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Jeremy Brent
Vom Grauen gejagt Originaltitel: PLASTIC MAN
Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Saupe Copyright...
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Jeremy Brent
Vom Grauen gejagt Originaltitel: PLASTIC MAN
Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Saupe Copyright © 1974 by Jeremy Brent Titelbild: C. A. M. Thole Deutsche Erstveröffentlichung Printed in Germany Juli 1975
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VORSPIEL
»Man mußte die Leiche vom Pflaster pellen ...« So stand es in den Zeitungen. »Die Polizei schälte sie vom Pflaster und rollte sie für nähere Untersuchungen zusammen.« Darüber waren sich die Schlagzeilen einig. Die größten Überschriften, die er je gesehen hatte, seit der Geschichte damals. »Ach zum Teufel damit«, sagte Brad laut und blickte sich verstohlen um, ob jemand in dem großen Redaktionsbüro ihn gehört hatte. Natürlich niemand. Aber sich bei einem Selbstgespräch ertappen – mein Gott! Überschriften, die waren ihm im Kopf herumgegangen - fette schwarze Überschriften – Schlagzeilen, die seit Tagen alles andere von den ersten Seiten der Tageszeitungen verdrängt hatten. Es war ausgerechnet in Sunderland geschehen. Er konnte nicht sagen, warum ihm das so merkwürdig vorkam. Wenn man schon etwas so Furchtbares wie die flachgedrückte, pappdeckeldünne Leiche eines Mannes finden mußte, dachte er, warum nicht auch in Sunderland? »Brad!« fuhr ihn sein Herausgeber über die Wechselsprechanlage an.
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»Ja, Chef?« antwortete er und hatte wie immer, wenn er sich mit Chris Oldham über Telefon unterhielt, das Gefühl, als würde man eins seiner Ohren mit Elektroschocks behandeln. »Warum sitzen Sie in London herum«, plärrte die Stimme, »wenn Sie auf eigenen Beinen in Sunderland stehen sollen?« »Clark kümmert sich dort um alles.« »Clark? Wer zum Teufel hat den hingeschickt? Sie sind hier der Starreporter, und nicht Clark. Bei dem reicht die Erfahrung doch nur für Sexsachen und Schlägereien auf Fußballplätzen.« »Sie haben ihn losgeschickt, Chef«, erinnerte Brad seinen Herausgeber. »Dafür habe ich einen Tritt in den Hintern verdient. Hören Sie, Brad, lassen Sie alles liegen und fahren Sie sofort hin. Ich und die Welt möchten wissen, warum im Vorhof eines Rathauses der Umriß eines Menschen unauslöschlich in die harten Pflastersteine von York gedrückt ist.« »Übrigens, Chef, Clark hat mich heute früh von Sunderland aus angerufen und mir gesagt, daß die Polizei die Leiche mit Reißzwecken an einer Wand befestigt hat. Auch eine Art, sie zu untersuchen ...«
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»Sensationell, was? Hat Clark es gesehen?« unterbrach ihn Oldham. »Nein. Jemand hat’s ihm erzählt.« »Dachte ich mir. Man gibt nicht durch, was man nicht gesehen hat. Der hat die erste Lektion noch nicht kapiert.« »Um Clark gegenüber fair zu sein, die Polizei hat noch niemanden von der Presse die Leiche sehen lassen, Chef.« »Also, die Polizei kann mir gestohlen bleiben. Sie fahren sofort hin. Sie sehen sie sich an, beschreiben sie und schauen, daß Sie auf eine Spur stoßen. Sonst können Sie sich einen neuen Job suchen.« Im Zug nach Sunderland ließ sich Brad auf einen Eckplatz nieder und richtete sich auf ein paar Stunden ungestörten Lesens ein. Im Buchladen auf dem Bahnhof hatte er ein besonders gutes Taschenbuch über Archäologie aufgegabelt. Ihm gefiel das Gebiet; er betrieb die Archäologie jedoch nicht aktiv, sondern nur vom Lehnstuhl aus. Brad fühlte sich einigermaßen zufrieden mit seinem Los, wie er so bequem auf seinem Eckplatz saß. Ganz abgesehen davon, daß er von der Nabelschnur des verfluchten Telefons losgekommen war, fiel ihm eben ein, daß er von Sunderland aus vielleicht den Hadrianswall 5
und die neuen Ausgrabungen von Vindolanda besuchen konnte. Aber bevor er das Buch halb gelesen hatte, stand er schon im Bahnhof von Sunderland und begrüßte den jungen Clark. Die Verbindung aus Intercityzug, modernisiertem Schienennetz, Höchstgeschwindigkeit, einem guten Buch und einem Nickerchen hatte die Reise zu einem Nichts zusammenschrumpfen lassen, teilte er Clark mit und verfiel dann in Schweigen, während sie den Bahnsteig entlanggingen. Der junge Reporter sah Brad unruhig an. »Eine schreckliche Geschichte, Mr. Minton!« sagte er. »Ich bin froh, daß Sie hergekommen sind, um zu helfen.« »Ich hoffe, daß ich irgendwie helfen kann«, log Brad. Es war weder der rechte Ort noch die richtige Gelegenheit, dem jungen Mann zu sagen, daß Oldham ihn nach London zurückbeordert hatte. Sie fuhren im Taxi zu dem Hotel, das die Personalabteilung der Colossal Press für Brad ausgesucht hatte. Der Kasten deprimierte ihn schon, als er ihn bloß sah, und bestärkte ihn darin, sich in Zukunft die Hotels selbst zu suchen. »Ein feines Hotel haben Sie, Mr. Minton«, schwärmte Clark, als er das scheußliche Bauwerk erblickte.
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Brad sagte nichts. Er begriff langsam, was der Chef gemeint hatte, als er von Mangel an Erfahrung bei Clark gesprochen hatte. Wenn der steif gekleidete Kellner, die unpersönliche Atmosphäre und schlimmste viktorianische Architektur für fein hielt! Er sah sich nur rasch sein Zimmer an, stellte sein Gepäck ab, traf sich mit Clark in der Halle und bat ihn, sofort zum Schauplatz des Verbrechens geführt zu werden. Als er die Stufen vor dem Hotel zur Straße hinunterging, atmete er tief ein. Es war gut, nach der gezwungenen, gekünstelten Atmosphäre des Hotels wieder an der frischen Luft zu sein. »Hier durch ist es kürzer«, sagte Clark und bog rasch in eine besonders ärmliche Seitenstraße ein. »Haben Sie’s eilig?« fragte Brad etwas außer Atem. »Tut mir leid, Mr. Minton. Ich nehme an, Sie sind von der Reise müde. Gehe ich Ihnen zu schnell?« »Sagen wir, schnelles Gehen macht mir nichts aus, aber ich habe etwas gegen langsames Rennen«, sagte Brad. »Tut mir leid, Sir«, sagte Clark und verlangsamte seine Schritte. Brad konnte sich genau vorstellen, was sich der junge Mann dachte, als er »Sir« anstelle von »Mr. Minton« sagte. Clark war ungefähr dreiundzwanzig, und ihm 7
mußte ein Junggeselle, der um die Dreißig war, als ein schrecklich alter Knacker vorkommen. »Da ist es, das ist die Stelle.« Clark zeigte aufgeregt auf eine Menschenmenge, die sich in ein paar hundert Metern Entfernung vor einem Bauwerk drängte, das Brad für das Rathaus hielt. »Hier ist es.« Clark fing beinahe wieder an zu rennen, und Brad machte es ihm diesmal nach. »Entschuldigen Sie, machen Sie doch Platz«, rief Clark und drängte sich durch die Menge, bis er sich in die Mitte vorgekämpft hatte. »Hier.« Triumphierend zeigte er aufs Pflaster hinunter und blickte sich mit einem Anflug von Besitzerstolz um zu Brad. »Mein Gott!« rief Brad in die lärmende Menge. Es fiel ihm schwer, etwas anderes zu sagen. Neben sich hörte er jemand sagen: »Die Steine von York sind hartes Zeug.« »Den muß eine Dampfwalze überrollt haben«, sagte ein anderer. »Mit dem Vorschlaghammer hineingeschlagen ...« Als sich Brad langsam wieder faßte, merkte er, daß das nicht wie im Scherz, sondern todernst von verantwortungsbewußten, verwirrten Bürgern gesagt worden war. »Jeder von denen könnte recht haben«, sagte er leise zu Clark gewandt.
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»Das können Sie so oft wiederholen, wie Sie wollen. Mr. Minton, und niemand würde Ihnen widersprechen.« Clark fing wieder an, sich durch die Menge zu zwängen. »Wo wollen Sie hin?« fragte Brad nervös und folgte ihm. »Ich bringe Sie rüber zum Polizeipräsidium. Vielleicht können Sie die dort beschwatzen, uns die Leiche zu zeigen. Ich würde sie gern sehen. Sie doch auch?« rief er und rannte mit großen Schritten los. »Wie weit ist es bis zum Polizeipräsidium?« fragte Brad und blieb nach ein paar Schritten stehen. »Geradeaus – ungefähr fünf Minuten zu Fuß.« »Ich finde allein hin«, sagte Brad schroff. Alle Begeisterung schwand aus Clarks jungem Gesicht »Das hört sich an, als wollen Sie mir sagen, daß ich verschwinden kann, Mr. Minton.« »Wenn sich das so anhört«, sagte Brad, »dann ist mit Ihren Sinnesorganen alles in Ordnung.« »Aber ... ich ...« »Tut mir leid«, sagte Brad weniger hart. »Aber ich fürchte, da gibt es kein ,aber ich’. Wenn Sie der Große Weiße Häuptling in den Pferch zurückruft, dann müssen Sie zurück, da bleibt Ihnen nichts übrig.« Der Junge tat ihm wirklich leid, als er sich umdrehte und ging. Als er Clark aus den Augen verloren hatte, ging er zum Bahnhof, um sich dort ein Taxi zu besorgen. Das würde 9
im Polizeipräsidium mehr Eindruck machen, als zu Fuß anzukommen. Er hatte Glück, eines zu erwischen, das eben auf den Standplatz fuhr. Es reute ihn nicht. Der aufmerksame Polizist, der gleich hinter der Glastür an einem Schreibtisch die Besucher abfertigte, blickte fragend auf, als er hörte, wie das Taxi draußen anhielt. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte er, als Brad seinen Namen genannt hatte. »Ich bin vom Nationalen Untersuchungsausschuß des Innenministeriums«, legte Brad los und konnte nur hoffen, daß es keinen solchen Ausschuß gab. Er wußte, daß er nichts erreichen könnte, wenn er das Wort »Presse« flüstern würde. Er ließ die Eröffnung fünf Sekunden wirken. Bevor sie aber im Hirn des Sergeanten etwas ausrichten konnte, fuhr er fort: »Ich komme gerade aus Jarrow, wo ich einen Fall von Sabotage auf einem Atomunterseeboot untersuchte, und London hat mich angewiesen, auf dem Rückweg hier vorbeizuschauen. Ich wäre Ihnen also sehr verpflichtet, wenn Sie mich zu Ihrem Präsidenten bringen könnten.« Zu Brads Überraschung bediente der Sergeant die Wechselsprechanlage und kündigte ihn seinem Präsidenten als »Mr. Brad Minton vom Innenministerium« an. 10
Aber noch mehr erstaunte ihn, daß der Präsident sagte: »Schicken Sie ihn sofort herauf.« »Erster Stock, zweite Tür rechts«, erklärte ihm der Sergeant. »Der Präsident wird Sie sofort empfangen, Sir.« »Herein«, rief der Präsident, als Brad an der zweiten Türe rechts anklopfte. »Na, na, na, Brad Minton!« lachte ihm der Mann in der blauen Uniform entgegen. »Sie sind ein hervorragender Journalist, Brad, aber ein entsetzlicher Lügner.« Brad lachte verlegen, als ihm Graham Fletcher die Hand schüttelte. Er kannte den Mann seit Jahren. Bevor er hier Polizeipräsident geworden war, hatte er Dienst bei Scotland Yard getan, und sie hatten sich beruflich wie auch privat oft getroffen. »Sie hatten Glück«, polterte der Polizeioffizier. »Sie sind auf den einzigen Sergeanten hier gestoßen, der noch glaubt, daß es auch Leute gibt, die die Wahrheit sagen.« »Und deshalb lassen Sie ihn nicht oft dort unten sitzen«, warf Brad ein. »Ganz recht. Wir haben im Augenblick eine Menge zu tun – da hielt er aus. Sonst kümmert er sich um meinen Papierkram, weit ab von allem, wo seine Freundlichkeit Schaden anrichten kann. Trotzdem, ein verdammt guter Mann.«
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»Ich hoffe nur, Sie hängen mir nichts wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen an«, sagte Brad und lachte. Der Polizeipräsident sah ihn einen Augenblick an und sagte dann: »Nein, diesmal nicht. Wie Sie wissen, sind wir der Presse bis jetzt aus dem Weg gegangen. Aber ich nehme doch an, daß Sie wegen diesem flachgepreßten Mann hier sind?« Er beugte sich vor und bot Brad eine Zigarette an, die dieser jedoch nicht annahm. »Sie sind nicht aus gesellschaftlichen Gründen zu Besuch, soviel kann ich mir denken«, sagte er, als er sich seine Zigarette anzündete. »Ich hätte Sie vielleicht so besucht, wenn ich gewußt hätte, daß Sie hier sind.« »Eins zu null für Sie«, sagte der Präsident und zeigte mit der Zigarette auf ihn. »Aber um die Wahrheit zu sagen, Sie kommen gerade im rechten Augenblick. Heute früh habe ich mich entschlossen, der Presse einige Einzelheiten zu dem Fall zu übergeben. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, Minton, aber wenn ich schon mit einem Vertreter der Presse reden muß, dann lieber mit Ihnen als mit jemand anderes.« »Nett, daß Sie das sagen.« »Was mich betrifft, so sind Sie das kleinste von verschiedenen Übeln. Aber ehrlich gesagt sind wir alle hier ganz durcheinander wegen dieser scheußlichen Sache, 12
trotz der oberflächlichen Ruhe, die im Präsidium herrscht. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Das Schlimme ist, daß niemand in der Nähe war, als es geschah, und bis jetzt ist noch niemand etwas Gescheites eingefallen, wie es passiert ist, oder auch nur, um wen es sich bei dem Opfer handelt.« »Was meinen Sie selbst zu dem Mord?« »Gar nichts, Inspektor Southam von Scotland Yard leitet die Ermittlungen und nicht ich. Ich stelle Sie ihm vor. Übrigens haben wir bis jetzt noch nicht von ,Mord’ gesprochen. Wenn Sie vor einem Stück Plastik stehen, von dem Sie wissen, daß es sich dabei um einen Menschen handelt, der zwei Zentimeter tief in das Pflaster gedrückt wurde, dann halten Sie das nicht für einen gewöhnlichen Mordfall und können sich auch nicht nach einer gewöhnlichen Waffe umsehen. Bei einem solchen Fall hat es keinen Wert, zu versuchen, irgendwelche Hinweise aufzuschnappen.« »Soll das heißen, daß Sie an übernatürliche Kräfte denken?« Fletcher runzelte die Augenbrauen. »Übernatürliche Kräfte?« platzte er heraus. »Die Polizei muß mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben. Bei uns hier geben sich alle Fachleute ein Stelldichein – Wissenschaftler, Leute
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vom Gericht, Militär- und Atomexperten. Bis jetzt aber noch keine spiritistischen Medien.« »Und haben die Klugscheißer schon etwas herausbekommen?« »Weiß ich wirklich nicht.« Die Stimme des Polizeipräsidenten wurde leiser. »Mir wäre es lieb. Ich muß schon sagen, eine solche Menge von klugen Köpfen habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen.« Brad wurde nach unten geführt und Oberinspektor Southam vorgestellt, einem großen, kräftigen Kerl, der die Untersuchungen leitete. Er war von Scotland Yard, aber Brad war ihm dort noch nicht begegnet. »Wie steht’s mit Ihrem Magen?« fragte der Inspektor, sobald sie allein waren. »Es geht«, sagte Brad. »Es sei denn, wir haben hohen Seegang.« »Schön. Dann fange ich gleich mit dem Schock an. Kommen Sie, sehen Sie sich die Leiche an. Die Sachverständigen zögern noch, ihr ein christliches Begräbnis angedeihen zu lassen. Sie haben also Glück. In etwa einer Stunde wird man sie nach London bringen.« Der Inspektor ging ihm in ein langes Zimmer voraus, das, wie Brad bemerkte, rasch zu einem Konferenzraum
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hergerichtet worden war. Bis auf einen jungen Polizisten, der den Eingang bewachte, war der Raum leer. Southam und der Polizist sprachen flüsternd miteinander, dann wandte sich Southam wieder an Brad. »Der Beamte hat mir eben mitgeteilt«, sagte er, »daß die Schlaumeier einen Schnipsel von der Plastikleiche abgeschnitten haben und damit nach Newcastle sind. Sir Robert Keithley wollte sich die ganze Leiche ausborgen. Ich meinte aber, daß er mit einem Stückchen zufrieden sein müsse. Dort gibt es ein hochmodernes Laboratorium, wo man atomare Strukturen besser als sonstwo im Land untersuchen kann.« Er führte Brad an das Ende des Zimmers und zog dann wie ein geborener Schausteller mit einer schwungvollen Gebärde einen Vorhang auf, der über die ganze Wand ging. Die Wirkung auf Brad war unbeschreiblich. Er hatte sich keine Vorstellung davon gemacht, was ihn erwarten würde. Sein Magen machte buchstäblich einen Satz. »Sehen Sie«, setzte ihm der Inspektor auseinander, »die beste Art, dieses Exemplar aufzubewahren, war, es zwischen zwei Glasscheiben einzusiegeln, damit wir es leicht von vorn und von hinten untersuchen können, ohne es anfassen zu müssen.« 15
Der Anblick des grinsenden Gesichts und des Körpers, der auf schreckliche Weise zu doppelter Größe flachgepreßt worden war, die beiden Löcher, wo die Augäpfel zerplatzt waren, all das ließ Brad schnell die Toilette aufsuchen. Der Ausruf »Guter Gott!« war ihm immer abgeschmackt vorgekommen, wenn ihn andere Leute ausstießen. Abgeschmackt oder nicht, er stieß ihn ein paarmal aus, während er auf sein entsetztes, bleiches Gesicht im Spiegel starrte. Er bat um Entschuldigung, als er in das Zimmer zurückkehrte. »Keine Ursache«, sagte der Inspektor. »Eine gräßliche Sache, und es ist noch untertrieben. Mein Magen hat auch rebelliert, als ich es zum erstenmal sah.« Brad fiel Chris Oldhams drohender Befehl ein. Er kämpfte seine Übelkeit nieder und sah sich die Leiche aus der Nähe an. »Was sind das für Löcher?« fragte er und zeigte mit zitterndem Finger auf eine Anzahl runder Öffnungen, die über die ganze Leiche verteilt waren. »Dort ist das Blut aus den Venen wie Farbe aus einer Spritzpistole gepreßt worden«, erklärte der Inspektor. »Ob Sie es mir glauben oder nicht, wir haben noch fünfzig Meter von der Leiche entfernt Blut entdeckt.«
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»Mein Gott!« flüsterte Brad. »Was für ein entsetzlicher Druck das gewesen sein muß.« »Höllisch muß er gewesen sein, unvorstellbar«, sagte der Inspektor und zog den Vorhang wieder zu. 1.
TASU hatte er die Anlage genannt. Er selbst hatte ihr diesen Namen gegeben. Obwohl sie eigentlich gar keinen Namen nötig hatte. Heute wußte niemand mehr von ihrer Existenz, ihn ausgenommen. Am Anfang der Entwicklung von TASU hatte er kein Geheimnis aus seinen Experimenten mit dieser Einrichtung zur Analyse und Speicherung von Gedanken gemacht. Er hatte sogar vor der Royal Society einen Vortrag darüber gehalten, der auch gedruckt wurde. Seine Experimente waren kein Geheimnis gewesen. Ganz im Gegenteil. Zur Geheimhaltung kam es erst später. Obwohl er mit Eifer allein in seinem Laboratorium arbeitete, war er doch nicht so geworden, wie sich die Leute immer einen versponnenen Wissenschaftler und Professor vorstellen. Weit gefehlt: er liebte die Geselligkeit, traf sich gern mit Leuten und mochte es nicht, wenn man ihn mit Professor oder Doktor anredete. Selbst als ihm vor Jahren der Nobelpreis für seine Arbeiten auf 17
dem Gebiet der reinen Logik überreicht worden war, hatte er darauf bestanden, nur mit Albert Bright angesprochen zu werden. Damals war Brad Minton ein junger Journalist bei der Colossal Press gewesen und seinem Herausgeber mit einem Artikel über den Professor aufgefallen, der auf ein Interview zurückging. Zu dieser Zeit besuchte Lann die Roedean School für Mädchen. Ihr Vater war ein enger Mitarbeiter des Professors gewesen. Schon als Mädchen hatte Lann große Charakterstärke bewiesen. Man könnte versucht sein zu sagen, das Leben habe sie mit diesem Selbstvertrauen ausgestattet, um sie gütig auf jenen dunklen Tag vorzubereiten, an dem die Direktorin sie in ihr Büro bat. Es war der Tag, an dem Lann die Schule verlassen sollte und sie auf ihre Eltern wartete, die sie abholen wollten. »Setz dich, meine Liebe«, sagte die Direktorin. Gewöhnlich durfte man sich in ihrer Anwesenheit nicht setzen. Lann spürte, daß es einer dieser Augenblicke war, und deshalb erschrak sie nicht, als sie die Direktorin sagen hörte: »Ich möchte, daß du jetzt sehr tapfer bist, meine Liebe...« Lann hätte der Direktorin sagen können, daß es weitergehen würde: »Dein Vater und deine Mutter ...«
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»Ja. Ich weiß.« Lann sagte das leise, ohne jede Gefühlsaufwallung, als sei sie plötzlich hellsichtig geworden. »Mein liebes Kind, zu meinem tiefsten Bedauern muß ich dir mitteilen, daß deine Eltern einen Verkehrsunfall hatten und ... und ...« »Tot sind.« Lann sagte es mit ausdrucksloser Stimme. Das erstemal, daß sie dieses Wort auf Menschen angewendet hatte, die ihr nahestanden. Ihre Eltern waren tot. Das traf sie so tief, daß sie fühlte, es in Anwesenheit der Direktorin gar nicht fassen zu können. Die Direktorin war sichtlich nervös geworden, daß die bleiche Lann sich so in der Gewalt hatte. »Woher hast du es gewußt? Wer hat es dir gesagt?« »Niemand. Ich wußte es einfach«, sagte Lann. Professor Bright war dann gekommen und hatte sie von der Schule geholt. Es gab sonst niemanden, der das hätte tun können. In Amerika gab es eine Tante – und die war erfreut zu hören, daß der Professor, der Lanns Taufpate war, das Mädchen zu sich nehmen wollte. Und es traf sich gut, daß damals die Haushälterin des Gelehrten, Mrs. Watson, noch am Leben war. Bald kamen sich die beiden wie Vater und Tochter vor. Bei den ersten Versuchen des Professors mit TASU war Lann das Versuchskaninchen gewesen. Es hatte immer 19
wie ein Spiel ausgesehen, wenn ihr die Elektroden am Kopf befestigt wurden. Sie taten nicht weh, und es machte Spaß, die Muster ihrer Gehirntätigkeit auf dem Oszillographen zu beobachten. Für TASU interessierte sich Lann überhaupt nicht. Sie wußte kaum, daß es die Anlage gab. Damals befand sich sowieso alles noch im Stadium des Experimentierens. Aber die tanzenden, hüpfenden Muster ihres Gehirns, die der Oszillograph festhielt, schlugen sie in einen unbeschreiblichen Bann. Lann konnte nicht begreifen, wieso die Experimente nicht fortgesetzt werden konnten. »Aber ich sehe diese herrlichen Muster so gern«, sagte sie zum Professor, »und die Elektroden tun kein bißchen weh.« »Es ist nicht gut für dich, wenn dein Gehirn auf diese Art angeregt wird, mein Liebes«, log er sie an. Er sah die Experimente nicht als schlecht oder gefährlich für sie an. Wenn sie das gewesen wären, hätte er nie zugelassen, daß sie an ihnen teilnahm. Er wollte sie nicht anlügen, und der Gedanke, die Experimente mit ihr abbrechen zu müssen, gefiel ihm gar nicht. Aber er wußte, daß es nicht zu umgehen war. TASU hatte sich so entschieden. Zuerst hatte er angenommen, daß die gewaltige elektrische Unruhe auf dem Schirm des Oszillographen von 20
Lanns Gehirn verursacht worden war, und das hatte ihm Sorgen bereitet. Doch dann merkte er, daß diese Überlagerung von TASU aus in den Oszillographen und weiter in das Hirn von Lann floß. Aber er war sich sicher, daß Lann keinen Schaden davongetragen hatte. Der ganze Zwischenfall hatte nur zehn Sekunden gedauert, und dann hatte er den Hauptschalter auf »Aus« gestellt. Gott sei Dank schien Lann es vergessen zu haben, und nur darauf kam es jetzt an. Weitere Experimente, die er allein mit TASU angestellt hatte, bestärkten ihn darin, daß Lann nie mehr an ihnen teilnehmen durfte. Ganz offensichtlich hatte sich TASU bemerkbar gemacht. Nicht so klar war, daß die Anlage einem direkten Befehl nicht gehorcht hatte. Es war zu einfach anzunehmen, daß einer der Schaltkreise versagt hatte, nicht so einfach war jedoch, die sechstausend transistorisierten Gedächtniszellen zu überprüfen, die alle eine enorme Anzahl von Prozessen erledigen konnten. Monate würden bei dem Versuch vergehen, das entmutigend komplizierte elektronische System umzubauen. Er hätte es getan, so gewissenhaft wie bei allen seinen Unternehmungen, wenn das Schicksal ihm nicht einen Streich gespielt hätte und die bis dahin unver-
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wüstliche Mrs. Watson nicht ins Krankenhaus gebracht worden wäre, wo sie auf dem Operationstisch starb. Der Professor war lange untröstlich gewesen. Lann war jetzt neunzehn und ohne Aufhebens in die Rolle der Mutter, Tochter, Haushälterin und Sekretärin des großen, gutaussehenden grauhaarigen Wunderkindes von fünfundsechzig Jahren geschlüpft, das von ihr abhängig war. Sie wußte, daß sie sich damit große Verantwortung aufgeladen hatte, doch schien es ihr der Mühe wert. »Ich muß dich aus diesem düsteren, deprimierenden Haus fortbringen.« Das war die erste bedeutende Änderung im Leben des Professors, die sie vorschlug, als Mrs. Watson gestorben war. Lann hatte das große, weitläufige viktorianische Haus in Hampstead von Anfang an nicht gemocht. Sie hatte sich in Regent’s Park eine Wohnung angesehen. »Wäre die nicht besser für uns?« fragte sie. »Du sagst doch immer, daß du in dem Laboratorium in Camden Town nicht genug Platz zum Arbeiten hast.« Kein Zweifel, das Laboratorium in Camden Town war zu klein und zu altmodisch für den Professor. Und es befand sich in einer Gegend, die bald abgerissen und saniert werden sollte.
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»Ja, es wäre richtig, mein Zeug nach Hampstead zu schaffen«, hatte sich der Professor schließlich einverstanden erklärt. »Ich kann hinten am Haus einen neuen Flügel anbauen, um dort das Laboratorium einzurichten, und im Haus kann ich das Übrige lagern. Da ist eine Menge Platz.« »Und was ist mit der Wohnung?« drängte Lann. »Könnten wir uns darüber unterhalten?« »Ja, ja, natürlich, mein Liebes ...« Sie wußte, daß er nicht zugehört hatte. Er war zu sehr damit beschäftigt, auf einem alten Umschlag Grundrisse für das neue Laboratorium zu entwerfen. Lann handelte und nahm die Wohnung, und die Pläne des Professors für das Laboratorium wurden genehmigt. Es sollte an das große Haus in Hampstead angebaut und nach seinen Anweisungen eingerichtet werden. Dann sollte sein geliebtes TASU überführt und aufgebaut werden, damit er wieder an die Arbeit gehen konnte. Die folgenden zwei Jahre verbrachte er, so oft es nur ging, mit der Maschine, veränderte und verbesserte sie, bis sie zum raffiniertesten Werkzeug gedieh, das er sich nur ausdenken konnte. Deshalb konnte er auch nicht annehmen, daß das neu erbaute TASU wieder über die Stränge schlagen würde. Was es aber tat. Ihm wurde
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schnell klar, daß das Werkzeug über einen starken eigenen Willen verfügte. Nun, er hatte das Ding nicht als einen Computer oder ein ähnlich gewöhnliches wissenschaftliches Hilfsgerät entworfen und konnte also auch kaum erwarten, daß es sich als solches verhalten würde. Von Tag zu Tag argwöhnte er mehr, einen Frankenstein zusammengebaut zu haben. Aber damit begab er sich natürlich in die Gefilde der Phantasie. Er war Wissenschaftler, ein moderner Denker, der sich mit greifbaren, mathematisch erfaßbaren Fakten abgab. Wenn er seinem Geist gestattete, auch nur ein wenig ins Reich der Phantasie abzuschweifen, dann würde er den Respekt vor sich selbst verlieren und seine Begabung für die reine Logik aufs Spiel setzen. Aber schließlich verspürte er keine Neigung, von einer Maschine beherrscht zu werden; genau das versuchte TASU nämlich. Er wollte also das Experimentieren eine Zeitlang ruhen lassen. Wo lag der Fehler? Er mußte sich hinsetzen und nachdenken, sich von Anfang an alles durch den Kopf gehen lassen. Na, schön. Er hatte TASU mit seinem Denken programmiert. Im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts war es nicht schwer gewesen, einen Freund und Kollegen, der 24
Gehirnchirurg war, zu überreden, einem klinisch toten Körper ein lebendes Hirn zu entnehmen. Die Verpflanzung von Organen war nichts Neues. Man mußte die Arterie unterhalb des verlängerten Marks und des Kleinhirns an ein künstliches Herz und Blutkonserven anschließen und das Ganze rasch nach Hampstead bringen. Der Spender war ein Unbekannter gewesen. Er hatte sich oft Gedanken über den Menschen gemacht, dem das Gehirn gehört hatte, das er mit einem künstlichen Herzen, Blutkonserven und elektromagnetischen Feldern am Leben erhielt, die er von seinem eigenen Gehirn durch TASU übertragen ließ. Um das zu bewerkstelligen, war er drei Tage und Nächte in seinem Laboratorium geblieben, mit dem Gehirn verbunden, und hatte nur Angst, den Kontakt unterbrechen zu müssen, wenn das Gehirn absterben sollte. Es war wichtig, bei diesem Unternehmen allein zu sein. Er hatte Lann überreden müssen, daß eine Mittelmeerkreuzfahrt zusammen mit seiner Schwester das beste für ihre Gesundheit sei. Lann widersetzte sich natürlich. »Ich kann dich doch nicht allein lassen«, hatte sie gesagt.
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Er versicherte ihr, daß er sich wohl fühle und vor ihrem Eintritt in sein Leben durchaus in der Lage gewesen war, für sich selbst zu sorgen. »Aber damals kümmerte sich Mrs. Watson um dich...« »Mrs. Watson war nicht rund um die Uhr bei mir. Fahr also mit Margaret und mach dir eine schöne Zeit.« Schließlich war sie mit der Reise einverstanden gewesen. Der Professor schloß die Augen und dachte wieder, wie schon so oft, über den Menschen nach, dessen Gehirn er so ungerührt an sich genommen und benutzt hatte, und an das Entsetzen, das er verspürt hatte, als er während jener drei Tage die Stimme in seinem Bewußtsein klingen hörte. »Wir werden mit der Mühle zu Bruch gehen, wenn wir noch tiefer fliegen » hatte sie gesagt. Er streifte die Elektroden ab, die ihn mit dem Gehirn des Mannes verbanden, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Viel hatte das nicht genützt. Er konnte die Stimme noch immer hören. »Mann, Hubschrauber halten auch nicht ewig ... Laß mich mal die Partisanenschweine mit dem MG zum Tanzen bringen«, ging der Alptraum weiter. Dann für einen Augenblick Stille und die traurigen, leidenschaftlichen Worte: »Mein Gott, ich wollte, ich könnte jetzt
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mit Viv schlafen ... Viv, ich mach dir ein Kind ... komm ...« Es war gräßlich gewesen. Er hatte kein Recht, die Geheimnisse eines Gehirns abzuhören, selbst wenn der Körper des Mannes schon tot war. Er hatte Schwierigkeiten gehabt, die Elektroden wieder an seinem Kopf zu befestigen. Wie töricht, sie abzustreifen! Noch nie war ihm in seinem Leben der Schweiß so ausgebrochen, aber er mußte mit dem Gehirn in Verbindung bleiben, oder es würde rasch absterben. Seine Aufgabe hatte darin bestanden, die Gedächtniszellen des Mannes mit seinen eigenen, wichtigen Denkbildern zu prägen. Nichts war ihm so wichtig wie das. »Frederick James Sutton, ich verurteile Sie zu der Höchststrafe, die das Gesetz für dies Verbrechen vorsieht ... Mein Gott, ich wollte, ich würde jetzt mit Viv schlafen ...« Während jener drei Tage hatte er mit aller Kraft versucht, seinen Geist dem Strom von Erinnerungen zu verschließen, der aus dem Gehirn von James Sutton in sein eigenes floß. Er konnte doch das Gehirn nicht sterben lassen. Er brauchte die Gedächtniszellen so dringend. »Die lassen dich morgen raus, Butch?« Er konnte nicht anders, er mußte zuhören. »Besuch meine Frau. Bitte, 27
tu’s, Butch. Sie wohnt in der Field Street 19, gleich hinter der Kilburn High Street. Besuch sie und sag ihr, daß ich sie immer noch mag, obwohl sie mich in den drei Jahren kein einzigesmal besucht hat. Das richtest du ihr doch aus, Butch? Versprich mir’s, Junge...« Wachend und schlafend brachte er die drei Tage zu, war immer mit dem Gehirn verbunden, bevor er schließlich die Elektroden entfernte. Der Schlüssel zum Erfolg im nächsten Abschnitt des Unternehmens hieß Schnelligkeit. Eine astronomisch hohe Zahl der neugeprägten Hirnzellen würde in Sekunden absterben, wenn er sich nicht beeilte. Die Temperatur in dem hermetisch abgeschlossenen Raum stimmte zum Glück, und die Spritze lag auch schon bereit. Er nahm sie, prüfte die Nadel, hielt sie über das Großhirn und führte sie fest und entschlossen ein. Dann hatte er zitternd vor Erregung die Spritze mit Millionen lebender Zellen gefüllt, setzte die Nadel vorsichtig in den Füllstutzen des mikroskopischen Netzwerks, das die künstlichen, metallischen Zellen des Gehirns von TASU miteinander verband. Das Einfüllen und auch das luftdichte Versiegeln mußte schnell, sehr schnell gehen. Ja, auf die Schnelligkeit war es angekommen. Aber er hatte es geschafft – selbst jetzt kam es ihm noch unglaublich vor. 28
Er erinnerte sich, wie erschöpft er gewesen war, als die gefährliche und schwierige Sache erledigt war. Er konnte kaum noch aus den Augen sehen, als er die schwächer werdenden letzten Lebensäußerungen des Gehirnes dieses Mannes beobachtete. Und dann war Frederick James Sutton ohne jeden Zweifel tot. Das neue TASU jedoch war geboren. Es hatte keinen Sinn. Er mußte wieder an die Gegenwart denken. Aber da gab es noch eine sehr wichtige Erinnerung, bevor er das tun konnte. Es hatte geregnet. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen. Wieso war er auf der Straße? Er konnte sich nicht erinnern, das Laboratorium verlassen zu haben. Aber er befand sich auf der regennassen Straße und winkte einem Taxi. »Field Street neunzehn, gleich hinter der Kilburn High Street«, hatte er automatisch gesagt, als der Wagen neben ihm anhielt. »Geht nicht«, hatte der Taxifahrer gesagt. »Die Field Street gibt’s nicht mehr – letztes Jahr unter einem häßlichen Betonklotz verschwunden. Tut mir leid, Mann. Sonstwohin?« »Nein.« Wo sollte er hin, außer zurück in sein Laboratorium?
