne, so als könnte er ohne Lupe etwas erkennen. „Das ist es“, entschied er und wickelte alles, die Uhr, die Folie mit den Filmen und den Deckel, in ein frisches Taschentuch. „Was passiert mit ihm?“ fragte der mit der Waffe. „Umlegen?“ „Das hetzt uns die Nato-Geheimdienste auf den Hals. Die nehmen es verdammt übel, wenn man einen ihrer Asse umlegt.“ Der Capo der Kubaner griff unter das BMWArmaturenbrett, fand den Knopf, zog daran, und die Motorhaube entriegelte sich. Sie kippten sie hoch und klemmten ruckzuck den Kopf vom Verteiler und die Stecker von den Kerzen. Brutal rissen sie die Kabel aus der Führung und schleuderten das tintenfischartige Gebilde weit hinaus in den Abgrund. Der Capo saß schon im Lancia. Der mit der Waffe entfernte sich, rückwärts gehend, von Urban, und der dritte Mann versetzte ihm einen harten trockenen Handkantenschlag in den Nacken. Lautlos, wie es sich gehörte, sackte Urban zusammen. Der Schlag war nicht so, daß er ihn außer Gefecht setzte. Wahrscheinlich würde sein Nacken einige Tage verspannt sein, aber das ging mit Massage bald vorbei. Hauptsache, er spielte seine Show gut zu Ende. Dann würde es sie irgendwann unvergleichlich stärker schmerzen als ihn. Er sah sie wegfahren. Sie folgten dem Alfa. Als sie außer Sicht und nicht mehr zu hören waren, stand er auf, nahm einen tüchtigen Schluck Bourbon aus der Reiseflasche und steckte sich eine MC an. 92
Aber es half wenig. Irgendwie kam ihm der Himmel grau, die Almen braun und der Langkofel wie ein buckliger Zwerg Laurin vor. – Oben in der Reverstasche spürte er die scharfe Kante des Plastikstreifens. Er zog ihn heraus, drückte eines von den Thomapyrinchen ins Freie und spendete seinem gequälten Organismus den weißen runden barmherzigen Samariter. Dann machte er sich an den Abstieg, um die Einzelteile seines Motors einzusammeln. 12. Moskau 14. September Der Ton des Außenministers der UdSSR dem KGBChef gegenüber wurde schärfer. „Warum riefen Sie nicht zurück, obwohl ich darum bat?“ „Weil sich die Lage nicht geändert hat“, erwiderte der KGB-Chef. „Sie wissen, wie uns die Kubafrage auf de n Nägeln brennt. Der Generalsekretär ist beunruhigt.“ „Mir geht es nicht anders“, versicherte der Chef der Dzerzhinskystraße. „Aber noch haben wir die Unterlagen nicht hier.“ „Besteht überhaupt die Aussicht, daß Sie die noch kriegen?“ fragte der Außenminister spitz. „Man hört da Schlimmes.“ Was immer man dem Minister zugetragen haben mochte, der KGB-Chef war stets für ein vertretbares Maß von Wahrheit „Der Havanna-Expreß ist entgleist.“ „Geht es nicht deutlicher? Ihre Staragentin soll in der 93
Botschaft in Rom aufgetaucht sein. Die Botschaft untersteht meinem Ministerium“, betonte der Außenminister. Daher also hatte er die Information. „Unsere Agentin Olga“, berichtete der KGB-Chef, „hatte in Rimini, wo sie unterschlüpfte, um ihre Flucht nach Jugoslawien fortzusetzen, eine Begegnung mit einem Nato-Agenten. Einem ihrer Spitzenleute, dem sie nicht gewachsen war. Er brachte den Film an sich. Einzelheiten, wie ihm das gelang, liegen mir nicht vor. Die Verhöre von Olga dauern an.“ ,,Dann besitzt die Nato jetzt den Film.“ „Nein“, konnte der KGB-Chef den Minister beruhigen. „Der Agent verbrannte ihn vor Olgas Augen.“ Das wollte der Minister nicht glauben. „Sind Sie sicher?“ „Olga brachte die Asche mit. Sie wurde analysiert. Sie enthält Bestandteile aus geschmolzener Alufolie und Filmmaterial.“ „Und sie war nicht in der Lage, dem Burschen eins aufs Haupt zu schmettern und den Film für uns zu retten?“ „Sie hatte Mühe, sich vor dem Zugriff der italienischen Spionageabwehr in Sicherheit zu bringen. Ich glaube, es gelang ihr in letzter Minute mit Hilfe eines Stubenmädchens, das ihr Stöhnen hörte. Sie war professionell verschnürt, das Hotelzimmer von außen abgesperrt.“ Der Minister schien eine Weile zu überlegen. „Nun, immerhin ist Asche besser, als wenn die Nato den Film hätte. Aber warum der Film vernichtet wurde, das muß noch geklärt werden.“ „Olga wird sich verantworten müssen.“ „Sie hat gründlich versagt.“ In diesem Punkt stimmte der KGB-Chef seinem Po94
litbürokollegen zu. „Es gibt Aufgaben, für die Frauen wie geschaffen sind. Aber sie setzen zu oft Gefühle ein. Wenn eine Situation in offenen Zweikampf umschlägt, geraten sie leicht ins Hintertreffen. Angesetzt auf de n kubanischen Kurier Rosolito war Olga absolut erste Wahl.“ „Das ist Ihr Problem“, äußerte der Minister. „Sie wird natürlich versuchen, ihren Kopf zu retten. Leider löst das aber das Kuba-Problem nicht. Oder wollen Sie, daß wir Castro direkt fragen, was es mit den Gerüchten auf sich hat. Wenn es einen Film gibt, den Spione in Havanna an sich brachten, dann muß es auch die dazugehörigen Dokumente geben. Was aber steht in diesen Protokollen.“ „Dann fragen Sie Castro doch“, riet der KGBChef. Der Minister seufzte schwer. „Es ist dasselbe, als forderte man einen Frosch auf, einem Storch zu trauen.“ „Und wer ist der Frosch?“ fragte der KGB-Chef. * Wenige Stunden später liefen in Moskau Informationen ein, die der KGB-Chef am liebsten verschwiegen hätte. Sie kamen aus dem kubanischen KGB-Netz in Havanna. Daß die Meldung ernst zu nehmen war, ergab die Analyse des Telex. „Bibelsprüche“, kommentierte einer der Experten. „Bibelsprüche sind auf dem Film. Das darf doch wohl nicht wahr sein.“ „Es handelt sich nicht um Bibelsprüche, sondern um Texte aus Dantes Divina Commedia“ 95
„Naja, die Göttliche Komödie, das ist das gleiche wie Bibelsprüche.“ Der andere Experte ließ seinen Kollegen in dem Glauben. Gegen Unwissenheit war kein Kraut gewachsen. „Die Kubaner holten sich also ihren Film zurück.“ „Einen Film.“ ,,Das ist nicht dasselbe.“ „Von einem Nato-Agenten.“ ,,Den sie Mister Dynamit nennen.“ „Den sie auch als einen der ausgekochtesten Burschen bezeichnen. Wie ist das möglich? Nach Aussage von Olga wurde der Film in Rimini aus dem Container, der Uhr also, genommen und vor ihren Augen verbrannt. Sie brachte die Reste der Uhr nach Rom. Eine RolexImitation aus Hongkong.“ Der andere Auswerter überflog die Unterlagen und kam zu einem anderen Ergebnis. „Die Kubaner fanden bei dem BND-Agenten ebenfalls eine Hongkong-Imitation. Er trug sie versteckt am Unterschenkel über dem Fußknöchel. Sie nahmen sie ihm weg in der Meinung, das Original in ihren Besitz gebracht zu haben.“ Der zweite Analytiker wischte sich über das Stoppelhaar und zählte zusammen: „Zwei Möglichkeiten ergeben sich mithin. Entweder ist das Ganze nur eine Schmierenkomödie, und die Gruppe in Havanna will uns mit Bibeltexten abspeisen, oder…“ „… oder es gibt mehrere Uhren.“ „Dann müßte sich dieser Mister D. welche besorgt haben.“ „Keine Kunst in Italien. Dort werden alle Sorten feilgeboten.“ 96
„Er legte auch einen Super-acht-Film hinein.“ „Er fotografierte ab, was sich ihm gerade anbot und wie ein Dokument aussah. In diesem Fall eben die Divina Commedia von Dante.“ „Stop.“ Der andere warf den Bleistift weg und lehnte sich im Stuhl zurück. „Dann gibt es sogar drei Uhren. Uhr Nummer eins ist die, die er Olga wegnahm und einsteckte. Uhr Nummer zwei zerlegte er vor Olgas Augen und verbrannte den Film, mit der fadenscheinigen Begründung, der Inhalt sei Gift, Unrat, der allen Beteiligten nur schaden könne. Und Nummer drei präparierte er für den Fall, daß er verfolgt wurde. Schließlich mußte er möglichen Verfolgern auch etwas bieten.“ „Der Bursche, scheint mir, kann vorausdenken.“ „Und gewinnt Zeit.“ „Kein Zweifel. Er hat das Original aus Havanna. Die Originalimitation.“ „Eine Originalimitation“, zerlegte sein Kollege das Wortspiel, „ist zwar ungefähr das, was man unter einem geschimmelten Rappen versteht, der anschließend wieder schwarz eingefärbt wurde, aber es trifft die Situation auf den Punkt.“ „Der BND, die Nato oder die Amerikaner haben also das, was sie von Anfang an wollten, nämlich den Film über diese kubanischen Geheimprotokolle.“ „Ende der Durchsage. – Aber wer bringt es dem Genossen Chef bei?“ „Ich“, sagte der Kollege. „Kürzlich hat er unsere Abteilung einen Haufen überflüssiger Parasiten genannt, den man abschaffen sollte. Es wird mir also ein Vergnügen sein.“ Er raffte seine Akten zusammen und verließ das muffige, dunkle Büro, in das man die Analytiker verbannt hatte. 97
