Jakob Hein
Vielleicht ist es
sogar schön
Piper München Zürich
Von Jakob Hein liegen im Piper Verlag vor: Mein er...
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Jakob Hein
Vielleicht ist es
sogar schön
Piper München Zürich
Von Jakob Hein liegen im Piper Verlag vor: Mein erstes TShirt (Serie Piper 3739) Formen menschlichen
Zusammenlebens (Piper Original 7046)
Textnachweis
Kurt Vonnegut, »Schlachthof 5 oder der Kreuzzug
der Kinder«, ist 1966 erstmals erschienen.
© der deutschen Übersetzung Jakob Hein
ISBN 3-492-04603-7
© Piper Verlag GmbH, München 2004
Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
www.piper.de
Der erste Schritt auf die Fahrbahn ist immer der schwerste. „Warum traue ich mich überhaupt, über eine Straße zu gehen, den sicheren Bordstein zu verlassen?“, fragt sich der Ich-Erzähler in Jakob Heins Roman Vielleicht ist es sogar schön: „Wie kann ich auf eine Fahrbahn treten, über die mir vollkommen unbekannte Menschen in tonnenschweren Metallgehäusen hinweg schießen? Menschen mit abwesendem Gesichtsaudruck, denen ich nicht einmal für einen kurzen Moment einen Schlüssel anvertrauen würde, und doch trete ich auf die Straße und vertraue ihnen mein Leben an.“ So ist das oft in Jakob Heins faszinierendem Roman: an banalen Situationen entzünden sich Fragen, die philosophisch sind. In diesem Fall geht es kurz gesagt darum, dass man stets aufs Neue dem Leben vertraut, obwohl man weiß, dass es tödlich endet. Gerade hat der Protagonist von Vielleicht ist es sogar schön, der eine Art biografischer Doppelgänger des Autors ist, erfahren, dass seine Mutter an Krebs erkrankt ist. Während er über die Straße schreitet, hofft er, dass sie wieder gesund werden wird. Dass sie Glück haben wird wie jemand, der immer wieder aufs Neue über die Straße geht. Mit diesem Gefühl macht sich der Held daran, das Leben der Familie aufzuschreiben vom Anfang bis zu dem Punkt, von dem der Leser weiß, dass er unentrinnbar kommen wird. Dieses Wissen macht den Reiz des Buches aus. Warum also tritt man immer wieder auf die Straße und setzt sich der Gefahr aus, überfahren zu werden? In gewisser Weise ist Vielleicht ist es sogar schön eine einzige Antwort auf diese Frage. Weil man es muss, lautet die Antwort, weil alles weitergehen muss, weil man auch in unkontrollierbaren Situationen die Kontrolle
nicht verlieren darf, so grausam und gefährlich das Leben auch ist. So ist es kaum verwunderlich, dass Heins Alter Ego im Roman einen Anruf erhält, als er auf dem Friedhof ein Grabmahl für die Mutter sucht. Es ist eine Frau, die von der Frauenärztin anruft, um ihm mitzuteilen, dass sie schwanger sei. Das ist natürlich etwas kitschig. Aber kitschig ist ja das echte Leben auch.
Billy arbeitete gerade an seinem zweiten Brief, als der erste veröffentlicht wurde. Der zweite Brief begann so: »Das Wichtigste, was ich auf Tralfamadore gelernt habe, war, dass jemand, wenn er stirbt, nur zu sterben scheint. Er ist immer noch sehr lebendig in der Vergangenheit, daher ist es sehr dumm, wenn Menschen bei seiner Beerdigung weinen. Alle Momente, die vergangenen, die gegenwärtigen und die zukünftigen, haben immer existiert, werden immer existieren. Die Tralfamadorianer können auf diese Momente blicken, so wie wir auf das Panorama der Rocky Mountains blicken können, zum Beispiel. Sie können sehen, wie bleibend all diese Momente sind und sie können auf jeden Moment blicken, der sie interessiert. Es ist nur eine Illusion, die wir hier auf der Erde haben, dass ein Moment auf den anderen folgt, wie Perlen auf einer Schnur, und dass, wenn dieser Moment vergangen ist, er für immer vorbei ist. Wenn ein Tralfamadorianer einen Leichnam sieht, denkt er nur, dass dieser tote Mensch in diesem bestimmten Moment in einem schlechten Zustand ist, es aber derselben Person in vielen anderen Momenten gut geht. Wenn ich jetzt höre, dass jemand tot ist, zucke ich nur mit den Schultern und sage, was die Tralfamadorianer über tote Menschen sagen, und zwar: ›So geht das.‹« Kurt Vonnegut, »Schlachthof 5 oder der Kreuzzug der Kinder«
Worum es geht
Meine Mutter war vierundfünfzig Jahre alt, als sie uns eines Tages unerwartet anrief und bat, noch an diesem Abend vorbeizukommen. Es war bis dahin für mich ein vollkommen gewöhnlicher Tag im April gewesen. Ich war von der Arbeit nach Hause gekommen, hatte mir einen Tee gekocht und mich mit einer Zeitung auf mein Sofa gesetzt. Draußen schien noch die Sonne, die an diesem Tag willkommene Frühlingswärme gebracht hatte. Meine Mutter und ich sahen uns oft und regelmäßig, schon daher war dieser Anruf merkwürdig. Aber auch die förmliche Bitte und ihr ernster Tonfall waren außergewöhnlich. »Was ist?«, fragte ich. »Ich will es dir nicht am Telefon sagen.« Nun von einem unangenehmen Gefühl innerer Unruhe erfüllt, zog ich mich wieder an und fuhr mit der Straßenbahn zu meinen Eltern. Obwohl ich schon seit Jahren in meiner eigenen Wohnung wohnte, war dieser Weg doch immer noch der »nach Hause«. Es gab keine Worte, um den vertrauten Geruch der Wohnung zu beschreiben, nachdem mein Vater mir die Wohnungstür geöffnet hatte. Mein Bruder war auch schon da. Wir setzten uns um den großen Tisch im Wohnzimmer und verneinten nervös die Frage nach einem Getränk. Angespannt spielte ich an dem Makramee-Besatz der mit großen bunten Blumen bestickten Tischdecke, während meine Mutter uns sagte, dass sie bei sich einen Knoten in der Brust ertastet habe, dass die Ärzte diesen Knoten verdächtig fänden und dass sie morgen ins Krankenhaus gehen würde.
Gedanken, vor allem Erinnerungen, müssen nicht lange dauern, schließlich sind mir meine eigenen Gedanken besonders vertraut. Es ist fast wie in einer Wohnung, die ich gut kenne: Wenn ich durch eine Tür trete, erfasse ich sofort das vertraute Zimmer. Ich muss nicht den Grundriss des Zimmers abschätzen oder die einzelnen Gegenstände darin prüfend betrachten, wie man es vielleicht mit einem neuen Zimmer täte, um sich das Unbekannte zu erschließen. Hier, zu Hause, ist es der Geruch, das Licht, ein bestimmtes Gefühl, das alles einfach macht, ich könnte es kaum erklären. In derselben Weise ist es oft schwierig und nicht selten langwierig, anderen die eigenen vertrauten Gedanken mitzuteilen, weil ich selbst erst Worte für sie finden muss. Dann bin ich gezwungen, mich auf Einzelheiten zu konzentrieren, bei dieser einen Erinnerung zu verweilen, dem Gegenüber begreiflich zu machen, wie alles ist und warum. Aber wenn ich mich nicht erklären muss, wenn ich nur für mich selbst in Gedanken bin, dann brauche ich kaum Zeit für einen vertrauten Gedanken, nicht länger als die Länge eines Schrittes.
Losgehen
Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und warte darauf, dass die Ampel auf Grün springt. Natürlich wird sie gesund bleiben, denke ich. Hoffentlich. Der erste Schritt ist immer der schwerste. Warum traue ich mich überhaupt, über eine Straße zu gehen, den scheinbar sicheren Bordstein zu verlassen? Wie kann ich auf eine Fahrbahn treten, über die mir vollkommen unbekannte Menschen in tonnenschweren Metallgehäusen hinweg schießen? Menschen mit abwesendem Gesichtsausdruck, denen ich nicht einmal für einen kurzen Moment meinen Schlüssel anvertrauen würde, und doch trete ich auf die Straße und vertraue ihnen mein Leben an. Natürlich kann man sagen: Es gibt Regeln. Aber wozu gibt es Regeln? Regeln gibt es doch gerade dort, wo der Mensch sich selbst misstraut. Es gibt Gesetze gegen zu schnelles Fahren, aber es gibt kein Gesetz gegen zu schnelles Atmen. Wie kann ich glauben, dass die, die ich heute und morgen treffe, sich überhaupt an irgendwelche Regeln halten werden? Dass dieser Lastwagen in seiner Spur bleiben wird? Woher kommt diese Sicherheit, dass mir heute nichts passieren wird, dass ausgerechnet mir nie etwas passieren kann? Um nicht zu oft an die Krankheit meiner Mutter zu denken, um mich nicht nach einer dem eigenen Gedächtnis abgetrotzten Phase des Vergessens plötzlich schmerzhaft erinnern zu müssen, um nicht nachts den Gedanken meiner Angst endlos hinterherlaufen zu müssen, um diese Angst aber auch nicht in eine Ecke zu drängen und sie dort, wie jedes in die Ecke gedrängte Wesen, stärker und unberechenbarer zu
machen, um der Angst ein Ventil zu geben, das ich kontrollieren könnte, um nicht in einem glücklichen Moment plötzlich von unkontrollierbaren Gefühlen überwältigt zu werden, beschloss ich, gelegentlich beim Überqueren einer Straße an die Krankheit meiner Mutter zu denken. Es war ein Geschäft mit meinem eigenen Aberglauben, möglichst beiläufig wollte ich daran denken. Im Lauf der Zeit, in Wochen und Monaten wurden aus einzelnen Straßen ganz bestimmte Routen. Denn nur wenige Straßen genügten meinen Anforderungen. Die umliegenden, täglich überquerten Straßen kamen nicht in Frage, genauso wenig wie zu weit entfernte Alleen. Die üblichen Wege zur Straßenbahn, zum Lebensmittelgeschäft oder zur Post eigneten sich nicht. Jeden Tag hätte ich dann an die Krankheit meiner Mutter denken müssen. So hätte ich mich entweder täglich geängstigt oder, und das war wahrscheinlicher, die Gedanken hätten für mich ihren Schrecken verloren und sich abgenutzt wie ein zu oft gehörtes Lied. Das wäre nicht gut gewesen, das wäre sogar gefährlich gewesen, denn die Krankheit war gefährlich und mein Wille gegen sie durfte nicht schwächer werden. Bildete ich mir ein. Ich durfte mich nicht einlullen lassen, ich musste wach und wachsam bleiben. Vermutlich würde es meine Mutter nicht gesund machen, aber auf keinen Fall konnte es schaden und vielleicht nutzte es etwas und dann war es doch Unfug diesen kleinen, möglicherweise nützlichen Kampf aus Bequemlichkeit aufzugeben und dieses womöglich wundersame Kraftfeld aus Gedanken nicht zu erzeugen, meinen Beitrag als Sohn nicht zu leisten. Schließlich war das hier nicht unwichtig, nicht irgendein sinnloses Spiel, es ging um Leben und Tod. Es gab ein paar Straßen, die ich gerade oft genug überquerte, wie die auf dem Weg zum Blumenladen oder eine andere zum selten benutzten Bus. Auf diesen Gängen dachte ich dann an
die Krankheit meiner Mutter. Ich freute mich, wie lange sie schon gesund war und wie gesund sie war und ich sagte mir, dass jeder Tag Gesundheit einen Rückfall unwahrscheinlicher machte. Denn auch wenn in den wissenschaftlichen Studien immer nur alle ein, zwei, fünf und zehn Jahre das Rückfallrisiko für ihre Krankheit kontrolliert wurde, so hatte das doch vor allem praktische und statistische Gründe. Die Forscher konnten einfach nicht jeden Tag alle Patientinnen für ihre Studien untersuchen. Das bedeutete aber nicht, dass nicht jeder Tag zählte. Für mich zählte jeder Tag und noch mehr jeder Monat, jedes Jahr und zum Schluss hatte meine Mutter sogar ein paar Jahre auf ihrer Seite, während ich an ihre Krankheit dachte und eine meiner Straßen überquerte. Ich dachte ausschließlich an das Positive und hoffte, durch diese Gedanken die positive Seite zu unterstützen. Meine Mutter ernährte sich gesund, sagte ich mir, sie setzte sich aktiv mit ihrer Erkrankung auseinander, sie trieb Sport, sie nahm gewissenhaft ihre vorbeugenden und die nachwirkenden Medikamente ein, sie ging regelmäßig zur Nachkontrolle und nie, absolut nie, gab es auch nur das geringste Anzeichen für einen Rückfall. Das waren die guten Gedanken, die ich dachte und die vielleicht einer, wenn auch ein unwichtiger Grund unter all den Gründen waren, warum es nie ein Zeichen von Rückfall gab. An den Tagen, an denen ich diese Straßen überquert hatte, bemühte ich mich, nicht jedesmal meine Mutter anzurufen. Aber ich bemühte mich auch nicht, einen Anruf zu vermeiden. Es war mir wichtig, der Krankheit keinen Zusammenhang mit meinem Verhältnis zu meiner Mutter einzuräumen. Ich rief sie an, wann immer ich wollte. Meinen Kampf um das womöglich wundersame Kraftfeld musste ich allein austragen, unabhängig und ohne jemals jemandem davon zu erzählen.
Sieg
In den achtziger Jahren ging meine Mutter einmal mit ihrer Freundin Marion aus den USA durch das Berliner Scheunenviertel. Eine Amerikanerin in Ostberlin war ziemlich ungewöhnlich, denn die meisten Ostdeutschen kannten niemanden aus Amerika. Die wenigsten Amerikaner kamen nach Ostdeutschland, denn es wurde ihnen so schwer wie möglich gemacht und es muss ein unbehagliches Gefühl für sie gewesen sein, dorthin zu reisen. US-Amerikaner wurden ausnahmslos mit Argwohn betrachtet und jeder ihrer Schritte misstrauisch überwacht. Unsere Familie kannte Leute aus der ganzen Welt, aus Usbekistan, aus Frankreich, aus Polen und eben aus Amerika. Die Besucher aus den osteuropäischen Ländern schliefen oft bei uns auf dem Sofa, die Besucher aus dem Westen durften das nicht. Also übernachteten sie meist in Westberliner Hotels und kamen tageweise nach Ostberlin. Unsere gemeinsamen Spaziergänge waren für die Westler nie nur gewöhnliche Ausflüge, sondern immer auch gewissermaßen ethnologische Expeditionen. Wir erklärten ihnen die strengen Verhaltensregeln in Restaurants, übersetzten die Sprüche auf den allgegenwärtigen Transparenten und halfen ihnen, ihr Ostgeld auszugeben. Für meine Mutter war es also nichts Außergewöhnliches, mit ihrer Freundin Marion durch Berlin zu spazieren. Weil Marion auch Jüdin war, zeigte ihr meine Mutter natürlich den jüdischen Friedhof, die Synagoge im Prenzlauer Berg und schließlich gingen sie auch durch das Scheunenviertel.
In den Häusern dort hatten früher vor allem mittelständische Juden gelebt, Schneider, Händler, Gewerbetreibende. In den Achtzigern brauchte man nun sehr viel Phantasie, um sich in den grauen, halb verfallenen Häusern städtisches Leben vorstellen zu können. Die allermeisten der vielen kleinen Läden waren seit mehreren Jahrzehnten geschlossen. Die schmutziggrauen Rollläden aus verwittertem Holz hingen schräg vor den staubblinden Schaufensterscheiben. Nur bei genauem Hinsehen konnte man noch ein verblasstes Ladenschild oder die fahle, verblichene Schrift an einer Häuserwand erkennen. Später erzählte mir meine Mutter, wie Marion plötzlich stehen blieb und mit einer ausholenden Geste auf die baufälligen Gebäude um sie herum zeigte. Sie sah meine Mutter an und sagte: »Siehst du Christiane, Hitler hat doch gewonnen.« »Nein, Marion«, beeilte sich meine Mutter zu sagen, »die Häuser hier sehen nur deshalb so schlimm aus, weil bei uns ganz wenig alte Häuser renoviert werden und es sich nicht lohnt, einen Laden zu betreiben. Dieser Verfall hat mit den Nazis nichts zu tun.« »Das meine ich nicht«, sagte Marion. »Wo ist denn das jüdische Leben, die vielen Schneider, Händler und die Geschäfte, von denen du erzählst? Wo spielen die Kinder, wo rufen die Mütter, wo unterhalten sich die alten Leute? Oder gibt es sonst irgendwo in Berlin so ein jüdisches Leben?« Was hätte meine Mutter entgegnen können? Sie schwieg. Auch nirgendwo anders in Berlin hätte sie Marion jüdisches Leben zeigen können. »Das meine ich damit: Hitler hat doch gewonnen«, sagte Marion.
Raus gehen
Ich bin vier Jahre alt. Gelangweilt streife ich durch unsere Wohnung. In allen Zimmern bot sich das gleiche Bild: Eines der Familienmitglieder saß am Schreibtisch. Meine Mutter, mein Vater und sogar mein Bruder saßen auf ihren Stühlen, beugten sich über die Tischplatte und bewegten mit konzentriertem Gesichtsausdruck Stifte über weißes Papier. Wenn ich die Tür zu ihren Zimmern öffnete, blickten sie auf, schauten etwas abwesend und sagten freundlich: »Geh doch etwas Schönes spielen, Kleiner.« Aber ich hatte ja meinen Streifzug durch die Wohnung angetreten, um nicht alleine spielen gehen zu müssen. Wieder zurück in meinem Zimmer nahm ich mir ein großes leeres Heft, das ich zum Malen bekommen hatte. Ich legte es auf den hohen Holztisch in meinem Zimmer und zog meinen Kinderstuhl aus geschwungenem weißen Plastik heran. Dann setzte ich mich im Fersensitz auf den Stuhl, damit ich hoch genug saß, um an die Tischplatte zu reichen. Ich nahm mir einen Stift, schlug das Heft auf und malte Linien auf das Papier. Geschwungene, parallele Linien von links nach rechts. Zwischendurch setzte ich immer wieder ab und machte einen schwungvollen Punkt neben oder über den Linien. War die Seite voll, blätterte ich wie selbstverständlich um und schrieb auf der nächsten weiter. Und die ganze Zeit über erzählte ich dabei Geschichten vor mich hin. Von Drachen und Prinzessinnen, von Indianern und Hasen. Schließlich setzte ich einen letzten, besonders schwungvollen Punkt hinter die letzte Zeile, nahm das Heft und ging ins Zimmer meiner Mutter.
»Was hast du denn?«, fragte sie mich. »Ich habe eine Geschichte geschrieben. Hier in dem Heft.« »Dann lies mal vor.« Ich schlug das Heft auf, bewegte meine Augen über die Buntstiftstriche, blätterte um und erzählte ihr dabei noch einmal genau dieselbe Geschichte von Drachen, Prinzessinnen, Indianern oder Hasen wie ich sie gerade mir selbst erzählt hatte. Meine Mutter war immer begeistert von den Geschichten. Sie lobte mich überschwänglich und streichelte mir über den Kopf. »Komm, die müssen wir auch Vati vorlesen«, sagte sie. Wir holten ihn ins Wohnzimmer, wo wir uns zu dritt auf das grüne Sofa setzten. Und meine Mutter würde später schwören, dass ich die Geschichten aus meinem Heft immer wieder exakt gleich vorlas, auf Punkt und Komma genau, und immer an den gleichen Stellen die Seiten umblätterte. Als ich später das Alphabet gelernt hatte, konnte ich die Geschichten aus meinem Heft selbst nicht mehr lesen. Als Kind ging ich nicht gern raus. Ich bevorzugte die immer viel zu kurzen Stunden vor dem Fernseher. Obwohl es damals nur staatliche Sender gab und der Bildungsauftrag geradezu aus der Fernsehröhre kroch, durfte ich nur eine einzige Sendung am Tag sehen. Nur wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, verbrachte ich jede freie Minute vor der Kiste. Manchmal stand ich aber auch an meinem Fenster, drückte meine Nase an die Scheiben und hauchte vorsichtig dagegen, während ich anderen Kindern dabei zusah, wie sie auf dem Platz vor unserem Haus miteinander spielten. Das hätte ich stundenlang machen können, manchmal holte ich mir sogar ein kleines Kissen vom Sofa und legte es auf das Fensterbrett. So hatte ich es bei älteren Leuten gesehen, die auch gern aus ihren Fenstern sahen. Es schonte die Ellenbogen. Schrecklich waren die Momente, in denen mich meine Eltern aus der Wohnung zu befördern versuchten. Meine Mutter war
der Meinung, dass ein vierjähriger Junge nicht kleinen Kindern beim Spielen auf der Straße zusehen, sondern dass er selbst mitspielen sollte. Ich wurde in wetterfeste Kleidung gesteckt, die meine Mutter aus den Tiefen meines Kleiderschrankes holte, und dann vor die Tür geschoben. Ich konnte jetzt entweder ein, zwei Stunden in unserem Treppenhaus spielen, bevor ich wieder an der Wohnungstür klingelte, oder mich tatsächlich vor die Tür wagen. Leider war das Treppenhaus gänzlich uninteressant und die Tür zum Dachboden leider meist verschlossen. Also öffnete ich irgendwann die Haustür. Die fremden Kinder spielten wilde Spiele, bei denen ich mir bestimmt die Knie aufgeschrammt hätte. Sie konnten Rollschuh fahren und turnten wild auf dem Klettergerüst. Das war alles nichts für mich. Ich spielte höchstens ein paar Runden »Kante« mit. Bei diesem Spiel standen zwei Kinder auf den gegenüberliegenden Bürgersteigen, zwischen ihnen die Straße. Nun musste man einen Ball so werfen, dass er von der Kante des anderen Bürgersteigs abprallte und zu einem zurücksprang. Drei Punkte bekam man, wenn der Ball ohne Zwischenhüpfer an die Kante und zurück in die Hände des Werfers sprang. Ich warf den Ball meist direkt in die Hände meiner Gegenspieler, was überhaupt nicht gefragt war. Ich war nicht sehr häufig unten auf der Straße und eigentlich kein sehr gefragter Spielkamerad. Aber ich hatte den großen Vorteil, einen schönen Roller von meinem Bruder, der damals schon längst Fahrrad fuhr, geerbt zu haben. Mein Roller besaß einen langgezogenen Sitz und eine Fußbremse. Als ich die einmal vorsichtig ausprobiert hatte, war ich sofort hingefallen und hatte mir ein Knie aufgeschrammt. Seitdem fuhr ich nicht mehr mit dem Roller. Die anderen Kinder aber, die nur einfache Roller ohne Sitz und Bremse besaßen, wollten gern mit meinem Roller fahren. Ich
eröffnete einen Rollerverleih: Für einen Kaugummi durfte man zwei Runden ums Karree fahren, für einen Johannisbeerbonbon eine kleine Runde über den Platz. Wenn ich wieder oben war, schimpfte meine Mutter freundlich mit mir. Sie hatte uns wohl von oben beim Spielen zugesehen. »Du sollst doch selber mit dem Roller fahren. Du musst nicht immer die anderen Kinder fahren lassen.« Ich nickte beflissen und dachte an die Süßigkeiten in meiner Hosentasche. Als ich in die Schule kam, musste ich endlich nicht mehr mit den anderen Kindern spielen gehen. Nach der letzten Stunde ging ich oft zu einem Mitschüler nach Hause. Wenn dessen Eltern spät von der Arbeit kamen, konnten wir lange fernsehen. Das bedeutete aber keineswegs, dass meine Eltern mich völlig in Ruhe gelassen hätten. Besonders an den Wochenenden wollte meine Mutter immerzu mit uns spazieren gehen, um den Weißenseer See herum oder auf den jüdischen Friedhof. Die frische Luft sei gesund für mich. Und so wanderten wir zu jeder Jahreszeit um den See oder zwischen den Gräbern herum, wo man kleine Steine auf die Grabsteine legte. Erst später gab es für mich Gründe, auf die Straße zu gehen. Ich half meiner Mutter beispielsweise beim Einkaufen, was darauf hinauslief, dass wir nach einem festen Wochenplan die Läden in unserer Umgegend abklapperten. Ich erinnere mich an das bauchige schwarze Haushaltsportemonnaie unserer Familie mit zwei geschwungenen Metallbügeln oben und zwei ineinander greifenden Kugeln als Verschluss. Dieses Portemonnaie lag im oberen Küchenschrank, neben den Schüsseln. Am Montag wurde das Geld dort hineingelegt, das für die ganze Woche reichen musste. Wer einkaufen wollte, nahm sich das Haushaltsportemonnaie und ging los.