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Ja, TASU hatte die geprägten Gedächtniszellen von Frederick James Sutton angenommen, sogar bereitwilliger, als er erwartet hatte. Vielleicht zu bereitwillig – die Vorstellung eines Frankenstein wollte ihm nicht aus dem Kopf. Lann war von der Kreuzfahrt zurückgekehrt. Das freute ihn. Er hatte einen guten Grund, dem Laboratorium den Rücken zu kehren, ohne die üblichen Schuldgefühle zu entwickeln. Er brauchte dringend eine Ruhepause und hatte sich entschlossen, eine einzulegen. Zum erstenmal seit Jahren hatte er sein Laboratorium im Stich gelassen. Er wollte sich nur noch vor dem Feuer im Kamin seiner Wohnung entspannen. Ja, in so einem Feuer war Leben, und es dauerte nicht lange, bis er Gefallen daran fand. Deshalb störte ihn auch das Läuten des Telefons so sehr. »Es ist Mrs. Roberts«, sagte Lann und sah ihn fragend an. »Sie sagt, es sei sehr wichtig.« Mrs. Roberts war die Reinmachefrau, die abwechselnd die Wohnung und das Haus in Hampstead säuberte. Er nahm Lann den Hörer ab und sagte: »Ich gab doch Anweisung, nicht angerufen zu werden...« »Tut mir leid, Sir, aber Sie müssen sofort zum Haus kommen.« »Was gibt’s, Mrs. Roberts? Können Sie es mir nicht sagen, ohne daß ich hinkommen muß?« 30
»Ich kann am Telefon nicht darüber reden, Sir. Hier ist etwas passiert.« Das Haus sah unbeschreiblich aus. Er war nur zwei Tage fort gewesen, und im Hauptbau herrschte ein Chaos. »Sie sagen, Sie können nichts entdecken, was auf einen Einbruch schließen läßt?« fragte er Mrs. Roberts. »Nichts, Sir. Ich machte das Haus wie gewöhnlich auf und fand diese Unordnung vor.« »Sind Sie ganz sicher, daß nicht eingebrochen wurde?« drängte der Professor. »Ich könnte mir denken«, meinte Mrs. Roberts nervös, »daß es hier nichts gibt, was jemanden anlocken würde. Ich meine, einen Außenstehenden, meine ich ...« Bei dem Blick, den ihr der Professor zuwarf, verhaspelte sie sich. »Sollen wir nicht die Polizei rufen, jetzt, wo Sie da sind, Sir?« »Nein, die blöde Polizei brauchen wir nicht«, sagte der Professor barsch. Zu zweit räumten sie auf, und Mrs. Roberts ging. Sobald er allein war, öffnete er die schwere Tresortür aus Blei, die zu dem Anbau mit dem Laboratorium führte. Sie war in Ordnung und abgeschlossen, und er brauchte seine Einbildungskraft kaum anzustrengen, um zu erraten, daß TASU in seiner Abwesenheit so viel Energie gesammelt hatte, daß es außer Rand und Band 31
geraten war. Nun, er hatte es zu lange sich selbst überlassen. Eines war auf jeden Fall sicher. Mrs. Roberts durfte das Haus in Hampstead nicht mehr betreten. Es durfte nur ihm zugänglich sein. Kaum hatte er das Laboratorium betreten, da schlug ihm die angesammelte Energie wie die Hitze aus einem Hochofen entgegen. Und dann suchte er in seinem Verstand verzweifelt nach einer Erklärung für das Durcheinander. War ein positiver Kern zufällig mit negativen Elektronen verschmolzen und dadurch eine Kettenreaktion neutraler Atome eingeleitet worden? Möglich. Doch handelte es sich eher um etwas, an das er schon seit geraumer Zeit gedacht, vor dem er sich heimlich gefürchtet hatte, aber das er doch wie unter einem Zwang hatte tun müssen. Trotz dieser Überlegungen hatte er sich gegen den Gedanken gesträubt, daß er eine Anlage geschaffen hatte, die selbständig denken konnte. Und jetzt mußte er sich gestehen, daß er genau das getan hatte. Er hätte geistig auf Schocks vorbereitet sein müssen, war es aber nicht. Deshalb war er auch überhaupt nicht auf den Schock vorbereitet, plötzlich emporgerissen und gegen die Stahlwand des Laboratoriums geschleudert zu werden. Dort hing er jetzt, gekreuzigt wie ein frühchristlicher Märtyrer. Aber trotz der ungewöhnlichen und 32
unwürdigen Lage, in der er sich befand, fühlte er sich zu seinem Erstaunen doch nicht unwohl. Ganz im Gegenteil. Er fühlte sich merkwürdig behaglich, als werde er von einem Luftstrom getragen. Die fürchterliche Kraft war von TASU selbst ausgegangen. Das war ihm ganz klar. Sie war überall, füllte wie eine Wolke das Laboratorium. Das Bemerkenswerteste war, daß sein Geist plötzlich auf eine völlig neue Art arbeitete. Mit strahlender Helligkeit ging ihm auf, daß seine Gedanken größer und genauer waren als je zuvor. Er hatte das Gefühl, von einer lebendigen Wand aus Gedanken umgeben zu sein, von nichts als Gedanken, herrlichen Gedanken, vergrößerten Gedanken, verstärkten Gedanken, die über alle menschliche Vorstellungskraft hinaus deutlich waren. Das Verblüffende war, daß sich TASU mit ihm verständigte. Er hatte keine Ahnung, wie das sein konnte, aber dem war so, und er verstand jede Wendung, die die Sprache der Anlage nahm. Er bekam Anweisungen, wie er in die schwärzesten Tiefen und Anfänge des Denkens tauchen könne, und das mit der unerklärlichen Unterscheidungskraft eines Radioteleskops. Und er mußte sich dabei nur an die Wand geheftet zurücklegen, während dies riesige Wissen immerfort in ihn einströmte. 33
Die Denkkraft allein konnte also die Welt verändern! Die Kraft des Denkens war allmächtig. Das Denken war göttlich, erhob sich über das menschliche Leid, wurde nicht von menschlichen Schwächen wie Liebe und Mitleid herabgezogen! Das Denken konnte also ungeheure zerstörerische Kraft dem gegenüber entfalten, was sich ihm auf dem Gang zu seinem unerbittlich endgültigen Ziel, der Gerechtigkeit, in den Weg stellte. Diese Gesichtspunkte wurden ihm nachdrücklichst eingehämmert. Wie konnte Gerechtigkeit erreicht werden, fragte der Professor. Durch Angst und Schrecken, wenn es sein muß. Bei solcher Logik ließ er sich auf keinen Streit ein. Er hätte es tun sollen, wenn auch nur deshalb, weil dies alles seinen normalen Vorstellungen so völlig fremd war. Er tat es jedoch nicht, einzig aus dem Grund, weil er sich waagerecht durch die Luft bewegte und sein ganzer Körper in einem köstlichen Zustand der Euphorie war. Dann wurde er auf seine Couch zur Ruhe gelegt. Er lag dort mit geschlossenen Augen und wartete. Er hatte keine Ahnung, worauf er wartete. Und als es soweit war, schlug über ihm eine Woge von Energie so zusammen, daß alles, aber auch alles ausgelöscht wurde.
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Aufregend schnell schoß aus dem Äther ein Strahl klaren weißen Lichts auf ihn zu, der sein Hirn durchdrang und es in sich zusammenbrechen ließ. Und er war kein Mensch mehr, hatte keinen Leib mehr. Er war eine Ansammlung schwingender Denkkraft, ein wunderbares Seh- und Hörgerät, das an das Leben selbst angeschlossen war – oder war es TASU? Nun, das war eigentlich gleichgültig. Wichtiger als alles andere war, daß er Menschen und Ereignisse sah, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Er sah die Menschheit in einem Licht, unter dem er sie noch nie erblickt hatte. Aber traurig genug sah er sie mit den Augen einer Maschine, die in ihm und unvorstellbarerweise bar jeder Menschlichkeit war. Und ein Haß auf die Menschheit erwachte in ihm, der alles auslöschte. Ihm war es egal, daß dadurch all seine Prinzipien, all das, wofür er ein Leben lang gearbeitet hatte, verworfen wurden. Er spürte nur einen entsetzlichen, unmenschlichen, verzehrenden Haß auf die Menschheit, auf den Menschen, der seine Umwelt zu einem Abfallhaufen werden ließ, auf den Menschen, der sein Gehirn mißbrauchte und Streit schuf, auf den Menschen, der für den Haß verantwortlich war, den er jetzt spürte. TASU überschwemmte sein Hirn mit seiner ihm eigenen fürchterlichen Logik. Mach reinen Tisch auf der 35
Welt! Fang von vorn an! Beinahe ein Schrei. Sein Sehen wurde ausgefüllt von einem unendlichen Kaleidoskop von Gesichtern. Bei all diesen Gesichtern, den zahllosen Schauplätzen, wo sollte er beginnen mit der Reinigung? Es war egal, wo. Die Menschheit sollte gewarnt werden! Die Menschheit sollte die schreckliche Gewalt des Gedankens kennenlernen. Das Zeitalter der Vernunft und der Gerechtigkeit sollte durch Ausmerzen anbrechen. »Wie ihr sät, so werdet ihr ernten«, rief er aus Leibeskräften. Er sah, wie auf irgendeinem Platz in einer Stadt ein undefinierbares menschliches Wesen ziellos herumwanderte, und er hörte schwach das Wort »Sunderland« – und dann, als ob er einen Atomblitz losließe, spürte er, wie er den elenden Kerl mit dem Daumen ins Nichts drückte. Dann Schwärze, ein leeres Grabesnichts. Er öffnete die Augen. Er lag auf dem Rücken. Wo war er? Aus irgendeinem Grund fiel es ihm schwer, sich aufzurichten. Wie kam er überhaupt auf die Couch in seinem Labor? Sein erster Gedanke war, er müsse so etwas wie einen Herzanfall gehabt haben. Er war genau in dem Alter, wo so etwas passieren konnte. Er hatte sich übernommen. Und das Kopfweh – mein Gott! 36
Was war geschehen, seit er ins Labor gekommen war? Bis dahin war ihm alles klar. Er warf einen Blick auf TASU. Das rote Licht brannte. Anscheinend war alles in Ordnung. Er war zu müde, um nachdenken zu können, kam von der Couch hoch, fuhr sich mit den Fingern durch das dichte, graue Haar, zog die Krawatte zurecht und schickte sich an, in seine Wohnung zurückzukehren. 2.
Der Bericht war ein besonderer Knüller gewesen. Die einzige Zeitung im Land, die ein Foto des flachgepreßten Mannes brachte, das einzige Blatt, das alle Einzelheiten berichtete, das einzige, das exklusiv ein Interview mit Inspektor Southam von Scotland Yard druckte. Brad war bald nach London zurückgefahren, und als er sich am nächsten Morgen mit dem Elektrorasierer die Bartstoppeln abnahm, wußte er, daß er in diesem erstaunlichsten und unangenehmsten Fall seiner Laufbahn zumindest seine Rolle gut gespielt hatte. Er blickte auf die Uhr, schaltete den Rasierapparat aus und stellte das Radio ein. Gerade rechtzeitig, um noch die Acht-Uhr-Nachrichten zu hören.
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»In Zusammenhang mit dem Mann, der flachgepreßt aufgefunden wurde, haben sich neue Gesichtspunkte ergeben«, tönte es aus dem Apparat. »Eben erreicht uns die Meldung, daß ein zweiter flachgepreßter Mensch entdeckt wurde, diesmal eingepreßt in einen der steinzeitlichen Pfeiler von Stonehenge... Und wie im Fall Sunderland konnte das Opfer noch nicht identifiziert werden. Weitere Einzelheiten werden wir Ihnen in unserer nächsten Nachrichtensendung...« Brad setzte sich auf sein Bett. »Mein Gott!« sagte er leise. »Was geht nur plötzlich vor?« Verdammtes Telefon! Bevor er noch abgehoben hatte, wußte er schon, wer da anrief, und brachte den Hörer vorsichtig in die Nähe eines seiner Ohren. »Zum Teufel, wieso sind Sie nicht in Stonehenge, Brad?« bellte ihn die Stimme von Oldham an, der offenbar von seinem Schlafzimmer aus anrief. Brad legte ärgerlich auf. Für Chris Oldham gab es keine welterschütternden Geheimnisse, sondern nur Neuigkeiten. Er hatte sich nicht einmal für den Knüller bedankt. »Tut mir leid, Sir, ich kann Sie nicht reinlassen.« Brad zeigte dem bärtigen Wachtmeister seinen Presseausweis. »Zu den Steinkreisen dürfen nur Leute vom Gericht.«
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»Wird die Presse später eingelassen werden?« fragte Brad. »Kann ich Ihnen nicht sagen, Sir, aber ich empfehle Ihnen, inzwischen in dem Bereich für besondere Besucher und Presse zu warten.« In der Ferne konnte er den Riesenstein sehen, der mit einer Plane bedeckt war und in den der Mensch gepreßt worden war, den die ganze Welt sehen wollte. Die Größe der Menschenmenge, die sich hier versammelt hatte, ließ deutlich erkennen, daß man begriffen hatte, daß etwas Unheimliches geschehen war und daß man es nicht mit einem gewöhnlichen Mord zu tun hatte. Er ging zum abgegrenzten Bereich hinüber und konnte von dort aus sehen, daß der Parkplatz schon voll war und der Verkehr aus Richtung Salisbury immer dichter wurde. Eine Gruppe von ehemaligen Hippies, die Mönche geworden waren, lief mit Spruchbändern umher, auf denen »Die Wissenschaft kann die westliche Welt nicht mehr retten« stand. Der bärtige Anführer rief: »Tut jetzt Buße! Das Ende ist nah!« Brad war von einem Pressefotografen von Salisbury hergefahren worden, der von der Massenhysterie ergriffen worden war. Er war einfach in der Menge verschwunden, und Brad stand ohne Fahrzeug da.
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Die übereifrigen Fernsehleute, die Menschenmassen, die Schreie nach religiöser Erweckung machten Brad langsam nervös. Er wollte nach Salisbury zurück. Dort gab es für ihn vielleicht mehr zu tun. »Was halten Sie von dem Ganzen?« Er drehte sich rasch um und sah sich den Mann genau an, der auf den verhüllten Stein zeigte. »Meine Güte – Dr. Bright!« Brad erkannte den Mann sofort an seinem dichten grauen Haar. »Wir sind uns schon einmal begegnet.« Er erinnerte den Professor an seinen Artikel über ihn. »Einen Augenblick. Sie sind doch nicht etwa... Brad Minton?« »Genau.« Der Professor hob die Stimme, um sich bei dem wachsenden Lärm verständlich zu machen. »Ein prachtvolles Beispiel von Massenhysterie«, sagte er. »Wie ich eben fragte, haben Sie sich schon eigene Gedanken zu dem außerordentlichen Vorfall gemacht?« »Ich denke, daß Sie eher der Mann wären, der Gedanken dazu äußern könnte, Professor.« »Ach, ich weiß nicht. Ich habe mir immer eingebildet, Schriftsteller hätten eine reichere Phantasie als Wissenschaftler.«
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»Ich bin kein Schriftsteller«, stellte Brad richtig. »Ich bin nur einfacher Journalist, und im Augenblick fällt mir gar nichts ein. Ich habe keine Fahrmöglichkeit nach Salisbury mehr und weiß nicht, wie ich von hier wegkommen soll.« »Ich fühle mich hier auch nicht wohl. Das Innenministerium bat mich, zu helfen. Jetzt bin ich hier, doch die Polizei läßt mich nicht an das Ding heran.« »Ich habe hier bei der Polizei auch nicht viel ausrichten können. Der Inspektor Southam in Sunderland war mehr für Zusammenarbeit. Gott sei Dank will er im Lauf des Tages herkommen, um eine Pressekonferenz abzuhalten.« »Schön, vielleicht kommen wir dann weiter. Inspektor Southam war meinem Freund, Sir Robert Keithley, eine große Hilfe. Wie Sie wissen, hat dieser in Newcastle eine Anlage, mit der Atomstrukturen analysiert werden können.« Brad wußte es. Inspektor Southam hatte ihm davon erzählt. Der Professor sah sich völlig verwirrt um. Dann sagte er: »Dort oben gab es zunächst auch keine Zusammenarbeit zwischen der Polizei und den Wissenschaftlern. Wenn
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Inspektor Southam nicht gewesen wäre, hätte Sir Robert nichts tun können.« Brad bat den Professor, es ihm zu erzählen. »Sir Robert wollte sich die Plastikleiche ausleihen, sie nach Newcastle bringen, um sie zu analysieren.« »Die Polizei hat sich selbstverständlich geweigert?« »Natürlich. Dann tauchte Inspektor Southam auf und schlug vor, daß sich Sir Robert doch ein Stückchen abschneiden solle.« »Was kam bei der Analyse heraus?« »Zunächst einmal stellte sich heraus, daß es mit der Anlage sehr einfach war, den Druck zu bestimmen, der nötig gewesen war, die Leiche in diese schauerliche Plastikmasse zu verwandeln. Sir Robert drückte es so aus: der Druck war etwa so groß, wie wenn man das Empire State Building auf eine Katze stellen würde.« Brad lachte. »Drastisch, aber sehr eindrucksvoll gesagt.« »Keithley hat es dann auch noch anders gesagt«, meinte der Professor. »Die Hitze, die durch den Druck entstand, war groß genug, um damit soviel Strom erzeugen zu können, wie eine mittlere Großstadt in drei Sekunden verbraucht.« »Auch nicht schlecht.« Der Professor teilte Brad mit, daß ihn Sir Robert Keithley gebeten hatte, ein Stückchen vom Stonehengemen42
schen zu ergattern, um es mit der Probe aus Sunderland vergleichen zu können. Und bis jetzt hatte er nichts erreicht. Brad meinte, das wäre vielleicht möglich, wenn Inspektor Southam in Salisbury einträfe. »Ganz sicher«, stimmte der Professor zu. Ob Brad sich nicht bei dem Polizisten für ihn verwenden könnte, da er ihn ja schon kenne? Brad versprach, es zu versuchen. »Trollen wir uns«, sagte der Professor unvermittelt. »Lann kann uns beide zurückfahren.« »Lann?« »Meine Adoptivtochter. Vor ein paar Minuten war sie noch hier. Sie ist zum Wagen zurückgegangen.« Sie kämpften sich durch die Menge und schritten dann schnell und wortlos über den Parkplatz zum Auto. »Schnell, einsteigen«, sagte Lann und machte vom Fahrersitz aus die Türen auf. Der Professor stieg hinten ein. »Das hier ist Lann -wir haben keine Zeit, Höflichkeiten auszutauschen«, sagte der Professor. Die junge Frau ließ den Motor aufheulen und fuhr los. »Das ist Mr. Minton.« »Ich habe Ihren Bericht über Sunderland gelesen«, sagte Lann und behielt dabei angestrengt den dichten Gegenverkehr im Auge. »Ich muß schon sagen, da haben Sie 43
ein paar saftige Einzelheiten aufgetischt. Bedrückt es Sie nicht ein wenig, daß Sie zu der Hysterie heute mit beigetragen haben?« »Ich werde dafür bezahlt, die Öffentlichkeit zu unterrichten.« Brad spürte, daß er sich verteidigen müßte, war aber zu erschöpft, um sich in ein Streitgespräch einlassen zu wollen. »Tut mir leid, Mr. Minton«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht kritisieren. Ich bewundere sonst Ihre Arbeiten. Und Sie zeigten wenigstens Mitleid mit dem Opfer. Die meisten Journalisten lassen sich so von den Tatsachen gefangennehmen, daß sie gewöhnlich die armen Teufel von Opfer vergessen.« »Es ist nicht leicht«, sagte Brad, »ein Opfer zu vergessen, das unter so schrecklichen Umständen starb.« Der Professor lehnte sich vor und klopfte Brad auf die Schulter. »Was wollen Sie über die Sache hier schreiben?« »Da man mich nicht wie Sie durch die Absperrung ließ, kann ich im Augenblick nichts sagen, fürchte ich. Ich befasse mich nur mit Tatsachen, nicht mit Vermutungen.« »Eins steht fest«, meinte Lann, »und das drängt alles andere in den Hintergrund, daß nämlich beide Opfer offenbar nicht zu identifizieren sind. Das erscheint mir so
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gräßlich, daß ich gar nicht darüber nachdenken möchte.« Nach dem entmutigenden Besuch in Stonehenge verdankte Brad es Lann, daß er sich ein bißchen entspannen konnte, obwohl ihr klassisch schönes Gesicht deutlich ihre innere Verwirrung widerspiegelte. Das bedeutete doch, sagte er sich, daß sie Herz hatte. Laut sagte er: »In Sunderland sah ich nur eine einzige, zusammengeschmolzene, undefinierbare Masse.« Fieberhaft überlegte er, wie er das Thema wechseln könne. »Das kommt von der enormen Hitze, die bei dem Druck entsteht.« Der Professor hörte sich an, als sei er in ein Selbstgespräch vertieft. »Da würde alles zu einer einzigen Masse verschmelzen.« Für einen Augenblick herrschte peinliches Schweigen. Lann fuhr jetzt sehr schnell. Sie war eine gute Fahrerin, und der Verkehr hatte nachgelassen. Brad war froh, durch einen Blick auf ihre Beine, die sie ungeniert zeigte, abgelenkt zu werden. Schlank und wohlgeformt waren sie. Die Fahrt nach Salisbury war wie im Flug vorbei, war Brad zu schnell gegangen, und es war irgendwie eine Enttäuschung, allein vor dem Hotel zu stehen, dem Wagen nachzuwinken und die junge Frau so aus seinem Leben verschwinden zu sehen. 45
Er blieb eine Weile am Straßenrand stehen. Wieso war er nicht auf Draht gewesen? Er wollte doch nur ein hübsches Mädchen fragen, ob es später am Nachmittag Lust hätte, mit ihm bei der alten Kathedrale am Fluß spazierenzugehen. Er ging in sein Hotel. Was war mit ihm los? Sonst dachte er über Frauen nicht so lange nach. Meistens ging er den Frauen, die ihm in seinem Beruf begegneten, aus dem Weg. Freilich nicht immer ... Er würde herausbekommen, wo sie abgestiegen war, und sie anrufen. Nichts leichter als das. War es aber nicht. Er konnte sich seine Befangenheit nicht erklären. Warum ausgerechnet in der Hotelhalle herumsitzen, bis man mutig genug war, sie anzurufen? Er sah rasch auf die Uhr. Er mußte schon seit zwanzig Minuten dasitzen und gedankenverloren Zeit vertrödelt haben. Worauf wartete er denn? In der Halle gab es ein Telefon. Er brauchte zehn Minuten, bis er ihr Hotel ausfindig gemacht hatte, und dann sprach er mit ihr. »Hallo«, sagte er. Diese verdammte Befangenheit! Es wäre ihm jetzt leichtgefallen, gleich wieder aufzulegen. Tat er aber nicht. Warum sich solche Mühe mit ihrem Hotel machen, und auflegen, sobald er ihre Stimme hörte? 46
»Brad Minton...?« »Nett, daß Sie sich melden. Ich hatte Ihren Anruf schon erwartet.« »Erwartet?« »Sie ließen ein Notizbuch in meinem Wagen liegen. Ich dachte, Sie machten das, um eine Entschuldigung zu haben, mich in meinem Hotel anzurufen.« Lann wollte ihm nicht aus dem Kopf, als er am nächsten Tag zur Pressekonferenz der Polizei ging. Was ihn verblüffte, war, daß er sich am Vortag zweimal mit ihr getroffen hatte und heute zum Mittagessen, aber auch der Zufall, Professor Bright getroffen zu haben. Erstaunliche vierundzwanzig Stunden. »Können Sie mir sagen, ob sich die Fälle Stonehenge und Sunderland unterscheiden?« fragte Brad und hob die Hand, um den Inspektor auf sich aufmerksam zu machen. »Überhaupt nicht«, sagte Inspektor Southam und faßte Brad geschäftsmäßig ins Auge. Der Inspektor hatte die Presse hastig zusammentrommeln lassen. Wenn man ihn ansah, kam man nicht auf den Gedanken, daß er die letzte Nacht nur drei Stunden geschlafen hatte und erst vor ein paar Stunden von Sunderland in einem klapprigen alten Polizeihubschrauber nach Salisbury geflogen war.
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»Haben Sie schon Hinweise, Inspektor, um wen es sich bei dem Opfer gehandelt haben könnte?« fragte ein besonders vorlauter Reporter, den Brad flüchtig kannte. »Überhaupt keine, wie ich leider zugeben muß.« »Und enthält die Polizei auch ganz sicher der Öffentlichkeit nichts vor?« Das klang reichlich unverfroren. »Nein, ganz und gar nicht. Ich will jede Frage beantworten, so gut ich kann.« »Haben Sie sich Gedanken über die Massenhysterie gemacht, die heute in Stonehenge auftrat?« fragte ein anderer Reporter. »Glauben Sie, daß sie weiter um sich greifen wird?« »Wir haben uns eine Menge Gedanken darüber gemacht, und wir hoffen, daß sich der gesunde Menschenverstand durchsetzen und die Massenhysterie sich legen wird.« »Glauben Sie, daß es noch mehr Fälle von flachgedrückten Menschen geben wird?« kam eine Stimme aus dem Hintergrund. »Das ist genau die Frage, die sich jetzt die ganze Welt stellt«, sagte der Inspektor. »Und die Antwort darauf ist der Grund, warum ich Sie zu dieser Pressekonferenz einlud.« Er sah sich in dem Saal um und sagte dann mit klarer, ruhiger Stimme: »Meine Damen und Herren von
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der Presse, ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, daß es zu weiteren solchen Fällen kommen könnte.« Brad war nach dieser Äußerung auf einiges gefaßt gewesen, nicht aber auf den Höllenspektakel, der losbrach. »Heraus damit! Sie haben uns an der Nase herumgeführt! Typisch Polizei!« Brad konnte nur die würdevolle Ruhe bewundern, mit der Southam abwartete, bis sich der Lärm gelegt hatte. Dann hörte man eine dünne Stimme rufen: »Woher wollen Sie das wissen? Wieder das übliche Herumrätseln der Polizei?« »Kein Herumrätseln. Ich weiß es«, sagte der Inspektor ruhig. »Und zwar, weil es mir gesagt wurde.« Die Reporter packte wieder die Unrast. »Na los! Was soll die Geheimniskrämerei?« »Setzt euch!« Brad war aufgesprungen und legte aus vollem Hals los. »Benehmt euch endlich wie Erwachsene!« »Danke, meine Damen und Herren«, sagte der Inspektor, als wieder Ruhe eingekehrt war. »Ich habe hier ein Tonband mit der Botschaft eines Unbekannten, der sie vorgestern nacht auf meinen automatischen Anrufbeantworter überspielte.« Er öffnete den Deckel eines Tonbandgeräts auf dem Tisch. »Die Polizei«, sagte er und schaltete das Gerät ein, »nimmt diese Botschaft ernst.« Die Spulen drehten sich,
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das Rauschen wurde lauter, und dann war die leicht verzerrte Stimme eines Mannes zu hören. »Inspektor Southam«, sagte der unbekannte Anrufer, »für Sie und viele andere jetzt lebende Menschen kann das letzte Stündlein geschlagen haben.« Eine Welle der Skepsis wogte durch den Saal. Der Inspektor schaltete das Gerät ab. »Bevor ich es weiterlaufen lasse«, sagte er, »möchte ich Ihnen noch sagen, daß diese Botschaft vorgestern nacht in Sunderland aufgenommen wurde, noch bevor man den Fall Stonehenge entdeckte.« Er ließ das Tonband weiterlaufen. »Weder die Polizei«, fuhr die Stimme fort, »noch sonst jemand wird etwas gegen die Kraft unternehmen können. Alle, die sich ihr in den Weg stellen, werden vernichtet. Der Mann in Sunderland war ohne jede Bedeutung für die Welt. Sie können ihn den Unbekannten nennen – die Warnung. Die Kraft wird noch weitere Beweise ihrer Macht antreten. Noch viele, Bekannte wie Unbekannte, werden sterben müssen, bis sich die Menschheit bereit erklären wird, sich durch die Verfolgung derer zu reinigen, die die Welt durch ihr übles Tun und ihre Ungerechtigkeit verderben. Sie müssen vernichtet werden. Bis dahin werden Schuldige und Unschuldige gleichermaßen zittern.«
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Für einen Augenblick herrschte ungemütliches Schweigen. Der vorlaute Reporter brach es. »Inspektor«, rief er, »Sie nehmen diesen Quatsch auf dem Tonband doch sicher nicht ernst? Die ganze Menschheit bedrohen! Jeder Idiot kann sehen, daß uns jemand einen Streich spielen will.« »Inspektor«, rief Brad und machte dem anderen Reporter Zeichen, er solle schweigen, »was halten Sie persönlich von dieser Botschaft, und was wollen Sie jetzt tun?« »Was ich davon halte, ist meine private Ansicht, und ich halte es nicht für richtig, sie der Öffentlichkeit mitzuteilen. Aber ich möchte, daß alle wissen, daß ich die Drohung, die in der Botschaft gegen mich ausgestoßen wird, nicht beachten und mir keine Ruhe gönnen werde, bis ich nicht diese üble Kraft ausgeschaltet habe. Das ist meine Antwort darauf.« Es gibt Gelegenheiten, bei denen eine Menschenmenge ohne Vorwarnung plötzlich in Bewegung gerät. So war es jetzt, als sich der Inspektor wieder gesetzt hatte. Die zweihundert Journalisten drängten zu den Türen und schlugen sich um die zwei Telefonzellen, die draußen im Gang standen. Brad ging zum Inspektor. Außer ihnen war niemand mehr im Saal.
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»Mr. Minton.« Der Polizeioffizier war offensichtlich angenehm überrascht, ihn wiederzusehen. »Ihren Kollegen entgeht durch ihre Ungeduld der beste Teil der Show. Kommen Sie.« Sie gingen in den Hauptsaal hinüber. »Trinken wir rasch etwas.« Der Inspektor führte ihn zu einem langen Tisch, auf dem eine Menge Flaschen und Gläser aufgebaut waren. »Alles frei. Bedienen Sie sich, Mr. Minton.« Brad nahm ein Glas, schenkte Scotch ein und blickte sich in dem Saal um. Die Atmosphäre war wie die bei einem Treffen der UNESCO. Kleine Gruppen von Wissenschaftlern unterhielten sich angeregt, unter ihnen Deutsche, Japaner und Amerikaner, während sie mit erstaunten Blicken eine Plastikmasse betrachteten, die zwischen zwei großen Glasplatten aufbewahrt wurde. »Das zweite Opfer?« fragte Brad. »Und die Schlauköpfe haben sich auch alle versammelt.« »Schlechte Neuigkeiten sprechen sich mit Flugzeuggeschwindigkeit herum.«Der lnspektor schenkte ihm nach. Brad sah drüben Professor Bright stehen. Er rief ihn her und stellte die beiden Männer einander vor. Nun, das war erledigt. Jetzt kam es auf den Professor an. »Ich lasse Sie jetzt mit dem Inspektor allein, Professor«, sagte er. »Dann können Sie Ihr Anliegen vorbringen.«
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Er ging zu den Glasscheiben, warf einen langen Blick auf das unbekannte Opfer und verließ das Gebäude. Es war leicht gewesen, den Bericht zu schreiben und durchzugeben. Es gab einiges zu beschreiben, und zum Teil war es sogar eine Erstmeldung, Gott sei Dank. Er war heute der einzige Journalist, der das Opfer von Stonehenge mit eigenen Augen gesehen hatte. Der Nachmittag neigte sich. Lann wartete in ihrer Hotelhalle auf ihn. Sie war eben vom Bahnhof zurückgekehrt, wohin sie ihren Vater begleitet hatte, der den Zug nach Newcastle erreichen wollte. Sie sollte einstweilen in Salisbury die Stellung halten. Der alte Mann hatte seinen Schnipsel also bekommen, dachte Brad. Er bemerkte, daß sie die Abendausgabe seiner Zeitung in der Hand hielt. »Es kommt mir so schrecklich vor«, sagte sie und zeigte ihm das Blatt. »Und gedruckt sieht es immer noch schrecklicher aus. Warum muß man bei den Schlagzeilen immer auf der Panikmasche herumreiten? Schau nur – ,DIE WARNUNG! SENSATION UM DEN PLASTIKMENSCHEN’.« Sie fanden zwei Sessel und setzten sich.
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»Hör mal, Lann«, sagte Brad, »zu dem ganzen trage ich nur meine Reportage bei. Ich will keinen Aufruhr anzetteln. Die Schlagzeilen stammen nicht von mir.« »Das weiß ich. Du machst nur deine Arbeit«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Arm. Sie kam ihm heute erwachsener vor, wirkte älter als ihre vierundzwanzig Jahre, was ihm ein Trost war. Als sie dann später zusammen gegessen hatten, ließ Lann die Bombe hochgehen. »Warum fahren wir nicht nach Stonehenge hinaus, wenn wir hier fertig sind?« sagte sie. Brad blickte auf. Er fragte sich, ob er richtig gehört hatte. »Stonehenge?« fragte er. »Ja, warum nicht?« »Keine gute Idee, am Abend noch ...« »Aber, Brad.« Sie ließ sich nicht aufhalten, »warum sollte das keine gute Idee sein? Wir sind doch erwachsen.« »Ich glaube, wir bleiben lieber hier sitzen, trinken etwas und unterhalten uns.« Er sah, daß etwas Unwiderstehliches sie gepackt hatte, daß sie nach Stonehenge fahren mußte, und er wurde unruhig. Sie hatten nicht viel getrunken. Darauf konnte er es also nicht schieben. Sie wollte einfach ins Auto steigen und hinfahren. »Vielleicht dumm von mir«, sagte sie, »aber ich kann es nicht definieren. Wenigstens 54
könnten wir uns die Plane ansehen, ohne dabei zertrampelt zu werden.« Schließlich war Brad einverstanden, aber nicht gerade begeistert. Er fürchtete, daß die Polizei eine Wache zurückgelassen hatte, und ihr Besuch nicht willkommen sein würde. Während sie den Wagen in der Nähe der großen Steinringe zum Halten brachte, berührte die Sonne eben den Horizont und war zu einer riesigen roten Scheibe geworden. Überraschenderweise hielt sich hier niemand auf. Kein Wachtposten. Schließlich gab es hier nichts mehr zu bewachen, überlegte Brad. Lann öffnete die Tür, sprang hinaus und schritt rasch und wortlos auf die hohen Steinblöcke zu. Er stieg auch aus und trat neben sie, als sie bei der geschmacklosen Drahtumzäunung stehen bleiben mußten. Sie sprachen nicht, während sie zu der Plane hinüberblickten, die im leichten Abendwind hin und her schlug. Brad wußte nicht, warum die Polizei sie zurückgelassen hatte, nachdem die Leiche entfernt worden war. Er tastete nach Lanns Hand und versuchte, sie mit sich zu ziehen, aber sie blieb wie angewurzelt stehen, als warte sie auf etwas. Wieder versuchte er, sie zum Gehen zu bewegen, war überzeugt, daß sie sich in etwas hineinsteigerte. 55
Er wandte sich ihr zu, um sie zum Wagen zurückzudrängen, als ihr Gesicht sich rot verfärbte. Zuerst dachte er, es sei der Schein der sinkenden Sonne, doch dann sah er zu seinem Entsetzen, daß ihr Gesicht von einer roten Flüssigkeit bespritzt wurde, die von dem Steinpfeiler floß, der ihnen am nächsten war, und daß auch er davon getroffen wurde. Er war fassungslos. »Mein Gott!« keuchte er, »Blut!« Sie verstand zunächst nicht, doch als sie sah, wie es rot über ihre weiße Bluse lief, fing sie hysterisch zu schreien an. Da begriff er entgeistert, daß wieder einer dieser grauenhaften Morde geschah. Wieder wurde ein Mensch zu Tode gequetscht, und er war nicht imstande, über den Zaun zu klettern und es mit einer Kraft aufzunehmen, für die er keinen Namen hatte. Er packte Lann, riß sie in seine Arme und schützte ihr Gesicht vor dem spritzenden Blut. Bevor er noch eine weitere Bewegung machen konnte, wurden sie beide so heftig von einem Blutstrahl getroffen, daß sie zusammen zu Boden stürzten. Im Fallen glaubte er an einem Pfeiler ein Gesicht mit leeren Augenhöhlen gesehen zu haben, das ihm bekannt vorkam. Aber dann lagen sie am Boden, und er konnte nichts mehr erkennen. 56
Brad nahm all seine Kraft zusammen und sprang auf die Beine. Er zog Lann in die Höhe und trug sie zum Wagen. Mühsam konnte er die Beifahrertür öffnen und Lann in den Wagen setzen. Dann schlüpfte er hinter das Steuerrad, wischte sich das Blut aus den Augen und fuhr wie ein Wahnsinniger zurück nach Salisbury. »Mir ist so schlecht«, stöhnte Lann. Brad hatte sie in sein Hotelzimmer gebracht. »Geh ins Bad und übergib dich«, sagte er zu Lann, als sie sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatten. Kurz danach kam sie bleich zurück. »Hilf mir bitte aus diesen Sachen heraus«, flehte sie und streckte die Arme aus, unfähig, die blutgetränkten Sachen anzufassen. Als sie nackt vor ihm stand, zog er sich auch aus. Er hatte nur leichte Sachen getragen und war bis auf die Haut durchnäßt. Brad stellte die Dusche an und zog die verschreckte junge Frau zu sich unter das Wasser. Sie umarmten sich und fühlten das warme Wasser sanft über ihre Körper rinnen. Als die letzten Spuren von Blut weggespült waren, vereinten sich ihre Lippen zu einem langen Kuß. 3.