Der KGB-Chef erklärte den Politbüromitgliedern die Hiobsbotschaft wie ein Schüler seine schlechte Note in Mathematik. „Mit einer so unglaublich raffinierten Figuration war nicht zu rechnen.“ „Doppelter Boden mit Fallgruben nennt man das.“ „Stammt der Begriff nicht aus der Musiktheorie, aus der Kompositionslehre?“ fragte der Marschall, bekannt als Flötenspieler, womit er Friedrich dem Großen nacheiferte. „Immer wieder dieser verdammte Mister Dynamit“, fluchte der Außenminister. „Wie oft hat er uns schon in die Suppe gespuckt. Schon vor Jahren habe ich die Forderung aufgestellt, ihn zu liquidieren.“ Der KGB-Chef fühlte sich angesprochen. „Das wurde versucht, mehr als einmal. – Wenn ich mich recht erinnere, boten wir eine Million Goldrubel für seinen Kopf.“ „Zur Sache“, drängte der Staatschef. „Wenn ich recht verstehe, schwebt der Originalfilm der HavannaDokumente also noch im freien Raum.“ „Oder er klemmt schon in einem Mikrofilmprojektor.“ „ Gibt es eine Möglichkeit, an ihn heranzukommen?“ „Ich sehe keine“, bedauerte der KGB-Chef. „Dann muß man sich wohl damit abfinden, daß die Amerikaner ihn früher oder später in Händen haben. Wie werden wir darauf reagieren?“ Der Außenminister hatte durch seine Experten bereits Vorschläge ausarbeiten lassen und trug sie vor. „Wir behaupten, die Dokumente wären eine Fälschung, die wir längst kennen. Hergestellt, um zwischen die UdSSR und die Sozialistische Republik Kuba einen Keil zu treiben. Ein übles Machwerk des amerikani98
schen Geheimdienstes.“ Sie stimmten ab. Der Vorschlag wurde in abgewandelter Form angenommen. Im Verhältnis zu Kuba würde sich offiziell nichts ändern, aber man wollte die Augen offenhalten und den karibischen Verbündeten scharf beobachten. Ebenso die Reaktionen der Westmächte. „Im KGB muß das natürlich zu Konsequenzen führen“, forderte der Marschall. „Wir haben Olga zurückgepfiffen“, erklärte der Geheimdienstchef. „Ist das alles?“ „Ihr Verhalten wird in alle Winkel durchleuchtet, ihr Versagen aufgeklärt. Danach wird sie für Agenten, die im Westeinsatz vergessen haben, was ihre Pflicht ist, ein warnendes Beispiel abgeben. Dafür haben wir erstklassige Nachhilfelehrer – in Sibirien.“ „Das bedeutet Bewährung in einem Straflager.“ „Man muß Exempel statuieren“, entschied der KGBChef, „wo kämen wir hin, wenn das Schule macht. Olga trifft morgen in Moskau ein. Großer Empfang mit Handschellen.“ „Nächster Punkt“, drängte der Vorsitzende. Mit personellen Nebensächlichkeiten dieser Ar t konnte er sich nicht aufhalten. 13. Kopenhagen 15. September In Rom hatte die KGB-Residentur Olga Lysenkow mit neuen Papieren und einer blonden Perücke ausgestattet. 99
Sie reiste als die dänische Journalistin Kerstin Kirsten nach Moskau. Ihr Flug in die Heimat war über Mailand gebucht. Dort hatte sie von der Alitalia in eine Aeroflot Tupolew umzusteigen. Sie ahnte, was ihr in der Zentrale bevorstand, aber sie dachte an ihre Verdienste und hoffte, mit einer scharfen Verwarnung und Bewährungseinsatz davonzukommen. Ganz so schlimm würde es wohl nicht werden. In Mailand erfuhr sie die Wahrheit. Gerade im Begriff einzuchecken, stand plötzlich Pjotr vor ihr. Elegant nach der neuesten Herrenmode gekleidet, hätte man ihn für einen Italiener gehalten, wenn er nicht blond gewesen wäre, ein flaches Gesicht und die typisch abgeknickte Russennase gehabt hätte. Er reichte Olga die Hand. Doch ihre Rechte zuckte zurück. „Haben sie dich abgestellt, um mich pünktlich zu verfrachten?“ fragte sie mißtrauisch. „Ich erfuhr zufällig von deinem Mißgeschick“, antwortete er. Sie kannte Pjotr. Sie wußte, daß er sie mochte. Sie hatten einige Male eng zusammengearbeitet. Er hatte ihr seine Liebe gestanden, und sie hatte ihn vertröstet. – Du bist nicht der Mann meiner Träume , hatte sie ihm erklärt, laß mir Zeit. Er hatte sich damit zufriedengegeben. Was nicht ist, kann noch werden, hatte er gemeint. „Mißgeschick ist fraglos untertrieben“, bemerkte sie in klarer Selbsteinschätzung. „Ich wollte dich nicht so blind auflaufen lassen, Olga Babutschka.“ Das machte sie hellhörig. „Auflaufen“, wiederholte sie. „Ich muß mich nur rechtfertigen. Und das werde ich tun.“ 100
„Dann denk dir gute Gründe aus“, warnte er sie. „Sie halten das ganze Westnetz für korrupt und verkommen. Sie werden an dir ein Exempel statuieren, um uns damit auf Vordermann zu bringen.“ Sie standen in der Schlange vor der Paßabfertigung. Pjotr redete auf sie ein und zog sie beiseite. Sie schüttelte seinen Griff ab. „He, was soll das bedeuten?“ Er legte die Handgelenke übereinander. Eine Geste, die jeder Russe verstand. „Klar, sie springen nicht gerade freundlich mit mir um.“ „Wenn es nur das wäre, Olga.“ „Ich rechne mit Strafeinsatz.“ „Du solltest besser mit Straflager rechnen, Olga“ Jorkuta?“ „Kastascha“, deutete er an. „Von Kastascha war die Rede.“ „Dorthin schaffen sie Verbrecher. Ich habe vielleicht versagt, aber ich bin weder Verräterin noch Regimegegnerin. Wann kam je einer aus Kastascha zurück?“ „Selten“, befürchtete Pjotr. „Nimm ein anderes Flugzeug, Liebling.“ Sie wurde nervös und wirkte ziemlich durcheinander. Aber sie vertraute Pjotr. Er arbeitete bei der KGBSektion des sowjetischen Generalkonsuls in Mailand. Er wußte Bescheid, war stets erstklassig informiert. „Welches Flugzeug soll ich nehmen?“ „Du hast einen dänischen Paß. In einer Stunde fliegt die Skandinavien Airlines nach Kopenhagen.“ Ihre Augen waren jetzt so schmal, als hätte sie der Stichel eines Holzschnitzers in eine Plastik geschnitten. „Das bedeutet Absprung.“ Er nickte mehrmals mit zusammengepreßten Lippen. 101
„Befehlsverweigerung oder den Tod. Du kannst wählen, Olga.“ Sie lachte verzweifelt. „Und in Kopenhagen?“ „Hast du Geld auf einem Westkonto?“ „Wenig. Reicht knapp für zwei Monate.“ Er schaute sich erst um, dann holte er eine n Umschlag aus der Tasche seines Trenchcoats und steckte ihn ihr zu. Außerdem nannte er eine Telefonnummer. „Was soll ich damit?“ „Man wird dir weiterhelfen.“ Sie kannte sich nicht mehr aus. „Was ist das für ein Spiel, Pjotr?“ „Ich bin dein Freund“, versicherte er. „Das weißt du. Und wir sind uns hier nicht begegnet.“ Sie zögerte. „Du kannst“, fügte er noch hinzu, „entweder in Kastascha ankommen oder in der Freiheit. Es ist deine Entscheidung.“ Rasch zog er sie an sich, küßte sie, wandte sich um und ging davon. Olga Lysenkow zerriß ihr Moskau-Ticket und buchte bei SAL einen Platz in der Maschine nach Dänemark. * In Kopenhagen nahm Olga ein Zimmer in eine m Hotel hinter der Österbrogade. Es ging auf 19.00 Uhr. Vor wenigen Minuten war die Aeroflot-Maschine in Moskau gelandet. – Ohne sie. – Für den KGB würde kein Zweifel darüber bestehen, daß sie ausgestiegen war, daß sie sich still und leise verabschiedet hatte. Das kam einem Eingeständnis ihrer Sc huld gleich. Die Konsequenz lautete: Olga Lysenkow suchen, finden 102
und liquidieren. Dem mußte sie zuvorkommen. Sie lag auf dem harten Hotelbett, steckte sich eine Zigarette an und dachte nach. Ihre Ersparnisse aus Spesendollars auf eine m Schweizer Bankkonto und die tausend Dollar vo n Pjotr reichten nicht aus, um die Spur zu löschen und unterzuschlüpfen. Aber da war noch die Telefonnummer, die Pjotr ihr gegeben hatte. Sie rief an. Erst war die Leitung eine halbe Stunde lang besetzt. Dann, als endlich das Freizeichen ertönte, meldete sich keiner. Sie fürchtete schon, ihr Gedächtnis habe sie im Stich gelassen und die Nummer nicht präzise behalten. Am Morgen versuchte sie es wieder. Sofort wurde abgehoben. Der Teilnehmer schien den Hörer förmlich von der Gabel zu reißen. Vorsichtshalber meldete sie sich auf dänisch. „Sprechen Sie bitte englisch“, wurde sie ersucht. Jetzt erkannte sie den Akzent. „Ich spreche auch spanisch“, erwähnte sie. „Woher wissen Sie, daß ich Spanier bin?“ klang es unfreundlich aus der Muschel. Sie hielt mit ihrer Vermutung nicht hinter de m Berg. „Kubaner“, verbesserte sie. Die Schärfe des Unbekannten wich einer gewissen Verbindlichkeit. „Pjotr ist mein Freund.“ „Meiner auch.“ „Er hat mich ausgebildet, damals in den PripjetSümpfen.“ „Ja, er war Trainer dort.“ „Ich wußte, daß er in Mailand arbeitet und wandte mich an ihn, weil wir Hilfe von ihm 103
brauchen. – Und Sie, Olga, brauchen vielleicht die unsere. Sie sind doch Olga?“ Ich heiße Kerstin Kirsten.“ „Ja, natürlich. Pardon. Ich habe das Gefühl, nein, ich weiß es, daß unsere Interessen koordinierbar sind.“ „Inwiefern?“ „Darüber nichts am Telefon, bitte. Selbst hier sitzen Wanzen im Draht. Wann sehen wir uns?“ Ich habe Zeit.“ „Wo ungefähr Hegt Ihr Hotel?“ Sie erklärte es ihm. – Er beschrieb ihr den Weg zum Treffpunkt, wie sie vom Bahnhof aus zu gehen hatte. „Ich habe als Erkennungszeichen einen kalten Zigarillo im Mund und Sie eine zusammengefaltete Zeitung links. Bis in einer Stunde. Okay?“ Olga verließ das Hotel, schlenderte die Österbro-gade entlang bis zu dem Platz, der Triangeln hieß, dort nach links in den Felled Park hinein. Sie durchquerte ihn auf den gewundenen Wegen, bis sie den blauen See schimmern sah. Es war ein klarer nordischer Tag, schon ein wenig frisch. Kühler Wind wehte von Nordosten her über das flache Sjaelland. Sie knöpfte den Trenchcoat zu und gürtete ihn eng. Ein paar frühe Spaziergänger führten ihre Hunde aus. Die Blätter an den Bäumen und Büschen begannen sich zu verfärben. Aus einer Tannengruppe unmittelbar vor ihr trat ein Mann. Zweifellos Südländer, aber hochgewachsen und gewiß bärenstark. Er trug einen Oberlippenbart und ganz unten am Kinn ebenfalls einen scharf gestutzten Bart. Im Mund hatte er einen Zigarillo, lang dünn, kalt. Olga wechselte die Zeitung nach links. Er bemerkte es und ging auf sie zu. 104