Jeden zweiten Montag gab es Papiertaschentücher in der großen Drogerie in der Allee. Papiertaschentücher gehörten zu den Waren, die nie in einem Laden vorrätig waren und von denen trotzdem jeder genug zu Hause hatte. Und so ging ich jeden zweiten Montag in die nach Seife und billigem Parfüm riechende Drogerie und kaufte die erlaubte Höchstmenge von zwei großen Paketen Taschentüchern. Die kamen in unseren großen Wäscheschrank, wo schon eine ganze Menge dieser Pakete lagerte. Aber das machte nichts, denn Papiertaschentücher konnte man immer gegen andere Waren eintauschen. Am Dienstag gab es Gemüse bei der alten Gemüsehändlerin in der Parkstraße, zu deren dunklem Laden man ein paar Stufen hinabsteigen musste. Nur ganz oben, an der Decke des Geschäfts, gab es ein paar vergitterte halbrunde Fenster auf Höhe des Bürgersteigs, durch die selbst bei strahlendem Sonnenschein nur wenig Licht fiel. Darum brannte in dem Geschäft immer eine sirrende, schmutzig verklebte Neonröhre hinter einem Drahtgitter. Die Gemüsehändlerin nannten wir nur »die Kellerassel«. Trotz ihres dunklen, kalten Kellergeschäfts, ihrer zerrissenen Kittelschürze und ihrer wirren, grauen Haare schien es der Kellerassel nicht schlecht zu gehen, denn vor dem Geschäft parkte ein großer grüner Volvo, mit dem sie frühmorgens ins Geschäft fuhr. Die Kellerassel konnte meine Mutter gut leiden, wahrscheinlich weil wir nicht immer nur Kartoffeln und Blumenkohl haben wollten, sondern auch mal so ungewöhnliche Gemüsesorten wie Auberginen bei ihr kauften. Meine Mutter erklärte ihr dafür, wie man Auberginen am besten zubereitet. So konnte die Kellerassel auch an altmodischere Kundinnen das neumodische Gemüse loswerden. »Was macht man denn damit?«, fragte eine Kundin, als ich einmal allein im Gemüseladen war. Sie hielt misstrauisch eine Zucchini in die
Höhe. »Die müssen Sie schälen und dann mit Knoblauch und Zwiebel in Öl braten«, antwortete die Kellerassel wie selbstverständlich. Es waren genau die Worte meiner Mutter. Am Donnerstag gab es Fleisch beim Fleischer in der Streustraße. Dort hieß meine Mutter »Kartoffelsuppe« und ich war »der Sohn von Kartoffelsuppe«, seit meine Mutter einmal bei diesem Fleischer für eine Feier vorbestellt hatte. Die Fleischersfrau hatte nun die übliche lange Bestellung erwartet, mit der meine Mutter das Gewicht eines jeden Gastes ihrer Feier mit Bouletten, Würstchen und Koteletts hätte aufwiegen können. Sie bestellte aber nur zwei Kilo Rauchfleisch. »Ich denke, sie wollen eine Feier feiern«, erinnerte sie die Fleischerin. »Ja«, sagte meine Mutter, »ich wollte einfach eine große Kartoffelsuppe kochen.« Die Feier war ein großer Erfolg und auch beim Fleischer in der Streustraße hatten wir von da an einen Stein im Brett. Meine Mutter hieß seitdem eben Kartoffelsuppe und ich war der Sohn von Kartoffelsuppe. Und wir waren zu Kunden der Fleischerei geworden. In einem Geschäft »Kunde« zu sein, war eine besondere Auszeichnung. Es war wie ein Titel, der einem verliehen wurde und um dessen Erhaltung wir stets besorgt sein mussten. Wenn wir fortan zu dem Fleischer in der Streustraße gingen, stellten wir uns wie alle anderen an. Aber wenn wir an der Reihe waren, brauchten wir kein Wort zu sagen. Wir erhielten wortlos ein Paket aus rosa Packpapier, auf dem schon ein Preis stand. Wir bezahlten ohne weitere Nachfrage, gaben ein reichlich bemessenes Trinkgeld, steckten ebenso wortlos das Paket in unser Einkaufsnetz und gingen wieder nach Hause. Nur manchmal, wenn wir noch was für die Katze brauchten, kauften wir ein kleineres rosa Paket mit ein bisschen Leber oder Lunge dazu. Erst zu Hause öffneten wir das Packpapier und sahen gespannt nach, was es in dieser Woche für Delikatessen zu essen geben würde. Manchmal bekamen wir
Rouladen, manchmal mageres Rindergulasch. Es war wie eine Wundertüte vom Fleischer. Am Freitag gingen wir in die Kaufhalle und zu unserem kleinen Laden an der Ecke, wo wir Milch, Brot, Butter und Getränke fürs Wochenende kauften. Meine Mutter brachte mir die Dinge bei, die ich dabei beachten musste. Aus dem Kübel voller undichter Milchtüten musste man mit Fingerspitzengefühl eine der unversehrten Tüten angeln, die man daran erkennen konnte, dass sie in der Milch schwammen. Wenn wir sahen, dass ein bestimmtes Produkt bei jedem im Einkaufswagen lag, dann nahmen wir das auch mit, egal ob es Kernseife oder Milchpulver war, es würde schon seinen Grund haben. Wenn wir beim Hereinkommen sahen, dass die Schlange an der Kasse sehr lang war, stellte ich mich schon an, während meine Mutter einkaufte. Das war mir sehr unangenehm, denn während ich in der Schlange langsam nach vorn rückte, fürchtete ich, dass sie zu spät kommen könnte und ich mich noch einmal ganz hinten anstellen müsste. Sie erschien aber immer rechtzeitig. Zum Schluss zeigte sie mir, dass man die schweren Sachen nach unten packt und die empfindlichen nach oben. Heute erscheint mir das selbstverständlich, aber dennoch erinnere ich mich genau, wie sie mir diese Dinge erklärt hatte. Schließlich trugen wir die Einkäufe zusammen nach Hause. Manchmal fassten wir eine schwere Tasche gemeinsam an. Die fühlte sich dadurch immer um so vieles leichter an, dass ich glaubte, meine Mutter würde das ganze Gewicht allein tragen. Ich schaute verstohlen zu ihr hoch, aber sie ließ sich nie etwas anmerken. Als Jugendlicher musste ich immer allein zum Friseur gehen. »Gottseidank«, sagte meine Mutter, die mir früher die Haare geschnitten hatte. Ich wurde schon rot, wenn ich nur den Laden betrat. Knallrot wurde ich, wenn ich mich in einen der Stühle
setzen musste, die praktisch im Schaufenster des Geschäfts standen. Und dann musste ich auch noch dem Friseur meinen gewünschten Haarschnitt erklären. Hinterher sah ich immer so aus wie ein Junge, der gerade vom Friseur kommt. Mit diesem frischen Haarschnitt auf die Straße zu gehen, bedeutete für mich geradezu eine körperliche Anstrengung. Mein Vater bemerkte nie, wenn ich vom Friseur kam, und war immer entsetzt, wie viel Geld ich für die Frisur bezahlt hatte. Aber meine Mutter sagte, dass es ganz toll aussehen würde. Später versuchten sich ein paar Freunde an meinen Haaren. Das kostete nichts und wenigstens trug so noch jemand anderes die Schande mit. Einmal färbte ich mir sogar die Haare mit dem Farbton »Blauschwarz«. Hinterher musste ich stundenlang das Bad schrubben und wirklich blauschwarz waren allein meine Hände. Das Ergebnis war für mich vollkommen enttäuschend. Die Einzige, der meine gefärbten Haare auffielen, war meine Mutter. Und die fragte mich nur, ob das bedeuten würde, dass ich jetzt bald auch einen Diamantsplitter in der Nase tragen würde. Das fände sie todschick, sagte sie, sei aber selbst leider zu alt dafür. Sie bot sogar an, mir den Diamantsplitter zu spendieren. Ich färbte mir nie wieder die Haare.
Statistik
Nach Abschluss aller Untersuchungen und der mikroskopischen Zellanalyse sagten die Ärzte, sie hätte eine besonders aggressive, lebensgefährliche Art von Brustkrebs. Eigentlich trafen die wichtigsten Risikofaktoren nicht auf sie zu. Meine Mutter hatte zwei Kinder bekommen, die sie gestillt hatte, sie war körperlich stets aktiv und ernährte sich ausgesprochen gesund. Das Rauchen hatte sie sich vor Jahren abgewöhnt, als wir noch ganz klein waren, um für uns Kinder kein schlechtes Beispiel zu sein. Statistisch gesehen war die Wahrscheinlichkeit ihrer Erkrankung sehr gering. Weil das immerhin etwas Konkretes war, das ich tun konnte, hatte ich mich gründlich über die Krankheit meiner Mutter informiert. Ich fand sogar irgendwo eine konkrete Zahl, die ich inzwischen wieder vergessen habe: 1:1000, 1:1 Million. Die große Zahl auf der rechten Seite hatte keine Bedeutung für mich, weil meine Mutter offensichtlich die eine Frau auf der linken Seite war. Bei Krebs geht es um Kampf und Kontrolle. Täglich entstehen in jedem Körper Tausende neuer Zellen. Zellkerne teilen sich, dann teilt sich die Zelle, neue Zellen entstehen. Alte Zellen hören auf zu arbeiten und können den aufwändigen täglichen Kampf zur Aufrechterhaltung ihres Funktionierens, den Kampf um ihr eigenes Leben nicht länger führen. Auf diese Weise erneuert sich jeder Körper täglich und sogar stündlich, was bedeutet, dass wir zum Beispiel niemals zwei Jahre mit derselben Schilddrüse durch das Leben gehen. Das Organ ist die ganze Zeit über Bestandteil unseres Körpers,
doch von unserer Schilddrüse aus dem vergangenen Jahr existiert heute keine einzige Zelle mehr. Jeden Tag entstehen in jedem Körper auch Zellen, die sich nicht einordnen würden in das komplizierte Gefüge unseres Organismus. Zellen, die sich ungehemmt vermehren würden, die aus sich selbst heraus neue Strukturen schaffen, die die funktionierenden Organe verdrängen würden. Zellen, die eigene, neue Blutgefäße brauchen würden, um ihren riesigen Energiebedarf zu stillen. Jede neue Zelle könnte so sein und jede neue Zelle muss deshalb kontrolliert und gegebenenfalls im Interesse des Ganzen vernichtet werden. Die Zellen, die dieses Zusammenspiel kontrollieren, erneuern sich auch und könnten ebenfalls gefährliche Nachfahren produzieren. Deshalb gibt es mehrere, sich gegenseitig kontrollierende Kontrollsysteme. So herrscht ein permanenter Wettstreit und Kampf, denn eine kleine Lücke, eine einzige Zelle kann schon eine tödliche Gefahr bedeuten. Denn diese eine Zelle produziert in kurzer Zeit Hunderte von ebenso aggressiven, expansiven Zellen und hat sehr bald einen immensen mathematischen Vorteil auf ihrer Seite. Das war Krebs. In meinen Fachbüchern konnte ich praktisch nur einen einzigen zutreffenden Risikofaktor für die schwere Erkrankung meiner Mutter in ihrem relativ jungen Alter finden: ihre Gene. Der Vater meiner Mutter war jüdisch und dass die Nachkommen europäischer Juden viel häufiger und viel jünger an sehr aggressivem Brustkrebs erkrankten, hatten Forscher schon vor Jahren wissenschaftlich belegt. Die einzelnen Risikogene dafür waren zweifelsfrei identifiziert.
Essen machen
Ich bin fünf Jahre alt und sitze auf dem Kühlschrank in der Küche unserer alten Wohnung in der Tassostraße. Mein eigenes Zimmer war ständig unaufgeräumt, aber vor allem war mein Zimmer langweilig. Deshalb ging ich gern nach vorn in die Küche und leistete meiner Mutter Gesellschaft. Sie kochte Suppe, machte Braten, Kartoffelpuffer, während wir uns unterhielten. Sie schälte die Kartoffeln und putzte das Gemüse. Voller Freude betrachtete sie die Lebensmittel, die wir gemeinsam eingekauft hatten. Sie schnitt die Kartoffeln in Würfel, die sie in kochendes Salzwasser warf. Mit Genuss steckte sie ab und zu ein Stück rohe Kartoffel in den Mund und genoss es wie eine Delikatesse. Auf dem Herd tanzten die Deckel klappernd auf den Töpfen. In einer Pfanne brieten Zwiebeln rauchend in Öl. Kochendes Wasser umsprudelte den Rosenkohl in einem durchsichtigen Topf aus hitzebeständigem Glas. Obwohl ich meiner Mutter unzählige Male beim Kochen zusah und mir kein Handgriff entging, blieb es für mich doch letztlich wie Magie. Am Anfang standen völlig ungenießbare Dinge, steinharte Erbsen und sandige Kartoffeln und am Ende war daraus etwas Wohlschmeckendes geworden. Die blutig roten Klumpen aus dem Fleischerpaket sahen beinahe schon ekelhaft aus, eher wie etwas, mit dem man sich vergiften konnte. Doch dann schnitt, raspelte, briet und dünstete meine Mutter und es wurde köstlich. Mir kam es vor wie eine Art Feuerzauber mit Hilfe der blauen Flammenkränze aus unserem Gasherd. Und es gab keine Routine, sie probierte alles aus, exotische Gewürze, fremdartige Fische, scharf gewürzte
Soßen. Sie wünschte sich auch keine Kleidung oder Schokolade als Geschenke, meine Mutter wünschte sich Kochbücher. Dutzende von Kochbüchern standen in ihrem kleinen Regal »Die echte italienische Küche«, »Henriette Davidis’ Rezeptbuch von 1844« oder »Chinesisch essen«, alle mit deutlichen Gebrauchsspuren, kleinen Ölspritzern oder Soßenflecken auf den Seiten. Hin und wieder half ich ihr, bereitete eine Knoblauchzehe vor, schnitt eine Zwiebel oder rührte die Suppe um. Dann entfernte ich mühsam die trockene Schale, hantierte ungeschickt mit dem kleinen gebogenen Messer oder verschüttete schwungvoll Suppe auf den Herd. Danach rochen meine Hände den ganzen Tag nach dem Essen. Ich war keine besondere Hilfe, sondern griff in einen gut funktionierenden Ablauf ein, wie ein kleiner Zusatzmotor, der plötzlich ein einzelnes Zahnrad in einem perfekt laufenden Motor bewegen will. Es war besser, wenn ich mich darauf beschränkte, den Tisch zu decken und im entscheidenden Moment durch die Wohnung zu laufen und die anderen zum Essen zu holen. Auch wenn meine Mutter die souveräne Herrscherin der Küche war, legte sie großen Wert darauf, dass dies ihre freie Entscheidung war. Einmal hatte ich neue Schwämme eingekauft und machte den Fehler, beim Auspacken »Hier, für dich« zu sagen. »Wieso für mich?«, fragte sie mich erstaunt. Nach den gemeinsamen Mahlzeiten aß meine Mutter oft noch mit der übergroßen Gabel des Salatbestecks den übrig gebliebenen Salat direkt aus der Schüssel. »Darum ist es doch schade«, sagte sie immer. Im Brotkorb fand sie dazu einen Kanten steinhartes Brot, »das schmeckt am besten.« Ich begann abzuwaschen. Einmal gab es zu Weihnachten keine Lebkuchen in den Läden zu kaufen. Meine Mutter beschloss, dass wir in diesem Jahr eben selbst Lebkuchen backen würden. Sie hatte ein altes
deutsches Kochbuch aus ihrem Regal geholt und darin ein Rezept für Lebkuchen nachgeschlagen. Sie schrieb die Zutatenliste ab, teilte sie in vier gleiche Teile und dann ging die Familie los, um die vielen Zutaten zu bekommen. Nach einigen Stunden trafen wir uns in der Küche wieder und schütteten den Inhalt unserer Netze, Beutel und Taschen auf den Küchentisch. Wir hatten im Prinzip alle Zutaten bekommen, aber einige Kompromisse waren gemacht worden. Ich hatte leider nicht die geforderte Butter bekommen. So kurz vor Weihnachten konnte an jede Person nur maximal zwei Stücke verkauft werden. Da hatte ich lieber gleich die ganze Menge in Margarine mitgebracht. Mein Vater hatte kein Hirschhornsalz bekommen, war aber von der Verkäuferin beraten worden, stattdessen doch ein Fläschchen Rumaroma zu nehmen. Den Honig aus dem Rezept hatte mein Bruder nirgends finden können, zog aber stolz mehrere Gläser besten Kunsthonigs aus der Tasche. Meine Mutter schließlich war ohne Mandeln nach Hause gekommen, doch die Kellerassel hatte ihr erklärt, wie man aus weißen Bohnen durch Rösten und Mahlen eine Substanz erhielt, die mindestens so gut wie gebrannte Mandeln schmeckte. Unser schwarzes Haushaltsportemonnaie war leer, aber wir waren guter Hoffnung, dass es sich dafür gelohnt hatte. So bereiteten wir den Lebkuchen nach altem Rezept, kneteten und vermischten und walzten. Dann musste der Teig vierundzwanzig Stunden auf dem Fensterbrett ruhen. Am nächsten Tag schnitten wir kunstvolle Lebkuchenmänner und herzen aus der mit Mühe und Sorgfalt ausgewalzten Teigmasse und dekorierten die Formen mit kostbaren Restbeständen ein paar echter Mandeln. Das Ganze dauerte zwei Tage. Die Wohnung roch nach Weihnachten. Dann war endlich der erste Advent. Meine Mutter zündete die Kerze an und jeder bekam einen liebevoll verzierten
Lebkuchenmann zu seinem Kakao. Das Gebäck war steinhart und es war praktisch unmöglich, es mit den Zähnen zu zerteilen. Auch die anderen schienen Mühe zu haben und drehten verlegen ihre ungenießbaren Lebkuchen in den Händen. Wir schauten uns betreten an und ich versuchte, wenigstens an dem Gebäck zu lutschen, um es aufzuweichen. Schließlich wollte ich um nichts in der Welt das köstliche Aroma der edlen Inhaltsstoffe verpassen. Aber auch der Geschmack meines Lebkuchenmanns war eine schlimme Enttäuschung. Die Masse in meinem Mund war klebrig und schmeckte widerlich süß, war aber gleichzeitig salzig und bitter. Mühevoll schluckte ich den Brei hinunter, den Rest des Lebkuchens warf ich unauffällig weg. Wir beendeten stillschweigend das Kaffeetrinken. In den Tagen danach herrschte bei uns zu Hause schlechte Stimmung. Meine Mutter war ungewöhnlich reizbar und keiner traute sich, sie auf die Lebkuchen anzusprechen, von denen ich glücklicherweise nie wieder etwas sah. Die Dosen, in denen wir sie lagern wollten, standen eines Tages wieder abgewaschen im Küchenschrank. Erst einige Monate später sprachen wir miteinander über die unfassbar misslungenen Lebkuchen und konnten ein bisschen darüber lachen. Die Enttäuschung über diese Katastrophe nach dem riesigen Aufwand, den wir betrieben hatten, war einfach zu groß.
Herkunft
Der Vater meiner Mutter hieß Johannes Figulla, war Physiker und er besaß offensichtlich die Fähigkeit, sich sehr in seine Arbeit zu vertiefen. Denn anders war es kaum zu erklären, dass ein gebildeter Mann wie er so lange nicht über eine Emigration aus Deutschland nachgedacht hatte, bis es zu spät war. Seine Mutter war Jüdin, also war auch er nach dem Gesetz jüdisch. Doch dieser Umstand hatte bis dahin in seinem Leben keine große Rolle gespielt, denn er befand sich als liberaler Jude in der Geburts- und Heimatstadt des liberalen Judaismus: er lebte in Berlin. Der Jude Johannes Figulla war lange Zeit einfach nur ein normaler junger Berliner Physiker gewesen. Die Nürnberger Gesetze machten aus meinem Großvater Figulla einen Halbjuden. Die Nazis griffen für die Verabschiedung dieser Gesetze auf scheinbar wissenschaftliche Begründungen zurück. Man führte Experimente an, die der Mönch Gregor Mendel mehr als hundert Jahre zuvor an Erbsenpflanzen durchgeführt hatte. Auf der Grundlage von Mendels Erkenntnissen über die Farbe von Erbsen legten die Nazis fest, wer in welchem Maße jüdisch war. Menschen mit zwei jüdischen Elternteilen wurden als die gefährlichsten eingestuft. Menschen mit einem jüdischen Elternteil wurden als Halbjuden bezeichnet und galten aus nicht begreiflichen Gründen als etwas weniger gefährlich. Deren Kinder, Vierteljuden, wurden wiederum als besonders gefährlich eingestuft, weil bestimmte Eigenschaften der Großeltern auf sie übergesprungen sein könnten. Und erstmals ging es in der jüdischen Frage nicht um Bekenntnis oder Glauben, erstmals ging es nur um Blut.
Also war mein Großvater Figulla, der Physiker, plötzlich als Fremdkörper eingestuft worden, allerdings als relativ ungefährlicher Fremdkörper. Viel bedeutungsvoller muss für ihn gewesen sein, dass seine Forschung als kriegswichtig eingeschätzt worden war und er daher persönlich nicht behelligt wurde. Die Familienmitglieder meines Großvaters nahmen die Angelegenheit ernster. Sie emigrierten, wenn sie konnten. Einer seiner Brüder floh nach England, ein anderer nach Palästina. Johannes hatte Verständnis für sie, war sich aber sicher, dass ihm auf Grund seiner kriegswichtigen Forschung nichts passieren würde. Er hatte nicht die Absicht, seine Heimatstadt zu verlassen. Anfang der vierziger Jahre verliebte er sich außerdem in eine schöne junge Frau und wollte Berlin nun umso weniger verlassen. Diese Frau war meine Großmutter. Viel hat sie nie erzählt über diese Zeit, aber sie muss damals so glücklich gewesen sein, dass sie zuließ, dass diese Zeit ihr Leben schließlich für immer veränderte. Es war für meine Großmutter als einfache Sekretärin nichts Selbstverständliches, mit einem Akademiker, einem Studierten, zusammen zu sein. Johannes und sie gingen miteinander aus und im Sommer fuhren sie sogar in die Ferien. Schließlich wollten die beiden heiraten. Und obwohl Großvater Figulla nicht religiös lebte, kam für ihn offenbar nur eine jüdische Hochzeit in Frage. Hatte er einfach beschlossen, die politische Situation um sich herum, die tägliche Katastrophe, zu ignorieren? Meine Großmutter hat mir nie erzählt, was sie davon hielt, aber für ihren Johannes wollte sie sich auf diese gefährliche Hochzeit einlassen. Mit den noch funktionierenden Überresten der jüdischen Gemeinde Berlin wurden alle notwendigen Absprachen getroffen. Meine Großmutter würde im Zuge der Hochzeit selbstverständlich und problemlos zum
Judaismus konvertieren können und Mitglied der Gemeinde werden. Doch die deutschen Behörden beendeten die Träume meiner Großeltern, denn es war für meine Großmutter unmöglich, eine standesamtliche Genehmigung für diese Eheschließung zu erhalten. Die junge Frau war als Arierin eingestuft und es wurde ihr von Amts wegen nicht gestattet, ihr deutsches Blut zu verunreinigen, obwohl meine Großmutter anbot, ihren Ariernachweis abzugeben und auf eigene Gefahr Jüdin zu werden. Sie wollte nichts, als meinen Großvater heiraten. Doch genau solche Ungeheuerlichkeiten galt es zu verhindern. Ein kriegswichtiger Halbjude ohne Aussicht auf Nachkommen war offensichtlich noch tolerabel für das Reich. Aber dass dieser Halbjude eine Arierin heiratete, war ausgeschlossen. Außerdem stellten ja die Kinder aus einer solchen Verbindung, die Vierteljuden, angeblich eine besonders große Gefahr für den Volkskörper dar. Das Ansinnen meiner Großmutter wurde dokumentiert, bearbeitet, als ungesetzlich und widernatürlich eingestuft, abgelehnt und abgelegt. Meine Großeltern heirateten nicht. Aber sie hatten einander. Ihr gemeinsames Leben blieb kurz. Nach Stalingrad wurde Deutschland wieder jeden Tag kleiner. »Kriegswichtig« wurde immer bedeutungsloser, als offensichtlich wurde, dass man diesen Krieg ohnehin verlieren würde. So wie die Nazis alles auf eine Karte gesetzt hatten, wie sie die Welt zu ihrem Feind erklärt hatten, war es klar, dass ein Ende des Krieges auch nur in ihrem vollkommenen Untergang enden könnte. Und möglichst viele sollten mit ihnen untergehen. Also gab es keine Kompromisse, keine Ausnahmeregelungen mehr. Verbrannte Erde. Selbst mein weltfremder Großvater Figulla schien die Bedrängnis gespürt zu haben. Im Sommer 1944 erhielt er die Mitteilung, zur Organisation Todt eingezogen zu werden, als Zwangsarbeiter in den Bautrupps.
Zusammen mit einem Freund plante mein Großvater die Flucht. Meine Großmutter erzählte, er habe mit dem Zug nach Süddeutschland fahren, von dort über die Alpen in die Schweiz und schließlich nach Palästina gehen wollen. Auf dem Bahnhof verabschiedete sich mein Großvater Figulla von seiner Nicht-Frau. Die Hoffnung auf bessere Zeiten sprachen die beiden nicht einmal mehr aus und er machte sich auf den Weg.