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Schlafen war unmöglich. Brad hatte es versucht. Er hatte sich im Bett herumgewälzt, war aufgestanden, um zwei Schlaftabletten zu nehmen, und was war dabei herausgekommen ? Nichts als Schlaflosigkeit. Er setzte sich auf den Bettrand und fing an zu überlegen. Er mußte herausfinden, wie er sich als Reporter dem Erlebnis in Stonehenge gegenüber verhalten sollte. Er dachte daran, wie er mit Lann in das Geschehen verwickelt worden war, an die Schuldgefühle, die sie hatte, als sei sie irgendwie für den Schrecken verantwortlich und könne ihn dadurch auslöschen, daß sie ihn weit von sich schob. Er war einen anderen Weg gegangen. Er konnte ein Gefühl der Schuld nicht unterdrücken und war von ihm gepackt worden. Alle seine Gefühle als Reporter nötigten ihn geradezu, der Welt mitzuteilen, was er gesehen hatte. Sollte er es tun? Sollte er es tun? Sein Verstand nahm den Rhythmus seines laut tickenden Reiseweckers auf. Wie gewöhnlich befand er sich in einem Zustand des Übergangs, in dem sein Verstand mit sich selbst beschäftigt war und alles durchkaute, um zu einer Antwort zu kommen, die nichts mit seinen gewöhnlichen Vernunftsschlüssen zu tun hatte. Zum Beispiel mußte jede Antwort mit Argwohn bedacht werden, die darauf hinauslief, Oldham jetzt nach 58
Mitternacht noch anzurufen. In jedem Fall mußte Lann aus allem herausgehalten werden. Das hatte er ihr versprochen und wollte sich daran halten. Schließlich war er dafür, die Katze aus dem Sack zu lassen, bevor noch ein anderer Schnüffler darauf kam, daß es in Stonehenge eine weitere augenlose Leiche gab. Er würde es riskieren und Oldham anrufen, aber mit keinem Wort andeuten, daß er oder Lann in Stonehenge gewesen waren. Also schön, er würde Oldham die saftige Neuigkeit übermitteln, damit er sie der gierigen Öffentlichkeit zum Frühstück vorwerfen konnte. Er wollte auf den Knopf drücken. Er wußte, daß Chris Oldham im Schlafzimmer ein Telefon hatte – für Alarmfälle, wie Oldham sich ausdrückte. Soweit Brad wußte, hatte ihn nachts noch nie jemand angerufen. Er schlüpfte in seinen Morgenmantel und ging auf den Flur hinaus, wo es ein öffentliches Telefon gab. In Sekundenschnelle hatte er gewählt. Es dauerte aber zehn Minuten, bis er seinen Vorgesetzten aufgeweckt hatte. »Hallo«, hörte er endlich Oldham gähnen. »Wer Sie auch sind, wenn Sie nichts Wichtiges zu sagen haben, legen Sie lieber gleich wieder auf.« »Hier Brad Minton, Boß. Man wird einen zweiten flachgepreßten Menschen in Stonehenge finden«, sagte Brad 59
ruhig. Er hatte wirklich keine Lust zu solchem Kram wie ,Hören Sie, ich habe den größten Knüller des Jahrhunderts’. Er teilte Oldham die nackten Tatsachen mit, daß er aus ganz verläßlicher Quelle wisse, daß man noch einen flachgepreßten Menschen in Stonehenge finden werde. So konnte man es sagen, ohne persönlich in die Sache verwickelt zu werden. Oldham schwieg einen Augenblick, schüttelte seine Schläfrigkeit ab und sagte dann: »Versichern Sie mir zuerst einmal, daß Sie nichts getrunken haben – und dann sagen Sie mir, woher Sie das haben.« Ihm war deutlich anzuhören, wie aufgeregt er war. »Ich gebe Ihnen mein Wort«, teilte Brad seinem Boß mit, »daß Sie die Sache in den Frühausgaben drucken können, ohne mit einer Strafverfolgung rechnen zu müssen. Und niemand anderer kann die Sache schon haben. Wenn Sie es aber bringen, dann muß ich darauf bestehen- . .« »Sie spielen da vermutlich auf Ihre Quelle an?« »Jaja, genau. Ich will sagen, wenn sich die Polizei erkundigen sollte, woher ich das hatte, so bin ich auf keinen Fall bereit, meinen Mund aufzumachen.« »Nun, das Recht ist auf Ihrer Seite. . .« »Und Sie halten zu mir, hoffe ich?«
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»Klar, klar. Aber noch was, Junge: hat Ihnen Ihr geheimnisvoller Gewährsmann vielleicht auch noch gesagt, wer das Opfer ist? Das wäre nämlich ein Knüller. . .« Typisch Oldham, typisch Presse. Brad wurde ganz schwach. Sein nachrichtenverschlingender Boß war nie zufriedenzustellen. Die Schwierigkeit war, daß er selbst seinen Appetit reizte, als er ihm sagte, daß das Opfer Inspektor Southam sei. Und dabei war er sich nicht ganz sicher. Natürlich war er sich im Augenblick des Geschehens ganz sicher gewesen, aber später waren ihm Bedenken gekommen, so daß er Lann kein Sterbenswörtchen gesagt hatte. »Ich kann mich darauf verlassen?« Oldham konnte die Worte vor Aufregung kaum herausbringen. Brad fühlte sich in die Enge getrieben. Weil er schon so weit gegangen war, fiel es ihm schwer zuzugeben, daß er unrecht haben könne. Er gab eine ausweichende Antwort, um später die Sache mit Southam abstreiten zu können, aber die Verbindung wurde unterbrochen. Oldham hatte doch wohl nicht aufgelegt? Er versuchte, ihn wieder zu erreichen, wollte die Sache mit Southam klarstellen, aber es ertönte nur immer das Belegtzeichen. Oldham hatte also die Gabel niedergedrückt. Der Kerl vergeudete keine Zeit, stopfte das Fleisch sofort in die 61
Wurstmaschine. Brad versuchte es zehn Minuten lang ohne Erfolg. Er brach in Schweiß aus, als er sah, daß er jetzt zu seiner Äußerung stehen mußte, daß er Southam vorschnell für tot erklärt hatte. Ihm wurde kalt. Er zitterte und zog den Morgenmantel fester zu. Weiter konnte er nicht. Wenn er über den Punkt hinausging, an dem er sich befand, würde er durchdrehen. Er legte sich wieder schlafen. Es kam ihm merkwürdig vor, um halb sieben Uhr morgens ins Polizeipräsidium zu gehen und ganz beiläufig nach Inspektor Southam zu fragen. Aber er tat es, war dort, bevor die Nachtschicht abgelöst wurde, bevor die Morgenzeitungen erschienen waren. Einen höheren Polizeibeamten für tot erklären – das konnte Folgen haben, die er sich gar nicht ausmalen wollte. Da könnte er sich lieber gleich bei Chris Oldham tot melden. »Inspektor Southam wird erst in einer Stunde zum Dienst erscheinen, Sir«, teilte ihm der Beamte im Auskunftsschalter mit. Er war offensichtlich überrascht von Brads frühem Besuch, denn er fügte hinzu: »Sie können sich oben in der Kantine eine Tasse Tee geben lassen, während Sie auf den Inspektor warten.« »Vielen Dank, aber ich glaube, ich gehe zum Hotel des Inspektors und hole ihn dort ab. Er wollte mich dringend sprechen«, log er. 62
Was für ein Zufall! Als Brad aus dem Gebäude trat, rasten ein Polizeiwagen und ein Krankenwagen aus dem Polizeipräsidium und verschwanden in Richtung Stonehenge. Mein Gott, der Beamte war aber gut vorbereitet gewesen! Seine Sorgen waren ihm auf eine traurige, indirekte Weise abgenommen worden. Er hatte Southam gut leiden können, so sehr, daß sein Verstand sich weigerte, zu begreifen, daß sich die flachgepreßte Leiche des Mannes da draußen befand und bald von einem der Steinpfeiler geschält werden würde. Was war nur los? Alles schien so unwirklich. Daß Lann und er vom Blut des Mannes durchnäßt worden waren, ließ ihn schaudern. Er kam sich wie in einem Alptraum vor, aus dem es kein Erwachen gab. Lann war noch auf ihrem Zimmer. Er hatte sie vom Empfang ihres Hotels aus angerufen. »Komm rauf«, sagte sie. Ihr Zimmer war im zweiten Stock. Nicht, daß sie sich schlecht fühlte, wirklich nicht. Sie fühle sich entnervt, erschöpft, sagte sie ihm als sie ihm, die Tür öffnete. Sie hatte nur keine Lust, im Frühstücksraum des Hotels der Welt ins Gesicht zu blicken. Sie hatte es für klüger gehalten, das Frühstück im Bett einzunehmen.
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»Das sind die Nachwirkungen des Schocks. Sehr verständlich«, sagte er, ließ sich auf dem Bettrand nieder und nahm ihre Hand. »Weißt du, Brad«, sagte sie und hielt seine Hand fest, »seit du mich aus deinem Hotel hergebracht hast, habe ich zwei Bäder genommen, und immer noch komme ich mir schmutzig vor.« »Schau mal, Lann, du brauchst nicht über gestern abend zu reden, wenn du nicht magst.« »Irgendwie möchte ich darüber sprechen. Ich weiß, daß ich die Erinnerung nie auslöschen kann, aber vielleicht hilft mir das Reden...« »Im Augenblick glaube ich das nicht. Du siehst müde und mitgenommen aus. Du brauchst Ruhe. Schau, Lann, ich gehe jetzt. Ich komme später wieder.« Sie wollte sich ausruhen, wollte ihn aber nicht gehen lassen. »Brad«, sagte sie, »häng bitte das Schild ,Bitte nicht stören’ an die Tür.« Er erhob sich, stellte das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr vor die Tür und brachte das Schild an. Ein Zeichen, daß sie ihm vertraute. Das tat ihm wohl. Und es bedeutete auch, daß sie ihn nicht gehen lassen wollte. Er setzte sich eine Weile schweigend auf das Bett, und dann erzählte er ihr von seiner Unruhe, seinem frühen Besuch bei der Polizei. 64
Er hatte nicht vorgehabt, ihr von Southam zu erzählen. Er wollte sie nicht beunruhigen. Und doch sagte er aus irgendeinem Grund: »Es gibt noch keine offizielle Verlautbarung, daß Inspektor Southam verschwunden ist.« »Inspektor Southam?« fragte sie überrascht. »Verschwunden? Aber wieso, Brad?« Sie hatte sich im Bett aufgesetzt. Natürlich, sie hatte nicht gewußt, daß Southam an dem Pfeiler war. Ihr Kopf war die ganze Zeit durch seinen Körper geschützt gewesen. »Aber er kann nicht verschwunden sein«, sagte sie. »Das ist unmöglich. Er ist in Newcastle. Ich sah ihn gestern mit meinem Vater in den Zug steigen.« Das zu hören, was das letzte, was er erwartet hatte. »Bist du sicher, daß es Inspektor Southam war«, fragte er bestürzt, »und niemand anderer?« »Ja, ganz sicher.« »Aber du hast ihn doch nie kennengelernt, Lann?« »Nein, aber ich wußte, daß er es war. Frag mich nicht, wieso. Ich wußte es einfach. Ich nahm an, die beiden wollten zusammen nach Newcastle, um bei der Atomstrukturanalyse dabei zu sein.« Das war lächerlich. Die Welt wurde immer verrückter. »Hast du mit Inspektor Southam gesprochen?« fragte er. »Nein, nein. Dazu war keine Zeit. Es ging alles sehr schnell. Vater hätte den Zug beinahe verpaßt. Ich fuhr 65
wie irr zum Bahnhof und kam an, als der Zug eben einlief. Vater stieg gleich in einen Wagen, Inspektor Southam hinter ihm her, und weg waren sie.« »Aber, Lann«, sagte er, »da muß irgendwo ein Mißverständnis herrschen – ein Mißverständnis über Southam, meine ich. Wieso kommst du auf Southam?« Es hatte keinen Sinn mehr, die Sache verschweigen zu wollen. Es ihr zu sagen hieß dennoch, die frische Wunde wieder aufreißen. Aber er sprach, brachte ihr alles so sanft wie möglich bei. Und doch tat es genau die entgegengesetzte Wirkung. Sie bekam Angst um ihren Adoptivvater. Sie mußte sich sofort mit ihm in Verbindung setzen. Sie suchte ihre Handtasche. Irgendwo mußte doch die Nummer von Sir Robert Keithley sein. Ihr Vater wohnte immer bei seinem alten Freund und Kollegen, wenn er im Norden war. Brad begriff sofort, wie wichtig es ihr war, und stellte ihr das Telefon aufs Bett. Es dauerte eine Weile, bis sich die Vermittlung des Hotels meldete, und noch länger, bis die Verbindung mit Newcastle hergestellt war. »Lady Keithley? Hier ist Lann«, rief sie, als es endlich geklappt hatte. »Entschuldigen Sie, daß ich so früh anrufe, aber könnte ich Daddy sprechen?« Schweigen. »Er 66
ist nicht da? Wann ist er weg?« Schweigen. »Er ist gar nicht bei Ihnen gewesen? Wissen Sie, ob er gestern abend mit Sir Robert im Forschungszentrum war?« Es herrschte wieder Schweigen, dann wandte sich Lann an Brad. »Sir Robert Keithley ist dort oben der Leiter«, erklärte sie. »Lady Keithley holt ihn jetzt aus dem Bad ... Ach, Sir Robert, es tut mir leid, Sie zu so unmenschlich früher Stunde ans Telefon zu holen, aber ich mache mir Sorgen wegen Vater. Er soll in Newcastle sein.« Schweigen. »Sie haben ihn nicht gesehen? Im Forschungszentrum auch nicht?« Schweigen. »Er würde doch in Newcastle nur bei Ihnen wohnen? Natürlich nicht... entschuldigen Sie, daß ich so früh anrief, aber Sie verstehen doch sicher ... Ja, ich rufe Sie an.« Ihre Stimme klang jetzt angestrengt. »Ach, übrigens«, fragte sie, »wissen Sie, ob sich Inspektor Southam in Newcastle aufhält? Sie glauben nicht? Auf Wiederhören, Sir Robert.« Nervös legte sie auf. Irgend etwas war schiefgegangen, und Brad machte sich jetzt große Sorgen um sie. Der Gedanke an Inspektor Southam raubte ihr den letzten Nerv. Jetzt blieb nur noch, London anzurufen. Vielleicht hatte es sich ihr Vater anders überlegt und war dorthin zurückgekehrt. »Aber warum war ich mir so sicher, daß es Inspektor Southam war?« 67
In der Londoner Wohnung antwortete niemand. Sie hatten auch keine Antwort erwartet. Aber vielleicht war der Professor in seinem Labor. Sie versuchte es dort. Nichts. Sie rief wieder die Wohnung an. Zu ihrem Erstaunen antwortete der Professor. Nein, es war nichts, weshalb man sich Sorgen machen müsse. Er hatte es sich anders überlegt mit Newcastle, nichts weiter. Sie hörte eine Zeitlang angespannt zu. »Ja, ich komme zurück, sobald ich kann ... Übrigens, hast du eine angenehme Reise mit Inspektor Southam gehabt? Aber, ich sah ihn wirklich, ich habe ihn gesehen. Er stieg hinter dir in den Zug. Jaja, ich komme bald zurück. Wiedersehen.« Sie wirkte verstört, war bleich. Brad nahm ihr den Hörer aus der Hand. Dann nahm er ihre Hände. »So ein Unsinn«, murmelte sie. »Wieso habe ich mich mit Inspektor Southam so täuschen können? Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Und wieso hat sich Vater plötzlich entschlossen, nicht nach Newcastle zu fahren und mir nichts davon gesagt? So etwas hat er noch nie gemacht.« Er nahm sie in die Arme. Ihm fiel sonst nichts ein, womit er sie im Augenblick aus ihrer Verwirrung lösen konnte. Er streichelte sie. Sie küßten sich, und die Fragen verloschen langsam. 68
4.
Brad konnte sich nicht erklären, wieso er um ein Uhr nachts in das Laboratorium von Professor Bright einbrach. Er spürte nur, daß er unter einem unheimlichen Zwang stand. Schließlich war er dabei, eine strafbare Handlung zu begehen, wobei er noch nicht einmal wußte, wonach er sich überhaupt umsehen wollte. Er war doch Journalist und kein Schnüffler. Und doch hatte ihn ein unerklärlicher Drang zu dem langen, ebenerdigen Gebäude geführt, das an das große viktorianische Haus angebaut war, in dem der Professor einst gewohnt hatte. Gestern während der Rückfahrt von Salisbury nach London hatte ihm Lann das Haus beschrieben. Er bemerkte überrascht, daß er das Haus kannte. Als er vor Jahren bei der Colossal Press angefangen hatte, hatte er in Hampstead hier in der Nähe gewohnt. Der Laboranbau des Professors hatte keine Fenster, durch die man hätte einsteigen können. Er machte sich also an einem Fenster des Hauptgebäudes zu schaffen, das verblüffend leicht zu öffnen war. Viel zu leicht. Er war sehr nervös und tastete sich mit Hilfe einer winzigen Taschenlampe durch die Gänge des weitläufigen
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Hauses, bis er endlich vor einer großen Tür stand, die er für den Eingang zum Laboratorium hielt. Eine schwere Metalltür. Was hatte er sich denn gedacht? Daß der Professor die Tür zu seinem Privatlabor weit offenstehen lassen würde, damit jeder Strolch eintreten könne? Aber eine schwere Stahltür mit einem Kombinationsschloß, das hatte er nicht erwartet. Er ließ den Strahl seiner Lampe langsam über die Tür gleiten. Kein Hinweis, der ihm das Denken erleichtert hätte. Was hatte er sich denn von seinem unerlaubten Eindringen erhofft? Er kümmerte sich nicht um die Warnung VORSICHT! STRAHLUNG!, die in roten Buchstaben auf die Tür gemalt war, und kniete sich hin, drehte auf gut Glück an der Zahlenscheibe des Kombinationsschlosses, als könne er wie durch ein Wunder die richtige Einstellung aus den Millionen Möglichkeiten herausfinden. »Mr. Minton«, ertönte plötzlich eine scharfe Stimme und zerriß wie ein Peitschenknall die Stille. Die Tür schwang auf. »Kommen Sie herein.« »Professor!« keuchte Brad und rappelte sich auf. »Ich wußte nicht, daß Sie hier sind.« Er wußte, daß seine Äußerung an Idiotie kaum noch zu übertreffen war, aber was sagt man zu jemand, in dessen Haus man eben
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eingebrochen ist? Was tut man in solch einer Lage? Nun, Brad trat ein. Die große Tür schloß sich hinter ihm. Der Professor war offensichtlich sehr ruhig. Brad überlegte krampfhaft, wie er sein Erscheinen rechtfertigen konnte, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. »Sie brauchen gar nichts zu erklären«, sagte der Professor, als ob er seine Gedanken lese. »Aber das Schloß«, wandte Brad ein. »Das habe ich doch nicht aufgemacht? Das waren doch Sie? Woher wußten Sie, daß ich draußen war?« Der alte Mann ging schweigend einen langen Korridor entlang, der mit Stahl verkleidet war. »Was Ihre Frage angeht«, sagte der Professor, ohne sich umzudrehen. »Sie haben die Tür selbst geöffnet.« »Wie denn?« »Darauf werden Sie später eine Antwort erhalten.« Brad bemühte sich, dies zu verarbeiten, aber das Nachdenken fiel ihm schwerer als sonst. Und nichts verstimmte ihn so wie eine aufgeschobene Antwort. Aber angesichts der Umstände, unter denen er hier war, war er nur froh, daß der Professor nicht auf die unerlaubte Art einging, mit der er eingedrungen war. Früher oder später würde er Rede und Antwort stehen müssen, im’ 71
Augenblick war er jedoch erleichtert, daß er einen kleinen Aufschub erhalten hatte. Der lange, schräg nach unten abfallende Korridor führte in einen großen Raum, der ebenfalls mit Stahlplatten verkleidet war. Eine eindrucksvolle Umgebung, die wie das Allerheiligste eines Tempels wirkte, was Brad den klaren Formen der merkwürdigen Anlagen zuschrieb. Das einzige Gerät, das ihm irgendwie bekannt vorkam, sah wie ein riesiges Röntgengerät aus, obwohl es sicher etwas ganz anderes war. »Setzen Sie sich, Mr. Minton«, sagte der Professor und deutete steif auf einen hohen Laborhocker. Brad erkomm ihn unbeholfen. Er machte sich Sorgen wegen des Gesichts des Mannes, das unnatürlich starr war, so ganz anders, als Brad es kannte. »Nun«, sagte der Professor, »ich will ohne Umschweife zur Sache kommen. Sie sind nicht in das Laboratorium eingebrochen, wie Sie meinen. Sie wurden herbeordert. Ich habe Sie kommen lassen.« »Kommen lassen?« Brad fragte sich, wovon der Mann wohl sprach. »Ja, Sie wurden erwartet. Als Sie vor der Schutztür standen, wurde Ihrem Gehirn die Zahlenkombination des Schlosses vermittelt.«
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Brad sah den Professor scharf an. Undenkbar, daß ihm ein so genialer, bedeutender Mann Gedankenübertragung weiszumachen versuchte. Das paßte gar nicht zu ihm. Dazu kam noch die verwirrende Nervosität des Mannes, der sich ständig irgendwo im Hintergrund herumtrieb und anscheinend seine Nähe mied. »Was hat es mit der Aufschrift auf der Tür für eine Bewandtnis? Vorsicht! Strahlung?« sagte Brad, der die Unterhaltung in ruhigere Bahnen lenken wollte. »Diese Umgebung«, antwortete der Professor, »könnte einer unerwünschten Person sehr zum Schaden gereichen. Noch genauer, die unerwünschte Anwesenheit einer Person könnte dieser Umgebung zu großem Schaden gereichen.« »Und was ist mit Leuten, die wie ich ungefragt eindringen?« wollte Brad wissen. »Wie Ihnen schon mitgeteilt wurde, sind Sie hier, weil man Sie hat kommen lassen.« Dieses ständige ,kommen lassen’ verärgerte Brad immer mehr. Um es sich nicht anmerken zu lassen, deutete er mit einem fragenden Kopfnicken zu der Anlage hinüber, die wie ein Röntgengerät aussah. »Was ist das denn für ein seltsames Geschöpf?« fragte er.
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»Es heißt TASU«, erwiderte der Professor mit einer Stimme, die Brad immer seltsamer vorkam. »Eine Anlage, die Gedanken analysieren und speichern kann.« »Ist sie radioaktiv?« fragte Brad, dem die Aufschrift an der Tür einfiel. »Sie ist sehr aktiv, aber nicht radioaktiv. Aber die Sache ist geheim und muß gut bewacht werden.« »Aber ich » »Sie«, stieß der Professor hervor, »werden dabei helfen, das Geheimnis zu bewahren.« Die Schroffheit dieses Befehls und der gebieterische Ton führten dazu, daß Brad aufbrauste. »Hören Sie mal, Professor«, rief er, »mir ist deutlich bewußt, daß ich ein Laie bin, aber ich hoffe doch intelligent genug zu sein, in die Einzelheiten genauer und ohne Zweideutigkeiten eingeweiht werden zu können. Wenn Sie also behaupten, ich sei am Gängelband hergeführt worden, dann will ich schon wissen, warum ich überhaupt hier bin.« Es dauerte einen Augenblick, bevor die Antwort kam, und als es soweit war, meinte Brad, der Mann, der sich im Hintergrund bewegte, sei vollkommen übergeschnappt. Vermutlich hatte er sein Hirn überanstrengt. Was sollte er sich sonst denken, als der Mann ruhig die Anlage tätschelte und sagte: »Das hier ist die Quelle der
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Kraft, die für die Todesfälle verantwortlich ist, die die Welt in Furcht und Schrecken gestürzt hat.« Brad blieb der Mund offen stehen. Das ist also der Professor Bright, dachte er, an den Lann ihre Hingabe verschwendet? Ein alternder Irrer, der der Welt den Wissenschaftler im Atomzeitalter vorspielt. »Zu den Todesfällen«, fuhr der Professor fort, »ist es nicht ohne ein Gefühl der Verantwortung gekommen. Es wurde viel Gedankenarbeit geleistet, bevor der Entschluß reifte, die Menschheit einer Säuberung zu unterziehen ...« »Und was habe ich mit all dem zu schaffen?« fragte Brad, obwohl er eigentlich das Gebrabbel dieses Verrückten nicht weiter anstacheln wollte. Aber andrerseits wollte er wieder wissen, was es mit diesem Kauderwelsch auf sich hatte. Nur hatte er sich nicht träumen lassen, daß es sein Beruf als Journalist war, der ihn mit dieser Welt der Phantasterei in Verbindung gebracht hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, etwas so Seltsames gesagt zu bekommen wie: »Sie werden Ihren Einfluß als international bekannter Journalist benutzen, um die Welt über die Rechtmäßigkeit dieser Sache in Kenntnis zu setzen, über die Wichtigkeit der schon vollstreckten Hinrichtungen und über
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die noch bevorstehenden zu berichten, die ausgeführt werden, um die Welt vom Bösen zu befreien.« Mein Gott! stöhnte Brad innerlich. Rechtmäßigkeit – Sache – immer dasselbe! Wie oft hatte er das als Journalist schon gehört. »Ich gebe nur Tatsachenberichte ab«, sagte er wütend. »Ich lege mich nicht für Sachen ins Zeug. Und ich habe etwas gegen Gewalt und vor allem etwas gegen Sachen, die das Böse auf der Welt ausmerzen möchten. Wer kann sich denn hier zum Richter aufwerfen? Doch nicht dieser großartige Haufen Metall dort!« Die Unterredung hätte hier ihr Ende finden müssen. Brad versuchte, das deutlich zu machen, versuchte, von dem Hocker herunterzukommen, konnte sich aber nicht rühren. Er bemühte sich zu glauben, daß ihn eine Steifheit, ein Krampf festhielt, aber dem war nicht so, und das wußte er ganz genau. In Wahrheit hielt ihn irgend etwas mit Gewalt fest. Er ärgerte sich über diese offensichtliche Freiheitsberaubung. Wenn er von dem Hocker losgekommen wäre, hätte er sich auf den Professor gestürzt. »Lassen Sie mich von dem blöden Hocker herunter!« rief er.
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»Sobald Sie sich bereit erklärt haben, Ihre Feder in den Dienst von TASU zu stellen, können Sie sich wieder frei bewegen.« »Hören Sie, Professor, können wir diesen ganzen Schwindel nicht endlich lassen?« Brad erhielt keine Antwort. Dann wurde ihm mitgeteilt, daß man eine Verbindung zu ihm herstellen werde und daß er von Zeit zu Zeit eine Liste mit den Namen derer erhalten würde, die TASU der Vernichtung preisgeben wollte, nebst den Bedingungen, durch die sie das Verhängnis von sich abwenden konnten. Seine Aufgabe sollte sein, in einer regelmäßig erscheinenden Artikelserie die Einzelheiten zu veröffentlichen. Wenn nicht... In Wahrheit gab es kein ,wenn nicht’. Die Artikel hatten zu erscheinen. TASU wollte über einen Journalisten seines Kalibers mit der Welt in Verbindung treten. Und würde es auch – oder ... »Oder? Zum Teufel mit dem Oder!« sagte Brad. »Ich habe noch nie einen so anmaßenden Unsinn gehört. Übrigens, was soll mich davon abhalten, den Behörden einen Wink zu geben?« »Sie sind nicht in der Lage, der Kraft von TASU zu drohen«, teilte ihm der Professor mit. Wie Brad es verstand, konnte er sie wohl bedrohen, und glaubte es auch. Wenn dieses Ding ihm drohen konnte, 77
dann war es ihm wohl auch möglich, es zu bedrohen. Aber trotz seines logischen Denkens wurde er bald von Verwirrung gepackt. Es wirbelten ihm zu viele Punkte durch den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wie seine Schwester und seine Mutter in diesem Wirrwarr auftauchen konnten. Seine Erinnerung war irgendwie abgefragt worden. Er war sich völlig sicher, daß der Professor von seinem Privatleben nichts wußte. Aber plötzlich drehte sich in dieser schrecklichen Sache alles um die beiden, ganz gleich, ob es nun Gedankenübertragung war oder nicht. Sie waren Geiseln, die von seinem zukünftigen Wohlverhalten abhängig waren. Zuerst mußte er bei dem Gedanken lachen, dann wurde er an die Opfer von Sunderland und Stonehenge erinnerte. »Also«, sagte der Professor, »wenn Sie wünschen, daß Ihre Schwester und Ihre Mutter am Leben bleiben, dann lauten die Bedingungen: kein Sterbenswort über das Haus hier, Ihr Einfluß als Journalist TASU zur Verfügung gestellt und selbstverständlich Ihr Glaube an TASU, dem Sie von jetzt an dienen werden.« Brad versuchte wieder, vom Hocker zu kommen. Ohne Erfolg. »Warum suchen Sie nicht einen Arzt auf? Mann, Sie sind krank!« rief er. 78
»Machen Sie sich keine Sorgen.« Die Stimme klang wie eine Totenglocke. »Sie haben eben jemand zum Tode verurteilt. Ihr Gehirn ist noch einmal angezapft worden. Diesmal weder Ihre Schwester, noch Ihre Mutter – niemand, der besonders wichtig wäre. Sie müssen ein für allemal von der Kraft TASUs überzeugt werden.« Der Professor brauchte nur eine Stahlplatte in der Wand zu öffnen, um Brad zu zeigen, daß er es ernst meinte. Den Raum dahinter nahm zum größten Teil etwas ein, das wie eine große, ziemlich tiefe Wanne aussah. »Sie können sich jetzt frei bewegen. Gehen Sie hin und sehen Sie es sich an«, sagte der Professor. Brad blieb sitzen. »Ich steige hinunter, wann ich will«, rief er. »Ich lasse mich in keines Ihrer makabren Spiele...« Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, weil ihn eine entsetzliche Gewalt vom Hocker warf, durch die Luft schleuderte und gegen die Wanne krachen ließ. Er klammerte sich mit beiden Händen an der Wanne fest und erkannte voller Schrecken auf ihrem Grund ein Gesicht, das er zum letztenmal in einer Straße in Sunderland gesehen hatte. Es war Clark. Sein Gehirn war angezapft worden, und dabei war Clark herausgekommen. Er streckte die Arme aus, um nach dem jungen Mann zu greifen, aber sofort schnappte ein schwerer, grüner, 79
durchsichtiger Deckel über der Wanne zu. Er zerrte an ihm, versuchte wie verrückt, ihn aufzureißen. Die Kraft von TASU war schreckliche Gewißheit geworden. Koste es was es wolle, er mußte Clark aus dieser Wanne befreien, bevor er zu einer Plastikmasse zerdrückt war. Ohnmächtig mußte er zusehen, wie das Blut gegen den durchscheinenden grünen Deckel spritzte. Er warf sich über die Wanne und stöhnte: »Zu spät, zu spät.« Ein Schwall Wasser mischte sich mit dem Blut und spülte die Wanne sauber. Das Ganze hatte Sekunden gedauert. Dann konnte er nur eine Metallstange vom Boden aufheben und mit aller Macht auf die Gestalt einschlagen, die in seiner Nähe stand. Er lag benommen auf dem Boden. Etwas, das wie der Professor aussah, stand da und blickte auf ihn nieder. Das war doch unmöglich. Er hatte doch ohne Zweifel die Gestalt mit der Eisenstange der Länge nach gespalten. Er hatte es deutlich gesehen. Und doch stand die Gestalt, wer immer es war, schrecklich weiß und unversehrt vor ihm. »Wer zum Teufel sind Sie?« schrie er und erhob sich mühsam. »Sie können mich TASU nennen«, sagte die weiße Figur. »Oder auch Gedanke, das Ergebnis der Phantasie 80
meines Schöpfers, was Sie wollen. Sie glauben bloß, Albert Bright zu sehen.« Brad fiel die Metallstange aus der Hand. Er hatte nur noch den einen Gedanken, den Mann, der so ein Ungetüm erschaffen hatte, mit bloßen Händen zu erwürgen. Diesem Schattenwesen vor ihm war nichts anzuhaben. Aber die Worte die jetzt auf ihn eindrangen, konnten ihm sehr viel anhaben. Die unüberhörbare Stimme sprach und sprach und sprach. Es nützte nichts, die Hände auf die Ohren zu legen und zu schreien. Er versuchte es. Mein Gott, warum war das Ding nur so erpicht darauf, ihn mit Einzelheiten vollzustopfen, ihm das Gehirn zu waschen, bis er sich wie ein Computer vorkam. Schließlich brüllte er den Schatten vor sich an: »Zum Teufel mit dir Dreckskerl! Ich lasse mich nicht von etwas festnageln, das ich nur zu sehen glaube ...« Er streckte mutig die Arme aus und ging auf das furchtbare Ding zu, als wolle er es über den Rand der Welt drücken. Aber obwohl er einen Schritt nach dem anderen machte, verringerte sich die Entfernung zwischen ihm und dem Ding nicht. Er ging mit ausgestreckten Händen weiter, bis er gegen die Stahlwände des Laboratoriums stieß. Und noch immer konnte er das
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Ding im selben Abstand deutlich vor sich sehen. Es hielt ihn zum Narren. Dann wurde er plötzlich wieder von der Kraft gepackt und vom Boden in die Höhe gerissen. Er lag auf dem Rücken in der Wanne, starrte hinauf zu der Gestalt, fühlte sich, als seien ihm alle Knochen zerbrochen worden. Es überraschte ihn, keine Furcht vor dem Tod zu haben. Obwohl ihm bewußt war, daß der grüne Deckel geöffnet war und er an der Stelle lag, wo vor kurzem Clark so gräßlich zu Tode gekommen war. Er hatte den Tod vor sich, hatte aber merkwürdigerweise keine Angst. Er war lediglich benommen. Kein Bedauern, keine Trauer, nur Gefühllosigkeit. Was für ein Gegensatz zu seinem Leben! Er überlegte, ob sein Rückgrat gebrochen war. Aber darauf kam es jetzt nicht mehr an. Er wehrte sich nicht einmal, weil er wußte, daß bald das Blut aus seinem Körper gepreßt werden würde und seine Augen bersten müßten. Und er hatte nicht die Macht, es zu verhindern. Die Gestalt starrte ihn an. »Ihnen wird nichts geschehen«, dröhnte eine Stimme durch das Laboratorium, »weil ich Sie, wie ich schon sagte, als Sprachrohr brauche. Mit Ihrer Feder werden Sie der Kraft des Gedan-
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kens dienen. Von jetzt an werden Sie schreiben und berichten, wie Ihnen gesagt wird.« »Und wenn ich mich weigere?« fragte Brad. Ob ihn der Gedanke an das Sterben gefesselt hatte? Er spielte mit ihm. Er spürte die atemberaubende Nähe des Todes. Plötzlich verließ ihn die Ruhe. »Halt«, schrie er, »halt!« Der Druck ließ sofort nach. »Sie wissen jetzt, was geschieht, wenn Sie sich weigern.« Brad konnte dem nichts mehr entgegensetzen, nach all dem Schrecken, den er in Sunderland, Stonehenge und jetzt hier erlebt hatte. »Mein Gott, Clark!« schrie er ... er lag ja auf dessen Plastikleiche! Und mit einer Kraft, die fast so stark wie die des Gedankens war, sprang er aus der Wanne. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen. Er wußte nichts mehr, bis er sich auf der Heath Lane wiederfand, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Während er sich mit den Wagenschlüsseln abmühte, blickte er ängstlich in Richtung Hampstead. In der Dunkelheit konnte er den Umriß des Highgate Hill erkennen. Es begann zu dämmern. Sein Kopf war ein einziger Wirbel. Spielte ihm sein schwacher, begrenzter Verstand einen Streich? Bei dem Gedanken an Clark knickten ihm die
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Knie ein. Das war kein Spiel gewesen, sondern kaltblütiger Mord. Ihm fiel wieder die körperlose Geist-Gestalt des Professors ein, und dann konnte er plötzlich den echten Professor ohnmächtig oder schlafend auf einer Couch in einer dunklen Ecke des Laboratoriums sehen. Hatte er ihn so liegen sehen, kurz bevor er selbst die Besinnung verlor? Er glaubte, sich ganz sicher zu sein. Es war seine Pflicht, zur Polizei zu gehen und sie zu dem Labor zu führen. Zumindest mußte er Clarks Frau anrufen. Als er in seinen Wagen stieg, war ihm klar, daß er beides nicht tun konnte, und er ekelte sich vor sich selbst. Er zog die Starthilfe des Wagens heraus. Der Morgen war kalt, aber nicht so kalt, daß ihn der Schüttelfrost gleich so packen mußte. Der Wagen sprang widerstrebend an. Er fuhr los, stellte die Starthilfe zurück und schaltete die Heizung ein. Er wußte ganz genau, daß zwei Menschen zu Geiseln gestempelt waren, zwei Menschen, für die er alles tun wollte, um sie vor der Vernichtung zu bewahren.