„Olga Lysenkow?“ „Kerstin Kirsten“, stellte sie sich vor. Er musterte sie kurz, aber intensiv. „Sie tragen eine Perücke. Das erkennt man. Nicht alle Däninnen sind blond. Und vor allem nicht so schön. In Ländern mit kalten Wintern und viel Dunkelheit geraten die Frauen gewöhnlich eher grobschlächtig.“ „Im Gegensatz zu Kuba“, bemerkte sie spitz. „Aber durch schwarze Barte sollten Sie Ihr südländisches Aussehen nicht auch noch unterstreichen, Genosse.“ Er wandte sich ab. Als er sich wieder umdrehte, fehlten ihm beide Bärte. „Ich wollte nur, daß Sie mich auch erkennen.“ „Wir sind Profis, oder?“ sagte sie. „Deshalb sollten Sie zur Sache kommen.“ Sie gingen in eines der Cafes am See und bestellten Frühstück. Tee, Smörgasbröd und Hörnchen. * Erst hatte der Kubaner das Problem scharf und kurz umrissen. Nachdem die Kellnerin serviert hatte, kam er, während Olga Tee eingoß, zu den Details. „Uns geht es um die Dokumente, die Sie von dem Kurier Rosolito übernahmen und die Ihnen dieser BNDAgent abluchste.“ „Ich war so töricht zu glauben, er hätte den Film verbrannt.“ „Unser Team war noch törichter, nämlich zu glauben, daß die Uhr, die man ihm in den Dolomiten abnahm, das Original sei. Man ließ ihn sogar am Leben. Aber das hat er jetzt verwirkt.“ „Warum?“ wollte sie wissen. „Weil Sie ihn töten werden, Olga“ 105
„Und warum soll ausgerechnet ich das erledigen?“ „Weil Sie ihn hassen, und weil wir Ihnen dafür hunderttausend Dollar bezahlen werden.“ „Es geht nicht um meine Motive. Sie sind klar und eindeutig. Aber Ihre Motive würden mich interessieren, Herr Kollege.“ „Er ist zu gefährlich. Er weiß zuviel.“ Sie lachte leise, gab Sahne in den Tee, rührte um und trank. „Schon beinah kalt.“ Sie biß in ein Hörnchen. Es war eine Art Croissant mit Zuckerguß, fetten Rosinen und Nußreibseln. „Warum lachen Sie, Olga?“ fragte der Kubaner. „Weil dieser Mann längst den Originalfilm, den einzigen echten, nach München brachte und man ihn dort im BND-Labor analysiert.“ Der Kubaner blickte sie aus tiefliegenden schwarzen Augen an. „Ich mag vielleicht nicht so aussehen, aber ich bin ziemlich intelligent, Olga Das wissen wi r natürlich auch alles.“ „Warum also soll er beseitigt werden?“ Der Kubaner versuchte, es zu erklären. „Hier“, sagte er, „ist ein Stück Film mit explosivem Inhalt, und dort ist der Agent, der ihn beschaffte. Ohne Zeugnis des Mannes, woher er diesen Film hat, ist der Film nichts wert. Vielleicht eine Fälschung, eine Manipulation, Ausgeburt eines perversen Gehirns, hergestellt von den westlichen Geheimdiensten, um eine neue Richtung in der Westindienpolitik einzuleiten. Ohne diesen Zeugen, Oberst Urban, der den Originalfilm kubanischer Geheimdokumente an sich brachte, kann man gegensteuern. Man behauptet einfach, die Nato arbeite mit Fälschungen, um dies oder jenes zu errei106
chen, um Zwietracht zwischen Kuba und Moskau zu säen, um eine Konterrevolution zu schüren und und. Wir sind in der Lage, mit einem Gegenfeuer den Waldbrand zu löschen. Aber nicht, wenn dieser Mann – sie nennen ihn Mister Dynamit, und sein Ruf ist nicht gerade der eines Lügners – das Gegenteil bezeugt. Ist das klar?“ „Vollkommen klar“, bestätigte Olga. „Und deshalb wird er sterben.“ Sie nickte langsam, fast betulich. „Aber nicht für hunderttausend Dollar.“ Der Kubaner setzte die Tasse ab. „Sie sind geldgierig, Olga.“ „Nein“, erklärte sie. „Mein Haß ist zu tief, meine Rachegefühle zu groß, als daß ich sie für ein Taschengeld zur Explosion bringen würde. Hundertmal hat man versucht, diesen Mann zu beseitigen. Diesmal wird es gelingen. Ich fordere eine Viertelmillion Dollar. Die Hälfte in bar.“ Der Kubaner winkte der Kellnerin und bezahlte. „Gehen wir gleich zur Bank“, schlug er vor, „oder genügt es noch heute nachmittag?“ „Heute nachmittag“, antwortete sie, „bin ich nicht mehr hier.“ „Sondern?“ „Sie stellen keine Fragen“, antwortete sie, „und ich verrichte meinen Job.“ 14. München 16. September Schon wenige Stunden nach Rückkehr des Agenten Robert Urban ins BND-Hauptquartier München-Pullach 107
hatte das fototechnische Labor Vergrößerungen der Schmalfilmdokumente hergestellt. Die auf Super-acht bestenfalls zwei mal drei Millimeter großen Ablichtungen waren in einem relativ einfachen Verfahren auf deutsche Normgröße DIN-A4 aufgeblasen worden. Man hatte den Film in einen Video-Abtaster gelegt, ihn Seite für Seite auf einen Bildschirm geschaltet und sowohl fotografiert als auch ausdrucken lassen. Urban hatte jeden Handgriff der Prozedur überwacht. Den ersten Computerausdruck überflog er. „Natürlich alles in spanisch“, stellte er fest. Da er diese Sprache recht gut beherrschte, hatte er die Seiten für seinen privaten Bedarf schnell übersetzt. Dabei war es ihm unmöglich, Kommentare zu unterdrücken. „Unglaublich“, sagte er, und immer wieder: „Unmöglich, unfaßbar, sensationell – falls es wahr ist.“ Das Telefon ging. Der Operationschef war dran und drängelte. „Wie sieht es aus?“ „Wir haben es.“ „Warum bringen Sie es nicht hoch?“ „Können Sie Spanisch, Großmeister?“ „Es muß übersetzt werden.“ „Man ist dabei.“ , Aber dalli.“ Urban legte auf. Es war wie immer. Erst völlige s Desinteresse, da man nicht wußte, ob es je gelang, das Material zu bekommen. Wenn es dann vorlag, nervten sie einen, als hinge der dritte Weltkrieg davon ab. Er legte dem vereidigten Übersetzer das erste Blatt hin. 108
,,Laß dir Zeit“, sagte er. „Kein schwieriger Text. Das schreibe ich gleich auf deutsch in die Maschine.“ Der Übersetzer begann zu tippen. Der erste Satz stand schon auf dem Blatt. Er las den zweiten, dachte kurz nach, brachte ihn in die knappste Form, ohne etwas wegzulassen oder hinzuzufügen, und hämmerte ihn hin. So ging es Satz für Satz, Absatz für Absatz. Es dauerte keine zehn Minuten, und er hatte die erste Seite übersetzt. Urban nahm sie. „Schieß mir die nächste mit Rohrpost in die Operationsabteilung.“ Bevor er die Übersetzung ins Allerheiligste trug, ging er ins Archiv und ließ sich dort ein paar andere Dokumente aus Havanna vorlegen, um die Übertragung in der Form zu prüfen. „Ich brauche ein Protokoll des Staatsrates oder des Revolutionsrates mit Unterschrift von Castro.“ „Da haben wir Verschiedenes da.“ „Offizielles?“ ,Ja, Veröffentlichtungen in kubanischen Zeitungen. Ziehst du ein bestimmtes Thema vor?“ „Egal, um was es sich handelt“, sagte Urban. „Zukkerrohrkampagne, Prostitution oder Einsatz Minderjähriger in der Zigarettenindustrie. Ich möchte nur den Stil vergleichen.“ Die Dokumente, die Urban vorgelegt wurden, waren offiziell, und es handelte sich dabei um Faksimiledruck. Also mußte auch die Form stimmen. Er legte die Blätter nebeneinander. Schriftgrad, Randbreite, Zeilenabstand, Zeilenbreite, Protokollkopf, Registratur und Diktierzeichen, alles hatte seine Ordnung und war am richtigen Platz. 109
Seine Zweifel schwanden. „Scheint echt zu sein“, sagte er. * Nun ging es schon seit Stunden um die Beratung des Inhalts. „Eine Art Testament Castros“, meinte der BNDVize. „Zumindest ein Strategiepapier.“ „Für mich ist es sein politisches Testament.“ „So alt ist er noch nicht“, wurde eingewendet. Ein Kubaspezialist der Runde hob die Hand als Zeichen, daß er etwas beizusteuern hatte. „Castro ist neunzehnhundertsiebenundzwanzig geboren, steht also im siebten Jahrzehnt seines Lebens. Er gilt als rüstig und sieht auch so aus.“ „Sieht auch so aus“, wandte Oberst Sebastian, der Operationschef, ein. „Was heißt das?“ Weil er gerade keine Virginia zwischen den Zähnen hatte, Urban aber eine Goldmundstück MC ansteckte, kläffte er dackelartig wie immer „Muß das sein?“ Ja, es muß.“ Urban beantwortete die Frage, die im Raum stand: „Ist es noch niemandem aufgefallen, daß man Fidel seit langer Zeit nicht mehr mit der geliebten Havanna sieht?“ „Nun ja, die übliche Anti-Raucher-Kampagne. Der eine schnupft, der andere frißt, der dritte säuft, der vierte kaut Tabak, bloß keiner raucht. Aus Angst vor NegativImage. Soweit sind wi r doch schon, daß gute Leute nicht mehr gewählt werden, nur weil sie eine Zigarette unter der Nase haben.“ 110