Wohl ergehen
Ich bin sieben Jahre alt und liege krank im Bett. Meine Mutter spielt Mühle mit mir. Die wenigen Male, die ich so krank war, dass ich im Bett liegen musste, stand auf dem Boden neben meinem Bett immer eine große Kanne Kräutertee mit Honig, den meine Mutter für mich gekocht hatte. »Trink! Du musst viel trinken«, sagte sie immer. Zu den Mahlzeiten setzte ich mich vorsichtig auf und sie brachte mir mein Essen auf einem Tablett, das sie vorsichtig auf meine Beine legte. Nach dem Essen hatte ich Besteck und Geschirr auf den Boden gestellt und das Mühlebrett auf dem Tablett aufgeklappt. Meine Mutter saß auf der Bettkante und wir spielten noch eine Partie vor meinem Mittagsschlaf. Ich glaubte, mir eine ganz besonders geschickte Kombination ausgedacht zu haben. Als ich doch verlor, wurde ich wütend und warf meiner Mutter das Spielbrett aus Pappe an den Kopf, die Spielsteine flogen wild im Zimmer umher. Sie nahm wortlos die Teller und verließ das Zimmer. Es verging eine Weile, bevor sie wieder hereinkam und mich fragte, ob ich etwas brauche. Ich entschuldigte mich bei ihr. »Schon gut«, sagte sie. Für meine Gesundheit, davon war ich als Kind überzeugt, war ausschließlich meine Mutter verantwortlich. Sämtliche Beschwerden meldete ich unmittelbar ihr und hatte die Symptome damit gleichsam übergeben. Auch Ärzte betrachtete ich nur als Handlanger meiner Mutter, die weiße Kittel trugen. Zu Ärzten mussten wir in den seltenen Fällen gehen, wenn die Kamillentees, Myrrhespülungen, Fieberthermometer und Wadenwickel meiner Mutter nicht mehr halfen. An einem
Aschermittwoch saßen wir einmal mit meinen Bauchschmerzen und dem Verdacht auf eine Blinddarmentzündung auf den Holzbänken der Rettungsstelle des kleinen Krankenhauses in unserer Nähe und ich beobachtete interessiert, wie Betrunkene mit ihrem Vollrausch kämpften. »Mann, ist die voll! Voll wie ein Pisspott«, brüllte eine alte blondierte Frau, die auf einer Trage lag, in die Gänge. »Aber ich bin ja auch voll. Voll wie ein Pisspott«, setzte sie nach einigen Sekunden resigniert hinzu. Meine Mutter ging nach vorn zur Anmeldung. »Können Sie uns bitte etwas vorziehen? Das ist hier nichts für ein Kind.« Jedes Jahr ging sie mit mir auch einmal zum Augenarzt, weil sie mich abends immer schielen sah. Morgens war ich dann beim Augenarzt putzmunter und das Schielen war weg. Ein Grund für meine Munterkeit lag darin, dass ich vor Augenärzten eine höllische Angst hatte. Zahnärzte bohrten in den Zähnen, Kinderärzte stachen Kindern Spritzen in den Arm, was würden erst Augenärzte machen, wenn sie irgendetwas an meinen Augen finden könnten? Eines Tages ging meine Mutter mit mir in die Charite. Sie hatte genug von unserem Augenarzt, der sie Jahr für Jahr bedauernd mit seinem Blick ansah, den er für überängstliche Mütter reserviert hatte. In der Kinderaugenklinik der Charite ging es zu wie auf einem Bahnhof. Obwohl wir einen Termin hatten, mussten wir stundenlang warten. Das Wartezimmer war übervoll mit Müttern und Kindern aus dem ganzen Land. Der sächsische Singsang, das erzgebirgische Schnarren und der sporadische Bruch des mecklenburgischen Schweigegelübdes waren nebeneinander zu hören. Altmodische Dauerwellenfrisuren in bunten Nylonkopftüchern, schmissige Fönfrisuren und Westjeans. Auf einen Stuhl im Wartezimmer musste man fast ebenso lange warten, wie auf den Kontakt mit den Ärzten. Mit
den anderen Kindern traute ich mich nicht zu spielen, weil die meisten von ihnen blind oder stark sehbehindert waren. Ich wusste nicht, was ich mit ihnen machen sollte und hatte ein bisschen Angst, mich bei ihnen anzustecken. Es gab viel zu wenig Spielzeug, die Luft war verbraucht, das Kunstlicht flimmerte. Zu Tode gelangweilt rutschte ich auf dem Schoß meiner Mutter hin und her. Als ich endlich hundemüde in das Behandlungszimmer durfte, war es für die Spezialisten in der Augenklinik ein Kinderspiel, meine faulen Augen zu diagnostizieren. Für die einseitig zugeklebten Brillen sei es leider schon zu spät, sagten sie. Als ich das hörte, jubilierte ich innerlich. Trotzdem musste ich verschieden große Tiere und Gegenstände an der Wand anschauen, während die Ärztin mir immer neue Brillengläser vor die Augen schob. Dann bekam ich eine normale Brille verschrieben. Wir brachten das Rezept zu einem Optiker in unserer Gegend und vier Wochen später konnten wir meine erste Brille abholen. Das Kindgerechte dieser Brille bestand wohl darin, dass ihr riesengroßer Hornrahmen in den Farben dunkellila und schmutzigrosa gehalten war und man die Bügel hinter meinen Ohren abbiegen konnte. Unglücklich schaute ich in den mit Korb eingefassten Handspiegel, den mir der Optiker gab. Meine Mutter sah mich zärtlich an und versicherte, dass mir die Brille sehr gut stehen würde. Ich sähe damit reifer aus. Ich glaubte meiner Mutter kein Wort. Für die anderen Kinder würde ich ab jetzt die Brillenschlange sein.
Krankheitsverlauf
In den ersten Tagen im Krankenhaus lag im Bett neben meiner Mutter Frau Stark. Frau Stark hatte graue, faltige Haut und ihre Augen schienen beinahe in den tiefen, dunklen Augenhöhlen zu versinken. Ihre Haare mussten einmal blond gewesen sein, nun hatten sich sogar ein paar Grüntöne eingeschlichen, die Haare wuchsen strähnig und dünn, sahen unnatürlich und krank aus. Durch ihr eingefallenes Gesicht, die knochigen Hände, die dünnen Arme und Beine sah Frau Stark sehr alt aus. Wie jung sie tatsächlich noch war, konnte ich nur daran ablesen, dass ihre Kinder viel jünger als ich waren. Diese Frau lag vielleicht eine Woche lang neben meiner Mutter, stöhnte und schrie in Schmerzen. Kein Medikament veränderte etwas am Zustand von Frau Stark, in ihren kurzen Schlafphasen klang ihr Jammern lediglich monotoner und etwas apathisch. In den langen Wachphasen rutschte sie dafür wie eine Getriebene umso intensiver in ihrem Bett umher und schrie. Als ich meine Mutter zum ersten Mal im Krankenhaus besuchte, entschuldigte sie sich für ihre Bettnachbarin. »Frau Stark geht es ganz schlecht, sie hat viel Angst«, erklärte sie mir. Plötzlich unterbrach die Frau ihr Lamentieren, drehte ihren Kopf zur Seite und schaute meiner Mutter in die Augen: »Ich muss sterben«, sagte Frau Stark. »Ich will nicht sterben. Ist das schlimm?« »Nein, Frau Stark. So schlimm kann es gar nicht sein«, sagte meine Mutter. »Vielleicht ist es sogar schön. Schließlich ist noch keiner von dort zurückgekommen.« Die Bettnachbarin schwieg, starrte meiner Mutter noch ein paar Sekunden in die
Augen und setzte dann ihr Jammern fort. Eine Woche darauf starb Frau Stark. Ich brauchte nicht zu fragen, woran sie gestorben war: Auf der Station wurden nur Frauen mit Brustkrebs behandelt. Ich besuchte meine Mutter fast jeden Tag in ihrem Krankenhauszimmer. Wenn ich hereinkam, lag sie da und außer dem schmucklosen Nachthemd, das sie vom Krankenhaus bekommen hatte, sah sie aus wie immer. Gut, schön. Normal. Meist brachte ich ihr Blumen, Obst oder Saft mit. Das machte ich nur, um nicht mit leeren Händen zu kommen, denn es fehlte ihr an nichts. Entweder las sie gerade ein Buch oder unterhielt sich mit der Patientin im Nachbarbett. Wenn ich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, hellte sich das Gesicht meiner Mutter auf, sie stieg sofort aus dem Bett und zog sich etwas über. Dann gingen wir spazieren. Je früher ich kam und je ausgedehnter die Spaziergänge wurden, desto mehr freute sie sich über meine Besuche. Dr. Marie, der Chirurg, der meine Mutter operieren würde, war ein schwarzhaariger Mann um die fünfzig mit klugen Augen hinter dünnen Brillengläsern. Einmal täglich stürmte er unvermutet in das Zimmer meiner Mutter, verharrte dann ruckartig, stand wie zur Salzsäule erstarrt an ihrem Bett, erzählte viel und hörte gut zu. In diesen Momenten hätte man seine Rastlosigkeit nur daran erkennen können, dass er die ganze Zeit über fast unmerklich mit seinen Füßen auf- und abwippte und sich so kaum wahrnehmbar bewegte, wie eine Baumkrone bei leichtem Wind. Wenn er das Gespräch mit meiner Mutter beendet hatte, setzte sich Dr. Marie ebenso plötzlich, wie er gekommen war, wieder in Bewegung und verließ eilig das Zimmer. »Ein sehr guter Chirurg«, versicherten uns ungefragt alle Krankenschwestern. Nachdem er meine Mutter eines Nachmittags über ihre Operation aufgeklärt hatte, erzählte sie uns am Abend, was Dr.
Marie gesagt hatte. Sie würden eine Menge Gewebe entfernen müssen, es in derselben Operation aber irgendwie auch gleich wieder aufbauen. An den Tag der Operation habe ich keine besonderen Erinnerungen, sie verlief ohne Komplikationen. Meine Mutter war für ein paar Tage geschwächt, aber wir alle waren nicht unglücklich, denn Dr. Marie hatte gesagt, dass er mit dem Operationsergebnis in jeder Hinsicht sehr zufrieden sei. Wenn er in den Tagen nach der Operation in ihr Zimmer stürmte, um den Heilungsverlauf zu kontrollieren, betrachtete er zuerst beinahe liebevoll die Verbände meiner Mutter und sagte dann zu uns: »Raus, raus hier! Noch ein paar Tage lang gehört diese Brust nur mir.« Nur wenige Tage nach der Operation wurden ihr dann die Verbände endgültig abgenommen und meine Mutter zog sich wieder sofort den Bademantel an, wenn ich sie besuchen kam, damit wir spazieren gehen konnten. Bald wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Trotzdem, sicherheitshalber, hatten sie gesagt, war eine Chemotherapie notwendig, da Krebs eine Erkrankung des ganzen Körpers sei und man, sicherheitshalber, davon ausgehen musste, dass mindestens eine Zelle über die Blutbahn irgendwohin in den Körper entkommen war. Also ging meine Mutter nach einem genau festgelegten Schema im Abstand von jeweils ein paar Wochen für einen Tag ins Krankenhaus. Ihr wurde ein Tropf angelegt, über den sie die Medikamente erhielt. Eine Chemotherapie richtet sich gegen alle schnell vermehrenden Zellen. Das sind einerseits Krebszellen, andererseits können es aber auch normale Zellen sein, die sich nur schnell vermehren. Deshalb verlor meine Mutter während der Chemotherapie ihre Haare und hatte oft keinen Appetit. Weil sie darüber schon vorher aufgeklärt worden war, hatte sie sich mit Frankie, ihrem Friseur, beraten.
Sie erzählte ihm alles und Frankie sagte: »Also bitte, trag bloß keine Perücke.« Meine Mutter gab ihm Recht und entschied sich gegen künstliche Haare. Frankie schnitt ihr schon vor der Chemotherapie einen Kurzhaarschnitt. Als ihr die Haare ausfielen, kaufte sich meine Mutter schöne Schals und Mützen, die sie eine ganze Zeit lang tragen musste. Sich alle paar Wochen für eine Dosis Chemotherapie ins Krankenhaus zu legen, das war meiner Mutter zu wenig. Sie hatte den Krebs und sie wollte selbst etwas dagegen tun. Zu einer Kur hatte sie aber auch keine Lust, weil sie nach den Wochen im Krankenhaus so schnell wie möglich wieder nach Hause wollte. Also holte sie sich in der Bibliothek einen Stapel Bücher über Brustkrebs und ergänzende Behandlungsmethoden. Am besten gefielen ihr natürlich bewegungsorientierte Verfahren und sie belegte bald einen Kurs für das chinesische Chi Gong in der Volkshochschule. Auf unseren gemeinsamen Spaziergängen zeigte sie mir dann die verschiedenen Gang- und Atemtechniken. »Durch diese langsamen, bewussten Bewegungen kann man den Kreislauf bis in die Fingerspitzen hinein aktivieren«, sagte sie. Weil es ihr so gut gefiel, machte sie sogar einen sehr teuren Chi Gong-Kurs bei einer chinesischen Ärztin. Nachdem sie die Krankengeschichte meiner Mutter studiert hatte, befand sie sie für geeignet teilzunehmen. Der Kurs fand statt im Garten einer Villa am Rande der Stadt. Dort mussten die zwanzig Kursteilnehmerinnen stundenlang im so genannten Bärengang im Kreis laufen. Den Bärengang hatte meine Mutter schon in der ersten Stunde ihres Volkshochschulkurses gelernt und es war nicht zu erkennen, was im Vorgarten der Villa daran anders war oder sie neu hinzulernte. Nach einer Weile kündigte die Ärztin an, dass sie ihrem alten Meister von ihrem Kurs erzählt habe und dass sich der alte Meister entschlossen habe, den Kurs zu besuchen.
Der alte Meister kam, legte jeder Kursteilnehmerin die Hand auf die Stirn und brabbelte dann unverständliche Worte. Die Ärztin übersetzte angeblich für ihn und gab dann irgendwelche allgemeinen Ratschläge, vermischt mit ihrem Wissen aus den medizinischen Unterlagen der Patientinnen. Der alte Meister soll meiner Mutter angeblich gesagt haben: »Das Geschwür ist heraus, aber dein Körper ist noch voller Gift.« Meine Mutter schaute entsetzt in die Runde, aber die anderen Frauen schienen den Worten bewegt zu lauschen. Zum Schluss empfahl der Alte allen Kursteilnehmerinnen, auch den Nachfolgekurs zu besuchen. Als meine Mutter ein paar Tage später eifrig vormachte, wie alle stundenlang im Kreis gelaufen waren, mussten wir beide lachen. Aber sie erzählte auch, dass sie auf dem Heimweg mit einer Kursteilnehmerin zusammen gefahren war, die jegliche schulmedizinische Behandlung ihres Brustkrebses abgebrochen hatte: »Die saß ganz unglücklich neben mir und wusste eigentlich auch, dass das Ganze Betrug ist, aber sie wollte es einfach nicht wahrhaben.« Nach ein paar Monaten erhielt meine Mutter das letzte Mal die Chemotherapie und nur wenige Wochen später war alles wieder beim alten. Sogar ihre Haare kamen zurück und sie konnte wieder einen Termin bei Frankie machen, der sie natürlich begeistert begrüßte. Damals, als meine Mutter zum ersten Mal Krebs hatte, schien es ihr die ganze Zeit so ausgesprochen gut zu gehen. Sie wirkte immer optimistisch und überzeugte uns ängstliche Besucher davon, dass es nichts gab, wovor man sich fürchten müsse. Wir machten damals sogar Witze: »Du lachst den ganzen Tag, du bist sportlich, du bekommst viel Besuch. Sag mal, diesen Krebs, den du hast, wo bekommt man den am besten her?« Wir lachten.
Damals, als meine Mutter zum ersten Mal Krebs hatte, verlief alles wie in einem schlechten Film, genau so, wie ich es, ohne darüber nachzudenken, erwartet hatte. Zum Nachdenken kam ich erst viel später und erschrak mich sehr langsam. Nach Dr. Maries Operation lebte meine Mutter drei Jahre in vollen Zügen. Sie arbeitete so viel und so gern wie immer, machte ihre geliebten Spaziergänge, kochte ihr berühmtes Essen, wühlte in ihrem Garten, verreiste und freute sich buchstäblich des Lebens. Ich dachte, wenn ich über meine bestimmten Straßen ging, wie gut es war, dass meine Mutter so gesund war, und dass, wenn eine diese Krankheit überwinden konnte, sie es war. Aber es würde anders kommen.
Christiane
Am 10. Juli 1944, kurz bevor sich mein Großvater Figulla von meiner Großmutter verabschieden musste, wurde trotz aller behördlichen Verbote und rassischen Gesetze meine Mutter geboren. Meine Großeltern nannten sie Christiane Anna Eva, ein schöner Name und 1944 sicherlich besser geeignet als andere schöne Namen, wie beispielsweise Judith oder Esther. Nach der Abreise ihres Johannes war Oma ganz auf sich gestellt und in einem Bettchen lag das angeblich so gefährliche vierteljüdische Mädchen. Normalerweise wäre das ein lösbares Problem gewesen. Meine Großmutter hätte eine Nachbarin ansprechen können, deren unverheirateter Sohn im Krieg gefallen war. Sie hätte bei den Behörden angeben können, ihre Tochter sei von diesem braven Soldaten gewesen. Aber es gab den aktenkundigen Antrag meiner Oma auf ihre eigene Verjudung. Und obwohl sie auf dem Papier nur eine allein stehende Mutter mit Ariernachweis war, befanden sie und ihr Kind sich in größter Gefahr. In Berlin wurde es immer riskanter für die beiden. Lebensmittel, Brennmaterial, alles gab es nur auf Karten und alles wurde knapper. Nach dem Gesetz hätte meiner Mutter nichts davon zugestanden, ein vierteljüdisches Kind hatte sogar in den Bombennächten nicht einmal Anspruch auf einen Platz in den engen Luftschutzkellern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis aufmerksame Nachbarn in ihrer eigenen Not meine Großmutter anschwärzen würden. Daher entschloss sich meine Großmutter zur Flucht. Sie versuchte nicht das Unmögliche, sie wollte nicht bis in die
Schweiz oder nach Palästina kommen. Was hätte meine nicht mehr-arische, aber noch-nicht-jüdische Großmutter schon ohne ihren Johannes in Palästina gewollt? Meine Großmutter floh nach Brandenburg. Auf dem Bauernhof, wo sie in besseren Zeiten immer in die Sommerfrische gefahren waren, mit langen Spaziergängen, frischer Kuhmilch und hausgemachter Wurst, durfte sie sich mit ihrem Kind im Keller des Bauern verstecken. »Aufbewarier« nannte man diese Menschen, die Juden und andere Verfolgte bei sich versteckten. Bemerkenswert war an diesem Fall, dass ein zertifizierter Arier eine zertifizierte Arierin versteckte. Dort überlebten die beiden das Ende des Krieges. Das ist alles, was zählt. Meine Mutter war damals natürlich noch viel zu klein, um sich später an irgendetwas davon bewusst erinnern zu können. Aber sie erzählte mir, wie sie als Jugendliche einmal in einem Theaterstück über den Krieg gewesen war. Als während der Vorstellung in dem dunklen Saal als Teil der Inszenierung Sirenen zu heulen begannen, spürte sie Atemnot und ihr Herz raste. Meine Mutter verließ panikartig das Theater. Sie war kein ängstlicher Mensch und davor oder danach passierte ihr so etwas nie wieder. Nach dem Krieg ging meine Großmutter zurück nach Berlin. Sie arbeitete als Sekretärin und Haushälterin in einer Villa, in der amerikanische Botschaftsangehörige lebten. Wegen des besonderen Status der Alliierten gab es dort mehr zu essen als normalerweise. Und obwohl die amerikanische Hausherrin so kurz nach dem Krieg nur Verachtung für die Deutschen empfand, hatte sie natürlich nichts gegen das kleine Kind und gab meiner Mutter sogar zusätzlich Milch. So waren meine Großmutter und ihre Tochter wohl versorgt, während sie darauf hofften, möglichst bald etwas von Johannes zu hören.
Seit seiner Flucht hatte es kein Lebenszeichen mehr von ihm gegeben. Nach dem Krieg kam eines Tages der Freund zu meiner Großmutter, mit dem mein Großvater gemeinsam über die Schweiz nach Palästina hatte fliehen wollen. Meine Großmutter hatte mit ihrer Tochter den Krieg überlebt, die Nazis waren besiegt. Sie konnte langsam wieder an normale Dinge wie ein Familienleben denken. Doch der Freund meines Großvaters sagte zu ihr: »Du musst nicht mehr auf Johannes warten.« Immer wieder erzählte Oma später, dass er diesen Satz gesagt habe: »Du musst nicht mehr auf Johannes warten.« Er erzählte, die Gestapo habe meinen Großvater auf der Flucht gestellt. Aber wie hatte der Freund entkommen können, fragte sie sich. Schließlich waren beide gemeinsam auf der Flucht gewesen. Der angebliche Freund musste meinen Großvater verraten haben und nur sein schlechtes Gewissen hatte ihn zu meiner Großmutter getrieben. Großvater Figulla habe so eine schlechte Menschenkenntnis gehabt und ihr sei der ganze Plan von Anfang an nicht seriös vorgekommen, davon war meine Großmutter überzeugt. Außerdem hatte der Freund so ausgesehen, als habe er ein schlechtes Gewissen. Aber wer, von den wenigen, die überlebt hatten, besaß kein schlechtes Gewissen? Die Spur meines Großvaters verlor sich seit diesem Tag für immer. Was die Gestapo mit ihm gemacht hatte, davon wusste sein Freund nichts zu erzählen. Jedenfalls meldete sich Johannes Figulla nie bei seiner Frau, bei seiner Tochter oder bei seinen Verwandten und es ist mehr als wahrscheinlich, dass er ermordet wurde. Sein Onkel, Immanuel bin-Gurion, wollte über drei Ecken gehört haben, dass Johannes in einem der Todeszüge gesehen worden sei. Das einzige, was meine Mutter oder ich je von ihm sahen, war ein vergilbtes Schwarzweißfoto, das einen dünnen Mann
am Ostseestrand zeigt, im weißen, weit aufgeknöpften Hemd mit wehenden schwarzen Haaren und einem draufgängerischen Lachen.
Übernachten
Ich bin acht Jahre alt und stehe in der Uniform eines Verkehrspolizisten in Großmutters Wohnzimmer. Mit einem schwarzweiß geringelten Stab regele ich den Verkehr. Dazu blase ich in eine Trillerpfeife. Oma sagt, ich solle aufhören, Opa brauche seine Ruhe. Als Kind hatte ich ein Paar gewöhnlicher Großeltern, die Eltern meines Vaters. Dort gab es für mich bei jedem Besuch lange Plastikschlangen gefüllt mit bunten Kaugummikugeln oder eine Schokoladentafel mit einem Mohr auf jedem zweiten Stück. Oma und Opa gaben mir eine Tasse Kakao und ein Stück Kuchen, fragten mich nach dem Kindergarten oder der Schule und schienen sich über alles zu freuen, was ich sagte. Natürlich hatten auch die Eltern meines Vaters ihre Besonderheiten. Weil mein Großvater Pfarrer war, beteten sie vor jeder Mahlzeit, was ich von zu Hause nicht kannte. Ich wusste nicht, ob ich dabei auch meine Hände falten oder sie lieber einfach in den Schoß legen sollte. Ich wollte nichts falsch machen, schließlich ging es um Gott. Dann sangen sie gemeinsam religiöse Lieder, die ich nicht kannte. Dabei stand ich immer mit verlegener Miene, bewegte meine Lippen ein wenig und versuchte mitzusummen. Beim Essen durfte nichts übrig bleiben, sonst fragte meine Großmutter besorgt in die Runde, wer sich denn bitte noch etwas nehmen möchte. Trotzdem mochte ich es bei ihnen zu sein. Mein Großvater dachte sich Spiele aus und fotografierte viel. Es gab große Mengen selbst gebackenen Kuchens, Kinderkaffee und Brause und man sprach freundlich miteinander. Auf dem Heimweg steckte ich mir alle Kaugummikugeln aus der Plastikschlange
auf einmal in den Mund und hatte Mühe, den großen Klumpen in meinem Mund zu kauen. Bei den Eltern meiner Mutter war es vollkommen anders. Statt mich zu drücken, stellte sich Opa Zauleck, der Mann, den Oma schließlich nach dem Krieg geheiratet hatte, vor mich hin, reichte mir zur Begrüßung mit ausgestrecktem Arm die Hand und sagte förmlich: »Guten Tag«. Danach hängte ich meine Jacke auf einen Bügel an die Garderobe, wusch mir die Hände und setzte mich auf einen der Sessel im Wohnzimmer. Oma war immer unzufrieden mit mir oder meinen Eltern, über die sie stets schimpfte und darin von mir am liebsten noch bestätigt werden wollte. Mein Stiefgroßvater humpelte durch die Wohnung, einer seiner Füße schien mir doppelt so hoch wie der andere zu sein und steckte immer in speziell angefertigtem orthopädischen Schwerk, eine riesige Konstruktion aus Leder mit vielen Metallschnallen. Wenn seine Hose nach oben gerutscht war, konnte ich viele Narben über dem Fuß erkennen. Es gab noch mehr Geheimnisse, zum Beispiel wunderte ich mich, dass meine Großeltern zwei Schlafzimmer hatten. Aber genau nach solchen Dingen, die mich am meisten interessierten, durfte ich im Haus meiner Großeltern mütterlicherseits nicht fragen. Wenn ich einmal bei ihnen übernachtete und abends baden sollte, durfte ich mich erst im Badezimmer ausziehen und nicht etwa nackt durch die Wohnung laufen. Also nahm ich auch meinen Schlafanzug mit, den ich gleich nach dem Baden anzog. Abends schauten wir fern, aber es durfte nur Ostfernsehen laufen. Wenn ich von unserem Westfernsehen zu Hause erzählte, schnitt mir Oma sofort das Wort ab. Wenn ich erzählte, dass ich zu Hause immer die Sesamstraße anschaute, schien Opa Zauleck ehrlich entsetzt, weil er das wohl für einen Angriff des Imperialismus auf die Köpfe und die Herzen junger Sozialisten hielt. Opa Zauleck saß meistens in seinem
Sessel und las aufmerksam Monatsschriften mit langen linientreuen Aufsätzen über den Sozialismus, die mit engen Buchstaben auf dünnes Papier gedruckt waren. Dabei trug er seine große Hornbrille und durfte nicht gestört werden. Es gab viele Zeitschriften, an die man schwer herankam und die niemals irgendwo in den Läden zu sehen waren. Aber Opa Zaulecks Zeitschriften las wahrscheinlich außer ihm praktisch niemand. Sie lagen in den Schaufenstern aller Kioske und vergilbten dort, bis sie einen Monat später durch die neue Ausgabe ersetzt wurden. Eigenartig waren auch die Sonntage im Haus meiner Großeltern. Pünktlich um zwölf schaltete mein Stiefgroßvater ein Westprogramm im Fernseher ein, das ich zwar kannte, das aber im Haus meiner Großeltern für mich verboten war. Opa Zauleck war der Ansicht, nur er mit seiner gefestigten Weltanschauung dürfe Westfernsehen anschauen, ohne dadurch ideologischen Schaden zu nehmen. Mein Stiefgroßvater sagte, er müsse informiert sein, wie der Klassenfeind denkt. Er schaute sich den Internationalen Frühschoppen, eine Gesprächsrunde internationaler Journalisten, an. »Das sind alles Reaktionäre!«, brüllte er nach spätestens zehn Minuten. »Nazis und Kriegstreiber!« Meine Großmutter werkelte währenddessen in der kleinen Küche, schaute durch die Durchreiche mit den zwei Glasschiebetüren ins Wohnzimmer und sah peinlich berührt aus. Ich wollte so selten wie möglich bei diesen Großeltern sein. Wenn es einmal doch nicht zu vermeiden war, hoffte ich inständig darauf, dass meine Mutter mich bald wieder abholte. Wenn sie dann kam, begrüßte sie meine Großeltern mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, nachdem wir uns umarmt hatten. Wir saßen noch eine Weile gemeinsam um den Wohnzimmertisch, weil es unhöflich gewesen wäre, wenn wir gleich gegangen wären. Dabei klagte meine Großmutter, wie
anstrengend die Zeit mit mir gewesen sei, während meine Mutter betreten zuhörte. Sobald die Höflichkeit es zuließ, verabschiedeten wir uns.