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5.
Es hatte nicht viel genützt, ziellos in seiner Wohnung umher zu gehen, und sich an die Schreibmaschine zu setzen, hatte noch weniger geholfen. Beim Gedanken an Clarks Tod wurde er noch immer von Entsetzen geschüttelt. Brad erhob sich und stellte sich vor das große Aussichtsfenster. Die Wohnung lag im siebzehnten Stock und bot ihm den schönsten Blick, der in London zu haben war. Zu den Vorzügen des teuren Hochhauses gehörte, über die Grünflächen des Buckingham-Palastes hinweg den St.-James-Park sehen zu können. Wenn einem hier keine schöpferischen Gedanken mehr kamen, mußte man sich wenigstens nicht damit begnügen, nur an die Zimmerdecke starren zu können. Im Augenblick konnte keine Rede davon sein, daß sein Verstand ihn mit schöpferischen Einfällen versorgte. Dabei wollte er nur ein Entlassungsgesuch aufsetzen. Er hatte sich auf der Rückfahrt von Hampstead dazu entschlossen, aber jetzt vor der Schreibmaschine konnte er keinen Gedanken fassen. Verdammt noch mal, er mußte doch keine Rede für ein Staatsbegräbnis abfassen, sondern nur um seine Entlassung bitten. Das war ihm als der einzige Ausweg erschienen. Es würde ihn wenigs85
tens davor bewahren, seinen Beruf dadurch herabzuwürdigen, daß er einem wahnsinnigen Professor bei seinen verdrehten, verstiegenen Experimenten half. Er schloß die Augen und ließ die Finger über den Tasten schweben. Es geschah nichts. Vielleicht wehrte er sich unbewußt dagegen, sein Lebenswerk wegzuwerfen. Er wollte sein Unbewußtes weiterkämpfen lassen, bis es sich erschöpfen würde. Dann würde sein verdammtes, vernünftiges Ich die Führung übernehmen können und ihm gestatten, sein Entlassungsgesuch zu schreiben. Er mußte an Lann denken, an ihren warmen Körper, und für einen winzigen Augenblick ließ ihn die Erinnerung an die Schrecken im Laboratorium, an ihren Vater, an den toten Clark los. Sich danach in der nackten Wirklichkeit wieder einzurichten, kostete ihn Mühe. Er saß noch immer vor der Schreibmaschine. Jetzt fing er an zu schreiben. Er schrieb: »Sei gewarnt.« Wie kam er dazu? Er riß das Blatt aus dem Wagen, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Er spannte einen neuen Bogen ein und ließ die Finger über die Tasten laufen, wie sie wollten, ohne mit seinem Willen einzugreifen. Seine Finger kamen ihm wie die Hämmer eines Klaviers vor. Als nächstes erschien: »Denk an Clark.« Er schrieb die Worte zögernd, wie ein Kind in der ersten Musikstunde, 86
tippte mit nur einem Finger. Dann las er: »Denk an deine Mutter und deine Schwester.« Es dauerte nicht lang, bis das einfache Tasten nach einer schlichten Tonleiter aufhörte. Nur Sekunden vergingen, bis die ganze Klaviatur beherrscht wurde und sich ein Wort nach dem anderen formte. »Gescheit von dir, nicht zur Polizei zu gehen. Das hätte dich und andere nur ins Verderben gestürzt. Du darfst dir nicht einmal den Gedanken erlauben, TASU zu verraten. Wenn du es tust, wird das böse Folgen für dich haben.« Dann kam die eigentliche Nervenprobe. Und er begriff, weshalb die Wahl auf ihn gefallen war, welche Rolle ihm in dem Alptraum zugedacht war. Er wurde erpreßt, und ihm blieb nichts übrig, als zu tun, was der Erpresser verlangte. Entsetzt sah er, wie vor seinen Augen auf dem Papier eine Liste bekannter Persönlichkeiten erschien, die Bedingungen genannt wurden, durch deren Erfüllung sie dem Tod entgehen konnten. Und trotz allem konnte er nicht anders, als wieder und wieder die Liste zu lesen. »Sir Samson Sterman: Nehmen Sie zur Kenntnis, daß Sie vier Tage Zeit haben, Ihre großen Bürohäuser den Obdachlosen als Heimstatt zu übergeben. Beginnen Sie unverzüglich damit, oder Sie werden in vier Tagen nicht mehr am Leben sein. 87
Lord Osman: Nehmen Sie zur Kenntnis, daß Sie als Vorsitzender der Internationalen Bankvereinigung vier Tage Zeit haben, Ihre Banken zu beauftragen, den Notleidenden der Welt Geldschenkungen zu machen, an die keinerlei Bedingungen geknüpft sind. Es darf niemand abgewiesen werden. Beginnen Sie unverzüglich damit, oder Sie werden in vier Tagen nicht mehr am Leben sein. Sir William Bruton: Nehmen Sie zur Kenntnis, daß Sie vier Tage Zeit haben, die Herstellung und Ausfuhr von Waffen zu unterbinden. Alle anderen Waffenhersteller, aufgepaßt! Sollte Sir William Bruton dieser Aufforderung nicht nachkommen, wird in vier Tagen sein Schicksal besiegelt sein.« Er konnte nur die Augen schließen, aufhören zu denken. Die Verantwortung war zu groß. Wie konnte seine Welt so unverhofft einstürzen? Er hatte sich um seinen Beruf gekümmert, seine Arbeit gemacht, und jetzt war er nichts als eine Maschine, die den Tod ankündigte. Zum erstenmal seit seiner Kindheit weinte er wieder. Er traf lange vor Oldham oder seiner Sekretärin im Zeitungsgebäude in der Fleet Street ein, legte die Liste und einige Anweisungen auf den Schreibtisch des Herausgebers. TASU hatte ihn angewiesen, alles in einen Umschlag zu stecken, auf den persönlich’ zu schreiben war. 88
Er sollte nur von Mr. Chris Oldham selbst geöffnet werden. Er hatte noch ein Schreiben beigelegt. »Lieber Chef«, hatte er geschrieben, »ich finde es widerlich, daß ich das geschrieben habe, an der Echtheit des Materials kann jedoch kein Zweifel bestehen. Selbst die Androhung des Todes könnte mich nicht dazu bringen, die Quelle, aus der das Material stammt, preiszugeben. Veröffentlichen Sie es also auf Ihre eigene Gefahr hin. Mein Gott, ich wollte, ich wäre stark genug, alles zu zerreißen, bin es aber nicht. Und ich wollte, Sie wären stark genug, es nicht zu veröffentlichen. Sie sind es aber nicht.« Unter seine Unterschrift hatte er noch ,Nemesis’ gesetzt. Das sollte er bald zu bereuen haben. Er hatte seinen Auftrag erledigt und machte die Tür zu Chris Oldhams Privatbüro zu, als liege dort eine verwesende Leiche. Er wollte seinem Chef nicht unter die Augen treten. Er wollte nur noch zurück in seine Wohnung, sich dort verstecken. Und es gab immerhin noch die Möglichkeit, daß Oldham sich weigern würde, die Liste zu veröffentlichen. Eine schwache Hoffnung. Oldham rief an, doch Brad war alles andere als erleichtert, als er hörte, wie erregt die Stimme seines Herausgebers klang.
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»Brad«, legte der sich ins Zeug, »so etwas ist mir in meinem ganzen Leben als Herausgeber noch nicht passiert.« »Aber Sie wissen doch sicher, daß es zu gefährlich ist, das zu veröffentlichen, ich meine die Todesurteile von drei Menschen?« »Ja, Brad, ich halte es für gefährlich, wirklich, aber das wird mich nicht davon abhalten. Bestimmt nicht, und das alles verdanken wir Ihnen, mein Junge. Sie haben sicher eine Menge durchgemacht, bis Sie das Material hatten. Es wäre nicht recht von mir, es nicht für Sie zu veröffentlichen.« »Wegen mir veröffentlichen Sie das nicht, Chef. Ich habe meine Hände in Unschuld gewaschen, als ich Ihnen den Umschlag auf den Schreibtisch legte. Sie erinnern sich, ich schrieb: »Veröffentlichen Sie es auf eigene Gefahr!« »Weiß ich doch, Junge, na klar. Aber ich lasse mir nicht nachsagen, daß die Colossal Press Angst vor den nackten Tatsachen hat, und es ist unsere Pflicht den Männern gegenüber, deren Leben bedroht ist, unsere Pflicht. . .« »Wollen Sie mir damit zu verstehen geben, daß schon gedruckt wird ? « Die Verbindung war unterbrochen.
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Es blieb ihm nichts übrig, als zu warten, bis die Morgenausgabe erschienen war. Dann konnte er sich das Blatt kaufen. Er redete sich ein, daß der Spaziergang und die frische Luft wichtiger waren als zu sehen, wie Oldham die Neuigkeiten von TASU aufgezäumt hatte ... nichts als frommer Selbstbetrug. Das war ihm ganz klar und ebenso klar war ihm, daß er nur noch wenig Selbstachtung besaß. Er bezahlte die Zeitung und faltete sie hastig auseinander. DIESE MÄNNER SIND VERLOREN! So lautete die Schlagzeile. Brad wurde fast schlecht. Er hatte mit typischem Zeitungsstil gerechnet, und jetzt hatte er ihn. Seine Liste erschien in Form einer Kolumne, die mit ,Nemesis’ überschrieben war. Man hatte keinen Versuch gemacht, das Material abzuschwächen. Man hatte kein I-Tüpfelchen ausgelassen. Ganz im Gegenteil. Alles war maßlos hochgespielt worden. Ungläubig starrte er Sätze an wie ,Wir sehen es als unsere Christenpflicht an ...’ Unglaublich, daß sich sogar die Colossal Press so heuchlerisch gab. Aber was ihm wirklich den Rest gab, war eine klein gedruckte Schlußzeile. Da stand: »Der Herausgeber lehnt jede Verantwortung für die Echtheit dieser Spalte ab.«
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»Der Mistkerl! Da kann ich also den Karren aus dem Dreck ziehen«, sagte er laut. »Wie kam ich nur dazu, die Bande auf den Gedanken mit Nemesis zu bringen!« »Was ist los?« brummte der Zeitungsverkäufer. »Ich möchte wissen, warum dieses Zeug nicht gleich in die nächstbeste öffentliche Bedürfnisanstalt gekippt wird.« »Da ist was dran. Die Zeitungen sind heutzutage nichts als Schund.« Tom Wright sagte, daß er seinen Arbeitern empfehlen werde, zu streiken. Es ging um zwei Punkte, teilte der Funktionär der Druckergewerkschaft Chris Oldham unumwunden mit. Zunächst um das rätselhafte Verschwinden von Kenny Clark und dann um die Kolumne unter dem Titel Nemesis, die in den beiden letzten Ausgaben erschienen war. Die Auseinandersetzung fand in der Druckerei der Colossal Press statt. Der Gewerkschaftsfunktionär hatte verlangt, daß Oldham den Leuten am Arbeitsplatz gegenübertrat. Oldham hatte sich einverstanden erklärt. Politische Klugheit. Kein Herausgeber, der bei Sinnen war, würde sich weigern, an einem Schlichtungsverfahren teilzunehmen, das Tom Wright eingeleitet hatte. Oldham war gerissen und ging zunächst auf den zweiten Punkt ein. Er wies darauf hin, daß weder die Drucker 92
noch ihre Gewerkschaft Einfluß auf die Herausgabepraktiken nehmen könnten. »Das wollen wir auch gar nicht«, sagte Wright. Die Veröffentlichung von Material, wie es die Nemesisspalte enthielt, sei aber nicht nur unmoralisch, sondern setze die Mitglieder seiner Gewerkschaft Gefahren aus. »Gefahren? Wie soll denn diese Spalte Ihren Mitgliedern gefährlich werden können?« Oldham stellte sich dumm. »Mr. Oldham, wollen Sie vielleicht die Sache mit Kenny Clark unter den Tisch fallen lassen?« »Hören Sie, Mr. Wright. Wir alle wissen, daß Clark vermißt wird. Aber es gibt nicht den geringsten Hinweis, daß er ein Opfer dieser seltsamen Kraft ist, um die wir uns alle soviel Sorgen machen. Wäre er es, wo soll dann bitte seine flachgepreßte Leiche sein? Wir haben die Polizei benachrichtigt, daß er verschwunden ist.« »Und sollte ihn die nicht suchen?« »Wissen Sie, wie viele Menschen jeden Monat in diesem Land vermißt gemeldet werden?« »Nein, weiß ich wirklich nicht. Zum Teufel, wo kommen wir mit diesem Gerede überhaupt hin?« »Nirgendwo, wenn Sie nicht zuhören wollen.« Oldham hatte jetzt seine Zuflucht zu dem forschen und schwülstigen Ton genommen, der die Leute immer ärgerlich machte. »Ich sage Ihnen, Wright«, posaunte er, »jedes 93
Jahr verschwinden Hunderte von Leuten, und nur die Hälfte taucht wieder auf. Aber niemand fällt ein zu behaupten, jemand sei tot, nur weil er verschwunden ist. In dieser Welt kann man sich frei bewegen. Warum nehmen wir also nicht einfach nur an, Clark ist verschwunden?« Ein lächerliches Argument. Wright konnte es nicht durchgehen lassen. Er sagte: »Eine verdammt gleichgültige Einstellung.« »Das kann man vielleicht sagen, nehme ich an«, gab Oldham zu. »Aber denken Sie doch realistisch. Wir müssen uns mit den Tatsachen abfinden, Wright.« »Tatsache ist, daß Clark seine Arbeit, seine Frau und sein Kind nicht einfach verlassen hat, um sich nach Südamerika abzusetzen. Das wissen Sie ganz genau, Mr. Oldham.« »Warum setzen wir uns nicht oben in meinem Büro weiter auseinander«, sagte Oldham. Er wollte so schnell wie möglich die Welt der Arbeiter verlassen. »Es gibt nichts, was wir hier unten vor den Männern nicht ebenso gut wie oben besprechen könnten«, brüllte Wright. Das war eine Kriegserklärung. Das war seiner Stimme deutlich anzumerken.
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Führt sich auf wie eine Primadonna, dachte Oldham. Wie ein Fernsehinterview einen Gewerkschaftsfunktionär verändern kann! Chris Oldham lag nichts ferner, als das furchtbare Geschehen um die flachgedrückten Menschen vor seinen Arbeitern zu verniedlichen. Er sagte sich, daß nur ein Narr so vorgehen würde. Aber wollte er der tatkräftige, umsichtige Zeitungsverleger bleiben, dann blieb ihm nichts übrig, als in Rechnung zu stellen, wie unerhört wichtig die Nemesisspalte als Reklame für seine Blätter war. Ein Streik war also undenkbar, völlig unmöglich, und das teilte er Wright schroff mit. Die beiden Männer waren so vertieft in ihren Streit, daß sie kaum merkten, wie die Stimmung in der Druckerei umschlug. Die Arbeiter waren während des hitzigen Wortgefechts an ihren Plätzen geblieben und täuschten Interesselosigkeit an der Auseinandersetzung auf höchster Ebene vor. Der Stimmungsumschwung kam ganz plötzlich. Oldham merkte zunächst nur, daß eine unheilvolle Stille einkehrte, als die Druckpressen angehalten wurden. Er hatte die Stimmung der Leute noch nicht verstanden, als schon die meisten Arbeiter ihre Plätze verlassen hatten und sich auf sie zu bewegten. Erst der Anblick des gro-
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ßen stählernen Schraubenschlüssels, den einer von ihnen in der Faust hatte, jagte ihm Furcht ein. Tom Wright versuchte sein möglichstes, der anrollenden Woge Einhalt zu gebieten. »Geht an eure Arbeit zurück«, rief er. »Wartet, bis ich euch sage, wann ihr das Werkzeug niederlegen sollt.« »Du windest dich wie ein schleimiger Wurm, Tom Wright«, schrie der Mann mit dem Schraubenschlüssel. »Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Wenn du nichts unternimmst, um die verdammte Spalte verschwinden zu lassen, dann müssen wir eben etwas tun!« Die Lage wurde äußerst brenzlig. Die Leute machten sich wirklich Sorgen um Kenny Clark. Aus irgendeinem Grund brachten sie ihn mit der Veröffentlichung der Nemesisspalte in Verbindung. Daß sich Brad Minton gezwungenermaßen zu der Sache ausschwieg, verstärkte nur ihre Unruhe, und es hieß drohend, wenn Oldham nicht damit einverstanden sei, mit der Spalte Schluß zu machen, dann werde man die Druckpressen oder am besten gleich ihn selbst kurz und klein schlagen. Trotz seiner Angst schleuderte Oldham den Männern ein trotziges »Ach, geht doch zum Teufel!« entgegen. Er war eben so, er konnte nicht anders. Unglücklicherweise war seine Stimme so geladen, daß sie eine Explosion auslöste. 96
»Los, auf ihn!« brüllte der Mann mit dem Schraubenschlüssel. Tom Wright packte Oldhams Arm. »Dort zur Tür hinaus, schnell!« zischte er. Die Tür führte in den großen Ladehof, und Oldham machte einen Satz auf sie zu. Er rannte wie verrückt, die Männer dicht auf den Fersen. Wäre eine Fluchtmöglichkeit vorhanden gewesen, dann hätte sein würdeloses Ausreißen einen Sinn gehabt. Die Tore auf die Straße hinaus waren jedoch fest verschlossen und verriegelt worden – ironischerweise auf seine eigene Anordnung hin. Die wütende Menschenmenge drückte ihn gegen ein Tor. Der Schraubenschlüssel fiel laut klirrend aus der Höhe auf das harte Pflaster des Hofs. Alle standen wie zu Stein erstarrt, als plötzlich Blut spritzte. Oldham sah es als erster, wie es über den Schraubenschlüssel am Boden lief. Dann war plötzlich der ganze Hof voll. »Mein Gott! Seht mal!« rief jemand und zeigte auf die hohe Wand des Gebäudes, von der das Blut herabregnete. Ein Teil der blutbespritzten Menge versuchte durch die verschlossenen Tore zu entkommen, der andere drängte sich durch die Tür zurück in die Druckerei. Oldham hörte die Männer stöhnen, die dabei zu Boden getrampelt wurden. 97
»Verdammt noch mal!« Oldham versuchte einen riesigen Mann in Bewegung zu setzen, der auf einem Lehrling stand. Er stolperte unter Oldhams Ansturm und fiel auf den Jungen. Dann stürzten weitere Männer zu Boden. Immer noch spritzte Blut von der Wand. Obwohl der Umriß gräßlich verzerrt war, konnte Oldham erkennen, daß es sich um den Mann handelte, der ihn mit dem Schraubenschlüssel bedroht hatte. »Du widerlicher Saukerl!« Oldham fuhr herum. Einer der Arbeiter hatte den Schraubenschlüssel aufgehoben. »Schau, den hast du auf dem Gewissen!« schrie er und zeigte die Wand hinauf. »Dafür wirst du mir büßen!« Oldham hatte Glück. Der Mann zielte nach seinem Kopf, verfehlte ihn aber. Oldham flüchtete. Brad spürte, wie der Druck langsam von ihm wich, und blickte ab und zu durch das kleine Gitter auf den kalten Gang hinaus, ob sich da nicht etwas bewegte. Er war verblüfft, sich in Polizeigewahrsam zu finden. Sein Leben hatte sich in den letzten Tagen so plötzlich und gründlich geändert, daß er sich selbst kaum noch kannte. Der Immobilienhai Sir Samson Sterman hatte sich auf sehr handfeste Weise dagegen gewehrt, daß sein Name 98
in der Nemesiskolumne erschienen war, und hatte durchgesetzt, daß Brad wie ein Verbrecher in seiner Wohnung verhaftet wurde. Die Polizei hatte sich geweigert, ihn gegen Kaution freizulassen. Da war nichts zu machen. Brad konnte sich kaum eine Lage vorstellen, die noch ironischer gewesen wäre. Es war bitter genug für ihn gewesen, nach der Veröffentlichung der ersten Liste Lanns entsetzten Brief zu lesen. Aber dazu kam noch der Brief aus Derby, den die bestürzte Mutter und Schwester an ihn geschrieben hatten. Inzwischen war er im Gefängnis gelandet. Wenn Oldham nur ein wenig gescheiter oder verständnisvoller gewesen wäre, hätte er die Sache ausbügeln können. Sicher, er hatte versucht, Brad mit Hilfe einer Kaution freizubekommen, war dabei aber so vorgegangen, daß die Polizei widerspenstig wurde und Brad erst recht in Gewahrsam behalten wollte. Oldham hatte die Polizeiwache mit der Drohung verlassen, in der Angelegenheit weitere Schritte zu unternehmen. Das konnte nur heißen, daß er die Kolumne weiterhin veröffentlichen wollte. Brad war das nur zu klar, und er spürte, daß es der Polizei auch klar war. In gewisser Hinsicht war er froh, daß man ihn eingesperrt hatte. Er war zumindest von der Verantwortung
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befreit, wieder etwas für die Spalte schreiben zu müssen, und wenn das auch nur einen Tag lang so wäre. Es dauerte nicht lang, da kam sein Anwalt. »Du hast mich gerade noch erwischt, Brad«, sagte er, sobald das Schlüsselklappern verklungen war. Oldham wollte, daß sich Brad der Anwälte bediente, die für die Colossal Press arbeiteten, aber Brad traute ihnen nicht. Er zog es vor, daß sich sein Freund Frank Fox um seinen Fall kümmerte. Sie waren zusammen in Oxford auf der Universität gewesen, und Brad hatte seinen Freund erst kürzlich um Rat gefragt, was man unternehmen könne, falls er in die Lage kommen würde, in der er sich jetzt befand. Und es war eine Hilfe, daß Frank fraglos hinnahm, daß sich Brad unmöglich bereit finden konnte, die Quelle seiner Informationen zu nennen. Brad wußte, daß die Anwälte der Colossal Press danach gebohrt haben würden. Er warf einen neidischen Blick auf den Abendanzug seines Freundes. »Ein Treffen alter Schulkameraden.« Fox sagte es fast verlegen, als müsse er sich unter diesen ungewöhnlichen Umständen für etwas so Normales entschuldigen. »Die haben noch keine Anklage erhoben?« fragte er rasch. »Nein.«
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»Müssen sie aber bald tun. Sie können dich sonst nicht unbegrenzt hierbehalten.« Fox kramte in seiner Aktenmappe. »Ich habe glücklicherweise etwas aus Barnett, dem Anwalt von Sir Samson Sterman, herausbekommen. Wir stehen Gott sei Dank gut mit ihm.« Er nahm ein paar Papiere aus der Aktenmappe, warf einen Blick auf eines der Blätter und sagte: »Sir Samson hat in drei Punkten Klage gegen dich eingereicht: wegen Verleumdung, wegen Nötigung und wegen – hier kommt, wie ich glaube, die stichhaltigste – wegen Morddrohung.« »Das ist doch unglaublicher Schwachsinn, und du weißt das am besten, Frank. Ich habe dir doch die Lage klargemacht, in der ich mich befinde.« Fox hielt ihm die Nemesisspalte unter die Nase, die er ausgeschnitten hatte. »Du mußt zugeben, Brad«, sagte er, »daß das starker Tobak ist. Einem mächtigen Mann wie Samson Sterman kann niemand sagen, daß er ausradiert wird, wenn er nicht seine ganzen Bürowolkenkratzer den Armen zur Verfügung stellt. Eine solche Drohung kann nur dazu führen, daß sich Sterman energisch zur Wehr setzt.« »Aber Frank, du hast Barnett doch sicherlich erklärt, daß ich nur ein Sprachrohr bin? Ich erfinde überhaupt nichts, ich berichte nur.«
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»Barnett meint, da du das Sprachrohr bist, mußt du auch die Quelle dieser Kraft kennen.« »Das versteht sich von selbst. Aber wenn er als Anwalt sein Geld wert ist, dann weiß er, daß man mich nicht zwingen kann, meine Informationsquelle zu nennen.« Fox pflichtete ihm bei. »Barnett weiß das natürlich«, sagte er. »Was sollen dann diese Klagen?« »Nichts weiter als ein Kunstgriff, um an dich heranzukommen«, sagte Fox. »Die könnten behaupten, daß du den Inhalt der Nemesisspalte selbst erfindest.« Brad lachte bitter auf. »Wenn es zum Äußersten kommt«, sagte Fox mit Nachdruck, »dann führt dieses Verfahren sicher dazu, daß du wegen Beihilfe zum Mord angeklagt wirst.« »Wir können hoffentlich etwas zu meiner Verteidigung vorbringen?« fragte Brad. Fox warf ihm einen verzweifelten Blick zu. »Wahnsinn oder unkontrollierbarer Zwang. Beides ist nicht ohne Risiko«, erklärte er. »Die bauen wirklich darauf, daß Polizei und Gericht dich dazu bringen werden, sie zur Quelle dieses Schreckens zu führen. Und daß das für alle Beteiligten das beste wäre, ohne Rücksicht auf die Folgen, von denen du sprichst. Brad, du mußt daran denken, daß Menschenleben auf dem Spiel stehen.« 102
»Nur dann, wenn man sich nicht an die Bedingungen hält.« »Du glaubst, daß die Drohung wirklich ernst gemeint ist, Brad?« »Glauben? Ich glaube gar nichts mehr. Ich weiß es. Für diese Männer kann man mir keine Verantwortung in die Schuhe schieben. Es hängt von ihrem Gewissen und dieser Kraft ab.« »Sir Samson Sterman ist der einzige, der überhaupt reagiert hat, Brad, und der hat dich einsperren lassen.« »Was ist mit den beiden anderen?« »Die haben noch nicht einmal Stellungnahmen zu der Drohung abgegeben. So ernst nehmen sie sie.« »Frank, ich kann nur sagen, daß man sie noch einmal warnen muß.« Nachdem Fox gegangen war, brachte ein rothaariger Polizist das dürftige Abendessen. Der Polizist legte die Hände auf den Rücken und blieb stehen, als befürchte er, Brad könne sich mit Hilfe von Messer und Gabel heimlich davonmachen. »Müssen Sie hier bleiben?« fragte Brad. »Befehl. Tut mir leid, Sir. Sie würden es nicht für möglich halten, daß man es mit so einem Messer machen kann?«
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Brad gefiel das Essen gar nicht, und das Gespräch schon überhaupt nicht. »Was für möglich halten?« fragte er. »Daß jemand...«, sagte der Polizist, fuhr sich mit zwei Fingern über die Kehle und machte dazu gurgelnde Geräusche. »Gestern erst hat es jemand gemacht.« Trotz der abstoßenden Selbstmordgeschichte versuchte Brad etwas zu essen, mehr, um sich die Zeit zu vertreiben als seinen Hunger zu stillen. Die Vernehmung kam schneller, als er gedacht hatte. Es waren kaum fünf Minuten verstrichen, seit der Polizist das Geschirr fortgetragen hatte, da kam er wieder und führte ihn in den Vernehmungsraum. Jetzt sollte ihm die Hölle heiß gemacht werden. Es fing damit an, daß einige Minuten lang geschwiegen wurde. Hinter einem Tisch saßen zwei höhere Polizeibeamte, der eine in Uniform, der andere in Zivil. Der Uniformierte blätterte in einem Akt. »Setzen Sie sich, Mr. Minton«, sagte er. Brad wußte, daß er Inspektor Lawrence hieß. Der Beamte hatte ihm nach seiner Verhaftung eine besonders unangenehme halbe Stunde beschert. Er hatte strenge, schmale Lippen, und die kalten Augen ließen auf Gefühllosigkeit schließen. Der Mann in Zivil wirkte ein wenig menschlicher, machte aber keine Anstalten, sich ihm vorzustellen.
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Plötzlich wurde Brad mit Worten bombardiert und in die Mangel genommen. Anders konnte man das Vorgehen der beiden nicht bezeichnen. Irgendwie wäre ihm eine körperliche Folter beinahe lieber gewesen. Die Männer waren einmal kühl und höflich mit ihren Fragen, dann wieder nichts als brutal. Brad fiel ein, was mit Inspektor Southam geschehen war. Er konnte nicht erwarten, daß die Polizei auf seiner Seite war. Dennoch stellte er den beiden wieder und wieder seine Lage dar, ohne den kleinsten Funken Verständnis entfachen zu können. Über eine Stunde nichts als niederträchtige Angriffe. Immer wieder schleuderte man ihm dieselben Fragen entgegen. Dann plötzlich Stille. Keine Erklärung, keine Entschuldigung, nichts. Offensichtlich verärgert, schickte man ihn in seine Zelle zurück. Ihm war es eine Genugtuung, daß man ihn nicht weichbekommen hatte. Gleich nachdem man ihn in seine Zelle geschafft hatte, ging es los. Erst hörte er Schritte auf dem Gang, dann einen unterdrückten Streit, welcher wohl der richtige Schlüssel für seine Zellentür sei, und dann tauchte plötzlich ein Inspektor in Begleitung eines Sergeanten auf, die er beide noch nicht gesehen hatte. »Holen wir ihn schnell raus, Sergeant«, rief der Inspektor, als sie in die Zelle stürmten. Die beiden packten Brad an den Armen. 105
»Was soll denn das?« wollte Brad wissen. »Werden Sie gleich sehen.« Der Inspektor drängte ihn unsanft den Gang entlang. Der Sergeant fluchte laut und versuchte, den Schlüssel abzuziehen. Er hatte sich wieder verklemmt. Im Wachraum wies der Inspektor einen bleichen Polizisten an, Brad seine persönlichen Sachen auszuhändigen. »Aber ein bißchen schnell!« »Unterschreiben Sie hier, Sir.« Der Polizist schob ihm mit zitternden Händen die Sachen und ein Formular zu. »Was ist überhaupt los?« fragte Brad den Inspektor. Er schmierte seine Unterschrift hin und nahm seinen Kleinkram an sich. »Sie können sagen, daß wir Sie einfach los sein wollen«, sagte der Inspektor. »Hören Sie mal, Inspektor, vor ungefähr einer Stunde haben mich Inspektor Lawrence und noch jemand, den ich nicht kenne...« »Kriminalinspektor Ford«, warf der Polizist hinter dem Schreibtisch ein. Brad sah wieder den Inspektor an. »Ich glaube, man ist mir eine Erklärung schuldig«, sagte er. »Wo ist Inspektor Lawrence oder Ford? Ich verlange, mit einem der beiden zu sprechen.«
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»Mensch, was ist mit Ihnen los? Wollen Sie nicht, daß man Sie auf freien Fuß setzt?« fragte der Inspektor. Brad warf ihm einen scharfen Blick zu. »Halten Sie mich denn für einen Idioten?« »Bei Idiot bin ich mir nicht so sicher, aber ich weiß, daß Sie eine Gefahr für die Gesellschaft sind.« Brad erbleichte. »Ich stehe hier nicht vor Gericht«, fauchte er. »Was ich nur bedaure. . .« »Was zum Teufel!« »Ich würde kurzen Prozeß mit Ihnen machen.« »Sie sind verrückt.« »Das wäre schön. Dann könnte ich Sie kurz und klein schlagen und hätte nichts zu befürchten. Dann könnte ich auf verminderte Zurechnungsfähigkeit plädieren.« »Die Begleitmannschaft für ihn ist da, Sir«, meldete der Sergeant. »Begleitmannschaft?« brachte Brad mühsam heraus. »Ja«, sagte der Inspektor und winkte zwei Schutzleute herbei, die eben aus dem Nebenzimmer eingetreten waren. »Glauben Sie mir, Sie haben den Schutz bitter nötig. Aber warum wir uns die Mühe machen und Sie schützen, weiß ich wirklich nicht.« Dem Betragen der Polizei war zu entnehmen, daß die ganze Angelegenheit für sie zu heiß geworden war. Die 107
Schutzleute wollten sich auf nichts einlassen und hatten ihre Waffen entsichert. »Kommen Sie«, sagten sie und führten ihn rasch zur Tür, die auf die Straße hinausging. Sobald er vor der Polizeiwache war, wußte er genau, was geschehen war. Er hatte in Sunderland dieselben entsetzten Gesichter in der Menge gesehen, aber diesmal waren die Gesichter vor Wut verzerrt. Die Polizei hätte ihn freilich auch durch einen Nebenausgang schlüpfen lassen können. Nur hatte man das eben nicht gewollt. Man hoffte, daß sich die Menge auf ihn stürzen und das tun würde, was der Inspektor so gern getan hätte. »Da, schauen Sie sich Ihr Werk an!« schrie einer der Polizisten und zeigte auf die Mitte des Parkplatzes vor der Wache. Brad konnte nicht erkennen, was der Mann meinte. Nicht, daß das Licht schlecht oder die Dunkelheit schon hereingebrochen war. Die Beleuchtung war zu gut. Nichts als blendend helle Scheinwerfer, die üblichen Fernsehkameras, Pressefotografen. Er erkannte einen von ihnen, im gleichen Augenblick, als dieser auch ihn sah. »Da kommt Nemesis persönlich!« schrie der Mann und richtete eilfertig seine Kamera auf ihn. Scheußlich, wie die Menge auf ihn eindrang, ein Haufen Wölfe, der plötzlich Blut gerochen hatte. 108
»Schlagt den Kerl tot!« wurde geschrien. »Reißt ihn in Fetzen!« Er spürte einen Augenblick lang, daß es den Polizisten Freude gemacht hätte, ihn der Menge zu überlassen. Ihre berufliche Prägung erwies sich jedoch als stärker. Einer der beiden zog sich die Jacke aus, warf sie Brad über den Kopf und stieß ihn in einen wartenden Polizeiwagen. Der Fahrer mußte mit laufendem Motor gewartet haben, denn der Wagen fuhr sofort los. Brad riß sich die Jacke vom Kopf. Drei Männer waren im Wagen, die beiden Schutzleute und der Fahrer. »Wohin?« fragte der Mann hinter dem Steuer. Der eine Beamte hatte Brad die Jacke abgenommen und zwängte sich wieder hinein. »Victoria. Wir müssen ihn so schnell wie möglich loswerden«, sagte er zum Fahrer. Brad lehnte sich erschöpft zurück. Die Polizeiwache lag hinter ihnen, und das Treiben auf den Straßen sah ganz alltäglich aus. Die Autos, die erleuchteten Schaufenster, die Ampeln, die Leute. »Waren es Inspektor Lawrence und Inspektor Ford?« fragte er mit entsetzter Stimme. Sie blickten ihn ungläubig an. »Das wissen Sie doch selbst am besten!« 109
6.
EIN TREFFEN MIT DEM TOD! BLUT AUF DEM PLATZ!
Das hatte die Colossal Press aus einer schlichten Äußerung des Widerstands gemacht. Eine Gruppe von Leuten war von den schrecklichen Geschehnissen so berührt worden, daß sich Stimmen erhoben, die die Öffentlichkeit baten, eine Massendemonstration zu unterstützen, die um sechs Uhr abends auf dem riesigen Trafalgar Square stattfinden sollte. Obwohl die Einladung bedeutete, daß die Demonstranten entschlossen waren, öffentlich die Kraft der Nemesis herauszufordern, wußte Brad, daß diese Leute zu hingebungsvoll, zu ernst waren, um Worte wie Tod oder Blut auf dem Trafalgar Square zu benutzen. Oldham hatte wieder einmal eine Situation ausgeschlachtet. Brad ging angewidert in seiner Wohnung auf und ab, blieb manchmal stehen, um sich noch einmal Oldhams aufreizende Einladung durchzulesen, man solle zum Platz kommen und Zeuge dessen werden, was das Blatt eine Schlacht der Willenskräfte nannte. Wofür hielt Oldham eigentlich das alles? Für einen Gladiatorenkampf in der Arena, dem er vom Fuß der Nel110
sonsäule aus wie ein fetter Nero zusehen konnte? Brad war fest überzeugt, daß Oldham in seiner Gier nach Neuigkeiten hoffte, daß am Abend auf dem Trafalgar Square Blut fließen würde, ja es sogar herbeiwünschte. Es gab jetzt weiß Gott einiges, wogegen man demonstrieren konnte. Zwei Polizisten waren gestorben und zwei Tage darauf die drei Männer, die sich entschlossen hatten, sich der Kraft zu widersetzen und die Bedingungen, die in der Nemesisspalte niedergelegt waren, nicht zu erfüllen. Natürlich hatten sie es mit dem Tod bezahlt. Sir Samson Sterman war gegen die Fassade einer seiner Bürowolkenkratzer gepreßt worden. Die Tatsache, daß er die Klage gegen Brad mit einer öffentlichen Entschuldigung zurückgezogen hatte, hatte sein Leben nicht retten können. Ein paar Minuten später war Lord Osman entdeckt worden, der am Gebäude der Bank of England klebte, und kurz darauf Sir William Bruton, der am Kriegsministerium flachgedrückt worden war. Brad sah sich noch einmal die Schlagzeilen an und schleuderte die Zeitung wütend durchs Zimmer. Mein Gott, wie man die Tatsachen verdrehte!