„Castro würde sich nie danach richten. Er ist der Maximo-Leader, und Kuba ist ein Tabakland. Aber wie man hört, raucht Castro nicht einmal heimlich.“ „Warum?“ Der Kubaexperte klopfte sich mit dem Finger auf die Brust. ,,Ding-dong“, machte er…Die schwarze Blume.“ „Krebs?“ „Man munkelt etwas.“ „Also doch ein Testament.“ Die Theorie des Vorsitzenden bekam Oberwasser. Urban gefiel das alles nicht sonderlich. „Damit hinterließe er sein Land doch am Rande des Abgrundes. Und das ausgerechnet nach seine m Dahinscheiden. Wie ich hörte, werden Testamente erst nach dem Tode geöffnet. Gerade bei so eine m Kurswechsel wäre ein Mann wie er auf der Kommandobrücke unersetzlich. Sterben ist ja kein Zeitvertreib, der sich an- und abstellen läßt.“ „Nein, ein ziemlich endgültiger wie man hört“, ergänzte der Kubaexperte. „Kommen wir noch einmal zu den Kernpunkten dieses sogenannten Testaments. Punkt eins ist geprägt von tiefer Selbsterkenntnis und Selbstbeschuldigung. Castro sagt: Meine Revolution ist gescheitert. Kuba befindet sich seit Jahrzehnten in einer wirtschaftlichen Dauerkatastrophe. Eine Revolution, die eine Regierung hervorbringt, die zusieht, wie das Volk darbt, ja fast verhungert, ist als gescheitert anzusehen.“ Der Vizepräsident, heute in britischem Jägertweed, sah sich wiederum bestätigt. „Nun, die logische Weiterentwicklung seines Gedankens wäre: Anlehnung an die USA, erst diplomatisch, später durch Verträge.“ „Erst Wirtschaftshilfe, dann totale wirtschaftliche In111
tegration.“ „Das bedeutet: Anschluß an die USA. Anschluß erst ökonomisch, dann politisch, dann militärisch.“ Der Vize deutete auf einen der Hauptpunkte des Testaments. „Castro spricht es ja selbst aus. In ferner Zukunft könnte Kuba sogar der zweiundfünfzigste US-Staat werden.“ „Er rät dringend zu diesem Abkommen. Es soll herbeigeführt werden, ehe die Schäden irreparabel sind, und das Volk auf die Barrikaden steigt.“ „Nach außen hin als Invasion der Vereinigten Staaten auf Kuba getarnt.“ „Um den Sowjets zuvorzukommen.“ „Zwecks vollkommener Täuschung erst Zuspitzung der inneren Krise, Protestaktionen, Ausnahmezustand, provozieren der US-Landung. Die Castro-Gegner rufen offiziell die USA um Hilfe, und zwar mit heimlichem Wissen der Regierung. Was für ein gigantisches Theater.“ „Wenn es wahr ist“, erhob Urban wieder seine warnende Stimme. Sie blickten ihn an. „Sie haben die Dokumente gesehen, Urban, gelesen, analysiert.“ „Sie stammen aus vierter oder fünfter Hand. Wer weiß, ob sie nicht manipuliert oder verändert wurden.“ „Es handelt sich um Filmmaterial, das Agfa speziell für die klimatischen Bedingungen im karibischen Raum entwickelte.“ „Tropenfestes Material kann man überall kaufen. Auch in Afrika und am Amazonas.“ „Aber alles trifft die derzeitige Stimmung in Kuba. Die Form stimmt, die Diktion, das Datum, die Akten112
zeichen, die Namen der Teilnehmer an der Geheimrunde. Spione holten die Akte aus dem Safe in der Staatskanzlei. Eine Reihe von Leuten mußten bei der Beschaffung sterben. Der Film kam per Kurier über London nach München. Alles wurde von uns Schritt für Schritt rekonstruiert. Die KGB-Agentin Olga mußte nach Rimini ausweichen, weil es keinen anderen Durchschlupf gab. Von ihr stammt der Film. Oder etwa nicht? Und rückte sie ihn etwa freiwillig heraus?“ Auf diese Sammlung von Argumenten gab Urban keine präzise Antwort. „Von mir aus“, sagte er. „Betrachten wir es als ernstzunehmendes Dokument. Aber wenn der Inhalt den Russen oder den strengen alten Männern aus der kubanischen Revolutionsgarde bekannt wird, wie sie alle verschaukelt werden sollen, dann gibt das Zores - Madonna mia.“ * Am Abend rief der BND-Vizepräsident Urban in dessen Schwabinger Wohnung an. „Ich mache mir Sorgen“, gestand er. „Wegen der Havanna-Papiere?“ „Wegen Ihnen, Urban“, antwortete der Vizepräsident, „wegen Ihrer wahren Einstellung zur Echtheit der Dokumente. Mein Sinn für Qualität ist so hoch entwickelt und so geschärft wie der Ihre. Allmählich greifen .Ihre Zweifel auch auf mich über. Daher meine Sorgen.“ „Also weniger, was mich betrifft, als die Sachlage“, wandte Urban ein. „Und was Sie ausbrüten werden. Jedenfalls sind wir verpflichtet, die Dokumente nach Washington weiterzuleiten.“ 113
„Sie gehören der CIA. Sie hat dafür bezahlt. Die Bewertung ist deren Sache.“ „Und unsere Bewertung ist unsere Sache. Leider sitzen wir den Russen dicht auf der Haut. Irgendwelche Reaktionen der UdSSR – ehe sich der Russe aus Kuba werfen läßt, schlägt er zu – kann auch uns in Mitleidenschaft ziehen.“ „Im Pentagon und im Kreml sitzen kluge Männer.“ „Wir sind auch nicht die Dümmsten und fragen uns seit Tagen, wie wir diese Dokumente beurteilen sollen. Mann, Urban, das ist das Streichholz am Pulverfaß. Fragt sich nur, ist das Pulver trocke n oder naß.“ Urban erklärte dem Vize, daß er daran arbeite. Es müsse einen Weg geben, die Echtheit der Dokumente zu beweisen. „Die Russen haben das beste Agentennetz in Havanna“, erwähnte er. „Da kommen wir nicht hinein.“ „Der KGB ist meines Erachtens der Geheimdienst mit der größten Erfahrung in bezug auf Kuba. Der KGB könnte uns sagen, ob die Dokumente echt oder falsch sind.“ „Fragen Sie doch Ihren Busenfreund General Krischnin.“ „Dachte auch schon an meinen anderen Busenfreund, General Jo Hartmann beim Ostberliner Stasi. Aber soweit dürfen wir die Hosen nicht runterlassen. Es gibt vielleicht noch einen anderen Weg.“ „Castro fragen“, bemerkte der Vize zynisch. „Nein, Olga Lysenkow. Sie gehört zum Insider-Zirkel der Kubaorganisation des KGB. Sie war auf den Kurier Rosolito angesetzt. Sie müßte also wissen, was die Dokumente wert sind und welche Bedeutung man ihnen beimißt.“ 114
„Und wo weilt die Dame derzeit?“ „Keine Ahnung“, bedauerte Urban. „Ich hörte nur, daß sie der italienischen Spionageabwehr mit Mühe und im letzten Moment entwischte.“ „Man kann sie suchen lassen.“ „Wird man wohl“, sagte Urban. „Ich sehe keinen besseren Weg.“ „Wird aber kein Nullproblem, schätze ich.“ „Agenten zu finden, Herr Präsident“, erklärte Urban, „besonders sowjetische, die wegen einer Fehlleistung in Ungnade gefallen sind, kommt dem Versuch gleich, eine bestimmte Qualle zu finden, die gerade durch den Indischen Ozean segelt. Aber man kann es versuchen.“ „Versuchen Sie es!“ forderte der Vize. „Versuchen Sie alles!“ Urban fühlte sich wieder einmal verdammt alleingelassen. Nein, ganz allein war er nicht, solange noch Bourbon in Flaschen abgefüllt wurde. 15. Dänemark/Provinz Jütland 18. September Der blonde Friese Thomsen, in abgewetzten Jeans und allmählich zerfallendem T-Shirt, war einst der härteste Ausbilder der dänischen Marinefroschmänner gewesen. Darm hatte er zwischen Ringköbing und dem Meer ein Stück Land geerbt, mehrere Quadratkilometer groß. Zum Bauern, zum Milchkuhmelker, fühlte er sich nicht berufen. Er hatte alles verkauft. Das Rindvieh, sechshundert Schweine, das Geflügel bis zur letzten Henne und die Maschinen. Dann hatte er das Landgut 115
zum gemeinsten Fitness-Center Nordeuropas ausgebaut. Er bot Schulungen für Nahkampf, lautloses Killen und Überlebenstraining an. – Nirgendwo bis zu den Alpen konnte ein Mensch seinen Körper gnadenloser schinden und zu Höchstleistungen trimmen als auf der ThomsenFarm. Weiblichen Klienten nahm Thomsen sich mit besonderer Gefühllosigkeit an. Das konnte er bis zur ausgeklügeisten Perversion treiben. „Schneller, Mann!“ trieb er die Irin an, die eine s seiner Brutalprogramme absolvierte. „Einsatz, bitte! Das ist kein Gebirge, das ist nur eine Bodenwelle.“ Er jagte sie, mit dem Geländewagen nebenherfahrend, durch die Dünen. Zehnmal einen Sandhügel hinauf und hinunter, dann vier Meilen Tempo fünfzehn, wieder zurück und noch einmal eine Runde. Als sie zusammenzubrechen drohte, packte er ihr als Extraration zehn Kilo Bleibarren auf die zerschundenen Schultern. „Sie sind ein Hundesohn“, zischte Olga, die sich als Olga McLister eingeführt hatte, „ein wahrer Teufel.“ „Bei Ihrem nächsten IRA-Einsatz gegen die Engländer in Londonderry, wenn man Sie durch halb Ulster jagt, werden Sie mir dankbar sein, Mann. Schuld sind Sie selbst. Sie besitzen Anlagen, einen Körper wie eine Olympiateilnehmerin, aber total verweichlicht. Ich kenne das. Wohlleben, saufen, fressen, Liebe, immer feste drauf, was das Zeug hält. Und in einer Woche soll die Form wieder dasein.“ Er fuhr neben ihr her und steigerte mit seinen Sprüchen ihre Wut, sonst wäre sie wohl nach dreißig Kilometern längst umgefallen. Er hetzte sie durch den Sand, die Steilküste hinauf, durch die Dünen, bis sie nur noch taumelte. Erst als sie 116