Familienleben
Im Grunde hatte meine Großmutter großes Glück gehabt. Denn obwohl sie eine allein stehende Frau mit unehelichem Kind war und obwohl es damals mehr als genug allein stehende Frauen gab, von denen die wenigsten ein uneheliches Kind mitbrachten – was vielleicht auch ein Problem der Moral, sicher aber eines der Lebensmittelkarten war –, fand meine Großmutter kurz nach dem Krieg einen Mann und sie bekamen sogar noch zwei Söhne. Aber mein Stiefgroßvater hatte seine eigenen Gründe, ausgerechnet Oma zu heiraten. Opa Zauleck, der erste rechtmäßige Ehemann meiner Großmutter, hatte seinen eigenen Vater nicht ausstehen können. Der war Pfarrer gewesen und hatte aus seinem Sohn einen harten Mann machen wollen. Weil Opa Zauleck der einzige Sohn war, sollte er Holz hacken und die schweren Arbeiten verrichten, während seine Schwestern drinnen am Ofen sticken durften. Die einzige Möglichkeit, die mein Stiefgroßvater sah, sich für diese vermeintliche Ungerechtigkeit an seinem Vater zu rächen, war, politisch eine andere Meinung zu vertreten: Der Vater hegte als humanistisch gebildeter Mensch ein tiefes Misstrauen gegenüber den Faschisten, vor allem gegen deren würdelosen Chauvinismus, der gegen alle bürgerlichen Traditionen verstieß. Als Pfarrer deutete er diese Meinung teilweise sogar öffentlich an und predigte eine aufrecht christliche Haltung von Würde und Menschlichkeit. Und aus Rache für Tausende gehackter und gestapelter Holzscheite und Hunderte schwerer Wassereimer wurde sein Sohn, mein Stiefgroßvater Opa Zauleck, ein Nazi. Am Küchentisch
äußerte er seine Begeisterung für die völkischen Ideen der Faschisten und die Eroberung neuen Lebensraumes, ohne dass sein Vater etwas dagegen tun konnte. Schließlich stellte sich Opa Zauleck, aller humanistischen Bildung zum Trotz, an die Seite Nazideutschlands, als der Führer sein Volk zum Kampf rief. Er kam in die Motorradstaffel und wurde 1944 durch einen Granatsplitter am Fuß schwer verwundet. Als Kriegsverletzter kehrte er nach Deutschland zurück, wo er bei seinen Geschwistern wohnte, die mittlerweile in kommunistischen Kreisen verkehrten. Dort wurde dem jungen Invaliden erklärt, dass es zwar richtig war, sich auf die Seite der einfachen Leute stellen zu wollen, dass er dies aber unter falschen Vorzeichen getan hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Stiefgroßvater den Protest gegen seinen Vater bereits überreichlich abgearbeitet und vom Krieg und den Nazis genug. Diesmal wollte er alles richtig machen. Und noch vor Kriegsende lernte er heimlich Russisch und schloss sich, obwohl das bei Todesstrafe verboten war, wie seine neuen Freunde den Kommunisten an. Er wurde ein glühender Anhänger Stalins. Wegen seiner bürgerlichen Herkunft und seines früheren Irrwegs sollte er sich selbst aber von nun an misstrauen. Er wollte ausschließlich den Ideen des Genossen Stalin folgen. Zu seiner eigenen Sicherheit und Selbsterziehung heiratete Opa Zauleck meine Großmutter, eine einfache Sekretärin mit einem unehelichen Kind, eine anerkannte Verfolgte des Naziregimes. Durch diese Eheschließung mit einer Angehörigen der Arbeiterklasse glaubte er vielleicht sich gegen möglicherweise noch in ihm vorhandene bürgerliche Tendenzen außerdem besser schützen zu können. Nach Kriegsende war es für meinen Stiefgroßvater selbstverständlich, im sowjetischen Teil Deutschlands zu leben. Er wurde Ingenieur und setzte all seine Kraft und sein
Wissen für den Aufbau des Sozialismus ein. Als sich in den fünfziger Jahren seine kommunistischen Freunde nach und nach in den Westen absetzten, weil sie sich den Kommunismus anders vorgestellt hatten, als er im Osten Deutschlands praktiziert wurde, brach Opa Zauleck sämtliche Kontakte zu ihnen ab. Er brach auch mit seiner Familie, weil sie in ihrer Heimat, dem Rheinland, wohnen blieb. Während sich mein Stiefgroßvater zunehmend isolierte, suchte er Bestätigung in seinem Glauben an die rechte Sache und diente ihr nach Kräften. Selbst die zaghaftesten politischen Lockerungen in den sozialistischen Staaten betrachtete er mit tiefem Misstrauen, denn er vermutete dahinter stets ein mögliches Abweichen vom einzig richtigen Weg. Den Punkt, an dem er sich fragte, wer er selbst war und was er wollte, hatte mein Stiefgroßvater irgendwann aus den Augen verloren. Opa Zauleck misstraute sich selbst viel zu sehr, um Gefühle oder Unordnung in seinem Leben zuzulassen. Alles, was wir je über seine Vergangenheit erfuhren, erzählte uns eine seiner Schwestern. Über seine Familie in Westdeutschland, seinen kriegsverletzten Fuß und alles damit Zusammenhängende durfte vor ihm nicht geredet werden. Mein Stiefgroßvater hatte seinem Leben eine feste Form gegeben und war bemüht, alles durch genaueste Regelungen und Vorschriften in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen. Mittags um zwölf Uhr wurde gegessen und Abendbrot gab es in seinem Haus um Punkt sechs Uhr. Das Messer hatte akkurat rechts vom Teller zu liegen, die Gabel links und oben lag die gestärkte Leinenserviette in einem silbernen Serviettenring, vielleicht das letzte Relikt, das er aus seiner Vergangenheit zulassen konnte. Natürlich verlief auch die Erziehung der Kinder nach streng festgelegten Regeln. Ein zehnjähriges Kind ging abends um sieben ins Bett, und ein vierzehnjähriges musste spätestens um
neun Uhr zu Hause sein. Zur Einschulung wurde dem Kind ein Silberbesteck mit eingraviertem Namen überreicht und zur Jugendweihe ein Transistorradio. Das galt für seine Stieftochter genauso wie für seine leiblichen Söhne und später die Enkelkinder. Immerhin wurden alle Kinder gleich behandelt. Seine Ehefrau war nie wirklich über die für sie unfassbare Trennung von ihrem Johannes hinweggekommen. Immer wenn Oma Streit mit ihrem Ehemann hatte, war sie sicher, dass ihr geliebter Johannes nie so grob mit ihr geredet hätte. Mit ihm hatte sie sich angeblich nie gestritten, nie habe es ein böses Wort gegeben. Die Erinnerung an irgendeine Unvollkommenheit ihres Johannes war ihr längst entfallen. Sie war überzeugt, das Leben, das sie leben musste, war nicht das eigentlich für sie bestimmte. Für sie war eine glückliche Ehe mit ihrem Johannes vorgesehen gewesen, meinte sie, mit ewiger Liebe und voller uneingeschränktem Glück. Nun aber lebte sie ein Ersatzleben und war nicht bereit, an diesem anderen Leben etwas Schönes zu entdecken. Mit Opa Zauleck hatte sie zwei gesunde, kluge Söhne und ihre Tochter, meine Mutter, war eine gute Schülerin. Oma hatte beim Kinderfilm eine sehr gute Arbeit, durch die sie sogar Reisen bis nach Nizza machen konnte, sie wohnte in einer wunderschönen Wohnung am Bürgerpark und sie konnte sich kaufen, was sie wollte. Das alles war immer zu wenig. Meine Großmutter ging davon aus, dass sie all dies auch mit Johannes erreicht hätte. Das einzige Vergnügen, das sich meine Oma in ihrem falschen Leben zu gönnen schien, war, ständig über dieses Leben zu klagen. Dennoch lebte sie nicht zurückgezogen oder in sich gekehrt. Sie kostete alle Möglichkeiten ihres unwahren Lebens zur Gänze aus, aber sie bestand darauf, immer unglücklich zu sein. Wenn sie losgingen, um für meine Mutter Schuhe zu kaufen,
hatte Oma zum Schluss für sich drei Paar Schuhe gekauft und für meine Mutter keines. Und die einzige Person, die sie auf merkwürdige Weise direkt für ihr Unglück verantwortlich machen konnte, war ihre Tochter. Einerseits war meine Mutter alles, was meiner Großmutter außer einem Foto von Johannes geblieben war. Andererseits war meine Mutter aber auch die Erinnerung an alles, was meine Großmutter zu verpassen glaubte, und die unbestimmte Ahnung, dass ohne die Geburt meiner Mutter auch zwischen meiner Großmutter und Johannes alles anders gelaufen wäre, sie ohne den Säugling vielleicht gemeinsam hätten fliehen können, die Flucht ihnen vielleicht geglückt wäre. So gab es etwas in meiner Mutter, was meine Großmutter über alles auf der Welt liebte, und gleichzeitig etwas, das meine Großmutter ihr nie verzeihen konnte. Meine Mutter konnte nichts daran ändern. Und sie konnte sich auch nie sicher sein, was ihre eigene Mutter gerade von ihr hielt. Mit diesen Eltern, zwischen denen es ständig zu Streit kam, wuchs meine Mutter auf. Opa Zauleck lehnte es schon aus politischen Gründen ab, dass Oma so gern einkaufen ging. Meine Großmutter hingegen war nicht dafür geschaffen, seine Regeln und Vorschriften so genau zu beachten, wie sich mein Stiefgroßvater das vorstellte. Manchmal, erzählte mir meine Mutter, wenn sich die beiden besonders heftig gestritten hatten, weil das Mittagessen zu spät auf dem Tisch gestanden oder mein Großvater meiner Großmutter Verschwendungssucht vorgeworfen hatte, lief meine Großmutter türenschlagend in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und weinte hemmungslos. In solchen Situationen schickte mein Stiefgroßvater jedes Mal meine Mutter hinterher, um Oma wieder an den Mittagstisch zu holen. Und während solcher Gefühlsausbrüche erzählte meine Großmutter plötzlich von ihrem Johannes. Unter Tränen gestand sie, dass sie ihren Mann nicht liebe, sondern immer
nur den einen geliebt habe. Meine Mutter stand verlegen daneben und hörte ratlos zu. Durch ihre Kindheit musste meine Mutter ihren eigenen Weg finden. Sie erzählte uns davon nicht viel. Und das Wenige erzählte sie nicht, um sich zu beklagen, sondern in positiven Zusammenhängen. Wenn ich nach den Ferien keine Lust hatte, wieder zur Schule zu gehen, sagte meine Mutter, dass sie sich stets auf das Ende der Ferien gefreut habe und immer gern zur Schule gegangen sei. Die Schule war für sie ein Ort, wo Lob und Tadel auf vorhersehbare Weise verteilt wurden. Hausaufgaben waren einer der wenigen akzeptierten Gründe, dass meine Mutter sich in ihr Zimmer zurückziehen durfte, ohne Haushaltspflichten nachkommen zu müssen oder mit Aufträgen versehen zu werden. Sie las leidenschaftlich gern. Die Welt der Literatur, in die sie dann eintauchte, war romantisch, schrecklich und schön, aber immer war sie überschaubar. Hier konnte sie sich gefahrlos mit allem auseinander setzen: In ihren Jugendbüchern unterstrich meine Mutter mit verschiedenfarbigen Buntstiften die Stellen, die sie besonders gelungen fand, und schrieb Bemerkungen an den Seitenrand, wie »Willkürliche Entscheidungen von Erwachsenen ohne Begründung!« Die schwungvolle Schrift und die vielen Ausrufezeichen legen nahe, dass sie damit wohl auch ihre eigene Situation meinte. Einmal wöchentlich ging meine Mutter zum Schwimmtraining. Schon damals lag mir die Langstrecke, erzählte sie. Sie schwamm lange Bahnen durch das chlorierte Wasser, konzentrierte sich nur auf ihren Atem und die langen, gleichmäßigen Schwimmzüge, während sie alles um sich herum vergaß. In den Ferien sollte sie auf ihre kleinen Brüder aufpassen oder irgendetwas im Haushalt machen. Einmal hatte sie sich in den Sommerferien für ein Trainingslager angemeldet, wo sich
ihr Schwimmklub drei Wochen lang täglich zum Trainieren traf. Meine Mutter hatte gehofft, wenigstens für diese Zeit ungestört zu sein. Sie freute sich darauf, mit den anderen zu kichern, und schwärmte außerdem ein bisschen für ihren Trainer. »Nicht ohne deine Brüder«, sagte meine Großmutter. Als meine Mutter einwand, dass man wohl kaum seine Geschwister mit ins Trainingslager nehmen dürfe, setzte sich meine Großmutter mit dem Trainer in Verbindung. Schließlich musste meine Mutter tatsächlich jeden Tag ihre Brüdern mit ins Trainingslager nehmen. Manchmal kam sogar meine Großmutter mit. An den Tisch, wo meine Mutter mit ihren Brüdern und meiner Großmutter saß, wollte sich natürlich in den Pausen niemand aus der Trainingsgruppe setzen. Oft träumte meine Mutter während ihrer Kindheit davon, dass plötzlich ihr leiblicher Vater durch die Tür treten und auf einmal alles besser werden würde. Wenn meine Mutter es zu Hause nicht mehr aushielt, ging sie zu ihrer Großmutter mütterlicherseits, die auch in Berlin wohnte. Sie war zwar schon ziemlich alt und deshalb roch es in ihrer Wohnung immer ein wenig merkwürdig und es war auch ein bisschen dreckig. Trotzdem liebte es meine Mutter, stundenlang bei ihr in der Küche zu sitzen und ihr beim Kochen zuzusehen. Diese Großmutter starb, als meine Mutter noch ziemlich jung war. Gleich nach der Schule begann sie ein Philosophiestudium und war nicht traurig, dass ihr Studienort außerhalb von Berlin lag. Damit hatte sie sich wenigstens räumlich von ihrer Familie gelöst.
Nichts sagen
Ich bin zehn Jahre alt und habe Sommerferien. Es ist heiß. Heute nimmt mich meine Mutter mit auf die Arbeit, immer ein Höhepunkt. Einen, höchstens zwei Tage durfte ich in den Ferien mit meiner Mutter zu ihrer Arbeit fahren. Erst fuhren wir vier Stationen mit der Straßenbahn, dann stiegen wir in einen großen gelben Gelenkbus um, wo ich immer in der Mitte des Busses auf der kreisrunden Gelenkscheibe stehen durfte und mich an dem riesigen Akkordeon aus Hartgummi festhielt. Wir stiegen hinter dem Bebelplatz aus und liefen am Zentralrat der SED vorbei in die Nuschkestraße. An der Eingangstür zum »DEFA Studio für Dokumentarfilme« saßen zwei Pförtner, ein Mann und eine Frau hinter einer Glasscheibe. Manchmal saß die Frau vorn und der Mann rauchte hinten an einem kleinen Klapptisch mit einem kleinen, abwaschbaren Tischtuch, manchmal war es umgekehrt. Hin und wieder ging meine Mutter nach vorn an die Glasscheibe und ließ sich von ihnen einen Schlüssel geben, meist aber winkten sie uns gelangweilt durch. Hinter einer metallenen Tür gab es einen wunderbar klappernden Aufzug aus Holz. Mit dem durfte ich eine Weile hoch- und runterfahren, während meine Mutter schon mit ihrer Arbeit begann. Ich spielte Aufzugswärter, drückte die großen runden Hartplastikknöpfe E, 1, 2 oder 3, öffnete die Türen und fuhr Menschen in das gewünschte Stockwerk. Auf 1 war die Kantine, in der den ganzen Tag über viele Leute saßen. Schon in den Vormittagsstunden rauchten hier Kollegen an Pressspantischen und tranken Kaffee, einige Wein. Meine Mutter ärgerte sich darüber.
Dokumentarfilmregisseurin war ihr Traumberuf und sie hatte viele Jahre dafür gearbeitet, diesen Traum zu verwirklichen. Weil sie nicht Regie studiert hatte, konnte sie nicht von Anfang an eigene Filme drehen. Sie hatte als Dramaturgin im Studio angefangen, wo sie für die Sendung Der Augenzeuge arbeitete, eine im Kinoformat gedrehte Nachrichtensendung, ein Nachfolger der alten Wochenschau. Im Laufe der Jahre aber war es ihr immer häufiger gelungen, eigene Beiträge zu machen. Wenn ich genug vom Fahrstuhlfahren hatte, drückte ich die 3 und setzte mich im Schneideraum auf einen kleinen Hocker neben meine Mutter und die Schnittmeisterin. Die beiden sahen sich konzentriert eine Filmrolle nach der anderen auf dem kleinen Schwarzweiß-Bildschirm an. Ich musste ganz ruhig sein und durfte die beiden nicht bei der Arbeit stören. Von meinem Hocker aus konnte ich kaum etwas auf dem kleinen Bildschirm erkennen, einen Ton gab es nicht. In jedem Schneideraum stand eine riesige Holzkiste für den geschnittenen Filmabfall, aus der es nach Chemie roch. Wenn mir langweilig wurde, nahm ich mir die kurzen Filmstreifen aus der Kiste und betrachtete sie gegen das Licht. Auf den vielen Bildern eines Streifens schien nichts zu passieren. Ein Mann und eine Frau standen unbewegt nebeneinander und nach Dutzenden von Bildern standen sie scheinbar immer noch in derselben Position. Oft nahm ich mir zwei beliebige Filmstreifen und legte sie auf die große Klebeschere, die auf jedem Schneidetisch stand. Ich achtete darauf, dass die Perforationslöcher richtig auf den kleinen Metallzähnen des Geräts lagen, dann zog ich ein Stück Klebeband über beide Teile, drückte den großen Metallhebel der Klebeschere nach unten und verband die beiden Filme miteinander. Dann klebte ich den nächsten Schnipsel dazu. Nach einer Weile hatte ich auf diese Weise einige Meter
Filmabfall zusammengefügt, die ich dann auf eine große Filmspule wickelte. Wenn meine Mutter und die Schnittmeisterin mit ihrer Arbeit fertig waren, durfte ich meinen so entstandenen Film abspielen. Man sah nur ein wildes Gewitter unzusammenhängender Augenblicke. Einmal, kurz vor der Mittagspause, nahm mich meine Mutter bei der Hand: »Kleiner, wir gehen nachher zu einer Filmvorführung. Und du sagst kein Wort, egal, wer oder was dich jemand fragt.« Sie guckte mich streng an, ich nickte. Dann küsste sie mich und wir gingen zusammen in die Kantine. Meine Mutter kaufte mir Mittagessen, Brause und Pudding. Die Vorführungsräume lagen alle beim Fahrstuhlknopf 2. Wir gingen zusammen in den Kinosaal, wo es rote Klappstühle gab. Das Licht ging aus. Vor jedem Film flimmerten die Zahlen 3,2,1 über die Leinwand. Die Filmvorführung war eine so genannte »Abnahme«. Hier wurde entschieden, ob die Filme im Kino gezeigt werden durften. Es ging dabei vor allem um politische Hintergründe. Abnahmen waren offizielle Zensurveranstaltungen. In diesen Stunden war meine Mutter immer ziemlich angespannt. Sie hasste Abnahmen, musste ihnen aber als Vertreterin ihrer Arbeitsgruppe beiwohnen. Sie bemühte sich, die Filme aus künstlerischer Sicht zu diskutieren, um die peinlichen politischen Diskussionen zu vermeiden. Am schlimmsten war es natürlich für sie, wenn ihre eigenen Filme in den Abnahmen gezeigt wurden. Der Film an diesem Tag war nicht von ihr. Wir sahen einen Eisenbahner, der in einer orangefarbenen Uniform die Gleise entlanglief und alle paar Meter mit einem Metallstab gegen die Schienen schlug. Mehr nicht. Als das Licht wieder anging, stritten sich die Erwachsenen über das Gesehene. In einer Szene hatte der Mann in ein Signalhorn geblasen und gegen das Licht der aufgehenden Sonne war zu sehen gewesen, wie
Staub aus dem Signalhorn wirbelte. Der Parteisekretär, ein dicker Mann im Anzug und einer roten Krawatte, sagte, dass unsere Schienenläufer keinen Staub in ihren Signalhörnern haben dürften. Den anderen Anwesenden hatte der Film gefallen, sie sagten, dass dort, wo viel gearbeitet werde, eben auch viel Staub wirbelt. Dann redete wieder der dicke Mann mit der roten Krawatte: »Fragen wir doch einfach mal das Kind, Christianes Kleinen, wie er die Szene gesehen hat. Sag du mal, wie hat dir das mit der Tröte gefallen?« Ich sollte die unschuldige Stimme des Volkes sein. Natürlich hatte ich eine Meinung zu dem Film, die ich dem Parteisekretär gern gesagt hätte. Doch ich schaute meine Mutter an und sie blitzte zurück, wir verstanden uns. Ich sagte kein Wort. Ich saß einfach stumm da und guckte den Sekretär ein bisschen blöd an. Nachher fuhren meine Mutter und ich im großen gelben Bus wieder nach Hause. Ich drehte mich auf der Gelenkscheibe und meine Mutter sagte: »Das hast du richtig gemacht.«
Verwandte
Sie war schon längst erwachsen, als meine Mutter beschloss, mehr über ihren Vater in Erfahrung zu bringen. Außer den unzusammenhängenden Bemerkungen, die meine Großmutter während ihrer Weinanfälle machte, gab es noch einige offizielle Papiere. Denn die Angaben zur Vaterschaft über die Tochter meiner Großmutter mussten korrekt gemacht werden, damit Oma eine offiziell anerkannte »Verfolgte des Naziregimes« blieb. Ein ruhiges Gespräch zwischen Mutter und Tochter über Großvater Figulla aber war nicht möglich. Auch als meine Mutter schon längst in jeder Hinsicht selbständig war und seit vielen Jahren nicht mehr bei ihren Eltern wohnte, entwickelte sich niemals ein entspanntes oder auch nur sachliches Verhältnis. Meine Großmutter war leidenschaftlich nur in ihrer Kritik und den Klagen über ihr eigenes Leben. Sie gab sich nicht die geringste Mühe, auf die Gefühle meiner Mutter Rücksicht zu nehmen. Ein paar Mal im Jahr, an den Geburtstagen und zu Weihnachten aber, war es unausweichlich, dass meine Oma zu uns nach Hause kam. Selbst als Opa Zauleck noch lebte, sprachen wir immer nur davon, dass Oma zu Besuch kommen würde. Im Gegensatz zu meiner Großmutter war mein Stiefgroßvater als Gast kaum zu bemerken. Meine Mutter war meist schon ein paar Tage vor diesem Besuch vollkommen fertig. Wenn Oma zu uns nach Hause eingeladen war, verlief der Abend auf die immer gleiche Weise. Wir hörten die Großeltern
meist schon laut schnaufend und stöhnend im Treppenhaus. Während meine Großmutter noch in der Eingangstür stand, klagte sie schon über den beschwerlichen Weg und die vielen Treppen, die sie hatte steigen müssen. Sie setzte sich mürrisch in einen Stuhl und ging zu Klagen über ihre Gesundheit über. Obwohl sie eigentlich zum Essen eingeladen war, bemerkte meine Großmutter schon, wenn meine Mutter die Vorsuppe brachte, dass sie überhaupt keinen Appetit habe. Dabei aß sie am Ende doch nie wenig. Sie salzte jedes einzelne Gericht kräftig nach, ohne es vorher zu kosten, und aß das köstliche Essen meiner Mutter, ohne je ein Wort der Anerkennung zu verlieren. Wenn meine Großmutter Nachschlag wollte, nahm sie sich kommentarlos selbst aus den Schüsseln. Dabei trank sie Wein und beklagte sich über ihr Schicksal. Nach dem Essen nahm sie noch einen Schnaps und jammerte solange über den bevorstehenden, strapaziösen Heimweg, bis wir für sie ein Taxi riefen. Wenn sich nach diesen Abenden die Tür hinter Oma schloss, atmete meine Mutter erleichtert auf und war meist noch einige Tage danach erschöpft, enttäuscht und wütend. Aber meine Großmutter war und blieb der einzige Anknüpfungspunkt bei der Spurensuche nach Großvater Figulla. Und da es sich eben nicht aus den Gesprächen ergab, sprach meine Mutter Oma oft unvermittelt auf das Thema an. Aus den endlosen Tiraden, die dann folgten, galt es, die wenigen wichtigen Fakten herauszuziehen. So erfuhr meine Mutter die Namen der Brüder meines Großvaters und ihren Wohnort. Während einem ihrer Wutanfälle schmiss meine Oma einmal Briefumschläge mit ausländischen Briefmarken und blau-rot gemustertem Rand auf den Tisch und brüllte: »Kannst du mich denn damit nicht einfach in Ruhe lassen? Siehst du nicht, was ich durchmache? Habe ich nicht schon
genug gelitten? Sogar aus dem Ausland werde ich belästigt und jetzt auch noch meine eigene Tochter.« Meine Mutter hatte viel Übung darin, die Beschimpfungen von Oma über sich ergehen zu lassen und beschränkte sich darauf, die wertvollen Briefe mit den ausländischen Adressen in ihrer Handtasche verschwinden zu lassen. Es stellte sich heraus, dass die Briefe aus Israel kamen, vom Großonkel meiner Mutter, Immanuel bin Gurion. Meine Mutter schrieb ihm und schnell entwickelte sich ein regelmäßiger Briefkontakt zwischen den Familien. Schließlich besuchten uns Immanuel und seine Frau sogar in Berlin. Sie wollten meine Mutter und ihre Familie sehen und auch das Grab von Immanuels Vater Michael bin Gurion besuchen. Wir gingen gemeinsam die wenigen Schritte von unserer Wohnung zum jüdischen Friedhof hinüber, wo das Grab in der Ehrenreihe des Friedhofs lag und Immanuel erzählte uns von seinem Vater, dem Helden. »Bin Gurion« heißt »der Löwe«. Michael hatte diesen Ehrennamen bekommen, weil er als einer der geistigen Väter eigener israelischer Streitkräfte galt. Großonkel Immanuel selbst war in Israel ein angesehener Schriftsteller. Er hatte die alten Geschichten, Märchen und Sagen der Juden gesammelt und neu herausgegeben. Das war nichts Unwichtiges, denn es stellte eine schöne Möglichkeit dar, so etwas wie ein Nationalbewusstsein in dem neuen Staat Israel zu entwickeln, und zwar mit etwas anderem als der Shoah. Immanuel liebte seine Arbeit, er liebte es in andere Länder und Städte zu reisen und sich Geschichten erzählen zu lassen. Es war für ihn ein großes Glück, von dieser wundervollen Tätigkeit leben zu können. Aber auch Onkel Immanuel konnte meiner Mutter nur sehr wenig über ihren Vater erzählen. Johannes sei ein kluger, freundlicher Mann gewesen, der sich Schlechtes in Menschen kaum habe vorstellen können. Meine
Mutter hörte gespannt zu, aber eine wesentlich bessere Vorstellung von ihrem Vater bekam sie durch die wenigen Worte nicht. Immanuels Frau Deborah war Tänzerin und Choreographin. Sie hatte in Tel-Aviv ein Tanztheater gegründet, das sie leitete und in dem sie noch immer auch selbst tanzte. Sie versuchte mir eine Theorie zu erklären, nach der sämtliche Bewegungen des menschlichen Körpers mittels mathematischer Formeln in einem geometrischen Körper mit achtundneunzig Ecken dargestellt werden könnten. Ich war von der Theorie und Tante Deborah sehr beeindruckt, auch wenn ich als Zehnjähriger von der Theorie kein einziges Wort verstand. Nach ihrem Besuch in Berlin blieben meine Eltern mit ihnen im Briefkontakt. Meine Mutter schrieb ihnen regelmäßig Briefe, unter die ich ein paar Zeilen über die Schule und meine Unterschrift setzte. Ich wusste nicht, was ich sonst schreiben sollte. Und immer wieder lagen die Briefe mit dem rot-blau gemusterten Rand in unserem Briefkasten. Irgendwann teilte uns Deborah voll Trauer mit, dass Immanuel gestorben war. Leider konnten wir sie zur Beerdigung nicht besuchen, aber ich glaube nicht, dass meine Mutter es überhaupt versucht hat. Die Bearbeitung eines Visumantrages konnte mehrere Monate dauern und jüdische Beerdigungen finden in der Regel innerhalb eines Tages nach dem Tod statt. Später besuchte uns Deborah noch einmal allein, aber irgendwann bekamen wir keine Post mehr von ihr. Obwohl uns nie eine Todesanzeige erreichte, nahmen wir an, dass auch sie gestorben war.