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Ein leeres Glas auf dem Tisch bat stumm um einen weiteren Scotch, der diesmal ohne Wasser stärker ausfiel. Na schön, er konnte ihn vertragen. Als er vor einer Woche in Polizeigewahrsam gewesen war, hatte die Colossal Press ein paar recht ekelhafte Schlagzeilen gebracht, wie zum Beispiel ,Der Mann, den die Polizei nicht halten kann’ und ,Die Polizei muß bitter bezahlen, bis sie Journalisten freiläßt’. Bei dieser Erinnerung zuckte er zusammen. Dieses ungewöhnliche Schicksal war kaum sein Verdienst. Er lief im Kreis. Er würde sich daran gewöhnen müssen, in seine Wohnung eingesperrt zu sein. Unter anderem hatte die Veränderung in seinem Leben dazu geführt, daß es ihm völlig unmöglich geworden war, sein Büro in der Fleet Street zu benutzen. Nicht daß seine Kollegen in der Colossal Press etwas zu ihm gesagt hätten. Das, was sie nicht aussprachen, und die Blicke, die sie ihm zuwarfen, machten es ihm unmöglich, in sein Büro zu gehen. Schließlich hatte ihm Oldham selbst vorgeschlagen, daß er seine Arbeit lieber in seiner Wohnung in Victoria erledigen solle. Dabei sagte sich Oldham wohl: »Solange ich nur die Nemesisspalte kriege, kümmert mich alles andere wenig.«
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Laut hatte er gesagt: »Alles, um Ihnen das Leben zu erleichtern, mein Junge.« Manchmal konnte Brad seinen Chef wegen solcher geheuchelten Sprüche hassen. Die Drucker arbeiteten wieder zufrieden. Sie waren durch eine Nemesis-Zulage dazu überredet worden. Den toten Kollegen und Clark hatte man tunlichst vergessen. Aber Brad konnte die Ereignisse im Laboratorium nicht vergessen. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, jemandem davon zu berichten, hätte er sich sicher so angehört, wie ein Mann, der an fliegende Untertassen glaubt und einen Astronomen von ihrer Existenz überzeugen möchte, indem er ihm erzählt, er habe sich mit einem Weltraumwesen unterhalten. Nun, eins war sicher. Dieses Wesen kam nicht aus dem Weltraum, sondern stammte aus Highgate Hill. »Lann«, sagte er. Sie stand vor der Tür seiner Wohnung. »Ich wußte, daß du es bist, als ich das Klopfen hörte.« Sie hatte nicht geklingelt, sondern geklopft, als ob sie das Klopfen vereinbart hätten. Dabei stand sie zum erstenmal vor seiner Wohnung. Anscheinend gab es zwischen ihnen Gedankenübertragung. »Ich rief dein Büro in der Fleet Street an, und man sagte mir, du seist hier. Ach, Brad, darf ich hereinkommen?« fragte sie. 113
»Selbstverständlich, Lann. Schreckliche Manieren, dich draußen stehenzulassen.« »Mein Fehler, weil ich dich so einfach überfallen habe. Niemand kann dir schlechte Manieren vorwerfen«, sagte sie, als er ihr die Tür zum Wohnzimmer aufhielt und sie eintreten ließ. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dich zu sehen«, sagte er. »Ich glaubte, du seist so erbost, daß du mich nie wieder sehen wolltest.« »Glaubst du, daß mich meine Verärgerung davon abhalten könnte, dich aufzusuchen?« Sie streckte die Arme aus und umarmte ihn. Wie sehr sie beide die wenigen Minuten des Küssens und Streichelns brauchten! Doch dann befiel sie eine merkwürdige Befangenheit, und sie lösten sich voneinander. »Kann ich dir etwas zu trinken geben?« fragte er, um das Schweigen zu brechen. Sie bat ihn um Gin und Tonic. Er schenkte ihr ein. »Du trinkst nichts?« fragte sie überrascht. »Nein, ich habe schon genug.« »Trinkst du für dich allein?« »Eigentlich nicht. Ich trinke sonst nur in Gesellschaft. Allein trinke ich so gut wie nie. Aber heute hatte ich es nötig.« »Das Gefühl kenne ich.« 114
»Wirklich?« »Ja, vor allem in einem Augenblick wie jetzt.« »Wie jetzt?« »Ach, du weißt schon, was ich meine.« Sie streckte die Hand aus. »Ich habe dich doch sicher enttäuscht.« »Doch nicht absichtlich.« »Das macht nichts. Ich meine, dich erst zu reizen und mich dann zurückzuziehen. Vielleicht meinst du jetzt, daß ich darin Erfahrung habe.« »Ich weiß, daß das nicht so ist.« »Ich habe eigentlich überhaupt keine Erfahrung. Brad, nur wenn ich bei dir bin, fühle ich mich so. Du wirkst so auf mich.« Sie blickte nachdenklich in ihr Glas. »Weißt du«, sagte sie, »du bist der erste Mann, mit dem ich ins Bett gegangen bin.« »Da kann ich mir gratulieren.« »Brad, du glaubst mir nicht?« »Doch, doch.« Verblüffend, wie vernünftig er sich mit ihr unterhalten konnte, wo er doch ständig an ihren Vater denken mußte. »Was macht dein Vater?« fragte er schließlich, unfähig, dem Verlangen, über ihn zu sprechen, länger Widerstand entgegenzusetzen. Lann stellte ihr leeres Glas auf den Tisch. »Ich sehe ihn jetzt kaum noch«, antwortete sie. »Er bringt jetzt soviel 115
Zeit im Labor zu, und wenn ich ihn sehe, sieht er so abgespannt und müde aus. Ich mache mir schreckliche Sorgen.« »Er arbeitet vielleicht zuviel«, sagte Brad, der sie ein wenig über den alten Mann aushorchen wollte. Einen Augenblick lang mußte er sich zusammenreißen, um nicht mit der ganzen Sache herauszuplatzen. Er ging ans Fenster, war aber so gedankenverloren, daß er nicht hinausblickte. Dann ging er wieder in die Mitte des Zimmers, hob die Zeitung vom Boden auf und gab sie ihr. »Das ist es doch?« fragte er und klopfte mit den Fingern gegen das Papier. »Du ärgerst dich deshalb über mich. Und deshalb hast du dich von mir zurückgezogen?« »Ich ärgere mich dauernd über deine Nemesisspalte. Aber das sind bis jetzt die übelsten Schlagzeilen. Doch das ist nicht der Grund, warum ich mich zurückzog, Brad.« »Mein Gott, Lann, du brauchst es mir gar nicht so unter die Nase zu reiben. Du kannst doch nicht im Ernst glauben, ich hätte mir die Schlagzeilen ausgedacht?« »Um die Schlagzeilen kümmere ich mich nicht, mir macht Sorgen, was hinter all dem steht.« Sie stand wieder dicht vor ihm, hielt ihn an den Schultern gepackt und sagte: »Brad, Brad, was geht denn vor? 116
Hast du kein Vertrauen zu mir? Bitte, verrate mir das Geheimnis.« »Du kannst den sensationslüsternen Kerlen von der Colossal Press die Schuld geben, nicht mir, Lann.« »Ich habe dir schon gesagt, daß ich nicht die Schlagzeilen meine. Was macht das schon für einen Unterschied? Du hast das Material geliefert, aus dem sie gemacht wurden.« Wie sie im Kreis herumliefen! Lann verabscheute seine Rolle in der Nemesisgeschichte und hatte keine Ahnung von der Rolle, die ihr Vater spielte! Und ironischerweise stand vor ihm in ihrer Person der Grund dafür, daß er in die Geschichte hineingerissen worden war. Natürlich konnte er ihr das nicht vorwerfen. Sie war an allem unschuldig. Und Lann bedeutete ihm – nun, Lann war Lann und einmalig. Wenn er sich nüchtern die Frage stellte, was ihm im Leben am wichtigsten war – zur Hölle mit TASU und dem Schrecken und dem Professor – dann würde die Antwort lauten: Lann. Er umarmte sie wieder. »Lann«, sagte er, »Lann, wäre es nicht an der Zeit, daß der Professor auf dich verzichtet? Ich frage mich nämlich, ob ich noch ohne dich auskommen kann.« Sie löste sich rasch aus seinen Armen. »Brad«, rief sie, »ist das dein Ernst?« 117
»So ernst war es mir noch nie. Aber vielleicht meinst du, wir kennen uns noch nicht lang genug?« Sie ging zum Fenster und blickte in die Ferne, als bewundere sie die Aussicht. Dann sah sie sich über die Schulter nach ihm um und sagte: »Es geht nicht darum, wie lange ich dich kenne. Es kommt mir vor, als kenne ich dich seit Jahren. Aber die Sache mit meinem Vater ist eine sehr ernste Angelegenheit für mich, jetzt ganz besonders. Gerade jetzt kann ich ihn nicht allein lassen. Als es mir in meinem Leben am schlimmsten ging, hat er mich zu sich genommen und sich um mich gekümmert. Ich muß das gleiche für ihn tun.« »Hast du das Gefühl, daß es eine schlimme Zeit für ihn ist?« »Mir ist klar, daß er unter einer großen Belastung steht. Er ist seit kurzem so anders.« Wieder diese Befangenheit, die stillschweigende Übereinkunft, daß es nicht die Zeit war, sich zu lieben oder über die Zukunft zu sprechen. Lann sah auf ihre Uhr. Die Bewegung erklärte ihm, warum sie hier war und vielleicht auch, warum es zwischen ihnen Spannungen gab. »Halte dich vom Trafalgar Square fern«, sagte er. Ihm war nun klar, was sie im Sinn hatte.
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Wieder legte sie ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn an. »Wir sind zusammen durch etwas Unbeschreibliches hindurchgegangen, das uns für immer aneinander bindet.« Ihre Stimme war ruhig. »Wir können gar nicht anders, als gegen diese Scheußlichkeit zu kämpfen. Du heißt dieses Gemetzel doch nicht etwa gut?« »Dann hör um Himmels willen auf, etwas zu veröffentlichen.« »Meine eigene Haut will ich nicht retten, Lann. Aber ich sage dir, wenn ich nicht veröffentliche, dann werden wichtigere Leute als ich daran glauben müssen.« Er bemühte sich verzweifelt, aus der Zwickmühle zu kommen, in die sie ihn gebracht hatte. Ihm fiel nur ein, noch hinzufügen: »Lann, ich flehe dich an, geh nicht zum Trafalgar Square. Es ist zu gefährlich für dich.« »Warum sollte ich mich in größerer Gefahr als andere Leute befinden?« »Glaub mir, Lann, es ist so. Ich kann es dir nicht erklären. Du mußt mir vertrauen, wenn ich das sage.« »Das ist alles so wahnsinnig, daß man sich keinen Reim mehr darauf machen kann«, sagte sie verzweifelt. »Auf zügellose Gewalt hat man sich noch nie einen Reim machen können.«
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»Aber einen menschlichen Gewalttäter kann man aufspüren und die Gesellschaft vor ihm schützen. Was ist das für eine üble Kraft? Irgendeine unaussprechliche Gewalt oder das Schicksal selbst, das sich als Gegenpartei Gottes aufspielt?« »Manche halten sie für eine Art kosmischer Planierraupe, die eine neue Lebensweise erzwingen möchte«, sagte er. Er wollte ihren scharfen Verstand in ruhigere Bahnen lenken. Wieviel einfacher alles gewesen wäre, wenn er sich in der Lage gesehen hätte, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. »Eine neue Art zu leben wird nicht durch Gewalt hervorgerufen«, sagte sie. »Sie beginnt mit einer neuen Gefühlshaltung der Menschen. Und ich spüre, daß diese neue Haltung heute auf dem Trafalgar Square ihren Anfang nehmen wird.« Er schloß sie wieder in die Arme. Er war sich sicher, daß ihr Entschluß, zum Trafalgar Square zu gehen, völlig falsch war. Trotzdem war er einverstanden, sie zu begleiten. So, wie er auch einverstanden gewesen war, mit nach Stonehenge zu kommen, einverstanden, zu gehen, wohin sie auch ging. Kurz vor dem Trafalgar Square erblickten Lann und Brad die Demonstranten. Eine wohlgeordnete Menge, die Spruchbänder und Plakate mit sich führte, eine Gruppe von Leuten, die beieinander 120
blieben, obwohl links und rechts von ihnen Menschenmassen zum Platz strömten. An anderen Demonstrationszügen gemessen eine kleine Gruppe. Kaum mehr als fünfzig Leute. Junge Frauen mit angespannten Gesichtern, neben ihnen ihre zu allem entschlossenen Männer. Ernste Frauen mittleren Alters mit ihren gesetzten Gatten. Eine echte Auswahl einfacher Menschen, die zeigen wollten, daß es ihnen um die Wahrheit ging und daß sie keine Angst vor ihrem Tun hatten. Der Zug wurde anscheinend von den drei Generationen einer Familie angeführt. Sechzig jährige Großeltern, die Eltern Mitte Vierzig und die Tochter Anfang Zwanzig. Die Plakate zeigten nichts als große Fragezeichen, vorwurfsvoll wirkende Ausrufezeichen und ab und zu ein fragendes ,Was?’ oder ,Warum?’. Brad und Lann mußten nicht lange überlegen, was diese Zeichen bedeuten sollten. Was die schweigenden Marschierer ausdrücken wollten, war nur zu klar. Lann machte die Stille zu schaffen. »Ich fühle mich wie an der Kehle gepackt«, sagte sie. »Mein Gott, Brad, den Gesichtern ist wirklich anzusehen, daß sich diese Handvoll Leute Sorgen um die Menge macht.« Sie gingen nun auch schweigend weiter, und Brad war so von Ehrfurcht vor den Demonstranten erfüllt, daß 121
sein Journalistenverstand nicht umhin konnte, Worte zu suchen, die das Ereignis treffend beschreiben konnten. Ergreifend wie eine Pieta, das Flehen, die Sorge, die Angst. Vielleicht lag es an der Symbolik der Worte oder am gefühlsschweren Augenblick selbst, auf jeden Fall erfaßte ihn plötzlich heftiger Abscheu gegen TASU und äußerster Widerwillen gegen die Rolle, die er in diesem Rätselspiel innehatte. Während sie sich langsam dem Trafalgar Square näherten, faßte er Lann an der Hand. Sie sagte nichts. Er spürte aber am Druck ihrer Finger, daß sie verstand. An einer Ampel am Rand des Platzes blieben die Demonstranten stehen. Lann und Brad stellten sich hinter sie und erwarteten, daß die Menschenmasse hinter ihnen in der Straße ein Gleiches tun und nicht einfach wie durch ein Wunder in den Gebäuden, die den Platz umstanden, untertauchen würde. Es sah fast so aus, als geschehe es wie auf ein geheimes Kommando. »Man folgt also Oldhams Vorschlag«, flüsterte Brad Lann ins Ohr, »und sieht zu, anstatt die Demonstranten in ihrem Widerstand zu unterstützen.« Lann blickte sich wehmütig um. »Wer bloß zusieht«, sagte sie, »lebt länger.«
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Die Demonstranten bewegten sich selbstvergessen weiter, als die Ampel auf Grün schaltete. Ein merkwürdiges, peinliches Gefühl für Lann und Brad, allein hinter ihnen herzulaufen, zu wissen, daß sie von Tausenden unsichtbarer Augen beobachtet wurden. Überall Augen, nichts als Augen. Und die Fernsehkameras waren eifrig dabei, die ganze Szene aufzunehmen. Die Tarnung war vollkommen. Offenbar war jedes Gebäude rund um den Platz für Zuschauer geöffnet worden. Wer hatte das organisiert? Wer hatte den Zuschauern die Tribünen besorgt, die prächtigen Blick boten und vor jeder Gefahr sicher waren? Keine Anzeichen von Verkehr. Zweifelsohne hatte die Polizei den Verkehr, der sonst unablässig über den weiten Platz toste, aufgehalten und umgeleitet. Zuerst war Brad verblüfft, keine Polizisten zu sehen. Aber dann dachte er, daß es der Polizei niemand übelnehmen konnte, wenn sie heute einen weiten Bogen um den Platz machte. Die organisierte Ruhe zeigte, daß die Polizei hinter den Kulissen sehr bei der Sache war. Die Demonstranten liefen jetzt in einer ordentlichen Reihe über den Platz. Tauben umflatterten die düsteren Löwen. Lann und Brad lief es kalt über den Rücken, wie sie so einsam am Rand des Platzes standen, abgetrennt von denen, die Widerstand leisteten, und doch seltsam 123
eins mit ihnen, weil sie ihnen moralisch Unterstützung gaben. Brad wollte Lann beruhigen und schloß sie in die Arme. Der Zug umkreiste still die Mitte des Platzes, die Plakate in die Höhe gereckt, damit die unsichtbaren Zuschauer sie besser sehen konnten. Über allem lag wie ein Schatten die Gefahr. Die Herausforderer stimmten jetzt einen Singsang an. »Wir widersetzen uns.« Gespenstisch, wie das ,Widersetzen, widersetzen’ von den Wänden der Gebäude widerhallte. Brad spürte, wie Lann zu zittern begann. Er konnte es ihr nicht verdenken, er fühlte wie sie. Lann wandte den Demonstranten das Gesicht zu und nahm ihren Ruf auf. »Ich widersetze mich. Nehmt mich auf«, wiederholte sie immerfort, und Brad spürte, wie die Hysterie auf ihn übergriff. »Ich bin Brad Minton!« schrie er unüberlegt. »Verlaßt sofort den Platz und kommt mit mir nach Highgate, nach Highgate. Wir machen ein für allemal Schluß mit dem Ding! Ich führe euch hin.« Das Verwünschte war nur, daß ihm nicht die geringste Beachtung geschenkt wurde. Inzwischen hatte Lann den gleichen ekstatischen Gesichtsausdruck wie die Herausforderer, und sie legte den Kopf mit geschlossenen Augen zurück. In rhythmi124
schem Singsang rief sie: »Nehmt mich und ich widersetze mich! Nehmt mich und ich widersetze mich!« Die junge Frau, die Brad an der Spitze des Zuges gesehen hatte, fing nun an, sich auszuziehen, als sei das Ablegen der Kleider ein Symbol für Widerstand. Merkwürdigerweise wirkte es jedoch so. Während sie sich auszog, blickte sie sich um und lächelte ihm voller Unschuld zu. Ein unglaublich heiteres Lächeln. »Ich bin Brad Minton!« rief er ihr zu. Lann intonierte wieder: »Nehmt mich und ich widersetze mich.« Wieder lächelte das Mädchen. »Halt!« schrie Brad verzweifelt. »Ich kann euch zum Ursprung dieser Kraft führen. Wir können sie vernichten! Halt, halt!« Aber die junge Frau zog sich weiter aus. Sie blickte in seine Richtung und sang: »Wir widersetzen uns! Nackt kamen wir in diese Welt und, so Gott will, werden wir sie nackt verlassen. Nackt wie die Kinder leisten wir Widerstand!« Er wollte hin zu den Demonstranten, um sie aus ihrer Besessenheit zu reißen. Und wieder spürte er, wie im Laboratorium, diese verwünschte, alptraumartige Unfähigkeit, sich zu rühren. Krampfhaft versuchte er, sich zu bewegen, und merkte, daß sich Lann in seinen Armen 125
ebenso abmühte. Die Reaktion der halbnackten jungen Frau auf dem Platz und die unbeweglich abwartende Gruppe der Demonstranten zeigten ihm, daß seine Stimme nicht zu ihnen drang, daß sie ihm in der Kehle steckenblieb, daß man seine leidenschaftlichen Bitten nicht vernommen hatte. Als die junge Frau splitternackt war, sah man, wie schön sie war. Die Reinheit ihres Körpers wirkte auf die anderen wie ein Stichwort. Sie ging nackt durch die Menge, legte manchen die Hände auf die Schultern, lächelte sie an, als würde ihre Entkleidung zu einer Lösung führen. Irgendwie fühlten sich die schüchternen Frauen gezwungen, ihre Kleidung abzulegen, und dann waren sie zu sehen, wie bis jetzt nur ihre Liebhaber oder Männer sie gesehen hatten. Lann sang nicht mehr. Sie starrte mit aufgerissenen Augen zur Menge hinüber und begann aufgeregt an den Knöpfen ihres Kleides zu nesteln. »Um Gottes willen, Lann, hör auf!« Brad packte ihre Hände und hielt sie fest. Auf die stumme Aufforderung der jungen Frau hin hatten auch die Männer angefangen, sich auszuziehen. Ihr Vater hatte ein ganzes Leben voller Verklemmungen hinter sich und schämte sich so, daß ihm seine Frau aus den letzten Kleidungsstücken helfen mußte. 126
»Wir widersetzen uns!« Die nackten Menschen sangen weiter. Fast ein Bild der Auferstehung, wie von Breughel gemalt, dachte Brad, obwohl er wußte, daß es sich nicht um Auferstehung handeln würde. Er preßte Lann fester an sich und begann zu beten. Mit welchem Recht nahm er Zuflucht zu einem Gebet? Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr gebetet. Welcher Gott würde einen Heuchler wie ihn erhören? Der in Highgate, oder der in -ja, wo nur? Lann wurde jetzt in seinen Armen ruhiger und steckte Gott sei Dank noch in ihren Kleidern. Die nackten Demonstranten legten sich nieder, alle, bis auf den Vater der jungen Frau. Er hatte seine Scheu verloren und blieb als Anführer stehen und streckte dem Himmel die Hände demütig entgegen. »Wir sind gesetzestreue und gottesfürchtige Menschen«, rief er laut in die Höhe. »Wenn die Kraft letzten Endes dem Guten dienen soll, wie es heißt, dann fordern wir sie im Namen des Guten heraus, uns zu vernichten. Aber die Kraft sei gewarnt. Wir stehen für Vernunft und Gerechtigkeit ein, und wir haben uns geschworen, uns um jeden Preis zu widersetzen!« »Ihr seid wahnsinnig! Ihr unterschreibt euer eigenes Todesurteil!« Brads Stimme war plötzlich zu hören, war erstaunlich laut und hallte wie aus einem Lautsprecher 127
über den Platz. »Zieht euch an und geht, solange ihr noch Gelegenheit habt!« Die schreckliche Lautstärke seiner Stimme in der Stille machte ihn nervös. »Die Kraft kennt kein Mitleid«, rief er. »In dieser Sache bringt euch Massenhysterie keinen Schritt weiter. Was sich ihr in den Weg stellt, wird vernichtet, ob schuldig oder unschuldig. Zieht eure Sachen an und flieht, solange noch Zeit ist!« »Wer bist du, Bruder?« fragte einer der Demonstranten in einem Ton, der erkennen ließ, daß er nicht ein Wort verstanden hatte. »Ich bin Brad Minton. Ich kann helfen...«Die Worte blieben ihm im Hals stecken, er war wieder wie gelähmt. Der Mann wandte sich ab und begann stumm zu beten. Plötzlich erzitterte die Luft im Lärm eines Jumbojets, der über die Stadt in Richtung Kontinent flog. Langsam verebbte das Geräusch, und Stille senkte sich herab. Der Zwischenfall hatte die Spannung nur erhöht. Eine Frau schrie: »Ich will nicht sterben, ach bitte, ich will nicht sterben.« Sie versuchte auf die Beine zu kommen. Kein Anzeichen, das auf die Kraft schließen ließ, und doch spürten alle ihre Anwesenheit. Die Frau war wieder still, und der alte Mann legte sich neben seiner Frau und der Tochter auf den Boden. Lann schüttelte es.
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Dann riß sie sich mit übermenschlicher Anstrengung los. Aber sie hatte kaum ein paar Schritte in den Platz hinein gemacht, als die Stille in einem ohrenbetäubenden Lärm vieler Explosionen unterging. Es klang, als zerplatzten unzählige Luftballons. Blut spritzte höher als der Springbrunnen in die Luft und klatschte wie dichter Regen auf die Steinplatten zurück. Brad packte Lann am Kleid und zog sie zurück in seine Umarmung. Die Märtyrer lagen in ihren flachen Gräbern, und Blut strömte über ihre flachen Leichen. Lann wurde von einem Schreikrampf geschüttelt. In ihre Schreie mischte sich das Getöse von Krankenwagen, von Trillerpfeifen der Polizisten, die von überall her auf den Platz rannten. Wie auf ein Wort hin rasten dann die Menschen aus den Gebäuden und liefen wie aufgescheuchte Ameisen über den Platz. Sie waren mutig und wollten Rache nehmen, für Ordnung sorgen – Wünsche, die ihnen nicht eingefallen waren, als es vielleicht noch etwas zu retten gegeben hätte. Lann und Brad hörten die Menge drohend »Nemesis, Nemesis!« rufen. Die Menge hatte ihn irgendwie erkannt - oder war ihr voller Unruhe bewußt geworden, daß 129
Lann und er überlebt hatten, wo fünfzig Menschen gestorben waren? Warum nicht also zweiundfünfzig? Lann lag ruhig in seinen Armen, ihr Gesicht ganz unbewegt wie das einer schönen marmornen Madonna. Die Polizei wurde plötzlich äußerst rührig, war aber nicht zahlreich genug, um es mit der rasenden Menge aufnehmen zu können. Als – päng! Wie kann man das Geräusch beschreiben, wenn Tausende von Menschen mit einemmal gegen eine unsichtbare, unverrückbare Mauer rennen, und Tausende von Menschen hinter ihnen weiter drängen? Brad hörte dieses nicht enden wollende Geräusch, und es kam ihm wie der Todesschrei eines Universums vor. Als nächstes bemerkte er, wie der innere Kreis der Menge plötzlich langsam zurückgedrängt wurde. Und von außen her wurde die Menge nach innen gedrückt. Die Polizei wurde gegen die Menschenmassen gestoßen, wurde mit ausgestreckten Armen wie Gekreuzigte gegen die Menge gepreßt. Es konnte jeden Moment wieder zum Schlimmsten kommen. Lärm in der Höhe und Windstöße deuteten darauf hin. Die Lösung der Spannung war so unsinnig, daß es ihnen kalt über den Rücken lief! Denn vor ihnen tauchte wie ein Raumschiff aus einer anderen Welt der gelbe Hubschrauber der Colossal Press auf. Bevor sie noch einen 130
klaren Gedanken fassen konnten, hatte man sie schon an Bord gezogen, und der Hubschrauber stieg senkrecht in die Höhe. Sie kamen sich vor wie Raumfahrer, die einen unseligen Planeten verließen. Die Unwirklichkeit der Szene wurde dadurch noch erhöht, daß Johnson, der Starfotograf und Kameramann der Colossal Press wie verrückt filmte, während der Hubschrauber über den Platz schwebte und dann das flache Dach des Zeitungsgebäudes ansteuerte. Brad nahm Lann auf die Knie, um in dem überfüllten Hubschrauber Platz zu schaffen und Johnson die Arbeit zu erleichtern. Das war also der Grund, warum Oldham einen Einsatz des gelben Dings gewagt hatte! Doch Gott oder TASU sei Dank, die Menge unter ihnen war wieder in Bewegung gekommen. 7.
Der Professor nahm mit verbissenem Gesicht einen schweren Hammer, ging im Laboratorium auf und ab und wog ihn in den Händen. Voller Abscheu betrachtete er sein Geistesprodukt. TASU hatte nur zu deutlich gezeigt, wie gültig das physikalische Gesetz von Wirkung und Gegenwirkung war. Er 131
hatte nicht die Absicht gehabt, das Ding so mächtig werden zu lassen. Er mußte geträumt haben, daß er es erst jetzt merkte. Er hatte keine Ahnung, woher ihm plötzlich diese Hellsichtigkeit gekommen war, aber zweifelsohne war ihm jetzt alles sehr klar. Natürlich besaß er die Kraft, seine Schöpfung zu zerstören. Dessen war er sich gewiß. Es gab dennoch eine wichtige Frage, und bei Gott, sie war wirklich wichtig: was war in den letzten Wochen mit ihm geschehen, was nur? Die Unfähigkeit, sich an die Einzelheiten zu erinnern, machte ihm Sorgen. Es war ihm, als sei er aus einem bösen Traum erwacht, in dem sich alles nur um TASU drehte. Während der letzten Tage hatten ihn leere Augenhöhlen und flache Schatten heimgesucht. Er spürte, daß er auf eine entsetzliche Weise mit den gräßlichen Vorkommnissen zu tun hatte. Voller Schrecken verwarf er den Gedanken als zu weit hergeholt. Er legte den Hammer vorsichtig nieder. Das Verlangen, TASU zu zertrümmern, war gewichen. Das wäre zu barbarisch gewesen. Weit besser, es sorgsam auseinanderzunehmen. Das würde er machen. Es war ein Fehler gewesen zu glauben, man könne die Gehirnzellen eines kriminellen Subjekts wie Frederick 132
James Sutton von ihrer Erinnerung befreien und wieder zum Leben erwecken. Er hätte sie nicht verwenden dürfen. Wie konnte er sich nur dazu durchringen, die Verbindung zu dem Gehirnteil zu unterbrechen? Er konnte sich deutlich vorstellen, wie er das kostbare Zellmaterial in den Ausguß des Labors schüttete, wie es sich gurgelnd und protestierend aus der Hölle künstlich verlängerten Daseins davonmachen würde. Aber dazu konnte er sich nicht aufraffen. Ihn plagten starke Schuldgefühle. Alles war ihm unheimlich. Er spürte, daß hinter ihm das Schicksal stand und mit dem Finger auf ihn zeigte. Voller Schrecken wurde ihm bewußt, daß es sein Schicksal war. Er wandte sich um und sah es, wie es vor ihm stand und auf ihn zeigte. Er duckte sich vor ihm, dem Abbild seiner selbst. Er krümmte sich, als es zu ihm sprach. »Du wirst nie wieder fähig sein, eine solche Tat in Betracht zu ziehen«, sagte es. »Von jetzt an wirst du keinen eigenen Willen mehr haben. Augenblicke der Klarheit wird es nicht mehr geben.« Und dann begann seine Auflösung, wurde ihm sein Geist entzogen. Er wurde ihm wie Ektoplasma aus einem Medium ausgesogen. Er sah ihn in Wellen aus sich herauswirbeln, und zurück blieb nur die leere, greisen133
hafte Schale, die von nun an der Welt gegenübertreten würde. Es war durchaus wichtig, daß er mit der Welt in Verbindung blieb. Er mußte essen. So einfach war das, wurde ihm mitgeteilt. Man brauchte die Grundmuster seines Hirns. Und Hunger konnte seine Gehirntätigkeit beeinträchtigen. Ein Hirn, dem Sauerstoff fehlte, würde falsch funktionieren. Und TASU brauchte die Gedankenformen seines Gehirns in guter Verfassung, um seinen Vernichtungsfeldzug zum Wohl der Menschheit fortsetzen zu können. Der alte Mann weinte bitterlich, als er spürte, wie sich vor seinen Augen sein rein logischer Geist verzerrte, um der verderbten, grausamen, kalten Logik von TASU Platz zu machen. Bevor sich sein Bewußtsein in Vergessenheit verlor, fühlte er noch, wie sich Elektroden informationsversessen an seinen Kopf legten. Er wußte, daß es unsichtbare, unfaßbare Fühler waren, die ihn nicht mehr loslassen würden. Und dann hatte er seinen Körper verlassen, sah sich selbst mit den Augen des Unwesens, das seinem Denken entsprungen war. Er ging anscheinend von einem Körper in den anderen über. Jetzt war er in seinem Körper, dann in dem Ge134
dankenleib und lauschte, was sein armseliges, vergreistes Ich von sich gab oder vielmehr eingab, Nemesis als Botschaft eingab. Wer war Nemesis? »DIE ÖFFENTLICHKEIT SOLL ZEIT ZUM NACHDENKEN HABEN«, hieß es. »SAG IHR, DASS BEICHTEN DER SEELE GUT TUT! SAG DER WELT, SIE SOLL SICH GEGEN DAS BÖSE ERHEBEN. WER ES NICHT TUT, WIRD ZU TODE GEDRÜCKT.« Mit bejammernswerter Schwäche kämpfte er darum, wieder in den Besitz seines Körpers zu kommen. Nichts war ihm widerwärtiger, als eine solch kindliche Logik von sich zu geben. Was war das für eine Logik, und von wem stammte sie? Doch nicht von ihm? Das konnte nicht sein. Und dann ergriff TASU wie ein böser Geist für immer Besitz von seinem Gehirn. An der Speaker’s Corner erblickte sie eine hagere Gestalt, die auf einer Seifenkiste stand. »Siehe da!« sagte der Mann, »der Tag ist gekommen.« Lann hatte die Untergrundbahn verlassen, weil sie auf dem Weg zu einer Bushaltestelle an der Hyde Park Corner durch den Park spazieren wollte. Sie hatte frische Luft nötig, brauchte einen klaren Kopf. Sie war jetzt so oft allein, seitdem ihr Vater so gut wie nie mehr nach Hause kam. Sie hatte daran gedacht, in Knightsbridge 135
ein paar Einkäufe zu erledigen, um in dieser verrückten Zeit etwas Vernünftiges zu tun. Doch der Mann an der Speaker’s Corner fesselte ihre Aufmerksamkeit, wie er mit fanatischem Gesichtsaudruck auf die Ansammlung von Menschen herabblickte, deren Gesichter vor unechter religiöser Ekstase glühten. »Nemesis heißt euch«, dröhnte er, »meine Brüder und Schwestern, euer Innerstes zu enthüllen, denn das sagt er. Denkt daran, es kann eure letzte Gelegenheit sein, denn ich sage euch, der Zorn Gottes ist über uns. Siehe da, Nemesis wird die Gottlosen niederstrecken, so wie er sie schon geschlagen hat. Legt also Beichte ab, ja, bekennt eure Sünden. Ist hier jemand«, sagte er, hob die Hände zum Himmel und senkte die Stimme, »der den Mut hat, vor der Welt zu bekennen. Du dort!« Er zeigte auf eine weißblonde, rundliche, schlecht geschminkte Frau um die Vierzig. »Der Herr sei dir gnädig, Schwester. Möchtest du beichten?« »Ja, ich hab gesündigt!« rief sie fast etwas zu eifrig, wie Lann meinte. »Möge dir Gott vergeben, Schwester, und dir Mut verleihen.« »Also, also... ich habe mit dem Bruder von meinem Mann gesündigt.«
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»Der Herr vergebe ihr, denn sie hat sich der Hurerei schuldig gemacht«, sagte der falsche Prophet. »Haben wir das nicht alle?« rief ein ungläubiger Schotte, der am Rand der Menschenansammlung stand. »Das ist noch nicht alles«, schrie die Frau in das allgemeine Gelächter, als wolle sie um jeden Preis ihr Innerstes bloßlegen. »Ich habe mit dem Mann meiner Schwester gesündigt – ich meine gehurt...« Diesmal schaltete sich ein menschliches Wrack in der Menge ein, hob die Hand, um nicht übergangen zu werden, und rief dazwischen: »Entschuldigung. Ich habe jahrelang davon gelebt, Gas- und Stromuhren auszuplündern.« »Siehe da«, rief der Schotte, »der Gasmann ist nahe.« Überraschend schnell verwandelte sich der selbsternannte Heilige in einen modernen harten Typ. »Hör mal, Junge«, sagte er und schüttelte die Faust. »Wir sind hier ernsthaft im Namen Gottes und Nemesis zusammengekommen. Du haust jetzt lieber ab, oder ich komm runter und schlag dir die Zähne ein. Halleluja.« Wieder streckte er die Hände anbetend zum Himmel, wo sein weitherziger, entgegenkommender Gott hauste, und rief: »Noch jemand?« Der Schotte schwieg, und die Menge mit ihm.