die Orientierung verlor, weil ihr schwarz vor den Augen wurde, durfte sie kehrtmachen. Aber nicht in den Jeep steigen. „Und jetzt das Ganze nochmal südwärts“, schlug er vor. Olga wußte nicht, wie sie es schaffte. Sie wußte nur, daß sie im Camp wie tot schlief, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Am nächsten Tag ging es weiter mit allem, was auf dem Programm stand. Gymnastik, Turnen, das Fleisch mürbe klopfen, wie Thomsen es nannte. Danach ein scharfer Ritt auf einem ungestümen Pferd auf der Military-Bahn. Am Nachmittag kam Sturm auf. Auch das wurde genutzt. Es ging mit dem Boot hinaus. Segel setzen, kreuzen, halsen, Kurs hart am Wind, Segel reffen, Sturmsegel setzen. In der Nacht folgte ein Orientierungsmarsch bei Gewitter und Regen. Am nächsten Tag Waffenkunde. Am Schießstand Arbeit mit den neuesten Maschinenpistolen und Revolvern. Danach Handgranatenzielwurf. Nachmittags fünfzig Kilometer Radfahren. Am Abend dann Schachspiel. Thomsen war ein Partner, der sie das Fürchten lehrte. Technik kam auf den Stundenplan. Das Beheben von Pannen an Motorfahrzeugen, Bewegen vo n Crossmotorrädern und Autos in schwerem Gelände. Als sie aus den Salzsümpfen wieder auf die Straße kamen, war Olga merkwürdig blaß. „Ist Ihnen schlecht, Mann?“ „Nein“, sagte sie mit krampfhaft geschlossenem Mund. „Kotzen Sie mir bloß nicht das Auto voll.“ Sie würgte es hinunter. Auf der Straße wurde es besser. An der Brücke über den fjordähnlichen Meeresarm ließ Thomsen sie halten. 117
Er deutete auf ein Dorf, etwa einen Kilometer entfernt. „Sehen Sie das, Kumpel?“ „Ruinen.“ Er reichte ihr das Fernglas. „Alles zerstört, verbrannt, zerschossen, zerbombt. Sieht aus, als hätte es hier einen feinen echten Krieg gegeben.“ „Immerwährenden Krieg“, betonte Thomsen. „Das ist mein Manövergelände. Alles ganz exklusiv und realistisch. Minenfelder, Stacheldrahtverhau, Gräben, Maschinengewehrnester, Geschützstellungen. Hier bilde ich Söldner aus. Hier wird scharf geschossen, Kumpel. Sonst lernt man das Überleben nicht. Auch Sie jage ich da durch.“ Olga durchlief ein Schauer. Es erinnerte sie an die Zäune von Straflagern im Norden Rußlands. „Wann?“ „Morgen. Dabei kann es gutgehen oder schlecht. Oft kommt es zu schweren Verletzungen. Aber we r da nicht durchmarschiert, den kann ich nicht als generalüberholt entlassen. Das ist doch der Sinn des Ganzen. Sie Terroristenbaby, oder?“ Es wurde der schlimmste Tag. Olga mußte sich im Kampfanzug, mit Waffen, Munition und einem schweren Pioniersprengsatz, der bei der Kirche anzubringen war, an das Dorf heranarbeiten. Um sie herum detonierten scharfe Minen. Stacheldrahtverhau riß ihr die Hände auf. Beim Sprung über die Gräben entging sie mit No t messerscharfen emporschnellenden Bajonetten. Thomsen, der Sadist, schoß auf sie mit Haubitzen und MGs. Als sie sich endlich bis ins Dorf vorgekämpft hatte, hockte er im Turm der Kirche mit einem Scharfschützengewehr und feuerte. Dazu tönte aus Lautsprechern die Musik des Krieges: Detonatio118
nen, Mpi-Rattern, Klirren von Panzerwagenketten, heulende Granaten, Schreie von Verwundeten und Sterbenden. Kaputt, dreckig, schweißtriefend, brachte sie die Sprengladung an der Kirchentür an. Dann war es, als hätte sie ein Signal ausgelöst. Aus den Lautsprechern klang Marschmusik. Die Kirchentür knarrte auf, Thomsen erschien, eine Flasche Champagner und zwei Gläser in der Hand. Er köpfte die Flasche mit dem Bajonett und goß ein. „Das haben Sie sich verdient“, sagte er. „Nirgendwo auf der Welt geben Wahnsinnige soviel Geld für so eine Quälerei aus. Ihr seid alle Masochisten. Skál! Prost! Cheers!“ Sie tranken. „Nun haben Sie sich einen Tag Erholung verdient“, sagte Thomsen. „Zwischendurch üben wi r noch Langstreckenschwimmer!. Sehen Sie die Bohrinsel da draußen?“ Sie war gerade noch mit bloßem Auge zu erkennen. „Zwanzig Kilometer entfernt“, schätzte er. „Da geht es frisch, fromm, fröhlich, frei hinaus. Natürlich begleite ich Sie im Motorboot. Ich muß die Ausfallquote meiner Kunden klein halten, sonst belegt keiner mehr die Kurse.“ * Einmal meldete sich der Kubaner und erinnerte Olga daran, warum sie sich so unmenschlich schinden ließ. Er fragte nach dem Stand der Vorbereitungen. Sie erklärte, sie sei dabei, die Angel auszuwerfen. Er wollte sich wieder melden. In der Nacht telefonierte sie von ihrem Bungalow in 119
Thomsens Trainings-Center mit Italien. Pjotr war überrascht, von ihr zu hören. „Können wir sprechen?“ fragte sie als erstes. „Ich bin derjenige, der hier die Ferngespräche überwacht“, antwortete der Freund aus vergangenen KGBZeiten. „Wie geht es dir?“ „Planmäßig“, meldete sie. „Der Kontakt in Kopenhagen hat mir sehr geholfen. Aber es hat, wi e alles im Leben, seinen Preis. Ich bringe mich gerade in Topform.“ „Wozu? Du warst immer in Form.“ „Nicht gut genug für diesen Auftrag, für diesen Gegner.“ Er wollte nicht wissen, um was es ging. Er kannte den Fall und konnte sich einiges denken. „In Moskau ist man nicht gerade gut auf dich zu sprechen“, berichtete er. „Du giltst als Deserteur. Deserteure liquidiert man eines Tages.“ „Erst müssen sie mich haben.“ „Du bist noch mehr als ein Deserteur, du bist ein desertierter Geheimnisträger. Also sieh dich vor.“ „Diese Sache noch“, erwiderte sie, „dann tauche ich ab. Und je mehr du mir hilfst, desto rascher ist sie zu erledigen.“ „Was kann ich tun?“ „Kennst du CIA-Leute?“ erkundigte sie sich. Pjotr zögerte. „Einige. – So gut, wie sich Bäume verschiedene r Arten kennen, deren Wurzeln sich in der Tiefe berühren.“ „Das genügt“, fuhr sie fort. „Kannst du in das CIANetz einsickern lassen, daß eine KGB-Agentin wegen Versagens im Fall Havanna-Expreß gefeuert wurde. Daß sie abgetaucht sei, daß man sie aber jage, weil man ihrer habhaft werden müsse, denn sie wisse zuviel. Sie 120
sei es gewesen, die die Havanna-Operation eingefädelt habe. Vermutlich wolle sie zu den NatoGeheimdiensten überlaufen. Der KGB honoriere Hinweise auf ihren Aufenthaltsort mit ungewöhnlich hohen Summen. Daß es sich dabei um mich handelt, um Olga Lysenkow, brauchst du nicht erst zu erwähnen. Das weiß jeder.“ „Und was willst du damit erreichen?“ fragte Pjotr ein wenig verwirrt. „Das erfährst du ein andermal, Pjotr-Muschik.“ „Ist das alles?“ „Das Ganze garniert mit vagen Andeutungen, ich könnte mich in Skandinavien aufhalten. In Dänemark, vielleicht in einem Sanatorium. Aber Sanatorien welcher Art suchen Agenten schon auf.“ „Man wird auf die Thomsen-Ranch schließen, wenn man klug ist“ „Der Mann, für den das alles gemünzt ist, ist klug“, befürchtete sie. „Diese BND-Type also, der du die ganze Scheiße zu verdanken hast.“ „Inzwischen hat er das Material bestimmt ausgewertet.“ „Die Moskauer Zentrale des KGB läßt eine PRAktion anlaufen, wonach es sich bei den HavannaDokumenten um fingiertes Material handle.“ „Die Empfänger werden unsicher gemacht. Sie brauchen Bestätigungen, also eine Expertise wi e über die Echtheit eines Bildes, und mehr Informationen. Und wer anders könnte sie liefern als derjenige, der die Sache von Anfang an steuerte.“ „Diejenige“, verbesserte Pjotr. „Schön, ich nehme das in die Hand, kurble es an.“ „Dezent, bitte.“ 121
„Du kannst dich auf mich verlassen.“ „Das werde ich dir nie vergessen, Pjotr“, versprach sie mit gedämpfter Stimme. „Ich bin in deiner Schuld.“ Nach diesem Gespräch hoffte sie, daß der Fisch anhaken würde. Es war nur eine Frage von Tagen. Im Grunde waren selbst die dicksten Mauern der Geheimdienste für Klatsch durchlässig wie ein Spaghettisieb. 16. Washington 21. September Der Spannungszustand, in dem sich die Verantwortlichen in Washington befanden, war nur mit jenen Wochen zu vergleichen, als Chruschtschows Schiffe Mittelstreckenraketen nach Kuba transportierten. Damals hatte Kennedy mit einer Portion Glück und stählernen Nerven die Eskalation verhindert. Im Weißen Haus, im Pentagon und im CIAHauptquartier gab es auch jetzt eine Reihe vo n Männern mit Talent und guten Nerven. Nur das Glück ließ sich nicht immer erzwingen. Der Präsident unterhielt sich mit dem Chef seines State Departments darüber. „Was halten Sie von diesem Castro-Testament?“ „Dieser Castro-Bursche“, seufzte der Minister, „war für uns immer rätselhaft und undurchschaubar.“ „Kennedy hat es offenbar fertiggebracht“, entgegnete der Präsident. „Ich möchte mir eines Tages nicht vorwerfen lassen, ich sei ein schlechterer Krisenmanager gewesen als dieser Junge aus Boston.“ 122
„Damals war alles klar“, erinnerte der Minister. „Wir hatten Aufklärerfotos der im Bau befindlichen Basen. Man konnte die Planen mit Raketen darunter an Deck der Frachter sehen. Ihr Kurs war eindeutig Havanna. Heute ist weder die Herkunft noch die Echtheit dieser Dokumente eindeutig.“ „Aber wenn sie gefälscht sind, ist nicht mal eindeutig, was damit bezweckt werden soll.“ „Entweder wir fallen der Lächerlickeit anheim, oder es kommt in Kuba zu einem Massenaufstand.“ Der Präsident hatte noch andere Sorgen. „Wie kann das geklärt werden, Secretary?“ drängte er. Der Minister versicherte, daß er mit dem Chef des Verteidigungsministeriums und dem CIA-Direktor praktisch in Dauerkontakt stehe. „Ich halte Sie auf dem laufenden, Mister President“, versprach er. Wenige Stunden später trafen die Bosse vo n Geheimdienst, Verteidigungsministerium und Außenamt zusammen. Der CIA-Chef, immer für einen makabren Scherz gut, witzelte: „Ich kann über die Echtheit des Castro-Testaments auch nichts sagen, aber immerhin wäre ein Test möglich.“ „Ein Test? Welcher Art bitte?“ Der CIA-Direktor nahm die Pfeife aus den Zähnen und wandte sich an den höchsten Soldaten der Union. „Machen Sie eine Invasion, General, dann wissen Sie es.“ „Ob Castro uns mit offenen Arm empfängt ode r mit Bomben und Granaten, meinen Sie? Danke, wir alle sind noch schweinebuchtgeschädigt. Damals ging es in mehr als beide Augen.“ 123