Gut sein
Ich bin zwölf Jahre alt und stehe laut weinend auf dem Bahnsteig des Ostbahnhofs. Wir haben den Zug verpasst. Ich bin verzweifelt, denn wie komme ich jetzt ins Ferienlager? »Wer weiß, wozu es gut ist«, sagte meine Mutter immer. Jedes Mal, wenn wir in eine schwierige Situation gerieten, wenn wir zum Beispiel den Zug verpasst hatten oder wenn ich wegen einer ansteckenden Krankheit nicht in den Kindergarten durfte oder mir später die Freundin weglief: »Wer weiß, wozu es gut ist.« Was sollte an diesen Dingen gut sein? Mal kommt Sonne, mal der Regen. Aber eigentlich behielt sie immer Recht. Wie an dem Tag, als ich den Zug zum Ferienlager versäumte. Jeden Sommer fuhr ich ins Ferienlager, das vom Betrieb meiner Mutter organisiert wurde. Die Sommerferien waren in drei Etappen aufgeteilt, so genannte Durchgänge. Ich fuhr immer im ersten Drittel der Ferien mit Durchgang eins und traf dort die immer gleichen Kinder, die auch stets im ersten Durchgang fuhren. Nach dem Ferienlager hatten wir eigentlich kaum noch Kontakt zueinander, selbst mit den besten Kumpels von dort schrieb man sich höchstens noch ein, zwei Briefe. Erst im nächsten Jahr trafen wir uns in Durchgang eins wieder. Es war für mich undenkbar, in einem anderen Durchgang zu fahren. Am Abend vor der Abreise packte meine Mutter für mich den großen grauen Koffer aus kräftigem Pappkarton. Wir wollten es gemeinsam machen, aber sie wurde ungeduldig und konnte mir nicht allzu lange bei meinen Packversuchen zusehen. »Willst du den Pullover auch mitnehmen?« – »Jaja.« – »Willst
du die Strümpfe mitnehmen?« – »Jaja.« – »Und was ist mit der Jacke?« – »Nein.« – »Vielleicht regnet es doch. Nimm sie mal lieber mit.« Und wie immer brachte sie mich am Morgen der Abreise zum Bahnhof. Nach einer Weile wunderten wir uns, dass außer uns noch kein anderes Ferienlagerkind am Bahnsteig war, obwohl wir nicht besonders früh am Bahnsteig angekommen waren. Meine Mutter sah auf den Fahrplan und es stellte sich heraus, dass wir zwar auf dem richtigen Bahnsteig standen, aber leider am falschen Bahnhof. Der richtige Bahnhof lag am anderen Ende der Stadt. Wir rannten aus dem Gebäude und meine Mutter fragte den Fahrer eines der Taxis, die vor dem Bahnhof standen, ob er uns in zehn Minuten zum Bahnhof Schönefeld bringen könnte. Ich stand weinend neben ihr. Angsterfüllt fürchtete ich, nie wieder meine Freunde aus Durchgang eins sehen zu können. Auf jeden Fall aber würde mir im nächsten Jahr ein ganzer Jahrgang gemeinsamer Erinnerungen fehlen. Der Taxifahrer schaute uns teilnahmslos an und machte sich nicht einmal die Mühe, empört aufzulachen. Er sagte nur: »Nein.« Meine Mutter blieb ruhig. Sie sagte: »Hör auf zu heulen!« Wir fuhren mit der Straßenbahn zurück nach Hause, aber wir gingen zu meiner großen Verwunderung nicht nach oben in die Wohnung, sondern liefen geradewegs zu unserem Auto. Es war merkwürdig, nach Hause zu kommen und gleich weiterzugehen, ohne jemals angekommen zu sein. Ich verstaute mein Gepäck im Kofferraum, setzte mich auf den Beifahrersitz, meine Mutter ließ den Motor an und dann machten wir eine sehr schöne Autofahrt von Berlin bis ins Vogtland, durch die ganze Welt, wie es mir damals schien. Die Sonne strahlte, unser »Trabant Kombi« war olympiablau lackiert, wir hielten ein paarmal zum Tanken oder Essen. Beim Verlassen der Raststätten spielten wir das Spiel, in dem meine
Mutter »Murphy« und ich »McCrane« hieß. Sie ging ein, zwei Minuten vor mir zum Auto und hatte den Auftrag, den Wagen anzulassen, während ich mich nervös an der Tankstelle umschaute und dann ein paar Schritte in Richtung der Autobahnauffahrt vorlief. Murphy kam dann von hinten angefahren und machte ein paar Meter hinter mir die Beifahrertür auf. McCrane warf einen letzten nervösen Blick hinter sich und sprang dann in das fahrende Auto. Meine Mutter legte den nächsten Gang ein und wir brausten davon. »Hast du was gesehen?«, fragte sie mich. »Ich glaube, wir haben sie abgeschüttelt, Murphy«, antwortete ich mit zusammengekniffenen Augen. In jenem Jahr kam ich als Erster im Ferienlager an. Meine Mutter verabschiedete sich rasch und machte sich dann wieder auf ihren langen Heimweg. Ich konnte für meine Gruppe das beste Zimmer aussuchen, in einem abseits gelegenen Gebäude, weit weg von den Unterkünften der Erzieher. Ich stellte meinen Koffer ab und hatte damit das Zimmer für meine Gruppe reserviert. Dann setzte ich mich auf einen Schemel, der im Innenhof stand, und meine Haare wurden auf Läuse kontrolliert. Als der Bus mit den anderen Kindern ankam, wurde ich mit großem Hallo begrüßt. Ich dachte nicht mehr an die morgendliche Aufregung oder daran, dass meine Mutter noch stundenlang zurückfahren musste. Es wurde eine der besten Ferienlagerzeiten überhaupt.
Geschichte
Mit dem Tod von Immanuel und Deborah war das dünne Band auch schon wieder zerrissen, das meine Mutter mit der Familie ihres Vaters verbunden hatte. Aber eine weitere Möglichkeit, ein letzter Zusammenhang, existierte noch. Die jüdische Gemeinde Berlin. Mit dem Judaismus hatte die verwickelte Geschichte meiner Mutter ihren Anfang genommen. Unter normalen Umständen wäre meine Großmutter in die jüdische Gemeinde aufgenommen worden und meine Mutter als Kind einer jüdischen Mutter jüdisch gewesen. Die Gesetze der Nazis verhinderten, dass meine Mutter Jüdin geworden war. Angeregt durch die Begegnungen mit Immanuel und Deborah nahm meine Mutter irgendwann Kontakt zur jüdischen Gemeinde auf. Wir beide sprachen oft darüber und ich begleitete sie häufig in die tristen Gemeinderäume, die in einem Hinterhof, ein paar Hauseingänge neben der verfallenen Synagoge in der Oranienstraße, in Mitte lagen. Ich ging mit zur jüdischen Gemeinde, weil ich neugierig war und Immanuel und Deborah auch mich sehr beeindruckt hatten. Und ebenso wie meine Mutter interessierte ich mich für die Geschichte meines Großvaters. Die jüdische Gemeinde in Ostberlin war wie ein kleines Holzfloß, das nach dem Untergang von Atlantis auf dem Meer trieb. Die meisten waren umgekommen, wenige Glückliche hatten sich mit Segelschiffen in ferne Länder absetzen können und auf dem Floß hatte sich eine kleine, bunt zusammengewürfelte Mannschaft eingefunden.
Fast unmittelbar nach der faschistischen Katastrophe hatten in Ostdeutschland noch stalinistische Verfolgungen und Schauprozesse gegen Juden stattgefunden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, in den frühen fünfziger Jahren, hatten auch die Hoffnungsvollsten ihre Hoffnungen auf so etwas wie den Wiederaufbau eines jüdischen Gemeindelebens begraben. Eine Fortsetzung des Antisemitismus entsprach eher der Realität. Und da die Mauer noch nicht gebaut worden war, flohen von den wenigen Juden Ostdeutschlands viele nach Westdeutschland, Israel oder sonst wohin. So mussten Anfang der sechziger Jahre eine Vielzahl der ostdeutschen jüdischen Gemeinden aufgegeben werden. Wichtige religiöse Gebote wurden den ostdeutschen Verhältnissen angepasst. Die Kultuskommission der jüdischen Gemeinde legte beispielsweise fest, dass für das gemeinsame Gebet nicht mehr die vorgeschriebene Mindestzahl von zehn jüdischen Männern notwendig war, weil es unrealistisch war, mehr als drei oder vier Männer versammeln zu können. Auch die Einhaltung selbst der einfachsten Regeln koscheren Lebens war praktisch unmöglich. Wegen der geringen Anzahl an Gemeindemitgliedern hätte sich ein koscheres Lebensmittelgeschäft nicht rentiert, selbst wenn es zu einer Einigung mit den staatlichen Stellen gekommen wäre. Außerdem fand natürlich kein Import von Lebensmitteln statt, weil die ostdeutsche Währung nicht konvertierbar war. Und für eine vegetarische Ernährung als Alternative gab es zu wenig Gemüse oder Nüsse zu kaufen, Soja war praktisch unbekannt. Und schließlich gab es keine Kühlschränke zu kaufen, schon gar nicht hätte man zwei davon kaufen dürfen. Und so weiter und so fort. Das alles war dreißig Jahre her, als meine Mutter und ich Anfang der achtziger Jahre zum ersten Mal die jüdische Gemeinde Ostberlins besuchten. Dort trafen wir, wie gesagt,
auf eine bunte Gruppe von Menschen. Viele waren wie wir auf der Suche nach ihrer Vergangenheit, auf der Suche nach Spuren ihrer eigenen Familiengeschichte, die sie nie gekannt hatten. Einige waren Kinder von Juden, die Deutschland nie verlassen und doch überlebt hatten. Einige waren Kinder überzeugter jüdischer Kommunisten, deren Eltern beim Aufbau des besseren, fortschrittlichen Deutschlands hatten mithelfen wollen und deren Kinder nun in Ostdeutschland festsaßen. Das Glücksgefühl des Überlebens hatten vor vierzig Jahren andere gespürt. Die hier Anwesenden fragten sich ein oder zwei Generationen später, was sie nun anfangen sollten mit diesem Überleben. Wir saßen in einem kalten Raum mit rissigem Fußbodenbelag und schäbigen Tapeten, auf denen mit Klebeband Zeichenblätter mit von Kindern gemalten Buchstaben des hebräischen Alphabets befestigt waren. Und alle waren orientierungslos, denn es gab weder Steuermann noch Kapitän. Unsere Gemeinde hatte keinen Rabbiner. In den späten Achtzigern hatte es sogar mal einen gegeben, Rabbi Neuman aus Illinois. Aber nachdem er sich mit den politischen Verhältnissen in Ostdeutschland bekannt gemacht hatte, die bis tief in die jüdische Gemeinde hinein wirkten, und bemerkt hatte, dass er selbst seine geistlichen Vorstellungen nicht durchsetzen konnte, trat er schnell wieder die Heimreise nach Amerika an. Als meine Mutter und ich zum ersten Mal dort erschienen, gab es nur den alten Kantor. Zu den jüdischen Festtagen zog er traditionelle Kleidung an, legte einen Gebetsschal aus schwerem alten Stoff um und sang fremdartige Lieder, während wir in der einzigen intakten Synagoge in der Rykestraße saßen und ihn fasziniert betrachteten. Ich fragte mich immer, aus welcher Welt er kam, weil er mit meiner so überhaupt nichts zu tun zu haben schien. Die allermeisten Anwesenden kannten die Lieder des Kantors
nicht und verfolgten stumm die Zeremonie. Einige wenige schienen sich zur Mitwirkung verpflichtet zu fühlen und gaben sich die Mühe mitzubrummen, was mich an die christlichen Lieder im Haus der Eltern meines Vaters erinnerte. Mir selbst erschien es wie der Gipfel der Religiosität, dass ich eine kleine Kippah auf dem Kopf trug. In einem großen flachen Korb vor dem Eingang lagen immer einige davon. Beim Eintreten in die Synagoge griff jeder Mann in den Korb und setzte sich eine Kippah auf, die er beim Verlassen der Synagoge wieder zurück in den Korb legte. Und so machte ich es auch. Ich hielt das für die traditionelle Handlungsweise und kam nicht auf den Gedanken, dass man eine eigene Kippah besitzen und zu Hause aufbewahren könnte. Doch in der Synagoge waren wir selten. Meistens traf sich die Gemeinde im Gemeindezentrum in der Oranienburger Straße. Wenn meine Mutter und ich dorthin gehen wollten, drängelte uns mein Vater, dass wir pünktlich losfuhren. Meist kamen wir kurz nach der offiziell ausgeschriebenen Anfangszeit im Gemeindezentrum an und waren doch immer die Ersten. Sogar der Kantor erschien nach uns. Jeder Abend war einem bestimmten Thema gewidmet, auf das sich ein Gemeindemitglied vorbereitet hatte. Manchmal kamen auch jüdische Gäste aus dem Ausland in unseren karg dekorierten Gemeindesaal und hielten Vorträge über jüdische Bräuche, über das Leben in Israel oder über die Thora. Die Vorträge selbst waren oft nicht uninteressant, aber unabhängig vom ursprünglichen Thema endete jeder Abend unausweichlich in einer ausführlichen Diskussion über die Frage, was es überhaupt hieß, jüdisch zu sein, besonders in Deutschland, besonders in Ostdeutschland. Es meldeten sich immer die gleichen Mitglieder zu Wort. Es gab Werner, der die ethnische, nichtreligiöse Variante des Jüdischseins pries. Es gab Hershel, dessen Geburtsname Heinz lautete und der seinen
Wunsch nach einem jüdisch-orthodoxen Leben zum Ausdruck brachte, wo es nur möglich war. Hershel war eigentlich in keiner Beziehung jüdisch, aber als Deutscher wollte er seiner Scham über die Judenvernichtung so umfassend wie möglich Ausdruck verleihen. Es war wie eine groteske Inszenierung, in der jede Figur immer wieder unveränderlich ihre starr festgelegte Rolle spielen musste. Wenn einer der Akteure sich nur zu Wort meldete, wussten wir immer, was er sagen würde. Verstohlen sah ich dann zu meiner Mutter herüber, die sich nie an diesen Diskussionen beteiligte. Dann verabschiedeten wir uns leise und unauffällig und fuhren nach Hause, während die Diskussion noch in vollem Gange war. Darin bestand unser Gemeindeleben. Wenn schon die Mitglieder der jüdischen Gemeinde selbst kaum wussten, was Jüdischsein bedeutete, wie sollten es dann andere wissen? Es gab in Ostberlin kein erkennbares jüdisches Leben, keine wahrnehmbare jüdische Realität mehr. Niemand kannte einen jüdischen Schneider, Arzt, Kollegen. Und selbst wenn man jemanden der Handvoll Juden gekannt hätte, worin bestand sein Jüdischsein noch? Eine koschere Lebensweise praktizierte keiner, die jüdischen Feiertage konnten nicht eingehalten werden. Es gab keine jüdischen Geschäfte und niemand hätte genau zu sagen gewusst, ob der Sabbat nun am Samstag oder am Sonntag war. Ein paar meiner Klassenkameraden besuchten regelmäßig die junge Gemeinde der evangelischen Kirche. Das galt als lässig, vor allem weil es ein Ort ohne staatliche Einflussnahme war, wo man miteinander reden und dabei Tischtennis spielen konnte. Aber wenn ich erzählte, dass ich zur jüdischen Gemeinde ging, erzeugte das nur Ratlosigkeit. Keiner konnte sich darunter etwas vorstellen, viele glaubten nicht einmal, dass es wirklich noch eine jüdische Gemeinde gab. Zur jüdischen Gemeinde zu gehen, war nicht im mindesten lässig.
Juden kamen in Ostdeutschland ausschließlich in Verbindung mit ihrer systematischen Vernichtung durch die Faschisten zur Erwähnung. Das ganze Thema hatte etwas Vergangenes, irgendwie nicht mehr Zeitgemäßes. Was die Freunde und Kollegen meiner Mutter von ihren Gemeindebesuchen hielten, hat sie mir nie gesagt. Wahrscheinlich spielte es keine besondere Rolle oder sie hat mit ihnen nicht darüber gesprochen. Dazu kam, dass Israel nicht zu den verbündeten Nationen der DDR gehörte und deshalb von dort ausschließlich kritisch berichtet wurde. Dabei war immer nur vom »Staat Israel« und »den Israelis« die Rede, eine religiöse Zuordnung wurde vermieden. Die Gründungsgeschichte Israels blieb im Geschichtsunterricht unerwähnt. So konnte eine greifbare Vorstellung vom Judentum in Ostdeutschland ausschließlich aus den Geschichtsbüchern zur Illustration der deutschen Judenvernichtung entstehen. Neben den Fotos zerschlagener Schaufensterscheiben und von Opfern mit aufgenähtem gelben Stern waren die einzigen Darstellungen jüdischen Lebens in Deutschland vor der Naziherrschaft die antisemitischen Stereotypen, die auf den Reproduktionen der Hetzplakate in unseren Geschichtsbüchern zu sehen waren: jüdische Bankiers und Kaufmänner mit langen Bärten und Hakennase. Und weil so vieles, was in diesen Geschichtsbüchern stand, nicht die ganze Wahrheit war, existierte bei vielen das unbestimmte Gefühl, dass die Judenverfolgung vielleicht doch irgendeinen berechtigten Grund gehabt hatte, den man jetzt nur nicht mehr offen ansprechen durfte. Aber es gab so wenig jüdisches Leben, dass es nicht einmal mehr Antisemitismus gab. Zu den jüdischen Festtagen trafen wir uns abends und ein Gemeindemitglied, das sich speziell vorbereitet hatte, erklärte uns, wie wir das heutige Fest eigentlich hätten feiern müssen, wenn es bei uns einen Rabbiner, einen koscheren Fleischer,
koscheren Wein, eine Thora und eine Haggadah gegeben hätte. Zu Pessach bekamen wir manchmal aus dem Ausland ein Paket Mazze geschickt, von dem jeder eine kleine Ecke probieren durfte. Wir versuchten uns anhand dieses Bissens vorzustellen, wie das also wäre, wenn man tagelang ungesäuertes Brot aß. Mich selbst erinnerte dieser nahezu zeremonielle Verzehr des kleinen Brotstücks an das christliche Abendmahl, wie ich es aus Filmen kannte. Danach aßen wir Mischbrot mit Butter, Käse und Wurst und hörten dazu jüdische Musik aus dem Kassettenrecorder der Gemeinde. Den Rest des Mazze nahm Frau Salomon mit nach Hause. Sie liebte den Geschmack des ungesäuerten Brots und vertraute uns an, dass es ihr besonders gut schmeckte, wenn sie es dick mit Schweineschmalz bestrich. Mit zunehmendem Alter verlor ich das Interesse an diesen Veranstaltungen und begleitete meine Mutter immer seltener. Vielleicht hat sie das bedauert, aber mit Sicherheit hatte sie Verständnis für mich. Sie fragte mich nie nach meinen Gründen oder forderte mich dazu auf mitzugehen. Sie war sich selbst nicht sicher, durch ihre Besuche in der Gemeinde etwas zu erreichen. Möglicherweise hätte sie sich durch gemeinsame Gebete und Rituale, durch die Dinge, die Juden schon seit Jahrhunderten taten und noch Jahrhunderte tun würden, irgendwie mit ihrem Vater verbundener fühlen können. Aber gerade diese Dinge fanden dort nicht statt. Obwohl sie den Kontakt nie abbrach, reduzierte sie doch vielleicht auch deshalb ihre Besuche in der jüdischen Gemeinde Ostberlins.