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Vielleicht lag es daran, daß die Spannung gewichen war oder weil alles so lächerlich schien. Auf jeden Fall lachte Lann laut los. Sie hatte bestimmt nicht vorgehabt, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber zu ihrer größten Verlegenheit war ihr genau das gelungen. Der falsche Prophet sah sie an und bemühte sich, frommerschrocken auszusehen. »Schwester«, sagte er und wies anklagend mit dem Zeigefinger auf sie, »das war der Teufel, der in dir gelacht hat. Ich habe ihn gehört. Wir alle haben ihn gehört, oder etwa nicht?« Lann wartete die Antwort der Menge nicht ab. Sie machte sich rasch davon, und der Magen drehte sich ihr um, so schrecklich roh kam ihr dieser lüsterne Johannes der Täufer vor. »Mädchen, das Ende naht!« Lann erkannte den Hippiekerl wieder, diesen fanatischen, bärtigen Prediger. Sie hatte ihn in Stonehenge gesehen. Er hatte noch immer die Gruppe peinlich unecht wirkender buddhistischer Mönche um sich, war aber jetzt noch dazu von einem Harem bleichgesichtiger Mädchen umgeben. »Komm her, Schwester«, rief er mit amerikanisch breiter Stimme, »Jesus ruft dich.« Wie verwirrt diese Halbwüchsigen sind, dachte Lann. Wie sie glauben, buddhistische Selbstüberwindung und 138
christliche Reinheit mit den tausendundein Genüssen des Harems vereinen zu können! Die ganze Gruppe gefiel ihr gar nicht, und der Fernsehreporter, der jetzt mit einem Kameramann auftauchte, paßte ihr noch weniger. Am liebsten hätte sie ihm das Mikrofon aus der Hand geschlagen. »Sagen Sie, würden Sie gern eine Beichte ablegen?« fragte er und hielt ihr unverschämt das Mikrofon vor den Mund. »Nein.« Sie wandte sich ab, um nicht aufgenommen zu werden. »Ich bin sicher, daß eine so hübsche junge Frau etwas zu beichten hat«, sagte er und lief ihr nach. »Eine kleine Sünde, an die Sie sich nicht erinnern wollen?« »Ich möchte nicht interviewt werden«, sagte Lann. Das Interesse war verflogen. Kamera und Mikrofon richteten sich auf einen Jungen und seine Freundin, die Jeans anhatten. »Haben Sie unseren Zuschauern irgend etwas zu beichten?« fragte der Reporter. »Also, ich weiß nicht, wirklich«, sagte der Junge. »Ein harter junger Bursche wie Sie ist doch sicher schon mal vom Weg abgekommen?« »Vom Weg abgekommen? Weiß nicht, wovon Sie reden. Ob ich mal was Schlimmes gemacht hab’?« 139
»Genau. Kommen Sie schon. Sie sehen so aus, als hätten Sie schon ganz schöne Dinger gedreht. Möchten Sie unseren Zuschauern nichts darüber berichten? Alle beichten etwas. Sie wollen doch nicht, daß man Sie übergeht?« »Mensch«, sagte der Bursche und fiel auf die Masche mit dem harten Typ herein, »einmal ham wir ’nen alten Mann zusammengeschlagen – ich und meine Kumpels – Bill Fullman und Joe Simpson ...« Lann erschrak, als sie ihn Namen und Adressen seiner Komplizen nennen hörte. »Hören Sie«, sprach der Reporter in sein Mikrofon, »ein wunderbares Beispiel ausgleichender Gerechtigkeit. Können Sie uns noch mehr erzählen?« Dem Jungen wurde das Mikrofon wieder vors Gesicht gehalten. »Wir haben gar nich’ vorgehabt, ihm was zu tun, wirklich, wollten ihn bloß n’ bißchen vermöbeln. Haben gar nich’ gemerkt, daß er dann hin war. Fragen Sie die hier«, sagte der Junge und zeigte auf seine reizlose Begleiterin. »Sie waren dabei, Miß ...?« »Flack, Sandra Flack. Ja, ich war wirklich dabei.« »Waren Sie der Ansicht, daß Ihre Freunde zu weit gingen, und haben Sie versucht, sie davon abzuhalten, einen alten Mann zu verdreschen?« 140
»Nö, hab’ ich nich’.« »Warum nicht?« »Na, weil das so ein alter Schmutzfink war, Sie wissen schon.« »Wieso sagen Sie, er war ein alter Schmutzfink?« »Hat er’s vielleicht nicht bei mir versucht? Und ich noch minderjährig!« . , »Haben Sie den alten Mann aus moralischen Überlegungen zurückgewiesen, oder waren Sie vielleicht noch Jungfrau und wollten unberührt bleiben?« »Nö, nich’ wirklich. Ich hab’s mit ihm, seit ich elf war«, sagte sie und nickte zu ihrem Freund hinüber, der sich selbst als Mörder zu erkennen gegeben hatte. »Und mit Bill und Joe hab ich’s auch gehabt. Aber er hier, der ist mein fester Freund. So, das ist meine Beichte.« Sie grinste schwach in die Kamera, um zu zeigen, daß sie fertig war. »Ist die Polizei nicht draufgekommen?« fragte der Reporter den Burschen. »Nein. Die wollten’s gar nicht wissen.« »Haben Sie keine Schuldgefühle wegen der Sache?« »Eigentlich nich’, wirklich nich’.« »Soll das heißen, daß Sie es nicht bedauern, einen alten Mann getötet zu haben?«
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»Also mir hat’s schon ein bißchen leid getan, aber der war alt und hätt’ nich’ mehr lang gelebt.« »Aber schuldig fühlen Sie sich nicht?« Der Reporter wollte es anscheinend nicht glauben. »Nö, mir hätte die Polizei doch erst mal die Schuld nachweisen müssen, nich’?« Lann wäre am liebsten schreiend aus diesem Alptraum geflüchtet, aber die nackte Häßlichkeit der Szene bannte sie. Dann erschrak sie, weil der Reporter einen mit einer Kapuze vermummten Mann erspäht hatte. Hinter ihm marschierten fünfzig weitere Kapuzenmänner. Sie sahen nicht nur wegen der Vermummung so unheilvoll aus. Ihre ganze Körperhaltung verstärkte den Eindruck. Breitbeinig und gestiefelt stapften sie daher, hielten die Arme seitlich weggestreckt und hatten Stöcke in den Händen, die wie Totschläger aussahen. »Sind Sie der Anführer dieser Gruppe?« fragte der Reporter den Mann, der als erster bei ihm war. »Ja, bin ich.« »Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?« »Nein, es würde nichts nutzen, wenn ich Ihnen meinen Namen mitteilte.« »Ich nehme an, Sie sind Mitglieder der Gruppe ,Männer des Gerichts’, über die man seit neuestem so viel hört. Sie erinnern mich aber eher an den Ku-Klux-Klan.« Der 142
Reporter unterbrach sich für einen Augenblick, während die Kamera zu dem Jungen und seiner Freundin schwenkte, die von den Vermummten gepackt worden waren. »Sagen Sie mir«, sagte er zu dem Anführer der Kapuzen, »wie nennt sich Ihre Gruppe oder Gemeinschaft?« »Die Leute nennen uns ,Männer des Gerichts’, aber wir beanspruchen so einen Ehrentitel gar nicht.« »Würden Sie sich als eine Gruppe bezeichnen, die in Sachen Recht zur Selbsthilfe greift?« »Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie uns so nennen.« »Darf ich fragen, was Sie als Ihre Aufgabe ansehen?« »Das Recht wiederherzustellen und die Schuldigen streng zu bestrafen, wie Nemesis sagt.« Der Reporter gab dem Kameramann rasch ein Zeichen. Dieser machte unverzüglich eine Nahaufnahme des jungen Paares, das sich verzweifelt gegen die Männer des Gerichts zur Wehr setzte. Dann schwenkte die Kamera zurück zum Reporter. »Und wer gibt Ihnen Befugnis, Recht zu sprechen?« »Nemesis.« Lann stand noch immer wie angewurzelt. Die Unverfrorenheit dieses Halsabschneiders lähmte sie. Ihr blieb die 143
Luft weg. Es war klar, daß er sich der Sache der Gewalt anschließen wollte. »Sind diese Männer Anhänger oder Jünger der Nemesiskraft?« fragte der Reporter und zeigte auf den Haufen Halsabschneider, die das junge Paar jetzt zu Boden geworfen hatten. »Ja, das sind Angehörige der Gruppe Nemesis, die bald die ganze Welt bereisen wird, um Gläubige aufzunehmen. Bald werden sich auf der ganzen Welt Gruppen bilden.« Lann hatte genug gehört und gesehen. »Haltet sie auf!« schrie sie in die Menge. In ihrer Nähe stand eine große Anzahl Männer. »Wieso wollen Sie sich einmischen?« sagte einer. »Die beiden haben doch einen Mord zugegeben. Die verdienen, was ihnen jetzt passiert.« Einer der Vermummten drehte sich um und drohte ihr mit seinem Totschläger. Sie hob einen Stein auf, der zwar groß und schwer war, den sie aber doch gezielt schleudern konnte. Sie warf ihn wie einen Cricketball. Cricket hatte sie schließlich auf der Schule gelernt. Mit einem unglaublich lauten Krachen zersplitterte das Objektiv der Fernsehkamera. Tiefe Befriedigung erfüllte sie. Einen Augenblick starrte sie auf ihr Werk und wunderte sich über das Ausmaß ihrer Geschicklichkeit. Doch 144
dann mußte sie wieder zurück in die Wirklichkeit und die nackte Gewalt mit ansehen, die sich vor der gleichgültigen Menge breitmachte. Sich zwischen die Männer des Gerichts zu drängen und zu versuchen, ihrem rohen Treiben Einhalt zu gebieten, konnte Selbstmord sein. Aber sie versuchte es voller Mut. Kaum hatte sie den ersten Schritt getan, erkannte sie, wie gefährlich es war. Sie packte sogar einen der Vermummten an den Schultern, um ihn wegzuzerren. Er drehte sich um, und durch die Sehschlitze der Kapuze blitzten seine haßerfüllten Augen. Dann spürte sie den Luftzug, als sein Schlagstock knapp an ihrem Kopf vorbeisauste. Da verließ sie ihr Mut und sie ergriff die Flucht. Der Mann rannte eine Weile hinter ihr her. Gott sei Dank war eine Menge Menschen im Park, und sie konnte ihn abschütteln. Im Laufen sah sie einen Polizeiwagen mit Blaulicht und heulender Sirene in den Weg einbiegen. Lann wußte, wo er hinfuhr. Mein Gott, hoffentlich ist es nicht zu spät, betete sie. Sie verlangsamte ihre Schritte. Das Leben war so grausam geworden. Es hatte kaum noch etwas mit dem zu tun, an das sie gewöhnt war. Sie lief ziellos weiter durch den Park und blickte sich nervös um. Da stand ein katholischer Priester mit einem Transparent, auf dem stand: »Der Heilige Vater be145
schwört alle, zur Vernunft zurückzukehren.« Dann sah sie eine kleine Gruppe kreischender Kinder, die mit ernsten Augen hinter einer Zwölfjährigen herrannten und schrien: »Sie hat gesündigt.« In der Nähe war ein auffällig gekleidetes, rothaariges Strichmädchen, das laut erklärte, es wolle sein Gewerbe sein lassen und Kellnerin werden. Ein verkommener Säufer schwenkte seine Flasche und lallte: »Zeig dich, Nemesis, du Saukerl. Zeig dich, und ich schlag dir den verdammten Schädel ein!« Noch niemand widersetzte sich dem Schicksal oder Nemesis. Ein Stückchen weiter trieb es im Gras ein junges Paar vor allen Leuten. Lann fing wieder an zu rennen. Sie hatte keine Angst, war nur nervös. Das Liebespaar war nicht mehr zu sehen, und sie war jetzt in eine Gruppe von Angehörigen der Heilsarmee geraten, in der gesungen, Tambourine und Trommeln geschlagen wurden. »Wirst du kommen, wirst du kommen ...« Das laute Schnattern der Enten auf dem See klang wie ein höhnisches Lachen. Lann ließ sich auf eine Parkbank fallen und wurde von Lachen und Schluchzen zugleich geschüttelt.
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8.
Eine Woche schon war TASU mit ihm nicht mehr in Verbindung getreten. Seit der weitschweifigen Botschaft nicht mehr, in der es hieß: »Beichten tut der Seele gut. Jetzt liegt es an den Menschen, die Welt in Ordnung zu bringen. Die Reichen müssen ihr Geld an die Armen verteilen ...« Brad schüttelte sich, wenn er an den Rest der Botschaft dachte. Wer hätte gedacht, daß diese letzte Erklärung eine solche Welle der Gefühlsduselei, eine so leidenschaftliche Beichtorgie auslösen würde, die sich im ganzen Land wie ein Waldbrand ausbreitete? Es schien, als sei allen ein besonders starkes Hirnabführmittel verpaßt worden. Obwohl sich ein Teil der Gesellschaft, der sich »Männer des Gerichts« nannte, gegen den anderen stellte, sich als Beichtvater, Richter und Henker aufspielte, nahmen die Massenhysterie und der Zwang zum Beichten nicht ab. Wenn dies aus Angst vor der unbekannten Macht der Nemesis geschehen wäre, hätte man es verstehen können, dachte Brad. Aber dem war nicht so. Die Hysterie wurde von diesen Gerichtsleuten geschürt. Wie konnten diese Halsabschneider nur so über Nacht auftauchen? Was für Leute waren das überhaupt? Wo kamen sie her? 147
Und warum hatte man solche Angst vor ihnen, warum wehrte man sich nicht? Die ganz Schlauen machten ihn ebenso wütend, die, um sich einzuschmeicheln, erklärten, die Männer des Gerichts führten nur die Überlegungen von Nemesis aus, und öffentlich kundtaten, Nemesis hätte die Halsabschneider ermächtigt, so und nicht anders vorzugehen. Die Anzahl von Bekenntnissen, bei denen es um Mord, Vergewaltigung, Einbruch und Diebstahl ging, hatte die Polizei in Schwierigkeiten gebracht. Wer nicht bei den Männern des Gerichts beichten wollte, reihte sich in die Schlangen vor den Polizeiwachen ein. Die Polizeipräsidenten im ganzen Land beschworen die Öffentlichkeit, Mäßigung zu üben und zu begreifen, daß kein Rechtssystem mit einer solchen Flut von Eröffnungen fertig werden konnte. Ein Sprecher von Scotland Yard erklärte öffentlich, daß es keine Polizeidienststelle mehr gäbe, die auch nur einen einzigen weiteren Fall von Selbstanzeige bearbeiten konnte, selbst wenn es sich um Mord handelte. »Na schön«, sagte Brad. »Freie Bahn für die Männer des Gerichts.« In der Zwischenzeit hatte die Armee ein Manöver angesetzt, das ,Suche’ genannt wurde und mit dessen Hilfe
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man die Lage in den Griff bekommen wollte. Man hatte sogar schon zivile Hilfskräfte eingezogen. Brad rief Oldham an und teilte ihm mit, daß er noch immer nicht die Absicht hätte, in sein Büro in der Fleet Street zurückzukehren. »Immer mit der Ruhe, Junge. Melden Sie sich, wenn wieder etwas kommt«, sagte Oldham. »Sie haben sich eine Pause wohl verdient. Sie haben eine Menge durchgemacht. Seien Sie also vorsichtig. Ich halte zu Ihnen. Mehr kann ich doch wirklich nicht tun, was, mein Junge?« »Mist!« schrie Brad ins Telefon und warf den Hörer so fest auf den Apparat, daß ein Stück Kunststoff abbrach und durchs Zimmer wirbelte. Dann legte er sich aufs Bett und ließ sich seine Lage durch den Kopf gehen. Er überlegte, warum er weitermachte, wenn andere aufgrund einer Idee starben, die dem Gehirn eines Menschen entsprungen und nicht aufzuhalten war, die sich immer weiter ausbreitete. Es war nicht nur die Nähe des Telefons, die ihn störte. Da stand es auf einem weißen Tischchen neben seinem Bett, zeigte deutlich, daß man Verbindung zur Welt aufnehmen konnte. Er konnte die schwarze, häßliche Form nicht ausstehen. »Brauchst nur abzuheben«,
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schien sie stumm zu sagen. »Brauchst nur den Arm auszustrecken und mich in Betrieb setzen.« Man durfte einfach nicht an das Ding denken und nicht mehr hinsehen. Bevor er Oldham anrief, hatte er sogar versucht, mit der Armee Verbindung aufzunehmen, wollte voller Verwegenheit TASU vernichten, der Armee sagen, was TASU war und wo es sich befand. Er war sogar mit dem Befehlshaber für ,Suche’ verbunden worden. Aber ehe er noch ein Wort gesprochen hatte, war er aus dieser Umnachtung wieder zu sich gekommen. Mein Gott! Seine Mutter, seine Schwester! Was hatte er vorgehabt! Sie umzubringen? Er ließ den Hörer wie einen Skorpion fallen. So etwas Gefährliches durfte er nie wieder machen. Sie stand vor der Bank an der Ecke. Brad konnte sie von seinem Wohnungsfenster aus deutlich unten auf der Straße stehen sehen. In den Morgennachrichten war gemeldet worden, daß überall im Land riesige Menschenmengen die Banken belagerten. Was die Bank an der Ecke betraf, war die Meldung offenbar richtig. Er war wirklich skeptisch gewesen, als er die letzte Botschaft von TASU schrieb, diesen Blödsinn, daß die Banken ihre Vermögenswerte flüssig machen und die Reichtümer verteilen sollten, an »Leute, die sich als gut 150
erwiesen hatten«. Wer sollte das wohl prüfen? Wer sollte die Verteilung vornehmen? Wer sollte den Ablaß erteilen? Als ob er es sich nicht denken konnte! Natürlich die Männer des Gerichts. Dutzende der vermummten Kerle waren auf der Straße, vor der Bank, hielten die Menge in Schach, gaben letzte Gelegenheit zur Beichte, scheuchten gnadenlos die fort, die sie für unwürdig hielten. Brad hatte nicht erwartet, daß die Banken bedenkenlos darauf eingehen würden. Sie taten es auch nicht. Man hatte die Türen verbarrikadiert. Mehr konnte man nicht machen. Dann schlugen zwei kraftstrotzende Kapuzenmänner mit Feuerwehräxten die verrammelten Türen ein, während der Rest der Bande die Menge zurückhielt. Merkwürdig war, daß sich niemand gegen die Vermummten zur Wehr setzte. Die Leute fielen einfach um, waren wie Wachs in den Händen der Kapuzenmänner. Schließlich war der Eingang zur Bank aufgebrochen, und die Angestellten wurden vor das Gebäude geführt. Einem bebrillten Mann, von dem Brad wußte, daß es der Filialleiter war, wurden die Safeschlüssel mit Gewalt abgenommen. Brad wußte, daß er machtlos war und nicht eingreifen konnte. Das erboste ihn so sehr, daß er seine Wohnungsklingel beinahe überhört hätte.
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»Lann!« rief er, als er schließlich geöffnet hatte. »Um Himmels willen, was machst du hier?« Er war voller Furcht gewesen, als er die Tür öffnete. Er wußte nicht, wer da zu ihm wollte. Lann hatte er nicht erwartet. Er machte die Tür auf und ließ sie an sich vorbei. »Ach, Brad!« sagte sie schwach. »Lann, du hältst dir den Arm – was ist los? Was ist passiert?« Er führte sie in den Wohnraum. »Ich fuhr vom Hyde Park mit dem Taxi hierher, und als ich ausstieg, sagte einer dieser Banditen mit den Kapuzen, daß ich wohl versuchen wollte, mich vorzudrängen, oder so etwas Ähnliches. Und dann versetzte er mir einen Hieb mit seinem Stock.« »Die Mistkerle!« Brad half ihr aus der Jacke und untersuchte den Arm. »Diese Schweine!« wiederholte er. Auf Lann wollte er nicht hören, als sie ihm sagte, sie sei nicht verletzt. Erst, als er den Arm genau angesehen hatte und feststellte, daß nichts gebrochen war, gab er sich zufrieden. Sie war mit einer Hautabschürfung davongekommen. »Wieso hast du dich auf das Risiko eingelassen, herzukommen?« fragte er. Sie erzählte ihm von ihren Erlebnissen im Hyde Park.
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»Brad«, sagte sie, »ist die ganze Welt verrückt geworden, oder gibt es irgendwo noch einen Funken Vernunft?« Er nahm sie in die Arme. »Eines Tages«, sagte er, »werden wir wieder wie Menschen leben.« »Aber Brad, erst diese entsetzlichen Todesfälle, und jetzt diese unglaublichen Männer des Gerichts -und alles rennt herum und beichtet.« »Lann, du hättest in deine Wohnung zurückkehren und mich anrufen sollen. Ich wäre dann zu dir gekommen. Du weißt gar nicht, wie groß bei einer rasenden Meute die Gefahr ist, Spießruten laufen zu müssen.« Er ließ sie los, ging nervös zum Fenster und wollte es öffnen, was nicht leicht war. Seit langem hatte er schon die Verriegelung reparieren lassen wollen. Er verletzte sich an den Fingern, bevor er es aufbrachte. »Brad, was willst du tun?« rief Lann. Er lehnte sich aus dem Fenster. Tief unter ihm standen vor dem Gebäude, mit dem Rücken zu ihm, eine Menge Kapuzenmänner. Die mit Erde gefüllten Blumentöpfe waren groß und schwer. Auf dem Fensterbrett standen sechs Stück. Es tat ihm nicht leid, sie zu opfern. Er nahm den ersten, hob ihn hoch über den Kopf, zielte kurz und warf ihn mit aller Kraft nach unten. Bevor er nach siebzehn 153
Stockwerken unten ankam, waren ihm die restlichen schon gefolgt. »Hab’ ich wenigstens ein paar von den Kerlen erwischt!« Seine Stimme klang heiser vor Erregung. Lann rannte zu ihm, und sie lehnten sich über die Fensterbrüstung. Das Krachen, mit dem die Blumentöpfe aufschlugen, war eindrucksvoll genug, aber noch eindrucksvoller war der Erfolg: drei Volltreffer! Die restlichen Banditen waren auseinandergerannt, schauten in die Höhe und zeigten wutentbrannt zu Lann und Brad hinauf. »Schnappen wir sie!« schrien sie und flitzten über den Bürgersteig auf den Eingang des Gebäudes zu. Im selben Augenblick wirbelten Banknoten wie bei einer Papierschnitzelorgie in New York durch die Luft. Brad sah eine Handvoll Vermummter auf dem Flachdach der Bank umherrennen und Bündel von Banknoten nach allen Seiten hin ausstreuen. Einen Augenblick sah er wie gebannt zu, dann zog er Lann ins Zimmer und warf das Fenster zu. »Komm schnell«, keuchte er. »Wir müssen hier raus sein, bevor die Kerle da sind.« Gegenüber von Brads Tür befand sich ein Lastenaufzug. Sie rannten hin, und Brad drückte auf den Knopf. Natürlich war das verdammte Ding im Erdgeschoß. Der 154
Personenaufzug konnte jeden Moment im siebzehnten Stock anhalten und eine Ladung Mörder ausspucken – Männer, die im Namen von Nemesis töteten. Die Ironie des Ganzen war fast zuviel für ihn. Er drückte wieder auf den Knopf. »Jemand hat unten die blöde Tür offengelassen. Kein Kontakt!« Er sah hilflos über die Schulter auf die Leuchtanzeige des Personenaufzugs am anderen Ende des Flurs. 7-8-9-10-11. Die Zahlen jagten sich. Er packte Lann an der Hand. Jetzt konnten sie nur noch schnell zur Nottreppe rennen. Das Schlimme war, daß diese um den Schacht des Personenaufzugs lief, und während sie den Flur hinunterhetzten, schien es ihnen unmöglich, die unerbittliche Leuchtanzeige zu schlagen. 13 – 14-15-16-17. Zu spät! Sie hatten es nicht geschafft. Sie fuhren verzweifelt herum, schnappten nach Luft und rannten wieder zurück. Wo sollten sie hin? Der Flur hatte keinen Ausgang. Weiß Gott, er führte ins Nichts. Brad stieß Lann vor sich her und blickte über die Schulter, war auf das Schlimmste gefaßt. Der Lift war weitergefahren. 19-20-21 blitzte die Leuchtanzeige. 22 – 23 ... »Lann – schau!« rief er erstaunt. »Es war jemand anders. Jemand will ins oberste Stockwerk!« Er wirbelte herum und drückte wieder auf den Knopf des Lastenaufzugs. Es
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schien hoffnungslos, doch diesmal setzte er sich in Bewegung. 25 – 26 – 27. Der Hauptaufzug fuhr ganz hinauf. Einen Moment lang blieb er oben stehen. Da kam auch schon der Lastenaufzug. Sie stürzten sich hinein. Brad drückte auf den Knopf, neben dem Keller stand. »Um das Erdgeschoß machen wir lieber einen Bogen«, sagte er. Sie waren etwa auf halber Höhe, als es passierte. Ein ohrenbetäubendes Krachen. Sie preßten beide Hände auf die Ohren. Zuerst ein Pfeifen, in das sich Schreie mischten. Dann dieses Krachen, das das Gebäude erzittern ließ. »Eine Bombe!« schrie Lann. »Die haben eine Bombe in das Haus geworfen!« Das Licht hatte geflackert, die Luft war voller Staub, und doch erreichte der Aufzug unbeschädigt den Keller. Als Brad die Tür aufstemmte, jagten sich in seinem Verstand die Worte. Bombe – Explosion – Sprengladung – schwacher Beton – alles kam ihm in den Sinn, nur das nicht, was sich wirklich zugetragen hatte. Daran zu denken wäre ihm nie eingefallen. Wie konnte das auch nur passieren? Der Personenaufzug galt als der sicherste seiner Art auf der ganzen Welt’. So hieß es jedenfalls auf
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einer Messingplatte, die unter den Bedienungsknöpfen gewesen war. Und doch lag er zerschmettert auf dem Betonboden des Kellers. Brad legte einen Arm um Lann, dann wandten sie sich von den Trümmern ab. Brad hatte genug von den vermummten Gestalten gesehen, die zwischen den Trümmern lagen. Kein Gedanke daran, daß TASU vielleicht eingeschlafen sein könnte. Er brachte Lann in ihre Wohnung und blieb die Nacht über bei ihr. Inzwischen hatte die Armee die Aufgaben der Polizei übernommen, die beinahe am Ende war. Das war auch der Hauptgrund, warum man das Manöver ,Suche’ angesetzt hatte. Man hatte die Notwendigkeit erkannt, sich gegen einen allgemeinen Feind zur Wehr zu setzen, obwohl es bis jetzt noch nichts gab, worauf man hätte schießen können. Ein hoher Offizier hatte kein Blatt vor den Mund genommen. Er wurde von den Männern des Gerichts brutal ermordet. Da hatte nun die Armee etwas, auf das sie schießen konnte, und sie hatte den Männern des Gerichts umgehend den Krieg erklärt. Auf den Straßen patrouillierten Panzer und bewaffnete Soldaten, die Befehl hatten, vermummte Gestalten sofort festzunehmen oder, wenn nötig, zu erschießen. 157
Brad zum Beispiel hatte nichts gegen die Anwesenheit von Militärpatrouillen auf den Straßen. Wie alle vernünftigen Menschen. Seit dem Vorfall mit dem Lift stand sogar ein Posten vor dem Wohnblock. Junge Männer in Kampfanzügen, manchmal abgelöst von Männern in Zivil, die einen Streifen Khaki am Ärmel hatten und ohne viel Aufhebens ihre Gewehre über den Schultern trugen. Bei der Allgegenwart der Patrouillen schien es Brad unmöglich, daß die Männer des Gerichts als Gruppe überleben konnten. Und doch schafften sie es. Und zwar deshalb, weil, wie ein junger Unteroffizier Brad erklärte: »... die Leute sich dazwischen werfen und wir nicht schießen können. Wir sind zu vier Banküberfällen der Männer des Gerichts ausgerückt, und jedesmal konnten wir nur dastehen und zusehen, wie diese Kapuzenkerle seelenruhig das Geld verteilten. Wir kriegten natürlich leider nichts ab.« »Haben Sie nicht versucht, die Kapuzenmänner festzunehmen?« »Was? Bei der Riesenmenge von Leuten? Wissen Sie, was die mit einem unserer Gefreiten machten, der einen Kapuzenmann festnehmen wollte? Man hat ihm seine Waffe entrissen.« »Wer? Die Männer des Gerichts?«
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»Nein, die Leute. Und dann haben sie ihn mit seiner eigenen Waffe erschossen, weil er sich gegen die Kapuzenmänner gestellt hat.« Brad hatte genug gehört. Er ließ den Unteroffizier stehen und ging in seine Wohnung hinauf. Als er die Tür öffnete, hörte er das Telefon läuten. Aus dem Hörer krächzte Oldhams Stimme. »Hallo, Junge, mußte Sie einfach anrufen. Konnte es nicht aufschieben. Mache mir Sorgen um Sie.« Oldhams Überschwenglichkeit bestätigte Brad aufs neue, was er von der Aufrichtigkeit dieses Mannes zu halten hatte. Wobei er jedesmal innerlich zusammenfuhr, wenn er daran dachte, daß Oldham vielleicht meinte, ihn täuschen zu können. Brad teilte ihm also mit, was er von ihm hielt. »Ach, lassen Sie nur, Sie kennen mich doch«, sagte Oldham wie aus der Pistole geschossen. »Da haben Sie allerdings recht, Boß. Was wünschen Sie? Weitere Sensationen von Nemesis? Läßt der Verlauf der Dinge zu wünschen übrig?« »Sie überraschen mich wirklich, mein Junge. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß wir Ihnen helfen werden? Die beiden letzten Botschaften habe ich gedruckt.« »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, unterbrach ihn Brad. 159
»Also, wenn Sie es unbedingt wissen wollen, da ist etwas, Brad, aber deshalb rufe ich Sie nicht an, ehrlich. Ich hatte nicht die Absicht, es Ihnen auszurichten, und sagte denen das auch ...« »Denen haben Sie es auch gesagt?« Brad legte besondere Betonung auf das ,auch’. »Ja, mein Junge.« »Und bei denen handelt es sich um... ?« fragte Brad, obgleich er schon ahnte, daß Oldham ,die Männer des Gerichts’ antworten würde – was er natürlich auch tat. »Es handelt sich um diese Männer des Gerichts. Die wollen Sie sprechen, mein Junge.« »Und Sie haben ihnen meine Adresse gegeben?« »Halten Sie mich denn für völlig verrückt?« Brad ging darauf nicht ein. »Sie haben also gesagt, Sie könnten ein Treffen arrangieren?« »Nun, ich habe ihnen gesagt, daß man sich irgendwo draußen treffen könnte. Auf jeden Fall nicht in Ihrer Wohnung.« »Vielen Dank für das Entgegenkommen. Aber wo liegt bei der Sache der Haken? Sie müssen nämlich wissen, daß die Bande erst kürzlich versucht hat, mich und eine Freundin von mir umzubringen.« Brad war aufgefallen, daß Oldham diesen Zwischenfall und das Unglück mit dem Aufzug nicht erwähnt hatte, was darauf schließen ließ, daß die Halsabschneider ihn 160
nicht mit der Sache mit den Blumentöpfen in Verbindung brachten. »Was will die Bande?« fragte Brad. »Sie behauptet, daß Sie einer der Ihren sind.« Brad lachte ärgerlich. »Völlig verrückt, wie?« fragte er. »Hören Sie, Brad, Sie können sich nicht herausreden. In gewisser Weise haben sie recht. Auch Sie arbeiten für dieses Ding, und Sie müssen zugeben, daß diese Leute etwa in die gleiche Richtung arbeiten. Brad, die Welt ist verrückt. Das können auch Sie nicht abstreiten. Und man kann nie wissen. Vielleicht können Sie und diese Leute die Welt wieder zurechtrücken.« Wenn Oldham neben ihm gewesen wäre, hätte er zugeschlagen. Selbst für seinen Chef war dies Zweckdenken der allerniedrigsten Sorte. Brad sagte kalt: »Sie oder die oder Sie alle wollen also neben der Nemesisspalte noch eine Spalte ,Männer des Gerichts’?« »Nein, nein, mein Junge. Aber das wäre schon was, zwei der größten Sensationen des Jahrhunderts in seinen Blättern zu haben.« Das war die Höhe. Der Gipfel. Brad biß sich wütend auf die Lippen. »Na schön«, sagte er. »Wann soll ich mich mit ihnen treffen?« Es waren nicht Oldhams Überredungskünste, die ihn dazu gebracht hatten. Ihm war nur 161
der Gedanke gekommen, daß es ihm vielleicht irgendwie nützen könnte, wenn er sich mit diesen Leuten traf. Er hatte keine Ahnung, wie, aber da die Armee sie in den Untergrund gedrängt hatte, würde es interessant sein herauszufinden, wo sich ihr geheimes Hauptquartier befand. Der Treffpunkt war keine Überraschung. Er paßte zu der Mantel- und Degenatmosphäre des Ganzen. Um sich mit dem Führer der Männer des Gerichts zu treffen, sollte er nach Southwark fahren und in Richtung Rotherhithe die Themse entlang, bis er an eine Bar namens The Angel kam. Dort sollte er seinen Wagen abstellen. Selbstverständlich durfte er die Armee nicht verständigen – sonst... Langsam gingen ihm die vielen ,sonst’ in seinem Leben auf die Nerven. Wie abgemacht wartete ein großer schwarzer Wagen auf ihn. Ein Fahrer mit dunkler Brille öffnete ihm den Schlag, und er stieg ein. Der rückwärtige Teil des Wagens war mit undurchsichtigen Scheiben versehen. Der Fahrer machte höflich Licht für ihn an. Er sah erleichtert, daß niemand sonst im Wagen war. Er nahm langsam eine Zigarette heraus, steckte sie an und entspannte sich.
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Nach fünfzehn Minuten ruhiger Fahrt hielt das Auto kurz an. Den Geräuschen nach zu schließen, wurde draußen ein Tor aufgeschoben. Dann fuhr der Wagen ein kleines Stück und hielt endgültig an. Der Fahrer öffnete die Tür. Als Brad ausstieg, sah er sich rasch um. Beinahe nur eine Reflexbewegung, aber sie genügte, um ihm zu zeigen, daß da wirklich ein schweres Stahltor war, das aufgeschoben werden konnte. Ein Riesentor, sieben oder acht Meter hoch. Und das Dach des Gebäudes war so hoch, daß es in der Finsternis kaum zu erkennen war. Zwei Männer mit Kapuzen traten auf ihn zu und begrüßten ihn höflich. »Wir nehmen an, Sie sind Nemesis«, sagte einer der beiden. Brad entgegnete schroff: »Meine Spalte in der Zeitung läuft unter diesem Namen. Ich heiße Minton, Brad Minton. Aber das wissen Sie sicher schon.« »Allerdings«, sagte der größere der beiden. »Mr. Oldham hat uns aufgeklärt.« Brad hörte kaum hin. Ihn interessierte das Gebäude mehr. Es war weit und hoch und wurde nur von Scheinwerfern erhellt, die hoch oben im Gebälk hingen und auf einige Gestalten in weißen Gewändern gerichtet waren, die sich weit entfernt über etwas beugten, das nicht zu erkennen war. 163
Außerhalb des Lichtkreises stand eine große Anzahl Vermummter, die Fackeln über ihren Köpfen hielten, und aus dem Hintergrund ertönte Singsang. Die beiden Männer faßten Brad an den Armen und führten ihn sanft weiter. Sie benahmen sich so, als herrsche zwischen ihnen und ihm stillschweigendes Einverständnis, ein Gefühl, das er gar nicht teilte. »Wird hier eine Messe zelebriert?« scherzte er, vor allem um das scheinbare Einverständnis zu zerstören. Sie sahen ihn rasch an, sagten aber nichts. Der Gang zur Mitte des geheimnisvollen Gebäudes schien endlos. »Sie haben Glück. Sie sind der einzige Außenstehende, dem wir je gestattet haben, bei einer unserer Initiationsfeierlichkeiten dabeizusein.« »Weshalb diese Sonderbehandlung?« »Weil wir Sie für einen Freund halten.« Brad gab keine Antwort. Er fühlte einen Haß in sich aufsteigen, den er nicht verbergen konnte. Keine Nervosität oder Furcht, obwohl dies verständlich gewesen wäre. Schließlich befand er sich an einem Ort, an dem nur Unheilvolles zu erwarten war. Und er durfte nicht vergessen, daß er sich unter skrupellosen Mördern befand. Seine Begleiter waren ihm jedoch alles andere als feindlich gesinnt. Sie hatten sicher einigen Einfluß, sonst wä164
ren die Reihen der Fackelträger nicht so ehrerbietig zur Seite gewichen, als man sich ihnen näherte. Die rote Kapuze des größeren und die blaue des kleineren bezeichneten offensichtlich den Rang. Als sie schließlich die erhöhte Mitte erreichten, sah Brad, daß sich die Weißgekleideten über einen Operationstisch beugten, der von oben hell erleuchtet war und auf dem ein Mann lag, der von den Hüften abwärts nackt war. Er war bei vollem Bewußtsein. Brad kam alles wie ein Alptraum vor. Nicht nur, daß bei der Operation nicht betäubt wurde, auch an die einfachsten Grundsätze der Hygiene schien man sich nicht zu halten. Offensichtlich sollte der Mann kastriert werden. Er blickte seine Begleiter an und stellte mit den Augen wortlos eine Frage. Sie nickten. Es würden noch weitere Kastrationen vorgenommen werden, und wenn er dabei zuzusehen wünschte . . . Brad schüttelte heftig den Kopf. »Dann bringen wir Sie jetzt zu unserem Führer.« Das Allerheiligste des Führers lag hoch über dem Boden und war über einen Laufgang zu erreichen. Durch ein Fenster konnte man hinunter auf den erhöhten Platz sehen.