„Also ein offener Krieg oder das Gegenteil davon.“ „Moskau würde nicht tatenlos zusehen. Zu großes Risiko also.“ „War ja doch nur mein halber Ernst, General.“ „Vielleicht sollten wir das Ganze nicht so neckisch sehen“, schlug der Außenminister vor. „Es geht um Sein oder Nichtsein, Gentlemen.“ „Hängen wir es etwas weniger hoch“, riet der CIAChef. „Es geht um Haben und Nichthaben.“ Am Schluß des bis in die Nacht dauernden Gespräches wurde den Gentlemen eines klar: Sie mußten sich Gewißheit verschaffen. Und sie hatten nicht mehr allzuviel Zeit. Vier Augen senkten sich in die zwei Augen des CIADirektors. „Erleuchtung kann nur aus Ihrem Laden kommen“, äußerte der General mit den vier Sternen auf den Schulterklappen. „Können Sie etwas tun? Gibt es wenigstens den Ansatz einer Idee?“ Der CIA-Chef zögerte. „Wir versuchen, die Operation Havanna-Expreß bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, bis zu dem Punkt, wo sie ihren Ausgang nahm.“ „Haben Sie das nur vor, oder…?“ „Nein, wir sind schon dabei“, deutete der CIA-Chef an. „Und wann kann man den Präsidenten davon in Kenntnis setzen? Der Mann hat schließlich auch nur eine Galle und ein Nervensystem.“ „Der Bundesnachrichtendienst Deutschland“, verriet der CIA-Direktor, „von dem wir die Dokumente erhielten, brütet noch etwas aus.“ „Schon Näheres?“ „Nein. Sie werden ihren Computer anstellen, so wie 124
wir.“ „Computer sind dumm“, sagte der General. „Sie zählen eins und eins zusammen, und das Ergebnis ist elf.“ * Lt. Colonel Lacy Hemmer meldete sich bei dem BND-Agenten Nr. 18. „Bis gestern“, sagte Hemmer, „war mir unerfindlich, warum ihr dieses abgesprungene KGB-Flintenweib sucht. Jetzt kommt mir eine Ahnung.“ „Aha“, sagte Urban. „Dämmerungsbeginn.“ „Wir würden sie auch gern über Echtheit und Ursprung des Castro-Testaments befragen.“ „Und warum tut ihr es nicht?“ „Ihr Aufenthaltsort ist zu ungenau.“ Urban gestand, daß er für jeden Hinweis dankbar sei. Endlich rückte Hemmer damit heraus, was über das Euronetz der CIA durchgesickert war. „Sie ist in Moskau in Ungnade gefallen.“ „Berufsrisiko“, sagte Urban. „Scheint etwa über uns stets die Sonne des Souverän?“ „Oder anders ausgedrückt, sie hat es total verschissen. Ihr blüht Sibirien, wenn man sie kriegt. Vorsichtshalber ging sie gar nicht erst nach Hause, sondern nach Skandinavien.“ „Norwegen?“ „Südlicher, wohl Dänemark. Sie wurde dort gesehen. Angeblich. Deckname Kerstin Kirsten.“ Urban mißfiel das. Als Dänin ging Olga nur, wenn sie dänisch sprach. Aber dänisch wurde nicht jeder Agentin eingetrichtert. Höchstens solchen, die immer dort arbeiteten. „Gewiß reist sie als Irin unter Olga McLister.“ 125
„Ob die Dame zu kaufen ist?“ fragte Hemmer. „In ihrer Lage schon.“ „Ob sie uns die Wahrheit vermitteln kann?“ „Sie kann dazu beisteuern“, vermutete Urban. „In Dänemark ist sie also. Nähere Anhaltspunkte?“ „Nichts von Bedeutung. Westküste Jütland, hört man. Gibt es da Möglichkeiten, unterzuschlüpfen?“ „Ungefähr eine Million Ferienhäuser.“ „Ferienhaus einsam am Strand, ist das Olgas Stil?“ „Nein, sie vergeudet keine Zeit.“ „Oder ist sie angeschlagen und läßt sich kurieren, grundüberholen?“ „Wäre schon möglich“, räumte Urban ein und hatte einen Einfalt „Du hörst von mir Hemmer.“ „Und du von uns“, sagte der Amerikaner. Wenn Hemmer annahm, er hätte Urban scharfgemacht, dann lag er falsch. Urban war schon scharf genug. Ihm lagen ähnliche Angaben vor, wie Hemmer sie geliefert hatte, aber Hemmer hatte in ihm einen Funken gezündet, Urban ging ins Archiv und ließ sich die Trainingscamps für Nahkampf, lautloses Killing und Survival in Europa auflisten und ging sie durch. Es gab nur wenige. Und schon hatte er, was er suchte. „Thomsen in Ringköbing.“ Er rief in Jütland an. Am Nachmittag erreichte er den Trainer. Sofort fiel er mit der Tür ins Haus. „Ich brauche was von dir, Thomsen“, sagte Urban. „Soll ich dich fit machen?“ „Eine Auskunft, von Freund zu Freund.“ „Apropos von Freund zu Freund“, erwiderte der Däne. „Warum schickst du mir keine grünen Jungens mehr herauf? Macht ihr eure eigene Folterkammer auf? So gut wie ich bricht keiner die morschen Knochen. Nicht 126
mal du, Dynamit.“ „Ich denke daran“, versprach Urban. „Jetzt geht es um eine Lady.“ Der Däne gab einen Ton von sich, der einer Bewegung des Abwinkens gleichkam. „Keine Auskünfte über Liebschaften.“ „Eine Schülerin von dir, möglicherweise.“ „Erst recht keine Auskunft über Klienten.“ „Ich nenne ein paar Namen“, schlug Urban vor, „und gebe eine Beschreibung. Wenn du schweigst, weiß ich Bescheid.“ Thomsen brummte erst unwillig herum. „Okay, fang an.“ Urban begann nicht bei A, sondern bei K. „Kerstin Kirsten?“ „Nein.“ „Olga Lysenkow?“ „Nein.“ „OlgaMcLister?“ Urban wartete, wiederholte, buchstabierte und beschrieb sie. Der Däne schwieg noch immer. „Bist du noch da, Thomsen?“ „Ich habe nichts gesagt.“ Damit war alles gesagt. „Gib mir ihre Telefonnummer“, bat Urban. „Wir sind gute Kameraden.“ „Vom Liebes- oder vom Kriegespfad?“ * Der Anschluß ihres Bungalows hatte eine separate Nummer. Urban erreichte Olga am Abend. Allein seine Stimme brachte sie sofort auf Hundert, Sie wollte auflegen. 127
„Ein Geschäft“, schlug er sachlich vor, „in D-Mark pur, ohne Gefühle.“ „Mit Bastarden mache ich keine“, entgegnete sie. „Du bist in der Klemme?“ fragte er. „Wenn dir jemand eine Chance bietet, dann sind wir es.“ Es kostete einige anstrengende Minuten, aber allmählich ließ sie sich umstimmen und überreden. „Muß dich sehen“, forderte er. „Woher hast du diese Nummer und Adresse?“ wollte sie wissen. „Wir sind kein Verein zur Unterstützung unehelicher Mütter“, stellte er klar. Sie bat darum, daß ihr Treffen geheim bleiben und an einem veschwiegenen Platz ohne Zeugen stattfinden sollte. Sie nannte ihm den Ort, die Straße, eine Brücke. „Morgen nacht“, schlug sie vor. „Bei Dunkelheit. Wie erkenne ich dich?“ „Die Nächte hier sind noch hell.“ „Ich bin pünktlich“, versprach er. „Bring ein Sprechfunkgerät mit und einen guten Kontrakt, du Hundesohn, oder ich knalle dir was vor den Latz.“ Damit hatte sie aufgelegt. Urban hätte zufrieden sein können. Er sah jetzt einen Weg und sah das Ziel. Aber trotz aller Widerstände hatte er das Gefühl, die Sache sei ein wenig zu glatt verlaufen.
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17. Havanna 21. September Dem Außenminister wurde zugetragen, daß die Dokumente aus dem Safe der Staatskanzlei inzwischen Washington erreicht hätten. Der Minister verständigte den Chef des Geheimdienstes und einen der Stellvertreter des Präsidenten. „Sie rotieren“, sagte der Minister. „Die MillionDollar-Frage lautet: Ist das Testament echt, oder ist es eine Fälschung.“ Und zu aller Überraschung fragte der Minister: „Ist es nun echt oder nicht, Companeros?“ „Was weiß ich“, antwortete der Geheimdienstchef. „Man sagt mir doch nie etwas. Was ich weiß, muß ich mir hart erarbeiten.“ „Aber das Papier stammt definitiv aus dem Tresor des Staatsarchivs.“ ,,Dort liegt viel Papier herum.“ „Schön. Und welche Stellungnahme geben wi r ab?“ „Die einschlägige . Abstreiten, lächerlich machen. Es sind Fälschungen, ein billiger Versuch, zwischen Castro und seine Erben Keile zu schlagen.“ „Und was sagt Castro dazu?“ „Gar nichts. Er ist trickreich. Anders hätte er de n Kampf gegen Battista nicht gewonnen. Vielleicht ist das Ganze auch ein Versuchsballon oder ein Alibipapier oder ein Szenarium. Man kann es verwenden, wie man will. Es ist biegsam wie Schilfrohr im Wind. Kommt es so, sagt man, es war anders gemeint, kommt es anders, wird man sagen, genauso ist es gedacht, ganz in unserem Sinne. Im Sinne des großen Führers.“ „Sie geben keine Ruhe, bis sie die Wahrheit kennen.“ 129