Auseinander setzen
Ich bin fünfzehn Jahre alt und sitze im Kino Toni. Meine Mutter und ich schauen uns einen Woody-Allen-Film an. Das Kino Toni lag ganz nah bei unserer Wohnung. Es war ein altes, frei stehendes Gebäude mit einer hohen, fensterlosen Fassade. Dort war ein riesiges Plakat angebracht, das mit jedem neuen Kinoprogramm gewechselt wurde. Diese Plakate wurden von Hand gestaltet und sahen aus wie ein Ölportrait des regulären Filmplakats. Besonders die Gesichter der Schauspieler und deren Kleidung wirkten dadurch viel künstlicher als auf den Fotos. Über dem Riesenplakat hing der Name Toni in großen Neonbuchstaben. Der ungewöhnlich poesielose Name erklärte sich aus der Lage des Kinos am Antonplatz. Sonst hießen Kinos Rio, Tivoli, Sputnik oder sogar International. Der Tag des Plakatwechsels war ein wichtiger Tag. Ich ging dann zu den Schaukästen und sah nach, ob mich der neue Film interessieren könnte. Wenn er mich interessierte, war es wichtig, was auf dem kleinen Pappkärtchen stand, das stets auf dem Boden des Schaukastens stand. Auf diesen Pappkärtchen gab es die Aufschriften »P6«, »P 14«, »P 16« und »P 18«. »P« stand für »Prädikat« und die Zahl dahinter gab das Mindestalter für den Besuch des Films an. Wenn der Film »P 6« war, gab es kein Problem. Aber wenn man jünger als vierzehn Jahre alt war, kam man in »P 14«-Filme nur in Begleitung von Erziehungsberechtigten und dieses Prädikat wurde für einen Film schnell vergeben, wenn darin zum Beispiel eine weibliche Brust oder eine Pistole zu sehen waren. Doch meine Mutter konnte ich fast immer dazu überreden, mit
mir in diese Filme zu gehen. Ihre Toleranz nutzten auch meine Schulfreunde gern aus und schlossen sich uns an. So ging meine Mutter nicht selten mit einer Schar Jungen ins Toni, um sich dort italienische Prügelfilme oder schlechte Komödien mit zotigen Witzen anzusehen. Aber auch später, als ich keine Erziehungsberechtigten mehr brauchte, ging ich noch mit meiner Mutter ins Kino. Wir sahen uns beispielsweise immer gemeinsam den neuen Film von Woody Allen an. Bei der strengen Zensur und Vorauswahl war es verwunderlich, dass diese Filme in Ostdeutschland gezeigt werden durften. So ähnlich wie bei den Abnahmen im Studio meiner Mutter, wurden auch alle Filme aus dem Westen von Kommissionen gesichtet und darauf geprüft, ob sie feindlich gegen den Osten oder zu freundlich gegenüber dem Westen waren. Es wurde auch geprüft, ob es für die Menschen gut sein könnte, diese Filme in Ostdeutschland zu zeigen. Dieses Kriterium war das heikelste, weil es mit Moral, Geschmack und Sittlichkeit zu tun hatte. Meine Mutter erzählte mir, dass Oma früher auch manchmal in solchen Kommissionen zur Beurteilung von Filmen gesessen hatte. Die Mitglieder der Kommission durften sich die neusten Filme von Fellini, Antonioni und Truffaut ansehen und entschieden hinterher, dass sie sich nicht zur Aufführung eigneten. Meine Mutter war schon immer begeisterte Filmliebhaberin gewesen und hätte viel dafür gegeben, um diese Filme sehen zu können. Doch näher als durch die Berichte meiner Großmutter konnte sie zwanzig Jahre lang nicht an diese Filme herankommen. Wenn Oma von solchen Vorführungen nach Hause kam, sagte sie: »Heute habe ich wieder einen Film von diesem Fellini gesehen.« Natürlich war meine Mutter dann aufgeregt. Gerade eben hatte ihre Mutter diesen Film gesehen und würde nun Szene für Szene über ihn berichten können.
Der Film musste praktisch noch auf ihrer Netzhaut zu sehen sein. Meine Mutter würde nun die bahnbrechende Leistung des Filmes verstehen, von der damals alle sprachen. »Und?«, fragte sie voller Spannung. »Und, wie war es?« Meine Großmutter setzte sich dann ein bisschen in Positur, machte eine abfällige Handbewegung und sagte etwas theatralisch: »Absage an alles.« Mehr hatte sie über La strada oder Blow up nicht zu sagen. Die Filme von Woody Allen jedenfalls durften in Ostdeutschland wohl wegen ihrer vermeintlichen Gesellschaftskritik an den USA gezeigt werden. Ein sehr großes Publikum fanden sie trotzdem nicht. Die Leute gingen sehr gern in amerikanische Filme, aber sie sollten möglichst auch Verfolgungsjagden mit großen Autos und ein paar Pistolenschüsse zeigen. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass nichts dergleichen bei einem Woody-Allen-Film zu erwarten war. Deshalb liefen die Filme meist nur eine Woche und wir mussten uns beeilen und unseren Kinobesuch planen, sobald das handgemalte Riesenplakat des neuen Woody Allen auf gehängt wurde. Wir nahmen uns oft von zu Hause ein paar Bonbons oder Erdnüsse und eine Trinkflasche mit, denn es war immer mehr als unsicher, ob der Verkaufsstand vom Toni geöffnet sein würde. Und selbst wenn es so war, durfte man eigentlich die Getränke nicht mit in den Kinosaal nehmen. Aber meine Mutter fand es schick, im Kino eine Kleinigkeit zu knabbern und zu trinken. Dabei machten wir natürlich keine Geräusche, weil sich das nicht gehörte und weil man riskierte, mit den verbotenen Lebensmitteln von den Platzanweiserinnen aus dem Kino geworfen zu werden. Die Platzanweiserinnen, die es damals noch gab, waren mürrische ältere Damen. Wenn sie ein Geraschel hörten, machten sie nur allzu gern ihre
Taschenlampen an und strahlten damit in Richtung des verdächtigen Geräusches. Meine Mutter hielt die Süßigkeiten in der Hand, von der ich mich stumm bediente, und wir freuten uns auf den Woody Allen-Film. Dabei gab es eine Besonderheit: Bei jeder Erwähnung des Wortes »jüdisch« wurde es still im Kino, das Publikum erstarrte zu Beileidsmienen. Denn »jüdisch«, das hieß Massenmord und löste Betroffenheit aus. Woody Allen sagte beispielsweise: »Wie soll ich dir erklären, warum Gott Auschwitz erlaubt hat, wenn ich noch nicht einmal diesen verdammten Dosenöffner richtig bedienen kann?« Meine Mutter und ich lachten herzlich über diesen Witz, blieben damit aber die Einzigen im Saal. Ein paar Bildungsbürger drehten sich in stummem Entsetzen zu uns um und schauten uns strafend an. Wahrscheinlich hielten sie uns für Antisemiten. Wenn der Film zu Ende war, warteten wir entgegen unserer Gewohnheit nicht den Schluss des Abspanns ab. Um Diskussionen mit den anderen zu vermeiden, schlichen wir uns noch im Dunkeln durch die Sitzreihen aus dem Kinosaal, schoben den schweren roten Samtvorhang vor dem Ausgang beiseite und verschwanden mit schnellen Schritten über den spärlich beleuchteten Antonplatz zurück nach Hause.
Umstellung
Die politische Wende in Ostdeutschland kam für mich vollkommen überraschend. Ich hatte noch ein paar Monate zuvor mit meiner Mutter in der Küche gestanden und wütend behauptet, dass Ostdeutschland ewig existieren würde, weil jeder ein bisschen der Staat sein durfte und dabei gleichzeitig auch gegen den Staat sein konnte. Jeder schien selbst zu entscheiden, welches von beidem er vorwiegend machen wollte. Und dann fiel dieser Staat eines Tages einfach in sich zusammen. Nach der Wende wurde meine Mutter ziemlich schnell arbeitslos. Jahrelang hatte sie innerhalb des DEFA-Studios für ihren Traumberuf als Dokumentarfilmregisseurin gearbeitet. Jetzt, da sie es seit ein paar Jahren geschafft hatte und eigene Filme drehen durfte, wurde das Dokumentarfilmstudio geschlossen. Im Westen gab es seit den sechziger Jahren keine derartigen Studios mehr, in denen Regisseure, Kameraleute und andere Mitarbeiter fest angestellt waren. Und ein Studio für Dokumentarfilme, das war etwas völlig Unglaubliches. Es hatte noch Verhandlungen gegeben, an denen meine Mutter als gerade gewählte Betriebsrätin teilnahm, aber im Grunde vollzog sich die Abwicklung rasend schnell. Für meine Mutter bestand zunächst kaum Aussicht, weiter vom Filmemachen leben zu können. Sie war zu wenig etabliert, um Aussicht auf die Finanzierung ausreichend vieler Filme zu haben. Auch im Westen hatte es wenig Gelder für Dokumentarfilme gegeben. Und weil wegen der deutschen Wiedervereinigung nun ein paar Filmemacher hinzukamen, war nicht mehr Geld im Topf. Meine Mutter nahm ihre
Zukunft selbst in die Hand, kaufte sich ein professionelles Aufnahmegerät und ein Mikrofon und machte Dokumentarhörspiele, mit denen sie fast auf Anhieb erfolgreich war. Parallel zu ihren Hörspielen arbeitete sie immer wieder an Ideen für Dokumentarfilme und lernte das Antragschreiben für Filmfördermittel. Nach einigen Jahren hatte sie auch damit erste Erfolge. Und bald darauf konnte sie ab und zu einen ihrer Filme drehen. Noch einmal näherte sie sich langsam ihrem alten Traumberuf. Trotz all dieser Probleme beklagte sie das Ende des ostdeutschen Staates nicht. Im Gegenteil, sie schöpfte begeistert die vielen neuen Möglichkeiten aus. Am einfachsten war das in ihrer Küche zu erkennen, die war immer ein Experimentierfeld gewesen, aber jetzt wurde es ein undurchschaubares Durcheinander von Gewürzen, Saucen, verschiedenen Mehlen und Haushaltsgeräten aller Kontinente. Nachdem sie jahrzehntelang nicht einmal einfaches Olivenöl hatte kaufen können, durchstöberte sie jetzt die Markthallen nach südamerikanischen Früchten, verhandelte mit türkischen Gemüsehändlern und bestellte exotische Zutaten für immer neue Rezepte. Meine Großmutter besuchte ich seit langem so selten wie möglich. Daran änderte auch die Wende nichts. »Ach, lebst du auch noch?«, war ihre Standardbegrüßung. Oma hatte nach dem Tod meines Stiefgroßvaters ihr Leben vollkommen dem Konsum gewidmet. Sie war schon immer gern und viel einkaufen gegangen, was sich aber lange Zeit durch die limitierten Konsummöglichkeiten im Osten in gewissen Grenzen gehalten hatte. Und Opa Zauleck erlaubte ihr nicht, dass sie nach Westberlin fuhr, obwohl das meiner Großmutter als Rentnerin gestattet gewesen wäre. Für meinen Stiefgroßvater selbst war es undenkbar, einen Fuß in den seiner Auffassung nach feindlichen Teil Deutschlands zu setzen.
Opa Zauleck war noch vor den Umwälzungen in der Sowjetunion gestorben und wir waren uns darüber einig, dass dies ein Glück für alle Beteiligten war. Glasnost und die Perestroika hätten ihn umgebracht. Die neue politische Meinungsfreiheit und wirtschaftliche Umgestaltung hätte er als Verrat an der revolutionären Sache verstanden. In seinem Sinne hätte er damit gar nicht so unrecht gehabt, denn diese Veränderungen bedeuteten letztlich das Ende seiner Sache. Und mein Stiefgroßvater hatte sich längst entschieden. Noch dreißig Jahre nach Stalins Tod war er Stalinist geblieben und er wäre stolz gewesen, als letzter Stalinist sterben zu dürfen. Sofort nach Opa Zaulecks Tod fuhr meine Großmutter zum Einkaufen nach Westberlin. Hier kaufte sie vor allem Dinge für sich oder ihren Hund, uns Kindern brachte sie höchstens einmal einen Kugelschreiber mit, für den wir uns dann bedanken sollten, sie betonte gerne, dass sie nur wenig Westgeld besaß. Nach der Währungsunion gab es für sie endgültig kein Halten mehr. Meine Großmutter schien die Wende vor allem praktisch zu sehen, weil sie nun nicht mehr bis nach Westberlin zum Einkaufen fahren musste. Mit der Einführung des ganztägigen Fernsehens war sie eine treue Dauerzuschauerin geworden. Dabei stand das Telefon direkt neben ihrem Fernsehsessel und sie bestellte wahllos Staubsauger, minderwertigen Schmuck oder Reinigungsmittel. Auf dem Boden stapelten sich die Kataloge von Versandhäusern. Ihre Wohnung war jedes Mal noch vollgestopfter mit ihren nutzlosen Einkäufen, die sie teilweise nicht einmal auspackte. Tagsüber unterbrach meine Großmutter ihr Fernsehprogramm nur für Einkaufstouren. Nachts schlief sie vor dem laufenden Fernseher ein. Wenn ich sie besuchen kam, stellte sie den Fernseher etwas leiser, damit sie besser über mich und meine Familie schimpfen konnte. Manchmal beschwerte sie sich bei mir über
die nackten Frauen oder die schlechten Witze aus dem Nachtfernsehen, aber nie erwartete sie wirklich eine Reaktion. Ich lernte, vor meinem Abschied einfach ein paar Stunden dazusitzen und nichts zu sagen. Wenn wir meiner Großmutter zu ihrem Geburtstag oder Weihnachten etwas schenkten, nahm sie ihre Geschenke mit Gleichmut entgegen. Wenn wir sie nach ihren Wünschen fragten, antwortete sie immer: »Was ich mir wünsche, könnt ihr mir sowieso nicht schenken.« Mir hatte sie einmal anvertraut, dass sie damit einen Nerzmantel meinte. Als meine Mutter das erste Mal Krebs hatte und im Krankenhaus lag, ignorierte Oma die Krankheit meiner Mutter weitgehend, wie meine Großmutter auch alles andere im Zusammenhang mit dem Leben ihrer Familie weitgehend ignorierte. Ab und zu fragte sie: »Und, du hast Arbeit?«, oder »Und, du bist gesund?« Mehr Interesse schien sie für uns nicht aufbringen zu können. Und obwohl Oma damals noch vollkommen gesund war, besuchte sie meine Mutter nie im Krankenhaus. Nüchtern betrachtet war das sogar besser, ein Besuch meiner Großmutter im Krankenhaus wäre für meine Mutter viel zu anstrengend gewesen. Aber natürlich machte es meine Mutter trotzdem traurig. Zwei Jahre nach meiner Mutter wurde auch Oma krank und sie musste wiederholt für einige Wochen im Krankenhaus behandelt werden. Dafür, dass sie sich ziemlich ungesund ernährte und in ihrem Leben nicht wenig geraucht und getrunken hatte, war sie eigentlich erstaunlich lange gesund geblieben. Aber jetzt stellten die Ärzte fest, dass ihr Kreislauf nicht mehr gut funktionierte. Das Herz schlug zu schwach, in der Lunge sammelte sich Wasser und wegen ihrer Beine konnte sie nicht mehr sehr weit laufen. Die Ratschläge der Ärzte zu einer drastischen Änderung ihres Lebenswandels konnte Oma aber kaum noch umsetzen. Wenn meine Mutter und ich sie im Krankenhaus besuchten, machte
sie oft einen verwirrten Eindruck. Ihre Wohnung glich mittlerweile einem großen Waren- und Medikamentenlager. Kleidung stapelte sich in unsortierten Bergen ladenneuer, gewaschener und getragener Stücke, die in den Zimmern der Wohnung lagerten, die seit dem Tod meines Stiefgroßvaters nicht mehr bewohnt waren. Ein halbes Dutzend Staubsauger, die meisten noch originalverpackt, Medikamente aus drei Jahrzehnten, verschrieben von den verschiedensten Ärzten, Modeschmuck, alte Zeitungen. Hinter ihrem Fernsehsessel stand ein großes brummendes Gerät, aus dem meine Großmutter über einen Schlauch zusätzlich Sauerstoff in die Nase zugeführt bekam. Sie starb schließlich an einer Lungenentzündung. Omas Tod hinterließ meine Mutter ebenso bedrückt und ratlos, wie sie sich schon zu Lebzeiten meiner Großmutter gefühlt hatte. Bis zuletzt hatte sie sich die Liebe ihrer Mutter gewünscht. Gemeinsam mit ihren beiden Geschwistern löste meine Mutter Omas Haushalt auf. Sie setzte eine Anzeige in die Zeitung, auf die sich die merkwürdigsten Personen meldeten. Ich machte mir Sorgen um meine Mutter, nicht weil die Trauer um ihre tote Mutter sie so quälte, sondern weil sie sich in der ständig leerer werdenden Wohnung meiner Großmutter mit diesen undurchsichtigen Männern verabredete, die die alten Möbel kaufen wollten. Einer behauptete, ein wohlhabender Zahnarzt zu sein, der seine Villa neu einrichten wolle. Als meine Mutter einen Termin mit ihm ausmachte, konnte er praktisch an jedem Tag und zu jeder Tageszeit. Ungewöhnlich für einen Zahnarzt mit einer gut gehenden Praxis. Der Zahnarzt war in einer alten Lederjacke und einer löchrigen Hose gekommen.
Am auffälligsten an ihm sei gewesen, dass er sehr schlechte Zähne hatte, erzählte meine Mutter. Wegen meiner Sorgen lachte sie mich nur aus. »Mir wird schon nichts passieren«, sagte sie. Damals war sie selbst noch ganz gesund.
Wegfahren
Ich bin vierundzwanzig und sitze neben meiner Mutter im Auto. Wir fahren über die Insel Rügen. Mit achtzehn war ich zu Hause ausgezogen, so wie es meine Mutter gewollt hatte: »Mit achtzehn seid ihr hier raus«, hatte sie immer gesagt. Trotzdem weinte sie am Tag meines Auszugs. Danach sahen wir uns weiter regelmäßig, aber natürlich war es etwas anderes. Ich war nun zu Hause zu Besuch. Es wurde immer seltener, dass ich einmal nur mit meiner Mutter etwas unternahm. Sie hatte mir erzählt, dass sie für die Recherchen an einem Film mit dem Auto an die Ostsee fahren musste. Und weil ich gerade Ferien hatte, fuhr ich gern mit. In Puttbus hielten wir am Marktplatz und fragten Passanten nach der Adresse Am Circus. Wir fragten Kinder, Rentner, Alteingesessene, die hier schon seit Generationen wohnten. Keiner konnte uns weiterhelfen, eine solche Adresse schien es hier nicht zu geben. Wir waren verabredet und es blieb nur noch wenig Zeit bis zu unserem Termin. Und wo bitte war der Circus? »Wie bitte?« – »Was für ein Zirkus?« – »Da sind sie hier ganz falsch.« Wie konnte sich in dieser Kleinstadt ein ganzer Platz vor uns verstecken? Wir fuhren weiter und nach zweihundert Metern öffnete sich zu unserer Rechten ein großer runder Platz, kreisrund mit kleinen Bäumen bepflanzt, wie in einer italienischen Stadt. Keine Frage, das war natürlich der Circus. Wir hätten nach dem Ernst-Thälmann-Platz fragen sollen, so hatte Am Circus vierzig Jahre lang geheißen, erklärte man uns später.
Nach dem Termin meiner Mutter fuhren wir natürlich noch ans Meer. Direkt am Wasser stand ein altes Haus, vor dem Netze an großen Stangen hingen. »Ich klopfe mal«, sagte meine Mutter. »Vielleicht wohnt hier ein alter Fischer.« Ein älterer Mann kam heraus und sah uns beide verwundert an. Mir war das Ganze ein bisschen peinlich, aber meine Mutter stellte sich ihm einfach vor und fragte ihn, ob er schon lange hier lebe. »Seit vierzig Jahren bin ich hier Fischer«, antwortete der Mann. »Dann können sie mir bestimmt helfen«, sagte meine Mutter fröhlich. Und schon lud uns der Fischer in sein Haus ein und bat seine Frau, einen Tee zu kochen. Dann redeten meine Mutter und er, und sie machte sich viele Notizen. Schließlich bedankte sie sich bei dem Fischer und seiner Frau, und wir gingen hinunter zum Strand. Es war klar, dass meine Mutter nicht von hier weggehen würde, ohne noch einen Spaziergang gemacht zu haben. Es war ein kühler Maitag und wir waren allein am Strand. Wir liefen über die riesigen Steine, die dort lagen, damit die Insel nicht langsam wieder im Meer verschwand. »Ist das herrlich«, rief meine Mutter und hielt ihr Gesicht in den Wind. Plötzlich blieb sie stehen. »Also, ich gehe jetzt baden, ich finde es hier viel zu schön. Kommst du mit?« – »Das Wasser ist bestimmt viel zu kalt.« – »Ach Quatsch«, sagte sie. »Dann gehe ich eben allein.« Sie zog sich aus und lief ins Meer. »Wenn man erst einmal ganz im Wasser ist, ist es gar nicht so kalt«, rief sie mir zu. »Willst du nicht doch noch hereinkommen?« Dann schwamm sie eine große Runde, während ich leicht frierend am Strand stand und ihr dabei zusah. Sie trocknete sich mit ihrem Unterhemd ab, das wir später im Auto zum Trocknen aufhängten. Auf dem Heimweg erzählten wir uns noch einmal die merkwürdige Geschichte von unserer Suche nach dem Platz Am Circus und mussten wieder lachen. »Warte, warte! Besser
noch fand ich, als der Mann mit dem braunen Hut und dem kleinen Hund uns völlig perplex angeguckt hat und gesagt hat: ›Zircus? Zircus? Hier in Putbus?‹« Wir probierten verschiedene Varianten der Geschichte aus, um herauszufinden, welche sich hinterher am besten zum Erzählen eignen würde.
Wandel
Von Beginn meines Studiums an bemühte ich mich darum, auch im Ausland studieren zu können. In Ostdeutschland hatte es für einige wenige die Möglichkeit gegeben, ins Ausland zu gehen. Die Kandidaten dafür wurden noch in der Schule ausgewählt und besuchten spezielle Vorbereitungskurse, um in Irkutsk oder Budapest studieren zu dürfen. Und obwohl wir jetzt in einem anderen Land lebten, dachte ich, dass man für ein Studium in Italien oder den USA sicher noch viel besser vorbereitet sein musste. Obwohl ich fest mit einer Ablehnung rechnete, hätte ich es mir nie verziehen, mich nicht beworben zu haben. Doch es klappte, viel leichter als ich dachte. So verbrachte ich drei Jahre in Amerika, fast ausschließlich in Städten an der Ostküste der USA, darunter waren auch Boston und New York, wo die große Mehrheit der amerikanischen Juden lebte. Überall, wo ich in Amerika auch hinkam, ging man selbstverständlich und ohne Nachfrage davon aus, dass ich ein Jude war. Ich wurde unvermittelt gefragt, wo ich Jom Kippur feiern würde oder ob meine Frau auch Jüdin sei. Da ich in Berlin gelernt hatte, wie kompliziert das Jüdischsein war, erklärte ich bei solchen Gelegenheiten genauestens die Zusammenhänge meiner Herkunft, die Geschichte meiner Familie. Ich wollte niemanden in Verlegenheit bringen, schon gar nicht mich selbst. Ich erklärte auch, dass viele in Deutschland mich nicht als Juden ansehen würden. Doch die amerikanischen Juden taten diese Bedenken und Einschränkungen in Bezug auf mein Jüdischsein als »typisch deutsch« und tendenziell autorassistisch ab.