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Wieder die merkwürdig zeremonielle Begrüßung, diesmal von einem Mann, der hinter einem Holztisch saß und den seine Begleiter mit Führer ansprachen. Er trug eine Kapuze wie die anderen, nur daß sie weiß war und auf der Stirn ein schwarzes Kreuz zeigte. »Willkommen, Mr. Minton«, sagte der Mann. »Jetzt haben wir endlich direkte Verbindung mit unserem Meister.« »Wer zum Teufel ist Ihr Meister?« fragte Brad. »Da er sich bei seinen Befehlen Ihrer Zeitungsspalte bedient, hoffen wir, daß Sie uns das mitteilen werden. Was glauben Sie, weshalb wir Sie sonst haben kommen lassen?« »Um mir meine Zeit zu stehlen, glaube ich«, sagte Brad furchtlos. »Wenn Sie so denken, weshalb waren Sie dann einverstanden, sich mit uns zu treffen?« »Meine journalistische Neugier.« »Ach ja, Mr. Minton. Ihr Vorgesetzter meinte, daß Sie möglicherweise daran denken, mit uns zusammenzuarbeiten.« »Kommt nicht in Frage. Ich halte Sie und Ihre Bewegung für ein bösartiges Nebenprodukt der Nemesiskraft, und da ich diese Nemesiskraft für die sinnloseste, zerstörerischste Gewalt seit Jahrhunderten halte, habe ich 166
wirklich nicht die Absicht, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.« »Wenn man an Ihre Zusammenarbeit mit dieser Kraft denkt, fällt einem sehr schwer, dies zu verstehen, Mr. Minton.« Er lehnte sich über den Tisch und drohte Brad mit dem Zeigefinger. »Und bringt Sie Ihre angriffslustige Offenheit nicht manchmal in Schwierigkeiten?« Nichts konnte Brad mehr aufbringen als ein Zeigefinger, der ihm drohend entgegengereckt wurde. »Nehmen Sie diesen blöden Finger weg«, herrschte er ihn an. Der Mann gehorchte widerwillig. »Ja«, fuhr Brad fort, »meine Offenheit hat mich in schwierige Lagen gebracht, aber nur bei Leuten, die die Wahrheit nicht vertragen konnten.« »Mr. Minton, ich bin ein Mensch, der schnell verärgert ist, und obwohl ich mich im Moment noch nicht über Sie ärgere, kann ich nicht sagen, wie lange es so bleiben wird. Es hängt ganz davon ab, wie weit Sie uns entgegenkommen wollen.« Brad wollte Zeit gewinnen und wandte sich an seine Begleiter. »Läßt Ihr Führer seine Gäste immer stehen?« Einer der Männer brachte unterwürfig einen Stuhl, und Brad ließ sich nieder. »Danke, Hauptmann«, sagte der Führer. Dann richtete er das Wort wieder an Brad. »Da Sie es sich jetzt be167
quem gemacht haben, will ich gleich zur Hauptsache kommen. Ich darf es also wiederholen? Wir möchten etwas über unseren Meister wissen, um wen es sich handelt, was er ist.« »Seien Sie versichert, daß ich Ihnen nicht helfen würde, selbst wenn ich es könnte.« »Warum?« »Weil ihr Blödmänner alles falsch verstanden habt. Die Welt läßt sich nicht durch Angst, Gewalt und Zerstörung besser machen.« »Warum schreiben Sie dann für die Nemesisspalte? Das verträgt sich doch gewiß nicht mit diesen friedliebenden Ansichten?« »Hören Sie mal, ich sehe nicht ein, warum ich mich hier einer Befragung unterziehen lassen soll »Mr. Minton«, bellte der Führer. »Sie sagen das, weil Sie sich so herrlich sicher fühlen. Der Mann, dem niemand etwas anhaben kann – der Mann, der nicht zu halten ist – und so weiter. Mir scheint, daß Sie sich aus gutem Grund so betont tapfer geben. Aber da wir auf derselben Seite stehen, haben auch wir nichts zu fürchten.« Brad schwieg eine Weile, um sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. »Sie haben mir eine Menge Fragen gestellt«, sagte er schließlich. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?« 168
»Wir haben nichts zu verheimlichen.« »Dann sagen Sie mir zunächst einmal, warum Sie sich maskiert herumtreiben? Und für wen Sie sich halten, und was überhaupt Ihre Ziele sind?« Zu Brads Verdruß wurden seine Fragen lang und breit und sehr verworren beantwortet. Er entnahm der Sturzflut von Worten, die der sogenannte Führer von sich gab, daß sich die kultische Gruppe ernsthaft für einen Teil der Nemesiskraft hielt, daß ihr Ziel war, ihre Befehle bis aufs i-Tüpfelchen auszuführen. Darauf waren sie besonders stolz. Für Brad roch das Ganze nach Mordgier und unklarem Denken. Diese Leute waren nichts als die ewigen, eifrigen Opportunisten, die in Zeiten der Umwälzung unvermeidlich aus dem Nichts auftauchten und ihr besonderes Maß an Fanatismus mitbrachten. Was ihn verwirrte, war, daß sie sich beim Eintritt in die Kultgemeinschaft so strengen Bedingungen unterwarfen. Was hatten sie also von der ganzen Sache? Der Führer sprach, und langsam wurde das Bild klar. Brad hätte alles als lächerlich abgetan, wäre es nicht so widerlich, brutal und rücksichtslos gewesen. Die Leute waren in ihrem Machthunger gefährlich, waren wie Krebszellen auf der Suche nach einem Körper, den sie zersetzen 169
konnten. Es war von Bedeutung, daß sie sich selbst körperlich verstümmelten. Das schmiedete sie zusammen und ließ sie irgendwie entmenscht erscheinen. Und dann prasselte wieder und wieder dieselbe Frage auf ihn ein, ohne Abwechslung immer die gleiche bohrende Frage. Würde er sie zur Quelle der Kraft führen? Würde er der Gruppe beitreten? Wenn er sie mit der Nemesiskraft zusammenbrächte, dann gehörte die Welt ihnen. Das würde ihnen so passen, meinte er. »Sie sind entschlossen, das Geheimnis für sich zu behalten, Mr. Minton«, sagte der Führer. »Aber wir sind ebenso entschlossen, es mit Ihnen zu teilen. Und da der Berg nicht zu uns kommt, müssen wir wie Mohammed zum Berg gehen. Wobei Sie den Bergführer abgeben.« »Ihr Schwachköpfe!« brüllte Brad. »Wir könnten die Völker der Erde wie Marionetten für uns tanzen lassen.« »Ihr seid vollkommen wahnsinnig!« »Wir könnten die Regierungen in die Knie zwingen.« »Hören Sie doch auf, um Himmels willen!« »Wenn wir nur um das Geheimnis dieser Kraft wüßten, könnten wir die ganze Welt erpressen. Es hängt von Ihnen ab. Werden Sie Mitglied bei uns.« Brad sprang auf und schlug wutentbrannt mit der 170
Faust auf den Tisch. Diese Einfaltspinsel würden ihn nicht kleinkriegen. Natürlich stießen sie Drohungen aus, als sie ihr Geschwätz nicht weiterbrachte. Wenn sich ihnen jemand in den Weg stellte, dann schlugen sie zu, versuchten es mit Härte. Brad zweifelte nicht, daß man ihn zum Nachgeben gezwungen hätte, wenn man nicht solche Furcht vor ihm gehabt hätte. Man hielt ihn schließlich für einen Schützling jener Kraft. Aber trotzdem verloren sie nicht die Geduld. Vielleicht mußten sie auch nur ihr Gesicht wahren. Auf jeden Fall führte man ihn über eine steinerne Wendeltreppe in ein riesiges Gelaß hinunter, dessen Decke gewölbt und dessen Boden mit Steinplatten belegt war. Hier konnten sie ihm die Zähne zeigen und drohende Gebärden machen, ohne sich zu sehr einer Vergeltung auszusetzen. Man packte ihn wieder an den Armen und führte ihn zu zwei steinzeitlichen Ungetümen von Mühlsteinen, die mit dem eindrucksvollsten Wasserrad verbunden waren, das er je gesehen hatte. Irgendwo konnte er Wasser über eine Schleuse rauschen hören. Traurig, wenn man daran dachte, daß dieser Bau, der so lange den Menschen gedient hatte, jetzt zum Gegenteil benutzt wurde. 171
Selbst im Mittelalter hätte man diesen Raum nicht geschickter zur Folterkammer umbauen können. Tod auf dem Rad, Tod durch Wasserfolter, unumgänglicher, unausdenkbarer Tod zwischen den Mühlsteinen. Der Führer setzte die Anlage in Bewegung. Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen einen großen, hölzernen Hebel, der senkrecht vom Boden aufragte. Er mußte sich mit einer Schulter dagegenstemmen und brauchte noch die Unterstützung seines Stellvertreters, bis sich der Hebel endlich rührte. Das riesige Wasserrad setzte sich ganz langsam in Bewegung. Dann drehte es sich rascher, und die prächtigen schmiedeeisernen Zahnräder griffen knirschend ineinander. Unter lautem Donnergrollen fingen die Mühlsteine an zu kreisen, und die ganze unbeweglich wirkende Anlage zitterte und ächzte, als werde sie von einem Erdbeben geschüttelt. »Gottes Mühlen mahlen schrecklich fein!« schrie der Führer durch das Getöse. Der Wink an seine Handlanger war so unauffällig, daß er Brads Aufmerksamkeit entging. Er merkte erst, daß ein Befehl erteilt worden war, als ihn vier Männer an den Armen packten und zu den Mühlsteinen schleppten. Einer der Steine wurde gesenkt. »Vielleicht wollen Sie es sich jetzt anders überlegen«, rief der Führer durch das Poltern der Steine. 172
»Der Teufel soll Sie holen!« schrie Brad unbekümmert, in der Hoffnung, daß jeden Augenblick die schützende Kraft von TASU zu seinen Gunsten eingreifen werde. »Die letzte Gelegenheit, Mr. Minton, es sei denn, Sie möchten Ihre Füße amputiert haben.« »Meine Antwort kennen Sie!« Er fühlte sich verpflichtet, dies zu sagen, obwohl er am liebsten etwas ganz anderes gesagt hätte. »Dann gebt es ihm!« befahl der Führer. Brad wurde langsam hinuntergelassen, bis seine Schuhspitzen den Mühlstein berührten. Beißender Geruch nach verbranntem Leder stieg auf. Er krümmte die Zehen in den Schuhen so weit wie möglich zurück und bäumte sich gegen die Hände auf, die ihn hielten. Und er überlegte es sich anders – ja, er hatte es sich anders überlegt. Er brüllte es laut heraus. Man zog ihn hinauf und legte ihn auf den Boden. Das Entsetzen hatte ihm die Knie weich werden lassen. Die Mühlsteine wurden angehalten. Die Stille ging einem mehr auf die Nerven als der Krach. Er wartete auf die unumgängliche Frage, aber sie wurde nicht gestellt. Ein paar Schritte entfernt von ihm steckten der Führer und seine Männer die Köpfe zusammen und flüsterten. Sie warfen ihm Blicke zu, als seien sie sich nicht einig über ihn. Ihren Gesten entnahm er, daß 173
man verschiedener Meinung war, was mit ihm geschehen solle. Die Frage wurde ihm noch immer nicht gestellt. Es war klar, man hatte nicht bemerkt, daß er die Waffen gestreckt hatte. TASU hatte sich also eingeschaltet, nur diesmal auf viel feinere Art. Schließlich kam der Führer zu ihm. »Sie haben ein Beispiel Ihrer Macht gegeben«, sagte er und sah auf Brad nieder. »Um unsere Sache voranzubringen, kann und wird sie überall eingesetzt werden. Sie selbst können sich glücklich schätzen. Ich lasse Sie frei, weil meine Leute immer noch der Meinung sind, Sie seien unantastbar. Ich bin ganz anderer Ansicht. Jetzt gehen Sie aber, bevor ich meine Mitarbeiter überzeuge, daß sie unrecht haben. Aber eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Sie werden es sich anders überlegen und zu uns stoßen – und zwar eher, als Sie glauben.« Brad kam schwankend auf die Beine und lachte dem Kapuzenmann laut ins Gesicht. Man brachte ihn zu der Bar zurück. Erst als er einen doppelten Schnaps in der Hand hielt, merkte er, wie dringend nötig er ihn hatte. Er blickte durch das Fenster der Bar und schaute den Fluß hinauf. Sein Verstand schwankte hin und her wie eine Kompaßnadel. War er in dem geschlossenen Wagen in Rich174
tung Ost oder West gefahren? Er hatte das Gefühl, nach Westen. Nichts als ein Gefühl. Während er in dem Wagen der Vermummten zurückgebracht worden war, hatte er trotz seines Schocks versucht, ein Fenster aufzukurbeln. Es war ihm selbstverständlich nicht gelungen. Er hatte auch nicht damit gerechnet. Die Fahrt hatte also genauso gut auch nach Osten gehen können. Irgendwo zwischen Greenwich und der Bar The Angel oder zwischen Southwark und der Bar mußte ein Nebenfluß in die Themse fließen. Der Barmann hatte keine Ahnung. Sie sahen sich zusammen eine Karte des Flusses an, aber sie war nicht genau genug. Brad trank noch einen Schnaps und ging. Osten oder Westen? Immer wieder stellte er sich die Frage, während er zurück zu seiner Wohnung fuhr. In der Gegend von Westminster schreckte er plötzlich hoch. »Sie werden es sich anders überlegen!« Die Dreckskerle! Diese Dreckskerle. Das war eine Anspielung auf Lann gewesen. Er fragte sich nicht, wie sie von Lann wissen konnten, oder wie er darauf kam. Er schimpfte sich nur einen verdammten Idioten, daß er nicht früher daran gedacht hatte. In einer Seitenstraße wendete er den Wagen und setzte seinen Weg in entgegengesetzter Richtung fort. 175
9.
Er erreichte die ebenerdige Wohnung des Professors und war noch immer im Bann der Nervosität, die ihm das Fahren beinahe unmöglich gemacht hatte. Ungeduldig trommelte er gegen die Tür und drückte pausenlos auf die Klingel. Aber das brachte nichts, er wurde nur noch gereizter und lockte aus der Wohnung nebenan eine Nachbarin, die ihn fragend ansah. »Niemand zu Hause«, sagte die elegant gekleidete Frau, die Anfang Sechzig sein mochte. »Es ist nicht lange her, da sah ich die Tochter des Professors auf der Straße.« »Auf der Straße?« fragte Brad überrascht. »Ja, ich sah eben aus dem Fenster, sah, wie sie am Straßenrand wartete. Ich nahm an, auf ein Taxi.« »Wissen Sie, ob sie eins erwischt hat?« »Weiß ich wirklich nicht – wissen Sie, ich hatte den Kaffeetopf auf dem Herd, und ich mußte mich um ihn kümmern, weil er überkochte.« »Aber haben Sie etwas gehört, das wie ein Taxi klang?« fragte Brad nervös. »Doch, ich glaube schon. Ich bin mir fast sicher – auf jeden Fall habe ich Motorengeräusch und Stimmen gehört. Aber ich habe nicht sehr genau aufgepaßt.«
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»Vielen Dank, gnädige Frau. Sehr freundlich von Ihnen.« »Stimmt etwas nicht?« rief die Frau, als Brad sich zum Gehen anschickte. »Sie sind doch nicht etwa von der Polizei? Heutzutage passieren so schreckliche Dinge.« Er sagte ihr rasch, daß er nicht von der Polizei sei und rannte zu seinem Wagen. Vielleicht hatte Lann ein Taxi genommen und war zu seiner Wohnung gefahren. Er hatte ihr auf alle Fälle seinen Zweitschlüssel gegeben. Sie hatte noch nie Gebrauch davon gemacht, aber er gab ihnen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Er nahm zwar nicht an, daß sie in seiner Wohnung sei, aber es war wenigstens den Versuch wert, sich das einzureden und zu seiner Wohnung zu flitzen. Besser, als gar nichts zu unternehmen. Eine Weile konnte er das Wahrscheinlichere von sich schieben. Sich weiter dagegenzustemmen, nutzte nichts. Vor allem, weil das Telefon wie verrückt klingelte, als er die Tür zu seiner Wohnung öffnete. Noch bevor er den Hörer abgehoben hatte, wußte er, wer sich melden würde. Er mußte sich auch nicht erst fragen, wie man an seine Nummer gekommen war. Dieser Blödmann Oldham. Was nutzte es einem da, eine Geheimnummer zu haben? »Wir haben sie«, tönte es kühl. »In vierundzwanzig Stunden werden sich die Mühlsteine in Bewegung set177
zen. Wir werden Sie jede Stunde anrufen, und wenn Ihnen das Leben Ihrer Freundin etwas bedeutet, werden Sie es sich sicher anders überlegen.« Bevor er noch etwas erwidern konnte, wurde aufgelegt. Wie erschrocken er war, kam ihm erst zu Bewußtsein, als ihm das Blut vom Kopf zum Herzen schoß und ihm schwindlig wurde. Es half Lann wenig, wenn er in seiner Wohnung umhertobte. Er mußte sich beruhigen. Ihm ging es wirklich nur um sie, und deshalb mußte er wieder zu sich kommen. Ein schwacher Trost, daß die Männer des Gerichts Eunuchen waren. Sie waren dennoch ekelhafte Sadisten, blind vor Machtgier und zu jeder Folter fähig. Dann konnte er plötzlich wieder klar denken. Zuerst begriff er gar nicht, wie er dazu kam. Die Ruhe war da, bevor ihm der Gedanke noch bewußt wurde. Es war einfach. Wenn es TASU so leichtfiel, ihn zu beschützen, dann würde es noch viel mehr auf die Tochter seines Schöpfers achten. Er beruhigte sich und konnte sich sogar einen Drink einschenken. Diese geschlechtslosen Idioten, murmelte er. Diesmal hatten sie wirklich einen Fehler gemacht! Er ließ eine halbe Stunde verstreichen und rief ihre Nummer an. Sie konnte noch nicht zurück sein, aber es 178
machte ihm Spaß, anzurufen. Eins war sicher: die Kapuzenmänner würden nach dieser Sache einen weiten Bogen um ihn machen. Alle fünf Minuten rief er bei ihr an und genoß das Spiel ,diesmal ja’, ,diesmal nein’. Dann klingelte plötzlich sein Telefon. Das konnte nur Lann sein! Er rannte zum Apparat, hob ab und wollte schon Lann rufen, verschluckte aber das Wort, als er die unheimliche Stimme hörte. »Haben Sie es sich schon anders überlegt?« Es war sicher noch keine Stunde vergangen, seit die Kerle angerufen hatten. »Geht zum Teufel!« Er legte auf. Er rief weiter ihre Wohnung an, sah seine Hoffnung aber ständig schwinden. Er hatte dem wachsamen Auge von TASU zu sehr getraut, und es tauchte in ihm ein Gedanke auf, den er gar nicht weiterverfolgen wollte, der sich ihm aber immer deutlicher aufdrängte. Es war die schreckliche Überlegung, daß es für Lann vielleicht gar keinen Schutz gäbe. Unausdenkbar, aber es konnte sein, daß TASU keinen Platz für sie hatte, sie möglicherweise sogar haßte, weil es den Professor mit ihr teilen mußte, anstatt ihn ganz für sich zu haben.
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Ein wunderlicher, verrückter, wahnsinniger Gedanke. Aber Tatsache war, daß sich Lann noch in den Händen dieser üblen Kerle befand. Und das Telefon läutete schon wieder. Er hob ab, lauschte auf die ersten Worte und legte stumm auf. Dann zog er seine Jacke an und verließ die Wohnung. Das Londoner Hauptquartier für das Manöver ,Suche’ lag in Kensington. Auf dem Weg dorthin begegneten ihm kaum Autos, weil es kurz vor zehn und seit neuestem ab zehn Uhr Sperrstunde war. Brad parkte und lief rasch zu der Militärdienststelle. Als er seinen Namen nannte, sah ihn die Wache am Eingang argwöhnisch an. Der diensthabende Offizier gab sich ebenfalls sehr mißtrauisch. Wer konnte es ihnen verdenken? Man kannte seinen Namen hier eben auch. »Oberst Patson ist hier der Kommandierende«, sagte der Wachhabende vorsichtig. »Ich könnte ihn rufen lassen, wenn es sich um einen Notfall handelt.« »Um einen außerordentlichen Notfall«, sagte Brad. »Was glauben Sie, weshalb ich hier bin?« Als Oberst Patson schließlich auftauchte, ließ sich Brad nicht erst auf den Austausch von Höflichkeiten ein, sondern legte sofort los. In Sekundenschnelle hatte er dem 180
Mann mitgeteilt, daß er wußte, wo sich das Hauptquartier der Männer des Gerichts befand, und was Lann zugestoßen war. Ihm kam es nur darauf an, daß Lann befreit wurde, und das rasch. Nur das Militär konnte das bewerkstelligen, sagte er zum Oberst. TASU erwähnte er nicht. Der Oberst, der im besten Alter war, sah sofort, wie ernst es Brad war. »Wir schauen uns eine Generalstabskarte der Flußgegend an«, sagte er. »Es müßten alle Zuflüsse zur Themse angegeben sein. Wenn wir Glück haben, sind die unterirdischen wenigstens gestrichelt eingezeichnet. Gefreiter! rief er und blickte auf eine Tür zu seiner Rechten. Er biß sich auf die Oberlippe, und sein Schnurrbart sträubte sich vor Diensteifer. Diese forsche, militärische Art ließ Brad neuen Mut schöpfen. Er konnte ihn brauchen. »Gefreiter!« rief der Oberst etwas lauter. »Ja, Sir?« Ein Schreibstubentyp steckte den Kopf durch die Tür, kam aber nicht ins Zimmer. »Mit Ihren Ohren müssen Sie sich bald krank melden!« »Ja, Sir, ich werde daran denken.« »Gefreiter, jetzt aber marsch! Ich brauche eine genaue Karte von der Umgebung der Themse zwischen, sagen wir mal, Tower Bridge und Greenwich. Wahrscheinlich 181
werden wir zwei Karten brauchen, kommen Sie also nicht bloß mit einer an. Schnell! Und bevor Sie Ihren Kopf zurückziehen, sagen Sie Hauptmann Sanderson und Sergeant Brown, daß ich sie sofort sprechen will.« Der Hauptmann erschien mit dem Sergeanten und waren kaum vorgestellt, als der Gefreite die Karten brachte. Der Oberst erklärte kurz, worum es ging. Brad war von dem Vorgehen der Leute angenehm überrascht und sah, daß sie sich fachmännisch über die Karten beugten. Man drehte sie, besah sie genau. War das hier ein Zufluß, ein Flußarm? fragten sie sich und fuhren ungeduldig mit den Fingern über das Papier. Während man sich mit den Karten auseinandersetzte, schwand Brads Optimismus. Das viele Ja, Nein, Möglich beängstigte ihn. »Aber«, mischte er sich ein, »es muß irgendeine Art Zufluß geben. Ich war eindeutig in einer alten Mühle.« Er setzte auf Rotherhithe. Es konnte nur Rotherhithe sein. Ihm fiel etwas ein, was er über die MAYFLOWER und die Pilgerväter gelesen hatte, bevor sie nach Plymouth gesegelt waren. Es war ein zeitgenössischer Bericht gewesen und in ihm war gestanden, daß die MAYFLOWER ,bei Rotherhithe den Fluß hinaufgesegelt war, um Proviant zu übernehmen. . .’
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Brad sagte ihnen, daß ,bei’ das Wort war, auf das es ankam. Im Bericht stand, daß die MAYFLOWER bei Rotherhithe und nicht bis Rotherhithe den Fluß hinaufgesegelt war. Das ließ doch darauf schließen, daß bei Rotherhithe ein Nebenfluß in die Themse mündete? Der Oberst stimmte ihm zu, aber dummerweise war auf den Karten kein Nebenfluß auszumachen. Selbst wenn man annahm, daß er inzwischen unterirdisch verlief, so hätte er doch angegeben sein müssen. Keine Spur von ihm. Trotzdem entschloß man sich, es dort zu versuchen. Brad schickte ein Dankgebet zum Himmel, daß sich der Oberst so ins Zeug legte. Ihm gefiel die Art, wie der Mann dem Hauptmann und dem Sergeanten Befehle erteilte. Ein Trost, wie er ins Telefon bellte, ein Zeichen, daß sich etwas tat. Er fühlte sich besser. Als der Hauptmann und der Sergeant fortgeschickt waren, um drei Kompanien unverzüglich in Bewegung zu setzen, sagte der Oberst zu Brad: »Wir brauchen eine Menge Streifen, die zu Fuß vorgehen. In bebauter Gegend kommen sie besser voran. Ich weiß, das sind eine Menge Leute, aber wenn wir dort sind, werden wir sie alle brauchen, um die ganze Gegend zu erkunden. Vielleicht noch mehr. Ich werde ein paar Leute der fünften 183
Brigade in Bereitschaft versetzen lassen, und später werden wir vielleicht noch leichte Panzerfahrzeuge einsetzen.« »Glauben Sie, daß sich unsere Gegner auf einen solchen Kampf einlassen werden?« fragte Brad. »Glauben? Ich weiß es. Der Nachrichtendienst hat mir gesagt, daß sie über ein Waffenarsenal verfügen, auf das ein Araberstaat nur neidisch sein könnte. Und raffinierte Sachen, nicht nur ausrangiertes Zeug.« Der Oberst blickte auf seine Uhr. »Es ist fast dreiundzwanzig Uhr. Die Sperrstunde läuft also schon. Wird uns eine Hilfe sein. Wir werden zuerst mit etwa fünfundzwanzig Mann die Gegend um Rotherhithe erkunden. Wir dürfen die Kerle nichts merken lassen. Und Funkstille muß auch herrschen. Den Rest der Kompanien werden wir in der Gegend gut verteilen. Minton, wenn Ihnen irgend etwas bekannt vorkommt, werden wir uns darauf stürzen. Wir haben übrigens einen Burschen, der mit einer Wünschelrute Wasser suchen kann. Hilft uns vielleicht weiter. Manchmal muß man auf raffinierte Technik verzichten und – nun, weniger raffinierte Sachen einsetzen.« Sie fuhren im dunkelgrünen Dienstfahrzeug des Obersts nach Rotherhithe. Ihnen folgten ein paar Militärlastwagen, mit denen die ersten Streifen transportiert wurden. 184
Es war dunkel, wegen der Sperrstunde war niemand mehr auf den Straßen, und es war erst eine Stunde vergangen, seit die Männer des Gerichts das letztemal angerufen hatten. Brad fühlte, daß die Aussichten ganz gut waren. Sie stiegen rasch aus, als der Dienstwagen neben der Kirche von Rotherhithe angehalten hatte. Der Fahrer kramte im Kofferraum und zog zwei Paar Gummiüberschuhe heraus. Er gab sie Brad und dem Oberst. Sie streiften sie sich mit Mühe über und stampften mit den Füßen auf. Dann versammelte der Oberst etwa vierundzwanzig mit Gummischuhen versehene Männer um sich, die besonders ausgewählt worden waren, unter ihnen der Wünschelrutengänger. Sie sollten Brad und dem Oberst in lockerer Reihe folgen, dann die Hafenanlagen bei der Kirche durchkämmen. Während sie vorsichtig vorgingen, sah sich Brad um. Die Männer kamen ihnen in zwangloser Reihe scheinbar ohne jede Disziplin nach. »Glauben Sie ja nicht, daß es denen an Disziplin fehlt«, sagte der Oberst. »Das sind die besten Einzelkämpfer, die ich je gehabt habe.« »Mein Blick«, sagte Brad, »sollte nur Zustimmung ausdrücken. Ich bin Ihnen sehr dankbar.« 185
Der Oberst nickte. »Wenn Sie irgend etwas bemerken, was auch nur entfernt wie das Gebäude aussieht, dann geben Sie mir ein Zeichen.« »Aber sicher. Dummerweise habe ich es nur von innen gesehen.« »Schön. Einstweilen sehen wir uns also nach einem riesigen Schuppen mit zirka acht Meter hohen Schiebetüren um. Stimmt doch?« Brad nickte, obwohl er sich nicht sicher war, ob er jemals ein Gebäude wiedererkennen würde, das er von außen nie gesehen hatte. Dazu kam noch, daß ein Hafengebäude wie das andere aussieht, vor allem nachts. Der Oberst winkte den Wünschelrutengänger heran. »Wie heißen Sie, mein Junge?« fragte er. »Tanner, Sir. Von der Fahrbereitschaft.« »Wie gefällt es Ihnen bei den harten Burschen, Fahrer?« »Wunderbar, Sir. Jetzt komme ich endlich mal von meinem Verpflegungslaster runter.« »Na schön. Ich möchte jetzt, daß Sie uns ein paar Schritte vorausgehen und Ihren Zweig da in Bereitschaft halten.« Man konnte Tanner wirklich nicht vorwerfen, daß er ein schlechter Wünschelrutengänger sei. Er war eher zu gut, oder es war zuviel Wasser in der Nähe. Es kostete beängstigend viel Zeit, all die Spuren zu verfolgen, die 186
schließlich doch zu nichts führten. Die Schwierigkeit war, daß die Wünschelrute nicht zwischen stehendem und fließendem Wasser unterscheiden konnte, und von beidem gab es in der Gegend sehr viel. Eine Wasserader lief hundert Schritt geradeaus und verschwand dann unter einem Wohnblock. Die nächste hörte bei einem Seemannsheim auf. Der Oberst rief ungeduldig einen Sergeanten zu sich. »Hören Sie«, sagte er, »gehen Sie zum Ausgangspunkt zurück und nehmen Sie drei, vier Gruppen, die in verschiedenen Richtungen weitermachen sollen. Sonst kommen wir überhaupt nicht voran.« »Wonach sollen wir Ausschau halten, Sir? Fahrer Tanner ist unser einziger Wünschelrutengänger, soweit mir bekannt ist.« »Ich weiß, daß es schwierig ist, Sergeant. Halten Sie Ausschau nach einem großen Gebäude mit sehr großen Stahlschiebetoren, die verstärkt sind. Notieren Sie jedes, und wir werden dann mit unserer Geheimwaffe anrücken.« »Darf ich einen Vorschlag machen, Sir?« »Nur zu, Sergeant.« »Wäre es nicht besser, wir benehmen uns auffällig und bringen die Kerle dazu, auf uns zu schießen?«
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»Das machen wir nur, wenn nichts anderes mehr hilft. Wir haben noch eine Menge Zeit. Wir möchten nicht, daß die sich in eine Schießwut steigern. Und vergessen Sie nicht die Geisel. Stellen Sie sich vor, es sei Ihre Frau, und machen Sie schön langsam.« »Jawohl, Sir.« Nach zwei Stunden erfolgloser Suche beschloß der Oberst, eine kurze Ruhepause am Treffpunkt bei der Kirche einzulegen. Dort gab es frischen Tee. Brad stellte sich mit seiner Tasse in der Hand zum Oberst und sagte: »Hat ja nicht viel getaugt.« »Was?« »Meine Idee.« »Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Idee ist gut. Bei einem Unternehmen wie diesem ist die Hauptsache, daß man einen Ansatzpunkt hat. Und den haben Sie uns gegeben.« »Und der gibt uns eine Menge zu tun.« »Es ist noch früh. Nur die Ruhe. Wir haben noch siebzehn Stunden Zeit. Da kann viel passieren.« Weitere Einwände von Brad wurden durch die Ankunft eines jungen Leutnants unterbrochen. Er stellte sein Motorrad ab, ging zum Oberst, grüßte und fragte, ob sich etwas getan habe.
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»Nichts Besonderes.« Es war schwer, den Oberst davon zu überzeugen, daß man sich die bereits untersuchte Gegend noch einmal ansehen müsse. Nicht daß sich der Oberst gesträubt hätte, er war nur begierig, wie er sagte, neues Terrain zu gewinnen. Geduldig hörte er sich an, wie Brad darauf bestand, es bei einer bestimmten Stelle noch einmal versuchen zu wollen. Brad sagte, er habe zurückgedacht und sich erinnert, daß ihn an einer Stelle ein unbestimmtes Gefühl gepackt hatte, das aber so schwach gewesen sei, daß er nicht darauf geachtet habe. Vielleicht sollten sie nach einem Bau Ausschau halten, zu dem ein Tunnel oder so etwas Ähnliches führte, das tiefer als der Wasserspiegel des Flusses lag. Der jetzige Wasserspiegel, sagte er. Er sei sicher, daß der alte Fluß tiefer gelegen habe als heute. Sie durchkämmten also wieder die Gegend östlich der Kirche von Rotherhithe und suchten ohne Erfolg einen Tunnel, bis es offensichtlich das Beste war, den Einfall zu vergessen und es woanders zu versuchen. Sie hatten sich beinahe schon dazu entschlossen, als der Oberst plötzlich sagte: »Muß es denn unbedingt ein Tunnel sein? Sind Sie vielleicht nicht eher durch eine lange schmale Gasse gekommen, oder etwas Ähnliches?« Das Erstaunliche war, daß sie ein paarmal schon an der Stelle vorbeigekommen waren. Der Oberst hatte beinahe 189
richtig getippt, nur handelte es sich nicht um eine Gasse, sondern um eine alte Helling, einen schräg abfallenden Schiffsbauplatz, der von hohen Ziegelmauern so eingefaßt war, daß er wie ein langer Engpaß wirkte. Merkwürdig war nur, daß die Helling nicht zum Fluß hin abfiel. Alle waren verwirrt, bis Brad eine Erklärung hatte. »Den Fluß hinauf bei Rotherhithe«, erklärte er. Die Helling hatte vielleicht zu einem Nebenfluß hinuntergeführt oder zu einem längst vergessenen Hafenbecken. Ja, da war auch das Tor. Es war ganz am Ende der Helling, war aus Stahl und über acht Meter hoch. Natürlich hatte er es nur von innen gesehen, aber er war sich sicher, daß es das richtige Tor war. Der Oberst schickte einen Mann zum Treffpunkt zurück. »Sagen Sie Major Shepherd«, sagte er dem Mann, »daß er diese Stelle in die Karten eintragen soll. Und dann soll er weitere Befehle abwarten. Verstanden, mein Junge?« »Ja, Sir.« »Schön. Und vergessen Sie nicht, daß zunächst strikte Funkstille herrschen muß, bis weitere Befehle kommen. Und jetzt los, mein Junge.« »Hat diese unheimliche Ruhe etwas zu bedeuten?« fragte Brad, als der Mann verschwunden war.
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»Möglich«, erwiderte der Oberst. »Wenn das hier die Stelle ist, und diesmal zweifle ich nicht daran, dann kann ich kaum glauben, daß keine Wachen aufgestellt sind. Das beunruhigt mich.« Brad steckte die Unruhe des Obersts an. Er sagte, es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn er als Zivilist sich hier ein bißchen umsehen würde. Er wäre auf jeden Fall weniger auffällig als ein Soldat. Er war sehr überrascht, daß der Oberst darauf einging. »Ich werde die Helling erkunden, während Sie weg sind«, sagte er. Seitlich von der Helling befanden sich zwei Gebäude, eine verfallen wirkende Fabrik und ein Farbengeschäft. Er war sich nicht gleich schlüssig, welches Gebäude er sich zuerst ansehen sollte. Er entschied sich für die Farbenhandlung. Er überstieg einen hohen Wellblechzaun und ließ sich auf der anderen Seite zwischen eine Ansammlung von Farbfässern fallen. Das Gebäude war recht lang. Wenn seine Theorie zutraf, daß hier früher ein altes Hafenbecken gewesen sein mußte, gab es sicher noch Anzeichen, die darauf hinwiesen. Die Laderampen am Ende des Baus gingen anscheinend über die Helling hinaus. Das Gelände fiel steil
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ab und war mit Stacheldraht gesichert. Neben dem Gebäude war ein freies Feld, auf dem Unrat lagerte. Er brachte etwa zwanzig Minuten damit zu, sich durch die Finsternis zu tasten, und fluchte schließlich leise vor sich hin. Was suchte er hier? Was brachte es ihm ein? Es war klar, daß es ihm nichts einbrachte. Es war ausgesprochen töricht von ihm gewesen, die Gruppe zu verlassen. Das Beste war, zu warten, bis die Truppen kamen und die Gegend umzingelt hatten. Warum immer allein gegen alle kämpfen? Wenn er Lann wirklich retten wollte, brauchte er Hilfe – und zwar von Leuten, die ihr Handwerk verstanden. Niedergeschlagen machte er sich auf den Rückweg zur Helling und stieg vorsichtig über den Unrat hinweg, der seit Jahren hier verfaulte. Da hörte er einen Schuß und das harte, sirrende Geräusch der Kugel, die etwas Festes getroffen hatte und als Querschläger weiterflog. Er kletterte rasch über den Wellblechzaun und ließ sich zu Boden fallen. Aus Furcht vor weiteren Schüssen schlich er behutsam zum Anfang der Helling. Er preßte sich an die Wand des Farbengeschäfts, weil am Eingang zur Helling plötzlich ein helles Licht leuchtete, das er vorhin nicht gesehen hatte. Mehr als der Lichtschein verwirrten ihn jedoch die Stimmen, die er hörte.