„Wer?“ „CIA, BND. KGB.“ „Schön, und was ist die Wahrheit? Handelt es sich bei dem Testament um eine Rückversicherung oder um den Plan eines Phantasten? – Was wurden seit dem Ende der Revolution nicht schon für Ideen ausgebrütet, fallengelassen, vergessen, neu aufgenommen, endgültig verworfen.“ Hier hakte der Geheimdienstchef ein. „Vergessen, das ist es. Wir müssen davon ausgehen, daß zu viele Leute davon wissen. Dutzende inzwischen.“ „Aber nur einer, der uns gefährlich werden kann“, gab der Minister zu bedenken. Der Stellvertreter des Präsidenten mischte sich ein. „Dachte, da läuft eine Operation.“ „Die Meldungen hören sich gut an. Wir haben für viel Geld diese Olga gekauft. Der Auftrag steht unmittelbar vor dem Abschluß.“ „Abschluß oder Abschuß?“ „Das meinte ich damit.“ Die Telefonkonferenzschaltung wurde beendet. Aber wenig später meldete der Vizepräsident sich noch einmal beim Geheimdienstchef. „Sie sagten, dieser Mann wird liquidiert, Oberst?“ „In den nächsten vierundzwanzig Stunden.“ „Bleibt dann“, setzte der Politiker an, „nicht die Hauptmitwisserin übrig?“ „Sie meinen Olga?“ „Sie fädelte die ganze Operation in Havanna ein.“ „Richtig. Wenn sie ihren Kontrakt erfüllt hat, wird sie bezahlt und taucht unter.“ „Und Sie glauben, der KGB wird sie niemals finden?“ „Sie kennt ihn zu gut.“ 130
„Kennt sie aber auch die weltweiten Möglichkeiten der westlichen Dienste.“ „Sie wird ihr Aussehen und ihre Identität ändern. Olga ist ein Profi.“ „Und Sie, sind Sie kein Profi, Oberst?“ Der Geheimdienstchef hatte verstanden. „Diese Frau stellt, solange sie lebt, eine latente Gefahr dar. Ein Dokument, das niemand im Original besitzt, von dem es nur Filme und Kopien gibt, dessen Existenz kann man abstreiten. Aber solange Agenten leben, die dieses Dokument mit eigenen Augen gesehen haben und das beschwören – wer garantiert uns denn, daß Olga nicht sogar Blätter des Originals zu Gesicht bekam – ist das ein gefährlicher Zustand.“ „Ich halte es für unwahrscheinlich“, bemerkte der Geheimdienstchef. „Aber Sie haben recht, Exzellenz.“ „Man hat mich also verstanden.“ „Ich gebe sofort die Funkorder nach Kopenhagen.“ „Also beide.“ „Ja, beide.“ „Die Leichen sind zu beseitigen. Keine Spuren. Ohne Spuren keine Fragen.“ „Von ihnen wird nichts übrigbleiben“, versprach der Geheimdienstchef. „Wir leisten ganze Arbeit“ Von der Zentrale in Havanna betrachtet, sah die Sache leicht aus, zumindest durchführbar. Olga würde diesen Mister Dynamit killen, und die Experten aus Angola würden Olga killen. Noch eine Nacht und ein Tag und alles war paletti. * Der Mann des kubanischen Geheimdienstes in Kopenhagen rief alle achtundvierzig Stunden auf Thom131
sens Ranch an. „Havanna wird ungeduldig“, sagte er, als er Olga am Apparat hatte. „Morgen“, versprach sie. „Das weiß ich. Aber wird er kommen?“ „Er ist schon unterwegs.“ „Wie werden Sie es machen, Olga?“ „Meine Sache, oder?“ „Wir sind nur besorgt. Hängt unheimlich viel für uns davon ab, daß es gelingt.“ Sie stand unter Spannung und wollte sie abbauen. Erfahrungsgemäß war das beste Mittel, wenn man darüber sprach. „Er wird um dreiundzwanzig Uhr an der Brücke stehen, die über den kleinen Arm des Ringköbing Fjords führt. Dort erwarte ich ihn.“ „Nicht zögern, Olga, sofort schießen.“ „Bin ich ein Anfänger“, entgegnete sie. „Er wird ein Sprechfunkgerät bei sich haben, und ich werde ihn zwischen die Ruinen der Ortschaft locken, wo Thomsen Häuserkämpfe üben läßt.“ „Ja, das ist perfekt.“ „Ich bleibe in Deckung. Er steht frei. Ich werde ihn töten, ohne eine Hand zu rühren. Er wird über einen Draht stolpern und eine Ladung von zehn Kilo Amatyl auslösen. Ganz in seiner Nähe.“ „Das läßt“, sagte der Kubaner, „nichts übrig. Nicht einen Krümel.“ „Und ich werde lachen.“ Olgas Stimme klang fiebrig. Der Kubaner fragte: „Waren Sie nicht mal Freunde?“ „Schon eine Ewigkeit her. Er ist so gut wie tot. Tote haben keine Freunde.“ „Aber Menschen, die um sie trauern.“ 132
„Aber keine Freunde“, betonte sie noch einmal. Nach diesem Gespräch wußte der Kubaner ziemlich genau wo, wie und wann das Gemetzel stattfinden würde. Er trommelte seine Killer zusammen. Sein Befehl lautete kurz und präzise: „Wir brauchen ein Allradfahrzeug. Kann sein, daß wir damit von der Straße herunter ins Grüne müssen. Ebenso ein Scharfschützengewehr mit Dum-Dum-Munition. Kupfermantel, Bleikern und vo r allem eine Nachtzieloptik.“ „Um dreiundzwanzig Uhr kann man hier noch Zeitung lesen. Außerdem haben wir Mond.“ „Aber es gibt so was wie Wolken“, gab der Führungsoffizier zu bedenken. „Wolken trüben ein und vergießen sogar Tränen, wenn sie tief genug hängen. Also Infrarot-Nachtsichtgeräte, oder gibt es damit Probleme?“ „Keine Probleme “, wurde ihm bestätigt. 18. Dänemark/Provinz Jütland 22. September Nach einer Gewalttour, die seine Tachometerwalze um 1290 Kilometer weitergedreht hatte, ließ der BNDAgent Robert Urban seinen BMW auf der Brücke über den Ringköbing Fjord ausrollen. Die Bögen der Eisenkonstruktion sahen im fahlen Mondlicht aus wie abgenagte Knochen. Das Wasser des Meeresarmes schimmerte wie zerknittertes Silberpapier, und die Farbe der Weiden wechselte ins Blaugrün. Nur die Gerüche waren unverfälscht: Gras, Kuhdung, salzige Luft und der Benzin-Öldunst seines heißen Sechszylin133
ders unter der Motorhaube. Urban öffnete die Tür, blieb aber sitzen. – Noch wenige Minuten bis zur vollen Stunde. Er steckte sich eine MC an. Diesmal am Elektroanzünder. Mit Streichholzflammen gab man ein zu gutes Ziel ab. Auf dem Armaturenbrett lag das Sprechfunkgerät. Es war eingeschaltet und rauschte. Es war nicht so hell wie im Juli am Polarkreis in Norwegen, aber doch so, daß er die Zeiger seiner Uhr sehen konnte. Weit draußen vor der Küste zogen Lichter vorbei. Nein, sie standen. Wahrscheinlich eine Bohrinsel. Die Minuten vergingen. Urban drückte die Zigarette aus. Er dachte daran, sich noch eine zu genehmigen, als das Rauschen im Gerät stärker wurde, so als hätte sich jemand eingeschaltet. Erst ein tiefer Atemzug, dann eine quäkende Stimme. „Olga ruft Robert.“ Er betätigte den Sprechknopf. „Hier Robert.“ „Wo bist du?“ „Auf der Brücke.“ „Gib ein Signal mit den Scheinwerfern. Kurzlang, kurz-kurz. Jetzt!“ Er betätigte den Blinkerhebel, wie sie verlangt hatte. Zufrieden?“ „Nein“, entschied sie. „Sprechfunk kann jeder mithören und auch das Signal geben. Außerdem Hingt deine Stimme wie ein zerschmissener Teller. Eine Frage.“ Sie hatte abgeschaltet. Er wartete. „Nur zu!“ Sie schien lange zu überlegen. „Wo sahen wir uns zum ersten Mal?“ 134
„Rimini.“ „Wohin gingen wir, als du mich aus dem Jugo-Boot holtest?“ „Zum Futtern. Einen trinken, Sandwiches essen.“ „Ich sagte, du habest mich gerettet. Wovor gerettet? Das Wort kommt auch im alten Testament bei den sieben mageren und den sieben fetten Jahren vor.“ Er zögerte, er war nicht sehr bibelfest. „Es identifiziert dich“, drängte sie. „Hungersnot? War es das?“ Jetzt war sie zufrieden. Sie erteilte neue Anordnungen: „Steig aus und blicke nach Nordosten. Dort steht eine Buche. Seitlich von dem Baum, einen Daumensprung links davon, eine Senke, an ihrem Rand ein Dorf. Etwa achthundert Meter entfernt.“ Er tat, wie geheißen. „Ein Dorf soll das sein? Vielleicht ein Trommelfeuerdorf.“ „Siehst du die Kirche?“ „Nur den Turm über den kaputten Dächern.“ „Dort warte ich. Du gehst strichgenau auf das Dorf, auf die Kirche zu. Ohne Haken, ohne Umweg. Bis dann.“ „Warum querfeldein?“ fragte er. „Es führt ein Weg ins Dorf. Ich kann fahren.“ „Warum, warum“, reagierte sie verärgert. „Dir verdanke ich, daß ich in Moskau nicht einen Löffel Suppe mehr anschreiben lassen kann, und du stellst idiotische Fragen.“ „Geschäft ist Geschäft, Gnädigste.“ „Du nennst es ein Geschäft“, erwiderte sie im Ton einer Metallsäge. „Schön, der Preis unseres Geschäftes ist Vertrauen. Das Geschäft scheitert daran, daß du nicht 135
für einen Cent Ehrlichkeit besitzt.“ Eine merkwürdige Einstellung von Seiten einer Agentin, die über Leichen ging. – Urban wußte jetzt, daß sie über Leichen gehen würde. „Mach dich auf den Weg“, forderte sie. „Ich sehe dich im Fernglas. Ende.“ „Ende“, bestätigte er. Was für eine Kanaille. – Es war eine Falle. Sie wollte ihn tot sehen. Tot, zerrissen, zerschmettert, zerfetzt. Gut, daß er vor der Begegnung mit Olga bei Thomsen vorbeigefahren war. Er hatte Thomsen einiges erzählt. Der Treffpunkt Brücke hatte de m Trainer sehr mißfallen. Er hatte Urban die Karte gezeigt. Die Ausdehnung des Minenfeldes, die Positionen der automatisch feuernden MG-Nester, die Selbstladegeschütze, die man auf Knopfdruck von der Schaltzentrale im Kirchturm aktivieren konnte. „Sie lockt dich ins Verderben“, hatte Thomsen gewarnt. Urban hatte nur gefragt, wie man durch das Minenfeld käme, ohne zu den Sternen katapultiert zu werden. Thomsen hatte auf die Buche gedeutet und dann auf den Turm. Urban sollte Baum und Turm als Visierlinie nehmen. Sie führte durch eine minenfreie Gasse von fünf Metern Breite. Und noch eines war Urban klar. Wenn er heil durch die Minen kam, würde sie ihn anderswi e umlegen. Aus der Deckung heraus. Bevor er losmarschierte, öffnete er den Kofferraum des BMW, nahm die kugel- und splittersichere KeflarWeste heraus und zog sie an. Sakko drüber und los.