Selten traf ich jemanden, der wirklich orthodox lebte oder auch nur koscher aß. Kaum einer hätte es an einem arbeitsreichen Freitag bis zum Sonnenuntergang in die Synagoge geschafft und die wenigsten wollten auf ihren Cheeseburger verzichten. Die jüdische Reformiertheit ging in Amerika so weit, dass es in manchen der Synagogen sogar weibliche Rabbinerinnen gab. Mir war klar, dass meine Erfahrung nicht typisch für die gesamten USA war. Im mittleren Westen oder im Süden des Landes lebten kaum Juden. Aber in dem Amerika, das ich erlebte, gab es ein wirkliches jüdisches Leben. Es gab Ärzte, die Mandelstam hießen und Schneider namens Cohen. Ein Mann mit einer Kippah war nichts Besonderes und in der UBahn war ein Rabbiner kein ungewöhnlicherer Anblick als eine Nonne. In Restaurants oder Hotels traf ich häufig auf große Gesellschaften festlich gekleideter Menschen, die eine Bar Mitzwah feierten. Die Synagogen waren keine musealen Bauwerke, die von bewaffneten Polizisten bewacht wurden, sondern belebte Gemeindezentren, vor denen in Schaukästen zu den zahllosen Aktivitäten der Gemeinde eingeladen wurde. In den acht Tagen des Pessach-Festes gab es noch in der kleinsten Cafeteria ungesäuertes Brot. Und wie selbstverständlich waren die Feiertage offiziell anerkannt. Auch Vorurteile und Witze gegen Juden waren verbreitet und im Gegensatz zu Deutschland gab es auch ein paar aktive Schimpfwörter für Juden. Mit großer Herzlichkeit und ohne jede Umschweife wurde ich von amerikanischen Familien zu den jüdischen Festtagen eingeladen. So war ich bei der Familie Scholl zum ersten Mal in meinem Leben auf einer richtigen Pessach-Feier, wo es koscheres Mazze und echten koscheren Wein gab. Die Gastgeberin Frau Scholl war die Tochter deutscher Protestanten und anlässlich der Hochzeit mit ihrem Mann wie
selbstverständlich zum Judaismus konvertiert. Jetzt führte sie einen jüdischen Haushalt und natürlich wurden auch die Kinder jüdisch erzogen. Frau Scholl erzählte, dass die Einzige, die noch nicht ihren Frieden damit gemacht hatte, ihre Schwiegermutter, die alte Großmutter Scholl, war. Wir setzten uns um einen großen Tisch, der feierlich gedeckt war. Ein paar der Männer trugen eine Kippah. Auf jedem Platz lag eine Haggadah, aus der wir uns gegenseitig vorlasen und gemeinsam die Geschichte eines Volkes erzählten, das stets unterwegs ist und niemals ankommt. Die Vertreibung aus Jerusalem nach Babylon, die erneute Vertreibung und der Aufbau des zweiten Tempels. »Und nächstes Jahr in Jerusalem.« Dann zündeten wir die Kerzen an, das Essen wurde aufgetragen und bald redeten alle wild durcheinander. Eine Geschichte über die Shoah hatte jeder zu erzählen, so kam man ins Gespräch. Das Wort Auschwitz wurde viel häufiger gebraucht als das Wort Thora. Joshua, einer der Gäste, erzählte, in seiner Familie sei keine Verbindung zur Shoah bekannt. Dafür habe er sich sehr teure Haggadahs gekauft, angeblich aufwändige Reproduktionen der Bücher, die insgeheim von Kindern in Auschwitz gestaltet waren. Die Shoah schien auch hier zum wichtigsten Identifikationsbezug geworden zu sein. Immer wieder sollte ich dann die Geschichte meiner Mutter erzählen. Alle hörten gespannt zu und nickten zwischendurch. Das war wichtig, die Geschichte einer Überlebenden. Zum Abschied sagten mir viele, dass ich meiner Mutter unbekannterweise Grüße ausrichten sollte. Durch die herzliche Aufnahme und den unkomplizierten Umgang in der jüdischen Gemeinschaft fühlte ich mich angenommen, aufgenommen und integriert. So fern von zu Hause eine warme und familiäre Umgebung zu finden, war für mich eine unerwartete und willkommene Überraschung.
Naturgemäß begann ich, mich noch stärker mit dem Judaismus zu identifizieren. Ja, warum eigentlich sollte ich nicht als Jude leben? Meine Mutter hatte schon Recht. Wir mussten doch der Endlösung nicht widerspruchslos zustimmen. Berlin war die Geburtsstadt des liberalen Judaismus, sicher würde es gehen, dass ich dort so wie in Boston oder Jerusalem jüdisch leben konnte, mit einem einzigen Kühlschrank sowohl für Milch als auch Fleisch und »einem schönen jüdischen Weihnachtsbaum«, wie es sich die Berliner Juden in den zwanziger Jahren zu wünschen pflegten. Ich hatte sogar gelesen, dass bei dem später berühmten jüdischen Denker Gershom Sholem einmal ein gerahmtes Portrait von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus, unter einem solchen Weihnachtsbaum gestanden haben soll. Seine Mutter wollte dem Sohn, der damals noch Gerhard hieß, eine Freude machen. Sie wusste, dass der Vierzehnjährige Theodor Herzl glühend verehrte. Warum sollten solche herrlichen Absurditäten in Berlin nicht mehr möglich sein?, fragte ich mich und dachte dabei an die Ostberliner Gemeinde, die sich so stark verändert hatte. Vor der Wende hatte der eklatante Mangel an Möglichkeiten alle miteinander verbunden. Als dieser Mangel behoben war, zerfiel die Zweckgemeinschaft. Die nicht religiösen Juden gründeten ihren eigenen Verein und die religiösen konnten nun endlich so leben, wie sie es sich immer gewünscht hatten. Wie alle jüdischen Organisationen Ostdeutschlands wurde auch die Ostberliner Gemeinde schon ein Jahr nach der Wende aufgelöst und ging in westdeutschen auf. Der Form halber wurde noch eine Abstimmung durchgeführt. Eine Mehrheit der Ostberliner stimmte gegen die Auflösung, aber sie wurde ohne deren Zustimmung durchgeführt. Auch kamen viele neue Mitglieder aus Osteuropa in die jüdischen Gemeinden. Es waren Immigranten jüdischer
Herkunft, die zumeist seit mehreren Generationen ihren Glauben nicht mehr praktiziert hatten. In der Ostberliner Synagoge saßen noch ein paar der liberalen deutschen Juden und schauten sich verwundert um, weil sie mit einemmal von der Mehrheit zu einer Minderheit geworden waren und sich erst einmal daran gewöhnen mussten. Denn die zahlenmäßig größte Gruppe waren die neuen Einwanderer, die ausschließlich russisch miteinander sprachen und eine eigene Vorstellung vom Gemeindeleben entwickelten. Manche hatten sich die jüdische Abstammung sogar gegen ein gewisses Bestechungsgeld von jenen Beamten in den Pass stempeln lassen, die vor der Wende gegen eine ähnliche Summe diese Stempel aus den Pässen gelöscht hatten. Viele dieser neuen Mitglieder wirkten in der Synagoge noch verlorener als ich, weil sie weder hebräisch noch deutsch sprachen und die Gemeinde mit ihrer Integration überfordert war. Der größere Teil der Einwanderer konnte mit der praktizierten Religion kaum etwas anfangen. Trotzdem hielten sie engen Kontakt zur Gemeinde. Dort trafen sie sich mit ihren Bekannten aus der Heimat oder lernten neue Freunde kennen. Mit vielen Schwierigkeiten und Problemen wandten sie sich an den Gemeinderat, der zunehmend ratlos war, weil man keine Erfahrung damit hatte, wie man Gemeindemitgliedern zum Beispiel bei Arbeitslosigkeit helfen konnte. Meine Mutter verteidigte diese Einwanderer immer vehement. »Wenn ich mit meinen Kindern in solchen Verhältnissen leben müsste, ich würde auch alles tun, um herauszukommen. Jedes Mittel wäre mir recht, ich würde euch schnappen und zusehen, dass ich über die Grenze komme«, sagte sie, wenn wir über das Thema sprachen. Ich würde von keinem eine gestempelte, schriftliche Genehmigung dafür bekommen, als liberaler Jude leben zu dürfen.
Ich wollte es nach meiner Rückkehr aus den USA einfach nur tun. In der Thora heißt es: Diejenigen, die im Land leben, werden es besitzen.
Anders machen
Ich bin neunundzwanzig und sehe entsetzt auf die Röntgenbilder meiner Mutter. Seit einigen Wochen war ihr übel gewesen und es wurde höchste Zeit, diese Übelkeit medizinisch abklären zu lassen. Obwohl wir es nicht aussprachen, dachte jeder von uns natürlich sofort an den Krebs. Die Blutwerte meiner Mutter hatten nichts Besonderes ergeben, außer dass weitere Untersuchungen notwendig waren. Auch eine Magenspiegelung war wenig aufschlussreich, so dass der Arzt meiner Mutter ein Computertomogramm empfahl. Bei dieser Untersuchung liegt man auf einer metallischen Unterlage. Durch Schaumstoffteile am Kopf oder unter den Knien wird der Körper in eine gute Untersuchungsposition gebracht. Dann wird der Patient auf der Metallliege durch eine Röhre gefahren, in der eine komplizierte Konstruktion um den Körper kreist, ihn mit Röntgenstrahlen durchdringt und die Strahlen hinter dem Körper wieder auffängt. Daraus rekonstruiert der Computer ein Bild, auch vom Inneren des Körpers. Ich arbeitete damals selbst in dem Krankenhaus, in dem das Computertomogramm von meiner Mutter gemacht wurde. Unruhig stand ich während der gesamten Untersuchungszeit vor der Tür. Als die Radiologin zu mir auf den Gang trat, zerstörte ihr Blick alle meine Hoffnungen. »Vielleicht ist es ja nichts Bösartiges«, hatte ich mir einzureden versucht. »Ein kleines Magengeschwür, kein Drama. Sie werden dich auslachen, dass du wegen dem Termin so einen Aufstand gemacht hast.« Doch der Blick der Ärztin sagte alles. Ich kannte die Sätze, die sie jetzt sagte, aus den Lehrbüchern: »Wir
müssen erst alle Befunde auswerten. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh für eine genaue Aussage.« Ich wusste, was das bedeutete. Aber ich wollte es ganz genau wissen, ging hinein in das Untersuchungszimmer und sah mir selbst die Röntgenbilder an. Die Computerrekonstruktionen, die das Innere meiner Mutter darstellten, sahen aus wie die Bilder eines sehr kranken Körpers. Jeder einzelne ihrer Knochen war wie ein Schneegestöber in Knochenform, die Konturen verwischt. Weiße und schwarze Punke standen dicht nebeneinander, wo eigentlich ein einziger weißer, kräftiger Knochen neben dunklerem Muskelgewebe sichtbar hätte sein sollen. Natürlich hätte es theoretisch auch ein komplizierter Computerfehler sein können oder es gab eine ganz andere, seltene, zusammenhanglose, harmlose Erklärung. Aber so war es nicht.
Wenige Wochen zuvor war unser Kater gestorben, der lange zu unserer Familie gehört hatte. Eigentlich war es nicht unserer, sondern mein Kater gewesen, ein großer roter Kater, der wenige Wochen nach meinem Eintritt in die Oberschule im untersten Fach meines orange-weißen Kinderschranks geboren worden war. Der Schrank war in meiner Kindheit besonders wichtig für mich gewesen, denn immer wenn mich meine Mutter gebeten hatte, doch endlich aufzuräumen, hatte ich alle im Zimmer verteilten Gegenstände aufgesammelt und in diesen Kinderschrank gestopft. Dann schob ich die Tür zu, drückte mit der Hüfte dagegen und schloss mit dem kleinen Metallschlüssel ab. Dankenswerterweise zählte das bei meiner Mutter als »Zimmer aufgeräumt«. Indirekt war der Kater über meine Großmutter zu uns gekommen. Meine Großmutter hatte zwei Freundinnen, eine von ihnen hatte einen Wurf junger Katzen, die andere wollte
eine Katze davon haben. Kurz nachdem Oma die Übergabe vermittelt hatte, verstritt sie sich unversöhnlich mit der Freundin ohne Katze, wollte aber ihre Zusage an die andere Freundin einhalten und wusste nun nicht mehr, wohin mit der Katze. Sie rief meine Mutter an. »Du musst mir helfen«, sagte Oma. »Was sollen wir mit einer Katze?«, fragte meine Mutter. Aber das war meiner Großmutter egal. Sie versprach, das Ganze am Wochenende zu klären, und so bekamen wir für ein Wochenende eine kleine graumelierte Katze. Meine Mutter sagte uns am Freitag, dass sie am Montag zu ihrer richtigen Besitzerin käme und dass wir der Katze deswegen gar nicht erst einen Namen zu geben brauchten. Am Sonntagabend hoffte ich inständig, dass Lucie bei uns bleiben würde. Und natürlich hatte Oma überhaupt nichts geregelt und beschimpfte stattdessen meine Mutter, dass sie sie trotz ihres ohnehin schon schweren Lebens nun auch noch mit dem Problem einer jungen Katze belästigen würde. Wir behielten Lucie. Als Lucie ein Jahr später schwanger wurde, kratzte sie immer an der Tür zu meinem Kinderzimmerschrank. Ich räumte ihr mühevoll das unterste Fach aus und legte eine Decke hinein, weil sie offensichtlich in diesem muffigen Verschlag ihre Jungen bekommen wollte. Das Erstgeborene war ein kleiner roter Kater, danach kamen vier schwarz-weiße Katzen. Die Katzenjungen verschenkten wir, den Kater wollten wir selbst behalten. Lucie wurde bald darauf von einem Auto überfahren. Eines Tages, nur ein paar Wochen bevor ihr schlecht wurde, rief meine Mutter mich an. Sie habe eine schlechte Nachricht. Ich erschrak sehr, denn ihre Krebserkrankung war für mich allgegenwärtig. »Ich muss dir etwas sagen. Der Kater ist tot.« Er war von dem Balkon gefallen, auf dem er fünfzehn Jahre lang herumgeturnt hatte. Ich war traurig, aber auch erleichtert, dass nur der Kater gestorben war. Meine Mutter hatte ihn in den Büschen vor unserem Haus gefunden und begraben.
Dieser Tod stand in keinem Zusammenhang mit der Gesundheit meiner Mutter. Aber plötzlich nahm ich ihn als schlechtes Omen wahr.
Nach der computertomographischen Untersuchung wurde meine Mutter sofort ins Krankenhaus eingewiesen. Als ich sie dort am Abend besuchte, setzte ich mich auf ihr Bett und schaute sie an. Sie sah krank aus, etwas, das ich nie vorher an ihr gesehen hatte. Wer weiß, wozu es gut ist, hatte sie immer gesagt. Aber wozu war das hier gut? Ich dachte daran, dass sie immer so gern Obst und Gemüse gegessen hatte, dass sie sich vor so vielen Jahren wegen der Kinder das Rauchen abgewöhnt hatte, dass sie immer gern geschwommen und spazieren gegangen war und dass sie außerdem ein guter Mensch war und es insgesamt keinen guten Grund gab, warum sie schon wieder Krebs hatte. Dass alles so ungerecht war. Ich sah sie an und dann weinte ich und meine Mutter schaute mich erschrocken aus ihrem Kissen an. In diesem Moment hatten wir beide begriffen, wie es um sie stand. Als meine Mutter zum zweiten Mal Krebs hatte, lag sie in ihrem Krankenhausbett, konnte nichts essen und wollte nur schlafen. Ich besuchte sie jeden Tag nach der Arbeit und brachte ihr Obst und Nüsse mit, das war alles, was sie noch essen wollte. Ihre so genannte medizinische Behandlung in dem großen Klinikum war ein einziges Trauerspiel. In den ersten drei Tagen wurde ihr nicht einmal Blut abgenommen, manchmal sah sie tagelang keinen Arzt und wenn sie einen Arzt sah, lief er in seinem weißen Kittel durch ihr Zimmer, von einem Gespräch konnte keine Rede sein. Am Morgen rief ihr bei der Visite einer der Ärzte etwas zu, am Abend behauptete ein anderer das Gegenteil.
Meiner Mutter ging es zu schlecht, ihre Diagnose war zu schlecht, ihre Prognose tödlich. Jeder fürchtete sich vor solchen Patienten. Man konnte sie nicht mehr durch ungewöhnliche Therapien heilen. Man konnte ihr keine aufmunternden Worte sagen, die wahr waren. Hier lag eine Frau, die starb. Ohne es zu wollen, konfrontierte meine Mutter die Ärzte mit deren Grenzen und natürlich auch mit der Unumgänglichkeit ihres Todes. Jeder Arzt hoffte darauf, dass ein anderer sich dieser Patientin annehmen würde, und so erklärte sich, warum immer ihr Fall übersehen wurde und immer in ihrem Zimmer keine Zeit mehr für ein klärendes Gespräch war. Aber meine Mutter hatte nicht mehr die Kraft, um jeden Gesprächstermin zu kämpfen. Sie brauchte Begleitung und keine Anstrengung. Ich besorgte mir die Nummer des Oberarztes und nach hartnäckigstem Beharren kam endlich ein Gespräch zustande, das an einem Samstag nach fünf Stunden Warten endlich im neongelben Aufenthaltsbereich der Station stattfand. Die Diagnose, sagte er, sei ernst, es gebe keine Aussicht auf Heilung mehr, nur Hoffnung auf Pausen im Krankheitsverlauf und Linderung der Symptome. Der Oberarzt sprach in den düstersten Tönen das aus, was uns allen längst klar war. Meine Mutter fragte ihn, wie viel Zeit sie noch habe, und er sagte, dass es in der Fachliteratur durchaus Berichte von Patientinnen gäbe, die mit der Erkrankung meiner Mutter noch bis zu zwei Jahre gelebt hatten. Genau auf diese zwei Jahre legte sich meine Mutter fest, obwohl der Oberarzt im Wesentlichen etwas anderes gesagt hatte. Immerhin war sie in diesem Krankenhaus auch beim letzten Mal wieder gesund geworden. Nach den ersten Medikamenten ging es ihr zwar etwas besser, sie durfte sogar nach Hause und fühlte sich relativ wohl. Doch dann verfärbte sich ihre Haut gelblich, ihr wurde wieder schlecht und sie
bekam starken Juckreiz. Der Hausarzt stellte fest, dass sich viele ihrer Blutwerte wieder verschlechtert hatten, aber er konnte ihr nicht mehr wirksamer helfen. Meine Mutter wollte wieder ins Krankenhaus. Dort sollte sie erst in vier Wochen irgendeine Infusion erhalten. Es war überdeutlich, dass meine Mutter sich von dem Krankenhaus keine geeignete Betreuung für ihre Erkrankung erhoffen konnte. Ich telefonierte herum, informierte mich und fragte Freunde. Nach langem Suchen wurde mir endlich die onkologische Praxis von Dr. Stromberg empfohlen, die täglich geöffnet war, wo es einen Spezialisten für Schmerztherapie gab und wo die Ärzte rund um die Uhr auch Hausbesuche machten. Meine Mutter war empört über mich: »Ich will nicht noch einen Arzt kennen lernen«, sagte sie. »Ich gehe wieder ins Krankenhaus und fertig! In so einer Praxis war ich schon mal. Da reden sie mit dir, als ob du schon tot bist.« Doch ich wollte nicht nachgeben, nicht aufgeben. In diesem Krankenhaus würde ihr niemand die Hilfe geben, die meine Mutter brauchte. Es gab keinen Dr. Marie mehr, der optimistisch in ihr Zimmer stürzte, um draufgängerisch eine Operation mit ihr zu besprechen. Es gab nichts mehr zu operieren, keine Wunder zu verrichten. Meine Mutter brauchte jemanden, der ihr etwas gegen die Übelkeit verschreiben konnte, jemand, der sich überhaupt für diese Übelkeit interessierte. Sie brauchte jemanden, der sie gründlich untersuchte und mit dem sie dann in Ruhe darüber sprechen konnte. Ich gab nicht auf und redete immer weiter, bis sie schließlich erschöpft nachgab und einem Termin in der Praxis zustimmte. Was dachte sie, woher ich meine Hartnäckigkeit hatte? Zum ersten Termin begleitete ich sie in die Praxis. Zum Glück war Dr. Stromberg meiner Mutter auf Anhieb sympathisch. Er untersuchte sie, beantwortete ruhig alle
Fragen, die meine Mutter hatte, aber er drängte ihr auch keine Antworten auf. Dann machten sie gemeinsam einen Plan für die nächste Woche. Sie begab sich in seine Behandlung, weil Dr. Stromberg keine Angst vor meiner Mutter hatte. Er kümmerte sich um sie, obwohl es ihr täglich schlechter ging. Er versprach keine Wunder, er sprach nie von den kommenden Jahren, er redete immer von der nächsten Woche. Es gab immer einen Termin, eine Untersuchung, einen Plan für die nächste Woche. Als sie nicht mehr zu ihm kommen konnte, organisierte er die häusliche Pflege. In dieser Zeit, fast unmerklich, war auch das Präteritum bedeutsam geworden: In ihren letzten Wochen wollte ich nicht mehr in der Vergangenheitsform von meiner Mutter reden. Dabei hatte es immer viele Erinnerungen gegeben, die ich an sie hatte. Und ich erzählte oft von ihr, von irgendeinem typischen Satz, den sie zu mir gesagt, einem Ratschlag, den sie mir gegeben hatte. Und da das alles in der Vergangenheit lag, wäre das Präteritum vollkommen korrekt gewesen. Aber mir wurde immer klarer, dass ich noch lange die Vergangenheitsform gebrauchen müsste, wenn ich von ihr erzählen würde.
Trennung
Als ich aus Amerika zurückgekommen und wieder in Berlin war, fand ich nur schwer Aufnahme in der jüdischen Gemeinde. Die Gemeindetreffen in der Oranienburger Straße gab es nicht mehr. Ich fragte auch nicht meine Mutter oder ihre jüdischen Freunde um Rat. Ich wollte meinen eigenen Weg finden und schließlich ging ich zu den Treffen der jüdischen Studentengemeinde in Charlottenburg. Die Zusammenkünfte in der Fasanenstraße fanden in schönen Räumen statt, die man aber erst betreten konnte, nachdem man zahlreiche Sicherheitssperren und einen Metalldetektor passiert hatte. Ich fand schließlich eine wenig zusammengehörige Gesellschaft von Menschen, die sich scharf in kleinere Grüppchen teilte. Dort saß eine kleine Gruppe offensichtlich strenggläubiger jüdischer Deutscher, die orthodox gekleidet waren und möglichst hebräisch miteinander sprachen. Nur wenn sie ein bestimmtes Wort oder eine Redewendung noch nicht auf Hebräisch gelernt hatten, benutzten sie ein deutsches Wort. Dabei wirkten sie immer etwas peinlich berührt. Dann gab es noch einige Kinder von Einwanderern jüdischer Familien aus dem nahen Osten, die teilweise arabisch miteinander sprachen. Sie standen beisammen, plauderten und scherzten miteinander. Die größte Gruppe saß auf Stühlen und unterhielt sich auf Russisch miteinander. Diese Jugendlichen waren auffallend modisch gekleidet. Die Jungs trugen bunt bedruckte Pullover und Jeans, die Mädchen bauchfreie TShirts und Miniröcke. Ab und zu sahen sie sich mit befremdetem Blick im Gemeinderaum um. Irgendwo dazwischen stand ich.
Außer der Tatsache, dass alle Anwesenden jünger als dreißig und irgendwie jüdisch waren, gab es keinerlei Gemeinsamkeiten. Die einen waren hier, weil sie unbedingt jüdisch sein wollten, die anderen, weil sie immer jüdisch gewesen waren, und die nächsten wussten noch nicht, ob sie es sein wollten. Die Gespräche verliefen in gedämpfter Lautstärke, zwischen den verschiedenen Gruppen wurde nicht gesprochen. Ich setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Aus jeder Gruppe bekam ich einen Blick zugeworfen, doch niemand sprach mit mir. Das Erscheinen des Rabbiners war wie eine Erlösung für mich. Alle nahmen Platz und sahen ihn gespannt an. Er setzte sich in unsere Mitte, grüßte kurz und begann zu erzählen. Er sprach auf Deutsch. Anfangs sprach er über den heutigen Feiertag und seine Tradition. Dann begann er, für den Rest des Abends ausführlich von unserem Heimatland Israel zu erzählen. Dort würden die Menschen früh heiraten und sehr viele Kinder bekommen, viel mehr als in Deutschland. Überhaupt seien in Israel alle freundlicher zueinander, das Leben besser. Für jeden wahren Juden müsste es eigentlich der natürliche Wunsch sein, endlich in Israel leben zu dürfen. Wir jungen Menschen könnten dort sogar nach dem Militärdienst einige Jahre in einem Kibbuz leben. Offen gestanden verstehe er kaum, was wir überhaupt noch hier in Deutschland machten. Ich sah vor mir das Bild von einem Verkehrspolizisten, der auf der Kreuzung steht und mit lautem Pfeifen und heftigen Armbewegungen den einzig richtigen Weg zu weisen sucht. Die orthodoxen Deutschen lauschten ihm gespannt und stellten ab und zu eine Zwischenfrage auf Hebräisch. Sonst sagte keiner etwas. Die arabischen Juden sahen ihn respektvoll, aber zurückhaltend an, ihre Familien hatten offenkundig gewichtige Gründe gehabt, nicht ins nahe gelegene Israel überzusiedeln, sondern sich stattdessen auf den weiten Weg nach Deutschland
zu machen. Die russischen Einwanderer schauten verständnislos und ungeduldig, niemand wusste, wie gut sie deutsch sprachen. Sie hatten sich auf Russisch darüber unterhalten, nach dem Treffen noch tanzen zu gehen. Zum Schluss gab es koscheren Kuchen, der Rabbiner zündete die Kerzen an und sprach ein kurzes Gebet. Bevor er sich verabschiedete, ging ich auf ihn zu und sprach ihn an. Ich stellte mich kurz vor und fragte, wie es mit dem Heiraten einer nichtjüdischen Frau sei. Er schaute mich kurz über seine Brillengläser hinweg an und sagte, eine jüdische Eheschließung käme für ihn in diesem Fall nur in Frage, wenn sich beide Ehepartner verpflichteten, als orthodoxe Juden zu leben. Jeden Freitagabend zum Gebet, vollkommene Einhaltung der Ruhe am Sabbat, immer die Kippah tragen, zwei Kühlschränke und Geschirrsets für Milch und Fleisch. Ich war froh, dass ich ihm meine Herkunft nicht genauer erläutert hatte. Für ihn war ich wahrscheinlich ohnehin ein jüdischer Niemand. Doch ein orthodoxes Leben kam für mich aus vielerlei Gründen nicht in Frage. Meine Frau und ich beließen es später bei der standesamtlichen Trauung. Die jüdische Zeremonie konnten wir jederzeit im Ausland nachholen. Aber warum sollten wir das wollen? Dass auf unserem Hochzeitsfest eine Klezmerkapelle spielte, zu deren Musik wir alle miteinander tanzten, war eher ein Zufall.