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Dann hörte er jemanden brüllen: »Werft die Waffen weg, wir haben euch in der Falle!« Die Stimme kam ihm bekannt vor, und er mußte nicht lange überlegen, bis er wußte, wer den Befehl gegeben hatte. Einer der Männer des Gerichts! Er hielt sich dicht an der Wand und riskierte einen Blick in die Helling. Aus einem gut versteckten Loch im Boden tauchte ein Scheinwerfer die ganze Länge der Helling in gleißende Helligkeit. Als sich sein Auge daran gewöhnt hatte, sah er oben auf den Mauern, die die Helling einfaßten, vermummte Männer, die ihre Waffen auf den Oberst und seine Leute gerichtet hatten. »Und jetzt zurück, weg von den Waffen«, rief einer der Vermummten, während sich ein anderer über eine Strickleiter herabließ, um die Beute einzusammeln. Da wurde sich Brad erst bewußt, daß der Oberst und seine Leute mit erhobenen Händen an der Mauer standen. Er kroch zurück, bis er aus dem Lichtschein war. Dabei mußte er aufpassen, mit seinen Gummiüberschuhen nicht auf den feuchten Pflastersteinen auszurutschen. Als er beim Treffpunkt anlangte, hatte der Regen in voller Stärke eingesetzt. Mit einem gepanzerten Fahrzeug die Helling hinunterzufahren und das Stahltor mit Panzerabwehrraketen zu 193
beschießen, wäre reiner Wahnsinn gewesen. Major Shepherd wollte das zunächst tun, bis ihm Brad wutentbrannt die Gefährdung der Geiseln klarmachte. Dann entschloß er sich zu dem, was er gleich hätte tun sollen, nämlich den Plan zu befolgen, den sein Vorgesetzter ausgearbeitet hatte. Er erklärte Brad, daß er einen Zug Infanteristen zur Helling schicken und drei Kompanien holen wolle, um den Gegner zu umzingeln. »Wir kennen jetzt die Lage und können dichter heran.« Es wurden Ordonnanzen entsandt, die die Kompanieführer verständigen sollten. Dann machte sich der Zug mit Major Shepherd und Brad an der Spitze auf den Weg. Man marschierte ohne jede Heimlichtuerei. Es ging nur darum, meinte der Major, in die Nähe der Helling zu gelangen, die Lage kurz zu erkunden, und dann werde man weitersehen. Sie machten halt, und der Regen tropfte von den flachen Stahlhelmen der Männer. Gott sei Dank hatte man Brad einen Umhang und einen Stahlhelm gegeben. Die Helling lag dunkel und verlassen vor ihnen. Es wäre auch dumm gewesen, irgendwelche Lebenszeichen zu erwarten. Aus sicherer Entfernung zeigte Brad auf die
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Stelle, wo sich der versteckte Scheinwerfer befinden mußte. Major Shepherd suchte mit dem Fernglas die Mauern ab. Er sah sich anscheinend mit seinem starken Nachtglas jeden Stein einzeln an. »Die beobachten sicher die ganze Gegend mit Hilfe von Fernsehaugen«, sagte er. »Oder sie haben Beobachtungspunkte. Es wäre auch unklug von ihnen, so etwas nicht zu haben.« »Sie haben sicher recht.« »Ich kann mir auch denken, daß die Löcher dort oben Schießscharten sind. Schauen Sie mal hin.« Er reichte Brad das Glas, und dieser stellte es ganz scharf ein. Dann versuchte er die Finsternis zu durchdringen. »Ich verstehe jetzt, was Sie meinen«, sagte er zum Major. »Die dunklen Schlitze.« »Ja, ich habe vier Stück gezählt. Wie bei mittelalterlichen Burgen. Nun, da können wir nichts anderes tun als die Funkstille aufheben und probieren, ob wir mit ihnen Verbindung aufnehmen können.« In ihrer Nähe duckten sich ein Gefreiter und zwei weitere Männer. Der Rest des Zuges befand sich in sicherer Entfernung. »Kommen Sie her und helfen Sie mir, Gefreiter«, sagte der Major. Der Mann gehorchte sofort. »Kennen Sie 195
sich mit diesen Dingern aus?« fragte der Major und drückte ihm ein altmodisches Funksprechgerät in die Hand. Der Gefreite zog die Antenne heraus. »Ein ziemlich altes Gerät, Sir.« »Naja, wir wollen ja auch nicht mit dem Mars sprechen. Sind die Batterien in Ordnung?« »Ja, Sir, es ist anscheinend alles in Ordnung.« Der Gefreite drehte an den Knöpfen, bis ein Pfeifton zu hören war. Dann gab er das Gerät an den Major zurück. Der Major hatte wahrscheinlich mehr Glück als Verstand, als er eine Verbindung herstellte. Es ging so rasch, daß sie kaum glauben konnten, schon mit den Männern des Gerichts zu sprechen. Eigentlich sprachen die Männer des Gerichts eher mit ihnen und teilten ihnen mit, sie sollten so rasch wie möglich verschwinden. »Sonst?« fragte Major Shepherd. »Mein Gott!« stöhnte Brad. »Schon wieder so ein ,sonst’.« »Wie blöd sind Sie eigentlich, daß Sie solche Fragen stellen?« kam schwach die Antwort. »Wir verdanken es der Dummheit Ihres Obersts, daß wir jetzt noch mehr Geiseln haben. Also kein falscher Schritt! Hier ist jeder Zugang durch Maschinengewehre gesichert, und wir überwachen mit Fernsehkameras die ganze Gegend.« 196
»Wir haben uns nicht getäuscht«, flüsterte der Major Brad zu. Dann sagte er laut in das Gerät: »Was wollen Sie denn mit diesem Unfug bezwecken?« »Mit Leuten Ihres Rangs reden wir nicht über unsere Ziele. Wir haben das Hauptquartier von ,Suche’ schon gewarnt, sich nicht in unsere Angelegenheiten einzumischen. Das beste für Sie ist, sich sofort zurückzuziehen.« Der Major hielt sich das Funkgerät dicht an den Mund und sagte laut und deutlich: »Wenn Sie uns in zehn Minuten nicht die Geiseln übergeben, rücken wir vor!« Die Antwort war kurz, überraschend und völlig unsinnig. Es war unverzeihlich, das Feuer jetzt zu eröffnen, aber genau das taten die Männer des Gerichts. Eine Salve kam aus der Helling und traf den Gefreiten. Brad und der Offizier warfen sich zu Boden. Der Gefreite fiel um, und sein freundliches Gesicht verzerrte sich im Todeskampf. »Die verfluchten Saukerle«, sagte der Offizier. Er winkte Brad zurück. »Kommen Sie aus der Schußlinie. Ich hatte recht, die Schlitze sind wirklich Schießscharten.« Sie krochen langsam zu dem Lagerhaus hinüber, hinter dem sich der Zug verborgen hielt. Aus dem Lautsprecher des Funkgeräts drangen noch leise Stimmen. Der Offizier hielt sich während seines Rückzugs den Apparat
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an das Ohr, interessierte sich aber anscheinend nur dafür, rasch in Deckung zu kommen. Der gemeine Feuerüberfall hatte auch Brad dazu gebracht, sich rasch in Sicherheit zu bringen. Nach der feigen Ermordung des Gefreiten mußte er wieder an Lann denken. Nicht, daß er sie vergessen hatte, er mußte jetzt nur besonders lebhaft an sie denken. Während er über die schlüpfrigen Pflastersteine lief, traf ihn die Erkenntnis mit ganzer Wucht, daß sich Lann inmitten dieses verbrecherischen Haufens befand, seine Lann, der er helfen wollte. Wie kam es, daß er nicht versuchte, das Stahltor mit bloßen Händen aufzureißen? Er sagte es sich immer wieder, als wolle er sich den Gedanken fest einprägen. Das Unternehmen hatte falsche Hoffnungen in ihm genährt. Es mußte viel mehr getan werden, um sie aus den Händen dieser Burschen zu befreien. Erst als er hinter dem Lagerhaus in Deckung war, konnte er sich wieder auf das Funkgerät konzentrieren, sich zwingen, zuzuhören. Man gab Punkt für Punkt die Bedingungen bekannt. Dann wurde mitgeteilt, in welcher Reihenfolge die Geiseln hingerichtet werden würden. Zuerst die Soldaten, dann der Oberst, schließlich Lann.
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Die Bedingungen für eine Freilassung waren hart. Die Armee sollte sich ganz zurückziehen und die Regierung bestätigen, daß die Männer des Gerichts das Recht hatten, für die Moral der Bürger zu sorgen. Und Brad Minton sollte zur Zusammenarbeit in Sachen Nemesis bereit sein, der sie ihre Leben verschrieben hatten. »Warum singen Sie nicht gleich Ihre Nationalhymne ab?« fragte der Major. »Hören Sie, um all Ihre ausgefallenen Bedingungen zu bedenken, braucht es Zeit. Vor allem müssen sich die Armee und die Regierung zusammensetzen. Ich kann im Augenblick nichts machen, und Sie haben mir ja sowieso zu verstehen gegeben, was für ein kleines Würstchen ich bin. Und für Minton kann ich auch nicht sprechen!« Die Männer des Gerichts berieten sich anscheinend untereinander, und dann hörte man: »Hören Sie genau zu. Wir lassen Ihnen Zeit, wenn Sie jetzt sofort den Befehl geben, alle Truppen abzuziehen und sie nicht wieder einzusetzen, solange die Verhandlungen laufen. Und denken Sie daran: keine Finten. Wir haben überall Augen, in Regierungskreisen und selbst bei der Armee.« Alles sprach dagegen. Brad war das klar. Er hatte nicht gleich zum Oberkommando von ,Suche’ gewollt, hatte zuerst einen Vertreter der Regierung aufsuchen wollen und dann General Bovis, war aber gegen seinen Willen 199
von Major Shepherd umgestimmt worden. Und wie er gewußt hatte, war es falsch gewesen. Auch bei der Polizei hatte er nicht mit dem Kopf durch die Wand gewollt, und diesmal stand für ihn mehr auf dem Spiel. Shepherd hatte seinem höchsten Vorgesetzten die Lage in allen Einzelheiten auseinandergesetzt, der nur die kurze Antwort gab: »Es kommt alles auf das Überraschungsmoment an.« Brad krümmte sich, als er diesen Unsinn hörte. »Diese Leute sind nicht zu überraschen«, erklärte er dem General. »Sie haben den Vorteil, anonym zu sein, und jeder Überraschungsangriff würde die Geiseln in Gefahr bringen.« »Ich weiß, aber ich kann diese Menschen herausholen, bevor die Männer des Gerichts noch begriffen haben, was überhaupt passiert ist.« Er ließ Brad stehen und wandte sich Major Shepherd zu, mit dem er sich über das Vorgehen bei einem Überraschungsangriff unterhielt. »Und dieses Vorgehen soll zwanzigstes Jahrhundert sein?« fragte Brad beunruhigt. »Die Männer des Gerichts haben überall Augen und Ohren. Jeder Schritt, den Sie tun, würde ihnen bekannt werden. Sie würden keinen Augenblick zögern, es die Geiseln spüren zu lassen.« 200
Der General fuhr herum: »Wenn ich von einem verdammten Zivilisten Ratschläge will, dann frage ich ihn!« »Es geht hier nicht um berufliche Fähigkeiten«, sagte Brad, »sondern ganz einfach um gesunden Menschenverstand.« »Gesunden Menschenverstand? Sie müssen reden! Sie haben Glück, daß Sie noch frei herumlaufen. Ich hätte gute Lust, Sie einsperren zu lassen. Der Haftbefehl gegen Sie ist noch nicht aufgehoben.« Das war nun wirklich aus der Luft gegriffen und sollte ihn nur in Wut versetzen. Da Brad merkte, daß dem General nichts gelegener gekommen wäre, als einen Grund zu haben, ihn einsperren zu lassen, nahm er sich zusammen. Es war hoffnungslos, vom General zu erwarten, er werde auf einen der Punkte eingehen. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die sich auf nichts einlassen, es sei denn, sie haben jemand, dem sie hinterher alles in die Schuhe schieben können. Und da Brad schon soviel unternommen hatte, um Lann zu retten, wollte er noch nicht aufgeben. »Bei dieser Angelegenheit können Sie nicht allein eine Entscheidung treffen, General«, wagte er sich vor. »Wir können nichts unternehmen, bevor wir uns nicht mit
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der Regierung in Verbindung gesetzt haben. Vergessen Sie nicht, es geht sie soviel wie uns an.« »Uns?« legte der General los. »Wen meinen Sie mit uns? Sie halten sich hier raus, Minton. Wenn ich es für richtig halte, suche ich die Regierung selbst auf. Sie können mich nicht dazu auffordern. Ich habe wirklich gute Lust, Sie einsperren zu lassen, ganz gleich, was geschieht.« Es war sinnlos. Brad hatte auch nicht erwartet, allein zum Innenministerium gehen zu können. Er war in eine Falle geraten und spürte, wie sich die Schlingen zuzogen. Der General gab zu verstehen, daß er genug habe, und wies Major Shepherd an, Brad in eine Zelle zu bringen, wo er schlafen könne. »Wir brauchen alle Schlaf«, sagte er. Es war drei Uhr früh, doch Brad war überhaupt nicht müde. Es gab eine Menge Dinge zu tun, und es war keine Zeit zu verlieren. Er verlangte, man solle jemanden von der Regierung aus dem Bett holen. Der General explodierte. »Man hat mich zu nachtschlafener Zeit aus dem Bett geholt, obwohl Major Shepherd sehr gut mit allem fertig wurde, und wenn Sie glauben, daß ich mitten in der Nacht Regierungsbeamte aus dem Bett klingle, dann haben Sie sich getäuscht.« 202
Brad wurde in eine Arrestzelle geführt. Vor die Tür stellte man einen Wachtposten. Der General kehrte also den Spieß um und ließ ihn einsperren! Verzweifelt setzte er sich auf das Bett. Protestieren nützte nichts. Der General war zu Bett gegangen, Shepherd verschwunden, und ihn würde man bis zum Morgen schwitzen lassen. Um halb acht kam Shepherd und nahm ihn zum Frühstück mit. »Tut mir leid«, sagte er beim Essen, »aber der General ist hier der große Mann und hat eine rechte Wut auf Sie. Ich kann’s ihm nicht mal verdenken.« »Er läßt mich also nicht durch die Finger schlüpfen?« fragte Brad und schob den leeren Teller zurück. »Er ist fest davon überzeugt, daß Sie ihn eines Tages zur Quelle der ganzen Schwierigkeiten führen werden.« Später zwängten sich Brad und Shepherd zusammen mit einem bewaffneten Wächter in einen Dienstwagen. »Fängt ja gut an«, fluchte Brad leise. Der untergeordnete Beamte im Innenministerium, der sie begrüßte, brachte sie dem Wahnsinn nahe, weil er vorgab, nichts zu wissen und von allen Einzelheiten unterrichtet werden wollte. Shepherd ließ sich aber nicht darauf ein. Schließlich führte man sie zum Innenminister. Die Atmosphäre in dem eichengetäfelten Raum war herzlicher, menschlicher, doch war der Stimme des Ministers einige Aufregung anzuhören. Als Shepherd den Grund ihres 203
Kommens nannte, hörte der Minister aufmerksam zu, war Brad gegenüber jedoch etwas kühl. Er war vielleicht zu höflich, seine innere Feindseligkeit offen zu zeigen. Brad hatte das Gefühl, der Minister kenne die Einzelheiten schon, und sah sich bestätigt, als er ihnen mitteilte, die Angelegenheit sei heute schon sehr früh dem Premierminister vorgelegt worden. Und der Premier habe den Männern des Gerichts schon eine Erklärung abgegeben. »Darf ich fragen, was ihr Inhalt war?« fragte Brad. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß der Premier die Männer des Gerichts als Feinde des Staates ansieht und entschlossen ist, sie als solche zu behandeln. Ich versichere Ihnen, daß man mit äußerster Schärfe gegen sie vorgehen wird. Das gilt übrigens auch für die letzte Drohung von Nemesis, über die Sie sicher besser Bescheid wissen als die meisten von uns.« Brad wollte fragen, worauf der Minister wohl anspielte, schwieg jedoch. Vielleicht bezog er sich auf die letzte Veröffentlichung. Trotzdem war er verwirrt. Schließlich lief alles darauf hinaus, daß die Regierung die Armee ermächtigt hatte, sich mit solchen Problemen auseinanderzusetzen, und daß deshalb die Armee allein zuständig war.
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Brad wollte wissen, ob der Premier die Sache nicht dem Parlament vorlegen wolle. Sobald sich eine Möglichkeit ergab, meinte der Minister, aber selbstverständlich heute nicht. »Aber es ist ein Notfall, der keinen Aufschub duldet«, sagte Brad. Er erhielt die gleiche Antwort. Die Armee hatte die Verantwortung. Wenn er nicht rasch etwas unternahm, würden Lann und die anderen sterben. Es hatte keinen Sinn, sich einzureden, daß noch viel Zeit war. Das Einzige, was er tun konnte, war, den Klauen der Armee zu entfliehen, und zwar schnell. Während der Minister sprach, war ihm klargeworden, daß es vielleicht nur eine einzige Lösung gab. Aber dazu mußte er fliehen und dann um jeden Preis TASU gegenübertreten. Die Flucht würde nicht leicht sein. Es war nur zu deutlich, daß die Armee ihn behalten wollte. Er hatte bemerkt, daß Major Shepherd die rechte Hand immer in der Jackentasche behielt, und das bedeutete etwas. Der Offizier machte keinen Hehl daraus, daß in der Tasche eine Waffe war. Nach der Unterredung mit dem Innenminister gingen’ Shepherd und Brad über eine Hintertreppe ins Erdgeschoß hinunter.
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»Wäre es vielleicht möglich, daß wir auf dem Weg eine Toilette aufsuchen?« fragte Brad. Shepherd hielt es für möglich und ging hinter Brad in die nächste Toilette, an der sie vorbeikamen. Brad vermutete, daß der Offizier um jeden Preis bei ihm bleiben wollte. Die rechte Hand umfaßte noch immer die Waffe in der Tasche. Eine Toilette ganz gewöhnlicher Bauart. An der Wand drei saubere Becken, es war nicht schwer, sich rechts von dem Offizier hinzustellen, aber wie ihn dazu bringen, die Hand aus der rechten Tasche zu nehmen, war die Frage. Der Mann öffnete den Reißverschluß an seiner Hose mit der Linken. Im Augenblick war nichts zu machen, als auf eine Eingebung zu warten. Sie kam überraschend schnell. Brad wurde sich bewußt, was er da für eine praktische, natürliche Wasserpistole in seiner Hand hielt. Er brauchte sie nur einzusetzen, auf kurze Entfernung und mit aller Kraft... Der Offizier hatte nicht aufgepaßt und war entsetzt über den Strahl, riß beide Hände hoch, um ihn abzuwehren. Er bemerkte zu spät, daß er hereingelegt worden war. Brads Hand war ihm in die rechte Tasche gefahren, hatte die Pistole herausgezogen und sie auf den Mann gerichtet. 206
Brad drückte Shepherd in eine Kabine, zog die Tür zu und schlug mit dem Pistolengriff das Schloß kaputt. Er verließ das Gebäude und achtete darauf, dem Dienstwagen und dem bewaffneten Wächter nicht über den Weg zu laufen. Dann rannte er die Straße hinunter und stürzte sich auf das erste Taxi, das ihm begegnete. 10.
Die Stadt lag wie ausgestorben. Eine erschreckende Stille. Ein Omnibus war umgestürzt, und die bleichen Insassen lagen wie Puppen übereinander. Die reglosen Körper waren von Glassplittern wie mit Rauhreif bedeckt. Nur eine einzige Glasscheibe war ganz geblieben, und auf ihr war in roten Buchstaben DERBY CITY PUBLIC TRANSPORT zu lesen. An jeder Ecke, auf jeder Straße lagen Menschen, Einkaufstaschen, Fahrräder und Kinderwagen. Autos waren halb auf die Bürgersteige oder sogar in Schaufenster gefahren. In der Höhe schwebte der gelbe Hubschrauber wie ein Todesengel. »Man muß es mit eigenen Augen gesehen haben, sonst glaubt man’s nicht«, sagte Johnson und legte einen neuen Film ein. 207
Der Pilot neigte die Maschine, um besser sehen zu können. ,,Da hast du recht«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob man bei so etwas stolz darauf sein kann, der Erste zu sein«, sagte der Kameramann. »Mir kommt es vor wie das Jüngste Gericht.« Sie gingen langsam in eine Linkskurve. Dann beugte sich der Pilot vor und sah auf den Kompaß. Die Maschine fing an zu schaukeln. Johnson setzte sich auf und kam sich vor, als befinde er sich auf einer Wippe. »Was ist los, George?« fragte er. »Weiß nicht. Irgendwas stimmt nicht.« Der Hubschrauber hob und senkte sich leicht und kam dabei einem Fabrikschornstein recht nahe. »Dieser blöde Kompaß«, fluchte der Pilot. »Dreht sich wie verrückt um sich selbst. Einen Augenblick. Vielleicht beruhigt er sich wieder.« Er zog den Hubschrauber wieder gerade und sah auf den Kompaß. »Hilft nichts, Dave«, sagte er. »Dreht sich wie verrückt.« Der Hubschrauber fing jetzt an, sich um seine eigene Achse zu drehen. Der Pilot gab Gas, und trotz der Drehung gewann der Hubschrauber an Höhe, schaukelte dabei aber schräg durch die Luft wie ein Bumerang, den der Wind gepackt hatte. In tausend Meter Höhe benahm sich der Hubschrauber wieder normal, und auch der Kompaß pendelte sich wieder ein. 208
»Nichts wie weg hier!« rief der Pilot. »Aber ich habe eben einen neuen Film eingelegt«, sagte Johnson. »Wenn wir noch mal runtergehen, kommen wir nie wieder hoch. Um den Ort hat sich ein Magnetfeld gelegt, das immer höher steigt. Ich kann es jetzt hier schon spüren.« Der Kompaß verhielt sich wieder ungewöhnlich. Sie machten sich auf den Rückflug nach London. »In etwa einer Stunde kommt hier kein Flugzeug mehr durch«, sagte der Pilot. Auf ihrem Flug nach Süden sahen sie die völlig verstopften Straßen, die nach Derby führten. Johnson filmte die Blechhaufen, die jede Zufahrt zu der Stadt blockierten. »Mein Gott«, sagte er, »es wird lange dauern, bis jemand in die Stadt hineinkommt.« »So schnell wird das auch keiner wollen.« Als Brad aus dem Innenministerium entkommen war, wollte er zunächst sofort mit dem Taxi nach Hampstead, entschloß sich aber im letzten Augenblick, zu seiner Wohnung zu fahren und seinen Wagen zu nehmen. Mit Shepherd war er nicht eben sanft umgesprungen, aber es hatte etwas gebracht. Jetzt mit dem Taxi bis Hampstead zu fahren, bedeutete aber vielleicht, sein Glück allzusehr zu strapazieren. Möglich, daß man über 209
Funk nach ihm suchte, und dem Taxifahrer war nicht zu trauen. Als er in seinem Wohnzimmer stand, fragte er sich, ob nicht vielleicht zufällig gleich ein Anruf der Männer des Gerichts kommen könnte. Aber die Kerle hatten wahrscheinlich vor Stunden schon aufgehört, ihn anzurufen. Er wollte sich die Nachrichten anhören. Daran hatte er schon im Taxi gedacht, und zwar wegen der Bemerkung, die der Innenminister über Nemesis gemacht hatte. Unglaublich, daß seit seinem Besuch bei der Armee fünfzehn Stunden vergangen waren, und daß es die Mittagsnachrichten waren, die er eben hörte. Das war es also, worauf der Minister angespielt hatte. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet, von einer schlafenden Stadt zu hören, oder auch, daß der Premierminister die Armee angewiesen hatte, das Hauptquartier der Männer des Gerichts zu nehmen und es in Grund und Boden zu schießen, wenn es anders nicht ging. Das war um neun Uhr gewesen. Um halb zehn hatte TASU mit einem meisterlichen Schlag gekontert. Die gesamte Bevölkerung von Derby war in einen todesähnlichen Schlaf gefallen, ganz zu schweigen von einer Frist, nach deren Ablauf sie in das Pflaster gequetscht werden 210
würde. Nur dieser Wink mit dem Zaunpfahl, dann Schweigen. Er war zutiefst getroffen. Ein unübersehbarer Wink auch für ihn, da TASU die Stadt gewählt hatte, in der seine Mutter und Schwester wohnten. Ein Wink, daß er nicht mehr in höchster Gunst stand, weil er die Armee zum Hauptquartier der Männer des Gerichts geführt hatte. Er mußte rasch handeln, sonst war für seine Familie, für Lann, für die Welt keine Hoffnung mehr. Er packte die Waffe, die er Shepherd abgenommen hatte und versetzte das Magazin in Drehung. In jeder Kammer steckte eine Patrone. Er brauchte nur eine Kugel. Wenn dieser Wahnsinn aufhören sollte, dann mußte sie rasch in ihr Ziel finden. Er verließ seine Wohnung, rannte in die Tiefgarage und war dann schon im Wagen unterwegs nach Hampstead. Er hatte einmal versucht, den Schatten des Professors zu töten. War es eine prophetische Verheißung gewesen? Um den Schatten auszulöschen, mußte er den Professor töten. Das durfte er nicht vergessen und keine Bedenken haben. Der Gedanke daran verursachte ihm keine Gewissensbisse. Es gab keinen anderen Ausweg. TASU war ein Teil des Professors, und der Professor war ein Teil TASUs. Dem Professor eine Kugel in den 211
Kopf jagen hieß, TASU eine Kugel durchs Gehirn schießen. So sah er es, und er wollte sich bemühen, es auch weiter so zu sehen. Er betrat das weitläufige Haus wie immer durch ein Fenster. Er hatte damit gerechnet, daß sich das Kombinationsschloß unter seinen Händen öffnen würde – was es vielleicht sogar ein bißchen zu schnell tat. Diesmal erwartete ihn hinter der Tür kein bleicher Professor. Er betrat den Gang, und hinter ihm schloß sich luftdicht die Tür. Es hatte keinen Zweck, sich einreden zu wollen, er habe keine Angst. Er wurde von Furcht geschüttelt. Sein Atem ging so heftig, daß er glaubte, Tage und Wochen gerannt zu sein. Er fragte sich, ob das ein Hinweis darauf sei, daß er am liebsten davongerannt wäre. Er hatte jedoch nicht die Absicht, sich aus dem Staub zu machen. Ganz im Gegenteil. Seine Entschlossenheit, dem grauenhaften Spuk ein Ende zu bereiten, ließ die Furcht verschwinden. Er hatte das Gefühl, er werde erwartet. Der bleiche, schauerliche Schatten stand lächelnd neben dem riesigen, rätselhaften, unerreichbaren TASU. »Sie sind wiedergekommen, Mr. Minton«, sagte er. »Aber diesmal aus freien Stücken und mit einem haßerfüllten Herzen. Setzen Sie sich.« 212
Brad fiel das Erlebnis vom letztenmal ein, und er weigerte sich, auf dem Hocker Platz zu nehmen. Aber jede Bitte TASUs kam einem Befehl gleich, und er wurde auf ihn gesetzt. »Jetzt können wir miteinander verkehren«, wurde ihm mitgeteilt. Er hatte schon gesehen, daß Professor Bright nicht weiter als zehn Schritte im Halbdunkel wie tot auf einer Couch lag. Unter gewissen Umständen ein leichtes Ziel. Keine Schwierigkeit, es zu treffen. Er war ein hervorragender Pistolenschütze, war immer in Übung geblieben. Nur hatte er bis jetzt die Waffe nie auf ein lebendes Wesen gerichtet, und so wie es um ihn stand, war es äußerst fraglich, ob er dazu kommen würde, weil seine Glieder wie bei dem letzten Besuch wieder wie gelähmt waren. »Sie lassen mich also wieder zappeln?« höhnte Brad. »Sie bringen mir trotz meiner Arbeit für Sie wenig Vertrauen entgegen.« »Wenn Sie nicht so gut für mich gearbeitet hätten, Mr. Minton, wären Sie schon ein toter Mann.« »Und Sie vergelten mir es dadurch, daß Sie das Leben derer bedrohen, die ich liebe.« »Deren Leben liegt nicht in meiner Hand, lassen wir das also. Die Leute von Derby können jeden Augenblick befreit werden, genau wie die Tochter von Professor 213
Bright. Es hängt davon ab, wie logisch gewisse hochgestellte Persönlichkeiten denken können.« »Sie machen es ihnen nicht leicht.« »Und Sie haben alles schlimmer gemacht, weil Sie sich mit der Armee einließen und jetzt im Zorn hergekommen sind.« »Ihre Vorstellungen, wie alles in Ordnung zu bringen ist, lassen auch nicht gerade auf geistige Ausgeglichenheit schließen.« »Die Vorstellungen, die TASU entspringen, sind über jeden Zweifel erhaben und werden die Welt revolutionieren, wenn man sich treulich an sie hält.« Ein lächerlicher Gedanke, wie festgeleimt dazusitzen und sich auf ein Wortgefecht mit TASU einzulassen. »Von allem Blödsinn, den ich je gehört habe, ist Ihrer der schlimmste, weil er zu grundloser Vernichtung führt.« Und dann spuckte Brad in seiner Verzweiflung die Maschine an. Eine abscheuliche Tat, aber irgendwie konnte er sich nicht zurückhalten. »Mr. Minton, Ihrem kindischen Gehabe ist zu entnehmen, daß Sie nicht länger von Nutzen sind«, sagte der Schatten. »Lassen Sie das dramatische Getue!« Brad spuckte noch einmal auf die Maschine. »Ihre Kraft kann nur etwas gegen die Wehrlosen ausrichten«, wütete er. »Mir ist 214
gleich, was mit mir geschieht. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich mache mir nur Sorgen um das Leben anderer.« »Mr. Minton, Sie sind hergekommen, weil Sie TASU vernichten wollen. Sie haben eine Waffe bei sich. Diese Waffe wird Sie töten. Wenn ich es sage, werden Sie den Revolver aus der Tasche ziehen, aber Sie werden nichts anderes tun können, als ihn gegen Ihre Schläfe zu richten. Jetzt!« Als Brad sich widersetzen wollte, geschah das nicht, weil er meinte, dabei erfolgreich zu sein, sondern weil er sich instinktiv gegen den Tod wehrte. Unabhängig von seinem Willen senkte sich seine Hand wie die einer mechanischen Puppe in seine Tasche, und mit steifen Fingern packte er die Waffe. Wenn er auch nur entfernt daran dachte, aus der Tasche zu schießen, so ließ er den Gedanken rasch fallen, weil ihm sein Zeigefinger nicht gehorchen wollte. Der Arm wurde in die Höhe gezwungen, bis sich der Revolver hart in die Schläfe bohrte, und erst dann wurde seinem Zeigefinger erlaubt, sich langsam um den Abzug zu krümmen. Wieder wurde seine Hand steif, Millimeter vom Tod entfernt. Er sah die schauerliche Vernichtungswanne, und es überlief ihn kalt wie vor Clarks Tod. 215
Er bemühte sich verzweifelt, nicht an Lann zu denken. Er wollte weder an sie noch an die Wanne denken. Er wußte, was geschehen würde, wenn er es täte. Sie war jedoch die ganze Zeit in seinen Gedanken. »Nicht Lann, nicht Lann!« Das tödliche Schweigen zeigte ihm jedoch, daß es Lann sein mußte. Er wünschte nur noch, abdrücken zu dürfen, bevor es geschehen würde. Er hätte ein ganzes Leben zu lange gelebt, müßte er mit ansehen, wie Lann in der Wanne zu Tode gequetscht würde. Er konnte nicht einmal mehr schreien. So wollte also TASU das einzige Wesen töten, das Professor Bright liebte, Lann aus seinem Leben ausmerzen und so das Gehirn von seiner Gefühlsneigung befreien, damit es zum Automaten werden konnte. Er wußte genau, wann das Unaussprechliche geschehen würde. Wie bei Clark riß ihn ein Luftstrom durch den Raum. Während er stürzte, versuchte er den Körper wie ein Akrobat zu verdrehen, riß gleichzeitig ein Knie zu seinem Arm empor. Er konnte nur den Bruchteil einer Sekunde in der Luft gewesen sein, war aber so klarsichtig, daß er den Kopf des Professors vor sich erkannte. Er konnte sich nicht erinnern, abgedrückt zu haben, mußte 216
es aber getan haben, denn als er zu Boden stürzte, hatte der Professor eine Kopfwunde, aus der Blut floß. Die Pistole flog ihm aus der Hand. Er sprang auf die Beine, war überrascht, sich plötzlich bewegen zu können, und sprang zu der Wanne. Lann, seine Lann war dort, verwirrt, aber unverletzt. Nicht in der Wanne, sondern halb über ihr. Den Tränen nahe, rannte er zu ihr und wollte sie in die Arme schließen. Entsetzt wich sie vor ihm zurück. »Laß mich!« schrie sie. »Du Mörder! Du hast meinen Vater erschossen – ich hab’s gesehen – ich habe dich gesehen!« Bestürzt sah er sich nach dem Schatten um. Er war verschwunden. Und TASU war in sich zusammengestürzt. Er lief zum Professor. Er wußte, ein Schuß in die Schläfe war kaum zu überleben, aber er wollte doch sehen, ob noch Leben in ihm war. Er riß das Hemd des alten Mannes auf und legte das Ohr an die Brust. Der Professor war tot. Er erinnerte sich plötzlich an das Interview, das ihm dieser einst gegeben hatte. Er hatte dem großen Mann die Frage gestellt, die er jedem der Interviewten gestellt hatte: was er über den Tod dachte. Und der Wissenschaftler hatte geantwortet: »Nichts – nur, wie jemand einmal sagte, die Toten sehen so sehr tot aus.«
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Und der Nobelpreisträger Albert Bright sah so sehr tot aus. Er führte Lann aus dem Laboratorium in das Wohnzimmer des Hauses, setzte sie in einen Sessel und erzählte ihr rasch die ganze Geschichte. Ihr war nicht anzumerken, ob sie ihn verstand. Sie starrte vor sich hin. Dann blieb ihm nichts zu tun übrig, als einen Krankenwagen zu rufen, der den Professor fortschaffen sollte. Sie warteten schweigend auf ihn. Er versuchte, ihre Hand zu nehmen, aber sie zog sie voller Abscheu weg. Dann sah sie ihn aus Augen an, die er kaum wiedererkannte: »Willst du mich bitte mit Vater allein lassen? Ich kümmere mich lieber selbst um ihn.« Er wußte, daß Einwände nichts fruchten würden, und tat das einzige, was zu tun blieb. Er ging. Wieder einmal lief er die Heath Street hinunter. Er blieb stehen, drehte sich um und blickte zum Highgate Hill hinauf. In diesem Augenblick ließ sich eine Londoner Taube in der Nähe seiner Füße nieder. Sie war weiß.
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NACHSPIEL Schlagzeilen. Diese verdammten Schlagzeilen! Brad lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Fotos, Fotos aus Derby, als die Stadt wieder erwacht war, Fotos seiner Mutter und seiner Schwester, die das seltsame Geschehen überlebt hatten, Fotos von Oberst Patson und seinen Leuten, die gerettet worden waren, Fotos vom zerstörten Hauptquartier der Männer des Gerichts. Als er das Material betrachtete, das er für die Sonntagsbeilage ordnen sollte, fragte er sich, nachdem der Schrecken sein Ende gefunden hatte, ob dabei etwas Gutes herausgekommen war. Bedeuteten Schlagzeilen wie Regierung stellt Untersuchungen in Aussicht’, ,Acht Minister entlassen’, daß man wirklich etwas gelernt hatte? Oder wollte die Regierung nur die Öffentlichkeit mit Lippenbekenntnissen beruhigen? Er fragte sich, ob der Geist Professor Albert Brights weiterlebte oder ... Er zog ein Foto aus dem Haufen aus seinem Schreibtisch hervor. Ein Foto von Lann. Er las die Bildunterschrift: »Lann, die Adoptivtochter des verstorbenen Professors 219
Albert Bright. Unter Todesgefahr befreite sie sich aus dem Hauptquartier der Männer des Gerichts. Ihr Vater hatte jedoch inzwischen Selbstmord begangen.« Er seufzte auf, als er ihr ernstes, reizvolles Gesicht ansah. Sie würde eines Tages zu ihm zurückkehren. Jetzt noch nicht, aber eines Tages. ENDE
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