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Dreihundert Meter Minenfeld. Immer wieder sich umblickend, versuchte Urban, die Linie BaumKirchturm zu halten. Langsam ging er weiter, mit den Sohlen den Boden nach einer unnatürlichen Erhebung abtastend. Verbuddelte Tellerminen hinterließen meist Erhöhungen oder Vertiefungen. Also nicht er hatte Olga mühsam ausfindig gemacht, sondern der Haken ihrer Angel hatte ihn erwischt wie einen blinden Fisch, der den Geruchssinn verloren hatte. – Was für ein Weib. Er wußte, daß sie ihn beobachtete, jede seiner Bewegungen kontrollierte. Er hielt seine Schritte in einem gewissen Rhythmus. Trotz Bodenwellen, Senken, Gras, Sand, nassem Gras, einem Tümpel. Er überquerte einen Fahrwe g und Drainagegräben. Noch hundert Meter. Das zerstörte Dorf kam näher, verfallene Mauern, verkohltes Gebälk wurden deutlich. Ein Nachtvogel strich vorbei, fast ohne Flügelschlag, getragen vom Wind. Immer wieder peilte er die Position. Als er das Minenfeld hinter sich hatte, fühlte er die Kälte, die der Schweißausbruch hinterließ, Die Gräben kamen. Er übersprang sie. Links das MGNest. Das MG feuerte nicht. Es traf ihr wohl zu ungenau und hätte ihre Absichten verraten. Ein Wassergraben, ein Balken führte hinüber. – Nur noch ein Steinwurf bis zum ersten Haus. Die kugelsichere Weste vermittelte eine trügerische Sicherheit. Es kam auf das Kaliber an, das Olga benutzte. Eine 9-mm-Parabellum, Stahlmantel, mit entsprechender Kalibrierung, schlug auch durch Kevlar mit Titaneinsatz glatt durch. Irgendwo auf dem Turm saß es, das Biest. An dieser Stelle wären die meisten umgekehrt. Sein 137
Auftrag war undurchführbar geworden. – Aber das war das Außergewöhnliche an ihm. Er wollte es immer bis zum Ende auskosten. Auch diesmal. Vielleicht war er der absolute Idiot. Ein Wahnsinniger. Oder doch nicht? – Er ging langsamer und überlegte ernsthaft. Plötzlich Olgas Stimme. Im Originalton, ohne elektronische Verstärkung. „Stoi!“ Mit einem Sprung aus dem Nichts versperrte sie ihm den Weg, die ölglänzende Maschinenwaffe im Hüftanschlag. Ein schwarzer Kampfanzug zeichnete ihre Konturen scharf gegen die graue Mauer des Hauses ab. „Stehen bleiben! Keine Bewegung!“ „Und Hände hoch“, äffte er sie nach. „Mach dich nicht noch mehr lächerlich, ragazza mia.“ „Danach ist mir verdammt nicht zumute, du Bastard“, zischte sie giftig. Dabei kam sie näher. Sie stand jetzt noch sieben oder acht Meter entfernt. Eine optimale Schußdistanz. „Mit Olga springt man nicht so um“, rief sie. „Nicht mit Olga Lysenkow.“ „Klar doch. Verstehe.“ „Nichts verstehst du. Gar nichts.“ „Du bringst mich nach Moskau. Die Beute als Friedensgabe. Dynamit im Koffer, und alles ist wieder gut.“ „Solange es dich gibt, ist alles schlecht“, schrie sie zurück. „Dein Glück, es hat dich verlassen. Ja, ich könnte dich in Moskau abliefern, doch ich entginge meinem Schicksal nicht. Deshalb habe ich es in die Hand genommen. Eine Million Dollar zahlt Havanna für deinen Kopf.“ „Dachte eigentlich, ich sei mehr wert“, antwortete er. Sie lachte höhnisch. 138
„Die Zeiten ändern sich. Du hast noch zehn Sekunden zu leben, Robert Urban. Mach, was du willst, greif an, werf dich hin, spring nach irgendeiner Seite, meine Garbe wird dich in Stücke reißen.“ Von ihrem Gesicht war wenig zu sehen, nur zwei dunkle Punkte. Ihre Augen. Der Rest war eine helle ovale Fläche im Mondlicht. Sie senkte die Waffe und schoß. Einzelfeuerschaltung. Sie zielte genau zwischen seine Beine. Sie genoß es. Jetzt hob sie die Waffe. Nächster Schuß. Die Kugel sirrte an seiner Schläfe vorbei. Alles, um ihn in Panik zu versetzen, damit er endlich reagierte. Sobald er etwas unternehmen würde, kam der Volltreffer. – Aber er stand unbeweglich da und grinste verächtlich. Wieder schoß sie. Jetzt direkt auf ihn. Wieder ein Einzelschuß. In Herzhöhe. Urban spürte einen fürchterlichen Druck, als würde man ihm mit dem Hammer unter die fünfte Rippe schlagen. Keine Rede davon, daß kugelsichere Westen gegen alles schützten. Er taumelte, fing sich wieder, stand. Ein vierter Schuß. Die Kugel traf ihn, ehe sie sich in der Titanweste plattdrückte, wie ein Fausthieb. Es warf ihn regelrecht um, zwang ihn auf die Knie. Und in der Sekunde, als es den Anschein hatte, als schaltete Olga auf Dauerfeuer, um ihn niederzumähen, ereignete sich etwas Rätselhaftes. In der Ferne bellte ein Schuß. Hart, sehr hell, wi e aus einem langläufigen Spezialgewehr. Olgas Kopf zuckte nach rechts. Der Rest schien festzementiert. – Noch ein Schuß. Jetzt starrte sie Urban an und ließ die FN sinken. Sie glitt ihr aus den Fingern, polterte zu Boden. Sie drehte eine halbe Pirouette, suchte an etwas, das es nicht gab, Halt zu finden. Die Mauer 139
war außer Reichweite. Deshalb kreiselte sie zeitlupenhaft zu Boden. Im Nu war Urban bei ihr. „Du bist und bleibst eine Kanaille“, sagte sie. „Du hast noch Helfer mitgebracht, weil du glaubtest, nicht allein mit Olga fertigzuwerden.“ „Ich bin allein“, versicherte er. „Ich schwör es dir. Es ging darum, dir abzukaufen, was du über den HavannaExpreß weißt.“ „Zu spät“, bedauerte sie. „Zu spät, du Bastard.“ „Andere haben geschossen“, fürchtete er. „Deine Freunde, die Kubaner.“ Sie richtete sich auf. Es kostete sie Mühe. Blut sickerte aus ihrem Mundwinkel. Mit einemmal verzogen sich ihre Züge zu einer hämischen Grimasse. „Schau hin“, sagte sie. „Sie kommen.“ Urban sah drei schemenhafte Gestalten. Sie näherten sich dem Minenfeld. „Sie wollen sich nur überzeugen, ob wir beide wirklich erledigt sind.“ Während er nichts dagegen tun konnte, daß Olga langsam starb, sah er, daß die Killer jetzt den Rand des Minengürtels erreicht hatten und stur wi e Ochsen quer hindurchmarschierten. Urban ergriff Olgas FN-Maschinenpistole, schlug ein frisches Magazin an und ging in Deckung. Kaum lag er flach und nahm den Gegner ins Visier, als ein Blitz aufflammte. Im grellen Schein des TNT-Feuers wurde ein menschlicher Körper hochgeschleudert. Mit dem Donner, aber um Oktaven höher, kam der Schrei herüber. Dann Stille. – Im weißen Rauch standen die zwe i anderen fast unbeweglich. Sie riefen sich etwas zu. Etwas Spanisches. 140
Sie tasteten herum. Minutenlang. Dann schien einer die Nerven zu verlieren. Plötzlich rannte er los, nahm aber wohl nicht den Weg, auf dem er ins Minenfeld geraten war. Nächste Detonation. Gelbes zuckendes Licht. Feuer. Ein Arm, der Kopf, der Rumpf, alles in Einzelstücken. Und schon wieder knallte es. Die zweite Mine hatte eine dritte ausgelöst und eine vierte und so fort. Fünf, sechs Detonationen. Ein wahres Minentrommelfeuer, nicht von oben, sondern von unten aus der Erde. Blitze zuckten. Die Druckwellen trafen Urban. Die vielen tausend Grad Hitze des Sprengstoffkernes, der Gestank nach Schlachtfeld und Schlachthaus nahmen ihm den Atem. Wie sehr es den Kubaner erwischt hatte, konnte Urban nicht sehen. Er hörte nur sein Jammern, seine Schmerzensschreie. Ein Klagelaut wie von einer gequälten Katze, noch einmal gellend in seiner Not, dann Friedhofsstille. Urban wartete noch. Die Vorsicht gebot es, daß man wartete. Wer wußte, was noch alles kam. Der Wind verwehte den bitteren Gestank des verbrannten TNT. Urban hatte das Gefühl, eine Schicht schmierige n Pulverschleims auf seinem Gesicht zu haben. Er steckte sich eine MC an, jetzt mit Streichholz. Dann kümmerte er sich um Olga. Er kroch zu ihr hin. Aber ihr war nicht mehr zu helfen. Irgendwo im Dorf mußte es ein Telefon geben, mit dem man Thomsen erreichte. Aber wozu noch? Er tastete sie ab. Ein Treffer hatte ihren Hals seitlich durchschlagen, einer den Leib. Aus einem faustgroßen Loch verlor sie alles Blut. – Nichts zu machen. 141
„Wie sieht es aus?“ fragte sie schwach. Er sagte es ihr nicht. * „Die Kubaner sind im Minenfeld hopsgegangen“, berichtete Urban. „Sie hatten auf uns geschossen, waren aber nicht sicher, ob sie uns auch erledigt hatten.“ „Nein, sie haben uns nicht erledigt“, flüsterte Ogi „Dann kamen sie näher, und sechs Minen sind fast gleichzeitig explodiert. Ich konnte ihre Körper in Wolken aus Dreck und TNT fliegen sehen.“ Olga lag in Urbans Armen. Sie atmete noch. Bald spürte er auch Blut auf ihrem Rücken, dem Herzen gegenüber. Seine Hände waren voll davon. Es sikkerte weiter warm und feucht heraus. Aber es ließ allmählich nach wie ihr Herzschlag und ihre Stimme. Ihr Atem ging schon sehr flach. „Mich friert.“ Er zog den Sakko aus und breitete ihn über sie. „Es geht zu Ende“, sagte sie ahnungsvoll. „Nein, du kommst durch, Olga“, belog er sie. „Ich heiße nicht Olga“, gestand sie. „Bitte sag Olja zu mir. Darauf legte mein Väterchen, der Alkalde in unserem Dorf in der Ukraine, imme r besonderen Wert.“ „Olja!“ Warum sollte er ihr den letzten Wunsch abschlagen. „Olja!“ „Es mußte so kommen“, sagte sie, nachdem sie noch einmal Kraft gesammelt hatte. „Es kommt, wie es kommt.“ „Macht es dich traurig?“ Ihre Stimme klang schon tonlos, nur noch gehaucht. „Natürlich, klar.“ „Wir sind doch Feinde fürs Leben, Roberto.“ 142
„Macht doch nichts.“ „Wir waren es. – Ich weiß, daß ich sterbe.“ Warum sollte er sie auf verlogene Art trösten. „Ja, du wirst sterben. Aber verzeih, daß ich nicht weine.“ Sie schloß die Augen. Ihr Kopf fiel zurück und zur Seite. Sie atmete noch. Ein letztes Mal öffnete sie die Augen und versuchte, Worte zu formen. „Ich glaube, es ist zu Ende… es ist vorbei.“ Langsam, in einer Bewegung voller Unglauben, die entstand, ohne daß er es wollte, verneinte er. „Es ist nie vorbei“, sagte er. ENDE
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