Erwachsen werden
Ich bin zwölf Jahre alt und starre enttäuscht in den Badezimmerspiegel. Wann werde ich endlich erwachsen? Damals war ich immer enttäuscht darüber, was ich sah. Ich war unzufrieden, weil ich nicht älter wurde. Trotz der Jahre, die vergingen, schien mich immer wieder dasselbe Gesicht aus dem Spiegel anzuschauen, das mit der großen Nase, den großen Ohrläppchen und den leicht hängenden Augenlidern. Ungeduldig hatte ich auf Zeichen der Reife gewartet, auf einen jungen Mann, der mir aus dem Spiegel zulächelte und Lebenserfahrung verströmte. Natürlich war ich mit meinen ersten Zigaretten vor den Badezimmerspiegel gerannt, hatte mich gedreht, die Zigarette zwischen Zeigefinger und Mittelfinger gehalten, dann eine andere Stellung ausprobiert, die Zigarette nach unten gehalten und sie dann lässig aus dem Mundwinkel hängen lassen, während ich als cooler Cowboy mit wichtigeren Dingen beschäftigt war. Aber leider stieg mir der Rauch ins Auge, es tränte, ich hustete, die Asche wirbelte durchs Bad. Die einzigen Veränderungen, die ich im Lauf der Jahre erkennen konnte, waren gelb leuchtende Pickel im gesamten Gesicht, und ein weicher Flaum, der langsam unter meiner Nase wuchs. Auch eine Nass- und dann Trockenrasur änderten nichts an meinem kindlichen Gesicht. Egal, was mein Ausweis sagte, ich fühlte mich wie ein Siebenjähriger und fürchtete, dass sich daran niemals etwas ändern würde. Nur eines stimmte mich versöhnlich: Es gab noch zwei Menschen, die mein Schicksal teilten. Meine Eltern schienen immer ziemlich genau zweiundvierzig Jahre alt zu bleiben. Auf keinen Fall
waren sie jung, das war ja ich, aber sie waren eben auch nicht alt. Meine Eltern waren immer zweiundvierzig. Als ich zwanzig Jahre und immer noch nicht älter geworden war, dachte ich, dass es wohl nicht an meinem Äußeren, sondern an meinen Taten lag, wann ich mich endlich erwachsen fühlen würde. Ich eröffnete ein eigenes Bankkonto, lernte Sprachen, lernte Kochen, lernte Backen, studierte, heiratete, lebte jahrelang im Ausland und verdiente irgendwann sogar mein eigenes Geld für das Bankkonto. Es schien mir, als ob ich bloß an einen Wunsch denken musste und schon ging er in Erfüllung. Nur älter wurde ich nicht. Das war nicht das Leben eines Erwachsenen, das war das Schmarotzertum eines Kindes in den besten Jahren. So war ich dreißig geworden und auch dann hatte sich zunächst nichts an dem Zustand geändert. Darum war ich schließlich davon ausgegangen, dass ich mich wahrscheinlich erst mit eigenen Kindern erwachsen fühlen würde. Vielleicht aber war es auch Unfug, erwachsen werden zu wollen? Alles änderte sich, als meine Mutter zum zweiten Mal krank wurde. Ich besuchte sie jeden Tag. Anfangs ging es ihr von Woche zu Woche schlechter, aber dann verschlechterte sich ihr Zustand mit jedem einzelnen Tag. Sie war eine Stunde wach und musste dann vor Erschöpfung drei Stunden lang schlafen, meine Mutter, die immer wesentlich länger als alle anderen hatte spazieren gehen wollen. Jetzt aß sie kaum noch etwas, meine Mutter, die mit Lust ungekochte Kartoffeln und rohen Fisch mit scharfem roten Ingwer gegessen hatte. Manchmal brachte ich ihr etwas zum Essen mit, in die Wohnung, in der früher immer ich etwas zu essen von ihr bekommen hatte. Ich machte für sie Pizza mit Tomaten und Salat, etwas, das sie immer gern gegessen hatte. Sie aß ein wenig und musste sich kurz darauf erbrechen. Sie war verzweifelt, weil sie fürchtete, dass ich gekränkt sein könnte
über ihre Missachtung meiner Bemühungen. Ich brachte sie ins Bett und erzählte ihr ein bisschen, dabei schlief sie ein. So wurde ich in meinem dreißigsten Lebensjahr doch noch plötzlich und unerwartet erwachsen.
Vollendete Tatsachen
Eines Morgens im Januar rief mich mein Vater an. Meine Mutter hatte in der Nacht nach ihren qualvollen letzten Wochen endlich einschlafen können. Ihr sich täglich verschlechternder Gesundheitszustand, das Bemühen, gleichzeitig das eigene Leben im Griff zu behalten, die schlaflosen Nächte, in denen das Gehirn trotz der unendlichen Müdigkeit des Körpers arbeitete, dieses jedes Licht auslöschende Negative, das grau in grau alles umschloss – in all diesem Unglück empfand ich die eigentliche Nachricht von ihrem Tod, als sie dann kam, nur als einen weiteren Mosaikstein des Unglücks, nicht als den alles übertönenden Donnerschlag. Eher kam durch die Klarheit der Nachricht eine Art von Ruhe in mir auf. Nun gab es keinen Konflikt mehr zwischen Hoffnung und Verzweiflung. An dem Tag fuhr ich wie immer zur Arbeit, die Leute um mich herum, die Straßen, die Häuser, alles wirkte auf mich wie inszeniert. Ich blickte auf meine Füße, wie ich sie immer wieder voreinander setzte. Dabei hörte ich das Geräusch jedes einzelnen meiner Schritte. Selbst auf der Straße klang für mich alles dumpf hallend wie in einem engen, leeren Raum. Ich erinnere mich noch, dass mich mein Vorgesetzter an diesem Tag in sein Büro holte. Ich setzte mich, starrte nach vorn und registrierte nur, dass ein großer grauer Mann mich beschimpfte. Ich wusste, dass mir sein Geschrei irgendetwas bedeuten sollte. Aber ich saß nur da, wartete das Ende der Demütigung ab und verließ danach wortlos sein Büro. Noch am selben Tag rief mein Vater die Verwaltung des jüdischen Friedhofs an. Von der Wohnung, in der meine Eltern
nun seit fast dreißig Jahren wohnten, war es ein Fußweg von weniger als zehn Minuten dorthin. Der Friedhof war sogar während des Zweiten Weltkriegs nicht zerstört worden. Da aber seit mindestens fünfzig Jahren keine Mittel für die Pflege des Friedhofs aufgewendet wurden, hatte sich dort ein geradezu märchenhafter Urwald entwickelt. Nur die wichtigsten Wege waren zugänglich geblieben, sonst hatte man alles der Natur überlassen. Große, schiefwachsende Bäume drohten auf die alten Grabsteine zu fallen und schienen sich mit ihren Ästen am Boden abzustützen, wie eine Hand, die ein Stürzender dem Boden entgegenstreckt. Über die Jahre waren wir immer wieder dorthin gegangen. Meine Mutter hatte mir die Gräber unserer Verwandten gezeigt. Die meisten Grabsteine waren mit hebräischen Buchstaben beschriftet. Angehörige hatten als typisches Zeichen der Anteilnahme kleine Steine auf ihnen abgelegt. Inzwischen waren sogar manche dieser kleinen Steine mit Moos bewachsen. Ein geheimnisvoller Ort. »Ist Ihre Frau denn richtige Jüdin?«, fragte eine Dame meinen Vater am Telefon. Er erklärte ihr kurz die Geschichte meiner Mutter. »Also die Mutter Ihrer Frau war keine richtige Jüdin? Dann können wir gar nichts machen.« – »Aber sie war doch Mitglied der jüdischen Gemeinde«, sagte mein Vater. »Wie hat sie denn das geschafft?«, fragte die Dame mit empörtem Unterton. »Das war noch in Ostdeutschland, da war es noch nicht so streng«, antwortete mein Vater. »Ich fürchte, da sind wir heute aber strenger. Ist es denn ganz sicher, dass die Mutter Ihrer Frau keine Jüdin war. Noch nicht einmal teilweise?« – »Ich glaube, das haben die Nazis damals sehr genau kontrolliert. Sie hatte einen Ariernachweis«, antwortete mein Vater. »Dann stimmt das natürlich«, pflichtete ihm die Dame am Telefon fast erleichtert bei. Dann herrschte zwischen ihnen eine unbehagliche Stille.
Das Häuschen, in dem die Friedhofsangestellte saß, kannte ich genau. Es war ein kleiner flacher Ziegelbau, gleich hinter dem Eingang. Für unkundige männliche Besucher lagen hier Kopfbedeckungen bereit und im Fenster hatten immer ein paar staubige Broschüren mit dürftigen Reproduktionen alter Schwarzweiß-Fotografien gestanden. Als Kind hatte es mich sehr fasziniert, dass eine dieser Broschüren sogar in englischer Sprache verfasst war. Hier hatten sie meinem Vater an diesem Morgen die Telefonnummer gegeben. »Sind Sie selbst eigentlich Jude?«, fragte die Dame unvermittelt. »Nein.« – »Dann«, sagte sie in versöhnlichem Tonfall, »hätten Sie beide ohnehin höchstens einen Platz auf unserem Gräberfeld für Mischehen bekommen. Das ist sowieso nicht so besonders schön.« Nach diesen tröstlichen Worten legte mein Vater auf. Vor ihrer Geburt war meine Mutter zu jüdisch. Ihre Eltern waren zu jüdisch gewesen, um in Deutschland heiraten zu dürfen. Ihr Vater war zu jüdisch gewesen, um leben zu dürfen. Meine Mutter war jüdisch genug, dass sie in einem Keller versteckt werden musste, weil sie nach dem Gesetz nicht leben durfte. Sie war zu jüdisch für eine einigermaßen glückliche Kindheit. Zu jüdisch, um eine Verwandtschaft zu haben. Noch jüdisch genug für die jüdische Gemeinde in Ostdeutschland. Jüdisch genug schließlich für ihre schwere Krankheit. Aber nach ihrem Tod war sie nicht jüdisch genug für den jüdischen Friedhof in Berlin. Immerhin befreite mich das Ganze von Fragen und Zweifeln in Bezug auf meine religiöse Zugehörigkeit. Zusammen mit meiner Mutter war nun selbstverständlich auch ich ganz fraglos aus der jüdischen Gemeinde Berlins ausgeschlossen worden. Aber was sollten wir nun tun? Wir hatten nicht mehr mit ihr darüber sprechen können und der jüdische Friedhof war in jedem Sinne der nahe liegendste gewesen. Meine Mutter war
oft und gern dort gewesen und wir konnten uns vorstellen, dass sie dort gern beerdigt worden wäre. Wir suchten meiner Mutter in der Gegend, in der sie aufgewachsen war, wo sie ihre merkwürdige Kindheit in diesem merkwürdigen Elternhaus zugebracht hatte, einen Platz auf einem ganz normalen städtischen Friedhof, wo den Toten keine unangenehmen Fragen gestellt wurden. Als er unmittelbar bevorstand, hatte meine Mutter kurz mit uns über ihren Tod sprechen können. »Kümmert euch um Vater, ich habe Angst, dass er nicht genug isst«, sagte sie mit brechender Stimme zu meiner Frau und mir. Dann weinte sie kurz und wir spürten, dass sie endlos hätte weinen können und wir mit ihr. Warum hätte man denn aufhören sollen, hatte es je einen vernünftigeren Grund gegeben zu weinen? Aber sie unterbrach ihr Weinen nach wenigen Sekunden und sagte: »So, jetzt wollen wir aber auch mal über etwas anderes reden als immer nur über meine Krankheit und meine Wehwehchen.« Weil mir nichts anderes einfiel, holte ich einen Fotoapparat, den ich mir zufällig an diesem Tag gekauft hatte, aus dem Rucksack und zeigte ihn meiner Mutter. Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn scheinbar mit größtem Interesse. Dann fotografierten wir uns gegenseitig damit. Ich machte dabei das letzte Foto von ihr. Darauf sitzt sie in ihrem Sessel, in der dicken Wollstrickjacke in Regenbogenfarben und mit einer Decke über ihren Beinen, weil ihr immerzu kalt war. Und sie sieht krank aus. Sehr krank. Früher hatte sie manchmal mit uns über ihren Tod gesprochen. Sie hatte Dinge gesagt wie: »Wenn ich mal nicht mehr bin, dann sollst du dieses Küchenmesser mit der Keramikklinge haben. Das schneidet sehr gut Tomaten.« Oder, zu meiner Frau: »Auch wenn du nicht mehr mit ihm zusammen bist, möchte ich, dass du zu meiner Beerdigung kommst. Du kannst so schön weinen.« Nach solchen Sätzen lachte sie
immer nur kurz auf und sang dann laut irgendeinen deutschen Schlager mit einem besonders scheußlichen Text. Manchmal sangen wir gemeinsam. Wir schmetterten laut in einen Kochlöffel hinein, den wir vor unseren Mund hielten, kniffen dabei die Augen zusammen und machten wie die Sänger im Fernsehen einen unbeholfenen Tanzschritt mit einem hölzernen Hüftschwung. Ihrer Freundin Petra, die sie noch kurz vor ihrem Tod besucht hatte, erzählte meine Mutter, dass sie mit allem im Reinen sei. Sie habe mit ihrer Familie über ihren Tod gesprochen und darüber, wo sie beerdigt werden wolle, sie sei zufrieden und würde versöhnt aus dem Leben scheiden. Petra erzählte uns das später gerührt auf der Beerdigung. Nichts davon war wahr gewesen. Damals, als meine Mutter zum zweiten Mal Krebs hatte, konnte sie mit uns nicht mehr darüber sprechen. Ich merkte ihr an, wie klar sie das Bevorstehen ihres Todes spürte und wie verzweifelt und wütend sie darüber war. Von letzten Worten, einem letzten wichtigen Gespräch habe ich nie geträumt. Hätte ich in diesen Tagen in Ruhe nachdenken können und einen einzigen mir wichtigen Satz sagen dürfen, wäre mir nur der folgende eingefallen: »Stirb nicht, es ist doch viel zu früh.«
Schluss
Ich war angekommen und stand vor dem alten Haus, in dem meine Eltern gewohnt hatten. Links war der Strauch, in dem meine Mutter meinen toten Kater gefunden hatte. Rechts der kleine Laden an der Ecke. In der Mitte die Haustür. Ich war diese Treppe mit meiner Mutter zusammen hochgegangen, als sie mich an meinem ersten Tag vom Kindergarten abgeholt hatte, und bin dieselben Stufen hochgegangen, als sie uns das erste Mal von ihrer Erkrankung erzählte. Die Straße nach links hinunter gingen wir zu den Seen spazieren, nach rechts hinunter führte der Weg zum jüdischen Friedhof. Ich wusste, dass meine Mutter gestorben war. Begriffen hatte ich ihren Tod noch nicht. Wir alle hatten gemeinsam eine schwere Zeit durchgemacht, die jetzt vorbei zu sein schien. Als ich durch die alte Eingangstür unserer Wohnung ging, hätte es mich nicht überrascht, wenn meine Mutter aus ihrem Arbeitszimmer gekommen wäre und mich über ihre große Lesebrille hinweg angeblickt hätte. Ich hätte sie nur mit großen Augen angeguckt und verwundert gesagt: »Hallo Mutti. Ich dachte schon, du wärst tot.« – »So ein Quatsch!«, wäre wohl ihre Antwort gewesen. Die Wohnung war jetzt vollkommen leer, mein Vater war ausgezogen. Jetzt gab es hier nur noch alte Auslegeware auf kaputten Dielen. Das Geräusch jeden Schritts kam als Echo von den Wänden zurück. Ich sollte noch ein paar alte Badschränke abschrauben, die wir wegschmeißen wollten. Noch einmal ging ich durch die ganze Wohnung. Als Kind hatte ich gelernt, vor dem Betreten des Zimmers meiner Mutter die Türklinke fest zu umfassen und die Tür ein wenig zu mir in
den Türrahmen zu ziehen, bevor ich die Klinke herunterdrückte. So konnte ich die Tür ohne das laute Knacken öffnen. Ganz rechts in dem Zimmer, neben dem Fenster, hatte meine Mutter immer an ihrem Schreibtisch in der Ecke gesessen und mich angeschaut, wenn ich hereinkam. Sie schrieb mit schwarzer oder königsblauer Tinte auf langkariertem Papier. Für die Schule hatte ich gelernt, ihre Unterschrift zu fälschen. Ich wollte sie nicht zu oft mit Mitteilungen darüber konfrontieren, dass ich schon wieder mein Lineal vergessen oder die Lehrerin geärgert hatte. Ihre Unterschrift war nicht schwer zu fälschen gewesen. Ein durchgehender Bogen, der direkt aus dem großen Anfangsbuchstaben kam und sich bis zum Ende des Namenszuges fortsetzte. Die Küche war nur noch ein vollkommen leerer Raum mit einem nackten Gasanschluss und einem alten, hässlichen Spülbecken, das wir aus dem Keller geholt und wieder aufgestellt hatten. Die Küchenmöbel und -geräte waren in meine Wohnung gebracht worden. Ich hatte sie stundenlang geputzt, geputzt bis meine Hände vom Seifenwasser vollkommen aufgeweicht waren. Ich schraubte alles auseinander, nahm Scheuermilch und Schwämme und reinigte alles gründlich. Immer wieder sprach ich dabei den einen immergleichen Satz vor mich hin: »Ist ja schon alles schlimm genug.« Meiner Mutter war es nicht wichtig gewesen, dass jede Ecke ihrer Küche glänzte. Wichtig war, dass gutes Essen auf dem Tisch stand, dass hinterher alles sauber genug war, dass man gleich spazieren gehen konnte. Den Wettbewerb für die sauberste Küche zu gewinnen, war ihr nicht wichtig. Und doch, ich schrubbte alles akribisch. Bei mir konnten dieselben Ecken, die ich jetzt polierte, später ruhig wieder dreckig werden, aber niemand sollte sagen dürfen, dass meine Mutter kein sauberer Mensch gewesen war.
In diesem Augenblick spürte ich dieses Gefühl, dass es jetzt genug war und sie nun endlich zurückkommen sollte. Ich musste sie doch jetzt anrufen können, ihr ein bestimmtes Lied vorspielen, das sie genauso schön oder genauso scheußlich wie ich finden würde, etwas aus der Zeitung vorlesen, irgendwas von der Arbeit erzählen. Ich brauchte ihren Rat. Das Gefühl hielt nur so lang an wie ein Lidschlag, es war zu flüchtig, um ein richtiger Gedanke zu werden. In den unverhofften Momenten, wo ich es fühlte oder auch nur begann, darüber nachzudenken, wusste ich sofort, dass es nicht sein konnte, dass sie richtig tot, für immer weg war. Dann verschwand das Gefühl wieder und zurück blieb eine sehr reale Traurigkeit, als stünde ich allein auf einer verlassenen Landstraße. Doch es war genau dieses immer wieder aufblitzende Gefühl, das mich daran hinderte, die Dinge meiner Mutter wegzugeben, ihre Schränke auszuräumen. Sie würde ganz schön sauer sein, wenn sie dann wiederkäme. Ihre Kleidung, das war kein Problem, daran hatte sie nie gehangen. Sie würde sich einfach nach und nach neue kaufen. Aber ihre Arbeitsmaterialien, die Aufnahmegeräte, die Kassetten: »Ihr könnt doch nicht einfach meinen Computer verkaufen und hier alles umräumen, wenn ich mal weg bin, ich habe doch so viel zu tun!« Doch wenn ich darüber nachdachte, wusste ich es besser. Und schließlich gaben wir ihre Dinge weg. Die vielfache Wiederholung der Enttäuschung dieses merkwürdigen Gefühls, wenn es oft genug oder einmal zu oft enttäuscht wurde, das sollte es wohl heißen, den Tod zu verarbeiten. Ich hatte Freunde, deren Eltern gestorben waren. Ich hatte ihnen stets mein Beileid gewünscht und es auch ernst gemeint. Es hatte mir wirklich leid getan für diese Freunde. Aber dann dachte ich nur noch ein, zwei Tage daran und vielleicht die nächsten paar Male, wenn ich diese Freunde traf. Auch als
meine Großeltern starben, war ich für einige Tage traurig und in den nächsten Monaten gab es einige kurze Momente, wo ich schmerzlich empfand, dass sie tatsächlich weg waren und nie wiederkommen würden. Das, hatte ich gedacht, war der Tod. Auf das, was mir durch den Tod meiner Mutter passierte, war ich durch nichts vorbereitet gewesen. Eine große Leere, schwarz und alles umspannend. Es erforderte all meine Kraft, mich einfach nur von diesem Loch fernzuhalten. Das schrittweise Begreifen, dass es wirklich passiert, dass sie nicht mehr da war und ich trotzdem nicht die Balance verlor, einfach weitermachen konnte, weil ich es musste, weil es nicht mehr so wie vorher ging. Es gab kein anderes mein Leben mehr, mein Leben war nun eines ohne meine Mutter. Und ab nun kam die Angst um die anderen hinzu, die ich liebte, weil ich jetzt erst wusste, wirklich wusste, dass auch sie eines Tages weg sein könnten, und ich hatte die Hoffnung, dass ich es sein würde, der zuerst nicht mehr da war, weil ich nicht wusste, ob ich es noch einmal ertragen könnte. Noch jahrelang, so war mein Gefühl, noch wenn es niemand mehr verstehen könnte, wenn ich es keinem mehr sagen wollte, weil es keiner mehr hören kann, würde ich damit zu tun haben. An einen Abschied von meiner Mutter konnte ich mich kaum erinnern. Natürlich hatte ich unzählige Male »Auf Wiedersehen«, »Tschüss«, »Mach’s gut« zu ihr gesagt. Aber selbst wenn ich nach diesen Worten Tausende Kilometer weggefahren war, gab es doch immer dieses Grundgefühl, dass sie da war, dass sie höchstens einen Anruf und einen Flug weit entfernt war, dass ich mich nur zu ihr umdrehen musste. Manchmal hatte ich jetzt Träume. Dann träumte ich, dass meine Mutter wieder da war. Wir machten nichts Besonderes, sie sagte keine geheimnisvollen Sätze. Wir gingen einfach nur miteinander spazieren auf den alten Wegen, auf denen wir immer spazieren gegangen waren oder standen nebeneinander
in der Küche. Ich hatte in diesen Träumen plötzlich wieder dieses gute, beruhigende Gefühl ihrer Anwesenheit. Es war schön, eine Erleichterung zu spüren. Das Aufwachen danach war wie – ein derber Schlag.
Meine Freundin Noga war zwanzig gewesen, als eines Tages ihre beiden Eltern bei einem Verkehrsunfall starben. Nachdem sie vom Tod meiner Mutter gehört hatte, brachte sie mir eine große Tüte Kekse vorbei, die sie am Abend zuvor für mich gebacken hatte. »Hilft vielleicht ein bisschen, ein paar Momente lang«, sagte sie. Sie schaute mich traurig an und gab mir die Kekse. Dann umarmte sie mich und ging. Andreas’ Vater war ein paar Monate vor meiner Mutter gestorben. Andreas klingelte plötzlich einfach an der Tür und hatte einen Blumenstrauß mitgebracht. Er drückte ihn mir wortlos in die Hand. Wir standen uns gegenüber und traten ein bisschen verlegen auf der Stelle herum. »Was soll ich schon sagen?«, meinte er. »Gibt ja sowieso nichts Vernünftiges zu sagen.«
Als ich später mit meinem Vater über den Friedhof lief, um eine Grabstätte für meine Mutter auszusuchen, rief meine Frau mich von ihrer Frauenärztin an. Sie war schwanger.
Ich bin fünf Jahre alt. Wir sitzen am Frühstückstisch. Meine Mutter möchte heute auf Dienstreise gehen und wird dann für eine Woche weg sein. Eine Woche, unendlich lang. Ich kann es nicht verstehen, frage sie tausendmal, ob sie denn nicht hier bleiben möchte, sie ist doch meine Mutter. Sie sagt: »Ach, mein Spätzchen, es muss doch sein.« Sie trinkt ihren türkischen
Kaffee aus, einen Löffel Zucker in einem Löffel Kaffee. Mit zwei Fingern entfernt sie ein Kaffeekrümelchen von ihren Lippen. Sie steht auf, geht in den Flur und zieht sich den Mantel an. Ich laufe weinend hinter ihr her. »Reg dich nicht auf, Spätzchen. Ich bin doch nicht lange weg und schreibe euch auch oft.« Nichts kann mich beruhigen. Ich bin nicht traurig, ich bin wütend. Sie soll auf mich hören und hier bleiben. »Wenn du jetzt gehst, dann musst du mir auch nicht schreiben. Hau ab!« Meine Mutter sieht mich unglücklich an und streicht mir über den Kopf: »Mach’s gut.« Dann verschwindet sie hinter dem ersten Treppenabsatz um die Ecke ins Dunkel.